Ken Conagher
Am Ende aller Wege Ronco Band Nr. 395/60
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 19...
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Ken Conagher
Am Ende aller Wege Ronco Band Nr. 395/60
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine eigene Geschichte.
Er schildert den Weg, den er gehen mußte – bis zu dem schrecklichen Tag, an dem er das Massaker im Halcon Canyon als einziger überlebte und als Verräter, Mörder und Feigling gebrandmarkt wurde. Bis zu diesem Tag war sein Leben wie das vieler anderer verlaufen, die die Wirren des Bürgerkrieges überstehen mußten und sich nach Ende des großen Blutvergießens in den Westen aufmachten, um einen neuen Anfang zu finden. Erst der große Schicksalsschlag vom Halcon Canyon warf RONCO aus der Bahn, und für lange Jahre mußte er als Geächteter um sein Leben kämpfen …
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Erntet keinen Dank, als er einen Viehdieb vorm Hängen bewahrt. Joey Winder – Ein Bürschchen von knapp sechzehn Jahren, das einem Rattenfänger nachläuft. Mahon Tabor – Läßt andere die Kastanien aus dem Feuer holen, aber da gerät ihm Ronco in die Quere. Alfredo Copolla – Ex-Colonel der Garde Kaiser Maximilians. Aber von dem Offizier ist wenig geblieben.
Am Ende aller Wege 19. August 1882 – irgendwo zwischen Sonora und Austin … Ich bringe drei Galgenvögel nach Austin, wo sie dem Gericht vorgeführt werden sollen – einen ehemaligen Bürgermeister, einen ehemaligen Stadt-Marshal und einen ehemaligen Deputy. Drei Mörder, wie man sie sich übler nicht vorstellen kann. Ihren letzten Mord, begangen an einem Saloonbesitzer, hatten sie einer Frau zuschieben wollen, diese Dreckskerle. Fast wäre ihnen das geglückt – aber eben nur fast. Irgendeinen Fehler begehen sie immer – jene Kerle, denen ein Menschenleben nichts gilt, und die meinen, sich auf Kosten anderer die Taschen vollstopfen zu können. Und die sich unter der Maske des Biedermanns tarnen wie der Bürgermeister Halligan oder der Marshal Prescott. Jetzt hocken sie, mit Handschellen an drei Bäume gefesselt, in der Nähe des Feuers und beobachten mich, wie ich in meinem Tagebuch schreibe. Es sind drei Ratten, die mich beobachten. Aber sie beobachten sich auch gegenseitig, nein, sie belauern sich. Sie waren Komplicen. Jetzt sind sie es nicht mehr, jetzt beschuldigen sie sich gegenseitig und würden sich am liebsten an die Gurgel springen – weil ein Toter vor Gericht nicht mehr aussagen kann. Halligan, der ehemalige Bürgermeister, unterbricht mich beim Schreiben. Er sagt: »Was verdienen Sie eigentlich als Ranger?« »Genug, um zu leben«, erwidere ich. »Das ist doch kein Job für einen Mann wie Sie«, sagt er. Ich schaue ihm über das Feuer hinweg in die Augen und sehe die Falschheit darin. »Für einen Mann mit Ihren Fähigkeiten und Qualitäten«, fährt er fort und lächelt. Und auch dieses Lächeln ist falsch. »So?« erwidere ich. »Und was für ein Job wäre – Ihrer Meinung nach – für mich besser geeignet?«
»Nun«, er leckt sich über die Lippen, »wir könnten uns zusammentun …« Ich unterbreche ihn. »Geben Sie es auf, Halligan. Es ist zwecklos. Ich bin nicht zu korrumpieren. Ob ich den Stern trage oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Aber Sie sind mir zu schmutzig, mein Freund. Über Ihre Verbrechen mag das Gericht urteilen. Ich bin nicht Ihr Richter. Eins steht jedoch fest: Mit Verbrechern und Mördern habe ich nichts gemeinsam. Genügt das als Antwort?« Und dann schreibe ich weiter. Sein Fluchen stört mich nicht. Aber er hat einen wunden Punkt bei mir berührt, der mich in letzter Zeit immer mehr beschäftigt. Nein, es geht nicht darum, was ich als Ranger verdiene, obwohl es tatsächlich nicht sehr viel ist. Es ist etwas ganz anderes – nämlich meine Isolation innerhalb des RangerKorps'. In Siringo habe ich einen Freund, in Captain Lew Harker ebenfalls. Auch Stumpy hat keine Vorurteile mir gegenüber. Aber die anderen? Der Fluch, einmal geächtet gewesen zu sein, steht zwischen uns. Ich spüre es sehr genau. Sie sind mißtrauisch bis hin zur schroffen Ablehnung. Meine Erfolge als Ranger haben an dieser Einstellung nichts geändert. Ich habe keine Veranlassung, jenen, die mich ablehnen, hinterherzulaufen. Dazu bin ich zu stolz. Ich muß das alles mit Gelassenheit hinnehmen, aber ich werde darüber nachdenken müssen, ob es so bleiben soll. Es liegt an mir, eine Situation, die mit Vorurteilen belastet ist, zu verändern. Ja, Gelassenheit ist am Platze, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen. Damals, im Frühsommer 1867, stand ich am Anfang meines Weges, behaftet mit dem Makel, über zweihundert Frauen und Kinder in den Tod geführt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt war ich weniger gelassen. Ich fieberte danach, die Schuldigen an dem Massaker im Halcon Canyon zu finden und ihr Verbrechen aufzudecken. Einer der Schuldigen war Mahon Tabor …
1. Er war zu Fuß geflohen, der ehemalige Zahlmeister von Fort
Calhoun, zu Fuß und von mir mit dem Messer verletzt. Zäh war der Kerl, zäh, gerissen, skrupellos, die richtige Mischung für einen Mann, der sich mit seinem bisherigen Lebenslauf die beste Anwartschaft für die Hölle erworben hatte. So ganz sicher war ich mir nicht, ob es die Hölle tatsächlich gibt. Aber wir Menschen brauchen wohl die Vorstellung, daß drüben im Jenseits die Guten von den Bösen getrennt werden. Da spielt auch so ein bißchen der Glaube hinein, daß die Bösen – so es ihnen auf Erden gelungen war, nie für ihre Untaten bestraft worden zu sein – vor dem göttlichen Richter würden büßen müssen. Das Paradies würde ihnen verschlossen bleiben. Ich jedenfalls wollte meinen Teil dazu beitragen, den Schurken Mahon Tabor bereits vor den irdischen Richter zu bringen. Damals ahnte ich nicht, was ich mir da vorgenommen hatte – es ähnelte dem Vorhaben eines Mannes, der losen Wüstensand zu einem Berg aufschaufeln möchte und feststellen muß, daß der Sand ständig nach allen Seiten hinunterrieselt. Der Berg wächst nicht in die Höhe, sondern wird nur immer breiter und umfangreicher. Natürlich – nur ein Idiot übernimmt eine solche Arbeit. So gesehen war ich ein Idiot. Ich wußte es nur nicht. Der Rio Grande – und damit die Grenze nach Mexiko – lag hinter mir. Ich befand mich wieder auf texanischem Boden, der für mich nicht nur wegen der glühenden Sonne mächtig heiß war, nein, auch wegen des Steckbriefs. Aber das war bald schon Jacke wie Hose. In Mexiko war mir der Boden auch ziemlich heiß geworden, nachdem dieser verdammte Mahon Tabor kräftig dafür gesorgt hatte, mich den Juaristas gegenüber als Spion und Agenten des inzwischen füsilierten Kaisers Maximilian zu denunzieren. Wenn er darauf spekuliert hatte, die Juaristas würden mich ohne viel Federlesens sofort an die Wand stellen und erschießen, so hatte er sich getäuscht. Dieser Fehler würde ihm nicht noch einmal unterlaufen. Inzwischen mußte er begriffen haben, daß mit mir zu rechnen war. Ich saß ihm wie eine Laus im Pelz – denn jetzt war er der Gejagte, nicht ich. Und ich war beritten, er nicht. Der Witz war, daß ich sein eigenes
Pferd ritt, einen grauen, recht ausdauernden Wallach. Bewaffnet war ich mit einem Spencerkarabiner und einem Fünfundvierziger. Zu behaupten, ich wüßte mit diesen Waffen nicht umzugehen, wäre eine Untertreibung gewesen. Im Gegenteil. Mein Leben hing von ihnen ab – nicht daß ich wild aufs Schießen war, aber wer mir ans Leder wollte, würde sehr schnell feststellen, daß er sich da ein bißchen viel zugemutet hatte. Ich schreibe das heute ohne Überheblichkeit hin. Anders ausgedrückt – ich bin noch am Leben, das ich unzählige Male mit der Waffe verteidigen mußte, von klein auf. Wer in diesem wilden und zum Teil gesetzlosen Land bestehen und überleben wollte, mußte es gelernt haben, sich seiner Haut zu wehren. Oder er ging unter. Mahon Tabor hatte sich nach Nordosten gewandt, und ich folgte seinen Spuren. Er hatte erstaunlich gut durchgehalten, was für seine Zähigkeit sprach. Er war im Schritt gegangen und dann wieder im Wolfstrab gelaufen, immer abwechselnd. Das war deutlich aus den Spuren herauszulesen. Für einen ehemaligen Zahlmeister der Armee war das ganz beachtlich. Ich wußte längst, daß es für mich tödlich gewesen wäre, diesen Mann zu unterschätzen. Er hatte hervorragende Anlagen, die es wert gewesen wären, für gute Zwecke eingesetzt zu werden. Aber da waren die anderen Seiten seines Charakters, die ihn wohl auf die schiefe Bahn gebracht hatten. Er war eine erstaunlich schillernde Persönlichkeit. Und dort, wo andere Menschen das Herz hatten, mußte bei ihm ein Eisklumpen sitzen. Ich beging nicht den Fehler, in meiner Wachsamkeit nachzulassen. Mahon Tabor war immer gut genug, um eine Falle aufzubauen. Außerdem mußte ich aufpassen, keiner Armee-Patrouille über den Weg zu laufen. Bestimmt hatten sämtliche Forts und Stützpunkte der Armee in Texas längst Beschreibungen von mir. Und die Armee war ja geradezu versessen darauf, mich zum Schuldigen zu stempeln. Daß sie selbst Dreck am Stecken haben mußte, bewies mir die Person Mahon Tabors, der seinen Dienst hatte quittieren müssen und jetzt dem lukrativen, aber üblen Geschäft des Waffenschmuggels
nachging. Waffen waren auch in dem Treck, für den der Halcon Canyon zur Todesfalle geworden war, mitgeschmuggelt worden – Waffen für die aufständischen Apachen. Und Mahon Tabor steckte in dieser Geschichte drin, daran gab es für mich keinen Zweifel mehr. Jetzt, gegen Mittag, wurde das Terrain unübersichtlicher. Aber nicht deswegen fluchte ich still vor mich hin, sondern wegen des Bodens, der auf die Sierra Blanca zu immer felsiger geworden war. Ich konnte Mahon Tabors Fährte nur noch ahnen. Natürlich hatte der gerissene Hund den erdigen Boden verlassen und war über felsigen Untergrund weitermarschiert. Zwei Stunden später blieb mir nur noch das Eingeständnis, daß ich seine Spur verloren hatte. Ich war kreuz und quer geritten in der Hoffnung, doch noch etwas zu entdecken, einen abgebrochenen Zweig, poröse Gesteinsreste, die zertreten waren, oder ein flüchtiger Fußabdruck dort, wo Moosgeflechte ein spärliches Dasein zwischen dem Gestein fristeten – nichts. Ich verließ das felsige Terrain und bog nach Norden ab. Dort, das wußte ich, war Rinderland. Wo Weidegebiete waren, mußten Farmen und Ranchhäuser sein – und die Stadt, die sie versorgte. Mahon Tabor würde versuchen, dorthin zu gelangen. Was er brauchte, das war ein Pferd. Wenn er es nicht irgendwo klaute, würde er in der nächsten Stadt einen Mietstall ansteuern. Den Mietstall finde mal, dachte ich, na, so etwa in einem Umkreis von vierzig bis sechzig Meilen. Aber Geduld hatte ich schon immer gehabt. Ich gab dem Grauen ein wenig die Hacken und trabte nordwärts durch das jetzt hügelige Land. * Das Gebrüll war nicht zu überhören. Dazwischen gellte eine helle Stimme, die voller Angst war. Ich zog den Grauen herum, bog um einen Hügel und hatte allen Grund, die Sicherheitsschlaufe an dem Fünfundvierziger zu lockern. Sie waren zu dritt – Cowboys.
Und sie waren dabei, einen schmächtigen Jungen vom Leben in den Tod zu befördern. Die Schlinge baumelte bereits von dem Querast eines Palo-Verde-Baumes. Sie kriegten ihn nur nicht auf das Pferd rauf, weil er wie ein Verrückter strampelte und um sich schlug. Und dabei schrie er. Und das Pferd war auch nervös. Abseits standen zwei Kälber und blökten, als sollten sie ebenfalls am Hals lang gezogen werden. Die drei Cowboys wirbelten herum, als sie den dumpfen Galopp meines Grauen hörten. Sie sahen alle drei ruppig und erbost genug aus, um den Teufel am Schwanz zu ziehen oder ihm ein paar Barthaare auszurupfen. Aber sie wollten einen Hering von Jungen aufbaumeln, und das paßte mir nicht. Ich zügelte den Grauen vor dem Palo-Verde-Baum, betrachtete die Schlinge, den Jungen und die drei Cowboys und sagte: »Seit wann hängt man in diesem Land Kinder auf, Amigos?« »Seit heute!« knurrte einer der drei, ein hagerer Typ mit einem Raubvogelgesicht. »Verschwinde, Mister, du bist hier unerwünscht …« »Ich habe nichts getan!« schrie der Junge mit gellender Stimme und empfing dafür von dem Hageren eine Ohrfeige, die wie ein Peitschenschlag knallte und ihm schier den Kopf abriß. Mir stieg die Galle hoch. »Amigo«, sagte ich ergrimmt, »ich hatte schon immer was dagegen, wenn sich ausgewachsene Kerle, wie du einer bist, an Wehrlosen, Schwächeren oder Kindern vergreifen. Laß den Jungen los …« »Oder?« unterbrach mich der Hagere höhnisch. »Oder du handelst dir ein Stück Blei ein.« »Von dir, wie?« »Ich seh keinen anderen«, erwiderte ich kalt. »Du steckst wohl mit diesem Lümmel unter einer Decke, he?« »Nicht daß ich wüßte«, sagte ich, »ich sehe ihn zum erstenmal. Und jetzt sei friedlich und laß den Jungen los!« »Wir haben ihn erwischt, als er die beiden Kälber dort wegtreiben wollte«, sagte der Hagere, »und darauf gibt's nur eine Antwort,
nämlich den Strick, das ist ungeschriebene Weideregel.« Da hatte er allerdings recht, der Hagere. Viehdiebe pflegte man – ohne lange herumzupalavern – gleich am nächstbesten Ast aufzuhängen. Aber der Junge sah erbärmlich genug aus. Allenfalls war er sechzehn Jahre alt. Er trug zerlumpte Kleidung, die Hose war ihm zu kurz, an den Knien durchgestoßen, ein Strick diente als Gürtel. Selbst dieser Strick war an zwei Stellen zusammengeknotet. Ja, zum Gotterbarmen sah der Bengel aus, schmal, unterernährt, zum Umpusten. Jetzt verzerrte nur Todesangst sein Gesicht mit dem lächerlichen Milchbart, der spitzen Nase und den flackernden, blaßblauen Augen. Mitleid packte mich, und ich dachte daran, wie ich selbst in diesem Alter herumgestoßen worden war, elternlos, ohne Zuhause, Treibgut in diesem Grenzland. Aber Shita war bei mir gewesen, der treueste Hund, den es je gegeben hat. Wo er wohl stecken mochte? Einem Jungen wie diesem da hatte ich ihn geschenkt, und es war mir weiß Gott schwergefallen. »Also«, sagte ich, »ihr habt eure beiden Kälber, es ist nichts passiert. Laßt den Jungen laufen, er ist viel zu jung, um zu begreifen, was er getan hat.« »Spar dir deine Predigt, Mister«, sagte der Hagere schroff. »Viehdieb bleibt Viehdieb, verdammt noch mal.« »Und Hängen macht Spaß«, sagte jetzt einer der beiden anderen, die bisher stumm zugehört hatten. Er hatte ein Ferkelgesicht und schmatzte auch wie ein Ferkel – offensichtlich im Vorgenuß, das magere Kerlchen am Ast zappeln zu sehen. Der eine wollte tödlich strafen, der zweite wollte einen makaberen Zeitvertreib, und der dritte, was wollte der? Der dritte Cowboy wollte gar nichts, der kaute auf einem Halm und glotzte dabei so blöd wie die beiden Kälber. Alle drei trugen sie zwar Eisen, aber ich bezweifelte, daß sie schnelle und treffsichere Schützen waren. Ich musterte den mit dem Ferkelgesicht, der erklärt hatte, daß Hängen Spaß mache, und sagte: »Ich wette, der Spaß würde dir vergehn, Dicker, wenn dein Hals in der Schlinge steckte.«
Die Augen in dem Ferkelgesicht wurden tückisch, und als er nach unten langte, ließ ich ihn in das häßliche Loch meines Fünfundvierzigers schauen. Da hatten seine Fingerspitzen noch nicht einmal den Coltgriff berührt. Er starrte in das Loch, als säße dort ein Frosch drin, der Dudelsack spielt. Der Hagere hatte den Jungen weggestoßen und wollte es auch versuchen. Aber es blieb beim Versuch, als ich die Waffe herumschwenkte. Seine rechte Hand blieb wie festgenagelt in der Luft. Der dritte kaute immer noch auf dem Halm und überlegte wohl, ob er einschlafen solle. »Trollt euch«, sagte ich freundlich, »die Hängeparty findet nicht statt.« Der Ferkelgesichtige wich Schritt um Schritt zurück. Wie hypnotisiert starrte er auf meinen Colt. »Sam«, sagte er keuchend, »laß uns abhauen, das ist 'n verdammter Profi, der ist verrückt aufs Ballern.« »Und wie«, sagte ich, »ganz scharf bin ich drauf, so scharf wie ihr aufs Hängen.« Sam, das war der Hagere, zögerte noch. »Lauf mir nie wieder über den Weg, Mister«, preßte er hervor. Ich schob den Colt gleichgültig ins Halfter zurück, blickte ihm in die Augen und rutschte langsam aus dem Sattel. Gemächlich ging ich auf ihn zu. »Sollte das eine Drohung sein, mein Freund?« fragte ich. »Wenn ja, dann bin ich dir jetzt über den Weg gelaufen. Versuch's doch mal. Oder bist du nur stark, wenn du noch zwei Kerle neben dir hast, die dir dabei helfen, über ein halbes Kind herzufallen?« Er wurde weiß vor Wut. Ich wartete, bis er die Waffe aus der Halfter hatte. Dann flog sie weg, von meinem rechten Fußtritt getroffen. Und die Ohrfeige, die Bruchteile von Sekunden später folgte, knallte genauso schön wie jene, die er dem Jungen verpaßt hatte. Sein Hut kreiselte zu den beiden Kälbern, die vor dem Ding scheuten und wie junge Lämmer hüpften. »Das war's wohl«, sagte ich.
Der Hagere wußte nicht, ob er erst seine Hand untersuchen oder seine Wange befummeln sollte. Die Hand war ein bißchen geprellt, und auf der Wange hatte er meine fünf Finger. Die Lust, sich mit mir anzulegen, hatte er verloren. Die beiden Kälber stiegen inzwischen auf seinem Hut herum. Der Ferkelgesichtige zog sich bereits in den Sattel. Der Hagere betastete jetzt doch seine Wange und schnitt Grimassen – wohl um nachzuprüfen, ob nichts ausgerenkt sei. Es war nichts ausgerenkt. Er warf mir einen giftigen Blick zu und stelzte steifbeinig zu seinem Pferd. Der Halmkauer starrte tiefsinnig auf seine Stiefelspitzen, als erwarte er von dort eine wichtige Nachricht. »He!« sagte ich gedämpft, um ihn nicht zu erschrecken. Er löste den Blick von seinen Stiefelspitzen, drehte etwas den Kopf und schaute mich an. »Ist was?« fragte er. O Heiland, der Kerl schielte derart, daß ich Zweifel hatte, ob er mich überhaupt sah. Vielleicht sah er mich auch doppelt, aber ich mochte ihn nicht fragen. »Vergeßt euer Lasso nicht«, sagte ich. »Was für'n Lasso?« fragte er. »Das am Baum hängt«, sagte ich. »Gehört Fat-Joe«, sagte er und betrachtete mit dem rechten Auge mein linkes Ohr. Sein linkes Auge schien sich auf das Lasso zu heften. »Dann soll Fat-Joe es sich holen«, sagte ich. Er spähte zu dem Ferkelgesichtigen und rief: »Du sollst dir dein Lasso holen, sagt der Mister!« Fat-Joe stöhnte und hampelte auf seinem Pferd herum. Er hatte etwas dagegen, noch einmal in meine Nähe zu geraten. »Bring's mit, du Idiot!« schrie er. »Ist gut«, sagte der Halmkauer, schlurfte an mir vorbei, löste das Lasso vom Ast des Palo-Verde-Baums und trottete zu seinem Pferd. »He!« rief ich hinter ihm her. Er drehte sich wieder um und schielte mich an. »Ist was?« fragte er. Er hatte einen erstaunlichen Wortschatz.
»Vergiß den Colt nicht«, sagte ich. »Was für'n Colt?« »Den da!« Ich deutete auf die Waffe des Hageren, an der er vorbeigegangen war. Es wiederholte sich alles. »Gehört Sam«, sagte er. »Dann soll Sam ihn sich holen«, sagte ich geduldig. Der Halmkauer drehte sich zu dem Hageren um, aber der brüllte bereits: »Bring ihn mit, du Idiot!« »Ist gut«, sagte der Halmkauer, bückte sich nach dem Colt, hob ihn auf und marschierte weiter, jetzt mit Colt und Lasso bepackt. Sams Hut noch mitzunehmen, wollte ich ihm nicht mehr zumuten. Außerdem lag der jetzt plattgedrückt unter einem grünlichen Fladen. Schließlich schieden auch Kälber aus, was ihre Mägen verdaut hatten, und warum sollten sie das nicht über einem Hut tun, nicht wahr? Der Hagere hatte das auch bemerkt und fluchte ordinär. Aber er kümmerte sich wenigstens um die beiden Kälber, nachdem ihm der Halmkauer den Colt ausgehändigt hatte. Fünf Minuten später verschwanden sie mit den beiden Kälbern zwischen den Hügeln.
2. Der Bengel feixte mich an und hielt mich wohl für einen Kumpel. »Mann, denen haben Sie's aber gezeigt, diesen Kuhhirten«, sagte er begeistert. »Na, ich hätte sie alle drei umgelegt!« »So hättest du?« »Klar.« Ich betrachtete mir dieses magere Bürschchen genauer. Vorhin war dieser Spund halb verrückt vor Angst gewesen, aber die war jetzt wie weggewischt. Ich hatte allen Grund, mich zu wundern. Das schien ja ein sauberes Früchtchen zu sein, das ich vorm Hängetod bewahrt hatte. Er an meiner Stelle hätte alle drei »umgelegt«. Nicht zu fassen! »Hör mal zu, mein Freundchen«, sagte ich. »Du scheinst etwas
verworrene Vorstellungen darüber zu haben, ob ein Mensch das Recht hat, einen anderen zu töten. Du sprichst von Umlegen und redest wie der Blinde von der Farbe. Mit Umlegen werden keine Probleme gelöst, sondern erst geschaffen. Das schreib dir mal hinter die Ohren.« Er war keineswegs beeindruckt. »Die wollten mir an den Kragen! Wenn ich 'n Schießeisen gehabt hätte, dann wär's diesen Sattelquetschern schlecht ergangen, das können Sie mir glauben, Mister.« Er reckte die magere Brust heraus und wirkte dabei so lächerlich wie ein Junggockel, der meint, schon so laut krähen zu können wie ein alter erfahrener Kampfhahn. Dieses Bürschchen würde wohl kaum sehr alt werden. Mir stiegen Zweifel auf, ob ich richtig gehandelt hatte. Da hatte ich gemeint, mich für ein halbes Kind einsetzen zu müssen, und durfte jetzt feststellen, daß ich mich in dieser Hinsicht wohl ziemlich getäuscht hatte. Ich sagte: »Du hattest zwei Kälber klauen wollen, nicht wahr?« Er nickte – keineswegs verlegen. Der Unterschied zwischen Mein und Dein war ihm wohl entfallen – oder völlig fremd. »Na und?« sagte diese Rotznase. »Wir wollten eben auch mal Fleisch essen. Ich hab das erstemal geklaut, Mister, ehrlich.« »Wer ist wir?« fragte ich. »Meine beiden Schwestern und ich.« »Habt ihr keine Eltern?« Er zuckte mit den Schultern. »Mein Alter ist vor zwei Jahren auf und davon. Der hat jeden Cent versoffen, den er zwischen die Finger kriegte. Meine Mutter ist vor einem Jahr an Schwindsucht gestorben.« »Sind deine beiden Schwestern älter als du?« Er schüttelte den Kopf. »Jünger. Die eine ist vierzehn, die andere zehn.« »Und wie alt bist du?« »Ich werd bald achtzehn.« Da hatte er mindestens zwei Jahre dazugemogelt – wie das Jungen tun, die gern schon Männer sein möchten. Wahrscheinlich war er fünfzehn Jahre alt.
»Hast du auch einen Namen?« fragte ich. »Klar. Joey Winder heiße ich.« Er blickte treuherzigverschlagen zu mir hoch. »Wollten Sie nach Willow Spring, Mister?« »Vielleicht. Warum fragst du?« »Ich wohne da.« Er grinste und schaute zu dem Wallach hinüber. »Das heißt, ich soll dich mitnehmen, wie?« »Für meine Schuhsohlen wär das 'ne gute Sache«, erwiderte er. Da hatte er allerdings recht. Die Treter an seinen Füßen befanden sich im Zustand der Selbstauflösung. Da war nicht mehr viel zu retten. Als Schuster hätte ich eine Reparatur als unzumutbar zurückgewiesen. Ich überlegte. Es konnte durchaus sein, daß sich Mahon Tabor nach Willow Spring gewandt hatte. Willow Spring war so gut wie jede andere Stadt hier im Grenzgebiet. Einen Versuch war es jedenfalls wert, dort mit der Suche nach Mahon Tabor anzufangen. Ich fixierte den Jungen. »Sag mal, Joey, ist dir hier irgendwo ein Mann über den Weg gelaufen, der etwa meine Größe hat, braungebraunt, schwarzes krauses Haar, schlank, breitschultrig – zu Fuß?« Er verneinte das und sagte grinsend: »Mit den dämlichen Kälbern mußte ich ja zusehen, niemandem zu begegnen.« »Was dir ja hervor ragend gelungen ist«, sagte ich ironisch. »Wäre ich beritten gewesen, hätten die mich nie gekriegt«, erklärte er pomadig. »Sie hätten dich gekriegt, verlaß dich drauf«, sagte ich grimmig. »Wenn du mit Erfolg Rinder klauen willst, muß du noch eine Menge lernen. Mit ›hätte‹ und ›wäre‹ und vielen ›wenns‹ drückst du dich nur an den Tatsachen vorbei. Aber vermutlich begreifst du das erst, wenn du an einem Ast hängst und der Strick dir die Kehle zuschnürt. Heute hast du nichts weiter als Glück gehabt. Vielleicht solltest du, bevor du dich entschließt, Viehdieb zu werden, auch mal an deine jüngeren Schwestern denken.« »Wieso das denn?« fragte er entrüstet. »Sehr einfach«, erwiderte ich, »weil du der ältere Bruder und außerdem bald achtzehn bist, wie du sagtest. Jedenfalls alt genug, um Verantwortung für die jüngeren Geschwister zu übernehmen und für
sie zu sorgen.« Ich predigte tauben Ohren – seiner Miene nach zu schließen. Was ging mich das schließlich auch an! Ich hatte meine eigenen Probleme, steckte bis zum Hals selbst im Schlamassel und konnte über jeden Tag froh sein, den ich in Freiheit verbrachte. Da war ein Tag so kostbar wie der andere – gemessen an der Tatsache, daß mich jeder über den Haufen schießen durfte und dafür auch noch von der Armee mit einem Kopfgeld belohnt wurde. Ich nickte dem Jungen zu und sagte: »In Ordnung. Steig auf, ich nehme dich mit nach Willow Spring.« * Zwischen Spätnachmittag und Abend erreichten wir die Stadt. Ich hütete mich, bei Tageslicht durch Willow Spring zu reiten. Eine verlassene Scheune in Sichtweite der Stadt schien mir das geeignete Versteck zu sein, die Dunkelheit abzuwarten. Sie lag abseits des Trails, der in die Stadt führte, also lenkte ich den Grauen darauf zu. »Den Rest kannst du zu Fuß gehen, Joey«, sagte ich und glitt vor der Scheune aus dem Sattel. »Außerdem könntest du mir einen Gefallen tun, für den ich dir ein paar Dollar zahle. Was hältst du davon?« »In Ordnung, Boß«, sagte er und kletterte von dem Wallach. Erwartungsvoll schaute er zu mir hoch. »Was gibt's zu tun?« »Ich beschrieb dir einen Mann und fragte dich, ob du ihm begegnet seist. Jetzt möchte ich, daß du dich in der Stadt nach ihm umschaust. Es könnte sein, daß er im Mietstall gewesen ist, um sich ein Pferd zu besorgen. Dann könnte er auch in einem der Saloons herumhängen, um seinen Durst zu löschen.« Er feixte, und ich musterte ihn stirnrunzelnd. »Was gibt's da zu grinsen?« »Könnte er auch bei den Weibern herumhängen?« fragte dieser verhinderte Viehdieb von fünfzehn Jahren. Aus der Art, wie er die Frage stellte, schloß ich, daß er auf diesem Gebiet offensichtlich bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt hatte. »Könnte ebenfalls sein«, sagte ich. »Er ist übrigens ein Typ, der
auf Frauen wirkt, weil er gut aussieht. An den Schläfen ist sein Haar silbrig, obwohl er keineswegs als alt zu bezeichnen ist. Das gibt ihm so eine gewisse Note. Dabei hat er gute Manieren und ist darauf bedacht, immer gut gekleidet zu sein.« »Verstehe«, sagte Joey Winder und fügte altklug hinzu: »Auf so was stehn die Weiber. Sind Sie hinter ihm her, weil er Ihre Schwester geschwängert hat, Mister?« »Ich habe keine Schwester«, erwiderte ich etwas verbissen und überlegte bereits, ob es nicht verkehrt gewesen war, dieses windige Bürschchen um einen Gefallen zu bitten. Aber ich verwarf diesen Gedanken wieder. Schließlich hatte ich ihm das Leben gerettet. Da durfte ich wohl erwarten, daß er – noch dazu für ein paar Dollar – den Job, für mich den Späher zu spielen, korrekt und gewissenhaft durchführte. »Oder hat er Ihre Braut entführt?« fragte dieser Lümmel. »Nichts von alledem«, sagte ich verärgert. »Außerdem fragst du ein bißchen zuviel, Freundchen. Ich habe meine Gründe, diesen Mann zu suchen, aber sie gehen dich nichts an. Wenn dir der Job nicht paßt und du lieber Kälber klauen willst, dann verschwinde. Aber denke daran, daß es kein Vergnügen ist, sich an einem Strick zu Tode zu zappeln.« »Schon gut, schon gut, Mister«, sagte er. »Der Job wird bestens erledigt. Wie wär's mit 'ner kleinen Vorauszahlung – ich hab keinen müden Cent mehr, und wenn ich mich in den Saloons umsehe, muß ich ja auch mal da und dort einen zur Brust nehmen.« Ich bedauerte, daß ihm der Hagere nicht zwei oder drei Ohrfeigen gescheuert hatte, und hätte es am liebsten nachgeholt. Offenbar hielt er es für völlig selbstverständlich, daß ich ihn vorm Strick bewahrt hatte. »Ich zahle nicht voraus«, sagte ich hart. »Erst die Arbeit, dann gibt's den Lohn. Im übrigen brauchst du keineswegs da und dort einen zur Brust zu nehmen. Ich habe dich um eine Gefälligkeit gebeten, die ich aber erst honoriere, wenn der Job getan ist. Wie wär's denn mal anders herum? Ich habe dich auf meinem Pferd bis hierher mitgenommen, damit du deine Schuhsohlen schonst, ganz abgesehen davon, daß du ohne mein Eingreifen jetzt in der Schlinge
am Ast baumeln würdest und damit dein Erdendasein hinter dich gebracht hättest. Leider ist bei dir nichts zu holen.« Ich rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Hätte ich nicht auch das Recht, jetzt zur Kasse zu bitten?« Der muntere Knabe gab eine erstaunliche Antwort. Er sagte: »Sie hätten's ja nicht zu tun brauchen, Mister.« Und er grinste bis zu den Ohrläppchen. »Richtig«, sagte ich ergrimmt, »ich bitte auch um Entschuldigung, daß ich's getan habe. Beim nächstenmal schaue ich zu – und jetzt hau ab, bevor meine Hand ausrutscht.« »War 'n kleiner Scherz, Mister«, sagte der Knabe und zwinkerte mir zu. »Also, ich erledige den Job, klarer Fall. Auf Joey Winder kann man sich verlassen. Ehrensache, ein Mann, ein Wort. Sie bleiben hier. Ich melde mich, sobald ich die Stadt nach dem Kerl durchgefilzt habe.« Er tippte lässig mit dem ausgestreckten Zeigefinger rechts an die Stirn und zog ab. Ich sah ihm nach, bis er zwischen den ersten Häusern verschwand. Dann führte ich den Grauen in die Scheune, entsattelte ihn und rieb ihn mit etwas Stroh, das ich in der sonst leeren Scheune fand, ab. Mein Magen knurrte, und ich besänftigte ihn mit ein paar Biscuits, Speckscheiben und einigen Schlucken aus der Wasserflasche. Das Wasser schmeckte brackig und war warm. Kein Wunder bei der Hitze des Tages. Das meiste soff der Wallach aus meinem Hut. Ich packte den Sattel an den Eingang der Scheune. Er war der Stadt zugewandt und nach Norden ausgerichtet. Dadurch lag er im Schatten, als sich die Sonne nach Westen neigte. Ich hockte mich auf den Sattel, den Rücken an den Torpfosten gelehnt, und wartete. Viel versprach ich mir nicht von Joey Winders Erkundung, und wenn es zehn Uhr war, würde ich selbst auf die Pirsch gehen. Wie ich den Bengel einschätzte, würde er gar nichts tun, nach zwei, drei Stunden zurückkehren, erklären, er habe Mahon Tabor nicht gefunden, und die Dollars verlangen. Im Grunde war das rausgeworfenes Geld, und ich bereute, ihm es angeboten zu haben. Aber es war meine eigene Schuld. Ich Idiot, dachte ich und döste vor mich hin. Ich mußte wohl eingeschlafen sein, war aber sofort wach, als ich
den Grauen schnauben hörte. In der Stadt brannten die Lampen. Über den Trail in die Stadt huschte eine Gestalt und bog auf die Scheune zu. Der Figur nach konnte es Joey Winder sein. Ich stand auf und zog mich in die Scheune zurück. Kurz darauf tauchte die Gestalt im Eingang der Scheune auf. Es war der Junge. »Mister?« wisperte er. Sein Kopf bewegte sich hin und her, als versuche er, in der Dunkelheit der Scheune etwas zu erkennen. Er selbst hob sich deutlich im Eingang ab. Lautlos ging ich auf ihn zu, und er zuckte zusammen, als er mich aus der Dunkelheit auftauchen sah. »Mann, haben Sie mich erschreckt«, sagte er. »Du hast ihn nicht gefunden, nicht wahr?« fragte ich kalt. Er grinste, und es sah irgendwie verzerrt aus. »Und ob ich ihn gefunden habe – wenn er's ist. Hat er graue Augen?« Ich war überrascht. Hatte ich den Jungen doch verkehrt eingeschätzt? »Ja, er hat graue Augen«, erwiderte ich. »Ein toller Typ«, erklärte das magere Bürschchen fast begeistert. »Und mit den Weibern, das stimmt. Die Dolores ist auf ihn geflogen wie die Motte aufs Licht …« »Dolores?« unterbrach ich ihn. »Mexikanerin, ganz scharfes Weib, läßt aber kaum jemanden ran. Hat so 'n Bums im Rotlichtbezirk – Sie verstehen?« Ich nickte. Mahon Tabor, der ehemalige Zahlmeister von Fort Calhoun, war die richtige Sorte Mann, die Oberlady eines solchen Etablissements im Sturm zu erobern. So etwas paßte zu ihm. »Der bezahlt bei Dolores bestimmt keinen Cent«, ergänzte Joey Winder meinen Gedankengang. Und damit war ich sicher, daß er tatsächlich Mahon Tabor gefunden hatte. »Ist er bei ihr abgestiegen?« fragte ich. Der Bengel feixte wieder. »Abgestiegen und aufgestiegen, wie man's nimmt. Soll ich Sie hinführen, Mister?« Er starrte zu mir hoch, wich aber meinem Blick aus und sagte verdrossen: »Sie glauben mir wohl nicht, wie?«
»Doch, ich glaube dir, Joey. Es ist der Mann, den ich suche. Ja, führe mich zu dem Haus.« Ich holte den Wallach zum Eingang und sattelte ihn. Der Junge trampelte von einem Fuß auf den anderen und wurde ziemlich zappelig. »Was ist los?« fragte ich und drehte mich zu ihm um. Er grinste wieder verzerrt und rieb – wie ich zuvor – Daumen und Zeigefinger aneinander. Ach so, das hätte ich beinahe vergessen. Na ja, immerhin hatte er seinen Job getan. Ich hatte es ihm versprochen, also mußte ich zahlen. Ich gab ihm vier Dollar aus meiner knappen Barschaft. Sie verschwanden in irgendeiner Tasche seiner zerlumpten Kleidung. Ein höfliches Danke war ihm wohl auch unbekannt. Vier Dollar für einen schnell erledigten Job, der nicht viel Schweiß verlangte, waren gut Verdienstes Geld, immerhin. »Danke«, sagte ich. »Oh, nichts zu danken«, erwiderte er großzügig, »ich sagte doch, auf Joey Winder könne man sich verlassen …« Er verstummte, weil ich wohl etwas im Blick hatte, was ihn warnte, den Bogen nicht zu überspannen. Ich halte nichts von Prügelstrafen, ganz und gar nichts. Aber bei diesem munteren Knaben ertappte ich mich ständig dabei, versucht zu sein, ihm den Hintern zu versohlen. Ich zog den Sattelgurt stramm, nahm den Grauen am Zügel und sagte knapp: »Vorwärts!« Der Junge marschierte neben mir her. Als wir die Main Street erreichten, bog er nach rechts in eine Nebenstraße ab. »Das ist 'ne Abkürzung«, erklärte er. Farmer und Cowboys der Umgebung trafen sich in der Stadt, die zwei Saloons hatte, wie mir Joey Winder erklärt hatte. Soweit ich feststellen konnte, war in der Main Street allerlei los, jedenfalls dem Krach nach zu urteilen. Es ging auf elf Uhr zu. Die Main Street war ziemlich hell erleuchtet, die Nebenstraße, durch die wir gingen, wechselte mit Licht und Schatten, während eine weitere Nebenstraße, in die der Junge steuerte, total im Dunkel lag.
Ich hatte durchaus nichts gegen Abkürzungen, wenn es galt, ein Ziel schnell zu erreichen. Aber wir entfernten uns immer mehr von der Main Street, in deren unmittelbarer Nähe sich in der Regel die gewissen Etablissements befanden. Erst jetzt wurde ich mißtrauisch. Und dazu hatte ich allen Grund. Ich stierte mir die Augen aus dem Kopf, aber Joey Winder war plötzlich verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Ruckartig blieb ich stehen und lauschte. Unwillkürlich duckte ich mich und griff automatisch hinunter zum Colt. Dieses Ducken bewahrte meinen Kopf vor einem Stück Blei. Denn synchron damit blitzte links vor mir eine Feuerzunge auf und raste auf mich zu. Mein Hut flog nicht weg, dazu saß er zu fest auf meinem Schädel. Später stellte ich fest, daß er mit zwei Entlüftungslöchern versehen war. Undeutlich sah ich im Schußblitz für Bruchteile von Sekunden einen Mann in einer Toreinfahrt. Dem grellen Licht folgte wieder die absolute Finsternis. Ich warf einen Schuß zu der Toreinfahrt und traf eine Glocke, die da hängen mußte. Die gab einen Ton von sich, als sei das Blei über die zu straff gespannten Saiten einer Gitarre gerast. Ein Mann fluchte. Irgendwo hinter der Toreinfahrt rasselte eine Kette, dann begann ein Hund zu bellen, tief und grollend und mit einem Schuß Heiserkeit, als habe er Glasscherben in der Lunge. Das mußte ein Mordsvieh sein. Das geschah alles innerhalb weniger Sekunden. Ich feuerte weiter auf die Toreinfahrt, schwang mich in den Sattel des Grauen und gab ihm die Hacken. Zwischen den Schußblitzen hatte ich gesehen, daß die Gasse vor mir scharf nach links bog – ein Glück für mich. Hätte ich es nicht gesehen, wäre ich mit dem Grauen Vierkant gegen eine Hauswand galoppiert. Da hätten wir fein ausgesehen – der Graue und ich. Im Vorbeireiten setzte ich noch einen Schuß in die Toreinfahrt und erwischte zum zweiten Male die verdammte Glocke, aber nicht den Mann, dessen Teilumrisse ich undeutlich hinter einem
Mauervorsprung sah. Von dort blitzte es auch auf, zwei-, dreimal, aber der Kerl schoß zu hoch. Dafür traf er wohl eine Fensterscheibe gegenüber in der Gasse, weil ich hörte, wie Glas schepperte und zu Boden klirrte. Der Hofhund tobte an der Kette und schien sich den Kopf abzureißen oder an der Kette zu strangulieren, denn in sein dröhnendes Bellen mischte sich immer wieder ein abgehacktes Röcheln. Mehr dem Gefühl nach lenkte ich den Wallach in der Dunkelheit nach links, und jetzt konnte mich der Heckenschütze nicht mehr sehen. Ich sah allerdings auch kaum etwas und zügelte den Grauen in einen langsamen Trab. Aber dann merkte ich, daß die Gasse die Häuser verließ und in eine Art Feldweg überging. Erst jetzt flammten hinter mir Lichter auf, wütende Stimmen wurden laut, die der Hofhund indessen mühelos mit seinem grollenden Bellen übertönte. Im fahlen Mondlicht ritt ich an Koppeln und ein paar leeren Korrals vorbei, wandte mich dann ostwärts zwischen die Hügel, durchquerte einen Creek, kehrte wieder zu ihm zurück und blieb zwei, drei Meilen in dem flachen Gewässer, das die Trittsiegel des Grauen in kurzer Zeit auslöschen würde. Vielleicht folgte man meinen Spuren, vielleicht nicht, aber Vorsicht war immer der bessere Teil, wenn der Trail eines Mannes voller böser Überraschungen war. Der Knabe Joey Winder hatte mich für vier Dollar ganz schön aufs Kreuz gelegt. Ich hatte eine mächtige Wut im Bauch. Wie ein blutiger Anfänger war ich ihm auf den Leim gegangen und hatte dafür auch noch bezahlt. Und er hatte mich verkauft. An Mahon Tabor? An und für sich war die Falle perfekt gewesen, eine perfekte Todesfalle – bis auf die Unwägbarkeiten, die lächerlichen Zufälle oder schlicht auch nur das Glück, das dieses tödliche Lotteriespiel zu meinen Gunsten entschieden hatte. Im Mondlicht betrachtete ich die beiden Löcher in meinem Hut,
nachdem ich ihn abgenommen hatte – 44er Kaliber, mein lieber Mann. Besser zwei Löcher im Hut als eins im Kopf, dachte ich. Aber die zwei Löcher im Hut wiesen mich wiederum als einen Mann aus, der offensichtlich ein bißchen gefährlich lebte, und das brauchte ja nun auch nicht jeder zu wissen. Mir reichte es schon, daß ich es wußte. Ich stülpte den Hut wieder auf den Kopf und verließ den Creek. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, zur verlassenen Scheune zurückzukehren, um dort die Nacht über zu campieren. Aber das würde zu riskant sein. Joey Winder konnte auf den Gedanken verfallen, dort herumzuschnüffeln. Und für heute reichte es mir an unliebsamen Überraschungen. Ich fand einen abgelegenen Arroyo und schlug dort mein Nachtlager auf. Den Grauen hobbelte ich an, entsattelte ihn und baute mir mein Lager abseits von ihm. Auf ein Feuer und damit einen heißen Kaffee mußte ich verzichten. Dann wickelte ich mich in meine Decke, die Waffen griffbereit neben mir. Dieser Joey Winder ging mir nicht aus dem Kopf. Für sein jugendliches Alter war der schon ganz schön ausgekocht, ausgekocht und verdorben. Immerhin hatte er seinen Lebensretter ans Messer liefern wollen. Eine hundsgemeine Sache war das. Aber da war ich mal wieder zu vertrauensselig gewesen. Je mehr ich über alles nachdachte, desto überzeugter war ich davon, Mahon Tabors Spur wiedergefunden zu haben. Die Todesfalle in der Gasse entsprach seinem Stil. Ja, der Figur nach mußte es Mahon Tabor gewesen sein, der auf mich geschossen hatte. Der kleine Bastard Joey hatte ihm meine Beschreibung gegeben, und da hatte er gewußt, daß ich ihm wieder auf der Pelle saß. Vermutlich hatte Joey Winder bei ihm auch kassiert, und das wohl nicht zu knapp. Schließlich war es für ihn nicht ungefährlich gewesen, mich in die Falle zu bugsieren und rechtzeitig abzuhauen, bevor die Luft bleihaltig wurde. Mit diesen Gedanken schlief ich ein.
3.
Nichts störte meinen Schlaf. Am Morgen entzündete ich ein rauchloses Feuer, bereitete mir einen Kaffee, verzehrte ein paar gebratene Speckscheiben und Hartbrot, überprüfte meine Waffen und brach das Camp ab. Gegen neun Uhr umritt ich die Stadt, um festzustellen, welche Fluchtwege günstig waren, um – falls das notwendig werden sollte – schnell in unübersichtlichem Gelände verschwinden zu können. Seit den Monaten meiner Flucht waren mir solche Dinge bereits zur Gewohnheit geworden. Sie waren zwingend, wenn ich überleben wollte. Zu jeder Zeit mußte ich damit rechnen, sehr plötzlich einen Platzwechsel vornehmen zu müssen – wie ein Wild, das ständig nach allen Seiten sichert. Städte waren gefährliche Plätze für mich. Da waren zu viele Augen, die mich sahen. Und da waren jene, die den Stern trugen und aufgrund ihrer Tätigkeit für das Gesetz, für Recht und Ordnung speziell einem Fremden besonders scharf unter den Hut schauten. Ein Fremder konnte immer ein Mann auf der Flucht sein, einer, dessen Konterfei auf einem Steckbrief abgebildet war. In meiner Situation konnte ich immer nur hoffen, daß der jeweilige Sheriff, Marshal oder Deputy ein fauler Hund und sein Gedächtnis durchlöchert war. Und traf beides nicht zu, dann begann ein wildes Pokerspiel, bei dem die Karten für mich schon deswegen schlecht verteilt waren, weil ich nie einen Trumpf erhielt. Da blieb nur das Bluffen. Versagte auch das, dann gab es nur noch das Mittel der Gewalt. Ich würde mich hüten, einen Sternträger zu erschießen. Ich war kein Killer, obwohl man mich als den angeblich Schuldigen an dem Massaker im Halcon Canyon als einen solchen darzustellen versuchte. Nein, wenn ich gestellt wurde und noch eine winzige Chance zur Flucht hatte, dann durfte ich allenfalls einen Menschen verletzen, und auch das war noch böse genug, so böse, daß ich Skrupel hatte, eine solche Konsequenz auch in die Tat umzusetzen. Ich hatte ein Gewissen. Hätte ich es nicht gehabt, wäre ich wohl in dieser Situation des unschuldig Gejagten zu einem reißenden Wolf
geworden. Niemals durfte ich jene Grenze überschreiten, die so scharf zwischen Recht und Unrecht unterschied. Ich durfte es nicht, gerade weil man mich zum Outlaw, zum Geächteten, zum Verbrecher gestempelt hatte. Jetzt, wieder auf texanischem Boden, bewegten mich diese Gedanken sehr stark – in Mexiko hatte es niemanden interessiert, ob ich ein Outlaw war, bis auf jene Bastarde, die als ehemalige Leibwächter Kaiser Maximilians hatten flüchten müssen und gemeint hatten, Kopfgeld für mich kassieren zu können. Willow Spring war nach der Zeit in Mexiko nun wieder die erste Stadt in Texas, in die ich mich wagen wollte, und ich gebe ohne weiteres zu, daß mir doch ziemlich mulmig zumute war. Ich stellte fest, daß eine eventuelle Flucht südwärts aus der Stadt für mich günstig sein mußte, denn dort war Brushland, das unzählige Verstecke bot. Am Westrand der Stadt entdeckte ich Baracken, die offensichtlich von Campesinos bewohnt wurden. Jedenfalls überwog hier die mexikanische Bevölkerung. Vor einer Cantina zügelte ich den Grauen. Da saß ein beleibter Mensch auf einem Hocker und war damit beschäftigt, einem geschlachteten Huhn die Federn auszurupfen. Nach seinem Geschick zu urteilen, war er der Koch in der Cantina oder der Wirt selbst. Er schien ein glücklicher Mensch zu sein, seinem Grinsen nach zu urteilen. Oder er schwelgte bereits im Vorgenuß auf die Gaumenfreuden. Ich grüßte höflich und fragte den Dicken, ob er einen Joey Winder kenne. Da grinste er nicht mehr, sondern schaute mich sehr betrübt an, als habe er gerade festgestellt, daß das Huhn mager und zäh und eine alte Tante sei, bei der fünf Stunden im Kochtopf noch lange nicht ausreichen, sie weichzukriegen. »Und ob ich diesen Nichtsnutz, Tagedieb und Herumtreiber kenne!« sagte er und rupfte dem Huhn in seiner Empörung gleich ein ganzes Büschel Brustfedern aus. »Ah«, sagte ich, »er tut nicht gut?« Der Dicke schüttelte energisch den Kopf. »Überhaupt nicht,
Senor, ein Galgenstrick ist das, ein Faulenzer, ein Spitzbube!« Na, da kam ja allerlei zusammen, nur nichts Gutes. Ich hatte allen Grund, mich als kompletten Narren zu bezeichnen. Der Bengel schien hier bekannt zu sein wie ein bunter Hund. Daß er Spezialist für Eigentumsveränderungen war, wußte ich ja bereits. Und ein Galgenstrick im wahrsten Sinne des Wortes war er ebenfalls, denn vor dem Strick hatte ich selbst ihn ja bewahrt. »Könnten Sie mir sagen, wo er wohnt?« fragte ich. Er nickte und beschrieb mir den Weg. Ich bedankte mich, aber er meinte, ich brauchte mich nicht zu bedanken, denn wenn ich hinter diesem rotznäsigen Lümmel her sei – und ich sähe ganz so aus –, dann sei mir die ganze Stadt für alle Zeiten zu Dank verpflichtet. Und als Empfehlung gab er mir mit auf den Weg, dem nichtsnutzigen Joey Winder nicht nur den Hintern zu versohlen, sondern ihn nach der Tracht Prügel gleich in einen Sack zu stecken und wie eine junge Katze im Rio Grande zu ersäufen. Ich versprach ihm, seine Empfehlungen in meinem Herzen zu bewahren. Das Ding Hütte zu nennen, war eine fromme Übertreibung. Eine Bruchbude war es, zusammengenagelt aus Kistenbrettern, aufgeschnittenem Konservendosenblech, Schindeln, Dachpappe und Materialien, die aus dem Fundus einer Wanderbühne zu stammen schienen und vielleicht einmal Dekorationszwecken gedient haben mochten. Absoluter Glanzpunkt dieser Bruchbude war ein Klosettdeckel, dessen Scharnier außen vor eine Öffnung genagelt waren, so daß man den Deckel an einer Schnur beliebig weit öffnen konnte – ein Fensterladen also, der aber nicht seitlich, sondern in der Senkrechten klappbar war. Dieses Hüttenmonstrum lehnte windschief an einem Cottonwood, dem es zu verdanken war, daß der ganze Kram nicht in sich zusammenbrach oder vom Wind umgepustet wurde. An einen Sturm wagte ich erst gar nicht zu denken. Diese Behausung stand südwestlich vom Stadtrand, und ich beobachtete sie eine ganze Weile, ehe ich mich entschloß, dort einmal anzuklopfen. Das war nun auch wieder verkehrt ausgedrückt, denn von Anklopfen konnte keine Rede sein, weil die Tür aus einem
Sack bestand. Wenn dort Joey Winder mit seinen beiden jüngeren Schwestern hauste, dann konnten mir die Schwestern nur leid tun. Da lebten Ratten in ihren Löchern geradezu komfortabel. Ich stieg aus dem Sattel, zog den Grauen hinter mir her und steuerte den Sack an. Ein paar Schritte davor verhielt ich und rief: »Hallo!« Der Sack wurde zur Seite bewegt, und ein Mädchen erschien. Ich mußte schlucken. Das mußte die Vierzehnjährige sein, von der Joey Winder gesprochen hatte. Aber sie sah verdammt älter aus – nicht von der Figur her, aber ihr Gesicht wirkte wie das einer vergrämten, abgearbeiteten Frau, hohlwangig, abgezehrt, verbittert. Von Jugend war da nichts mehr zu sehen. Ich wurde aus harten, mißtrauischen Augen gemustert. »Was wollen Sie?« fragte das Mädchen schroff. »Hier gibt's nichts zu holen. Verschwinden Sie!« »Sind Sie Miß Winder?« Tatsächlich, ich redete sie wie eine erwachsene Frau an, obwohl ihre Figur weiß Gott noch nicht jene ausgeprägten Formen hatte, die das weibliche Geschlecht kennzeichnen. Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ja, ich bin Lucinda Winder. Und wer sind Sie?« »Man nennt mich Ronco«, erwiderte ich. Sie nahm es zur Kenntnis, aber ihr Blick wurde eher noch mißtrauischer. »Ist Ihr Bruder Joey da?« fragte ich. Sie zuckte etwas zusammen. Jetzt war Erbitterung in ihrer Stimme. »Hat er wieder was ausgefressen?« »Ich fragte, ob er da sei«, erwiderte ich schroffer, als ich es beabsichtigte. »Nein, er ist nicht da. Seit zwei Tagen und zwei Nächten hat er sich nicht mehr blicken lassen.« Ihre Stimme wurde fast schrill. »In den Kneipen müssen Sie ihn suchen, in den Hurenhäusern oder im Gefängnis, aber nicht hier, Mister, hier bestimmt nicht!« Etwas wie Schluchzen stieg in ihr auf. Sie warf sich herum und ließ mich stehen.
Ich starrte den Sack an und spürte, wie mich wieder die Wut packte, Wut auf diesen Windbeutel Joey Winder, dieses kleine Miststück von einem Bastard, das mich in eine verdammte Falle gelockt hatte, das sich einen Dreck um die Geschwister kümmerte, das vier Dollar plus dem Judaslohn des Mahon Tabor kassiert hatte und hier die beiden Schwestern verhungern und verkommen ließ. Ich band den Grauen an den Cottonwood und betrat kurz entschlossen diese armselige Hütte, aus der mich aus jedem Winkel und jeder Ecke Not und Armut und Trostlosigkeit ansprangen wie räudige, vor Hunger halb verrückte Straßenköter. Ich stand erschüttert und blickte zu dem Deckenlager aus Lumpen, auf dem die zehnjährige jüngste Schwester lag – mit dem Gesicht einer überreifen Tomate, glänzenden, fiebrigen Augen und fahrigen, über die Decke gleitenden Händen. »Was ist mit ihr?« fragte ich scharf. »Fieber – sie wurde von einer Ratte gebissen.« Mir blieb die Luft weg. »Von einer Ratte?« fragte ich tonlos. »Ja.« »Wann?« »Vor zwei Tagen.« »Und da haben Sie Ihre Schwester noch nicht zum Arzt gebracht?« »Wie denn? Sie ist am Bein verletzt …« »Und warum haben Sie den Arzt nicht hierher geholt?« schrie ich sie an. Sie schob trotzig das Kinn vor. »Klar, warum nicht? Sollte ich mit dem vielleicht ins Bett gehen, um ihn zu bezahlen?« Das saß wie eine Ohrfeige, und dieses Mal zuckte ich zusammen. Sie hatte ja völlig recht. Joey Winder hätte ich anbrüllen müssen, aber nicht sie. Er hatte als der Älteste die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich um die kranke Schwester zu kümmern und alles zu tun, was notwendig war, um die Schwester zu retten. Ein Rattenbiß! Ich ging zu dem Lager, kniete mich hin und zog die Decke weg. Um den rechten Unterschenkel war ein Lappen gewickelt. Wenn er
vorher feucht gewesen war, so dampfte er jetzt. »Bist du ein Doktor?« fragte mich das Mädchen mit piepsiger Stimme. »Ein bißchen«, sagte ich und lächelte sie an – es fiel mir verdammt schwer, jetzt noch zu lächeln. »Mal sehen, ob wir dir helfen können, kleine Miß.« »Ich heiße Jill«, sagte das Mädchen. In seinem Blick lag kindliches Vertrauen, und das zerriß mich fast. »Und ich heiße Ronco«, sagte ich. »Ronco«, flüsterte Jill, »so einen schönen Namen habe ich noch nie gehört.« »Gefällt er dir?« »Und wie – Joey klingt dagegen ganz häßlich.« Ich löste vorsichtig den Lappen vom Unterschenkel, und da packte mich gelindes Grausen. »Und wie heißt du weiter?« fragte die kleine Jill. Da war der Biß der Ratte in der Wade, einer prallen, unförmig angeschwollenen roten Wurst, die bestimmt mit einem Liter Eiter zum Platzen gefüllt war. Mir wurde fast schlecht. Ich mußte mich zusammennehmen, um nicht mein Gesicht zu verlieren. »Wie heißt du weiter, Ronco?« fragte die kleine Jill noch einmal. »Nur Ronco«, sagte ich und versuchte, wieder zu lächeln. »Den Namen gaben mir Mönche, die mich in einem Treck fanden, der von Indianern überfallen worden war. Da war ich noch ein Baby, weißt du?« »Und dein Pa und deine Ma, wo sind die?« »Ich glaube, daß sie im Himmel sind«, sagte ich leise. Da streichelte dieses kleine Mädchen von zehn Jahren meine Hand und sagte: »Du mußt nicht traurig sein, Ronco, unser Pa und unsere Ma sind vielleicht auch im Himmel.« Ich nickte und drehte mich zu Lucinda um, die hinter mir stand. Das Mißtrauen und die Härte waren aus ihren Augen verschwunden. Etwas wie Hoffnung schimmerte darin. »Können Sie Jill helfen?« fragte sie. Ich stand auf und sagte: »Der Eiter muß raus. Wenn er in die
Blutbahn gelangt …« Ich verstummte, um das Unaussprechliche nicht sagen zu müssen. Aber sie verstand und preßte die Lippen zusammen. »Ich werde zwischen dem Biß schneiden«, sagte ich, »damit der Eiter abfließen kann. Bitte, setzen Sie Wasser auf.« Ich schaute mich um. Ja, ein rostiger Herd war vorhanden. Aber auf den verzichtete ich wohl besser. Es würde zu heiß in dieser verdammten Hütte werden. »Wir bauen draußen eine kleine Feuerstelle«, sagte ich. »Darüber stellen wir mein Dreibein. Woher holen Sie Ihr Wasser?« »Von einem Bach. Es ist sauberes, klares Wasser.« Ich nickte, lächelte Jill zu und verließ die Hütte. In meinen Satteltaschen hatte ich bei dem Verbandszeug etwas Laudanum. Es reichte, um der kleinen Jill eine Dosis zu verabfolgen und sie in einen schmerzlosen Betäubungsschlaf zu versenken. Eine halbe Stunde später war alles überstanden. Den Schnitt hatte ich mit meinem Rasiermesser ausgeführt, das ich vorher über dem Feuer ausgeglüht hatte. Wir hatten Jill draußen in den Schatten des Cottonwood gebettet. Sie atmete völlig ruhig und befand sich im Betäubungsschlaf. Aus der Wunde hatte ich allen Eiter herausgepreßt – solange, bis Blut geflossen war. Lucinda hatte ich zwischendurch in die Stadt geschickt, um in einem Store hochprozentigen Whisky, SarsaparillaTee gegen Fieber und Lebensmittel einzukaufen. Das Geld dafür hatte ich ihr natürlich gegeben, da sie keinen Cent besaßen. Meine Barschaft schrumpfte allmählich zusammen. Mit dem Whisky hatte ich die Wunde ausgewaschen. Jetzt konnte ich nur hoffen, daß meine Maßnahmen eine Verschlimmerung von Jills Zustand verhinderten. Sicher war ich mir da gar nicht. Einiges über Wundbehandlung hatte ich bei den Apachen und später bei der Armee gelernt, aber das reichte natürlich nicht aus, wenn es sich um sehr heikle Verletzungen handelte, die nur ein Arzt beurteilen konnte. Wenn sich bei Jill Wundstarrkrampf einstellte, würde ich sie schleunigst zum Arzt bringen müssen. Vielleicht mußte da sogar das Bein amputiert werden. Aber es hatte sofort etwas geschehen müssen, und darum hatte ich
den Schnitt in die Wade gewagt. Jetzt, am Feuer draußen vor der Hütte, wurde mir erst bewußt, daß ich mal wieder etwas getan hatte, was mit meinen persönlichen Problemen keineswegs vereinbar war. Ich hatte meine Identität bekannt gegeben, und wenn sich der Name Ronco, der sowieso stets Verwunderung erregte, in Willow Spring herumsprach, dann konnte ich mir an den fünf Fingern ausrechnen, wann sich die Vertreter des Gesetzes für mich interessierten – oder einer jener Burschen, die scharf auf das Kopfgeld waren. Und hier lag ein kleines Mädchen auf Leben und Tod. Ich konnte jetzt nicht einfach auf meinen Grauen steigen, freundlich an meinen durchlöcherten Hut tippen, dem Mädchen Lucinda Winder eine gute Zeit wünschen und verschwinden. Nein, das konnte ich nicht. Ich konnte nur am Feuer hocken und warten und mir sagen, daß ich die Suppe löffeln mußte, die ich mir eingebrockt hatte. Über Joey Winder hatte ich gehofft, mich wieder an Mahon Tabor heranpirschen zu können. Darum war ich zu dieser Hütte geritten. Aber vielleicht würde Joey Winder noch auftauchen – und auch darum blieb ich jetzt bei den beiden Schwestern. »Schmeckt's?« fragte ich das Mädchen Lucinda, das mir gegenüber am Feuer saß und aus einer Kumme Erbsen mit Speck vertilgte, als sei heute Weihnachten und ein fetter Truthahn stehe auf dem Speisezettel. Ja, es schmeckte ihr, wie ich dem »Hm« entnehmen konnte, das sie aus Erbsen mit Speck gefülltem Munde verkündete. Ihr Gesicht war ein bißchen weicher geworden, nicht mehr so hart und vergrämt. Jetzt wurde doch noch ihre Jugend sichtbar, und ich stellte fest, daß sich hinter dem von Sorgen und Nöten gezeichneten Gesicht Schönheit verborgen hatte. Innerlich seufzte ich ein wenig. Diesem Lümmel Joey gehörten die Ohren langgezogen – eine allerdings sehr milde Strafe, wenn ich an die Empfehlung des dicken, mexikanischen Kantinenwirts dachte.
4.
»Danke, Mister Ronco«, sagte Lucinda Winder leise, als sie gegessen hatte und wohl so satt war wie seit Wochen nicht mehr. Ihre Augen waren graublau und von langen Wimpern überdeckt. Fast verlegen schaute sie mich an. »Kein Mensch hat sich bisher um uns gekümmert.« Ich überging ihre Verlegenheit und fragte: »Haben Sie von mir in der Stadt gesprochen oder vielleicht meinen Namen genannt, als Sie die Sachen einholten?« Sie schüttelte etwas verwundert den Kopf. »Nein, das habe ich nicht. Allerdings war der Storekeeper ziemlich neugierig und wollte wissen, woher ich so plötzlich Geld hätte.« Ich schaute sie aufmerksam an. »Und?« »Ich habe ihm gesagt, das ginge ihn nichts an, obwohl er ziemlich unverschämt fragte, ob mein Bruder mal wieder lange Finger gemacht und das Geld irgendwo geklaut hätte. In der Stadt nennen sie uns die armen Winders, aber das ist noch milde ausgedrückt. Die meisten nennen uns Bettelpack und Lumpengesindel. Ich bekomme keine Arbeit, weil die Leute denken, daß ich dann genauso stehlen würde wie mein Bruder. Er hat schon mehrere Male im Gefängnis gesessen, weil er Taschendiebereien begangen hat. Und wenn er sich einen Cent ergaunert hat, dann verspielt oder versäuft er ihn. Ständig redet er von dem ganz großen Coup, den er landen werde, um reich zu werden. Arbeit?« Sie lachte bitter. »Das Wort existiert nicht bei ihm. Wer arbeitet, ist verrückt, erklärt er. Wenn ich ihn anflehe, etwas Vernünftiges und Ordentliches zu tun, rennt er weg oder schreit mich an.« Sie schluckte und senkte den Kopf. »Er sagte, er könnte mir ein paar Kerle besorgen, mit denen ich nur ins Bett zu gehen brauchte – dann, dann würde es in der Kasse klingeln, und ich hätte noch meinen Spaß dabei …« Sie verstummte, und ich sah, daß sie rot vor Scham war. »Ich habe Ihren Bruder gestern vorm Strick bewahrt«, sagte ich ruhig, obwohl mich die Erbitterung schüttelte. Sie hob den Kopf, blankes Entsetzen stand in ihren Augen, ihre Lippen zitterten. »Nein«, flüsterte sie. »Doch«, sagte ich, »leider stimmt es. Er hatte von einer Weide zwei Kälber gestohlen und wurde von drei Cowboys erwischt, als er
sie wegtrieb. Zufällig wurde ich Zeuge, als sie ihn aufhängen wollten. Ich konnte es verhindern.« »Mein Gott«, murmelte sie, »so weit ist es also schon mit ihm.« »Das ist noch nicht alles«, sagte ich sanft. »Ich bin hinter einem Waffenschieber her, der vermutlich auch in eine andere schwere Schuld verstrickt ist. Ich hatte Grund zu der Annahme, daß sich dieser Mann in Willow Spring aufhält, und bat Ihren Bruder, in der Stadt darüber Erkundigungen einzuziehen – ein harmloser Auftrag, für den ich ihm vier Dollar versprochen hatte. Er erhielt sie, als er mir nach einigen Stunden mitteilte, er habe den Mann gefunden und könne mir zeigen, wo der Kerl wohne. Nun, Ihr Bruder führte mich in eine Falle. Ich wurde beschossen und konnte mit viel Glück entwischen.« »Er hat Sie verraten?« fragte sie entsetzt. Ich nickte. »So kann man es nennen.« Der Blick ihrer graublauen Augen streifte scheu die Waffe an meiner Seite. »Sie – Sie wollen Joey dafür töten?« Ich lächelte. »Aber nein, Lucinda, ich bin kein Mörder, schon gar nicht an einem Jungen wie Joey. Nein, ich ritt hierher, weil ich hoffte, Ihren Bruder anzutreffen, dem ich ein paar Fragen über den Waffenschieber stellen wollte, den ich suche. Das ist alles. Haben Sie etwas dagegen, daß ich hier auf ihn warte?« »Natürlich nicht.« Sie dachte nach und fragte dann zögernd: »Dieser Mann – ist das ein Verbrecher?« »Warum fragen Sie?« »Weil Joey auf solche Kerle fliegt – Revolvermänner, Spieler, Abenteurer und Glücksritter, das sind seine Vorbilder, Kerle, die eine Flasche Whisky austrinken, ohne umzufallen, die bei den Saloonflittchen wie Gockel herumstolzieren und das Maul aufreißen, was sie für tolle Liebhaber sind. Dabei ist er selbst noch weit davon entfernt, ein Mann zu sein.« »Wie alt ist er?« »Knapp sechzehn.« »Das hab ich mir gedacht. Nun, was Ihre Frage über den Mann betrifft, den ich suche – leider dürfte er so ziemlich genau dem Idol entsprechen, das Ihr Bruder offensichtlich hat. Mahon Tabor ist ein
Spieler und Abenteurer …« »Mahon Tabor«, unterbrach sie mich, »ist das der Name dieses Mannes?« »Ja.« Ich nickte. »Wenn ich sagte, er sei ein Spieler und Abenteurer, so meine ich den negativen Typ dieser Sorte. Dieser Mann ist völlig skrupellos. Er sieht blendend aus, aber dahinter verbirgt sich ein durch und durch schlechter Charakter. Übrigens, kennen Sie eine gewisse Dolores, eine Mexikanerin, die hier in der Stadt ein Etablissement unterhält?« »O Gott«, erwiderte sie, »wie kommen Sie denn auf die? Ja, die kenne ich.« Sie schürzte verächtlich die Lippen. »Sie war einmal hier, um mich zu besichtigen. Das hatte Joey eingefädelt. Mir hatte er gesagt, diese Frau suche ein tüchtiges Mädchen, das anpacken könne, die Zimmer sauberhalten und den Gästen servieren solle. Tatsächlich aber suchte sie Nachwuchs für ihren Ziegenstall …« »Ziegenstall?« fragte ich verdutzt. »Die Huren in ihrem Etablissement«, erklärte Lucinda. »Ich habe ihr als Antwort unsere letzte Vase an den Kopf geworfen, und als sie loszeterte, ich würde noch einmal auf den Knien vor ihr herumrutschen und um Aufnahme in ihren Ziegenstall bettelten, bin ich mit dem Schürhaken auf sie losgegangen. Da ist sie abgezogen. Sie hätten mal sehen sollen, wie die aussah, nachdem ihr das Wasser aus der Vase über die Tusche im Gesicht gelaufen war. Jill hat sich halb totgelacht. Und Joey hat vor Wut gekocht. Er hatte schon die Prozente mit dem Weib ausgehandelt, die er für mich kassieren wollte. Danach hat er sich drei Tage nicht mehr sehen lassen. Das war vor einem Vierteljahr etwa.« Sie seufzte. »Da war ich fast soweit, ihn mit dem Schürhaken zu erschlagen.« Das waren schlimme Sachen, die ich da hörte – ein Bruder, der seine Schwester an ein Bordell verkaufen will! Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Andererseits zeigte dieses Mädchen eine Stärke, die mir Respekt und Achtung abnötigte. »Warum fragten Sie mich nach dieser Frau?« wollte Lucinda wissen. »Ihr Bruder wollte mich dorthin führen. Er behauptete, Mahon Tabor befände sich in diesem Etablissement.«
»Das könnte durchaus sein«, sagte sie, »bei der verkehren solche Typen, bei denen das Geld locker sitzt oder die sich verstecken müssen, weil das Gesetz hinter ihnen her ist – Grenzgänger, Schmuggler, Outlaws.« Mir wurde es etwas heiß unter dem Hut – in die Kategorie dieser »Typen« gehörte ich ja auch, aber ich hütete mich, davon etwas verlauten zu lassen. »Ja«, sagte ich, »es ist schon schlimm.« Ich stocherte im Feuer und dachte darüber nach, ob es Zweck hatte, weiter zu warten oder vielleicht dieser Dolores einen Besuch abzustatten. Da war nun auch noch die kleine Jill, für die ich jetzt nach dem Schnitt Verantwortung trug. Vor dieser Verantwortung durfte und konnte ich mich nicht drücken. Also mußte ich bleiben, bis ich die Gewißheit hatte, daß für sie keine Gefahr mehr bestand. Lucinda sagte in meine Gedanken hinein: »Könnte es sein, daß sich mein Bruder diesem Mahon Tabor anschließt?« Wie sollte ich eine solche Frage beantworten? Nach allem, was ich jetzt über Joey Winder wußte, war ich geneigt, Lucindas Frage zu bejahen. Vage sagte ich jedoch: »Vielleicht. Weder Sie noch ich stecken in dem Jungen drin. Wir können vorerst nichts anderes tun, als zu warten und Geduld zu haben.« Sie blieb hartnäckig beim Thema. »Aber wenn der Mann so ist, wie Sie ihn beschrieben haben, dann fürchte ich, daß sich Joey von ihm blenden läßt. Ob der Mann hier in der Stadt bleibt?« Dieses Mädchen sorgte sich um die Zukunft des Taugenichts von Bruder und tat eigentlich besser daran, über die eigene und Jills Zukunft nachzudenken. Diese Sorge um den Bruder sprach zwar für ihren Charakter, war aber unrealistisch. Für sie wurde es Zeit, zu begreifen, daß sie ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen mußte. Mit dem Windhund Joey durfte sie nicht mehr rechnen. Das war schmerzlich für sie, aber daran würde sie nicht zerbrechen. Ich sagte: »Wenn Sie meinen, Mahon Tabor würde hier seßhaft werden, so muß ich das verneinen. Er war einmal Zahlmeister bei der Armee und wurde wegen eines bestimmten Delikts gefeuert. Ein solcher Mann – solange er dunkle und zwielichtige Geschäfte
betreibt – kann es sich nicht leisten, einen festen Wohnsitz zu haben, und zwar einmal aus Sicherheitsgründen oder Gründen der Anonymität und zum anderen, weil er aufgrund seiner zwielichtigen Geschäfte flexibel sein muß. Das heißt also, wenn sich Ihr Bruder ihm angeschlossen hat, dann vergessen Sie ihn lieber – so hart das auch klingen mag.« »Mein Gott«, sagte das Mädchen, »wir sind doch eine Familie und müssen zusammenhalten. Immer wieder habe ich mit ihm darüber gesprochen …« »Ja, aber ohne Erfolg«, unterbrach ich sie. Sie starrte mich an, mit schmalen Lippen. Ich sah, wie sie die Zähne zusammenbiß. Dann stand sie mit einem Ruck auf. »Ich muß Gewißheit haben«, sagte sie gepreßt. »Ich werde mich in der Stadt nach ihm umschauen. Vielleicht treibt er sich irgendwo herum. Vielleicht finde ich auch diesen Mahon Tabor. Wie sieht er aus?« Ich gab ihr eine Beschreibung des ehemaligen Zahlmeisters von Fort Calhoun. »Bitte, unternehmen Sie nichts, wenn Sie ihn entdecken sollten«, warnte ich sie. »Überlassen Sie dann alles weitere mir. Der Mann ist gefährlich. Kehren Sie sofort hierher zurück. Versprechen Sie mir das?« »Ja«, sagte sie knapp. »Und Sie passen auf Jill auf?« »Das ist selbstverständlich.« Ich schaute ihr nach. Einen energischen Gang hatte das Mädchen Lucinda. * Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten und neigte sich auf ihrer Bahn dem Westen zu. Ich hatte Jills Verband erneuert und die Schnittwunde noch einmal mit dem hochprozentigen Whisky ausgewaschen. Das sah alles gar nicht so schlecht aus. Die fürchterliche Rötung war abgeklungen, die Schwellung zurückgegangen. Jill atmete ruhig und gleichmäßig. Das
Laudanum wirkte immer noch. Jill schlief tief und fest. Aber jetzt sorgte ich mich um Lucinda und quälte mich mit Vorwürfen, daß ich sie allein hatte losgehen lassen, um nach ihrem Bruder und eventuell nach Mahon Tabor zu suchen. Wer wartet, neigt dazu, sich Mögliches und Unmögliches auszumalen. Ich ertappte mich bereits dabei, anzunehmen, daß sich Lucinda in den Händen Mahon Tabors befinden könne. Der kannte Mittel, Menschen zum Sprechen zu bringen. Und wenn er erfuhr, wo ich steckte? Ich tigerte um die Hütte herum und hielt immer wieder nach allen Seiten Ausschau. Den Grauen hatte ich nur lose angebunden, um bereit zu sein, beim geringsten Anzeichen von Gefahr in den Sattel zu springen und das Weite zu suchen. Mahon Tabor konnte – wenn er wußte, wo ich steckte – den Sternträgern von Willow Spring einen diskreten Hinweis geben, was für ein dicker Fisch hier zu fangen war. Das würde seiner Art entsprechen, immer andere die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen zu lassen und selbst jedes Risiko zu vermeiden. Sein Anschlag auf mich war fehlgeschlagen und ihm selbst dabei sogar Blei um die Ohren geflogen. Also würde er die risikolose Tour versuchen. Folglich mußte ich mit einem Aufgebot rechnen, das versuchen würde, diese Bruchbude zu umstellen. Ich zog immer weitere Kreise um die Hütte und wurde immer nervöser. Als ich die schmale Gestalt erkannte, die aus Richtung der Stadt heranlief, atmete ich auf. Es war Lucinda. Sie war völlig aufgelöst, und ich sah, daß sie geweint hatte. Mit keuchendem Atem blieb sie vor mir stehen. »Er ist weg!« stieß sie hervor. »Joey?« fragte ich. »Ja. Er und dieser Mahon Tabor – schon heute vormittag.« Sie ballte die kleinen Hände zu Fäusten. »Der Kerl hat ihm ein Pferd gekauft, einen Schecken. Vorher haben sie im Saloon getrunken. Joey hätte schon ziemlich glasige Augen gehabt, sagte mir der
Mietstallbesitzer …« Die Tränen schossen ihr in die Augen. Ich legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie zur Hütte. Dort blieben wir stehen, und sie heulte sich an meiner Brust aus. Na, das war vielleicht eine beschissene Situation. Zwischen Schluchzern sagte sie: »Dieser Mistkerl – den bring ich um …« »Mit dem Schürhaken«, sagte ich. »Mit dem Schürhaken«, sagte sie und schniefte. Wen nun von den beiden, das war mir nicht ganz klar, und es war auch unerheblich, weil sie niemals einen Menschen umbringen würde. Ich drückte sie sanft auf eine Kiste vor der Hütte und hockte mich vor sie hin. »In welche Richtung sind die beiden denn geritten?« fragte ich. »Nach Westen.« Ich kniff die Augen zusammen. Nach Westen? Dort lag der Rio Grande als Grenze zwischen Texas und Mexiko. Was bedeutete das? »Der Kerl hat mit den Dollarscheinen nur so um sich geworfen«, sagte Lucinda erbittert. »Und wir sitzen hier und wissen nicht, wie wir satt werden sollen.« Sie schaute zu mir auf. »Aber das interessiert Joey ja nicht. Wir können zusehen, wo wir bleiben, krepieren können wir …« Sie fuhr von der Kiste hoch. »Wie geht es Jill?« Ich stand aus der Hocke auf und drückte sie wieder auf die Kiste. »Alles bestens«, sagte ich, »Jill schläft, die Entzündung scheint abzuklingen, soweit ich das beurteilen kann.« Sie seufzte, und dann sagte sie: »Sie sind doch hinter diesem Mahon Tabor her, nicht wahr?« Ich nickte stumm. »Dann verfolgen Sie ihn also weiter?« fragte sie. »Natürlich.« »Und wenn Sie ihn treffen, dann treffen Sie auch Joey, nicht wahr?« »Richtig«, sagte ich, »dann treffe ich auch Joey. Und um gleich Ihre nächste Frage zu beantworten: Ich werde ihm ganz gehörig den Marsch blasen und – notfalls mit sanfter Gewalt – nahelegen,
schleunigst den Kopf seines Schecken wieder ostwärts Richtung Willow Spring zu drehen, weil das seiner Gesundheit zuträglicher sei. Richtig?« Sie lächelte zu mir hoch, »Richtig.« Und dann stand sie auf und umarmte mich. Die fünf Dollar gab ich ihr aber nicht, weil sie so sanfte, ein bißchen salzige Lippen hatte und vielleicht sogar bereit war, ihre Unschuld zu verkaufen. Nein, diese fünf Dollar waren für sie und die kleine Jill, damit sie nicht verhungerten. Es war ein Tropfen auf den heißen Stein. Fünf Dollar waren aber auch die Brücke zum Leben – wenn man sie nicht verspielte, sondern mit ihnen wucherte. Und das Mädchen Lucinda würde mit dem Cent wuchern. Ich kletterte auf den Grauen und ritt westwärts …
5. Die Überlandstation in der Nähe der Grenze nach Mexiko hatte ihre besten Zeiten hinter sich. Jetzt lag sie abseits der großen Trails und Fahrstraßen, vergessen als letzter Rastort zwischen West und Ost, zwischen Mexiko und Texas. Nicht vergessen indes für illegale Grenzgänger, die ein Loch im Netz der Grenzüberwachung suchten, um unbeschadet und unbeobachtet nach der einen oder anderen Richtung durchschlüpfen zu können. Die Natur war mit im Spiel. Beidseits an dieser Stelle des Rio Grande, der hier nicht besonders tief war, hatte sich wildes Gestrüpp angesiedelt, durchsetzt mit Dornendickichten. Beidseits der Ufer war auch das Gelände ein steter Wechsel von Hügeln und Mulden. Ein kaum noch sichtbarer Trampelpfad verriet, daß es hier vor ein paar Jahren zwischen West und Ost und umgekehrt noch rege zugegangen sein mußte. Wer die Augen offenhielt, konnte auch auf den Trampelpfad verzichten und sich jenen schmalen Gassen anvertrauen, die das Wild gebahnt hatte. Im Aufenthaltsraum der Überlandstation saßen nur zwei Gäste – ein hochgewachsener, breitschultriger und schmalhüftiger Mann mit einem faszinierenden Piratengesicht und ein mageres Bürschchen,
das meinte, bereits ein Mann zu sein. Mahon Tabor und Joey Winder. Sie spielten Karten. Und sie tranken Whisky. Und das Bürschchen qualmte an einer Zigarre, die es zwischen die Zähne geklemmt hatte und die so aussah, als habe das Bürschchen einen schwarzgeteerten Pfahl verschluckt. Die Zigarre war viel zu groß für das kleine, schmale Gesicht. »Passe«, sagte Mahon Tabor und schob von seinem Geldhaufen dreißig Dollar über den Tisch zu Joey, »du hast gewonnen.« Er zeigte sein Raubtiergebiß – schneeweiße Zähne, die wie die Perlen standen. »Und wenn du nicht gemogelt hast, dann bist du ein verteufelt guter Spieler, mein Junge. Alle Achtung.« »Ich habe nicht gemogelt«, sagte Joey und reckte die magere Brust heraus, weil der große Mahon Tabor, der es geschafft hatte, der unnahbaren Dolores den Kopf zu verdrehen, ihn einen »verteufelt guten Spieler« genannt hatte. Joey schnippte mit Daumen und Mittelfinger zum Tresen hin – eine Gebärde, die er Mahon Tabor abgeschaut hatte. »Noch einen doppelten Whisky, Mann!« befahl er und holte lässig die gewonnenen dreißig Dollar zu sich heran. Der Stationer, ein Kerl mit tückischen Augen, einem Stiernacken und schwarzbehaarten Pranken, blies die Backen auf, kriegte noch gemeinere Augen, schnappte sich die Flasche und marschierte zu dem Tisch. Es sah allerdings so aus, als habe er die Absicht, Joey Winder die Flasche über den Schädel zu schlagen. »Du Furz …«, setzte er an, verstummte aber, als er in die kalten Augen Mahon Tabors blickte. »Schenken Sie Mister Winder den doppelten Whisky ein, Conolly«, sagte Mahon Tabor sanft, und nur der Stationer sah, daß ihm Mahon Tabor mit dem linken Auge zublinkerte. »Sehr wohl, Sir«, sagte Conolly und verbeugte sich. Und Joey Winder erhielt mehr als einen doppelten Whisky. Er verlor die dreißig Dollar, er gewann sie wieder, nur begriff er nicht, daß die Katze mit der Maus spielte. Schließlich hatte er zwei Dollar gewonnen, und da schnipste
dieses Mal Mahon Tabor mit Daumen und Zeigefinger und sagte: »Mister Winder und ich möchten jetzt speisen, Conolly. Vielleicht sind Sie so freundlich und bringen Mister Winder und mir die Speisekarte.« Conolly kriegte nahezu einen Schlaganfall. Speisekarte! Zum Teufel, so ein Ding hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Daß diese Rotznase eingeseift werden sollte, hatte ihm Mahon Tabor bereits ganz am Anfang zugeflüstert, aber so ging's ja nun auch wieder nicht. Verzweifelt stierte er Mahon Tabor an. »Ah«, sagte Mahon Tabor, »die Menü-Karten müssen erst nachgedruckt werden, verstehe! Was haben wir denn anzubieten, mein Guter?« Kalten Arsch mit Schneegestöber, dachte Conolly grimmig und säuselte: »Steak mit Bohnen, Bohnen mit Steak, Eier mit Bratkartoffeln, gespiegelt oder gekocht, gekocht oder gespiegelt, Bratkartoffeln mit gespiegelten Eiern, Steak mit Bratkartoffeln und Bohnen, Steak mit Bohnen und Bratkartoffeln und gespiegelten Eiern …« Mahon Tabor unterbrach mit jovialer Handbewegung. »Vorzüglich das letztere, sehr vorzüglich, ausgezeichnet, exzellent! Also Steak mit Bohnen, Bratkartoffeln und Spiegeleiern. Wie liebst du das Steak, Joey, vielleicht auf englische Art? Dazu natürlich einen leichten Rotwein. Und wie wär's mit einem Hors d'oeuvre?« Dem Jungen schwirrte der Kopf – englische Art, Hors d'oeuvre, verdammt, was war das bloß alles? »Die Oeuvres sind ausgegangen«, erklärte Conolly, der auch nicht wußte, daß Hors d'oeuvres nichts weiter als Vorspeisen waren. »Ich konnte sie noch nicht nachbestellen, Sir. Der Lieferant wird auch immer unzuverlässiger, Sir.« Zum Teufel, hier war der Arsch der Welt und kein New Yorker Dinner Club, hier kämpften die Küchenschaben ums Überleben, und die Mäuse pfiffen auf dem letzten Loch. Hors d'oeuvre! Leichter Rotwein! »Rotwein wurde auch noch nicht nachgeliefert, Sir«, sagte Conolly gallig. »Aber ich hab 'n Tequila von den Mexen drüben, wenn's recht ist.«
Mahon Tabor runzelte die Stirn und schüttelte tadelnd den Kopf. »Kein Hors d'oeuvre, kein Rotwein – es ist schon brutal, was diese texanischen Küchen anzubieten haben. Als ich vor kurzem mit dem Gouverneur in New Orleans speiste, wurden Fasanenbrüste à la grand duc mit Spargelspitzen, Krebsschwänzen und Trüffeln serviert, dazu Käsesoße, im Ofen überbacken …« »Scheiße«, murmelte Conolly, zuckte zusammen, als ihn Mahon Tabors eisiger Blick erdolchte, und verschwand schleunigst in der Küche. Dort knallte er die Pfannen auf den Herd, daß es nur so schepperte. Der Waffenhandel, illegal natürlich, hinüber nach Mexiko lohnte sich ja, sonst hätte er diesen schäbigen Schuppen längst in Klump gehauen und wäre abgehauen. Aber wenn die großen Macher hinter den Kulissen jetzt so feine Pinkel wie Mahon Tabor und solche Grünschnäbel wie diesen Joey Winder für spezielle Aufgaben einsetzten, da ging einem doch der Hut hoch. Ein scharfer Hund war dieser Mahon Tabor, der war eiskalt und abgebrüht. Bei der Armee sollte er ein wüstes Ding gedreht haben. Aber dieser Rotznase – Mann, der klebten ja noch die Eierschalen hinter den Ohren. Conolly fluchte vor sich hin. Mahon Tabor indessen im Stationsraum tat seine Lebensweisheiten kund. Und Joey Winder lauschte mit offenem Munde und roten Ohren. »Man muß immer auf der Seite der Gewinner stehen«, dozierte Mahon Tabor, »dann rollt der Dollar, dann kannst du die Puppen tanzen lassen, mein Junge. Ohne Bucks läuft nichts. Aber wenn du sie im Sack hast, dann hast du die Macht. Da brauchst du nur mit dem kleinen Finger zu winken, und die Weiber baden dich in Sekt. Hast du schon mal in Sekt gebadet, Joey?« »N-nein.« »Na, macht nichts. Wenn wir den Job hinter uns haben, geht's rund, da zünden wir uns die Zigarren mit Greenbacks an, logieren in den besten Hotels, lassen uns die Fingernägel maniküren und frequentieren die erstklassigsten Puffs. Hast du schon mal mit 'ner Kreolin geschlafen, Joey?«
Joey Winder hatte bereits das große Schlucken und feuchte Hände. »N-nein«, druckste er mit schwacher Stimme. »Macht nichts, lernst du alles.« Mahon Tabor stippte das Mundstück seiner Zigarre ins Whiskyglas, führte die Zigarre in großartiger Gebärde zum Mund, rammte sie zwischen die Lippen und saugte genüßlich. »Du bist schon in Ordnung, Joey«, sagte er zwischen Qualmwolken hindurch, »diesen Ronco hast du phantastisch aufs Kreuz gelegt. Mein Pech, daß ich ihn nicht mit dem ersten Schuß erwischt habe. Der Kerl reagiert verdammt schnell, aber sonst ist er ein totaler Versager, ein Träumer, der immer meint, anderen helfen zu müssen, die noch größere Versager sind. Darum gehört er auch zu den ständigen Verlierern, verstehst du? Bei unseren Geschäften muß man knallhart sein. Nur das zahlt sich aus. Diese Welt besteht aus Schwachen und Starken, und nur die Starken haben das Recht, über die Schwachen zu regieren. Nimm zum Beispiel die Indianer, die stehen bereits auf der Verliererseite, weil sie zu schwach sind. Uns Weißen können sie so oder so nicht das Wasser reichen, weil wir's hier oben haben!« Er tippte sich an die Stirn. »Wir sind diesen Wilden technisch haushoch überlegen, und darum sind wir die Herren. Und die Roten sind Läuse, die man zwischen den Fingern zerknacken muß.« »Jawohl«, sagte Joey Winder, »Läuse sind das, die gehören ausgerottet mit Stumpf und Stiel.« Mit einem Ruck kippte er sich den Rest Whisky in die Kehle. Längst befand er sich in einem Zustand der Euphorie, bei dem ihm jegliches Maß verlorengegangen war. Die böse Saat Mahon Tabors keimte bereits. Das Gift wirkte. Ein Mord war eine Heldentat, und nur dem Gewaltmenschen stand das Recht zu, Macht auszuüben und die Schwachen zu zertreten. Wie ein trockener Schwamm saugte Joey Winder alles auf, was Mahon Tabor sagte. Und Mahon Tabor war ein Halbgott. Er hätte behaupten können, daß die Hunde mit dem Schwanz bellen – Joey Winder hätte es unbesehen geglaubt. Der Junge war narkotisiert, und damit war auch jegliches kritische Denken ausgeschaltet. Die Welt war so, wie Mahon Tabor sie schilderte und Joey Winder sie hören
wollte. Nur war eben Mahon Tabor kein Halbgott, sondern ein Hexenmeister, und Joey Winder war sein Lehrling. Daß Joey Winder ein nützlicher Idiot war, wußte nur Mahon Tabor. Er hatte es bereits gewußt, als Joey Winder bedenkenlos den Vorschlag akzeptiert hatte, Ronco in die Falle zu führen. Zehn Dollar hatte ihm Mahon Tabor für den Verrat gezahlt. Mahon Tabor grinste in sich hinein. Dolores, das scharfe Weib, hatte ihm gesagt, daß sich ein Junge nach ihm erkundigt habe. Alles andere war ein Kinderspiel gewesen – bis auf die Falle, die zwar zugeschnappt war, aber das Opfer hatte Glück gehabt. Oder hatte dieser verdammte ehemalige Scout von Fort Calhoun den Instinkt eines Raubtiers? Die Kugel hätte sitzen müssen, aber der Kerl hatte sich im selben Moment geduckt – und dann waren ihm, Mahon Tabor, die Kugeln nur so um die Ohren geflogen. Conolly walzte heran und unterbrach seine Gedanken. Und Mahon Tabor zelebrierte wieder den Mann von Welt, der kundtat, er sei es gewohnt, an einem gedeckten Tisch zu speisen, nicht von ungehobelten Brettern, auf denen Zigarrenasche herumlag und Whiskypfützen den Fliegen als Tränke dienten. Also mußte Conolly den Tisch abwischen und ein noch weißes Bettlaken opfern, das die Frau des früheren Stationers in einem Schrank zurückgelassen hatte, als sie bei Nacht und Nebel mit einem Liebhaber über den Rio Grande verschwunden war. Das war vor mehreren Jahren gewesen. Seitdem war das Laken unberührt geblieben. Mahon Tabor musterte mißbilligend die grau gewordenen Faltkanten des Lakens und das obere Rechteck, das deutlich verriet, welche Seite im Schrank obenauf gelegen hatte. Wenn man draufschlug, staubte es, und man hatte Spinnengewebe an der Hand. Conolly hätte Mahon Tabor erwürgen können. »Bitte auch die Menage«, sagte Mahon Tabor mit sanfter Stimme. »Was für 'n Ding?« fragte Conolly. »Das Gestell für Salz, Pfeffer, Essig, Öl, mein Lieber.« »Gibt's hier nicht«, erklärte Conolly. »Dann bringen Sie wenigstens Pfeffer und Salz«, sagte Mahon
Tabor und hüstelte dezent. »Ah ja, und Servietten natürlich. Oder gibt's die auch nicht?« »Nein!« knurrte Conolly. »Gibt's nicht. Hat auch noch nie einer nach gefragt.« »Einmal ist immer das erstemal«, sagte Mahon Tabor und betrachtete seine Fingernägel, »wie bei der Jungfrau, Conolly.« Joey Winder kicherte. Conolly lief krebsrot an und kriegte wieder seine gemeinen Augen. Plötzlich hatte Mahon Tabor ein Schnappmesser in der Rechten, die Klinge zuckte heraus, eine kurze, fließende Armbewegung, und das Messer zischte durch die Luft. In einem Stützbalken blieb es stecken. Die beiden Teile einer durchgetrennten Spinne fielen zu Boden. »Ich mag keine Spinnen«, sagte Mahon Tabor mit seiner sanften Stimme. »Bringen Sie mir das Messer zurück, Conolly.« »Jawohl, Sir«, sagte Conolly, nun nicht mehr krebsrot im Gesicht und sehr artig. Und in seinen gemeinen Augen war auch ein bißchen Angst. Er hatte Mühe, das Messer aus dem Stützbalken zu ziehen. Es steckte bis zur Hälfte der Klinge im Holz, und man hätte getrost einen Ochsen an den Griff hängen können. Conolly brachte das Messer zurück und legte es wie ein rohes Ei auf das Laken. Und dann holte er Pfeffer und Salz – sogar auf einem Tablett, das er mit einem Deckchen drapiert hatte. Das stammte wohl auch noch aus dem Nachlaß der über den Rio Grande verschwundenen Stationslady, und es mußte früher auf dem Kopfkissen des gemeinsamen Ehebetts gelegen haben. Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen, stand daraufgestickt – mit rotem Garn und in verschnörkelten Buchstaben. »Sie sind ein Witzbold, Conolly«, sagte Mahon Tabor mit todernster Miene, nachdem er die Spruchweisheit gelesen hatte. »Ich kann nicht lesen«, sagte Conolly, »steht da 'ne Schweinerei drauf?« Mahon Tabor seufzte nur. Und Conolly verdrückte sich. Da hatte er wohl wieder was
verkehrt gemacht, verdammt noch mal. Und die Gentlemen tafelten. * Mahon Tabor ließ die Katze aus dem Sack. Da hatten sie sich bereits die Steaks, Bohnen, Bratkartoffeln und Spiegeleier einverleibt, und Joey Winder hätte sich – dick und voll – am liebsten aufs Ohr gehauen. Kein Wunder. Seinem mageren Körper und damit auch dem eßungewohnten Magen waren Mengen zugeführt worden, die verdaut werden wollten. Ganz abgesehen davon, daß Fleisch und sonstige Portionen für Joey Winder Dinge waren, die er allenfalls vom Hörensagen kannte – wie seine Schwestern. Aber die waren für ihn bereits Vergangenheit. Conolly klapperte in der Küche herum, ein bißchen aufgeheitert, weil Mahon Tabor immerhin geäußert hatte, er könne – abgesehen von der Ästhetik – die Güte der Steaks durchaus weiterempfehlen. Scheiß auf Ästhetik, hatte Conolly gedacht und sowieso nicht gewußt, was darunter zu verstehen war. Wem Mahon Tabor die Steaks weiterempfehlen wollte, war ihm auch unklar, denn hier wurden keine Steaks weiterempfohlen, sondern es wurde mit Waffen geschoben. Hier war kein Speiselokal, sondern Raststätte des Teufels, Umschlageplatz für Gevatter Tod, dessen Sense Munitionskisten, Gewehrkisten, Pulver- und Dynamitkisten begleiteten – hier wie an den anderen geheimen Stellen entlang des Rio Grande. Denn Mexiko war unersättlich – es fraß den Tod aus den Kisten in nimmermüder Gier und als gelte es, Mast anzusetzen für Zeiten des Hungers. Nur stimmte das nicht, denn was war Mexiko, wenn es verödete, weil die Menschen, die es bevölkerten, zu Staub und Asche zerfielen, nachdem der Tod aus den Kisten sie zerfetzt, verstümmelt und dahingemäht hatte? »Diesen Brief bringst du nach drüben«, sagte Mahon Tabor und tippte auf das in Fettpapier eingewickelte und versiegelte Päckchen, das er aus der Satteltasche gezogen und auf den Tisch gelegt hatte.
Joey Winder riß sich zusammen und sagte: »Jawohl, Boß, wird erledigt, klarer Fall.« Mahon Tabor nickte. »Ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann, Joey. Fünfzig Dollar springen für dich heraus. Was hältst du davon?« Joey Winder mußte schlucken. Fünfzig Dollar! Soviel hatte er noch nie in der Hand gehabt, dabei hatte ihm Mahon Tabor bereits ein Pferd gekauft – das erste Pferd seines Lebens. Daß ihm Mahon Tabor von Roncos vier Dollar und dem Judaslohn von zehn Dollar ganze zwölf Dollar im Spiel abgeluchst hatte, war dem »nützlichen Idioten« bis jetzt noch nicht aufgegangen. Joey Winder buchte die zwei Dollar, die nach dem Spiel übriggeblieben waren, auf sein Gewinnkonto. Darum riß er auch jetzt die Augen auf, als ihm Mahon Tabor fünfzig Dollar für den Job bot. Einen Brief »nach drüben« bringen – Kleinigkeit für einen Joey Winder, der sowieso auf der Seite der Gewinner stand und Indianer wie Läuse mit Stumpf und Stiel auszurotten erklärt hatte. »Und wer kriegt den Brief?« fragte er. »Ein Mexikaner namens Alfredo Copolla. Kannst du dir den Namen merken?« »Alfredo Copolla«, wiederholte Joey Winder, »geht klar, Boß. Einen Namen, den ich mir einmal gemerkt habe, den vergesse ich nicht mehr – Alfredo Copolla. Und wo finde ich ihn?« »In der Sierra de Blas. Sie liegt genau westlich dieser Furt hier über den Rio Grande. Aber du mußt zu Fuß hin, das fällt weniger auf. Copolla erwartet einen Boten von hier – dich. Du sagst ihm, daß ich dich geschickt habe. Du übergibst ihm den Brief und kehrst sofort zurück, klar?« »Klar, Boß. Soll ich sofort aufbrechen?« »Nein, erst wenn es dunkel ist. Solltest du Rurales begegnen, dann weiche ihnen aus. Conolly wird dir Proviant mitgeben. Paß auf den Brief auf, Joey. Verliere ihn nicht. Nur Alfredo Copolla ist der Empfänger, kein anderer. Der Brief darf in keine anderen Hände fallen. Vernichte ihn, wenn dich Rurales schnappen, verstanden?« »Verstanden, Boß. Ist es weit bis zur Sierra de Blas?«
»Wenn du zäh bist, schaffst du das in acht bis zehn Stunden. Bist du zäh, Joey?« Joey Winder wäre für seinen neuen Freund und das Idol Mahon Tabor bis zum Mond marschiert. Er reckte die magere Brust heraus und verkündete: »Ich schaff's in sechs Stunden. Boß!«
6. In der Dunkelheit hatte ich die Spuren der beiden Pferde verloren. Ja, sie waren westwärts geritten, auf den Rio Grande zu, die Grenze zwischen Mexiko und Texas. Wollte Mahon Tabor wieder über die Grenze und hinüber nach Mexiko? Irgendwie erschien mir das merkwürdig. Er hatte den Juaristas Waffen geliefert und das schmutzige Geschäft abgewickelt – allerdings erfreuten sich die amerikanischen Waffenhändler des Wohlwollens unserer Regierung, denn Washington unterstützte Benito Juarez. Schon damals stieg in mir eine schwache Ahnung auf, daß das Wohlwollen unserer Regierung zweckbedingt war – so zweckbedingt wie die Vertragsbrüche gegenüber den verschiedenen Indianerstämmen im Verlauf der Landnahme durch weiße Siedler. Das Blut, das an diesen verdammten Waffenlieferungen klebte, interessierte die Gentlemen in Washington einen feuchten Dreck. Es ging ja um harte Dollars, nicht wahr? Aber was plante Mahon Tabor, dem sich ein labiler Halbwüchsiger angeschlossen hatte? Ich hatte das Uferdickicht erreicht, stieg aus dem Sattel, und in diesem Moment krachten jenseits des Rio Grande Schüsse. Der Graue scheute etwas und schnaubte vorwurfsvoll. Ich bezog das auf mich und beruhigte ihn. Wir verstanden uns ganz gut, der Graue und ich, aber ich konnte ihm ja nicht erklären, daß sein Reiter das Pech hatte, gefährlich leben zu müssen. Ich sagte ihm, daß ich in diesem Fall ganz sicher sei, dieses Mal nicht derjenige zu sein, auf den geschossen würde, aber ich würde mal nachsehen, was sich da so am Fluß täte. Ich band ihn an ein Gestrüpp, holte den Spencerkarabiner aus dem
Scabbard und pirschte durch das Dickicht zum Fluß hinunter. Hinter einem angeschwemmten Baumstamm fand ich Deckung. Mondlicht lag über dem Rio Grande. Es hatte das Wasser in einen glitzernden Silberteppich verwandelt. Aber dieser Teppich brach dort auseinander, wo sich die Gestalt durchs Wasser wühlte – auf mich zu. Und drüben veranstalteten sie Schießübungen – Rurales. Blei klatschte in den Silberteppich und zauberte um die Gestalt herum lustige kleine Fontänen aus dem Wasser. Die Gestalt tauchte weg, und ich hielt die Luft an. Hatte es den Flüchtigen erwischt? Ich richtete mich weiter auf, als mir guttat. Prompt zirpten Kugeln an mir vorbei, und ich steckte die Nase schleunigst wieder hinter den Baumstamm. Sekunden später warf sich ein Mensch über den Stamm und blieb keuchend neben mir liegen. Es war Judas Ischariot, mit richtigem Namen Joey Winder. Mich zu sehen, bereitete ihm kein sehr großes Entzücken, nein, ganz und gar nicht. Und das war ja wohl auch verständlich. Er starrte mich wütend an und fauchte: »Hau ab, du Versager, du hast hier nichts verloren, klar?« Da war ich ja doch nun platt. War das vielleicht eine Begrüßung? Na, er konnte mir ja schlecht um den Hals fallen, nach allem, was passiert war. Ich schluckte ein paar satte Portionen Wut herunter, beherrschte mein Verlangen, diesem Lümmel einige saftige Maulschellen zu verpassen, und fragte kalt: »Wo steckt denn dein sauberer Weggenosse, Jungchen?« Er explodierte beinahe. »Das geht dich einen Scheiß an!« Ich spähte über den Baumstamm. Die Rurales trieben ihre Pferde drüben ins Wasser. Das konnte ja heiter werden. »Deine kleine Schwester Jill wurde von einer Ratte gebissen«, sagte ich, »falls dich das interessiert.« »Interessiert mich aber nicht, ich habe geschäftlich zu tun. Wer auf der Seite der Gewinner stehen will, muß hart sein. Und ich bin hart, darauf kannst du dich verlassen.« »Und mit dem Strick um den Hals wird dann gejammert, wie? Da
ist es vorbei mit der Härte, was? Du hast einen Klaps, Jungchen, einen gewaltigen Klaps! Und die Weisheiten die dir Mahon Tabor offensichtlich verzapft hat, sind einen Dreck wert. Was hat er dir denn dafür gezahlt, daß du mich in die Falle führst?« Er fuhr hoch. »Zehn Dollar!« Und dann biß er sich auf die Zunge. Ich blickte ihn verächtlich an. »Für zehn Dollar hätte Lucinda die kleine Jill zum Doktor bringen können, du Scheißkerl!« Jetzt packte mich doch allmählich die Wut, aber die Rurales plantschten bereits durch die Flußmitte, und ich hatte keine Lust, hier von ihnen vereinnahmt zu werden. Also legte ich den Karabiner auf den Baumstamm und hämmerte ein paar Schüsse vor den Pferden ins Wasser. Etwa acht Kerle waren es. Ihre Pferde stiegen hoch und keilten. Einer der Rurales flog in hohem Bogen aus dem Sattel, klatschte ins Wasser und nahm ein Bad. Sie brüllten und fluchten und gerieten durcheinander. Und dann fluchte ich auch, denn als ich nach links blickte, wo Judas Ischariot hinter dem Baumstamm gelegen hatte, war die Stelle leer. Die kleine Ratte hatte sich davongemacht. Weiter unten sah ich sie ins Wasser flitzen und wegtauchen. Dieses kleine Großmaul war verrückt und gerissen genug, die Gunst des Augenblicks zu nutzen und den Grenzübergang dennoch zu wagen. Die Rurales bemerkten es nicht. Sie starrten unentschlossen in meine Richtung, einer war damit beschäftigt, dem ins Wasser gefallenen Kerl herauszuhelfen. Der brüllte und zappelte ziemlich herum. Vielleicht war er wasserscheu. Als der Wasserscheue glücklich am Ufer stand, zogen sie ihre Pferde herum, palaverten noch eine Weile und ritten dann ins Uferdickicht zurück. Ich blieb hinter dem Baumstamm und wartete. Mir ging so allerlei durch den Kopf – zum Beispiel diese schwachsinnige Äußerung Joey Winders, er habe geschäftlich zu tun. Das hatte so geklungen, als sei er gerade dabei, mal so eben nebenbei ein paar Mille zu machen. Wenn ich die Großkotzigkeit wegstrich, dann war er in einem Auftrag nach Mexiko unterwegs, zu Fuß offensichtlich, oder er hatte sein Pferd irgendwo drüben versteckt.
Dem Gedanken mit dem Auftrag folgte logisch die Überlegung, daß nur Mahon Tabor der Auftraggeber sein konnte. Dieser krumme Hund nutzte den Jungen für irgendeine Schweinerei aus, bei der er selbst im Hintergrund bleiben wollte. Die Wahl, Joey Winder zu folgen oder nach Mahon Tabor zu suchen, fiel mir nicht schwer. Wenn ich Joey Winder folgte, mußte ich zwangsläufig irgendwann wieder auf Mahon Tabor stoßen. Außerdem hatte ich Lucinda versprochen, mich um ihren Bruder zu kümmern, wenn nötig mit sanfter Gewalt. Aber schon jetzt wußte ich, daß ich diesen Teil meines Versprechens nicht einhalten würde. Der Bengel war reif für eine Abreibung, und die würde bestimmt nicht sanft ausfallen. Die ganze Zeit über behielt ich das jenseitige Ufer im Auge. Aber dort tat sich nichts. Sicherheitshalber gab ich noch eine Dreiviertelstunde dazu. Der Rio Grande hatte wieder seinen silbernen Teppich. Irgendwo begannen Frösche ihr nächtliches Konzert, andere Tierstimmen mischten sich hinein, und das vermittelte mir die Gewißheit, daß sich die Natur wieder unter sich fühlte. Ich holte den Grauen und überquerte den Rio Grande dort, wo ich Joey Winder zuletzt gesehen hatte. Im Ufersand waren die Abdrücke seiner schiefgelaufenen Treter deutlich zu sehen. Im Dickicht wurde es schwieriger, aber der Junge hatte sich einem Tierpfad zugewandt, den ich nun ebenfalls unter die Hufe nahm. * Der Mexikaner wuchs wie ein Geist aus dem schroffen Gestein in den Ausläufern der Sierra de Blas. Das war im Morgengrauen des neuen Tages. Unwillkürlich schrie Joey Winder auf. Und da hatte ihn der Mexikaner auch schon am Wickel, noch bevor er an Flucht denken konnte. So schnell floh es sich auch nicht – mit schmerzenden Füßen und müden Knochen und halbem Schlaf im Kopf. Und damit begann Joey Winders Alptraum. »Was du dich hier herumtreiben?« stieß der Mexikaner hervor, der in Joey Winder einen Gringo erkannt hatte und gebrochen englisch
sprach. Und Joey Winder wurde wie ein abgeschossenes Kaninchen geschüttelt. Eine Knoblauchwolke wehte ihm ins Gesicht, vermischt mit anderen Gerüchen, die auch nicht für feine Nasen bestimmt waren, für Nasen, deren Besitzer sich nach erfolgreichem Job in Sekt baden und die Fingernägel maniküren lassen wollten. Nein, hier war die rauhe Wirklichkeit, und die sah anders aus als die schöne Welt, die der große Hexenmeister gemalt hatte. Der Mexikaner sah wild genug aus. Ein frischer Säbelhieb zierte seine rechte Wange und hatte die rechte Hälfte seines mächtigen Schnauzbarts ebenfalls gekappt. So war nur die linke Hälfte übriggeblieben und mußte warten, bis die andere nachgewachsen war. Lustig sah das gar nicht aus. Der Mexikaner trug eine zerlumpte Uniform, und Joey Winder erinnerte sich dunkel, irgendwann einmal eine solche Uniform gesehen zu haben – bei den Soldaten des gestürzten Kaisers. Leider hatte ihm sein Idol nicht gesagt, zu welcher Seite der gewisse Alfredo Copolla gehörte – zu den siegreichen Rebellen des Benito Juarez oder zu den geschlagenen Anhängern des Kaisers, den man bereits erschossen hatte. »Maul auf!« brüllte ihn der Mexikaner an. »Was du hier wollen, verdammtes Gringo?« »Ich – ich such was«, stotterte Joey Winder. Er empfing eine Maulschelle. Und weil ihn der Mexikaner im selben Moment losgelassen hatte, kreiselte Joey Winder um seine eigene Achse und wußte nicht mehr, ob er noch einen Kopf hatte. Es schien, als sei der weggeflogen. Als Joey Winder wieder etwas beisammen war, fand er sich an einem Steinbrocken sitzen. Dort wäre er gern eingeschlafen, aber über ihm drohte ein Schatten, und aus dem Schatten näherte sich eine spitz zugeschliffene Machete. Sie zielte auf seinen Adamsapfel. Joey Winder hörte schnell mit dem Schlucken auf – sonst prallte der Adamsapfel gegen die Machetenspitze. »Was du suchen, verdammtes Gringo?« grollte der Schatten. »Du reden – oder krgggs! Kehle durch!« »Bi-bi-bitte«, stotterte der harte Joey Winder, für den Indianer nur
Läuse waren, die man knacken mußte, »i-ich suche einen Senor Alal-alfredo Cocopolla. I-ich bin ein Bote …« Die Machetenspitze verharrte, neben ihr tauchte das fürchterliche, halbbärtige Gesicht auf. »Bote von wem?« »Ma-mahon Tabor.« Eine Hand zuckte vor und riß Joey Winder hoch. Neuer Knoblauchdunst prallte ihm ins Gesicht. »Du lügen!« »Nein!« schrie Joey Winder langgezogen. »Hilfe …« Er fand sich an dem Steinbrocken wieder. Dieses Mal war sein Kopf nach der anderen Seite davongeflogen. Sein Schädel brummte, vor seinen Augen tanzten bunte Reigen. Undeutlich schimmerte der Stahl dazwischen, tödlich und drohend. Joey Winder, der Sieger, der Gewinner, der harte Kerl, begann zu quieken wie ein Ferkel, das zwar noch nichts von Schlachtmessern weiß, aber vielleicht doch instinktiv ahnt, daß die rohen Fäuste des Schlachters Schmerzen bereiten werden. Die Angst ließ Joey Winder quieken, sie zerriß ihn und schüttelte ihn, sie hatte ihn in ihren Klauen und ließ nicht mehr locker. Und Joey Winder rutschte auf den Knien herum, sein Quieken flachte zu einem erbärmlichen Winseln ab, seine Fingernägel krallten sich in den harten, steinigen Boden, kratzten dort herum, als gäbe es noch die Möglichkeit, sich in der Erde zu verkriechen, ein Loch zu schaufeln, wo er sich verstecken konnte. Und der fürchterliche, säbelnarbige Mexikaner lachte. Er hielt sich den Bauch vor Lachen, weil diese Gringolaus vor ihm auf dem Boden herumrutschte und ihm die Stiefel küßte. Dann brach das Lachen jäh ab. Joey Winder hob zitternd den Kopf, seine Lippen bibberten. Würde sich jetzt die Machete in seine Kehle bohren? Der Mexikaner stand geduckt, den Kopf vorgeschoben. Seine Augen waren lauernd. »Wo Beweis, daß du Bote von Tabor?« zischte er. Mit fliegenden und flatternden Händen zog Joey Winder das Päckchen aus dem Hemd.
»Hier«, ächzte er, »Brief für Senor Co-Copolla.« Die Machete verschwand im Gürtel des Mexikaners. Die Linke griff nach dem Päckchen, die Rechte riß Joey Winder hoch, packte ihn dann hinten am Kragen und stieß ihn vorwärts. Joey Winder sah nicht, wohin es ging. Er heulte Rotz und Tränen und taumelte vor dem Mexikaner her, der ihn im Griff behielt und weiter und weiter stieß und immer wieder hochhievte, wenn er in die Knie ging oder stolperte. Joey Winder meinte, durch die Hölle zu wanken. Und er betete zum lieben Gott, zu dem er noch nie gebetet hatte, er möge ihn erretten und erlösen von den Schmerzen und Nöten und der Todesangst. Vergessen waren die großen Träume, zerplatzt wie Seifenblasen, die sie ja nur gewesen waren, schillernd und trügerisch und sterbend vom ersten Hauch, der sie traf. Waffen klirrten, Pferde schnaubten, Männer lachten, und der Geruch von Feuer stand in der Luft. Joey Winder riß die tränenden Augen auf. Kleine Zelte standen in dem engen Felskessel. Und da waren wilde Gestalten in zerschlissenen, dreckigen Uniformen, wie sie der säbelnarbige Mexikaner trug. Bis an die Zähne waren sie bewaffnet, ein Rudel von Wölfen mit grausamen Augen und schimmernden Zähnen. Joey Winder erhielt einen Stoß und flog auf einen Hünen zu, der von einem der Feuer aufragte wie ein granitener Felsen. Taumelnd fing sich der Junge und starrte zu dem Riesen hoch, der ihn aus schwarzen Augen kalt musterte. »Bote von Tabor«, sagte der Mexikaner hinter Joey Winder und gab dem Riesen das in Fettpapier eingewickelte Päckchen. »Wird auch Zeit«, sagte der Riese grollend. »Senor Copolla?« fragte Joey Winder ängstlich. Die schwarzen Augen wurden tückisch. »Senor? Sagtest du Senor, du Laus? Ich bin mit Colonel anzureden, verstanden? Denn vor dir steht der Colonel der kaiserlichen Garde Alfredo Copolla, der treueste Paladin des Kaisers, der Mann, der Benito Juarez, das Schwein, und alle Juaristas, diese Schweine, hinwegfegen wird wie
ein Sturmwind die Blätter im Herbst. Rache für Maximilian!« »Rache für Maximilian«, murmelten die Männer bei den Feuern. »Tod den Juaristas!« wiederholten Stimme des Riesen. »Tod den Juaristas!« wiederholte die Männer im Chor. Joey Winder hörte und sah wieder alles und meinte, sich unter lauter Verrückten zu befinden. Seine Zähne klapperten aufeinander, und er fühlte sich, als habe er Schüttelfrost. Der Colonel erbrach das versiegelte Päckchen, fischte den Brief heraus und begann zu lesen. Die verwilderten Kerle an den Feuern starrten erwartungsvoll zu ihm hinüber. Es mußte etwas Wichtiges sein, was in dem Brief stand. Joey Winder wußte es nicht, es war ihm auch gleichgültig. Er hatte die Schnauze voll von diesem Job, bei dem es ständig Ohrfeigen hagelte, ganz abgesehen von der Todesdrohung, die in Form der Machete über ihm geschwebt hatte. Der Colonel ließ den Brief sinken und schaute zu seinen Männern. Ein gemeines Grinsen lag über seinem Gesicht. »Es klappt, Männer«, sagte er, »wir erhalten in den nächsten Tagen eine neue Lieferung.« Die Männer sprangen auf, rissen die Waffen hoch und jubelten. Joey Winder verstand überhaupt nichts mehr. Lieferung? Was für eine Lieferung? Ächzend stand er auf und näherte sich vorsichtig dem Colonel. Er hatte den Brief abgegeben, also konnte er jetzt verschwinden. Mahon Tabor hatte auch gesagt, er solle sofort zurückkehren. Das würde er tun – um die versprochenen fünfzig Dollar zu kassieren. Aber dann würde er sich verdrücken. Das war nichts für ihn. »Ist alles klar, Colonel?« fragte er und blieb sicherheitshalber außerhalb der Reichweite dieses Riesen. »Alles in Ordnung«, sagte Copolla grinsend. Dieses Grinsen jagte Joey Winder eisige Schauer über den Rücken. »Dann kann ich jetzt gehen?« fragte er. »Mister Tabor sagte, ich solle sofort zurückkehren.« »Du bleibst!« »Aber …«
»Maul halten, Kleiner, hier redet nur einer, und das bin ich«, sagte der Colonel geradezu gemütlich, »und hier gelten auch nur meine Befehle, und ich befehle, daß du heute zeigen wirst, wie ein Gringo zu kämpfen versteht. Ist das klar?« Joey Winder starrte den Colonel entgeistert an. »Ob das klar ist?« brüllte der Colonel. »N-nein«, stammelte Joey Winder, »ich – ich meine, ich hab Sie nicht verstanden, Sir …« »Colonel!« brüllte der Riese. »Colonel«, flüsterte Joey Winder und konnte nichts dagegen tun, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. Es klang, als schnattere eine Ente. Der Colonel reckte seine mächtige Gestalt und wuchs für den schmächtigen Joey Winder in gigantische Höhe. In seiner Stimme schwang wieder das Donnergrollen. Und mit Entsetzen vernahm Joey Winder, daß diese Verrückten planten, an diesem Vormittag einen Zug zu überfallen, der nach El Paso unterwegs war. In ihm befände sich eine Delegation mit Beamten der neuen Regierung, die die Absicht habe, sich zwecks bestimmter Verhandlungen mit einer Beamtendelegation aus Washington in El Paso zu treffen. »Und diese Verräter werden wir auslöschen!« grollte der Colonel. »Wegradieren! Tod allen Feinden des Volkes!« »Tod allen Feinden des Volkes!« murmelten die Männer. Joey Winder meinte, in den Boden versinken zu müssen. Seine Knie schlotterten. »Weigerst du dich etwa, an dem gerechten Kampf teilzunehmen, du Wanze?« fuhr ihn der Colonel an. »Das ist Meuterei, und Meuterer werden erschossen – erschossen – erschossen!« Dem Riesen stand Schaum vor dem Mund, in seinem Gesicht zuckte es, seine Augen glühten. Vor Joey Winder drehte sich alles – Zelte, Feuer, Männer und der riesige Colonel. »Tod allen Verrätern!« schrie Joey Winder in höchster Verzweiflung. »Juarez soll zur Hölle fahren!« Das war wohl die Rettung, um nicht erschossen zu werden. Denn der verrückte Colonel lachte, und es klang wie
Höllengelächter. Er hieb ihm die Pranke auf die Schulter, so daß Joey Winder in die Knie sackte, und brüllte: »Recht so, Kleiner, das ist der Geist, aus dem Helden geschnitzt werden!« Einer der Kerle drückte ihm einen Schießprügel in die Hand – ein Ding, das größer als Joey Winder war und bestimmt noch aus der Zeit der spanischen Eroberer stammte. Und der Kerl sagte: »Das meiste erledigen wir sowieso mit dem Messer – krgggs!« Der Alptraum war noch lange nicht zu Ende.
7. Ich ritt über das Geröllfeld einer Hochebene, und als ich deren Rand erreichte, zügelte ich den Grauen. Schräg unter mir verlief die Bahnstrecke nach El Paso. Aber nicht deswegen glitt ich aus dem Sattel und zog den Grauen wieder zurück und in eine Mulde, die von unten nicht einzusehen war. Nein, beidseits der Geleise hatte ich Kerle entdeckt, und sie waren zu beschäftigt gewesen, um mich ebenfalls zu erspähen. Außerdem konnten sie – wenn überhaupt – mich nur für Sekunden gesehen haben. Aber nichts deutete darauf hin, keine Zu- oder Warnrufe, keine Schüsse. Ich nahm mein Spektiv mit, robbte auf dem Bauch wieder zu der Plateaukante und fand Deckung hinter dem Geröll und Buschwerk. Die Sonne stand links von meinem Beobachtungsort und näherte sich ihrem Scheitelpunkt. Jenseits der Geleise zog sich ein Yuccadickicht nach Norden. Mit einem Blick von hier oben aus sah ich, daß sie dort ihre Pferde versteckt hatten. Dorthin auch verlegten sie etwas, das wie eine Schlange aussah, und es war auch eine Art von Schlange – was die Tödlichkeit betraf, nämlich eine Zündschnur. Ich schirmte das Spektiv mit der hohlen Hand links gegen die Sonne ab und las die Aufschrift auf den Kisten, die sie an und zwischen den Geleisen vergruben und zu denen die Zündschnur führte. POWDER stand in Großbuchstaben auf den Kisten.
Sieh einer an, dachte ich überrascht, diese netten Feuerkisten stammen also von drüben. Ich ließ das Spektiv weiterwandern, und erst jetzt fiel mir auf, daß die Kerle, die dort unten so beschäftigt waren, zum größten Teil Uniformen trugen. Aber es waren keine Juaristas, sondern kaiserliche Soldaten. Hatten die noch nicht genug vom Kriegspielen? Denn was sie vorhatten, war klar. Sie wollten den Zug in die Luft sprengen. Ich erwog, hier zu verschwinden und dem Zug entgegentreten – aber von welcher Seite würde er heranrollen? Von Norden oder von Süden? Noch während dieser Überlegungen fiel mir fast das Spektiv aus der Hand. Ich hatte Judas Ischariot im Okular. Er hielt sich an einer Art Muskete fest und sah aus, als wolle er gleich kotzen. Und dann wurde er von einem Riesen mit einem Tritt in den Hintern freundlich aufgefordert, nicht herumzustehen und Maulaffen feilzuhalten, sondern gefälligst mit anzupacken. Der Schießprügel wurde ihm abgenommen. Dafür wurde ihm eine Schaufel in die Hand gedrückt. Little Joey rieb sich den Hintern und kratzte lustlos mit der Schaufel bei den Geleisen herum, wo sie eine der Kisten versenkt hatten. Er hatte ein verschwollenes Gesicht, durch dessen Schmutz Tränen helle Bahnen gezogen hatten. Schadenfreude ist etwas sehr Übles, und ich verspürte sie auch nicht. Aber Mitleid hatte ich auch nicht, eher eine gewisse Genugtuung, daß man mit dem kleinen Großmaul wohl nicht gerade sanft umgegangen war. Was er bei diesen Strauchdieben, die einmal Soldaten gewesen waren, zu suchen hatte, blieb mir ein Rätsel. War er ihnen in die Hände gelaufen, und sie hatten ihn gezwungen, bei ihrem Haufen zu bleiben? Oder hing das alles mit dem Auftrag Mahon Tabors zusammen? Sie hatten amerikanische Pulverkisten. Und was hatten sie für Waffen? Ich spähte durchs Okular und pfiff lautlos durch die Zähne. Da waren eine ganze Menge Specerkarabiner zu sehen, die so
vorzügliche Repetierwaffe der Nordstaaten im Bürgerkrieg. Fast neu sahen die Karabiner aus. Und Colts hatten die Burschen auch. Mir begann zu dämmern, daß mir noch unbekannte Waffenhändler offenbar auf zwei Hochzeiten tanzten. Zuerst hatten sie die Juaristas beliefert und ausgerüstet. Waren jetzt versprengte kaiserliche Einheiten und Guerilla-Banden die neuen Kunden? Dem Teufel war es gleichgültig, welche Seite über die besseren Waffen verfügte – dem Tod auch. Ihren Lakaien, den Waffenhändlern, erst recht. Hauptsache, die Kasse stimmte. Und sie stimmte überall dort, wo Menschen wild darauf waren, sich gegenseitig umzubringen. Oder wo jemand ihnen eingeredet hatte, sie müßten aufeinander losschlagen – vielleicht sogar unter der Parole für Freiheit und Recht, für Gott und die Heimat, für bessere Zeiten und das Paradies. Oder für Hirngespinste. Little Joey kassierte bereits wieder Ohrfeigen, weil er sich jetzt an der Schaufel festhielt. Sie waren auch etwas nervös, diese Burschen in ihren verschmutzten und zerschlissenen Uniformen. Da brauchten sie wohl einen Prügelknaben, an dem sie Dampf ablassen konnten. Little Joey hatte nichts zu lachen – und er hatte doch so gern hart sein wollen. Ob er immer noch meinte, auf der Seite der Gewinner zu stehen, das bezweifelte ich. Abgehalfterte Soldaten waren Desperados, aber keine Gewinner. Wenn Joey Winder das nicht sah, dann war ihm nicht zu helfen. Aber wie sollte ich ihm helfen? Ungesehen kam ich nicht an die Bahnlinie heran, um mir den Bengel schnappen zu können. Und es war auch schon zu spät. Der Riese scheuchte sie jetzt zu beiden Seiten der Geleise in Deckungen, auch Joey Winder, der wieder seinen Schießprügel umarmte, der viel zu schwer für ihn war. Ob das Ding überhaupt funktionierte? Ich hatte da so meine Zweifel. Der Riese stand in Feldherrenpose und musterte das Werk seiner Leute. Den Rangabzeichen nach mußte er einmal Colonel gewesen sein. Ich studierte sein Gesicht durchs Spektiv. Das war einer vom Typ der Eisenfresser. Und etwas irre schien er auch zu sein, weil es in seinem Gesicht ständig zuckte. Irre und dazu noch Colonel – das
war mal wieder eine feine Mischung. Er brüllte sogar etwas. Ich hörte es bis zu mir herauf. Er brüllte: »Tod allen Juaristas!« Seine Kerle brüllten die drei Worte nach. Der Mann war wirklich irre. Mit diesem Gebrüll konnte man Tote aufwecken. Hier brauchten nur Rurales herumzustreifen, und schon war es aus mit dem Kriegspielen. Oder Apachen – na dann Mahlzeit! Ich ließ das Spektiv sinken und blickte nach Süden. Verdammt! Der Zug näherte sich. Das heißt, sehen konnte ich ihn noch nicht, aber die Rauchfahne verriet ihn. Sie bewegte sich stetig und gleichmäßig auf diesen Punkt hier zu. Der Colonel verschwand im Yuccadickicht. Ich starrte auf die Schlangenlinie der Zündschnur, die lose mit Sand bedeckt war. Dann kroch ich zurück zu dem Grauen und holte meinen Spencerkarabiner. Der Graue schnaubte unruhig und tänzelte. Seine Ohren spielten. Jetzt wurde der auch noch nervös! Ich klopfte ihm beruhigend den Hals. Er warf den Kopf hoch und wurde noch biestiger. Von Süden schrillte die Dampfpfeife. Und ich wollte die Zündschnur zerschießen – wenn der Zug herandonnerte und der Schuß kaum gehört werden konnte. Der Wallach keilte aus. Und da hörte ich das Klappern und Rasseln. Ich erstarrte. Das Biest war nur noch knappe drei Yards von dem Wallach und mir entfernt. Der Kopf, steil erhoben, pendelte hin und her. Das Rasseln blieb, der Schwanz mit den Hornkapseln am Ende war noch hinter einem Steinbrocken verborgen. Dieses Vieh mußte an die zwei Yards lang sein. Der Graue drängte zurück. Schweiß lief mir in die Augen. Unendlich langsam hob ich den Karabiner und schob ihn vor. Für den Repetiergriff würde mir keine Zeit mehr bleiben. Und der Schuß würde die Kerle dort unten alarmieren. Jetzt hörte ich bereits das Rattern der Waggonräder – nicht nur ich, die Klapperschlange auch. Ihr Kopf zuckte hin und her, die Zunge
erschien, züngelte, verschwand wieder. Ich hatte den Eindruck, daß dieses Biest abwechselnd mich und den Wallach anvisierte und überlegte, wen von beiden es angehen sollte zum tödlichen Biß. Ich hatte die Zügel des Grauen nur lose um einen Stein geschlungen. Der rollte jetzt durch das Zerren und Kopfhochreißen weg und in Richtung der Schlange. Der Graue tobte davon. Bruchteile von Sekunden war das Reptil abgelenkt. Ich sprang zurück und repetierte durch. Von unten drang das Donnern des Zuges herauf. Als das Biest auf mich zuschnellte, schoß ich. Mir rettete der Schuß das Leben – den Menschen im Zug nicht. Die Schlange prallte mit zerschmettertem Kopf gegen einen Felsen. Diese Kugel hatte die Zündschnur zerfetzen sollen – die andere tödliche Schlange. Wie sich die Bilder glichen! Und da fauchte die Druckwelle bereits zu mir hoch, und die Welt ging in einem donnernden Schlag unter. Ich gab dem Schlangenkadaver einen Tritt und hetzte zum Rand des Plateaus. Die Lokomotive befand sich schon nicht mehr auf den Schienen. Sie raste, sich aufbäumend, von dem aufgeschütteten Damm, prallte gegen einen Felsen unter mir und zerplatzte in einer Explosion. Heißer Wasserdampf quoll auf. Die Waggons dahinter krachten ineinander, Stahl kreischte und wimmerte, Glas zersplitterte, Eisenteile wickelten sich ineinander, Pulver explodierte, ein Dröhnen und Krachen erfüllte die Luft, Ventile zischten – Menschen schrien gellend. Staub- und Pulverwolken waberten über dem Chaos und verdeckten es. Und sie stürmten. Sie stürmten aus ihren Löchern und Verstecken und aus dem Yuccadickicht wie entfesselte Teufel. Sie schwangen Macheten und Säbel, sie brüllten etwas von Rache und Tod und Vergeltung, sie spuckten es aus mit aufgerissenen Mündern, verzerrten Gesichtern und irren Augen, und sie fielen über die Trümmer her, zwischen denen Tote und Verletzte lagen – Männer, Frauen und Kinder.
Und da begann ich zu schießen. Es war sinnlos, es war genauso sinnlos wie das, was diese Bestien dort unten taten. Ich begriff es, als das Magazin leer war. Ich kroch zurück, weil ich das Entsetzliche nicht mehr sehen wollte. Ein Würgen schüttelte mich. Ich dachte an das Massaker im Halcon Canyon. Es ähnelte jenem auf furchtbare Weise – nur hatten die Indianer die Frauen nicht vergewaltigt, wie es diese entfesselte Soldateska tat, der Colonel allen voran. Das Grauen blieb hinter mir zurück. Ich marschierte über das Hochplateau, bis ich den Wallach fand. * Keiner der Zuginsassen hatte überlebt. Kein Mann, keine Frau, kein Kind, kein Säugling. Über der Stätte des Massakers schwebten die Geier. Ich suchte nach Spuren von Joey Winder. Wo er sich vor dem Überfall versteckt hatte, wußte ich. Ich fand die Stelle und sah, daß er sich erbrochen hatte. Dann war er von dieser Stelle in langen Sätzen geflohen. Ich las es aus den Spuren. Sie wiesen ostwärts. Ich stieg in den Sattel und lenkte den Grauen zu den Spuren. Die Stimme war dünn und erstickt. Ich erstarrte im Sattel und griff zum Colt. »Wasser – Erbarmen …« Ich zog den Grauen herum und trieb ihn zu dem umgestürzten Waggon, hinter dem die Stimme erklungen war. Der Mann in der zerschlissenen Uniform lag halb auf der Seite und hatte sich auf den rechten Unterarm gestützt. Er lag etwas verkrümmt, die Beine angezogen. Aus fahlem Gesicht starrte er zu mir hoch. Ich wandte langsam den Kopf und visierte die Stelle oben auf dem Plateau an, von wo ich geschossen hatte. Ja, auch auf diesen Mann – als er der Frau die Kleider vom Leib gerissen hatte. Sie lag drei Schritte entfernt und hatte es hinter sich. Mein Blick bohrte sich in seine Augen. Er war kein Mexikaner, sondern dem Typ nach einer jener Revolvermänner, die zu Kaiser Maximilians Leibwache gehört hatten.
»Was willst du?« fragte ich kalt. »Noch eine Kugel, damit du es hinter dich bringen kannst? Oder hat dich das Grauen gepackt?« »Wasser …«, murmelte er mit trockenen Lippen. Ich rutschte aus dem Sattel, hakte die Wasserflasche los und ging auf ihn zu. Der Tod hatte seine Hand schon nach ihm ausgestreckt. Ich kniete nieder, öffnete die Flasche und hielt ihm den Kopf, während er trank. Dann sank er zurück und flüsterte: »Danke – Compadre …« »Ich gehöre nicht zu euch«, sagte ich und erschrak über die Kälte in meiner Stimme. »Seid ihr überhaupt Menschen? Wer war der Colonel?« »Copolla, Colonel der kaiserlichen Garde«, flüsterte er. Ich nickte. Von dem hatte ich schon gehört. Der kämpfte nur aus lauter Wut weiter, weil er seinen Posten verloren hatte. Und um sich herum hatte er diesen wilden Haufen gesammelt, der sengend, mordend und plündernd durch Mexiko zog, ein marodierender Haufen von Schnapphähnen und Galgenvögeln, der eins mit Gewißheit nicht mehr tat: für irgendein Ideal zu kämpfen. Ihre Parolen waren nichts weiter als Phrasen. »Von wem habt ihr die Waffen?« »Wasser …«, hauchte er. Ich ließ ihn trinken. Dann wiederholte ich meine Frage. »Weiß nicht, Copolla hat verhandelt – neue Lieferung unterwegs – von drüben – Junge hat Brief, gebracht …« Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. »Warum habt ihr den Zug überfallen?« »Delegation von Juarez – unterwegs nach El Paso – Verhandlungen mit Beamten – Washington …« Er brach ab, sein Gesicht wurde wächsern. »Ist – ist das der – Tod?« Ich nickte stumm. Er suchte meine Hand und umklammerte sie. »Halt – halt mich fest – Compadre«, flüsterte er, »dann – dann geht's leichter ab – in die Hölle …« Seine Stimme war nur noch ein Hauchen, und sie verwehte mit seinem letzten Wort. Seine Augen wurden blicklos. Ich löste meine Hand und drückte ihm die Augen zu. Langsam stand ich auf, verschraubte die Flasche und hängte sie wieder an die Sattelrolle.
Ein Schatten flog über mich weg, und ich duckte mich unwillkürlich. Ja, sie warteten und lauerten. Nur der eine hatte sich schon tiefer gewagt und landete quarrend auf dem Yuccadickicht. Er reckte den nackten Hals und äugte zu mir herüber. Erbarmen … Ich konnte nicht bleiben und die vielen Toten mit Steinen bedecken. Es ging um die Lebenden, die noch nicht am Ende aller Wege waren. Es ging darum, zu verhindern, daß wieder Unschuldige umgebracht wurden. Es ging darum, daß die Mordwerkzeuge niemals den Empfänger erreichten – Copolla, die Bestie! Neue Lieferung unterwegs, hatte der sterbende Revolvermann gesagt. Und Joey Winder hatte Copolla die Nachricht überbracht. Im Auftrag Mahon Tabors! Ich mußte Joey Winder finden. Darum konnte ich mich nicht um die Toten kümmern …
8. »Wie war das?« fragte Mahon Tabor lauernd. »Sechs Stunden hin, sechs Stunden zurück – das sind zwölf Stunden. Und ich warte hier seit über anderthalb Tagen! Und das Geschäft muß abgewickelt werden. Was tust du? Du lungerst in der Gegend herum!« Und dann brüllte er: »Meinst du, ich habe Lust, auf solche Scheißer wie dich zu warten?« Joey Winder, verschmutzt, verdreckt, verheult, verquollen und vor dem totalen physischen und psychischen Zusammenbruch, stand taumelnd in dem Aufenthaltsraum der früheren Überlandstation, und das Erlebte, Grauenvolle schnürte ihm die Kehle zu. »Sie – sie haben alle – abgeschlachtet«, brachte er stammelnd heraus. »Hast du den Brief übergeben?« brüllte Mahon Tabor und hieb die Faust auf die Tischplatte. »Die – die Frauen und Kinder …«, stammelte Joey Winder. Seine Finger zuckten unkontrolliert. Es sah grotesk aus, weil seine Arme steif nach unten hingen. Seine Augen irrlichterten. »Die – die Frauen haben sie – haben sie geschändet, bevor sie ihnen die Kehle durchge
…« Er brach ab und schrie und hielt den Unterarm vors Gesicht, als sollten die Augen nicht sehen, was sie doch gesehen hatten und was sich unauslöschlich in das visuelle Gedächtnis gegraben hatte, unauslöschlich, für immer und ewig – bis an das Ende des eigenen Weges. Mahon Tabor stand langsam auf, gefährlich langsam. Die Wasserkaraffe, mit deren Inhalt er seinen Whisky verdünnt hatte, nahm er mit. Conolly, hinter dem Tresen, tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und sagte: »Der ist meschugge, Sir.« »Weißt ich selbst«, knurrte Mahon Tabor und glitt auf den Jungen zu. Mit eisiger Stimme sagte er: »Hast du den Brief übergeben, Joey Winder?« »Alle tot – Blut …« Mahon Tabor holte aus und klatschte dem Jungen das Wasser aus der Karaffe ins Gesicht. Joey Winder zuckte zurück und schrie. Und dann kippte er um. »Hol einen Eimer Wasser, Conolly«, sagte Mahon Tabor kalt. Conolly verschwand in der Küche. Mahon Tabor fluchte und stieß den Jungen mit dem Stiefel an. Aber der reagierte nicht. »Mist«, murmelte Mahon Tabor, ging zurück zum Tisch und trank aus der Whiskyflasche. Er setzte sie ab, wischte sich über den Mund und klemmte sich eine Zigarre zwischen die Zähne. Eine steile Falte stand zwischen seinen Augenbrauen. Sie bedeutete Nachdenken. In einem anderen Land und vor vielen Jahrhunderten hatten Kaiser auf ähnliche Art nachgedacht und dann stumm ihre Entscheidung kundgetan – mit einer Gebärde, die über Tod oder Leben entschied. Blieb der Daumen nach oben gerichtet, bedeutete die Gebärde das Leben. Wurde er nach unten gedreht, dann war das Todesurteil gesprochen. Joey Winders Leben war für Mahon Tabor nichts weiter als ein Heben oder Senken des Daumens. Die Nützlichkeit des Idioten hatte sich offenbar als eine Fehlkalkulation erwiesen. Na und? Conolly erschien mit dem Eimer und blickte Mahon Tabor fragend
an. »Mach ihn wach«, sagte Mahon Tabor kalt und entzündete gleichgültig die Zigarre. Das Zündholz schnippte er in eine Ecke. Conolly grinste zufrieden. Endlich hatte Mahon Tabor kapiert, was dieser Bengel für ein Würstchen war. Er leckte sich über die Lippen, marschierte zu Joey Winder, drehte ihn auf den Rücken und goß ihm das Wasser mit Wucht ins Gesicht. Der Junge rührte sich nicht. »Hol zwei Eimer«, sagte Mahon Tabor ungerührt. Conolly schleppte zwei Eimer heran und wiederholte die Prozedur. Dieses Mal mit Erfolg. Joey Winder fuhr hoch und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Als er Mahon Tabor sah, zuckte er zusammen. »Hast du Copolla den Brief übergeben?« fragte Mahon Tabor mit der Zigarre zwischen den Zähnen. »Jawohl, Boß«, sagte Joey Winder. »Bist du sofort umgekehrt?« »Nein, Boß.« »Warum nicht?« Joey Winder begann wieder zu zittern. »Er – er hat mich gezwungen, zu bleiben …« »Wieso das?« fragte Mahon Tabor scharf. »Ich sollte bei – bei dem Überfall mitkämpfen, Boß.« »Was für einem Überfall, verdammt noch mal?« »Bei dem Überfall auf den Zug nach El Paso.« Das Grauen breitete sich wieder auf dem Gesicht Joey Winders aus. »Und davon hast du die Hosen voll, wie?« fragte Mahon Tabor verächtlich. »Na klar überfällt Copolla Züge. Was dachtest du denn? Meinst du, der rennt in die Kirche und singt fromme Lieder? Da bist du schief gewickelt.« Mahon Tabor hatte die Zigarre aus dem Mund genommen und mit ihr jedes Wort unterstrichen. Nun stieß er sie auf den Jungen zu. »Und jetzt hör mir genau zu. Wir liefern die Waffen, damit Copolla Rabatz machen kann. Um nichts anderes geht es. Und wenn er mit diesen Waffen ein paar Leute umlegt, dann ist das sein Bier. Mich interessiert das einen Dreck. Und je mehr er Rabatz macht, um so mehr verdienen wir.« Mahon Tabor grinste höhnisch.
»Man muß die Feuerchen zum Brennen bringen und den Herd anheizen, Kleiner. Den Roten liefern wir auch Waffen, damit sie lostoben können. Jeder wird bei uns bedient, jeder, ob rot oder schwarz oder gelb oder sonst was. Hast du das kapiert?« Joey Winder war vor Entsetzen starr. Alles hatte er nicht begriffen, aber das Ungeheuerliche dieser brutalen Wahrheit war ihm doch ins Bewußtsein gedrungen. Er schauderte. »Das – das habe ich nicht gewußt«, stieß er hervor. »Nicht gewußt – nicht gewußt!« äffte ihn Mahon Tabor nach. »Aber jetzt weißt du es.« Seine Stimme wurde leise, aber das unterstrich die verborgene Drohung. »Wenn du denkst, jetzt aussteigen zu können, dann überleg dir das gut, Kleiner. Du weißt nämlich schon zuviel, und du steckst mitten drin. Du hast schon mitgemischt – na, so ein kleiner Überfall, mitgefangen, mitgehangen! Hast du dabei nicht auch was Knuspriges vernascht? Vielleicht kann Copolla das bezeugen – nicht vielleicht, sicher kann er das! Gut, wie?« Joey Winder war käseweiß. Keinen Schuß hatte er abgefeuert, geschweige denn einen Schritt aus seiner Deckung getan. Geflohen war er, als ihn das Grauen gepackt hatte. Und dann war er gelaufen und gelaufen, die Schreie der geschändeten Frauen in den Ohren, die gellenden Hilferufe der Kinder, das wiehernde Lachen und Grölen der Kerle, die Schüsse, das Röcheln, das Stöhnen … »Willst du aussteigen, Kleiner?« fragte Mahon Tabor mit sanfter Stimme, und seine schlanken Finger spielten mit dem Klappmesser, das wie durch Zauberei in seinen Händen erschienen war. »N-nein«, flüsterte Joey Winder. Die Vision der durchtrennten Spinne stand vor seinen Augen. Unwillkürlich blickte er zu dem Pfosten. »Wirklich nicht, Kleiner?« »Nein.« »Das ist sehr gut.« Mahon Tabor grinste kalt. »Du wirst nämlich die nächste Lieferung über die Grenze zu Copolla bringen, Kleiner. Weil du jetzt sein Versteck kennst. Und weil du dir ja noch die fünfzig Dollar verdienen mußt, nicht wahr?« Joey Winder zuckte zusammen. »Die sollte ich doch kriegen,
wenn ich den Brief abgegeben habe.« Etwas Trotz war in seiner Stimme. »Da mußt du dich wohl verhört haben«, sagte Mahon Tabor immer noch grinsend. Und damit brach die bisherige Trugwelt des Joey Winder endgültig zusammen. Das Idol hatte sich brutal demaskiert. Vorbei die Träume vom großen Geld, vom Leben in Saus und Braus … »Denkst du, ich zahle fünfzig Dollar für einen lächerlichen Botengang, Kleiner?« sagte Mahon Tabor höhnisch. »O nein, dafür mußt du schon ein bißchen mehr tun. Und damit du nicht auf dumme Gedanken verfällst, werde ich einen zuverlässigen Mann zu deinen beiden niedlichen Schwestern schicken, damit er auf sie aufpaßt und sie tröstet, falls du hier von der Fahne gehen und dich von deinen Pflichten drücken willst …« »Nein!« schrie Joey Winder. »Doch, Kleiner«, sagte Mahon Tabor sanft, »so läuft nun mal das Spiel. Bei unserem Geschäft kann man es sich nicht leisten, Fehler zu begehen. Man muß die schwachen Stellen abtasten, und wenn man sie erkennt, muß man sie herausschneiden oder zusehen, daß sie halten. Die schwache Stelle, die du jetzt darstellst, hält, weil sonst deinen Schwesterchen was passiert. Oder ist es dir lieber, wenn wir dich aus unserem Netz als unbrauchbar herausschnippeln?« Und damit sprang die Klinge aus dem Schnappmesser. Zum zweiten Male schrie Joey Winder sein »Nein!« »Prächtig, prächtig«, fuhr Mahon Tabor fort. »Weißt du, ich würde ja gern selbst den Transport zu Copolla übernehmen, aber da könnte es mir passieren, daß der gute Colonel mir die Gurgel durchschneidet, weil er weiß, daß ich bisher die Juaristas beliefert habe. Er ist nämlich manchmal ein bißchen verrückt, unser lieber Colonel. Na, du hast ihn ja kennengelernt. Sonst ist er ja ein prächtiger Mensch und ganz wild auf Waffen. Und er zahlt gut. Dieser Lumpenhund hat doch glatt seinen Maximilian beklaut, stell dir das vor. Als es zu Ende ging, hat er tief in die Staatsschatulle gelangt, der alte Gauner. Wie gut für unsere Geschäfte, was, Kleiner?« Mahon Tabor stand auf und nahm noch einen Schluck aus der
Whiskyflasche. »So«, sagte er, »dann wollen wir mal. Ruh dich schön aus, Kleiner. Wenn du die Lieferung zu Copolla bringst, brauchst du starke Nerven. Du wartest hier auf mich. Conolly wird schon auf dich aufpassen. Nicht wahr, Conolly?« »Ich würde den Bengel ja …« »Was du würdest, interessiert mich nicht, Conolly«, unterbrach ihn Mahon Tabor scharf. »Hier wird das getan, was ich anordne, klar?« »Jawohl, Sir.« »Dann schenk dem Kleinen einen doppelten Whisky ein, Conolly. Sonst kippt der uns noch völlig aus den Stiefeln.« Er drehte sich zu Joey Winder um, der naß und verstört und desillusioniert immer noch auf den Dielenbrettern hockte. »Reiß dich zusammen, Kleiner! Und denk an die lieben Schwesterchen. Dein Pferd werde ich übrigens mitnehmen, du brauchst es nicht mehr, wenn du Kutscher spielst.« Er grinste mit seinem Raubtiergebiß und verließ die Station. * Joey Winder war gelaufen, als sei der Teufel hinter ihm hergewesen. Das erleichterte mir das Verfolgen seiner Spuren. Er hatte sich keine Mühe gegeben, sie zu verwischen. Die Panik hatte ihn unbarmherzig vorangetrieben, wohl auch das Entsetzen über das Erlebte. Mehrere Male mußte er gestürzt sein, auch das verrieten die Spuren. Es war die Fährte eines gehetzten Wildes. Am Rio Grande war sie zu Ende. Ich durchfurtete den Fluß hinüber zur texanischen Seite und suchte nach den Spuren. Er mußte völlig fertig gewesen sein, denn erst weit flußabwärts entdeckte ich wieder die Abdrücke seiner schiefgetretenen Stiefel. Daß die noch nicht auseinandergefallen waren, grenzte schon nahezu an ein Wunder. Er hatte sich wohl einfach treiben lassen, weil er zu abgekämpft gewesen war, um noch zu schwimmen. Vom texanischen Ufer aus war Joey Winder nordostwärts getorkelt. Mühsam hatte er sich einen Weg durch das Uferdickicht
gebahnt. Abgebrochene Zweige gaben genügende Hinweise, um seiner Spur zu folgen – trotz der Dunkelheit. Es mochte jetzt etwa zehn Uhr sein. Ich brauchte eine knappe halbe Stunde, bis vor mir die Umrisse eines flachen Gebäudes und zweier Schuppen auftauchten. Dorthin führte Joey Winders Spur. Hinter einem Fenster brannte Licht. Ich glitt aus dem Sattel, band den Grauen an einen Baum und sah mich um. Vor mir verlief ein Trail, der einmal eine Frachtstraße gewesen sein mochte. Noch waren die tiefen Rillen zu sehen, die von Wagenrädern stammten. Aber sehr markant waren die Furchen nicht mehr. Unkraut hatte sich in ihnen angesiedelt. Offensichtlich waren Schuppen und Gebäude einmal eine Überland-Station gewesen – jetzt dienten sie etwas anderem, und mir wurde auch klar, auf was ich hier gestoßen war: auf einen Grenzumschlagplatz für Schmuggelware – der richtige Ort für die Unternehmungen eines Mahon Tabor. Texas Ranger würden entzückt sein, diesen Stall ausmisten zu können. Eine ganze Weile verharrte ich und beobachtete. Dann war ich sicher, daß kein Posten aufgestellt war auch ein Zeichen dafür, wie sicher man sich hier fühlte. Ich lächelte grimmig: zu sicher, denn jetzt war ich am Zug. Ich nutzte die Schatten und huschte lautlos auf das Gebäude zu. Das erleuchtete Fenster gab den Blick in einen Aufenthaltsraum frei. An einem der Tische saß Little Joey. Er hatte den Kopf zwischen die Fäuste gestützt und stierte in ein Whiskyglas. Seiner Miene nach zu urteilen, mußte der Weltuntergang bevorstehen. Mahon Tabor entdeckte ich nicht – oder schlief er irgendwo? Dafür sah ich einen stiernackigen Kerl hinter dem Tresen. Er blätterte in irgend etwas, das wie ein abgegriffener Versandhauskatalog aussah. Ab und zu warf er dem Jungen einen verächtlichen Blick zu. Im übrigen hatte er eine Schrotflinte mit abgesägten Läufen griffbereit auf dem Tresen liegen. Die Läufe deuteten unmißverständlich auf Little Joey. Das war merkwürdig. Bewachte der den Jungen? Wenn ja,
warum? Weil Mahon Tabor schlief? Oder war dieser Oberschurke gar nicht anwesend? Na, das würde sich feststellen lassen. Ich umrundete das Gebäude auf leisen Sohlen und widmete mich den beiden Schuppen. In dem einen lag Gerümpel herum, in dem anderen befanden sich zwei Maultiere, die zwar mit den Ohren wackelten, aber friedlich blieben. Pferde entdeckte ich nicht – auch keinen Schecken, den laut Lucinda ihr liebes Brüderlein geritten haben sollte, als er und sein neuer Freund Mahon Tabor Willow Spring westwärts verlassen hatten. Und zwei Pferdefährten war ich von der Stadt aus ja auch gefolgt. Mahon Tabor war nicht anwesend, soviel stand fest. Den Schecken mußte er mitgenommen haben. Wollte er verhindern, daß Little Joey türmte? Denn der wurde von dem Stiernackigen bewacht, das war mal sicher. Da hatte ich es also nur mit dem Stiernackigen zu tun. Für wie lange, das war ungewiß. Der sterbende Revolvermann hatte verraten, daß eine neue Lieferung an Copolla unterwegs sei. Ich setzte die Mosaiksteinchen zusammen und gelangte zu dem Schluß, daß Mahon Tabor wahrscheinlich von hier aus aufgebrochen war, um diese neue Lieferung zu holen. Von wo, das wußte ich natürlich nicht, aber ich hatte so die Vermutung, daß mir genug Zeit blieb, dem Stiernackigen ein paar Fragen zu stellen und Little Joey ein bißchen den Marsch zu blasen. Allerdings erweckte er eher den Eindruck, getröstet werden zu müssen. Ich beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen. Der Vorbau an der Vorderseite der Station hatte mir zu wacklig ausgesehen, um von dort einzudringen. Wenn da ein Brett knarrte, war der Stiernackige gewarnt, und ich hatte keine Lust, mich mit Schrotkugeln spicken zu lassen. Also schlich ich an die Tür der Rückfront, die augenscheinlich in eine Küche führte.
9.
Die Tür ging nach außen auf. Ich nahm einen Steinbrocken und donnerte ihn gegen eine Regentonne rechts neben der Tür. Dann preßte ich mich neben der Tür an die Hauswand, den Fünfundvierziger in der Faust. Drinnen prallte eine Tür auf, Schritte stampften auf die Tür zu. Ein Riegel krachte, die Tür flog auf, die abgesägte Schrotflinte erschien. Ich packte sie mit der Linken von unten und drückte sie hoch. Er tat genau das, was erschreckte Leute in einem solchen Fall tun. Er zog durch. Der Nachthimmel hatte nichts dagegen, ein paar Löcher zu kriegen. Vielleicht hörte jemand den Krach, aber das war zur Zeit nicht mein Problem. Ich glitt vor die Tür und drückte dem Stiernackigen den Coltlauf in den Bauch. Er ließ die Schrotflinte ohne Aufforderung fallen. Ich trat sie mit dem Stiefel zur Seite und schob den Kerl in die Küche. »Joey!« rief ich. Der Junge stürzte in die Küche, entdeckte mich, riß die Augen auf und hatte ein Gesicht, als sei ihm der Weihnachtsmann begegnet. »Sei so gut und verriegele hinter mir die Tür«, sagte ich und schob den Stiernackigen weiter in den Aufenthaltsraum. Dieser Mann war total überrumpelt und offensichtlich ein Spätentwickler, was sein Denken betraf. Er glotzte mich an und glotzte auch noch, als ich ihn auf einen Stuhl gestoßen hatte. Joey Winder hatte abgeriegelt und hüpfte wie ein junger Ziegenbock in den Aufenthaltsraum. »Ronco!« sagte er, und es klang nach echter Freude, einen alten Freund wiedergetroffen zu haben. Ich fixierte ihn, ließ aber den Stiernackigen dabei nicht aus den Augen. »Die Geschäfte gingen wohl nicht so gut wie erwartet, he?« fragte ich. Er starrte verlegen zu Boden und sagte leise: »Ich wußte nicht, auf was ich mich eingelassen habe.« »Und jetzt weißt du es?«
Er hob den Kopf und nickte. »Ja. Ich – ich möchte mich entschuldigen – für alles.« Plötzlich flackerte Angst in seinen Augen.. »Er will meine Schwestern bewachen lassen. Er erpreßt mich! Ich soll die nächste Lieferung nach drüben bringen, zu diesem fürchterlichen Mann – Copolla …« Seine Worte kamen abgehackt und in höchster Erregung. »Langsam«, sagte ich, »eins nach dem anderen. Hol ein paar Lederriemen, damit ich erst mal diesen Kerl hier fesseln kann.« »Ich protestiere!« stieß der Stiernackige hervor und wollte vom Stuhl hoch. »Setzen!« befahl ich und winkte mit dem Colt. »Sonst geht das Ding hier los, und dann gibt's ein Loch bei dir.« Er sank auf den Stuhl zurück und stierte zu mir hoch. »Wenn Mister Tabor zurückkehrt, macht er Hackfleisch aus dir«, erklärte er und erwartete offenbar, daß ich jetzt vor lauter Schreck umfallen würde. »Danke für die Information«, sagte ich und grinste ihn an. »Wann ist denn mit seinem Eintreffen zu rechnen?« Er biß sich auf die Lippen und kapierte, daß er schon zuviel gesagt hatte. Joey Winder hatte zugehört und brachte jetzt ein paar Lederriemen. »Er holt eine Waffenlieferung«, sagte er, »aber von wo, das weiß ich nicht.« Ich drückte ihm den Colt in die Hand und befahl ihm, auf den Stiernackigen aufzupassen, während ich ihn kunstvoll mit dem Stuhl verschnürte – Hände hinter der Lehne, Unterschenkel an die beiden vorderen Stuhlbeine. Dann kippte ich den Stuhl nach hinten und zog ihn zum Tresen. Dort schnürte ich den Stuhl am Tresengeländer fest. Das Sitzmöbel war solide, Tresen und Geländer auch. Da war nicht viel drin für den Stiernackigen. Er konnte ja nicht mit dem ganzen Tresen auf Wanderschaft gehen. Ich bediente mich mit einem Whisky und verzichtete auf eine Bezahlung. Es war schön, auch die Gegenseite mal schröpfen zu dürfen. Hier bestand sowieso alles nur aus schmutzigem Geld. Darum hatte ich auch nicht die geringsten Skrupel, die Kasse des
Stiernackigen hinter dem Tresen zu plündern. Sie enthielt achtzig Dollar und ein paar Cents – Geld, das die Kinderfamilie der Winders nötiger hatte als vollgefressene Waffenschieber und Dreckskerle wie Mahon Tabor samt Genossen. Aus einem Kellerraum ergänzte ich meine Vorräte an Kaffee, Speck, Hartbrot und sonstigen Lebensmitteln, die für die Winders ebenfalls lebensnotwendig waren. Irgendwie mußten sie einen neuen Anfang finden. Waffen oder Pulver entdeckte ich nicht, leider. Wieder oben im Aufenthaltsraum – der Stiernackige hatte nichts von den »Eigentumsveränderungen« bemerkt – nahm ich mir den Mann noch einmal vor. Vielleicht erfuhr ich etwas über die Hintermänner, die diesen Waffenhandel betrieben. »Wer ist dein Boß?« fragte ich. »Weiß ich nicht.« »Mahon Tabor?« »Kenn ich nicht, nie den Namen gehört …« »Aber den Namen vorhin genannt, nicht wahr?« sagte ich spöttisch. Er schielte tückisch zu mir hoch. »Du bist jetzt schon tot, du Bastard!« knurrte er. »Ich werd's mir merken«, sagte ich und lächelte ihn freundlich an. »Dafür verrate ich dir auch was: ich werde dafür sorgen, daß sich die Texas Ranger ein bißchen mit dieser Schmuggelbude hier beschäftigen. Was hältst du davon?« Das ging ihm doch unter die Haut. Ich hätte ein paar Daumenschrauben ansetzen können, um mehr zu erfahren, aber mir war klar geworden, daß er nur ein kleiner Fisch war, einer der Handlanger und Marionetten, die sich als winzige Räderchen in der großen Maschinerie des Waffenhandels drehten. Fiel er aus, dann gab es hundertfachen Ersatz. Ich war überzeugt, daß entlang der Grenze nach Mexiko noch mehr solche abgelegenen Plätze existierten, von wo auch der Schleichhandel betrieben wurde. Sie würden alle aufzuspüren sein, wenn man sich diese Mühe bereitete. Aber ich mußte an die Großen heran, nicht an die Kleinen. Die Köpfe der Hydra mußten abgeschlagen werden, nicht die Schwänze.
»In einem der beiden Schuppen hinter dem Haus stehen zwei Maultiere«, sagte ich zu Joey. »Hol eins heraus, vielleicht findest du auch Sattelzeug.« Joey wollte etwas fragen, aber ich hielt den Zeigefinger vor den Mund. Der Stiernackige brauchte nicht zu wissen, was ich vorhatte. Joey verschwand in der Küche. »Das ist Diebstahl«, sagte der Stiernackige wütend, »die Maultiere gehören mir.« »Lachhaft«, sagte ich. »Da redet ein Galgenvogel von Diebstahl. Du hast doch bestimmt schon mehr geklaut als nur ein Maulpferd, oder? Und die Geschäfte, die du hier betreibst, stinken bis über den Rio Grande und wieder zurück. Der Junge hatte einen Schecken, auf dem er hierhergeritten war. Den hat Tabor mitgehen lassen, stimmt's? Also nehmen wir eins der beiden Maultiere mit – das ist ausgleichende Gerechtigkeit. Aber von diesem Begriff hast du wohl noch nie was gehört. Freu dich, daß wir das andere Maultier hierlassen.« Er zerrte an den Fesseln. »Und was wird aus mir?« fragte er keuchend. »Ich kann hier verrecken, was?« »Da sollte doch einer aufkreuzen, der aus mir Hackfleisch machen würde«, sagte ich grinsend. »Wie war doch gleich sein Name? Ah ja, Mahon Tabor. Er wird sich mächtig freuen, dich losschneiden zu dürfen, ganz mächtig sogar. Du weißt nicht zufällig, wann er zurückkehrt?« Er platzte vor Wut und verzichtete auf eine Antwort. »Sehr schön«, sagte ich, »das enthebt mich der Sorge, daß du hier verhungern oder verdursten könntest. Die zwei, drei Tage auf dem Stuhl reißt ein Kerl wie du doch lächelnd ab, wobei ich empfehlen möchte, einmal darüber nachzudenken, ob es sich lohnt, für einen Lumpen wie Mahon Tabor zu arbeiten. Aber das ist natürlich dein Bier und geht mich, nichts an. Daß du letztlich der Dumme bleibst, wirst du schon früh genug kapieren – nämlich dann, wenn sie dir einen Tritt in den Hintern verpassen, weil sie dich nicht mehr brauchen. Aber Schluß damit. Magst du noch einen Schluck Wasser, bevor ich mich verabschiede?« Er mochte. Also ließ ich ihn auf Vorrat trinken. Er dankte es mir
nicht, sondern verfluchte mich und meine Ahnen und Kindeskinder in die finsterste Hölle, wobei ich erfuhr, von wem ich alles abstammen sollte. Hurenböcke waren auch dabei. Ich hörte kopfschüttelnd zu. Es gibt eben Kerle, die unbelehrbar sind. Ich sagte ihm, er möge Mahon Tabor von mir sehr herzlich grüßen, und ich würde mich wieder melden, sobald ich etwas mehr Zeit hätte. Dann löschte ich die drei Petroleumlampen und wünschte ihm angenehme Träume. Seine Flüche begleiteten mich bis nach draußen. Joey erwartete mich. Für das Maultier hatte er einen Sattel gefunden. Unruhig schaute er zu mir hoch und sagte: »Wenn er zurückkehrt und feststellt, daß ich nicht mehr hier bin, werden meine Schwestern dafür büßen müssen.« »Unsinn«, erwiderte ich, »denn wir reiten jetzt nach Willow Spring und sind damit Mahon Tabor um Stunden voraus, denn daß du nicht mehr hier bist, kann er erst bei seiner Rückkehr feststellen.« »Ach so.« Er atmete erleichtert auf. »Und ich dachte, du wolltest hier irgendwo auf ihn lauern.« »Deine Schwestern gehen vor.« Ich blickte ihn aufmerksam an. »Du hast dich verändert, Joey. Bei Copollas Überfall auf den Zug hast du's begriffen, wie?« Er biß die Zähne zusammen und nickte. »Ja«, sagte er und erschauerte. Dann fragte er überrascht: »Du weißt davon?« »Ich wollte die Sprengung der Geleise verhindern und die Zündschnur zerschießen. Dann wäre der Zug durchgefahren. In den entscheidenden Augenblicken geriet ich mit einer Klapperschlange aneinander. Als ich sie erschoß, erfolgte bereits die Sprengung. Es war zu spät, um noch eingreifen zu können. Hat Copolla dich gezwungen, an dem Überfall teilzunehmen?« »Ja – es war entsetzlich. Er hat gedroht, mich zu erschießen, wenn ich nicht mitkämpfte. Ich sollte ihm eine Botschaft von Tabor überbringen. Was in dem Brief stand, wußte ich nicht. Das begriff ich erst später. Tabor hatte mich in der Hand – mit der Drohung,
meinen Schwestern etwas anzutun, wenn ich abspränge.« Erbitterung zeichnete sein Gesicht. »Dieser gemeine Hund. Er sagte, er würde ja gern den Transport selbst zu Copolla bringen, aber da er bisher die Juaristas beliefert habe, müsse er damit rechnen, daß ihm der verrückte Colonel an den Kragen ginge. Deshalb sollte ich den Transport übernehmen. Er meinte, ich kenne jetzt auch das Versteck Copollas. Die versprochenen fünfzig Dollar für das Überbringen des Briefes hat er mir auch nicht gegeben. Ein verdammter Betrüger ist das.« »Du hättest nie fünfzig Dollar erhalten, Joey«, sagte ich. »Vermutlich plant er auch, dich über die Klinge springen zu lassen, sobald du den Transport zu Copolla gebracht hast. Ein diskreter Hinweis in einem Brief, den er dir an Copolla mitgegeben hätte, wäre für dich das Ende gewesen. Aber über das alles können wir später noch sprechen.« Ich holte den Grauen, und wir ritten ostwärts. * Ich ritt allein zu der Hütte der Winders, die wir am Morgen erreichten. Joey blieb bei ein paar Cottonwoods mit dem Auftrag, Umschau zu halten und aufzupassen. Eine Mähre war bei der Hütte angebunden. Der Kerl, der zu ihr gehören mußte, war zu beschäftigt, um mich zu bemerken – nämlich in der Hütte. Er wollte sich wohl die Langeweile vertreiben, vielleicht hatte ihn Mahon Tabor auch dazu animiert. Zuzutrauen war es ihm. Wenn ich nicht mehr rechtzeitig eingreifen konnte, dann würde ich irgendwo abseits der Stadt ein Grab schaufeln, das schwor ich mir, als ich aus dem Sattel glitt. Lucinda schrie und schien sich verzweifelt zu wehren. Das rohe Lachen des Kerls trieb Wutexplosionen in mir hoch. Ich fegte den Sack zur Seite und fuhr wie ein Blitz in die Hütte. Der Kerl kniete über Lucinda und versuchte, sie auf den Boden zu pressen. Ich krallte meine Faust um seinen Jackenkragen, riß ihn hoch und
zerrte ihn nach draußen. Ich hatte keinerlei Veranlassung, ihn mit Honig und Milch zu behandeln, nein, hier waren nur die Fäuste die richtige Kur. Er stank nach Schweiß und Schnaps und Dreck und war selbst ein Stück Dreck, ein mieses Stück Dreck. Abseits der Hütte nagelte ich ihn gegen einen Baumstamm und verpaßte ihm den letzten Hieb. Er rutschte mit glasigen Augen am Stamm nach unten und kippte zur Seite. Ich nahm ihm ein Messer, einen Schlagring, einen verrosteten Colt, den Waffengurt und den Leibriemen ab – und die fünf Dollar, die ihm Mahon Tabor für die Bewachung der Winder-Schwestern gegeben hatte. Aber das erfuhr ich erst eine Viertelstunde später, als er wieder bei Bewußtsein war und gequält mit verschwollener Visage und aufgeplatzten Lippen Auskunft gab. Danach sollte er die Geschwister drei Tage bewachen und dann, falls Mahon Tabor sich nicht meldete, einfach verschwinden. Mehr wußte er nicht – und das nahm ich ihm ab. Nach der Prügel, die er von mir bezogen hatte, hätte er auch seine Mutter verraten. Ich jagte ihn mit seiner Mähre davon, und er war vollauf damit beschäftigt, seine rutschende Hose festzuhalten. Dieses Mittel hatte ich schon häufig erprobt, und es hatte sich immer wieder bewährt. Männer ohne Leibriemen oder Hosenträger hatten andere Sorgen, als Rachegedanken zu wälzen oder über neue Aktivitäten nachzudenken. Lucinda war mit dem Schrecken davongekommen. Aber um Jill stand es schlimm. Die Bißwunde war wieder entzündet, neuer Eiter hatte sich gebildet. »Sie muß zum Arzt«, entschied ich, »und zwar sofort.« Zornbebend erfuhr ich von Lucinda, wie das mit Jill hatte passieren können. Der Kerl hatte sie nicht an die Schwester herangelassen, er hatte den Whisky weggesoffen, mit dem die Wunde immer wieder desinfiziert werden sollte, und er hatte Lucinda verboten, die Hütte zu verlassen, um einen Arzt holen zu können. Und das letztere gab mir fast den Rest, denn erst jetzt hörte ich von Lucinda, daß sich der nächste Doc in Flatrock befände, dreißig Meilen ostwärts von Willow Spring. Ich funkelte Little Joey an, obwohl er ja bereits ein anderer
geworden war. Er stand mit hängenden Armen da, die Zeichen der Reue im Gesicht, aber das genügte mir nicht. Diese Burschen brauchten die Peitsche, bis sie wach wurden und die Welt so begriffen, wie sie war, nämlich ohne Seifenblasen und bunte Träume. »Soweit mußte das kommen, verdammt noch mal!« fuhr ich ihn an. »Du rennst einem Dreckskerl von Waffenschieber nach, weil er dir Geld verspricht, und hier krepiert deine Schwester! Und wenn mir jetzt die Zeit fehlt, Mahon Tabor noch zu erwischen, weil ich deine Schwester schleunigst nach Flatrock zum Doc bringen muß, dann gelangt wieder eine Ladung Waffen nach Mexiko, und Unschuldige müssen deswegen sterben. Hast du kapiert, was du angerichtet hast, du Idiot?« Er hatte es kapiert. Er schluckte und senkte den Kopf. Aber am liebsten hätte ich ihn jetzt auch noch verprügelt. Ich war selten dermaßen in Fahrt und derart wutgeladen. Denn es ging ja auch um mich, um meine Probleme, für die Mahon Tabor der Schlüssel war. Statt dessen hatte ich die Pflicht, mich um die Winders zu kümmern, weil dieser Lümmel bisher zu schwach oder labil oder zu faul gewesen war, sein Schicksal und das seiner Schwestern fest in die Hand zu nehmen und seinen Mann zu stehen. Dicke Tränen liefen über die eingefallen Wangen des Jungen. »Heul nicht!« schrie ich ihn an. »Packt eure Klamotten. Ihr werdet diese Bruchbude verlassen. Folgt mir nach Flatrock. Ich reite voraus, um Jill zum Arzt zu bringen. Dort sehen wir uns wieder, verstanden?« »Jawohl«, sagte Joey Winder. Ich zog die achtzig Dollar, die ich bei dem Stiernackigen kassiert hatte, aus der Tasche und gab sie Lucinda. »Hier, Mädchen, beschaff dir einen Gaul oder reite mit Joey zusammen auf dem Maultier, dann sparst du das Geld. Ihr werdet es für einen neuen Anfang brauchen. Auf Wiedersehen in Flatrock!« »Danke, Ronco«, sagte sie leise. Ich schnappte mir die phantasierende Jill, stieg mit ihr in den Sattel und jagte los – ostwärts.
10.
»Wurde allerhöchste Zeit«, brummte der Doc in Flatrock, nachdem er das Bein besichtigt hatte, und krempelte sich bereits die Hemdsärmel hoch. Dann wurde er wütend und schrie mich an: »Hätten Sie Ihre Tochter nicht schon früher bringen können, Mister?« »Ich …«, setzte ich an und wurde sofort niedergeschrien. »Interessiert mich nicht! Ein Rattenbiß! Sind Sie verrückt? Da muß sofort etwas unternommen werden, Sie Vollidiot! Nicht erst Tage später! So was von einem trotteligen Vater – zum Kotzen!« »Ich …« »Schweigen Sie!« raunzte er mich an. »Ich will keine Entschuldigungen hören – raus mit Ihnen! Warten Sie draußen. Hier kippen Sie bloß um, wenn Sie Eiter und Blut sehen!« Er packte mich am Kragen und schob mich ruppig in ein Wartezimmer. Hinter mir krachte die Tür zu und wurde abgeriegelt. Du meine Güte! Ich seufzte. Der hielt mich für Jills Vater! Dabei hatte ich ihm sagen wollen, daß ich bereits einmal geschnitten hätte … Krach! Die Tür flog wieder auf, der kleine Doc, weißhaarig, energiegeladen, erschien. »Da wurde schon mal geschnitten! Von wem?« »Von mir, Doc.« »Gut gemacht!« Krach! Die Tür flog zu. Ich seufzte zweimal, sank in einen Korbsessel und streckte die Beine aus. Und dann schlief ich ein. Es war Joey, der mich wachrüttelte. Ich lag verrutscht in dem Korbsessel und hatte Alpträume gehabt. Die hingen mit einem kleinen, weißhaarigen Arzt zusammen, der mir ständig die Zehen abschnitt und wieder annähte. »Was ist mit Jill?« fragte ich und reckte mich. Mir taten alle Knochen weh. »Über den Berg«, sagte Joey strahlend. Dann kicherte er. »Der Doc hält dich für unseren Vater. Hast du da noch Worte?« Sah ich schon so alt aus? Ich schüttelte den Kopf. Wann sollte ich da bloß diesen Lümmel gezeugt haben! Der Doc war ein Vollidiot,
nicht ich. »Habt ihr ihm gesagt, daß ich nicht euer Vater bin?« »Natürlich nicht.« Natürlich! Ich starrte ihn erbittert an, weil er so dämlich grinste. Bildeten sich diese Winder-Frischlinge vielleicht ein, ich würde entzückt die Vaterrolle bei ihnen übernehmen? Ich rappelte mich hoch, um mit dem Doc ein paar warme Worte zu sprechen, aber da klatschte sich Joey plötzlich die Hand vor die Stirn. »O Gott, das hätte ich beinahe vergessen«, sagte er hastig. »Ich habe den Schuft gesehen …« »Mahon Tabor?« »Ja. Am Ortsrand von Flatrock, mit einem schwerbeladenen Wagen! Er ist westwärts gefahren …« Ich war schon bei der Tür, die nach draußen führte, und riß sie auf. »Ronco!« rief Joey hinter mir. »Wo willst du hin?« »Hinter dem Kerl her, verdammt noch mal! Was dachtest du?« Joey setzte sich in Bewegung – mit funkelnden Augen und einem entschlossenen Gesicht. »Ich reite mit! Das ist auch meine Angelegenheit! Und wenn du es mir verbietest – du wirst mich nicht los. Ich habe etwas gutzumachen, das bin ich mir selbst schuldig. Und vielleicht kann ich dir ein bißchen helfen.« Ich musterte das magere Kerlchen, das sich so erstaunlich gewandelt hatte – aus dem Saulus war ein Paulus geworden. Vielleicht war es gut, wenn er jetzt die Gelegenheit erhielt, sich zu bewähren. »In Ordnung«, sagte ich knapp. Im Vorgarten fing uns der kleine, weißhaarige Doc ab, wohl in der Absicht, mir eine Strafpredigt zu halten, daß ich mich mehr um meine Kinder kümmern sollte. Ich hatte keine Lust zu langen Erklärungen. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Das war alles viel zu kompliziert. »Keine Zeit!« schrie ich ihn an. »Joey und ich sind bald wieder zurück. Sagen Sie das Lucinda. Wir haben noch was zu erledigen!« Ich fletschte die Zähne und blickte grimmig. Der Doc prallte zurück. Ich lief an ihm vorbei, löste den Grauen vom Vorgartengitter und schwang mich in den Sattel. Joey saß
Sekunden später auf dem Maultier. Und dann trabten wir an. Der Doc rang sich die Hände und verstand die Welt nicht mehr. Geschah ihm recht. Sah ich vielleicht wie ein Vater aus? Joey brachte mich zu der Stelle, wo er Mahon Tabors Wagen gesehen hatte. Das war vor fünf Stunden gewesen. Jetzt ging es auf den Abend zu. Statt mich sofort zu wecken, als sie das Haus des Docs erreicht hatten, hatten sie mich in dem Korbsessel schlafen lassen. Lucinda hatte das energisch befohlen. Das war zwar gut gemeint gewesen, aber jetzt hatte Mahon Tabor, der krumme Hund, einen ziemlichen Vorsprung. Zum Glück brauchte ich keine langen Überlegungen anzustellen, wohin Mahon Tabor mit dem Wagen fuhr, nämlich zu der abgelegenen Überlandstation, wo ja Joey Winder, sein nützlicher Idiot, den Wagen übernehmen sollte. Jetzt stellte sich heraus, daß es gut gewesen war, Joeys Wunsch, mich zu begleiten, nicht abgelehnt zu haben. Das Bürschchen war in dieser ganzen Gegend bis hin zum Rio Grande viel herumgestreunt und kannte sich bestens aus – auch mit Schleichwegen und Abkürzungen. Und die benutzten wir jetzt und brauchten nicht stur den Wagenspuren zu folgen. Joeys Maultier hielt wacker mit. Er hatte eine gute Wahl getroffen. Bockig war das Tier nämlich auch nicht. Noch kurz vor Mitternacht erreichten wir die Überlandstation. Da war vielleicht was los! Es bewies mir, daß Mahon Tabor und seine beiden Fahrer erst kurz vor uns bei der Station eingetroffen waren. Denn sie waren noch dabei, den Stiernackigen zu entfesseln. Mahon Tabor brüllte, daß die Scheiben klirrten. Joey und ich grinsten uns an. Dann nickte ich ihm zu und flüsterte: »Wir schleichen uns zum Wagen und untersuchen ihn. Ich will wissen, was er für eine Ladung hat.« Joey erhielt meinen Spencerkarabiner. Den Grauen und das Maultier ließen wir hinter einem Dornendickicht zurück. Mahon Tabor tobte unentwegt weiter. Mit dem Verschwinden Joeys war sein Konzept verdorben. Nur das war ihm bisher klargeworden. Jetzt prügelte er aus dem Stiernackigen weitere
Erkenntnisse heraus – und der log! Mein Gott, der log! Er redete nicht von mir, sondern von einer Bande von Halsabschneidern, die ihn überfallen und gefesselt hätten. Da war mir klar, daß er sich herausschwindeln wollte, um Mahon Tabor gegenüber nicht zugeben zu müssen, daß ihn ein einzelner Mann überrumpelt hatte – eine ganze Bande, das sah besser aus. Mahon Tabor wurde nur noch wilder, auch weil damit keineswegs das Verschwinden Joeys erklärt war. Wie schön, daß der Wagen zwischen den beiden Schuppen stand! Nicht vor der Station! Einen besseren Gefallen hätte mir Mahon Tabor gar nicht tun können. Der Wagen war nicht bewacht und von den Fenstern des Aufenthaltsraums aus nicht zu sehen. Ich zerfetzte die Wagenplane mit meinem Messer und kletterte hinein. Trotz der Dunkelheit – das Mondlicht warf Lichtbahnen ins Innere – sah ich sehr schnell, aus was die Ladung bestand: Gatling Guns, Faustfeuerwaffen, Pulver- und Munitionskisten. Das reichte fast, um eine kleine Armee auszurüsten. Sechs Pferde hatten den Wagen gezogen. Die mußte Joey Winder ausspannen und wegtreiben. Ich legte inzwischen eine Zündschnur. Dazu brach ich eine der Pulverkisten auf, befestigte darin das eine Ende der Zündschnur, kletterte wieder nach draußen und rollte die Zündschnur hinter mir ab. Etwa hundert Yards hinter den Schuppen, in einer buschbewachsenen Mulde, endete sie. Joey hastete heran. Er hatte die Pferde zum Rio Grande gejagt. In der Station ging der Krach unentwegt weiter. Joey war jetzt das Thema. Offensichtlich hatte sich der Stiernackige in Widersprüche verwickelt. Uns konnte es nur recht sein. Ich riß ein Schwefelholz an, hielt es an das Ende der Zündschnur und wartete, bis sie zu knistern und zu sprühen begann. Der Funke fraß sich stetig voran. Wir hetzten um das Gebäude herum zu unseren Tieren, saßen auf und entfernten uns ein Stück von der Station, bis ich sicher war, daß wir uns nicht mehr im gefährlichen Bereich der Explosion befanden. Jetzt müßte die Ladung eigentlich hochgehen, dachte ich. Das hatte ich noch nicht ganz zu Ende gedacht, da passierte es.
Ein Feuerpilz schoß in den Nachthimmel. Es war ein grandioses Bild. So mußte ein Vulkanausbruch aussehen. Für Sekunden lag grelles Licht über der Station. Die Explosion war ohrenbetäubend. Eine Druckwelle raste an uns vorbei, und wir mußten unsere scheuenden Tiere bändigen. Die beiden Schuppen flogen wie Kartenhäuser davon. Irgendwelche Teile wirbelte durch die Luft, Patronen explodierten in rascher Folge, es sprühte und zischte und krachte, Flammen leckten über den Hof und griffen auf die Station über. Sie fanden reichlich Nahrung. Im Nu stand das Gebäude in Flammen. Gestalten taumelten nach draußen und schrien. »Das war's wohl, Mahon Tabor«, murmelte ich vor mich hin und nickte Joey zu. Copolla, der verrückte Massenmörder, würde vergeblich warten. Und seine Wut würde sich auf den Mann richten, der ihm die Lieferung versprochen und angekündigt hatte, auf Mahon Tabor. Eins war gewiß, diese Geschäftsverbindung war gründlich zerstört, und sollte Mahon Tabor jemals dem blutgierigen Copolla begegnen, dann würde der ehemalige Zahlmeister von Fort Calhoun mehrere Tode sterben, und einer würde schrecklicher und grausamer sein als der andere. Wir ritten ostwärts. * »Sie hätten mir doch gleich sagen können, daß Sie nicht der Vater der drei Kinder sind, Mister Ronco«, polterte der kleine, weißhaarige Doc. Ich grinste ihn an. »Hat's Lucinda Ihnen verraten?« »Ja, hat sie. Und wissen Sie was? Ich hab mich geärgert, das nicht selbst bemerkt zu haben. Ich bin es nämlich gewohnt, schnelle und auch richtige Diagnosen zu stellen. Bei Ihnen hab ich mich total verhauen.« Er kniff die hellen Augen zusammen und fixierte mich. »Sie sind ein eigentümlicher Mann, Ronco. Mal sehen sie alt aus, mal jung. Als Sie mit der kleinen Jill hier aufkreuzten, hätten Sie durchaus Ihr Vater sein können.«
»Vielen Dank, Doc«, sagte ich etwas erbost, lenkte aber ein und fügte hinzu: »Zu dem Zeitpunkt hatte ich auch eine ziemliche Wut im Bauch, aber es würde zu weit führen, das alles zu erzählen.« »Auch nicht nötig. Lucinda hat berichtet. Haben Sie Ihren Mann erwischt?« Seine hellen Augen glitten zu dem Fünfundvierziger, den ich tief geschnallt trug. »Er lebt«, erwiderte ich knapp. »Aber auch unschuldige Menschen drüben in Mexiko werden weiterleben dürfen – weil ich die Wagenladung mit Waffen und Munition, die dieser Mann einem verrückten Guerillaführer liefern wollte, in die Luft gesprengt habe.« Ich schwieg einen Augenblick und setzte dann hinzu: »Haben Sie von dem Massaker im Halcon Canyon gehört, Doc?« »Allerdings. Ganz Texas spricht davon.« Seine Augen waren ernst und aufmerksam. »Der Schuldige soll spurlos verschwunden sein.« »Der Schuldige«, sagte ich, »sucht nach den wirklich Schuldigen, darum ist er verschwunden. Der Mann, der die Wagenladung voller Tod an den Guerillaführer liefern wollte, gehört zu diesen wirklich Schuldigen.« »Ich verstehe«, sagte der Doc ruhig. »Die Frauen und Kinder des Trecks wurden massakriert, weil man in einen der Wagen Waffen für die aufständischen Apachen geschmuggelt hatte, nicht wahr?« »So ist es.« Auch meine Stimme war ruhig. »Die Drahtzieher arbeiteten mit einem Doppeleffekt: Die Ware erreichte auf diese furchtbare Weise den Empfänger – und der Tod der unschuldigen Frauen und Kinder diente dazu, die Menschen unserer Hautfarbe zum Rachefeldzug gegen die Apachen aufzuhetzen. Wer kämpfen will, braucht Waffen. Die Drahtzieher beliefern beide Seiten. Korruption ist natürlich mit im Spiel.« Der Doc nickte, dann lächelte er still und sagte: »Meine Frau und ich sind kinderlos geblieben. Jill, Lucinda und Joey sind Waisen. Darum werden wir sie bei uns aufnehmen und versuchen, ihnen gute Eltern zu sein – wenn Sie schon nicht der Vater sein wollen.« Und jetzt grinste er. »Joey wird beim Schmied hier in Flatrock arbeiten können. Was halten Sie davon?« »Danke, Doc, das ist eine phantastische Lösung.« Irgendwie fühlte ich mich erleichtert, denn ich hatte mir bereits ziemlich den Kopf
zerbrochen, was mit den Geschwistern geschehen solle. So war auch dieses Problem geregelt. Lucinda und die kleine Jill weinten, als ich mich von ihnen verabschiedete. Joey schluckte tapfer. Er hatte seine Lektion gelernt. Er war abgerutscht, hatte Furchtbares erlebt, aber er hatte sich gefangen. Der Doc begleitete mich hinaus zum Grauen. Als ich bereits im Sattel saß, schaute er zu mir hoch und reichte mir die Hand. »Viel Glück, Ronco«, sagte er verhalten. »Sie haben einen schweren Weg vor sich, einen sehr schweren. Ich werde zum Herrgott beten, daß er Sie diesen Weg bis zu jenem Ende gehen läßt, das für Sie Freiheit bedeutet, wirkliche Freiheit, nämlich Freiheit ohne Ächtung.« Er hatte mich erkannt. Vielleicht sah er das unmerkliche Zucken in meinen Augen. Aber er lächelte. »Ich verrate niemanden«, sagte er, »erst recht keinen Unschuldigen. Das Bild auf dem Steckbrief ist übrigens miserabel.« »Danke, Doc«, sagte ich und ritt an. Wie würde es sein – am Ende aller Wege? Ich wußte es nicht … * Ich habe die letzten Kapitel dieser Geschichte in Austin in meiner Wohnung geschrieben, nachdem ich die drei Mörder im Stadtgefängnis abgeliefert hatte. Gerade eben habe ich die Nachricht erhalten, mich sofort bei Lew Harker im Hauptquartier zu melden. Eine neue Aufgabe wartet auf mich. Offensichtlich scheint es eine sehr dringende Sache zu sein, denn ich werde mich direkt vom Hauptquartier aus in Marsch, setzen müssen. Ich habe ein ungutes Gefühl. Woran das liegt, weiß ich nicht. Mein Instinkt sagt mir, daß Manuela und Jellico in Gefahr seien – ich selbst wohl auch, aber das liegt wohl eher an meinem Beruf als Texas Ranger.
Ist das überhaupt ein Beruf? Ich werde etwas verändern müssen, das weiß ich. Wenn ich von diesem Auftrag zurückkehre, werde ich ein neues Ziel ins Auge fassen. Nur welches Ziel? Und werde ich zurückkehren? Stumm umarme ich meinen kleinen Sohn Jellico und Manuela, die Frau, die so treu zu mir hält und für Jellico eine Mutter geworden ist. Dann gehe ich, die Satteltaschen mit dem Notwendigsten über der linken Schulter, die Winchester in der Rechten. Sie winken mir vom Fenster oben zu – wie immer, wenn ich gehe … Wie sagte der kleine, weißhaarige Doc? Ich werde zum Herrgott beten. Sein Gebet erfüllte sich. Der Geächtete wurde frei. Ich wollte, ich könnte jetzt auch beten …
ENDE
Vorschau Roncos Kugel traf einen der Kerle. Er schrie und mußte sein Gewehr fallen lassen und nach dem Sattelhorn greifen, um nicht aus dem Sattel geworfen zu werden. Das schnaubende Pferd galoppierte nach Norden. Ronco feuerte wieder. Er sah daß die Banditen nervös waren und sich nicht schnell genug auf den Kampf nach beiden Seiten einzustellen vermochten. Über den Lauf hinweg bemerkte er einen Reiter, der gerade ein Kommando gab und mit dem Gewehr in der erhobenen Rechten gestikulierte. Er drückte ab. Pulverrauch trieb ihm ins Gesicht. Der Reiter wurde auf den Hals seines Pferdes gestoßen, rutschte zur Seite und kippte aus dem Sattel … Das ist Ronco, der Texas Ranger. Lesen Sie nächste Woche Band 396 dieser großen deutschen Western-Serie:
Mordkommando