1.
Es war ein strahlender Morgen, als das Boot mit Dragon und den anderen in die Bucht zurückkam. Der Sturm hatte in d...
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1.
Es war ein strahlender Morgen, als das Boot mit Dragon und den anderen in die Bucht zurückkam. Der Sturm hatte in der Nacht allerlei an den Strand geschwemmt: Seetang, Holzplanken und tote Fische, die an den Riffen zerschellt waren, und die Fischer befanden sich gerade dabei, das Treibgut einzusammeln. Schon in der Nacht, als der Sturm nachgelassen hatte und das Wasser in der Bucht ruhiger geworden war, legte die Schwarze Wellenreiterin am Ufer an, wo es felsig und das Wasser tief war. Man legte Planken vom Schiff zum Land und brachte die Pferde, von Bord. Parthos zwölf Krieger führten sie zu einer grasbewachsenen Anhöhe hinauf und betreuten sie. Jetzt erschienen sie an der Steilküste und winkten dem Boot mit Dragon und den anderen. Bei ihnen befand sich nun auch Gun Umbar, der Rudersklave, der der einzige Überlebende der Galeere Enterkönigin war. Die Fischer feierten Dragon wie einen Erlöser, denn er hatte sie von einem Alptraum befreit, unter dem sie seit unzähligen Sommern zu leiden gehabt hatten. Dragon ließ die Huldigungen mit einem etwas
gezwungenen Lächeln über sich ergehen. Er empfand keinen Triumph – und das nicht nur, weil der Tod des Wächters der Totenküste nicht sein eigentliches Verdienst war. Azael, der einäugige Riese, hatte sich selbst in den Tod gestürzt. Dragon war auch nicht deshalb so nachdenklich und in sich gekehrt, weil er erkannt hatte, daß Azael keine Bestie war sondern im Grunde genommen ein gutmütiges und friedfertiges Wesen, das von Cnossos beherrscht worden war. Azael, der letzte aus dem Volk der Zyklopen, tat Dragon irgendwie leid, gewiß, aber sein seltsames Verhalten war auf etwas ganz anderes zurückzuführen. Er hatte seine Erinnerung zurückerhalten. Jener Prozeß, der eingesetzt hatte, als Dragon die erste Botschaft nach der Entführung seines Sohnes von Cnossos erhalten hatte, wurde nun durch die Gegenüberstellung mit dem Zyklopen beinahe abgeschlossen. Das Stichwort, das den Schleier des Vergessens gelüftet hatte, war »Cnossos von Balam« gewesen. Dragon hatte damals schon geahnt, daß es nun nicht mehr viel bedurfte, um ihm seine Erinnerung zurückzubringen. Und seine Ahnungen sollten sich bald bestätigen. Als er dem Zyklopen gegenüberstand, war die Erinnerung wie ein elementares Ereignis über ihn
hereingestürzt, und das mit solcher Wucht, daß Dragon bis in sein Innerstes erschüttert wurde. Deshalb war er so wortkarg und gedankenverloren. Die anderen hatten bald erkannt, daß es nichts fruchtete, ihn in Gespräche zu verwickeln, und ließen ihn mit seinen Gedanken allein. Sie sprachen ihn nur an, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Dragon schien gar nicht wahrzunehmen, was um ihn vorging und horchte immer wieder in sich hinein und staunte über die Wunderwelt der Vergangenheit, die sich ihm in seiner Erinnerung auftat. Atlantis! Endlich wußte er alles über dieses geheimnisvolle Land, in dem er einst gelebt hatte. Atlantis war mit nichts der heutigen Welt zu vergleichen. Auch die Geschöpfe, die den Inselkontinent bewohnten, waren so ganz anders gewesen als die Lebewesen der Gegenwart. Die Bewohner von Atlantis stammten nicht von dieser Erde, sondern waren Kinder der Sterne – ob Menschen, Drachen oder Zyklopen, ihre Heimat hatte irgendwo dort oben im Weltraum gelegen. Aber nach dem Untergang von Atlantis war ihnen der Weg zurück ins Weltall versagt, sie waren Gefangene der Erde – sofern sie die Katastrophe überlebt hatten. Da alle Errungenschaften der Zivilisation mit Atlantis versanken, mußten die Überlebenden neu beginnen und sich den barbarischen Sitten der
Eingeborenen anpassen. Die Drachen, zum Beispiel, konnten sich nie an die Lebensbedingungen auf der Erde gewöhnen und degenerierten im Laufe der Jahrhunderte immer mehr. Und die Vampire, die das Land nördlich von Urgor unsicher machten, entstammten ebenfalls einem Volk von Sternfahrern. Die Nachkommen der wenigen von ihnen, die die Katastrophe überlebt hatten, waren ebenfalls degeneriert und mutiert und zu blutsaugenden Bestien geworden. Nur ein Wesen hatte sich in die Gegenwart herübergerettet, ohne irgendwelche Einbußen zu erleiden: Cnossos, der Balamiter, der über die Dimensionsbrücke aus einem anderen Kontinuum auf diese Erde gekommen war und dadurch den Untergang von Atlantis verschuldete. Cnossos, der dank seines Wissens und seiner gestaltwandlerischen Fähigkeit die in Barbarei lebenden Bewohner dieser Welt unterdrückte und sie als »Gott der vielen Namen« beherrschte. Der Balamiter hatte zweitausend Jahre Zeit gehabt, sein Reich aufzubauen und seine Herrschaft zu festigen, so daß es wohl kaum einen Ort auf dem Rund der Erde geben würde, dessen Bewohner er nicht beeinflußte. Gemessen an der verstrichenen Zeitspanne, hatte der Balamiter andererseits aber nicht besonders viel erreicht. Er trat überall nur als mystische Gottheit auf,
deren Machtinstrumente die Priester und Diener von Sekten und Kulten waren, übte die Macht aber nie selbst aus. Warum hatte sich der Balamiter nicht selbst auf den Thron eines Reiches gesetzt, etwa in Myranien, um von dort aus die Eroberung der gesamten Welt einzuleiten? Darauf hatte Dragon nur eine Antwort: Cnossos handhabte die Geschicke dieser Welt mit so leichter Hand, weil er bisher keinen Gegenspieler gehabt hatte, der ihm seine Position streitig machen konnte. Diese Überheblichkeit begann sich nun zu rächen, seit er, Dragon, in seinem Schrein erwacht war. Cnossos, der bisher leichtes Spiel gehabt hatte, die primitiven und abergläubischen Barbaren nach seinem Willen zu beeinflussen und zu lenken, sah sich nun einem ebenbürtigen Gegner gegenüber. Und Dragon glaubte, daß, nachdem er sein Gedächtnis zurückerhalten hatte, er Cnossos noch erfolgreicher würde bekämpfen können. Doch je länger Dragon über seine Möglichkeiten nachdachte, desto deutlicher wurde ihm, daß dem nicht ganz so war. Er besaß nun sein Gedächtnis, aber dieses Wissen allein genügte nicht. Er lebte immer noch in dieser barbarischen Welt und konnte sich im Kampf gegen den Balamiter nur jener beschränkten Mittel bedienen, die ihm diese Welt bot. Er wußte zwar, daß es einst eine Technik gegeben
hatte, die es erlaubte, große Entfernung schnell und mühelos mittels Fluggefährten zu überbrücken, daß es Waffen gegeben hatte, die es ermöglichten, einen Feind durch einen Knopfdruck zu töten. Aber was half es ihm? Wenn er ein Meer überbrücken wollte, mußte er sich eines gebrechlichen Segelschiffs oder einer Galeere bedienen; wenn er zur nächsten Stadt wollte, mußte er sich auf dem Rücken eines Pferdes abmühen – und den Kampf ums Überleben mußte auch er, der Überlebende einer hochstehenden Zivilisation, mit dem Schwert führen. Das Wissen von den Errungenschaften der versunkenen Kultur nützte ihm nichts, wenn es ihm vor allem an den Hilfsmitteln fehlte, um einfachste technische Geräte nachzubauen. Mit der Zeit würde es ihm sicherlich gelingen, sein Wissen in dieser oder jener Weise einzusetzen und revolutionäre Projekte zu verwirklichen, aber bis dahin war es ein langer und beschwerlicher Weg. Inzwischen mußte er sich weiterhin mit den herrschenden Bedingungen abfinden. Die Gesetze dieses barbarischen Zeitalters waren auch die seinen, deren oberstes hieß: Leben ist kämpfen – töten bedeutet überleben! »Es war großes Unrecht, Azael in den Tod zu treiben«, sagte Gun Umbar, der Pilger, der auf der Enterkönigin
Rudersklave gewesen war und von dem geistesgestörten Zyklopen aus dem sinkenden Schiff gerettet wurde. »Er war mein Freund, und er hätte euch nichts getan, wenn ihr mich mit ihm hättet reden lassen. Ich bete für euch, Brüder, daß der Namenlose euren Weg kreuzt.« Nabib konnte die salbungsvollen Reden des Pilgers nicht mehr hören. »Jetzt hör mir mal gut zu, Umbar«, sagte Nabib. »Ich bin, wie du, ein friedliebender Mensch und alles andere als ein Kämpfer. Wenn ich irgendwo Gefahr wittere, dann suche ich den leichtesten Weg, um ihr zu entrinnen. Aber irgendwann kommt jeder einmal in die Lage, wo er das Schwert ziehen muß.« »Weil das Böse die Welt regiert«, fügte Gun Umbar traurig hinzu. »Eben«, bestätigte Nabib. »Und deshalb finde ich das Wirken des Namenlosen gar nicht so segensreich. Du hast es uns selbst erzählt, daß er eine Schar Wüstensöhne ins Unglück stürzte, weil er sie befriedete. Als die Piraten ihr Lager überfielen, ließen sie sich wehrlos niedermachen, weil sie an den ewigen Frieden glaubten und ihre Waffen nicht gegen ihre Feinde erhoben. Und nun haben sie ihren ewigen Frieden. Du aber überlebtest, weil du dich zur Wehr gesetzt hast, Umbar. Sei also froh, daß du dem Namenlosen noch nicht begegnet bist.«
»Wenn alle so denken wie du, Nabib, dann werden sich die Menschen nie bessern«, entgegnete Gun Umbar. »Ich habe nichts dagegen, wenn jemand kommt, um das Böse auszutilgen«, versuchte Nabib seinen Standpunkt zu erklären. »Aber dann soll er nicht einige wenige zu friedlichen Lämmern machen und sie den Wölfen aussetzen, die sie gnadenlos zerreißen. Entweder der Namenlose macht alle Menschen zu Brüdern, oder er mischt sich überhaupt nicht ein.« »Die Zeit wird kommen, da er ihnen allen den Frieden gebracht hat«, behauptete Gun Umbar. »Auch dir, Nabib.« »Nur das nicht«, rief Nabib entsetzt aus. »Was wäre ich dann für ein Händler – den Aasgeiern ausgeliefert, nicht imstande zu feilschen und meine Verhandlungspartner übers Ohr zu hauen. Ich könnte meine Waren gleich verschenken und mein Dasein als Bettler fristen.« »Ich werde in diesem Sinn die Götter für dich anrufen. Nabib!« »Unterstehe dich!« Nabib wandte sich grollend ab. »Du sollst den Worten Nabibs kein zu großes Gewicht beimessen«, hörte er hinter sich Yina zu dem Pilger sagen. »Er redet nur so, aber er hat in Wirklichkeit ein großes, gütiges Herz ...«
»Pah«, machte Nabib abfällig. Er sah Kapitän Jaggar, Iwa und Dragon vor der Höhle Achmams, des Fischers, sitzen und auf irgend etwas starren, das vor ihnen lag. Ubali stand hinter Dragon, auf einen Speer gestützt. Achmam saß etwas abseits an einem Lagerfeuer und briet einen großen Fisch am Spieß. Nabib lenkte seinen Schritt zur Höhle hinauf. Als er die drei erreichte, sah er, daß sie einen Plan von diesem Teil der Totenküste vor sich ausgebreitet hatten. Das Stück Leder war ziemlich abgegriffen und die Zeichnung darauf vergilbt, aber zur Not konnte man sich auf dem Plan zurechtfinden. »Hier liegt der Berg des Windes, einen Tagesritt nördlich von diesem Fischerdorf entfernt. Östlich davon fließt der Amma Bab und mündet hier in den See Tibras. Von dort sind es ungefähr zwei Tagesritte bis nach Alesch und auf halbem Weg zu dieser Stadt der Verdammnis befindet sich Bababo, wo hauptsächlich seßhaft gewordene Wüstensöhne aus dem Stamm des Fuchses leben. Bababo ist die letzte Oase vor Alesch und ein beliebter Treffpunkt für Händlerkarawanen ... Sag, Dragon, hörst du mir überhaupt zu?« »Doch, Jaggar«, versicherte Dragon wenig glaubwürdig. »Ich habe jedes deiner Worte verstanden. Aber ich glaube, daß es gar nicht notwendig ist, das
umliegende Land so ausführlich zu beschreiben. Mich interessiert vorerst nur der Weg zum Berg des Windes, denn ich möchte noch heute abend dort sein.« »Das schaffst du mit Leichtigkeit«, sagte Jaggar eingeschnappt und rollte die lederne Landkarte zusammen. »Darf ich fragen, welche Befehle du für mich hast?« »Befehle?« wiederholte Dragon verwirrt. »Ich meine, was ich unternehmen soll, während du zum Berg des Windes reitest«, sagte Jaggar ein wenig ungehalten. »Und hast du schon beschlossen, wer dich begleiten soll?« »Ich brauche mir da nicht viel zu überlegen«, sagte Dragon. »Wir haben sechzehn Pferde. Also nehme ich die zwölf von Partho ausgewählten Krieger mit. Außerdem wird Ubali mich begleiten, Nabib und Yina ...« »Yina kannst du nicht mitnehmen«, warf Iwa schnell ein. »Sie ... wird hier gebraucht.« »Tatsächlich?« staunte Dragon, aber es interessierte ihn nicht wirklich. »Ja. Yina ist auf dem Schiff wichtiger als am Berg des Windes«, versicherte Iwa. »Sie ist unsere einzige Kontaktperson zu den Tainu, die uns mit ihren Delphinen zur Totenküste gefolgt sind. Und die Tainu wiederum lotsen die sechs Schiffe der Nachhut zum Ankerplatz der Schwarzen Wellenreiterin. Du siehst.
Yina ist hier unentbehrlich, Dragon.« »An die Nachhut habe ich nicht mehr gedacht«, meinte Dragon. »So unabkömmlich wie du sagst, Iwa, ist Yina gar nicht«, sagte Jaggar. »Die Wassermenschen werden die sechs Schiffe auch ohne besondere Anordnungen zur Totenküste geleiten. Wenn Dragon also ...« »Falle mir nicht ständig ins Wort. Jaggar«, herrschte Iwa den Kapitän der Schwarzen Wellenreiterin an. »Dragon weiß auch ohne deine Ratschläge, was er zu tun hat. Wenn du dich nützlich machen willst, dann kümmere dich darum, daß die Pferde gesattelt und die Vorbereitungen für einen baldigen Aufbruch getroffen werden.« »Aber ja, Iwa, das will ich gern tun«, sagte Jaggar betroffen und zog sich zurück. Als er außer Hörweite war, sagte Iwa verschwörerisch: »Yina soll nicht nur aus den genannten Gründen bei der Wellenreiterin zurückbleiben. Du weißt doch, daß sie drauf und dran ist, sich in dich zu verlieben, Dragon. Deshalb wäre es besser, sie eine Weile von dir zu trennen.« »Was ist Yina?« fragte Dragon verblüfft. »Dir kann es doch nicht entgangen sein, daß sie dich anhimmelt?« Dragon lächelte schwach »Nein, das ist nicht zu übersehen. Sie entwickelt sich zu einer
schwierigen jungen Dame.« »Eben«, sagte Iwa. »Und deshalb ist es besser, ihr keine Gelegenheit zu Dummheiten zu geben. Ich möchte, daß sie auf andere Gedanken kommt, bevor es zu spät ist und sie sich Hals über Kopf in dich verliebt hat. Bei jungen Mädchen geht das schnell – und die Enttäuschung nach dem Erwachen aus dem Traum ist in ihrem Alter groß ...« »Wenn du meinst«, sagte Dragon, während er mit seinen Gedanken schon wieder woanders war. »Gut«, stellte Iwa zufrieden fest, »dann ist es abgemacht, daß ich statt Yina mitreite und sie bei Kapitän Jaggar zurückbleibt.« Iwa erhob sich, und Nabib folgte ihrem Beispiel. »Du sagst das mit so seltsamer Betonung Iwa – daß Yina bei Jaggar bleiben soll«, meinte Nabib mißtrauisch. »Entpuppst du dich in deinen alten Tagen etwa als Kupplerin? Du hast doch nicht vor Yina und Jaggar ...« »Manchmal muß man das Glück der jungen Leute schmieden«, sagte sie nur und rauschte davon. »So eine Hexe«, murmelte Nabib kopfschüttelnd. Ubali stand grinsend daneben und fragte: »Soll ich auch Glück schmieden?« »Und an wen hast du gedacht?« fragte Nabib zurück. »An dich und Iwa!«
Nabib schüttelte sich. »Daran würdest du dir die Zähne ausbeißen, Ubali.« Der Händler wurde abgelenkt, als von der Anhöhe ein Ruf ertönte. Einige Gestalten waren dort aufgetaucht. Nabib erkannte vier von Parthos Soldaten, die einige Leute in langen Kutten in ihre Mitte genommen hatten und mit ihnen zum Strand hinunterstiegen. Die Fischer kamen aus ihren Höhlen und kletterten in die Bucht hinunter. Jaggars Männer ließen die Arbeit stehen und erwarteten, die Hände lässig an den Schwertgriffen, die von Parthos Leuten begleiteten Fremden. Es waren nur sieben Personen, drei Frauen und vier Männer. Sie waren verschiedenen Alters, und ihre Kleider waren zerschlissen und verstaubt und zeugten von Armut. Nabib erreichte sie gerade, als einer von Parthos Soldaten erklärte: »Diese Leute trieben sich bei den Pferden herum. Als wir sie aufscheuchten, beteuerten sie, daß sie keineswegs die Absicht hatten. Reittiere zu stehlen.« »Das stimmt, edler Herr«, sagte ein alter Mann mit einem langen Bart, der von Silberhaar durchzogen war. »Wir wollten nur um Essen und Trinken bitten und Euch bestimmt nicht über Gebühr belästigen. Wir haben schon lange keine Mahlzeit mehr zu uns
genommen und haben noch einen langen Weg vor uns, der geradewegs durch die Wüste führt. Erbarmt Euch um uns, edler Herr.« »Wohin wollt ihr?« fragte Nabib. »Nach Bababo, edler Herr«, antwortete der Alte. »Das liegt vier Tagesmärsche von hier im Osten. Aber wenn wir nichts zu essen bekommen, werden wir wohl nie unser Ziel erreichen.« »Was wollt ihr in Bababo?« Der Alte sah Nabib erstaunt an. »Habt Ihr es nicht vernommen, edler Herr? Man spricht davon, daß Er, der namenlose Friedensbringer, nach Bababo kommen wird. Als uns die Kunde erreichte, brachen wir sofort auf, um ihn zu sehen und von ihm die Gnade des ewigen Frieden zu erhalten. Wir sind nur arme Pilger, edler Herr, aber wenn Ihr Erbarmen mit uns habt, dann werden wir bei Ihm um Euer Heil bitten.« »Gebt ihnen zu Essen und zu Trinken, soviel in ihre Bäuche geht«, ordnete Nabib an. »Habt Dank, edler Herr. Der Namenlose wird es Euch mit einem Wunder vergelten.« In diesem Augenblick tauchte Gun Umbar auf. »Ist es wahr, ihr habt Ihn getroffen und Wunder wirken gesehen?« rief er verzückt. »Nein, Bruder«, sagte der Alte. »Noch ist uns dies Glück nicht widerfahren, aber ich weiß, daß wir Ihm
begegnen werden, bevor die Sonne zum drittenmal gesunken ist. Wir schreiten auf seinen Pfaden, Bruder.« »Dann laßt mich euch anschließen, Brüder und Schwestern«, bat Gun Umbar. »Wie lange ersehne ich schon den Augenblick, Ihm gegenüberzutreten!« »Sei bei uns willkommen, Bruder.« Während die Pilger nach Osten aufbrachen, ritt die sechzehnköpfige Reiterschar in nordöstlicher Richtung davon. Dragon war schweigsam und in sich zurückgezogen, und Ubali ritt mit besorgtem Gesicht an der Seite seines Herrn. Iwa hatte sich an Hegon herangemacht, der der Anführer der urgoritischen Soldaten war und den Iwa schon kannte, seit er vor vielen Sommern in König Alacs Dienste getreten war. Die beiden unterhielten sich so ausgelassen miteinander, als befänden sie sich auf einem vergnüglichen Jagdausflug. Nabib ritt grollend hinter ihnen drein und mußte den Staub schlucken, den Hegons Pferd aufwirbelte. Eigentlich hätte er froh sein können, daß er Iwa losgeworden war, aber aus irgendeinem Grund paßte ihm das gar nicht so recht. Gelegentlich veranlaßte er sein Pferd zu schnellerem Ritt, um auf gleicher Höhe mit den beiden zu sein. Aber weder Iwa noch Hegon schienen seine
Anwesenheit zu bemerken. Das vertiefte seinen Groll. Er besah sich Hegon genauer und mußte neidisch anerkennen, daß er ein stattlicher Bursche war. Wohl kaum jünger als er selbst, hatte er einen guterhaltenen Körper, sein Gesicht war wettergegerbt und der dichte Bart gab ihm ein verwegenes Aussehen. Er strotzte nur so von Muskeln, die sich bei jeder Bewegung an seinen Armen und Beinen wie dicke Stränge abzeichneten. Nabib entgingen auch nicht Iwas bewundernde Blicke ... Sie hielten sich in den ersten beiden Stunden an die Küste, wo das Land einigermaßen fruchtbar war. Dann mußten sie sich landeinwärts wenden und kamen in ein immer öder werdendes Gebiet. Die Sonne stach vom Himmel, die Luft flimmerte. Die Pferde wirbelten mit jedem Hufschlag immer mehr Staub auf, und die Reiter mußten ihre Gesichter mit Tüchern verhüllen, so daß nur noch ihre Augen frei waren und sie den Staub nicht zu schlucken brauchten. Nabib freute es grimmig, daß dadurch eine weitere Unterhaltung zwischen Iwa und Hegon nicht mehr möglich war. Aber sie wich immer noch nicht von des Kriegers Seite und verschlang ihn förmlich mit ihren Augen, wie Nabib fand. Gegen Mittag kamen sie an ein Wasserloch und machten Rast. Ubali verscheuchte mit einem Speerwurf einen
Aasgeier, der im Geäst des einzigen Baumes lauerte. Beim Anblick des Geiers wurde Dragon aus seinen Gedanken gerissen. Sein Gesicht bekam einen verkniffenen Ausdruck, als er sagte: »Cnossos wird mir alles büßen.« Nabib erkannte, daß es der Geier gewesen war, der Dragon an den Balamiter erinnert hatte. Die Soldaten tränkten die Pferde an der Wasserstelle, während sie sich aus den Wasserschläuchen labten und getrocknetes Fleisch verzehrten. Hegon besah sich das Wasserloch und kam dann zu den anderen zurück. »Wir sollten mit dem Auffüllen unserer Wasserschläuche bis zur nächsten Oase warten«, meinte er mißmutig. »Das Wasser hier ist zu schmutzig und höchstens für die Tiere geeignet.« »Ich verlasse mich auf dein Urteil, Hegon«, sagte Dragon einsilbig. »Wir haben genügend Vorräte, daß wir einige Tage durchhalten können.« Nabib wollte die Gelegenheit ergreifen und Dragon in ein Gespräch verwickeln, deshalb sagte er schnell: »Glaubst du, daß wir längere Zeit weg sein werden, Dragon?« »Das wird sich herausstellen, wenn ich Cnossos‘ Boten getroffen habe«, antwortete Dragon. »Ich habe keine Ahnung, welche Aufgabe er mir als nächstes stellen wird. Aber es kann sein, daß uns keine Zeit mehr bleibt, noch einmal zur Schwarzen Wellenreiterin
zurückzukehren.« Nabib, und auch die anderen, waren sichtlich erleichtert, daß Dragon aus seiner Gedankenwelt langsam wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte. Je näher der Augenblick der Entscheidung rückte, desto mehr befaßte er sich wieder mit seinen gegenwärtigen Problemen. Nabib wagte es noch nicht, ihn auf seine wiedererlangte Erinnerung anzusprechen, deshalb sagte er nur: »Ich hoffe, du wirst nicht alle Bedingungen annehmen, die Cnossos dir stellt, Dragon. Du mußt immer daran denken, daß er deinen Sohn nur raubte, um an dich heranzukommen. Er wird dir Atlantor nicht so ohne weiteres zurückgeben und dich nicht ziehen lassen, nachdem du die von ihm gestellten Aufgaben erfüllt hast. Möglich, daß er Atlantor verschont, aber dann wird er dein Leben dafür verlangen.« »Ich werde auf der Hut sein«, versprach Dragon. »Ich weiß jetzt viel mehr über Cnossos und durchschaue ihn besser, wenn mir sein Wesen auch fremd geblieben ist.« »Hat dir die wiedergefundene Erinnerung zu dieser Erkenntnis geholfen?« wagte nun Nabib zu fragen. Dragon nickte. »Ich weiß, daß Cnossos nicht von dieser Welt
stammt«, sagte Dragon. »Aber ich gehöre auch nicht hierher, Nabib. Atlantis war so ganz anders – beinahe bin ich versucht, zu sagen, daß es das Paradies war.« »Es gibt keine Rückkehr in dieses Paradies, Dragon«, sagte Nabib sanft. »Ich weiß ... aber vielleicht kann ich Atlantis wieder neu erstehen lassen.« Dragons Blick wurde entrückt, und Nabib fürchtete, daß er wieder in sich kehren und seiner Erinnerung nachhängen könnte. Aber Dragon sprach weiter. »Kannst du dir vorstellen, daß ich in einer Zeit lebte, da es mir möglich war, wie Cnossos durch die Luft zu fliegen, Nabib? Frage mich nicht, wie so etwas möglich war, du würdest es doch nicht verstehen. Aber stelle dir ein Schiff vor, das statt Segel Flügel hat und das von der Luft getragen wird.« »Ein Luftschiff, von den Winden vorangetrieben?« sagte Nabib. »Ein Luftschiff, ja, aber von den Winden unabhängig und mit eigener Kraft, wie sie tausend Ruderer nicht aufbringen«, fuhr Dragon fort. »Erinnerst du dich an das Donnerpulver? Es stammt noch aus der Zeit von Atlantis. Stelle dir einen Blitz vor, Nabib, einen Blitz, wie er aus dem Himmel zuckt und Bäume spaltet und Mensch und Tier erschlägt. Und nun stelle dir vor, daß ich solche Blitze aus meiner Hand schleudern kann. Das ist eine der Waffen von Atlantis.«
»Das kann ich mir gut vorstellen, Dragon«, sagte Nabib beeindruckt. »Aber mich schaudert dabei, und ich muß gestehen, daß ich es nicht paradiesisch finde, wenn ich daran denke, daß Menschen mit solchen Gewalten umgehen könnten. Für mich wäre das die Hölle.« Dragon lächelte schwach. »Nun denke nicht gleich«, daß alle Menschen in Atlantis mit Blitzen um sich warfen. Dort herrschte nämlich Friede, die Menschen bekämpften einander nicht – Atlantis war eine idyllische Welt, wie sie sich etwa die Pilger vorstellen, die dem Namenlosen im Glauben an seine Wunderkräfte folgen. Die Blitze, mit denen man Feinde töten konnte, waren auch anderweitig anzuwenden. Man konnte ihre Kraft derart bändigen, daß es möglich war, durch sie Schiffe anzutreiben. Und der gebändigte Blitz trieb auch die Luftschiffe an und die Wagen, die über Land fuhren.« Nabib runzelte die Stirn. »Hab Nachsicht mit mir, Dragon, wenn ich sage, daß ich mir Atlantis immer noch nicht als Paradies vorstellen kann. Vielleicht bin ich zu dumm ...« »Nein, das ist nicht der Grund«, unterbrach ihn Dragon. »Dir fehlt einfach die Möglichkeit für Vergleiche. Ich habe den Vorteil, daß ich beide Welten kenne, Atlantis und die Barbarei, und ich muß zugeben, daß ich schon vor zweitausend Jahren immer
wieder aus dem Paradies ausgebrochen bin, um das Abenteuer zu suchen. Ich weiß selbst nicht genau, warum ich der Vergangenheit nachtrauere, denn ich vermisse nicht so sehr die Errungenschaften, die das Leben bequemer und vielfältiger zu gestalten halfen. Es ist noch etwas anderes, über das ich mir nicht recht klar werde.« »Vielleicht erlaubst du einem Barbar, deine Gefühle zu deuten zu versuchen«, sagte Nabib. »Das, was du vermißt und dem du nachtrauerst, hat dir nicht nur Atlantis zu bieten, sondern das brauchst du zu allen Zeiten. Das ist die Liebe der Frauen und die Zuneigung von Freunden. Du wirst in Atlantis beides gehabt haben – und auf einmal war alles für dich verloren. Du hast neue Freunde gefunden, eine neue Liebe, aber diese neuen Gefühle können die alten nicht ganz vergessen machen. Das ist es, mein Freund, was dich quält.« »Es mag etwas Wahres an deinen Worten sein«, gab Dragon zu, »aber doch ist es nicht ganz so. Ich habe viele Menschen in Atlantis gekannt, das beweisen mir die Namen, die plötzlich wieder in meinem Kopf sind. Ich erinnere mich auch an Drachen, die meine Freunde waren, und an den Drachenberater Flotox ... Auch taucht der Name Tobos immer wieder auf – und natürlich Cnossos. Aber ...« Dragon machte ein verzweifeltes Gesicht.
»... aber, Nabib, ich erinnere mich nicht, in welcher Beziehung ich zu den Namen gestanden habe! Wohl tauchen vereinzelte Bilder auf, aber ganz genau sehe ich nur den Kampf vor mir, den ich mit Cnossos geführt habe, bevor ich mich in den Schrein rettete, in dem ich die zweitausend Jahre überlebte. Doch an eine Liebe und an Freundschaften kann ich mich nicht entsinnen. Es ist, als ob die Gestalten der Vergangenheit nur Schatten ohne Seelen wären.« »Ich sehe, die wiedergewonnene Erinnerung quält dich mehr als die verlorene«, meinte Nabib. »Das ist gut gesagt.« Dragon straffte sich. »Aber genug davon, Nabib. Die Schatten der Vergangenheit sollen mein Leben nicht beherrschen. Wir müssen zum Berg des Windes.« »Warum diese Eile?« staunte Nabib. »Die Frist, die dir Cnossos gestellt hat, ist erst in vier Tagen abgelaufen. Wer weiß, ob der Bote schon zur Stelle ist.« »Cnossos wird die Ereignisse beobachtet haben und entsprechend handeln«, behauptete Dragon. Nabib erhob sich ächzend. Er wurde den Verdacht nicht los, daß Dragon nur Taten setzen wollte, um zu vergessen. So segensreich es für Dragon war, daß er die Erinnerung an die Vergangenheit gefunden hatte – diese Erinnerung war nicht ganz ohne Fluch. Wenig später brachen sie auf.
Eben Emal schnitt dem völlig erschöpften Pferd die Halsschlagader auf und trank von dem warmen Blut, das ihm entgegensprudelte. Dann richtete er sich auf und marschierte zu Fuß auf das nahe Ziel zu. Er würde den Berg des Windes noch vor Sonnenuntergang erreichen und auf seiner Spitze den Mann erwarten, den er nach Alesch führen sollte. In Eben Emals Kopf flammte nur für einen Moment ein heißes Gefühl auf – Haß für seinen Peiniger und Mitleid mit dessen Opfer –, dann erlosch es sofort wieder, und in seinem Kopf herrschte wieder die Leere des Todes. Eben Emal war ein Uh-toth. Einer, dessen Fleisch verdorrt und dessen Blut vertrocknet war. Einer, der sein Leben an einen Dämon verloren und dafür die relative Unsterblichkeit bekommen hatte. Eben Emal war kalt wie der Hauch des Todes, den Cnossos ihm eingeatmet hatte, seine Augen waren so schwarz wie das Nichts, seine Haut so grau wie die eines Gehenkten, der tagelang in der Sonne baumelte, und die Nägel seiner Finger und Zehen waren ihm abgefallen wie einem Aussätzigen. Eben Emal war ein Toter, der nicht sterben konnte, er war ein Körper ohne Geist, ein Diener Cnossos! Und doch war er anders als die anderen Untoten. Welche Eiseskälte sein Körper auch ausstrahlte, so
brannte in seinem Kopf doch noch eine winzige Flamme, die Cnossos nicht zum Erlöschen hatte bringen können. Nicht einmal Cnossos war dazu imstande gewesen, den eisernen Willen, die starke Persönlichkeit dieses Mannes völlig zu brechen. Eben Emal war nicht mehr stark genug, sich den Befehlen seines Herrn zu widersetzen, aber er konnte denken. Und er dachte: Arme Arischa! Er hatte Arischa geliebt, und sie ihn, aber dann war sie ihm im Palastgarten von Alesch begegnet, hatte die Kälte seiner Hände gespürt und war vor ihm geflohen ... Diese Gedanken verflüchtigten sich. Sie kamen aber wieder und wurden dann wieder von den Befehlen seines Meisters unterdrückt. Zum Berg der Winde mit dir, mein Diener, und überbringe dem Mann aus Myra meine Botschaft! Eben Emal strebte unermüdlich seinem Ziel zu. Sein Schritt war schwerfällig und steif und wirkte unbeholfen, so wie er allen zu eigen war, die zu den lebenden Toten gehörten. Eben Emal erreichte den flachen Gipfel des Berges, noch ehe die Sonne hinter dem Land verschwunden war, wo er das Meer wußte. Er hockte sich nieder und lehnte mit dem Rücken gegen einen Felsen, nicht weil er müde war – ein Uh-toth wurde nicht müde, solange
ihm sein Meister Kraft verlieh –, sondern weil der klägliche Rest seines eigenen Willens ihn dazu anregte, sich hinzusetzen und den Sonnenuntergang zu beobachten. Arischa ... der Gedanke blitzte auf und floh wieder, und zurück blieb Eiseskälte. Geräusche. Es waren Schritte – Schritte von jemandem, der sich bemühte, keine Geräusche zu verursachen. Und dann tauchten die beiden Männer vor Eben Emal auf, der reglos sitzenblieb. Jeder von ihnen hatte ein Messer in der Hand. Als sie Eben Emal erblickten, der reglos dasaß ... dessen Augen starr wie die eines Toten waren, sagte der eine: »Ich wußte, daß du nur Gespenster gesehen hast.« »Aber ich habe es gesehen, wie einer zum Berg hinaufstieg«, behauptete der andere und warf Eben Emal unsichere Blicke zu. »Dann hast du eben einen gesehen, der seinen Verstorbenen herauf brachte, um ihn hier zu bestatten«, sagte der erste Wegelagerer. »Komm, verschwinden wir. Einen, der einen Toten betrauert, will ich nicht bestehlen.« »Ich bin sicher, daß der, den ich sah, keine Last trug«, sagte der andere Wegelagerer. »Aber du hast recht, verschwinden wir.« »Ich bin der Bote des Gottes der vielen Namen«,
sagte Eben Emal in diesem Augenblick mit hohler Stimme. Die beiden Wegelagerer, die sich zum Gehen gewandt hatten, drehten sich wieder um. »He, das ist gar keine Mumie«, sagte der mutigere der beiden Wegelagerer und hielt den anderen am Arm zurück. Er blickte den Untoten prüfend an und fragte: »Hast du uns etwas zu übergeben, Vetter?« »Wenn du Dragon, der Mann aus Myra bist, dann habe ich dir etwas zu übergeben«, sagte Eben Emal. »Freilich bin ich Dragon, der Mann aus Myra«, sagte der Wegelagerer. »Rücke also schon damit heraus, Vetter.« »Zuerst lasse mich dein Amulett sehen«, verlangte Eben Emal, der sich damit getreu an Cnossos‘ Befehle hielt. Die beiden Wegelagerer wechselten einen schnellen Blick miteinander, dann kamen sie von zwei Seiten lauernd näher. »Ja, das Amulett ...«, sagte der eine. Dann sprang er plötzlich nach vorn und stieß mit dem Messer zu. Der andere war ebenfalls herangekommen und schlitzte Eben Emal den Bauch auf. Zur Überraschung der beiden Wegelagerer schienen dem Opfer die Messerstiche jedoch nichts anzuhaben. Der Graue schleuderte die beiden Wegelagerer von sich, als wären sie Strohpuppen und kam dann
drohend auf sie zu. Die Wegelagerer wichen in panischem Entsetzen zurück, als sie sahen, wie sich die Wunden des Grauen vor ihren Augen wieder schlossen, ohne daß ein einziger Tropfen Blut aus ihnen geflossen wäre ... Eben Emal verfolgte die Wegelagerer nicht und nahm wieder seinen Platz ein. Für einen Moment empfand er Bedauern, weil er in der Betrachtung des Sonnenunterganges gestört worden war und das Versäumte nicht mehr nachholen konnte, denn die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken. Der Mond beherrschte jetzt das mit unzähligen Lichtpunkten bespannte Himmelsgewölbe. Es dauerte nicht lange, da erklangen wieder Geräusche. Diesmal war es Hufgetrappel. Eben Emal rührte sich nicht vom Fleck, sondern wartete, bis die Reiter ihn entdeckt hatten. »Ein Uh-toth!« rief einer von ihnen aus, und es schmerzte Eben Emal. Aber nichts von diesem Gefühl zeigte sich auf seinem maskenhaften Gesicht. Einer der Reiter stieg vom Pferd und näherte sich ihm vorsichtig. Eben Emal sah auf seiner Brust das Amulett leuchten, das ihm sein Meister beschrieben hatte. »Bist du der Bote des Gottes der vielen Namen?« fragte Dragon. »Mich schickt der Gott der vielen Namen«,
bestätigte Eben Emal mit ausdrucksloser Stimme. »Ich soll dir das hier übergeben.« Er holte aus seinem Umhang eine Schriftrolle heraus und überreichte sie Dragon. Dieser entrollte sie und hielt sie so, daß er die Schriftzeichen der Alten Sprache im Licht des Mondes lesen konnte. »Folge meinem Boten, der Dir diese Botschaft überbringt, Dragon. Er wird Dich nach Alesch geleiten, wo mein Statthalter Dich erwartet. Suche El Habek auf und sage ihm, daß der Gott der vielen Namen Dich geschickt hat. Er wird sich Deiner annehmen, denn er weiß, was ich Dir als nächstes zugedacht habe. Danach wirst Du Deinen Sohn in die Arme schließen können.« Du wirst mein Schicksal teilen, Fremder, und in Alesch zu einem Untoten werden, dachte Eben Emal. Aber er hatte nicht die Kraft, diese Gedanken auch auszusprechen.
2.
»Das also ist die Oase, in der die Söhne des Fuchses lagern?« sagte El Habek. »Jawohl, allmächtiger Wasserspender«, bestätigte der Soldat, den er ausgeschickt hatte, um die Lage zu
erkunden. »Es sind dreißig, nur Männer. Aus den Gesprächen konnte ich vernehmen, daß sie ausgezogen sind, um sich Abbal Kim anzuschließen.« El Habek, der Statthalter der Stadt Alesch von Cnossos‘ Gnaden, hatte schon vor Tagen gehört, daß der Stammesfürst Abbal Kim die Söhne des Fuchses zum Kampf gegen ihn aufrief. Viele waren dem Ruf gefolgt, und El Habeks Spione hatten ihm berichtet, daß Abbal Kim inzwischen über mehr als zwanzig Hundertschaften verfügte. Wenn diese gewaltige Streitmacht gegen Alesch marschierte, dann würde es zu einem gnadenlosen Ringen um die Stadt kommen. El Habek war jedoch zuversichtlich. Er verfügte zwar nur über fünfhundert Krieger, aber über ebenso viele Sklaven, die fast unbesiegbar waren. Diese fünfhundert Sklaven waren von ihm auf das Dasein von Untoten vorbereitet worden. Sie besaßen noch nicht das ewige Leben, das mußte ihnen erst vom Gott allen Wassers eingehaucht werden. Aber sie waren bereits soweit, daß sie weder Schmerz noch Furcht kannten, und sie hatten keinen eigenen Willen mehr und gehorchten El Habek blind. Diese beinahe untoten Sklaven konnten es allein mit den Kriegern des Abbal Kim aufnehmen. »Dreißig Männer, sagst du«, murmelte El Habek vor sich hin. Er selbst war mit sechzig Kriegern ausgeritten, um
dieses Häufchen räudige Füchse niederzumachen, bevor sie sich Abbal Kim anschließen konnten. El Habeks Krieger warteten mit ihren Pferden unweit der Oase im Schutz einer Düne. Er selbst thronte in einer Sänfte, die von einem Kamel getragen wurde. »Ich werde sie nicht töten lassen«, meinte er schließlich. »Warum soll ich unnötiges Blut vergießen, wo ich diese räudigen Füchse auch sehr gut als Sklaven verwenden kann. Wir werden sie gefangennehmen.« »Wie kann uns das gelingen, allmächtiger Wasserspender«, wagte der Kommandant der Kampftruppe einzuwenden. »Die Söhne des Fuchses werden eher im Kampf sterben, als sich uns ergeben.« El Habek lächelte listig, während er mit den Fingern der linken Hand fast liebkosend über seine Rechte fuhr, die aus Eisen war. »Du hast doch schon einmal Traumpulver eingenommen«, sagte er dann zu dem Krieger. »Gewiß, allmächtiger Wasserspender«, antwortete der Krieger. »Diese Gnade hast du mir schon einige Male erwiesen, weil ich mich durch besondere Tapferkeit auszeichnete. Ich kenne die wunderbaren Bilder, das unvergleichbare Hochgefühl und die Verzückungen, die einem der Genuß des Traumpulvers beschert und möchte sie nie mehr missen.« El Habek brachte ihn mit einer Handbewegung zum
Schweigen. »Ich werde die Söhne des Fuchses auch die Freuden des Traumpulvers auskosten lassen. Und wenn ihr Sinnesrausch am Höhepunkt ist, werden wir in die Oase einreiten und sie alle gefangennehmen.« »Ein weiser Entschluß, allmächtiger Wasserspender«, sagte der Kommandant wenig begeistert. »Aber ist das nicht eine Vergeudung des kostbaren Traumpulvers? Wenn du es statt dessen deinen Kriegern versprichst, werden sie kämpfen wie die Dämonen ...« »Ich brauche Sklaven«, erklärte El Habek. Er wandte sich dem Späher zu, der im Wüstensand lag. »Du wirst dich noch einmal in die Oase schleichen und versuchen, das Wasserloch zu erreichen. Ob du dabei entdeckt wirst oder nicht, hat keine Bedeutung. Deine Aufgabe ist es allein, die Quelle zu erreichen und dich ins Wasser zu stürzen. Bestäubt sein Gewand mit Traumpulver!« El Habek warf den Kriegern einen Beutel zu, und diese begannen getreu dem Befehl, den ängstlich und unsicher wirkenden Späher mit dem weißen Pulver zu bestäuben. Dann brach der Späher auf. El Habek sah ihn von seinem Versteck aus bald in der Oase verschwinden. Gleich darauf drang durch die stille Wüste aufgeregtes Geschrei von der Oase zu ihnen herüber,
das aber kurz darauf wieder verstummte. »Wir warten, bis die Sonne einen Fingerbreit über dem Horizont steht«, beschloß El Habek. Als es soweit war, ritten die sechzig Krieger los. El Habek blieb mit seinen Gefolgsleuten in sicherem Abstand. In der Oase angekommen, konnte er zufrieden feststellen, daß sein Plan aufgegangen war. Überall lagen Söhne des Fuchses mit verzückten Gesichtern herum, wandelten leichtfüßig umher, sangen einschmeichelnde Weisen oder beschrieben ihre zauberhaften Traumbilder in schönen Worten. Sie ließen sich widerstandslos festnehmen, oder wenn sich der eine oder andere zur Wehr setzte, dann nur, weil man ihn aus seiner Traumwelt riß. Als El Habek das Wasserloch erreichte, fand er daneben die Leiche seines Spähers. Man hatte ihn geköpft, ihm die Finger abgehackt und sie ihm in den Mund gesteckt. El Habek überkam unsagbarer Zorn. Es war eine beliebte Art der Folterung unter den Söhnen des Fuchses, ihren Feinden die Finger abzuhacken. Er hatte es am eigenen Leib verspürt und mußte die fehlenden Finger seiner Rechten deshalb durch eine Eisenhand ersetzen. »Treibt sie zusammen und kettet sie aneinander«, befahl El Habek. »Wenn auch die Pferde und Kamele eingefangen sind, kehren wir nach Alesch zurück.«
El Habek hatte gute Lust gehabt, die dreißig gefangenen Füchse in Alesch vor aller Augen langsam zu Tode zu foltern. Denn er haßte diesen Stamm der Wüstensöhne wie nichts anderes auf dieser Welt – obwohl er ihm selbst angehört hatte. Doch sie hatten ihn verjagt und ihn zum Tode verurteilt. Er verdankte es nur seiner Zähigkeit und seinem Lebenswillen, daß er dem sicheren Tod in der Wüste entronnen war. Und er verdankte es dem Gott allen Wassers, der ihn auf den Thron von Alesch gesetzt hatte, daß er zum mächtigsten und gefährlichsten Feind der Söhne des Fuchses wurde. Nur aus Dank zu seinem Gott, der Sklaven benötigte, verschonte er das Leben seiner Feinde. Aber er würde nie vergessen, was sie ihm angetan hatten. Damals vor drei Sommern ... El Habek war schon immer anders gewesen als die anderen Söhne aus dem Stamm des Fuchses. Schon sein Äußeres unterschied ihn von ihnen, der er zum Gegensatz zu den großgewachsenen und kraftstrotzenden Männern klein und schmalbrüstig war. Da es ihm an körperlicher Durchschlagskraft mangelte, mußte er zu List und Tücke greifen, um sich unter seinesgleichen durchzusetzen. Mit zweiundzwanzig war er bereits einer der Geächteten. Seine Brüder verwehrten ihm das Wasser,
also mußte er es stehlen. Daraufhin demütigten sie ihn noch mehr, und er rächte sich, indem er ihre Kinder zu schändlichen Taten anstiftete, ihre Haustiere zu Tode quälte und Pferde und Kamele mißhandelte, bis sie nicht mehr als Last – und Reittiere zu verwenden waren. El Habek fand in seinem Stamm nie ein Mädchen, das ihn erhört hätte. So hatte er keine andere Wahl, als sich an Sklavinnen zu vergehen und sich in Alesch die Liebe der Frauen zu erkaufen. Doch eines Tages nahm er das Mädchen Arischa mit Gewalt, das Eben Emal versprochen war. Diese Tat wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Man hieb ihm vor aller Augen die Finger der rechten Hand ab, dann stieß man ihn schimpflich aus dem Stamm der Söhne des Fuchses aus und verurteilte ihn zum Sonnentod – was bedeutete, daß man ihn gefesselt in der Wüste aussetzte, um ihn elend zugrunde gehen zu lassen. Doch El Habek überlebte. Eine Händlerkarawane fand ihn zufällig und brachte ihn nach Alesch. Damals war diese Stadt noch ein bedeutender Umschlagplatz für Waren, deren Herrscher reich wurden durch den Handel mit Karawanen, deren Wege sich hier aus allen vier Himmelsrichtungen kreuzten. Aber schon damals wurde Alesch die Blutige und die Grausame genannt. Denn mit den Händlern
kamen auch viele Diebe und Mörder und Ausgestoßene und Entehrte wie El Habek. Alesch war ein Ort des Lasters, der namenlosen Schrecken und der bösen Taten. Männer starben durch die Dolchstöße von Meuchelmördern, schöne Mädchen verschwanden und wurden daraufhin nie mehr wieder gesehen. Man verlor während eines Atemzugs seine ganze Habe, oder ergaunerte ebensoschnell ein Vermögen. Und doch lockte es jeden Tag viele hundert Fremde nach Alesch, obwohl sie nicht wußten, ob sie diese Stadt wieder lebend verlassen würden. Denn Alesch war die einzige größere Stadt in weitem Umkreis, eine schillernde Perle inmitten der toten Wüste, deren Wasser man in den höchsten Tönen des Lobes pries und deren unerschöpfliche Quellen deshalb der Lebensbrunnen genannt wurden. Diesen Wasserquellen verdankte die Stadt auch ihre Entstehung, das Wasser war Segen und Fluch zugleich. Als El Habek in die Stadt kam, war es eine von dicken Mauern und Wehrtürmen geschützte Festung, die von 10 000 Menschen bewohnt wurde. Der Herrscher hieß Abdur Aga Benda und führte ein strenges Regime, zumindest in allen Belangen, die ihm zum Vorteil gereichten. So mußte jeder, der in die Stadt wollte, an einem der Tore eine Steuer bezahlen, die es ihm erlaubte, vom
Lebensbrunnen zu trinken. Und es herrschte überhaupt ein strenger Wasserkult, auf den Abdur Aga Benda seine ganze Macht stützte. Ihm gehörte alles Wasser, und er teilte es den Bürgern und den Fremden nach eigenem Gutdünken zu. Wer seine Gunst verlor oder sich eines Vergehens wider ihn schuldig machte, der wurde gebrandmarkt oder bekam eine »Maulsperre« und einen Käfig um den Kopf und durfte fortan keinen Tropfen Wasser mehr zu sich nehmen, bis daß der Herrscher das Verbot aufhob. Zur gleichen Zeit wie El Habek kam auch der Gott allen Wassers nach Alesch, um sich der Geschicke der Stadt und ihrer Bewohner anzunehmen. Von diesem Tage an brach das Grauen über Alesch herein, und aus der »Blutigen« wurde die »Verdammte«. Cnossos – denn kein anderer war der Gott allen Wassers – beschloß, aus der Handelsstadt einen Sammelplatz für Sklaven zu machen, die er als Untote in die Reihen seiner Diener aufnehmen wollte. Doch Abdur Aga Benda schwor auf andere Götter, deren Kulte ihm mehr persönliche Vorteile einbrachten, und er verhöhnte den Wassergott. Das erzürnte Cnossos dermaßen, daß er den Lebensbrunnen vergiftete, woraufhin viele hundert Menschen elend zugrunde gingen, die von dem vergifteten Wasser tranken. Dann brachte er die
Bevölkerung gegen den Fürsten der Stadt auf, dem er die Schuld an dem Tod der vielen Menschen unterschob, und trieb die Erbosten zum Sturm auf den Palast und dazu, daß sie Abdur Aga Benda töteten. Danach setzte der Wassergott El Habek als neuen Statthalter ein, nicht nur weil dieser während des Aufstandes die Macht und Herrlichkeit des Wassergottes pries und einer von jenen war, die dem Fürsten den Dolch in den Leib stießen, sondern vor allem, weil er sich durch seine Verschlagenheit vorzüglich als Diener Cnossos‘ eignete. Unter El Habeks Statthalterschaft wurden die vom Gott allen Wassers prophezeiten Schrecken Wirklichkeit. Der Ausgestoßene aus dem Stamm des Fuchses ließ sich eine Hand aus Eisen anfertigen und darin von begnadeten Künstlern seine Schandtaten verewigen. Da das Laster in Alesch Überhand nahm, blieben immer mehr Karawanen aus. Doch El Habek kümmerte das wenig. Er hatte ein Heer aus übelstem Gelichter auf die Beine gestellt, überfiel Karawanen und Oasen und die Zeltlager der Wüstenbewohner, wobei er es hauptsächlich auf die Söhne des Fuchses abgesehen hatte, und plünderte und mordete und versklavte. In Alesch aber ließ er ausgelassene Feste feiern, bei denen ehrsame Bürger und deren Frauen und Töchter
Freiwild waren. Wer es wagte, das Wort gegen ihn zu erheben und sich ihm zu widersetzen, der fand sich schnell auf dem Hinrichtungsplatz wieder oder im Kerker, um einem Dasein als Uh-toth entgegenzusehen. Es gab immer noch Prunk und Glanz in Alesch, aber in den Palästen und Herrschaftshäusern wohnten nicht mehr die Adeligen und reichen Händler von einst, sondern El Habeks Günstlinge, die sich durch besondere Verwerflichkeiten ausgezeichnet hatten. Die früheren Bewohner aber standen nicht selten als Mumien vor den Eingängen der Häuser – Sinnbilder der Schreckensherrschaft eines El Habek. Bei einem Raubzug, den El Habek vor einigen Monden gegen seinen früheren Stamm unternahm, fiel ihm Arischa in die Hände, jenes Mädchen, das einem anderen versprochen gewesen war und das er entehrt hatte. Auf dem Rückzug zur Stadt konnte er auch Eben Emal gefangennehmen, jenen Mann von dreißig Sommern, dem Arischa als Weib zugesagt worden war. Eben Emal, der sich allein auf die Verfolgung der Räuber gemacht hatte, lief El Habek geradewegs in die Hände. Arischa wurde von El Habek gut behandelt, denn das Erlebnis mit ihr saß noch fest in seiner Erinnerung und erweckte die Zuneigung zu diesem Mädchen in ihm. So ließ er ihr als einziger Sklavin in seinem Palast
ihren eigenen Willen und machte sie sich nur dann mit den magischen Wundermitteln des Gottes allen Wassers gefügig, wenn ihm nach ihrem Körper verlangte. Eben Emal aber wurde von El Habek in den Kerker geworfen und von ihm dazu auserkoren, jener Untote zu sein, den Cnossos als Bote zum Berg des Windes schicken wollte. Das ist die bewegte Geschichte von Alesch, der Blutigen, die durch das Wirken des grausamen Wassergottes und unter El Habeks Schreckensherrschaft zu einer Stadt der Verdammnis geworden war. Arischa hatte gesehen, was El Habek aus ihrem Geliebten gemacht hatte: ein Wesen, das kalt war wie der Hauch des Todes, in dessen Körper kein Blut floß, dessen Herz nicht mehr fühlen konnte. In ihrer ersten Verzweiflung und Wut wollte sie sich an dem ihr von El Habek anvertrauten Neugeborenen rächen. Doch das war nur ein kurzer Gedanke, den sie sofort wieder verbannte und dessen sie sich schämte. Nun beaufsichtigte sie das Kleine schon sechs Tage, und sie hatte es liebgewonnen wie ihr eigenes. Oft fragte sie sich, woher der Knabe stammte, wo seine Heimat lag und wem er gehörte. Aber immer wenn sie El Habek danach fragte, lachte dieser in seiner
abscheulichen Art und meinte, es sei ihm von seinem Gott anvertraut worden. Arischa fand sich damit ab, und sie grübelte auch nicht mehr darüber, wer die Eltern des Kleinen waren. Ja, sie bangte sogar davor, daß eines Tages die Eltern erscheinen könnten, um das Kind von ihr zurückzuverlangen. Sie wollte es nie wieder hergeben, ihr war beinahe so, als sei es das ihre, das Eben Emal mit ihr gezeugt hatte. Da El Habek ihr auch nicht den Namen des Kleinen sagen konnte, nannte sie ihn in Andenken an ihren verlorenen Geliebten Ebenor. Arischa ließ es Ebenor an nichts fehlen. Es fiel ihr auch nicht schwer, Milch und andere Nahrung zu beschaffen, die ein Neugeborenes benötigte, weil El Habek selbst viel am Leben des Knaben zu liegen schien und er den Wesir anwies, Arischa mit allem Nötigen zu versorgen. Im Palast gab es aber auch welche, die es gar nicht gern sahen, daß El Habek den kleinen Ebenor so gut behüten ließ. Vor allem Ahsaria, El Habeks erste Haremsdame, die schon zwei Kinder von ihm hatte, befürchtete Nachteile für diese. Arischa entging es nicht, daß Ahsaria Ränke zu schmieden begann und El Habek dahingehend zu beeinflussen versuchte, Ebenor aus dem Palast verschwinden zu lassen und ihn in die Obhut der Priester des Wassertempels zu geben.
»Wenn er ein Pfand des Wassergottes ist, dann ist sein Platz in dessen Tempel«, pflegte sie bei jeder Gelegenheit zu sagen. Eifersucht, Neid und Mißgunst waren ihre Beweggründe! Arischa erkannte zu ihrem Glück noch rechtzeitig, daß sie sich vor der Haremsdame hüten mußte, und begann um El Habeks Gunst zu ringen. Obwohl sie ihn innerlich abgrundtief haßte, machte sie ihm schöne Augen, umgarnte ihn mit schönen Worten und weckte seine Begierde. Das wiederum schürte Ahsarias Haß gegen sie noch mehr. Es war ein Teufelskreis, aus dem Arischa keinen Ausweg sah. Sie besaß im Palast keine Freunde, und El Habek konnte ihr gegen die Intrigen auch nicht helfen, denn der hätte sie ohne Zweifel auspeitschen lassen oder sie in einen Kopfkäfig gesteckt, wenn sie Ahsaria der Ränke beschuldigt hätte. In ihrer Verzweiflung entsann sich Arischa des rothaarigen Mädchens, das Mainala hieß und von El Habek begehrt wurde. Mainala war Trommeltänzerin und mit ihrem Geliebten Gaunth an den Hof gekommen, um dem Statthalter ihre Darbietungen zu zeigen. Als El Habek das Mädchen in seinem Gemach zu sehen wünschte, hatte Arischa sie vor diesem Schicksal bewahrt, indem sie sich El Habek selbst hingab.
So betrachtet, hatte Mainala der Sklavin viel zu verdanken, und Arischa hoffte nun, daß sie zu einer Gegenleistung bereit sein würde. Mainala wohnte seit sechs Tagen in einem Gemach und trug das Gewand der Nyniph, der Göttin der Lust, in dem El Habek sie empfangen wollte. Doch dank Arischas Aufopferungsbereitschaft war Mainala der schwere Gang ins Herrschergemach erspart geblieben. Arischa wartete, bis Ebenor eingeschlafen war, dann verließ sie ihre Kammer und begab sich zum Harem – nicht, ohne vorher ihre Kammer abgeschlossen und den Wachtposten vor der Tür an seine Pflicht erinnert zu haben. Es erweckte kein Mißtrauen, wenn Arischa die Gefangene aufsuchte, denn sie war ihr, zusammen mit vier willenlosen Sklavinnen, als Betreuerin zugewiesen. Als Arischa in das Gemach kam, lag Mainala weinend auf ihrem seidenbespannten Lager. »Warum weinst du schon wieder, Mainala«, sprach sie auf sie ein. »Du hast nichts zu befürchten, solange ich Eisenhand bei Laune halten kann. Und du wirst gut behandelt und lebst besser als eine Haremsdame, weil dir das Gekeife der Eunuchen erspart bleibt.« »Meine Gedanken sind immer bei Gaunth«, sagte Mainala schluchzend. »Ich habe Angst um ihn. Ich fürchte, daß ihn dieser häßliche Zwerg zu einem solchen wandelnden Leichnam macht, wie ich sie
manchmal im Palastgarten sehe. Ach, Arischa, kannst du mir nicht helfen?« »Du vergißt, daß ich nur eine Sklavin bin«, sagte Arischa. »Ich verlange nicht viel«, bat Mainala, »nur, daß du mir ein Lebenszeichen von Gaunth bringst und ihn wissen läßt, daß es mir gutgeht.« »Gaunth ist im Verlies«, erklärte Arischa. »Ich weiß nur, daß er mit einigen Frevlern eine Zelle teilt. Ich kann dir nur sagen, was ich von den Kerkerwachen zu hören bekomme, aber ich glaube nicht, daß sich Gaunth in Gefahr befindet.« »Was macht man mit Frevlern?« wollte Mainala wissen. »Daran solltest du besser nicht denken.« »Ach, Arischa, ich bin so verzweifelt!« »Hör endlich auf zu jammern«, fuhr die Sklavin sie an. »Glaubst du, nur du hättest ein Leid zu ertragen?« »Verzeih, Arischa.« Mainala wischte sich die Augen ab und blickte die Sklavin an. »Möchtest du mir dein Herz ausschütten, Arischa?« Arischa deutete auf die Liegestatt. »Leg dich hin, ich werde deine Haut pflegen.« »Kann ich dieses Gewand nicht endlich ablegen?« sagte Mainala verärgert. »Ich möchte endlich wieder einmal normale Kleider tragen, in denen ich mich frei bewegen kann und in denen ich mir nicht wie ein
Schlachtopfer vorkomme.« »Du kannst das Gewand der Nyniph erst ablegen, wenn El Habek dir die Erlaubnis gibt«, erklärte Arischa. »Aber ich möchte ihn lieber nicht an dich erinnern.« »Erzähle mir von deinen Schwierigkeiten, Arischa.« Arischa erzählte, während sie Mainalas freiliegende Körperstellen mit Salben und Duftwässerchen einrieb, von dem Neugeborenen, das Eisenhand in ihre Obhut gegeben hatte, von den Intrigen der Haremsdame Ahsaria und der Gefahr, in der sich Ebenor und sie befanden. »Arme Arischa«, sagte Mainala. »Ich würde dir so gern helfen, wenn ich könnte.« »Das könntest du, Mainala.« »Wie?« »Indem du flüchtest und Ebenor mitnimmst.« »Aber ...« »Keine Sorge, ich werde schon einen Weg finden, um dich aus dem Palast zu bringen.« »Und was wird dann aus dir, Arischa?« »El Habek wird mich entweder töten – oder mir gelingt die Flucht auch. Wichtig ist aber nur, daß Ebenor gerettet wird. Kennst du jemanden in Alesch, dem du vertrauen kannst, Mainala?« »Nein«, sagte die Gauklerin, doch dann erhellte sich ihr Gesicht. »Das heißt, ja. Vayga, die Besitzerin der
Herberge, in der Gaunth und ich abgestiegen waren, ist mir Dank schuldig. Ich habe sie nicht verraten, als ich sah, wie sie einem Mann mit einem Kopfkäfig Wasser gab.« »Könntest du bei ihr Unterschlupf suchen?« »Sie würde ihn mir bestimmt gewähren.« »Gut.« Arischa überlegte kurz, dann fuhr sie fort: »Eisenhand hat gestern dreißig Krieger meines Stammes festgenommen, deren Seelen er heute im Tempel dem Wassergott übergeben wird. Bitte du darum, die Weihen des Gottes allen Wassers empfangen zu dürfen, dann wird man dich ebenfalls in den Tempel bringen. Wenn das gelingt, dann werde ich eine Möglichkeit finden, dir zur Flucht zu verhelfen. Kannst du lesen?« »Ja.« »Dann verzehre dein Essen heute abend mit besonderer Aufmerksamkeit. Du wirst eine Nachricht von mir darunter finden. Jetzt muß ich aber gehen.« Als sich Arischa auf dem Weg zu ihrer Kammer befand, machte sie sich plötzlich Sorgen um Ebenor. Sie beschleunigte ihren Schritt, wurde immer schneller, bis sie schließlich rannte. Der Wachtposten vor ihrer Tür war eingenickt und schreckte hoch, als sie ihn in die Seite trat. Ihr war, als hätte sie durch die Tür ein verdächtiges Geräusch gehört und schloß hastig auf.
Ebenor lag in seinem Bettchen und gab erstickte Laute von sich – ein Kissen lag auf seinem Gesicht. Arischa riß es weg und sah entsetzt, daß das Gesichtchen des Kleinen schon blau angelaufen war. Sie wollte ihn in ihre Arme nehmen, um ihn zu beruhigen, doch da entdeckte sie den Enterhaken, der an ihrem Fenster verankert war. Sie ging hin und beugte sich hinaus. Nur drei Mannslängen unter ihr war ein Mann, der gerade an einem Seil hinunterkletterte. Er trug die Uniform der Palastwache – er hob den Kopf und blickte Arischa geradewegs in die Augen. Arischa hatte einen schweren eisernen Klöppel ergriffen und setzte ihn wie einen Hebel am Enterhaken an, bis er sich aus der Verankerung löste und der Mann am Seil mit einem langgezogenen Schrei in die Tiefe stürzte. Sie fürchtete sich nicht vor den Folgen ihrer Handlung, denn sie hatte in El Habeks Sinn gehandelt. Doch dieser feige Anschlag auf Ebenors Leben hatte ihr deutlich gezeigt, daß sie ihn schleunigst aus dem Palast bringen mußte. Ahsaria würde nicht zögern, ein zweites Mal einen zu schicken, der nicht davor zurückschreckte, sich an einem wehrlosen Kind zu vergehen und dann würde sie vielleicht Erfolg haben. Die Halle des Wassers war ein langgestreckter
Laubengang, der sich vom Herrscherhaus bis zum Harem hinzog und in dem der Lebensbrunnen entsprang. Das Wasser entquoll dem Maul eines steinernen Ungeheuers und durchfloß sieben hintereinanderliegende und stufenförmig abfallende Becken, bevor es in verschiedene Kanäle abgeleitet wurde und in die Wasserspiele vor dem Palast mündete. El Habek saß am oberen Ende der Becken auf seinem Lager, dort wo der Lebensbrunnen aus dem steinernen Götzen sprudelte. Seine Linke spielte mit dem Mundstück der mit Traumpulver gefüllten Pfeife, während er die Eisenhand lässig herunterbaumeln ließ. Hinter ihm kniete Arischa und blickte unter gesenkten Lidern auf den Hauptmann der Palastwache, der dem Statthalter Rede und Antwort stand. »Der verhinderte Kindesmörder war einer von deinen Männern, Machad«, sagte El Habek lauernd. »Das gibst du doch zu?« »Er war einer von meinen verläßlichsten, aber ich schwöre dir, daß ich keine Ahnung von seinem Verrat hatte, gnädiger Wasserspender«, beteuerte der Hauptmann. El Habeks Eisenhand schoß vor und schlug ihm mit solcher Wucht ins Gesicht, daß dem Krieger eine blutige Wunde auf der linken Backe gerissen wurde. Obwohl er große Schmerzen verspüren mußte, verzog
er keine Miene. »Ich bin nicht gnädig«, herrschte El Habek ihn an. »Und dein Wasserspender war ich die längste Zeit!« »Herr ...!« entfuhr es Machad erschrocken. »Du darfst mich nicht für etwas bestrafen, das ich nicht begangen habe ...« »Und ob ich das kann! Du hast es an Vorsorge mangeln lassen, Machad. Du trägst die Verantwortung für deine Leute, und wenn einer von ihnen Verrat begeht, dann bist du so schuldig wie er. Deshalb verweigere ich dir von dieser Stunde an bis zu deinem Tod das lebensspendende Wasser. Ich werde deinen Kopf in einen Käfig stecken und dein Maul mit einem Holzklotz stopfen. Das ist die Strafe, die du für dein Versagen – verdienst. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie du ihr entrinnen kannst!« »Nenne mir deine Bedingungen, allmächtiger Wasserspender, und ich werde sie erfüllen, selbst wenn du verlangst, daß ich das Silber vom Mond hole«, sagte Machad und küßte El Habeks ziselierte Eisenhand. El Habek lachte grimmig. »Soviel verlange ich gar nicht von dir. Ich will nur, daß du herausfindest, wer den Meuchelmörder angestiftet hat und daß du dessen Erstgeborenen heute abend in den Tempel des Wassergottes bringst und ihn dann bei einem feierlichen Zeremoniell ertränkst.« Machad wurde blaß, aber er sagte: »Ich werde mein
Bestes geben, gnädiger Wasserspender.« »Damit du ständig an deine Aufgabe erinnert wirst, sollst du bis zum Zeitpunkt deiner Sühne den Kopfschmuck eines Verdammten tragen«, beschloß El Habek. »Abführen!« Arischa, die während der Urteilsverkündung die Haremsdamen im Hintergrund nicht aus den Augen gelassen hatte, sah, wie sich Ahsarias große Unruhe bemächtigte. Das war für sie Bestätigung, daß die Haremsdame hinter diesem Attentat auf Ebenor steckte. Und da es gewiß war, daß Machad von Ahsarias Mittäterschaft wußte, mußte die Haremsdame nun befürchten, daß der Hauptmann der Palastwache ihren Erstgeborenen ertränken würde. Wie würde Ahsaria darauf reagieren? Nachdem Machad abgeführt worden war, erklang wieder das Spiel der Musikanten, die Tänzerinnen tauchten hinter den Säulen auf und glitten mit schlangenartigen Bewegungen über den spiegelnden Steinboden. Ahsaria verschwand mit einigen anderen Haremsdamen. »Herr?« raunte Arischa El Habek über die Schulter zu, der genüßlich die Dämpfe des Traumpulvers einatmete. »Herr!« »Rede endlich«, verlangte der Statthalter unwirsch, der es nicht gern sah, wenn man ihn aus seiner Traumwelt riß.
»Ich habe Angst, Herr«, sagte Arischa. »Nicht um mich, denn mein Leben zu verlieren, bedeutet mir nichts mehr. Aber ich fürchte um das Leben des Neugeborenen, das du in meine Obhut gegeben hast.« »Wer sollte ihm etwas antun, nachdem Machad bestraft wurde?« »Machad ist nicht der Rädelsführer dieser Verschwörung, Herr«, sagte Arischa. »Hinter ihm steht jemand, der das Kleine haßt, und er wird immer wieder versuchen, es umzubringen.« »Hüte dich davor, einen Namen auszusprechen, wenn du deine Beschuldigungen nicht auch beweisen kannst«, ermahnte El Habek sie. »Ich werde nicht vergessen, daß ich nur eine Sklavin bin, Herr«, versicherte Arischa. »Und ich werde mich nicht erdreisten, den Schuldigen zu entlarven. Doch ich möchte dich bitten, für den Schutz des Neugeborenen zu sorgen. Es ist ein Pfand der Götter, Herr, und wenn ihm etwas zustößt, dann ...« El Habek griff ihr ins Haar und legte ihr die Eisenhand an die Kehle. »Du vergißt dich, Arischa«, sagte er drohend, und sein Gesicht war wutverzerrt. Plötzlich lachte er und ließ sie los. »Ich nehme an, du hast mir einen Vorschlag zu machen, wie wir das Balg beschützen könnten?« »So ist es, Herr«, bestätigte Arischa. »Wer könnte dem Kleinen besseren Schutz gewähren, als der Gott
allen Wassers? Erlaube mir, ihn bei dem heute stattfindenden Zeremoniell in den Tempel zu bringen und ihm die Weihen des Wassergottes erteilen zu lassen. Dann wird es niemand mehr wagen, Hand an ihn zu legen.« El Habek nickte zustimmend. »Das ist gar kein so übler Gedanke. Ich glaube fest, du bist um das Balg mehr besorgt als ich ... Es sei also, daß es noch heute dem Gott allen Wassers geweiht wird. Aber jetzt verschwinde und wage nicht noch einmal mich zu stören.« Arischa küßte seine Eisenhand und zog sich in unterwürfiger Haltung aus den Hallen des Wassers zurück. Sie sah noch, wie El Habek seinen Wesir zu sich rief und Badmar etwas zuflüsterte. Dann machte sie sich auf den Weg in die Küche. »Du bist schon wieder hier?« staunte der Küchenmeister. »Schreit der Kleine denn schon wieder nach seiner Milch?« »Es hatte nicht viel gefehlt, und er hätte für immer geschwiegen«, antwortete Arischa. Der Küchenmeister hob abwehrend die Hände. »Von solchen Dingen will ich nichts wissen. Ich habe andere Sorgen. Erst heute morgen habe ich einen Vorkoster verloren ...« »Davon will ich wieder nichts wissen«, erwiderte Arischa.
Sie war bei den Bediensteten beliebt, weil sie zu ihnen freundlich war. Das machte sich auch jetzt bezahlt, denn niemand beachtete sie, als sie sich zum Tablett mit den Speisen für Mainala stahl und in der Kanne mit dampfendem Liebeswasser eine Nachricht versenkte. Darauf stand, was Mainala während des Zeremoniells im Tempel zu tun hatte. Als dies getan war, ließ sie sich vom Küchenmeister den Milchschlauch für Ebenor geben, wartete geduldig, bis der Vorkoster sich dazu überwinden konnte, einen Schluck von der Milch hinunterzuwürgen und zog sich dann zurück. Sie wandte sich in jenen Gang, der sie auf dem Weg zu ihrer Kammer im Sklaventurm an den Folterkammern vorbeiführen wurde. Ihre Hoffnung war es, hier vielleicht Machad zu begegnen und ihn daran zu erinnern, was er zu tun hatte, um seine Schuld dem allmächtigen Wasserspender El Habek gegenüber zu sühnen. Arischa wollte ganz sicher sein, daß Machad nicht irgendeinen Plan ausheckte, um Ahsaria zu verschonen. Deshalb mußte sie ihm zu verstehen geben, daß auch El Habek von der Schuld seiner Lieblingsfrau überzeugt war. Als sie zu der Folterkammer kam, wo die Geächteten ihre Maulklötze und die Kopfkäfige
bekamen, drang Stöhnen zu ihr heraus. Die schwere, eisenbeschlagene Tür war nur angelehnt, so daß sie durch den schmalen Spalt ins Innere blicken konnte. Sie sah Machad an einen im Boden verankerten Stuhl gefesselt. Im Hintergrund brannte ein Feuer, in dem einige Eisen glühten, davor stand ein Mann mit einem nackten Oberkörper, der über einem Amboß ein glühendes Eisen mit einem Hammer zurechtbog. Das war der Halsring für Machad. Er trug bereits den Kopfkäfig, seine Kiefer wurden von einem dicken Holzklotz auseinandergedrückt. Es fehlte nur noch der Halsring. Arischa wunderte sich darüber, denn üblicherweise waren die Kopfkäfige vorgefertigt, die Halsringe an die senkrechten Stäbe geschmiedet und brauchten nur noch mit Zangen zurechtgebogen und durch ein Schloß geschlossen werden. Warum fertigte der Schmied diesmal einen neuen Halsring an? Arischa erfuhr es sofort. Als der noch heiße Eisenring fast geschlossen war, packte ihn der hünenhafte Schmied mit einer Zange und brachte ihn zu Machad. Die Augen des Hauptmanns weiteten sich vor Entsetzen, aber er konnte keinen Laut von sich geben. Der Schmied legte ihm den halboffenen Ring um den Hals, daß es dampfte, als das heiße Eisen mit
Machads Haut in Berührung kam. Dieser bäumte sich verzweifelt auf, doch der Schmied verengte den Ring durch den Druck mit der Zange unbarmherzig immer weiter, bis sein Hals abgeschnürt war und er bewußtlos oder tot zusammensank. »Und jetzt meinen Lohn«, verlangte der Schmied. »Nein, morgen«, ertönte eine Frauenstimme. Arischa sah, wie eine verschleierte Frau im Prunkgewand einer Haremsdame in ihr Blickfeld kam. Der Schmied packte sie brutal und drückte sie gegen die Wand. »Jetzt«, verlangte er heiser. Die Frau ließ sich die Umarmung des Schmiedes gefallen, aber während er sie küßte, blitzte ein Dolch in ihrer Hand auf, den sie ihm in die Seite stieß. Als der Schmied mit einem Aufschrei zurücktaumelte, sah Arischa, daß der Schleier vom Gesicht der Frau gefallen war, und sie erkannte Ahsaria. Arischa floh, bevor man sie entdeckte.
3.
Gaunth hatte überall am Körper Rattenbisse. Er versuchte, sich der Biester im Dunkeln zu erwehren, traf mit seinen Schlägen aber oftmals einen seiner
beiden Leidensgenossen. Es war deshalb schon einige Male zu einem Handgemenge gekommen, das erst durch die Peitsche des Kerkermeisters beendet wurde, den der Lärm anlockte. Gaunths Zellengenossen waren Wüstensöhne aus dem Stamm des Fuchses, die El Habek vor vier Tagen bei einem Raubzug in die Hände gefallen waren. Er wußte nicht einmal, wie sie aussahen, denn er hatte sie noch nie im Lichtschein einer Fackel gesehen. Wenn die Tür einmal geöffnet wurde, sei es, weil ein Gefangenenaufseher eine Auseinandersetzung mit der Peitsche schlichten mußte oder weil man ihnen Nahrung brachte, dann war Gaunth immer zu geblendet, um irgend etwas sehen zu können. Kaum hatten sich seine Augen an das Licht gewohnt, da fiel die Tür schon wieder ins Schloß. Er wußte nur, daß die beiden so groß und stark waren wie er und daß sie Iben Baar und Emeral hießen. Sie trugen, so wie Gaunth, nur Handketten und konnten sich in ihrer engen Zelle frei bewegen. Von ihnen hatte er erfahren, daß El Habek ein Ausgestoßener der Wüstenfüchse war und auch, daß es, seit er über Alesch herrschte, ständig zwischen ihm und den Söhnen des Fuchses zu Auseinandersetzungen gekommen war. »Aber es wird nicht mehr lange dauern, dann hat Abbal Kim genügend Krieger um sich geschart und
wird diese Stadt dem Erdboden gleichmachen«, prophezeite Iben Baar und fügte bedauernd hinzu: »Solange werden wir drei aber nicht leben.« Gaunth hatte sich immer wieder gefragt, was aus Mainala geworden war. Die Vorstellung, daß Eisenhand sie in seinen Harem aufgenommen haben könnte, war ihm schrecklich. Über sein eigenes Schicksal machte er sich weniger Gedanken. Er würde sterben müssen, damit hatte er sich abgefunden. Denn für seine Tat – er hatte drei Krieger El Habeks erdolcht – konnte es nur eine Strafe geben: Folterung bis zu seinem Tod. Er hatte schon an Flucht gedacht und einmal sogar eine Rauferei mit seinen Zellengenossen begonnen, um sich dann auf den Aufseher mit der Peitsche zu stürzen und ihn mit den Ketten zu erwürgen, wenn er vom Lärm angelockt wurde. Doch das war daran gescheitert, daß der Aufseher viel zu vorsichtig war und nie allein kam. »Ich fürchte den Tod nicht«, sagte Emeral. »Wenn ich etwas fürchte, dann, daß man uns zu Sklaven El Habeks macht und uns gegen unsere eigenen Brüder kämpfen läßt.« Gaunth schauderte bei der Vorstellung, daß er zu einem solchen seelenlosen Wesen werden könnte, wie er sie schon bei seiner Ankunft in die Stadt gesehen hatte. Männer, die nicht lebten und nicht sterben konnten, die den Hauch des Todes in sich
trugen und willenlose Diener dieses Dämons El Habek waren. Schlüssel rasselten. Die Zellentür ging auf. Die drei Gefangenen wichen in Erwartung der Peitsche bis an die Wand zurück. »Los, herauskommen«, wurden sie barsch aufgefordert. Als sie nicht sofort gehorchten, zischte der Lederriemen der Peitsche über ihre geschundenen Körper hinweg. Sie wurden in ein feuchtes Gewölbe geführt, in dem bereits an die dreißig weitere Sklaven zusammengepfercht waren. Durch eine Tür auf der gegenüberliegende Seite wurden die Gefangenen einzeln wieder hinausgeführt. Als Gaunth als letzter an die Reihe kam, wurde er mit den Handschellen zu den anderen Gefangenen an eine lange Kette gefesselt. Gaunth dachte, daß er als letzter in der Reihe bessere Fluchtmöglichkeiten besaß. Wozu war er denn Gaukler? Sein Vater hatte ihm schon als Kind gelehrt, wie man mit ein wenig Geschick aus allen Fesseln schlüpfen konnte. Und er beherrschte neben dem Werfen von Messern die Kunst des Entfesselns immer noch ganz gut. Er hatte im Kerker seine Handgelenke und Hände ständig behandelt, damit sie geschmeidiger wurden und er aus den Handschellen schlüpfen konnte. Es wäre ihm sicherlich auch gelungen, wenn er nicht
eingesehen hatte, daß er damit nichts gewinnen konnte. Denn wie sollte er aus dem Kerker entfliehen? Jetzt, nachdem er außerhalb des Verlieses war, rechnete er sich allerdings bessere Aussichten auf eine Flucht aus. Als er jedoch die waffenstarrenden Krieger sah, die den Gefangenenzug bewachten, sanken seine Hoffnungen. Sie wurden über einen Hof geführt und kamen dann wieder in einen langen, unterirdischen Gang, der von unzähligen Fackeln erhellt wurde. Sie kamen in regelmäßigen Abständen an Nischen vorbei, in denen Gaunth Mumien erblickte, die in ihren vertrockneten Händen Opferschalen hielten. Am Ende des Ganges befand sich ein großer Raum, dessen Wände mit Schriftzeichen und dem Wappen der Stadt – einem senkrechten Wasserstrahl, der sich oben teilte und in dem ein Totenkopf schwebte – zierten. An der einen Wand stand ein Opferstein mit Tierkadavern drauf, die erbärmlich stanken. Hinter dem Opferstein stand ein Priester in einer bodenlangen Kutte, der aus einem Eselsdarm eine Flüssigkeit auf die Tierkadaver träufelte, die einem den Atem raubte. Gaunth wurde von einem Wachtposten in Richtung des Altars gestoßen. Der Geruch nach Verwesung wurde stärker, und die Luft war so beizend, daß er meinte, es würde ihm die Atemwege verbrennen. Plötzlich bewegten sich die Tiere auf dem
Opferstein. Gaunth hätte schwören mögen, daß sie gerade noch tot waren. Denn ihre Körper wiesen tödliche Wunden auf. Doch die Tiere bewegten sich – es waren räudig wirkende Hunde und Katzen, sechs an der Zahl –, kamen auf die Beine, sprangen vom Opferstein und verschwanden zwischen den Beinen der Gefangenen. Ein Geschrei erhob sich, die Gefangenen traten nach den tollwütigen Tieren, die sich in ihre Beine verbissen. Einer hob eine Katze auf und schleuderte sie gegen die Wand. Aber dem Tier machte dies nichts aus. Es landete mit allen vieren auf dem Boden und stürzte sich wieder auf die Gefangenen. Gaunth verspürte plötzlich in einem Bein einen heftigen Schmerz. Ein Köter bohrte ihm seine scharfen Zähne in die Waden. Gaunth beugte sich hinunter, schlang seine Kette um den Hals des Tieres und zog sie mit aller Kraft zusammen. Als der Hund erschlaffte, ließ er ihn los. Doch kaum berührte er den Boden, kam er sofort wieder auf die Beine und biß zu. Die Gefangenen beruhigten sich, und auch Gaunth dachte nicht mehr an Gegenwehr. Es war, als hätten die Bisse der vom Tode auferstandenen Tiere seinen Widerstand gelähmt. Und da wußte Gaunth plötzlich, welches Schicksal auf sie wartete. So wie die Tiere sollten auch sie sterben und, nachdem sie ihre Seele im Jenseits zurückgelassen hatten, als Untote
wiederauferstehen. »Befreit sie von den Fesseln und bringt sie in den Tempel hinauf«, befahl der Priester den Soldaten. »Aber beeilt euch. Das Zeremoniell muß abgeschlossen sein, bevor das Gift der Tiere seine Wirkung verliert und die Gefangenen wieder klar denken können.« Irgendwo in den weiten Hallen des Tempels wurde ein Gong geschlagen, die klagenden Laute unbekannter Instrumente erfüllten die Luft. Farbige Dämpfe stiegen aus Opferschalen und schwebten als bunte Schleier zwischen den Säulen, den Opfersteinen und den steinernen Ungeheuern. Mainala zitterte am ganzen Körper, während sie dem kahlköpfigen Tempeldiener folgte. Ihre beiden Bewacher waren am Tor zum Allerheiligsten zurückgeblieben. Arischa mußte das gewußt haben, denn sonst hätte sie wohl kaum den kühnen Plan gefaßt. Mainala kaute noch immer an dem Stück gegerbter Eselshaut, auf der Arischas Nachricht gestanden hatte: »Laß dir einen Bußmantel geben. Alles andere überlasse mir.« Der Bußmantel war ihr viel zu groß, ihre schlanke Gestalt verschwand förmlich darin, und sie wirkte gedrungen und unförmig. Aber wenigstens merkte man nicht, daß sie zitterte.
Die fremdartige Musik war lauter geworden, das Echo klang gespenstisch aus allen Winkeln. Der Sprechgesang eines einzelnen ertönte, in den regelmäßig ein Chor einfiel. Mainala konnte kein einziges Wort verstehen. Sie blickte eingeschüchtert zu den riesigen Statuen hinauf, in denen sich Öffnungen befanden. Sie sah einen Riesen mit nur einem Auge und erkannte, daß in seinem offenen Maul festlich gekleidete Leute saßen; zu seinen steinernen Handflächen führten Treppen, und auch dort entdeckte Mainala verschwommene Gestalten. Die Öffnungen in den Wänden und den Säulen und den steinernen Götzen waren alles Logen, in denen sich die Günstlinge El Habeks als Zuschauer drängten. Worauf warteten sie? Ach, ja, Mainala erinnerte sich wieder, daß Arischa gesagt hatte, El Habek wolle die Seelen von dreißig Gefangenen dem Wassergott opfern. Die Edelleute wollten sich dieses Schauspiel wohl nicht entgehen lassen ... Der kahlköpfige Tempeldiener führte sie Stufen hinauf zu einem steinernen Schädel, dessen edelsteinbesetzte Augen obszön zu funkeln schienen. Mainala warf von der zehnten Stufe einen Blick in die Halle hinunter. Jetzt sah sie den langen Opferstein, auf dem die Gefangenen reglos nebeneinanderlagen.
Sie waren nackt, und zu ihren Köpfen standen dampfende Schalen. Vor ihnen war ein steinernes Podest, das sich mannshoch über die Opfer erhob und auf dem eine ziemlich kleine Gestalt in einem Prunkgewand stand. Mainala erkannte El Habek, der eine eigenartige Krone trug; es war mehr ein Helm, von dem armlange Spitzen aus funkelnden Edelsteinen aufragten und in denen sich das Licht der Öllampen tausendfach brach. Es kostete sie einige Mühe, ihre Blicke von dem Funkeln der Edelsteine abzuwenden und auf den Weg zu achten. Die schmale Steintreppe hatte sie bereits in schwindelnde Höhe geführt, unter ihr verschwand die Tempelhalle fast in den vielfarbenen Nebelschwaden. Ein Schwindel erfaßte sie und sie mußte sich unwillkürlich an den Tempeldiener klammern. Sie ließ aber sofort los, als sie die Kälte seines Körpers durch seine Kutte fühlte. Ein Uh-toth. Endlich erreichten sie das Ende der Treppe, und sie sah vor sich eine steinerne Bank mit einem Altar davor, auf dem nur eine Schale mit Wasser stand. Der Hochaltar befand sich auf dem steinernen Schädel, der ihr von unten so grauenvoll erschienen war. Sie betrat schnell die Plattform. Auf dem einen Ende der steinernen Bank kauerte eine vermummte Gestalt, die Mainala zuerst für einen Priester oder sonst einen Götzendiener hielt. Doch
nachdem sich der Kahlköpfige abgewandt hatte und die Steintreppe wieder hinunterstieg, wandte sich der Vermummte ihr zu, und Mainala erkannte zu ihrer größten Überraschung Arischa, die zu ihren Füßen ein Bündel liegen hatte. »Still!« wurde sie von Arischa ermahnt. »Setz dich! Der Priester wird jeden Augenblick erscheinen.« Mainala bemerkte jetzt auch, daß aus einer Öffnung in der Wand ein schmaler Pfad zum Schädelaltar führte. Sie setzte sich auf die Bank und zuckte vor der Kälte des Steins zurück. Von unten ertönte der Singsang El Habeks, dessen unverständliche Worte ständig von einem Chor wiederholt wurden. Dann rief er irgend etwas mit schriller Stimme, das sogar Mainala verstehen konnte. »Schickt eure Seelen auf die Reise, die ihr unreinen Glaubens seid, auf daß sie gereinigt werden. Kehrt ein ins Jenseits und kommt geläutert auf diese Welt zurück.« Der Chor der Nachsprecher schwoll an, bis er sich zu ohrenbetäubender Lautstärke erhoben hatte. Mainala warf unwillkürlich einen Blick in die Tiefe und sah, wie ein Tempeldiener die Reihe der Gefangenen abschritt und jedem die Haut quer über die Brust mit einem Messer ritzte, so daß etwas Blut hervorquoll. Sie wandte sich schnell wieder ab. In diesem
Moment kam über den Steg ein Tempelpriester, dessen Gesicht hinter einer Maske aus Jade verborgen war und der einen ähnlichen Helm trug wie El Habek. Der Priester baute sich hinter dem Altar auf. Mainala sah ihn beschwörende Bewegungen machen und vernahm sein eintöniges Gemurmel. Aber wieder wurde sie von den Geschehnissen in der Tempelhalle magisch angezogen. Sie blickte verstohlen hinunter. Die Schleier lichteten sich gerade – und da erkannte sie in einem der Opfer Gaunth. Der Tempeldiener hob gerade den Dolch über seiner Brust. »Gaunth!« Der Ruf löste sich wie von selbst aus ihrer Kehle, und sie hörte den Namen ihres Geliebten schaurig von den Tempelwänden widerhallen. Sie sah noch, wie sich Gaunth aufrichtete und dem Tempeldiener das Messer entwand, dann bekam sie einen Stoß und fiel von der Bank. »Närrin!« wurde sie von Arischa angefaucht, in deren Hand es plötzlich aufblitzte. Mainala sah sie auf den Priester zustürzen und ihm das blitzende Eisen in den Leib stoßen. Hinter der Jademaske kam nur ein gedämpfter Laut hervor, dann brach der Priester zusammen. Von unten ertönte jetzt Kampflärm. Als sich Mainala über die steinerne Brüstung beugen wollte, wurde sie von Arischa zurückgehalten.
»Zurück! Willst du, daß man entdeckt, was hier vorgefallen ist? Wenn wir Glück haben, können wir immer noch entkommen, bevor man auf uns aufmerksam wird.« »Aber ... Gaunth ...« »Dein Ruf hat ihn aus dem Todesschlaf geweckt«, unterbrach Arischa sie. »Mehr kannst du nicht für ihn tun. Er muß sehen, daß er sich aus eigener Kraft befreien kann. Hier, nimm das Kind und verstecke es unter deinem Bußgewand!« Mainala nahm Ebener mit zitternden Fingern und hielt ihn unter ihrer weiten Kutte eng an den Leib gepreßt. »Wird er nicht weinen?« fragte sie, weil sie nichts anderes zu sagen wußte. Sie mußte all ihre Kraft zusammennehmen, um der Versuchung zu widerstehen, in die Tiefe zu blicken und nach Gaunth Ausschau zu halten. Die Tempelhalle war in Aufruhr und die vielfältigen Geräusche brachen sich schaurig an den Wänden. »Ich habe Ebenor etwas von den Dämpfen des Traumpulvers einatmen lassen«, sagte Arischa, während sie sich an dem toten Priester zu schaffen machte. »Das kann ihm nicht schaden, aber er wird lange schlafen.« Arischa entledigte den Priester seiner Kutte und setzte seine Jademaske und den Kopfschmuck auf.
Niemand würde hinter dieser Verkleidung eine entflohene Sklavin vermuten. »Und jetzt folge mir«, erklang Arischas gedämpfte Stimme hinter der Gesichtsmaske hervor. Sie eilte über den schmalen Steg und verschwand in der Maueröffnung. Mainala eilte ihr nach, das Kind an sich gepreßt. Sie eilten einen langen Gang entlang und eine Treppe hinunter; Mainala folgte wie im Traum. Als von unten hallende Schritte näherkamen, versteckten sie sich schnell hinter einem Vorhang. Sie fanden sich in einem Raum, der von einer einzelnen Öllampe erhellt wurde. In der Mitte lag ein nackter Priester auf dem Steinboden, auf dessen Brust sich eine Schlange ringelte. Als er die beiden Eindringlinge sah, fuhr er überrascht hoch – und die Schlange stieß blitzschnell auf seine Kehle zu. Nachdem der Priester lautlos zurückgesunken war, kroch die Schlange von seiner Brust und verschwand in einem dunklen Winkel. Arischa hielt Mainala den Mund zu. Draußen waren die Schritte mehrerer Personen vorbeigeeilt. Als sie verklungen waren, teilte Arischa den Vorhang und schlüpfte auf den Gang hinaus. Sie eilten wieder eine Treppe hinunter, durchquerten gemäßigten Schrittes eine Halle, in der fünf nackte Tempeldiener reglos unter steinernen
Schalen standen, aus denen Wasser auf ihre kahlen Schädel tropfte. Die Tempeldiener ließen sie unbehindert vorbei. »Noch eine Treppe, dann sind wir am Seiteneingang«, raunte Arischa. »Dahinter liegt die Freiheit für uns beide und den kleinen Ebenor.« »Ich muß an Gaunth denken ...« »Sollen wir umkehren und uns mit Eisenhands Kriegern schlagen?« erwiderte Arischa. Danach verstummte Mainala. Sie erreichen das unterste Geschoß und kamen in eine Säulenhalle. Hier standen El Habeks Krieger in einer Reihe, die Krummsäbel blankgezogen. Arischa, in der Verkleidung des Hohepriesters, schritt unerschrocken geradewegs auf sie zu. Mainala folgte ihr mit gesenktem Haupt. Die Krieger standen unbewegt da. Aber als ihnen der Hohepriester mit dem Büßer immer näher kam, wurden sie unsicher. Der Wachtposten, der Arischa im Weg stand, wich zuerst nur einen kleinen Schritt zur Seite; seine Augen hingen wie gebannt an dem Lichterspiel der Edelsteine im priesterlichen Kopfschmuck. Arischa berührte ihn kurz auf der Brust, und er wich einen weiteren Schritt zurück. Der Weg war frei. Arischa öffnete das kleine Tor und schlüpfte ins Freie. Ohne sich nach Mainala umzudrehen, ging sie
unbeirrbar weiter und wagte erst aufzuatmen, als sie das Knarren der zuschlagenden Tür vernahm. Sie drehte sich kurz um. Mainala war ihr gefolgt. Sie tauchten zwischen den Sträuchern des Tempelparks unter und waren somit allen Blicken entschwunden. Arischa entledigte sich des Priestergewands und ebenso des Kopfschmucks und der Maske. »Wir müssen uns jetzt trennen«, sagte Arischa bestimmt. »Du machst dich auf dem schnellsten Weg zu Vaygas Herberge und tauchst unter. Achte darauf, daß niemand dich sieht. Ich werde mich später ebenfalls dort einfinden und mich Vayga unter dem Losungswort Ebenor zu erkennen geben. Fharapha sei mit dir, Mainala.« »Viel Glück, Arischa.« Die beiden Frauen verschwanden in verschiedenen Richtungen im Dunkel der Nacht. Der Gefangene kämpfte wie ein wildes Tier. Es war für El Habek unerklärlich, wie er vor der Zeit aus dem Todesschlaf hatte erwachen können – aber so war es. Er entwand dem Tempeldiener den Opferdolch, streckte ihn damit nieder und schleuderte ihn dann nach ihm. Das Entsetzen beschlich ihn immer wieder, wenn er daran dachte, wie der Dolch auf ihn zuschoß und
zielsicher an der Stelle stecken blieb, wo sich sein Herz befand. Hätte er nicht den lederbesetzten Harnisch getragen, er wäre bereits ein toter Mann gewesen. Der Gefangene, Gaunth hieß er, kämpfte mit bloßen Händen weiter gegen die Übermacht der herbeiströmenden Krieger. Er wand sich wie eine Schlange und warf sich seinen Feinden mit dem Mut eines Löwen entgegen. Er beschämte El Habeks Krieger, denen er immer wieder entwischte und die ihn schließlich nur dank ihrer Übermacht niederrangen. Jetzt stand er vor dem Statthalter, die Hände und den Hals in einer schweren hölzernen Zwinge, die Beine aneinandergekettet. Während El Habek noch überlegte, auf welche grausame Weise er den Gefangenen bestrafen sollte, erschien sein Wesir. Badmar wirkte ganz verstört. »Unfaßbare Dinge sind geschehen, allmächtiger Wasserspender«, berichtete er mit zitternder Stimme. »Berichte«, forderte ihn El Habek auf, der glaubte, daß sich nichts Schlimmeres mehr ereignet haben konnte, als die Entweihung des Tempels durch diesen Gaukler. Diese Schmach konnte nur durch Blut getilgt werden! »Wo soll ich beginnen, gütiger Wasserspender«, sagte der Wesir verzweifelt. »Zuerst schien es nur so, daß Ahsaria an dir Verrat begangen hätte. Wir fanden sie erwürgt in der Folterkammer, sie hielt noch den
Dolch in der Hand, den sie dem Schmied in die Seite gerannt hatte, und er lag in seinem Blut über ihr ...« »Was suchte Ahsaria in der Folterkammer?« wollte El Habek wissen. »Sie muß es gewesen sein, die den Schmied anstiftete, Machad zu töten, allmächtiger Wasserspender«, sagte der Wesir. »Ahsaria wollte Machad beseitigen, weil er ein Mitwisser ihrer Intrigen war. Sie war es, die in ihrer Eifersucht den dir von den Göttern anvertrauten Neugeborenen meuchlings töten lassen wollte. Doch auch Arischa, die Sorge um das Kind vortäuschte und dich bat, es im Tempel dem Wassergott weinen zu lassen, hinterging dich.« »Ist sie auch tot?« erkundigte sich El Habek. »Nein ... viel schlimmer«, sagte Badmar und mußte sich räuspern, weil es ihm die Stimme versagte. »Arischa hat sich mit dem Mädchen im Gewand der Nyniph verbündet und sie wahrscheinlich dazu überredet, um die Weihe im Tempel des Gottes allen Wassers zu bitten. Da man diese Bitte höchstens einem zu Tode Verurteilten versagen darf, bekam sie ein Bußgewand und wurde in den Tempel gebracht. Dort erschien sie vor demselben Hohenpriester wie Arischa ...« »Weiter!« preßte El Habek zornbebend hervor. »Die beiden Schlangen erstachen den Priester, stahlen ihm sein Gewand und konnten so unbemerkt
durch die Reihen der Wachtposten aus dem Tempel entfliehen ...« Gaunth, der alles mitangehört hatte, begann schallend zu lachen. Es erleichterte ihn unsagbar, zu wissen, daß Mainala aus dem Palast entkommen war und sich in Freiheit befand. Jetzt mochte kommen, was wollte, ihn konnte nichts mehr erschüttern. El Habek ließ seine Eisenhand vorschnellen und schlug sie Gaunth ins Gesicht, daß dieser von den Beinen gerissen wurde und rücklings ins Wasserbecken stürzte. Das Wasser färbte sich von seinem Blut rot, und die schwere, hölzerne Zwinge behinderte ihn, so daß es lange dauerte, bis er sich wieder auf die Beine erheben konnte. »Was ist mit dem Kind?« fragte El Habek. Als der Wesir nicht sofort Antwort gab, brüllte er: »Ich muß wissen, was aus dem Kind geworden ist!« »Arischa hat ... es mit sich genommen«, stotterte Badmar, der einen unheilvollen Wutausbruch seines Herrschers erwartete. Doch El Habek benahm sich ganz anders. Er schwieg lange Zeit, dann sagte er mit gefährlich ruhiger Stimme: »Ich möchte von all jenen die Köpfe haben, an denen die beiden Frauen vorbeigekommen sind – und wenn ich dabei die halbe Palastwache verliere. Die Köpfe der Schuldigen sollen beim ersten Morgengrauen das Tor
des Tempels zieren.« »Zu Befehl, allmächtiger Wasserspender.« »Und dann beschaffe mir das Kind, Badmar. Ich muß es wiederhaben, will ich nicht den Zorn des Gottes allen Wassers auf Alesch lenken. Laß die Stadttore schließen, die Stadtmauern und Wehrtürme doppelt besetzen, damit nicht einmal eine Ratte aus der Stadt entkommen kann. Und dann, Badmar, schicke die Krieger aus, lasse Haus um Haus durchsuchen und schaffe alle Neugeborenen in den Palast. Bringe mir alle Kinder, die das erste Lebensjahr noch nicht vollendet haben! Wenn du auch nur ein Neugeborenes übersiehst, dann lasse ich dir das Herz aus dem Leib reißen. Und jetzt geh mir aus den Augen!« El Habek saß eine Weile grübelnd da. Er traute Badmar zu, daß er Erfolg haben würde, denn der wußte nur zu gut, was für ihn auf dem Spiel stand. El Habek mußte das Kind zurückbekommen, denn sonst würde sein Gott furchtbare Rache an ihm nehmen. Deshalb, weil es mehr als um alles andere um seinen Kopf ging, wollte er sich aber nicht nur auf Badmars Tüchtigkeit verlassen. Er starrte Gaunth lange an und sagte dann: »Du hättest tausend Tode verdient, Gaukler, aber noch furchtbarer wird es für dich sein, wenn du einen langsamen Tod stirbst. Du liebst die Freiheit? Ich gebe sie dir. Trinke noch einmal aus dem Lebensbrunnen,
denn es wird der letzte Schluck in deinem Leben sein. Schließt seinen Kopf in einen Käfig, sperrt ihm das Maul – und dann jagt ihn davon!« El Habek sah Gaunth nach, während er abgeführt wurde. Vielleicht würde ihm der Gaukler den Weg zum Versteck seiner Geliebten weisen.
4.
Der Untote brachte Unruhe in Dragons Gruppe, seine Anwesenheit warf neue Probleme auf und führte zu einer Veränderung der Lage. Es fehlte nicht an Warnungen und guten Ratschlägen für Dragon, und selbst Nabib ermahnte ihn: »Sei vor dem Untoten auf der Hut. Wer weiß, vielleicht hat Cnossos ihm gar nicht aufgetragen, dich bis nach Alesch zu bringen, sondern ihm befohlen, dich auf dem Weg dorthin zu töten.« »Ich werde den Uh-toth nicht aus den Augen lassen«, sagte Ubali an Dragons Stelle und packte sein schweres Beidhandschwert. Hegon schärfte seinen elf urgoritischen Kriegern ein:
»Denkt immer daran, wenn ihr gegen einen Uh-toth kämpft, daß man ihn nur töten kann, wenn man ihm den Kopf vom Rumpf trennt.« Und er teilte für die Nacht, in der sie am Berg des Windes rasteten, zwei ständige Wachen ein, die in kurzen Zeitabständen abgelöst wurden. Am nächsten Morgen, als sie aufbrechen wollten, ergab sich für sie ein neues Problem. Der Untote hatte kein Pferd. Als Dragon ihn danach fragte, sagte Eben Emal: »Ich kann bis nach Alesch laufen!« Dragon entschloß sich jedoch, ihm das Pferd eines Kriegers zu überlassen. Dem Mann, der nun ohne Reittier war, trug er auf, zu Fuß in die Bucht von Abbu Manda zurückzukehren, wo die Schwarze Wellenreiterin ankerte und Kapitän Jaggar folgende Nachricht zu übermitteln: Jaggar sollte mit seinem und den sechs Schiffen der Nachhut, die inzwischen an der Totenküste eingetroffen sein mußten, südwärts die Totenküste entlangsegeln und vor Barut, einem kleinen Fischerdorf genau westlich von Alesch, kreuzen und auf seine Rückkehr und die seiner Gefährten warten. Der Bote bekam genügend Vorräte mit auf den Weg, und während er in Richtung zur Küste davonmarschierte, ritt Dragons fünfzehnköpfige Gruppe mit dem Untoten in südwestlicher Richtung
davon. Zur Mittagsstunde, nachdem der Amma Bab an einer Furt überquert worden war, erreichte man den See Tibras, wo man in einem leicht zu verteidigenden Palmenhain Rast machte und die Pferde tränkte. Dragon war immer noch schweigsam und sprach meistens nur, wenn es Entscheidungen zu treffen gab. Ubali wich nicht von seiner Seite, die Rechte auf den Knauf des Zweihänders gestützt, den er in der Waffenkammer der Schwarzen Wellenreiterin entdeckt und von Kapitän Jaggar geschenkt bekommen hatte. Hegon amüsierte sich mit Iwa, und Nabib blieb grollend abseits. Zwei der Urgoriten waren ständig in der Nähe des Untoten, doch dieser zeigte keinerlei Feindseligkeiten. Er war stumm wie ein Fisch und bewegungslos wie eine Statue. Aber manchmal kam es sogar vor, daß er Antwort gab, wenn er angesprochen wurde. Ubali sah entsetzt, wie Dragon sich zu dem Untoten gesellte und ihn fragte: »Wie ist dein Name?« »Eben Emal«, sagte der Untote nach kurzem Schweigen eintönig. »Führst du dieses Dasein schon lange?« Dragon war, als sehe er es in Eben Emals Augen aufblitzen. Doch sonst zeigte er keine Reaktion. Er schwieg.
»Welche Befehle hast du?« fragte Dragon weiter. Diesmal antwortete der Untote fast unverzüglich. »Ich soll dich nach Alesch führen und dich zu El Habek bringen.« »Was will El Habek von mir?« Wieder war es Dragon, als veränderten die Augen des Untoten ihren Ausdruck, und war da nicht ein Zucken in seinem Gesicht? Doch das mußte ein Irrtum sein, denn in den Gehirnen von Untoten waren keine Regungen, und solche konnten sich deshalb auch weder in ihren Gesichtern noch in ihren Augen widerspiegeln. Ihre Gehirne waren tot, ihre Augen ebenfalls – genauso wie ihre Körper. Cnossos lenkte sie! »Willst du mir nicht sagen, welche Aufgabe mich in Alesch erwartet?« versuchte es Dragon noch einmal. Der Untote machte der Unterhaltung ein Ende, indem er sagte: »Eile ist geboten.« Damit wandte er sich ab. Sie brachen auf. Gerade als sie aus dem Palmenhain ritten, näherte sich ihnen von Westen eine Gruppe von fünf Schäfern mit einer Herde. Dragon ließ auf sie zuhalten, und wenig später hatten sie die Herde erreicht. »Woher kommt ihr?« fragte Dragon einen der Schäfer, der einen langen grauen Bart hatte, der ihm bis
zur Hüfte reichte. »Wir kommen von nirgendwoher und gehen nirgends hin, Herr«, sagte der Schäfer. Er machte eine umfassende Handbewegung, mit der er das gesamte Land einschloß. »Das hier sind unsere Weidegründe. Bessere finden sich nicht westlich des Amma Bab. Und wohin wollt Ihr, Herr, wenn ich mir das zu fragen erlauben darf? Ich sehe, daß Ihr fremd in diesem Land seid.« »Wir wollen den Amma Bab entlang und dann nach Alesch reiten«, gab Dragon bereitwillig Auskunft. »Oh«, machte der Schäfer sorgenvoll, und die anderen Schäfer murmelten beipflichtend. »Ihr habt eine schlechte Zeit für Eure Reise gewählt, Herr. Reitet besser nicht in die Wüste und wartet vorerst die Ereignisse der kommenden Tage ab.« »Welche Ereignisse sind das, die wir abwarten sollten?« fragte Dragon. »Es wird Krieg geben, Fremder«, sagte der Schäfer. »Abbal Kim, der mächtigste Stammesfürst unter den Söhnen des Fuchses, sammelt alle kampffähigen Wüstensöhne um sich und will mit ihnen gegen Alesch ziehen, um diese Stadt der Verdammnis zu vernichten. Abbal Kim hat schon ein riesiges Heer um sich geschart. Man sagt, daß es bereits dreißig Hundertschaften sind, die seinem Wort gehorchen. Und es werden immer mehr.«
»Wir fürchten die Söhne des Fuchses nicht, denn wir sind nicht ihre Feinde«, sagte Dragon. Der Schäfer schüttelte den Kopf. »Danach werden die Wüstensöhne nicht fragen. Sie brauchen Pferde und Waffen, und da ihr beides habt, werden sie es Euch wegnehmen.« »Das kann uns nicht abhalten, unseren Weg fortzusetzen.« Dragon wendete sein Pferd. »Hab jedenfalls Dank für deine Warnung, Schäfer.« »Fharapha sei mit Euch, Fremder.« Sie ritten wieder gen Süden, dem Flußlauf des Amma Bab folgend, und hatten die Schäfer bald aus den Augen verloren. Der Amma Bab, was soviel wie »Mutter der Fruchtbarkeit« hieß, trug seinen Namen zu Recht. Links und rechts des Flußlaufes war das Land grün fast bis zum Horizont. Aber es war dennoch kein guter Weidegrund für die Pferde, denn das Gras war von den Schafherden, die hier kreuz und quer durch das Land getrieben wurden, bis an die Wurzeln abgefressen. Man mußte den Pferden längere Rasten gönnen, damit sie genügend Zeit hatten, Futter zu finden. Deshalb beschloß Dragon, bei den Ruinen von El Hammad zu nächtigen, obwohl die Sonne noch zwei Handbreit über dem Horizont stand. Eben Emal blieb im Sattel, als alle anderen schon abgestiegen waren.
»Bist du auf dem Rücken deines Pferdes festgewachsen?« fragte Dragon. »Wir haben Eile«, sagte der Untote nur. »Besser, wir verlieren etwas Zeit, als unsere Pferde«, entgegnete Dragon. »Vor uns liegt noch die Wüste, und ich möchte, daß unsere Pferde ausgeruht sind, wenn wir sie erreichen. Sitz ab, Eben Emal.« »Wir könnten bis Bababo durchreiten«, sagte Eben Emal. »Wir rasten!« »Ich bin unschuldig ... Habt Gnade ... Tut einem armen, alten Mann doch nichts ... Ihr ladet große Schuld auf Euch ...« Die Männer um das Lagerfeuer sprangen auf, zogen ihre Schwerter und kletterten auf die Steinquader, als sie die Geräusche und die Stimme hörten. Doch ihre Vorsicht erwies sich als unbegründet. Einer der Wachtposten erschien zwischen den Trümmern und trieb vor seinem Schwert eine zerlumpte Gestalt her. »Ich habe diesen Kerl hier gefunden, als er sich bei den Pferden herumschlich«, sagte der Krieger. »Ich wollte kein Pferd stehlen, Herr«, beteuerte der Alte in den Fetzen und warf sich vor Nabib zu Boden, weil er wegen seiner Körperfülle auf ihn wahrscheinlich den stattlichsten Eindruck machte.
»Bestraft mich nicht, Herr, ich habe nichts getan. Ich war nur neugierig – She-abea soll mich mit ihrer Flammenzunge verschlingen, wenn ich nicht die Wahrheit spreche.« »Steh auf«, sagte Nabib zu dem Alten. »Wie kommst du hierher?« »Ich lebe schon seit vielen Sommern in den Ruinen«, sagte dieser. »Ich friste mein Dasein, indem ich mich von den Almosen der vorbeiziehenden Karawanen ernähre. Habt Gnade mit mir, Herr.« Nabib warf Dragon einen fragenden Blick zu, und als dieser nickte, forderte der Händler den Einsiedler auf: »Setz dich zu uns ans Lagerfeuer und iß mit uns.« Das ließ sich der Alte nicht zweimal sagen, griff sich unter vielen Segenswünschen ein Stück Fleisch vom Spieß und schlang es mit Heißhunger hinunter. »Wie heißt du?« wollte Nabib wissen. »Gefgar, Herr«, antwortete der Alte zwischen den Bissen. »Wie kommt es, daß du in den Ruinen von El Hammad lebst?« »Das ist eine lange Geschichte, Herr, die Euch sicherlich langweilen würde. Die Gier nach Gold hat sie geschrieben ... Auf mich Unseligem liegt der Fluch der She-abea ...« »Gold?« Nabibs Augen begannen zu leuchten.
»Erzähle, Gefgar.« Der Alte trug seine Geschichte vor. El Hammad sei vor vielen Jahren die Tempelstadt der Göttin She-abea gewesen, die das Land in Angst und Schrecken versetzt habe, noch lange bevor der Wassergott nach Alesch gekommen sei. Wer nicht regelmäßig seinen Tribut nach El Hammad brachte, den traf die Flammenzunge She-abeas und ließ ihn verbrennen. Niemand konnte der Feuergöttin entrinnen, wohin er sich auch flüchtete, so weit er auch lief – ihre Flammenzunge holte ihn ein, selbst wenn er sich in den Höhlen der Totenküste versteckte. An diesem Punkt angelangt, war auch Dragons Interesse geweckt. Früher hätte er diese Geschichte für das Hirngespinst einer blühenden Phantasie gehalten. Aber seit er seine Erinnerung wiederhatte, betrachtete er Berichte wie diesen über Magie und Zauber mit anderen Augen. Seine Erinnerung sagte ihm, daß es zur Zeit von Atlantis Waffen gegeben hatte, die Blitze über weite Entfernungen schleudern konnten. War es nicht möglich, daß die Geschichte des Einsiedlers ein Hinweis auf eine Waffe der Vergangenheit war? Konnte es nicht möglich sein, daß sich eine solche Waffe bis in diese Zeit erhalten hatte und von Überlebenden aus Atlantis dazu benutzt wurde, die Barbaren zu unterdrücken? Schließlich hatten doch auch die »Söhne von Atlantis« ihren
»Kasten-der-alles-kann« besessen, der für sie Gold und andere Edelmetalle erzeugte. Dragon nahm sich bereits in diesem Augenblick vor, die Ruinen bei Tageslicht in Augenschein zu nehmen. Der Einsiedler berichtete weiter: Da selbst die Macht der Götter vergänglich sei, wurde auch She-abea eines Tages von einem noch Mächtigeren besiegt, ihr Tempel zerstört. Aber die Schätze, die sie gehortet hatte, blieben in den Ruinen zurück. Viele waren gekommen, um die Schätze zu heben, doch der Fluch der Feuergöttin traf sie, und ihre Gebeine modern unter den Tempeltrümmern. »Vor vielen Sommern hörte ich zufällig diese Geschichte und machte mich mit Freunden auf, um den Schatz zu heben. Sie starben alle, nur ich blieb übrig. So bin ich schon seit vier Sommern ganz allein und suche immer noch. Ja, edle Herren, das ist meine Geschichte.« »Wenn du schon seit so langer Zeit vergeblich suchst, dann gibt es den Schatz der She-abea bestimmt gar nicht«, meinte Nabib. »Doch, Herr«, versicherte Gefgar. »Ich weiß es ganz bestimmt, denn ...« Der Einsiedler unterbrach sich selbst, so als hätte er schon zuviel verraten. »Entschuldigt, edle Herren, daß ich Euch mit meinem Geschwätz ermüde«, sprach er dann weiter.
»Es ist schon spät, und ich will Eure Nachtruhe nicht länger mehr stören. Habt tausend Dank für Eure Gastfreundschaft. Ich ziehe mich jetzt zurück ...« »Vielleicht besuchen wir dich morgen«, rief Nabib ihm nach. »Das würde mich ehren, edle Herren.« Nachdem der Einsiedler verschwunden war, sagte Nabib: »Er war gar nicht begeistert, daß ich ihm unseren Besuch ankündigte. Ich bin sicher, daß er uns etwas verheimlichen will. Es ist nicht einmal auszuschließen, daß er den Schatz schon längst gefunden hat!« »Du spinnst, Nabib«, sagte Iwa, und Hegon lachte lauthals. »Gold macht Nabib blind«, meinte Ubali grinsend. »Lacht nur«, rief Nabib wütend. »Aber ich weiß, woran ich bin. Ich kenne die Menschen viel zu gut, um nicht erkannt zu haben, daß der Alte Angst hatte, sich zu verplappern und sich deshalb schleunigst aus dem Staub machte. Ich sage euch, daß er den Schatz gefunden hat. Vielleicht schon vor einigen Sommern. Er sitzt darauf und hat keine Möglichkeit, ihn fortzuschaffen. Was soll er mit seinem Reichtum tun? Sich einer zufällig vorüberziehenden Karawane anvertrauen und dann erschlagen und seiner Schätze beraubt zu werden? Nein, auf dieses Wagnis läßt sich ein Schatzsucher nicht ein ...«
»Der Alte hat uns diese Geschichte nur erzählt, um sich eine Mahlzeit zu erbetteln«, behauptete Iwa. »Wir werden uns morgen früh die Ruinen einmal genauer ansehen«, beschloß Dragon, ohne seine wahren Beweggründe zu nennen. »Das ist ein Wort!« rief Nabib begeistert. Die Ruinen erinnerten Dragon irgendwie an Bo-gah, der Stadt der verlorenen Seelen. Auch hier ragten aus Schutt und Trümmern noch guterhaltene Mauern in den Himmel hinauf, die von Erkern und Türmchen geschmückt waren. Götzenbilder, von der Witterung zernarbt, zerbröckelnd, wie von einer Riesenfaust zertrümmert, standen windschief herum, ragten halb aus dem Schutt, oder standen auf Mauervorsprüngen und trotzten allen Gewalten. Schlinggewächse rankten sich die Mauern hoch; vor düsteren Gewölben, die in unbekannte Tiefen führten, standen Sträucher, wucherte Unkraut – und hoch oben auf einem halbverfallenen Turm wuchs eine Palme, wie zum Hohn gegen das tote Gestein oder die Macht der Götter. Aber zum Unterschied von Bo-gah, wo die schaurigen Wesen des Cnossos gehaust hatten, schienen die Ruinen von El Hammad leer und unbewohnt zu sein.
Dragon konnte sich nicht vorstellen, daß hier Überlebende von Atlantis gewohnt hatten. Nichts erinnerte ihn an die Bilder, die über die Bauwerke von Muon in seiner Erinnerung aufgetaucht waren. Dieser Tempel, so monumental er einmal gewesen sein mochte, war von den Barbaren dieser Erde erbaut worden. Das erkannte er schon, noch bevor er sich in die Ruinen vorwagte. Er war plötzlich mißtrauisch. Heute morgen hatten die Wachen im Sand Fußspuren in der Nähe des Lagers entdeckt, die verschieden groß waren und unmöglich von nur einer Person stammen konnten. Also hatte Gefgar Verbündete? Und wollte er sie nur in eine Falle locken? Nabib wollte von solchen Überlegungen nichts wissen. Für ihn gab es nur ein Ziel: den Schatz der Feuergöttin She-abea zu finden. Daß ein solcher in den Ruinen verborgen war, davon war er überzeugt. »Wenn du dein Leben aufs Spiel setzen willst, Nabib, so gebe ich dir eine Stunde Zeit, die Ruinen zu durchstreifen«, sagte Dragon. »Nach dieser Frist brechen wir auf.« »Aber wie soll ich in dieser Zeit einen Schatz heben?« jammerte Nabib. »Und was ist mit deinem Versprechen, den Ruinen selbst einen Besuch abzustatten?«
»Ich habe es mir anders überlegt«, erwiderte Dragon. »Atlantor ist mir wichtiger.« Das Bewußtsein, daß sich sein Sohn noch in den Fängen Cnossos‘ befand, hatte tatsächlich den Ausschlag für seine Meinungsänderung gegeben. Vielleicht kam er später einmal zurück, um in El Hammad nach den Überresten der untergegangenen Kultur zu suchen. »Aber wir könnten doch wenigstens durch El Hammad reiten«, schlug Nabib vor. »Das bedeutet für uns überhaupt keinen Zeitverlust.« »Wir sollten es bleiben lassen«, meinte Hegon. Dragon war drauf und dran, Nabibs Vorschlag anzunehmen. Doch noch bevor er es tun konnte, schaltete sich Eben Emal ein. Der Untote hieb seinem Pferd plötzlich die Fersen in die Weichen und preschte brüllend auf die Ruinen zu. Die anderen standen wie erstarrt da und sahen, wie der Untote zwischen skelettartig aufragenden Ruinen eintauchte. Er trieb sein Pferd über Schutthalden hinauf, zwischen den Steinblöcken hindurch und ließ es über Klüfte und Hindernisse hinwegsetzen. Plötzlich tauchte auf einer der Ruinen eine Gestalt auf, die einen großen Felsbrocken schwang und in die Tiefe schleuderte. Das schien das Zeichen für andere zu sein. Denn nun tauchten weitere verwilderte Gestalten auf, die ebenfalls mit Steinen nach dem Untoten
warfen. Eben Emal wurde fast aus dem Sattel gerissen, als ein Stein ihn gegen den Kopf traf. Ein anderer landete krachend auf seiner Schulter. Das Pferd wieherte auf, als ein Stein gegen seine Flanke prallte und ihm eine Wunde schlug. Es scheute, doch der Untote hielt die Zügel fest. Dragon sah, wie der Reiter hinter einer Staubwand verschwand. Hegon schrie Befehle an seine Leute, die von ihren Pferden sprangen, Pfeil und Bogen an sich nahmen und in Deckung gingen. Die Plünderer aus den Ruinen hatten sich nun der Reiterschar zugewandt und bewarfen sie mit Steinen. Doch die Entfernung war zu groß, und die größeren Wurfgeschosse, die ihnen hätten gefährlich werden können, erreichten sie bei weitem nicht. Hegon wurde von einem kleineren Stein unterhalb des Auges getroffen, und Iwa, die Heilerin, machte sich sofort liebevoll daran, seine blutende Wunde zu behandeln. Hegon blieb aber das einzige Opfer. Denn nachdem einer der Räuber von einem Pfeil getroffen worden war, zogen sich die anderen schleunigst zurück. Das alles hatte nur wenige Atemzüge lang gedauert, dann herrschte wieder Ruhe. Nabib aber war immer noch blaß wie ein Leichentuch.
»Ich hoffe, dieser Zwischenfall hat dich für eine Weile von deiner Goldgier geheilt«, schimpfte Iwa, und sie fügte abfällig hinzu: »Der Schatz der She-abea!« »Wir wären alle ins Verderben geritten«, sagte Dragon unter dem Eindruck des Geschehens, »wenn Eben Emal nicht gewesen wäre.« »Du glaubst doch nicht, daß er vorangeritten ist, um uns zu beschützen«, sagte Nabib ungläubig. »Er ist ein Untoter, Dragon – ein Diener Cnossos!« »Ich weiß – und doch«, meinte Dragon ungewiß. Er war verwirrt, denn Eben Emals Verhalten hatte so ganz und gar nicht zu einem Untoten gepaßt.« Sie machten einen Bogen um die Ruinen von El Hammad und stießen auf der anderen Seite zu Eben Emal. Die Wunden, die ihm die Wurfgeschosse zugefügt hatten, waren schon längst wieder verheilt, und nur schnell verblassende Narben waren zurückgeblieben. Iwa kümmerte sich um sein Pferd, das an einer Seite blutete. »Danke, Eben Emal, du hast uns das Leben gerettet«, sagte Dragon zu dem Untoten und beobachtete ihn scharf. Aber Eben Emal blieb unbewegt. Das Land nahm immer mehr wüstenartigeres Aussehen an, und dann reihte sich vor ihnen nur noch Düne an Düne.
Sie hatten den Amma Bab rechts von sich gelassen und waren in mehr westlicher Richtung geritten, wo sie Bababo, die letzte größere Ansiedlung vor Alesch wußten. Um die Mittagsstunde hatten sie weit vor sich drei Reiter auf Kamelen gesichtet. Doch diese machten keine Anstalten, sich ihnen zu nähern, obwohl sie die Reiterschar entdeckt haben mußten. Plötzlich verschwanden sie hinter einer Düne und tauchten nicht mehr wieder auf. »Das gefällt mir gar nicht«, meinte Hegon. »Es hat so ausgesehen, als handle es sich bei den Kamelreitern um Späher dieses Abbal Kim.« »Das mag schon sein«, gab Dragon zu. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Söhne des Fuchses es auf uns abgesehen haben.« »Auf uns vielleicht nicht, aber auf unsere Pferde und Waffen«, erklärte Hegon. »Wir sollten die Warnung des Schäfers nicht in den Wind schlagen.« »Ich verlasse mich auf das Verhandlungsgeschick Nabibs«, sagte Dragon daraufhin. »Wenn wir den Wüstensöhnen zeigen, daß wir in friedlicher Absicht kommen, dann werden sie uns ziehen lassen. Glaubst du nicht auch, Nabib?« »Ich weiß nicht recht«, sagte der Händler unsicher. »Früher einmal, da war Ehre für die Bewohner der Wüste kein leerer Begriff – es sei denn, wenn es ums
Handeln ging. Aber wenn sie sich zum Krieg rüsten, dann ist ihnen nichts mehr heilig, und man sollte ihnen besser aus dem Weg gehen.« »Wir haben keine Wahl, wir müssen nach Alesch«, erklärte Dragon. Dem war nicht zu widersprechen. Es ereignete sich kein weiterer Zwischenfall mehr. Obwohl sie die Gegend ständig im Auge behielten, zeigte sich ihnen kein Lebenszeichen; keine Hufspuren im Sand und auch keine Staubwolke am Horizont, die einen Reiter verraten hätte. Eben Emal war ihnen ein sicherer Führer. Er behielt unbeirrbar die eingeschlagene Richtung bei und verriet nicht ein einziges Mal Unsicherheit. Dragon sah durch seinen zerschlissenen Umhang häßliche Narben auf seinem Rücken und fragte sich unwillkürlich, woher diese stammen mochten. Einmal hob der Wind die Stoffetzen vom Rücken des Untoten, und Dragon glaubte zu erkennen, daß es sich bei den Narben um ein Brandmal handle, das irgendein Zeichen darstellte. Doch konnte er keine Einzelheiten erkennen, und Eben Emal brachte seinen Umhang in Ordnung, daß sein Rücken fortan verdeckt blieb. An diesem zweiten Tag ihres Rittes nach Alesch rasteten sie nicht, sondern stillten ihren Hunger und Durst während des Reitens. Sie wollten ohne Unterbrechung bis nach Bababo durchhalten und sich
erst in der Oase ausgiebig laben. Die Sonne sank immer tiefer, die Hitze des Tages schwand, eine kühle Brise kam auf – und noch immer war die Wüste tot und leer. Die Dünen ragten oftmals so hoch um sie auf, daß ihre Sicht nur einige hundert Schritt weit reichte. Hegon meinte, daß sich dieses Gelände ganz vorzüglich für einen Überraschungsangriff eignete. Doch seine Befürchtungen blieben unbegründet. Und dann, als sie einen Dünenkamm erreichten, sahen sie die Ansiedlung vor sich – Bababo, die letzte bekannte Oase vor Alesch. Der Untote ritt unbeirrbar weiter, während die anderen fünfzehn Reiter anhielten und das Bild der grünen Palmen und der weißen Hütten begierig auf sich einwirken ließen. Bababo bot einen friedlichen Anblick – einen zu friedlichen Eindruck, wie der mißtrauische Hegon fand. »Die Ruhe gefällt mir nicht«, sagte der Urgorit. »Ich kann nirgends eine Menschenseele entdecken – ich will verdammt sein, wenn das nicht nach einem Hinterhalt aussieht!« Und er ermahnte seine zehn Krieger zu erhöhter Kampfbereitschaft; sie nahmen ihre Bögen zur Hand und spannten Pfeile in die Sehnen. »Irgend etwas scheint hier tatsächlich nicht zu stimmen«, meinte nun auch Dragon, als sie der ersten
Hütte schon ganz nahe waren und sich immer noch keine Menschenseele zeigte. Er hob die Hand und hielt sein Pferd an. Die anderen folgten seinem Beispiel. Nur der Untote kümmerte sich nicht um Dragons Befehl. Er ließ sein Pferd weitertraben, erreichte die erste Hütte, kam an ihr vorbei ... Nichts passierte. Eben Emal erreichte einen Wasserlauf, hielt sein Pferd davor an und schwang sich steif von seinem Rücken. Die Pferde der anderen begannen das Wasser zu wittern und wurden unruhig. »Schick zwei Mann zur Erkundigung aus, Hegon«, befahl Dragon. »Wir können nicht ewig hier warten.« Hegon deutete auf zwei Krieger, und diese setzten sich langsam in Bewegung. Als sie bei dem reglos dastehenden Untoten angekommen waren, stiegen sie ab und vertauschten ihre Bögen mit den Schwertern. Sie näherten sich vorsichtig dem Eingang einer Hütte, der den Blicken der anderen verborgen blieb. Die beiden Krieger waren kaum verschwunden, da ertönten verhaltene Stimmen. Gleich darauf erschienen die Krieger wieder und winkten die anderen heran. »Was ist los?« erkundigte sich Dragon bei den Kriegern, als er sie erreicht hatte. »Sieh selbst, mein König«, sagte der eine verwirrt und wies auf die Hütte.
Dragon ging zum Eingang und sah, daß das Innere durch ein Öllicht erhellt war. Um einen Tisch saß eine siebenköpfige Familie – Vater, Mutter, drei Söhne im Mannesalter und zwei verschleierte Töchter. Der Vater blickte ihm entgegen und sagte: »Komm nur herein, Bruder, und Friede sei mit dir. Wir sind arme Leute, aber was wir haben, wollen wir gern mit dir teilen.« Da erinnerte sich Dragon schlagartig an die Worte der Pilger, die nach Abbu Manda gekommen waren und sich auf dem Weg nach Bababo befanden, weil sie gehört hatten, daß der Namenlose hierherkommen würde. Es schien, als sei er schon hier gewesen und hätte diese Leute befriedet. Es war in allen Hütten das gleiche Bild: Die Leute saßen schweigend und andächtig beieinander und schienen auf ein Ereignis zu warten. Erst durch den Lärm, den Dragons Männer verursachten, wurden sie ins Freie gelockt und gesellten sich zu ihnen ans Lagerfeuer, das Hegon am Brunnen errichten ließ. »Wer von euch ist der Dorfsprecher?« fragte Dragon in die Runde der schweigenden Gestalten. »Er soll zu mir kommen und berichten, was vorgefallen ist, daß ihr alle so in euch gekehrt seid.«
Ein alter, gebeugter Mann trat vor. »Ich war bisher das Oberhaupt unserer Gemeinschaft«, sagte er. »Und warum bist du es nicht mehr?« »Weil Er uns alle gleichgemacht hat.« »Setz dich zu mir und berichte.« Der Alte nickte, während er sich umständlich vor Dragon auf die Decke sinken ließ. »Wir kommen alle aus dem Stamm der Wüstenfüchse, wie wir hier sind«, begann der Alte. »Aber obwohl wir seßhaft geworden sind, fühlen wir uns immer noch unserem Volk zugehörig, das mußt du wissen, Fremder. Unsere Waffen waren in die hintersten Winkel unserer Hütten gestellt, doch wenn es galt, das Recht unseres Stammes zu verteidigen, dann wurde das Kämpferherz unserer jungen Männer geweckt, und sie zogen in den Kampf. Nun hatten wir letzte Nacht ein Erlebnis, das uns allen die Augen öffnete. Wir empfingen einen Mann ohne Namen, den man als den Friedensbringer kennt und den manche auch den Weltenwanderer nennen. Er zeigte uns, daß Krieg und Kampf, Mord und Totschlag nur Not und Elend mit sich bringen. Haß zeugt neuen Haß – er ist der Ursprung allen Bösen. Liebe dagegen bringt Glück, Friede bedeutet Erlösung von allem Übel. Wie wahr diese Worte sind – wir werden sie beherzigen. Kaum hatte uns der Friedensbringer
verlassen, wurde unser Glaube auf eine harte Probe gestellt. Abbal Kim schickte Boten, die unsere jungen Männer aufriefen, sich am Feldzug gegen Alesch zu beteiligen. Und es zeigte sich, daß wir festen Glaubens an den Frieden sind: Keiner von uns trat vor und ging mit Abbal Kims Kriegern. Sie mußten unverrichteter Dinge wieder abziehen, sagten aber, daß sie bei Sonnenuntergang noch einmal kommen würden. Solange hätten wir Zeit, um uns zu entscheiden. Nun geht die Sonne gleich unter, und wir erwarten die Krieger. Aber wir können ihnen nichts anderes sagen als beim erstenmal. Keiner aus Bababo ist gewillt, die Waffe wider seinen Nächsten zu heben. Wir wissen, daß wir damit Abbal Kims Zorn auf uns nehmen, aber wir werden auch diese Prüfung bestehen, denn unser Glaube an den Frieden der Welt ist unerschütterlich.« Der Alte hatte kaum geendet, als einer der Wachtposten herangeritten kam, die Dragon außerhalb der Oase hatte aufstellen lassen. »Zwei Dutzend Krieger auf Kamelen und Pferden nähern sich von Westen«, meldete der Posten keuchend. »Sie sind schon recht nahe und werden in wenigen Augenblicken hier sein.« »Zieht euch in eure Hütten zurück«, sagte Dragon zu den Oasenbewohnern. »Es kann sein, daß hier bald gekämpft wird.« »Glaubst du nicht an den Frieden, Bruder?« fragte
der Alte. »Doch, Alter«, antwortete Dragon. »Aber im Gegensatz zu euch setzen wir uns zur Wehr, wenn man uns nach dem Leben trachtet.« Das Lagerfeuer wurde gelöscht, die Pferde in den Ställen untergebracht. Drei Krieger blieben in den Sätteln – um im Notfall, und wenn es zum Nahkampf kam, den Wüstensöhnen gleichwertige Gegner zu sein. Die anderen Krieger verteilten sich rund um den Hauptplatz auf die Dächer der Häuser, Pfeil und Bogen schußbereit. Hegon, Nabib und Ubali versteckten sich hinter herbeigeschafften Kamelhaarballen, um schnell eingreifen zu können. Dragon begab sich zusammen mit Iwa in das Haus des Dorfältesten. Es dauerte nicht lange, da ritten die Unterhändler des Stammesfürsten Abbal Kim in die Oase ein. Es waren nicht zwei Dutzend Krieger, wie der Wachtposten berichtet hatte, sondern nur einundzwanzig. Sie hielten vor dem Haus des Dorfältesten, und einer von ihnen rief: »Bevor ihr uns mitteilt, wozu ihr euch entschlossen habt, hört zuerst, was Fürst Abbal Kim befohlen hat, Leute von Bababo: Alle die sich weigern, in den heiligen Feldzug gegen Alesch zu ziehen, werden aus dem Stamm verbannt und gelten als Verräter. Wer zu
feige ist, sein Leben im Kampf für seine Stammesbrüder zu opfern, der verliert sein Gesicht und ist nicht wert, ein Sohn des Fuchses zu sein. Abbal Kim will allen kampffähigen Männern ihre Verblendung verzeihen, die sich jetzt zu ihrem Stamm bekennen und sich mit ihren Waffen zu uns gesellen. Von den anderen jedoch, die sich weiterhin weigern, an dem heiligen Feldzug gegen Alesch teilzunehmen, verlangt Abbal Kim ein Pfand. Wenn sie ihm schon nicht ihr Herz geben, so will er wenigstens ihren Kopf!« Der Anführer der Wüstensöhne wartete eine Weile zu, dann fragte er höhnisch: »Müssen wirklich so viele Köpfe rollen?« »Nein!« Dragon trat aus dem Haus. »Es sollen überhaupt keine Köpfe rollen«, sagte er. »Wenn dein Fürst ein Mann von Ehre ist, dann achtet er den Friedenswillen der Bewohner von Bababo.« »Oho!« rief der Anführer der Wüstenfüchse spöttisch. »Wer bist du, Fremder, daß du das Wort für die Bewohner der Oase ergreifst?« »Ich befinde mich auf dem Weg nach Alesch und mache hier Rast«, antwortete Dragon. »Ich genieße hier Gastfreundschaft und erachte es als meine Pflicht, meinen Gastgebern Schutz zu gewähren. Du warst schon einmal hier, wie man mir gesagt hat, und hörtest
von den Leuten, daß sie in Frieden leben wollen und sich ihres Glaubens wegen nicht mit dem Blut anderer beflecken können. In dieser Welt des Hasses und des Bösen sollte man die Friedliebenden nicht ächten, sondern verehren.« »Du wählst deine Worte klug, Fremder, gefährlich klug. Denn so klug du auch sein magst, Abbal Kim ist weiser – und sein Wort spricht deinem entgegen. Willst du deine Ansicht also nicht doch ändern?« »Richte deinem Fürsten meine ehrerbietigste Hochachtung aus, aber berichte ihm auch, daß in Bababo nicht die Köpfe unschuldiger Menschen rollen werden, solange ich hier zu Gast bin.« Der Reiter vor Dragon hatte die ganze Zeit über spöttisch gelächelt. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich auch nicht, als er sich unerwartet an den Gürtel griff und sein Krummschwert zog. Doch er hatte es kaum aus der Scheide, da ragte ihm auch schon ein Pfeil aus der Brust. Gleich darauf regnete es auch auf seine Begleiter von allen Seiten Pfeile. Vier stürzten tödlich getroffen von ihren Reittieren. Ubali, Nabib und Hegon verließen ihre Verstecke. Ubali sprang zwischen zwei Reiter, zog jeden mit einer Hand aus dem Sattel, daß sie mit den Köpfen zusammenkrachten und erledigte beide mit einem einzigen Streich seines Beidhänders, bevor sie wieder
auf die Beine kommen konnten. Nabib rannte mit einem Speer an und holte damit einen Krieger von seinem Kamel. Hegon hatte sich ebenfalls mit einem Speer bewaffnet und spießte einen Reiter damit auf; dabei entglitt ihm die Wurfwaffe jedoch, und er konnte den Schwertstreich eines hinter ihm auftauchenden Reiters gerade noch mit seinem Schild abwehren. Zu einem zweiten Schlag konnte der Reiter dann nicht mehr ausholen, weil ihn ein Bogenschütze erschoß. Der Kampf hatte erst wenige Atemzüge gedauert, und schon war fast die Hälfte der Wüstensöhne ausgeschaltet, bevor die anderen sich gesammelt hatten und sich wirksam zur Gegenwehr setzen konnten. Dragon wurde von zwei Kamelreitern in die Mitte genommen und hart bedrängt. Er verwundete einen von ihnen am Bein, worauf dieser sich zur Flucht wandte. Den anderen täuschte er durch eine Finte, duckte seinen seitlich geführten Schwerthieb ab und trieb ihm dann das Schwert in den Leib. Ubali hatte einen weiteren Gegner erledigt und zog einen anderen an der Schwerthand gerade vom Kamel. Der Wüstensohn flog in weitem Bogen aus seinem Sattel und stürzte beim Aufprall am Boden in seine eigene Klinge. Nabib wurde im Rücken angesprungen und niedergerungen. Während er bäuchlings dalag, den
festen Griff im Nacken spürte und sich ausmalte, wie sein Gegner gerade mit dem Krummsäbel zum Todesstoß ausholte, hörte er diesen aufschreien. Im selben Moment verlagerte sich das Gewicht auf seinem Rücken, und als er diese Gelegenheit wahrnahm und auf die Beine sprang, sah er seinen Gegner im Staub liegen – ein Pfeilschaft ragte aus seiner Brust. Dragon, in einen Zweikampf mit einem Wüstensohn verstrickt, der sein Kamel verloren hatte, sah, wie sich drei der Gegner mit ihren Pferden zur Flucht wandten. »Haltet sie auf!« schrie er über den Kampflärm hinweg. »Sie dürfen uns nicht entkommen, sonst hetzen sie den ganzen Stamm auf uns!« Ubali schleuderte den Flüchtenden seinen Speer nach, verfehlte jedoch das Ziel, und rannte dann selbst hinterher. Er bekam das eine Pferd am Schwanz zu fassen, stolperte dann aber und mußte loslassen. Die drei Flüchtenden verschwanden zwischen den Häusern im östlichen Teil der Oase. Gleich darauf kamen sie jedoch wieder zurück, verfolgt von drei urgoritischen Reitern, die ihnen den Weg abgeschnitten hatten. Einer der Flüchtenden hatte eine blutende Schulterwunde und konnte sich nur noch mühsam im Sattel halten – kurz darauf glitt er vom Rücken seines Kamels und wurde von den Hufen niedergetrampelt. Dragon focht immer noch einen erbitterten
Schwertkampf mit demselben Gegner. Dieser führte seinen Krummsäbel nicht nur kraftvoll, sondern auch geschickt und fintenreich, so daß er Dragon fast ebenbürtig war. Dragon war schon einige Male in Bedrängnis gekommen, konnte den tödlichen Stößen aber jedesmal ausweichen und im Gegenstoß seinen Gegner verwunden. Doch der kämpfte zäh und verbissen weiter. Als Dragon für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit auf Eben Emal richtete, der plötzlich wie ein Gespenst mitten unter den Kämpfenden auftauchte, sauste die krumme Klinge nur einen Fingerbreit an seinem Gesicht vorbei. Von der Wucht seines eigenen Schlages mitgerissen, stolperte der andere geradewegs in Dragons vorgehaltenes Schwert. Dragon hatte die Klinge noch nicht aus dem Toten gezogen, als er Eben Emals eiskalte Hand auf seiner Schulter spürte. Dragon nahm sofort Abwehrstellung ein, entspannte sich jedoch, als er erkannte, daß der Untote gar keinen Angriff im Sinn hatte. »Nicht töten«, kam es wie unter großer Anstrengung von den spröden Lippen des Untoten. »Söhne des Fuchses ... meine Brüder ...« Diese Eröffnung überraschte Dragon in solchem Maße, daß er das Schwert senkte und vergaß, in den noch immer um ihn tobenden Kampf einzugreifen. Es verwunderte ihn weniger, daß Eben Emal ein
Angehöriger dieses Wüstenstammes war, sondern viel mehr, daß sich der Untote dieser Tatsache bewußt war. In der Regel hatten Untote ihre Persönlichkeit vergessen. Dieser eine schien jedoch eine Ausnahme zu sein, in ihm war noch etwas von seiner eigenen Persönlichkeit. »Kehr um, Dragon«. kam es wieder stockend über die Lippen des Untoten; in seinem sonst ausdruckslosen Gesicht zuckte ein Nerv, und Dragon glaubte, es wieder in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Welche Anstrengung mußte es Eben Emal kosten, sich gegen den Willen seines Herrn und Meisters Cnossos aufzulehnen! »Warum rätst du mir umzukehren, Eben Emal?« fragte Dragon und packte den Untoten an der Schulter. »Nimm all deine Kraft zusammen und antworte mir.« Der Untote machte ein gequältes Gesicht – ja, Dragon war ganz sicher, daß sich in seinem maskenhaften Schädel seine innere Qual widerspiegelte. »Nicht ... nach Alesch reiten«, brachte Eben Emal mühsam hervor. »Dein Schicksal wäre sonst besiegelt ... Dir soll es ergehen ... wie mir ...« »Ich soll in Alesch zu einem Untoten gemacht werden?« fragte Dragon schaudernd, und als dies Eben Emal durch ein Kopfnicken bestätigte, fuhr er fort: »Wenn du das weißt, ist dir vielleicht auch bekannt,
was aus meinem Sohn geworden ist, Eben Emal.« Wieder nickte der Untote. »Wie geht es ihm? Hast du ihn gesehen? Wo ist mein Sohn?« fragte Dragon drängend. Er sprach schnell, gehetzt, weil er fürchtete, daß Cnossos jeden Augenblick wieder die Oberhand über Eben Emal bekommen konnte. »Dein Kind ... in guten Händen ... Arischa behütet es ... Aber du ... reite nicht nach Alesch!« Ein Schauer durchrann den Körper des Untoten, dann schwand wieder alles Leben aus seinem Gesicht und seinen Augen. Cnossos hatte ihn wieder voll in seiner Gewalt. Dragon mußte schließlich einsehen, daß er von Eben Emal nichts mehr herausbekommen würde. »Wir haben sie besiegt.« Dragon schreckte bei diesen Worten aus seinen Gedanken. Er sah das blutverschmierte, aber grinsende Gesicht Hegons vor sich. »Kein einziger von ihnen ist entkommen«, berichtete Hegon weiter. »Meine Leute haben die beiden flüchtenden außerhalb der Oase eingeholt und erschlagen. Jetzt brauchen wir nicht zu befürchten, daß die Wüstenfuchse vor uns gewarnt werden und daß der ganze Stamm auf uns Jagd macht.« »Trotzdem können wir unser Lager hier nicht
aufschlagen, Hegon«, meinte Dragon. »Denn wenn die Unterhändler nicht zurückkommen, wird Abbal Kim seine Krieger ausschicken, um nachzusehen, was hier vorgefallen ist. Wir müssen schleunigst von hier verschwinden.« »Das meine ich auch«, stimmte Hegon zu. »Ich werde alles zum sofortigen Aufbruch veranlassen.« Dragon sah, wie die Bewohner von Bababo aus ihren Hütten kamen. Iwa war unter ihnen; sie machte sich sofort daran, die Verwundungen der Männer zu behandeln. Nabib nahm es grollend zur Kenntnis, daß sie sich zu allererst um Hegon kümmerte ... Der Händler kam zu Dragon und merkte sofort, daß etwas mit ihm nicht stimmte. »Warum so nachdenklich, Dragon?« fragte er. Dragon berichtete ihm, was er von Eben Emal gehört hatte. »Und was wirst du tun?« wollte Nabib wissen. »Da ich über Cnossos‘ Absichten Bescheid weiß, wird es mir leichter sein, sie zu durchkreuzen«, erklärte Dragon. »Wichtiger ist für mich allerdings die Gewißheit, daß Atlantor in Alesch ist. Wir werden sofort zur Stadt aufbrechen und versuchen, ihn zu befreien.« Osmail, der Dorfälteste von Bababo, konnte nicht aufatmen, als der Kampf zu Ende war und die Krieger
Abbals Kim geschlagen. Er sah nur bestätigt, was er seit dem Augenblick wußte, da der Namenlose in ihre Oase gekommen war. Diese Welt war verderbt, und selbst die Guten, die in ihr lebten, waren nicht ohne Schuld. Sie konnten das Böse nur ausmerzen, indem sie es mit der Waffe bekämpften – auch ihre Hände waren voll Blut. »Was wird nun aus euch werden?« fragte der Fremde, der sich Dragon nannte und das Leben der Bewohner von Bababo mit der Waffe verteidigt hatte. Seine Absichten waren bestimmt die besten, aber er hatte das Schicksal von Osmails Leuten nicht zum Guten wenden, sondern die Gefahr für sie nur aufschieben können. Abbal Kims Krieger würden wiederkommen. »Wir werden Bababo ebenfalls noch in dieser Nacht verlassen«, sagte Osmail. »Wohin wollt ihr gehen?« fragte Dragon. »Wenn ihr euch nach Westen wendet, dann werden wir euch ein Stück Weges begleiten und euch beschützen.« Osmail wußte dieses Angebot zu schätzen, aber er wollte nicht, daß die Fremden noch mehr Blut für sie vergossen. »Ich sehe, daß Ihr es eilig habt«, sagte Osmail. Zieht also Eures Weges und kümmert Euch nicht mehr um uns. Wir werden auch ohne Waffengewalt an unser Ziel gelangen, denn der Friedensbringer ist mit uns.«
»Wißt ihr denn überhaupt, wohin ihr euch wenden sollt?« fragte Dragon, der aufrichtig um die Sicherheit der Bewohner von Bababo besorgt schien. »Der Friedensbringer hat uns ein Paradies versprochen«, sagte Osmail. »Er sagte, daß wir das Tal der Stille aufsuchen sollen, wo das Paradies auf uns wartet. Also werden wir dorthinziehen.« Wenig später waren die sechzehn Reiter in Richtung Westen verschwunden. Osmail hatte gehört, daß sie nicht in gerader Linie nach Alesch reiten wollten, weil sie dort Abbal Kims Heerlager vermuteten, sondern diesem in einem weiten Bogen auszuweichen versuchten. »Brüder und Schwestern, packt eure Habe auf die Lasttiere, damit wir uns auf den Weg zum Paradies machen können«, verkündete Osmail. Während die Frauen und die Alten zum Aufbruch rüsteten, schaufelten die jüngeren Männer Gräber für die einundzwanzig Toten. Dann – der Mond hatte noch keinen weiten Weg am Himmel zurückgelegt – zogen die Bewohner von Bababo in einer langen Karawane aus der Oase. Osmail war als einziger am Brunnen zurückgeblieben. Er wollte noch in Gedanken bei den Seelen der im Kampf gefallenen Wüstenfüchse sein, die ja seine Brüder waren, und versprach, der Karawane bald zu folgen. Da tauchten plötzlich acht in zerschlissene und
verstaubte Kutten gekleidete Gestalten auf. Osmail bestieg sein Kamel und sah ihnen gelassen entgegen. Als sie ihn fast erreicht hatten und fünf Schritte vor ihm stehenblieben, erkannte er, daß es sich um fünf Männer und drei Frauen handelte. »Ist das Bababo, die letzte grüne Insel vor Alesch?« fragte einer der Männer. »Jawohl, Fremder«, antwortete Osmail. »Aber warum ist die Oase verlassen, wo sind die vielen Menschen, die hier leben?« »Sie sind auf dem Weg zum Paradies«, antwortete Osmail schlicht. »Dann rufe sie zurück«, beschwor ihn der Fremde. »Mein Name ist Gun Umbar, und ich schwöre dir bei der Ehre meiner Väter, daß dereinst hier, in Bababo, das Paradies sein wird. Schon morgen kann es soweit sein, denn es wird ein Mann kommen, den sie den Namenlosen nennen und der allen Menschen Glück und Frieden bringt. Geht nicht fort! Bleibt hier, und ihr werdet es nicht bereuen!« »Der Friedensbringer, von dem du wohl sprichst, war schon hier, Gun Umbar«, sagte Osmail. »Wir haben sein Wort vernommen und glauben an seine Botschaft. Deshalb verlassen wir auch diesen Ort des Schreckens und suchen im Tal der Stille das Paradies.« »Er war schon hier?« sagte Gun Umbar ungläubig. Er sank nieder und barg den Kopf in seinen Händen.
»Warum nur strafen mich die Götter und lassen es nicht zu, daß ich seinen Weg kreuze. Wohin ich auch komme, immer ist es für mich zu spät, oder er war schon vor mir da. Ich bin immer nur eine Schrittlänge von ihm entfernt, aber ich hole ihn nie ein.« »Erhebe dich und folge uns mit den Deinen«, sagte Osmail. »Wenn es uns die Götter gewähren, daß wir das Tal der Stille erreichen, dann wirst du dort finden, wonach du gesucht hast.« Ohne ein weiteres Wort trieb Osmail sein Kamel voran und folgte der Karawane. Als er sich umdrehte, sah er, daß sich ihm die acht Pilger angeschlossen hatten.
5.
Gaunth mußte den Mund öffnen, als man ihm die scharfe Klinge eines Dolches zwischen die Lippen schob. Sie drückten ihm einen Holzklotz zwischen die Zähne und stülpten ihm den Helm aus Eisengitter über den Kopf. Die Eisenstange, die der Länge nach durch den Mundklotz getrieben war, wurde an die Stäbe des Kopfkäfigs geschmiedet, und dann zog der Schmied den Halsring zusammen. Zum Schluß wurde der Halsring durch ein Schloß versperrt.
Zwei Hünen zerrten Gaunth an den Handfesseln bis vor das Palasttor hinaus. Dort befreiten sie ihn von den Fesseln und beförderten ihn mit einem Tritt hinaus. Trotz der späten Stunde hatten sich sogleich einige Neugierige eingefunden, und sie bewarfen Gaunth mit Steinen und bedachten ihn mit Schmährufen. Gaunth sprang auf die Beine und rannte davon. Er hielt erst an, als er in eine schmale, dunkle Straße kam, die verlassen und still dalag. Er wollte erst einmal zu Atem kommen und seine Gedanken sammeln. Als man ihm den Kopfkäfig überstülpte, hatte er sich seiner Entfesselungskünste erinnert und den Hals aufgebläht. Das hatte immerhin dazu geführt, daß der Schmied den Halsring nicht zu fest anzog, und Gaunth hatte, wenn er den Hals streckte, einige Bewegungsfreiheit. Vielleicht würde es ihm sogar im Laufe der Zeit gelingen, den Halsring so zu verformen, daß er mit dem Kopf hindurchschlüpfen konnte. Aber da war noch der Mundklotz, der seine Kiefer auseinanderdrückte, daß sie ihn schmerzten, und der mit den Eisenstäben des Kopfkäfigs verbunden war. Ihn mußte er zuerst loswerden, wenn er sich des Kopfkäfigs entledigen wollte. Gaunth erinnerte sich wieder, was Vayga, die Besitzerin der Herberge über die Träger von Kopfkäfigen gesagt hatte: Niemand durfte ihnen
Wasser reichen, und jeder konnte an ihnen sein Mütchen kühlen. Er hatte dies schon zu spüren bekommen, als er auf dem Platz vor dem Palasttor von den Bürgern mit Steinen beworfen worden war. Im Augenblick konnte ihm noch nicht viel widerfahren, denn es war Nacht. Aber wenn der neue Tag graute und sich die Straßen bevölkerten, dann durfte er sich hier nicht blicken lassen, denn sonst wurde er zu Tode gesteinigt. Er mußte ein Versteck finden, wo er tagsüber untertauchen konnte. Und er mußte sich eine Waffe oder eine Eisenstange besorgen, mit deren Hilfe er sich vielleicht von dem Mundklotz befreien konnte. Mit einem Messer könnte er den Holzklotz zerschneiden und mit einem Brecheisen könnte er den Eisenstab verformen, der den Holzklotz hielt. Sein erster Gedanke war, die Herberge aufzusuchen, in der er zusammen mit Mainala abgestiegen war, als sie nach Alesch kamen. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Vayga einem Ausgestoßenen half und ihm Wasser auf die Lippen träufelte. Sie würde auch ihm helfen. Aber als er, nach einem langen Irrgang durch die Stadt, das vertraute Haus mit der Herberge vor sich liegen sah, da zögerte er. Es war nicht recht, die alte
Frau durch sein Erscheinen in Gefahr zu bringen. Wenn ihn zufällig jemand sah, wie er an die Tür der Herberge klopfte und wie er sie betrat, dann wäre Vayga des Todes. Nein, er durfte es nicht tun. Noch war seine Lage nicht so aussichtslos, daß er das Leben Unschuldiger aufs Spiel setzte, um sich zu helfen. Noch plagte ihn nicht der Durst, noch hatte er keinen Hunger. Er mußte zuerst versuchen, aus eigener Kraft einen Ausweg zu suchen. Er zog sich im Schutze einer Hausmauer zurück, bis die Herberge seinem Blick entschwunden war. Er erinnerte sich, auf dem Weg hierher an einem halbverfallenen Gebäude vorbeigekommen zu sein, das unbewohnt sein könnte. Als er hinkam, mußte er feststellen, daß die Fenster in einer Höhe von vier Armspannen lagen und zudem noch vergittert waren. Das Tor aber, das in Höhe des Kellers lag und zu dem Stufen hinunterführten, bestand aus dicken, aber morschen Holzplanken. Zu seinem Entsetzen stellte er noch fest, daß auf das Tor mit schwarzer Farbe ein Totenkopf gemalt war. Vielleicht bedeutete dies, daß in diesem Haus eine Krankheit gewütet und alle Bewohner dahingerafft hatte. Ebensogut konnte der Totenkopf aber auch eine ganz andere Bedeutung haben – jedenfalls war er das Signal für Gefahr.
Gaunth konnte in seiner Lage jedoch nicht wählerisch sein. Der neue Tag dämmerte bereits, und Alesch würde bald zu seinem grausamen Leben erwachen. Welche Gefahren sich hinter dieser Tür auch immer verbargen, Gaunth mußte sie in Kauf nehmen. Er versuchte sich an der Tür. Zu seiner größten Überraschung wurde sie plötzlich von innen aufgerissen. Starke Arme packten ihn und zerrten ihn in die Dunkelheit.
»Ihr Götter!« entfuhr es Vayga, als sie Mainala plötzlich in der Küche stehen sah. »Wie seid Ihr hereingekommen! Und wo wart Ihr die ganze Zeit über?« »Die Hintertür war offen ...«, sagte Mainala. »Ich war im Palast gefangen und konnte fliehen. Ihr müßt mich bei Euch aufnehmen, Vayga, ich wußte nicht, wo ich mich mit dem Kind sonst verstecken könnte.« »Ihr seid geflohen?« wiederholte Vayga. »Fharapha stehe mir bei! Und woher habt Ihr das Kind?« Vayga nahm Mainala das Bündel aus der Hand und legte das unter Tüchern verborgene Gesicht des Kindes frei. Es schlief immer noch unter der Wirkung des Traumpulvers. »Eine Sklavin, die sich mit mir verbündet hat und mir zur Flucht verhalf, gab das Kind in meine Obhut«,
antwortete Mainala. »Sie heißt Arischa!« »Das geht mich nichts an«, unterbrach Vayga sie. »Doch, Vayga«, sagte Mainala, »denn Arischa wird mich bei Euch aufsuchen.« Vayga, die das Kleinkind betrachtet hatte, blickte erschrocken auf. »Mit geflohenen Sklaven will ich nichts zu tun haben«, sagte sie bestimmt. »Es könnte mich den Kopf kosten. Wie kommt Ihr überhaupt dazu, der Sklavin meinen Namen zu nennen?« »Ich weiß, daß Ihr ein gutes Herz habt, Vayga«, sagte Mainala. »Denn ich sah, wie ihr einem Verdammten Wasser gabt ...« In Vaygas Augen blitzte es zornig auf, aber sie schwieg. Statt wütend aufzubrausen, sagte sie: »Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, weil Ihr mich nicht verraten habt. Also will ich Euch Unterschlupf gewähren. Aber nur für diese eine Nacht, dann müßt Ihr sehen, daß Ihr woanders unterkommt. Geht auf Euer Zimmer, ich habe es freigehalten. Aber achtet darauf, daß Euch niemand sieht. Ich muß mich jetzt um meine Gäste kümmern.« Mainala begab sich auf das Zimmer, in dem sie mit Gaunth abgestiegen war. Sie hatten hier nicht einmal eine einzige Nacht verbracht, denn man hatte sie bald nach ihrer Ankunft in den Palast geholt. Was war seit damals alles geschehen. Mainala
sehnte sich nach Gaunth ... Würde sie ihn jemals wiedersehen? Sie lenkte sich damit ab, daß sie sich mit dem Neugeborenen beschäftigte. Sie wickelte ihn aus den nassen Tüchern, holte aus ihren Sachen einen weißen Umhang, den sie in Streifen riß und dem Knäbchen unterlegte. Es war ein liebliches Kind ... wem es wohl gehören mochte? Es verging einige Zeit, dann kam Vayga auf ihr Zimmer und brachte ihr etwas zu essen und Milch für das Kind. »Danke, Vayga«, sagte Mainala und hielt die Alte am Arm zurück. »Ihr dürft nicht glauben, daß ich Euch drohen wollte, als ich vorhin den Verdammten erwähnte, dem Ihr zu trinken gabt. Es ist nur ... ich bin so verzweifelt ...« »Schon gut«, sagte Vayga. »Ich tue gern für Euch, was ich kann ... Und wenn es Euch interessiert – der Mann mit dem Kopfkäfig war mein Sohn.« Vayga ging. Mainala blieb allein mit dem Kind. Die Zeit verging. Mainala war müde, aber sie konnte nicht schlafen. Immer, wenn sie ein Geräusch vernahm, zuckte sie erschrocken hoch. Sie dachte, die Schergen El Habeks kämen, um sie zu holen. Da klopfte es zaghaft an der Tür. Mainala hielt den Atem an und wagte sich nicht zu
rühren. Die Tür ging langsam auf ... und Arischa kam in den Raum. Mainala war so erleichtert, daß sie der Sklavin in die Arme fiel und vor Freude weinte. Arischa löste sich sanft von ihr. »Die Alte bangt um ihren Kopf«, sagte sie. »In ihrer Angst könnte sie sich verraten, falls die Krieger in der Herberge nach uns suchen. Wir können nicht länger als diese Nacht hierbleiben, dann müssen wir uns einen anderen Unterschlupf suchen.« Jetzt, da Arischa wieder da war, konnte Mainala endlich einschlafen. Aber das Schreien des Kindes weckte sie bald darauf. Vor dem Fenster war es immer noch dunkel. Arischa saß davor, wiegte den Kleinen und flößte ihm Milch ein. »Ich befürchtete schon, daß ich ihm zuviel Traumpulverdämpfe einatmen ließ«, sagte Arischa. »Aber jetzt ist er endlich zu sich gekommen.« Mainala ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Der Himmel war schon heller geworden, und der neue Tag war nicht mehr fern. Sie stand lange da und starrte hinaus. Da sah sie auf der Straße eine Bewegung und zuckte zurück. Ein Mann mit einem Kopfkäfig war dort aufgetaucht ... »Leg dich wieder hin, Mainala«, sagte Arischa. »Und du?« fragte Mainala. »Ich werde am Tag zu schlafen versuchen. Wir dürfen uns ohnehin nicht aus dem Haus wagen.
Eisenhand wird nach uns suchen lassen.« Mainala legte sich wieder hin und war bald darauf vor Erschöpfung eingeschlafen. Wieder wurde sie durch Lärm geweckt. Von der Straße drang Hufgetrappel zu ihnen herauf, und dann erschien ein Trommler. Die Läden der Häuser wurden aufgerissen, schlaftrunkene Bürger erschienen darin. Die Reiter waren abgesessen und stellten sich vor den Eingängen der Häuser auf. Sie trugen auf ihren Brustpanzern das Zeichen von El Habeks Kriegern, und auch ihre Helme waren mit dem geteilten Wasserstrahl und dem Totenkopf geschmückt. Der Trommelwirbel verstummte, einer der Krieger entrollte ein Leder und verkündete: »El Habek, der gütige und allmächtige Wasserspender, hat verfügt, daß alle Kinder bis zum Alter eines Sommers zu ihm in den Palast gebracht werden sollen. Er will, daß den jüngsten Bürgern von Alesch schon jetzt die Weihen des Wassergottes zuteil werden, damit sie für ihr späteres Leben gegen die Einflüsse anderer Götter gefeit sind. Alle Mütter werden aufgefordert, ihre Neugeborenen bis Einjährigen den Abgesandten El Habeks auszuhändigen. Wer sich den Befehlen unseres allmächtigen Wasserspenders widersetzt, seine Kinder, die im erwähnten Alter sind, versteckt oder Beihilfe zu einer solchen Tat leistet, macht sich vor dem Gott allen
Wassers strafbar ...« Arischa und Mainala sahen einander entsetzt an. »Das hat El Habek nur veranlaßt, um sich Ebenors zu bemächtigen«, sagte Arischa. »Was sollen wir nun tun?« fragte Mainala verzweifelt. »Wir können nur warten und hoffen, daß sie in der Herberge nicht nach einem Kind suchen werden«, sagte Arischa und holte den Dolch hervor, mit dem sie den Hohenpriester des Wassergottes erstochen hatte. »Wenn man uns dennoch findet, ist es wohl besser, daß sie uns nicht lebend zu fassen kriegen.« Mainala schrie auf, als die Tür aufgestoßen wurde. Aber es war nur Vayga, die hereingestürzt kam. Sie hatte das wächserne Gesicht einer Mumie. »Ich wußte, daß mich meine Großherzigkeit noch um den Kopf bringt«, sagte sie. »Ihr müßt sofort das Zimmer verlassen, sonst sind wir alle verloren. Hüllt das Kind in Decken und seht zu, daß es nicht schreit.« »Aber – wohin sollen wir?« fragte Mainala. »Folgt mir!« Vayga ging voran, den Gang entlang und die Treppe hinunter. Als sie unten angelangt war, bedeutete sie den beiden Frauen stehenzubleiben, blickte vorsichtig in die Schankstube, bevor sie auf die Tür zum Keller zustrebte. »Kommt schon! Macht schnell! El Habeks Schergen
können jeden Augenblick in die Schankstube kommen.« Arischa, die Ebenor fest an sich drückte und ihm beruhigende Laute zuflüsterte, folgte Vayga als erste in den Keller. Die Besitzerin der Herberge hatte eine Öllampe von der Wand genommen und leuchtete ihnen den Weg. Sie kamen in das Kellergewölbe, das angefüllt war mit Wasserfässern. Von der Decke baumelten Keulen getrockneten Fleisches. Vayga macht erst halt, als sie vor einer Wand aus massiven Steinblöcken stand. Mit dem Knöchel klopfte sie in einem bestimmten Takt gegen einen besonders großen Stein, worauf sich dieser bewegte. Arischa und Mainala sahen überrascht, daß der Steinquader nach innen verschwand und eine Öffnung freigab. Darin erschien der Kopf eines Mannes mit einem Käfig aus Eisenstäben. Der Holzklotz, der ihm den Mund verschlossen hatte, fehlte jedoch, und nur noch der querliegende Eisenstab war zwischen seinen Zähnen. Als der Verdammte die beiden fremden Mädchen sah, zuckte er zurück. »Ich bringe dir Besuch, Abnad«, sagte Vayga, und zu Arischa und Mainala sagte sie: »Klettert zu meinem Sohn in das Versteck. Es ist genügend Platz für euch alle darin.« Arischa und Mainala kamen der Aufforderung nach.
Der Mann mit dem Kopfkäfig kicherte lüstern, als sich der warme Körper des einen Mädchens an ihn preßte. Er hob den großen Stein fast mühelos auf und schob ihn wieder in die Öffnung zurück. »Ist ausgehöhlt«, sagte er dabei. »Ein gutes Versteck. Hier kann ich bleiben, bis sich jemand findet, der mich von meinem Käfig befreit. Mit euch beiden wird es noch gemütlicher werden.« Er lispelte, weil der Eisenstab ihn beim Sprechen behinderte. »Warum gibt es hier kein Licht?« fragte Mainala fröstelnd und drückte sich eng gegen die feuchte Wand, als sie eine Hand auf ihrem Schenkel spürte. »Die Luft reicht gerade zum Atmen«, sagte Abnad heiser. »Aber wozu braucht ihr Licht? Ich werde mich mit euch beiden auch im Dunkeln zurechtfinden.« »Finger weg!« zischte Arischa. Sie zückte ihren Dolch und stieß ihn nach Abnads Hand. Dieser heulte vor Schmerz auf, als die Klinge durch seinen Handrücken schnitt. »Verdammte Weibsdämonen«, jammerte Abnad. »Was habt ihr hier denn zu suchen, wenn ihr euch gegen mich sträubt!« »Wir müssen uns, wie du, verstecken«, sagte Arischa. »Und wenn du nicht vergißt, wie man sich anständigen Frauen gegenüber zu benehmen hat, dann können wir ganz gut miteinander auskommen.«
Gaunth wurde zu Boden geschleudert. Schläge prasselten auf seinen Körper, und jemand schrie gedämpft auf, als er mit der bloßen Faust seinen Kopfkäfig traf. Gaunth hatte keine Gelegenheit zur Gegenwehr, denn er schien es mit einem halben Dutzend Gegnern zu tun zu haben, die sich alle gleichzeitig auf ihn stürzten. Er konnte weder Arme noch Beine bewegen, weil schwere Körper auf ihnen lasteten und sie zu Boden drückten. Er wurde auf den Rücken gedreht, und dann flammte eine Öllampe auf. In ihrem Licht sah er sieben zerlumpte Gestalten, die einen furchterregenden Anblick boten. Drei waren Aussätzige, einem fehlten die Finger der rechten Hand, einer hatte einen Eisenring um den Hals, der von einem Kopfkäfig zu stammen schien, ein anderer hatte ein schrecklich entstelltes Gesicht – sein Unterkiefer stand seitlich ab, der zernarbte Mund war eine formlose Öffnung mit einigen Zahnlücken. »Ein Verdammter«, sagte der Mann mit der Öllampe. Er schien als einziger makellos zu sein – zumindest war weder sein Gesicht entstellt, noch fehlte ihm auch nur ein einziges Fingerglied. Wenn er dennoch einen nicht besonders guten Eindruck auf Gaunth machte, dann deshalb, weil er von Natur aus
häßlich war. Seine Gesichtszüge waren von Grausamkeit geprägt, aus seinen Augen sprach Verschlagenheit und Hinterlist. »Was sollen wir mit ihm machen?« fragte einer der Aussätzigen und spuckte Gaunth an. »Durchsucht ihn«, befahl der Anführer. Gaunth mußte es mit sich geschehen lassen, daß ihn die Diebe ziemlich schmerzvoll durchsuchten. »Er hat nichts bei sich, Ebbel«, stellte der mit der verstümmelten Rechten schließlich enttäuscht fest. Ebbel hielt Gaunth die Flamme der Öllampe nahe ans Gesicht, bis er die Hitze spürte. »Du hast diesen Kopfschmuck wohl noch nicht lange?« sagte er; es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Gaunth nickte. »Möchtest du den Kopfkäfig loswerden?« fragte Ebbel grinsend. Ohne auf ein Zeichen von Gaunth zu warten, fuhr er fort: »Sicher möchtest du das. Ich könnte dir dazu verhelfen. Aber das wäre nicht ganz umsonst. Besitzt du etwas von Wert? Du machst mir den Eindruck eines wohlhabenden Mannes. Hast du irgendwo Besitztümer versteckt?« Gaunth gab einen unartikulierten Laut von sich. »Ja, wenn du sprechen könntest ...«, seufzte Ebbel. Er zuckte die Schultern. »Aber ich glaube nicht, daß dir Eisenhand irgend etwas von Wert gelassen hat. Es ist
sicher besser, wenn wir dich auf die Straße werfen und dich deinem Schicksal überlassen.« Gaunth stieß einige Laute aus. »Das möchtest du wohl nicht?« meinte Ebbel grinsend. »Glaubst du denn, daß du uns von Nutzen sein kannst?« Gaunth nickte heftig. Er versuchte sich aufzubäumen, wurde aber von kräftigen Armen niedergehalten. »Laßt ihn los«, befahl Ebbel. Die Männer gehorchten zögernd. Kaum hatten sie von Gaunth abgelassen, da sprang er auf die Beine und machte einige flinke Handbewegungen und Körperdrehungen, die sinnlos erschienen, aber von den Männern als Feindseligkeiten eingestuft wurden. Sie griffen unwillkürlich zu ihren Dolchen – doch die Hand von einem fuhr ins Leere. »Mein Messer!« sagte der mit der verstümmelten Rechten. Gaunth überreichte es ihm mit dem Griff voran. Einem Aussätzigen gab er ein silbernes Amulett zurück, das er ihm blitzschnell aus der Tasche gefischt hatte. Dem mit dem verrenkten Unterkiefer gab er einen mit Edelsteinen besetzten handtellergroßen Metallspiegel zurück. Den Männern, die selbst mit großer Geschicklichkeit in fremden Taschen fischten, blieb vor Staunen
darüber, daß sie bestohlen worden waren, ohne es zu merken, der Mund offen. Ebbel faßte sich als erster und hieb Gaunth lachend die Hand auf die Schulter. »Ich habe noch keinen tüchtigeren Taschendieb als dich gesehen – und das will etwas heißen. Ich glaube, ich habe Verwendung für dich. Zuerst sollst du aber von deinem Mundklotz befreit werden, damit wir uns unterhalten können.« Sie brachten Gaunth in ein Obergeschoß, dessen vergittertes Fenster den Blick auf die Straße gewährte. Während Gaunth in einem hölzernen Sessel Platz nahm und der mit dem entstellten Gesicht, der Abud genannt wurde, mit dem Messer an seinem Mundklotz zu schneiden begann, erzählte Ebbel einiges über sich. Er war der ungekrönte König der Diebe in Alesch, wann und wo immer etwas in Alesch gestohlen wurde, konnte man sicher sein, daß Ebbel dahintersteckte. Diebe, die sich ihm nicht unterordneten und für die eigene Tasche arbeiten wollten, hatten in dieser Stadt kein langes Leben. Ebbel war so mächtig, daß er selbst von El Habeks Kriegern in Ruhe gelassen wurde. Das hatten sie nie zu bereuen, denn der »König der Diebe« geizte nicht mit Geschenken, und so kam es nicht selten vor, daß Edelleute Ringe und andere Schmuckstücke, die ihnen auf dem Weg durch die Stadt abhanden gekommen
waren, bei einfachen Kriegern oder deren Hetären wiederfanden. Dieses Haus, in dem sich Ebbel niedergelassen hatte, wurde von allen gemieden, weil die einstigen Bewohner vor zwei Sommern in einer einzigen Nacht von einer unbekannten Seuche dahingerafft worden waren. Ebbel sprach es nicht aus, aber er deutete an, daß er die Bewohner vergiftet hatte und die Legende von einem Fluch verbreitet hatte, der angeblich über diesem Haus lag – nur um hier ungestört sein zu können. Abud hatte Gaunths Mundklotz schon fast entfernt, als von der Straße Lärm zu ihnen heraufdrang. Ebbel sah durch das Fenster, wie berittene Palastwachen erschienen und in die Häuser stürmten. Sie kamen bald mit kleinen Kindern in den Armen zurück, die sie auf einen Wagen luden. Es hob ein furchtbares Gezeter der um ihre Kinder bangenden Mütter an, und die Krieger hatten alle Hände voll zu tun, die Frauen zurückzudrängen, die den Wagen umringten. Einer von Ebbels Männern, der sich unter die Menge gemischt hatte, weil er sich in dem Tumult leichte Beute erhofft hatte, kam keuchend hereingestürzt. »Ebbel, wir müssen verschwinden«, sagte er atemlos. »Die Soldaten haben den Befehl, alle Häuser zu durchsuchen. Einer von der Palastwache, den ich gut kenne, hat mir zugeflüstert, daß sie auch vor unserem
Unterschlupf nicht haltmachen werden.« »Bringt Gaunth ins Kellergewölbe«, befahl Ebbel ruhig. »Eshan soll ihn sofort von seinem Kopfkäfig befreien. Ich werde inzwischen mit den Palastwachen verhandeln.« Abud, der inzwischen die letzten Holzreste von Gaunths Mundklotz entfernt hatte, bedeutete diesem, mit ihm zu kommen. Sie rannten über die breite Treppe ins Erdgeschoß hinunter und dann weiter über eine Wendeltreppe in den Keller. Bevor sie in das von Fackeln erhellte Gewölbe eindrangen, hielt Gaunth Abud an und fragte ihn: »Wie will man mich von meinem Kopfkäfig befreien?« »So wie mich«, antwortete Abud mit kaum verständlicher Stimme. »Damals mußte auch alles schnell gehen, und Eshan sprengte mir mit einem Brecheisen den Käfig einfach vom Kopf. Deshalb ist mein Gesicht so entstellt. Aber ein zerschmetterter Kiefer ist immer noch besser, als mit dem Kopfkäfig zu verrecken, findest du nicht auch?« Gaunth fand das nicht. Er nahm Abud blitzschnell den Dolch ab und setzte ihn ihm an die Kehle. »Keinen Laut, oder ich werde dich töten!« drohte er ihm. »Gibt es aus diesem Gewölbe noch einen zweiten Ausgang?« »Sicher«, bestätigte Abud. »Durch diesen werden
wir dich hinausbringen, wenn Eshan dich von deinem Käfig befreit hat ...« »Darauf kann ich verzichten«, sagte Gaunth, der durch den eisernen Mundstab beim Sprechen behindert wurde. »Du wirst mich sofort zum Ausgang bringen. Und keine Dummheiten, Abud. Ich kann mit Messern verdammt gut umgehen.« »Ich werde tun, was du verlangst, Gaunth«, versicherte Abud eingeschüchtert. Er wandte sich nach links in einen unbeleuchteten Gang. »Wohin führt dieser Weg?« fragte Gaunth. »Zu dem geheimen Ausgang«, antwortete Abud. Gaunth packte ihn von hinten an der Schulter und setzte ihm das Messer an den Rücken. So bewegten sie sich durch die Dunkelheit. »Ich hoffe für dich, daß du die Wahrheit sagst, Abud«, sagte Gaunth. »Wenn du mich in eine Falle lockst, dann sorge ich dafür, daß du niemanden mehr betrügen kannst.« Sie kamen nur langsam voran, weil Gaunth ständig mit Abud in Berührung bleiben wollte, um notfalls seine Drohung wahrmachen zu können. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, daß sie den dunklen Gang betraten, und Abud versicherte, daß sie noch lange nicht am Ziel waren. »Wo befindet sich der Ausgang?« wollte Gaunth wieder wissen.
»Im Park eines prächtigen Herrschaftspalasts«, antwortete Abud. Er kicherte. »Ebbel führt ein Doppelleben, mußt du wissen. Er ist nicht nur der König der Diebe, als den du ihn kennst. Er führt auch das Leben eines Edelmannes, der am Hofe El Habeks ein gern gesehener Gast ist und die Feste des Statthalters durch seinen Einfallsreichtum zu unvergeßlichen Erlebnissen werden läßt ...« »Genug!« unterbrach Gaunth ihn. Er überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Wenn Abud die Wahrheit sprach und dieser Gang in den Palast Ebbels führte, dann kam er von einer Gefahr in eine andere, denn Abud würde ihn bei der ersten Gelegenheit verraten und ihn von den Wachen gefangennehmen lassen. Wenn er das verhindern wollte, mußte er sich Abuds entledigen. Nur so konnte es ihm gelingen, unbemerkt aus Ebbels Palast zu entfliehen. »Wir sind da!« ertönte Abuds entstellte Stimme. Gleichzeitig versuchte er, sich Gaunths Griff zu entwinden, was ihm auch gelang. Doch Gaunth handelte blitzschnell. Er hatte ein gutes Gehör und hörte an den Geräuschen, die Abud verursachte, in welcher Richtung er sich aufhielt. Gaunth nahm das Messer mit Daumen und Zeigefinger an der Klinge und schleuderte es. Es durchschnitt pfeifend die Luft und bohrte sich in etwas Weiches. Ein Röcheln und der Fall eines Körpers zeigte Gaunth an,
daß er sein Ziel getroffen hatte. Er nahm das Messer wieder an sich und zerrte Abuds leblosen Körper in eine Nische, wo er nicht sofort entdeckt werden würde. Dann setzte er seinen Weg durch die Dunkelheit fort. Schon nach wenigen Schritten stieß er gegen ein Hindernis. Er tastete es mit den Händen ab und stellte fest, daß es sich um eine eisenbeschlagene Holztür handelte, die keinen Riegel besaß und auch nicht versperrt war, denn als er den Griff niederdrückte, schwang sie knarrend und nach innen auf. Vor ihm war eine schmale Treppe, die gewunden nach oben führte. Sie wurde von einer kleinen Öllampe gerade so weit erhellt, daß man den Weg erkennen konnte. Er lauschte und glaubte, weit entfernte Geräusche zu hören. Langsam und vorsichtig schlich er den Stiegengang hinauf, das Messer stoßbereit in der Hand. Nach der zweiten Kehre war die Treppe zu Ende. Er stand wieder vor einer Tür, die nicht versperrt war. Diese besaß jedoch ein vergittertes Guckloch in Augenhöhe. Als er vorsichtig hindurchspähte, blickte er in einen prächtigen Garten. Nichts regte sich, nur das Singen von Vögeln war zu hören. Gaunth öffnete die Tür einen Spaltbreit und wagte sich vorsichtig hindurch. Gerade als er den Kopf über
den Mauervorsprung hinausstreckte, um das dahinter liegende Gelände einsehen zu können, senkte sich ein Schatten über ihn. Gaunth wich zu spät zurück, und etwas schlug mit ungeheurer Wucht auf seinen Schädel. Wären die Eisenstäbe des Kopfkäfigs nicht gewesen, die den Schlag milderten, der furchtbare Schlag hätte ihm die Schädeldecke zertrümmert. So raubte ihm die Erschütterung nur das Bewußtsein.
6.
Gaunth war, als liege er in dem Hochzeitszelt am Grünen Strom. Das Lager unter ihm war weich, auf seinen Gliedern lastete wohlige Müdigkeit. Der einschmeichelnde Klang eines Saiteninstruments drang an sein Ohr und ließ ihn selig lächeln. Mainala spielte für ihn, sie summte dabei das Lied ihrer Liebe. Gaunth bewegte den Kopf, und das brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Sein Schädel schmerzte bei jeder Bewegung, aber durch das dumpfe Pochen war immer noch das Zupfen der Saiten zu hören. Seine Hände tasteten über weiche Seide ... Also war doch nicht alles nur ein Traum.
Er bewegte wieder den Kopf und verursachte dabei ein Klirren, wie wenn Eisen auf Eisen traf. Sein Kopfkäfig! Er öffnete die Augen und sah die Gitterstäbe vor sich, wie wenn er aus einem Kerker blickte. Aber hinter dem Eisengitter spannte sich ein faltenwerfender Baldachin aus kostbarer, durchscheinender Seide. Und wieso lag sein Haupt nicht auf dem harten Eisen seines Kopfkäfigs auf? Er tastete mit der Hand hinter sich und stellte fest, daß ihm jemand ein weiches Kissen untergeschoben hatte. Langsam richtete er sich auf. Durch den Baldachin sah er einen vornehm eingerichteten Raum, der etwas von einem Frauengemach an sich hatte. Er ließ seinen Blick schweifen, und dann fiel er auf die Frau, die mit feingliedrigen Fingern in die Saiten eines Instrumentes griff. Sie schien noch nicht bemerkt zu haben, daß er erwacht war, denn sie hatte die Augen halb geschlossen, den Kopf leicht geneigt. Sie trug ein kostbares Gewand, das sich in weich fallenden Falten um ihre schlanke Gestalt schmiegte; ihr Haar war dunkel, und der Glanz des Haares wetteiferte mit dem Funkeln ihrer edelsteinbesetzten Haarnadeln. Gaunth schob behutsam den Seidenvorhang zur Seite und schwang langsam die Beine aus dem Bett, damit er die Frau nicht erschreckte. Sie hätte wohl
immer noch nicht bemerkt, daß er wach war, wenn das Eisen seines Kopfkäfigs nicht geklirrt hätte. Ihre Hände erstarrten mitten im Saitenspiel, ihr Kopf hob sich, und ihre großen Mandelaugen blickten ihn an. Sie zeigte ihm ein Lächeln, es wirkte huldvoll, aber gleichzeitig auch unendlich traurig. »Wer bist du, schönes Kind?« fragte Gaunth. »Und wie komme ich dazu, deine Gesellschaft genießen zu dürfen?« Sie legte das Saiteninstrument weg, legte die zierlichen Hände in den Schoß und blickte wehmütig ins Leere. »Ich heiße Lesha«, sagte sie mit weicher Stimme und so leise, als spreche sie zu sich selbst. »Ich lebe in einem märchenhaft schönen Palast, mir liegen unzählige Diener zu Füßen, und ebenso viele Krieger verteidigen meine Ehre. Doch meine Welt endet an den Palastmauern – ich bin in ihnen gefangen.« Sie hielt inne, und Gaunth dachte, daß sie nun schweigen würde. Aber sie richtete den Blick auf ihn, ließ ihre großen, sanften Augen über ihn gleiten und fuhr nach kurzer Pause fort: »Einer meiner Wächter sah dich aus dem Verbotenen Turm kommen und schlug dich nieder. Er hätte dich wohl auf die Straße gesetzt und dich der Grausamkeit der Bürger ausgeliefert, wenn ich nicht in diesem Augenblick durch den Park gekommen wäre.
Ich hatte Mitleid mit dir ... Nein, es war nicht nur Mitleid, denn ich habe schon viele Verdammte in ihren Kopfkäfigen verhungern und verdursten gesehen, ohne Mitleid mit ihnen zu haben. Als ich dich sah, da wußte ich sofort, daß du nicht einer von diesen Wasserdieben und Brunnenvergiftern bist, wie sie in Alesch Tag für Tag bestraft werden. Ich blickte in dein Gesicht, und mir war, als sehe ich mich darin wie in einem Spiegel – und ich wußte, daß es dir ähnlich wie mir ergangen sein muß. Auch ich bin unschuldig gefangen, nur trage ich mein Gefängnis nicht mit mir. Mein Käfig ist dieser Palast ...« Gaunth hatte ihren Worten ergriffen gelauscht. Plötzlich sprang er von dem Bett auf, ging zu der unbekannten Schönen, kniete vor ihr nieder und ergriff ihre Hand. »Ich danke dir, Lesha, daß du dich meiner erbarmtest«, sagte er. »Du hast mich vor dem sicheren Tod bewahrt. Doch begibst du dich damit nicht in große Gefahr? Wenn Ebbel erfahrt, daß du einen Verdammten beschützt ...« Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. »Du weißt, daß Ebbel der Herr dieses Palastes ist?« »Einer seiner Diebe hat es mir verraten. Aber ich hätte mir nicht träumen lassen, daß er eine so hübsche Gefangene besitzt.« »Er besitzt meinen Körper, aber nicht mich«, sagte
Lesha, und ein bitterer Zug kam um ihre Mundwinkel, ihre Augen sprühten vor Haß. Wieder erinnerte ihn das Mädchen an Mainala. Auch sie hätte sich in einer solchen Lage genau so verhalten. »Ebbel kann sich meine Liebe nicht erkaufen«, sagte Lesha. »Er legt mir all seine Reichtümer zu Füßen, umgibt mich mit Sklaven und Kriegern, die mir die Wünsche von den Augen ablesen und mein Leben bewachen wie die Tränen des Wassergotts. Aber wehe, wenn ich mich dem Palasttor nähere, dann gehorchen sie Ebbels Wort und scheuchen mich in den Park zurück. Ich bin in diesem goldenen Käfig gefangen.« »Wenn Ebbel mich bei dir findet. Lesha ...« Sie winkte mit einem leisen Lächeln ab. »Er wird nicht erfahren, daß ich dich bei mir aufgenommen habe. Er kommt nur selten hierher, die meiste Zeit treibt er sich mit seinem Gesindel herum. Er kümmert sich kaum um den Palast und sucht mich nur auf, wenn er seine Begierde nicht mehr zügeln kann. Die meisten der Wachen sind mir treu ergeben, wenngleich sie es nicht wagen würden, mich das Palasttor durchschreiten zu lassen. Aber innerhalb der Mauern habe ich alle Freiheiten ... Niemand wird Ebbel verraten, daß ich einen Verdammten beschütze ... O, verzeihe mir dieses Wort, aber ich kenne noch immer nicht deinen Namen und weiß nicht, wer du bist.«
»Ich heiße Gaunth und bin ein Gaukler«, sagte er. Dann erzählte er Lesha, wie er mit Mainala nach Alesch gekommen war und wie sie zu El Habek in den Palast geladen worden waren, wo Mainala ihren Trommeltanz vorführen sollte – wie es dazu kam, daß Mainala von ihm getrennt und er in den Kerker geworfen wurde, ihre Flucht und seine grausame Bestrafung. Lesha griff durch seinen Kopfkäfig und strich ihm mit den Fingerspitzen sanft über die Lippen. »Wenn du von deiner Mainala sprichst, dann kommt ein eigener Glanz in deine Augen«, sagte sie wehmutig. »Du mußt sie sehr lieben. Ob ich es wohl kann, dich deine Liebe für einige Stunden vergessen zu lassen?« Lesha konnte. Ihre Umarmung war so zärtlich wie die Berührung eines Schmetterlings, ihre Sehnsucht war die einer Blüte, die sich für den Sonnenstrahl öffnet, in ihrer Hingabe kannte sie keine Schranken, ihre Leidenschaft brannte wie das Ewige Feuer und brachte ihn auf einem Höhenflug bis in den Himmel hinauf. Gaunth war Lesha verfallen, ohne es zu merken. Die Stunden des Tages verrannen im Fluge, die Nacht kam und brachte eine Brise mit sich, die Geist und Körper kühlte.
»Ich werde dich von deiner Qual befreien, Gaunth«, sagte Lesha. »Folge mir, Geliebter.« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus ihrem Gemach. Sie kamen durch eine weite Halle, in der zwei Eunuchen Wache standen, die bei ihrem Anblick die Augen verdeckten. Als sie über eine breite, mit Statuen aus kostbarem Stein gesäumte Treppe in den Laubengang zu ebener Erde kamen, wandten vorbeikommende Sklaven ehrfürchtig ihre Gesichter ab. Selbst ein Wachtposten, der am Zugang zu den unterirdischen Gewölben mit einer dreizackigen Hellebarde postiert war, blickte weg, als er Leshas ansichtig wurde. »Du siehst, Gaunth«, flüsterte sie ihm zu, »daß niemand im Palast deine Anwesenheit wahrnimmt. Nur einer wird dich ansehen müssen, das ist der Schloßschmied, der dir den Kopfkäfig abnimmt.« Gaunth zögerte auf der Treppe zu den tieferliegenden Gewölben. »Was ist mit dir, Geliebter?« fragte Lesha. »Willst du nicht endlich von deinem Käfig befreit werden?« »Ebbel hat mir das selbst schon einmal angeboten«, sagte Gaunth. »Aber es wäre dabei nicht zu verhindern gewesen, daß mir der Kiefer zerschmettert wird.« Lesha fröstelte. »Armer Gaunth. Schätze dich glücklich, daß du dieser Tortur entronnen bist. Ebbel ist ein Scheusal. Er
hätte dich, ohne dir auch nur einen Kratzer zuzufügen, von dem Käfig befreien können. Aber er wollte dich absichtlich entstellen, damit du kein normales Leben mehr führen könntest und in seiner Diebsgilde bleiben müßtest.« »Und du ...?« »Du wirst sehen, Gaunth, daß du es nicht einmal spürst, wenn der Käfig von dir abfällt.« Sie kamen in eine Waffenkammer. Die Wände waren mit schweren Brustpanzern, Lederwämser, Kettenhemden und Helmen behangen, die alle das Wappen von Alesch trugen. In langen Reihen steckten Dolche und Krummsäbel aller Größen in Holzgestellen, Streitäxte, Lanzen, Hellebarden, Beile, Rundschilde, Pfeile und Bögen waren in großer Zahl vorhanden. Zu seiner grenzenlosen Verblüffung entdeckte Gaunth auch seine beiden Brustgürtel mit den Wurfmessern in einem Regal. Er lief hin und nahm sie fast zärtlich in die Hände. »Wie kommen meine Wurfmesser hierher?« fragte er verblüfft. Lesha zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich handelt es sich um ein Geschenk El Habeks an Ebbel.« Gaunth legte die beiden Gürtel mit den Wurfmessern wieder weg. Aus dem Hintergrund der Waffenkammer war ein kahlköpfiger Hüne getreten,
der Gaunth fast um Haupteslänge überragte und nur mit einem Lederschurz bekleidet war. Sein muskulöser Körper glänzte vor Schweiß und Öl. Gaunth wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Lesha legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du brauchst keine Furcht zu haben, Gaunth«, versicherte sie. »Er wird dich völlig schmerzlos von deinem Käfig befreien.« »Mitkommen«, sagte der Hüne und ging voran. Gaunth und Lesha folgten ihm. Sie kamen in eine Folterkammer. Der Hüne blieb vor einer hölzernen Zwinge stehen und deutete darauf. Gaunth begann zu schwitzen und setzte sich erst in Bewegung, als Lesha ihn sanft anstieß. Er ließ sich vor der Zwinge nieder und legte seinen Kopf zwischen die beiden Holzbacken. Der Hüne schraubte die Zwinge zu, bis Gaunths Kopfkäfig von den Holzbacken festgehalten wurde. Dann ergriff er ein schweres Brecheisen. »Mund auf!« befahl er. Gaunth riß den Mund auf, so weit er konnte. Der Hüne setzte das Eisen an seinem Mundstab an, verkantete es im Gitter des Käfigs und drückte es wie einen Hebel hinunter. Der Mundstab bauschte sich unter der Hebelwirkung aus, und Gaunth spürte tatsächlich überhaupt nichts davon. Als der Hüne das Brecheisen herauszog, konnte Gaunth den Mund
schließen. Lesha war zu ihm gekommen und drückte seine Hände, um ihn zu ermutigen. »Gleich ist alles vorbei, Geliebter«, flüsterte sie. Der Hüne setzte das Brecheisen jetzt am Schloß an. Seine Armmuskeln spannten sich, als er mit aller Kraft das Brecheisen hinunterdrückte. Plötzlich gab es einen Krach, das Schloß barst und flog klirrend davon. Gaunth konnte nicht glauben, daß alles so einfach ging. Er wartete, bis der Hüne die Zwinge lockerte, dann griff er nach seinem Kopfkäfig und hob ihn an: Er konnte ihn mühelos über den Kopf ziehen! Gaunth schleuderte den Käfig fort. Er blickte Lesha lange an, dann wollte er sie in die Arme nehmen. »Nicht hier, Geliebter«, sagte sie heiser. Und sie nahm ihn an der Hand und führte ihn hinauf in ihr Gemach. Der nächste Morgen brachte ein süßes Erwachen. Der Tag verging unter tausend Wonnen, die Nacht kam mit verzauberten Träumen und wurde wieder von süßem Erwachen abgelöst ... Am Morgen des folgenden Tages erwachte Gaunth aus einem Alptraum. Lesha merkte, daß er mißmutig war, doch sie fragte ihn nicht nach Gründen für seine schlechte Laune, sondern wartete geduldig, bis er selbst die Sprache
darauf brachte. »Ich könnte ein Leben in diesem goldenen Käfig auf die Dauer nicht ertragen«, sagte Gaunth. »Du willst mich verlassen«, sagte Lesha. Er nahm sie in die Arme. »Nein, das ist nicht meine Absicht«, versicherte er. »Belüge mich nicht, Gaunth«, sagte sie und wand sich behutsam aus seinem Griff. »Ich habe beobachtet, wie du dich verwandelt hast. Deiner Umarmung fehlt das Feuer, und deine Gedanken sind weit fort von hier. Du bist mit ihnen wohl bei Mainala.« »Meine Gedanken sind in der Freiheit, Lesha«, sagte er und ergriff ihre Hände. »Möchtest du nicht auch kosten, wie die Freiheit schmeckt? Ich will weg von hier, das stimmt. Aber ich will nicht ohne dich gehen.« »Glaubst du, daß du Mainala vergessen könntest, wenn du mit mir fortgehst?« fragte Lesha. »Nein«, mußte er zugeben. »Ich werde sie finden, denn ich glaube zu wissen, wo sie sich versteckt hält, wenn es ihr noch nicht gelungen ist, die Stadt zu verlassen. Aber ich will nicht allein gehen und dich zurücklassen. Komm mit mir, Lesha.« »Und Mainala?« »Ich werde euch beide lieben, ohne einer von euch beiden den Vorzug zu geben. Glaubst du mir das nicht?« Sie küßte ihn sanft.
»Ich glaube dir. Aber ...« »Sag mir deine Bedenken.« Lesha machte eine alles umfassende Bewegung. »Ich habe mich an das Leben im Palast gewöhnt. Ich weiß nicht, ob ich einer Flucht auf dem Rücken eines Kamels durch die Wüste gewachsen bin, Durst und Hunger leiden zu müssen und alle Dinge zu entbehren, die mein Leben geprägt haben.« »Glaubst du nicht, daß dich die Liebe zu mir diesen goldenen Käfig vergessen machen kann?« »O Gaunth!« Sie fiel ihm um den Hals, lachte und schluchzte gleichzeitig. »Ich glaube, du meinst das alles ernst.« »Ich scherze nicht, Lesha. Willst du mit mir kommen?« »Ja, ich glaube dir, daß du auch zwei Frauen glücklich machen kannst, mein Gebieter.« Plötzlich löste sie sich von ihm. Ihr Gesicht wurde nachdenklich. »Wir müssen unsere Flucht gut durchdenken«, sagte sie mit der Miene eines Feldherrn. »Niemand darf etwas davon merken. Es gibt in der Palastmauer einen Nebeneingang, durch den Ebbel die Boten der Diebesgilde einläßt. Diese Tür wird nur von einem Mann bewacht. Traust du dir zu, ihn zu überwältigen, ohne daß er Alarm schlagen kann?« Gaunth grinste.
»Ich brauche dazu nur ein einziges meiner Messer.« »Das werde ich dir im Laufe des Tages besorgen. Aber ich sehe keine Möglichkeit, Reitpferde für unsere Flucht zu beschaffen.« »Das Versteck können wir auch zu Fuß erreichen«, erwiderte Gaunth. »Wenn wir erst einmal in Sicherheit sind, kann uns Vayga Reittiere besorgen. Das wird sie sicherlich für mich tun. Hast du Geld?« »Ich besitze nur zehn Goldstücke und einige Silberlinge, dafür aber wertvollen Schmuck.« »Zehn Goldstücke sind mehr als genug. Damit könnten wir beinahe eine ganze Karawane ausrüsten. Wenn wir jedoch Schmuck gegen Reittiere eintauschen, könntest du dich dadurch verraten. Das lassen wir besser bleiben.« Sie sprachen ihren Plan noch einige Male durch, wobei sich Lesha immer wieder ängstlich vergewissern wollte, daß Gaunths Vertrauter auch wirklich zu trauen war. Doch Gaunth beruhigte sie und erklärte ihr, daß Vayga in seiner Schuld stand, weil er sie nicht verraten hatte, als sie einem Verdammten Wasser gab. Es war beschlossen, daß sie in der kommenden Nacht fliehen würden. Leshas einzige Sorge war, daß Ebbel zufällig auftauchte. Aber da er sich schon seit Tagen nicht hatte blicken lassen, hoffte sie mit einiger Berechtigung, daß er an irgendeinem ausschweifenden Fest teilnahm, das noch über Tage ging.
Gaunth dagegen hatte die berechtigte Hoffnung, daß Mainala und die mit ihr geflohene Sklavin Arischa noch in Freiheit waren. Denn die Palastwachen und die Sklavinnen, die in der Stadt unterwegs waren, wußten zu berichten, daß El Habeks Schergen immer noch die Stadt auf der Suche nach Kleinkindern durchstreiften. Deshalb war er sicher, daß Mainala und die Sklavin mit dem geraubten Kind noch nicht gefunden worden waren. Wenn auch nur eine der beiden El Habeks Männern in die Hände gefallen wäre, hätte sie die andere wahrscheinlich unter der Folter verraten. Die Nacht rückte immer näher. Gegen Mittag stattete Lesha der Waffenkammer einen Besuch ab und brachte Gaunth eines seiner Wurfmesser. Während sie dann ihr gesamtes Geld zusammenkratzte und unauffällige Kapuzenmäntel besorgte, übte sich Gaunth im Messerwerfen. Bald nach Sonnenuntergang war es dann soweit. Sie schlüpften in ihre Kapuzenmäntel und kletterten an den Schlinggewächsen über die Mauer in den Park hinunter. Lesha führte ihn geduckt in jene Richtung der Palastmauer, wo sich das kleine Tor befand. Die Nacht war erfüllt von vielfältigen Geräuschen, so daß ihre Schritte darin untergingen. Einmal blieb Lesha mit ihrem Umhang an einem Dornenbusch hängen und brach einen Ast. Sie verharrten daraufhin einige
Atemzüge lang reglos, doch als weiterhin alles ruhig blieb, schlichen sie weiter. Plötzlich hielt Lesha an und deutete zwischen den großen Blättern einer hochaufragenden Blüte nach vorne. Vor ihnen lag die dreimannshohe Palastmauer im Mondlicht. Das dunkle Viereck darin mußte das kleine Tor sein. Jetzt ertönte ein Rascheln, und eine dunkle Gestalt erschien. Gaunth wippte das Messer zwischen den Fingern. Als der Wachtposten sich herumdrehte und mit dem Gesicht zu ihm stand, schleuderte Gaunth das Messer. Es schoß durch die Luft, blitzte kurz im Mondlicht auf und bohrte sich in der Herzgegend in die Brust des Wächters. Ohne einen Laut von sich zu geben, brach er zusammen. Lesha folgte Gaunth mit ausdruckslosem Gesicht zum Tor. Als sie den Toten erreichte, verhielt sie kurz ihren Schritt. »Du brauchst ihm nicht nachzutrauern«, sagte Gaunth. »Er mußte sterben, weil er dir den Weg in die Freiheit verstellte.« »Er war ein guter Krieger«, sagte Lesha nur, dann folgte sie Gaunth, der den Riegel zurückgeschoben hatte und das Tor vorsichtig öffnete. Er blickte durch den Spalt auf die Straße hinaus, und erst als er sicher war, daß niemand in der Nähe war, trat er ganz ins Freie.
»Vaygas Herberge ist ganz in der Nähe«, raunte er Lesha zu und eilte mit ihr die Straße hinunter. Zu dieser Stunde herrschte viel Betrieb in der Schankstube. Gaunth wagte sich an eines der Fenster heran und spähte hindurch. Durch den Rauch, der in dichten Schwaden zwischen den starken Säulen des Schankraums in der Luft lastete, sah er auch einige Krieger El Habeks, die sich bei Traumwasser mit käuflichen Mädchen unterhielten. Von ihnen drohte keine Gefahr, denn ihre Sinne waren wahrscheinlich bereits so umnebelt, daß sie überhaupt nicht wahrnahmen, was um sie vorging. »Verdecke dein Gesicht, Lesha, damit dich niemand als Frau erkennt«, trug er dem Mädchen an seiner Seite auf, dann betrat er die Schankstube. Ohne sich nach Lesha umzublicken, bahnte sich Gaunth einen Weg durch die torkelnden und grölenden Gestalten nach hinten. Niemand kümmerte sich um sie. Gaunth fand gleich neben dem Gang, der zur Küche und zum Wohnbereich des Hauses führte, einen freien Tisch. »Müssen wir hier bleiben?« fragte Lesha ängstlich. »Nur so lange, bis ich Vayga gesprochen habe«, versicherte Gaunth. Ein noch junges, aber fettes und häßliches Mädchen, das Gaunth vorher noch nie hier gesehen hatte,
erschien und erkundigte sich nach ihren Wünschen. »Sag deiner Herrin, daß sie selbst uns bedienen soll«, verlangte Gaunth. »Aber beeile dich, sonst bekommst du einen Tritt in deine fette Kehrseite!« Das war genau der Ton, der hier herrschte und dem Mädchen Beine machte. Gleich darauf erschien Vayga; sie wirkte müde und abgespannt. Gaunth schob sich die Kapuze aus dem Gesicht, aber sie erkannte ihn dennoch nicht. »Entsinnt Ihr Euch meiner nicht mehr, Vayga?« sagte er. »Ich bin Gaunth, der Gefährte Mainalas.« In den Augen der Alten glomm Erkennen auf, sie wurde blaß und fuhr sich mit der Hand an den Mund. »Ihr Götter!« sagte sie erschrocken. »Was führt Euch denn zu mir? Ich dachte, Ihr wäret längst schon tot ...« Sie verstummte mit einem Seitenblick zu Lesha. »Hat Mainala Euch das gesagt?« fragte Gaunth schnell. »Eure Gefährtin?« sagte Vayga. »Wie kommt Ihr darauf, daß sie bei mir gewesen sein könnte?« Gaunth ergriff die knöcherne Hand der Alten und drückte sie fest. »Mainala ist aus dem Palast geflohen«, sagte er. »Und da sie in Alesch niemanden außer Euch kennt, vermutete ich sofort, daß sie sich an Euch um Hilfe gewandt hat. Und ich glaube, mich nicht geirrt zu haben, denn Ihr sprecht, als hättet Ihr sie gesehen.«
Vayga blickte sich ängstlich um, dann sagte sie mit zitternder Stimme: »Kommt mit mir in meine Kammer. Dort werde ich Euch erzählen, wie alles war ...« Die Alte ging voran, und Gaunth und Lesha folgten ihr. In ihrem Zimmer angekommen, zündete Vayga eine Öllampe an und bot ihren Besuchern Plätze zum Sitzen an. Aber Gaunth blieb stehen. »Es stimmt, Eure Gefährtin war hier«, sagte Vayga. »Aber nur für eine Nacht. Denn schon tags darauf erschienen El Habeks Häscher und suchten alle Häuser nach Kindern ab, die nicht älter als einen Sommer waren. Mainala hatte ein Neugeborenes bei sich, das sie vor den Schergen verbarg. Da ich meinen Kopf nicht hinhalten wollte, blieb mir keine andere Wahl, als sie aus dem Haus zu schicken. Das war vor drei Tagen. Seit damals habe ich nichts mehr von ihr gehört.« Gaunth packte Vayga beim Halsausschnitt und herrschte sie an: »Du lügst, Alte. Ich glaube nicht, daß du Mainala verjagt hast, weil du befürchten mußtest, daß sie den Schergen El Habeks verrät, daß du einem Verdammten Wasser gespendet hast. Ich will wissen, was aus Mainala geworden ist. Was hast du mit ihr getan, Alte? Aber sage die Wahrheit, sonst zerre ich dich in die Schankstube und laß dich vor aller Ohren deine Schandtaten gestehen.«
»Laßt mich los«, flehte Vayga. »Ich habe Mainala nichts Böses getan ... Ich konnte sie nicht einfach auf die Straße setzen, das brachte ich nicht über mich. Sie ist – Fharapha möge mich dafür belohnen – noch bei mir im Haus.« Gaunth atmete auf. »Verzeiht, Vayga, daß ich so grob zu Euch war«, entschuldigte er sich. »Aber ich mußte ganz einfach erfahren, was aus Mainala geworden ist. Seid so gut und bringt mich jetzt zu ihr.« Als Mainala das verabredete Klopfzeichen hörte, ahnte sie nicht, daß das Versteckspielen nun endgültig vorbei war. »Was will denn Vayga schon wieder«, sagte Abnad, während er sich an den Mädchen vorbeizwängte, um an den ausgehöhlten Stein heranzukommen. »Es kann nicht schon wieder Essenszeit sein.« Der kleine Ebener begann zu weinen, und Arischa versuchte ihn zu beruhigen. Mainala wurde von Abnads Ellenbogen im Gesicht getroffen, als dieser den Stein endlich aus der Öffnung bekam. Für einen Augenblick blendete sie das von draußen einfallende Licht, aber dann erkannte sie, daß außer Vayga noch zwei Personen im Keller waren. Abnad stieß eine Verwünschung hervor und verkroch sich in den hintersten Winkel des Loches. »Gaunth!« entfuhr es Mainala, als sich ihre Augen an das Licht der Öllampe gewöhnt hatten. »Gaunth! Ich
kann es nicht glauben! Bist du es wirklich?« »Ja, Mainala«, sagte Gaunth. »Willst du nicht herauskommen und mich berühren?« »Seid vorsichtig«, ermahnte Vayga. »Entweder ihr verschwindet alle im Versteck, oder ihr kommt heraus, damit Abnad die Öffnung schließen kann.« »Ich werde Mainala mit mir nehmen«, sagte Gaunth bestimmt. »Ich habe Geld genug, daß Ihr für uns alle Reittiere besorgen könnt, Vayga.« »Ich muß vorerst einmal in der Schankstube nach dem Rechten sehen«, sagte die Alte und verschwand auf der Treppe. Mainala kam mit Gaunths Hilfe aus der Öffnung und hing dann schluchzend in seinen Armen. Da sie sich in dem Loch nicht hatte bewegen können, war sie so schwach, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ihr Blick fiel auf Lesha, die sich im Hintergrund hielt und nahe der Treppe stand. »Wer ist diese Frau?« fragte sie. »Sie heißt Lesha und wird mit uns aus Alesch fortgehen«, antwortete Gaunth. »Ich werde dir später alles erklären.« »Das kannst du dir ersparen, Gaunth«, kam Leshas spöttische Stimme; Gaunth hatte sie noch nie in diesem Ton sprechen gehört. »Lesha ...«, sagte er verwundert und drehte sich um.
In diesem Augenblick kam von der Treppe ein Poltern. Vayga erschien dort. Ihr Gesicht war wächsern, sie stützte sich mit zitternden Armen an die Wand. »Sie sind überall im Haus«, stammelte sie; ihre Augen waren groß und starr. »Sie haben mich ohne ... ein Wort ...« Sie erhielt von hinten einen Stoß und kippte steif nach vorne. Als sie zu Gaunths Füßen auf dem Boden lag, sah er den blutigen Striemen quer über ihrem Rücken, der von einem Schwertstreich stammen mußte. Gaunth hatte noch nicht erfaßt, was das alles zu bedeuten haben mochte, als Krieger mit gezückten Schwertern die Treppe herunter und in den Keller kamen. Mainala schrie auf und wollte zu der Öffnung in der Wand, aber einer der Krieger hielt sie an den Haaren zurück. Gaunth wollte sich auf ihn stürzen, aber ein anderer hieb ihn mit dem Knauf seines Schwertes nieder. »Da haben wir ja auch das Balg – und Arischa«, stellte ein Krieger fest, der mit wenigen Sätzen an der Wandöffnung war. Er entriß ihr das in Tücher gewickelte Kind, legte ihr dann den anderen Arm um den Hals und zog sie im Würgegriff aus der Öffnung.
»Komm nur, El Habek hat Sehnsucht nach dir!« Mainala war kraftlos zusammengebrochen. Mit ausdruckslosem Gesicht und schlaffem Körper hing sie am Arm eines Soldaten. »Warum nur, Gaunth, warum?« fragte sie mit ausdrucksloser Stimme. Gaunth wollte sich erheben. Aber ein Stiefel, hinter dem das ganze Körpergewicht eines Mannes stand, drückte ihn im Genick wieder zu Boden. Er blickte zu Lesha hinüber, die dastand, als ginge sie das alles überhaupt nichts an. »He, ’rauskommen, oder wir räuchern dich aus!« rief ein Krieger in die Öffnung. »Gnade!« kam Abnads wimmernde Stimme heraus. »Ich habe für alles tausendfach gebüßt ...« »Willst du, daß wir dich holen?« Abnad tauchte zögernd und zitternd in der Öffnung auf. Als er den Kopf hindurchstreckte, sauste das Krummschwert des Kriegers herunter und durchtrennte ihm mit einem einzigen Schlag den Hals. Der Kopf in dem Käfig aus Eisenstäben rollte über den Boden ... Gaunth, der, am Boden liegend, die ganze Zeit über zu Lesha gestarrt hatte, begegnete nun ihrem Blick. Ihre Mundwinkel verzogen sich spöttisch. Sie kam mit wiegenden Schritten heran und spuckte vor ihm aus. »Hast du wirklich geglaubt, ich wurde mit einem
Schwächling wie dir gehen?« sagte sie. »Oder überhaupt Alesch verlassen? Ich habe nur Ebbel einen Gefallen getan, als ich dir Liebe heuchelte. Es ging nur darum, das Kind zu finden – und wie sich zeigte, hatte El Habek recht, als er meinte, daß du uns zu ihm führen würdest.« Gaunth atmete noch einmal den herben Duft ihres Körpers, als sie an ihm vorbeirauschte. Dann wurden ihm die Arme auf den Rücken gebogen. Sie hoben ihn brutal hoch und führten ihn zusammen mit Mainala und Arischa ab. Arischa bekam Ebenor noch einmal kurz zu sehen, als sie auf der Straße waren. Einer der Krieger übergab das in Tücher gewickelte Kind einem Reiter, der mit ihm in Richtung des Palastes davonpreschte. ENDE Dragon und seine Begleiter, die unter Führung eines zum »Untoten« gemachten Mannes nach Alesch aufbrachen, weil es der Balamiter so bestimmt hatte, sollen in der »grausamen« Stadt in eine tödliche Falle gelockt werden. Doch es kommt anders, als Cnossos und sein Statthalter es sich vorgestellt haben. Daran sind die »Söhne des Fuchses« schuld – und DER NAMENLOSE ...
DER NAMENLOSE so heißt auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Verfasser des Romans ist ebenfalls Ernst Vlcek.