POLLY MARIA HÖFLER
ANDRÉ UND URSULA ROMAN
BUCHGEMEINSCHAFT DONAULAND / WIEN
Lizenzausgabe für die Mitglieder der Bu...
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POLLY MARIA HÖFLER
ANDRÉ UND URSULA ROMAN
BUCHGEMEINSCHAFT DONAULAND / WIEN
Lizenzausgabe für die Mitglieder der Buchgemeinschaft Donauland, Wien
Alle Rechte vorbehalten © Originalausgabe: 1937 © by Umschau-Verlag, Frankfurt am Main Schutzumschlag: Herbert Schiefer Druck: Wiener Verlag, Wien
Polly Maria Höfler Nicht die Anzahl der Werke ist es, die den Wert eines Dichters ausmacht und seinen Ruhm bestimmt, sondern nur der Gehalt dessen, was er auszusagen hat. Dies gilt im besonderen Maß für die am 30. April 1907 in Metz geborene Lothringerin Polly Maria (eigentlich Paula Sophie) Höfler. Sie hat nicht viel mehr geschrieben als den in mehrere Kultursprachen übersetzten Roman »André und Ursula«, und dennoch hat sie sich gerade mit dieser zarten Geschichte von der Liebe zwischen einem Franzosen und einem deutschen Mädchen die Verehrung von ungezählten Menschen erworben. In der Mitarbeit an der Versöhnung der Völker hat sie die Aufgabe ihres Lebens gesehen. Als sie am 17. Februar 1952 in Frankfurt am Main starb, hat ihr das Gefühl, nicht umsonst gelebt zu haben, wohl die letzten Stunden verschönt.
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Der Schreibtisch, an dem ich arbeite, steht am Fenster. Ich kann durch die nackten, vielfach zerstückelten Scheiben hinaussehen auf die Straße. Sie ist von einer Trostlosigkeit, die mich frösteln läßt. Vom grauen Novemberhimmel heben sich Ruinen, die Häuser im Umkreis sind gleichsam verwundet. Ich muß an Knochensplitter denken, wenn ich sie sehe, und an zerfetzte menschliche Körper. Und die Menschen dort unten auf der Straße? Sie gehen nicht, sie schleichen. Frierend, lautlos, mit hochgeschlagenem Mantelkragen, obwohl es doch noch gar nicht recht Winter ist. Frierende Gespenster sind es, die mit den schmalgewordenen, müden, angstverzerrten Gesichtern. Denn sie alle haben Angst, die elementare Angst der Kreatur um das nackte Dasein; aus dieser Angst heraus frieren sie, seit sich ein Regen von Blut und Feuer über sie ergoß und die Himmel niederzustürzen schienen unter den furchtbaren Detonationen der einschlagenden Fliegerbomben. Das ist heute vorbei, der Krieg ist zu Ende – aber die Angst ist ohne Ende. Sie geht immer noch um, sie heftet sich an unsere Fersen und flüstert von Hunger, Kälte, neuem Krieg … Die unten auf der Straße und ich in diesem Zimmer, in dem nichts mein eigen ist, wir alle sind obdachlos und gleichsam hinausgeschleudert in die Eiseskälte des freien Weltenraumes; die Türen, die uns noch offenstehen, scheinen einzig in Verderben und Tod zu führen. Und doch glaube ich, daß uns ein kleiner Glanz vom Himmel verblieben ist, ein tröstlicher Stern in der Finsternis unserer Tage, der Gutes verheißt. Denn wir alle haben eine Schuld abzutragen, die Schuld unseres Zeitalters an seine Toten, ehe uns die Sonne wieder leuchtet, ehe es wieder Friede wird auf dieser Welt. Wenn es dunkel ist, in der Nacht, wenn ich allein in dem kalten, kargen Zimmer bin und ein wenig ins Träumen gerate, 6
scharen sie sich wie früher um mich, die stillen und schwerelosen Gestalten, die heute nicht mehr sind und nicht mehr leiden. Und sie sind es, die das Dunkel um mich erhellen, die alle Härten und Kanten, an denen sich das Herz noch wundstößt, weicher machen und mich erwärmen, bis dieser entsetzliche Schüttelfrost der Seele nachzulassen beginnt. Sie alle, die unter den blauen und grauen oder khakifarbenen Stahlhelmen, sind es, die mich trösten und doch nicht ruhen lassen. Denn sie fordern etwas von mir, die Toten zweier Weltkriege. Und so will ich das Buch, das einmal im Namen und zu Ehren eines unbekannten französischen Soldaten geschrieben wurde, heute aufs neue den Lebenden in die Hände legen. Damals, als ich es schrieb, war ich jung und gläubig. Ich glaubte vor allem an den kommenden Weltfrieden, denn es war um das Jahr 1936, um die Zeit der Olympiade in Berlin, der Großen Weltausstellung in Paris; es war um die Zeit, als einer mit pathetischer Geste einen Lorbeerkranz mit blauweißroter Schleife in den Rhein schleuderte – den gefallenen Söhnen Frankreichs zu Ehren und mit dem feierlichen Schwur an die Welt, wenigstens mit dem Nachbarvolk im Westen einen dauernden Frieden zu halten. Und die Zeugen dieses Vorganges – die nicht der deutschen Nation angehörten – zweifelten im Grunde wohl selbst kaum an der Ehrlichkeit der Tränen, die in den Augen dessen standen, der diesen Schwur leistete. – Auch mir schienen dies alles völkerverbindende Brücken zu sein, die über den Rhein geschlagen wurden. Und so schrieb ich damals manches Wort, das heute keine Gültigkeit mehr hat. Denn inzwischen ist eine Welt in Trümmer gesunken, alle festen Mauern um uns sind niedergerissen, und wir sind beinahe zu kraftlos, um noch zu glauben – seit wir erkennen mußten, daß wir zu Götzenbildern gebetet haben. Was aber bleibt, was Gültigkeit behält, sind die guten Werke, denen einer sich verschworen hat. Denn mit den guten 7
Werken dient er Gott und den Menschen, die der Freude und des Trostes bedürfen. Wieder einmal ist es Nacht geworden, noch dunklere Nacht, und ich habe einen sehr, sehr weiten Weg zurückgelegt seit damals, als ich die Geschichte André Duvals niederschrieb. Heute liegt das Buch vor mir auf einem Schreibtisch, der nicht mein eigen ist, und die stillen Gestalten, die mich umringen, haben sich um Millionen vermehrt. André Duval ist unter ihnen, sein Kamerad Gilbert ist unter ihnen … und sie alle wissen, sie sind meine Zeugen dafür, daß die Geschichte von André und Ursula erst jetzt zu dem Buch des Friedens werden konnte, wie sie es einmal von mir forderten. Wenn ich heute höre, daß »André und Ursula« in allen deutschen Kriegsgefangenenlagern – von der Sowjetunion angefangen bis zu Frankreich – gelesen wird und von Hand zu Hand wandert, wenn ich höre, daß die Menschen in der zerstörten Heimat immer wieder begehren, das Buch zu besitzen, glaube ich, es verantworten zu können, den Roman noch einmal der Öffentlichkeit zu übergeben. Ich widme diese Neuauflage dem unbekannten Soldaten des zweiten Weltkrieges; unter welcher Fahne er auch gekämpft haben mag, ob er einen blauen oder grauen oder khakifarbenen Stahlhelm trug, ob er an der Front oder in der Heimat fiel, für eine Idee oder ein Vaterland sein Leben dahingab – heute und in alle Ewigkeit gehört er zu der großen Armee des Friedens. In den Ruinen von Frankfurt am Main, am Tage Allerseelen 1948 P. M. H.
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FÜR GEORGES GRAS † 1916 FÜR DEN FRANZOSEN P. L. † 1940 FÜR H. B. † 1943 UND IHRE KAMERADEN
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Der Krieg brachte hundertfachen Tod und schuf tausendfältiges Leben. Was wir fortan schaffen und streben, gründet sich auf die Tat unserer Toten. Sie haben sich für uns zum Opfer gebracht, und sie haben gewonnen, was auch wir gewinnen müssen, um es dauernd zu besitzen: d e n F r i e d e n . Auf dem Douaumont bei Verdun 25. Mai 1936
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Erster Teil DAS TAGEBUCH DES UNBEKANNTEN SOLDATEN
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Seit Tagen regnet es. Der graue Himmel scheint sich immer tiefer auf die Stadt herabsenken zu wollen. Die Übergänge zwischen Tag und Nacht verwischen sich in diesem bedrückenden Regengrau, das alle Farben in Dämmerung löst. Ich schlendre am Mainufer entlang, Hände in den Taschen vergraben, Mantelkragen hochgeschlagen. Neben mir wälzt der hochangeschwollene Fluß seine eiligen, trüben Wellen. Über den Dächern der Altstadt steigt der schwere Schattenriß des Domes empor, die Turmspitze ist schon nicht mehr sichtbar, sie verliert sich in der Wolkendecke. Wohl über eine Stunde laufe ich schon heraußen umher, planlos, ziellos. Ich achte des Regens kaum, der fein und durchdringend meine Kleider durchnäßt und meinen Körper langsam fühllos erstarren läßt. Bis in die Seele kriecht dieses nasse Unbehagen, es atmet sich so mühsam in dem Nebel und der Feuchtigkeit. Trotzdem setze ich meinen Spaziergang fort, unter den Brücken hindurch bis zum Industrieviertel des Osthafens hinaus, dann wieder zurück, dem Lauf des Flusses folgend, an den Altstadthäusern vorbei zur Untermainbrücke. Irgend etwas treibt mich vorwärts, immer weiter, immer weiter. Wahrscheinlich die Angst vor dem Alleinsein in dem Zimmer zu Hause. Es ist eine Flucht vor den Gedanken – eine unsinnige Flucht natürlich, denn sie folgen mir nach, überallhin, und wenn ich bis ans Ende der Welt laufen wollte. Ich wehre ihnen, aber sie geben mich nicht frei, sie nisten in irgendeinem Winkel meines Herzens, sie begleiten mich, wohin ich auch meine Schritte lenke. »Weißt du noch? Weißt du noch, damals …« Ach, dieses »Damals« umschloß eine Welt von Liebe und Glück, eine behütete, sorglose Kindheit, fröhliche
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Jungmädchenjahre – bis zu dem Tage, der sich heute zum ersten Male jährt. Dem Todestag meines Vaters. Meinen Gedanken glaubte ich davonzulaufen, als ich durch den grauen Regenabend lief, am Fluß entlang. Nur noch trauriger und bedrückter bin ich jetzt heimgekehrt – wenn man dieses möblierte Pensionszimmer in der Großstadt ein Heim nennen will. Da stehen meine Bücher auf den Regalen, da ist das Klavier, da sind die Noten, die Blumen und Bilder. Doch, ich habe es schön und wohl auch gemütlich hier. Meine Freunde beneiden mich nicht wenig um diese »ganz persönliche Bude«. Das Zimmer ist zum großen Teil mit meinen eigenen Möbeln ausgestattet und entbehrt daher all der schauderhaften Monstren, die man so gemeinhin in möblierten Zimmern findet – abgesehen von der Tapete, die mit ihrem rotgrünen Streifenmuster einen Hohn auf jeden guten Geschmack darstellt (ich werde sie zum Frühjahr abreißen lassen) und dem treuherzigen Plüschsofa mit Säulchenaufbau, das sein Dasein in einer halbdunklen Alkovennische fristet. Dafür besitze ich zwei herrliche weiche Klubsessel aus Vaters Arbeitszimmer, seinen Schreibtisch und einen resedafarbenen Teppich, der wunderhübsch zu dem Lichtgrün der Fenstervorhänge und dem Schirm der Stehlampe abgestimmt ist. Jetzt freilich entbehrt der Raum jeder Farbe; das häßliche Novemberdunkel draußen vor den Fenstern umgibt jeden Gegenstand mit grauen Schatten; die unbehagliche Nässe scheint durch die Hausmauern zu dringen, mich friert bis in die Seele. Unschlüssig stehe ich, immer noch im vom Regen nassen Hut und Mantel. Ob ich nicht doch lieber wieder fortgehe? In ein Café, ins Kino, zu einer Freundin?
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Dann aber schalte ich die Beleuchtung ein, lasse den Rolladen vor dem Fenster herunter und vertausche meine durchnäßte Kleidung mit einem wollenen Hausrock. Während das Teewasser auf dem elektrischen Kocher siedet, beginnt das körperliche Unbehagen langsam von mir zu weichen. Ich rede mir selbst gut zu (wie oft hab ich das schon getan!), während ich auf und ab gehe und mein Abendbrot zurichte. Schau, Ursula – so ungefähr lautet der altgewohnte Monolog –, du hast im Grunde gar kein Recht, unzufrieden zu sein. Dir geht es immer noch bedeutend besser als den meisten deiner Kameraden, trotz allem. Bist du nicht jung und gesund und fleißig? Hat dein Vater nicht in vorbildlicher Weise deinen Weg geebnet, hat er dir nicht ein kleines Vermögen hinterlassen, das dir die Fortführung deines Studiums ermöglicht? Befriedigt deine Arbeit dich etwa nicht, war es nicht von jeher dein heißester Wunsch, Lehrerin zu werden? Hast du nicht deine Kunst, deine schöne Singstimme, die du zu deiner eigenen Freude pflegen darfst? Heute ist ein dunkler Tag, aber gehen nicht auch die dunkelsten Tage vorüber? Beiß die Zähne zusammen, Ursula, vielleicht schlägt morgen schon deine gute Stunde. »Nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen.« Den Ausspruch Nietzsches habe ich eingerahmt über meinem Bett angebracht; unter dem Bild meines Vaters. Ach, diese Erinnerungen! Da treten sie schon wieder an mich heran, sie erfüllen das Zimmer, aus den Büchern, den Bildern, den Einrichtungsgegenständen lösen sie sich wie zarte Schatten und kommen auf mich zu. Da lasse ich den Kopf auf die verschränkten Arme sinken und weine ein wenig. Das Abendbrot räume ich später unberührt beiseite. Ich kauere in einer Sofaecke, mit hochgezogenen Beinen, und verfolge das zögernde Vorrücken der Zeiger auf der Wanduhr. 17
Jetzt schlägt sie zehnmal, dünn und hoch. Zu Hause hatten wir eine Standuhr, ein altmodisches, unförmiges Ding. Aber ihr Westminster-Glockenschlag bildete mein ganzes Entzücken. Abends vor dem Einschlafen vernahm ich regelmäßig das schöne Zusammenspiel der vier Viertelstundenschläge vor den dunklen, feierlichen Schlägen der zehnten Stunde. Ich nahm die Musik der Uhr mit in meine Träume. – Um die zehnte Abendstunde war auch Vater gestorben, ich entsinne mich, daß die Uhr schlug, als ich ihm die Augen schloß. Meinen Vater habe ich geliebt. Er war so still, so gütig, es ging so viel Ruhe von ihm aus. Trotz seines ernsten und fast traurigen Wesens hat er es verstanden, meine Kindheit froh und hell zu machen. Er war mir Vater und Mutter zugleich. Bei ihm war die Heimat meines Herzens. Auch als ich später räumlich von ihm getrennt leben mußte, war er mir nahe, immer, immer. Ich wußte, daß er nur für mich lebte, und ich kannte keinen Menschen außer ihm. Heute erkenne ich, daß sich ein junger Mensch nicht straflos zu sehr in seine eigene Welt einspinnen darf. Meine Welt – die Liebe meines Vaters – hatte mich so restlos ausgefüllt und beglückt, daß ich die Freundschaft mit jungen Leuten meines Alters nie entbehrt und gesucht hatte. So fand ich mich nach Vaters Tod plötzlich allein, auf eine trostlose und endgültige Weise allein. Eine Heimat war mir genommen worden, und ich blieb mit leeren Händen und leerem Herzen zurück. Daß es an mir, nur an mir, gewesen wäre, aus dieser Vereinsamung herauszufinden, wurde mir erst viel später bewußt; damals, als ich das Glück hatte, auf der Universität jenen kleinen Kreis junger Menschen kennenzulernen, die mich fast gewaltsam aus der Stumpfheit eines allzusehr auf das
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eigene Ich begrenzten Daseins rissen und mir den Gemeinschaftssinn weckten. Heute könnte ich mir ein Leben ohne die Studiengenossen nicht mehr denken. Und ich weiß, daß auch sie mich gernhaben, daß jeder einzelne unter ihnen mir ein Freund ist. Sie sind es gewöhnt, mich bisweilen meine eigenen Wege gehen zu lassen. Sie respektieren meine Trauer, meinen Schmerz um den Toten und verstehen es in seltenem Feingefühl, sich mir fernzuhalten, wenn ich allein zu bleiben wünsche. Sie wissen, daß ich immer wieder zu ihnen zurückfinde. Heute, gerade heute aber, drückt mich das Alleinsein so entsetzlich nieder, daß ich sie am liebsten alle um mich hätte. Schon habe ich den Entschluß gefaßt, wenigstens Liesel und den langen Weber anzurufen, als mir einfällt, daß sie zum Wochenende in den Taunus gefahren sind. – Gib es auf, Ursula. Du entrinnst der Schwermut dieses Tages nicht mehr – du bist allein, und du mußt damit fertig werden. So helft ihr mir doch, ihr Bücher, ihr Bilder, ihr Noten! Helft ihr mir doch über diese Stunde hinweg, tröstet mich ein wenig, lenkt mich ab! Was soll ich nur beginnen? Zu meiner Wirtin in die Küche hinausgehen und einen kleinen Schwatz mit ihr machen? Schlafen kann ich doch nicht. In der Küche ist kein Mensch, aber nebenan aus dem Zimmer dringen Stimmen. Die Müllers haben wohl Besuch bekommen. Für gewöhnlich sitzen die beiden Alten abends in der Küche. Wo ist denn die Munni heute? Ich rufe sie leise, da kommt sie schnurrend aus der Tiefe des Backofens hervor und reibt ihren dicken grauen Kopf schmeichelnd an meinen Beinen. »Munni-Munni, willst du ein bißchen zu mir herüberkommen?« Ich hocke mich auf den Fußboden und streichle das schöngezeichnete seidige Fell des Katers, dessen 19
Besitzerin ihm seltsamerweise einen weiblichen Namen zugelegt hat. »Geh her, liebe Munni, ich nehme dich mit mir!« Ich will ihn auf den Arm nehmen, aber er wehrt schroff ab. Bei einem nochmaligen Versuch, ihn zu packen, versetzt er mir einen ordentlichen Krallenhieb auf die Hand. Dann begibt er sich beleidigt in sein Backofenbett zurück. Launen einer Katze. Sonst mag er mich so gern. Also, dann nicht, Munni. Gute Nacht. Ich drehe das Licht wieder ab und kehre in mein Zimmer zurück. Am besten, man arbeitet etwas. Ich setze mich an den Schreibtisch und nehme meine Kolleghefte vor. Während ich mich damit abmühe, die krausen Häkchen und Pünktchen meines Stenogramms zu entziffern und in Kurrentschrift zu übertragen, fällt mir ein, daß ich den Anruf bei Nora vergessen habe. Sie wollte den Don Quijote in der spanischen Originalfassung von mir geliehen haben; ich entsann mich, das Buch aus Vaters Bibliothek mitgebracht zu haben, wußte aber nicht mehr, wohin ich es gelegt hatte. Auf dem Regal bei den übrigen Bänden stand es jedenfalls nicht – ich versprach Nora, heute abend gleich danach zu suchen und ihr telephonisch Bescheid zu geben. Sie verreist morgen auf einige Tage und wollte das Buch gern mitnehmen. Zu dumm, daß ich das vergessen habe. Das Mädel wartet sicher mit Schmerzen auf meinen Anruf. Sie für ihre Person vermeidet es ängstlich, sich die Kosten eines Telephongesprächs aufzuladen. Sie muß mit jedem Pfennig rechnen, für einen Groschen kann man sich immerhin nützlichere Dinge als einen Anruf leisten. Ich bin froh, einen Grund zur Unterbrechung meiner langweiligen Arbeit gefunden zu haben. Wo könnte das Buch nur stecken? Überall sehe ich nach, dann fällt mir ein, daß sich im linken Schreibtischfach noch einige Bücher aus Vaters Besitz befinden müssen. Ich habe die 20
abgegriffenen Bände vor einem Jahr dort untergebracht, um sie später einmal neu binden zu lassen. Nach einigem Zögern lasse ich das Rollfach herunter. Ich habe seit Vaters Tod noch keinen Blick auf den Inhalt der einzelnen Schubfächer geworfen. Ich wußte, daß dort Persönlichstes aufbewahrt wurde. Vielleicht ist heute der richtige Tag, Zwiesprache mit den alten Erinnerungsstücken zu halten. Bisher fürchtete ich stets, eine offene Wunde damit anzurühren. Im Augenblick aber ist mir der Gedanke tröstlich, mich mit Dingen zu beschäftigen, die Vater einmal lieb und teuer waren und mir sein Gedächtnis nur noch lebendiger vor die Seele zu rufen vermögen. Da liegt der Don Quijote in dem untersten Fach. Ob Nora schon zu Bett gegangen ist? Auf meinen Anruf meldet sich ihre Wirtin. Das Fräulein sei ausgegangen, mit dem Herrn Peter. Wohin? Das wüßte sie nicht genau, wahrscheinlich zum Tanzen; Fräulein Nora habe das lange Kleid angehabt, als sie fortging. – Ob sie nichts hinterlassen habe? Nein – das heißt, doch, aber das betreffe nicht mich, sondern den großen Herrn – wie heißt er doch gleich? – Bertram oder Bertmann. Dem solle sie nämlich sagen, falls er anrufe, Fräulein Nora sei verreist. Aus. Na, so groß scheint das Interesse an dem Buch ja gerade auch nicht gewesen zu sein. Sie geht zum Tanz, und mir jammert sie vor, daß sie unbedingt ihrer kaputten Nerven wegen ein paar Tage ausspannen müsse. Irgendwohin aufs Land, wo es ganz, ganz still sei. Sprach’s und pumpte mich mit Erfolg um dreißig Mark an. Nun ja. Trotzdem bin ich ihr irgendwie dankbar. Sie war es jedenfalls, die mich auf die beste Lösung brachte, diesen trüben Abend zu verwinden.
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Und dann sitze ich wieder vor dem Schreibtisch, die oberste Lade ist herausgezogen, schön geordnet liegt der Inhalt vor mir. Leise streiche ich mit den Händen darüber hin. Seidenpapier knistert unter der Berührung, darunter schimmert etwas Weißes, Glänzendes: die Atlasschleife vom Brautbukett meiner Mutter. Ich lege das Päckchen ungeöffnet beiseite. – So mag eine Frau ihre kleinen Kostbarkeiten aufbewahren, so fast pedantisch ordentlich und liebevoll Stück für Stück zusammengetragen. Da liegen Briefe, Photos, Notizbücher, Kalender, Ansichtskarten, alles gebündelt und verschnürt. Ein großer weißer Umschlag trägt die Aufschrift: »Briefe meiner lieben Irene, 1905/06«, Mutters Brautbriefe. Ein Kästchen enthält »Bilder meiner kleinen Ursula«, meine Geburtsanzeige, getrocknete Blumen und ein weißes Seidenband. Ich lege alle diese Gegenstände schnell beiseite. Zuviel spricht mich daraus an, zuviel Liebe und zärtliches Gedenken. Meine ersten Schulhefte hat er sorgsam aufbewahrt, die Zeugnisse der Abc-Schützin, dann ein schmales blaues Heft, das meine ersten poetischen Versuche enthält, meist Kriegsgedichte, in denen es von »Schlachtendonner«, »’ran an den Feind!«, »Franzosen mit roten Hosen« und »Heldentum und Siegesruhm« nur so schmettert. Diese Ergüsse waren übrigens durchaus nicht nach dem Herzen meines Vaters gewesen; ich entsinne mich noch, wie er damals kopfschüttelnd das Heft betrachtete, das mit patriotischen Bildern geschmückt war, mit der gereimten Schilderung eines Fliegerangriffs auf unsere kleine Stadt endete und mit der Bitte an den lieben Gott, uns Deutschen doch recht bald zu einem Sieg über das »Feindesheer in Ost und West« zu verhelfen. »Findest du das nicht schön, Vati?« fragte ich bedrückt, denn sein Gesicht schien mir ernst und fast traurig, und mir schlug das Herz, als hätte ich ein schlechtes Schulzeugnis mit nach Hause gebracht. »Gefällt es dir nicht, Vati?« 22
»Nein, es gefällt mir nicht«, sagte er, aber böse schien er mir nicht zu sein, denn er streichelte mir übers Haar und zog mich sanft an sich, als er etwa so fortfuhr: »Dir bin ich nicht böse, kleine Ursula. Aber weißt du, deine selbsterdachten Märchen, die Geschichten von den kleinen Wichtelmännern und den Feen am Waldsee gefallen mir nun einmal besser als – als das da!« Das sagte er mit einer Handbewegung auf das Heft, in das ich Zeitungsausschnitte mit Eisernen Kreuzen, Bildern des Kaisers und Hindenburgs eingeklebt hatte und auf dessen erster Seite in schwungvoller roter Tintenschrift prangte: »Mit Gott für Kaiser und Vaterland!« Die Franzosen schien ich übrigens besonders tief verabscheut zu haben. »Der Franzmann muß für seine Sünden die fürchterlichsten Strafen finden! Vernichte bald mit Haut und Haar du, lieber Gott, die Feindesschar!« Mein Haß gegen Frankreich wurzelte nicht zuletzt in der unüberwindlichen Abneigung gegen die Lehrerin, die uns französischen Unterricht erteilte und meine Arbeiten stets mit vier oder fünf zu zensieren pflegte. Sie hieß Fräulein Horneisen und sah auch so aus. Ich habe häßliche Menschen nie leiden mögen; meine Lehrerin aber war »bildhäßlich«, wie Vater sich ausdrückte. Zudem schwärmte sie für »romanische Kultur« und hegte eine tiefe Liebe für alles Französische in ihrem altjüngferlichen Busen. Eine Sympathie, die damals nicht gerade zeitgemäß und erwünscht war. Die gute Horneisen ließ tatsächlich keine Gelegenheit vorübergehen, um Frankreich als »ritterlichen Feind« mehr oder weniger versteckt in Schutz zu nehmen. Im übrigen war sie eine wackere Patriotin und wurde deshalb auch weiterhin in der Schule geduldet. 23
Ich haßte sie jedenfalls und quittierte ihre häufigen Bemerkungen, daß ich im Fremdsprachenunterricht geradezu erschütternd unbegabt sei und für die Eleganz und Schönheit der französischen Sprache niemals auch nur das geringste Verständnis zeigen würde, mit erbittertem Trotz. Heute studiere ich diese elegante und schöne Sprache als Hauptfach. Man rühmt meine Begabung, und in den Konversationszirkeln, die ich nebenher besuche, glänze ich durch akzentfreie Aussprache. Nicht selten wurde ich schon (von Deutschen allerdings) für eine gebürtige Französin gehalten. Jedenfalls werde ich nun in einigen Jahren in Fräulein Horneisens Fußspuren treten und armen kleinen Schulmädchen mit unregelmäßigen Verben das Leben verbittern. Ob sie dann das Fräulein Hartmann nicht trotzdem liebgewinnen können? Ich streiche mir über die Stirn. Wie lange hab ich schon wieder geträumt über diesen alten Briefen und Büchern. Es war gut, daß ich mich heute an den Inhalt des Schreibtisches machte. Jetzt bin ich müde geworden, müde, nicht schläfrig. Es wäre Zeit, sich hinzulegen. Ob ich alles liegenlasse und morgen früh weitermache? Ich zünde mir eine Zigarette an, kauere mich behaglich in meinem Sessel zurecht und nehme mir dann doch wieder einen Stoß Briefe vor. Während ich schon wieder mit dem Einräumen beschäftigt bin, fällt mir ein kleines Paket in die Hände. »Für Ursula«, steht in den großen, festen Schriftzügen meines Vaters auf dem Papier. Sollte das etwa – nein, wenn er ein Testament aufgesetzt hätte, müßte Dr. Heinrich davon wissen. Mit leicht zitternden Fingern löse ich die Verpackung. Ein kleines Buch, in rotes Leder gebunden, ziemlich verschmutzt und zerschlissen der Umschlag, kommt zum Vorschein. Verwundert drehe ich den schmalen Band in den Händen. Das kenne ich doch … woher nur? Die obere Kante ist völlig zerfetzt, ein fast kreisrundes Stück scheint 24
herausgerissen, herausgeschlagen zu sein. Ich schlage die erste Seite auf und lese: «Cet agenda appartient à André Duval, né le 25 mai 1896 à Paris, mobilisé le 4 août 1915; au moment de la mobilisation étudiant en médecine à Nancy.» Feine Schriftzüge auf vergilbtem, rauchgeschwärztem Papier. Ein Geruch wie von verwelkten Blumen und verbranntem Herbstlaub scheint aus den Seiten aufzusteigen. Dieser leise Duft ist es vor allem, der plötzlich eine Erinnerung vor mich stellt, ein Bild, das von Glockenläuten umrauscht und von unablässig fallendem Schnee zunächst wie in dunstige Schleier gehüllt ist. Das kleine Buch liegt auf meinem Schoß, ich habe die Hände darüber gefaltet wie über einem Kreuz. André Duval! Der unbekannte Soldat des Weltkrieges, dessen Name im Laufe der Jahre völlig aus meinem Gedächtnis geschwunden war; ich wußte ja im Grunde kaum mehr von ihm als den Namen und die Tatsache, daß er im Sommer 1916 vor Verdun für sein Vaterland gefallen war. Denn ich war noch ein Kind, als der französische Frontkämpfer zum erstenmal in mein Leben trat, als mir seine Aufzeichnungen von jenem kriegsblinden Soldaten zum Geschenk gemacht wurden. Alle Glocken der kleinen Stadt läuteten damals die dritte Kriegsweihnacht ein. Die schmalen Gassen lagen schon im Dunkel, der Schnee fiel in dichten Flocken seit den frühen Nachmittagsstunden. Gegen fünf Uhr, als die ehernen Stimmen von den Kirchtürmen den Anbruch der Christnacht kündeten, stapften wir durch den Schnee, eine kleine Kinderschar unter Führung der Klassenlehrerin. Es ging zur Bescherung der verwundeten Soldaten ins Lazarett vor der Stadt. Wie kleine Weihnachtsmänner nahmen wir uns aus in der Vermummung von Kapuzen und dicken Mänteln; wir trugen umfangreiche Liebesgabenpakete mit uns, manche hatten sich kleine Rucksäcke oder den Tornister auf den Rücken geschnallt. Wir glühten vor Eifer und Erwartung – 25
wie sehr würden sich die armen verwundeten Soldaten über unseren Besuch und die schönen Geschenke freuen! Dann der große, langgestreckte Raum mit den schmalen, weißen Betten, der durchdringende Duft von Karbol und anderen scharfriechenden Essenzen, der sich auf so befremdliche Art in den lieben, weihnachtlichen Harzduft der großen Tanne mischte! Scheu und verlegen standen wir am Eingang des Saales, in den Betten lagen die Verwundeten halb aufgerichtet und sahen uns entgegen. Die Lehrerin gab ein Zeichen, und wir begannen mit sehr unsicheren Stimmen zu singen: »Ihr Kinderlein kommet!« Gleichzeitig zündete eine Krankenschwester die Kerzen an dem Baum an. Eine andere öffnete eines der Fenster, draußen schwangen immer noch die Glocken, so laut und stark, daß sie unseren Gesang fast übertönten. Es war schon gut, daß beim zweiten Lied: »Stille Nacht, heilige Nacht« ein paar Männerstimmen einfielen. Fünf oder sechs Soldaten sangen mit uns, die übrigen saßen und lagen ganz still in ihren Betten, manche hatten das Gesicht in den Kissen vergraben, andere wieder sahen starr geradeaus, an uns vorbei, als sähen sie uns nicht. »Macht das Fenster zu!« rief es aus einem Bett. Fror der Mann denn so sehr? Dabei lag er weitab vom Fenster. Trotzdem zog er sich die Decke über die Ohren. Drei Betten weiter weinte jemand. Es war ein noch junger Mann, und ich schämte mich für ihn, weil er wie ein kleines Kind plötzlich laut zu schluchzen begann. Dann aber war das Lied zu Ende, die Schwester schloß das Fenster wieder, und wir konnten endlich mit der Bescherung beginnen. Jedes Kind hatte einen Soldaten zu beschenken, so war es von der Lehrerin bestimmt worden. Unsere Klasse 26
bestand aus fünfundzwanzig Schülerinnen, fünfundzwanzig Betten waren im Saal, davon standen allerdings vier leer. Vielleicht waren heute vier Leute entlassen worden, denn unsere Lehrerin hatte sich genau erkundigt und gestern noch Bescheid bekommen, daß auf dieser Station genau fünfundzwanzig Verwundete lägen. So blieben uns vier Liebesgabenpakete übrig, aber die wollten wir schon richtig aufteilen. Manche von uns hatten sich während des Weihnachtsliedes schon im stillen »ihren« Soldaten ausgesucht. Ich schwankte zwischen dem jungen Mann, der geweint hatte, und einem bärtigen Hageren mit einer Stirnbinde, der so besonders lieb aussah und mich an Vater erinnerte. Aber wie es so geht: ich bekam keinen von beiden; denn die Vorwitzigsten unter uns stürzten sich förmlich auf die einzelnen Betten, und so kam es, daß der Kleine, der geweint hatte, von fünf, sechs Kindern umringt war, während andere leer ausgegangen wären, wenn die Lehrerin nicht Ordnung gestiftet und uns zu den einzelnen hingeführt hätte. »Mein« Soldat war ein auffallend bleicher Mann. Er saß halb aufgerichtet, als ich an sein Bett trat. Sein Gesicht war mir zugewandt, es trug einen fragenden Ausdruck. Mir schnürte sich das Herz in bitterem Weh zusammen: er trug eine schwarze Binde über den Augen. Er war blind. Zum Glück gesellte sich eine der Rotkreuzschwestern zu mir. »Da ist Ihr Besuch, Herr Bauer«, sagte sie fröhlich. »So ein liebes kleines Mädchen! Sie hat Ihnen ein feines Paket mitgebracht, warten Sie, ich packe es Ihnen aus, wir wollen doch gleich sehen, was das Christkind Ihnen zugedacht hat.« Sie machte sich geschäftig über das umfangreiche Paket her, das so schön in buntes Weihnachtspapier eingeschlagen war und einen Tannenzweig mit silbernem Band umwunden auf der Verpackung trug.
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Ich zog mir einen Stuhl heran und nahm an der Seite des Verwundeten Platz. Eine tastende Hand näherte sich mir, ich umschloß sie und drückte sie krampfhaft. »Das ist aber lieb von dir, mich zu besuchen«, sagte der Blinde. Seine Stimme klang merkwürdig trocken. Ich hatte Angst vor seinem Gesicht, dessen obere Partie mir die schwarze Binde verbarg. Von der Nase aufwärts bewegte sich kein Muskel in diesem Antlitz, nur der Mund und das Kinn waren lebendig. Er wollte wissen, wie ich heiße, ob mein Vater auch im Kriege sei, ob ich Geschwister hätte und vor allem wie ich aussähe. Ich berichtete alles, was er wollte, und zwang mich, einen genauso fröhlichen Klang in meine Stimme zu legen wie die junge Schwester. Die hatte inzwischen meine Gaben ausgepackt und alles auf der Bettdecke aufgetürmt. Dann ging sie weiter, und der Blinde tastete mit seinen mageren Händen über jedes einzelne Stück hin, lobte die wollenen Socken, die ich selbst gestrickt hatte, die Pulswärmer, die feinen Zigarren, die Kognakflasche und den Kuchen. »Ja, ins Feld werde ich nicht mehr hinaus müssen«, sagte er, und jetzt lächelten der Mund und das Kinn ein wenig. »Ich bin blind, weißt du. Ein Kopfschuß, im Herbst an der Westfront. – Nächsten Monat darf ich nach Hause fahren, nach Oberbayern, da habe ich einen kleinen Bauernhof. Oh, da ist es schön, das müßtest du einmal sehen! Meine Kinder spielen den ganzen Tag in dem großen Garten, ich habe ihnen auch eine Schaukel zwischen den Obstbäumen angebracht …« »Haben Sie viele Kinder?« fragte ich rasch, weil er plötzlich wieder so traurig aussah. »Drei – die älteste ist in deinem Alter, sie heißt Liesel und ist ein lustiges kleines Ding. Dann noch zwei Buben. Denk einmal, den jüngsten, das Peterchen, kenne ich noch gar nicht. Der kam erst vor drei Monaten auf die Welt. Bin gespannt, wie er aussieht, der kleine …« 28
Wieder brach er mitten im Satz ab. »Und Ihre Liesel – die wird sich aber freuen, wenn der Vater heimkommt!« wechselte ich das Thema. »Ja, sie ist ein gutes Kind«, sagte er. »Ich bilde mir ein, daß du ihr ähnlich sehen mußt, denk einmal! Du hast die gleiche Stimme – sag, hast du auch so lustige braune Augen? Und so eine kleine freche Nase? Lachst du auch so gern? Und deine Haare, sind sie blond oder glatt? – Nein, sag es mir nicht. Laß mich nur einmal über dein Haar streichen, dann werde ich merken, ob ich recht geraten habe!« Nur mühsam hielt ich noch die Tränen zurück. Er fuhr mir mit der Rechten langsam über den Kopf. »Siehst du«, meinte er triumphierend, »deine Zöpfe sind genauso glatt und fest geflochten wie die meiner Liesel. Nun, hab ich nicht recht gehabt mit der Ähnlichkeit?« Sollte ich ihm sagen, wie sehr er sich geirrt hatte? Meine Augen sind blau, meine Haare dunkel und gar nicht glatt, sondern lockig. Und ich lachte auch nicht so sehr oft, sicher nicht so oft wie das kleine Mädchen in Oberbayern. Aber ich zwang mich, zu lügen, und sagte ihm, daß er wunderbar geraten hatte, das mit der Ähnlichkeit zwischen mir und Liesel. Und fügte noch hinzu, daß »Liesel« ein sehr schöner Name sei und mir viel besser gefalle als »Ursula«. »Du bist ein gutes Kind«, sagte der Soldat. Seine große abgezehrte Hand, vor der ich mich immer noch ein wenig fürchtete, suchte wieder tastend mein Gesicht und strich sanft darüber hin. »Warte, ich will dir etwas schenken, ein Andenken aus dem Kriege. Das mußt du dir gut aufbewahren, hörst du? Denn du wirst seinen Wert erst erkennen, wenn du groß bist. – Lernt ihr übrigens Französisch in der Schule?« Ich wurde furchtbar rot und bekam Herzklopfen. Wie verfiel er nur darauf? Was hatte das mit dem Geschenk zu tun, das er mir machen wollte?
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Ich stotterte etwas von »erst seit einem Jahr«, und ich würde es bestimmt noch gut lernen, mit der Zeit. Zum Glück hörte er gar nicht zu. Seine Hände tasteten seitwärts nach der Schublade des Nachtschränkchens. Dann brachten sie einen mit Zeitungspapier umwickelten Gegenstand. »Hier, kleine Ursula, schau nach, was darin ist«; er legte das Päckchen in meine Hände. Neugierig schälte ich es aus seiner Umhüllung, und dann kam das kleine zerfetzte Buch zum Vorschein, der rote Lederband, dessen obere Kante im Halbrund mit einem scharfen Messer abgeschnitten zu sein schien. Ziemlich enttäuscht drehte und wendete ich das kleine Ding hin und her. Ein Weihnachtsgeschenk? Solch ein altes, schmutziges Notizbuch? »Schlag einmal die erste Seite auf«, sagte der Blinde. »Da steht der Name des Mannes, dem das Buch gehörte. Kannst du es lesen? – Ein Kamerad hat es mir übersetzt, der verstand ein wenig Französisch und hat auch das halbe Buch gelesen, während wir in Ruhestellung lagen. Der sagte, dieser gefallene Franzose müßte ein wunderbarer Mensch gewesen sein. – Paß einmal auf, kleine Ursula, ich will dir die Geschichte dieses Buches erzählen: Es gehörte einem jungen französischen Soldaten, der es immer bei sich trug und seine Kriegserlebnisse darin niederschrieb. Es war ein Student, das steht auf der ersten Seite, du kannst es nachlesen. Gerade zwanzig Jahre war er alt, als er fiel. – Es war bei dem Dorf Fleury in der Nähe von Verdun, im Sommer dieses Jahres. Nach einer furchtbaren Schlacht durchsuchten wir die Gefallenen nach Verbandspäckchen für unsere Verwundeten. Der Mann, dem das Buch da gehörte, lag dicht vor einem erstürmten Graben. Er mußte an einem Herzschuß gestorben sein; und denk dir, kleines Mädchen, das Buch, das du jetzt in deinen Händen hältst, ist von derselben Kugel durchbohrt, die seinem Besitzer 30
den Tod brachte. Er trug es in seiner linken Brusttasche; du wirst noch Blutspuren auf den Blättern finden. Ich nahm das Buch an mich, ich weiß selbst nicht, was mich dazu getrieben hat. Den Inhalt konnte ich ja nicht lesen. Trotzdem hab ich es wie ein Heiligtum gehütet und immer mit mir herumgeschleppt. Ich wollte es mir nach dem Kriege von einem übersetzen lassen, der es versteht. – Aber nun ist mir alles gleichgültig geworden. Zwei Monate später wurde ich verwundet und weiß jetzt, daß ich nie wieder sehen werde. – Du hast mir heute so viel Freude bereitet mit deinem Besuch, liebe, kleine Ursula, daß ich mich gern von dem französischen Tagebuch trenne, um es dir zu geben. Du wirst es in Ehren halten; nicht wahr, das versprichst du mir?« Ich wagte während seiner Erzählung kaum mehr zu atmen. Begierig las ich ihm die Worte förmlich vom Munde ab. »War er wirklich ganz tot, der arme Soldat?« »Ja, darauf kannst du dich verlassen. Sein Rock war blutgetränkt. Aber denk nicht zuviel über diese Dinge nach. Der Mann hat ein leichtes und schönes Ende gehabt. – Ich beneide ihn«, setzte er leise hinzu. »Wie sah er aus?« wollte ich wissen. Jetzt lächelte er ganz leicht. »Ja, mein Kind, was soll ich dir sagen? Ich habe so viele Tote gesehen, daß ich mich der einzelnen natürlich nicht mehr entsinnen kann. Zum Schluß schwebt einem nur noch ein Gesicht vor – ein einziges furchtbares Gesicht … Aber was rede ich da! Dieser Franzose war sicher ein schöner, junger Bursche, doch ich weiß noch, daß er groß und schlank war und braune Locken hatte, das heißt, sie können auch blond gewesen sein …« »Und seine Augen?« »Die waren geschlossen. So wie bei einem Schlafenden. – Aber nun frag nicht mehr soviel, Kleine. Die Toten soll man ruhen lassen, nicht wahr? Wenn du groß bist, kannst du ja lesen, was der Gefallene in sein Buch geschrieben hat. Sicher 31
wirst du manches daraus lernen können, denn wenn so ein Soldat schreibt, schreibt er ja eigentlich für uns alle. Was er erlebt hat, ist wohl das Schicksal eines jeden Frontkämpfers, ganz gleich, unter welcher Fahne er nun in den Krieg gezogen ist. – Dein Vater ist ja ein studierter Mann, gib ihm das Buch, er wird dir vielleicht jetzt schon manches daraus erzählen können. Am besten, er hebt es für dich auf.« »Aber es gehört mir!« sagte ich rasch. Mit beiden Händen preßte ich den kleinen, abgegriffenen Band, der mir nun mit einemmal wie ein sehr teurer Besitz vorkam, an meine Brust. »Natürlich gehört es dir, ich hab es dir ja geschenkt«, beruhigte mich der Soldat. »So, und nun gib mir deine Hand, kleines Mädchen. Ich will mir vorstellen, daß jetzt meine Liesel hier bei mir sitzt – ist es nicht wunderbar, daß du ihr ähnlich siehst? Ich hab es doch gleich gewußt, als du vorhin zu mir kamst. Jetzt lachst du, nicht wahr? Deine kleine Nase zieht sich in Falten dabei – habe ich recht? Komm, bleib noch ein wenig bei mir, du brauchst gar nicht mehr zu reden, ich will nur deine Hand halten und mir einbilden, daß ich zu Hause bei Frau und Kindern bin.« Er irrte sich mit jedem Wort, das er sagte. Und ich lachte gar nicht, mir war eher zum Weinen zumute. Bald darauf nahmen wir Abschied, nachdem wir noch ein Weihnachtslied gesungen hatten. Diesmal aber sangen die meisten der Verwundeten mit uns, und auch die beiden Rotkreuzschwestern und der Sanitäter: »O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit …« Die Kerzen an dem hohen Baum flackerten im Abbrennen, draußen schwangen immer noch die Glocken, und es war so friedlich und feierlich in dem großen Raum mit den weißen
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Betten, als ob es auf der ganzen Welt keinen Krieg und keine Blinden und keine gefallenen Soldaten gäbe. So trat der Tote André Duval zum erstenmal in mein Leben. – Ich hatte sein Buch damals meinem Vater nach Hause gebracht, der nahm es an sich, hörte meinen Bericht an und machte sich noch am gleichen Abend an die Lektüre. Ich entsinne mich, schlaftrunken in einer Sofaecke gekauert zu haben, meine Puppe im Arm; am Schreibtisch saß Vater, den Rücken mir zugewendet, über das Buch gebeugt. Er las und las und schien meine Anwesenheit völlig vergessen zu haben. In dichte Rauchwolken gehüllt saß er; ich sah, wie seine Hände zitterten, wenn er sich eine neue Zigarette anzündete. Manchmal wandte er sich nach mir um und nickte mir zu. Gegen zehn Uhr kam das Mädchen und brachte mich zu Bett. »Willst du noch nicht schlafen gehen, Vater?« fragte ich beim Gutenachtkuß. »Nein, mein Herzchen; erst will ich dieses Buch hier zu Ende gelesen haben. Du hast mir da etwas sehr Kostbares ins Haus gebracht, kleine Ursula. Ich werde morgen selbst zu deinem Blinden gehen und mich noch einmal bedanken.« »Verstehst du denn alles, was da geschrieben steht?« fragte ich und sah über seine Schulter in das aufgeschlagene Buch. »Aber natürlich, und dann habe ich ja auch ein Wörterbuch hier liegen, wie du siehst, für alle Fälle; bis jetzt habe ich es aber noch nicht zu Rate ziehen müssen«, sagte er und zog mich auf seinen Schoß. »Lies mir doch etwas vor«, bat ich. »Nein, kleine Ursel, du hättest wenig davon, du bist noch zu jung, um das verstehen zu können«, wehrte er ab. »Ich erzähle dir morgen die Geschichte des André Duval, soweit sie dir noch nicht bekannt ist, ja?« Ich bettelte noch ein wenig, dann aber ließ ich mich mit dem Versprechen verabschieden, daß ich Wort für Wort alles
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erfahren würde, was der arme fremde Soldat da in dem kleinen Büchlein niedergeschrieben hatte. Vor dem Einschlafen dachte ich noch an ihn, ich sah ihn vor mir mit zerschossener Brust, den jungen Mann aus Paris, den André – wie hieß er doch gleich weiter? – André. Der Name war sehr schön. André. Ein Franzose. Ich fuhr mit einemmal ganz aufgeregt in die Höhe. Barmherziger, hatte ich denn ganz und gar vergessen, daß dieser Tote ein Feind Deutschlands gewesen war? Hatte er nicht auf unsere Soldaten geschossen, ehe er fiel? Durfte ein braves deutsches Kind so heiße Trauer um einen gefallenen Feind im Herzen tragen? Hatte ich nicht jeden Tag zum lieben Gott gebetet, daß er unsere Feinde vernichten möge? Und gar die Franzosen! Zum erstenmal geriet ich mit mir selbst, mit meinem glühenden kindlichen Patriotismus in Widerspruch und begann an der Unfehlbarkeit aller Dinge zu zweifeln. Mein Herz war von Trauer um den toten Franzosen erfüllt, und mein kindlicher Verstand redete mir zu, daß ich damit ein furchtbares Unrecht an meinem Vaterland beginge. Der Widerstreit löste sich in bitteren Tränen. »Lieber Gott, sag du mir doch, ob ich recht oder unrecht tue«, betete ich und schluchzte mich in den Schlaf. Tags darauf hatte ich eine Unterredung mit Vater, die in ihrer Eindringlichkeit und entscheidenden Wichtigkeit für mein ganzes späteres Leben jetzt wieder Wort für Wort in meiner Erinnerung aufleuchtet. In warmen, bewegten Worten hatte er zu mir von der Liebe gesprochen, die allumfassend ist, die auch in dem Gegner des eigenen Volkes noch den Menschenbruder sieht. »Denn dieser gefallene Franzose«, sagte Vater, »steht dem Herzen Gottes genauso nahe wie jeder Deutsche, jeder Engländer, jeder Russe. Verstehst du das, Ursula? Sie alle 34
zogen doch für ihr Vaterland in den Krieg, und wenn sie starben, so starben sie um der ganzen Menschheit willen. Um uns dereinst den Frieden zu bringen.« »Aber die Franzosen sind doch unsere Feinde, sie schießen doch unsere armen Feldgrauen tot«, gab ich zu bedenken. »Es wird eine Zeit kommen, in der das Wort Feindschaft keinen Platz mehr haben darf zwischen den Völkern«, entgegnete Vater. »Aber du bist noch zu klein, um das alles verstehen zu können, Ursel. Wenn du einmal groß bist, werden die Menschen es wohl gelernt haben, ohne Haß auf den einstigen Gegner an diesen Krieg zurückzudenken. Und sie werden mit Verehrung und Dankbarkeit seiner Toten gedenken, der Gefallenen aller Völker, die ihr Blut dahingaben, um der ganzen Welt den Frieden zu erkämpfen.« »Frieden für alle, Vater? Auch für die Franzosen und die Russen und …« »Für alle, Ursula«, wiederholte er sehr ernst. »Für alle, die guten Willens sind.« Ich dachte einen Augenblick angestrengt nach. »Aber wir werden doch siegen«, warf ich dann ein. »Gibt es dann einen richtigen Frieden auch für die anderen, die wir besiegt haben?« »Das käme auf den Sieger an, auf sein Gefühl für Gerechtigkeit«, sagte Vater. »Wenn er nicht guten Willens ist, wenn er dem geschlagenen Gegner späterhin die versöhnliche Bruderhand verweigert, wird es einen wahrhaften Frieden auf dieser Welt wohl nie geben können, wenigstens keinen dauerhaften.« »Oh, wir werden schon großmütig gegen unsere geschlagenen Feinde sein«, warf ich mich stolz in die Brust. »Woher weißt du denn so genau, daß wir Deutschen siegen werden?« fragte Vater und lächelte ein wenig. »Aber, Vater, wie kannst du so etwas fragen!« verwies ich ihn ganz entrüstet. »Es ist doch klar, daß wir siegen, unsere 35
Lehrerin sagt es, und in den Zeitungen steht es, und – überhaupt, wo wir doch eine Schlacht nach der anderen gewinnen! Und dann kennst du doch das Lied, das wir immer in der Schule singen: ›Im Streite zur Seite ist Gott uns gestanden. Er wollte, es sollte das Recht siegreich sein!‹ Wir sind doch im Recht, Vater, das hast du doch selbst schon so oft gesagt!« Jetzt zog er mich zärtlich an sich. »Liebes kleines Mädchen, reg dich doch nicht so auf! Du hältst deinen Vater am Ende noch für einen schlechten Patrioten, was? Sei beruhigt, Ursel, ich bin ganz wie du der Meinung, daß es um unsere deutsche Sache gut bestellt ist. Aber denk immer daran, daß auf der ganzen Welt, in jedem Lande, ungezählte Menschen denselben heißen Wunsch haben wie du und ich, wie alle Deutschen: daß ihnen der Sieg zuteil werden möge. Ungezählte Gebete in allen Sprachen steigen täglich, stündlich zum Himmel auf: Herr, gib uns den Sieg!« »Ja, wem soll der liebe Gott es dann aber recht machen?« meinte ich besorgt. »Das wollen wir ihm überlassen«, sagte Vater. Damit war das Gespräch beendet. Ich dachte noch oft darüber nach, besonders abends, vor dem Einschlafen, meist im Zusammenhang mit dem Gedanken an den gefallenen Franzosen. Ich hatte mich daran gewöhnt, den Toten allabendlich in mein Gebet mit einzuschließen. Damit tat ich ja schließlich kein Unrecht, denn ich glaubte, die beste Lösung gefunden zu haben, indem ich mein Abendgebet ungefähr so schloß: »Lieber Gott, schütze unsere lieben Feldgrauen, vergiß aber auch die anderen Menschenbrüder nicht, nimm den Franzosen André Duval zu dir in den Himmel. O Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das Ewige Licht leuchte ihm. Herr, laß ihn ruhn in Frieden, und verleihe unseren Truppen einen baldigen glorreichen Sieg über unsere Feinde. Amen.« 36
Mit beruhigtem Gewissen schlief ich dann ein. Der Name André Duval beschäftigte mich noch eine Zeitlang; dann verblaßte das Gedächtnis an den gefallenen Franzosen allmählich. Mein Vater hatte das Tagebuch sorgfältig aufbewahrt, für mich. Heute, an seinem Todestag, mußte es mir wieder in die Hände fallen. Seltsam, daß dieser unbekannte Soldat gerade heute zum zweitenmal in mein Leben tritt. Da halte ich es in den Händen, ein kleines, abgegriffenes, verschmutztes Buch. Ich blättere darin und weiß nicht, was mich so lebendig und fast menschlich aus ihm anspricht. Ist es die zerfetzte Kante, der Kugeleinschlag – oder die feine, flüchtige Handschrift auf den gelblichen, zum Teil durch Feuer oder Blut gebräunten Blättern? Und dann beginne ich zu lesen, erst stockend und langsam die einzelnen Worte in meine Sprache übertragend, dann schneller und fließender und zum Schluß so hingegeben an den Inhalt, daß ich Zeit und Raum darüber vergesse und nach Stunden, gegen Morgen erst, verwirrt und nur mühsam wieder in die Welt zurückfinde, in meine Umwelt, die ich – wie lange eigentlich? – verlassen haben mußte. *** Januar 1916. Seit gestern bin ich wieder an der Front. Will heißen, in Ruhestellung. Unsere Kompanie liegt einige Kilometer hinter dem Frontabschnitt. Wir hatten im Dezember schwere Verluste in den Vogesen. Nun sind die Lücken unter uns wieder ausgefüllt, ich treffe nur wenig bekannte Gesichter noch an. Gilbert und mein Klassenkamerad Lucien sind noch da – sie haben mich mit förmlichem Freudengeschrei wieder in 37
Empfang genommen. Der Streifschuß an der Schulter, den ich mir am 22. Dezember am Hartmannsweilerkopf holte, ist nahezu ausgeheilt. Er hatte mir die paar Tage Weihnachtsurlaub eingetragen. Ich schäme mich fast dieser geruhsamen Zeit zu Hause – wenn ich mir die anderen ansehe, die müden, verdreckten Gestalten meiner Kameraden. – Wir werden scharf gedrillt, die Bezeichnung »Ruhestellung« ist infamer Hohn. Man munkelt von einer großen Offensive an der Somme. Wir sind im Grunde froh über die Aussicht, bald wieder hinauszukommen. Papa Bardot schikaniert uns unerträglich; die Neuen, die den Kompaniefeldwebel noch nicht so gut kennen wie wir, leiden am meisten. Uns behandelt er um einige Grade menschlicher. Der Hartmannsweilerkopf sitzt auch ihm noch in den Gliedern – er wagt es jedenfalls nicht, Gilbert oder mich allzusehr herauszufordern. Gilbert hat so eine besondere Art, ihn anzusehen, wenn er schnauzt und brüllt. Papa Bardot errötet bisweilen wie ein Schulmädchen unter diesem Blick. Die beiden – Gilbert und der Feldwebel – haben noch eine kleine Privatangelegenheit miteinander auszutragen. »Wenn der Krieg erst vorüber ist!« Daran klammert sich Gilbert, das ist sein einziger Trost. Der Alte weiß darum. Er ist unsicher und feige wie alle brutalen Naturen. Wenn er sich auch nichts anmerken läßt und gerade uns »Alten« gegenüber mit Vorliebe den forschen Kerl herauskehrt, so wissen wir doch Bescheid. »Nette Sache, so ein kleiner Heimatschuß, nicht wahr?« empfing er mich gestern. Ich schwieg. »Na, hat der Herr Papa das kleine Wehwehchen auskuriert?« hetzte er weiter. Es wurmt ihn, daß ich Student bin genau wie Gilbert und Lucien. Daß zudem mein Vater Arzt ist und den Doktortitel führt, ist mein persönliches Unglück. Der Feldwebel ist Metallarbeiter und hegt einen tiefen Haß gegen alles, was mit Wissenschaft im allgemeinen und mit Medizin und Jura im besonderen zu tun hat. Daß die Advokaten und 38
Ärzte die größten Halunken unter der Sonne seien, haben wir schon soundso oft von ihm gehört. Sie mästeten sich auf Kosten der kleinen Leute, diese gelehrten Spitzbuben; sie lockten dem ehrlichen Arbeiter und Handwerker den letzten Pfennig aus der Tasche, wozu? Der schlichte Mann aus dem Volke ziehe doch stets den kürzeren bei Prozeßstreitigkeiten, nicht wahr? Und die Herren Ärzte – nun, deren ganze Kunst bestünde darin, die leidende Menschheit früher oder später ins Jenseits zu befördern, meistens später, nachdem man sich an ihnen tüchtig bereichert habe, jawohl. Diese nicht ganz folgerichtigen Ausführungen Papa Bardots habe besonders ich mir schon zu ungezählten Malen servieren lassen müssen. Sicher hat der Brave einen ganz persönlichen Grund, den Advokaten- und Ärztestand so abgründig tief zu hassen. Wir jedenfalls, die wir das Pech haben, dieser verruchten Gesellschaft anzugehören, sind die Leidtragenden. Alles ärgert ihn an uns, nichts können wir ihm recht machen. Gilbert, der den feinen Kopf eines Intellektuellen hat und sich trotz Uniform und Stoppelbart geradezu aristokratisch ausnimmt, Gilbert mit den schmalen, schönen Händen und der unnachahmlichen Grazie seiner Bewegungen ist dem Feldwebel geradezu körperlich zuwider. Dagegen habe ich es immer noch besser, denn ich bin groß und stark und breitschultrig und nehme es beim Schanzen und Graben mit jedem Landarbeiter auf. *** Marie hat mir ein umfangreiches Proviantpaket mitgegeben. Wir haben gestern eine nachträgliche Weihnachtsfeier veranstaltet, im Keller der Ferme. Nichts fehlte, von Fleischund Fischkonserven bis zu Tabak und Zigaretten, von Kaffee und Gebäck und Schokolade bis zu den zwei Flaschen Champagner, die den weihevollen Höhepunkt unseres 39
nächtlichen Gelages bildeten. Wir waren zum Schluß alle leicht benebelt, nicht nur von Sekt und Burgunder und dem erstklassigen Kirsch aus der Hausbrennerei des alten Herrn de St-Clément; nein, die ganze Stimmung dieses Abends verzauberte uns für eine Weile, ließ uns den feuchtkalten Keller und unsere Strohlager und das Grollen der Geschütze vom nahe liegenden Frontabschnitt vergessen und versetzte uns – eine Handvoll Soldaten – in jene süß-wohlige Stimmung eines Weihnachtsabends zu Hause, in behaglich durchwärmten, hellerleuchteten Räumen. Drang es nicht wie Glockentöne von draußen zu uns herein? Unser Sprechen und Lachen riß plötzlich ab – wir hockten im Kreis um unsere Schätze, die wir auf einem Kistendeckel aufgetürmt hatten. Was zauberte dieser Lebkuchenduft nicht alles hervor! – Selbst ich, der ich für wenige Tage nach Hause zurückgekehrt war und erst seit Stunden wieder unter den Kameraden weilte, kam mir auf eine seltsame und traumhafte Weise aus meiner Umwelt entrückt vor. Ich träumte von dem Zimmer mit den Bücherschränken, von dem Klavier, an dem Marie saß und mit ihrer leichten brüchigen Stimme sang – von der Wärme des Kaminfeuers und dem breiten Bett, in dem man mit gelösten Gliedern zwischen schneeigen Tüchern und leichten Federn versank. Wann war es – gestern, heute, vor Jahren? Wo bin ich zu Hause, hier oder dort? Gilbert hockt an meiner Seite, den Kopf in die Hand gestützt. Dujeanchet mit dem roten Vollbart liegt bäuchlings auf der Erde. Schläft er? Und drüben der kleine Lucien, Lucien Dugard, mein Schulkamerad; sein Gesicht leuchtet matt aus dem Halbdunkel, er sitzt aufrecht und hat die Augen geschlossen. Eine Handvoll Soldaten. Morgen vielleicht schon werden wir uns in wilde, zu allem entschlossene Tiere verwandeln, werden Seite an Seite losstürmen, wie so oft schon, den Tod vor uns, den Tod über uns, verzweifelten Mut
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als Antreiber hinter uns. Morgen schon vielleicht kommt die Reihe an Gilbert, an Dujeanchet, an mich … Und trotzdem: hier draußen ist meine Heimat. Hier erst scheint mir das Leben, das kleine armselige Leben, wert, gelebt zu werden. Ich weiß selbst nicht, woran es liegt, daß ich mir mit dem besten Willen ein Dasein außerhalb des Krieges kaum mehr vorstellen kann. Die paar Urlaubstage zu Hause ließen mich erst so recht erkennen, wie mich der Krieg mit Haut und Haaren gefressen hat. Täglich, stündlich sein Leben einzusetzen, jeden Atemzug dem Tode förmlich abzuringen – hebt es uns nicht doch über uns selbst hinaus? Wir schimpfen und murren und sind bei Gott nicht, was man so gemeinhin wackere Patrioten nennt. Worte wie »Heldenmut« und »Verteidigung des Vaterlandes« sind uns verhaßt; wir lachen über die lyrischen Ergüsse der Zeitungsschreiber. Der Schützengraben ist ganz und gar kein Nährboden für Poesie. Aber je rauher und brutaler und zynischer uns das Soldatenhandwerk nach außen hin macht, um so heller glimmt die Flamme in uns, in unseren Herzen. Würden wir diese Hölle sonst ertragen können? Würden wir den Hartmannsweilerkopf und die Champagne sonst verwunden haben? Ein gefangener deutscher Offizier sagte vor Monaten: »Nie werde ich den wahrhaft übermenschlichen Mut vergessen, mit dem der kleine Rest eures Jägerbataillons seine Stellung verteidigte, stundenlang, gegen unsere vielfache Übermacht. Sie kämpften bis zur völligen Aufreibung, bis zum letzten Mann. Das waren keine Menschen mehr, das war eine Schar von Helden, erfüllt von einem Fanatismus und einer lodernden Begeisterung, die in der Geschichte kaum ihresgleichen finden wird.« Der Leutnant gehörte dem ersten Bataillon des 170. deutschen Infanterieregiments an und war einer von den zweihundert Gefangenen, die an diesem Tage (10. Juni 1915) in unsere Hände fielen.
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*** Dieses kleine Buch hat mir Marie geschenkt. Meine Kriegsaufzeichnungen aus den Jahren 14 und 15 habe ich meinem Vater zur Aufbewahrung gegeben. Bis vor kurzem hielt ich es so, täglich in knappem Telegrammstil meine Erlebnisse und Eindrücke niederzuschreiben. Das ist mir seit dem Hartmannsweilerkopf nicht mehr möglich. Es erscheint mir oft sinnlos, überhaupt den Versuch zu machen, Kriegstagebuch zu führen. Wozu, für wen eigentlich? Wenn ich fallen sollte – mein Gott, werden diese Aufzeichnungen meinen Angehörigen wirklich etwas sagen können? Ich bin kein Dichter, nicht einmal ein guter Stilist. Ich schreibe halt so für mich, lese das Geschriebene hinterher manchmal durch und stelle fest, daß es mir nie gelungen ist, auch nur annähernd einen Begriff von dem Grauen und der Tragik der Welt, in der ich lebe, zu vermitteln. Trotzdem schreibe ich in jeder freien Minute. Irgend etwas zwingt mich dazu. Die korrekte chronologische Schilderungsweise habe ich aufgegeben, nur aus Stimmungen heraus kann ich noch schreiben. Möglich, daß ich Bedeutsames und Wichtiges einfach übergehe. Wenn ich fallen sollte – ich denke so oft darüber nach, welcher unter den Überlebenden dann wohl späterhin dieses Buch lesen wird. Vater und Marie und die Kinder – vielleicht gehen sie noch vor mir. Für sie schreibe ich eigentlich nicht. Auch nicht gerade für mich. – Ich klammere mich manchmal an den Gedanken, daß die Aufzeichnungen des Soldaten André Duval doch später einmal in die Hände eines Menschen fallen könnten, dem sie etwas zu sagen haben, dem sie lieb werden. Ich habe kein Mädchen, keine Freunde außer den Kameraden hier im Feld. Zu Hause sind ein paar alte, müde und kranke Menschen, die mich wohl innig lieben und an mich denken. Sollte ich aber wieder zurückkommen, so werde ich wohl bald allein sein. Eine Frau – Kinder? Wohin verirren sich meine 42
Gedanken? Trage ich doch tief in mir etwas, eine Ahnung, eine fast visionäre Gewißheit, die mir sagt, daß ich hier draußen bleibe. Ich verlache mich selbst, ich wehre dem Gedanken, ich hänge an meinem Leben, meinen zwanzig Jahren, genau wie jeder andere. Trotzdem: das graue Gefühl ist da, es steht nachts an meiner Seite und verfolgt mich in die Schlacht hinaus. Gib dir keine Mühe, André Duval. Du kehrst nicht zurück, du bleibst hier. Ich nahm vor zwei Tagen von zu Hause Abschied, nach außen gelassen, fast heiter. Aber in mir schrie etwas auf, als ich die Treppen unseres Hauses herabstolperte und im Zurückblicken meinen Vater oben stehen sah. Er winkte mir nach, seine Augen schwammen in Tränen … jetzt, während ich schreibe, steht die Szene wieder deutlich vor meinen Augen. Und wieder packt mich etwas mit knöchernen Fingern an der Kehle und flüstert mir zu: Du siehst ihn nicht wieder, dieser Abschied war endgültig. Ich muß aufhören. Dujeanchet kommt in den Keller und ruft mich zum Essenholen. *** Mitte Januar. Es ist klirrend kalt. Jeden Tag Kompanieexerzieren, Gepäckmärsche, Besichtigungen. Seit gestern liegen wir alarmbereit und müssen in voller Ausrüstung schlafen. Die Nächte im Keller der Ferme sind fast unerträglich kalt. An der Front ist es verhältnismäßig ruhig. Gestern hat sich ein deutsches Flugzeug hierher verirrt und das Dorf bombardiert. Zwei Verwundete. Es geht die Rede, daß wir nach Verdun ausrücken sollen. ***
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Ich habe einen Brief von Vater. Marie gehe es schlecht. Die beiden Kinder hätten die Masern. Zu allem Unglück herrsche eine schreckliche Grippeepidemie in Longville. Armer Vater. Er weiß bald nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Könnte ich ihm nur helfen! Wenn alles gut geht, werde ich in einigen Jahren seine Praxis übernehmen. Wenn … Tante Angèle hat wieder ein Freßpaket geschickt und einen sehr lieben, lustigen Brief geschrieben. Sie ist unsere Kompaniepatin, nennt uns »ihre lieben Kinder« und wird unter den Kameraden wie eine Göttin verehrt. Man beneidet mich nicht wenig um dieses Prachtexemplar einer Patentante. Ihre Briefe zirkulieren stets tagelang von Mann zu Mann. Es gibt dann immer viel Gelächter und Spaß. Der trockene Humor der alten Dame ist auch wahrhaft herzerfrischend. Wenn ich sie nicht hätte!! *** Lucien hat drei Tage Arrest, weil er unseren Hauptmann beleidigt hat. Da war die dumme Geschichte in den Vogesen. Lebeau (ein schöner Lebeau mit seinen Säbelbeinen und dem feuerroten Borstenschopf) wurde beim Sturmangriff der Deutschen kreidebleich und verlor plötzlich die Nerven. Er raste wie ein Wahnsinniger im Graben auf und ab und verkroch sich für einen Moment hinter einem Sandsack. Heute morgen läuft ihm Lucien über den Weg, als er aus der Aspirinbude kommt. Der arme Kerl hat sich eine gehörige Erkältung geholt, es läuft ihm aus Augen und Nase, das ganze Gesicht ist rotverschwollen. Möglich, daß er den alten Lebeau nicht stramm genug gegrüßt hat. Der schnauzt ihn jedenfalls an und höhnt, er wittere wohl dicke Luft, weil er sich in der Krankenstation herumtreibe. Diese Drückebergerei kenne man ja, sobald einmal das Kommando zur Alarmbereitschaft ausgegeben sei. 44
Statt den Mund zu halten und sich aus dem Staube zu machen, knurrt Lucien, der Esel, irgend etwas zwischen den Zähnen, was mit Drückebergerei im Schützengraben beim Sturmangriff zu tun hat. Der Hauptmann wird grün und gelb vor Wut, ruft ein paar umherstehende Leute als Zeugen dieser Beleidigung an, und obwohl natürlich keiner etwas gehört hat, fliegt Lucien in den Arrest. Papa Bardot lacht schadenfroh und reibt sich die Hände. *** Märsche, Handgranatenwerfen, Exerzieren. Es heißt, daß wir morgen zum Schanzen vorrücken sollen. Was an der Front eigentlich vorgeht, wissen wir nicht. Nur selten erreicht uns eine Zeitung, aus der wir unsere Informationen beziehen können. Merkwürdig: der Frontsoldat erfährt durch die Zeitungsschreiber in Paris erst, worum es eigentlich geht, was sich in seiner nächsten Nähe zuträgt. In der Champagne und an der Artoisfront sollen die Deutschen heftige Ausfälle unternommen haben. Der General de Castelnau ist an die Front von Verdun geschickt worden. Es scheint, daß dort etwas im Gange ist. *** Anfang Februar. Wir liegen im Fort Douaumont. In den Kasematten stolpert einer über den anderen, mehrere Bataillone sind hier untergebracht. Todmüde und vor Kälte fast erstarrt sind wir gestern abend hier angelangt. Wir hauen uns hin und schlafen. Vorher hat es Kaffee, Essen und Rauchzeug gegeben. Wir haben nichts angerührt, außer dem heißen Getränk, das uns wieder etwas Leben in den starren Körper jagte.
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*** Nachts. In der Kasematte liegen sie eng aneinandergedrängt und schlafen. Es ist ganz still in dem feuchten Gewölbe, bisweilen dringen Stimmen aus den Gängen, ein Lichtschein irrt über die lehmverkrusteten Gestalten, über Tornister, Gewehre und Sandsäcke hin. Die Luft ist feuchtwarm und schwer. Es riecht nach kaltem Tabakrauch, Schweiß und nassem Tuch. Unbestimmter, fauliger Kellergeruch zieht in Schwaden durch die Räume. Ich bin als einziger wach, liege halb aufgerichtet und schreibe im Schein meiner Taschenlampe. Furchtbare Tage liegen hinter uns. Schanzen in der vordersten Linie, ein heftiger Feuerüberfall der Deutschen, und dann – nachdem wir kaum in die Ruhestellung zurückgekehrt waren – der Befehl zum Abmarsch auf den Douaumont. Hier liegen wir als Reserve. Möglich, daß diese hochwillkommene Ruhe nicht allzu lange vorhalten wird. Daß sich um Verdun etwas vorbereitet, ist uns längst zur Gewißheit geworden. Die zahlreichen Truppenverschiebungen während der letzten Tage, die Infanteriedivisionen und schweren Artillerieregimenter, denen wir auf dem Marsch begegneten, die sich zwischen Orne und Douaumont ausbreiten – das alles beweist uns zur Genüge, daß »dicke Luft« ist, wie Dujeanchet sagt. Finstere Nebel lagerten über den Maashöhen, an den Hängen lag pappiger Schnee, der Lehmboden, über den wir stampften, hängte sich in dicken Klumpen an unsere Füße. Grauverhangen war der Himmel über uns, Regen mit Schnee vermischt fiel nieder, peitschte im wütenden Nordwind unsere Gesichter. Nur mühsam bewegten wir uns vorwärts, eine endlose lange Schlange, deren einzelne Glieder aus grauem Lehm gebildet schienen.
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Das Fort begrüßten wir wie ein Paradies. Nur schlafen, schlafen, nicht mehr marschieren müssen, nicht mehr diesem schrecklichen Wind ausgesetzt sein und dem nassen Unbehagen, das uns bis in die Seele frieren ließ. – Nur zu mir will der Schlaf nicht kommen, so sehr ich ihn auch herbeisehne. Meine Glieder sind bleiern und schwer und müde, aber die Gedanken! Sie lassen mich nicht los, sie nisten im Kopf, im Herzen, das wild und aufgeregt schlägt. Woran denke ich eigentlich? An wen? Seltsam, daß diese ganze Ruhelosigkeit immer nur um den einen Pol kreist: wer wird um mich weinen, wenn ich falle? Wer ist es, dem mein Untergang einen schmerzlichen, nie zu verwindenden Verlust bedeuten könnte? Mein alter Vater, der sich diese junge, todkranke Frau ins Haus genommen hat? Die Frau, die ihm zwei lebensunfähige Kinder geboren hat? Irgend etwas ist zwischen Vater und mir zerrissen seit jenem Tage. Er weiß es selbst, er bedauert es wohl am meisten – aber was will das bedeuten? Die Worte, die er vor drei Jahren aussprach: »Ich kann dir nicht helfen, André; dein Vaterhaus wird dir immer offenstehen, aber wenn du dich in meine Heirat mit Marie nicht fügen kannst – so mußt du eben gehen!«, diese Worte brennen wie ein Feuer in mir. Er hatte zwischen ihr und mir zu entscheiden und hat seine Wahl getroffen. Mich ließ er hinausziehen, wohl betrübt und besorgt, aber doch nicht mit dieser heißen Anteilnahme im Herzen, die er dem Schicksal seiner Frau und der kleinen Kinder zollt. Nein, ich trage ihm nichts nach. Während meines Weihnachtsurlaubs zu Hause habe ich gelernt, ihn zu bemitleiden. Wir schieden im besten Einvernehmen, als Freunde, voneinander. Ich denke an ihn und die anderen mit Zärtlichkeit und mitleidiger Sorge zurück. Wie ein Familienvater, dem um seine hilflosen Kinder bangt. Kinder aber sind undankbar. Wer ist mir eigentlich Vater, Freund? Wer ist mir Mutter, Schwester, Geliebte? Dies ist härter als alles andere, dies 47
endgültige Alleinsein. Nie warte ich wie die anderen mit Ungeduld und Freude auf Nachrichten von zu Hause. Ich erhalte nur Krankenberichte, nur immer wiederkehrende Klagen und Schilderungen all dieser niederdrückenden Begebenheiten, die mein Zuhause darstellen. Eine halb irrsinnige Frau, zwei hilflose Krüppelchen und ein einsamer, alter Mann, schuldbeladen und verbittert. Mein Zuhause! Man hat mir meine Jugend gestohlen. Ich schleppe oft an meinen zwanzig Jahren wie an einer schweren Bürde. Herrgott, und ich bin doch jung und stark, stärker als mancher andere! Warum lasse ich mich denn niederdrücken – warum lebe ich nicht in den Tag hinein und schiebe die Gedanken an gestern und morgen einfach beiseite? Ich will leben, leben, leben! Ich wehre dem grauen Gespenst, das an meiner Seite kauert und mich verlocken will, mich widerstandslos zu ergeben, ja den Tod herbeizuwünschen, da meine Existenz im Grunde doch nutzlos und den anderen nicht eben wichtig sei. »Der Heldentod fürs Vaterland«, sich ihm freiwillig auszuliefern – nicht wahr, das wäre doch die beste, ehrenvollste Lösung? Wirf es doch weg, dieses – wie du selbst meinst – sinnlose Dasein, und erwirb dir die Gloriole des Helden dafür! Nein, nein, nein! Ich schreie es fast heraus. Feige wäre es und schlecht, so gleichsam aus gekränkter Menscheneitelkeit sterben zu wollen. Man zieht nicht in den Krieg, um zu sterben, sondern um zu kämpfen. – Wenn es denn meine Bestimmung sein sollte, so werde ich fallen; nicht aber als Besiegter, als Deserteur, sondern als Soldat. *** Ende Februar. Die Hölle hat uns noch einmal freigegeben. Fünf Tage hindurch spie der brüllende Vulkan Douaumont seine Feuerwolken aus, fünf Tage hindurch raste die Vernichtung 48
über uns hinweg. Unsere zerstückelte Division kam nach dem Sturmangriff auf die Feste nach hinten in Ruhestellung. Hier sollen wir Atem schöpfen, wahrscheinlich aber nur für kurze Zeit. Am 25. Februar haben die Deutschen die Feste Douaumont genommen. Noch ist Verdun in unserer Hand. – Am linken Maasufer sind zur Zeit heftige Kämpfe im Gange. Es ist möglich, daß wir in den nächsten Tagen schon in der Woëvre eingesetzt werden. Einstweilen werden die Lücken in unseren Reihen aufgefüllt, wir bekommen Nachschub, die Neuen werden in aller Eile nochmals einexerziert, während man uns verhältnismäßig viel Ruhe gönnt. Lucien ist droben geblieben. Ich sah ihn in einen Spanischen Reiter stürzen, hilflos angelte er mit Armen und Beinen. Wir wollten ihn hochreißen, da brach er zusammen. Nun erst entdeckten wir den Bauchschuß, der ihn wohl im Stürzen noch erwischt haben mußte. Wir schleppten ihn noch zwei, drei Meter, dann sackte er endgültig zusammen. Wir ließen ihn liegen – denn der Deutsche hielt das Gelände unter heftigstem Feuer. Atemlos, gebückt keuchten wir vorwärts von Granattrichter zu Granattrichter. – Wir dachten erst wieder an ihn, als wir hinter der zweiten Linie angelangt waren. »Nicht einmal seine Erkennungsmarke und die Papiere haben wir ihm abnehmen können«, schimpfte Dujeanchet. »Die Boches scheinen es sich seit dem 25. in den Kopf gesetzt zu haben, uns alle samt und sonders im Sturmschritt kaputtzumachen. Oh, ces salauds, ces sales cochons-là!« So fluchte er sich seinen Schmerz von der Seele. Jeder hatte den kleinen Lucien gern gemocht. Mir ist mit ihm nicht nur mein Schulkamerad, sondern nach Gilbert der beste Freund genommen worden. – Mir ist angst vor dem nächsten Urlaub. Ich werde zu seiner Mutter gehen müssen, und sie wird mich fragen, wie er gestorben ist.
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*** Die Besatzung des Forts – es waren nur noch wenige Mann droben geblieben – wurde am 25. zusammen mit dem Kommandanten gefangengenommen. Unsere Kompanie war wenige Tage zuvor herausgezogen worden, wir waren während des Angriffs der Deutschen im Dorf Douaumont, einer Stellung, die wir auch nach der Besetzung des Forts gehalten haben. Von dort wurden wir dann abgelöst. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dieser Hölle noch lebend zu entrinnen. Ich kann es nicht beschreiben – ich glaube, daß ich seit jenem 25. Februar überhaupt nicht mehr fähig bin, meine Eindrücke zu Papier zu bringen. Dazu steht mir das Erlebte noch zu nahe. – Ich bin übrigens krank, habe Fieber, nachts flieht mich der Schlaf, obwohl ich so unsäglich müde bin. Das Schrecklichste sind die Visionen, die mich heimsuchen, wenn ich Fieber habe. Diese zerstückelten, blutenden Menschenleiber, die Gesichter, die mich fratzenhaft verzerrt umringen und mir durch ihren grausigen Anblick den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Oft fürchte ich für meinen Verstand. Wenn ich die Kameraden nicht hätte! *** Ich lag ein paar Tage im Lazarett. Das Fieber war stündlich gestiegen, ich soll getobt und geschrien haben und nicht mehr zu bändigen gewesen sein. – Nun habe ich es überstanden. Es war eine kleine Lungenentzündung, weiter nichts. Morgen werde ich entlassen. *** Im Lazarett bekam ich einen Brief von der kleinen Ivonne D. aus Boulogne. Sie schrieb im Auftrag von Tante Angèle, die an 50
einer Grippe erkrankt war. Ich bin ordentlich stolz darauf, einen Brief von einem Mädchen bekommen zu haben. Sie schreibt sehr nett, daß sie jetzt schon siebzehn Jahre alt sei, im allgemeinen aber für zwanzig gehalten würde, und daß es sie natürlich langweile, immer mit gleichaltrigen Gymnasiasten zu tanzen. »Aber ihr seid ja alle im Krieg«, fährt sie fort. »Hoffentlich kommt ihr bald zurück. Wie lange wird es denn noch dauern, bis ihr endlich mit den Boches fertig geworden seid?« Sie ist sehr hübsch, wenigstens glaube ich das aus der kleinen Amateuraufnahme zu erkennen, die sie beigelegt hat. Sie trägt ein weißes Kleid mit vielen Rüschen und Spitzen, einen Pleureusenhut und hält einen Sonnenschirm in der Hand. Eine richtige Dame – vielleicht ein bißchen zu auffallend gekleidet für ihr Alter. Wie sie ihre Taille eingeschnürt hat! – Aber sie kann sich wirklich sehen lassen, die kleine Ivonne. Ich freue mich schon jetzt darauf, das Bild meinen Kameraden zu zeigen. Nur ärgert es mich, daß sie eine so dumme Widmung auf die Rückseite geschrieben hat. »Meinem früheren Spielkameraden in aufrichtiger Freundschaft, Ivonne.« Schade. Ich hätte den anderen so gern weisgemacht, daß sie meine Braut ist. *** April. Wir liegen in einem Dorf etwa zwanzig Kilometer hinter der Front. Unser Quartier befindet sich in den Wirtschaftsgebäuden des Schlosses. Der vornehme alte Renaissancebau hat schon sein Teil vom Kriege weg, die Hauptfassade sieht traurig aus mit den leeren Fensterlöchern und den zahlreichen Einschlagstellen im Mauerwerk. Die weitausladende Terrasse ist völlig zertrümmert, als ein einziger grauer Schutthaufen
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türmt sie sich vor den drei hohen Glastüren, die in die große Halle führen. Der langgestreckte graue Sandsteinbau mit den vergoldeten Fenstergittern und dem Wappenornament über dem Portal erinnert mich stark an St-Clément. Sogar der verwilderte, traurig verwüstete Park weist einige Ähnlichkeit mit dem von St-Clément auf. Nur daß hier der Fluß fehlt, die Maas, die dort ihre eiligen Wellen gegen die hohe Parkmauer spült. Ob der kleine grüne Nachen noch da schaukelt, auf dem ich einmal mit Marie jene sentimentale Mondscheinpartie unternahm? Damals hab ich freilich noch nicht geahnt, daß das kleine nervöse Fräulein dereinst meine Stiefmutter würde. Die Nachrichten von zu Hause bleiben sich immer gleich. Vater hat eine Krankenschwester engagiert, die Tag und Nacht um Marie bemüht ist. Zeitweilig ginge es ihr besser, man könnte fast sagen, gut. Dann verfällt sie wieder in jene furchtbare Melancholie, die sich wie ein finsterer Schatten auf ihr Gemüt senkt und es so völlig einhüllt, daß sie nur noch zu sterben wünscht. Sie hat schon mehrere Male den Versuch unternommen, ihr Leben freiwillig zu beenden. Ich werde meinen nächsten Urlaub in Boulogne-sur-Mer verbringen. Vater ist selbst dafür. Er will mich, wenn er es ermöglichen kann, dort besuchen. *** Anfang Mai. Nachts im Graben. Es ist heute fast beängstigend ruhig. Dabei liegen die deutschen Stellungen in unmittelbarer Nähe. Mit schlaftrunkenen Augen spähen unsere Posten hinüber; manchmal glauben sie einen dunklen Schatten sich bewegen zu sehen. Es ist natürlich Täuschung. Ganz fern, am Horizont, steht ein roter Feuerschein. Manchmal steigt eine Leuchtkugel aus den deutschen Gräben auf. Hellstrahlend beleuchtet sie 52
flüchtig das Gelände, den kleinen Wald zu unserer Rechten, die Grabenlinien – dann versinkt sie wieder, und das Dunkel breitet sich von neuem wie ein schützender Mantel um uns aus. Im Unterstand liegen sie schlafend eng beieinander. Die Nächte sind noch empfindlich kühl, während wir tagsüber schon unter der Hitze zu leiden beginnen. Keiner wacht, außer Gilbert und mir. Er schreibt einen Brief, und ich habe nach langer Zeit mein Buch wieder einmal vorgenommen. Ich schreibe eigentlich nur, um mich wachzuhalten, weil ich in einer Stunde den Posten ablösen muß. Seit meiner Erkrankung im Februar muß sich in mir eine Änderung vollzogen haben. Ich habe vorhin in meinen Aufzeichnungen geblättert und war nahe daran zu lachen, als ich las, was ich damals in Fort Douaumont geschrieben habe. Mein Gott, wie leicht ist man doch dazu bereit, so gleichsam mit einer großartigen Geste sein Leben als eine Nichtigkeit abzutun. Heute weiß ich, daß es in Wirklichkeit doch ein wenig anders aussieht. Im Moment der Gefahr, der ernsthaften Bedrohung, klammert man sich doch mit beiden Händen verzweifelt an dieses Stückchen Leben. Damals, vor dem Dorf Douaumont, packte mich plötzlich eine fast tierische Wut, als ich die Kameraden um mich unter dem vernichtenden Feuer der Deutschen einen nach dem anderen in die Knie brechen sah. Ich wollte einfach nicht zugrunde gehen. Nicht so, nicht jetzt schon – und ich entsinne mich des fast wilden Glücksgefühls, das wir wenigen Überlebenden empfanden, als wir nach der Ablösung in die Ruhestellung zurückkehrten. Wir hatten es noch einmal geschafft! Der erste Wein, den wir mit ausgebrannten Kehlen aus den Eimern soffen, der erste Zug an der Zigarette – und der Heuschober, der uns in dieser Nacht Unterkunft bot… keine Herrlichkeit der Welt hätten wir bewußter, bis ins Letzte den Genuß auskostend, genießen können. 53
In meinen Fieberträumen, damals im Lazarett, muß ich den ganzen Höllenspuk um den Berg Douaumont nochmals durchlebt haben. Und auch die bittere Todesangst. In Wirklichkeit ist es doch dieser primitive Instinkt, der uns zeitweilig über uns selbst hinaushebt und zu Helden werden läßt. Man ringt gegen den Tod, denn allzu billig soll ihn der Sieg nicht zu stehen kommen; so wehrt man sich mit wütender Verzweiflung gegen ihn und vollbringt – gerade aus dieser angstvollen Verzweiflung heraus – Taten, die die Geschichte dann späterhin als Heldentaten zu bezeichnen pflegt. Dieser Instinkt kommt uns zu Hilfe, ohne ihn wären wir wohl längst zugrunde gegangen. Daß wir für unser Land, für Frankreich kämpfen, ist uns in den Momenten der Entscheidung über Leben und Tod wohl kaum mehr bewußt. Und so habe ich mir vor sechs Wochen mit einiger Beschämung die Tapferkeitsmedaille an die Brust heften lassen. – Für Frankreich sind wir hinausgezogen, für das Vaterland setzen wir unser Leben ein; da ist keiner unter uns, der das in Abrede stellen wollte. Aber in der Schlacht geht das Ringen nicht um Frankreich und gegen Deutschland, sondern um das nackte Leben und gegen den Tod. Wir handeln in Notwehr, genau wie der Gegner. Und doch ist es eine Idee, die uns hochhält. Würde dieses Kämpfen und Sterben sonst nicht sinnlos sein? Verteidiger des Vaterlandes sind wir ideell; und Verteidiger unser selbst, unseres eigenen nackten Lebens, aus Instinkt. Die Idee treibt uns vorwärts, schmiedet Kämpfer aus uns; der Instinkt aber, der Selbsterhaltungstrieb, setzt dann ein, wenn die Kraft der Idee nachlassen will, wenn sie sich angesichts des unmenschlichen Mordens auf den Schlachtfeldern nicht mehr länger als Rechtfertigung dieser Greuel ertragen läßt. Unbewußt lebt sie wohl doch weiter in uns fort – aber wo blieben wir, wenn uns der Instinkt nicht zu Hilfe käme?
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Ich kann nicht hassen, es ist mir nicht gegeben. Ich kann auch den Deutschen nicht hassen, der mir gegenübersteht und mich bedroht. Er kämpft um sein Leben, ich um das meine; ihn treiben die gleiche Idee und der gleiche Instinkt wie mich. Der Deutsche – Gilbert ruft mich an und fragt, was ich um Gottes willen hier in das Buch kritzele. Er hat den Brief an sein Mädchen inzwischen beendet. Ich muß aufhören, es ist Zeit, den Posten abzulösen. Am liebsten hätte ich die ganze Nacht so weitergeschrieben, wenn es auch natürlich unsinnig ist. Idee und Instinkt oder Selbsterhaltungstrieb – man sollte als Soldat nicht so viel denken. *** Zwei Tage später. Die Nacht, die sich so ruhig angelassen hatte, brachte uns noch eine wenig angenehme Überraschung. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn man uns einmal in Ruhe gelassen hätte. Gilbert und ich hatten unsere Posten bezogen, wir dösten friedlich an unseren Schießscharten und unterhielten uns von Zeit zu Zeit leise miteinander. Gilbert hat ein Mädchen in Paris, Studentin, sehr klug und – was man im Verein mit Intelligenz bei Frauen nicht allzuhäufig findet – sehr schön. Lucienne heißt sie. Mein Gott, ich kenne sie so genau, daß ich ihr Bild malen könnte. Er spricht ja nur von ihr, allerdings bloß mir gegenüber. Der derbe Spott der anderen tut ihm weh, denn in bezug auf Lucienne ist er sehr empfindlich. Von diesem Mädchen mit den grüngrauen, länglichen Augen und der sehr weißen Haut, mit den schmalen Fesseln und der sanften, ein wenig singenden Stimme war gerade wieder die Rede, als das Konzert von drüben plötzlich losging. 55
Es wurde von einem ohrenbetäubenden Artilleriefeuer eingeleitet, das jäh wieder verstummte. Dann ratterten die Maschinengewehre, und die Handgranaten begannen wie wütende Hunde loszubellen. Leuchtkugeln, rote und grüne, stiegen in die Luft, und schon setzte unsere Artillerie ein, die 7,5er zischten flach über unsere Gräben hinweg. Wir waren wie betäubt – der nächtliche Angriff von drüben kam völlig überraschend. Die Deutschen waren schon aus den Gräben; sie bewegten sich wie dunkle Schatten auf uns zu und wurden reihenweise von unseren Salven hingemäht. Aus dem kleinen Wald zu unserer Rechten kamen sie in atemlosem Lauf, das Gewehr in der Faust; jetzt erhoben wir uns zum Gegenstoß, links aus der Ebene tauchten unsere Jäger zu Fuß auf, die uns im rechten Augenblick zu Hilfe kamen. Ein wütender Kampf entspann sich, der bis zum Morgengrauen währte. Er endete damit, daß wir drei deutsche Gräben erstürmten. Die Überraschungstaktik des Gegners war diesmal fehlgeschlagen. Wohl hatten wir verhältnismäßig starke Verluste, aber wir machten zahlreiche Gefangene und erbeuteten mehrere Maschinengewehre. Dujeanchet machte noch eine kleine Privateroberung in einem der deutschen Gräben: ein Paar tadellose Offiziersstiefel, die er um einige Franken gleich weiterverkaufte, und einen Photoapparat mit Kalbslederetui. Aus unserer Gruppe sind zwei Mann gefallen. Drei sind leichtverletzt, darunter der lange Meunier, der nun schon seit Monaten vergebens auf einen anständigen Heimatschuß hoffte. Er verflucht sein Pech und stöhnt unter dem kleinen Streifschuß am Oberarm, daß es Steine erweichen könnte. Gilbert hat es am Schienbein erwischt, er fiel in Stacheldraht und riß sich eine große Zickzacklinie ins Fleisch. Papa Bardot nennt uns »tüchtige Kerle« und schenkt Gilbert und mir je eine Zigarre mit Bauchbinde. 56
»Die schmecken nach Fritz«, meint Gilbert mißtrauisch. Und richtig – die Banderolen tragen den Namen einer deutschen Firma! Wie der Feldwebel zu diesen Schätzen gekommen sein mag, wird uns ewig ein Rätsel bleiben. Dujeanchet schwört, von nichts zu wissen. Bardot wäre der letzte, dem er seine privaten Beutestücke angeboten hätte, weder als Geschenk noch gegen Bezahlung! Trotzdem trauen wir dem Frieden nicht recht. – Aber es kann uns ja gleich sein, die Zigarren sind gut und mild, und des Feldwebels plötzlicher Anfall von Liebenswürdigkeit gerade uns beiden gegenüber würde uns sicher gerührt haben, wenn wir etwas weniger mißtrauischer Natur wären. *** O du wunderbar milder Maiabend auf der Ferme de l’Espérance! So glücklich waren wir schon seit Monaten nicht mehr. Wir sind in Quartier bei der Familie des Fermiers (er selbst ist im Vorjahr bei der Beschießung des Dorfes ums Leben gekommen). Die beiden Söhne stehen im Felde, so sind nur die Frauen und der alte Großvater hier im Hause. Es sind die nettesten, liebenswertesten Quartierwirte, die wir je angetroffen haben. Man denke: Gilbert und ich schlafen im Zimmer der Töchter, in breiten Betten, auf denen sich das Federzeug nur so türmt. Dujeanchet war nicht zu bewegen, das angebotene Himmelbett der verstorbenen Großmutter des Bauern zu beziehen. Er zog es vor, trotz allem Zureden der guten Leute in der Scheune zu schlafen. »Die würden sich ja vor den Läusen nicht mehr retten können, wenn wir abgezogen sind«, vertraute er uns an. »Ich habe eben mehr Anstand als ihr. Ihr solltet euch schämen, den armen Mädchen die Betten wegzunehmen!«
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Natürlich hatten auch wir uns geweigert, das Jungfräuliche Tochterzimmer zu beziehen, so verlaust und dreckig wie wir waren. Aber da half aller Widerstand nichts. Die beiden Mädchen (leider sind sie nicht im mindesten hübsch) drohten uns schließlich, uns sofort vor die Türe zu setzen und sich an unserer Stelle zwei nettere Poilus auszusuchen, wenn wir sie so bitter kränkten. Im Grunde war unsere Abwehr ja nur geheuchelt und mehr der Form halber vorgebracht worden. Wir taten immerhin unser Bestes, wuschen uns im Hofbrunnen von Kopf bis Fuß, bis unsere Haut krebsrot angelaufen war, und entlausten uns, so gut es ging, am Nachmittag, als wir auf der Wiese hinter dem Hause lagen. Nun haben wir die erste Nacht in den herrlichen Betten schon hinter uns. Ganze fünf Tage werden wir in diesem paradiesischen Nest verbleiben dürfen, vorausgesetzt, daß nichts dazwischenkommt. An der Front, etwa dreißig Kilometer von hier entfernt, ebbt das Feuer auf und ab. Wir hatten in der Vorwoche wieder ziemlich schwere Verluste, unsere Kompanie war beängstigend zusammengeschmolzen, als wir hierher in Ruhestellung rückten. Wir werden jetzt ergänzt, auch einen neuen Küchenbullen haben wir bekommen – er hat sich sehr vorteilhaft eingeführt, weil er gleich am ersten Tage zwanzig Liter Wein aus eigener Tasche spendierte und obendrein ein erstklassiges Gulasch zubereitete. Im Zivilberuf ist er Gastwirt und Metzger – also ein ausgesprochener Glücksgriff, den wir da gemacht haben. Das Dorf ist bis vor kurzem stark beschossen worden, trotzdem ist die Mehrzahl der Bewohner hiergeblieben. In der ersten Nacht hatten wir deutschen Fliegerbesuch, die Leute erzählten es uns. Wir selbst hatten nichts davon gemerkt, wir schliefen einen traumlosen, glücklichen Schlaf in den Betten der lieben Mädchen, die leider so gar nicht hübsch sind. Die ältere schielt und scheint für Gilbert zu schwärmen; die jüngere 58
hat eine Hasenscharte, einen ganz flachen Busen und rachitisch verkrümmte Beine. Ich fürchte, daß sie mich zum Gegenstand ihrer Quartierliebe erkoren hat. Sie errötet jedesmal sanft, wenn ich sie anrede. Und versprach mir vorhin unaufgefordert, mir Briefe und Liebespakete ins Feld zu schicken; auch ihre Photographie versprach sie mir, nachdem sie sich erkundigt hatte, ob ich noch nicht verlobt sei! Arme kleine Hasenscharte! *** »Na, euch beunruhigen wenigstens keine aufregenden Träume, wenn ihr in den Betten der beiden da schlaft«, grinste Dujeanchet. »Aber es gibt ein paar nette Weibsbilder hier im Dorf, das habe ich schon herausbekommen. In der Kneipe der Kirche gegenüber – das ist ein Aas, sage ich euch! Die hat Temperament im Leib! Kommt ihr nachher mit? Aber steckt euch ordentlich Geld ein, die versteht es, einen zu neppen.« Nein, wir zeigten gar keine Lust, die gepriesene Wirtin in Augenschein zu nehmen. Hier war es ja viel gemütlicher als in der verräucherten Kneipe. Wein hatten wir zur Genüge, und die gutmütige Bäuerin spendierte eine große Platte Schmalzgebäck dazu. Vor dem Schlafengehen saßen wir alle in der Küche beisammen. Sieben Mann aus unserer Gruppe, der Küchenbulle, der seit vierundzwanzig Stunden der intimste Freund Dujeanchets ist, und unsere Quartierwirte. Der lange Meunier spielte Mandoline, wir sangen gefühlvolle Lieder, das Mädchen mit den Schielaugen schmachtete Gilbert an, und die kleine Hasenscharte verlangte immer wieder das Lied von der Marguerite. Geschmeichelt lächelte sie, wenn wir ihren Wunsch erfüllten, denn sie heißt Marguerite und bezog die Worte des liebeglühenden Troubadours natürlich auf sich.
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»Si tu veux faire mon bonheur, Marguerite, Marguerite …« Mein Gott, ich tat ihr den Gefallen und lächelte zurück, wenn sie mich ansah. Als aber ihr Fuß unter dem Tisch mehrmals sanft gegen meine Beine trat, gab ich vor, frischer Luft zu bedürfen, und rückte meinen Schemel ans Fenster. Der Küchenbulle begann mit Dujeanchet und dem Sergeanten Karten zu spielen, wir übrigen unterhielten uns über den Krieg, unsere Berufe und das Leben, das in der Heimat auf uns warte, wenn der Krieg erst einmal vorüber sei. »Wenn ihr nur alle mit heiler Haut davonkommt«, seufzte die Bäuerin. »Die verheirateten Leute wenigstens hätten nicht mitmachen dürfen. – Hier aus dem Dorf sind sechs Familienväter gefallen, und zwei sind in deutscher Gefangenschaft. Die tun mir am meisten leid, denn ich traue den Boches nichts Gutes zu.« »Ach, so schlimm sind die gar nicht«, meinte einer. »Immer noch besser, bei den Preußen gefangen sein, als hier den Kram noch länger mitmachen.« »Hier sind neulich ein paar gefangene Boches durchgeführt worden«, erzählt die ältere Tochter. »Ich hab sie mir angeschaut, sie sahen gar nicht übel aus. Einer war dabei, der war direkt hübsch. Und er hat mich so traurig angesehen, ganz verstört …« »Kein Wunder«, murmelte Dujeanchet vor sich hin. »Der wird einen schönen Schrecken gekriegt haben.« Zum Glück waren seine Worte nur in der Ecke vernehmbar, in der wir saßen. »Ich war vor dem Kriege einmal in Deutschland, sogar in Berlin«, erzählt Gilbert. »Es ist wirklich Unsinn, sich einzubilden, daß die Preußen andere Menschen seien als wir. Ich fand sie sogar sehr angenehm, wenn man von ihrer etwas steifen Art absieht. Übrigens war jedermann höflich und 60
entgegenkommend zu mir – und man trifft auch wirklich sehr viele an, die unsere französische Kultur geradezu begeistert verehren. Ich habe einmal –« »O ja, die Boches verehren unsere französische Kultur«, höhnt Meunier. »Das sieht man am besten, wenn man unsere zerstörten Kirchen betrachtet. Sie haben uns zum Fressen lieb, die Preußen. Sie möchten am liebsten ganz Frankreich auffressen, diese ›angenehmen‹ Menschen, wie du dich ausdrückst!« »Ach, halt doch deinen Mund«, gibt Gilbert verdrossen zurück. »So meinte ich es doch nicht. Natürlich ist jetzt Krieg, da muß man andere Maßstäbe anlegen. Aber ihr werdet sehen, in ein paar Jahren wird man schon von selbst darauf kommen, daß dieser ganze Haß im Grunde unsinnig war. Was kann der einzelne Preuße dafür, wenn sein Kaiser ihn gegen uns in den Krieg schickt? Was hat er davon, ob sie nun Elsaß-Lothringen haben oder nicht? Der zieht bestimmt nicht aus Haß gegen uns und die Alliierten an die Front, sondern einfach, weil es Befehl ist und er sein Vaterland genauso gern hat wie wir das unsere.« »Ja, da hast du recht«, pflichtet der Sergeant bei. »Arme Schweine sind sie, die Fritze, genau wie wir. Vielleicht haben sie es noch schwerer, denn die werden noch fester gedrillt als wir und bekommen obendrein einen Fraß – na, ihr wißt ja, was wir in ihren Gräben so manchmal gefunden haben.« »Eine Kusine von mir ist im Rheinland verheiratet«, erzählt ein anderer. »Mit einem Preußen; er ist aber ein netter Kerl, sag ich euch. Die Berthe hat es gut getroffen mit ihm, der trägt sie auf Händen. Sie haben mich oft eingeladen, sie zu besuchen. Wenn der Krieg erst vorüber ist, gehe ich auch hin. Eine herrliche Gegend, der Rhein …« »Du kannst dich vielleicht später einmal dort ansiedeln«, grinst Meunier. »Die herrliche Gegend, von der du sprichst, steckt unseren hohen Herren schon lange in der Nase, mein Lieber! Wart nur, wenn der Rhein erst einmal ein französisches 61
Departement ist, dann ziehe auch ich vielleicht hinüber – schon um den guten Tropfen zu probieren, den die Preußen dort anpflanzen.« »Reiß das Maul nicht so auf«, verweist ihn der Sergeant. »Vorläufig sind die Boches hier bei uns im Land, und zwar dicht vor deiner Nase. Und es sieht gar nicht so aus, als wollten sie sich in der nächsten Zeit zurückziehen. Denkt an Verdun!« *** Oben in unserem Zimmer kommen Gilbert und ich nochmals auf das Gespräch zurück. Ich stimme ihm aus voller Seele bei, wenn er den Haß gegen alles Preußische für seine Person ablehnt. Jetzt ist er mir nur noch lieber geworden. »Gerade wir Gebildeten müßten dazu beitragen, den anderen immer wieder das Unsinnige dieser Haßidee gegen alles, was deutsch ist, auszutreiben«, meint er. »Wenn nur die Presse sie nicht so verhetzen würde! Aber die dummen Kerle glauben ja alles, was in den Zeitungen steht, da kannst du nichts machen! – Ich möchte nur wissen, wie das weitergehen soll, wenn der Krieg erst zu Ende ist. Du wirst sehen, daß sie dann im Siegestaumel erst recht auf dem geschlagenen Gegner herumtrampeln werden – und was wird die Folge davon sein? Kriege, immer neue Kriege, so lange, bis die Menschheit endlich zur Besinnung gekommen sein wird und einsieht, daß Haß ein schlechter Nährboden für die Idee des Friedens ist!« »Du redest ja wie ein Pazifist, Gilbert!« Was der Freund mir darauf entgegnete, vertraue ich eigentlich nur zögernd diesem Tagebuch an. Aber seine Worte erschienen mir so schön, so groß und gerade in unseren Tagen so gewichtig, daß ich sie einfach niederschreiben muß, auf daß ich sie nie vergesse.
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So ungefähr sagte mein Kamerad Gilbert: »Ich rede nicht nur wie ein Pazifist, André, sondern ich bin es, aus voller Überzeugung – entre-nous, mon ami, bien en-tendu! Ich bin und bleibe Gegner des Krieges, weil ich den Frieden liebe. Du wirst einwenden, daß ich im Augenblick Soldat bin; ja, man hat mir die Waffe in die Hand gedrückt, mir wie dir – und alle unsere schönen Prinzipien haben für einen Augenblick zurückzutreten, das weiß ich. – Man sollte nur seinen klaren Kopf behalten und über den Tag hinaus denken können. Und späterhin müßte jeder einzelne von uns Frontkämpfern, gerade von uns Frontkämpfern, alles daransetzen, neue Kriege verhüten zu helfen. – Dann hätten wir eigentlich um den Frieden gekämpft, siehst du. Und das wäre der höhere Sinn, den diese Jahre für uns und die ganze Welt enthalten könnten.« Er hat mit echter Begeisterung gesprochen. Ich sehe zu ihm hinüber, er sitzt steil aufgerichtet im Bett, seine Augen glühen, seine Wangen sind gerötet. »Ich denke genau wie du, Gilbert«, sage ich. »Aber wie – wenn die Preußen uns wirklich besiegen sollten?« »Das halte ich für ausgeschlossen«, meint er. »Die stehen doch ganz allein, und der Hunger wird ihnen schon den Rest geben, verlaß dich drauf. Und wenn – setzen wir einmal den Fall – wenn wirklich sie als Sieger aus diesem Krieg hervorgehen sollten, nun, dann gilt für sie das gleiche, was ich eben auf uns bezogen habe. Dann würde es an ihnen, ihrer Regierung, ihrer Presse, ihren Generälen liegen, der Welt für spätere Zeiten einen dauerhaften Frieden zu garantieren. Den geschlagenen Gegner anständig zu behandeln, mehr noch, ihm ritterlich die Hand zu reichen – mein Gott, wie einfach und selbstverständlich ist das doch im Grunde. Aber du wirst sehen, zu dieser fairen Handlungsweise wird man sich nicht aufschwingen können, denn der Haß, dieser wahnsinnige, stumpfe Haß wird auch vor dem zugrunde gerichteten Gegner nicht haltmachen. – Wenn ich am Leben bleibe, André, oh, ich 63
werde mich später auf die Straße stellen und ihnen die Wahrheit ins Gesicht schreien! Wir Frontkämpfer wären die berufenen Leute, André, um diese Aufgabe zu erfüllen. Denn wir haben unsere Haut nicht zu Markte getragen, um aus diesem Kriege eine Kette neuer Kriege erstehen zu lassen! Aus Liebe haben wir gekämpft, nicht aus Haß. Um den Frieden, nicht um einen tausendjährigen Krieg! Aber da predigst du, wenigstens vorläufig noch, tauben Ohren. Ich fürchte oft, daß die Liebe auf unserer Welt ganz aussterben wird. Und das ist das Schlimmste …« Er legt sich zurück, vergräbt das Gesicht in den Kissen und redet nicht mehr. Ich lag noch lange wach, draußen am Himmel stand roter Feuerschein, und das Konzert der Geschütze drüben an der Front schwieg keine Sekunde. Es ebbte bald ab, dann schwoll es wieder mächtig an. Die Fensterscheiben klirrten manchmal leise. Ich dachte über die Worte Gilberts nach, ich dachte an das Volk, das einen Beethoven, einen Goethe, einen Nietzsche hervorgebracht hat. Leuchtendes Dreigestirn – dir galt die ganze schwärmerische Verehrung meiner Jugend. Ich habe mich eigentlich immer stark zu deutschem Wesen hingezogen gefühlt. Da drüben war eine zweite Heimat für mich, eine Heimat des Geistes, wenn man es so nennen will. Dafür schulde ich dem anderen Volk Dank. Heute bin ich Soldat, heute umgibt mich der Tod, und es sind die Geschütze der Deutschen, die Vernichtung in unsere Reihen tragen. Im Traum sehe ich sie am Horizont stehen, ihre Mündungen sind drohend auf uns gerichtet, der Tod selbst lauert hinter ihnen. Der Tod im feldgrauen Stahlhelm. Wie aber, wenn eine starke Hand einmal alle diese Geschützrohre von uns abwendete, sie in die Erde versinken ließe? Dann würde die Liebe, die nach Gilberts Meinung auf der Welt im Aussterben begriffen ist, wieder in unseren Herzen auferstehen können.
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Ohne Liebe geht es nicht, ohne Liebe geht es nicht … Nein, du hast unrecht, Gilbert. Solange wir noch atmen, solange noch das Herz nur eines Frontsoldaten schlägt, wird auch die Liebe auf dieser Welt weiterleben. *** Ich bekomme nächsten Monat Urlaub und werde zu Tante Angèle nach Boulogne fahren. Heute hatte ich einen ganzen Berg Post, auch von meiner kleinen Jugendfreundin Ivonne war ein Brief dabei. Sie freue sich so auf meinen Besuch, es sei gerade jetzt sehr schön in Boulogne, sie gehe jeden Tag zum Baden an den Strand. *** Morgen geht es wieder an die Front. Der Feind soll an mehreren Stellen zugleich vorgebrochen sein. Wir sollen einen neuen Graben auswerfen und ihn für ein anderes Bataillon bereithalten, das uns in einigen Tagen ablösen wird. *** Beim Abschied weinten die beiden Mädchen, und auch der gutmütigen Bäuerin standen Tränen in den Augen. Sie verteilte geweihte Skapuliere an uns, Dujeanchet schnitt Grimassen hinter ihrem Rücken. Er ist schon ein recht gottloser Kerl. Aber wir geben ihm ein Zeichen, und er hält diesmal die Schnauze und läßt sich gutwillig ein Skapulier um den Hals hängen. – Die kleine Marguerite brachte mich recht in Verlegenheit, als sie mir stotternd die Erlaubnis gab, sie zum Abschied zu küssen. Was half es mir, ich küßte sie rasch auf beide Wangen und dann auch noch auf die Hasenscharte, denn sie legte mir einfach beide Arme um den Hals und preßte ihr 65
Gesicht an das meine. – Ich schwor ihr, bald zu schreiben, und nach dem Kriege wieder hierherzukommen und sie zu besuchen. Wir brachten den netten Leuten noch ein Ständchen, Meunier begleitete auf der Mandoline, und wir sangen aus voller Kehle: »Si tu veux, donne-moi ton cœur, Marguerite, Marguerite!« *** Boulogne-sur-Mer, Juni 1916. Tante Angèle betrachtet mich immer wieder kopfschüttelnd. Sie legt ein merkwürdig scheues Wesen an den Tag und behandelt mich trotz aller Güte und zarten Sorgsamkeit doch mehr wie einen Fremden. »André, du bist irgendwie anders geworden, seit ich dich zuletzt gesehen habe«, sagt sie fast täglich. Und es klingt wie eine Entschuldigung. »Woran liegt es nur, daß ich dich oft kaum wiedererkenne?« Ich tröste sie und lasse mir zunächst den Bart abnehmen, der die gute alte Dame bei meiner Ankunft so sehr erschreckt hat. Ich gebe mir alle Mühe, sie zu erheitern und mich so zu benehmen, wie sie es von einem zwanzigjährigen Jungen erwarten kann. Abends spiele ich Domino mit ihr, ich begleite sie auf ihren Gängen in die Stadt und lasse mich auch hin und wieder gutwillig zu Bekannten und Freunden schleifen. »Nein, es ist nicht dein Äußeres«, beharrt sie, als ich ihr klarzumachen suche, daß man an der Front eben mehr oder weniger verwildert und auch äußerlich über seine Jahre hinaus älter werden kann. »Mein Gott, André, ich habe dich doch als Kind auf den Armen getragen und dich Jahr für Jahr in den Ferien hier gehabt. Du warst immer ein hübscher und kräftiger Junge, ich 66
wußte, daß du später einmal wie dein Vater stattlich und sehr groß werden würdest. – Kind, ich bin ja ordentlich stolz auf dich, meinst du, ich merke nicht, wie außerordentlich gut du den Frauen gefällst? Du bist ganz und gar nicht verwildert, André. Es liegt überhaupt nicht in deiner Natur, dich irgendwie gehenzulassen. Nein, es ist – wie soll ich’s nur sagen – deine Augen, André, und deine Stimme – du bist zu ruhig, zu – zu uninteressiert! Du hörst im Grunde gar nicht zu, wenn man mit dir redet. Deine Gedanken sind immer weitab von hier – sag, André, ist es denn so schlimm draußen? Oder drückt dich das andere –?« Liebe, alte Frau. Was soll ich dir sagen? Es gelingt mir bisweilen, sie abzulenken, ihr glaubhaft zu machen, daß ich einfach zu müde bin, müde und ein wenig verwirrt. Daß man nach dem Schützengraben nicht so rasch wieder in die andere Welt zurückfindet. Und daß es übrigens »draußen« bei weitem nicht so schlimm sei, wie sie sich das vorstelle. *** 18. Juni. Mit der kleinen Ivonne D. am Strand spazierengegangen. *** 19. Juni. Mit Tante Angèle und Ivonne D. morgens zur Messe, nachmittags bei Familie Mathieu eingeladen. In sechs Tagen geht mein Urlaub zu Ende. Ich bin beinahe froh darüber ***
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20. Juni. Brief von zu Hause. Vater schreibt, er fühle sich krank, sonst wäre er auf zwei Tage hierhergekommen. Den Kindern gehe es leidlich gut, aber Marie mache ihm Sorge. Sie sei in der letzten Woche eine ganze Nacht verschwunden gewesen; man habe sie gegen Morgen endlich gefunden, im Wald vor der Stadt. Sie war in Tränen aufgelöst und zitterte am ganzen Körper, ließ sich aber gutwillig heimführen. »Seither ist sie ruhig«, schreibt mein Vater. »Sie spricht kaum mehr, weint manchmal still vor sich hin und ist vor allem nicht dazu zu bewegen, sich unter Menschen zu zeigen. Von Dir spricht sie oft, sehr lieb und freundlich. – Ich glaube, daß Du ihr eine große Freude bereiten würdest, wenn Du Dich entschließen könntest, den Rest Deines Urlaubs bei uns zu verbringen. Ich weiß, André, daß Du uns damit ein Opfer bringen müßtest. Du bist der Ruhe und Entspannung mehr als jeder andere bedürftig, mein lieber Junge. Es tut mir bitter leid, daß ein Aufenthalt in Deinem Vaterhaus Dir zur Qual geworden ist. Trotzdem bitte ich Dich: mach mir, mach ihr die Freude und komm – wenn auch nur auf ganz kurze Zeit – zu uns!« Tante Angèle, der ich den Brief zeigte, regte sich maßlos über diese Bitte meines Vaters auf. »Was sollst du in diesem Elend! Helfen kannst du ihnen doch nicht, André! Willst du dir denn unbedingt die paar Urlaubstage vergällen und niedergedrückter, als du gekommen bist, an die Front zurückkehren? Nein, du bleibst hier, mein Junge. Ich schreib deinem Vater selbst, daß ich unter keinen Umständen …« Hier unterbrach ich sie. Ich konnte nicht anders. Sie verließ mich schließlich bitterlich weinend, als ich ihr erklärt hatte, daß ich übermorgen nach Longville fahren würde. ***
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22. Juni. Ich habe Vaters Wunsch doch nicht mehr erfüllen können. Morgen muß ich schon zurück an die Front. Ich bekam heute früh einen Befehl. Der Urlaub muß vorzeitig abgebrochen werden, wir kommen in den nächsten Tagen wieder nach Verdun. *** Dies war also der letzte Spaziergang mit Ivonne. Tante Angèle wollte sich uns nicht anschließen. Der Schreck ist ihr so in die Glieder gefahren, daß sie einen heftigen Migräneanfall bekam und nun zu Hause im verdunkelten Zimmer auf dem Bett liegen muß. Sie tut mir so leid, und auch Vater tut mir leid, und die Kleine, die sofort bitterlich zu weinen begann, als sie hörte, daß der für den nächsten Sonntag geplante wunderschöne Ausflug nun ins Wasser gefallen sei. Mir selbst ist alles unheimlich gleichgültig geworden. Ich würde mich freuen, zu den Kameraden zurückzukommen, wenn Gilbert noch lebte. Er fiel zwei Tage vor meinem Urlaubsantritt. Eine Woche später hätte er nach Hause fahren dürfen … Darum ist mir diese ruhige Zeit in Boulogne förmlich zur Qual geworden. Darum komme ich allen Menschen verändert vor, um Jahre gealtert; darum kann ich nicht mehr lachen und fröhlich sein. Es war zu grausam, ihn verlieren zu müssen. Wir wären Freunde fürs ganze Leben geblieben, er und ich. Wie oft haben wir Pläne geschmiedet, wie innig hatten wir uns von Tag zu Tag enger aneinandergeschlossen. Die ganze Kompanie kannte uns als die beiden Unzertrennlichen. Wenn es galt, sich freiwillig zu einem Patrouillengang zu melden, war ich stets dabei, denn Gilbert war der erste, der vortrat. Warum mußte er sich in jener Nacht wieder sofort zur Führung der Patrouille melden, warum stand ich gerade auf Horchposten und konnte 69
nicht – wie sonst immer – mit ihm zusammen gehen? Ich stand an meinem Posten und sah ihn mit den anderen Kameraden dem Gebüsch entlang kriechen, dann ging es quer über freies Gelände, in gebücktem Lauf, von Trichter zu Trichter; plötzlich stieg eine deutsche Leuchtkugel auf und entdeckte sie. Eine Maschinengewehrsalve mähte sie innerhalb weniger Augenblicke nieder. Einer nur kam zurück. – Gilbert lag auf dem Rücken, als man ihn fand, mit zerrissener Brust. Sein Kopf aber war eine einzige blutende Masse, der Schädel völlig zertrümmert. Die Sanitäter verhüllten ihn mit einer Leibbinde. In dieser Nacht habe ich unseren alten Dujeanchet zum erstenmal weinen sehen. Und Bardot, der einstige persönliche Gegner Gilberts, wurde grau im Gesicht und verkroch sich in eine Ecke, wo er wild und hemmungslos zu schluchzen begann. »Das war der Beste!« Zu ungezählten Malen habe ich es gehört, von jedem einzelnen Kameraden. Ich habe der Lucienne in Paris einen Brief geschrieben und ihr die letzten Zeilen Gilberts zugestellt. Er trug den Brief an sie halb vollendet in der Tasche, als man ihn fand. *** Und er wollte sich später auf die Straßen stellen und schreien, schreien gegen den Haß, schreien für die Liebe. *** Ivonne ging an meiner Seite, wir schlenderten am Strand entlang, gegen Abend, und sahen das Meer vom flammenden Rot der Sonne wie mit Blut übergossen. Das Mädchen sprach unaufhörlich auf mich ein, die helle, kindliche Stimme drang an mein Ohr, ich gab mir Mühe, dem Sinn ihrer Worte zu folgen. 70
Ja, es sei traurig, daß ich nun schon wieder hinausmüsse. Wann ginge dieser schreckliche Krieg denn nur einmal zu Ende? Ich solle mir nicht einbilden, daß die Frauen in der Heimat nicht unter ihm zu leiden hätten. Mein Gott, sie weine fast jeden Abend, ehe sie einschlafe, wenn sie an uns arme Jungen im Felde denke. Und was solle sie einmal anfangen, wenn ihre alte Mutter stürbe? Dann stünde sie ganz allein in der Welt, ohne Eltern, ohne nähere Freunde, ohne einen Verlobten. Sie habe immer geglaubt, einmal sehr früh zu heiraten. Sie sehne sich auch danach, einen Mann und Kinder zu haben. »Dafür ist man als Mädchen ja bestimmt, nicht wahr?« Ich nickte und tröstete sie damit, daß sie doch sicher bald heiraten würde, so hübsch und lieb und wohlerzogen wie sie sei. »Und arm bin ich auch nicht, ich bekomme später eine anständige Rente«, sagte sie eifrig. »Aber«, und jetzt seufzte sie tief auf, »was soll denn aus uns jungen Mädchen werden, wenn ihr jahrelang draußen seid und so viele überhaupt nicht mehr zurückkehren? Ach, André, wie traurig ist doch unsere Jugend! Mußten wir gerade in diese schreckliche Zeit hineingeboren werden?« Ich weiß nicht mehr, was ich ihr darauf zur Antwort gab. Irgend etwas Ausweichendes jedenfalls, denn ich wußte natürlich sehr wohl, worauf sie so sanft anspielte. Nein, da hat sie kein Glück, die kleine Ivonne. Weder für sie noch für ein anderes Mädchen vermag ich etwas zu empfinden. Mein Herz muß verschüttet sein. Wenn das mit Gilbert nicht gewesen wäre … Vielleicht würde ich mich über das so sichtlich zur Schau getragene Interesse der kleinen Ivonne gefreut haben. Früher habe ich mir doch immer ein Mädchen gewünscht, eine Kriegerbraut zum mindesten, an die ich mit Sehnsucht hätte denken können, deren Briefe ich ungeduldig erwartet hätte wie die anderen. 71
Ivonne ist lieb und nett, hübscher als viele Mädchen, aus guter Familie, und Tante Angèle würde sicher mit Freuden eine Verbindung zwischen mir und der Tochter ihrer Jugendfreundin begrüßt haben. Aber es geht nicht, ich kann einfach nicht. Gilbert und die anderen Toten stehen zwischen mir und der übrigen Welt. Darüber komme ich nicht hinweg – später vielleicht einmal, nach Jahren … Trotzdem bin ich freundlich zu der Kleinen, ja ich zwinge mich dazu, ein wenig den Verliebten zu spielen. Warum soll ich ihr die Freude nicht machen? Sie wird mich ohnehin bald vergessen haben, denn allzu große Tiefe der Empfindungen traue ich ihr nicht zu. Sie ist ja auch noch so jung, und die Tränen werden bei ihr sehr schnell wieder vom Lachen abgelöst werden, nehme ich an. *** 23. Juni. In der Eisenbahn. Und wieder hat mir ein Mädchen zum Abschied die Arme um den Hals gelegt und mich unter Tränen geküßt. Es schien ihr doch nahezugehen. Und wieder habe ich versprochen, sehr oft zu schreiben. Peinlich war nur, daß sie mich geradeheraus fragte, ob ich sie liebe. Ich sagte ja. Dann aber riß ich mich von ihr los. Viel schwerer fiel mir das Abschiednehmen von der gütigen alten Frau, die ich wie eine zweite Mutter liebe. Sie saß gestern abend noch lange an meinem Bett, hielt meine Hände und bemühte sich tapfer, die Tränen zurückzuhalten, während sie mit mir sprach. Ich habe ihr von Gilbert erzählt und von vielem anderen, was ich bisher nur für mich in mir herumtrug. Nun versteht sie mich, nun weiß sie, warum ich ihr so fremd und verändert vorkam, als sie mich wiedersah. Sie kann einen so wunderbar 72
trösten und aufrichten und ist nicht wie andere Frauen, die immer gleich sentimental werden und laut zu weinen beginnen, wenn man ihnen von der Front erzählt. Ich bereue es jetzt, nicht vorher schon mehr Vertrauen zu Tante Angèle gefaßt zu haben. Wir sprachen von uns zu Hause, von Vater und Marie. »Denk nicht zu viel darüber nach, mein lieber Junge«, sagte sie. »Aus der Entfernung betrachtet, sieht ja alles viel schlimmer aus. – Jeder muß sehen, wie er mit seinem Leben fertig wird, und dein Vater soll schön allein die Suppe auslöffeln, die er sich da eingebrockt hat. Du hast mit dir selbst genug zu tun, André. Du darfst nicht obendrein noch mit dieser Geschichte belastet werden. – Im übrigen bin ja auch ich noch da. Ich werde nächstens zu deinen Leuten fahren und dort ein wenig nach dem Rechten sehen. Dein Vater verdient es ja wirklich nicht, daß man sich Kummer um ihn macht. Ich bin ehrlich wütend auf den alten Esel – dir hätte er das nicht antun dürfen, mit dieser verrückten Marie in seinem Alter noch eine Ehe einzugehen. Aber, wie gesagt, mein lieber kleiner André, denk nicht zuviel an die Geschichte. Du hast ja dein Zuhause immer hier bei mir, nicht wahr, du weißt, daß das Haus am Quai Gambetta deine Heimat ist? Und die alte Angèle Sénard ist deine zweite Mutter, sie hat dich so lieb, wie nur eine Mutter ihren Sohn liebhaben kann. Wenn der Krieg erst vorüber ist, ziehe ich zu dir und führe dir den Haushalt, du sollst sehen, wie ich dich verwöhnen werde. – Also, André, nicht soviel an Longville denken! Madame Sénard, Quai Gambetta 2, Boulogne-sur-Mer … das ist die Adresse, an die du dich zu wenden hast, wenn du einen Menschen brauchst, der dich liebhat und für dich sorgt und für dich betet. Und daß dieser Mensch nur für dich da ist, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen, was, mein Alter?« Mit einem herzlichen Kuß schieden wir voneinander. Ihr welker Mund zitterte ein wenig, aber sie hielt sich tapfer und zwang sich sogar zum Scherzen, als sie mir noch in der Tür 73
zurief, daß die Preußen es mit ihr zu tun bekämen, wenn sie mir auch nur ein Haar krümmten. *** Bei Fleury, Juli 1916. Im Unterstand. Es regnet schon seit Tagen, der ganze Frontabschnitt besteht nur noch aus zähem Schlamm. Wir versinken fast in den Gräben, dauernd schöpfen wir das Wasser in Eimern heraus. Die halbe Kompanie ist schwer erkältet, und das mitten im Hochsommer. *** Nachts. Ich werde wohl kaum mehr zum Schreiben kommen. Alle Furien der Unterwelt scheinen wieder einmal um uns losgelassen. – Der Gedanke an Gilbert verläßt mich nie. Tagsüber hat man ja keine Zeit zum Denken. Aber nachts, im Wachen und Schlafen, ist er bei mir. Ich fahre oft aus dem Traum hoch, seinen Namen auf den Lippen. Immer sehe ich ihn unter einem Kreuz stehen, feldmarschmäßig, mit geschultertem Gewehr. Aber sein Gesicht will er mir nicht zeigen, das ist unter einer grauen Binde verborgen. Wenn ich lebend hier herauskommen sollte, werde ich eine Mission zu erfüllen haben: in seinem Namen, in seinem Geiste für die Idee des Friedens unter den Völkern zu kämpfen, und mein ganzes Leben und meine ganze Kraft in den Dienst dieser Sache zu stellen. Ist es so recht, Gilbert? Ich will an deiner Stelle versuchen, der Liebe zu einem Sieg über den Haß zu verhelfen. Mein Gott, wie sich das anhört. Was ist der einzelne gegen eine Welt? Einstweilen besteht mein Handwerk darin, andere zu töten. Warum sehe ich dich immer unter dem Kreuz, 74
Gilbert? Hat man nicht von jeher die Apostel der Liebe ans Kreuz geschlagen? – Ich bin krank. Mich fiebert wieder. Seit der Lungenentzündung im Winter bin ich empfindlich geworden. Wenn nur der Regen nachlassen wollte! Das heißt, vielleicht bedeuten diese grauen Tage eine kleine Gnadenfrist für uns. Man glaubt, daß die Deutschen einen großen Angriff im Abschnitt Fleury vorhaben und nur das Nachlassen der sintflutartigen Regenfälle abwarten, ehe sie losschlagen. Wir werden mit Gasmasken ausgerüstet und reinigen unsere dreckverkrusteten Gewehre immer aufs neue, leider eine fast nutzlose Arbeit. Wir kommen fast um im Morast. *** 10. Juli. Nachts. Der Regen hat etwas nachgelassen. Vorhin wurde Rauchzeug und Schnaps verteilt. Ich habe drei Becher hintereinander geleert. Zum erstenmal bleiben die Schüttelfrostanfälle weg, ich scheine auch fast fieberfrei zu sein. Wir sind alle leidlich guter Stimmung, so ein Tropfen Alkohol im Leibe vermag doch manchmal Wunder zu tun. Dujeanchet reißt sogar Witze. »Kinder, morgen geht es los, ich spüre das in den Knochen«, prophezeit er. »So freigebig sind sie schon lange nicht mehr gewesen. Die wollen uns natürlich nur aufpulvern mit dem Schnaps – als wenn wir das nötig hätten! Immerhin, das Zeug schmeckt. Und es wärmt einem die Seele ein bißchen auf, was die Hauptsache ist. – Was kritzelst du denn schon wieder, Duval? Machst du am Ende im Alkoholrausch Gedichte?« Ja, was schreibe ich schon wieder! Daß wir hier im Unterstand bei Fleury beisammenhocken, durchnäßt, 75
dreckverkrustet, grauen Erdhaufen ähnlicher denn Menschen? Daß wir Schnaps bekommen haben und daher seit langem wieder einmal gehobener Stimmung sind? Übrigens bin ich wohl der nüchternste von allen. So klar und bewußt habe ich in den vergangenen drei Nächten nicht denken können; heute sind auch meine Hände wieder ruhig. Gestern zitterten sie stark, als ich schrieb. *** 11. Juli 1916. Frühmorgens. Geschlafen habe ich in der vergangenen Nacht nur eine Stunde. Kurz nach Mitternacht setzte ein furchtbarer Gasangriff der Deutschen ein. – Jetzt scheint die Sonne wieder. Es ist kurz nach fünf Uhr. Draußen ist alles noch still. Ich weiß nicht, was mich dazu treibt, jetzt noch rasch einige Worte in mein kleines Buch zu schreiben, während die anderen schon hin und her laufen und der ganze Unterstand von einer nervösen Unruhe erfüllt ist. Ich hatte einen wunderbaren Traum heute nacht, den möchte ich noch schnell … Gilbert, du hast mir zum erstenmal dein Gesicht gezeigt, du hast dich von deinem Kreuze weg auf mich zu bewegt, mit ausgestreckten Händen … wie schön du warst, Gilbert! Wie das Kreuz, das nun vereinsamt stand, in der Sonne leuchtete! »Fertigmachen! Auf die Plätze in die Gräben!« Ich muß aufhören – heute fühle ich mich zum erstenmal wieder gesund und stark, es ist so schön, zu – – – *** Hier enden die Aufzeichnungen des André Duval.
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Wie hoch sich der Schnee dort draußen türmt! Der Baum vor dem Fenster senkt seine Äste unter der schweren, weißen Last, und die Morgensonne liegt hell und strahlend über der Stadt. Nun ist es doch noch über Nacht Winter geworden, denn die ersten Märztage kamen mit Schnee und Frost und klirrender Kälte, nachdem der Vormonat uns nur ununterbrochene Regenfälle gebracht hatte. Heute ist Sonntag. Es tut gut, noch eine Weile im Bett zu liegen und in den hellen Morgen zu träumen. Eigentlich wäre es an der Zeit, aufzustehen und etwas zu arbeiten. Oder noch lieber möchte ich singen. Den ganzen Tag singen und froh sein. Es ist etwas in mir heute – nicht nur heute, sondern schon seit längerer Zeit –, das mich mit leisem Entzücken erfüllt und mir doch gleichzeitig wehtut. Ich bin nicht mehr ganz so ausgeglichen wie früher. Den anderen fällt es auf, daß ich manchmal fröhlich und ausgelassen sein kann wie sie, und dann wieder unvermittelt in Nachdenklichkeit verfalle. »Du bist uns aber lieber, wenn du fröhlich bist, Ursula!« versichern sie mir. Ich bin mir selber lieber so, aber – oft will mir scheinen, daß es früher doch leichter war. Als man so ruhig in den Tag hineinlebte, seiner Arbeit nachging, sich abends müde zu Bett legte und tief und traumlos schlafen konnte. – Meine Arbeit füllt mich jetzt nicht mehr so restlos aus, sie erscheint mir manchmal so leer und eintönig. Und der Schlaf – habe ich wirklich eine einzige Nacht traumlos und ruhig schlafen können, seit ich das Buch des Toten gelesen habe? Dachte ich nicht vor dem Einschlafen wenigstens immer darüber nach? Und dann noch während meiner Träume? Feststeht, daß ich kein Anrecht auf das Buch habe. Wenigstens nicht, solange noch einer seiner Angehörigen am Leben ist. Ob ich mich einmal an diese Tante Angèle in 77
Boulogne wende? Ich bezweifle allerdings, daß die alte Dame heute noch unter den Lebenden weilt. Sie muß doch damals schon – und das liegt nahezu zwanzig Jahre zurück – nicht mehr zu den Jüngsten gezählt haben. Immerhin wäre es meine Pflicht, wenigstens einmal den Versuch zu machen, sie unter der Anschrift zu erreichen, die der Tote in seinen Aufzeichnungen vermerkt hat. »Madame Sénard, Quai Gambetta 2, Boulogne-sur Mer – das ist die Adresse, an die du dich zu wenden hast.« Wenn man nur die Anschrift dieser Ivonne in Erfahrung bringen könnte! Aber ich weiß ja nicht einmal, welchen Familiennamen sie trägt. Und im übrigen wird sie inzwischen längst verheiratet sein. Also bleibt Tante Angèle Sénard, seine »zweite Mutter«. Die letzten Aufzeichnungen ihres gefallenen Neffen würden sicher ein Dokument von unschätzbarem Wert für sie bedeuten – vorausgesetzt, daß das Buch sie überhaupt noch erreicht. Am besten, man versucht es zuerst mit einem Brief, ehe man die kostbare Sendung so aufs Ungewisse nach Frankreich gehen läßt. Möglich, daß die alte Dame auch inzwischen ihre Wohnung gewechselt hat. Ich will es versuchen, ich bin es dem Toten und auch meinem eigenen Gewissen schuldig. Es wird mir schwerfallen, bitter schwer, mich von dir zu trennen, André Duval. Mir ist, als gäbe ich ein Stück meiner selbst in fremde Hände, wenn das kleine rote Buch nicht mehr hier ist, bei mir. Ich klammere mich jetzt schon an die halb unbewußte, tröstliche Hoffnung, daß mein Brief an Madame Sénard zwei, drei Tage später wieder an mich zurückgelangen wird, mit dem Vermerk, daß die Empfängerin verstorben sei. Und dann mache ich mir wieder die heftigsten Vorwürfe. Schämen solltest du dich, Ursula. Aus reinem Eigennutz bist du nahe daran, den Tod eines guten Menschen herbeizuwünschen. Heute noch setzest du dich hin und schreibst dieser gütigen alten Frau, die als 78
einziger Mensch auf dieser Welt dazu berechtigt ist, das Vermächtnis des Gefallenen zu hüten. Du wirst alles daransetzen, das Tagebuch seiner rechtmäßigen Besitzerin zuzustellen. Sollte das Schicksal es anders bestimmt haben – nun, dann kannst du reinen Gewissens die Aufzeichnungen des André Duval als dein Eigentum betrachten. Dann muß die Vorsehung eben in dir den Menschen gemeint haben, »dem die Aufzeichnungen des Soldaten André Duval später einmal in die Hände fallen, dem sie etwas zu sagen haben, dem sie lieb werden.« Dann bin ich, ein deutsches Mädchen, dazu bestimmt, zur Hüterin seines Vermächtnisses zu werden. Du bleibst doch bei mir, in mir, unbekannter Soldat Frankreichs; deine Worte trage ich in meinem Herzen, sie werden für immer lebendig in mir sein, auch wenn ich mich von dem Buch, in dem sie verzeichnet sind, einmal trennen müßte. Eine Abschrift werde ich mir anfertigen, ehe ich es von mir gebe. Dieser Gedanke tröstet mich jetzt schon, er wird mir über den Verlust hinweghelfen. So schwer ist es dir also, Ursula? Seit Tagen trägst du dich mit dem Vorsatz, dieser Frau zu schreiben. Wann führst du ihn endlich aus? Es hilft dir nichts, du mußt den Schritt tun, den dein Gewissen dir befiehlt. Wenn er auch über dein eigenes Herz hinweggeht. »Sehr geehrte gnädige Frau! Im Jahre 1916 machte mir ein deutscher Frontsoldat das Tagebuch eines gefallenen Franzosen, André Duval, zum Geschenk. Durch Zufall geriet es mir vor kurzem erst wieder in die Hände. Ich habe seinen Inhalt gelesen. Mit tiefer Erschütterung erfuhr ich vom Leben, Kämpfen und Sterben eines edlen Mannes, der für sein Land auf dem Felde der Ehre fiel. 79
Ihre Anschrift, liebe gnädige Frau, fand ich in seinen Aufzeichnungen. Er muß Sie wie eine zweite Mutter geliebt haben, Sie, die Sie ihm Ihr ganzes gütiges Herz geboten haben, Sie, deren Haus seine Heimat war. Ich hoffe und wünsche, daß dieser Brief Sie in bester Gesundheit erreicht, gnädige Frau. Bitte, geben Sie mir doch Bescheid, wenn Sie meine Zeilen erhalten haben. Ich möchte Ihnen das Buch Ihres Neffen gern zustellen, es gehört ja Ihnen, nur Ihnen. Seien Sie überzeugt, daß ich das Vermächtnis des Toten wie ein Heiligtum gehütet habe. Sein Name wird für immer unauslöschlich in meiner Erinnerung bleiben. Dieser Tote, den ich als Kind schon in meine Gebete eingeschlossen habe, hat mir so unendlich viel gegeben – durch sein Buch schien er im Namen aller Gefallenen des Krieges zu mir zu reden, mir von ihrem Leid und ihrem Kampf, aber auch von der heldischen Größe ihres Daseins zu künden. Was mich aber zutiefst bewegt hat, war, daß dieser gefallene Soldat nicht hassen konnte. Er haßte auch uns Deutsche nicht. Und er sprach davon, dereinst ein Kämpfer unter der Fahne der Liebe und des Friedens werden zu wollen. – Solche Stimmen sind gerade heute, in unseren Tagen, dazu berufen, zum Segen der Menschheit wieder laut zu werden. Daß sie aus Gräbern zu uns aufsteigen, sollte uns Lebenden die Heiligkeit der Verpflichtung, im Namen dieser Toten Frieden untereinander zu halten, nur noch eindringlicher zu Bewußtsein bringen. Seien Sie überzeugt, liebe gnädige Frau, daß ich sofort nach Eintreffen Ihres Bescheides das Kriegstagebuch Ihres verewigten Neffen in Ihre Hände gelangen lasse. Nehmen Sie die besten und herzlichsten Grüße Ihrer sehr ergebenen Ursula Hartmann.«
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Um ein Haar hätte auch dieser mit vieler Mühe in korrektestem Französisch abgefaßte Brief das Los seiner vier oder fünf Vorgänger erleben müssen: in den Papierkorb zu fliegen. Es ist doch schwer, mit einem ganz fremden Menschen über das reden zu sollen, was man für sich im Herzen trägt und kaum vor sich selbst aus dem Dunkel seiner verborgenen, nur gefühlten Existenz ins Licht des Bewußtseins zu rücken vermag: Daß einem dieser unbekannte Tote so unendlich viel bedeutet, daß man ihn mit einer fast schmerzhaften Zärtlichkeit liebt – liebt. Nun hat das Sommersemester seinen Anfang genommen, es ist Mai geworden, und die Tage sind wieder ausgefüllt mit viel Arbeit. Auch meine Gesangstunden habe ich wieder aufgenommen und nehme regelmäßig teil an den französischen und englischen Konversationszirkeln. Es bleibt kaum eine freie Stunde, und das ist gut so. Ob ich nun spazierengehe oder abends in meinem Zimmer bin – immer bewegen sich meine Gedanken um den einen Punkt: Meinen Brief an Madame Sénard, der bis heute unbeantwortet geblieben ist. Sie hätte mir schreiben müssen, wenn sie noch am Leben wäre, unbedingt. Aber warum läßt die Post den Brief nicht an mich zurückgehen? Vor nahezu vier Wochen habe ich ihn abgeschickt. Nein, es ist unnütz, jetzt noch auf Antwort zu warten. Diese Tante Angèle lebt nicht mehr. Und ich darf sein Buch als mein Eigentum betrachten. Ich habe den Inhalt schon etwa zur Hälfte ins Deutsche übertragen, ich kenne ihn fast auswendig. Eigentlich überflüssig, diese Arbeit jetzt noch fortzusetzen. Du wirst bei mir bleiben, André Duval. Kein lebender Mensch hat außer mir noch ein Recht auf deine Aufzeichnungen. 81
Ich sollte mich darüber freuen, nun, da ich meine Pflicht getan und den Versuch unternommen habe, das Tagebuch seinen Angehörigen zuzustellen. Aber ich weiß nicht, was das in mir ist, das mich so ruhelos macht, so traurig, und mich doch gleichzeitig mit wehmütigem Glück erfüllt. Liebe ich denn wirklich einen Toten? Ich träume manchmal von ihm, aber seltsam, nie zeigt er mir sein Gesicht. Wie jener Gilbert trägt er meist den Kopf verhüllt, oder er wendet sich von mir ab, und das ist das Traurigste an diesen Träumen. Und immer tritt er zwischen weißen Kreuzen hervor, ein Soldat in blauer Uniform, unter dem Stahlhelm, feldmarschmäßig ausgerüstet. Und dann erstarrt etwas in mir, die Worte, die ich ihm gern sagen möchte, ersterben auf meinen Lippen. Er ist mir zu fern, zu weit entrückt, selbst wenn er an meiner Seite geht. Es wäre vermessen, ihn lieben zu wollen. Ich kann ihm ja nie folgen, nie seinen Weg bis zum Ende mit ihm gehen. Er kommt aus der Ewigkeit und geht in die Ewigkeit, ein Soldat in feldblauer Uniform, unter dem Stahlhelm. Meist steht sein Name noch im Raum, wenn ich aus diesen Träumen erwache. Ich muß ihn laut gerufen haben. Und nicht selten ist mein Gesicht naß von Tränen, die ich im Traum geweint haben muß. Er hat wohl nie ein Mädchen so recht aus ganzer Seele geliebt. Auch diese Ivonne nicht … Der Krieg hatte sein Herz verschüttet, schrieb er selbst. Wie mag er nur ausgesehen haben, als er lebte? Kann man denn einen lieben, dessen Bild man nicht in allen Einzelheiten im Herzen trägt? Alle Versuche, mir einen bestimmten Begriff von seiner äußeren Erscheinung zu machen, sind gescheitert. Und ich denke doch immer an ihn. Wenn diese Tante Angèle mir geantwortet hätte, würde ich sie vielleicht um sein Bild gebeten haben. Oder nein, 82
ich hätte es wohl doch nicht getan. Er soll mir bleiben als unbekannter Soldat des Weltkrieges, ich will ihn liebhaben wie bisher: ganz unkörperlich, ganz wunschlos – wie man eben einen Toten lieben kann. In der vergangenen Nacht ist er mir wieder im Traum begegnet. Und ich sah ihn zum erstenmal. Oder war es das Antlitz des Weltkrieges selbst, dem ich in die Augen geblickt habe, in die harten, hellen Augen unter dem Stahlhelm? Ich ging mit André am Strand von Boulogne spazieren, und ich hieß Ivonne und trug ein weißes, altmodisches Kleid mit enggeschnürter Taille. Wieder sprach er mit abgewandtem Gesicht zu mir, er sprach französisch, dessen entsinne ich mich genau, aber seine Stimme ging in einem Höllenlärm unter, der sich plötzlich über dem Meer erhob. Ich sah hinaus, da türmten sich die schwarzgrauen Fluten hoch wie Berge auf und wurden Sekunden später in rasenden Strudeln wieder in die Tiefe gerissen. Ein wütender Sturm hatte sich aufgemacht, der Himmel war schwarz geworden und wurde in kurzen Abständen von kometengleichen Blitzen zerrissen. Ich wollte mich zu André wenden, nach seiner Hand greifen, denn ich fürchtete mich; aber er stand nicht mehr an meiner Seite, ich befand mich allein im Dunkel, im Toben und Heulen der Sturmnacht am Meer. Ich rief seinen Namen, ich schrie ihn in das Dunkel hinaus – aber meine Stimme wurde vom Sturm übertönt, vom Brausen der See und den hallenden Donnerschlägen. Da zerriß ein neuer, gelbflammender Blitz die Nacht, und auf Sekunden stand ein Antlitz vor mir, ein steinernes Antlitz unter blauem Stahlhelm; hart und angespannt die Züge, sehr hell die Augen, in denen das Wissen um das Grauen des Todes 83
zu stehen schien. Furchtbar waren diese Augen, glanzlos und starr. Bis in die feinsten Linien hätte ich das Gesicht nachzeichnen können, so nahe war es mir. André? Nein, ich habe dem Krieg ins Antlitz geblickt. Nun weiß ich, daß ich mit einer Antwort aus Boulogne nicht mehr zu rechnen brauche. Sechs Wochen sind vergangen, seit ich geschrieben habe. Ich erkundigte mich bei einem Postbeamten und ließ mir den Bescheid geben, daß der Brief auf alle Fälle in meine Hände hätte zurückgelangen müssen, wenn – ja, wenn Boulogne-sur-Mer eben nicht in Frankreich läge. Die Post arbeite »drüben« bei weitem nicht so korrekt wie hierzulande. Man kenne genug dieser Fälle von echt französischer Nachlässigkeit im Postverkehr. – Damit muß ich mich zufriedengeben. Vom Kolleg aus gehe ich nachmittags gleich nach Hause. Die anderen wollten sich mir anschließen. Weber schlug noch einen gemeinsamen Bummel durch die Anlagen vor, und Liesel äußerte die Absicht, sich bei mir zum Tee einzuladen. Ich lehnte alles ab und gab vor, mich gleich hinlegen zu wollen, weil ich starke Kopfschmerzen hätte. »Was ist nur mit dir los?« begehrte Weber auf. »Du bist ja in letzter Zeit ganz verdreht! Jeden Tag hast du eine andere Ausrede, um dich aus unserer Gesellschaft zu drücken! Oder fängst du am Ende auch schon an, Launen zu haben? Bis jetzt warst du noch die einzig Vernünftige unter den Mädeln – aber nun hört man auch von dir schon das altbekannte Lied: Der Frühling drückt auf meine Stimmung – der Frühling sitzt mir in allen Gliedern – ach Gott, ich möchte am liebsten den ganzen Tag heulen und so weiter! Sag uns nur noch, daß du eine unglückliche Liebe hast, dann kannst du dich mit der Liesel
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zusammentun, die neuerdings voll und ganz übergeschnappt ist!« »Du bist übergeschnappt«, gebe ich wütend zurück. »Und jetzt laßt mir meine Ruhe, alle miteinander. Ihr geht mir wirklich auf die Nerven mit eurem Gerede. Kümmert euch doch um eure eigenen Angelegenheiten!« So grob hätte ich nun eigentlich nicht zu werden brauchen. Ich zittere ja förmlich – und schon wieder steigen mir Tränen in die Augen. »Also doch der Frühling«, stellt er gelassen fest. »Wenn ich mich zum Abreagieren deiner Gefühle zur Verfügung stellen darf?« »Affe!« Ich drehe ihm und den anderen einfach den Rücken und gehe hinaus. Auf der Treppe begegnet mir Nora. »Wart doch, Ursel, ich komme gleich mit«, ruft sie, als ich eilends an ihr vorüberlaufen will. »Nein, ich muß noch in die Stadt, zur Schneiderin«, lüge ich. »Adieu, ich hab es eilig!« Damit renne ich davon. »Ursel, Ursel«, schreit sie mir nach. »Es bleibt doch bei heute abend acht Uhr, ja?« »Natürlich, bis dahin bin ich längst wieder daheim.« Gott sei Dank, daß ich sie losgeworden bin. Ich muß allein sein. Meine Nervosität scheint heute den Höhepunkt erreicht zu haben. Wie sehr mich alles quält, jeder Lärm, jedes unnütze Gerede! Früher würde ich mich über die Dummheiten der Jungen amüsiert haben. In den Anlagen verlangsame ich meine Schritte. Hier laufe ich keine Gefahr mehr, einem Bekannten zu begegnen. Wie entsetzlich schwül es heute ist. Fast hochsommerliche Hitze brütet über der Stadt. Der Flieder steht schon in voller Blüte, um den Springbrunnen ziehen sich große, runde Vergißmeinnichtbeete, und die Magnolienbäume streuen ihre weißen Blütenblätter auf den Rasen. Schön ist es eigentlich 85
hier; wenn nur die Großstadt nicht mit tausend häßlichen Geräuschen rings um das kleine Frühlingsidyll lärmen, wenn ihre Gerüche – Benzin, Rinnsteine, Dampf und Ruß – sich nicht auf diese befremdliche und niederdrückende Weise in den Odem der aufblühenden Natur mischen wollten! Wer jetzt auf dem weiten, weiten Land sein könnte, dort, wo um diese Zeit der Frühling mit seinen tausend Wundern wahrhaft und alles beherrschend Einzug hält! Hier, in der großen Stadt, ist ihm ja nur ein bescheidenes Plätzchen inmitten der grauen Steinblöcke zugewiesen. Die Steine – die bleiben Sieger über den streng abgezirkelten grünen Fleck; in ihrem Machtbereich gibt es keine ungeteilte Frühjahrsseligkeit, denn allzu herrisch türmen sich Häusermauern und Fabrikschlote rings um das kleine blühende Eiland. Über das Jubilieren der Vögel aber triumphiert der Großstadtlärm. Meine Glieder sind so schwer, und im Kopf fühle ich wieder diese dumpfe Benommenheit. Ich muß krank sein. Anders kann ich mir diese innere Haltlosigkeit, das Hin- und Hergerissensein zwischen niederdrückenden und hoffnungsfrohen Stimmungen, zwischen Trauer und Schwermut und dann wieder ganz unvermittelter Freude am Leben nicht erklären. Doch, irgendwie habe ich meinen fest vorgezeichneten Weg unter den Füßen verloren. Wenn ich vor mir selbst ehrlich sein soll, so datiert diese rätselhafte Unruhe von jenem Tage, an dem ich endgültig jede Hoffnung auf eine Beantwortung meines Briefes an Madame Sénard aufgegeben habe. Vorher war es doch gerade André Duval, dem ich einen innerlichen Aufschwung zu danken hatte, der mich der Aufgabe zugeführt hatte, die mir im Rahmen der Gemeinschaft zugewiesen ist, die mich tätig mitarbeiten ließe am Aufbau eines großen Werkes, einer großen Idee. Um den Frieden, um die Verständigung der Völker wollte ich kämpfen – und nun 86
finde ich mit mir selbst keinen Frieden mehr. Was hatte ich mir denn von der Beantwortung meines Briefes erwartet? Sein Buch hätte ich von mir geben müssen. Sollte ich nicht vielmehr zufrieden und dankbar sein, daß ich es behalten durfte? Es ist zwecklos, sich selbst belügen zu wollen. – Du hast erwartet, mehr von ihm zu hören, von seinem Leben, seinem Schicksal, seinem Tod. Du hast auch vielleicht gehofft, später einmal sein Grab aufsuchen zu können, nach Frankreich zu kommen, diese alte Frau kennenzulernen und mit ihr von ihm, nur von ihm zu reden. Nicht wahr, Ursula, so ist es doch? Nun bleibt dir nur noch das Buch. Sein Schicksal ist damit beschlossen, daß es in deine Hände fiel. Es hat dir viel gegeben, das kleine rote Buch, das mit dem Herzblut eines gefallenen Frontkämpfers getränkt ist, das wie ein Mensch von einer Kugel verwundet wurde, von der Kugel, die dem Soldaten André Duval den Tod brachte. Schließ es doch fort, dieses kleine Buch, und versuche, den Mann zu vergessen, der es auf dem Herzen getragen hat. Seine Mission ist erfüllt, du wirst mit allen deinen Kräften der Sache Andrés und Gilberts, der Sache des Weltfriedens, zu dienen wissen. – Diese Liebe zu einem Toten aber mußt du in dir auslöschen. Du lebst, er aber wohnt im Reich der Schatten. Mit aller Sehnsucht, mit aller heißen Zärtlichkeit rufst du ihn nicht ins Leben zurück – und dein Leben, deine Jugend sind anderen Zielen bestimmt, als sie in Totenklage verströmen zu lassen. Ich gehe langsam heimwärts. Es ist Abend geworden. In den Straßen der Innenstadt lärmt das laute Leben, hellerleuchtet liegen die großen Geschäftshäuser, und die Menschen drängen und schieben sich mir entgegen, fröhliche, lachende, plaudernde Menschen, die sich des schönen Maiabends erfreuen. Da packt es mich wieder, da hält es mich gefangen, das bunte, warme, tausendfältige Leben – ich atme die weiche Luft 87
in vollen Zügen ein und freue mich mit den anderen, ja ich summe die Melodie leise mit, als irgendwo helle Kinderstimmen in den sehnsüchtig-blauen Frühlingshimmel aufsteigen: »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus –« O Leben, Leben! Wie stark und gut umfängst du mich wieder, wie schön ist es doch, zu … So ist er gefallen. So sind sie zu Tausenden gefallen, und das Leben schien ihnen schön, bis zum bitteren Ende schön, daß sie seine Schönheit im Augenblick des Todes noch gepriesen haben. Trotz allem, trotz Grauen und Verwüstung und Leid und blutigen Tränen … »es ist so schön, zu leben!« Immer noch haben wir nicht genug von ihnen gelernt, wir Lebenden. In meinem Zimmer finde ich einen großen Fliederstrauß in der Vase auf dem Schreibtisch. Den hat meine freundliche Wirtin wohl dorthin gestellt. Die Müllers besitzen ein Stückchen Gartenland draußen am Stadtwald und lassen mich je nach der Jahreszeit stets an den Freuden ihrer »Großplantage« teilhaben. Blumen oder Früchte oder junges Gemüse – irgendeine kleine Aufmerksamkeit halten sie fast immer für mich bereit. Wie schön die dunklen Fliederdolden sind, wie süß und schwer ihr Duft den Raum erfüllt. Ich schalte das Licht neben der Tür an, dann schließe ich das Fenster und lasse die Vorhänge herunter. Wegen der Schnaken, die hier in der Nachbarschaft des Mains den Aufenthalt in erleuchteten Räumen bei geöffneten Fenstern fast unmöglich machen. Da lehnt ein Brief an der hohen Vase. So recht auffällig hat man ihn dort aufgestellt. Für gewöhnlich pflegt Frau Müller die Post ihrer Pensionsgäste draußen im Vorplatz auf den runden Tisch zu legen. 88
Ausländische Marke? Der große weiße Umschlag zittert ein wenig in meinen Händen, und ich muß mich hinsetzen, als ich einen Blick auf die Aufschrift geworfen habe. »Madame Ursula Hartmann, Francfort-sur-le-Mein, Allemagne.« Ruhe, Ursula, Ruhe. Nun hat sie also doch geantwortet, diese Madame Sénard aus Boulogne. Sie lebt also noch – seine Tante Angèle. Eine schöne Handschrift … aber reichlich lange hat sie mich warten lassen. Ganze sechs Wochen. Und nun nimmt man mir das Buch ab. Warum zögere ich nur immer noch, den Umschlag zu öffnen? Mein Herz schlägt rasend schnell, bis zum Halse. Da habe ich den Umschlag schon aufgerissen, mehrere engbeschriebene Briefbogen kommen zum Vorschein. Herrgott, das Licht blendet heute so. Die Buchstaben verschwimmen auf dem weißen Papier. In Frankreich pflegen die Damen ihr Briefpapier zu parfümieren – ich glaube wenigstens, einen zarten Lavendelduft aus den weißen Blättern aufsteigen zu spüren – oder ist es doch der Flieder vor mir auf dem Tisch? Wollen sehen, was sie schreibt, diese Madame Sénard, Quai Gambetta 2, Boulogne-sur-Mer. »Longville (Meuse), le 10 mai 19…« (Aha, sie ist umgezogen, daher vielleicht die Verzögerung ihrer Antwort. Longville? Da wohnt doch sein Vater?) »Madame«, lese ich. »Ma marraine, Madame Sénard, m’a rendu votre lettre …« Einen Augenblick. Da stimmt etwas nicht. Oder bin ich ganz und gar von Sinnen, verstehe ich plötzlich kein Wort Französisch mehr? »Madame«, beginne ich von neuem, während kleine rote Schatten über den Briefbogen zu tanzen beginnen.
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Acht engbeschriebene Seiten. Ich weiß nicht mehr, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, als ich den Brief aus der Hand legte. Während ich las, hatte die Uhr einige Male geschlagen, im Hause spielte jemand Klavier, und auf der Straße zogen einmal singende Menschen vorüber … das alles nahm ich halb mechanisch ins Bewußtsein auf, während ich über den Inhalt jenes Schreibens aus Longville nachsann. Ich mußte vorübergehend jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren haben. Der Herzschlag der Welt mußte wohl eine ganze Weile ausgesetzt haben für mich, als ich den Brief André Duvals las. Sein Inhalt: »Madame! Meine Patentante Madame Sénard hat mir Ihren Brief übergeben. Er wurde ihr auf vielen Umwegen hierher nachgesandt, denn sie wohnt seit Jahren bei mir, in Longville. Und so sind Ihre lieben, gütigen Zeilen nun in die Hände dessen gelangt, den Sie tot wähnten. Ich bin André Duval. Erlassen Sie es mir, Ihnen von der namenlosen Erschütterung zu sprechen, die ich beim Lesen Ihres wunderbar schönen Briefes empfand. Doch, eines dürfen Sie, sollen Sie wissen: ich habe geweint, wohl zum erstenmal seit damals, als mein Kamerad Gilbert Delsaut fiel. Und ich habe mich wie damals meiner Tränen nicht geschämt. Es ist für einen lebenden Menschen eine seltsame und fast nicht wiederzugebende Empfindung, sich zu den Toten gezählt zu wissen, als Toter beklagt und betrauert zu werden, während das Herz doch seinen alten Gang schlägt, gestern und heute und alle Tage. Es war die eigenartigste und unwirklichste Stunde meines Lebens, als ich Ihren Brief in Händen hielt, Madame. Verzeihen Sie mir – aber ich muß Ihnen sagen, daß mir für einen Augenblick geradezu unheimlich zumute war. – Mein Kriegstagebuch, meine Aufzeichnungen aus dem Jahre 90
1916 existieren also noch, sie sind durch eine seltsame Fügung des Schicksals in den Besitz einer deutschen Frau gelangt – und diese Frau findet heute, nach fast zwanzig Jahren, den Weg zu meinen Angehörigen und weiß ihnen so wunderbare Worte des Trostes zu dem Verlust des – wie sie annimmt – gefallenen André Duval zu sagen; und dieser Brief gelangt in die Hände des Totgeglaubten, und er liest und erfährt, daß man ihn, den lebenden Menschen, zu den gefallenen Helden des Weltkrieges zählt … Würde ich diese Begebenheit in einem Roman gelesen haben, so hätte ich sie als Ausgeburt der Phantasie eines allzu wirklichkeitsfernen Autors abgetan. Daß ich, der ich mit beiden Füßen fest auf der Erde stehe und bisher ein in jeder Beziehung sehr hartes und nüchternes Dasein geführt habe, jemals so Unwirkliches und Traumhaftes erleben würde wie diese Stunde, hätte ich nie für möglich gehalten. Ich kenne Sie nicht, Madame. Ich weiß nur um Ihren Namen und die Tatsache, daß Sie Deutsche sind und eine der edelsten Frauen, die je meinen Weg gekreuzt haben. Ich bitte Sie jetzt schon, ehe ich Ihnen einiges über mich und meine Erlebnisse seit dem Tag, an dem ich schwerverwundet und bewußtlos in der Nähe des Ortes Fleury lag, erzähle, recht herzlich darum, mir bald wieder zu schreiben und mir zu sagen, wer Sie sind, wie und mit wem Sie leben, wo Sie dieses für eine Deutsche so erstaunlich flüssige und elegante Französisch gelernt haben und noch so vieles mehr. Bin ich sehr unbescheiden? Ich möchte mir so gern ein Bild von der Frau machen können, die für einen früheren Gegner ihres Landes nur Worte der reinsten Liebe gefunden hat. Wer gab Ihnen (ich kann mir nicht helfen, ich halte Sie trotz der Tiefe Ihrer Gedanken für einen noch jungen Menschen) den Satz von der Heiligkeit unserer Verpflichtung ein, im Namen der Toten des Weltkrieges Frieden untereinander zu halten? Und weiterhin: ›Solche
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Stimmen sind gerade heute, in unseren Tagen, dazu berufen, zum Segen der Menschheit wieder laut zu werden.‹ Wer sind Sie nur, Ursula Hartmann? Ich meine, Gott selbst muß es so gewollt haben daß mein Kriegstagebuch gerade Ihnen von jenem deutschen Frontkämpfer zum Geschenk gemacht wurde, daß Sie mich als Kind schon in Ihre Gebete eingeschlossen haben. Mir ist heute kaum mehr bewußt, was ich damals, während des ersten Halbjahres 1916, in mein Tagebuch geschrieben habe. Sehr viel unsinniges Zeug wird darunter sein, nehme ich an; ich war ja noch so jung, gerade zwanzig Jahre alt. Ich lag mit der Welt und mir selbst oft noch im Widerstreit, und der Krieg tat ein übriges dazu, mich manchmal vollends in Verwirrung zu setzen. – Mit einiger Beschämung habe ich gelesen, daß meine Aufzeichnungen Ihnen ›unendlich viel gegeben haben‹. Mit Beschämung, und doch mit Freude. Sie müssen es jedenfalls verstanden haben, das eine, das Wichtigste und wohl einzig Wertvolle aus meinen Worten herauszuspüren: die unbedingte Ehrlichkeit, mit der sie niedergeschrieben worden sind. Den guten Willen, der den Schreiber dieser Zeilen beseelt, gerecht und anständig zu bleiben, sein heißes Ringen um die Idee der Verständigung, der brüderlichen Liebe zwischen den Völkern. Das ist nicht sehr viel – und es ist doch etwas, nicht wahr? Vielleicht hat es gerade damals, während eine Welt in den Flammen des Hasses unterzugehen drohte, doch viel bedeutet, auch in seinen Gegnern noch den Menschenbruder zu sehen. Heute – doch über das ›heute‹ spreche ich ein anderes Mal zu Ihnen. Sie müssen mir schon erlauben, Madame, Ihnen noch oft, sehr oft zu schreiben. Doch, eines sollen Sie heute schon wissen: Das Vermächtnis meines Kameraden Gilbert Delsaut ist noch lebendig in mir, in seinem Geiste lebe und wirke ich – und so wie ich einige Hunderttausende in Frankreich.
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Mein Programm hat mir der Krieg selbst vorgezeichnet, und die Führer, denen ich folge, deren Lehren mir zur Richtschnur fürs ganze Leben geworden sind – die ruhen über die halbe Welt verstreut unter der Erde, und ihre Stimmen steigen aus den Gräbern zu uns auf, leider von Unzähligen noch ungehört und unverstanden. Nun ganz kurz meine Erlebnisse seit jenem Tage, an dem mir der Deutsche das Buch nahm: Der Schuß hatte meine Lunge gestreift, ich lag bewußtlos, durch den großen Blutverlust bis zur Ohnmacht geschwächt, in der Nähe des Chapitre-Waldes. Hier hatten unsere Batterien den Angriff der Deutschen inzwischen zum Scheitern gebracht; und so fanden mich kurze Zeit darauf unsere Sanitäter. – Der Kampf hatte also über mich hinweggetobt, über mich und die zahlreichen Toten, die dem Angriff am frühen Morgen zum Opfer gefallen waren. – Wie ich noch lebend aus diesem Chaos gerettet werden konnte, gehört schon ins Gebiet des Wunderhaften. Jedenfalls brachte man mich ins Lazarett, und dort lag ich ganze drei Monate. Als man mich entließ, erreichte mich als erstes die Nachricht, daß mein Vater gestorben war. Den Krieg habe ich bis zum Ende mitgemacht. Im ganzen wurde ich dreimal verwundet. Meine kräftige Natur hat mir immer wieder hindurchgeholfen, auch die schwere Verwundung im Sommer 1916 hat keine schlimmeren Folgen für mich gezeitigt. Ich bin selbst Arzt, und als solcher dürfte man ja über den eigenen körperlichen Zustand am besten Bescheid wissen – nicht wahr? Nun komme ich langsam zum Ende, Madame. Ich möchte noch die ganze Nacht so weiterschreiben, aber ich fürchte, Sie zu langweilen, wenn dieser Brief so nach und nach den Umfang eines Buches annimmt. – Meine Tante Angèle bittet mich, Ihnen ihre innigsten und wärmsten Grüße zu übermitteln. Sie haben sich für immer einen Platz in ihrem Herzen gesichert, und sie wird nicht fertig, mit förmlicher Verehrung 93
von Ihnen zu reden. Übrigens erfreut sich Tante Angèle trotz ihres hohen Alters noch der besten Gesundheit, sie führt mir und meinen Geschwistern den Haushalt und ist uns heute noch, was sie uns schon während unserer Kindheit war: die zweite Mutter. Indem ich meine Bitte, mir bald, sehr bald zu schreiben und mir sehr viel von Ihnen zu erzählen, noch einmal vorbringe, indem ich Ihnen, Ursula Hartmann, in heißer Dankbarkeit und Verehrung die lieben Hände küsse, nehme ich für heute Abschied. Gott segne Sie! André Duval.« Der Flieder ist abgeblüht, das Gartenland meiner Wirte liefert mir Rosen, Johannisbeeren, Kirschen – und kurz nach Sonnenwend die ersten Tomaten, die ich so leidenschaftlich gern esse, besonders, wenn sie noch nicht ganz ausgereift sind. »Keine Treibhausware«, erklärte der alte Müller stolz. Und lädt mich ein, am nächsten Sonntag mit ihnen hinaus auf das »Stück« zu kommen und die Produkte seines gärtnerischen Fleißes an Ort und Stelle zu bewundern. Die Sonnwendnacht habe ich mit den Freunden auf dem Feldberg erlebt. Herrlich war es, als auf allen Gipfeln im Umkreis die Feuer aufzuflammen begannen und die Jugend hier auf der höchsten Erhebung der Taunusberge das »Flamme empor!« anstimmte. Gegen Morgengrauen erst zogen wir heimwärts, und Nora, die eine große Nachtschwärmerin ist, gestand, daß sie noch nie so frisch und guter Stimmung um diese frühe Morgenstunde heimgekehrt sei. Vor allem nicht mit so klarem Kopf, fügte sie etwas kleinlaut hinzu, und leistete unter dem Eindruck des für sie ganz neuen Erlebnisses einer Sonnwendnacht im Freien den feierlichen Eid, von nun an jeder nächtlichen Bummelei in Bars und Tanzlokalen zu entsagen und überhaupt ein anderer Mensch zu werden. 94
»Nach dem Motto: ›Zurück zur Natur!‹« ergänzte Weber mit einem spöttischen Seitenblick auf Wendelin Wespengreifer, unseren Lebensreformer, der als großer Naturfreund Weg und Steg in den Taunuswäldern kennt und unsere kleine Gesellschaft anführte. Im Privatleben heißt er Schmidt, Albert Schmidt, stud. phil. – Er ist freier Mitarbeiter der Zeitschrift »Das neue Leben« und veröffentlicht dort geharnischte Polemiken gegen den Alkohol, den übermäßigen Tabak- und Koffeingenuß gerade in den Kreisen der Studierenden, der Geistesarbeiter, kurz, gegen alle Rauschgifte im besonderen und die naturwidrige Lebensweise im allgemeinen, unter dem sehr sinnigen Pseudonym: Wendelin Wespengreifer. – Er hat da wirklich in mancher Beziehung in ein böses Wespennest gegriffen, der Arme; den langen Weber hat er sich nahezu zum persönlichen Feind gemacht, und die übrigen hänseln ihn, seit sie durch Zufall eine Ausgabe des »Neuen Lebens« in die Hände bekamen und unter dem Pseudonym ohne allzu große Mühe ihren Freund Schmidt erkannten, bei jeder nur möglichen Gelegenheit. Den Namen »Der Wespengreifer« wird er nun jedenfalls nicht mehr los, die halbe Universität nennt ihn so. Er nimmt die teils boshaften, teils gutmütigen Spöttereien der Kameraden mit einer Gelassenheit hin, die mir wirklich Achtung einflößt. Ich mag den Jungen gern, und um ihm eine Freude zu machen, esse ich schon seit Monaten mit ihm gemeinsam im vegetarischen Restaurant »Ethos«. Und – es geschehen noch Zeichen und Wunder – auch der trinkfeste Schorsch Baiser, Sohn eines Gastwirtes und Schlachtermeisters, und sogar neuerdings der lange Weber und seine Freundin Nora nehmen an unseren Mahlzeiten teil, nachdem sie sich überzeugt haben, daß man im »Ethos« ganz vorzüglich und vor allem sehr preiswert speist. »Natürlich kann man auf die Dauer bei diesem Fraß nicht bleiben«, stellte Weber fest. »Das Grünzeug mag ja ganz gut 95
schmecken und auch nahrhaft sein – aber man fühlt sich hinterher jedesmal geradezu verpflichtet, einen ordentlichen Schnaps hinter die Binde zu gießen, damit das lammfromme Gefühl um die Magengegend verschwindet!« »Es bleibt dir ja unbenommen, dich täglich zu besaufen und deinen Bauch mit Rippchen und Kraut vollzustopfen«, gab der Wespengreifer ruhig zurück. »Es zwingt dich ja keiner, vernünftig und ordentlich zu leben, du verunglückter Korpsstudent!« Damit kann man den langen Weber tödlich verletzen. Jeder von uns weiß, daß er früher die stille Sehnsucht hegte, in ein möglichst feudales Korps aufgenommen zu werden. Sein magerer Geldbeutel hinderte ihn zum Glück daran – zu seinem Glück, denn er wäre seiner wütenden Alkoholsucht vollends zum Opfer gefallen, wenn sie durch diese kommentmäßigen Trinkgelage noch gefördert und geradezu zur vornehmsten Pflicht erhoben worden wäre. – Weber ist nicht gerade gern an sein früheres Ideal erinnert. Es genügt, ganz sanft an diese wunde Stelle in seinem Gemüt zu rühren, um ihn fuchsteufelswild oder sehr kleinlaut werden zu lassen, je nachdem. Den »verunglückten Korpsstudenten« kann er dem Wespengreifer jedenfalls nie verzeihen. Er rächt sich mit gehässigen Ausfällen gegen die »verrückten Naturapostel«, in deren Adern Milch statt Blut fließe, denen man es schon von weitem ansehe, daß sie sich nur von Wurzeln und Spinat ernähren – diese schlappen, schwammigen Kerle. »Ihr werdet noch selbst zu Spinat«, fuhr er den Wendelin einmal an. »Euer Gehirn, euer Herz, eure Knochen – alles Spinat! Spinat und weißer Käse – so sieht eure Physiognomie aus!« »Immer noch besser als deine Säuferphysiognomie«, trumpfte der kleine Lebensreformer auf. Und begann – zum hundertsten Male – mit der chronologischen Aufzählung aller Geistesheroen seit Johannes dem Täufer, die der naturgemäßen
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Lebensweise gehuldigt und ihr, nur ihr, den späteren Eingang in die Gefilde der Unsterblichkeit zu danken hatten. So endete auch die schöne Sonnwendfeier mit einem kleinen Krach. Der lange Weber und Schorsch Baiser fielen mit vereinten Kräften über die arme Nora her, deren gute und löbliche Vorsätze den lebhaften Beifall des Wespengreifers gefunden hatten und damit natürlich den Widerspruch der beiden anderen Jungen herausforderten. Ich hielt mich eine Weile neutral, dann aber schlug ich mich in das Lager der angegriffenen Partei Nora-Wespengreifer. Gerade im rechten Moment noch, denn das Mädel begann schon nachzugeben und den braven Wendelin treulos im Stich zu lassen, als es so halb und halb auf den Vorschlag Webers einging, gleich heute abend eine »pfundige« Apfelweintour durch Sachsenhausen anzutreten. »Du machst doch natürlich mit, Ursula?« Damit bot sich mir Gelegenheit, aktiv in die Debatte einzugreifen. Sie ging noch im Eisenbahnzug weiter, bis Frankfurt am Main-West; dann begann Nora zu heulen, ich tröstete sie, und die drei Männer fanden sich plötzlich in schöner Einmütigkeit zusammen und erklärten, daß mit Mädeln eben keine sachliche Auseinandersetzung möglich sei. Die nähmen alles und jedes persönlich – das sei schon immer so gewesen und würde sich auch nie ändern, nie; darin seien sich alle Frauen gleich, sie vertrügen nun einmal kein vernünftiges Wort. »Na, erlaube mal«, fuhr Nora auf. »Wenn du das ›vernünftiges Wort‹ nennst, wo beginnt denn dann für deine Begriffe die Beleidigung? ›Hysterisches Frauenzimmer‹ hast du mich genannt und ›dumme Ziege‹ – und das nennst du ›vernünftige Worte‹, das soll ich mir gefallen lassen und vielleicht noch Dankeschön sagen, was!« Schon wieder kommen ihr die Tränen – aber sie gibt sich alle Mühe, Haltung zu bewahren. Das gelingt ihr nicht ganz, sie sieht so komisch aus mit den zornigen Stirnfalten und dem 97
zuckenden, mit dem Weinen kämpfenden Mund, daß wir alle im Verein zu lachen beginnen. Und sie lacht schließlich mit, und als wir eine Minute später in Frankfurt am MainHauptbahnhof einlaufen, gehen wir in schönster Harmonie geschlossen heimwärts, zu mir. Ich spendiere einen erstklassigen Kaffee, und der Wespengreifer erhält ein Glas Milch und ein Schälchen Johannisbeeren dazu, welches streng naturgemäßes Frühstück er diesmal in aller Ruhe genießen kann, ohne auch nur ein Wort des Spottes zu ernten. »Du bist ein lieber Kerl, Ursula«, sagt er beim Abschied zu mir. »Schade, daß du die Wanderfahrt in den Ferien nun doch nicht mitmachst. Auf dich hätte ich mich am meisten gefreut!« »Du bist also fest entschlossen nach Frankreich zu fahren?« fragte Weber. »Ja, ganz fest«, gebe ich zurück. »Meinen Paß hab ich mir schon besorgt, und in den nächsten Tagen werde ich aufs Konsulat gehen, wegen des Visums –« »Eigentlich bist du zu beneiden, Ursula«, meint Schorsch Baiser. »Nicht nur um diese Auslandsreise – nein, vielmehr um das ganze merkwürdige Erlebnis mit deinem französischen Frontkämpfer. Du mußt uns sehr ausführlich schreiben, wenn du drüben bist, nicht wahr? Welchen Eindruck du von dem Manne gewonnen hast, wie du das Land und die Leute beurteilst – Menschenskind, Ursel, was wirst du alles lernen können da drüben! Ich kann es jetzt schon nicht erwarten, bis du wieder zu uns zurückkehrst und berichtest!« »Ist dir nicht doch ein bißchen Angst vor den fremden Leuten?« fragt Nora nachdenklich. »Denk mal, du fährst doch eigentlich so aufs Ungewisse in ein anderes Land, zu Menschen, die du nur aus ihren Briefen kennst! Vielleicht erlebst du gerade mit diesem Dr. Duval eine Enttäuschung – denn nicht jeder, der schöne Worte zu schreiben versteht, muß auch als Mensch hochwertige Qualitäten besitzen. Versteh mich recht: ich denke, daß du am Ende zuviel von ihm, von 98
seinem Charakter, erwarten könntest, und gerade darum irgendwie enttäuscht wärest, wenn er sich – nun, sagen wir – als durchschnittlich und mittelmäßig entpuppt. Ich an deiner Stelle würde meine Erwartungen auf alle Fälle nicht zu hoch schrauben, Ursel!« Wie oft habe ich das nun schon hören müssen, von allen Seiten, seit ich ihnen die Geschichte des französischen Tagebuches erzählt habe! Ich sprach zu ihnen ja erst vor ganz kurzer Zeit zum erstenmal davon. Als ich mich entschlossen hatte, der Einladung Andrés zu folgen und meine Ferien bei ihm in Longville zu verbringen. Es fiel mir schwer, sehr schwer, mein Geheimnis, das ich so lange fast ängstlich für mich bewahrt hatte, vor den Kameraden preiszugeben. Ich würde bestimmt auch weiterhin geschwiegen haben, wenn mir ein glaubhafter Anlaß zu diesem plötzlichen Entschluß einer Reise nach Frankreich eingefallen wäre. Lügen gehören für mich aber nun einmal zu den Dingen, die mir einfach unmöglich sind. Und überdies – hatte ich denn ein Recht, mein Erlebnis für mich zu behalten? Nein, ich habe es nie bereut, den Freunden die Geschichte André Duvals bekanntgegeben zu haben. Da war keiner unter ihnen, dem sie nicht zu Herzen gegangen wäre, den sie nicht mindestens sehr nachdenklich gestimmt hätte. Natürlich wollten sie das Tagebuch und Andrés Briefe sehen. Ich habe ihnen einige Stellen aus dem Buch vorgelesen, und auch seinen ersten Brief. – Mein Entschluß, seiner Einladung zu folgen und ihm das Tagebuch persönlich zurückzubringen, fand einmütige Zustimmung bei ihnen. Sie sind fast so aufgeregt und erwartungsfroh wie ich, wenn sie auch glauben, mich immer wieder darauf hinweisen zu müssen, daß es gut sei, nicht mit allzu hochgeschraubten Erwartungen der ersten Begegnung mit André entgegenzusehen. Besonders Wendelin macht sich oftmals förmlich Kummer um mich. Der gute Junge – seine Besorgnisse gehen in einer ganz anderen Richtung als die der 99
übrigen, sie versteigen sich zu der sonderbaren Idee, daß ich mich selbst verlieren könnte, drüben, an die Lockung der Fremde. Daß ich mein eigenes Vaterland über der unwiderstehlichen Anziehungskraft des Fremden, Neuartigen vergessen könnte, den klaren Blick für den Wert der Heimat über dem strahlenden Glanz, in dem gerade ein junger Mensch nur allzugern alles Ungewohnte, Neue sieht. Er bezeichnet meine Frankreichreise als einen Prüfstein. »Ich denke mir oft, ein jeder von uns müßte einmal in die Fremde ziehen, dorthin, wohin ihn die Sehnsucht am meisten treibt«, sagte er vor einigen Tagen während eines Spaziergangs zu mir. »Das berühmte Fernweh der Deutschen ist vielleicht doch nur gleichbedeutend mit Heimweh, also dem Drang, auf dem Umweg der Fremde wieder zur eigenen Heimat zurückzufinden. Der Weg muß wohl zwangsläufig über die Fremde führen, denn sie ist es ja meist erst, die uns den Wert der Heimat erkennen läßt. Wer draußen hängenbleibt und nie zurückzukehren wünscht, an dem ist nicht viel verloren, meine ich. Denn der gibt das Beste und Höchste preis, was ein Mensch sein eigen nennen kann: die Heimat. Umsonst ist uns doch nicht von Kind auf diese ganz besondere, einmalige Liebe zu dem Stück Erde, das uns geboren hat, ins Herz gesenkt worden. – Du, Ursula, wirst wohl keine Gefahr laufen, dich dieser Lockung der Fremde allzu willig auszuliefern. Ich kenne dich, ich weiß, daß du im tiefsten Herzen treu bist, deinem Lande und dir selbst. Trotzdem halte ich es für meine Pflicht, dich zu warnen. Du kannst das andere Volk verstehen und achten und sogar liebenlernen … aber über ein Letztes darfst und wirst du nie hinwegkommen: deine Liebe zu dem anderen Volk darf nie zum Verschmelzen, zum Einswerden mit ihm, zur völligen Hingabe, führen. Es gibt Kontraste, die nun einmal bestehen und nicht verwischt werden können. Gott selbst hat es so bestimmt, daß Deutsche und Franzosen und Schwarze und Chinesen auf dieser Welt sind. Wer ist besser, wer ist 100
schlechter? Unsinnige Frage. – Verstehst du mich, Ursula? Ich möchte haben, daß du so zu uns zurückkehrst, wie du von uns gegangen bist. Wohl um ein schönes und unvergeßliches Erlebnis bereichert – aber als eine Ursula, die sich auch in der Fremde treugeblieben ist, bis ins Letzte. – Sag mal, machst du dir überhaupt eine bestimmte Vorstellung von dem Mann, zu dem du gehen wirst?« wechselte er plötzlich das Thema. Oh, ich wußte ja nur zu gut, worauf das alles hinausmündete. Er brauchte gar nicht so viele Worte zu machen, der Junge. Ich verstand ihn schon. Und ich konnte nur mit Mühe ein Lächeln zurückhalten, als ich ihm wiederholte, was ich nun so oft schon vorgebracht hatte: daß André Duval mir längst kein Fremder mehr sei, daß ich unserer ersten Begegnung gar nicht unruhig entgegensähe und im übrigen, meine Vorstellung von seinem Äußeren: Ende der Dreißig, kriegsverletzt, Arzt – »Franzose!« warf der Wespengreifer hier ein. »Warum betonst du das so?« »Ich meine, daß du dieses immerhin nicht unwichtige Charakteristikum berücksichtigen müßtest«, meinte er ruhig. »Du stellst dir also vor, Franzosen müßten andere Menschen sein als du und ich?« »Sie sind es bestimmt, Ursula. Es wird gut sein, wenn du dich mit diesem Gedanken vertraut machst, ehe du zu ihnen gehst«, sagte er sehr ernst. Ich wollte auffahren, aber er legte seine Hand auf meinen Arm und fuhr fort: »Ursel, ich meine es doch gut mit dir. Schau, du kommst nun bald in ein völlig fremdes Land, zu Menschen, die dir nur aus Briefen bekannt sind. Angenommen, dieser André Duval wäre Deutscher, ihr würdet euch auf dieselbe wunderbare und seltsame Weise – also durch das Kriegstagebuch eines scheinbar gefallenen Soldaten – begegnet sein, glaubst du nicht, daß euer erstes persönliches Sichkennenlernen weit weniger Gefahr liefe, wenn es ein Kennenlernen zwischen 101
Deutschen und Deutschen wäre? Ich möchte dich vor einer Enttäuschung bewahren, Ursula; es ist ja nur zu begreiflich, daß du dir das Bild dieses Mannes – unbewußt – bereits so geformt hast, wie es dein Herz dir eingibt. Du wirst ihn mit allen nur möglichen guten und edlen Eigenschaften ausgestattet haben – die er ja auch besitzen mag. Eines aber hast du vergessen: du siehst diesen Herrn Duval immer von der Perspektive deines deutschen Empfindens aus! Du kannst ihn ja gar nicht anders sehen, als es dir dein deutsches Herz diktiert! Ich warne dich, Ursula. Mag dein unbekannter Freund auch der edelste Mensch unter der Sonne sein – er ist zunächst Franzose und bewegt sich in einer ganz anderen Gedankenund Gefühlswelt als wir!« »Für deine Begriffe soll es also keine Freundschaft und Kameradschaft über die Grenzen des eigenen Landes hinweg geben können?« »Doch, Ursula, doch«, sagte er erregt. »Aber sie muß sich auf andere Grundlagen aufbauen, versteh mich doch! Erste Voraussetzung ist, daß ein jeder die nationalen Eigenarten des anderen respektiert und zu verstehen sucht. Woraus natürlich nicht folgern soll, daß über dem Verstehen der fremden die eigene Nationalität in den Hintergrund geschoben oder gar preisgegeben werden muß. – Du wirst es schwerer haben als er, Ursula; er tritt dir immerhin in seiner eigenen Welt entgegen, während die Fahrt nach Frankreich für dich in jeder Hinsicht ein Betreten völlig ungewohnten Bodens bedeutet. Mehr noch: du trägst eine Verantwortung, deren Wert du nicht unterschätzen darfst. Man wird dich drüben als ›die Deutsche‹ schlechthin ansehen; was du auch reden und tun magst – es wird bei deiner Umgebung, und nicht nur bei naiven Menschen, als für das ganze deutsche Volk gültig aufgenommen. Ich weiß, daß du dich bewähren wirst, Ursula, darum ist mir nicht angst. Ich fürchte nur, daß du allzu freimütig und liebebereiten Herzens vor die fremden Menschen 102
hintrittst und von ihnen natürlich ein Gleiches erwartest. Sie sind mit anderen Maßstäben zu messen als wir – präge dir das immer wieder ein! So werden dir Enttäuschungen erspart bleiben. Nimm sie, wie sie nun einmal sind, mit all ihren guten und schlechten Seiten. Wenn dein unbekannter Soldat Wesenszüge aufzeigen sollte, die dir fremd und unverständlich sind und dir vielleicht wehtun, so denke: er ist Franzose. Jeder zieht seine eigenen Kreise, das Leben eines jeden Volkes bewegt sich in dem nur ihm eigenen Rhythmus. Doch was rede ich viel: du wirst das alles ja am besten selbst erkennen. – Ich bin ein dummer Kerl, Ursula. Lach mich nur aus, du hast recht damit!« So ehrlich kummervoll war seine Miene! Ich versuchte ihn abzulenken und begann von anderen Dingen zu sprechen. Aber dann kam das Gespräch in irgendeinem Zusammenhang doch wieder auf André. »Ist er verheiratet?« fragte Wendelin plötzlich ziemlich unvermittelt. »Nein – ich glaube es wenigstens nicht«, gab ich erstaunt zurück. »Wie kommst du übrigens darauf? Das würde ja nichts zur Sache tun.« Er warf mir einen Blick zu, den ich mir nicht recht deuten konnte. Aber er antwortete nicht. »Ich will dir sagen, was du fürchtest, dummer Junge: daß ich mich in diesen André Duval verlieben könnte. Stimmt es?« Wiederum blieb er mir die Antwort schuldig. »Wir wollen nach Hause gehen, es wird gleich regnen«, meinte er nach einer Weile. »Du könntest dich erkälten, Ursula, du zitterst ja jetzt schon …« Alle diese Gespräche vermögen es nicht, auch nur den leisesten Schatten auf das warme, tiefe Gefühl der Glückseligkeit zu werfen, das mich jetzt so vollständig erfüllt, seit jenem Abend, an dem mir die Kunde von André, dem lebenden Menschen André, zuteil wurde. 103
Sechs oder sieben Briefe habe ich seither von ihm bekommen, und etwa die gleiche Anzahl ist von mir nach Frankreich gerichtet worden. Seinem letzten Brief waren ein paar Zeilen Tante Angèles beigefügt; sie wiederholte die Einladung ihres Neffen aufs herzlichste und schrieb, ich könne mir gar nicht vorstellen, mit welcher Freude und Ungeduld das ganze Haus Duval meinen Besuch erwarte. Und ich sollte Angst vor der ersten Begegnung mit diesem Menschen haben? »… Kommen Sie zu uns, kommen Sie bald, liebe Ursula«, hieß es in seinem letzten Brief. »Sie müssen mir den Wunsch erfüllen, den ich schon damals, beim Lesen Ihres Briefes an Tante Angèle, empfand: aus Ihren lieben Händen möchte ich mein Tagebuch zurückempfangen, und von Mensch zu Mensch, persönlich, möchte ich Ihnen für alles danken, Ursula. – Nicht wahr, ich darf Sie auch weiterhin so nennen? Ihr Name ist so schön – heißen viele Frauen in Deutschland so? … Wir werden alles daransetzen, Ihnen den Aufenthalt in unserem Hause so angenehm wie nur möglich zu gestalten. Während der Sommermonate wohnen wir auf dem Lande, in der nächsten Umgebung von Longville. Es wird Ihnen auf unserem Besitz sicher gefallen, Sie werden dort alles vorfinden, was zu einem idealen Ferienaufenthalt gehört: Garten, Wald, einen kleinen Badestrand mit Ruderboot (die Maas fließt an unserem Hause vorbei), Rosen und Nachtigallen im Park – und zu größeren Ausflügen steht Ihnen ein Wagen und ein sehr ordentlicher Chauffeur in meiner Person zur Verfügung. Was könnte ich noch aufzählen, um Sie zu bestimmen, Ihre Ferien in diesem Jahre bei uns in St-Clément zu verbringen? Richtig, das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen. Die fröhliche Gesellschaft junger Leute, die Sie hier antreffen werden. Meine kleine Schwester Mimi, die sich ganz besonders auf Sie freut, wird im August heiraten. Zu der Hochzeitsfeier 104
sind Sie jetzt schon feierlichst und herzlichst eingeladen, auch im Namen des Bräutigams, eines jungen Offiziers, der in Longville in Garnison steht. – Dann ist noch mein Halbbruder Gaston im Hause, ein lustiger Student, in dessen Gesellschaft Sie sich bestimmt nie über Langeweile zu beklagen haben werden. Wir führen, wenn wir auf dem Lande leben, ein sehr gastfreies Haus; besonders über das Wochenende kommen meist die Freunde meiner Geschwister zu uns heraus. – Ich selbst werde ja leider, wenigstens für die erste Zeit, nur sehr wenig von Ihnen haben; tagsüber bin ich in Longville und versehe meine Praxis, und oft habe ich soviel zu tun, daß ich auch in der Stadt übernachten muß. Für gewöhnlich aber komme ich abends nach St-Clément hinaus, ich werde es jedenfalls, wenn Sie erst dort sind, unter allen Umständen so einzurichten wissen, Ihnen wenigstens eine Stunde am Tage widmen zu können. – Übrigens werde ich mir für den Monat August einen Vertreter nehmen und ein paar Ferienwochen in St-Clément verbringen. Das heißt, nur wenn Sie meinen Wunsch erfüllen und zu uns kommen. Ich entwerfe jetzt schon einen Plan nach dem anderen – auch eine Fahrt auf die Schlachtfelder und ein Ausflug nach Paris sind in dem Programm enthalten – wie ist es, liebe Freundin, schwanken Sie immer noch? … Ich kenne keinen größeren Wunsch, als Ihnen mein Land zu zeigen, das Land, das sich dem Fremden nur zögernd offenbaren will, das wirkliche, lebendige Frankreich, das abseits der großen Städte und Bahnlinien liegt; Sie sollen meine Landsleute kennenlernen und – wie ich hoffe – auch liebgewinnen. Sie sind wie das Land, dem sie angehören, dem Fremden gegenüber verschlossen. Sie aber, Ursula, sollen mein Volk an seiner Quelle gleichsam auffinden: in den Familien, auf dem Lande, im Leben der kleinen Provinzstädte. Hier offenbart es sich in seiner ganzen Ursprünglichkeit, hier werden Sie die Seele des französischen Volkes entdecken – 105
und ich glaube, daß Sie aus einem Aufenthalt in unserer stillen Provinzgegend mehr Eindrücke mit sich nach Hause nehmen werden als von einer noch so geschickt ausgearbeiteten Gesellschaftsreise kreuz und quer durch ganz Frankreich. … Machen Sie sich doch kein Kopfzerbrechen wegen Ihrer Devisenbestimmungen. Zehn Reichsmark im Monat, eine Riesenumme, die Sie – so versichere ich Ihnen – noch nicht zur Hälfte auszugeben imstande sind. Und wenn – der Dr. Duval in Longville ist unter Umständen gern bereit, der Tochter eines Kollegen aus Deutschland bereitwilligst mit Darlehen (zu einem entsprechenden Zinssatz natürlich) unter die Arme zu greifen. – Da wir gerade bei technischen Dingen sind: besorgen Sie sich am besten ein Jahresvisum bei dem dortigen französischen Konsulat. Für alle Fälle. Wie würden Sie sich übrigens zu der Idee stellen, einmal ein Semester in Dijon oder an der Sorbonne zu absolvieren? Ihren fremdsprachigen Studien käme das sicher nur zugute. … Lassen Sie mich nicht länger bitten, liebe Freundin. Kommen Sie, kommen Sie – schreiben Sie nur ein kurzes ›Ja‹; das wird genügen, um ein paar Menschen hier glücklich zu machen. Und darunter einen ganz unsäglich glücklich – muß ich es Ihnen wirklich noch sagen …?« Ich komme, André. »Und darunter einen ganz unsäglich glücklich …« Natürlich, das schreibt man so, wenn man einen sehr lieben Freund zu Besuch bittet. Die Franzosen drücken sich wohl etwas überschwenglicher aus als wir – bei jeder Gelegenheit und jedem gegenüber. Die vielgerühmte französische Höflichkeit. Ich weiß nicht mehr, was ich … ich muß und muß mich daran gewöhnen, in ihm einen Freund zu sehen, wie in meinen Freunden hier. So eine Art von höherer Kameradschaft müßte zwischen mir und ihm bestehen können … aber dazu 106
sind wir wohl zu ungleich, schon dem Alter nach. Und dann noch Träger verschiedenen Volkstums, und er ist Mann, und ich bin Frau … Ganz so leicht wird es doch nicht sein, dieses erste Sichbegegnen von Mensch zu Mensch. Dazu war der Auftakt zu ungewöhnlich, zu seltsam. Am Abend vor der Abreise war Nora noch einmal bei mir. »Nur auf einen Sprung, denn du sollst heute zeitig schlafen gehen, Ursel«, verkündete sie mir, als sie kam. Dann aber saßen wir doch bis gegen Mitternacht beisammen und plauderten. Sie hatte es sich auf meinem Koffer bequem gemacht und schwatzte ohne Unterlaß von allen nur möglichen Dingen; besonders konnte sie sich nicht genugtun, mein »unverschämtes Glück« zu preisen, das mir diese Auslandsreise sozusagen ganz unverdientermaßen in den Schoß geworfen habe. Ich beschränkte mich mehr und mehr auf die Rolle der Zuhörerin; zum einen ist es schwer, sich gegen Nora zu behaupten, wenn die Schleusen ihrer Beredsamkeit einmal aufgezogen sind. Und zum anderen konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, als rede die Freundin über irgendein Unaussprechbares hinweg, und dieses Gefühl stimmte mich müde und traurig. War ihr Lachen nicht um einen Ton zu laut, als sie mir die Möglichkeit vor Augen stellte, daß »dieser Dr. Duval« sich am Ende als ein ganz unsympathischer Mensch entpuppte und sich in diesem Falle natürlich Hals über Kopf in mich verlieben würde? »Oder er gefällt dir über alle Maßen gut, Ursel, dann hat er aber bestimmt eine andere, oder es steht sonst etwas zwischen euch, verlaß dich drauf! Denn soweit ich das Leben kenne, ist es nun einmal gemein und niederträchtig! – Na, in beiden Fällen gibt es ja drüben noch Züge, die nach 107
Deutschland gehen, nicht wahr? Und sogar Flugzeuge, falls du es ganz besonders eilig haben solltest, zu uns zurückzukehren. Daß wir dich hier mit brüderlicher Liebe wieder in unserer Mitte aufnehmen werden, versteht sich wohl von selbst, was, Ursel?« Endlich verabschiedete sie sich ziemlich unvermittelt: »Jetzt ist es aber höchste Zeit, daß du ins Bett kommst – ganz blaß siehst du aus, armes Ding. Also, liebe, liebe Ursel, laß es dir gut gehen, schreib uns bald und –« Plötzlich legte sie beide Arme um meinen Hals und schluchzte laut auf. »Ich bin so dumm, Ursula, lach mich nur aus, aber ich weiß selbst nicht, was heute mit mir los ist: ich bin – ich habe solche Angst!« »Angst, wovor denn, Nora?« »Ich weiß nicht – ich – adieu, Ursel! Mach’s gut!« Damit riß sie sich von mir los und lief aus dem Zimmer. Auf der Treppe holte ich sie ein. »Nora, bitte, bleib noch ein wenig bei mir«, bat ich sie. »Du kannst hier schlafen, wenn du willst. Komm, laß mich nicht allein jetzt, es ist ja ohnehin schon so spät, du erreichst deine Straßenbahn doch nicht mehr.« Sie ließ sich willig von mir zurückführen. »Der Weber hat doch recht, wenn er behauptet, daß ich hysterisch sei«, meinte sie, schon wieder lächelnd, wenn auch ihre Augen noch in Tränen schwammen. »Einen netten Unsinn muß ich heute abend zusammengeredet haben, nicht wahr, Ursel?« »Ursula, schläfst du schon?« Ihre Stimme tastete sich zögernd durch das Dunkel, als wir etwas später zu Bett gegangen waren. »Nein.«
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»Du, Ursel, hab ich dir eigentlich schon mal erzählt, wie sich meine erste Begegnung mit einem Franzosen abgespielt hat?« »Nein – hast du denn überhaupt schon einen Franzosen kennengelernt, Nora?« »Einen? Tausende«, gab sie prompt zurück. »Du weißt doch, daß ich Rheinländerin bin, Mainzerin. Und als solche hatte ich allerdings zwölf Jahre hindurch reichlich Gelegenheit, die Söhne der Grande Nation aus nächster Nähe kennenzulernen. Also wenn ich an die Zeit zurückdenke – aber du hörst wohl gar nicht zu, Ursel? Willst du lieber schlafen?« »Sprich nur weiter«, sage ich leise. »Ja, sie hatten uns damals einen Offizier ins Haus gesetzt«, fährt sie fort. »Zwei Jahre wohnte der bei uns, Fabry hieß er, Capitaine Armand Fabry aus Lille. Meiner armen Mutter war es schrecklich, daß man ihr, einer alleinstehenden Frau, diesen Quartiergast auf den Hals lud. Ich war ja noch ein Kind, und meine beiden Schwestern –« »War dein Vater damals schon tot?« »Der ist doch im Krieg gefallen, bei Arras, wußtest du das nicht? Schau, Ursula, darum war es Mama und uns Kindern ja auch so besonders furchtbar, einen Franzosen im Haus zu haben. Wenn er sich auch niemals taktlos oder unkorrekt benommen hat, so blieb doch – ich weiß nicht, ob du das verstehst, Ursel, da stand etwas zwischen ihm und uns, nicht die fremde Sprache, nicht die Uniform, die er trug – ich glaube, daß es die Toten waren, unsere Toten – mein Vater, Ursula! Den hatten sie uns doch genommen!« Sie schreit es fast heraus. Mir ist plötzlich, als legten sich knöcherne Finger um meinen Hals. Ich möchte zu ihr hingehen, ihr etwas Liebes, Tröstendes sagen, aber ich vermag nicht, mich auch nur zu rühren.
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»Verzeih, Ursel, wenn ich dich erschreckt habe«, beginnt sie nach einer kleinen Pause. »Aber weißt du, es übermannt mich immer wieder, wenn ich daran zurückdenke, an das große Leid und die großen Demütigungen, die uns allen dieser furchtbare Krieg gebracht hat. – Aber was wollte ich dir nur erzählen, ich bin ja vom Thema abgekommen –«, unterbrach sie sich. »Von deiner ersten Begegnung mit einem Franzosen, Nora. Es war wohl dieser Offizier, ja?« »Ja, Monsieur Armand Fabry«, bestätigte sie. »Als er unser Haus betrat, packte mich eine sinnlose Wut, daß ich ihm vor die Füße gespien habe!« Im nächsten Augenblick ist sie schon bei mir und packt mich bei den Schultern. »Ursula, Liebe«, flüstert sie und schmiegt ihr Gesicht an das meine. »Ich wollte dir nicht wehtun – ganz im Gegenteil. Schon lange hatte ich mir vorgenommen, mit dir über das alles zu sprechen, schon seit dem Abend, an dem du uns aus dem französischen Tagebuch vorgelesen hast. Damals schon wollte ich dir sagen, daß ich mich dieses Vorfalls schäme, ja daß ich als Kind schon dunkel ahnte, wie sehr ich unrecht getan hatte, wenn ich es mir auch nicht eingestehen wollte. – Schau, der Franzose hatte damals meine Ungezogenheit einfach ignoriert. Er sah auch davon ab, sich bei meiner Mutter zu beschweren – und gerade darum haßte ich ihn merkwürdigerweise nur noch mehr. Tag und Nacht dachte ich darüber nach, wie ich unseren ›Feind‹ nur am besten und wirksamsten hätte kränken können. Ich habe ihm später noch manchen schlimmen Streich gespielt – immer in der festen Überzeugung, damit meinen gefallenen Vater zu rächen –, aber der Capitaine reagierte niemals auch nur im geringsten auf meine Ungezogenheit. Er ließ mich einfach links liegen. – Nun, mit der Zeit wurde ich des einseitigen Kampfes selbst überdrüssig. Ich tröstete mich damit, daß ich mich jedenfalls heldenhaft benommen hätte, ich brüstete mich vor mir selbst als Rächerin meines Vaters an der 110
Nation, die seinen Tod verschuldet hatte. – Als ich älter wurde – ich langweile dich doch nicht, Ursula? – und in die politischen und menschlichen Hintergründe des Krieges einen Einblick gewann, habe ich allerdings sehr rasch verlernt zu hassen. Eine gewisse gefühlsmäßige Abneigung gerade gegen Frankreich aber blieb zurück – darüber kam ich einfach nicht hinweg. Oder besser: eine vollständige Gleichgültigkeit; was drüben, jenseits der westlichen Grenze, lebte, existierte gar nicht für mich. Kannst du mich verstehen, Ursula – keine Unversöhnlichkeit, keine Feindseligkeit, sondern nur –« »Wo man nicht lieben kann, soll man vorübergehen, meinst du wohl?« »Ja, so ungefähr war es«, gesteht sie. »Bis zu dem Augenblick – ach Ursula, es war mir zumute, als wäre ich blind gewesen und plötzlich sehend geworden, als wir an jenem Abend bei dir zusammenkamen und du die Aufzeichnungen des französischen Frontkämpfers vorgelesen hast! Wie sagte doch dieser Gilbert? ›Aus Liebe haben wir gekämpft, um den Frieden, nicht um einen tausendjährigen Krieg!‹ Siehst du, diese Worte haben mir am meisten zu denken gegeben. Da erkannte ich, daß ich es mir allzu bequem gemacht hatte, als ich glaubte, es genüge, nicht mehr zu hassen. Heute weiß ich, was ich dem Andenken meines gefallenen Vaters schuldig bin; daß zwischen uns und unseren früheren Gegnern nicht unsere Toten stehen, sondern unsere eigene Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit. Ich hatte mich gegen den Geist der Liebe versündigt, Ursula – das war es, das hat mich dieser fremde Soldat gelehrt. ›Ohne Liebe geht es nicht‹ – siehst du, damit hat eigentlich das ganze Problem der Verständigung zwischen den Völkern für mich aufgehört, ein Problem zu sein.« Sie atmete tief auf. »Das wollte ich dir sagen, ehe du hinüberfährst, Ursel! Schon lange trag ich das mit mir herum – Gott sei Dank, daß es endlich heraus ist!« 111
Sie beugt sich rasch zu mir herab und küßt mich. »Grüß den französischen Soldaten von mir – und wenn er dich auf die Schlachtfelder führt, so tritt mit ihm vor eines der deutschen Gräber hin und gib ihm die Hand – in meinem und meiner Mutter Namen!« Das fahle Licht des anbrechenden Tages liegt schon im Raum, und noch immer will der Schlaf nicht zu mir kommen. Nora liegt neben mir, sie hat den Kopf an meine Schulter geschmiegt und lächelt bisweilen im Traum. Ihre letzten Worte – die sie wohl schon im Halbschlaf gemurmelt haben mochte – waren: »Ich bin so glücklich – Ursel – aber du mußt zurückkommen – du darfst nicht fortbleiben – darum hab ich Angst –« Dann versank ihre Stimme in fast unhörbares Flüstern: »Aus Liebe – nur aus Liebe – nicht wahr, Vater?«
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Zweiter Teil ANDRÉ UND URSULA
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Nun entfaltet sich das fremde Land vor mir, groß und weit, mit Äckern und Wiesen, die sich wie ein buntgewirkter, unregelmäßig gemusterter Teppich zu beiden Seiten des Flusses ausbreiten, und mit dem schwachen Blau ferner Bergränder unter einem wolkenlos klaren Sommerhimmel. Ich bin seit der Grenzstation allein im Abteil. Die Mehrzahl der Reisenden verließ dort den Zug, ich stand am Fenster und sah ihnen nach; draußen auf dem Bahnsteig liefen Zollbeamte hin und her. Dann kam die Devisenkontrolle, und mein Herz schlug trotz des makellos reinen Gewissens und der beiden Fünfmarkstücke in der Tasche doch etwas schneller als sonst. Vielleicht machte es auch das plötzliche Alleinsein in einem vorher vollbesetzten Wagen, daß ich so ganz sinnlos aufgeregt war, als der Zug sich langsam wieder in Bewegung setzte, den Bahnhof und das bunte Menschengewimmel zurückließ und seine Fahrt in fremdes Land antrat. Es ist ein ganz eigenes Erlebnis um einen Grenzübertritt. Man fühlt sich irgendwie vogelfrei, ein klein wenig ängstlich und doch wieder sehr glücklich, so als erlebte man ein wunderbares und zugleich nicht ungefährliches Abenteuer. Da legt sich eine Schranke quer über die Straße; dahinter steht ein französischer Wachtposten mit blauem Stahlhelm, reglos wie ein Bild. Und auf dem Dach eines Amtsgebäudes weht eine Trikolore – ich bin so in ihren Anblick vertieft, daß ich darüber vergesse, noch einmal nach dem letzten Zipfelchen deutscher Erde zurückzuschauen, das drüben am Horizont langsam verschwindet. Also denn: Neue Welt, ich grüße dich! So unbedingt fremd und neuartig berührst du mich nicht einmal. Schlagbäume, Wachtposten, blaue Uniformen, Trikoloren und späterhin französische Ortsnamen auf den Stationen und die ersten 116
französischen Sprachlaute, die an mein Ohr dringen – aber die Sonne und der Himmel sind sich gleichgeblieben, und auch die Erde, die hier wie dort hochsommerlich prangt und ihre Frucht trägt. Das hilft über die erste leise Regung des Heimwehs hinweg, die der Anblick der Zollschranke und mehr noch des Wachtpostens hervorgerufen hat. Und nun schaue ich mich innerlich ganz unmerklich etwas um, nach der dritten oder vierten Station schon denke ich: »du café«, wenn ich Durst habe, »ne pas se pencher en dehors«, wenn ich am Fenster stehe, und »arrivée à Longville-surMeuse à dix-sept heures treize«, wenn ich auf die Uhr sehe und feststelle, daß noch vier, drei, zwei Stunden vergehen werden, ehe ich meinen Bestimmungsort erreicht haben werde. Der Fluß mit den Sandbänken und Schilfinseln und Uferweiden, der seit Verdun dicht neben dem Zug durch die Landschaft gleitet, heißt Meuse und nicht Maas. Übrigens sehne ich mich doch so langsam nach Gesellschaft, und ich bin neugierig, endlich die Bekanntschaft eines Franzosen zu machen. Schon um meine Sprachkenntnisse ein wenig aufzufrischen, ehe ich zu den Duvals komme. Und wäre es auch nur durch Zuhören – man kann dabei eine Menge lernen. Vorhin stand ich sogar eine Weile im Gang, zwischen Metz und Verdun. Nur um etwas aus dem Gespräch der Poilus aufzufangen, die sich hier draußen aufhielten und Zigaretten rauchten, die sie sich mit verblüffender Fingerfertigkeit selbst drehten. Warum war ich Pechvogel auch in ein Nichtraucherabteil gestiegen! Kein Wunder, daß niemand zu mir hereinkam. Denn daß die Franzosen sehr starke Raucher sind, habe ich nun schon feststellen können. Leider verstand ich kaum ein Wort, die Soldaten sprachen sehr schnell und überdies ein – wie es schien – dialektartig gefärbtes Französisch. Das hat man nun von seinem Hochschulstudium! Über die Konjugation der unregelmäßigen Verba weiß ich sicher besser Bescheid als die Poilus zum 117
Beispiel, wer aber hat mich auf der Schule über die Bedeutung der Worte »Saligaud«, »zut-alors« und »merde« etwa aufgeklärt? Ich erriet sie allerdings sofort ohne allzu große Mühe, und als ich nachher im Wörterbuch nachschlug, fand ich denn auch richtig meine Annahme in einem wenigstens bestätigt: »Saligaud« heißt Schmutzfink. Die beiden anderen Ausdrücke enthielt der Dictionnaire nicht; wahrscheinlich sind sie allzu vulgär, und ich muß mich damit zufrieden geben, mein stark ausgeprägtes Sprachgefühl auch weiterhin zu Rate zu ziehen, wenn es sich um die Verdeutschung hierorts volkstümlicher Redensarten handelt. In Verdun wechselte ich den Zug. Während der nächsten Stunde aber stand ich unter dem erschütternden Eindruck eines durch den Krieg verwüsteten, zerrissenen Landstriches. Da gab es noch Granattrichter und Laufgräben und Stacheldrahtgerippe in den Feldern, da ragten die Trümmer zerschossener Bauwerke noch immer zwischen neuaufgebauten schmucken Häuserreihen – warum eigentlich? Ob man diese Stätten der Verwüstung am Ende mit Absicht so bestehen läßt – als sichtbare Anklage gegen den Krieg oder gegen deutsches »Barbarentum?« Ich entsinne mich, einmal etwas Derartiges gehört oder gelesen zu haben. Aber nein – ich will es einfach nicht glauben, ich will nicht. Es ist vielleicht gut so, die Menschen auf diese Weise immer wieder daran zu erinnern, wie das Gesicht des Krieges aussah. Dieses traurige, durchlöcherte, durchsiebte Land da draußen, die Baumstümpfe, die kahlen Brandmauern einer Kaserne in St-Mihiel – wer könnte diesen Anblick ertragen, ohne etwas wie einen stillen Schwur zu leisten: Nie wieder! Nie wieder! In Sampigny, dem Geburtsort Poincarés, stieg endlich der so sehnlich herbeigewünschte Reisegefährte in den Zug. Gespannt sah ich ihm entgegen. Ein sehr dicker, kleiner Herr, sommersprossig, rothaarig, das vollmondrunde Gesicht von zahllosen Schweißperlen bedeckt, betrat mit höflichem Gruß 118
das Abteil. »Bonjour, Monsieur«, gab ich zurück, und dies waren die ersten französischen Worte, die ich heute auszusprechen Gelegenheit hatte. Ich bereitete mich schon im stillen auf das Gespräch vor, das der anscheinend sehr freundliche Mann nun sicher mit mir anknüpfen würde. Ich wollte es darauf ankommen lassen, von ihm für eine Landsmännin gehalten zu werden. Vielleicht würde mir das Kunststück sogar gelingen. Gespannt sah ich ihm zu, wie er seine zahlreichen Gepäckstücke verstaute. Der Arme, wie schien er unter der Hitze zu leiden! »Ah, quelle chaleur!« seufzte er denn auch und fuhr sich mit einem nicht sehr sauberen Taschentuch über den roten Borstenschädel. Wahrscheinlich würde man nun zuerst über das Wetter reden. Blitzschnell legte ich mir ein paar gewählte Redewendungen über die Hitze, den Stand der Ernte und für alle Fälle auch noch über das Gewitter zurecht, das allem Anschein nach heute noch zu erwarten wäre. Da fuhr der Zug mit einem wütenden Ruck wieder an, mein Reisegefährte kam ins Schwanken, verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht und flog mit dem Kopf wider die Tür. Wer aber beschreibt mein Erstaunen, als er in den gut deutschen Fluch: »Himmelherrgottkreuzdonnerwetternochmal!« ausbrach! Er rieb sich die schmerzende Stirn und trat von einem Fuß auf den anderen. Ich starrte ihn fassungslos an. Ein Deutscher! Aber so sah er eigentlich gar nicht aus! Und jetzt redete er mit einemmal Französisch, sehr gewählt und sehr schnell, und erzählte mir in einem Atemzug, daß er sein halbes Leben in der Eisenbahn verbringe, daß sich die Anschaffung eines Wagens bei dem schlechten Gang der Geschäfte nicht rentiere – leider! – und daß die Züge hierzulande in einem so verrückten Tempo führen – ich bitte Sie, Madame, wo bleibt da die Sicherheit für das Leben der Reisenden! – und daß er sich schon einmal 119
beinahe das Genick gebrochen hätte, bei Châlons, als einer dieser wildgewordenen Lokomotivführer – der Teufel solle sie samt und sonders holen! – mit einer Geschwindigkeit von (bescheiden gerechnet) etwa 120 Stundenkilometern in eine Kurve jagte. Sämtliche Koffer seien aus dem Gepäcknetz gefallen und der große Musterkoffer da oben – sehen Sie ihn sich nur an, Madame! – natürlich auf seinen Kopf. Mit zahlreichen kopfschüttelnden »Olala« beschloß er diese seine Rede. Dann bat er mich um Erlaubnis, sich eine Zigarre anzünden zu dürfen. Ich nickte nur, sein Redeschwall hatte mich doch stark eingeschüchtert, und ich wagte meinerseits vorerst noch nicht, den Mund zu öffnen. Ob ich bis Neufchâteau oder noch weiter fahre, wollte er nun wissen. »Longville, Monsieur«, sagte ich. Ah, Longville, ein schöner Ort. Ob ich dort wohne? »Non, Monsieur.« Er stieß den Rauch seiner Zigarre in dicken Wolken von sich. Eigentlich befanden wir uns ja in einem Nichtraucherabteil. Aber hierzulande schien man es mit der Befolgung der Verbotstafeln nicht so unbedingt genauzunehmen. »Haben Sie das heute in der Zeitung gelesen, von den Deutschen?« So, nun war es an der Zeit, die Frage vorzubringen, die mir schon lange auf der Seele brannte. »Verzeihen Sie, aber sind Sie nicht Deutscher? Ich glaube, vorhin so etwas gehört zu haben?« Ich fragte es in meiner Sprache. »A la bonne heure – woher könne Sie denn Deutsch, Madame?« »Ich bin Deutsche.« »Ah – olala – aha!« Er brach in lebhafte Verwunderung aus. »Das hätt ich Ihne nie und nimmer angemerkt! Da habe Sie 120
vorhin auch mein’ wenig salonmäßige Fluch verstanne, nit wahr? Mais c’est vraiment ridicule, ça, da red ich schon die ganze Zeit Französisch mit Ihne, und dabei könnte mir uns doch ganz gemütlich wie zwei Preuße mitnanner unterhalte! Ich bin Lothringer – Sie gestatte: Fuchs, Emil, Geschäftsreisender der Firma Jean Dérozier fils, Paris. Le café Dérozier, le meilleur café de la France!« Man merkte ihm ordentlich an, wie es ihn freute, Deutsch sprechen zu können. Sein Dialekt war ein Gemisch von Pfälzisch, Saarländisch, Schwäbisch und einer Art Hessisch; zusammen mit zahlreichen französischen Sprachbrocken schien dies also Lothringisch darzustellen! Ob die Seele dieses Grenzlandes wohl auch so bunt und zusammengewürfelt aussieht? Der Nationalität nach war Monsieur Fuchs also Franzose. Er versicherte mir im Lauf unseres Gesprächs auch wiederholt, daß er ein Sohn der Grande Nation sei, wenn er auch, allerdings als »Muß-Preuße«, den Krieg auf deutscher Seite mitgemacht habe. »Ich hab aber nie zu dene richtige wütende Preußefresser gehört«, erzählt er mir. »Wenn ich auch – nix für ungut, Madame! – grad nit entzückt von die Prussiens gewese bin. Wie sie damals abgezoge sinn, 1918, da hat bei uns im Ländle ja eitel Freud und Fröhlichkeit geherrscht, un ich han wie die annere gemennt, daß jetzt das goldene Zeitalter für uns Lothringer und Elsässer anbreche würd, unterm französische Regime. – Ich han wie die annere ›Vive la France!‹ gekrisch, un meine zwei Bube han ich Poilukappe uffgesetzt un e Riesetrikolore hat mei Frau genäht, also Sie verstehe, Madame, der Patriotismus über alles! Der Fuchs-Emil war innerlich immer un bon patriote, e guter Franzos, innerlich – au fonds de son cœur, vous comprenez – denn zeige het mers ja vor der l’armistice nit dürfe, wo die Preuße noch im Land ware. Eh bien! Und wie sich der erschte Freudesturm mal gelegt hat, un 121
mer is wieder seine Geschäfte nachgegange – olala, Madame! – le voilà le grand ›lendemain‹, oder der blaue Montag, wie es bei euch Preuße heißt. – Ob Sie es glauben oder nicht, Madame, mir habe doch noch manchmal an die Preuße zurückdenke müsse, nit grad mit Sehnsucht, denn – wie gesagt – der Patriotismus über alles. Und der Fuchs-Emil war halt genau wie seine Landsleut, les compatriotes, ebe nur ›MußPreuße‹ gewese, vor 1918, aber innerlich hat für uns alle damals doch der berühmte Wahlspruch gegolte: ›Toujours y penser, jamais en parier!‹ La Revanche, Sie verstehe, Madame, achtundvierzig Jahre lang war das die Parole für uns ElsaßLothringer – eh bien! was soll ich Ihne noch viel verzähle? Heut sinn mir wieder Franzose und gehöre wieder in aller Form zu der Grande Nation; und das alles, weil wir achtundvierzig Jahre hindurch immer an eine gewisse Sache gedacht, aber nie darüber gesproche habe. Revanche – pour 1870, Sie verstehe!« Er seufzt tief auf und sieht nachdenklich, beinahe kummervoll aus, als er fortfährt: »Olala, der Patriotismus über alles, und die Revanche und der Stolz, daß man wieder ganz richtig – et on espère: pour toujours – zu der Grande Nation gehört! Das ist alles schön und gut. Aber – und das wollt ich Ihne eigentlich vorhin sage, Madame – auf der andere Seit gehen die Geschäfte immer schlechter und fauler, es gibt immer mehr Arbeitslose, les Chômeurs, vous comprenez. In meiner Branche par exemple – ich bereise fast alle Gasthäuser und Cafés hier im Departement – sieht es ganz miserabel aus. Die Preuße han ebe mehr Geld ausgegebe als die Franzose, ihr Kaffeekonsum jedenfalls war erheblich stärker! Aber ich denk mir halt, die Zeite sin jetzt überhaupt schlecht, hier wie überall in der Welt. Ich kann nur aus eigener Erfahrung sage, daß ich damals mit den Prussiens bessere Geschäfte gemacht hab, sie trinke halt mehr als nur eine Tasse Kaffee, wenn sie ausgehe, ob Sie es glauben oder nicht!« 122
»Ich glaube es«, sage ich und gebe mir große Mühe, ernst auszusehen. »Sagen Sie, Monsieur Fuchs, wird Ihnen der Schaffner keine Unannehmlichkeiten machen, wenn Sie hier rauchen?« »Oh, cela vous dérange, Madame«, der gute Mann macht wahrhaftig Anstalten, seine Zigarre zum Fenster hinauszuwerfen. »Aber nein, ich dachte doch nur – weil es verboten ist …« Und ich zeige auf das kleine Plakat: »Défense de fumer!« »Ach, wege dem Ding da! Man merkt, woher Sie komme, Madame! Ganz Preuße besteht ja nur aus Verbote, das kenne mir noch von früher her. Sie ware wohl vorher nie in Frankreich? Na, Sie werde mit der Zeit schon noch von selbst daraufkomme, daß kein Mensch sich hier um Verbote kümmert. Un hier is ja auch eigentlich fast nix verbote – und rauche tun sie hier überall, im Kino, im Autobus, ich wunner mich als, daß es in der Kirch noch nit eingeführt is!« Er lacht, und ich habe Gelegenheit, ein schwärzliches Gebiß mit zahlreichen Goldplomben zu bewundern. Schön ist er gerade nicht, Monsieur Fuchs aus Metz. Er sieht auch ein bißchen nach Fuchs aus, mit seinem funkelnden Raubtiergebiß und, vor allem, der roten Haarfarbe. Aber ein gutmütiger und sehr origineller Kauz ist er, und ich habe mich längst damit abgefunden, daß ich nun doch keine französischen Sprachstudien mehr vor der Ankunft in Longville werde machen können. Nun wird also doch André Duval der erste »richtige« Franzose sein, dem ich in diesem Leben begegne. Übrigens nur noch eine gute Stunde … Der Kaffeereisende kramt jetzt in seinem Handkoffer und bringt eine große Thermosflasche zum Vorschein. Dann noch eine Mokkatasse und einen Becher und zum Schluß eine Keksdose. »Vous permettez, Madame«, er verneigt sich leicht vor mir. »Sie müsse mir das Plaisir mache und mein’ Kaffee probiere. 123
Es wird Ihne sicher guttun – vous prenez du sucre? Et un petit Mirabel?« Schnaps, in den Kaffee geschüttet? Nein, für meinen Teil lehne ich das ab. Monsieur Fuchs trinkt aus dem Becher, er hat ihn gut zur Hälfte mit Mirabellenschnaps gefüllt. »Speéialité de Metz«, erklärt er. »Wolle Sie nit mal einen Versuch mache, nein? Na ja, was der Preuß nit kennt – nix für ungut, Madame! Aber jetzt probiere Sie mal den Kaffee, voilà des biscuits – und jetzt sage Sie ehrlich, ob meine Firma eine gute Ware liefert oder nicht?« »Ganz wunderbar«, bestätige ich aus vollem Herzen. Tatsächlich ist dies der beste und auf alle Fälle der stärkste Kaffee, den ich je getrunken habe. Das Aroma allein ist geradezu berauschend … »Ihr Kaffee ist ein Gedicht, ein Märchen, Monsieur«, erkläre ich begeistert. »Es bedeutet sicher keine Übertreibung, ihn als den besten Kaffee Frankreichs zu bezeichnen. Ja ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten: es ist der beste Kaffee der Welt!« »Oh, Sie schmeicheln, Madame«, wehrt der Reisende bescheiden ab. Dann aber scheint ihm eine Erleuchtung zu kommen. Er zieht sein Notizbuch aus der Tasche und kritzelt ein paar Worte hinein: »Un poème – une fable – le meilleur café du monde …« murmelt er dabei. »Darf ich Sie bitten, mir Ihren geschätzten Namen anzugeben, Madame?« Jetzt spricht er sogar Hochdeutsch. »Warum, Monsieur Fuchs?« »Ich habe mir erlaubt, Ihre anerkennenden Worte für unsere Werbeabteilung zu notieren«, erklärte er. »Sie sind doch damit einverstanne? Wir gebe nämlich in der nächste Zeit ein neuen Prospekt heraus, mit Stimmen aus dem Kundenkreise. Da ist mir ebe eingefalle, auch Sie anzugebe, Madame. Es ist Ihne doch recht, ja?«
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»Aber ich bin doch eigentlich keine Kundin – und dann Deutsche!« gebe ich zu bedenken. »Oh, das macht nichts, au contraire«, versichert Monsieur Fuchs. »Stimmen aus dem Auslande – unsere Werbeabteilung wird mir dankbar sein! Also bitte … Ihren werten Namen, Madame – oder Mademoiselle, Sie sind doch nicht verheiratet, nicht wahr?« So, da stehst du im Werbeprogramm der Firma Dérozier fils, le meilleur café de la France, Ursula Hartmann. Das hättest du dir heute morgen bei der Abreise wohl nicht träumen lassen! »Bitte schön, Mademoiselle Hartmann, als kleine Gegenleistung.« Da drückt mir der freundliche Reisende doch tatsächlich eine Halbepfundpackung des »meilleur café de la France« in die Hand! Ich bedanke mich gerührt und überlege, ob ich dieses Geschenk wohl Madame Sénard für ihre Küche anzubieten wagen darf? Nach Deutschland kann man es ja wohl nicht mit hinübernehmen. Monsieur Fuchs sieht wieder sorgenvoll aus, als er das Gespräch von vorhin fortsetzt: »Ja, die Geschäfte gehn schlecht, sehr schlecht sogar, Mademoiselle! Ob Sie es glauben oder nicht, so schlecht wie jetzt im Augenblick war es noch nie. Ich reise nun schon seit 1912 für dieselbe Firma, das heißt, genaugenommen, in der gleichen Branche. Die Vertretung für Dérozier fils übernahm ich ja erst nach der l’armistice. Aber mit der Branche bin ich sozusagen verwachsen. – Olala, wenn ich an die Umsätze denke, die wir früher, als die Preuße noch im Land wäre, erzielt habe! – Sehen Sie, Mademoiselle, wie ich vorhin schon sagte: Wenn der Preuße mit seiner Frau in ein Café geht, läßt er sich nit lumpe. Er bleibt nit vier und fünf Stunde bei einer Tasse Kaffee sitze und spielt dabei noch de Grandseigneur! Darin liegt der Unterschied, Mademoiselle, ob Sie es glauben oder nicht! Der Preuße lebt gern lustig und läßt es sich auch etwas 125
kosten, voilà! Aber der Franzose – olala – toujours le grandseigneur, le chevalier, aber kosten darf es nichts! Ich könnte Ihne Beweise bringe, Mademoiselle! Pensez-vous – ich bin selbst Franzose und aus Überzeugung Franzose und lasse auf meine Nation nichts kommen, wie ich vorhin schon sagte. Aber – rein kaufmännisch betrachtet (und man hat eine Familie, die leben muß, Mademoiselle) – je veux vous dire quelque chose: ich würde einer Vertretung in Deutschland beinahe den Vorzug geben, beinahe, Mademoiselle! Ich will die Prussiens bei Gott nit lobe, dafür hab ich sie zu genau kennegelernt, als Lothringer. Aber – wie gesagt – sie sinn nit knickrig und lasse gern was springe, Mademoiselle! Ich sage immer: Jede Nation hat ihre guten und ihre schlechten Seiten, ob Sie mir’s glauben oder nicht. Der Franzose ist mir lieb und wert, solange ich keine Geschäfte mit ihm zu mache hab, voilà!« Damit beschließt er seine gedankenvollen und höchst aufschlußreichen Ausführungen. Mittlerweile haben wir die Thermosflasche geleert, und mein Herz schlägt, wohl unter dem Einfluß des »meilleur café de la France«, einen aufgeregten, unregelmäßigen Rhythmus. »So, jetzt habe mir eine ganze Stund verbabbelt«, meint Monsieur Fuchs und zieht die Uhr. »Mon Dieu, gleich sinn mir in Commercy, da steig ich aus. – Nächste Woche komm ich auch nach Longville, zu wem fahre Sie eigentlich da?« »Zu Dr. Duval«, sage ich und werde plötzlich brennend rot. Kennt Monsieur Fuchs ihn am Ende? »Duval – Duval«, überlegt er. »Ist das am End so ein kleiner Dicker, mit einer Brille, seine Frau ist eine geborene –« »Nein, der ist es nicht«, sage ich schnell. »Ich fahre ja auch eigentlich nicht nach Longville, sondern in ein Dorf in der Nähe, St-Clément.«
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»Oh, St-Clément! Da müsse Sie sich das Château ansehe, ein wunderbarer Bau! Olala – Château St-Clément an der Meuse, eines der schönsten Schlösser des Departements! Wenn Sie mal in das Restaurant de la Poste im Dorf komme, grüße Sie den Wirt, ein gewisser Pincemaille, Pierre. Er bezieht seinen Kaffee schon seit Jahren von mir, sage Sie nur, Emil Fuchs aus Metz läßt ihm ein Gruß bestelle, der Pincemaille weiß dann schon, wer ich bin!« Ich verspreche es. Und Minuten später ist Commercy erreicht, und der Kaffeereisende nimmt sehr herzlichen und sehr wortreichen Abschied von mir. Ich stehe am Fenster und sehe ihm so lange nach, bis seine kleine massive Gestalt an der Sperre verschwunden ist. So, und nun wirst auch du in kurzer Zeit dein Reiseziel erreicht haben, Ursula. Noch drei, vier Stationen – Seltsam, daß ich keinen Augenblick an ihn gedacht habe, während ich mich mit Monsieur Fuchs unterhielt. Nur im letzten Augenblick, als die Rede auf Longville kam. »So ein kleiner Dicker mit Brille – seine Frau ist eine geborene …« Das muß ich André erzählen. Ob er so recht von Herzen zu lachen versteht, ob man in seiner Gesellschaft auch fröhlich sein kann? Jetzt aber tritt der Gedanke an ihn schon wieder in den Hintergrund. Denn nun verläßt der Zug die Station und führt mich durch eine Landschaft, die so unwirklich und traumhaft schön ist, so hauchzart und duftig wie ein Pastellbild, daß ich nur noch in Schauen und Staunen versunken am Fenster stehen kann. – Es ist jetzt die Zeit, in der das Getreide reift. Weizenfelder breiten sich rechts und links der Bahnlinie, dann geht es eine gute Strecke nur an Weideland vorüber, an unübersehbar sich breitenden Wiesen. Ich habe den Eindruck, daß man hier großzügig, verschwenderisch mit dem Land umgeht. Da liegen große Flächen einfach brach – da wächst alles kunterbunt und fröhlich durcheinander, Bäume, Sträucher, 127
wilde Blumen – und das Vieh weidet sorglos und sich selbst überlassen, wo es ihm gerade gefällt. Während bei uns zu Hause jeder Quadratmeter Landes dem Menschen nutzbar gemacht wird, entzieht man hier dem Boden nur soviel, wie es einem beliebt, wie man gerade braucht. In diesem glücklichen Lande wächst und gedeiht ja alles sozusagen von selbst und in so üppiger Fülle, daß ich mich jetzt – angesichts dieser gesegneten, reichen Natur – wirklich geneigt sehe, an die tiefere Berechtigung des Satzes: »Gott in Frankreich« zu glauben. Wie feiertäglich ruhig diese Landschaft ist! Wie gedämpft das Licht und die Farben, wie verträumt und still die kleinen Ortschaften an beiden Ufern der Maas, und der Fluß selbst! Oh, er ist ein Märchen mit den hohen Pappeln am Ufer, ein Traum, gewebt aus Silber und Helle und Frieden. Hier also ist – wie André schrieb – Frankreich. Hier, abseits der großen Städte und Verkehrswege, lebt die Seele seines Volkes, hier soll ich sie aufspüren können, an ihrer eigentlichen Quelle. Da drüben träumt ein Schloß, ein großer, prunkvoller Bau, am bewaldeten Hang eines Höhenzuges. Vornehm und in sich selbst zurückgezogen liegt es da inmitten eines Parkes mit hohen, schmiedeeisernen Gittertoren. – Dann verschwindet es in einer Kurve, ein schmaler Bergrücken schiebt sich heran, das Tal der Maas verengt sich. Immer noch folgt der Zug dem Lauf des Flusses, und jetzt taucht aus der grünen Landschaft zu beiden Seiten der Maas eine kleine Stadt empor; zwei schlanke gotische Türme streben in das weiche Blau des Himmels, am Ufer, unter den Brücken sitzen Angler, eine Schar Schulkinder, geführt von zwei Nonnen mit großen Flügelhauben, spaziert auf dem schmalen Weg neben dem Bahndamm – sie winken dem vorüberfahrenden Zug fröhlich zu. Und nun schlägt mein Herz ein paar rasende Schläge: der Bahnhof ist da, mit viel Lärm und Durcheinander, und auf der 128
großen Rasenfläche neben dem Stationsgebäude prangt es in kunstvoll angepflanzter Stiefmütterchen-Schrift: Longville (Meuse) Da hält der Zug schon, und durch den Lärm auf dem Bahnsteig draußen höre ich die brausenden, machtvollen Klänge einer Kirchenglocke schwingen … Verwirrt raffe ich meine Gepäckstücke zusammen, verwirrt durch das überhelle Sonnenlicht, die neue weiche Luft, die ein wenig trunken macht, und vor allem durch das Glockenläuten, das immer noch fortdauert, als ich schon draußen auf dem Bahnsteig stehe und ratlos nach einem Menschen Umschau halte, der André Duval heißen könnte. – Da steht unweit von mir eine kleine Gruppe plaudernder Herren, zwei Offiziere sind darunter und ein Weißbärtiger in einem Pelerinenmantel – sonst sind nur ein paar Bauernfrauen mit Tragkörben hier, und eine kinderreiche Familie bewegt sich der Sperre zu … Jetzt löst sich einer aus der Gruppe, er kommt eilig auf mich zu, ein großer Mann in hellgrauem Sommeranzug, sehr braun im Gesicht – »Mademoiselle Hartmann?« Er streckt mir beide Hände entgegen. Das also ist André Duval. Ich gebe ihm die Hand, er läßt sie gar nicht mehr frei, während wir uns für eine flüchtige Sekunde in die Augen sehen. Ganz hell sind die seinen – und er sieht gar nicht französisch aus und überhaupt – ganz anders hab ich ihn mir vorgestellt. »Ma chère Ursula (er sagt ›Ürsüla‹) – aber ich muß Sie tausendmal um Entschuldigung bitten! Ich hatte Sie mit diesem Zug noch gar nicht erwartet, der direkte in Richtung Metz–StMihiel–Bar-le-Duc trifft ja erst eine halbe Stunde später ein, und ich dachte mir, daß Sie den benutzen würden! Sie mußten also in Verdun umsteigen – und daran trage ich Schuld, oder vielmehr der Beamte, der mir hier die falsche Auskunft 129
gegeben hat! Ich dachte mir, daß Sie sich vor der Abreise noch einmal genau informieren würden …« Noch immer hält er meine Hand umschlossen, und was er redet, ist ja eigentlich ganz belanglos. »Sie sind sicher sehr müde, Sie Ärmste, nicht wahr? Hatten Sie eine angenehme Reise? Kommen Sie jetzt – ich bringe Sie schnell nach Hause – oder wäre es Ihnen lieber, erst hier in Longville kurze Kaffeestation zu machen?« Er nimmt meine Koffer, und ich gehe neben ihm der Sperre zu. Die Herren, die noch immer plaudernd beisammenstehen, grüßen uns höflich, als wir vorüberkommen. »Sie warten auf den Zug, von dem ich Ihnen sprach«, erklärt André, »Bekannte von mir, die ich vorhin zufällig traf.« Auf dem freien Platz vor dem Bahnhofsgebäude steht etwas seitlich ein großer, eleganter Wagen unter den Bäumen. »Mein Bugatti«, sagt André mit einer gleichsam vorstellenden Handbewegung, und es klingt so etwas wie freudiger Besitzerstolz aus den beiden Worten. Er verstaut mein Gepäck auf dem Rücksitz. Dann tritt er plötzlich dicht vor mich hin und nimmt zum zweitenmal meine Hände in die seinen. »Ist es nicht seltsam, Ursula, daß man in solchen Augenblicken über alles mögliche spricht – nur nicht über das, was einen wirklich bewegt? Ich glaube, daß ich Sie noch gar nicht richtig willkommen geheißen habe – daß ich Ihnen vor allem noch nicht gedankt habe – verzeihen Sie mir, aber ich kann es immer noch nicht restlos begreifen, daß Sie hier sind, daß der Mensch nun vor mir steht, an den ich während der letzten Wochen unaufhörlich gedacht habe … In meinen Gedanken waren Sie mir wirklicher als jetzt, im Augenblick … es ist zu neu, zu überwältigend das alles, wissen Sie.« Sein Gesicht ist mir sehr nahe, die hellen Augen und der Mund … jetzt, wenn er spricht, ist er doch ganz und gar Franzose, Romane. 130
Vor allem die lebhaften, anmutigen Gesten, mit denen er seine Worte begleitet, und der weiche, schöngeschnittene Mund, der sie ausspricht, und das kleine, nur angedeutete Lachen in den Augenwinkeln – das alles rührt fremdländisch an, und doch nicht fremd! Jetzt kommt mir zum Bewußtsein, daß ich noch kein einziges Wort gesprochen habe. Die Glocken – mein Gott, wollen sie denn gar nicht schweigen! Und wie blendet die Sonne, wie glänzt und glitzert der Fluß da drüben, fast schmerzhaft für die Augen – ich muß sie einen Moment schließen, und dann ist immer noch die Luft da, die ich schlürfe wie – wie Champagner, doch, wie süßen Wein … »So sehr müde sind Sie – mein Gott, und ich rede die ganze Zeit auf Sie ein, statt Sie auf dem schnellsten Wege nach Hause zu bringen! Kommen Sie, Ursula, steigen Sie ein – wenn Sie es wünschen, trinken wir erst noch ein Glas Wein oder einen Kaffee in der Stadt.« Er hilft mir in den Wagen, und jetzt erst, als ich an seiner Seite auf dem bequemen Ledersitz Platz genommen habe, will die Verwirrung der ersten Viertelstunde so langsam von mir weichen. »Die Glocken – warum läuten sie eigentlich die ganze Zeit?« Dies sind die ersten Worte, die ich zu ihm spreche. In seiner Sprache – und gar nicht einmal so unbeholfen, finde ich. »Ja, die Glocken, die hört man hier eigentlich von früh bis spät«, meint er. »Vielleicht läuten sie aber jetzt, in diesem Augenblick, auch Ihnen zu Ehren, Ursula! Wenn es nach mir ginge, müßten alle Glocken Frankreichs ertönen – Ihnen zum Willkommensgruß, liebe Freundin!« Und nun zieht er rasch meine Hände an seine Lippen und küßt sie, eine nach der anderen. Und mein Herz schlägt wieder sinnlos schnell – diesmal nicht mehr aus Angst und Verwirrung und Ratlosigkeit. Nein, ich bin jetzt hier bei ihm, ein wenig fremd noch und ein wenig 131
beklemmend ist seine Nähe – aber die Freude, die große Freude überwiegt nun doch alles andere. Der Wagen fährt an, in weitem Bogen geht es um den Platz, dann biegt er in eine schnurgerade Allee mit vereinzelt stehenden Häusern ein, die den Fluß entlang aus der Stadt hinausführt und schon nach wenigen Minuten in freies Land mündet. Die Kaffeestation in Longville ist auf meinen Wunsch aus dem Programm gestrichen worden, und André hält es selbst für vernünftiger, die Besichtigung des Städtchens auf ein anderes Mal zu verschieben und gleich nach St-Clément hinauszufahren, wo man uns sehnsüchtig und ungeduldig erwarte. »Tante Angèle hat in der vergangenen Nacht überhaupt nicht schlafen können«, erzählt er. »Und meine Schwester, die im allgemeinen keine Frühaufsteherin ist, hat heute morgen schon das ganze Haus in Aufregung versetzt, vor allem unseren Gärtner, weil sie in aller Herrgottsfrühe bereits daranging, sämtliche Blumenbeete im Garten zu plündern, um Ihr Zimmer damit auszuschmücken! Sie ließ es sich auch nicht nehmen, höchst eigenhändig eine Torte für Sie zu backen – und das will bei Mimi schon sehr viel heißen!« Nun, da der erste Bann gebrochen ist, plaudere auch ich drauflos, ein wenig holpernd manchmal noch, aber nach Andrés Meinung erstaunlich sicher und vor allem nahezu akzentfrei das Französische meisternd. »Ich bin tief beschämt«, gesteht er. »Mein Schuldeutsch reicht heute kaum mehr aus, um eine Speisekarte oder eine Plakataufschrift zu entziffern. Wie würden wir uns nur – ich meine, den Worten nach – verständigt haben, wenn Sie nicht ein kleines französisches Sprachgenie wären, Ursula?«
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Der Wagen ist ganz herrlich. Ein hochrotes Kabriolett mit silbergrauen Polstern und Kotflügeln. Der Motor brummt sehr tief wie bei einem Rennwagen, und die Geschwindigkeit, mit der wir über die schnurgerade Landstraße jagen, würde mich sicher ängstlich gemacht haben, wenn nicht André am Steuer säße. Es geht soviel Ruhe und Sicherheit von ihm aus, und die Hände, die das Steuer umschließen, sind so vertraueneinflößend, daß mir auch dann noch ganz friedlich und geborgen zumute ist, als der Kilometerzeiger ein paarmal über die Zahl Hundert hinausgeht. »Zu schnell?« Ich schüttele nur den Kopf. Darin sind sich die Männer doch alle gleich: es schmeichelt ihnen ungemein, den anderen – und besonders den Frauen – damit imponieren zu können, wie hervorragend sicher und vor allem, wie schnell sie zu fahren verstehen, was sie aus einem Fahrzeug herauszuholen wissen … Richtig, da sagt er auch schon, was alle Männer bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegen: »Ach, aus dem Wagen hole ich noch ganz andere Geschwindigkeiten heraus, wenn ich allein bin! Bis zu 140 und sogar 150 Stundenkilometer, wenn es darauf ankommt!« »Sind Sie müde – zieht es auch nicht – soll ich Ihnen meinen Mantel geben?« Immer wieder fragt er besorgt, und jedesmal wird mir ganz warm ums Herz. Ich erzähle ihm von meiner Reisebekanntschaft, von Monsieur Fuchs, und er lacht herzlich darüber. Das heißt – so richtig laut und herzhaft wie unsere Jungen drüben kann er wohl gar nicht lachen. Alles ist ein wenig gedämpft und sehr vornehm und sehr beherrscht an ihm – manchmal ist er sogar ein bißchen älterer Herr, ein sehr gütiger älterer Herr, an den 133
Schläfen ganz leicht ergraut, in den Bewegungen oft von einer etwas müden Grazie. Jung ist der Mund, der in seiner schön geschwungenen Linienführung fast frauenhaft weich und zärtlich anmutet, und jung auch das sehr energische Kinn und die hellen, klaren Augen – die in ihrer oft kühlen Schärfe so gar nicht zu dem weichen Mund passen wollen. Alt ist dieses Gesicht neben mir eigentlich nur in der Stirnpartie, in den zahllosen feinen Fältchen der Augenwinkel, und vor allem in dem großen Ernst, der nie ganz aus seinen Zügen schwindet, auch während des Lachens nicht. Im übrigen strahlt dieser Mann Gesundheit und Kraft und Ruhe aus. Immer wieder sehe ich auf die Hände neben mir am Steuer, diese großen, breiten Hände, die trotz ihrer schönen Form und aller Gepflegtheit irgendwie bäurisch wirken. Keine Chirurgenhände jedenfalls – wie denn André Duval auch seiner ganzen Erscheinung nach eher ein Mann der Technik, des Sportes sein könnte als ein Arzt, ein Wissenschaftler. Am rechten Ringfinger trägt er einen blauen Stein, wohl einen Saphir. Und um das Handgelenk ein dünnes Goldkettchen. Verstohlen gleitet mein Blick an ihm aufwärts, über den Arm und die Schulter hinweg bis zu dem Ansatz des Haares, das dunkel und lockig und kurzgeschnitten ist. Schön ist die lichtblaue Farbe des Sporthemdes zu der tiefgebräunten Haut des Gesichtes abgestimmt. Nun erscheint wieder dieses leise, nur angedeutete Lachen in den Augenwinkeln, dieses echt romanische Lachen in der oberen Gesichtshälfte, das für unsere deutschen Begriffe in seiner leisen Verschlagenheit fast ein wenig hinterhältig anmutet – so ist es wenigstens schon gedeutet worden, und es mag sein Teil zu der bei uns zulande unter naiven Menschen immer noch verbreiteten Vorstellung von der »Falschheit der Franzosen« beigetragen haben. Mich entzückt dieses kleine Lachen, das in den Augenwinkeln einsetzt, von einem Hochziehen der Brauen 134
begleitet wird und dann erst langsam auch den Mund einbezieht. »Ich denke eben daran, wie elegant ich vorhin meinen Schwager abgehängt habe, auf dem Bahnhof, ehe Sie ankamen«, sagt André. »Der gute des Plantes hatte es sich nämlich in den Kopf gesetzt, Sie mit mir zusammen gleich auf der Bahn zu begrüßen und dann mit uns nach St-Clément hinauszufahren. Das war mir aus verschiedenen Gründen nicht angenehm – aber er brannte vor Neugierde auf den deutschen Besuch und ließ sich einfach nicht abwimmeln. Wenigstens auf der gemeinsamen Fahrt mit uns beiden nach St-Clément hinaus bestand er – nun, da habe ich ihm geschworen, ihn nachher in seiner Wohnung in Longville abzuholen. Damit gab er sich denn auch zufrieden und ging seiner Wege. – Er wird schön wütend sein, daß er nun den Autobus besteigen muß und Sie erst nachher draußen in St-Clément begrüßen kann!« »Oh, das tut mir aber leid! Er hätte doch noch Platz hier in Ihrem Wagen gehabt, Monsieur Duval …« »André!« verbessert er. »Ich sage doch auch Ursula zu Ihnen – nicht wahr, es darf dabei bleiben? André und Ursula – Sie würden mich bitter kränken, wenn Sie für Ihre Person bei ›Monsieur Duval‹ bleiben wollten!« »André und Ursula«, wiederhole ich folgsam. »Es ist auch mir lieber so, André«, setze ich leise hinzu. Da trifft mich ein guter, warmer Blick seiner hellen Augen! »Übrigens bin ich hier für alle Leute nur ›le Docteur‹«, erklärt er. »Mit meinem Familiennamen nennen mich die wenigsten – ich bin einfach ihr Docteur. Sogar die alten Bauern in St-Clément, die mich schon als Kind kannten und heute noch duzen, nennen mich so. Docteur, du mußt zu uns kommen, es ist einer krank, Docteur, deine unverschämte Rechnung begleiche ich vorläufig noch nicht – so ungefähr geht das. – Sie lachen? Ja, unsere Bauern, die sind ein Kapitel für sich, Ursula. – Sie werden sie ja noch kennenlernen; gute, 135
brave Leute, aber geizig bis in die Knochen. Es liegt ihnen halt im Blut …« Der Wagen gleitet jetzt in mäßiger Geschwindigkeit auf der schnurgeraden Landstraße dahin. Über den blauen Höhenzügen jenseits der Maas beginnt die Sonne sich zu neigen. Und wieder ist das Gefühl des Traumhaften, Unwirklichen da, das von diesem Lande selbst auszugehen scheint; in dem langsam herabsinkenden Abend, der schon seine blauen Schatten über die Täler breitet, während oben auf den Höhen noch purpurnes Licht liegt und der Himmel darüber im letzten Aufflammen des Tages in allen Rosenfarben prangt, vertieft sich noch der schwermütige, ganz eigene Zauber der Landschaft. Wir kommen durch kleine Dörfer mit niedrigen, grauen Häusern, an einsamen Landsitzen und verstreut liegenden Bauerngehöften vorüber. Dann nimmt uns wieder jene Straße am Fluß auf, die jetzt in eine Allee mit herrlichen Silberpappeln mündet; hier führt eine Brücke über die Maas, und jenseits liegt ein kleines Dorf. »St-Clément«, erklärt André. »Fahren wir nicht hinüber?« »Nein, das Schloß liegt auf dieser Seite, Sie werden es gleich sehen können, die Pappelallee führt direkt auf den Park zu. – Sind sie nicht herrlich, diese schlanken Bäume mit ihrem silbernen Laub? Ich liebe sie sehr!« Ich nicke nur. Ich bin ganz überwältigt vom Schauen all dieser Schönheit. – Von dem Schloß hat doch auch übrigens Monsieur Fuchs gesprochen – wohnen am Ende die Duvals darin? Ich bin heute auf jede Überraschung gefaßt – nur ein bißchen verwirrt macht es einen doch, all dieses Neue, Großartige, Wunderbare. »Elle est fatiguée, ma fille, n’est-ce pas?« Wie lieb er das gesagt hat. Es ist müde, mein Mädchen, nicht wahr? »Ma fille« heißt aber auch »meine Tochter«, wenn man es genau nimmt. 136
Wie hat er das nun gemeint – oder besser, was wäre mir lieber? Sein Mädchen, seine Tochter … Jetzt muß ich ein wenig an Vater denken und mir vorstellen, was er wohl sagen würde, wenn er seine Ursula hier sähe. Im Grunde bin ich doch eine Abenteurerin – ganz plötzlich kommt mir das zu Bewußtsein. Dieser Mann an meiner Seite, der so selbstverständlich und vertraut »ma fille« zu mir sagt, ja, kenne ich ihn denn eigentlich nicht erst seit einer guten Stunde? Und die Leute, zu denen ich jetzt gleich kommen werde – ich kann mir noch gar keine Vorstellung von ihnen machen, von ihnen und von dem Dach, das ich heute nacht über dem Kopf haben werde. Und trotz allem fühlt man sich so geborgen, so zu Hause hier, daß man sich ohne weiteres an die Schulter da nebenan schmiegen und beruhigt einschlafen könnte. Vielleicht träume ich dies alles auch nur: Die Einfahrt in einen Park, in dessen Alleen und Laubengängen es schon geheimnisvoll dunkelt, der mit seinen vielverschlungenen Pfaden, dem efeuüberwucherten Mauerwerk eines kleinen Pavillons und den hohen, alten Baumgruppen auf den weiten Rasenflächen einen richtigen Märchengarten darstellt, der an allen Ecken und Enden seine Wunder bereithält. Und dann nach dem Dunkel der Einfahrtsallee der erste Anblick des Schlosses selbst, eines langgestreckten Riesenbaues aus grauem Sandstein, in prunkvollstem Renaissancestil ausgeführt, mit zahllosen Fenstern, in deren hohen Scheiben sich das letzte Licht des Tages spiegelt. Der Wagen gleitet langsam um die große Rasenfläche vor der Hauptfassade, um den Springbrunnen, der seinen hohen, dünnen Strahl inmitten des Rasenrondells emporschleudert; im Hintergrund glitzert das Wasser der Maas zwischen den
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Bäumen, und ferner, am Horizont, dunkeln die Höhenzüge über der Ebene. Und nun halten wir vor der Terrasse. André hilft mir aus dem Wagen, und schon umringen mich vier, fünf Menschen, schütteln mir die Hand, küssen mich auf beide Wangen. Aufgeregte Worte schwirren um meinen Kopf, ich stehe betäubt inmitten dieses Begrüßungstrubels; meine Verwirrung wird noch durch die Musik gesteigert, die aus einem der offenen Fenster im Erdgeschoß klingt, ein Lautsprecher oder ein Grammophon schmettert die Marseillaise, und vom Balkon über mir flattert eine große Trikolore. Dann schieben und ziehen sie mich die Treppen empor, ein junges, weißgekleidetes Mädchen hängt an meinem Arm, ich halte einen Strauß Rosen in der Hand, der mir eben – von wem doch nur? – überreicht worden ist. Auf der Terrasse ist eine festliche Tafel gedeckt. Ich lasse mich dort zunächst einmal ziemlich hilflos auf einen Stuhl sinken. »Oh, das arme Kind, wie muß es doch müde sein«, sagt die zierliche alte Frau, die mich vorhin als erste in die Arme schloß und unter strömenden Tränen willkommen hieß. »Gaston, stell doch um Gottes willen diesen Leierkasten ab, das geht einem ja wirklich auf die Nerven! Kommen Sie, meine Liebe, Mimi wird Sie jetzt auf Ihr Zimmer führen. – Haben Sie meinen Neffen gleich erkannt auf dem Bahnhof?« »Ja, er kam ja direkt auf mich zu«, sage ich. »Und dann –« »Nun, was sagen Sie zu der Begrüßung auf Schloß StClément?« fällt mir Gaston Duval ins Wort, der inzwischen den »Leierkasten« abgestellt hat. »Marseillaise, Trikolore – alles meine Idee! Ich hätte gern noch ein Feuerwerk arrangiert, aber die anderen waren dagegen. Sind Sie nicht etwa wie eine Fürstin bei uns empfangen worden, Mademoiselle?« »Doch, es war wunderschön«, gebe ich leicht verlegen zurück. »Es ist überhaupt alles so schön und festlich hier – ich bin nur noch gar nicht recht zur Besinnung gekommen …« 138
»Wie sie französisch spricht!« verwundert sich das junge Mädchen. »Was sagst du dazu, André?« »Ihr sollt die arme Ursula vorerst in Ruhe lassen«, meint er. »Bemerkt ihr denn nicht, wie blaß und müde sie aussieht? Geh, Mimi, führe unseren Gast hinauf. – Legen Sie sich noch eine Weile hin, wir warten mit dem Essen, nicht wahr, Tante?« Zu zweien geleiten sie mich nach dem oberen Stockwerk, in mein Zimmer. Das wunderschöne Mädchen, seine Schwester, ist hüftlahm. Und auch sein Bruder Gaston hinkt, weit stärker noch als Mimi. Überhaupt eine sonderbare Erscheinung, dieser Gaston. Das Gesicht ist regelmäßig schön wie das seiner Schwester, aber der Kopf unmäßig dick, wie auch seine ganze kleine Gestalt nur aus Fettmassen zu bestehen scheint und völlig unproportioniert im Vergleich zu dem sehr massiven Oberkörper, den kleinen, schwachen Beinen und den übermäßig langen Armen ist. – Irgendwie war mir dieser junge Mensch gleich beim ersten Anblick unheimlich; sein schönes Gesicht wirkt ausgesprochen verwüstet, trotz des fast kindlichen Ausdruckes. Es ist dem des älteren Bruders ähnlich – und auch dem der Schwester, dieses rührend schönen Geschöpfes, das mein Herz gleichsam im Sturm erobert hat und dem ich jetzt schon im stillen den Namen »Die Holdselige« beigelegt habe. Es klingt übertrieben, aber auf Mimi Duvals krankhafte, fast unirdische Schönheit angewandt, erscheint es mir noch leer und dürftig. Man müßte ein Dichter sein, um das Mädchen in seiner ganzen Holdseligkeit schildern zu können. Ja, vielleicht habe ich dies alles nur geträumt, vielleicht gehören auch die Menschen nur zu dem Traum dieses ersten Abends in der Fremde. Sind sie nicht im Grunde auch Traumexistenzen, jeder für sich betrachtet, ein wenig unwirklich und ein wenig zauberhaft? 139
Diese Tante Angèle, die so puppenhaft winzig ist, die sich in ihrem grauen Seidenkleid und dem Spitzenhäubchen auf dem schneeweißen Haar wie eine Feudalherrin aus vergangenen Tagen ausnimmt? Und Gaston, der etwas von einem mißgestalteten Zwerg an sich hat, der mich auf so groteskfeierliche Weise begrüßte und sich mir als »Gaston, Monsieur de St-Clément, im Familienkreise auch ›le Bijou‹ genannt«, vorstellte? Dann Mimi, wie die Königstochter im Märchen, ganz weiß gekleidet, die schwarzen Locken mit etwas Glitzerndem, Diademartigem aus der Stirn gehalten, Mimi, die Holdselige, mit dem wiegenden, unbeholfenen Gang der Hüftlahmen? War nicht übrigens auch die schöne la Vallière hüftlahm gewesen? Das Bild der berühmten Königsmätresse hängt da über meinem Bett im Alkoven. Überhaupt dieses Schloß, dieser weitläufige Prunkbau, in dem man sich fast zu verlieren fürchtet – wie viele Räume mag er wohl enthalten? Die Duvals müssen ja unheimlich reich sein – und wie bescheiden nannte André diese wahrhaft fürstliche Sommerresidenz seiner Familie »unseren Landbesitz«. Der Bugatti am Bahnhof stimmte mich schon leicht nachdenklich, und er selbst, André? Hat er nicht auch etwas von einem Grandseigneur an sich, dieser Landarzt, der sich von früh bis spät mit seinen Patienten abplagt? Irgend etwas scheint hier doch nicht ganz in Ordnung zu sein. Am Ende sind die Duvals – wenigstens André – doch nicht so begütert, wie ich annahm. Jetzt fällt mir ein, daß in dem Tagebuch doch die Rede von dem »Alten de St-Clément« war und von dem Schloß an der Maas, im Zusammenhang mit der Stiefmutter Marie. So wird dieser Besitz wohl das mütterliche Erbteil Mimis und Gastons sein, und – war diese arme Marie nicht wahnsinnig? André hat mir nur geschrieben, daß sein Vater und seine Stiefmutter während des Krieges gestorben seien; daß er jetzt mit den beiden Halbgeschwistern und Tante Angèle zusammenlebe. – Vorhin, als Gaston so stolz den »Monsieur de St-Clément« 140
herauskehrte, glaubte ich, so etwas wie Unbehagen aus den Mienen der anderen lesen zu können. – Demnach wäre ich also nicht bei André, sondern bei seinen Geschwistern zu Gast. Oder ob er vielleicht doch aus seinem Verdienst den Haushalt hier bestreitet? Es ist doch seltsam, da denke ich jetzt schon, in der ersten ruhigen Stunde, die ich hier verbringe, über alles mögliche nach und vergesse darüber beinahe den Anlaß dieser Reise hierher, nach Frankreich. Ihn; und sein Tagebuch. Wir haben bisher mit keinem Wort das »früher« erwähnt. Überhaupt – es wird nicht ganz so leicht sein, eine Brücke von dem »früher« zum »heute« zu schlagen, von dem Frontkämpfer André Duval, den das kleine rote Buch mir entgegenführte, zu dem Dr. Duval aus Longville, der mich heute an der Bahn in Empfang nahm. Beide sind mir lieb, beide bedeuten mir etwas – aber der andere, der Frontsoldat, steht mir vorerst doch näher, meine ich. – Oder sollte er meinem Herzen zu nahestehen, förmlich als ein Stück meiner selbst in mir leben, der andere, der unter dem blauen Stahlhelm? Und mir so den Weg zu dem André von heute für alle Zeit unzugänglich machen? »– oder es steht sonst etwas zwischen euch, verlaß dich drauf!« – Nora, dich möchte ich hier sehen, du müßtest an meiner Stelle hier sein, in diesem hohen Raum mit den seidenen Tapeten, dem breiten Prunkbett unter dem Baldachin aus schwerer Brokatseide, dem weißen Marmorkamin und dem überwältigenden Fensterblick auf den Park hinaus, an dem die Maas vorüberrauscht –, in dessen hohen Baumwipfeln jetzt eine Nachtigall ihren Gesang anhebt! Nora, du würdest dankbar sein, du würdest nicht wie ich hier am Fenster lehnen und grübeln und sinnen – du wärest der Mensch, diese ganze verzauberte Herrlichkeit inbrünstig und hingegeben zu genießen, zu genießen … Von der Terrasse, die unter meinem Fenster liegt, dringen plaudernde Stimmen zu mir herauf. Ich sehe hinunter, da sitzen 141
André und Tante Angèle, sie unterhalten sich – wie es scheint – sehr lebhaft miteinander, denn sie haben die Köpfe zusammengesteckt, und die alte Dame fuchtelt ein paarmal aufgeregt mit den Armen. »La petite –« höre ich, und dann den Namen »Gaston« und noch einmal »la petite Allemande«. Die kleine Deutsche. – Ich trete schnell zurück und beginne mich umzukleiden. Ein bißchen bedrückend ist es schließlich doch, von jetzt an keinen deutschen Menschen mehr in seiner Nähe zu wissen und ganz ausschließlich auf sich selbst angewiesen zu sein, wenn einen gelegentlich das Heimweh packen sollte. »Essen Sie, mein Kind, essen Sie«, mahnt Tante Angèle immer wieder während der Abendmahlzeit. »Zum Unterhalten findet ihr später noch Zeit – aber meine Hammelkoteletts dürfen nicht kalt werden. André, gieß ihr noch etwas Wein ein – siehst du denn nicht, daß ihr Glas leer ist?« Sie nickt mir liebevoll zu und lädt trotz meines schwachen Widerstandes meinen Teller immer aufs neue voll. »Bitte, André, es geht wirklich nicht mehr, dies ist nun schon das dritte Glas –« »Rotwein ist gesund, das gibt Blut«, entscheidet die alte Dame. »Wenden Sie sich an meinen Neffen, der wird es Ihnen bestätigen können!« Der Neffe lacht fröhlich auf. »Seit wann setzest du denn so unbedingtes Vertrauen in mein ärztliches Urteil, Tante?« neckt er. »Das kommt mir einigermaßen überraschend. Im allgemeinen steht dir Mutter Babettes medizinische Autorität doch über der meinen, nicht wahr? – Aber was den Wein betrifft, so finde ich, daß er unserem Gast sehr wohl zu bekommen scheint. Ganz rote Bäckchen haben Sie, Ursula – ist die Reisemüdigkeit nun ein wenig überwunden, ja?« 142
»Ich fühle mich so frisch, daß ich heute abend noch auf die Berge da drüben steigen könnte«, versichere ich. »Aber das viele Essen – ich bin es nicht so gewohnt, wissen Sie – es schmeckt ja herrlich, aber nun geht es einfach nicht mehr …« »Bei euch in Deutschland ernährt man sich wohl in der Hauptsache von Heuschrecken und wildem Honig?« erkundigt sich Gaston todernst. »Nicht nur«, gebe ich ebenso ernst zurück. »Zur Abwechslung ißt man auch manchmal Sauerkraut und Wurst, das deutsche Nationalgericht – für die Begriffe mancher Ausländer wenigstens!« »Bravo!« Der Capitaine des Plantes, Mimis Bräutigam, ruft es begeistert und klatscht in die Hände. »So ist es richtig. Mademoiselle, das nenne ich gut pariert!« Er ist bildhübsch, der junge Offizier, ein wenig zu weibisch elegant vielleicht, aber typisch französisch mit seiner zierlichen Figur, den lebhaften dunklen Augen und dem kleinen koketten Bärtchen auf der Oberlippe. Seine Braut ist etwas größer als er, aber sie bilden ein schönes Paar, wie sie mir da gegenübersitzen. »Was sagen Sie dazu, Mademoiselle, daß André mich heute nachmittag so schnöd im Stich gelassen hat?« erkundigte er sich vorhin, gleich nach der Begrüßung. »Mit der alten Knochenmühle, dem ›St-Christophe‹, hat er mich herausfahren lassen, obwohl er mir hoch und heilig geschworen hatte, mich mit seinem Wagen abzuholen. Nun ja, man hat schließlich Verständnis für solche Situationen! – Übrigens, André! Weißt du schon, daß ganz Longville bereits davon informiert ist, daß du eine entzückende junge Dame an der Bahn in Empfang genommen hast und mit eben dieser Dame im Bugatti davongefahren bist? Die schöne Irène erzählte es mir, sie lief mir gerade über den Weg, als ich den ›St-Christophe‹ bestieg. Der alte de la Roche hat es ihr berichtet, und sie wollte natürlich von mir wissen, wer denn um Gottes willen diese 143
weibliche Person sei! Die hat Augen gemacht, mein Alter, als sie von mir erfuhr, daß eine junge Deutsche bei euch zu Besuch ist! Natürlich brennt sie vor Neugier, verlaßt euch drauf, daß sie gleich morgen hier anrücken wird!« »Von mir aus«, gab André achselzuckend zurück. »Ein fürchterliches Klatschnest, dieses Longville, Ursula! Damit muß man sich abfinden.« Diese Mahlzeit währt nun schon über eine Stunde und wird sich – so nehme ich beinahe an – noch bis in die tiefe Nacht erstrecken. Denn die beiden Mädchen schleppen immer neue Platten heran, und die Weinkaraffen werden nun schon zum dritten Male aufgefüllt. Hierzulande scheint das Essen und Trinken zu einer Art Zeremonie erhoben zu sein; man speist langsam, man gibt sich dem Genuß des Essens und Trinkens mit einer gewissen Feierlichkeit hin, und die erlesene Qualität jedes einzelnen Gerichtes, das hier aufgetragen wird, rechtfertigt denn auch diese Feierlichkeit. Ich muß unwillkürlich an unseren spartanisch einfachen Mittagstisch im »Ethos« zurückdenken, an den guten Wespengreifer, der wohl in heilige Entrüstung ausbrechen dürfte, wenn er diese sündhafte Schlemmerei hier mit ansähe. Mit welcher unnachahmlichen Grazie André eine Artischocke verzehrt, wie liebevoll und behutsam der Offizier das rosige Fleisch des Hummers aus der Schale löst, wie langsam »le Bijou« den Wein über die Zunge gleiten läßt und erst eine Weile im Munde behält, ehe er ihn die Kehle hinunterspült! Weinbergschnecken gehören von heute an für mich nicht mehr zu den Dingen, an die man nur mit Ekel und Abscheu denken kann; »soupe granitée« ist in meinen Sprachschatz als ein feststehender Begriff eingegangen, und zum Abschluß der Mahlzeit trinke ich meinen schwarzen Kaffee mit einem Schuß Kirsch darin, wie die anderen; der blaue Duft einer »Camel«Zigarette gehört einfach dazu und das ganz leichte, wohlige Benebeltsein, das schon nach dem Genuß des Aperitifs, der die 144
Mahlzeit einleitete, sich mit rosigen Schleiern um das Bewußtsein legte. Übrigens rauchen nur Mimi und ich die kostspieligen amerikanischen Zigaretten; von den drei Herren wurden sie als allzu »süßlich und fad« abgelehnt. Und siehe da! Auch André und Gaston und sogar der elegante Monsieur des Plantes verstehen es, sich ihre Zigaretten mit der gleichen Fingerfertigkeit selbst zu drehen wie die Poilus vorhin in der Eisenbahn! Dazu verwenden sie eine Tabaksorte, die, wie André sagt, die billigste und zugleich die beste Frankreichs sei. Das mit der Billigkeit glaube ich ohne weiteres; denn der Duft, der diesen selbstgedrehten Dingern entsteigt, muß geradezu als Beleidigung für unsere »Camel« angesehen werden. Fröhlich plaudernd sitzen wir noch lange beisammen. Wieder komme ich mir wie verzaubert vor, auf dieser hellerleuchteten Schloßterrasse, im Kreise der Menschen, die mir vor Stunden noch unbekannt waren, die mich so ganz selbstverständlich als zu ihnen gehörig zu betrachten scheinen, die mich mit ihren Gesprächen mehr und mehr in ihre eigenen Interessenkreise ziehen, in ihren Alltag, der mich selbst nun gar nicht mehr so wesensfremd und neuartig berührt. »Ürßüla« sagen sie zu mir, und auch ich muß sie mit ihren Vornamen nennen, und daß Madame Sénard einfach »Tante Angèle« für mich ist und zu sein hat, wurde mir gleich bei der Begrüßung eingeprägt. – Und da sitzt André, André Duval, an meiner Seite. Manchmal legt er die Hand auf meinen Arm, wenn er zu mir spricht. Er ist von bezaubernder Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit und scheint bemüht, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Aber – ist er mir nicht trotzdem vielleicht der Fremdeste unter diesen Fremden …? Ich grüble und grüble, woran das nur liegen mag. Und komme zu dem Ergebnis, daß es so sein muß, weil ich mir von den anderen gar nichts und von ihm … zuviel erhofft habe. Daran trägt er nicht die leiseste Schuld. Er gefällt mir, so wie er 145
ist. Oh, er gefällt mir so sehr, dieser schöne, ruhige, gelassene André, er ist so gut zu mir, so grundanständig und aufrichtig herzlich; da ist keine Eigenschaft an ihm, die mich bis jetzt befremdet oder abgestoßen hätte, die irgendwie den harmonischen Eindruck seiner Persönlichkeit störte. Nur der andere, der drängt sich zwischen mich und ihn, der Tote, der in meinem Bewußtsein während einer noch nicht sehr weit zurückliegenden Zeitspanne als das Bild eines bleichen, fanatischen Märtyrers existierte. – Und die Toten stehen wieder auf und kehren zu den Lebenden zurück … und die Lebenden erkennen sie nicht mehr … und die Seinen nahmen ihn nicht auf … »… Ein alter Halunke, dieser Pincemaille«, höre ich den Dr. Duval an meiner Seite sagen. Und fröhlich lachend fährt er fort: »Aber ich kriege den Kerl noch klein, verlaßt euch drauf! Diese Blinddarmoperation soll ihn in mehr als einer Beziehung teuer zu stehen kommen – und wenn ich ihm den Gerichtsvollzieher auf den Hals hetzen muß! Besitzt der Gauner doch drei Häuser und einen Weinberg – und weigert sich, mir die lumpigen paar hundert Francs zu zahlen! Pensestu, mon vieux!« Und er dreht sich eine neue Zigarette. Vor dem Schlafengehen machen wir noch einen kleinen Rundgang durch den nächtlichen Park, zur Maas hinunter. Tante Angèle hat sich zuvor von uns verabschiedet, sie küßte jeden von uns beim Gutenachtsagen auf beide Wangen. »Mögen Sie nur gute und heitere Tage hier verleben, meine liebe Ursula«, sagte sie zu mir und streichelte meine Hände. »Wir alle sind bestrebt, Ihnen den Aufenthalt in unserem Hause so schön wie nur möglich zu machen – denn wir stehen in einer großen Dankesschuld bei Ihnen.«
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Oh, das dürften sie nicht sagen. Was haben sie mir denn zu danken, was nur? Tief beschämt habe ich der alten Frau die Hände geküßt. Gaston war während des Spaziergangs außer Rand und Band, er ließ uns gar nicht zur Ruhe kommen. Bald sprang er kreischend aus dem Dunkel eines Gebüsches auf uns zu, bald schlug er auf dem Rasen ein paar Purzelbäume oder bespritzte seine Schwester mit Wasser, als wir unten an der Maas angelangt waren. Wie ein großer Affe kam er mir vor, als er schließlich auf der Mauer herumkletterte und uns mit kleinen unreifen Äpfeln bewarf. »Ja, das ist mein Bruder Gaston, ›le Bijou‹, wie er sich selbst nennt«, seufzt André. »Sie werden sich an seine Art erst noch gewöhnen müssen – er ist schrecklich unerzogen. Bitte, nehmen Sie ihm nichts übel – im Grunde ist er ein armer Kerl!« »Oh, ich finde ihn sehr nett und lustig«, sage ich rasch, denn es ist mir nicht entgangen, daß dieser Bruder André ernstlich Kummer zu bereiten scheint. »Man langweilt sich bestimmt nie in seiner Gesellschaft!« »Ja, seine Einfälle haben zum mindesten den Vorzug, originell zu sein«, pflichtet er mit etwas trübem Lächeln bei. »Er ist Student, haben Sie mir geschrieben?« »Ja – man führt seinen Namen wenigstens in der Liste, an der Universität Nancy.« Zwischen Andrés Brauen erscheinen zwei kleine, senkrechte Falten; ein Ausdruck, den ich heute abend schon mehrmals zu beobachten Gelegenheit hatte, wenn Gastons Witze manchmal die Grenzen des Taktes bedenklich überschritten. »Neun oder zehn Monate im Jahre aber treibt er sich hier herum, mit dem Vorwand, krank oder erholungsbedürftig zu sein!« Ich will etwas sagen, aber dann besinne ich mich doch noch rechtzeitig eines anderen.
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»Daß der arme Teufel von der Natur körperlich verunstaltet worden ist, bedaure ich von Herzen«, fährt André schon von selbst fort. »Aber das bedeutet für meine Begriffe noch lange keinen Freibrief für – nun, sagen wir – charakterliche Schwäche. Organisch ist mein Bruder gesund, wenn ich auch für den Fortbestand dieser Gesundheit auf längere Zeit hinaus nicht mehr garantiere, wenn der Junge es so weitertreibt. Sie werden beobachtet haben, wie unmäßig er ißt und vor allem trinkt und raucht! Dazu noch dieses sträflich faule Leben … und so manches andere …« Er verstummt plötzlich. Wir stehen unter den Bäumen am Ufer, in den eiligen Wellen der Maas spiegelt sich das Licht der Sterne in zitternden Goldfäden, und am fernen Horizont über den Höhenkämmen wetterleuchtet es mehrere Male. Rein und herb ist der Duft des Wassers, und von den Wiesen drüben weht es warm und schwer herüber – Atem des Sommers. »Die Nachtigall singt in der Kathedrale!« ruft Mimi leise zu uns herüber. »Hört ihr es?« Das Brautpaar sitzt unweit von uns auf einer Bank am Bootssteg, und Gaston hat sich der Länge nach in einen der beiden Nachen gelegt, die dort befestigt sind. Wir lauschen dem Gesang des kleinen Vogels – ob es derselbe ist, den ich vorhin vom Fenster meines Zimmers aus gehört habe? »Die Kathedrale, das ist die Baumgruppe dort drüben«, erklärt André. »Sie können es jetzt in der Dunkelheit nicht erkennen – aber die sechs hohen Eichen bilden tatsächlich in ihrer Gruppierung einen Dom, man nannte sie vor zweihundert Jahren schon ›la cathédrale‹. Übrigens birgt dieser grüne Dom noch einen ganz besonderen Schatz – für Sie, Ursula. Morgen früh werde ich Sie dorthin führen – nein, ich verrate es jetzt noch nicht! Aber ich freue mich schon seit langem darauf, Ihnen diesen mir liebsten Fleck im Park zeigen zu können, gerade Ihnen, Ursula!« 148
Langsam gehen wir zum Schloß zurück, »le Bijou« gesellt sich zu uns und erklärt plötzlich, eine großartige Idee zu haben. Er wolle mit mir noch eine nächtliche Spazierfahrt machen, die Maasebene hinauf bis zu dem Dorfe Soundso, wo sein Freund, der Gastwirt Pierre, einen ausgezeichneten Wein ausschenke. »Ursula, gehen Sie um Gottes willen nicht darauf ein!« schreit Mimi, die ein paar Schritte vor uns geht, zurück. »Ich kenne diese nächtlichen Touren unseres Bijous, der ist imstande und fährt Sie direkt in die Maas!« »Oh, ich fahre sehr sicher«, wirft er sich in die Brust. »Sie könnten sich mir ganz ruhig anvertrauen, meine Liebe!« »Meinen Wagen bekommst du jedenfalls nicht«, meint André mit nachdrücklicher Betonung. »Den Garagenschlüssel trage ich in der Tasche, dies nur zu deiner Information, teurer Bruder!« »Ach, spiel dich doch nicht so auf, du«, gibt Gaston frech zurück. »Ich werde mir demnächst selbst ein Fahrzeug anschaffen … und übrigens stellt mir Herr Pincemaille jederzeit gern seinen Citroën zur Verfügung. Ich bin also auf deinen Karren nicht gerade angewiesen, wie du siehst!« »Und trotzdem hast du schon zahlreiche Schwarzfahrten damit unternommen«, wirft ihm die Schwester an den Kopf. »André hat ganz recht, wenn er jetzt die Garage abschließt! Wie habt ihr den teuren Wagen neulich zugerichtet, du und deine lieben Freunde! Auf dieser Kirchweih in Lérouville … Und vorigen Sonntag hast du sogar das Schloß an der Garagentür aufgebrochen, mein Lieber, als du mitten in der Nacht noch zu deiner Gesellschaft nach Longville gefahren bist! Und André konnte am nächsten Morgen mit dem ›StChristophe‹ in die Stadt fahren, weil du natürlich noch nicht zurückgekehrt warst!« »Ach, halt du doch den Mund mit deinen Angebereien!« faucht er wütend zurück, »du bist ja selbst schon mit mir gefahren, und einmal hab ich dich sogar chauffieren lassen, 149
weil du gar keine Ruhe gabst! Erzähl das doch deinem Bruder André, wie du die Karre beinahe an den Brückenpfeiler gerannt hättest, wenn meine Geistesgegenwart dir nicht so plötzlich zu Hilfe gekommen wäre!« »Aber, Mimi, wie konntest du …«, mischt sich jetzt auch der Bräutigam ein. Er macht ihr heftige Vorwürfe wegen dieses unverantwortlichen Leichtsinns, die beiden zanken miteinander, bis wir am Schlosse angelangt sind. Und André, der während des ganzen Disputes geschwiegen hat, beschließt die wenig erfreuliche und für mich leicht niederdrückende Debatte endlich mit der brüderlichen Ermahnung an Gaston, nun ein für allemal seine Eigenmächtigkeiten zu unterlassen. »Ich werde noch ein Sicherheitsschloß an der Garage anbringen lassen«, verheißt er. »Meinen Wagen wirst du jedenfalls nie wieder benutzen, weder mit noch ohne meine Erlaubnis, mein Alter!« Folgerichtig wäre es nun gewesen, einen tiefbeleidigten oder wenigstens verlegenen »Bijou« von dannen gehen zu sehen. Weit gefehlt! Der Junge lacht fröhlich auf, vollführt ein paar tänzelnde Bewegungen auf den Terrassenstufen und versichert mir beim Gutenachtsagen, daß ich das schönste Mädchen sei, das je seinen Weg gekreuzt habe. »Lassen Sie sich durch die anderen nicht gegen mich beeinflussen, meine teure Ursula«, sagt er und küßt meine Hand. »Man verkennt mich hier, ich bin ein unverstandener Mensch, wissen Sie. Der Hausnarr von St-Clément, sozusagen. Aber mein Herz, das tritt man mit Füßen, dieses Herz, das Sie, meine Teure, heute im Sturm erobert haben!« »Komm, hör endlich auf mit deinen schwulstigen Redensarten«, meint seine Schwester. »Wer dich nicht kennt, muß durch dein Theater ja geradezu Angst eingeflößt bekommen! Nehmen Sie ihn um Gottes willen nie ernst, Ursula!«
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»Da haben Sie es ja! Ich bin nur der Narr für sie alle!« klagt er. Er ist sichtlich bemüht, tragisch und mitleiderregend zu wirken. Aber im nächsten Augenblick beginnt er ganz unvermittelt zu lachen, und er lacht noch immer, als er schon im Haus verschwunden und die Treppen zum oberen Stockwerk hinaufgestiegen ist. Ein seltsamer Kauz. Ein wenig grauenerregend ist er eigentlich doch, denn seine Komik ist zu grotesk, und sein Lachen … oh, ich fürchte mich immer, wenn er lacht. Es wird schwer sein, mit diesem Jungen auszukommen, glaube ich, trotz allem gutem Willen. Und dann stehe ich endlich für einen kurzen Augenblick allein mit André zusammen, in der Halle. Wieder hält er meine beiden Hände in den seinen, und wieder ist dieser gute Blick da, dieser »ma fille«-Ausdruck in seinen hellen Augen. »Wir haben heute nur sehr wenig voneinander gehabt«, sagt er. »Aber damit muß man sich abfinden, nicht wahr? Ich habe ja schließlich nicht allein ein Recht auf Sie, auf Ihre Gesellschaft, Ursula. Gefallen Ihnen meine Leute? Gaston – ja, das ist ein Kapitel für sich, ein ziemlich trauriges Kapitel, aber Sie werden sich mit der Zeit schon noch an den Jungen gewöhnen, hoffe ich. Es tut mir so leid, daß Sie gleich heute eine dieser unerfreulichen Szenen miterleben mußten, die hier nun einmal zu der Tagesordnung gehören. Bitte, halten Sie mich nicht für einen Familientyrannen! Aber ich muß den jungen Menschen manchmal ein wenig scharf anpacken, vor mir wenigstens soll er so etwas wie Respekt haben – sollte er! –, denn ich fürchte, daß Gaston überhaupt keine Autorität in dieser Welt anerkennt. Am besten, man ließe ihn einfach seiner Wege gehen – aber das hieße doch wieder unverantwortlich handeln. Schließlich ist er noch so jung, und mein Bruder.« 151
Immer Gaston, Gaston. »Und nun gute Nacht, Ursula«, sagt er schließlich, nachdem er das Thema noch eine Weile fortgeführt hat. »Schlafen Sie recht gut in dieser ersten Nacht bei uns, in Frankreich. Gefällt es Ihnen ein wenig, unser Land?« »Sehr, André, sehr«, sage ich leise. »Man muß es liebgewinnen, und man wird es wohl nie ganz aus seinem Herzen verlieren können – ich wenigstens nicht, das weiß ich heute schon.« »Und Deutschland, Ihre Heimat? Ist es nicht wunderbar schön, Ursula? Oh, Sie müssen mir noch viel davon erzählen – und überhaupt, wir werden uns noch sehr viel zu sagen haben, nicht wahr? Wenn es etwas stiller um uns und auch in uns geworden ist … Und nun für heute: Gute Nacht, Ursula!« »Gute Nacht, André!« Er steht unten an der Treppe und sieht mir nach, ich fühle es. Und ich wende mich noch einmal um und winke ihm zu. Irgend etwas legt sich schwer auf mein Herz, eine ganz unbestimmte, ganz unfaßbare Traurigkeit. Man steigt eine Treppe empor und läßt einen Menschen zurück, man winkt ihm noch einmal zu, und auch er hebt seine Hand – und in dieser kleinen Geste, die von einem Lächeln begleitet wird, liegt soviel Müdigkeit und nachdenkliches Traurigsein, daß man plötzlich ein würgendes Gefühl im Halse verspürt, ein Gefühl, das erst schwindet, als man in bittere Tränen ausbricht – sobald man allein ist. Das französische Prunkbett hat wohl noch selten einen müderen Gast beherbergt als mich. Während des Auskleidens schon schlief ich so halb und halb – und fahre jetzt, nachdem ich mich kaum niedergelegt habe, verwirrt in die Höhe, als Mimi mein Zimmer betritt. Sie ist im Nachthemd, ihre kleinen nackten Füße klatschen leise auf den Parkettboden auf, als sie sich meinem Bett nähert.
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»Oh, ich wollte Sie nicht stören«, flüstert sie. »Nur rasch noch einmal gute Nacht sagen. Ich schlafe gleich nebenan; wenn Sie wollen, öffne ich die Verbindungstür. Ich dachte mir, daß Sie vielleicht Angst haben könnten … hören Sie, wie das Käuzchen schreit?« Sie ist ganz blaß. Und atmet denn auch sichtlich erleichtert auf, als ich ihrem Vorschlag zustimme, heute und auch für alle weiteren Nächte die Tür zwischen unseren Zimmern offenzulassen. »Meinen Freundinnen ist es oft unheimlich, wenn sie hier im Schloß übernachten«, erzählt sie, während sie sich auf meiner Bettkante niederläßt. »Wir haben so viele Eulen hier im Park, und dann ist der Holzwurm in den alten Möbeln – wissen Sie übrigens, daß in diesem Zimmer, in diesem Bett sogar, Ihr Graf Bismarck schon einmal eine Nacht zugebracht hat? Damals, 1870, auf dem preußischen Feldzug? Da hat er in einer Augustnacht mit noch einigen Herren seiner Begleitung hier im Schloß Quartier genommen; meine Großmama war ganz allein mit ihnen, denn Großvater diente in der Armee und stand im Felde. Großmama soll noch oft davon erzählt haben, von den großen Aufschlagstiefeln, die der Graf Bismarck trug, und wie nett er zu ihr gewesen sei und wie ihm der weiße Bordeaux aus ihrem Keller geschmeckt habe. – Sie müssen sich von Bouliers Großmutter, die damals ein ganz junges Mädchen war und hier im Schloß servierte, die Geschichte erzählen lassen. – Jedenfalls ist dies hier das Bismarckzimmer, und Tante Angèle und André meinten, es würde Sie bestimmt freuen, gerade hier zu wohnen. – Ich finde es ja ein bißchen unheimlich, überhaupt solche alten Geschichten, meinen Sie nicht?« Ich bin längst wieder völlig wach geworden über dieser Erzählung, der ich zuletzt fast atemlos gelauscht habe. Jetzt erst sagt man mir das! Wie viele Überraschungen wird man hier denn eigentlich noch für mich bereithalten?
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Ich bestürme das Mädchen, mir mehr zu berichten. Aber Fräulein Mimi erklärt, nichts weiter zu wissen. André sei bestimmt besser informiert als sie und dann vor allem Bouliers Großmutter auf der Ferme, die wollten wir gleich morgen aufsuchen. Die brenne ja förmlich darauf, ihre alten Geschichten auszukramen, und habe sie schon so oft erzählt, daß sie einen nachgerade verrückt damit mache. Jedenfalls sei sie es auch, die überall diese albernen Spukgeschichten verbreite, von der Frau, die nachts im Schloß St-Clément umginge, und von den Seufzern aus dem Grabe unter der Kathedrale im Park, und was dieser Dinge mehr seien. Natürlich befände sich ihrer Meinung nach auch der Geist der »Preußen« unter den Schatten, die hier im Hause umgingen. Aber sie, Mimi, halte das selbstverständlich für baren Unsinn, denn »le comte Bismarck« habe doch schließlich nur einmal hier geschlafen und sei erst viele Jahre später eines ganz natürlichen Todes gestorben, nicht wahr? Damit verabschiedet sie sich von mir und geht in ihr Zimmer hinüber. Da habe ich vorhin gedacht, daß dieses breite Bett unter dem Baldachin wohl noch keinen müderen Gast als mich beherbergt haben könne. Am Ende war er doch noch etwas müder, damals, der Alte aus dem Sachsenwalde? Auf alle Fälle hatte er etwas mehr geleistet als ich, ehe er sich hier zur Ruhe niederlegte. So hat dieses Zimmer schon einem sehr vornehmen und sehr berühmten Gast zum Aufenthaltsraum gedient … und, was mich am meisten freut, vor mir schon einem deutschen Menschen! Das Käuzchen draußen schreit noch immer, und das Wasser rauscht so stark, und in den Baumwipfeln vor dem Fenster flüstern und wispern tausend geheimnisvolle Stimmen. Ich krieche etwas tiefer unter die breite Seidendecke … habe ich die Tür zum Gang eigentlich abgeschlossen?
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Was redete Mimi da vorhin von einem Grab unter der »Kathedrale«? Ach, das ist wohl die Überraschung – die wievielte eigentlich? –, die André mir für morgen zugedacht hat? Das Käuzchen – und die Maas rauscht – ich bin hier in einem alten Schloß in Frankreich – und vor mir hat schon einmal ein Deutscher hier gewohnt. Er trug plumpe Aufschlagstiefel, der Alte, sagte das Mädchen, das holdselige Mädchen mit dem wiegenden Gang … Wie sie zu mir ins Zimmer trat, in dem langen weißen Nachtkleid … wie war sie schön, und so bleich … Das unheimliche Lachen Gastons … und die junge Holdselige, die nachts im Schloß umgeht… und der Alte aus dem Sachsenwalde, auf dem Feldzug 1870. Soldaten, Feldgraue und Feldblaue … und ein ganz junger unter einem blauen Stahlhelm … Das Käuzchen … Ma fille. »So, und nun werden wir den Pater Dominique am ›StChristophe‹ abholen gehen«, schlägt Mimi vor. »Wir schaffen es noch, es ist fünf Minuten vor zwölf!« »Ach, laß uns doch lieber hierbleiben«, meint ihr Verlobter und dehnt sich behaglich in seinem Liegestuhl. »Der findet den Weg doch auch allein hierher.« »Nein, geht ihm nur entgegen«, mischt sich Tante Angèle ins Gespräch. »Sonst bleibt er wieder im Gasthaus bei dem Pincemaille hängen, zumal, wenn er Gaston dort antrifft – dann dehnen sie den Aperitif bis zum Abend aus, ihr wißt ja Bescheid!« Wir sitzen schon seit dem Frühstück auf dem Rasenplatz im Park, in der Nähe des Springbrunnens; der Sonntagmorgen prangt in strahlendem Sonnenglanz und festlicher Himmelsbläue, und der Blick über die in Licht gebadete 155
Maasebene ist den Augen fast schmerzhaft in seiner übermäßigen Helle. Nur ungern verlassen wir diesen angenehmen, kühlen Platz unter dem grüngoldenen Laubzelt der hohen Bäume, um uns ins Dorf hinüberzubegeben. Aber Tante Angèle mahnt zur Eile. So machen wir uns auf den Weg, Mimi, der Capitaine und ich. »Le Docteur« ist vor einer Stunde nach Longville abberufen worden, zu einer Entbindung. Sein Bruder Gaston verließ uns noch etwas früher, er ging zum gewohnten sonntäglichen Aperitif ins Dorf. »Sagt ihnen, daß wir pünktlich um halb ein Uhr essen«, ruft Tante Angèle uns nach. »Und laßt euch um Gottes willen nicht dazu überreden, zu Pincemaille hineinzugehen, hört ihr!« »Ich werde den Père Dominique an seiner Kutte hierherschleifen, wenn es sein muß, Tante«, verspricht Mimi lachend. »Wer ist denn dieser Père Dominique?« erkundige ich mich, während ich mit dem Brautpaar die Pappelallee zur Brücke hinuntergehe. »Ein alter Freund unseres Hauses, ein Jesuitenpater aus Longville«, erzählt sie. »Mit dem Bijou ist er besonders innig befreundet, er hat ihn früher unterrichtet, hier im Schloß. Als Lehrer war er bestimmt sehr tüchtig, und er konnte auch streng sein – jedenfalls war er der einzige unter den zahlreichen Hauslehrern meines Bruders, der es hier längere Zeit aushielt, der so einigermaßen Herr über den schrecklichen Jungen geworden ist. Manchmal hat er ihn sogar ordentlich verdroschen – sehr zur Freude Tante Angèles und auch Andrés, der damals noch in Paris Assistenzarzt war und sich nicht selbst um unsere Erziehung kümmern konnte. Ja, und heute –« »Heute ist der gute Pater der intimste Freund seines ehemaligen Zöglings, und das sagt ja eigentlich alles«, ergänzt der Capitaine ironisch.
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»Ach geh, ich mag ihn sehr gern, unseren Père Dominique«, meint Mimi. »Sie werden sehen, wie liebenswürdig und nett er ist, Ursula!« »Besonders dem weiblichen Geschlecht gegenüber«, pflichtet ihr Verlobter lachend bei. »Nehmen Sie sich vor seiner Liebenswürdigkeit in acht, Mademoiselle!« Mimi ist rot geworden. »Ich finde es häßlich von dir, unseren alten Freund so in Ursulas Augen herabzusetzen, Henri«, verteidigt sie dieses Mitglied der Gesellschaft Jesu, das mir immer interessanter zu werden beginnt. »Mein Gott, ein Geistlicher ist halt ein Mensch wie wir anderen auch, und Père Dominique ist sehr klug und hat ein gutes Herz. Was tut er nicht alles für die Armen in Longville, und wie beliebt ist er hier in der ganzen Umgegend! – Daß er so schrecklich viel trinkt und dann manchmal ein bißchen zu lustig wird … na, das ist doch schließlich kein Verbrechen!« Zu lieb sieht sie aus, wenn sie so entrüstet ist. Ihre hellen Augen – Andrés Augen – haben sich etwas verdunkelt, und die fast leuchtende Marmorblässe ihrer Wangen ist von einem zarten rosigen Schein überhaucht. Heute trägt sie ein grünes Kleid, apfelgrün mit elfenbeinfarbenen Spitzen am Halsausschnitt, und das läßt sie fast noch unwirklicher, beinahe noch bleicher erscheinen. Jetzt, im hellen Licht des Tages, tritt das Krankhafte ihrer ganzen Erscheinung deutlicher hervor. Hinfällig zart ist ihre schmale Gestalt, sie stützt sich schwer auf den Arm des Mannes neben ihr, den es Mühe zu kosten scheint, sich ihrem ein wenig schleppenden, wiegenden Gang anzupassen. »Bitte, etwas langsamer, Henri«, sagt sie von Zeit zu Zeit. »Ihr könnt ja auch vorangehen, ihr beiden«, schlägt sie einmal vor. »Ich komme euch schon nach – es geht halt ein bißchen langsam bei mir, wissen Sie, Ursula«, setzt sie mit einem kleinen, gleichsam entschuldigenden Lächeln hinzu. 157
Natürlich gehen wir darauf nicht ein, wir nehmen sie in unsere Mitte und führen sie zu zweien weiter. Und wir kommen fast gleichzeitig mit dem gelben Ungetüm, dem »St-Christophe«, auf dem Marktplatz im Dorfe an. Ratternd und knallend tobte der Autobus über die Brücke heran, die Kurve nahm er mit wahrhaft verblüffender Eleganz und Geschwindigkeit; ich fürchtete einen Augenblick für das Leben der Fahrgäste im Innern der »Knochenmühle«, wie man hier den Omnibus wohl nicht ganz zu Unrecht zu bezeichnen pflegt. – Vor dem Gasthaus Pincemaille beendete er seine wilde Fahrt, und die Passagiere kletterten, noch ein wenig betäubt, wie es mir vorkam, heraus, da tauchte auch schon die schwarzgekleidete Gestalt eines Geistlichen in dem lebhaften Durcheinander der Fahrgäste auf: mit würdevoller Ruhe entstieg eine große, hagere Erscheinung dem Wagen, das Gesicht von einem breitrandigen flachen Hut überschattet, in der Hand einen Regenschirm, unter der langen Kutte ein paar klobige Bauernstiefel von ungeheuren Ausmaßen. »Père Dominique!« rief Mimi und lief ihm entgegen. Ehe der geistliche Herr sie noch begrüßen konnte, kam schon Gaston aus dem Pincemailleschen Hause angerannt und warf die Gestalt in der schwarzen Kutte fast zu Boden, so stürmisch fiel er ihr um den Hals. »Allons, Gaston, allons«, wehrte Père Dominique ein wenig ärgerlich ab. »Wirst du denn nie lernen, dich manierlich zu benehmen?« »Oh, mon Père, die Freude hat mich einfach hingerissen«, beteuerte der Junge. »Sie waren ja ganze acht Tage nicht mehr hier …« Jetzt erst kommen wir dazu, den Besuch zu begrüßen. »Ah, das ist das liebe Kind aus Deutschland!« Der Pater mißt mich von Kopf bis zu den Füßen, mit einer Miene, die gleichermaßen Wohlwollen und mißtrauisches Abschätzen ausdrückt. Das Wohlwollen scheint schließlich zu überwiegen, 158
denn er reicht mir die Hand und sagt sehr liebenswürdig, daß es ihn ungemein freue, mich nun endlich kennenzulernen, nachdem man ihm so viel von mir erzählt habe. »Ist das ein durstiges Wetter heute«, wechselt er dann sofort das Thema und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Du kommst gerade von Pincemaille, Gaston …« »Wir gehen jetzt gleich nach Hause«, fällt Mimi prompt ein und nimmt den Pater an der Hand. »Kommen Sie, mon Père, Tante Angèle hält schon einen feinen Aperitif für Sie bereit!« »Hm, ein Glas Wein wäre mir im Augenblick lieber«, meint er und schielt zum Gasthaus de la Poste hinüber. »Nach der anstrengenden Fahrt in dem Schwitzkasten da würde ich es eigentlich vorziehen, erst ein wenig Atem zu schöpfen, ehe ich mich in dieser Hitze schon gleich wieder auf den Weg mache!« Und schon bewegt er sich ein paar Schritte auf das Gasthaus zu, von Gaston am Ärmel noch vorwärtsgezerrt. »Ach bitte, kommen Sie doch mit uns«, mischt sich jetzt auch der Offizier ein. »Gaston, laß den Père doch los – du wirst jetzt mit uns zum Schloß zurückgehen, hörst du, mein Alter!« »Hörst du, mein Alter?« höhnt der Junge. »Genau wie André – sehen Sie, mon Père, jetzt fängt auch der schon an, mit mir herumzukommandieren! Und dabei gehört er noch gar nicht einmal richtig zu unserer Familie!« »Trotzdem hat er als reiferer und älterer Mensch das Recht, dich zu ermahnen«, erklärt Père Dominique würdevoll. Jetzt scheint er sich auch wieder seiner pädagogischen Pflichten von ehemals zu erinnern und verzichtet ohne weiteren Widerstand auf den Besuch des Gasthauses, wohl um seinem früheren Zögling mit gutem Beispiel voranzugehen. Er bezeichnet den vormittäglichen Aufenthalt in Wirtshäusern sogar schließlich als verwerflich – für die Jugend!, setzt er etwas kleinlaut hinzu, als Gaston frech zu lachen beginnt. »Wie herrlich ist doch die freie Natur hier draußen auf dem Lande!« bricht der Pater kurz darauf in Begeisterung aus, als 159
wir auf der Brücke angelangt sind. »Welcher Segen über diesen Feldern und Äckern – welch göttlicher Frieden über diesem stillen Landstrich! Ah, man fühlt sich versucht, das Stadtleben förmlich zu hassen, wenn man hier weilt!« Gaston stößt seine Schwester in die Seite, und sie preßt einen Augenblick das Taschentuch fest gegen den Mund, um das Lachen zu unterdrücken. Auch Henri des Plantes hat einen hochroten Kopf bekommen und scheint seine Heiterkeit nur mit großer Mühe verbergen zu können. Der Geistliche geht um ein paar Schritte voran, den Regenschirm wie ein Gewehr geschultert. »Zurück aufs Land«, meditiert er weiter, und es scheint ihm gar nicht aufzufallen, daß keiner mehr an seiner Seite geht. »Das müßte man allen Menschen predigen – immer aufs neue! Die großen Städte sind der Untergang der Menschheit, denn nur in der Stille kann sich … Wo steckt übrigens dein Bruder André heute, Gaston?« ruft er plötzlich über die Schulter zurück. »In Longville, mon Père, da hilft er einem Kind ans Licht der Welt!« »Ah, ein Sonntagskind! Ein gutes Omen für die Zukunft!« Mit Riesenschritten marschiert er vorwärts, besonders Mimi und Gaston vermögen diesem Tempo nicht länger standzuhalten. »Er hat heute seinen frommen Tag«, flüstert Gaston mir zu. »Ich wette, daß Sie dahinterstecken, Ursula, er will Eindruck bei Ihnen schinden, der alte Gauner!« »Aber was wollen Sie denn … als Geistlicher hat er doch immerhin eine gewisse Berechtigung, sich so zu geben«, meine ich verwundert. »Pensez-vous! Sie harmlose Seele kennen ihn natürlich noch nicht – warten Sie ab, wenn er den ersten Liter Wein im Leibe hat, nachher! Da werden Sie Ihre Wunder erleben, meine Schöne!« 160
»Ja, von dieser salbungsvollen Seite zeigt er sich eigentlich nur, wenn Fremde dabei sind«, meint auch Mimi. »Hallo, mon Père!« schreit Gaston dem Jesuiten zu, dessen hohe Gestalt jetzt schon zwischen den ersten Pappeln in der Allee auftaucht. »Rennen Sie doch nicht so – man meint ja, Sie wollen zur Olympiade trainieren, als Schnelläufer!« »A propos Olympiade«, wendet sich Père Dominique an mich, als wir ihn wieder erreicht haben. »Sie kommen aus Berlin, Mademoiselle?« »Nein, aus Frankfurt am Main.« »Ah, wie interessant! Die Stadt Goethes, die schöne Mainmetropole! – Sie sind protestantischer Konfession, wenn ich fragen darf?« »Nein, katholisch, Monsieur!« »Oh, nennen Sie mich ›mon Père‹, wie die anderen«, verweist er mich sanft. »Sie haben natürlich heute vormittag die heilige Messe besucht?« »Nein«, sage ich kurz, denn dieses Verhör beginnt mich im stillen zu ärgern. Zum Glück gesellen sich nun die anderen zu uns, und das Gespräch beginnt, sich weniger persönlichen Dingen zuzuwenden. Nur eines begehrt der Geistliche noch zu wissen: ob die Jugend in »Preußen« wirklich so gottlos sei, wie er es – leider! – schon hin und wieder habe hören und lesen müssen, ob sie es nicht gerade neuerdings allzu sehr mit Nietzsche, dem Verfasser des »Antichrist« und des für ihn, Pater Dominique, persönlich geradezu schauererregenden »Jenseits von Gut und Böse«, halte. »Ich kenne Ihre Informationsquellen nicht, mon Père«, entgegne ich ruhig. »Aber mit der letztgenannten philosophischen Schrift, die man als das künstlerisch vollendetste und reifste Prosawerk Nietzsches bezeichnet, habe ich mich ziemlich intensiv beschäftigt und auseinandergesetzt und fand darin unter dem Abschnitt ›Völker und Vaterländer‹ 161
eine Stelle, die gerade Ihnen, dem gebildeten Franzosen, nicht uninteressant sein wird. Sie lautet ungefähr so: ›Frankreich ist der Sitz der geistigsten und raffiniertesten Kultur Europas und die hohe Schule des Geschmacks; aber man muß dies Frankreich des Geschmacks zu finden wissen. Wer zu ihm gehört, hält sich meist gut verborgen – es mag eine kleine Zahl sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, die nicht auf den kräftigsten Beinen stehen‹, oder so ähnlich …« Der Geistliche hat die Unterlippe vorgeschoben. »Wenn das ein Kompliment für unsere Nation darstellen soll – merci bien, mon enfant«, meint er. »Ich kenne den von Ihnen zitierten Abschnitt – oder man kann sagen: das Hauptstück – aus dem Buche eures großen Antichristen ziemlich genau. Er spricht darin etwas vorher auch von einem gewissen Volke, das zeitweise am nationalen Nervenfieber erkrankt, von den periodisch wiederkehrenden ›kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens‹, den atavistischen Anfällen von Vaterländerei und Schollenkleberei und so weiter. – Aber Sie kamen vom Thema ab …« »Nein, Sie, mon Père«, gebe ich ziemlich erregt zurück. »Sie haben Nietzsche und vor allem sein für Sie schaudererregendes Werk ›Jenseits von Gut und Böse‹ zur Debatte gestellt, nicht ich! Und da Sie, wie ich merke, gerade den Abschnitt von den Völkern und Vaterländern ziemlich genau studiert zu haben scheinen, wird Ihnen doch auch sicher in Erinnerung sein, daß darin – abgesehen von Ihrer Nation, der im übrigen das allerhöchste Lob gezollt wird – von uns Deutschen geschrieben steht, wir seien als ›Volk der Mitte‹ in irgendeiner Weise unfaßbarer, unberechenbarer, ja selbst erschrecklicher als andere Völker; wir entschlüpften jeder Definition und bildeten damit schon die Verzweiflung vor allem der Franzosen!« »Mir zu hoch«, knurrt Gaston, der an meiner anderen Seite geht. »Sie sind ja eine richtige ›femme savante‹, Ursula – oh, je 162
m’en fiche! Ich mag die Blaustrümpfe nicht, und Sie persönlich sind mir viel zu jung und hübsch, um in diese Kategorie eingereiht zu werden. Nehmen Sie sich in acht, sonst ziehe ich meinen Liebesantrag von gestern abend noch zurück. Nietzsche! Fängt sie an mit Nietzsche! Von dem kenne ich überhaupt nur einen Satz, und der ist mir auch nur in Erinnerung geblieben, weil er mir persönlich sehr gut gefällt. ›Wenn du zum Weibe gehst …‹« »Sei du ruhig, Gaston, deine Beziehungen zu der Philosophie und den Wissenschaften überhaupt kenne ich«, verweist der Jesuit mit Würde. »Es ist überflüssig, daß du dich in die Konversation zwischen Mademoiselle und mir einschaltest!« Le Bijou murmelt irgend etwas Anzügliches von Konversationen zwischen Jesuitenpatres und jungen hübschen Mädchen, die sich ausgerechnet um »ce Monsieur Nietzsche« bewegten, der jenen gewissen, äußerst charmanten Satz geschrieben habe … Auch Mimi und der Offizier kichern wieder. Ich aber sage gar nichts mehr. Ich freue mich, daß mir hier zum erstenmal Gelegenheit geboten worden ist, mein Land zu verteidigen, und ich freue mich über die etwas säuerlichverlegene Miene des Angreifers, der sich abschließend elegant mit einem Lob auf meine tadellose französische Aussprache und meine gründliche Kenntnis der deutschen Philosophie aus der Verfänglichkeit des Themas zu ziehen versteht. Nun gefällt er mir nicht mehr ganz so gut wie zuvor, der Pater Dominique mit dem etwas verschlagenen Bauerngesicht, den fromm herabgezogenen Mundwinkeln und der großen fleischigen Nase, die in ihrer bläulichen Färbung irgendwie an eine halbreife Pflaume erinnert. Er ist unstreitig ein Original, dieser knochige Geistliche, der übrigens – aus der Nähe 163
betrachtet – gar nicht so hager erscheint wie beim ersten Anblick. Hübsch rundlich wölbt sich der Leib unter der Kutte, nur wird diese Molligkeit durch sehr stattliche Körpergröße ausgeglichen, das faltige, etwas in die Länge gezogene Antlitz mit dem stark ausgeprägten Unterkiefer erinnert mich an den Schädel eines alten Pferdes, ich kann mir nicht helfen. Klein und sehr lebhaft sind die Augen, die für gewöhnlich leicht verdrossen und skeptisch dreinschauen; manchmal können sie allerdings auch listig und boshaft funkeln. Immer aber sind sie trübe, und so besitzt das ganze Pferdegesicht einen Ausdruck latenter Traurigkeit. Daran mögen auch die stets herabgezogenen Mundwinkel Schuld tragen. Während des Essens sprach Père Dominique den Speisen und Getränken wacker zu. Ich hatte Muße, ihn zu beobachten, denn ich saß ihm gegenüber, an Andrés Seite, und er richtete kaum ein einziges Mal noch ein Wort an mich. Ob er mich nun nicht mehr leiden konnte? Aber er schien überhaupt während der ganzen Mahlzeit still und in sich zurückgezogen, ein Zustand, den man an ihm wohl nicht gewohnt ist. Denn von allen Seiten wurde er immer wieder gefragt, ob er heute schlechte Laune habe oder krank sei. »Was wollt ihr, ich bin beschäftigt«, erklärte er freundlich. Und widmete sich mit liebevoller Aufmerksamkeit dem Brathuhn auf seinem Teller und vor allem dem Chablis, den er begeistert als »König aller Burgunderweine« bezeichnete. Nach dem fünften Glase begann sich seine Stirn zu röten, er schwitzte wieder heftig und erklärte, der Aperitif müsse ihm heute nicht bekommen sein, er spüre so ein leises Brennen um die Magengegend. »Nehmen Sie Natron«, riet André. »Nein – aber wenn Madame Sénard mir einen Kognak bewilligen wollte?«
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Madame bewilligte ihn, und aus dem einen wurde ein halbes Dutzend, nachdem die Tafel erst aufgehoben war und wir nebenan im Salon unseren Kaffee tranken. Und jetzt fiel endlich die Schweigsamkeit von dem geistlichen Herrn ab; er wurde sogar sehr gesprächig und guter Dinge und behandelte mich mit ganz besonderer Zuvorkommenheit. Auch über die gegenwärtigen weltanschaulichen Verhältnisse in Deutschland wollte er wieder dies und jenes wissen – aber er stellte keine Frage mehr, die mich irgendwie hätte kränken oder verletzen können. André beteiligte sich sehr lebhaft an diesem Gespräch, er riß seine Fortführung zuletzt sogar gänzlich an sich, um es aus der verfänglichen Atmosphäre des Politischen in die allgemeinere Ebene kultureller Themen einmünden zu lassen. Wie sprach er ehrlich begeistert von deutscher Musik, von Richard Wagner vor allem, den gerade das französische Volk sehr verehre. Von Nürnberg, der Meistersingerstadt, war die Rede, von Albrecht Dürer und Hans Sachs, von Riemenschneider und auf irgendeinem Umwege auch wieder von Nietzsche (»der jenen gewissen, äußerst charmanten Satz schrieb«, wie Gaston mit einem listigen Seitenblick auf den Jesuiten und mich einschaltete) – und Bismarck. »Ich kann mir nicht helfen, Mademoiselle«, sagte Père Dominique. »Aber Sie sind mir nun einmal sympathischer als Ihr Landsmann, der vor Ihnen schon in diesem Hause geweilt hat!« »Jetzt werden Sie galant, mon Père«, meinte André lachend. »Es ist ja auch nur zu begreiflich, daß Sie einer jungen Dame den Vorzug vor einem schon sehr angegrauten Herrn geben – ich nehme wenigstens an, daß le comte Bismarck damals nicht mehr zu den Jüngsten gezählt hat, als er unserem bescheidenen Hause die Ehre seines Besuches erwies!«
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So ist André. Ich glaube, daß in seiner Gegenwart überhaupt kein Haß aufkommen kann, kein ungerechter Haß. Und daß er nach seinem Vaterlande mein Deutschland so lieben und verstehen kann … oh, wie glücklich macht er mich damit! Gegen Abend gehe ich mit ihm zur Ferme. Tante Angèle hatte schon am Nachmittag ihre Verwunderung darüber ausgesprochen, daß sich heute niemand von den Bouliers, den Pächtersleuten, hier im Schloß blicken lasse. »Die Jeanne wenigstens trinkt doch sonst jeden Sonntag Kaffee mit uns«, meinte sie. »Hast du am Ende Streit mit ihr gehabt, André?« Nein, André war sich keiner Schuld bewußt. Aber er erbot sich, mit mir zu den Bouliers hinüberzugehen und mir bei dieser Gelegenheit die Ferme St-Clément zu zeigen. »Was sagen Sie zu unserem Père Dominique, Ursula?« erkundigt er sich, während wir den Park durchqueren. »Oh, er ist sehr liebenswürdig. Nur – ich bin den Umgang mit Geistlichen so gar nicht gewohnt, ich …« »Eine wahrhaft jesuitische Antwort«, lacht er. »Man könnte meinen, Sie wären schon bei dem guten Pater in die Lehre gegangen, Ursula! Aber trösten Sie sich – ich habe schon ein wenig gelernt, in Ihren Zügen zu lesen, und das ist nicht einmal so sehr schwer! Denn Sie verstehen es nicht, zu heucheln, liebe Freundin, weder Sympathie noch Abneigung können Sie je ganz verbergen …« »Père Dominique ist mir nicht unsympathisch«, sage ich rasch. »Das habe ich ja auch nicht behauptet«, meint er und lächelt noch immer. Ich werde rot, denn mir fällt in diesem 166
Zusammenhang etwas ein, und ich ärgere mich über dieses dumme Rotwerden, denn das gehört jetzt ganz und gar nicht hierher. »Sie dürfen den Père Dominique niemals schlechthin als Vertreter der französischen Geistlichkeit oder auch nur seines Ordens ansehen«, sagt André, der meine vorübergehende Verlegenheit nicht bemerkt zu haben scheint. »Er ist ein Einzelgänger, ein etwas absonderlicher Kauz, wie Sie wohl schon selbst festgestellt haben werden. Ich schätze ihn, ich bin ihm zu Dank verpflichtet, weil er der Lehrer meines Bruders war und das Wunder zuwege gebracht hat, Gaston mit Erfolg auf das Bakkalaureat vorzubereiten. – In früheren Jahren war er wohl auch schon ein etwas temperamentvoller Herr, der bisweilen mit der strengen Einhaltung seiner geistlichen Gelübde in Konflikte geriet – aber bis auf wenige geringfügige Entgleisungen ein sehr ordentlicher Geistlicher, der als Pädagoge überdies glänzende Fähigkeiten an den Tag legte. Er unterrichtet auch heute noch die Söhne einiger guter Familien in Longville; aber seine Trunksucht hat ihn jetzt so weit gebracht, daß er in meinen Augen nur noch eine bemitleidenswerte, zerrüttete Existenz darstellt. Dieser Mann, der – wie ich glaube – in tiefster Seele fromm und gut ist, der Geist besitzt und die verheißungsvollsten Anlagen für seinen Beruf mitbrachte, hat heute überhaupt keinen eigenen Willen mehr. Ein Sklave des Alkohols. Seine Ordensoberen haben schon lange ein wachsames Auge auf ihn geworfen, aber wahrscheinlich ist er auch für sie nur ein bedauernswerter Kranker – und im übrigen dient er ja nach wie vor treu seiner Religion, wenn auch sein Privatleben in mehr als einer Beziehung nicht gerade einwandfrei ist.« »Und sein Einfluß auf Ihren Bruder Gaston?« »Ach, auf Gaston besitzt überhaupt kein Mensch auf dieser Welt irgendeinen Einfluß«, meint er achselzuckend. »Ich
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glaube viel eher, daß er es ist, der seinen früheren Lehrer heute beeinflußt, in nicht gerade erfreulicher Beziehung …« Wir sind jetzt an der Parkmauer angelangt, durch eine Gittertür gelangen wir in einen großen Obstgarten, der etwas weiter in ausgedehnte Gemüsepflanzungen übergeht. Da liegen auch schon die langgestreckten, niedrigen Wirtschaftsgebäude der Ferme im Halbkreis um einen gepflasterten Hof. Zwischen zwei riesigen Linden sieht das Haus des Pächters hervor. »Das ist also das zum Schloß gehörige Gut«, erklärt André. »Seit nahezu hundertfünfzig Jahren ist es an die Familie Boulier verpachtet. Der jetzige Pächter hat nur eine Tochter, sein Sohn ist im Kriege gefallen. Der Alte … ah, da ist ja Jeanne! Meine Sprechstundenhilfe, ein tüchtiges Mädchen … hallo, Jeanne!« ruft er dem jungen Mädchen zu, das auf der Bank neben dem Hauseingang sitzt und in ein Buch vertieft scheint. Natürlich muß sie uns schon vorher entdeckt haben, und ich stelle sofort fest, daß dieses plötzliche Zusammenfahren bei Andrés Anruf nur ein kleines Theaterspiel ist. Wie gelassen sie sich erhebt und uns entgegentritt! »Bon soir, Docteur!« Sie reicht ihm die Hand, und der Blick, mit dem sie mich gleichzeitig streift, ist so kühl und unbestimmt, daß mir ein bißchen komisch zumute wird. »Liebe Ursula – dies ist Fräulein Jeanne Boulier, meine Mitarbeiterin«, stellt er vor. »Fräulein Hartmann, unsere liebe Freundin aus Deutschland, Jeanne!« »Ich habe schon von Ihnen gehört«, sagt sie, und die Stimme ist so kühl wie der Blick, den sie mir jetzt abermals zuwirft. »Versteht sie Französisch?« erkundigt sie sich, zu André gewandt.
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»Und wie! Wir waren gestern alle einfach erstaunt, Jeanne! Warum haben Sie sich heute übrigens noch nicht bei uns sehen lassen?« »Ich mußte bei Großmama bleiben, meine Eltern sind in Longville, auf dem Kriegerfest. – Aber bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen?« Wir setzen uns zu ihr auf die Bank, André nimmt das Buch und wirft einen Blick auf den Umschlag. »Alle Achtung, Jeanne – Englisch! Und dazu noch Dickens! Wo haben Sie denn das her?« »Von Fräulein Paulin«, erklärt sie. »Ich nehme seit einiger Zeit englische Stunden bei ihr, und sie meint, daß ich mich ruhig schon an Dickens heranwagen dürfte – ich würde erstaunlich schnell vorwärtskommen«, setzt sie leicht errötend hinzu. »Das finde ich aber nicht nett von Ihnen, diese Geheimniskrämerei«, meint er vorwurfsvoll. »Da lernt das Mädchen Englisch und sagt mir bis heute kein Sterbenswörtchen davon! Behandelt man so einen netten alten Patron?« »Mein Gott, Docteur, so wichtig ist ja die Sache nun wieder nicht«, gibt sie achselzuckend zurück. »Ich möchte halt immer noch dazulernen, in jeder Beziehung. So gehe ich dreimal in der Woche abends in Fräulein Paulins Sprachschule, und gleichzeitig nehme ich noch Unterricht in Stenographie und Maschinenschreiben, damit Sie es nur ganz genau wissen!« »Aber wozu das alles eigentlich, Jeanne?« »Ja, glauben Sie denn, ich wollte mein Leben lang hier in diesem Nest bleiben?« »Also, Sie wollen mich im Stich lassen«, stellt er ruhig fest und zündet sich eine Zigarette an. »Tut mir leid, Jeanne, aber es ist immerhin anzuerkennen, daß Sie es mir jetzt schon sagen!«
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»Sie erlauben!« Sie bedient sich aus dem Etui, in dem er seine selbstgedrehten Zigaretten mit sich führt. »Ja, Docteur«, meint sie und bläst den Rauch nachlässig in die Luft, »ich kann einfach nicht auf die Dauer hier in der Provinz vegetieren, ich möchte hinaus, am liebsten nach Paris, in ein Büro! Natürlich bedauere ich es, meine Arbeit bei Ihnen aufgeben zu müssen. Aber Sie werden selbst einsehen, daß hundert andere meine Stelle in Ihrer Praxis genauso gut oder noch besser als ich bekleiden könnten, daß Sie jeden Tag einen Ersatz für mich finden, während ich hier einfach nicht recht am Platz bin! Ich kann mehr leisten, und vor allem diese Provinzluft ertrage ich nicht auf die Dauer! Man vertrauert ja seine besten Jahre hier!« Meine Anwesenheit scheint man völlig vergessen zu haben. Wenigstens komme ich mir herzlich überflüssig vor. – Geradezu beleidigend ist die Art, in der dieses Mädchen über meine Person hinweg zur Tagesordnung übergeht! »… wie Sie wollen, Jeanne«, beschließt André einen Satz, und dann wendet er sich zu mir: »Sie reden ja gar nichts, Ursula?« Dabei legt er seine Hand auf meine Schulter. »Es ist so schön hier – ich schaue mich ein wenig um«, antworte ich. Und es ist nicht nur eine Ausrede, denn diese abendliche Stimmung unter den alten Bäumen ist wirklich zauberhaft schön, und über den niedrigen Dächern der Wirtschaftsgebäude sieht ein Stück der Schloßfassade hervor, so vornehm in ihrer langgestreckten Form mit den kleinen Säulchenreihen am Giebel, und darüber der sehnsüchtigweite Himmel in diesem unwirklichen Dämmerlicht… Seine Hand liegt noch immer auf meiner Schulter. »Mademoiselle sieht eigentlich gar nicht deutsch aus«, läßt Fräulein Boulier sich jetzt endlich herab zu sagen. Aber sie richtet ihre Worte beileibe nicht an mich, sondern an ihn. »Ich habe sie mir ganz anders vorgestellt!« »Wie denn nur, Jeanne?« meint er amüsiert. »Oh, groß und hellblond und blauäugig …« 170
Jetzt lache auch ich. Es ist ein Kuriosum, daß sie, die Französin, eigentlich genau der Schilderung entspricht, die sie soeben entworfen hat. Verglichen mit Jeanne Boulier sehe ich fast romanisch aus. »Sie brauchen mich nicht auszulachen, Docteur«, verteidigt sie sich. »Im allgemeinen macht man sich doch diese Vorstellung von den Deutschen!« »Und ich finde, daß unsere Freundin so deutsch wie nur möglich aussieht«, sagt er. »Dazu gehören ja nicht unbedingt hellblonde Haare und vergißmeinnichtblaue Augen, Jeanne; für meine Begriffe wenigstens bildet die Wesensart eines Menschen den vollgültigsten Ausdruck seiner Abstammung, und die Gesichtszüge Fräulein Ursulas allein schon …« »Sie halten ja förmlich einen Vortrag über ›Racisme‹, Docteur!« unterbricht sie ihn spöttisch. »Ist das Ihr neuestes Studium – vielleicht hat Mademoiselle Hartmann Sie dazu angeregt?« »Ich möchte immer noch dazulernen – haben Sie das eben nicht selbst gesagt, Jeanne?« gibt er zurück. »Aber es wird Zeit, daß wir aufbrechen. Wie ist es – kommen Sie heute abend noch auf ein Stündchen zu uns herüber?« »Es wird wohl nicht gehen«, meint sie. »Meine Eltern kommen erst spät zurück, und Großmama …« »Können wir ihr nicht guten Abend sagen?« »Nein – ich glaube, sie schläft. Sie fühlt sich nicht wohl in den letzten Tagen, wissen Sie!« »Oh, das tut mir leid. Ich werde morgen früh einmal nach ihr sehen, ehe ich in die Stadt fahre.« Damit verabschieden wir uns. Sie hätte uns ruhig noch ein Stück das Geleit geben können, finde ich. Dies ist überhaupt das eigenartigste Verhältnis zwischen einem Vorgesetzten und seiner Angestellten, das mir je begegnet ist. Das Mädchen behandelte ihn ja manchmal geradezu herablassend, zum
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mindesten aber sehr schnippisch. Und er nahm das mit einer Ruhe hin, als wäre es so ganz in Ordnung. Jedenfalls ist diese Jeanne Boulier der erste Mensch, der mir hier mit deutlicher Ablehnung und Abneigung entgegentrat. Und das tut ein bißchen weh – denn, merkwürdig, sie gefiel mir, trotz allem. Hoffentlich beginnt er nun nicht wieder über Sympathien und Antipathien zu reden. Ich würde ihm jetzt noch viel weniger bestimmte Auskunft geben können als vorhin. Aber André redet kaum ein Wort mehr, er geht an meiner Seite durch den dunklen Park und nimmt nur auf einmal meinen Am. So kehren wir ins Schloß zurück, Arm in Arm. Und dann verlebe ich noch einen sehr lustigen Abend mit Musik und Tanz und viel Lachen und Unsinntreiben: Gaston ist es wieder, der sich zum Spaßmacher aufspielt, der uns alle immer aufs neue zu fröhlichem Gelächter hinreißt. Jetzt ist er nur komisch und unterhaltend, und ich bin nahe daran, diesen Jungen liebzugewinnen und ihn verstehen zu lernen. Man behandelt ihn bestimmt falsch, besonders André faßt ihn wohl zu streng an. – Mimi sitzt am Klavier und spielt Schlagerlieder, ich tanze abwechselnd mit André, Gaston und Monsieur des Plantes, und Pater Dominique lehnt an der Wand und schlägt mit seinen klobigen Stiefeln den Takt zu der Musik. Es gibt Sekt und Früchte und Zuckerwerk, beim Vorübertanzen an den weitgeöffneten Fenstern sehe ich die Maas und die blauen Berge und die schmale Mondsichel am Himmel … und ich fühle mich wieder einmal an den Satz erinnert, der mir schon gestern abend, als ich in dieser neuen Welt meinen Einzug hielt, als erste Empfindung ins Bewußtsein trat: Gott in Frankreich. Montag fahre ich mit Mimi nach Longville, im »StChristophe«. Eine höchst wichtige Angelegenheit führt uns 172
dorthin: ein Besuch bei Madame Génie, der ersten und – wie Mimi sich ausdrückt – wirklich wahnsinnig eleganten Schneiderin der Stadt. Ich habe mich gestern belehren lassen, daß hierzulande die Braut es sei, die den jungen Mädchen ihrer Begleitung zum Hochzeitsfest die Brautjungfernkleider liefere, »ganz einheitlich natürlich«, das sei sehr schick und würde in allen guten Familien so gehalten. Mimi hat pastellfarbene Organdykleider und großrandige Tüllhüte für uns ausgewählt und mit Madame Génie zusammen diese Kostüme selbst entworfen. »Ihr werdet wunderbar aussehen«, begeisterte sie sich. »Jede in einer anderen Farbe. Sie nehmen natürlich Grün oder Lichtblau zu Ihrem rötlichen Haar, Ursula. Ich glaube, das ist noch nicht vergeben, die anderen vier haben sich ihre Farben ja schon ausgewählt. Die dicke Tochter unseres Bürgermeisters nahm Lila, denken Sie nur, wie geschmacklos! Dabei hat sie einen ganz gelben Teint und strohblond gefärbtes Haar!« Die kleine Braut saß noch bis in die tiefe Nacht auf meiner Bettkante und schilderte mir das Programm der Hochzeitsfeierlichkeiten in allen Einzelheiten. Oh, es würde großartig werden! Und unsere Brautjungfernkleider – die würden alles andere in den Schatten stellen! Die kleine Soundso in Longville habe ganz billige Seidenfähnchen für ihre Freundinnen anfertigen lassen, und sie, Mimi, habe sich ordentlich geschämt in dem geschmacklosen Ding und mit den künstlichen Blumen im Haar! Dabei seien die Leute sooo reich, aber die Hochzeit ihrer einzigen Tochter – dazu noch mit einem Offizier! – sei richtig schäbig gewesen, man habe sich in Longville noch lange Zeit darüber lustig gemacht. So werde ich also in vier Wochen Brautjungfer spielen müssen und in einem von Mimi gelieferten und bezahlten Kleid aufzutreten haben! Das Ganze erinnert mich doch ein wenig an Theater – und es fällt mir nicht so leicht, mich vor 173
allem mit der Zurverfügungstellung des Kostüms anzufreunden. Aber Mimi war ehrlich entrüstet, als ich ihr schüchtern zu verstehen gab, daß diese Ehre des Brautgeleites doch eigentlich nur ihren nächsten Freundinnen zukomme und ich viel lieber in meinem eigenen Ballkleid an der Feierlichkeit teilnähme. – Sie betrachte mich heute schon als ihre Freundin, erklärte sie, und sie habe sich eingebildet, daß auch ich … und überhaupt, wie schrecklich habe sie sich darauf gefreut, gerade mich unter den Organdydamen zu sehen, und Grün oder Lichtblau sei doch noch frei! Mein weißes Kleid, das ich ihr zeigte, fand sie – nun, sie wolle mich nicht kränken! – aber sie fand es, milde ausgedrückt, zu langweilig und brav, zu deutsch. »Die gute Génie würde entsetzt sein, wenn ihr das Ding da unter die Augen käme«, fuhr sie treuherzig fort. »Sie hat nämlich in Paris in einem Modellhaus gearbeitet, wissen Sie!« Darauf gab ich mich geschlagen. Mit Madame Génie aus Paris nehmen es meine Kleider bestimmt nicht auf, die mir die Hausschneiderin in Frankfurt anfertigt und immer wieder umändert, je nach der Mode. So lasse ich mich gutwillig in der »Knochenmühle« nach Longville fahren, und nach Madame Génie stehen ja auch noch einige verlockende Einzelheiten im Tagesprogramm: Besuch bei André, Bummel durch die Stadt, Kaffeestation in der »Confiserie Parisienne« und schließlich Heimfahrt im Bugatti des Docteur, letzteres wohl gleichsam als Entschädigung für die zwar sehr schneidige, aber leicht beängstigende und wirklich knochenzermalmende Tour im »StChristophe«. Die Ordinationsräume des Docteur Duval in Longville liegen in einem alten Gebäude in der Nähe des Marktplatzes. Die Straße ist sehr schmal, und die hohen Häuser wehren fast
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angstvoll jedem Sonnenlicht, das sich etwa hierher verirren wollte, den Eingang. Das Sprechzimmer geht nach einem Hof hinaus, jenseits türmt sich eine hohe, efeuüberwachsene Mauer, und so ist der Raum in unbestimmtes Dämmerlicht gehüllt; schuld daran mögen auch die steifen, verblichenen Brokatbehänge an den beiden Fenstern sein. Neugierig sehe ich mich um. Hier also arbeitet er. Allzu freundlich und gemütlich sieht es hier nicht aus – so ein bißchen nach einer Wohnstube aus der Vorkriegszeit mit den alten Plüschsesseln, den hohen Bücherschränken und dem Schreibtisch, auf dem sich ein behäbiges Durcheinander von Zeitschriften, Papieren, überflüssigen Aufstellsachen und vor allem Aschenbechern türmt. Zwei weiße Schränkchen mit blinkenden Instrumenten, ein Untersuchungsstuhl und ein weiß überzogener Diwan in der Ecke erinnern daran, daß man sich in dieser vollgepfropften Vorkriegswohnstube schließlich doch im Arbeitszimmer eines Arztes befindet. Und ein paar langstielige Rosen auf dem Schreibtisch, zwei sehr feine Aquarelle mit Motiven aus dem Park von St-Clément an der Wand und vor allem ein unbestimmter Duft von Lavendel und Zigaretten, der sich siegreich gegen den üblichen Karbolgeruch behauptet, erinnern irgendwie an André. Er mache eben einen Krankenbesuch, berichtete Jeanne, die uns im weißen Kittel an der Tür empfing. Die Sprechstunde sei schon beendet, wir mögen hier auf den Docteur warten, er komme gleich zurück. Damit begab sie sich wieder in die kleine Küche, wo sie mit dem Reinigen von Instrumenten beschäftigt war. »Die Einrichtung hier gehörte schon unserem Vater«, erzählt Mimi, die sich auf dem Diwan niedergelassen hat. »Ein bißchen altmodisch, nicht wahr? Aber André wollte es so lassen, wie es nun einmal ist. Nur das Wartezimmer hat er neu 175
eingerichtet und die Diele. Hier nebenan schläft er, wenn er in der Stadt übernachtet.« »Wohnen Sie im Winter denn nicht alle in Longville?« »Doch, wir haben eine sehr nette Stadtwohnung, ich werde Sie nachher einmal an dem Haus vorbeiführen. Jetzt ist alles verschlossen und zusammengeräumt, wissen Sie. Aber André wohnt während der Wintermonate eigentlich nur hier, das heißt, zum Essen kommt er natürlich in die Rue Migette hinüber. – Wir haben ja auch nur eine Fünfzimmerwohnung dort, und dann geht es meist ein bißchen laut zu bei uns, besonders wenn Gaston zu Hause ist und jeden Abend seine Freunde bei sich hat. André muß ungestört arbeiten können und vor allem seine Nachtruhe haben. – Er hat einen Streifschuß an der Lunge, und das macht ihm gerade in der kalten und feuchten Jahreszeit noch manchmal zu schaffen.« »Er sieht aber doch gesund aus, Mimi?« bringe ich ein wenig gepreßt hervor. »Oh, er ist ja auch nicht eigentlich krank«, beruhigt sie. »Nur – ganz spurlos geht so eine schwere Verletzung doch nie an einem Menschen vorüber, nicht wahr? Mir graut ja immer davor, wenn ich die Narben an seiner Brust und dem Rücken sehe, beim Baden. Aber er sagt selbst, daß seine Lunge ganz gesund sei, daß er ein unerhörtes Glück gehabt habe, damals bei Fleury.« Zum erstenmal erwähnt man in meiner Gegenwart das Vergangene. André selbst scheint eine förmliche Scheu davor zu haben – wenigstens hat er bis jetzt mit keiner Silbe seiner Kriegserlebnisse und des Tagebuches gedacht. Das liegt immer noch in meinem Koffer, ich fand noch keine Gelegenheit, es ihm zurückzugeben. »Wenn man an seinen armen Freund Gilbert denkt«, fährt Mimi fort. »Ich glaube, daß André diesen Verlust heute noch nicht ganz verwunden hat. Sehen Sie hier …«
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Sie zieht mich ins Nebenzimmer, Andrés Schlafraum. In der schmalen Kammer stehen nur ein eisernes Bett, ein kleiner Tisch und ein Büchergestell an der Wand. Zusammen mit zwei Sesseln und einer Stehlampe bilden sie die ganze Einrichtung dieses höchst bescheidenen Raumes. Und hier wohnt er, der »Grandseigneur«, für den mir das Schloß an der Maas mit seinen über sechzig Sälen und Zimmern als der ganz selbstverständliche Rahmen erschien! »Hier – schauen Sie sich das an, Ursula!« Auf dem Tisch steht das Bild eines jungen Menschen in Soldatenuniform. »Das ist Gilbert Delsaut!« »Sie haben ihn gekannt?« »Aber nein – ich war doch noch ein ganz kleines Kind, als er fiel. Nur aus Andrés Erzählungen – und dann kannten ihn doch viele Leute hier in Longville. Seine Mutter lebt noch.« Ein sehr feines, durchgeistigtes Gesicht, schmal, mit dunklen Augen: das ist Gilbert, und er kann gar nicht anders ausgesehen haben. Nur etwas weniger schwermütig habe ich ihn mir vorgestellt, etwas weniger resigniert; er war doch ein fanatischer Idealist, ein Kämpfer. Dies hier scheint mir das Bild eines Märtyrers zu sein. Und gerade das kleine Lächeln um den Mund macht ihn noch trauriger, diesen seinen gefallenen Kameraden Gilbert. Eine kleine Vase mit Strohblumen steht neben der Photographie. Und ein schmales Buch in braunem Leder mit Metallbeschlägen liegt auf dem Tisch. »Gilberts Kriegsgedichte«, erklärt Mimi. »Sie sollen wunderschön sein … aber kommen Sie, André wird gleich hier sein. Er hat es nicht gern, wenn man in seinen Sachen herumkramt. Darin ist er komisch – überhaupt ließe er am liebsten keinen Menschen in sein Zimmer.«
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»Nun, wie war die Sitzung bei Madame Génie?« erkundigt sich André, als er uns begrüßt hat. »Sehr nett und lehrreich«, berichte ich. »Ich habe meinen französischen Wortschatz wieder um ein halbes Dutzend Fachausdrücke bereichern können: froufrou, toile de soie, mille fleurs, velours-chiffon …« »Épatant!« ergänzt Mimi lachend. »Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die gute Genie alles und jedes ›épatant‹ findet und jeden zweiten Satz mit diesem Wort beschließt?« »Und wie wird nun das Brautjungfernkleid, Ursula?« »Épatant!« rufen Mimi und ich wie aus einem Mund. »Wie eine Fee wird sie aussehen, André«, setzt sie begeistert hinzu. »Wir haben Lichtblau genommen – kannst du dir vorstellen, wie gut sie das kleiden wird, zu ihrem Teint und den rötlichen Haaren?« »O ja, das kann ich mir vorstellen«, sagt er ernst. »Die schöne Irène und Lucie und wie sie alle heißen … sie werden sich anstrengen müssen, daß unser Gast ihnen nicht den Rang abläuft! – Übrigens sind Ihre Haare gar nicht rot, Ursula. Nur in der Sonne haben sie diesen kupfernen Schimmer, jetzt zum Beispiel sind sie ausgesprochen kastanienbraun. Wunderschön finde ich diese Farbe – sieh nur her, Mimi!« Er nimmt eine Strähne meiner Haare und läßt sie behutsam durch die Finger gleiten, ehe er sie freigibt und mit einer streichelnden Bewegung wieder in die alte Form zurücklegt. »Madame Génie glaubte, daß sie ihr Haar färbt, André! Aber solch aparten Ton bekommt man auf künstlichem Wege nie heraus! Und du hast recht, jetzt ist die Farbe fast noch schöner, wenn die Sonne nicht darauf scheint! Kein bißchen rot mehr, und doch …« »Docteur, kann ich jetzt gehen?« Jeanne ist plötzlich im Zimmer, sie wischt sich die Hände an einem Frottiertuch ab. »Es gibt wohl nichts mehr zu tun für mich?«
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»Nein … das heißt, haben Sie nicht Lust, mit uns Kaffee zu trinken? Sie können dann nachher im Wagen mit nach Hause fahren, wir wollen nur noch einen Gang durch die Stadt machen«, schlägt er vor. »Sehr freundlich, Docteur, aber ich habe keine Zeit«, lehnt sie ab. »Ich gehe jetzt zu Fräulein Paulin hinüber.« »Aber anschließend könnten Sie doch mit uns zurückfahren«, meint er. »Gegen acht Uhr finden Sie uns im ›Tigre‹, kommen Sie dort vorbei, Jeanne. Ich lade Sie feierlichst zu einer Pastete ein!« »Ich will sehen, daß ich es einrichten kann, Docteur«, sagt sie kühl. Damit verabschiedet sie sich. »Du bist viel zu nett zu ihr, André«, sagt Mimi, als wir etwas später in der Confiserie sitzen. »Das Frauenzimmer wird ja immer unausstehlicher mit seinen Launen, zum Schluß kommandiert sie dich noch herum wie ihren Untergebenen!« »Ach, laß sie doch«, wehrt er gutmütig ab. »Wir verstehen uns ganz gut, die Jeanne und ich. Man muß sie nur zu nehmen wissen.« »Und das verstehst du ja gerade nicht!« wirft ihm seine Schwester an den Kopf. »Immer dieses Nachgeben und Nachsichtigsein, und überhaupt! Du hast ihr vorhin zugeredet wie einem kranken Pferd, mit uns zu kommen oder uns doch wenigstens die Ehre zu erweisen, in deinem Bugatti nach Hause zu fahren! Statt sich darüber zu freuen und dankbar zu sein, benimmt sie sich störrisch und behandelt dich von oben herab wie einen ganz dummen Schuljungen! – Aber verlaß dich darauf, ich werde ihr nächstens ordentlich Bescheid sagen, und wenn unsere alte Kinderfreundschaft auch darüber in die Brüche gehen sollte!«
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»Das wirst du lieber bleibenlassen, Mimi«, sagt er ruhig. »Mit Jeanne werde ich am besten allein fertig …« »O ja, das hat man heute wieder gesehen!« trumpft sie auf. »Mimi, beruhige dich doch, es schadet deiner Schönheit, wenn du dich ärgerst«, neckt er. »Wie wäre es mit noch einem Stück Obsttorte?« »Ich bin kein Kind, dem man mit Zuckerzeug den Mund stopfen kann.« Jetzt ist sie ehrlich wütend. »Sie müssen doch auch zugeben, Ursula, daß ich recht habe, es wird Ihnen doch auch aufgefallen sein, daß die Jeanne sich ein bißchen zuviel gegen meinen Bruder herausnimmt, nicht wahr?« wendet sie sich an mich. »Du hättest nur beobachten müssen, wie sie sich vorhin gegen Ursula und mich benommen hat«, fährt sie fort, ohne meine Antwort abzuwarten. »Wir schienen einfach Luft für sie zu sein, kaum, daß sie uns begrüßte! – So war sie früher eigentlich doch nicht, wenn man es recht überlegt. In der letzten Zeit scheint es aber von Tag zu Tag schlimmer mit ihr zu werden, und wer trägt Schuld daran? Du, mein teurer Bruder, nur du!« »Wieso ich?« »Herrgott, sei doch nicht so schwer von Begriff! Weil du zu gut bist, zu nachsichtig!« Sie seufzt tief auf. Plötzlich scheint ihr ein Gedanke zu kommen. »Sag mal, ist sie am Ende verliebt, André?« »Möglich«, meint er achselzuckend. »Ich bin jedenfalls über ihre Privatangelegenheiten nicht informiert, Mimi.« Sie blickt nachdenklich vor sich hin. »Vielleicht ist sie sogar in dich verliebt, André?« »In mich?« Jetzt lacht er herzlich auf. »Mimi, nun mach aber Schluß. Das müßte ich doch immerhin schon gemerkt haben! Übrigens beginnst du jetzt, mir Schmeicheleien zu sagen, kleine Schwester. Ich glaube, daß die Jeanne doch eher 180
jeden anderen als gerade mich zum Gegenstand ihrer Träume erwählen dürfte!« »Oh, setz dich nur nicht selbst so herab«, entgegnet sie. »Du würdest sogar mir gefallen, wenn du nicht mein Bruder wärest und obendrein ein gewisser Henri existierte! Finden Sie nicht auch, daß André gar nicht so übel aussieht, Ursula?« Über dieses etwas zweideutige Kompliment beginnen wir wie auf Kommando zu lachen, er und ich. Und das Thema »Jeanne« scheint nun endgültig abgetan zu sein. Ich habe Mimi jedenfalls vorhin im stillen aus vollem Herzen zugestimmt. Und kann es selbst nicht begreifen, daß diese Jeanne mir trotz allem nicht unsympathisch ist, daß ich mich sogar irgendwie zu ihr hingezogen fühle und daß sie mir – seltsamerweise – leid tut. Wie ein Traum aus der Vergangenheit ist diese Straße am Maasufer, die wir jetzt langsam hinunterschreiten. Die Häuser scheinen aus dem Fluß selbst aufzusteigen; grau und verwittert, meist sehr schmal und hoch gebaut, spiegeln sie sich in der ruhigen Wasserfläche. Unter der Brücke am Kai knien ein paar Wäscherinnen, das Wasser ist in diesem Bereich schmutziggrau gefärbt vom Abguß der Seifenbrühe. Fleißig arbeiten die Frauen selbst jetzt noch, gegen Abend. Der helle Schweiß steht ihnen auf der Stirn, aber sie sind fröhlich und guter Dinge, wie ihre sehr lebhafte Unterhaltung beweist. Den »Docteur« scheinen sie gut zu kennen, sie grüßen uns schon von weitem; eine Alte zieht ihn sofort ins Gespräch, er bleibt bei ihr stehen, während Mimi und ich langsam weitergehen. Auch zu der kleinen Gruppe von Anglern, die etwas weiter unter dem Bogen einer zweiten Brücke stehen, gesellt sich André eine Weile. Von allen Leuten werden wir freundlich gegrüßt und – was mir immer wieder auffällt – mit einer unbefangenen 181
Vertrautheit, die geradezu familiär anmutet. Ob es nun der alte Straßenkehrer an der Ecke ist oder die Waschfrauen oder die jungen Burschen, die oben auf der Brücke am Geländer lehnen und interessiert die Tätigkeit der Angler beobachten – jedermann begegnet uns mit einer Höflichkeit, die aus dem Herzen zu kommen scheint und so ganz und gar nichts Devotes, Unterwürfiges enthält. Und Mimi und André wiederum begegnen den einfachen Menschen um keinen Zoll weniger zuvorkommend als etwa den Offizieren, die auf der Brücke an uns vorüberkommen. Das gewisse »Aber wir sind ja gar nicht so!« im Verkehr mit kleinen Leuten vermisse ich jedenfalls bei den Geschwistern Duval; mein Herz weitete sich vor Freude, als ich André vorhin bei der alten Wäscherin stehen sah und beobachtete, wie er ihr den schweren Korb auf ihren Handkarren laden half und zum Abschied herzlich die Hand schüttelte. »Ich möchte halt immer noch dazulernen!« Überall und von jedem Volke kann man lernen. Gerade aus solchen kleinen Dingen, meine ich. Und jetzt stehen wir auf dem freien Platz vor der Kathedrale. Welch gewaltiger Dom – in dieser kleinen Provinzstadt! André belehrt mich stolz, daß Longville sich rühmen könne, eine der schönsten gotischen Kirchen Nordfrankreichs zu besitzen. »Für mich ist sie sogar die schönste, neben Chartres und Reims«, setzt er hinzu. »Übrigens besitzt sie wie die Kathedrale von Chartres noch ein romanisches Portal; sie wurde gegen Ende des zwölften Jahrhunderts, in der Epoche der großen Kathedralen Frankreichs, auf den Überresten eines ursprünglich romanischen Baues errichtet. – Sie sollen aber auch noch die königlichen Dome unseres Landes zu sehen bekommen, Ursula. Nach Reims fahre ich Sie zuerst, und dann 182
nach Paris und Chartres. Aber nur, wenn Sie mir versprechen, Notre-Dame von Longville dann auch weiterhin als schönste Kirche der Welt anzusehen«, schließt er lächelnd. Ich bin ganz versunken in den Anblick dieser grauen Steinmassen, die sich mit zwei formschönen Türmen in das weiche Blau des abendlichen Himmels heben, so schlank aufstrebend und so unwahrscheinlich hoch, als ragten sie wirklich bis in den Himmel hinein. Die Häuser im Umkreis scheinen sich unter dieser stolzen Höhe zu ducken, sich ängstlich und wie hilfesuchend an sie zu schmiegen. Unwillkürlich fasse ich nach Andrés Hand. So treten wir durch das Portal. Dann umfängt uns das kühle Dämmerdunkel, jene weihrauchgesättigte, mit dem Duft brennender Kerzen durchzogene Atmosphäre, die nur in Kirchen zu Hause ist. In dieser Kathedrale sind keine Bänke wie in unseren deutschen Domen, und das scheint den Eindruck unermeßlicher Weite in dem Kirchenschiff noch zu vertiefen. Nur Betstühle mit strohgeflochtenen Sitzen gibt es hier. Wir sind in der Nähe des Eingangs stehengeblieben, von hier ist der Blick über die kühn aufstrebenden Pfeiler des Chors wohl am schönsten. Und diese bunten Glasfenster! Wie zärtlich das Licht des sinkenden Tages draußen sie durchströmt, daß der Purpur eines Heiligengewandes aufflammt und der Mantel der Muttergottes in berückender Himmelsbläue leuchtet. Diese Kirchenfenster steigern noch den leichten, luftigen, emporstrebenden Eindruck des Innenraumes. Um das Mittelschiff schließt sich ein Kapellenkranz, und die Chöre wachsen sich wiederum dreischiffig aus. Der Stein verleugnet hier seine Natur und wird lebendig, wird zum steinernen Gebet. Neben uns knien ein paar Frauen vor einem alten Madonnenbild. So reglos und in sich versunken, als gehörten sie selbst zu den unvergänglichen Bestandteilen dieser Kathedrale, als knieten sie schon seit Jahrhunderten so im 183
Schein der Wachslichter, die ihre dunklen Gestalten zuckend beleuchten. – Ein weißhaariger Kapuzinermönch löst sich aus dem Dunkel einer der Kapellen und schreitet das Mittelschiff zum Altar hinauf, der Schritt seiner sandalenbeschwerten Füße hallt in dem weiten Steingewölbe wider. Und jetzt beginnt irgendwo aus der Höhe eine Glocke zu läuten, dünn und eintönig. – Traum aus der Vergangenheit. »Wie gefällt sie Ihnen, die Nationalheilige Frankreichs?« Wir stehen auf dem Marktplatz, vor dem Steinbild der Jeanne d’Arc. Die junge Heilige hält eine Fahne in den Händen, ihr Antlitz ist ekstatisch dem Himmel zugekehrt, ihre ganze Haltung drückt fanatischen Heldenmut und fast ungestümen kriegerischen Sinn aus. Das Denkmal ist hinreißend schön. Es hebt sich höchst wirkungsvoll von dem Hintergrund der alten Häuser um den Platz ab, und gerade zu Häupten der heiligen Johanna weht eine verblaßte Trikolore vom Balkon eines überladenen Renaissancegebäudes. »Das hier ist das Rathaus«, erklärt André. »Und hier nebenan das Hôtel du Tigre, der Bau stammt noch aus dem frühen Mittelalter.« »Die Jeanne d’Arc wurde erst vor zwei Jahren hier aufgestellt«, fällt Mimi ein. »Wissen Sie, man errichtet ihr neuerdings in ganz Frankreich Denkmäler – sie schießen nur so aus dem Boden. Manche sind scheußlich geschmacklos, aber dies hier kann sich wirklich sehen lassen, meinen Sie nicht?« »Herrlich ist es«, stimme ich bei. Irgendwie steht sie meinem Herzen besonders nahe, diese Schutzpatronin Frankreichs. Sie erschien mir noch immer als die anmutigste aller Heiligen, sicher aber als die liebenswerteste. Und sie tut mir leid. – Es scheint nun einmal das Schicksal vieler Großer dieser Erde zu sein, daß sie erst 184
den Weg durch die Qualen eines gewaltsamen Todes zu gehen haben, ehe man ihnen Denkmäler errichtet. Vor dem Gebäude des »Tigre« stehen ein paar Tische und Stühle zwischen verstaubten Oleanderbäumen auf dem Bürgersteig. Dort sitzen fünf, sechs Poilus friedlich bei Rotwein und Zigaretten beisammen. Über dem Hauseingang leuchtet ein farbenprächtiges Wirtshausschild, das, wenn mich nicht alles täuscht, einen Tiger vor dem höchst effektvollen Hintergrund einer Dschungellandschaft darstellen soll. Wenigstens erinnert die gelbflammende Bestie mit dem weit aufgerissenen Rachen irgendwie an einen Tiger, wenn sie auch ebensogut ein drachenartiges Ungetüm sein könnte. Aber die Aufschrift: »Hôtel du Tigre« läßt denn zum Glück etwaige Zweifel in ein Nichts zerrinnen. »Das Kunstwerk eines hier ansässigen Malers«, erklärt André, der amüsiert meinem erstaunten Blick gefolgt ist. »Finden Sie es nicht ›épatant‹, Ursula? Der brave Mann erfreut sich aber des ungeteilten Wohlwollens unserer Stadtväter und des Bürgermeisters an der Spitze. – Sie sollten seine wildbewegten Schlachtengemälde im Sitzungssaal des Rathauses sehen! Und noch so einiges andere, womit man hier den Strom der Schlachtfeldbesucher von Verdun nach Longville zu locken hofft. Man gibt sich neuerdings sehr viel Mühe zur Hebung des Fremdenverkehrs: Kriegerdenkmal, ein neues Kino und Werbeplakate an allen nur möglichen Orten: ›Besucht Longville, die Perle der Maas!‹« »Dabei hat sich während des Krieges keine einzige Kugel hierher verirrt«, ergänzt Mimi lachend. »Nur den Geschützdonner hat man manchmal gehört – aber hinter StMihiel war der ganze Zauber ja zu Ende!«
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In dem Gastzimmer nehmen wir an einem der Fenstertische Platz. Hier hat man einen schönen Blick über den Marktplatz, und die Statue der Jeanne d’Arc erscheint von dieser Seite fast noch lebendiger. Denn nun hebt sie sich vom Himmel ab, da den Platz dort drüben keine Häuser mehr begrenzen. Er mündet in eine Allee, die zur Maas hinabführt. Und der silberne Fluß und der hohe, gestirnte Nachthimmel darüber bilden den einzigartigsten und zauberhaftesten Hintergrund zu der dunklen, schmalen Gestalt der gepanzerten Jungfrau. Sie scheint mit ihrer Fahne geradewegs dem Himmel entgegenstürmen zu wollen. »Da haben Sie die Honoratioren von Longville so ziemlich beieinander«, sagt André leise zu mir, mit einem Blick auf den runden Ecktisch, an dem sechs oder sieben Herren beim Wein sitzen. Sie haben uns vorhin sehr freundlich gegrüßt, als wir die Gaststube betraten. Nun sehen sie immer wieder verstohlen zu uns herüber, und auch die übrigen Gäste in dem vollbesetzten Raum, die die Geschwister Duval alle gut zu kennen scheinen, werfen von Zeit zu Zeit neugierige, musternde Blicke auf uns. »Jetzt geht es über Sie her, Ursula«, stellt Mimi belustigt fest. »Es hat sich natürlich in der ganzen Stadt herumgesprochen, daß wir Besuch aus Deutschland haben. – Es wundert mich nur, daß sie uns vorläufig noch in Ruhe lassen, daß sie nicht unter irgendeinem Vorwand hierherkommen, um Sie kennenzulernen!« »Laß doch den braven Leuten ihr Vergnügen«, meint André. »So eine Sensation bietet sich ihnen schließlich nicht alle Tage. Mit der Zeit werden sie unseren Gast schon noch kennenlernen – es ist ja gar nicht zu umgehen.« »So, und jetzt habe ich Hunger«, erklärt Mimi energisch. »Wo steckt denn der Garçon? André, kümmere dich gefälligst darum, daß wir schleunigst wenigstens etwas zu trinken bekommen, mir klebt die Zunge am Gaumen!«
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Er winkt den Kellner heran, der jetzt in der Tür auftaucht. Ein kleines, spindeldürres Männchen, dem die nicht allzu reinliche weiße Schürze bis auf die Fußspitzen reicht, bewegt sich eilends auf uns zu. »Bon soir, Docteur! Bon soir, Mesdames!« Er begrüßt uns mit feierlicher Höflichkeit und verharrt dann in der Pose eines Feldherrn, nur daß er statt des Feldherrnstabes eine Serviette nachlässig in der rechten Hand hält. »Ah, bon soir, Raymond! Endlich kommen Sie – wie geht es übrigens Ihrer lieben Frau?« »Danke, Docteur, sie ist wohlauf, und dem Kleinen geht es auch sehr gut. Ein strammer Bursche«, lächelt der Kellner stolz. »Sie sehen hier den glücklichen Vater des Sonntagskindes, das mich gestern um einige Stunden meiner wohlverdienten Ruhe gebracht hat«, erklärt André. »Oh, Docteur – das hat keinen mehr betrübt als mich«, versichert er. »Aber die Hebamme bestand darauf …« »Schon gut«, winkt André ab. »Sagen Sie uns, was es heute abend hier zu essen gibt. Meine Damen sind dem Hungertode nahe … bringen Sie uns zuerst einen leichten Wein, Mosel!« Raymond notiert und bemerkt gleichzeitig, daß er dem Docteur eine Käsepastete empfehle, und hinterher vielleicht Brathähnchen mit Salat – oh, sie seien zart wie Butter und würden besonders den jungen Damen vortrefflich munden. »Nehmen Sie lieber junge Ente, Docteur«, schreit es von dem runden Tisch herüber. »Ich habe sie vorhin probiert, sie ist ein Gedicht!« »Also gut, Ente«, entscheidet André, nachdem er dem alten Herrn zugenickt hat. »Aber erst etwas zu trinken, Raymond!« Der Kellner entfernt sich eilends, und schon erhebt sich drüben der freundliche Herr, der uns bei der Wahl des Essens behilflich war. 187
»Vielleicht würden die Damen doch erst ein gemischtes Hors-d’œuvre versuchen, Docteur!« André ist aufgesprungen, er schüttelt dem anderen die Hand, und dann werde ich dem Apotheker Grégoire vorgestellt. »Sehr erfreut, Mademoiselle, sehr erfreut«, murmelt er. »Sie sind also die junge Dame aus Deutschland – es gefällt Ihnen hier bei uns, ja?« Dabei schielt er zu dem runden Tisch zurück, und seine Miene drückt deutlich Genugtuung darüber aus, daß er als erster die Bekanntschaft des sicher vielbesprochenen Gastes gemacht hat. Übrigens zieht er sich gleich wieder zurück. Und Raymond serviert uns eine Mahlzeit, die der vielgerühmten Küche des »Tigre« alle Ehre macht. Unaufhörlich fegt der kleine Kellner zwischen dem Büfett und unserem Tisch hin und her; die Herren in der Runde fragen uns nach jedem einzelnen Gericht interessiert, ob es uns geschmeckt habe, und vor allem Monsieur Grégoire begehrt zu wissen, ob er uns mit der Ente etwa nicht gut beraten habe. Eine halbe Stunde später wechseln wir von der Fensternische zum runden Ecktisch hinüber; als es neun Uhr schlägt, bin ich mit dem Bürgermeister in ein lebhaftes Gespräch über Politik vertieft. Nach einer weiteren halben Stunde berichte ich der Runde von meiner Bekanntschaft mit Monsieur Fuchs, und wir lachen im Verein darüber, und man zeigt mir ein Schild über dem Büfett, das davon kündet, daß man in diesem Etablissement den »meilleur café de la France« bereite. Und ebendieser Kaffee wird jetzt in Gemeinschaft mit Mirabel und Kirsch getrunken. Ich bin fröhlicher Stimmung wie schon lange nicht mehr, und als das Grammophon den neuesten Modeschlager »Tout va très bien!« zu schmettern beginnt, singe ich mit den anderen im Chor.
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»Mais à part ça, Madame la Marquise, tout va très bien, tout va très bien!« Der galante Apotheker versichert, daß ich die schönste Stimme besäße, die er im Leben vernommen habe. Und auch André, der um einen kleinen Ton gedämpfter an der allgemeinen Fröhlichkeit teilnimmt, wendet sich zu mir und sagt: »Aber Sie sind ja eine kleine Konzertsängerin, Ursula! Und dieses Talent haben Sie mir vorenthalten!« ›Mir vorenthalten, mir‹, sagt er. Als wir aufbrechen, erklärt Monsieur le Maire, er lasse es sich nun einmal nicht ausreden, daß es die glücklichste Lösung für beide Teile bedeute, wenn Deutsche und Franzosen sich für alle Zeiten als Freunde miteinander verständen. »Ich bitte Sie, Mademoiselle, sind wir denn wirklich so grundverschieden voneinander, daß wir uns nicht mindestens wie gute Nachbarn vertragen könnten?« sagt er eifrig. »Wozu denn dieses ewige Mißtrauen und Sich-gegenseitig-das-LebenErschweren? Waren wir heute abend nicht wie eine große Familie, oder haben Sie sich am Ende bei uns fremder gefühlt als unter Ihren Landsleuten?« Ich versichere aus vollem Herzen, daß ich seinen Ansichten bis ins kleinste beistimme. Und füge hinzu, daß gerade in uns jungen Deutschen der Wunsch nach Verständigung mit dem Nachbarvolk immer lebendig gewesen sei, und heute sei er stärker denn je. »Ja, und so ist es hier wohl auch«, meint Monsieur le Maire. »Nur –«, fügt er etwas zögernd hinzu, »nur gibt es hier wie überall halt noch andere Strömungen. Nicht aus dem Volke selbst, vor allem nicht aus dem Herzen des einzelnen Franzosen heraus, kommen und wirken sie, Mademoiselle. Denn jeder einzelne von uns wünscht sich doch nur Ruhe und Frieden, und dazu gehört, daß man gerade mit seinen nächsten Nachbarn in freundschaftlichem Einverständnis lebt, nicht 189
wahr? Aber das können Sie manchen Leuten einfach nicht begreiflich machen, voilà! Die reden und reden so viel von einem kommenden Kriege, bis sie ihn uns wirklich auf den Hals geredet haben!« »Zum Kriegführen gehören immer zwei, Monsieur le Maire«, sage ich leise, und das Herz will sich mir plötzlich in irgendeiner Bangigkeit zusammenziehen. »Vorerst scheint mir, wir alle hätten erst noch eine Schuld abzutragen, die Schuld unserer Zeit, Monsieur!« »Und wer sind unsere Gläubiger?« Das Gesicht des Franzosen ist sehr ernst geworden. »Die Toten, unsere und eure.« »Aber wir, Sie und ich, wir können doch nichts dafür!« »Wir alle können nichts dafür und sind doch schuldig«, sage ich. »Wir tragen die Verantwortung für das Geschehene und das etwa noch Kommende. Es ist gut, das zu wissen und …« »Und es wäre noch besser, wenn mehr Ihrer Landsleute zu uns nach Frankreich kämen, Menschen Ihres Schlages«, beschließt der Bürgermeister das Gespräch. »Wenn wir einander nur besser kennenlernen wollten, besser kennenlernen dürften, hätten wir die Schuld, von der Sie sprechen, wohl bald abgetragen, glaube ich. – Ich hoffe, Sie während Ihres Aufenthaltes hier noch oft zu sehen, Mademoiselle. Sie müssen mich und meine Familie bald besuchen kommen!« Dann gesellen wir uns zu den anderen, die uns etwas vorausgegangen sind. Es gibt einen herzlichen, wortreichen Abschied, ehe die Geschwister und ich uns von den Herren trennen und in die Straße einbiegen, in der Andrés Wagen auf uns wartet. Aus dem Dunkel der Bäume am Bürgersteig tritt plötzlich Jeanne Boulier, als wir schon im Wagen Platz genommen haben. »Sie sind ja doch noch hier«, meint André erstaunt. »Warum warten Sie hier – Sie sollten doch in den ›Tigre‹ kommen?« 190
»Es hat sich nicht mehr gelohnt, ich komme eben erst aus der Stunde«, erklärt sie. »Aber es ist doch fast elf Uhr?« »Wir haben uns noch ein wenig unterhalten, Fräulein Paulin und ich.« Damit nimmt sie neben Mimi auf dem Rücksitz Platz. Wenn man es recht bedenkt, so hat mir vorhin, während ich mit dem Bürgermeister von Longville sprach, doch mein eigenes Herz jedes Wort diktiert. Dieses Herz, das sich in einem Ausnahmezustand befindet, gleichsam in einer stillen Alarmbereitschaft, seit ich den Boden der Fremde betreten habe. So würde jeder an meiner Stelle wie jene Jungfrau aus Orleans eine Fahne in den Händen halten, seine Fahne. Sie ist nicht kriegerisch, sie weht nicht zum Angriff, zum Streit. »Gerechtigkeit« steht auf ihr, und vor allem: »Liebe«. Liebe zu dem Land und dem Volk, dem man entstammt, Liebe aber auch zu allem, was Gottes Antlitz trägt: Menschen, Brüder aus Europas großer Völkerfamilie, Selige und Unselige, schuldlos Schuldige dieser Zeit. Lieber Gott, wie ist es möglich? Wie hat es mit mir dahin kommen können, daß ich von den Toten des Krieges als unseren Gläubigern sprach? Es ist der Ausnahmezustand des Herzens, den das Erlebnis der Fremde hervorruft. Und doch lebt die Heimat in mir weiter, doch weben über die Grenze unsichtbar tausend Fäden von ihr zu mir durch die Stille … und sie werden mich eines Tages auch wieder zurückführen, heimführen.
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Das Tagebuch! Die erste Woche meines Aufenthaltes hier neigt sich schon dem Ende zu, und noch immer hat André mit keiner Silbe den eigentlichen Anlaß dieser meiner Frankreichreise erwähnt. Man könnte annehmen, er fürchte sich davor, diese Dinge anzurühren. Oder liegt es daran, daß wir einander so selten sehen, daß er nur seinen Feierabend hier draußen verbringt und den wiederum nicht ausschließlich in meiner Gesellschaft? »Wenn ich erst meine Ferien habe!« – Damit vertröstet er mich, und einstweilen verbringe ich recht vergnügte Sommertage mit seinen Geschwistern und ihren Freunden, geradezu unwahrscheinlich schöne Tage in dem alten Schloß, dessen verborgene Winkel und Gänge und Treppen mich immer wieder entzücken, in dem Park, der mir täglich neue Wunder erschließt, und am Strande der Maas, wo wir faul in der Sonne liegen oder uns in das kühle, klare Wasser stürzen und bis zum anderen Ufer hinüberschwimmen. Ruderpartien, Picknicks im Freien, Spaziergänge, traumselige Dämmerstunden im Park und abends fröhliche, ausgedehnte Unterhaltungen auf der Schloßterrasse – eine ununterbrochene Kette von heiterem Lebensgenuß und unbeschwerter Fröhlichkeit bilden diese Tage für mich. Aber er selbst, André, ist mir kaum um einen Schritt nähergekommen während dieser ganzen Zeit. Herzlich und lieb begegnet er mir, sein Benehmen hat sich um nichts geändert seit jenem ersten Tage. Er bleibt sich gleich – ein Mensch mit einem gütigen Herzen, ein stiller, vielleicht zu sehr in sich selbst zurückgezogener Freund. Er nennt mich »liebe Ursula« oder »liebe Freundin« und manchmal auch »ma fille«, es ärgert mich nur irgendwie, wenn ich bisweilen »ma petite« für ihn bin. So deutlich braucht er den Altersunterschied nicht herauszukehren, meine ich. Wie er denn auch überhaupt sehr oft den älteren Herrn, den überlegenen reiferen Freund mimt; oder kommt es mir nur so vor? In seinen Jahren – so gegen die 192
Vierzig – neigen wohl die meisten Menschen dazu, ein wenig mit ihrem Alter zu kokettieren. Zumal, wenn sie noch so aussehen wie er. Manchmal erscheint er mir schön, ja als der schönste Mann, den ich je gekannt habe. Wenn er diese hellen Sommeranzüge trägt, wenn er abends aus der Stadt zurückkehrt, das Gesicht von Sonne und Luft gerötet, die Haare verweht von der Fahrt im offenen Wagen und die Augen so hell und strahlend – »Ein Tempo habe ich heute wieder drauf gehabt – es war ein wirklicher Genuß, aus dem alten Bugatti auch das letzte herauszuholen!« Der Bugatti. Der scheint sein ganzes Glück zu bilden. Zum ausgelassenen großen Jungen wird er, der Docteur, wenn er zum Schrecken seiner guten Tante zweimal täglich sein Fahrzeug besteigt und »das letzte aus ihm herausholt«. »Er wird sich noch einmal das Genick brechen«, jammert die alte Dame. Aber sie gibt selbst zu, daß ihr Neffe viel zu besonnen und vernünftig sei, um über dieser wütenden Rennleidenschaft vollends seinen klaren Kopf zu verlieren. Nachmittags gehe ich den langen Gang im oberen Stockwerk hinunter bis zu der vorletzten Tür in der Reihe. Wie in einem Hotel liegen hier die Wohn- und Schlafräume der Familie in Reih und Glied, nach der Rückfront des Schlosses hinaus. Nur Mimi und ich wohnen in den eigentlichen Staatsgemächern der ersten Etage, deren Fenster (wie die der kostspieligsten Zimmer in großen Hotels) an der Hauptfassade liegen. Mein Herz schlägt doch ein wenig schneller, und ich zögere einen Augenblick, ehe ich das Zimmer am unteren Gangende betrete. Sein Wohnzimmer. Hier ist es jedenfalls entschieden gemütlicher als in jenem spartanisch einfachen Raum in der Stadtwohnung. Auch das Schlafzimmer nebenan, dessen Tür weit offen steht, ist eines »Grandseigneurs« würdig: mit dem
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breiten Prunkbett, den hohen Spiegeln und den weichen Teppichen auf dem Parkettboden. Es ist nicht gerade schicklich, sich hier allzulange aufzuhalten, und vor allem deiner nicht würdig, dich so neugierig hier umzusehen, Ursula! Trotzdem stehe ich noch eine Weile neben dem Schreibtisch am Fenster, als ich das kleine Paket schon auf die Mappe aus grünem Leder gelegt habe, inmitten der Schreibtischplatte. Da wird es ihm wohl am besten in die Augen fallen, wenn er nachher sein Zimmer betritt. Ich habe das Tagebuch in weißes Papier eingeschlagen und mit einem Band fest verschnürt. Es wird bestimmt keinem anderen einfallen, das Paketchen zu öffnen. Oder ob ich noch drauf schreiben soll: »Für André«? Aber das ist wohl nicht nötig, denke ich. – So wird es am besten sein, ihm sein Eigentum einfach auf diese Weise zurückzugeben, ohne ein unnötiges Wort. – Aber sieht es nicht ein bißchen zu lieblos aus, zu unpersönlich, das kleine Paket? Ich zögere ein wenig, dann nehme ich ein dunkles Stiefmütterchen aus der Vase auf dem Schreibtisch und schiebe es unter das Band, welches das Päckchen umschlingt. So ist denn der eigenartige Schicksalsweg dieses Kriegstagebuches nun beschlossen, nachdem es nach zwanzig Jahren, nach einem Umweg über die Grenzen seines Landes hinaus, zu seinem Eigentümer zurückgekehrt ist. Am späten Abend dieses Tages, es war – und das fiel mir erst lange Zeit nachher in einem bestimmten Zusammenhang ein – der 11. Juli, fand ich beim Zubettgehen einen herrlichen Strauß langstieliger La-France-Rosen in meinem Zimmer. Und ein Briefchen lag dabei, vielmehr nur ein Zettel in dem Umschlag: »Mancher schweigt nur in der Furcht, zuviel zu sagen. – Gesegnet seist du, Ursula.« 194
Benedicta tu, Ursula. Die beiden lateinischen Worte sind mühelos in jede Sprache der Welt zu übertragen. Benedicta tu, wie schön das ist. Wie harmonisch es mit meinem Namen zusammenklingt, das Lateinische. Gesegnet seist du, André. – Man denkt und fühlt doch nur in seiner Muttersprache, wenn einem das Herz überfließen will. »Liebe Nora! Nun sind schon nahezu drei Wochen vergangen, seit ich von Euch Abschied nahm. Ihr wandert jetzt also in den schönen Schwarzwaldbergen – Eure Karte aus dem Höllental liegt hier vor mir, habt Dank dafür. Oh, ich habe Euren zarten Wink schon verstanden! Die Sache mit den gewissen Leuten, die ›wie Gott in Frankreich‹ leben und darüber ihre alten Freunde zu vergessen scheinen, war ja auch nicht allzu kompliziert, um sie zu erfassen. Schau, Nora, ich habe halt bis heute gewartet, damit das Schreiben und Berichterstatten auch lohnt. Überdies regnet es, zum erstenmal, seit ich hier bin. Also greife ich zur Feder und schreibe zunächst einmal Dir, Du treue Seele. Die übrigen kommen alle noch an die Reihe, das kannst Du ihnen ausrichten. Immer einer schön nach dem anderen, wenn auch eigentlich jeder einzelne Brief an Euch alle gerichtet ist. Bitte, erwarte keinen wohlaufgebauten, streng nach der Reihenfolge der einzelnen Begebnisse abgefaßten Reisebericht! Ich schreibe alles kunterbunt durcheinander, wie es mir gerade einfällt. – Daß es mir hier wohlgeht, daß ich bei lieben Leuten bin und mir keine angenehmeren Ferientage wünschen könnte, habt Ihr schon aus meiner ersten Ansichtskarte erfahren. – Eure Nachricht trägt den Poststempel des 14. Juli, und das bringt mich darauf, mit einem kleinen Stimmungsbericht dieses Tages (der, wie Euch bekannt sein dürfte, der französische Nationalfeiertag ist) zu beginnen. – Und da ich nun einmal kein ordentlicher Mensch bin, fange ich 195
zuerst mit dem Abschluß und glanzvollen Höhepunkt dieses bedeutungsvollen Tages an: dem Feuerwerk am Abend und dem Volksfest, das in den Straßen der kleinen Stadt Longville unter freiem Himmel stattfand und bis in die tiefe Nacht währte. Nora, wie war es schön, in dieser Nacht auf der Maasbrücke zu stehen und die Raketen aufschießen zu sehen, diesen zweifachen Regen aus goldenen oder buntfarbigen Sternen – denn das Spiel der zerplatzenden Feuerwerkskörper am Himmel wiederholte sich gleichzeitig in dem dunklen, glatten Wasserspiegel der Maas. Zum Schluß spannte sich ein blauweißroter Regenbogen am Horizont, und er schien sich als zweite Brücke über den Fluß zu senken, ehe er erlosch. Das fröhliche, bunte Treiben in den Straßen und vor allem auf dem Marktplatz, wo man sich nach den Klängen der Feuerwehrkapelle im Tanze drehte, wo bunte Lampions zwischen dem Laub der Bäume glühten und Pechfackeln durch die Nacht leuchteten, wo die Fassade des Rathauses mit elektrischen Birnen illuminiert war und der gallische Hahn (ebenfalls aus kleinen Glühbirnen gebildet) sein Gefieder stolz über dem Balkon spreizte – ach, Nora, ich kann es einfach nicht so schildern, wie ich es empfunden habe. Es war alles so unsagbar leicht und unbeschwert, wie die Heiterkeit von Kindern ist. – Und große Kinder schienen mir auch alle Menschen zu sein, die Pärchen, die unter dem Denkmal der Jeanne d’Arc tanzten, die jungen Leute, die Arm in Arm durch die Straßen zogen, und die Alten, die sich ihre Stühle vor die Haustüren gestellt hatten und so wenigstens als Zuschauer an ›ihrem‹ Fest teilnahmen. Ich mußte immer wieder zu der Jeanne d’Arc hinaufsehen: sie stand so ein wenig einsam und vergessen inmitten der Fröhlichkeit, aber sie schien trotzdem zu lächeln, wenn die Fackeln ihr Gesicht zuckend beleuchteten. Mein Gott, schließlich waren auch diese Heiligen einmal Menschen, und gerade das Mädchen aus Domremy hat für 196
meine Begriffe ein Anrecht darauf, am Nationalfeiertag teilzunehmen. – Übrigens hatte man sie doch nicht ganz vergessen: ein Kranz mit blauweißroter Schleife war ihr am Vormittag zu Füßen gelegt worden, und ihre Fahne hatte man mit Blumen geschmückt – also! Vormittags hatte die Parade der kleinen Garnison stattgefunden, ein Schauspiel, das mir leider entgangen ist. Denn wir fuhren erst nach dem Mittagessen in die Stadt, weil wir Gäste hier im Schloß hatten. Da gab es alle Hände voll zu tun, auch ich habe fleißig in der Küche geholfen und nach Tante Angèles Ansicht sogar ein erstaunliches Talent dabei an den Tag gelegt! Lach nicht! Du müßtest dich vielmehr ärgern, weil Du von meiner herrlichen Sandtorte nichts zu kosten bekamst. André meinte sogar, daß er noch nie im Leben einen besseren Kuchen gegessen habe – aber das glaube ich ihm denn doch nicht. Ein galanter Franzose, was willst Du! Ja, und am Abend habe ich ein paarmal getanzt, auf dem Marktplatz von Longville, mit André und seinem Bruder Gaston und dem Verlobten seiner Schwester, einem eleganten Offizier. Unser Geschmack wäre er freilich nicht, Nora. – Und der neueste Modeschlager hier geht mir gar nicht mehr aus dem Kopf, so oft wurde er am 14. Juli gespielt. Der Text ist sehr lustig, von einer alten Marquise, die verreist ist und der Reihe nach ihr ganzes Personal telephonisch befragt, ob in ihrem Schlosse auch alles schön in Ordnung ist. Und sie erhält in den zahlreichen Strophen Auskünfte derart, daß ihr die Haare zu Berge stehen: daß ihr Reitpferd verendet, ihr ganzes Schloß abgebrannt sei, ihr Gatte Selbstmord begangen habe und so fort. Und jede einzelne dieser Schreckensnachrichten endet mit der tröstlichen Versicherung; ›Mais à part ça, Madame la Marquise, tout va très bien!‹ – Das wirst Du Dir hoffentlich selbst übersetzen können, Du zukünftige Schulmeisterin!
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Von Madame la Marquise komme ich nun zu dem Schloß an der Maas, in welchem Eure Ursula augenblicklich wie eine Prinzessin residiert. Nein, ich gehöre wirklich nicht hierher, Nora! Mein Dirndlkleid, das ich für gewöhnlich trage (auf besonderen Wunsch Andrés, der es entzückend findet), stellt eine förmliche Beleidigung dieser glanzvollen Umwelt dar. Ich lege Euch hier ein paar Aufnahmen vom Schloß und dem Park bei. Die windschiefe Gestalt am Ufer unter den Birken bin ich, soll ich wenigstens sein! Andrés Bruder hat die Aufnahmen gemacht, er bringt aber kein vernünftiges Bild zustande. – Im übrigen ist er ein sehr lustiger junger Mensch und bringt mich immer wieder zum Lachen mit seinen dummen Streichen. Das Schloß also stammt aus jener prachtliebenden Zeit, in der jeder reiche Franzose sein eigenes Versailles haben wollte und zumal der Landadel in der Errichtung prunkvoller Schlösser wetteiferte. Der Renaissancestil soll nicht ganz rein ausgeführt sein, sagt André. Ich verstehe nicht viel davon und finde alles einfach herrlich. Sechzig Zimmer enthält der alte Bau. Ursprünglich stand hier schon einmal ein Schloß StClément, das im Jahre 863 in den Chroniken erwähnt ist. 1444 wurde dann der zweite Bau ausgeführt und endlich, zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, die dritte und jetzige Fassung. Das Barock, das man als entarteten Sprößling der Renaissance bezeichnet, beeinflußte jedenfalls den Baustil schon. – Neben so manchen anderen Kuriositäten birgt das Schloß noch einen Schatz ganz eigener Art: ein Bismarck-Zimmer. Ich rede die Wahrheit, ich mache Dir wirklich keinen blauen Dunst vor, Nora, wenn ich Dir sage, daß Deine Freundin Ursula ebendieses Gemach bewohnt und sogar in demselben herrlichen Prunkbett schläft, das einst schon dem Fürsten Bismarck während einer Nacht als Ruhestätte gedient hat! Die Mutter des Gutspächters (zu St-Clément gehört eine stattliche Ferme) hat mir die Geschichte jener denkwürdigen Augustnacht des Jahres 1870 in allen Einzelheiten erzählt. – 198
Die alte Mama Boulier ist eine entzückende Frau, sie weiß eine Menge merkwürdiger und oft leicht gruseliger Geschichten, die sie einem allerdings mit dröhnender Baßstimme in die Ohren brüllt, denn sie ist fast taub. – Übrigens besitzt auch der Park, in dem es, wie André mir damals schrieb, ›Rosen und Nachtigallen‹ gibt (beides stimmt, und die letzteren singen jeden Abend vor meinen Fenstern), noch einen ganz besonderen Schatz: das Grab eines deutschen Soldaten, der auf dem Feldzuge 1870 schwerverwundet als Gefangener hierher nach St-Clément gebracht wurde und auf der Ferme starb. Es war ein Leutnant, Hans Schäfer hieß er. Die Familie de StClément hat ihm einen schönen Grabstein gesetzt, dem jungen Deutschen, dessen letzter Wunsch es war, in dem alten Park hier zur Ruhe gebettet zu werden, und zwar nach Osten, seinem Vaterlande zugekehrt. Diesen Wunsch hat man ihm erfüllt; sein Grab liegt auf einem etwas erhöhten Platz unter einer Gruppe alter Eichen. Ich schmücke es fast täglich mit Blumen. – Siehst Du, Nora, so begegnet einem auch in der Fremde bisweilen ein Stückchen Heimat, und das braucht man geradezu – manchmal. In vierzehn Tagen findet die Hochzeitsfeier von Andrés Schwester Mimi statt. Ich beteilige mich zum einen als Brautjungfer und zum anderen als Kirchensängerin. Letzteres auf besonderen Wunsch der kleinen Braut, seit sie mich zum erstenmal singen gehört hat. Ein deutsches Lied (nicht ›Madame la Marquise‹!), und das scheint sie hier alle miteinander begeistert zu haben. Fast allabendlich muß ich ihnen meine Lönslieder vorsingen, und wie gern tue ich das, gerade hier, Nora! ›Ich weiß eine Linde stehen …‹ – das Heimweh sitzt doch irgendwo in mir, da innen, aber ich bekämpfe es jedesmal, wenn es sich regen will. Im Herbst bin ich wieder bei Euch, nicht wahr? Und einstweilen freue ich mich der Schönheit des fremden Landes, und es ist schön, dieses Frankreich, ganz eigenartig und … Manchmal komme 199
ich mir wie verzaubert vor, Nora. Wie ein ganz anderer, ganz neuer Mensch. Man wird so, so – empfindsam hier, möchte ich fast sagen. Die Wogen des Gefühls schlagen wohl überhaupt bei uns Deutschen höher als bei den anderen. Um auf die Hochzeit zurückzukommen: Kannst Du mir die Noten des Liedes ›Wo du hingehst …‹ besorgen? Ich werde den deutschen Text singen, man wünscht es hier sogar. André, der sich vorderhand nicht viel um mich kümmern kann, weil ihn sein Beruf sehr in Anspruch nimmt, will mich von morgen an – wenn es sich gerade einrichten läßt – auf seine Praxisfahrten in die Umgebung mitnehmen. Ich freue mich darauf, so lerne ich die Leute hier kennen. Nun bin ich müde geworden, Nora. Ich werde schließen. Im nächsten Brief will ich Euch mehr von den Menschen dieses Landes und auch von ihrer Einstellung zu unserem Volk berichten. Leb wohl, Nora. Grüße sie mir alle, den guten Wespengreifer und den langen Weber und unseren Schorsch und auch Liesel, wenn Du ihr schreibst. – Nur für einen Tag möchte ich jetzt bei Euch in den Schwarzwaldbergen sein – habt Ihr Eure Zelte wieder mitgenommen und kochst Du den Jungen wieder so herrliche Erbssuppen wie im Vorjahr? Leb wohl, Nora. Grüß mir die hohen Schwarzwaldtannen und die kleinen, lieben Städtchen, grüße die blauen Täler und Höhen und … grüß mir Deutschland, Nora! Ich vergesse Euch nie, sag das besonders dem Wendelin, er weiß schon, wie ich das meine. ›Gott in Frankreich‹, ja, das stimmt, das hat seine Berechtigung; aber das Herz Eurer Ursula – das ist drüben, bei Euch, Nora. Und es wird sich aus der Verzauberung dieser Wochen an der Maas zu lösen wissen und zu Euch zurückfinden. Ursula.«
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Der Regen rauscht noch immer draußen, und die Ebene der Maas ist von grauen Nebelschleiern durchzogen. Aber auch jetzt ist das Land noch schön, und der Eindruck des Sehnsüchtigen, Weltfernen, Verträumten vertieft sich noch, da das Bild des Sonnenglanzes entbehrt. Ist es wahr, was ich da geschrieben habe, das mit dem Herzen, das sich so leicht von hier loslösen wird? Ganz so leicht wird es wohl nicht sein – dazu ist es schon zu mächtig in mir, dieses Zauberhafte, von dem ich schrieb. Und doch habe ich Heimweh. Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken und träume ein wenig vor mich hin. Noras Antwort traf schon wenige Tage später ein. Sie bestand nur aus einem weißen Bogen Papier, auf dem ein riesiges Fragezeichen prangte. Seltsam: ich schreite immer tiefer in diese Verzauberung hinein, je länger ich hier bin. Und das verwirrende und unbestimmte Gefühl, das alles schon einmal gesehen und erlebt zu haben, verstärkt sich mehr und mehr in mir. Fremd und doch irgendwie innig vertraut bewege ich mich in der Welt des Friedens und der Stille, die dieser alte französische Herrensitz für mich bedeutet. Das stolze Schloß mit seinem Park und der großen Terrasse, die Bauernhöfe im Dorf, alt, grau, niedrig, der kleine Weiher, in dem sich tote Weidenstümpfe und Birken spiegeln, das leise Rauschen der Pappeln an der Maas, der reine und herbe Duft des Wassers – ich wehre mich oft gegen die Lockung, mit den Dingen zu zerfließen, mich als ein Teil ihrer selbst zu betrachten, mich allzu willig zu verlieren an dieses Sanfte, Dunkle, Neuartige.
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»La douce France!« Hat mich nicht irgendwer einmal vor der Süße Frankreichs gewarnt? Sie zieht unwiderstehlich an, sie scheint die Erfüllung aller sehnsüchtigen Träume nach südlicher Wärme und Licht und zarten Farben gerade für uns Menschen aus dem Norden zu bedeuten. Dieses silbrige Licht über der Maasebene, die verhaltenen Pastelltöne der Landschaft, die jeder absoluten Farbe entbehren, die Melodie des Windes in den Bäumen – und die Luft, die hier weicher ist als anderswo: löste sie nicht in der ersten Stunde schon ein Gefühl unbestimmter Schwermut und schmerzlichen Glückes in mir aus? Süßes Frankreich. Deinem stillen Zauber, den du mir hier, in der Provinz, weitab der großen Städte, wohl am eindringlichsten offenbarst, verfalle ich mehr und mehr, mit jeder Stunde. Man sagt mir hier oft, daß dieses Stückchen Maasebene unweit der lothringischen Grenze ja nur einen schwachen Abglanz der strahlenden Schönheit Frankreichs bedeute; daß »der Garten Gottes« ja nicht hier, sondern im Süden, an der Loire, in der Auvergne, an den blauen Gestaden des Mittelmeeres oder im rebengesegneten, fruchtbaren Burgund, zu finden sei. Das Département Meuse stelle eine der einsamsten und reizlosesten Landschaften dar, sicher aber eine der melancholischsten. Diese stillen Täler mit den endlos sich breitenden Wiesen und Äckern, der Fluß mit seinen Schilfinseln und Sandbänken und Weidenbüschen, der so gemächlich in vielfachen Windungen durch die Landschaft gleitet, und etwas weiter die Côtes Lorraines mit ihren tiefen Schluchten und kahlen, felsigen Abhängen – alles in allem eine von der Natur stiefmütterlich bedachte Provinz inmitten der Lieblingsresidenz Gottes, der belle France. So predigt man mir immer wieder und beschwört mich, diesen nordöstlichen Zipfel französischer Erde beileibe nicht als Frankreich schlechthin anzusehen. 202
Mir aber hat es dieser vielgeschmähte Landstrich gerade um seiner schwermütigen Einfachheit willen angetan. Ich habe laute und harte Farben nie besonders geliebt; das Ungewisse, Zerfließende, Dämmernde ist es, »la nuance« im Sinne von Paul Verlaine, die sanften Übergänge von Licht und Schatten, die das Gefühl des Traumhaften nie ganz schwinden lassen, die selbst die nüchternsten und alltäglichen Dinge mit einem zarten, sonderbaren Glanz umgeben. Silber und verwischtes Blau und Grau – in diesen Tönen müßte ein Maler die Landschaft im Bilde festhalten. Ins Musikalische übersetzt, wäre es ein Lied in Moll, eine sehr schlichte, sehr innige Weise. Worte aber werden niemals genügen, um diese nur aus Musik und Farben und Duft gezauberte Stimmung zu schildern. Alles zerfließt in einer sehnsüchtigen Weiche und Weite. Süßes Frankreich. Es ist schwer, nein, es ist nutzlos, sich deinem Zauber verschließen zu wollen. »Éducation sentimentale.« In der Bibliothek des Schlosses fand ich ein altes Buch von Flaubert, das zu lesen ich bisher noch nicht Zeit fand. Aber der Titel blieb mir im Gedächtnis haften, ungefähr als Ausdruck dessen, was ich in diesen Sommerwochen an der Maas erlebe. »Erziehung zur Empfindsamkeit.« Möglich, daß ich nicht ganz korrekt übersetzt habe. Dieses Land erzieht zur Empfindsamkeit, es rührt an mein Herz und weckt Gefühle und Empfindungen, die Jahre hindurch verschüttet gewesen sein mögen. Ein Triumph des Gefühls über die Gedanken bereitet sich in mir, in aller Stille. Gerade diese Stille ist es, die so namenlos erschüttert und beglückt. Mir ist, als strömten silberne Wasser durch mich hindurch, als schwemmten sie alles Schwere und Harte und Bittere mit sich fort und ließen meine Seele zum erstenmal erschauernd das Licht des Himmels erblicken. 203
Den warmen Abend in meinem halbdunklen, kühlen Zimmer liebe ich am meisten. Man geht hierzulande frühzeitig zur Ruhe, »mit den Hühnern zu Bett, mit den Hühnern heraus«. Die altbäuerliche Sitte scheint hier auch noch in den Städten zu leben. André erzählte mir, daß nicht nur in Longville, sondern beispielsweise auch in Dijon oder Nancy mit der zehnten Abendstunde das Leben in den Straßen ausgestorben sei. In den Cafés beginnen sie schon eine halbe Stunde zuvor die Tische und Stühle zusammenzurücken, deutliche Mahnung für etwaige Nachzügler, sich nun aus dem Staube zu machen und nach Hause zu gehen, wie es sich für anständige Leute um diese Zeit gehört. Auch die Straßenbahnen und Autobusse stellen meist schon gegen neun Uhr abends ihren Dienst ein. Lasterhafte Nachtbummler mögen sich ruhig in Unkosten stürzen und eine Droschke nehmen. Wie grundfalsch waren doch die Vorstellungen, die ich mir vom Leben der französischen Bürger machte! Frankreich ist für uns nun einmal mehr oder weniger gleichbedeutend mit Paris; und Paris wiederum sieht man stets im Lichte des ausschweifenden, lasterhaften Nachtlebens. Moulin rouge, Montmartre, hellerleuchtete Boulevards mit flimmernden Lichtreklamen, Tanzbars, Nackttänze, Girls … Ich habe wohl ein Dutzend Filme gesehen, die den Begriff »Paris« vermitteln wollten; beginnend mit einer Großaufnahme des Eiffelturms und der Seine mit ihren Brücken und der Notre-Dame-Kirche, endend mit rasenden Fahrten im Luxusautomobil über nächtliche Boulevards zu jenen höchst zweifelhaften Vergnügungsstätten, in denen sich Apachen, Dirnen und märchenhaft elegante Damen und Herren zu den Klängen einer Jazzkapelle in brünstigen Tanzbewegungen ergehen.
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So steht Paris, das »Sündenbabel«, wohl allgemein in der Vorstellung naiver und gutgläubiger Menschen. Franzosen! Verderbtes, leichtlebiges Volk, von Kindesbeinen an dem Laster verfallen! Heute weiß ich, daß das französische Volk weitab vom Vergnügungstaumel des großstädtischen Nachtlebens zu suchen ist; daß selbst der in Paris lebende Bürger das ruhige und arbeitsame Leben seines »compatriote« in den Provinzstädten und auf dem Lande teilt. Die Tummelplätze der internationalen Lebewelt sind ihm oft kaum dem Namen nach bekannt. Er hat sein Café, in dem er politisierend oder dominospielend mit Bekannten beim Aperitif sitzt, er besucht bisweilen das Kino oder die Sportplätze … im übrigen aber bewegt sich sein Dasein zwischen Beruf und Familie. Er liebt seine Familie über alles, mit ihr verbringt er seine Freizeit, sonntäglich zieht er mit Frau und Kindern hinaus ins Freie, mit Proviantpaketen und Angelgerät versehen. Und die vielbesprochene Oberflächlichkeit der Französin, ihr Hang zu eleganten Toiletten, ihr übermäßiger Verbrauch an Puder und Schminke und Lippenstift? Nach meinen Beobachtungen legen hier wohl auch die einfachsten Mädchen und Frauen großen Wert auf gutes, ja gewähltes Aussehen. Sie verstehen es, mit den geringsten Mitteln sich nach Kräften herauszuputzen, aus jedem Stoffrestchen wird mit viel Fleiß und Liebe ein möglichst elegantes Kleidungsstück gezaubert. Mehr noch als das Material und die Verarbeitung trägt aber in den meisten Fällen die persönliche Anmut der Trägerin zu der oft erlesenen Eleganz ihrer Erscheinung bei. Betrachtet man sich das Kleidchen oder den Hut näher, so stellt man meist fest, daß hier durchweg nicht mehr Toilettenluxus getrieben wird als bei uns in Deutschland. Das Unnachahmliche, der angeborene Schick der Französin, vermag halt auch der einfachsten Kleidung jenes Gepräge zu verleihen, das man hierzulande »frou-frou« nennt. Ein Ausdruck, der wohl nicht ohne tiefere Bedeutung in keine andere Sprache zu übersetzen ist. 205
Je länger ich hier weile, um so mehr gewinne ich den Eindruck, daß man sich in Frankreich durchaus nicht so sehr in allen Einzelheiten von uns Deutschen unterscheidet. Man ist nur in manchen Dingen freier und gelöster, gleichmütiger und sorgloser. Man nimmt sich mehr Zeit als wir bei allen Geschäften, das Leben fließt geruhsamer dahin. Oft will mir scheinen, als sei hier die Zeit überhaupt für eine Weile stillgestanden. – Man hält so oft mit fast zäher Beharrlichkeit an dem Althergebrachten fest. Den Neuerungen der Technik zum Beispiel wird hier bei weitem nicht das rege Interesse entgegengebracht wie bei uns. Man nimmt an dem Weltgeschehen weniger angespannt teil, weil man sich eben – und darin besteht wohl der grundsätzliche Unterschied zwischen ihnen und uns – selbst als Mittelpunkt, um den sich zwangsläufig alles und jedes drehen muß, betrachtet. »L’État – c’est moi!« Der Staat, die Nation, das bin ich. Der Staat hat für mich da zu sein, wenn ich ihn brauche. Ich zahle meine Steuern, ich bin Franzose – vor allem Franzose! Wenn es gilt, meine Nation und mein Land nach außen hin zu schützen, zu verteidigen, stehe ich mit Gut und Blut dafür ein; aber ich verlange dann auch, daß der Staat meine Wichtigkeit anerkennt, daß er mir den Wert beimißt, der mir gebührt. Um das Individuum, den Einzelmenschen, geht es, nicht um die Gemeinschaft. Der Franzose ist »Chevalier«. Als solcher bewegt und fühlt er sich, und das verleiht ihm jene oft unbeschreibliche Würde, die sie allesamt, auch den einfachsten Arbeiter, auszeichnet. Klassenneid kennt man hier nicht. Der Bauer, der Arbeiter, der kleine Bürger, sie alle bewegen sich in ihren eigenen Kreisen mit der gleichen zwanglosen Anmut und Gelassenheit wie die großen Herren in Paris in ihren Salons und Klubs. Man fährt sonntags stolz in einem elenden Klapperkasten über Land und beneidet die anderen nicht, die es sich erlauben können, in herrlichen Limousinen vorüberzujagen. 206
Die Marktfrau ist ebensogut »Madame« wie die Gattin des Bürgermeisters, der Straßenkehrer »Monsieur« genau wie der Fabrikbesitzer. Schade, daß diese Bezeichnungen – dem Sinne nach – Privileg nur der romanischen Länder geblieben sind. Formsache, die bekannte französische Ritterlichkeit – wird man mir entgegenhalten. Gewiß, der Arbeiter lebt auch hier durchaus kein beneidenswertes Dasein; Standesunterschiede, soweit sie die Lebenshaltung und das Einkommen betreffen, gibt es hier wie überall in der Welt. Aber der wirtschaftlich Schwächere schielt nicht neidisch nach oben, weil er sich seines eigenen Wertes eben durchaus bewußt ist. Er ist Franzose, er hat seine Familie, seinen bescheidenen Besitz, und im übrigen ist er – »Monsieur« genau wie sein Arbeitgeber und der Bürgermeister und der Député und der Minister. Wenn ich alle meine Beobachtungen zusammenfassen will, so komme ich zu dem Ergebnis, daß hier ein fleißiges, braves, ruhiges Volk lebt; ein liebenswerter Menschenschlag, höflich, zuvorkommend, warmherzig. Das ist Frankreich – das Volk. Einen Einblick in die Hintergründe der französischen Politik zu gewinnen, ist für den Landfremden sehr schwer. Im allgemeinen kümmere ich mich auch nicht viel darum. Es genügt mir, zu spüren, daß man im Volke guten Willens ist und hier wie bei uns gerade unter den Jungen die Meinung um sich greift, daß aus ehrlichen Gegnern auch ehrliche Freunde werden können. »Entre-nous, Mademoiselle, wenn Sie eines Tages nach Deutschland zurückkommen, so sagen Sie Ihren Landsleuten, es sollten recht viele vom Schlage der Ursula Hartmann zu uns kommen, dann stünde es besser um das deutsch-französische Problem«, sagte eines Tages der alte Boulier zu mir, und zwar am Schluß einer ziemlich lebhaften Debatte, wie sie zwischen
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mir und den Bewohnern dieser vom Kriege besonders schwer heimgesuchten Provinz nun einmal an der Tagesordnung sind. »Das werde ich prompt ausrichten, Papa Boulier«, versicherte ich. »Und hinzufügen, daß ich selten noch liebenswertere Menschen getroffen habe als hier, in Frankreich, und den allerklügsten und besten unter ihnen …« »Im Château St-Clément – in der Person des Doktor Duval«, ergänzte der Alte mit vergnügtem Schmunzeln. Nun hat André Ferien. Dr. Boisselet, sein Vertreter, kommt bisweilen abends zu uns heraus und berichtet über seine Arbeit. »Ihre Praxis blüht ja ordentlich, lieber Kollege«, meint er. »Das Wartezimmer wird überhaupt nicht mehr leer. Ich weiß manchmal gar nicht, wie ich es schaffen soll. Dabei habe ich keinen allzu leichten Stand mit Ihren Patienten. Sie haben die Leute reichlich verwöhnt, lieber Duval! Wenn man für jeden einzelnen nicht mindestens eine reichliche halbe Stunde erübrigt und sich mit ihm eingehend über seine Berufssorgen und Familiengeschichten unterhält, ziehen sie beleidigt davon. – Sie kämen erst wieder, wenn ›ihr‹ Docteur zurückgekehrt sei!« »Ja, meine Bauern sind ein Kapitel für sich«, gibt André zu. »Sie kommen aus der Großstadt, mein Lieber, und sind sich über die Bedeutung einer Landpraxis noch nicht recht im klaren. In uns Landärzten sieht man eben nicht nur den Medizinmann – den man übrigens meist nur dann zu Rate zieht, wenn es um Leben und Tod geht –, sondern auch den Helfer und Berater in allen Situationen, den Seelenarzt, wenn Sie es so nennen wollen. Wie oft hat man mich schon um Rat angegangen, wenn es sich um den Kauf eines Ackers, um eine zu verheiratende Tochter oder eine Rechtsstreitigkeit mit dem Nachbarn handelte! Der ›Docteur‹ muß eben für alles da sein, er nimmt ungefähr die gleiche Stellung ein wie der Pfarrer.« 208
Wir sitzen auf der Terrasse, der Abend ist mild und klar, die Berge drüben glimmen noch rötlich in der sich neigenden Sonne, zwischen ihnen dunkeln schon die Täler. Alle Farben lösen sich in der Dämmerung. »Sie haben es schwer – und doch sind Sie irgendwie zu beneiden«, meint Dr. Boisselet nach einer Weile des Schweigens. »Ich möchte mit keinem Kollegen in Paris tauschen«, sagt André schnell. »Trotzdem – immer mit dieser widerspenstigen Landbevölkerung zu tun zu haben, möchte ich für meine Person doch ablehnen«, gibt der junge Arzt zurück. »Sie sagen ja selbst, daß man nur im Moment der äußersten Gefahr Ihre Hilfe in Anspruch nehme. Meist, wenn es schon zu spät ist, wenn an dem armen Patienten alle nur möglichen Kräutertees ausprobiert worden sind. – Heute kam einer zu mir, der erzählte mir von einer alten Frau hier im Dorfe, Mutter Babette, wenn ich mich recht entsinne; die Alte scheint in den Augen der Bauern so eine Art von Zauberweib darzustellen, die alles kurieren kann: von der kranken Kuh bis zum Schlagfluß. Der Mann pries ihre Kunst in den höchsten Tönen, er schwur auf ihre Tränke und schrieb der alten Hexe einfach übernatürliche Kräfte zu. Sie habe seine Frau vor Jahren gesundgebetet, sagte er. – Natürlich habe ich ihm diesen Unsinn energisch ausgetrieben!« »Das hätten Sie nicht tun sollen«, meint André. »Aber ich bitte Sie, man darf diesen sturen Aberglauben doch nicht unterstützen! Ich würde mir an Ihrer Stelle die alte Dorfhexe einmal vornehmen …« Jetzt lacht André fröhlich auf. »Die gute Mutter Babette, meine spezielle Freundin! Sie haben keine Ahnung, lieber Boisselet, wie prächtig wir beide uns verstehen! Mutter Babette ist mir förmlich ans Herz gewachsen, obwohl sie mir gelegentlich ins Handwerk pfuscht 209
und eine immerhin nicht zu unterschätzende Konkurrenz darstellt! – Nein, lieber Boisselet, nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, aber Sie sehen da zu schwarz. Wenn auch nicht nur der einfache Bauer, sondern sogar eine hier anwesende, sehr aufgeklärte und kluge Dame aus meiner engsten Verwandtschaft auf Mutter Babettes Heilkünste schwört –« »Laß deinen Spott, damit triffst du mich gar nicht!« fällt Tante Angèle sofort ein und wirft ihm einen wütenden und doch leicht verlegenen Blick zu. »– so kehren sie alle schließlich doch reumütig zu ihrem ›Docteur‹ zurück«, vollendet er gelassen. »Nicht wahr, Tante?« Sie würdigt ihn keiner Antwort. »Geschadet haben Babettes Kräutertees noch keinem. Übrigens wird es Sie erheitern, zu hören, daß die wackere Gesundbeterin des öfteren meine vielgeschmähte ärztliche Kunst in Anspruch nimmt, wenn ihr Rheumatismus sie plagt. Und ich –« »Und Sie lassen sich als Gegenleistung von ihr ein Tränklein brauen, wenn Sie gelegentlich krank sind, nicht wahr?« fragt Dr. Boisselet ironisch. »Nein, die Annahme dieser Gegenleistung übernimmt meine Familie«, lacht André mit einem Seitenblick auf seine Tante, die jetzt wie ein junges Mädchen errötet. »Was wollte der Patient, der Mutter Babettes Vorzüge so beredt pries, denn eigentlich von Ihnen?« lenkt er ab, denn die alte Dame sieht zornig und doch schuldbewußt aus. »Er hat eine Rechnung bezahlt und hatte wahrscheinlich noch irgend etwas auf dem Herzen, was er aber nicht mehr vorbringen wollte«, gibt Dr. Boisselet etwas zögernd zurück. »Er empfahl sich ziemlich unvermittelt, nachdem ich ihm den Kopf zurechtgesetzt hatte.« »Wer war es – ein Bauer hier aus dem Dorf?« »Ja, Cuny oder Cury hieß er.«
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»Da sind Sie allerdings an die falsche Adresse geraten! Ich wette, daß der gute Pierre heute noch hier im Schloß erscheinen und mir sein empörtes Herz ausschütten wird!« »Es tut mir leid, Duval, ich wollte Ihnen doch beileibe keinen Patienten verärgern …« »Machen Sie sich keine Sorge«, tröstet André gutmütig. »Ich weiß, daß es für einen Uneingeweihten fast unmöglich ist, reibungslos mit meinen Bauern auszukommen. – Halten Sie sich an die Stadtkundschaft aus Longville, mein Lieber, da gibt es doch weit weniger schwierige Charaktere, nicht wahr?« »Zum größten Teil, ja«, gibt der andere zu. »Das heißt, die Quacksalberei scheint hier wie dort die Leute infiziert zu haben.« Die beiden vertiefen sich in ein Gespräch über Kurpfuscher und Naturheilkundige, dem ich interessiert folge. Ich erfahre, daß hierzulande das Kurpfuschertum üppige Blüten treibt, besonders unter der Landbevölkerung. Der Bauer hängt zäh an seinem Gelde und entschließt sich nur in den alleräußersten Fällen schweren Herzens, die Kosten einer ärztlichen Behandlung auf sich zu nehmen. Die Kräutertees und verschiedenen Säfte und Tränklein der Naturheilkundigen sind ja um so vieles billiger zu haben. Und der mystische Glanz, der das Treiben der Gesundbeter umgibt, verfehlt nur selten seine Wirkung auf das einfache Gemüt. Etwas später verabschiedet sich Dr. Boisselet. Wir begleiten ihn zur Autobushaltestelle ins Dorf, André und ich. »Wie sind Sie mit Fräulein Boulier zufrieden?« fragt André ihn auf dem Wege. »Oh, sie ist willig und geschickt«, meint er. »Aber ein sonderbares Wesen; ich werde nicht recht klug aus ihr«, setzt er hinzu.
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»Man muß sie zu verstehen wissen. Ich habe mich schon daran gewöhnt, ihre Launen hinzunehmen«, sagt André. »Sie haben sie vielleicht etwas verwöhnt«, betont der andere. »Nun ja, ich kann es begreifen; Sie kennen sie ja von Kind an, nicht wahr?« »Allerdings, sie ist die Jugendgespielin meiner Geschwister; mit ihren Eltern bin ich befreundet. Sie haben den alten Boulier ja kennengelernt – ein prächtiger Mensch!« »Ja, er ist mir sehr sympathisch, auch seine Frau«, gibt Dr. Boisselet zu. »Nur das Mädchen ist ein seltsamer Charakter – ich habe oft den Eindruck, daß irgend etwas sie quält und unglücklich macht. Aber sie ist so verschlossen und abweisend, daß jeder Versuch, sich ihr menschlich zu nähern, ihr Vertrauen zu gewinnen, völlig nutzlos wäre. – Welchen Eindruck haben übrigens Sie von ihr gewonnen, Mademoiselle?« »Ich habe bisher kaum einige Worte mit ihr wechseln können«, antworte ich ausweichend. Ich weiß, daß es André weh tut, immer wieder von der fast schroffen Abwehr zu erfahren, die Jeanne meiner Person entgegenbringt. »Mir geht es wie Ihnen, Docteur: ich werde nicht klug aus ihr.« Vor der Post besteigt unser Besuch den »St-Christophe«, wir stehen und sehen dem Wagen nach, der sich in einer Wolke von Staub und Dampf entfernt. »Wollen wir noch einen kleinen Rundgang machen, ehe wir heimgehen?« André schiebt seinen Arm unter den meinen, langsam schlendern wir durch die Dorfstraße. »Wie gefällt Ihnen mein Kollege, Ursula?« »Gut. Er hat so etwas Frisches, Bestimmtes. Scheint aber sehr von sich überzeugt zu sein.« »Nun ja, er kommt aus Paris, hat zuletzt in einer großen Klinik gearbeitet und trägt sich, wie alle jungen Menschen, mit Reformideen«, meint André gutmütig. »Aber ich bin froh, ihn 212
zu haben. Es ist nicht so ganz leicht, einen Vertreter zu finden, dem man seine Patienten beruhigt überlassen kann. Boisselet ist tüchtig und gewissenhaft; daß er sich fürs erste mit den Verhältnissen hier nicht recht anfreunden kann, ist mir durchaus verständlich. – Der brave Papa Cuny … ich kann mir vorstellen, wie im tiefsten Herzen gekränkt und beleidigt er von dannen gezogen ist!« Wir haben die Höhe hinter der kleinen Kirche erreicht und verweilen einen Augenblick unter den mächtigen Lindenbäumen. Das Schweigen der Nacht ist vom eintönigen Zirpen der Grillen durchzittert. Aus der Erde steigt ein Hauch von Wärme und Fruchtbarkeit. Unten im Dorf liegen die dunklen Bauernhäuser wie schlafend; mit hell erleuchteten kleinen Fensteraugen blinzeln sie in die Nacht. Ein Hund schlägt an, irgendwo in den Ställen brummt eine Kuh in langgezogenen Tönen. Die Nacht ist von einem geheimnisvollen Weben erfüllt, traumverloren funkeln die Sterne über uns, langsam löst sich eine Sternschnuppe und versinkt goldfunkelnd in der Dunkelheit. André steht bei mir, so nahe, daß unsere Schultern sich fast berühren. Ich spüre seinen leisen Atem, die Wärme seines Körpers scheint sich auf mich zu übertragen. Es ist so gut, bei ihm, in seiner Nähe, zu sein. Aus einem der Häuser am Kirchweg dringen verwehte Klänge eines Lautsprechers zu uns herauf. Dann nimmt die Musik festere Form an, der Wind trägt sie hier herüber, unendlich klar und rein. Beethovens Pastorale. Ich lehne mit geschlossenen Augen an einem der Baumstämme. Wie ein schwermütiger Traum rührt die Musik an meiner Seele. Himmel und Sterne und Violinen vereinen sich zu einer einzigen Melodie, die Berge im Umkreis rücken ferner und ferner, schieben sich kulissenartig auseinander und lassen am Horizont ein Bild auftauchen, ganz in zärtlichen, goldenen Glanz gehüllt. Mein Herz weitet sich ihm entgegen, 213
eine Brücke scheint sich von mir dort hinüberzuspannen … oder sind es die immer mächtiger aufrauschenden Klänge der deutschen, der heimatlichen Musik, die mich von hier fortziehen? »Heimweh?« fragt André leise neben mir. Ich öffne die Augen und begegne seinem Blick. Ich fühle ihn nur im Dunkel auf mir ruhen, gut und warm und vertraut. Und bin wieder hier, in Frankreich, bei ihm. Immer noch habe ich vor mir selbst keine Klarheit darüber finden können, welchen Platz er nun eigentlich in meinem Leben einnimmt. Immer noch ist er mir nicht nähergekommen, obwohl wir nun seit Tagen schon fast ständig beieinander sind. Was verschließt ihm nur den Mund, was hält ihn denn davon zurück, einmal diese Aussprache herbeizuführen, die doch unumgänglich notwendig ist? »Mancher schweigt nur aus Furcht, zuviel zu sagen.« Worin könnte dieses Zuviel denn bestehen, das er zu fürchten scheint? Ich möchte so gern mehr von ihm, von seinem Leben, wissen. Ich möchte ihm Freund sein, Kamerad … Ich möchte vor allem endlich eine Brücke schlagen können zwischen ihm und dem anderen, dem Frontsoldaten, der das Tagebuch schrieb. Immer noch existieren sie als zwei getrennte Begriffe in meinem Bewußtsein, der André von damals und der André von heute. An ihm würde es liegen, mir über diese fast schmerzhafte Zwiespältigkeit hinwegzuhelfen. Nur an ihm, der so hartnäckig schweigt, der fürchtet – warum eigentlich, mein Gott, warum nur? –, zuviel zu sagen. In wenigen Wochen werde ich von hier gehen müssen. So, wie ich gekommen bin. Um nichts ärmer, um nichts reicher.
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Oder – kehre ich nicht vielleicht doch ärmer zurück? Ich finde mich bald in nichts mehr zurecht, nicht in ihm und vor allem nicht in mir selbst. Ich weiß nur, daß mir der Gedanke an den Abschied jetzt schon das Herz zusammenkrampft, in einem ganz wunderlichen Schmerzgefühl. Wenn er mir nur helfen wollte! Er könnte es, wie oft schon schien er einen Ansatz dazu nehmen zu wollen … dann aber stand plötzlich wieder diese Schweigsamkeit zwischen uns, dieses für mich fast kränkende Verschlossensein, das sich wie eine unsichtbare Mauer zwischen uns zu türmen scheint. Wenn ich singe, wenn ich neben ihm im Wagen sitze, wenn wir am Strand in der Sonne liegen, wenn er manchmal ganz unvermittelt nach meiner Hand greift … wie oft glaubte ich schon, die Mauer überwunden zu haben. Aber dann werde ich um so tiefer in meine seelische Verlassenheit zurückgeschleudert, und jedesmal bleibe ich allein zurück. Darf ich ihm denn so gar nichts sein, so gar nichts geben? So ziehen die Tage vorüber, in Sonnengold und Himmelsbläue getaucht, einer immer strahlender als der andere. Andrés Ferientage! Er verbringt sie fast ausschließlich in meiner Gesellschaft. Vormittags schwimmen wir in der Maas, liegen auf den Wiesen am Ufer in der Sonne oder treiben im Nachen zwischen Schilfinseln und Sandbänken den Fluß abwärts in die traumverlorene Einsamkeit des kleinen Weihers. Grüngolden liegt die ruhige Wasserfläche im unbestimmten Dämmerlicht, denn die dichtbelaubten hohen Bäume am Ufer und auf der Insel wehren der Sonne den Eingang. Wasserrosen entfalten ihre zarten Kelche, Libellen mit schlanken, stahlblauen Leibern taumeln über den moosgrünen Grund, die alten Weiden hängen ihre Arme über das Ufer hinaus ins Wasser, und die Birken sehen wie Fahnen mit ihren weißen 215
Stämmen und dem leise bewegten Laubgefieder aus zartestem Grün. Goldleuchtend glitzern Sonnenfunken auf dem Weiher, wenn ein leichter Wind durch das grüne Laubgewirr fährt. Wir ziehen die Ruder ein, legen uns im Kahn zurück und träumen mit offenen Augen in das Stückchen Himmelblau über uns. Bisweilen irrt ein zitronengelber Falter oder eine Hummel wie trunken über uns hinweg; der warme Atem des Sommers steigt aus der Erde, dem Wasser und beglückt auf wunderbare Weise – so sanft und zärtlich hüllt er uns ein. Braungebrannt, müde und hungrig ziehen wir gegen Mittag ins Schloß zurück. Nach dem Essen ruhen wir in den Liegestühlen unter der »Kathedrale«; das heißt, zum Ruhen kommt es in den wenigsten Fällen. Denn Gaston und Mimi haben meist den Kopf voller Dummheiten und Neckereien, und besonders Mimi ist während der letzten Zeit förmlich außer Rand und Band. Die kleine Braut steckt uns alle mit ihrer ausgelassenen Fröhlichkeit an. Mit welcher rührenden, fast kindlichen Freude sie doch dem großen Tag, ihrem Hochzeitstag, entgegenfiebert! Ihr Verlobter kommt fast allabendlich zu uns heraus, und das Wochenende verbringt er natürlich regelmäßig in St-Clément. Tante Angèle findet es zwar etwas unschicklich, daß die beiden Brautleute unter ein und demselben Dach übernachten. Aber Mimi erklärte lachend, daß dieses Dach doch wohl allzu groß sei, um die Befürchtung eines zu engen Zusammenlebens zwischen ihr und ihrem Henri zu rechtfertigen. – Immerhin finden verliebte Leute auch unter dem weitläufigen Dach des Schlosses St-Clément zueinander, habe ich schon feststellen können. Ich unternehme bisweilen einsame nächtliche Wanderungen im Park, wenn ich das Gefühl habe, im Bismarck-Zimmer und seiner nächsten Nachbarschaft durchaus überflüssig zu sein. Sehr oft gehe ich zur Ferme hinüber, zu den alten Bouliers. Die Eltern Jeannes scheinen mich ganz besonders ins Herz 216
geschlossen zu haben. Wie freut sich Papa Boulier, wenn ich freiwillig zum Arbeitsdienst im Garten antrete, wenn ich in meinem großblumigen Dirndlkleid auf den Feldern auftauche! Es ist schon nahezu berühmt hier im Dorf, das Kleid »à la tyrolienne«, es scheint Mode zu machen, denn eines schönen Morgens tritt mir die Stallmagd Cécile in einem farbenprächtigen Trachtenkostüm entgegen, mit weißem Schürzchen sogar! Der Zornesausbruch ihres Chefs, des Pächters, entlud sich allerdings so temperamentvoll auf ihr Haupt, daß sie sich heulend zurückzog, und ihr »costume à la tyrolienne« mit einer zweckentsprechenden Arbeitstracht vertauschte. Fräulein Mimi aber hat die Hausschneiderin ins Schloß bestellt und läßt sich ein original-oberbayerisches Dirndl anfertigen. – Ihre Brüder finden es »affig« und vertreten einmütig die Ansicht, daß dieses Ding aus geblümtem Taft mit der echten Spitzenschürze darüber es niemals mit einem derben Waschstoffdirndl aufnehmen könne. Und zum zweitenmal fließen bittere Tränen wegen einer »tyrolienne«, die erst dann versiegen, als der Bräutigam Henri das seidenrauschende »Original-Dirndl« in die Arme schließt und ihm unter zärtlichen Küssen versichert, daß es das schönste Mädchen der Welt sei. Der alte Boulier aber wird mit der Zeit mein ganz spezieller Freund. Wir verstehen uns ausgezeichnet, und wenn auch unsere Debatten (soweit sie politischer Art sind) manchmal ziemlich erregt verlaufen, so werden sie doch stets in schönster Harmonie beendet. »Ich sage es ja immer, die Deutschen sind gar nicht so, wie man sie uns hinstellt«, damit wird das Gespräch regelmäßig seinerseits beschlossen. »Und wenn ich erst Ministerpräsident
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von Frankreich bin und Mademoiselle Hartmann deutscher Reichskanzler – dann wird alles in Ordnung sein!« »Sehen Sie sich das an, Ursula!« André zieht mich zum Fenster, das nach dem Hofe an der Rückseite des Schlosses hinausgeht. Auf der Bank neben dem Kücheneingang sitzen drei Männer in angeregtem Gespräch beieinander. Ich erkenne den Vater Cuny unter ihnen, er trägt am rechten Fuß einen Filzpantoffel, unter dem schwärzlichgraues Verbandzeug hervorsieht. Der zweite der Bauern hat eine hochgeschwollene Wange, gegen die er seine Hand preßt; anscheinend leidet er unter heftigen Schmerzen. Der dritte im Bunde trägt den Arm in der Schlinge. »Es beginnt schon wieder wie im Vorjahr«, stellt André halb belustigt, halb verärgert fest. »Sie zwingen mich einfach, während meiner Ferien hier im Schloß Sprechstunde abzuhalten. Und wenn man sie stundenlang da unten sitzen ließe – sie weichen nicht von der Stelle, ehe sie mir ihr Leid geklagt haben. Passen Sie auf!« Er beugt sich aus dem Fenster. »Hallo … wartet ihr etwa auf mich?« Sofort fahren drei Köpfe in die Höhe, sichtbar hocherfreut entdeckt man den »Docteur«. Papa Cuny humpelt unter das Fenster, die beiden anderen folgen ihm nach. »Docteur … können wir hinaufkommen? Ich bin vorhin in eine Sense getreten, barfuß, verfluchte Schmerzen!« »Und was fehlt Ihnen, Papa Dumartin?« »Der Backenzahn«, wimmert der Alte. »Ich habe einen Furunkel in der Achselhöhle«, gibt der dritte sofort ungefragt Auskunft. »Warum kommt Ihr denn zu mir? Ihr wißt doch, daß ich einen Vertreter in der Stadt habe«, ruft André hinab.
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»Soll ich vielleicht abwarten, bis ich Blutvergiftung bekomme«, begehrt Papa Cuny entrüstet auf. »Ich kann doch nicht in Filzpantoffeln nach Longville laufen, in die Sprechstunde!« »Doktor Boisselet ist jederzeit bereit, auf telephonischen Anruf zu Ihnen ins Haus zu kommen«, gibt André ungerührt zurück. »Wenn Sie wollen, rufe ich ihn gleich von hier aus an …« »Aber, Docteur!« ruft Papa Dumartin vorwurfsvoll. »Warum denn so viele Umstände, wo du doch hier bist!« »Ich habe Ferien, meine Herren!« »Dann hättest du eben verreisen sollen!« schreit der Alte. »Solange du hier bist, kann uns kein Mensch zumuten, zu dem anderen zu gehen. Der Zahn muß heraus, ich werde noch verrückt …« Er reibt sich jammernd die Backe und tritt von einem Fuß auf den anderen. »Das besorgt der Dentist in Longville«, sagt André entschieden. »Sie hätten schon längst zu ihm fahren können!« »Jetzt, mitten in der Feldarbeit?« Er schleudert einen wütenden Blick nach oben. Ich halte das Lachen nur noch mühsam zurück, als der Alte sich jetzt gelassen wieder auf die Bank zu bewegt und dort seinen früheren Platz einnimmt. Die beiden anderen stehen unschlüssig und sehen gespannt zu uns herauf. Auf Andrés Gesicht erscheint jetzt ein kleines Lächeln. Er wirft die Zigarette weg und wendet sich aufseufzend vom Fester ab. »Sie sehen – es hilft alles nichts, Ursula«, sagt er resigniert. »Ich bringe es einfach nicht über mich, die armen Teufel wieder fortzuschicken. Es wäre auch nutzlos, sie blieben bis morgen früh hier sitzen!« »Hallo, kommt herauf«, ruft er, sich wieder aus dem Fenster beugend. Da geht ein Aufleuchten über die Gesichter der drei. 219
Sie sind schon im nächsten Augenblick in der Haustür verschwunden. »Wollen Sie mir einen Gefallen tun, Ursula? Schicken Sie doch eines der Mädchen zu Bouliers hinüber, Jeanne möchte so gut sein und hierherkommen.« »Kann ich nicht helfen, André?« »Nein, mein Kleines«, lacht er. »Ihre zarten Nerven würden das nicht überstehen. Ich wette, daß der alte Dumartin wie ein Stier brüllen wird!« Damit schiebt er mich zur Tür hinaus. Auf der Treppe begegne ich den Patienten. Der arme Cuny humpelt auf einem Fuß, ich nehme ihn trotz seines heftigen Widerstandes unterm Arme und befördere ihn vorwärts. »Vielen Dank, Mademoiselle, aber es war nicht nötig. Bitte, lassen Sie mich nur allein – au, der verfluchte Fuß!« Dann erscheint André in Hemdärmeln unter der Tür und nimmt zunächst den Alten mit dem Backenzahn in Empfang. Natürlich ist keines der Mädchen in den Küchenräumen aufzufinden. So laufe ich selbst zur Ferme hinüber. Ich habe Glück, Jeanne sitzt mit ihren Eltern beim Abendbrot, sie ist eben aus der Stadt zurückgekommen. Sie macht sich sofort bereit, als ich meinen Auftrag ausgerichtet habe. Die alten Leute wollen mich überreden, doch noch ein Weilchen bei ihnen zu bleiben, aber ich lehne ab und gehe mit Jeanne zum Schloß zurück. Ich will jede nur mögliche Gelegenheit ergreifen, mich ihr zu nähern, sie aus der Reserve herauszulocken. Auch jetzt läuft sie wieder stumm neben mir her, mit diesem verschlossenen, fast abweisenden Gesichtsausdruck, den sie in meiner Gesellschaft stets besonders deutlich zur Schau trägt. »Es tut mir leid, daß ich Sie gerade während des Essens stören mußte«, beginne ich meinen Vorstoß. »Oh, das macht nichts!«
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»Sie sind sicher abends sehr müde – es gibt doch eine Menge Arbeit tagsüber, nicht wahr?« »Es geht.« »Arbeiten Sie gern mit Dr. Boisselet zusammen?« »Ja.« Herrgott, das kann einen doch fast zur Verzweiflung bringen! Ob ich sie nicht geradezu frage, was sie eigentlich gegen mich auf dem Herzen hat? Ein Blick in ihr kühles Gesicht nimmt mir sogleich wieder den Mut. Ich erzähle ihr, während wir fast laufend den Park durchqueren, von der amüsanten kleinen Szene mit den drei Bauern. Keine Miene regt sich in ihrem hübschen Gesicht. »Ich finde es rührend, wie die Leute an André hängen«, sage ich zum Schluß. »Ja, der Docteur ist sehr beliebt«, meint sie kurz. Täusche ich mich, oder haben sich ihre Wangen höher gefärbt, als ich seinen Namen nannte. Nun hab ich die Spur! Eifersüchtig ist das dumme Mädel! Sie wird halt in ihn verliebt sein – wie Mimi ja auch schon andeutete! Allerdings müßte sie es in diesem Falle vortrefflich verstehen, ihre Gefühle jedem, und auch André gegenüber, zu verbergen. Denn er hat mir schon soundso oft versichert, daß er sich Jeannes Abneigung gegen mich mit dem besten Willen nicht erklären könne. Wie schnell sie vorwärtshastet, man könnte annehmen, der Boden brenne ihr unter den Füßen. Ob sie nur der Pflichteifer zu dieser Eile antreibt? Ich halte jedenfalls mit ihr Schritt. Das scheint sie noch mehr zu verärgern. Sie möchte mich gern abschütteln, ich fühle es. »Laufen Sie doch nicht so«, bringe ich schließlich atemlos hervor. »So dringend ist es doch nicht –«
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»Sie können ja zurückbleiben«, lautet die Antwort, die ich genauso erwartet habe. Und sie beschleunigt das Tempo nun erst recht, als ich von ihren Worten gar keine Notiz nehme und mich wie ein Schatten an ihre Seite hefte. An den Stufen der Terrasse aber bleibt sie selbst einen Augenblick stehen. Sie streicht sich das Haar aus der feuchten Stirn. Ihre Bewegungen sind so anmutig und schön – es ist eine ästhetische Freude, dieses Mädchen zu betrachten. Wie weiß und fein ihre Stirn doch ist, wie weich die blonden Locken in zärtlichen Windungen das schmale Gesicht umschmeicheln. Ob André dieser Schönheit wirklich so ganz unbewegt gegenübersteht? »Wo sind sie – im Badezimmer?« fragt sie, als wir die Treppen emporsteigen. »Nein, in Andrés Zimmer, im ersten Stock.« »Ach ja, Sie standen ja auch wohl dort am Fenster vorhin«, gibt sie zurück, um einen Ton lebhafter. Sie streift mich mit einem Seitenblick, den ich mir nicht recht deuten kann. Ich stehe noch lange und sehe ihr nach, wie sie leichtfüßig die Treppen zum oberen Stockwerk hinaufeilt. Ohne ein weiteres Wort hat sie mich einfach stehengelassen. Mir steigt das Blut heiß zum Kopf – zum erstenmal regt sich in mir ein Gefühl der Empörung gegen das Mädchen. Ihr ganzes Benehmen stellt im Grunde eine fortgesetzte Kette von Beleidigungen gegen mich dar. Gut, ich lauf ihr nicht länger nach. Mag sie sich nur weiterhin in ihren törichten Haß verbohren, mich kümmert es nicht mehr. Übrigens haßt sie mich völlig grundlos – wenn sie wirklich eine Rivalin in mir sehen sollte. Ich nehme ihr doch nichts, da sie nichts besitzt. Oder sollte doch –? Ich bin froh, als der Bijou sich jetzt zu mir gesellt. Er kommt vom Angeln und zeigt mir stolz drei winzige Fischlein, seine Beute.
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»Fritures, meine Schöne«, sagt er triumphierend. »Ich werde sie brüderlich mit Ihnen teilen. – Nun, was bekomme ich dafür?« Er hält mir den Mund hin. »Eine Ohrfeige, dummer Junge!« Da hält er mich schon in den Armen und küßt mich zwei-, dreimal, ehe ich nur recht zur Besinnung komme. Erst als droben hinter einer geschlossenen Tür ein markerschütternder Aufschrei hörbar wird, gibt er mich frei. Da landet schon meine Hand mit kräftigem Schwung auf seiner Wange. Nun heult auch er auf und ergreift die Flucht. Lachend sehe ich ihm nach, und im nächsten Augenblick öffnet sich oben die Tür, und Papa Dumartin erscheint, etwas bleich und verstört zwar, aber doch sichtlich erleichtert, weil man ihn von dem bösen Backenzahn befreit hat. Im übrigen verhält sich »le Bijou« während dieser Tage auffallend still und wohlerzogen. »Wie immer, wenn er einen besonders üblen Streich im Schilde führt«, meint Mimi mißtrauisch. Sie scheint ihren Herrn Bruder besser zu kennen als ich, die ich eben seine erfreuliche Artigkeit lobte. Tatsächlich empfand ich es angenehm, während der letzten Zeit einmal von Gastons Teufeleien verschont zu bleiben. Irgendwie lebt man doch immer in der heimlichen Angst, nachts eine Kröte zwischen den Bettlaken zu finden oder auf dem dunklen Gang von einem Gespenst angesprungen und, natürlich auf durchaus nicht gespensterübliche Weise, von ihm überfallen zu werden. »Oder es hat wieder einmal einen ordentlichen Krach gegeben«, mutmaßt Mimi. Wir liegen in den Hängematten zwischen den Kastanien. »André setzt ihm von Zeit zu Zeit gehörig den Kopf zurecht. – Leider völlig nutzlos«, fügt sie aufseufzend hinzu.
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»Wissen Sie, ich habe immer Angst, daß es zwischen den beiden einmal eine furchtbare Szene geben könnte«, beginnt sie nach einer Weile. »Ich meine, daß Gaston sich eines Tages vergißt und sich in seinem Haß zu Unverantwortlichkeiten hinreißen lassen könnte. Hab ich Ihnen schon erzählt, wie er vor zwei Jahren – es gab damals einen bösen Auftritt mit André wegen irgendeines dummen Schulbubenstreichs – in die Garage schlich und sich an Andrés Wagen zu schaffen machte? Glücklicherweise hat Herr Boulier ihn beobachtet, und hinterher stellte sich dann heraus, daß Gaston irgend etwas an der Steuerung gelockert hatte – es hätte Andrés Tod sein können, wenn er ahnungslos mit dem Wagen davongefahren wäre. Er weiß heute noch nichts von der Sache, wir haben damals heimlich einen Autoschlosser bestellt, der dann alles wieder in Ordnung brachte.« »Mimi!« »Ja, da wird Ihnen auch ein bißchen sonderbar zumute, nicht wahr? Gaston ist ja im großen und ganzen ein guter Kerl, aber er kann manchmal in so sinnlose Wut geraten, daß er einfach nicht mehr zurechnungsfähig ist. Und dann ist er nachtragend, er vergißt es eben nie, daß André ihn schon einmal geschlagen hat.« Ich starre sie nur an. Will sich das schöne und klare Bild, das ich mir von André machte, mit einemmal trüben? »Nun ja, Sie werden natürlich denken, daß man einen erwachsenen Menschen doch nicht schlagen darf«, fährt Mimi leicht verlegen fort. »Ich hätte es Ihnen vielleicht nicht sagen sollen. Aber, bitte, denken Sie nicht schlecht von André. Wenn Sie wüßten, was er schon mit dem Jungen durchgemacht hat! Es ist einfach nicht zu beschreiben. Sehen Sie, Gaston ist mein Bruder, und ich hab ihn gern, aber manchmal – da graut mir doch fast vor ihm. Am liebsten ist es mir, wenn er überhaupt nicht zu Hause ist. Es geht doch nie ohne Aufregung und Sorgen ab, und besonders André tut mir manchmal leid. Sie 224
kennen Gaston ja noch kaum, er hat sich bis jetzt auch eigentlich immer leidlich korrekt benommen, seit Sie hier sind. Natürlich ist er bis über beide Ohren in Sie verliebt – keine Angst, Ursula –, er hat ein leicht entflammbares Herz, es geht immer rasch und schmerzlos vorüber bei ihm. Jede einzelne meiner Freundinnen war schon an der Reihe. So etwas darf man nicht ernst nehmen, ich wette, daß der gute Bijou schon in der nächsten Woche einen neuen Gegenstand seiner Verehrung findet. Ehe Sie kamen, hatte er es auf Jeanne Boulier abgesehen.« »Ich glaube, daß ihr alle ihn doch falsch behandelt«, meine ich nachdenklich. »Ihr müßtet ihn ernster nehmen. Ich habe mich schon einige Male ganz ruhig und vernünftig mit ihm unterhalten und hatte das Gefühl, als wäre er mir dankbar dafür. Schließlich muß es ihn doch niederdrücken, immer und von allen Seiten nur verspottet und bemitleidet zu werden. Das muß ihn doch geradezu herausfordern, vor aller Welt den Clown, den Hampelmann zu spielen!« »Ach, Ursula, Sie kennen ihn eben doch noch nicht genügend«, seufzt sie. »Welche Mühe hat sich vor allem André schon mit ihm gegeben! Aber stets mit dem gleichen Resultat: mitten während eines ernsthaften Gesprächs packt ihn plötzlich der Teufel, dann stellt er irgendeine unglaubliche Dummheit an oder wird sogar gemein und herausfordernd. – Nein, es wäre bestimmt vergebliche Mühe, ihn auf diese Weise nehmen zu wollen. Am besten, man läßt ihn eben, wie er ist; schließlich sorgt er wenigstens dafür, daß man sich nie langweilt. Er kann ja auch so unwiderstehlich komisch sein, daß man aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommt.« »Ihr Bruder ist im Grunde noch ein großes Kind«, sage ich. »Ich mag ihn jedenfalls gern und lege an seine Dummheiten keinen allzu strengen Maßstab.« »Dasselbe sagte Jeanne Boulier mir auch schon. Die kommt übrigens merkwürdigerweise sehr gut mit ihm aus. – Nun, es 225
bleibt zu hoffen, daß er nicht eines Tages furchtbar über die Stränge haut – wenigstens nicht, solange Sie noch hier sind! Ich wäre selbst glücklich, wenn Sie keinen allzu schlechten Eindruck von ihm mitnähmen, Ursula. – Er ist ja im Grunde zu bedauern«, fügt sie leise hinzu. Bis auf die glorreiche Idee, sich eines schönen Sonntagmorgens splitternackt im Hof zu zeigen und in diesem Kostüm zum Entsetzen der Kirchgänger ein Bad im Brunnen zu nehmen, leistete sich der Bijou keine größere Entgleisung während der nächsten Tage. Immerhin versetzte er die braven Leute, die um diese Zeit am Schloß vorüberkamen und durch das Gittertor natürlich den badenden Adam im Schloßbrunnen sahen, in gewaltige Entrüstung. Als Höhepunkt seiner Frechheit rief er die Vorübergehenden sogar an und zog so ihre Aufmerksamkeit in noch höherem Maße auf sich. Die beiden Mädchen kamen mit feuerroten Köpfen aus der Küche angerannt und berichteten die Sache, die sich vor ihren Augen zugetragen hatte. Zum Glück war André nicht zu Hause. Tante Angèle schlug die Hände über dem Kopf zusammen und gebot dem Capitaine, sich sofort mit einem Bademantel in den Hof zu begeben und dem schrecklichen Jungen ein paar Ohrfeigen zu verabreichen. »Wir sind wieder einmal im ganzen Dorf blamiert«, stöhnte sie. »Wenn nur André nichts davon erfährt – mein Gott, ich hasse diese ewigen Szenen! Ich bin glücklich, wenn der Bengel erst wieder in Nancy ist. – Was müssen Sie nur von uns denken Ursula!« Ehe ich sie beruhigen kann, erscheint der Unglückswurm selbst auf der Bildfläche, im Schlepptau seines Schwagers. Er strahlt über das ganze Gesicht und vollführt tänzelnde Bewegungen an der Hand des Offiziers. 226
»Das war ein Genuß, sage ich euch«, ruft er uns fröhlich entgegen. »Das müßt ihr auch mal probieren – herrlich erfrischt so ein Bad im eiskalten Wasser! Wie ist es, Tantchen, hast du keine Lust?« Sie wirft ihm einen vernichtenden Blick zu und würdigt ihn keine Antwort. »Du bist ein Schwein«, fährt seine Schwester ihn an. »Spießervolk«, sagt er wegwerfend »Ich, Monsieur de StClément, bin erhaben über eure kleinlichen Bedenken. Was kümmert mich das Gerede der dummen Bauern?« Er wirft sich stolz in die Brust und schreitet gravitätisch zum Kaffeetisch herüber, wo er sich behaglich niederläßt und in aller Gemütsruhe zu frühstücken beginnt. »Zieh dich erst an, wie es sich für anständige Leute gehört«, begehrt Mimi auf. »Wie kannst du dich vor Ursula in diesem Aufzug sehen lassen! Du triefst ja noch vor Nässe!« »Halt den Mund! Ich habe Hunger«, knurrt er mit vollen Backen. Auf dem Parkettboden bildet sich ein kleiner See unter seinen Füßen, und aus seinen wirr in die Stirn hängenden Haaren tropft es auf die Tischdecke. Tante Angèle hat das Zimmer verlassen. »Wie kannst du die arme Frau nur so kränken«, beginnt Mimi wieder. »Schäm dich, Gaston! – Scher dich hinauf in dein Zimmer und zieh dich an, hörst du!« Sie packt ihn an den Schultern und versucht, ihn vom Stuhl zu zerren. »A la bonne heure – schau dir die Furie an, Henri! Und so etwas willst du heiraten! Ich warne dich, mein Alter!« Dann setzt er plötzlich die Tasse nieder, packt seine Schwester um die Taille und trägt die Schreiende und Zappelnde ganz gemütlich auf beiden Armen hinaus. Auf den Terrassenstufen setzt er sie nieder und kehrt eilig zurück, nachdem er die zwei Glastüren hinter sich geschlossen hat.
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»So, jetzt werde ich endlich in Ruhe meinen Kaffee trinken können«, meint er. Wir beginnen zu lachen. Die Situation ist zu komisch – hier der behaglich frühstückende, vor Nässe triefende Bijou, und draußen, vor der Tür, hockt die ausgesperrte Schwester wie ein Häuflein Unglück auf den Stufen. So ist es immer. Alles löst sich in Heiterkeit auf – Gaston bleibt Sieger. Auch Tante Angèle wird etwas später wieder versöhnt, als sich der Neffe vor ihr auf die Knie wirft und händeringend um Verzeihung winselt. »Scher dich aus dem Staube, alter Narr«, fährt sie ihn an, scheinbar wütend. Aber sie lacht schließlich mit uns im Chor, als er sich, auf allen vieren kriechend, eilends entfernt und obendrein wie ein Hund zu kläffen beginnt. Nein, man kann ihm einfach nicht böse sein. Seit gestern haben wir Vollmond. Es ist jetzt die Zeit, in der das Getreide reift. Die Rosen im Park stehen in voller Blüte, und die Obstbäume sind früchteschwer und verbreiten süßen Duft. An den Spalieren hängen die rötlichen Pfirsiche wie kleine Bälle aus Samt, rote Sommeräpfel glühen durch das dunkle Laub, unaufhörlich summen Bienen durch die blaue Luft, und abends – wenn das bleiche Gestirn drüben über den Höhenzügen aufsteht und die bunten Farben des Sommertages in einem weichen Silberglanz auflöst – schlägt die Nachtigall im Park. Und wieder verbringe ich die halbe Nacht schlaflos und sitze hier am Fenster und höre den klagenden Ruf des Käuzchens, das irgendwo in dem alten Gemäuer sitzen muß. »Rausche, rausche, lieber Fluß – nimmer werd ich froh …« Kehre ich denn wirklich ärmer zurück, als ich ausgezogen bin? Ärmer – 228
So müde bin ich, und so oft zum Weinen gestimmt. Und doch ist das Herz wieder von einer ganz unbestimmten Glückseligkeit erfüllt, das Herz, das so ganz und gar seine eigenen Wege geht, das gar nicht mehr mir zu gehören scheint. Vielleicht bleibt es am Ende doch hier – hier – Der Brief an Wendelin wäre längst fällig. Er liegt seit gestern angefangen in meiner Schublade. Aber ich kann ihn nicht zu Ende bringen. Jetzt noch nicht. Nun findet in acht Tagen die Hochzeit statt. Der Dorfschullehrer, der gleichzeitig das Amt des Organisten hier an der Pfarrkirche bekleidet, übt meinen Trauungsgesang mit mir ein. Allabendlich gehe ich ins Schulhaus hinüber, und ich lerne auch die Damen und Herren des Kirchenchors Sankt Caecilia kennen. Denn außer meinem Lied habe ich auf Wunsch des Organisten auch die Solopartie in der lateinischen Trauungsmesse übernommen. – Alles klappt vorzüglich, auch menschlich komme ich mit den Kirchenchorsängern sehr gut aus. Die ganze Schar begleitet mich nach den Proben ins »Château« zurück, und daß Mademoiselle Hartmann wie ein Engel singe, besonders das deutsche Lied, dessen Text sie sich von mir erläutern ließen, bekomme ich jeden Abend von ihnen zu hören. Das »Wo du hingehst …« hat einigen der Kirchenchordamen sogar schon Tränen der Rührung entlockt, und mehr kann man schließlich nicht verlangen. Auch Monsieur le Curé wohnt bisweilen den Proben bei. Der Dorfpfarrer ist ein feingebildeter Mann, ich kenne ihn schon von seinen Besuchen im Schloß her. Er besitzt eine große Bibliothek, die er mir sogleich liebenswürdig zur Verfügung stellte, als er von meinen französischen 229
Sprachstudien an der Universität erfuhr. Ich habe mir Corneille und Racine und natürlich auch einen Band Gedichte von Paul Verlaine ausgeliehen, der zu den Lieblingslyrikern Andrés gehört. Kein Mensch soll mir nachsagen können, daß ich diese Frankreich-Reise nicht gebührend zu ernsten Studienzwecken ausgenützt hätte. Wenn ich auch im stillen zu der Ansicht neige, aus einem Gespräch mit Papa Boulier oder aus diesen abendlichen Zusammenkünften mit dem Kirchenchor Sankt Caecilia im Dorfschulhaus weit größeren Nutzen für meinen zukünftigen Beruf als französische Sprachlehrerin ziehen zu können als aus der Lektüre sämtlicher Klassiker der »Grande Nation« zusammengenommen. André erklärt, daß ihm der ganze Vorbereitungstrubel hier im Hause so allmählich auf die Nerven falle. Es geht denn auch während der letzten Tage wie in einem Taubenschlag hier zu. Der Postbote schleppt immer neue Warensendungen aus Paris an, Madame Génie erschien heute morgen höchstpersönlich und lieferte unsere Festgewänder ab. Mimis Brautkleid mußte sie allerdings noch einmal mitnehmen, da es nach Ansicht seiner Trägerin »wie ein Scheuerlappen an ihr herumhänge und überhaupt nicht so ausgefallen sei, wie sie es sich vorgestellt habe«. Es gab wieder einmal heiße Tränen wegen eines Kleides, Tante Angèle und ich mußten um die Wette trösten, und Madame Génie erbleichte förmlich unter der Beleidigung, die Mimi ihr an den Kopf warf. Sie rief nämlich jammernd aus, daß sie es doch gleich gewußt habe, daß die Kunst Madames für eine große Brauttoilette nicht ausreiche! Man hätte nach Paris fahren müssen, in eines der ersten Häuser. »Jetzt gibst du aber Ruhe«, mischte sich Tante Angèle ein. »Du bist ja schließlich kein Filmstar und auch keine Prinzessin,
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die ihre Kleider bei Lanvin oder Worth arbeiten lassen können, nicht wahr?« Aber sie habe sich das Kleid nun einmal anders vorgestellt, viel großartiger, heult die Kleine. Und Madame Génie, die mir aufrichtig leid tat, packte das vielgeschmähte Wunder aus weißer Seide stillschweigend wieder in ihren Koffer. »Aber, liebe Mimi, das Kleid ist doch unvergleichlich schön«, wandte auch ich ein. »Sie haben wie ein Engel ausgesehen, wirklich …« »Ach, nun fangen auch Sie noch an! Ihr deutscher Geschmack ist mir schon gar nicht maßgebend, Ursula!« Richtig ungezogen wurde sie jetzt, und der Blick, den sie mir zuschleuderte, war verdunkelt vor Zorn. Als sie schließlich noch wie ein verwöhntes Kind mit den Füßen zu trampeln begann, verließen Tante Angèle und ich in stillschweigender Übereinkunft das Zimmer. »Der gute des Plantes wird einen schweren Stand mit ihr haben, fürchte ich«, seufzte die alte Dame. »Ich bin froh, wenn der ganze Rummel hier erst einmal vorüber ist. Sie werden sehen, wie friedlich und ruhig es dann zugeht bei uns dreien; denn ich hoffe, daß auch Gaston gegen Mitte August nach Nancy zurückfährt.« Sie küßte mich herzlich auf beide Wangen und bat mich, Mimis Taktlosigkeit um Gottes willen nicht übelzunehmen. »Die beiden Kinder sind halt falsch erzogen, liebe Ursula; sie waren ja so früh verwaist, und dem André und mir sind sie einfach über den Kopf gewachsen – daran ist nun einmal nichts zu ändern!« »So, Ursula, ich glaube, wir beide nehmen für heute einmal Reißaus hier«, meint André am frühen Nachmittag. Ich komme eben aus der Küche, wo unter Tante Angèles Oberleitung ein Kriegsrat mit den beiden Mädchen, der Kochfrau aus dem Dorf 231
und Madame Boulier stattgefunden hat. Im übrigen werden noch der Küchenchef vom »Tigre« und zwei Lohndiener am Tage vor der Hochzeit hier antreten. Das Menü ist bereits entworfen, die Weinkarte von Bijou in schwungvoller Rundschrift abgefaßt und die Liste der einzuladenden Gäste (die jeden Tag umgeworfen und wieder neuaufgestellt worden ist) nun endgültig abgeschlossen. »Wir werden jetzt einen schönen Spaziergang machen«, entscheidet André, als ich ihm vorstelle, daß meine Hilfe hier sicher noch gebraucht würde. »So unentbehrlich sind Sie ja gar nicht, Ursula. Ich lege wenigstens ganz energischen Protest dagegen ein, daß Sie diesen herrlichen Tag in der Küche verbringen! – Schnell, machen Sie sich fertig, wir gehen in den Wald!« Nur zu gern komme ich seiner Aufforderung nach, denn mir schwirrt schon der Kopf, und im Schlafen und Wachen träume ich von Brautkleidern, Kirchenliedern, Festschmaus und Wäscheausstattungen. »Kann ich mein Dirndlkleid nicht anbehalten, André?« »Natürlich – aber nehmen Sie einen Mantel mit, wir kehren vor dem Abend nicht zurück!« Und etwas später umfängt uns schon das große Schweigen des Waldes, und wir schreiten unter den hohen Buchenstämmen bergaufwärts, bis wir die freie Kuppe einer der Maashöhen erreicht haben. Hier liegt die Ebene mit dem Fluß zu unseren Füßen, das liebliche Bild eines besonnten Tales, und weit im Umkreis blauen wiederum Hügel. Ganz fern am Horizont ragen die Türme der Kathedrale von Longville. Und am Fuße des Hügels, auf dem wir stehen, liegen Schloß und Dorf StClément an den Ufern der Maas. André hat seinen Mantel auf den Boden gebreitet, wir lassen uns im Schatten einer riesigen Kastanie nieder, die einsam und 232
freistehend die kahle Kuppe dieser Höhe krönt. Ich habe den Baum aus der Ferne schon oft bewundert, von meinem Fenster aus, unten im Tal. Kleine Käfer und langbeinige Spinnen klettern an den hohen Grashalmen, Bienen summen geschäftig um die Wiesenblumen, und eine verirrt sich auch auf die roten Klatschmohnblüten an meiner Brust. André hat sie mir dort befestigt, er meinte, daß sie sich besonders hübsch auf dem blau-weiß gemusterten Kleid ausnähmen. »Bleu-blanc-rouge! Ihre Landesfarben, Docteur«, necke ich ihn. »Stimmt – aber das kann man noch viel besser zusammenstellen«, meint er. Und pflückt mir noch rasch ein paar Margeriten und Kornblumen am Wegrand, die zusammen mit dem Klatschmohn einen wahrhaft französisch-patriotischen Schmuck an meinem deutschen Trachtenkleid ergeben. »Nun haben wir keine Zigaretten für Sie mitgenommen«, sagt er ganz erschrocken, als er sich wieder an meiner Seite niedergelassen hat und seinen Tabaksbeutel hervorzieht. »Drehen Sie mir eine, André!« »Oh, die dürfte zu stark für Sie sein!« »Bitte, ich möchte eine selbstgedrehte haben«, sage ich, obwohl ich keine große Lust zum Rauchen verspüre. »Gut, wie Sie wollen!« Ich beobachte ihn mit heimlichem Vergnügen, während er sich stirnrunzelnd der Beschäftigung der Zigarettenfabrikation widmet. »Hier – befeuchten Sie das Papier«, sagt er und hält mir die kleine Rolle an die Lippen. »Aber Ursula, stellen Sie sich doch nicht so ungeschickt an! Nur mit der Zungenspitze – so, sehen Sie!« Ich lache über seine ernsthafte Miene und bringe das Kunststück nun noch viel weniger fertig.
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»Alors – mein Gott, wie dumm das kleine Mädchen doch ist! Wollen Sie nun endlich stillhalten, die Zunge heraus, so! Nein, den Finger sollen Sie nicht ablecken!« »Bitte, machen Sie es doch, André! Ich kann es einfach nicht!« »Oh, das geht doch nicht – Sie würden sich ekeln«, gibt er zu bedenken. »Nein, André, vor Ihnen nicht«, sage ich schnell. »Also, bitte –« »Schön. Sonst bekommen Sie doch nichts zu rauchen, ehe wir heimgekehrt sind, Sie kleiner Tolpatsch!« »Aber unhygienisch ist es doch«, stellt le Docteur fest, als wir unsere Zigaretten angezündet haben. »Das heißt – so im allgemeinen«, setzt er lächelnd hinzu. Dabei beugt er sich etwas zu mir herab. »Nett haben Sie das gesagt, Ursula: vor Ihnen ekelt es mich nicht!« Ich werde ein wenig rot und ärgere mich darüber. »Warum rücken Sie so weit von mir ab? Bleiben Sie doch auf dem Mantel, Ursula, der Boden ist feucht!« Ich setze mich gehorsam ein wenig näher zu ihm hin. »Da – es bleibt immer noch ein halber Meter zwischen uns«, neckt er. »Wenn Sie es wünschen, überlasse ich Ihnen auch großzügig den ganzen Mantel, Ursula!« »Warum denn? Ich sitze doch gerne neben Ihnen!« »Wirklich, Ursula?« »Ja«, sage ich einfach. Und trotzdem zieht es mich immer ein wenig aus seiner Nähe fort, so eine leise Unruhe erweckt sie heute in mir. Und gleichzeitig habe ich doch den Wunsch, mich an seine Schulter zu lehnen und die Augen zu schließen und … man würde so unendlich beruhigt dort einschlafen können, meine ich. 234
»Wenn die Hochzeit erst vorüber ist«, sagt er nach einer Weile, »dann werde ich endlich mit Ihnen zusammen die größeren Ausflüge unternehmen können, die ich mir ausgedacht habe. Zuerst fahren wir nach Verdun hinauf, und ich führe Sie zu den Schlachtfeldern, auf den Douaumont, nach Fleury. – Und ich werde Ihnen das Wäldchen zeigen, in dem ich vor zwanzig Jahren verwundet lag, Ursula. Von da aus, in dieser Stunde, nahm ja alles eigentlich seinen Beginn …« Er greift nach meiner Hand, und er behält sie in der seinen, als er leise fortfährt: »Wenn man es recht bedenkt, war es Ihre und meine Geschichte, die an jenem 11. Juli ihren Anfang nahm, und der deutsche Soldat, der das Buch an sich genommen hat, muß wohl von Gott selbst zu dieser Handlung bestimmt worden sein. Und eine höhere Hand muß ihn wiederum geleitet haben, als er es gerade Ihnen schenkte, Ursula!« Erwartet er nun eine Antwort von mir? Ich kann nicht reden, aber meine Hand schmiegt sich etwas fester in die seine. »Sehen Sie, Ursula, damals, an diesem Tage, glaubte ich zu sterben. Als ich mehrere Stunden ganz verlassen und scheinbar vergessen dalag, als ich langsam zu verbluten schien … da hatte ich meine Rechnung mit dem Himmel schon gemacht, den großen Schlußstrich schon gezogen. – Es war im Grunde schön, glauben Sie es mir. Ich fühlte mit meinem Blut auch das Leben ganz allmählich aus mir rinnen, und es blieb mir nichts mehr, als zu warten, auf den Augenblick, der mir der süßeste schien. Und dann meinte ich ihn nahen zu sehen, und ich ergab mich ihm widerstandslos … es war nur ein Hinüberdämmern noch in rosiges Licht. – Das Erwachen, nach vielen Stunden, das war das grausamste, Ursula. Ich habe förmlich mit meinem Schicksal gehadert. Es ist schwer, dieses Zurückkehren ins Leben, wenn man die ganze Süßigkeit des Todes schon gekostet hat! – Und dann vergehen Tage und Monate und Jahre – und man findet immer noch nicht darüber hinweg – und man 235
denkt und grübelt: wozu eigentlich, wozu? Warum mußte ich ins Leben zurückgeschleudert werden, warum gerade ich! – Und wiederum vergehen Jahre, und dann …« Er bricht plötzlich ab. »Und dann weiß man doch, daß jedes Menschenleben auf dieser Welt lohnt, nicht wahr? Daß jeder von uns auf seinen nur ihm bestimmten Platz gestellt wurde und daß man von diesem Platz aus zu wirken und zu schaffen und zu lieben hat und daß keiner von uns je durch einen anderen ersetzt werden kann, André!« »Sie sind ein seltener Mensch, Ursula, und so gut!« »Wollen Sie mir nicht mehr von Ihrem Leben, Ihrer Jugend erzählen, André?« »Doch, Sie haben ein Recht darauf«, sagt er. Und beginnt nach einer Weile: »Mein Vater heiratete kurz vor dem Kriege die Mutter Gastons und Mimis. Ich war damals in Nancy, auf dem Gymnasium. Meine Stiefmutter, Marie de St-Clément, hatte ich vorher nur flüchtig gekannt. Sie war um etwa zwei Jahre älter als ich, ein zerbrechlich zartes Mädchen, verwöhnt, launisch, unberechenbar. Was sie dazu veranlaßt hat, dem alternden Manne die Hand zum Ehebund zu reichen, war damals für alle Welt ein Rätsel. Marie war sehr schön, vermögend und galt als begehrte Partie bei den jungen Leuten, die in dem gastfreien Hause St-Clément ein und aus gingen. Aber sie schien sich Hals über Kopf in ihren Hausarzt, meinen Vater, verliebt zu haben. Er hatte sie wegen eines Nervenleidens in Behandlung. Mir sagte er damals, er halte das Fräulein von St-Clément für hochgradig hysterisch. Er bedauere den Mann, der sie einmal heirate. Ein knappes Jahr später führte er sie selbst heim. Ich habe an der Hochzeitsfeierlichkeit nicht teilgenommen, mein Vater schien es auch nicht anders erwartet zu haben. Das herzliche, kameradschaftliche Verhältnis zwischen uns war gelockert; ich glaube, daß mein Vater mehr als ich darunter 236
gelitten hat. Stets erschien er mir schuldbewußt, wenn er mir begegnete. Wir sahen uns nicht mehr allzuoft, ich siedelte im Jahre 1914 nach Paris über, um mich auf meine medizinischen Studien vorzubereiten. Zwei Tage vor der Mobilmachung kam Gaston zur Welt, und ein Jahr darauf, als ich schon im Schützengraben lag, Mimi. Meinen Weihnachtsurlaub verlebte ich in St-Clément. Ich war erschüttert, als ich meinen Vater wiedersah. Er war ein alter Mann geworden, ging gebeugt, schien krank zu sein. Mit seinen fünfundfünfzig Jahren wirkte er wie ein Greis. Ich brauchte nicht lange nach der Ursache seines Verfalls zu fragen. Meine Stiefmutter hatte ihm zwei körperlich verunstaltete Kinder geboren. Sie hätten die beiden armen Geschöpfe sehen müssen, Ursula. Sie waren gelähmt zur Welt gekommen, Mimi war so puppenhaft klein und winzig, so zum Erbarmen schwach, daß ihr Anblick mir wahrhaft Tränen des Mitleids in die Augen trieb. Gaston aber sah wie ein kleiner Affe aus, wie ein mißgestalteter Zwerg mit dem unförmig dicken Kopf, der so gar nicht zu dem elenden Körperchen passen wollte. Da stand ich nun, der große Bruder, dem draußen im Schützengraben schon ein stattlicher Kinnbart gewachsen war, und hielt die kleinen Unglückswürmer auf den Armen. Das sollten nun meine Geschwister, die Kinder meines Vaters, sein! Meine Stiefmutter Marie kam mir gleichfalls seltsam verändert vor. Ihr Wesen war unausgeglichen, reizbar, widerspruchsvoll. Sie konnte ausgelassen fröhlich sein, dann wieder schlug ihre Stimmung völlig unvermittelt um. Sie konnte stundenlang in einer Ecke sitzen und vor sich hin starren. Wenn man sie mit einem Wort aus ihren Grübeleien riß, maß sie einen mit verstörtem Blick. Sie weinte oft, wenn sie sich mit ihren Kindern beschäftigte. Am schrecklichsten aber war ihr Lachen. Das zerriß mir förmlich die Nerven. Ich sehnte das Ende meines Urlaubs herbei, die Atmosphäre 237
meines Elternhauses wurde mir zur Qual. Einzig das Mitleid mit den beiden unglücklichen Menschen, besonders mit meinem Vater, bestimmte mich, nicht gleich am ersten Tag wieder mein Bündel zu schnüren und an die Front zurückzukehren.« Er streicht sich mit der Hand über die Stirn. »Verzeihen Sie, kleine Ursula, daß ich Sie mit diesen alten Geschichten behellige«, fährt er fort. »Aber Sie leben nun einmal mit uns und haben ein Recht, von diesen Dingen zu wissen. Es wird Ihnen so auch vieles verständlicher werden, was in unserem Hause vorgeht. – Ich will es kurz machen: mein Vater vertraute mir damals an, daß er allen Ernstes um den Geisteszustand seiner Frau besorgt sei. Er habe eine berühmte Kapazität aus Paris zu Rate gezogen, der Professor sei auf einige Zeit nach Longville gekommen und habe Marie unauffällig beobachtet. Das Ergebnis war niederschmetternd: er diagnostizierte beginnenden Gehirnzerfall, Rückenmarkserweichung. Die Vorfahren Maries waren erbkrank gewesen, einer der Großväter hatte im Irrenhaus geendet, ein Vetter beging Selbstmord, und ihr Vater, der alte Baron St-Clément, war im betrunkenen Zustand gestürzt und hatte sich den Schädel gebrochen. Eine ausschweifende, hemmungslose Lebensweise hatte fast alle männlichen Vertreter der Familie gekennzeichnet. Die junge Marie trat das traurige Erbe ihrer Vorfahren an. Sie war früh zum Untergang bestimmt. – Nie hätte es geschehen dürfen, daß sie zwei Kindern das Leben schenkte. Gaston und Mimi bildeten die furchtbarste Anklage für meinen unglücklichen Vater, der die Sünde auf sich genommen hatte, das Geschlecht derer von StClément fortzupflanzen. Er liebte Marie, der Gedanke, sie verlieren zu müssen, war ihm unerträglich. Er war dazu verurteilt, hilflos ihren Verfall mit ansehen zu müssen. Darüber verzweifelte er fast. Ich konnte ihm keinen Trost geben. Ich, der junge, gesunde 238
Mensch, gehörte nicht mehr in diesen Kreis. Mich zog es mit unwiderstehlicher Gewalt hinaus, in das freie, männliche, harte Leben. Der Krieg wurde mir zum Trost, zur einzigen Zuflucht. Mein Leben galt mir nicht mehr viel, es erschien mir als höchstes Glück, es für mein Vaterland dahingeben zu dürfen. Und doch empfand ich heißes Mitleid mit den unglücklichen Menschen, besonders die beiden Kinder bewegten mir das Herz, ich empfand fast väterlich für sie. Beim Abschied versprach ich meinem Vater, mich der Kleinen anzunehmen, ja späterhin nur für sie leben zu wollen, wenn ich heimkehrte und er zu alt geworden sei, um sich der Erziehung Gastons und Mimis zu widmen. Ich sagte das, Ursula, und es war mir heilig ernst mit meinem Versprechen. Aber nie wäre mir der Gedanke gekommen, daß ich später tatsächlich einmal würde mein Versprechen einlösen können. Die Lebensflamme der beiden Geschöpfe schien mir so schwach – ich betete insgeheim um ihren frühen Tod. Was sollten sie in der Welt? – Ja, Ursula, damals, im Jänner 1916, habe ich meinem Vater zum letztenmal in die Augen gesehen. Er starb noch vor Marie, an einer Lungenentzündung, die ihn innerhalb weniger Tage dahinraffte. Es war im Herbst 1916, als ich verwundet im Lazarett lag. Damals kam Tante Angèle nach St-Clément und nahm sich der Frau und der Kinder an. Mit Marie ging es rasch abwärts. Sie folgte meinem Vater ein Jahr später, Tante Angèle hat sie getreulich gepflegt, bis zu ihrer letzten Stunde. Ein schweres Amt, denn Marie war völlig dem Wahnsinn verfallen, als sie starb. Sie hat sich zu Tode gelacht, ihr schrilles, durchdringendes Lachen war bei Tag und Nacht in allen Räumen des Schlosses zu hören gewesen. Tante Angèle zittert noch heute am ganzen Körper, wenn sie davon spricht. Marie rannte oft stundenlang im Haus und Park umher und lachte, lachte – im ganzen Dorf war ihr Lachen gefürchtet. Die alte Frau Boulier ist heute noch nicht zu bewegen, nach Anbrach der Dunkelheit allein durch den Park zu gehen. Sie behauptet, 239
das Lachen der Marie Duval ginge noch um unter den Bäumen …« Er hält inne, seine Stirn ist feucht. Ich lege meine Hand auf seine Schulter, er nimmt sie sanft weg und behält sie in der seinen, als er fortfährt: »Der Krieg ging zu Ende, mich hatte er lebend zurückgelassen. Warum eigentlich? Warum ist jene Kugel, die mich damals bei Fleury traf, um einige Zentimeter fehlgegangen? Wie oft habe ich mir diese Frage vorgelegt! Mein Leben, meine Jugend lag ja noch vor mir, nicht wahr? Aber ich kam wie ein alter Mann heim, ich wußte mit meinem Leben vorerst nichts anzufangen. Ich sehnte mich oft nach den Tagen im Schützengraben zurück, nach meinen Kameraden, von denen kaum einer mehr lebte. – Heute weiß ich, Ursula, daß das Schicksal meinen Untergang nicht zulassen durfte. Die beiden Kinder, Vaters Kinder, waren da, sie warteten auf mich, sie brauchten mich. Was keiner für möglich gehalten hätte, war geschehen: die beiden blieben am Leben, sie wuchsen wie andere Kinder heran und entwickelten sich zwar langsam, aber doch stetig aus ihrer fast tierhaften Unförmigkeit heraus zu normalen Menschen. Mimi wurde sogar hübsch, ihre kleine Gestalt nahm ebenmäßige Formen an – bis auf die Hüftlähmung. Auch Gaston wurde zu einem netten kleinen Burschen, seine krummen Beinchen streckten sich, er tollte vergnügt mit anderen Kindern herum. Einzig sein Charakter machte mir Sorge. Gaston war ein Kobold, seine Streiche hatten so gar nichts Kindliches, sie erweckten mehr Grauen als Heiterkeit. Dabei bewies er eine ungewöhnliche Intelligenz, eine Schärfe des Verstandes, die zu seiner Jugend in gar keinem Verhältnis stand. Er konnte liebenswürdig und zärtlich sein, anschmiegend wie ein Schmeichelkätzchen, und im nächsten Augenblick schlug seine Laune um, dann war er ein kleiner Teufel in Menschengestalt. – Tante Angèle wurde bald nicht mehr Herr über die beiden Kinder. Denn auch Mimi, die 240
im großen und ganzen ein liebes Ding war, konnte unerträglich launenhaft sein. Sehen Sie, Ursula, da erkannte ich meine Aufgabe: den beiden Vater zu sein, sie aufzuziehen, für sie zu sorgen. Das war im übrigen dringendes Gebot der Stunde. Die Praxis meines Vaters war in fremde Hände übergegangen, das Vermögen seiner Frau schmolz mehr und mehr zusammen, in wenigen Jahren wäre es aufgebraucht gewesen. Das Leben in St-Clément, die Erziehung der Kinder, mein Studium verschlangen eine Menge Geld. Ich machte mich also mit fast verbissenem Eifer an meine Arbeit. Das Ziel stand mir Tag und Nacht vor Augen. Vaters Praxis in Longville zurückerwerben und seinen Platz in der Familie einzunehmen. Darüber vergaß ich alles, Ursula. Meine Jugend, meine eigenen Zukunftspläne, die ich wie jeder andere junge Mensch in früheren Jahren mit Liebe und Begeisterung geschmiedet hatte. Ich vergaß, daß es Frauen und Spiel und Vergnügungen auf der Welt gab, ich wurde früh zum Sonderling, zum Außenseiter. Glauben Sie nicht, daß ich mich beklagen wollte, Ursula. Der Krieg, die vier Jahre Front und vor allem der Verlust meines Freundes Gilbert hatten mich früh zu einem ernsten Menschen werden lassen. Das Treiben der Großstadt Paris ekelte mich an, wie ein Totentanz erschien mir die tolle Ausgelassenheit der Menschheit in den ersten Nachkriegsjahren. Auch der fanatische Siegestaumel der ersten Zeit nach dem Waffenstillstand ließ mich kalt. Der Sieg Frankreichs und seiner Alliierten war für meine Begriffe mit zu gewaltigen Blutopfern erkämpft, um auf diese pomphaftoperettenmäßige Weise gefeiert zu werden. – Ich habe früh klar gesehen, Ursula. Ich bin Franzose, ich liebe mein Vaterland – aber Patriotismus schien mir nie gleichbedeutend mit sinnlosem Haß auf alles, was jenseits der eigenen Grenzen lebt. Ich habe mich immer bemüht, dem deutschen Volk gerecht zu werden, Ursula; ich habe es als anständiges Volk schätzen 241
gelernt, seine Soldaten waren Helden, als sie uns – der vielfachen Übermacht – im Kriege gegenüberstanden. Ich konnte beim besten Willen nicht in das Sieges- und Haßgeschrei der anderen nach dem Kriege einstimmen. Ich glaubte, in der Heimat den Frieden vorzufinden, als ich von der Front zurückkehrte. Ich sehnte mich wie jeder andere Soldat nach dem Frieden … vergebens. Der Haß ist, wie Gilbert sagte, kein Nährboden für ihn; der Haß wird immer neue Kriege erzeugen … und es wird so lange keinen Frieden mehr auf unserem Planeten geben, ehe nicht die letzte Stimme des Hasses an ihrem eigenen Geifer erstickt ist. – Doch warum spreche ich darüber? Warum ereifere ich mich – wir beide sind uns doch einig, nicht wahr, Ursula?« Ich drücke nur seine Hand. Reden kann ich nicht, ich bin zu bewegt. »Es ist Zeit, daß ich meine Erzählung zu Ende bringe«, meint er nach einer Weile. »Sehen Sie, es wird schon dunkel, wir müssen an den Heimweg denken. – Das übrige ist ja schnell gesagt: Examen, zwei Jahre Spitaldienst in Paris, Vertretungen in der Provinz, und dann starb, gerade zur rechten Zeit für mich, der alte Doktor Gautier in Longville. Ich erwarb Vaters Praxis, auf die ich mir schon Jahre vorher das Vorkaufsrecht gesichert hatte, zurück. Ich zog nach St-Clément und nahm mich meiner Geschwister an, sehr zur Erleichterung Tante Angèles. Es wurde oft fast zuviel für mich, der ich ja selbst – den Jahren nach – noch ein junger Mensch war. Mimi erkannte meine Autorität ohne weiteres an, ich glaube auch, daß sie mich aufrichtig gern mag. Schwerer war es mit Gaston. Erlassen Sie es mir, Ihnen die furchtbaren Szenen zu schildern, die ich im Laufe der Zeit mit ihm erlebt habe. Seine Verschwendungssucht trieb mich oft bis an den Rand der Verzweiflung. Seine Weibergeschichten, und dann der höchst zweifelhafte Umgang, den er sich in Nancy zugelegt hat! Mich aber scheint man, wenn es darauf ankommt, noch für die 242
Zügellosigkeit des Burschen verantwortlich machen zu wollen! Ich könnte Ihnen erzählen von Erpressern, die zu mir ge …« Er verstummt. Sein Gesicht hat sich mit dunkler Röte überzogen, und er preßt die Lippen zusammen, als fürchte er, es könnte ihm noch ein unbedachtes Wort entschlüpfen. »Sehen Sie, Ursula, darüber komme ich nun einmal nicht hinweg«, fährt er nach einer Weile etwas ruhiger fort, »daß es mir trotz meiner heißen und ehrlichen Bemühungen nie gelungen ist, aus Gaston einen brauchbaren Menschen zu machen. Ich habe es mit Liebe und Strenge versucht, ich kann wohl sagen, daß ich ihm immer wieder verziehen habe und nachsichtig bis zum Äußersten gewesen bin! Und das Ergebnis?« »André, er ist doch noch zu jung!« »Er haßt mich«, sagt er leise. »Das ist nicht wahr, André!« »Verzeihen Sie mir, Ursula, wenn ich Ihnen jetzt sage, daß Sie das wirklich nicht beurteilen können. Sie kennen meinen Bruder ja nur oberflächlich – zu meiner Freude! Denn er scheint sich Ihnen gegenüber tatsächlich etwas zusammenzunehmen, wie wir alle schon feststellen konnten. Hoffentlich bleibt es so – ich wünsche es wenigstens von ganzem Herzen. Trotzdem bin ich immer irgendwie unruhig, solange ich ihn noch hier in St-Clément sehe. So herzlos es klingen mag: aber ich werde erst dann aufatmen können, wenn Gaston in zwei, drei Wochen nach Nancy abgereist ist!« Wieder übermannt mich eine heiße Regung des Mitleids mit dem Menschen an meiner Seite. Wie einsam er doch im Grunde ist, er, der sein ganzes Leben, seine ganze Jugend nur den anderen geopfert hat. Und er selbst? Wer lebt eigentlich für ihn, nur für ihn? – »Er haßt mich.« Wie traurig das klang, obwohl es so ruhig und gelassen ausgesprochen worden ist. »Wir müssen jetzt gehen«, sagt er. Plötzlich packt er mich an den Schultern und zieht mich etwas näher zu sich heran. 243
»Was habe ich Ihnen da eigentlich alles erzählt, kleine Ursula? Sie wollten meine Lebensgeschichte wissen – und ich fürchte, daß ich Ihnen statt dessen nur eine ziemlich niederdrückende und unerfreuliche Familiengeschichte berichtet habe, nicht wahr?« »André …« »Es wird am besten sein, wenn Sie nicht allzuviel über diese Dinge nachdenken«, meint er mit einem kleinen, trüben Lächeln. Seine Hände geben mich frei, er steht auf und hilft auch mir in die Höhe. »Was aber den André Duval selbst betrifft … ich glaube, den haben Sie durch sein Tagebuch am besten kennengelernt. Natürlich ist er heute ein wenig anders geworden, ein wenig ruhiger, ein wenig älter. – Aber«, er holt tief Atem und lächelt wieder, »aber in einem ist er sich wohl doch immer gleichgeblieben: er kann nicht hassen, dieser André! Und auch Ihr Volk nicht, Ursula! Ich liebe es sogar auf irgendeine Weise, gerade weil ich Franzose bin. Einer eurer großen Denker hat einmal die Behauptung aufgestellt, daß Deutschland und Frankreich sich lieben und suchen wie Mann und Weib, daß sie einander aber auch bisweilen mißverstehen und sogar hassen – wie Mann und Weib. Und es bleibt zu hoffen, liebe Ursula, daß aus dieser Haßliebe heraus einmal doch die endgültige Vereinigung des Paares ›DeutschlandFrankreich‹ entsteht, nicht wahr? – Und daß ich für meine Person, solange ich lebe, im Geiste Gilberts denken und handeln werde, brauche ich Ihnen heute wohl nicht mehr zu sagen – meine gute Kameradin?« Das setzt er ganz leise hinzu und nimmt wieder meine Hand. Und ich – ich beuge mich plötzlich schnell nach meinem Mantel, der neben uns im Grase liegt. Während er mir hineinhilft, berühren seine Hände flüchtig meine Schultern. Ich zittere am ganzen Körper. Wohin hab ich mich verlaufen, mein Gott? Wenn ich vor einer Minute nicht meine Hand aus der seinen gelöst hätte – ich würde sie geküßt haben. Ein ganz 244
unsinniges Glücksgefühl ist mit einemmal in mir. Mir wird ein wenig schwach in den Knien. Und während des Heimwegs durch den schon dunklen Wald vertieft sich dieses neue, wunderbare, große Gefühl noch in mir. Seltsam: man geht da ganz ruhig an seiner Seite, man unterhält sich wie heute morgen und gestern und alle Tage mit ihm – und es ist doch alles so ganz anders geworden. Es tut nicht einmal weh, daß er so anscheinend gleichgültig und nur in seine eigenen Gedanken eingesponnen neben mir geht. Dazu bin ich zu namenlos glücklich, überhaupt bei ihm sein zu dürfen. Dagegen verschwindet alles andere. Ich liebe ihn. Ich, die Deutsche Ursula, ihn, den Franzosen André. Und es kommt mir vor, als sei das so selbstverständlich, als sei das vor allem gar nicht einmal so neu, als müsse das schon vom ersten Atemzug an so gewesen sein. Die kleine Dorfkirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Ich stehe während der Trauungsmesse oben auf dem Chor, zwischen den Sängern und Sängerinnen. Jetzt wird sich unten am Altar gleich die eigentliche Trauungszeremonie vollziehen, nachdem das Benedictus verklungen ist. Die Orgel setzt mit leisem Spiel ein; das Flüstern und Tuscheln um mich verstummt – aller Augen blicken nach dem Altar, auf das Brautpaar, das nun dort niedergekniet ist. Der Geistliche murmelt lateinische Gebete, die Gemeinde ist in die Knie gesunken. Ich sehe André, er steht in der erste Reihe, seitlich vom Altar; sein Kopf ist gesenkt, sein Blick ruht voll auf der Schwester, die jetzt im Augenblick ihre Hand durch den Geistlichen in die Henris fügen läßt. Der Segen wird erteilt, man bekreuzigt sich … und nun beginnt der Organist das Vorspiel zu meinem Lied. Die 245
Notenblätter zittern in meiner Hand, ich starre angestrengt ins Leere, dann setzte ich leise ein: »Wo du hingehst, da will auch ich hingehen …« Schon nach den ersten Takten habe ich alles um mich vergessen. Diesen sonnenerfüllten Kirchenraum, in dem alle Farben für einen Augenblick zu zerfließen und als unruhig auf und nieder tanzende Punkte sich vor mir zu bewegen schienen; die Menschen im Umkreis, die betäubenden Weihrauchwolken, die sich blau-dunstig an den Strebepfeilern hinaufwanden und oben unter der Kuppel verfingen – das alles entschwindet meinem Bewußtsein, ich stehe ganz allein hier oben und singe, und nur ein einziges Gesicht hebt sich da unten zu mir empor. »Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch. Und wo du ruhst, will ich begraben sein.« Ich weiß nicht mehr, wie ich singe. Ich weiß nicht einmal, ob diese helle, jubelnde Stimme aus mir, aus meiner Kehle dringt. Ich weiß nur, daß ich glücklich bin, so glücklich. »Und nur der Tod soll uns scheiden.« Der Tod. Der … Aber da greifen zwei, drei Hände nach mir, und ich sinke auf eine Bank neben der Orgel. Irgend jemand reicht mir ein Glas Wasser. »Sicher der Weihrauch – ich kann ihn auch nicht ertragen«, sagt das Mädchen im weißen Kleid, das sich über mich beugt. »Aber Sie haben herrlich gesungen, Mademoiselle! – Geht es Ihnen nun besser?« 246
Ich nicke, und die graue Ohnmacht weicht langsam von mir. Es war ein Ersticken in bleigrauen Nebeln, merkwürdig. Ein kleines Schmerzgefühl in der Herzgegend bleibt zurück. – Aber jetzt intoniert die Orgel das Agnus Dei, und da stehe ich schon wieder auf meinem alten Platz. »Dona nobis pacem!« »Gib uns den Frieden!« Damit klingt der Gottesdienst aus. Und dann beginnen die Glocken zu läuten, und Fräulein Pincemaille führt mich die Treppe hinab. »Sie sind ja auf einmal totenblaß geworden, am Schluß des Liedes«, berichtet sie, denn ich kann mich auf gar nichts mehr besinnen. Dann stehe ich in der Sakristei und werde von allen Seiten umringt. Man könnte wirklich glauben, daß ich und nicht das Brautpaar hier im Mittelpunkt der Festlichkeit stehe. Tante Angèle küßt mich als erste, sie hat Tränen in den Augen. Dann umarmen mich noch drei, vier Damen, die ich nicht einmal kenne. Mimi erklärt meinen Gesang als den Höhepunkt ihrer Hochzeitsfreude, Henri küßt mir wiederholt die Hand, und le Bijou, der in seinem schwarzen Festanzug einen seltsamen Eindruck macht, hat nur den deutschen Text zu bemängeln. »Das war ja alles ganz gut und schön, aber wollen Sie mir nicht wenigstens die Bedeutung von ›wo du stirbst‹ erklären, verehrte Diva?« »Stell dich nicht so dumm«, fährt seine Schwester ihn an. »Das ist doch ganz klar! Das fühlt man einfach, wenn man auch kein Deutsch versteht!« Und dann schiebt sich endlich André durch das Gedränge. Und unter seinem Blick vergesse ich wieder einmal alles, einfach alles. Leider kann er mir nur ganz kurz die Hand drücken, denn jetzt bietet mir der junge Offizier den Arm, und André gesellt sich zu der alten Madame des Plantes, die er in 247
seiner Eigenschaft als stellvertretender Brautvater aus der Kirche zu geleiten hat. Das Hochzeitsmahl im großen Saal währt mehr als drei Stunden. Als der Kaffee gereicht wird, ist es schon früher Nachmittag, und als man sich endlich in den angrenzenden Salon begibt, wo in der Fensternische drei Musiker den ersten Tanz aufzuspielen beginnen, steht die Sonne schon tief über den westlichen Maashöhen. Die älteren Leute gehen im Park spazieren, oder sie finden sich in den Nebenzimmern in kleinen Gruppen zusammen. Die beiden Lohndiener und die Mädchen eilen unaufhörlich hin und her, sie reichen Eisgetränke und Champagner und kleine Erfrischungen. Ich bin so müde und benommen, daß ich alles fast nur wie im Traum über mich ergehen lasse. Ich tanze und fliege von einem Arm in den anderen, ich unterhalte mich – wenn ich gerade einen Augenblick Zeit dazu finde – mit den alten Leuten, und dann werde ich immer aufs neue in den Strudel der allgemeinen Fröhlichkeit gerissen. Die anderen jungen Mädchen amüsieren sich königlich, wie es scheint. Vor allem die Brautjungfern, meine vier Kolleginnen sozusagen. Die flirten mit den jungen Offizieren der Garnison, die biegen sich vor Lachen über die Witze des Bijou, der als Maître de Plaisir mit einer roten Aster im Knopfloch und weißen Handschuhen an den Händen die Tänze und Spiele arrangiert. »Was ist eigentlich heute mit Ihnen los, Ursula?« fragt André, als es ihm endlich gelungen ist, mich aus dem Kreis der Offiziere zu einem Tanz freizubekommen. »Ich beobachte Sie schon die ganze Zeit. So recht von Herzen vergnügt scheinen Sie jedenfalls nicht zu sein!«
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»Mir ist ein bißchen schwindlig«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Sicher machen das die schweren Weine während des Essens, wissen Sie!« »Aber Sie waren schon heute morgen so – so eigenartig, als wir aus der Kirche kamen«, beharrt er. Lieber André, was soll ich dir sagen? – Ich kann ihm doch nicht hier vor allen Leuten um den Hals fallen und ihn bitten, mich liebzuhaben! Mich vor allem von hier wegzuführen, aus diesem Trubel, der meine innere Traurigkeit nur steigert und … Aber vielleicht bin ich doch krank. Das alles überfiel mich mit so erschreckender Gewalt, und er … er geht an mir vorüber wie früher auch. Für einen kurzen Augenblick hatte ich mir eingebildet, heute morgen in der Kirche, daß auch er mich liebhat, mich einfach liebhaben müßte. Es wäre Wahnsinn, weiterhin daran zu glauben oder vielmehr darauf hoffen zu wollen. Da hält er mich ganz ruhig im Arm und tanzt mit mir und fragt: »Was ist eigentlich heute mit Ihnen los, Ursula?« »Mich stimmt so ein Tag ja auch immer mehr nachdenklich als heiter«, sagt er. »Sehen Sie sich meine kleine Schwester an, Ursula! Sie strahlt ja förmlich vor Freude – und ist sich der ganzen Bedeutung dieses Schrittes aus ihrem behüteten Jungmädchenleben heraus wohl nicht im entferntesten bewußt!« Ich folge seinem Blick. Mimi sitzt neben ihrem Mann auf dem Sofa, in dem weißen Schleier bleich und schön wie ein Bild. Man merkt ihr die Genugtuung darüber an, hier den vielbewunderten und vielbeneideten Mittelpunkt im Kreise der jungen Mädchen zu bilden. Ich finde diese kindliche Freude rührend. Wie sie sich immer wieder an die Schulter Henris lehnt, seine Hand nimmt – so gleichsam besitzergreifend, mit einem Blick zu den anderen hin, der etwa ausdrückt: bitte schön, seht nur her, ich bin jetzt seine Frau, dieser Mann gehört mir!
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Sie winkt uns heran, als der Tanz beendet ist, und zieht mich an ihre andere Seite aufs Sofa. »André, du mußt dich ein bißchen um die Jeanne kümmern«, flüstert sie ihm zu. »Schau, wie verdrossen sie da am Fenster lehnt! Das Mädel kann einem wirklich leid tun, obwohl sie sich ja eigentlich selbst so absondert!« »Mir hat sie eben einen Tanz abgeschlagen«, mischt sich ein junger Offizier ein. »Sie sei müde – da kann man nichts machen!« »Das dürfen Sie ihr nicht übelnehmen, Marchal«, meint Mimi. »Sie ist so komisch, ich habe mich schon oft über sie geärgert. Aber heute möchte ich keinen unfrohen Menschen hier sehen – geh, André, engagiere sie doch! Dir gibt sie sicher keinen Korb!« Er setzt zwar eine zweifelnde Miene auf, geht aber dann doch auf das Mädchen zu. Ich beobachte, wie sie einige Worte miteinander wechseln, wie er auf sie einredet, ehe sie sich zögernd entschließt, seinen Arm zu ergreifen. »Allons, Messieurs-dames!« schreit le Bijou mit einer Stimme, die einem Jahrmarktausrufer alle Ehre gemacht hätte. Dabei klatscht er in die Hände. »Ich bitte zu engagieren!« Und schon hat er selbst eine der Brautjungfern um die Taille und wirbelt das unglückliche Mädchen in rasenden Drehungen über das Parkett. »Er benimmt sich wieder einmal unglaublich«, seufzt Mimi. »Paß nur auf, wie er uns heute noch blamieren wird!« Wie zur Bekräftigung dieser Worte ertönt jetzt ein entsetzter Aufschrei: das Paar geriet ins Stolpern, Gaston fiel als erster und riß seine Tänzerin im Fallen mit zu Boden. Nun liegen die beiden lang auf der Erde, er halb über dem Mädchen, das laut jammert und schreit, während er vor Lachen fast zu ersticken droht.
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Man kommt ihnen von allen Seiten zu Hilfe; das Mädchen flüchtet entsetzt, als Gaston sofort wieder den Arm um ihre Taille legen und den unterbrochenen Walzer fortsetzen will. Als nun auch jede andere der Damen, die er der Reihe nach zu engagieren bemüht ist, es entschieden ablehnt, sich den Gefahren eines Tanzes mit dem wild gewordenen Bijou auszusetzen, trottet er achselzuckend von dannen und begibt sich in den Park. Dort scheint er sich damit zu vergnügen, die Spaziergänger (meist sind es jüngere Pärchen) unvermittelt aus dem Dunkel eines Gebüsches anzuspringen oder ähnliche Albernheiten zu treiben. Die empörten und lebhaft protestierenden Schreie von draußen beweisen das zur Genüge. Nach dem Tanze gesellen sich André und Jeanne zu uns. Er bringt ihr einen Stuhl und macht es sich selbst auf der Sofalehne an meiner Seite bequem. Jeanne scheint plötzlich aufzutauen, ja sogar vergnügter Stimmung zu werden. »Haben Sie das nicht furchtbar komisch gefunden, vorhin? Wie die kleine Bour zappelnd und strampelnd auf der Erde lag?« Sie lacht laut heraus. »Na, erhebend fand ich den Anblick gerade nicht«, meint Henri. »Die junge Dame tut mir leid – sehen Sie nur, sie wagt sich gar nicht mehr zu uns herein!« »Irène, komm doch!« ruft Mimi ihr zu. Die Kleine steht in der Tür, beschämt und hochrot vor Verlegenheit. »Mein Gott, wie sieht das schöne Kleid aus!« Irène ist zögernd näher gekommen und flüchtet sich gleichsam hilfesuchend an Andrés Seite. »Das ist ja nicht weiter schlimm«, tröstet er. »Kommen Sie, Irène, wir tanzen miteinander!« Und sie scheint ihren Kummer bald vergessen zu haben, als er sie im Arm hält. Ja sie lacht schon wieder, und der abgerissene Saum ihres Kleides scheint sie nicht mehr im mindesten zu stören. 251
»Man müßte dem Bengel verbieten, auch nur noch einen Schluck Alkohol zu trinken«, sagt Mimi wütend. »Lassen Sie ihn doch«, verteidigt Jeanne. »Ich finde ihn sehr amüsant, voilà!« »Dann tanzen Sie doch mit ihm, meine Liebe«, meint Mimi ironisch. »Sie werden es vielleicht auch amüsant finden, vor allen Leuten blamiert zu werden!« Jeanne lacht und hebt ein wenig die Achseln. »Ach, ich habe schrecklichen Durst«, ruft sie. »Elise, bringen Sie mir doch ein Glas Sekt, bitte!« Wunderschön sieht sie heute aus. Nicht so blaß wie sonst, und ihre Augen strahlen nur so vor Lebensfreude. Wie gut das weiße Kleid zu ihr paßt, geradezu königlich nimmt sich ihre schlanke Figur darin aus. – Sie scheint mir jetzt im Augenblick etwas zugänglicher als sonst, und die Art, sich hier ein bißchen als große Dame aufzuspielen, so als gehöre dieser ganze Luxus im Grunde zu ihr, die rührt mich irgendwie. Sie ist in André verliebt, das steht seit heute fest für mich. Obwohl sie sich bemüht, das zu verbergen und gerade ihm gegenüber einen besonders nachlässigen Ton anzunehmen. Aber wie sie ihn jetzt mit ihrem Blick verfolgt, wie sich ihre Stirn ein wenig in Falten legt, als er mit der schönen Irène so vergnügt und vertraut plaudert, als er nach beendetem Tanze ihren Arm behält und sich auf der Lehne ihres Sessels niederläßt … Jetzt legt André sogar den Arm um ihre Schulter, und Irène scheint sichtlich erfreut darüber zu sein! »Kinder, wo ist denn nur der Père Dominique geblieben?« erkundigt er sich. »Der schläft nebenan in der Bibliothek seinen ersten Rausch aus«, berichtet Mimi. »Laß ihn nur in Ruhe – er wird nachher schon von selbst wieder hier auftauchen und sich nach etwas Trinkbarem erkundigen!« Der arme Père Dominique! Ich habe schon während des Essens beobachtet, wie sich sein Gesicht immer mehr zu röten 252
begann, wie seine kleinen Äuglein förmlich aus dem Kopf zu quellen schienen und er schließlich in tiefe Schwermut versank, nachdem er zuvor höchst aufgeräumter Stimmung gewesen war. Mit Entsetzen und Besorgnis sah ich ihn die schweren Weine nur so in sich hineingießen, und gar den Pommard (Jahrgang 1903), den es zum Braten gab – den erklärte er begeistert als das größte Himmelswunder Burgunds, und er sprach diesem kostbaren Getränk denn auch mit einer Inbrunst zu, die seine Umgebung förmlich erbleichen ließ. Wie viele Flaschen er allein von dem Stolz des St-Clémentschen Kellers geleert hat, wage ich gar nicht auszurechnen. Jeden anderen Menschen würde nach dieser Leistung zweifellos der Schlag gerührt haben. Nicht so Père Dominique, der nach der Mahlzeit nur erklärte, etwas müde zu sein und eines kleinen Schlummers zu bedürfen. Dann war er plötzlich verschwunden, nachdem er noch mehrere Schnäpse »zur Magenstärkung« genossen hatte. Etwas später machen wir einen Rundgang durch den Park und hören, als wir an den Küchenfenstern im Seitenflügel vorüberkommen, erregtes Gekicher und kreischende Stimmen aus dem Hause dringen. Die kleine Elise taucht an einem der Fenster auf, und hinter ihr die massive Gestalt Pater Dominiques. Er versucht, das Mädchen an sich zu ziehen. Aber sie scheint durch unseren Anblick ermutigt und stößt ihn mit kraftvollem Schwung von sich. Er taumelt, und dann erblickt auch er uns draußen vor dem Fenster. »Ah, meine lieben Kinder!« schreit er und fuchtelt mit beiden Armen. »Da seid ihr ja! Wartet, ich komme zu euch hinaus!«
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Es ergibt sich, daß Jeanne und ich etwas hinter den anderen zurückbleiben, als wir dem Hause zugeben. Sie hat sich soeben lobend über meinen Gesang heute morgen ausgesprochen und erzählt mir, daß sie nun auch deutschen Sprachunterricht nähme und überhaupt »wahnsinnig talentiert sei«, wie ihre Lehrerin sich ausgedrückt habe. »Fräulein Paulin meint, ich könne später einen Posten als Fremdsprachenkorrespondentin übernehmen«, berichtet sie stolz. »Sie bleiben also bei Ihrem Vorsatz, von hier fortzugehen?« frage ich. »Ja, natürlich, je eher desto besser! Oder glauben Sie, daß ich mein ganzes Leben lang Instrumente auskochen und Sprechzimmer in Ordnung halten will?« Das ist schon wieder der alte hochmütige Ton. »Würden Sie sich vielleicht mit so einer Beschäftigung zufriedengeben?« Jetzt wird sie aggressiv. »Warum nicht?« gebe ich ruhig zurück. »Wenn ich nicht zufällig einen anderen Beruf erwählt hätte – ich finde, daß jede Art von Arbeit den Menschen befriedigen kann, wenn er sie nur mit Freude verrichtet.« »Sie reden wie der Pfarrer«, höhnt sie. »Oh, diese Schlagworte kenne ich! ›Arbeit adelt‹ und wie sie alle heißen mögen. Dabei werden sie meist von Leuten erdacht, die sich in einer höchst angenehmen Lebensstellung befinden und wahrscheinlich nie den Segen der Arbeit an sich selbst erfahren haben! – Ich meine den Segen der schmutzigen, gewöhnlichen Arbeit, der untergeordneten Tätigkeit! Die müßten einmal Spucknäpfe ausleeren, die Herrschaften!« Sie hat sich in Wut geredet. Und ich war so froh, ihr zum erstenmal menschlich etwas näherkommen zu können! »Natürlich haben Sie recht, Fräulein Boulier«, sage ich, um sie zu besänftigen. »Wenn Sie sich in Ihrem jetzigen Beruf unglücklich fühlen und sich für eine andere Tätigkeit besser zu eignen glauben – da würde auch ich an Ihrer Stelle alles 254
daransetzen, mich möglichst bald nach einem Posten umzusehen, der meinen Fähigkeiten mehr entspräche! Nur so im allgemeinen dürften Sie die Arbeit, die Sie bisher verrichtet haben, nicht als verächtlich hinstellen, meine ich. – Mein Vater war selbst Arzt, und er erzählte mir oft, daß meine Mutter ihre größte Freude darin fand, in seiner Praxis alle diese Dienste zu übernehmen, die Sie als schmutzig und gewöhnlich bezeichnen, Jeanne. – Mir würde es, glaube ich, sogar Spaß machen …« »Dann heiraten Sie doch einen Mediziner!« wirft sie mir an den Kopf. »Sie würden sich sicher vorzüglich zu einer Frau Doktor eignen«, setzt sie so boshaft hinzu, daß mir das Blut heiß in den Kopf steigt. Und das kleine spöttische Lachen, in das sie jetzt ausbricht, raubt mir vollends den Rest meiner Überlegenheit. »Was haben Sie eigentlich gegen mich, Fräulein Boulier?« frage ich und bereue die Frage schon, während Ich sie ausspreche. Oh, das hätte ich nicht sagen dürfen! »Ich – ich sollte etwas gegen Sie haben?« So kühl, so verletzend klingt das. Dabei wirft sie den Kopf etwas zurück, und diese Geste erweckt Wut in mir. »Nun, Ihr Benehmen war schon vom ersten Tage an sehr merkwürdig, um es milde auszudrücken«, bricht es aus mir heraus. »Glauben Sie, es wäre mir und auch den anderen nicht aufgefallen, wie verletzend und beleidigend Sie mich behandeln! Was habe ich Ihnen denn nur zuleid getan, daß Sie mich hassen?« »Hassen!« höhnt sie. »Hassen! Warum in aller Welt sollte ich Sie hassen, Mademoiselle! Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich so etwas einbilden!« So viel bist du mir gar nicht wert, du existierst einfach nicht für mich, scheint ihr Blick hinzuzusetzen. »Dann mangelt es Ihnen eben an guter Erziehung, Fräulein Boulier! Mich hat man jedenfalls gelehrt, daß man gerade 255
Fremden – und auch den gleichgültigsten Fremden – anständig und höflich zu begegnen hat! Sie aber lassen manchmal die einfachsten Regeln des Anstandes in Ihrem Benehmen vermissen; die Art, wie Sie mich grüßen, stellt allein schon eine Beleidigung dar!« Sie ist stehengeblieben, geradezu erstarrt. Sie vertritt mir den Weg, und auch ich muß einen Augenblick verharren. So stehen wir uns gegenüber, und sie scheint nach Luft zu ringen, ehe sie wieder den Mund öffnet. »Ich will Ihnen etwas sagen, Mademoiselle, auf die Gefahr hin, abermals von Ihnen als schlecht erzogen bezeichnet zu werden: Sie sind mir so gleichgültig, so restlos uninteressant, wie nur irgendein Landfremder mir sein kann! Wenn ich überhaupt irgendeine Regung der Abneigung, rein gefühlsmäßig, gegen Sie empfinde, so mag das daran liegen, daß Sie Deutsche sind. Mir ist Ihr Volk nicht übermäßig sympathisch, als Ganzes genommen. Ich gehöre nun einmal nicht zu den Leuten, die vergessen können – und ich werde es nie vergessen, daß Ihre Landsleute es waren, die meinen einzigen Bruder getötet haben! Das war im Krieg – alles schön und gut! Aber für mich bleibt Mord eben Mord. Alles andere ist mir gleichgültig, verstehen Sie! Jedenfalls habe ich jetzt kein weiteres Interesse daran, mich von Ihnen in meinem eigenen Land beschimpfen zu lassen! Sie sind mir gleichgültig, Mademoiselle – das ist alles!« Damit läßt sie mich stehen. Im großen Saal herrscht lärmende Fröhlichkeit. Le Bijou trägt den Schlager »Tout va très bien« vor und verkörpert »Madame la Marquise« am Telephon denn auch in einer so überwältigend komischen Art, daß bei seinen Zuhörern wahrhaft kein Auge trocken blieb.
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Seine äußere Aufmachung besteht aus einem Kapotthütchen, einer Spitzenmantille und einem Kochlöffel, der das Telephongerät darstellen soll. Sich kokett in den Hüften wiegend, mit sanft-säuselnder Stimme, richtet er seine Fragen an das unsichtbare Personal; und siehe, am anderen Ende der Leitung gibt eine dröhnende Baßstimme Antwort! Père Dominique, der sich die weiße Mütze des Kochs auf die Tonsur gestülpt hat, hält einen Schaumlöffel an den Mund und erteilt Madame la Marquise die bekannten Auskünfte! Das Gelächter im Saal steigert sich zum Gebrüll, als der Pater nacheinander den Kutscher, den Majordomus, den Gärtner und den Diener mimt. Und der Kehrreim: »Mais à part ça, Madame la Marquise – tout va très bien!« wird allgemein begeistert mitgesungen. Da sitzen und stehen sie im Umkreis, die Honoratioren von Longville mit ihren Damen, die jungen Leute, die männlichen und weiblichen Mitglieder des Kirchenchors Sankt Caecilia, der dicke Wirt Pincemaille und die Bouliers von der Ferme und die Bewohner des »Château« mit Tante Angèle und dem Brautpaar im Mittelpunkt – und sie alle klatschen fröhlich wie Kinder in die Hände, schlagen mit den Füßen den Takt, singen mit hellen Stimmen: »Tout va très bien! Tout va très bien!« Alles ist in Ordnung, alles geht gut, Madame la Marquise! – Ein Glück, daß Monsieur le Curé nach dem Essen aufgebrochen ist! Er würde doch wohl ein wenig den Kopf schütteln, der gute alte Dorfpfarrer, wenn er seinen geistlichen Bruder da sähe, mit der weißen Mütze auf dem Ohr, wie er mit piepsender Stimme soeben das Stubenmädchen der Marquise seine Antworten in den Schaumlöffel flöten läßt. Zum Schluß sinkt Madame la Marquise zu Boden und haucht, ehe sie ihren Geist aufgibt: »Tout va très bien!«
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»Adieu, Ursula!« »Adieu, liebe Mimi! Alles, alles Gute noch einmal!« Wir umarmen uns, dann besteigt sie den Wagen. André bringt das Paar zum Bahnhof nach Longville, von wo sie in einer Stunde etwa nach Cannes weiterfahren werden. »Du hättest mit uns in die Stadt kommen können«, meint Mimi, als sie neben ihrem Manne auf dem Rücksitz Platz genommen hat. (Seit gestern duzen wir uns.) »Nein, es ist besser, Ursula bleibt hier«, entscheidet André. »Ich bin ja auch bald wieder zurück. Es würde auffallen, wenn wir uns zu zweien von hier entfernen.« Noch einmal verabschiede ich mich von den beiden, Mimi weint, Henri ruft mir noch im Abfahren zu, daß er bestimmt hoffe, mich nach der Hochzeitsreise noch hier vorzufinden! André hat mir nicht einmal die Hand gegeben. Nun ja, er hatte es eilig, von hier fortzukommen, tröste ich mich. Es ist uns vorhin nur mit vieler Mühe gelungen, uns unauffällig von den anderen zu entfernen. Ich habe Mimi beim Umkleiden geholfen, sie wünschte es so. »Du bist mir lieb wie eine Schwester«, sagte sie zu mir. »Du müßtest immer bei uns bleiben – wirklich, Ursula, in unserem Hause wird mir etwas fehlen, wenn du einmal nicht mehr hier sein wirst.« Nein, ich werde nicht mehr hier sein, wenn sie zurückkommt. Sie bleiben nahezu zwei volle Monate unterwegs, und bis dahin – das wäre also Mitte Oktober – bis dahin werde ich längst wieder drüben in Deutschland sein, von hier fort. Immer tut mir das Herz weh, wenn André sich nur auf kurze Zeit von mir entfernt. Immer möchte ich am liebsten bei ihm sein dürfen – und doch muß ich mich an den Gedanken gewöhnen, in wenigen Wochen sehr weit von ihm entfernt zu sein, und vielleicht sogar für immer. Wie ich das nur ertragen soll? 258
Aber dann reiße ich mich fast gewaltsam hoch. Von mir wird er nie erfahren, was er mir war. Ich muß stolz sein, ich kann doch nicht um Liebe betteln gehen – wenn sie mir nicht freiwillig entgegengebracht wird. Ich darf ihm doch keinen Vorwurf daraus machen, daß er in mir nur – eben den guten Kameraden aus dem Nachbarvolk sieht. Das geht nicht, Ursula, du mußt stark bleiben und frei und stolz, du mußt so heimkehren, wie du ausgezogen bist. Wenn du zurückkehrst im Herbst … Aber bis dahin ist es noch so lange, so lange! »Mais à part ça, tout va très bien!« Aber davon abgesehen – ist alles in Ordnung. Voilà. Und ich kehre singend ins Haus zurück. Für den Rest des Abends heftet sich der Offizier, der mich im Brautzug führte, wie ein Schatten an meine Fersen. Er ist sehr nett, der Leutnant Marchal, ganz jung noch, und seine Art, mich anzuhimmeln und fast knabenhaft scheu zu verehren, gefällt mir. – Den Auftritt mit Jeanne Boulier versuche ich einfach zu vergessen. Es ist mir ganz recht, daß sie mir so geflissentlich aus dem Wege geht. Sie steckt schon den ganzen Abend mit Gaston zusammen. Die beiden scheinen sich wirklich gut zu verstehen, und er benimmt sich in ihrer Nähe auch beinahe tadellos. Im übrigen ist hier jedermann lieb und freundlich zu mir, und ich werde gegen meinen Willen immer mehr zum Mittelpunkt der Gesellschaft. Tante Angèle nickt mir lächelnd zu, wenn ich an ihr vorübertanze. Zum Kummer Monsieur Marchals bin ich von Tänzern förmlich umringt, der Bürgermeister tanzt mit mir einen gefühlvollen Mondscheinwalzer bei abgedrehtem Licht, Papa Boulier eine Vorkriegs-Polka-Mazurka und der Apotheker einen feierlichen, würdevollen Tango mit kunstvollen Figuren. 259
André ist noch immer nicht zurückgekehrt. – Gegen elf Uhr brechen die Gäste auf, Tante Angèle fallen die Augen beinahe zu. André hat telephoniert, daß in Longville ein Radfahrer gestürzt sei, gerade vor dem Bahnhof. Er habe den Mann ins Krankenhaus gebracht. – In einer Stunde etwa komme er zurück. »Wo ist denn unser Père Dominique geblieben?« Diese Frage erhebt sich wieder einmal, als auch die letzten Gäste das Schloß verlassen haben und wir uns in unsere Zimmer zurückziehen wollen. Ja, wo ist Pater Dominique? Vorhin hat er doch mit dem Bijou um die Wette getrunken und diesmal den Champagner als eine Himmelsgabe bezeichnet! Nach langem Suchen finden wir den wackeren Jesuiten in der Halle, gerade vor dem Treppenabsatz. Sanft rasselnde Schnarchtöne wiesen uns seine Spur. – Da liegt er friedlich schlummernd vor uns auf den Steinfliesen, ein heiteres Lächeln umspielt seine Lippen, die halb offenstehen und im Schlafe noch nach dem Genuß der Himmelswunder Burgunds und der Champagne zu lechzen scheinen. Diese Nacht ist ein einziger toller Spuk. Im Nebenzimmer – Mimis verwaistem Jungmädchenzimmer – hat sich die schöne Irène einquartiert. Sie verbrachte als Mimis intimste Freundin schon die vergangene Nacht hier im Schloß, in einem der Fremdenzimmer am unteren Gangende. Aber sie erklärt, daß keine Macht der Welt sie mehr dazu bewegen könne, in diesem Raum zu schlafen. Ich billigte diesen ihren Vorsatz ohne weiteres; denn das arme Mädchen hat in der Vornacht Gespensterbesuch gehabt. Daß das Gespenst ziemlich handgreiflich mit ihr umgegangen sein muß, 260
beweisen ein paar blaue Flecke auf Irènes Oberarm und eine Bißwunde an der Schulter. – Seltsamerweise war Gastons rechtes Auge heute blutunterlaufen. »Ich werde ihm das Handwerk legen, diesem Satan!« Irène schwört es vor dem Zubettgehen, und ich helfe ihr bereitwillig, die Tür zu verriegeln und obendrein noch eine kunstgerechte Barrikade aufzubauen. »Der bringt es auch fertig, die Tür einzurennen«, versichert Irène, die mit dem Schloßgeist von StClément schon eine ganze Reihe trüber Erfahrungen gemacht zu haben scheint. So türmen wir mit vereinten Kräften Sessel, Stühle und einen kleinen Tisch aufeinander; ich kann das Mädchen nur mit Mühe von der Idee abbringen, auch noch das schwere Sofa hierherzuschieben. »Ich glaube, Sie würden am liebsten noch den Marmorkamin abreißen«, lache ich, »und die Bettmatratze obenauf legen, damit es ja eine stilgerechte Barrikade ergibt, was?« »Oh, Sie kennen ihn nicht, vor dem wäre die Tür eines Stahltresors nicht einmal sicher«, meint sie. Und dann lacht sie mit mir, wirbelt mich im Kreis herum und wirft sich schließlich in allen Kleidern aufs Bett. »Ach, die Mimi ist zu beneiden!« Das kam so recht aus vollem Herzen, und wiederum stimmen wir ein Lachduett an. Dann entdeckt sie eine Flasche Chartreuse auf dem Kamin. »Oh, Mimi hat sich noch Mut angetrunken«, meint sie. »Sehen Sie, die Flasche ist halb leer. Wie ist es, wollen wir auf das Wohl der Brautleute dem Rest zu Leibe gehen?« Es muß ein schönes und ergreifendes Bild abgeben, wie wir zwei Brautjungfern da einträchtig nebeneinander auf der Bettkante hocken und in Ermangelung eines Glases den Likör in großen Zügen aus der Flasche trinken. »So, den Rest für Sie – ich kann nicht mehr!« »Ich auch nicht – oh, mir ist so komisch im Kopf, Irène!« 261
Sie ist in die Kissen zurückgesunken und trällert vor sich hin. Eine Minute später schläft sie schon. Da breite ich ihr eine Decke über die Schultern und gehe hinaus. Ich bin eigentlich nicht betrunken. Aber den Versuch, mein Kleid aufzuknöpfen, gebe ich als allzu kompliziert auf. So, wie ich bin, krieche ich ins Bett. Ach – da liegt ja noch Mimis Brautstaat! Das Kleid mit der langen Schleppe lege ich auf einen Stuhl, die anderen Sachen schiebe ich einfach an das Fußende des Bettes. Dann schalte ich das Licht aus und versinke sofort in einen rosenroten Chartreuse-Champagner-Feuerwolken-Traum. Dann esse ich Rosen, einen ganzen Strauß Rosen. – Das Geräusch eines vorfahrenden Wagens unten vor dem Portal wird in den Traum mit einbezogen. André kommt zurück. Das ist gut. Er soll überhaupt nicht mehr fortgehen, immer läuft er unter den Pappeln an der Maas, und ich folge ihm und kann doch nie zu ihm gelangen. – Leise knisternd schmiegt sich etwas an mein Gesicht, ganz zart und kühl. Ich werde wach und entdecke, daß ich mich ganz und gar in Mimis Brautschleier gehüllt habe. – O du einfaches, arbeitsames, strenggeregeltes Leben in Frankfurt am Main! Ich bin plötzlich völlig nüchtern, nur mein Kopf schmerzt unerträglich. Diese schreckliche Zecherei heute! Und die verrückte Idee, noch den Rest aus dieser Likörflasche vorhin zu leeren! Ich raffe den Schleier zusammen, lege ihn beiseite und versuche, wieder einzuschläfern Aus dem Nebenzimmer kommen die leisen Atemzüge Irènes. Nun, sie kann beruhigt schlafen – habe ich eigentlich meine Tür verschlossen? Ich möchte noch einmal aufstehen und nachsehen, aber daran hindert mich der Blumenverkäufer. Er hat so viele Rosen in seinem Korb. Glücklicherweise brauche ich sie nicht zu essen, und der Chartreuse-Champagner-Feuerwolken-Rausch ist 262
verflogen. Alles ist jetzt nur noch schön und freundlich, ich darf die Rosen für mich behalten, fünfzig weiße Rosen. Nur pflücken darf man sie nicht im Traum, das bedeutet den Tod eines nahen Verwandten, sagt Bouliers Großmutter. »Ursula, oh ma belle Ursula!« Zwei Arme umschließen mich, reißen mich hoch, und ein Kopf legt sich schwer auf meine Brust. Aber was will er denn, der alte Mann mit den Blumen … ich ersticke ja … ich … Mit einem gellenden Schrei wache ich auf. Da sitzt jemand auf der Bettkante, halb über mich gebeugt; er hält mich in den Armen, und ich spüre einen heißen, weinduftenden Atem im Gesicht … »Loslassen!« schreie ich. »Loslassen, Gaston!« Und nun entspinnt sich ein wütender Kampf in dem Dunkel hier. Verzweifelt wehre ich mich gegen den Rasenden, der mir die Hand vor den Mund gepreßt hat. Ich beiße mich in der Händfläche fest, aber vergebens. Übermenschliche Kräfte scheint dieser Teufel zu besitzen – immer fester umschlingt er mich, und ich kann nicht einmal mehr schreien, ich ersticke noch unter dieser Hand! »Irène – Irène – so helft mir doch –« »Ursula, ich liebe Sie«, keucht es über mir. »Sie müssen – ich liebe Sie –« Da läßt die Hand einen Augenblick von mir ab, und gleichzeitig schreie ich wie besessen: »André! André!« Das scheint die Wut des anderen erst recht zu entfachen. Jetzt ist alles zu Ende – erwacht diese Irène denn nicht – Hilfe! Und dann vollzieht sich alles so blitzschnell, daß ich gar nicht mehr zur Besinnung komme. Eine Tür wird aufgerissen, blendend hell ist das Zimmer auf einmal, und André ist mit zwei Schritten bei uns. Noch im Mantel, er muß wohl gerade heimgekommen sein. Er packt Gaston am Kragen, stellt ihn vor sich hin, seine Rechte landet mit kräftigem Schwung zweimal hintereinander auf Gastons Wange. Und ehe der Junge sich 263
noch von seiner ersten Verblüffung erholt hat, wird er schon zur Tür hinausbefördert. Kein Wort ist bei dieser ganzen Szene gefallen, kein einziges. »Bravo!« ruft es vom Nebenzimmer her. Dort ist Irène bleich und verstört in der Tür aufgetaucht. »Mein Gott, Ursula, wie konnten Sie Ihr Zimmer auch unverschlossen lassen!« »Sie weiß eben noch nicht, daß es in unserem Hause gefährlich ist, hinter unverschlossenen Türen zu schlafen«, bringt André zwischen den Zähnen hervor. »Ein Glück, daß ich gerade nach Hause gekommen bin!« Er sieht noch einmal auf den Gang hinaus, um sich zu überzeugen, ob Gaston auch wirklich gegangen ist. »Und ich habe so fest geschlafen – erst jetzt bin ich erwacht, als Sie schon hier waren, André!« bringt Irène schuldbewußt hervor. Sie setzt sich zu mir und streichelt meine Hände. »Wie blaß das arme Ding ist – oh, Sie zittern ja am ganzen Körper, Ursula!« André steht in der Mitte des Zimmers, die Hände in den Manteltaschen. Er scheint auf etwas zu lauschen. Dann tritt er zum Fenster und beugt sich hinab. »Da läuft er in den Park«, sagt er, sich zu uns wendend. »Na, warte nur, mein Lieber, wenn ich dich nachher erwische!« »Fein haben Sie das gemacht, André! Ein paar ordentliche Ohrfeigen haben Sie ihm heruntergehauen, à la bonne heure!« begeistert sich Irène. »Da schauen Sie, das hat ebenfalls Ihr teurer Bruder vollbracht, als er mich in der vergangenen Nacht besuchte«, damit hält sie ihm ihren Arm hin. »Aber ich hatte mehr Glück als Ursula, ich habe geschrien wie am Spieß und ihm dann noch mit der Faust ins Gesicht geschlagen – da verzog er sich denn auch!«
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»Gehen Sie jetzt zu Bett, Irène«, meint er. »Und auch Sie, Ursula – legen Sie sich ruhig wieder hin. Ich garantiere Ihnen, daß sich derartiges niemals wiederholen wird!« Er geleitet Irène ins Nebenzimmer, schüttelt ein wenig den Kopf, als er unseren Barrikadenbau sieht, und kommt dann wieder zu mir zurück. »Ursula – es ist mir entsetzlich – ich könnte ihn erwürgen. Ursula – reden Sie doch, bitte!« Aber ich bringe kein Wort heraus. Ich sitze immer noch auf dem Stuhl, und meine Hände zittern so stark. Da nimmt er mich auf den Arm wie ein kleines Kind und legt mich auf das Bett zurück. Er lächelt ein wenig, als er den zerknüllten Brautschleier neben mir sieht. »Vielleicht legen Sie nachher doch Ihre Kleider ab«, meint er und läßt sich einen Augenblick auf der Bettkante nieder. »Es schläft sich bestimmt bequemer so, kleine Brautjungfer.« Er nimmt meine Hände und küßt sie. »Geht es nun ein wenig besser, Ursula?« »Ja, André.« »Dann gute Nacht«, sagt er und erhebt sich. »Haben Sie keine Angst mehr – ich verspreche Ihnen, daß Ihnen kein Mensch mehr etwas zuleide tun wird, keiner, Ursula!« Damit verläßt er mich. Die Schatten der Wolken wandern über das Tal. Groß entfaltet sich die Ebene dem Blick, hier auf der freien Höhe, nachdem man aus dem Dunkel des Waldes herausgetreten ist. Nur ein paar knorrige Kiefern heben sich windzerzaust und verkümmert gegen den Himmel ab. Über dem Tal kocht die Hitze, und auch hier oben regt sich heute kein Windhauch. Die Erde selbst scheint den Atem anzuhalten unter der unbarmherzig brennenden Sonnenglut.
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Im Walde ging es noch an. Wir stiegen über zwei Stunden bergauf, immer an dem schmalen Bach entlang, der hier auf der Höhe entspringt, in einer Quelle unter den letzten Bäumen. Ein wenig mühselig war der Aufstieg, trotz des schützenden Laubdaches, das der Sonne den Eingang verwehrte. Aber auch der Wald lag gleichsam wie ausgestorben; nur der leise murmelnde Bach neben uns kündete noch von Leben und hin und wieder eine entfernte Vogelstimme. Schon seit drei Tagen erwartet man im Dorf das Gewitter. Man ersehnt es förmlich – denn die Hitze und Trockenheit der letzten Wochen wachsen sich nachgerade zur ernstlichen Befürchtung für die Landleute aus. »Heute wird es wohl kaum noch dazu kommen«, meint André, als wir die Höhe erreicht haben und unter den Kiefern ziemlich ermüdet ins Gras sinken. »Frühestens in der Nacht, schätze ich.« Mir ist schon alles gleichgültig. Wohl haben wir uns kurz zuvor an der Quelle erfrischt, aber der heiße Atem der Sonne ist hier oben so beängstigend nahe, die Glut scheint gleichzeitig aus der Erde aufzusteigen und vom Himmel herabzukommen; fast sehnsüchtig sehe ich die Wolkenschatten über das Tal wandern. Unsere Bergkuppe lassen sie schnöde im Stich, gerade über uns blaut der Himmel in wolkenloser Klarheit, während die seltsam geformten, an ein schwebendes Gebirge erinnernden Wolkenmassen weiter westwärts segeln. Wie eine Fata Morgana, denke ich. »Sehen Sie, ganz dort drüben steht unsere Kastanie«, sagt André und deutet nach einem der entfernteren Höhenzüge hinüber. »Nun haben Sie den Blick über die Ebene von der anderen Seite. Hier ist es fast noch schöner, finden Sie nicht?« Ich liege im Gras, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Er sitzt halbaufgerichtet neben mir. »Legen Sie doch Ihre Jacke ab, André! Es ist ja so schrecklich heiß hier oben!« 266
»Darf ich?« »Aber natürlich – Sie müssen ja umkommen vor Hitze!« Nur zu gern kommt er meiner Aufforderung nach. Bisher hatte er sich stets geweigert, »in Gegenwart einer Dame« in Hemdsärmeln herumzulaufen, wie er sich ausdrückte. »Ich weiß, bei Ihnen in Deutschland denkt man sich nichts dabei«, meinte er. »Aber man ist es hier nun einmal nicht gewöhnt, wissen Sie!« Wie schön er ist in dem naturfarbenen Hemd aus ungebleichter Rohseide! Viel jünger sieht er so aus, und jetzt nimmt er auch noch die Krawatte ab und öffnet den Kragen ein wenig. Wie braun seine Haut ist, noch um einen Ton dunkler als das Haar. Und die Augen – die schienen mir noch nie so hell wie heute. Ich möchte sie küssen, diese sonnigen Augen. Ach, Ursula, wann wirst du dich endlich daran gewöhnen können, in ihm eben nur den Docteur Duval zu sehen, einen Mann, der dir Achtung und Sympathie abnötigt, der dir die lauterste Freundschaft entgegenbringt und dem auch du … »Ich mache mir Vorwürfe, Sie hier heraufgeschleppt zu haben«, sagt er in meine Gedanken hinein. »Wie müde das arme kleine Mädchen jetzt schon ist! Wollen Sie eine Zigarette haben – nur gegen die Mücken, meine ich?« »Nein, ich mag nicht.« Und auch er wirft seinen Glimmstengel schon nach den ersten Zügen weg. Statt dessen zieht er eine Tüte Bonbons aus der Tasche. Aber auch diese Erfrischung wird von mir abgelehnt. Ich kaue an einem Grashalm und träume von einem kühlen Bad im Fluß oder besser von der kleinen Eisdiele in Frankfurt mit den Marmortischen und den hohen Hockern an der Bar, von dem freundlichen Italiener in der blütenweißen Jacke, der mit einer Kelle in den Eiskübel fährt und eine ansehnliche Portion Vanille- oder Zitroneneis zutage fördert – ach, wie gut das doch schmeckt! Wie reiner Schnee schmilzt es auf der Zunge,
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und die kleine Diele ist kühl und fast dunkel durch die gestreiften Jalousien draußen. »Nun haben Sie den ganzen Grashalm aufgezehrt«, sagt André. »Das bedeutet Regen – Tante Angèle behauptet es wenigstens, wenn unser Fifi Gras frißt!« »Bin ich denn ein Hund?« »Ein kleines dummes Tierchen jedenfalls – wenn auch gerade kein Rehpinscher!« »Sie werden beleidigend, mein Herr!« »Oh, das tut mir schrecklich leid«, beteuert er. »Wie könnte man Sie nur wieder versöhnen, gnädige Frau?« Indem Sie mich in Ruhe lassen, hätte ich beinahe gesagt. Denn ich bin jetzt so schläfrig und faul, daß nicht einmal mehr Andrés Nähe mich munter macht. In seinen Arm möchte ich mich schmiegen und die Augen schließen und schlafen, bis in alle Ewigkeit. »Also doch ernstlich beleidigt«, stellt er fest. »Kann man denn gar nichts tun, um Ihre Verzeihung zu erlangen, Ursula?« Er stellt sich ganz zerknirscht. So gib mir doch einen Kuß – mein Gott, wie nahe mir sein Mund ist. Ich schließe die Augen. »Ich möchte schlafen, André«, sage ich leise. »Eine gute Idee«, stimmt er zu. »Wir können es mindestens eine Stunde hier aushalten – also schlafen Sie ruhig, ich wecke Sie schon zu rechter Zeit wieder auf!« Damit legt er sich selbst zurück und träumt mit offenen Augen in den Himmel. »Immer noch böse?« fragt er nach einer guten Weile, als ich schon halb hinüber bin. »Nein, André!« Dann lege ich mich ein wenig auf die Seite und segle schon nach einer Minute mit den Wolken, westwärts, immer westwärts. Halt – liegt es auf der Landkarte nicht östlich von Frankreich – das Heil’ge Rom’sche Reich? Nein, so etwas 268
Verrücktes! Die Lehrerin fährt mit ihrem großen Stock die rote Grenzlinie auf der Karte entlang und singt: »Zerging in Dunst das Heil’ge Röm’sche Reich, uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst!« – Herrgott, ich will doch nicht nach Rom, und es war überhaupt nur Pater Dominiques Idee, daß unsere deutschen Kaiser immer über die Alpen ziehen mußten. Wie die Wolken wanderten sie südwärts – westwärts, und sie liebten die Franzosen und mißverstanden sie – wie Mann und Weib, wie André und – – »Ursula! Ursula!« Ich öffne verwundert die Augen. Ritt eben nicht Kaiser Otto vorüber … in einer gelben Wolke …? »Ursula, kommen Sie schnell, schnell!« André reißt mich in die Höhe. »Mein Gott, daß ich auch eingeschlafen bin!« Man muß sich erst daran gewöhnen, an das so gänzlich neue Landschaftsbild. Die Sonne ist nicht mehr da – der Himmel flammt in Schwefelgelb, und die Erde strahlt dieses fahle Licht zurück, so schauerlich-schön wie eine Weltuntergangsvision, so unwirklich und großartig, daß es einem unwillkürlich den Atem benimmt. Und von drei Seiten zugleich schiebt es sich kulissenartig heran, gerade uns entgegen – nachtschwarze Wolkenwände. Noch immer ist die Luft gleichsam erstarrt, während im Westen schon die ersten Blitze kometenartig aus dem Dunkel züngeln. »Wir müssen hier fort – so schnell wie möglich!« »Wohin – in den Wald?« »Es bleibt nichts anderes übrig – vielleicht schaffen wir es noch!« Ich kann mich so schnell nicht losreißen. Aber er nimmt mich bei der Hand und zieht mich mit sich fort. Die Schwüle hat sich noch gesteigert. Man scheint Feuer zu atmen. Das Herz schlägt mir während des schnellen Laufs mit wilden Schlägen bis zum Halse herauf, und der Schweiß bricht 269
mir aus allen Poren. Aber André gibt nicht nach. Auf halber Höhe gäbe es eine Grotte, die müßten wir unter allen Umständen noch erreichen, meint er. Im nächsten Augenblick schon ist es Nacht geworden. Dann reißt ein fahler Blitz den Wald aus dem Dunkel, ein zweiter flattert ihm nach – und der erste hallende Donnerschlag scheint den ganzen Wald aufbrüllen zu lassen. Gleichzeitig beginnt ein wolkenbruchartiger Regen niederzugehen, und nun entlädt sich das Gewitter, gerade zu unseren Häuptern. – Wir laufen bergabwärts, und es ist ein förmlicher Wettlauf mit dem Tode. Denn in wenigen Minuten hat sich der Bergwald in ein Chaos verwandelt, und die Regenfluten, die vom Himmel stürzen, verwandeln sich hier zu reißenden Sturzbächen. Wahrhaft teuflisch aber ist der Regen von prasselndem Holz, von abgeschlagenen Baumästen, der sich um uns ergießt. Im Laufen sehe ich junge Baumstämme an meiner Seite fallen – und der wütende, orkanartige Wind, der uns bisher vorwärtstrieb, legt sich jetzt um und schlägt uns entgegen. Im Finstern stolpern wir über Wurzeln und Gestrüpp, unsere Füße sinken oft bis zu den Knöcheln im morastigen Waldboden ein. Unablässig strömt es vom Himmel herunter, immer neue Blitze zerreißen das Dunkel und lassen den verwüsteten Wald in schwefelgelben Flammen aufleuchten. Baumstämme, abgerissene Äste legen sich uns in den Weg, immer neue Sturzbäche rasen talwärts, das schmutzige, lehmgelbe Wasser führt Steine und zersplittertes Holz mit sich. Wir ducken uns jeden Augenblick vor fallenden Ästen, rein instinktiv wittern wir jedesmal den Moment der Gefahr. Eisiger Wind fegt von den Höhen herab, die hallenden Donnerschläge scheinen die Erde in ihren Grundfesten zu erschüttern. Ich fühle nur noch Andrés Hand, die mich vorwärtszerrt – ich höre ihn dann und wann schreien, mir etwas zurufen. Mein Körper ist fühllos erstarrt, das Wasser rinnt in Bächen an mir herunter. 270
Ich weiß nicht, wie meine Beine mich noch tragen können. An meinen Füßen hängen dicke Lehmklumpen, am rechten Knie spüre ich flüchtig einen brennenden Schmerz, dann verlassen mich die Kräfte … ich kann nicht mehr, bei jedem Schritt sinke ich in die Knie. Ich lasse mich fallen. Sofort reißen mich zwei Hände in die Höhe. Er nimmt mich wie ein Kind auf die Arme und rennt weiter, mir wird schwindlig, denn es ist ein Lauf ins Leere, Ungewisse, auf schlüpfrigem Boden, unter dem prasselnden Regen von fallendem Holz. Ich berge mein Gesicht an seiner Brust, mir ist längst alles gleichgültig geworden. Mag uns im nächsten Augenblick ein stürzender Baumstamm erschlagen oder der Blitz uns treffen … ich bin müde, müde, müde. Meine Hände krallen sich irgendwo fest, in nasses Tuch; das ist die letzte Bewegung, deren ich mich entsinne. Dann versinke ich in ein Dunkles, Weiches, Süßes, ein ganz heißes Glücksgefühl strömt mir zum Herzen … so schön ist das Ende, so schön? Warum ist es denn plötzlich so ruhig um mich geworden? Ich schlage die Augen auf und sehe im Halbdunkel sein Gesicht über mir. Sind wir denn nicht vorhin gestorben, er und ich? Mein Kopf liegt an seiner Brust, ich höre sein Herz schlagen, durch die nassen Kleider hindurch. Ich richte mich etwas auf, in seinem Arm. Wir befinden uns in einem dämmerigen Raum, der von ungewissem grünlichem Licht erfüllt ist. Das dringt wohl durch die schmale Öffnung da drüben zu uns herein, draußen strömt immer noch der Regen, aber ganz sanft und gleichmäßig. – Und durch das grüne Laubgewirr dringt ein feiner Goldschimmer – die Sonne!
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»Ursula!« Er hält mich im Arm, er kauert halbaufgerichtet neben mir auf der Erde. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben, liebe kleine Ursula!« Seine Hand legt sich unter mein Kinn und hebt mein Gesicht ein wenig empor. »War es so schlimm?« Jetzt lächelt er, und sein Mund ist dicht über mir. Da lege ich die Arme um seinen Hals und küsse ihn. Er hat du zu mir gesagt. Nur daran kann ich denken. Und unter seinem Kuß vergesse ich auch diesen Gedanken. Ein solches Übermaß der Seligkeit ist in mir, daß ich wieder ähnliches empfinde wie vorhin, als ich zu sterben glaubte. Nein, es ist noch süßer, noch köstlicher. Es muß auf der Welt noch ein Größeres geben als den Tod, dessen Süßigkeit ich auf einen Augenblick schon zu spüren meinte. Immer noch liege ich in seinen Armen, mit geschlossenen Augen. »Wir gehören doch zusammen, du und ich.« Vielleicht hat er es auch nicht einmal ausgesprochen. Ich weiß es nicht mehr. Wir gehören doch zusammen, er, André, und ich, Ursula. Von Anbeginn der Welt bis zum Jüngsten Tage. Ein Zwillingsgestirn. – André und Ursula. »Ich will Ihnen etwas sagen, liebes Kind«, Tante Angèle setzt eine gewichtige Miene auf und hält einen Augenblick in ihrer Tätigkeit inne, »Sie bleiben den Winter über bei uns. Was haben Sie denn schon drüben zu versäumen, wenn man es recht bedenkt? Ein Semester – das können Sie immer noch nachholen, so jung, wie Sie sind!« Wir sitzen uns am Küchentisch gegenüber und putzen Gemüse. Ich bin heute morgen freiwillig zur Hausarbeit
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angetreten, weil ich kein ganz reines Gewisse habe – wegen gestern. Eben haben wir von meiner Abreise gesprochen, ich weiß nicht, was den Anlaß dazu gab. »Aber, liebe Tante, das geht doch nicht«, gebe ich jetzt zu bedenken. »Nun bin ich schon den ganzen Sommer über bei Ihnen zu Gast, und einmal muß ich doch auch wieder an mein Studium denken, nicht wahr?« »Ach was! Seien Sie ehrlich, Ursula: gehen Sie etwa gern von hier fort?« Dabei wirft sie mir einen forschenden Blick zu, unter dem mir leicht unbehaglich wird. »Natürlich nicht«, antworte ich leise. »Es ist ja so wunderbar schön hier, und Sie alle haben mir soviel Güte entgegengebracht, daß ich förmlich beschämt bin, Tante Angèle! Wie soll ich Ihnen das jemals danken können?« »Sehr einfach: indem Sie hierbleiben«, sagt sie mit einem kleinen Lächeln: »Ursula, nehmen Sie doch Vernunft an, Kind! Was hindert Sie denn wirklich daran, meine Bitte zu erfüllen? Sie stehen doch ganz allein in der Welt, und hier – hier braucht man Sie eben! Wir werden uns ja ordentlich verlassen vorkommen, André und ich, wenn Sie nicht mehr bei uns sind. Der Gaston fährt nun doch auch bald ab, und Mimi gehört ja jetzt nur noch ihrem Manne, die wird sich nicht mehr allzuoft hier blicken lassen, glaube ich. – Sehen Sie, kleine Ursula, da würde es doch für uns alle die beste Lösung bedeuten, wenn Sie wenigstens bis zum Frühjahr noch hierblieben! Sie glauben ja nicht, wie behaglich und schön es sein wird bei uns dreien! Bis gegen Ende Oktober bleiben wir noch hier draußen, dann ziehen wir in die Stadtwohnung, und dort haben Sie wiederum alles, was Sie sich nur wünschen können! Nette Gesellschaft, vergnügte junge Leute. Dann können Sie mit Mimi einmal ein paar Tage nach Paris fahren, und dann – dann sind wir ja auch
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noch da, ich und André«, setzt sie hinzu, und das Lächeln auf ihrem Gesicht scheint sich noch zu vertiefen. Ahnt sie etwas? Gestern nahm sie uns händeringend in Empfang, ihn und mich, als wir in ziemlich aufgelöstem Zustand hier ankamen. Sie schloß uns nacheinander in die Arme und berichtete, daß sie um ein Haar die Polizei alarmiert hätte, um uns – oder genauer gesagt, unsere sterblichen Überreste – irgendwo in den Wäldern an der Maas aufstöbern zu lassen. »Statt dessen saßt ihr bis in die späte Nacht in irgendeiner Wirtschaft«, fuhr sie uns an. Aber ihr Zorn war nur geheuchelt, und er schwand völlig, als wir ihr unser Gewitterabenteuer im Walde erzählten – allerdings unter Umgehung des Erlebnisses in der Grotte. Aber ich kann mir nicht helfen! Schon seit heute morgen kommt mir Tante Angèle so sonderbar vor, ihr Lächeln bringt mich immer wieder zum Erröten, und ihre rätselhaften Anspielungen – sobald der Name André fällt – verwirren mich nur noch mehr. Ich habe ihn heute überhaupt noch nicht gesehen. Als ich gegen zehn Uhr endlich aufstand, war er natürlich schon längst in der Stadt. Denn vor drei Tagen ist Dr. Boisselet abgereist, und Andrés Ferien sind zu Ende. Ich gebe Tante Angèle das Versprechen, mir ihren Vorschlag jedenfalls einmal gründlich zu überlegen. Halb und halb habe ich mich ja schon entschieden. Es gäbe eigentlich überhaupt nichts zu entscheiden, wenn – ja, wenn man nicht schon während dieser ganzen letzten Tage mit schlechtem Gewissen umherliefe. Seit gestern finde ich mich vollends nicht mehr in mir zurecht. Der Brief an den Wespengreifer ist immer noch nicht geschrieben, und aus Deutschland kommen neuerdings zahlreiche empörte Kartengrüße: was denn nun eigentlich in diese Ursula gefahren sei! Ob sie denn ihre alten Freunde ganz
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und gar vergessen habe!! Ob man sie am Ende überhaupt nicht mehr zu sehen bekäme, diese Ursula!!! Ich frage mich manchmal, ob es anderen wohl auch so ergehen mag wie mir, wenn sie lieben. Ob dieses Gefühl wohl jeden, den es erfüllt, gleichzeitig mit seinem Gewissen in Widersprüche verwickeln muß? Ist meine Liebe zu André denn ein Unrecht, eine Sünde? Sagte Tante Angèle nicht die Wahrheit, als sie mir vorstellte, daß ich »drüben« doch ganz und ausschließlich allein stünde? Brauchen sie mich nicht wirklich hier, hier mehr als dort? »Der gute Sénard hat mich kinderlos zurückgelassen«, so beendet die alte Frau das Gespräch. »Ich bin den anderen Mutter gewesen, solange sie mich gebraucht haben. Nun sind sie erwachsen und gehen ihrer Wege, einer nach dem anderen. Nur André bleibt mir – aber wie lange wohl noch? Und ihn habe ich am meisten lieb, Ursula, wenn ich ehrlich sein soll. Ihn – und Sie. Euch beide möchte ich noch eine Weile bei mir behalten dürfen, und – Ursula, ich habe das Gefühl, als könnte auch Ihnen die mütterliche Zuneigung einer alten Frau nichts schaden, habe ich recht? Sind wir uns nicht schon ein wenig nähergekommen, wir zwei, während dieser ganzen Zeit?« Da beuge ich mich schnell herab und küsse ihre kleinen Hände. Mutter Angèle. Seine Mutter. Gaston, der seine Abreise nach Nancy immer wieder hinausschiebt, benimmt sich seit jener Nacht untadelig. Zu mir ist er liebenswürdig wie nie zuvor, ja es gelingt mir zuweilen sogar, eine leidlich ernsthafte Unterhaltung mit ihm zu führen. Natürlich hat er den Kopf immer noch voller Dummheiten. Aber mich läßt er jedenfalls damit unbehelligt. Die Abende verbringt er meist auf der Ferme, bei den Bouliers. Die alten Leute mögen ihn zwar nicht besonders gut 275
leiden, besonders Mama Boulier, die damals Augenzeugin seines Bades im Hofbrunnen war, kann ihm diese Beleidigung ihrer Frauenwürde nie vergessen. Dafür scheint Jeanne dem Bijou um so innigere Freundschaftsgefühle entgegenzubringen. Die beiden sind sehr oft beisammen. Mir hat er erzählt, daß er dem Mädchen durch seine Freunde in Paris eine Stelle vermitteln wolle. Denn es sei natürlich klar, daß die Jeanne nicht auf die Dauer bei André bleiben könne, der neuerdings bei jeder Gelegenheit den strengen Vorgesetzten herauskehre und sich überhaupt »ekelhaft« gegen das arme Ding benehme. Das Verhältnis zwischen den Brüdern ist seit Mimis Hochzeit mehr als eigenartig. André läßt den Jüngeren einfach links liegen. Er beachtet die Annäherungsversuche Gastons scheinbar nicht. Das tut mir leid, wenn mich auch die fast unterwürfig kriecherische Freundlichkeit des Jungen dem älteren Bruder gegenüber mehr befremdet als rührt. Keine Spur von Ehrgefühl scheint dieser Gaston zu besitzen. Hat er denn ganz und gar vergessen, daß André ihn in Gegenwart anderer geschlagen hat? »Er hat es nicht vergessen und vergißt es nie, verlassen Sie sich darauf«, sagte André zu mir, als wir vor Tagen einmal über die Angelegenheit sprachen. »Seine Liebenswürdigkeit, die mich geradezu abstoßend berührt, bedeutet im Grunde nur Hohn. Im stillen grübelt er wieder einen Racheplan gegen mich aus – ich kenne ihn zu genau, um das nicht zu wissen!« »Ich finde es aber trotzdem nicht richtig, daß Sie den armen Jungen so eisig behandeln«, meinte ich. »Vielleicht könnten Sie gerade jetzt mit Güte und Entgegenkommen mehr erreichen, André!« Und wieder wurde ich mit der Antwort abgefertigt, die mir hier schon zu ungezählten Malen von allen Mitgliedern der Familie erteilt worden ist: »Sie kennen ihn eben nicht, Ursula!« 276
Und ich hatte mir doch eingebildet, ihn einigermaßen kennengelernt zu haben, in jener Nacht! Trotzdem – er gibt einem immer neue Rätsel auf, dieser Gaston. Ich wundere mich über mich selbst, daß ich ihm den gemeinen Überfall so verhältnismäßig schnell verzeihen konnte. Aber er tat mir zu leid, als er wie ein Schuljunge vor meinen Augen abgestraft wurde, und er tut mir heute noch leid und alle Tage – merkwürdig. Nicht wegen jener demütigenden Szene, sondern weil ich ihn als einen kranken Menschen betrachte. Und ich komme nun einmal nicht darüber hinweg, daß André diesen Jungen nicht richtig anzupacken versteht. Er, der so gut und gerecht ist, er, der – wie er selbst sagt – nicht hassen kann: hier scheint er sich selbst nicht treuzubleiben, hierin kann ich ihm nicht folgen, hier trennen sich unsere Wege. Das tut weh. Aber ich tröste mich damit, daß er eben Mensch wie jeder andere ist und den gleichen Schwächen und Fehlern unterworfen. Wenn ich ihn doch nur etwas beeinflussen könnte – in dieser Richtung! Aber ich glaube nicht, daß es mir je gelingen wird. Selbst jetzt nicht, nachdem ich weiß, daß er mich liebt. Der Septembertag steht trotz der sich schon verfärbenden Wälder noch einmal ganz im Zeichen dieses glanzvollen Sommers. Herbstlich müde erscheint die Welt erst, als mit der sinkenden Sonne der Feuerzauber über den bewaldeten Hügeln erstirbt, als alle Farben sich in der Dämmerung zu lösen beginnen und in den Tälern die dunklen Schatten der Nacht sich breiten. Ein letzter goldener Dunst umgibt nur noch die Höhe, auf der wir stehen, André und ich. Zyklopenhaft ragt die schlanke Kuppel der Totengedenkhalle auf dem Douaumont, und die weißen Kreuzreihen, die sich den Hang hinunterziehen, leuchten noch einmal auf im zärtlichen Licht des untergehenden Gestirns. Dann versinken auch sie in der
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Dämmerung. Wie ein Garten, aus weißen Rosenstöcken gebildet, liegt der Soldatenfriedhof auf dem Douaumont. Tausende und aber Tausende dieser weißen Kreuzblumen stehen hier in langen Reihen, wachsen aus den dunklen Grabhügeln empor, leuchten fahl in das sich mehr und mehr vertiefende Dunkel der Nacht. Eine unter ihnen blüht auf dem Grabe Gilberts. Wir haben es als erstes aufgesucht, André und ich. Dann gingen wir noch zu Lucien. – Es hieße, siebenmal hunderttausend Gräber aufzusuchen, wollte man zu ihnen allen gehen, die um Verdun gefallen sind. Siebenmal hunderttausend Kreuze hat man ihnen nicht einmal errichten können. Am Jüngsten Tage erst wird man sie wieder auferstehen und sich zu einem großen Heer sammeln sehen – die aus den Massengräbern, die unter den weißen oder schwarzen Kreuzen, und die Unzähligen, deren Leib in Atome zerrissen sich damals selbst der Erde überantwortet hat. Einer unter den vielen wäre André gewesen, wenn die deutsche Kugel sein Herz getroffen hätte. Jetzt schlägt es neben mir, dieses Herz, so stark und so ruhig. Ich fühlte es an meiner Seite schlagen, als wir vor Stunden in jenem Wäldchen standen, in der Nähe von Fleury. Er hielt mich im Arm, unsere Hände fanden von selbst zueinander und wollten sich nicht mehr aus der fast schmerzhaften Umklammerung lösen. Dich hat der Krieg freigegeben, dich, André! Du durftest zurückkehren, du mußtest zurückkehren, du mußtest, André, für mich! Im Fort Douaumont, in den finsteren Kasematten und Gängen, auf den Schlachtfeldern, zwischen den Trichtern und Laufgräben, in der Heldengedenkhalle und zwischen den weißen Kreuzen: du mußtest zurückkehren, André, für mich! Und jetzt, hier auf der Höhe, angesichts des weiten Totenfeldes und der dunklen Hügel im Umkreis, der Hügel mit 278
den aus Blut und Erz geschriebenen Namen: Vaux, Souville, Kalte Erde, Pfefferrücken, Höhe 344, Thiaumont – hier, wo der Leuchtturm Heldenwache hält und seine breite Lichtbahn reihum über die Walstatt des Weltkrieges kreisen läßt –, hier wiederhole ich es noch einmal wie eine Beschwörung: Du mußtest zurückkehren, André Duval, für mich! Nun weiß ich, daß keine Macht der Welt ihn mir je wieder entreißen kann. Daß er für mich, nur für mich, weiterleben durfte, daß der Tod selbst ihn mir zum Geschenk gemacht hat. Ich werde bei ihm bleiben und er bei mir. So werden wir gemeinsam das Gelöbnis erfüllen können, das wir am Grabe Gilberts geleistet haben. André hat es ausgesprochen: »Was wir fortan schaffen und streben, gründet sich auf die Tat unserer Toten. Sie haben sich für uns zum Opfer gebracht, und sie haben gewonnen, was auch wir gewinnen müssen, um es dauernd zu besitzen: den Frieden.« Und in jenem Wäldchen bei Fleury nahm er meine Hand und bat mich, bei ihm zu bleiben. »Liebe Nora! Nun ist es vollends Herbst geworden. Die Tage sind noch schön – aber frühmorgens liegt die Maasebene in Nebelschleier gehüllt, und mit dem Anbruch der Nacht steigen sie wieder aus dem Wasser und der Erde auf. Manchmal ist es schon fast winterlich-kalt, und abends brennt ein Kaminfeuer hier in der Halle. Das liebe ich am meisten – am Kamin zu sitzen und zu träumen, im warmen Lichtschein der brennenden Buchenscheite. Wie dieses Holz duftet! ›Träumereien an französischen Kaminen‹ – Du kennst das alte Märchenbuch? Den ganzen Tag über freue ich mich auf die Stunde am Kaminfeuer. Und doch scheint die Sonne noch so warm und gut, und der Park mit seinem goldleuchtenden Blätterregen und den vielen bunten Herbstblumen wird immer schöner und 279
festlicher. Bis es eines Tages mit dieser ganzen Pracht zu Ende sein wird – aber daran mag ich jetzt noch nicht denken. Es sind ja eigentlich nur diese Lieder und Gedichte, die den Herbst mit einem wehmütigen und traurigen Schimmer umkleiden. Dabei bildet er doch – wenn man es recht betrachtet – die glanzvollste aller Jahreszeiten, vor allem die farbenprächtigste. Ein wenig nachdenklich stimmt er allenfalls, der Monat Oktober. Weil er eben den November, den Totenmonat, im Gefolge hat, nicht wahr? Jetzt denke ich schon wieder an das Lied: ›Braun ist die Heide, einst blühte sie rot …‹ – Aber ich singe es halt nur so, weil es nun einmal in die Jahreszeit paßt und weil es André gefällt. Nora, ich will es Dir und den anderen Freunden jetzt sagen, was doch einmal gesagt werden muß: Ich bleibe hier, bei ihm, für immer. Als seine Frau. Und erfülle damit nur das Schicksal, das mir von Gott selbst vorgezeichnet sein muß. Er und ich, Nora, wir fühlen es einfach, daß wir diesen Weg zu gehen haben. Es wäre nutzlos, sich dagegen auflehnen zu wollen. Heute weiß ich, daß ich ihn schon geliebt habe, als er – den ich für tot hielt – in mein Leben trat, durch sein Buch. Und er sagte mir, daß er von der ersten Stunde unseres Kennenlernens an klar erkannt habe, daß ihm in mir seine Lebenskameradin bestimmt sei. Lange hat er gezögert, mir das zu bekennen. Er habe es nicht gewagt, sagt er, weil er es für leichtfertig und verantwortungslos gehalten habe, mich, ein junges Mädchen, an ihn, den älteren Mann, zu ketten; und vor allem – und das war wohl das Schwerwiegendere – mich, die Deutsche, an ihn, den Franzosen, zu binden. So haben wir uns beide lange dagegen gesträubt und uns beide – jeder für sich – gequält. Aber das andere, das Unbegreifliche, war eben stärker als wir. Wir können nicht
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anders, und wir wollen auch nicht mehr anders können – wir lieben einander. Ich liebe ihn, Nora, mehr als alle Menschen auf der Welt, mehr als mich selbst, mehr als mein Leben. Und – jetzt komme ich zu dem Schwersten: ich werde um dieses Mannes willen mein Vaterland preisgeben müssen. Nach außen hin, Nora, nur nach außen hin! Daß ich im Herzen deutsch bleibe, erwartet er sogar von mir. Er liebt mein Volk, er sieht in uns Deutschen die glücklichste Ergänzung seines Volkes; und er liebt mich als den Inbegriff alles dessen, was er an uns Deutschen schätzt, sagt er. Während ich dies schreibe, kann ich den Tränen doch nicht mehr Einhalt gebieten. Ich weine, denn es ist ein Abschied, der schmerzlichste Abschied meines Lebens. André weiß, wie schwer es mir wird. Er ist so gut, er hat mir versprochen, mindestens einmal im Jahr auf längere Zeit mit mir hinüberzufahren, und er will Euch alle kennenlernen. Oh, ihr werdet ihn liebhaben müssen, Nora! – Daß Ihr alle während Eurer Ferien hierherkommen müßt und unsere lieben Gäste seid, brauche ich wohl gar nicht erst zu schreiben, nicht wahr? Seiner Tante Angèle haben wir es noch nicht gesagt. Sie wird es in einigen Tagen erfahren, wenn sein Bruder aus dem Hause ist. Der ist nämlich ein merkwürdiger Mensch, und André kommt überhaupt nicht mit ihm aus, aber das wird sich schon noch ändern, mit der Zeit. Dafür werde ich sorgen. – Wir wollen uns also innerhalb der nächsten Woche verloben und auch bald heiraten. Vorher komme ich noch einmal zu Euch, es gibt doch noch verschiedenes zu regeln drüben. Und so werde ich denn, noch ehe das neue Jahr antritt, Frau Duval sein. Das scheint mir so endlos lange bis dahin! Ich freue mich so sehr darauf, ihm das Leben schön machen zu dürfen, ihm, der bisher immer nur Liebe gespendet und so wenig Liebe zurückempfangen hat. – Seine Gehilfin wird ihn bald verlassen, gerade zur rechten Zeit. Ich will mit ihm 281
zusammenarbeiten, und es wird mir so sein, als wäre mein Vater wieder bei mir. Vater würde meinen Schritt billigen, das weiß ich. Jetzt wird er bald nach Hause kommen, mein André. Ich fühle es, daß er unterwegs ist, zu mir. Jeden Abend laufe ich ihm ein Stück auf der Landstraße entgegen; wenn ich nur den Motor seines Wagens höre, schlägt mir das Herz bis zum Halse herauf. An der Brücke unter den letzten Pappeln warte ich immer auf ihn, und dann steige ich zu ihm in den Wagen und … Daß man einen Menschen so lieben kann, Nora! Daß man sich so nach ihm sehnen kann und unruhig ist, wenn er sich nur auf ganz kurze Zeit von einem entfernt! Ich könnte ohne ihn einfach nicht mehr leben. Ich würde zugrunde gehen ohne ihn, so …« Hier halte ich im Schreiben inne. Dann zerreiße ich die Briefblätter und werfe sie ins Kaminfeuer. Unmöglich, diesen Brief in andere Hände zu geben. Und wenn er auch an die liebste Freundin gerichtet ist – so darf man sein Herz nicht einem Dritten öffnen. Nur ihm gegenüber … Da nehme ich schon meinen Mantel und laufe hinaus, ihm entgegen. »Wo steckt denn der Gaston heute abend?« »Er ist in die Stadt gefahren, zu Freunden«, gibt Tante Angèle Auskunft. Es scheint niemanden sonderlich zu bekümmern, mit Ausnahme Père Dominiques vielleicht, der sich auch als einziger nach dem Jungen erkundigt hat. Wir sitzen vor dem Kamin in der Halle. Draußen strömt der Regen, und der Wind heult um das Schloß, daß die 282
schlechtsitzenden Fensterläden im oberen Stockwerk unaufhörlich klappern. »Das richtige Wetter zu einem gemütlichen Plauderabend«, meint Papa Boulier, der mit seiner Frau herübergekommen ist und sogar die alte Grand’mère mitgebracht hat. Großmutter Boulier ist trotz ihrer 83 Jahre noch erstaunlich gut auf den Beinen, wenn sie nicht gerade einen ihrer Rheumatismusanfälle hat. Es ziehe und zerre zwar auch heute wieder so komisch in ihren Gelenken, erklärte sie dem Docteur. Aber sie habe nun einmal keine Lust, ewig hinter dem Ofen zu hocken. Und sie sei Madame Sénard schon lange einen Besuch schuldig, voilà! Wir haben der alten Frau einen bequemen Sessel nahe ans Feuer gerückt, und André hat ihr obendrein eine Decke über die Beine gebreitet. So hat sie es recht gemütlich und warm. Wie die Großmutter im Märchen thront sie da, und ihr gutes, runzeliges Gesicht mit der großen Brille ist vom Feuerschein rosig überhaucht. Sie spricht dem Rotwein wacker zu, Bouliers Großmama, und das kleine Altfrauengesicht unter der weißen Haube färbt sich immer rosiger, wie es scheint. – Nach dem dritten Glase wird sie gesprächig und würde wahrscheinlich sogleich mit ihrer Bismarck-Anekdote herausgerückt sein, wenn ihr Sohn sie nicht unterbrochen hätte. »Ja, die Jeanne, ich weiß nicht, was in das Mädchen gefahren ist«, sagt er auf die Frage Tante Angèles, warum denn seine Tochter sich so auffällig von uns zurückziehe und auch heute wieder einmal nicht erschienen sei. »Aus der werden wir alle nicht mehr klug, Madame. ›Ich bin müde – ich fühle mich elend – laßt mir meine Ruhe‹ – so geht es den ganzen Tag!« »Ich glaube auch, daß sie krank ist«, verteidigt Mutter Boulier ihre Tochter. »Wenn man nur wüßte, was ihr eigentlich fehlt?« »Ach, sie ist einfach hysterisch«, knurrt der Alte. »Jeden Tag eine neue Krankheit – das kennt man schon von euch Frauenzimmern!« 283
»Was meinen Sie, Docteur?« erkundigt sich Frau Boulier, nachdem sie die letzte Bemerkung ihres Mannes mit einem vernichtenden Blick quittiert hat. »Ja, mir gefällt Fräulein Jeanne auch nicht mehr in der letzten Zeit«, meint André nachdenklich. »Wie oft bin ich schon in sie gedrungen, mir doch wenigstens anzudeuten, welcher Art ihre Krankheit sein könnte! Ich möchte ihr doch so gern helfen. – Aber ich fürchte, daß da meine Kunst versagt. Denn ich glaube, daß sie körperlich ganz gesund ist, bis auf die hochgradige Nervosität vielleicht. Ihr Leiden muß seelischer Art sein, denke ich mir. Ich habe ihr geraten, einmal auszuspannen und auf einige Zeit zu verreisen, sich zu zerstreuen …« »Von wem redet ihr denn die ganze Zeit?« schreit die schwerhörige Großmutter dazwischen. »Von der Jeanne, Grand’mère!« Die Antwort wird ebenfalls schreiend erteilt. »Ach, die Jeanne! Die ist doch vorhin nach Longville gefahren, ins Kino«, berichtet die Alte treuherzig. »Davon hat sie uns aber nichts gesagt«, meint Frau Boulier verlegen. »Sie ging gleich nach dem Essen in ihr Zimmer, ich glaubte, sie würde sich hinlegen, weil sie so elend aussah. – Ins Kino ist sie also gegangen?« »›Der Kongreß tanzt‹«, trompetet die Großmama. Und ist beleidigt, als die ganze Gesellschaft in fröhliches Gelächter ausbricht. Wie stimmungsvoll sie sich ausnehmen vor dem Kaminfeuer, die dunklen Gestalten mit den rosig überhauchten Gesichtern! Wie warm und gemütlich und fröhlich es hier ist! André sitzt an meiner Seite, auf einem niedrigen Hocker, den er dicht an meinen Sessel gerückt hat. Manchmal streift mich seine Schulter, oder er greift verstohlen nach meiner Hand. Das ist mir nicht recht. Denn Père Dominique und Tante Angèle sitzen uns gerade gegenüber. Besonders den scharfen Blick der 284
letzteren fürchte ich. Obwohl es ja eigentlich nichts mehr zu fürchten gäbe. – Immerhin bin ich froh, daß nur das Kaminfeuer den Raum beleuchtet, und der Bereich der roten Glut erstreckt sich gerade bis zu meinem Platz. Mein Gesicht liegt schon im Dunkel, und das ist gut so. Dafür hat es André schwerer, sein Kopf ist vom warmen Schein der brennenden Holzscheite hell überflutet, und er sieht so schön aus, so schön – ich rücke ein wenig von ihm ab, und nun bin ich ganz und gar in Dunkelheit untergetaucht. Aber seine Hand findet immer wieder zu mir, und schließlich bleibt sie auf der Sessellehne liegen, auf meinem Arm. Zum Glück zieht Großmama Boulier jetzt die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Mit gebieterisch erhobener Stimme, die keinen Einspruch mehr duldet, gibt sie – der Abwechslung halber – die Geschichte des Leutnants Hans Schäfer, des Deutschen unter der Kathedrale, zum besten. »Also sie konnten ihn einfach nicht weitertransportieren, den armen Kleinen! Er hätte doch ins Gefangenenlager kommen sollen, wißt ihr! Penses-tu! Was sollen sie mit einem toten Preußen dort anfangen, sagte meine Mutter. Der Mann ist ja jetzt schon halbtot, sagte sie. – Und dann haben sie den armen Kleinen bei uns auf der Ferme gelassen. Oh, wie hat er geweint und nach seiner Mutter gerufen, in dieser Nacht! Er hatte Fieber, und da redete er alles mögliche durcheinander, in seiner Sprache. Wir haben es natürlich nicht verstanden. Aber daß er: ›Mama, Mama‹ geschrien hat, das genügte ja. – Am nächsten Morgen war er so schwach, daß er schon gar nicht mehr schreien konnte. Der Arzt war bei ihm und sagte uns, es könne nicht mehr lange dauern mit dem kleinen Preußen. Aber er war an diesem Tage noch einmal ganz klar im Kopf und sprach sehr vernünftig mit uns allen. Er konnte sogar ein paar Worte Französisch reden. Von seinem Bett aus – denn das stand dem Fenster gegenüber – sah er den Park und die Maas und die Berge. Wir richteten ihn etwas auf, denn er konnte sich 285
gar nicht sattsehen, und dann zeigte er auf die Kathedrale, auf die Eichen, und sagte zu uns: ›C’est beau, oh, c’est beau là-bas! A cette place je veux dormir, quand je serais mort! De là je pourrai rêver de ma patrie!‹ Dort werde ich von meinem Vaterland träumen können. Wir haben alle geweint, als er das sagte, der arme kleine Preuße. Und sein letzter Wunsch war, mit den Füßen nach Osten beerdigt zu werden, also in der Richtung nach dem Preußenland. – In der Nacht starb er. Und der alte Baron de St-Clément hat ihm denn auch seinen letzten Wunsch erfüllt. Meine Mutter meinte, er hätte auch gar nicht anders handeln dürfen, sonst hätte er im Leben keine Ruhe mehr gefunden. Denn die Toten stehen wieder auf, sage ich euch, und fordern ihr Recht von den Lebenden! Das hat meine Mutter immer gesagt, und der Preuße würde auch wieder aufgestanden und so lange hier unter uns umgegangen sein, bis man seinen Leib so gebettet hätte, wie er es gewünscht hat; daß er nach Preußen hinübersieht – aus dem Grabe.« Minutenlang verstummt jedes Gespräch nach dieser Erzählung. Nur das leise Knistern der verglimmenden Holzscheite im Kamin ist hörbar und der einförmige Monolog der alten Standuhr. Ich höre diese Geschichte heute nicht zum erstenmal, und doch scheint mir, als hätte sie mich nie so ergriffen wie jetzt. So kann also einer sein Vaterland lieben, so – »daß er nach Preußen hinübersieht – aus dem Grabe«. »Es war anständig gehandelt von dem alten Herrn«, unterbricht Pater Dominique als erster das nachdenkliche Schweigen. »Überhaupt sehr tolerante Leute, die Großeltern Ihrer Geschwister, Docteur! Wenn man bedenkt, wie entgegenkommend die Baronin damals den Gast aus Preußen, den Grafen Bismarck, behandelt hat! Dabei war er doch eigentlich ein ziemlich – nun, sagen wir – unerwarteter Besuch …«
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»Bismarck!« greift Großmama Boulier triumphierend das Stichwort auf, das überraschenderweise diesmal ihre tauben Ohren erreicht hat. »Also, ich sage Ihnen, Mademoiselle, der kam damals in einem Aufzug hier an! Wie ein Landsknecht sah er aus, in seiner weißen Mütze und den breiten Stiefeln, und von oben bis unten schmutzbedeckt und durchnäßt. – Er war nämlich ein großes Stück zu Fuß gegangen, neben dem Wagen her, und damals hatten wir gerade ein schreckliches Regenwetter. Er kam von Pont-à-Mousson, über die Hügel, die bei Gironville beginnen. Die Herren seiner Begleitung sahen übrigens auch nicht besser aus, ein Monsieur Abeken und einer namens Keudell waren bei ihm, und sie haben auch zu dritt hier im Schloß gewohnt. – Abends machten seine Soldaten Musik im Park, und natürlich war das ganze Dorf zusammengelaufen, um die Preußen zu sehen. Ihre Musik war sehr schneidig, aber man hat das natürlich nicht zugegeben, wie man überhaupt damals die Preußen nicht übermäßig geliebt hat hier im Lande. C’est la guerre, was wollen Sie, Mademoiselle! – Aber le Comte Bismarck war ein Kavalier, der wußte, was sich gehört! Beim Diner habe ich serviert, hier nebenan im Salon de marbre saßen die Herren, und le Comte Bismarck war so höflich zu mir, und er sagte, daß ihm noch nie im Leben eine Mahlzeit besser geschmeckt hat als hier. Er aß sehr viel, habe ich beobachtet. – Er hatte alle seine Herren zu sich geladen, und auch die Sekretäre nahmen an dem Essen teil, und er war zu jedem einzelnen freundlich und richtig familiär. Zu mir sagte er, ich sei ein nettes Mädchen, und so schöne blonde Zöpfe habe er noch selten gesehen! Schade, daß ich nicht Deutsch verstanden habe. Sie sprachen von der Jeanne d’Arc und natürlich vom Feldzug, denn die Worte ›Paris‹, ›Marne‹ und ›Bonaparte‹ fielen ein paarmal. – Am nächsten Morgen, vor der Abfahrt, sagte le Comte Bismarck zu mir, er werde unsere Gegend immer in gutem Andenken behalten, schon wegen der 287
vorzüglichen Madeleines (kleine Biskuits in Form von Melonen, d. V.), die man hier an der Maas fabriziert. Er habe ein ganzes Paket davon nach Hause geschickt, sagte er. Und mir schenkte er einen preußischen Taler, nur zur Erinnerung an ihn, weil ich doch kein Trinkgeld annehmen wollte. Ja, und dann sind sie weggefahren …« »Nach Paris«, ergänzt Père Dominique trocken. »Und drei Monate später unterzeichnete er in Versailles jene denkwürdigen Verträge, wurde der erste Kanzler des Deutschen Reiches, und wiederum ein halbes Jahr später schloß er in Frankfurt am Main den Friedensvertrag ab. – Dann rüstete er sich zu einem anderen Kampf, liebe Grand’mère: zum Kampf gegen den Jesuitenorden! – Heben Sie Ihren Silbertaler nur gut auf, er bedeutet immerhin ein Andenken an eine unstreitig interessante Persönlichkeit!« »Nein, er ist nicht mehr hierhergekommen«, schreit die alte Frau, die natürlich wieder kein Wort verstanden hat. »Da wir gerade beim Geschichtenerzählen sind«, meint der Jesuit, nachdem sich die Heiterkeit gelegt hat. »Da fällt mir auch etwas ein, eine kleine Anekdote, die ich Ihnen nicht vorenthalten will, Mademoiselle. Als Fürst Bismarck gestorben war, ergab es sich, daß er auf dem Weg zur Himmelspforte einem Mitglied der Gesellschaft Jesu, das am gleichen Tage seine Seele ausgehaucht hatte, begegnete. Dem Fürsten war dieser Begleiter nicht angenehm; aber er besann sich, daß in diesen Gefilden persönliche Abneigungen irgendwelcher Art nicht mehr am Platze sein mochten. So unterhielt er sich auf das höflichste mit dem Ordensbruder, während sie dem hohen Tore zustrebten. Sie sprachen darüber, ob man sich auf der Erde wohl noch eine Zeit ihrer erinnern werde, und der Jesuit, der ein höflicher Mann war, äußerte, daß das Wirken Bismarcks doch zweifellos noch nach Jahrhunderten auf der Erde fortlebe. ›Man wird »die Spur von Ihren Erdentagen« wohl nie ganz verwischen können dort unten‹, versicherte er. 288
›Dazu haben Sie zu aufrüttelnd gewirkt, mein Fürst!‹ – ›Nach Ihnen, Hochwürden‹, antwortete Bismarck, gleichfalls in dem Bestreben, höflich zu sein. – Eine Minute später hatten sie die große Pforte erreicht. Bismarck öffnete sie und wollte den Jesuiten als ersten eintreten lassen, mit dem Bemerken, daß er an diesem Ort unbedingt einen bevorzugten Rang einnehme. ›Nach Ihnen, Durchlaucht‹, sagte dieser, denn er war ein höflicher Mann. Und er ahnte natürlich nicht im entferntesten, daß sie im Gespräch den Weg verfehlt hatten und vor dem Eingang der Hölle standen.« »Er war wohl ein Franzose, Ihr höflicher Konfrater, mon Père?« erkundige ich mich freundlich. Da löst sich das etwas unbehagliche Schweigen der anderen in fröhliches Gelächter auf. Père Dominique lacht mit und nennt mich eine verblüffend schlagfertige junge Dame, als ich hinzugesetzt habe, daß die Art der uns eben geschilderten Höflichkeit ja unzweifelhaft das Privileg Frankreichs darstelle. »So, und nun melde ich mich in der Reihe«, sagt André. »Auch mir ist eben eine kleine, lustige Geschichte eingefallen, die ich gerade unserer lieben Ursula nicht vorenthalten will: sie spielt allerdings nicht im vorigen Jahrhundert, aber historisch kann man sie trotzdem nennen. Denn sie begab sich während des Weltkrieges, im Jahre 1915. – Mein Frontkamerad Paul Dujeanchet und ich hatten damals zwei deutsche Gefangene abzutransportieren, in das Sammellager, das etwa fünf Kilometer von unserer Stellung entfernt in einem Dorf lag. Es war ein glühendheißer Julitag, und der Weg zu dem Nest führte über eine staubige Landstraße, auf die die Sonne unbarmherzig niederbrannte. Weit im Umkreis gab es keinen Baum, der Schatten gespendet hätte. Wir trotteten vorwärts, unsere Gefangenen in der Mitte. Die Zunge klebte uns am Gaumen, und wir waren bald so schlapp, daß wir uns am liebsten lang auf die Erde geworfen und geschlafen hätten. – Dujeanchets ganzer Zorn entlud sich in kräftigen Schimpfworten auf die 289
beiden Deutschen, denen wir diese Schweinerei zu verdanken hätten, wie er sagte. Er ging nicht gerade sanft mit ihnen um, mit den armen Kerlen, die mindestens ebenso wie wir unter der Hitze litten und mit gesenkten Köpfen vorwärtsstolperten. ›Diese Esel, hätten sie sich doch rechtzeitig aus dem Staube gemacht oder wären sie meinethalben auch gefallen‹, schimpfte Dujeanchet. ›Jetzt haben wir sie auf dem Halse und können uns mit ihnen abplagen, statt im Quartier zu faulenzen wie die anderen!‹ – ›Allons, Fritz, ein bißchen dalli!‹ So feuerte er die beiden immer wieder an und puffte sie in den Rücken. Mir taten sie leid, und ich überlegte, ob man ihnen wohl eine Zigarette anbieten könnte. Aber das hätte Dujeanchets Wut wohl nur noch gesteigert. – In der Mitte des Weges ungefähr hielten wir eine kurze Rast. Wir konnten einfach nicht mehr. Dujeanchet bat mich um eine Zigarette, und ich entdeckte zu meinem Kummer, daß ich nur noch eine einzige in meiner Tasche hatte. Unsere Feldflaschen hatten wir längst geleert. Und so saßen wir am Straßengraben und mußten uns jeder mit der Hälfte eines Glimmstengels zufriedengeben. ›Ich wette, daß die Kerle da noch etwas in Reserve haben‹, brummte Dujeanchet. ›He da – habt ihr etwas Rauchbares oder einen Schluck Schnaps, ihr Fritze!‹ fuhr er die Deutschen an, die verschüchtert und schweigsam zwischen uns hockten. Mein Kamerad schien ihnen Angst einzujagen. Er war ja auch der richtige Kinderschreck, der brave Dujeanchet mit der Hünengestalt und dem feuerroten Wollbart. Seine Bärenstimme aber hätte auch den mutigsten Feind in die Flucht jagen können. ›Frag du sie doch, die Schweine verstehen mich natürlich nicht‹, wandte er sich an mich, als die beiden nur hilflos die Achseln zuckten. Aber mich amüsierten Dujeanchets Verständigungsversuche, und ich lehnte es ab, hier den Dolmetscher zu spielen. Was mir den flammenden Zorn meines Kameraden aufs Haupt lud. ›Aber ich werde auch ohne dich fertig, paß mal auf‹, verhieß er. Und ich folgte mit leiser 290
Unruhe dem Gespräch, das er jetzt anbahnte. ›Hört mal, ihr zwei Halunken! Habt ihr so etwas?‹ Er deutete auf seinen Zigarettenstummel. Achselzucken auf der anderen Seite. ›So etwas?‹ Er schlug gegen seine Feldflasche. In den Mienen der beiden schien so etwas wie Verständnis zu dämmern. Einer löste seine Feldflasche von der Seite und reichte sie Dujeanchet. Sie war leer. – ›Dreckbande, verfluchte! Ich kriege euch noch, wartet nur! Hört mal zu, ihr Fritze: wenn ihr jetzt nicht sofort eure Taschen umkehrt und vorzeigt, was darin ist, dann gibt es piff-paff!‹ Diese Rede begleitete er mit äußerst anschaulichen Gesten. Die beiden folgten ihnen mit sichtlicher Spannung. Aber ihre Gesichter blieben leer und ausdruckslos. Da gab Dujeanchet es auf. ›Die sind ja noch dümmer, als die Polizei erlaubt‹, wandte er sich an mich. ›Wollen wir sie regelrecht überfallen und einen Requirierungsversuch in ihren Taschen unternehmen?‹ schlug er vor. Ich lehnte das für meine Person ab. ›Ich werde das Gefühl nicht los, daß sie sich nur so dumm stellen‹, schimpfte er. ›Schau nur, wie scheinheilig sie uns ansehen! – Aber wartet nur, liebe Freunde, euch wird noch verschiedenes vergehen, wenn ihr erst in Afrika Zwangsarbeit verrichten müßt! – Vorausgesetzt, daß man sie nicht einfach an die Wand stellt heute abend, die Spitzbuben! Entsinnst du dich noch an die zweihundert deutschen Gefangenen, die wir vor einer Woche abgeknallt haben, Duval?‹ ›Das ist ausgeschlossen, das ginge gegen jedes Kriegsrecht!‹ Verblüfft fahren wir herum. Einer der beiden Deutschen hat es angstvoll ausgestoßen, und zwar in tadellosem Französisch. – ›Jetzt habe ich euch, ihr Schweine!‹ Dujeanchet brach in förmliches Freudengeheul aus. ›Siehst du, Duval? So muß man es machen, so kriegt man sie zu fassen, diese scheinheiligen Kerls!‹ Ich muß sagen, daß mich das diplomatische Genie meines Kameraden zu heller Bewunderung hinriß. Kurz zuvor hatte 291
ich nämlich für seinen Verstand gefürchtet, als er von den ›abgeknallten‹ Kriegsgefangenen phantasiert hatte! – Um es kurz zu machen: einer der beiden Deutschen war vor dem Kriege Dolmetscher in Paris gewesen. Er vertraute uns später selbst an, daß es ihm Spaß gemacht habe, sich ein wenig dummzustellen. Er wäre auch bestimmt nicht aus der Rolle gefallen, wenn ihm die im ernstesten Ton von Dujeanchet geäußerte Bedrohung nicht plötzlich jede Fassung geraubt hätte. Er war tatsächlich weiß wie ein Tuch geworden, der arme Dolmetscher. Sein Kamerad war übrigens unschuldig an dem kleinen Komödienspiel, ihm begannen erst dann die Glieder zu schlottern, als der Dolmetscher ihm Dujeanchets Verheißung verdeutschte. – ›Darum hast du also den Dummen gespielt, du Halunke‹, knurrte Dujeanchet, als der Deutsche nun freiwillig seine Taschen auszukramen begann und ein paar Zigaretten zum Vorschein brachte. Aber der Gefangene versicherte, daß er selbstverständlich alles gern mit ›Monsieur‹ teile und lediglich seinem alten Prinzip, sich im Krieg auf alle Fälle dummzustellen, treugeblieben sei. ›Aber manchmal ist das doch nicht ratsam, mein Lieber, wie du eben gesehen hast‹, meinte Dujeanchet, schon etwas besänftigt. Als der Dolmetscher ihm gar noch ein schönes Taschenmesser zum Geschenk machte, schmolz sein Zorn wie Butter in der Sonne. – Als wir die beiden im Lager einlieferten, hatte sich herausgestellt, daß der Deutsche sogar gemeinsame Bekannte mit Dujeanchet in Paris hatte. Daß sie eine Zeitlang in ein und demselben Gasthaus verkehrt hatten, daß die Preise in der ›Cigogne‹ unverschämt hoch waren, daß sie beiderseitig die Hoffnung aussprachen, nach dem Kriege vielleicht doch einmal wieder in der ›Cigogne‹ in Paris zusammenzutreffen, und daß sie beinahe als gute Freunde auseinandergingen, die beiden – das alles hatte sich im Laufe des Gesprächs unterwegs so ganz von selbst ergeben. Mit Bedauern ließen wir unsere Deutschen im Lager zurück, besonders Dujeanchet ging der Abschied von 292
dem ›verfluchten Kerl‹ nahe. Aber er konnte sich doch nicht verkneifen, seinen neuen Freund zum Abschied noch einmal liebenswürdig darauf aufmerksam zu machen, daß man ihn heute abend noch auf alle Fälle an die Wand stellen werde! – Ja, und dann zogen wir zwei wieder heimwärts, und ich glaube, daß Dujeanchet von der Geschichte mehr als ein tadelloses deutsches Taschenmesser profitiert hat. – Denn er meinte auf dem Rückweg, daß es doch eigentlich Unsinn sei, die ›Fritze‹ für eine ganz andere Art von Menschen zu halten; das hätte doch kein Franzose besser fertiggebracht, was sich der Mann da vorhin geleistet habe, dieser ganz verflixte Kerl von einem Dolmetscher! ›Und er ist verheiratet und hat vier Kinder, denk dir nur‹, sagte er zum Schluß. ›War doch eigentlich gemein von mir, so einen Witz zu machen! Das war nun der erste Preuße, mit dem ich im Leben gesprochen habe, weißt du! Und er hat mir gefallen – eben weil er so gar nicht anders ist als wir alle!‹ – Seht ihr, die Geschichte ist mir eben eingefallen, ich weiß nicht, in welchem Zusammenhang«, schließt André seine Erzählung. Sie wurde allgemein mit großer Heiterkeit und gegen Ende sogar mit Rührung aufgenommen. »Sie sind auch nicht anders als wir«, meint Papa Boulier nachdenklich. »Die gehören an die Wand gestellt, die uns immer wieder gegeneinander verhetzen! Mit denen müßte man so umgehen, wie Ihr Frontkamerad es den beiden Gefangenen angedroht hat, Docteur!« »Ich glaube, daß es auch ohne diese radikalen Maßnahmen abgehen wird«, lacht André. »Gegen den guten Willen beider Völker werden früher oder später doch auch die letzten Stimmen des Hasses nicht mehr aufkommen können – so hoffe ich wenigstens!« »Darin gebe ich dir recht, André«, mischt sich Tante Angèle ein. »Solange es noch – aber ich möchte nun eigentlich auch eine kleine Geschichte zum besten geben, nur eine ganz kleine Begebenheit, die in wenigen Worten erzählt ist – weil sie 293
gerade so schön hierher paßt: Mein Leben hat mir nie sonderlich große und romantische Ereignisse beschert. Es ist in einer geraden Linie verlaufen, von meiner Jugend an bis zum heutigen Tag. Mit achtzehn Jahren heiratete ich meinen guten Georges, mit vierzig verlor ich ihn. Ein paar stille Jahre in Boulogne, dann eine weniger geruhsame Zeit im Hause meines Bruders in Longville, und schließlich wurde ich Ersatzmutter seiner Kinder hier in St-Clément. Darüber bin ich alt geworden. Immer waren es nur die Schicksale anderer, mir nahestehender Menschen, die mich mehr oder weniger ausfüllten. Mein Bruder und seine Kinder – voilà. Und für die letzteren lebe ich ja auch heute noch – und ich wünsche es mir nicht anders. Ich wüßte ja sonst nicht, wozu ich überhaupt auf der Welt wäre. Ja, was wollte ich sagen? – Ach so, ich wollte zum Ausdruck bringen, daß Tante Angèle eigentlich immer nur zum Mitfreuen oder Mitleiden bestimmt gewesen ist. Daß sie immer ein wenig als Außenseiter in das Geschick anderer miteinbezogen wurde. – Nur einmal, an einem einzigen Tage, sah ich mich in den Mittelpunkt gestellt, fühlte ich mich – und ihr werdet vielleicht darüber lächeln – so gleichsam als Hauptperson in einer Begebenheit, die zwar wiederum andere Menschen anging, aber – und darauf bin ich stolz – ohne mich vielleicht nie zum guten und glücklichen Ende geführt hätte. – Es war unstreitig der seltsamste und größte Tag meines Lebens, als ich jenen Brief aus Deutschland erhielt, den Brief eines jungen Mädchens, das sich an mich, gerade an mich, wenden mußte, um den Weg zu meinem André zu finden; als ich ihm damals den Brief gab und als wir zusammen von diesem Mädchen Ursula sprachen, da wußte ich schon, daß wir sie eines Tages hier bei uns haben werden und daß sie … Seht ihr, das ist meine Geschichte: Eine Geschichte, in der ich selbst die wichtigste Rolle spielen durfte, die allerwichtigste! Und darüber bin ich glücklich!«
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Sie sieht sich gleichsam triumphierend im Kreis um, aber in ihren Augen schwimmen Tränen, und ihre Stimme klang während der letzten Worte sehr unsicher. Wieder ist es ganz still in der kleinen Runde, und ich glaube mein eigenes Herz laut und vernehmlich hier im Raum schlagen zu hören. Ich sitze mit gesenktem Kopf und wage den Blick nicht mehr zu heben. Sie müssen uns doch alle anstarren, ihn und mich … Père Dominique ist es wieder, der als erster zu reden beginnt, nachdem er sich ein paarmal diskret geräuspert hat: »Das war nun ein förmlicher Erzählerwettbewerb heute abend, nicht wahr? Wie wäre es, wenn unser verehrter Gast aus Deutschland nun auch einen kleinen Beitrag lieferte?« Ich sehe schnell zu ihm hin. Nein, er scheint ganz ahnungslos zu sein. Er lächelt mir freundlich und aufmunternd zu und faltet erwartungsvoll die Hände über dem Bauch. »Hat man Sie beleidigt, Madame Sénard?« schreit die Grand’mère, die plötzlich aus einem kleinen Schlummer auffährt. »Sie haben geweint, ich sehe es Ihnen an!« Damit ist die Situation fürs erste gerettet. Tante Angèle klärt die gute alte Frau darüber auf, daß sie wirklich nur aus Ergriffenheit über die schönen Geschichten, die man hier erzählte, geweint habe. Es ist der Großmama etwas peinlich, daß sie vorhin ein Nickerchen gemacht hat, »während der schönen Geschichten«. Und sie bittet mich, doch recht laut zu erzählen, damit auch sie etwas davon habe. »Mir geht es ähnlich wie Tante Angèle«, beginne ich, nachdem ich eine Weile überlegt habe, was ich denn nun eigentlich hier zum besten geben könnte. »Auch mein Leben ist bis vor ganz kurzer Zeit sehr einfach und sehr alltäglich verlaufen. Zudem bin ich noch jung – und ich weiß weder vom Kriege noch von persönlichen Erinnerungen an historische Persönlichkeiten zu berichten. So bleibt mir also nur die Gegenwart oder die allerjüngste Vergangenheit, nicht wahr? 295
Und da fällt mir eine kleine Geschichte ein, die ich im Frühling dieses Jahres erlebt habe, in Frankfurt am Main. Wie Sie alle wissen werden, steht dort das Geburtshaus Goethes, der größte Schatz, den die alte Kaiser- und Krönungsstadt Deutschlands beherbergt. Da kam eines Tages ein Student aus England zu uns, James B. Douglas hieß er; er kam nicht eigentlich aus England, sondern aus Paris, wo er einige Semester studiert hatte. Er war Neuphilologe, nie in Deutschland gewesen und wollte sich, wie er selbst sagte, zunächst einmal in dem fremden Lande ein wenig orientieren, ehe er – dem Wunsch seiner Eltern folgend – ›eventuell‹ ein oder zwei Semester an der Frankfurter Universität belegen würde. Im Rahmen des studentischen Austauschdienstes hatte ich manchmal die Aufgabe, ausländische Gäste zu betreuen. Besonders dann, wenn es sich um sogenannte ›schwierige Fälle‹ handelte, wo es außer der Beherrschung der fremden Sprache noch darum ging, Taktgefühl zu beweisen, dem ausländischen Studienkollegen die ersten Tage in Deutschland überbrücken zu helfen – kurz, alles Dinge, die eine Frau nun einmal besser zuwege bringt als ein Mann. Daß es sich bei Mister James B. Douglas aus Manchester um einen ganz besonders ›schwierigen Fall‹ handelte, hatte ich gleich bei der Begrüßung auf dem Bahnhof bemerkt. Der Junge, der mit dem Nachtschnellzug aus Paris gekommen war, machte einen netten, frischen und auch sehr intelligenten Eindruck; aber er schien mißtrauisch und voller Vorurteile zu uns gekommen zu sein, das bewies sein – gelinde gesagt – zugeknöpftes Wesen. Er sprach sehr gut Deutsch und bedeutete mir gleich bei der Begrüßung kurz, er ziehe es vor, die Unterhaltung in deutscher Sprache zu führen, denn schließlich wolle er ja, da er nun schon einmal hierhergekommen sei, germanistische Philologie betreiben, und da mache man am besten gleich jetzt den Anfang. ›Falls ich hierbleiben sollte‹, fügte er hinzu. 296
Ich wollte Mr. James B. Douglas ein Zimmer im Hotel Salzhaus besorgen, das in der Frankfurter Innenstadt liegt. Der junge Mann trottete an meiner Seite durch die Straßen, er sah nicht nach rechts noch nach links, und meine Versuche, ihn auf diese oder jene Sehenswürdigkeit, die am Wege lag, aufmerksam zu machen, gab ich bald auf. James B. Douglas war und blieb vollkommen desinteressiert. Er schien es sich zugeschworen zu haben, von ›Germany‹ und der Mainmetropole nichts zu sehen und nichts zu hören, sondern gleichsam wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird, einfach ›hindurchzufallen‹, um möglichst schnell wieder auf festem Grund zu landen. Das hübsche junge Gesicht blieb verschlossen, und aus den wenigen Worten, die auf dem Wege gewechselt wurden, entnahm ich immer wieder nur das eine: Nun ja, ich mußte halt hierherkommen. Der Daddy in Manchester wünschte es so. Ich habe ihm den Gefallen getan, und damit gut. Wie lange ich bleibe – meine Sache. Im Hotel hatte ich eine langwierige Auseinandersetzung mit dem Portier (James B. Douglas war draußen auf der Straße geblieben, er wollte in einem der nächstliegenden Geschäfte irgend etwas einkaufen). Alle Hotelzimmer waren besetzt oder vorbestellt, aber es sei damit zu rechnen, daß sich in etwa einer Stunde doch eine Möglichkeit ergebe, den valutastarken Fremden unterzubringen, deutete der Portier an. Er bat mich, noch einmal vorzusprechen. Ich ging hinaus und sah mich nach James B. Douglas um. Zunächst fand ich ihn nicht, dann entdeckte ich die schmale Gestalt im hellen Reisemantel weiter unten an der nächsten Straßenecke, dem Hotel Salzhaus etwa schräg gegenüber. Ich berichtete dem Jungen, machte ihm das Anerbieten, in einem anderen Hotel nachzufragen – aber Mr. Douglas winkte ab.
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›Warten wir eine Stunde‹, meinte er. ›Aber sagen Sie, Miß Hartmann, was ist das für ein wundervolles Haus? Hier rechts – mit den schönen Fenstergittern im Erdgeschoß?‹ Er deutete in die Straße zum Großen Hirschgraben, auf das Haus Nr. 23. ›Very nice indeed – wem gehört es eigentlich? Kennen Sie diese Leute?‹ ›Wollen wir ihnen einen Besuch machen, Mr. Douglas?‹ gab ich vergnügt zurück. ›Wir haben eine Stunde Zeit …‹ ›Oh, meinen Sie, wir können das wirklich? Lust hätte ich schon, wenn das Innere dieses Hauses dem Äußeren entspricht, denn ich interessiere mich für Architektur‹, meinte der Engländer. ›Aber glauben Sie, daß man uns empfangen wird?‹ ›Bestimmt‹, versicherte ich. Und eine Minute später zogen wir die Klingel des Hauses Großer Hirschgraben 23. Während sich drinnen Schritte näherten, war Mr. Douglas etwas zurückgetreten, um die schöne Fassade des alten Hauses noch einmal zu bewundern. Da fiel sein Blick auf die Tafel über der Haustür. Es war ein anderer James B. Douglas, dem ich ins Auge sah, als man uns die Tür öffnete. In diesem jungen Menschenantlitz war nichts mehr von Verdrossenheit oder Indolenz; betroffen, nein, beinahe fassungslos blickten zwei helle Augen mich an. ›Kommen Sie, Mr. Douglas‹, sagte ich feierlich. ›Machen wir ihm einen Besuch. – Sie sehen, er wird uns empfangen!‹ Da nahm der junge Engländer die Reisemütze ab und betrat zögernden Fußes die Schwelle des Goethehauses in Franfurt am Main. – Ich führte meinen Gast durch alle Räume, von der Küche der Frau Rat angefangen bis zum schlichten Arbeitszimmer des jungen Dichters im dritten Stockwerk. Wir stiegen die prächtige Treppe empor, den Schauplatz des heftigen Streites zwischen dem alten Herrn Rat und dem französischen Königsleutnant, wir verweilten in den schönen Wohn- und Empfangsräumen der Familie im ersten Stock, 298
standen dann wieder in dem Zimmer, in dem Deutschlands größter Dichter Werthers Leiden, den Götz, Egmont und den Urfaust schrieb. Hier verweilten wir ziemlich lange, die Frühlingssonne brach farbig durch die Fenster und legte sich als breite Bahn gerade über den Schreibtisch und die Wand mit den Silhouetten und Zeichnungen aus Goethes Hand. Ich redete, ich erklärte, gab Erläuterungen, nannte Namen und Daten – mein Gast blieb still. Aber es war kein Schweigen des Gelangweiltseins oder gar der Verdrossenheit, das fühlte ich. James B. Douglas schwieg, wie ein Mensch in einer Kirche schweigen mag; sein Gesichtsausdruck war gesammelt und still, seit wir dieses Haus betreten hatten, ja ich hatte das Gefühl, als grüble er über irgend etwas nach, als sei er durchaus in eine eigene, mir nicht zugängliche Gedankenwelt versponnen. Als wir in die schmucklose Stube kamen, in der Goethe geboren wurde, verstummte auch ich nach den ersten erklärenden Worten. Wir standen vor der Büste, zu unseren Füßen breiteten sich Lorbeerkränze und welkende Blumensträuße. Es war so still, daß ich beinahe erschrak, als der Engländer plötzlich zu reden begann. Seine Stimme klang spröde, er sprach langsam und schien merklich bemüht, seinen Worten ein sachliches und nüchternes Gepräge zu verleihen, als er ungefähr so begann: ›Well! Sehen Sie, Miß Hartmann, nun muß ich Ihnen etwas sagen, und zwar gerade hier, an dieser Stätte. Ich will und kann keine großen Redensarten machen; daß wir uns in einem deutschen Nationalheiligtum befinden – gut. Jede Nation, auch die meine, hat ihre Heiligtümer. Das allein würde also nicht genügen, um … ich weiß nicht, ob Sie vorhin beobachtet hatten, wie – nun, wie ich wahrhaftig erschrocken bin, als mein Fuß die Schwelle dieses Hauses betrat, als Sie mir im Scherz vorschlugen, hier einen Besuch zu machen. – Sie konnten nicht ahnen, was vorausging. Sie 299
kennen die Vorgeschichte dieses Besuches nicht. Ganz kurz: ich kam mit Vorurteilen beladen zu Ihnen, nach Deutschland. Ich bin Engländer und Demokrat, und mir mißfällt nun einmal der Kurs, den Ihre Nation in den letzten Jahren eingeschlagen hat. Gestern noch, bei meinen Freunden in Paris, habe ich kein Hehl daraus gemacht, wie gründlich mir der Plan meines Vaters zuwider war, ausgerechnet im heutigen Deutschland vorübergehend meine Zelte aufzuschlagen. Die Freunde trösteten mich damit, daß ich ja immer noch umkehren könne, wenn es mir ganz unmöglich sei, mich einzugewöhnen. Da sagte ich, daß es mit dem ›Eingewöhnen‹ bei mir so eine besondere Sache sei. Denn ich habe es noch immer im Leben so gehalten, mit Menschen wie mit Orten und im großen auch mit Nationen: der erste Eindruck entscheidet, er gibt den Ausschlag. – Sie dürfen mich ruhig auslachen, Miß Hartmann, aber ich bin ein wenig abergläubisch, meine verstorbene Mutter war Irin, sie hatte den sechsten Sinn, wie es wohl heißt. Ich gebe viel auf sogenannte Vorzeichen. – Aber um auf das Gespräch mit meinen französischen Freunden zurückzukommen: ich war zum Schluß der Debatte ziemlich erregt und verabschiedete mich ungefähr so: »Well. Ich fahre nach Germany. Aber ich habe das Gefühl, daß ich keine Nacht dort bleiben werde, denn ich bin überzeugt, daß mir bereits das erste Haus, das ich dort betrete, gründlich mißfallen wird und ich schon an seiner Schwelle wieder kehrtmache. Darauf möchte ich jede Wette mit euch eingehen. Aber es gilt: Ich mache es von dem Eindruck des ersten deutschen Hauses abhängig, ob ich zurückkomme oder bleibe.« – Ja, das war gestern, in Paris, am Nachmittag. Und heute …‹ Die Hände des jungen Menschen umkrampften die Reisemütze, sie zitterten wirklich ein wenig. ›Sie, Miß Hartmann, haben mich vorhin an der Bahn abgeholt‹, fuhr der Engländer fort. ›Sie allein gingen in dieses 300
Hotel, ich habe auch keine Einkäufe gemacht inzwischen, sondern mich ein wenig umgesehen. Und so kam ich in dieses Haus – es war das erste, das allererste – in Deutschland.‹ Etwas später, als wir wieder auf der Straße standen und noch einmal die Inschrift über der Haustür lasen, sagte der junge Engländer: ›Ihr zitiert ihn viel zuviel, den, der in diesem Hause geboren wurde. Ich könnte auch sagen: »wir«, denn in der ganzen gebildeten Welt hat es sich eingebürgert, euren Olympier zu zitieren. Ich für meine Person lehne das ab, aber jetzt, in dieser Stunde, möchte ich doch einmal meinem Prinzip untreu werden, denn mir liegt einer seiner Aussprüche auf den Lippen, seit ich sein Haus betrat: »Der Mensch, der einer guten Sache dient, wohnt in einer festen Burg!« – Ganz einfach, nicht sehr abgegriffen, aber sehr schön, nicht wahr? Der, der da oben geboren wurde, hat in einer festen Burg gewohnt. Nehmen Sie das als kleine Huldigung eines Briten, Miß Hartmann.‹ ›Huldigung – für wen?‹ fragte ich. ›Für euren Goethe selbstverständlich.‹ ›Und die Nation, die ihn geboren hat, deren Sohn er doch ist?‹ ›Dieser Nation möchte ich einmal die feste Burg wünschen, von der hier die Rede ist‹, sagte James B. Douglas gelassen. ›Erobert oder besser: errichtet sie euch doch, diese Burg, indem ihr einer wirklich guten Sache dient. Einstweilen …‹ ›Bitte, was ist einstweilen, Mr. Douglas?‹ fragte ich in atemloser Spannung. ›Ich bleibe – in Deutschland‹, lautete die schlichte Antwort. ›Denn das erste Haus, in das ich hier kam oder besser: geführt wurde – nicht durch Sie, Miß Hartmann, davon bin ich überzeugt – war das Haus Goethes.‹ – Das war meine Geschichte«, schließe ich. »Und die verdient den ersten Preis«, sagt Père Dominique. Erst unter diesen Worten kehre ich hierher zurück, ich muß 301
sehr weit, viele, viele Kilometer weit von hier entfernt gewesen sein – denn es erscheint mir sonderbar und befremdlich, plötzlich vor diesem französischen Kamin zu sitzen, in dem jetzt das Feuer langsam verglimmt. »Ein sehr interessanter, sehr stimmungsvoller Abend«, meint Père Dominique beim Abschied. »Wenn man bedenkt, welche verschiedenartigen Themen hier angesponnen worden sind!« »So verschiedenartig fand ich sie gar nicht einmal«, gibt André zurück. Der Jesuit sieht nachdenklich aus. Plötzlich reicht er mir die Hand und umschließt sie mit festem Druck. »Aber Ihre kleine Geschichte gefiel mir, Mademoiselle«, sagt er, und in seinem grobzügigen Gesicht ist nichts mehr von Verschlagenheit oder Ironie. Ja der Blick seiner funkelnden kleinen Augen ist zum erstenmal voll und ruhig auf mich gerichtet, die Gestalt in der schwarzen Kutte scheint sich zu straffen, zu wachsen, es ist ein anderer, ein neuer Père Dominique, der wie ein hoher, dunkler Schatten vor mir steht, als er fortfährt: »Ich halte es mit Ihrem britischen Freund Mademoiselle, auch ich bin der Meinung, daß man in Deutschland wie in der ganzen zivilisierten Welt viel zuviel Goethe zitiert! Aber das gefiel mir, das lasse ich gelten: ›Der Mensch, der einer guten Sache dient, wohnt in einer festen Burg!‹ – Als gläubiger Christ fühle ich mich versucht, dieses Zitat abzuwandeln: ›Der Mensch, der Gott dient, wohnt in einer festen Burg.‹ Und zu diesen scheinen auch Sie mir zu gehören, meine junge Freundin. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen – da Sie ja Katholikin sind – den priesterlichen Segen erteile. Er mag für Sie und das Werk, dem Sie leben, gelten! Beten Sie, meine Tochter, auch ich werde Sie in meine Gebete einschließen.«
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Er räuspert sich. Groß und schwarz wuchtet die dunkle Gestalt vor uns, denn André steht neben mir, er hat den Arm um meine Schulter gelegt. Und er bekreuzigt sich wie ich, als Père Dominique die Hand hebt, das Kreuzzeichen macht und murmelnd anhebt: »In nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti…« Tante Angèle ist längst zur Ruhe gegangen. Wir aber stehen noch lange am oberen Treppenabsatz, André und ich. »Das war ein anderer Père Dominique«, sagte ich und löste mich sanft aus Andrés Armen, denn er hielt mich umschlungen, seit wir allein waren. »Mir war wirklich feierlich zumute wie in einer Kirche, als er mich, als er uns segnete, André. – Wie kam er nur darauf?« »Ich weiß es nicht«, gab André zurück. Sein Gesicht war ernst und sehr still. »Im übrigen wirst du dich entsinnen, Ursula, daß ich dir schon einmal sagte: Père Dominique ist in tiefster Seele gut und fromm. Er war also durchaus kein anderer vorhin, es war nur sein besseres und edleres Ich, das manchmal – allerdings nur selten – an die Oberfläche tritt, denn im allgemeinen ruht es leider verborgen wie ein Schatz im Erdboden, den das Unkraut überwuchert. Das hast du bewirkt, kleine Ursula, der Zauber, der von dir ausgeht. Ich glaube, daß in deiner Gegenwart auch der finsterste Mensch gut werden muß. Du verstehst es, Schätze zu heben, den göttlichen Funken, den ja schließlich jeder Mensch in sich trägt, anzufachen und zum Aufglühen zu bringen. In mich, in mich aber hast du Flammenbündel geschleudert, Ursula!« Wieder nimmt er mich in seine Arme und zieht mich an sich, er hält mich so fest und so lange umschlossen, als müsse er befürchten, ich könne ihm davonlaufen. Ach, André.
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Mein Kopf liegt an seinem Herzen, so stehen wir noch lange, lange. Immer ist es so – keiner kann sich von dem anderen losreißen. Wir würden auch heute wohl noch eine Stunde so verweilt haben, wenn nicht unten in der Halle Gaston aufgetaucht wäre. In einem jammervollen Zustand. Er taumelte mit ausgestreckten Armen der Treppe zu, sein schwerer, dunkler Schatten geisterte im grellflammenden Licht des Kronleuchters über die Wand des Stiegenhauses und legte sich auch auf uns, André und mich. Im nächsten Augenblick wäre der Betrunkene unfehlbar zusammengebrochen, wenn André nicht in fliegender Hast zu ihm geeilt und ihm zu Hilfe gekommen wäre. Der arme Bijou! Grünlich-bleich im Gesicht, wankt er, von André gestützt, die Treppe hinauf. Er ist besinnungslos betrunken, seine Augen starren glasig, und sein Mund lallt zusammenhangloses Zeug. Auf der obersten Treppenstufe verfärbt er sich plötzlich, wird grau im Gesicht, und schon erbricht er. Da wende ich mich ab und gehe in mein Zimmer. Als letztes habe ich noch gesehen, wie André sich liebevoll um den anderen bemühte, ihm die Stirn hielt und auf ihn einsprach: »Allons, mon vieux! Allons – ça passera, mon vieux!« – Und dann führte er ihn behutsam, wie man einen Kranken oder ein Kind führt, in sein Zimmer. »Ah, Ursula, da stecken Sie! Ich suchte Sie schon im ganzen Hause!« Gaston kommt zu mir in den Salon. »Singen Sie ruhig weiter, lassen Sie sich nicht stören!« Er zieht sich einen Sessel heran und nimmt neben dem Klavier Platz. »Ein verdrießlicher Tag ist das heute, was?« »Ja, zum Spazierengehen verlockt er gerade nicht«, gebe ich zu und lasse die Hände in den Schoß sinken. Vor dem Fenster steht der graue Novembernachmittag, regenverhangen und 304
nebelschwer. Der Regen läuft in kleinen krausen Linien an den Scheiben herunter, ich habe vorhin ihre Form studiert, während ich sang. Hier im Salon ist es warm und schön, der ganze Raum liegt in unbestimmtes Halbdunkel getaucht, nur vor dem Kaminfeuer breitet sich ein rotes Viereck auf dem Fußboden. »Warum singen Sie nicht weiter, Ursula?« »Ach, ich habe keine Lust mehr. – Warum haben Sie mich übrigens im ganzen Hause gesucht, Gaston? Wollen Sie etwas von mir?« »Ja – nein, das heißt, eigentlich nichts Bestimmtes. Ich sehnte mich nur wieder einmal nach Ihrer Nähe, meine Schöne«, setzt er hinzu und verdreht die Augen. »Obwohl ich natürlich weiß, daß ich meine Liebe völlig nutzlos an Sie verschwende!« »Armer Gaston! Sie werden es hoffentlich überleben«, gehe ich auf den Scherz ein. »Ich? Oh, bestimmt.« Dann stützt er den Kopf in die Hand und scheint in Nachdenken zu versinken. Ich beobachte ihn. Irgendwie kommt er mir in den letzten Tagen verändert vor. Man fühlt sich manchmal sogar dazu versucht, ihn ernst zu nehmen. Wenn er natürlich auch völlig unvermittelt wieder in seine alten Dummheiten zurückfallen kann, so ist er doch größtenteils ruhig, ja fast ernst. »Woran haben Sie eben gedacht, Ursula?« will er jetzt wissen. »An nichts.« »Das ist nicht wahr«, beharrt er. »Ich kann Ihnen nicht helfen, Gaston, aber ich habe wirklich an nichts gedacht!« »Schade«, meint er. »Sie haben mich eben nämlich so lieb angesehen, daß ich beinahe hoffte …« Wieder wirft er mir einen schmachtenden Blick zu. Aber ich kann nicht einmal darüber lachen, merkwürdig. Er ist so schön, 305
dieser Gaston, trotz allem. Und seine tiefblauen Augen kommen mir heute so seltsam verschleiert und traurig vor, auch wenn sie lachen. Was ist nur mit ihm los? Er muß doch etwas auf dem Herzen haben. »Die Jeanne hat mir heute geschrieben«, sagt er unvermittelt. »So? Gefällt es ihr in Paris?« »Ja, anscheinend«, meint er gleichgültig. »Sie hat wenigstens nicht die Absicht, bald wieder hierherzukommen. – Was ich ihr übrigens nachfühlen kann!« »Sie fahren ja nun auch in der nächsten Woche fort«, sage ich, seine letzte Bemerkung einfach überhörend. »Ja, Sie können es wohl nicht abwarten, mich loszuwerden, Ursula?« Ehe ich etwas entgegnen kann, tritt er hinter meinen Stuhl und umfaßt meine Schultern. »Süße Ursula«, flüstert er und schmiegt seinen Kopf an meine Wange. »Oh, wenn Sie wüßten, wie schwer es mir wird …« »Gaston, lassen Sie doch den Unsinn!« »Lassen Sie doch den Unsinn!« äfft er mir nach. So, nun ist der Stimmungsumschwung da. Das ist wieder der rühmlich bekannte Bijou, der seine Hand meinem Kleidausschnitt nähert, mich zu küssen versucht und unter meiner wütenden Abwehr meckernd zu lachen beginnt. Schließlich kitzelt er mich, ich packe ihn an den Haaren, und so balgen wir uns eine ganze Weile herum. »Gaston, nun geben Sie aber Ruhe!« Ich bin ganz erschöpft in einen Sessel gesunken. »Sie sind ein schrecklicher Kindskopf, ich möchte nur wissen, wann Sie einmal Vernunft annehmen!« Er strahlt über das ganze runde Gesicht. »Nie!« versichert er treuherzig. »Passen Sie auf, Ursula!« Er setzt sich ans Klavier, markiert den genialen Virtuosen, indem er seine lange Mähne schüttelt, sich die Krawatte löst und dann mit einer Vehemenz die Tasten zu bearbeiten beginnt, daß die 306
Blumenvase oben auf dem Klavier einen erschrockenen Tanz aufführt. Ich halte mir die Seiten vor Lachen, denn le Bijou besitzt ein verblüffendes parodistisches Talent. Jetzt kopiert er nacheinander den musikbesessenen Franz Liszt, Richard Wagner, Beethoven, und dann folgen seine bekannten Parodien einer höheren Tochter, eines ängstlichen Schülers und eines würdevollen älteren Herrn am Klavier. Das alles bringt er so vollendet, so wahrhaft erschütternd komisch, und die Fertigkeit und das musikalische Empfinden, das er gleichzeitig als Klavierspieler beweist, sind geradezu erstaunlich. Der Junge ist und bleibt ein ungelöstes Rätsel, ein Mensch, dessen zwiespältige Natur – eine Mischung zwischen Genie und Wahnsinn – entweder Verblüffung oder Abscheu, bestenfalls aber nur Mitleid bei seiner Umgebung hervorrufen kann. Manchmal könnte man ihn sogar liebhaben, wenn er selbst nicht immer wieder alles daransetzte, dieses Gefühl in Abneigung oder – eben Mitleid abzuwandeln. »Jetzt kommt etwas Neues, Ursula!« ruft er mir zu. »Etwas ganz Feines – schauen Sie her! Ein deutscher Zeitgenosse am Klavier.« Er setzt sich stramm aufrecht, knöpft den Kragen zu, schließt die Jacke bis obenhin. Steif wie ein Stock, mit exakten, abgehackten Bewegungen, beginnt er den Hohenfriedberger Marsch zu spielen. Dazu singt er mit der näselnden, schnarrenden Stimme eines Witzblatt-Vorkriegs-Leutnants: »Wir ziehn in die Schlackt! Wir ziehn in die Schlackt!« Nach beendetem Vortrag schnellt er wie ein Federball in die Höhe, reißt das Kinn hoch, steht stramm und schlägt die Hacken zusammen. »Die Schlackt!« schnarrt er noch einmal. »Na, wie war das? Sind Sie nicht einfach hingerissen?« fragt er, als er sich wieder in den normalen Bijou verwandelt hat. »Hab ich das nicht großartig gemacht?«
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»Doch, großartig«, gebe ich zu. »Jetzt weiß ich doch endlich, wie Sie sich einen Klavier spielenden deutschen Zeitgenossen vorstellen, Gaston!« »Meine Idee«, lächelt er geschmeichelt. »Ist mir gerade im Moment eingefallen – eine Inspiration sozusagen …« Er zündet sich eine Zigarette an und läßt sich an meiner Seite nieder. »Apropos Deutschland«, sagt er nach einer Weile, nachdem er sich über seinen eigenen Witz gründlich ausgelacht hat. »Ja, weil wir gerade von Deutschland sprachen – wann gedenken Sie, wieder hinüberzufahren?« Jetzt ist er wieder ganz ernst. »Warum interessiert Sie das, Gaston?« weiche ich aus. »Ach – nur so«, er streift seine Zigarettenasche ab. Seine Hand zittert leicht dabei. »Man darf doch wohl einmal fragen, nicht wahr?« »Gaston, seien Sie ehrlich: Sie haben doch etwas auf dem Herzen, schon die ganze Zeit! Rücken Sie doch endlich damit heraus!« »Was sollte ich denn … ich darf doch wohl noch … aber schön, Ursula, einmal muß ich ja wohl doch mit Ihnen darüber reden! Warum nicht gleich jetzt?« Er wirft die Zigarette weg, springt auf und läuft vor mir auf und ab, die Hände in den Hosentaschen. Ich sehe gespannt zu ihm auf. Nein, er lacht nicht mehr, er hat jetzt keinen Witz im Hinterhalt. Er ist sogar aufgeregt, wenn er das auch nicht wahrhaben will. Er pfeift vor sich hin, aber seine Stirn ist mit einemmal feucht geworden. Ich warte. Irgend etwas spannt sich in mir an, legt sich auf die Lauer, ein kleines Gefühl der Bereitschaft zum Einsatz, zur Abwehr. Aber es ist nur ein winziger Funke, der vom Herzen auszugehen und ins Gehirn zu münden scheint. Meine Gedanken sind unruhige kleine Tiere, sie wirbeln bunt 308
durcheinander – und der Funke glimmt verborgen zwischen ihnen. – Im Bruchteil einer Sekunde denke ich an Tante Angèle, die zur Allerseelenandacht in die Kirche gegangen ist, an Andrés Kuß gestern abend, an Jeanne Boulier, ihre ziemlich plötzliche Abreise vor einer Woche nach Paris, an … »Fahren Sie nach Deutschland zurück, und zwar sobald wie möglich, Ursula!« Der Funke will sich wieder aufrichten, jetzt ist er ins Herz zurückgekehrt. Aber die Gedanken werden still, sie ordnen sich, und ich frage ganz ruhig: »Warum?« Wenn er doch nicht unaufhörlich vor mir hin und her laufen wollte, der Junge! Immer bis zum Teppichende und dann bis ans Fenster und wieder zurück. Jetzt bleibt er vor mir stehen. »Warum, fragen Sie? Warum?« Er zuckt die Achseln und nimmt seinen Spaziergang vom Teppichende bis zum Fenster wieder auf. Und er pfeift vor sich hin. Den Hohenfriedberger Marsch. Zu dumm ist das. »Gaston!« »Ja, was denn?« »Also, wenn Sie mir nicht endlich sagen … Sie sind ein schrecklicher Mensch, Gaston!« »Das weiß ich«, meint er trocken. »Und ein dummer Junge und ein Faulenzer und ein Idiot – weiß ich alles! Und auch, daß man mich nicht ernst nehmen darf, auf keinen Fall …« »Daran sind Sie ja selbst schuld! Nur Sie, Gaston!« »Ach was?« Wieder bleibt er vor mir stehen, und jetzt beginnt er höhnisch zu lachen. »Das hat Ihnen auch mein Bruder eingetrichtert, was?« »Nein, ich bin ja nun schließlich lange genug hier, um mir ein eigenes Urteil bilden zu können«, sage ich schroff. Dann tut er mir sofort wieder leid. »Gaston, hören Sie doch einmal auf mich! Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, ich möchte Ihnen
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gern etwas sagen! Bitte, Gaston, Sie machen mich noch verrückt, wenn Sie hier so herumrennen!« Ich nehme ihn bei den Händen und ziehe ihn zu mir aufs Sofa. Er läßt es sich gutwillig gefallen und bleibt auch ganz ruhig, als ich den Arm um seine Schulter lege und auf ihn einrede. »Sehen Sie, Gaston, ich mag Sie aufrichtig gern. Ich schwöre es Ihnen, Sie brauchen nicht so spöttisch zu lachen! Und es tut mir weh, daß Sie sich immer selbst so herabwürdigen, sich selbst in den Augen Ihrer Mitmenschen zur Spottfigur machen! Nicht lachen, Gaston, das kann ich jetzt nicht ertragen! – Ich habe das Gefühl, als wären Sie manchmal förmlich darauf versessen, jede Regung der Sympathie, die andere für Sie empfinden mögen, gleich im Keime zu ersticken. Ich habe nie an Ihrem guten Kern gezweifelt, ich weiß, daß Sie ein anständiger Mensch sind, Gaston. Das wissen wir alle – aber Sie, Sie selbst, machen es einem manchmal schwer, daran zu glauben! Reißen Sie sich doch endlich zusammen, zeigen Sie den anderen doch, wer Sie wirklich sind! Sie liefern ja nur eine Karikatur Ihrer selbst, ein Zerrbild –« Er macht sich mit einem Ruck von mir frei. Sein Atem geht etwas schneller, und ich habe das Gefühl, als müsse sein Gesicht verzerrt sein. Das Dunkel der anbrechenden Nacht legt sich zwischen mich und ihn. Nichts aber hätte mich mehr befremden können als die ruhige, gelassene Stimme, mit der er jetzt zu sprechen beginnt. Ich hatte einen Wutausbruch oder noch viel eher ein höhnisches Gelächter erwartet. »Sie sind sehr freundlich zu mir, Ursula«, beginnt er leise. Der schwarze Umriß seines gesenkten Kopfes ist neben mir. »Sehr freundlich – aber wir sind vom Thema abgewichen. Ihre eindringliche Rede würde ich mir sicher zu Herzen genommen haben, wenn mich nicht gerade jetzt im Augenblick ganz 310
andere Dinge interessierten! – Es mag Ihnen also zusammenhanglos und wahrscheinlich auch unhöflich erscheinen, wenn ich Sie nochmals bitte, und zwar dringend bitte, sobald wie möglich nach Deutschland zurückzufahren!« »Aber warum nur?« bringe ich gepreßt hervor. »Wollen Sie mir die Beantwortung dieser Frage nicht lieber erlassen?« »Nein.« »Also gut«, er atmet tief auf. »Gut denn. – Ich – also – rauchen Sie eine Zigarette mit mir?« »Nein, jetzt nicht.« Seine Hand, die schon nach dem Etui greifen wollte, zieht sich zurück und legt sich auf meinen Arm. »Sie lieben meinen Bruder, Ursula. – Nein, Sie brauchen nicht aufzufahren, wozu denn? Meinen Sie, ich habe keine Augen im Kopf? – Aber die ganze Geschichte geht mich ja im Grunde nichts an, sie würde mich auch nicht im geringsten interessieren, wirklich! Es ist ja auch nur zu begreiflich, daß sich ein Mädchen in ihn verliebt, nicht wahr? Er stellt ja so ziemlich den Ausbund aller männlichen Tugenden dar, mein Bruder André. Schön, stattlich, vollendeter Kavalier, der lauterste Charakter der Welt – und gar in Ihren Augen noch! Schließlich ist er ja auch auf reichlich romantische Weise in Ihr Leben getreten, und Sie sehen ihn immer noch im mystischen Glanz des Helden, auf dem Felde der Ehre …« »Gaston!« »Nicht gleich aufbrausen, meine Liebe! Ich rede jetzt ganz ernst mit Ihnen, ich, der Idiot, der Hausidiot hier sozusagen! Und doch bilde ich mir manchmal ein, der einzige vernünftige Mensch in diesem Narrenstall zu sein! Was läuft denn hier schon alles herum? André – den nehme ich natürlich aus! Das wäre ja auch vermessen. André, der Held, der tadellos gewachsene Held unter uns Krüppeln …« »Gaston!« 311
Ich kann diese hohngetränkte Stimme nicht mehr anhören. »Na, was denn? Wir wollen doch ganz ehrlich zueinander sein! Meinen Sie, ich wüßte es nicht, wie vorteilhaft sich mein Herr Bruder hier ausnimmt, unter uns anderen! Mimi und ich – zwei armselige Kreaturen, zwei Spottfiguren, voilà! Meinen Sie, der des Plantes hätte die Kleine ihrer krummen Hüften wegen genommen? Wenn sie keine gute Partie gewesen wäre? Und ich – wie soll ich bestehen können neben diesem herrlichsten aller Brüder! Auch wenn man von meiner Figur absieht, wie abstoßend wirkt doch mein Charakter allein schon im Vergleich zu den lauteren und edlen Eigenschaften Andrés!« Das ist eisiger Hohn. »Warum hassen Sie Ihren Bruder, Gaston?« frage ich, und ich wundere mich, daß meine Stimme so ruhig dabei klingt. »Hassen? Ich sollte ihn hassen, Ursula?« Seine Stimme überschlägt sich förmlich vor maßlosem Erstaunen. »Ihn, der mich mit Wohltaten überschüttet – überschüttet, hören Sie! Ihn, dem ich zu unendlichem Dank verpflichtet bin, solange ich lebe! Der Witz ist zu köstlich! – Zu danken habe ich ihm, zu danken, zu danken, hören Sie! Mein ganzes Leben lang habe ich ihm zu danken – und ich sollte ihn hassen!!!« Er hat es zuletzt herausgeschrien, und nun bricht er in ein Gelächter aus, das mich fast noch grausiger berührt als die wutgetränkte Stimme zuvor. Er ist aufgesprungen und führt einen richtigen Tanz vor mir auf, schleudert die Arme hoch in die Luft, trampelt mit den Füßen und lacht, lacht … Eiseskälte kriecht meinen Rücken entlang, ich fürchte mich, ich fürchte mich. Ich möchte davonlaufen, aber ich kann mich nicht von der Stelle rühren. Und dann warte ich im Grunde immer noch auf das, was er mir zu sagen hat. Eine Infamie wahrscheinlich, nach dieser Einleitung.
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Endlich hat er sich beruhigt. Noch ganz erschöpft von seinem Heiterkeitsausbruch, läßt er sich wieder neben mir nieder. Er schnappt noch ein paarmal nach Luft und kichert vor sich hin. Dann wird es mit einemmal ganz ruhig im Raum, nur Gastons Atem geht hörbar, und sein Lachen scheint immer noch von den Wänden widerzuhallen. Draußen fällt eine Tür ins Schloß, dann höre ich Tante Angèles Stimme in der Halle. Das beruhigt unendlich. Er ist wahnsinnig und so abstoßend, daß man nicht einmal mehr Mitleid mit ihm haben kann, denke ich. Er ist mir einfach gleichgültig, und was er redet, bekümmert mich nicht mehr. »Ja, Ursula, ich habe Sie wohl ein wenig erschreckt«, beginnt er nach einer Weile. Er spricht sehr leise und kommt mir fast wieder wie ein normaler Mensch vor. Aber das Entsetzen bleibt in mir und die innere Abwehrbereitschaft. »Aber Sie werden mich sicher entschuldigen, wenn Sie erst erkannt haben, daß ich heute nicht ganz grundlos ziemlich erregt bin. Ich bin kein Rohling, Ursula, und es tut mir selbst am meisten leid, daß ich Ihr schönes Idealbild zertrümmern muß. Ich muß es, hören Sie? Und wenn Sie mich auch dafür hassen sollten –« »Worauf wollen Sie denn hinaus?« frage ich gepreßt. »Das werden Sie gleich hören. Sie sollen nur zuvor wissen, daß ich es gut mit Ihnen meine, daß ich Ihr Bestes will, wenn ich …« »Dieser Ton kleidet Sie nicht, Gaston«, sage ich kühl. »Fassen Sie sich kurz – auf Ihre Redereien verzichte ich.« »Was haben Sie denn gegen mich?« begehrt er auf. »Sie sind ein schlechter Mensch«, sage ich ruhig. »Das haben Sie mir jetzt zur Genüge bewiesen. Es ist schlecht und gemein, seine eigene Familie so in den Augen anderer herabzusetzen! – Aber es ist überflüssig, auch nur noch ein Wort an Sie zu verschwenden. – Rücken Sie schon endlich mit der Gemeinheit heraus, die Sie auf dem Herzen haben! Ich 313
versichere Ihnen jedenfalls schon im voraus, daß es mich gleichgültig lassen wird, was Sie mir auch zu sagen haben!« »Jetzt werden Sie ungerecht, und das tut mir leid«, meint er. »Sie werden später noch einmal erkennen, daß Sie mir vielmehr zu Dank verpflichtet sind, daß ich anständiger an Ihnen gehandelt habe als jeder andere. – Sie lieben meinen Bruder, Ursula, Sie bringen ihm Vertrauen entgegen, Sie nehmen ihn enthusiastisch in Schutz, wenn ich es wage, ihn anzugreifen. Das hat mich vorhin so wütend gemacht, nur das, Ursula. Denn André verdient Ihr Vertrauen nicht, und ich gestehe Ihnen jetzt ganz offen, daß ich ihn wirklich nahezu hasse, seit ich ihn in seiner ganzen Schlechtigkeit kennengelernt habe. Nicht wieder auffahren, Ursula! – Sie müssen uns verlassen, Sie müssen – der Jeanne zulieb – sie erwartet ein Kind von ihm.« »Das ist nicht wahr!« »Bleiben Sie ruhig, Ursula, hören Sie …« »Sie lügen, Gaston! Sie lügen!« »Ich wollte, es wäre so. Ich meine, ich würde lieber als Lügner und Schuft vor Ihnen stehen, um Ihnen das zu ersparen, arme Ursula! Aber ich habe die Wahrheit geredet, Jeanne wird es Ihnen ja bezeugen können. Das arme Ding hat sich mir anvertraut, ehe es nach Paris gefahren ist. Wie von Sinnen war sie – und sie wagt nicht mehr, nach Hause zu kommen, sie bringt es vor allem nicht mehr über sich, André zu begegnen. Denn er hat wie ein Schuft an dem Mädchen gehandelt. Erst machte er ihr alle nur möglichen Versprechungen, und dann kümmerte er sich einfach nicht mehr um sie. Denn inzwischen waren Sie, Ursula, hierhergekommen, und da hatte er nur noch Augen für Sie. Was aus der Jeanne wurde, war ihm ja gleichgültig. Die kann nun zusehen, wie sie mit ihrem Schicksal fertig wird. Ihre Eltern haben natürlich keine Ahnung. Und …«
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»Weiß er es?« Die Eiseskälte geht vom Herzen aus und strömt zum Herzen zurück. Ich denke an gar nichts, mich friert nur. »Aber selbstverständlich«, sagt Gaston. Man müßte das Licht einschalten, ich möchte sein Gesicht sehen. »Er hat sie doch selbst nach Paris geschickt und ihr sogar Geld gegeben, nur, damit er sie los wird. – Wissen Sie, Ursula, ich bezweifle ja gar nicht, daß er ernstlich in Sie verliebt ist. Daß er es sogar ehrlich mit Ihnen meint, auf seine Art. Aber Sie müssen doch zugeben, daß es nun an Ihnen selbst liegt, daß – daß Sie eben zu stolz sein müssen, um sich zwischen ihn und die andere zu drängen! Er würde bestimmt zur Besinnung kommen, wenn Sie nicht mehr hier, bei ihm, wären! Darum bitte ich Sie ja, auch im Namen von Jeanne: gehen Sie weg von hier!« »Ich werde heute noch – ich – ich will gleich jetzt zu ihm in die Stadt fahren und…« Meine Zunge ist so schwer, als wäre ich betrunken. »Sie wollen ihn doch nicht zur Rede stellen, Ursula! Dann wäre ja für Jeanne alles verloren! Machen Sie sich das doch einmal klar: er ist verliebt in Sie, es ist vielleicht sogar nicht einmal ausgeschlossen, daß er sich mit dem Gedanken trägt, Sie zu heiraten! Wenn Sie nun zu ihm kommen und ihm Vorwürfe machen, wird er eben sagen, daß die Jeanne nur so ein Abenteuer für ihn war, dessen er längst überdrüssig ist, und daß ihn die Sache natürlich nicht daran hindern wird, trotzdem eine andere zu heiraten! Er wird Ihnen keine Ruhe lassen, bis Sie einwilligen, und dann … was bleibt dann der Jeanne zu tun übrig? Wenn Sie aber einfach von ihm gehen, ohne nur ein Wort darüber verloren zu haben, daß Sie alles wissen – dann wird er schon von selbst wieder zur Besinnung kommen! Dann stehen Sie dem Mädchen, das doch immerhin Französin ist, nicht mehr im Wege, und er wird seine Pflicht einfach tun 315
müssen! – Seien Sie doch stolz, wenn schon nicht als Frau, so doch als Deutsche, Ursula!« Ich stehe langsam auf und gehe zur Tür hinüber, an den Lichtschalter. Das knackende Geräusch reißt schon an meinen Nerven wie mit feinen Zangen. Dann wird es hell im Zimmer. Ich trete vor Gaston hin und sehe ihm in die Augen. Und nun erst überfällt mich die ganze Tragweite dessen, was er mir soeben gesagt hat. Ich hatte nicht daran geglaubt. Ich hatte bis zu diesem Augenblick gehofft, ihn als Lügner zu entlarven – seine Worte als Lüge zu erkennen. Aber ein Blick in sein Gesicht läßt mich förmlich zurücktaumeln. Er hat nicht gelogen. In diesem voll auf mich gerichteten Blick steht keine Lüge. Gaston ist blaß, ist aufgeregt, aber er senkt den Blick nicht, als ich ihn ansehe. Er ist nicht im geringsten verwirrt. »Gaston, schwören Sie mir …« »Sie wollen Beweise, Ursula? Bitte!« Er zieht einen Brief aus seiner Tasche und reicht ihn mir. Er ist von Jeanne. Aber die krausen Schriftzüge tanzen vor meinen Augen. Ich kann sie nicht entziffern. »Soll ich vorlesen? Sie können mitlesen, bitte, ich glaube, daß dieser Abschnitt genügen wird: ›Wann wird diese Frau denn endlich von Euch weggehen, Gaston? Solange sie noch dort ist, kann ich einfach nicht zurückkehren. Sie allein hat mich von zu Hause verjagt, sie ist es, die sich zwischen mich und mein Glück stellt, diese Deutsche. Gaston, ich weiß nicht mehr ein noch aus. Ich irre hier in der großen Stadt umher, während mich mein Herz doch immer zurückzieht, nach StClément. Lange ertrage ich das nicht mehr, ich bin so verzweifelt und am Ende – und diese Frau trägt die Schuld an allem, an allem …‹« Nein, er hat nicht gelogen. Ich habe mit äußerster Anstrengung den Text dieser Worte selbst entziffert – und auch die Unterschrift habe ich gelesen, auf der Rückseite, unbeachtet 316
von Gaston: »Grüß mir André, sage ihm nichts von diesem Brief, versprich es mir. Deine unglückliche Jeanne.« Da ist dasselbe Zimmer noch, die Möbel, die beiden Fenster, an deren Scheiben der Regen in krausen Linien herunterrinnt… und Gaston ist noch da, und seine Worte kommen wie von weit her: »Courage, Ursula! Sie müssen jetzt stolz sein – Sie müssen schweigen – leuchtet Ihnen das ein?« Ich nicke nur. Doch, das leuchtet mir ein. »Und wann werden Sie von hier fortgehen?« Heute noch. In dieser Stunde noch. Aber – ich greife plötzlich mit beiden Händen ins Leere und greife in Watte, ja, in Watte. Es legt sich auch so weich und warm um meinen Mund und über die Augen … »Ist Ihnen nicht gut?« Gaston hält mich im Arm. Und ich lasse mich von ihm hinauf in mein Zimmer führen. Dort sinke ich aufs Bett, es ist wie ein Versinken in unendliche Tiefen, das wird wohl noch Stunden und Tage und Jahre so andauern – dann umfängt mich der Schlaf. Ganz traumlos und schwer. Nicht einmal geweint habe ich, dachte ich beim Erwachen. »Mademoiselle – Telephon! Le Docteur!« Elise ist in der Zimmertür erschienen. »Oh, Sie haben geschlafen, Mademoiselle!« Ich erhebe mich schwerfällig und benommen und gehe hinunter in die Halle. André ruft an, das ist gut. Wenn ich seine Stimme höre, wird alles vorüber sein wie ein böser Traum. »Hallo – hier ist Ursula!« Der Hörer zittert doch ein wenig in meiner Hand, und ich muß mich schnell hinsetzen. »Na endlich, das hat ja lange gedauert«, spricht es am anderen Ende der Leitung. »Ihr seid wohl schon beim Abendessen? Also höre, Ursula, ich werde heute erst später heimkommen – wann? – zehn Uhr kann es werden. Denk 317
einmal, der alte Papa Thiéry liegt im Sterben, der Wirt vom ›Tigre‹, du kennst ihn doch? – Ja, es tut mir sehr leid – das Herz, weißt du! – Ursula, hörst du noch? Richte es also Tante Angèle aus, daß ich später komme, nicht wahr? Ich werde mich beeilen – was meinst du? – Nein, ich fahre nicht zu schnell, hab keine Angst. Obwohl ich am liebsten per Flugzeug zu euch hinauskäme – Ursula, wie lange ist doch so ein Tag ohne dich! Eine ganze Ewigkeit! – Verzeih, daß ich es dir immer wieder sagen muß. Aber ich habe dich lieb – du bist mir der einzige Mensch, Ursula, der einzige …« Ich muß vorhin wirklich für einen Augenblick den Verstand verloren haben. Was hat mir Gaston da erzählt? Von André und Jeanne? Gib dir keine Mühe, Gaston. Siehst du, ich brauche nur seine Stimme zu hören, und schon ist alles wieder gut. Bring deine Lügen nur bei anderen vor, Gaston. Ich – gleich nachher werde ich André fragen, und er wird mich auslachen und mich in die Arme nehmen und … Aber wenn er nun sagt, daß es wahr ist? Daß diese Jeanne wirklich … Warum hat sie mich eigentlich von der ersten Stunde an gehaßt? Warum nahm er sie immer so in Schutz, wenn irgendeiner sie angriff? Warum ließ er sich von ihr herumkommandieren, daß es auch allen anderen aufgefallen ist? Und ihre plötzliche Abreise nach Paris, und der Brief? Oh, das würde ich nicht ertragen können. Es von ihm selbst zu hören – so, daß mir kein Zweifel mehr übrigbliebe. Und er würde vielleicht hinzusetzen, daß er mich, nur mich liebt. Damit würde er ja die Wahrheit sagen, das weiß ich, das steht unerschütterlich fest. Aber ich – ich müßte dann von ihm gehen, der anderen, der Französin, zuliebe. Ich müßte es, wenn ich nicht für die ganze Dauer meines Lebens mit einem belasteten Gewissen, als ein ehrloser Mensch, herumlaufen wollte. Ich würde ihn weiterlieben, immer, immer. Aber ich müßte ihn trotzdem verachten.
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Was soll ich nur beginnen? Wenn Gaston wirklich nicht gelogen haben sollte – und wie sicher schien er seiner Sache zu sein! – wäre es dann wirklich nicht besser, ich ginge von hier fort, ohne nur ein Wort mit André darüber gesprochen zu haben? Aber auch das ginge über meine Kraft. Es bleibt mir kein Ausweg mehr … es ist so oder so zu Ende. – Wenn … nein, es ist nicht wahr! Es kann nicht wahr sein! Gaston ist der erbärmlichste Lügner unter der Sonne, er hat das fein mit Jeanne ausgeklügelt, um mich von hier zu vertreiben. Er lügt und das Mädchen lügt … aber wenn sie nun wirklich ein Kind erwartet? Oder sollte auch das gelogen sein? »Immer ist sie müde, immer erbricht sie das Essen, sie weint so oft.« So sagte Mutter Boulier. Und dann sehe ich Jeanne vor mir, wie sie hier in der Halle stand, vor einer Woche, um sich von uns zu verabschieden. Sie gab auch mir die Hand, und ich verzieh ihr in diesem Augenblick alles, weil sie mir so namenlos leid tat. Doch, jetzt entsinne ich mich: ihr Gesicht schien mir so verquollen, die Haut unrein und welk, und unter ihren Augen lagen blaue Schatten. Kam sie mir nicht auch ein bißchen stärker vor als früher? – Ja, sie fahre nach Paris zu ihren Bekannten, sagte sie. Der Docteur habe ihr das selbst geraten. Daß er die Reise finanziert hat, davon sprach sie allerdings nicht. Ob ich ihr einmal schreiben soll, ehe … Das wäre vielleicht die beste Lösung. Aber – ich komme nicht darüber hinweg, daß ich mich bei dem Gedanken allein vor mir selbst schäme. Hinter seinem Rücken will ich ihn ausspionieren … wie unwürdig das doch ist! Wie unwürdig, überhaupt nur ein Wort von der ganzen Geschichte zu glauben! Gaston lügt … ich werde es ihm auf den Kopf zusagen, daß er ein Schuft ist! Jedenfalls werde ich ihn sehr aufmerksam beobachten, wenn André nachher hier ist. Wenn er dann ein unsicheres Wesen an den Tag legen sollte – wenn er es vielleicht zu verhindern 319
sucht, daß ich mit André allein bin – dann! Ach, ich werde ihm alles verzeihen, dem Jungen. André wird von mir nie erfahren, welche Gemeinheit sein Bruder sich wieder einmal geleistet hat. Es wird alles wieder gut werden, ach, Gaston, wie will ich dir dankbar sein, wenn du gelogen hast! Nach dem Essen gehen wir in den Salon hinüber. Gaston rückt den Spieltisch vor den Kamin, er hat sich großmütig bereit erklärt, an meiner Stelle die abendliche Partie Domino mit Tante Angèle zu spielen. Ich bin dispensiert, denn schon während des Essens erkundigte sich die alte Dame wiederholt besorgt, was mir denn eigentlich fehle. Ich sähe ja ganz verstört aus. Ich begründete das mit starken Kopfschmerzen, der Wahrheit gemäß. In der Schläfengegend hämmert und tobt es schon während des ganzen Abends, und meine Augen brennen so. Tante Angèle hält es für die ersten Anzeichen einer starken Erkältung und überhäuft mich mit Vorwürfen wegen meines Leichtsinns, heute morgen im strömenden Regen draußen im Park umhergelaufen zu sein. »Legen Sie sich am besten doch gleich ins Bett«, riet sie. »Ich gebe Ihnen ein Pulver, und André kann dann nach Ihnen sehen!« Ich lehne alles ab, bis auf das Pulver, das mich wirklich ein wenig beruhigt und sogar schläfrig gemacht hat. Während die beiden vor dem Kamin Platz nehmen, lege ich mich auf das Sofa. Gaston bringt mir eine Decke, schiebt mir noch ein zweites Kissen unter den Kopf und stellt ein Glas Rotwein auf den kleinen Tisch an meine Seite. Er hat kein Wort mehr über die Angelegenheit verloren, auch nicht, als wir vorhin zufällig eine Viertelstunde allein waren. Überhaupt benimmt er sich mit einer Gelassenheit und Sicherheit, die meine Unruhe von Minute zu Minute steigert.
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Wieder beobachte ich ihn, wie er der alten Dame gegenübersitzt, scheinbar restlos in das Spiel vertieft. Sie unterhalten sich über den alten Thiéry, und Gaston meint, daß natürlich nur der Suff ihn zugrunde gerichtet habe. Er habe es schon lange an der Leber gehabt, und nun wolle das Herz einfach nicht mehr – das sei ja ganz erklärlich, bei dieser unmäßigen Trinkerei. »Als nächsten sehe ich unseren guten Dominique ins Gras beißen«, prophezeit er. »Der klagt schon lange über Schmerzen an der Leber – ist ja auch kein Wunder. Wenn man bedenkt, was der Mann so alles zusammensäuft …« »Seit wann spielst du dich zum Sittenrichter anderer Leute auf?« wirft ihm seine Tante an den Kopf. »Schau du nur zu, daß du selbst nicht eines schönen Tages am Sauferwähn zugrunde gehst!« Sie ist heute schlechter Laune. Das ewige Glockengeläute und überhaupt die ganze weinerliche Stimmung dieses Allerseelentages gingen ihr auf die Nerven, erklärte sie vorhin. »Schafskopf, paß doch besser auf, wenn du spielst!« fährt sie jetzt den Neffen an. »Wo hast du nur schon wieder deine Gedanken!« »Bei Pincemaille, Tantchen«, lacht er fröhlich. »Ich gehe nämlich nachher noch auf einen Sprung hinüber – der Marcel und die anderen erwarten mich.« »Kannst du denn nicht einen Abend zu Hause bleiben? Mußt du denn immer und ewig in dieser Wirtschaft sitzen?« »Gib acht, Tante, sonst verlierst du die Partie!« »Gegen dich bestimmt nicht«, trumpft sie auf. »Da – voilà – schon wieder verloren, mein lieber Junge! Du bist ein Esel, daß du die hohen Punkte immer bis zuletzt zurückhältst!« »Ich bin nur galant, liebe Tante«, versichert er. »Ich spiele dir alle Gewinne einfach in die Hand, was willst du mehr?« »Halt den Mund – hier, stell deine Steine auf!« So geht das Geplänkel hin und her. 321
Wie vertraut das Bild doch ist, wie anheimelnd. Es ist, als ob kein böser Gedanke in diesem Raum aufkommen könnte. Die Gestalten der beiden am Kamin, das helle und freundliche Zimmer, das Ticken der Uhr, der Regen vor den Fenstern – wie lieb sind mir diese abendlichen Stunden im Schloß doch immer gewesen! Wie schien das alles mehr und mehr zu mir zu gehören, und ich zu ihm. Wie war diese Welt zu der meinen geworden! Und wie hatte ich mich auf den Winter in der Stadt gefreut, auf die gemütlichen Abende mit den beiden, André und Tante Angèle. – In der nächsten Woche soll die Übersiedlung vor sich gehen, wenn Gaston erst abgereist ist. Dann kommen auch Mimi und Henri zurück, sie beziehen eine kleine Villa in Longville, nur ein paar Schritte von unserer Wohnung entfernt. Von unserer Wohnung! Soll denn das alles mit einemmal vorüber sein, wie ein Traum? Warum eigentlich soll ich mich nicht mehr freuen dürfen? Es ist doch nur eine Lüge – und da drüben sitzt Gaston am Kamin, ruhig und guter Stimmung, auch nicht mit den leisesten Anzeichen eines schlechten Gewissens behaftet! Zu Pincemaille will er gehen, nachher. Fürchtet er denn nicht, daß ich gleich mit André darüber spreche, ihn zur Rede stelle? Oder braucht er es nicht zu fürchten? »Na, endlich«, meint Tante Angèle und schiebt ihre Dominosteine beiseite, als André etwas später das Zimmer betritt. »Ich dachte schon, du hingest mitsamt deiner Teufelsfuhre an irgendeinem Baum!« »Es war auch wirklich kein Vergnügen, bei diesem Wetter hier herauszufahren«, meint er. »Beinahe wäre ich doch über Nacht in der Stadt geblieben. – Ja, der arme Thiéry ist hinüber«, schließt er, nachdem er uns begrüßt hat. Er zieht sich einen Sessel an meine Seite. 322
»Hier hast du noch einen Patienten, André«, sagt Tante Angèle und deutet auf mich. »Die Kleine muß sich erkältet haben.« »Was fehlt dir, Ursula?« André unterbricht sofort seinen Bericht über den Tod des alten Thiéry und nimmt meine Hand. »Hast du Schmerzen – du siehst wirklich krank aus!« Es ergab sich ganz von selbst, daß wir uns seit ein paar Tagen auch vor den anderen duzen. »Nur Kopfschmerzen, André, aber das ist weiter nicht schlimm«, sage ich und bemühe mich, nicht zu zittern, während er meinen Puls fühlt. Sein Anblick hat mir alles Blut zum Herzen strömen lassen. Ich glaube, ihn nie so geliebt zu haben wie in jenem Augenblick, als er das Zimmer betrat. Seine Gegenwart durchdringt den ganzen Raum, seine Nähe läßt mich alles andere vergessen, und jetzt, als sich seine Hand so warm und gut um mein Gelenk schließt, jetzt erbebe ich förmlich bis ins Innerste. Ich liebe ihn, er ist für mich der einzige Mensch auf der Welt. »Ein bißchen unruhig, aber Fieber hast du nicht«, sagt er und gibt meine Hand frei. »Man wird dich eine Stunde schwitzen lassen, kleine Ursula, und morgen lachst du wieder.« »Ich gehe jetzt zu Pincemaille«, erklärt Gaston und erhebt sich. »Adieu denn!« Damit geht er hinaus. Mir hat er freundlich zugenickt und an seinen Bruder keinen einzigen Blick verschwendet. So sicher fühlt er sich also? Jetzt finde ich mich in nichts mehr zurecht. Da sitzt André neben mir, streichelt meine Hände, da unterhält er sich ganz ruhig mit Tante Angèle und mir – und der andere geht einfach seiner Wege. Gleichmütig und gelassen. Welcher von beiden spielt nun hier den Sicheren, wessen Gewissen ist belastet, wer betrügt mich? »Du siehst ziemlich abgespannt aus, André«, meint Tante Angèle, die sich zu mir aufs Sofa gesetzt hat. »Trink ein Glas Wein, es wird dir gut tun.« 323
»Ja, es war ein sehr anstrengender Tag heute«, gibt er zu. »Zudem hatte ich noch Ärger. Ich werde wohl am Sonnabend nach Paris fahren müssen – nur übers Wochenende –, aber es steht noch nicht unbedingt fest.« »Was willst du denn in Paris?« fragt sie, während mein Herz ein paar schnelle Schläge tut. »Ach, eine berufliche Sache«, weicht er aus. »Vielleicht kann man es auch brieflich erledigen – ich habe jedenfalls keine große Lust zu dieser Reise.« »Nimm doch Ursula mit«, schlägt sie vor. »Es wäre eine ganz gute Gelegenheit, ihr Paris zu zeigen!« »Nein, auf keinen Fall«, wehrt er fast erschrocken ab. »Ich hätte ja gar keine Zeit, mich um sie zu kümmern. Das heben wir uns für ein anderes Mal auf, nicht wahr, Ursula?« »So, ich verlasse euch jetzt, Kinder«, meint die alte Dame etwas später. »Ich bin heute sehr müde, und das Wetter macht mir wieder zu schaffen. Ich werde dich demnächst einmal konsultieren müssen, mein Lieber! Jedes Jahr im November meldet sich mein Bronchialasthma, pünktlich auf Allerheiligen, sozusagen!« André verspricht, vor dem Schlafengehen noch einmal nach ihr zu sehen und ihr eine Medizin zu geben. »Gute Nacht also, ihr beiden! Ihr werdet meine Gesellschaft wohl entbehren können, nehme ich an!« Sie wirft uns einen ihrer verschmitzt-boshaften Blicke zu und geht hinaus. Sofort beugt er sich zu mir herab und küßt mich. Ich liege mit geschlossenen Augen. Jetzt – jetzt müßte ich ihn fragen. Aber unter seinen Küssen steht wieder die heiße Angst in mir auf, die nun seit Stunden schon wie ein wütendes Tier an meinem Herzen frißt: ihn verlieren zu müssen, vielleicht in der nächsten Minute schon, durch ein einziges Wort von ihm.
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»Wie dankbar ich dir doch bin, du Liebste«, flüstert er. »Wie glücklich du mich machst, Ursula!« Seine langen Wimpern streicheln mein Gesicht. »Wimpernkuß« nennt er diese Liebkosung, die er sich für mich erdacht hat. Er weiß, wie er mich damit entzückt. Und er besteht jedesmal darauf, diese Liebkosung von mir erwidert zu sehen. Wie oft haben wir schon über diese kleine Spielerei gelacht. Denn jeder behauptet von dem andern, daß er die seidigsten und schönsten Wimpern der Welt besäße. Jeder behauptet von sich selbst, daß die eigenen kurz und borstig im Vergleich zu denen des anderen seien. Heute stimmt es mich traurig. Ich kann mich nicht einmal zum Lachen zwingen, sondern frage nur, als er mich endlich aus den Armen läßt: »Warum willst du denn nach Paris fahren, André?« Und als er nicht antwortet und mich nur erstaunt ansieht: »Hängt es vielleicht mit Jeanne Boulier zusammen?« Er ist sichtlich betroffen. »Wie kommst du darauf, Ursula? – Nun ja denn, es hat etwas mit Jeanne zu tun. Aber bitte – frag mich nicht weiter, ja? Schau, Ursula, das alles ist so … es ist wirklich nicht weiter wichtig! Ich kann vorläufig noch nicht mit dir darüber sprechen. Eine ziemlich unangenehme Geschichte, die erst aus der Welt geschafft werden muß, ehe ich wieder Ruhe finde.« »Gehörst du denn dazu, André, ich meine – liegt es an dir, diese Geschichte aus der Welt zu schaffen, wie du sagst?« frage ich leise. »Aber natürlich, an wem denn sonst! – Ursula, tu mir den Gefallen und zerbrich dir nicht weiter den Kopf darüber, ja? Es ist wirklich nicht so wichtig!« »Werde ich es einmal erfahren – später, André?« Er hat den Kopf in die Hand gestützt und sieht an mir vorüber.
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»Nein, Ursula«, sagt er. »Wozu auch? Du brauchst damit nicht belastet zu werden, das will ich gerade dir ersparen. Es genügt, wenn ich selbst … aber was rede ich so lange darüber! Sei nicht neugierig, kleines Mädchen!« Ich zwinge ihn, mich anzusehen. Aber sein Blick ist unruhig, das spüre ich. Er ist überhaupt heute abend ein wenig anders, müde sieht er aus und sorgenvoll. »Bist du mir böse, wenn ich jetzt schlafen gehe, Ursula?« fragt er. »Ich habe morgen einen ziemlich schweren Tag vor mir, weißt du. Und übermorgen werde ich wohl ganz früh wegfahren – Sonntag abend hoffe ich dann wieder bei dir zu sein.« Er will nicht mehr von mir gefragt werden. Er weicht mir aus. Nun habe ich ja auch eigentlich nichts mehr zu fragen. Der brennende Schmerz in den Schläfen ist wieder da, und das leere Gefühl im Kopf – ich möchte weinen, aber das kann ich nicht mehr. »Hast du heute irgend etwas auf dem Herzen?« fragt er mich beim Gutenachtsagen oben auf der Treppe. Ich schüttele den Kopf. Nein, ich kann es nicht sagen. Morgen vielleicht – aber jetzt noch nicht. Ich lasse mich von ihm küssen und erwidere seinen Kuß, so inbrünstig und hingegeben, als wäre es das letztemal. Ich habe Angst, ich habe Angst – mir ist, als ginge er jetzt für immer von mir fort, und ich presse die Hand vor den Mund, um seinen Namen nicht zu schreien, als er den Gang hinuntergeht. Ich stehe immer noch hier, auf demselben Fleck, als er schon lange hinter seiner Tür verschwunden ist. Man hätte ihn noch einmal zurückrufen müssen, nicht, um ihn zu fragen, sondern um ihm zu sagen, daß man ihn liebt, daß man ihm gehört, trotz allem, trotz allem.
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Wenn er in dieser Nacht zu mir gekommen wäre – in dieser Nacht – die mir die dunkelste meines ganzen Lebens schien! Wenn er zu mir gefunden hätte … Am nächsten Tag schien der Himmel sich ausweinen zu wollen. Am frühen Nachmittag ging ich aus dem Hause, in meinen alten Regenmantel gehüllt. Tante Angèle hielt ein Mittagsschläfchen, und Gaston trieb sich wieder einmal im Dorf herum. Stundenlang irrte ich draußen umher, im strömenden Regen, quer durch den Park, dann dem Maasufer entlang unter den Pappeln bis zur Brücke und wieder zurück. Immer denselben Weg, bis es vollends dunkel wurde. Der Übergang vom Tage zur Nacht vollzog sich fast unmerklich. Grau floß über in tieferes Grau, Schatten wuchsen in dunklere Schatten, und der Fluß glänzte jetzt tiefschwarz zwischen den Bäumen. Er war hochgeschwollen und ging brausend zwischen den Ufern. Einmal ging ich auch über die Brücke ins Dorf hinüber, auf die Anhöhe hinter der Kirche. Ich weiß nicht, was mich immer vorwärtstrieb, vorwärtshetzte. Ich weiß nur, daß es wohltat, sich dem Regen und dem wütenden Wind preiszugeben. Und daß ich Heimweh hatte, Heimweh nach drüben, nach Deutschland. Es war plötzlich in mir aufgestanden, in der vergangenen Nacht schon. Nun läßt es nicht mehr von mir ab. Zum ersten Male schlägt das große Heimweh seine Krallen in mein Herz, zum ersten Male fühle ich mich ganz und endgültig fremd hier. »Wann geht sie endlich fort, die Deutsche?« – Du kannst beruhigt sein, Jeanne, ihr könnt alle beruhigt sein, ich kehre zurück, ich gehe wieder dahin, wo ich eben nicht »diese Deutsche« bin. Wie schmerzlich und fassungslos man sich nach seiner Muttersprache allein sehnen kann! Wenn ich jetzt einen bei mir
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hätte, der deutsch mit mir spräche und deutsch mit mir fühlte und litte! Es ist alles zu Ende. Es gibt nun keinen Zweifel mehr. November. Monat der Toten, Monat des Abschieds. Abschied auf immer. – Zur Zeit der Rosen und Nachtigallen ist man hierhergekommen; welkendes Laub und graue Nebel nimmt man als letztes mit sich fort. Zornig, ja höhnisch, male ich mir aus, wie ein Dichter das wohl in Verse fassen würde, dieses Kommen und Abschiednehmen. – Aber das Leben ist kein Gedicht, es ist nicht romantisch. Es ist erbärmlich und gemein und grausam – es ist vor allem häßlich, unsagbar häßlich! Schwer atmend, zuletzt fast keuchend, renne ich die Allee hinauf. Der Wind schlägt mir schwer entgegen, die Pappeln regnen aus zerzausten, zerrissenen Zweigen, und der Fluß will an einigen Stellen schon bald über das Ufer treten. Schön ist Gottes Welt, wunderschön. Gott in Frankreich. Für mich ist er nicht mehr hier, für mich lebt er nur noch jenseits der Grenze im Osten, drüben, drüben! Der Gott meiner Heimat. Über die Ferme gehe ich zum Schloß zurück. Traulich leuchten die erhellten Fenster der Boulierschen Wohnung durch das Dunkel. Ich zögere einen Augenblick – ob ich einmal hinübergehen soll? Mein Körper ist fast fühllos erstarrt, und ich sehne mich nach der Nähe von Menschen, nach Wärme, nach Licht. – Aber da verharre ich plötzlich wie angewurzelt. Ein großer Wagen fährt soeben in das Hoftor ein, Andrés Wagen. Er hält vor dem Wohngebäude, etwa zehn Meter entfernt von mir. Ich sehe André, der Jeanne beim Aussteigen hilft. Jeanne! Sie ist also zurückgekehrt! André trägt ihren Koffer, seinen linken Arm legt er um das Mädchen, und so gehen sie dem Hause zu, eng aneinandergeschmiegt, und er spricht eifrig auf sie ein. – Ich stehe immer noch, als die beiden schon im Hause 328
verschwunden sind. Was bedeutet dies nun? Wieso kommt sie plötzlich nach Hause, wieso ist er jetzt schon hier, während er doch eigentlich noch Sprechstunde abhalten sollte! Es ist kaum sechs Uhr. Was mag in diesem Augenblick hinter den erleuchteten Fenstern dort vor sich gehen? Ein paar Schatten bewegen sich hinter den Scheiben. – Langsam wende ich mich um und gehe zum Schloß zurück. So ist denn alles in Ordnung. Er geht mit ihr zu ihren Eltern, er handelt anständig damit. Für dich ist nun der Augenblick gekommen, vom Schauplatz abzutreten, Ursula. Ich kann mich nur noch selbst verhöhnen, ich höhne über meinen Schmerz und meine Verlassenheit und meine Demütigung – das ist gut so. Das hilft, für den Augenblick wenigstens. So lache ich mit leiser Schadenfreude vor mich hin, so beobachte ich mich selbst gleichsam von der Warte des interessierten Zuschauers aus, als ich mir sage, daß es nun nur noch eines gibt: heimlich und von keinem beachtet das Haus zu verlassen und sich einen guten Abgang zu verschaffen. Die Koffer zu packen, arm wie eine Bettlerin drüben anzulangen. Heimkehr des verlorenen Sohnes aus der Fremde! Ich lache laut heraus. – Mir graut vor mir selbst. Es sind oft scheinbar kleine und unwichtige Dinge, die den Schmerz eines Menschen seiner heftigsten Äußerungsformen entkleiden. Die Wärme und die Helle eines schönen Zimmers, die Nähe eines Menschen, das wohlige Behagen eines Bades … wie erlösend berührt das alles. Ich habe die durchnäßten Kleider abgelegt, ein Bad genommen, mit Elise, die mir beim Umkleiden half, ein paar Worte gesprochen. Mit der Erstarrung des Körpers beginnt auch das innere Zerrüttetsein von mir zu weichen. Meine Gedanken ordnen sich langsam, und das ungute Haß- und Hohngefühl löst sich von meinem Herzen. Der Schmerz bleibt wohl zurück, aber geläutert und gemildert. 329
Ich will ruhig bleiben. Ich will dem nun Kommenden fest und stark entgegensehen. Klein darf ich nicht werden. Elise erzählt mir, während sie mir in das Kleid hilft, daß Monsieur Gaston soeben zurückgekommen sei. – Ob André nicht angerufen habe, während ich fort gewesen sei, frage ich. Elise verneint. – Jetzt fährt unten das Auto vor. Ich höre die Tür zur Halle ins Schloß schlagen. Er kommt also schon zurück. Sehr lange hat er sich bei den Bouliers nicht aufgehalten. Als ich mein Zimmer etwas später verlasse, bin ich erfrischt, ausgeruht und bereit, die nun unausbleibliche Auseinandersetzung gefaßt zu ertragen. Ich bin sorgfältig wie immer gekleidet; ja ich trage sogar mein bestes schwarzes Kleid, weil ich von Elise erfahren habe, daß nach dem Essen Gäste erwartet werden. Père Dominique, der Pfarrer und eine befreundete Familie aus Longville. Ob ich nun gleich André aufsuchen soll oder … Schon auf der Treppe höre ich seine Stimme aus dem Salon dringen. Und dann spricht Gaston – nein, er schreit, er brüllt. Trotz der verschlossenen Tür ist in der Halle jedes Wort vernehmbar. Was soll ich nur tun? Davonlaufen? Aber dann bleibe ich wie angewurzelt inmitten der Halle stehen. Andrés Stimme dringt zu mir heraus, sie ist scharf und schneidend. »Du bist der erbärmlichste Schuft, der mir je begegnet ist! Deine Gemeinheit übertrifft alles, was ich … « »Schrei doch nicht so, André! Es ist ja nicht nötig, daß das ganze Haus zusammenläuft!« Das ist Gaston. Wenn jetzt nur keiner hier in die Halle kommt, denke ich verwirrt. »Das ist mir gleichgültig!« Andrés Stimme ist nicht wiederzuerkennen, sie überschlägt sich förmlich vor Erregung. »Ganz gleichgültig, hörst du! Sie werden es ja doch erfahren müssen, alle, morgen schon wird das ganze Dorf mit Fingern auf uns weisen! Und dir haben wir es zu danken! Du bist ein Schuft, Gaston!« 330
Eine Weile wird es still nebenan. Ich glaube, einen keuchenden Atem zu hören. »Was wirst du nun tun?« fragt André, um einen Ton gedämpfter. Keine Antwort. »Was du tun wirst, will ich wissen!« »Abreisen, nach Nancy«, gibt Gaston zurück. »Das weißt du ja.« »Und das Mädchen?« »Mein Gott, André, gib doch nicht so an hier! Man meint ja, du hättest das größte Recht dazu! Was geht denn dich die ganze Sache schließlich an! – Soll ich sie etwa heiraten? Aber ich denke ja nicht daran! Und sie – frag sie doch selbst, ob sie vielleicht Lust dazu hat! Die hat doch auch heute noch nur dich im Kopf, und ich war ihr schließlich und endlich nur gut genug, um ihre verdrängten Gefühle bei mir abzuladen! – Du, du bist an allem schuld, André! Wahrscheinlich hast du sie verrückt gemacht, bis eines Tages diese Deutsche auftauchte und du nichts Eiligeres zu tun hattest, als dich in sie zu vergaffen! – Laß mich los. André! – Ich sage dir nur noch einmal, daß ich mit der Geschichte weiter nichts mehr zu schaffen haben will! Das Mädel ist mir gleichgültig, und ihr alle seid mir gleichgültig, ihr sollt mir meine Ruhe lassen! – Kümmere du dich doch um sie, wenn du schon deine Nase in Angelegenheiten stecken mußt, die dich nichts angehen! Hilf du ihr doch – du kannst es ja am besten!« »Was meinst du damit?« Das klingt bedrohlich. »Du bist Arzt«, sagt Gaston kühl. Im nächsten Augenblick klatscht etwas drinnen auf, ein Stuhl fällt um, man hört die beiden keuchen, wieder klatscht es, ein wilder Tumult erhebt sich hinter der Tür. »Lump! Verbrecher!« Andrés Stimme ist schon nicht mehr menschenähnlich. Er muß den anderen zwischen den Fäusten halten und hin und her schütteln. »Feiger Lump!«
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Er schlägt ihn! Entsetzen lähmt mich, ich möchte schreien und kann es nicht … André wird ihn töten … Da wird die Tür aufgerissen, Gaston taumelt heraus. Sein Gesicht ist eine verzerrte Fratze. Er blutet aus Mund und Nase. Ohne mich zu beachten, schwankt er an mir vorüber, ins Freie hinaus. Wie durch einen Schleier sehe ich nun auch André in der Tür stehen. Mit zwei Schritten ist er plötzlich neben mir, packt mich am Handgelenk und zieht mich ins Zimmer. Dort sinke ich auf einen Stuhl und sehe ihm mit angstvoll aufgerissenen Augen nach, wie er vor mir auf und ab läuft, nachdem er die Tür geschlossen hat. Ein völlig veränderter André ist dies, ein seiner selbst nicht mehr mächtiger Mensch. Sein Atem geht immer noch keuchend, das Gesicht ist dunkel gerötet, und die Augen sind fast schwarz vor Erregung. Nervös tasten seine Hände nach der Tabakdose auf dem Tisch, dann vergräbt er sie wieder in der Rocktasche. Endlich bleibt er stehen, fährt sich mit der Hand über die Stirn und sagt, ohne mich anzusehen: »Ursula, daß ich dir das nicht ersparen konnte! Daß du es mit anhören mußtest – das ist das Schlimmste für mich!« Er stöhnt auf und vergräbt das Gesicht einen Augenblick in den Händen. »Mein Bruder, Ursula, der erbärmlichste Schuft unter der Sonne!« Ich müßte jetzt etwas sagen, er erwartet es sicher von mir. Aber meine Zunge ist gelähmt. »Ich werde dir alles sagen müssen, Ursula.« Seine Stimme ist nun etwas ruhiger. »Das heißt – es gibt ja eigentlich nichts mehr zu sagen. Du wirst genug gehört und gesehen haben, arme Ursula, nicht wahr?« Er beugt sich zu mir herab und hebt mein Gesicht ein wenig empor. »So sehr hat es dich aufgeregt, mein Liebling? Du zitterst ja am ganzen Körper! Beruhige dich doch, Ursula! Komm, setz dich zu mir, ich werde dir alles erzählen«, bittet er und zieht 332
mich an sich. In seinem Arm wird es wirklich etwas ruhiger in mir, nur die Gedanken – die wollen sich noch nicht sammeln. Wo mag Gaston nur jetzt sein, geht es mir flüchtig durch den Kopf? Ob er draußen herumirrt, in dieser schrecklichen Regennacht? »Siehst du, Ursula, ich bekam gestern einen Brief aus Paris, von den Leuten, bei denen Jeanne dort abgestiegen war. Sie baten mich, doch auf einen Tag herüberzukommen, weil sie sich ernsthafte Sorge um das Mädchen machten und nicht wüßten, an wen sie sich sonst hätten wenden sollen. Denn Jeanne habe von mir immer als von dem einzigen Menschen gesprochen, zu dem sie Vertrauen habe. – Warum sie mich trotzdem nicht früher schon ins Vertrauen gezogen hat, begründete sie mir vorhin damit, daß sie sich eben vor mir geschämt habe. – Ihre Freunde in Paris wurden jedenfalls nicht klug aus ihr. Sie habe ein so verzweifeltes Wesen an den Tag gelegt, daß die Leute ständig in der Furcht lebten, Jeanne könne irgendeine Dummheit anstellen. Den ganzen Tag sei sie in der Stadt herumgeirrt. Dann erging sie sich in unbestimmten Andeutungen, die ihre Bekannten noch mehr in Unruhe versetzten. So hat man sich an mich gewandt, als man sich keinen anderen Rat mehr wußte. Jeanne ahnte natürlich nichts davon. – Ich war fest entschlossen, nach Paris zu fahren. Ja, und heute nachmittag stand das Mädchen plötzlich vor mir. Ihre Freunde hatten ihr zugeredet, nach Hause zu fahren. Tag und Nacht waren sie ihr in den Ohren gelegen, bis sie selbst es für das Richtige hielt, ihren Rat zu befolgen. Zuerst kam sie zu mir, und sie nötigte mir wirklich Respekt ab, als sie so tapfer vor mich hin trat und mir alles bekannte. Sie ist schwanger. Gaston hat sie in der Nacht vor Mimis Hochzeit im Park angetroffen und überwältigt. Er versprach ihr, sie zu heiraten. Sie gestand mir offen, daß sie sich nie das geringste aus meinem Bruder gemacht habe, ja daß sie ihn heute sogar verabscheue. – Trotzdem hatte sie sich mit dem Gedanken 333
vertraut gemacht, seine Frau zu werden. Als sie sich über ihren Zustand im klaren war, erinnerte sie ihn an sein Versprechen. Er aber verhöhnte sie nur und erklärte ihr schließlich, daß er sie niemals heiraten würde, denn er sei in dich, Ursula, verliebt und hoffe auch, dich später einmal zu seiner Frau machen zu können. Sie hat ihn förmlich angefleht, ihr doch zu helfen, ihren Eltern die Schande zu ersparen. Du weißt, wie man hier in der Provinz über solche Vorkommnisse urteilt, Ursula. – Aber Gaston blieb unerbittlich, er wurde sogar zynisch und brachte immer wieder den gleichen Vorwand: daß Jeanne ja nicht ihn, sondern mich geliebt habe, und daß sie nur aus Eifersucht und gekränkter Eitelkeit in jener Nacht ihm zu Willen gewesen sei. – Da wußte sie sich keinen Ausweg mehr. Sie flüchtete nach Paris, sie trug sich mit Selbstmordgedanken und würde sie wahrscheinlich auch verwirklicht haben, wenn sie nicht rechtzeitig noch zur Besinnung gekommen wäre und den einzig richtigen Weg eingeschlagen hätte: sich mir anzuvertrauen. – Sie kam vorhin in einem herzzerreißenden Zustand bei mir an. Aber sie war willig und folgsam, sie ließ sich von mir zu ihren Eltern bringen und versprach mir, den alten Leuten alles zu bekennen. Was bliebe ihr sonst auch übrig? – Du wirst dich vielleicht in die Stimmung versetzen können, die jetzt, im Augenblick, bei den Bouliers herrschen mag. Ich bin überzeugt, daß der alte Mann gleich hier erscheinen wird, um den Schuft zur Rechenschaft zu ziehen … meinen Bruder, Ursula! Das hat mir vorhin den letzen Rest von Besinnung geraubt. Ich hatte der Jeanne versprochen, ihn sofort zur Rede zu stellen und auf seine Pflicht hinzuweisen. Die Antwort hast du gehört! Und nun sag selbst, ob du an meiner Stelle nicht auch versucht gewesen wärest, ihn zu erwürgen! Ich schäme mich dieser Szene, ich weiß, daß es dir vor mir gegraut haben muß … aber, Ursula, du wirst mich nun verstehen können, nicht wahr? Sag es mir doch, bitte, daß du mich trotzdem nicht für einen Rohling, einen brutalen 334
Menschen, hältst! Wenn ich nur daran zurückdenke, packt mich wieder eine ohnmächtige Wut! Mein Bruder, der erbärmliche Schuft!« Wieder birgt er das Gesicht in den Händen. Dann springt er auf, faßt sich an den Hals, als fürchte er zu ersticken. »Wie mich das alles anekelt – wie es mich anekelt«, murmelte er und beginnt wieder, mit hastigen Schritten im Zimmer auf und ab zu laufen. Ich sitze immer noch regungslos. Langsam, ganz langsam beginnt sich eine Erkenntnis in mir zu regen. Eine Erkenntnis, vor der ich mich fürchte, die ich noch nicht ganz zu fassen vermag. Und dahinter steht eine große Helle auf – aber ich kann ja wieder glücklich sein, dies alles war ja nur … Jetzt schlägt mir das Herz plötzlich bis zum Halse herauf. Ich will aufstehen, zu ihm gehen … aber die Schwäche, die vor allem in den Knien sitzt, läßt es nicht zu. Ich muß reden, ich muß … »André«, bring ich hervor. »André, sag mir nur noch eines: ich möchte es noch einmal von dir hören – von dir – daß es Gaston war …« Er ist stehengeblieben und wendet mir sein betroffenes Gesicht zu. »Was soll das heißen, Ursula?« »Du sollst mir schwören, daß es Gaston war, André!« Ich bin vor ihn hin getreten und lege ihm die Hände auf die Schultern. »Ich verstehe dich wirklich nicht – was ist denn mit dir los?« sagt er erstaunt. »Du weißt es doch, Ursula, sag, hast du denn nicht zugehört, vorhin?« »Doch, André! Du sollst es mir nur noch einmal sagen – daß er – daß Gaston …« »Erscheint dir das denn so unglaublich? Frag ihn doch selbst, frag das Mädchen, wenn du noch Zweifel hast! Merkwürdig bist du, Ursula!«
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Er betrachtet mich kopfschüttelnd. Plötzlich verwandelt sich der Ausdruck seines Gesichtes. Das Erstaunen wechselt in Angespanntsein, und jetzt reißt er mich an sich und fragt, dicht vor meinem Gesicht: »Da stimmt etwas nicht, Ursula! Du verbirgst mir etwas – du – sollte das eben etwa heißen, daß es Gaston war – und nicht ein anderer? Wußtest du am Ende schon vorher davon … von ihm selbst vielleicht?« Ich nicke. Da läßt er mich los, und seine Augen weiten sich in fassungslosem Erstaunen. »Du wußtest, Ursula – und hast es mir verheimlicht? Was wußtest du denn? Und seit wann?« »Seit gestern. Gaston hat mir gesagt – das heißt – nicht so wie du … er meinte … er sagte … André, verzeih mir! Ich weiß nicht mehr aus noch ein! Das ist zuviel, das …« »Was hat er dir gesagt?« Mit eisernem Druck umklammern mich seine Fäuste, und er zwingt mich, ihn anzusehen. »Ich will es sofort wissen, Ursula!« Ich fürchte mich vor ihm. »Warum fragst du mich, ob es Gaston war, Ursula? Ob es Gaston war und nicht …« Wieder nicke ich nur. Da wendet er sich von mir ab und geht ans Fenster. Er lehnt den Kopf an die Scheibe und verharrt so, regungslos. Ich fahre zusammen, als er sich plötzlich umwendet und an mir vorüber zur Tür gehen will. Ich stelle mich ihm in den Weg. »Wo willst du hin, André?« frage ich angstvoll. »Ein wenig ins Freie – laß mich – ich ertrage die Luft hier nicht länger!« Er wehrt mich schroff ab. »André!« Ich stelle mich vor die Tür. »Du mußt mir verzeihen, ich …« Er will mich beiseite schieben, aber ich klammere mich an ihn. »Du darfst mir nicht böse sein … ich ertrage das nicht, André!«
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Er unterbricht mich und legt mir die Hand auf den Mund. Draußen in der Halle hört man einen Schritt, der sich jetzt langsam entfernt. »André!« Das bringe ich unter Tränen hervor. »Versteh mich doch …« »Verzeih, Ursula, aber ich bin jetzt im Augenblick wirklich nicht in der Lage, dich anzuhören. Was hättest du mir auch schließlich zu erklären? Dein einziges, wenn auch unausgesprochenes ›Ja‹ genügte mir vollauf. – Bitte, laß mich jetzt hinaus, wir werden später noch Gelegenheit finden, darüber zu sprechen!« Wieder will er mich beiseite schieben. »Ich gehe mit dir, ich laufe dir nach«, sage ich erregt. »Wozu?« gibt er kühl zurück. »Ich habe wirklich den dringenden Wunsch, jetzt allein zu sein, Ursula.« Er nimmt meine Hand von seiner Schulter weg. »Du hast mich also nicht mehr lieb, André?« Ich kann den Tränen nicht länger wehren, sie laufen mir unaufhaltsam übers Gesicht. »Du hast ihm geglaubt, Ursula«, sagt er mit schwerer Betonung. »Du, die du vorgibst, mich zu lieben, du hast auch nur eine Sekunde daran glauben können! Du hast darauf verzichtet, mich auch nur zur Rede zu stellen! – Ich gebe ja zu, daß auch ich ein solches Maß von Gemeinheit nicht einmal Gaston zugetraut hätte! Aber dein Herz hätte dir sagen müssen, daß er gelogen hat, Ursula! Ich – ich würde keine Sekunde an dir gezweifelt haben, und wenn die ganze Welt sich zwischen dich und mich gestellt hätte! So unendlich lieb warst du mir, und ich habe geglaubt, daß auch du …« »André!« schreie ich auf. »André, ich liebe dich doch! Ich habe es ja auch nicht glauben können, gestern abend wollte ich dich doch fragen … und dann wagte ich es nicht, ich konnte einfach nicht … aber in meinem Herzen hab ich es ja gefühlt, daß es nicht wahr ist! Ich habe so furchtbar gelitten, André – 337
versuche doch, mich zu verstehen! Denk doch, wie verzweifelt ich war, als Gaston mir das gesagt hat! Er schwor es mir sogar, und er zeigte mit einen Brief, dessen Inhalt es mir noch zu bestätigen schien! Jetzt weiß ich ja alles – jetzt – du mußt mir verzeihen, André! Du mußt mich wieder liebhaben, es darf doch nicht alles zu Ende sein!« Ich lege meine Arme um seinen Hals und lasse den Kopf an seine Schulter sinken. »Ursula«, flüstert er. »Sei doch ruhig – bitte, mach es mir doch nicht so schwer.« Er streichelt mein Haar, ich spüre es beseligt. »André, sag mir, daß du mich lieb hast!« »Laß mich jetzt gehen, Ursula. Ich verspreche dir …« »Nimm mich mit, André!« Er löst sich sanft aus meinen Armen. »Ich bin ja gleich wieder zurück. Versteh mich doch – ich möchte jetzt allein sein – ich weiß ja nicht mehr, wo mir der Kopf steht!« »Du sollst mir sagen, daß du mich lieb hast, André!« Da reißt er mich an sich und küßt mich, so schmerzhaftzärtlich, wie er mich nie geküßt hat. »Ich habe dich lieb, Ursula, in alle Ewigkeit, das sollst du wissen. Und es wird alles noch einmal gut werden zwischen uns, sei nicht mehr traurig, Liebste. – Aber jetzt mußt du mich gehen lassen, nur für ganz kurze Zeit. Ich komme bald wieder – zu dir. Leb wohl, Ursula.« Damit läßt er mich frei und läuft hinaus. Ich höre ihn draußen die Stufen der Terrasse hinuntereilen, dann springt ein Motor an. Jetzt wird er ihn suchen, den anderen. Er wird ihn zur Rede stellen, es wird ein Unglück geschehen, denke ich verwirrt. Das darf nicht sein – ich muß zu ihm – ich darf ihn jetzt nicht allein lassen. So seltsam kam er mir vor, so fremd. Seine
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Beherrschung war nur gespielt, ich fühlte es: Wie blaß er war, wie ihm der Schweiß auf die Stirne trat, als er von mir hörte – Ich muß zu ihm, er wird ihn töten, den anderen … André! Da stürme ich schon aus dem Zimmer und fliege die Treppen der Terrasse hinunter. Er kann noch nicht sehr weit sein, das Parktor ist verschlossen, da gibt es einen Aufenthalt – »André!« schreie ich, immer vorwärtskeuchend. »André!« Meine Stimme scheint in Dunkelheit und Nebel zu ersticken. Eisiger Regen schlägt mir entgegen, an meinen Füßen hängen Bleiklumpen, sie tragen mich kaum noch. Da – jetzt hat er das Parktor passiert. Ich höre den Motor auf der Landstraße summen. Dann entfernt sich das Geräusch. – Und wenn ich bis Longville so laufen müßte – mich treibt es vorwärts, besinnungslos. Ich fliege nur so dahin, als ich die Allee am Fluß erreicht habe. Hier schlagen mir Regen und Wind mit verdoppelter Gewalt entgegen. Neben mir rauscht und gurgelt die Maas, das schwarze glänzende Wasser zwischen den Baumstämmen, es ist unruhig und aufgerührt wie die ganze Natur in dieser Novembernacht. Und immer noch schreie ich seinen Namen, oder ist es ein anderes Wesen, das aus mir schreit? Dort, wo die Brücke über die Maas führt, unter den letzten Pappeln, fand ich ihn. Der Wagen lag seitlich im Straßengraben, er mußte mit unerhörter Wucht gegen den Brückenpfeiler geprallt sein, denn die Erde war ringsum aufgerissen. Wenige Meter entfernt, inmitten der Allee, lag André. Ich erwachte über einem süßlichen, starken Geruch. Gleichzeitig schmerzt mich etwas – ich besinne mich 339
vergebens, wo dieser dumpfe, brennende Schmerz wohl sitzen mag. Im Kopf, in der Herzgegend, zwischen den Schultern? Der silberne Nebel, in dem ich schwebe, verflüchtigt sich. Dahinter erscheint ein rotes, kreisrundes Licht … die Sonne? Es blendet, ich schließe die Augen. Dann ist nur noch der süße Duft da. Er erregt leichten Ekel in mir. Ich besteige eine Schiffschaukel, zusammen mit Gaston. Er lacht mir vergnügt zu und stößt die Schaukel mit kräftigen Bewegungen hin und her, immer höher, bis in die höchsten Baumkronen hinauf. Mir wird so schwindlig – er soll aufhören – ich kann nicht mehr – sieht er denn nicht, daß die Schaukel sich von den Stricken gelöst hat und frei in der Luft schwebt, über den Wolken? Ich suche nach einem Halt, strecke flehend die Hände aus … da fühle ich eine weiche, kühle Hand in der meinen. Klein und schmal scheint sie zu sein, aber sie umschließt mich mit festem Druck. Das tut gut. Meine Angst schwindet, ich treibe nicht mehr haltlos in den Wolken, das Schaukeln und Schwingen hat aufgehört. Ich öffne die Augen und sehe Jeanne Boulier über mich gebeugt. Sie sitzt an meinem Bett und hält meine Hand in der ihren. Wie kommt sie hierher? Wieso bin ich eigentlich hier … dies ist doch mein Zimmer bei Müllers in Frankfurt … in Frankfurt … »Wie geht es ihr? Schläft sie immer noch?« Jeanne wendet den Kopf nach der Tür, in der eben Tante Angèle erschienen ist. Dabei legt sie den Finger behutsam an die Lippen … Wo habe ich diese Bewegung nur vor ganz kurzer Zeit schon einmal gesehen? Auf den Zehen nähert sich die alte Dame meinem Bett. Mein Gott, wie sieht sie nur aus! Ganz blaß und verweint, und ihr Kleid ist mit Krepp besetzt. Übrigens trägt auch Jeanne ein schwarzes Kleid … meinethalben? Aber ich lebe doch noch, nicht wahr? 340
»Ursula«, sagt Tante Angèle leise und beugt sich zu mir herab. »Geht es Ihnen besser?« Ich richte mich etwas auf und starre sie an. Wie ängstlich mich die beiden betrachten … was ist denn nur geschehen? »War ich krank?« frage ich verwundert. »Sie haben lange geschlafen, kleine Ursula«, antwortet Tante Angèle und läßt sich auf dem Bettrand nieder. Jeanne steht neben ihr. »Sie hatten Fieber, der Arzt hat Ihnen gestern abend ein starkes Schlafmittel gegeben.« Sie streichelt meine Hände. Arzt – Arzt – »Was riecht denn hier so sonderbar?« frage ich. »Ich habe Ihnen vorhin die Schläfen mit Kölnisch Wasser eingerieben«, antwortet Jeanne schnell. »Da liegt das Tuch noch auf dem Kissen, neben Ihnen. Mögen Sie den Geruch nicht?« Wie freundlich sie mit mir spricht, wie mitleidig sie mich ansehen, alle beide! Ich fasse nach meiner Stirn – da ist ein Verband, dicht über den Augen. Bin ich denn verwundet? Es ist so hell hier im Zimmer, die Sonne scheint draußen und wirft eine breite goldene Bahn auf den Teppich. Ermüdet schließe ich wieder die Augen. »Wollen Sie noch ein wenig schlafen, Ursula?« fragt Tante Angèle. »Ruhen Sie sich nur aus, Liebste, nachher wird Doktor Boisselet nach Ihnen sehen.« Dr. Boisselet. Ein Arzt. »Du bist Arzt, du kannst ihr helfen.« Wer hat das nur gesagt … »Wo ist André?« frage ich plötzlich und schlage die Augen auf. Warum wenden sie die Gesichter von mir ab, warum beginnt Tante Angèle zu weinen?
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Ich setze mich geradeauf. Das ist doch mein Zimmer im Schloß St-Clément? Da sind doch Jeanne und Andrés Tante Angèle – wo bleiben nur die andern alle? Gaston, André? »Wo ist er?« frage ich angstvoll. Keiner gibt mir Antwort. Da zerreißt mit einem Schlag das Dunkel, das mich umgab. Unbarmherzig hell und klar wird es in mir, in rasender Schnelligkeit, wie im Film, ziehen Gestalten und Geschehnisse an mir vorüber … beginnend mit dem Nachmittag, an dem ich draußen im Regen umherlief und den beiden, Jeanne und André, begegnete – endend mit jenem rasenden, irrsinnigen Jagen durch die Nacht, meinen angstvollen Rufen nach André und der reglosen dunklen Gestalt, die auf der Landstraße lag. Da versank alles um mich, ich entsinne mich nur noch eines verzweifelten, fast tierischen Aufschreies und eines betäubenden Schmerzes im Hinterkopf, der mich in einem kreisenden Strudel von roten Flammen untergehen ließ. Ich entsinne mich – als letztes – noch daran, daß ich stürzte und daß mein Körper auf einem anderen lag. Daß er und ich bluteten, und unser Blut sich wohl vermischte – – Ich brauche keine Antwort mehr. »Er ist tot.« Welche der beiden Frauen es ausgesprochen hat, oder ob die drei Worte in mir selbst aufgestanden sind, ob mein eigenes Herz sie geschrien hat … ich weiß es nicht mehr. Er ist tot. Die Wände des Zimmers scheinen sich zu verengen, sie rücken immer näher an mich heran, ich wehre ihnen mit ausgestreckten Händen, dann ergebe ich mich und falle schwer in die Kissen zurück. Er ist tot. Seit zwei Tagen scheint die Sonne wieder. Der Sommer scheint noch einmal zurückkehren zu wollen, mit Wärme und Licht und Himmelsbläue. Im Park wetteifern die bunten Astern an Farbenpracht und Fröhlichkeit mit den herbstlich-flammenden 342
Bäumen. Sie sind zwar zum großen Teil schon entlaubt, dafür weisen Rasenbeete und Wege einen schwellenden Teppich in Rot und Gelb auf. Unendlich klar dehnt sich der sehnsüchtig blaue Himmel über den fein profilierten Höhenzügen an der Maas. Wieder spiegeln sich Himmel und Wolken und Berge im silberklaren Wasser. Auch der goldene Blätterregen unter den Uferbäumen wiederholt sich im Spiegelbild. Hin und wieder taumelt ein Blatt in den Fluß und treibt als kleiner bunter Nachen langsam vorwärts. Ich lehne am Fenster und sehe hinaus. Unten im Hause ist ein unaufhörliches Kommen und Gehen, die Leute strömen zusammen, mit Blumen und Kränzen, in schwarzen Kleidern. Im Saal neben der Halle hat man ihn aufgebahrt. Heute nachmittag findet das Begräbnis statt. Die Wunde hinter meinem Stirnverband beginnt wieder zu brennen. Ich werde eine Narbe zurückbehalten, meint Dr. Boisselet. Er hat mir streng untersagt, den Verband jetzt schon zu entfernen. Mir ist es nicht recht, daß mich alle Leute so anstarren. Ich habe überhaupt Angst vor ihnen, immer wenn sie mich umringen und mit mir reden, in ihrer Sprache, die mir so fremd geworden ist. Seltsam, mein Sprachgefühl scheint gelitten zu haben. Oft suche ich nach Ausdrücken, die mir früher geläufig waren, und es fällt mir schwer, einem Gespräch zu folgen. – Ich entsinne mich, während meiner Fieberphantasien stets deutsch gesprochen und deutsche Stimmen gehört zu haben. Wundere ich mich darüber? Muß man nicht in der tiefsten Not seines Herzens zu der Muttersprache zurückfinden – wie in den Augenblicken des höchsten Glückes? Da redet das Herz selbst seine Sprache, die man als Kind gestammelt hat und mit sich nehmen wird bis zur letzten Stunde – als ein Teil seiner selbst. Vorhin, während des Essens, sah ich mir immer wieder die Menschen im Umkreis an. Wie kam es nur, daß ich mich unmerklich weiter und weiter von ihnen entfernte, daß ihre 343
Stimmen schwächer wurden und zuletzt fast unverständlich? – Sie gehören nicht mehr zu mir und ich nicht mehr zu ihnen. Gut sind sie alle, oh, so gut und freundlich. Mit welcher zarten Rücksichtnahme begegnen sie mir, mit welcher fast ehrfurchtsvollen Liebe. »Seine Braut«, sagen sie, wenn sie mich sehen. Mir gilt ihr ganzes heißes Mitgefühl, mir vor allen anderen. »Unsere liebe Schwester« bin ich für Mimi und Henri. Und »meine Tochter« für Tante Angèle. Jeanne ist meine Freundin. Und doch zieht es mich von ihnen fort. Ich kann nicht länger bei ihnen bleiben – ich habe Heimweh, Heimweh. Für mich ist die Sonne über diesem Lande untergegangen. Ich bleibe frierend und allein zurück. Ich sehne mich nach dem großen Zuhause, drüben, jenseits der Grenze. Mein Herz ist mir wohl schon vorangeeilt – denn in mir ist alles tot und leer. Der, dem es angehört hat, der hat sich ja nun als erster auf den Weg gemacht, in die große Heimat. Dahin werde ich ihm nicht folgen können. Aber er wird mit mir hinübergehen, über die Grenze, in mein Vaterland. Diese unerschütterliche Gewißheit lebt in mir. Und so bedeutet es denn keinen Treuebruch, wenn ich von hier fortgehe. Ich muß den Stimmen folgen, die mich mit übermächtiger Gewalt rufen und locken. Heimwärts, nach Deutschland. Es war schwer, den anderen meinen Entschluß begreiflich zu machen. Es zerriß mir das Herz, die weinende alte Frau zu sehen, die mich immer wieder bat, sie nicht allein zu lassen. Aber sie fügte sich endlich. Ich versprach ihr, oft, sehr oft, hierher zurückzukehren. Morgen aber gehe ich von hier fort. So still und gefaßt, wie ich mich nach außen hin gab, sah es bis vor kurzem noch in mir nicht aus. Heute bin ich ruhig. Denn es 344
gibt einen Schmerz, der sich mehr und mehr zu einer Höhe steigern kann, die schließlich über sich selbst hinauswächst und dann zusammenbricht. Nur Trümmer bleiben. Die legen sich schwer und steinern auf das Herz. Eines Tages wird man sie wegtragen, Stück um Stück. Und es wird unter ihnen alles wieder aufleben, was im Augenblick des Einstürzens verschüttet worden ist. Mein Herz ist verschüttet. Als einzige Rettung bleibt noch das Heimweh unter den Trümmern zurück. Ich habe nicht geschrien und getobt. Ich bin nicht mehr zusammengebrochen. – Wenn man mich aber allein ließ, und während der beiden Nächte, die diesem letzten Tag vorangingen – da glaubte ich, alles Leid der Menschheit von Anbeginn der Welt bis zum Jüngsten Tage in mir tragen zu müssen. Da habe ich mich aufgelehnt, in ohnmächtiger Wut, da hielt ich Abrechnung mit dem Schicksal, mit dem Tode selbst, der mir einen Menschen nur zum Geschenk gemacht hatte, um ihn mir wieder zu entreißen, nachdem ich kaum dazu gelangt war, mich meines Besitzes zu freuen. Ich pochte auf mein Recht, mein heiliges und unantastbares Recht auf diesen Menschen. Ich flehte, ich bat, ich beschwor, ich bot mein eigenes Leben zum Einsatz – und sank nur noch ohnmächtiger in das Grauen meiner Qual zurück. Die Sehnsucht nach ihm, nach André, wurde übermächtig, wurde zum körperlichen Schmerz – ich schrie seinen Namen, immer wieder. Und dann brach es barmherzig über mir zusammen, dann begruben mich die grauen Trümmer, und ich trat heute morgen vor die anderen hin, ruhig und still und gelassen. »Der Schmerz ist eine große, heilige und heiligende Macht«, sagte der Pfarrer zu mir, vor einer Stunde. »Er läutert und erzieht große Seelen. Aus diesem Schmerz wird Ihnen späterhin vielleicht einmal eine Bestimmung erwachsen, eine Aufgabe, die Gott Ihnen wohl nie übertragen hätte, um sie in seinem Namen zur Erfüllung zu bringen, wenn Sie nicht durch 345
die tiefsten Abgründe des menschlichen Leides geschritten wären.« Eine Aufgabe. Mußte ich André hingeben, um einer Lebensbestimmung zugeführt zu werden? Und ich glaubte mich dazu bestimmt, ihn, nur ihn, glücklich zu machen. Der Pfarrer meint es gut. Alle meinen es gut. Aber sie haben nicht wie ich ihr Herz unter Trümmern versinken sehen, sie wissen nicht, was es heißt, dankbar, ja, dankbar zu sein, wenn man ein zugeschüttetes Herz hat. Am Vormittag habe ich mit Jeanne einen Gang durch den Park gemacht. Sie umgibt mich mit so viel schwesterlicher Liebe, sie führte mich so behutsam in ihrem Arm. Es war mein erster Ausgang, und das Gehen fiel mir schwer. Der Blutverlust, den ich mir beim Sturz am Brückenpfeiler zuzog, hat mich ziemlich geschwächt, die Wunde an der Stirn ist fünf Zentimeter lang und soll breit geklafft haben, sagt man mir. – Das stille Mädchen an meiner Seite schien mir so viel hilfsbedürftiger, so viel kränker als ich zu sein. Ich beobachtete ihren schleppenden, müden Gang, die auffallende Blässe ihres Gesichts, das sich oft krampfhaft verzerrt. Sie litt Schmerzen, ihre Hände tasteten immer wieder nach dem Leib. Sie versprach mir schließlich, morgen gleich zu Dr. Boisselet zu gehen. Er hat Andrés Praxis übernommen. – Ich glaube aber beinahe, daß die Natur dem armen Mädchen helfen wird. Jedenfalls muß man ihr das Kind nehmen, man muß sie von den Folgen dieser Wahnsinnstat befreien. – Gaston! In jener Nacht noch verschwand er, tauchte am nächsten Morgen in Paris auf und wurde dort einer Anstalt überliefert. Er sei durch die Straßen getorkelt und habe gelacht, gelacht … Die Menschen wichen ihm entsetzt aus, und auch in der Anstalt, in der er sich jetzt befindet, sei das Lachen des Irrsinnigen von allen gefürchtet. Zwischendurch erzählt er den 346
Wärtern und Ärzten immer wieder seine Geschichte, von Lachanfällen unterbrochen. Von dem Splint, den er an der Steuersäule gelockert habe, am Wagen seines Bruders, ehe er flüchtete. Gaston ist sein Mörder. Und ich kann ihn nicht hassen. Dieser Wahnsinnige wurde ja nur zum Werkzeug des Schicksals, das Andrés Tod besiegelt haben mußte. An meinem Handgelenk trage ich das dünne goldene Armband, das er als Kind von seiner Mutter bekam. Vor Tagen hatte er es mir geschenkt. Sein Name ist eingraviert und das Datum seiner Geburt. »André Duval, geboren am 25. 5. 96 zu Paris.« Das Tagebuch – – – Tante Angèle hat es mir zurückgegeben. Er trug es in seiner Tasche, als man ihn fand. Er hat es immer bei sich getragen, ich wußte es. Seinen Talisman nannte er es. – Nun ist es also wieder in meine Hände zurückgekehrt. Dieses Buch, das Anfang und Ende für mich und ihn bedeutet hat. Da ist ein Irrsinniger irgendwo in einer Zelle und lacht. Und ein Toter mit zertrümmertem Schädel liegt auf der Bahre. Und ein Mensch mit zugeschüttetem Herzen bleibt zurück. Mutlos bleibe ich vor der schwarzumkleideten Tür stehen. Ich wollte noch einmal zu ihm hineingehen … aber da innen schieben und drängen sich die Menschen. Die Halle ist erfüllt von ihrem Kommen und Gehen, ihren gedämpften Stimmen. »Herr, gib ihm die ewige Ruhe. Und das Ewige Licht leuchte ihm. Herr, laß ihn ruhn in Frieden.« 347
Eintöniges Murmeln, seit Stunden, seit Tagen. Bleibt mir denn keine Minute mehr, ehe sie ihn hinaustragen? »Requiem aeternam dona ei Domine, et lux perpetua luceat ei«, murmelt auch Pater Dominique, der eben aus dem Saal kommt. Er hält einen Rosenkranz und das Brevierbuch in den Händen. Mit einem Blick scheint er die Situation zu erfassen: »Warten Sie, Mademoiselle, ich helfe Ihnen«, sagt er leise. »Gehen Sie da nebenan in den Salon, ich rufe Sie gleich!« Wirklich kommt er schon nach einer Minute zu mir und winkt mich heran. »Ich werde an der Tür stehen bleiben, man wird Sie allein lassen«, flüstert er mir zu. Wie gut doch alle Menschen zu mir sind! Leise schließe ich die Tür des dunklen Raumes hinter mir, den ich jetzt zum erstenmal ohne die Gesellschaft anderer betreten kann. Ich weiß, daß der Pater draußen Wache hält, daß er jedem den Eingang verwehren wird. Langsam nähere ich mich dem hohen Sarkophag, der am oberen Saalende zwischen zwölf brennenden Kerzen steht. Ein blauer Stahlhelm liegt auf dem silbernen Kreuz des Bahrtuchs und ein kleines Samtkissen, auf dem die Tapferkeitsmedaille des Frontsoldaten inmitten mehrerer Kriegsauszeichnungen ihren Platz hat. Ich stehe nicht zum ersten Male hier. Heute morgen noch – umgeben von seinen Angehörigen –, wie blieb mein Herz leer und kalt, wie unnatürlich ruhig stand ich inmitten der laut weinenden und klagenden Menschen! Ja ich war nahe daran, sie zu beneiden, weil sie ihren Schmerz doch ausströmen lassen konnten, auf ihre Weise, die mir so völlig wesensfremd ist. »Dies irae, dies illa Solvet saeculum in favilla: Teste David cum Sibylla.« 348
Eintöniges Murmeln, seit Stunden, seit Tagen. Das Jüngste Gericht, der »Tag der Rache, Tag der Tränen«, und dann immer wieder das Requiem, das »Herr, gib ihm die ewige Ruhe« – so schreien, so beten, so murmeln sie sich ihre Qual vom Herzen, die anderen. Und ich stehe allein da, allein und versteinert. Jetzt aber, in dieser großen Stille, will sich in mir etwas aufrichten. Eine Flamme, die steil zwischen Trümmern aufzüngelt. Es tut nicht einmal weh – es brennt wohl, aber es läutert, es befreit, dieses Weinenkönnen, dieses ruhige Sichhinausströmenkönnen in Tränen. – Es zwingt mich in die Knie, es zieht meinen Kopf herunter, dieses Neue. Meine Hände falten sich von selbst, und so sinke ich vor dem Sarg nieder. Ein Frontsoldat. Die beiden Worte stehen im Raum. Und da wiederholen sie sich, auf der breiten Schleife eines Kranzes, der vor mir liegt. Blauweißrot ist das Band, und seine goldene Inschrift lautet: »Dem tapferen Mitkämpfer um Douaumont-Fleury 1916, seine Kameraden.« Meine Blicke können sich nicht von den Worten lösen: »Douaumont-Fleury 1916.« – »Fleury, 1916.« Eine unsichtbare Hand scheint den beiden letzten Worten voranzusetzen: »Gefallen am 11. Juli – –« Wie eine Vision sehe ich plötzlich den weißen Kreuzgarten auf dem Douaumont vor mir. Eines der Kreuze in der Reihe trägt die Inschrift: »André Duval, mort pour la patrie, 11. 7. 16.« Ein Soldatengrab. Eines unter Tausenden. Kamerad unter Kameraden. Als toter Soldat bist du in mein Leben getreten, André Duval. Als toter Soldat gehst du wieder von mir. Dazwischen lag eine kurze Zeitspanne, in der du zu uns Lebenden 349
zurückkehren durftest, zu mir, André. Der Tod hatte dich noch einmal freigegeben, dich, einen unter Millionen, auf daß du zum Sprecher dieser Millionen würdest und uns Botschaft von ihnen bringen könntest. Du hast deine Mission erfüllt, nun ist deine Frist abgelaufen, und du kehrst dahin zurück, von wo du ausgegangen bist. Aus der Ewigkeit kamst du, und in die Ewigkeit gehst du wieder ein. Ich durfte dich nicht behalten, André Duval. Ich habe kein Recht mehr auf dich. Das höchste, reinste Glück hast du mir geschenkt. Es genügte, um ein ganzes Menschenleben zu erhellen. Soll ich klagen um deinen Tod, da du doch nur als Geschenk des Himmels zu mir gekommen bist und heute wieder in die Reihen jener heimkehrst, denen du angehörtest und nun weiter angehören wirst, in alle Ewigkeit? Ich durfte in dein Land kommen, ich durfte es durch dich kennen- und liebenlernen. Und ich werde zurückkehren zu meinem Volk und ihm berichten vom Nachbarvolk im Westen. Deine Worte werde ich mit mir hinübernehmen: »Was wir fortan schaffen und streben, gründet sich auf die Tat unserer Toten. Sie haben sich für uns zum Opfer gebracht, und sie haben gewonnen, was auch wir gewinnen müssen, um es dauernd zu besitzen: den Frieden.« Den Frieden, um den ihr kämpftet und starbt. Du hast mir eine Aufgabe übertragen, toter Soldat. – Und so nehme ich Abschied von dir. Nicht hier, sondern droben, auf dem Douaumont, vor einem der weißen Kreuze in der Reihe. Dahin mündet alles, dort ist Anfang und Ende. Dort ist Tod und Auferstehung. An jenem 11. Juli 1916, als dich droben auf dem Douaumont die Kugel traf. Ich lasse dich nicht allein zurück. Deine Kameraden sind um dich, in ihrer Reihe marschierst du noch immer – in alle Ewigkeit – als Soldat in der Armee des Friedens.
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Und so versinkt dieser Sommer an der Maas, dieser Sommer in Frankreich, so versinkt meine Liebe zu dem Menschen André Duval wie das Leuchten einer Sonne, die zur Neige geht. Ihr Glanz bleibt noch zurück und ihre Wärme, aber das Gestirn ist im Weltall versunken. Und dem Menschen bleibt die Nacht mit ihren Sternen und ihrer Kühle. Es friert nur den, der an der Sonne vorübergegangen ist. Wer aber ihren Glanz im Herzen zurückbehält und dankbar ist für den Tag, der der Nacht voranging, den wird es nie frieren, auch nicht in der dunkelsten Stunde. Der wird sogar anderen vom Glanz und der Wärme seines Herzens abgeben können. In der Heimat zu sein. Kinder heranziehen zu dürfen. Und den Gedanken an André Duval als heiligsten Schatz in sich zu tragen. Und seine Aufgabe darin zu erblicken, im Sinne Andrés und seiner Kameraden in Feldgrau und Feldblau zu wirken. – Nie wird einen frieren, nie wird der Glanz dieses Sommers an der Maas und seiner Sonne ganz verblassen können. – Nur Freunde lasse ich hier zurück. Wenn ihre Gestalten auch nach Jahren in meiner Erinnerung versinken, wenn sie eines Tages ganz aus meinem Leben gelöscht sein werden … da ich ja nicht für sie und mit ihnen, sondern für mein Volk und mit meinem Volke leben werde … so werden sie für mich ebenso unvergänglich bleiben wie der Sommer in Frankreich, in ihrem Lande. – Nur das Tagebuch nehme ich mit mir hinüber. Sein und mein Buch. Nun ist es Nacht, und ich bin müde geworden. Auf meinem Schreibtisch türmen sich die weißen Blätter, auf denen ich die Geschichte André Duvals niedergeschrieben habe. Er war bei mir, während dieser ganzen Zeit. Tage und Nächte stand er neben mir, und jetzt ist das Zimmer erfüllt von 351
Gestalten, die sich um mich scharen, still und schwerelos. Gilbert ist unter ihnen, Lucien ist unter ihnen, und ich kann nicht einmal erkennen, ob dieser oder jener einen grauen oder blauen Stahlhelm trägt. Ich fühle nur, daß sie zufrieden sind. In ihrem Namen, für sie, sind diese Blätter beschrieben worden. Nun lasse ich den Kopf in die Hände sinken, denn ich bin müde wie einer, der einen sehr weiten Weg zurückgelegt hat. Und ich bin traurig, weil André Duval nun von mir gehen wird, weil er zum letztenmal hier bei mir ist und mir zusieht. Seine Geschichte ist nun abgeschlossen. Und meine Arbeit, das Werk, das ich ihm und den anderen schulde, ist vollbracht. So wirst du nun weitermarschieren, André Duval, deine Kameraden an der Seite, Feldgrau und Feldblau. So werdet ihr weitermarschieren – in alle Ewigkeit – Armee des Friedens. Noch einmal nehme ich das kleine Buch, sein Buch, in die Hände. Ich schlage die erste Seite auf, auf der geschrieben steht: »Dieses Buch gehört André Duval, geboren am 25. 5. 96 in Paris« und ich setze hinzu: »† am 11. 7. 16 vor Verdun.«
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