Freder van Holk 4000 Meter unterm Meeresspiegel
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag...
8 downloads
737 Views
885KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Freder van Holk 4000 Meter unterm Meeresspiegel
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG. Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1978 beim Autor und Erich Pabel Verlag. Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse. Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg. Franz-Josef-Straße 21.
A-5020 Salzburg
Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier. Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 33 96 16 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
November 1978
Scan by Brrazo 03/2006
1.
Der Schnelldampfer »Boston« der White-Star-Linie befand sich auf dem Weg nach Southampton. Da das Wetter in dieser Nacht ruhig war, hielten sich auf dem Oberdeck noch zahlreiche Passagiere auf. Sie unterhielten sich, lachten oder waren allein mit ihren Gedanken. Im Süden, nicht weit unter dem Horizont, mußten die Azoren liegen. Der erstaunte Ausruf einer jungen Frau lenkte die Aufmerksamkeit einiger Fahrgäste auf eine eigenar tige Erscheinung. »Steward!« Mehrere Schiffsangestellte eilten herbei. Der Blick ging in die Richtung der weisenden Hand. Ein Stutzen, dann die Antwort: »Das dürfte ein Signallicht sein.« »Machen Sie dem Wachoffizier Meldung«, sagte ein älterer Steward. Die Fahrgäste starrten auf das Wasser hinaus, hofften insgeheim auf eine Sensation. Seitlich voraus glühte ein kräftiges gelbrotes Licht dicht über dem Wasser. Es senkte sich mit dem Mee resbranden auf und nieder, blieb aber sonst am glei chen Fleck. Kapitän Royce starrte durch das Nachtglas auf das 5
Licht, dem sich das Schiff nach kleiner Kursände rung schnell näherte. »Es sitzt an einer Boje«, bemerkte er zu seinem Ersten. »Was halten Sie davon?« Stribbler setzte sein Glas ab. »Es muß sich um die Notboje eines U-Bootes handeln.« Royce nickte. »Lassen Sie die Pinasse abfieren und sehen Sie nach.« Während sich die Fahrt des Schiffes verlangsamte, hörte man die Befehle des Ersten. Wenige Minuten später schwenkte der eiserne Doppelarm der Davitts über die Reling hinaus. Die Seile liefen über die Rol len, das Boot schwebte neben dem nächtigen Schiffs rumpf hinunter, löste sich und tanzte über das dunkle Meer hin. Stribbler erreichte die Boje. Sie glich einer ange platteten Kugel. Ihr Polstück bestand aus starkem Glas, aus dem gleichmäßig das Licht strahlte. Stribbler kannte derartige Bojen nicht. Er mußte sie erst sorgfältig prüfen und mustern, bevor er über legen konnte, was weiter zu tun war. Unterhalb der Verglasung entdeckte er ein paar kräftige Schrauben, die ein Rechteck markierten. Auf dem stand: SOS-Boje Rux – USA Schrauben lösen! Telefon bedienen oder inliegende Anweisung beachten! 6
Der erste Offizier wandte den Kopf. »Schraubenschlüssel!« Er wurde ihm aus dem Werkzeugkasten gereicht. Während das Boot geschickt an der wiegenden Boje gehalten wurde, löste Stribbler die Schrauben. Es war klar, daß diese eine Verschlußplatte hielten. Sie lag aber so fest angepreßt und in die Dichtung gebet tet, daß Stribbler selbst nach Abnahme der Schrau ben einige Mühe hatte, die Öffnung freizulegen. Er griff mit der rechten Hand hinein. Zuerst brach te er ein wasserdicht eingehülltes Päckchen zum Vorschein. Es lag ganz vorn und war nur proviso risch mit einem Klebstreifen angeheftet. Mit dem zweiten Griff holte er einen Telefonhörer heraus, dessen Strippe sich im Innern der Boje verlor. Nun folgte was wenige Stunden später zur Sensa tion wurde. »Hallo! Hallo!« schrie Stribbler in den Apparat hinein. »Hallo!« kam es heftig zurück. Dann folgte in starkem Spannungsabfall und mit merklichem Auf atmen: »Gott sei Dank, man hat uns gefunden!« »Hallo! Hier Stribbler, Erster Offizier des Schnell dampfers ›Boston‹! Was ist mit Ihnen?« »Hier Rapid X, Kommandant Liver. Wir befinden uns auf Probefahrt, können nicht weiter. Vor einer Stunde hatten wir eine Explosion im Maschinen raum. Er ist augenblicklich nicht zugänglich, so daß 7
wir den Schaden nicht übersehen können. Die Ma schinen arbeiten jedenfalls nicht mehr. Wir sind auf Grund gesunken und sitzen fest.« »Wie tief?« »Hundert Meter.« Stribbler dachte an allerlei und hätte gern noch verschiedene Fragen gestellt, um seine Neugier zu befriedigen, aber er war zu sehr Seemann, um nicht das Wichtigste voranzustellen. Deshalb fragte er an: »Wie steht es bei Ihnen?« »Alles wohlauf«, beruhigte der Kommandant des U-Bootes. »Wie es im Maschinenraum aussieht, kann ich allerdings nicht sagen. Unsere beiden Leute, die sich dort aufhalten, geben kein Zeichen. Es ist zu fürchten, daß sie bei der Explosion getötet oder ver letzt wurden.« »Noch alles dicht?« »Ja. Keine Gefahr.« »Wie ist es mit der Luft?« »Wir haben genügend Sauerstoff, um es noch ein paar Tage auszuhalten.« »Großartig. Ich werde sofort Meldung machen, damit man Sie herausholt.« »Funken Sie an das Marine-Headquarter und be schränken Sie sich auf die notwendigsten Angaben. Es ist nicht nötig …« Der Satz riß ab. Stribbler horchte, schrie dann hinein: »Hallo! Hö 8
ren Sie noch? Was ist mit Ihnen?« Aus der Tiefe des Meeres kam keine Antwort mehr. Stribbler kehrte zum Schiff zurück. Unterwegs öffnete er das Päckchen und studierte beim Schein der Lampe den Inhalt. Er bestand lediglich in einer kurzen Anweisung, auf schnellstem Weg das Mari ne-Headquarter der USA zu verständigen, den ge nauen Standplatz anzugeben und wenn möglich bei der Boje zu bleiben. Kapitän Royce schüttelte den Kopf, als er den Be richt seines Ersten hörte, gab jedoch dem Funker un verzüglich die erforderlichen Anweisungen. »Ersuchen Sie gleichzeitig um Beorderung eines Zerstörers, der uns ablösen kann«, ergänzte er. »Ewig können wir hier nicht liegen bleiben.« Das dachten auch einige Fahrgäste. Sie erfuhren zwar wie alle anderen, was vorlag, aber sie kamen doch am Morgen zu Royce und machten ihn erregt darauf aufmerksam, daß ihre Geschäfte dringend ihre Anwesenheit in Southampton erforderten. Der Kapi tän gab höflich zur Antwort, daß ein paar Dutzend Menschenleben in Gefahr seien und daß er bleiben müsse, damit die Rettungsschiffe nicht lange nach der winzigen Boje zu suchen brauchten. Die Fahrgä ste bezweifelten diese Notwendigkeit, fügten sich aber in das Unvermeidliche. Die Presse nahm sich der Angelegenheit an und 9
bauschte sie zur Sensation auf, bevor Royce auch nur das geringste davon ahnte. Lower befand sich an Bord, ein amerikanischer Reporter, der für sein Geld etwas leistete. Er war cle ver genug, sich an den Funker heranzumachen, wäh rend Stribbler noch die Boje untersuchte. »Hören Sie, mein Freund«, bedeutete er ihm mit einem gehaltvollen Händedruck, »ich muß heute un bedingt noch eine Story an meine Redaktion geben. Also legen wir gleich los, damit ich meine hundert Worte hinüber bekomme.« »Wird eine Masse Geld kosten«, meinte der Fun ker. »Unseres nicht.« Lower zwinkerte verständnisvoll. »Also fangen wir an.« Der Funker holte sich die Zentrale der »Sun« her an und ließ sich von Lower, der sehr langsam und überlegt sprach, eine Geschichte erzählen. Freilich hörte er einstweilen nur den Anfang, denn Lower sprang sehr bald wieder auf und erklärte: »Du lieber Himmel, jetzt habe ich das Wichtigste vergessen. Ich muß erst noch einmal in meine Kabine. Brechen Sie ab und funken Sie, daß ich nachher wiederkomme. Wir setzen dann fort.« »Ich kann ja die Verbindung gleich halten«, schlug der Funker vor. »Lieber nicht«, wehrte Lower ab. »Ich komme an der Bar vorbei, da dauert’s vielleicht doch ein Stünd 10
chen, bevor ich wieder zur Stelle bin.« »Na schön«, seufzte der andere. »Ich wollte, ich käme auch an der Bar vorbei.« Lower dachte nicht daran, in seine Kabine zu ge hen. Er beobachtete das zurückkehrende Boot und verstand es so einzurichten, daß er das Gespräch zwischen Royce und Stribbler mithören konnte. So erfuhr er eine ganze Menge mehr an Tatsächlichem und Mutmaßungen über das Licht auf dem Meer als alle anderen Fahrgäste. Später erzählte er dem Funker seine Geschichte fertig. »Eigentlich wundert es mich«, sagte dieser, »daß Sie nichts über die Boje mitteilen wollen. Das wäre doch etwas für Sie.« »Irrtum, mein Lieber«, sagte Lower. »So was in teressiert das Publikum nicht. Wenn es wirklich das Wichtigste wäre, würden Sie ohnehin Anweisung kriegen, die Durchgabe zu verweigern.« Der andere zwinkerte. »Habe ich schon, aber eigentlich nur deshalb, da mit mein Apparat frei ist. Wenn Sie Ihre Geschichte nicht schon vorher angefangen hätten, wäre sie wohl nicht mehr rechtzeitig nach New York gekommen.« Lower klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Ein geschickter Mann richtet sich immer so ein, daß er rechtzeitig gehört wird. Merken Sie sich das fürs Leben. Gute Nacht.« 11
Am Morgen kam die »Sun« mit der Sensation her aus, die einige Stunden später über alle Medien ver breitet wurde. Kapitän Royce begriff es nie, wie es möglich gewesen war, die Nachricht vom Schiff her unter nach New York zu bringen. Im Laufe des Vormittags machte er eine Beobachtung, die ihn tief bestürzte: Die Boje trieb. Offenbar war sie nicht mehr fest verankert. Wenn ihre Bewegung auch nicht beträchtlich war, so wurde sie doch zweifellos von den Wellen mitgenommen. Stribbler hatte noch einmal versucht, telefonische Verbindung mit dem gesunkenen U-Boot zu be kommen. Es war ihm nicht gelungen. Der Apparat hatte keinen Strom mehr. »Wahrscheinlich ist das Kabel gerissen«, meinte er zu seinem Vorgesetzten. »Vielleicht ist es von ei nem Fisch weggerissen worden.« »Haben Sie denn einen Ruck gemerkt, als das Ge spräch abbrach?« »Das nicht«, sagte Stribbler knapp. Ihm fiel keine andere Erklärung ein. Gegen Mittag quoll die erwartete Rauchwolke am Horizont auf. Ein Torpedobootzerstörer der USKriegsmarine rauschte heran. Sein Kommandant be mühte sich zu Kapitän Royce und ließ sich von ihm und von Stribbler berichten. »Eine merkwürdige Geschichte«, meinte er, als Stribbler zu Ende war. 12
»Kam mir auch so vor«, brummte Royce. »Wenn es nicht Stribbler wäre, würde ich annehmen, er hätte geträumt. Aber schließlich ist es nicht meine Sache, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich denke, ich kann nun weiterfahren.« »Gewiß.« Der Kommandant nickte. »Das Bugsier schiff ist bereits unterwegs und wird vermutlich im Laufe der Nacht eintreffen. Bis dahin bleibe ich hier. Aber – um auf die Sache zurückzukommen – haben Sie wirklich ›hundert Meter‹ gehört?« »Wie ich Ihnen sagte«, erwiderte Stribbler. »Unbegreiflich. Meine Karte zeigt an dieser Stelle eine Meerestiefe von zweitausendachthundert Metern an. Wie kann da ein U-Boot auf Grund liegen?« Royce sagte: »Sehen Sie, das habe ich mir auch dauernd gesagt, denn meine Karten zeigen die glei che Tiefe. Aber das ist nicht das einzige, was mir aufgefallen ist. Selbst wenn die hundert Meter stim men – wie kommt es dann, daß das U-Boot noch nicht zerbrochen ist? Es gibt doch gar keine UBoote, die den Druck in dieser Tiefe aushalten kön nen? Und seit wann gibt es U-Boote mit hundert und mehr Meter Telefon?« Der Kommandant des Zerstörers kniff das linke Auge zu. »Hm, ich würde an Ihrer Stelle darin nichts Be sonderes sehen. Rux ist ein ganz neues Modell, das gerade seine Probefahrt macht.« 13
Royce stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich hätte nicht gedacht, daß man schon solche Fortschritte gemacht hat. Aber trotzdem bleibt es rät selhaft, wieso das Boot mit hundert Metern auf Grund geraten kann. Unsere Karten scheinen nicht mehr zu stimmen.« Der Kommandant erhob sich. »Ich werde sofort loten lassen und weiter feststel len, ob die Boje tatsächlich losgerissen ist. Wollen Sie nicht wenigstens so lange warten?« Royce nickte. »Ich komme mit hinüber. Stribbler, Sie überneh men das Kommando.« Eine Weile später hörten die beiden Schiffsführer an Bord des Zerstörers das Ergebnis der Lotung. »Hundert Meter!« meldete der Leutnant, der das Manöver überwachte. »Grund?« forschte der Kommandant. »Nein.« »Dann weiter.« »Zweihundert Meter!« kam es eine Weile später. »Grund?« »Nein!« In kurzen Abständen kamen die Meldungen. Als tausend Meter erreicht waren, verzichteten sie auf Weiterlotung. »Tausend Meter und immer noch kein Grund? Wie vereinbart sich das mit den gemeldeten hundert?« 14
Royce zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Die Hauptsache ist, daß das Boot den Druck aushält, dem es in größerer Tiefe ausge setzt ist.« »Auf tausend Meter Tiefe ist auch das modernste U-Boot nicht geeicht«, antwortete der andere bedeu tungsvoll. Sie fuhren zur Boje hinaus, die nach Südosten ab getrieben worden war. Mit einem Haken fischten sie das Kabel vor, das an der Unterseite der Boje hing. Es ließ sich mühelos einholen. Die Boje trieb also tatsächlich. Zwischen ihr und dem U-Boot bestand keine Verbindung mehr. Zug um Zug wurde das Kabel, das ungefähr Fin gerstärke besaß, eingeholt. Endlich schnellte das freie Ende aus dem Wasser. Es war durchgekniffen. Der Befund ließ keinen Zweifel zu. Es konnte nicht gerissen sein, denn weder Seele noch Isolierung zeigte die dann unvermeidlichen Strähnen. Ebenso wenig konnte es durchschnitten sein, denn das hätte eine ebene Schnittfläche hinterlassen. Nein, es war von einer starken Zange abgekniffen worden. Ganz deutlich sah man, wie das Isolierungsmaterial durch die Backen der Zange gequetscht worden war, wie die gleichen Backen das Seelenende meißelförmig angedrückt hatten. »Toll!« murmelte der Kommandant. 15
»Unglaublich!« flüsterte Royce. Mehr äußerten sie nicht. Sie wagten nicht, etwas zu sagen, weil ihnen alle Mutmaßungen diesem Tat bestand gegenüber gar zu sinnlos vorkamen. Royce ließ sich auf sein Schiff bringen. Schnelldampfer »Boston« setzte seine Fahrt fort. Der Torpedobootzerstörer blieb an seiner Seite lie gen. In der Nacht traf das Hebeschiff ein. Als erstes nahm es mit Hilfe seiner besseren Appa rate Lotungen vor. Die erste Lotung ergab die in den Karten angege bene Tiefe von zweitausendachthundert Meter. Ein Dutzend weitere Lotungen folgten. Man nahm an, daß sich aus dem Meeresgrund eine Bergspitze bis auf hundert Meter unter der Oberfläche erhob und daß das U-Boot gerade auf diesen unterseeischen Gipfel gesunken sei. Erschreckenderweise ergaben alle Lotungen annä hernd die gleiche Tiefe. Die Abweichungen waren geringfügig. Man setzte die Lotung planmäßig fort und dehnte sie aus, bis überhaupt kein Zweifel mehr möglich war. Im weiten Umkreis vom Fundort der Boje gab es keine Stelle, an der die Meerestiefe nur hundert Me ter betrug. Nirgends wurde sie geringer als zweitau sendfünfhundert Meter. 16
Um nichts unversucht zu lassen, schickte man ei nige Male Taucher hinunter. Sie gingen an den ver schiedensten Stellen so tief wie möglich, konnten aber keine Anzeichen finden, die auf ein gesunkenes U-Boot hinwiesen. Endlich befahl das Marine-Headquarter, die zwecklose Suche abzubrechen. Rux, das neueste Modellboot, von dem man sich so viel versprochen hatte, wurde aufgegeben. Sech zehn Mann Besatzung waren verloren. Und ganz nebenbei war die Welt über das wichtig ste Geheimnis der Kriegsmarine informiert worden. * In diesen Tagen lernte Meredith Owen die Stadt New York kennen. Es war ein reichlich kühles und freud loses, aber starkes Erlebnis für sie, über den Broad way und seine Nebenstraßen zu bummeln und zwi schen erregender Neugier und bedrückenden Min derwertigkeitsgefühlen tausend neue Eindrücke zu sammeln. Merry Owens bisheriges Schicksal glich durchaus dem von unzähligen anderen jungen Mädchen. Zuvor war sie aus dem stillen Kleinstädtchen kaum jemals herausgekommen. Sie war in einem winzigen Häu schen aufgewachsen, in dem sich ihr Vater, ein Wis senschaftler, mit Hilfe eines kleinen Vermögens sei 17
nen Neigungen hingegeben hatte. Ihre Mutter war vor Jahren gestorben, ihren Vater geleitete sie weni ge Tage nach ihrer Volljährigkeit zu Grabe. Sie hatte viel gelernt, was ein junges Mädchen nicht zu wissen braucht, aber wenig von dem, was nötig ist, um sich selbständig durchs Leben zu schlagen. Einen Haus halt konnte sie freilich führen, aber was wollte das schon besagen. Der Anwalt ihres Vaters machte sie nach dessen Tod mit der Geringfügigkeit des vorhandenen Ver mögens vertraut und riet ihr, einige kaufmännische Kenntnisse zu erwerben. Bevor sich die trauernde Merry noch entschließen konnte, bot ihr der Bruder ihrer Mutter an, die Erziehung seiner beiden kleinen Kinder zu überwachen. Dieser Onkel lebte in New York und besaß ein gutgehendes Geschäft in Nah rungsmitteln und Haushaltwaren. Sie wußte wenig von ihm und kannte ihn persönlich überhaupt nicht, sie begriff auch, daß sie ihm vermutlich die berüch tigte arme Verwandte sein würde, aber sie nahm so fort an. Sehr zu ihrer angenehmen Überraschung erwies sich Onkel John als liebenswürdiger, freundlicher Mann, der sie mit aufrichtiger Herzlichkeit aufnahm. Auch seine Frau gefiel ihr. Beide waren nette Men schen, die sich gern selbst um ihre Kinder geküm mert hätten, aber nicht über genügend Zeit verfügten. Es war ihnen daher lieb, eine Verwandte für sie ge 18
funden zu haben. So hatte Merry Owen alle Aussicht, in den näch sten Jahren ein gleich nüchternes und friedliches Le ben weiterzuführen, wie sie es bisher getan hatte. Eine romantische Tatsache – wenigstens für Merry romantisch – bestand freilich: Sie hatte einen Bruder. Vor fünf Jahren hatte er sich mit seinem in mancher Beziehung recht eigensinnigen Vater so gründlich überworfen, daß er das Haus verlassen hatte. Seitdem war niemals ein Brief oder ein Lebenszeichen von ihm eingetroffen. Merry Owen liebte diesen Bruder, weil er der ein zige Mensch war, der ihr wirklich nahegestanden hatte. Sie liebte ihn mit der seltsamen Kraft und In nigkeit, die durch die räumliche und zeitliche Tren nung eher wächst als nachläßt. Und sie wob um ihn einen romantisch verklärenden Heiligenschein, der immer dichter und vollkommener wurde. Bernard, kurz Bern genannt, wurde zum Ideal. An ihm maß sie alles, was ihr an männlichen Lebewesen über den Weg lief. Kein Wunder, daß es niemandem gelungen war, ernstlich die Aufmerksamkeit Merry Owens zu erregen. Merry bummelte teils träumerisch, teils kritisch von einem Schaufenster zum anderen. Sie ging gera de an der Tür eines Geschäftes vorbei, dessen Ausla ge sie wenig interessierte, als sie von einem heraus tretenden breitschultrigen Mann angerempelt wurde. 19
»Verzeihung«, murmelte er mechanisch, ohne überhaupt die junge Frau zu sehen, und ging schnell die Straße hinunter. »Bitte«, erwiderte sie gleichgültig und aus alter Gewohnheit, aber so ganz brachte sie das Wort schon nicht mehr heraus. Sie sah den Mann dicht vor sich und verlor plötzlich Sprache und Geistesgegenwart. Erschrocken blieb sie stehen und starrte mit aufgeris senen Augen dem Mann hinterher. Dieser Mann … Das war doch Bern! Ihr Bruder Bern! Diese Erkenntnis traf sie mit der Stärke eines Schocks. Eigentlich hatte sie nie daran gezweifelt, ihren Bruder einmal wiederzusehen, aber jetzt zeigte es sich, wie wenig sie damit gerechnet hatte. Der Mann, der ihr Bruder sein mußte, drohte in der flutenden Menge zu verschwinden. Sie stand immer noch wie gelähmt. Erst als ein Passant sie bei seiteschob, löste sich der Bann. »Bern!« stöhnte sie, dann setzte sie sich in Bewe gung. Jetzt wurde ihr bewußt, daß sie ihn nicht aus den Augen verlieren durfte, daß der Zufall sie nicht zum zweitenmal so zusammenführen würde. Sie lief immer schneller, rannte schließlich. Dort vorn ging er. Zweifellos war das Bern, sein Schritt, seine Haltung. Jetzt sprang er in einen Wagen. Sie rannte, drängte 20
sich durch die Menge, rief – der Wagen fuhr weg. Sie erspähte ein Taxi und beauftragte den Fahrer, den Wagen einzuholen. Sie konnten aufschließen, aber nicht dicht heran kommen. Die Fahrt ging dem Hafen zu. An einer Kreuzung verloren sie die Verbindung. Der vordere Wagen konnte noch passieren, während der folgende warten mußte. »Nehmen Sie’s nicht tragisch«, tröstete der Fahrer. »Der Weg ist ziemlich klar. Es geht zum Kai, und wir werden bald aufholen. Für alle Fälle habe ich mir die Nummer meines Kollegen gemerkt, den können Sie dann aushorchen.« Der Fahrer tat sein Bestes, als die Kreuzung frei war. Wenige Minuten später schimmerte Wasser auf. Sie bogen links ein. Hundert Meter weiter wollte das Taxi, das sie suchten, gerade wieder abfahren. Merrys Fahrer hupte, wurde verstanden und hielt neben dem anderen Taxi. »He, wo ist dein Fahr gast?« Der andere Fahrer wies zum Wasser. »Dort.« Merry Owen zahlte hastig, sprang hinaus und eilte zu der Steintreppe, die ins Wasser hineinführte. Im Laufen formte sie die Hände zum Sprachrohr und schrie mit voller Lungenkraft zu dem davonknatternden Motorboot hinüber: »Bern! Bern!« Der Mann, der gut sichtbar als einziger Passagier im Boot stand, wandte sich nicht um. 21
Merry ließ die Arme sinken. Sie konnte ihn nicht einholen. Doch halt, dort unten lag ein Ruderboot. Ein Mann saß darin und blinzelte zu ihr hinauf. »Können Sie mich fahren?« fragte sie. »Ich muß hinter dem Motorboot her.« Der Mann grinste. »Fahren kann ich Sie schon, Miß, aber rechnen Sie nicht damit, daß ich mit meinen zwei Armen schnel ler vorwärtskomme als der fünfzigpferdige Flitzer.« »Dann nützt es mir nichts«, sagte sie. »Können Sie mir wenigstens sagen, wem das Boot gehört?« »Wenn ich nicht irre, ist es eines von Shurmans Booten.« »Wer ist das – Shurman?« Ein verwunderter Blick traf sie. »Shurman? Nun, das ist einer der reichsten Leute der Staaten. Man kann eine ganze Masse über ihn erzählen, wenn man will.« »Das ist nicht nötig«, wehrte sie ab. »Kannten Sie zufällig den Mann, der mit dem Boot wegfuhr?« »Gesehen habe ich ihn schon einmal, weil ich öf ter hier bin, aber ich kenne ihn nicht.« Sie verkrampfte die Hände. »Er ist mein Bruder. Ich habe ihn fünf Jahre lang nicht gesehen, und nun entdeckte ich ihn zufällig. Wenn ich nur wüßte, wo ich ihn finden kann.« »Fragen Sie doch Shurman selber«, riet der Boots 22
besitzer grinsend, setzte dann aber teilnahmsvoll zu: »Das ist natürlich nur ein Scherz. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, dann warten Sie, bis das Boot zurückkommt.« Plötzlich stieg die Hoffnung in ihr auf. »Es kommt zurück?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie Glück haben – ja. Ich habe es zweimal beobachtet, wie es abfuhr und zwei Stunden später wieder anlegte. Manchmal war es aber auch wochen lang nicht in dieser Gegend zu finden. Sie müssen eben ein paar Stunden warten, und wenn es nicht kommt, Ihr Glück ein paar Tage später versuchen. Außerdem erfahren Sie sicher auf der Polizei, wem das Boot gehört. Die Nummer ist 8462. Alles andere findet sich dann von selbst. Ich würde mir an Ihrer Stelle nicht viel Gedanken machen. Es ist nicht schwer, einem Menschen auf die Spur zu kommen, wenn man schon so viel weiß. Aber nun muß ich weiter.« »Herzlichen Dank!« Merry Owen ging ein paar Stufen hinab und lehnte sich gegen die Einfassung der Treppe. Sie dachte gar nicht daran, daß sie ebensogut weiter durch die Stadt laufen könnte, daß zwei Stunden eine lange Zeit sei en. Sie wartete eben. Angestrengt starrte sie auf das belebte Wasser hinaus, als müßte das Boot jeden Augenblick wieder auftauchen. Nachdem sie eine 23
Stunde gewartet hatte, wurde es dämmrig. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß diese Gegend nicht gerade die beste von New York war und daß ihr Aufenthalt Anlaß zu Mißdeutungen geben konnte. Jedenfalls stand plötzlich im Halbschatten der an brechenden Nacht ein modisch gekleideter Mann vor ihr. Er begann mit einer höflichen Redewendung und wurde zwei Sätze später schon zudringlich, so daß sie sich entrüstet an ihn wandte, sie gefälligst nicht zu belästigen. Als das nicht half, stieß sie ihn ener gisch zur Seite und eilte nach oben. Da kein Polizist in der Nähe war, folgte der Fremde und versuchte sein Glück von neuem. Sie fürchtete den Kerl nicht gerade, aber sie dachte, sie könne über den Zwi schenfall die Annäherung des Bootes übersehen. Deshalb schrie sie ihn wütend an, so daß er endlich verschwand. Jedenfalls war es ihm unangenehm, daß verschiedene Leute auf der anderen Seite der Straße auf den Zwischenfall aufmerksam wurden. Merry Owen hätte eigentlich Grund gehabt, sich zu freuen. Merkwürdigerweise begann sie zu schluchzen. Der Vorfall hatte die harte Spannung, unter der sie nun schon fast zwei Stunden stand, ge löst. Plötzlich stand wieder ein Mann neben ihr und er kundigte sich: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« »Gehen Sie fort!« schluchzte sie mit aufsteigender 24
Empörung. »Ich rufe die Polizei, wenn …« Sie brach ab, weil ihr die Bemerkung nicht ganz geeignet schien. Durch einen leichten Tränenschleier hindurch blickte sie nämlich auf einen Mann, dessen Äußeres bereits irgendwie vertrauenerweckend wirk te. Dieser Mann besaß ein ausdrucksvolles, edelge schnittenes Gesicht. Er sah nicht nur äußerlich vor nehm aus. Auch seine Stimme, in der freundliche Teilnahme schwang, wirkte beruhigend. Neben ihm stand ein vielleicht achtzehnjähriger junger Mann. Der andere mochte gegen die dreißig sein. In ihre schnelle Musterung hinein klang dessen warme Stimme: »Sie haben von mir nichts zu be fürchten, Miß. Ich bemerkte zufällig, daß Sie belä stigt wurden, und wollte Ihnen helfen. Wenn Sie wünschen, lassen wir Sie allein.« Sie wischte sich die Augen aus. »Verzeihen Sie bitte. Hilfe brauche ich nicht, aber ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich warte hier nur auf jemand.« »Wenn Sie länger hier warten, werden sich weitere Belästigungen kaum vermeiden lassen. Deshalb scheint es mir ratsam, einen Polizisten zu bitten, Sie im Auge zu behalten.« Sie überlegte verwirrt. »Einen Polizisten? Aber nein, das ist doch nicht nötig, ich warte doch nur auf meinen Bruder.« »Nun – gut, dann wird mein Begleiter in der Nähe 25
bleiben. Für welche Zeit hat sich Ihr Bruder ange sagt?« »Ich weiß noch gar nicht, ob er kommt«, erwiderte sie. »Eigentlich warte ich nur auf das Boot, mit dem er fortgefahren ist. Ich habe nämlich meinen Bruder seit fünf Jahren nicht gesehen. Heute begegnete ich ihm zufällig, als er aus einem Geschäft trat. Ich folg te ihm, konnte ihn aber nicht mehr erreichen. Er fuhr von hier aus mit einem Motorboot weg. Ein Mann, der mit einem Ruderboot unten hielt, sagte mir, es sei vielleicht eins von Shurmans Booten und es würde möglicherweise in zwei Stunden zurückkommen. Ich warte nun, weil ich von dem Bootsmann hören will, wo sich mein Bruder befindet.« »Das reinste Lotteriespiel«, sagte der jüngere der beiden. »In der Tat.« Der andere nickte. »Haben Sie Ihren Bruder bestimmt erkannt?« »Ganz bestimmt!« »Und was wollen Sie tun, wenn das Boot nicht zu rückkehrt?« »Ich – weiß es nicht… Dort kommt es!« Sie schrie die letzten Worte laut heraus und eilte die Treppe hinunter, um so schnell wie möglich an das Boot he ranzukommen, das eben in eleganter Kurve heran schoß. Zitternd vor Unruhe ging sie auf und ab, bis das Boot endlich dumpf mit dem Schutzring anprall te. 26
»Hallo, Sie haben doch Nummer 8462?« rief sie dem Bootsmann zu. Dieser blickte flüchtig auf, zurrte sein Boot fest und stellte den Motor ab. »8462? Gewiß, das ist meine Nummer.« »Gott sei Dank.« Sie atmete auf. »Wo haben Sie den Herrn hingebracht, den Sie von hier mitnahmen? Er ist mein Bruder, und ich möchte gern wissen, wo ich ihn finden kann.« »Ihr Bruder?« fragte der Bootsmann zweifelnd. »Wie heißen Sie denn?« »Meredith Owen. Bitte sagen Sie mir, wo mein Bruder ist.« »Das weiß ich leider selbst nicht, Miß Owen«, gab der Bootsmann zurück. »Ich habe ihn drüben abge setzt und kenne ihn nicht.« Die beiden Fremden kamen die Treppe herunter. »Geben Sie doch der Miß Auskunft«, forderte der Ältere. Der Bootsmann wurde merklich mißtrauisch und mürrisch. »Wer ist denn das nun wieder? Ich habe keine Auskunft zu geben.« »Sagen Sie ihr, wo sie ihren Bruder finden kann.« »Das weiß ich selber nicht.« »Sie wollen es nicht wissen?« »Auch das.« Der Fremde wandte sich an Merry Owen. »Kommen Sie, Miß, hier erfahren Sie nichts mehr.« 27
Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich muß doch wissen, wie ich zu meinem Bruder komme! Bitte sagen Sie mir, was Sie über ihn wissen.« »Tut mir leid, Miß, von mir können Sie nichts er fahren. Vielleicht treffen Sie ihn später einmal in der Nähe.« Das junge Mädchen ließ sich nach oben führen. Sie war wie betäubt, weil ihre Hoffnungen so ent täuscht worden waren. »Machen Sie sich keine Sorgen darüber«, tröstete ihr Begleiter. »Sie werden Ihren Bruder schon fin den.« »Aber ich kann mich doch nicht wochenlang im mer nur hierherstellen.« »Das wird nicht nötig sein. Verschiedenes läßt sich sehr schnell ermitteln. Sagten Sie nicht, daß Sie Ihren Bruder aus einem Geschäft herauskommen sa hen?« »Ja.« »Finden Sie es wieder?« »Bestimmt. Es war …« Der Fremde winkte einem Taxi, das vorbeifahren wollte. »Steigen Sie bitte ein, es ist bald Geschäfts schluß.« Merry Owen hatte so viel Vertrauen gewonnen, daß sie sofort einstieg. Im letzten Augenblick erreichten sie ihr Ziel. 28
Es war ein fotografisches Spezialgeschäft. Der Inhaber hörte sich aufmerksam an, was ihm die junge Frau und ihr Begleiter zu sagen hatten. »Ich kann mich entsinnen«, gab er dann Auskunft. »Zweifellos handelt es sich um Mr. Owen.« »Bernard Owen?« rief Merry. »Jawohl, Bernard Owen.« »Haben Sie seine Anschrift?« »Leider nicht. Ich habe Mr. Owen schon wieder holt bedient, er zählt zu meinen besten Kunden, aber noch stets ist die bestellte Ware von ihm oder seinen Beauftragten abgeholt worden.« »Die Bezahlung der Rechnungen …« »…erfolgte stets bei Abholung. Es tut mir leid, Ih nen nicht dienen zu können, aber ich will Mr. Owen gern verständigen, wenn er wieder herkommt.« »Und wann wird das sein?« »Frühestens in drei Tagen. Er hat eine Bestellung aufgegeben, die bis dahin erledigt sein soll.« »Darf man hören, was er bestellt hat?« fragte der Fremde. »Vielleicht gibt uns das einen Hinweis.« Der Geschäftsinhaber zögerte. »Das glaube ich kaum – aber es ist ja kein Ge heimnis. Mr. Owen bestellte verschiedene Ergän zungsstücke zu einem Unterwasserapparat.« Daraus ließ sich nicht viel entnehmen. Merry Owen hinterließ ihre Anschrift und Telefonnummer, dann verließen sie den Laden. 29
Draußen verabschiedete sich auch der Fremde. »Für heute läßt sich nicht mehr viel erreichen«, sagte er. »Sie werden morgen von mir alles Wis senswerte über das Boot erfahren. Vermutlich ist es überflüssig, da Sie ja voraussichtlich von dem Ge schäft aus verständigt werden. Sollten Sie von Ihrem Bruder hören und ihn wiedersehen, so wird es mich freuen, das von Ihnen zu erfahren. Rufen Sie mich bitte im Waldorf-Astoria an.« »Gern.« Sie nickte und schüttelte die gebotene Hand. »Unter welchem Namen?« »Sun Koh.«
30
2.
Zwölf Stunden später wußte Sun Koh, daß das Mo torboot auf den Namen des Millionärs Shurman ein getragen war. Anschließend rief er den New Yorker Generalbevollmächtigten Shurmans an. »Sie erinnern sich, Mr. Billing, daß ich mich für heute elf Uhr bei Ihnen angesagt habe?« »Gewiß, ich erwarte Sie«, kam es verbindlich zu rück. »Sind Sie verhindert?« »Nein, ich habe nur eine kleine Bitte. Einer Ihrer Angestellten, ein gewisser Bernard Owen, wird von seiner Schwester gesucht. Sie sah ihn gestern eines Ihrer Motorboote besteigen, der Bootsmann verwei gerte jedoch jede Auskunft. Ich erwarte natürlich nicht, daß Sie über jeden einzelnen Ihrer Leute orien tiert sind, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in zwischen alle Feststellungen wegen Mr. Owen tref fen lassen würden.« »Gern, selbstverständlich. Wie heißt der Mann?« »Bernard Owen.« »Wissen Sie. wie er aussieht?« »Groß, breitschultrig, markantes Gesicht, blondes Haar und graue Augen. Diese Beschreibung ist nicht viel wert, aber vielleicht ist Ihnen gedient, wenn ich Ihnen sage, daß er an der rechten Schläfe eine lang gezogene, schmale Narbe besitzt.« »Hm, seine Schwester sucht ihn?« 31
»Ja, ich lernte sie zufällig kennen.« »Ich will sehen, was ich erreichen kann. Ich erwar te Sie also elf Uhr.« Sun Koh legte auf. Unmittelbar darauf fiel ihm ein, daß er Billing auf die fotografischen Interessen des Gesuchten hätte aufmerksam machen sollen. Er hob den Hörer wieder ab, wählte die gleiche Num mer – und geriet in ein fremdes Gespräch hinein. »… vor Kap Race, Mr. Billing«, hörte er eine Stimme. »Zwanzig Meter unter der Oberfläche. Die Stelle wird durch eine Boje markiert. Die Besatzung hat noch für drei Tage Sauerstoff. Sorgen Sie für schnellste Hilfe, ohne daß ein Name fällt. Die näch sten Nachrichten über Kabelblock vier oder an Owen. Verstanden?« »Ja.« Das Gespräch verschwamm, brach ab. Sun Koh legte jetzt den Hörer nieder. Er hatte es impulsiv gleich tun wollen, aber diese merkwürdige Ortsbe stimmung hatte ihn davon abgehalten. Vor Kap Race? Das war Neufundland. Und zwan zig Meter unter der Oberfläche? Höchst eigenartig. Hal Mervin kam hereingeschlendert, unter dem Arm ein paar Zeitungen. »Guten Morgen, Sir. Ihr untertänigster Privatse kretär meldet sich zum Vortrag über den Spuk auf dem Ozean. Die mit Recht so beliebte Seeschlange ist endlich aus den Angeln gehoben und hat ins Gras 32
beißen müssen.« »Das heißt mit vernünftigen Worten?« fragte Sun Koh lächelnd. Hal wurde ernst. »Das ultraschnelle U-Boot ist in folge eines Maschinenschadens nördlich der Azoren gesunken. Es ließ eine Notboje aus, die vom Damp fer ›Boston‹ entdeckt wurde. Der erste Offizier der ›Boston‹ nahm telefonische Verbindung durch den Bojenapparat auf und erfuhr, daß das Boot in hundert Meter Tiefe auf Grund liege. Er verständigte das Ma rine-Headquarter, das sofort Zerstörer und Hebe schiff aussandte. Das U-Boot fand man nicht, wohl aber stellte man überall eine Meerestiefe von über zweitausendfünfhundert Meter fest, weiterhin, daß die Boje trieb und daß ihr Kabel mit einer Zange durchgekniffen worden ist.« »Welche Erklärungen hat man dafür gefunden?« »Vom Sonnenstich des Offiziers bis zum örtlichen Aufwallen und Wiedereinsinken des Meeresbodens ist so gut wie alles vertreten, aber nichts wirkt über zeugend. Ich neige allenfalls dazu, an eine Täu schung jenes Stribbler zu glauben. Was meinen Sie dazu?« »Nichts«, erwiderte Sun Koh nachdenklich. »Ich bin aber gespannt, was vor Kap Race zwanzig Meter unter dem Wasserspiegel liegt. Gib mir Bescheid, sobald du darüber etwas hörst.« Hal riß die Augen auf. »Was?« 33
»Laß dich nicht verblüffen«, riet Sun Koh lachend. »Wir müssen fort. Nimba soll fahren.« »Jawohl, Sir. Ich dachte tatsächlich, Sie hätten schon rausgekriegt, wo das Unterseeboot hingekom men ist.« »Sehr schmeichelhaft.« Eine Weile später saß Hal würdevoll neben Nimba auf dem Vordersitz des Wagens und erkundigte sich beiläufig: »Hast du von dem versunkenen Untersee boot gelesen?« Nimba nickte. »Die Zeitungen sind ja voll davon. Es klingt alles ziemlich komisch, nicht wahr?« »Nicht besonders«, erwidert Hal mit unnachahmli cher Lässigkeit. »Wenn man weiß, was in der Nähe von Kap Race in zwanzig Meter Meerestiefe liegt, werden sich so ziemlich alle Rätsel lösen.« Nimbas Gesicht drückte Hochachtung und Zweifel zugleich aus. »Willst du damit sagen, daß …« »Nichts will ich sagen«, unterbrach Hal beschei den. »Du wirst dich aber meiner Worte erinnern. Dort kommt Sun Koh.« Die Fahrt führte durch verschiedene Teile New Yorks und endete vorläufig in Electric City, in der sich das Verwaltungsgebäude des Shurman-Kon zerns befand. Billing, der Generalbevollmächtigte, war ein vier schrötiger Manager mit rötlichem Haar. Er begrüßte 34
Sun Koh mit abwartender Freundlichkeit, die zu nichts verpflichtete. »Es ist mir eine Ehre, Sie begrüßen zu dürfen. Darf ich bitten, Platz zu nehmen.« Sun Koh setzte sich. Er wußte, daß Billing über al les informiert war, was seinen Agenten zu erfahren möglich gewesen war. Die Tatsache, daß er über haupt empfangen wurde, bewies das zur Genüge. Billing ließ sich nicht so leicht sprechen. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihre Zeit zur Verfü gung stellten«, erwiderte Sun Koh, »obwohl ich aus bestimmten Gründen vermeiden mußte, den Zweck meines Besuches anzugeben. Es wird Ihnen zweifel los recht sein, wenn ich sofort darauf zu sprechen komme?« »Bitte.« »Vor einiger Zeit erhielten Sie ein Kaufangebot für einen gewissen Landstrich an der atlantischen Küste, der zum Eigentum Mr. Shurmans gehört.« Über Billings Gesicht zuckte flüchtiges Erstaunen. »Ah – darf ich annehmen, daß das Angebot von Ih nen ausging?« »Ja«, gab Sun Koh zu. »Sie lehnten das Angebot ab, obgleich es zweifellos günstig war. Es wurde un ter besseren Bedingungen wiederholt und abermals verworfen. Ich bin nun gekommen, um selbst mit Ihnen zu verhandeln und Ihnen mein Angebot noch einmal zu unterbreiten.« 35
Billing ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er bestimmt, wenn auch mit Bedauern, antwortete: »Es tut mir leid, Ihnen auch persönlich das Angebot ab lehnen zu müssen. Die Landgebiete, auf die Sie re flektieren, sind nicht verkäuflich.« »So unwesentlich sind meine Gründe für den be absichtigten Kauf nicht. Darf ich die Gründe Ihrer Weigerung hören?« Billing hob die Brauen etwas. »Es wird Ihnen si cher genügen, wenn ich Sie darauf hinweise, daß ich nur die Anweisungen meines Vorgesetzten ausfüh re.« Sun Koh lächelte. »Eine seltsame Redewendung aus dem Mund eines Generalbevollmächtigten. Wol len Sie sagen, daß Sie auf Mr. Shurmans ausdrückli chen Wunsch den Verkauf nicht abschließen kön nen?« »So ist es.« »Merkwürdig. Mr. Shurman wendet diesem Land stück eine Aufmerksamkeit zu, die auf gewichtige Gründe schließen läßt.« Billing wurde noch einen Schein kühler. »Die Interessen Mr. Shurmans an seinem Besitz stehen selbstverständlich denen Fremder nicht nach. Wie gesagt, ich bedaure unendlich, aber das Land ist unverkäuflich.« »Schade. Würden Sie mir eine persönliche Unter redung mit Mr. Shurman vermitteln?« 36
»Das ist nicht meine Sache«, erwiderte Billing steif. »Sie müßten sich schon an die Privatsekretäre Mr. Shurmans wenden.« Sun Koh nickte. »Ganz recht. Wo sind sie und Mr. Shurman zu fin den?« »Augenblicklich auf seinem kalifornischen Be sitz.« Sun Koh sah den anderen durchdringend an. »Mr. Shurman befindet sich nicht auf seinem kaliforni schen Besitz.« Billing zeigte keine Spur von Erschütterung. »Nicht?« fragte er leicht verwundert. »Wie können Sie das behaupten?« »Ich weiß es«, erklärte Sun Koh bestimmt. Billing zuckte mit den Schultern. »Dann ist er vermutlich nach seinem Landsitz in Mexiko abgereist, vielleicht auch nach Kanada. Mr. Shurman liebt die Veränderung.« »Zweifellos. Mr. Shurman verfügt über sechs Be sitzungen in Amerika, die für einen Aufenthalt in Frage kommen könnten. Er ist während der letzten beiden Wochen auf keiner gewesen. Wahrscheinlich dürfte er Tag und Nacht im Flugzeug oder im Auto unterwegs sein.« Jetzt erinnerte Billings Gesicht lebhaft an eine graue Steinbüste. Etwas matt meinte er: »Ich nehme an, daß Sie mich bluffen wollen.« 37
»Ich bin nur gut unterrichtet.« »Welches Interesse haben Sie daran?« »Ich wünsche Mr. Shurman zu sprechen.« »Er wird sich dann außer Landes aufhalten. Sie werden verstehen, wenn ich nicht jederzeit über sei nen Aufenthalt informiert bin, da mir meine Aufga ben wenig Zeit lassen, mich um persönliche Ge schicke zu kümmern.« Sun Koh ging nicht darauf ein. »Vor zwei Wochen wurde Ihnen mein Angebot unterbreitet. Ihre Ablehnung erfolgte aufgrund einer persönlichen Entscheidung Mr. Shurmans. Sie müs sen sich also in dieser Zeit mit ihm in Verbindung gesetzt haben. Wollen Sie mir bitte sagen, wo sich Mr. Shurman zu dieser Zeit aufhielt?« »Es tut mir leid, aber ich bin nicht befugt, Ihnen derartige Auskünfte zu erteilen.« »Ich kann verstehen, daß Ihnen meine Fragen un angenehm sind, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß eine öffentliche Suche nach Mr. Shur man noch viel peinlicher werden dürfte.« Billing sprang hoch. »Was wollen Sie damit sa gen?« »Daß ich nach wie vor Mr. Shurman zu sprechen wünsche«, entgegnete Sun Koh unbewegt. »Ich wer de meine Suche nach ihm nicht aufgeben, es sei denn, daß Sie mir seinen Aufenthaltsort angeben.« »Das darf ich nicht«, keuchte Billing förmlich und 38
ließ nun alle Beherrschung außer acht. »Sie hätten das gleich sagen sollen«, tadelte Sun Koh. »Sie wollen nämlich nicht gegen Ihre Anwei sung handeln, aber ich muß Sie doch dringend bitten, Mr. Shurman den Inhalt unseres Gespräches recht genau zu übermitteln und ihn auf die Folgen seiner Verschlossenheit aufmerksam zu machen.« Billing atmete auf. »Das wird geschehen. Wie er entscheiden wird, wage ich freilich nicht zu sagen.« »Wann können Sie mir das Ergebnis mitteilen?« »Frühestens in zwei Tagen. Lieber wäre mir …« »Ich werde übermorgen bei Ihnen anfragen. Haben Sie an meine Bitte bezüglich dieses Bernard Owen gedacht?« »Ich gab deswegen Auftrag. Das Ergebnis der Nachforschungen ist hier.« Er zog einen Zettel her aus, blickte darauf, als müßte er sich erst selbst un terrichten und fuhr dann fort: »Hm … Ein Mann die ses Namens und dieser Beschreibung ist bei uns un bekannt.« Sun Koh zog die Brauen hoch. »Er benutzte eines Ihrer Motorboote.« Billing blickte nicht auf. »Das hat nichts zu sagen. Der Bootsführer gesteht ein, daß er gelegentlich entgegen den Vorschriften Privatpersonen gegen ein Trinkgeld beförderte.« »In Ihrem Konzern scheint ja eine erfreuliche 39
Selbständigkeit zu herrschen«, bemerkte Sun Koh trocken. »Halten Sie es nicht für möglich, daß Owen ein Angestellter Mr. Shurmans ist, ohne daß Sie da von wissen?« »Ausgeschlossen«, wehrte Billing sofort ab. »Un sere Kartei müßte darüber Auskunft geben.« »Umfaßt die Kartei auch Leute außerhalb New Yorks?« »Alle Angestellten des Shurman-Konzerns.« »Auch die persönlichen Angestellten Mr. Shur mans?« »Auch diese, Sie können mir glauben, daß es kei nen Mr. Owen bei uns gibt.« »Und wenn ihn Mr. Shurman, von dem Sie ja an scheinend nicht viel hören, erst vor einigen Tagen eingestellt hätte?« Billing war klug genug, die Lücke nicht zu ver schmähen. »Hm, das ist freilich nicht ganz ausgeschlossen«, murmelte er. Sun Koh erhob sich. »Bitte fragen Sie Mr. Shurman auch nach diesem Bernard Owen, wenn Sie für mich um die Unterre dung nachsuchen. Es war mir ein Vergnügen.« Billing hätte das Gegenteil behaupten können, aber er verbeugte sich höflich. »Ein harter Kopf und sicher der treueste Diener seines Herrn«, urteilte Sun Koh später über ihn Hal 40
gegenüber. »Er darf nicht verraten, wo Shurman sich aufhält. Dieser Kerl wird mir immer interessanter, je mehr ich mich mit ihm beschäftige.« »Und Owen?« »Der auch. Ich bin überzeugt, daß Billing genau über ihn Bescheid weiß. Er log mich an und behaup tete, nichts von ihm zu wissen.« »Da wird das kleine Mädchen aber sehr traurig sein.« »Sie wird sich gedulden, bis ich mit Shurman ge sprochen habe. Ich werde sie nachher anrufen.« * Merry Owen hatte die Kinder gerade zum Mittags schlaf zu Bett gebracht, als der sehnlichst erwartete Anruf kafn. Ihre Tante, die um diese Stunde das Ge schäft ihrem Mann allein überließ und einigen häus lichen Obliegenheiten nachging, rief sie ans Telefon. »Merry, ein Anruf für dich aus dem WaldorfAstoria!« Die junge Frau eilte an den Apparat und hörte mit Enttäuschung von Sun Koh, daß die Anschrift ihres Bruders noch nicht zu ermitteln gewesen sei. Als sie den Hörer auflegte, meinte ihre Tante teils neugierig, teils besorgt: »Das war ein Anruf aus dem Waldorf-Astoria? Würdest du mir sagen, um was es sich handelt? Ich will nicht neugierig sein, aber du 41
bist fremd in der Stadt, und schließlich sind wir ja verantwortlich für dich. Du hast anscheinend eine recht vornehme Bekanntschaft gemacht?« Merry Owen hatte sich mit der freundlichen Tante schon recht gut zusammengefunden und sah keinen Grund, Geheimnisse vor ihr zu haben. Sie berichtete daher über ihre Erlebnisse am vergangenen Tag, wo zu sie bisher einfach nicht gekommen war, weil sie ihre Verwandten nur flüchtig gesehen hatte. Mrs. Grave hörte aufmerksam zu und stellte dann mütterlich-freundlich einige Fragen, die ihr wesent lich erschienen. »Also dieser Sun Koh rief dich an. Hast du auf ihn Eindruck gemacht?« Merry begriff die Frage nicht. »Wie meinst du das?« Die Tante lächelte. »Nun, du bist ein hübsches Mädchen. Männer sind in diesem Punkt sehr wählerisch. Einer häßlichen Person gegenüber zeigen sie sich leider meist weni ger hilfsbereit.« Jetzt verstand sie. »Aber Tante, wo denkst du hin! Er war höflich und freundlich zu mir, aber immer mit Abstand, so ungefähr, als ob der Prinz von Wales mir behilflich sein würde.« Mrs. Grave besaß genügend Feingefühl, um zu merken, daß sie sich geirrt hatte. Sie ging auf weni ger wichtige Dinge ein. 42
»Du hast also deinen Bruder gesehen? Hoffentlich hast du dich nicht getäuscht. Ich finde es jedenfalls seltsam, daß er mit dem Motorboot wegfuhr und doch kein Angestellter Shurmans sein soll. Entweder ist das Schwindel, oder der Bootsmann verliert seine Stellung.« »Du hältst es für möglich, daß die Firma falsche Angaben macht?« Die Tante wiegte den Kopf hin und her. »Was Shurman betrifft, so halte ich alles für mög lich. Um den Mann gibt es mehr Geheimnisse als um eine Million andere.« »Und warum sollte der Bootsmann entlassen wer den?« »Weil er keinen Fremden fahren darf. Mein Cou sin ist bei Shurman angestellt. Von ihm weiß ich, wie streng die Bestimmungen gerade in diesen Dingen sind. Und Shurman ist hart wie Eisen. Wenn dein Bruder bei ihm angestellt ist, weiß ich nicht, ob man ihn dazu beglückwünschen oder ob man ihn bedau ern soll.« »Ist er so grausam?« fragte Merry. Mrs. Grave ließ sich in einem Sessel nieder und winkte ihrer Nichte, das gleiche zu tun. »Nein, grausam ist er wohl nicht, aber so gerecht, wie es eigentlich kein Mensch sein darf. Er kennt weder Gnade noch Wohlwollen, weder Rücksicht noch Schonung. Er bezahlt seine Angestellten besser 43
als irgendein anderer, aber er wirft sie rücksichtslos hinaus, wenn sie im geringsten gegen seine Anord nungen verstoßen.« »Ist das nicht richtig?« Ihre Tante schüttelte lebhaft den Kopf. »Nein, das ist nicht richtig. Du kennst eben die Welt nicht. Vollkommen ist niemand, und der beste Mensch kann Fehler begehen. Deshalb darf man von den Menschen nicht verlangen, daß sie stets voll kommen und fehlerfrei handeln. Shurman tut es. Freilich, er kann sich auf seine Leute verlassen und hat deshalb auch solche Erfolge. Wahrscheinlich ist er der reichste Mann Amerikas. Und weißt du, wie lang er gebraucht hat, um das zu werden?« »Nein.« »Nicht viel länger als ein halbes Dutzend Jahre.« Darüber wunderte sich Merry Owen denn doch. »In so kurzer Zeit? Dann muß er wahrhaftig ein schlechter Mensch sein.« »Tja, so ist’s«, meinte die Tante nachdenklich. »Trotzdem muß man ihn vielleicht bedauern. Er hat sich’s eben so zu Herzen genommen, deshalb gibt es in seinen großen Unternehmungen auch keine Frauen. Eine Frau hat ihn zu dem gemacht, was er heute ist.« Merry lächelte. »Aber Tante, das klingt wie aus den ›Wahren Ge schichten‹!« 44
»Es ist so«, betonte Mrs. Grave. »Eigentlich eine alltägliche Angelegenheit. Harry Shurman lernte ein junges Mädchen kennen, verliebte sich in sie und heiratete sie. Vier Wochen später betrog sie ihn mit einem anderen. Shurman hätte eben vorsichtiger sein sollen. Jedenfalls prügelte er den Schuldigen halbtot und setzte die Frau mitten in der Nacht auf die Stra ße. Seine Ehe wurde natürlich geschieden. Dieses Erlebnis hat ihn wohl hart gemacht, denn von da an begann sein Aufstieg. Er warf sich in allerlei Ge schäfte, spekulierte und wurde zusehends reich da bei. Heute ist er der erste Mann Amerikas, aber ich glaube nicht, daß er einen Freund hat, geschweige denn eine Frau.« »Ich bedaure ihn. Lebt er hier in New York?« Mrs. Grave erhob sich. »Das weiß ich nicht. Ich habe lange nichts über ihn gehört. Aber jetzt muß ich weiter.« Merry blieb allein im Zimmer. Eine halbe Stunde später läutete das Telefon. Mer ry nahm den Hörer ab. Der Inhaber des Geschäftes meldete sich, den sie am Vortag wegen ihres Bruders befragt hatte. »Miß Owen?« vergewisserte er sich und fuhr nach der Bejahung fort: »Ich hielt es für richtig, Ihnen Mitteilung zu machen. Ihr Bruder rief eben an und sagte mir, daß er die bestellten Apparate nicht selbst abholen werde, da er wegen einer Reise längere Zeit 45
außer Landes sein werde.« »O Gott!« »Er schickt einen Boten und bat gleichzeitig, ihm noch einen besonderen Belichtungsmesser mit zugeben, den er gestern vergaß mitzunehmen. Er sol le sofort nach dem Europapier gebracht werden, wo er ihn in spätestens einer halben Stunde in Empfang nehmen wolle. Ich dachte mir nun, wenn Sie sich beeilen würden, könnten Sie vielleicht Ihren Bruder noch erreichen. Sie haben noch dreiundzwanzig Mi nuten Zeit…« »Vielen Dank«, rief Merry und knallte den Hörer auf die Gabel. Sie klingelte die Nachbarin heraus und bat sie hastig: »Bitte, kümmern Sie sich um die Kin der. Hier sind die Schlüssel. Ich habe eine dringende Besorgung.« Bevor die Frau noch alles richtig erfaßt hatte, rannte sie schon die Treppe hinunter. Natürlich war kein Taxi sichtbar. Merry mußte einige hundert Me ter laufen, bevor sie einen Wagen fand. »Zum Europapier!« rief sie dem Fahrer zu. »In ei ner Viertelstunde muß ich da sein.« »Na, na«, brummelte der Mann, »das wird sich kaum schaffen lassen.« Sie warf heftig die Tür zu. »Es muß sich schaffen lassen. Hundert Dollar.« Der Wagen zog an, daß sie mit dem Kopf gegen die Rückwand schlug. 46
Zwei Minuten vor Ablauf der halben Stunde rollte der Wagen über den Europapier. »Wo?« fragte der Fahrer zurück. »Ich weiß nicht«, entgegnete sie angstvoll. »Fah ren Sie langsam weiter bis ich … Da ist er!« Dicht am Wasser hatte sie ihren Bruder unter den zahlreichen Menschen, die den Pier belebten, er späht. Sie warf dem Fahrer den Schein in den Schoß, sprang heraus und rannte auf ihren Bruder zu, der offensichtlich im Begriff war, in ein wartendes Mo torboot zu steigen. »Bern! Bern!« Der Gerufene wandte sich nicht um. »Bern!« Er wandte sich erst um, als sie dicht hinter ihm war und ihn gerade am Arm herumreißen wollte. »Bitte?« Sie weinte vor Erregung und Angst, weil er so fremd tat. »Bern! Kennst du mich nicht mehr? Ich bin doch Merry, deine Schwester?« Bernard Owen prallte zurück. »Du…« Die Freude überwältigte ihn, und schon schloß er das junge Mädchen in seine Arme. »Mein Gott, du bist es wirklich, Merry! Aber wie ist das möglich? Wie kommst du hierher?« Vom Motorboot kam ein scharfer Pfiff herauf. So 47
fort brach er ab, machte sich frei und blickte nach sei ner Armbanduhr. Sein Gesicht straffte sich wieder. »Es tut mir leid, Merry, aber ich muß unbedingt fort.« Sie klammerte sich an ihn. »Aber doch nicht jetzt, Bern!« »Doch, sofort. Ich werde dich aufsuchen, wenn ich…« »Bitte warte noch, nachdem wir uns so lange …« »Ich weiß«, sagte er nervös, »aber ich muß weg.« »Nimm mich ein Stück mit«, bat sie. Er zögerte, dann nickte er. »Komm!« Gemeinsam eilten sie die Treppe hinunter und sprangen in das Motorboot, das sofort wegschoß. »Meine Schwester«, erklärte Bern Owen dem Bootsmann. »Schon bekannt.« Der Mann grinste. Merry blickte verdutzt auf. »Sie – Sie haben doch gestern abgestritten, daß Sie meinen Bruder kennen?« Der Bootsmann zuckte nur mit den Schultern und starrte voraus. Bern Owen faßte seine Schwester beim Arm. »Der Mann mußte die Auskunft verweigern. Aber laß, du mußt mir einmal erzählen.« Er führte sie in die winzige Kajüte. Eine Viertelstunde widmeten sie sich ausschließ lich Erinnerungen. Dann kam ein langes Schweigen, aus dem heraus Merry sagte: »Du hast dich verän dert, Bern. Dein Gesicht ist so kühl und hart gewor 48
den. Früher lachtest du so gern.« »Mach dir keine Gedanken darüber, Merry. Das Leben ist hart, so daß man das Lachen darüber manchmal vergißt. Im übrigen bist du hübscher ge worden, als ich mir hätte träumen lassen. Ich habe oft an dich gedacht, aber es lag alles so fern, daß es mich nicht ernstlich berührte. Offengestanden – dieses Wiedersehen hat mich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht.« Wieder schwiegen sie, bis sie fragte: »Was grü belst du, Bern?« »Ich glaube, ich muß mich mehr um dich küm mern als bisher«, erwiderte er nachdenklich. »Ich überlege gerade, wie ich es anfangen kann.« »Willst du mir nicht auch von dir erzählen?« »Das ist es ja eben«, murmelte er. Der Bootsmann steckte den Kopf in die Kajüte. »Wir legen gleich an, Mr. Owen. Soll ich Ihre Schwester mit zurücknehmen?« »Ja.« Merry forschte in seinem Gesicht. »Wo willst du hin, Bern? Du bist der einzige Mensch, der mir nahe steht, und nun sollen wir uns schon wieder trennen?« »Ich komme bald wieder«, suchte er zu beruhigen. »Wo willst du hin?« Er führte sie hinaus und wies auf eine kleine Mo torjacht, auf die sie zusteuerten. »Dorthin. Die Jacht bringt mich wieder.« 49
»Wohin?« Er strich ihr über das Haar. »Nicht neugierig sein, Schwesterchen. Wenn ich zurückkomme, erzähle ich dir alles.« »Warum nimmst du mich nicht mit?« »Es geht nicht«, sagte er ernst. »Ich bin nicht mein freier Herr.« »Aber wenigstens noch ein Stück. Die kleine Jacht kann doch nicht weit aufs Meer hinaus. Du kannst mich dann später absetzen lassen.« »Es ist ausgeschlossen. Bitte sei vernünftig.« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Du hast du etwas Schlimmes vor? Du tust so ge heimnisvoll?« »Aber nein«, sagte er. »Also nun leb wohl. Ich ge be dir Nachricht, sobald ich wieder nach New York komme.« Merry Owen konnte den Bruder nicht halten, aber sie war noch lange nicht soweit, sich innerlich zu fü gen. Fünf Jahre Gedenken hatten sie mit diesem Bruder stärker verbunden, als ihr bewußt geworden war. Alles in ihr sträubte sich dagegen, ihn jetzt so einfach wieder verschwinden zu sehen. Bern Owen stieg nach einem letzten Händedruck auf die Jacht hinauf. »Ich fahre mit«, rief Merry ihm nach. »Du bleibst!« »Nimm mich mit.« 50
Bern Owen wußte genügend von den Frauen im allgemeinen und seiner Schwester im besonderen, um die Hoffnungslosigkeit der Lage zu erkennen. Er hätte Merry höchstens durch einen langen Vortrag davon überzeugen können, daß ihr Verhalten sinnlos war, aber dazu fehlte ihm die Zeit. Seine Minuten waren tatsächlich gezählt, die vorgesehene Zeit schon überschritten. Sekundenlang zögerte er noch, dann winkte er. »Komm herauf, ich nehme dich mit.« »Großes Ehrenwort?« »Ja, aber beeile dich.« Der Bootsmann knurrte böse: »Sie haben wohl keine Ahnung, was Sie da Ihrem Bruder für eine Suppe einbrocken.« Sie achtete kaum darauf, sondern eilte nach oben. Die Jacht setzte sich unverzüglich in Bewegung. Als Merry das ernste Gesicht ihres Bruders sah, kamen ihr doch Zweifel. »Du bist mir böse?« erkundigte sie sich. Er lächelte etwas mühsam. »Du hast mich überrumpelt. Sicher hättest du es nicht getan, wenn du wüßtest, was auf dem Spiel steht. Aber da du nun einmal da bist, werde ich es auch vertreten. Hoffentlich bereust du deine Hart näckigkeit nicht gar zu sehr.« Sie legte ihm die Arme um den Hals. »Sei nicht böse, Bern, aber du weißt nicht, wie mir 51
zumute ist. Bei dir fühle ich mich wie zu Haus. Wenn du es wirklich willst, kehre ich wieder um, obgleich es mir schwerfällt.« »Es ist schon zu spät«, antwortete er ruhig. »Eine Umkehr ist nicht mehr möglich.« »Um so besser«, sagte sie lächelnd. »Wo fahren wir hin?« »Auf den Meeresgrund.« »Bitte?« »Wie ich dir sagte. In einer Stunde nimmt uns ein Unterseeboot auf.« Nun erschrak sie doch. »Ein Unterseeboot? Puh! Was hast du damit zu tun?« »Ich bin der Kommandant. Komm hinunter, es wird jetzt Zeit, daß ich dir einiges erzähle.« Merry Owen erfuhr nun das Wichtigste von dem, was sie vorher hätte wissen sollen. * »Sensation im U-Boot-Fall!« Begierig flogen die Augen der Käufer über die Zeilen des »Herald«. Rätsel um Rux gelöst!
Ozean gibt seine Geheimnisse preis –
Verschwundenes U-Boot gefunden!
52
Wie seit einigen Tagen bekannt ist, ver sank das neue U-Boot der US-Marine unter geheimnisvollen Umständen nördlich der Azoren. Da sich die aufgenommene Suche als ergebnislos erwies, wurde sie auf Anord nung des Marine-Headquarters abgebrochen. In den Mittagsstunden erhielten wir die anonyme Mitteilung, daß das verschwunde ne U-Boot westlich von Kap Race zwanzig Meter unter der Oberfläche des Meeres lie ge, daß seine Besatzung wohlauf sei, sofor tige Hebungsversuche aber unerläßlich sei en. Der durch Boten übermittelten Nachricht war eine hohe Geldsumme beigefügt, mit dem Ersuchen, ein Flugzeug zu chartern, das sich von der Richtigkeit der Angaben über zeugen könne. Die Lage des Bootes sei durch eine Boje markiert. Wenn man sich die Form dieser Nachricht sowie die Tatsache, daß das U-Boot noch vor wenigen Tagen zweitausend Kilometer entfernt versunken sein sollte, vor Augen hält, wird man verstehen, daß Anlaß be stand, an einen schlechten Scherz zu glau ben. Trotzdem hielt es der Verlag in Anbe tracht der in Not befindlichen Menschen für seine Pflicht, dem Wunsch des Unbekannten nachzukommen und ein Flugzeug zu ent senden. 53
Der Pilot dieses Flugzeugs meldete wört lich: »Boje gefunden, in geringer Tiefe UBoot gut sichtbar. Benachrichtigt sofort Ma rine-Headquarter.« Wir haben das selbstverständlich getan und nehmen an, daß man in Washington keinen Augenblick zögern wird. Nähere An gaben finden unsere Leser in der Abendaus gabe. Die Abendausgabe brachte, wie es in Amerika üb lich ist, die Meinung aller möglichen Leute zu dem sonderbaren Ereignis. Wirklich wichtig war von al len Einzelberichten eigentlich nur ein Interview mit dem zuständigen Leiter des Marine-Headquarters. Dieser war – wohl auf höhere Weisung hin – aus der bisher gewahrten Zurückhaltung etwas herausgegan gen und hatte einige Aufklärungen über das U-Boot gegeben. Der »Herald« brachte das Interview ganz groß und hatte schließlich auch alle Ursache dazu. Frage: Ist dem Headquarter bekannt, daß das verschwundene Unterseeboot Rux vor Kap Race liegen soll, und was gedenkt das Headquarter zu tun? Antwort: Wir haben einige schnelle Zerstörer so wie ein Hebeschiff angewiesen, sich auf schnellstem Weg zu der gemeldeten Stel le zu begeben. 54
Frage: Das verschwundene Boot stellt einen bis her unbekannten Typ dar. Wie kommt es, daß die Öffentlichkeit bisher nichts über ihn erfuhr? Antwort: Rux ist ein neues Modell, aber auch nicht mehr als ein solches. Neue Versuche werden ja ständig gemacht, meist jedoch fruchtlos. Es wäre unverantwortlich von uns, wollten wir die Öffentlichkeit mit laufenden Mitteilungen über jeden nutz losen Versuch belästigen. Auch Rux ist ein Versager und damit überholt. Frage: Die Öffentlichkeit wird diesen Stand punkt sicher würdigen, aber sie wird trotzdem den Wunsch haben, über dieses Versuchsboot mehr zu erfahren, nachdem sich so tragische und geheimnisvolle Er eignisse abgespielt haben und noch ab spielen. Vielleicht können Sie mir einige technische Daten geben, etwa über die Größe des Bootes? Antwort: Es gehört zu den kleinsten Typen, es ist nicht länger als dreißig Meter. Frage: Welche Geschwindigkeit hat es? Antwort: Fünfunddreißig Meilen. Frage: In welche Tiefe kann es tauchen? Antwort: Hundertzwanzig Meter. Frage: Ist diese geradezu unglaubliche Zahl eine theoretische Angabe, oder hat das Boot 55
schon einmal eine solche Tiefe erreicht? Antwort: Die Zahl hat nur rechnerische Bedeutung. Es war Aufgabe dieser Probefahrt, den praktischen Nachweis zu bringen. Man darf wohl jetzt sagen, daß das nicht ge lungen ist. Fage: Wie lange kann das Boot unter Wasser bleiben, ohne daß das Leben der Besat zung ernstlich gefährdet wird? Antwort: Eine Woche. Frage: Demnach ist anzunehmen, daß die Besat zung jetzt noch am Leben ist? Antwort: Gewiß, wenn sich an Bord sonst keine Katastrophen ereignet haben. Der Sprecher hatte sich über zahllose Dinge aus geschwiegen, die gewissen Leuten fremder Staatsan gehörigkeit hochinteressant gewesen wären, aber immerhin hatte er einige aufsehenerregende Angaben gemacht. Die geringe Größe, die äußerste Schnellig keit, die beträchtliche Tauchtiefe und die lange Dau er des Tauchvermögens kennzeichneten einen ganz neuen Typ von Unterseeboot, der den bereits er wähnten Leuten starkes Unbehagen bereitete. Selbst verständlich lächelte man nur spöttisch über die Re densarten von fruchtlosen Versuchen. * 56
Kap Race. Grau, watteweich und feuchtkalt stand der Nebel über der langen Dünung des Meeres, das über die ausgedehnten Sandbänke schwer und träge gegen das in der Ferne sichtbare Land anrollte und erst dicht an der Küste noch einmal grollend aufbegehrte. Dunkel und massig lag das Hebeschiff vor Anker. Seitlich standen in geringer Entfernung die schwar zen, schlanken Leiber zweier Zerstörer. Das Hebeschiff bestand eigentlich aus zwei Schif fen, zwischen denen das Wasser strömte. Erst im oberen Teil war es ein organisches Ganzes, das frei lich zwischen mächtigen Eisenträgern weite Lücken aufwies, durch die die armstarken Trossen der Krane die Tiefe wiesen. Durch eine dieser Lücken grellte Scheinwerfer licht auf das grugelnde Wasser. Es machte eine rote Holzkugel sichtbar, die mit der Wellenbewegung leicht auf und nieder pendelte. Das war die Boje, die die Lage des U-Bootes mar kierte. Sie wies keinerlei Kennzeichen auf. Unter ihr hing eine dünne Stahltrosse, die sich bald straffte. Eben stieg ein Taucher an der Eisenleiter bedäch tig in das Wasser hinunter. Die Kabel folgte ihm. Da der Taucher eine starke Lampe trug, konnte man vom Hebeschiff aus seinen Weg verfolgen. Zehn Meter. 57
Zwanzig Meter. »Ich sehe auf das U-Boot«, meldete der Taucher. »Es ist Rux, die Zeichen sind aufgemalt.« Sachlich berichtete er weiter: »Das Bojenkabel ist durch ein fachen Knoten mit einem mehrere Meter langen Ka belende des U-Bootes verbunden. Wahrscheinlich handelt es sich um den Rest des Telefonkabels. Ich löse die Boje. Wenn Sie mir ein Kabel fertigmachen, will ich es anklemmen, vielleicht kriegen wir da durch Verbindung mit den Eingeschlossenen.« »Kabel wird fertiggemacht. Stellen Sie den sonsti gen Befund fest.« Der Taucher machte seinen Rundgang, dann mel dete er: »Das Boot liegt fast frei. Es ist schräg von oben langsam eingefahren und hat sich mit dem Vor derkiel zu einem Drittel eingedrückt. Die Zangen können angesetzt werden, Schwierigkeiten wird es kaum geben.« »Achtung, Kabel kommt!« Der Taucher fischte das herabsinkende Ende, legte die Seele des U-Boot-Kabels frei und zwängte den Verbindungsblock an. »Fertig. Ist was zu hören?« Nach einiger Zeit kam es freudig: »Sie hören uns. Kommen Sie hoch.« Als er aus dem Wasser stieg, ging schon der zwei te Taucher hinunter, dem die Zangen und Trossen der großen Hebewerkzeuge folgten. 58
Inzwischen führte ein Mann das sensationelle Te lefongespräch. »Hallo!« rief er hinunter, als die Meldung des Tauchers nach oben gekommen war. »Hallo, hören Sie mich?« Sofort kam Antwort, wenn auch überraschender weise recht verdrossen und schwerfällig. »Natürlich hören wir Sie.« »Wie geht es Ihnen?« »Das wissen Sie doch, zum Teufel. Unser Sauer stoff ist bald zu Ende. Ist denn dieses verdammte Hebeschiff immer noch nicht in Sicht?« »Wir liegen direkt über Ihnen.« »Wir? Was heißt wir?« »Das Hebeschiff.« »Gott sei Dank.« Der Mann unten atmete auf. »Hoffentlich dauert es nicht zu lange, bis Sie uns hoch haben. Wir sind schier trübsinnig geworden.« »Kann ich mir denken. Sind bei Ihnen alle noch am Leben?« »Fragen Sie nicht so blöd«, kam es ärgerlich hoch. »Lassen Sie sich das von dem Kapitän des Zerstö rers erzählen, der sicher nicht weit von Ihnen steht. Er weiß so gut Bescheid, als ob er selbst unten wäre. Beeilen Sie sich lieber, daß Sie uns hochholen.« »Wir sind schon an der Arbeit. Was Sie da über den Zerstörer sagen, verstehe ich nicht. Sie wurden durch ein Flugzeug entdeckt.« 59
»Ach nein!« »Scheint Ihnen das unglaubhaft? Wie kamen Sie denn überhaupt hierher nach Kap Race?« »Was? Wohin?« »Nach Kap Race. Sie liegen ganz in der Nähe.« »Sie sind wohl irrsinnig geworden?« erkundigte sich der Mann am anderen Ende grob. »Wir liegen nördlich der Azoren, wenn auch der Teufel wissen mag, wie das möglich ist. Und nun wollen wir weiter nichts als frische Luft.« Der Abbruch war ernst gemeint, auf weitere Rufe erfolgte keine Antwort. Erst ein paar Minuten später wurde die Verbindung wieder aufgenommen. Sie beschränkte sich jedoch auf die notwendigste Ver ständigung. Inzwischen taten die Taucher ihre Schuldigkeit. Mit Hilfe der Greif haken wurde das Boot angelüftet, so daß einige Kettenstränge unter ihm weggezogen werden konnten. Das gleiche Manöver erfolgte vorn. Die schweren Stahlhaken faßten die Kettenglieder zusammen, dann begannen die Kräne zu arbeiten. Bereits zwei Stunden nach dem Abstieg des ersten Tauchers floß das Wasser von dem runden Buckel des Unterseebootes ab. Die Besatzung öffnete das Aussteigeluk von innen. Die Männer, die heraustaumelten, hatten asch graue Gesichter und weite, fiebrig glänzende Augen. Die herbe, starke Luft warf einige um, die meisten 60
aber erholten sich bereits nach kurzer Zeit. Zwei wurden Stunden später als Leichen gebor gen. Es waren die beiden Maschinisten. Fliegende Stahlstücke hatten sie schwer verletzt, dann waren sie aus Mangel an Luft und Pflege gestorben. Kommandant Liver gab dem anwesenden Beauf tragten des Headquarters seine Aussage zu Protokoll: »Wir fuhren befehlsgemäß mit fünfundzwanzig Seemeilen Geschwindigkeit in fünfzig Meter Tiefe, als wir einen dumpfen Knall aus dem Maschinen raum hörten, der auf eine Explosion schließen ließ. Zeitpunkt und Ort sind durch Logbuch und Karte registriert, beides liegt bei. Wir befanden uns nörd lich der Azoren.« »Sie wissen, daß Sie sich jetzt unmittelbar vor Kap Race befinden?« warf der Kapitänleutnant ein. »Gewiß, und ich suche vergeblich nach einer Er klärung dafür. Jedenfalls fuhren wir in dem Augen blick, in dem das Unglück geschah, nördlich der Azoren in Richtung Europa. Wir versuchten sofort, in den Maschinenraum zu kommen, aber das war uns nicht möglich. Die Stahltür hatte sich festgeklemmt. Später konnten wir es um der Sicherheit der Besat zung willen nicht mehr wagen, sie aufzuschneiden.« »Warum nicht?« »Wir konnten die Druckbeanspruchungen nicht mehr beurteilen. Ich durfte nach bestimmten Anwei sungen, die ich erhalten hatte, nicht anders handeln.« 61
»Es ist gut, fahren Sie fort.« »Wir hatten das Boot nicht mehr in der Gewalt und konnten es vor allem nicht auftauchen lassen, da die Pumpen nicht arbeiteten. Wir liefen aus und sanken. Da wir mit einer Meerestiefe von 2800 Metern rech nen mußten, erwarteten wir in Kürze unsern Tod durch Zusammenpressung. Überraschenderweise sank das Boot jedoch nur hundert Meter tief und legte sich dann mit leichter Neigung auf. Wir lösten die Notboje aus. Diese wurde entdeckt. Ein Offizier des Dampfers ›Boston‹ rief uns an und wurde von unserer Lage ver ständigt. Dieses Gespräch wurde merkwürdigerweise unterbrochen, so daß wir das Schlimmste befürchte ten. Die Unterbrechung klärte sich etwas später je doch sehr einfach dadurch, daß inzwischen der zufäl lig in der Nähe befindliche Zerstörer MZ 48 eingetrof fen war und dessen Kapitän alles in die Hände nahm.« Der Kapitänleutnant beugte sich etwas vor. »Es wird Sie sicher interessieren, daß der fragliche Zerstörer seit Wochen den Stillen Ozean nicht ver lassen hat.« Der Kommandant ruckte hoch. »Wie ist das möglich? Ich habe mit Kapitän Welsh selbst gesprochen.« »Der Name stimmt, trotzdem können Sie unmög lich mit Kapitän Welsh gesprochen haben.« Der Kommandant schüttelte den Kopf. »Hier muß ein Irrtum vorliegen. Doch lassen Sie 62
mich fortfahren. Also Kapitän Welsh teilte mir mit, daß das Headquarter benachrichtigt sei, daß ein He beschiff unterwegs sei und so weiter. Nun wir warte ten eben. Wir haben tagelang gewartet. Merkwürdi gerweise hatten wir das Empfinden, daß sich ein Taucher am Boot zu schaffen machte. Und dann meinten wir, daß wir hohe Fahrt hätten, mehrere Ta ge sogar. Welsh erklärte uns diesen Eindruck damit, daß wir wohl in einer scharfen Strömung lägen. Ich hatte keinen Anlaß, daran zu zweifeln. Wenn Sie mir allerdings sagen, daß wir bei Kap Race liegen, so muß ich auf andere Vermutungen kommen. Gestern führte ich das letzte Gespräch mit Welsh, der mir die nahe Ankunft des Hebeschiffes zusicherte. Etwas später verlangsamte sich die Strömung oder die Fahrt, dann kam ein sanfter Ruck, und dann wurde es um uns stiller, als es in den Tagen vorher gewesen wyar. Erwähnen müßte ich vielleicht noch, daß unse re Druckanzeiger ständig in Bewegung waren und alle Tiefen zwischen zehn und hundert Meter auf wiesen – eine Erscheinung, für die wir keine Erklä rung finden konnten. Das wäre alles.« Der Kapitänleutnant sah auf seine Fingernägel. »Hm, welche Vermutungen kommen Ihnen, nach dem Sie nun wissen, daß das U-Boot vor Kap Race gefunden wurde?« Der Kommandant schob seine rechte Hand vor und spreizte die Finger. »Ich nehme Ihre Angabe als 63
Tatsache. Andererseits können meine Leute bezeu gen, daß meine Angaben bezüglich des Ortes eben falls den Tatsachen entsprechen.« »Sie werden auch durch den Ersten Offizier der ›Boston‹ bestätigt.« Der andere lachte hysterisch auf. »Also müssen wir mit einer Stundengeschwindig keit von durchschnittlich dreißig Meilen hierherge fahren sein, obwohl unsere Maschinen nicht arbeite ten und wir über die Boje hinweg bis gestern mit dem Zerstörer, der still lag, in Verbindung standen. Das ist ein bißchen viel.« »Zumal Ihre Telefonboje mit durchgekniffenem Kabel vor drei Tagen bei den Azoren herausgefischt wurde.« »Da hat der Teufel seine Hand im Spiel«, murmel te der Kommandant, der seine Erschöpfung nicht mehr verbergen konnte. * Tief dunkel ein Raum. Aus der Schwärze schießt ein weißer Lichtstrahl. Winzig und fast punktförmig setzt er an, verbreitert sich abschneidend scharf gegen das matte Schwarz zum langgestreckten Keil, der gegen eine Wand prallt und einen metergroßen Lichtkreis auf sie wirft. Nur das leichte, gleichmäßige Atmen eines Man 64
nes dringt in das tiefe Schweigen. Im schwachen Streulicht hebt sich fahl das Gesicht dieses Mannes aus dem Dunkel, aber nur die eine Seite. Eine energisch und kräftig vorgebaute Kinn partie, hart aufeinandergepreßte Lippen und ein über schattetes Auge sind sichtbar. Das Auge ist auf das Lichtrund gerichtet. Ein unheimliches Bild. Es lebt. Da regen sich Gestalten wie aus irrer Phantasie gezeugt: fremdartige Lebewesen von grau siger Beschaffenheit und von erschreckenden For men, die aus einer fremden Traumwelt zu stammen scheinen. Wie ein feiner, dichter Rasen breitet sich eine zu sammenhängende Fläche aus. Darüber hinweg glei ten wie zarte Weidetiere in dichter Schar schlanke, pantoffelförmige Körper von glasartiger Durchsich tigkeit. Ein seltsames, aber friedliches Bild, fast ein Idyll. Jetzt tauchen muschelförmige Lebewesen auf. Un rast wohnt in ihnen. In weiten Bögen jagen sie her um, freigelöst von aller Schwere und Erdennähe, bald dichter über dem Rasen, bald hoch oben. Sie brechen die schwingenden Bogen ab, halten still, schießen dann in unsinnigem Zickzack kreuz und quer durch das helle Feld, um plötzlich wieder reglos anzuhalten. Ein dünner Faden, der von unten auf steigt, wird zur Kletterstange, an der sie auf- und 65
niedergleiten, bis sie des Spieles satt sind und wieder ihre unruhigen Bewegungen aufnehmen. Langsam schiebt sich der Rasenteppich beiseite. Winzige Bäumchen mit schimmernden Ästen er scheinen. Sie sind mit feinen, glockenförmigen Tier chen behängt. Auch die Bäumchen leben, sind Tiere. Wie in stetem Krampf zucken die glasigen Äste zu sammen und lösen sich wieder. Gespenstiges Leben. Leben außerhalb dieser Welt? Wohl kaum, denn hinter dem Ansatzpunkt des Lichtstrahls liegen starke Linsen, Spiegel und Lam pen, eine mikroskopische Apparatur, in die ein glä serner Objektträger eingeschoben ist. Unter dem Deckglas liegt gequetscht ein kleiner Wassertropfen, irgendwo entnommen. Dort, in diesem kleinen Trop fen lebt es, wimmelt es von zahllosen einzelligen Tierchen, von allerkleinsten Lebewesen. Die Appara tur enthüllt dieses winzige Leben durch zehntausend fache Vergrößerung. Im Hintergrund des Raumes schneidet sich ein helles Rechteck in das dunkle Schwarz hinein. Eine Tür öffnet sich, ein Mann tritt ein und drückt die Tür hinter sich wieder zu. Er geht einige Schritte, bis das Scheinwerferlicht auf sein Gesicht fällt. Der einsame Beobachter wendet flüchtig den Kopf und weist dann zum Lichtrand. »Du bist zurück, Bern?« 66
Der Eingetretene gibt keine Antwort, blickt auf merksam auf die wimmelnde Scheibe. Das weiße Feld ist jetzt voller faßförmiger Tier chen, die sich wie irrsinnig um sich selber drehen. An einer Seite sind sie abgeplattet, dort ragt ein win ziger, stumpfer Keil heraus, eine Nase, die dem Tier chen den Namen gegeben hat. Plötzlich gleiten die friedlichen Weidetiere des Mikroreiches herein, jene glasigen, pantoffelförmi gen Tierchen. Im Nu wandelt sich die Szene. Aus der winzigen Nase eines Fäßchens schießt ein langer Rüssel heraus und verhaftet sich mit dem nächsten Pantoffeltierchen. Ein Gift fließt über das Opfer, das größer als der Räuber ist, macht es wehrlos und reg los. Schon weitet sich die Nase, öffnet sich zu einem übergroßen Schlund, zu einem Maul, durch das das Pantoffeltierchen gierig hineingeschlungen wird, wehrlos und reglos. Die Nase weitet sich, schwillt. Ein Morden hebt an, ein Schlingen, Würgen und Fressen, das dämonisch bannt und zugleich abstößt. Widerlich sind diese Nasentierchen in ihrer Gier. Manchmal fallen sie zu zweit über ein Opfer her, greifen es von entgegengesetzten Enden an und las sen es nicht wieder los. Sie zerren hin und her und fressen dabei, bis sie in der Mitte mit den Mäulern zusammentreffen. So brechen halbverhungerte Wölfe in eine Herde ein, gierig, schlingwütig, voll Mordlust. Nackt und 67
schrankenlos gibt sich die Bestie ihrem Trieb hin, bis alles aufgefressen ist. Damit ist die Tragödie des Mikrokosmos vorüber. Harry Shurman wendet den Kopf. Auf seinem Ge sicht steht Widerwillen, Ekel und doch so etwas wie Genugtuung. »Was meinst du zu der Vorlesung?« fragte er. »So ist die Welt, du brauchst an Stelle dieser Tierchen nur die Menschen zu setzen. Mordlust und Gier, Schlingwut und Gefräßigkeit. Eins stürzt sich auf das andere, um es auszusaugen, aufzufressen und sich an ihm zu mästen. Das ist das Leben, darin erschöpfen sich Trieb, Sinn und Zweck allen Daseins. Die Men schen verstehen es nur besser, ein hüllendes Mäntel chen über ihre schamlose Gier zu legen und sich dem harmlosen Auge verborgen zu halten.« Bern Owen schüttelte leicht den Kopf. »Der Mensch mag eine Bestie sein, aber so armse lig ist seine Welt doch wohl nicht. Da sieh, der Mi krokosmos will dir einen der wichtigsten Unterschie de zeigen.« Wieder blickten beide zum Lichtrund. Die Pantoffeltierchen waren verschwunden, nur die Nasentierchen beherrschten das Feld, drehten sich träge im Kreis. Einige von ihnen zeigten nun in der Mitte eine leichte Einschnürung, die von der Mit te der Nase über den tonnenförmigen Leib lief. Langsam wurde die Einschnürung tiefer, als ob ein 68
unsichtbarer Faden immer schärfer um den Leib ge schnürt würde. Dann hingen die beiden Hälften nur noch an einer engen Stelle zusammen und – plötzlich hatten sich die beiden Hälften getrennt und schwammen als zwei neue, sehr lebendige Nasen tierchen herum. »Der Zeugungsvorgang«, stellte Bern Owen mit schwerer Stimme fest. »Ein Lebewesen teilt sich, spaltet sich in zwei Stücke, in zwei Nachkommen nur aus sich selbst heraus. Das ist etwas, was einen Vergleich dieser Lebewesen mit uns Menschen nicht mehr zuläßt. Wir kennen das ›Du‹, die Zweiheit, aus der die nachfolgende Generation entspringt. Diese Geschöpfe kennen nur sich, sind auf sich selbst an gewiesen, daher im kosmischen Sinn einsam und da her ausschließlich egoistisch. Wir Menschen aber sind auf den Mitmenschen angewiesen, in uns liegt der Drang nach der ergänzenden Zweiheit, deshalb sind wir im Grunde unseres Wesens wohl auch egoi stisch, aber mindestens ebenso stark sozial.« Ein kurzes, hartes Lachen erfüllte den Raum, gleichzeitig flammte brutal hell das Deckenlicht auf und fiel grell in die Gesichter der beiden noch jungen Männer. »Vor kurzem noch dachtest und sprachst du an ders. Bist du verliebt?« »Nein.« »Aber?« 69
»Ich habe meine Schwester gefunden, an die ich kaum mehr dachte. Ich erlebte mit eindringlicher Stärke, was es heißt, mit einem Menschen von Bluts wegen verbunden zu sein. Und ich habe viele Stun den über alle Dinge, die mit diesem Erlebnis zusam menhängen, nachgedacht. Ich glaube, wir haben vie les falsch und einseitig gesehen.« »Auf einmal?« fragte Shurman mit kaltem Spott. »Und alles, weil du deine Schwester gesehen hast? Was muß sie für ein wunderbarer Mensch sein, daß sie imstande war, dich innerhalb von Stunden so stark zu wandeln.« »Spotte nicht«, sagte Owen ruhig. »Ich wünschte dir, du hättest auch eine Schwester und würdest sie nach langen Jahren wiedersehen. Vielleicht würdest du dann lernen, die Frauen nicht alle in einen Topf zu werfen. Es ist natürlich zwecklos, sich darüber zu unterhalten, darum lassen wir es besser. Ich bitte dich nunmehr um Entlassung aus deinem Dienst.« Harry Shurman trat einen Schritt zurück. »Wie meinst du das?« »Wie ich es sage. Ich bitte dich, mich von meinen Pflichten zu entbinden.« »Wegen deiner Schwester?« »Ja.« Plötzlich zerbrach die starre Haltung Shurmans. Er machte eine Gebärde, die Hilflosigkeit verriet. »Ich verstehe dich nicht. Du willst doch nicht etwa 70
zu deiner Schwester ziehen und ihren Beschützer spielen, oder …« Bern Owen schüttelte den Kopf. »Ich drückte mich schlecht aus. Es handelt sich darum, daß ich eines der wichtigsten Grundgebote unserer Disziplin gebrochen habe und daraus die selbstverständlichen Folgerungen ziehen will, bevor du sie mir nahelegst. Ich traf meine Schwester im Augenblick, als ich mit dem Motorboot fort wollte. Ich konnte nicht warten, sie aber auch nicht stehen lassen. Deshalb nahm ich sie mit.« Shurman beugte sich vor. »Du – nahmst sie auf die Jacht?« »Ja, sie befindet sich jetzt im kleinen Boot.« Die Mitteilung traf den anderen hart. Seine Haltung war starr, seine Stimme leise vor Zorn und Abscheu. »Hier unten – eine Frau? Wie alt ist deine Schwe ster?« »Einundzwanzig.« »Eine Frau an Bord? Unerhört!« »Es ist meine Schwester«, erwiderte Owen schlicht. »Und wenn es tausendmal deine Schwester ist«, fuhr Shurman wütend auf. »Du kennst meine Anord nungen, kennst sogar die Gründe dafür.« »Ich kenne sie«, sagte Owen. »Deshalb werde ich die Folgen meiner Handlungsweise tragen.« Harry Shurman lachte höhnisch. 71
»Natürlich, Bern Owen spielt den Ehrenmann. Warum trugst du nicht die Folgen deines Eides und deiner Freundesverpflichtungen?« »Es fällt mir weiß Gott schwer, jetzt so vor dir zu stehen, aber ich habe mich nun einmal von meinen Gefühlen überrumpeln lassen und kann nichts ande res tun, als dich um Entlassung zu bitten.« »Um einer Frau willen«, keuchte Shurman. »Du bist verrückt, Bern. Geh!« Bern Owen wandte sich um. An der Tür erreichte ihn die Stimme des Freundes. »Bleib, Bern! Du willst mich zwar aufgeben, aber ich brauche dich. Wie hast du dir das mit deiner Schwester gedacht?« Bern Owen kehrte langsam zurück. Sein Gesicht war jetzt bedeutend heller. »Ich danke dir, Harry«, sagte er warm, »daß du an unserer Freundschaft festhältst. Über das Zukünftige habe ich nur insoweit nachgedacht, wie sich von mir aus ergeben konnte. Ich wollte mit meiner Schwester in die Staaten zurück, wohin, war mir noch nicht klar.« »Und wenn du hierbleibst, was willst du dann mit deiner Schwester anfangen?« »Ich werde sie bei nächster Gelegenheit nach New York zurückbringen. Sie sieht die Schwierigkeiten ein, nachdem ich sie in großen Zügen eingeweiht ha be.« 72
»Sie wird nicht schweigen.« Bern Owen schüttelte den Kopf. »Merry ist ein braver Kerl, und ich weiß von frü her, wie sie schweigen kann.« »Nun gut, du bürgst für sie. Bei deiner übernäch sten Fahrt nimmst du sie mit zurück.« »Warum nicht bei der nächsten?« »Sie ist gefährlich und darf keinesfalls Spuren hin terlassen. Du mußt morgen schon zurück. Deine Schwester wird einstweilen hier im großen Boot bleiben. Weise ihr eine der leeren Kabinen an und beauftrage einen der Jungen mit der Bedienung. Die Mitteilung der Besatzung gegenüber überlasse mir. Die Leute sollen wissen, daß außergewöhnliche Um stände diese Durchbrechung der Bordgesetze bedin gen. Bitte deine Schwester, sich streng zurückzuhal ten. Es wäre mir nicht besonders angenehm, ihr zu begegnen. Du nimmst es mir wohl nicht übel, wenn ich deshalb auf eine Vorstellung verzichte. Wenn du zurückgekehrt bist, mag sie wieder in dein Boot zie hen, und dann nimmst du sie bei nächster Gelegen heit mit an Land. Einverstanden?« »Selbstverständlich!« »Na schön. Und nun dein Auftrag. Da wohnt ein Mann in New York, der mich unbedingt zu sprechen wünscht und unter Umständen gewillt ist, mit Hilfe der Öffentlichkeit nach mir Nachforschungen anzu stellen. Billing riet mir, es nicht dazu kommen zu 73
lassen. Auf Billing ist Verlaß, ich werde dem Mann also Gelegenheit geben, mich zu sprechen. Du mußt sehen, daß du dich seiner bemächtigen und ihn hier her schaffen kannst. Billing wird dir alles sagen, was nötig ist. Die Einzelheiten bleiben dir überlassen.« Owen nickte. »Ich werde dir den Mann bringen, ohne daß er ahnt, wo er sich befindet. Vielleicht gibt es die Gele genheit, ihm seine Neugier etwas abzugewöhnen.« »Nach Billings Äußerungen ist er irgendeine ge heimnisvolle Persönlichkeit, deren Absichten nicht recht zu durchschauen sind.« Die beiden Männer, die trotz aller äußeren Unter schiede aus einem Stück geschnitzt zu sein schienen, widmeten sich nun mit sachlicher Nüchternheit ihren Geschäften.
74
3. Merry Owen langweilte sich. Gestern hatte sich Bern verabschiedet, ihr verspro chen, in einigen Tagen wieder da zu sein und ihr noch einmal eingeschärft, die Kabine nicht zu verlas sen. Seitdem saß sie in der winzigen Kabine und schlug die Zeit tot. So lang waren ihr die Stunden noch nie erschienen. Die Kabine bot wenig Gelegenheit zur Zerstreu ung. Sie war nicht viel größer als zwei Meter im Quadrat und enthielt ein Schlafsofa, einen ange schraubten Klapptisch, einen Klappstuhl, eine flache Truhe aus Stahlblech, eine Kassettenlampe an der niedrigen Decke und einige Bücher. Man konnte trotzdem nicht behaupten, daß der Raum ungemüt lich wirkte. Die lichten, freundlichen Ölmalereien machten die harten Wände mindestens erträglich. Ein Fenster gab es nicht, wohl aber eine ausge zeichnete Ventilation, die den Raum mit frischer Seeluft versorgte. Eine schmale Türöffnung führte in einen lächer lich kleinen Baderaum. Er enthielt alles, was man brauchte, aber es gehörte einiges Geschick dazu, um sich darin zu bewegen. Die Trennwand zwischen den beiden Räumen bestand aus dünnen Stahlplatten. In Kopf höhe bauschten sie sich mächtig aus und bilde ten einen zylindrischen Körper, der von irgendwo 75
kam und irgendwohin führte. Vom Wohnraum selber ging noch eine breitere Tür auf den Gang hinaus. Das war die Tür, die Merry Owen auf keinen Fall benutzen sollte. In den ersten Stunden nach Berns Weggang durch stöberte Merry ihre Räume und las ein bißchen. Das lenkte sie vorläufig genügend ab. Zur Mittagsstunde erschien der Wundermann. Er war von oben bis unten in fleckenloses Weiß geklei det und trug sogar auf dem Kopf die hohe weiße Müt ze seiner Zunft. Sein feistes Gesicht glänzte vor Be haglichkeit, und sein stattlicher Bauch wirkte wie ein eindrucksvolles Symbol genießerischer Lebensfreude. »John Plumber«, stellte er sich vor, wobei er ge mütvoll lächelte. »Nennen Sie mich ruhig Plum, Miß Owen, wie es die andern tun. Ich bin es gewohnt. Ich bin der Koch dieses Hauses. Man hat mich damit be auftragt, für Ihr persönliches Wohl zu sorgen. Haben Sie besondere Wünsche? Wir nehmen hier im allge meinen nur drei Mahlzeiten, aber ich denke, es wird Ihnen angenehm sein, wenn wir die Zwischenmahl zeiten einschieben.« Merry schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich mei netwegen keine Umstände und lassen Sie es bei der bestehenden Ordnung. Mir genügen diei Mahlzeiten völlig.« Der Koch faltete die Hände unter dem Bauch und seufzte. 76
»Potz Sauerkraut, das dürfen Sie nicht sagen, Miß Owen. Ich freue mich nämlich schon darauf, mal was Besonderes über die Pfanne rutschen zu lassen. Die Herren, die ich sonst versorge, haben die hohe Kunst des Essens noch gar nicht erfaßt und essen nur, um satt zu werden. Bei aller Bescheidenheit müssen Sie wissen, daß ich ein Künstler in meinem Fach bin. Der Herzog von Gloucester ist noch heute untröst lich, daß ich ihn verlassen mußte, als ich auf das An gebot Mr. Shurmans einging. Es war zwar nicht mei ne Absicht, in diesem Tauchboot zu kochen, aber mein weiches Gemüt hat mir wohl einen Streich ge spielt. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, den Herrn im Stich zu lassen, als er sich hierher zurück zog.« »Obwohl er Ihre Kochkünste nicht genügend wür digt?« erkundigte sich Merry mit leisem Spott. Plum seufzte. »Er weiß meine Fähigkeiten zu würdigen, aber er wünscht hier nicht anders zu leben als seine Leute. Potz Sauerkraut, das sind liebe Kerle. Es würde mir gar nicht leichtfallen, sie zu verlassen. Augenblick lich würde das überhaupt außer dem Bereich der Möglichkeiten liegen, weil ich nämlich gerade das Pokern erlerne.« »Das Pokern?« »Gewiß«, sagte er nicht ohne Stolz. »Sie dürfen mich nicht für einen wüsten Spieler halten, Miß 77
Owen, aber dieses Kartenspiel bereitet mir doch ein gewisses Vergnügen. Man lernt dabei, eine undurch dringliche Miene zu bewahren, eine Tugend, die mir bisher leider nicht zu eigen war.« Plötzlich blickte er starr geradeaus. Bestürzt fuhr er fort: »Ich fürchte, mir ist der Zweck meines Kommens ganz entfallen. Bitte entschuldigen Sie mich, Miß Owen, ich wollte mich doch nur nach Ihren Wünschen erkundigen.« »Ich habe keine«, erwiderte Merry, »und überlasse es Ihnen, was Sie mir vorsetzen wollen.« »Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, lobte er. »Ich bewundere Ihren Geschmack und werde mir erlau ben, Ihnen einige Kleinigkeiten zu servieren, die ich bereits vorbereitete.« Er faltete seinen Bauch zu einer Art Verneigung zusammen und zog sich zurück. Bereits eine Viertel stunde später erschien er wieder, diesmal in Beglei tung eines halbwüchsigen Assistenten, und tafelte auf. Merry Owen stammte aus bescheidenen Verhält nissen. Sie kannte das wenigste von dem mit Namen, was Plum ihr vorsetzte, aber das machte die Speisen nicht weniger köstlich. Dieser Koch war wahrhaftig ein Könner in seinem Fach. Er gab sich freilich auch rechtschaffen Mühe. Sei ne Portionen waren klein, aber er brachte nicht weni ger als zwölf Gänge auf den Tisch. Strahlend empfing er anschließend die Lobsprü che, die Merry freilich nur zu gern spendete. Ihr 78
wurde ein wenig schwarz vor den Augen, als Plum versicherte, daß er sich nach dieser provisorischen Mahlzeit nun erst ernstlich bemühen würde. Als er sich zurückziehen wollte, fiel ihr noch et was ein. »Sagen Sie bitte, Plum. Sie sind doch vermutlich der einzige der Besatzung, der sich um mich küm mern wird?« Als er das teils stolz, teils bekümmert bejahte, fuhr sie fort: »Wenn ich nun zwischen den Mahlzeiten das Bedürfnis habe, Ihnen eine Mitteilung zu machen? Es könnte doch sein, daß ich plötzlich Durst bekom me …« Plum war sichtlich bestürzt. »Hat man Ihnen den Knopf nicht gezeigt? In jeder Kabine befindet sich eine Signalanlage und Telefon. Sehen Sie, hier ist es schon.« Er drückte auf einen Knopf an der zylindrischen Auswölbung der Wand, der wie eine Niete geformt war. Darauf fiel eine Klappe herunter, und eine Öff nung wurde frei. Darin befand sich ein Telefonappa rat, außerdem eine kleine Tafel mit mehreren Knöp fen. Plum hob den Hörer ab. »Sehen Sie, Sie brauchen nur hineinzusprechen, und ich werde Ihnen antworten. Sie müssen nur auf diesen weißen Knopf drücken, dann den Hörer abhe ben. Wenn sie den schwarzen Knopf drücken …« 79
Er brach ab, blickte betroffen abwechselnd auf den Apparat und auf die junge Frau, hob den linken Fuß und kratzte sich damit an der Wade. »Dann?« drängte sie. Er murmelte: »Ich fürchte, da habe ich etwas Dummes gemacht.« »Wieso denn?« »Ich hätte Ihnen vielleicht nicht zeigen sollen, was Ihnen Ihr Bruder nicht zeigte.« Jetzt begriff sie. »Sie meinen, daß ich nichts von der Existenz dieses Telefons wissen sollte?« Er nickte. »Der Verdacht läßt sich nicht von der Hand weisen. Sehen Sie, Mr. Shurman ist etwas – wie soll ich sagen – etwas ablehnend gegen weibli che Personen eingestellt und wünschte jedenfalls zu verhüten, daß Sie versehentlich mit ihm ins Gespräch kommen.« »Ach – dann kann ich wohl mit Mr. Shurman sprechen, wenn ich den schwarzen Knopf drücke?« »Ja.« Er seufzte. »Das ist aber interessant.« Merry lächelte. »Und die anderen Knöpfe?« »Der grüne verbindet mit Mr. Bracker, dem tech nischen Offizier, der rote Knopf gibt Generalalarm und der blaue schaltet zur Kabine des Funkers, von der aus Sie über den Verteiler mit jedem einzelnen Raum sprechen können.« Er legte den Hörer bedäch tig zurück und schlug die Klappe zu. »Aber – verges 80
sen Sie bitte, was ich Ihnen zeigte. Ich will dann lie ber öfter nach Ihren Wünschen fragen.« Plums Kochkunst und Geschwätzigkeit wurden zum Trost der einsamen Stunden Merry Owens. Trotzdem stand sie am Abend bereits dicht an der Tür, die nach außen führte, um die Geräusche drau ßen besser hören zu können. Das hatte Bern nicht verboten. Von irgendwo war, wie schon den ganzen Tag über, das leichte Summen von Maschinen zu ver nehmen, dazwischen hörte sie gelegentlich das Zu schlagen stählerner Türen, Schritte, die sich näherten und wieder entfernten, ab und zu auch den Klang menschlicher Stimmen. Ihre Gedanken kreisten um die Geheimnisse dieses Tauchbootes. Gar zu gern hätte sie einen Rundgang gemacht, aber bevor sie die Versuchung ernsthaft spürte, legte sie sich schlafen. Ihr Interesse wuchs über Nacht um ein Vielfaches. Sie war nicht neugierig, bestimmt nicht, aber schließlich lag es doch sicher nicht in Berns Absicht, daß sie sich als Gefangene betrachtete. Genau ge nommen, hatte er sie ja nur gebeten, jede Begegnung mit Shurman zu vermeiden. Und dann drehte sie irgendwann den Türknopf, und die Tür schnappte auf. Durch einen handbreiten Spalt blickte sie in den Gang, der auf dieser Seite wenige Meter vor ihr auf eine Eisentreppe mündete. 81
Behutsam öffnete sie die Tür weiter und trat vollends heraus. Nach der anderen Seite zu war der Gang ein Stück länger, führte aber jedenfalls auf eine Treppe, die nach unten ging. Sonst war wenig zu sehen. Zwei Türen. Der Fußboden bestand aus geripptem Stahl. Bemerkenswert erschienen ihr die mächtigen Zylin der, die in Kopfhöhe durch den Gang hindurch stie ßen. Sie liefen nicht parallel, sondern schräg gegen einander, so daß sie sich vermutlich in einem unbe kannten Zentrum treffen mußten. Plötzlich hörte Merry Schritte, sah auf der von oben kommenden Treppe Füße herabsteigen. Sofort eilte sie in ihre Kabine zurück und zog die Tür hinter sich zu. Der Mann ging den Gang entlang. Nach kurzer Zeit war es draußen wieder still. Sie traf auf den Gang hinaus, lief vor bis zu der Treppe, die nach unten führte. Unterhalb der Treppe öffnete sich eine Tür, die sie gerade noch sehen konnte. Ein Mann trat heraus, wandte sich zur Treppe. Merry drehte sich um und lief zurück. Dabei ach tete sie nicht mehr auf die Stahlzylinder im Gang, vor denen sie vorhin den Kopf gebeugt hatte. Sie machte zwei Schritte, prallte hart mit dem Kopf an, wurde zurückgeschleudert und stürzte zu Boden. Bevor sie aus ihrer schweren Benommenheit wie der erwachte, stand der Mann neben ihr, den sie hatte 82
aus der Tür treten sehen. Harry Shurman. Auf seinem Gesicht lag ein unbeschreiblicher Ausdruck, als er die junge Frau am Boden entdeckte. Überraschung paarte sich mit Widerwillen, Abscheu mit Haß. Immerhin starrte er voll Neugier auf diese Frau, die Berns Schwester war. Ihre Züge waren weicher, feiner. Diese Merry Owen war ebenso schön, wie ihr Bruder ein wertvoller Mensch war. Harry Shurman ging einen Schritt weiter mit der Absicht, einen seiner Leute zu verständigen. Aber er hielt gleich wieder an. Harry Shurman handelte, ohne weiter nachzuden ken. Es wurde ihm noch nicht einmal bewußt, daß er vor Jahren geschworen hatte, in keiner Form jemals wieder eine Frau zu berühren. Er bückte sich und hob Merry Owen auf, die noch bewußtlos war. Sie war nicht schwer, so daß er sie ohne Anstrengung in ihre Kabine tragen konnte. Freilich, ein Mensch läßt sich nicht so tragen, daß man ihn mit ausgestreckten Armen von sich abhält. Es ereignete sich in diesen Minuten die erstaunliche Tatsache, daß Harry Shurman trotz aller Vorsätze, trotz aller Verbitterung und trotz seiner Flucht vor den Menschen diese junge Frau sehr dicht an sich gepreßt hielt. Das war etwas, womit Harry Shurman nie gerech 83
net hatte. Er atmete schwer, als er die junge Frau niedergelegt hatte und zurücktrat. Er war wütend, daß er den romantischen Ritter spielen mußte, weil Merry Owen trotz aller Vereinbarungen in den Gang hinausgelaufen war. Kein Wunder, daß sein Gesicht finster war. Es zeigte jedoch weniger kalte Gelassen heit als in den letzten Jahren. Merry Owen schlug die Augen auf, während er noch zurücktrat. Aus der Verschwommenheit, die eben noch vor ihren Augen gelegen hatte, trat immer greifbarer und plastischer das Gesicht dieses Mannes heraus. Es war noch jung, aber hartkantig und fest wie das ihres Bruders und wie alle Gesichter, die sie hier schon zu sehen bekommen hatte – Plum ausge nommen. Es war ein Gesicht, das ihr gefiel. Aber es war so finster, daß sie unwillkürlich fragte: »Sind Sie mir böse?« Shurman schüttelte leicht den Kopf. »Nein, aber Sie sollten in Ihrer Kabine bleiben und nicht den Gang aufsuchen. Sie wissen, daß es verboten ist. Ha ben Sie sich verletzt?« Sie tastete an ihren Kopf. »Nein, es gibt höchstens eine Beule. Sie haben mich wohl hierhergetragen?« Er erwiderte kühl: »Ich konnte Sie nicht liegen las sen. Sie hatten wohl nicht auf die Streben geachtet.« »Ich war erschrocken«, erklärte sie lebhaft, wäh rend sie sich aufrichtete. »Sie kamen aus der Tür, 84
und ich dachte, es wäre Mr. Shurman. Ich kann doch nichts dafür, daß er so merkwürdig ist, und so groß ist die Gefahr ja nicht, daß ich ihm gleich über den Weg laufen könnte.« Die eigenartige Mischung von Sicherheit und Un bekümmertheit beunruhigte Shurman. Er klärte die Verwechslung nicht auf, sondern gab schroff zurück: »Die Vorschriften innerhalb dieses Tauchbootes werden nicht zur persönlichen Auslegung erlassen, sondern sind haargenau zu befolgen. Ich muß Sie bitten, die Kabine nicht wieder zu verlassen.« Sofort schoß der Trotz in ihr hoch. Ungehalten entgegnete sie: »Wer wird sich gleich so wichtig machen. Ihnen kann es doch gleich sein. Sie haben wohl zu viel Mühe mit mir gehabt? Das nächstemal werde ich sicher nicht mehr so vor Ihnen erschrecken.« Er trat zur Tür zurück. »Ich hoffe, Ihnen nicht wieder zu begegnen!« Da sprang sie wütend auf. »Sie sind ein ungehobelter Mensch!« Seine Augen blickten zornig, aber seine Stimme wurde eher noch kälter und teilnahmsloser. »Und Sie sind ein dummes, kleines Mädchen. Man übertritt keine Vorschriften.« Merry Owen würgte und suchte nach Worten, in zwischen hatte Shurman aber bereits die Tür zuge schlagen und sich entfernt. Als sie endlich wußte, 85
was sie ihm zu erwidern hatte, war er weg, und sie mußte sich damit begnügen, alles halblaut vor sich hinzumurmeln. Plum bekam es allerdings haargenau zu hören, als er das Abendessen aufgetragen hatte. Er bezeugte seine Teilnahme, meinte aber schließlich bedenklich: »Sie hätten nicht auf den Gang hinausgehen dürfen, Miß Owen. Aber er hätte natürlich ein bißchen höfli cher sein können.« »Wer war das überhaupt?« erkundigte sie sich. »Seinen Namen hat er nicht gesagt.« Plum rieb sich das Kinn. »Eigentlich kann es nur der Funker gewesen sein, aber vielleicht war es auch Bracker, der Maschinenoffizier.« »Jedenfalls werde ich ihm allerhand zu sagen ha ben, wenn ich ihn wiedersehe«, kündigte Merry ener gisch an. »Dummes Mädchen hat er mich genannt. Das ist doch ein bißchen stark, finden Sie nicht?« Plum wackelte bekümmert mit dem Kopf. »Ich verstehe diese jungen Leute nicht. Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich mich mit de nen mal unterhalten.« Merry lächelte ihn an. »Sie sind ein guter Kerl, Plum. Aber der andere ist ein Grobian. Wenn er mich auch häßlich findet, braucht er doch nicht gleich so unhöflich zu sein.« Plum kratzte sich an der rechten Wade, dann erwi derte er bedachtsam: »Ich würde das an Ihrer Stelle 86
nicht so auffassen. Diese jungen Männer sind merk würdig. Sie werden bestimmt zu einer häßlichen Frau zehnmal eher höflich sein als zu einer schönen jun gen Dame, wie Sie es sind, darauf können Sie sich verlassen. Hinter der Grobheit eines Mannes steckt oft nur die Angst vor der Liebe.« Womit der gute Plum ein weises Wort von sich gegeben hatte. * Sun Koh zog es aus bestimmten Gründen vor, den Generalbevollmächtigten des Shurman-Konzerns nicht anzurufen, sondern noch einmal aufzusuchen. Billing empfing ihn mit der gleichen zurückhal tenden Höflichkeit, brachte aber das Gespräch gleich auf die Hauptsache. »Ich nehme an, daß Sie nach wie vor darauf bestehen, Mr. Shurman selbst zu spre chen?« »Gewiß.« »Nun, dann kann ich Ihnen die angenehme Mittei lung machen, daß er bereit ist, Sie zu sprechen. Er erwartet Sie morgen elf Uhr in seinem Haus in New Rochelle.« Sun Koh nickte. »Ausgezeichnet!« »Er bittet jedoch aus bestimmten Gründen darum, nichts über diese Zusammenkunft verlauten zu las sen.« 87
»Ich werde darauf Rücksicht nehmen.« »Danke.« Die Unterredung war damit schon zu Ende. * New Rochelle liegt schon außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes von New York am Island Sund. Seine Häuser ziehen sich bis unmittelbar an das Ufer heran, ein Teil liegt sogar auf Inseln. Sun Koh fuhr mit Hal und Nimba hinaus. »Du kannst mit in das Haus kommen«, sagte er zu Hal. »Du, Nimba, bleibst am Steuer. Länger als eine Stunde wird unsere Unterredung wohl kaum dauern.« In New Rochelle erkundigten sie sich bei dem er sten Cop, den sie trafen, nach dem Haus Shurmans. Der Polizist wies ihnen den Weg, und wenig später hielt Nimba vor einem Grundstück, durch dessen Bäume hindurch man den Sund schimmern sah. Das Gebäude innerhalb des Grundstücks war ein zwei stöckiges Wohngebäude, das sich kaum von anderen Häusern der Umgebung unterschied. Auf das Klingelzeichen erschien ein Butler in ei ner Art Matrosenkleidung, fragte nach dem Namen und meinte dann: »Mr. Shurman erwartet Sie. Darf ich bitten?« Er begleitete die beiden durch den Vorgarten und öffnete ihnen die Haustür, durch die Sun Koh und 88
Hal hindurchschritten. Allerdings trat er nicht mit ein, sondern schlug die Tür hinter den beiden Besu chern zu. Sun Koh und Hal sahen zwei Meter vor sich die Pendeltür des Windfangs. Sie blickten sich unwill kürlich um, stutzten, als der Butler nicht folgte, und wurden sich gleichzeitig der stechenden Schärfe der Luft bewußt. »Gas!« rief Sun Koh und warf sich gegen die Pen deltür, prallte aber zurück, weil sie festgestellt war. Bevor er zu einem neuen Anlauf kam, verlor er die Besinnung. Bern Owen hatte sich den Mann, den er seinem Freund bringen sollte, vorher angesehen. Sun Koh war ihm nicht ganz geheuer vorgekommen, deshalb hatte er allen möglichen Zwischenfällen vorgebeugt. Dieser Sun Koh gehörte seiner Meinung nach nicht zu den Leuten, die man einfach mit zwei Händen festhalten kann. Nimba wartete geduldig hinter dem Steuer des Wagens. Nur ab und zu blickte er nach dem Haus, in dem sich sein Freund aufhielt. Eine halbe Stunde verging. Dann erschien ein teilnahmsvoller Bürger, der keine angenehmere Beschäftigung kannte, als spazie renzugehen und mit allen möglichen Leuten ein Schwätzchen zu halten. »Ein bißchen langweilig, nicht wahr?« 89
»Hm«, knurrte Nimba. »Sie warten wohl auf Ihren Chef?« »Hm.« Der Spaziergänger ließ sich nicht abschrecken. »Warum warten Sie denn gerade hier?« erkundigte sich der Mann weiter. »Wo ist er denn?« Nimba machte ein leichte Kopfbewegung. »Dort drin.« Der andere kicherte. »Das soll ein Witz sein. Viel leicht macht er einen Besuch bei Shurman?« »Hm«, brummte Nimba ungehalten. »Und nun nehmen Sie gefälligst Ihre Hände vom Lack und ge hen Sie weiter.« »Was denn?« entrüstete sich der gute Mann. »Man wird doch wohl noch ein paar Worte wechseln dür fen. Es ist überhaupt nicht nett von Ihnen, daß Sie mich sozusagen beschwindeln wollen. Dieses Haus ist seit zwei Jahren unbewohnt, und Ihr Chef macht dort bestimmt keinen Besuch.« Nimba drehte sich ziemlich lebhaft um, so daß der andere zurückwich. »Was wollen Sie eigentlich? Wie können Sie be haupten, daß das Haus unbewohnt ist, obwohl mein Chef doch vor einer halben Stunde erst von einem Butler hineingeführt wurde? Raus mit der Sprache, was soll die Rederei?« »Du lieber Gott, regen Sie sich nur nicht gleich auf! Das Haus ist wirklich unbewohnt.« 90
Der Mann trat an den Torpfeiler zurück und drück te die Klingel. Im Haus rührte sich nichts. »Sehen Sie«, triumphierte der Spaziergänger. »Seit zwei Jahren steht das Haus leer.« Nimba sprang aus dem Wagen und drückte die Klingel selbst, hatte aber auch nicht mehr Erfolg. Einige Sekunden blickte er unsicher herum, dann drückte er die Pforte auf und eilte durch den Vorgar ten auf das Haus zu. Die Haustür war verschlossen, der Schlag seiner Fäuste verhallte. Darauf suchte er sich einen Stein und zertrümmerte damit eines der niedrigen Fenster. Als er halb auf der Brüstung hing, fuchtelte der Spaziergänger mit bedenklicher Miene unter ihm herum. »Das dürfen Sie nicht tun, sonst werden Sie wegen Einbruch bestraft.« »Quatsch«, knurrte Nimba wütend und stieg ein. Er irrte durch ungelüftete Räume und halbdunkle Gänge, entdeckte die frischen Spuren von Menschen in jahrealtem Staub, folgte ihnen und gelangte schließlich in einen Bootsraum auf der Rückseite des Hauses, der mit dem offenen Wasser in unmittelbarer Verbindung stand. Frische Ölflecke auf dem Wasser verrieten ihm al les. Hier hatte vor kurzem ein Motorboot gelegen. Er entsann sich jetzt auch eines dumpfen Knatterns, das er gehört hatte, ohne es weiter zu beachten. 91
Sun Koh und Hal waren also in eine Falle gegan gen, waren entführt worden. Sie hätten sich wohl kaum freiwillig entfernt, ohne ihm Bescheid zu ge ben. Nachdem er diese Erkenntnisse verarbeitet hatte, rannte er auf die Straße zurück. Das einzige, was er jetzt tun konnte, war, so schnell wie möglich einige Leute von dem Geschehenen zu unterrichten. Über Vernon, Belmont und Morrisania raste er nach New York hinein. Kurz vor dem Central Park hörte er das feine Alarmzeichen des Sprechfunks. Jäh stoppte er ab, rutschte an die Seite heran und klemmte sich den Apparat ans Ohr. Er meldete sich, aber es kam keine Antwort, nur matte Klopfzeichen wurden hörbar, undeutliche Signale. Er verfolgte die Buchstaben, riß inzwischen einen Zettel aus der Tasche, suchte hastig den Bleistift und notierte sich die Zeichen, um nicht eins über dem andern zu vergessen. Es schien ihm unendlich lange zu dauern, bis er endlich einen Satz zusammen hatte. »…nd überrumpelt, Motorboot, dann kleines Schiff, vermutlich zum Meer, Flugzeug nehmen, achte auf Tauchboot, Sun Koh.« Die Mitteilung war zu Ende. Nimba brauchte nicht lange zu grübeln, um zu erfassen, was sie bedeutete. Er fuhr weiter, setzte hinter sich polizeiliche Bleistif te in Bewegung, erreichte aber das Sheppard Buil ding in Electric City in Rekordzeit. 92
Auf der Plattform des 24. Stockwerkes stand der Hangar, der das Flugzeug barg. Mit dem Expreßlift schoß er hinauf. Minuten später glitt ein Tor zurück, dann schoß das Flugzeug aus den Schächten der Hochhäuser heraus. Nimba hatte die Verfolgung aufgenommen. Große Hoffnungen durfte er sich freilich nicht ma chen. Den Weg, den die Entführer bisher zurückge legt hatten, konnte er nur oberflächlich schätzen, da er die Geschwindigkeit des Schiffes nicht kannte, auf dem sie sich befanden. Vielleicht steckten sie noch im Sund, vielleicht waren sie aber auch schon über Montauk Point hinaus. Ferner war die Wasserfläche groß genug, und es gab mehr Schiffe aller Art an der Küste, als ihm lieb sein konnte. Eigentlich gab es nur einen einzigen Anhaltspunkt von dazu noch sehr fraglichem Wert. Hinter der Entführung steckte si cher dieser Shurman. Wenn das Schiff seine Flagge zeigte, dann war die Verfolgung nicht ganz aus sichtslos. Nimba nahm zunächst Kurs auf New Rochelle und flog dann über den Sund in direkter Richtung zum offenen Meer hin, er folgte also in der Richtung, die das Schiff genommen hatte. Stark war der Verkehr auf dem Sund nicht. Mo torboote und Segelboote aller Art trieben sich herum, selten einmal ein kleineres Schiff. Größere Dampfer sichtete er überhaupt nicht. 93
Auf der Höhe von Norwich, dicht am Ausgang des Sunds, faßte er eine mittelgroße Jacht mit der Flagge des Shurman-Konzerns am Heck. Das mußte das ge suchte Schiff sein. Er ging in die Höhe, um nicht aufzufallen, stellte die automatische Steuerung ein und justierte das Fernglas, so daß er alle Einzelheiten auf der Jacht klar und deutlich erkennen konnte. Das brachte ihn freilich in Konflikt mit seinem Auftrag, denn auf dem Schiff ereignete sich nichts, was außergewöhn lich gewesen wäre. Trotzdem hielt er sich weiter über der Jacht. Insgeheim hoffte er, daß sein Arg wohn berechtigt sei und daß Sun Koh und Hal sich dort auf der Jacht befänden. Montauk Point glitt langsam weg, die Jacht lief aus dem Ostkurs zwei Striche nach Süden. Zwei Stunden vergingen, dann verlangsamte sich die Fahrt ohne ersichtlichen Grund. Weder Land noch ein anderes Schiff befand sich in der Nähe. Doch da tauchte nicht weit von der Jacht ein lang gestreckter stahlgrauer Körper aus dem Meer auf. Ein Tauchboot. Nun wußte Nimba, daß er sich auf der richtigen Spur befand. Und jetzt verriet sich auch die Jacht. Sun Koh er schien auf Deck, etwas später Hal Mervin. Beiden waren die Arme auf den Rücken gebunden, außer dem wurden sie von einigen Männern umringt. Die 94
beiden konnten nicht sehen. Man hatte ihnen dunkle, schwere Kappen über die Köpfe gezogen, die nicht viel mehr als den Mund frei ließen. Die Gefangenen wurden in ein Boot hinunterge bracht. Das Fahrzeug stieß von der Jacht ab, legte am Rumpf des Tauchbootes an und schaukelte dort so lange, bis die Gefangenen mit ihren Begleitern in dem Unterseeboot verschwunden waren. Nun wurde es Nimba erst richtig bewußt, daß er unmöglich die Spur verfolgen konnte. Das Tauchboot sank, nahm gleichzeitig Fahrt in östlicher Richtung. Eine ganze Weile war es noch von oben her als riesiger Fisch sichtbar, aber dann verschwammen seine Umrisse mehr und mehr mit dem Wasser, und schließlich wurde es gänzlich un sichtbar. Weder ein Wellenstreifen noch aufsteigende Blasen verrieten den Weg, den es nahm. Nimba kehrte voller Grimm um. * Harry Shurman klingelte nach Plum, dem Koch. Plum erschien, weißgekleidet, rosig und dickbäu chig, respektvoll und doch zugleich gemütlich ver traulich. Harry Shurman malte Kringel auf einen Bogen Papier. Erst als sich Plum angemessen räusperte, hob er den Kopf. 95
»Was ich fragen wollte, Plum, Sie kümmern sich doch wohl um Miß Owen?« »Gewiß, Sir«, bestätigte der Koch. »Hm. Und wie geht es ihr?« Plum spitzte die Ohren. Diese plötzliche Erkundi gung schien ihm reichlich verdächtig. Sollte der Mann, der Miß Owen auf dem Gang bemerkt hatte, geplaudert haben? Das konnte unangenehm werden. Er legte melancholisch den Kopf auf die Seite. »Äh – es geht ihr schlecht, Sir.« Shurmans Kringel liefen in einer fahrigen Kurve aus. »Schlecht?« »Sehr schlecht, Sir. Seit gestern ist sie nicht aufge standen.« »Was fehlt ihr denn?« Plum legte den Kopf auf die andere Seite. »Tja, das läßt sich schwer sagen. Sie ist eben nicht ganz auf der Höhe.« »Der Kopf?« forschte Shurman. Plum sortierte die Speckfalten in seiner Stirn. »Nein, im Kopf ist sie richtig. Es ist mehr die Ein samkeit – gewissermaßen – sozusagen.« »Aha, Miß Owen sehnt sich nach Zerstreuung?« spöttelte Shurman. »Möglich«, gab Plum vorsichtig zu. »Sie ist wohl recht oberflächlich veranlagt?« Plum begriff überhaupt nicht, worauf die Fragen abzielten. Er wußte aber, daß man Menschen mit ei 96
nem ausgewachsenen Tick ihren Willen lassen soll, deshalb nickte er. »Frauen sind nun einmal so, Sir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« Shurmans Laune wurde durch diese Bemerkung nicht gerade besser. Ziemlich brüsk winkte er dem Koch zu verschwinden. Eine Stunde später ging er an der Tür vorbei, hin ter der Merry Owen wohnte. Fröhliches Lachen drang aus der Kabine heraus. Da hatte er sich bald eine Stunde lang Gedanken darüber gemacht, daß die arme junge Frau so halb durch seine Schuld schwer darniederlag, und nun lachte sie so vergnügt und unbeschwert. Das war – allerhand. Als er eine Weile danach zurückkam, öffnete sich kurz vor ihm ihre Tür, und Merry Owen trat heraus. Sie erschrak, als sie ihn sah, bemerkte jedoch trot zig: »Nein, ich werde mir nicht wieder Ihretwegen den Kopf einrennen. Erzählen Sie nur alles Mr. Shurman, wenn Sie es nicht lassen können.« Streng stellte er fest: »Sie verlassen also Ihre Ka bine schon wieder?« »Jawohl«, entgegnete sie. »Plum hat mir verspro chen, mir seine Küche zu zeigen …« »Ah. Plum unterstützt Sie darin, die Vorschriften zu übertreten …« Sie wurde zornig. »Sie wollen ihn wohl auch noch 97
verraten! Er weiß nicht, daß ich komme.« »Ich denke, Sie sind schwerkrank?« »Ich?« wunderte sie sich. »Wie können Sie das behaupten?« »Dann habe ich mich wohl geirrt«, erwiderte er frostig. »Sie sind wohl öfters unterwegs?« Auch diese Frage begriff sie nicht. »Wie meinen Sie das?« Er lächelte spöttisch und wurde aus einem dump fen Empfinden, ihr weh zu tun, aggressiv. »Ich meine, ob Sie öfters Besuche bei der Besat zung machen?« Nun ahnte sie, was er sagen wollte. Sie wurde bleich. »Das ist eine Gemeinheit«, murmelte sie tonlos. Und mit ausbrechender Heftigkeit: »Jawohl, eine Gemeinheit! Ich werde das meinem Bruder erzählen. Wer sind Sie denn überhaupt, daß Sie es wagen, mir solche Frechheiten zu sagen?« Shurman fühlte sich mit einemmal unbehaglich. »Ich – ich bin der Funker«, meinte er unsicher. »Entschuldigen Sie, aber ich habe mich wohl falsch ausgedrückt. Ich meinte – ich …« »Sie sind ein Ekel«, erklärte sie temperamentvoll, trat in ihre Kabine zurück und schlug die Tür hörbar zu. Harry Shurman blieb verdutzt stehen und hörte so noch, wie sie drinnen laut aufschluchzte. 98
Merry Owen beruhigte sich nach einigen Minuten. Sie hatte die Lust verloren, Plum aufzusuchen, fühlte aber starkes Bedürfnis, ihren Kummer einer mitfüh lenden Seele anzuvertrauen. Deshalb wagte sie es, zum erstenmal das Telefon zu benutzen. Plum meldete sich sofort und hörte mit viel Teil nahme ihren empörten Bericht. »Den Funker werde ich mir mal kaufen«, meinte er schließlich. »Dem werde ich erzählen, was eine Omelette ist. Beruhigen Sie sich, Miß Owen, der Mann wird sich entschuldigen. Viel Zeit habe ich nicht, aber ich komme nachher mal schnell vorbei.« Nach einer Viertelstunde war er auch schon da. Sein Gesicht drückte einige Verlegenheit aus. »Nur für einen Augenblick, Miß Owen. Ich hoffe, Sie nehmen den Vorfall nicht mehr so tragisch.« Merry Owen lächelte. »Nein, ich bin schon darüber hinweg. Aber vorhin habe ich mich tüchtig geärgert. Hoffentlich haben Sie sich mit dem Funker nicht gezankt?« Plum kratzte sich mit dem Fuß an der Wade. »Gewissermaßen – doch. Er hat nämlich alles ab gestritten und behauptet, Sie nie gesehen zu haben.« »Was?« »Tja, hat er gesagt.« »Das ist feige«, stellte sie aufs neue entrüstet fest. »Das hätte ich ihm nicht zugetraut.« »Feige«, sinnierte Plum. »Das ist das richtige 99
Wort. Ich riet ihm, Sie anzurufen und über die Sache zu sprechen, aber das wollte er auch nicht, weil es verboten sei, Sie anzurufen.« »Er hat Angst, daß ich ihm meine Meinung sage!« »Ich dachte mehr, er wollte die Vorschriften nicht übertreten. Mr. Shurman ist in solchen Dingen ge nau.« Sie schüttelte lebhaft den Kopf. »Nein, nein, er scheut sich vor dem, was ich ihm zu sagen habe. Ich werde ihn anrufen und ihm erzäh len, was ich denke.« Plum zog die Brauen hoch. »Geht das? Es ist doch eigentlich verboten …« »Mir nicht«, trumpfte sie auf. »Nun gerade werde ich ihn anrufen und ihm sagen, was ich von soviel Feigheit halte.« »Ich möchte nicht in seiner Haut stecken«, meinte Plum. »Drücken Sie aber den richtigen Knopf, den blauen. Der wird sich wundern. Aber nun muß ich fort und das Abendessen für Mr. Shurman richten.« Sie langte schon nach dem Hörer, während er noch die Tür schloß. Der blaue Knopf. Plum hatte sich nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht, daß seine eigene Signalanlage nicht mit der in einer gewöhnlichen Kabine übereinstimmen konn te. Er konnte zwar von jeder Stelle aus direkt angeru fen werden, konnte aber von sich aus nicht jede Ka 100
bine erreichen. Die Knöpfe waren bei ihm anders eingereiht. Der blaue Knopf gab von der Küche aus die Verbindung zum Funker, von der Kabine Merry Owens aus aber zum Kommandanten des Tauchboo tes, zu Harry Shurman. Merry drückte den blauen Knopf, achtete nicht erst auf die Gegenmeldung und pulverte sofort los: »Hier spricht Merry Owen. Sie sind doch der Funker, nicht wahr?« Harry Shurman besaß genügend Geistesgegen wart, um trotz aller Überraschung zu murmeln: »Der Funker … Ja – ja, ich bin der Funker.« Merry hörte die bekannte Stimme und redete gleich lebhaft weiter. »Sie wundern sich wahrscheinlich, daß ich Sie an rufe«, sagte sie, »aber wenn Sie so feige sind, daß Sie sich durch eine Lüge von allem reinwaschen wol len, muß ich Ihnen schon von mir aus sagen, was ich darüber denke. Warum haben Sie Plum gegenüber nicht zugegeben, daß Sie mich getroffen haben? Er denkt nun vielleicht, daß ich ihn angeschwindelt ha be. Das ist kein feiner Zug von Ihnen. Es hätte Ihnen nichts geschadet, wenn Sie sich wegen Ihrer frechen Bemerkung entschuldigt hätten. Wenn ich das mei nem Bruder erzähle, gibt es den größten Krach, auch wenn Sie sich zehnmal hinter Ihrem famosen Chef verstecken und so tun, als wüßten Sie von nichts. Ich werde natürlich meinem Bruder nichts sagen, aber 101
Sie sollen wissen, daß ich solche Männer wie Sie ver achte. Und wenn Sie mir wieder auf dem Gang be gegnen, möchte ich von Ihnen nicht belästigt werden. Ich pfeife auf Ihre Vorschriften und Ermahnungen.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel und reckte sich befriedigt. Dem hatte sie’s gegeben, nicht gera de vornehm, aber herzhaft. Sie hatte kaum aufgelegt, als der Apparat klingel te. Merry zögerte eine Sekunde, dann nahm sie ab, lauschte. »Einen Augenblick, Miß Owen«, sagte Shurman. »Nachdem Sie mir soviel gesagt haben, müssen Sie mir einige Worte gestatten.« »Es ist verboten, mich anzurufen«, erinnerte sie kühl. »Gewiß«, bestätigte er gelassen, »aber Sie sollen sehen, daß ich doch nicht ganz so feige bin. Zunächst möchte ich Sie nachdrücklich wegen meiner Entglei sung um Entschuldigung bitten. Es war unverzeih lich, aber Sie müssen mir zugute halten, daß ich seit Jahren nicht mehr mit einer Frau gesprochen habe. Man verliert dabei leicht das Gefühl für eine gewisse Grenze. Es tut mir jedenfalls leid, daß ich Sie ver letzte.« Obgleich seine Stimme spröde und herb war und der Tonfall wenig Bedauern verriet, erwiderte sie großzügig: »Es ist gut. Ich kann das schon verstehen, wenn Sie so sind.« 102
»Das ist wohl kaum möglich«, widersprach er. »Ich meine, es hieße wohl zuviel verlangen, wenn man volles Verständnis für Männer unserer Art bei einer jungen Frau voraussetzen wollte.« »Wieso?« entgegnete sie. »Sie leiden vermutlich genauso wie Ihr Chef an überspannter Einbildung.« »Was hat die Einbildung mit mir zu tun? Halten Sie mich für eingebildet?« »Sie verstehen mich nicht«, gab sie unmutig zu rück. »Es hat auch keinen Zweck, wenn ich mich mit Ihnen darüber unterhalte. Was gehen mich Ihre per sönlichen Verhältnisse an. Aber jedenfalls, wenn ein Mann mit einer Frau schlechte Erfahrungen gemacht hat und er meint, daß sein einzelner Fall maßgebend ist, und daß er nun allgemeingültige Urteile fällen darf, so ist das eingebildet. Und nach den Andeutun gen, die mein Bruder mir gemacht hat, leiden fast alle Leute hier daran. Sie haben ein faules Ei erwischt und bilden sich nun ein, weil Ihr Ei faul gewesen sei, müß ten es alle Eier auf der Welt sein. Nun, das ist letzten Endes Ihre Sache. Aber es darf nicht so weit gehen, daß Sie mich deshalb beleidigen.« »Das haben Sie mir bereits verziehen«, erinnerte er. »Im übrigen haben Sie vielleicht gar nicht un recht. Nachdem ich Sie kennengelernt habe, sind mir selbst ähnliche Überlegungen gekommen.« »Wollen Sie mich verhöhnen?« erkundigte sie sich empört. 103
»Nichts liegt mir ferner«, versicherte er und fuhr mit allem Mut der Anonymität fort: »Ich wollte Ih nen nur sagen, daß ich – daß noch nie eine junge Frau soviel Eindruck …« Sie legte erschrocken auf. Das Gespräch drohte ei ne Entwicklung zu nehmen, die sie nicht vorausgese hen hatte. Dieser unglaubliche Funker war auf dem besten Weg, ihr eine Liebeserklärung zu machen. Dabei klang sein Tonfall noch nicht einmal liebens würdig. Unerhört!
104
4.
Harry Shurman hätte wahrscheinlich noch einmal bei Merry Owen angerufen, wenn nicht gerade Plum eingetreten wäre. Und später fand er den Mut nicht mehr – ja, er machte sich schwere Vorwürfe, daß er sich so hatte hinreißen lassen, Dinge zu sagen, die ihm doch wesensfremd waren. Der Rückschlag wirkte sich stark genug aus, um ihn auch am nächsten Tag vor Torheiten zu bewah ren. Erst gegen Abend trieb es ihn einige Male durch den Gang, allerdings erfolglos. Am übernächsten Morgen wandte er sich an Plum, als dieser das Frühstück brachte. »Na, Plum, wie geht es Miß Owen?« »Es geht ihr gut«, sagte Plum. »Ist sie nicht mehr krank?« Plum hatte längst seine Notlüge vergessen. »Krank? Durchaus nicht, Sir.« »Das ist ja erfreulich«, erwiderte Shurman trok ken. »Haben Sie ihr schon die Küche gezeigt?« »Um Gottes willen, Sir, wie werde ich denn? Miß Owen darf doch die Kabine nicht verlassen.« Shurman heuchelte Erstaunen. »Warum denn nicht?« Plum wurde unsicher. »Ja – ich meine, es ist doch Vorschrift?« »Ich kann mich nicht entsinnen, eine derartige 105
Vorschrift erlassen zu haben«, behauptete Shurman. »Ich habe durchaus nichts dagegen, wenn Sie Miß Owen die Küche zeigen. Das wird sie sicher interes sieren.« »Das will ich meinen«, stimmte Plum lebhaft zu. »Na also.« Plum erledigte noch einige Handgriffe und wollte dann verschwinden, aber Shurman hielt ihn zurück. »Warten Sie noch, Plum. Wir müssen da eine gewis se Vorsorge treffen – ich meine, es wird sich unter Umständen nicht vermeiden lassen, daß ich mit Miß Owen zusammentreffe …« »Vielleicht könnte ich Sie vorher verständigen, Sir, damit Sie ihr nicht zufällig begegnen?« Shurman fluchte zum erstenmal seit langer Zeit innerlich. Plum machte es ihm schwer. »Nicht nötig«, lehnte er unwirsch ab. »Jedenfalls wünsche ich nicht, daß im gegebenen Falle Miß Owen erfährt, wer ich bin. Sie mag mich für jemand von der Besatzung halten. Verstanden?« Plum verstand nicht ganz, aber er nickte willig. »Gewiß, Sir. Ich werde ihr sagen, daß Sie der Ma schinenoffizier sind. Oder ist es Ihnen angenehmer, als Dr. Ralling aufzutreten?« Shurman überlegte. »Hm, wie wäre es mit dem Funker?« Plum erschrak. »Davon würde ich entschieden ab raten, Sir!« 106
»Warum?« »Äh – nur so, Sir.« »Schön«, sagte Shurman, »dann werde ich im Not fall als der Funker gelten. Vergessen Sie das nicht.« Plum ging leicht gedrückt von hinnen. Einige Zeit später rief Harry Shurman bei Merry Owen an. »Legen Sie bitte nicht gleich auf«, bat er höflich. »Ich möchte mich nur einmal nach Ihrem Befinden erkundigen.« »Danke«, erwiderte sie leicht abweisend, »mir geht es gut. Aber Sie – Sie sind wohl krank gewesen?« »Nein, warum?« »Nun, ich dachte, weil Sie so lange – ich meine …« Er erfaßte, was sie unterschlagen wollte und fragte in plötzlicher Erregung: »Haben Sie darauf gewartet, daß ich Sie anrufe?« »Ich?« tat sie erstaunt. »Ich dachte, Sie seien krank, weil Sie so komisch sprechen.« »Finden Sie es komisch, wenn Ihnen jemand sagt, daß Sie ihm gefallen?« »Unter diesen Umständen gewiß.« Seine Stimme wurde zum erstenmal weich und warm. »Sie dürfen nicht so streng mit mir ins Gericht ge hen, Miß Owen, selbst wenn Ihnen etwas komisch erscheint. Ich habe in diesen Tagen viel über Sie nachgedacht, nicht zuletzt auch über Ihre Worte. Sie 107
hatten recht mit dem, was Sie mir sagten. Sie sollten mir nun auch behilflich sein, den Weg zur Welt zu rückzufinden.« Der Hörer zitterte in ihrer Hand. Auf derartiges war sie nicht gefaßt gewesen. Worte fand sie nicht. »Sie schweigen?« fragte er. Da antwortete sie ruhig, freundschaftlich aber zu gleich kühl-sachlich: »Es fällt mir schwer, etwas da zu zu sagen. Ich kenne Sie ja kaum und weiß noch nicht einmal, ob Sie Ihre Worte so meinen, wie sie klingen. So eigenartig wie Sie kann jedenfalls nur ein Mann sprechen, der unter Ihren Bedingungen lebt. Sie wollen, daß ich Ihnen helfe? Nein, Mister …« »Clipp.« »Also, Mr. Clipp, das dürfen Sie nicht erwarten. Für Sie ist es das beste, wenn Sie sich Urlaub geben lassen und unter die Menschen zurückkehren. Nur dadurch werden Sie von Ihrer – Einseitigkeit geheilt werden.« »Was ein Mensch vernichtet, kann ein einziger Mensch auch wieder aufbauen.« »Sie sind töricht, Mr. Clipp. Wissen Sie denn nicht, daß Sie dann wieder einseitig sein würden?« »Wieso?« »Das ist ein unmögliches Gespräch.« Sie seufzte. »Aber gut, wenn Sie es durchaus wissen wollen, muß ich Ihnen schon sagen, daß Sie sich dann vielleicht in mich verlieben würden, weil ich der einzige Mensch 108
hier bin, an dem sich Ihre Veränderung auswirken könnte.« »Wäre das so schlimm?« »Ja«, bestätigte sie tapfer. »Sie würden später Ih ren Irrtum einsehen.« »Aus einem anderen Grund nicht?« »Wir wollen nicht mehr darüber sprechen«, bat sie. »Es ist mir … Ich kann es nicht.« »Wie Sie wünschen«, sagte er. »Ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Offenheit. Ist es Ihnen nicht lang weilig in Ihrer Kabine?« Sie atmete auf, daß sich das Thema veränderte. »Manchmal, aber es ist nicht schlimm. Übrigens werde ich mir nachher noch Plums Küche ansehen.« »Mister Shurman hat es nachdrücklich erlaubt, wie mir Plum sagte. Sehen Sie, daß Sie päpstlicher als der Papst waren.« »Es tut mir leid. Da wollen Sie also gleich ge hen?« »In einer Viertelstunde.« Er wußte, was er wissen wollte. »Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen. Kann ich noch etwas für Sie tun?« Jetzt lachte sie. »Ja, legen Sie schleunigst den Hörer auf.« Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihrem Rat zu gehorchen, weil sie schon aufgelegt hatte. Eine Viertelstunde später stand Merry Owen in 109
Plums Zauberreich. Raffinierteste Raumausnutzung vereinigte sich mit allen technischen Finessen, pein lichste Sauberkeit mit zweckmäßiger Schönheit. Plum erklärte mit Eifer und Stolz die zahlreichen Einzelheiten. Mitten hinein erschien Harry Shurman. Er tat außerordentlich überrascht. »Ah, ich sehe, Sie haben Besucht, Plum?« Der Koch begann zu schwitzen und wischte sich die Stirn. »Oh – gewiß, Sir – gewissermaßen sozusa gen … Sie hatten doch …« »Bitte, machen Sie mich bekannt«, unterbrach Shurman, bevor Plum noch eine Dummheit sagen konnte. Plum ruderte etwas hilflos mit dem Arm. »Das ist – der Funker, Mr. Clipp – Miß Owen.« Shurman verbeugte sich. »Ich freue mich, Miß Owen.« Sie war noch einigermaßen starr über seine Frech heit, lief plötzlich rot an und wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Glücklicherweise wandte sich Shur man sofort an Plum. »In meiner Kabine hat es Scherben gegeben. Ich wollte Sie bitten, sich gleich einmal darum zu küm mern. Ich werde Miß Owen einstweilen unterhalten.« Gegen die Tonart gab es keinen Widerspruch. Plum nickte und eilte hinaus. Ein paar Sekunden standen die beiden sich schweigend gegenüber, dann sagte Merry entrüstet: 110
»Sie haben ganz genau gewußt, daß ich hier bin.« »Ja«, bestätigte er und lächelte dabei, wodurch sein Gesicht überraschend weich und jung wurde. »Ich wollte Sie wieder einmal sehen!« Sie hatte das Empfinden, daß sie um jeden Preis ein harmloses Gespräch beginnen müsse. Unge schickt stieß sie deshalb heraus: »Finden Sie nicht, daß Plum ziemlich lange bleibt?« »Nein«, bekannte er offen. »Von mir aus kann er sehr lange bleiben.« »Aber – er soll mir doch die Einrichtung der Kü che erklären.« »Das kann ich auch«, behauptete er kühn. Sie blickte ihn wieder an, diesmal aber voll Miß trauen und Zweifel. »So? Können Sie mir vielleicht sagen, was das hier ist?« Er blickte aufmerksam in einen Kasten, in dem sich einige Rohre mit zahlreichen Löchern befanden. »Das – das ist eine Entlüftungsanlage, damit man es nicht riecht, wenn der Braten angebrannt ist. Durch die Löcher wird der Geruch abgesaugt.« »Sie sind ein Lügner!« rief sie empört. »Ich wollte Sie nur auf die Probe stellen. Das ist nämlich eine Grilleinrichtung.« »Auch nicht übel«, sagte er nachgiebig. »Dann habe ich mich eben geirrt.« Plötzlich lachten sie beide hellauf. Diesmal konn 111
ten sie sich ansehen, ohne befangen zu werden. »Sie verstehen überhaupt nichts von der Küche«, meinte sie entschieden. »Hoffentlich verstehen Sie wenigstens vom Funken mehr.« »Hoffentlich«, erwiderte er diplomatisch. »Wie kommt es, daß Sie so viel Zeit haben? Wenn nun eine Nachricht eintrifft?« »Oh, die nimmt mein Vertreter ab. Ich könnte Ih nen stundenlang Gesellschaft leisten.« »Das lassen Sie nur nicht Mr. Shurman hören«, sagte sie. Er hob die Schultern. »Warum nicht? Er ist nicht so schlimm, wie Sie denken. Ich werde ihn mal fragen, ob ich Sie nicht ein bißchen im Boot herumführen darf.« Ihre Augen wurden ganz groß. »Ach, trauen Sie sich das wirklich?« »Natürlich«, sagte er. »Würden Sie sich das Boot gern mal ansehen?« Sie nickte. »Ja, sehr gern. Es gibt hier so geheimnisvolle Din ge.« »Die werde ich Ihnen alle erklären«, versprach er. »Hoffentlich nicht so wie den Grill?« Sie lachten wieder beide. Merry bemerkte Plums Rückkehr. »Es wird Zeit, daß Sie kommen«, rief sie lebhaft. »Mr. Clipp hat mir alles falsch erklärt.« 112
Plum zerrte an seiner Schürze. »Erklärt? Mister – oh …« Shurman blinkerte ihn freundlich an. »Nun, Plum, alles wieder in Ordnung?« Plum nickte. »Jawohl, Sir. Ich möchte nur wissen, wer die vielen Gläser zerschlagen hat. Sogar hinter dem Schrank lagen Splitter.« »Das möchte ich auch gern wissen«, erwiderte Shurman trocken. Er verschwieg wohlweislich, daß es ihn allerhand Mühe gekostet hatte, so viel Scher ben zu erzeugen, daß Plum für einige Minuten unab kömmlich war. »Das könnte doch höchstens …« Shurman unterbrach ihn: »Lassen wir es. Miß Owen wartet darauf, daß Sie ihr Erklärungen geben.« »Ja«, bestätigte sie, während sie gleichzeitig Shurman die Hand reichte. »Es war sehr liebenswür dig von Ihnen, einstweilen auszuhelfen, aber nun las sen Sie sich nicht mehr zurückhalten.« »Sie glauben nicht, wieviel Zeit ich habe. Auf jeden Fall scheint es mir wichtig, dafür zu sorgen, daß ich nicht abermals falsche Erläuterungen gebe. Ich werde noch eine Weile hierbleiben und mich eben falls von Plum unterrichten lassen.« Das verschlug ihr etwas die Sprache. »Oh – das nennt man Wißbegier.« Sie lächelte. »Ich fürchte aber sehr, Plum wird nur ernsthafte In teressenten dulden, nicht wahr, Plum?« 113
Plum war lebhaft im Begriff, sein rechtes Hosen bein durchzuscheuern. Einesteils konnte er doch sei nen Chef nicht gut hinauswerfen, und andernteils kam ihm plötzlich die ganze Geschichte nicht mehr geheuer vor. Er hielt sich ja nicht gerade für einen Fachmann, aber die beiden taten genau so merkwür dig, als ob … »Gewissermaßen sozusagen«, stammelte er, »ich habe natürlich nichts dagegen, wenn Mister – ahem, ich meine …« »Also fangen Sie schon an, Plum«, mahnte Shur man. Der gute Plum führte seine Küche vor. Darüber verlor er allmählich seine Verwirrtheit und vermoch te nach und nach zu erfassen, daß sein verrückter Verdacht voll zutraf. Die beiden ließen ihn reden und hörten überhaupt nicht zu. Vermutlich behielten sie keinen blauen Dunst von dem, was er erklärte. Kurz und gut, die beiden waren gründlich ineinander ver liebt. Dabei schienen sie sich auch noch einzubilden, daß er nichts davon merkte. Am nächsten Vormittag führte Harry Shurman Merry durch das Tauchboot. Das Zusammentreffen in Plums Küche hatte alles Verkrampfte beseitigt. Shurman redete nicht mehr über sich selbst und über seine Wandlung. Irgendwie war es nicht mehr nötig. Es fiel kein Wort von Liebe zwischen ihnen, weil das natürliche Verhältnis hergestellt war. Junge Men 114
schen, in denen die Liebe reift, haben es nicht nötig, philosophische Gespräche über Herzensbeziehungen zu führen, weil sie hundert zartere Möglichkeiten haben, um ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. So blieb Harry Shurman zurückhaltend, überschritt nie eine gewisse Grenze und sagte doch alles. Und Merry Owen ging es ganz ähnlich. Sie machte sich nur Vorwürfe und hielt sich verständige Vorlesun gen, wenn sie allein war. Harry Shurman zeigte ihr alles und erklärte ihr al les. Die Männer der Besatzung zogen sich in den Hintergrund zurück. Sie waren geschult und be herrscht genug, um kein Erstaunen zu zeigen. Im üb rigen griff Shurman stets schnell ein, wenn die Ge fahr entstand, daß seine wahre Stellung verraten werden konnte. Die Besichtigung dauerte volle drei Stunden. Sie waren ihnen vergangen wie drei Minuten und hatten gewirkt wie drei Wochen. Am Spätnachmittag dieses Tages merkte Merry Owen, daß an Bord etwas Besonderes vorging. Sie hörte, wie ein Schiffskörper anlegte, sie vernahm zahlreiche laute Stimmen, Schritte und allerlei Be wegung, und schließlich unterschied sie draußen auf dem Gang ganz deutlich die Stimme ihres Bruders. Da stürzte sie hinaus und rannte direkt gegen Bern Owen, der eben mit einigen Leuten durch den Gang kam. 115
»Bern!« rief sie. »Das ist schön, daß du wieder zu rück bist.« Bern umarmte sie liebevoll. »Ich komme nachher zu dir. Der Aufenthalt scheint dir ja gut bekommen zu sein.« Sie wurde rot. »Ich freue mich, daß du zurückgekommen bist.« »Nett von dir«, sagte er. »Also bis nachher. Jetzt mußt du mich entschuldigen. Ich habe noch dienst lich einiges zu erledigen.« Jetzt erst bemerkte sie die beiden, die dicht hinter ihrem Bruder standen. Beide trugen dunkle Kappen über dem Kopf, die nur Mundöffnungen besaßen. beiden waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Kleidung und Haltung kamen ihr bekannt vor. »Wer ist denn das?« fragte sie erschrocken. »Zwei Leute, die Mr. Shurman zu sprechen wünschten«, erwiderte Bern Owen gleichgültig. »Sie brauchen nicht zu wissen, wo sie sich befinden.« »Sie werden aber als Gefangene behandelt«, stellte sie empört fest. »Sind es denn Verbrecher?« »Nein. Bitte, geh in deine Kabine. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Ich erzähle dir auch dann, um was es sich handelt.« Sie ließ sich noch nicht abschieben. »Sie kommen mir bekannt vor. Ihr wollt ihnen doch nicht etwa was antun?« Nun sprach der größere der beiden Gefangenen, 116
dessen ruhige, vornehme Haltung ihr so bekannt vor kam, mit leicht verfärbter Stimme: »Bitte, machen Sie sich um unseretwillen keine Sorgen, Miß Owen. Es wird uns nichts geschehen.« »Jetzt weiß ich, wer Sie sind«, rief sie sofort. »Sie sind doch Mr. Sun Koh, der mir in New York behilf lich war?« »Ich bin es«, bestätigte der Gefangene. »Sie kennen meine Schwester?« fragte Owen be stürzt. »Das haben Sie mir nicht gesagt.« »Sie verrieten mir nicht, daß Sie Bern Owen sind«, kam es unter der Kappe hervor. »So ist es richtig«, krächzte Hal Mervin. »Wir spielen die Ritter ohne Furcht und Tadel bei Miß Owen, und der Bruder stülpt uns die Tarnkappe über den Schädel.« Bern Owen war ernstlich verwirrt. »Ich begreife die Zusammenhänge nicht ganz«, murmelte er. »Aber hier im Gang ist nicht der richti ge Platz, um über diese Dinge zu sprechen. Du wirst mir nachher erzählen, Merry.« »Jawohl«, sagte sie. »Aber wenn den beiden etwas geschieht, dann bin ich dir ernstlich böse. Dieser ek lige Mr. Shurman hat nicht das Recht…« Bern Owen schob seine Schwester schnell in die Kabine hinein. »Ein tüchtiges Mädchen«, meint Hal laut. »Die ist auch bloß aus Versehen in diese Räuberhöhle geraten.« 117
»Darf ich bitten«, forderte Bern Owen seine Ge fangenen beherrscht auf, ihm weiter zu folgen. * Harry Shurman empfing Bern Owen in dem tech nisch vollkommenen, aber sehr nüchternen Beobach tungsraum. »Glücklich zurück, Bern?« fragte er, während er ihm die Hand drückte. »Hast du deinen Auftrag aus führen können?« »Fast zu gut. Ich habe noch einen zweiten Gast mitgebracht, einen Jungen. Ich konnte die beiden schlecht voneinander trennen und mußte sie beide mitnehmen.« »Hast du Spuren hinterlassen?« »Wohl kaum.« »Und wissen die beiden, wo sie sich befinden?« »Bis jetzt nicht. Ich habe ihnen Kappen über den Kopf gestülpt, aus denen sie seit einigen Tagen nicht herausgekommen sind. Etwas unbequem, aber für meine Zwecke ganz dienlich.« »Schön, führe sie in mein Arbeitszimmer.« Owen schüttelte den Kopf. »Ich glaube, man muß ihnen erst einmal Gelegen heit geben, sich ans Licht zu gewöhnen, sich zu wa schen und was noch alles dazu gehört.« Harry Shurman lachte leicht. 118
»Da hast du allerdings recht, Bring sie erst nach Reservekabine 2. Eine halbe Stunde kann ich schon warten. Gib ihnen volle Freiheit, ich lasse ohnehin jetzt ein Stück tauchen. Bevor sie nicht mit mir ge sprochen haben, werden sie wohl keine Revolte ver suchen. Du kennst den weiteren Ablauf.« »Ich habe bereits alle Anweisungen gegeben.« »Gut, dann bis nachher. Ich werde dir einiges zu erzählen haben.« Bern Owen war kaum hinaus, als das Telefon klingelte. Harry Shurman hob ab und hörte freudig überrascht die Stimme Merry Owens. »Ich muß etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen«, erklärte sie aufgeregt. »Haben Sie von den beiden Gefangenen gehört, die vorhin angekommen sind?« »Allerdings«, gab er verwundert zurück. »Was ist mit ihnen?« »Es sind – Freunde von mir, und ich möchte nicht, daß ihnen etwas geschieht.« Ihr Zögern mitten im Satz war ihm nicht entgan gen. Es beunruhigte ihn irgendwie. »Freunde?« »Ja«, bestätigte sie. »Die Bezeichnung stimmt nicht ganz, aber Sie können es ruhig so auffassen. Wissen Sie zufällig, was Mr. Shurman mit ihnen vorhat?« »Nein«, gab er wortkarg zurück. »Er hat sie wie Verbrecher gefangennehmen las 119
sen«, stellte sie entrüstet fest. »Sie müssen unbedingt zu erfahren suchen, was er mit ihnen plant. Bitte, tun Sie mir den Gefallen. Ich traue diesem Mr. Shurman alles zu und fürchte das Schlimmste.« »Und wenn sich Ihre Befürchtungen bewahrheiten sollten?« »Dann müssen wir unbedingt einen Weg finden, um die beiden zu befreien. Sie müssen mir helfen, Mr. Clipp.« »Muß ich das?« erkundigte er sich mit einem An flug von Spott. »Sie haben es mir versprochen«, erwiderte sie be troffen. »Sie sind außer Plum mein einziger Freund hier. Oder sind Ihnen Ihre Vorschriften wieder ein mal wertvoller?« »Natürlich nicht. Aber warum wenden Sie sich nicht an Ihren Bruder?« »Mit dem will ich noch sprechen, aber ich traue ihm in der Hinsicht nicht ganz. Er hält zu sehr zu Mr. Shurman, und ich weiß nicht, ob ich ihn dazu brin gen kann, gegen dessen Willen anzugehen.« »Hm, Sie planen also nichts anderes als eine klei ne Palastrevolution?« »Ich werde alles tun, um zu verhindern, daß an den beiden Gefangenen ein Verbrechen verübt wird.« »Sie müssen Ihnen sehr viel wert sein.« »Sie haben sich in New York meiner angenom 120
men, und ich bin ihnen zu großem Dank verpflich tet.« »Ich werde sehen, was sich tun läßt, und Ihnen dann Nachricht geben.« »Schluß, mein Bruder kommt.« Harry Shurman legte nachdenklich auf. Dieses starke Interesse an den Fremden machte ihn stutzig. Es schien Merry Owen sehr, sehr viel an ihnen zu liegen. Wenn dieser Sun Koh etwa zufällig jung und ansehnlich war, dann konnte man fast annehmen, daß gewisse Beziehungen vorlagen. Unsinn, so falsch konnte Merry Owen nicht sein. Sie war weit genug aus sich herausgegangen, minde stens so weit, daß er fast annehmen konnte, ihr Herz sei frei. Harry Shurman wurde sehr blaß, als er eine halbe Stunde später Sun Koh gegenübertrat. Dieser Mann war nicht nur jung, sondern auch schlank, sportgestählt, beeindruckend in jeder Weise, eine höchst außergewöhnliche Erscheinung, der man kaum seine Bewunderung versagen konnte. Sofort wurde die dumpfe Unruhe zur würgenden Gewißheit. Das war der Nebenbuhler. Es konnte gar nicht anders sein. Und Merry Owen setzte sich des halb so warm für ihn ein, weil sie ihn liebte. Harry Shurman erstickte fast an der hochschießen den Welle von Eifersucht. Zugleich durchkrampfte ihn wild die Enttäuschung. 121
Sun Koh blickte mit wachsender Verwunderung auf den Mann, der ihn unentwegt anstarrte und dabei sichtlich eine starke Erregung niederkämpfte. Wenn das Shurman war, so entsprach er wenig den Vorstel lungen, die er sich bisher von ihm gemacht hatte. Dieser Mann hier machte entschieden einen sympa thischen Eindruck, wenn er augenblicklich auch in nerlich stark erregt war. Endlich gab sich Shurman einen Ruck. »Ich bin Harry Shurman«, sagte er heiser. »Ich darf wohl annehmen, daß Sie Mr. Sun Koh sind?« »Ja«, sagte Sun Koh. »Dies ist Hal Mervin. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir die Möglichkeit einer persönlichen Unterhaltung gaben.« Shurman erkannte aus der Ruhe Sun Kohs, daß er keinen leichten Gegner vor sich hatte. »Ich würde mir an Ihrer Stelle mit den Dankesbe zeigungen Zeit lassen«, entgegnete er grob. »Die Un terredung sollen Sie zwar haben, da sie von Ihnen aber erzwungen wurde, müssen Sie die Folgen tra gen. Es ist Ihnen wohl klar, daß Sie mein – Gefange ner sind?« Sun Koh hob leicht die Schultern. »Da ich meine Hände frei habe, könnte man auch leicht das Gegenteil behaupten.« »Sie werden es vielleicht dann nicht mehr tun, wenn Sie erfahren, daß Sie sich augenblicklich be reits dreißig Meter unter dem Meeresspiegel befin 122
den und daß es gegen meinen Willen keine Möglich keit gibt, wieder nach oben zu kommen.« Sun Koh sah ihn fest an. »Man kann auch den Willen eines Menschen beu gen, Mr. Shurman. Doch würde ich vorschlagen, daß wir uns nicht über derartige Nebensächlichkeiten un terhalten. Ich bin gekommen, um mit Ihnen über den Kauf zu verhandeln, den Ihr Bevollmächtigter für ausgeschlossen hielt.« Shurman machte eine ablehnende Geste. »Es ist zwecklos, darüber zu sprechen. Sie werden dieses Schiff ohnehin nicht wieder verlassen.« »Und wenn das doch der Fall sein würde?« »Dann mögen Sie auch das Land haben. Sie schei nen ja fest damit zu rechnen, daß Sie wieder fort kommen. Haben Sie so viel Vertrauen zu Miß Owen?« Sun Koh hob erstaunt die Brauen. »Was hat Miß Owen damit zu tun?« Shurman beugte sich vor. »Alles – denke ich. Ge fällt Sie Ihnen?« Da begriff Sun Koh. Der Mann vor ihm war eifer süchtig. »Gewiß«, erwiderte er gelassen. »Ich habe selten eine junge Dame so sympathisch gefunden wie Miß Owen. Wird sie etwa auch von Ihnen gewaltsam hier festgehalten?« »Vielleicht.« 123
Sun Koh schüttelte den Kopf. »Für einen Mäd chenräuber hätte ich Sie zuletzt gehalten, Mr. Shur man. Sollten Sie nicht die Verhältnisse etwas ver kennen?« »Ich nicht«, sagte Shurman. Hal, der bisher aufmerksam zugehört hatte, be merkte laut: »Ich würde an Ihrer Stelle kein Wort mehr mit ihm wechseln, Sir. Der Mann ist ja voll kommen übergeschnappt.« Shurman fuhr heftig zu ihm herum. Seine Beherr schung geriet in Gefahr bei diesen spöttischen, höchst unverblümten Worten. »Was wollen Sie?« brauste er auf. »Meinen Sie etwa mich?« »Ja. Sie meine ich. Das sieht man doch, daß Sie ei fersüchtig sind. Sie spielen uns hier Beherrschung vor, dabei zittern Ihre Finger vor Aufregung. Sie ha ben sich wohl gründlich in Miß Owen verknallt?« Diese herzhafte Sprache ließ Shurmans kühle Zu rückhaltung zusammenbrechen. »Verknallt?« fuhr er wütend auf. »Ich verbitte mir solche Ausdrücke!« Hal meinte unbekümmert: »Bilden Sie sich ja nicht ein, daß ich Ihrer zarten Gefühle wegen zum Dichter werde. Meinetwegen können Sie sich ver knallen oder verlieben, aber das ist ein bißchen stark, daß Sie glauben, daß Sun Koh Ihr Rivale ist. Erstens hat er seine Braut, zweitens hat er mehr zu tun, als 124
mit jedem jungen Mädchen anzubändeln, und drit tens hat er bis jetzt Miß Owen nur einmal gesehen. Also lassen Sie uns gefälligst mit Ihrem eifersüchti gen Quatsch zufrieden.« Harry Shurman schnappte noch nach Luft, als Sun Koh schon sagte: »Entschuldigen Sie die Derbheit von Hal, Mr. Shurman, aber in der Sache hat ei wohl recht. Ich habe ebenfalls den Eindruck, daß Sie ge wisse persönliche Momente in den Vordergrund schieben. Ich versichere Ihnen, daß mich nicht mehr als ein allgemein menschliches Interesse mit Miß Owen verbindet.« »Ich bin nicht eifersüchtig«, wehrte sich Shurman. »Außerdem kann Miß Owen noch ganz anders dar über denken.« »Komplett verrückt«, murmelte Hal. »Miß Owen hat bisher nur einmal mit mir gespro chen«, erklärte Sun Koh ruhig. »Ich lernte sie zufäl lig in New York kennen, als sie belästigt wurde. Da bei erfuhr ich, daß sie ihren Bruder suchte, und war ihr etwas behilflich. Es ist wohl nicht anzunehmen, daß sich Miß Owen gleich in mich verliebt hat.« Shurman entgegnete: »Sie scheinen nicht zu wis sen, wie schnell das bei Frauen geht. Sie zeigt jeden falls sehr, sehr viel Interesse an Ihrem Schicksal.« Sun Koh erhob sich. »Brechen wir dieses sinnlose Gespräch ab.« »Noch nicht«, widersprach Shurman heftig. »Ver 125
gessen Sie nicht, daß Sie meine Gefangenen sind. Ich werde Sie …« Bern Owen stand auf der Schwelle. Kalt brachen seine Worte in die Erregung des Freundes ein. »War te bitte noch mit deinen Entschließungen. Ich muß dich dringend sprechen, und es wäre mir lieb, wenn du mir gleich Gelegenheit geben würdest.« Shurman blickte ihn verstört an, dann zeigte er mit fahriger Bewegung zur Tür. Dicht hintereinander verschwanden die beiden und ließen die Gefangenen einfach zurück. »Das war der zweite Theaterspieler«, meinte Hal kopfschüttelnd. »Ich glaube, er wird die gekränkte Ehre mimen.« Sun Koh lächelte. »Der Vergleich ist nicht schlecht. Seit zwei Tagen komme ich mir fast wie eine Operettenfigur vor. Die Kappe über den Augen war gar zu romantisch.« »Auf jeden Fall sind wir jetzt nur Statisten. Ich vermute stark, daß man uns so halb und halb verges sen hat. Noch nicht einmal die Tür ist zugeschlossen, wie sich das für eine ernsthafte Gefangenschaft ge hört. Wie wäre es, wenn wir inzwischen auf eine kleine Erkundigungsreise gehen würden?« Sun Koh nickte. »Gehen wir.« *
126
Merry Owen brach das Gespräch mit Shurman ab, weil ihr Bruder bei ihr eintrat. Sie konnte gerade noch den Hörer auflegen, wußte aber nicht genau, ob Bern es nicht doch noch bemerkt hatte. Er umarmte sie und sagte ernst: »Merry, du mußt mir rasch erzäh len, wieso du die beiden Leute kennst, die ich ge bracht habe. Es ist ziemlich wichtig für mich.« »Ich habe sie in New York kennengelernt«, erwi derte sie. »Es sind die beiden, von denen ich dir schon erzählte, die mich am Pier von dem aufdringli chen Menschen befreiten und mir dann behilflich waren, dich zu finden.« »Und warum hast du mir nicht ihre Namen ge sagt?« »Habe ich das nicht getan? Ich weiß nicht, jeden falls erschien es mir unwichtig.« »Zu dumm«, murmelte er. »Ausgerechnet die bei den, die dir halfen, fange ich weg und bringe sie hierher.« »Du mußt sie auch wieder wegbringen!« »Das ist leicht gesagt!« »Was habt ihr mit ihnen vor?« Er setzte sich auf das Lager und zog sie neben sich nieder. »Dieser Sun Koh will von Shurman unbedingt ei nen Landstrich an der kanadischen Atlantikküste kaufen. Wir wissen nicht, wozu, aber jedenfalls denkt Harry nicht daran, zu verkaufen, weil gerade 127
dort unsere Stützpunkte liegen. Der Mann ist jedoch beharrlich. Als Billing ablehnte, forderte er eine per sönliche Aussprache mit Harry. Diese konnte ihm aus naheliegenden Gründen auch nicht zugesagt werden. Daraufhin beruhigte er sich nicht, sondern ermittelte auf uns unbekannte Art, daß sich Harry überhaupt nicht in den Staaten aufhält. Kurz und gut, er drohte mit einer Veröffentlichung seiner Feststel lungen. Darauf konnten wir es nicht ankommen las sen, erstens nicht wegen unserer Arbeit, zweitens hat Harry keine Lust, das Tauchboot zu verlassen. Sun Koh sollte also seine Unterredung haben. Deshalb brachte ich ihn her. Die näheren Umstände ergaben sich daraus, daß er nachträglich nicht imstande sein soll, etwas über unseren Aufenthalt zu verraten.« »Na gut, dann brauchst du ihn doch nach beende ter Unterredung nur wieder zurückzubringen. Gott sei Dank, daß es nichts Schlimmeres ist.« »Es ist schlimmer. Ich habe mich mit dem Mann vorhin unterhalten. Er weiß ziemlich genau Bescheid – jedenfalls so genau, daß wir ihn nicht eher fortlas sen können, bevor wir uns nicht damit abgefunden haben, daß die ganze Welt von uns erfährt.« Sie sah ihn erschrocken an. »Willst du damit sagen, daß ihr die beiden längere Zeit festhalten wollt?« »Ja, es wird notwendig sein, vielleicht sogar über Monate hinweg.« 128
»Das darfst du nicht, und dein famoser Harry darf das auch nicht. Ihr habt kein Recht, die Leute gefan gen zu halten.« »Es ist eine Notwendigkeit.« »Notwendigkeit?« Sie lachte verächtlich. »Wegen der Schrullen deines Freundes? Wenn du wie mein Bruder handeln willst, sorgst du dafür, daß die bei den wieder freigelassen werden!« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe nichts dagegen. Offengestanden, dieser Sun Koh hat mich beeindruckt. Das ist ein Mann, wie man ihn selten findet. Aber ich muß mit Harry rechnen.« »Harry, immer Harry! Als ob er der liebe Gott wä re.« Bern Owen seufzte. »Wir sind seit Jahren enge Freunde, und er handelte wirklich großzügig, als ich dich gegen die Vorschriften hierherbrachte. Ich wer de natürlich mit ihm über die Angelegenheit spre chen, aber ich weiß nicht, ob es hilft. Merkwürdig, er kam mir heute ganz verändert vor …« »Laß ihn«, bat sie. »Ich mag gar nichts über ihn hören. Wir wollen lieber über etwas anderes spre chen.« Ein paar Sekunden später bereute sie den Vor schlag aufs lebhafteste, denn ihr Bruder meinte: »Hast du nicht vorhin, als ich eintrat, telefoniert?« Sie wurde rot. »Nein – doch, ich habe telefoniert.« 129
»Wer hat dir den Apparat gezeigt?« »Plum.« »Der wird auch nicht mehr von seiner Geschwät zigkeit geheilt werden. Darf man fragen, mit wem du dich unterhalten hast?« Sie blickte verlegen zur Erde und druckste, so daß er begütigend sagte: »Du brauchst es mir nicht zu verraten, wenn du nicht willst. Ich möchte mich nicht in deine Angelegenheiten eindrängen.« Sie wollte aber auch keine Geheimnisse vor ihm haben und bekannte deshalb: »Ich habe mit dem Funker gesprochen.« »Mit Clipp? Hast du ihn kennengelernt?« »Ich traf ihn einmal auf dem Gang, dann in der Küche, als ich Plum besuchte, und gestern hat er mir das Tauchboot gezeigt.« Jetzt war er ernsthaft verwundert. »Machst du Spaß?« »Nein.« Er lachte auf. »Clipp in der Küche und dann auf einem Spazier gang durch das Schiff? Das kann wohl nur ein Scherz sein. Erstens würde es völlig unseren Vor schriften widersprechen, zweitens ist es geradezu undenkbar, daß Clipp seinen Posten so lange verläßt. Er schläft sogar neben seinen Apparaten.« »Er hat doch seinen Dienst an seinen Vertreter ab gegeben«, erwiderte sie leicht verletzt. 130
»Clipp hat überhaupt keinen Vertreter«, gab er entschieden zurück. »Er hat dich beschwindelt. Wenn er nicht doppelt so alt wäre wie du, würde ich direkt an eine Liebesromanze glauben. Ich werde ihm aber auf jeden Fall seinen Bart zupfen, damit er nicht wieder solchen Unsinn macht.« Merry Owen stutzte. »Ich verstehe dich nicht. Mr. Clipp hat keinen Bart, und er ist bestimmt nicht älter als du.« Bern Owen schüttelte den Kopf. »Ich kenne Clipp länger als du. Entweder treibst du einen Scherz mit mir oder …« Merrys Stimme bebte verdächtig, als sie sagte: »Mir ist gar nicht nach einem Scherz zumute. Er hat doch gesagt, er sei der Funker …« Owen erhob sich. »Da hat dir jemand einen Streich gespielt. Das war bestimmt nicht Clipp, den du kennengelernt hast.« »Aber Plum hat ihn doch auch als Funker bezeich net.« »Das verstehe ich nicht. Vielleicht kannst du ihn mir beschreiben?« »Er ist schlank, hat fast genau deine Figur, nur et was schmaler ist er vielleicht. Gesicht und Haar sind fast wie bei dir, nur hat er Falten um den Mund, wenn er hart spricht. Aber wenn er lacht, sind sie weg. Auf der linken Backe hat er eine kleine weiße Narbe. Vielleicht erkennst du ihn an seinem Ring, 131
den er am kleinen Finger der linken Hand trägt. Es ist ein großer Diamant an einem schmalen Platinreif. Und dann …« Bern Owen winkte mit einer leeren Geste ab. »Danke, das genügt. Ich weiß, von wem du sprichst.« Sie faßte ihn beim Arm. »Wer ist es?« Ihr Bruder starrte geistesabwesend auf die Wand. Diese Eröffnungen kamen ihm zu plötzlich. »Gleich«, murmelte er. »Nur einige Fragen. Er hat sich dir als Funker vorgestellt?« »Ja, natürlich.« »Aber du hättest doch den Irrtum beim Telefonie ren merken müssen. Welchen Knopf hast du be nutzt?« »Den blauen.« »Wer hat dir das gesagt?« »Plum.« Bern Owen nickte. »Natürlich, bei Plum ist es der blaue. Und nun noch eine Frage, die du mir nach Be lieben beantworten oder nicht beantworten kannst. Wie steht ihr beide zueinander?« Sie erwiderte leise: »Er war anfänglich sehr hart zu mir, aber dann haben wir uns gut verstanden. Er – ich – ich glaube, er sieht mich gern.« »Du lieber Himmel«, entfuhr es ihm, so entgeistert war er. »Und du?« »Ich? Ich …« Plötzlich schluchzte sie laut auf. »Er hat mich belogen. Das hätte ich nicht von ihm ge 132
dacht. Wenn er nicht der Funker ist, wer ist es dann?« Er zögerte, stieß aber dann heraus: »Der Mann, den du kennengelernt hast, ist Harry Shurman!« Sie wurde blaß. »Harry Shurman?« Er nickte. Merry wurde ganz ruhig. »Also Harry Shurman, dein Freund«, flüsterte sie. »Das war eine Gemeinheit. Sag ihm das – und geh nun bitte. Ich will allein sein.« Er faßte sie bei der Schulter. »Du bist verletzt, Merry. Ich will mit ihm sprechen. Bis dahin verurtei le ihn bitte nicht. Harry ist ein ernsthafter Mann und gibt sich nicht mit Oberflächlichkeiten ab. Ich ver stehe zwar diese grundsätzliche Wandlung noch nicht, aber wenn sie bei ihm eingetreten sein sollte, dann ist es keine leichte Sache für ihn. Wenn du ihn liebst, wie es scheint, dann stoße ihn nicht wegen einer Kleinigkeit zurück, denn das könnte ihn allzu hart treffen.« Sie riß sich los, schrie ihn zornig an: »Sei still! Du sprichst wie ein Mann. Geh, ich will nichts mehr wissen. Ich hasse ihn!« Dabei schluchzte sie aber auch schon wild und zü gellos. Bern Owen biß die Zähne zusammen und ging hinaus. 133
*
»Ich habe etwas mit dir zu besprechen«, begann Bern Owen ruhig und beherrscht. »Ich komme gerade von meiner Schwester. Sie erzählte mir, daß sie die Be kanntschaft des Funkers gemacht hat. Es gehörte nicht viel dazu, um festzustellen, daß sie dich ken nengelernt hat. Mehr brauche ich wohl nicht zu sa gen.« Harry Shurman war noch durch das vorangegan gene Gespräch mit Sun Koh so stark erregt, daß er nicht den richtigen Ton fand. »Ja, ich habe deine Schwester kennengelernt«, er widerte er halb trotzig, halb hochfahrend. »Ich sagte ihr, daß ich der Funker sei, weil ich – weil ich … Ach, das ist ja völlig bedeutungslos.« Owen zog die Brauen zusammen. »Vielleicht doch nicht ganz. Sie nimmt es dir schwer übel.« Shurman nickte. »Sie wird mir noch mehr übel nehmen.« »Bist du verrückt, Harry?« fragte Owen scharf. »Merry ist meine Schwester.« »Haha, Bern Owen, deine Schwester! Du bist mein Freund und ein Ehrenmann durch und durch, aber jetzt willst du alle Lüge, Falschheit und hunds gemeine Koketterie decken.« 134
»So, nun mach erst einmal einige tiefe Atemzüge, besinne dich ein bißchen und dann erzähle mir ganz ruhig, was du mir zu erzählen hast.« Harry Shurman blieb tatsächlich sitzen. Er kippte über die Krisis hinaus, und da Owen geduldig warte te, setzte er nach einer Weile heiser und stöhnend an: »Du hast recht, ich muß dir alles sagen, sonst hältst du mich wirklich für verrückt. Du kennst mich, und ich brauche dir nicht mehr zu sagen, daß ich durch einander bin. Ich traf deine Schwester zufällig auf dem Gang. Sie erschrak, schlug gegen eine Strebe und fiel hin. Ich trug sie in ihre Kabine. Die Begeg nung hat mich nicht wieder losgelassen, Bern. Mir war zumute, als zerbrächen Eiskrusten in mir. Ich glaube, ich veränderte mich von Stunde zu Stunde. Ich habe mich dagegen gewehrt, aber schließlich war es doch stärker als ich. Ich sprach telefonisch mit deiner Schwester und sah sie dann wieder. Und da wußte ich, daß ich sie liebe.« Da er lange schwieg, fragte Bern Owen vorsichtig: »Und warum sprichst du jetzt so über sie?« »Sie hat mich betrogen«, erwiderte Shurman. »Ich… Du kannst das vielleicht nicht beurteilen, aber ich hatte allen Grund anzunehmen, daß sie mich auch gern hatte. Und nun war alles Lüge. Sie liebt diesen Sun Koh.« Owen riß die Augen auf. »Sun Koh? Wieso denn?« 135
»Ich weiß es. Gegen ihn kann ich nicht aufkom men. Sie kennen sich von früher, und sie hat mich selbst himmelhoch gebeten, daß ich ihn beschützen soll.« Owen mußte lachen. »Mensch Harry, man merkt, daß du verliebt bist. Weißt du denn nicht, daß Merry den Mann bis jetzt nur ein einzigesmal gesehen hat und ihm nur helfen will, weil er ihr geholfen hat?« »Das weiß ich«, murmelte Harry unsicher. »Aber deswegen kann sie ihn doch lieben?« »Das kann sie eben nicht«, knurrte Owen. »Sie liebt nämlich dich, wenn mich nicht alles täuscht.« Shurman reckte den Kopf. »Das – ist nicht wahr!« »Ich denke doch. Jedenfalls ist sie vorhin abwech selnd rot und blaß geworden, als von dir die Rede war. Und außerdem heult sie sich augenblicklich die Augen aus dem Kopf, weil du sie betrogen hast. Das würde sie bestimmt nicht tun, wenn du ihr gleichgül tig wärst. Sie liebt dich, darauf kannst du Gift neh men.« Harry Shurman sprang auf. »Du meinst das im Ernst?« »Selbstverständlich.« »Herrgott, Bern, das wäre – das wäre einfach großartig! Aber – warum weint sie dann?« Bern Owen grinste. »Weil sie genau so verdreht ist wie du. Sie hält dich für einen Gangster und nimmt an, daß du nur ein Spiel mit ihr getrieben hättest. Je 136
denfalls hast du dich unter falschem Namen bekannt gemacht.« Shurman lachte siegesfroh. »Ach, das ist nur eine Kleinigkeit. Die läßt sich schnell in Ordnung bringen. Ich werde gleich zu ihr hingehen…« Sein Freund winkte ernst ab. »Ich glaube, so ein fach wird das nicht sein, Merry wieder aufzurichten. Sie weiß, daß ich mit dir gesprochen habe, und wird vielleicht annehmen, daß du nur mir zu Gefallen kommst. Wenn sie wirklich so ist, wie ich sie ein schätze, wird sie augenblicklich nicht in der Stim mung sein, mit dir zu sprechen.« »Das werden wir gleich haben.« Harry Shurman drückte die Telefontaste. »Harry Shurman. Bitte, Miß Owen, ich möchte – hallo …« Er ließ den Hörer sinken. »Sie hat gleich wieder aufgelegt.« »Das war zu erwarten.« »Aber…« »Laß ihr Zeit«, bat Owen. »Ich werde mit ihr spre chen. Wenn ihr beide euch wirklich liebt, werdet ihr schon zusammenkommen.« * Sun Koh und Hal Mervin bummelten durch das Tauchboot. Sie trafen auf Mitglieder der Besatzung, die verwundert blickten, da sie aber mit der größten 137
Selbstverständlichkeit auftraten, nahmen die Leute an, daß sie im Einvernehmen mit ihrem Chef herum liefen. Sie gaben willig Auskunft auf die Fragen, die an sie gestellt wurden, und Bracker, der Maschinen offizier, übernahm sogar regelrecht die Führung. Er war es auch, der technische Daten und sonstige wich tige Erläuterungen gab, die die Einzelheiten erst ver ständlich machten. »Die gesamte äußere Länge des Tauchbootes be trägt neunzig Meter«, erklärte er auf eine Frage Sun Kohs. »Es weicht allerdings von der üblichen Form stark ab. So beträgt seine Breite vorn und hinten im mer noch zehn Meter, während ähnliche Boote ge wöhnlich spitz verlaufen. Auch die Höhe nimmt nur geringfügig ab.« »Welchen Zweck hat diese eigentümliche Kon struktion?« »Sie werden das sofort verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß das gesamte Boot eigentlich nur ein Mut terschiff darstellt, das weder große Tiefen noch be trächtliche Geschwindigkeiten zu erreichen braucht. Das eigentliche Tauchboot ist der Kern dieses Mut terschiffes, das Innenstück, das sich nach Belieben aus ihm herauslösen kann.« »Davon habe ich wenig gemerkt.« Bracker lachte. »Das glaube ich gern. Im jetzigen Zustand kann man von einem Teil zum andern überwechseln, ohne 138
es zu spüren. Sie können sogar in das kleine Verbin dungsboot, das Mr. Owen führt, hinüber, ohne daß es Ihnen auffällt. Sie müßten schon auf die kaum sicht baren Laufschienen achten, auf denen die Türen aus geschoben werden, wenn die Verbindung hergestellt wird.« »Die kreisrunde Form mancher Türen und die starken Zwischenwände fand ich allerdings seltsam.« »Nicht wahr? Zwischenwände von fünfzig Zenti meter Stärke sind wohl nicht alltäglich.« »So dick ist die Außenhaut?« »Gewiß, wenigstens vom eigentlichen Tauchboot. Es ist eiförmig und besteht aus drei ineinander ge lagerten Schalen, jede annähernd fünfzig Zentimeter stark, die mühelos einen Druck von vierhundert Ki logramm pro Quadratzentimeter aushalten. Sie wer den durch mannsstarke Streben untereinander und gegen die Mitte des Tauchbootes abgesteift. Der Durchmesser beträgt rund dreißig Meter, wovon al lerdings mehr als sechs Meter für die Außenhaut mit ihren Zwischenräumen abgehen.« »Erstaunlich«, meinte Sun Koh. »Der Tauchkörper dient dazu, größere Tiefen aufzusuchen?« »In der letzten Zeit über dreitausend.« »Nicht schlecht. Der Druck dort unten ist unge heuer, dreihundert Kilogramm pro Quadratzentime ter, nicht wahr? Wie ist es möglich, den Tauchkörper wieder heraufzuholen? Er kann doch nicht einfach 139
aufsteigen?« »Vergessen Sie nicht den gewaltigen Gewichtsver lust des großen Körpers im Wasser. Dieser hebt das Gewicht praktisch bis auf ein Zehntel auf. Der Rest genügt noch, aber nun arbeiten drei Faktoren zu sammen, durch die es uns ermöglicht wird, den Tauchkörper mit Hilfe einer Stahltrosse wieder auf zuholen. Erstens vermag das Mutterschiff selbst bis auf zweihundert Meter Tiefe zu gehen, ohne daß sei ne Maschinenkraft beeinträchtigt wird, zweitens stel len die Zwischenräume der Außenhaut mächtige Un terdruckkammern dar, durch deren Benutzung der Tauchkörper beträchtlich an Auftrieb gewinnt und drittens ist die Rückstoßwirkung … Einen Augen blick, bitte.« Er trat an das summende Telefon und meldete sich. »Was?« rief er nach einigen Sekunden erstaunt. »Ja, die sind hier. Ich gebe gerade einige Erklärun gen … Wie soll ich das ahnen? Ich nahm an, es sei alles in Ordnung … Selbstverständlich, sofort.« Er sah einigermaßen verstört aus, als er den Hörer ablegte. »Ich – ich dachte, Mr. Shurman hätte Sie herge schickt«, stotterte er. »Nun wird mir eben gesagt, daß Sie – daß Sie sich ohne Erlaubnis entfernt haben.« »Das kann schon stimmen.« Sun Koh lächelte. »Wahrscheinlich sollen Sie uns zurückbringen?« 140
»Ja. Ich hoffe, Sie werden mir keine Schwierigkei ten bereiten.« »Nein, es ist nur schade, daß Ihre interessanten Er läuterungen abgebrochen werden müssen.« Bracker war froh, daß er nicht noch mehr gesagt hatte. Er führte die beiden nach oben. * Harry Shurman und Bern Owen empfingen die bei den gemeinsam. »Sie handelten sehr eigenmächtig«, stellte Shur man mißbilligend fest. Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, um trotz des verweisenden Tones herauszuhören, daß Shurman inzwischen einem völligen Stimmungsumschwung unterworfen war. »Sie hatten anscheinend alles Interesse an uns ver loren«, erwiderte Sun Koh freundlich, »und als Ge fangener nimmt man leicht an, daß alles erlaubt ist, was nicht verboten wurde. Der Rundgang war wirk lich interessant.« Die Freunde tauschten einen Blick, dann fragte Shurman: »Sie sind orientiert, daß Sie sich in einem Tauchboot befinden?« »Allerdings, um so mehr, als ich schon seit Tagen vermutete, daß Sie nur innerhalb eines Tauchbootes zu sprechen seien.« 141
»Das ist – allerhand«, stotterte Shurman verdutzt. »Wer sind Sie eigentlich?« »Ein Mann, der Ihnen ein Stück Land abkaufen möchte«, gab Sun Koh leicht zurück. »Und wenn Sie etwa später keine Verwendung mehr für dieses Tauchboot haben, würde ich Ihnen auch das abkau fen.« »Sagen Sie uns mehr über Ihre Absichten«, ver langte Shurman. Sun Koh fixierte ihn. »Vorausgesetzt, daß Sie und Ihr Freund sich zum Schweigen verpflichten.« Beide nickten. »Sie haben schon vom A-Syndikat gehört?« fragte Sun Koh. Shurman beugte sich vor. »Und ob. Billing berich tete mir seit Monaten darüber. Das ist eine Gruppe von Leuten, die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht sind und allen schwer zu schaffen macht. Niemand kann gegen sie an, und dabei weiß man nicht einmal, wer dahinter steckt.« »Der Mann hinter dem A-Syndikat bin ich«, sagte Sun Koh. »Genügt Ihnen das?« Shurman atmete tief auf. »Das hätte ich mir nicht träumen lassen, aber jetzt verstehe ich wenigstens, daß die Leute alles durch setzen. Ja, es genügt mir. Wir beide werden darüber schweigen, doch mache ich darauf aufmerksam, daß 142
wir nicht mehr versprochen haben. Sie deckten Ihre Karten offen auf, und ich muß Ihnen deshalb sagen, daß Ihr Syndikat der gefährlichste Gegner meines Konzerns ist. Ich werde mich nicht scheuen, unter Umständen von Ihrer Karte Gebrauch zu machen.« Sun Koh lächelte flüchtig. »Ich danke Ihnen für die Warnung, aber ich fürch te nichts. Erstens wird Ihr Konzern innerhalb weni ger Wochen zusammenbrechen, falls ich es wünsche, und zweitens ist der einzige ernsthafte Kämpfer in Ihren Reihen bereits außer Gefecht gesetzt – nämlich Sie selbst.« »Wie meinen Sie das?« »Nun, ich nehme an, daß Sie zukünftig Besseres zu tun haben, als sich restlos und fanatisch in die Ge schäfte zu stürzen. Ich kann mir denken, daß Sie län gere Zeit verreisen und sich dann an einen paradiesi schen Fleck zurückziehen werden, um Ihr Leben zu genießen.« Shurman erstarrte, schluckte einige Male und schlug schließlich die flache Hand auf den Tisch. »Ich glaube, Sie haben es ziemlich genau getrof fen. Wenn alles so wird, wie ich mir denke, dann werde ich mich allerdings weder um meinen Kon zern noch um Ihre Interessen mehr kümmern. Und dieses Tauchboot sollen Sie außerdem billig dazu haben.« »Zu jenem Landstrich?« 143
»Sie sind ein zäher Partner«, sagte Shurman. »Aber gut, Sie sollen ihn haben, sobald sich alles ge klärt hat. Ich hoffe, daß das schon in einigen Tagen der Fall ist. Bis dahin bitte ich Sie, mein Gast zu sein.« Sun Koh schlug in die Hand ein, die ihm über den Tisch entgegengestreckt wurde. Er verstand, daß hier wichtige Dinge von einer Herzensangelegenheit ab hängig gemacht wurden. Die starken Widersprüche im Verhalten Shurmans, sein ganzes Gebaren war typisch für einen Verliebten. Vermutlich hatte er sich mit Miß Owen noch nicht endgültig auseinanderge setzt, erhoffte aber alles. Es war müßig, sich darüber Gedanken zu machen, was geschehen würde, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllte. Ganz abgesehen von den geschäftli chen Dingen, war das Tauchboot interessant genug, um ihm einige Tage zu widmen. Harry Shurman zeigte sich von nun an außeror dentlich aufgeräumt. Er beorderte vor allen Dingen Plum und gab ihm Anweisungen, dann meinte er zu Sun Koh: »Ich werde Sie später selbst durch das Tauchboot führen, möchte Ihnen aber vorher erst Ge legenheit geben, die Künste des wirklich vortreffli chen Plum zu bewundern. Bis dahin kann ich Ihnen ja einige Erklärungen geben. Ich nehme an, daß Sie manches wissen wollen. Es hat ja schließlich keinen Zweck, dem späteren Käufer des Tauchbootes Ge 144
heimnisse vorzuenthalten.« »Ich möchte zunächst einiges über das Schicksal des Marinetauchbootes Rux wissen. Es ist doch rich tig, daß Sie sich seiner annahmen?« Shurman nickte. »Ja. Die Medien berichten die gruseligsten Dinge darüber, aber in Wirklichkeit läßt sich alles leicht erklären. Das Tauchboot versank in unserer unmit telbaren Nähe. Wir hielten es schon unter Beobach tung und bemerkten dann, wie es immer tiefer sank und die Notboje aufließ. Da schoben wir uns einfach darunter. Wir wurden ein Stück gedrückt, aber da es sich um ein kleines Boot handelte, machte es nicht mehr aus, als wenn unser Verbindungsboot anlegt.« »Sie setzten sich mit den Insassen in Verbin dung?« »Wir befanden uns in einer Zwangslage. Versin ken konnten wir das Boot nicht lassen, andererseits wollten wir nicht warten, bis es gehoben wurde, denn das hätte die Entdeckung unseres Bootes bedeutet. Ich hoffte zunächst noch, daß die Besatzung des Bootes die etwa erforderlichen Reparaturen selbst vornehmen könne. Deshalb schickte ich einen Tau cher hinaus, ließ die Notboje abkneifen und nahm telefonische Verbindung auf. Leider zeigte sich dann, daß das Boot nicht imstande sein würde, wieder aus eigener Kraft in Fahrt zu kommen.« »Darauf brach ten Sie es nach Neufundland?« »Bern Owen über 145
nahm das Stück. Sein Boot ist sehr stark und kann hohe Geschwindigkeiten entwickeln. Wir gingen nach oben. Glücklicherweise besaß das Marineboot die üblichen Kettenschlaufen, so daß wir mit Schlepphaken und Trossen eine feste Verbindung herstellen konnten. Bern hat sich sehr beeilt, und es ist ja auch gelungen, die Besatzung rechtzeitig her auszuholen. Sie sehen, daß sich alles recht einfach abspielte.« »Alles Geheimnisvolle wird klar und durchsichtig, wenn man es von der richtigen Seite betrachtet«, er widerte Sun Koh nachdenklich. »Es ist wie bei jenen Glasscheiben, die nur von einer Seite durchsichtig sind. Doch nun geben Sie mir bitte einige technische Erläuterungen. Vor allem interessiert mich, woher Sie die Antriebskraft für das große und das kleine Boot nehmen. Das scheint mir eines der wichtigsten Probleme zu sein. Eigentlich mußten Sie doch dau ernd ein Begleitschiff in der Nähe haben, das diese Tauchboote in kurzen Abständen frisch versorgt?« »So war es auch zu Anfang, aber das wurde bald überflüssig. Die beiden Tauchboote werden durch Ölmotoren betrieben.« »Auch der Tauchkörper in solchen Tiefen?« Shurman lachte. »Das wäre nicht gut möglich. Er arbeitet mit elektrischer Kraft, die wir gespeichert mit hinunternehmen. Aktionsradius und Tauchdauer werden dadurch natürlich be schränkt.« 146
»Sie werden vom Fassungsvermögen der Akku mulatoren abhängig sein. Aber woher bekommen Sie das Öl?« »Vom Boden des Meeres.« »Bitte?« »Es ist schon so«, sagte Shurman lächelnd. »Wir haben in annähernd tausend Meter Tiefe einen regel rechten Ölsee entdeckt, der einen Kessel der Boden formation ausfüllt. Mit verhältnismäßig lächerlichen technischen Mitteln holen wir uns dort über eine be wegliche Steigleitung das erforderlich Öl heraus, das selbst den höchsten Ansprüchen genügt. Sie werden die kleine unterseeische Pumpstation, die dauernd in fünfzig Meter Tiefe liegt, noch kennenlernen.« »Wie versorgen Sie sich mit Sauerstoff?« »Im Tauchkörper nehmen wir ihn in Stahlflaschen mit hinunter. Hier oben gewinnen wir ihn aus dem Wasser.« »Elektrolyse?« »Nicht ganz, denn dabei würde Knallgas entste hen. Aber es ist ein ähnliches Verfahren.« »Sie gehen mit dem Tauchkörper bis auf dreitau send Meter Tiefe?« »Dreitausendfünfundsiebzig erreichten wir zuletzt. Beim nächsten Tauchversuch haben wir etwas mehr vor.« »Der Wasserdruck wächst mit je einem Kilo gramm für zehn Meter. Sie müssen also mit dreihun 147
dert Kilogramm pro Quadratzentimeter rechnen, wenn Sie in dreitausend Meter Tiefe gehen. Ich hörte schon, daß die Außenwände fünfzig Zentimeter stark sind und einen viel höheren Druck aushalten kön nen.« »Rechnerisch sogar das Doppelte, aber wir werden uns natürlich hüten, bis zur äußersten Grenze zu ge hen.« »Bei diesem Druck allerdings. Sie lassen sich durch Trossen wieder aufholen?« »In der Hauptsache ja. Das ist ja der Sinn dieses Mutterschiffs. Wir helfen zwar durch das Auspum pen der Zwischenkammern und durch die Abstoßex plosionen etwas nach, aber im wesentlichen sind wir doch auf die Trossen angewiesen. Es wäre uns tech nisch so gut wie unmöglich, aus eigener Kraft gegen den ungeheuren Druck hochzukommen. Die Trosse stellt natürlich ein endloses Band dar, an dem der Tauchkörper befestigt ist. Sie gleitet um ebensoviel in die Tiefe wie auf der anderen Seite aufgeholt wird. Erstens gibt sie damit Gegengewicht und zweitens nimmt sie uns hier nicht den Platz weg.« »Sie raubt dem Tauchkörper aber auch die Bewe gungsfreiheit!« Shurman schüttelte den Kopf. »Nein. In ihr läuft selbstverständlich eine Telefon leitung, durch die wir ununterbrochen Verbindung mit dem Mutterschiff halten können. Dieses führt 148
jede gewünschte Bewegung aus und nimmt uns mit. Das Mutterschiff selbst liegt ja unter Wasser, ist also von Wetter und allen möglichen Zwischenfällen un abhängig.« »Beobachtungsapparate haben Sie wohl einge baut?« »Von Kameras bis zu den feinsten wissenschaftli chen Meßinstrumenten so gut wie alles. Sie werden staunen.« »Die technischen Einzelheiten werden mich stark interessieren. Wann gedachten Sie Ihren nächsten Tauchversuch vorzunehmen?« »Eigentlich schon morgen. Aber wenn Sie …« »Ich würde gern morgen dabei sein.« »Also bleibt es dabei. Dann kann ich Ihnen alles weitere erklären. Für heute lassen wir es gut sein.« »Es ist angerichtet«, meldete Plum gravitätisch. Shurman trat hastig auf ihn zu und flüsterte: »Gut, Plum. Wie geht es Miß Owen?« Plum schob die Nase hinauf und zog sie wieder herunter. »Ich glaube, sie ist zornig auf mich. Sie spricht nicht mehr und hat geweint.« Shurmans Gesicht verdüsterte sich. »Das ist weniger gut, Plum. Sehen Sie zu, daß Sie die Geschichte wieder in Ordnung bringen.« Plum schluckte. »Ich? Wieso ich, Sir? Das ist doch Ihre Angele 149
genheit – ich meine, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf. Meinetwegen hat sie sicherlich nicht geweint.« Shurman lächelte plötzlich wieder. »Da haben sie nicht ganz unrecht, Plum. Es ist gut.« Plum zog sich kopfschüttelnd zurück.
150
5.
Über dem Atlantischen Ozean raste der Sturm und peitschte das Meer zu Bergen und Tälern, durch die die Schiffe wie verloren auf und nieder stampften. In fünfzig Meter Tiefe war kaum mehr eine leise Bewegung zu spüren. Hier lag das Wasser bleiern still in nie gestörter Ruhe. Still schwebte ein Schiffskörper in dieser Tiefe, ein riesiger, glatthäutiger Wal von neunzig Meter Länge, an dessen Flanke ein kleineres Schiff wie ein Junges klebte. Aber während das kleine Boot schmal, schlank und tropfenförmig war, zeigte das größere schwerfällige breite Enden und breite Buckel. Das war Harry Shurmans Tauchboot mit dem kleinen Verbindungsboot, das seinem Freund Bern Owen unterstand. Im Beobachtungsraum standen elf Personen. Zehn von ihnen hörten sich aufmerksam an, was ihnen Harry Shurman zu sagen hatte. Da war zunächst Sun Koh. Neben ihm stand Hal Mervin, neben diesem Merry Owen. Hinter ihr lehnte sich Dr. Ralling, der wissenschaftliche Berater, an die Wand. Owen, der Fotograf, starrte auf seine Fuß spitzen. Dicht an seinem linken Arm stand der Tele fonist, neben und hinter ihm noch fünf Männer der Besatzung, die mit den verschiedensten Aufgaben betraut waren. 151
»Wir gehen diesmal einige hundert Meter tiefer«, schärfte Harry Shurman den Anwesenden ein. »Da die Gefahr damit beträchtlich wächst, sind die übli chen Anordnungen besonders sorgfältig einzuhalten. Jeder einzelne haftet mir dafür, daß die Katastro phenmelder in seinem Bereich peinlichst überwacht werden. Sobald das Alarmsignal kommt, hat jeder auf schnellstem Weg in die Noträume zu eilen. In fünf Minuten tauchen wir.« Die Männer der Besatzung gingen hinaus. Außer Shurman blieben nur Sun Koh, Hal Mervin, Merry Owen und Ralling. »So«, sagte Shurman, »ich habe Ihnen auf diese Weise gleich Gelegenheit gegeben, alle Teilnehmer kennenzulernen. Sie sind so zuverlässig, wie man sie sich nur wünschen kann. Miß Owen, ich bat Sie schon einmal, lieber diese Fahrt noch nicht mitzuma chen und auf eine spätere zu warten, die weniger ge fährlich ist.« Merry Owen warf den Kopf leicht zurück. »Danke«, gab sie kühl zur Antwort, »ich bleibe dabei.« Es war Shurman wie ihrem Bruder nicht gelungen, Merry von ihrer trotzigen Meinung abzubringen, daß er nur Scherz mit ihr treiben wollte. Sie bestand dar auf, ihn abgrundtief zu hassen. Bern behauptete, das sei ein Zeichen von Liebe, aber was verstand Bern schon von der Liebe. Jedenfalls schien es trotz allem 152
tröstlich, daß sie sich in der nächsten Zeit in seiner unmittelbaren Nähe aufhalten wollte. »Wie Sie wünschen«, sagte er deshalb nicht son derlich verstimmt. »In unseren Tauchkörper ist ein besonders sicherer Kern eingebaut, der massive, fast meterdicke Wände besitzt. Selbst wenn der Tauch körper zusammengedrückt wird, bleibt der Kern un zerstört und ermöglicht uns einen gefahrlosen Auf enthalt, bis wir vom Mutterschiff aufgeholt werden. Dieser Kern umfaßt die Kabine von Miß Owen, die Nachbarkabine und die Vorratsräume, die rings um diese eingebaut sind. Sie werden die starken Verän derungen bemerken, die in der letzten Stunde vorge nommen worden sind. Der Kern ist jetzt bereits ab getrennt, nur die Gangtür bleibt offen. Sobald sich ein Unglück ereignet, müssen Sie unter allen Um ständen unverzüglich und mit größter Geschwindig keit zur Kabine Miß Owens laufen, ganz gleich, wo Sie sich jeweils befinden.« Die drei, denen es galt, nickten. Shurman fuhr fort: »Im übrigen werden Sie sich ja ständig in meiner Nähe aufhalten. Und nun können wir wohl begin nen.« Er griff zum Telefon, unterhielt sich mit verschie denen Stellen und gab Befehle. Etwas später wurde ein langgezogenes Schürfen hörbar. Der Tauchkörper löste sich aus dem Mutterschiff und sank. Shurman wies auf ein rundes Meßfeld, über dem 153
der schwankende Zeiger unruhig wurde. »Wir sinken. Unsere Ausgangstiefe ist einund fünfzig Meter, die Durchschnittsgeschwindigkeit zwanzig Meter pro Minute. Wir werden einige Stun den brauchen. Bitte nehmen Sie dort Platz, von dort aus können Sie am besten beobachten. Blicken Sie hier auf dieses helle Feld.« Nur winzige Lampen blieben brennen, die die Ar maturen beleuchteten. Nun erschien auf der meter hohen Fläche, auf die er gewiesen hatte, eine kalt grüne, lichtschwache Masse, die langsam aufwärts glitt. »Das Wasser«, erklärte Shurman. »Es zeigt jetzt noch die letzten Spuren des Lichts. Auch dieses Grün wird gleich fort sein. Da sehen Sie, es wandelt sich schon zu stumpfem Graublau. Ich schalte jetzt das Scheinwerferlicht, das das Wasser auf annähernd hundert Meter durchdringt.« Die Fläche hellte sich weißlich auf. Fische flohen vorüber, prallten an, blieben wie geblendet stehen und verschwanden. Es waren Fische, wie die Be schauer sie zu sehen gewohnt waren, keine eigenarti gen Formen darunter. Trotzdem war es ein eigenartiges Bild. Einige Minuten vergingen im stummen Betrach ten, dann schaltete Shurman das Scheinwerferlicht ab. »Wenn Sie einen Augenblick warten, bis sich Ihre 154
Augen umgestellt haben, werden Sie jetzt die Farb veränderung des Wassers bemerken, die auf mich den stärksten Eindruck gemacht hat.« Die andern sahen es schon. Das Wasser wurde immer blauer. Nach einer Weile strahlte die Projekti onsfläche ein sattes, dunkles Blau aus, das von au ßerordentlicher Leuchtkraft schien. Dabei wirkte es freilich so kalt wie Gletschereis. »Die Leuchtkraft täuscht natürlich«, machte Shur man wieder aufmerksam. »Es ist unmöglich, bei die sem Licht zu lesen, obgleich man es für stark hält. In den nächsten Minuten verschwindet das Blau allmäh lich. Vielleicht fällt Ihnen dabei etwas auf.« Langsam erlosch die leuchtende Farbe. Sie wurde durch graue Töne abgelöst, bis endlich nur noch ein matter, farbloser Schimmer auf der Fläche lag. »Nun?« fragte Shurman. »Das Violett ist ausgeblieben«, sagte Sun Koh aus dem Dunkel. »Nach dem Spektrum müßte es dem Blau folgen.« »Ausgezeichnet beobachtet. Ich habe das Violett stets vermißt. Wir befinden uns jetzt in vierhundert Meter Tiefe, das Wasser verliert die letzten Spuren von Licht.« Stumpfe Schwärze lag vorn, die ewige und absolu te Dunkelheit. »Die vollkommene Lichtlosigkeit«, erklärte Shurman leise, als sei er selbst beeindruckt. »Wir 155
kennen sie auf der Erde nicht. Dieser Dunkelheit ge genüber ist auch unsere finstere Nacht noch strahlend hell. Ich schalte nun wieder den Scheinwerfer ein.« Das grelle Licht tat den Augen weh, aber es zeigte auch, daß die Lichtlosigkeit nicht den völligen Man gel an Leben bedeutete. Dort draußen in der ewigen Nacht lebte es. Das war eine Erkenntnis, die förmlich aufatmen ließ. Da standen plötzlich zwei unbekannte Fische reg los im Licht. Sie waren reichlich einen halben Meter lang und besaßen eigenartige Flossengebilde und winzige Augen. »Segelflossen unbekannter Art. Sie stellen inso fern eine Merkwürdigkeit hier unten dar, als sie über kein eigenes Licht verfügen. Sie werden bald verste hen, wie ich das meine.« Ein plumper Körper kam von der Seite, wuchs schwarz und formlos heran, verdeckte alles und glitt ab, ohne daß man Genaues erkennen konnte. Merry Owen stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus. »Keine Sorge, Miß Owen«, beruhigte Shurman. »Das war irgendein Fisch, der gegen den Scheinwer fer oder gegen die Linsen geprallt ist.« »Da«, meldete sich Hal plötzlich. Durch das Scheinwerferlicht zog flüchtig ein riesi ger Fisch von mindestens sechs Meter Länge. Sein Riesenmaul war deutlich erkennbar. »Ein Walfisch«, stellte Shurman fest. 156
»Hoho«, knurrte Hal. »Nehmen Sie mir’s nicht übel, aber wir befinden uns schätzungsweise schon sechshundert Meter tief.« »Stimmt«, gab Shurman zurück. »Das tut aber nichts. Walfische können infolge einer eigenartigen chemischen Reaktion ihres Blutes auch diese Tiefe aufsuchen.« »Na, na«, zweifelte Hal. Shurman nahm wieder das Licht weg. Einige Sekunden lang sahen sie ewige Nacht, dann schoß plötzlich ein heller Lichtstrahl über eine Ent fernung von mehreren Zentimetern, der darauf wie der verlosch. Undeutlich erkannte man, daß er von einem Fisch ausging. »Ein unterseeischer Flammenwerfer«, erklärte Shurman. »Es handelt sich um eine Art Garnele, die angreifende Fische durch derartige Lichtexplosionen blendet. Sie werden ähnliche Vorgänge nunmehr häufig beobachten können. Wir geraten jetzt in die Zone der vielen Lichter.« In den nächsten Minuten tauchten bald hier, bald da, bald in der Ferne, bald in unmittelbarer Nähe die Leuchtkörper der Tiefsee auf. Meist waren es gelbe und bläuliche Lichter, die in verschiedenstem Tempo an der Projektionsfläche vorbeizogen. Von Minute zu Minute wurde das Bild zauberhafter. Plötzlich schoß ein unförmiger Körper heran, prallte an und stieß gleichzeitig eine leuchtende 157
Wolke aus. Der Eindruck war so jäh und stark, daß selbst Shurman zusammenzuckte, obgleich er die Erscheinung nicht zum erstenmal beobachtete. Dann nahte sich ein Fisch von geradezu traumhaf ter Schönheit. Seine Körperfläche bildete wie bei fast allen diesen Fischen ein breites Oval mit fünf Licht schnüren besetzt, die aus einer Reihe von Einzellich tern bestanden. Jedes dieser Lichter leuchtete blaß gelb und wurde von kleinen Purpurlichtern umgeben, wie getönte Perlen von sattfarbenen Rubinen. »Zahllose Einzelheiten, tausend wundersame Ge bilde der Natur«, sagte Shurman leise. »Aber nicht sie ergreifen am stärksten, sondern die Erkenntnis, mit welcher Zähigkeit sich das Leben in dieser ewi gen Nacht des Ozeans hält und in welcher großarti gen Vielfältigkeit es sich die Bedingungen schafft, die es braucht. Wir sind geneigt, alles für tot zu hal ten, was nicht von der lebenspendenden Sonne be schienen wird. Hier haben wir den Beweis, daß das Leben selbst in der Lichtlosigkeit triumphiert, daß es die Schranken der menschlichen Mutmaßungen nicht anerkennt.« »Ein beeindruckendes Erlebnis«, sagte Sun Koh. »Ich zählte rund vierzig Lichter in unserem begrenz ten Blickfeld. Haben Sie in dreitausend Meter Tiefe ebenfalls noch Lebewesen gefunden?« »Ja, freilich, nicht mehr in dieser Fülle zwar, son dern nur vereinzelt. Die Formen ändern sich auch 158
wesentlich. Durch die interessanteste Zone gehen wir jetzt schon hindurch. Später wird die Beobachtung langweiliger.« »Wie tief?« fragte Hal. »Achthundertfünfzig Meter«, antwortete Shurman. »Ich schlage vor, daß wir jetzt wieder hier drinnen Licht machen, um uns zu unserer Menschlichkeit zu rückzufinden. Ich habe immer das Gefühl, daß man sich durch das Betrachten dieser seltsamen Formen und Erscheinungen innerlich selbst entfremdet. Bitte schließen Sie die Augen.« Das war dringend notwendig, denn das aufflam mende elektrische Licht blendete peinigend hart in die Augen hinein, obwohl es schon abgedämpft wor den war. Es zeigte sich jetzt wieder, wie sehr die scheinbar starke Lichterpracht des Meeres täuschte. »Das tut gut«, gestand Merry. »Es war schön, aber ich habe stets ein kaltes Grausen gefühlt.« »Das ist mir ganz ähnlich gegangen«, stimmte Hal bei. »Die Projektionsfläche wirkt zu natürlich. Man bildet sich ein, dort sei nur ein dünnes Fenster, durch das im nächsten Augenblick die ganze kalte Herr lichkeit hereinkommen könnte. Stellen Sie sich vor, daß Ihnen dann so ein nasser Feuerwerksfisch am Hals hineinrutscht.« »Pfui!« Sie schüttelte sich. »Das ist keine ange nehme Vorstellung.« »Vielleicht können wir jetzt eine Erfrischung zu 159
uns nehmen?« schlug Shurman vor. »Wenn ich bitten darf?« »Können Sie denn Ihren Beobachtungsstand ver lassen?« erkundigte sich Sun Koh verwundert, als er sah, daß Shurman in den Nebenraum führen wollte. »Ja«, sagte Shurman, »die eigentliche Beobach tung und Führung des Tauchkörpers hat jetzt Ralling. Er sitzt inmitten von einigen Dutzend Apparaten in der Kommandozentrale. Das hier ist ja nur ein Raum für Gäste beziehungsweise für mich, ein besonderer Vorführraum. Mit den paar Apparaten wäre im Ernstfall nichts anzufangen. Die Zentrale lernen Sie dann kennen.« Die Apparate zeigten fast dreitausend Meter Tiefe an, als sie die Zentrale betraten. Das war freilich ein ganz anderer Raum als der, in dem sie vorhin geses sen hatten. Ralling wirkte förmlich verloren zwi schen der Fülle der Apparate und der verschieden sten Einrichtungen, die in verwirrender Anzahl über all angebracht waren. Ein Projektionsfeld gab es auch hier. »Ich werde nun die Führung selbst übernehmen«, verständigte Shurman seinen Mitarbeiter. »Vielleicht können Sie sich etwas niederlegen, damit Sie nach her frisch sind.« »Das wäre das erstemal«, sagte Ralling. »Essen werde ich natürlich, aber dann können Sie jederzeit über mich verfügen.« 160
Er nickte den Gästen zu und ging etwas steifbeinig hinaus. Shurman wies auf einige Klappstühle. »Sie müssen damit vorlieb nehmen. Es steht Ihnen natürlich jederzeit frei, in den bequemeren Beobach tungsraum hinüberzugehen.« Er erklärte einen Teil der Apparate, mußte sich dabei aber öfters unterbrechen, um Meldungen abzu nehmen oder Weisungen zu geben. Darüber vergin gen die Minuten. Dann warf er einen Blick auf den Tiefenmesser und erklärte mit einer gewissen Feier lichkeit: »Jetzt überschreiten wir die größte Tiefe, die wir bisher erreichten.« * Ruhig wie bisher glitt der Tauchkörper in die Tiefe, harmlos stieg das Wasser nach oben. Die Lichtbün del der Scheinwerfer hellten eine kurze Strecke auf, dahinter stand die dunkle Wand der ewigen Nacht. Gelegentlich kamen ovale oder in ihren Formen nicht erfaßbare Fische in den Lichtbereich. »Dreitausendzweihundert Meter«, verkündete Shurman. Sie schwiegen. Sie bewegten sich auch kaum, und so spürten sie die absolute Stille bald wie eine schwere Last auf sich. »Dreitausenddreihundert Meter«, sagte Shurman 161
nach fünf Minuten an. Und einige Zeit danach: »Dreitausendvierhundert Meter.« Ralling trat ein. »Da bin ich wieder, falls Sie mich brauchen soll ten. Vorläufig scheint ja alles in Ordnung zu gehen.« »Alles in Ordnung«, bestätigte Shurman. »Dreitausendfünfhundert Meter«, teilte er etwas später mit. Kurz darauf beugte er den Kopf scharf vor. »Fahrt langsamer. Zehn Meter pro Minute.« Das galt dem Mutterschiff. Die Gäste reckten sich neugierig, aber Shurman hatte keine Zeit für sie. Sei ne Blicke ruhten mit gespannter Aufmerksamkeit auf einer rechteckigen Scheibe, die man von den Stühlen her nicht übersehen konnte. »Fünf Meter!« gab er nach oben. Minuten vergingen. »Stop!« Nun erst wandte er sich an die andern. »Der Meeresboden erschien früher, als ich an nahm. Wir müssen entweder nicht ganz senkrecht hängen oder uns gegenüber der Lotung verschoben haben. Zwanzig Meter unter uns ist Grund.« »Können Sie das sehen?« fragte Sun Koh. »Ja, ich habe hier ein kleines Projektionsfeld, das mit einer Linse auf der Unterseite des Tauchkörpers in Verbindung steht. Wenn Sie einmal herantreten wollen?« 162
Die drei drängten sich um ihn. Das Scheinwerferlicht beleuchtete einen tafelför mig ebenen Grund, der sich nach allen Seiten verlor. Es schien Sand oder ein ähnliches Sediment zu sein, das hier den Felsen deckte. Eigenartig war, daß über die ganze Fläche verteilt rechteckige und quadrati sche Konturen heraustraten, einige halb verwischt, andere scharfkantig und plastisch. »Wofür halten Sie das?« fragte Shurman. »Der Rest von baulichen Anlagen«, antwortete Sun Koh. »Die Natur schafft solche Formen kaum. Es sieht aus, als seien von einem großen Bau oder von mehreren nebeneinanderliegenden Steinbauten die Grundmauern stehengeblieben.« Shurman nickte. »Sie sprechen meine Vermutung aus. Demnach hätten wir einen neuen Beweis oder besser Beleg für die des versunkenen Erdteils Atlantis vor uns. Wun dern Sie sich nicht, daß diese Reste überhaupt noch erkennbar sind?« »Ich wundere mich nur, daß wir nicht mehr als das sehen. Ein zusammenbrechendes Gebäude ver schwindet nicht einfach so, daß die Grundmauern übrigbleiben. Ich könnte mir höchstens denken, daß der Bau überhaupt noch nicht weitergediehen war, als die Katastrophe eintrat.« »Ja eben. Ich dachte aber an etwas anderes. Ei gentlich sollte man meinen, daß der Meeresboden 163
durch die Sedimente wenigstens so weit ausgegli chen sein sollte, daß solche Entdeckungen nicht möglich sind.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das hieße die Zeiträume falsch einschätzen. Die Bildung von starken Ablagerungsschichten erfordert Millionen von Jahren, während dieser Boden sich vermutlich erst vor zwölftausend Jahren abgesenkt haben dürfte.« »Richtig.« Shurman wechselte einige Worte mit dem Foto grafen und gab dann Befehl nach oben. »Wir lassen uns ein Stück nach Norden schlep pen«, verständigte er die anderen. »Wenn unsere Lo tung richtig war, dann muß diese Ebene bald abbre chen, so daß wir tiefer können.« »Hoffentlich tritt nicht das Gegenteil ein!« Shurman sah Sun Koh überrascht an. »Sie haben sich erstaunlich gut in unsere Lage hi neingedacht«, sagte er zögernd. »Freilich, das könnte unangenehm werden, weil wir in den ersten Minuten unmöglich lotrecht hängen können und erst nachpen deln müssen. Aber es ist nichts zu befürchten. Er stens können wir schon einen Puff vertragen, und zweitens haben wir vorsorglich gelotet.« Sun Koh hätte darauf hinweisen können, daß die Lotungen wohl nicht ganz zuverlässig gewesen sein konnten, aber er unterdrückte weitere Bemerkungen, 164
da er den ängstlichen Ausdruck im Gesicht Merry Owens bemerkte. Übrigens zeigte sich sehr bald, daß Shurmans Annahme zutraf. Das Gelände begann sich zu senken, erst langsam, bald aber jäh und schroff. Wieder gab Shurman Befehle nach oben, die be wirkten, daß der Tauchkörper bei langsamer Vor wärtsbewegung zu sinken begann. Er hielt sich im wesentlichen in Sicht der abfallenden Wand, die mit ihren Vorsprüngen, Zacken, Kerben und Absätzen völlig einer Hochgebirgswand glich. Es war nicht leicht, in so verhältnismäßig geringer Entfernung von der Wand zu manövrieren. Eine halbe Stunde verging. Endlich sagte Shurman kopfschüttelnd zu Sun Koh: »Gleich dreitausend achthundert Meter, und kein Ende abzusehen. Wenn wir Pech haben, rutscht die Wand noch tausend Me ter tiefer. Mehr als viertausend Meter tief möchte ich heute nicht wagen. Ich dachte, bis dahin auf den Grund zu kommen.« Sun Koh nickte nur. Wenig später kam das Verhängnis. Shurman empfing eine Meldung, gleichzeitig tauchte am Rand der großen Projektionsfläche eine Felswand auf, die den Beobachteten gegenüberstehen mußte. Im kleinen Bild tauchte außerdem eine zer klüftete Bodenformation auf. »Stopp!« schrie Shurman nach oben. »Stopp auch die Trosse!« 165
Die Abwärtsbewegung hörte bereits nach wenigen Metern auf, aber die Vorwärtsbewegung konnte nicht so schnell aufgehalten werden. Der Fels auf der Bild fläche rutschte schnell vor. Sekunden gespannter Erwartung, dann kam ein kurzer, nicht sehr starker Ruck. Der Tauchkörper war angeschlagen. »Gott sei Dank!« Shurman atmete auf. »Das hätte…« Ein neuer Ruck kam, viel stärker als der erste. Er kam von oben her und drückte den Tauchkörper jäh nach unten, so daß Shurman und die anderen hoch wippten. Über die Projektionsfläche rutschten von oben her dunkle Massen, mächtige Blöcke, dann eine gelbliche Wand. »Auf!« hetzte Shurman überlaut in den Apparat. Hatte man oben falsch verstanden? Langsam senk te sich der Tauchkörper weiter, Meter um Meter, bis er nach einem kurzen Stoß zur Ruhe kam. Die Projektionsflächen waren dunkel. »Was ist los?« kam die erregte Anfrage. »Wir können die Trosse nicht mehr bewegen …« »Stopp, um Gottes willen!« keuchte Shurman. »Weitere Befehle abwarten!« Im matten Licht der Apparatur sah man seine Hand fahrig über die Knöpfe gehen. »Beobachter drei?« Er hörte eine Weile, dann stöhnte er. »Schlimm genug, aber nicht das schlimm ste. Ich komme dann selbst.« 166
Er drehte das Licht auf. Es fiel auf sein blasses Gesicht und zeigte, wie stark er verstört war. Über seine Stirn und Schläfe liefen hellrote Bahnen. Da brach in Merry Owen, die ohnehin durch die Erlebnisse der letzten Stunden schon stark erschüttert war, alles zusammen, was sie sich aus beleidigten Gefühlen und falschem Stolz aufgebaut hatte. Sie sprang von ihrem Stuhl hoch und lief auf Shurman zu. »Harry, du bist verletzt?« Er staunte ungläubig, zeigte aber so viel Instinkt, daß er die Bewegung des jungen Mädchens mit sei nem Körper auffing. »Merry?« flüsterte er. »Bist du mir wieder gut?« »Ja«, schluchzte sie halb freudig, halb verzweifelt, »aber du hast dich verletzt. Du blutest stark!« Hal Mervin schüttelte im Hintergrund den Kopf. »Daß sich verliebte Leute immer den unpassend sten Augenblick aussuchen müssen. Jetzt wäre doch wahrhaftig Wichtigeres zu tun.« Harry Shurman strich sich über die Stirn und be trachtete dann verwundert seine rotüberlaufenen Fin ger. Er roch, blickte nach oben und lachte plötzlich auf. »Es ist nichts, Merry«, beruhigte er. »Das ist kein Blut, sondern die gefärbte Steigflüssigkeit dieses Meßapparates. Ich bin vorhin mit dem Kopf dagegen geschlagen.« »Ja, aber du hast dich an dem Glas auch verletzt. 167
Hier ist die Haut aufgeschnitten«, sagte sie leicht be schämt. »Das sind nur Kratzer«, meinte er. »Was ist eigentlich geschehen?« unterbrach Sun Koh mit nüchterner Frage das Idyll. Shurman machte sich hastig frei. »Verzeih, Merry, aber jetzt… Wo ist Ralling?« »Er verließ schon beim Anschlag den Raum«, be richtete Sun Koh. »Das ist gut, er wird die Stationen durchgehen. In Ordnung müssen sie ja sein, denn sonst hätte ich au tomatisch die Meldung hier. Der Tauchkörper ist auf alle Fälle unzerstört, die Außenhaut unbeschädigt.« »Und was ist vorgefallen?« beharrte Sun Koh. Harry Shurman sah wohl jetzt ein, daß es wenig Zweck hatte, etwas verheimlichen zu wollen. »Soweit ich die Lage übersehen kann, handelt es sich um folgendes: Wir sind ziemlich parallel zu der abfallenden Felswand in die Tiefe gegangen und ha ben dabei zu wenig mit der Möglichkeit gerechnet, in eine Schlucht zu geraten. Tatsächlich sind wir in eine Schlucht getaucht. Als ich das erkannte, ließ ich stoppen. Oben stoppte man wohl gleich die Fahrt, da wir aber an einer fast vier Kilometer langen Trosse hängen, behielten wir noch eine Weile unsere Bewe gung bei und schlugen gegen die andere Wand der Schlucht. Das wäre ja nicht schlimm gewesen, auch daß nun unter uns der Grund auftauchte, hätte wenig 168
ausgemacht. Aber die Wand, gegen die wir prallten, hing über und war sehr morsch. Unser Tauchkörper war trotz allen Gewichtsverlustes massig genug, um eine Katastrophe auszulösen. Die Felswand kam her unter. Zerschlagen konnte sie uns nicht, dazu waren wir zu stabil und die Felsen zu leicht, aber sie drück te uns in den Grund hinunter. Vermutlich sind Zehn tausende von Tonnen niedergestürzt, und wir sind mitten zwischen ihnen eingekeilt.« »Pfui Deibel«, knurrte Hal. »Und weiter?« forschte Sun Koh. Shurman hob die Schultern. »Trotz allem, wir haben Glück gehabt. Erstens ist der Tauchkörper nicht eingedrückt worden, und zweitens sind wir nicht vollständig begraben. Beob achter drei hat freie Sicht. Er meldet, daß die nieder stürzenden Felsmassen das Kopfstück auf drei Meter Höhe frei gelassen haben. Der Trossenhenkel und die Trosse selbst sind frei und unbeschädigt.« »Warum zieht man uns nicht nach oben?« Shurman schluckte. »Man hat es getan, aber die Trosse konnte nicht aufgeholt werden. Wir sitzen anscheinend zu fest.« »Das heißt?« »Es bedeutet noch keine unmittelbare Gefahr«, be ruhigte Shurman hastig. »Mit Hilfe unserer Unter druckkammern und der Stoßexplosionen werden wir schnell wieder flott sein. Doch nun muß ich vor al 169
lem einen Rundgang machen. Merry, würdest du dich vielleicht in deine Kabine zurückziehen? Viel leicht leistet dir Mr. Mervin einstweilen …« »Nein«, unterbrach Merry Owen und schüttelte den Kopf dabei. »Nimm es mir nicht übel, aber du willst mich jetzt nur forthaben. Ich traue deinem Op timismus nicht. Bitte sprich offen und verheimliche nichts, denn schließlich muß ich es ja auch mit tra gen. Glaubst du wirklich, daß wir uns frei machen können?« »Ich hoffe es«, erwiderte Shurman nun viel weni ger zuversichtlich und verriet damit seine eigenen Zweifel. »Miß Owen hat recht«, stellte Sun Koh fest. »Wir befinden uns alle in der gleichen Lage und können die Wahrheit schon vertragen, weil wir sie ohnehin spüren müßten. Was geschieht, wenn wir trotz all unserer Hilfsmittel nicht hochgezogen werden kön nen? Hat das Mutterschiff nicht genügend Kraftre serven, um außergewöhnliche Anstrengungen ma chen zu können?« »Die hat es, aber ich scheue mich, die Trosse bis zum äußersten beanspruchen zu lassen. Wenn sie reißt, sind wir verloren. Hier liegt der wunde Punkt. Reißen darf die Trosse nicht. Wenn es uns nicht anders gelingt, dann muß eine zweite Trosse herangeschafft werden. Beide zusammen holen uns bestimmt heraus.« »Wie stellen Sie sich das Anbringen dieser zwei 170
ten Trosse vor?« »Wir haben einen solchen Notfall bei der Kon struktion des Tauchkörpers bereits vorgesehen. Die zweite Trosse muß natürlich dicht an unserer herun terlaufen. Das läßt sich durch gelegentliche Gleitver bindungen leicht erreichen. An das Ende der Trosse kommt ein Greifer, der durch Knickstreben gesperrt wird. Sobald der Greifer auf das Ansatzstück unserer Trosse auffährt, werden die Knickstreben einge schlagen, und der Greifer faßt in den Tragbügel ein.« Sun Koh nickte. »Das bereitet keine Schwierigkei ten. Besitzt das Mutterschiff eine Reservetrosse?« »Ja, aber sie ist nur einige hundert Meter lang. Wir benutzen sie bei Tiefen unter tausend Meter, um die große Trosse zu schonen. Den Greifer könnte man verwenden, aber eine Trosse müßte erst herangeholt werden.« »Das dauert Tage!« »Ja, aber wir haben für eine Woche Sauerstoff.« »Das ist viel – und wenig, wenn die Reservetrosse nicht schon zum Überholen bereit liegt.« »Das nicht«, gab Shurman zögernd zurück, »aber ich sehe da keine Schwierigkeiten voraus.« Sun Koh sah ihn fest an. »Immerhin – Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich einen Funkspruch absenden lasse?« »Natürlich nicht«, erwiderte Shurman verwirrt. Er verstand seinen Gast nicht ganz, außerdem hatte ihm 171
das kurze Gespräch das unbehagliche Empfinden ge bracht, daß nicht alles so glatt verlaufen könnte, wie er hoffte. Sun Koh wollte zum Telefon, aber er verhielt die Bewegung, da Ralling gerade eintrat. Seine zusam mengezogenen Brauen verrieten nichts Gutes. »Alles in Ordnung, nicht wahr?« fragte Shurman. Ralling hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob Sie die Lage bereits übersehen.« »Wir sind in ein Trümmerfeld eingeklemmt, aus dem uns die Trosse bei normaler Zugkraft nicht her ausholen kann.« »So ist es.« »Dann werden wir zunächst die Unterdruckkam mern in Anspruch nehmen.« »Das ist leider nicht möglich«, erwiderte Ralling. »Wir sind nun einmal kein Luftballon. Vor allem verbietet sich der Versuch schon deshalb, weil die Druckbeanspruchung augenblicklich infolge der Felsmassen stark schwankt. Ich fürchte, die Außen haut ist infolgedessen bereits bis zum Reißen und Deformieren beansprucht, so daß wir das Experiment nur wagen dürfen, wenn uns ohnehin nichts anderes übrigbleibt als der sichere Tod.« »Teufel«, murmelte Shurman, »das ist unange nehm. Aber ich verlasse mich auf Ihr Urteil. Versu chen wir also, durch die Explosionsstöße freizu kommen.« 172
»Auch davon würde ich abraten«, meinte Ralling ernst. »Wir müssen auch hier auf die Druckdifferen zen Rücksicht nehmen. Bedenken Sie aber vor allem, daß wir nicht frei auf dem Grund ruhen, sondern mit einem Riesengewicht belastet sind. Wir müssen da mit rechnen, daß wir uns nicht hochdrücken, sondern uns selbst auseinandersprengen.« Shurman starrte seinen Mitarbeiter bestürzt an. »Das – kommt mir unerwartet«, sagte er nach ei ner Weile. »Die Bedenken Mr. Rallings scheinen mir berech tigt zu sein«, mischte sich Sun Koh ein. Er vermutete stark, daß Shurman die technischen Fragen weniger beurteilen konnte als sein Mitarbeiter. Wahrschein lich hatte er den Tauchkörper wie das Unterseeboot, das sicher nicht nach seinen eigenen Ideen gebaut worden war, fertig übernommen, ohne sich über alle Einzelheiten vollkommen zu unterrichten. Er war ein vorzüglicher Kommandant, aber noch lange kein gewievter Techniker oder beherrschender Wissen schaftler. Er konnte die Apparate vorschrifts- und zweckmäßig bedienen, sie aber nicht bis in ihre letz ten Wirkungen unter außergewöhnlichen Umständen beurteilen. Die Haltung Shurmans verriet deutlich, daß er sich etwas hilflos fühlte. »Sie haben recht, Ralling«, murmelte er. »Aber – was dann?« 173
Ralling wies nach oben. »Der Trossenansatz ist frei, wir brauchen eine zweite Trosse.« Sun Koh machte sich daran, einen Funkspruch ab zusetzen. * Kommandant Gruber vom »Delphin« traf zur ange gebenen Zeit ein und setzte sich über die Telefonboje mit dem Mutterschiff in Verbindung. Nach einigem Hin und Her ließ sich Bern Owen bewegen, das Mut terschiff hochzubringen. Das bot keine Schwierigkei ten, weil die Trosse noch genügend Spielraum besaß. Für Gruber war freilich gerade dieser Umstand nicht ganz klar, und deshalb galt ihm seine erste Frage, nachdem sich die beiden Männer die Hand geschüt telt hatten. »Es war meine größte Sorge, daß es Ihnen Schwie rigkeiten machen könnte, hochzukommen. Bei dieser Tiefe ließ sich nicht abschätzen, ob Sie noch genü gend Trosse auf Ihren Trommeln hatten.« »Wir könnten schon noch hundert Meter zulegen«, erwiderte Owen, dessen Gesicht Spuren der Abspan nung zeigte. »Trommeln besitzen wir freilich nicht, sondern wir lassen die Trosse einfach durch die Winden laufen. Sie hängt als endloses Seil im Was ser.« 174
Gruber stutzte. »Aber dann steht Ihnen doch die Reservetrosse schon zur Verfügung. Sie brauchen doch nur die freie Trosse in Anspruch zu nehmen.« Owen schüttelte den Kopf. »Das geht eben leider nicht. Gewiß, wir könnten die Trosse kappen, sie verkürzen und mit einspan nen, aber das würde uns nichts nützen. Erstens ist die Trosse selbst wohl fest, nicht aber die Stelle, an der sie am Tauchkörper eingehängt ist. Sie würde ver mutlich abreißen.« »Um so besser!« »Ich habe diesen Gedanken auch erwogen. Mein Plan war ursprünglich, das freie Trossenende gewalt sam anzuspannen und dadurch abzureißen und die Trossenhälfte dann als Verstärkungstrosse zu benut zen. Aber es geht nicht.« »Warum nicht?« »Die Befestigungsstelle der freien Trosse liegt am unteren Ende des Tauchkörpers. Dieser steckt bis auf die letzten drei Meter in Felsmassen. Der Ansatz der Zugtrosse ist frei. Wenn wir die Gegentrosse gewalt sam aufholen würden, wäre es nicht zu vermeiden, daß wir den Tauchkörper kippen oder wenigstens in eine andere Lage drücken. Dabei können neue Fels massen niedergehen und ihn völlig verschütten. Aber auch dann würden wir mit größter Wahrscheinlich keit den Tauchkörper so weit aus seiner jetzigen La 175
ge bringen, daß der Ansatzhenkel der Zugtrosse überdeckt wird. In diesem Fall brauchten wir uns nicht mehr zu bemühen.« »Hm.« Owen machte eine resignierte Bewegung. »Es ist so. Was helfen alle Mittel und Möglichkei ten, wenn sie mit neunzig Prozent Wahrscheinlich keit zu einer Katastrophe führen? Wir dürfen sie nicht ausnützen, solange noch die geringste Mög lichkeit besteht, den Tauchkörper mit absoluter Si cherheit hochzubekommen. Sie teilten mir mit, daß Ihre Trosse in drei Tagen hier sein wird?« »Sie wird bestimmt um diese Zeit eintreffen.« Owen atmete auf. »Dann geht ja alles in Ordnung. Wollen Sie sich unsere Einrichtungen einmal ansehen?« Gruber nickte. Er ließ sich sehr genau unterrichten und alle Einzelheiten erklären. Da ihm nicht entging, daß Owen praktisch der einzige Befehlshaber an Bord des Mutterschiffs war, machte er ihm anschlie ßend einen Vorschlag, gegen den sich Owen anfäng lich heftig sträubte, um sich den Gründen Grubers schließlich doch zu beugen. »Sie haben recht«, gestand er endlich ein. »Ich bin schon jetzt hundemüde und kann nicht dauernd auf den Beinen bleiben. Bracker kann mich nicht ablö sen, weil er durch die Maschinen voll in Anspruch genommen ist, einen andern möchte ich aber nicht heranlassen.« 176
So wurde Gruber Reservekommandant des Mut terschiffs und dank seiner Energie sehr schnell der erste Mann an Bord. Am dritten Tag brach ein Orkan los, der alle Hoff nungen mit einem Schlag zunichte zu machen drohte. Das Mutterschiff mußte tauchen. Der »Delphin« blieb oben. Er tanzte wie ein Kork auf den hausho hen Wellen, aber das machte ihm nicht viel aus. Das Kabel, das ihn mit dem Mutterschiff verband, kam nicht ernstlich in Gefahr. Gruber hatte ihm allerdings sehr viel Spielraum gelassen. Die Gesichter der beiden Männer waren sehr dü ster, als sie sich in dreißig Meter Tiefe gegenübersa ßen. »Dieser Orkan ist das Schlimmste, was uns dazwi schenkommen kann«, stellte Gruber fest. »Hier unten können wir die Trosse nicht übernehmen und oben erst recht nicht, solange der Sturm wütet. Es bleibt uns nur die Hoffnung, daß er in den nächsten Stun den abflaut.« »Wird er das?« Gruber zuckte mit den Schultern. »Erfahrungsgemäß halten diese Stürme einige Ta ge an.« »Dann sind die elf verloren.« »Unsere Zentrale scheint anderer Meinung zu sein«, brummte Gruber. »Ich verstehe den Optimis mus nicht ganz. Ich habe das Aufkommen des Stur 177
mes gemeldet und eine Antwort erhalten, als ob das gar nichts zu bedeuten hätte.« »Was hat man Ihnen geantwortet?« »Wir haben damit gerechnet. Eine Änderung der getroffenen Anordnungen ist nicht erforderlich. War ten Sie die Ankunft der Stationsschiffe ab.« Owen sah sein Gegenüber nachdenklich an. »Hm, darauf kann man sich keinen Vers machen. Haben Sie kein Zutrauen zu Ihrer Zentrale?« Gruber machte eine heftige Bewegung. »Doch, sehr viel sogar. Man weiß dort, was not tut, und ich glaube auch, daß man den Tauchkörper rechtzeitig aufholen wird, wenn ich auch jetzt noch nicht begreife, wie man es schaffen will, wenn der Sturm anhält. Aber zeitweise plagt einen eben doch die Neugier, und man möchte etwas mehr wissen.« »Ich auch«, seufzte Owen. »Ich würde jedenfalls ruhiger schlafen. Wann können diese Stationsschiffe eintreffen?« »Morgen früh.« »Dann bleiben also vierundzwanzig Stunden für die Rettung?« »Etwas länger. Wie lange brauchen wir zum Auf holen?« »Sechs Sunden, wenn wir sie einmal frei haben. Viel schneller können die Winden nicht arbeiten.« Der Tag verging. Der Orkan wütete mit unverminderter Stärke. Es 178
gab nicht den geringsten Anlaß zu der Hoffnung, daß er sich unter drei Tagen beruhigen würde. In der Nacht traf der »Wal« ein. Ihm gegenüber wirkte der »Delphin« fast winzig. Der »Wal« war ein Tauchboot von außergewöhnlichen Ausmaßen, ein Unterwasserkreuzer von einhundertfünfzig Meter Länge. Er brachte die Trosse. Aber der Sturm hielt an. Am Morgen kamen dann die beiden Stationsschif fe in Sicht, breitbauchige Dampfer, die behäbig und geruhsam heranschaukelten, als gäbe es nichts auf der Welt, das sie aus dem Gleichmut bringen könnte. Nach zwei Stunden lagen sie im Abstand von eini gen hundert Metern so, daß sie den »Delphin«, den »Wal« und das Mutterschiff in der Tiefe zwischen sich hatten. Dann bekam Gruber die Mitteilung, daß er mit dem Mutterschiff aufsteigen könnte. Gruber wurde daraufhin wild. »Gut, wir steigen auf, aber sagen Sie Becker, daß ich ihm seine verflixte Geheimniskrämerei heimzah len werde. Wenigstens eine Andeutung hätte er ma chen können. Wir steigen auf, und wenn die Sache schiefgeht!« Der Telefonist auf dem »Delphin« verzichtete auf Antwort. Er hätte gerne selbst ein bißchen mehr ge wußt. Langsam kam das Mutterschiff hoch. Gruber ließ 179
sich den Ausguck nicht nehmen und beobachtete da her als erster das Phänomen. Das Meer zwischen den beiden Stationsschiffen war ruhig. Der Orkan hatte durchaus nicht nachgelassen. Der Sturm tobte und heulte durch die Lüfte wie tausend besessene Teufel. Er rammte nach wie vor in wilden Stößen gegen die Wasserfläche. Nach wie vor rollten die Wellen zu mächtigen Bergen auf, bis sie sich überkippten und in tiefe Täler hineinrutschten. Aber diese Wellenberge sah man nur weiter drau ßen, jenseits der Stationsschiffe. Zwischen diesen war das Wasser in dreihundert Meter Umkreis ruhig. Diese Bezeichnung »ruhig« entsprach natürlich den Begriffen des Seemanns. Ein Binnenländer hätte das Wasser noch recht bewegt gefunden, und tatsäch lich wäre es wohl auch kaum ratsam gewesen, mit dem Paddelboot darauf herumzufahren. Für den Seemann aber bedeuteten diese kleinen Wellen und die quirlenden, schäumenden Wasser einen sehr friedlichen Zustand, der allenfalls einer leichten Bri se entsprach. Die Tauchboote wurden jedenfalls nicht beunruhigt und konnten dicht aneinander he rangehen. Owen, der inzwischen an Gruber herangetreten war, packte diesen heftig am Arm. »Das ist ein Wunder«, hauchte er. »Ein geradezu 180
unbegreifliches Wunder – mitten im wildesten Orkan eine glatte Wasserfläche.« »Die Kerle haben es tatsächlich fertiggebracht«, sagte Gruber. »Dabei ist nicht eine Spur Öl auf dem Wasser zu sehen. Aber Becker wird von mir was zu hören kriegen.« Becker war der Mann, dem die beiden Stations schiffe unterstanden. Gruber und er hatten zusammen die Schulbank gedrückt, deshalb grinste er auch nur, als ihm Gruber ein Dutzend Schimpfworte an den Kopf warf. Er wartete geduldig, bis dem anderen der Atem ausging, dann meinte er: »Das ist wenig nett von dir, mein Lieber, daß du mich so madig machst. Da bin ich extra durch Sturm und Wetterbraus von meinem Schiff herübergekommen, um dir einmal die Hand zu schütteln, und nun regst du dich auf und wünschst mir alles mögliche an den Hals. Ich kann doch schließlich nichts dafür, daß du nicht auf der Höhe deiner Zeit bist.« »Natürlich«, knurrte Gruber friedlicher, »nun bin ich daran schuld. Jedenfalls hast du mich einen gan zen Tag lang vor Angst schwitzen lassen, obwohl du mir recht gut hättest Bescheid geben können.« »Dein Angstschweiß über mich. Ich habe dir eine freudige Überraschung bereiten wollen.« Jetzt lachte auch Gruber. »Das nächstemal bin ich dran. Also nun raus mit deinem Geheimnis. Wie hast du diese friedliche 181
Landschaft zustande gebracht?« »Durch Druckluft«, antwortete Becker lakonisch. »Durch Druckluft?« fauchte Gruber wieder. »Nun laß dir gefälligst nicht jedes Wort abkaufen. Daß du nicht Öl auf die Wellen geschüttet hast, sehe ich sel ber.« »Die Sache ist ganz einfach, und wenn du dich mal über unsere Stationen orientiert hättest, wüßtest du schon lange Bescheid. Wir haben ein paar starke Rohre im Schiff, durch die wir komprimierte Luft in das Meer pumpen. Das ist das ganze Geheimnis.« Gruber schluckte. »Und damit bringt ihr das Was ser in diesen Ruhezustand?« »Wie du siehst. Wenn du die Augen richtig auf machst, wirst du bemerken, daß dieses stille Wasser aus Hunderten und Tausenden von Wirbeln besteht. Wir erzeugen durch unsere Druckluft in weitem Um kreis künstliche Wirbel. An diesen müssen sich die Wogen brechen. Die Wirbel sind ja letzten Endes nichts anderes als Wasserkreisel, und über die Stabi lität eines Kreisels brauche ich dir nichts zu erzählen. Wie du siehst, handelt es sich um die einfachste Sa che der Welt.« »Einfach ist gut. Wer hat denn das wieder heraus getüftelt?« »Einer von unsern Landsleuten, und zwar schon vor einer ganzen Reihe von Jahren.« Inzwischen waren die Besatzungen schon eifrig 182
bei der Arbeit, die Trosse auf das Mutterschiff zu schaffen, wenigstens das erste Stück. Dann mußte der Greifer befestigt werden. Das nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch, da die Verbindung der beiden Tei le mit größter Gewissenhaftigkeit erfolgen mußte und die technischen Hilfsmittel immerhin beschränkt waren. Erst vier Stunden nach Eintreffen der Stati onsschiffe konnte das Greiferende der Trosse in die Winden eingespannt und abgelassen werden. Von da an entwickelte sich alles glatt, wenn auch langsam. Die Winden ließen die Trosse ab, so schnell es ihnen möglich war, während die Trosse fortwäh rend aus dem »Wal« nachgezogen wurde. Das war eine schwere Arbeit für die beteiligten Leute, zumal sie sich über Stunden hinzog. Sie verlief jedoch stö rungslos. Ab und zu kam eine Unterbrechung dann wurde ein neuer Führungsring um die Trosse gelegt. »Wir schaffen es bequem«, meinte Gruber befrie digt, als das erste Drittel der Trosse hinunter war. »Mr. Shurman meint, daß sie noch einen ganzen Tag lang unten aushalten können. Das sind vierundzwan zig Stunden. In zwei Stunden ist die Trosse unten, in acht Stunden können wir alle gerettet haben.« Davon waren alle überzeugt. Um so härter traf dann der Schlag. Die Trosse kam unten an. Die Eingeschlossenen hatten Beobachtungsstelle 3 wieder besetzt. Sun Koh gab die Meldungen des Beobachters weiter. Die 183
Freude dieses Mannes schwang auch in seiner Stim me, als er berichtete: »Trosse in Sicht!« Die nächste Meldung blieb lange aus, und Gruber mußte ein paarmal anfragen, bevor er Sun Kohs Stimme wieder hörte. Diesmal aber klang sie farblos und mühsam beherrscht. »Der Greifer ist unten – er hat sich bereits vorher geschlossen.« Gruber war wie gelähmt. »Der Greifer – ist geschlossen?« flüsterte er. »Ja«, bestätigte Sun Koh. »Die Knickspreize ist bereits unterwegs eingeschlagen worden. Ein Fisch ist von unten dagegen gestoßen, vermutlich mit gro ßer Wucht. Sie werden ihn in den Greifklauen fin den.« »Herrgott – dann war alles umsonst?« stöhnte Gruber. »Verlieren Sie nicht die Fassung«, mahnte Sun Koh fester als bisher. »Unser Sauerstoff reicht noch für gut zwanzig Stunden. Es ist also Zeit genug. Ho len Sie den Greifer wieder auf und lassen Sie ihn neu herunter.« »Ja, aber das kann doch immer wieder passieren?« »Sie müssen Ihre Maßregeln treffen. Kritisch sind ja nur die ersten tausend Meter, später ist nicht viel zu fürchten. Die Knickspreize muß für diese Strecke entsprechend gesichert werden.« »Wie soll…« 184
»Ruhe, Gruber. Fragen Sie den Koch, ob er Salz oder Zucker in Blöcken vorrätig hat. Ich warte.« Gruber war tatsächlich stark durcheinander, so stark, daß er nicht mehr erfaßte, was Sun Koh im Sinn hatte. Er fragte jedoch unverzüglich bei Plum an und gab dann die Antwort hinunter. »In der Vorratskammer liegen mehrere Zuckerhü te.« »Gut«, sagte Sun Koh. »Rufen Sie die Zentrale an, schildern Sie die Lage und lassen Sie sich genaue Anweisungen geben, wie der Zucker verpackt wer den muß, damit er nicht zu früh und nicht zu spät die Spreize freigibt. Und nun lassen Sie vor allem den Greifer aufholen. Unseretwegen machen Sie sich keine Sorgen, wir halten aus.« Gruber bekam allmählich eine Ahnung. Während die Winden bereits arbeiteten, sprach er selbst mit der Zentrale. Da diese sich erst wieder mit ihrem Spezialisten in Verbindung setzen mußte, dauerte es eine Stunde, bevor er die Auskünfte erhielt. Dafür umfaßten sie jedoch die genauesten Anweisungen, was zu geschehen habe. Sechs Stunden dauerte es, bis der Greifer wieder hochkam. Bis dahin hatte man genügend Zeit gehabt, um alles vorzubereiten. Zwischen Knickspreize und inneren Oberkante des Greifers wurde ein sorgfältig in Papierschichten eingehülltes und gewissenhaft ge dichtetes Paket eingeklemmt, das ganz gewöhnlichen 185
Blockzucker enthielt. Dann ging die Trosse wieder abwärts. Jetzt konnte ein Fisch gegen die Spreize stoßen. Sie war gesichert. Papier und Inhalt würden sich frei lich allmählich auflösen, aber erst dann, wenn nichts zu befürchten war. Beim Tauchkörper würde der Greifer frei ankommen. Und er kam an. Das geschah zehn Stunden, bevor der Sauerstoff vorrat der Eingeschlossenen erschöpft war. * Bis zu dem Augenblick, in dem der geschlossene Greifer unten landete, geschah nichts Besonderes. Die Spieler hielten sich wie am Vortag an ihre Kar ten, und Harry Shurman wie Merry Owen stützten sich gegenseitig. Zwei Leute der Besatzung hockten in ihren Ecken, fielen aber nicht lästig. Das gleiche konnte man von Ralling sagen. Er litt wohl am stärk sten von allen. Hal Mervin hatte sein Bestes versucht und sogar ganz grobes Geschütz aufgefahren, aber er hatte Ralling nicht für dauernd aus seiner Apathie herausholen können. Dann kam die Meldung, daß die Trosse unterwegs sei. Da warfen die Spieler die Karten weg, und selbst Ralling wurde lebendig. Sie waren gerettet. 186
Und Sun Koh stärkte sie noch in dieser Überzeu gung, da er nicht ahnte, was kommen würde. Der Rückschlag war ungeheuer. Ralling knickte in sich zusammen. »Ich habe es gewußt«, flüsterte er und begann zu brüten. Die überzeugten Worte Sun Kohs vermoch ten ihn nicht aufzurütteln. Sun Koh verließ sehr bald die Kabine. Er nahm Hal mit hinaus. »Jetzt ist es soweit«, sagte er draußen zu ihm. »Du bleibst bei den dreien. Ich gehe hinüber. Du bist ver antwortlich dafür, daß der Sauerstoff nicht stärker beansprucht wird. Achte auf Ralling. Es ist leicht möglich, daß sein Zustand gefährlich wird. Wie fühlst du dich?« »Mir fehlt nichts«, erwiderte Hal bestimmt. »Ich verstehe nicht, daß sich die anderen so aufregen.« »Um so besser. Vergiß nicht, das Telefon zu be dienen und verständige mich von allem.« Sechs Augenpaare blickten auf Sun Koh, als dieser die andere Kabine betrat. Sun Koh ging jeden einzel nen prüfend durch. Es waren gut geschulte, feste Männer, aber unter dem Druck dieser Stunde zeigte sich doch, wie verschieden der Kern war, der in ih nen steckte. Zwei der Spieler hatten sich vollkommen in der Hand. Ihre Mienen waren gespannt, aber frei von Verstörung. Sie würden, falls es zum Letzten kam, 187
sterben, ohne mit der Wimper zu zucken. Die beiden anderen Spieler waren aus weicherem Holz geschnitzt. In ihren Augen lag der kalte Schreck, ihre Gesichter drückten Unsicherheit und beginnende Qual aus. Es war jedoch anzunehmen, daß sie durchhalten würden. Eigentlich schlecht stand es nur um die beiden letzten. Sie hockten auf dem Lager und starrten von unten herauf, der eine scheu, der andere trotzig. Über den Körper des einen lief es wie ein ständiges feines Zittern, der des andern war wie verkrampft. Der erste hieß Black, der zweite Durkin. »Wir müssen schon noch einige Stunden aushal ten«, sagte Sun Koh gleichmütig zu den Männern. »Der Greifer braucht neun Stunden, um wieder hier zu sein. Da wir aber noch Sauerstoff haben, ist nichts zu befürchten.« »Und wenn der Greifer wieder geschlossen an kommt?« fragte Durkin heiser. Das war es, das befürchteten alle. Es war keiner unter den Männern, der nicht wenigstens zusammenzuckte. »Er wird diesmal offen sein«, erklärte Sun Koh bestimmt. »Es werden alle Vorkehrungen getroffen, um die Wiederholung eines derartigen Zwischenfal les zu vermeiden. Wir dürfen nur nicht die Nerven verlieren. Ich werde Ihnen jetzt ein bißchen Gesell schaft leisten. Wollen Sie Ihr Kartenspiel nicht fort setzen?« 188
»Dazu ist uns die Lust vergangen«, brummte ei ner. Sun Koh lachte gutmütig. »Dann muß ich Ihnen eben ein bißchen Lust machen. Ich setze tausend Dollar in Ihren Topf.« Selbst das wollte nicht recht reizen, aber es bot doch wenigstens so viel Verlockung, daß sich die Spieler zögernd niedersetzten und unlustig begannen. Allmählich fesselte sie das Spiel, so daß sie warm wurden und ihre Sorgen darüber vergaßen. Sun Koh wunderte sich selbst über die Spielwut dieser Leute. Sie waren längst übermüdet, aber sie spielten doch wieder. Vielleicht fürchteten sie sich instinktiv vor dem unruhigen Schlaf, der ihre Nerven mehr überreizte als entspannte. Durkin schlief oder wälzte sich zwischen Wachen und Träumen unruhig hin und her. Black döste fast eine Stunde lang vor sich hin, dann begann er zu murmeln. Einen scharfen Verweis eines Spielers beachtete er überhaupt nicht. Seine Lippen bewegten sich ununterbrochen und formten Worte, die nicht zu verstehen waren. Gleichzeitig zuckten seine Hände fahrig hin und her. Sun Koh hatte den Eindruck, daß er betete. Etwas später ging er unauffällig um den Tisch herum und trat in die Nähe Blacks. »Black!« Der Mann hörte nicht. 189
Sun Koh faßte Black am Arm und zog ihn hoch. »Hören Sie, Black, Sie könnten von jetzt an den Gang übernehmen. Es ist leicht möglich, daß drüben eine Ordonnanz gebraucht wird. Unser Telefon scheint nicht ganz in Ordnung zu sein. Kommen Sie?« Er führte ihn hinaus. Black folgte widerstandslos und ließ sich im Gang niederdrücken. Er nickte so gar, als Sun Koh ihm befahl, auf die Anordnungen Hals zu achten, aber es war sehr unwahrscheinlich, daß er erfaßt hatte, was er sollte. Das war ja auch nicht nötig. Einer der Spieler sah Sun Koh fragend an, als er wieder eintrat. »Warum haben Sie denn Black hin ausgeschickt?« Sun Koh sah dem Mann an, daß er Bescheid wuß te, deswegen erwiderte er auch nur flüchtig: »Es war besser so.« Der Spieler nickte und widmete sich wieder seinen Karten. Später wurde Durkin munter. Er setzte sich auf, stierte lange Zeit vor sich hin. »Das ist ja alles Quatsch! Wir verrecken hier langsam. Merkt ihr denn nicht, daß wir allmählich ersticken?« Er hatte schon recht mit dieser Bemerkung, denn Sun Koh hatte die Sauerstoffzufuhr auf das notwen digste Maß beschränkt. »Reiß dein Maul nicht so auf«, schnauzte ihn der 190
Spieler grob an, »dann brauchst du nicht so viel Sau erstoff.« Durkin hatte die Hemmungen durchbrochen. »Sauerstoff?« höhnte er wild, während er gleich zeitig aufstand. »Wir werden bald überhaupt keinen Sauerstoff mehr brauchen. Kein Mensch kann uns retten, kein Mensch!« Der Spieler, der ihm am nächsten war, drehte sich um und gab ihm einen Stoß gegen die Brust. »Halt’s Maul, verstanden?« Durkin fiel zurück. Er stierte wieder minutenlang vor sich hin, dann sprang er von neuem auf und reck te die Fäuste hoch. »Ich will nicht sterben!« brüllte er. »Ich will le ben! Warum sitzt ihr da und spielt, wo es um euer Leben geht? Ha, ihr könnt verrecken, aber ich nicht! Schlagt doch die andern tot, die uns den Sauerstoff wegfressen! Totschlagen muß man sie, dann reicht es für uns!« Die Spieler saßen wie gelähmt unter dem Eindruck der Worte und der kreischenden, zornwütigen Stim me. Niemand hielt Durkin auf, als er mit verzerrtem Gesicht auf Sun Koh zusprang. Sun Koh führte mit Bedacht einen Hieb gegen die Schläfe Durkins, der diesen umlegte. Er blieb minu tenlang betäubt, dann kroch er auf sein Lager zurück und begnügte sich damit, stumm vor sich hinzubrü ten. Die Spieler waren nun freilich nicht mehr im 191
stande weiterzuspielen. Sie legten sich auf den Bo den, um zu schlafen. Es schlief aber keiner von ih nen. In der Nachbarkabine hatte Ralling inzwischen ei nen ähnlichen Anfall wie Durkin bekommen. Hal ließ Ralling nicht mehr aus den Augen. Um Shurman brauchte er sich nicht zu kümmern. Der sprach Merry Owen Mut zu. Ein Mann, der andere ermutigt, verliert nicht selbst seine Nerven. Ralling jedoch stierte vor sich hin. Und dann sprang er unvermutet auf und keuchte: »Schluß! Schluß! Wir müssen ohnehin sterben!« Er riß eine Pistole, von dessen Existenz Hal keine Ahnung gehabt hatte, aus seiner Tasche und richtete sie gegen seinen Kopf. Mit einem Satz war Hal bei ihm und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Wie sich später zeigte, war sie nicht einmal entsichert. »Bei Ihnen piept’s wohl?« fauchte Hal den ande ren an. »Warten Sie gefälligst die Zeit ab, bis Sie dran sind mit dem Sterben.« »Ich will aber …«, begehrte Ralling auf und späh te nach der Waffe. »Ich will sie wieder haben. Geben Sie sie mir bitte wieder.« »Sie haben einen Dreck zu wollen«, schimpfte Hal. »Sie bilden sich wohl ein, es ist ein Vergnügen, mit einer Leiche zusammen zu wohnen. Jawohl, schielen Sie nur nach der Pistole. Ich werde Ihnen ein Schlafpulver verabreichen, selbst auf die Gefahr 192
hin, daß Sie mich mit der Lebensrettungsmedaille versorgen.« Er packte Ralling mit der Linken vorn an der Brust und betäubte ihn mit einem herzhaften Hieb der Rechten. Dann durchsuchte er die Sachen und nahm die Pistole an sich. Zu den Vorwürfen der beiden an deren zuckte er einfach nur mit den Schultern. Langsam vergingen die Stunden. In Riesenabstän den tropften die Meldungen, bis endlich die ent scheidende kam: »Greifer auf dreitausendsiebenhun dert Meter.« Da waren plötzlich alle wieder munter und normal. Sun Koh ließ den Beobachtungsposten besetzen. Der kaltblütige Spieler übernahm ihn. Aber nach Minu ten, als es dumpf durch die Kabinen klang, da war von seiner Kaltblütigkeit nichts mehr zu spüren. Ein wilder, freudiger Schrei kam durch das Telefon: »Der Greifer hat gefaßt!« Da lösten sich Angst, Spannung, eiserne Beherr schung, Furcht und beginnender Wahnsinn zu köstli cher Schwäche, zu heimlichen Tränen und zu jubelnder Freude. Dann kam der Ruck, mit dem die letzte Ungewiß heit verbunden war. Die Trossen strafften sich, zo gen. Wie ein Stöpsel, der aus der Flasche gezogen wird, glitt der Tauchkörper aus den umgebenden Felsen massen heraus. 193
Sechs Stunden später taumelten die Insassen geret tet in Luft und Sonne hinein.
ENDE
Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite.
194
Als SUN KOH-Taschenbuch Band 11 erscheint:
Freder van Holk
Die Faust der Erde
Weil ein Flieger ein Zeitungsblatt verliert, findet ein Kapitän ein Schiff, auf dem die Geister spu ken. Schiffbrüchige hausen auf einer Insel, die alle hundert Jahre einmal von einem Schiff ge sichtet wird. Der Nabel der Welt beginnt zu re den, Nimba boxt mit einem lebenden Stein, Sun Koh springt auf das Deck eines vermoderten Seglers. Ein Wildling lernt die Liebe kennen und ein Menschenfeind bleibt trotzig, bis die glühende Faust der Erde eine Insel zerreißt und im Ozean versinken läßt. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vierwöchentlich und sind überall im Zeitschrif ten- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich.