Richard A. Clarke
Against All Enemies
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Richard A. Clarke
Against All Enemies
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»Kein anderer Schritt Amerikas hätte al-Qaida und ihrer neuen Generation geklonter Gruppierungen mehr bei der Rekrutierung geholfen als die Invasion im Irak. Keine andere Maßnahme hätte Augen und Ohren von Muslimen so fest verschließen können gegenüber unseren Rufen nach Reformen in der Region. Es war, als hätte Bin Laden aus der Ferne Bushs Entscheidungen gesteuert und ihm eingeflüstert: ›Marschiere im Irak ein, George, du musst im Irak einmarschieren.‹« Der Bestseller Nummer eins aus den USA, »härter als Michael Moore« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung): die brisanten Erinnerungen des ranghöchsten Terrorismusexperten der Clinton- und Bush-Administration. ISBN: 3-455-09478-3 Original: Against All Enemies Deutsch von Norbert Juraschitz, Werner Roller und Heike Schlatterer Verlag: Hoffmann und Campe Erscheinungsjahr: 1.Auflage 2004 Umschlaggestaltung: glcons.de
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch »Der Bestseller ist das Gesprächsthema Nummer eins«, meldete Spiegel online vier Tage nach Erscheinen von Against All Enemies aus Washington. Was macht die Schlagkraft dieses Buches aus? »Die Bush-Administration hat die Gelegenheit verpasst, al-Qaida zu zerschlagen«, schreibt Richard A. Clarke. Sie habe alle Warnungen vor al-Qaida ignoriert, in einem unnötigen Krieg gegen den Irak wertvolle Zeit verloren und dem Terrorismus Gelegenheit gegeben, sich neu zu organisieren. Wie kein anderer ist Clarke berechtigt, ein solches Urteil zu fällen. Niemand in den USA weiß mehr über Bin Laden und al-Qaida als er, der dem Kampf gegen den Terrorismus fast drei Jahrzehnte seines Berufslebens gewidmet hat. Er war unter Clinton und Bush Cheforganisator der amerikanischen Antiterrorpolitik und leitete in den entscheidenden Stunden nach den Anschlägen auf die Twin Towers den Krisenstab im Weißen Haus. Er kennt die Geschichte des Kampfes gegen den Terror aus eigenem Erleben als ein Protagonist des Geschehens, und so liest sich sein Bericht, der sich auf die Entwicklungen vom ersten Golfkrieg bis zu »Bushs Vietnam« im Irak konzentriert, wie ein autobiografischer Thriller. »Clarkes Buch hat definitiv den Kreis durchbrochen, in dem sich bislang jede Kritik am Präsidenten totzulaufen drohte«, schreibt die FAZ. »Clarkes Blick zurück kann nichts rückgängig machen. Aber nun steht wie durch ein Machtwort die Gegenwart still.«
Autor
Richard A. Clarke, geboren 1951, begann seine Laufbahn 1973 im US-Verteidigungsministerium als Experte für Nuklearwaffen und Sicherheit in Europa. Unter Reagan und Bush sen. war er in gehobenen administrativen Positionen tätig. Clinton ernannte ihn 1998 zum ersten »Nationalen Koordinator für Sicherheit, Infrastrukturschutz und Antiterrorpolitik«, ein Amt, das er unter George W. Bush weiterführte. Im März 2003 schied Clarke auf eigenen Wunsch aus der Bush-Regierung aus.
Inhalt Vorwort ...............................................................................6 1 Evakuiert das Weiße Haus .............................................14 2 In die islamische Welt gestolpert ...................................70 3 Unvollendete Mission, ungewollte Konsequenzen ........99 4 Der Terror kehrt zurück (1993-1996)...........................124 5 Am Rand eines Krieges (1996) ....................................168 6 Al-Qaida entlarvt..........................................................217 7 Die Anfänge des Heimatschutzes.................................249 8 … esse delendam..........................................................284 9 Millennium-Alarm .......................................................321 10 Vor und nach dem 11. September ..............................356 11 Richtiger Krieg, falscher Krieg ..................................386 Epilog ..............................................................................448 Abkürzungen ...................................................................452
Dieses Buch widme ich den am 11. September 2001 Ermordeten, auch denen, die versuchten, die Anschläge zu verhindern. Zu diesen Menschen gehörten John O’Neill und die außergewöhnlich tapferen Passagiere des UnitedAirlines-Flugs 93. Und ich widme das Buch den Angehörigen der Toten.
Vorwort Während meiner 30 Berufsjahre im Weißen Haus, im State Department und im Pentagon verachtete ich stets die ehemaligen Beamten, die den Staatsdienst quittierten und ihre Erfahrungen dann rasch in einem Buch verwerteten. Mir kam es irgendwie unpassend vor, wenn öffentlich ausgebreitet wurde, »wie die Wurst gemacht wird«, wie Bismarck das formuliert hat. Doch erst nach meinem Ausscheiden aus dem Regierungsapparat begriff ich, dass vieles von dem, was ich für allgemein bekannt hielt, vielen Menschen, die Genaueres wissen wollten, eben gar nicht klar war. Häufig wurde ich gefragt: »Wie war der genaue Ablauf am 11. September, was geschah damals eigentlich?« Beim Studium des öffentlich zugänglichen Materials erkannte ich, dass es keine gute Quelle gab, keinen Bericht, den die Geschichtsschreibung auf lange Sicht als repräsentativ anerkennen könnte. Als ich mir schließlich Gedanken über einen Kurs für Magisterstudenten in Georgetown und Harvard machte, wurde mir klar, dass es keinen einzigen Insiderbericht zum aktuellen Zeitgeschehen gab, das uns zu den Ereignissen des 11. September 2001 geführt hatte – und zu den Ereignissen, die daraus folgten. Mit Blick auf das Geschehen im Irak und anderswo wuchsen im vergangenen Jahr meine Bedenken, dass zu viele meiner Mitbürger in die Irre geführt wurden. Eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner glaubte, dass Saddam Hussein in die Angriffe von al-Qaida auf Amerika verstrickt gewesen war, wie das die Regierung Bush nahe gelegt hatte. Viele unserer Mitbürger glaubten, dass diese Regierung den Terrorismus wirkungsvoll bekämpfe, doch 6
in Wirklichkeit hat sie die Gelegenheit verpasst, al-Qaida auszuschalten. Stattdessen hat sie unsere Feinde gestärkt, als sie mit der Invasion im Irak einen vollkommen unnötigen Nebenkriegsschauplatz eröffnete. Eine neue alQaida ist auf den Plan getreten und wird immer stärker, und das hat auch mit unseren eigenen Taten und Unterlassungen zu tun. Dies ist ein in vielerlei Hinsicht härterer Gegner als die ursprüngliche Organisation, mit der wir es vor dem 11. September zu tun hatten, und wir tun nicht das Nötige, um Amerika vor dieser Bedrohung zu schützen. Dieses Buch erzählt aus meiner Perspektive, wie sich alQaida entwickelte und am l1. September 2001 die Vereinigten Staaten angriff. Es erzählt, wie CIA und FBI zu spät erkannten, dass die Vereinigten Staaten bedroht wurden, und wie beide Institutionen nicht in der Lage waren, diese Bedrohung abzuwenden, selbst als sie übereingekommen waren, dass die Gefahr ebenso real wie bedeutend sei. Against All Enemies berichtet außerdem über vier Präsidenten: Ronald Reagan rächte die Ermordung von 278 USMarines in Beirut nicht und unterlief seine eigene Antiterror-Politik, indem er Waffen für Geiseln eintauschte, ein Vorgang, der später als Iran-Contra-Affäre bekannt wurde; George H. W. Bush ließ das Attentat von Lockerbie ungesühnt (Absturz des PanAm-Fluges 103 über Lockerbie am 21. Dezember 1988, nur wenige Wochen vor Bushs Amtseinführung, als libysche Terroristen eine Bombe an Bord des Flugzeugs schmuggelten und alle 259 Passagiere und Besatzungsmitglieder sowie elf Einwohner des schottischen Städtchens umkamen); Bush verfolgte keine offizielle Antiterror-Politik; er ließ Saddam Hussein an der Macht und zwang so die Vereinigten Staaten zu 7
einer fortdauernden militärischen Präsenz in SaudiArabien; Bill Clinton erkannte im Terrorismus die bedeutendste Bedrohung nach dem Ende des Kalten Krieges und leitete Maßnahmen ein, die unsere Fähigkeiten zur Abwehr von Terrorakten verbessern sollten; er bekämpfte den antiamerikanischen Terrorismus des Irak und Iran (was in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist) und vereitelte einen Versuch al-Qaidas, in Bosnien die Macht zu übernehmen; es gelang ihm jedoch nicht, CIA, Pentagon und FBI zu umfassenden Maßnahmen gegen die Bedrohung zu bewegen, weil er durch fortdauernde politische Attacken geschwächt war; George W. Bush reagierte trotz wiederholter Warnungen vor dem 11. September nicht auf die Bedrohung, die von al-Qaida ausging, und nutzte nach den Anschlägen eine günstige politische Großwetterlage für ebenso spektakuläre wie unzureichende Maßnahmen; schließlich begann er einen kostspieligen und unnötigen Krieg im Irak, der die fundamentalistisch-radikale islamistische Terrorbewegung weltweit stärkte. Leider erzählt dieses Buch auch, wie Amerika nicht imstande war, sich darauf zu verständigen, dass der Terrorismus eine bedeutende Bedrohung ist, und es außerdem nicht fertig brachte, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um die neue Gefahr abzuwenden, bis schließlich Tausende von Amerikanern und Bürgern von über 50 anderen Nationen getötet wurden. Schlimmer noch, es berichtet auch, wie Amerika selbst nach den Terrorangriffen die al-Qaida-Bewegung nicht ausschaltete und diese sich schließlich in eine weit verzweigte, schwer fassbare Bedrohung verwandelte, während wir das kontraproduktive Fiasko im Irak auf den Weg brachten; es schildert außerdem, wie die Bush8
Administration die Terrorbekämpfung für die Sicherung von Wahlerfolgen instrumentalisierte, wie kritische Schwachstellen für die innere Sicherheit unverändert weiterbestehen und wie wenig unternommen wird, um der ideologischen Herausforderung durch Terroristen zu begegnen, die den Islam zu einer Ideologie des Hasses verzerren. Der Zufall hatte mich während eines längeren Zeitraums, in dem eine Ära endete und eine neue begann, an Schlüsselstellen des US-Regierungsapparats platziert. Der Kalte Krieg hatte vor meiner Geburt begonnen und endete, als ich 40 Jahre alt wurde. Mit dem Beginn dieser neuen Ära begann für mich ein beispielloses Jahrzehnt ununterbrochenen Dienstes im Weißen Haus, eine Zeit, in der ich für drei Präsidenten arbeitete. Mit Blick auf die Ereignisse des Jahres 2003 fühlte ich mich zunehmend verpflichtet, das aufzuschreiben, was ich erlebte und erfuhr, für meine Mitbürger und für alle Menschen, die später einmal diesen Zeitraum genauer untersuchen wollen. So entstand dieses Buch, doch es hat seine Mängel. Es ist ein Bericht in der ersten Person, kein akademisches Geschichtswerk, deshalb erzählt es, was ein Teilnehmer an diesem Geschehen aus seiner persönlichen Perspektive sah, dachte und glaubte. Berichte von anderen Personen, die an dem einen oder anderen der hier geschilderten Ereignissen beteiligt waren, werden sich zweifellos von meiner Schilderung unterscheiden. Ich behaupte nicht, dass jene Darstellungen falsch sind, sondern nur, dass dieser Bericht meiner Erinnerung entspricht. Natürlich ist er unvollständig. Manche Ereignisse und Schlüsselgestalten werden nicht erwähnt, andere, die eine ausführliche Schilderung verdient hätten, nur kurz angesprochen. Wichtige Themen wie der Reformbedarf im 9
Bereich der Geheimdienste, die Sicherung des Cyberspace oder das Abwägen von Freiheitsrechten und Sicherheitsfragen sind nicht durchgehend analysiert. Für ein tiefer gehendes, analytisches Nachdenken über diese und im weiteren Umfeld angesiedelte Fragen zu technischen Details und übergreifenden politischen Themen gibt es sicher bessere Orte. Vieles von dem, was von der US-Regierung nach wie vor als geheim eingestuft wird, ist in diesem Buch weggelassen, und wo immer dies möglich war, habe ich mich bemüht, das Vertrauen und die Privatsphäre der Menschen, über die ich schreibe, zu respektieren. Mir ist klar, dass mit der Niederschrift eines solchen Buches ein großes Risiko verbunden ist, denn viele Freunde und ehemalige Kollegen, die meine Sicht nicht teilen, werden gekränkt sein, allen voran die gegenwärtige Führungsspitze des Weißen Hauses, denn sie steht im Ruf, äußerst empfindlich gegenüber Kritik durch ehemalige Mitarbeiter zu sein, die als Verletzung der Loyalitätspflicht bewertet wird. Diese Leute, das ist bekannt, rächen sich auch durchaus geschickt, wie mein Freund Joe Wilson feststellen musste und wie der ehemalige Finanzminister Paul O’Neill inzwischen weiß. Dennoch müssen Freunde auch einmal verschiedener Meinung sein können, und mir ist die Loyalität gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der Vereinigten Staaten wichtiger als die Loyalität gegenüber jedwedem politischen Apparat. Einige werden behaupten, dieser Bericht sei nur eine Rechtfertigung, eine Verteidigungsschrift für einige Menschen und ein Angriff auf andere. Dies war jedoch nicht meine Absicht. Das Buch ist als Tatsachenbericht gedacht, nicht als Polemik. Im Lauf eines Jahrzehnts, in dem wir gemeinsam für die nationale Sicherheit 10
arbeiteten, haben viele Menschen Fehler begangen, ganz bestimmt auch ich selbst. Aber in diesem Jahrzehnt gab es auch viele wichtige Maßnahmen, die nur durch die selbstlose, aufopferungsvolle Arbeit Tausender von Menschen umgesetzt werden konnten, Menschen, die der Supermacht dienen und sich Tag für Tag bemühen, sie auf dem Pfad der Prinzipientreue und des Fortschritts zu halten. Ich habe mich um eine faire Schilderung von beidem bemüht. Das Resümee zu Versäumnissen wie Verdiensten überlasse ich dem Leser und weise zugleich darauf hin, dass eine genaue Zuschreibung von Verantwortlichkeiten keineswegs einfach ist. Der aufmerksame Leser wird bemerken, dass viele Namen in diesem Buch immer wieder auftauchen, nicht nur im Verlauf eines Jahrzehnts, sondern über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Diese Tatsache spiegelt das wenig beachtete Phänomen, dass viele der hinter den Kulissen agierenden und mit Fragen der nationalen Sicherheit befassten Personen der mittleren Führungsebene während der Amtszeit der letzten fünf Präsidenten feste Größen waren. Zu diesem Personenkreis zählen unter anderem Charlie Allen, Randy Beers, Wendy Chamberlin, Michael Sheehan, Robert Gelbard, Elizabeth Verville, Steven Simon, Lisa Gordon-Hagerty und Roger Cressey. Wenn die Dinge rund liefen, dann lag es nicht zuletzt an ihren klugen Ratschlägen. Noch weniger bekannt ist ein Kader von Regierungsbediensteten, die mit den zuletzt genannten Leuten eng zusammengearbeitet haben, etwa die treue, zuverlässige Beverly Roundtree, die in den letzten 15 Jahren unserer jetzt 25 Jahre währenden Zusammenarbeit und Freundschaft dafür gesorgt hat, dass ich in der Spur und im Zeitplan blieb. Niemand kann ohne Hilfe und Unterstützung 30 Jahre 11
lang in Washington im Bereich der nationalen Sicherheit arbeiten, zehn davon im Weißen Haus. In meinem Fall kam diese Hilfe sowohl von Republikanern als auch von Demokraten und Unabhängigen, von Kongressabgeordneten, Journalisten, Ansprechpartnern bei ausländischen Regierungen, von außergewöhnlichen Kollegen, Mentoren sowie von äußerst toleranten und ebenso leidensfähigen Chefs. Einige von ihnen wollen hier nicht namentlich erwähnt werden, deshalb bleiben sie alle ungenannt. Sie wissen ebenso gut wie ich, wer gemeint ist. Vielen Dank. Mein Dank gilt auch Bruce Nichols vom Verlag Free Press und Len Sherman, ohne die ich kein lesbares Buch zustande gebracht hätte. Eine kleine Gruppe außergewöhnlicher Amerikaner schuf im 18. Jahrhundert die Verfassung, nach der dieses Land regiert wird. In diese Verfassung schrieben sie auch einen Eid, den der Präsident der Vereinigten Staaten schwören sollte. 43 Amerikaner haben dies seither getan. Millionen und Abermillionen von Amerikanerinnen und Amerikanern haben einen sehr ähnlichen Eid geleistet, bei ihrer Einbürgerung oder beim Eintritt in die Streitkräfte, als sie FBI-Agenten oder CIA-Mitarbeiter wurden oder bei anderen Regierungsbehörden eine Anstellung fanden. All diese Personengruppen haben geschworen, eben jene Verfassung »against all enemies« – »gegen alle Feinde« – zu beschützen. In diesem Zeitalter der Bedrohungen und des Wandels müssen wir alle unser Gelöbnis erneuern, die Verfassung gegen Feinde zu verteidigen, die unsere Nation und ihre Menschen mit Terrorismus überziehen wollen. Dies sollte unsere wichtigste Berufung sein und nicht unnötige Kriege, die zur Überprüfung irgendwelcher Theorien oder zur Sühne von persönlicher Schuld dienen oder geleitet sind von Rachebedürfnissen. Wir müssen die Verfassung auch gegen Personen schützen, die die 12
terroristische Bedrohung für einen Angriff auf die in der Verfassung verbrieften Freiheitsrechte benutzen wollen. Diese Freiheiten sind gegenwärtig bedroht, und wenn es eine weitere große, erfolgreiche Terrorattacke in Amerika gibt, werden weitere Angriffe auf unsere Rechte und bürgerlichen Freiheiten erfolgen. Deshalb ist es von grundlegender Bedeutung, dass wir weitere Attacken verhindern und die Verfassung beschützen … gegen alle Feinde.
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1 Evakuiert das Weiße Haus Ich rannte durch den Westflügel zum Büro des Vizepräsidenten, die besorgten Blicke, die mir dieser Auftritt einbrachte, nahm ich gar nicht wahr. Ich war im drei Straßenzüge entfernten Ronald Reagan Building bei einer Konferenz gewesen, als mich Lisa Gordon-Hagerty anrief und sagte, ein Flugzeug habe das World Trade Center gerammt: »Dick, bis wir wissen, was dahintersteckt, sollten wir erst mal vom Schlimmsten ausgehen.« Bei Übungen zum Krisenmanagement hatte Lisa häufig im Mittelpunkt des Geschehens gestanden, allzu oft auch im richtigen Leben. »In Ordnung. Alarmiere die CSG über eine sichere Videoleitung. Ich bin sofort da«, antwortete ich und rannte dabei schon zu meinem Auto. Die CSG war die Counterterrorism Security Group, der die Chefs der Terrorbekämpfungs- und Sicherheitsorganisationen der US-Bundesregierung angehörten. Ich hatte seit 1992 den Vorsitz geführt. Während der Arbeitszeit konnten wir innerhalb von fünf Minuten Kontakt zueinander aufnehmen, zu jeder anderen Zeit lag die Bereitschaftsfrist bei 20 Minuten. Ich sah auf die Uhr am Armaturenbrett: Es war 9.03 Uhr, am 11. September 2001. Ich war kurz vor dem ersten Tor am Weißen Haus, als Lisa erneut anrief: »Gerade eben wurde der zweite Turm getroffen.« »Na gut, jetzt wissen wir, mit wem wir’s zu tun haben. Ich will die Chefs aller Washingtoner Behörden sofort auf dem Bildschirm haben, am wichtigsten ist die FAA.« 14
Die Federal Aviation Administration ist die nationale Flugaufsichtsbehörde. Ich fuhr an der Eingangstür des Westflügels vor, und Paul Kurtz, ein Mitglied des Terrorabwehrteams des Weißen Hauses, kam angerannt. »Wir waren in der Morgenbesprechung, als wir es erfuhren. Condi wies mich an, dich schnell zu finden, und löste die Besprechung auf. Sie ist bei Cheney.« Der Vizepräsident und Condi – Condoleezza Rice, die Nationale Sicherheitsberaterin des Präsidenten – waren in Cheneys Büro. Ich stürzte hinein und holte erst mal Luft. Cheney war für seine Unerschütterlichkeit berühmt, diesmal hatte ich jedoch den Eindruck, eine Spur von Entsetzen auf seinem Gesicht zu sehen. »Was halten Sie davon?«, fragte er. »Das ist ein Angriff von al-Qaida, und die bevorzugen Simultanangriffe. Die Sache ist vielleicht noch nicht zu Ende.« »Okay, Dick«, sagte Condi zu mir, »Sie sind der Krisenmanager, was empfehlen Sie?« Wir beide hatten bereits zuvor darüber gesprochen. Im Juni hatte ich ihr eine Checkliste gegeben, die festlegte, was nach einem Angriff zu tun war. Damit hatte ich auch meine Ansicht unterstreichen wollen, dass eine große Sache auf uns zukam und wir in die Offensive gehen mussten. »Wir stellen gerade auf einer abhörsicheren Videoleitung eine Krisenkonferenz zusammen«, antwortete ich. »Ich möchte die Spitzenleute sämtlicher Behörden auf dem Bildschirm haben.« Meine Gedanken rasten, ich entwickelte bereits eine neue Liste dringender Maßnahmen, die zu veranlassen waren, jetzt gleich. »Machen Sie das«, befahl der Vizepräsident. 15
»Der Secret Service will, dass wir in den Luftschutzraum gehen«, sagte Condi. Ich nickte. »Das würde ich auch tun, und … ich würde das Weiße Haus evakuieren.« Cheney raffte seine Unterlagen zusammen. In seinem Vorzimmer hielten normalerweise zwei Leute vom Secret Service Wache. Beim Hinausgehen zählte ich diesmal acht Personen. Sie standen bereit für den Umzug in das PEOC, das Presidential Emergency Operations Center, einen Bunker im Ostflügel. Direkt neben dem Hauptsaal des Lagezentrums im Erdgeschoss des Westflügels befindet sich ein abhörsicheres Videokonferenzzentrum, eine exakte Kopie des Konferenzraums dort, die sich von Letzterem nur durch eine Reihe von Monitoren unterscheidet, installiert an der dem Sessel des Vorsitzenden gegenüberliegenden Wand. Das Videozentrum ist klein, wie der Konferenzraum auch, und wie dieser mit dunklem Holz verkleidet. Über dem Platz des Vorsitzenden, an der Stirnseite des Tisches, hängt das Siegel des Präsidenten an der Wand. Als ich das Operations Center durchquerte, die Schaltzentrale des Lagezentrums, nahm mich Ralph Seigler beiseite, der langjährige stellvertretende Direktor des Lagezentrums. »Wir haben eine Leitung zu NORAD, eine Konferenzschaltung zu Gefahren aus der Luft.« Diese Routineprozedur war vom North American Aerospace Defense Command, dem strategischen Luftverteidigungssystem, während des Kalten Krieges eingerichtet worden, um das Weiße Haus alarmieren zu können, falls sowjetische Bomber dem amerikanischen Luftraum zu nahe kommen sollten. »Wo ist POTUS? Wen haben wir in seiner Nähe?«, fragte ich, während wir rasch die Schaltzentrale durchquerten. Mit diesem Jargonwort bezeichnet das 16
Personal des Weißen Hauses den Präsidenten der Vereinigten Staaten. »Er ist in einem Kindergarten in Florida. Deb ist bei ihm.« Mit Deb war Deborah Lower, Captain der Navy, gemeint, Direktorin des Lagezentrums im Weißen Haus. »Wir haben eine Telefonverbindung zu ihrem Handy.« Lisa Gordon-Hagerty prüfte, wer bereits ansprechbar war, als ich das Videozentrum betrat, und ich sah, wie die Leute in Studios eilten, die über die ganze Stadt verteilt sind: Donald Rumsfeld im Verteidigungsministerium und George Tenet bei der CIA. Doch viele der Chefs waren zur Zeit auf Reisen. Der Justizminister war in Milwaukee, deshalb sah ich im Ministerium Larry Thompson, seinen Stellvertreter, auf dem Bildschirm. Rich Armitage, die Nummer zwei im State Department, vertrat Colin Powell, der sich in Peru aufhielt. Der Vier-Sterne-General Dick Myers vertrat Hugh Shelton, den Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, der sich auf einem Atlantikflug befand. Bob Mueller war im FBI-Studio, aber er hatte eben erst sein Amt angetreten. Jedem Minister oder Behördenleiter stand der eigene Vertreter in der CSG zur Seite, und hinter den beiden waren jeweils Mitarbeiter zu sehen, die hektisch telefonierten und mit Unterlagen hantierten. Nach mir betrat Condi Rice den Raum, begleitet von Steve Hadley, ihrem Stellvertreter. »Wollen Sie dies hier leiten, als Chefbesprechung?«, fragte ich. Rice führte in ihrer Eigenschaft als Nationale Sicherheitsberaterin den Vorsitz im Principals Committee. Dieses Chefgremium bestand aus dem Außen- und Verteidigungsminister, dem CIA-Direktor, dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs und, mittlerweile häufig, aus dem Vizepräsidenten. 17
»Nein. Machen Sie es.« Ich schob den Stuhl an der Stirnseite weg und stand nun dort, neben mir Condi. »Lasst uns anfangen. In aller Ruhe. Wir machen das nach den Regeln für Krisen, das heißt: Schaltet eure Mikrofone ab, wenn ihr nicht gerade sprecht. Winkt in die Kamera, wenn ihr sprechen wollt. Wenn ihr etwas sagen wollt, das nicht alle mithören sollen, ruft mich auf dem roten Telefon an.« Rice sollte später von nicht namentlich genannten Teilnehmern der Besprechung in der Presse kritisiert werden, weil sie »nur herumgestanden« habe. Aus meiner ganz offensichtlich parteiischen Sicht hatte sie Mut bewiesen, als sie sich zurücknahm. Sie wusste, dass das seltsam aussah, doch sie hatte eben auch genug Selbstvertrauen, um nicht selbst den Vorsitz zu beanspruchen. Sie wollte keine Zeit vergeuden. Ich erinnerte mich an die Szene in diesem Raum, die sich nach dem Bombenanschlag in Oklahoma abgespielt hatte. Präsident Clinton war hereingekommen, hatte Platz genommen und die CSG-Videokonferenz einige Minuten lang geleitet. Auf diese Art zeigte er sein großes Engagement, und wir waren froh, ihn in unserer Mitte zu haben, doch es hätte unsere Reaktionszeit verlängert, wenn er länger dageblieben wäre. »Sie werden einige sehr schnelle Entscheidungen brauchen«, sagte Rice zu mir, und das wurde nicht übertragen. »Ich gehe zum Vizepräsidenten ins PEOC. Sagen Sie mir, was Sie benötigen.« »Ich brauche eine Standleitung zu Cheney und Ihnen.« Ich wandte mich an Armeemajor Mike Fenzel, meinen White House Fellow. Das äußerst anspruchsvolle Ausleseverfahren im Weißen Haus hatte im Lauf der Jahre 18
einige außergewöhnliche Fellows hervorgebracht, zum Beispiel einen weiteren Armeemajor namens Colin Powell. »Mike«, sagte ich, »geh mit Condi zum PEOC und richte eine abhörsichere Leitung zu mir ein. Ich teile dir dann mit, welche Entscheidungen wir brauchen.« Fenzel war an Druck gewöhnt. In seiner Zeit als Armeeleutnant war er mit seinem Bradley-Kampfpanzer die Landebahn eines irakischen Luftwaffenstützpunktes hinuntergefahren, hatte einige MiGs zusammengeschossen und war dabei selbst unter Feuer geraten. Als Hauptmann hatte er eine Infanteriekompanie in das vom Bürgerkrieg zerrissene Liberia geführt und dabei direkt vor der USBotschaft die Kraftprobe mit einem Mob bestanden. (18 Monate nach dem 11. September sollte Fenzel der erste Mann sein, der bei einem nächtlichen Kampfeinsatz über dem Irak mit dem Fallschirm aus einer C-17Transportmaschine absprang.) Ich eröffnete die Besprechung. »Okay, lasst uns mit den Fakten anfangen. FAA, FAA, bitte kommen.« Ich schlug den militärischen Funkgesprächsstil an, sodass die anderen, die mir in den verschiedenen Studios zuhörten, trotz des Getöses in ihrem eigenen Raum hören konnten, wen ich gerade aufrief. Jane Garvey, die Verwaltungschefin der USFlugaufsichtsbehörde, antwortete: »Die beiden Flugzeuge, die die Türme rammten, waren der American-AirwaysFlug 11, eine Boeing 767, und der United-Airlines-Flug 175, auch eine 767. Beide entführt.« »Jane, wo ist Norm?«, fragte ich. Die FAA-Leute versuchten hektisch, Kontakt zu Norman Mineta aufzunehmen, dem Verkehrsminister, einem der wenigen Mitglieder der Clinton-Regierung, die, wie ich selbst auch, übernommen worden waren. Der Kontakt kam vorerst nicht zustande. »Jane, können Sie Flugzeuge zur Landung 19
auffordern? Wir müssen den Himmel über Washington und New York und Umgebung leer bekommen.« »Kann sein, dass wir noch sehr viel mehr tun müssen, Dick. Ich habe für New York und Washington bereits ein Start- und Landeverbot verfügt, aber uns liegen noch Berichte über elf Flugzeuge vor, die vom Kurs abgewichen sind oder nicht mehr im Funkkontakt stehen. Vielleicht sind die auch entführt.« Lisa flüsterte vor sich hin und dehnte die beiden Worte: »Oh, Scheiße.« Alle Unterhaltungen in den Studios auf unseren Bildschirmen waren schlagartig beendet. Die Leute dort hörten jetzt alle zu. »Elf«, wiederholte ich. »Okay, Jane, wie lange brauchen Sie, um alle Flugzeuge, die jetzt noch in der Luft sind, irgendwo landen zu lassen?« Ich erinnerte mich daran, wie ich 1995 die FAA gebeten hatte, alle US-Flüge, die noch über dem Pazifik unterwegs waren, so schnell wie möglich landen zu lassen, weil eine Terrordrohung vorlag. Das Chaos hatte mehrere Tage angehalten. Es hatte Stunden gedauert, bis sie den damaligen Verkehrsminister Federico Pena erreicht hatten. Jane fuhr fort. »Der Verantwortliche für den Flugverkehr sagt, zur Zeit seien 4400 Vögel in der Luft. Ein allgemeines Startverbot können wir rasch umsetzen, aber alle herunterzuholen, die schon oben sind … Das gab es noch nie. Keine Ahnung, wie lange das dauert. Ben ist heute übrigens den ersten Tag im Amt.« Garvey meinte damit Ben Sliney, den neuen National Operations Manager der FAA. »Jane, wenn Sie den Minister noch nicht gefunden haben: Sind Sie bereit, ein bundesweit geltendes Startverbot anzuordnen und eine Flugverbotszone zu verfügen?« 20
»Ja, aber das wird eine Weile dauern.« Wenig später rief Mineta aus seinem Auto an, und ich bat ihn, direkt ins Lagezentrum zu kommen. Mineta hatte zwei Söhne, die beide als Piloten bei United Airlines arbeiteten. Er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, wo sie sich aufhielten. Ich schlug ihm vor, sich dem Vizepräsidenten anzuschließen. Mein Stellvertreter Roger Cressey, ein aktiver Marathonläufer, war von der Praxis seines Arztes acht Blocks weit gerannt. Er hatte die uniformierten Wachen des Secret Service davon überzeugen können, ihn durchzulassen, und es bis ins Lagezentrum geschafft. Ich war erleichtert, als ich ihn sah. Ich wandte mich dem Pentagon-Bildschirm zu. »JCS, JCS [Joint Chiefs of Staff]. Ich nehme an, NORAD hat Abfangjäger in Alarmbereitschaft und Awacs-Flugzeuge. Wie viele? Und wo?« »Sieht nicht gut aus, Dick.« Dick Myers war selbst Kampfpilot, und er wusste, dass die Tage, an denen wir im Handumdrehen Dutzende von Jagdflugzeugen starten lassen konnten, mit dem Kalten Krieg zu Ende gegangen waren. »Wir sind mittendrin in Vigilant Warrior, einer NORAD-Übung, aber … Otis hat zwei Vögel nach New York geschickt. Langley macht gerade zwei weitere Maschinen startklar. Die Awacs-Maschinen sind in Tinker und nicht in Alarmbereitschaft.« Otis ist ein Stützpunkt der Air National Guard in Cape Cod. Der Luftwaffenstützpunkt Langley liegt in der Nähe von Norfolk in Virginia. Tinker Air Force Base, auf der alle fliegenden Radarstationen Amerikas stationiert waren, befindet sich in Oklahoma. »Okay, wie lange dauert es noch bis zu einer CAP über D.C.?« Kampfbereite Patrouillenmaschinen, eine Combat Air 21
Patrol (CAP), so etwas schickten wir normalerweise in den Irak, nicht in den Himmel über unserer Hauptstadt. »So schnell wir können. 15 Minuten?« Myers sah die Militärs um sich herum fragend an. Es war mittlerweile 9.28 Uhr. Ich dachte jetzt an die gleichzeitig erfolgten Angriffe auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania im Jahr 1998. Es bestand die Möglichkeit zahlreicher simultan vorgetragener Attacken in mehreren Ländern. »State, State. DOD, DOD [Department of Defense]. Wir müssen davon ausgehen, dass es in Übersee simultane Angriffe geben wird. Wir müssen die Botschaften schließen. Versetzt die DOD-Stützpunkte in Gefechtsbereitschaft.« Auf dem Fernsehbildschirm links oben lief CNN ohne Ton. Lisa sah den Präsidenten ins Bild kommen, schaltete den Ton ein, und die Krisenkonferenz hielt inne, um ihm zuzuhören. »… ins World Trade Center, offensichtlich ein Terrorangriff auf unser Land.« Währenddessen fiel mir auf, dass inzwischen auch Brian Stafford, der Direktor des Secret Service, im Raum war. Er zog mich beiseite. »Wir müssen ihn herausholen und an einen sicheren Ort bringen … und an einen geheimen Ort. FLOTUS habe ich schon in Sicherheit gebracht.« FLOTUS stand im Jargon des Weißen Hauses für Mrs. Bush, First Lady of the United States. Sie befand sich inzwischen in einem schwer bewachten, unauffälligen Gebäude in Washington. Stafford war Clintons Leibwächter gewesen und leitete die Personenschutzabteilung des Präsidenten. Alle, die ihn kannten, wussten, dass er trotz seiner Elvis-Haartolle ein zuverlässiger und ernsthafter Mensch war. In seinem 22
leisen, gedehnten Südstaatlerslang sagte er den Präsidenten, was sie zu tun hatten. Das tat er höflich, aber zugleich auf eine Art, die nur wenig Spielraum für Diskussionen ließ. Franklin Miller, mein Kollege und Special Assistant des Präsidenten für Verteidigungsfragen, tauchte neben Stafford auf. Frank drückte meinen Oberarm. »Sieht so aus, als würde ich heute für dich arbeiten. Was soll ich tun?« Mit ihm war auch Tom Greenwood gekommen, ein Oberst des Marine Corps und Mitglied seines Stabes. »Kannst du mit Brian zusammenarbeiten«, fragte ich Miller, »und einen Ort ausfindig machen, an den wir den Präsidenten schicken können? Er kann erst hierher zurückkehren, wenn wir wissen, was für eine Scheiße hier los ist.« Ich wusste, dass der Oberkommandierende so etwas nicht ohne weiteres schlucken würde. »Und, Tom«, sagte ich noch zu Oberst Greenwood, »kümmern Sie sich mit Roger – Cressey – bitte darum, dass eine CAP hier erscheint, schnell.« Stafford hatte eine weitere Bitte. »Kann Air Force One schon ab dem Start eine Jagdfliegereskorte haben?« »Klar, wir können das anfordern«, antwortete Miller, »aber ihr Jungs wisst doch genau, dass sie innerhalb der Grenzen der USA nicht einfach Flugzeuge abschießen können. Dafür brauchen wir einen Befehl.« Miller hatte 20 Jahre lang im Pentagon gearbeitet und wusste, dass die Militärs genaue Anweisungen haben wollten, bevor sie Gewalt anwendeten. Ich griff zur Standleitung zum Presidential Emergency Operations Center. Dort hörte ich das Freizeichen. Am anderen Ende hatte jemand aufgelegt. Ich drückte den PEOC-Knopf auf dem großen, weißen, abhörsicheren Telefon, das zwanzig Schnelldurchwahltasten hatte. Major 23
Fenzel meldete sich, und ich gab ihm die ersten drei Entscheidungen durch, die wir brauchten. »Mike, jemand muss dem Präsidenten sagen, dass er nicht hierher zurückkehren kann. Cheney, Condi, irgendjemand. Der Secret Service ist der gleichen Meinung. Wir wollen nicht, dass sie beim Start ihr Flugziel durchgeben. Zweitens sollten sie bereits beim Start eine Eskorte haben. Drittens brauchen wir eine Vollmacht für die Air Force, die ihr erlaubt, jedes Flugzeug abzuschießen – einschließlich entführter Passagiermaschinen –, das für einen Angriff bestimmt zu sein scheint und bei einem Absturz viele Todesopfer fordern wird. Hast du verstanden?« »Verstanden, Dick, rufe gleich zurück.« Fenzel war nach meinem Eindruck optimistisch, was den Zeitbedarf für solche Entscheidungen betraf. Ich fuhr mit der Videokonferenz fort. »FAA, FAA, kommen. Lagebericht. Wie viele Flugzeuge werden noch als entführt gemeldet?« Garvey las aus einer Liste vor: »Alle Flugzeuge sind angewiesen, am nächsten erreichbaren Ort zu landen. Hier sind die potenziell entführten Maschinen: Delta 1989 über West Virginia, United 93 über Pennsylvania …« Stafford schob mir einen Zettel zu. »Radardaten zeigen ein Flugzeug auf dem Weg hierher.« Der Secret Service hatte ein System, das es ihm ermöglichte, sich beim FAARadar einzuklinken. »Ich werde den ganzen Gebäudekomplex räumen lassen.« Er befahl die Evakuierung des Weißen Hauses. Ralph Seigier steckte den Kopf zur Tür herein. »Auf dem Pentagon-Parkplatz hat es eine Explosion gegeben, vielleicht eine Autobombe!« Paul Kurtz fragte mich: »Wenn wir das Weiße Haus 24
evakuieren, was ist mit dem Rest von Washington? Was ist mit der Fortführung der Amtsgeschäfte?« Continuity of Government (COG) war ein weiteres Programm, das uns aus der Zeit des Kalten Krieges erhalten geblieben war. Es regelte die Verlegung von hohen Regierungsmitgliedern in Zeiten eines nationalen Notstandes. COG enthielt auch Bestimmungen zur Übertragung von Machtbefugnissen, falls der Präsident oder wichtige Kabinettsmitglieder getötet wurden. Roger Cressey kehrte zurück und gab bekannt: »Soeben ist ein Flugzeug aufs Pentagon gestürzt.« Ich sprach immer noch mit der FAA über eine Liste potenziell entführter Flugzeuge. »Habt ihr mich gehört?« Cressey war eine Leihgabe des Pentagon an das Weiße Haus. Er hatte Freunde im Pentagon. Wir alle hatten dort Freunde. »Ich sehe Rumsfeld nach wie vor auf dem Bildschirm«, antwortete ich ihm, »also kann nicht das ganze Gebäude getroffen worden sein. Bleibt ruhig. Wir konzentrieren uns weiter auf unsere Arbeit. Roger, sieh nach, wo die Jagdflugzeuge bleiben. Ich will Patrouillenmaschinen über jeder größeren Stadt dieses Landes sehen. Sofort.« Staffords Evakuierungsbefehl zeigte inzwischen Wirkung. Die Mitarbeiter verließen das Gelände, sie kamen aus der Residence (den Privaträumen des Präsidentenpaares), aus dem Westflügel, aus dem Executive Office Building, und die uniformierten Wachtposten des Secret Service brüllten den Frauen entgegen: »Wenn Sie hochhackige Schuhe tragen: Ziehen Sie sie aus und laufen Sie, laufen Sie!« Meine Assistentin Beverly Roundtree telefonierte mit Lisa und sagte ihr, dass sie und meine übrigen Mitarbeiter immer noch in unserem Schutzraum im Executive Office Building seien. »Okay, okay«, sagte Lisa, die wusste, dass sie ihre 25
Gesprächspartnerin nicht zum Gehen überreden konnte, »dann besorgt euch wenigstens ABC-Schutzkleidung.« Unser COG-Koordinator kam herein. (Einem Wunsch der Regierung entsprechend wollen wir ihn hier Fred nennen, um seine Identität geheim zu halten.) »Wie bringe ich das COG-Programm in Gang?«, fragte ich ihn. Bei unseren Übungen hatte stets der Darsteller des Präsidenten diesen Befehl gegeben. »Indem Sie mir die entsprechende Anweisung geben«, antwortete Fred. In diesem Augenblick reichte mir Paul das weiße Telefon mit der Standleitung zum PEOC. Fenzel war dran. »Air Force One wird gerade startklar gemacht, an Bord sind immer noch einige Presseleute. Die Maschine wird einen Luftwaffenstützpunkt anfliegen. Die Genehmigung für die Jägereskorte liegt vor. Und …« Er legte eine kurze Pause ein. »Sag dem Pentagon, dass die Piloten durch eine Anweisung des Präsidenten befugt sind, feindliche Flugzeuge abzuschießen. Ich wiederhole: Sie sind befugt, feindliche Flugzeuge abzuschießen.« »Verstanden.« Ich war überrascht vom Tempo der Entscheidungen, die von Cheney und letztendlich über ihn von Bush kamen. »Sag ihnen, dass ich COG in Gang setze.« Ich drehte mich zu Fred um: »Los geht’s.« »DOD, DOD.« Ich bemühte mich um die Aufmerksamkeit der Pentagon-Mitarbeiter, die noch auf dem Bildschirm zu sehen waren. »Drei Entscheidungen. Erstens: Der Präsident hat die Anwendung von Gewalt gegen feindlich aussehende Flugzeuge befohlen. Zweitens: Das Weiße Haus braucht außerdem noch eine Jagdfliegereskorte für Air Force One. Drittens, und das gilt für alle Regierungsbehörden: Wir leiten den COGAblauf ein. Bitte aktiviert die Ausweich26
Kommandozentren und bringt eure Leute sofort dorthin.« Rumsfeld sagte, der Qualm dringe jetzt bis in das abhörsichere Videokonferenzstudio des Pentagon vor. Franklin Miller drängte ihn, per Hubschrauber an den Ausweichort des Verteidigungsministeriums zu wechseln. »Verdammt noch mal, ich bin zu alt für einen solchen Ortswechsel«, antwortete der Minister. Rumsfeld zog innerhalb des Pentagon in ein anderes Studio um und schickte seinen Stellvertreter Paul Wolfowitz an den Ausweichort. General Myers fragte: »Okay, Flugzeuge abschießen, aber wie lauten die Einsatzrichtlinien?« Es war eine Sache, den Kampfpiloten die Erlaubnis zu geben, ein entführtes Flugzeug abzuschießen, das für die Menschen in den Städten eine tödliche Bedrohung war. Aber für diese Piloten brauchten wir noch genauere Anweisungen. Ich bat Miller und Greenwood, sich um eine rasche Antwort des Pentagon auf diese Frage zu kümmern. »Ich will nicht, dass sich das verzögert, weil die Rechtsexperten das Thema endlos durchkauen.« Lisa legte mir eine Nachricht vor: »CNN berichtet von einer Autobombe beim State Department. Feuer auf der Mall in der Nähe des Kapitols.« Ralph Seigler streckte seinen Kopf herein: »Der Service meldet ein feindliches Flugzeug, zehn Minuten Zeit.« Beverly Roundtree kam mit Gasmasken. Cressey schlug vor, das Emergency-Broadcast-System in Betrieb zu nehmen. »Und was sollen sie dort sagen?«, fragte ich. »State, State …«, rief ich, um Rich Armitages Aufmerksamkeit zu erregen. Der stellvertretende Außenminister, früher bei einer 27
Eliteeinheit der Navy, antwortete im Militärfunkjargon. »State, hier, kommen.« »Rich, ist bei Ihnen gerade eine Bombe hochgegangen?« »Sieht’s hier vielleicht aus wie nach einer beschissenen Explosion, Dick?« »Äh, nein, aber das Gebäude zieht sich über vier Blocks, und du bist hinter einer großen, gepanzerten Tür. Sie müssen Ihre COG-Anlage in Betrieb nehmen.« »In Ordnung, gottverdammt noch mal, ich geh los und kümmere mich selbst darum«, sagte Armitage, stemmte sich aus dem Sessel und verschwand aus dem Bild. »Wo zum Teufel ist unsere COG-Anlage …?« Fred kam zurück. »Wir haben einen Hubschrauber losgeschickt, der den Speaker am Kapitol abholen soll. Wollen Sie alle Abteilungen in die COG-Ausweichstellen verlegen oder nur die Sicherheitsbehörden?« Dennis Hastert, der Speaker of the House, war der dritte Mann in der Befehlskette, falls Bush und Cheney tot oder handlungsunfähig waren. Bald würde er über die Verkehrsstaus hinweg zu einem Schutzraum fliegen. »Alle, Fred, alle Abteilungen. Und rufen Sie die Polizei im Kapitol an, fragen Sie, ob’s dort brennt.« »Schon erledigt«, antwortete Fred. »Falscher Alarm. Keine Brände, keine Bomben, aber Straßen und Bahnen sind verstopft von Leuten, die aus der Stadt fliehen wollen. Es wird schwierig werden, die Leute zu ihren Ausweichbüros zu bringen.« Seigler war wieder da: »Feindliches Flugzeug, acht Minuten entfernt.« Franklin Miller zog mich beiseite. Ich kannte ihn seit 1979, als wir beide im State Department gearbeitet hatten. Seit jener Zeit hatten wir einen freundschaftlichen 28
Umgang gepflegt und waren doch stets Konkurrenten gewesen. Miller wechselte ins Pentagon, während ich im State blieb. Wir waren beide Büroleiter geworden, dann Deputy Assistant Secretaries, dann Assistant Secretaries, schließlich Special Assistants to the President. »Wir müssen diese Leute hier rausschaffen«, sagte Frank und sah mir in die Augen. »Aber ich bleibe hier, wenn du bleibst.« Das gesamte Gelände des Weißen Hauses war jetzt evakuiert, bis auf die Gruppe um Cheney im Bunker unter dem Ostflügel und mein Team im Lagezentrum, das im Westflügel untergebracht war: Roger, Lisa und Paul aus meiner Antiterror-Abteilung, Frank Miller und Tom Greenwood sowie ein halbes Dutzend Leute, die im Lagezentrum arbeiteten. Roger Cressey, der rechts von mir saß, war ein Karrierebeamter mit großer praktischer Erfahrung auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit. 1991 hatte ich ihn im State Department für den Staatsdienst gewonnen. Ich hatte ihn an die Botschaft in Tel Aviv entsandt, um ihm Praxiserfahrungen in der wirklichen Welt zu verschaffen. Später dann, 1993, bat ich ihn, als Assistent von Admiral Jonathan T. Howe nach Mogadischu zu gehen. Howe hatte seinen Job als stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater im Weißen Haus aufgegeben und das Amt des De-facto-Gouverneurs der UNO in Somalia übernommen. Cressey fuhr nachts mit einem Pick-upLastwagen durch die dunklen Straßen von Mogadischu, trug eine Neun-Millimeter-Waffe an der Hüfte und hörte dabei das Gewehrfeuer rings um ihn herum. Drei Jahre später ernannte die UNO General Jacques Klein, einen weiteren Amerikaner, zum Verwalter des zerbombten Slawonien, und Cressey begleitete ihn in diese Trümmerlandschaft. Dabei bekamen es die beiden mit den 29
sich bekriegenden Serben und Kroaten zu tun, mit Kriegsverbrechern, Flüchtlingen und mit organisierten kriminellen Banden. Von dort wechselte Cressey in den zivilen Bereich des Pentagon, in dem die Kriegspläne der Militärs überprüft wurden. Im November 1999 war er dann zu mir ins State Department gekommen, genau zu dem Zeitpunkt, als wir für die Sicherheitskräfte den ersten nationalen Terroralarm ausriefen. Lisa Gordon-Hagerty, die hinter mir saß, hatte ihre Laufbahn beim Lawrence Livermore National Laboratory als Expertin für Atomwaffen und die gesundheitlichen Folgen radioaktiver Strahlung begonnen. Diese modebewusste blonde Frau war eine herausragende Erscheinung im Weißen Haus. Sie hatte wesentlichen Anteil an der Gründung und Organisation von NEST gehabt, dem Nuclear Emergency Support Team. Dieses Team sollte Spezialeinheiten der US-Streitkräfte unterstützen, deren Aufgabe es war, Atomwaffen, die sich im Besitz von Terroristen befanden, aufzuspüren und zu entschärfen. Lisa war auch bei der Delta Force und beim SEAL-Team Nr. 6 ausgebildet worden. Ihr Fachwissen über Massenvernichtungswaffen, einschließlich chemischer und biologischer Waffen, beeindruckte mich. Sie war mir besonders 1995 aufgefallen, als Terroristen in der Tokioter U-Bahn einen Anschlag mit dem Nervengas Sarin verübt hatten. 1998 bot ich ihr eine Stelle in unserem Team im Weißen Haus an, wo sie einen neuen, landesweit umzusetzenden Abwehrplan gegen Terroranschläge mit chemischen und biologischen Waffen entwickeln sollte. Drei Wochen nach ihrem Dienstantritt griff al-Qaida die US-Botschaften in Kenia und Tansania an. Lisa hatte damals drei Tage ohne Pause durchgearbeitet und die Arbeit von FBI, State Department, Marines und Bergungsteams unmittelbar nach diesen Anschlägen 30
koordiniert. Auch Paul Kurtz, der Mann zu meiner Linken, war ein Karrierebeamter. Das erste Mal hatte ich ihn 1987 eingestellt, in der Geheimdienstabteilung des State Department. Dort wurde er zum Experten für Atomwaffen und ballistische Raketen. Nach dem ersten Golfkrieg war er im Auftrag der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA und der UNSCOM-Waffeninspektionsteams mehrmals im Irak gewesen. Kurtz wurde dann politischer Berater des US-Kommandeurs der in der Türkei stationierten Operation Northern Watch, deren Aufgabe es war, die Flugverbotszone im Norden des Irak zu überwachen, und er war in dieser Funktion wöchentlich mit einem Blackhawk-Hubschrauber auf Patrouillenflug über den Kurdengebieten im Norden des Irak unterwegs gewesen. Eine Woche, nachdem seine Zeit dort abgelaufen war, kam sein Nachfolger ums Leben, als die US Air Force diesen Patrouillenhubschrauber versehentlich abschoss. Kurtz ging nach Nordkorea, als UN-Inspekteur für das dortige Atomwaffenprogramm. Beim ersten Inspektionstermin drängten nordkoreanische Soldaten ihn und sein Team unter höhnischen Zurufen in einen Betonbau ab, umstellten ihn und stießen durch die Fenster mit Bajonetten nach den UN-Mitarbeitern. Im Dezember 1999 kam Kurtz zum Antiterrorteam des Weißen Hauses und verbrachte den ersten Weihnachtsfeiertag in Begleitung des Nationalen Sicherheitsberaters im Rahmen des Terroralarms zur Jahrtausendwende mit Besuchen bei den Terrorbekämpfungszentren der CIA und des FBI. Kurtz war, wie Cressey, ein Marathonläufer und ein Typ, der mit allen Menschen zurechtkam. Diese Leute behielten einen kühlen Kopf. Für mich waren sie wie Familienangehörige, doch plötzlich wurde 31
mir klar, dass ich sie hier heraushaben wollte, zu ihrer eigenen Sicherheit. Ich fragte abermals bei der FAA nach, ob man dort nach wie vor von weiteren Flugzeugentführungen ausging. Es waren immer noch 3900 Flugzeuge in der Luft, und mindestens vier von ihnen vermutete man in der Hand von Terroristen. Ich rief alle Anwesenden vor dem Videokonferenzraum zusammen und bat sie, das Gelände zu verlassen. Lisa antwortete für die ganze Gruppe: »Nein, Dick. Keiner von uns lässt dich im Stich, also lasst uns einfach wieder reingehen.« »Wartet. Wir werden das nächste Ziel sein. Es ist keine Schande, von hier wegzugehen. Einige von euch haben auch Kinder – überlegt euch das«, sagte ich und sah dabei Roger an, dessen zweites Kind in wenigen Monaten auf die Welt kommen sollte. Roger antwortete, ohne zu zögern: »Wenn wir diese Sache nicht gemeinsam durchstehen, wer dann? – und wir haben jetzt keine Zeit mehr für solche Gespräche.« Er schob sich an mir vorbei und ging zurück in den Videokonferenzraum. Frank Miller schnappte sich einen Schreibblock und sagte: »In Ordnung. Alle, die bleiben, bitte hier unterschreiben.« »Was zum Teufel soll das denn?«, fragte Paul Kurtz. Frank musterte in aller Ruhe die gesamte Gruppe. »Ich werde die Liste per E-Mail hier rausschicken, sodass die Rettungsteams wissen, wie viele Leute sie suchen müssen.« Alle unterschrieben und gingen zurück an die Arbeit. Wir setzten die Videokonferenz fort. »DOD, DOD, kommen.« Ich fragte beim Pentagon die aktuellen Informationen zu den Jagdflugzeugen ab. Dick Myers war auf dem Laufenden: »Wir haben drei F32
16-Maschinen aus Langley über dem Pentagon. Andrews schickt Jäger der D.C. Air National Guard los. Wir haben Maschinen der Michigan Air National Guard in der Luft, die in östlicher Richtung eine potenziell bedrohliche Maschine über Pennsylvania verfolgen. Sechs Jäger aus Tyndall und Ellington sind unterwegs zu einem Treffpunkt mit Air Force One über Florida. Sie werden die Maschine nach Barksdale eskortieren. NORAD meldet, dass sie noch an diesem Morgen Awacs-Maschinen über New York und Washington haben werden.« Der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz war inzwischen im Alternate National Military Command Center außerhalb Washingtons angekommen und wieder in die Videokonferenz eingestiegen. »Wir müssen eine Botschaft an die Bevölkerung vorbereiten. Wir müssen den Leuten sagen, dass sie nicht die Straßen verstopfen sollen. Sie müssen wissen, dass wir den Luftraum kontrollieren. Wir müssen sagen, was los ist. Jemand muss aus dem Weißen Haus herauskommen und das sagen.« »Paul, im Weißen Haus sind nur noch wir, es ist keine Presse mehr auf dem Gelände. Ich glaube, dass der Präsident etwas zu sagen haben wird, wenn er in Barksdale landet, aber wir müssen vorsichtig sein … wir wissen nicht genau, was los ist, ob noch Angriffe im Gang sind … will jemand was sagen?« Dale Watson, der Leiter der Terrorbekämpfung beim FBI, winkte in die Kamera, um zu zeigen, dass er eine Neuigkeit hatte. »Legen Sie los, Dale.« »Dick, ich hab hier ein paar Neuigkeiten. Unser New Yorker Büro meldet, dass die Hafenbehörde alle Brückenund Tunnelverbindungen nach Manhattan schließt. Wir 33
haben einen Bericht über den Absturz eines großen Flugzeugs in Kentucky, in der Nähe der Grenze zu Ohio. Unserer Meinung nach sollten wir alle symbolträchtigen Gebäude im Land evakuieren, den Sears Tower, Disney World, die Liberty Bell, das TransAmerica-Gebäude in San Francisco. Diese Sache ist noch nicht zu Ende. Und, Dick – rufen Sie mich wenn möglich im SIOC an.« Das SIOC ist das Strategie Information and Operations Center, die Kommandozentrale des FBI. Dale hatte etwas auf Lager, was nicht alle Teilnehmer der Konferenz hören sollten. Frank Miller übernahm die Videokonferenz, und ich ging raus und rief Watson über eine abhörsichere Leitung an. »Wir haben die Passagierlisten der Fluglinien. Wir kennen einige der Namen, Dick. Das sind al-QaidaLeute.« Ich war verblüfft. Nicht, weil das ein Angriff von alQaida war, sondern weil sich Kämpfer von al-Qaida an Bord von Flugzeugen befunden und dabei Namen angegeben hatten, die das FBI al-Qaida zuordnen konnte. »Wie zum Teufel sind sie dann an Bord gekommen?«, wollte ich wissen. »He, mein Freund, schießen Sie nicht auf den Kurier. Die CIA hat vergessen, uns über diese Leute zu informieren.« Dale Watson war einer der guten Jungs beim FBI. Er hatte alles versucht, um die Bundespolizei zu Ermittlungen gegen al-Qaida-Leute in den Vereinigten Staaten zu bewegen, doch dabei nur wenig Erfolg gehabt. »Dick, wir müssen sicherstellen, dass kein Mitglied dieser Bande aus dem Land entkommt, anders als 1993.« Viele der Bombenattentäter, die 1993 den Anschlag auf das World Trade Center verübt hatten, hatten sich unmittelbar vor und direkt nach dem Attentat per Flugzeug abgesetzt. 34
»Okay, ich habe verstanden.« Noch während unseres Gesprächs sahen wir beide auf den Monitoren, wie der Südturm des World Trade Center in einer gewaltigen Staubwolke in sich zusammenstürzte. »Oh, mein Gott«, flüsterte Dale am Telefon. »Dale, versuchen Sie herauszufinden, wie viele Leute noch im Gebäude waren.« Ich war oft im World Trade Center gewesen, und die Zahl, die mir in den Sinn kam, war 10000. Dieser Anschlag entwickelte sich zu einer Katastrophe von bisher unvorstellbarem Ausmaß. »Ich versuch’s, aber einen von ihnen kennen Sie. John hat gerade von dort aus das New Yorker Büro angerufen.« Er meinte John O’Neill, meinen besten Freund beim FBI. John hatte sich in den Kopf gesetzt, al-Qaida zu vernichten, doch er wurde beim FBI hinausgeekelt, weil er nach der dort herrschenden Meinung angeblich von diesem Thema besessen war und auch nicht davor zurückschreckte, Porzellan zu zerschlagen, wenn er eine Chance sah, Osama bin Laden zu fassen. O’Neill passte nicht in das engstirnige Schema, das der FBI-Direktor Louis Freeh an seine Agenten anlegte. Er war zu aggressiv und dachte zu selbstständig. O’Neills Kampf mit Freeh war eine Fallstudie, die zeigte, warum das FBI den Schutz des eigenen Landes nicht gewährleisten konnte. Deshalb hatte O’Neill den Dienst beim FBI quittiert und erst vor einer Woche sein Amt als Sicherheitschef für den gesamten Komplex des World Trade Center angetreten. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. »Dale, geben Sie die Anweisung zur Evakuierung der großen öffentlichen Gebäude raus, auch alle Bundesbehörden im ganzen Land sollen evakuiert werden.« »Sie haben mich verstanden … und, Dick … halten Sie 35
die Stellung dort, wir brauchen Sie.« Ich ging hinüber zum Nachrichtentisch, an dem einer der dienstältesten Beamten des Lagezentrums nach wie vor ausharrte. Gary Breshnahan war als Army Sergeant noch zu Zeiten Reagans ins Weiße Haus gekommen. Er hatte einst den Nationalen Sicherheitsberater Bud McFarlane bei seiner geheimen Mission nach Teheran begleitet, um die Nachrichtenverbindungen zum Lagezentrum in Washington sicherzustellen. Diese Reise war zum Schlüsselereignis des Iran-Contra-Fiaskos geworden. Später hatte Gary dann Bill Clintons eidesstattliche Erklärung, die der Präsident im Verlauf des Amtsenthebungsverfahrens machte, auf Video aufgezeichnet. Er war ein allein erziehender Vater von drei Kindern. Ich versuchte ihn zum Gehen zu überreden: »Du solltest jetzt nicht mehr hier sein, Gare.« »Du willst doch, dass dieses Scheißvideo funktioniert, oder?« »Okay, wenn du schon dableibst … kannst du mal eben die Küstenwache und das Finanzministerium ins Bild bringen?« »Die Küstenwache ist kein Problem. Aber ich fress ’nen Besen, wenn beim Finanzministerium noch einer da ist.« Auf dem Rückweg zum Videokonferenzraum berichtete mir Cressey, was mit einem der Flugzeuge geschehen war, das sich nach den Meldungen auf uns zu bewegt hatte. »United 93 ist runtergekommen, in der Gegend von Pittsburgh abgestürzt. Seltsame Sache. Sieht so aus, als sei beim Absturz kein besonderes Ziel getroffen worden.« Auf einem der Wandbildschirme tauchte ein neuer Schauplatz auf. Ich sah eine Reihe von Männern in hellblauer Kleidung, und mittendrin stand Jim Loy, der 36
Kommandant der Küstenwache. Er war einer der kompetentesten Regierungsbeamten überhaupt, ein Mann, der ruhig und effektiv arbeitete. (Loy sollte später die neu geschaffene Behörde für Verkehrssicherheit, die Transportation Security Administration, leiten und schließlich zum stellvertretenden Heimatschutzminister aufsteigen.) »Dick«, sagte der Kommandant, »ein Dutzend Küstenwachboote ist mit Volldampf in Richtung New York unterwegs. Was können wir sonst noch für euch tun?« »Jim, Sie haben doch in jedem Hafen einen Kommandanten vor Ort, stimmt’s?« Er nickte. »Können diese Leute die Häfen dichtmachen? Ich will nicht, dass irgendein Schiff ausläuft, bevor wir wissen, was es geladen hat. Ich will auch nicht, dass ein Schiff einläuft und dann in die Luft fliegt, wie das bei dieser FlüssiggasGeschichte in Boston hätte passieren können.« Erst nach dem Terroralarm zur Jahrtausendwende hatten wir erfahren, dass al-Qaida-Kämpfer in Boston eingesickert waren. Sie kamen an Bord von Flüssiggastankern aus Algerien. Und wir hatten außerdem erfahren, dass sich die Innenstadt von Boston komplett in ein Trümmerfeld verwandelt hätte, wenn einer dieser Riesentanker in die Luft geflogen wäre. »Ich bin dazu befugt.« Loy drehte sich um und sprach mit einem weiteren Admiral. »Und ich habe soeben davon Gebrauch gemacht.« »Justiz, Justiz, bitte kommen«, lautete meine Aufforderung an Larry Thompson, den stellvertretenden Justizminister. »Larry, können Sie die Einwanderungsbehörde und den Zoll zusammenbringen, damit die Landgrenzen dichtgemacht werden?« 37
»Gehen Sie mal davon aus, dass das bereits erledigt ist, aber Sie wissen, wie es an den Grenzen aussieht. An vielen Orten spaziert man einfach rüber, vor allem an der Grenze zu Kanada. Wir brauchen übrigens etwas Hilfe, wenn wir den Justizminister zurückhaben wollen. Bekommen wir die Starterlaubnis für ein Flugzeug in Milwaukee?« Inzwischen herrschte ein generelles Flugverbot, von dem nur die Jagd- und die AwacsFlugzeuge ausgenommen waren. Frank Miller berichtete, das Verteidigungsministerium habe inzwischen einen weltweiten Alarm für alle USEinrichtungen ausgerufen, DEFCON 3: »Das ist seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 nicht mehr passiert.« Ich erinnerte mich an damals. Es war das erste Mal, dass ich bei der Bewältigung einer Krise mitgearbeitet hatte. Ich war ein junger Mitarbeiter im National Military Command Center, als sowjetische Atomsprengköpfe entdeckt wurden, die auf dem Weg nach Ägypten waren. Verteidigungsminister James Schlesinger hatte die Alarmstufe DEFCON 3 ausgerufen und US-Truppen in ganz Europa mobilisiert, ohne unsere Nato-Verbündeten zu informieren. »State, State, bitte kommen.« Armitage erschien im Bild. »Rich, das Pentagon hat DEFCON 3 ausgelöst, Sie wissen, was das bedeutet.« Armitage wusste es; in der ersten Regierung Bush war er Assistant Secretary im Verteidigungsministerium gewesen. »Das bedeutet, dass ich den Russen am besten gleich Bescheid sage, bevor sie sich in die Hosen machen.« Armitage aktivierte die Direktverbindung zur Vermeidung nuklearer Konflikte, das Nuclear Risk Reduction Center. Dazu musste er nur einen Korridor hinuntergehen, denn diese Einrichtung lag in unmittelbarer Nähe der Kommandozentrale des State Department und verfügte 38
über eine Direktverbindung zum russischen Verteidigungsministerium. Auf diesem Weg sollten in Krisenzeiten Informationen ausgetauscht werden, um Missverständnisse und Fehleinschätzungen zu vermeiden. Armitage tauchte wieder auf. »Verdammt gut, dass ich das gemacht habe. Rate mal, wer gerade eben eine Übung aller strategischen Nuklearstreitkräfte auf den Weg bringen wollte?« Er hatte sein russisches Pendant davon überzeugen können, die Übung zu verschieben. »Wir bekommen hier übrigens Anrufe aus Ländern in aller Welt, die ihre Hilfe anbieten. Wir werden alle unsere Botschaften für den Publikumsverkehr schließen, das Personal reduzieren und die Sicherheitsmaßnahmen verschärfen.« Jane Garvey winkte in die Kamera. »Jetzt sind nur noch 934 Flugzeuge in der Luft, aber wir haben ein Problem in Alaska.« Es sah so aus, als sei eine Boeing 747 der Korean Airlines entführt worden. »KAL 85, NORAD ist an der Sache dran.« »Hat die Flugüberwachung in Alaska Funkkontakt?« Ich wollte wissen, ob die FAA mit der 747 kommunizieren konnte. Garveys Daumen zeigten bestätigend nach oben. »Okay, sagt der KAL, sie soll die Anweisungen der F-15Maschinen befolgen, oder wir werden sie abschießen. Wir lassen sie nicht nach Prudhoe Bay fliegen.« Mir stand das Bild vor Augen, wie die 747 den Ort auslöschte, aus dem das gesamte, an der Nordküste Alaskas geförderte Öl exportiert wurde. Mittlerweile war die Maschine von Präsident Bush, von Jagdflugzeugen eskortiert, auf dem Luftwaffenstützpunkt Barksdale in Louisiana gelandet. Bush hatte Cheney über 39
eine abhörsichere Festnetzleitung angerufen. Cheney drängte Bush gemäß Frank Millers Empfehlungen, an einen sicheren Ort weiterzufliegen: entweder zum Hauptquartier des Strategie Air Command bei Omaha oder zur NORAD-Zentrale in Cheyenne Mountain in Colorado. Den Presseleuten in der Maschine untersagte man, ihren gegenwärtigen Standort durchzugeben. Bush gab eine öffentliche Erklärung ab, die aufgezeichnet und erst nach dem erneuten Start seiner Maschine gesendet wurde. »Verstehen Sie mich richtig. Die Vereinigten Staaten werden die Personen, die für diese feigen Anschläge verantwortlich sind, zur Strecke bringen und bestrafen.« Zu diesem Zeitpunkt standen die Attentäter wohl kaum als Feiglinge da. »Die Freiheit selbst wurde heute Morgen von einem gesichtslosen Feigling angegriffen. Und die Freiheit wird verteidigt werden.« Er wirkte zaghaft. Cressey sagte mir, dass Fenzel mich suche. Ich nahm den Hörer für die Standleitung zum Presidential Emergency Operations Center in die Hand und hörte erneut das Freizeichen. Wieder drückte ich den PEOCKnopf, und der Mensch, der sich daraufhin meldete, brummte irgendetwas und gab den Hörer dann an Major Fenzel weiter. »Welches Arschloch nimmt denn deine Anrufe entgegen, Mike?«, fragte ich. »Das war der Vizepräsident, Dick. Und er möchte, dass du rüberkommst.« Frank Miller übernahm wieder die Leitung der Videokonferenz und damit zugleich auch die Funktion, die mir für den größten Teil des Tages zugefallen war: Krisenmanager der Nation. Schon oft war ich vom Lagezentrum im Westflügel über die Privaträume des Präsidenten zum Ostflügel gegangen und hatte dabei den zahlreichen Wachposten, die diesen 40
Weg säumten, meinen Ausweis gezeigt. Heute war keiner mehr da. Es war völlig still. Brian Stafford hatte die Wachen angewiesen, jenseits des Zaunes einen Bereich von der Größe eines ganzen Häuserblocks abzuriegeln. Sie hatten Straßen abgesperrt und Maschinengewehre aufgestellt. Innerhalb des Zaunes, im Weißen Haus selbst, herrschte eine gespenstische Leere. In dieser Stille während meines Weges zum Ostflügel kam ich zum ersten Mal wieder zum Atemholen: Das war also die »große Attacke von al-Qaida«, vor der wir gewarnt hatten, und sie war größer als nahezu alles, was wir uns hatten vorstellen können, mit Ausnahme eines Atomangriffs. Nach dem Einsturz beider Türme konnte die Zahl der Todesopfer irgendwo zwischen 10000 und 50000 liegen. Niemand konnte das wissen. Und es war noch nicht vorbei. Immer wieder hörte ich in meiner Erinnerung Marlon Brandos geflüsterte Worte aus Apocalypse Now: »The horror, the horror.« Jetzt würden wir endlich die Ausbildungslager bombardieren, vielleicht sogar in Afghanistan einmarschieren. Natürlich würden sich Bin Laden und sein Führungszirkel nicht in diesen Lagern aufhalten, die waren jetzt vielleicht so leer wie das Weiße Haus. Wir würden einen langen Kampf gegen al-Qaida aufnehmen, einen Kampf, der mit allen Mitteln geführt werden würde. Doch es war zu spät. Diese Leute hatten bewiesen, dass die Supermacht verwundbar war, dass sie schlauer waren, und sie hatten Tausende von Menschen getötet. Die Schuldzuweisungen würden kein Ende nehmen, doch es war jetzt keine Zeit für solche Gedanken. Jetzt nicht. Wir mussten rasch handeln. Weitere Angriffe waren vielleicht schon auf den Weg gebracht und mussten gestoppt werden. Das ganze Land stand unter Schock. Der größte Teil des Regierungsapparats war aus Washington 41
geflohen. Die Nation musste beruhigt werden. Wir mussten unsere Toten finden. Ich eilte die Treppe im Ostflügel hinunter, bog um die Ecke und sah in den Lauf einer Maschinenpistole. Cheneys Wachabteilung hatte sich vor den Toren des Bunkers aufgebaut, mit schusssicheren Westen, Gewehren und MP5-Maschinenpistolen. Diese Leute kannten mich und wollten die Bunkertür dennoch nicht öffnen. »He, Jungs, ich bin’s. Der VP hat mich hergerufen. Ruft wenigstens drinnen an und sagt ihm Bescheid, dass ich hier bin.« Während sie das taten, filzten sie mich. Steve Hadley, Condi Rices Stellvertreter, erschien an der Bunkertür, identifizierte mich und holte mich herein. In dem engen, von Stockbetten gesäumten Korridor sah ich noch mehr MP5-Maschinenpistolen und Gewehre. Die Gruppe im Presidential Emergency Operations Center war ganz offensichtlich politischer Provenienz. Neben dem Vizepräsidenten und Condi Rice sah ich dort noch Lynne Cheney, die Frau des Vizepräsidenten; seine politische Beraterin Mary Matalin; seinen Sicherheitsberater Scooter Libby; Josh Bolten, den stellvertretenden Stabschef des Weißen Hauses, sowie Karen Hughes, die Direktorin für die Medienarbeit des Weißen Hauses. Auf den Monitoren lief simultan die Berichterstattung von fünf Sendern. Auf einem der Bildschirme sah ich das Lagezentrum. Ich schnappte mir Mike Fenzel: »Wie sieht’s dort drüben aus?« »Prima«, flüsterte der Major, »aber ich kann die Krisenkonferenz nicht mithören, weil Mrs. Cheney dauernd euren Ton abdreht, damit sie CNN hören kann … 42
und der Vizepräsident legt immer wieder den Hörer der Standleitung zu euch auf.« Mrs. Cheney war mehr als nur ein Familienmitglied, das beschützt werden musste. Sie teilte die ideologisch geprägten, im politischen Spektrum weit rechts einzuordnenden Ansichten ihres Ehemannes und stellte hier im Bunker ihren Rat und ihre Einschätzungen zur Verfügung. Ich trat hinzu und ließ mich zwischen Cheney und Rice nieder. »Der Präsident war mit dem Vorschlag einverstanden, nach Offutt auszuweichen«, teilte mir Cheney mit. (In Offutt, einem Luftwaffenstützpunkt in Nebraska, saß das Strategie Air Command.) Der Stil seiner Mitteilung legte mir nahe, dass dies ein hartes Stück Arbeit gewesen sei. »Er kann noch nicht hierher zurückkommen«, beharrte ich. »Benötigen Sie irgendetwas?«, fragte ich den Vizepräsidenten. »Die Leitungen hier sind miserabel«, antwortete er. Seine Telefonate mit dem Präsidenten wurden immer wieder unterbrochen. »Ist Ihnen jetzt klar, warum ich Geld für einen neuen Bunker wollte?« Diese Frage konnte ich mir nicht verkneifen. Der Präsident hatte meine Pläne für eine Ersatzeinrichtung gekippt. »Das wird kommen«, versprach Cheney. »Haben Sie alles, was Sie brauchen, arbeiten alle so, wie Sie es wollen?«, fragte er und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich kannte Cheney damals seit einem Dutzend Jahren, und über diesen ganzen Zeitraum hinweg hatte mich seine komplexe Persönlichkeit fasziniert. Oberflächlich betrachtet war er ein ruhiger, freundlicher Mensch, doch unter dieser Oberfläche verbargen sich 43
starke, fast extrem zu nennende Überzeugungen. Er war einer der fünf radikalsten Konservativen im gesamten Kongress gewesen. Hinter dem ruhigen Äußeren lauerten oft Ansichten, die deplatziert gewirkt hätten, wenn sie offensiver vorgetragen worden wären. Die Presse hatte bereits spekuliert, dass in Fragen der nationalen Sicherheit in Wirklichkeit Cheney als Präsident fungiere, nicht der unerfahrene Gouverneur aus Texas. Doch jetzt wollte er ganz sichergehen, dass der Präsident erfuhr, was wir in dessen Abwesenheit getan hatten. »Ich möchte, dass Sie ein Briefing für ihn bereithalten, sobald er gelandet ist. Und ich brauche eine Zeitleiste für alles, was bislang veranlasst wurde.« Ich ging auf dem gleichen Weg zurück, quer durch das verlassene Weiße Haus. Es war mittlerweile 12.30 Uhr. Im Westflügel angekommen, stellte ich fest, dass Gary Breshnahan Recht gehabt hatte: Niemand schaffte es, eine Verbindung zum Videokonferenzstudio des Finanzministeriums herzustellen. Ich schnappte mir Paul Kurtz. Wir beide hatten vor einigen Wochen zwei volle Tage damit verbracht, in der ganzen Wall Street herumzukriechen. Wir hatten uns aufs Parkett der Börse begeben, waren aber auch durch die Röhren gekrochen, in denen die Glasfaserkabel zu den Schaltstellen bei Verizon und AT&T verliefen. Wir hatten einige Gebäude identifiziert, die im Falle eines Ausfalls die Wall Street vom Rest der Welt abschneiden würden. »Paul, ruf das Finanzministerium an und die Zentralnotenbank, bring das National-Communications-System in Gang. Wir müssen sicherstellen, dass die Märkte ihre Buchungen ordentlich abschließen können, und wir müssen die Schaltzentralen und SIAC schützen. Diese Abkürzung steht für die Securities Industry Automation Corporation, das Backup-System für 44
Zentralrechner, Leitungssysteme und Daten, das die Börsen Amerikas – auch die von New York – in Gang hält. Kurtz und ich waren in den Computerräumen dieser Einrichtung gewesen. Das National-CommunicationsSystem ist ein weiteres Relikt aus dem Kalten Krieg. Es befindet sich im Verteidigungsministerium, arbeitet aber für das Weiße Haus, und seine Aufgabe besteht darin, wichtige Telefonverbindungen und Datenströme auch im Fall eines Angriffs aufrechtzuerhalten. In der Schaltzentrale in Arlington sitzen alle wichtigen Telefongesellschaften an einem Tisch zusammen. Kurtz rief Brent Greene an, den verantwortlichen Manager dort, und sagte ihm: »Sag ihnen alles, was sie brauchen, um Verizon am Laufen zu halten.« Eine Schaltzentrale von Verizon für die Wall Street lag unmittelbar neben dem World Trade Center, und wir sahen auf den Fernsehbildschirmen, dass das mit Routern und Schaltverbindungen vollgestopfte Gebäude beschädigt war. Kurtz kümmerte sich um die Wertpapierhändler. Einige CEOs aus der Wall Street, die man 1993, nach dem Bombenanschlag auf das World Trade Center, nicht mehr in die Türme zurückgelassen hatte, riefen damals direkt bei Präsident Clinton an. Diese Leute konnten ihre Transaktionen an jenem Tag nicht mehr ordentlich abwickeln, und einige Milliarden Dollar hingen unverbucht in der Luft. An jenem Tag vor acht Jahren hatte ich auf Anweisung des Präsidenten den Feuerwehrchef angerufen und mich mit ihm geeinigt: Wichtige Entscheidungsträger durften in die Türme zurück. Diese Möglichkeit bestand diesmal nicht, denn die Türme gab es nicht mehr. Kurtz rief die Leute, mit denen wir uns in diesem Jahr bereits getroffen hatten, in der Wall Street an. Dabei erfuhr er, dass sie über Reservedatenspeicher außerhalb des betroffenen Geländes 45
verfügten und so das Problem von 1993 umgangen hatten. Und er erfuhr außerdem, dass es wegen der Infrastrukturschäden schwierig sein werde, den Markt wieder in Gang zu bringen. Ich ging ins Videokonferenzzentrum zurück und übernahm wieder den Vorsitz. »FEMA, FEMA, bitte melden.« Die Federal Emergency Management Agency war für den Umgang mit Katastrophen zuständig, doch ein Ereignis dieser Größenordnung hatte es noch nie gegeben. Mike Brown, der stellvertretende Direktor, erschien auf dem Bildschirm. »Der Bürgermeister hat zur Evakuierung Manhattans südlich der Canal Street aufgerufen. Gouverneur Pataki hat die Nationalgarde alarmiert. Wir haben acht von der FEMA ausgerüstete Teams nach Manhattan geschickt, und vier weitere sind nach Arlington unterwegs. Sowohl New York als auch Washington haben den Notstand ausgerufen.« »Wie viele Tote?«, fragte ich. »Sie haben keine Ahnung, Tausende«, antwortete er kopfschüttelnd. Cressey hatte ein Powerpoint-Briefing für Bush vorbereitet, das diesem zugeleitet werden sollte, sobald er in Omaha gelandet war, und Kurtz hatte eine Zeitleiste zusammengestellt, aus der hervorging, was wann geschehen war und was wir getan hatten. Diese Unterlage sah gut aus, leicht verständlich, unkompliziert. Ich bat Kurtz, sie ins PEOC hinüberzubringen. Dann erinnerte ich mich an meine eigenen Schwierigkeiten, dort Einlass zu finden, und bat Pete McCauley, meinen Verbindungsoffizier zum Secret Service, Kurtz zu begleiten und für ihn zu bürgen. Kurtz und McCauley marschierten durch das 46
menschenleere Weiße Haus und übergaben die Dokumente am Eingang zum Bunker im Ostflügel einem Agenten, den Pete kannte; dieser Mann sollte sie an den Vizepräsidenten weiterreichen. Gemeinsam stiegen die beiden Boten wieder hinauf, gingen ins Freie, in die Kolonnade, und dort am Rosengarten entlang. Auf halbem Weg zum Westflügel hörten sie plötzlich einen ohrenbetäubenden Lärm und sahen zum Himmel, wo zwei F-15-Jäger in knapp 100 Metern Höhe den Rasen vor dem Weißen Haus überflogen und das 200 Jahre alte Executive Mansion in den Grundmauern erzittern ließen. McCauley drückte sich mit dem Rücken an die Wand und rief: »Heilige Maria, Mutter Gottes!« Kurtz, ein Absolvent des College of the Holy Cross, vollendete das Gebet: »Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus Christus.« Die Combat Air Patrol war eingetroffen. Das Weiße Haus war jetzt Kriegsgebiet. Nach meiner Rückkehr ins Lagezentrum suchte ich Breshnahan. »POTUS ist im Landeanflug auf Offutt. Ich brauche eine Videoverbindung dorthin, für dieses PowerPoint-Briefing.« Gary bedeutete mir, das sei kein Problem, aber er müsse dafür die Küstenwache abhängen. Kurz vor 15 Uhr sahen wir Bush in den unterirdischen Bunker beim Strategie Air Command im Luftwaffenstützpunkt Offutt in Nebraska schreiten. Bis auf Frank Miller und mich verließen jetzt alle Anwesenden das Videokonferenzzentrum im Westflügel. Eigentlich war die Frage des passenden Aufenthaltsortes für den Präsidenten als letztes Thema auf der Tagesordnung vorgesehen. Stattdessen begannen wir mit diesem Punkt. 47
»Sobald die Maschine aufgetankt ist, kehre ich ins Weiße Haus zurück«, sagte der Präsident. »Keine weitere Diskussion. Punkt zwei: Briefing durch Dick Clarke.« Ich ging die »Chronik der Ereignisse« durch, von 8.50 Uhr bis 10.06 Uhr, vier Flugzeugabstürze und die damit verbundenen Folgen. Dann folgten die »Reaktionen«, der Landebefehl für alle in der Luft befindlichen Flugzeuge, das Schließen der Grenzen, die Sperrung der Häfen, der DEFCON-3-Alarm für die Streitkräfte, der Umzug von Regierungsbehörden in die Bunker, FEMABergungstrupps auf dem Weg nach Manhattan. Dann folgten die »Aufgaben für die kommenden 24 bis 48 Stunden«. Da sich der Präsident für die Rückkehr ins Weiße Haus entschieden hatte, schlug ich vor, einen verfassungsgemäßen Nachfolger samt Mitarbeiterteam vor den Toren der Hauptstadt zu stationieren. (Diese Aufgabe übernahm der Handelsminister Don Evans, der an einen geheimen Ort außerhalb der Stadt gebracht wurde.) Nach der Rückkehr des Präsidenten brauchten wir auch eine öffentliche Stellungnahme aus dem Oval Office. Außerdem mussten weitere Entscheidungen getroffen werden: zur Dauer des Startverbots für Flugzeuge, zum militärischen Schutz für wichtige Teile unserer Infrastruktur im In- und Ausland und zu einem Zeitplan für die Wiedereröffnung der Finanzmärkte. Wir mussten die Regierungsbediensteten anweisen, zu Hause zu bleiben. Im Prinzip ging es darum, dem Land eine ein- bis zweitägige Atempause zu verordnen, bis wir wussten, ob weitere Angriffe folgen würden, bis effektivere Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt waren und wir die Schäden gesichtet und uns gefangen hatten. CIA-Direktor George Tenet war als Nächster an der Reihe. Er ließ keinen Zweifel an seinem Verdacht, dass alQaida diese Gräueltaten begangen hatte, und er hatte 48
bereits mit wichtigen Amtskollegen in aller Welt telefoniert und Verbündete für den Gegenschlag angesprochen. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld informierte über den Mobilisierungsgrad der Streitkräfte. Die Atlantikflotte hatte Norfolk verlassen und war mit Flugzeugträgern und Kreuzern auf dem Weg nach New York. Er verschwieg die Tatsache, dass niemand dem Kommandeur der Atlantikflotte einen entsprechenden Befehl gegeben hatte. In Zeiten wie diesen war Eigeninitiative gefragt. Mittlerweile patrouillierten rund 120 Jagdflugzeuge über den großen Ballungsgebieten des Landes. Die amerikanischen Streitkräfte waren weltweit in Gefechtsbereitschaft. Die FEMA berichtete von den für ein städtisches Umfeld ausgerüsteten Such- und Rettungsteams, die auf der Schnellstraße nach Manhattan brausten. Blutkonserven waren ebenfalls auf dem Weg dorthin. Im Staat New York, in Virginia und im District of Columbia waren Notstandsmaßnahmen in Kraft getreten. Dann war der Präsident in der Luft, eskortiert von F-15-Jägern, auf dem Weg zum Luftwaffenstützpunkt Andrews. Sein Flugzeug war die einzige Passagiermaschine, die noch über den Vereinigten Staaten flog. Der Himmel war leer gefegt. Irgendwie hatte es die FAA fertig gebracht, über 4000 Flugzeuge auf den Boden zu bringen, sie hatte Flüge aus Europa auf winzige kanadische Flugplätze umgeleitet, in deren Umfeld es nur wenige Hotels gab, wenn überhaupt. Kanadische Bürger nahmen Fremde bei sich zu Hause auf. Dort gewannen die Menschen Schritt für Schritt Klarheit über das, was ihnen widerfahren war, was Amerika widerfahren war. Nach Bushs Abflug aus Omaha stürzte das World Trade Center Nr. 7 ein, ein vorgeschobenes kleineres Gebäude 49
auf der Nordseite des WTC-Komplexes, in dem sich die Kommandostelle des Bürgermeisters und das Einsatzbüro des Secret Service befanden. Die Gespräche im Lagezentrum galten jetzt den nächsten Maßnahmen, die zu treffen waren. »Okay«, eröffnete ich, »wir alle wissen: Das war alQaida. FBI und CIA werden ermitteln und prüfen, ob ich richtig liege. Wir wollen die Wahrheit wissen, doch lasst uns einstweilen davon ausgehen, dass es al-Qaida war. Was tun wir als Nächstes?« »Sieh mal«, sagte Rich Armitage, »wir haben den Taliban unmissverständlich erklärt: Wenn so etwas passiert, seid ihr dran. Wir machen jetzt keinen Unterschied mehr zwischen den Taliban und al-Qaida. Sie sind beide erledigt.« »Und Pakistan?«, fragte ich. »Denen sagen wir, dass sie sich raushalten sollen. Wir müssen das Rückzugsgebiet ausschalten.« Armitage war richtig in Fahrt geraten. Doch wenn Pakistan nicht kooperierte, hatten wir ein ernsthaftes Problem mit einem islamischen Staat, der über Atomwaffen verfügte. »Der Präsident wird auch Druck auf den Jemen und Saudi-Arabien ausüben müssen«, sagte John McLaughlin, Tenets Stellvertreter. »Und wir brauchen ein umfangreiches Programm für verdeckte Aktionen über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren, Unterstützung für die Nordallianz.« (Für Ahmed Schah Massud, den charismatischen Führer der Nordallianz, kam dies jedoch zu spät. Am 9. September war er Opfer eines Attentats geworden und erlag am 15. September seinen Verletzungen.) »Es gibt 42 wichtige, mit den Taliban verbundene Bombenziele«, sagte General Myers nach einem Blick auf 50
ein Briefingpapier. Kurz vor 19 Uhr Ortszeit landete die Boeing 747, die alle Welt unter der Bezeichnung Air Force One kennt, auf dem Luftwaffenstützpunkt Andrews. Der Präsident stieg rasch in Marine One um, den in unmittelbarer Nähe abgestellten Hubschrauber. Der Helikopter flog in Begleitung zweier weiterer Maschinen, die der Ablenkung dienten, einen Umweg über der Stadt, bevor er schließlich auf dem South Lawn landete, dem Rasen auf der Südseite des Weißen Hauses. Über den Hubschraubern kontrollierte eine Awacs-Maschine den Luftraum und wies den F-15und F-16-Patrouillenmaschinen ihre Flugrouten zu. Sie folgten einer kleineren Maschine der US-Luftwaffe, in der sich der Außenminister Colin Powell befand. Sofort nach seiner Landung brauste er mit einem schwer bewaffneten Konvoi auf direktem Weg zum Weißen Haus. Der Präsident sprach um 20.30 Uhr aus dem Oval Office zur Nation. Karen Hughes hatte die gemeinsame Position aus der Videokonferenz in diese Botschaft eingebaut: »Wir werden keinen Unterschied machen zwischen den Terroristen, die diese Taten begingen, und denen, die sie beherbergen.« Gleich nach der Ansprache traf sich der Präsident mit uns im PEOC. Er hatte diesen Ort noch nie zuvor betreten. Im Unterschied zu seinen drei Fernsehansprachen an diesem Tag trat Bush bei dieser Besprechung selbstsicher, entschlossen und überzeugend auf. »Ich möchte, dass Sie alle begreifen: Wir befinden uns im Krieg, und wir werden im Krieg bleiben, bis diese Sache erledigt ist. Alles andere ist unwichtig. Alle Mittel zur Führung dieses Krieges werden bereitgestellt. Alle Hindernisse, mit denen Sie bisher zu tun hatten, sind beseitigt. Sie bekommen sämtliche Geldmittel, die Sie dafür brauchen. Dies ist ihr einziges Arbeitsgebiet.« Der 51
Präsident bat mich, mögliche Ziele für den nächsten Angriff zu bestimmen und eine solche Attacke zu verhindern. Verteidigungsminister Rumsfeld wandte im Lauf dieser Debatte ein, das Völkerrecht billige die Anwendung von Gewalt nur zur Abwehr drohender Angriffe, nicht als Vergeltung. Bush riss ihm fast den Kopf ab. »Nein«, brüllte der Präsident in den engen Besprechungsraum hinein, »mir ist egal, was die Völkerrechtsexperten sagen, wir werden irgendjemand in den Hintern treten.« Bush hatte bereits erfahren, dass einige der Flugzeugentführer der CIA bekannt gewesen waren: als al-Qaida-Leute, die sich auch noch in den Vereinigten Staaten aufhielten. Jetzt wollte er wissen, wann die CIA das FBI informiert und was die Bundespolizei daraufhin unternommen hatte. Die Antworten waren schwammig, doch es wurde deutlich, dass sich die CIA monatelang Zeit gelassen hatte, bevor sie dem FBI mitteilte, dass die Terroristen bereits im Land waren. Als das FBI dann Bescheid wusste, gelang es ihm nicht, diese Leute ausfindig zu machen. Hätte das FBI die Terrorzelle in der Fernsehshow America’s Most Wanted präsentiert oder die Flugaufsichtsbehörde in dieser Angelegenheit alarmiert, wären vielleicht alle Verdächtigen rechtzeitig festgenommen worden. Bushs Miene zeigte deutlich, dass er zu einem späteren Zeitpunkt auf dieses Thema zurückkommen würde. Jetzt aber interessierte ihn zunächst der wirtschaftliche Schaden. Irgendwie war ihm zu Ohren gekommen, dass vier Einkaufsmalls in Omaha nach den Anschlägen ihre Pforten geschlossen hatten. »Ich will, dass die Wirtschaft wieder läuft. Die Geschäfte müssen umgehend wieder öffnen, Banken, der Aktienmarkt, alles soll morgen weitergehen.« Ken Dam, der stellvertretende 52
Finanzminister, der den auf Reisen befindlichen Paul O’Neill vertrat, gab zu bedenken, dass auch die Infrastruktur der Wall Street beschädigt worden sei. »Sobald die Rettungsarbeiten abgeschlossen sind, konzentriert ihr alle Kräfte auf die Reparatur dieser Schäden, damit die Geschäftstätigkeit weitergehen kann«, drängte Bush. Er wandte sich dem Verkehrsminister Norman Mineta zu und fragte eindringlich nach der Wiederaufnahme des Flugverkehrs. Mineta erwiderte, dies könne bereits am folgenden Tag mittags um zwölf Uhr geschehen. Brian Stafford drängte den Präsidenten, die Nacht im Bunker zu verbringen, doch der wollte nichts davon wissen. Nach der Besprechung ging er ins Oval Office und fing an zu telefonieren. Ich ging ins Lagezentrum zurück und fand dort mein intensiv arbeitendes Team vor. Cressey telefonierte mit dem Stabschef des New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani. »Alles, was er haben will, Soldaten, Ausrüstung. Und ruft uns direkt an, wenn die FEMA oder irgendeine andere Behörde trödelt.« Kurtz sprach mit Verizon über die Börse. Ich bat ihn, sie eine Minute lang hinzuhalten, damit ich ihm das geben konnte, was im Sprachgebrauch des Weißen Hauses als »guidance« (Anleitung, Unterweisung) bezeichnet wurde: »Mitteilung des Präsidenten an dich … zwei Prioritäten. Zuerst suchen und retten. Danach die Märkte wiedereröffnen. Sag mir, was du dafür alles brauchst.« Paul sah auf, und zum ersten Mal sah ich einen Anflug von Müdigkeit. »Wie wär’s mit acht Kilometern Glasfaserkabeln und einem Dutzend Schaltstellen und Routern … alles fertig installiert?« »Das dürfte kein Problem sein. Das können wir alles kriegen.« 53
Ich drängte ihn und berichtete ihm von der Entschlossenheit des Präsidenten. »Also, hast du die Märkte bis Donnerstag wieder geöffnet?« Sobald ich das ausgesprochen hatte, war mir klar, dass es ein zu ehrgeiziges Ziel war, auch wenn wir bereits Anrufe der Firmenchefs von Cisco, AT&T und anderen Unternehmen erhielten, die uns bedingungslose materielle und personelle Unterstützung anboten. »Frag mich am Montag noch mal«, gab Kurtz zurück und setzte sein Telefonat fort. Lisa sprach mit Gouverneur George Pataki. »Können Sie die Zahl der Todesopfer nicht ungefähr schätzen?« Ich nahm sie beiseite. »Kennst du diese Chemo- und Biodetektoren, die ihr zur Zeit entwickelt? Ich will ein paar von diesen Dingern haben, hier und jetzt und auf dem Kapitol.« »Nun, damit gibt’s nur drei kleine Probleme, Dick«, antwortete Lisa. »Die Geräte sind a) im Versuchsstadium, b) in Kalifornien, und c) ruht zur Zeit der Flugverkehr.« »Gut, also hier im Weißen Haus, am Mittwoch, betriebsbereit und funktionsfähig …?«, fragte ich. »Okay, okay«, sagte sie und nahm diesen Punkt in ihre Liste auf. Das Navy-Personal der Kantine des Weißen Hauses war wieder aufgetaucht und verteilte Sandwiches. »Wir haben die ganze Nacht hindurch geöffnet.« Jetzt wurde mir plötzlich bewusst, dass ich seit dem vergangenen Abend nichts mehr gegessen hatte, seit ich mit Rich Bonin von 60 Minutes in einem neuen Meeresfrüchte-Restaurant in der Nähe des Weißen Hauses gewesen war. Bonin war vom Thema al-Qaida besessen und hatte mit mir und Lesley Stahl im vergangenen Oktober eine Story über den Terrorismus gemacht. Drei Stunden lang hatten sie mich 54
damals interviewt, für einen Filmabschnitt von 17 Minuten Länge. Jetzt lief bei CBS ein großer Teil des für den Film nicht benutzten Interviewmaterials über den Sender, ohne dass ich dies wusste. Dazu gehörte auch die Passage, in der ich die Konzeption des Continuity of Government erklärte. In diesem Restaurant hatte mich Bonin noch gefragt, ob es stimme, dass ich um meine Versetzung gebeten hätte. Vom 1. Oktober an sollte ich ein neues nationales Sicherheitsprogramm für den Cyberspace auf den Weg bringen. Bonin wollte in seiner Story vermitteln, dass ich den Terrorismus-Job aufgeben würde, weil ich wegen der mangelnden Aufmerksamkeit der neuen Regierung für das Thema al-Qaida frustriert sei. Ich bat ihn, das bleiben zu lassen, gab aber zu, dass ich um die Versetzung gebeten hatte. Das schien jetzt eine Ewigkeit her zu sein. Ich schnappte mir ein Sandwich und ging mit Roger Cressey auf den Parkplatz hinaus, der einst als West Executive Avenue eine öffentliche Verkehrsstraße gewesen war. Mein Auto stand immer noch vor dem Westflügel, schief abgestellt, so wie ich am Morgen vorgefahren war – das einzige Fahrzeug weit und breit. Die Nacht war sternenklar und ruhig. Wir befanden uns im Stadtzentrum von Washington, und man hörte kaum einen Laut. Ich informierte Roger über die Besprechung mit dem Präsidenten. Dann kam mir in den Sinn, dass ich bis zum heutigen Tag den Präsidenten niemals über Fragen des Terrorismus informiert hatte, nur Cheney, Rice und Powell. Unsere erste Chefbesprechung zum Terrorismus hatte erst vor einer Woche stattgefunden. Der nächste Schritt hätte ein Briefing mit dem Präsidenten sein sollen, und das bei diesem Treffen abzuhandelnde Thema wäre unser Vorschlag für eine National Security Presidential 55
Directive (NSPD) gewesen. Die Washington Post berichtete einige Monate später (am 20. Januar 2002), Ziel der NSPD sei gewesen, »al-Qaida zu eliminieren«. Der Plan sah vor, die Nordallianz in Afghanistan so weit aufzurüsten, dass sie eine Offensive gegen die Taliban beginnen konnte, und die CIA zu drängen, ihrem Tötungsauftrag auch nachzukommen und Bin Laden und die Führungsspitze von al-Qaida zu jagen. Bush hatte den Plan nie gesehen. Auszüge waren im Januar 2001 zunächst Cheney, Rice, Powell und anderen Mitgliedern des engsten Führungskreises vorgetragen worden. Ich hatte im Januar nicht die Genehmigung erhalten, den Präsidenten in Sachen Terrorismus zu unterrichten, auch seither nicht, bis zum heutigen Tag, dem 11. September. Seit Januar hatte ich mich um eine Sitzung auf Kabinettsebene bemüht, die meiner Bitte nach innerhalb weniger Tage nach Bushs Amtseinführung »dringend« hätte einberufen werden sollen, um einen aggressiven Plan zur Bekämpfung von alQaida zu verabschieden. Die Sitzung war schließlich vor genau einer Woche zustande gekommen, am 4. September. Jetzt, zum Zeitpunkt meiner Unterhaltung mit Cressey, ging ich davon aus, dass dieser aggressive Plan verwirklicht werden würde. »Verdammt gut. Das klingt so, als würden sie endlich alles tun, was wir wollten. Was zum Teufel haben die bloß in den letzten acht Monaten gemacht?«, fragte Cressey. »Vielleicht die Details des ABM-Vertrags diskutiert?«, antwortete ich und hielt dabei am Himmel nach Abfangjägern Ausschau. »Jetzt setzen sie vielleicht auch bewaffnete PredatorDrohnen ein«, sagte Cressey in Anspielung auf sein Vorhaben, Bin Laden mit einem unbemannten Flugzeug zu töten. Die CIA hatte die Stationierung dieses Waffensystems blockiert, sie wollte mit dem Einsatz einer 56
bewaffneten Version des unbemannten Flugzeugs, mit der Bin Laden gejagt und getötet werden sollte, nichts zu tun haben. Roger Cressey schäumte immer noch beim Gedanken an diese Zurückweisung. »Wenn sie eine bewaffnete Predator zum frühestmöglichen Zeitpunkt eingesetzt hätten, hätten wir Bin Laden vielleicht töten können, bevor dies hier passierte.« »Na ja, Rog, zu diesem Anschlag wäre es dennoch gekommen. Wenn wir Bin Laden im Juni mit einer Predator getötet hätten und diese Anschläge trotzdem passiert wären, hätten unsere Freunde bei der CIA auf uns gezeigt. Sie hätten gesagt, der Angriff auf New York sei ein Racheakt, und wieder hätten sie auf die übereifrigen Jungs von der Terrorbekämpfung des Weißen Hauses geschimpft.« Ich versuchte an die Zukunft zu denken, an das, was wir jetzt am besten tun sollten. »Das wichtigste Vorhaben für dich und mich sind jetzt Konzepte zur Abwehr weiterer Angriffe.« Wir gingen ins Weiße Haus zurück. Die nächste Aufgabe war die Sicherung des Flugverkehrs, den wir wieder in Gang bringen mussten. Die US-Luftfahrt war lange Zeit unsicher gewesen, und die 1997 eingesetzte Kommission für Flugsicherheit war harten Entscheidungen aus dem Weg gegangen, etwa in der Frage, Sicherheitsmaßnahmen auf den Flughäfen der Bundesregierung zu übertragen. Das FBI hatte 1998 sogar versucht, das Federal-Air-Marshal-Programm zu kippen, und dabei das Argument vorgetragen, bewaffnete FAAAgenten an Bord einer entführten Maschine könnten beim Sturm eines FBI-Kommandos auf ein solches Flugzeug getötet werden. Jetzt standen Tausende von Passagiermaschinen auf Flugplätzen in den gesamten Vereinigten Staaten und in Kanada herum, und rund eine Viertelmillion Passagiere schlief in Flugplatzhallen auf 57
dem Fußboden. Wir hatten es außerdem mit einer fortdauernden Bedrohung zu tun. Hatten alle al-QaidaTeams im Land zugeschlagen? Wir nahmen unsere Videokonferenz wieder auf, und ich fragte die FAA, wie der Flugverkehr freigegeben werden könnte. »Wir können die Leute nicht einfach wieder in die Flugzeuge setzen und zum Alltagsbetrieb zurückkehren«, insistierte Mike Canavan, Drei-Sterne-General der Armee und ehemaliger Kommandeur der Delta Force, der erst vor kurzem pensioniert worden war und bei der FAA den Posten des Direktors für Sicherheitsfragen übernommen hatte. Er war zum Zeitpunkt der Anschläge in Puerto Rico gewesen und hatte in der dortigen Dependance in San Juan das Personal gründlich aufgemischt. Auf die Nachricht von den Anschlägen hin hatte er seine militärischen Kontakte genutzt und war mit einer Maschine des Verteidigungsministeriums zurückgekehrt. Die FAABeziehungen wiederum verschafften ihm eine F-16Eskorte, um auszuschließen, dass er versehentlich abgeschossen wurde. »Wir müssen alle Flugzeuge und Flughäfen nach versteckten Waffen durchsuchen. Ich glaube, einige der Messer oder Teppichmesser, die sie benutzten, waren vorher an Bord der Flugzeuge für sie hinterlegt worden.« Canavan lag ein Bericht vor, nach dem in einer der mit Startverbot belegten Maschinen versteckte Teppichschneider gefunden worden waren. »Mineta sagte dem Präsidenten, der reguläre Flugbetrieb werde am Mittwoch zur Mittagszeit wieder aufgenommen. Das würde uns nur noch rund zwölf Stunden Zeit lassen, Mike.« Ich wollte, dass die FAA den Stand der Dinge gründlich überprüfte, denn mein Team sah keine realistische Chance für eine Wiedereröffnung der Flughäfen in den nächsten paar Tagen. 58
»Morgen wieder öffnen? Dazu wird es nicht kommen, Dick.« Canavan hatte diese Diskussion bereits mit seinem Boss geführt, im Anschluss an Minetas Rückkehr aus dem Weißen Haus. »Wir haben mit den Fluggesellschaften gesprochen. Sie könnten den Betrieb gar nicht zur Mittagszeit aufnehmen, selbst wenn wir das wollten. Und wir wollen’s auch nicht. Ich will in jeder Maschine Federal Air Marshals haben.« »Nun, dazu braucht man Tausende von bewaffneten Flugbegleitern, und als ich das letzte Mal nachgefragt habe, hatten Sie ein paar Dutzend«, sagte ich und wusste dabei, worauf Canavan hinauswollte. Die FAA hatte bewaffnete Agenten bisher nur bei einigen Flügen auf Überseestrecken eingesetzt. Ich machte Canavan einen Vorschlag, der ihm nach meiner Einschätzung gefallen würde. »Nach dem Bombenanschlag bei den Olympischen Spielen in Atlanta setzten wir Hunderte von Regierungsagenten für Sicherheitsaufgaben ein, in Atlanta, bei Grenzpatrouillen, beim Zoll und Secret Service, bei den U. S. Marshals. Das können wir auch diesmal tun, doch es wird Tage dauern, bis sie eingewiesen und vor Ort sind.« Canavan sah das genauso. »Das ist eine Sofortmaßnahme, aber wir werden auch rasch ein engagiertes und umfangreiches FAM-Programm brauchen, und das wird teuer.« »Mike, ich habe dem Präsidenten über private Ordnungskräfte berichtet, die für Niedriglöhne arbeiten und Passagiere und Handgepäck kontrollieren. Ihm ist klar, dass solche Zustände ein Ende haben müssen.« Bevor wir die Flüge wieder aufnahmen, mussten wir jeden einzelnen Passagier genau überprüfen und dann ein dauerhaft funktionierendes Kontrollsystem einrichten. 59
»Die FAA muss auch das übernehmen«, drängte Canavan, »aber in den nächsten Tagen müssen wir die privaten Ordnungsdienste verstärken, und zwar durch örtliche Polizeibeamte, Nationalgarde, Regierungsagenten.« »Und was wird aus all den anderen Problemen?«, fragte Paul Kurtz. »Lassen wir noch diese Woche alles einfach wieder losfliegen? Wie überprüfen wir die Privatflugzeuge? Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich jeden Tag Privatjets am Reagan National Airport starten und von dort aus direkt aufs Weiße Haus zufliegen, bevor sie dann beidrehen.« Die großen Passagiermaschinen hatten nur einen Bruchteil der Flugzeuge ausgemacht, die nach den Anschlägen vom Flugverbot betroffen waren. Tag für Tag tummelten sich am Himmel über Amerika Frachtflugzeuge, Privatjets für Topmanager, Privatflugzeuge aller Art, Verkehrshubschrauber, Schädlingsbekämpfer in der Landwirtschaft, Goodyear-Miniluftschiffe und Heißluftballons. Damit hatten wir uns bis jetzt nicht beschäftigen können. Ich bat Kurtz, diese anderen Luftfahrzeuge in Zusammenarbeit mit der FAA erst wieder aufsteigen zu lassen, wenn wir einen Sicherheitsplan für sie hatten. Noch Wochen später sollte ich immer wieder Bruchstücke von Pauls Telefonaten aufschnappen: »Mir ist es egal, wenn es keine Luftaufnahmen von dem Spiel gibt und keine Werbeluftschiffe über Stadien …« Oder: »Glauben Sie etwa, ich persönlich würde all die Verkehrshubschrauber am Boden festhalten?« Condi Rice kam erneut zu uns ins Lagezentrum. Der Präsident wollte jetzt sichergehen, dass wir alle zumindest ein paar Stunden schliefen. »Ich brauche Sie alle morgen in frischem und ausgeruhtem Zustand. Gehen Sie nach 60
Hause.« Rice vergewisserte sich, dass wir das auch als Befehl auffassten. Ich machte mir meinerseits Sorgen um ihre Sicherheit, falls sie die Absicht hatte, in ihre Wohnung im nahe gelegenen Watergate-Komplex zurückzukehren. Daran hatte auch der Präsident gedacht. Sie würde diese Nacht als Gast der Bushs in deren Privaträumen verbringen. Nach ein Uhr nachts gab ich schließlich nach und ging für kurze Zeit nach Hause, um zu duschen und mich umzuziehen. Lisa und Mike Fenzel blieben dort, unterstützt von Margie Gilbert von der National Security Agency. Bevor ich ging, rief ich Pete McCauley an, um mich über die Standorte des Secret Service im ganzen Haus zu informieren und mich auf eine Liste der Personen setzen zu lassen, die befugt waren, das Haus zu verlassen … und wieder zu betreten. Wir fuhren zwischen ihren Straßensperren hindurch – und dann durch menschenleere Straßen. Ein Humvee mit einem Maschinengewehr des Kalibers .50 war an der Ecke 17th/Pennsylvania Avenue postiert. Auf der Roosevelt-Brücke über den Potomac hielten wir kurz an und sahen, dass vom Pentagon immer noch Rauch aufstieg, der von den inzwischen installierten Scheinwerfern beleuchtet wurde. Es lief mir kalt den Rücken hinab. Als wir schließlich mein Haus in Arlington erreichten und das Auto abstellten, hörten wir das Brummen eines großen viermotorigen Flugzeugs. Eine Awacs-Maschine zog dort oben ihre Kreise. Eine Stunde später zog ich mich an, um in die Stadt zurückzufahren, und grübelte dabei abermals über die Frage nach, wie viele Zellen von al-Qaida-Schläfern es wohl in den Vereinigten Staaten gab. Ich hatte schon lange an ihre Existenz geglaubt, ebenso wie John O’Neill, der jetzt tot war, begraben unter Tonnen von Stahl. Auch Dale Watson war davon überzeugt gewesen und hatte versucht, 61
das FBI zur Fahndung nach den Schläfern zu bewegen. Gab es immer noch solche Zellen, die weitere Anschläge planten? Tausende Menschen waren gestorben. Unsere Gruppe im Westflügel des Weißen Hauses hätte beinahe auch zu den Opfern gehört. Jetzt hatten wir die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Verwaltungsapparats und die volle Unterstützung des Präsidenten. Ich musste ins Weiße Haus zurück und an den Plänen arbeiten, die weitere Anschläge verhindern sollten. Ich fand meine Neun-Millimeter-Pistole aus den Beständen des Secret Service, stopfte sie in den Hosenbund und ging in die Nacht hinaus, zurück in den Westflügel. Ich rechnete mit einer Reihe von Besprechungen, in denen wir prüfen würden, wo und wie die nächsten Angriffe erfolgen könnten, wo unsere Schwachpunkte lagen, was sich kurzfristig verbessern ließe. Stattdessen geriet ich in einen Reigen von Diskussionen über den Irak. Zuerst wollte ich gar nicht glauben, dass wir über etwas anderes sprachen als über die Frage, wie wir al-Qaida erwischen könnten. Dann begriff ich – unter geradezu körperlichem Schmerz –, dass Rumsfeld und Wolfowitz diese nationale Tragödie benutzen wollten, um für ihre Pläne in Sachen Irak zu werben. Die beiden hatten auf einen Krieg gegen den Irak gedrängt, seit diese Regierung im Amt war, genau genommen auch schon lange zuvor. Meine Freunde im Pentagon hatten mir gesagt, hausintern sei die Rede von einer Invasion im Irak irgendwann im Jahr 2002. Am Morgen des 12. September verlagerte sich das Haupt-interesse des Verteidigungsministeriums bereits von al-Qaida weg. Die CIA sagte mittlerweile explizit, alQaida sei die Urheberin dieser Verbrechen, doch Wolfowitz, Rumsfelds Stellvertreter, war nicht überzeugt. 62
Er sagte, dies sei eine zu anspruchsvolle und komplizierte Aktion gewesen, die eine Terrorgruppe nicht allein habe verwirklichen können, ohne die Unterstützung eines Staates – der Irak müsse hierbei geholfen haben. Plötzlich erinnerte ich mich, dass Wolfowitz bereits im April genau dasselbe gesagt hatte, als die Regierung endlich zumindest auf der Ebene der MinisterStellvertreter ihre erste Besprechung zum Thema Terrorismus abgehalten hatte. Ich hatte damals auf Maßnahmen gegen al-Qaida gedrängt, Wolfowitz dagegen hatte an den Anschlag von 1993 auf das World Trade Center erinnert und dies durch die Bemerkung ergänzt, alQaida könne das nicht allein getan haben und müsse vom Irak unterstützt worden sein. Es sei falsch, al-Qaida ins Zentrum des Interesses zu rücken, hatte er im April gesagt, wir müssten uns dem vom Irak unterstützten Terrorismus zuwenden. Er hatte Erklärungen von mir wie auch von der CIA zurückgewiesen, es habe seit 1993 keinen vom Irak unterstützten Terrorismus gegen die USA mehr gegeben. Jetzt war diese Denkweise wieder aktuell. Am Mittwochnachmittag sprach Verteidigungsminister Rumsfeld über die Erweiterung der Ziele für unsere Vergeltung und darüber, es »dem Irak zu zeigen«. Außenminister Powell hielt dagegen und rückte al-Qaida in den Mittelpunkt. Ich war erleichtert, weil ich etwas Unterstützung erfuhr, dankte Colin Powell und seinem Stellvertreter Rich Armitage und machte zugleich meinem Ärger Luft: »Ich dachte schon, mir sei etwas entgangen. Nach einem Angriff von al-Qaida als Vergeltung den Irak zu bombardieren, das ist so, als wären wir nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor in Mexiko einmarschiert.« Powell schüttelte den Kopf. »Es ist noch nicht vorbei.« Das war es in der Tat nicht. Im Lauf des Tages beklagte 63
Verteidigungsminister Rumsfeld, es gebe keine lohnenden Ziele für ein Bombardement in Afghanistan. Wir sollten deshalb überlegen, ob wir nicht besser den Irak bombardieren sollten, wo es, so sagte er, bessere Ziele gebe. Ich dachte zunächst, Rumsfeld mache Witze. Er meinte es aber ernst, und der Präsident wies den Vorschlag, den Irak anzugreifen, keineswegs spontan zurück. Stattdessen merkte er an, unsere Aufgabe in Bezug auf den Irak sei es, einen Regierungswechsel herbeizuführen. Ein paar Cruise Missiles mehr auf das Land abzufeuern, wie Rumsfeld das nahe gelegt habe, reiche nicht aus. Hugh Shelton, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, hielt sich bei dem Vorschlag, die Regierung des Irak zu stürzen, bedeckt. Er sagte, das könne nur durch eine Invasion mit einer großen Streitmacht erreicht werden, deren Aufmarsch Monate in Anspruch nähme. Am 12. und 13. September wurde in alle Richtungen diskutiert: Was war unser Ziel, wer war der Feind, wie sollte unsere Antwort aussehen, sollte das ein Krieg gegen den Terrorismus im Allgemeinen sein, oder sollte er sich ganz gezielt gegen al-Qaida richten? Wenn wir Krieg gegen jede Art von Terrorismus führen wollten: Mussten wir dann auch die gegen die Regierung kämpfenden Rebellen im kolumbianischen Dschungel angreifen? Im Lauf dieser Gespräche gewann das Naheliegende mehr und mehr die Oberhand: Wir würden einen Krieg gegen al-Qaida und die Taliban führen. Die Kompromissformel lautete jedoch, dass der Kampf gegen al-Qaida und die Taliban nur die erste Phase in einem umfassenden Krieg gegen den Terrorismus sei. Man machte also deutlich, dass es eine zweite Phase geben würde. Die meisten Amerikaner hatten noch nie etwas von alQaida gehört. Sogar den meisten Spitzenbeamten der 64
Regierung war der Name unbekannt gewesen, als wir sie im Januar 2001 informierten. Jetzt hatte ich einen Augenblick lang Pause, keine Besprechungen. Ich setzte mich an meinen Computer und fing an zu schreiben: »Wer hat das getan? Warum hassen sie uns? Wie werden wir darauf reagieren? Wie kannst du als Amerikaner jetzt helfen?« Das brach alles aus mir heraus, über viele Seiten hinweg. Ich schrieb über al-Qaidas Hass auf die Freiheit, über die Pervertierung einer wunderbaren Religion durch diese Gruppe, über die Notwendigkeit, religiöse oder ethnische Vorurteile zu vermeiden. Ich dachte, diese Gedanken könnten vielleicht hilfreich sein, und schickte sie an John Gibson, einen Mitarbeiter der fürs Redenschreiben zuständigen Abteilung des Weißen Hauses. Jetzt holten Roger Cressey und ich den Entwurf einer National Security Presidential Directive zu al-Qaida wieder aus der Schublade, in dem auch Unterstützung für die Nordallianz in Afghanistan vorgesehen war. Lisa Gordon-Hagerty stieß noch zu uns, und gemeinsam listeten wir die wichtigsten Schwachstellen für weitere Terrorangriffe im eigenen Land auf und beschrieben die Aufgaben für die Ministerien, die anfangen sollten, diese Sicherheitslöcher zu stopfen. Gefahrguttransporte mussten um Großstädte herumgeleitet werden. Flugzeuge, die Pestizide versprühten, durften erst starten, wenn Pilot und Ladung überprüft waren. So konnten wir sicherstellen, dass diese Maschinen nicht von Terroristen mit biologischen Kampfstoffen beladen wurden. Zum Schutz von Telekommunikationszentren, Chemiefabriken und Atomreaktoren wurden spezielle Sicherheitsteams abgestellt. George Tenet und Cofer Black, der Leiter der CIAAbteilung für Terrorismusbekämpfung, waren bereits 65
höchst aktiv, sie drängten befreundete Geheimdienste zum Handeln und bereiteten zumindest schon die Entsendung von CIA-Agenten nach Afghanistan vor. Colin Powell und Rich Armitage bearbeiteten die pakistanische Führung und bewirkten dort einen Kurswechsel, weg von der halbherzigen Unterstützung des amerikanischen Feldzugs gegen al-Qaida und hin zu umfassender Zusammenarbeit. Später, am Abend des 12. September, verließ ich das Videokonferenzzentrum, und dann sah ich den Präsidenten, der ganz allein im Lagezentrum umherging. Auf mich wirkte das, als suche er nach einer Beschäftigung. Er schnappte sich ein paar von uns und schloss die Tür zum Konferenzraum hinter sich. »Seht mal«, sagte er zu uns, »ich weiß, Sie haben alle eine Menge zu tun … aber ich möchte, dass Sie so bald wie möglich alles, wirklich alles noch einmal durchgehen. Prüfen Sie, ob Saddam das getan hat. Prüfen Sie, ob er irgendwie in diese Sache verwickelt ist …« Wieder war ich verblüfft, und man sah mir das ungläubige Staunen auch an. »Aber Mr. President, das war al-Qaida.« »Ich weiß, ich weiß, aber … prüfen Sie, ob Saddam beteiligt war. Prüfen Sie das einfach nach. Ich will auch das kleinste Detail wissen …« »Ja, natürlich, wir prüfen alles nach … noch einmal.« Ich bemühte mich, wollte ihm mehr Respekt und Aufgeschlossenheit entgegenbringen. »Aber Sie wissen, dass wir mehrmals der Frage staatlicher Unterstützung für al-Qaida nachgegangen sind und keine nachweisbaren Verbindungen zum Irak gefunden haben. Der Iran spielt hier eine kleine Rolle, ebenso Pakistan, Saudi-Arabien, der Jemen.« »Sehen Sie sich den Irak an und Saddam«, sagte der 66
Präsident unwirsch und ließ uns stehen. Lisa GordonHagerty sah ihm mit offenem Mund nach. Paul Kurtz kam herein, gerade als der Präsident den Raum verließ. Er sah unsere Mienen und fragte: »Jesus, was ist denn hier passiert?« »Wolfowitz hat ihm das eingeredet«, sagte Lisa kopfschüttelnd. »Nein«, antwortete ich. »Sieh mal, er ist der Präsident. Er hat sich nicht jahrelang mit dem Terrorismus beschäftigt. Es steht ihm absolut zu, uns noch einmal alles durchchecken zu lassen, und das werden wir auch tun, Paul.« Paul war der vorurteilsloseste Geist von uns allen, also bat ich ihn, das Sonderprojekt zu leiten, das alle Ministerien und Behörden dazu bringen sollte, potenzielle Verbindungen Bin Ladens zu Saddam Hussein noch einmal zu prüfen. Er leitete gleich am folgenden Tag eine Besprechung, bei der eine offizielle Position zu den Beziehungen zwischen Irak und al-Qaida erarbeitet werden sollte. Alle Behörden und Ministerien waren sich einig: Es bestand keine Zusammenarbeit solcher Art. Ein Memorandum mit diesem Ergebnis ging an den Präsidenten, doch es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass es ihn auch erreichte. In der folgenden Woche trug Bush in einer gemeinsamen Sitzung beider Häuser des Kongresses die eloquenteste Rede seiner gesamten Laufbahn vor. Alles Zögern, alle rhetorische Unbeholfenheit war verschwunden. Karen Hughes hatte den Text eigenhändig auf ihrer alten Schreibmaschine entworfen. Er enthielt meine Fragen und einige meiner Antworten: Wer ist der Feind, warum hassen sie uns …? In den Wochen danach jagten sich die Besprechungen. 67
Ein Campaign Coordination Committee, bei dem Franklin Miller und ich gemeinsam den Vorsitz führten, entwickelte eine Strategie für den Angriff auf al-Qaida. Ein Domestic Preparedness Committee unter der Leitung von Larry Thompson, dem stellvertretenden Justizminister, bündelte die Bemühungen des Ministeriums, das sich vorgenommen hatte, Schwachstellen in den Vereinigten Staaten zu bestimmen und zu beseitigen, um weitere Anschläge zu verhindern. Das Kabinett wie auch die Stellvertreter der Minister waren äußerst wachsam. Es war eine Zeit größter Befürchtungen und Nervosität. Es gab ganz offensichtlich gefälschte Berichte über Kommandoteams, die das Weiße Haus zum Ziel hatten, und über Atombomben in der Wall Street, aber viele der Leute, die jetzt solche Informationen lasen, hatten so etwas noch nie zuvor gesehen und konnten deshalb die Spreu nicht vom Weizen trennen. Der Reagan National Airport blieb geschlossen, doch wegen der Befürchtungen, dass Flugzeuge möglicherweise weiterhin aufs Weiße Haus zielten, waren wir im dauerhaften Alarmzustand. Während dieser ganzen Zeit dachten wir an die Toten, an das Grauen, das sich mit den Anschlägen verband. Diejenigen von uns, die an jenem Tag im Weißen Haus geblieben waren, wussten inzwischen, warum die UnitedAirlines-Maschine in Pennsylvania abgestürzt war: Heldenmutige Passagiere hatten gekämpft und waren gestorben, sie hatten uns mit ihrem Einsatz vielleicht das Leben gerettet. Doch wir versuchten unsere Gefühle zu verdrängen, versuchten uns auf die Arbeit zu konzentrieren, die getan werden musste, auf die Arbeit, die uns seit dem 11. September Tag für Tag 18 Stunden lang – manchmal auch noch länger – im Weißen Haus festhielt. Wir erfuhren, dass Körperteile meines FBI68
Freundes John O’Neill in den Trümmern des World Trade Centers gefunden worden waren und dass in seiner Heimatstadt Atlantic City ein Gedenkgottesdienst abgehalten werde. Ich benachrichtigte Condi Rice, dass wir uns einen halben Tag freinehmen würden. Gemeinsam mit Lisa, Roger und Beverly Roundtree fuhr ich nach New Jersey. Als die Messe beendet war, Johns Sarg an mir vorüberrollte und die Dudelsackbläser spielten, weinte ich schließlich hemmungslos. Es gab so viel zu betrauern. Wie konnte dies alles geschehen? Warum konnten wir es nicht verhindern? Wie konnten wir verhindern, dass so etwas wieder geschah, wie konnten wir die Welt von diesem Grauen befreien? Eines Tages, dachte ich, würde ich die Zeit finden, die ich brauchte, um über all diese Dinge nachzudenken und die Fragen zu beantworten. Diese Zeit ist jetzt gekommen.
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2 In die islamische Welt gestolpert Fast unbemerkt von den meisten Amerikanern einschließlich der US-Regierung ist in den vergangenen 20 Jahren eine neue internationale Bewegung entstanden. Sie nutzt den Terror nicht um des Terrors willen, sondern hat sich zum Ziel gesetzt, ein Netzwerk von Regierungen aufzubauen, die eine äußerst strenge, nur von einer Minderheit anerkannte Auslegung des Islam betreiben. Die Ausbreitung dieser Bewegung ist für einige Mitglieder erst mit der Weltherrschaft beendet. Dieses »Kalifat« wäre eine strenggläubige, repressive Theokratie des 14. Jahrhunderts. Die Errichtung eines solchen Gottesstaates wird mit grausamer Gewalt und der Verbreitung von Angst angestrebt. Um zu verstehen, warum die USA zur Zielscheibe dieser Bewegung wurden und wie sie die Folgen ihres Handelns verkannten, müssen wir uns mit den Ereignissen der letzten 25 Jahre beschäftigen. Die Ereigniskette, die zum 11. September und dem heutigen Krieg gegen den Terror führte, nahm nicht bei Bill Clinton oder George W. Bush ihren Anfang. Sie reicht zurück bis zu Ronald Reagan und George H. W. Bush. Beginnen wir mit Reagan. Er war förmlich davon besessen, sich aggressiv der Sowjetunion entgegenzustellen. Daher setzte er ein Wettrüsten in Gang, das die Rote Armee bis an die Grenze ihrer finanziellen Belastbarkeit bringen sollte. Unter Reagans Regie übten die USA in neuen Regionen militärischen Einfluss aus, um die Sowjetunion aus dem Gleichgewicht zu bringen. Reagans Strategie ging tatsächlich auf – zur großen 70
Überraschung der meisten Politiker in Washington. Durch die Unterstützung des afghanischen Widerstands, die Stationierung von amerikanischen Truppen am Persischen Golf und die Stärkung von Israel als Stützpunkt gegen die Sowjets schuf Reagan neue Kräfteverhältnisse. Strategisch waren diese Maßnahmen richtig, doch sie erweckten einen falschen Eindruck und hinterließen Probleme, die sich mit der Zeit noch verschlimmerten. Zu Beginn meiner Laufbahn und später auf mittlerer Führungsebene war ich bei diesen Ereignissen kaum beteiligt, nichtsdestotrotz formten sie meine Einschätzung von der Rolle der USA in dieser Region. Die Welt, die Ronald Reagan als Präsident erbte, hatte sich 1979 durch zwei Ereignisse entscheidend verändert: die Revolution im Iran und den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Beide Ereignisse gaben radikalen Strömungen im Islam neue Nahrung und zogen die USA stärker in den Wirkungsbereich des Islam hinein. Obwohl ich zu der Zeit nur einen niedrigen Posten im State Department bekleidete, bekam ich die Entwicklung aus erster Hand mit. So dramatisch die Veränderungen 1979 auch waren, damals dachte niemand, dass Amerika damit den ersten Schritt in ein neues Zeitalter machte, in dem amerikanische Truppen mehrere Kriege im Nahen Osten führen und gleichzeitig den Terror aus dem Nahen Osten im eigenen Land bekämpfen würden. Ich war 1979 ins State Department gekommen und sollte mich mit dem wachsenden militärischen Einfluss der Sowjetunion beschäftigen, vor allem mit den Atomwaffen, die auf Nato-Mitglieder gerichtet waren. Im Pentagon hatte ich mich fünf Jahre mit der Thematik befasst. Doch zum Jahresende 1979 kamen auf Wunsch des Weißen Hauses alle Gespräche mit Moskau über eine Atomwaffenkontrolle zum Erliegen. Stattdessen 71
konzentrierte man sich auf den Persischen Golf, den Nahen Osten und das südliche Asien. Die Ölkrise 1974 hatte Washington die Bedeutung der Rohstoffressourcen am Persischen Golf vor Augen geführt. 1979 wurde der engste amerikanische Verbündete in der Golfregion, der Schah von Persien, durch eine radikalislamische Gruppe gestürzt. Und am 25. Dezember setzten sich sowjetische Truppen nach Süden in Richtung Persischer Golf in Bewegung und marschierten in Afghanistan ein. Das State Department war damals wie heute überwiegend mit Diplomaten besetzt, Spezialisten für internationale Beziehungen und regionale Probleme, die den größten Teil ihrer Laufbahn im Ausland verbrachten. 1979 wurde das Bureau of Politico-Military Affairs (das »kleine Pentagon« im State Department) nicht von einem Diplomaten, sondern vom ehemaligen Kolumnisten der New York Times geleitet, Leslie Gelb. Um die waffenspezifischen Argumente des Verteidigungsministeriums bei Abrüstungsdiskussionen besser zu verstehen, richtete Gelb eine kleine Abteilung mit jungen Militärexperten ein. Zu diesem Stab gehörte auch ich, außerdem viele, die in den kommenden 20 Jahren noch eine wichtige Rolle spielen sollten: Arnold Kanter, später des Präsidenten persönlicher Berater für Verteidigungspolitik und Deputy Assistant Secretary in der Regierung von George H. W. Bush, Randy Beers, der unter vier Präsidenten im Nationalen Sicherheitsrat sitzen sollte, Franklin Miller, der 20 Jahre in höheren Positionen im Verteidigungsministerium arbeiten und später als Berater des Präsidenten fungieren sollte, einer Funktion, in der er mir am 11. September im geräumten Weißen Haus zur Seite stand. Nach dem zweifachen Schock der iranischen Revolution 72
und des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan konzentrierte sich unsere Gruppe von politischmilitärischen Spezialisten auf ein neues Gebiet: den Persischen Golf. Im Kalten Krieg hatte der Schah von Persien für Amerika zwei Funktionen: Erstens garantierte er Öllieferungen unabhängig vom Lieferboykott der arabischen Länder. Zweitens hatte er angeboten, den neu erworbenen Reichtum des Landes zur Schaffung eines modernen Militärs zu nutzen, das an der südlichen Flanke der Sowjetunion »so stark wie Deutschland« sein sollte. Zur Zeit des Kalten Krieges sah man in Amerika die gesamte Außenpolitik unter dem Blickwinkel des Konfliktes zwischen den beiden Supermächten, ähnlich wie wir heute die Welt unter dem Aspekt des Terrorismus betrachten. Der Kalte Krieg wies Parallelen zum Krieg gegen den Terror auf. Beide Konflikte wüteten weltweit mit regionalen Kriegen, Schläferzellen und miteinander konkurrierenden Ideologien. Bei beiden drohte die Zerstörung von Städten durch Massenvernichtungswaffen (im Kalten Krieg wussten wir allerdings, dass der Gegner tatsächlich Atomraketen besaß). Unsere Gegner wollten in beiden Fällen anderen Ländern ihre Regierungsform und ihren Lebensstil aufzwingen. Im Rückblick glauben manche (vor allem die Generationen, die nach 1970 geboren wurden), dass die Vereinigten Staaten auf die Bedrohung durch die Sowjetunion überzogen reagierten. Damals hatten wir es jedoch mit einem Überlebenskampf der Systeme zu tun, an den sich heute nur noch wenige erinnern und der daher für viele schwer zu begreifen ist. Nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan bearbeitete unser kleiner Stab die Fragen des Außenministers und des Weißen Hauses. In Afghanistan 73
wurde offenbar ein strategischer Stützpunkt der Sowjets errichtet. Wir wurden gefragt, ob sowjetische Bomber von diesem Stützpunkt aus amerikanische Kriegsschiffe im Indischen Ozean angreifen konnten. Sollten die USA den Stützpunkt in Afghanistan bombardieren, bevor er in Betrieb genommen wurde? Wir entschieden, dass es sich um ein landwirtschaftliches Entwicklungsprojekt der Sowjetunion handelte. Wenn die Sowjets Truppen in den Iran entsandten, würden diese schneller am Persischen Golf sein, als die USA eine Landung im Stil der Alliierten in der Normandie organisieren konnten? Ja, die Sowjets konnten uns dort schlagen, weil wir keine Truppen in dem Gebiet stationiert und weder einen realistischen Plan noch die Möglichkeit hatten, Truppen an den Persischen Golf zu entsenden. Doch solche Transportkapazitäten hatten die Sowjets damals auch nicht. Der erste Teil der Antwort kam bei den Mitarbeitern von Carter und Reagan an, der zweite Teil wurde ignoriert. Vor 1979 zeigten die USA wenig militärische Präsenz im Indischen Ozean oder im Persischen Golf. Ausnahme war ein kleiner Marinestützpunkt in Bahrain, den wir nach Abzug der Briten übernommen hatten. In den USA suchte man fieberhaft nach Möglichkeiten, Truppen in die Region zu verlegen und Stützpunkte für ihre Stationierung einzurichten. Ich sollte mich mit den Militärstrategen besprechen, die mit der Aufgabe betraut worden waren. Anders, als man es vielleicht erwarten würde, fand das Treffen nicht tief in den Bunkern des Pentagon statt, sondern neben einer lärmumtosten Startbahn auf einem Luftwaffenstützpunkt in Florida. Die Militärstrategen saßen in einem Container, der mit Stacheldraht abgezäunt war, und trugen Tarnfarben. Natürlich fragte ich nach dem Grund. 74
»Wir sind die Rapid Deployment Joint Task Force, die schnell verlegbare Eingreiftruppe«, erklärte General Robert Kingston. »Deswegen soll es so aussehen, als ob wir rasch Truppen in die Region verlegen könnten.« »Und können Sie?«, fragte ich. »Nein, aber da kommen Sie ins Spiel. Sie besorgen uns ein paar Stützpunkte«, lächelte Kingston. Auch einige seiner Kollegen fanden es seltsam, dass Kingston sich hinter Stacheldraht in einem Container in Tampa verschanzte, und nannten ihn »Stacheldraht-Bob«. Seine Begeisterung und sein Gefühl der Dringlichkeit wirkten jedoch ansteckend. Schon bald führten meine Kollegen und ich Verhandlungen in Ägypten, Bahrain, Kuwait, Oman, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar und SaudiArabien. Weil wir keine Stützpunkte beschaffen konnten, baten wir um »Zugangsgenehmigungen« und das Recht, bestehende Einrichtungen auszubauen. Kein Land wollte die andere Supermacht vor den Kopf stoßen und einer Stationierung amerikanischer Truppen offen zustimmen. In den meisten Fällen erhielten wir jedoch die Zusage, bestehende Luftstützpunkte heimlich ausbauen und bereits vorhandene Einrichtungen besser ausrüsten zu dürfen, allerdings gab es keine Garantie, dass wir die Stützpunkte im Fall einer Krise auch benutzen konnten. Nur die Saudis machten eine Ausnahme. Sie wollten neue Stützpunkte bauen, allerdings viel größer, als es für ihre eigenen Streitkräfte nötig war, ein Konzept, das als »Overbuilding, Overstocking« bekannt wurde. Tausende zivile amerikanische Bauunternehmer kamen nach SaudiArabien und erregten damit den Unwillen einiger Muslime, die den Koran so interpretierten, dass die 75
Anwesenheit Ungläubiger in einem Land, in dem die beiden heiligsten Stätten des Islam standen, verboten war. Wir verhandelten mit den Briten über einen alten, in Vergessenheit geratenen Versorgungshafen für Dampfschiffe namens Diego Garcia auf einem Atoll im Indischen Ozean. Schon bald konnten von dort B-52Bomber starten. Bei all dem Gewicht des dort stationierten Kriegsmaterials war es ein Wunder, dass die Insel nicht im Ozean versank. Ein Jahr nach dem Umsturz im Iran und dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan trat ein weiteres Ereignis ein, das die USA noch stärker in die Politik der Region verstricken sollte. Ein neuer Präsident im Irak, Saddam Hussein, griff den Iran an in der Hoffnung, dessen Ölfelder für sich gewinnen zu können. Saddam wurde vielleicht auch vom iranischen Religionsführer Ajatollah Khomeini provoziert, der die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak aufforderte, sich zu erheben. Zunächst blieb Washington neutral. Die Vereinigten Staaten hatten kein gutes Verhältnis zum Irak, weil das Land der Sowjetunion nahe stand. Die Beziehungen zum Iran waren jedoch genauso miserabel und verschlechterten sich rapide. Im November 1979 hatten islamische Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran besetzt und die Mitarbeiter als Geiseln genommen. Für manche dauerte die Geiselhaft über ein Jahr. Der Iran trug auch zu den Bürgerkriegswirren im Libanon bei, einem Land, das die USA immer als freundlich gesinnt und stabil betrachtet hatten, als einen prowestlichen Anker im Osten des Mittelmeers. Als sich die Situation 1982 zuspitzte, stand Ronald Reagan in seinem zweiten Jahr als Präsident. Reagan zog eine Verbindung zwischen den Ereignissen im Libanon und dem antiamerikanischen Regime im Iran. 76
Außerdem sah er Israel bedroht, das er als amerikanischen Verbündeten betrachtete. Also schickte er Marineinfanteristen nach Beirut. Damit kam eine verhängnisvolle Entwicklung in Gang, in deren Verlauf Terroristen den Eindruck gewannen, sie könnten die USA relativ ungestraft angreifen. Im Fernsehen erklärte Reagan zur besten Sendezeit, die USA würden »teilweise wegen des Öls« im Libanon eingreifen. Der Libanon hatte kein Öl. Die vom Iran unterstützte Hisbollah im Libanon reagierte mit Bombenanschlägen auf die militärische Präsenz der Amerikaner. Autobomben wurden vor einer Kaserne der amerikanischen Marineinfanteristen und vor der amerikanischen Botschaft gezündet. Allein beim Anschlag auf die Kaserne kamen 241 Amerikaner ums Leben. So viele Opfer unter den Amerikanern forderte der Terrorismus erst wieder sechs Jahre später beim Absturz des PanAm-Fluges 103 über Lockerbie am 21. Dezember 1988, als libysche Terroristen eine Bombe an Bord des Flugzeugs schmuggelten. Bis zum 11. September 2001 waren diese beiden Anschläge die schwersten, die ausländische Terroristen gegen Amerikaner verübt hatten. In Clintons Amtszeit gab es keinen Anschlag mit einer ähnlich hohen Zahl an Todesopfern. Weder Ronald Reagan noch George H. W. Bush übten für die verheerenden Angriffe auf Amerikaner Vergeltung. Nach dem Anschlag auf die amerikanische Kaserne in Beirut wurde den Amerikanern zum ersten Mal klar, was der Terrorismus im Nahen Osten wirklich anrichten konnte. Die USA waren in einen verwirrenden Bürgerkrieg mit vielen beteiligten Parteien hineingezogen worden. Im State Department wurde unser neu geschaffener politisch-militärischer Stab für den Nahen Osten gedrängt, die belagerte Botschaft in Beirut zu 77
unterstützen. Reagan hatte zwar entschieden, weder Syrien noch Iran (die beide in die Anschläge auf die Marineinfanteristen und die Botschaft verwickelt waren) anzugreifen, wollte aber unbedingt an der diplomatischen Vertretung der USA festhalten. Vom Funkraum im Operations Center erkundigten wir uns nach der Verfassung der amerikanischen Diplomaten, die in die Residenz des Botschafters in Yarze, einem Stadtteil von Beirut, umgezogen waren. »Yarze, Yarze, hier State, over. Bitte melden.« »State, State, hier Yarze. Wir stehen unter Artilleriebeschuss von einem Hügelkamm«, meldete sich die Stimme knackend aus weiter Ferne. »Wir könnten etwas Unterstützung von der New Jersey gebrauchen.« Damit waren keine Briefe aus der Heimat gemeint, sondern Feuerschutz vom Kriegsschiff »New Jersey«, das an der Küste stationiert war. Die Regierung Reagan hatte beschlossen, zur Abschreckung vor weiteren Anschlägen die militärischen Muskeln spielen zu lassen. Minuten später richteten sich die langen Geschützrohre des Schlachtschiffveteranen aus dem Zweiten Weltkrieg nach Osten und feuerten ihre berühmten »Grananten so groß wie VW-Käfer« ab. »Yarze, Yarze, werden Sie immer noch vom Hügelkamm aus beschossen, over.« »State, Yarze: Da ist kein Hügelkamm mehr.« Trotz unserer militärischen Überlegenheit hatten wir dem religiösen Eifer der von Iran und Syrien unterstützten Hisbollah nichts entgegenzusetzen. Der Libanon wurde immer tiefer in einen Strudel der Gewalt mit tödlichem Ausgang hineingerissen, auf den die USA schlecht vorbereitet waren. Nachdem mehrere Anschläge verübt und die amerikanischen Truppen unter Beschuss geraten 78
waren, zog Reagan die Soldaten ab. Im ganzen Nahen Osten hinterließ diese Entscheidung den Eindruck, dass die Supermacht USA leicht vertrieben werden konnte, weil sie immer noch von der Niederlage in Vietnam traumatisiert war. Jahre später bezog sich Osama bin Laden auf den Erfolg der Terroranschläge, mit denen die Vereinigten Staaten aus Beirut vertrieben worden waren, eine Stadt, deren Freuden er genossen hatte, bevor er ein frommer Muslim wurde. Vor diesem Hintergrund erschien der ReaganAdministration der irakisch-iranische Krieg in neuem Licht. Saddam Hussein war 1980 im Iran einmarschiert, weil er hoffte, die Schwäche der neuen Revolutionsregierung ausnutzen zu können. Zuvor hatten die Iraner erfolglos versucht, amerikanische Ersatzteile für die Waffen zu bekommen, die der Schah gekauft hatte. Es gibt Spekulationen darüber, ob die USA Saddam grünes Licht für eine Invasion gaben, vielleicht in der Hoffnung, dass durch die irakische Einnahme der Ölquellen von Chusistan auch die USA weiterhin Zugang zu iranischen Rohstoffen hätten. Möglicherweise hoffte man in Washington auch, dass das neue Regime im Iran ohne seine wichtigste Einnahmequelle zusammenbrechen würde. Damals versuchte ich im State Department sowie über meine Quellen im Pentagon und im Weißen Haus Beweise für diese Strategie zu finden. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, kam Saddams Einmarsch im Iran für die amerikanische Regierung genauso überraschend wie sein Angriff auf Kuwait zehn Jahre später. Schon kurz nach Beginn des Krieges zwischen Iran und Irak war eine Pattsituation erreicht. Die Verluste waren auf beiden Seiten enorm. Unser kleiner politischmilitärischer Stab sollte Möglichkeiten ausarbeiten, wie 79
ein iranischer Sieg verhindert werden konnte – »Optionen für die Verhinderung einer irakischen Niederlage«, wie wir es in einem Thesenpapier nannten. Im Laufe der Zeit wurden viele unserer Vorschläge umgesetzt. Die Regierung Reagan war zwar nicht mit dem Irak verbündet, wollte aber auch nicht zulassen, dass Saddam Hussein von einem radikalislamischen, antiamerikanischen Regime in Teheran besiegt wurde. 1982 strich die Regierung Reagan Irak von der Liste der Länder, die den Terrorismus unterstützten. Damit konnte der Irak um bestimmte, von der Regierung gestützte Kredite bitten. 1983 wurde ein Gesandter des Präsidenten als Zeichen der Unterstützung für Saddam Hussein nach Bagdad geschickt. Dieser Mann war sieben Jahre zuvor unter Gerald Ford Verteidigungsminister gewesen und reiste nun als Sonderbotschafter Reagans. Der Mann hieß Donald Rumsfeld. Er ging nicht nach Bagdad, um Saddam Hussein zu stürzen, sondern um ihn vor einer Niederlage gegen den Iran zu bewahren. Kurz darauf bemerkte ich, wie Informationen des amerikanischen Geheimdienstes nach Bagdad flossen. Wenn der Iran in einem Gebiet eine Offensive plante, erfuhren die Iraker dank amerikanischer Satelliten davon und konnten entsprechend reagieren. 1984 nahmen die USA uneingeschränkte diplomatische Beziehungen zum Irak auf. Die Vereinigten Staaten verkauften zwar nie Waffen an den Irak, die Saudis und Ägypter aber schon, darunter auch amerikanische Waffen. Bomben, die von den Saudis im Rahmen des »Overstocking« gekauft worden waren, gingen nun teilweise an Saddam, was gegen amerikanische Gesetze verstieß. Ich glaube nicht, dass die Saudis in Washington um Erlaubnis fragten, allerdings denke ich auch nicht, dass jemand in der Reagan-Administration gefragt werden wollte. 80
Nachdem Saddam mit Informationen des Geheimdienstes versorgt worden war, wurde unser Stab im State Department gebeten, die nächste Option auf der Liste der Gegenmaßnahmen umzusetzen, nämlich herauszufinden, wer den Iran mit Waffen belieferte, und Druck auf diese Länder auszuüben. Diese diplomatische und geheimdienstliche Aktion nannten wir Operation Staunch. Tagelang war ich damit beschäftigt, Waffenlieferungen an den Iran zurückzuverfolgen und amerikanische Botschaften auf der ganzen Welt zu instruieren. Den Regierungen sollten Sanktionen angedroht werden, wenn sie nicht hart bei den Waffenlieferungen an den Iran durchgriffen. Das Vorhaben war bemerkenswert erfolgreich; die Preise stiegen, und die Waffenlieferungen gingen zurück. 1986 weitete sich der Krieg auf Angriffe gegen Öltanker aus. Um sein Öl trotzdem zu verkaufen, nutzte der Irak daraufhin kuwaitische Tanker. Doch der Iran schreckte auch nicht davor zurück, die Schiffe eines »neutralen« Landes anzugreifen. Die Sowjetunion bot an, mit ihrer Flotte die irakischen Öllieferungen zu schützen. Entsetzt über die Aussicht, dass sowjetische Kriegsschiffe im Persischen Golf kreuzten, forderte das Weiße Haus unser Team auf, eine Alternative zu entwickeln, die Irak und Kuwait zufrieden stellen würde. Wir schlugen vor, die kuwaitischen Tanker »umzuflaggen«, also ihre Registrierung und Namen zu ändern, sodass sie als amerikanische Schiffe dem Schutz der US Navy unterstanden. Zur Verteidigung der »amerikanischen« Schiffe mit Saddams Öl verlegte die US Navy große Konvois mit amerikanischen Kriegsschiffen in den Persischen Golf. An der Wand meines Büros im State Department trugen wir auf einer Karte Minenfelder und Angriffe auf Schiffe ein. Zum ersten Mal erörterten wir, 81
was im Falle eines amerikanisch-iranischen Krieges zu tun wäre. Doch dazu kam es nicht, obwohl auf beiden Seiten Schüsse abgefeuert wurden. (Zehn Jahre später musste ich nach Terroranschlägen wieder die Optionen für einen Krieg gegen den Iran durchdenken.) Die Regierung Reagan befürchtete eine mögliche sowjetische Intervention im Nahen Osten und näherte sich Israel an. Zuvor galt im State Department die Regel, dass die USA nicht gleichzeitig die militärischen Beziehungen zu den arabischen Ländern und Israel ausbauen konnten. Nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 hatten wir zwar unsere Waffenlieferungen deutlich erhöht, aber unsere jeweiligen Streitkräfte kannten einander kaum. Angesichts eines drohenden militärischen Engagements der Sowjetunion im östlichen Mittelmeer wollte die Regierung Reagan dies ändern und schlug eine »Strategische Kooperation« mit Israel vor. Das war fast eine militärische Allianz. Zur Umsetzung des Konzepts richteten wir 1983 die so genannte Joint Politico-Military Group (JPMG) ein, eine gemeinsame amerikanisch-israelische Planungsgruppe. Als deren Mitglied und späterer amerikanischer Leiter suchte ich für das israelische Militär nach Aufgaben bei gemeinsamen Operationen im Falle eines Krieges mit der Sowjetunion. Mein Partner bei den Israelis war ein ehemaliger Kampfpilot, der nun im Verteidigungsministerium als Stratege tätig war, David Ivry. 1981 hatten dem israelischen Geheimdienst eindeutige Informationen vorgelegen, dass Saddam Hussein den Atomreaktor Osirak zur Entwicklung einer Atombombe baute. Das israelische Kabinett fragte Ivry, was er von der Idee halte, die Anlage präventiv zu bombardieren. Er sprach sich dagegen aus, obwohl er meinte, die israelische Luftwaffe könne die Bombardierung bewerkstelligen, 82
allerdings mit einem erheblichen Risiko für die Piloten. Als das Kabinett trotzdem einen Angriff beschloss, plante Ivry ihn persönlich. Er diente verschiedenen israelischen Regierungen als ziviler Direktor des Pentagon, Nationaler Sicherheitsberater und Botschafter in Washington. Ich traf Ivry 1987, nachdem der US-Kongress den AntiApartheid Act verabschiedet hatte. Das Gesetz war zwar gegen Südafrika gerichtet, enthielt aber eine kaum beachtete Bestimmung, gemäß der die Regierung untersuchen sollte, welche Länder gegen das UN-Embargo verstießen und Südafrika mit Waffen belieferten. Die Ergebnisse der Untersuchung sollten dem Kongress unterbreitet werden. Außerdem sah die Bestimmung vor, dass die USA die militärische Zusammenarbeit mit jedem Land einstellen sollten, das gegen das UN-Embargo verstieß. Im State Department wollte man nichts mit der Umsetzung der Bestimmung zu tun haben, weil man allgemein annahm, dass Israel der größte Waffenlieferant des Apartheid-Regimes sei. Weil ich damals der jüngste Mitarbeiter und für die Analyse der Geheimdienstinformationen zuständig war, musste ich das heiße Eisen anpacken und die Untersuchung durchführen. Ich buchte einen Flug nach Tel Aviv. So saß ich denn in Ivrys Büro im Kiriat, dem abgeschotteten Gebäude in Tel Aviv, wo das israelische Verteidigungsministerium untergebracht ist, und berichtete ihm, was ich über die Zusammenarbeit zwischen Israel und Südafrika wusste beziehungsweise vermutete. Ich verzichtete auf die Gerüchte über eine Zusammenarbeit bei Atomwaffen, erwähnte aber die gemeinsame Entwicklung von Langstreckenraketen und Kampfflugzeugen. David fühlte sich sichtlich unwohl, aber mir kam der Verdacht, es liege nicht nur daran, dass ein junger Amerikaner vor ihm saß und ihn und seine 83
Regierung beschuldigte. »Ich sage nicht, dass an diesen Gerüchten, die Sie erwähnen, etwas Wahres dran ist«, begann David. »Aber wir brauchen eine Rüstungsindustrie, wir dürfen bei unserer Verteidigung nicht von anderen Ländern abhängig sein. Eine Rüstungsindustrie in einem kleinen Land wie dem unseren muss exportieren, um zu überleben und die Kosten in Grenzen zu halten. Wir verkaufen nicht an die Sowjets oder deren Verbündete. Wir haben unsere eigenen fortschrittlichen Waffentechnologien entwickelt. Wir haben sehr gute, sehr fähige Ingenieure. Amerika aber will unsere Waffen nicht kaufen. Die amerikanische Rüstungsindustrie hält das Pentagon davon ab, Waffen von uns zu kaufen, sie verbreitet Lügen und behauptet, dass wir unsere Entwicklungen bei ihnen geklaut hätten. Wenn das so wäre, warum konnten sie dann nicht die Technologien entwickeln, mit denen wir arbeiten, etwa unbemannte Flugzeuge, also Drohnen, oder Präzisionswaffen wie Luft-Boden-Raketen?« Ich hatte General Ivry gerade erst kennen gelernt, aber es kam mir so vor, als ob ich eine Seite an ihm kennen gelernt hätte, die in dem CIA-Profil von ihm als hart gesottenen Kampfpiloten nicht vorkam. »General Ivry, ich war in Südafrika. Sie auch?« Er zögerte. »Ja, ja, ich auch.« Dann fügte er eine Rechtfertigung hinzu, die nichts mit der Rüstungsindustrie zu tun hatte. »Wir haben dort eine sehr große jüdische Gemeinde. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie vor antisemitischen Ausschreitungen geschützt ist.« »Antisemitismus ist etwas Furchtbares. In meiner Kindheit erlebte ich ihn ein Stück weit. Wir waren die einzige nichtjüdische Familie im Viertel. Ich sah, was die 84
Leute mit der Synagoge machten, ich sah die Schikanen, hörte die Beleidigungen. Aber Apartheid ist nichts anderes. Apartheid ist Rassismus. Glauben Sie nicht auch, dass sich eine Regierung, die sich auf die Apartheid stützt, versündigt?« Während ich sprach, betrachtete Ivry seine Hände. Nun blickte er auf und sah mir in die Augen. »Ja, ja, natürlich.« In der folgenden Woche sprach Ivry mit dem Kabinett. Nach dem Treffen gab die israelische Regierung bekannt, sie werde alle militärischen Beziehungen zu Südafrika beenden und gemäß dem UN-Embargo den Import und Export von Waffen zwischen den beiden Ländern verbieten. Die amerikanisch-israelische strategische Kooperation kam nur langsam in Gang. Das israelische Militär war stets auf sich allein gestellt gewesen und hatte nie mit Streitkräften anderer Länder zusammengearbeitet. Die ersten Gespräche verliefen zäh. Vielleicht könnten wir ein Manöver zum Aufspüren von U-Booten durchführen, schlug ich vor. »Warum sollten wir wollen, dass Sie unsere U-Boote finden?«, lautete die verwirrte Antwort. Nun ja, vielleicht könnten wir eine Luftkampfübung ähnlich wie in Top Gun machen. »Nein, wir würden Sie schlagen, und dann wären Ihre Piloten sauer auf uns.« Ich schlug vor, dass die USA die Erlaubnis bekommen sollten, militärische Ausrüstung in Israel zu deponieren, auf die unsere Streitkräfte im Fall einer Krise mit den Sowjets zurückgreifen konnten. »Gewiss. Und wir greifen darauf zurück, wenn wir eine Krise haben.« Aber schließlich einigten wir uns doch. Mein Partner bei den amerikanischen Streitkräften war ein Admiral der Navy, der anfangs über nicht allzu viel diplomatisches Gespür verfügte. Als er bei einem 85
offiziellen Abendessen in Tel Aviv gefragt wurde, ob er schon einmal in Israel gewesen sei, dachte Jack Darby einen Moment nach und antwortete dann in schleppendem Südstaatenakzent: »Tja, das kommt darauf an, wie man das sieht, also, ob man den Aufenthalt im U-Boot mitzählt. Wissen Sie, durch das Periskop sieht man so einiges.« Schließlich einigten wir uns auf eine Reihe von Manövern, die mit der Zeit immer umfangreicher wurden. Außerdem beschlossen wir die Entwicklung gemeinsamer Einsatzpläne, falls die Sowjetunion in der Region militärisch aktiv werden sollte. Darby baute ein gutes Verhältnis zum israelischen Militär auf. Später wurde er Kommandant der amerikanischen U-Bootflotte im Südpazifik. Beim Joggen in Pearl Harbor brach er zusammen und starb. Die israelische Luftwaffe flog seine Familie nach Israel, als dort in der Wüste der Jack Darby Memorial Grove eingeweiht wurde. David Ivry sorgte sich wegen eines möglichen Angriffs sowjetischer, syrischer oder irakischer Raketen auf Israel. Gemeinsam setzten wir durch, dass die USA die Entwicklung eines israelischen Raketenabwehrsystems finanzierten und in der Zwischenzeit amerikanische Patriot-Raketen stationiert wurden. Wir brachten das Pentagon sogar dazu, den Ankauf der israelischen unbemannten Flugzeuge und der Luft-BodenPräzisionsraketen in Erwägung zu ziehen. Die Marineinfanterie kaufte die Drohnen, die Air Force die Raketen. (Als ich mich einige Jahre später mit Marineinfanteristen an der irakischen Grenze aufhielt, »flog« ich eines der in Israel gebauten, unbemannten Flugzeuge über die irakischen Truppen.) Ivry fungierte auch als mein Fürsprecher im israelischen Kabinett und setzte sich erfolgreich für meine persönliche Bitte ein, sich den internationalen Standards zur Nichtverbreitung von 86
Raketen und chemischen und biologischen Waffen anzuschließen. (Zu Beginn des ersten Golfkrieges taten Ivry und ich uns zusammen und überredeten unsere Regierungen, eine amerikanische Einheit in Israel zu stationieren. Bis dahin waren noch nie ausländische Truppen in Israel stationiert gewesen. Wir arbeiteten auch gemeinsam daran, PatriotRaketen an Israel zu verkaufen und das israelische Verteidigungsministerium in die Auswertung amerikanischer Satellitenbilder einzubeziehen. Dank der Satellitenaufnahmen wurden irakische ScudAbschussrampen entdeckt, die auf Israel gerichtet waren. Nach dem Krieg verbreitete die CIA Gerüchte, Israel habe Patriot-Raketen an China verkauft. Viele im State Department, die ohnehin dachten, ich stünde »den Israelis zu nahe«, wollten mir die Schuld zuschieben. Ivry rief an. »Ich habe gehört, dass Sie in Schwierigkeiten sind. Was kann ich tun?« Ich schlug spaßeshalber vor, er solle die USA einladen, ein Inspektionsteam nach Israel zu schicken, das »überall und jederzeit« überprüfen könne, ob Patriot-Raketen fehlten oder man sich an ihnen zu schaffen gemacht habe. Ich wusste, dass das eine dumme Idee war. Israel würde einem anderen Land nie ungehindert Zugang verschaffen. Ivry hielt die Idee nicht für dumm. Wieder sprach er für mich beim israelischen Kabinett vor. Die darauf folgende Inspektion durch Beauftragte der US-Streitkräfte bewies, dass es keinen Grund zu der Annahme gab, Israel habe irgendetwas mit den Patriot-Raketen angestellt oder Raketen, Software, Entwürfe oder Ähnliches weitergegeben. Meine Unschuld war erwiesen, aber dafür hatte ich mir Feinde bei der CIA und im State Department gemacht.) Unsere stärkere militärische Bindung an Israel kam nur zustande, weil das Weiße Haus unter Reagan sie Pentagon 87
und State Department aufzwang. Die Entscheidung war militärisch und moralisch betrachtet richtig, doch die engere Beziehung zu Tel Aviv brachte radikale Araber gegen uns auf und lieferte ihnen die nötigen Argumente zur Rekrutierung von Terroristen für antiamerikanische Zwecke. Mitte der achtziger Jahre hatten die USA ihre militärische Präsenz im Nahen Osten deutlich ausgebaut. Marineinfanteristen übten regelmäßig Landungen in Israel, Kampfflugzeuge der Air Force und der Navy flogen Luftstützpunkte in Israel an. Mobile Patriot-Radare suchten den Himmel ab. In Ägypten, Oman und Bahrain hatten die USA Bomben und anderes Kriegsmaterial in Lagerhäusern und Bunkern deponiert. Schiffe der US Navy kreuzten im Persischen Golf. Reagan hatte Saddam Hussein gestärkt und so den Iran matt gesetzt. Er hatte Verbindungen zu Israel und den wichtigsten arabischen Staaten geknüpft, die es den amerikanischen Streitkräften erlaubten, gegen eine sowjetische Bedrohung im Mittelmeer oder im Persischen Golf vorzugehen. Diese Maßnahmen Reagans waren defensiver Natur. In Afghanistan ging er dagegen in die Offensive und zog damit die USA stärker in die Konflikte der Region hinein. Mitte der achtziger Jahre erstellte ich als Deputy Assistant Secretary, der im State Department für geheimdienstliche Informationen zuständig war, Analysen zu der Frage, was die Sowjetunion die Stellvertreterkriege in El Salvador, Nicaragua, Angola, Mosambik und Afghanistan kosteten. Allerdings konnten wir die Auswirkungen auf die Kassen des Kreml nur schätzen. Doch selbst nach vorsichtigen Schätzungen bedeuteten sie eine erhebliche Belastung für die ohnehin leistungsschwache sowjetische Wirtschaft. Genau das hatten sich Reagan und CIA-Direktor Bill Casey erhofft. Als die USA den Spieß umdrehten, in den 88
Stellvertreterkriegen zur Gegenoffensive übergingen und ihren Verteidigungshaushalt rapide erhöhten, war der Kreml gezwungen zu reagieren und überforderte damit die sowjetische Wirtschaft. Afghanistan bot Reagan und Casey eine hervorragende Gelegenheit, die gegnerische Supermacht auszuzehren. Moskau hatte sich dort zu sehr engagiert. Anstatt die Regierung in Kabul einfach nur zu manipulieren und Hauptstadt und Umland zu sichern, sollte die Rote Armee nach dem Einmarsch Ende 1979 das ganze Land befrieden – ein umfangreicher Einsatz, für den die russischen Streitkräfte weder ausgerüstet noch ausgebildet waren. Schon die ersten Kämpfe zeigten die Schwächen der wehrpflichtigen Truppen. Daraufhin schickte Moskau Spezialeinheiten und Luftlandetruppen. Sie verwendeten Kampfhubschrauber und neue Kampfflugzeuge zur Unterstützung von Bodentruppen, die 1985 erste verheerende Auswirkungen zeigten. Trotz aller Rhetorik hatte die Regierung Reagan den afghanischen Widerstand nicht ausreichend finanziert. Die Spezialisten in meinem Stab, die den Krieg in Afghanistan analysieren sollten, führten Buch über die Verluste und sammelten Berichte über den Kampfgeist der afghanischen Widerständler. 1985 wuchs bei ihnen die Sorge, dass sich das Blatt zugunsten der Sowjets gewendet hatte. Mein Chef und Mentor war ein Berufsdiplomat, allerdings kein typischer. Morton Abramowitz füllte sein abgedunkeltes Büro mit Zigarrenrauch und hinterließ überall Asche. Die paar Haare, die ihm noch blieben, standen oft in alle Richtungen ab, doch darauf achtete er gar nicht. Als amerikanischer Botschafter in Thailand hatte er ein Programm zur grenzüberschreitenden Hungerhilfe gestartet und damit Hunderttausende 89
Kambodschaner gerettet. Als Botschafter in der Türkei initiierte er später ein ähnliches Programm zur Unterstützung der Kurden nach dem ersten Golfkrieg. Er kümmerte sich nicht um Äußerlichkeiten, sondern war ein Mann der Tat. »Erzählen Sie mir nicht, dass wir verlieren, Clarke, sagen Sie mir verdammt noch mal, was man dagegen tun kann«, lautete Abramowitz’ Kommentar zu unserer Analyse der Situation in Afghanistan. Bei unserer Analyse hatten wir uns hauptsächlich auf die Kampfhubschrauber vom Typ Mi-24 konzentriert, die für den Erfolg der Sowjets verantwortlich waren. Die afghanischen Kugeln prallten an ihnen ab, die vom Hubschrauber abgefeuerten Raketen dagegen zerstörten die Lager der Mudschaheddin. »Wir müssen ihnen Stinger-Raketen liefern, dann können sie die Hubschrauber abschießen«, gab ich zurück. »Ah, haben Sie keine bessere Idee? CIA und Pentagon werden die Raketen nie rausrücken.« Mort zündete sich einen Zigarrenstummel an. »Möchten Sie etwas tun? Besuchen Sie Ihren Freund Richard Perle, den Fürsten der Finsternis, und bringen Sie ihn dazu, die Stinger-Raketen herzugeben.« Perle war Assistant Secretary im Pentagon und stand dem State Department sehr misstrauisch gegenüber. Für ihn saßen dort Schwächlinge, die sich mit dem Kalten Krieg abgefunden und quasi kapituliert hatten. Nach dem Militärputsch in der Türkei war Perle 1984 nach Ankara geflogen und hatte so der Verurteilung des Putsches durch das State Department entgegengewirkt. Seine Botschaft lautete: sich mit der Instabilität befassen und gleichzeitig einen Fahrplan für die Rückkehr zu einem zivilen Regime entwickeln. Perle nahm die türkischen Paschas, wie die 90
Vier-Sterne-Generale genannt wurden, mit seinem Charme für sich ein. Er liebte das Land und bestand darauf, herumzureisen und Teppiche und Kupferkessel zu kaufen. Ich war vom State beauftragt worden, ihn auf der Reise zu begleiten und im Auge zu behalten. Aber stattdessen nahm er mich mit seiner gewinnenden Art und seiner pragmatischen Einstellung zur strategischen Bedeutung der Türkei für sich ein. Auf Drängen von Abramowitz nutzte ich unsere aufkommende Freundschaft und traf mich privat mit Perle. Ich erzählte ihm ohne Umschweife von der Weigerung des Pentagon, Stinger-Raketen nach Afghanistan zu schicken. Zuerst leugnete er, aber dann drückte er wütend auf den Knopf der Sprechanlage und fragte einen Assistenten, ob das stimme. »Verdammt noch mal! Wer blockiert das? Zur Hölle mit der CIA!« Dann drückte er noch einen Knopf der Gegensprechanlage und fragte etwas höflicher: »Könnte ich kurz bei Cap vorbeischauen?« Perle ließ mich allein in seinem Büro warten, während er vom vierten Stock hinunter in das große Büro von Verteidigungsminister Caspar Weinberger im dritten Stock im E-Ring des Pentagon eilte. Als er zurückkam, hatte er eine einfache Erklärung: »Cap wusste davon nichts.« Ich fragte mich, ob er nun, da er es wusste, die Lieferung von Stinger-Raketen an die Mudschaheddin genehmigen würde. »Keine US-Truppen auf afghanischem Gebiet. Die Mudsch müssen schon kommen und sich in Pakistan ausbilden lassen.« Da sich nun der Nationale Sicherheitsrat, das Außenund das Verteidigungsministerium für die Entsendung von Stinger-Raketen aussprachen und auch der Kongress Druck machte, gab die CIA nach. Im September 1986 91
waren die Mudschaheddin ausgebildet und die Waffen nach Afghanistan geschmuggelt worden. Schon nach wenigen Wochen hatten die Mudschaheddin eine Möglichkeit ersonnen, die durch Infrarotstrahlen gelenkten Stinger-Luftabwehrraketen und die britischen JavelinPanzerabwehrraketen in einer Doppelstrategie gegen die sowjetischen Truppen einzusetzen. Anfangs wurden nur wenige Kampfhubschrauber abgeschossen, doch dann stieg die Zahl dramatisch auf über 270 Abschüsse. Schließlich verzichteten die Sowjets auf den Einsatz ihrer »Panzer der Lüfte«. Die Geheimaktionen in Afghanistan wurden in Reagans zweiter Amtszeit noch stark erweitert. Aus frei zugänglichen Unterlagen geht hervor, dass die Ausgaben dafür von 35 Millionen Dollar im Jahr 1982 auf 600 Millionen Dollar im Jahr 1987 anstiegen. Mit wenigen Ausnahmen wurde davon militärische Ausrüstung gekauft, die über den pakistanischen Geheimdienst an die Widerstandskämpfer in Afghanistan ging. Angehörige der CIA durften nur selten nach Afghanistan. Die Mitarbeiter des State Department erfuhren zwar keine Details über die geheimen Waffenlieferungen, konnten jedoch deren Auswirkungen auf den Kriegsverlauf beobachten. 1987 hatte sich das Kriegsglück wieder zugunsten der Afghanen gewendet, und bald hieß es, die Sowjets würden sich nach Kabul zurückziehen. Doch damit lagen die Experten falsch. 1988 erklärten sich die Sowjets zum vollständigen Abzug bereit und taten das auch im folgenden Jahr. Mit der finanziellen Unterstützung der USA, saudischer Regierungen und von »Wohltätigkeitsorganisationen« hatte der militärische Abwehrdienst Pakistans aus versprengten afghanischen Stämmen, die noch mit den Waffen des 19. Jahrhunderts kämpften, und mehreren 92
tausend arabischen Freiwilligen eine Truppe geformt, die die mächtige Rote Armee in die Knie gezwungen hatte. Die Stinger-Raketen waren die letzte Ergänzung gewesen. Während des Krieges hatten sich die Sowjets zurückgehalten und weder den Wallfahrtsort der Mudschaheddin noch Pakistan als Ausgangsbasis der Amerikaner bombardiert. Gelegentlich waren Kampfflugzeuge in den pakistanischen Luftraum eingedrungen, doch die Sowjets hatten die Warnungen der Amerikaner ernst genommen und nicht angegriffen. Nach der Unterzeichnung des Afghanistan-Abkommens am 14. April 1988 in Genf, das einen Abzug der sowjetischen Truppen bis zum 15. Februar 1989 vorsah, ereigneten sich zwei interessante Vorfälle. Der Stützpunkt, an dem die CIA und der pakistanische Geheimdienst Waffen für die Afghanen lagerten, wurde von ungeheuren Explosionen erschüttert. In der nahe gelegenen Stadt Rawalpindi bebte es stundenlang. Einige Monate später, im August 1988, starb der pakistanische Präsident Zia ul-Haq bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz. Obwohl ich nie Beweise dafür finden konnte, denke ich, dass der KGB beide Anschläge als Rache für die bittere Niederlage angeordnet hat. Die Nachricht vom Tod des pakistanischen Präsidenten erreichte Abramowitz und mich an Bord der USS Theodore Roosevelt im Atlantik. Ein Marineoffizier tippte auf meinen Helm, um sich im Lärm der startenden F-14Maschinen bemerkbar zu machen. Er winkte uns in den Tower. »Die Kommandozentrale des State Department hat uns gerade angefunkt. Sie beide sollen zurück nach Washington. Wir machen gerade einen Transporter fertig, der sie direkt zum Stützpunkt Andrews bringt. Anscheinend starb der pakistanische Präsident bei einem Flugzeugabsturz.« 93
Ich war froh, dass man uns ein S3-Transportflugzeug zur Verfügung stellte, wunderte mich aber, warum das State Department uns so dringend nach Washington beorderte. Ich fragte: »Was wissen Sie sonst noch darüber?« »Na ja«, antwortete der Offizier, »der amerikanische Botschafter. Er war auch an Bord des Flugzeugs.« Abramowitz wurde kreidebleich. Ich hatte das Gefühl, als ob ich einen Schlag in die Magengrube bekommen hätte. Der amerikanische Botschafter war Arnold L. Raphel, ein enger Freund von Abramowitz und mein Mentor. Er war im State Department sehr schnell aufgestiegen, weil er fundierte Kenntnisse über das südliche Asien und den Nahen Osten besaß und das Chaos im Libanon und anderswo wieder in Ordnung gebracht hatte, das andere angerichtet hatten. Als wir in den folgenden Jahren von einer Krise im Nahen Osten in die nächste stolperten, fragte sich mancher von uns, wie sich die Situation entwickelt hätte, wenn Arnie nicht ums Leben gekommen wäre. Die amerikanische Regierung verfügte über viele kompetente Experten für die Sowjetunion, aber es gab nur wenige Mitarbeiter im State Department, die Urdu und Farsi sprachen und etwas in Washington bewegen konnten. War es richtig, die afghanischen Widerstandskämpfer mit Stinger-Raketen und anderen Waffen auszurüsten? Hatten wir die Lage falsch eingeschätzt, als wir die Saudis hinzuzogen? Viele denken, dass wir mit dieser fehlgeleiteten Politik des Kalten Krieges den Boden für alQaida bereitet haben. Doch selbst im Rückblick bin ich überzeugt, dass die Regierung Reagan richtig handelte, als sie den Afghanen half und damit der Sowjetunion eine Niederlage beibrachte. Wir wollten die Stellvertreterkriege beenden 94
und Moskau beweisen, dass solche Konflikte auch in die entgegengesetzte Richtung führen konnten. Unsere Sicherheit war von derartigen Auseinandersetzungen direkt betroffen. Im Kalten Krieg stand viel auf dem Spiel. Außerdem wollten wir einem Volk helfen, dessen Land von einem Eindringling besetzt und von einer Marionettenregierung unterdrückt wurde. Die StingerRaketen wurden im Krieg größtenteils verbraucht oder bei der Explosion in Rawalpindi zerstört. Andere wurden zurückgekauft. Von manchen wusste man nicht, wo sie geblieben waren, doch sie wurden unbrauchbar, wenn die Einwegbatterien leer waren. Keine Stinger-Rakete wurde je von einem Terroristen benutzt, obwohl Stinger zur allgemeinen Bezeichnung für Luftabwehrraketen wurde, die man schultern kann. Auch die Beteiligung der Saudis und anderer arabischer Staaten war wohl überlegt. Damit wurde nicht nur die finanzielle Belastung für die USA verringert, sondern den Regierungen jener Länder auch bewiesen, dass wir trotz unserer Differenzen wegen Israel gemeinsame Ziele und Ansichten hatten. Allerdings machten die USA unter Reagan vier Fehler, deren Auswirkungen noch heute zu spüren sind. Erstens war die CIA bei der Hilfe für die Afghanen abhängig vom pakistanischen Geheimdienst. Das bedeutete, dass die Afghanen Amerika gegenüber kaum eine Bindung oder ein Gefühl der Verpflichtung entwickelten, obwohl wir mehrere Milliarden Dollar aufgewendet hatten. (In den neunziger Jahren machte die CIA einen ähnlichen Fehler, als sie keine amerikanischen Agenten ins Land schickte, um Bin Laden und die Führung von al-Qaida zu töten, sondern sich auf angeheuerte Afghanen verließ.) Zweitens: Als Saudis, Ägypter und Angehörige anderer 95
arabischer Länder am Kampf gegen die Sowjets beteiligt wurden, stimmten die USA der Entsendung einer Armee von »Arabern« nach Afghanistan und Pakistan zu, ohne zu bedenken, wer diese Kämpfer waren oder was nach dem Abzug der Sowjets mit ihnen passieren würde. Die Saudis übernahmen bei der Aufstellung der freiwilligen Kämpfer die Führung. Der Chef des saudischen Geheimdienstes, Prinz Turki, vertraute einem Mann aus einer reichen Bauunternehmerfamilie, die dem saudischen Königshaus nahe stand. Turki beauftragte einen Sohn der Familie, einen gewissen Osama bin Laden, die arabischen Freiwilligen für Afghanistan zu rekrutieren, auszubilden und zu indoktrinieren. Viele Rekruten waren Außenseiter in ihrer eigenen Gesellschaft. Viele hatten Verbindung zur Muslimbruderschaft, einer seit langem bestehenden fundamentalistischen Gruppe, die in Ägypten und Syrien aktiv war. Aus vielen dieser Freiwilligen entstand später das al-Qaida-Netzwerk miteinander verbundener Terroristengruppen, die in Algerien, Ägypten und anderswo tätig waren. Drittens hatten die USA nach der sowjetischen Niederlage wenig Einfluss auf die weitere Entwicklung Afghanistans. Amerika wollte seine Außenpolitik und das Budget für den Geheimdienst entlasten und überließ daher Afghanistan größtenteils seinem Schicksal. So hatten wir auch zu wenig Informationen darüber, was sich im Land abspielte. (Nach unserem Einmarsch 2001 versuchten wir wieder zu sparen und den Einfluss auf Afghanistan so gering wie möglich zu halten.) Nach dem Rückzug der Sowjets 1989 beseitigten die afghanischen Gruppen das sowjetische Marionettenregime und gingen dann aufeinander los. In diesem Bürgerkrieg wurden Kabul und andere Städte zerstört. Zu den Flüchtlingsströmen, die schon während 96
des langen Kriegs mit den Sowjets nach Pakistan gezogen waren, kamen weitere hinzu. Der pakistanische Geheimdienst, dem wir die Handlungsvollmacht in Afghanistan erteilt hatten, nutzte seine Macht und seinen Einfluss und schuf mit einer neuen religiösen Splittergruppe, den Taliban, Ordnung im Chaos. Die Pakistanis ließen auch zu, dass die arabischen Afghanistanveteranen die Taliban unterstützten und für sie kämpften. Viertens unternahmen die USA kaum etwas, damit Pakistan verstand, welche zerstörerischen Auswirkungen diese Mischung aus Millionen von afghanischen Flüchtlingen und reichen, fanatischen Arabern, die ins Land kamen und blieben, auf seine Gesellschaft hatte. Stattdessen sorgten sich die USA um das Atomwaffenprogramm Pakistans und stellten die Unterstützung für das Land ein. Die Streichung der Gelder führte natürlich nicht zur Beendigung des Atomwaffenprogramms, sondern sorgte dafür, dass ein Land, das Atomwaffen besaß, politisch instabil wurde und drohte, von Fanatikern übernommen zu werden. Der Krieg in Afghanistan hatte enorme Auswirkungen auf die Rote Armee und die Sowjetunion. Als sich die Leichensäcke und Lügen immer höher türmten, schwand der Glaube des Durchschnittsbürgers an die Kommunistische Partei ebenso wie der Lebensstandard. Doch auch in Afghanistan gab es Veränderungen. Der letzte sowjetische Soldat wurde im Februar 1989 abgezogen, als George H. W. Bush gerade mal einen Monat im Amt war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die moskaufreundliche Marionettenregierung stürzte. In Afghanistan entstanden neue Machtstrukturen. Nun hatten die Stammesführer das Sagen, die die Kämpfer angeführt hatten, außerdem die Mitarbeiter des pakistanischen 97
Geheimdienstes, die sie mit amerikanischen Waffen versorgt, und die arabischen Freiwilligen, die Geld und den Koran mitgebracht hatten. Da saßen die neuen Machthaber also nun in Kabul, Kandahar und Jalalabad und sinnierten über die Entwicklung in der Sowjetunion. Der Saudi Osama bin Laden war dabei, der Pakistani Chalid Scheich Mohammed, ein Indonesier namens Hambali und andere, die wir damals nicht kannten. Nach der Niederlage in Afghanistan (und, wie es sich für die Araber darstellte, wegen der Niederlage in Afghanistan) begann sich die Sowjetunion aufzulösen. Einige der arabischen und afghanischen Kämpfer dachten nun darüber nach, was man mit Geld, dem Koran und ein paar guten Waffen erreichen konnte. Man konnte eine Regierung der Ungläubigen stürzen. Aber noch viel wichtiger: Man konnte eine Supermacht vernichten. Das hatten sie gerade getan. Es war 1990.
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3 Unvollendete Mission, ungewollte Konsequenzen Charlie Allen standen die Haare zu Berge. Das behauptete jedenfalls Steve Simon, der Leiter des Stabs für politischmilitärische Analyse im State Department. »Sie reden besser mit ihm. Er glaubt, der Irak würde es tatsächlich machen.« 1990 war ich Assistant Secretary im Bureau of PoliticoMilitary Affairs, eine Position, über die sich viele Mitarbeiter des Diplomatischen Corps empörten, weil sie der Meinung waren, dass diese und viele andere Stellen, die ich mit jungen Fachleuten besetzte, nur Diplomaten vorbehalten sein sollten. Charlie Allen hatte unter den Mitarbeitern der CIA viele Bewunderer und Feinde, und zwar aus dem gleichen Grund: Er hatte meistens Recht. Er war eine Legende und stets bei den wichtigsten Projekten dabei. Charlie war nur knapp einer Entlassung entgangen, weil er von Bud McFarlane zu der erfolglosen heimlichen Reise nach Teheran überredet worden war, bei der McFarlane der iranischen Regierung einen Kuchen überreichte und sie bat, sich für die Freilassung amerikanischer Geiseln im Libanon einzusetzen. Als Assistant Secretary, zuständig für Geheimdienstangelegenheiten, wich er nun von der offiziellen CIA-Meinung ab, dass Irak Kuwait nur einschüchtern wolle, um den Ölpreis zu beeinflussen. In der offiziellen Analyse der CIA für das Weiße Haus hieß es, niemand ziehe bei Temperaturen um die 42 Grad Celsius in den Krieg. Immerhin war es Anfang August 99
1990. »Wie kommen Sie darauf, dass die Drohung echt sein könnte, Charlie? Schließlich haben die dort 42 Grad«, neckte ich Allen auf dem abhörsicheren Telefon. Ich wusste, dass mein Zitat aus der CIA-Analyse ihn aus der Reserve locken würde. »Den Jungs darf man nichts glauben. Sie würden es nicht einmal merken, wenn ein irakischer T-72-Panzer neben ihnen auf dem CIA-Parkplatz stehen würde.« Allen war wirklich besorgt. »Im Ernst, warum denken Sie, dass die Iraker etwas vorhaben? Wollen sie nicht nur Kuwait Angst einjagen?« »Emcon«, sagte Charlie nur. Emcon hieß, dass die Irakis unter totaler Funkstille operierten. Keine Funksprüche von ihren Einheiten, folglich keine Angabe von Standorten und Truppenbewegungen. Das machte man nicht, wenn man nur jemanden einschüchtern wollte. »In Ordnung«, sagte ich, »ich werde versuchen, ein Deputies Committee zusammenzustellen, aber es ist gerade niemand in der Stadt. Scowcroft und Gates sind beim Nationalen Sicherheitsrat, Baker und Eagleburger verreist. Wer soll das Komitee leiten?« In Washington herrschten zwar keine 42 Grad, trotzdem war es in der Stadt wegen der hohen Luftfeuchtigkeit drückend heiß. Die meisten politischen Führungskräfte hatten die Stadt verlassen. Schließlich leitete Under Secretary Bob Kimmitt die Sitzung am späten Nachmittag. Nur Kimmitt, Richard Haas vom Nationalen Sicherheitsrat und ich schienen besorgt. Der stellvertretende CIA-Direktor Dick Kerr erklärte es für unmöglich, dass Irak Kuwait angreife. Admiral Dave Jeremiah stimmte ihm zu und lehnte 100
meinen Vorschlag ab, den Abzug der US-Truppen hinauszuzögern, die in der Region gerade ein Manöver abgehalten hatten. Dem Middle East Bureau des State Department lag ein Bericht von unserer Botschafterin April Glaspie vor, der Saddam Hussein beteuert hatte, keinen Angriff zu planen. Die Sitzung endete ohne ein Gefühl der Dringlichkeit. Ich ging nach Hause. Steve Simon kam vorbei, und wir setzten uns mit einer Flasche Lagavulin-Whisky auf die Veranda. Auch John Tritak, ein angesehener Experte im State, tauchte noch auf. Ich erzählte den beiden von der Sitzung, und wir bemitleideten uns gegenseitig wegen der Schwerfälligkeit der Bürokratie. Bei der zweiten Runde klingelte das Telefon. John ging dran. »Du musst zurück. Das Deputies Committee versammelt sich erneut.« »Damit wir uns alle noch einmal darauf einigen, nichts zu tun?«, fragte ich verbittert. John schüttelte den Kopf und grinste. »Nein, es sieht so aus, als ob wirklich ein irakischer T-72-Panzer auf dem Parkplatz stehen würde … auf dem Parkplatz der amerikanischen Botschaft in Kuwait.« Die politischen Führungskräfte eilten nach Washington zurück. Präsident Bush war unschlüssig, wie die USA reagieren sollten. Außenminister James Baker und Verteidigungsminister Dick Cheney zauderten. Der nationale Sicherheitsberater Brent Scowcroft war dagegen der Meinung, der Irak habe das strategische Gleichgewicht so verändert, dass man ihm das nicht durchgehen lassen dürfe. Dieser Ansicht war auch die britische Premierministerin Margaret Thatcher. Beide argumentierten, dass nichts mehr zwischen den irakischen Truppen in Kuwait und den saudischen Ölfeldern stehe. Wenn wir nichts unternähmen, würde Saddam Hussein denken, er käme auch mit der Besetzung der östlichen 101
saudischen Ölfelder durch. Und dann würde Bagdad den Großteil des weltweit verfügbaren Erdöls kontrollieren. Damit könnten die Iraker Amerika unter Druck setzen. Zögernd entschieden Bush und sein Stab, dass man die saudischen Ölfelder verteidigen müsse, und zwar schnell. Für die Entsendung von Truppen brauchte man die Genehmigung der Saudis, allerdings waren im Pentagon einige der Meinung, das US-Militär sollte die saudischen Ölfelder auch ohne Genehmigung der Saudis verteidigen. Dick Cheney wurde beauftragt, den saudischen König zu überzeugen. Er stellte ein kleines Team zusammen, darunter Paul Wolfowitz, Under Secretary im Pentagon, der Chef des US-Zentralkommandos Norman Schwarzkopf und Sandy Charles vom Nationalen Sicherheitsrat. Nach einem Zwischenstopp auf den Azoren zum Nachtanken landeten wir nachts im schwülen Jiddah und fuhren direkt zum Palast. Die saudischen Prinzen saßen auf der gegenüberliegenden Seite des Saales, der König thronte an der Stirnseite. Für eine so späte Sitzung im heißen August waren sehr viele Mitglieder der Königsfamilie anwesend. Wie wir es auf dem Flug vereinbart hatten, begann Cheney mit der Erklärung, das Königreich sei in Gefahr. Die irakischen Truppen würden möglicherweise von Kuwait aus in südlicher Richtung weitermarschieren und auch die saudischen Ölfelder besetzen. Nichts könne sie aufhalten. Dann übergab er an Schwarzkopf. Schon bei der Probe im Flugzeug hatte ich gefürchtet, dass die Informationen nicht überzeugend waren. Das dachte ich auch jetzt. Wir hatten keine Beweise, dass der Irak beabsichtigte, weiter vorzudringen, obwohl ich es jetzt oder in Zukunft für möglich hielt. 102
Cheney schloss die Präsentation mit dem Versprechen ab, dass die amerikanischen Truppen nur das Königreich verteidigen wollten. Präsident Bush lasse dem König ausrichten, er gebe ihm sein Wort, die Truppen wieder abzuziehen, sobald die Gefahr gebannt sei oder sobald es der König wünsche. Der König wandte sich an seine Brüder, und trotz unserer Anwesenheit brach eine Debatte über die Stationierung amerikanischer Truppen im Land aus. »Sie werden nie wieder abziehen«, sagte ein Prinz auf Arabisch. Unser Dolmetscher flüsterte uns die Übersetzung zu. »Das verstößt gegen den Koran«, erklärte ein anderer. Die Stimmung schien gegen uns. Dann erfuhren wir, dass der König Meldung von einer Einheit der saudischen Nationalgarde erhalten hatte. Sie hatte irakische Truppen im schlecht markierten saudischen Grenzgebiet angetroffen. Vielleicht würden die Iraker doch weiter vordringen. Dem König am nächsten und unser Englisch für ihn dolmetschend saß sein Botschafter in den USA und Neffe Prinz Bandar. Er war einige Stunden vor uns in seiner eigenen Maschine nach Jiddah gekommen. Er war ein Liebling des Königs und Star der Washingtoner Gesellschaft. Bandar hatte die Notwendigkeit erkannt, amerikanische Truppen nach Saudi-Arabien zu schicken, und versucht, den König davon zu überzeugen. Die Spannung im Saal, sowohl bei den Amerikanern auf der einen Seite als auch bei den saudischen Prinzen zwölf Meter von uns entfernt, war fast mit Händen zu greifen. Keine Gruppe wusste, was der König sagen würde, aber uns allen war klar, dass seine Entscheidung enorme Auswirkungen auf die Zukunft haben würde. Der König wandte sich schließlich direkt an Cheney. »Ich vertraue Präsident Bush. Sagen Sie ihm, seine 103
Truppen können kommen, mit allem, was sie haben, und sie sollen schnell kommen. Ich habe sein Wort, dass sie wieder abziehen werden, wenn der Krieg vorbei ist.« Dann verfiel er in einen langen Monolog darüber, was er und seine Familie im Wüstenscheichtum aufgebaut und wie sie aus einer rückständigen Ansammlung nomadischer Stämme einen modernen Staat geschaffen hätten. Er werde nicht zulassen, dass Saddam Hussein das zerstöre. Bevor wir den Palast verließen, beschwor Cheney uns: »Pokerface, wenn wir hier rausgehen. Alle Kameras werden auf unsere Gesichter gerichtet sein, um die Entscheidung des Königs daran abzulesen. Aber Saddam soll nichts davon erfahren. Wenn er glaubt, dass wir herkommen, besetzt er vielleicht gleich die Ölfelder, bevor wir dort sein können.« Doch als sich die Türen des Palastes öffneten, war die Feuchtigkeit so hoch, dass unsere Brillen sofort beschlugen. Anstatt mit Pokerface stolperten die Amerikaner mit verwirrter Miene zu ihren Autos und wischten sich die Gläser ab. Die saudischen Prinzen verließen den Palast durch eine andere Tür. Einige hatten sich eine Alternative zu den Amerikanern überlegt. Ohne dass wir damals davon wussten, hatte sich der Chef des Geheimdienstes, Prinz Turki, an jenen Saudi gewandt, der einige Jahre zuvor die Araber für den Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan rekrutiert hatte: Osama bin Laden. Nach dem Krieg in Afghanistan war Bin Laden 1989 im Triumph nach Saudi-Arabien zurückgekehrt. Prinz Turki hatte ihn wiederholt gebeten, einen fundamentalistischen Widerstand auf der Grundlage des Koran gegen das sozialistisch geprägte Regime im Südjemen zu organisieren. (Die Kontakte, die Bin Laden damals im Jemen knüpfte, erwiesen sich später für al-Qaida als nützlich.) Bin Laden hatte einige arabische Kämpfer aus 104
Afghanistan weiterhin als organisierten Verband um sich geschart. Als der Irak in Kuwait einmarschierte, stellte er sie dem König zur Verteidigung Saudi-Arabiens und zur Vertreibung der Iraker aus Kuwait zur Verfügung. Nachdem wir den Palast verlassen hatten, erfuhr Bin Laden wahrscheinlich von der Entscheidung des Königs. Und er war mit ihr sicher nicht einverstanden. Ungläubige in das Königreich zu lassen, in dem sich die beiden heiligsten Stätten des Islam befinden, verstieß gegen die wahhabitische Auslegung des Islam. Amerikanische Truppen im Königreich würden den Islam schänden. Dennoch kam es nicht zum Bruch mit dem Regime. Bin Laden setzte seine Arbeit fort und gestaltete seine Tarnorganisation, das Büro für afghanische Freiwillige, zu einem Netzwerk um, das heimkehrende Veteranen des Afghanistankrieges in Algerien, Tschetschenien, Bosnien, Ägypten und den Philippinen miteinander verband. Cheney kehrte in den Gästepalast zurück und wollte den Präsidenten informieren, aber unser Stab hatte Probleme, ein abhörsicheres Telefon zu installieren. Dann mussten wir feststellen, dass es mit der Anlage im Oval Office nicht kompatibel war. Als der Anruf schließlich zustande kam, sagte man Cheneys Assistenten, der Präsident sei in einer Besprechung. Cheneys sonst undurchdringliche Miene spiegelte seine Wut. Er explodierte: »Dann holen Sie ihn da heraus. Wir ziehen vielleicht in den Krieg.« Schwarzkopf befahl dem US-Zentralkommando in Tampa, die 82. Luftlandedivision und die taktischen Jagdfliegergeschwader in Bereitschaft zu versetzen. Anscheinend wurde er gefragt, wie viele, denn er antwortete: »Alle, die im Plan vorgesehen sind.« Im Plan, den das US-Zentralkommando vor kurzem durchgespielt hatte, waren Hunderte Flugzeuge vorgesehen. Noch war 105
nicht klar, wo sie stationiert werden sollten und wie man sie alle unterbringen konnte. Die Saudis waren bestrebt, auch andere arabische Staaten mit einzubeziehen. Cheney flog nach Ägypten, um Staatschef Hosni Mubarak zur Entsendung von Truppen nach Saudi-Arabien zu bewegen. Wolfowitz und ich flogen nach Bahrain, Abu Dhabi und Salalah und verhandelten über eine Landeerlaubnis für US-Flugzeuge in den kleineren Golfstaaten. In den Vereinigten Arabischen Emiraten bot sich uns zur Begrüßung ein ungewöhnlicher Anblick: Alle Emire der Föderation unter Führung des Präsidenten Said hatten sich versammelt. Sie hatten erwartet, dass wir um die Landeerlaubnis für 48 Kampfflugzeuge baten. Als wir von der Stationierung von 200 Flugzeugen sprachen, war ein ungläubiges Keuchen zu hören. Said allerdings hatte schon seit Wochen versucht, Amerika vor Saddams Einmarsch in Kuwait zu warnen. Eine Woche zuvor hatte er um US-Tankflugzeuge für das Auftanken in der Luft zur Unterstützung seiner Luftwaffe gebeten, um seine Ölfelder gegen den Irak zu verteidigen. Nun wusste er, dass die Amerikaner es ernst meinten, und ordnete den sofortigen Bau weiterer Luftwaffenstützpunkte an. Auch in Bahrain staunte der Emir über den Umfang der geplanten Stationierung. »Natürlich können Sie kommen, aber auf dem Flugplatz haben wir nicht genug Platz, und mein Luftwaffenstützpunkt befindet sich noch im Bau.« Wir boten an, den Bau fertig zu stellen. Den Sultan von Oman trafen wir in Salalah in einem Fort aus dem 15. Jahrhundert an. Er klebte förmlich vor dem Fernseher und sah CNN. Als er sich uns zuwandte, war klar, dass er von unseren vorherigen Aufenthalten gehört hatte und wusste, dass wir um die Landeerlaubnis für unsere Flugzeuge baten. 106
»Natürlich können sie alle kommen«, sagte er lächelnd. Er war Absolvent der britischen Militärakademie und ein strategischer Denker. Außerdem liebte er Flugzeuge. »Bringen Sie auch die Stealth-Bomber? Darf ich in einem mitfliegen?« Sobald wir die Genehmigung für die Stationierung amerikanischer Flugzeuge in den Golfstaaten hatten, benachrichtigten wir das Kommando von General Schwarzkopf. Die Flugzeuge waren in den USA bereits gestartet. Als wir nun die Golfregion verließen und über den Dhahran Airport flogen, sahen wir schwere amerikanische Transportflugzeuge mit den ersten Soldaten der Luftlandedivision landen. Sie sind mit Gewehren bewaffnet und haben nur die Munition, die sie bei sich tragen können. Schwarzkopf nannte sie »Speed Bumps«, weil sie die irakischen Truppen aufhalten sollten, falls diese weiter auf dem Vormarsch waren. Durch unsere Kopfhörer vernahmen wir, wie die amerikanische Awacs-Maschine, die über Saudi-Arabien kreiste, von den ankommenden Kampfflugzeugen angefunkt wurde: »Sentinel, hier spricht Tango Foxtrot 841 mit zwölf Vögeln. Wo genau sollen wir landen, in welchem Land?« Während des gesamten Rückflugs, zuerst über dem Mittelmeer und dann über dem Atlantik, hörten wir die Funksprüche Hunderter amerikanischer Militärflugzeuge, die in der Luft eine Brücke von den amerikanischen Stützpunkten bis nach Saudi-Arabien und zu den Golfstaaten bildeten. Die Zugangsgenehmigungen und die Vereinbarungen, schwere Ausrüstung vor Ort einzulagern (das so genannte Prepositioning), die wir angestrebt hatten, um die Sowjets aufzuhalten, wurden nun zum ersten Mal genutzt – allerdings gegen den Irak. In den folgenden Monaten absolvierten Präsident Bush 107
und sein Außenminister Baker eine diplomatische Tour de Force. Sie schmiedeten eine Koalition aus über 100 Staaten, von denen viele zustimmten, Truppen zur Verteidigung Saudi-Arabiens und der Golfstaaten zu entsenden. Ich hatte die Aufgabe, die Bitten um Truppenentsendungen zu koordinieren und Platz für das ungeheure Truppenaufgebot zu finden, das für die Golfregion vorgesehen war und einem Turm zu Babel glich: Franzosen, Syrer, Ägypter, Truppen aus Süd- und Mittelamerika, Afrika und Asien. Als ich Cheney berichtete, die Australier würden F-111-Flugzeuge schicken, rang er frustriert die Hände: »Dick, wir haben keinen Platz mehr für weitere Verbündete. Hören Sie auf, sie zu fragen.« Cheneys Einstellung deutete bereits auf seine Haltung zwölf Jahre später hin: Wir können mit dem Irak militärisch allein fertig werden, alles andere bringt mehr Mühe als Nutzen. Bush und Baker hingegen wussten, dass das Vorgehen amerikanischer Truppen gegen ein arabisches Land dem Image der USA in der islamischen Welt großen Schaden zufügen würde. Die einzige Möglichkeit, diesen Schaden zu begrenzen, waren ihrer Meinung nach außergewöhnliche diplomatische Bemühungen und der Aufbau einer Koalition. Beide führten über Monate hin lange Telefongespräche, um diese Koalition zu schaffen und zusammenzuhalten. Wenn sie Bestand haben sollte, mussten sie beweisen, dass sie sich Zeit genommen und dem Irak jede Chance gegeben hatten, einen Krieg zu vermeiden. Es durfte nicht nur der Anschein erweckt werden, nein, jede Gelegenheit für eine friedliche Regelung musste ernsthaft genutzt werden. Erst wenn alle diplomatischen Bemühungen nichts gefruchtet hatten, durften die amerikanischen Streitkräfte zusammen mit den Truppen von sieben arabischen Ländern angreifen. Diese 108
Überlegungen stehen in deutlichem Kontrast zu der Haltung von George W. Bush und Dick Cheney zwölf Jahre später. Sie vermittelten die Einstellung, die Amerikaner würden es auch allein schaffen und den Krieg um jeden Preis wollen. Als alle diplomatischen Bemühungen von Bush und Baker Saddam Hussein nicht bewegen konnten, Kuwait zu räumen, wurde der amerikanische Plan geändert. Anstatt Saudi-Arabien zu verteidigen, war nun eine Invasion Kuwaits vorgesehen. Die Saudis unterstützten den Angriffsplan, weil sie nicht wollten, dass Hunderttausende amerikanische Soldaten zum Schutz vor einer möglichen irakischen Invasion jahrelang in ihrem Land stationiert blieben. Die Iraker rechneten mit einem Frontalangriff auf Kuwait, unterstützt von US-Marines, die mit Amphibienfahrzeugen landeten. Auch ich ging davon aus, bis mich Schwarzkopf Ende November bat, in die Golfregion zu fliegen und die amerikanischen Soldaten auf den anstehenden Krieg mit Reden und der Darlegung der Gründe vorzubereiten. Ich hielt mich gerade bei der 101. Luftlandedivision in einem vorgelagerten Wüstencamp auf, als ich eines Abends vom eigentlichen Angriffsplan erfuhr. Nach meiner Rede, der fünften an einem sehr langen Tag, standen der Kommandant der Division und ich mit den Soldaten zum Essenfassen an. Wir setzten uns allein an einen Tisch unter freiem Himmel. »Sind das nicht prächtige Soldaten?«, fragte mich der Kommandant, während wir gebackene Bohnen aßen. »Das sind sie, aber mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass viele Jungs, mit denen ich heute gesprochen habe, in ein paar Wochen tot sind«, gab ich zu. Der Kommandant sah mich überrascht an. »Zum Teufel, 109
Dick, mit dem ›Hail Mary‹-Plan überrumpeln wir Saddam. Wir kreisen ihn ein, bevor er überhaupt weiß, was los ist. Er wird darauf warten, dass die Marines landen, aber das wird nie passieren.« Ich bat den General, mir den Plan in den Sand zu malen. Er zeichnete einen dramatischen linken Haken von SaudiArabien in den Irak, wodurch die Iraker in Kuwait von hinten angegriffen werden würden. Die 24. motorisierte Infanteriedivision von Barry McCaffrey sollte den Bogen anführen. (Zwölf Jahre später stürmte die gleiche Division unter dem Namen 3. Infanterie innerhalb von drei Wochen Bagdad.) Ich lächelte. »General Shelton, wenn wir das durchziehen, können wir Saddams Truppen ein für allemal ausschalten.« Hugh Shelton erwiderte mein Lächeln. »Das ist die Idee, die dahinter steckt.« Shelton hatte keine Angst, im Irak Bodentruppen einzusetzen. Als es 1999 darum ging, dies auch in Afghanistan zu tun, war er Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs und dachte ganz anders darüber. Auf die Bitte von Schwarzkopf hatte ich einige meiner Mitarbeiter zu ihm nach Riad geschickt. Er bat sie, obwohl sie Zivilisten waren, Tarnuniformen zu tragen. John Tritak, stolzer Besitzer eines nagelneues Diploms in Kriegsgeschichte am Londoner King’s College, wurde gebeten, Seminare zum Thema Kriege und ihr Ausgang zu halten. Tritak erläuterte die Logik der »bedingungslosen Kapitulation«, auf der Churchill im Zweiten Weltkrieg bestanden hatte. Mein Stab in Riad versorgte Schwarzkopf auch mit inoffiziellen Informationen über die aktuellen bürokratischen Manöver in Washington. Schwarzkopf wusste außerdem, dass meine Leute mich über seine Pläne genauestens auf dem Laufenden hielten. Sobald die amerikanischen Luftangriffe begannen, wurden irakische Raketen auf Israel abgefeuert. In ersten 110
Berichten, die mich in der Kommandozentrale des State Department erreichten, war in Verbindung mit den Raketen von chemischen Kampfstoffen die Rede. Wenn das stimmte, konnte man die Israelis kaum von einer entsprechenden Reaktion abhalten, das wusste ich. Seymour Hersh schreibt in seinem Buch Atommacht Israel, dass Israel in dieser Zeit tatsächlich Raketen gegen den Irak startklar machte, und zwar so, dass die USA es mitbekamen. Die Patriot-Raketen in Israel wurden auf die irakischen Sprengköpfe abgefeuert, dennoch trafen die Sprengköpfe israelische Ziele. Mein israelischer Kollege David Ivry erzählte mir von Plänen, Luftlandetruppen in den westlichen Irak zu schicken und die irakischen Abschussrampen auszuradieren. Wenn das passierte, wenn also die USA und Israel den Irak angriffen, konnte die amerikanisch-arabische Koalition zerbrechen, noch bevor der Krieg am Boden überhaupt begonnen hatte. Meine Mitarbeiter in Riad meldeten, dass Schwarzkopf sich weigerte, amerikanische Flugzeuge von geplanten Einsätzen abzuziehen, um im Westen des Irak nach Raketen zu suchen. Ich nutzte meinen privaten Kanal zu Schwarzkopf und rief ihn an. »Norm, Sie sagten, ich könnte Sie jederzeit direkt anrufen, wenn es nötig sei. Jetzt ist es nötig. Ich habe gehört, dass wir nicht viele Flugzeuge zur Jagd auf die Scud-Raketen haben. Die Israelis drehen noch durch.« »Zur Hölle mit denen, kein Israeli ist durch eine ScudRakete gestorben«, schnaubte Schwarzkopf wütend. »Das sind doch nur große Feuerwerksraketen. Die Bombardierungen, die ich leite, radieren irakische Einheiten aus, die amerikanische Soldaten töten werden, wenn die Iraker zu Beginn der Bodenoffensive noch am Leben sind.« Er hatte Recht, bislang war noch kein einziger Israeli gestorben, und wir mussten die irakischen 111
Truppen an der Front bombardieren. Aber er war auch im Unrecht: Wenn wir nichts gegen die Scud-Raketen unternahmen, würden schon bald israelische Fallschirmjäger im Irak landen. Schwarzkopf erhielt von Cheney und Generalstabschef Colin Powell die Anweisung, die Bombardierung auszuweiten und Scud-Abschussrampen zu zerstören. Der stellvertretende Außenminister Larry Eagleburger reiste in diplomatischer Mission nach Israel. Seine Reise und das Versprechen, die amerikanischen Truppen würden die Scud-Abschussrampen zerstören, überzeugten Israel davon, sich zurückzuhalten. (Bei den Einsätzen zur ScudRaketenjagd wurde keine einzige irakische Rakete zerstört.) Mit Beginn der Bodenoffensive funktionierte Schwarzkopfs Plan hervorragend. Die irakischen Einheiten flohen aus Kuwait. In der Zwischenzeit trieb McCaffrey seine Division immer weiter und schneller voran als je eine amerikanische Einheit in einer Schlacht und bezog eine Position, in der er den Irakern auf dem Rückzug den Weg abschneiden konnte. Doch dann veränderte sich der Ton der Berichterstattung in den amerikanischen Medien. Anstelle der kriegsbefürwortenden Meldungen sendete das amerikanische Fernsehen Berichte von US-Flugzeugen, die fliehende irakische Soldaten töteten. Vom Einsatz zurückgekehrte Piloten wurden neben ihren Flugzeugen interviewt, wobei sie von »leichter Beute« erzählten. Schwarzkopf war der Ansicht, dass es sich bei den auf dem Rückzug befindlichen Irakern um Kampftruppen mit intakter Ausrüstung handelte, die sich neu ordneten. Einzelne Iraker, die ihre Waffen im Stich gelassen hatten, wurden von den amerikanischen Flugzeugen nicht angegriffen. Die Einheiten, die sich neu ordneten, stellten 112
dagegen eine Bedrohung dar. Es waren Elitetruppen, bestens ausgerüstete Einheiten der Republikanischen Garde. Sie konnten jederzeit den Kampf wieder aufnehmen. Schwarzkopf wollte, dass die Truppen von McCaffrey und die Piloten aus der Luft die Elitetruppen eliminierten. In Washington war man anderer Meinung. Der Krieg währte schon 100 Stunden, die irakischen Truppen zogen sich aus Kuwait zurück, daher hatte es keinen Sinn mehr, eine negative amerikanische Berichterstattung zu riskieren. Schwarzkopf erhielt den Befehl, die Kampfhandlungen einzustellen. Obwohl er in seinen Memoiren schreibt, dass er mit dem frühen Ende des Krieges einverstanden gewesen sei, hatten einige in seinem Hauptquartier, die hinter ihm am abhörsicheren Telefon saßen, einen anderen Eindruck. McCaffrey im Feld war verblüfft. Ein paar Stunden mehr, und er hätte die Divisionen der Republikanischen Garde vernichten und damit jede zukünftige militärische Bedrohung durch den Irak ausräumen können. Ohne die Republikanische Garde hätte sich die Chance, Saddam Hussein zu stürzen, deutlich erhöht. Viele in Washington gingen jedoch davon aus, dass das irakische Militär den abenteuerlustigen Saddam auf jeden Fall nach Kriegsende absetzen würde. Schwarzkopf handelte einen Waffenstillstand mit den irakischen Generälen in Safwan in der Nähe der kuwaitischen Grenze aus. Eine gemeinsame amerikanischbritische Arbeitsgruppe unter meiner Leitung hatte mögliche Bedingungen erörtert, darunter auch die Zerstörung der schweren Waffen der Republikanischen Garde. Nach den Vereinbarungen von Safwan durften sich die irakischen Truppen jedoch unbeschädigt zurückziehen. Auf Bitte der Iraker wurde sogar das Flugverbot aufgehoben, damit sie ihre Hubschrauber zurückfliegen 113
konnten. Die amerikanischen Truppen im Irak sollten abziehen, allerdings durften keine irakischen Einheiten in der Nähe der kuwaitischen Grenze stationiert werden. Es gab nie einen Plan zum Marsch auf Bagdad. Niemand in Washington setzte sich dafür ein. Die arabischen Länder, die sich mit vielen Soldaten an der Koalition beteiligten (Saudi-Arabien, Ägypten, Syrien), waren nicht erpicht darauf, dass amerikanische Truppen ein arabisches Land besetzten. Ebenso wenig wollten sie, dass die schiitische Mehrheit im Irak an die Macht kam und ein pro-iranisches Regime einsetzte. Daher hatten die Saudis und Ägypter die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates unterstützt, der nur die Befreiung Kuwaits genehmigte. Die Regierung Bush schreckte auch vor der enormen Aufgabe einer Besetzung Iraks zurück. Wie viel würde das kosten? Welchem Iraker würden wir die Verantwortung für das Land übertragen? Was würden wir mit der schiitischen Mehrheit im Irak machen? Sich selbst überlassen würde das irakische Militär zweifellos einen sunnitischen General aussuchen, allerdings einen, der weniger gefährlich wäre als Saddam. Schließlich folgte die Niederlage in Kuwait ziemlich bald auf die Niederlage im langen Krieg mit Iran, der ebenfalls geführt worden war, weil Saddam sein Territorium um die Ölfelder eines anderen Landes erweitern wollte. Wegen seines Wahns hatten die Iraker Hunderttausende Tote zu beklagen. Im Weißen Haus unter Bush senior war man fälschlicherweise überzeugt, dass Saddams Tage gezählt waren. Doch natürlich wurde Saddam nach dem Krieg nicht gestürzt. Im Gegenteil, er nutzte seine intakt gebliebene Republikanische Garde und verübte ein Massaker unter jenen, die sich gegen ihn erhoben hatten, das waren vor allem die Schiiten im Süden und die Kurden im Norden. 114
Irakische Hubschrauber mähten die Rebellen nieder. Die amerikanischen Truppen sahen tatenlos zu. Jahre später sollten sich die Schiiten daran erinnern, dass Washington sie aufgefordert hatte, sich zu erheben, dann aber nichts unternommen hatte, als sie niedergemetzelt wurden. Man kann argumentieren – und hat das aus gutem Grund auch getan – dass die USA den Krieg um einen Tag oder eine Woche hätten fortsetzen und die Republikanische Garde vernichten sollen, wie es ursprünglich vorgesehen war. Für mich war und ist es heute offensichtlich, dass weitere 72 Stunden notwendig gewesen wären. Wir hätten sicherstellen müssen, dass die irakischen Truppen zukünftig keine Gefahr mehr darstellten, sonst hätten wir für unbestimmte Zeit Truppen in Saudi-Arabien stationieren müssen. Es gibt sogar die Ansicht, dass wir bis nach Bagdad hätten vorstoßen müssen. Ich kann verstehen, warum man so argumentiert, allerdings wäre mit einem Vorstoß auf Bagdad die Koalition zerbrochen. Und dann hätten die Amerikaner die schwierige Aufgabe allein lösen müssen, den besetzten Irak zu befrieden. Ich verstehe jedoch nicht, wie man die Entscheidung der Regierung Bush verteidigen kann, tatenlos zuzusehen, wie die Republikanische Garde einen Massenmord an den Schiiten und Kurden beging. Wir hätten die Bombardierung der Republikanischen Garde fortsetzen können. Unsere arabischen Koalitionspartner und die Öffentlichkeit hätten die amerikanische Entscheidung respektieren müssen, die Feindseligkeiten für ein begrenztes Ziel wieder aufzunehmen und dem Morden ein Ende zu bereiten. Wenn wir die Republikanische Garde angegriffen und die Schiiten und Kurden verteidigt hätten, wäre vielleicht Bushs Rechnung aufgegangen und Saddam Hussein wäre auch ohne eine Besetzung Bagdads gestürzt worden. Aber 115
weil wir untätig blieben, wurde eine Gräueltat begangen. Saddam Hussein blieb an der Macht, und die USA mussten Truppen in Saudi-Arabien lassen, um einen erneuten Schlag gegen Kuwait durch die wiederhergestellte Republikanische Garde zu verhindern. Bei der Rechtfertigung des Krieges hatten Massenvernichtungswaffen kaum eine Rolle gespielt. Dennoch hatte sich meine britisch-amerikanische Arbeitsgruppe noch vor Kriegsende mit ihnen beschäftigt. Wir schlugen eine Sonderkommission unter Leitung der UNO vor, die vom Irak die Vernichtung seiner chemischen, biologischen und nuklearen Waffen sowie seiner Raketen verlangen sollte. Die UNO gab ihr den Namen United Nations Special Commission, UNSCOM. Nach dem Krieg entwickelte ich den Plan, einen vorgelagerten UNSCOM-Stützpunkt in Bahrain einzurichten und mit Ausrüstung von verschiedenen Verbündeten und Experten vor allem aus den USA und Großbritannien zu unterstützen. Ich fragte Bob Gallucci, der am War College gelehrt hatte, ob er die Position des Stellvertretenden Leiters der Kommission übernehmen und damit der ranghöchste Amerikaner sein wolle. Der UNSCOM wurden zwar tonnenweise chemische Waffen und einige Raketen gezeigt, doch die amerikanischen und britischen Geheimdienste deuteten an, dass der Irak andere Programme, vor allem das Atomwaffenprogramm, vor den Inspektoren verberge. Teams der Vereinten Nationen fanden ein Forschungsund Entwicklungszentrum für Atomwaffen, von dem die CIA weder vor dem Krieg noch in dessen Verlauf gewusst hatte. Daher war das Zentrum auch nicht bombardiert worden. Die Entwicklung war schon viel weiter fortgeschritten, als die CIA geahnt hatte. Vor dem Krieg 116
hatte der israelische Geheimdienst gemeldet, dass der Irak kurz vor der Entwicklung von Atomwaffen stehe. Als die Experten der CIA daran zweifelten und nachhakten, hatte sich Israel geweigert, Beweise vorzulegen oder die Quellen preiszugeben. Nun zeigte sich, dass die Israelis offenbar doch Recht gehabt hatten. Wir erhielten einen Bericht, in dem es hieß, die Unterlagen des irakischen Atomwaffenprogramms seien im Landwirtschaftsministerium versteckt. Wir und die Briten planten mit Hilfe der UNSCOM ganz offen eine Inspektion in der Nähe. In letzter Minute wollten wir dann den Plan ändern und überraschend eine Razzia im Ministerium durchführen. Unter die Inspektoren sollten sich Mitglieder amerikanischer und britischer Spezialeinheiten mischen, Schlösser aufbrechen und sich rasch Zugang zu den Unterlagen verschaffen, bevor die Iraker reagieren konnten. Das Problem bei diesem Plan, das wussten wir, war die Frage, wie die Inspektoren wieder wegkommen sollten, falls sie tatsächlich Aufzeichnungen über Atomwaffen entdecken würden. Gallucci und ich einigten uns darauf, dass die UNInspektoren im Gebäude ausharren und US-Truppen in der Zwischenzeit einen erneuten Bombenangriff vorbereiten sollten. Ich gab Gallucci ein Satellitentelefon und versprach ihm, ihn zu benachrichtigen, wann er und seine Leute das Gebäude mit den Unterlagen verlassen konnten. Der Plan funktionierte. Wir fanden Unterlagen über Atomwaffen, bevor die Iraker überhaupt verstanden, was vor sich ging. Allerdings trafen schon bald irakische Sicherheitskräfte ein und umstellten das Gebäude. Sie verlangten die Rückgabe der Dokumente. Gallucci weigerte sich, und es kam zu der erwarteten Blockade. Als Gallucci mich über das Satellitentelefon anrief, gab ich ihm die Nummern diverser amerikanischer TV117
Nachrichtenredaktionen, die ihn im Gebäude live interviewten. Der Nationale Sicherheitsberater Brent Scowcroft genehmigte eine erneute Bombardierung und unterrichtete den Präsidenten. Scowcroft schien sich über die Wiederaufnahme der Bombardements zu freuen, vielleicht dachte er, damit biete sich dem irakischen Militär eine neue Gelegenheit, Saddam zu stürzen. Als Ziele waren die Republikanische Garde und andere Einheiten vorgesehen, die Saddam stützten. Vom Parkplatz des Ministeriums in Bagdad rief mich Gallucci noch einmal in der Kommandozentrale des State Department an. Ich sagte ihm, dass wir alle sehr stolz seien. »Bob, es funktioniert. Sie waren großartig auf CNN. Denken Sie daran: ›Die ganze Welt sieht zu!‹« Gallucci und ich hatten beide in den sechziger Jahren gegen den Vietnamkrieg protestiert. »Ja, ich erinnere mich gut daran«, flüsterte Bob ins Satellitentelefon. »Aber, Dick, wir haben hier brisantes Material gefunden. Die Typen hatten fast die Atombombe. Die Iraker lassen mich mit den Dokumenten hier nie raus.« Arabische Dolmetscher des Inspektionsteams hatten den Jahresbericht des Atomwaffenprogramms gefunden und ins Englische übersetzt. Daraus ging hervor, dass schon bald angereichertes Material in ausreichenden Mengen für den Bau einer Atombombe zur Verfügung stehen würde. Vor Kriegsausbruch hatten irakische Wissenschaftler geschätzt, sie seien nicht einmal mehr ein Jahr vom Bau einer Bombe entfernt. »Hm, können Sie ein Faxgerät an das Satellitentelefon anschließen? Wir müssen den Beweis außer Landes bringen und der UNO vorlegen.« Der Erfolg war zum Greifen nah, aber es gab immer noch Risiken. Die Situation auf dem abgesperrten Parkplatz konnte außer 118
Kontrolle geraten. Die Iraker, die das Gelände umstellten, waren bewaffnet. »Nein. Das Faxgerät funktioniert nicht am Satellitentelefon.« Gallucci und seine Leute hatten die Möglichkeiten bereits geprüft. »Wir haben hier so eine Digitalkamera ohne Film, aber wir kriegen das nicht gut genug hin.« Digitalkameras waren damals etwas ganz Neues für uns. »Okay, Bob, Sie kennen doch Beverly Roundtree, Sie haben zusammen im PM [Politico-Military Bureau] gearbeitet.« Meine Assistentin Beverly hatte früher für Gallucci gearbeitet, als er in der politisch-militärischen Abteilung tätig war. »Sie kann stundenlang ein Diktat aufnehmen. Ich setze sie ans Satellitentelefon.« Es dauerte wirklich Stunden. Die Fernsehkameras der Welt und die Waffen der Iraker waren auf das UNSCOMTeam gerichtet, während die Inspektoren abwechselnd das brisante Dokument Beverly Roundtree diktierten. Als USPräsident Bush und UN-Generalsekretär Perez de Cuellar am nächsten Morgen zur Arbeit kamen, lag der Text auf ihrem Schreibtisch. Angesichts einer drohenden erneuten Bombardierung durch die USA kehrte Außenminister Baker jedoch nach Washington zurück und überzeugte Präsident Bush davon, sich mit den Irakern zu einigen. Baker hatte großen Einfluss auf Bush. Er hatte auf seinem Schreibtisch im State ein Telefon mit einer Direktleitung zum Oval Office. Aus eigener Beobachtung wusste ich, dass Baker nicht zögerte, diese Verbindung zu nutzen. Privat brachte Baker Bush nicht den Respekt entgegen, der von einem Außenminister gemeinhin erwartet wird. Baker war der Ansicht, er selbst habe mit seinen taktischen Manövern Bush zum Präsidenten gemacht. 119
Manchmal zog Baker auch Bushs Befähigung in Zweifel. Bei einem Nato-Gipfel in London zu Beginn von Bushs Amtszeit hatte Baker mich verblüfft, weil er bei Bushs Pressekonferenz neben mir unter den Zuhörern Platz genommen hatte. Während Bush sich den Fragen der Journalisten stellte, flüsterte mir der Außenminister seine Kommentare ins Ohr: »Mist, die Antwort hat er verpfuscht … dabei habe ich ihm doch gesagt, wie er das beantworten soll … o nein, er wird nie lernen, wie man das macht …« Ich war einer von Bakers Assistant Secretaries, verstand aber nicht, warum er sich die Mühe machte und den Präsidenten vor mir als einzigem Zuhörer verunglimpfte. Mit der Zeit begriff ich, dass Baker nicht selten Bushs Urteilsvermögen in Zweifel zog. Baker hatte den Golfkrieg nie befürwortet und machte das in den Monaten nach dem Einmarsch der Iraker in Kuwait mehrmals deutlich. Die beiden Freunde und Rivalen zeigten gemeinsam, wie man eine internationale Koalition aufbaut und wie Amerika sich durchsetzen kann, ohne sich selbst Wunden beizubringen. Allerdings bewältigten sie die Probleme nach dem Krieg nicht, und auch ihre Nachfolger scheiterten daran. Weil Saddam nach dem Golfkrieg immer noch an der Macht war und sein Militär wieder aufbaute, war es notwendig, große amerikanische Truppenkontingente in der Region zu belassen, vor allem in Saudi-Arabien, wo die meisten Truppen stationiert waren. Baker wies mich an, neue Vereinbarungen mit den sechs Golfstaaten über die Stationierung von US-Soldaten auszuhandeln. So reisten wir hin und her und erreichten Stationierungsabkommen mit Kuwait, Katar, Bahrain und Oman. Nun benötigten wir keine geheimen Zugangsvereinbarungen mehr. Auch mit den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde ein vorläufiges Abkommen 120
getroffen, eine Einigung stand nur noch bei der Frage aus, wie mit Angehörigen der US-Streitkräfte verfahren werden sollte, die gegen die Gesetze vor Ort verstießen, aber immerhin konnten amerikanische Flugzeugträger in der Nähe von Dubai regelmäßig anlegen. Saudi-Arabien hingegen verhandelte nicht über ein Stationierungsabkommen, allerdings ordnete der König auch nicht den Abzug aller amerikanischen Truppen an, den Cheney ihm zugesichert hatte. Das Fortbestehen von Saddam und seinen Truppen hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die enorme Präsenz amerikanischer Streitkräfte ging nach dem Krieg zwar stark zurück, aber allmählich wurde der saudischen Öffentlichkeit klar, dass auf mehreren Stützpunkten Fliegerstaffeln und Transportflugzeuge stationiert bleiben würden. Auch die militärischen Hauptquartiere der Amerikaner würden aktiv bleiben, wenn auch in kleinerem Ausmaß. Die Saudis kauften außerdem neue amerikanische Waffen und mit jedem neuen Kauf kamen mehr amerikanische Zivilisten ins Land, die für die Installation der Waffen zuständig waren. Saudische Regimekritiker, die schon gegen die ursprüngliche US-Präsenz gewesen waren, klagten wieder, amerikanische Truppen im Königreich seien ein Sakrileg. Die CIA wusste nicht viel über diese Leute, die Saudis hielten uns von internen Auseinandersetzungen fern. Aber zu ihnen gehörte Bin Laden, der die Politik des Königshauses immer stärker kritisierte. Die saudische Regierung ging gegen die Kritiker vor und drohte ihnen mit rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen und sie machte auch vor Bin Laden nicht Halt, trotz seiner früheren Verdienste in Afghanistan und im Jemen. In seinem Fall wurde sogar seine ausgedehnte Familie mit ihren vielfältigen wirtschaftlichen Beteiligungen unter 121
Druck gesetzt. Hassan Turabi, ein fundamentalistischer Fanatiker, der mit seinen Gesinnungsgenossen 1989 im Sudan die Macht übernommen hatte, lud Bin Laden nach Khartum ein und Bin Laden folgte. Schon bald beorderte er seine arabischen Afghanistankämpfer zu sich. Saddam war immer noch an der Macht. Die UNInspektionen wurden eingeschränkt. Amerikanische Truppen richteten sich in der ganzen Golfregion ein. Osama bin Laden hatte mit der saudischen Regierung gebrochen und bei einem radikalen Islamisten Unterschlupf gefunden, der den Terrorismus staatlich förderte. Man zählte das Jahr 1991. Als dieses Jahr zu Ende ging, hatte die Sowjetunion als Staat aufgehört zu existieren. Im Kalten Krieg hatte jede militärische Handlung der einen Supermacht eine Reaktion der anderen nach sich gezogen. Früher wäre mit groß angelegten Militäraktionen wie der Verlegung einer halben Million amerikanischer Soldaten in die Golfregion das Risiko eines sowjetischen Gegenschlags verbunden gewesen. Staaten, die ihre militärische Verbindung zu einer Supermacht deutlich stärkten, riskierten, von der anderen Supermacht unterworfen zu werden. Die Form der Zusammenarbeit im ersten Golfkrieg wäre im Kalten Krieg nicht möglich gewesen. In den ehemaligen Sowjetrepubliken waren traditionelle ethnische und religiöse Konflikte unterdrückt worden, vor allem auf dem Balkan und in den zentralasiatischen Republiken mit muslimischen Bevölkerungsanteilen. Religion spielte im Kalten Krieg nur eine untergeordnete Rolle, allenfalls förderten die USA sie als Gegengewicht zur atheistischen Ideologie der Sowjetunion. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde es möglich, dass die USA massiv bei einer Krise am Persischen Golf eingriffen, während ethnische und religiöse Konflikte auf 122
dem Balkan und in Zentralasien ausbrachen. Und religiöser Eifer konnte sich nicht mehr länger gegen Kommunisten richten. Wer sich von der Globalisierung benachteiligt fühlte und ausländischen Mächten die Schuld an seinem Schicksal geben wollte, konnte nur noch eine Weltmacht für seine Probleme verantwortlich machen und zu einem Objekt des Hasses hochstilisieren, mit dem man seine Gefolgsleute motivieren konnte: Amerika.
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4 Der Terror kehrt zurück (1993-1996) Die Clinton-Administration nahm 1993 ihre Tätigkeit mit einem Arbeitsprogramm für die Zeit nach dem Kalten Krieg auf. Vom Terrorismus war dabei nicht die Rede. Der Terrorismus war auch in der Zeit der Vorgängerregierung Bush kein wichtiges Thema gewesen. George H. W. Bush hatte keine offizielle Politik zur Terrorismusbekämpfung entwickelt, und auf den einzigen großen, gegen die USA gerichteten Terroranschlag seiner Amtszeit (das Attentat gegen den PanAm-Flug 103 über Lockerbie geschah am 21. Dezember 1988, kurz vor seiner Amtseinführung) hatte er mit den Mitteln der Diplomatie reagiert, nicht mit der Anwendung von Gewalt. Amerika schien eine Zeit zu erleben, die kaum von antiamerikanischem Terror belastet wurde, und dies nach den unruhigen Jahren der Reagan-Regierung und den Bombardierungen des Libanon und Libyens. Der Nationale Sicherheitsberater Tony Lake hatte im Januar 1993 einen ungewöhnlichen Schritt getan und mich gebeten, im Weißen Haus weiterzuarbeiten, als die Regierung Bush aus dem Amt schied. Lake bat mich auf den Rat von Madeleine Albright hin, mich um Themen zu kümmern, die nach dem Ende des Kalten Krieges von Bedeutung waren. Der Terrorismus gehörte zwar innerhalb meines Aufgabenbereichs unter die Überschrift »Wichtige Fragen der Weltpolitik«, doch auf der Prioritätenliste der neuen Regierungsmannschaft stand das Thema ganz weit unten. All dies sollte sich sehr schnell ändern.
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Die große weiße Telefonkonsole lärmte plötzlich los. Ich hatte sie noch nie zuvor klingeln hören und war mir anfangs nicht sicher, woher das Geräusch kam. In dem kleinen Sichtfenster auf der Konsole erschien ein Name: »Scowcroft«. Brent Scowcroft, der Nationale Sicherheitsberater des ersten Präsidenten aus der Familie Bush, hatte einen Monat zuvor das Weiße Haus verlassen. Mit ihm ging der größte Teil seines Mitarbeiterstabes, bis auf mich und einige andere Leute, die übernommen wurden. Warum rief er mich jetzt auf dieser besonders abhörsicheren Leitung an? Ich griff nach dem Hörer. »Waren das die Serben?« Es war Tony Lake. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. »Haben die Serben eine Bombe hochgehen lassen? War das eine Bombe?« Ich gab mich informiert: »Ich weiß es noch nicht, Tony. Wir überprüfen das gerade. Ich ruf dich zurück, sobald ich etwas weiß, umgehend.« Mein nächster Anruf galt dem Lagezentrum. »Ist gerade irgendwo eine Bombe hochgegangen?« »Nun, es gab gerade eine Explosion, wir wissen noch nicht, ob es eine Bombe war, Sir. Das World Trade Center«, antwortete ein junger Marineoffizier. »Ich weiß, dass Sie mit Terrorismus befasst sind, Sir, und wir müssen Sie informieren, wenn etwas geschieht, das mit Terrorismus zu tun haben könnte, aber wollen Sie auch über Vorfälle in den Vereinigten Staaten informiert werden? Kümmert ihr Jungs euch auch um Krisen im Inland?« Die Vorstellung, dass es auch in den Vereinigten Staaten Terroranschläge geben könnte, war uns damals völlig neu. Die Mitarbeiter im Stab des Nationalen Sicherheitsrats, dem ich seit 1992 angehörte, hatten sich stets nur mit Außenund Verteidigungspolitik und 125
Geheimdienstthemen befasst. »Ja, ja, das tun wir«, gab ich vor, denn dieser Gedanke entstand gerade erst. »Alles, was in den Vereinigten Staaten geschieht und mit der Tätigkeit ausländischer Agenten zu tun haben könnte, gehört zu unserem Job. So wie die Schießerei vor der CIA.« Vor einem Monat, nur vier Tage nach dem Amtsantritt der Regierung Clinton, war ein junger Pakistani namens Mir Amal Kansi die Virginia Route 123 hinuntermarschiert und hatte auf Autofahrer geschossen, die an einer roten Ampel an der Einfahrt zum CIAHauptquartier warteten. Drei Menschen waren bei diesem Zwischenfall gestorben. Kansi war nach der Schießerei per Flugzeug aus den Vereinigten Staaten entkommen. Weder CIA noch FBI hatten irgendetwas von Belang über Kansi selbst oder eine Gruppe gefunden, der er möglicherweise angehörte. »Also, was wissen wir über diese Explosion in New York?«, fragte ich. »Nun, Sir, man teilt uns mit, es sei ein Transformator, der in die Luft geflogen ist, aber wir werden Sie auf dem Laufenden halten. Noch etwas, Sir: Wir werden Sie in Zukunft sofort informieren, wenn irgendwo etwas in die Luft fliegt, egal wo.« Ich wandte mich Richard Canas zu, einem Mitglied der US-Drogenbehörde und Mitarbeiter meines Stabes. »Kennen Sie irgendjemanden bei der New Yorker Polizei?« Ich war 1992 zum Stab des Nationalen Sicherheitsrats gestoßen, unter Präsident Bush und seinem Sicherheitsberater Brent Scowcroft, den ich während des Golfkriegs und in der Zeit danach kennen gelernt hatte. Scowcroft war für eine zweite Amtszeit als Nationaler 126
Sicherheitsberater – er hatte dieses Amt bereits unter Präsident Ford innegehabt – aus dem Ruhestand zurückgeholt worden, um das Durcheinander zu bereinigen, das Ollie North und einige andere Leute angerichtet hatten. North war ein nachrangiger Mitarbeiter gewesen, als Arbeitsgebiet hatte man ihm den Terrorismus zugewiesen. Nach den Beiruter Bombenanschlägen auf die US-Botschaft und eine Kaserne der Marines, nach der Entführung von Amerikanern im Libanon, der Entführung amerikanischer Flugzeuge im Nahen Osten und dem libyschen Bombenanschlag auf die Diskothek »La Belle« in Berlin, in der viele US-Soldaten ein und aus gingen, war das Thema Terrorismus auf der Tagesordnung ganz nach oben gerückt. North hatte energisch auf dieses Problem reagiert – ein bisschen zu energisch. Gemeinsam mit dem Nationalen Sicherheitsberater John Poindexter hatte er die Grenze zur Geheimdiplomatie und zu geheimen Machenschaften überschritten und dabei ebenso kurzsichtig wie auch (in einigen Fällen) möglicherweise gesetzeswidrig gehandelt. North und Poindexter verkauften Waffen an den Iran, in der Hoffnung, damit die dort festgehaltenen amerikanischen Geiseln freizubekommen, und zweigten anschließend einen Teil des Erlöses aus diesem Geschäft zugunsten der antikommunistischen Contra-Rebellen in Nicaragua ab. Der Kongress hatte jegliche Hilfe für die Contras für illegal erklärt, und der Verkauf von Waffen als Gegenleistung für die Freilassung von Geiseln verstieß gegen Reagans häufig und nachhaltig betontes Prinzip, niemals mit Terroristen zu verhandeln. Reagan und Vize Bush waren bei dieser Affäre mit knapper Not davongekommen, denn man hatte ihnen keine persönliche Beteiligung nachweisen können. Bush hatte Scowcroft 1989 bei seinem Amtsantritt als Präsident gebeten, den 127
Nationalen Sicherheitsrat weniger aktivistisch zu führen und die amerikanischen Reaktionen auf den Terrorismus nach Möglichkeit herunterzuspielen. Zu Scowcrofts Glück gab es in seiner Amtszeit wenig antiamerikanischen Terrorismus, und die Reaktion von Bush und Scowcroft auf den Lockerbie-Anschlag konnte man im günstigsten Fall als verhalten bezeichnen. Durch dieses Verbrechen libyscher Geheimagenten waren 259 Passagiere und Besatzungsmitglieder sowie elf Bewohner des schottischen Städtchens Lockerbie gestorben, doch die Vereinigten Staaten verzichteten auf die Anwendung von Gewalt. Stattdessen bemühten sie sich um UNOSanktionen gegen Libyen. Als ich meine Arbeit beim Nationalen Sicherheitsrat aufnahm, sollte ich eine neue Abteilung leiten, die sich mit der Weiterverbreitung von Raketen und chemischen, biologischen und atomaren Waffen auseinander setzte. Außenminister Baker gefiel allerdings der Gedanke nicht, dieses immer wichtiger werdende Thema in der Zuständigkeit des Nationalen Sicherheitsrates zu sehen, und das sagte er Scowcroft auch. Mein Arbeitsauftrag wurde abgeändert in »Internationale Programme«, sollte also Themen umfassen, die keine der regional orientierten Abteilungen des NSC allein abdecken konnte. Zu diesen Themen gehörte auch der Terrorismus, mit unverändert nachrangiger Priorität, und daran hatte sich nichts geändert, als Tony mich wegen der Explosion im World Trade Center anrief. Mittlerweile hatte Richard Canas sein polizeitaktisches Geschick und den Einfluss des Weißen Hauses eingesetzt, um bis zum Einsatzleiter der Polizei vor Ort im World Trade Center durchzudringen. »Dick, ich hab einen Deputy Commissioner am Telefon. Die New Yorker Polizei hat ihre Bombenexperten an den Explosionsort 128
geschickt. Sie sagen, das sei definitiv eine Bombe gewesen.« Ich rief die Counterterrorism Security Group (CSG) im Lagezentrum zusammen. In New York waren sechs Menschen ums Leben gekommen, Hunderte waren verletzt. Bereits wenige Tage nach diesem Anschlag nahm das FBI eine Verhaftung vor. Die Zauberkünstler des FBI, die forensischen Experten, hatten die Trümmer in der Tiefgarage des Büroturms untersucht und dabei festgestellt, in welchem Fahrzeug die Bombe platziert gewesen war. Sie hatten uns schon einmal verblüfft, als sie die Boeing 747 des PanAm-Fluges 103 aus Trümmerteilen wieder zusammengesetzt hatten, die über Hunderte von Quadratkilometern verstreut gewesen waren. Dann hatten sie ermittelt, in welchem Koffer die Bombe versteckt gewesen war. Bei diesem Fall identifizierten sie jetzt den Ryder-Mietlaster, der die Bombe transportiert hatte, und verfolgten den Weg des Fahrzeugs bis zu einem Verleih im nördlichen New Jersey zurück. Es war kaum zu glauben, aber die Verleihfirma teilte den FBI-Ermittlern mit, der Mann, der den Laster gemietet hatte, würde am kommenden Tag vorbeikommen, um die Kaution für das Fahrzeug abzuholen, das er als gestohlen gemeldet hatte. Mit der Verhaftung von Mohammed Salameh kam Bewegung in den Fall. Ein misstrauisch gewordener Vermieter von Lagerräumen rief beim FBI an und erklärte, die Terroristen könnten die Bombe in einer seiner Lagereinheiten hergestellt haben. Mit Hilfe dieser Informationen stellte das FBI eine Mitgliederliste der Terrorzelle zusammen, die das Bombenattentat verübt hatte. Auf dieser Liste standen Ägypter, ein Jordanier, ein Iraker, ein Pakistani. Die Serben waren es nicht gewesen. Die CSG traf sich erneut. »Okay«, begann ich, »ihr wisst also die Namen der 129
Burschen, die das getan haben. Was ist das für eine Gruppe?« Die Frage ging an Bob Blitzer, der in dieser Besprechung das FBI vertrat. »Wir kennen keinen von ihnen«, antwortete der aus diesem Grund sichtlich verärgerte Blitzer. »New York glaubt, es könnte gewisse Verbindungen zu dem Typen geben, der dort im vergangenen Herbst auf einen Rabbi geschossen hat. Alle scheinen eine Verbindung zu einem muslimischen Prediger aus Ägypten zu haben. Der Kerl lebt in Brooklyn oder Jersey City.« Der CIA-Vertreter Winston Wiley hatte alle Namen anhand der in einer Datenbank gespeicherten Informationen überprüft. »Das sind keine bekannten Mitglieder der Hisbollah oder der Gruppe von Abu Nidal oder des palästinensischen Islamischen Dschihad, und sie gehören auch zu keiner anderen Terrorgruppe. Das FBI hat uns einige Telefonnummern in Übersee gegeben, die diese Burschen gewählt haben. Wir versuchen derzeit noch, die Inhaber dieser Anschlüsse zu ermitteln, aber keine der Nummern war uns bekannt.« »Also, was soll mir das sagen?«, fragte ich. »Dass sich diese Burschen beim Freizeitbasketball in einer YMCAEinrichtung in Brooklyn oder Jersey City trafen und dort beschlossen, das World Trade Center in die Luft zu sprengen, nur weil sie Langeweile hatten? Sie erwarten, dass ich das glaube?« »Könnte so gewesen sein«, antwortete Wiley mit einem Achselzucken. »Wie sind sie ins Land gekommen?«, wollte ich wissen. »Was steht in ihrem Visumantrag? Terrorist?« Blitzer wusste Bescheid: »Nun, zwei dieser Kerle tauchten letztes Jahr einfach in JFK auf, ohne jegliche 130
Papiere oder sogar mit gefälschten Papieren. Einer der beiden [Ahmed Ajaj] wurde in Arrest genommen, weil er Handbücher mit dem Titel ›Wie man Bomben baut‹ bei sich hatte.« Der andere Mann war Ramsi Jussuf. »Also, damit ich das richtig verstehe, frage ich nach: Wir lassen einen Kerl laufen, der in Begleitung eines Bombenbauers ist? Wir lassen ihn am JFK einfach in ein Taxi steigen, obwohl er ohne Pass hier aufgetaucht ist?« Ich konnte es nicht glauben. Die Einwanderungsbehörde hatte Jussuf eine Vorladung mitgegeben, nach der er zu einem späteren Zeitpunkt vor einem Einwanderungsbeamten erscheinen sollte, und ihn dann einfach ins Land gelassen. Beim FBI galt Ramsi Jussuf inzwischen als Anführer der Zelle. Nach dem Anschlag war er in Richtung Übersee verschwunden. »Mach dir keine Sorgen, Dick, wir kriegen sie alle«, versicherte mir Blitzer. »Wir spüren sie auf. Wir finden heraus, für wen sie gearbeitet haben.« Das FBI-Büro in New York City ist so groß, dass der Leiter Assistant Director ist, nicht nur ein Special Agent in Charge, wie der Titel in den meisten Städten lautet. Der Chef in New York hat vielmehr drei Special Agents in Charge (SAC) unter sich, die ihm zuarbeiten. Einer dieser SACs ist für die Fälle zuständig, die die nationale Sicherheit betreffen. Einst war das gleichbedeutend mit der Entlarvung und Überwachung sowjetischer Spione, doch mittlerweile gehörte zu den Aufgaben in diesem Arbeitsgebiet auch die Dienstaufsicht über eine Terrorismus-Arbeitsgruppe. Das FBI in New York City arbeitet (wie in jeder anderen Stadt auch) eng mit dem örtlichen Staatsanwalt der Bundesregierung zusammen, dem US-Attorney, wie auch mit den ihm zugeordneten Assistent US-Attorneys. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center gingen das New Yorker FBI-Büro 131
und das Büro des Bundesanwalts entschlossen an die Aufklärung des Falles. Sie wollten herausfinden, mit wem wir es zu tun hatten. Innerhalb von zwei Wochen nach der Explosion der Bombe hatte das FBI vier Mitglieder der Zelle in Gewahrsam genommen. Ahmed Ajaj war schon seit dem vergangenen Jahr in Haft gewesen, seit seiner Ankunft auf dem Kennedy Airport. Mohammed Salameh wurde verhaftet, als er am 4. März im Ryder-Büro seine Kaution abholen wollte. Nidal Ayyad, ein US-Bürger, wurde am 10. März verhaftet, Abdul Jasim, der am 4. März verhört wurde, kam wieder auf freien Fuß, weil er das FBI davon überzeugen konnte, dass er mit der Sache nichts zu tun hatte und außerdem mit den Behörden zusammenarbeiten würde. Er flog sofort in den Irak, wo er nach unserer Vermutung von Saddam Husseins Regime ins Gefängnis geworfen wurde. Ejad Ismoil floh nach Jordanien und tauchte dort ab, bis er zwei Jahre später verhaftet wurde. Ramsi Jussuf, der Leiter der Zelle, verschwand von der Bildfläche und avancierte zum Topterroristen auf der Fahndungsliste der CSG. Später tauchte er auf den Philippinen auf. Die New Yorker Ermittlungen enttarnten binnen kurzem ein Netzwerk, das die Verschwörer unterstützt hatte. Die Spuren führten nach Brooklyn, Queens und ins nördliche New Jersey, und im Zentrum des Netzwerks schien Omar Abd ar-Rahman zu stehen, ein blinder Ägypter und geistiger Führer ägyptischer Extremisten. Rahman war in Ägypten in Abwesenheit wegen Terrorismus verurteilt worden. Er stand auf der Visum-Warnliste des State Department, aber irgendwie hatte er es fertig gebracht, von der amerikanischen Botschaft im Sudan ein Visum zu erhalten, und war nach New York gekommen. Die ägyptische Regierung hatte offensichtlich mehrere 132
Auslieferungsanträge gestellt, allerdings ohne Erfolg. Das FBI überwachte Rahman lückenlos und enttarnte innerhalb weniger Monate eine weitere Terrorzelle, die Bombenattentate in New York plante. Zu den Zielen gehörten diesmal der Lincoln- und der Holland-Tunnel, das UNO-Hauptquartier und andere markante Punkte der Stadt. Ende Juni 1993 saßen die Verschwörer und Rahman im Manhattan Metropolitan Detention Center ein, einem Bundesgefängnis. Es sah so aus, als funktioniere der Apparat für die Terrorabwehr gut. Doch das stimmte nicht. FBI und CIA hätten eigentlich in der Lage sein sollen, meine Frage zu beantworten, wer oder was hinter diesen Leuten steckte, aber das konnten sie noch immer nicht. Die richtige Antwort war der Name einer Gruppe, von der weder FBI noch CIA bisher überhaupt gehört hatten: al-Qaida. Das erste in den Vereinigten Staaten verhaftete Mitglied von al-Qaida war – wie wir später entdecken sollten – El Sajjid Nosair. Das war der Mann, der 1990 in New York Rabbi Meir Kahane ermordete, den fanatischen Anführer der radikalen Jewish Defense League. Die Ermittlungen des FBI stießen auf Verbindungen der Verdächtigen in Sachen World Trade Center zu Nosair. Nosairs Anwalts- und Gerichtskosten wurden letztlich von Bin Laden bezahlt. In seiner Wohnung fanden die Ermittler Materialien, die auf eine Verbindung mit einem so genannten Afghan Services Bureau schließen ließen. Doch zahlreiche der in arabischer Sprache verfassten Papiere sollten noch Jahre nach Nosairs Verhaftung unübersetzt beim FBI lagern. Den ersten vier nach dem Bombenattentat 1993 inhaftierten Männern wurde schnell eine Verbindung zum Al Kifah Center in Brooklyn nachgewiesen. Diese Einrichtung erhielt ihr Geld vom Afghan Services Bureau (Mahktab al Kiddimah), mit dem 133
sie auch offenkundig verbunden war. Hinter diesem Büro steckte Bin Laden. Der blinde Scheich hatte sich in Afghanistan mit Bin Laden getroffen, er war ein Mitglied des ägyptischen Islamischen Dschihad, der Verbindungen zu Bin Laden unterhielt. Ahmed Ajaj war am KennedyFlughafen verhaftet worden, weil er Materialien bei sich trug, die mit Bombenbau zu tun hatten. Dazu gehörte auch ein Handbuch, auf dessen Titel »al-Qaida« stand. Ramsi Jussuf hatte Bin Laden sogar von New York aus angerufen. Osama bin Laden hatte al-Qaida drei Jahre zuvor gegründet. Weder die CIA noch das FBI hatten von dieser Gruppe jemals etwas gehört, und man kannte dort offensichtlich auch den Namen Bin Laden nicht. Bei unseren Besprechungen im Jahr 1993 fiel er im Zusammenhang mit den Verdächtigen für den Anschlag auf das World Trade Center kein einziges Mal. Wir hörten etwas über jemand, der anscheinend Ramsi Jussufs Onkel war. Diese Person hatte mehrere Namen und steckte anscheinend hinter Jussufs mysteriösen Geldmitteln. Einer dieser Namen war Chalid Scheich Mohammed. Die genaue Rolle dieses Mannes war unklar, aber er hatte mit dieser Sache zu tun, und deshalb wollte ihn das FBI verhaften, ganz egal, wo er sich aufhielt. Der Zufall wollte es, dass ich als erster Regierungsmitarbeiter in Washington einen Beweis für einen tatsächlichen Terroranschlag Saddams auf die USA zu Gesicht bekam. Die Ironie bei dieser Geschichte liegt darin, dass Präsident Clintons Reaktion Saddam für immer davon abhielt, jemals wieder Terrorakte gegen Amerika zu begehen. Gewohnheitsmäßig verschlang ich Tag für Tag Hunderte von Geheimdienst- und Botschaftsberichten und 134
Übersetzungen ausländischer Publikationen, die mir das Lagezentrum pflichtgemäß auf meinen Bürocomputer überspielte. Unter der Woche überflog ich vieles davon nur flüchtig. An den Wochenenden hatte ich jedoch mehr Zeit, und an einem Sonntag im April fiel mir eine Schlagzeile ganz besonders auf. Eine in London in arabischer Sprache erscheinende Zeitung berichtete, die kuwaitische Polizei habe einen gegen den ehemaligen Präsidenten Bush gerichteten Mordversuch vereitelt. Weder vom Secret Service noch von FBI, CIA oder der Botschaft hatte es einen Bericht darüber gegeben. Dennoch sagte mir eine innere Stimme, dass ich dies nicht einfach abtun sollte. Ich rief Ryan Crocker an, unseren Botschafter in Kuwait, einen Karrierebeamten und guten Kenner der arabischen Welt. »Ryan, haben Sie diesen Bericht in einer Londoner Zeitung gelesen? Es geht um einen Mordversuch am ehemaligen Präsidenten Bush.« Er kannte den Bericht nicht und erzählte mir stattdessen, wie gut sich Bush in Kuwait amüsiert hatte. Dann hielt er kurz inne. »Dick, ich kenne Sie. Sie wollen damit doch nicht etwa andeuten, ich solle die Kuwaitis nach diesem Bericht fragen …? Sie wissen natürlich, dass man uns angewiesen hat, niemals direkte Anweisungen von Mitarbeitern des Weißen Hauses zu akzeptieren.« Das war eine der dauerhaften Nachwirkungen von Ollie Norths Exzessen: Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrates durften den Botschaftern keine Anweisungen mehr erteilen. »Nein, nein, natürlich nicht, Ryan. So was käme mir nie in den Sinn.« Ich hatte Mühe, auf dieser abhörsicheren Leitung nicht laut loszulachen. »Jetzt, wo ich diese Geschichte kenne … Zufällig treffe 135
ich heute Abend jemand, den ich vielleicht darauf ansprechen könnte.« Am folgenden Morgen lag ein versiegelter Umschlag auf meinem Schreibtisch. Diese Nachricht war so heikel, dass sie mir nicht per E-Mail aus dem Lagezentrum zugeschickt werden durfte. Es war ein Bericht unseres Botschafters in Kuwait. Demnach hielten die Kuwaitis eine Verschwörung geheim, die sie aufgedeckt hatten. Sie hatte die Ermordung Bushs zum Ziel gehabt und wäre um ein Haar erfolgreich gewesen. Mehrere Personen saßen immer noch im Gefängnis und der irakische Geheimdienst war in die Sache verwickelt. Ich rief Tony Lake an: »Saddam wollte Bush ermorden.« Sobald ich ihm die Zusammenhänge erklärt hatte, gab mir der Nationale Sicherheitsberater Anweisungen: »Sagen Sie dem State Department, dass sie das mit den Kuwaitis abklären sollen. Die müssen mit der Sprache herausrücken.« Das gab mir die Handhabe für den Entwurf eines Telegramms mit entsprechenden Anweisungen an Crocker. Es ging zunächst ans State Department mit der Bitte, es als dienstliche Mitteilung an den Botschafter weiterzureichen. Crocker konfrontierte dann die kuwaitische Regierung mit unseren Erkenntnissen zu dem Mordplan und bat in aller Form um die Möglichkeit, mit den Gefangenen zu sprechen. Es waren 16 Männer. Zwei von ihnen waren irakische Staatsbürger, die zugaben, dass sie in Basra vom irakischen Geheimdienst angeworben worden waren. Dann habe man ihnen einen Toyota Land Cruiser übergeben, in dem eine technisch ausgefeilte Bombe installiert worden sei. Man habe sie instruiert, das Fahrzeug in der Nähe der Universität von Kuwait City zu parken, wo sie es dann per Funkzünder in dem Augenblick hochgehen lassen sollten, in dem Präsident Bush und der 136
Emir vorbeifuhren. Diese Bombe hätte alles Leben im Umkreis von 350 Metern ausgelöscht. Das irakische Mordkomplott scheiterte nur, weil einem kuwaitischen Polizisten die rollende Bombe auffiel, nachdem der Geländewagen in einen Unfall verwickelt war. Auf Anweisung von Tony Lake bat ich Secret Service, FBI und CIA um die Entsendung von Untersuchungsteams nach Kuwait. Justizministerin Janet Reno und CIADirektor James Woolsey einigten sich auf zwei getrennte, aber parallel verlaufende Untersuchungen. Eine bewegte sich auf polizeilicher Ebene, die andere im Geheimdienstmilieu. Das dauerte über einen Monat, aber Anfang Juni lagen Entwürfe zu beiden Berichten vor. Beide ermittelnden Behörden bestätigten die Aussagen der Gefangenen. Auch die Materialien für den Bombenbau stammten definitiv vom irakischen Geheimdienst. Am 23. Juni, einem Mittwoch, aß Lake in seinem Büro im Westflügel des Weißen Hauses wie gewöhnlich an diesem Wochentag mit dem Verteidigungsminister Les Aspin und dem Außenminister Warren Christopher zu Mittag. Während dieses Essens rief er mich an und bat mich hinzu. »Wir möchten, dass Sie eine Vergeltungsaktion gegen den Irak planen. Nur Sie und je ein Vertreter des Verteidigungsund des Außenministeriums. Bis wann können wir den Plan und die Checkliste haben?« Zu diesem Kreis stieß noch ein Mitarbeiter der CIA, und innerhalb eines Tages hatten wir dann eine Liste von Zielen aus der Feder der Vereinigten Stabschefs und der CIA. Christopher sprach sich vehement für ein Vorgehen auf gesetzlicher Grundlage aus, weshalb die Zielauswahl auf eine Einrichtung reduziert werden sollte: auf das Hauptquartier des irakischen Geheimdienstes. Der Außenminister plädierte außerdem dafür, dass dieses Ziel 137
in der Nacht von Samstag auf Sonntag beschossen werden sollte, um die Zahl der Opfer möglichst gering zu halten. Er setzte sich durch. Wir arbeiteten den Plan aus. Die Schiffe sollten in Gefechtsposition gehen. Ein »Ausführungsbefehl« der Vereinigten Stabschefs an das Central Command (das regionale Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte für den Nahen und Mittleren Osten, das der Rapid Deployment Joint Task Force nachfolgte) war vorbereitet worden. Der Präsident sollte dem Emir von Kuwait, dem König von Saudi-Arabien und dem britischen Premierminister jeweils eine persönliche Benachrichtigung zukommen lassen. Um Indiskretionen auszuschließen, sollten diese zeitlich aufeinander abgestimmten Botschaften nicht vom Außenministerium, sondern direkt vom Weißen Haus verschickt werden. Die amerikanische Vertretung bei den Vereinten Nationen sollte eine Sondersitzung des Weltsicherheitsrats beantragen. Justizministerium und CIA sollten detaillierte Informationen zur Beweislage, mit der diese Aktion begründet wurde, an die Presse und die ausländischen Botschaften herausgeben. Der Präsident sollte die führenden Politiker des Kongresses persönlich anrufen. Außerdem sollte Ex-Präsident Bush benachrichtigt werden. Für die amerikanischen Botschaften und die USSoldaten in der Region sah der Plan wegen zu erwartender irakischer Gegenangriffe eine erhöhte Alarmbereitschaft vor. CIA-Stützpunkte und FBI-Agenten sollten irakische Agenten überwachen. Der Präsident sollte im Oval Office eine kurze Erklärung abgeben. An die Adresse der Iraker sollte eine strenge Warnung ergehen, in der ihnen für den Fall weiterer terroristischer Aktivitäten gegen die Vereinigten Staaten mit ernsten Konsequenzen gedroht wurde. 138
Am Freitag sah sich Lake die Checkliste, einen Zeitplan und die Dokumente für die Umsetzung des Ganzen an und sagte: »Das ist gut. Nehmen Sie das mit und zeigen Sie’s dem Präsidenten. Ich sage ihm Bescheid, dass Sie kommen. Und dann legen Sie einfach los.« Bisher war es nicht üblich gewesen, dass Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrats einfach beim Präsidenten auftauchten. Das hatte auch für Leute wie mich gegolten, die Special Assistants des Präsidenten. Brent Scowcroft hatte in unserem Namen mit dem Präsidenten gesprochen. Manchmal hatte Brent einem Mitarbeiter gestattet, eine gewisse Zeit lang an solchen Besprechungen teilzunehmen. Und jetzt wurde ich aufgefordert, mit dem Präsidenten den ersten Einsatz militärischer Gewalt in seiner Amtszeit zu besprechen. Es hatte zu diesem Thema auch schon eine heimliche Chefbesprechung mit dem Präsidenten gegeben, und Clinton hatte dabei einen entschlossenen Eindruck gemacht. Die strammen Konservativen hegten jedoch immer noch Zweifel, ob Clinton jemals militärische Gewalt einsetzen würde. Als ihm der detaillierte Plan vorgelegt wurde, erwies sich Clinton als Pragmatiker. »Gut, das wird ihm eine Lehre sein, und wenn nicht, müssen wir eben nachlegen.« Dee Dee Myers, die Pressesprecherin des Weißen Hauses, die nicht in diese Pläne eingeweiht war, sagte dem Pressekorps am Samstagmorgen, dass jetzt »der Deckel drauf« sei und an diesem Tag nichts Neues mehr passieren würde. Eine Gruppe von Reportern fuhr daraufhin nach Baltimore, um sich ein Baseballspiel anzusehen. Zur gleichen Zeit verschickte ich aus dem Lagezentrum die Benachrichtigungen. Kurz nach 18 Uhr versammelte sich eine kleine Gruppe hochrangiger Regierungsbeamter in Lakes Büro. Ich ging 139
ins Oval Office, um den Präsidenten bei seinen letzten Telefonaten mit führenden Politikern des Kongresses zu unterstützen. Die Marschflugkörper waren gerade eben abgefeuert worden. »Wann bekommen wir die Raketenbilder?«, fragte mich der Präsident. »Nun, wir bekommen keine Raketenbilder, Sir, aber gleich morgen früh werden wir Ihnen Satellitenbilder von den Treffern vorlegen können«, erklärte ich. »Morgen früh? In einer Stunde bin ich im Fernsehen und erkläre, dass wir dieses Gebäude in die Luft gejagt haben – aber vorher will ich wissen, was wir erreicht haben. Warum sind in diese Raketen keine Kameras eingebaut?« »Nun, wenn diese Raketen Bilder liefern würden, könnte sie auch jemand im Anflug sehen und versuchen sie abzuschießen. Aber wir wissen, wie viele Raketen wir zu welchem Zeitpunkt abgeschossen haben, also können wir berechnen, wie viele wann einschlagen werden …« »Wir können mit den Raketen nicht kommunizieren? Und wenn ich sie zurückholen wollte?«, fragte der Präsident. »Das wollen Sie doch nicht, Sir, oder …? Das geht gar nicht, es gibt keinen Steuermechanismus …«, stammelte ich. »Nein, das will ich nicht, aber ich will sicher sein, dass wir dieses Gebäude in die Luft gejagt haben, bevor ich es vor aller Welt bekannt gebe.« Mit diesen Neuigkeiten ging ich zu Lakes Büro zurück. Admiral Bill Studeman, die Nummer zwei bei der CIA, führte mehrere Telefongespräche. Satelliten wurden umgelenkt. »Wir haben nichts«, berichtete er. »Die Raketen hätten schon vor einigen Minuten einschlagen sollen, aber wir haben bisher keinen Beleg dafür … Das 140
dauert noch einige Zeit.« Im Büro machte sich gedrückte Stimmung breit, während wir überlegten, wie wir den Fernsehauftritt des Präsidenten durch aktuelle Informationen absichern könnten. Und dann, während wir das Thema noch besprachen, erschien er einfach auf den Bildschirmen. Man sah, wie die Moderatoren der Nachrichtensendungen aller großen Sender kurz informiert wurden und dann eine überraschende Ansprache des Präsidenten ankündigten. »Wir wissen nicht, um was es geht«, sagte einer der Moderatoren. Clinton trug die kurze Erklärung vor und erschien unmittelbar danach in Lakes Büro. Vizepräsident Al Gore war bei ihm. »Wir dachten, Sie würden das jetzt nicht mehr machen«, bekannte Lake. »Wir dachten, Sie brauchten einen Beweis dafür, dass die Raketen ihr Ziel getroffen haben.« »Okay, okay«, sagte Clinton. »Ich brauchte die ziemlich sichere Bestätigung, dass die Raketen ihr Ziel erreicht haben, und keiner von euch Jungs konnte mir die geben. Also rief ich bei CNN an. Die haben heute Abend keinen Korrespondenten in Bagdad, aber der Kameramann im jordanischen Büro des Senders hat einen Cousin oder irgendeinen anderen Verwandten, der in der Nähe des Geheimdiensthauptquartiers wohnt, also riefen sie diesen Mann an.« Die meisten Leute im Raum waren entsetzt. »Der Cousin gab durch: Ja, der ganze Laden ist in die Luft geflogen. Er war sich sicher … Also dachte ich, dass wir jetzt relative Gewissheit hätten.« Am nächsten Tag geriet er jedoch sichtlich außer Fassung, als Berichte eingingen, nach denen einige der Raketen ihr Ziel verfehlt hatten. Eines der Geschosse hatte die führende Künstlerin der arabischen Welt getötet, die 141
schräg gegenüber vom Muhabarat, dem irakischen Geheimdienst, gewohnt hatte. Zunächst war ich enttäuscht, weil die Vergeltung so gemäßigt ausgefallen war, potenzielle Ziele von der Liste gestrichen worden waren und der Angriff mitten in der Nacht erfolgte, als sich nur wenige irakische Geheimdienstleute in diesem Gebäude aufhielten. Meine Freunde aus der ehemaligen Regierung Bush deuteten an, sie hätten gehört, dass die Familie Bush angesichts dieses derart begrenzten Gegenschlags ebenfalls verstimmt sei. Meine Enttäuschung legte sich aber mit der Zeit, denn es sah ganz so aus, als hätte Saddam die Botschaft verstanden. Nach diesem Vergeltungsschlag im Juni 1993 brachten die amerikanischen Nachrichtendienste und Polizeibehörden keinerlei Beweismaterial mehr bei, aus dem sich auf irakische Unterstützung für Terrorismus gegen Amerikaner schließen ließ. Bis wir 2003 im Irak einmarschierten. Ins erste Jahr der Regierungszeit Clintons fiel auch ein weiterer Test für die Bereitschaft des Präsidenten zur Anwendung militärischer Gewalt: Somalia. Im Rückblick scheint es durchaus möglich, dass die Schlacht um Mogadischu im Oktober 1993 der zweite Angriff auf Amerikaner war, bei dem al-Qaida mitmischte. Amerikanische Soldaten waren in Somalia stationiert, wo sie helfen sollten, eine gewaltige Hungersnot zu beenden, die 700000 Menschen an den Rand des Todes gebracht hatte, denn bewaffnete somalische Banden stahlen und verkauften die internationalen Hilfslieferungen. Die Hilfsorganisationen arbeiteten unter sehr unsicheren Bedingungen. Präsident Bush hatte unmittelbar nach seiner Wahlniederlage gegen Clinton Truppen nach Somalia geschickt, um die Auslieferung der Hilfsgüter 142
sicherzustellen. Brent Scowcroft hatte mich zunächst gebeten, diese Militäraktion im Weißen Haus zu koordinieren, und im Januar 1993 sollte ich seinen Nachfolger Tony Lake zu diesem Thema informieren. Ich traf Lake im Presidential Transition Office, das eine ganze Etage eines privat genutzten Bürogebäudes in der Vermont Avenue einnahm. Dies war die erste persönliche Begegnung. Lake und der Bereich »Nationale Sicherheit« waren eine Insel der Ruhe im hektischen Gewusel von jungen Mitarbeitern und wahren Bergen von Papier. »Ich danke Ihnen für Ihr Kommen, aber ich glaube, dass wir uns über Somalia nicht allzu viele Sorgen machen müssen. Bis zur Amtseinführung des Präsidenten werden sich die USA bereits weitgehend zurückgezogen haben«, sagte Lake. »Äh, nein, die Stationierung der US-Truppen wird bis Ende Januar noch gar nicht abgeschlossen sein«, antwortete ich und zog eine Übersicht des Pentagon aus der Tasche, in der die Phasen der Stationierung von USEinheiten verzeichnet waren. Lake warf einen skeptischen Blick auf diesen Plan. »Uns hat man mitgeteilt, dass die UNO das übernehmen würde. Und dass die amerikanischen Soldaten abgezogen würden.« Er sagte nicht, von wem er das gehört hatte, aber ich nahm an, von meinen Chefs im Weißen Haus. »Die UNO lässt sich Zeit, Mr. Lake. Boutros-Ghali glaubt, die UNO würde sich mit dieser Sache übernehmen.« Lake machte jetzt ein Gesicht wie ein Mann, der eben erst erfahren hatte, dass er an Krebs leidet. In gewisser Weise traf das auch zu. Der UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali akzeptierte widerwillig eine UNO-Beteiligung an dieser Aktion, aber die Ankunft einer UNO-Friedenstruppe 143
verzögerte sich. Boutros-Ghali drängte die Vereinigten Staaten, einen Amerikaner als Leiter der UNO-Operation abzustellen, der eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen UNO und USA gewährleisten sollte. Lake überredete Admiral Jonathan Howe, Scowcrofts Stellvertreter, diese Aufgabe zu übernehmen. Kurz nach Clintons Amtseinführung wechselte die Koordination des Einsatzes in Somalia vom Weißen Haus ins State Department und seine Afrika-Abteilung. Howe wurde schon bald durch die somalischen Warlords auf die Probe gestellt, ganz besonders durch Mohammed Farah Aidid. Im Juni töteten Aidids Männer mehr als 20 pakistanische Soldaten, die unter dem neuen US-Befehlshaber dienten. Howe reagierte entschlossen. Wenn die Somalis den Eindruck gewannen, sie würden nach den Morden an den Pakistanis ungeschoren davonkommen, wäre dies das Ende der internationalen Hilfsaktion gewesen. Aidid musste verhaftet und seine Miliz zerschlagen werden. Der Vier-Sterne-Admiral Howe war erst vor kurzem aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. Er kannte das militärische Potenzial der Vereinigten Staaten sehr gut und erarbeitete sofort eine detaillierte Liste der benötigten zusätzlichen Streitkräfte. Dazu gehörten Delta-ForceKommandoeinheiten für die Verhaftung Aidids und AC130-»Gunships«, für den Erdkampf umgebaute, schwer bewaffnete ehemalige Transportflugzeuge, die die militärische Infrastruktur der Miliz zerstören sollten. Howe bekam die Flugzeuge, aber nur für einige wenige Einsätze. Der Nationale Sicherheitsrat machte zwar Druck, doch das Pentagon verweigerte die Entsendung der Kommandoeinheiten, lehnte auch die meisten anderen Wünsche Howes ab und stoppte die Flüge der AC-130Maschinen, bevor die Infrastruktur der Aidid-Miliz vernichtet war. 144
Im Juni zeigte sich Aidid in Mogadischu in aller Öffentlichkeit und konnte sich dabei frei bewegen, mit wenig oder ganz ohne Begleitschutz. Ein Delta-ForceKommando hätte ihn mühelos verhaften können. Nach einem AC-130-Angriff auf seine Waffenlager tauchte er jedoch ab und befahl verstärkte Vorstöße gegen die Hilfskoalition, einschließlich der amerikanischen Truppen. Im September töteten Aidids Milizionäre drei amerikanische Soldaten. Nun erst stimmte das Pentagon der Entsendung von Kommandoeinheiten zu. Das Joint Special Operations Command (JSOC), zu dem auch die Einheiten gehörten, die die Öffentlichkeit unter der Bezeichnung Delta kennt, beherrschte die Kunst überraschender nächtlicher Einsätze und unauffälliger verdeckter Operationen. In Mogadischu operierte diese Eliteeinheit jedoch am helllichten Tag, mit massiven Einsätzen Dutzender Hubschrauber. Diese Aktionen liefen immer wieder nach dem gleichen Schema ab, und die Somalis beobachteten sie und lernten daraus. Beim berühmten Black-Hawk-Down-Zwischenfall schlug die Aidid-Miliz am 3. Oktober 1993 zurück, verwickelte die JSOC-Einheit in ein Gefecht und schoss mit Panzerfäusten zwei Hubschrauber ab. Bei diesem Kampf wurden 18 Amerikaner und schätzungsweise 1200 Somalis getötet. Ein zorniger Clinton erschien zur Besprechung mit den Kabinettsmitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates im Cabinet Room des Weißen Hauses. Die Ereignisse in Somalia entsprachen nicht den Vorstellungen des neuen Präsidenten für sein erstes Amtsjahr. Er hatte das Problem geerbt, und die Militärs hatten ihn im Stich gelassen. Im Juni war er dem Rat des Pentagon gefolgt, nicht dem von Howe, und das Pentagon hatte sich geirrt. Aidid hätte im Juni verhaftet werden können, doch sie hatten ihn laufen 145
lassen. Als die Militärs endlich der Entsendung von JSOCKommandotruppen nach Mogadischu zugestimmt hatten, bewegten sich die vor Ort dann so, als seien sie gar keine feindlichen Streitkräfte, die gegen Milizen vorgingen. Sie ließen ihre bewährte Taktik außer Acht und sorgten für eine Katastrophe. Clinton saß im Cabinet Room schweigend und mit gerötetem Gesicht da und hörte Warren Christopher, Les Aspin und Colin Powell zu. Ich sah, dass er ihnen die Zeit ließ, ihre Gedanken vorzutragen, doch er hatte bereits eine Entscheidung getroffen. Es reichte ihm schon, dass er sich diese Dinge über Somalia anhören musste. Als die anderen ausgeredet hatten, beendete Clinton seine Kritzeleien und sah auf. »Okay, ich sage euch jetzt, was wir tun werden. Wir laufen nicht mit eingezogenem Schwanz davon. Am besten morgen schon dort abziehen, das habe ich bereits vom Kongress gehört, das wollen sie alle. Wir bleiben da. Und wir werden auch nicht ganz Mogadischu in Schutt und Asche legen, nur um zu beweisen, dass wir die große, knallhart zuschlagende Supermacht sind. Die ganze Welt weiß, dass wir das könnten. Das müssen wir niemandem beweisen. Wir werden noch mehr Soldaten hinschicken, mit Panzern, Flugzeugen und allem, was sie sonst noch brauchen. Wir werden Stärke zeigen, und wir werden weiterhin Nahrungsmittel verteilen. Wenn uns irgendjemand Ärger macht, antworten wir, und zwar energisch. Und wir werden die UNO dazu bringen, endlich vor Ort zu erscheinen und die Sache zu übernehmen. Sagt Boutros-Ghali, dass er dafür sechs Monate Zeit hat, und keinen einzigen Tag mehr. Und dann … dann ziehen wir dort ab.« Als die Besprechung beendet war, signalisierte Clinton Lake und mir, ihm durch die Seitentür ins Foyer des Oval 146
Office zu folgen. »Ich will, dass wir diese Sache leiten, nicht das State Department oder das Pentagon.« Er sah mich an. »Keine toten amerikanischen Soldaten mehr, kein Einziger soll mehr sterben. Tun Sie, was Sie tun müssen, was immer auch zu tun ist.« In den darauf folgenden Tagen gingen auf den Dächern und Mauern der amerikanischen Militäreinrichtungen in Somalia Scharfschützen in Stellung. Bewaffnete Somalis, die sich diesen Anlagen näherten, wurden erschossen. Über diese Todesfälle wurde kaum oder überhaupt nicht berichtet. Die amerikanischen Soldaten patrouillierten nur noch mit Panzern. Sechs Monate später legten die Vereinigten Staaten die Leitung dieser Operation in die Hände der UNO-Friedenstruppe. Es hatte während dieser Übergangszeit keine amerikanischen Todesopfer mehr gegeben. Während dieser sechs Monate bedrängte ich wiederholt die CIA, den in der ausländischen Presse geäußerten Vermutungen nachzugehen, Aidids Miliz könnte von Terroristen ausgebildet worden sein. Bei der CIA gab man nichts auf solche Gerüchte. Ich fragte meine Freunde Mike Sheehan und Roger Cressey, die 1993 in Mogadischu gearbeitet hatten, nach ihrer Einschätzung. »Woher sollte die CIA irgendetwas wissen?«, antwortete Mike. »Sie hatten niemand dort, als die Marines an Land gingen. Dann schickten sie ein paar Jungs hin, die noch nie dort gewesen waren, und tauschten diese Leute dann alle paar Wochen aus. Und wer dort war, blieb in dem amerikanischen Militärgelände am Meer und lebte in bequemen Wohnwagen, die man von der Air Force einfliegen ließ.« Sheehan und Cressey lagen offensichtlich richtig. Die 147
CIA hatte 1993 und 1994 noch keine entsprechenden Informationen, doch später tauchten Beweise auf, die auch in die formelle amerikanische Anklage gegen Bin Laden eingingen: al-Qaida hatte Aidid Berater geschickt und beim Abschuss der amerikanischen Hubschrauber tatkräftige Hilfe geleistet. Und al-Qaida hatte im Dezember 1992 einen Bombenanschlag auf ein Hotel im Jemen verübt, weil sie annahm, dass dort Angehörige der US Air Force lebten, die die Operation in Somalia logistisch unterstützten. (Die Amerikaner waren bereits evakuiert worden, weil jemenitische Sicherheitskräfte von dem Plan Wind bekommen hatten.) Der CIA war es damals nicht gelungen, die für den Anschlag auf das Hotel verantwortlichen Personen ausfindig zu machen. In der Terrorismus-Bilanz der Regierung Clinton für das Jahr 1993 tauchten die Ereignisse in Somalia deshalb nicht unter dieser Kategorie auf. Man dachte auch deshalb nicht an Bin Laden oder al-Qaida, weil die Clinton-Mitarbeiter von diesem Terroristen und seiner Organisation noch gar nichts wussten. Doch al-Qaida und Bin Laden dachten an die Vereinigten Staaten. Die USA waren zwar nach den ersten Verlusten nicht weggelaufen, dem Druck des Kongresses zum Trotz, doch Bin Laden und seine Leute sahen das dennoch so. Die weitere sechs Monate währende USPräsenz und die ordnungsgemäße Übergabe an die UNO hatten sie nicht beeindruckt. Nur die ausgebliebene Zerstörung Mogadischus war im Gedächtnis geblieben. Ein weiteres Mal erzählten diese Leute einander, die USA seien von einem Land der Dritten Welt gedemütigt worden. Wie in Vietnam. Wie im Libanon. Und wie die Sowjetunion in Afghanistan. Al-Qaida schien nicht zu begreifen, dass die Vereinigten Staaten nie die Absicht gehabt hatten, in Somalia zu 148
bleiben. Sie hatten diese Aufgabe für einen begrenzten Zeitraum übernommen, bis es der schwerfälligen UNBürokratie gelungen war, für die Friedenssicherung eine Streitmacht aufzustellen. Im Rahmen ihrer eigenen begrenzten Zielbestimmung hatten die USA das geleistet, was sie sich vorgenommen hatten. Hatte Clinton Recht, als er auf die Ermordung von 18 US-Elitesoldaten nicht mit massiver Vergeltung im großen Stil reagierte? In dieser Frage war ich mir damals wie heute nicht sicher. Innerhalb eines Tages hatten wir mehr als tausend Somalis getötet. Hätten wir noch mehr töten sollen? Wir hätten die Jagd auf Aidid fortsetzen können, doch damit hätten wir das Ansehen der Vereinigten Staaten gegen die Wendigkeit eines Mannes gesetzt, der sich in seinem eigenen Land versteckte. Verringerte diese Zurückhaltung unsere abschreckende Wirkung auf Terroristen? Damals befürchtete ich so etwas, aber ich hatte auch keine zwingende Idee, was sich dagegen tun ließe. Reagan war nach der Ermordung von 278 Marines in Beirut auf Grenada gelandet, und er befahl diese Aktion unter anderem, um zu zeigen, dass wir uns nach wie vor auch gewaltsam durchsetzen konnten. Ich zweifelte nicht daran, dass auch Clinton bald wieder zum Mittel der Gewaltanwendung greifen würde (in Bosnien, vielleicht auch in Haiti), nicht einfach nur, um Entschlossenheit zu beweisen, sondern weil die Umstände es verlangten. Im Nachhinein zweifle ich daran, dass wir irgendetwas hätten tun können, um al-Qaida abzuschrecken. Noch mehr unschuldige Somalis zu töten wäre nicht hilfreich gewesen. Kurz bevor das Jahr 1993 zu Ende ging, erhielt ich noch eine abschließende, unvergessliche Lektion in Sachen Terrorismus. Tony Lake und seine Stabschefin Nancy 149
Soderberg hatten mich und meine Mitarbeiter gedrängt, direkten Kontakt zu den Familien von Terroropfern aufzunehmen, ganz besonders zu den Familien der Opfer des Lockerbie-Attentats. Der Pan-Am-Flug 103 war von libyschen Terroristen am 21. Dezember 1988 durch eine Bombe beendet worden. Die Familien hatten sich über den Umgang der Regierung Bush mit ihnen empört. Am allerwenigsten konnten sie verstehen, dass ihre Bitte um eine Gedenkstätte auf dem Nationalfriedhof von Arlington abgelehnt worden war, zumal viele Opfer den Streitkräften angehört hatten. Wir trafen uns mit den Familien. Wir hörten ihnen zu und stellten Fotos ihrer getöteten Kinder auf unsere Schreibtische. Das Flugzeug war über dem schottischen Dorf Lockerbie explodiert. Herabstürzende Trümmer hatten auch elf Dorfbewohner getötet. Das ganze Dorf hatte aus tiefstem Herzen mit den Angehörigen aller Opfer getrauert. Lockerbie hatte Steine gestiftet, einen Stein für jedes Opfer, und all diese Steine sollten zu einem Grabdenkmalhügel aufgeschichtet werden. Mit meinem Kollegen Randy Beers fuhr ich zum Friedhof hinaus, wo wir einen Ort für dieses Denkmal auswählten. Am fünften Jahrestag des Anschlags fuhr der Präsident zum künftigen Gedenkort hinaus, um ein paar Worte zu sprechen und den ersten Spatenstich für das geplante Denkmal auszuführen. Es war kurz vor Weihnachten, und es war kalt, feucht und windig. Der Präsident bat einen kleinen Jungen, der bei dem Anschlag seinen Vater verloren hatte, mit ihm zusammen zum Spaten zu greifen. Er kniete neben dem Jungen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ein einsamer Dudelsackbläser aus Lockerbie spielte »Amazing Grace«. Als die Leute später dann zu ihren Autos gingen, um dem Regen zu entfliehen, fragte ich die Mutter des 150
Jungen, was der Präsident gesagt hatte. »Er sagte: ›Auch mein Vater starb, bevor ich geboren wurde. Sei gut zu deiner Mutter.‹« An jenem Abend zeigten die Fernsehsender Bilder vom Präsidenten, der das Oval Office verließ, um an der Gedenkstein-Feier teilzunehmen. Doch zu den aufgezeichneten Bildern berichteten die Weiße-HausReporter von Behauptungen über unschickliches Benehmen, die von früheren Staatspolizisten aus Arkansas stammten. Von PanAm 103 war nicht die Rede. Weder die CIA noch das FBI hatten bisher von al-Qaida gehört, doch wegen der zahlreichen Terroranschläge des Jahres 1993 war das gesamte Clinton-Team, bis hinauf zum Präsidenten, im folgenden Jahr intensiv mit dem Thema befasst. Clinton, Lake und ich waren der Ansicht, dass unsere Antwort auf den Terrorismus auf der Liste der Maßnahmen, die der Welt nach dem Kalten Krieg Gestalt geben sollten, weit oben stehen musste. Ein Teil dieser Antwort bestand aus dem Entwurf einer neuen Politik zur Terrorbekämpfung, die an die Stelle dessen treten sollte, was Reagan sieben Jahre zuvor unterzeichnet hatte. Während der ersten Regierung Bush hatte es keine offizielle Antiterrorpolitik gegeben. Wie ich noch feststellen sollte, konnten Kompetenzstreitigkeiten auch die besten Ansätze in der Terrorbekämpfung zum Scheitern bringen. Es ist ja wesentlich einfacher, seine Zeit an bürokratische Umstrukturierungen zu verschwenden, als irgendetwas Konkretes zu erreichen. (Tom Ridge sollte das sehr viel später demonstrieren.) Drei politische Schwerpunkte traten in den Vordergrund, als ich eine neue Antiterrorpolitik entwarf und in Umlauf brachte, um sie von den in diesem Kontext wichtigen Ministerien und Behörden absegnen zu lassen. Erstens: 151
War der Terrorismus ein Thema für die Polizeibehörden oder für die Nachrichtendienste? Oder, anders herum gefragt: Würde dafür die CIA zuständig sein? Oder nahmen wir uns einfach nur vor, Terroristen hinter Gitter und vor Gericht zu bringen, als wären sie in Banden organisierte Kriminelle? Die Antwort, die Clinton bevorzugte – meiner Ansicht nach zu Recht –, lief darauf hinaus, dass wir alle Ressourcen sämtlicher Ministerien oder Behörden nutzten, die etwas zu diesem Thema beitragen konnten. Wenn das FBI zum Beispiel Trümmerteile von PanAm 103 so zusammensetzen konnte, dass sich bestimmen ließ, wer die Bombe an Bord gebracht hatte, dann war das eine Fähigkeit, die wir genutzt wissen wollten. Die CIA verfügte über keine nennenswerten Einrichtungen zur forensischen Analyse und taugte auch nicht zur Befragung Hunderter von Zeugen im Rahmen aufwändiger Ermittlungen nach einem Anschlag. Wenn wir einzelne Terroristen stellen und verhaften können, wenn wir sie für ihren Prozess und die darauf folgende Bestrafung in die Vereinigten Staaten zurückbringen können, dachte ich, dann sollten wir das tun, auch wenn das vom FBI erledigt werden muss. Wir mussten jede Behörde einspannen, die uns bei den gemeinsamen Bemühungen weiterbringen konnte. Es gab Leute, die erklärten, solche Verhaftungen und Prozesse würden Terroristen nicht abschrecken. Meiner Meinung nach konnte das niemand mit Sicherheit sagen. Andererseits war ich mir sicher, dass es Zeiten geben würde, in denen die Strafgerichtsbarkeit als Mittel zur Terrorbekämpfung wirkungslos bleiben würde. Deshalb mussten wir auch geheimdienstliche, militärische und diplomatische Konzepte entwickeln, um das Problem in den Griff zu bekommen. Die Antwort auf die erste politische Frage mochte dem 152
FBI noch gefallen, aber von der Antwort auf die zweite Frage war man bei der Bundespolizei alles andere als begeistert. Die zweite Frage beschäftigte sich mit der Rolle des Weißen Hauses und seines Nationalen Sicherheitsrats bei Ereignissen im Inland. Das war die Frage, die mir der Wachoffizier im Lagezentrum gestellt hatte: »Kümmert ihr Jungs euch auch um Krisen im Inland?« Im Anschluss an den Bombenanschlag auf das World Trade Center und die weiteren Pläne des blinden Scheichs beantwortete sich die Frage meiner Ansicht nach von selbst. Wenn ausländische Agenten beteiligt sind, sind auch wir gefragt. Solange wir nicht wissen, ob ausländische Agenten beteiligt sind, gehen wir davon aus, dass dem so ist. Das unmittelbare Problem, mit dem diese Politik zu kämpfen hatte, war die Verschwiegenheit des FBI. Die 56 FBI-Büros kommunizierten auf institutioneller Ebene nur mit den US-Bundesanwälten im ganzen Land. Außerdem gab es einen gewissen Kommunikationsfluss zwischen den Einsatzkräften vor Ort und dem FBI-Hauptquartier. Noch weniger Austausch untereinander pflegten das FBI-Hauptquartier und das Justizministerium. Lake wollte dieses Hindernis aus dem Weg räumen. Er fuhr mit seinem Stellvertreter Sandy Berger und mir zum weitläufigen Amtssitz der Justizministerin hinüber und suchte das Gespräch. Wir trafen Janet Reno und das FBI in einem Raum, in dem mehrere Thronsäle des Königs von Saudi-Arabien Platz gehabt hätten. Ich erläuterte das Problem. Wenn der Nationale Sicherheitsrat die Politik zur Terrorbekämpfung koordinieren und außerdem den Präsidenten über notwendige Maßnahmen auf dem Laufenden halten sollte, mussten wir wissen, was das FBI wusste. Die anwesenden FBI-Vertreter erklärten, 153
Informationen, die im Verlauf einer kriminalistischen Ermittlung beschafft worden seien, könnten nicht an »Zivilisten« weitergegeben werden. Reno, die ich zum damaligen Zeitpunkt noch kaum kannte, saß schweigend da und machte sich auf ihrem Schreibblock Notizen. Ich fragte mich, wie weit der Einfluss des FBI bei ihr bereits ging und ob sie noch den Mut aufbringen würde, sich mit den FBI-Leuten anzulegen. Sie hatte unglaublichen Mut bewiesen, als sie vor der Öffentlichkeit die Verantwortung für die in einer Katastrophe endende Belagerung der Davidianer-Sekte in der texanischen Stadt Waco vom 28. Februar bis zum 19. April 1993 übernommen hatte. Damit hatte sie sich für ein Geschehen verantwortlich erklärt, das von Fahndern eines anderen Ministeriums eingeleitet worden war (von Beamten des Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms des Finanzministeriums, die das Gelände zunächst wegen des Verdachts auf illegalen Waffenbesitz durchsuchten) und das später dann zum Tod von 86 Menschen führte, darunter 21 Kindern. Jetzt wandte Reno sich dem FBI und den Jungs vom Weißen Haus zu und tat ihre Entscheidung kund: »Wenn es um Terrorismus geht, in den ausländische Mächte oder Gruppierungen verwickelt sind, oder wenn diese Möglichkeit besteht, wird das FBI einigen hochrangigen Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates sagen, was es weiß.« Lake und Reno kamen überein, dass sie eine Abmachung (ein »Memorandum of Understanding«) unterzeichnen würden, in der dieser Grundsatz festgehalten werden sollte. Dazu kam es nie. Die Juristen des FBI und des Justizministeriums verzögerten die Ausfertigung des Dokuments jahrelang. Dennoch war diese Übereinkunft das Grundprinzip unserer Arbeit, und wenn ich künftig etwas über die beteiligten Leute und die Ereignisse 154
wusste, konnte ich mich auf das »Lake-Reno-Abkommen« berufen, um an Informationen zu kommen. Einige hochrangige FBI-Leute gaben ihr Wissen mitunter auch freiwillig an uns weiter. Normalerweise tat das FBI allerdings so, als sei Lake-Reno ein Ferienort in Nevada. Beim dritten politischen Thema zeigte sich auf außergewöhnliche Art der persönliche Stil der Regierung Clinton. Dieses Thema lautete: Welche Aufgabe hat die Bundesregierung im Umgang mit den Opfern des Terrorismus? Clinton, Lake und Reno war diese Frage sehr wichtig. Sie kannten jetzt die Familien der Opfer des PanAm-Flugs 103 persönlich. Diese Menschen hatten ihnen berichtet, wer sie über den Tod ihrer Angehörigen informiert hatte: nicht die Regierung, sondern die Fluggesellschaft. In vielen Fällen war die Nachricht lieblos übermittelt worden, die Familien hatten keine Ansprechpartner, niemand, mit dem die bei einem Todesfall zu erledigenden Dinge besprochen werden konnten. Ab sofort sollte sich die Bundesregierung in solchen Fällen engagieren, den Trauernden beistehen und Informationen über die noch andauernden Ermittlungen weitergeben. Ich hatte ein viertes Thema, das ich der Liste noch hinzufügen wollte: Massenvernichtungswaffen und Terrorismus. Es gab keine Anzeichen dafür, dass eine Terrorgruppe versuchte, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen, doch es bestand ein beunruhigender Zusammenhang zwischen der Liste von Ländern, die bei uns als Unterstützer des Terrorismus geführt wurden, und der Liste von Ländern, die über Chemiewaffen verfügten. Bei meiner früheren Tätigkeit im Bereich der Nichtverbreitung von Waffensystemen hatte ich gelernt, dass innerhalb des Regierungsapparats die Expertengruppen aus den Arbeitsgebieten 155
Terrorbekämpfung und Nichtweitergabe einander kaum kannten. Das musste sich ändern. In den Ministerien war niemand gegen die von mir vorgeschlagene gemeinsame Politik in Sachen Terrorbekämpfung und Massenvernichtungswaffen, man schüttelte darüber nur den Kopf. Nachdem bei diesen Punkten Übereinkunft bestand, unterzeichnete Clinton die Presidential Decision Directive 39 (PDD-39) mit dem Titel »US-Politik zur Terrorbekämpfung« (»U.S. Policy on Counterterrorism«). Sie bestätigte den Grundsatz, im Umgang mit Terroristen »keine Konzessionen« zu machen. Dieses Prinzip war von der Regierung Reagan verletzt worden, als sie dem Iran als Gegenleistung für die Freilassung von Geiseln Waffen verkaufte. Clintons Direktive forderte offensive wie defensive Maßnahmen, um »die Angriffsmöglichkeiten für Terroristen zu verringen« und »Schwachstellen im In- und Ausland zu reduzieren«. Hierbei sollten polizeiliche, geheimdienstliche, militärische und diplomatische Mittel in koordinierter Form eingesetzt werden. »Höchste Priorität« sollte schließlich »die Verhinderung des Erwerbs von Massenvernichtungswaffen« durch Terroristen haben oder, wenn das nicht gelang, »die Beseitigung dieser Angriffsmöglichkeit«. Die neue Politik hörte sich gut an, doch sie war auf Informationen angewiesen, die nach wie vor nur spärlich flossen. Die Suche nach den beiden noch auf freiem Fuß befindlichen Verantwortlichen für das Attentat auf das World Trade Center ging 1994 weiter, besonders intensive Bemühungen galten Ramsi Jussuf. Er war sehr aktiv, aber seine Aktivitäten gerieten nicht ins Blickfeld der USNachrichtendienste. Wir kannten ihn damals noch gar nicht, doch er war an der Planung erfolgloser 156
Mordkomplotte gegen den Papst, später dann gegen Präsident Clinton beteiligt, beide Male auf den Philippinen. Dann, im Januar 1995, wurde die Polizei in Manila zu einem Brand in einem Wohngebäude gerufen. An einem Samstagmorgen erschien die Nachricht aus Manila auf meinem Bildschirm. Ich druckte sie aus und rannte von meinem Büro im Executive Office Building über den Parkplatz, der unter der Bezeichnung West Exec bekannt ist, zum Westflügel hinüber. Bei Tony Lake platzte ich in eine Besprechung über Bosnien und verkündete: »Sie haben Ramsi Jussuf gefunden.« »Das ist eine großartige Nachricht«, antwortete Lake. »Nein. Er ist entwischt«, stieß ich hervor. »Und er plante, amerikanische Verkehrsflugzeuge über dem Pazifik zu zerstören, mit an Bord geschmuggelten Bomben, Bomben mit flüssigem Sprengstoff, der bei Kontrollen nicht auffällt. Sie werden an Bord auf der Toilette zusammengebaut und anschließend dort deponiert. Der Terrorist steigt bei der ersten Zwischenlandung aus, das Flugzeug fliegt weiter und explodiert. Die Philippinos haben einige Bomben gefunden, aber nicht alle. Er hatte die Flüge schon ausgewählt, United, Northwest … insgesamt elf Stück, alles Boeing-747-Maschinen.« Lake verstand, um was es ging. Der Mann, der im World Trade Center eine Bombe hatte hochgehen lassen und sich dann fast zwei Jahre lang der Verhaftung entzogen hatte, lief immer noch frei herum, mit Bomben, die weitere PanAm-103-Katastrophen auslösen sollten, mehrere zur gleichen Zeit, über dem Pazifik. »Haben Sie die Flugzeuge landen lassen?«, fragte Lake. Ich hatte die FAA bereits angerufen und die Behörde angewiesen, die Fluggesellschaften zu benachrichtigen: 157
Flüge, die im pazifischen Raum begannen, mussten gestoppt werden. Die FAA sagte das zu, teilte mir aber auch mit, dass nur der Verkehrsminister ein Startverbot verhängen könne. Das alles berichtete ich Lake. »Ich will den Verkehrsminister sprechen«, sagte Lake am Telefon zu seinem Assistenten. Lake bat Leon Panetta, den Stabschef des Weißen Hauses, zu uns zu stoßen, während mehrere Leute zugleich versuchten, Verkehrsminister Federico Pena ausfindig zu machen. Panetta traf eine Entscheidung: »Gut, wenn der Minister die Befugnis hat, dann hat sie auch der Präsident. Sagt den Fluggesellschaften, das Flugverbot gilt kraft Anordnung des Präsidenten.« US-Gesellschaften, die Flüge im Pazifikraum anboten, wurden angewiesen, ihre Maschinen am Boden zu lassen. Flugzeuge, die bereits in der Luft waren, erhielten den Landebefehl. Das Begleitpersonal wurde angewiesen, hinter der Deckenverkleidung in den Bordtoiletten und an jedem anderen denkbaren Ort zu suchen, an dem sich eine Bombe verstecken ließ, die aus Batterien, einer Uhr und einem Fläschchen mit Reinigungsflüssigkeit für Kontaktlinsen bestand. Es wurde nichts gefunden. Vom nächsten Tag an, als die Flüge wieder starteten, durften die Passagiere keine Flüssigkeiten mehr mit an Bord nehmen. Bei den Gepäckkontrollen wurden Parfüms und Duftwässerchen aller Art aussortiert. Aber Ramsi Jussuf war erneut der Verhaftung entgangen. Die Counterterrorism Security Group hatte bereits beschlossen, für die Ergreifung von Jussuf eine Belohnung auszusetzen. Auch die Verteilung von Streichholzbriefchen im ganzen Nahen und Mittleren Osten und im südlichen Asien, bei der auf die ausgesetzte Belohnung von zwei Millionen Dollar hingewiesen wurde, war bereits autorisiert. Eine ganze Menge Leute 158
behauptete bereits, Jussufs Aufenthaltsort zu kennen, und alle wollten die Belohnung haben. Diese Hinweise waren fast alle wertlos. Anfang Februar jedoch rief eine Person an, die tatsächlich wusste, wo er war. Bei einer Befragung durch Sicherheitsbeamte des Außenministeriums aus der US-Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad gab der Informant Einzelheiten preis, die ihn glaubwürdig erscheinen ließen. Es folgte eine mustergültige Verhaftungsaktion. Sie ging sehr schnell vonstatten. Der Botschafter in Islamabad bemühte sich mit Erfolg um pakistanische Unterstützung bei der Verhaftung und Auslieferung aus jenem Land. Ein Greiftrupp des FBI flog aus New York ein, während die Botschaft zur gleichen Zeit ihr eigenes Team aus Sicherheitsbeamten des State Department, DEA-Agenten und einem in Thailand arbeitenden FBI-Beamten zusammenstellte. Ramsi Jussuf wollte eigentlich an jenem Tag mit dem Bus nach Afghanistan reisen. Stattdessen wurde er in den frühen Morgenstunden von pakistanischen und amerikanischen Beamten rüde geweckt. Nur wenige Tage später war er in New York. Ramsi Jussuf benutzte zahlreiche Pseudonyme. Er wurde als Abdul Basit in Pakistan geboren und wuchs in Kuwait auf, wo sein Vater arbeitete. Auch nach seiner Verhaftung blieb er eine rätselhafte Gestalt und zog genauso viel Aufmerksamkeit auf sich wie in der Zeit seiner Flucht. Es ist ja so, dass sich nach fast jedem Terroranschlag oder einem ähnlichen Ereignis eine moderne Legende entwickelt, die die offizielle Erklärung in Frage stellt. Eine weit verbreitete Legende behauptete zum Beispiel nach den Ereignissen des 11. September, Israel habe das World Trade Center angegriffen und Juden davor gewarnt, an jenem Tag zur Arbeit zu gehen. Nach dem Absturz des TWA-Flugs 800 vor der Küste von Long Island am 17. 159
Juli 1996 ging die Legende um, die zivile Boeing 747 sei von der US Navy abgeschossen worden. Die Legende zu Ramsi Jussuf besagte, eigentlich habe es sich um zwei Männer gehandelt: der eine sei der Mann, den das FBI in Pakistan verhaftet habe, der andere ein führender Kopf, ein »Mastermind« des irakischen Geheimdienstes Muhabarat. Diese Legende war ein Baustein der Theorien von Laurie Mylroie. Für die Mitarbeiter der amerikanischen Regierung, die den irakischen Geheimdienst kannten, war der Begriff »führender Kopf des irakischen Geheimdienstes« ein Oxymoron. Dieser Nachrichtendienst hatte seinen Ruf weg als die »Keystone Kops« des Nahen und Mittleren Ostens (eine Stummfilm-Komikertruppe), bei deren Produktionen Charlie Chaplin als Statist seine HollywoodKarriere startete und die ihre Trotteligkeit durch Diensteifer kompensierte). Außerdem bestätigten zahlreiche Augenzeugen ebenso wie Fingerabdrücke und andere Beweise die Verstrickung von Ramsi Jussuf, alias Abdul Basit, in den Bombenanschlag auf das World Trade Center. Das hinderte aber Laurie Mylroie nicht daran zu behaupten, der echte Ramsi Jussuf befinde sich nicht im Bundesgefängnis in Manhattan, sondern sitze in Bagdad zur Rechten von Saddam. Mylroies These lautete, es habe einen fein ausgetüftelten Angriffsplan Husseins gegen die Vereinigten Staaten gegeben und Jussuf/Basit sei der Handlanger gewesen. Als Ausgangspunkt sah sie den ersten Anschlag auf das World Trade Center. Ihre Schriften erlangten Kultstatus und verschafften ihr eine kleine Schar von Anhängern, zu denen auch der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey und Paul Wolfowitz gehörten. Jason Vest berichtete am 27. November 2001 in der Village Voice: »Nach Informationen aus Geheimdienst160
und Politikerkreisen geriet Powell – wie auch George Tenet – wegen von Wolfowitz im September arrangierter privater nachrichtendienstlicher Recherchen in Rage. Wolfowitz war offensichtlich besessen von dem Gedanken, einen Nachweis für die verwickelte Theorie zu liefern, die von Laurie Mylroie vertreten wurde, einem Adjunct Fellow des American Enterprise Institute. Mylroie brachte Osama bin Laden und Saddam Hussein mit dem Bombenattentat auf das World Trade Center im Jahr 1993 in Verbindung. Nach Angaben eines ExGeheimdienstbeamten schickte Wolfowitz den ehemaligen CIA-Direktor und Kabbalisten James Woolsey mit dem Auftrag nach Großbritannien, zusätzliches ›Beweismaterial‹ für diese These zu sammeln. Woolsey wurde außerdem gebeten, Kontakt zu irakischen Exilanten und anderen Personen aufzunehmen, die zur Unterstützung der These beitragen könnten, dass der Flugzeugentführer Mohammed Atta bei der Planung der Anschläge vom 11. September mit irakischen Geheimdienstleuten zusammenarbeitete. Dieselbe Vermutung galt für die anschließenden Postsendungen mit Milzbranderregern.« Es stellte sich aber heraus, dass es nur einen Ramsi Jussuf gab, der kein irakischer Agent war und jahrelang in einem amerikanischen Gefängnis gesessen hatte. Mehr als jeder andere Mitarbeiter der Regierung Clinton wünschte ich mir eine Rechtfertigung für die Beseitigung von Saddam Husseins Regime. Ich war an der Planung und Führung des Golfkriegs von 1991 beteiligt gewesen. Und ich war wütend, als der Krieg beendet wurde, ohne zuvor die Republikanische Garde ausgeschaltet zu haben. Saddam ließ die kurdische und schiitische Opposition zusammenschießen, und die Vereinigten Staaten sahen untätig zu. Ich hatte gehofft, dass der Parkplatz161
Zwischenfall mit UNSCOM-Beteiligung, den ich mitgeplant hatte, letztlich zu erneuten massiven Bombardements führen würde, die das Regime schwächten. Aus dem gleichen Grund hatte ich 1993, nachdem das Mordkomplott gegen Bush aufgedeckt worden war, auf eine größere Bombenkampagne gegen den Irak gedrängt. Mehr als jeder andere wünschte ich mir, dass hinter dem Anschlag auf das World Trade Center der Irak gesteckt hatte, sodass wir einen erneuten Krieg gegen dieses Land rechtfertigen konnten. Doch es gab keine schlüssigen Beweise für eine Beteiligung Bagdads. 1994 lag hingegen eine ganze Reihe von Beweisen vor, die auf eine andere Organisation hindeuteten, deren Name und Struktur immer noch unbekannt war. Ihr gehörte ein Mann an, den die CIA stets als »Geldgeber von Terroristen« bezeichnete: Osama bin Laden. Die Saudis hatten 1994 genug von seiner ständigen Agitation gegen das Regime und entzogen ihm die Staatsbürgerschaft. Gerüchte über eine Schießerei in Bin Ladens Haus in Khartum legten die Vermutung nahe, es habe sich um einen Mordversuch des saudischen Geheimdienstes mit Hilfe jemenitischer Söldner gehandelt. Der Name tauchte in Geheimdienstberichten in Verbindung mit terroristischen Aktivitäten auf, und das an weit auseinander liegenden Orten, zum Beispiel auf den Philippinen und in Bosnien. Ab 1993 plagten Lake, Nancy Soderberg und ich die CIA mit Anfragen zu diesem Mann und seiner Organisation. Die CIA bezweifelte anfangs, dass eine solche Organisation überhaupt existierte. Bin Ladens Name fiel 1993 und 1994 immer häufiger in aktuellen Geheimdienstberichten, doch in den Analysen der CIA war immer noch von einem radikalisierten wohlhabenden Burschen die Rede, der mit dem Terrorismus liebäugelte, indem er Terrorgruppen Schecks 162
zukommen ließ. Die CIA wusste von der Existenz des Afghan Services Bureau, doch sie sah in dieser Einrichtung nicht das Schaufenster eines verdeckt operierenden Terrornetzwerks. Hochrangige CIAMitarbeiter erklärten der Counterterrorism Security Group, das Büro sei das, was es zu sein vorgebe: eine Art Veteranenorganisation für Araber, die in Afghanistan gekämpft hatten. Die CIA-Männer räumten ein, dass es unter diesen Leuten auch einige Terroristen geben könne, die sich wohl mancher Mitarbeiter und Dienstleistungen der Organisation bedienten. Aber sie sagten nicht, dass diese Organisation jetzt von Osama bin Laden geführt wurde, Terroristen anwarb und bezahlte und deren Reisen arrangierte. Und doch war es so. Zwei Monate nach Ramsi Jussufs Verhaftung, am 19. April 1995, erhielt ich die Nachricht, dass sich im Stadtzentrum von Oklahoma City eine fürchterliche Explosion ereignet hatte. Das war eindeutig die Handschrift von Terroristen. Aber in Oklahoma? Aus Haiti rief ich im Weißen Haus an und sprach mit meinem Stellvertreter Steve Simon, der sich im Lagezentrum aufhielt. Er war aus einer CSG-Sitzung herausgeeilt, um das Gespräch entgegenzunehmen. Es war mir sehr unangenehm, die Sitzung zu unterbrechen. »Wer leitet die Sitzung, solange du mit mir sprichst?«, fragte ich. »Oh, mach dir keine Sorgen, die ist in guten Händen«, antwortete Simon trocken. »Bill Clinton.« Mein einziger Rat war, nicht davon auszugehen, dass hinter dem Anschlag eine arabische oder islamistische Gruppe stecke. Es sah einfach nicht danach aus. Simon war bereits zum selben Ergebnis gekommen, und das Weiße Haus warnte öffentlich vor voreiligen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Täterschaft. Niemand 163
sollte sich zu Schikanen gegen irgendeine ethnische oder religiöse Gruppierung hinreißen lassen. Wenige Stunden später wurde deutlich, dass der Bombenanschlag das Werk von Amerikanern gewesen war. Das wiederholte öffentliche Auftreten und die Ansprachen des Präsidenten nach dem Attentat von Oklahoma waren ein großer Trost für eine zutiefst erschütterte Nation, und außerdem wurde das Terrorismusproblem in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Clinton sprach ständig über das Schreckensszenario, mit dem wir es zu tun hätten, wenn Terroristen in einer amerikanischen Stadt eine Massenvernichtungswaffe einsetzten. Er war mit der bestehenden Rechtslage nicht zufrieden und bemühte sich um verschärfte Gesetze und mehr Geld, damit wir offensiver gegen den Terrorismus vorgehen konnten. Ich erhielt den Auftrag, eine Liste der Erfordernisse vorzulegen. Es war die erste von mehreren Bestandsaufnahmen zu den benötigten Antiterror-Budgetmitteln, die ich von 1995 bis 2000 leitete. In Zeiten eines sinkenden Bundeshaushaltsvolumens erhöhten wir den Etatposten für Terrorismusbekämpfung von 5,7 Milliarden Dollar im Jahr 1995 auf 11,1 Milliarden im Jahr 2000. Das Antiterror-Budget des FBI stieg im selben Zeitraum um 280 Prozent. Wir bemühten uns auch um verbesserte Rechtsgrundlagen zugunsten des FBI, zum Beispiel um die Ausweitung von Telefonabhörmaßnahmen gegen das organisierte Verbrechen auf Terroristen. Weitere Ziele waren die Einstufung der Finanzierung von Terrorgruppen als Verbrechen, ein erleichterter Zugang zu Reisedaten von Terroristen und die beschleunigte Abschiebung von Personen, die mit aktiven Terroristen in Verbindung standen. Die meisten von mir beantragten Etatposten 164
fanden 1995 die Zustimmung des Weißen Hauses und des dortigen Office of Management and Budget, aber der Kongress lehnte einige der Anträge ab. Es gab keinen gesonderten Haushaltsposten für die Terrorbekämpfung, die Mittel waren auf mehrere Ministerien verteilt. Ich bemühte mich um das neue Gesetz gegen die Finanzierung von Terrorgruppen, weil mehrere Mitarbeiter der Regierung die Versuche der CSG vereitelt hatten, Gelder, die für Terroristen bestimmt waren, zu beschlagnahmen. Im Januar 1995 hatten wir den Präsidenten überzeugt. Er erließ eine Rechtsverordnung, die (nach den Bestimmungen des International Emergency Economic Powers Act) das Einwerben oder den Transfer von Geldmitteln zugunsten von Terrorgruppen und ihren öffentlich auftretenden Organisationen zum Verbrechen erklärte. Rick Newcomb, der Leiter des Office of Foreign Assets Control, einer wenig bekannten, aber mächtigen Abteilung des Finanzministeriums, die für Handels- und Wirtschaftssanktionen zuständig ist, konnte es kaum erwarten, die neuen rechtlichen Möglichkeiten umzusetzen. Newcomb war ein engagierter, kluger Beamter und zugleich der beste Kenner der Spielregeln und Verfahrensweisen in diesem Arbeitsbereich. Newcomb und ich sahen uns den Fall der Holy Land Foundation in Richland im Bundesstaat Texas genauer an. Wir waren überzeugt, dass hier eine Verletzung der neuen Rechtsverordnung vorlag. Newcomb schaltete die Zollfahndung ein, um seine Erlasse durchzusetzen. Nach einer Prüfung des Sachverhalts durch die CSG waren Newcombs Leute bereit. Sie sollten das HLF-Gelände durchsuchen, die Schlösser aufbrechen, Unterlagen und Vermögenswerte beschlagnahmen und an den Türen und Fenstern Hinweise anbringen, auf denen zu lesen stand, dass dieser Ort durchsucht worden war. Doch plötzlich 165
wandten sich der FBI-Direktor Louis Freeh und Finanzminister Bob Rubin gegen die Aktion. Freeh sorgte sich wegen der Araber im Land, die er nicht vor den Kopf stoßen wollte, und behauptete, die Anwendung des International Emergency Economic Powers Act könnte vor Gericht angefochten werden. Rubin äußerte die Befürchtung, das Gesetz könnte einer Klage nicht standhalten. Außerdem hatte er bisher mit der Unterstützung jeglicher Vorstöße gegen Geldwäsche gezögert, weil er eine Kapitalflucht aus den USA ebenso fürchtete wie die Einsprüche anderer Länder, die sich um die Heiligkeit des »Bankgeheimnisses« sorgten. (Im Rahmen eines seltsamen überparteilichen Bündnisses waren auch Republikaner wie Dick Armey, ein Abgeordneter des Repräsentantenhauses, gegen jede Verletzung des »Bankgeheimnisses«.) Die Durchsuchung kam nicht zustande. Die Holy Land Foundation setzte ihre Aktivitäten fort, und mir blieb nur das Bemühen um ein neues Gesetz, um eine unanfechtbare, klare Formulierung der Absicht des Kongresses, gegen die Finanziers des Terrors vorzugehen. Es war unglaublich: Der Kongress billigte 1995 die von uns angestrebten gesetzlichen Befugnisse nicht. Ich hatte gedacht, es handle sich um überparteiliche Themen, aber der Argwohn und die Feindseligkeit zwischen dem demokratischen Weißen Haus und den Republikanern im Kongress waren stark und wirkten sich auch auf die Politik zur Terrorbekämpfung aus. Der Anschlag auf das World Trade Center war erfolgt, Terrorakte gegen verschiedene Wahrzeichen in New York und die Boeing-747-Maschinen über dem Pazifik waren gerade noch verhindert worden, in der U-Bahn in Tokio hatten Attentäter Sarin versprüht, auf Israels Straßen flogen Busse in die Luft, ein Verwaltungsgebäude der 166
Bundesregierung im Zentrum von Oklahoma war in einen Schutthaufen verwandelt worden, doch viele Kongressabgeordnete stimmten gegen das Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus. Republikanische Senatoren, Leute wie Orrin Hatch, waren gegen die Ausweitung der Telefonabhörbestimmungen auf Terroristen. Tom DeLay und andere Republikaner im Repräsentantenhaus teilten die Meinung der National Rifle Association, dass die vorgelegten Einschränkungen für die Herstellung von Bomben das Recht, Waffen zu tragen, verletzten. 1996 mussten wir einen neuen Anlauf unternehmen, um unsere Möglichkeiten zur Bekämpfung des Terrorismus zu verbessern.
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5 Am Rand eines Krieges (1996) Mag sein, dass Clintons nationales Sicherheitsteam beim Amtsantritt 1993 kaum an Terrorismus gedacht hat. Drei Jahre später jedenfalls, zu Beginn des Jahres 1996, waren dessen Mitglieder ganz von dem Gedanken beherrscht. Sie fürchteten einen großen Terroranschlag für das kommende Jahr. Allerdings erwarteten sie keinen Angriff von alQaida. Der Begriff tauchte damals in CIA-Berichten noch gar nicht auf. Die radikale Theokratie, die 1979 im Iran das SchahRegime abgelöst hatte, wollte in ihrem Fanatismus nicht nachlassen. Die amerikanischen Geiseln in Teheran hatte man zwar Anfang 1980 freigelassen, doch war der Iran in den achtziger Jahren maßgeblich an den drei HisbollahAnschlägen gegen US-Einrichtungen im Libanon beteiligt, bei denen mehrere Amerikaner getötet wurden. Außerdem war Teheran hinter den Kulissen der Drahtzieher bei den langwierigen Geiselnahmen von Amerikanern im Libanon, unter ihnen mehrere Journalisten sowie ein Oberst der Marine und ein CIA-Stationschef, die beide gefoltert und ermordet wurden. In den achtziger Jahren führte der Iran einen acht Jahre währenden Krieg, in dem er sich gegen die Invasion durch Saddam Hussein zur Wehr setzte. Dieser Krieg hatte sich bis in den Persischen Golf ausgebreitet, Iraner (und Iraker) griffen sogar Öltanker an. Da die US Navy Öltanker verteidigte, geriet sie in Feuergefechte mit iranischen Kriegsschiffen und Flugzeugen. 1989 hielt dann die USS Vincennes mitten in einem solchen Feuergefecht mit iranischen Schnellbooten irrtümlich ein iranisches 168
Passagierflugzeug für ein angreifendes iranisches Kampfflugzeug und schoss es ab. 290 Zivilisten kamen dabei ums Leben. Als ich von dem Abschuss erfuhr, nahm ich an, dies würde das Ende unserer offiziellen »Neutralität« im Krieg zwischen Iran und Irak bedeuten. Wir hatten den Irak mit militärischen Informationen unterstützt, sein Öl in umgeflaggten kuwaitischen Tankern eskortiert und waren massiv gegen militärische Güter vorgegangen, die in den Iran strömten. Dennoch erklärten wir uns nach außen für neutral. Nun, da wir Hunderte iranischer Zivilisten getötet hatten, ging ich davon aus, dass Teheran uns aus Rache direkt angreifen und uns damit ganz offen auf Saddams Seite in den Krieg ziehen würde. Doch das Gegenteil geschah. Der irrtümliche Abschuss der iranischen Linienmaschine beendete abrupt den Krieg. Anscheinend hatten die Führer der iranischen Revolution schon lange nach einer Ausflucht gesucht, die Schlacht zu beenden. Öffentlich erklärten sie, die Vereinigten Staaten würden den Iran nunmehr ganz offen bekämpfen, und sie könnten unmöglich gegen den Irak und Amerika gleichzeitig standhalten. Eine Fortsetzung der Kämpfe könne Umstände herbeiführen, unter denen die Revolution rückgängig gemacht werde (vermutlich durch eine USInvasion). Jedenfalls rief Iran einen einseitigen Waffenstillstand aus, und Saddam Hussein, dessen Volk und Ressourcen ebenfalls von dem fehlgeschlagenen IranAbenteuer erschöpft waren, akzeptierte. Der iranischirakische Krieg war vorüber. Etwa 350000 Menschen hatten ihr Leben verloren. Den verdeckten Export der iranischen Revolution setzte Teheran jedoch fort, und zwar durch die so genannten Revolutionsgarden und deren Spezialeinheit namens AlQuds Force (Jerusalem-Kommando), das Ministerium für 169
Nachrichten und Sicherheit und durch ihre eigene Fremdenlegion aus Nationalisten anderer Länder, die Hisbollah. Der Name Hisbollah ist das arabische Wort für »Partei Gottes«, und die Gruppe war ursprünglich der verlängerte Arm des Iran unter den Libanesen und Palästinensern im Libanon. Teheran weitete sie in der Folge aus und gründete Hisbollah-Ableger unter anderem in Saudi-Arabien, aber auch in Brasilien und Uruguay. Die iranische Regierung verbreitete extrem antiamerikanische Propaganda und hieß in ihrem Kampf gegen Israel und die USA Terroristen aus der ganzen islamischen Welt willkommen. Im Gegenzug hielten die Vereinigten Staaten die Wirtschaftssanktionen aufrecht, die sie 1980 verhängt hatten, und iranische Vermögen in den USA weiterhin auf Treuhänderkonten eingefroren. Trotz dieser Sanktionen hatte der Iran noch Erdöl in die Vereinigten Staaten exportiert, im Jahr 1987 im Wert von sage und schreibe 1,6 Milliarden Dollar. Während des »Tankerkrieges« verfügten die Vereinigten Staaten zusätzliche Sanktionen, um den Iran in seinem Krieg gegen Saddam Hussein weiter zu schwächen. Der Import iranischen Öls wurde eingestellt und der Export militärisch nutzbarer ziviler Güter in den Iran untersagt. Es häuften sich Hinweise, dass der Iran sich moderne Waffen und Material für die Herstellung chemischer, biologischer und atomarer Waffen beschaffte. Teheran trachtete danach, von Moskau und Peking Raketen und Flugzeuge zu erwerben, und unterschrieb mit Russland einen Vertrag über den Bau eines zivilen Atomkraftwerks. Da der Iran nun nicht länger in dem Krieg gegen Irak bluten musste, stieg seine Unterstützung für die Hisbollah an, deren Angriffe auf Israel entsprechend zunahmen. Währenddessen wetteiferten der Kongress und die US170
Administration geradezu miteinander, wer die schärferen Sanktionen gegen den Iran aufs Tapet brachte. 1992 setzte Senator John McCain den »Iran-Iraq Nonproliferation Act« ein und dehnte damit die Sanktionen auf Drittstaaten aus, die »fortschrittliche konventionelle« Waffen oder Komponenten an eines der beiden Länder exportierten. Im selben Jahr wurde ein Bombenanschlag auf die israelische Botschaft in Buenos Aires verübt. 1994 kamen bei einem Anschlag auf ein jüdisches Kulturzentrum in Buenos Aires 85 Menschen ums Leben. Geheimdienstliche Hinweise deuteten auf eine Beteiligung der Hisbollah und des Iran hin, doch die argentinische Regierung zögerte mit offiziellen Schuldzuweisungen. Der republikanische Senator Alfonse D’Amato brachte 1995 ein Gesetz ein, das jeglichen Handel mit dem Iran (abgesehen von humanitären Hilfslieferungen) untersagte und es auch US-Tochterunternehmen in Drittstaaten verbot, mit iranischem Öl zu handeln. Als Antwort führte die Clinton-Administration per Regierungserlass ein eigenes, ganz ähnliches Verbot ein. (Diese Maßnahme verhinderte einen Milliarden-Dollar-Deal des Energiekonzerns Conoco mit dem Iran, außerdem protestierte Dick Cheney als Chef von Halliburton gegen diese Sanktionen.) Clinton wies außerdem Vizepräsident Gore an, die Bemühungen um den Bau von Öl- und Gaspipelines zu den Vorräten Zentralasiens (in erster Linie in Kasachstan) zu koordinieren, die nicht über iranisches Territorium verliefen. Damit sollten dem Iran wirtschaftliche Vorteile verwehrt werden, die er sich aus neuen Pipeline-Abkommen erhofft hatte. Das Weiße Haus und das State Department versuchten in einer konzertierten Aktion, Bündnispartner dazu zu überreden, die Wirtschaftsbeziehungen zum Iran abzubrechen – allerdings ohne Erfolg. 171
Unzufrieden mit den Maßnahmen der Regierung verabschiedete der Kongress gegen Ende 1995 weitere Sanktionen gegen den Iran und bewilligte geheime Gelder für verdeckte Operationen der CIA, die sich gegen das iranische Regime richteten, was allerdings schon einen Monat später, im Januar 1996, an die Washington Post durchsickerte. Laut deren Bericht war eine relativ geringe Summe in Höhe von 18 Millionen Dollar eigens auf Drängen des damaligen Sprechers des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, hinzugefügt worden. Es hieß, Gingrich habe die Mittel für »den Sturz« des iranischen Regimes verwenden wollen, habe sich jedoch mit der Regierung auf eine Sprachregelung geeinigt, die eine Verwendung der Gelder für »die Änderung des Verhaltens« der Regierung in Teheran gestatte. Auch wenn die Vereinigten Staaten 1981 als Teil des Abkommens zur Befreiung der amerikanischen Geiseln in Teheran versprochen hatten, nicht auf den Sturz des revolutionären Regimes hinzuarbeiten, glaubte und fürchtete die iranische Regierung immer noch, Washington wolle ein neues Schahregime an die Macht bringen. Dass Gingrich mittlerweile Clinton überredet hatte, subversive Aktionen zu finanzieren, ließ in der gesamten iranischen Hierarchie die Alarmglocken schrillen. Als Reaktion verabschiedete das iranische Parlament öffentlich die Finanzierung verdeckter Operationen gegen die Vereinigten Staaten, was im Wesentlichen der Propaganda diente, denn die Revolutionsgarden und das Ministerium für Nachrichten und Sicherheit beteiligten sich ohnehin bereits weltweit an antiamerikanischen Aktionen. Im März 1996 wurden innerhalb von neun Tagen in 172
Israel vier Selbstmordattentate verübt, dabei kamen 62 Menschen ums Leben. Der israelische Geheimdienst glaubte, die Hisbollah und der Iran seien an den Anschlägen maßgeblich beteiligt gewesen. Selbstmordanschläge sind in Israel mittlerweile blutiger Alltag, doch 1996 war die Welt schockiert. Clinton arrangierte eilig ein internationales Gipfeltreffen zum Thema Terrorismus mit 29 arabischen und europäischen Regierungschefs in Scharm el-Scheich. Ägypten fungierte als Gastgeber. Der Iran nahm nicht daran teil. Aus Angst vor iranischen Terroranschlägen gegen die Vereinigten Staaten bildete die Counterterrorism Security Group ein Team, das untersuchen sollte, was der Iran unternehmen könnte und wie sich dessen Anschläge abwehren oder verhindern ließen. Ein mögliches Angriffsziel, das wir in Erwägung zogen, waren die Internationalen Olympischen Spiele 1996 in Atlanta. Das FBI erklärte, es sei die führende Bundesbehörde, die für die Sicherheit der Olympischen Spiele zuständig sei, und bereite sich schon seit über einem Jahr auf dieses Ereignis vor. Deshalb forderte ich das FBI auf, im April die CSG über die Vorkehrungen zu informieren. John O’Neill vertrat in der CSG das FBI; er arrangierte ein Treffen, bei dem FBI-Mitarbeiter aus dem Hauptquartier und von der Außenstelle in Atlanta über ihre Maßnahmen berichteten. Das Briefing war kurz und wenig informativ. Das Team konnte die meisten Fragen der CSG nicht beantworten. Ich sah es O’Neill an, dass ihm die Sache peinlich war, beendete das Treffen und bugsierte O’Neill in die leere Kantine des Weißen Hauses. »Das war nicht gerade ermutigend, John.« »Weißt du, woran ich gerade denke?« O’Neill lächelte. »An einen Ausflug. Die ganze CSG. Fahren wir doch hin und sehen uns an, wie vertrackt die Lage wirklich ist.« 173
Zwei Wochen später landeten zwei Dutzend Washingtoner Antiterrorismus-Experten aus acht Behörden in Atlanta und stiegen in einen Bus, um eine ungewöhnlichen Städtetour zu unternehmen. Sie wollten nach Sicherheitslücken Ausschau halten. Nach der Fahrt traf sich das Washingtoner Team mit den lokalen Behörden und den Vertretern der Bundesbehörden in Atlanta, die seit zwei Jahren an der Sicherheit der Olympischen Spiele arbeiteten. Wir hatten ein paar Fragen. Lisa Gordon-Hagerty vom Energieministerium machte den Anfang. »Als wir durch das Olympische Dorf fuhren, ist mir aufgefallen, dass es in Wirklichkeit der Campus des Forschungsinstituts Georgia Tech ist.« Alle nickten. »Und dass sich in der Mitte des Campus ein Kernreaktor befindet.« Ein paar nickten. »Und ich habe an dem Reaktorgebäude keine echten Sicherheitsvorkehrungen gesehen, ich gehe aber davon aus, dass dort abgebrannte Brennelemente gelagert sind.« Niemand nickte. Ein paar Leute verließen den Raum, um zu telefonieren. Steve Simon vom Nationalen Sicherheitsrat kam als Nächster. Er hatte Militärgeschichte studiert und war Experte für den Nahen Osten. »Atlanta ist einer der großen Eisenbahnknotenpunkte im Süden, sämtliche Züge in Nord-Süd- und Ost-West-Richtung fahren mitten durchs Zentrum. Deshalb war im Bürgerkrieg die Stadt ein so wichtiges Angriffsziel für die Union.« Erneut Kopfnicken, aber etwas zurückhaltender. Ich dachte im Stillen, dass wir den Krieg, in dem ein Washingtoner Ministerium befohlen hatte, Atlanta dem Erdboden gleich zu machen, und Scarlett O’Hara obdachlos geworden war, vielleicht besser nicht erwähnt hätten. »Aber wenn man um das Stadtzentrum herumfährt, dann sieht man keine 174
Eisenbahngleise«, setzte Steve ungerührt nach. Jemand aus Atlanta berichtete über die vielen Tunnel. »Das Problem ist, dass diese Tunnel direkt unter dem Olympiastadion verlaufen«, fuhr Steve fort, »und diese Züge führen hochexplosive und gefährliche Materialien mit sich, selbst wenn kein Terrorist irgendetwas auf ihnen platziert. Haben Sie einen Plan für die Durchsuchung der Eisenbahnwaggons oder für die Umleitung des Verkehrs?« Das hatten sie nicht. »Nun, der Kernreaktor und die Eisenbahnwaggons werfen die Frage nach den Vorkehrungen für den Fall eines chemischen, biologischen oder radioaktiven Unfalls auf«, meldete sich R. P. Eddy vom Nationalen Sicherheitsrat zu Wort. »Können Sie uns über die geplanten Maßnahmen für diesen Fall informieren?« Es gab keine. Der Washingtoner Vertreter des Secret Service fragte nach den Eingangskontrollen zu den Olympischen Stätten, insbesondere zum Stadion, wo der Präsident sitzen würde. »Wer wird jeden Einzelnen abtasten und durchsuchen?« Nachdem er erklärt hatte, dass er mit »abtasten« die Suche nach metallischen Gegenständen wie Pistolen mit Hilfe von tragbaren oder stationären Magnetometern meinte, erläuterte der Vertreter des Nationalen Olympischen Komitees, sie hätten vor, an jedem Tor zum Stadion Freiwillige aufzustellen. Sie wollten keine Magnetometer einsetzen. Mit Blick auf Ramsi Jussufs Plan, 747-Maschinen in die Luft zu sprengen, und in Erinnerung an Lockerbie fragte ich nach Flugzeugen. »Was ist, wenn jemand eine 747 über dem Olympiastadion in die Luft sprengt oder eine direkt ins Stadion fliegen lässt?« Der Spezialagent der FBI-Außenstelle in Atlanta kam 175
unter dem Kreuzverhör der Washingtoner Besserwisser ordentlich ins Schwitzen. »Das klingt für mich nach einem Tom-Clancy-Thriller«, höhnte er. Ich starrte ihn an. »Aber wenn es tatsächlich passiert, na ja, dann ist das ein Problem der FAA«, antwortete er. »Okay. Admiral Flynn?« Ich wandte mich an Cathal Flynn, einen Elitesoldaten der Navy im Ruhestand, der die Sicherheitsabteilung der amerikanischen Luftfahrtbehörde FAA leitete. »Tja, Dick, wir könnten während der Spiele Flugzeuge über dem Stadion verbieten«, antwortete er. »Aber wenn ein Terrorist ein Flugzeug entführt und gegen das Verbot verstößt?«, fragte ich. »Dann könnten wir die Air Force rufen, doch dann wäre es wohl bereits zu spät«, dozierte Flynn in seinem tiefen Bariton. »Aber natürlich könnten wir sie nicht einmal auf dem Radar sehen, wenn sie den Transponder im Flugzeug einfach ausschalten würden. Weißt du, wir haben kein Luftschutzradar. Unsere Radarschirme zur Kontrolle des Luftverkehrs sind darauf angewiesen, dass die Flugzeuge ein Funksignal aussenden, das uns ihre Höhe mitteilt.« Der Vertreter des Pentagon klärte uns dann über das »Posse comitatus«-Gesetz auf und betonte, dass es den Einsatz von militärischer Gewalt innerhalb der Staaten untersage. Jim Reynolds vom Justizministerium wies darauf hin, dass dieses Gesetz aufgehoben werden könne und erst vor einigen Jahren auch aufgehoben worden sei, um den Einsatz von Special Forces der Army zur Niederschlagung einer Meuterei im Gefängnis hier in Atlanta zu ermöglichen. »Schon, aber es gibt auch ein internationales Recht, dem wir angehören und das den Abschuss eines zivilen 176
Flugzeuges untersagt. Nach dem Abschuss des iranischen Airbus sind wir ausführlich darüber belehrt worden«, lautete die Antwort des Pentagon. »Okay, okay. Wessen Aufgabe ist es nun also, ein entführtes Flugzeug daran zu hindern, in das Olympiastadion zu fliegen?«, fragte ich frustriert. »Lasst sie gar nicht erst ein Flugzeug entführen«, schlug der FBI-Vertreter aus Atlanta vor. Wir kehrten nach Washington zurück. Während des Rückflugs diskutierte ich mit John O’Neill darüber, wie wir die Ministerien in Washington dazu bringen konnten, für die Sicherheit der Olympischen Spiele in Atlanta das Richtige zu unternehmen, das Geld bereitzustellen und die entsprechenden Teams zu bilden. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Nominell leitete Vizepräsident Gore ein Komitee zu den Spielen, doch das war nur eine von Dutzenden Aufgaben, die Clinton auf ihn abgewälzt hatte. Leon Feurth war Gores nationaler Sicherheitsberater. Feurth kannte sich bei den Themen Sicherheit und Terrorismus ebenso gut aus wie jeder andere. Also gingen wir zu Feurth. Eine Woche später fuhr der Vizepräsident der Vereinigten Staaten in einer kurzen Wagenkolonne die Pennsylvania Avenue entlang zum Hauptquartier des FBI. O’Neill hatte den großen Flaggenraum im Erdgeschoss für ein Treffen der CSG herrichten lassen, bei dem jedes Ministerium einmal mehr seine Pläne für die Sicherheit der Olympischen Spiele in Atlanta vorlegen sollte. Ich ließ die Ministerien wissen, dass an jenem Tag nicht ich die Sitzung leiten würde, sondern Gore persönlich. Das hob die Bedeutung. Auf dem Weg zum J. Edgar Hoover Building setzte ich Gore ins Bild. »Hier sind einige Fragen, die Sie vielleicht 177
ganz unschuldig stellen sollten«, sagte ich und schob ihm eine Liste der Punkte zu, die wir bereits in Atlanta angesprochen hatten. »Nach einer Weile sollten Sie dann so richtig wütend aussehen.« »Im Wütend-spielen bin ich gut.« Gore lächelte. Er hatte in der Tat ein eindrucksvolles Temperament, wenn er der Ansicht war, die Bürokratie handle verantwortungslos. Nach den einführenden Worten und ein paar Reports zog Gore die Fragen aus der Tasche. »Nun, ich weiß, Sie haben alle Berichte vorbereitet, aber lassen Sie mich einfach ein paar Fragen stellen, die mir Kopfzerbrechen bereiten …« Die Antworten waren kein Deut besser geworden. »Seht mal, Leute«, sagte der Vizepräsident, »ich weiß wohl, dass General Shelton da drüben vermutlich allein die meisten Terroristen abschrecken könnte, aber wir können Hugh nicht an jeder Ecke aufstellen. Wir brauchen einen besseren Plan.« Shelton war damals der Chef des Special Operations Command, des Sondereinsatzkommandos, und hatte in seinen Springerstiefeln bei der Begrüßung zu Beginn der Sitzung Gore haushoch überragt. Gore wandte sich zu mir und erteilte mir alle Vollmachten, die ich benötigte. »Dick, ich bitte Sie, die Sache in die Hand zu nehmen, nutzen Sie alle verfügbaren Ressourcen. Hat irgendjemand etwas dagegen?« Die Sache kam ins Rollen. Ich hatte vor einiger Zeit den amerikanischen Zoll in seinen Bemühungen unterstützt, den Kongress zu überreden, dass er alte U-Boot-Abwehrflugzeuge der Navy vom Typ P-3 in fliegende Radarplattformen umbauen ließ. Sie sollten kleine Flugzeuge aufspüren, die Drogen aus Südamerika einschmuggelten. Ich rief den Zoll an und bat die Behörde, ihre P-3178
Maschinen während der Spiele in Atlanta zu stationieren. Ich bat sie außerdem, ein paar Blackhawk-Hubschrauber zu verlegen und mit Scharfschützen des Secret Service zu besetzen. Sie sollten Gewehre vom Kaliber .50 an Bord haben, um Flugzeuge abzuschrecken oder abzuschießen, die die Spiele gefährdeten. Das Pentagon willigte ein, gemeinsam mit der FAA eine Koordinationsstelle einzurichten und auf einem Hügel außerhalb von Atlanta eine Radarstation der Army aufzustellen. Sie stimmten auch meinem Vorschlag zu, Jagdflugzeuge der Nationalgarde in Alarmbereitschaft zu versetzen. Nach wochenlangen Verhandlungen mit dem Rechtsberater des Finanzministeriums (Zoll und Secret Service waren damals beide dem Finanzministerium unterstellt) hatten wir allmählich einen Luftschutzplan. Lisa Gordon-Hagerty und Frank Young machten sich an die Arbeit, ein Einsatzteam aufzustellen, das bei chemischen, biologischen oder atomaren Unfällen zum Einsatz kommen sollte. Vorräte an speziellen Medikamenten wurden angelegt, Dekontaminationseinheiten bereitgestellt, Tausende von Schutzanzügen und Hunderte Detektoren und Diagnosepakete herbeigeschafft. Mitarbeiter aus den Kernforschungslabors des Energieministeriums, dem Gesundheitsministerium, dem Kommando der Army für chemische Waffen und der Kommandotrupps des Joint Special Operations Command des Pentagon sollten in einer Arbeitsgruppe zusammengefasst werden, und zwar in einem Luftstützpunkt außerhalb der Stadt, wo eine behördenübergreifende Kommandostelle eingerichtet werden sollte. Der Secret Service fing an, jede olympische Stätte nach Schwachstellen im Sicherheitsnetz zu untersuchen, und entwickelte einen Plan, wie jeder, der sie betrat, 179
kontrolliert werden konnte. O’Neill versicherte, dass Hunderte von FBI-Agenten hinzukommen würden, die in Zivil auf den Straßen patrouillierten und sich neben den schnellen SWAT-Spezialeinheiten (für besonders gefährliche Einsätze) an den wichtigen Orten aufhielten. Das Verkehrsministerium überredete die Eisenbahngesellschaften, Gefahrengüter umzuleiten und in Atlanta zusätzliche Bahnpolizisten einzusetzen, um die Züge zu überwachen. Passagiere auf Flügen nach Atlanta sollten besonders sorgfältig geprüft werden. Das Energieministerium ordnete an, den Kernreaktor vorübergehend abzuschalten und den Atommüll zu entfernen. Bis Mai hatten wir einen Plan ausgearbeitet, wie mehrere tausend Mitarbeiter von Bundesbehörden und ihre Ausrüstung nach Atlanta verlegt werden konnten, die Kosten dafür gingen in die Millionen. Uns dämmerte allmählich, dass das Paket an Präventiv- und Gegenmaßnahmen, das wir geschnürt hatten, auch bei anderen Gelegenheiten sinnvoll war. Nach den Olympischen Spielen sprachen wir eine Zeit lang von den »Atlanta Rules«, wenn diese Blaupause für Sicherheitsmaßnahmen bei einem Großereignis zum Einsatz kam. Doch zu unserem großen Ärger konnten die Atlanta Rules einen einsamen Bombenleger nicht daran hindern, bei den Olympischen Spielen zuzuschlagen. Dabei spielte der Umstand, dass es sich um eine kleine Bombe handelte, keine Rolle, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie auf einem öffentlichen Platz gezündet wurde, nicht bei einer Veranstaltung. Wir brauchten dringend eine beruhigende Machtdemonstration, ohne dass die Olympischen Spiele den Eindruck eines militärischen Manövers erweckten, und wir mussten so schnell wie möglich herausfinden, wer 180
die Bombe gelegt hatte, die einen Menschen tötete und 111 verletzte. Die beruhigende und doch nicht bedrohliche Machtdemonstration erwies sich als die leichtere Aufgabe. Wir baten das Finanz- und Justizministerium, rasch Hunderte uniformierte Bundesbeamte zur Verfügung zu stellen, selbst wenn die Uniformen aus Tourenjacken der Polizei und Baseballmützen bestanden. Beamte der Border Patrol, des Grenzschutzes, wurden mit Flugzeugen der Air Force aus Texas und Kalifornien eingeflogen. Beamte des Zoll und der Einwanderungsbehörde, Park Rangers und Gefängniswächter wurden abgestellt und patrouillierten in den Straßen von Atlanta. Die Spiele gingen weiter. Die Suche nach dem Bombenleger erwies sich jedoch als weit schwieriger. Mir kam zu Ohren, das FBI habe bereits jemanden in Gewahrsam, und ich rief einen Freund im Kommandozentrum der Bundesbehörde an. »Sie haben schon einen Mann. Louis Freeh telefoniert gerade und sagt Atlanta, welche Fragen sie ihm stellen sollen. Er glaubt, er sei es.« Sein Ton ließ vermuten, dass noch mehr dahinter steckte. »Und was denkst du?« »Denen in Atlanta gefällt dieser Typ als Bombenleger überhaupt nicht. Es ist ein Wachmann von einem Sicherheitsdienst, der am Tatort war.« Der Wachmann hieß Richard Jewell. Er hatte die Bombe entdeckt und viele potenzielle Opfer von dem Gelände vertrieben. Freehs Theorie lautete, er habe den Vorfall inszeniert, um eine volle Stelle bei der Polizei zu bekommen. Nachdem sein Leben durch die Festnahme und die zu den Medien durchgesickerten Informationen ruiniert worden war, entlastete man Jewell. Als der eigentliche Bombenleger entpuppte sich Eric Rudolph, der 181
im Folgenden noch andere Terroranschläge begangen hatte. Als das FBI 1998 endlich Rudolph ins Visier nahm, fuhr Freeh nach North Carolina, um die Fahndung mit FBI-Hubschraubern und mehreren Hundertschaften zu leiten – allerdings vergeblich. Rudolph wurde erst im Jahr 2003 von lokalen Polizeibeamten verhaftet. Um unsere Erfahrungen in Atlanta zu institutionalisieren, schlug ich nach den Olympischen Spielen von 1996 vor, eine offizielle Stelle für »National Security Special Events« zu schaffen. Die CSG konnte bevorstehende öffentliche Ereignisse förmlich zu solchen Special Events erklären, und die beteiligten Behörden konnten dann im Vorfeld den Kongress um die nötigen Gelder bitten, nicht wie in Atlanta, wo ich den Ministerien versprechen musste, dass ich irgendwie das Geld auftreiben und ihnen die Kosten erstatten würde. Das FBI gab sein Okay, wollte aber für sämtliche Großereignisse zuständig sein. Nach der Vorstellung in Atlanta konnte ich dem nicht zustimmen. Gegen den Widerstand des FBI bestand ich darauf, dass der Secret Service an der Führung beteiligt wurde. Der Secret Service hatte in Atlanta bewiesen, dass seine Mitarbeiter besser ausgerüstet und geschult waren, einen Terroranschlag durch die Eliminierung von Schwachstellen zu verhindern. In den folgenden Jahren erklärte die CSG immer wieder Veranstaltungen zu National Security Special Events, etwa die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Vereinten Nationen in New York, den 50. Jahrestag der Nato in Washington, den Nationalkonvent der Republikaner in Philadelphia und den der Demokraten in New York, die Inauguration des Präsidenten 1997 und 2001. Die verstärkten Sicherheitsvorkehrungen waren bei all diesen Ereignissen natürlich nicht zu übersehen. Weniger offensichtlich waren Tausende Beamte aus speziellen 182
Einsatzkommandos mit bedrohlich aussehenden Fahrzeugen, die sich in nahe gelegenen Gebäuden versteckt hielten, oder Hunderte verdeckt operierende Bundesbeamte auf der Straße, die Kutter der Küstenwache auf den Flüssen oder die Flugzeuge in der Luft. Unsichtbar war die geheimdienstliche Arbeit, die bei solchen Ereignissen weltweit von FBI, CIA, Secret Service, NSA, Zoll, Einwanderungsbehörde, diplomatischem Sicherheitsdienst, Küstenwache und Verteidigungsministerium durchgeführt wurde, um Terroranschläge aufzudecken und zu verhindern. Leider wurden die Teamarbeit und der Grad der Integration, der den Behörden bei solchen Ereignissen aufgezwungen wurde, nach dem Anlass nicht immer beibehalten. Im Mai 1996, kurz vor den Olympischen Spielen, erreichte Washington die Meldung einer bemerkenswerten Entdeckung, die belgische Behörden gemacht hatten. Sie hatten eine Lieferung auf dem Weg nach Deutschland abgefangen. In einer als »Pickles« deklarierten Kiste befand sich eine Spezialanfertigung, die man am treffendsten als den größten Granatwerfer aller Zeiten beschreiben könnte. Die Waffe war dafür gedacht, große Sprengladungen über kurze Entfernungen zu katapultieren, etwa über die Mauern einer israelischen oder amerikanischen Botschaft. Die Lieferung wurde bis in den Iran zurückverfolgt. Das Verteidigungsministerium stimmte unserem Gesuch zu, zur Abschreckung vorübergehend einen zusätzlichen Flugzeugträgerverband in den Gewässern vor dem Iran zu stationieren. Die Navy zeigte sich zunehmend besorgt wegen der Schiffsabwehrraketen, die der Iran auf Inseln im Persischen Golf und entlang der Küste stationierte, insbesondere an dem Engpass, der in den Indischen Ozean 183
führt, der Straße von Hormos. Anfang Mai gab das Verteidigungsministerium bekannt, dass der Iran von Nordkorea Langstreckenraketen gekauft und ein Programm zum Schutz seiner Raketen in gepanzerten Bunkern in die Wege geleitet hatte. Die Navy operierte von zwei Häfen im Persischen Golf aus. Nur einer davon in den Vereinigten Arabischen Emiraten war imstande, einen Flugzeugträger aufzunehmen. In diesem Hafen in der Nähe von Dubai tauchten in den neunziger Jahren mehr Schiffe der US Navy und mehr amerikanische Soldaten auf als an irgendeinem anderen Hafen außerhalb der Vereinigten Staaten. Doch der richtige Stützpunkt der US Navy lag einige hundert Kilometer entfernt im Golf im Inselstaat Bahrain. Dort lebten und arbeiteten Tausende USSoldaten. Nach dem »Tankerkrieg« und dem späteren ersten Golfkrieg hatte sich dieser ursprünglich kleine Navy-Stützpunkt schnell zu einer riesigen und sehr geschäftigen Einrichtung entwickelt. 1996 gab das Verteidigungsministerium bekannt, dass die Basis nunmehr zum Hauptquartier eines neuen Verbandes werde, der 5. Flotte. Da die Schiffe der sowjetischen Marine in sibirischen Häfen vor sich hin rosteten und die irakische Flotte auf dem Grund des Persischen Golfes und des Schatt Al Arab lag, kam für diese Flotte nur ein Feind in Frage: Iran. Bahrain wurde von dem sunnitischen Khalifa-Clan regiert. Der Schah hatte einst aufgrund von Besitzverhältnissen in der Antike Anspruch auf das Land erhoben, aber eine UN-Kommission hatte im Jahr 1970 den iranischen Anspruch abgewiesen, die Insel blieb ein unabhängiger Staat. Da sie nur über geringe Öl- und Gasvorkommen verfügt, machte die Familie Khalifa den kleinen Inselstaat zu einem westlich orientierten 184
Ausflugsziel mit Einkaufsmöglichkeiten, Bankenviertel und Unterhaltung für Saudis und andere, die in ihren eigenen Ländern davon abgehalten wurden. Doch über die Hälfte der Einwohner Bahrains waren schiitische Muslime, und sie fühlten sich von der Herrscherfamilie diskriminiert. Die Lehren des Iran fielen bei ihnen auf fruchtbaren Boden. Anfang Juni rief mich der Botschafter Bahrains in Washington an und bat mich im Namen seines Außenministers um ein dringendes Treffen im Weißen Haus. Er legte mir Bilder von Bomben und anderen Waffen vor, die man einen Tag zuvor in Bahrain entdeckt hatte. Dann überreichte er mir ein Dokument, in dem eine Verschwörung der iranischen Revolutionsgarden skizziert wurde: ein bewaffneter Überfall auf den Khalifa-Clan und die Einsetzung einer proiranischen Regierung. Teherans Arm war eine Organisation namens Hisbollah-Bahrain, eine Gruppe bahrainischer Schiiten, die 1993 im iranischen Qom gegründet worden war. Sie hatte seit mehr als zwei Jahren Terroristen im Iran und Libanon ausgebildet. 29 Hisbollah-Anhänger hatte man in Bahrain verhaftet, andere waren in den Iran geflohen. Der Botschafter bot uns Details aus den Verhören der Hisbollah-Häftlinge an. Wenn auch die westliche Presse von dem Putschversuch in Bahrain kaum Notiz nahm, so war er doch ein weiterer Beweis dafür, dass Iran Terrorgruppen unterstützte und mit allen Mitteln versuchte, das US-Militär aus der Region zu vertreiben. Kaum zwei Wochen danach erhielten wir noch mehr Beweise. Das amerikanische Militär war im August 1990 nach Saudi-Arabien gekommen und befand sich 1996 immer noch dort, wenn auch in deutlich geringerem Umfang. Die Soldaten waren über ein halbes Dutzend Einrichtungen 185
verteilt. In der östlichen Provinz, wo der größte Teil der schiitischen Minderheit lebte, hatte man der US Air Force einen Hochhauskomplex in der Nähe des Dorfes Khobar zugewiesen. Am 25. Juni 1996 wurde der Komplex von Terroristen mit einer gewaltigen Lastwagenbombe angegriffen. 19 Amerikaner kamen ums Leben. Tatsächlich war Khobar bereits der zweite Angriff auf eine amerikanische Militäreinrichtung in Saudi-Arabien. Im November 1995 war in Riad ein Bombenanschlag auf das Hauptquartier des militärischen Ausbildungsprogramms für die saudische Nationalgarde verübt worden, dabei kamen fünf Amerikaner um. Innerhalb von wenigen Tagen hatten die saudischen Behörden vier Männer verhaftet, von ihnen Geständnisse erhalten und sie hingerichtet. Trotz der amerikanischen Bitten, mit den Hinrichtungen zu warten, bis eine amerikanische Ermittlung abgeschlossen war, köpften die Saudis kurzerhand alle vier. Die gelieferten Informationen über ihre Identität und die Beweggründe waren mehr als dürftig. Um so etwas zu vermeiden, bat ich Präsident Clinton, dem saudischen König einen Brief zu schreiben, in dem er um volle Kooperation in einer gemeinsamen Ermittlung zum Anschlag in Khobar bat und ankündigte, dass er ein FBI-Team entsenden werde. Ich schlug Clinton außerdem vor, den Vier-Sterne-General Wayne Downing aus dem Ruhestand zu holen und zum Leiter einer unabhängigen US-Ermittlung zu den Sicherheitsvorkehrungen von USEinrichtungen in der Region zu ernennen; insbesondere sollte untersucht werden, was in Khobar schief gegangen war. Ich kannte Wayne schon seit seiner Zeit als Major und hatte keinen Zweifel daran, dass er uns die Wahrheit sagen würde. Clinton stimmte zu. Das Pentagon, Zivilisten gleichermaßen wie Militärs, war empört darüber, dass der 186
Präsident eine Ermittlung wegen militärischer Nachlässigkeit in die Wege leitete. Ich traf mich mit dem Terrorbekämpfungsteam des Nationalen Sicherheitsrats, und wir gingen jeden einzelnen Bericht von CIA, NSA, Verteidigungs- und Außenministerium aus den vergangenen zwei Jahren über Bedrohungen in Saudi-Arabien durch. Einige Dutzend Berichte, die wir aus Tausenden in den Akten herauszogen, sprachen eine deutliche Sprache. Die AlQuds Force der iranischen Revolutionsgarden hatte in Bahrain, Kuwait und Saudi-Arabien Hisbollah-Gruppen gegründet. Sie hatten Terroristen rekrutiert und sie zur Ausbildung in den Iran und dann in den Libanon geschickt. Saudi-Arabien hatte von diesen Aktivitäten Wind bekommen und in Teheran protestiert, wo jedoch alle Vorwürfe dementiert worden waren. Eines Nachts hatten die saudischen Grenzwächter einen Bombensuchhund eingesetzt, wie die Vereinigten Staaten es ihnen geraten hatten. Der Hund entdeckte an einem Grenzposten etwas in einem Auto. Man fand in dem Wagen eine Ladung hochmodernen Plastiksprengstoffs. Das darauf folgende Verhör und die Ermittlung der Saudis führten zu Verhaftungen von Hisbollah-Aktivisten im Königreich. Es stellte sich heraus, dass das Auto von einer saudischen Hisbollah-Gruppe benutzt wurde und aus einem Lager im libanesischen Bekaa-Tal stammte. Das Lager wurde nominell von einem Saudi namens Mugassal geleitet, doch er arbeitete für die Al-Quds Force. Die Bombe war für einen Anschlag auf eine amerikanische Militäreinrichtung in Saudi-Arabien vorgesehen gewesen. Die Saudis hatten uns nichts davon berichtet. Sie hatten in aller Stille die Syrer gebeten, das Hisbollah-Lager im libanesischen Bekaa-Tal zu schließen, das unter syrischer Kontrolle stand, und die saudischen Hisbollah-Terroristen 187
auszuliefern. Syrien hatte den Ahnungslosen gespielt. Einen Tag nach dem Anschlag von Khobar übergaben wir Tony Lake einen detaillierten Bericht des Nationalen Sicherheitsrats, der die iranische Al-Quds Force und ihre Frontorganisation, die saudische Hisbollah, beschuldigte. Lake glaubte uns und fragte sich, warum die CIA nicht zu derselben Schlussfolgerung gelangt war. Er schickte den Bericht an CIA-Direktor John Deutch, der lediglich antwortete, das sei nur eine von vielen Theorien. Louis Freeh reagierte eifrig auf die Bitte des Weißen Hauses um eine Ermittlung. Es war einer der wenigen Fälle, in denen der FBI-Direktor eine Regierungsdirektive mit Nachdruck durchführte. Seiner Meinung nach waren die Leute im Weißen Haus allesamt »Politiker«, denen man nicht über den Weg trauen könne. Viele seiner hohen Beamten arbeiteten jedoch seit Jahren mit mir und anderen Vertretern der nationalen Sicherheit im Weißen Haus bei heiklen Operationen der Terrorbekämpfung, Spionageabwehr und Drogenfahndung zusammen. Sie taten das auch weiterhin, räumten jedoch ein, dass sie Freeh nicht mehr über sämtliche Treffen im Weißen Haus Bericht erstatteten. Für Freeh, der in New York mit Drogen und organisiertem Verbrechen zu tun gehabt hatte, war die internationale Politik ein neues Feld. Kurz nach dem Anschlag von Khobar stattete der saudische Botschafter Prinz Bandar ihm einen Besuch ab. Bandar schmeichelte dem FBI-Chef bei mehreren Treffen auf den saudischen Gütern in Virginia und arrangierte Besuche in SaudiArabien, sodass Freeh die Möglichkeit hatte, die Ermittlung persönlich zu koordinieren. John O’Neill begleitete ihn in das Königreich, und er erzählte mir, wie verblüfft er gewesen sei über den Kontrast zwischen dem kriecherischen Protokoll, mit dem die Saudis Freeh ehrten, 188
und ihrer Verlogenheit, wann immer die Ermittlung zur Sprache kam. Der FBI-Chef schien jedoch, so O’Neills Eindruck, diese Doppelzüngigkeit gar nicht zu bemerken. Die Saudis hatten nicht wirklich die Absicht, mit dem FBI zu kooperieren. Der Anschlag hatte eine innere Schwachstelle in dem Königreich aufgedeckt: den bewaffneten Widerstand der Schiiten in der östlichen Region. Die Saudis wollten nicht, dass dieses peinliche Ärgernis öffentlich bekannt gemacht wurde. Der saudische Innenminister Najef verweigerte dem FBI Zugang zu Beweismaterial und Zeugen. Als die Saudis die Spur bis zu Mugassal und dem Iran zurückverfolgten, verhafteten sie einige Mitglieder der saudischen Hisbollah-Gruppe, die sich noch im Land aufhielten, verwehrten dem FBI jedoch den Zugang zu den Häftlingen und weigerten sich, gegenüber dem FBI zuzugeben, dass der Anschlag vom Iran inszeniert wurde. Najef und andere Angehörige der Königsfamilie waren besorgt, was die USA mit den Informationen anfangen würden. Fast ein Jahr nach dem Anschlag gaben die Saudis immerhin eine interessante Tatsache preis. Sie erklärten, sie hätten ein Mitglied der terroristischen Zelle bis nach Kanada verfolgt. Sie baten die Vereinigten Staaten, sich bei den Kanadiern dafür einzusetzen, dass sie den Verdächtigen an Saudi-Arabien auslieferten. Ich hatte eine andere Idee und schlug der CSG vor, den Verdächtigen Hani el-Sajegh zu observieren, um herauszufinden, mit wem er sich traf, mit wem er sprach. Leider hinderten die Abkommen mit Kanada uns daran, unilateral in dem Land zu operieren. Das FBI ersuchte deshalb Kanada um eine Observierung. Kurz danach teilten die kanadischen Behörden mit, sie hätten weder das Personal noch die nötigen Mittel, den Verdächtigen ständig zu beobachten. Louis Freeh hatte die Lösung. 189
Er schlug vor, Sajegh zur Rede zu stellen und sich durch die Zusicherung einer leichten Haftstrafe seine Zusammenarbeit zu sichern. Auf diese Weise war er früher gegen das organisierte Verbrechen vorgegangen. Er deckte eine Bande auf, indem er niedere Chargen »umdrehte« und dazu brachte, gegen ihre Bosse auszusagen. Im Gegenzug durften sie auf Nachsicht hoffen. Freeh fragte, ob das Weiße Haus und das Außenministerium damit einverstanden wären, dass Sajegh vor einem Gremium aussagte, selbst wenn in der Folge iranische Regierungsvertreter belastet werden könnten. Das Principals Comittee des Nationalen Sicherheitsrates kam zusammen und einigte sich darauf, dass wir belasten sollten, gegen wen auch immer wir Beweise hatten, selbst iranische Regierungsvertreter. Ich glaubte nicht, dass Freehs Plan bei Sajegh funktionieren würde, und fragte den FBI-Direktor: »Weshalb sollte er einwilligen, ins Gefängnis zu gehen, wenn wir keine Beweise gegen ihn in der Hand haben? Wenn Sie ihn hierher schaffen, werden wir ihn freilassen müssen, und er kann sich als freier Mann auf den Straßen der USA bewegen.« Es gelang mir nicht, Freeh zu überzeugen. Als der Saudi in Gewahrsam genommen wurde, sagte er in Kanada bereitwillig gegenüber den kanadischen Behörden und dem FBI aus. Er gab zu, dass der Anschlag in Khobar von dem saudischen Hisbollah-Anführer Mugassal und der iranischen Al-Quds Force geleitet worden war. Überraschenderweise erklärte er sich bereit, in die Vereinigten Staaten zu kommen und vor einer Grand Jury auszusagen. Man erklärte ihm, dass er wegen seiner Beteiligung an antiamerikanischen Terroranschlägen zu Haft verurteilt, aber eine leichte Strafe erhalten werde. Sajegh war mit dem Kuhhandel einverstanden und wurde 190
abgeschoben. Doch kaum war er in den Vereinigten Staaten, da verweigerte er jede Zusammenarbeit und beantragte politisches Asyl mit dem Hinweis, er würde gefoltert und danach geköpft werden, wenn er nach Saudi-Arabien zurückkehrte. Natürlich wäre er für den Mord an den Amerikanern geköpft worden, aber sein Asylantrag wurde dennoch dem Außen- und Justizministerium zur Prüfung vorgelegt. Wenn er nach dem Anschlag von Khobar und der Rolle des Iran gefragt wurde, schwieg er eisern. Sein von der Regierung gestellter Anwalt beantragte mit Blick auf den anstehenden Asylantrag seine Freilassung. Das FBI hatte keine Beweise gegen ihn. Sajegh war kurz davor, aus der Tür einer Bundesbehörde auf die Straßen der Vereinigten Staaten zu marschieren. Da präsentierte Freeh eine Idee, die wirkliche Kreativität bewies. Er befahl, Sajegh mit der Begründung festzuhalten, dass er sich illegal in den Vereinigten Staaten aufhalte, auch wenn ausgerechnet das FBI ihn hierher gebracht hatte. Zwei Jahre später, 1999, wurde Sajegh den Saudis übergeben, ohne dass er jemals vor einem Gremium ausgesagt oder auch nur den geringsten Hinweis geliefert hätte, seit er den Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatte. FBI-Beamte begleiteten ihn nach Saudi-Arabien und erinnerten ihn während des gesamten Fluges daran, dass es noch nicht zu spät sei, das Flugzeug zu wenden, falls er aussagen wolle. Sajegh ignorierte sie. Während der beiden Jahre, in denen Sajegh in den Vereinigten Staaten in Gewahrsam war, versuchte Freeh von Prinz Bandar in Erfahrung zu bringen, weshalb die saudische Regierung nicht besser mit dem FBI zusammenarbeitete. Ich erfuhr, Bandar habe gegenüber Freeh behauptet, das Weiße Haus wünsche keine Zusammenarbeit der Saudis mit Freeh. Clinton wolle 191
keinen Beweis dafür, dass der Iran einen Stützpunkt der Air Force angegriffen hatte; Clinton wolle nicht gegen den Iran in den Krieg ziehen. Freeh glaubte ihm. Das passte zu seinem eigenen schlechten Bild von dem Präsidenten, dem Mann, dem er seine rasche Beförderung von einem unbedeutenden FBI-Job in New York verdankte. Im Weißen Haus kam uns zu Ohren, dass Freeh anfing, Bandars Erklärung für das Scheitern der Ermittlung zu wiederholen und Kongressmitgliedern und Reportern von dem angeblichen Vertuschungsmanöver Clintons zu erzählen. Freeh hätte sich besser mit dem Chaos befassen sollen, das das FBI mittlerweile darstellte: eine Organisation aus 56 Fürstentümern (die sehr unabhängigen Außenstellen) ohne irgendwelche moderne Informationstechnologie zu ihrer Unterstützung. Er hätte seine Zeit dafür verwenden können, Terroristen in den Vereinigten Staaten zu jagen, wo al-Qaida und ihre Ableger Fuß gefasst hatten, wo viele terroristische Organisationen illegal Gelder sammelten. Stattdessen beschloss er, den Chefermittler in hochrangigen Fällen wie Khobar, dem Bombenanschlag in Atlanta und der potenziellen chinesischen Spionage in amerikanischen Kernforschungslabors zu spielen. In allen Fällen schien sein persönliches Engagement dazu beizutragen, dass die Ermittlungen in die Sackgasse oder ins Leere führten. Wegen seiner guten Verbindungen zu Republikanern im Kongress und deren Mitstreitern in den Medien konnte der Präsident ihn nicht entlassen, ohne dass er riskierte, Freeh zu einem Märtyrer der republikanischen Rechten und seine Entlassung zu einem Cause célèbre zu machen. In Wirklichkeit hatte Clinton ganz anders gehandelt, als Freeh es sich vorstellte. In Gesprächen mit saudischen Vertretern machten die Vereinigten Staaten auf 192
Anweisung des Präsidenten sehr deutlich, dass sie voll kooperieren mussten und nicht einfach wie bei dem Bombenanschlag in Riad die Verdächtigen köpfen durften. Nachdem wir erfahren hatten, dass die Saudis nicht damit einverstanden wären, wenn die Vereinigten Staaten als Vergeltungsschlag gegen den Iran noch einen Krieg im Persischen Golf begännen, versicherten wir der saudischen Führung, dass es keine Überraschungen geben und dass sich die amerikanische Regierung voll und ganz mit den Saudis beraten würde, bevor sie auf das reagierte, was sie über die Hintermänner des Anschlags in Erfahrung brächte. Clinton wurde zugesichert, dass die Saudis uns alles mitteilten, was sie wussten, und uneingeschränkt mit dem FBI kooperieren würden. Sie taten weiterhin genau das Gegenteil. Einige Angehörige der saudischen Königsfamilie, wie etwa Bandars Vater, der Verteidigungsminister Sultan, begrüßten angeblich die Möglichkeit eines amerikanischen Krieges gegen den Iran, wenn es den USA gelänge, das Regime in Teheran abzusetzen. Bandar ließ in privaten Gesprächen mit hohen amerikanischen Regierungsvertretern in den Jahren 1996 und 1997 durchblicken, dass die Saudis allein die Befürchtung, die amerikanische Vergeltung könnte halbherzig ausfallen, davon abhalte, den Iran in die Sache hineinzuziehen. Wenn die Vereinigten Staaten jedoch einen umfassenden Kampf bis zum Ende zusagen könnten, dann würde das Königreich sicher alles weitergeben, was es über die iranische Rolle bei dem Anschlag von Khobar wüsste. Sandy Berger teilte Bandar mit, die Vereinigten Staaten könnten nicht versprechen, was sie auf der Grundlage von Hinweisen unternehmen würden, die sie noch gar nicht zu Gesicht bekommen hätten. Andere in der saudischen Königsfamilie waren der 193
Ansicht, jeder Krieg gegen den Iran würde mit einem Pyrrhussieg enden. Der von den USA geführte Krieg gegen den Irak habe, so argumentierten sie, die erdölreichen Länder an den Rand des Bankrotts gebracht. Sie hätten so viel Geld für die Unterstützung der Soldaten der Koalition und für zusätzliche Waffen aus Amerika ausgegeben, dass sie nur noch geringe Mittel für andere Projekte übrig hätten und mit den Zahlungen an ausländische Zulieferer in Verzug gerieten. Die Anwesenheit amerikanischer Soldaten in Saudi-Arabien habe das Land destabilisiert. Ein weiterer Krieg würde wiederum eine große Zahl Amerikaner ins Land bringen. Der einflussreiche Kronprinz Abdullah gehörte, wie es hieß, dieser Fraktion an. Ohne die Vereinigten Staaten zu informieren, nahm er Gespräche mit dem Iran auf. Nach monatelangen Gesprächen wurde im Wesentlichen Folgendes zwischen der saudischen und der iranischen Führung vereinbart: Der Iran würde Terrorgruppen in Saudi-Arabien nicht unterstützen, weder finanziell noch anderweitig; Saudi-Arabien würde es seinerseits den Vereinigten Staaten nicht gestatten, von dem Königreich aus Angriffe gegen den Iran zu starten. Der Druck des Weißen Hauses auf die Saudis, bei der Ermittlung zu kooperieren, hielt drei Jahre lang an, über Briefe von Präsident Clinton und Demarchen der Nationalen Sicherheitsberater Lake und Berger. Vizepräsident Gore bewies bei einem solchen Treffen sein berühmtes Temperament, schlug mit der Faust auf den Tisch und fragte einen saudischen Prinzen, was das für ein Land sei, das die Identität von Menschen verberge, die amerikanisches Militärpersonal getötet hätten, Soldaten, die allein zur Verteidigung dieses Landes und seiner Königsfamilie dort stationiert gewesen seien. Als genügend Zeit verstrichen war, um die Saudis zu 194
überzeugen, dass Amerika sich beruhigt habe und nicht plane, stehenden Fußes den Iran zu bombardieren, wurde dem FBI endlich Zugang zu den Verdächtigen gewährt. Fünf Jahre nach dem Anschlag wurde vor einer amerikanischen Grand Jury Anklage erhoben. Während Freeh die Saudis drängte, bereitete sich das Weiße Haus auf einen Krieg vor. Wir hatten Tony Lake überzeugt, dass der Iran den Anschlag in Khobar arrangiert hatte, und die CIA stimmte schon bald zu und ließ durchblicken, dass weitere vom Iran unterstützte Terroranschläge gegen die Vereinigten Staaten zu erwarten seien. Clinton sagte uns, wenn es schon dazu käme, Gewalt gegen den Iran einzusetzen, dann »möchte ich keine verpissten halbherzigen Maßnahmen«. Um die verschiedenen Optionen zu prüfen, berief Lake die von ihm so genannte Small Group ein, der CIA-Chef Deutch, Verteidigungsminister William Perry, Außenminister Warren Christopher und der Nationale Sicherheitsberater des Vizepräsidenten, Leon Feurth, angehörten. Unabhängig davon schickte Lake seinen Stellvertreter Sandy Berger und mich zu dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, John Shalikashvili. Die Stabschefs hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Kriegspläne niemals Zivilisten zu zeigen, obwohl mehrere Zivilisten im Pentagon ihnen seit Jahren deswegen zusetzten. Ich kannte die Nummer des Kriegsplans für den Iran und bat Lake, »Shali« anzurufen und uns über diesen Plan zu informieren. John Shalikashvili war eine ungewöhnliche Person für den Posten des ranghöchsten amerikanischen Militärs. Er war in Polen als Sohn georgischer Eltern zur Welt gekommen und sprach immer noch mit Akzent. Ohne Uniform sah er aus wie ein netter Kinderarzt. Ich hatte den Namen zum ersten Mal 1991 gehört, in meiner Funktion 195
als Assistant Secretary im Außenministerium, zuständig für politisch-militärische Angelegenheiten. Damals wurde ich aufgefordert, ein Treffen zwischen einem amerikanischen und einem irakischen Befehlshaber zu organisieren, um den Irakern zu verstehen zu geben, dass sie den Nordirak räumen mussten. US-Truppen standen bereit, um den hungernden Kurden zu Hilfe zu kommen, die in die schneebedeckten Berge der Türkei flohen. Als ich auf eine große, genaue Karte des Nordirak blickte, entdeckte ich ein der Nähe der türkischen Grenze eine Stadt namens Zakho. »Sagen Sie der US-Gesandtschaft bei den Vereinten Nationen, er soll den irakischen Botschafter holen. Sagen Sie ihm, er soll einen hohen Offizier für ein Treffen mit einem US-General aussuchen, ein Treffen in, schauen wir mal, sagen wir Zakho, übermorgen um die Mittagszeit«, instruierte ich meinen zuständigen Offizier Martin Wellington. »Bitten Sie dann das Pentagon, einen USGeneral nach Zakho zu schicken.« Wellington kam ein paar Stunden später zurück und sagte: »Die Iraker wollen wissen, wo sie sich in Zakho mit Shalikashvili treffen sollen?« »Mit wem? Wollen die Russen sich etwa auch einmischen?«, fragte ich Wellington, der mir versicherte, das sei der Name eines amerikanischen Generals. Shali leistete in der Folge Großes bei der Rettung der Kurden und der sicheren Rückkehr aus der Türkei in ihre Heimatorte im Irak. Als es 1993 an der Zeit war, einen Nachfolger für Colin Powell als Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs zu suchen, sprachen sich viele für General Shalikashvili aus. Im Gegensatz zu Powell, der beim Einsatz des US-Militärs in kleineren Operationen geglänzt hatte, war Shali der Ansicht, eine Aufgabe des 196
Militärs sei es, für Stabilität in Situationen zu sorgen, in denen ein offener Krieg droht. Bei unserem Treffen im Pentagon im Juli 1996 sprach Shali von einem offenen Krieg mit allen Mitteln. Das Militär hatte einen Plan für so gut wie jeden Ernstfall. Der Plan für einen Krieg mit dem Iran sah so aus, als hätte Eisenhower persönlich ihn verfasst. Mehrere Verbände der Army und der Marineinfanterie sollten im Verlauf einiger Monate das gesamte Land besetzen. »Und wenn wir zuerst einmal etwas eine Nummer kleiner durchführen wollen?«, fragte Berger. »Tja«, sagte Shali und holte eine andere Karte heraus, »CENT-COM hat auch einen Plan für die Bombardierung der militärischen Einrichtungen entlang der Küste: Marinehäfen, Luftwaffenstützpunkte, Raketenstationen.« »Nehmen wir einfach mal an, dass wir das tun würden: ihre ganze Küstenanlage bombardieren«, sagte ich. »Was würde als Nächstes geschehen?« »Wenn Sie mich nach meiner persönlichen Meinung fragen, Dick, so denke ich, dass sie uns wiederum angreifen werden, mit versteckten Raketen, mit kleinen Booten, mit terroristischen Zellen, die sich gegen uns und die Saudis und die Bahrainer wenden.« »Nicht gut«, sagte Berger und schüttelte den Kopf, »wie du mir, so ich dir. Dann müssen wir wiederum sie treffen.« Bill Clinton hatte ausdrücklich betont, er wolle nicht in eine Spirale allmählich eskalierender, gegenseitiger Angriffe gezogen werden. Wenn schon militärische Maßnahmen, dann so, dass die Iraner keinerlei Gegenmaßnahmen mehr in Erwägung zögen. 1989 hatten die Iraner den Krieg gegen den Irak beendet, weil sie nach eigenem Bekunden davon überzeugt waren, dass die Vereinigten Staaten und der Irak gemeinsam 197
Maßnahmen ergreifen würden, die den Fortbestand der Revolution gefährdeten. Konnten wir sie vielleicht dazu bringen, jetzt ähnlich zu denken? »Wie wäre es mit der alten Kernwaffenstrategie der Eskalationsdominanz«, fragte ich, »nach der der Gegner beim ersten Mal sehr hart getroffen wird? Er verliert auf einen Schlag einige Dinge, die ihm wirklich wichtig sind, und dann wird ihm erklärt, wenn er sich zur Wehr setzt, wird er auch alles andere verlieren, das ihm wichtig ist.« »Das könnten wir tun«, meinte Shali. »Lasst mich mit den Jungs in Tampa reden.« Es lag auf der Hand, dass er das auch ohne mein Zutun machen würde. Shali hatten die Optionen vom CENTCOM ebenso wenig gefallen wie uns. Die Small Group prüfte die »Eisenhower-Option«, wie wir sie von nun an nannten, und andere. Eine Option war ein Angriff auf vom Iran unterstützte Terroristenlager im Libanon. Eine andere sah die Entsendung eines Sondergesandten nach Europa und Japan vor, um unsere Bündnispartner wiederum für einen Wirtschaftsboykott zu gewinnen, diesmal jedoch mit der Drohung, militärisch gegen den Iran vorzugehen, wenn sie nicht gemeinsam mit Amerika wirtschaftlichen Druck ausübten. Außerdem bestand die Option einer geheimdienstlichen Operation. Als sie der Small Group präsentiert wurde, sagte Leon Feurth: »Das sollten wir auf jeden Fall machen, schon allein weil es so verrückt ist.« Die geheimdienstliche Operation hatte in der Tat erhebliche Vorteile, und verbunden mit einer nüchternen Drohung an die Iraner über private Kanäle würde die Botschaft noch mehr Glaubwürdigkeit erhalten: Wir haben soeben demonstriert, was wir unternehmen können, um euch wehzutun. Wenn eure Agenten weiterhin Terroranschläge gegen uns durchführen, dann werden wir 198
euch auf eine Art und Weise treffen, die euer Regime ernstlich gefährden wird. Ein solcher Doppelschlag wäre Eskalationsdominanz. Wenn das den Iran nicht abschreckte, konnten wir immer noch auf die neuen Pläne des CENTCOM zurückgreifen. Ein Nachteil war allerdings, dass es Monate dauern würde, die CIARessourcen an Ort und Stelle zu schaffen und eine mehr oder weniger simultane Reihe geheimdienstlicher Operationen auf der ganzen Welt zu dirigieren. Während unserer Überlegungen, wie wir auf Khobar reagieren sollten, geschah etwas, das um ein Haar die Waagschale zugunsten eines Krieges gegen den Iran mit allen Mitteln gesenkt hätte. An einem heißen Sommerabend, nur drei Wochen nach dem Bombenanschlag von Khobar, führten die Küstenwache und die Air Force gemeinsam vor Long Island eine nächtliche Rettungsübung mit Kuttern und Flugzeugen durch. Um 20.31 Uhr sahen viele der an der Übung Beteiligten einen riesigen Feuerball am Himmel östlich der Insel, in etwa 4500 Metern Höhe. Es handelte sich um den Flug TWA 800, eine Boeing 747 vom Kennedy Airport auf dem Weg nach Paris. 230 Menschen waren an Bord gewesen. Kurz nach 21.00 Uhr kam die CSG über eine sichere Videokonferenzschaltung zusammen, die das Lagezentrum des Weißen Hauses mit den Einsatzzentren von FAA, FBI, Küstenwache, Außenministerium, CIA und Pentagon verband. Während ich so schnell wie möglich aus Virginia anfuhr, dachte ich mit Sorge daran, was meiner Meinung nach als Nächstes passieren würde: die Eisenhower-Option, ein Einmarsch im Iran. Die Küstenwache lieferte uns eine anschauliche Schilderung. Wenn noch irgendjemand am Leben war, so 199
hätte die Tatsache, dass eine Rettungsübung schon vor der Explosion im Gange war, bedeutet, dass man die Opfer hätte bergen können. Doch es war niemand am Leben. Unzählige nackte Leichname, die im Wasser getrieben hatten, stapelten sich nun auf den Kuttern und am Dock bei der kleinen Bootsstation der Küstenwache in der Nähe von Moriches. Die Gewalt der Detonation oder der rasche Fall durch die Luft hatte ihnen die Kleider vom Leib gerissen. Trümmer lagen ebenfalls überall herum. Die Flugaufsicht FAA hatte keine Erklärung für den Vorfall. Flugzeugkurs und Kommunikation mit dem Cockpit waren normal gewesen, das Flugzeug war bis auf über 5000 Meter gestiegen, und dann gab es kein Flugzeug mehr. »Ganz ähnlich wie PanAm 103«, deutete Admiral Cathal Flynn an, »aber es ist noch zu früh, etwas zu sagen.« Das FBI machte umfassend mobil. John O’Neill berichtete, dass Hunderte FBI-Agenten aus New York City auf dem Weg zum Kennedy Airport und nach Long Island seien, um den Schauplatz zu untersuchen und mit der Vernehmung von Augenzeugen zu beginnen. Jim Kalistrom, der Chef der FBI-Außenstelle New York, hatte Befehl gegeben, eine mobile Kommandostelle zur Küstenwache nach Moriches zu bringen, damit das FBI die Leitung der Operation übernehmen konnte. »John, ich bewundere die Reaktion«, fing Flynn an, »aber jemand muss darauf aufmerksam machen, dass eigentlich der National Transportation Security Board für ein Flugzeugunglück zuständig ist.« »Nicht, wenn es sich um ein Verbrechen handelt, dann nicht«, gab O’Neill zurück. »Übrigens, über welche Ressourcen verfügt denn die nationale Verkehrssicherheit überhaupt?« 200
Wir einigten uns auf eine parallele Ermittlung, bis wir die Hintergründe des Geschehens kannten. Wir glaubten allesamt genau zu wissen, was passiert war und dass es am Ende ein Problem des FBI bleiben würde. Doch in den folgenden Tagen traten die Ermittlungen auf der Stelle, es gab keine neuen, hilfreichen Informationen. Viele Augenzeugen beschrieben Phänomene, die ganz nach dem Einschlag einer BodenLuft-Rakete kurz vor der Explosion klangen. Die Fluggesellschaft TWA hatte aus den Fehlern von PanAm bei Lockerbie gelernt und einen Plan für den Umgang mit den Familien der Opfer vorbereitet. Sie flog die Betroffenen zum Kennedy Airport und brachte sie in einem Flughafenhotel unter, wo man sie auf dem Laufenden hielt. Anfangs gab es gar nichts mitzuteilen. Dann, während des Abendessens, erschien ein Gerichtsbeamter von Long Island und zeigte ihnen Bilder der Leichname zwecks Identifizierung. Die empörten und aufgewühlten Angehörigen der Opfer wurden an prominenter Stelle in den Abendnachrichten gezeigt, die auch Bill Clinton sah. Er rief uns in das Oval Office. »Ich möchte morgen dorthin fahren, um diese Familien zu treffen.« Das schien mir nicht gerade die beste Idee. Die Familien suchten jemanden, den sie lynchen konnten. Wenn der Präsident von TWA nicht zur Hand ist, dachte ich, könnte es durchaus sein, dass sie sich stattdessen mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten begnügen würden. Ich deutete an, dass es problematisch werden könnte, die Familien in ihrer gegenwärtigen Stimmung aufzusuchen. »Außerdem reisen Sie morgen nach Atlanta zu den Olympischen Spielen.« Dieser Gedanke machte mir ebenfalls Angst. 201
»Besorgt auch einen Französisch-Dolmetscher. Viele Familien sind aus Frankreich«, fuhr der Präsident fort, als hätte ich keinen Einwand vorgebracht. »Ich werde dann vom Kennedy aus nach Atlanta fliegen.« Als wir das Oval Office verließen, hatte er noch eine Idee. »Und ich möchte neue Maßnahmen zur Flugsicherheit bekannt geben, während ich am Kennedy Airport bin. Arbeitet also welche aus.« Wir hatten bereits mit Evelyn Lieberman, der stellvertretenden Stabschefin des Weißen Hauses, und Kitty Higgins, der Kabinettsministerin, an der Gründung einer Kommission für Flugsicherheit gearbeitet. Die Maschine eines Billigfliegers war im selben Jahr nach einer Explosion von Gefahrengut, das sie eigentlich gar nicht hätte laden dürfen, in Florida in die Everglades gestürzt. Fast 200 Menschen waren ums Leben gekommen. Die Luftfahrtindustrie brauchte dringend Initiativen, die das Vertrauen in den Flugverkehr wiederherstellten, wie führende Branchenvertreter Lieberman berichteten. Wäre es nach mir gegangen, hätte eine Kommission sämtliche Versäumnisse in der Flughafensicherheit ins Rampenlicht rücken müssen, über die General Flynn und ich gesprochen hatten. Doch jetzt wollte der Präsident unverzüglich neue Sicherheitsmaßnahmen ankündigen. Ich rief Flynn an: »Sagen Sie Ihren Juristen, dass sie heute Abend nicht mehr nach Hause kommen.« Am Morgen flog ich mit dem Präsidenten und der First Lady zum Kennedy International und informierte sie an Bord von Air Force One darüber, was er ankündigen sollte. Von jetzt an werde niemand an Bord eines Flugzeugs gelassen, wenn er oder sie nicht einen amtlichen Ausweis mit Bild vorlegen könne, der mit dem Namen auf dem Flugticket übereinstimme. 202
Stichprobenartige Durchsuchungen von Passagieren und Frachtgepäck sollten intensiviert werden. Bis auf weiteres werde es Autofahrern nicht gestattet, in der Nähe der Terminals zu parken. Das so genannte Curbside Check-in, ein Einchecken an einem besonderen Schalter direkt vom Taxi oder Auto aus, werde zeitweilig abgeschafft. Vizepräsident Gore werde eine neue Kommission zur Flugsicherheit leiten, der auch Familienangehörige der Opfer aus den verunglückten Flugzeugen angehörten. Die Kommission solle dann ständige Änderungen empfehlen, die die Sicherheit erhöhen würden. Bei unserer Ankunft im Flughafenhotel gingen wir in einen Ballsaal, in dem die Familien warteten. Es waren sehr viele anwesend. Der Präsident sprach von einem kleinen Podest aus und machte immer wieder Pausen für die Übersetzung ins Französische. Als er fertig war, ging Mrs. Clinton zum Roten Kreuz und anderen Rettungshelfern, die ein wenig abseits zusammengekommen waren. Der Präsident hingegen begab sich, zu meinem Ärger und zum Entsetzen des Secret Service, mitten in die Menge. Er fing an, sie in kleinen Familiengruppen um sich zu sammeln, betete mit ihnen, umarmte sie, ließ sich mit ihnen fotografieren, sah sich die Bilder ihrer nun toten Angehörigen an und hörte aufmerksam zu. Ich dachte, demnächst würde er anfangen zu weinen. Dann spürte ich, dass mir selbst die Tränen kamen, und schlüpfte aus dem Ballsaal. Ich öffnete eine Tür zum Nebenraum, den man wie eine Kapelle eingerichtet hatte. Ganz allein in dem Raum kniete Mrs. Clinton und betete. Ich ging wieder hinaus. Vor dem Ballsaal wartete eine Unzahl Reporter darauf, die wütenden Familien zu befragen. Sie kamen nun langsam in kleinen Gruppen aus dem Saal, nachdem sie eine Zeit lang mit dem Präsidenten gesprochen hatten. »Haben Sie 203
dem Präsidenten gesagt, wie wütend Sie über die Art und Weise sind, wie man Sie behandelt hat?«, rief ein Reporter. »Der Präsident war so nett, uns zu besuchen«, entgegnete eine Frau, die möglicherweise eine trauernde Mutter war. »Er ist so freundlich.« Das ging eine ganze Weile so weiter. Als es vorbei war, stieg der Präsident auf ein Podest vor Air Force One und gab die neuen Sicherheitsmaßnahmen bekannt. Dann flog er zu den Olympischen Spielen. Aus seiner Erklärung ging auch hervor, dass wir bislang nicht wussten, ob der Absturz Folge eines Terroranschlags war. Ich wusste, dass er annahm, es sei ein Terroranschlag gewesen, und sich dafür wappnete, was er als Antwort darauf tun musste. Nachdem die blau-weiße 747 nach Georgia abgeflogen war, blieb ich allein auf dem Rollfeld zurück. Ein FBIBeamter fuhr mich nach LaGuardia, damit ich den Shuttle zurück nach Washington noch erwischte. Vor dem Marine Air Terminal stand ich schließlich in einer langen Schlange. Der Mann vor mir erklärte: »Neuer Sicherheitskram. Man muss einen Ausweis mit Bild vorlegen.« Ein paar Wochen danach kehrte ich mit John O’Neill nach LaGuardia zurück. Er ließ einen FBI-Hubschrauber in der Nähe des Shuttle warten. O’Neill bearbeitete mich, dem FBI Geld zu beschaffen, mit dem die aufwändige Bergung der Trümmer und der Versuch, die Maschine zu rekonstruieren, bezahlt werden sollten. In einem riesigen Hangar in Bethpage auf Long Island, wo die NASA einst einen Teil der Anlage für die Apollo-Mission gebaut hatte, wurde die 747 rekonstruiert. Mir schien das ebenso schwierig zu sein wie die Mondmission. Auf dem Weg nach Bethpage berichtete O’Neill mir, dass die Aussagen von Augenzeugen auf einen Raketenangriff hindeuteten, auf eine Stinger. Ich versuchte es ihm auszureden. »Das 204
passierte in einer Höhe von 4500 Metern. Keine Stinger oder vergleichbare Rakete kommt so hoch. Die Entfernung und der Winkel liegen viel zu weit vom Strand ab, und selbst von einem Boot aus, das sich direkt unter dem Flugzeug befindet, kommt man nicht so hoch.« John wollte dafür eine Bestätigung vom Pentagon. Ich erklärte mich bereit, sie ihm zu beschaffen. In Bethpage drängte mich O’Neill, mich ein wenig umzusehen, mit den Technikern zu reden und mir das Labor anzuschauen, das das FBI an Ort und Stelle aufgebaut hatte. Es war ein seltsamer, stiller Ort. Flugzeugsitze waren auf dem ganzen Fußboden verteilt. Ein Fenster wurde daneben aufgestellt. Ein Raum war voller Gepäck. Auch ein riesiges Stück vom Heck stand in diesem Raum. Ich blieb stehen und fragte einen Techniker, was er da mache. »Nach der Körnung und dem Riss suchen«, erklärte er. »Sehen Sie, eine Bombe hinterlässt ein bestimmtes Körnungsmuster auf dem Metall um sie herum, kleine Tröpfchen. Und eine Bombe verursacht scharfe Risskanten im Metall.« »Ist das also von der Stelle, wo die Bombe explodierte?«, fragte ich. »Wo befand sie sich im Flugzeug?« »Die Explosion erfolgte unmittelbar vor der Mitte, unter dem Fußboden des Passagierabteils, unter Reihe 23. Aber es war keine Bombe«, fügte er hinzu. »Sehen Sie sich das Körnungsmuster und den Riss an. Es war eine langsame Gasexplosion von innen.« »Was liegt unter Reihe 23?«, fragte ich und ahnte allmählich, dass es sich hier gar nicht um das handelte, was ich vermutet hatte. 205
»Der zentrale Benzintank. Er war nur halb voll, hat sich möglicherweise auf dem Rollfeld erhitzt, und im Innern hat sich ein Gasgemisch gebildet. Wenn dann ein Funke, ein Kurzschluss …« Er deutete mit seinen Händen eine Explosion an. »Schön und gut, aber eine Frage noch«, sagte ich. »Wie kann in einen Benzintank ein Funke kommen?« »Bei diesen alten 747ern befindet sich innerhalb des zentralen Benzintanks eine elektrische Pumpe … Kerosin zerfrisst nach und nach die Isolierung. Ein winziger Funke und …« Noch einmal beschrieben seine Hände eine Explosion. Es gab also keinen Hinweis auf eine von außen durch eine Rakete verursachte Explosion und auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich an Bord eine Bombe befunden hatte. Auch an den Triebwerken wurde, nachdem man sie aus dem Meer geborgen hatte, nicht der geringste Hinweis entdeckt, dass sie von einer Rakete getroffen worden waren. Eine Simulation des Unglücks ergab später, dass das, was Augenzeugen als den Strahl einer Rakete wahrgenommen hatten, die zu dem Flugzeug hin aufstieg, in Wirklichkeit ein Treibstoffstrahl durch den Riss von der ersten Explosion war, der nach unten verlief und Feuer fing. Deshalb stieg kurz vor einer zweiten, größeren Treibstoffexplosion eine Flamme wiederum nach oben. Das FBI kam im November 1997 zu dem Schluss, dass es keine Anzeichen für ein Verbrechen gab. Im Mai 1998 ordnete die Verkehrssicherheit eine Inspektion und nötigenfalls den Austausch der Drahtisolierung in den Benzintanks von allen Jumbos an. An jenem Sommertag 1996 rief ich nach meiner Rückkehr von Bethpage Tony Lake und Leon Panetta an und bat sie um ein Treffen. Ich skizzierte den Bau einer 747 und erklärte ihnen die mögliche Ursache der 206
Explosion im Benzintank. »Stimmen die Verkehrssicherheit oder das FBI mit Ihnen überein?«, fragte Lake. »Noch nicht«, räumte ich ein. Dennoch waren wir alle verhalten optimistisch. Leider war die öffentliche Debatte um den Vorfall von Verschwörungstheorien getrübt. Verschwörungstheorien sind bei der Terrorbekämpfung eine feste Größe. Ihre Anhänger sind gleichzeitig von zwei widersprüchlichen Dingen überzeugt: a) die US-Regierung ist so unfähig, dass sie Erklärungen übersieht, die sie, die Verschwörungstheoretiker, aufdecken können, und b) die US-Regierung behält ein großes und heikles Geheimnis für sich. Die erste Überzeugung hat durchaus ihre Berechtigung. Die zweite Idee ist pure Fantasie. Verschwörungstheorien kurzerhand beiseite zu schieben ist jedoch gefährlich. Ich habe schon früh in meiner Regierungstätigkeit erfahren, dass man nicht glauben darf, die Regierungsexperten wüssten alles. Die Liste der Fehlschläge und Irrtümer der Nachrichtendienste und der Justiz ist viel zu lang, um alternative Meinungen verächtlich abzutun. Da ich persönlich skeptisch gegenüber allem war, was die Behörden mir mitteilten, und mich die Möglichkeit einer unerwarteten Erklärung immer faszinierte, hielt ich meine Analytiker stets an, offen für Alternativen zu bleiben und jede Variante mit der gebührenden Sorgfalt zu prüfen. Aus diesem Grund hatten wir immer auch nach einer irakischen Beteiligung an dem Anschlag auf das World Trade Center 1993 gesucht, allerdings vergeblich. Aus dem gleichen Grund bat ich 1996 auch den Leiter der Terrorismusbekämpfung im Nationalen Sicherheitsrat, Steve Simon, in das Stadthaus von Pierre Salinger in Georgetown zu fahren. Der Pressesprecher des Weißen 207
Hauses unter John F. Kennedy hatte öffentlich behauptet, er sei im Besitz von Beweisen, dass die TWA 800 abgeschossen worden sei. Simon blieb lange fort. Als er zurückkehrte, sah er aus wie jemand, der eine weit schwierigere und frustrierendere Mission hinter sich hatte als nur eine Fahrt von drei Kilometern in eine noble Washingtoner Wohngegend. »Was zum Teufel ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte ich Simon, nachdem er in mein Dienstzimmer gestürzt war. Schweigend und vor Wut kochend stand er vor mir. Die Arme hatte er über der Brust gekreuzt und sein Gesicht drückte eine heftige Abscheu aus. Endlich platzte er los. »Der forsche Pierre ist erledigt; er hat den Verstand verloren. Die reale Welt ist ein Planet, den er vor langer Zeit verlassen hat.« Mit diesen Worten machte Simon kehrt und ging in das Dienstzimmer, das einst Oliver North gehört hatte. Als er sich beruhigt hatte, erstattete er mir ausführlich Bericht. Salinger glaubte, eine F-14 der US Navy hätte die TWA 800 abgeschossen, und er hatte eine ganze Reihe dazu passender Verschwörungsfantasien parat. Das Material des Verteidigungsministeriums, der FAA und des FBI entkräftete diese Theorie überzeugend. Eine andere Verschwörungstheorie machte mir mehr Kopfzerbrechen, weil ich sie nie widerlegen konnte. Sie schien auf den ersten Blick abwegig: Ramsi Jussuf oder Chalid Scheich Mohammed hätten Terry Nichols beigebracht, wie man das Regierungsgebäude in Oklahoma City in die Luft sprengt. Das Problem war: Wir fanden bei unseren Ermittlungen heraus, dass Ramsi Jussuf und Nichols sich am selben Tag in der philippinischen Stadt Cebu aufgehalten hatten. Vor Jahren war ich auch einmal dort gewesen. Es ist eine Stadt, in der 208
sich die Nachricht rasch herumspricht, dass eine einheimische junge Frau ihren amerikanischen Freund mit nach Hause gebracht hat und dass der Amerikaner die USRegierung hasst. Jussuf und Chalid Scheich Mohammed waren in die Stadt gereist, um bei der Gründung eines al QaidaAblegers zu helfen, einer philippinischen Tochterorganisation, die sich nach einem Helden des Afghanistankriegs gegen die Sowjets Abu Sayyaf nannte. War es möglich, dass der Sprengstoffexperte der al-Qaida dem zornigen Amerikaner vorgestellt wurde, der aus seinem Hass gegen die US-Regierung kein Hehl machte? Wir wissen es nicht, obwohl das FBI der Sache nachging. Wir wissen, dass Nichols’ Bomben vor seinem Aufenthalt auf den Philippinen nicht funktionierten und nach seiner Rückkehr absolut tödlich waren. Wir wissen auch, dass Nichols noch lange Zeit, nachdem seine Frau in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, immer wieder mit Cebu telefonierte. Und schließlich hatten zufällig mehrere al-Qaida-Aktivisten einige Jahre zuvor an einer Konferenz radikaler Islamisten teilgenommen, die ausgerechnet in Oklahoma City stattgefunden hatte. Von meiner Position aus konnte man nach Khobar, TWA 800 und der Bombe bei den Olympischen Spielen den Eindruck gewinnen, eine neue Welle des Terrorismus gegen die Vereinigten Staaten, ja sogar in den Staaten selbst, sei im Gange, auch wenn dieser Eindruck zum Teil getäuscht hatte. Es war der ideale Zeitpunkt für das Washingtoner Spielchen, eine Erhöhung des Budgets zu beantragen. Ich bereitete ein so genanntes Emergency Supplemental vor, einen Antrag auf zusätzliche Mittel in einem Nachtragshaushalt, und übergab es dem Stabschef des Weißen Hauses, Leon Panetta. 209
Derartige Anträge auf Nachbesserungen, die dem Kongress nach der Verabschiedung des »President’s Budget« vorgelegt werden, sind ein Alptraum für einen anderen Teil des Weißen Hauses, für das Office of Management and Budget (OMB). Die üblichen Vorbereitungen für den Haushalt nehmen Monate in Anspruch, und das OMB überwacht das Ergebnis. Im Rahmen der normalen Regierungstätigkeit Gelder für die Terrorbekämpfung zu beschaffen war nicht gerade einfach, weil die Ministerien in vielen Fällen die Mittel nicht beantragt hatten. Das hieß wiederum, dass Mitarbeiter des Sicherheitsrates dann argumentieren mussten, sie wüssten besser als die Kabinettsmitglieder darüber Bescheid, wie viel Geld diese für ihr Budget brauchten. In den letzten beiden Haushalten war es mir einigermaßen gelungen, die Mittel für die Terrorbekämpfung aufzustocken, allerdings hatte ich nicht alles bekommen, was wir benötigt hätten. Als die OMBMitarbeiter davon hörten, dass ich einen Nachtragshaushalt zusammenstellte, waren sie alles andere als glücklich. Sie wussten genau, dass der Kongress, wenn die Administration in einem Präsidentschaftswahljahr (wie 1996) Gelder für die Terrorbekämpfung beantragte, jeden Penny und noch mehr bewilligen würde. Der neue Stand wurde dann zur Richtlinie für das nächste Budget. Die Hauptsorge des OMB galt dem Ausgleich des Haushalts und der Senkung des Defizits. Bislang hatten sie ihren Job gut gemacht. Die OMB-Mitarbeiter trösteten sich jedoch mit der Tatsache, dass Leon Panetta von der Leitung des OMB zum Stabschef befördert worden war. Er würde die Angelegenheit bestimmt mit ihren Augen betrachten. Wir trafen uns an Panettas langem Konferenztisch: der Stabschef, ich und sechs OMB-Vertreter. Panetta kritzelte 210
auf einem Notizblock herum und fragte, wobei er halb zu der Gruppe aufsah: »Wie viel brauchst du, Dick?« Die OMB-Vertreter fielen aus allen Wolken; einen solchen Beginn des Treffens hatten sie sich nicht vorgestellt. »Knapp über eine Milliarde.« Die Haushaltswächter ächzten und stöhnten. Ich fuhr fort: »Vier-dreißig für die Erhöhung der Flugsicherheit, vier-dreißig für den Schutz von Truppenstützpunkten wie Khobar, dazu noch Gelder für das FBI und für die CIA.« Panetta hatte an den Sitzungen in jenem Sommer teilgenommen, als wir über einen Krieg gegen den Iran nachdachten – das OMB hingegen nicht. Geld für die Verhinderung von Terroranschlägen zu zahlen war für ihn eine viel reizvollere Entscheidung als die Maßnahmen zu beschließen, die uns, wie er dachte, möglicherweise bevorstanden. »Okay, das klingt gut. Bringen wir die Sache noch diese Woche ins Kapitol. Noch irgendwelche Fragen?« Panetta stand auf. Das Treffen war vorüber. Wir hatten das Geld. Wir führten auch die Geheimdienstoperation gegen die Iraner durch. Laut Professor Crane Brittons Studie über Revolutionen lassen sich im Ablauf jeder Revolution bestimmte Phasen voraussagen. Sobald die Bewegung die Regierung übernimmt, kühlt sich am Ende ihr Eifer ab – eine Phase, die Britton Thermidor nennt. Wir warteten nun schon seit 1979 auf Teherans Thermidor. Es war wie das Warten auf Godot. Im Zuge der Geheimdienstoperation und nicht zuletzt vielleicht deshalb und wegen der ernsthaften Drohungen der USA verzichtete der Iran in Zukunft auf Terroranschläge gegen die Vereinigten Staaten. Ein Krieg gegen den Iran war abgewendet worden, der Thermidor konnte nun endlich eintreten, und damit hatte auch das 211
iranische Volk mehr Zeit, die Kontrolle über ihre Regierung zu erlangen. Trotz der Wahl des »gemäßigten« Präsidenten Khatami im Jahr 1997 förderten die iranischen Sicherheitsdienste weiterhin die Eskalation des Terrorismus gegen Israel und gewährten al-Qaida sicheres Geleit und andere Unterstützung. Clinton hatte das Jahr 1995, nach dem Anschlag in Oklahoma City, mit einer Rede vor der 50. Vollversammlung der Vereinten Nationen beendet, in der er sich auf den Terrorismus konzentrierte, auf die Notwendigkeit, die Zufluchtsstätten der Extremisten auszuräuchern, ihnen den Geldhahn abzudrehen und den Zugang zu Massenvernichtungswaffen zu verwehren. Im November war er noch einmal auf den Arlington Cemetery gefahren und hatte den fertigen Grabhügel für die Opfer der PanAm 103 enthüllt. Er sprach erneut über die anhaltende Bedrohung durch Terrorismus. Im April 1996, nach Khobar, hielt er in der George Washington University eine weitere Rede zum Terrorismus und erklärte ihm den Krieg, lange bevor dieser Begriff in Mode kam: »Das wird ein langer, harter Kampf. Auf dem Weg wird es Rückschläge geben. Doch wie kein Feind uns im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg davon abhalten konnte, für unsere Sache zu kämpfen und unsere Werte zu verteidigen, so werden wir uns auch heute nicht davon abhalten lassen, einen harten Kampf gegen den Terror zu führen. Terrorismus ist der Feind unserer Generation, und wir müssen siegen … Aber ich möchte dem amerikanischen Volk deutlich machen, dass wir zwar Terroristen besiegen können, doch dass es lange dauern wird, bis wir den Terrorismus besiegt haben. Amerika wird weiterhin ein Angriffsziel bleiben, weil wir auf einzigartige Weise auf der Welt präsent sind, weil wir uns 212
für Frieden und Demokratie einsetzen, weil wir uns konsequent gegen den Terrorismus gestellt haben und weil wir die offenste Gesellschaft der Welt sind. Doch daran auch nur eine Kleinigkeit zu ändern, unsere Soldaten von den Krisenherden der Welt abzuziehen, denen den Rücken zuzuwenden, die für den Frieden ihr Leben riskieren, unseren Widerstand gegen den Terrorismus zu schwächen, die Freiheit einzuschränken, die unser Geburtsrecht ist, das hieße, dem Terrorismus den Sieg überlassen, den er auf keinen Fall erringen darf und auch nicht erringen wird.« Kurz danach, am 9. September 1996, beantragte Clinton 1,097 Milliarden Dollar für Antiterror-Maßnahmen. Einen Monat nach der Einreichung des Antrags wurden die Mittel vom Kongress bewilligt: Gelder für mehr CIA- und FBI-Agenten zur Terrorismusbekämpfung, für die Einwanderungsbehörde, um mögliche Terroristen schon bei der Einreise ins Land ausfindig zu machen, für Rick Newcomb im Finanzministerium, um Leute zum Aufspüren der Finanzquellen von Terrorgruppen einzustellen, für das Außenund Verteidigungsministerium, um Einrichtungen im Ausland zu sichern, für die Verbesserung der Sicherheit in Bundesgebäuden, für die Ausbildung und Schulung von Katastrophenschutzeinheiten in großen Städten und für Programme beim Gesundheitszentrum und beim Energieministerium zu Terroranschlägen mit Massenvernichtungswaffen. Die Kommission für Flugsicherheit (die GoreKommission) bekam Zuschüsse für Programme bewilligt, die unter anderem eine Prüfung des Gepäcks, des Handgepäcks, sorgfältige Passagierkontrollen, Schulung der Prüfer, Forschungen zur Sicherung von Flugzeugen umfassten, sowie Gelder für zusätzliche Sicherheitsbeamte 213
der FAA. Die Gore-Kommission verzichtete jedoch auf die Empfehlung, die Bundesregierung solle künftig die Überprüfung der Passagiere und des Fluggepäcks übernehmen. Das blieb weiterhin die Aufgabe der Fluggesellschaft, die ihrerseits wiederum diesen Auftrag wie bisher Niedriglohnfirmen erteilte. Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die GoreKommission die Ansprüche hinsichtlich Flughafensicherheit und Passagierkontrolle nicht hoch genug gesteckt hatte. Hätte die Bundesregierung die Passagierkontrolle übernommen, so hätte das jedoch die Einstellung von 50000 neuen Bundesbediensteten und Mehrausgaben in Höhe von Milliarden Dollar bedeutet, und das zu einer Zeit, als sowohl die US-Regierung als auch der Kongress stolz darauf verwiesen, wie stark sie die Zahl der Beamten und den Haushalt gesenkt hatten. Stattdessen vereinbarte die Gore-Kommission, die privaten Wachmannschaften schärfer zu kontrollieren, neue Apparate für das Röntgen des Gepäcks anzuschaffen und ein neues Kontrollsystem für die Passagiere einzuführen. Die Ereignisse von 1996 (der Absturz des Billigfliegers über den Everglades und der des TWAFlugs 800) hatten nicht die politischen Umstände herbeigeführt, die nötig gewesen wären, um die Beteiligung der Bundesregierung an der Flugsicherheit grundlegend zu überdenken. Niemand in der Administration oder im Kongress hätte sich für eine neue, 50000 Mitarbeiter starke Verkehrssicherheitsbehörde ausgesprochen. Ein Vorschlag, der die Lage im Gegenteil noch verschlechtert hätte, wurde nur knapp vereitelt. Das FBI schlug die Abschaffung eines kleinen Programms der Luftfahrtbehörde namens Federal Air Marshal vor. Die Bundespolizei hatte Angst, dass jeder Marshal an Bord, 214
falls ein Flugzeug entführt wurde, einem FBI-Kommando, das dazu ausgebildet war, entführte Flugzeuge zu kapern, nur im Weg stehen würde. Das FBI konnte jedoch nicht vermitteln, inwiefern der Marshal ein größeres Risiko für das Rettungskommando sei als die Hunderte Polizeibeamte des FBI, des Secret Service, der Drogenfahndung und anderer Behörden, die jeden Tag bewaffnet Flugreisen unternahmen. Und das FBI überging auch das Problem, dass ein entführtes Flugzeug erst landen muss, bevor ein Rettungskommando es übernehmen kann. Secret Service und Zoll hatten in Atlanta gemeinsam einen rudimentären Luftschutz gegen Flugzeuge aufgebaut, die in das Olympiastadion fliegen wollten. Das taten sie auch bei den folgenden Großereignissen der nationalen Sicherheit, und sie vereinbarten, eine ständige Luftschutzeinheit zu bilden, die Washington schützen sollte. Leider waren diese beiden Behörden dem Finanzministerium unterstellt, und dessen Führung wollte weder Geld für eine derartige Mission ausgeben noch den irrtümlichen Abschuss eines Flugzeugs verantworten. Das Finanzministerium lehnte die Luftschutzeinheit ab, und meine Versuche, das Weiße Haus dagegen zu mobilisieren, waren erfolglos. Der Gedanke, dass ein Flugzeug Washington angreifen könnte, schien vielen Menschen abwegig, und das Risiko, das mit dem Abschuss eines Flugzeugs über einer Stadt verbunden war, wurde für viel zu groß erachtet. Außerdem, so argumentierten die Gegner unseres Plans, würde die Air Force immer Jagdflugzeuge zum Schutz von Washington einsetzen, falls es einmal Schwierigkeiten geben sollte. In einigen Fällen, in denen Flugzeuge entführt wurden (auch in einem Fall, wo wir das irrtümlich glaubten), fing die Air Force in der Tat die Linienmaschine mit Jägern ab. Es 215
gelang uns immerhin, die Erlaubnis zu bekommen, dass der Secret Service weiter Optionen für den Luftschutz prüfte, etwa die Aufstellung von Raketeneinheiten in der Nähe des Weißen Hauses. Die meisten Personen, die von unseren Bemühungen erfuhren, ein Luftschutzsystem aufzubauen für den Fall, dass Terroristen versuchten, Flugzeuge in das Kapitol, das Weiße Haus oder das Pentagon zu fliegen, hielten uns schlicht für verrückt.
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6 Al-Qaida entlarvt In den ersten Jahren der Clinton-Administration erlebten wir eine geradezu rasante Abfolge von Terroranschlägen. Elf »terroristische« Ereignisse erregten in den Vereinigten Staaten größtes Interesse, vom ersten Anschlag auf das World Trade Center über den Schusswechsel vor dem CIA-Hauptquartier bis hin zur Bombe bei den Olympischen Spielen von Atlanta. In keinem einzigen Fall gab die CIA oder das FBI einer Organisation namens alQaida die Schuld daran. Die Geschichte, wann und wie die Vereinigten Staaten zum ersten Mal al-Qaida ihre Aufmerksamkeit widmeten, ist in mehreren kürzlich veröffentlichten Darstellungen falsch wiedergegeben worden. Es ist an der Zeit, die Version zu korrigieren. Ein Mann namens Osama bin Laden, ein so genannter Geldgeber, ist am Rande und sehr zurückhaltend mit ein oder zwei Ereignissen in Verbindung gebracht worden, doch niemand gab ihm direkt die Schuld daran. Vielleicht, so die CIA, hatte er bei einem gescheiterten Anschlag gegen Amerikaner im Jemen 1992 die Hände im Spiel, und möglicherweise gab es eine Verbindung zwischen ihm und Ramsi Jussuf, der 1993 den Anschlag auf das World Trade Center verübt und dann auf den Philippinen Unruhe gestiftet hatte. Die angeblich bekannten Täter bei Terroranschlägen, die von den Medien diskutiert wurden, bildeten einen unzusammenhängenden Wirrwarr augenscheinlich beherrschbarer Bedrohungen: der irakische Geheimdienst für das Attentat auf Expräsident Bush, der iranische Geheimdienst für den Anschlag gegen die Air Force im saudischen Khobar, ein Einzelgänger aus 217
Belutschistan für den Anschlag auf das Pförtnerhaus der CIA, zwei irre Vögel der amerikanischen rechten Szene für den Bombenanschlag in Oklahoma City, ein ägyptischer Kleriker für den Plan, die Tunnel in New York City zu sprengen, ein Möchtegern-Cop, der als Wachmann arbeitete, für den Bombenanschlag von Atlanta, ein gerissener palästinensischer Kuwaiter für den Anschlag auf das World Trade Center, eine Gruppe inzwischen geköpfter Saudis für den Bombenanschlag gegen die amerikanische Militärschule in Riad und ein mysteriöser Mann in einem Boot vor Long Island oder sogar ein Pilot der US Navy für den Abschuss der TWA 800. 1997 hatten wir die beiden feindlichen Geheimdienste durch die Bombardierung des Hauptquartiers des irakischen Geheimdienstes und durch die Geheimdienstoperation gegen den Iran schachmatt gesetzt. Die anderen Akteure waren überwiegend im Gefängnis oder tot, und den Wachmann und die Navy hatte man von dem Vorwurf des Bombenanschlags beziehungsweise des TWA-Abschusses freigesprochen. Wenn es ein Muster in all diesen Ereignissen gab, so erkannten es die amerikanischen Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden zumindest nicht. Dennoch reichte uns all dies aus, um einen Maßnahmenkatalog des Weißen Hauses auszuarbeiten. Die Clinton-Administration hatte eine ständige Erhöhung der Mittel für die Terrorismusbekämpfung eingeleitet. Zum ersten Mal seit 40 Jahren hatte eine Regierung ein umfassendes Programm für den Heimatschutz auf den Weg gebracht und Mittel dafür bereitgestellt. Clinton hatte sich bei einer Reihe wichtiger Reden auf das Thema Terrorismus konzentriert: vor der Akademie der Air Force, in Oklahoma City, an der George Washington University, in Annapolis, zweimal vor den Vereinten Nationen, 218
zweimal am Grabhügel für die Opfer von PanAm 103, im Weißen Haus, in Lyon und im ägyptischen Scharm elScheich. Die meisten Medien ignorierten die wiederholten Warnungen der Administration. Während einige Mitarbeiter der Bundesregierung alarmiert auf den Anstieg der Terroranschläge reagierten und an Gegenmaßnahmen arbeiteten, sahen andere beim FBI, bei der CIA und im Verteidigungsministerium keine dringende Notwendigkeit. Wir wissen mittlerweile, dass der Anschlag von 1993 auf das World Trade Center eine Operation der al-Qaida war; das galt auch für die gescheiterten Pläne, Wahrzeichen der Stadt New York und amerikanische Linienmaschinen über dem Pazifik anzugreifen. Damals wurden diese Ereignisse jedoch von FBI und CIA mit Ramsi Jussuf und dem blinden Scheich in Verbindung gebracht, die 1995 beide hinter Gittern saßen. Es kursierten zwar Gerüchte über die Beteiligung von Arabern an den Anschlägen gegen amerikanische Soldaten in Somalia, doch weder Pentagon noch CIA konnten sie bestätigen. Die näheren Umstände des Anschlags auf die amerikanische Militärschule in Riad wurden wegen des Mangels an Kooperation seitens der saudischen Behörden nie geklärt. Der größere Anschlag in Saudi-Arabien, das Attentat bei Khobar, wurde von der saudischen Hisbollah unter genauer Beobachtung durch die Al-Quds Force der iranischen Revolutionsgarden durchgeführt. Iran hatte ferner Terroranschläge in Israel, Bahrain und Argentinien inszeniert. Abgesehen von New York waren die Anschläge in den USA von gestörten Einzelgängern verübt worden. Es war uns nicht gelungen, Mir Amal Kansi, den Schützen an dem CIA-Tor, mit irgendeiner Gruppierung in Verbindung zu bringen. Die Anschläge in Oklahoma City und Atlanta hatten amerikanische Rechtsextreme verübt, mit 219
schwachen Kontakten zu einheimischen Milizen und religiösen Fanatikern. An einem anderen, potenziell zerstörerischen Anschlag war eine rechtsextreme Miliz beteiligt; sie hatte geplant, ein Gaswerk in Fresno in die Luft zu jagen. Das FBI konnte die Katastrophe durch die Observierung der Milizen verhindern. Trotz der dürftigen Hinweise auf eine Beteiligung Bin Ladens an der Serie von Terroranschlägen drängten Lake, Berger, Nancy Soderberg und ich in den Jahren 1993 und 1994 die CIA hartnäckig, doch mehr über den Mann in Erfahrung zu bringen, dessen Name in den Rohfassungen der CIA-Berichte ständig als »terroristischer Finanzier Osama bin Laden« auftauchte. Es schien uns unwahrscheinlich, dass dieser Mann, der seine Finger bei so vielen scheinbar zusammenhanglosen Organisationen im Spiel hatte, einfach nur ein Geldgeber, ein Freund des Terrors war. Es schien eine koordinierende Kraft zu geben, und vielleicht war er es. Außerdem brachten wir ständig die unglaubliche Meinung von CIA und FBI zur Sprache: dass nämlich die Bande, die den Bombenanschlag auf das World Trade Center verübt hatte, aus Einzeltätern bestand, die sich einfach zufällig getroffen und beschlossen hatten, nach Amerika zu fahren und ein Gebäude in die Luft zu sprengen. Im Jahr 1991 hatte die saudische Regierung den Versuch aufgegeben, Osama bin Laden zu überreden, dass er seine Kritik an der Königsfamilie, an der militärischen Allianz mit den Vereinigten Staaten und der anhaltenden Anwesenheit der US-Truppen einstelle. Selbst Drohungen gegen die wohlhabende und einflussreiche Familie Bin Laden und das Imperium ihrer Baufirma nutzten nichts. Eine frustrierte saudische Regierung wies ihn schließlich aus. Er beschloss, in den Sudan zu reisen, der damals 220
Terroristen aller Coleur Zuflucht bot. Die Regierung des Sudan wurde von der Nationalen Islamischen Front dominiert, deren Führer Hassan Turabi war. Obwohl angeblich ein religiöser Gelehrter, predigte Turabi eine besonders grausame Nuance des Hasses. Bin Laden und Turabi hatten sich über das wachsende internationale Netzwerk radikaler Islamisten kennen gelernt. Als Bin Laden von der saudischen Regierung unter Druck gesetzt wurde, lud Turabi ihn ein, seine Zelte im Sudan aufzuschlagen. Bin Laden kam mit seinem Geld und mit seinen Männern, den arabischen Veteranen des Afghanistankrieges. Auf die Mehrzahl dieser Veteranen warteten in Ägypten, Kuwait, Algerien oder Marokko Gefängniszellen. Wie inzwischen bekannt ist, begannen Turabi und Bin Laden mehrere gemeinsame Projekte: ein neues Bauunternehmen, eine neue Investmentfirma, die Kontrolle des sudanesischen Warenmarkts, ein neuer Flughafen, eine Straße zwischen den beiden größten Städten, neue Ausbildungslager für Terroristen, eine Lederfabrik, Unterkünfte für die Afghanistanveteranen, Waffenlieferungen nach Bosnien, Unterstützung für ägyptische Terroristen, die sich gegen Präsident Mubarak verschworen hatten, und die Entwicklung einer einheimischen (auch chemischer) Waffenindustrie. Die beiden radikalen Fundamentalisten waren Gesinnungsgenossen und hatten beide die Vision eines weltweiten Kampfes für die Errichtung eines reinen Kalifats. Sie verkehrten auch privat miteinander, luden sich gegenseitig zum Essen ein. In seiner Freizeit ritt Osama bin Laden mit Turabis Sohn auf dem Pferd aus. Vor der Reise in den Sudan war Bin Laden nach Afghanistan zurückgekehrt, dem Schauplatz seiner mittlerweile gepriesenen Rolle im Krieg gegen die 221
Sowjets. Er hatte das postsowjetische Afghanistan beherrscht von Stammesverbänden vorgefunden, die nicht bereit waren, seinen Rat oder gar seine Führung zu akzeptieren. Auch wenn die Kämpfe hier immer noch anhielten, handelte es sich nicht mehr um einen Dschihad gegen Nichtmuslime. In einem begrenzten Ausmaß konnte auf den Philippinen von einem Dschihad die Rede sein, wo Muslime im Süden seit Jahrhunderten gegen die christliche Regierung kämpften. Bin Laden schickte hohe Stellvertreter dorthin, unter anderen seinen Schwager Mohammed Dschamal Chalifa, Ramsi Jussuf und Jussufs Onkel und Mentor Chalid Scheich Mohammed. Einen Dschihad gab es auch in Russland, wo unterdrückte Muslime sich den Zusammenbruch der Sowjetunion zunutze machten und die Unabhängigkeit Tschetscheniens anstrebten. Bin Laden schickte arabische Afghanistanveteranen, Geld und Waffen an den Genossen Saudi Ibn Chattab in Tschetschenien, das als idealer Schauplatz für einen Heiligen Krieg erschien. Der Wunschtraum der al-Qaida war eine christliche Regierung, die eine schwächere, muslimische Region angriff und es so einer neuen terroristischen Gruppierung ermöglichte, Dschihad-Kämpfer aus unzähligen Ländern zu sammeln, damit sie den religiösen Brüdern zu Hilfe eilten, denn das förderte die Verbreitung der Bewegung. Nach einem siegreichen Dschihad sollte dann die muslimische Region ein radikalislamischer Staat werden, ein Nährboden für noch mehr Terroristen und Teil eines späteren Netzwerks islamischer Staaten, die das große neue Kalifat oder muslimische Reich bilden sollten. Bosnien schien ebenfalls in das Muster zu passen. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Jugoslawien waren die ethnischen Konflikte jenes künstlichen Staatsgebildes mit Macht aufgebrochen. Die mehrheitlich 222
muslimische Republik Bosnien war lange Zeit von Christen diskriminiert worden, und Bosniens Versuch, seine Unabhängigkeit zu erklären (1992), wurde von der serbisch dominierten Regierung in Belgrad brutal niedergeschlagen. Trotz internationaler Empörung hatte die Administration unter George H. W. Bush wenig unternommen, um das Gemetzel zu stoppen. General Scowcroft und sein enger Freund, der stellvertretende Außenminister Lawrence Eagleburger, hielten den Zerfall Jugoslawiens für ein hoffnungsloses Dilemma, das man am besten den Europäern überließ. (Eagleburger, ein ehemaliger US-Botschafter in Jugoslawien, hatte in der Außenpolitik einen beinahe unfehlbaren Instinkt, doch nach seinen Jahren in Belgrad zögerte er, die Vereinigten Staaten zu tief in die Angelegenheiten des Balkans hineinzuziehen. Für kurze Zeit wurde er 1992 Außenminister, als Präsident Bush dem widerwilligen James Baker de facto befahl, die Kampagne für seine Wiederwahl zu leiten.) Anders als der Dschihad in Tschetschenien, den Russland vor der Welt mit nicht wenig Erfolg zu verbergen suchte, lag Bosnien während seiner Auseinandersetzung mit Serbien im Zentrum der Aufmerksamkeit, auch der der westeuropäischen und amerikanischen Geheimdienste. Der Vorgang, den wir in Bosnien beobachteten, war wie aus einem Handbuch zum Netzwerk Bin Ladens, obwohl wir das zu der Zeit nicht erkannten. Von 1992 an trafen Araber, die einst als Mudschaheddin in Afghanistan gekämpft hatten, in der Republik ein. Mit ihnen kamen die Geldgeber, Logistiker und »wohltätigen Organisationen«. Sie gründeten Scheinunternehmen und schufen ein Netz aus Bankinstituten. Wie in Afghanistan hatten die Araber ihre eigene Brigade, die, vorgeblich Teil der bosnischen 223
Armee, auf eigene Faust operierte. Die Mudschaheddin, von den Einheimischen »Afganci« genannt, waren grimmige Kämpfer gegen die besser bewaffneten Serben. Sie folterten und mordeten auf eine Weise, die alle Maßstäbe außer Kraft setzte. Die arg in Bedrängnis geratenen Bosnier wären sicher froh gewesen, ohne diese »Afganci« auszukommen, doch der bosnische Präsident Alija Izetbegovic beschloss, jede Hilfe zu akzeptieren, die er bekommen konnte, denn Amerika unternahm wenig, um das serbische Militär aufzuhalten. Der Iran schickte immerhin Gewehre. Noch besser: al-Qaida schickte Männer, gut ausgebildete, harte Krieger. Den europäischen und amerikanischen Geheimdiensten gelang es allmählich, die Finanzierung und Unterstützung der Mudschaheddin bis zu Bin Laden im Sudan und zu Einrichtungen, die bereits von den Mudschaheddin in Westeuropa selbst gegründet worden waren, zurückzuverfolgen. Die Kontakte führten zu der Moschee im Finsbury Park in London, zu dem Islamischen Kulturzentrum in Mailand, zu der Third World Relief Agency mit Sitz in Wien. Sie führten auch zu der Benevolence International Foundation in Chicago und zu der International Islamic Relief Organization in Saudi-Arabien. Diese »wohltätigen« Organisationen beschafften Gelder, Arbeitsplätze, Ausweise, Visa, Diensträume und andere Hilfsmittel für die internationale Brigade der arabischen Kämpfer in und um Bosnien. Westliche Regierungen, auch die amerikanische, fanden vor dem 11. September kein geeignetes juristisches Mittel, um gegen diese Organisationen vorzugehen. Viele Namen, denen wir in Bosnien erstmals begegneten, tauchten später in anderen Funktionen als alQaida-Aktivisten wieder auf. Zu den höchsten Dschihad224
Kämpfern in Bosnien zählten: Abu Sulaiman al-Makki, der im Dezember 2001 an der Seite Bin Ladens stehen sollte, als dieser die Anschläge vom 11. September pries; Abu Subair al-Haili, der 2002 in Marokko verhaftet werden sollte, weil er einen Anschlag auf US-Schiffe in der Straße von Gibraltar plante; Ali Ajed al-Schamrani, der 1995 von der saudischen Polizei wegen seiner Beteiligung an dem Anschlag auf die amerikanische Militärschule in Saudi-Arabien festgenommen und schleunigst geköpft wurde; Chalil Dik, der im Dezember 1999 wegen seiner Rolle bei der Planung von Anschlägen auf amerikanische Einrichtungen in Jordanien zum Jahrtausendwechsel verhaftet wurde; und Fateh Kamel, den man in Kanada als Angehörigen der Zelle für die Jahrtausendverschwörung identifizierte. Auch wenn die westlichen Geheimdienste die Tätigkeit der Mudschaheddin in Bosnien nie einen Dschihad der alQaida nannten, ist inzwischen klar, dass es sich genau darum handelte. Obwohl die US-Regierung die Bewegung nicht als das erkannte, was sie wirklich war, leitete sie doch Maßnahmen gegen die Anwesenheit von DschihadKämpfern in Bosnien ein. Regierungsvertreter machten Izetbegovič klar, dass die Dschihad-Kämpfer das Land verlassen müssten, dass er auf einem Tiger reite, der ihn irgendwann verschlingen werde. Die ClintonAdministration räumte zudem der Beendigung des Bosnienkrieges in der Außenpolitik höchste Priorität ein, brachte US-Truppen ins Spiel und forcierte das DaytonAbkommen. (Dieses Friedensabkommen entsprang den engagierten und eifrigen Bemühungen Clintons, Lakes, Bergers, Albrights, des Botschafters Richard Holbrooke und des Generals Wesley Clark. Während seiner diplomatischen Mission erlitt Holbrookes Team eine 225
persönliche Tragödie. Ein Panzerfahrzeug aus seiner Kolonne schoss über einen Grat und ging beim Aufprall in Flammen auf. Clark zog noch ein paar Insassen heraus, bevor das Gefährt explodierte. Drei Menschen kamen ums Leben, darunter mein NSC-Kollege Nelson Drew. Eine Bestimmung des Dayton-Abkommens forderte die Ausweisung der Mudschaheddin aus Bosnien nach dem Ende der Kämpfe. Wir ahnten zwar nicht, dass sie alQaida angehörten, aber wir wussten, dass sie internationale Terroristen waren. Diplomatie und Friedenssicherung waren nicht die einzigen Mittel, die wir anwandten. Im Jahr 1995 verschwand Abu Talal al-Kassimy, der Anführer der ägyptischen Mudschaheddin in Bosnien. Zuvor hatte er eine Dienststelle der International Islamic Relief Organization in Peschawar an der pakistanischafghanischen Grenze geleitet. Er hatte im Exil in Dänemark mit Aiman Sawahiri, dem Führer der ägyptischen Gruppe Islamischer Dschihad (später Bin Ladens Stellvertreter), zusammengearbeitet. Sein Verschwinden wurde mit einer Autobombe beantwortet, die sich gegen die kroatische Polizei richtete. Der Bombenleger war ein Kanadier, der für die Third World Relief Agency in Wien arbeitete. Da deutlich wurde, dass die Diplomatie versagt hatte, überfielen französische Soldaten 1998 eine Einrichtung der Mudschaheddin, die noch in Bosnien operierte und damit gegen das Dayton-Abkommen verstieß. Sie verhafteten zwei iranische Diplomaten und neun Gotteskrieger. Die Einrichtung war voller Sprengstoff, Waffen und Pläne für Terroranschläge auf amerikanische und andere westliche Militärs. Ebenfalls 1998 wurde eine Lieferung des Plastiksprengstoffs C-4 auf dem Weg zu einer Terrorzelle des ägyptischen Islamischen Dschihad in 226
Deutschland abgefangen. Es gab Hinweise darauf, dass er für eine Reihe von Anschlägen gegen amerikanische Militäreinrichtungen in Deutschland gedacht war. Noch im selben Jahr verschwand eine Zelle des ägyptischen Islamischen Dschihad im benachbarten Albanien. Die von Abu Hadschir (Mahmud Salim) geleitete Gruppe plante, die US-Botschaft in Tirana zu sprengen. Die Vereinigten Staaten drohten dem bosnischen Präsidenten Izetbegovič mit dem Ende der Militärhilfe und der Aussetzung sämtlicher Hilfsleistungen, wenn er sich nicht umfassend an das Dayton-Abkommen hielt und die Mudschaheddin des Landes verwies. Die Bosnier behaupteten, sie hätten sie bereits abgeschoben, mit Ausnahme von 60 Männern, die bosnische Frauen geheiratet hätten und bosnische Staatsbürger geworden seien. Erst im Jahr 2000, in seiner letzten Woche im Amt, wurde auf Anordnung Izetbegovičs der letzte verbliebene Anführer der Mudschaheddin, Abu al-Maali, ausgewiesen. (Die Niederlande hießen ihn willkommen.) Aber noch im Jahr 2002 wurden von den Vereinigten Staaten in Bosnien al-Qaida-Zellen entdeckt und von der bosnischen Polizei ausgehoben. Trotz der Versäumnisse Izetbegovičs war Bosnien im Großen und Ganzen ein Fehlschlag für al-Qaida. Sie investierten Geld und Leute, waren jedoch außerstande, einen größeren, ständigen Stützpunkt zu errichten und ein weiteres Land zu einem Teil des Kalifats umzuwandeln. Immerhin sammelten sie neue Erfahrungen und gruben sich tiefer in Westeuropa ein. Für die Vereinigten Staaten war Bosnien im Wesentlichen ein Erfolg. Auch wenn sie ein wenig spät eingriffen, waren die USA der Hauptgrund, dass die Regierung in Bosnien überlebte. Die USA unterbanden auch den Einfluss des Iran und der al-Qaida in dem Land. Darüber hinaus gelang es der CIA, Teile des 227
al-Qaida-Netzwerks zu lähmen und andere zu entlarven, zum großen Teil Strukturen in Europa, wo al-Qaida sich die Flüchtlingspolitik und andere Formen der internationalen Offenheit zunutze gemacht hat, um Fuß zu fassen. Obwohl westeuropäische Regierungen wussten, wer sich in ihren Ländern aufhielt, verschlossen weiterhin viele die Augen vor der Anwesenheit der al-Qaida. Die Moschee im Londoner Finsbury Park, das Islamische Kulturzentrum in Mailand und ähnliche Sammelbecken für Terroristen konnten ihre Arbeit ohne wesentliche Einschränkungen fortsetzen. Während des gesamten Aufenthalts Bin Ladens im Sudan diente das Land als Basis für Waffen und Kämpfer, die nicht nur nach Bosnien gelangten, sondern auch zu Terrorgruppen in Ägypten, Äthiopien, Uganda und sogar Gaddafis Libyen. Sudans Nachrichtendienst und Militär unterstützten die Terroristen. Im Juni 1995 reiste der ägyptische Präsident Hosni Mubarak in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba zu einem Treffen der Organisation für Afrikanische Einheit. Da der ägyptische Geheimdienst wusste, dass vom Sudan aus operierende ägyptische Terroristen ein Attentat auf Mubarak planten, bestand der Berater darauf, dass der Präsident in einer gepanzerten Limousine fuhr und dass auf den Dächern entlang der Route vom Flughafen aus Scharfschützen stationiert wurden. Ohne diese wäre Mubarak ein toter Mann gewesen. Terroristen des Islamischen Dschihad versuchten, die Straße zu blockieren, auf die Limousine zu feuern und den Konvoi in die Luft zu sprengen. Sie scheiterten nur knapp. Vieles sprach für eine Verbindung zu Terroristen im Sudan, und sämtliche Hinweise deuteten auf die Unterstützung der sudanesischen Regierung hin. 228
Nach diesem Ereignis beantragten Ägypten und die USA (gemeinsam mit anderen Ländern der Region) beim UNSicherheitsrat Sanktionen gegen den Sudan und erreichten diese auch. Zuvor war nur Libyen das Ziel von UNSanktionen wegen der Unterstützung von Terrorgruppen gewesen. In der Counterterrorism Security Group hielten wir die Sanktionen für einen seltenen diplomatischen Erfolg. Die CSG zog auch direkte Aktionen in Erwägung und prüfte Optionen für Angriffe auf Bin Ladens und/oder Turabis Einrichtungen in und um Khartum. Das Weiße Haus bat das Pentagon, Pläne für eine Operation der US Special Forces gegen al-Qaida-Einrichtungen im Sudan auszuarbeiten. Wochen später instruierte ein Team des Pentagon den Nationalen Sicherheitsberater Tony Lake und andere Entscheidungsträger in Lakes Büro im Westflügel. Es gab unter anderen die Option, eine terroristische Einrichtung zu stürmen, die von den Pentagon-Mitarbeitern »Veteranenheim für Kämpfer des Afghanistankrieges« genannt wurde, ferner den Plan, eine Bank im Zentrum Khartums in die Luft zu sprengen, von der man annahm, dass Bin Ladens Geld auf ihr deponiert war. Während die Stabsmitarbeiter pflichtgemäß die Pläne erläuterten, rieten sie jedoch dringend davon ab, sie in die Tat umzusetzen. »Das führt zu einem Krieg gegen den Sudan. Wenn Sie verdeckte Operationen wollen, gibt es dafür die CIA.« Die CIA verfügte jedoch nicht über die Kapazität, wirkungsvolle Einsätze gegen al-Qaida im Sudan durchzuführen, sei es verdeckt oder nicht. Die Saudis und vielleicht auch die Ägypter dachten möglicherweise ganz ähnlich über die Notwendigkeit nach, verdeckt gegen Bin Laden im Sudan vorzugehen. Aus dem Sudan erreichten uns Meldungen von zwei Vorfällen, bei denen jemand versucht hatte, Bin Laden zu 229
töten. Wir wussten außerdem, dass Mubarak Khartum drängte, gegen Terroristen einzuschreiten oder sie anderweitig zu bremsen. Ägypten hatte schon einmal Truppen und Flugzeuge an die sudanesische Grenze verlegt und Anfang der achtziger Jahre sogar seine Luftwaffe für die Bombardierung eines antiägyptischen Radiosenders in Khartum eingesetzt. Jetzt drohte Mubarak mit einem weiteren Truppenaufmarsch. Das schwache sudanesische Militär konnte vielleicht christliche Siedlungen im Süden des Landes das Fürchten lehren, war jedoch kein Gegner für das ägyptische Militär. Der Boden dort wurde allmählich zu heiß für den Anführer der alQaida. Afghanistan machte 1996 auf Bin Laden einen besseren Eindruck. Die Marionettenregierung, die die Sowjets in Kabul zurückgelassen hatten, war gestürzt, und nach fast zehn Jahren Bürgerkrieg zwischen den Splittergruppen hatte Pakistan interveniert, um die Lage zu stabilisieren. In der Hoffnung, die Millionen afghanischer Flüchtlinge würden Pakistan dann verlassen, hatte der pakistanische militärische Geheimdienst (ISID) die religiöse Bewegung der Taliban bewaffnet und ausgebildet, damit sie einen großen Teil Afghanistans unter ihre Kontrolle brachten. Der Führer der Taliban glich in vielem Sudans Turabi: er war ein religiöser Fanatiker, der mit vorgehaltenem Gewehr eine Theokratie errichten wollte. Genau wie Turabi war auch Mullah Omar mit Bin Laden bekannt und wollte unbedingt dessen Männer und Geld wieder im Land haben. Turabi und Bin Laden trennten sich in Freundschaft und schworen, den Kampf fortzusetzen und Khartum dabei als sicheren Hafen zu nutzen. Vor wenigen Jahren haben sudanesische Geheimdienstvertreter und dem Regime freundlich 230
gesinnte Amerikaner eine Legende über die letzten Tage Bin Ladens in Khartum erfunden. Ihr zufolge hat die sudanesische Regierung angeboten, Bin Laden zu verhaften und in Ketten an FBI-Agenten auszuliefern, aber Washington lehnte das Angebot dankend ab, weil die Clinton-Administration Bin Laden für nicht so wichtig hielt oder keinen Ort fand, wo sie ihn hätte vor Gericht stellen können. Die einzigen Körnchen Wahrheit in dieser Legende sind, dass a) die sudanesische Regierung jede Unterstützung für Terrorgruppen im Zuge der UN-Sanktionen dementierte und dass b) die CSG inoffiziell bei mehreren Ländern angefragt hatte, ob sie bereit wären, Bin Laden in Haft zu nehmen oder vor Gericht zu stellen. Niemand erklärte sich bereit. Dennoch hätten wir, wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, ihn in unsere Gewalt zu bringen, dies mit Freuden getan. Die Staatsanwältin Mary Jo White in Manhattan war dafür bekannt, selbst »ein Schinkensandwich verklagen« zu können. Sie hätte 1996 mit Sicherheit eine Anklageschrift gegen Bin Laden zuwege gebracht, wenn wir sie gebraucht hätten. Im Frühjahr 1998 tat sie es. Was das angebliche Angebot des Sudans angeht, uns Bin Laden auszuliefern, so war Turabi in Wirklichkeit keinesfalls bereit, seinen Partner zu verstoßen. Wenn sie gewollt hätte, dann hätte die sudanesische Regierung der Nationalen Islamischen Front (NIF) Bin Laden festsetzen können, genauso wie sie den legendären Terroristen Iljitsch Sánchez »Carlos« verhaften ließ, als er 1994 von der CIA und dann vom französischen Geheimdienst in Khartum enttarnt wurde. Doch Carlos war ein Einzelgänger, der nichts für die NIF tat. Osama bin Laden hingegen war ideologisch ein Blutsbruder, ein Familienfreund und Wohltäter der NIF-Führer. Er hatte 231
außerdem viele gut bewaffnete Anhänger. Turabi und Bin Laden beschlossen, die Führung der alQaida nach Afghanistan zu verlegen, um den internationalen Druck auf die NIF zu reduzieren. Außerdem konnte er so den Taliban helfen, einen weiteren Staat dem Kalifat einzuverleiben. Der Sudan, so glaubten sie, befand sich bereits auf dem besten Weg dorthin. (Turabi wurde 2002 vom sudanesischen Militär verhaftet und die NIF weitgehend aus Regierungsämtern verdrängt.) Die CSG zog jedoch weiterhin militärische Einsätze oder CIA-Operationen in Khartum in Betracht. Nach Bin Ladens Ausreise 1996 ergab eine Reihe von Geheimdienstberichten, dass sich ein Komplize Bin Ladens namens Abu Hafs al-Muratani in Khartum damit befasste, Terrorzellen in anderen Ländern zu unterstützen. Die Berichte wurden im Laufe der Zeit so genau, dass wir sein Hotel und das Zimmer in dem Hotel kannten, das er bewohnte. Ich leitete die Berichte an den Nationalen Sicherheitsberater Sandy Berger weiter, und empfahl, den Terroristen zu »verschleppen«. Meine CSG-Kollegen aus allen Behörden stimmten mir zu. Derartige Verschleppungen beziehungsweise »außergewöhnliche Auslieferungen« waren Operationen zur Ergreifung von Terroristen im Ausland, in der Regel ohne Wissen des Gastlandes und fast immer ohne öffentliche Billigung der betreffenden Regierung. Unter der Reagan-Administration hatte man einen Terroristen verschleppt. Fawas Junis, der 1985 an der Entführung eines jordanischen Flugzeuges beteiligt war, bei der drei Amerikaner ums Leben kamen, wurde auf ein Boot vor der libanesischen Küste gelockt und dann von FBIAgenten und Eliteeinheiten der Navy geschnappt. Mitte der neunziger Jahre wurden solche Kaperaktionen bereits zur Routine der CSG. Mal waren es Verhaftungsteams des 232
FBI, mal CIA-Mitarbeiter, die Terroristen in die Staaten verschleppten, damit sie dort vor Gericht gestellt werden konnten, oder sie brachten sie zur Inhaftierung in andere Länder. Bis auf einen Einzigen wurden alle Beteiligten am Attentat auf das World Trade Center 1993 aufgespürt und nach New York gebracht. Dennoch verlief mein Vorschlag nach und nach im Sand. Im Westflügel des Weißen Hauses fanden mehrere Treffen statt, und Berger forderte die Verschleppung. Die versammelten Stabschefs gaben jedes Mal die Antwort, die Militärs stets geben, wenn sie etwas nicht tun wollen: eine sehr große Einsatztruppe wäre nötig; die Operation wäre riskant und könnte scheitern, dabei würden US-Soldaten gefasst und getötet werden, was dem Präsidenten schaden würde; nach ihrer »professionellen militärischen Meinung« lasse man es besser bleiben; aber natürlich würden sie es tun, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten ihnen schriftlich den Befehl erteilte; und im Übrigen sagten militärische Juristen, die Aktion wäre einen Verstoß gegen internationales Recht. Professor Richard Shultz von der Fletcher School kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen in der Frage, wie das USMilitär sich vor dem 11. September weigerte, Terrorismus zu bekämpfen. Seine Studie ist in dem Artikel »Show Stoppers« im Weekly Standard vom 21. Januar 2004 zusammengefasst. Als ich im Jahr 1993 das erste Mal eine Verschleppung vorschlug, verlangte Lloyd Cutler, der Rechtsberater des Weißen Hauses, ein Treffen mit dem Präsidenten, um ihm zu erklären, inwiefern eine solche Aktion gegen internationales Recht verstieß. Clinton schien auf der Seite von Cutler zu stehen, bis Al Gore verspätet zu dem Treffen stieß. Er war eben erst aus Südafrika 233
zurückgekehrt. Clinton rekapitulierte die Argumente der beiden Seiten für Gore. Gore lachte und sagte: »Da gibt’s nicht viel zu überlegen. Natürlich ist es ein Verstoß gegen internationales Recht, deshalb ist es ja eine verdeckte Operation. Der Kerl ist ein Terrorist. Los, schnappt ihn euch.« Wir versuchten es, scheiterten aber. Wir lernten, dass sich die Umstände häufig ändern in der Zeit, bis das Verschleppungskommando endlich an Ort und Stelle ist. Manchmal sind auch die Informationen falsch, und manche Regierungen kooperieren mit den Terroristen. Einen Versuch ist es jedoch allemal wert, denn wir hatten oft genug Erfolg. Doch während der Diskussion von 1996 um den Sudan wandte sich Berger an George Tenet und fragte, ob die CIA den Mann in dem Hotelzimmer in Khartum schnappen könnte. Tenet entgegnete, dass sie nicht imstande wären, so etwas in dieser feindseligen Umgebung durchzuführen, und es gebe auch keinen befreundeten Nachrichtendienst, der es für sie übernehmen könnte (oder wollte). Mike Sheehan, der Colonel der Special Forces, der in Somalia und Haiti mit mir gegen Terrorismus gekämpft hatte, erbot sich, selbst nach Khartum zu fahren und die Verschleppung zu übernehmen. Er sagte das nur halb im Scherz: »Der Typ hat doch nicht einmal Leibwächter. Zieht ihm eins über und werft ihn in einen Chevy Kombi.« Zu Bergers, Albrights und meiner Enttäuschung räumte die CIA am Ende ein, dass sie keine Möglichkeit sehe, in Khartum eine Verschleppung durchzuführen. Das Pentagon war einmal mehr nur imstande, sich Optionen auszudenken, die wahrscheinlich zu einem Krieg gegen den Sudan geführt hätten. Zwei Jahre danach stattete Sheehan dem Hauptquartier des Joint Special Operations Command in Fort Bragg (dem auch die Delta Force 234
unterstellt ist) einen Besuch ab. Er kam mit zwei Green Berets ins Gespräch. Sie erzählten sich gegenseitig von den Operationen, an denen sie teilgenommen hatten, und von solchen, die zwar geplant, aber nie durchgeführt worden waren. Die beiden erzählten Sheehan von ihrem Plan für die Verschleppung eines al-Qaida-Führers in einem Khartumer Hotel. »Wär so nett gewesen. Sechs Mann. Zwei Fahrzeuge. Rein und raus. Leichter Abtritt über die Grenze und Abflug, kaum Risiko.« »Wirklich?«, fragte Sheehan und tat so, als wüsste er nichts von der vorgeschlagenen Verschleppung. »Und was ist passiert? Warum habt ihr es nicht gemacht?« »Scheiß Weißes Haus«, sagte der Green Beret voller Verachtung. »Clinton hat Nein gesagt.« »Woher wisst ihr das?«, erkundigte sich Mike harmlos. »Vom Pentagon.« Ob es darum ging, Kriegsverbrecher in Jugoslawien oder Terroristen in Afrika und im Nahen Osten zu schnappen, es war immer das gleiche Lied. Das Weiße Haus wollte Taten. Die hohen Militärs unternahmen nichts und machten es dem Präsidenten unmöglich, ihre Einwände zu übergehen. Als das Weiße Haus sich 1993 auf das Militär verlassen hatte, um Aidid in Somalia zu ergreifen, da vermasselten sie die Operation und gaben hinter vorgehaltener Hand in Gesprächen mit Reportern und Kongressmitgliedern dem Weißen Haus die Schuld. Welcher Berater des Weißen Hauses wollte schon eine Wiederholung dieser Blamage? Oft genug bekamen wir jedoch zu hören, dass hohe Offiziere bis zu den unteren Rängen die Meldung durchsickern ließen, die Politiker im Weißen Haus seien diejenigen, die zögerten. Tatsache ist, dass Clinton jede Verschleppung genehmigte, die wir ihm zur Prüfung vorlegten. Jede Verschleppung, die CIA, 235
Justiz- oder Verteidigungsministerium während meiner Amtszeit als Vorsitzender der CSG von 1992 bis 2001 vorschlugen, wurde genehmigt. In einem kurzen Vorgriff sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass die CIA 1998 durchaus imstande war, in der Nähe von Khartum zu operieren. Seit Jahren hatten wir Meldungen erhalten, der Sudan wolle chemische Waffen herstellen. Die Berichte aus verschiedenen Quellen, unter ihnen die UNSCOM, deuteten darauf hin, dass der Sudan chemische Bomben und Artilleriegranaten baute. Es gab nur wenige Orte im Sudan, wo man die benötigten Chemikalien herstellen konnte. Dazu zählte eine chemische Fabrik bei Schifa. Aus den Geheimdienstberichten ging hervor, dass die Fabrik von staatlichen Investitionen der sudanesischen Kommission für Rüstungsindustrie profitiert hatte, der wiederum Investitionen von Bin Laden zugeflossen waren. Bin Laden hatte bei seinem Umzug nach Khartum eine Investmentfirma gegründet: Taba Investments. Unabhängig voneinander berichteten mehrere Quellen, dass er sich chemische Waffen beschaffen wollte, ja sogar Atomwaffen. Bislang war nicht klar, woher. Satellitenfotos von Schifa zeigten eine Fabrik wie viele andere, die imstande war, eine Vielzahl von Chemikalien herzustellen, harmlose wie auch militärische. In den Jahren 1991 und 1992 hatte ich gemeinsam mit dem Rüstungskontrolleur Ron Lehman an einem internationalen Verbot chemischer Waffen gearbeitet, das auch ein Inspektionsverfahren vorsah, um die Einhaltung zu überprüfen. Im Laufe der Verhandlungen war ich buchstäblich auf allen Vieren durch Chemiefabriken gekrochen und hatte viel von Chemieingenieuren gelernt. Bei den internationalen Verhandlungen, die 1992 folgten, waren die teilnehmenden Nationen sich einig, dass viele 236
Chemiefabriken in der Lage waren, an einem Tag ein Nervengas zu produzieren, am nächsten hingegen Farbe, Kunstdünger oder Medikamente. Die Chemiewaffenkonvention sah deshalb internationale Inspektionen von »harmlosen« Chemiefabriken vor, um zu prüfen, ob sie nicht vor kurzem für die Herstellung von Waffenmaterial verwendet worden waren. Auch durften ihr zufolge internationale Inspektoren Bodenproben innerhalb und außerhalb der Fabrik nehmen. Der Sudan hatte sich geweigert, die Konvention zu unterzeichnen. In der Nähe von Schifa gab es noch zwei andere Einrichtungen. Eine war ein von einer hohen Mauer umgebener und schwer bewachter Gebäudekomplex, laut Auskunft von Einheimischen ein Rüstungsbetrieb. Die andere war ein Depot für Artilleriegranaten. Es war denkbar, dass hin und wieder Komponenten für chemische Kampfstoffe in Schifa hergestellt und dann in diesem Gebäudekomplex zu tödlichen Substanzen gemischt und in Granaten gefüllt wurden, die man dann in dem Depot lagerte. Die CIA versuchte zu ermitteln, ob die Fabrik in Schifa einen Teil der Arbeitszeit für die Herstellung tödlicher Gase verwendete. Zu diesem Zweck schickte sie einen Agenten nach Khartum mit dem Auftrag, Rückstände von Chemikalien zu sammeln, die über die Luft oder Abwässer aus den Fabriken entwichen waren. Es war nicht ungefährlich, zur Fabrik zu fahren und Bodenproben zu nehmen, aber es klappte. Die Proben wurden in einem unabhängigen und für seine Zuverlässigkeit bekannten Labor analysiert. Die Tests ergaben eine chemische Substanz, die als EMPTA bekannt ist. EMPTA war die wichtigste Zutat für irakisches Nervengas. Keine andere Verwendung für die Substanz war bekannt, außerdem hatte unseres Wissens kein anderer 237
Staat jemals EMPTA zu irgendeinem Zweck benutzt. Was machte ein irakischer chemischer Kampfstoff im Sudan? Laut UNSCOM und anderen Informanten der USRegierung bastelten Iraker an irgendetwas in einer Einrichtung in der Nähe von Schifa. War es möglich, dass der Sudan mit Bin Ladens Geld ein paar Iraker für die Herstellung chemischer Waffen angestellt hatte? Das schien beängstigend möglich. Das Regime in Khartum führte immerhin einen Feldzug, dessen Ziel allem Anschein nach die Vernichtung der Schwarzen war, die im Südsudan lebten. Von zahlreichen internationalen Hilfsorganisationen gab es Hinweise auf Gräueltaten, zum Beispiel die Bombardierung von Nahrungsmittelausgabestellen. Chemische Waffen kamen den Machthabern da sicher sehr gelegen. Es war auch wahrscheinlich, dass Bin Ladens Freunde in Khartum den Terroristen einen Teil der Chemiewaffenproduktion zukommen ließen. Im Jahr 2001 schilderte der al-Qaida-Aktivist Dschamal al-Fadl in einem Verhör, das der Assistant US-Attorney Pat Fitzgerald führte, ganz sachlich seine Rolle, als er im Auftrag seiner Terrororganisation in den Sudan reiste. Sein Auftrag sei es gewesen, den Fortgang der Arbeit an der Entwicklung chemischer Waffen zu beaufsichtigen, die al-Qaida in Khartum in die Wege geleitet habe. In seinen ersten vier Jahren im Sudan hatte Bin Laden sich im Hintergrund gehalten und die Vereinigten Staaten nicht offen angegriffen. 1995 gab es Hinweise auf sein Geld und seine Unterstützung in Bosnien, Tschetschenien, auf den Philippinen, in Ägypten, Marokko und in Europa. Gerüchten zufolge war er an den Anschlägen in New York, Somalia, Saudi-Arabien und im Jemen beteiligt. Doch das waren nur Gerüchte. Er kannte möglicherweise Chalid Scheich Mohammed, der wiederum 238
möglicherweise der Onkel von Ramsi Jussuf war, jenem Mann, der 1993 die Bombe beim World Trade Center gelegt und später versucht hatte, Jumbo Jets über dem Pazifik anzugreifen. Im Sommer 1995 hatte Bin Laden einen offenen Brief an den saudischen König Fahd geschrieben, in dem er die amerikanische Truppenpräsenz heftig kritisierte. Auf Druck des Weißen Hauses und mit der Unterstützung von Mitarbeitern in ihrem Zentrum für Terrorismusbekämpfung fing die CIA an, Pläne für eine Abteilung zu entwickeln, die sich mit den Ermittlungen gegen ein »Netzwerk Bin Laden«, auf dessen Existenz man sich inzwischen geeinigt hatte, befassen sollte. Da man die CIA-Station in Khartum, wo Bin Laden sich aufhielt, nicht in Gefahr bringen wollte, arbeiteten sie an einem Vorschlag für eine Neuerung: eine »virtuelle Station«. Sie sollte wie eine Dienststelle im Ausland strukturiert sein, physisch würde sie nicht einmal im Hauptquartier der CIA existieren. Im Frühjahr 1996 kam dann Bewegung in das Geschehen. Bin Laden floh nach Afghanistan und schloss einen Teil seiner Unternehmen und Häuser in Khartum. Nach seiner Abreise suchte Dschamal al-Fadl, der mit dem »Netzwerk Bin Laden« mit Stützpunkt im Sudan weitgehend vertraut war, den Schutz der Vereinigten Staaten. Er hatte Gelder abgezweigt und fürchtete nun, umgebracht zu werden. Fadls Vernehmung trug maßgeblich dazu bei, dass die neue virtuelle Station das Ausmaß und den Aufbau des Netzwerks erkannte. Sie entdeckten ein weit verzweigtes und sehr rühriges Netz, vertreten über Tochtergruppierungen oder Schläferzellen in über 50 Ländern. Ramsi Jussuf und der blinde Scheich hatten ihm angehört. Bin Laden war nicht nur der Financier, er war der führende Kopf. 239
Das Netzwerk hatte auch einen Namen, wie wir erfuhren: Osama bin Laden, der Sohn eines Bauunternehmers, hatte sein Terrornetzwerk al-Qaida genannt, Grundstein oder Basis. Es war der erste Baustein, das notwendige Fundament für das Gebilde, das eine globale Theokratie werden sollte, das große Kalifat. Die Taliban hießen Bin Laden begeistert in Afghanistan willkommen. Er hatte schon während der Zeit im Sudan Ausbildungslager für Terroristen in dem Land finanziert. Kämpfer in Tschetschenien und Bosnien hatte man in diesen Einrichtungen ausgebildet. Jetzt wurden die Lager um neue Rekruten aus der ganzen islamischen Welt erweitert. Wer sich besonders auszeichnete, stieg entweder in die 55. Brigade auf, eine Einheit, die Bin Laden geschaffen hatte, um den Taliban bei ihrem Kampf gegen afghanische Gegner beizustehen, oder wurde in Schläferzellen geschickt, die sich in der ganzen Welt bildeten. Ab 1996 und 1997 entwickelte die CSG Pläne für die Ergreifung Bin Ladens in Afghanistan. Nach einem Plan sollte ein afghanisches Kommando den gefesselten und geknebelten Bin Laden zu einem Landstreifen fahren, auf dem ein Flugzeug der CIA kurzfristig landen konnte, um ihn dann sofort auszufliegen. Obwohl die CIA nicht gern innerhalb von Afghanistan operierte, machte sie zumindest so weit eine Ausnahme, als sie den Landstreifen inspizierte und prüfte, ob dort Landung, Wende und Neustart möglich waren. Das Flugzeug ohne Kennzeichen wurde in einem benachbarten Land in Position gebracht. Der Plan hatte allerdings den Fehler, dass wir nicht wissen konnten, wann er durchgeführt würde. Wenn Bin Laden überraschend ergriffen wurde, musste er fast einen Tag lang festgehalten werden, bis das Flugzeug eintraf. In dieser Zeit würden seine Männer und die Taliban nach 240
ihm suchen. Die Gefahr, dass sie das Flugzeug entdeckten und möglicherweise CIA-Mitarbeiter gefangen nähmen, war groß. Eine Variante des Plans wurde ausgearbeitet. Das afghanische Ergreifungsteam sollte nicht einfach darauf warten, dass Bin Laden ihnen über den Weg lief, sie sollten ihn in seiner »Farm« schnappen, und zur selben Zeit sollte das CIA-Flugzeug bereits die Grenze überfliegen. Das klang gut. Ich wollte mir die Aufnahmen und Karten ansehen. Die »Farm« umfasste mehrere Dutzend Gebäude, umgeben von einer dreieinhalb Meter hohen Mauer. An jeder Ecke der Mauer befand sich eine Maschinengewehrbatterie. Außerhalb waren zwei T-55Panzer geparkt. Ein Frontalangriff des afghanischen Teams hätte aller Wahrscheinlichkeit nach den Tod der wenigen Kräfte bedeutet, die die CIA in dem Land hatte. Die CSG entschied sich einstimmig gegen einen Angriff. (Unter den vielen Legenden um al-Qaida, die nach dem 11. September aufkamen, war auch das Gerücht, dass Justizministerin Janet Reno ihr Veto gegen die Operation eingelegt habe. Das stimmt nicht. George Tenet und ich taten es, um zu vermeiden, dass alle vier afghanischen Mitarbeiter getötet wurden.) Stattdessen sollten die Afghanen der CIA nach einer anderen Möglichkeit suchen, den Führer der al-Qaida zu fassen. Bin Laden fiel uns zwar nicht in die Hände, aber 1997 hatte die CIA einen anderen Erfolg zu verbuchen. Nachdem Mir Amal Kansi an der Pforte zum Hauptquartier Mitarbeiter des Geheimdienstes erschossen hatte, versprach die CIA den Familien der Opfer, Rache zu üben. Schon einen Tag nach dem Schusswechsel kannten sie Kansis Namen. Dennoch war er in aller Ruhe an Bord 241
eines Flugzeugs nach Pakistan gestiegen, und niemand hatte ihn aufgehalten. Niemand von der CIA wartete auf ihn, als er in Pakistan eintraf. Wie der viel bedeutendere Osama bin Laden war auch Kansi das schwarze Schaf einer großen und wohlhabenden Familie. Auch wenn die Kansis beunruhigt waren, erkauften sie bei einem afghanischen Warlord Zuflucht für Mir Amal. Vier Jahre versuchte die CIA, Kansi aufzuspüren und zu ergreifen. Vergeblich. Bemerkenswert an den Plänen war die Tatsache, dass die CIA in keinem einzigen Fall einfach beschloss, ein Team der CIA oder des Pentagon in die afghanische Festung zu schleusen, in der sich Kansi versteckte. Wieder einmal zögerte sie, eigene Mitarbeiter nach Afghanistan zu schicken. Nach einer Weile gelangte Kansi jedoch zu der Auffassung, dass die CIA ihn vergessen hatte. Er fing an, Reisen nach Pakistan zu unternehmen. Die Leute in Pakistan plauderten das aus. Am Ende lockte die CIA ihn zu einem Treffen, einem angeblichen Waffendeal. Die CSG ging den Ergreifungsplan Punkt für Punkt durch. Wir stimmten zu, dass der Verdächtige an die Polizei in Fairfax, Virginia, übergeben werden sollte, damit der Staatsanwalt des Commonwealth den Fall übernehmen konnte. Das ging schneller als bei den Bundesgerichten. Dann warteten wir auf den Abend. Der CIA-Parkplatz war an jenem Wochenende fast leer. Die Eingangstür war versperrt. Ich ging um das Gebäude herum und trat durch einen Seiteneingang mit einer schläfrigen Wache ein. Ich ging nicht in das Operationszentrum mit den Flachbildschirmen, sondern in den Kommunikationsraum des Zentrums für Terrorismusbekämpfung, ein finsteres Loch voller elektronischer Geräte. Hier drängte sich eine kleine Gruppe um einen Funktisch. Die Szene erinnerte an 242
London im Zweiten Weltkrieg – Funker im Kontakt mit der französischen Resistance. Der Funker rief stattdessen einen Chevy Kombi, der vor einem chinesischen Restaurant und einem Hotel in einer pakistanischen Stadt nicht weit von der afghanischen Grenze vorgefahren war. In dem Wagen bereitete sich ein gemeinsames CIA-FBI-Team auf den morgendlichen Ruf zum Gebet vor. Unser Informant hatte Mir Amal Kansi im dritten Stockwerk des Hotels untergebracht. Kansi wartete auf ein Klopfzeichen an der Tür gegen 4.00 Uhr morgens, von einem Freund, der ihn zur Moschee begleiten sollte. Wir warteten auf etwas anderes. Der Uhrzeiger in dem Funkraum wanderte an 4.00 Uhr pakistanischer Ortszeit vorbei. Das Funkgerät blieb stumm. Ich sah mich in dem rot erleuchteten Raum um und bemerkte George Tenet in einem Freizeitanzug mit einer Zigarre zwischen den Zähnen. Sein Stellvertreter General John Gordon trieb sich an der Tür herum. Auch seine Geduld ging offenbar allmählich zu Ende. Schließlich hielt Tenet es nicht länger aus: »Wo zum Teufel sind sie? Frag sie, wo sie sind, dort ist es jetzt 4.15 Uhr.« »Red Rover, Red Rover, kommen, over.« Der Funker versuchte, das Team vor Ort zu erreichen. Nichts. Um 4.30 Uhr knackte es endlich im Funkgerät. »Basis, Basis, hier Red Rover. Das Paket ist gestartet. Wiederhole, das Paket ist gestartet.« Sofort wurden unter den Sitzen Champagnerflaschen hervorgeholt, und unter Jubel und Umarmungen knallten die Korken. Tenet zündete die Zigarre an, blickte zu mir herüber und sagte: »Sag meiner Frau nichts.« Er hatte bereits einen leichten Herzinfarkt 243
erlitten und durfte eigentlich nicht rauchen. Kansi hatte auf das Klopfen hin die Tür geöffnet und fand sich plötzlich mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden seines kleinen Zimmers wieder. Er bekam nicht den Ruf zum Morgengebet zu hören, sondern die Aufklärung über seine Rechte durch das FBI. Zwei Minuten später raste der Kombi durch die leeren Straßen zum Flughafen, wo eine C-12 mit laufenden Motoren wartete. Vier Jahre lang hatte die CIA mit allen Tricks versucht, einen Mann zu fassen, einen Mann, der sie bloßgestellt hatte, indem er ihr eigenes Hauptquartier angegriffen und ihre eigenen Leute umgebracht hatte. Nun hatte sie zumindest zum Teil das peinliche Versagen wettgemacht. Als ich aus dem Gebäude trat, lag dünner Nebel auf dem Boden. Während ich aus dem Tor auf die Route 123 fuhr, sah ich die Kreuze neben der Straße, wo sie gestorben waren. Es dürfte ein gewisser Trost für die Familien sein, dass der Killer nunmehr in Haft war und höchstwahrscheinlich in Virginias Todestrakt sterben würde. George Tenet war bereits dabei, die Familien anzurufen, während ich nach Hause fuhr. Die Verschleppung Kansis vermittelte der CIA wieder ein gutes Gefühl, vier Jahre nachdem er ihr Hauptquartier angegriffen hatte. Neben Kansi prüfte und arrangierte die CSG routinemäßig die Auslieferung von Terroristen an die Vereinigten Staaten und andere Länder. Leider schlug ein weiterer Verschleppungsversuch fehl, eine Verschleppung, die möglicherweise den 11. September verhindert hätte. Bis auf einen waren alle unmittelbar an dem Anschlag von 1993 auf das World Trade Center Beteiligten wieder in die Vereinigten Staaten gebracht worden. Rädelsführer war Ramsi Jussuf gewesen, der mit einem anderen al-Qaida244
Aktivisten in Verbindung stand, mit Chalid Scheich Mohammed. 1996 hatte eine Grand Jury in New York Mohammed wegen der Unterstützung dieser Verschwörung vom Ausland aus angeklagt. Außerdem wurde ihm die indirekte Beteiligung an dem Plan vorgeworfen, Jumbo Jets über dem Pazifik zu attackieren. Das FBI teilte der CSG mit, dass er der Onkel von Jussuf sei, und stellte Jussuf als den führenden Kopf dar, Mohammed hingegen lediglich als den schlechten Einfluss in seinem Leben. Dennoch wollten wir Mohammed. Ein Jahr nach der Anklage erfuhren wir, dass sich Chalid Scheich Mohammed in Doha in Katar aufhielt, wo er angeblich im Wasserministerium arbeitete. Da ich schon einmal in Katar war, legte ich keinen Wert darauf, ihn durch die einheimische Polizei verhaften zu lassen. Ich hatte sie als eine Parodie in Erinnerung. 1991 hatten es katarische Polizeiautos, die meine Wagenkolonne eskortierten, tatsächlich geschafft, in einer Stadt, in der fast kein Verkehr herrschte, ineinander zu krachen. In Anbetracht dessen wollte ich wissen, ob wir die Ergreifung ohne Wissen der katarischen Regierung durchführen könnten. Leider erklärten CIA und FBI, dass sie nicht über ausreichende Kapazitäten für eine verdeckte Verschleppung in Katar verfügten. Und die Pläne des Pentagon sahen, wie üblich, eine Streitmacht vor, die für die Eroberung eines ganzen Landes besser geeignet gewesen wäre als für die Verhaftung eines einzigen Mannes. Unser Botschafter in Katar war Patrick Theros, ein Mann vom Fach und ehemaliger Mitarbeiter der CSG. Ich fragte ihn, ob es ihm möglich sei, die Genehmigung des Emirs für eine Ergreifung zu erhalten, ohne dass irgendjemand davon erfuhr. Er hielt das für möglich, konnte es aber nicht garantieren. Dennoch beschloss die CSG, da wir 245
keine Alternative hatten, den Versuch zu wagen und ein Team des FBI mit Erlaubnis der Regierung ins Land zu schicken, wobei eine kleine Gruppe hoher einheimischer Sicherheitsbeamter sie bei der Verhaftung begleiten sollte. Trotz der Versicherungen Katars, dass nur ganz wenige Beamte in unseren Plan eingeweiht seien, bekam Chalid Scheich Mohammed davon Wind und konnte fliehen, bevor das FBI-Team eintraf. Wir schäumten natürlich vor Wut über den katarischen Sicherheitsdienst und nahmen an, dass sich das Leck im Palast selbst befand. Laut einer Meldung hatte Chalid Scheich Mohammed das Land mit einem Pass verlassen, den ihm das Ministerium für religiöse Angelegenheiten beschafft hatte. Chalid Scheich Mohammed war allerdings nicht nur ein schlechter Einfluss auf seinen schlauen Neffen, sondern der wahre führende Kopf. Er plante nicht nur den Anschlag auf das WTC von 1993 und den Angriff auf die Jumbo Jets von 1995, er war auch ein enger Vertrauter Bin Ladens und oberster Einsatzleiter der al-Qaida. Wenn die CSG das damals gewusst hätte, dann hätte der Nationale Sicherheitsrat darauf bestanden, dass die CIA oder das Militär ein Verschleppungsteam zusammenstellt, trotz deren Proteste. Wenn wir gewusst hätten, welche Rolle Chalid Scheich Mohammed noch spielen sollte, hätten wir eine groß angelegte Jagd auf ihn eingeleitet. Doch die Rolle dieser Schlüsselfigur der al-Qaida wurde der CIA und dem FBI erst nach den Anschlägen vom 11. September deutlich. Meldungen zufolge kooperieren auch andere Länder nicht immer bei derartigen Verschleppungen. Adam Garfinkle berichtete in der Frühjahrsausgabe 2002 der Zeitschrift National Interest, dass Imad Mugnijah 1997 das Ziel eines amerikanischen Verschleppungsversuchs war. Er befand sich an Bord eines Flugzeugs, das in Saudi246
Arabien landen sollte, doch die saudische Regierung verweigerte der Maschine die Landung, statt bei der Ergreifung des Hisbollah-Führers mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten. Zu Beginn des Jahres 1998 wurde al-Qaida stärker, weil sie sich mit dem ägyptischen Islamischen Dschihad zusammenschloss. Das FBI hatte die Beteiligung des ägyptischen Scheichs Abd ar-Rahman an Plänen für Terroranschläge in New York 1993 aufgedeckt. 1996 hatte man ihn bereits zu lebenslanger Haft in den Vereinigten Staaten verurteilt. Seine Freunde, darunter Osama bin Laden und der Anführer des ägyptischen Islamischen Dschihad, Aiman Sawahiri, hatten Racheakte geplant und wollten seine Freilassung erreichen. Im Jahr 1997 überfielen sie im ägyptischen Luxor Touristen und ermordeten 62 Menschen. Die ägyptische Polizei fand die Leichname aufgeschlitzt vor und in den Wunden steckten Flugblätter, in denen die Freilassung des blinden Scheichs gefordert wurde. Angesichts des drohenden Zusammenbruchs der Tourismusindustrie ging Ägypten mit noch größerem Eifer gegen die Dschihad-Kämpfer vor als nach dem Versuch, ein Attentat auf Präsident Mubarak in Äthiopien zu verüben. Geschwächt näherte sich der ägyptische Islamische Dschihad Bin Laden an. Der Sohn des blinden Scheichs unterstellte sich ihm persönlich und versprach Rache an den Vereinigten Staaten. Im Februar 1998 waren Islamischer Dschihad und al-Qaida unter den zahlreichen Gruppen, die gemeinsam Ägypten, den USA und anderen Staaten den Krieg erklärten. Das war durchaus kein Schock für uns. Wir hatten uns schon im Krieg gegen alQaida betrachtet, als wir noch nicht einmal den Namen kannten, geschweige denn ihre Reichweite. Wir arbeiteten 247
seit wenigstens drei Jahren mit befreundeten Regierungen daran, Schläferzellen in Europa, Afrika und im Nahen Osten zu identifizieren und zu zerstören. Wir hatten die Ergreifung zahlreicher al-Qaida-Aktivisten eingefädelt und geplant, Bin Laden selbst zu ergreifen. Im Frühjahr 1998 erhob die Grand Jury der Manhattaner Staatsanwältin Mary Jo White Anklage gegen Bin Laden. Wie gern hätte ihn die CSG auf die Liste gefasster Terroristen gesetzt. Anfang 1998 wollten wir gegen alQaida in die Offensive gehen. Wir wollten auch ein umfassendes Programm zum Schutz des eigenen Landes vor Terroranschlägen in die Wege leiten, sei es von alQaida oder von anderen Gruppen. Nach den Ereignissen von 1998 sollte es leichter fallen, den Kongress und die Medien zu überreden, dass wir beides tun mussten.
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7 Die Anfänge des Heimatschutzes Als ich 1995 an einem Sonntagabend einen Anruf aus dem Lagezentrum erhielt und erfuhr, dass es in Tokio einen Anschlag gegeben hatte, deuteten die ersten Berichte auf Chemiewaffen hin. Die ersten Berichte sind normalerweise falsch, trotzdem fuhr ich zum Lagezentrum. Die Berichterstattung der Medien war ziemlich überzeugend, daher nahm ich an, dass Chemiewaffen eingesetzt worden waren. Meine Anrufe bei der CIA, dem FBI und dem Außenministerium erbrachten auch nicht mehr, als ich bereits bei CNN erfahren hatte, weshalb ich im Gesundheitsministerium anrief. Vor einiger Zeit hatte ich eine behördenübergreifende Arbeitsgruppe für Terrorismus und Massenvernichtungswaffen gegründet. Darin fielen zwei besonders engagierte Mitarbeiter auf, die genauso besorgt waren wie ich über die Möglichkeit, dass die mysteriöse Organisation von Ramsi Jussuf Chemiewaffen oder Atomwaffen in die Hände bekommen könnte. Die eine war Lisa Gordon-Hagerty vom Energieministerium. Sie hatte die Nuklearforschung des Ministeriums mit den Kommandos des Joint Special Operations Command verknüpft und führte Übungen durch, die sich damit befassten, was man unternehmen muss, um Terroristen eine Atombombe abzunehmen. Das andere Mitglied der Gruppe war Frank Young vom Public Health Service im Gesundheitsministerium. Der Public Health Service ist ein bizarrer zivil-militärischer Zwitter. Er gehört zum Gesundheitsministerium, die 249
Mitarbeiter tragen aber Marineuniformen und benutzen auch die Dienstgrade der Marine. Frank war daher nicht nur Arzt, sondern auch Admiral. In seiner Freizeit war er außerdem noch protestantischer Geistlicher. Er hatte ein landesweites Expertennetzwerk für chemische und biologische Waffen geschaffen. Biochemiker und Ärzte sollten untersuchen, ob ungewöhnliche medizinische Befunde, die gelegentlich auftraten, auf den Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen durch Terroristen hindeuteten. An jenem Sonntagabend im März 1995 rief ich Frank aus dem Lagezentrum an. »Admiral, Doktor, Reverend, Frank«, begann ich. »In Tokio gibt es einen seltsamen Vorfall.« »Aus den Pressemeldungen könnte man schließen, dass ein Nervengas eingesetzt wurde«, antwortete Frank. »Aber keines, das dem japanischen Militär zur Verfügung steht. Ich könnte ein Team zusammenstellen, das so bald wie möglich nach Tokio fliegt und den Japanern bei der Untersuchung des Vorfalls hilft. Ich rufe auch meine japanischen Kollegen an. Dort ist es jetzt Morgen.« »Klingt gut, Frank. Ich veranlasse im State, dass die Botschaft in Tokio Ihr Team unterstützt. Sehen Sie, was Sie herausfinden können. Morgen Vormittag halten wir dann eine Sitzung der CSG [Counterterrorism Security Group] ab.« An jenem Montagmorgen waren dann zum ersten Mal Mitarbeiter vom Gesundheitsministerium bei einer Sitzung der CSG im Lagezentrum mit dabei. Frank Young saß in seiner Admiralsuniform gegenüber dem Vorsitzenden an der anderen Seite des Tisches und hatte einen ausführlichen Bericht fertig: »Das verwendete Nervengas war Sarin, aber anscheinend nicht in der vom Militär verwendeten Konzentration. Für den Anschlag ist eine Sekte verantwortlich, die Aum Shinrikyo.« 250
Mittlerweile hatte ich genug Erfahrung mit der CIA und dem FBI und war mir sicher, dass sie noch nie von Aum gehört hatten. Ich wurde nicht enttäuscht. Abgesehen von den Pressemeldungen der vergangenen zwölf Stunden hatten sie nichts in ihren Akten. John O’Neill, den neuen FBI-Vertreter in der CSG, hatte ich jedoch zu schätzen gelernt. Wir hatten im Vormonat eng zusammengearbeitet und die Verhaftung von Ramsi Jussuf koordiniert. O’Neill war damals gerade mal eine Woche auf diesem Posten, davor war er mit der Bekämpfung des organisierten Verbrechens in Chicago betraut gewesen. Er hatte tagelang durchgearbeitet, ohne nach Hause zu gehen, und an jedes Detail gedacht. O’Neill war sehr klug und engagiert, Späßen aber nicht abgeneigt. Wie ich kam er aus einer Arbeiterfamilie und nahm kein Blatt vor den Mund, was einigen zu direkt war. Ich beschloss, ihn ein bisschen zu provozieren und zu sehen, wie er darauf reagierte. »Wie können Sie so sicher sein, dass es die Aum-Sekte hier nicht gibt, John? Nur weil Sie keine FBI-Akte über die Sekte haben? Haben Sie im Telefonbuch von Manhattan nachgesehen, ob die Sekte dort nicht zufällig drinsteht?« »Ist das Ihr Ernst?«, fragte O’Neill, unsicher, ob ich nicht vielleicht scherzte. Ich versicherte ihm, dass ich es ernst meinte. Er wies einen Mitarbeiter an, beim FBI in New York anzurufen. Nach einer Weile kam der FBIAgent zurück und reichte O’Neill einen Zettel. O’Neill warf einen Blick darauf und sagte: »Mist. Die Sekte steht im Telefonbuch, 48. Straße East, Ecke Fifth Avenue.« Alle Sitzungsteilnehmer hatten den gleichen Gedanken: Sarin in der New Yorker U-Bahn. O’Neill forderte Unterstützung an: »Wir brauchen hier schnell Dekontaminierungsexperten für chemische Waffen. Leute, 251
die Chemikalien aufspüren und erkennen können. Das Militär.« Die Vertreter des Pentagon waren nicht begeistert über die Aussicht, dass tarnfarbene Militärlastwagen durch Midtown Manhattan rumpelten, aus denen dann Soldaten in Schutzanzügen sprangen, während die Restaurantbesucher im Rockefeller Center in wachsender Panik zusahen. Außerdem war die nächste Einheit für chemische Kampfstoffe in Maryland stationiert, vier Autostunden entfernt. Also stimmten sie das gleiche lateinische Mantra an wie immer, wenn man sie bat, etwas in den Vereinigten Staaten zu unternehmen: posse comitatus. Der Spruch bezieht sich auf ein Gesetz von 1876, das am Ende der Rekonstruktionszeit verabschiedet wurde und den föderalen Militärbehörden die Ausübung ziviler Polizeigewalt innerhalb der USA verbietet (in den besetzten konföderierten Staaten lag die Polizeigewalt von 1865 bis 1876 beim Militär). Das Gesetz enthält eine Klausel, wonach es der Präsident bei einem Notstand aufheben darf. In meiner Schreibtischschublade hatte ich schon einen entsprechenden Text liegen, den man nur noch unterschreiben musste. Aber wir mussten das Gesetz nicht aufheben. O’Neill überzeugte das Pentagon, die Einheit in einem Waffenlager der Nationalgarde in Manhattan unterzubringen, während der US-Attorney eine Geschichte zu stricken versuchte, mit der er einen Durchsuchungsbefehl rechtfertigen konnte. In der Zwischenzeit inspizierte ein »Branddirektor« überraschend das Gebäude. Er stellte fest, dass die AumSekte auszog; Mitglieder trugen Kartons zu einem gemieteten Lastwagen. Ein Überwachungsfahrzeug des FBI folgte dem Laster einige Zeit auf der Fifth Avenue, verlor ihn aber im Verkehrsgewühl. Als uns diese 252
Meldung im Lagezentrum erreichte, schienen O’Neill beinahe die Stirnadern zu platzen: Unter den Augen seiner Leute entwischte ein Laster mit chemischen Waffen und fuhr irgendwo durch Manhattan. Ich suchte den Nationalen Sicherheitsberater auf. Während Tony Lake und ich über die Evakuierung weiter Teile von New York nachgrübelten, rief O’Neill an. Sie hatten den Lastwagen. Sie hatten einen Durchsuchungsbefehl. Sie hatten nichts gefunden, nur Kartons mit Büchern. Das Büro in der 48. Straße war sauber. Später erfuhren wir, dass die Aum-Sekte nicht nur Sarin hergestellt hatte, sondern auch Milzbranderreger. Die selbst gezüchteten Anthraxerreger hatten sie in einer amerikanischen Militäreinrichtung in Japan versprüht, allerdings hatten sie die Sporengröße falsch gewählt, daher wurde niemand krank. Man hatte den Anschlag anfangs nicht einmal bemerkt. Ich hatte darauf bestanden, dass die PDD zum Terrorismus, die 1995 erlassen worden war, auch die Möglichkeit einschloss, dass Terroristen chemische, biologische oder nukleare Waffen in die Hand bekamen. Der Präsident verfolgte nun die Strategie, mit allen Mitteln zu verhindern, dass Terroristen an solche Waffen kamen. Falls sich herausstellen sollte, dass sie solche Waffen schon besaßen, hatte die Vernichtung der Waffen oberste Priorität. Der Maßnahmenkatalog sah auch die Ausarbeitung von Plänen vor, wie man bei einem Anschlag mit solchen Waffen vorgehen sollte. Allerdings waren wir 1996 nicht auf den Einsatz chemischer oder biologischer Waffen in den Vereinigten Staaten vorbereitet. Das Programm zum Zivilschutz aus der Zeit des Kalten Krieges war zusammengeschrumpft und verschwunden, noch bevor der Kalte Krieg so richtig 253
zu Ende war. Die Senatoren Sam Nunn, Dick Lugar und Pete Domenici hatten sich mit dem Verbleib sowjetischer Atom-, Chemie- und Biowaffen nach Auflösung der Sowjetunion befasst. Die drei Senatoren hatten Geld aufgetrieben, damit die Waffen gefunden, sichergestellt und vernichtet wurden. Sie hatten sich bemüht, für die sowjetischen Spezialisten, die die Waffen entwickelt hatten, eine alternative Beschäftigung zu finden. Und sie hatten einen kleinen Betrag staatlicher Gelder zurückgelegt für die Ausbildung von Spezialisten, die mit solchen Waffen umgehen konnten, nur für den Fall, dass manche Waffen in die falschen Hände gerieten und bei uns landeten. Das Engagement der drei Senatoren, mein eigenes Interesse und Bill Clintons Leseeifer bildeten zusammen die Grundlage für die Entwicklung eines Programms zum Schutz des eigenen Landes. Mein Interesse beruhte auf Erfahrungen im Kalten Krieg und im Golfkrieg. Im letzten Jahr des Kalten Krieges hatte ich als Assistant Secretary im State Department Besuch erhalten von einem Mitarbeiter der Abteilung für geheimdienstliche Angelegenheiten. Er trug einen verschlossenen Aktenkoffer, wie sie bei der CIA für den Transport äußerst brisanter Dokumente vorgesehen sind. Ich wusste nicht, was ich da zu lesen bekam, nur, dass ich einer von fünf Mitarbeitern im State war, der die Unterlagen lesen durfte. Im Aktenkoffer befand sich der Bericht eines hochrangigen sowjetischen Wissenschaftlers, der zu den Briten übergelaufen war. Er hatte von einem umfangreichen sowjetischen Programm zur Entwicklung und Anwendung biologischer Waffen berichtet, von dem der amerikanische Geheimdienst gedacht hatte, es würde gar nicht existieren. Die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten und andere 254
Länder hatten einen Vertrag über das Verbot von Biowaffen unterzeichnet, die Biowaffenkonvention von 1972. Wir hatten unsere Biowaffen zerstört. Die Sowjets hatten das auch behauptet. Sie hatten gelogen. Im Gegenteil, sie hatten ihr Biowaffenprogramm sogar noch ausgebaut und Waffen mit wahrhaft furchtbarem Potenzial entwickelt. In den sowjetischen Labors wurde mit den Erregern des Ebola- und Marburgfiebers gearbeitet, Infektionen, bei denen der Erkrankte aus jeder Körperöffnung blutet, bis schließlich die Organe versagen. Die Sowjets hatten Bomben, Granaten und andere Waffen perfektioniert, die Milzbrand, Pocken, Botulinum (ein Bakteriengift) und antibiotikaresistente Stämme des Pesterregers verbreiten sollten. Waffen wurden mit den Erregern versehen und eingelagert. An dem Geheimprogramm waren über 100000 Menschen in der ganzen Sowjetunion beteiligt. Die freundlichen sowjetischen Vertreter, mit denen wir über Abrüstungsverträge verhandelten, hatten von dem illegalen Programm gewusst. Niemand von uns hörte das gern, schon gar nicht Außenminister James Baker. Er hatte dem Pentagon, dem Kongress und dem Präsidenten versichert, wir könnten umfangreiche Abrüstungsabkommen mit den Sowjets gefahrlos unterzeichnen. Er erklärte, es sei höchst unwahrscheinlich, dass die sowjetische Führung das Risiko eingehen würde, bei einem Verstoß gegen internationale Abrüstungsabkommen erwischt zu werden. Außerdem würde der amerikanische Geheimdienst einen Verstoß dank »technischer Aufklärungsmittel« sofort bemerken. Nun musste er der Tatsache ins Auge blicken, dass die Sowjets das Risiko eingegangen waren und der Verstoß ungeheuerlich war. Die »technischen Aufklärungsmittel« der Amerikaner hatten versagt und das 255
umfangreiche Programm nicht aufgespürt. Ohne den ranghohen sowjetischen Wissenschaftler hätten wir von der Bedrohung durch biologische Waffen nie erfahren. Bakers erste Reaktion war, nur wenige einzuweihen, bis er die sowjetische Führung zu dem Eingeständnis bewegen konnte, dass es ein Biowaffenprogramm gab. Die Waffen sollten in Anwesenheit amerikanischer Beobachter zerstört werden. Leider waren die Sowjets nicht besonders kooperativ, als sie mit der Wahrheit konfrontiert wurden. Sie behaupteten, die USA müssten ein ähnliches Programm haben, und wollten unsere Einrichtungen inspizieren. Nach langen Diskussionen erklärten sich die Sowjets schließlich bereit, die Waffen zu zerstören und begrenzte gegenseitige »Besuche« zu gestatten. Ich war jedoch nie davon überzeugt, dass die Sowjets uns wirklich das gegeben hatten, was wir brauchten: eine komplette Liste mit allen Entwicklungen und eine Liste der Gegenmittel für die neuen Krankheitserreger, die sie in ihren Labors herangezüchtet hatten. Zwei Jahre später, als sich nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait der erste Golfkrieg abzeichnete, wurde ich gebeten, Maßnahmen zu entwickeln, wie wir mit den irakischen Chemie- und anderen »Spezialwaffen« umgehen sollten. Die CIA wusste damals, dass der Irak chemische Waffen besaß, sie waren tonnenweise gegen den Iran eingesetzt worden. Der Irak gehörte zu den zwei Dutzend Ländern, die nach Angaben der amerikanischen Regierung über Atom-, Chemie- und/oder Biowaffen verfügten. Mit meinen britischen Kollegen in einer gemeinsamen britisch-amerikanischen Arbeitsgruppe versuchte ich im Herbst 1990 abzuschätzen, wie viele ABC-Schutzanzüge und Gasmasken wir für unsere Streitkräfte und mehrere hunderttausend Soldaten aus über 30 Ländern benötigten, 256
ganz zu schweigen von den Zivilisten in der Region, auf die möglicherweise irakische Scud-Raketen abgefeuert werden würden. Es war hoffnungslos. Wahrscheinlich gab es auf der ganzen Welt nicht genügend Schutzanzüge. Wir einigten uns auf die Empfehlung, dass »unwichtige« britische und amerikanische Zivilisten nach Hause fliegen sollten. Mein Stellvertreter Bill Rope versuchte beharrlich, Gasmasken bei den militärischen Einrichtungen in den USA zu bekommen und sie an das Personal der amerikanischen Botschaften zu schicken. Vor Jahren schon hatte Israel seine gesamte Bevölkerung mit Gasmasken ausgerüstet und verfügte über Hunderttausende spezielle medizinische Notfallkoffer. Wir waren nicht einmal darauf vorbereitet, unsere Streitkräfte damit auszurüsten. Auch die Impfung zumindest der amerikanischen und britischen Truppen an der Front war problematisch. Wir konnten uns nicht darauf einigen, gegen welche Krankheiten die Streitkräfte geimpft werden sollten, außerdem gab es Bedenken wegen der Nebenwirkungen. Ich forderte von den Militärexperten in Fort Dietrich Informationen über unseren Vorrat an Impfstoffen an. Ein Arzt im Rang eines Colonel kam mit seinem Expertenstab ins Außenministerium. »Also, Colonel, fangen wir mit Milzbrand an. Wie groß sind unsere Impfstoffvorräte?« »Wir haben ein Pferd«, antwortete er peinlich berührt – er bemerkte meine Verwirrung und fuhr fort: »Wir haben dieses arme Pferd ganz langsam mit Milzbrand infiziert, und jetzt ist es völlig immun. Aus dem Blut des Pferdes können wir Serum für Zehntausende Impfungen herstellen.« Dazu fiel mir nur eine Antwort ein: »Wir brauchen mehr Pferde, Colonel.« 257
Aber schlimmer noch als der Mangel an infizierten Pferden war, dass unsere Streitkräfte keine modernen Fahrzeuge zum Aufspüren chemischer oder biologischer Kampfstoffe besaßen. Zu diesem Zweck hatten wir von der deutschen Bundeswehr Fuchs-Spürpanzer ausgeliehen. Leider hatten die Spürpanzer die unglückselige Angewohnheit, regelmäßig falschen Alarm zu schlagen, sodass unsere Soldaten gar nicht mehr reagierten und darauf verzichteten, die schweren, schweißtreibenden und unbequemen Schutzanzüge überzuziehen. Es war einfach Fakt, dass wir für den Krieg nicht rechtzeitig ordentliche Schutzmaßnahmen würden entwickeln können. Daher verlegten wir uns auf die Strategie Abschreckung und Vergeltung. Was würden wir tun, wenn der Irak chemische oder biologische Waffen einsetzte? Es gab einen Bericht, demzufolge die Iraker planten, uns mit einer simulierten Atomexplosion abzuschrecken. Angeblich sollten mehrere Lastwagenladungen Sprengstoff vermischt mit radioaktivem Material gezündet werden. Die USA würden die starke Explosion und die Radioaktivität registrieren und daher annehmen, der Irak habe eine Atombombe getestet. Nach dem Plan der Iraker würde uns das von einer Invasion abhalten. Aber konnten wir im Gegenzug den Irak abschrecken? Wenn nicht, blieben uns für eine amerikanische Reaktion nur wenige Möglichkeiten. Wir hatten keine biologischen Waffen, die chemischen Waffen, die wir noch aus den sechziger und siebziger Jahren übrig hatten, waren nicht transportfähig, hatten Lecks und stellten ein Risiko für jeden dar, der sich ihnen näherte. Der Einsatz von Atomwaffen stand nicht zur Debatte. Gegen wen hätten wir sie auch einsetzen sollen? Gegen Iraker, die zum Kampf für Saddam Hussein gezwungen worden waren? Wir stellten das Problem dem »Kernkabinett« unter 258
Vorsitz von Brent Scowcroft vor. Um Scowcrofts Couchtisch saßen Verteidigungsminister Dick Cheney, Colin Powell als Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs und ein paar andere auf dem Sofa oder in Ohrensesseln. Es war eines dieser Probleme, die jeder Chef hasst, weil es keine Lösung dafür gibt. Scowcroft knackte ein paar Erdnüsse und wandte sich an Cheney. »Was würden Sie empfehlen, Herr Minister?« Cheney sah in einer Weise zu Powell hinüber, die zeigte, dass die beiden vorher miteinander gesprochen hatten und unterschiedlicher Meinung waren. »Nur zu, Colin, sag, was du denkst«, drängte Cheney. Powell zuckte mit den Schultern und sagte verlegen: »Ich finde chemische Waffen doof.« Amüsiert wandte sich Scowcroft, der früher General bei der Luftwaffe gewesen war, an Powell: »Doof? Ist das ein militärischer Fachausdruck?« Powell wurde ernst und erklärte: »Chemische Waffen werden uns kaum aufhalten. Wir dichten die Panzer ab und fahren durch. Ich glaube nicht, dass Saddam biologische Waffen einsetzen wird, weil diese sich nicht für das Schlachtfeld eignen. Sie brauchen zu lange, bis sie wirken. Außerdem kann die ganze Scheiße im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten losgehen. Und Atomwaffen … ich glaube nicht, dass er Atomwaffen hat.« Cheney schaltete sich ein, jetzt einer Meinung mit Powell: »Außerdem bombardieren wir sie mit allem, was wir haben. Viel mehr können wir nicht tun, außer, dass wir der Räumung von Waffendepots, die möglicherweise Chemieoder Biowaffen enthalten, besondere Priorität einräumen.« Er machte eine Pause. »Wir sollten Saddam einfach sagen, dass wir nach Bagdad kommen und ihn aufhängen, wenn 259
er das Zeug einsetzt.« Schließlich überbrachte Außenminister Baker bei einem Treffen in der Schweiz dem irakischen Außenminister Tarik Asis einen Brief von Präsident Bush. Der genaue Wortlaut der amerikanischen Drohung ist umstritten. Allerdings ist bekannt, dass Tarik Asis den Brief durchlas und dann zurückgab. Später bemerkte er dazu, wenn er Saddam einen Brief diesen Inhalts gegeben hätte, wäre er erschossen worden. Soweit wir wissen, setzte Saddam im ersten Golfkrieg keine chemischen, biologischen oder atomaren Waffen ein. Ich machte mir große Sorgen, dass Terroristen solche Waffen in die Hände bekommen könnten. Präsident Clintons Besorgnis war dagegen weniger auf meinen Einfluss als auf seine eigene Lektüre zurückzuführen. Clintons Lesegewohnheiten hatten mich immer wieder erstaunt. Er war ein eifriger Leser, der offenbar jeden Abend lange aufblieb und schmökerte. Nach dem Anschlag in Tokio las Clinton Thriller wie Operation Rainbow oder Cobra, in denen Terroristen chemische und biologische Waffen einsetzen. Einige Bücher schickte er uns, um unsere Meinung zu hören. Über einige sprach er direkt mit Experten außerhalb der Regierung. Die Bücher bestätigten nur, was er bereits beschlossen hatte: Wir mussten mehr tun und Terroristen davon abhalten, in den Besitz solcher Waffen zu gelangen. Falls es doch so weit kommen sollte, mussten wir bereit sein. Trotz der Presidential Decision Directive von 1995 zum Thema nahm nur das Verteidigungsministerium die Bedrohung durch biologische oder chemische Waffen ernst, und selbst im Pentagon beschränkte sich die Besorgnis auf die eigenen Streitkräfte. Niemand übernahm die Verantwortung für die Sicherheit aller anderen Amerikaner, die einem Anschlag mit biologischen, 260
chemischen oder sogar atomaren Waffen zum Opfer fallen konnten. Die anderen Ministerien ignorierten meine Hinweise, dass sie in ihren Budgets Geld für diesen Zweck bereitstellen sollten. Sandy Berger war 1997 vom stellvertretenden zum Nationalen Sicherheitsberater aufgestiegen. Ich wollte ihn dazu bewegen, dass der Präsident bei seiner Haushaltsvorlage im Kongress noch einen Antrag zur Finanzierung eines solchen Programms einfügte. Berger riet davon ab. »Wenn die Ministerien das Geld nicht wollen, wenden sie sich hinter unserem Rücken an den Kongress und bitten ihn, die Gelder wieder für ihre eigenen Lieblingsprojekte umzuwidmen.« Seine Einschätzung von der Macht des Weißen Hauses war enttäuschend realistisch. »Was Sie tun müssen, Dick, ist Folgendes: Jagen Sie den Kabinettsmitgliedern mit der Sache genauso eine Scheißangst ein wie mir. Bringen Sie sie dazu, dass sie etwas dagegen unternehmen wollen. Sie müssen glauben, es sei ihre eigene Idee.« Das schien eine Aufforderung zu sein. »Okay, Sie trommeln sie zusammen. Ich jage ihnen Scheißangst ein«, antwortete ich. Sie versammelten sich im seltsam sauberen und ordentlichen Blair House, einer Reihe miteinander verbundener Stadthäuser gegenüber dem Executive Office Building in der Pennsylvania Avenue. Das Blair House gehört der Protokollabteilung des Außenministeriums und dient eigentlich nicht Kabinettssitzungen, sondern der Unterbringung von Staatsgästen. Trotzdem versammelten sich dort im März 1998 die Kabinettsmitglieder und andere wichtige Mitarbeiter des Außen-, Verteidigungs-, Justiz-, Gesundheits- und Energieministeriums, von der CIA, vom FBI, von der Federal Emergency Management Agency und dem Office of Management and Budget und 261
anderen Abteilungen des Weißen Hauses. Es bestand Anwesenheitspflicht. Berger hatte allen gesagt, dass der Präsident ihre Teilnahme erwarte, allerdings hatte er nicht gesagt, dass der Präsident dabei sei. Als alle da waren, bestimmte Berger mich zum Leiter der Sitzung, zur Überraschung der Kabinettsmitglieder, die wahrscheinlich gedacht hatten, der Präsident würde die Sitzung leiten. Wir wollten ein Planspiel durchführen, eine simulierte Kabinettssitzung, bei der sich Verschiedenes ereignen würde. Im Ballsaal des Blair House waren in Hufeisenform Tische aufgestellt. Am offenen Ende befand sich eine große Leinwand, auf der wir die »Fakten« zu den simulierten Vorfällen einblendeten. Ich stand in der Mitte des Hufeisens mit einem kabellosen Mikrofon in der Hand und kam mir vor wie der Moderator einer Nachmittagstalkshow. In der CSG hielten wir schon seit Jahren solche Übungen ab. Damit wollten wir Ablaufschwierigkeiten, Koordinationsprobleme und praktische Fehler aus dem Weg räumen. Den Kabinettsmitgliedern hingegen war so etwas neu. Wir begannen auf der Leinwand mit einem Bericht über eine Infektionswelle im Südwesten. Der Auslöser könnte natürlichen Ursprungs sein, das kam in New Mexico manchmal vor (ein Wissenschaftler hatte den Bundesstaat einmal als »Land der Fliege und Heimat der Seuchen« bezeichnet). Dann noch eine Meldung: Bei den infizierten Patienten wurde Ebola oder das Marburgfieber diagnostiziert, unheilbare und hoch ansteckende Krankheiten. Ich ging zu Gesundheitsministerin Donna Shalala und fragte: »Das fiele dann in Ihren Bereich. Was unternehmen Sie? Stellen Sie das Gebiet unter Quarantäne? Sind Sie dazu überhaupt bevollmächtigt? Wer wird dort hingeschickt, um zu helfen?« 262
Während die Fragen noch im Raum standen, trat ich vor Justizministerin Janet Reno. Sie hatte sich noch nie um irgendwelche Rangfolgen geschert, sondern rief mich immer direkt auf meinem Privatapparat an, wenn sie der Meinung war, ein Problem oder eine Idee von ihr falle in meinen Aufgabenbereich. Ich fragte: »Nehmen wir an, wir könnten das Gebiet unter Quarantäne stellen. Wie können wir die Menschen aufhalten, die das Gebiet verlassen wollen? Geben Sie Anweisung, sie zu erschießen, wenn sie Widerstand leisten?« Kein Kabinettsmitglied hatte darauf eine Antwort. Alle hatten zwar eine Meinung dazu, die ganz unterschiedlich ausfiel, aber keinen Plan. Im zweiten Szenario wurde beschrieben, wie in einer amerikanischen Großstadt eine chemische Waffe zum Einsatz kam. Damit konnte die Gruppe besser umgehen, dennoch erkannten alle, dass die wenigsten amerikanischen Städte über entsprechende Spezialisten und Ausrüstung verfügten. Das dritte Szenario war ein Heimspiel im eigentlichen Sinn des Wortes. Eine Terroristengruppe meldete sich beim FBI und gab bekannt, sie habe eine Atombombe in Washington platziert. Eine gemeinsame Suchmannschaft von Energieministerium und Verteidigungsministerium ortete die Bombe nach einem Tipp der Küstenwache auf einem Kajütboot, das in einem Yachtclub in nur zwei Kilometern Entfernung vom Weißen Haus vertäut war. Der Explosionsradius würde das Stadtzentrum von Washington auslöschen. »FBI, würden Sie das Boot mit einer Spezialeinheit stürmen?«, fragte ich. Das FBI wollte, erfuhr dann aber, dass nur das Verteidigungsministerium über Kommandotrupps verfügte, die im Umgang mit einer Atombombe geschult waren. So ein Kommandotrupp war in Washington nicht stationiert. »Warten wir?«, fragte ich dann. Wir einigten uns darauf, zu warten und die 263
Kommandoeinheit anzufordern. Dann erschien auf der Leinwand die Frage, die die größte Debatte auslöste: »Informieren wir die Bevölkerung?« Wenn wir eine Evakuierung veranlassten, würden die Terroristen die Bombe vielleicht sofort zünden. Wenn wir die Sache verheimlichten und die Bombe zwei Stunden später explodieren würde, müssten unnötig Menschen sterben. Im Szenario trafen die Spezialeinheiten mit der Spezialausbildung für Atomwaffen ein und bezogen in der Nähe des Bootes Stellung. Plötzlich überwältigte das Kommando die Terroristen und entschärfte bald darauf die Bombe. »War das nicht riskant?«, fragte ich. »Was wäre gewesen, wenn die Bombe gezündet hätte?« Die Sitzungsteilnehmer vom Pentagon versicherten rasch, dass sich ein Spezialkommando nie so über Befehle hinwegsetzen würde. »Oh, das taten sie auch nicht«, erklärte ich. »Wir haben den Einsatzkräften befohlen, in der Nähe Position zu beziehen. Als wir das taten, gaben wir ihnen damit indirekt die Vollmacht einzugreifen, falls sie etwas zu der Ansicht bringen sollte, die Terroristen würden die Bombe zünden. Und als sie aufs Boot kamen und einen Timer sahen, auf dem die Sekunden liefen, waren sie indirekt bevollmächtigt, das zu tun, was sie in dem Augenblick für das Beste hielten, um so zu verhindern, dass die Bombe hochging. Wenn sie der Ansicht sind, sie hätten keine Zeit mehr, um Erlaubnis zu fragen, und damit Hunderttausende Leben retten könnten, sollten sie dann nicht handeln?« Wieder setzte die Diskussion ein. Ich fragte: »Wenn die Bombe hochginge, was würden Sie von der Federal Emergency Management Agency tun? Haben Sie Einheiten, die für Bergungsoperationen in einer radioaktiv 264
verseuchten Umgebung ausgebildet sind?« Nach der Sitzung, die einen halben Tag gedauert hatte, schwärmten schwarze Cadillacs vom Blair House in alle Richtungen aus und brachten die eindeutig verschreckten Entscheidungsträger zurück in ihre Büros. Die meisten riefen noch vom Auto aus in ihrem Büro an und beriefen eine Sitzung ein. Sie wussten jetzt, dass mehr Geld für entsprechende Programme benötigt wurde, aber vor allem wussten sie, dass ihre Ministerien Notfallpläne brauchten. Einige Wochen später war es Zeit für eine weitere Sitzung, dieses Mal im Kabinettszimmer des Weißen Hauses. Als die Kabinettsmitglieder eintrafen, mussten sie feststellen, dass an ihren üblichen Plätzen am Kabinettstisch schon Fremde saßen. Ihre eigenen Namensschilder waren an Stuhlreihen entlang der Wand angebracht, die normalerweise für die Mitarbeiter der Minister vorgesehen waren. Die Fremden am Tisch hatte auf meine Bitte hin Admiral Frank Young zusammengetrommelt, der gerade vom Public Health Service pensioniert worden war. Darunter waren ein Nobelpreisträger für Biochemie, verschiedene andere Wissenschaftler, die an Gegenmitteln für biologische Waffen arbeiteten, und der Leiter des Katastrophenschutzes von New York City. Gemeinsam hatten sie einen Budgetvorschlag für einen Reaktionsplan im Falle eines Biowaffenangriffs entwickelt. Sie informierten den Präsidenten. Ihr Plan würde in einem Jahr bewirken, was ich mir für die kommenden fünf Jahre erhofft hatte. Clinton blickte zu den Mitarbeitern des Office of Management and Budget. »Ich glaube, wir müssen das wirklich machen. Schauen wir, dass wir das Geld bekommen.« Sandy Berger war klar geworden, dass Vorbereitungen auf terroristische Anschläge im eigenen Land wichtig 265
waren und oberste Priorität genossen. Sie sollten zu den wenigen Bereichen in Washington gehören, deren Budget erhöht werden würde. Außerdem war er der Meinung, wir brauchten einen »Antiterrorzar«, und wollte mich dafür. Wir hatten bereits einen Posten in Washington mit dem unglückseligen Spitznamen »Zar«, nämlich den Leiter des White House Office of National Drug Control Policy. Bei einem so langen Titel war es kein Wunder, dass die Presse ihn zu »Drogenzar« verkürzte. Die wenigen, die den Posten bisher innegehabt hatten, hatten ihre Sache nicht besonders gut gemacht. 1996 hatte ich sogar auf einen Personalwechsel gedrängt und mich dafür eingesetzt, dass General Barry McCaffrey die Stelle bekam. 1998 leistete McCaffrey bessere Arbeit als seine Vorgänger, dennoch gab es im Rahmen des Drogenbekämpfungsprogramms immer noch große Koordinationsprobleme und bürokratische Rivalitäten. Das sollte sich bei der Terrorismusbekämpfung nicht wiederholen. Außerdem befürchtete ich, dass die Ministerien einen »Zar« als Beschneidung ihrer Kompetenzen betrachten würden. Trotzdem trieb Berger die Idee eines »Nationalen Koordinators« für die Terrorismusbekämpfung voran und schlug vor, die Stelle mit einer neuen Presidential Decision Directive auszustatten. Wir brauchten neue, detaillierte Richtlinien. Ich entwarf drei neue Direktiven und brachte sie unter den vorläufigen Bezeichnungen PDD-X, Y und Z in Umlauf. Z aktualisierte unser Programm Continuity of Government, das aufgegeben worden war, nachdem die Bedrohung durch einen sowjetischen Atomangriff weggefallen war. Wenn Terroristen Washington angreifen konnten, vor allem mit Massenvernichtungswaffen, brauchten wir robuste Kommandound Kontrollstrukturen, außerdem einen Plan, die Autorität auf 266
Strukturen außerhalb Washingtons zu übertragen. Y trug die ungeschickte Bezeichnung »Schutz gefährdeter Infrastruktur und Computersicherheit«. Nach dem Bombenattentat in Oklahoma City hatte der Präsident die Justizministerin und ihre Stellvertreterin Jamie Gorelick aufgefordert, die Verwundbarkeit der wichtigsten Einrichtungen zu überprüfen. Eine Schlussfolgerung dieser Studie überraschte uns: Das Land war in zunehmendem Maße abhängig von Computernetzwerken, die anfällig für Hackerattacken waren. Um gegen diese Schwachstelle anzugehen, hatte der Präsident eine Kommission zum Schutz anfälliger Infrastruktur unter Leitung des ehemaligen Luftwaffengenerals Tom Marsh ins Leben gerufen. Die Kommission hatte einen penibel recherchierten und ausführlichen Bericht erstellt, den man mit einem Satz zusammenfassen konnte: In den gesamten Vereinigten Staaten stützten wir uns in wichtigen Bereichen wie Verkehr, Bankenwesen, Energieversorgung auf kaum geschützte Computernetzwerke. In geheimen Dokumenten als Anlage zum Bericht wiesen die Kommissionsmitglieder darauf hin, dass die amerikanischen Streitkräfte und Geheimdienste großen Schaden anrichten konnten, wenn der Feind genauso abhängig von Computern war wie wir. Wenn die Amerikaner bei anderen Schaden anrichten konnten, konnten andere das auch bei uns. In meinem Entwurf PDD-Y wurde ein Programm vorgeschlagen, das sich mit dem neuen Problem befasste. X war das Dokument für den organisatorischen Rahmen. Der Text beschrieb in erster Linie Antiterrormaßnahmen, entwarf aber auch eine neue Verwaltungsstruktur. Die amerikanischen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung und Sicherheitspolitik umfassten zehn Programme, und bei jedem war geklärt, welches Ministerium oder welche 267
Regierungsstelle zuständig war. Die CSG sollte offiziell nicht nur eine Kommission für den Krisenfall sein, sondern eine feste Einrichtung mit einem Budget, die bei der Festlegung von Maßnahmen eine programmatische Rolle spielen sollte. Außerdem würde die CSG die zehn Programme beaufsichtigen, etwa so, wie eine Kommission des Kongresses ein administratives Programm überwacht. Die zehn Programme waren: Identifizierung, Auslieferung oder Übergabe und Verfolgung von Terroristen. Wir betrachteten den Terrorismus zwar nicht in erster Linie als Problem der Polizeiarbeit, dennoch spielte die Polizei bei der Terrorismusbekämpfung eine wichtige Rolle. Das Programm sah vor, einzelne Terroristen aufzuspüren, wo immer sie auch waren, und sie vor ein amerikanisches Gericht zu bringen. Federführend dabei sollten das Justizministerium und das FBI sein. Zerschlagung von terroristischen Vereinigungen. Dieses Programm sollte Terroristengruppen mit anderen Mitteln als strafrechtlichen vernichten. Federführung übernahm die CIA. Internationale Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus. Im Rahmen dieses Programms sollten andere Länder dazu bewegt werden, den Terrorismus zu bekämpfen. Wenn nötig sollten sie dafür die entsprechende Ausbildung und andere Mittel erhalten. Die führende Rolle übernahm dabei das State Department. Den Besitz von Massenvernichtungswaffen verhindern. Jeder Versuch einer terroristischen Vereinigung, chemische, biologische oder nukleare Waffen zu entwickeln oder an sich zu bringen, sollte erkannt und unterbunden werden. Dazu wurden Pläne erarbeitet und Kapazitäten geschaffen. Die Führung lag bei der CIA und dem Verteidigungsministerium. 268
Konsequentes Management bei Terroranschlägen. Die Vorbereitung auf Anschläge mit Massenvernichtungswaffen sollte beibehalten werden. Die Führung lag beim Gesundheitsministerium und der Federal Emergency Management Agency, aber auch das Verteidigungs- und Justizministerium standen in der Verantwortung. Sicherheit im Transportwesen. Die Empfehlungen der Gore-Kommission zur Flugsicherheit (Gore Commission on Aviation Safety and Security) sollten umgesetzt werden. Dieser Programmpunkt konzentrierte sich vor allem auf die Verhinderung von Terroranschlägen in Verbindung mit Flugzeugen. Die Führung lag beim Verkehrsministerium. Schutz gefährdeter Infrastruktur und Computernetzwerke. Dieser Programmpunkt sollte die Empfehlungen der Marsh-Kommission zum Schutz gefährdeter Infrastruktur umsetzen und wurde in der PDDY genauer definiert. Die gemeinsame Führung lag beim Justizministerium (FBI) und beim Handelsministerium, weil viele Computernetzwerke von privaten Unternehmen betrieben wurden. Auch das Verteidigungsministerium spielte eine wichtige Rolle. Continuity of Government. Es musste sichergestellt werden, dass es selbst nach einem Versuch, die Regierung auszuschalten, noch einen Präsidenten und eine funktionierende Regierung gab. Genauere Ausführungen dazu standen in der streng geheimen PDD-Z. 9. Bekämpfung ausländischer Terroristen in den USA. Obwohl das FBI offiziell die Ansicht vertrat, es gebe keine Schläferzellen in den USA, schufen wir ein Programm, mit dem solche Zellen aufgespürt und unschädlich gemacht werden sollten. Die Führung übernahm das Justizministerium (FBI), aber auch die 269
Einwanderungsbehörde und das Finanzministerium waren zuständig. 10. Schutz der Amerikaner im Ausland. Terroristen hatten Anschläge auf amerikanische Militärstützpunkte im Ausland verübt und versucht, Zivilisten anzugreifen, darunter die Mitarbeiter unserer Botschaften. Dieses Programm schuf den Rahmen für den Schutz der Streitkräfte und die Sicherheit der Diplomaten sowie ein allgemeines Bewusstsein für die Sicherheit und das Wohlergehen amerikanischer Bürger im Ausland. Die gemeinsame Verantwortung trugen das Verteidigungsministerium und das Außenministerium. Zur Koordination sollte es vier Gruppen mit Ministeriumsmitarbeitern der oberen und mittleren Führungsebene geben: Die CSG sollte weiter bestehen und die Programme l bis 3, 6, 9 und 10 umsetzen. Eine neu geschaffene Koordinierungsstelle für Infrastruktur, die Critical Infrastructure Coordination Group, würde Programm 7 vorstehen. Eine Weapons of Mass Destruction and Preparedness Group würde sich um Programm 4 und 5 kümmern. Und die bereits bestehende Continuity of Government Interagency Group würde Programm 8 umsetzen. Der neu geschaffene »Nationale Koordinator« stand allen vier Gruppen vor. Diese vier erstatteten dem Principals Committee auf Kabinettsebene Bericht, dem auch der Nationale Koordinator angehörte. Zwei leitende Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates erstatteten ihm ebenso Bericht wie andere Mitarbeiter des NSC. Die meisten Ministerien und Behörden betrachteten die Position als Mittel, mit dem das Weiße Haus mehr Macht an sich ziehen wollte. Allerdings hatte niemand eine bessere Idee. Keine Behörde wollte, dass ein bestimmtes 270
Ministerium die ganze Verantwortung übernahm. 1997 gab es keine Unterstützung für die Schaffung einer völlig neuen Behörde. Diese hätte die Arbeit eher behindert, denn dann hätte man sich weniger auf Terroristen als auf bürokratische Strukturen konzentriert. Im Laufe der Umsetzung der PDD-X wurde die Macht des Nationalen Koordinators von den beteiligten Ministerien und Behörden eingeschränkt. Im Gegensatz zum »Drogenzar«, der über ein Budget von mehreren hundert Millionen Dollar verfügte, hatte der Nationale Koordinator keine direkte Kontrolle über die Gelder. Er konnte dem Präsidenten nur Budgets empfehlen. Der Drogenzar hatte mehrere hundert Mitarbeiter, der Nationale Koordinator gerade einmal zwölf. Damit eindeutig klar war, dass der Nationale Koordinator nur ein Mitarbeiter im Weißen Haus war, stand in der Direktive, dass er keine Befehlsgewalt über polizeiliche Einsatzkräfte, Truppen oder Agenten hatte, nur die jeweiligen Behörden durften Anweisungen geben. So viel zum Spitznamen »Zar«. Doch insgesamt bedeutete die neu geschaffene Position des »Nationalen Koordinators für Sicherheit, Infrastrukturschutz und Terrorbekämpfung« eine Verbesserung. Bei einem so langen Titel wurde daraus in den Medien allerdings schnell der »Antiterrorzar«. Auch die zehn Programme mit klaren Richtlinien und Verantwortungsbereichen in den Behörden und Ministerien brachten eine deutliche Verbesserung, nur die Vorstellung von einem Antiterrorzar war irreführend. Ich war nun zwar nach außen hin für die Terrorismusbekämpfung verantwortlich, verfügte aber über keinerlei Mittel oder Vollmachten. Als alle zufrieden waren, gingen die Entwürfe X, Y und Z an den Präsidenten und wurden zu PDD-62, PDD-63 und nach einigen Wochen PDD-67. Der Präsident 271
verkündete sie in seiner Rede bei der Abschlussfeier der Naval Academy im Juni 1998. Der Titel von PDD-62 lautete »Counterterrorism and Protection of the Homeland« (»Terrorismusbekämpfung und Schutz der Heimat«), um auszudrücken, dass die Gefahr nicht nur im Ausland existierte. Später nahmen andere für sich in Anspruch, sie hätten sich als Erste um den Heimatschutz gekümmert. Clintons Direktive begann mit den Worten: »Aufgrund unserer militärischen Überlegenheit besteht die erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass uns potenzielle Feinde, seien es nun Staaten oder terroristische Gruppen, auf unkonventionelle Weise angreifen … und sich verwundbare Punkte … im zivilen Bereich zunutze machen.« PDD-62 war im Juni fertig, einer Zeit im Jahr, in der die Ministerien ihre Programme für die Überprüfung der Budgets durch das Weiße Haus vorbereiten. Dieser Vorgang erreicht zum Jahresende seinen Höhepunkt mit den Presidential Decision Directives. Die Direktiven werden im Januar oder Februar bekannt gegeben und treten dann eine zweite Reise von acht oder neun Monaten durch den Kongress an. Es ist ein bisschen wie zwei Schwangerschaften hintereinander, dauert 16 Monate und birgt alle Risiken einer Fehlgeburt. Wenn PDD-62 mir etwas gebracht hatte, dann eine weitere Aufforderung, mich um die Finanzierung der Antiterrormaßnahmen und Sicherheitsprogramme zu kümmern. Ich machte mich an die Arbeit. Im Januar sollte der Präsident den Kongress um zehn Milliarden Dollar für die Terrorismusbekämpfung, Sicherheitsmaßnahmen, Vorbereitungen auf Angriffe mit Massenvernichtungswaffen und den Schutz der Infrastruktur bitten. Bevor der gesamte Haushaltsentwurf an den Kongress ging, setzte das Weiße Haus jedoch eine 272
einwöchige Reihe von »Thementagen« an. Jeden Tag würde der Präsident einen Ort aufsuchen, der mit einer Haushaltspriorität verbunden war, und eine Rede halten, wie das neue Budget diese Priorität unterstützte. Die Woche begann und damit die erste Veranstaltung. Die Abteilung für Kommunikation im Weißen Haus rief an und informierte uns, dass der dritte Tag für »die ganze Antiterror-Geschichte« vorgesehen war. Wir hatten etwa 36 Stunden, um einen geeigneten Ort zu finden, ein Publikum aufzutreiben, die »Show-and-Tells« aufzubauen, wie Demonstrationsobjekte von der Kommunikationsabteilung genannt wurden, und eine Rede zu entwerfen. Im Weißen Haus unter Clinton war eine so übertriebene Forderung normal. Weil die Mitarbeiter des Weißen Hauses solche Herausforderungen stets meisterten und gute Ergebnisse erzielten, hielt dieser Stil mit Anweisungen in letzter Minute bis zum Ende von Clintons achtjähriger Amtszeit an. Wir riefen bei der National Academy of Science an, die vier Blocks vom Weißen Haus entfernt lag. Damit hatten wir ein Auditorium und konnten leicht Wissenschaftler auftreiben, die es auch füllten. Thema war die Nutzung von Wissenschaften und Technologien zur Erhöhung der Sicherheit. Wir bestellten ein riesiges Banner mit entsprechendem Aufdruck und hängten es direkt hinter dem Podium auf. Dann riefen unsere Mitarbeiter Leute innerhalb und außerhalb der Regierung an, die bei den Programmen zu Terrorismusbekämpfung, Heimatschutz, Massenvernichtungswaffen und Computersicherheit mitgearbeitet hatten. Sie wurden eingeladen, die Rede anzuhören und eine Schautafel in der Akademie zu gestalten. Ich rief bei der Feuerwehr von Arlington, Virginia, an und bat sie, den Prototypen für ein neues Fahrzeug zur Massendekontaminierung (ein so genanntes 273
MDV, Mass Decontamination Vehicle) mitzubringen. Mit dem Lastwagen konnten Hunderte Menschen dekontaminiert werden. Meiner Meinung nach sollte jede Großstadt mindestens ein solches Fahrzeug haben, daher schrieb ich den Vorschlag in den Entwurf für Präsident Clintons Rede. Justizministerin Reno strich die Passage mit dem Argument, die Städte sollten selbst entscheiden, was sie mit den staatlichen Geldern tun wollten, die für den Schutz vor Massenvernichtungswaffen vorgesehen waren. Unsere Meinungsverschiedenheit war ein typisches Beispiel für das Gerangel um Vorrechte, das bis heute anhält. So werden Milliarden Dollar der Mittel für Heimatschutz verschwendet, weil lokale Behörden Dinge kaufen, die sie nicht brauchen, aber andere notwendige Anschaffungen ignorieren. Reno und ich waren zuvor schon unterschiedlicher Meinung hinsichtlich der Auszahlung der Gelder für die Städte gewesen, mit denen sie sich auf chemische, biologische und radioaktive Katastrophen vorbereiten sollten. Sie war bemüht, die lokalen Behörden zufrieden zu stellen, während ich mir Sorgen machte, dass die lokalen Behörden vielleicht nicht wussten, was sie kaufen sollten, oder Anschaffungen tätigten, die nur wenig mit der Abwehr von biochemischen Angriffen zu tun hatten. Außerdem bemühte ich mich, Pläne für Ballungsräume zu entwickeln, die nicht nur die Kernstädte umfassten. Ich wollte mit dem Versprechen der staatlichen Fördergelder Städte und Gemeinden dazu zwingen, bei der Entwicklung von Katastrophenplänen zusammenzuarbeiten, ähnlich wie bei den Metropolitan Medical Strike Teams aus Ärzten und medizinischem Personal. Reno gab jedoch nicht nach. Das Geld floss bereits in das Budget für ihr Ministerium, daher musste sie auch nicht nachgeben. Als unser Thementag anbrach, ging ich zum »Pre274
Briefing« ins Oval Office. Vor jedem öffentlichen Auftritt des Präsidenten sind dafür im Terminkalender zehn Minuten eingeplant. Bei diesen Pre-Briefings erklärt ein Mitarbeiter dem Präsidenten, um was für eine Veranstaltung es sich handelte und was er dort zu tun hatte. Obwohl es ganz offensichtlich war, dass Clinton keine derartige Vorbereitung brauchte und sie auch nicht akzeptierte, enthielt der Terminplan weiterhin die zehnminütigen Lücken. Für diese Zeitfenster gab es zwei Möglichkeiten: Entweder blieb man draußen vor dem Oval Office sitzen und wartete vergeblich, oder man wurde hereingerufen, und der Präsident sprach mit einem über etwas anderes als die anstehende Veranstaltung. An unserem Thementag war Letzteres der Fall. Ich fürchtete schon, er würde über das ImpeachmentVerfahren sprechen, das die Medien und den Klatsch in Washington beherrschte. Stattdessen redete Clinton über die Probleme seiner Cousine, die in Arkansas für sozialen Wohnungsbau zuständig war. Wir sprachen noch darüber, während wir zur Limousine gingen und dann mit heulenden Sirenen durch den Stadtteil Foggy Bottom fuhren. Ich saß neben Clinton mit einem Ordner voller Folien für eine PowerPoint-Präsentation und jeder Menge Hintergrundmaterial, um jede nur mögliche Frage zum Haushaltsentwurf in Höhe von zehn Milliarden Dollar beantworten zu können. Als die Wagenkolonne in die Tiefgarage der Akademie fuhr, bemerkte der Präsident, dass ich gern über das nahe liegende Thema sprechen wollte. Seine Stimmung wandelte sich vom umgänglichen Landjungen aus Arkansas zum analytisch denkenden Präsidenten, ein Doppelgesicht, das seine Mitarbeiter im Weißen Haus gleichermaßen bezauberte und erschreckte. »Ich habe die Rede gelesen«, sagte er, um meine möglichen Bedenken aus dem Weg zu räumen, er könnte 275
meinen, heute sei der Tag der Gesundheitsfürsorge. »Ich sehe dieses Problem ähnlich wie Schilde und Pfeile …« »Wie?«, fragte ich. Wir blieben im Auto sitzen, obwohl die Sicherheitsleute darauf warteten, dass wir ausstiegen. »Ja, also wissen Sie, das ist, wie wenn ein Typ Pfeil und Bogen erfindet und damit den anderen eine Weile voraus ist, bis ein anderer den Schild erfindet, mit dem man die Pfeile abwehren kann. Wieder ein anderer baut eine Mauer um die Stadt, und der Feind erfindet das Katapult und schießt damit über die Mauer. Angriff, Verteidigung, Aktion, Reaktion. Jetzt sind neue Offensivwaffen auf uns gerichtet, und wir brauchen neue Waffen zu unserer Verteidigung. Richtig?« Ich räumte ein, dass man das Problem auch so sehen konnte. Wir gingen in die Akademie, wo uns ein voller Saal erwartete. Beim Hineingehen piepte mein Pager: »DC Polizei schleppt MDV aus Arlington ab.« Mein bestes Demonstrationsobjekt war in einem Gebiet abgestellt, das der Secret Service räumen ließ. Man hatte nie genug Zeit, um eine Veranstaltung so zu planen, dass sie reibungslos funktionierte. Ich saß in der ersten Reihe und bemerkte, wie Clinton während der Einführung offenbar die Rede umschrieb. Als er sprach, verwendete er jedoch den Text, den wir ihm gegeben hatten. Ich las parallel mit. Dann hörte mein Text auf – und der Präsident sprach weiter. Er trat vor das Podium, lehnte sich dagegen und lächelte mir zu. Mir drehte sich der Magen um, weil er das schon öfter gemacht hatte und ich wusste, was das bedeutete: Er war dabei, in einer Art aus dem Stegreif weiterzumachen, die uns alle in Schwierigkeiten bringen oder der beste Teil der Rede werden konnte oder beides. »Was wir hier sehen, geht zurück bis zum Anbeginn der 276
Zeit, wie Ihnen sicher jeder Militärexperte im Publikum sagen kann … Eine Angriffswaffe wird entwickelt, und dann dauert es seine Zeit, bis die Verteidigung steht …« Er sprach von Pfeil und Bogen, Burgen und Wassergräben. Dann stellte er fest, dass es heute anders sei, »weil sich der Wandel heute so schnell vollzieht« und sich die Technik immer weiterentwickle. Neue Offensivtechnologien würden entwickelt, und die Abwehr sei noch nicht verfügbar. Der Präsident sagte, er habe sich immer darum bemüht, der Nation die Gefahren des Terrorismus bewusst zu machen, ohne die Bürger zu erschrecken und sie glauben zu machen, alles, was sie in einem neuen Actionfilm sähen, könnte am nächsten Tag wirklich passieren. Wir setzten dem Terrorismus Mittel entgegen, »die ich nennen, und andere, die ich nicht nennen kann«, doch wir benötigten neue Verteidigungskapazitäten, und nur Wissenschaftler und Experten wie hier im Publikum könnten diesen Schutz schaffen. Der Präsident forderte die Anwesenden auf, die Mittel, um die er sich bemühte, darauf zu verwenden, mit Hilfe der besten Wissenschaftler die Lücke zwischen der Einführung neuer Terrorwaffen und der Entwicklung neuer Verteidigungsmaßnahmen zu schließen. Applaus brandete auf. Clinton sprang ins Publikum und schüttelte Hände. Dann packte er mich bei der Schulter und flüsterte mir ins Ohr: »Das hat Ihnen gefallen, stimmt’s?« Er hatte ein neues Problem erkannt und peitschte eine Initiative durch, dagegen anzugehen, auch in Zeiten knapper Haushaltsbudgets. Anfangs hatten wir keine Kapazitäten für den Kampf gegen den Terrorismus und Massenvernichtungswaffen, jetzt finanzierten wir die Ausbildung und Ausrüstung für Gesundheitsämter, Krankenhäuser, Feuerwehren und den Katastrophenschutz. 277
Wir kauften spezielle Medikamente und Impfstoffe, lagerten sie im ganzen Land und trugen Vorsorge, dass sie auf Abruf bereitstanden. Die Forschung und Entwicklung neuer Technologien zum Aufspüren chemischer und biologischer Kampfstoffe in den Bereichen Diagnose und Dekontaminierung wurden ebenso gefördert wie bei neuen Medikamenten. Für viele Ministerien würde es sogar noch weitere Gelder im Kampf gegen den Terrorismus geben. Neue Behörden sollten zum Schutz der Computernetzwerke des Landes eingerichtet und finanziert werden. Nach der Rede informierten Justizministerin Janet Reno, Gesundheitsministerin Donna Shalala und ich die Presseabteilung des Weißen Hauses über alle Initiativen. Ich wusste, dass wir den Durchbruch geschafft hatten. Später trat die Gesundheitsministerin zusammen mit Verteidigungsminister Bill Cohen und mir in einer von insgesamt fünf Sendungen von Nightline zum Thema »Biologischer Krieg« auf. Dabei unterstrichen wir noch einmal die Bedeutung, uns im eigenen Land vor Terroristen mit Massenvernichtungswaffen zu schützen. Im ganzen Land wurden Übungen abgehalten, sowohl theoretische Planspiele als auch praktische Katastrophenschutzübungen mit Einsatzkräften. Bei einer Übung errichteten Hunderte von Mitarbeitern des FBI, Energie- und Verteidigungsministeriums rasch ein Lager außerhalb von Norfolk in Virginia, nachdem Geheimdienste gemeldet hatten, dass Terroristen eine Atombombe im Hauptquartier der 3. Flotte installiert hatten. Bei praktischen Übungen gehen Eingreiftruppen tatsächlich gegen Ziele vor. Bei der Übung in Norfolk trafen Navy-SEALS ein Boot, das das Mutterschiff der Terroristen darstellte, während das Geiselbefreiungsteam des FBI in ein Haus eindrang, in dem die Mitglieder der 278
Schläferzelle warteten. Ein Sonderkommando für Atomwaffen entschärfte die Bombe, während die Mitarbeiter verschiedener Behörden sich als Reporter ausgaben und die offiziellen Pressesprecher bei einer simulierten Pressekonferenz mit harten Fragen in die Enge trieben. Als Nationaler Koordinator trat ich aus dem Schatten der nationalen Sicherheit und Geheimdienste heraus, traf mich mit Medienvertretern und informierte Kongressmitglieder. Wie ich befürchtet hatte, zog ich durch die Berichte und Porträts über den neuen amerikanischen »Antiterrorzar« weltweit Aufmerksamkeit auf mich. Als ich 1999 eines Morgens in mein Büro kam, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Es war die Art, wie mich der sonst so fröhliche Chef der Küstenwache Jack Robinson begrüßte. Es war der Blick meiner langjährigen Assistentin Beverly Roundtree, als ich an ihrem Schreibtisch vorbeiging. Kaum saß ich vor meinem Computer, kam Lisa GordonHagerty mit einem Gesichtsausdruck herein, der nichts Gutes verhieß. »Hast du das Telegramm gelesen?«, fragte sie. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Sie zeigte es mir. Ein arabischer Führer hatte am Abend zuvor unseren Generalkonsul angerufen und gesagt, er habe dringende und wichtige Informationen für uns, der Konsul solle sofort kommen. Der Konsul erhielt einen langen, ausführlichen »Geheimdienstbericht«. Kernaussage war, dass Osama bin Laden Killer auf den amerikanischen »Antiterrorzar« Dick Clarke angesetzt hatte. Ich sollte in Washington getötet werden. »Tja, eine interessante Art, den Tag zu beginnen«, scherzte ich, aber Lisa konnte an dem Bericht nichts Komisches finden. »Lis, wir kriegen doch ständig falsche Meldungen. Mehr 279
steckt sicher nicht dahinter.« Sie durchbohrte mich mit ihrem Blick und sagte leise und ganz langsam: »Und wenn doch?« »Tja, wie Mr. Spock schon zu Captain Kirk sagte: Wenn Sie sterben, rücken wir in der Rangfolge alle eins nach oben.« Ich las noch die Einzelheiten des Berichts, von denen einige ganz plausibel klangen. Sie fand das nicht witzig: »Verstehst du nicht, Dick? Osama will dich umbringen.« »Das überrascht mich nicht, schließlich versuche ich ja auch, ihn töten zu lassen«, antwortete ich. Lisa verließ entschlossenen Schrittes mein Büro. Sie wollte das nicht auf sich beruhen lassen. Dieselbe Haltung hatte auch Sandy Berger, den ich vor einiger Zeit so lange tyrannisiert hatte, bis er sich vom Secret Service 24 Stunden am Tag beschützen ließ. Auf Bergers Bitte unterschrieb der Präsident noch am selben Tag ein Memorandum, in dem ich als »schützenswert« eingestuft wurde und somit Personenschutz vom Secret Service erhielt. Ich rief beim Leiter des Secret Service an: »Schauen Sie, wenn ich in einem kugelsicheren Cadillac mit einem Chevrolet Suburban davor und dahinter durch die Gegend kurve, bin ich doch nur noch leichter zu finden. Können wir nicht etwas anderes versuchen?« Nachdem er mich einige Minuten lang zu überzeugen versucht hatte, fragte er: »Sind Sie bereit, als Zielperson zu fungieren, damit wir die Attentäter vielleicht festnehmen können?« Ich war einverstanden. Nach außen sollte es so aussehen, als ob sich nichts geändert und ich keinen Personenschutz hätte. Tatsächlich versteckten sich aber Agenten in meiner Nachbarschaft und entlang meiner Fahrstrecken. Nicht gekennzeichnete 280
Fahrzeuge folgten meinem Wagen mit etwas Abstand und hielten nach Verdächtigen Ausschau. Mein Haus erhielt neue Schlösser, Alarmanlagen und Außenlichter. Und ich besuchte Kurse des Secret Service und lernte Ausweichmanöver beim Autofahren. Besonders nervös machte meine Mitarbeiter allerdings, dass ich schießen lernte und eine Sig-Sauer Kaliber 9 Millimeter bekam. Für jemanden wie mich, der für eine stärkere Waffenkontrolle war, schien es seltsam, eine Kanone unter dem Mantel zu tragen, aber das legte sich bald. Eines Abends ging ich mit einem arabischen Minister essen. Er hatte bei seinem Besuch darum gebeten, das »echte« Washington kennen zu lernen, also gingen wir in ein Café im Washingtoner Viertel Adams Morgan. Wir saßen draußen, und er sah sich unruhig um und fragte: »Haben Sie in Washington denn keinen Personenschutz oder Leibwächter?« Ich hatte nicht daran gedacht, dass er sich in meiner Gesellschaft gefährdet fühlen könnte. Ich versuchte ihn zu beruhigen und sagte: »Sehen Sie den Bettler auf dem Gehweg oder den Mann an der Bar? Sie beschützen uns.« Mein arabischer Freund blickte skeptisch, bis schließlich seine Limousine kam, um ihn abzuholen. Sie wurde sofort von einem Wagen blockiert, der mit sechs finster dreinblickenden Agenten des Secret Service plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte. Nach einigen Wochen kamen wir zu dem Schluss, dass die Drohung vermutlich eine Ente war. Ein Teil der Sicherheitsleute zog wieder ab, ein Teil aber blieb weiterhin um mich herum. Aufmerksamkeit hin, Bekanntheit her, es war einfach notwendig, die Medien über den Terrorismus aufzuklären, denn nur so konnten wir Clintons Ziel erreichen, die Öffentlichkeit vorzubereiten, aber nicht in Panik zu 281
versetzen. Im Rahmen dieser Aufklärung brachte ich Leslie Stahl von der Sendung 60 Minutes an einen geheimen Ort, wo wir tonnenweise spezielle Medikamente und Ausrüstung für den Fall eines Angriffs mit biologischen oder chemischen Waffen in der Region Mid Atlantic, also New York, Pennsylvania, New Jersey, Maryland und Delaware, lagerten. Vor den CBS-Kameras öffnete ich eine Kiste und holte ein Injektionsgerät mit Atropin heraus, einem Gegenmittel für Nervengas, und führte vor, wie man es sich selbst in den Oberschenkel spritzt. Stahl fragte, ob all das überhaupt etwas nütze. Ich antwortete, dass mit den eingelagerten Medikamenten im Falle eines Anschlags beispielsweise mit Milzbranderregern Tausende Leben gerettet werden könnten. Als drei Jahre später tatsächlich Milzbranderreger im Umlauf waren, ließen wir die eingelagerten Medikamente verteilen. Stahl und ich sprachen in der Sendung auch über Osama bin Laden. Ich räumte ein, dass al-Qaida versuche, Massenvernichtungswaffen an sich zu bringen. Jahrelang hatten wir Geheimdienstberichte und Analysen der CIA erhalten, denen zufolge al-Qaida sich um chemische oder nukleare Waffen bemühe. Wenn wir jedoch nach Einzelheiten fragten, erhielten wir keine. Frustriert rief ich daher im Frühjahr 2001 Charlie Allen an, der mittlerweile als Assistant Director of Central Intelligence for Collection für die Koordination und Auswertung von Geheimdienstinformationen zuständig war. Wir beschlossen, von jeder Geheimdienstbehörde die Mitarbeiter zu versammeln, die sich mit der Sammlung oder Analyse von Informationen über al-Qaida und Massenvernichtungswaffen befassten. Wir trafen uns an einem geheimen Ort in Virginia. Es waren sehr viele Teilnehmer. Jede Behörde legte ihren Informationsstand 282
dar, noch mehr Gerüchte und flüchtige Schatten, aber nichts Genaues, Glaubhaftes oder etwas, woraufhin man handeln konnte. Charlie und ich teilten die Anwesenden in zwei Gruppen. Die erste Gruppe sollte die Rolle von al-Qaida übernehmen und Pläne für den Kauf von Massenvernichtungswaffen entwickeln, ohne dass die Amerikaner davon erfuhren. Die zweite Gruppe spielte die amerikanischen Geheimdienste. Sie sollte annehmen, dass al-Qaida tatsächlich chemische und nukleare Waffen besaß und erfolgreich versteckte. Die Geheimdienstgruppe durfte jede Methode oder Möglichkeit nutzen, die Waffen zu finden, aber sie musste sich beeilen, weil wir in der Übung davon ausgingen, dass al-Qaida die Waffen schon bald einsetzen wollte. Aus der Übung lernten wir drei Dinge: Erstens hatte es bislang noch kein gemeinsames Bemühen der USGeheimdienste gegeben, kreativ darüber nachzudenken, wie man Massenvernichtungswaffen von al-Qaida finden konnte. Zweitens war es leichter, ein solches Vorhaben zu verbergen, als es zu entdecken. Und drittens kann man den negativen Fall nicht beweisen, das heißt, wir konnten nicht beweisen, dass al-Qaida keine Massenvernichtungswaffen besaß. Die Übung führte zu einem neuen Ansatz der Geheimdienste. Ein Angehöriger eines Drittlandes, der für die CIA arbeitete, schleuste sich in ein al-Qaida-Lager in Afghanistan ein, von dem es hieß, dass dort Chemiewaffen hergestellt wurden. Der Agent entwendete Proben, doch ihre Analyse ergab nichts. Die amerikanischen Agenten, die in unserer Übung die Rolle von al-Qaida übernommen hatten, machten ein gutes Versteck aus. Der Ort wurde daher wiederholt fotografiert und die Höhleneingänge kartografiert. Das Gebiet war ein Tal in Afghanistan namens Tora Bora. 283
8 … esse delendam Unsere Botschaften in Tansania und Kenia wurden am 7. August 1998 fast zeitgleich von Anschlägen erschüttert. Die Botschaft in Tansania wurde schwer beschädigt. In Kenia kam es zu einem Blutbad. 257 Menschen wurden getötet und 5000 verwundet. Unter den Opfern waren zwölf Amerikaner. Al-Qaida hatte auf eine Fatwa aus demselben Jahr, in der den Vereinigten Staaten der Krieg erklärt worden war, nunmehr eine echte Kriegshandlung folgen lassen. Die CSG kam um fünf Uhr morgens über eine sichere Videokonferenzschaltung zusammen. Ich bat Gayle Smith, die Afrika-Beraterin des Präsidenten, sich neben mich zu setzen. Auf dem Videobildschirm sahen wir, dass im State Department Gayles Vorgängerin Susan Rice, nun Assistant Secretary, zuständig für die Afrikapolitik, zu der üblichen Antiterror-Crew hinzugestoßen war. Susan Rice gehörte zu der in der Politik seltenen Spezies der schnell entschlossenen und zupackenden Menschen. Links von mir saß Lisa Gordon-Hagerty, die erst vor kurzem aus dem Energieministerium zu meinem NSC-Team gestoßen war. Sie war ins Weiße Haus gewechselt, um beim Aufbau des Heimatschutzes mitzuwirken, doch ihre erste Aufgabe sollten Hilfsleistungen und Bergungsarbeiten in Afrika sein. »Fangen wir an. Wir werden Prioritäten setzen, die Reihenfolge festlegen müssen«, eröffnete ich die Konferenz. »Erstens, Rettung. Wir müssen schnell Teams dorthin schaffen. Schwere Such- und Bergungstrupps. Da drinnen könnten noch Überlebende sein, und ich 284
bezweifle, dass es vor Ort Einheiten gibt, die damit fertig werden. FEMA, wer ist da gerade auf Posten? Wir brauchen zwei Trupps.« Die Federal Emergency Management Agency hatte einigen lokalen Feuerwehren Gelder für zusätzliche Mitarbeiter, Sonderausbildung und Geräte für die Suche nach Körpern in Gebäudetrümmern, sei es tot oder lebendig, zur Verfügung gestellt. An jenem Morgen war Fairfax County in Virginia die erste einsatzbereite Feuerwehr. »Wir brauchen die Air Force, um die Verwundeten nach Europa zu fliegen. Die Krankenhäuser dort werden mit einer solchen Belastung nicht fertig.« In Europa hält die Air Force medizinische Teams in Bereitschaft, die in Katastrophengebiete fliegen und die Verletzten mit Rettungsflugzeugen evakuieren. »Dann müssen wir aber auch denen vor Ort für ihre Verwundeten medizinische Hilfe zukommen lassen«, fügte Rice hinzu. »In erster Linie sind diese Menschen wegen eines Angriffs auf uns verwundet worden.« »Zweitens, Sicherheit. DOD, welche Einheiten haben wir in der Nähe, um die beiden Schauplätze und die Leute, die wir dahin schicken werden, zu sichern?« Die Navy hatte Fleet Antiterrorism Support Teams (FAST) aufgestellt – Einheiten von Marineinfanteristen, die an sensiblen Punkten Sicherungsaufgaben übernehmen sollten. Die Marines wurden informiert. »Drittens, Ermittlung. Ich nehme an, das FBI wird sofort Spurensicherungsteams an beide Schauplätze schicken wollen, bevor die Orte zertrampelt sind? Und Ermittler, die der einheimischen Polizei helfen?« John O’Neill hielt in Los Angeles, Miami, New York und Washington Teams in Bereitschaft. Die New Yorker Einheit hatte ihre Ausrüstung an einem nahe gelegenen Stützpunkt der Air Force in New Jersey deponiert. Sie flogen als Erste. 285
»Viertens, Koordination. Wir haben jetzt keine Botschaften mehr in diesen Ländern, und wir fallen mit Hunderten von Mitarbeitern bei ihnen ein. State, können wir zwei FESTs ausschicken?« Foreign Emergency Support Teams sind Notfalltrupps, denen Mitarbeiter verschiedener Behörden angehören und die von einem hohen Vertreter des Außenministeriums geleitet werden. Ihre Aufgabe ist es, in ein Land zu reisen, in dem ein Terroranschlag stattgefunden hat, und dem US-Botschafter mit geschulten Mitarbeitern zur Seite zu stehen. Die wenigsten Botschaften verfügten über die nötige Zahl oder die nötigen Mitarbeiter, um mit einem solchen Notfall fertig zu werden. Die FESTs konnten das. Ein eigens dafür angefertigtes Flugzeug konnte innerhalb von vier Stunden oder weniger bereitgestellt werden. Susan Rice wollte Leute aus ihrer Dienststelle in die beiden FEST-Flüge aufnehmen, die ihre beiden Botschafter unterstützen sollten. »Fünftens, Flug. Wir haben uns soeben auf so viele Leute und Ausrüstung geeinigt, dass wir ein Dutzend C141- oder C-5-Maschinen damit voll kriegen. Ich weiß, dass nur zwei oder drei in Bereitschaft stehen, also werden wir hier Prioritäten setzen und andere Flüge absagen müssen. Wenn wir sie in der Luft nachtanken können, dann kommen sie schneller an. Lisa Gordon-Hagerty wird die Funktion der Controllerin für den Präsidenten bei der gesamten Mission übernehmen.« Lisa sah mich entsetzt an und formte mit den Lippen: »Warum ich?« Ich fuhr fort: »Sie entscheidet, was zuerst drankommt, wie viel wir brauchen. Wenn es irgendwelche Probleme beim Nachschub nach Afrika gibt, entscheidet Lisa. Sechstens, den nächsten Anschlag verhindern. Wir 286
können nicht davon ausgehen, dass das alles ist. Es könnten noch mehr Anschläge geplant sein. Susan, schließen wir besser sämtliche Botschaften in Afrika. Wir sollten auch alle anderen Botschaften sichern. Wenn ein Botschafter seine Botschaft bedroht wähnt, dann kann er sie ohne Rücksprache mit Washington schließen. Zuletzt, Zuordnung und Reaktion. CIA, treffen wir uns um 7:30 und gehen gemeinsam die vorliegenden Hinweise durch. Der höchste Vertreter von jeder CSG-Behörde ist eingeladen. Ich nehme an, wir wissen alle, was die Hinweise ergeben werden. Wir werden dem Präsidenten Handlungsoptionen aufzeigen müssen.« Ich war zufrieden, dass wir inzwischen gelernt hatten, auf Terroranschläge zu reagieren, allerdings war ich zugleich tief beunruhigt, weil es so weit gekommen war. FEMA, FBI, State, CIA, die Marineinfanteristen und die übrigen Behörden reagierten überaus schnell. Die Air Force hingegen hatte Schwierigkeiten. Piloten brauchten Ruhepausen. Flugzeuge waren nicht einsatztauglich. Tankflugzeuge standen nicht zur Verfügung. Das erste ausländische Rettungsteam, das am Schauplatz eintraf, stammte aus Israel. Als mein israelischer Kollege über die Anschläge informiert worden war, hatte er ein Flugzeug mit einem schweren Such- und Bergungstrupp in einer für diesen Zweck vorgesehenen Maschine gestartet, die ständig mit der entsprechenden Ausrüstung beladen war und in Alarmbereitschaft stand. Die Israelis hatten nicht angerufen, um uns zu fragen, sie wussten genau, dass wir viel zu viel zu tun hatten. Beim Treffen der CSG am selben Morgen kamen erste Hinweise ans Licht, dass al-Qaida die Anschläge organisiert hatte. Die CIA wusste von einer al-Qaida-Zelle in Kenia, hatte jedoch angenommen, die US-Regierung habe sie gemeinsam mit der kenianischen Polizei 287
zerschlagen. Noch beunruhigender war die Tatsache, dass wir laut CIA-Berichten mit weiteren Anschlägen der alQuaida rechnen mussten. Ein Angriff in Albanien stand allem Anschein nach unmittelbar bevor. Ein weiterer in Uganda oder Ruanda war möglich, obwohl wir erst vor kurzem diese beiden Botschaften geschlossen hatten. Von meinem Büro aus riefen die CSG-Mitglieder auf abhörsicheren Leitungen ihre Ministerien zurück. Das State Department schloss die US-Botschaft im albanischen Tirana. Das Verteidigungsministerium willigte ein, dort eine schwer bewaffnete FAST-Einheit zur Sicherung der Botschaft abzustellen. Die US-Regierung half der albanischen Polizei bei der Aushebung der al-Qaida-Zelle. Da wir alle ziemlich genau wussten, wohin das Ganze führen würde, bat ich die CIA und die Stabschefs, ein gemeinsames Team zu bilden, das Reaktionen auf alQaida ausarbeiten sollte. Falls sich herausstellte, dass eine andere Gruppe hinter den Anschlägen stand, mussten wir eben neue Pläne entwickeln. Keiner von uns glaubte, dass das nötig sein würde. Dieser Tag und die folgenden waren ausgefüllt mit Treffen mit dem Präsidenten und den anderen wichtigen Entscheidungsträgern, den Principals, von der Koordination des »Stroms« nach Afrika und den Vorbereitungen auf den Empfang der Opfer. Eine Woche verging wie im Flug. Sieben Tage nach dem Anschlag trafen sich die Principals wiederum mit dem Präsidenten. Kurz vor dem Treffen las ich in einem CIA-Bericht von einem Informanten in Afghanistan, dass Osama bin Laden und seine wichtigsten Mitarbeiter ein Treffen für den 20. August planten, um die Ergebnisse ihrer Anschläge zu analysieren und die nächste Welle vorzubereiten. Terroristische Koordinatoren von außerhalb Afghanistans hatte man ins Land zurückgerufen. 288
Während wir im Kabinettszimmer Platz nahmen, schob ich den Bericht George Tenet hin, der neben mir saß. Ich kritzelte darauf: »Denkst du, was ich denke?« Er gab ihn mit einer Notiz zurück: »Das kannst du wohl annehmen.« Wir waren beide zu demselben Schluss gelangt, was dieser Bericht bedeutete: Hier bot sich die Gelegenheit, nicht nur einen Bombenangriff zur Vergeltung zu inszenieren, sondern auch Bin Laden und seine Spitzenleute zu erwischen, falls der Präsident gerade jetzt, in der heißen Phase der Presseberichte über den »Lewinsky-Skandal«, einem Schlag zustimmen würde. Zu diesem Zeitpunkt wussten im Kabinettszimmer nur Tenet und ich von dem CIA-Bericht. Im Verlauf der Sitzung legten CIA und FBI detaillierte Hinweise vor, dass al-Qaida hinter der Operation steckte. »Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, Mr. President«, fing Tenet an. »Es besteht kein Zweifel daran, dass dies eine Operation der al-Qaida war. Wir und das Bureau haben viele Hinweise.« Einige Verhaftungen hatte man bereits vorgenommen. Tenet berichtete bei einer Chefbesprechung von dem bevorstehenden Treffen in Afghanistan, rings um den Tisch nickten alle. Man war entschlossen: Wenn al-Qaida Fatwas gegen uns aussprechen konnte, in denen die Organisation uns den Krieg erklärte, so konnten wir das auch, und sogar noch mehr. Wir waren zwar inzwischen seit mehreren Jahren hinter al-Qaida her, doch jetzt bekam die Aufgabe, die Organisation zu eliminieren, höchste Priorität. Der Präsident bat den Nationalen Sicherheitsberater Sandy Berger, alle Elemente einer militärischen Vergeltung zu koordinieren, die vorläufig für den 20. August geplant war – also in sechs Tagen. Militärische Ausrüstung musste in Stellung gebracht werden, und es galt, Pakistan in irgendeiner Form einzubeziehen. 289
Clinton bat Berger auch, einen Gesamtplan aufzustellen, wie mit al-Qaida umzugehen sei. »Hören Sie, Vergeltung für die Anschläge ist ja gut und schön, aber wir müssen diese Kerle ein für alle Mal loswerden«, sagte Clinton. Ernst sah er über seine Lesebrille hinweg Tenet, Cohen und Berger an. »Sie wissen, was ich damit meine?« Wir hatten uns mit al-Qaida immer als einer von vielen terroristischen Bedrohungen befasst. Jetzt würden wir, so hoffte ich, quer durch alle Behörden Einigkeit erzielen, dass die Zerschlagung der al-Qaida eines unserer obersten nationalen Sicherheitsziele war, und dazu ein äußerst dringendes. Auch wenn die Pakistaner uns jetzt bei der Ermittlung nach den Anschlägen auf die Botschaften halfen, indem sie nach Leuten Ausschau hielten, die sich vor und nach dem Anschlag nach Afghanistan abgesetzt hatten, so waren sie bislang doch alles andere als hilfreich gewesen. Al-Qaida-Mitglieder hatten ungehindert durch Pakistan nach Afghanistan reisen können, und obwohl Pakistans Geheimdienst ISID die Taliban ausbildete, ausrüstete und beriet, erklärte die pakistanische Regierung sich außerstande, die Gruppe dahingehend zu beeinflussen, dass sie Terroristenlager schloss und Bin Laden auslieferte. Ein US-Militärschlag konnte nur über Pakistans Luftraum erfolgen. Wenn man sie nicht darüber informierte, konnte es durchaus passieren, dass sie unsere Flugzeuge oder Cruise Missiles abschossen. Wenn man sie jedoch im Voraus in Kenntnis setzte, so glaubten viele von uns, dann würde die ISID die Taliban und möglicherweise auch al-Qaida alarmieren. Der stellvertretende Außenminister Strobe Talbott befürchtete zudem, dass die Pakistaner den amerikanischen Vorstoß kommen sehen und annehmen würden, es handle sich um einen indischen Luftangriff. Talbott meinte, Pakistan würde nicht zögern, 290
eine Offensive gegen Indien zu starten, noch bevor das Land geklärt hatte, was hier wirklich vorging. Dieser Angriff könnte gar einen Atomkrieg zwischen den beiden südasiatischen Rivalen auslösen (die beide mittlerweile über Atombomben verfügten). Das Ganze spielte sich vor dem Hintergrund der anhaltenden Lewinsky-Affäre ab. Wie die meisten Berater Clintons war ich mehr als verärgert, dass der Präsident nicht genügend Diskretion oder Selbstbeherrschung an den Tag gelegt hatte, auch wenn es – nach allem, was ich von amerikanischen Präsidenten wusste – einige seiner illustren Vorgänger mit der Treue ebenfalls nicht so eng gesehen hatten. Allerdings war ich noch wütender darüber, dass die Entschlossenheit der Gegner Clintons keine Scheu kannte, dass sie vorhatten, nicht nur Clinton zu schaden, sondern auch dem Land, indem sie das Privatproblem des Präsidenten für ihre eigenen politischen Ziele zu einem globalen, öffentlichen Zirkus aufbauschten. Jetzt fürchtete ich, dass der Zeitpunkt der Anhörung des Präsidenten zu dem Skandal, der 17. August, unserem Plan in die Quere kommen würde, das al-Qaida-Treffen anzugreifen. Dem war aber nicht so. Clinton stellte klar, dass wir ihm den besten Rat zur nationalen Sicherheit geben sollten, ohne Rücksicht auf seine privaten Querelen. »Sie raten alle, am 20. zuzuschlagen? Schön. Geben Sie mir keinen politischen oder persönlichen Rat zum Timing. Das ist mein Problem. Darum kümmere ich mich schon.« Wenn wir der Ansicht waren, das sei der ideale Zeitpunkt für einen Angriff auf die afghanischen Lager, dann würde er den Befehl erteilen und die ganze »Wagthe-dog«-Kritik ertragen, die kommen würde – das wussten wir alle. Die Medien und der Kongress würden daraufhin mit Sicherheit behaupten, er habe mit diesem 291
Militärschlag nur die Aufmerksamkeit von seiner eidesstattlichen Aussage bei der Untersuchung ablenken wollen. (In dem Film Wag the Dog, der im selben Jahr in die Kinos kam, inszenieren Präsidentenberater einen künstlichen Konflikt mit Albanien, damit die USA angreifen können und so die Aufmerksamkeit von innenpolitischen Problemen abgelenkt wird. Ironischerweise wurde Clinton 1998 wegen einer angeblichen »Wag-the-dog«-Strategie kritisiert, als er sich der wahren Bedrohung stellte, die von al-Qaida ausging, doch niemand bezeichnete Bushs Krieg gegen den Irak 2003 als eine »Wag-the-dog«-Maßnahme, obwohl die »Krise« fingiert war und der politische Berater Bushs, Karl Rove, den Republikanern einschärfte, »auf dem Krieg zu reiten«.) Clinton sagte am 17. August aus und flog dann auf die Insel Martha’s Vineyard. Er hatte einen ganzen Tag frei gehabt, als Don Kerrick ihn aufsuchte. Kerrick war ein General der Army, der schon mehrmals im Sicherheitsrat mitgearbeitet und maßgeblich zur Lösung der Bosnienkrise beigetragen hatte. In seiner Funktion als stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater kam er nun mit den endgültigen Plänen für den Angriff auf al-Qaida auf die kleine Insel vor der Küste von Massachusetts. CIA und die Stabschefs hatten nicht nur Gebäude im Lager von al-Qaida, in denen das Treffen stattfinden sollte, als Ziele benannt, sondern auch andere al-QaidaLager in Afghanistan und Einrichtungen im Sudan. Sie rieten dazu, den Angriff nur mit Cruise Missiles durchzuführen, weder mit Kommandotrupps noch mit bemannten Flugzeugen, weil dabei Amerikaner fallen oder in Gefangenschaft geraten könnten. Joe Ralston, Vize der Joint Chiefs, hatte sich bereit erklärt, nach Pakistan zu fliegen und auf dem Flughafen einen Zwischenstopp 292
einzulegen, angeblich um auf dem Flug nach irgendwohin aufzutanken. Er hatte den Chef des pakistanischen Militärs angerufen und zu einem Dinner unter vier Augen am 20. August auf dem Flughafen eingeladen, um über die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Pakistan zu sprechen. Der pakistanische General, ein Freund Ralstons, hatte eingewilligt. Die Cruise Missiles würden genau zu der Zeit in Pakistans Luftraum eindringen, wenn die beiden gemeinsam bei Tisch saßen. Ralston würde erklären, dass es sich um amerikanische Raketen handle und dass man sie nicht abschießen dürfe. Laut Plan sollte Ralston wieder in sein Flugzeug steigen und abfliegen, bevor das Dessert serviert wurde. Das amerikanische Militär reagiert besonders empfindlich, wenn Zivilisten ihnen vorschreiben wollen, wie sie ihre Arbeit zu erledigen haben, oder sie auch nur fragen, wie sie beabsichtigen, die Arbeit zu tun. Dem Offizierskorps hatte man beigebracht, Zivilisten folgendermaßen abzufertigen: »Nennen Sie mir einfach das Ziel. Ich finde dann heraus, wie man es anstellen muss.« Diese Antwort geht auf Vietnam zurück, als Lyndon B. Johnson im Lagezentrum des Weißen Hauses saß, sich Landkarten und Aufnahmen ansah und bestimmte Bombenziele ausschloss. Deshalb hatten wir damals auch nicht gewusst, wie das Militär Aidid in Somalia zu fassen bekommen wollte – sonst hätten wir nämlich darauf hingewiesen, dass wiederholte Angriffe bei helllichtem Tage vom Hubschrauber aus in einer Stadt keine gute Idee waren. Und deswegen konnte ich auch nicht offiziell an den Diskussionen über die Frage teilnehmen, von welchen Plattformen aus die Marschflugkörper starten sollten. Dennoch rief ich meine Freunde im Stab an und wies darauf hin, dass das pakistanische Militär ja schon lange bevor Joe Ralston 293
Currysuppe löffelte, eine auffällige Aktivität der US Navy vor ihrer Küste bemerken könnte. Mir wurde versichert, dass die Raketen von getauchten U-Booten aus abgefeuert würden. Möglicherweise werde noch ein Zerstörer an der Operation beteiligt sein, aber amerikanische Zerstörer trieben sich häufig vor der pakistanischen Küste herum. Bislang war die Zahl der Mitarbeiter in der USRegierung, die wussten, dass ein Vergeltungsschlag bevorstand, relativ klein, im Grunde nur wir im Principals Committee des Sicherheitsrates. Für eine solche militärische Operation ist jedoch etliches an Papierkram zu erledigen. Es muss eine Erklärung des Präsidenten folgen, Briefings für die Presse müssen in mehreren Behörden vorbereitet werden, dazu ein Briefing für den Kongress, die Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt (die so genannte War Powers Notification), Erklärungen, die vor den Vereinten Nationen abgegeben und weltweit an unsere Botschaften weitergeleitet werden, erhöhte Sicherheitsvorkehrungen an US-Einrichtungen im Ausland, und vieles mehr. Um all das noch vor dem Angriff zu bewältigen, brauchte ich für die Ausarbeitung und Prüfung des Materials die Mitglieder der CSG und einige ihrer Mitarbeiter. Die Principals befürchteten jedoch, es könnte nach außen durchsickern, dass ein Angriff bevorstand. Am Ende vereinbarten sie, dass ich am späten Nachmittag eine Sitzung einberufen und die CSG-Mitglieder darüber informieren durfte, was in Kürze passieren würde. Danach schickte ich sie an die Arbeit und ließ sie die Erklärungen verfassen. Der Trick bei der Sache war, dass sie den Komplex des Weißen Hauses nicht verlassen konnten, bis der Angriff stattgefunden hatte (oder zumindest erst nachdem die Moderatoren der Abendnachrichten und die Redakteure der Tageszeitungen längst im Bett lagen). 294
Dabei hatte niemand die CSG-Mitglieder selbst im Verdacht, etwas auszuplaudern. Doch jeder Einzelne hatte wiederum seinen Stab, was zusammengenommen an die hundert Leute ergab. Viele Mitarbeiter im Stab hatten Menschen in ihrem Leben, denen sie aufregende Geheimnisse wie einen bevorstehenden Militärschlag anvertrauten. Kein einziges CSG-Mitglied protestierte, als ich sie bei dem Treffen mit der Ankündigung überraschte, dass sie eine Weile hier bleiben würden und sich gute Entschuldigungen für ihre Dienststellen und Familien einfallen lassen mussten. Altgediente Mitarbeiter wie Under Secretary of State Tom Pickering (der in seiner glanzvollen Laufbahn acht Anhörungen im Senat überstanden hatte) krempelten nur die Ärmel hoch und fragten nach einem Computer, damit sie an die Arbeit gehen konnten. Ein CIA-Beamter protestierte jedoch gegen die Einbeziehung von Zielen im Sudan. Ich erklärte, dass CIA und Pentagon mögliche Angriffsziele ausgesucht, die Principals (darunter Tenet) die Ziele benannt hätten und der Präsident sie bestätigt habe. Dennoch spürte ich förmlich, dass er sich von seiner eigenen Behörde übergangen fühlte und sich vermutlich später über die Angriffsziele beklagen würde, entweder vor der Presse oder gegenüber Kongressmitgliedern. Während der Abend voranschritt, ging ich davon aus, dass die Ziele erfasst wurden. Der Präsident grübelte jedoch noch wegen einer kommerziellen Einrichtung im Sudan, die Bin Laden gehörte. In allerletzter Minute strich er das Angriffsziel von der Liste, weil es für al-Qaida keinerlei militärischen Nutzen hatte. Er ließ aber die Chemiefabrik in Schifa auf der Liste stehen. Es stellte sich heraus, dass meine Freunde im Stab mir leere Versprechungen hinsichtlich der Pläne der Navy gemacht hatten. Im nördlichen Arabischen Meer gingen 295
mehrere amerikanische Zerstörer in Stellung, mit den Raketen startklar in den Abschussrohren. Die pakistanische Marine hatte das mit Sicherheit bereits bemerkt und Islamabad alarmiert. ISID nahm den Alarm entgegen. Dann wurden die ersten von 75 Raketen abgefeuert. Einige kreisten noch, bis andere starteten, dann flogen sie alle mit 650 Kilometern pro Stunde in Richtung pakistanische Küste. Fast zwei Stunden später sollten sie die al-Qaida-Lager in Afghanistan treffen. Andere Raketen wurden vom Roten Meer aus auf Schifa im Sudan abgefeuert. In der Frage, wie knapp der Angriff mit Cruise Missiles die al-Qaida-Führung verfehlte, gehen die Meinungen auseinander. Was immer die Wahrheit ist, Bin Laden wurde jedenfalls bei dem Angriff nicht getötet, offenbar jedoch pakistanische ISID-Beamte. Die Pakistaner waren, wie in den Medien gemeldet wurde, in dem Lager gewesen, um kaschmirische Terroristen auszubilden. Der ISID unterhielt mehrere Dienststellen in Afghanistan und unterstützte die Taliban in ihrem Kampf um die Kontrolle über den Nordteil des Landes, wo die Nordallianz noch standhielt. Nach meiner Meinung hätte Pakistans Geheimdienst ohne weiteres Bin Laden fassen oder uns sagen können, wo er sich aufhielt, wenn er nur gewollt hätte. Sie kooperierten nicht mit uns, weil der ISID alQaida als Stütze der Taliban ansah. Außerdem meinte der Geheimdienst, mit Hilfe von al-Qaida und seinen Ablegern könne er Indien unter Druck setzen, insbesondere in der Kaschmirfrage. Einige Offiziere wie General Hamid Gul, der ehemalige Leiter des ISID, teilten allem Anschein nach Bin Ladens antiwestliche Haltung. In den folgenden Tagen fiel in den USA die öffentliche Reaktion auf die amerikanischen Vergeltungsschläge so ablehnend aus, wie man es sich nur vorstellen konnte. 296
Laut Medien und vielen Kongressmitgliedern hatte Clinton nur deshalb einen Militärschlag geführt, weil er von der Lewinsky-Affäre ablenken wollte; CIA-Chef Tenet habe sich die Story von einem al-Qaida-Treffen vermutlich nur ausgedacht, denn Bin Laden sei ja immer noch am Leben; den Sudanesen nahm man ab, dass sie in Schifa niemals Substanzen für chemische Waffen hergestellt hatten, oder, falls doch, so dienten sie lediglich dazu, Unkraut zu vernichten; das Pentagon habe wertvolle Cruise Missiles für einen Angriff auf Hütten und Zelte vergeudet; und Clinton habe das Militär daran gehindert, in Afghanistan »einen Fuß auf den Boden zu setzen«, und auf dem Einsatz von wirkungslosen Cruise Missiles bestanden; »echte Männer« hätten Kommandotrupps eingesetzt. Unsere Antwort auf zwei tödliche Terroranschläge war ein Versuch, die al-Qaida-Führung auszulöschen, doch daraus wurde schon bald Wasser auf den Mühlen rechter Kommentatoren. Die Aktion wurde Teil der Kampagne gegen Clinton. Diese Reaktion erschwerte es uns, die Genehmigung für weitere Folgeangriffe auf al-Qaida zu erhalten, etwa für meine Idee, die Suche nach Bin Laden abzublasen und einfach die Ausbildungslager zu bombardieren. Besonders frustrierend war der Umstand, dass Clinton einmal nach der Sitzung im Kabinettszimmer den Vorsitzenden der Joint Chiefs Hugh Shelton und mich beiseite nahm und zu dem ehemaligen Befehlshaber der Special Forces sagte: »Hugh, ich glaube, was diese alQaida-Jungs das Fürchten lehren würde, und zwar mehr als irgendeine Cruise Missile … das wäre der Anblick von US-Kommandotrupps, von Ninja-Kämpfern in schwarzen Anzügen, die aus Hubschraubern in ihre Lager springen und mit Maschinenpistolen um sich schießen. Auch wenn 297
wir die großen Tiere nicht erwischen, würde das bestimmt einen guten Effekt erzielen.« Shelton blickte gequält. Er erklärte, dass die Lager weit entfernt von irgendeinem Ort lägen, von dem aus wir einen Hubschraubereinsatz starten könnten. Dennoch willigte der höchste Militär Amerikas ein, sich die Sache »zu überlegen«. Am selben Tag, an dem wir Cruise Missiles nach Afghanistan schickten, unterschrieb Präsident Clinton die Executive Order 13099, die Sanktionen gegen Osama bin Laden und al-Qaida verhängte. Einige Monate später wurden diese Sanktionen auf die Taliban ausgedehnt, weil wir zu dem Schluss gelangten, dass de facto kaum ein Unterschied zwischen ihnen und al-Qaida bestand. Mit diesen Befehlen rückte die amerikanische Strategie gegen al-Qaidas finanzielles Netzwerk von einem engen Ansatz ab, der sich in erster Linie auf die Strafverfolgung konzentrierte, und wechselte zu einer breiteren Herangehensweise mit dem Ziel, alle verfügbaren Instrumente und Ressourcen der US-Regierung in den Kampf einzubeziehen. Wir mussten dringend die geheimdienstlichen, diplomatischen, polizeilichen und regulierenden Bemühungen in den Dutzenden von Ministerien, Behörden und Dienststellen, die daran beteiligt sein würden, verbessern und koordinieren. Die meisten Behörden hatten wenig oder gar keine Erfahrung in der Aufdeckung der Finanzquellen des Terrors. Viele gingen mit ihrer eigenen begrenzten Sicht an das Thema heran und zeigten sich wenig interessiert an einer einheitlichen Strategie. Hinzu kamen alte Grabenkämpfe. Doch der Präsident wollte Antworten und Taten, folglich mussten diese Hindernisse ausgeräumt werden. Ich bat Will Wechsler aus meinem Stab, eine neue Untergruppe der CSG zu leiten, die sich mit der 298
Finanzierung von Terrorgruppen befassen sollte. Will war aus dem Pentagon zu uns gestoßen, wo er als Zivilist General Shalikashvili beraten hatte, den damaligen Chef der Joint Chiefs. Will und ich kamen rasch zu der Schlussfolgerung, dass die Regierungsbehörden im Allgemeinen mehr schlecht als recht die finanziellen Netzwerke des internationalen Verbrechens aufgespürt und unterbrochen und dass sie kaum etwas gegen die Finanzierung von Terrorgruppen unternommen hatten. Einen der wenigen und wichtigen Siege gegen die Finanzierung von Verbrechen hatten wir ein paar Jahre zuvor errungen, als der Präsident den International Emergency Economic Powers Act (er gestattet Sanktionen wie das Sperren von Konten) gegen das Drogenkartell Cali durchgesetzt hatte. Gegen al-Qaida wollten wir jetzt genauso vorgehen. Will traf sich erst einmal mit Rick Newcomb, dem stillen und effektiv arbeitenden Leiter der Aufsichtsbehörde für ausländische Vermögen (Office of Foreign Asset Control, OFAC) innerhalb des Finanzministeriums und dem Architekten der Bemühungen gegen das Cali-Kartell. Gemeinsam fragten sie alle Mitarbeiter in Geheimdienstkreisen, in Strafverfolgungsbehörden und im Außenministerium, die vermutlich etwas über die Finanzierung von Terrorgruppen wussten, was ihnen über die Finanzen der al-Qaida bekannt war. Will kam nach seiner ersten Runde von Gesprächen besorgt in mein Büro. »Das ist verrückt«, sagte er. »Das FBI ist der Meinung, wir sollten das einfach denen überlassen, dabei konnten sie mir nicht ein Detail nennen, das nicht auch in der Zeitung steht. Die CIA hat uns einen Datensalat übergeben mit allem, was ihr jemals zu dem Thema über den Weg gelaufen ist, und meint, damit sei 299
die Frage beantwortet. Es gibt überhaupt keine förmliche Bewertung, keine Vorstellung von dem Gesamtbild, keine Idee, woher das Geld denn kommt. Soweit ich es beurteilen kann, weiß nur eine Hand voll Mitarbeiter in der CIA überhaupt etwas darüber, wie Gelder um die Welt verschoben werden, und kein Einziger gehört dem Zentrum für Terrorbekämpfung an. Allgemein herrscht, wie mir scheint, da draußen der Eindruck, das alles sei reine Zeitverschwendung, weil man ja, wie sie ständig sagen, nicht viel Geld dafür braucht, etwas in die Luft zu jagen, und Osama ohnehin alles, was er benötigt, von seinem Daddy bekommen hat.« »Du musst eine kleine Gruppe aus Leuten zusammenstellen, die die Antworten finden«, sagte ich ihm. »Nimm Rick und seinen Stab und wen immer du in der CIA auftreiben kannst, der dir weiterhilft. Halte die Übrigen aus den anderen Behörden auf dem Laufenden, aber lass nicht zu, dass sie deine Arbeit behindern. Stelle die nötigen Fragen. Ich brauche keine Details, nur ein paar Antworten, damit wir in die Gänge kommen. Die CIALeute sind verrückt, wenn sie glauben, Bin Laden würde dieses globale Netzwerk nichts kosten.« Wie der Zufall es wollte, hatte ich kurz nach diesem Gespräch Gelegenheit, das Thema bei einer Chefbesprechung zum Thema Terrorismus zur Sprache zu bringen. George Tenet gab eine Zusammenfassung des Datensalats der CIA. [Wenn man Menschen mit einer großen Zahl von Details überfrachtet, dann merken sie manchmal gar nicht, dass das Ganze überhaupt keinen Sinn ergibt.) »George«, sagte ich, »das war ein gutes Resümee, aber es sagt uns nicht alles über die Finanzen der al-Qaida. Wir wissen noch immer nicht, über wie viel Geld sie verfügen, woher sie es bekommen, wie sie es verschieben und wo sie es deponieren.« George war nicht 300
gerade erfreut, aber die anderen Principals ebenso wenig, geschweige denn der Präsident, der schon 1995 in seiner PDD-39 und im selben Jahr in der PDD-63 der CIA befohlen hatte, die Finanzquellen der Terroristen zu untersuchen. Wechsler kam einige Wochen später mit seinen neuen Erkenntnissen zu mir. Wie so oft ergab sich, nachdem alle Informationen im Datenchaos der CIA untersucht worden waren, allmählich ein Bild, das exakt dem Gegenteil der anfänglichen, konventionellen Meinung entsprach: Auch wenn jeder Terroranschlag relativ wenig kosten mochte, waren doch immense Geldsummen nötig, um all das in Gang zu halten, was al-Qaida umfasste. Und Osama bin Ladens Privatvermögen war zwar mit Sicherheit hilfreich bei der Gründung der al-Qaida, doch das finanzielle Netzwerk der Organisation reichte weit über die Brieftasche eines einzigen Mannes hinaus. Vielmehr hatten wir es mit einem riesigen, weltweit operierenden Kapitalbeschaffungsapparat zu tun. Dieser Apparat stützte sich sowohl auf legale Unternehmen als auch auf kriminelle Machenschaften. Doch die wichtigste Geldquelle der al-Qaida war ganz eindeutig die fortwährende Kapitalbeschaffung über islamische »Wohlfahrtsverbände« und Nichtregierungsorganisationen. Die Terroristen verschoben ihr Geld über altmodischen Schmuggel, aber auch durch Schlupflöcher im globalen Finanzsystem und innerhalb eines wachsenden islamischen Bankennetzes. Einige Details waren noch unklar, doch das Gesamtbild wirkte überzeugend. Will machte mich auf Berichte aufmerksam, die vage auf »Geldwechselstuben« verwiesen, ohne wirklich zu erklären, welche Art von Geschäften dort getätigt wurden. Mit einem Lächeln erklärte er mir, dass er im Labyrinth 301
des Financial Crimes Enforcement Network, also der Fahndungsabteilung des Finanzministeriums, einen Menschen aufgetrieben hatte, der wusste, was die Verweise zu bedeuten hatten. So erfuhren wir zum ersten Mal alles über das Hawala-System, ein uraltes System im Untergrund, das Geld transferiert, ohne dass Geld bewegt wird – noch dazu praktisch ohne Spuren. [Es funktioniert folgendermaßen: Ein Kunde geht zu einem Mittelsmann und übergibt ihm einen Betrag, der zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort an einen Empfänger ausgezahlt werden soll. Der Mittelsmann gibt dem Kunden zur Sicherheit einen Code mit. Der Kunde informiert den Empfänger über Ort, Zeit und Code. Der Mittelsmann wiederum informiert einen anderen Mittelsmann in der Nähe des betreffenden Ortes. Der Empfänger geht zur vereinbarten Zeit an den Ort, sagt dem zweiten Mittelsmann den Code und nimmt die Summe entgegen. Falls irgendetwas schriftlich festgehalten wurde, kann und muss es spätestens jetzt vernichtet werden. Wichtig ist, dass beide Mittelsmänner ihren eigenen Geldtopf haben. Der Betrag wandert nicht von dem einen Mittelsmann zum anderen. Anm.d. Übers.] Die CIA wusste wenig über das System, wollte aber mehr darüber in Erfahrung bringen. Das FBI wusste noch weniger und unternahm nichts. Wechsler fand über das Internet gleich mehrere Mittelsmänner in New York. Trotz unserer wiederholten Anfragen in den folgenden Jahren war niemand im FBI jemals imstande, auch nur die elementarsten Fragen über Zahl, Ort und Aktivitäten der großen Hawala-Netze in den Vereinigten Staaten zu beantworten – geschweige denn in Aktion zu treten. Sobald sie ihre Theorie entwickelt hatten, gingen Will, Rick und ihr kleines Team daran, eine Strategie für die nächsten Schritte auszuarbeiten. Wir brauchten ganz 302
eindeutig mehr Informationen, aber wir konnten es uns nicht leisten zu warten, bis wir sämtliche Details kannten. Eines war klar: Ein Großteil des beschafften Geldes stammte aus Saudi-Arabien. Viele saudische Wohltätigkeitsorganisationen, die al-Qaida nutzte, waren halbstaatliche Einrichtungen, mit deren Hilfe das Regime seine Version des Islam ins Ausland verbreitete. Darüber hinaus verfügte die saudische Regierung offenbar über wenig Gesetze oder Vorschriften, die es ihr erleichtern würden, die Geldströme innerhalb ihres Landes zu verfolgen – selbst wenn sie den politischen Willen aufbrächte, das überhaupt wissen zu wollen. Wir kamen zu dem Schluss, dass wir ein ernstes Gespräch mit den Saudis wie auch mit einigen Finanzzentren in der Region führen mussten. Uns war klar, dass das saudische Regime bei bisherigen Ermittlungen zu Terroranschlägen, die sich auf die Strafverfolgung konzentrierten, kaum mit amerikanischen Behörden kooperiert hatte, auch nicht bei dem Bombenanschlag von Khobar, bei dem 19 Mitglieder der US Air Force ums Leben gekommen waren. Deshalb wollten wir anders vorgehen. Erstens sollte dies, auch wenn die Strafverfolgung eine gewisse Rolle spielte, in erster Linie der Versuch sein, mit den Saudis auf politischer Ebene zu reden. Unser Ziel war es, die wichtigen »Knoten« im Finanznetzwerk der alQaida ausfindig zu machen und sie dann mit allen der USRegierung zu Gebote stehenden Mitteln zu zerschlagen. Wir wollten so schnell wie möglich handeln, aber wir wussten auch, wie schnell unsere Glaubwürdigkeit Schaden erleiden konnte, falls der Eindruck entstehen sollte, wir seien auf der Basis dürftiger Informationen in Aktion getreten – und zu diesem Zeitpunkt waren unsere Informationen eben noch ziemlich dürftig. 303
Zweitens wollten wir mit Hilfe der Handhabe, die der Regierungserlass bereits bot, al-Qaida-Konten und die Konten derer sperren, die Terroristen »materielle Unterstützung« zukommen ließen, wie es später hieß – eine Charakterisierung, die potenziell auf wichtige Akteure innerhalb Saudi-Arabiens zutreffen würde. Drittens würden wir Informationen von den höchsten saudischen Regierungskreisen benötigen. Also baten wir Vizepräsident Gore, mit dem Kronprinzen über dieses Problem zu sprechen und darüber, dass sie eine USDelegation akzeptierten, die sich mit Repräsentanten sämtlicher relevanter Behörden der Saudis treffen wollte – gleichzeitig, damit es keine unnötige Lauferei gäbe –, um mit ihnen nur über dieses eine Thema zu sprechen. Und viertens – vielleicht das Wichtigste – beschlossen wir, die Karten auf den Tisch zu legen und den Saudis zu zeigen, was wir über al-Qaidas Finanzen wussten und was nicht, und sie dann um Vervollständigung zu bitten. Wir wollten das typische saudische Verhaltensmuster vermeiden, das wir schon erlebt hatten: quälend langsame Fortschritte, gebrochene Versprechen, Dementis und eine Kooperation, die sich auf bestimmte Fragen beschränkte. Andererseits waren wir jedoch der Meinung, dass die Saudis als langjährige Freunde der Vereinigten Staaten eine Gelegenheit bekommen mussten, in der Terrorbekämpfung eine neue Beziehung zu uns aufzubauen. Wir erwarteten eine volle Partnerschaft, natürlich hinter den Kulissen. Wir waren uns darüber im Klaren, dass es ihnen möglicherweise an dem politischen Willen fehlte, eine solche Partnerschaft einzugehen, doch wir meinten, es sei einen Versuch wert – die Androhung öffentlicher Sanktionen gegen saudische Einrichtungen behielten wir uns vor. Einigen Regierungsbehörden schien diese neue 304
Vorgehensweise gar nicht zu gefallen. Im Außenministerium waren manche mit der Idee, Sanktionen anzudrohen, ganz und gar nicht einverstanden, obwohl die Vollmacht dazu bereits in der Executive Order 13 099 des Präsidenten enthalten war. Und im FBI behagte einigen der Umstand nicht, dass mit den Saudis Gespräche über die Finanzierung von Terrorgruppen außerhalb ihrer Kanäle geführt werden sollten, ja, ohne dass sie dafür zuständig waren. Kurz nachdem wir das FBI über die Initiative informiert hatten, sickerte eine Meldung an die New York Times durch, die uns um ein Haar gezwungen hätte, die Reise abzusagen. Und auch in Geheimdienstkreisen, die eifersüchtig »ihre« Kanäle zum saudischen Nachrichtendienst bewachten, konnten manche sich mit dieser Vorgehensweise nicht anfreunden. Sie erhoben selbst dann noch Einspruch, nachdem die CIA jede einzelne Information mit uns besprochen hatte, über die wir mit den Saudis reden wollten. Einige in der CIA-Einsatzleitung unternahmen sogar an dem Tag, als Wechslers Treffen stattfinden sollte, einen Versuch in letzter Sekunde, uns die Befugnis abzusprechen, dass wir die Saudis mit bereits freigegebenen Informationen versorgen dürften. Trotz der behördenübergreifenden Obstruktion fanden die Treffen wie geplant statt. Wir bekamen auf einige Fragen Antworten. Wir zwangen die Aufsichtsbeamten in Saudi-Arabien, mit der Polizei und den Geheimdiensten zu sprechen – was sie ganz eindeutig nicht gewohnt waren. Einige wichtige Schritte wurden unternommen, etwa der Entzug der Landerechte für Ariana Airlines durch SaudiArabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Afghanistans staatliche Fluggesellschaft Ariana war von den Taliban übernommen worden und hatte sich in vieler Hinsicht zur direkten Verbindung der al-Qaida zur 305
Außenwelt entwickelt. Als die Regierungen die Befugnisse erkannten, die mit der Executive Order verbunden waren, und dann konfrontiert wurden mit der Wahl zwischen Geschäften mit Ariana Airlines oder American Airways – da war das nur noch eine rhetorische Frage. Später arbeiteten wir mit Russland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zusammen, um die Sanktionen auch auf multilateraler Ebene durchzusetzen. Dennoch ergab sich in den Monaten nach dem Besuch trotz der saudischen Versprechen, weitere Informationen und Unterstützung zu liefern, wenig Konkretes, ebenso nach einem Folgebesuch Rick Newcombs. Die Saudis protestierten gegen unsere Fokussierung auf anhaltende Kontakte zwischen Osama und seiner wohlhabenden und einflussreichen Familie, die angeblich schon vor Jahren alle Beziehungen zu ihm abgebrochen hatte. »Wie können wir von einer Mutter verlangen, ihren Sohn nicht anzurufen?«, fragten sie. Sie gingen in die Defensive, als wir sie auf einige Schwachpunkte in ihrer Bankenaufsicht aufmerksam machten, und wiesen ihrerseits darauf hin, dass kurz zuvor viele Kongressmitglieder versucht hätten, das amerikanische Bankgeheimnis zu lockern. Und mit dem amerikanischen Kongress hatten sie sogar Recht: Auch wenn schon die Clinton-Administration schärfere Bestimmungen gegen Geldwäsche angestrebt hatte, brachte der Kongress erst nach dem 11. September den politischen Willen auf, die amerikanischen Gesetze zur Bekämpfung der Finanzquellen von Terrorgruppen und der Geldwäsche zu verschärfen. Also gingen wir wieder ans Reißbrett. Mike Sheehan im State Department versuchte vergeblich innerhalb seines Apparats, das politische Risiko, das Saudi-Arabien und andere Länder eingingen, zu erhöhen, solange wir nicht 306
mehr Unterstützung beim Kampf gegen die Finanzquellen des Terrors erhielten. Rick Newcomb dachte inzwischen darüber nach, welche Einrichtungen in Saudi-Arabien geeignete Ziele für Sanktionen wären. Die CIA unternahm einen neuen Versuch, die wichtigen »Knoten« im Finanznetz der al-Qaida zu lokalisieren. Das war eine wichtige und außerordentlich schwierige Arbeit, aber sie war notwendig, wenn wir ohne echte saudische Zusammenarbeit unilateral Maßnahmen ergreifen wollten. Nach dem Rücktritt von Robert Rubin fiel es uns leichter, Unterstützung vom Finanzministerium zu erhalten. Rubin hatte sich dagegen gewehrt, dass wir die Vollmachten des Präsidenten nach dem International Economic Emergency Powers Act dafür nutzten, gegen Frontorganisationen in den USA vorzugehen, mit deren Hilfe Terrorgruppen sich Gelder beschafften. Über schärfere Geldwäschegesetze war er alles andere als begeistert gewesen. Der neue Finanzminister Larry Summers brachte frischen Wind mit. Er forderte Will Wechsler auf, gemeinsam mit ihm im letzten Jahr der Clinton-Administration einen multilateralen Ansatz auszuarbeiten, durch den ausländische Geldwäscheoasen »benannt und an den Pranger gestellt« werden konnten, die al-Qaida und anderen Terroristen und Kriminellen Finanzdienste anboten, »ohne Fragen zu stellen«. Diese Initiative kostete manchen Ländern einiges auf den Finanzmärkten und zwang über ein Dutzend Länder, ihre Gesetze zu revidieren. Auf der Grundlage der neuen Gesetze halfen Liechtenstein und die Bahamas uns nach dem 11. September beim Aufspüren und Einfrieren eines großen Teils von al-Qaidas Finanznetzwerk. Als die Bush-Administration ihr Amt antrat, wollte ich unsere Bemühungen im Kampf gegen die Finanzquellen des Terrors intensivieren, stieß jedoch auf wenig Interesse. 307
Der Wirtschaftsberater des neuen Präsidenten, Larry Lindsey, sprach sich schon seit langem für eine so starke Lockerung der amerikanischen Geldwäschegesetze aus, dass die USA selbst internationale Standards unterboten hätten. Der neue Finanzminister Paul O’Neill reagierte bestenfalls lauwarm auf die multilateralen Bemühungen, ausländische Geldwäscheoasen an den Pranger zu stellen. Er ließ es zu, dass der Status der saudischen Zusammenarbeit niemals richtig auf die Probe gestellt wurde. Generell misstrauten die von Bush ernannten Regierungsmitglieder allem, was die ClintonAdministration eingeführt hatte und nach Multilateralismus roch – folglich musste die Bekämpfung der Finanzquellen von Terrorgruppen auf internationaler Ebene gleich zwei Rückschläge einstecken. Anfang 2001 richtete Bush das Augenmerk weniger auf die Aufdeckung der Finanzströme von al-Qaida als auf die Konfrontation mit China, auf den Rückzug aus multilateralen Verpflichtungen und auf die Bereitstellung von mehr Geldmitteln für ein Raketenabwehrsystem. Und außerdem verließ Will Wechsler wenige Monate nach dem Regierungswechsel das Finanzministerium. Clinton hatte die Vergeltungsschläge und die Sanktionen nach den Anschlägen auf die afrikanischen Botschaften genehmigt, doch er hatte Berger darüber hinaus um einen Gesamtplan für die Bekämpfung der al-Qaida gebeten. Mein Team schickte sich an, einen, wie wir es nannten, »Pol-Mil-Plan« auszuarbeiten. Einen politischmilitärischen Plan hatten wir zum ersten Mal für die Überwindung der Krise in Haiti entwickelt. Als General Shalikashvili, der Vorgänger Hugh Sheltons, Clinton einen militärischen Plan für die Invasion auf Haiti vorgelegt 308
hatte, war der Präsident beeindruckt gewesen von der Genauigkeit, von der Verteilung der Zuständigkeiten, dem Timing, den nötigen Ressourcen. Clinton fragte nach dem zivilen Plan, »… weil das Militär innerhalb von wenigen Stunden Haiti übernehmen wird. Was aber geschieht nach der Machtübernahme? Wir brauchen ein ähnlich detailliertes Szenario für das, was nach den Gefechten passiert.« Der Pol-Mil-Plan für Haiti (danach gab es andere für Bosnien, Kosovo, Iran und Irak) lag in Form eines dicken Ringbuchs mit losen Blättern vor, an denen Schildchen zu allen erdenklichen Themen befestigt waren. In ihm steckten die gesamte Vorausplanung, Annahme möglicher Notfälle, detaillierte Auflistung von Zielen, Bestimmung der Mittel, um die Ziele zu erreichen, Einschätzung der nötigen Ressourcen, Zeitpläne und die Zuteilung von Zuständigkeitsbereichen. Der Pol-Mil-Plan für Haiti wurde mehrfach durchgespielt, bevor US-Truppen auf der Insel landeten. Für die Principals war die Existenz eines detaillierten Plans ein Sicherheitsblankoscheck, der ihre Zuversicht stärkte. Nun arbeiteten wir einen solchen Plan für al-Qaida aus. Jede militärische Operation hat einen Decknamen oder eine Wendung wie Infinite Reach, Just Cause, El Dorado Canyon oder Provide Comfort. Um die Absicht des PolMil-Plans für al-Qaida auszudrücken, griff ich auf einen Satz von Cato dem Älteren zurück, dem römischen Senator und berühmten Redner, der im Jahr 201 v. Chr. gegen Ende des 2. Punischen Krieges die Stimmung anheizte und jede Rede mit dem Satz »Karthago muss zerstört werden« beendete, lateinisch: »Ceterum censeo, Carthaginem esse delendam.« Als der Pol-Mil-Plan verteilt wurde, kennzeichnete man ihn mit »Top Secret Delenda«. Die Under Secretaries des Außen- und 309
Verteidigungsministeriums, Tom Pickering und Walt Slocombe, sahen von ihren Exemplaren auf: »Du hast Recht«, sagte Pickering. »Al-Qaida muss zerstört werden.« Für die Zerstörung der al-Qaida war ein vielschichtiger, detaillierter Plan erforderlich. Die Geheimdienste mussten al-Qaida-Zellen identifizieren und zerschlagen, ihre Gelder aufspüren, ihre Gegner ausbilden und bewaffnen und ihre Führer eliminieren. Die Strafverfolgungsbehörden hatten ähnliche Aufgaben, unter anderem das Aufspüren von Schläferzellen in den Vereinigten Staaten. Das State Department musste andere Regierungen zu flankierenden Maßnahmen bewegen, internationale Genehmigungen für unsere Schritte anstreben und Ländern unter die Arme greifen, die Hilfe brauchten, wenn sie sich an unseren Bemühungen beteiligen wollten. Das Verteidigungs- und das Außenministerium sollte die Zahl der leicht erreichbaren Ziele durch die Verstärkung von Schutzvorrichtungen verringern. Das Finanzministerium würde al-Qaida-Mittel im Land beschlagnahmen und das internationale Banksystem unter Druck setzen, sie weltweit einzufrieren. Ressourcen wurden benötigt und festgelegt. Zusätzliche juristische Vollmachten waren erforderlich, und es wurden Pläne ausgearbeitet, wie sich diese beschaffen ließen. Militärische Szenarios für weitere Bombardierungen und mögliche Kommandoeinsätze wurden beantragt. Während die Principals den Pol-Mil-Plan prüften, einigten sie sich darauf, dass wir künftig den Namen Osama bin Laden (der den Raketenangriff vom 20. August überlebt hatte) nicht mehr öffentlich verwenden und uns stattdessen auf das Netzwerk al-Qaida konzentrieren sollten. Leider taten das in der Folge nur wenige Principals in ihren öffentlichen Stellungnahmen. Genau wie die 310
Medien waren auch die Entscheidungsträger vollkommen fixiert auf diesen Mann, der uns ohne guten Grund den Krieg erklärt hatte. Wir wussten alle, dass mit dem Tod Osama bin Ladens al-Qaida nicht ausgeschaltet wäre. Tatsächlich war unmittelbar nach seinem Tod erst einmal das Gegenteil zu erwarten. Außerdem war es so gut wie sicher, dass er zu einem Volkshelden aufsteigen würde wie einst Che Guevara, nachdem die CIA ihn in Bolivien gestellt hatte. Dennoch war offenbar etwas ganz Besonderes an Bin Laden. Er hatte geschafft, was zuvor keinem anderen gelungen war: Er hatte disparate Dissidenten aus Dutzenden von Ländern vereinigt. Vielleicht würde tatsächlich das Netzwerk ohne ihn im Laufe der Zeit auseinander fallen. Somit wussten wir zwar alle, dass wir die Organisation zerschlagen mussten, und hatten uns dies zum Ziel gesetzt, doch einer der ersten Schritte auf diesem Weg war, ihren Anführer zu beseitigen. In der Vergangenheit hatte ich gemischte Erfahrungen mit unseren Versuchen gemacht, ausländische Bandenführer festzunehmen. 1989 verbrachte ich den Heiligen Abend in der Kommandozentrale des State Department, während Soldaten Panama auf der Suche nach Manuel Noriega durchkämmten. Von dort aus hatte ich die Mitternachtsmesse aus dem Vatikan verfolgt und zugesehen, wie dem vatikanischen Außenminister unsere Note überreicht wurde, in der es hieß, dass wir Noriega in der vatikanischen Botschaft in Panama gestellt hätten. Doch obwohl wir in das Land einmarschiert waren und mit Special Forces die bekannten Aufenthaltsorte Noriegas durchsucht hatten, war er tagelang unseren Operationen entkommen. Vom Weißen Haus aus hatte ich außerdem geholfen, die Aufspürung Pablo Escobars zu koordinieren, des Chefs 311
eines kolumbianischen Drogenkartells. Selbst mit der Unterstützung der kolumbianischen Polizei und des Militärs blieb Escobar jahrelang auf freiem Fuß, bis er von einem kolumbianischen Sonderkommando erschossen wurde. Mit Jonathan Howe hatte ich mich darauf geeinigt, dass wir Farah Aidid wegen des Mordes an Mitgliedern der UN-Friedenstruppe verhaften mussten. Dann vergingen Monate und Aidid bereitete sich auf uns vor, bis schließlich amerikanische Special Forces vergeblich versuchten, ihn zu fassen, und dabei selbst getötet wurden und mit ihnen mehr als 1000 Somalier. Mit Blick auf den Widerwillen des Militärs, ernsthaft Kommandoeinsätze in Afghanistan zu planen, und auf die bisherige Unzuverlässigkeit der afghanischen Freunde der CIA hatte der Versuch, ein Gebäude zu treffen, in dem Bin Laden sich aufhielt, augenscheinlich die größten Erfolgsaussichten. Zu diesem Zweck wurde das Verteidigungsministerium gebeten, Cruise-MissilePlattformen von der pakistanischen Küste fern zu halten. Diesmal wünschten wir ausdrücklich, dass sie in U-Booten stationiert wurden. An Bord der U-Boote hatten die Cruise Missiles mehrere Angriffsziele gespeichert, es waren Orte, an denen Bin Laden sich unseres Wissens nach schon aufgehalten hatte: Häuser und Villenkomplexe in mehreren Städten. Jetzt brauchten wir nur noch die Information, dass er sich erneut an einem dieser Plätze befand und aller Wahrscheinlichkeit nach ein paar Stunden dort blieb. Doch das erwies sich als ziemlich schwierig. CIA-Verbindungsleute in Afghanistan konnten uns in der Regel sagen, wo Bin Laden sich einige Tage zuvor aufgehalten hatte. Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen wussten sie aber nicht, wo er am nächsten Tag sein würde. In einigen Fällen waren sie imstande, uns 312
mitzuteilen, wo er sich ihrer Meinung nach momentan befand. Sobald die Nachricht einging, dass unsere Informanten einen zeitgleichen Sichtkontakt gemeldet hatten, kam die CSG unverzüglich über eine sichere Videokonferenz zusammen. Bei drei Treffen in den Jahren 1998 und 1999 beantragte die CSG Dringlichkeitssitzungen der Principals, um dem Präsidenten einen Schlag mit einer Cruise Missile gegen die Einrichtung zu empfehlen, in der sich Bin Laden vermutlich gerade aufhielt. Wir mussten schnell handeln. Wenn die Information bei der CIA ankam, war sie schon nicht mehr frisch. Bis zu der Zeit, zu der die Principals zusammenkamen und dem Präsidenten den Angriff empfahlen, vergingen wiederum ein oder zwei Stunden. Nach der Genehmigung durch den Präsidenten dauerte es noch wenigstens zwei Stunden, bis die Raketen das Ziel trafen. Bin Laden musste während der ganzen Zeit am selben Ort bleiben, sechs Stunden lang oder länger. Gemeinsam mit der CIA und den Stabschefs versuchten wir, die Zeitspanne zu verkürzen. General John Mäher führte ein Verfahren ein, nach dem die U-Boote bereits in ihre Startposition liefen und die Raketen für den Abschuss fertig machten, wenn die CSG eine Dringlichkeitssitzung der Principals empfahl. Damit gewannen wir fast eine Stunde. In allen drei Fällen, in denen wir glaubten, es biete sich eine Gelegenheit, sprachen jedoch Gründe gegen den Abschuss der Raketen. Zwei Mal räumte George Tenet gegenüber den Principals ein, dass die Information aus einer einzigen Quelle stammte, die nicht immer zuverlässig war. Es bestand die Gefahr, dass wir ein Gebäude beschossen, in dem kein Bin Laden war. Er riet selbst von den Angriffen ab. Im dritten Fall sahen Tenet und ich uns sorgfältig die Satellitenfotos des von der CIA 313
vorgeschlagenen Angriffsziels an und kamen zu dem Schluss, dass es eher einem prunkvollen Wohnwagenlager glich als einer Zuflucht von Terroristen. Wir fürchteten, dass es sich bei dem Ziel gar nicht um al-Qaida handelte, sondern um eine Falkenjagdgesellschaft eines befreundeten arabischen Staates. Vielleicht wurde unser Informant dafür benutzt, uns zu einem Angriff auf unsere Verbündeten zu verleiten und einen Keil zwischen uns zu treiben. Auch hier rieten wir von einem Angriff ab. Bei einer Prüfung der drei Ereignisse anhand von anderen Quellen, die erst später zur Verfügung standen, fand Tenet heraus, dass Bin Laden nur in einem der Fälle tatsächlich zu der Zeit in dem vorgeschlagenen Angriffsziel gewesen war, als wir ihn dort vermutet hatten. Und in diesem einen Fall lag das Haus, in dem er sich aufhielt, neben einem Krankenhaus, das bei einem CruiseMissile-Angriff mit Sicherheit ebenfalls zumindest teilweise zerstört worden wäre. Die CIA war außerordentlich empfindlich, was die Möglichkeit betraf, ihre Quellen könnten sich geirrt haben. Am 7. Mai 1999 hatten amerikanische Bomben bei dem NATO-Angriff auf Serbien die chinesische Botschaft in Belgrad getroffen. Bei einer Untersuchung stellte sich heraus, dass das Geschoss das Gebäude getroffen hatte, auf das man es abgefeuert hatte, doch die CIA hatte das Haus irrtümlich für ein serbisches Regierungsgebäude gehalten. Die amerikanischen Beziehungen zu China waren von dem irrtümlichen Bombenangriff schwer beschädigt worden, wenn auch nur vorübergehend. Bei diesen drei Sitzungen und während der Präsentation des Pol-Mil-Plans versuchte ich die Principals zu überzeugen, dass wir bekannte al-Qaida-Lager angreifen sollten, ob sich Bin Laden nun in ihnen befand oder nicht. »Ich weiß, dass ihr keine al-Qaida-Einrichtungen in 314
Afghanistan bei dem Versuch, Bin Laden zu fassen, in die Luft jagen wollt, damit dieser Bastard nicht am nächsten Tag in einer Pressekonferenz verkünden kann, wie hilflos wir doch seien. Deshalb sagen wir nicht, dass wir versuchen, Bin Laden zu erwischen, sondern erklären, dass wir die Lager zerstören wollen. Wenn wir ihn erwischen, umso besser.« Die Antwort, die ich bekam, lautete üblicherweise in etwa wie folgt: »Dann verschwenden wir also einmal mehr Cruise Missiles und Bomben im Wert von Millionen Dollar, um Urwaldschulen und Lehmhütten im Wert von Eins fünfzig in die Luft zu jagen?« Manchmal bekam ich zu hören: »Sieh mal, wir bombardieren den Irak jede Woche. Wir müssen möglicherweise Serbien bombardieren. Die europäische, russische, islamische Presse nennt uns schon den ›verrückten Bomber‹. Du willst ein drittes Land bombardieren?« Einige Male versuchte ich es mit dem Argument, dass die Lager, ganz gleich, was ihr Aufbau kosten mochte, Tausende von Terroristen entließen, die wieder nach Hause gingen und in Ländern auf der ganzen Welt Schläferzellen gründeten. »Wir müssen dieses Förderband stoppen, dieses Fließband. Jagt sie immer wieder mal in die Luft, dann gehen so schnell keine Rekruten mehr dorthin.« Diese Argumentationslinie machte einen gewissen Eindruck, aber nicht genügend. General Shelton wies darauf hin, dass der regionale Befehlshaber General Anthony Zinni vom CENT-COM sich gegen weitere Bombenanschläge ausgesprochen hatte, wegen ihrer negativen Auswirkungen in Pakistan. Zinni befürchtete, dass wir einen öffentlichen Aufschrei der Empörung in Pakistan auslösen würden, der die Atommacht zwänge, sich von uns zu distanzieren. Unter Umständen würden 315
wir das Druckmittel verlieren, das wir brauchten, um Indien und Pakistan von einem Krieg abzuhalten, von einem Atomkrieg. Sowohl Madeleine Albright im Außenministerium als auch Bill Cohen im Verteidigungsministerium hielten eine routinemäßige mehrfache Bombardierung Afghanistans für ein wenig attraktives Konzept. Ich hatte geglaubt, dass mich ein besonderes Verhältnis mit Albright verband und dass ich sie überreden konnte, indem ich das politische Risiko der Untätigkeit zur Sprache brachte. Albright und ich und eine Hand voll anderer Regierungsmitglieder (unter ihnen Michael Sheehan und Jamie Rubin) hatten 1996 eine Art Pakt geschlossen, um die Wiederwahl Boutros-Ghalis als UNGeneralsekretär zu verhindern, einen Geheimplan, den wir Operation Orient Express nannten. Darin spiegelte sich unsere Hoffnung, dass sich uns viele Länder bei unserem Vorgehen gegen den UN-Chef anschließen würden. Am Ende mussten die Vereinigten Staaten das allein durchsetzen (mit ihrem Veto), und Sheehan und ich mussten den Präsidenten davon abhalten, dass er dem Druck internationaler Staatschefs nachgab und die Wiederwahl Boutros-Ghalis zuließ. Oft genug rasten wir ins Oval Office, wenn wir alarmiert wurden, dass wieder einmal ein Staatschef mit dem Präsidenten telefonierte. Am Ende zeigte sich Clinton selbst beeindruckt, dass es uns gelungen war, nicht nur die Wiederwahl BoutrosGhalis zu verhindern, sondern auch Kofi Annan als seinen Nachfolger durchzusetzen. (Clinton sagte zu Sheehan und mir: »Holt ein Kreuz. Ich sollte zu Kreuze kriechen, weil ich gesagt habe, dass ihr das nie schaffen würdet.«) Die ganze Operation hatte Albrights Kandidatur (damals war sie Botschafterin der USA bei den Vereinten Nationen) für das Amt des Außenministers in der zweiten Amtszeit 316
Clintons gestärkt. Unser persönliches Verhältnis erlaubte es, dass ich zu ihr gehen und offen mit ihr reden konnte, aber sie hörte auch auf ihren Vize, Strobe Talbott, der vehement dagegen war, die Terrorlager in Afghanistan zu einer routinemäßigen Abwurfzone für amerikanische Bomben zu erklären. Talbott meinte, es sei schon schlimm genug, dass wir den Südirak zu einem solchen Gebiet gemacht hätten. Er wusste, dass seine russischen Freunde Kapital daraus schlugen, Amerika als den »verrückten Bomber« hinzustellen. Paradoxerweise hatten viele sich einst Sorgen gemacht, ob Bill Clinton Gewalt einsetzen würde, und nun wurde er angegriffen, weil er zu viel Gewalt einsetzte. In der islamischen Welt wurde kritisiert, dass Clinton immer noch den Irak bombardieren ließ. Nach dem Beginn der Feindseligkeiten mit Belgrad kam es vor, dass USTruppen am selben Tag Serbien und den Irak bombardierten. General Shelton und General Zinni betrachteten regelmäßige Luftschläge gegen Afghanistan als zusätzliche Bürde für ein ohnehin bereits überlastetes Militär, denn dazu musste ein Flugzeugträger vor der pakistanischen Küste gehalten werden, was wiederum einen wichtigen militärischen Aktivposten binden würde. Dennoch wurde die Idee, die gesamte Infrastruktur der al-Qaida zu bombardieren, nie ganz ad acta gelegt. Tatsächlich wies die Regierung die Joint Chiefs an, Pläne auszuarbeiten, wie die Einrichtungen nicht nur mit Cruise Missiles, sondern auch mit Angriffen strategischer Bomber vom Typ B-1, B-2 und B-52 getroffen werden könnten. Die Planer gingen an die Arbeit, wiesen bestimmte Bomben- und Raketentypen einzelnen Gebäuden in Lagern und an Orten in ganz Afghanistan zu und entwickelten die erforderliche Choreographie für den Ablauf: welches Flugzeug und welche Rakete in welcher 317
Reihenfolge wohin abging, wo die Tankflugzeuge kreisen würden und wie Bergungstrupps stationiert werden mussten, um abgeschossene Piloten zu retten. Ich wartete auf eine neue Gelegenheit. Ein groß angelegter Bombenangriff stieß zwar auf wenig Gegenliebe, doch das Interesse an der Beseitigung der alQaida-Führung war unverändert groß. Jahrelang glaubten wir, der Regierungserlass, der sich dagegen aussprach, dass sich US-Behörden an Morden beteiligten, bedeute ein unumstößliches Verbot des Einsatzes von tödlicher Gewalt in nichtmilitärischen Situationen. Das war nicht nur eine juristische Frage. Hinzu kamen auch moralische Bedenken sowie pragmatische Überlegungen. Israel hatte nach dem Anschlag auf seine Olympiamannschaft 1972 in München, bei dem elf Israelis, ein Polizist und fünf der Attentäter umgekommen waren, ein Programm eingeführt, in dessen Rahmen Terroristen getötet wurden. Der israelische Geheimdienst Mossad schickte seine Killer im Nahen Osten und in Europa aus und erschoss die Beteiligten an dem Münchener Attentat. In mindestens einem Fall brachten sie wegen einer Verwechslung den Falschen um. Die Exekutionen trugen nicht zur Abschreckung bei, im Gegenteil, Israel geriet in einen Strudel von Mord und Vergeltung, der immer weiter zu eskalieren schien. Al-Qaida und Bin Laden stellten unsere eigene Zurückhaltung auf die Probe. Sie schienen entschlossen, weiter unschuldige Menschen zu morden, Amerikaner ebenso wie andere Staatsbürger. Dem US-Militär war es gelungen, einen Plan für einen effektiven Angriff auf die al-Qaida-Führung vorzulegen. Allmählich akzeptierten die Principals den Gedanken, unsere Einstellung gegenüber einer gezielten Tötung zu überprüfen. 318
Schon während der Regierung Reagan hatte die USPolitik den Einsatz von tödlicher Gewalt gegen Terroristen gestattet, wenn er notwendig war, um einen unmittelbar bevorstehenden Anschlag zu verhindern. Es lag auf der Hand, dass weitere al-Qaida-Anschläge folgen würden. Was hieß »unmittelbar bevorstehend«? Mussten wir das exakte Datum und den Ort des nächsten Anschlags kennen, wenn wir tödliche Gewalt anwenden wollten? Besonders absurd an unserer politischen Linie gegenüber dem Einsatz von Gewalt war, dass sie nicht für das Militär galt. Wir durften in der Absicht, al-Qaida-Führer zu treffen, eine Cruise Missile nach Afghanistan schicken oder einem Piloten befehlen, eine Bombe abzuwerfen, aber wir durften nicht einen Afghanen beauftragen, Bin Laden zu erschießen. Darüber hinaus hieß der Einsatz einer B-1, dass wir in aller Öffentlichkeit unsere Rolle eingestehen mussten und befreundete Regierungen wie Pakistan unter Druck gerieten, weil sie die Operation unterstützt beziehungsweise toleriert hatten. Zu dem Thema, ob das Weiße Haus die CIA autorisierte, Bin Laden zu töten, ist viel veröffentlicht worden. Etliche Reporter, darunter Barton Gellman in der Washington Post vom 19. Dezember 2001, haben geschrieben, Clinton habe mehrere Geheimdienstdokumente unterzeichnet, durch die die CIA autorisiert worden sei, tödliche Gewalt gegen Osama bin Laden und seine Stellvertreter einzusetzen. Sandy Berger sagte dazu ausführlich vor dem gemeinsamen Untersuchungsausschuss des Kongresses aus: »Uns erreichte die Entscheidung aus dem Justizministerium, unsere Bemühungen, Bin Laden zu töten, nicht zu behindern, weil [das Tötungsverbot] nicht für Situationen galt, in denen man in Selbstverteidigung handelte oder gegen Ziele in der Befehlskette eines Feindes vorging, was er ja zweifellos war.« 319
Doch Osama bin Laden wurde nicht getötet. Präsident Clinton brachte, wie USA Today am 12. November 2001 meldete, seine Enttäuschung mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Ich habe versucht, bin Laden zu beseitigen … in den letzten vier Jahren, in denen ich im Amt war.« Ich begreife bis heute nicht, wieso die Vereinigten Staaten außerstande waren, eine kompetente Gruppe Afghanen, Amerikaner, Bürger eines Dritte-Welt-Landes oder eine Kombination aus allem aufzutreiben, die Bin Laden in Afghanistan lokalisieren und töten konnte. Einige behaupteten, dass die Tötungsvollmacht verworren gewesen sei und die »Leute vor Ort« nicht gewusst hätten, ob sie dazu befugt seien. Jedes Mal, wenn jemand diesen Einwand im Laufe der Jahre vorbrachte, wurde eine zusätzliche Autorisierung verfasst, an der alle betroffenen Behörden beteiligt waren und die durch die Unterschrift des Präsidenten beglaubigt wurde. Die obersten Entscheidungsträger und der Präsident wollten nicht die Büchse der Pandora öffnen, wie die Israelis nach München, sie wollten keine groß angelegte Tötungspolitik und Abschussliste, doch das Ziel des Präsidenten war ganz klar: Tötet Bin Laden! Meiner Ansicht nach stellen diejenigen in der CIA, die heute meinen, die Vollmachten seien unzureichend oder unklar gewesen, diese Behauptung nur auf, um die Tatsache zu vertuschen, dass sie bemitleidenswert unfähig waren, den Auftrag auszuführen.
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9 Millennium-Alarm Anfang Dezember 1999 rief Cofer Black an, der Leiter des Counterterrorism Center der CIA: »Wir müssen auf Gefechtsstation gehen.« »Cofer, heute ist nicht Freitag«, scherzte ich. Es war fast schon zur Tradition geworden, dass am Freitagnachmittag entweder Black oder der stellvertretende FBI-Direktor Dale Watson mit brandaktuellen Nachrichten anrief, die uns dazu zwangen, das Wochenende im Büro zu verbringen. Wir bezeichneten diese regelmäßigen Freitagnachmittagssitzungen der CSG als »Friday Follies«. »Nein, Dick, das ist eine ernste Sache«, drängte Black. »Jordanien hat eine Terrorzelle infiltriert, die es an Silvester in New York richtig knallen lassen will. Das Radisson Hotel, die wichtigsten Orte für christliche Touristen, viele tote Amerikaner. Worum es mir geht, Dick: Ich glaube nicht, dass das schon alles ist. Sie kennen Bin Laden, er greift gern an mehreren Orten zugleich an. Diese Leute sind wie Kakerlaken. Man sieht nur eine, aber weiß ganz genau: Da ist ein ganzes Nest voll.« Cofer Black war ein energisch zupackender, erfolgsorientierter CIA-Mann, der seine Fähigkeiten bereits an einigen eher unerquicklichen Orten unter Beweis gestellt hatte. Er repräsentierte den Typ, von dem die CIA sehr viel mehr benötigte, aber bisher nur so wenige hatte. Ich hatte George Tenet gedrängt, einen solchen Mann für die Leitung des Counterterrorism Center aufzutreiben, jemanden, der Tenets und meine Sicht der Dinge teilte: dass wir in die Offensive gehen mussten. 321
Unglücklicherweise führte Blacks dienstlicher Draht zu Tenet über Jim Pavitt, den Deputy Director of Operations. Pavitt war der Ansicht, dass Tenet und ich das Ausmaß der Bedrohung durch al-Qaida übertrieben und so die CIA in Schwierigkeiten bringen würden. Jetzt aber hatte Black Beweise in der Hand, dass al-Qaida zur Jahrtausendwende Anschläge plante. In den Monaten, die Cofers Anruf vorausgingen, war viel getan worden, um die Zahl unserer Schwachstellen im Inund Ausland zu verringern. Wir besaßen Hunderte von diplomatischen Einrichtungen in über 180 Ländern – Botschaften, Konsulate, Botschafterresidenzen und so weiter. Nur eine Hand voll dieser Gebäude war nach den Sicherheitsrichtlinien gebaut worden, die nach der Zerstörung der Beiruter Botschaft im Jahr 1983 in Kraft traten. Viele der Einrichtungen waren so schlecht geschützt, dass sie förmlich zu Anschlägen einluden. Die institutionelle Tradition des Außenministeriums sorgte für Widerstände gegen den Schutz der Botschaften. Die US-Diplomaten hassten es, in Bollwerken zu arbeiten, durch Mauern von der Gesellschaft getrennt, der sie eigentlich dienen sollten. Wenn es neue Geldmittel gab, hatte das State Department dafür reichlich Verwendungszwecke, die wichtiger waren als der Bau neuer Festungen. Ich war entsetzt über diese Haltung, denn bei Attentaten auf Botschaften würden Mitarbeiter des State Department sterben. Das Ministerium hätte deshalb nichts unversucht lassen sollen, um die eigenen Leute zu schützen. Ich wusste, dass Madeleine Albright dieses Problem verstehen würde. Nach einer Chefbesprechung im Westflügel bat ich sie um ein Gespräch unter vier Augen, und wir gingen gemeinsam den West Executive Drive hinunter, während 322
ihre Wagenkolonne wartete. »Was glauben Sie wohl, was passieren wird, wenn Sie eine weitere Botschaft verlieren? Die Republikaner im Kongress werden über Sie herfallen.« Sie hörte mir genau zu. Und feuerte zurück: »So viel vorneweg: Ich habe diese Botschaften nicht verloren. Ich habe sie in diesem Zustand geerbt.« Doch dann erinnerte sich die Außenministerin, dass ich ein Freund war, der sich mit anderen darum bemüht hatte, dass sie den Job bekam, und schenkte mir ein verschämtes Lächeln. »Ich kenne Sie, Dick. Sie haben einen Plan. Was wollen Sie mir vorschlagen?« »Teilen Sie die Last. In diesen Botschaften arbeiten nicht nur die Leute vom State, dort findet man Mitarbeiter von einem Dutzend verschiedener Behörden. Lassen Sie uns die ebenfalls in die Pflicht nehmen. Lassen Sie mich einen behördenübergreifenden Revisionsprozess starten, bei dem wir uns die Botschaften ansehen und dann festlegen, wo schnell etwas geändert werden muss und welche Häuser eventuell ganz zu schließen sind. Lassen Sie mich dann das Geld für Neubauten beantragen und Sicherheitsanlagen zum Schutz der bestehenden Häuser errichten.« Das Weiße Haus übernahm mit Zustimmung von Außenministerin Albright den Auftrag zur Sicherung der Botschaften. Ich schickte Teams des Diplomatischen Sicherheitsdienstes, von Secret Service, FBI und FEMA sowie Fachleute des Verteidigungsministeriums in Städte rund um den Globus. Ihre Aufgabe bestand darin, unsere Botschaften mit den Augen von Terroristen zu betrachten. Nur die Ziele waren andere: Welche Straßen mussten wir absperren, um zu verhindern, dass eine Autobombe dem Objekt zu nahe kam? Gab es genug örtliche Polizeibeamte, und waren die ihrer Aufgabe gewachsen? 323
An welcher Stelle brauchten wir Maschinengewehre und freies Schussfeld? Wenn nun eine Straße ganz gesperrt werden musste, war es die Pflicht des US-Botschafters, den Außenminister des Gastgeberlandes um ein persönliches Gespräch zu bitten. Falls das nicht binnen einer Woche klappte, griff unsere Außenministerin – beziehungsweise der Nationale Sicherheitsberater – zum Telefon. Sollte dies ebenfalls nicht zu Ergebnissen führen, würden wir öffentlich bekannt geben, dass wir diplomatische und konsularische Dienstleistungen im betreffenden Land aussetzten, und zugleich US-Bürgern und -Unternehmen empfehlen, das Land zu meiden. Die Teams kehrten mit Listen für Sofortmaßnahmen für Dutzende unserer Botschaften zurück. Sie berichteten uns auch über Botschaftsgebäude, die nicht zu retten waren, weil es keine Möglichkeit gab, sie sicherer zu machen. Diese Botschaften wurden geschlossen, und das State Department beauftragte Grundstückskäufer, neue Standorte aufzuspüren. Nach den Anschlägen auf unsere Botschaften überzeugten wir den Kongress davon, dass weitere Gelder nötig waren, um die Kosten für die erste Serie von zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen abzudecken. Außerdem sollte mit dem Neubau zweier festungsähnlicher Botschaften begonnen werden, als Ersatz für die Einrichtungen, die wir durch die Bombenanschläge verloren hatten. Die CSG saß am Konferenztisch im Lagezentrum und warf einen kritischen Blick auf Baupläne für neue Botschaften von Peking bis Berlin. Als es dann jedoch an die Verabschiedung des Haushalts für das Jahr 2000 ging, sah die Vorlage des State Department für das Weiße Haus keine Mittel mehr für die Fortsetzung des Sicherheitsprogramms an den Botschaften vor. Innerhalb von vier Monaten nach den 324
Anschlägen in Kenia und Tansania war der Schutz der Botschaftsgebäude bei den Haushaltsansätzen wieder weit nach unten gerutscht. Ich rief Josh Gottbaum an, die Nummer drei im OMB, der Verwaltungs- und Haushaltsabteilung des Weißen Hauses. Er war der Beamte, der in Zusammenarbeit mit mir sicherstellen sollte, dass für die Prioritäten des Präsidenten in Sachen Terrorismus und Heimatschutz auch die entsprechenden Geldmittel ausgewiesen wurden. Ich beschrieb das Problem. Josh verstand mich sofort. »Nun, ich sehe das so: Es sind die Botschaften des Präsidenten, und es ist der Etat des Präsidenten, nicht der des Außenministeriums. Lassen Sie mich hier mal nachsehen … ja, ich glaube, wir schichten einfach ein paar hundert Millionen um, nehmen sie aus dem Bereich, den diese Leute wollen, und fügen dort ein paar hundert Millionen hinzu, wo sie der Präsident hinhaben will. Schon erledigt.« Inzwischen hatte das Außenministerium erheblichen Druck auf die Taliban ausgeübt, um sie dazu zu bringen, die Ausbildungslager für Terroristen in Afghanistan zu schließen und die Terroristen auszuliefern. Unglücklicherweise hatten wir nur wenig Einfluss auf die Taliban. Die drei Länder, die Einfluss hatten, waren Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Nur sie unterhielten diplomatische Beziehungen zu Afghanistan. Die Saudis und die Emirate unterstützten das vom Krieg verwüstete Land außerdem mit erheblichen Mitteln. Alle drei Länder hatten in unserem Namen an die Taliban appelliert, in Sachen Bin Laden zu kooperieren. Wir sprachen auch direkt mit den Taliban. Die Antworten, die wir aus Kandahar erhielten, bestanden im Kern aus einem leicht zu durchschauenden Nein. Die Taliban hatten von ihrer islamischen Pflicht zur Gastfreundschaft gegenüber Schutzsuchenden gesprochen. Sie hatten von 325
der Einberufung eines Gerichtshofs islamischer Gelehrter geredet, vor den Bin Laden gestellt werden sollte, wenn wir nur die Beweise und die Anklagepunkte beibringen würden. Sie hatten uns versichert, dass sie Bin Laden daran hindern würden, sich in irgendeiner Form an Terrorakten zu beteiligen. Unsere Antwort hatte aus einer Drei-Phasen-Strategie bestanden. Zunächst gab ich ein Interview, in dem ich erklärte, dass die Vereinigten Staaten die Taliban für jeden weiteren Terrorakt von al-Qaida zur Verantwortung ziehen und Vergeltung üben würden. Es gab einige Klagen, dass ich keine offizielle Befugnis für diese Ankündigung gehabt hätte, aber niemand widerrief sie. Zweitens baten wir die Saudis und die Herrscher der Vereinigten Arabischen Emirate, die diplomatischen Beziehungen zu Afghanistan abzubrechen und ihre Hilfsleistungen einzustellen. Die Emirate sicherten umfassende Kooperation zu und hielten sich auch daran. Auch die Saudis brachen die diplomatischen Beziehungen ab. Beide Länder versuchten es mit eigenen Sondergesandten, die mit den Taliban verhandeln sollten. Der saudische Emissär war Prinz Turki, der Geheimdienstminister. Die Presseberichte deuteten an, dass er den Taliban verstärkte Hilfsleistungen anbot, falls sie Bin Laden fallen ließen. Turki holte sich eine Abfuhr, und so etwas gibt es im Leben eines hochrangigen saudischen Prinzen nur selten. Drittens hatten wir uns um Wirtschaftssanktionen gegen die Taliban bemüht. Der Präsident verfügte die Beschlagnahmung aller Vermögenswerte der Taliban in den Vereinigten Staaten. In einem seltenen Akt der Solidarität unterstützten die Vereinigten Staaten und Russland im Weltsicherheitsrat gemeinsam die Forderung, Sanktionen gegen die Taliban zu verhängen. 326
Es gab zwei Probleme, die bisher jeden Fortschritt im Umgang mit den Taliban verhindert hatten. Sie gingen sehr richtig davon aus, dass die USA, selbst wenn sie tatsächlich, so wie der Sudan, Bin Laden aus dem Land werfen würden, weitere Hinderungsgründe fänden, um sämtliche Hilfsleistungen blockieren zu können. Amerika würde von den Taliban verlangen, die Grundrechte der Frauen zu garantieren und die Opiumherstellung nachweislich einzustellen. Das zweite Problem bestand darin, dass die Anführer der Taliban, auch Mullah Omar, mit Bin Laden und den Zielen al-Qaidas völlig übereinstimmten. Wir lasen Berichte über Eheschließungen zwischen Mitgliedern der Familien Bin Ladens und Omars. Außerdem bestanden unantastbare Verbindungen auf wirtschaftlicher, militärischer und politischer Ebene. Ein hochrangiges Mitglied der Taliban gab im Gespräch mit Rick Inderfurth, dem für die Region Südasien zuständigen Abteilungsleiter im Außenministerium, ganz offen zu: »Wenn wir euch Bin Laden geben, bricht ein Aufstand gegen uns aus.« Während auf der politischen Ebene all diese Dinge abliefen, war al-Qaida eifrig mit den Vorbereitungen zu einem Anschlag gegen uns beschäftigt. Der Tag der Jahrtausendwende rückte näher, und dieser Termin war so verführerisch symbolträchtig, dass diese Leute ihn unbedingt für ihre Zwecke nutzen wollten. Cofer Black sollte später an der Aufdeckung des Vorhabens mitwirken. Zum Zeitpunkt von Cofers Anruf wusste ich jedoch noch nichts von al-Qaidas Plänen und hatte deshalb nur wenige Handlungsmöglichkeiten. Ich hatte dafür plädiert, dass sich die USA im afghanischen Bürgerkrieg intensiver um die Bekämpfung der Taliban kümmern sollten. Die Nordallianz kontrollierte nach wie vor über ein Drittel des 327
Landes, doch ganze Provinzen wechselten nach Kämpfen oder Geldzahlungen die Seite, und die meisten Kämpfer und das ganze Geld zur Unterstützung der Taliban stammten von Bin Laden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Allianz zerfiel. Ich vertrat die Ansicht, dass wir ein Gegengewicht bilden könnten, indem wir Massuds Streitkräften im Norden Waffen und Geld zur Verfügung stellten. Solange Massud für die Taliban eine ernste Bedrohung war, würde Bin Laden seine Waffen und seine Männer eher gegen die Nordallianz als gegen uns einsetzen müssen. Massud erhielt aus Indien, Russland und Usbekistan zumindest symbolische Unterstützung. Die CIA hatte offene Kontakte zu ihm unterhalten, ihm aber bisher keine substanziellen Hilfen zukommen lassen. Wieder einmal bewerteten die Spitzenleute der CIA meinen Vorschlag, die Nordallianz zu unterstützen, als Risiko für ihre Behörde. Bei diesen Leuten, die 15, 20 oder mehr Jahre bei der CIA zugebracht hatten, gab es ein klares Wahrnehmungsmuster: Jemand, der im Weißen Haus saß, machte sich stark für ein Thema, das gerade auf der Tagesordnung stand. Wenn diese Person den Rest der Regierung nicht zum Handeln bewegen konnte und greifbare Ergebnisse ausblieben, wandte sie sich an die CIA und drängte den Geheimdienst zu riskanten, politisch umstrittenen Handlungen. Später dann, nachdem das Ganze schief gegangen war, waren die Leute aus dem Weißen Haus von der Bildfläche verschwunden, und die CIA bekam die Verantwortung zugeschoben. Diese Schablone legte die Agency jetzt auch an die Nordallianz an. Massud stand zur Zeit ganz gewiss gut da, aber später dann würden sich der Kongress oder die Medien oder andere Mitarbeiter des Weißen Hauses auf andere Dinge stürzen: Er verkaufte Opium, missachtete die Menschenrechte, und er hatte Zivilisten getötet. Sie 328
würden die CIA dafür verantwortlich machen. Eine Prüfung der CIA-Hilfsleistungen würde ohne jeden Zweifel zeigen, dass ein Teil der Mittel für zweifelhafte Zwecke eingesetzt worden war. Die CIA verkündete als Resümee dieser Analysen ihre Einschätzung, dass die Nordallianz unbedeutend sei, kein Gegner für die Taliban. In offiziellen Besprechungen nickte die CIA meine Vorschläge zwar ab und sagte, sie würde Hilfen für Massud und dessen Nordallianz vorbereiten. Aber natürlich müsse zuerst ihre interne Rechtsprüfung abgeschlossen sein, und dann stehe noch die gemeinsame Rechtsprüfung der verschiedenen beteiligten Institutionen an. Die Hilfsgelder für Massud mussten, abgesehen von der symbolischen Hilfe, die bei der CIA als »Billigschmuck« (»trinkets«) bezeichnet wird, der Agency zusätzlich bewilligt werden, neben den im Haushalt bereits ausgewiesenen Mitteln. Diese Abneigung, die Nordallianz auch ohne zusätzlich aufgetriebenes Geld zu unterstützen, führte mich schließlich zu der Frage, was denn die CIA mit all den erhöhten Haushaltsmitteln zur Terrorbekämpfung anfing, die ihr das Weiße Haus über verschiedene NotfallNachtragshaushalte hatte zukommen lassen. Die Zusammenarbeit mit dem Office of Management and Budget und den eigenen Buchprüfern der CIA führte zu der Erkenntnis, dass fast alle gegen al-Qaida gerichteten Aktivitäten der CIA aus diesen Notfall-Nachträgen bezahlt wurden. Es gab praktisch keinen finanziellen Grundstock im CIA-Haushalt, der für diesen Zweck eingesetzt wurde. Wir baten die CIA, für die Haushaltsjahre 2000 und 2001 einige Posten für Aktivitäten zu benennen, die nicht so wichtig waren wie der Kampf gegen al-Qaida. Diese Gelder wollten wir umwidmen für den Kampf gegen Bin Laden, der höhere Priorität genießen sollte. Die förmliche, 329
offizielle Antwort der CIA lautete: kein Geld dieser Art verfügbar. Das war ihre Art, uns mitzuteilen, dass alles, was man dort tat, wichtiger war als der Kampf gegen alQaida. Diese Antwort stand in scharfem Gegensatz zu George Tenets persönlicher Fixierung auf al-Qaida. Tenet rief mich häufig an, weil ihn Berichte über die Aktivitäten von al-Qaida beunruhigt hatten. Vor mehreren Ausschüssen des Kongresses sagte Tenet, al-Qaida sei die größte Bedrohung für die Vereinigten Staaten. Die oben geschilderte Antwort stand auch in scharfem Gegensatz zur Auffassung des Counterterrorism Center bei der CIA, das ab 1997 vom energisch zupackenden Cofer Black geleitet wurde. Black war ebenso bestrebt, al-Qaida zu vernichten, wie ich selbst – wenn ihm das Directorate of Operations, die Leitung des Bereichs Aufklärung, nur freie Hand lassen würde. Nach Blacks Anruf an jenem Dezembertag 1999 riefen wir rasch die CSG zusammen und gaben Warnungen heraus an alle US-Botschaften, Militärstützpunkte und an die 18000 Polizeidienststellen in den Vereinigten Staaten. Die Botschaft lautete: Achtung, al-Qaida-Terroristen planen möglicherweise Anschläge während der Feierlichkeiten zur Jahrtausendwende. Seien Sie besonders wachsam und achten Sie auf verdächtige Aktivitäten. Und dann warteten wir. Der Durchbruch gelang an einem unerwarteten Ort. Eine vergnügliche Schiffsfahrt von British Columbia über die Grenze nach Washington endete mit einer Routinekontrolle durch US-Zollbeamte. Ein Passagier in der Schlange wirkte nervös und wich jedem Blickkontakt aus. Die Zollbeamtin Diana Dean wollte ihn aus der Schlange holen, da rannte er davon, vom Schiff hinunter und ließ sein Auto auf der Fähre zurück. Dean verfolgte 330
ihn und rief Verstärkung herbei. Wenige Minuten später war Ahmed Ressam verhaftet. In seinem Auto befanden sich Sprengstoff und eine Karte des Los Angeles International Airport. Das reichte schon aus, um uns auf Trab zu bringen, doch die CIA hatte zudem noch weitere Einzelheiten über die al-Qaida-Verschwörung in Jordanien erfahren. Der Anführer dieser Zelle, der beim Bombenbau geholfen hatte, hatte erst kurz zuvor seinen Job gekündigt – als Taxifahrer in Boston. Der jordanische Kronprinz besichtigte die »Bombenfabrik«, die in einem Haus versteckt war, das man der oberen Mittelschicht zuordnen konnte, und war vom Umfang und der Bedeutung des Fangs verblüfft: »Diese Leute planten keine Terroranschläge, die planten eine Revolution.« Der König rief umgehend den Notstand aus und ließ auf den Straßen massive Militärpräsenz demonstrieren, unter Einsatz von gepanzerten Fahrzeugen. In diesem Fall wurden mehr als nur die üblichen Verdächtigen verhaftet und verhört. Die Ermittlungen führten zu einem al-Qaida-Aktivisten in Pakistan und zu einem weiteren Amerikaner, der ganz in der Nähe des Los Angeles International Airport gewohnt hatte. Der Nationale Sicherheitsberater Sandy Berger hatte in den 15 Monaten, die seit den Anschlägen auf die Botschaften vergangen waren, Dutzende von Chefbesprechungen zum Thema al-Qaida abgehalten. Er kannte die Namen und die Vorgehensweise dieser Leute und befürchtete, dass sie erneut zuschlagen würden, bevor wir ihre Organisation entscheidend schwächen konnten. Diesmal berief Berger den kleinen Kreis nach den Regeln für Krisen ein. »Wir haben zwei Anschlagserien vereitelt, die für den Millennium-Termin geplant waren. Sie können ein mieses Regierungs-Monatsgehalt drauf wetten, dass da 331
noch mehr Sachen im Gang sind, und die müssen wir auch noch stoppen. Ich habe mit dem Präsidenten gesprochen, und er will, dass Sie alle wissen …«, Berger sah Janet Reno an, FBI-Direktor Louis Freeh, George Tenet, »… das ist die Sache, nichts ist wichtiger, setzen Sie alles ein, was wir haben. Wir stoppen diesen Scheißkerl.« (Das war die Art von Aufmerksamkeit, die wir im Sommer 2001 gebraucht hätten. Aber wir bekamen sie nur in der CSG, nicht in der Chefbesprechung.) Nach der ersten dieser Chefsitzungen arbeiteten wir auf Bergers Wunsch hin einen Einsatzplan zur MillenniumAlarmbereitschaft für Polizei und Militär aus: Alarm für Einsatzkräfte, verschärfte Sicherheitsmaßnahmen, die Verhaftung von Verdächtigen in aller Welt. Berger war im Großen und Ganzen ein vorsichtiger Rechtsanwalt, der über ein einzigartiges Geschick verfügte, die vielfältigen Varianten vorauszusehen, nach denen sich etwas entwickeln und eben auch schief gehen kann, wie zum Beispiel Menschen unter bestimmten Umständen jemanden auch dann anklagen können, wenn er gerade eine wirksame Heilmethode gegen Krebs vorgestellt hat. Dieses Geschick bewahrte die Regierung vor einer Menge Schwierigkeiten. Berger war aber auch zu einem treuen Gefolgsmann des Kampfes gegen alQaida geworden. Er erkannte schon früh das Ausmaß der Bedrohung sowie die Unzulänglichkeiten und Schwächen der verschiedenen Ministerien und Behörden. Er war nicht der Ansicht, dass wir dem FBI und der CIA ohne Einschränkung vertrauen konnten und dass das Militär ganz automatisch die richtigen Maßnahmen zu unserem Schutz treffen würde. Diesmal jedoch reagierte das FBI richtig. Es spielte eine seiner großen Stärken aus: Ein Haufen Leute wurde auf das Problem angesetzt. Tausende von Agenten 332
schwärmten aus und gingen allen möglichen Spuren nach. Die Spuren von Ressam, dem Mann auf der Fähre, führten zu einer Schläferzelle von algerischen Mudschaheddin in Montreal. Es war kaum zu begreifen, dass die Kanadier der Zelle nicht auf die Schliche gekommen waren, aber jetzt arbeiteten sie mit uns zusammen. Die Royal Canadian Mounted Police lieferte weitere Hinweise, die auf Terrorzellen in Boston und New York schließen ließen. Als ich John O’Neill anrief (zu diesem Zeitpunkt leitender Special Agent des FBI für Fragen der nationalen Sicherheit in New York City), um ihn zu fragen, wie weit seine Ermittlungen gediehen seien, stand er in einer Seitenstraße in Brooklyn, wo seine Leute gerade einen alQaida-Aktivisten verhaftet hatten, der Verbindungen zu Ressam unterhielt. Das Justizministerium prüfte FBI-Anträge für Abhöraktionen in Sachen nationaler Sicherheit normalerweise skeptisch, es wollte mit einem korrekten Verfahren sicherstellen, dass es hier keinen Missbrauch gab. Und noch viel weniger wollte man riskieren, dass der Kongress die eigenen Möglichkeiten für elektronische Überwachung einschränkte, die der Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) vorsah, das Gesetz zur Überwachung ausländischer Nachrichtendienste. Fran Townsend und ihr Mitarbeiterstab im Justizministerium legten jedoch in den letzten Wochen vor der MillenniumFeier den Richtern, die mit speziellen nachrichtendienstlichen Fällen befasst waren, Dutzende von FISA-Anträgen auf den Tisch. In einer Woche gab es dort mehr Arbeit als normalerweise in einem ganzen Jahr. Während der nächsten Tage, als Weihnachten und die Jahrtausendwende näher rückten, hielt Berger tägliche Chefbesprechungen ab. Der Justizminister und der FBIDirektor lieferten Berichte ab, zu denen auch 333
Beschreibungen verdächtiger Lieferwagen und die Ergebnisse von Durchsuchungsaktionen gehörten. Wir alle lernten, was das Akronym BOLO in der Sprache der Cops bedeutete (»Be on the lookout for …«, »Halte[t] Ausschau nach …«). Tenet rief seine wichtigsten Amtskollegen in aller Welt an, rang ihnen Detailinformationen ab und redete den Sicherheitsdiensten gut zu, doch bitte zu vorbeugenden Razzien gegen mögliche Terrorzellen auszuschwärmen. Neben der Koordination der Offensive bereitete sich die CSG auf das Schlimmste vor. KatastrophenRettungsteams wurden vorsorglich in Stellung gebracht. Alle Reserven, die wir schon nach den Anschlägen in Afrika eingesetzt hatten, wurden mobilisiert. Wer irgendetwas mit Terrorbekämpfung zu tun hatte, konnte in dieser Zeit nicht freinehmen, und das galt ganz besonders für Silvester. Am ersten Weihnachtsfeiertag verbrachten Berger und ich den Morgen im FBI-Hauptquartier in der Gesellschaft Dutzender von Agenten, und am Nachmittag umgaben uns im Counterterrorism Center der CIA Dutzende von Sachverständigen für Sicherheitsfragen. Und wieder warteten wir. Ein Zerstörer der US Navy wollte den Hafen von Aden anlaufen. Dieser geplante Aufenthalt stand im Kontext der Bemühungen des Central Command um militärische Zusammenarbeit und Kontakte in der Region. Der Zerstörer The Sullivans war nach vier Brüdern benannt, die im Zweiten Weltkrieg alle auf demselben Schiff umgekommen waren. Wie wir später erfahren sollten, hatte al-Qaida das Schiff ins Visier genommen. Ein kleines, mit hochexplosivem Sprengstoff beladenes Boot sollte den Zerstörer rammen. Der Plan von al-Qaida sah einen zeitgleichen Angriff an mehreren Orten vor. Der Flughafen von Los Angeles sollte zerstört werden und das 334
Radisson-Hotel in Amman in Schutt und Asche sinken. Vielleicht wusste die Terrorzelle im Jemen beim Beladen des Bootes bereits, dass die Pläne in Los Angeles und Amman aufgeflogen waren. Vielleicht wussten diese Leute, dass ihr Vorhaben der einzige Teil der Verschwörung war, den die Amerikaner noch nicht entdeckt hatten. Als sie das Boot ins Wasser schoben, schwamm es jedenfalls nur ein kurzes Stück weit und sank. Der Sprengstoff war zu schwer. In einem Schutzraum, der direkt an den Flur des Y2K Coordination Center grenzte, warteten wir zunächst auf die Mitternachtsstunde in Riad, dann in Paris. Es wurden keine größeren Computerstörungen gemeldet, auch keine Bombenexplosionen. Ich ging die Liste durch und rief jedes Kommandozentrum, jeden Überwachungsposten an. Die CIA stellte fest, dass bereits mehr als die halbe Welt den Datumswechsel ohne besondere Zwischenfälle überstanden hatte. Die FAA meldete, wegen fehlender Nachfrage seien viele Flüge storniert worden. Der Secret Service stand bereit, um den Präsidenten zur Washingtoner Feier im Lincoln Memorial zu begleiten. Die FEMA sagte, die Bergungs- und Rettungseinheiten stünden auf Luftwaffenstützpunkten und an ausgewählten Orten in den Städten bereit. Die Küstenwache war mit einer großen Zahl bewaffneter Boote im New Yorker Hafen und auf den Flüssen der Stadt präsent. Das Energieministerium hatte seine auf Atomwaffen spezialisierten Spürtrupps einsatzbereit. Als ich schließlich John O’Neill auf seinem Mobiltelefon anrief, verstand ich ihn kaum. Er hielt sich in der Kommandostelle der New Yorker Polizei am Times Square auf: »Wir haben alles abgeklopft, aber ich bin der Ansicht: Wenn sie irgendetwas in New York machen, dann machen sie’s hier. Deshalb bin ich hier.« 335
Kurz vor Mitternacht stieg ich aufs Dach, um mir die Feierlichkeiten am Lincoln Memorial von oben anzusehen. Das Feuerwerk erleuchtete den kalten Nachthimmel. Nach der Feier machte sich der Tross des Präsidenten auf den Rückweg zum Weißen Haus, um die Party dort fortzusetzen. Sandy Berger rief mich aus dem Auto an: »So weit, so gut. Gab’s irgendwelche Zwischenfälle?« »Nein, aber Los Angeles feiert erst in drei Stunden«, antwortete ich und überlegte mir dabei, wie ich wohl so lange wach bleiben könnte. Es waren drei anstrengende Wochen gewesen. »Schön. Danken Sie allen im Namen des Präsidenten und in meinem Namen. Ich glaube, dass wir dieser Kugel entgangen sind, aber wir haben auch eine Menge dazugelernt. Und wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns.« Berger hatte Recht. Allen, die zuvor noch Zweifel gehegt hatten, vermittelten der Taxifahrer aus Boston, das geplante Attentat am Flughafen von Los Angeles, die Verbindung nach Brooklyn und die Terrorzelle von Montreal dieselbe Botschaft: Sie sind schon hier. Um drei Uhr morgens gingen wir aufs Dach zurück und machten eine Flasche auf. Die Militärs pflegen eine feste Routine, die unter den Bezeichnungen »Lessons Learned« oder »After Action Review« bekannt ist. Im Anschluss an jede größere militärische Operation oder Übung wird nach einem standardisierten Ablauf untersucht, was geklappt hat und was besser hätte laufen können. Nach dem MillenniumTerroralarm vom Dezember 1999 wurde die CSG mit der Erarbeitung einer entsprechenden Bilanz beauftragt, der Millennium After Action Review. Jede einzelne Behörde 336
bilanzierte den eigenen Lernprozess, und die Gesamtgruppe warf einen gemeinsamen Blick auf unsere Unzulänglichkeiten. Diese Mängelliste gruppierte sich um einen einzigen zentralen Punkt: um die Erkenntnis, dass es möglicherweise bereits Zellen von al-Qaida-Schläfern in den Vereinigten Staaten gab. Ich hatte schon mindestens fünf Jahre lang fest daran geglaubt, dass al-Qaida bereits unter uns war, aber ich hatte mit meiner Überzeugungsarbeit nicht viel Erfolg beim FBI. Offiziell war vom FBI zu hören, man kenne nur eine Hand voll Sympathisanten, die alle überwacht würden. Nach Auskunft der Bundespolizei gab es keine aktiven Terrorzellen, keine im Land selbst verankerte Bedrohung. John O’Neill und ich waren anderer Ansicht, doch O’Neill hatte zum New Yorker FBI-Büro gewechselt. Es war die wichtigste Außenstelle im ganzen Land, und O’Neill hatte es zum ausführenden Organ des FBI für die Jagd auf al-Qaida in Übersee gemacht. Doch die meisten Außenstellen und der größte Teil des FBIHauptquartiers setzten andere Schwerpunkte. Louis Freehs Interesse am Terrorismus im Ausland schien sich nahezu ausschließlich auf die Ermittlungen zum Khobar-Attentat zu konzentrieren. Die National Security Division, in deren Arbeitsbereich der Terrorismus fiel, steckte tief in Ermittlungen zur russischen und chinesischen Spionage, nämlich zum Fall des FBI-Agenten Robert Hanssen und zum Fall Wen Ho Lee. [Hanssen hatte als FBI-Mitarbeiter 15 Jahre lang für den KGB spioniert. Anfang 2001 wurde er enttarnt und inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt. Wen Ho Lee, ein US-Wissenschaftler taiwanesischer Herkunft, arbeitete in den Labors von Los Alamos und wurde 1999 unter Atomspionageverdacht verhaftet. Zugegeben hat er nur einen Fall von rechtswidrigem Kopieren geheimer Informationen, alle anderen 337
Anklagepunkte wurden fallen gelassen. Anm.d. Übers.] In den 56 Außenstellen lag (mit der Ausnahme New York City) der Schwerpunkt auf Drogen, organisiertem Verbrechen und anderen Themen, die zu Verhaftungen und Strafverfahren führten. Die Führungskräfte in diesen Dienststellen hatten nur wenig Zeit für die Überwachung und Infiltration möglicherweise radikaler islamistischer Gruppen. In einigen Städten hatten wir gemeinsame Arbeitsgruppen zum Terrorismus eingerichtet, so genannte Joint Terrorism Task Forces, in deren Rahmen sich Vertreter der Bundespolizeibehörden am Ort mit der Staats- und der örtlichen Polizei austauschten. Ich war davon ausgegangen, dass diese Arbeitsgruppen Jagd auf al-Qaida machten, fuhr im ganzen Land herum und besuchte FBI-Außenstellen und JTTF-Sitzungen, um diese Annahme zu überprüfen. Was ich dabei vorfand, war zutiefst beunruhigend. Bei jedem einzelnen Besuchstermin hatten mir die leitenden Special Agents und ihre JTTF-Direktoren erklärt, al-Qaida sei in ihrer Region nicht präsent, dabei hatten sie so gut wie nichts unternommen, um eventuelle Terrorzellen zu enttarnen. Stattdessen folgten sie jedem Hinweis, den ihnen irgendwelche anderen Terrorgruppen durch ihre wahrnehmbare Tätigkeit selbst lieferten. In einigen Fällen war das die IRA, in anderen ging es um indische Sikhs oder einheimische Milizen. »Gibt es in dieser Stadt al-Qaida-Leute?«, fragte ich routinemäßig. Oft erhielt ich Antworten in diesem Stil: »Was ist alQaida? Ist das dieser Been Layding? Der war nicht hier.« Dann hakten Roger Cressey und Paul Kurtz nach: »Was sagen die Leute in den Moscheen über den Dschihad, wenn der Gottesdienst zu Ende ist? Was für Schriften 338
verteilen sie? Für welche Vorhaben sammeln sie Geld ein?« »Zum Teufel, wir können nicht einfach in eine Moschee gehen, auch nicht in eine Kirche, wenn wir keinen konkreten Anlass haben. Wir können da auch keinen Spitzel hinschicken«, kam es stets zurück. Und dann legten unsere Gesprächspartner nach: »Hören Sie mal, wir kümmern uns um die Strafverfolgung, und der USAttorney hier interessiert sich nicht für irgendein unbedeutendes Vergehen, das mit der Unterstützung von Terroristen zu tun hat. Scheiße, wir haben hier nicht einmal einen Assistant US-Attorney mit Sicherheitsüberprüfung für die höchste Geheimhaltungsstufe.« Sie alle erkannten, dass ihnen die Richtlinien des Justizministers keine Handlungsmöglichkeiten ließen, wenn sie noch nichts über ein mögliches Verbrechen wussten. Solange niemand einen Hinweis für einen Anfangsverdacht lieferte, konnten sie keine Gottesdienste in Moscheen besuchen und auch nicht an den Sitzungen von Studentengruppen teilnehmen. Es war ihnen verboten, Websites von Organisationen auszudrucken, solange kein Verdacht auf ein möglicherweise drohendes Verbrechen bestand. In vielen Städten hatten die FBI-Leute noch nicht einmal einen Internetanschluss. Die Richtlinien des Justizministers wurden als Konsequenz aus den Skandalen der Watergate-Ära Anfang der siebziger Jahre eingeführt. In jener Zeit war enthüllt worden, dass das FBI heimlich Dossiers über Einzelpersonen wie auch über Gruppen angelegt hatte, und der einzige Grund dafür war der Verfolgungswahn von J. Edgar Hoover, dem langjährigen FBI-Chef. Das Justizministerium hatte das FBI in eine Zwangsjacke gesteckt, um diesen Missbrauch abzustellen, und daran 339
hatte sich seither nichts geändert. Die Rückständigkeit in der EDV-Nutzung war allerdings durch Versäumnisse der FBI-Führung zu erklären. Viele örtliche Polizeibehörden des Landes arbeiteten mit sehr viel moderneren EDV-Systemen als das FBI. In New York sah ich ganze Aktenstapel zum Thema Terrorismus auf dem Boden des JTTF-Büros lagern. Die Bearbeitung lag in den Händen eines einzigen schlecht bezahlten Archivars, der die fortlaufend produzierte Materialfülle allein nicht bewältigen konnte. Ein Agent hatte keine Chance zu erfahren, welche Informationen sein Kollege gesammelt hatte, und mitunter galt das sogar für Kollegen, die dasselbe Büro teilten. Mitgehörte Telefonate lagen wochenlang unausgewertet herum, weil es zu wenige Übersetzer für Arabisch, Farsi oder Paschtu gab. Sämtliche Übersetzungen wurden in den Städten angefertigt, in denen die Gespräche abgehört worden waren. Wenn das FBI etwas Interessantes entdeckte und diese Entdeckung dann nach Washington übermittelte, verließ keine schriftliche Aufzeichnung dazu jemals die Behörde. Das war ein auffälliger Gegensatz zur gängigen Praxis bei CIA, NSA und State Department, die gemeinsam meinen vor Hackern geschützten E-Mail-Briefkasten Tag für Tag mit mehr als 100 detaillierten Berichten füllten. Wollten wir erfahren, was das FBI-Hauptquartier wusste, blieben uns nur das abhörsichere Telefon oder die direkte Nachfrage in Besprechungen. Der Umfang der Berichterstattung aus anderen Behörden wuchs so stark, dass wir eine spezielle Arbeitsgruppe einrichteten, die Threat Subgroup. Diese Gruppe ging die Berichte mit Hilfe standardisierter Fragen systematisch durch: Welcher Informant hat diesen Bericht geliefert? Hat dieser Informant früher schon zutreffende Berichte 340
geschickt? Gibt es eine unabhängige Methode zur Verifizierung des Berichts? Was sollten wir tun, um der potenziellen Bedrohung zu begegnen? Die Gruppe fasste nach und wandte sich dann erneut dem Bericht zu, bis er »negiert« und von der Liste der aktiven Bedrohungen gestrichen werden konnte. In dieser Gruppe saßen Vertreter von FBI, CIA, Secret Service, NSA, Verteidigungs- und Außenministerium, FAA und häufig auch noch von anderen Behörden. Steve Simon und später dann Roger Cressey leiteten die Threat Subgroup. Es kam immer wieder vor, dass sie berichteten, der (in diesem Punkt beliebig austauschbare) FBI-Vertreter habe nicht richtig mitgearbeitet, worauf ich dann regelmäßig zum Hörer greifen und auf der FBILeitungsebene nachfragen musste. Eine Szene ist mir in besonders lebendiger Erinnerung. Cressey, ein Mann mit angenehmen Umgangsformen, kam nach einer Besprechung der Threat Subgroup in mein Büro und schimpfte los: »Dieser Scheißkerl wird bald einige Amerikaner auf dem Gewissen haben. Er sitzt einfach da, wie das personifizierte Phlegma. Hat nichts zu berichten. Gibt keinen Kommentar ab zur Arbeit der anderen. Hat kein Interesse daran, irgendetwas herauszufinden.« Ich wusste sofort, dass er von einem FBI-Mann sprach. Wenn wir die FBI-Leute nach Vergehen fragten, die mit krimineller Unterstützung von Terrorismus zu tun hatten – etwa nach der Einrichtung von Websites, über die Spenden geworben wurden, oder nach anderen Methoden der Terrorfinanzierung –, sahen wir nur ausdruckslose Mienen. Rick Newcombs Büro im Finanzministerium versuchte dem FBI einige Tipps zu geben, wo man nach Terroristengeldern suchen musste, mit mäßigem Erfolg. Das FBI erklärte, in den USA gebe es keine Websites, über die Gotteskrieger für eine Ausbildung in Afghanistan 341
angeworben oder zu Geldspenden für Tarnorganisationen aufgerufen würden. Ich bat Steven Emerson, diese Angaben zu prüfen. Emerson brachte 2002 das Buch American Jihad heraus, aus dem ich mehr über radikale islamistische Gruppen in den USA gelernt habe als durch alle FBI-Berichte zusammen. Innerhalb weniger Tage hatte Emerson eine lange Liste von Websites zusammengestellt, die ganz normal in den Vereinigten Staaten zu erreichen waren. Ich gab diese Liste ans Justizministerium und an das FBI weiter. Daraufhin schien zunächst einmal gar nichts zu geschehen, obwohl die zuständigen Personen im Justizministerium durchaus bemerkten, wie schwierig eine Strafverfolgung bei Streitfällen in Sachen »Meinungsfreiheit« war. Die beiden personellen Lichtblicke beim FBI waren John O’Neill und Dale Watson, O’Neills Nachfolger in Washington, als dieser nach New York wechselte. Die beiden waren ein Musterfall an Gegensätzlichkeit. O’Neill hätte ohne weiteres als Boston Irish Congressman durchgehen können, der regelmäßig sein Gentlemen’s Quarterly las. Watson gab sich als »good old boy« aus dem Süden und benutzte tatsächlich Kautabak. Nach 40 Jahren beständiger wechselseitiger Feindseligkeiten zwischen CIA und FBI hatten beide Behörden beschlossen, die institutionelle Zusammenarbeit zu stärken, und zu diesem Zweck Führungskräfte aus dem Bereich Terrorbekämpfung ausgetauscht. Watson war nach einer zweijährigen Tätigkeit beim Counterterrorism Center der CIA ins FBI-Hauptquartier gekommen. Er wusste, worum es ging. Als sich Dale Watson zur Auswertung des MillenniumAlarms mit mir an einen Tisch setzte, war ihm klar, dass er ein Problem hatte. »Wir müssen das FBI vollständig zerschlagen und dann wieder neu aufbauen, wenn wir mit 342
dem Terrorismus fertig werden wollen«, vertraute er mir an. »Wir jagen hinter Verbrechern her, die Banken ausrauben, während Leute frei herumlaufen, die die Ermordung von Amerikanern hier in den USA planen.« Watson brachte Freeh so weit, dass er einer Besprechung in Tampa zustimmte, zu der alle leitenden FBI-Beamten aus allen 56 Außenstellen erschienen. Er bat mich, zu Beginn des Treffens die Teilnehmer über das Netzwerk alQaida und seine Ziele zu informieren. Ich setzte so an: »Al-Qaida ist eine weltweit operierende politische Verschwörung, die sich als religiöse Sekte tarnt. Sie ermordet unschuldige Menschen, um Aufsehen zu erregen. Ihr Ziel ist eine Theokratie im Stil des 14. Jahrhunderts, in der Frauen keine Rechte haben, alle Menschen zwangsweise zu Muslimen werden und die Rechtsordnung der Scharia eingesetzt wird, um Hände abzuhacken und Menschen zu Tode zu steinigen. Al-Qaida nutzt auch ein globales Bankennetz und Finanzsystem, um seine Aktivitäten zu finanzieren. Diese Leute sind klug, viele von ihnen wurden an unseren Universitäten ausgebildet, und sie planen sehr langfristig. Sie gehen davon aus, dass es ein Jahrhundert dauern kann, bis ihre Ziele erreicht sind, und eines dieser Ziele ist die Zerstörung der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie haben ein gutes Spionagesystem entwickelt und setzen Schläferzellen und Tarnorganisationen ein, die jahrelang planen, bevor sie handeln. Sie sind unser schlimmster Feind, und sie leben unter uns, in Ihren Städten. Finden Sie sie.« Nach mir sprach Watson: »Beim FBI stehen diese Leute in der Prioritätenliste zum Thema Terrorismus auf Platz eins. Sie werden sie finden. Und wenn Sie sie nur wegen unachtsamen Verhaltens im Straßenverkehr verhaften können: Tun Sie das. Wenn der US-Attorney in Ihrer Stadt 343
sie nicht anklagen will: Rufen Sie mich an. Wenn das Justizministerium Ihren FISA-Abhörantrag nicht genehmigen will: Rufen Sie uns an, bleiben Sie nicht im Schmollwinkel sitzen.« Die Leute machten sich Notizen, aber einige zogen ein Gesicht, als hörten sie diese Art Rede über eine »neue Priorität« nicht zum ersten Mal. »Noch etwas«, fügte Watson hinzu. »Ihre Gehaltszulage, Ihr weiterer Aufstieg, Ihr möglicher künftiger Einsatzort, all das hängt von Ihrem Erfolg bei diesem Auftrag ab.« Jetzt rutschten einige unruhig auf ihren Stühlen herum. Alle starrten auf Dale. »Ich meine das ernst, und Louis unterstützt mich dabei. Wenn Sie mir nicht glauben: Probieren Sie’s aus.« Dale war jetzt kein gemütlicher »good old boy« mehr. Als ich mit Watson zum Auto ging, sagte er: »Das FBI ist wie ein Flugzeugträger. Es dauert lange, ein solches Schiff zu stoppen, zu wenden und dann einen neuen Kurs einzuschlagen. Diese Außenstellen hatten völlig freie Hand, das waren kleine Lehen, jahrelang. Ich habe jetzt wenigstens einen Neuanfang gemacht.« Es war ein Anfang, doch um diesen Kurs zu stabilisieren, bedurfte es jahrelangen, hartnäckigen Managements von oben nach unten. Wir hatten dem FBI Millionen von Dollar für die Terrorbekämpfung nachgeworfen, und sie hatten noch nicht einmal ein EDV-System, das für eine Zusammenarbeit mit den Joint Terrorism Task Forces taugte. Die Auswertung des Millennium-Alarms führte zu 29 Empfehlungen, die sich mehrheitlich mit der Bedrohung durch ausländische Terroristen innerhalb der Vereinigten Staaten beschäftigten. Eine dieser Empfehlungen sah die Einrichtung von JTTFs, denen auch Beamte der 344
Einwanderungsbehörde und Steuerfahnder angehören sollten, bei allen 56 FBI-Außenstellen vor. Wir regten an, ein zentrales Büro für abgehörte Telefonate einzurichten und mehr Übersetzer einzustellen. Mit Blick auf die Enttarnung der Terrorzelle in Montreal gab es spezielle Vorschläge für die Zusammenarbeit mit den kanadischen Behörden, die auch eine Abstimmung unserer Visum- und Einreisebestimmungen vorsahen. So viel war inzwischen klar: Wer es schaffte, nach Kanada einzureisen, der kam auch in die Vereinigten Staaten. Im eiskalten Februar reiste ich mit Roger Cressey nach Ottawa, wo wir uns mit unseren kanadischen Kollegen auf eine Liste gemeinsamer Vorhaben einigten. Die Entdeckung der Terrorzelle von Montreal hatte auch das Büro des Premierministers sehr beunruhigt. Die Chefs stimmten den Vorschlägen unserer Auswertung zu. Die Empfehlungen, die sofort umsetzbar waren, wurden auch befolgt. Bei Fällen, in denen zusätzliche Gelder benötigt wurden, mussten sich die betroffenen Behörden an den Kongress wenden, um eine Änderung des Haushaltsplans für das Jahr 2001 zu bewirken. Der Flugzeugträger nahm allmählich Kurs auf das Problem der ausländischen Terroristen in den USA. Es hatte zu lange gedauert. Auch der Präsident erhielt eine Zusammenfassung des After Action Review, zusammen mit einem aktuellen Bericht zu den Versuchen der CIA, Bin Laden zu erwischen beziehungsweise seinen Aufenthaltsort zu ermitteln, damit die Ziele für die Cruise Missiles bestimmt werden konnten. Clinton war nicht erfreut über die Arbeitsergebnisse der CIA. Ich war der Ansicht, dass sich jetzt jemand mit einem 345
frischen Blick um das Problem kümmern musste, wie die al-Qaida-Führungsriege aufzuspüren war, und dann so lange dranbleiben sollte, bis wir handeln konnten. Charlie Allen koordinierte die Prioritäten für die Nachrichtenbeschaffung aller Dienste. Ich bat ihn, sich mit Scott Frey zu treffen, dem Drei-Sterne-Admiral und dem für die Aufklärung zuständigen Director of Operations beim Generalstab. Die beiden entwickelten gemeinsam eine neue Idee. Warum schickten wir nicht einfach ein unbemanntes Flugzeug los, anstatt uns auf unzuverlässige menschliche Informationsquellen zu verlassen? Die neue Predator-Drohne hatte eine lange »Verweilzeit« und lieferte Live-Videobilder sogar über eine Entfernung von mehr als 15000 Kilometern. Doch es gab einige Probleme. Zunächst einmal brauchten wir mehrere Predator-Maschinen, und die waren rar. Einige wurden in Bosnien, andere wiederum im Irak eingesetzt. Zweitens würden wir für diese Operation mehr Geld benötigen. Und schließlich mussten wir die Behörden noch dazu bringen, den Plan auch umzusetzen. Der letzte Punkt sollte sich als die größte Hürde erweisen. Zu riskant. Zu teuer. Zu viel externes Ideengut, nicht unseres. Wenn ich auf Widerstände dieser Art stieß, versuchte Sandy Berger seine Gesprächspartner auf der anderen Seite normalerweise von der Schlüssigkeit des Vorschlags zu überzeugen. In diesem Fall begnügte sich Berger praktisch mit der Anweisung, dass dieser Auftrag auszuführen sei. Im September standen die Satellitenverbindungen, auch die restlichen kleinen technischen Probleme waren geklärt, und die erste Predator-Drohne flog nach Afghanistan hinein. Roger Cressey und ich unternahmen Autofahrten zu mitternächtlicher Stunde, um uns auf einem riesigen Videobildschirm im nördlichen Virginia Kandahar 346
anzuschauen. An den Konsolen saß ein kleines Team, das nicht so recht glauben konnte, was dort zu sehen war, direkt übertragen von der anderen Seite der Erde. Diese Art der Nachrichtenbeschaffung hatten wir bisher nur in Hollywoodfilmen gesehen. Der Vogel flog geräuschlos über ein bekanntes Terroristenlager, und gerade in diesem Augenblick näherte sich ein Landrover dem Tor. »Folgen Sie diesem Auto«, rief der Mission Controller dem »Piloten« zu, der in diesem abgedunkelten Raum in Virginia direkt vor ihm saß. Dann drehte er sich mit einem breiten Grinsen zu Cressey und mir um und erklärte: »Das wollte ich schon immer mal sagen.« Der Pilot hielt den Landrover auf dem Bildschirm, auch bei der Fahrt über einen Marktplatz und bei der Ein- und Ausfahrt an einem Tunnel. Schließlich brachte er das Auto vor einer Villa zum Stehen, und die Wageninsassen betraten das Gebäude. »Gut, jetzt wissen wir, dass diese Villa mit al-Qaida zu tun hat.« Predator-Flüge gab es im September und Oktober 2000. Eine der Maschinen wurde beim Start beschädigt, worauf sich ein bürokratischer Konflikt über die Frage entspann, wer denn nun für die Reparaturkosten in Höhe von mehreren 100000 Dollar aufkommen müsse. Bei einem weiteren Flug erfasste das Radarsystem der Taliban die Predator, und eine uralte MiG startete und nahm die Verfolgung auf. Die Predator-Kamera filmte den mühsamen Startvorgang. Die MiG gewann an Höhe und flog einen großen Bogen, der sie bis auf gut drei Kilometer an die Predator heranbrachte, die sie auch genau im Visier hatte. Das Bild der MiG, zunächst nur ein kleiner Fleck, wuchs zu einem Objekt von enormer Größe an, das genau auf die Kamera zukam. »Ach du Scheiße, die erwischt uns!«, brüllte der Controller, und die Hälfte der Leute im Kontrollraum 347
suchten Deckung unter ihren Schreibtischen. 16000 Kilometer von uns entfernt flog die MiG dicht an der Predator vorbei, der Pilot war offensichtlich nicht in der Lage, sie zu sehen oder zu orten. Ich habe mir die Bilder von drei Flügen angesehen und bin überzeugt, dabei auch Bin Laden zu Gesicht bekommen zu haben. Es gab zu diesem Zeitpunkt keine feuerbereiten U-Boote in dieser Region mehr. Die Marine hatte sich monatelang um die Rückgabe ihrer Einheiten bemüht und war letztlich erfolgreich gewesen. Die Winde wurden in dieser Jahreszeit allmählich heftiger und hinderten die Predator am Flug über die Berge, die bei diesen Einsätzen überquert werden mussten. Widerstrebend gaben wir nach: Die Flüge sollten erst nach Ende des Winters wieder aufgenommen werden. Die Luftwaffe hatte Pläne in der Schublade, nach denen die Predator-Drohne mit kleinen Raketen ausgerüstet werden sollte. Geplanter Termin für das einsatzbereite System: 2004. Wir baten die Air-Force-Leute, das ganze System bis zum späten Frühling 2001 fertig zu stellen. Es ist schon viel geschrieben worden über die Entstehung der unbemannten Predator-Drohnen und die bürokratischen Rangeleien, die auf meinen Vorschlag folgten, dieses neue System im Krieg gegen al-Qaida auch als Waffe zur Terrorbekämpfung einzusetzen. Daniel Benjamin und Steve Simon zitieren in ihrem Buch The Age of Sacred Terror (2003) einen »hochrangigen Beamten des Verteidigungsministeriums« mit der Bemerkung, die CIA habe sich dem Einsatz der Predator zunächst widersetzt, und das Weiße Haus »musste dies der Agency regelrecht reinwürgen. Das [CIA-]Directorate of Operations geht auf Cocktailpartys und wirbt Spione an, und sie sagten, so etwas sei ein paramilitärisches Vorgehen, das die Beziehungen zum Gastland ruinieren 348
könne.« Benjamin und Simon schrieben außerdem zum möglichen Einsatz einer bewaffneten Predator bei einem Angriff auf al-Qaida: »Jim Pavitt, der Leiter des Directorate of Operations, sagte nach Angaben von Ohrenzeugen, das Leben von CIA-Agenten in aller Welt sei gefährdet, wenn die Predator gegen Bin Laden eingesetzt und die Verantwortung für den Gebrauch dieser tödlichen Waffe der Agency zugewiesen werde.« Schließlich halten die Autoren fest, der CIA-Direktor George Tenet habe bei einer Besprechung im Weißen Haus eine Woche vor dem 11. September »energisch interveniert. Es wäre ein schrecklicher Fehler, erklärte er, wenn eine solche Waffe abgefeuert würde.« Der New Yorker zitiert Roger Cressey mit einer Bemerkung über die bürokratischen Auseinandersetzungen zum Einsatz der bewaffneten Predator im Vorfeld des 11. September: »Es klingt furchtbar, aber wir haben bei unseren internen Gesprächen immer gesagt, dass einige Leute nichts kapierten … zuerst müssten wohl die Leichensäcke herausgeholt werden.« So kam es dann auch. Die bewaffnete Predator nahm al-Qaida in Afghanistan erst nach dem 11. September aufs Korn. Sie war dabei äußerst erfolgreich. Während des Probeflugs der Predator im Oktober 2000 griff die al-Qaida-Zelle, deren Boot bei einem Attentatsversuch zur Zeit der Millennium-Feiern gesunken war, in der jemenitischen Hafenstadt Aden erneut einen US-Zerstörer an. Diesmal hatten die Terroristen Erfolg und töteten 17 amerikanische Seeleute an Bord von USS Cole. Mehr als drei Jahre lang hatte sich die CSG mit Sicherheitsfragen in den Häfen dieser Region befasst, die von der US Navy angelaufen wurden. Steve Simon hatte 349
einen äußerst kritischen Bericht über die Sicherheitslage verfasst, die er an einem von der Navy genutzten Pier in der Nähe von Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten vorfand. Sandy Berger hatte den Bericht ans Verteidigungsministerium geschickt. Ich war persönlich vor Ort gewesen und in Scharfschützenstellungen des Navy-Stützpunktes in Bahrain geklettert, weil es wiederholt Berichte gegeben hatte, dass al-Qaida dort einen Anschlag plane. Das Verteidigungsministerium hatte die Probleme in Bahrain und den Vereinigten Emiraten gelöst, aber die Stützpunkte waren nicht die einzigen Schwachstellen. Durch den Angriff auf die Cole erfuhren wir zu unserem Entsetzen überhaupt erst, dass die Marine Häfen im Jemen anlief. Mike Sheehan, der damalige Vertreter des State Department in der CSG, hatte unsere Gefühle auf den Punkt gebracht: »Jemen ist ein Schlangennest des Terrorismus. Was zum Teufel hatte die Cole dort überhaupt verloren?« Das System hatte versagt. Das Central Command hatte beschlossen, künftig auch den Hafen von Aden anzulaufen, doch niemand im Pentagon hatte die Information weitergegeben mit dem Ziel einer gemeinsamen Sicherheitsüberprüfung durch die einzelnen Behörden. Das FBI entsandte – wie nach den Anschlägen in Khobar und auf die ostafrikanischen Botschaften – ein großes Team, das Beweise sichern und Zeugen befragen sollte. John O’Neill, stets ein Mann der Praxis, leitete dieses Team. Er bekam es dabei mit Barbara Bodine zu tun, der US-Botschafterin, der ich unter solchen Umständen zuletzt begegnen wollte. O’Neill kam mit seinem Charme fast überall durch, aber er fand keinen Modus Vivendi mit der amerikanischen Botschafterin im Jemen. Die Regierung des Jemen tat mit ihren schleppenden Ermittlungen ein 350
Übriges, sodass Präsident Clinton sich schließlich der Sache persönlich annahm. Die amerikanische Regierung beschrieb den Jemeniten klipp und klar die beiden Alternativen, die für die künftigen Beziehungen zwischen dem Jemen und den USA zur Auswahl standen. Mittlerweile wollte in Washington weder die CIA noch das FBI die offensichtlichen Täter beim Namen nennen. Sie sagten nicht: Das war al-Qaida. Wir wussten, dass es im Jemen eine große al-Qaida-Zelle gab. Außerdem war dort auch noch eine große Zelle des ägyptischen Islamischen Dschihad aktiv gewesen, doch die hatte inzwischen die vollständige Vereinigung mit al-Qaida angekündigt. Welche Rolle spielte es da noch, welche Gruppe nun den Anschlag ausgeführt hatte? Lisa GordonHagerty, Paul Kurtz und Roger Cressey hatten rund um die Uhr gearbeitet, die Beweise zusammengetragen und ein äußerst schlüssiges Dossier über al-Qaida zusammengestellt. Die CIA sollte den Inhalt erst nach einigen Monaten bestätigen. Solange FBI und CIA nicht sagten, dass al-Qaida den Anschlag verübt hatte, war in den Chefbesprechungen kaum Unterstützung für einen Vergeltungsschlag zu bekommen. Abermals schlug ich vor, alle Lager von alQaida in Afghanistan zu bombardieren, ohne die Operation mit dem Ziel Bin Laden oder mit der Vergeltung für den Anschlag auf die Cole zu verbinden. Ich erhielt keine Unterstützung. Mike Sheehan konnte nicht glauben, was in der ersten Chefbesprechung nach dem Anschlag auf die Cole vor sich ging. Er hatte sein Leben in der Armee verbracht: West Point, Korea, Ausbildung bei den Special Forces, Geiselbefreiungsteam in Panama, Kämpfe in El Salvador, Command and General Staff School, Angehöriger der Friedenstruppe in Somalia und Haiti, Mitarbeit beim 351
Nationalen Sicherheitsrat im Weißen Haus während zweier Amtsperioden. Er war immer davon ausgegangen, dass die Spitzen der Regierung nach Vergeltung streben würden, wenn amerikanische Streitkräfte angegriffen und US-Soldaten getötet wurden. Sheehan kannte diese Spitzenpolitiker. Er war jetzt nicht mehr bei den Special Forces, sondern Zivilist, der leitende Beamte des State Department in Sachen Terrorismusbekämpfung, und er hatte mit diesen hochrangigen Leuten seit Jahren zu tun. Er hatte als Mitarbeiter des State das Ministerium von innen dazu gedrängt, alle diplomatischen Mittel gegen alQaida einzusetzen. Doch jetzt, nach der Ermordung von 17 Seeleuten, hatten die Chefs beschlossen, zunächst nichts zu unternehmen, sondern auf Beweise zu warten! Sheehan war besonders empört, weil der ranghöchste amerikanische Militär noch nicht einmal vorgeschlagen hatte, bereits ausgearbeitete Pläne für einen Vergeltungsschlag gegen al-Qaida-Stützpunkte in Afghanistan und ihre Gastgeber, die Taliban, umzusetzen. Sheehan verabscheute die Taliban, deren Vertreter ihm ins Gesicht gelogen hatten. An einem kühlen Oktobertag des Jahres 2000 stand ich mit Sheehan auf der West Executive Avenue. Wir beobachteten die Limousinen, die nach der Besprechung im Weißen Haus zum Anschlag auf die Cole in Richtung Pentagon davonfuhren. »Was muss denn noch passieren, Dick?«, fragte Sheehan. »Wer zum Teufel hat wohl nach deren Meinung die Cole angegriffen, beschissene Marsmenschen vielleicht? Die hohen Tiere im Pentagon wollen nicht, dass Delta Jagd auf Bin Laden macht. Teufel noch mal, die lassen nicht mal ein Flächenbombardement der Air Force auf diesen Ort zu. Muss al-Qaida das Pentagon angreifen, damit sie auf ihn aufmerksam werden?« 352
Die Zeit wurde knapp für die Regierung Clinton. Es sollte noch einen großen Vorstoß in Sachen nationaler Sicherheit geben, außerdem noch einen letzten Versuch, zu einem Abkommen zwischen Israel und den Palästinensern zu kommen. Es sah wirklich danach aus, als sei dieses lang ersehnte Ziel erreichbar. Der israelische Ministerpräsident hatte wichtige Konzessionen gemacht. Ich hätte gern beides probiert, Camp David und die Zerstörung der Lager von al-Qaida. Dennoch verstand ich dieses Vorgehen. Wenn wir einen Friedensschluss im Nahen Osten zustande brachten, würde ein großer Teil der öffentlichen Unterstützung für al-Qaida wie auch des Hasses auf Amerika über Nacht verschwinden. Es würde auch noch eine andere Gelegenheit geben, gegen die Terror-Camps vorzugehen. Die Chefs baten mich, den politisch-militärischen Plan für die Übergangszeit zu aktualisieren und die Themen hervorzuheben, bei denen keine Übereinstimmung bestand, wo noch keine Entscheidungen getroffen worden waren. Ich nannte die Unterstützung für die Nordallianz, die Zerstörung der Lager und den Einsatz bewaffneter Predator-Drohnen zur Tötung der al-Qaida-Führung. Clinton schied aus dem Amt, und Bin Laden war immer noch am Leben. Doch der Präsident hatte Aktionen zu seiner Tötung ebenso autorisiert wie die Verschärfung der Angriffe auf al-Qaida. Er hatte al-Qaida besiegt, als das Netzwerk versucht hatte, die Macht in Bosnien zu übernehmen, indem es seine Kämpfer eine führende Rolle in der Verteidigung des Staates gegen serbische Angriffe übernehmen ließ. Er hatte früher als jeder andere erkannt, dass der Terrorismus die bedeutendste neue Bedrohung für Amerika war. Deshalb hatte er die Mittel für die Terrorbekämpfung erheblich aufgestockt und neue Programme zum Heimatschutz auf den Weg gebracht. Er 353
hatte dem irakischen und iranischen Terrorismus durch sein rasches Vorgehen gegen die Geheimdienste beider Länder ein Ende gemacht. Weil Clinton heftige politische Kritik auf sich zog, war er auch wegen der Bombardierung der al-Qaida-Camps in Afghanistan massiv angegriffen worden. Man warf ihm eine »Wag-the-Dog«-Taktik vor, um die öffentliche Aufmerksamkeit vom Lewinsky-Skandal abzulenken. Aus ähnlichen Gründen konnte er auch den widerspenstigen FBI-Direktor nicht feuern, dem es nicht gelungen war, seine Behörde wieder auf Kurs zu bringen, und der es auch nicht fertig gebracht hatte, Terroristen in den Vereinigten Staaten zu enttarnen. Clinton hatte der CIA einzigartige Vollmachten für das direkte Vorgehen gegen die Person Bin Laden erteilt, doch er hatte nicht reagiert, als der Geheimdienst wenig bis nichts in dieser Richtung unternahm. Er wurde als Vietnamkriegsgegner ohne eigene militärische Erfahrung kritisiert und stieß deshalb an seine Grenzen, als es darum ging, die Militärs gegen deren Widerstand zu Antiterror-Kommandoaktionen zu drängen. Er hatte das in Somalia versucht, und die Militärs hatten Fehler gemacht und ihm die Schuld zugeschoben. Da es keine größere Provokation von Seiten al-Qaidas gab, die seine Kritiker zum Schweigen gebracht hätte, dachte Clinton, er könne in dieser Sache nichts mehr tun. Dennoch brachte er die Pläne und Programme auf den Weg, die es Amerika ermöglichten, auf die großen Anschläge zu reagieren, als sie dann tatsächlich geschahen, und alle politischen Hindernisse für eine solche Reaktion zu beseitigen. Als Clinton aus dem Amt schied, dachten viele (einschließlich der führenden Köpfe der künftigen Regierung Bush), dieser Präsident und seine Regierung seien allzu sehr von al-Qaida besessen. Schließlich hatte 354
al-Qaida nur wenige Amerikaner getötet. Das war nichts im Vergleich zu den Hunderten von Marines, die zu Zeiten der Regierung Reagan durch Terrorakte in Beirut starben. Oder im Vergleich zu den Hunderten von Amerikanern, die an Bord von PanAm 103 am 21. Dezember 1988 durch libyschen Terror ums Leben kamen. Diese beiden Terrorakte waren nicht mit amerikanischen Vergeltungsschlägen beantwortet worden. Warum beschäftigte sich Clinton so intensiv mit al-Qaida, und warum sprach er mit dem designierten Präsidenten Bush über dieses Thema und ließ es seinen Nationalen Sicherheitsberater Sandy Berger auch mit dessen Amtsnachfolgerin Condi Rice besprechen? Die neue Regierung hielt im Januar 2001 Clintons Empfehlung, der Vernichtung von al-Qaida höchste Priorität einzuräumen, für, nun ja, reichlich seltsam, wie viele andere Maßnahmen der Regierung Clinton auch.
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10 Vor und nach dem 11. September Das Terrornetzwerk al-Qaida hat seine Angriffe Jahre im Voraus geplant, Schläfer ins Land geschleust, das Umfeld erkundet. Sie denken langfristig, da sie überzeugt sind, dass ihr Kampf Jahrzehnte, vielleicht gar Generationen dauern wird. Amerika hingegen funktioniert nach einem vierjährigen Wahlzyklus, und Ende 2000 begann ein neuer. Während des Wahlkampfes hatte man kaum etwas über Terrorismus gehört. George W. Bush und Dick Cheney hoben den ABM-Vertrag mit Russland hervor. Außerdem sprachen sie vom Irak. Im Januar 2001, nachdem wir das Fiasko in Florida hinter uns hatten, informierte ich alle meine alten Freunde und Bekannten aus der ersten Bush-Administration: Condi Rice, Steve Hadley, Dick Cheney und Colin Powell. Meine Botschaft lautete ganz nüchtern: Al-Qaida führt einen Krieg gegen uns, es handelt sich hier um eine außerordentlich effiziente Organisation, die vermutlich Schläfer in den Vereinigten Staaten hat, und sie plant ganz eindeutig eine Reihe größerer Anschläge gegen uns; wir müssen rasch und zielstrebig handeln, die Punkte entscheiden, die nach dem Anschlag auf die USS Cole ausgearbeitet wurden, und in die Offensive übergehen. Jeder reagierte anders. Cheney bat einen Assistenten, einen Besuch bei der CIA zu arrangieren, um sich über deren Ansicht zu der Gefahr, die von al-Qaida ausging, zu informieren. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, weil ich wusste, dass George Tenet wegen der Pläne von alQaida eher noch alarmierter war als ich. Bei den meisten Besuchen Cheneys beim CIA drehte sich alles um den 356
Irak, und jedes Mal fragten sich die mittleren Beamten und Analytiker nach Cheneys Abschied, ob der kampferprobte Vizepräsident nicht vielleicht Recht hatte mit der irakischen Bedrohung; vielleicht sollten sie ihre eigenen Einschätzungen doch ein wenig nachbessern. Wie auch immer, in den ersten Wochen der neuen Regierung hatte Cheney jedenfalls vernommen, was ich laut und deutlich über al-Qaida gesagt hatte. Nun, da er an den Chefbesprechungen des Nationalen Sicherheitsrates unter dem Vorsitz von Condi Rice teilnahm (was kein Vizepräsident jemals gemacht hatte), hoffte ich, dass er die Dringlichkeit des Problems zur Sprache bringen und es auf eine kurze Liste der Sofortmaßnahmen setzen würde. Doch das tat er nicht. Colin Powell griff während der Übergangsperiode zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Er bat um ein Treffen mit der CSG, mit den ranghöchsten Beamten der Terrorabwehr aus NSC, Außen-, Verteidigungsministerium, CIA, FBI und dem Militär. Als wir alle ausnahmslos die Bedeutung der Gefahr betonten, die al-Qaida bedeutete, war Powell sichtlich beeindruckt von der Einmütigkeit. Brian Sheridan, der in Kürze scheidende Assistant Secretary im Verteidigungsministerium, brachte es mit folgenden Worten auf den Punkt: »General Powell, ich werde ausscheiden, wenn die Regierung wechselt. Ich bin der einzige politische Kandidat hier im Raum. Alle anderen Männer sind Berufsbeamte. Deshalb will ich Ihnen einen Rat geben, der nicht von persönlichen Interessen getrübt ist. Lassen Sie dieses behördenübergreifende Team zusammen und erklären Sie al-Qaida zu Ihrer obersten Priorität. Wir mögen über die richtige Taktik streiten, und von Zeit zu Zeit bezeichnen wir uns auch mal gegenseitig als Arschloch, aber das ist 357
das beste behördenübergreifende Team, das ich jemals gesehen habe, und sie wollen alle al-Qaida an den Kragen. Die haben es auf uns abgesehen, wir müssen ihnen zuvorkommen.« Powell fragte uns aus, was das Außenministerium denn tun könne, machte sich ausführlich Notizen und bat später Rich Armitage (der Powells Stellvertreter werden sollte), sich mit der Thematik zu befassen. Ich traf Condi Rice, während sie auf der Suche nach meinem Büro durch die Gänge des Executive Office Building irrte. Ich führte sie in mein Büro und gab ihr dasselbe Briefing zu al-Qaida, das ich schon den anderen gegeben hatte. Ihre Reaktion war sehr höflich, wie fast immer bei ihr. Als ich mich darauf einstellte, meine ehemalige Kollegin und jetzige Chefin zu informieren, wurde mir klar, dass sie der vierte Nationale Sicherheitsberater war, für den ich gearbeitet, und der siebte, mit dem ich zusammengearbeitet hatte. Brent Scowcroft war ein liebenswürdiger, alter Mann gewesen, der sich im Wesentlichen auf das strategische, nukleare Gleichgewicht konzentrierte, bis der erste Golfkrieg kam. Brent war zwar ein enger Freund des ersten Präsidenten Bush, doch er litt unter der Tatsache, dass der Außenminister ihn überging und häufig direkt mit dem Präsidenten sprach. Tony Lake war ein leidenschaftlicher, aufmerksamer Führer, der, ganz im Gegensatz zu seinem professoralen Image, ein meisterhafter Ränkeschmied war, allen anderen immer einige Schritte voraus. Lake hatte zwar stets die Auseinandersetzungen im bürokratischen Apparat gewonnen, nicht jedoch das Herz des Präsidenten. Ihre beiden Persönlichkeiten passten nicht zueinander. Clinton wollte ihn in der zweiten Amtszeit zum CIA-Chef machen. (Lake verzichtete während einer hitzigen 358
Anhörung im Senat auf das Amt. Wäre er CIA-Chef geworden, hätte er meiner Ansicht nach unerbittlich Jagd auf Bin Laden gemacht und die Bürokraten abgesetzt, die ihm in die Quere gekommen wären.) Sandy Berger war Lakes Stellvertreter gewesen, aber auch ein langjähriger Freund von Bill und Hillary Clinton. Anfangs gingen die Mitarbeiter im NSC davon aus, dass Berger eine Art politischer Kommissar sein würde, doch seine erstaunliche Fähigkeit, schwierige Themen der nationalen Sicherheit sorgfältig zu bearbeiten, verschaffte ihm Respekt bei den Bürokraten. Als Nationaler Sicherheitsberater hatte er State Department und Pentagon dominiert. Nun hatte Condi Rice das Amt übernommen. Sie schien zu dem zweiten Präsidenten Bush eine engere Beziehung zu haben als alle ihre Vorgänger zu den Präsidenten, denen sie unterstanden hatten. Das hätte ihr eigentlich einen gewissen Spielraum bei der Aufstellung der Agenda verschaffen müssen. Doch der Vizepräsident hatte beschlossen, sich auf der Chefebene im NSC einzumischen. Auch der Verteidigungsminister gab zu erkennen, dass er sich nicht um die Beziehung irgendeines anderen zum Präsidenten scherte; er tat, was er tun wollte. Als ich Rice über al-Qaida informierte, glaubte ich an ihrem Gesichtsausdruck abzulesen, dass sie den Namen noch nie gehört hatte, und fügte deshalb hinzu: »Die meisten Leute halten das nur für Osama bin Ladens Gruppe, aber al-Qaida ist viel mehr als das. Es ist ein Netzwerk angegliederter Terrororganisationen mit Zellen in mehr als 50 Ländern, auch in den Vereinigten Staaten.« Rice wirkte skeptisch. Sie konzentrierte sich auf die Tatsache, dass der Mitarbeiterstab meiner Dienststelle, gemessen am Standard des NSC, relativ groß war (zwölf Leute) und sich mit operativen Themen befasste, auch mit 359
Fragen der inneren Sicherheit. Sie sagte: »Der Nationale Sicherheitsrat sieht noch genauso aus wie vor ein paar Jahren, als ich hier gearbeitet habe, abgesehen von Ihrer Tätigkeit. Die ist ganz neu. Sie befassen sich mit innenpolitischen Themen und beschränken sich nicht nur auf die Politik, es scheint, Sie kümmern sich auch um operative Fragen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das alles im NSC lassen werden.« Rice betrachtete den Nationalen Sicherheitsrat als »außenpolitischen« Koordinationsmechanismus und nicht als Ort, wo Themen wie Terroranschläge in den USA, die Reaktion auf einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen oder die Sicherheit von Computernetzwerken erörtert werden sollten. Ich erkannte, dass Rice und ihr Vize Steve Hadley immer noch in dem alten Paradigma aus dem Kalten Krieg dachten – aus der Zeit, als sie im Sicherheitsrat gearbeitet hatten. Condis bisherige Regierungserfahrung beschränkte sich auf eine dreijährige Tätigkeit als Stabsmitglied des NSC, während der sie sich Gedanken über den Warschauer Pakt und die Sowjetunion machen musste. Hadley hatte ebenfalls als Stabsmitglied des NSC gearbeitet und war für die Verhandlung von Fragen der Rüstungskontrolle mit der Sowjetunion zuständig gewesen. Danach war er Assistant Secretary im Pentagon geworden, wiederum zuständig für sowjetische Abrüstung. Mir fiel plötzlich auf, dass keiner von ihnen sich jemals mit den neuen Sicherheitsfragen der Ära nach dem Kalten Krieg befasst hatte. Ich versuchte zu erklären: »Diese Dienststelle ist neu, Sie haben Recht. Das ist die Sicherheitspolitik der Ära nach dem Kalten Krieg, die sich nicht auf die Bedrohung durch Nationalstaaten beschränkt. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik verschwimmen. Die eigentliche 360
Gefahr für die USA sind nicht mehr die sowjetischen ballistischen Raketen, die Bomben tragen, es sind Terroristen, die dies tun. Im Übrigen besagt das Gesetz, das den NSC 1947 begründete, dass er sich auch mit Fragen der inneren Sicherheit befassen solle.« Ich konnte sie nicht ganz überzeugen. Im Laufe der folgenden Monate wurde ich aufgefordert, mir zu überlegen, wie man einige dieser Themen anderen Organisationen zuordnen könne. Rice beschloss, auch die Stellung des Nationalen Koordinators für die Terrorismusbekämpfung abzuwerten. Der Koordinator war nicht mehr festes Mitglied der Chefbesprechung. Die CSG war auch nicht länger direkt den Principals unterstellt, sondern einem Komitee aus deren Stellvertretern. Der Nationale Koordinator wurde auch nicht mehr wie zuvor von zwei führenden Mitgliedern des NSC unterstützt, noch war er befugt, direkt mit dem beigeordneten Direktor des OMB über Haushaltsfragen zu sprechen. Sie bat mich jedoch, im Amt zu bleiben, samt meinem ganzen Stab. Rice und Hadley kannten offenbar keinen anderen Experten für mein, wie sie fanden, seltsames Ressort. Zugleich ersuchte Rice mich, einen Plan für eine Restrukturierung zu entwickeln, durch die einige Sicherheitsaufgaben an Stellen außerhalb des NSC-Stabs delegiert werden könnten. Eine Woche nach der Inauguration bat ich Rice und Hadley dringend um eine Chefbesprechung, um die unmittelbar von al-Qaida ausgehende Gefahr zu erörtern. Rice teilte mir mit, dass sich das Principals Committee, das unter der Clinton-Administration die erste Adresse für Terrorismusfragen gewesen war, mit dem Thema erst befassen werde, wenn es von den Stellvertretern »abgesteckt« worden sei. Ich nahm an, das würde den Stellvertretern einfach eine Gelegenheit geben, die 361
Agenda zu prüfen. Stattdessen brachte dies eine Verzögerung von Monaten mit sich. Im April trafen sich die Stellvertreter endlich zum ersten Mal, um über Terrorismus zu sprechen. Das erste Treffen in dem kleinen, mit Holz getäfelten Konferenzraum des Lagezentrums lief nicht gut. Steve Hadley eröffnete die Besprechung, indem er mich aufforderte, die Gruppe einzuweisen. Ich sprach sofort die anstehenden Entscheidungen an, die wir treffen mussten, um mit al-Qaida fertig zu werden. »Wir müssen sowohl auf die Taliban als auch auf al-Qaida Druck ausüben, indem wir die Nordallianz und andere Gruppen in Afghanistan bewaffnen. Gleichzeitig müssen wir Bin Laden und seine Führung jagen, indem wir wieder Flüge der Predator-Drohnen ansetzen.« Paul Wolfowitz, Donald Rumsfelds Vize im Verteidigungsministerium, zappelte unruhig auf seinem Stuhl und zog ein finsteres Gesicht. Hadley fragte ihn, ob ihm nicht wohl sei. »Nun, mir will einfach nicht in den Kopf, wieso wir damit anfangen, über diesen einen Mann Bin Laden zu sprechen«, antwortete Wolfowitz. Ich entgegnete so klar und eindringlich wie möglich: »Wir sprechen von einem Netz aus Terrororganisationen namens al-Qaida, das zufällig von Bin Laden geführt wird, und wir sprechen über dieses Netzwerk, weil es und nur es allein eine unmittelbare und ernste Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellt.« »Also, da gibt es andere, die auch gefährlich sind, mindestens ebenso gefährlich. Irakischer Terrorismus zum Beispiel«, erwiderte Wolfowitz, wobei er mich nicht direkt ansah, sondern Steve Hadley. »Mir sind keine irakisch unterstützten Terroranschläge 362
auf die Vereinigten Staaten seit 1993 bekannt, Paul, und ich denke, FBI und CIA werden mir in dieser Einschätzung zustimmen, richtig, John?« Ich wandte mich an den stellvertretenden CIA-Chef John McLaughlin, der ganz offensichtlich nicht erpicht darauf war, in einen Konflikt zwischen dem Weißen Haus und dem Pentagon zu geraten, aber dennoch antwortete: »Ja, das stimmt, Dick. Wir haben keinen Hinweis auf irgendeine akute irakische Terrorgefahr gegen die Vereinigten Staaten.« Nun wandte sich Wolfowitz direkt an mich: »Sie erweisen Bin Laden zu viel der Ehre. Er hätte das alles, etwa den Anschlag auf New York 1993, nicht ohne einen staatlichen Sponsor leisten können. Nur weil FBI und CIA bislang das Bindeglied nicht gefunden haben, bedeutet das noch lange nicht, dass es nicht existiert.« Ich konnte es kaum glauben, aber Wolfowitz plapperte doch tatsächlich die völlig diskreditierte Theorie von Laurie Mylroie nach, der Irak habe 1993 hinter der Lastwagenbombe beim World Trade Center gesteckt, eine Theorie, der man jahrelang nachgegangen war und die sich als falsch erwiesen hatte. Die Diskussion wurde ein wenig hitzig, doch ich hielt es für wichtig, klarzustellen, wie weit unsere Meinungen auseinander lagen: »Al-Qaida plant schwere Terroranschläge gegen die USA. Sie plant den Sturz islamischer Regierungen und die Errichtung eines radikalen, multinationalen Kalifats und will dann gegen nichtmuslimische Staaten in den Krieg ziehen.« Dann sagte ich etwas, das ich im selben Moment, als ich es aussprach, bereute: »Die haben das alles veröffentlicht, und in manchen Fällen, wie bei Hitler in Mein Kampf, muss man glauben, dass diese Leute auch wirklich tun werden, was sie schreiben.« 363
Sofort fiel Wolfowitz über mich her: »Ich lehne jeden Vergleich zwischen dem Holocaust und diesem kleinen Terroristen in Afghanistan ab.« »Ich habe den Holocaust mit überhaupt nichts verglichen.« Ich sprach langsam und deutlich. »Ich habe gesagt, dass Bin Laden uns, genau wie Hitler, im Voraus gesagt hat, was er vorhat, und wir würden einen schweren Fehler begehen, wenn wir das ignorierten.« Zu meiner Überraschung kam Powells Vize Rich Armitage mir zu Hilfe: »Wir stimmen Dick zu. Wir betrachten al-Qaida als eine große Gefahr und ihre Abwehr als eine dringende Priorität.« Das Briefing von Colin Powell hatte anscheinend die gewünschte Wirkung erzielt. Hadley schlug einen Kompromiss vor. Wir würden mit dem Augenmerk auf al-Qaida beginnen und später andere Formen des Terrorismus untersuchen, auch den irakischen. Da jede Maßnahme gegen al-Qaida jedoch mit ihrem Unterschlupf in Afghanistan zusammenhing, meinte Hadley, wir brauchten eine politische Linie zu Afghanistan generell und zu dem damit verbundenen Thema der amerikanisch-pakistanischen Beziehungen. Dazu gehörten auch die Rückkehr zur Demokratie in diesem Land und Abrüstungsverhandlungen mit Indien. Alle diese Themen bildeten ein »Bündel«, das gemeinsam entschieden werden müsse. Hadley schlug vor, in den folgenden Monaten weitere Berichte zu schreiben und Folgesitzungen anzusetzen. Ich war nicht der Einzige, der eine Gefahr in al-Qaida sah und von Wolfowitz belächelt wurde. Unser Botschafter in Indonesien, Robert Gelbard, setzte die Regierung in 364
Jakarta unter Druck, etwas gegen al-Qaida und ihren Ableger, die Jemaah Islamiah (JI), zu unternehmen. Gelbard hatte die US-Botschaft in Jakarta geschlossen, als ihn glaubwürdige Meldungen erreichten, dass ein sechsköpfiges Killerteam der al-Qaida aus dem Jemen abgestellt worden sei. Er hatte die indonesische Regierung öffentlich kritisiert, weil sie vor der Infiltration und Subversion durch al-Qaida die Augen verschloss. Am ersten Weihnachtstag des Jahres 2000 startete die JI dann eine Offensive gegen Christen und verübte auf 20 Kirchen Bombenanschläge. Gelbard verstärkte den Druck. Bob Gelbard galt seit drei Jahrzehnten als Star im Foreign Service. Er war Botschafter in Bolivien, Assistent Secretary im Außenministerium, verantwortlich für internationale Strafverfolgung und Drogen, und Sondergesandter des Präsidenten auf dem Balkan gewesen. Er gehörte nicht zu den Diplomaten, die großen Wert auf korrektes Tischgedeck legten, sondern wusste über gepanzerte Hubschrauber und abgefangene Funksprüche Bescheid. Er hatte gegen Drogenbosse und serbische Schlägertrupps gekämpft. Jetzt sah er, was in Indonesien vor sich ging: Al-Qaida suchte sich den bevölkerungsreichsten islamischen Staat der Welt als nächstes Schlachtfeld aus. Als Paul Wolfowitz sich Anfang 2001 im Pentagon einrichtete, rief er als Erstes alte Bekannte in Indonesien an, wo er zuvor als Botschafter tätig gewesen war. Von diesen hörte er, dass Gelbard die Atmosphäre vergifte, zu viel Wirbel um al-Qaida mache, ja paranoid sei. Wolfowitz drängte auf Gelbards Absetzung, und dieser nahm seinen Abschied aus dem Foreign Service. Im Oktober 2002 griffen einheimische Frontorganisationen der al-Qaida Nachtclubs in Bali an; dabei kamen 202 Menschen um, überwiegend Australier. Zehn Monate 365
später stürmten sie das Hotel Marriott in Jakarta und töteten dabei 13 Menschen. Bei den folgenden Ermittlungen wurde ein weitläufiges Netzwerk von alQaida-Aktivisten in Indonesien, auf den Philippinen und in Malaysia aufgedeckt, geführt von eben jenen Leuten, die Gelbard im Verdacht gehabt hatte. Er hatte gefordert, sie zu stoppen. Die Verzögerung in der Stellvertreterbesprechung setzte sich im Frühjahr 2001 fort, nicht zuletzt wegen Hadleys methodischer, schulmeisterlicher Art. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, allmählich einen Konsens darüber herzustellen, dass Maßnahmen notwendig waren. Er wollte »die Stellvertreter erziehen«. Außerdem konnte niemand leugnen, dass das Principals Committee alle Hände voll mit Bushs Prioritäten zu tun hatte: ABMVertrag, Kyoto-Abkommen zum Umweltschutz und Irak. Für Terrorismus blieb keine Zeit. Der Winter ging vorüber, der Frühling kam. Die täglichen Sitzungen des NSC-Stabs waren ausgefüllt mit ausführlichen Diskussionen über den ABM-Vertrag und anderen Themen, die ich für Relikte aus dem Kalten Krieg hielt. Einmal sah ich eine Karikatur von Uncle Sam, wie er auf einem Thron sitzt und den ABM-Vertrag liest. Unterdessen brennt die Zündschnur an einer Bombe unter seinem Sitz, und hinter ihm macht sich ein Terrorist aus dem Staub. Die Karikatur traf mich zutiefst. Mein ganzer Frust kam in mir hoch. Ich bat um meine Versetzung. Die Überprüfung der organisatorischen Optionen für den Heimatschutz und den Schutz gefährdeter Infrastruktur, um die Rice mich gebeten hatte, war abgeschlossen. Wir kamen überein, eine separate, ranghohe Stelle im Weißen Haus für den Schutz gefährdeter Infrastruktur und Computersicherheit zu schaffen, außerhalb des NSC366
Stabs. Condi Rice und Steve Hadley gingen davon aus, dass ich weiterhin im NSC für Terrorismus zuständig bleiben wollte, und fragten, an wen ich für den neuen Job gedacht hätte, der außerhalb des NSC eingerichtet werden sollte. Ich bat darum, mir diesen Posten zu übergeben – zur sichtlichen Überraschung von Condi Rice und Steve Hadley. »Vielleicht«, deutete ich an, »liegt mir das Thema Terrorismus zu sehr am Herzen. Ich beschäftige mich seit zehn Jahren damit, und mir scheint es ein sehr wichtiges Thema zu sein, aber vielleicht geht es mir mit Bin Laden allmählich so wie Kapitän Ahab mit dem Weißen Wal. Vielleicht brauchen Sie jemand, der nicht ganz so besessen davon ist.« Ich nehme an, meine Botschaft war deutlich genug: Ihr haltet Terrorismus offensichtlich für nicht so wichtig wie ich, da ihr Monate braucht, bis überhaupt etwas unternommen wird; sucht euch also jemanden, mit dem ihr glücklich in eurem Tempo zusammenarbeiten könnt. Wir einigten uns darauf, dass ich den neuen Infrastruktur- und Computerposten zu Beginn des folgenden Haushaltsjahres antreten sollte, am 1. Oktober. In den verbleibenden vier Monaten war ich jedoch fest entschlossen, in der Bush-Administration die politische Linie durchzusetzen, dass man etwas gegen al-Qaida unternehmen müsse. Roger Cressey und ich schrieben den Pol-Mil-Plan um zu einem Entwurf für eine National Security Presidential Decision, ein Dokument zur nationalen Sicherheit, das der Präsident unterschreiben sollte. Erklärtes Ziel: al-Qaida zu beseitigen. Einige Stellvertreter schlugen vor, dass wir stattdessen schreiben sollten: »al-Qaida maßgeblich schwächen«. George Tenet hatte man ebenfalls gebeten, unter Bush im Amt zu bleiben. Er und ich beklagten regelmäßig, dass al-Qaida von der neuen Administration nicht ernster 367
genommen wurde. Manchmal trat ich in mein Büro und sah ihn an meinem Schreibtisch oder dem meiner Assistentin Beverly Roundtree sitzen. Er wartete nur darauf, seinem Frust Luft zu machen. Wir vereinbarten, er solle darauf achten, dass in den täglichen Briefings des Präsidenten weiterhin eine Fülle von Informationen zur Bedrohung durch al-Qaida enthalten war. Präsident Bush las die Geheimdienstberichte jeden Tag und merkte, dass sie voller Hinweise auf al-Qaida steckten. Er fragte daraufhin Condi Rice, woran es denn läge, dass wir nicht aufhörten, »nach Fliegen zu schlagen«, und al-Qaida nicht einfach eliminierten. Rice erzählte mir von dem Gespräch und fragte, wie denn der Plan, al-Qaida auszuschalten, in der Stellvertreterbesprechung vorankomme. »Er kann dem Principals Committee innerhalb von zwei Tagen vorgelegt werden, sobald wir einen Termin für eine Sitzung finden«, drängte ich. Rice versprach, sich um einen frühen Termin zu kümmern. Die Zeit verging. Seit Jahren rief George Tenet mich direkt an, wenn er eine vage Andeutung einer Gefahr erhalten hatte. Wenn ich diese Meldungen mit CIA-Experten überprüfte, dann stellte sich häufig heraus, dass die Quelle unglaubwürdig war oder anderen, zuverlässigeren Informationen widersprach. Jetzt rief Tenet mich immer häufiger wegen bedrohlichen Geheimdienstberichten an, und die Informationen waren gut. Es ging eine wachsende Zahl von Meldungen ein, die besagten, dass al-Qaida ihr Arbeitstempo erhöhte. In Italien, Frankreich und Deutschland deckten Sicherheitsdienste Zellen auf und hoben sie aus. Es gab zuverlässige Berichte über eine Gefahr für die US Navy in Bahrain, weshalb ich den Kronprinzen des Landes auf seiner Jacht im Mittelmeer anrief und ihn um erhöhte Sicherheitsvorkehrungen für unsere Navy-Basis und um Zugang zu vor kurzem 368
verhafteten al-Qaida-Häftlingen bat. Die Italiener hatten glaubwürdige Berichte, dass ein Anschlag auf den G-7Gipfel in Genua geplant sei. Folglich prüfte die CSG gemeinsam mit dem Secret Service und dem Verteidigungsministerium die Pläne für das Gipfeltreffen. Ende Juni waren Tenet und ich überzeugt, dass eine Reihe größerer Anschläge in Kürze bevorstehe. »Es ist mein sechster Sinn, ich spüre es kommen. Diesmal ist es eine große Sache«, sagte mir Tenet. Niemand machte sich größere Sorgen um die Gefahr der al-Qaida als George, aber er hatte seinen Geheimdienst trotz jahrelangen Bemühens nicht dazu bringen können, einen Weg zu finden, wie sie al-Qaida in Afghanistan mitten ins Herz treffen könnten. Nunmehr besagten die CIA-Analysen, dass die Anschläge wahrscheinlich in Israel oder SaudiArabien erfolgen würden. Ich musste ständig an unser Resümee aus dem Millennium-Alarm denken: Sie sind hier. Als im Frühjahr die ersten Debatten über die politische Linie in der Administration begannen, mailte ich an Condi Rice und Kollegen im NSC-Stab, dass al-Qaida danach trachte, Amerikaner zu töten, Hunderte von Toten in den Straßen Amerikas zu sehen. In der ersten Juliwoche rief ich die CSG zusammen und bat jede Behörde, sich in höchster Alarmbereitschaft zu halten. Ich wies die CSGBehörden an, den Sommerurlaub und offizielle Reisen für die Mitglieder der Terrorabwehr zu streichen. Jede Behörde sollte sofort über ungewöhnliche Vorkommnisse Bericht erstatten, selbst wenn irgendwo ein Spatz von einem Baum fiel. Ich bat das FBI, eine weitere Warnung an die 18000 Polizeidienststellen auszugeben, das State, die Botschaften zu alarmieren, und das Pentagon, auf Gefechtsbereitschaft Delta zu gehen. Die Navy zog Schiffe aus Bahrain ab. 369
Am nächsten Tag rief ich die ranghöchsten Sicherheitsbeamten von FAA, Einwanderungsbehörde, Secret Service, Küstenwache, Zoll und den Objektschutz Federal Protective Service zu einer Besprechung ins Weiße Haus. Ich bat die FAA, an die Fluggesellschaften und Flughäfen eine zweite Sicherheitswarnung zu schicken, und mahnte zu besonderer Sorgfalt an den Einreiseflughäfen. Wir zogen eine allgemeine öffentliche Warnung in Erwägung, doch wir hatten weder einen Beweis noch konkrete Angaben. Wie hätte sie lauten können? »Eine terroristische Gruppe, von der Sie noch nie gehört haben, plant möglicherweise irgendwo einen Anschlag in irgendeiner Form«? Auch vom FBI stieß jemand zu uns, außerdem ein hoher Terrorexperte der CIA, der uns erklärte, die CIA gehe davon aus, dass al-Qaida etwas vorbereite. Als er fertig war, fügte ich hinzu, was ich den CSG-Behörden bereits mitgeteilt hatte: »Sie haben soeben gehört, dass die CIA glaubt, al-Qaida würde einen größeren Anschlag gegen uns planen. Das glaube ich auch. Sie haben gehört, nach Ansicht der CIA wird er vermutlich in Israel oder SaudiArabien erfolgen. Kann sein. Es kann aber auch sein, dass er hier erfolgt. Nur weil wir keine Hinweise haben, die besagen, dass er hier stattfinden soll, bedeutet das nicht, dass er im Ausland verübt werden wird. Die könnten versuchen, uns im eigenen Land zu treffen. Sie müssen davon ausgehen, dass sie genau das versuchen werden. Streichen Sie Sommerferien, planen Sie Überstunden ein, versetzen Sie Ihre Einsatzkräfte für Terroranschläge in Bereitschaft, damit wir schnell handeln können. Informieren Sie mich, informieren Sie sich gegenseitig über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse.« Irgendwo in der CIA lag die Information, dass zwei bekannte al-Qaida-Terroristen in die Vereinigten Staaten 370
eingereist waren. Irgendwo im FBI lag die Information, dass an Flugschulen in den Vereinigten Staaten merkwürdige Dinge passierten. Ich hatte darum gebeten, mich zu informieren, wenn in diesem Sommer ein Spatz vom Baum fällt. Was da in der CIA und im FBI an Informationen schlummerte, war keineswegs nur ein Spatz, der vom Baum fällt – alle roten Lichter und Alarmglocken hätten angehen müssen. Sie hatten detaillierte Informationen über individuelle Terroristen, aus denen man hätte schließen können, was geplant war. Von diesen Informationen ist nichts zu mir oder ins Weiße Haus gelangt. Offenbar wurden sie nicht einmal innerhalb der FBI-Hierarchie bis zu Dale Watson weitergegeben, dem zuständigen Abteilungsleiter für Terrorabwehr. Ich weiß natürlich, was ich getan hätte, denn wir hatten das Gleiche ja zur Jahrtausendwende gemacht: eine landesweite Fahndung, wobei jeder durch die Mangel gedreht wird, der im Verdacht steht, auch nur die lockerste Verbindung zu Terrororganisationen zu haben. Am 4. September 2001 fand endlich die Chefbesprechung zu al-Qaida statt, um die ich am 25. Januar »dringend« gebeten hatte. In der Vorbereitung auf die Sitzung drängte ich Condi Rice, sich die Lage klar vor Augen zu führen: Die Administration konnte zu dem Schluss gelangen, dass al-Qaida nur eine lästige Plage war, ein Kostenfaktor für eine Supermacht (wie Reagan und der erste Präsident Bush offenbar über Hisbollah und Libyen gedacht hatten, als diesen Organisationen Hunderte Amerikaner zum Opfer gefallen waren), und weitermachen wie bisher. Oder sie konnte beschließen, dass die Terrorgruppe al-Qaida und ihre Ableger eine existenzielle Bedrohung darstellten. In diesem Fall sollten wir alles Erforderliche tun, um diese Bedrohung zu beseitigen. Es gab keinen Mittelweg. Ich schloss mit dem 371
Hinweis, dass Rice, bevor sie sich für eine der Alternativen entscheide, gut daran täte, sich einmal zu überlegen, was wäre, wenn al-Qaida in naher Zukunft Hunderte von Amerikanern umbringen würde: »Was hättest du dann am liebsten schon unternommen?« Die Chefbesprechung war, als sie endlich stattfand, im Grunde ein Reinfall. Tenet und ich hoben nachdrücklich die Dringlichkeit und Schwere der Bedrohung hervor, die von al-Qaida ausging. Niemand widersprach uns. Powell präsentierte eine aggressive Strategie, Pakistan unter Druck zu setzen, damit es sich auf unsere Seite und gegen die Taliban und al-Qaida stellte. Dafür dürfte Geld nötig sein, bemerkte er, doch es gab keinen Plan, die Mittel aufzutreiben. Rumsfeld, der während der ganzen Sitzung zerstreut wirkte, übernahm Wolfowitz’ Linie, dass es auch andere terroristische Bedrohungen gebe, etwa den Irak, und dass wir uns, was immer wir gegen al-Qaida unternähmen, auch mit den anderen Quellen des Terrors befassen müssten. Tenet stimmte einer Reihe von Maßnahmen zu, mit deren Hilfe die CIA aggressiver vorgehen konnte, doch die näheren Details mussten noch ausgearbeitet werden: welche neuen Vollmachten die CIA erhalten, wie viel Geld dabei ausgegeben werden und woher das Geld kommen sollte. Ich bezweifelte, dass diese Vorgehensweise in absehbarer Zeit Früchte tragen würde. Die CIA hatte erklärt, sie könne keinerlei Mittel zum Kampf gegen al-Qaida intern umschichten, sie brauche zusätzliche Mittel vom Kongress. Die einzige hitzige Auseinandersetzung kam wegen der Frage auf, ob bewaffnete Predator-Drohnen Afghanistan überfliegen und al-Qaida angreifen sollten. Weder CIA 372
noch Pentagon wollten einem derartigen Unterfangen zustimmen. Rice beendete die Sitzung ohne eine Lösung. Sie bat mich, ein Dokument zur allgemeinen politischen Linie in Sachen al-Qaida zu verfassen, eine National Security Presidential Directive, und sie ihr zuzuschicken, damit der Präsident sie unterschrieb. Hätten wir den Anschlag vom 11. September verhindern können? Es wäre zu einfach, diese Frage klar zu bejahen. Ganz eindeutig kam es jedoch zu Versäumnissen in den Organisationen, denen wir unseren Schutz anvertrauen. Es wurde unterlassen, Informationen zur rechten Zeit an den rechten Ort weiterzuleiten, hinzu kamen frühere Versäumnisse, mutig aufzutreten, um die Bedrohung zu verringern oder zu beseitigen. Wenn wir eine Chance gehabt hätten, den Anschlag zu unterbinden, wenn uns das nötige Wissen verfügbar gewesen wäre, um diesen Tag zu verhindern, dann hätten wir alle, die wir in der Counterterrorism Security Group saßen, buchstäblich unser Leben riskiert, um das zu erreichen. Viele am Konferenztisch der CSG hatten schon einmal für ihr Land den Kopf hingehalten. Doch man muss korrekterweise auch sagen: Wenn wir diese 19 Fanatiker, die am 11. September zuschlugen, aufgehalten hätten, was unsere Aufgabe gewesen wäre, dann wären später andere gekommen. Zu irgendeinem Zeitpunkt hätte vermutlich dennoch ein schrecklicher Anschlag stattgefunden, der die Vereinigten Staaten gezwungen hätte, massiv zu reagieren und systematisch gegen alQaida und ihr Netzwerk vorzugehen. Al-Qaida war nach dem Kalten Krieg aus dem Boden geschossen, sie ging ihren eigenen Weg, und sie ließ sich nicht einschüchtern. Und Amerika scheint unfähig, nötige Maßnahmen zu ergreifen, solange sich nicht eine schreckliche Katastrophe ereignet, die uns das Ausmaß der Gefahr vor Augen führt. 373
Nach dem 11. September war ich davon überzeugt, dass der Streit nun ein Ende haben würde, dass endlich allen klar wäre, was zu tun sei, und sie sich an die Arbeit machten. Jetzt war es an der Zeit, den richtigen Krieg zu führen, das hieß: für die Beseitigung al-Qaidas kämpfen, Nationen stabilisieren, die von islamistischen Terroristen bedroht wurden, eine klare Alternative zu der radikalen »Theologie« und der Ideologie der Terroristen anbieten und die Schwachpunkte im eigenen Land verringern. Die Agenda lag auf der Hand. Roger Cressey, mein Stellvertreter im NSC-Stab, kam Anfang Oktober zu mir, zu einer Zeit, in der ich ursprünglich von der Terrorismusbekämpfung zum Schutz gefährdeter Infrastruktur und zur Computersicherheit hatte wechseln wollen. Die Versetzung war nach dem 11. September verschoben worden. Seit den Anschlägen hatten wir alle in unserer kleinen Dienststelle jeden Tag 18 Stunden und mehr gearbeitet. Oft hatte man Cressey trotz seiner 36 Jahre für einen zehn Jahre jüngeren Magisterstudenten gehalten – das war vorbei. Seine Besorgnis war ihm anzusehen, und jetzt war seine größte Sorge, dass ich bei der Terrorabwehr blieb, um unsere Pläne umzusetzen. »Du wirst nicht wechseln, oder? Endlich schenken sie dir ihre Aufmerksamkeit, also wirst du hier bleiben und den Weißen Wal fangen, nicht?« Cressey war in Gloucester, Massachusetts, in der Nähe des Fischereihafens aufgewachsen. Er hatte besessene Kapitäne von Fischerbooten kennen gelernt. Er hatte gewollt, dass ich wechselte. Sein Frust über unsere Kollegen und Vorgesetzten im NSC hatte vor den Anschlägen einen gefährlichen Höchststand erreicht. Ich war müde, von den zehn Jahren im Weißen Haus, von dem Marathon seit den Anschlägen, von den schlaflosen Nächten, in denen ich mich gefragt hatte, was 374
ich hätte tun können, um die Anschläge zu verhindern. Ich sah Cressey an: »Tja, Rog, wie ich schon gesagt habe: Terrorabwehr ist von jetzt an ein Selbstläufer. Künftig wird jemand wie ich nicht mehr für die Leitung gebraucht. Alle werden wissen, was jetzt zu tun ist. Es wird weder Meinungsverschiedenheiten über die Politik geben, noch wird ein Einpeitscher nötig sein, der die Sache in Gang bringt. Jetzt ist alles klar. Wir haben ihnen die Spielregeln in die Hand gegeben. Verdammt noch mal, wir haben sie ihnen schon im Januar gegeben.« Cressey grinste; er merkte, worauf ich hinauswollte. »Computersicherheit hingegen ist ein jungfräuliches Gebiet, auf dem wir wirklich etwas bewirken können«, fuhr ich fort. »Es ist die nächste Bedrohung, die nächste Schwachstelle, aber die Leute haben das noch nicht begriffen. Widmen wir uns doch ein Jahr lang dem Thema, und lass uns schauen, was wir erreichen können.«1 Einen Monat danach betraten Cressey und ich nach einer sechsstündigen Reise von Washington eine Bar im Silicon Valley. Ich war soeben zum Berater des Präsidenten für Computersicherheit ernannt worden und wollte zwei Wochen damit verbringen, führende Vertreter der Hightech-Industrie in Kalifornien kennen zu lernen. Eine Jazzband spielte, und ich bestellte meinen ersten Drink seit dem Abend des 10. September. Die Leute lachten und amüsierten sich. Cressey und ich hatten uns in den Wochen seit den Anschlägen im Weißen Haus, das einer Festung glich, verschanzt, waren jeden Tag nur für ein 1
Cressey und ich arbeiteten über ein Jahr lang gemeinsam an der Frage der Computersicherheit und legten »Bush’s National Strategy« vor. Dann schieden wir aus der Regierung aus. 375
paar Stunden nach Hause gegangen, die Gasmaske immer in der Tasche, weil wir eine weitere Anschlagswelle fürchteten. In Palo Alto ging, wie fast überall in Amerika, das Leben weiter. Die Leute vertrauten, genau wie ich, darauf, dass die Mechanismen der Regierung, einmal wachgerüttelt, nun grundlegend und systematisch der Terrorgefahr begegnen würden. Wir lagen falsch. Auf den Posten des höchsten NSC-Mitarbeiters für die Terrorbekämpfung folgte mir Wayne Downing nach, der pensionierte Vier-Sterne-General, der das Special Operations Command geleitet hatte. Wayne und ich hatten uns zum ersten Mal 28 Jahre zuvor getroffen, als er ein junger Major und ich ein noch jüngerer Analytiker des Pentagon war. Unmittelbar nach dem Terroranschlag auf den Air-Force-Komplex bei Khobar im Jahr 1996 hatte ich ihn gebeten zu untersuchen, ob die amerikanischen Sicherheitsvorkehrungen auf dem Gelände vielleicht ein wenig nachlässig gehandhabt wurden. Dem war tatsächlich so, und er sagte das auch klipp und klar – sehr zum Ärger des Pentagon. Er war ein sachlicher Typ, genau der richtige Mann, um die Reaktion auf den 11. September zu koordinieren. Wenige Monate nach seiner Ernennung verließ Wayne Downing das Weiße Haus, frustriert über den bürokratischen Umgang der Regierung mit der Gefahr. Wayne wurde von zwei Personen abgelöst, von John Gordon und Randy Beers. Wie Downing kannte ich auch Beers und Gordon schon lange, zum ersten Mal hatte ich 1979 beziehungsweise 1981 mit ihnen zusammengearbeitet. Beers war damals ein junger Beamter des Foreign Service, und Gordon war Major der Air Force. In der Folge wurde Gordon Kommandant einer Einheit für Atomraketen in Wyoming, George Tenets Stellvertreter im CIA und der erste Leiter der neu 376
geschaffenen Behörde für Atomsicherheit, der National Nuclear Security Administration. Randy Beers und ich arbeiteten in den folgenden 23 Jahren gemeinsam im Weißen Haus und im State Department als Deputy Assistant Secretaries, Abteilungsleiter im NSC, Assistant Secretaries im State Department und als Berater des Präsidenten. Als Randy Beers im Jahr 2002 zur Terrorabwehr im Nationalen Sicherheitsrat wechselte, arbeitete er bereits für den vierten Präsidenten im Weißen Haus (nach Reagan, Bush senior und Clinton). Beers hatte große Erfahrung in allen Geheimdienstbelangen, mit Terrorismus, Militäreinsätzen im Ausland und Strafverfolgung. Er war der ideale Mann für den Posten. Beers rief mich Monate nach seiner Ernennung vom Weißen Haus aus an und fragte, ob er auf einen Drink zu mir kommen und mich um einen Rat fragen dürfe. »Randy, seit wann rufst du denn an, bevor du vorbeischaust? Ich erwarte dich in ein paar Minuten.« Seit Jahren hatten wir uns gegenseitig mit Rat und Tat beigestanden, aber ich spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Vielleicht lagen neue Informationen über einen geplanten al-Qaida-Anschlag vor. Ich saß auf der Veranda meines alten Fertighauses und dachte an den Abend vor zwölf Jahren zurück, als ich genau hier gesessen, einen Lagavulin-Whisky getrunken und die CIA wegen ihrer Behauptung verflucht hatte, der Irak würde nicht in Kuwait einmarschieren. Älter inzwischen und vom Scotch abgekommen, machte ich eine Flasche Pinot noir auf. Als Beers sich neben mich setzte, waren seine ersten Worte: »Ich glaube, ich muss zurücktreten.« Ich glaubte zu wissen, warum, fragte ihn aber dennoch. Die Antwort sprudelte nur so aus ihm heraus: »Sie haben es immer noch nicht begriffen. Statt mit allen Mitteln gegen al-Qaida vorzugehen und die Schwachpunkte im 377
eigenen Land zu beheben, wollen sie verdammt noch mal wieder im Irak einmarschieren. Wir haben eine amerikanische Alibistreitmacht in Afghanistan, die Taliban formieren sich neu, wir haben weder Bin Laden geschnappt noch seinen Stellvertreter oder einen Führer der Taliban. Und sie haben nicht vor, mehr Soldaten nach Afghanistan zu entsenden, um sie gefangen zu nehmen oder der Regierung in Kabul bei der Sicherung des Landes zu helfen. Nein, sie halten sich zurück, warten auf eine Invasion im Irak. Weißt du, wie viel Auftrieb das al-Qaida und ihresgleichen geben wird, wenn wir den Irak besetzen? Zur Zeit ist der Irak überhaupt keine Bedrohung für uns, aber 70 Prozent der Amerikaner glauben, er habe das Pentagon und das World Trade Center angegriffen. Willst du wissen, wieso? Weil die Regierung sie das glauben machen will!« Ich merkte, dass sich in ihm beträchtliche Ängste wegen der Bush-Administration angestaut hatten. Ich holte noch eine Flasche Pinot noir. Randy fuhr fort. »Schlimmer noch, sie schlachten den Krieg gegen den Terror politisch aus. Erinnerst du dich an das Dokument aus Karl Roves Dienststelle, das jemand im Park gefunden hat? Worin stand, dass die Republikaner bei anstehenden Wahlen mit der Kriegsthematik antreten sollten? Nun, genau das haben sie gemacht. Sie tun nichts anderes als ›Wag the Dog‹! Sie haben Max Cleland mit dem Argument angegriffen, er sei kein Patriot, weil er Bush bei dem Thema Heimatschutz nicht hundertprozentig unterstütze. Max Cleland, der in Vietnam drei seiner vier Gliedmaßen für dieses Land verloren hat!« Beers hatte in Vietnam, wo er zwei Dienstzeiten als Marineinfanterist gekämpft hatte, auf einem Ohr sein Gehör verloren. »Ich kann für diese Leute nicht arbeiten, es tut mir Leid, ich kann einfach nicht.« Beers trat zurück. Er hatte mit Karl Roves Strategie nicht 378
nur gegen Max Cleland, sondern gegen alle Demokraten Recht. Im Weißen Haus hatte man beschlossen, die Republikaner sollten sich bei den Kongresswahlen von 2002 und bei der Wiederwahl 2004 in die Flagge hüllen und erklären, jede Stimme für sie sei eine Stimme gegen die Terroristen. »Reitet auf dem Krieg« lautete 2002 die Richtung. Damals meinte Rove den Krieg gegen den Terror, aber im Hinterkopf hatten sie bereits den anderen Krieg, den sie anzetteln wollten. Der Austausch der höchsten Regierungsvertreter für die Terrorabwehr setzte sich fort. John Gordon wurde kurz danach auf die Stelle des Sicherheitsberaters für den Heimatschutz versetzt, die Tom Ridge verlassen hatte. Fran Townsend, die für Janet Reno gearbeitet und eine Schlüsselrolle gespielt hatte, als wir für den MillenniumAlarm einen Gerichtsbeschluss brauchten, übernahm 2003 den Job als NSC-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung. Wenn ich mir dieses ständige Wechselspielchen in der Terrorabwehr seit meinem Abgang ansehe und an die zehn Monate zurückdenke, in denen ich unter Präsident Bush als nationaler Koordinator für die Terrorismusbekämpfung und den Schutz der Infrastruktur tätig war, so staune ich noch heute, dass ich vor dem 11. September nie eine Gelegenheit bekam, mit ihm über Terrorismus zu sprechen. In Wirklichkeit fanden in der ganzen Zeit nur drei Treffen mit ihm statt, in denen ich die Agenda ausarbeitete und ihn über bestimmte Themen instruierte, niemals jedoch über das Thema Terrorismus. Mein Vorschlag, den Präsidenten über die Terrorgefahr zu unterrichten, wurde vertagt, bis »das Deputies Committee und das Principals Committee ihre Überprüfung abgeschlossen« hatten. In dieser Beziehung glich die zweite Bush-Administration stark der seines Vaters: 379
Mitarbeiter des NSC bekamen den Präsidenten selten zu Gesicht, und wenn dies geschah, dann immer in Begleitung eines Aufpassers. Dieser Regierungsstil stand im krassen Gegensatz zu den beiden Amtszeiten Clintons, als Mitglieder des NSC-Stabs regelmäßig mit dem Regierungschef zusammenarbeiteten und ihm auch Dinge mitteilten, die der Nationale Sicherheitsberater womöglich nicht gesagt hätte. Aufgrund meiner Begegnungen mit Bush war mir schnell klar, dass die Kritik, er sei ein törichtes, faules, reiches Muttersöhnchen, nicht den Kern der Sache traf. Wenn er konzentriert zuhörte, stellte er Fragen, die einen zielstrebigen Intellekt erkennen ließen, aber er suchte immer nach einfachen Lösungen, wollte ein Problem immer in knackigen Schlagworten umschreiben. Sobald er die passende Parole hatte, konnte er seine ganze Tatkraft darauf verwenden, dieses Ziel zu erreichen. Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, dass bei vielen wichtigen Themen wie Terrorismus oder Irak eine gewisse Subtilität und ein Blick für die vielen Nuancen unerlässlich waren. Diese Themen erforderten eine sorgfältige Analyse, und weder Bush noch sein engerer Kreis hatten ein Interesse an komplizierten Analysen; bei den Themen, die ihnen am Herzen lagen, da kannten sie bereits die Antworten, das war überlieferte Weisheit. Bush beschaffte sich seine Informationen, indem er mit einer kleinen Gruppe hoher Berater sprach. Gleich zu Beginn wurde uns mitgeteilt, dass »der Präsident kein großer Leser« sei und gegen 22.00 Uhr zu Bett gehe. Clinton dagegen wühlte sich oft noch bis nach Mitternacht durch eine Kladde voller Memos und schaute nebenher die Nachrichten im Kabelfernsehen an. Meistens stellten wir fest, dass er die aktuellen Bücher oder Zeitschriftenbeiträge zu einem anstehenden Thema 380
gelesen hatte. Clinton hielt mich einmal im Gang an und sagte: »Gute Arbeit bei der Rede in Philadelphia.« Ich wunderte mich, woher er wusste, was ich gesagt hatte, und fragte: »Wo zum Teufel haben Sie denn die Rede gesehen?« Der Präsident grinste verlegen und gestand: »Ich hatte C-SPAN eingeschaltet, während ich gestern Abend gelesen habe.« Ich sah mir das Programm des Politkanals an und entdeckte, dass der Sender meine Rede in Philadelphia zum Friedensprozess im Nahen Osten um zwei Uhr morgens übertragen hatte. Ein andermal erzählte mir Clinton, er habe gestern Abend ein neues Buch von Gabriel Garcia Márquez gelesen. Als ich mir ein Exemplar kaufen wollte, erfuhr ich, dass es noch gar nicht veröffentlicht war. Clinton hatte sich den Fahnenabzug kommen lassen. Es gab ganz eindeutig unzählige Unterschiede zwischen Clinton und Bush, die meisten davon waren nicht zu übersehen, aber in meinen Augen war der bezeichnendste Unterschied die jeweilige Art, sich Informationen zu beschaffen und sie zu verarbeiten. Bush wollte einer Sache auf den Grund gehen und dann von dort aus weitermachen. Clinton trachtete danach, jedes Thema wie einen Rubik’s Cube vor sich zu halten und aus jedem Blickwinkel zu prüfen – bis zur völligen Verwirrung seiner Mitarbeiter. Seit dem 11. September habe ich mich viele Male gefragt, was der Umstand bewirkt hatte, dass George Bush Präsident war, als wir angegriffen wurden. Was wäre passiert, wenn Clinton noch im Amt gewesen oder wenn die Wahl in Florida anders verlaufen wäre? Bush hatte zwar schon vor den Anschlägen in Geheimdienstberichten von al-Qaida gehört, doch er hatte sich kaum mit den Ursprüngen und dem Wesen der Bewegung befasst. Sein unmittelbarer Instinkt riet ihm natürlich, zurückzuschlagen. Seine Art zu denken wird 381
jedoch in dem berühmten Satz »Ihr seid entweder für uns oder gegen uns« deutlich und in der Tatsache, dass er schon früh das Augenmerk auf eine Abrechnung mit dem Irak gerichtet hatte, auf eine Machtdemonstration Amerikas. Ich bezweifle, dass irgendjemand ihm jemals hätte erklären können, dass ein Angriff auf den Irak in Wirklichkeit Amerika unsicherer machen und die extremistische islamische Bewegung stärken würde. Mit Sicherheit bekam er das nicht von dem kleinen Beraterkreis zu hören, von den einzigen Leuten, deren Ansichten er respektiert und zu denen er Vertrauen hat. Jeder Politiker, den man sich als amerikanischen Präsidenten am 11. September vorstellen kann, hätte einen »Krieg gegen den Terror« erklärt und den Unterschlupf Afghanistan mit einem Einmarsch ausgehoben. Fast jeder Präsident hätte die innere Sicherheit und die Alarmbereitschaft verstärkt. Was hat George Bush nach dem 11. September denn getan, das ein anderer Präsident nach solchen Anschlägen nicht getan hätte? Das Einzigartige an George Bushs Reaktion auf die Terroranschläge war letztendlich die Tatsache, dass er sich als Schulbeispiel für potenzielle staatliche Sponsoren des Terrorismus nicht ein Land aussuchte, das den antiamerikanischen Terrorismus förderte, sondern ein Land, das dies eben nicht tat: den Irak. Es ist kaum denkbar, dass ein anderer Präsident diese Entscheidung getroffen hätte. Andere (Clinton, der erste Bush, Carter, Ford) hätten möglicherweise versucht, das Phänomen des Terrorismus zu begreifen, zu verstehen, was 15 Saudis und vier andere Staatsbürger dazu gebracht hat, Selbstmord zu begehen, um Amerikaner zu töten. Andere hätten vielleicht versucht, weltweit einen Konsens darüber herzustellen, dass man gegen die Wurzeln des Phänomens vorgehen 382
muss. Zugleich hätten sie womöglich die Gunst der Stunde dafür genutzt, auf lethargische oder schwankende Regierungen Druck auszuüben, dass sie bekannte Terroristen verhaften oder Frontorganisationen schließen. Denkbar wäre, dass Clinton einmal mehr versucht hätte, eine Friedenslösung zwischen Israelis und Palästinensern zu forcieren, dass er nach Saudi-Arabien gereist wäre und sich mit einem bewegenden Appell zu religiöser Toleranz an die Muslime gewandt hätte, dass er für ein Sicherheitsabkommen zwischen Indien und Pakistan eingetreten wäre, das eine atomwaffenfreie Zone geschaffen und Pakistan stabilisiert hätte. Derartige Bemühungen hätten möglicherweise Erfolg gehabt, vielleicht auch nicht, aber eines hätten andere Präsidenten mit Sicherheit nicht getan: nämlich die öffentliche Meinung in islamischen Ländern gegen die USA zu schüren und muslimische Jugendliche in einer Weise zu einem fanatischen Hass auf Amerika zu radikalisieren, wie es in der Folge des Einmarsches im Irak geschehen ist. Dass die Flugsicherheit verbessert werden musste, lag natürlich auf der Hand, doch Bush widersetzte sich allen Forderungen, die Sicherheitskräfte auf Flughäfen zu Bundesangestellten zu machen. Dann, als er die Auseinandersetzung mit dem Kongress verlor, setzte er einen alten Freund der Familie, John McGaw, an die Spitze der neuen Behörde, die die Sicherheitsüberprüfung leitete. Wenige Monate später musste McGaw wegen der massiven Kritik im Kongress den Hut nehmen. In der Anstellungspolitik begann sich ein regelrechtes Muster zu entwickeln. Bush und der Personalchef des Weißen Hauses, Clay Johnson, der in jungen Jahren einmal sein Zimmernachbar auf der »prep school« gewesen war, hielten bei der Besetzung von Schlüsselpositionen zuerst nach loyalen Anhängern der Familie und politischen 383
Freunden Ausschau. Ein republikanischer Kolumnist sagte treffend zu mir: »Diese Kerle sind eine stärkere Inzucht, verschwiegener und rachsüchtiger als die Mafia.« Ebenso klar lag nach dem 11. September auf der Hand, dass der Unterschlupf der al-Qaida in dem von den Taliban regierten Afghanistan von US-Streitkräften besetzt und die al-Qaida-Führer getötet werden mussten. Leider waren Bushs diesbezügliche Bemühungen schwach und langsam. Er begann damit, dass er den Taliban eine Chance bot, eine amerikanische Besetzung ihres Landes zu vermeiden, und als das scheiterte, entsandte er anfangs nur eine Hand voll Special Forces. Als die Taliban und die al-Qaida-Führer entkamen, stellte er zusätzliche Streitkräfte ab, insgesamt allerdings nicht einmal eine ganze Division – eine geringere Zahl von US-Soldaten für ganz Afghanistan als die der Polizisten, die für Manhattan vorgesehen sind. Man sollte meinen, nach dem 11. September sei es ebenso offensichtlich gewesen, dass eine Verbesserung der Beziehungen der USA zur islamischen Welt ganz oben auf der Prioritätenliste stehen sollte, um der abwegigen Version des Islam, die al-Qaida vertritt, den Nährboden zu entziehen. Immerhin hat al-Qaida, der Gegner, dem ein Angriff auf die Vereinigten Staaten gelungen ist, mit seiner eigenen Propaganda sehr erfolgreich Millionen von Muslimen dazu gebracht, sich gegen Amerika zu erheben. Das sollte der erste Schritt in einer Kampagne sein, deren Ziel es ist, die bestehenden Regierungen auf der ganzen Welt durch Taliban-ähnliche Regime zu ersetzen. Um diesen Gegner zu besiegen und an der Verwirklichung seiner Pläne zu hindern, müssen wir mehr tun, als nur Menschen verhaften und töten. Wir und unsere Wertvorstellungen müssen eine größere Anziehungskraft auf Muslime ausüben als al-Qaida mit ihrer 384
extremistischen Ideologie. Zur Zeit wächst die Unterstützung für sie und vergleichbare Gruppierungen von Marokko bis nach Indonesien. Wenn dieser Trend anhält, werden die radikalen Imame und ihre Koranschulen weit mehr Terroristen hervorbringen, als wir ins Gefängnis stecken oder erschießen können. (Das erkannte selbst Donald Rumsfeld im Jahr 2003 endlich, wie aus einem durchgesickerten internen Memorandum hervorgeht, das ein weit düstereres Bild vom Krieg gegen den Terrorismus zeichnet als seine öffentlichen Äußerungen.) Weit davon entfernt, die Popularität des Gegners ins Visier zu nehmen, gab ihm Bush genau die Steilvorlage, die er sich gewünscht und die er gebraucht hat: den Beweis, dass Amerika einen Krieg gegen den Islam führt, dass wir uns als neue Kreuzfahrer gebärden, die gekommen sind, ein muslimisches Land zu besetzen. Kein anderer Schritt Amerikas hätte al-Qaida und ihrer neuen Generation geklonter Gruppierungen mehr bei der Rekrutierung geholfen als die nicht provozierte Invasion in ein ölreiches arabisches Land. Keine andere Maßnahme hätte alle anderen positiven Taten unsererseits so völlig aufheben und die Augen und Ohren von Muslimen so fest verschließen können gegenüber unseren darauf folgenden Rufen nach Reformen in der Region. Es war, als hätte Osama bin Laden, versteckt in irgendeinem Unterschlupf im Gebirge, aus der Ferne Bushs Entscheidungen gesteuert und ihm eingeflüstert: »Marschiere im Irak ein, George, du musst im Irak einmarschieren.«
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11 Richtiger Krieg, falscher Krieg Es hätte nicht so kommen müssen. Wir hätten nach den Anschlägen vom 11. September nicht den Irak angreifen müssen. Stellen Sie sich ein anderes Szenario vor, in dem der Präsident das Land mobil macht, um gegen die fundamentalen Probleme vorzugehen, die der Terroranschlag zutage förderte. Wie hätten erfolgreiche und umfassende Antiterrormaßnahmen nach dem 11. September aussehen müssen? Sie hätten drei Schwerpunkte gesetzt. Erstens hätte der Präsident ein umfangreiches Programm geschaffen, um unsere Verwundbarkeit gegenüber Terroranschlägen im eigenen Land zu beseitigen und den Heimatschutz zu verstärken. Zweitens hätte er eine gemeinsame globale Bewegung gestartet, um gegen die Ideologie von al-Qaida und anderen radikalislamischen Terrorgruppen mit einer Partnerschaft zur Förderung des wahren Islam vorzugehen. Er hätte sich um Unterstützung für gemeinsame amerikanische und islamische Werte bemüht, die eine Alternative zum verbreiteten fundamentalistischen Ansatz bieten. Drittens wäre er zusammen mit Schlüsselländern aktiv geworden und hätte nicht nur Jagd auf Terroristen gemacht, ihre Zufluchtsorte ausgehoben und den Geldzufluss gestoppt, sondern auch instabile Regierungen gestärkt und es ihnen politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich ermöglicht, den Wurzeln des Terrors im Stil von al-Qaida nachzugehen. (Die wichtigsten Länder in diesem Zusammenhang sind Afghanistan, Iran, Saudi-Arabien und Pakistan.) Auf der Liste der Dinge, die nach dem 11. September 386
unternommen werden sollten, findet sich nirgends der Krieg gegen den Irak. Die Dinge, die wir hätten unternehmen müssen, hätten enorme Aufmerksamkeit und Ressourcen erfordert, die wir nicht hatten, weil wir sie auf den Irak verwendeten. Sehen wir uns an, was bei den Schwerpunkten unternommen wurde und was hätte unternommen werden sollen. Die erste Priorität wäre gewesen, die Verwundbarkeit gegenüber dem Terror im eigenen Land zu beseitigen und die Sicherheit in den USA zu verstärken. In den Tagen nach dem 11. September erkannte das Weiße Haus, dass der Präsident dem amerikanischen Volk eine umfassende Erklärung darüber schuldete, was passiert war und was wir dagegen unternehmen wollten. Über die Verhinderung weiterer Anschläge in den Vereinigten Staaten musste etwas leicht Verständliches gesagt werden. In seiner Rede vor dem Kongress stellte der Präsident einen bestimmten Menschen in den Vordergrund, den Gouverneur von Pennsylvania. Dieser Tom Ridge saß auf dem Balkon des Repräsentantenhauses, wo er einst Abgeordneter gewesen war, und sah aus, als sei er von einer Casting-Agentur ausgewählt worden: groß, mit kantigem Gesicht, in Vietnam verwundet und noch dazu erfolgreicher Gouverneur eines großen Bundesstaates. Bush hatte Ridge gebeten, ins Weiße Haus zu kommen und dort für »den Heimatschutz zu sorgen«. Bei dem Angebot wurden keine Details genannt, aber in den Tagen nach dem 11. September erteilte man dem Präsidenten keine Absage. Einige Tage später fuhr ich zusammen mit General Wayne Downing zum Gouverneurssitz in Harrisburg. Wir trafen Ridge beim Packen an, denn er war gerade zurückgetreten und wollte bald nach Washington. Als wir 387
ihn über die Maßnahmen für den Heimatschutz informierten, die seit fünf Jahren im Gange waren, wirkte er erleichtert. »Großartig. Ich dachte, ich müsste ganz von vorn anfangen.« In gewisser Weise musste Ridge allerdings von vorn anfangen. Es war beschlossen worden, dass er einer Organisation ähnlich dem Nationalen Sicherheitsrat vorstehen würde, das heißt, er musste das Personal des Heimatschutzes, das zum Weißen Haus gehörte und etwa 50 Mitarbeiter umfasste, leiten und koordinieren sowie die zahlreichen staatlichen Programme beaufsichtigen, die für die innere Sicherheit und den Katastrophenschutz relevant waren. Der Nationale Sicherheitsrat hatte Jahrzehnte gebraucht, um effektiv zu arbeiten, und diese Effizienz hing stark von seiner Führung und den wichtigsten Mitarbeitern ab. Ridge, der nie in der Exekutive in Washington gearbeitet hatte, musste nun eine neue Behörde aus dem Boden stampfen. Tom Ridge hatte die Katze im Sack gekauft, als er sich bereit erklärt hatte, nach Washington zu gehen und den Heimatschutz aufzubauen. Er nahm an, dass er als Berater des Präsidenten für Heimatschutz echte Macht hätte, musste aber bald erkennen, dass er nichts unternehmen konnte, wenn er es nicht mit Andy Card abgesprochen hatte, dem Stabschef des Weißen Hauses. Ridge war zwar eigentlich dagegen, ein neues Ministerium zu schaffen, und verabscheute den Gedanken, Minister zu werden, doch er wurde von Bush und Card dazu gezwungen. Gouverneur von Pennsylvania zu sein war nicht wirklich damit vergleichbar, ein gigantisches Ministerium mit fast 200000 Mitarbeitern zu leiten, die sensible und wichtige Sicherheitsfunktionen erfüllten. Ridge war im Grunde seines Herzens Politiker und kein Manager oder Sicherheitsexperte. 388
Nachdem die Clinton-Administration dem Terrorismus und der inneren Sicherheit auch im Haushalt eine wachsende Priorität eingeräumt hatte, waren Ausschüsse und Kommissionen entstanden, die ihre Sicht der Probleme darlegen sollten. Viele hatten die Vorstellung von einem »Schaltplan« entwickelt, wie ich es nannte, der die Zuständigkeitsbereiche von Behörden und Ministerien definierte. Im Kongress und in den Ausschüssen konnten sich viele einfach nicht mit der Tatsache abfinden, dass mehrere Behörden ihren Teil zur Behebung eines Problems beitragen konnten, das so umfangreich war wie der Schutz und die Sicherheit des eigenen Landes; diese Lösung war ihnen nicht ordentlich genug. Meiner Ansicht nach konnte eine geschickte Führung und Koordination im Weißen Haus die verschiedenen Behörden dazu bringen, an einzelnen Bestandteilen eines einheitlichen, umfassenden Programms zu arbeiten. Als Staatsbediensteter mit fast dreißigjähriger Erfahrung in den Schaltzentralen der Macht in Washington wusste ich, dass die Alternative, die organisatorischen Einzelteile neu miteinander zu verkabeln, eher hinderlich war und uns über Jahre von unserer eigentlichen Aufgabe ablenken würde. Die kleineren Fusionen, aus denen das Energieministerium und das Verkehrsministerium entstanden waren, hatten Jahre gebraucht, bis sie sich gefestigt hatten. Ridge stimmte zu und meinte zu mir: »Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist eine Reorganisation und die Schaffung eines neuen Ministeriums.« Der Kongress war anderer Ansicht. Senator Joe Lieberman, der mehr unternehmen und die Sicherheit im Land verbessern wollte, hatte die Empfehlung von einer Kommission unter Führung von Warren Rudman und Gary Hart bekommen und daraus einen Gesetzesentwurf 389
gemacht. Damit würde ein neues Ministerium geschaffen werden. Die Behörden, die darin zusammengeschlossen wurden, waren unter anderem für Fischerei, Überschwemmungen, Computerkriminalität, politische Bildung, Importzölle, Drogenschmuggel und die Verlässlichkeit von Telefonnetzen zuständig. Sie hatten aber auch Funktionen, die mehr mit Sicherheit zu tun hatten. Der Präsident war gegen den Gesetzesentwurf und verwies auf die neue Behörde von Tom Ridge. Viele Kongressabgeordnete beider Parteien vertraten jedoch die Meinung, die Behörde von Ridge sei nicht ausreichend. Ihr Vertrauen in sie wurde schon früh geschwächt, als in der amerikanischen Post Milzbranderreger gefunden wurden und die Reaktion der Regierung Bush sehr verworren wirkte. Sie war verworren. Ridge und Justizminister John Ashcroft wetteiferten miteinander darum, wer entsprechende Maßnahmen koordinieren sollte. Gleichzeitig verunsicherten die Fernsehauftritte von Gesundheitsminister Tommy Thompson viele Amerikaner. Zum Glück gab es die nationalen Medikamentenvorräte, die 1998 angelegt worden waren, daher waren die erforderlichen Arzneien schnell zur Hand, und eine rasche Beschaffung weiterer Medikamente war garantiert. Die in den Bundesstaaten angesiedelten Labors der Gesundheitsdienste waren dank staatlicher Mittel 1999 wiederbelebt worden und konnten die Tausenden von Milzbrandproben analysieren, von denen sich viele als Kaffeeweißer entpuppten. Das Weiße Haus wollte nicht, dass Ridge vor den Kongressausschüssen auftrat, weil »Mitarbeiter des Weißen Hauses so etwas nicht tun«. Die Republikaner und Demokraten im Kongress protestierten. Einige Abgeordnete erinnerten daran, dass ich als Nationaler 390
Koordinator vor neun Kongressausschüssen aufgetreten sei und sie über Antiterrormaßnahmen und Vorkehrungen informiert hätte. Das Office for Legislative Affairs im Weißen Haus begann bereits die Stimmen auf dem Kapitolshügel abzuzählen. Die Lieberman Bill würde in beiden Häusern eine Mehrheit bekommen und bedeutete damit für Präsident Bush gleich eine doppelte Katastrophe: Erstens würde damit ein kaum kontrollierbares neues Ministerium in einer Zeit entstehen, in der sich sämtliche Abteilungen und Mitarbeiter auf die innere Sicherheit konzentrieren sollten, und zweitens würde das wichtigste neue Gesetz als Reaktion auf den 11. September nach dem Mann benannt werden, den die Mehrheit der Wähler vor gerade einmal 20 Monaten als Vizepräsident hatte sehen wollen. Den Strategen im Weißen Haus war eines dieser Ergebnisse allemal lieber als beide. Folglich machte Präsident Bush eine komplette Kehrtwende und verkündete, man brauche dringend die Lieberman Bill. Nur nannte er sie nicht so. Er nannte das Gesetz Homeland Security Act. Mit Bushs Vorschlag kamen noch mehr Behörden zum neuen Ministerium hinzu, als in Liebermans Antrag vorgesehen waren, darunter auch der Secret Service. Als Nächstes startete das Weiße Haus eine landesweite Tournee und warb um Unterstützung für das neue Ministerium für Heimatschutz. Wer sich gegen das Gesetz aussprach, so wurde angedeutet, sei unpatriotisch (nur wenige stellten die Frage, ob auch das Weiße Haus unpatriotisch gewesen war, als es sich nur wenige Wochen zuvor gegen das gleiche Gesetz ausgesprochen hatte). Der Homeland Security Act wurde verabschiedet, wenn auch mit Verzögerung, weil die Regierung darauf beharrte, dass die Rechte der Beamten eingeschränkt wurden. Damit war das neue Ministerium für Heimatschutz geschaffen. Das 391
Ergebnis ist, wie die Washington Post im September 2003 in einer umfassenden Bestandsaufnahme schrieb, enttäuschend und chaotisch. Bei der Besetzung der meisten leitenden Positionen spielte politische Verbundenheit eine große Rolle, nicht aber langjährige Berufserfahrung. Für eine reibungslose Fusion aller Behörden reichten die Mittel nicht. Das für den Übergang zuständige Planungsbüro unter Führung des Weißen Hauses brachte kaum sinnvolle Pläne zustande. Viele erfahrene Mitarbeiter schieden voller Widerwillen aus. Diejenigen, die blieben, klagen oft, sie kämen kaum dazu, an den wichtigsten Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit zu arbeiten, weil das neue Ministerium schlecht geleitet werde und es kaum institutionelle Unterstützung gebe. Administrative Vorgänge wie die Neuorganisation würden zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Wer noch nicht für die Regierung gearbeitet hat und nur die freie Wirtschaft kennt, muss sich die Fusion der wichtigsten Sicherheitsorganisationen in etwa wie die Fusion von Time Warner und AOL vorstellen, nur noch um mehrere Größenordnungen gigantischer. 22 Behörden wurden gleichzeitig zu einem neuen Ministerium zusammengefasst, zu einer Organisation, die vor der Fusion gar nicht existierte. Die ersten wenigen Maßnahmen des neuen Ministeriums vermittelten uns nicht etwa ein Gefühl der Sicherheit, sondern taugten nur als Material für Late-Night-ComedyShows. Das Warnsystem mit fünfstufiger Farbskala sorgte anfangs dafür, dass bundesstaatliche und lokale Behörden Millionen Dollar, die sie eigentlich gar nicht hatten, dafür ausgaben, auf einen Farbwechsel zu reagieren. Für die Behörden gab es jedoch keinerlei ausführliche Informationen über die Art der Bedrohung bei den jeweiligen Warnfarben. Bundesstaaten und Städte 392
verkündeten daraufhin, dass sie nicht mehr auf das Warnsystem reagieren würden. Dann wurde verkündet, dass jeder amerikanische Haushalt Klebeband haben sollte, woraufhin ängstliche Amerikaner rasch die Geschäfte leer kauften, um ein breites Sortiment vorrätig zu haben. Die guten Leute, die in manchen Behörden blieben, versuchen erfolgreich, sich von ihrem eigenen Ministerium zu isolieren, vor allem der Secret Service, die Küstenwache und die Behörde für Verkehrssicherheit (Transportation Security Administration). Aber selbst der Secret Service erlitt Schaden, weil das neue Ministerium zugestimmt hatte (ohne sich mit dem Secret Service zu beraten), dass die erfahrenen Experten für Finanzkriminalität dem FBI und dem Bereich Finanzierung terroristischer Vereinigungen zugeteilt wurden. Das FBI gehört nicht zum neuen Ministerium. Die Transportation Security Administration ist völlig unterfinanziert und kündigte deswegen schon an, sie müsse die Zahl der Federal Air Marshalls bei Flügen reduzieren. Wenige Tage später wurde der Vorschlag wegen öffentlicher Kritik wieder zurückgezogen. Der Kongress veränderte das von der Regierung vorgeschlagene Gesetz zur Einrichtung des Ministeriums, ergänzte Details und machte genauere Angaben zu seinem Auftrag. Ein Auftrag, den der Kongress klar formulierte, war die Einrichtung einer neuen Abteilung im Ministerium, in der alle Informationen über terroristische Bedrohungen, die der Regierung zur Verfügung standen, gesammelt und analysiert werden sollten, um der Regierung damit noch eine »zweite Meinung« zu liefern. FBI und CIA sahen dadurch ihre Autorität in Frage gestellt. Obwohl FBI und CIA sich selten einig sind und nur ungern Informationen über den Terrorismus 393
austauschen, können sie sich gegen einen gemeinsamen bürokratischen Feind doch verbünden. Daher schlugen sie die Schaffung einer gemeinsamen CIA-FBI-Einrichtung vor, die Informationen über Terroristen analysieren sollte. Präsident Bush stellte sie in seiner Rede zur Lage der Nation 2003 vor, und schon bald hatte sie Büros, Mitarbeiter und Computer. Die vom Kongress beantragte »zweite Meinung« besteht überwiegend aus nicht besetzten Stellen im Ministerium für Heimatschutz. Damit das Ministerium für Heimatschutz überhaupt eine »zweite Meinung« zu geheimdienstlichen Informationen in Zusammenhang mit der Sicherheit im eigenen Land abgeben kann, müssen wir die Qualität und Genauigkeit der »ersten Meinung« verbessern, also die Analyse, die die CIA bietet. Die Liste der gravierenden Fehleinschätzungen durch die CIA ist mittlerweile zu lang, um sie noch länger hinnehmen zu können. Jetzt ist es an der Zeit, das zu tun, was viele langjährige Beobachter aus Geheimdienstkreisen schon lange empfehlen: der CIA die Analyse der Geheimdienstinformationen zu entziehen und eine kleine, unabhängige Abteilung mit Berufsbeamten und Experten von außen einzurichten. Dieses neue Intelligence and Research Bureau sollte einen ähnlichen Status wie das Federal Reserve Board haben, mit einem angesehenen Vorsitzenden, der für eine begrenzte Zeit ernannt wird, anerkannten Mitgliedern und hoch qualifizierten Mitarbeitern. Ihre Analyse sollte regelmäßig von unabhängigen Experten auf ihre Genauigkeit hin überprüft werden. Was das Mammutministerium für Heimatschutz betrifft, ist es jetzt zu spät für eine Übergangsphase, in der die Abteilungen allmählich ihre Arbeit aufnehmen, wie man es eigentlich hätte tun sollen. Aber zumindest ist es noch nicht zu spät, das Ministerium funktionsfähig zu machen. 394
Die Aufgabe des Ministeriums ist zu wichtig, wir können es uns nicht leisten, die zehn oder zwanzig Jahre zu warten, die andere neue Ministerien brauchten, bis sie effektiv arbeiteten. Im gesamten Ministerium muss ein Managementkader geschaffen werden, der sich aus den Besten aus Staatsdienst, Militär und privater Wirtschaft zusammensetzt. Das Ministerium muss ein Arbeitsplatz werden, von dem Topmanager träumen, eine Art General Electric der Regierung. Um diesen Wandel zu vollziehen, müssen eventuell auch ranghohe Mitarbeiter und Einrichtungen aus anderen, etablierten Ministerien abgezogen werden. Vielleicht werden auch finanzielle Anreize nötig sein. Um einen Ausstrahlungseffekt zu erzielen, braucht man Geld. Leider versuchte die Regierung, den Heimatschutz so billig wie möglich umzusetzen, und wies Ridge an, das neue Ministerium müsse »kostenneutral« sein, was heißt, dass für die größte Ministeriumsumstrukturierung in der Geschichte der USA keine neuen Gelder benötigt werden dürfen. Was man anstelle eines Ministeriums für Heimatschutz oder auch als Ergänzung hätte schaffen können, wäre eine Behörde gewesen, die nur für die Sicherheit des Landes zuständig wäre. Viele in Washington waren von der Idee angetan, in den USA eine Art MI5 wie in Großbritannien einzurichten. Der britische Inlandsgeheimdienst MI5 war im Zweiten Weltkrieg noch eine Spionageabwehr, die mit Erfolg NS-Spione in Großbritannien aufspürte. Später wurde aus der militärischen Behörde eine zivile, heute heißt sie British Security Service. Viele andere erfolgreiche Demokratien haben eine Art BSS. In vielen Ländern hat der Geheimdienst die Aufgabe, feindliche Spione und terroristische Schläferzellen aufzuspüren. In einigen Ländern ist er nicht befugt, Verhaftungen vorzunehmen, und kann seine Informationen nur an die 395
Polizei weiterleiten. Auch diese Geheimdienste haben ihre Probleme, doch sie haben sich schon oft als effektiv erwiesen, bestimmte terroristische Vereinigungen auszuschalten, ohne dabei die Demokratie in ihrem Land zu zerstören. In den USA erfüllt das FBI diese Aufgabe. Es spürte im Zweiten Weltkrieg Nazis auf, die die USA infiltrierten, und jagte in der McCarthy-Ära und später Kommunisten. Aufgrund der Exzesse von J. Edgar Hoover und seiner Verletzung der Bürgerrechte schränkte der Kongress jedoch die Rolle des FBI in den siebziger Jahren ein. Das FBI verrichtete aber weiter seine Arbeit in der Spionageabwehr und suchte nach sowjetischen, später russischen und chinesischen Spionen. Leider kam es jahrelang immer wieder zu peinlichen Vorfällen bei CIA und FBI, weil Spione nicht entdeckt wurden. Mehrere Male gab es bürokratische Pannen, weil Spione entkommen konnten oder weil Personen der Spionage bezichtigt, aber nie angeklagt wurden. Das FBI war auch dafür zuständig, Terroristen im eigenen Land aufzuspüren. Vor dem 11. September schien es nicht in der Lage, alQaida-Mitglieder in den USA zu finden, nicht einmal den rechtsgerichteten US-Terroristen hatte es ausfindig gemacht, der bei den Olympischen Spielen in Atlanta und an mehreren anderen Orten Bomben gelegt hatte. Bob Mueller, ein früherer Staatsanwalt, wurde nur wenige Tage vor dem 11. September neuer Chef des FBI. Er kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass das FBI al-Qaida nicht aufspürte und nicht einmal über vernetzte Computer verfügte. Ein Großteil der Verantwortung liegt bei Muellers Vorgänger. Seit dem 11. September versucht Mueller, die Organisation neu auszurichten und den Schwerpunkt auf die Verhinderung von Verbrechen zu legen, sich weniger um Drogendelikte 396
und Banküberfälle und dafür mehr um den Terrorismus zu kümmern. 2002 ging Dale Watson in Ruhestand, der führende Terrorismusexperte beim FBI. Nur Monate später bat Watsons Nachfolger um seine Versetzung, und ein Dritter übernahm Watsons Posten als Executive Assistant Director, zuständig für Terrorismusbekämpfung. Schon nach zwei Monaten trat auch er zurück, und die Stelle war wieder nicht besetzt. Ohne eine kontinuierliche Führung im Bereich Terrorbekämpfung konnte das FBI den Übergang von der Untersuchung erfolgter Verbrechen zur Prävention und Analyse noch nicht vollziehen. Wie Dale Watson im Jahr 2000 feststellen musste, ist es schwer, eine Bürokratie umzumodeln, die jahrelang in die andere Richtung steuerte. Watsons Versuche vor dem 11. September stießen sogar beim Justizminister auf Widerstand. John Ashcroft hatte Watsons Antrag für weitere Mittel zur Terrorismusbekämpfung abgelehnt, weil Antiterrormaßnahmen nicht zum Schwerpunkt von Ashcrofts Justizministerium gehörten. Würde Amerika durch die Schaffung einer Art MI5, eines Abwehrdienstes nach britischem Vorbild, sicherer werden? Die Versuchung liegt nahe, dem einfach zuzustimmen. Eine schlanke, moderne, spezialisierte Organisation von Terrorismusexperten und Agenten würde vielleicht noch am ehesten die besten und fähigsten Kräfte des Landes anziehen und in der Lage sein, Terroristen auf kreative Weise nachzuspüren. Die besten Antiterrorspezialisten vom FBI, vom Zoll, von der Einwanderungsbehörde, dem Secret Service, dem Bureau of Alcohol, Tobacco, and Firearms sowie der städtischen Polizei könnten zu einem neuen MI5 abgeordnet werden. Dann gäbe es keine Ablenkungen wie heute beim FBI. Die andere Möglichkeit wäre, dass das FBI den Auftrag zur Terrorbekämpfung behält und sich weniger auf 397
organisiertes Verbrechen, Drogen und Banküberfälle konzentriert, aber wer würde dann diese Aufgaben übernehmen? Es gibt bereits Hinweise darauf, dass das Leben für Kriminelle einfacher geworden ist, seit sich das FBI verstärkt um den Terrorismus kümmert. Realistisch betrachtet gibt es in den USA zwei große Hindernisse bei der Schaffung eines neuen, effektiven Sicherheitsdienstes: zum einen die parteienübergreifende politische Allianz gegen Sicherheitsmaßnahmen, zum anderen das FBI selbst. Die Allianz ist ein Phänomen, bei dem sich Organisationen wie die National Rifle Association und die American Civil Liberties Union zusammengetan haben, meist im Verbund mit dem Kongressabgeordneten Dick Armey, und ihre Besorgnis angesichts von Bemühungen äußern, die Position eines Sicherheitsdienstes im eigenen Land zu stärken. Jedes Gesetz zur Schaffung eines Sicherheitsdienstes trifft auf ein Sperrfeuer der Kritik, noch ehe das Gesetz überhaupt vorgelegt wird. Das FBI will seinen Auftrag, über die Sicherheit im Land zu wachen, nicht an eine neue Behörde verlieren und bearbeitet daher ebenfalls Medien und Kongress, einen entsprechenden Gesetzesentwurf zu verhindern. Sollte das Gesetz je zustande kommen, würden viele FBI-Mitarbeiter ein passiv-aggressives Verhalten an den Tag legen, anstatt die neue Einrichtung zu unterstützen oder gar mit ihr zusammenzuarbeiten. Diese Hindernisse bedeuten jedoch nicht, dass die Schaffung eines Sicherheitsdienstes nicht vorangetrieben werden sollte. Falls es zu einem weiteren großen Terroranschlag in Amerika kommen wird, führt kein Weg daran vorbei. Derzeit besteht jedoch im Kongress kaum der Wunsch, noch eine neue Behörde zu schaffen, nachdem selbst republikanische Kongressabgeordnete, die am Heimatschutz mitgearbeitet haben, zugeben, dass das 398
neue Ministerium offensichtlich gescheitert ist. Daher wäre es jetzt das Beste, einen Sicherheitsdienst innerhalb des FBI in einem neuen Geist zu schaffen. Damit dieser Sicherheitsdienst effektiv arbeiten könnte, müsste er über ein eigenes Budget verfügen, sein eigenes Computernetzwerk, regionale Niederlassungen (in den FBI-Gebäuden) und eigenes Personal haben. Diese neue Einrichtung müsste zivile Experten einstellen und gut bezahlen, Bundesbeamte von anderen Behörden, Sicherheitsspezialisten aus anderen Ländern und die besten Polizeikräfte von der Terrorismusbekämpfung. Die Mitarbeiter müssten die wichtigsten Sprachen lernen und über die Philosophie, Ideologie und Kultur möglicher Terroristen Bescheid wissen. Außerdem müssten sie Zugriff auf alle Informationen des FBI und der Regierung haben. Damit gewährleistet wäre, dass der Inlandssicherheitsdienst seine Macht nicht ähnlich missbrauchen würde wie zur Zeit J. Edgar Hoovers, müsste er unter Aufsicht eines Ausschusses stehen. Dessen Mitglieder sollten das Vertrauen und Ansehen einer Mehrheit unserer Bürger genießen. Ein Civil Liberties and Security Board müsste mehr sein als nur ein Komitee, bei dem man sich über die Polizei beschweren kann, es müsste aktiv die Arbeit des Sicherheitsdienstes mitgestalten und so sicherstellen, dass er in Übereinstimmung mit den Idealen handelt, an die wir als Amerikaner glauben: Grundrechte und bürgerliche Freiheiten. John Ashcroft hatte es vor dem 11. September abgelehnt, die Mittel für Antiterrormaßnahmen zu erhöhen. Der Terrorismus stand nicht auf seiner Prioritätenliste im Justizministerium. Einer meiner Mitarbeiter und ich trafen uns zu Beginn von Ashcrofts Amtszeit mit ihm. Anschließend fragten wir uns, ob das Gespräch mit uns 399
nur Theater gewesen war. Auf der Fahrt zurück zum Weißen Haus fragte mich mein Kollege: »Er kann nicht wirklich so schwer von Begriff sein, oder? Man kann doch nicht Justizminister der Vereinigten Staaten werden, wenn man so ist?« Ich war mir nicht sicher. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vielleicht ist er auch nur zugeknöpft. Allerdings hat er die Wiederwahl in den Senat gegen einen Toten verloren.«2 Nach den Anschlägen hatte Ashcroft, bewaffnet mit dem US Patriot Act, den Kampf gegen den Terrorismus im eigenen Land so schlecht gehandhabt, dass er bei Millionen Amerikanern den Eindruck hinterließ, er verteidige nicht unsere Bürgerrechte, sondern untergrabe sie. Die Art, wie Ashcroft sensible Themen wie die innere Sicherheit und Bürgerrechte anging, vergrößerte das Misstrauen vieler Amerikaner gegenüber ihrer Regierung. Zwischen der Sicherheit im eigenen Land und den Bürgerrechten besteht immer ein Spannungsfeld. Wir wissen, dass al-Qaida und ähnliche Gruppen das erkannt haben und unser System gegen uns zu wenden suchen. Terroristen geben sich als Flüchtlinge aus oder bitten um politisches Asyl, verstecken sich hinter religiösen oder wohltätigen Organisationen und kommunizieren über das Internet. Um unsere Bürgerrechte zu schützen und gleichzeitig die Terroristen zu bekämpfen, müssen wir sorgsam Maßnahmen vermeiden, die einen allgemeinen Widerstand gegen Sicherheitsmaßnahmen auslösen. Wie 2
Ashcrofts Gegenkandidat, der Demokrat Mel Carnahan, starb einen Monat vor der Wahl bei einem Flugzeugabsturz. Aufgrund eines merkwürdigen Gesetzes stand er jedoch weiterhin zur Wahl. Der Tote gewann, Ashcroft verlor sein Mandat. Anstelle des Toten erhielt Carnahans Frau den Sitz im Senat. [Anm. d. Übers.] 400
die breite Opposition gegen das Gesetz mit dem unglücklichen Namen Patriot Act zeigt, ist Justizminister John Ashcroft dieser Balanceakt nicht gelungen. Ein ungeheuerliches Beispiel dafür ist der Fall José Padilla. Was immer Padilla auch sonst noch ist, er ist ganz eindeutig amerikanischer Staatsbürger. Er wurde nicht wie John Lindh auf einem ausländischen Schlachtfeld verhaftet, sondern in Chicago. Die Regierung Bush sprach ihm seine Bürgerrechte ab, weil Verteidigungsminister Donald Rumsfeld beschloss (zweifellos, nachdem er sich intensiv persönlich an der Überprüfung beteiligt hatte), dass Padilla ein Feind sei. Wahrscheinlich gibt es immer wieder Tage, an denen Donald Rumsfeld viele Amerikaner in den USA für seine Feinde hält (in besonders schwierigen Zeiten wahrscheinlich die Hälfte der im Pentagon akkreditierten Journalisten), aber das gibt ihm nicht die Vollmacht, Menschen ohne rechtliche Grundlage einzusperren. Im Fall von José Padilla überschritt die Regierung Bush eine wichtige Grenze, die die Gründungsväter der Verfassung schufen, um Amerikaner vor einer Regierung zu schützen, die ihre Grundrechte aufzuheben versucht. Das Vorgehen im Fall Padilla und die Ankündigung, den Patriot Act entsprechend zu erweitern, um ohne juristische Überprüfung gegen Verdächtige vorgehen zu können, hat das Vertrauen vieler Amerikaner in die Fähigkeit der Regierung stark erschüttert, unsere Rechte zu schützen. In einer Zeit, in der wir das Vertrauen der Bürger in die Regierung brauchen, um auf die terroristische Bedrohung zu reagieren, liefert sich Ashcroft Auseinandersetzungen mit amerikanischen Bibliothekaren, ob das FBI Ausleihunterlagen einsehen darf. Die Wahrscheinlichkeit, dass das FBI das je tun muss, ist so gering, dass man die Kontroverse gar nicht erst hätte aufkommen lassen dürfen. 401
Die Auseinandersetzung mit den Bibliothekaren, der Fall José Padilla und die Forderung nach einem Patriot Act II erschweren einen Konsens, den wir aber zur Verbesserung der Sicherheit brauchen. Das Vertrauen in das Gespür der Regierung für Bürgerrechte ist jedoch dahin. Bei aller Kritik an den Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit im eigenen Land ist aber Vorsicht geboten. Wenn unsere Sicherheitsorgane nicht über die geeignete Ausbildung, die richtigen Mitarbeiter, Technologien und Vollmachten verfügen, kann es noch weitere katastrophale Terroranschläge in unserem Land geben. Die Reaktion des Kongresses und der Öffentlichkeit auf weitere Terroranschläge in den USA könnten dann unsere Bürgerrechte ernsthaft in Gefahr bringen. Beispiele wie Israel, Großbritannien, Frankreich, Italien zeigen, dass Bürger angesichts ständiger Anschläge bereitwillig eine Einschränkung ihrer Rechte in Kauf nehmen. Wem daher die amerikanischen Bürgerrechte wirklich am Herzen liegen, der sollte sich an vorderster Front für effektive, angemessene Sicherheitsmaßnahmen mit sinnvollen Kontroll- und Überprüfungsmechanismen einsetzen, beispielsweise den schon erwähnten Ausschuss für Bürgerrechte und Sicherheit, das Civil Liberties and Security Board. Weil das Ministerium für Heimatschutz nicht die Funktion eines Sicherheitsdienstes im eigenen Land erfüllt und auch nicht die vom Kongress beantragte Aufgabe übernahm, eine »zweite Meinung« bei der Auswertung von Informationen über terroristische Aktivitäten abzugeben, könnte man annehmen, es habe sich zumindest darum gekümmert, die Städte auf einen Terroranschlag vorzubereiten, vor allem einen Anschlag mit chemischen, biologischen oder radioaktiven/nuklearen Waffen. Genauso wie die Regierung das neue Ministerium 402
finanziell so knapp wie möglich ausstattete, knauserte sie auch bei der Polizei, Feuerwehr und anderen Einheiten des Katastrophenschutzes. Im Jahr 2000 fragte ich beim Verteidigungsministerium und bei der FEMA an, welche Einheiten für den Fall nötig wären, dass in einer amerikanischen Stadt mittlerer Größe eine kleine Atombombe explodierte. Beide Behörden erklärten, meine Angaben müssten schon etwas präziser sein, daher wählte ich Cincinnati, weil ich vor kurzem dort gewesen war. Ein staatlicher Notfallplan und geeignete Einsatzkräfte zur Unterstützung der städtischen Behörden bei einer solchen Katastrophe existierten einfach nicht. Dennoch gingen viele städtische Behörden davon aus, dass es irgendwo staatliche Einsatzkräfte gab, die kommen und ihnen in einem Notfall helfen würden. Außerdem betonten sie, dass die ersten 24 Stunden entscheidend seien, in diesem Zeitraum könnten Verletzte gerettet werden. Die meisten städtischen Beamten bezweifelten allerdings, dass die »US-Cavalry« so schnell eintreffen würde. Die staatlichen Einsatzkräfte, auf die sich eine Stadt in so einem Fall verließ, würden zum Großteil nie erscheinen. In der Struktur unserer Streitkräfte sind große Feldlazarette nicht mehr vorgesehen. Die Military Police hat nur wenige Einheiten und ist überall im Ausland verteilt. [Wegen des Irakkriegs sind jetzt auch viele Einheiten der Nationalgarde im Ausland, und mit ihnen Polizisten und Feuerwehrleute aus Städten und Gemeinden. Das neue Northern Command, das für den Einsatz bei Katastrophen im Inland eingerichtet wurde, hat für die Anforderungen im eigenen Land noch keine einzige neue Einheit geschaffen, es darf nur Einheiten anfordern, die bereits existieren und noch hier sind.] Als mich der ehemalige Senator Warren Rudman nach meinem Ausscheiden aus dem Weißen Haus fragte, ob ich 403
mir mit ihm zusammen darüber Gedanken machen wolle, wie Voraushelfer, so genannte First Responder, für den Einsatz nach einem Anschlag mit Massenvernichtungswaffen ausgebildet und ausgerüstet werden sollten, stimmte ich gern zu. Rudman hat es sich zur Aufgabe gemacht zu überprüfen, ob das Land für den Umgang mit dem Terrorismus gerüstet ist, sowohl in seiner glanzvollen Karriere als Senator wie auch als Privatmann. Er und ich waren zwar bei der Schaffung des Ministeriums für Heimatschutz unterschiedlicher Ansicht, einig waren wir uns aber darüber, dass man Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Gesundheitsämter und das Krankenhauspersonal in Großstädten besser ausbilden und ausstatten sollte. Rudman und ich begannen im Frühjahr 2003, uns mit dem Zustand des Katastrophenschutzes und der Rettungsdienste zu befassen. Dabei ging uns ein junger Anwalt mit Harvardstudium und begeisterter Triathlet zur Hand, Jamie Metzl. Bereits als White House Fellow hatte Metzl hervorragende Arbeit für mich geleistet. Was wir entdeckten, war beunruhigend. Das Programm zur Ausbildung und Ausrüstung von Voraushelfern hatte Ende der neunziger Jahre begonnen, war aber nicht weiter ausgebaut worden, auch nicht nach den Anschlägen vom 11. September. Nach unseren Schätzungen wurden nur 25 Prozent der benötigten Gelder von der Regierung angefordert. Eine Umfrage bei 168 Städten ergab, dass 90 Prozent nach den Anschlägen vom 11. September keine bedeutende zusätzliche staatliche Unterstützung erhalten hatten. Rettungsdienste waren unterbesetzt und verwendeten eine veraltete Ausrüstung. Nur wenige verfügten über detaillierte oder realistische Pläne für den Einsatz bei einem Terroranschlag mit chemischen, biologischen oder radioaktiven Waffen. Notrufsysteme, 404
der Funk bei Polizei und Feuerwehr, Gesundheitsämter, Notaufnahmen in Krankenhäusern und andere erfüllten die an sie gestellten Anforderungen nicht. Die Regierung unterstützte die Voraushelfer in den Bundesstaaten nach einem Schlüssel, mit dem zum Beispiel die Einwohner von Wyoming pro Kopf achtmal so viel erhielten wie die Einwohner Kaliforniens. Aufgrund der schlechten Wirtschaftslage und ihrer Auswirkung auf die Steuereinnahmen entließen Bundesstaaten und Städte im Jahr 2003 Polizisten und Feuerwehrleute. Die Regierung Bush kürzte die staatliche Unterstützung im Rahmen des COPS-Programms für die Polizei in Städten und Gemeinden. Ein Jahr nach dem 11. September wurden bei der New York City Police 4000 Mitarbeiter weniger beschäftigt als am Tag des Anschlags. Wir bereisten Städte im ganzen Land und hörten von jedem Funktionsträger, mit dem wir sprachen (Bürgermeister, Polizeichefs, Feuerwehrchefs, die Leiter von Rettungsdiensten), dass sie nicht die Mittel erhielten, die sie für die Vorbereitung auf einen Terroranschlag mit chemischen, biologischen oder radioaktiven Waffen benötigten. Als ich noch im Weißen Haus arbeitete, fragten Journalisten mich immer wieder: »Was bereitet Ihnen schlaflose Nächte? Was wäre das Schlimmste, was uns zustoßen könnte?« Das Schlimmste ist glücklicherweise nicht das Wahrscheinlichste. Dennoch sind die zwei schlimmsten Katastrophen, die uns zustoßen könnten, der Ausbruch einer hoch ansteckenden Krankheit infolge eines Biowaffenanschlags und ein Nuklearanschlag in einer amerikanischen Stadt. Doch Warren Rudman und ich mussten feststellen, dass keine Stadt über einen Notfallplan, ausgebildete Leute, die erforderliche Ausrüstung oder Einrichtungen verfügte, um auf einen groß angelegten Biowaffenanschlag zu 405
reagieren, bei dem Krankenhäuser mit Isolierstationen erforderlich wären. Und keine Stadt war auch nur annähernd auf einen Vorfall mit radioaktivem oder nuklearem Material vorbereitet. Als unser Bericht »Emergency Responders: Drastically Underfunded, Dangerously Unprepared« (»Katastrophenschutz: drastisch unterfinanziert, gefährlich unvorbereitet«) erschien, tat ihn ein Regierungssprecher mit der Bemerkung ab, wir würden »vergoldete Telefone« verlangen. Zu denjenigen, die den Bericht unterzeichnet hatten, gehörten die ehemaligen Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, Admiral William Crowe und General John Vessey, der Medizin-Nobelpreisträger Joshua Lederberg, der ehemalige Außenminister George Shultz, die ehemalige US-Attorney Mary Jo White und der ehemalige CIA- und FBI-Direktor William Webster. Warren Rudman reagierte auf die Kritik und sagte vor einem Ausschuss des Repräsentantenhauses: »Wir wollen keine vergoldeten Telefone, wir wollen nur zuverlässige Kommunikationsmittel, damit nie wieder Hunderte von Feuerwehrleuten ihr Leben lassen müssen, weil sie einen Räumungsbefehl nicht hören können, wie es beim World Trade Center passiert ist.« Wir forderten 98 Milliarden Dollar für die kommenden fünf Jahre, außerdem eine nicht näher benannte Summe zur Unterstützung der lokalen Polizeistellen über die Maßnahmen der Regierung hinaus. Noch wichtiger war jedoch unsere Forderung nach einem Anforderungsprofil, das genau festlegte, welchen Verbesserungsgrad wir zu erreichen versuchten. Oder wie Warren Rudman es mir gegenüber formulierte: »Wir brauchen einen transparenten Prozess, der verdeutlicht, wie viel man für so und so viel Geld über eine bestimmte Anzahl von Jahren erreichen kann. Wenn man meint, mehr Großstädte brauchen früher 406
dieses oder jenes, schön, das kostet dann so viel. Ohne diese Aufstellung ziehen sich die Typen im Weißen Haus das Budget für den Heimatschutz aus dem Hintern.« Die Wahrheit lautet schlicht und ergreifend, dass die Regierung keine Ahnung hat, wie viel Geld für Voraushelfer und entsprechende Einrichtungen für den Heimatschutz auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene benötigt wird, weil sie nie versucht hat, es herauszufinden. Die Regierung hat sich nie darum gekümmert, was erforderlich ist. Sie fürchtet, dass ein Anforderungsprofil zeigen wird, wie knapp sie diejenigen hält, die uns verteidigen sollen. Der Finanzierungsvorschlag der Regierung ging nicht auf die tatsächlichen Anforderungen ein, sondern stützte sich darauf, wie das Haushaltsbudget insgesamt ausfiel und wie viel alle anderen Posten im Haushalt erhielten. Ob unsere Rettungsdienste nun ausgerüstet sind oder nicht, sie werden auf jeden Fall im ganzen Land zur Stelle sein, wenn es notwendig ist. Sie sind unsere erste Verteidigungslinie gegen Terroristen. Die BushAdministration räumt ein, dass die zusätzlichen Mittel zur Unterstützung unserer Rettungsdienste »einfach nicht existieren«. Doch im »Kampf gegen den Terror« geben wir im Irak im ersten Jahr des Krieges und der Besatzung das Sechsfache des Betrags aus, den die Rudman-Studie als jährlichen Zuschuss zur Verteidigung im eigenen Land vorsah. Die Gelder für den Irakkrieg existierten auch nicht. Die Regierung trieb die Staatsverschuldung in die Höhe, um diesen Krieg zu finanzieren, fur unsere Polizisten und Feuerwehrmänner aber, die uns hier zu Hause verteidigen, gibt es kein Geld. Trotz aller schönen Reden der Regierung wurden die Mittel für den Heimatschutz abgelehnt. Es wurde auch nicht ermittelt, wie hoch der finanzielle Aufwand 407
eigentlich war. Bestimmungen zur Sicherheit von Chemiewerken und anderen gefährdeten Einrichtungen wurden hinausgezögert. Es gab viele Vorschläge, beim Heimatschutz neue Technologien einzusetzen, doch an unseren Flughäfen, Häfen, Grenzübergängen, in Datennetzwerken oder in der Telekommunikation kamen kaum neue Systeme zum Einsatz. Ideologisch betrachtet ist die Regierung Bush gegen eine Erhöhung der staatlichen Ausgaben (allerdings hat sie kein Problem mit dem immensen Budget des Verteidigungsministeriums), gegen die Einstellung weiterer Staatsbediensteter und gegen eine Regulierung der Privatwirtschaft. Theoretisch betrachtet kann man all das vermeiden, praktisch ist es jedoch unmöglich, den Heimatschutz zu verbessern, ohne in allen drei Bereichen mehr zu tun, als die Regierung zu tun bereit ist. Häufig reagiert Amerika auf eine Drohung erst, wenn es bereits zur Katastrophe gekommen ist. Die Katastrophe ist schon geschehen. Jetzt gibt es keine Ausrede mehr für das Versagen der Regierung, des Kongresses und der lokalen Behörden, den Schutz unseres Landes und unsere Sicherheit voranzutreiben. Das bedeutet, Schwachstellen zu erkennen und zu beseitigen. Und es bedeutet, nationale Anforderungen für Einsatzkräfte festzulegen und sie mehrere Jahre lang systematisch zu finanzieren. Wir haben weder das eine noch das andere getan. Auch in den Bereichen Organisation, Technologie und Ressourcen sind wir untätig geblieben. Dazu kommt, dass wir kein Gespür für den Schutz der Bürgerrechte gezeigt haben. Bei der Verteidigung Amerikas gegen den Terrorismus ist es genauso wichtig, die Zahl der Schwachstellen bei unserer Sicherheit zu verringern, wie die »Übeltäter« zu fangen, denn wir werden nie alle erwischen. An die Stelle der heutigen Feinde Amerikas treten morgen schon 408
andere. Solange wir verwundbar sind, wird irgendjemand unsere Schwäche ausnutzen. Jeder Tag, an dem unsere Grenzen durchlässig oder unsere Chemiewerke ungeschützt sind, bedeutet ein Risiko für uns. Die Verringerung unserer Schwachstellen und die Finanzierung dieser Suche müssen an oberster Stelle stehen. Das ist eine Herausforderung an unser Land, ähnlich dem Wettlauf ins All oder der Aufrüstung im Kalten Krieg. Um diese Herausforderung hätte sich eine nationale Debatte entwickeln müssen, die alle aufgerüttelt hätte. Aber so war es nicht. Und trotz des »Globalen Kriegs gegen den Terrorismus« und trotz (oder wegen) des Irakkriegs sind wir dem Terrorismus fast wehrlos ausgeliefert. Der zweite Punkt auf der politischen Tagesordnung nach den Anschlägen des 11. September hätte die Entwicklung einer Weltanschauung sein müssen, die ein Gegengewicht zur fundamentalistischen, radikalen Version des Islam darstellt, wie ihn al-Qaida vertritt. Ein Großteil der Bedrohung, der wir ausgesetzt sind, ist ideologischer Natur, eine Perversion der Religion. Bomben und Patronen, Handschellen und Gefängnisse dringen nicht zum Kern der ideologischen Herausforderung vor. Wir müssen mit unseren islamischen Freunden zusammenarbeiten und über Jahre eine ideologische und kulturelle Antwort entwickeln, ähnlich wie wir den Kommunismus fast ein halbes Jahrhundert lang in vielen Ländern nicht nur mit Kriegen und Waffen bekämpft haben, sondern auch mit einer stärkeren und attraktiveren Ideologie. Leider setzen wir den offenbar attraktiven Aufrufen der radikalen Mullahs meist nur Schweigen oder allenfalls eine schwache und uneinheitliche Gegenstimme entgegen. 409
Der neue Chef des Central Command hat das begriffen. General John Abizaid erklärte der New York Times, dass sich Pakistan und Saudi-Arabien »im Kampf gegen Extremisten befinden, ein Kampf, der darüber entscheidet, ob sie die Kontrolle behalten … Eine Schlacht, bei der es ebenso um Ideen wie um militärische Macht geht … aber nicht gerade eine Schlacht, in die man die 82. Luftlandedivision schickt.« Doch Abizaids Vorgesetzte im Pentagon und im Weißen Haus scheinen nicht zu begreifen, wie man einen Krieg der Ideen führt oder dass die Möglichkeiten unserer Schützen, al-Qaida eine Niederlage beizubringen, begrenzt sind. Es wird schwierig sein für die amerikanische Regierung, sich an der Formulierung einer subtilen und erfolgreichen Botschaft zur Religion zu beteiligen, aber immerhin haben wir es schon einmal geschafft. Als Amerika die Anziehungskraft des Kommunismus erkannte, stellten wir uns der Herausforderung, andere von Amerika, der Demokratie und dem Kapitalismus zu überzeugen. Die Vereinigten Staaten fanden Möglichkeiten, christlichdemokratische Parteien in Europa und Lateinamerika und ironischerweise auch islamische Bewegungen in Ländern wie Afghanistan zu unterstützen. Wir fanden Sprecher, Anführer und Helden, schufen Schulen, Bücher, Filme und Entwicklungshilfeprogramme. Diese Bemühungen trugen ebenso viel zum Sieg im Kalten Krieg bei wie die amerikanischen Panzer in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn Kollegen im Weißen Haus mich fragten, was sie lesen sollten, um die Probleme nach dem 11. September besser zu verstehen, riet ich ihnen, sich einen alten italienisch-algerischen Schwarzweißfilm zu besorgen, Die Schlacht um Algier. Darin treiben die französischen Kolonialmächte alle »bekannten terroristischen Kräfte« 410
und Führer zusammen (klingt irgendwie bekannt, oder?), verlieren aber den Krieg gegen die Terroristen, weil sie sich nicht um die ideologische Untermauerung kümmern. Nachdem die bekannten Anführer der Terroristen verhaftet worden sind, vergeht eine gewisse Zeit, und dann tauchten neue, noch unbekannte Anführer auf. Mit al-Qaida wird es uns wahrscheinlich ähnlich ergehen. Wir können diese Entwicklung nur stoppen, wenn wir mit den Führern islamischer Länder zusammenarbeiten und sicherstellen, dass wieder Toleranz gegenüber anderen Religionen gelehrt wird. Die Menschen dort müssen wieder darauf vertrauen, dass sie faire Möglichkeiten haben, an der Regierung und der Wirtschaft beteiligt zu werden, dass die sozialen und kulturellen Bedingungen, die Hass hervorbringen, geändert werden. Aber anstatt die Zusammenarbeit mit der Mehrheit der islamischen Welt zu suchen und die muslimische Meinung gegen die Werte der Radikalen zu formen, taten wir genau das, was al-Qaida angekündigt hatte. Wir marschierten in einem arabischen Land mit Ölvorkommen ein, das keine Bedrohung für uns darstellte, und besetzten es. Gleichzeitig verwendeten wir kaum Zeit und Aufmerksamkeit auf den Nahostkonflikt. Wir lieferten alQaida das größte Rekrutierungsprogramm, das man sich vorstellen kann, und machten es den uns freundlich gesinnten islamischen Regierungen schwer, eine Zusammenarbeit mit uns zu rechtfertigen. Ich war niemals ein Fan von Saddam Hussein, tatsächlich hatte ich bereits 1989 darauf gedrängt, seinen Zugang zu Massenvernichtungswaffen einzuschränken. Ich war einer der Ersten, die 1990 zu einer militärischen Konfrontation mit dem Irak rieten, stand 1991 hinter dem UN-Programm zur Zerstörung der irakischen Massenvernichtungswaffen und riet 1993 zu einer 411
Bombardierung des Irak. Ich weiß, dass die Welt in gewisser Hinsicht ohne Saddam an der Macht besser dran ist, aber nicht so, wie es gemacht wurde, nicht zu dem Preis, den wir bezahlten und bezahlen werden, nicht zu dem Preis, dass wir davon abgelenkt werden, al-Qaida und ähnliche Gruppierungen zu bekämpfen, nicht, indem wir Gelder verwenden, die wir brauchen, um unsere Schwachstellen im eigenen Land zu beseitigen, nicht zu dem unglaublich hohen Preis, dass wir den Hass der Muslime auf den Westen steigern und al-Qaida stärken. Clinton unterzeichnete ein Gesetz, das einen Regimewechsel im Irak zum Ziel amerikanischer Politik machte. Das ist wahr, aber weder der Kongress noch Clinton hatten dabei an einen Regimewechsel mit vorgehaltener Waffe gedacht, einen amerikanischen Einmarsch im Irak. Die Regierung von George Bush dem Zweiten hatte den Irak schon von Anfang an auf ihrer Prioritätenliste stehen. So viele von denen, die bereits im ersten Krieg gegen den Irak die Entscheidungen getroffen hatten, waren wieder da: Cheney, Powell, Wolfowitz. Einige hatten, als sie nicht mehr im Amt waren, in Reden und Schriften deutlich gemacht, dass die USA ihrer Meinung nach Saddam absetzen und das zu Ende bringen sollten, was sie beim ersten Mal versäumt hatten. In der Diskussion der neuen Regierung zum Thema Terrorismus hatte Paul Wolfowitz darauf gedrängt, sich auf den vom Irak finanzierten Terror gegen die USA zu konzentrieren, obwohl es diesen Terror gar nicht gab. 2001 drehten sich die Gespräche immer mehr um den Irak und darum, dass man CENTCOM eine Invasion planen lassen sollte. Das beunruhigte mich sehr. Präsident Bush sagt, der 11. September sei für seine Einstellung gegenüber dem Irak ein Wendepunkt gewesen. Angeblich gab es noch so einen Punkt der Entscheidung, 412
als der Präsident beschloss, sich an die UNO zu wenden, und einen weiteren, als er nicht mehr länger auf die UNO warten wollte, die ganze Zeit über schien jedoch eine Invasion unvermeidlich. Der Irak wurde als die größte Bedrohung überhaupt für unsere nationale Sicherheit dargestellt. Es war eine fixe Idee, an der man stur festhielt, eine Entscheidung, die bereits gefallen war und an der keine Tatsache und kein Ereignis etwas ändern konnten. In der Geschichte gibt es selten einen einzigen Grund, warum zwei Staaten Krieg gegeneinander führen. Die Gründe, die die Regierung Bush für ihren Krieg vorlegte, erfuhren mit der Zeit eine Wandlung: statt des Terrorismus waren es bald die Massenvernichtungswaffen, dann das Leid des irakischen Volkes. Zusätzlich zu den öffentlich genannten Argumenten gab es noch weitere, die in der Washingtoner Bürokratie diskutiert wurden. Fünf Beweggründe werden den drei einflussreichsten Beratern (Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz) und Präsident Bush zugeschrieben: • das Schlamassel zu beseitigen, das die erste Regierung Bush hinterließ, als sie 1991 gestattete, dass Saddam Hussein nach dem ersten Golfkrieg seine Macht festigte und seine Gegner umbrachte • eine große feindliche Militärmacht auszuschalten und so die strategische Lage Israels zu verbessern • eine arabische Demokratie zu schaffen, die als Vorbild für andere freundlich gesinnte arabische Länder dienen könnte, die heute von inneren Unruhen bedroht werden, vor allem Ägypten und Saudi-Arabien • den Abzug der Amerikaner aus SaudiArabien zu ermöglichen, wo sie zwölf Jahre lang als 413
Gegengewicht zum irakischen Militär stationiert waren und als Auslöser antiamerikanischer Drohungen die Stabilität der dortigen Regierung gefährdeten • noch eine weitere ungefährliche Ölquelle für den amerikanischen Markt zu sichern und damit die Abhängigkeit von Saudi-Arabien zu verringern, weil es dort eines Tages vielleicht einen Umsturz geben könnte. Ich glaube, dass all diese Motivationen vorlagen. Die meisten spiegeln die Sorge um die langfristige Stabilität des Hauses Saud. Außerdem gab es vor allem bei Präsident Bush das Bedürfnis, als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September »eine Großtat« zu vollbringen. Natürlich hätte er auch reagieren können, indem er ernsthaft in die Sicherheit des eigenen Landes investiert, Afghanistan stabilisiert und anderen Ländern geholfen hätte, mit den Quellen und Manifestationen des fundamentalistischen islamischen Terrorismus umzugehen. Diese Maßnahmen wären »Großtaten« gewesen. Doch keine davon war die große, schnelle, »mutige« und einfache Geste, die daheim und im Ausland ein Signal gesetzt hätte, ein Signal, das besagte: »Legt euch nicht mit Texas oder Amerika an.« Leider erwies sich der Krieg gegen den Irak doch nicht als das, was sich Präsident Bush und sein innerer Kreis erhofft hatten. Die Entscheidung, den Irak 2003 fast im Alleingang anzugreifen, war kostspielig und falsch. Der Preis, den wir bezahlen, sind die verlorenen Menschenleben, das verlorene Geld und vor allem die verlorenen Chancen und die zukünftigen Probleme, die mit dem Krieg entstanden oder noch verschlimmert wurden. Aufschluss über Bushs Motivation und sein Verständnis 414
der Lage gibt ein Interview, das Diane Sawyer für den Fernsehsender ABC mit dem Präsidenten führte. Sawyer fragte Bush nach »Beweisen, dass es dort Massenvernichtungswaffen gibt im Gegensatz zu der Möglichkeit, dass [Saddam] versuchen könnte, solche Waffen zu erwerben«. Die Antwort des Präsidenten lautete: »Was macht das für einen Unterschied?« Dann fügte er hinzu: »Die Möglichkeit, dass er sich Waffen beschaffen könnte. Wenn er sich Waffen beschaffen würde, wäre er eine Gefahr.« Sawyer hakte nach und bemerkte, dass es neben dem Thema Vernichtungswaffen auch keine »Beweise für umfangreiche Kontakte zu Terroristen« gebe. Der Präsident antwortete: »Yeah. Schauen Sie … unsere … unsere Beweise basieren auf der sehr fundierten National Intelligence Estimate.« Ob es denn nicht etwas präziser gehe, fragte Sawyer. »Was … ich, ich traf meine Entscheidung auf Grundlage von ausreichenden Informationen, die besagen, dass dieses Land bedroht ist, weil Saddam Hussein an der Macht ist.« Tapfer fragte Sawyer erneut, was nötig wäre, um ihn zu überzeugen, dass es keine Massenvernichtungswaffen im Irak gebe. Wieder leierte Bush sein Mantra herunter: »Amerika ist dann sicherer.« Und der Verzweiflung nahe erklärte der Präsident schließlich: »Ich sage Ihnen, dass ich die richtige Entscheidung für Amerika getroffen habe, weil Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen verwendet und Kuwait besetzt hat.« Und so begann Bush 2003 einen Krieg gegen den Irak, weil Saddam in den achtziger Jahren Massenvernichtungswaffen verwendet und 1990 Kuwait besetzt hatte. Bush schloss das Thema im Gespräch mit Diane Sawyer 415
ab und erklärte erneut, sein Angriff gegen den Irak »macht Amerika sicherer«. Unsere Streitkräfte sind fast am Ende ihrer Kräfte, unsere internationale Glaubwürdigkeit befindet sich auf dem absoluten Tiefstand, die Muslime radikalisieren sich weiter gegen uns, unsere Beziehungen zu wichtigen Verbündeten haben Schaden erlitten, und unsere Soldaten dienen als Zielscheiben; da fällt es schwer, dem Präsidenten zu glauben, dass Amerika seit dem Irakkrieg sicherer geworden ist. Genauso schwer zu glauben ist, dass Präsident Bush Geheimdienstberichte über Massenvernichtungswaffen vorlagen oder »dass dieses Land bedroht ist, weil Saddam Hussein an der Macht ist«. Immer wieder behauptete die Regierung, man müsse dringend handeln, weil der Irak eine wachsende Bedrohung für die USA darstelle. Die Details dieser Bedrohung blieben vage, hinterließen aber den Eindruck, die Bedrohung bestehe aufgrund von Massenvernichtungswaffen, das heißt, chemischen, biologischen oder nuklearen Waffen, die der Irak gegen uns einsetzen werde. Wie die meisten, die in Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit tätig waren, glaubte ich 2003, dass es im Irak chemische und/oder biologische Waffen gab. Wir wussten, dass der Irak solche Waffen 1992 und später besaß, weil wir sie gesehen hatten. Alles deutete darauf hin, dass der Irak 1998 Waffen versteckt hatte, doch es gab keine verlässlichen geheimdienstlichen Informationen, was mit den Waffen seit 1998 passiert war. Charles Duelfer war der führende amerikanische Experte zu diesem Thema und hatte sich im Auftrag der USA und der UNO über zehn Jahre lang mit der Analyse der Massenvernichtungswaffen im Irak beschäftigt. 2002 vertrat Duelfer die Ansicht, dass es keine bedrohlichen Waffendepots mehr gab. Vor dem 416
Einmarsch und monatelang danach wurde er ignoriert und erst 2004 von der Regierung aufgefordert, in den Irak zu reisen und die Untersuchung zu leiten. Wie Untersuchungen des Senate Intelligence Committee und der Carnegie-Stiftung gezeigt haben, teilten weder die CIA noch der Präsident dem Kongress und dem amerikanischen Volk mit, dass ihre Bewertung der irakischen Massenvernichtungswaffen auf veralteten Informationen beruhte. Waffeninspekteur David Kay musste sogar zugeben: »Wir hatten wahrscheinlich alle Unrecht.« Selbst wenn der Irak immer noch Lager mit Massenvernichtungswaffen besessen hätte, stellt ihr Besitz an und für sich keine Bedrohung für die USA dar. Über zwei Dutzend Länder verfügen laut CIA-Aussagen vor dem Kongress über Massenvernichtungswaffen. Ich war 2002 nie der Ansicht, dass irakische Bio- oder Chemiewaffen eine unmittelbare Bedrohung für die Vereinigten Staaten seien. Saddam hatte über zehn Jahre lang reichlich Gelegenheit, sie gegen die USA einzusetzen, und tat es nicht. Was die Atomwaffen betrifft: Der Irak hatte seine Fähigkeit, ein umfangreiches, geheimes Programm zur Entwicklung von Atomwaffen zu schaffen, schon 1991 bewiesen, und die CIA hatte ihre Unfähigkeit bewiesen, ein Programm dieser Größe zu bemerken. In Verbindung miteinander gaben diese beiden Tatsachen Anlass zur Besorgnis. Die Mittel, mit diesem Risiko umzugehen, waren jedoch vorhanden, zum Beispiel Inspektionen durch die Internationale Atomenergiebehörde, eine aktive Kontrolle irakischer Importe in Zusammenhang mit einem Nuklearprogramm und der Einsatz der Geheimdienste anderer Länder. Wer weiß, vielleicht waren diese Maßnahmen tatsächlich erfolgreich, denn wie wir heute wissen, gab es 2002 kein 417
aktives Atomprogramm im Irak. Nichts deutete 2002 darauf hin, dass Saddam den Bau von Atomwaffen beabsichtigte, geschweige denn, dass er sie einsetzen wollte, vor allem nicht sofort. Die von der CIA veröffentlichte Analyse kam sogar zu dem Schluss, es bestehe nur ein geringes Risiko, dass der Irak Massenvernichtungswaffen gegen die USA einsetze, es sei denn, wir würden ihn angreifen. Das Weiße Haus und die CIA müssen gewusst haben, dass keine »unmittelbare Bedrohung« für die Vereinigten Staaten bestand, doch die einen behaupteten das Gegenteil, und die anderen korrigierten sie nicht. Bei seinem berühmten Auftritt an Deck der USS Abraham Lincoln im Stil von Top Gun behauptete der Präsident, die Invasion im Irak sei nur eine Schlacht »im Krieg gegen den Terror, der am 11. September begann«. Man kann gut verstehen, warum 70 Prozent der Amerikaner, nachdem sie immer wieder solche Bemerkungen gehört hatten, der Ansicht waren, Saddam Hussein habe die Anschläge auf das Pentagon und das World Trade Center verübt. Ich vermute, dass viele amerikanische Soldaten, die ihr Leben im Irak riskieren, aufgrund der irreführenden Äußerungen im Weißen Haus glaubten, sie würden die 3000 Toten vom 11. September rächen. Wie furchtbar, bei unserem Volk und unseren Soldaten einen so falschen Eindruck zu hinterlassen. Erst im September 2003, erst nachdem wir den Irak besetzt hatten, erst nachdem Vizepräsident Cheney unsere Gutgläubigkeit in der Sendung Meet the Press strapaziert hatte, erklärte der Präsident klipp und klar, es gebe »keine Beweise, dass der Irak an den Anschlägen vom 11. September beteiligt war«. Diese neue Klarheit war für die amerikanischen Soldaten, die im Irak ständig in der Gefahr sind, von Heckenschützen angegriffen und von 418
Minen zerfetzt zu werden, wahrscheinlich ein Schock und eine Enttäuschung. Nachdem Präsident Bush öffentlich eingestehen musste, dass es zwischen dem al-Qaida-Attentat vom 11. September und Saddam Husseins Regierung im Irak keine Verbindung gab, änderten die Befürworter des Irakkriegs ihre Argumentation. Sie begannen die »Verbindungen« und »Verknüpfungen« zwischen dem Irak und al-Qaida im Allgemeinen hervorzuheben, ohne den 11. September besonders zu erwähnen. Als bei der Zeugenaussage von Under Secretary of Defense Doug Feith vor dem Kongress nachgehakt wurde, versprach er, Informationen vorzulegen, die diese Verbindung belegten. Er sandte dem Kongressausschuss ein Memorandum mit einer Zusammenfassung von einem Dutzend solcher Geheimdienstberichte. Dieses streng geheime Memorandum landete bei einer neokonservativen Zeitschrift, die es prompt veröffentlichte. Neokonservative Kommentatoren verwiesen dann auf das illegal durchgesickerte Dokument als einen eindeutigen Beweis für die Verbindung zwischen al-Qaida und dem Irak. Für alle, die nicht daran gewöhnt waren, unbearbeitete Geheimdienstberichte zu lesen, klang das Memorandum von Feith vielleicht überzeugend. Für jemanden, der im Laufe vieler Jahre schon Tausende solcher Berichte gelesen hat, bewies dieser Bericht kaum etwas. Die Washington Post zitierte den langjährigen Experten Pat Lang von der Defense Intelligence Agency mit den Worten, das Memorandum sei »eine Auflistung jeder Menge unbestätigter Berichte«, von denen viele sogar belegten, dass al-Qaida und der Irak keinen Modus Vivendi miteinander gefunden hatten. Die Post zitierte noch einen anderen ranghohen Geheimdienstmitarbeiter, der erklärte, das Memorandum 419
bestehe nur aus »Datenpunkten … unter Millionen Meinungen im Geheimdienstbereich, und bei vielen ist es unwahrscheinlich, dass sie stimmen«. Tatsächlich gab das Pentagon nach dem veröffentlichten Feith-Memorandum eine Erklärung heraus, dass Nachrichtenmeldungen, das Verteidigungsministerium habe vor dem Krieg neue Informationen über eine Verbindung zwischen al-Qaida und dem Irak bestätigt, »ungenau« seien. Weiter wurde das Feith-Memorandum mit den Worten beschrieben, es sei »keine Analyse des bedeutenden Themas der Beziehung zwischen dem Irak und al-Qaida … und zog keine Schlussfolgerungen«. Es ist schlicht eine Tatsache, dass sehr viele Menschen vor allem im Nahen Osten Gerüchte verbreiten, die schließlich von amerikanischen Geheimdiensten in Rohfassungen festgehalten und abgelegt werden. Dadurch werden sie jedoch nicht zu »Geheimdienstberichten«. Die Geheimdienstarbeit umfasst auch die Analyse solcher Berichte, es reicht nicht, Informationen einfach aufzuzählen oder sie pfundweise aufzuwiegen. Zur Analyse gehört, dass man unabhängige Stellen findet, die diese Berichte untermauern. Haben Vertreter von al-Qaida je mit Vertretern des Irak gesprochen? Es würde mich wundern, wenn nicht. Genauso verwundert wäre ich allerdings, wenn amerikanische, israelische, iranische, britische oder jordanische Agenten nicht irgendwann einmal mit Vertretern von al-Qaida oder irakischen Agenten gesprochen hätten. Es gehört nun einmal zu den Aufgaben von Geheimdienstmitarbeitern, miteinander zu reden, wenn auch unter einer anderen Identität oder »falscher Flagge«. So beschaffen sie sich Informationen oder halten Ausschau nach möglichen Überläufern. Es ist sogar möglich, dass irakische Agenten Bin Laden irgendwann einmal Asyl im Irak in Aussicht gestellt 420
haben, als bekannt wurde, dass die USA Druck auf die Taliban ausübten, ihn zu verhaften. Falls es so war, nahm Bin Laden dieses Angebot eindeutig nicht an. Gab es eine Gruppe im Irak, die al-Qaida angegliedert war und Ausbildungslager für Terroristen unterhielt? Ja, in einem Gebiet, in dem Saddam Hussein keine Macht ausübte, im Norden des Landes, der von Saddams Gegnern kontrolliert wurde. Dieses Terroristenlager war der Regierung Bush bekannt. Sie entschied sich, es nicht direkt nach dem 11. September zu bombardieren, sondern 18 Monate zu warten. Die Gruppe und das Lager können also keine große Bedrohung gewesen sein. Jetzt allerdings gibt es eine Verbindung zwischen dem Irak und al-Qaida, denn al-Qaida-Kämpfer ziehen in den Irak und reagieren damit auf Bushs Aufforderung, »sie sollen nur kommen«. Wenn es Beweise gäbe, dass der Irak vor dem Krieg alQaida finanziell unterstützte oder Mitgliedern als Zufluchtsort diente, hätte die Regierung sie vorgelegt. Natürlich gibt es Beweise, dass der Iran al-Qaida vor und nach dem 11. September einen Zufluchtsort bot. Außerdem gibt es Beweise, dass die Saudis al-Qaida finanziell unterstützten und dass saudische »Wohltätigkeitsorganisationen« von al-Qaida als Tarnung benutzt wurden. Eine »Verbindung« al-Qaidas zum Irak läuft unter »ferner liefen« im Vergleich zu den Verbindungen mit anderen Ländern, und keine der möglichen »Verbindungen« zwischen al-Qaida und dem Irak geht so weit, dass man von Hilfe und Unterstützung sprechen kann. Verschiedene Quellen meldeten, dass man intern im Pentagon mit einer amerikanischen Besatzungsmacht von etwa 30000 Mann rechnete, also eine Division mit Versorgungstruppen. Stabschef Eric Shinseki hatte gegenüber einem Kongressausschuss freimütig zugegeben, 421
200000 Mann seien realistisch. Seine Schätzung wurde öffentlich von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zurückgewiesen. Für den größten Teil des Jahres 2003 betrug die tatsächliche Zahl der amerikanischen Soldaten im Irak einschließlich der Versorgungstruppen in Kuwait etwa 150000 Mann. Viele Militärexperten waren der Ansicht, die Zahl sei zu niedrig. Diese Meinungsverschiedenheit ist nicht nur eine Zahlenspielerei. Wenn es zu wenig amerikanische Soldaten zur Sicherung der Konvoirouten oder zum Schutz vor Heckenschützen gibt, werden Angehörige des amerikanischen Militärs von irakischen Bomben, Minen und Kugeln getötet oder verwundet. Wir sollten nicht vergessen, dass Verteidigungsminister Les Aspin im Februar 1994 zurücktreten musste, weil er die amerikanischen Soldaten in Somalia angeblich nicht mit dem ausgestattet hatte, was sie zu ihrem Schutz benötigten und 17 Soldaten getötet wurden. In den Monaten der Besatzung wurden im Irak bereits Hunderte amerikanische Soldaten getötet und viele verwundet, unter anderem auch, weil nicht genügend US-Truppen im Land waren, um Heckenschützen und Minen aufzuspüren. Die Fehleinschätzung bei der Zahl der benötigten Besatzungstruppen verursacht zusätzliche Kosten. Der Einsatz der 150000 US-Soldaten im Irak beansprucht die Army sehr. Die meisten einsatzbereiten Kampftruppen der Army sind im Ausland stationiert. Die Truppen, die sich noch in den USA befinden, sind zu wenige, um als Sicherheitsreserven fungieren oder den notwendigen Ausbildungsstand erhalten zu können. Reservisten und Mitglieder der Nationalgarde wurden mobilisiert. Der verlängerte Dienst im Irak hat das Leben Zehntausender durcheinander gebracht, die mit ihrem zivilen Gehalt gerechnet hatten, um Hypotheken abzuzahlen und für 422
andere familiäre Ausgaben aufzukommen. Die Ironie dahinter besteht darin, dass Bush und sein Team im Wahlkampf 2000 den Vorwurf erhoben hatten, Friedensmissionen hätten das amerikanische Militär zu stark beansprucht. Einheiten, die mit Friedensmissionen betraut worden waren, würden bei Inspektionen durchfallen, weil sie ihren Trainingsstand nicht halten könnten. Mit ihrer Politik hat die Regierung Bush den amerikanischen Streitkräften weitaus mehr geschadet. Die Bewerbungen für Nationalgarde und Reserveeinheiten gehen stark zurück. Die Verfassung unserer Streitkräfte ist wichtig, denn im Gegensatz zum Irak, der keine Anstalten machte, uns anzugreifen, droht Nordkorea uns regelmäßig mit Krieg. Wenn es dazu kommen sollte, solange unsere Streitkräfte im Irak gebunden sind und unsere Reserven stark beansprucht werden, könnte es kritisch werden. Vor dem Krieg vermittelte unsere Regierung aufmerksamen Beobachtern im Irak den Eindruck, dass wir nur ein Problem mit Saddam und seinen Söhnen und noch ein paar anderen hätten. Wenn sie friedlich (oder mit einer Kugel) abziehen würden, wären wir zufrieden. Die Botschaft, die den irakischen Kommandanten auf verschiedenen Wegen zugeleitet wurde, lautete: »Nicht kämpfen«, wir wollen nur Saddam loswerden. Aufgrund dieser Botschaft kämpften viele irakische Kommandanten nicht und schickten ihre Truppen sogar nach Hause. Doch nachdem Jerry Bremer zum Zivilverwalter im Irak ernannt worden war, hatten die USA plötzlich eine andere Botschaft: »Ihr seid alle entlassen.« Die USA verkündeten nicht nur die Entlassung des irakischen Offizierskorps, sondern erleichterten jeden um seinen Job, der Mitglied der Baath-Partei gewesen war. Hunderttausende, die auf diese Lockvogeltaktik hereingefallen waren, mussten dann auch noch erfahren, 423
dass die Pensionen, mit denen sie im Alter gerechnet hatten, nicht vorhanden waren. Kein Wunder also, dass die Popularität der USA in den Keller rutschte und wichtige Versorgungsbetriebe und Einrichtungen im Irak die Arbeit einstellten. Die Entlassung der Streitkräfte und die »Entbaathifizierung« kam auch für den Amerikaner überraschend, der mit der Planung der Besatzung nach dem Krieg betraut war, den pensionierten General Jay Gardner. Einige Monate nach seiner Ablösung durch Bremer erklärte Gardner, in seinen Plänen sei vorgesehen gewesen, die irakischen Soldaten auf ihre Posten zurückzurufen, sie zu überprüfen und die meisten dann wieder zu verpflichten. Sie sollten die Aufgaben übernehmen, die nun die amerikanischen Truppen leisten müssen. Im Irak unter Saddam Hussein musste man der BaathPartei angehören, wenn man eine leitende Position in der Wirtschaft ausüben wollte. Weil alle Manager mit einem Schlag entlassen (und ihre Renten gestrichen) worden waren, gab es plötzlich keine erfahrenen Führungskräfte mehr. Einwohner der ehemaligen Sowjetunion kennen die Bedingung, dass man Parteimitglied sein muss, um es zu etwas zu bringen. Nach Auflösung der Sowjetunion durften die meisten ehemaligen Mitglieder der Kommunistischen Partei weiter in ihren Positionen arbeiten. Boris Jelzin und Wladimir Putin waren früher selber Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Nach Protesten, Unruhen und Anschlägen erklärte die amerikanische Besatzungsbehörde schließlich, sie würde für die Pensionen der irakischen Offiziere aufkommen und dafür sorgen, dass einige in der neuen Armee unterkommen oder zumindest als Ausbilder beschäftigt würden. Zu diesem Zeitpunkt planten einige ehemalige 424
Offiziere sicherlich schon Anschläge gegen die amerikanischen Truppen. Es ist nicht einfach, als einzige Supermacht der Welt beliebt zu sein, aber unmöglich ist es nicht. Eine Supermacht hat eine andere Verantwortung und Perspektive als andere Länder, aber die Regierungen und Einwohner vieler Länder würden das verstehen, wenn sie das Gefühl hätten, die Supermacht respektiere die Rechte und Meinungen anderer Länder. Ich dachte, das sei auch Bushs Konzept, als er im Wahlkampf eine »bescheidenere« amerikanische Außenpolitik forderte (vermutlich eine bescheidenere als Clintons Außenpolitik). Doch dieser Gedanke war nach der Wahl, als aus dem Kandidaten erst einmal der Präsident Bush geworden war, schnell verflogen. Es war nicht nur die Weigerung, das Kyoto-Protokoll zum Umweltschutz und das Statut von Rom zum Internationalen Strafgerichtshof zu unterzeichnen (in beiden Fällen hatten wir berechtigte Einwände), sondern die Arroganz, mit der wir uns weigerten. Bei einer Besprechung mit meinem Stab im Sommer 2001 sagte ich: »Wenn die Jungs in der Regierung eine internationale Koalition für eine Invasion des Irak nächstes Jahr anstreben, dann machen sie sich nicht gerade Freunde.« Als es dann 2003 so weit war, verloren wir mit der Invasion weitere Freunde. Umfragen hatten bereits ergeben, dass die Mehrheit der Bevölkerung in islamischen Ländern die USA nicht mochte und ihnen auch nicht vertraute. Nach der Invasion erreichten die Zahlen nicht nur in muslimischen Ländern Höchststände. Aber dort verstärkte die US-Invasion im Irak die Unterstützung für al-Qaida und den radikalen AntiAmerikanismus. In anderen Ländern wurden wir nun eher als Supertyrann denn als Supermacht betrachtet, und zwar 425
nicht nur für das, was wir taten, sondern auch, wie wir es taten. Wir verschmähten internationale Gepflogenheiten, was wir später noch bereuen sollten. Wenn die Vereinigten Staaten demnächst einmal wieder internationale Unterstützung benötigen, zum Beispiel gegen iranische oder koreanische Atomwaffen, wer wird sich uns anschließen, wer wird uns glauben? Wenn Staatschefs sich in Zukunft fragen, ob sie uns unterstützen und damit Widerstand im eigenen Land riskieren sollen, werden sie an Tony Blair in Großbritannien denken, wie er an Popularität und Glaubwürdigkeit verlor, weil er sich so eng der amerikanischen Regierung und ihren Behauptungen anschloss. Noch schädlicher ist der Verlust an Glaubwürdigkeit, den Einrichtungen der nationalen Sicherheit bei unserer eigenen Bevölkerung erlitten. Die Amerikaner wissen heute, dass Saddam Hussein nichts mit dem 11. September zu tun hatte, dass es keine unmittelbare Bedrohung durch irakische Massenvernichtungswaffen gab, sie waren schockiert und verärgert, als sie den tatsächlichen Preis, den der Krieg an Menschenleben und Dollar forderte, erfuhren. Umso wichtiger ist, dass das Vertrauen in das Wort Amerikas wiederhergestellt wird und wir uns endlich wieder mit den echten Bedrohungen befassen, denn es existieren immer noch echte Bedrohungen im Ausland und verwundbare Punkte in unserem Land. Wenn wir uns nicht um die wahren Probleme kümmern, werden wir erneut leiden müssen. In einer Analyse des Strategie Studies Institute am Army War College, die von Jeffrey Record verfasst wurde, heißt es, der Irakkrieg sei »ein strategischer Fehler ersten Ranges« gewesen. Anstatt energisch ein ideologisches Gegengewicht zu al-Qaida zu schaffen, fielen wir im Irak ein und verschafften damit al-Qaida genau den Treibstoff 426
für ihre Propaganda, den sie brauchten. So viel zu der zweiten Priorität, die wir nach dem 11. September hätten umsetzen sollen. Unsere dritte Priorität hätte die Stärkung wichtiger Regierungen sein müssen, für die al-Qaida ein Risiko darstellt, oder die sich, wie im Iran, bereits in den Händen von Terroristen befinden, die al-Qaida unterstützen. Das erste Land, das unsere Aufmerksamkeit erfordert hätte, war und ist Afghanistan, der Zufluchtsort von alQaida, das damals von den Taliban beherrscht wurde. Nach den al-Qaida-Anschlägen in Amerika übernahm die Regierung Bush das Ziel, das Monate vorher beschrieben worden war und nur der Umsetzung harrte: die Vernichtung von al-Qaida. Die Nation verlangte es. Die amerikanische Militärführung konnte sich nicht mehr länger dagegen wehren, Truppen nach Afghanistan zu schicken. Die CIA konnte nicht mehr länger spitzfindig darüber streiten, die »nutzlose« Nordallianz in Afghanistan zu unterstützen. Aber von Beginn an machten wir schwere Fehler. Der Krieg, den die USA in Afghanistan führte, war nicht das rasche, uneingeschränkte Eingreifen, das man vielleicht erwartet hätte. Wir schickten nicht sofort US-Truppen ins Land, um die Führung von al-Qaida und Taliban gefangen zu nehmen. Die Bush-Administration entschied, weiterhin an die Taliban zu appellieren, Bin Laden und seine Anhänger auszuliefern. Als wir dann endlich angriffen, behandelten wir den Krieg wie einen Regimewechsel anstatt wie eine Such- und Vernichtungsaktion gegen Terroristen. In der Regierung Clinton hatte das State Department gehofft, die Taliban, die den Großteil Afghanistans beherrschten, vielleicht von ihren al-Qaida-Verbündeten trennen zu können. Vertreter des State hatten versucht, mit 427
den Taliban zu verhandeln, aber ohne Erfolg. Die ClintonAdministration informierte die Taliban jedoch, sie werde sie für weitere al-Qaida-Anschläge zur Verantwortung ziehen. Unter Bush waren die Rollen vertauscht, nun argumentierte die Führung des State Department, vor allem der stellvertretende Außenminister Rich Armitage, man könne al-Qaida und die Taliban nicht voneinander trennen, sie müssten als Einheit gesehen werden. Seltsamerweise waren es das Weiße Haus und das Pentagon, die den Taliban nach dem 11. September noch eine Chance geben wollten. Selbst vier Tage nachdem am 7. Oktober 2001 mit der Bombardierung von al-QaidaStützpunkten begonnen worden war, rief Präsident Bush die Taliban öffentlich auf, mit den USA zusammenzuarbeiten und Bin Laden auszuliefern. Als sie es nicht taten, sagte er später, die USA würden Bin Laden »tot oder lebendig« fangen. Die Militäraktion gegen Afghanistan begann am 7. Oktober mit der Bombardierung von al-Qaida-Lagern und militärischen Einrichtungen der Taliban. Die Pläne waren schon in der Regierung Clinton vorbereitet worden. Osama bin Laden blieb unversehrt, auch die Einsätze der CIA oder Special Forces blieben erfolglos. Auf einem Videoband verurteilte er die Bombardierung. Abgesehen von einer mehrstündigen Razzia der Rangers auf einer Start- und Landebahn und in einem Lager weit außerhalb von Kandahar waren in Afghanistan ursprünglich keine amerikanischen Bodentruppen im Einsatz. (Die Rangers hatten nicht den Befehl, den Flugplatz zu halten, und wurden mit Hubschraubern zurück zu einem Flugzeugträger geflogen.) Am Boden verließen sich die USA auf die afghanische Nordallianz, die die Taliban angreifen sollte. Gemeinsam mit einer Hand voll Soldaten amerikanischer und britischer 428
Spezialeinheiten, die die Unterstützung aus der Luft koordinierten, rückte die Nordallianz vor. Die USA forderten die Nordallianz auf, den Vormarsch zu verlangsamen und nicht die Hauptstadt Kabul einzunehmen. Die Nordallianz rückte weiter vor. Über einen Monat nach Beginn der amerikanischen Militäroperation befahl der Führer der Taliban, Mullah Omar, immer noch am Leben und wohlauf, seinen Truppen, sich aus Kabul zurückzuziehen und in die Berge zu begeben. Niemand nahm die Verfolgung auf. Erst am 25. November, sieben Wochen nach Beginn der Militäraktion, setzten die USA Bodentruppen ein (eine Einheit der Marines), die einen ehemaligen Stützpunkt der Taliban und al-Qaidas in der Nähe von Kandahar einnehmen und halten sollten. Die Taliban behielten jedoch bis zum 7. Dezember die Kontrolle über die Stadt. Es war daher kaum überraschend, dass die Marines beim Einzug in die Stadt weder Bin Laden noch Mullah Omar fanden. Bei der Aktion Ende November riegelten die USTruppen nicht die Grenze nach Pakistan ab. Es war auch nicht vorgesehen, die Führung von al-Qaida gefangen zu nehmen oder ihr den Fluchtweg abzuschneiden. Die größte Last in den Kämpfen trug auch im November die Nordallianz. Während sie zwei Wochen lang versuchte, al-Qaida-Truppen in Kundus einzukreisen, schlüpften wiederholt Flugzeuge mit al-Qaida-Mitgliedern an Bord hinein und hinaus. Andere Einheiten der al-Qaida und Taliban zogen sich in das Hochtal Tora Bora in der Nähe der pakistanischen Grenze zurück. Erst Mitte Dezember konnten die USA ihre neuen afghanischen Verbündeten überzeugen, mit Beratern der Special Forces und Unterstützung aus der Luft in das Tal vorzudringen. Schon bald kehrten sie mit leeren Händen zurück. Angesichts der wachsenden Kritik, das Pentagon 429
verpfusche den Auftrag, Bin Laden und die al-QaidaFührung zu fangen, erklärte Verteidigungsminister Rumsfeld kurz vor Weihnachten, dass man in Zukunft nicht mehr allein auf die Afghanen vertraue, sondern USTruppen die Aufgabe übernehmen würden. Im März 2002 waren mehrere Einheiten der USBodentruppen in Afghanistan eingetroffen. Fast fünf Monate nach Kriegsbeginn fingen sie an, die gebirgige Gegend auf der Suche nach al-Qaida-Mitgliedern zu durchkämmen. Die Operation Anaconda stieß zwar auf heftigen Widerstand, brachte aber keine Gefangenen aus der al-Qaida-Führung. Zwei Jahre nach Beginn der amerikanischen Militäroperation in Afghanistan hatten die amerikanischen Truppen, CIA-Agenten und proamerikanischen Afghanen Osama bin Laden oder seinen Stellvertreter Aiman Sawahiri noch immer nicht aufgestöbert. Auch der Talibanführer Mullah Omar blieb verschwunden. Doch schon lange vor Ablauf der zwei Jahre hatte das amerikanische Militär seine Aufmerksamkeit in den Irak verlagert. Die US Special Forces, die Arabisch sprachen, die Sprache von al-Qaida, waren aus Afghanistan abgezogen und in den Irak geschickt worden. Auch Geheimdiensteinrichtungen, die das Militär unterstützten, wurden umgeleitet. Die Truppen der USA und der NATO kontrollierten ein begrenztes Gebiet von Afghanistan. Von den US-Truppen, die an afghanischen und irakischen Schauplätzen im »Krieg gegen den Terror« kämpften, befanden sich insgesamt nur fünf Prozent in Afghanistan. Die CIA war weniger zimperlich. Wie der damalige Counterterrorism Director der CIA, Cofer Black, gegenüber einem Senatsausschuss verkündete: »Nach dem 11. September war die Schonzeit vorbei.« Er erklärte nicht, warum es zuvor eine Schonzeit gegeben hatte. Man 430
könnte sagen, dass die CIA darauf wartete, dass sich die Bush-Administration auf eine Politik gegenüber al-Qaida einigte und festlegte, welche Priorität diese Politik haben sollte. Was die CIA so bereitwillig nach dem 11. September umsetzte, war das, wozu die Regierung Clinton sie jahrelang gedrängt hatte, ganz gewiss seit den Bombenanschlägen auf amerikanische Botschaften in Afrika 1998: Schickt CIA-Agenten nach Afghanistan, helft der Nordallianz, fliegt mit der Predator-Drohne und arbeitet mit anderen Geheimdiensten zusammen, um Zellen in Europa, dem Nahen Osten und anderswo zu identifizieren und auszuschalten. Es war einfach so, dass nun, nach den al-Qaida-Anschlägen in Amerika, der gute Name der CIA nicht mehr auf dem Spiel stand, wenn sie in Afghanistan aktiv wurde. Nach dem 11. September bestand das einzige Risiko für die CIA darin, dass sie nicht handelte, dass sie gefragt wurde, warum sie nicht früher gehandelt habe, warum sie die Anschläge in New York und Washington nicht vorhergesehen habe. Die CIA hatte nicht früher gehandelt, weil die Bereichsleiter in ihrem Directorate of Operations risikoscheu waren. Die Risiken, die sie vermeiden wollten, waren Risiken für sie, für das Ansehen der CIA und vor allem für das Directorate selbst. Wenn CIA-Agenten nach Afghanistan eingeschleust worden wären, wären sie eventuell von al-Qaida gefangen genommen worden, was der CIA peinliche Publicity eingebracht hätte. Die Unterstützung der Nordallianz hätte dazu führen können, dass die Mitglieder des Directorate vor einen Kongressausschuss gezerrt worden wären. Unangenehme Fragen wären gestellt worden, etwa ob Geld für den Heroinhandel verwendet worden sei oder ob TalibanGefangene misshandelt worden seien. Die CIA hatte schon einmal Kritik auf sich gezogen, etwa als frühere 431
Mitarbeiter des Weißen Hauses sie in den Bürgerkrieg im Libanon hineingezogen hatten, als Waffen gegen die Geiseln im Iran getauscht worden waren oder als sie lateinamerikanische Militärdiktaturen im Kampf gegen Linke unterstützt hatte und dabei die Menschenrechte mit Füßen getreten worden waren. Außenministerin Albright sagte einmal zu mir, angesichts ihrer Geschichte könne man gut verstehen, warum die CIA so risikoscheu sei: Sie verhalte sich passiv-aggressiv, sagte sie, »sei traumatisiert wie ein geprügeltes Kind«. George Tenet war vor dem 11. September genauso besorgt über die Bedrohung durch al-Qaida wie jeder andere in der Regierung, doch er war gerade dabei, die CIA umzustrukturieren, vor allem das Directorate of Operations. Als Mitarbeiter des Senate Intelligence Committee und dann im Weißen Haus hatte er CIADirektoren kommen und gehen sehen. Manchmal ging das sehr schnell. Tenet wusste, dass dieser schnelle Wechsel der Moral bei der CIA geschadet hatte. Aufgrund des häufigen Wechsels hatte man sich auch nicht um die größte Schwäche der CIA gekümmert: die Unfähigkeit, Spione auf kritischen Positionen zu platzieren. Tenet zögerte deshalb, bei wichtigen Fragen der Geheimdienststrategie eine andere Meinung als das Directorate of Operations zu vertreten. Was hätte die Regierung nach dem 11. September bezüglich Afghanistan unternehmen sollen? Die Vereinigten Staaten hätten Truppen nach Afghanistan schicken und Bin Ladens Fluchtwege abschneiden sollen. Er und seine Stellvertreter hätten gefangen genommen oder getötet werden müssen. Nachdem die USA endlich Bodentruppen in Afghanistan eingesetzt und mit der Suche nach al-Qaida-Mitgliedern und den Taliban begonnen hatten, hätten Amerika und seine 432
Koalitionspartner (darunter auch Frankreich und Deutschland) im ganzen Land Präsenz zeigen und für Sicherheit sorgen müssen. Das taten sie aber nicht. Folglich war die Autorität der neuen afghanischen Regierung unter Präsident Hamid Karsai außerhalb der Hauptstadt Kabul gering. Wir hatten die Möglichkeit, die Stammesfehden und Auseinandersetzungen zu beenden und eine anerkannte nationale Regierung einzusetzen. Doch nach den ersten Versuchen zur Einigung des Landes schwand das amerikanische Interesse, und die Warlords kehrten zu ihrem alten Verhalten zurück. Das Land war 20 Jahre lang von Krieg und Stammesfehden zerrissen worden. Alles musste neu aufgebaut werden, doch im Gegensatz zu den Finanzmitteln für das Vorgehen gegen den Irak war die amerikanische Wirtschafts- und Entwicklungshilfe für Afghanistan unzureichend und floss nur zögerlich. Ich hatte mit Jim Dobbins seit 1981 bei allen möglichen Aufgaben zusammengearbeitet, die von der Stationierung von Atomraketen in Europa bis zur Stabilisierung Haitis reichten. Dobbins war Diplomat und Experte für Militärund Sicherheitsfragen. Er arbeitete beim Aufbau Somalias, Haitis, des Kosovo und Bosniens mit. 2001 begann er mit der Arbeit in Afghanistan. Die fehlenden Gelder und der Mangel an Aufmerksamkeit seltens der Bush-Regierung frustrierten ihn. Dobbins wies darauf hin, dass die zur Verfügung stehenden Mittel in den ersten beiden Jahren des Wiederaufbaus in Bosnien und im Kosovo insgesamt 1390 Dollar beziehungsweise 814 Dollar pro Kopf betrugen. Für Afghanistan waren es nur 52 Dollar. Dobbins hatte sich mit dem Aufbau neuer Polizei- und Sicherheitskräfte in verschiedenen Ländern befasst. Er hoffte, das auch in Afghanistan tun zu können, doch die Regierung Bush schien an einem so wichtigen Vorhaben 433
kein Interesse zu haben. Das Pentagon genehmigte bis 2004 nur ein 4800 Mann starkes Heer für Afghanistan. Einige regionale Kriegsherren befehligen Zehntausende Männer in Waffen. Die Einheiten der neuen Truppe wurden anfangs von den USA ausgebildet, doch schon bald stellten wir unsere Unterstützung und Kontrolle ein. Viele neue Rekruten verließen die Truppe und nahmen ihre Ausrüstung mit. In der Zwischenzeit lief Mullah Omar, der Führer der Taliban, immer noch frei herum und reorganisierte seine Anhänger auf beiden Seiten der afghanisch-pakistanischen Grenze. Obwohl die amerikanischen Streitkräfte nun seit zwei Jahren in Afghanistan sind, haben wir die Taliban immer noch nicht ausgeschaltet. Afghanistan sollte als Beispiel für Rumsfelds Theorie dienen, dass kleine Spezialeinheiten zusammen mit Unterstützung aus der Luft das erreichen können, was früher große Truppenkontingente tun mussten. Dobbins und andere, die sich intensiv mit der Frage der Sicherheit in Afghanistan befasst haben, zweifeln nicht daran, dass die USA mit mehr Truppen Stabilität in Afghanistan hätten schaffen und eine Rückkehr der Taliban und der Terroristen unmöglich machen können. Doch das große Truppenkontingent wurde für den Irak zurückgehalten. Aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit und Unterstützung ist Afghanistan immer noch ein potenzieller Zufluchtsort für Terroristen. Das zweite Land, das erhebliche amerikanische Hilfe benötigt, damit es nicht al-Qaida-ähnlichen Gruppen in die Hände fällt, ist Pakistan. Die Haltung Pakistans war vor dem 11. September gespalten gewesen. Sein militärischer Geheimdienst (ISID) hatte die Taliban mit Waffen, Männern und Informationen beliefert. Mitarbeiter des ISID hatten Terroristen aus Kaschmir in Lagern der alQaida ausgebildet und mit Terroristen 434
zusammengearbeitet, die mit al-Qaida in Verbindung standen, um Druck auf Indien auszuüben. Andererseits hatten pakistanische Polizei- und Sicherheitskräfte Mitglieder von al-Qaida auf dem Weg nach Afghanistan verhaftet, nachdem sie entsprechende Informationen von amerikanischen Behörden erhalten hatten. Nach den Anschlägen in den USA hatte General Pervez Musharraf, seit 1999 Regierungschef, trotz der Popularität der alQaida in einigen Teilen Pakistans seine Behörden mutig gedrängt, den USA beim Aufspüren von al-Qaida im eigenen Land behilflich zu sein. Bei den gemeinsamen pakistanisch-amerikanischen Aktionen wurden unter anderem die beiden führenden al-Qaida-Mitglieder Chalid Scheich Mohammed und Abu Subaida verhaftet. CIA und FBI hatten die Bedeutung von Chalid Scheich Mohammed für al-Qaida und seine Beteiligung am 11. September erst nach den Anschlägen erkannt. Abu Subaida dagegen wurde als Zielobjekt für CIA-Einsätze nach den Bedrohungen zum Jahrtausendwechsel ausgemacht. Im Jahr 2000 stand auf der Checkliste des Nationalen Sicherheitsberaters Sandy Berger für seine Gespräche mit Tenet wochenlang immer wieder die Frage: »Haben Sie Subaida schon in Pakistan gefunden?« Bei mehreren Anlässen in jenem Jahr sagte ich Berger, er könne mit einem nächtlichen Anruf rechnen, weil die CIA Subaida ganz dicht auf der Spur war. Doch es kam nie zu diesem Anruf. Als Subaida schließlich 2002 festgenommen wurde, lieferte er beim Verhör nützliche Informationen. Hätte die CIA ihn wie angewiesen schon im Jahr 2000 geschnappt, hätte er vielleicht von seinem gemeinsamen Plan mit Chalid Scheich Mohammed erzählt, in den USA Anschläge mit Flugzeugen zu verüben. Auch heute noch ist Osama bin Laden in Pakistan durchaus populär. In Moscheen und angeschlossenen 435
Koranschulen wird Hass auf Amerika und auf alles gelehrt, was nicht islamisch ist. Große Gebiete in Pakistan entlang der Grenze zu Afghanistan unterliegen immer noch nicht der Kontrolle durch die Regierung und bieten den Taliban und al-Qaida Zuflucht. Und all das in einem Land, das Atomwaffen besitzt. Noch beunruhigender sind Berichte, nach denen Wissenschaftler, die am Nuklearprogramm von Pakistan mitarbeiteten, Sympathisanten von al-Qaida sein sollen und ihr Wissen mit al-Qaida, Libyen, Iran, Nordkorea und anderen teilen. Nichts, und ganz gewiss nicht der Irak, kann wichtiger sein, als al-Qaida davon abzuhalten, sich Atomwaffen zu beschaffen. Pakistan wird von General Musharraf und dem Militär beherrscht. Die Demokratie ist vorübergehend »ausgesetzt«, wie es schon oft in der turbulenten Geschichte Pakistans der Fall war. Musharraf scheint nun wirklich al-Qaida und ihr Umfeld in Pakistan ausrotten zu wollen. Dafür muss er aber beweisen, dass Regierung und Wirtschaft für die Bevölkerung Pakistans sorgen können. Er muss Schulen errichten, in denen Toleranz gelehrt wird, und so die Koranschulen ersetzen, in denen Hass gepredigt wird. Die ideologische Auseinandersetzung um Herz und Verstand der Pakistani wird von den weltlichen Modernisierern nur gewonnen, wenn sie den Lebensstandard der vielen armen, ungebildeten Pakistani, unter denen al-Qaida die meisten Anhänger hat, deutlich verbessert. Nur wenige Krisengebiete verlangen mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen als Pakistan. Einst war das Land ein Beispiel für eine islamische Demokratie mit einer Zukunft im Hightech-Bereich, heute könnte daraus werden, was Bin Laden sich erträumt: eine islamische Nation kontrolliert von Radikalen, die sich auf 436
Fundamentalismus und Terrorismus stützen, ausgerüstet mit Atomwaffen. So ein Land könnte die Nuklearwaffen in einem Krieg gegen den verhassten Nachbarn Indien einsetzen oder Terroristen damit ausrüsten. Unter General Musharraf sind die Waffen vorerst unter strenger Kontrolle. Musharraf allerdings braucht Unterstützung, um die Stimmung in seinem Land umzukrempeln, damit nicht mehr länger die Zukunftsvision von al-Qaida unterstützt wird, sondern eine moderne, demokratische, friedliche Version. Obwohl die USA ihre Finanzhilfe für Pakistan 2001 erhöhten, reicht sie für die erforderliche Wende nicht aus, für einen Stimmungswandel in Pakistan und die Rückkehr zur Stabilität. Bei einem Besuch in den Vereinigten Staaten beklagte Musharraf 2001, dass die USA ihm Gelder für militärische Unterstützung anboten, die er nicht brauche, aber nicht die wirtschaftliche Entwicklungshilfe, die er dringend benötige. Saudi-Arabien ist das dritte Land, das auf der Prioritätenliste ganz oben steht. Vor dem 11. September versorgte die amerikanische Regierung die Saudis jahrelang mit Informationen über al-Qaida-Mitglieder im Königreich. Diese Informationen schienen in einem schwarzen Loch zu verschwinden. Selten erfuhren wir die Ergebnisse von Ermittlungen, falls sie aufgrund unserer Informationen überhaupt durchgeführt wurden. Das Gleiche galt für amerikanische Aufforderungen an die Saudis, die Methoden der Geldbeschaffung und Geldwäsche von al-Qaida im Königreich unter die Lupe zu nehmen oder der Frage nachzugehen, wie staatliche Wohltätigkeitsorganisationen und gemeinnützige Vereine von al-Qaida genutzt wurden. Nach dem 11. September war die Zusammenarbeit etwas besser, doch erkennbare, ernsthafte Anstrengungen der Saudis, al-Qaida im 437
Königreich auszurotten, wurden offenbar erst unternommen, nachdem die al-Qaida 2003 in Riad Bombenanschläge verübt hatte. Warum diese Lethargie, dieses Zögern und Verleugnen? Die Haltung der saudischen Regierung in den letzten Jahren versteht man als Amerikaner vielleicht am besten mit Hilfe einer Analogie. Wie würde sich Washington verhalten, wenn ein Land den Vorwurf erheben würde, dass die katholische Sekte Opus Dei auf der ganzen Welt terroristisch aktiv sei und vernichtet werden müsse, ihre Anführer müssten verhaftet oder getötet werden? Ohne überhaupt einen Blick auf die Beweise der ausländischen Regierung zu werfen, würden einige Regierungsmitglieder in Washington sagen, sie würden die grundlegenden Glaubensvorstellungen von Opus Dei teilen. Manche Inhaber sensibler Positionen wären vielleicht sogar Mitglied bei Opus Dei (wie es beispielsweise FBIDirektor Louis Freeh vorgeworfen wurde) und würden daher zögern, ihre Glaubensbrüder festzunehmen. Der Vergleich hinkt natürlich. Opus Dei ist keine terroristische Vereinigung. Doch es stimmt, dass sich die Glaubensgrundsätze von al-Qaida nicht sehr von denen vieler führender Saudis unterscheiden, denn die wahhabitische Auslegung des Islam lehrt die Intoleranz gegenüber anderen Religionen und die Unterstützung für die Ausweitung des Reichs des Islam. Als »Wächter der beiden heiligen Stätten« (der offizielle Titel des saudischen Königs) betrachtet sich das Haus Saud überall als Beschützer der Muslime und Förderer der Wahhabitischen Lehre. Daher verwendete das saudische Königshaus Regierungsgelder zur Unterstützung des Dschihad in Afghanistan. Mit saudischem Geld, seien es nun offizielle staatliche Mittel oder nicht, wurden mit großer Sicherheit Dschihad-Aktionen in Bosnien und nach 438
Angaben der russischen Regierung auch in Tschetschenien finanziert. Mit saudischen Regierungsgeldern wurden wahhabitische Moscheen und Schulen nicht nur in Dschihad-Ländern errichtet, sondern auch in Europa und den Vereinigten Staaten. Staatliche Mittel und das Geld reicher Saudis floss in verschiedene wohltätige und gemeinnützige Organisationen, die wiederum al-QaidaMitglieder unterstützten. Finanzierte und unterstützte die saudische Regierung wissentlich al-Qaida? Die Regierung ist reich und nicht gerade für Transparenz oder Buchprüfungen bekannt. Ich bezweifle, dass ein Minister oder ranghohes Mitglied der Königsfamilie die Anschläge in den USA unterstützten, es gibt sogar Belege für erfolglose Versuche, Bin Laden zu kontrollieren. Man muss aber auch sagen, dass Minister und Mitglieder der königlichen Familie bewusst die weltweite Ausbreitung des wahhabitischen Islam, den Dschihad und antiisraelische Aktivitäten förderten. Sie ignorierten antiamerikanische Lehren in und um Moscheen und Schulen, wo Intoleranz gepredigt wurde. Ein technischer Lehrplan westlichen Stils wurde an saudischen Schulen durch eine auf Religion ausgerichtete wahhabitische Erziehung ersetzt. Solange die Königsfamilie und ihre Herrschaft nicht offensichtlich bedroht waren, wurde bei vielen Dingen, die das Leben für al-Qaida einfacher machten, ein Auge zugedrückt. Nach den Bombenanschlägen in Riad im Mai 2003 wurden die saudischen Sicherheitsdienste offenbar angewiesen, al-Qaida im Königreich auszurotten. Amerikanische Antiterror-Experten waren nicht überrascht, als saudische Sicherheitsdienste daraufhin in Schießereien und Verfolgungsjagden verwickelt wurden. Große Waffendepots wurden entdeckt, die nicht für den Dschihad in anderen Ländern oder Anschläge auf 439
amerikanische Einrichtungen vorgesehen waren, sondern mit großer Sicherheit für einen Guerillakrieg in SaudiArabien, einen Krieg, in dem das Haus Saud entthront werden sollte. Der Fall des Hauses Saud käme für viele amerikanische Experten, die seit Jahren die Entwicklung im Nahen Osten verfolgen, nicht überraschend. Viele fürchten seit langem, ohne es beweisen zu können, dass das Königshaus, das Militär und die Sicherheitsdienste auf tönernen Füßen stehen. Erschüttert vom Sturz des Schah 1979 im Iran und die Errichtung einer antiamerikanischen Theokratie fürchten viele amerikanische Experten eine Wiederholung der Tragödie auf der anderen Seite des Persischen Golfs in Saudi-Arabien. Diese Angst beeinflusste sicherlich die Haltung einiger Mitarbeiter der Regierung Bush, darunter auch Dick Cheney, der den Krieg gegen den Irak wollte. Wenn Saddam erst einmal weg wäre, glaubten sie, könnten die USA ihre Abhängigkeit von Saudi-Arabien verringern, Truppen aus dem Königreich abziehen und eine alternative Ölquelle erschließen. Der ehemalige CIA-Direktor Jim Woolsey sprach offen darüber, dass man eine neue Regierung in Riad brauche. Die USA riskieren damit die Selbsterfüllung von Erwartungen, indem sie dem Hause Saud den »göttlichen Auftrag« absprechen, ohne Einfluss darauf zu haben, was als Nächstes passiert. Ironischerweise hat die Militärintervention im Irak jedoch die Unterstützung für die USA und das Haus Saud bei vielen unzufriedenen Bewohnern des Königreichs verringert. Wir sichern das falsche Land und schaffen damit im Nachbarland eine größere Instabilität. Zukunft und Stabilität Saudi-Arabiens sind für die USA von großer Bedeutung, daher können wir nicht einfach unsere Abhängigkeit von diesem Land verringern. Die 440
amerikanische Regierung sollte sich auf mehreren Ebenen engagieren und neue Informationsquellen erschließen, um zu erfahren, was wirklich in Saudi-Arabien vor sich geht, um mit entsprechenden Maßnahmen die Zukunft des Landes beeinflussen zu können. Stattdessen hat Präsident Bush beschlossen, in Washington eine Vorlesung über die Bedeutung der Demokratie für arabische Länder zu halten. Weil die Rede von einem Präsidenten kam, der in der arabischen Welt für seine Invasion im Irak und die Errichtung einer Demokratie westlichen Stils gehasst wird, riefen seine Worte kaum eine positive Reaktion hervor. Offensichtlich glauben die USA, sie könnten ihre Ideologie anderen mit einem Krieg aufzwingen, daher stellen sich viele in der arabischen Welt die berechtigte Frage, wie die Vereinigten Staaten dann Fundamentalisten kritisieren können, die ebenfalls ihre Ideologie mit Gewalt durchsetzen wollen. Iran ist das vierte Land auf der Prioritätenliste. Im Krieg gegen den Terror spielt es eine genauso bedeutende Rolle wie die drei anderen. Als die Regierung Bush vom Irak als einem Land sprach, das den Terrorismus und al-Qaida unterstütze und Massenvernichtungswaffen entwickele, passte die Aussage perfekt zum Iran, nicht aber zum Irak. Der Iran hatte die Hisbollah seit ihren Anfängen finanziert und gelenkt. Die Hisbollah hatte Hunderte Amerikaner im Libanon (beim Anschlag auf die Kaserne der Marines) und in Saudi-Arabien (beim Anschlag in Khobar) getötet. Mit iranischer Unterstützung hatte die Hisbollah Hunderte Israelis getötet. Während die »Verbindungen« zwischen Saddam und al-Qaida minimal waren, nutzte die al-Qaida vor dem 11. September iranisches Territorium regelmäßig zur Durchreise und als Unterschlupf. Der ägyptische Ableger der al-Qaida, der ägyptische Islamische Dschihad, war in Teheran ganz offen tätig. Es ist kein Zufall, dass 441
führende Mitglieder von al-Qaida, die der so genannten Schura angehören, über die Grenze in den Iran gingen, als die amerikanischen Truppen endlich in Afghanistan einmarschierten. Während die irakischen Massenvernichtungswaffen für die UN-Inspektoren (und später für die amerikanischen Truppen) unauffindbar waren, fand die Internationale Atomenergiebehörde der UNO Beweise, dass der Iran über ein heimliches Atomwaffenprogramm verfügte. Der Iran war, was den Terrorismus und die Beschaffung von Massenvernichtungswaffen angeht, viel aktiver als der Irak. Jeder objektive Beobachter hätte 2002 und 2003 angesichts der Beweislage gesagt, dass die USA dem Iran mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen müssten, weil ihre Sicherheit nicht von Bagdad, sondern von Teheran bedroht werde. Das ist jetzt kein Argument für eine Invasion des Iran. Wir haben diese Option 1996 ausführlich erörtert, das möchte ich nicht noch einmal tun. Ich will damit sagen, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf wirkliche Bedrohungen richten müssen. Viele dieser Bedrohungen erfordern wie der Iran eine wohlüberlegte und vorsichtige Reaktion. Es gibt im Iran starke aktive demokratische Kräfte. Die USA sollten in Zusammenarbeit mit anderen Ländern diese demokratischen Kräfte im Iran soweit stärken, dass sie die Kontrolle über den nationalen Sicherheitsapparat übernehmen können, allerdings ohne ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören, indem sie sie zu Agenten der CIA machen. Diese Aufgabe wird nicht einfach sein und ähnlich wie der Irak unsere beständige Aufmerksamkeit erfordern. Wenn wir uns nicht auf die Schwerpunkte konzentrieren, um die wir uns schon gleich nach dem 11. September hätten kümmern sollen, steht uns 2007 folgendes Szenario bevor: eine den Taliban ähnliche Regierung in Pakistan, 442
die Atomwaffen hat, einen ähnlichen Satellitenstaat vor der Tür in Afghanistan unterstützt und eine Ideologie im Stil von al-Qaida vertritt und den Terrorismus auf der ganzen Welt fördert. In der Golfregion der Iran, der ebenfalls über Atomwaffen verfügt und seine eigene Version der Ideologie im Stil der Hisbollah vertritt. Und Saudi-Arabien nach dem Sturz des Hauses Saud, das eine theokratische Republik im Stil des 14. Jahrhunderts errichtet. Unter diesen Umständen wären Amerika und der Rest der Welt immer noch unsicher, selbst wenn wir eine Demokratie im Stil Jeffersons im Irak geschaffen hätten. Zu Beginn des Jahres 2004 scheint es allerdings wahrscheinlicher, dass der Irak mehr von den Gedanken des schiitischen Führers Ajatollah Sistani als den Gedanken Jeffersons geprägt werden würde. Der 11. September brachte eine schmerzliche Tragödie, barg aber auch unerwartete Chancen. Man konnte es auf den Straßen von Teheran erleben, als sich Zehntausende spontan versammelten und ihre Solidarität mit Amerika bekundeten. Man konnte es in den Straßen Amerikas sehen, wo an fast jedem Haus Flaggen hingen. Es bestand die Chance, Menschen auf der ganzen Welt zu einen und gemeinsame Werte zu vertreten: religiöse Toleranz, Vielfalt, Freiheit und Sicherheit. Mit der auf uns einstürmenden Globalisierung war diese erneute Erklärung von Grundwerten ähnlich wie die UN-Charta nach dem Zweiten Weltkrieg dringend nötig. Aber es kam nicht dazu. Wir haben diese Chance vertan. Auf der ganzen Welt fürchteten viele Menschen, dass die einzig verbliebene Supermacht nun wild um sich schlagen und Länder und Regionen destabilisieren würde. Schließlich gibt Amerika mehr Geld für Waffen und Militär aus als die nächsten sieben Länder zusammen. Viele in der muslimischen Welt fürchteten, dass Amerika, 443
trotz seiner Versprechungen gegen islamische Regierungen, losschlagen und die Theorie Samuel Huntingtons über den Kampf der Kulturen zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung machen würde. Sie fürchteten, dass die Amerikaner zum Nahostkonflikt und zu Palästina, das für so viele Muslime ein Lackmustest war, nur ein Lippenbekenntnis ablegen würden. In Amerika suchten viele nach einer Möglichkeit, ihren Patriotismus zu demonstrieren. Wir wussten, dass verschärfte Sicherheitsmaßnahmen und höhere Ausgaben auf uns zukommen würden, schoben unsere Angst vor Big Brother jedoch beiseite und bereiteten uns darauf vor, als Volk irrationalem Hass und unaussprechlicher Gewalt entgegenzustehen. Die Führung unseres Landes tappte in die Falle und bestätigte die schlimmsten Ängste vieler Menschen auf der ganzen Welt und im eigenen Land. Anstatt den globalen Konsens zu kultivieren und die ideologischen Wurzeln des Terrorismus zu vernichten, schlugen wir tatsächlich wild um uns und begaben uns in ein größtenteils einseitiges und völlig nutzloses militärisches Abenteuer gegen ein muslimisches Land. Wir machten das, womit viele Länder gerechnet hatten. Amerika wies den Rat seiner arabischen Freunde und NATO-Verbündeten brüsk zurück und spielte mit seinen militärischen Muskeln, um Sicherheit zu finden. Doch damit ist die Welt für uns weniger sicher geworden. Nach dem 11. September wurden die Amerikaner aufgefordert einzukaufen, anstatt Opfer zu bringen. Die Amerikaner mussten keine höheren Steuern zahlen, um den Krieg gegen den Terror zu finanzieren, im Gegenteil, man sagte ihnen, sie würden weniger Steuern zahlen, wir würden den Krieg und unsere zusätzliche Sicherheit finanzieren, indem wir die Kosten unseren Enkeln aufbürdeten. Der Konsens gegen den Terrorismus wurde 444
von Überreaktionen wie der Verhaftung amerikanischer Bürger in den USA erschüttert. Sie wurden als »Feinde« bezeichnet, Anwälte und ein fairer Prozess wurden ihnen verweigert. Anstatt uns einander näher zu bringen, schaffte es der Justizminister, einen Großteil des Landes davon zu überzeugen, dass die erforderlichen Reformen durch den Patriot Act der Anfang des Faschismus waren. Die Regierung ging nicht systematisch gegen die wahren Schwachstellen in der Sicherheit unseres Landes vor, sondern gab dem öffentlichen Druck nach, die Ministerien und Behörden im »Krieg gegen den Terror« umzustrukturieren, und schuf einen schwerfälligen Verwaltungsapparat. Die Regierung war zwar nicht bereit, Sicherheitseinrichtungen nach einem Anforderungsprofil zu finanzieren, zahlte aber für die Anschaffung von Hightech-Waffen in Kleinstädten, um deren Unterstützung zu gewinnen, während Polizisten und Feuerwehrleute in Großstädten entlassen wurden. Die Anschläge vom 11. September überdeckten die Erinnerung daran, dass George W. Bush wenige Monate zuvor vom Obersten Gericht zum Präsidenten ernannt worden war. Nun stand er vor uns, einen Arm um einen New Yorker Feuerwehrmann gelegt, und versprach, er werde diejenigen, die das World Trade Center zerstört hätten, schon kriegen. Plötzlich war er der Präsident aller. Seine Umfragewerte schnellten in die Höhe. Er hatte die einzigartige Chance, Amerika zu einen, die Vereinigten Staaten mit Verbündeten auf der ganzen Welt zusammenzubringen und gegen Terrorismus und Hass zu kämpfen, al-Qaida zu zerschlagen, unsere Schwachstellen auszubessern, wichtige Länder, die von radikalen Bewegungen bedroht waren, zu unterstützen. Er tat nichts davon. Er griff den Irak an. Nach dem 11. September gab es keine Ausreden mehr, 445
warum nichts gegen die Bedrohung durch al-Qaida und ähnliche Vereinigungen unternommen wurde, warum Amerikas Schwachstellen bei einem Anschlag nicht reduziert wurden. Aber anstatt gegen diese Bedrohung mit der erforderlichen Aufmerksamkeit vorzugehen, schweiften wir ab, kämpften gegen den Irak, verirrten uns auf einen Weg, der uns schwächte und dabei die nächste Terroristengeneration produzierte. Denn selbst wenn wir den Kern von al-Qaida aufreiben, die Bewegung hat Metastasen gebildet. Sie ist wie eine Hydra, der neue Köpfe wachsen. In den 30 Monaten seit dem 11. September gab es weitaus mehr Terroranschläge durch alQaida und ihre regionalen Klone als in den 30 Monaten vor diesem Ereignis. Ich frage mich, ob Bin Laden und seine Stellvertreter die Wirkung des 11. September wirklich geplant haben: wie ein Topf mit Samen, der zu Bruch geht, woraufhin sich die Samen über die ganze Welt verteilen und keimen. Damit können Bin Laden und seine Leute zur Seite treten, aus dem Bild verschwinden und es den regionalen Organisationen überlassen, den Kampf auf die nächste Ebene zu heben. Präsident Bush fragte uns bald nach dem 11. September nach Karten oder Bildern der »al-Qaida-Manager«, als ob der Kampf gegen den Terrorismus eine Übung der Harvard Business School für eine feindliche Übernahme wäre. Er wollte unsere Fortschritte dadurch messen, dass er die Bilder der gefangenen oder getöteten Anführer durchstrich. Ich habe ein beunruhigendes Bild vor Augen, wie Bush am warmen Kaminfeuer im Weißen Haus sitzt und die Bilder der ehemaligen al-Qaida-Führung mit Rotstift durchstreicht, vielleicht auch bald schon das Bild von Bin Laden, während in den Seitenstraßen und im Gassengewirr von Bagdad, Kairo, Jakarta, Karatschi, Detroit und Newark neue Ableger von al-Qaida an der 446
Arbeit sind und die Geschehnisse im Irak heraufbeschwören, um den Hass auf Amerika weiter zu schüren und Tausende zu rekrutieren, deren Namen wir nie erfahren werden, deren Gesichter nie auf Präsident Bushs Bildchen sein werden, oder erst, wenn es wieder zu spät ist. Unser Land hätte eine besonnene Führung gebraucht, um die Probleme anzupacken, die dem 11. September zugrunde lagen: eine radikale abweichende islamistische Ideologie und Schwachstellen in einer hoch entwickelten, komplexen globalisierten Kultur. Stattdessen fiel die Reaktion unbedacht aus. Eine Analyse wurde zugunsten althergebrachter Denkweisen abgelehnt. Seitdem sind wir weniger sicher. Wir werden noch lange den Preis dafür zahlen.
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Epilog Ich habe es schon im Vorwort gesagt: Dieses Buch erzählt meine Geschichte, nach meiner Erinnerung. Ich musste Ihnen erzählen, dass wir uns alle erdenkliche Mühe gegeben haben, den Großangriff von al-Qaida zu verhindern, dass die Fachleute, die in der CSG mitarbeiteten, ihr Bestes gegeben haben und dass wir unser eigenes Leben hingegeben hätten, wenn so die Angriffe zu verhindern gewesen wären. Ich musste zugeben, dass ich zwar lautstark vor der Bedrohung durch al-Qaida gewarnt habe, aber nicht aus Protest zurückgetreten bin, als meine Empfehlung, die Infrastruktur al-Qaidas zu bombardieren, von der Regierung Clinton auf die lange Bank geschoben wurde und die Bush-Regierung meine Appelle, »rasch« zu handeln, später ignorierte. Vielleicht hätte ich zurücktreten sollen. Ich musste Ihnen berichten, warum wir meiner Meinung nach versagt haben und warum ich glaube, dass Amerika im Umgang mit der Bedrohung durch Terroristen, die den Islam entstellen, immer noch versagt. Dieser Bedrohung können wir nicht nur durch Verhaftungen und Internierungen Herr werden. Wir müssen mit unseren islamischen Freunden zusammenarbeiten und eine lebendige Alternative zur populären terroristischen Pervertierung des Islam schaffen. Diese Aufgabe kann nicht in einem Jahr, nicht einmal innerhalb eines Jahrzehnts gelöst werden. Wir dürfen uns nicht einreden, dass wir gewinnen, weil wir »mit der Mehrzahl der bekannten Anführer von al-Qaida« fertig geworden sind oder weil es einige Zeit lang keinen großen Anschlag mehr gegeben hat. Die Rekrutierung von 448
Terroristen geht weiter, begünstigt durch unsere Invasion und Besetzung des Irak. Die Zeit vergeht, und die Nachfolgegruppen von al-Qaida werden in vielen Ländern immer stärker. Die Zeit vergeht, aber unsere Anfälligkeit für weitere Angriffe besteht nach wie vor. Der Terrorismus, zu dem sich die Präsidentschaftskandidaten des Jahres 2000 kein einziges Mal äußerten, wird im Wahlkampf 2004 zu einem bedeutenden Thema werden. Ich schreibe dieses Buch noch vor der Nominierung der Kandidaten, doch Präsident Bush erzählt bei Veranstaltungen zur Einwerbung von Wahlkampfgeldern bereits – bar jeder Logik –, er verdiene die Spendengelder für seine Wiederwahl, weil er »die Terroristen im Irak bekämpfe, sodass wir sie nicht in den Städten Amerikas bekämpfen müssen«. Er sagt aber nie, dass unsere Anwesenheit im Irak die Terroristen nicht daran hindern kann, nach Amerika zu kommen, sondern vielmehr das Geld kostet, das für die Beseitigung unserer Schwachstellen zu Hause gebraucht wird, und dass sie die Rekrutierung von Terroristen erleichtert. Dennoch glauben die Buchmacher in Las Vegas und die politischen Beobachter in Washington, dass Bush klar wiedergewählt wird. Man schaudert bei dem Gedanken, wie viele Fehler, die die Nachfolgeorganisationen al-Qaidas stärken werden, er dann in den kommenden vier Jahren begehen wird: Wird er Syrien oder den Iran angreifen oder das Regime in Saudi-Arabien destabilisieren, ohne Plan für einen Nachfolgestaat? Eine Woche vor dem 11. September schrieb ich, dass sich die Regierung bei ihrer Bewertung des Problems festlegen müsse: Sind al-Qaida und das dazugehörige Netzwerk für die große Supermacht nur ein Ärgernis, oder sind sie eine existenzielle Bedrohung? Träfe das Letztere zu, müssten wir auch entsprechend handeln. Auch nach 449
dem 11. September und nach den darauf folgenden zahllosen Anschlägen des al-Qaida-Netzwerks in aller Welt denken die meisten Amerikaner und die Mehrheit in der gegenwärtigen Regierung immer noch, dass die große Supermacht nicht von einer Bande religiöser Eiferer besiegt werden könne, die einen weltweiten Gottesstaat errichten wollen. Unterschätzt den Feind niemals. Unser gegenwärtiger Feind hat einen langen Atem. Diese Leute sind schlau, und sie sind geduldig. Wer sie besiegen will, muss kreativ, phantasievoll und tatkräftig sein. Dies wird der Kampf der Freunde der Freiheit und der bürgerlichen Freiheitsrechte in aller Welt sein. Was wurde aus den Menschen, die die Aufmerksamkeit des Weißen Hauses unter Bush noch vor dem 11. September auf al-Qaida lenken wollten? Die dann, an jenem Tag, ihre Arbeit taten und Krisenmanagement leisteten, obwohl sie damit rechnen mussten, dass sich jederzeit ein Flugzeug auf das Weiße Haus stürzen würde? Wo sind Lisa Gordon-Hagerty, Roger Cressey und Paul Kurtz? Sie alle haben enttäuscht den Dienst in dieser Regierung quittiert. Sie haben niemals einen offiziellen Dank des Präsidenten und auch keine Anerkennung für das, was sie vor dem 11. September und an diesem Tag selbst geleistet haben, erhalten. Lisa arbeitet im Bereich der Sicherheit von Nuklearmaterialien in den Vereinigten Staaten. Paul beschäftigt sich intensiv mit der Sicherheit des Cyberspace. Roger und ich beraten private Unternehmen, die sich mit Sicherheitsfragen und mit der Sicherheit von EDV-Systemen befassen. Wir sind auch regelmäßig im Fernsehen zu Gast und warnen weiterhin vor al-Qaida. Und die anderen? Mike Sheehan gab einen gemütlichen Job auf und stieg bei der New Yorker Polizei als 450
stellvertretender Bevollmächtigter für Terrorbekämpfung ein, der mit seinem persönlichen Einsatz zum Schutz der Stadt beitragen will, die er liebt. Sie können ihn in der Wall Street sehen, auf der Brooklyn Bridge oder am Lincoln Tunnel, wo er die Sicherheitsmaßnahmen prüft. Randy Beers übernahm den Posten des Koordinators für Fragen der nationalen Sicherheit in John Kerrys Wahlkampfteam. Cressey, Beers und ich unterrichten außerdem Studenten. Wir hoffen, dass wir der kommenden Generation von Führungskräften im Bereich der nationalen Sicherheit vermitteln können, wie gefährlich grob vereinfachende, einseitige Herangehensweisen in der Terrorbekämpfung sind. Manche Teilnehmer unserer Seminare werden eines Tages vielleicht im Dienst unseres Landes harte Entscheidungen im Kampf gegen den Terror fällen müssen, denn dies wird ein Kampf über mehrere Generationen werden. Es liegt an uns Amerikanern, uns gut zu informieren und gründlich nachzudenken, um unserem Land mit den richtigen Entscheidungen in dieser Zeit der Prüfung beizustehen. Wir alle müssen das alte Gelöbnis erneuern, »die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu bewahren, zu beschützen und zu verteidigen, gegen alle Feinde …«
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Abkürzungen
Antiballistic Missile Treaty (ABM-Vertrag, Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) British Security Service BSS Combat Air Patrol (kampfbereite Luftpatrouille) CAP Central Command (Zentralkommando der CENTCO amerikanischen Streitkräfte) M Continuity of Government (Programm zur COG Weiterführung der Regierungsgeschäfte) Counterterrorism Security Group CSG Drug Enforcement Administration (USDEA Drogenbehörde) weltweiter Alarm für das US-Militär DEFCON 3 Department of Defence DOD Federal Aviation Administration (USFAA Flugaufsichtsbehörde) Federal Air Marshal (bewaffneter Flugbegleiter) FAM Fleet Antiterrorism Support Teams (Teams der Flotte FAST für die Terrorabwehr) Federal Reserve Bank (US-Zentralnotenbank) FED Federal Emergency Management Agency (oberste FEMA Zivil- und Katastrophenschutzbehörde) Foreign Emergency Support Teams (Teams für FEST Notfälle im Ausland) Foreign Intelligence Surveillance Act (Gesetz zur FISA Überwachung ausländischer Nachrichtendienste) HAZMAT Hazardous Materials (gefährliche Stoffe) Internationale Atomenergiebehörde IAEA Inter-Services Intelligence Directorate (pakistanischer ISID Geheimdienst)
ABM Treaty
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JCS JI JPMG JSOC
JTTF NCS
NEST
NORAD NRRC NSA NSC NSPD OFAC
OMB PDD PEOC ROE SIAC
SIOC
Joint Chiefs of Staff (Vereinigte Stabschefs) Jemaah Islamiah (Ableger der al-Qaida in Indonesien) Joint Politico-Military Group (gemeinsame amerikanisch-israelische Planungsgruppe) Joint Special Operations Command (Leitungsgremium für Elite- und Sondereinheiten, zum Beispiel Delta Force) Joint Terrorism Task Forces National Communications System (ein Reservesystem des Weißen Hauses zur Sicherung von Telefonverbindungen und Datenübertragung in Krisenfällen) Nuclear Emergency Support Team (zur Unterstützung von Spezialeinheiten der US-Streitkräfte, deren Aufgabe es ist, Atomwaffen aufzuspüren und zu entschärfen) North American Aerospace Defense Command (strategisches Luftverteidigungssystem) Nuclear Risk Reduction Center National Security Agency National Security Council (Nationaler Sicherheitsrat) National Security Presidential Directive Office of Foreign Asset Control (Abteilung des USFinanzministeriums, die für Wirtschaftsund Handelssanktionen gegen Länder, Terroristen, Waffenund Drogenhändler sowie ihre Hintermänner zuständig ist) Office of Management and Budget (Verwaltungsund Haushaltsabteilung im Weißen Haus) Presidential Decision Directive Presidential Emergency Operations Center Rules of Engagement (Einsatzrichtlinien) Securities Industry Automation Corporation (ein Reservesystem der US-Börsen zur Sicherung von Daten und Datenübertragung) Strategie Information and Operations Center (Kommandozentrale des FBI)
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Sport Utility Vehicle (Geländewagen mit Allradantrieb) Special Weapons and Tactics (Spezialeinheiten der SWAT Polizei für besonders gefährliche Einsätze) Unmanned Aerial Vehicle (unbemanntes Flugzeug, UAV Drohne) United Nations Special Commission UNSCOM Südturm des World Trade Centers WTC2
SUV
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