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EDITORIAL
Liebe Leserin, lieber Leser, in einem Interview äußerte sich 1997 die Modeschöpferin Jil Sander so: „Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, daß man contemMarion Kälke porary sein muß, das future-Denken haben muß. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, daß man viele Teile einer collection miteinander combinen muß.“ Für diesen Mix wurde sie als erste Person mit dem Titel „Sprachpanscher des Jahres“ durch den Verein zur Wahrung der deutschen Sprache ausgezeichnet. Würdige Nachfolger waren der Chef der Deutschen Bahn, Johannes Ludewig, für Wortschöpfungen wie McClean (Toilette) oder Ticket Counter sowie Ron Sommer von der Telekom, der ganz ohne Not etwa aus Ortsgesprächen CityCalls machte. Alle Wörter ließen sich prima auch auf deutsch ausdrücken; dennoch sind sie ein Indiz. In der deutschen Sprache (mehr als in anderen) wimmelt es gemeinhin von Anglizismen/Amerikanismen, etwa im Bereich des Sports (übrigens auch ein englisches Wort) oder in der Unterhaltung, pardon: im Entertainment. Aber auch wer sich nicht unbedingt für cool hält, hat vielleicht schon über Management oder Sponsoren nachgedacht, ist schon mal online, hat ein Hobby, befürwortet das Recycling oder interessiert sich für Laser oder Tissue Engineering. Und dieser Text heißt Editorial und hat ein Layout. Was bereichert die deutsche Sprache, was verschandelt sie? In der Sprache ist der Wandel die Regel; aus fremden Wörtern werden akzeptierte Fremdwörter, oder irgendwann werden sie als Lehnwörter so in Phonetik, Morphologie und Orthographie angepaßt, daß ihr Ursprung kaum noch zu erkennen ist. Englischsprachige Schübe erreichten uns nicht erst seit den Care-Paketen der Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern schon aus dem Großbritannien der bürgerlichen Revolution und verschärft dem der industriellen Revolution. Und wer würde wohl heute noch den Oheim und die Muhme dem Onkel und der Tante vorziehen, die zu uns kamen, als es in den erlauchten Kreisen des 17. Jahrhunderts als fein galt, französisch zu sprechen? Schon von Martin Opitz bis zu den Brüdern Grimm gab es freilich Bestrebungen zur Sprachreinigung und -pflege.
Stress gilt gemeinhin als schädlich. Was jedoch den einen bedrückt, wirkt auf den anderen belebend. Das Dossier geht den Ursachen sowie den biomedizinischen Abläufen auf den Grund. Raumfahrt stellt aktuelle Entwicklungen in der Technik vor und bietet eine Übersicht über die rund 50 geplanten unbemannten Missionen für die Grundlagenforschung in den kommenden 10 Jahren. Software zeigt neue Verfahren, Softwareprobleme zu lösen und stellt eine reichhaltige Forschungslandschaft an den deuschen Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen vor. Die Dossiers kosten je DM 16,80.
Die Geschichten der belegten Sprachen, ihre jeweilige Dominanz oder Unterlegenheit und die Gründe dafür lassen sich noch relativ leicht zusammentragen und deuten. Doch wie weit können wir in die Vergangenheit zurückdringen? Bis zu einer gemeinsamen Ursprache? Sprachwissenschaftler und Archäologen sind sich, wie dieses Dossier veranschaulicht, darüber durchaus uneins. Überraschungen hält der Versuch, die Ahnen der heute noch weltweit lebenden Sprachen zu rekonstruieren, immer wieder parat. Und vielleicht werden wir bald beginnen müssen, auch heutige Sprachen wenigstens in Schriftform zu bewahren. Das Deutsche wird wohl kaum dem Untergang geweiht sein. Um Minderheiten wie das Sorbische hingegen steht es schlecht. Ihre Marion Kälke Eine Bestellkarte finden Sie hinten im Heft. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
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URSPRACHEN
Die
Debatte um die Ursprache
Es gibt Tausende von Sprachen. Stammen alle von einer Ursprache ab? Der Sprachwissenschaftler Merritt Ruhlen macht sich für diese These stark; Populationsgenetik und Archäologie geben ihm recht. VON BERNARD VICTORRI
D
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Unterschiede innerhalb der heutigen Menschheit zur Folge hatte. Auf diese Ergebnisse stützt sich eine These über den Ursprung unserer Art: die „Flaschenhals“-These. Sie besagt folgendes: Homo habilis oder erectus verbreitete sich vor mehr als einer Million Jahren über die Alte Welt. Er war der Vorfahr einer archaischen Form des Homo sapiens; dieser wiederum sei vor etwa 100 000 Jahren vom
Zeit vor der Gegenwart
10 000 Jahre
VICTORRI, SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
ie Frage nach dem Ursprung von Sprachen ist seit kurzem zum Anliegen ernstzunehmender Forschung geworden. Lange Zeit konnte man darüber nur spekulieren. Trotzdem oder auch gerade deswegen haben sich Denker unterschiedlichsten Kalibers darauf gestürzt und ein Szenario nach dem anderen ausgearbeitet; sie waren durchweg nicht zu widerlegen, da nachprüfbare Fakten fehlen. Heutzutage dagegen gehört es zum guten Ton, sich über die Entscheidung der Société linguistique in Paris zu entrüsten; sie hatte in ihren Statuten dieses Thema von Anfang an prinzipiell ausgeschlossen. Dieses Denkverbot war eher ideologisch als wissenschaftlich motiviert; man muß aber anerkennen, daß diese Ablehnung beim damaligen Stand der Dinge ganz angebracht war. Die Archäologie steckte noch in ihren Kinderschuhen, und das Problem der Evolution des Menschen stellte sich kaum. Die Sprachwissenschaft hatte zwar mit der Entdeckung der indogermanischen Sprachverwandtschaft große Erfolge gefeiert. Es gab aber dennoch viel zu tun: Theoretische Fundamente mußten gelegt, Sprachen wissenschaftlich beschrieben werden. Einen spezifischen Beitrag zum Ursprung der Sprache konnte sie nicht leisten, wenn man einmal von der Widerlegung der am weitesten hergeholten Thesen absieht (selbst Schwedisch und Niederländisch wurden als Kandidaten für die Ursprache vorgeschlagen). Heute aber ist die Situation eine ganz andere. Dank großer Fortschritte in Archäologie und Paläontologie können wir mittlerweile die Evolution der Hominiden in ihren wichtigsten Stationen nachzeichnen. Überdies hat die Populationsgenetik in groben Zügen rekonstruiert, wie der Prozeß geographischer Ausbreitung vor sich ging, der die genetischen
der moderne Homo sapiens
zweite geographische Ausbreitung 100 000 Jahre der archaische Homo sapiens
1 Million Jahre
Homo erectus
erste geographische Ausbreitung Homo habilis
Der Flaschenhals: Nach dieser These stammen alle heutigen Menschen von einer kleinen Gruppe Homo sapiens ab, die vor ungefähr 100 000 Jahren in Afrika oder dem Nahen Osten gelebt haben soll. Alle anderen Gruppen des archaischen Homo sapiens (der Neandertaler in Europa, der Solo-Mensch in Asien usw.) seien ausgestorben, ohne Nachkommen zu hinterlassen.
Erdboden verschwunden, ohne Nachkommen zu hinterlassen – mit einer Ausnahme: Eine kleine Gruppe von ein paar -zigtausend Personen sei in Afrika oder dem Nahen Osten übriggeblieben. Sie und ihre Nachkommen hätten ihrerseits die Erde neu kolonisiert: unsere gemeinsamen Vorfahren. Seit etwa zehn Jahren werden wir Zeugen einer einmaligen Annäherung der verschiedenen Forschungsdisziplinen. Die Populationsgenetik stützt die Gruppierung Tausender Sprachen in nur ein Dutzend „Superfamilien“. Aus der Arbeit der Teams um Luca Cavalli-Sforza und André Langaney hat sich ergeben, daß sich zwischen genetischer Verwandtschaft von manchmal geographisch weit entfernt lebenden Bevölkerungsgruppen und sprachlicher Verwandtschaft in großen Sprachgruppierungen, wie Joseph Greenberg für die Amerindsprachen und die afrikanischen Sprachen vorschlägt, Parallelen ziehen lassen. Die Frage nach dem Ursprung der Sprachen stößt in der scientific community erneut auf Interesse. Sie bleibt zwar spekulativ, aber die Überlegungen, wie man sich die historischen Abläufe denn vorzustellen habe, beziehen Ergebnisse unterschiedlichster Disziplinen mit ein. Es wird intensiv geforscht. Wir können uns auf neue Entdeckungen gefaßt machen, die möglicherweise den Ausschlag zugunsten der einen oder anderen Hypothese geben werden. Welchen Stellenwert hat die Sprachwissenschaft im Rahmen dieser Forschungen? In seinem Werk über den Ursprung der Sprachen vertritt Merritt Ruhlen einen radikalen Standpunkt. Seine Methode besteht darin, den Grundwortschatz verschiedener Sprachen zu vergleichen. Er gibt dem Leser mehrere von ihm selbst zu analysierende Beispiele an die Hand und teilt die Sprachen anhand SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Eine Klassifikationsübung nach der vergleichenden Methode à la Merritt Ruhlen: Sprache zwei
drei
ich
du
wer?
nicht
Mutter
Vater
Zahn
Herz
Fuß
Maus
er trägt
/iTn- Sn- duva@⁄ duva duo duo twai do! iki
Tala@T- SaloS tra!yas Tra@yo@ treôs tre@s Treis trê u·C
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man mi ka!s CiS tês kwis hwas kêa kim
la@ lo na! nae@- ou“k‘ ne- ni nê- deyil
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abu@ aB pita!r- pitar- pater pater faDar aTir baba
sinn Sen dant- dantan- odo@⁄n dent- tunTus de@t diS
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rijl- regel pa!d paiDya pod- ped- fo@t traig ayak
fa@r ?ak2bOr mus¢-
yah¢mil- nos!eh bha!rati baraiti phe!rei fert baêriT berid taSÈyor
A B C D E F G H I
I
II
III
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A
B
C
D
E
F
G
dieser in Familien, dann in Familien von Familien ein und ordnet sie so denn auch einer globalen Überfamilie zu. Dieser Sprachstammbaum beweise, daß es eine einzige Ursprache gegeben habe; ihr spricht er 20 hypothetische Wurzeln zu wie etwa KUAN „Hund“, TEKU „Bein“ oder „Fuß“, TIK „Finger“ und TIKA „Erde“. Streit in der Sprachwissenschaft Die Mehrheit seiner Kollegen jedoch lehnt diese Methode des Vergleichs ab; sie könne keine Verwandschaftsbeziehung von Sprachen jenseits eines gewissen Niveaus feststellen. Nach Ruhlen ist diese Zurückhaltung ein methodischer Fehler, dem die historische Sprachwissenschaft seit Jahrhunderten aufsitze. Die Annahme, man könne Verwandtschaft von Sprachen erst dann erschließen, wenn man die ausgestorbene Grundsprache rekonstruiert und die Regeln des Lautwandels erkannt habe, der von der Grundsprache zur jeweiligen historischen Einzelsprache geführt habe, sei falsch. Dies, so Ruhlen, heiße das Pferd von hinten aufzäumen: Man müsse zuerst durch Sprachvergleich Verwandtschaft aufzeigen und erst in einem zweiten Schritt zur Rekonstruktion des gemeinsamen Vorfahrens und den jeweiliSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
H
I
leB hr¢d- z´r´d kardia@ kord- haêrto@ kride kalp
Klassifizieren Sie die angegebenen neun Sprachen (von A bis I) in Familien und Unterfamilien und vergleichen Sie den Wortschatz für die 13 Wörter, die hier in phonetischer Umschrift geboten werden. Lösung: Sprache A und B (Arabisch und Hebräisch) gehören zur Familie der semitischen Sprachen. Die sechs Sprachen C bis H (Sanskrit, Awestisch, Altgrie-
gen Lautgesetzen übergehen. Der zweite Schritt lasse sich vielleicht nicht verwirklichen; deshalb seien aber die anfangs festgestellten Verwandtschaftsbeziehungen noch lange nicht ungültig. So habe man schließlich die Verwandtschaft der indogermanischen Sprachen entdeckt und die heute allgemein anerkannten Sprachfamilien definiert. Die historische Sprachwissenschaft (immer noch laut Ruhlen) trage Scheuklappen, und das habe mehr mit Ideologie als mit Wissenschaft zu tun. Die Indogermanistik befinde sich immer noch in der „splendid isolation“ des Eurozentrismus. Die anderen Sprachwissenschaftler (insbesondere Amerikanisten) verteidigten mit Klauen und Zähnen ihre Marktnischen (bestehend aus einer kleinen Sprachgruppe, auf die sie sich spezialisiert hätten), wenn sie nicht überhaupt entweder de facto oder auch in ihren theoretischen Positionen Kreationisten reinsten Wassers seien. Daß Ruhlens Anklage heftig ausfällt, kann nicht verwundern; Ruhlen reagiert nur auf Angriffe, denen sich vor ihm schon so herausragende Sprachwissenschaftler wie E. Sapir oder J. Greenberg ausgesetzt sahen. Allerdings liegen den Vorbehalten derer, die man keiner ideologischen Hintergedanken verdächtigen kann, wirklich wissenschaftliche Erwägungen zugrunde. Tatsächlich ist ein Großteil mit Ruh-
mu$s mu@s lux sÈc#an
chisch, Latein, Gotisch und Altirisch) sind indogermanische Sprachen. I (Türkisch) läßt sich keiner Familie zuordnen. Mit einer längeren Wortliste kann man nach demselben Verfahren die Familien wieder in Überfamilien einteilen usw. Der Stammbaum, den man so erhält, würde dann beweisen, daß alle Sprachen von einer Muttersprache abstammen.
len einer Meinung, daß der erste Schritt in einem Sprachvergleich bestehen müsse, der übrigens auch Syntax und Morphologie, nicht nur den Grundwortschatz, zu erfassen habe. Anders als Ruhlen es will, liefere dieser erste Schritt aber nur Indizien für eine Sprachverwandtschaft. Diese Indizien bedürfen einer weiteren Bestätigung, bevor man sie als feststehende Tatsachen behandeln kann. Bislang konnte diese Bestätigung nur so erfolgen, daß man sowohl die Ursprache als auch die regelmäßige Lautentsprechungen rekonstruierte; deshalb konzentrierten sie sich so stark auf den zweiten Schritt. Austausch zwischen Forschungsdisziplinen Dadurch, daß nun die Populationsgenetik auf den Plan trat, hat sich die Ausgangssituation verändert. Ihre Daten sind geeignet, sprachwissenschaftliche Hypothesen zu stützen oder zu schwächen; so werden die Grenzen der traditionellen historischen Sprachwissenschaft überschritten. Der Austausch zwischen den Forschungsdisziplinen verläuft nicht eingleisig: Hinreichend gesicherte sprachliche Fakten können genetische Sachverhalte, die man sonst nur schwer interpretieren könnte, aufhellen. Nehmen wir 왘
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URSPRACHEN
der moderne Homo sapiens
Zeit vor der Gegenwart
VICTORRI, SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Entstehung von Sprache 10 000 Jahre Entstehung von Sprache Entstehung von Sprache
100 000 Jahre
der archaische Homo sapiens 1 Million Jahre
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Drei Modelle beschreiben die Entstehung von Sprache auf der Basis der Flaschenhals-Hypothese. Modell 1 geht davon aus, daß Sprache in verschiedenen Gruppen des modernen Homo sapiens nach ihrer geographischen Ausbreitung entstand. Nach Modell 2 erscheint sie erstmals vor 100 000 Jahren in der kleinen Gruppe unserer Vorfahren. Nach Modell 3 existierte sie bereits bei einigen Zweigen des archaischen Homo sapiens.
den Fall des Baskischen. Das Baskische weicht massiv von den anderen Sprachen Europas ab. Das beweist, daß das Baskische den einzigen Überlebenden einer Gruppe von Sprachen, die vor der Ankunft der Indogermanen in dieser Region gesprochen wurden, darstellt. Nun unterscheiden sich die Basken auch genetisch (wenn auch nur schwach) von ihren Nachbarn; die Einzigartigkeit ihrer Sprache erlaubt es, diese genetische Abweichung als letzte Spur einer anderen Abstammung dieses Volkes zu interpretieren. Sprachen, so Ruhlen im Scherz, haben keinen Sex. Bauern oder Krieger Über alle Polemik hinaus dürfte die Entwicklung in der Forschung in den nächsten Jahren verstärkt zu interdisziplinären Bemühungen führen; es könnte darauf hinauslaufen, daß wir die Geschichte der Menschheit und der menschlichen Sprache von ihren Ursprüngen an besser verstehen, als wir je zu hoffen wagten. Umstritten ist auch der Ursprung des Indogermanischen. Hier vertritt Ruhlen die Theorie Colin Renfrews, nach der die Wiege des Indogermanischen vor 8000 Jahren in Anatolien stand. Von dort aus habe es sich mit den ersten Bauern weiter ausgebreitet. Damit ist die klassische These eines späteren Ursprungs in der Ukraine ad absurdum geführt. Wie sollten wohl Horden plündernder Krieger zu Pferde die Sprachen zahlenmäßig überlegener Bauern zum Verschwinden bringen?
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J. P. Mallory zeigt dagegen auf, daß Krieger, Träger von Innovationen wie Wagen, Pflug, Metallverarbeitung, spezialisierte Züchtung und den damit einhergehenden Produkten (Milchprodukte, Wolle), in einer kritischen Situation sehr wohl ökonomisch wie militärisch die Oberhand über Bauern gewonnen haben könnten. Welche der beiden Thesen ist nun die richtige? Anatolien oder die Ukraine? Künftige interdisziplinäre Forschung wird es uns zweifellos sagen können – wenn sie nicht zu dem Schluß kommt, daß alles in Wahrheit noch viel komplizierter war. Luca Cavalli-Sforza sieht in beiden Annahmen nicht einmal einen Widerspruch: Die anatolischen Bauern hätten ein altertümliches Indogermanisch mitgebracht und in ganz Europa verbreitet; eine der Sprachen, die dieser früheren Aufspaltung ihre Existenz verdankt (nämlich die der Eindringlinge aus der Ukraine) hätte später alle anderen verdrängt mit Ausnahme des Armenischen, Albanischen und vielleicht des Griechischen. Fortsetzung folgt... Je weiter man in der Zeit zurückgeht, mit desto größeren Unsicherheiten sind unsere Modelle behaftet. Vielleicht ist das Stammbaummodell, das Sprachen in Familien und Überfamilien aufgliedert, nicht mehr adäquat. Nach Ruhlen können Ähnlichkeiten zwischen Sprachen drei Gründe haben: Lehnwörter wie etwa jene, die im 11./12. Jahrhundert aus dem Französischen ins Englische gelangten (leicht zu diagnostizieren); Konvergenz, die auf einer universellen Verbindung zwischen Laut und Bedeutung beruht
(sehr selten; Konvergenz erklärt zum Beispiel die Omnipräsenz von Ausdrükken wie „Mama“ und „Papa“) und schließlich gemeinsame Herkunft. Sind die ersten beiden Ursachen ausgeschlossen, kommt nach Ruhlen nur noch ein Verwandtschaftsverhältnis in Frage. Andere Phänomene können dazwischenkommen: J. Nichols hat Sprachtypologie anhand einer repräsentativen Auswahl von fast 200 Sprachen erforscht und zu diesem Zweck morphologische, lexikalische und syntaktische Strukturen verglichen. Sie unterscheidet zwei Typen von geographischen Arealen: Expansionszonen und Residualzonen. Charakteristisch für Expansionszonen sind Sprachen starker struktureller Ähnlichkeit, die einer kleinen Anzahl von Familien zuzuordnen sind, und eine rasche Verbreitung von Sprachen oder Sprachfamilien, die an die Stelle der vorher dort gesprochenen Sprachen treten. Dazu gehören unter anderem Westeuropa, Zentralaustralien, das Binnenland von Nordamerika oder Zentralafrika südlich der Sahara. Residualzonen dagegen weisen dauerhaft starke strukturelle Unterschiede auf. Hier haben sich im Laufe der Zeit sehr unterschiedliche Sprachen oder Sprachfamilien angesiedelt, ohne daß eine dominierte; Zwei- oder Mehrsprachigkeit ist häufig. Dazu gehören der Kaukasus, Nordaustralien, der Balkan, die Pazifikküste Nordamerikas oder Nordasien. Dort passieren gelegentlich interessante Dinge: Neuerungen der Sprachstrukturen konnten sich leicht in der ganzen Region verbreiten, indem sie die Sprachgrenzen übersprangen; diese Neuerungen setzten sich in den Sprachen fest, ohne daß die Unterschiede dadurch aufgehoben wurden. Es kam zu sprachlichen Ähnlichkeiten unabhängig von einer eventuellen Verwandtschaft. Das klassische Stammbaummodell, so J. Nichols, ging von Expansionszentren aus, aber wenn man auch Residualzonen gebührend einbezieht, müssen verfeinerte Modelle entwickelt werden. Die Entstehung der menschlichen Sprache Stammen alle heutigen Sprachen von einer einzigen Ursprache ab? Wenn man Merritt Ruhlen recht gibt, spricht nach heutigem Wissen alles dafür, auch dann, wenn man seinen etwa 20 rekonstruierten Wurzeln nichts abgewinnen kann. Er selbst gesteht ihren rein heuristischen Charakter ein. Nimmt man die Flaschenhals-These als gegeben, kommen drei SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Szenarien in Frage. Erstens: Sprache entsteht in den verschiedenen Gruppen des modernen Homo sapiens nach seiner geographischen Ausbreitung. Zweitens: Sie kriecht unmittelbar vor seiner Ausbreitung aus dem Ei. Drittens schließlich: Sie war schon viel früher in verschiedenen Zweigen des archaischen Homo sapiens vorhanden. Aus evolutionärer Sicht hätte sie sich aus rudimentären Formen mündlicher Kommunikation (Protosprache) entwickelt. Dieser Protosprache fehlte die strukturelle Komplexität unserer Sprache. Es bedurfte demnach eines qualitativen Sprungs, um von ihr zur Sprache im eigentlichen Sinn zu gelangen. Unter diesem Aspekt erscheint das erste Szenario recht unwahrscheinlich. Sprache ist universell; die Art Mensch genetisch homogen. Deshalb kann man sich kaum vorstellen, daß dieser Sprung unabhängig in verschiedenen Gruppen des modernen Homo sapiens vor relativ kurzer Zeit stattgefunden haben soll, ohne daß man heute noch Spuren davon beobachten kann. So verschieden die Einzelsprachen auch sein mögen, sie haben doch verschiedene Dinge gemeinsam: ihre Ausdrucksfähigkeit zum Beispiel und spezifische strukturelle Züge (Rekursivität der Syntax oder die Fähigkeit, Modus und Tempus auszudrücken). Besagter qualitativer Sprung konnte nur mit entscheidenden Modifikationen unseres kognitiven Systems insgesamt vor sich gehen. Jedes Baby lernt jede menschliche Sprache immer gleich leicht unabhängig von der Sprache seiner Eltern. Man braucht kein Anhänger der These des amerikanischen Linguisten Noam Chomsky von der angeborenen Universalgrammatik zu sein, um zu akzeptieren, daß das Erlernen der Muttersprache eine bei allen Menschen identische genetische Prädisposition voraussetzt. Diese Tatsache verträgt sich wiederum nicht mit Szenarien, die davon ausgehen, daß sich diese Fähigkeit in verschiedenen Gruppen nach der Ausbreitung des modernen Homo sapiens unabhängig entwickelt haben soll. Übrig bleiben mithin zwei Szenarien, die massiv für eine einzige Ursprache sprechen. Sie mag vor etwa 100 000 Jahren in der kleinen Gruppe Homo sapiens, von der wir abstammen, entstanden oder auch erheblich älter sein; im zweiten Fall aber wären die Sprachen des archaischen Homo sapiens mit ihm selbst ausgestor-
ben. Diese Spekulationen geben neuen Anlaß zum Nachdenken und werfen neue Fragen auf. Im Rahmen des zweiten Szenarios, das eine enge Verbindung zwischen dem Aufkommen von Sprache und der Entstehung unserer Art sieht, kann man sich fragen, ob nicht Sprache der kleine Unterschied war, der den erstaunlichen evolutionären Erfolg des Homo sapiens ausgemacht hat (Flaschenhals-These!). Das beschleunigte Aussterben des archaischen Homo sapiens im Ganzen bis auf die kleine Gruppe unserer Vorfahren
druck von Gefühlen, in der Möglichkeit, Menschen gezielt anzusprechen; sie unterstützte die Organisation der Jagd oder die Herstellung von Werkzeugen. Gefehlt hätte ihr aber eine ganz wesentliche Funktion unserer Sprache: die narrative nämlich. Sie dient dazu, Mythen in Sprache zu fassen. Mythen wiederum dienen in allen menschlichen Gesellschaften dazu, soziale Regeln, insbesondere Verbote, auszudrücken. Durch Erzählungen, also etwa Geschichten, kann man ausdrücken, was in der Vergangenheit geschah, was wieder geschehen kann, was nicht mehr geschehen darf. Vielleicht ist das der entscheidende Selektionsvorteil, der unsere Vorfahren befähigte, eine neue soziale Ordnung zu etablieren. M. Turner, Spezialist für kognitive Linguistik, vertritt die Vorstellung, die allen Sprachen gemeinsamen syntaktischen und semantischen Eigenschaften rührten von einer präexistenten Erzählstruktur her, die ihren Sitz zuerst in der kognitiven Aktivität des Individuum hatte. Er zeigt, daß sie einen positiven Selektionsdruck ausüben konnte, der Genmutationen, die für Sprachfähigkeit kodierten, begünstigte. Diese Ideen passen gut in das Modell, das wir oben skizziert haben. Das Nachdenken über den Ursprung von Sprachen ist mittlerweile ein wichtiger Bestandteil wissenschaftlicher Debatten, die die Verwandtschaft zwischen Sprache und Kognition ins Licht rücken. Wenn wir Modelle über den Ursprung der Sprache entwickeln, dann gehen wir gleichzeitig das wichtige Problem an, wie Sprache funktioniert und welche Rolle sie in der kognitiven Aktivität des Individuums und der Gesellschaft spielt. 왎
War die Sprache der kleine Unterschied, der den evolutionären Erfolg des Homo sapiens begründete?
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
wirft nämlich Probleme auf. Unsere Cousins, die Neandertaler, die in Europa und Nahost lebten, besaßen nämlich nicht zu unterschätzende kognitive Fähigkeiten (zumindest war ihr Gehirn größer als unseres): verschiedene Werkzeuge, eine komplexe soziale Organisation (sie beerdigten ihre Toten, praktizierten aber auch gewisse Formen des Kannibalismus), beeindruckende Jagdtechniken und andere. Wie konnte es geschehen, daß so talentierte Wesen, ebenso wie unsere anderen Vettern in Asien und Afrika, ausstarben? Fielen sie Epidemien, Klimaveränderungen oder der Konkurrenz unserer Vorfahren zum Opfer? Eine Ursache für ihr Verschwinden könnte ein Verlust sozialer Regeln gewesen sein, der in kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern fatale Krisen auslöste. Intelligenz schützt, wie wir selbst nur allzu genau wissen, keineswegs davor, daß Individuen Verhalten an den Tag legen, das ihre soziale Organisation gefährdet. Im Gegenteil, je komplexer eine soziale Organisation, desto verwundbarer ist sie. Die Entstehung von Sprache wäre somit die Reaktion auf Evolutionsdruck gewesen insofern, als sie soziale Regulierungsmechanismen auf eine neue Grundlage stellte. Dieser qualitative Sprung in ihren kognitiven Fähigkeiten hätte dann unsere Vorfahren vor allmählichem Aussterben, ausgelöst durch eine Störung des Gleichgewichts im Sozialverhalten, bewahrt. In diesem Modell bestand nach unserer Vorstellung Protosprache im Austausch von Informationen, im Aus-
Bernard Victorri ist Direktor des Instituts für Linguistik im nationalen Forschungsrat Centre national de la Recherche Scientifique (CNRS) an der Universität Caen. Literaturhinweise The Origin of Language: Tracing the Evolution of the Mother Tongue. Von Merritt Ruhlen. John Wiley and Sons 1996 In Search of the Indo-Europeans. Von J. P. Mallory. Thames and Hudson 1989
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GENANALYSE
Stammbäume von Völkern und Sprachen
Aus Genanalysen läßt sich auf einen Stammbaum menschlicher Populationen schließen, der frappierend mit neueren Systematiken der Sprache zusammenstimmt. Für beide liegt demnach der Ursprung in Afrika, von wo sie sich dann in verschiedenen Schüben über die übrige Welt verbreitet haben. VON LUIGI LUCA CAVALLI-SFORZA
D
ie Arbeitsatmosphäre um den britischen Biologen Sir Ronald A. Fisher (|1890 bis 1962|) war sehr dazu angetan, Mitarbeiter auf ausgefallene Ideen zu bringen. Als ich um 1950 zu ihm an die Universität Cambridge kam, wollte ich mich eigentlich mit Bakteriengenetik beschäftigen. Doch im Umfeld Fishers, der die Populationsgenetik mitbegründet hat, brodelte es geradezu vor mathematisch geprägten Forschungen und Theoretisierungen. So begann ich über ein Projekt nachzudenken, das mir selber absurd ehrgeizig vorkam|: den Ursprung der menschlichen Populationen zu rekonstruieren und ihre Verbreitungswege über die Welt nachzuvollziehen. Meine Idee war, den Verwandtschaftsgrad heutiger Bevölkerungen zu messen und mit diesen Daten einen umfassenden Stammbaum aufzustellen. Diesem Ziel sind wir jetzt greifbar nahe. Meine Kollegen und ich hatten aus 50 Jahren Forschung sehr viele genetische Daten des Menschen zur Verfügung und dazu aus den letzten Jahren Meßreihen, bei denen wir neueste molekulargenetische Methoden anwandten, so daß wir nun von Hunderten von Genen wissen, wo auf der Welt sie in welcher Form vorkommen. Daraus haben wir dann die Entwicklungslinien hergeleitet.
Dieser Stammbaum paßt gut zu einem weiteren, den andere Wissenschaftler – namentlich Allan C. Wilson von der Universität von Kalifornien in Berkeley – unabhängig von uns mit einem eigenen genetischen Ansatz rekonstruiert haben. Und besonders bedeutsam scheint uns, daß beide wiederum in weiten Zügen einer neueren Klassifikation der Sprachen ähneln: Diesen Befunden zufolge haben sich die menschlichen Populationen und ihre Sprachen gemeinsam verbreitet und verändert. Ihr Ursprung wäre in Afrika zu suchen, von wo sie zunächst nach Asien kamen und von dort in mehreren Schüben einerseits nach Europa, andererseits in die Neue Welt und den pazifischen Raum vordrangen. Die genetische Distanz und die Sprachen Mit einem plausiblen Konzept von einem Stammbaum lassen sich die Ereignisse chronologisch ordnen. Gesetzt, alle anderen Faktoren blieben unverändert, müssen zwei Populationen sich genetisch um so mehr unterscheiden, je länger es her ist, daß die gemeinsame Ursprungspopulation sich in die beiden fortan getrennten Linien aufgespalten hat – man nennt
kaukasisch Franzose
Nordeuropäerin
Indoeuropäisch
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diesen Unterschied die genetische Distanz. Entsprechendes gilt, nur eben in etwas komplexerer Weise, wenn es sich um drei oder mehr Populationen handelt. Man kennzeichnet menschliche Populationen auch als ethnische Gruppen oder Rassen (|obwohl dieser Begriff wegen rassistischen Mißbrauchs heute ziemlich diskreditiert ist|). Allerdings sind ethnische Einheiten nicht so leicht bestimmbar, denn die Grenzen müssen einerseits für wissenschaftliche Zwecke scharf genug sein, sich andererseits in der Realität auch so wiederfinden lassen. Menschen ordnen sich jedoch nach schier unübersehbaren Merkmalen und Kriterien, die sich teilweise decken, vielfach unterschiedlichsten Kategorien zuzuordnen sind und sich allesamt auf verschiedene Weise entwickeln und verändern. Uns in diesem unübersichtlichen Feld zu orientieren, haben uns gerade Sprachen geholfen. Die meiste Zeit seiner Geschichte hat der Mensch in Stammesverbänden gelebt, also in Gruppen, deren Angehörige recht nahe miteinander verwandt waren|; noch heute ist das Leben in traditionellen Gesellschaften weitgehend von Stammeszugehörigkeiten bestimmt. Nun existiert zwischen Sprache und Stamm häufig eine direkte Beziehung – jeder Stamm hat seine eigene.
afrikanisch Inderin
kontinental-asiatisch
Ju/Hua-Buschmann
Masai
Pygmäne
Khoi-San
Nilosaharisch
Niger-Kongo
Chinesin
Tibeter
Tibetochinesisch
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Deshalb geben Sprachen Anhaltspunkte für Stammeszugehörigkeiten, aus denen sich wiederum eine grobe Klassifikation von Populationen ableiten läßt. Wegen der viel komplizierteren genetischen Verhältnisse in mobilen städtischen Bevölkerungen der hochtechnisierten Gesellschaften haben wir nur ursprüngliche Gruppen untersucht|: solche, die in einem Lande schon lebten, bevor die großen Wanderungsströme im Gefolge der neuzeitlichen Entdeckungsreisen es überschwemmten. Unser Unterfangen war auch so noch schwierig genug. Auch unter solchen lange angestammten Populationen kann man die genetische Distanz nicht einfach danach bestimmen, ob ein bestimmtes erbliches Merkmal beziehungsweise das Gen dafür in der einen vorkommt und in der anderen nicht, denn alle weisen praktisch sämtliche existenten menschlichen Gene auf. Doch wie häufig das einzelne Gen in einer Population relativ zu anderen vorkommt, kann verschieden sein und deshalb als Unterscheidungsmerkmal herangezogen werden. Ein bekanntes und eingehend untersuchtes Beispiel ist der Rhesusfaktor, ein Blutgruppensystem, das – bei einem gut überschaubaren Erbgang – in den beiden Ausprägungen rhesus-positiv und rhesusnegativ auftritt. In Europa sind verhältnismäßig viele Menschen rhesus-negativ, in Afrika und Westasien viel weniger, in Ostasien und bei den Ureinwohnern Amerikas und Australiens praktisch gar keine. Man kann nun, um den Verwandtschaftsgrad zwischen zwei Gruppen zu errechnen, die Prozentsätze der rhesus-negativen Mitglieder vergleichen. Der Unterschied etwa zwischen Engländern (|16|) und Basken (|25|) beträgt 9 Prozentpunkte, der zwischen Engländern und Ostasiaten aber 16 – was mithin eine größere genetische Distanz anzeigt und vermuten läßt, daß diese beiden Linien schon beträchtlich früher auseinandergegangen sind als die der Engländer und der Basken. Eine solche Berechnung ist also nicht sonderlich schwierig und das Ergebnis in diesem Falle auch plausibel. Tatsächlich
arktisch Inuit
Koreanisch
Eskimo-Aleutisch
Gebieten heutiger Populationen enden, stimmt das Muster grob mit den Wegen überein, auf denen die frühen Menschen sich nach heutigen anthropologischen Vorstellungen über die Kontinente verbreitet haben. Ob die (im Sinne der genetischen Distanz) kürzestmöglichen Verbindungen aber dem tatsächlichen Geschehen am nächsten kommen, ist nicht so sicher. Nach einem alternativen Ansatz kann man die Länge der Astabschnitte nach den Zeitspannen zwischen Aufspaltungen der jeweiligen Populationen bemessen; eichen läßt sich ein solcher Baum, wenn man zu einer markanten Stelle – etwa einem wichtigen Verzweigungspunkt – eine Querverbindung zu einem anderweitig datierbaren Beleg findet, beispielsweise aus der Archäologie oder Paläontologie. Schätzungen für Evolutionsraten Die Wurzel einer Gruppe läßt sich wiederum als Seitenast eines noch umfassenderen und damit tiefer in die Vergangenheit reichenden Stammbaums auffassen. Im Falle des Menschen würde man so etwa auf die gemeinsame Wurzel mit dem Schimpansen stoßen, die ungefähr datiert ist|; man vermutet für sie ein Alter von ungefähr fünf bis sieben Millionen Jahren. Selbst in einem geeichten Baum erschließt man aber das Alter vieler Verzweigungspunkte, wie gesagt, unter der Annahme, daß alle Linien sich mit konstanter Rate verändern|: Man schätzt aus der Länge der Äste ab, wieviel Zeit seit einer Aufgabelung verstrichen ist, für die man keine anderweitig datierte Querverbindung findet. Das Verfahren ist mithin gegen systematische Fehler nicht gefeit, 왘 Neue Ansätze in der Molekulargenetik und der Linguistik eröffnen die Möglichkeit, die Vielfalt der Völker (obere Zeile: ethnische Gruppen) und ihrer Sprachen (untere Zeile: Sprachfamilien) durch einen gemeinsamen Stammbaum zu erklären.
amerikanisch Azteke
Yanomamo
pazifisch Polynesierin
Maori
Melanesier
Australier
Indopazifisch
Australisch
PHOTO RESEARCHERS, INC.
Koreaner
ist die Analyse genetischer Distanzen aber doch ein wenig komplizierter|; schließlich möchte man daraus soviel wie möglich über die Entwicklungsgeschichte der Populationen erfahren. Wenn sich eine Gruppe in zwei fortan gänzlich getrennte Linien aufspaltet, brauchen überhaupt keine Mutationen am Erbmaterial aufzutreten und keinerlei Selektionskräfte wirksam zu werden, damit sie sich in verschiedene Richtungen entwickeln|; der Zufall allein genügt, daß die Genhäufigkeiten sich nach einiger Zeit unterscheiden. Man sagt dann, genetische Drift habe stattgefunden. Wenn alle anderen Einflüsse auf beide Zweige gleich sind, wächst infolge dieser Gesetzmäßigkeit die genetische Distanz im wesentlichen proportional der Zeit. Damit hat man praktisch eine Uhr, die den Zeitverlauf der Evolution anzeigt. Aus statistischen Erwägungen darf man freilich nicht erwarten, daß ein einziges Gen – wie das den Rhesusfaktor bestimmende – schon eine genaue zeitliche Einordnung erlaube. Vielmehr muß man für die Distanzberechnung einen Mittelwert über zahlreiche Gene bilden|; und eigentlich ist es dann sogar erforderlich, das erste Ergebnis an einem weiteren Datensatz zu überprüfen, den man an einer anderen Auswahl von Genen unabhängig vom ersten gewonnen hat. Genug Gene für solche umfangreichen Untersuchungen, nämlich einige tausend, sind bekannt|; allerdings wurde erst ein Bruchteil von ihnen in hinreichend vielen Populationen erfaßt. Es gibt verschiedene Ansätze, anhand genetischer Distanzen einen Stammbaum zu konstruieren. So haben vor 35 Jahren Anthony W.|||F. Edwards und ich die mutmaßliche Genealogie von 15 Populationen entworfen. Wir errechneten die postulierten genetischen Distanzen gemäß einer Formel von Edwards, die auf dem Prinzip der einfachsten möglichen Erklärung basiert|: Es galt, den Stammbaum mit der kürzestmöglichen Gesamtlänge der Zweige zu erstellen. Projiziert man ihn auf eine Weltkarte, so daß seine verschiedenen Zweige bei den
Amerind
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Austronesisch
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LAURIE GRACE
GENANALYSE
Anteile der Menschen mit dem Blutfaktor rhesus-negativ in der Alten Welt und in Australien. Bei der baskischen Bevölkerung kommt er am häufigsten vor; nach Osten und Süden zu wird er immer seltener. Die Basken scheinen eine sehr alte Bevölkerung zu sein, die erst spät Kontakt zu Einwanderern aus dem asiatischen Raum bekam und deshalb viele ihrer ursprünglichen Merkmale bewahrt hat, so auch ihre Sprache. Die Zahlen geben den Prozentsatz rhesus-negativer Menschen an.
falls bestimmte Linien einen schnelleren evolutiven Wandel durchgemacht haben als andere. Hier helfen mathematische Verfahren der Populationsgenetik, Schätzungen für die Evolutionsraten zu finden, die solche Fehler minimieren. Das von uns verwendete Evolutionsmodell ist unter den vorhandenen das einfachste. In ihm entwickeln sich die einzelnen Linien tatsächlich mit gleicher Geschwindigkeit|; des weiteren ist vorausgesetzt, genetische Drift sei die wesentliche Ursache des Wandels und die Populationen seien ungefähr gleich groß. Die erste Voraussetzung läßt sich durch anderweitige unabhängige Befunde stützen, und auch die zweite trifft mit hoher Wahrscheinlichkeit zu, wenn man über große Räume und Zeitspannen mittelt. Alles in allem sind konstante Evolutionsraten für große Gruppen zu erwarten, die im Laufe langer Perioden ganze Kontinente besiedeln. Mit Paolo Menozzi von der Universität Parma und Alberto Piazza von der Universität Turin habe ich ein generelles Konzept entwickelt, die Geschichte der menschlichen Gene und ihrer geographischen Verbreitung zu analysieren. Während eines zwölfjährigen Projekts bearbeiteten wir das genetische Datenmaterial aus fünf Jahrzehnten anthropologischer und genetischer Forschung|: mehr als 100 Erbmerkmale, aufgenommen in rund 3000 Erhebungen an 1800 Populationen|; bei den meisten Erhebungen waren mehrere hundert oder sogar mehrere tau-
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send Individuen einbezogen worden. Wir nannten dies unseren klassischen Datensatz, wenngleich die Gene nur indirekt durch die von ihnen codierten Proteine beziehungsweise die daraus resultierenden Merkmale repräsentiert waren. Ergänzend dazu haben wir in den letzten Jahren einen zweiten, vollkommen neuen Datensatz zusammengestellt. Diesmal erhoben wir die genetischen Befunde direkt an codierenden Sequenzen des Erbmaterials (|der DNA|) im Zellkern|; sie wurden größtenteils in einer siebenjährigen Gemeinschaftsstudie meiner Arbeitsgruppe an der Universität Stanford (|Kalifornien|) und der von Kenneth K. und Judith R. Kidd vom Institut für Genetik der Yale-Universität in New Haven (|Connecticut|) gewonnen. An sich sind molekulargenetische Daten aussagekräftiger als die unseres klassischen Sets über genetische Ausprägungen, doch umfaßt die neue Studie bislang erst hundertfach weniger Populationen, als bei den vielen klassischen Erhebungen untersucht worden waren. Dennoch|: Wann immer wir Ergebnisse beider Studien schon vergleichen konnten, stimmten sie ausgezeichnet überein. Unser erstes wichtiges Ergebnis erhärtet, was Paläoanthropologen aus Fossilien und Artefakten geschlossen haben|: daß unsere Spezies – der anatomisch moderne Mensch – sich ursprünglich in Afrika entwickelt hat. Denn die genetische Distanz zwischen Afrikanern und allen übrigen Menschen ist größer als die
zwischen Bevölkerungen irgendwelcher anderen Kontinente. Genau dies ist zu erwarten, wenn die früheste Aufspaltung der menschlichen Stammgruppe sich tatsächlich in Afrika ereignet und der eine Ast sich dort, der andere über den Rest der Welt weiter verzweigt hat. Die genetische Distanz zwischen Afrikanern und Nicht-Afrikanern ist ungefähr doppelt so groß wie die zwischen Asiaten und Australiern und diese wiederum doppelt so groß wie die zwischen Asiaten und Europäern. Das würde paläoanthropologischen Vorstellungen entsprechen|: Demnach sollen sich Afrikaner und Asiaten vor 100|||000 Jahren getrennt haben, vor 50|||000 Jahren Asiaten und Australier, Asiaten und Europäer schließlich erst vor 35|||000 bis 40|||000 Jahren. Zumindest für diese Vorgänge scheint unsere genetische Uhr zuverlässig die Zeiten anzuzeigen. Ohne daß wir voneinander wußten, hatte Wilsons Team in Berkeley eine weitere derartige Uhr entworfen, mit der sich die Chronologie recht elegant rekonstruieren läßt. Wir erfuhren davon erst, als wir mit unseren Analysen fast fertig waren. Auch bei diesem Vergleich unabhängiger Studien stimmten die Ergebnisse in allen wesentlichen Punkten überein. Während wir Erbsubstanz des Zellkerns analysiert hatten, arbeitete Wilsons Gruppe mit der DNA von Mitochondrien, den für den Energiestoffwechsel zuständigen Zellorganellen|; sie kommen mit sehr viel weniger Genen aus. Auch wir hatten anfangs Mitochondrien-DNA untersucht. Aber Wilson und seine Kollegen schufen Methoden, die eine höhere Auflösung und damit exaktere Messungen erlaubten. Der einfache Erbgang der Mitochondrien-Gene Mitochondriale Gene unterscheiden sich fundamental von denen im Zellkern|: Das Erbmaterial stammt so gut wie ausschließlich von der Mutter, das im Zellkern hingegen zu gleichen Teilen von beiden Eltern. Wegen ihres einfachen Erbgangs sind die Mitochondrien-Gene also für Abschätzungen der genetischen Distanz geradezu prädestiniert. Außerdem mutieren sie mit höherer Rate, so daß man zur Errechnung der Zeitpunkte von Gabelungen im Stammbaum nicht die Häufigkeiten von Genen in Populationen erfassen und statistisch auswerten muß, sondern direkt die Zahl der Mutationen zählen kann. In gewisser Weise ähnelten sich beide Studien auch wieder. So wie wir vorSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Da die Trennung der Entwicklungslinien von Vorfahren der heutigen Schimpansen und der heutigen Menschen bekanntermaßen gut fünf Millionen Jahre zurückliegt und Wilsons Stammbaum entsprechend geeicht werden konnte, ließ sich die entscheidende spätere Abzweigung bei den Hominiden zeitlich genauer einordnen|: Die Urmutter hat demnach vor 150|||000 bis 200|||000 Jahren gelebt. Damit ergibt sich ein annehmbares Intervall bis zu dem von uns geschätzten Zeitpunkt (|rund 100|||000 Jahre vor der Gegenwart|), von dem an nach unseren Befunden menschliche Populationen von Afrika her sich über die übrige Welt zu verbreiten begannen. Zwar haben die Kollegen in Berkeley (|Wilson selbst ist im Juli 1991 gestorben|) sich kürzlich korrigiert und erklärt, die gemeinsame Wurzel aller Menschen sei etwas älteren Datums. Aber immer noch paßt das gut zu unseren Vorstellungen|: Die beiden Modelle beziehen sich auf unterschiedliche Ereignisse – das Auftauchen einer bestimmten Mitochondrien-DNA und das Auseinandergehen einer Population, zu der die Trägerin dieser DNA gehörte. Die hypothetische Urmutter sollte also lange vor der Trennung
in eine afrikanische und eine asiatische Menschenlinie gelebt haben. Daß die Medien sie „Eva“ genannt haben, war eher irreführend, denn sicherlich gab es zu keinem Zeitpunkt nur eine einzige Menschenfrau. Aber es läßt sich eben nur die eine mitochondriale Erblinie zurückverfolgen – wir wissen nicht, wie viele andere ausgestorben sind. Im übrigen sind sich die Wissenschaftler über den afrikanischen Ursprung des Menschen durchaus noch nicht in allen Punkten einig. Es ist weit-hin akzeptiert, daß die Gattung Homo dort vor etwa 2,5 Millionen Jahren entstanden war|; und man gesteht auch allgemein zu, daß die ersten direkten Belege für den anatomisch modernen Menschen – den Homo sapiens – 100|||000 Jahre alte Fossilien von Fundstellen in Afrika und angrenzenden Regionen sind. Doch vertreten manche Forscher die Ansicht, mehrere Typen des Homo sapiens seien bedeutend früher und annähernd gleichzeitig an verschiedenen Orten Eurasiens und Afrikas aus dort heimischen Homo-Populationen hervorgegangen (siehe „Die Herkunft des anatomisch modernen Menschen“ von Christopher B. Stringer, Spektrum der 왘 Wissenschaft, Februar 1991).
LAURIE GRACE
ausgesetzt hatten, daß die relativen GenHäufigkeiten sich in den einzelnen Linien mit konstanter Rate verändern, nahm Wilsons Gruppe an, daß die Mitochondrien-Gene mit konstanter Rate mutieren. Allerdings läßt sich ein darauf basierender Stammbaum leichter eichen als einer, für den man Kern-DNA auswertet|: Man braucht nur die Vergleichsdaten von Mitochondrien-DNA einer Nachbargruppe (|Wilsons Team wählte Schimpansen|), von der man ungefähr weiß, wann sie sich von der untersuchten Linie abgespalten hat. Wilson und seine Kollegen fanden heraus, daß die mitochondriale DNA innerhalb der Bevölkerung Afrikas stärker variiert (|daß sich also darin mehr Mutationen angesammelt haben|) als innerhalb der Bevölkerungen anderer Kontinente – ein Zeichen dafür, daß die Evolution des Menschen in Afrika über die längste Zeitspanne hinweg vonstatten gegangen ist. Mit einem gewissen Recht kann man sogar sagen (|und dies hat viel Resonanz in den Medien gefunden|), daß die Entwicklungslinie der gesamten Weltbevölkerung letztlich bis zu einer einzigen afrikanischen Frau zurückzuverfolgen sei.
Rekonstruktion der Ausbreitung des Menschen in vorgeschichtlicher Zeit. Ein erster genetischer Stammbaum (grün) wurde derart auf eine Weltkarte projiziert, daß die Endpunkte der Zweige in den heutigen Regionen der einzelnen Populationen liegen. Das Ergebnis paßt recht gut zu einer Rekonstruktion nach archäologiSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
schen und fossilen Funden (die Zahlen bezeichnen das Auftauchen des anatomisch modernen Menschen in Jahren vor der Gegenwart). Neuere genetische Untersuchungen (rot) lassen vermuten, daß der Homo sapiens auf zwei Routen nach Asien gelangte; die Details der Wege beruhen aber auf Spekulation.
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GENANALYSE Unsere Daten geben – zweites wichtiges Ergebnis – auch Aufschluß über verschiedene Wanderungswellen des Menschen und somit über die Herkunft heutiger Populationen. Genauer werden sie sich in Zusammenarbeit mit Linguisten und Archäologen erschließen lassen. Bei der Ausbreitung einer Art über ihre angestammte Region hinaus spielen immer Zwänge und Gelegenheiten zugleich eine Rolle. Vermutlich haben sich Gruppen von Menschen und auch schon von ihren Vorgängern oft zeitweilig stark vermehren können. Der Zwang zur Expansion war dann mithin Bevölkerungsdruck|; dessen Ursache aber müssen verbesserte Lebensbedingungen gewesen sein, die ihrerseits Gelegenheit boten, Neuland zu erschließen.
Der biologische und der
Wanderungswellen Ein solcher Wandel rührte wohl hauptsächlich von kulturellen Entwicklungen her. Und soweit diese aus fossilen Zeugnissen und Artefakten – meist Steinwerkzeugen – erkenntlich sind, deuten sie ebenfalls darauf hin, daß die ersten Hominiden in Afrika gelebt haben. Von dort aus haben offenbar etliche Wanderungswellen die Landenge von Suez überquert, und von Vorderasien sind jeweils spätere Generationen auch nach Europa gekommen. Dies mag eine Million Jahre her sein. Schwieriger ist zu rekonstruieren, wie die Entwicklung nach Auftreten des modernen Menschen weiter verlief, weil dabei entscheidend ist, auf welchen Zeitpunkt man die Gabelung im HominidenStamm datiert, an der sein Zweig ansetzt. Auf jeden Fall gehörten die Menschen, die von Asien aus Amerika besiedelten, bereits eindeutig zur Spezies Homo sapiens. Diese erste Eroberung der Neuen Welt (|vermutlich in mehreren Schüben|) kann erst stattgefunden haben, als der Wasserspiegel der Ozeane während der Eiszeit so niedrig lag, daß die Beringstraße eine Landbrücke bildete, das Klima aber mild genug war, daß nomadisierende Jäger sie passieren konnten. Und für die Besiedlung Australiens und der pazifischen Inselwelt müssen die Menschen kulturell so weit entwickelt gewesen sein, daß sie auf offener See zu navigieren vermochten. Australien scheint von südostasiatischen Auswanderern spätestens vor 40|||000 Jahren erreicht worden zu sein, vielleicht auch 10|||000 oder 20|||000 Jahre früher. Umstritten ist unter den Archäologen hingegen, wann der Mensch in Amerika auftauchte. Die frühesten über-
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Der biologisch bestimmte genetische Stammbaum (links) und der linguistisch ermittelte SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
linguistische Stammbaum Populationen
Mbuti-Pygmäen
Sprachfamilien
(Ursprache nicht bekannt)
Westafrikaner Bantu
Niger-Kordofanisch
Nilbevölkerung
Nilosaharisch
San (Buschleute)
Khoi-san
Äthiopier Berber, Nordafrikaner
Afroasiatisch
Südwestasiaten Iraner Europäer Sarden
Indoeuropäisch
Inder Südostinder
Drawidisch Uralisch
Samojeden
Tibeter
Tibetochinesisch
Koreaner Japaner
nostratische Superfamilie
Mongolen
Altaisch
eurasische Superfamilie
Lappen
Ainu Sibirier Eskimo
Eskimo-Aleutisch
Tschuktschen
TschuktschischKamtschatkisch
Indianer Südamerikas Indianer Mittelamerikas
Amerind
Indianer Nordamerikas Na-Dené
Südchinesen
Tibetochinesisch
Mon-Khmer
Austroasiatisch
Thai
Thai
Indonesier Malaiien Filipinos
Austronesisch
austrische Superfamilie
Ind. Nordwestamerikas
Polynesier Mikronesier Melanesier
Indopazifisch
Australier
Australisch
Die Sprachenklassifikation stammt aus „A Guide to the World of Languages“ von Merritt Ruhlen.
Sprachenstammbaum (rechts) heute lebender Völker in der Gegenüberstellung SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
LAURIE GRACE
Neuguineer
zeugenden Spuren seiner Anwesenheit in Alaska sind auf ein Alter von 15|||000 Jahren datiert|; doch paradoxerweise werden Funde aus Südamerika von manchen Forschern als weit älter eingeschätzt – die Angaben liegen zwischen 15|||000 und 35|||000 Jahren. Unsere genetischen Analysen deuten darauf hin, daß Homo sapiens zuerst vor rund 30|||000 Jahren nach Amerika kam. Europa war das Ziel und Feld vieler Wanderungsschübe während der letzten Jahrmillion. Ein berühmtes Indiz aus Deutschland ist der 1907 in Neckarsedimenten bei Mauer gefundene, in Heidelberg verwahrte Unterkiefer eines Homo sapiens – rund 600|||000 Jahre alt|; zahlreiche Funde kamen seitdem hinzu (|siehe „Lebensspuren des ersten Europäers“ von Bruno P. Kremer, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1989|). Gleichwohl haben sich Indizien dafür, wann die erste Besiedlung des Kontinents durch Populationen anatomisch moderner Menschen stattfand, in diesem Puzzle eruieren lassen. Einen wichtigen neuen Ansatz begann schon 1954 einer der Pioniere für genetische geographische Forschung, Arthur E. Mourant, zu verfolgen, der damals im Labor für Populationsgenetik des britischen Medizinischen Forschungsrates in London tätig war|: Er formulierte die Hypothese, die Basken in Nordspanien und Südwestfrankreich seien das älteste überlebende Volk Europas|; sie hätten auch trotz vieler Kontakte mit späteren Einwanderern noch ursprüngliche genetische Merkmale bewahrt. Tatsächlich haben sie außer anderen genetischen Besonderheiten den mit 25 Prozent weltweit größten Bevölkerungsanteil rhesus-negativer Menschen|; auch ihre Sprache unterscheidet sich in vieler Hinsicht grundlegend von der ihrer Nachbarvölker. Nach neueren Analysen der Verbreitung von Genen in Europa läßt sich ein Modell der Besiedlungsgeschichte erstellen, das mit linguistischen und archäologischen Funden übereinstimmt. Demnach sind frühe jungsteinzeitliche Bauern vom Nahen Osten her nach und nach vorgerückt und haben dabei ihre Gene, ihre Kultur und die indoeuropäischen Sprachen importiert. Wohl weil die Vorfahren der heutigen Basken in einem Randgebiet lebten, blieben sie von diesem Zustrom fremder Gene mehr als andere schon ansässige Populationen verschont. Zu bedenken ist, daß es immer nur die erfolgreichen Besiedlungen sind, die wiederauffindbare Spuren hinterlassen. Einwanderungswellen müssen sich nämlich durchaus nicht durchprägen. Ein 왘
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GENANALYSE Beispiel sind die Wikinger, die sich um die Jahrtausendwende an Nordamerikas Ostküste niederließen. Ob sie sich bald wieder davonmachten oder ausstarben oder ob sie sich mit der Urbevölkerung vermischt haben, ist nicht bekannt. Überrascht hat uns, wie gut die genetische Ähnlichkeit von Populationen mit Mustern der Sprachverwandtschaft zusammengepaßt. Dieser unser dritter wichtiger Befund ist sogar so überzeugend, daß sich unserer Ansicht nach in zweifelhaften Fällen sogar umgekehrt die Sprache oder Sprachfamilie heranziehen ließe, um genetisch abgrenzbare Populationen ausfindig zu machen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bieten die fast 400 Idiome der Bantu-Sprachenfamilie im mittleren und südlichen Afrika|: Ihre jeweilige Verbreitung korrespondiert eng mit den Stammesgrenzen, und ihre Ähnlichkeiten spiegeln die Verwandtschaftsverhältnisse der Stämme. Eine heute weithin akzeptierte Erklärung dieses Phänomens beruht vor allem auf den linguistischen Untersuchungen, die Joseph H. Greenberg von der Stanford-Universität in den fünfziger Jahren anstellte. Er vermutete, die Bantusprachen seien auf eine einzige Sprache oder höchstens einige wenige sehr ähnliche Dialekte früher Bauern im heutigen OstNigeria und Kamerun zurückzuführen. Als diese Populationen sich später – vor mindestens 3000 Jahren – weiter nach Süden und Osten auszubreiten begannen, hätten sich zugleich auch die Sprachen der entstehenden neuen Stämme auseinanderentwickelt, wenn auch die gemeinsame Wurzel immer noch erkennbar bleibt. Das Wort Bantu bezeichnete ursprünglich eine rein sprachliche Einheit|; nun, da auch die genetische Verwandtschaft der bantusprechenden Völker feststeht, läßt sich die Bezeichnung auch auf sie selbst anwenden. Im Jahre 1988 veröffentlichten meine Kollegen und ich einen genetischen Stammbaum von 42 Populationen aus aller Welt und stellten dem einen Sprachenstammbaum gegenüber, den Linguisten entworfen hatten. Ganz deutlich wird, daß verwandte Populationen auch verwandte Sprachen sprechen und daß andererseits genetisch sehr verschiedene Gruppen einander fremden Sprachgruppen angehören. Zudem läßt sich ablesen, daß die heutigen Sprachfamilien bis auf wenige Ausnahmen verhältnismäßig jungen Ursprungs sein dürften. Aber auch eine übergreifende Klassifizierung, bei der nun zwei linguistische Arbeitsgruppen die Sprachfamilien zu noch größeren Superfamilien zusammenzufassen suchen, ergibt Entsprechungen zu unseren
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davon gänzlich unabhängigen genetischen Befunden. Kein geringerer als Charles Darwin (|1809 bis 1882|), der Begründer der Evolutionstheorie, hatte bereits einen solchen Zusammenhang vermutet. Im vierzehnten Kapitel seines Buches „Über die Entstehung der Arten“ schreibt er:
Charles Darwin
B
esäßen wir einen vollständigen Stammbaum der Menschheit, so würde eine genealogische Anordnung der Rassen gleichzeitig am besten die Klassifikation der zahlreichen jetzt auf der Erde verbreiteten Sprachen ermöglichen. Und wenn alle toten Sprachen, alle Übergangssprachen und langsam sich ändernden Dialekte mit einbegriffen wären, so würde eine solche Anordnung die einzig mögliche sein. Es könnte jedoch sein, daß einige alte Sprachen nur wenig abgeändert worden wären und nur wenige neue Sprachen hätten entstehen lassen, während andere (infolge der Verbreitung, der Isolierung und des Kulturzustandes der verschiedenen Rassen gleicher Abstammung) sich stark verändert und also viele neue Dialekte und Sprachen hervorgerufen hätten. Die mannigfaltigen Unterschiedsgrade zwischen den Sprachen eines Stammes müßten durch Gruppen und Untergruppen ausgedrückt werden, aber die eigentliche und einzig mögliche Anordnung wird naturgemäß immer die genealogische sein, weil sie nämlich sämtliche Sprachen, die toten wie die lebenden, nach ihrer Verwandtschaft verbindet und den Ursprung und Entwicklungsgang der Dialekte angibt. (Aus der Übersetzung von Carl W. Neumann, Reclam, Seiten 587 bis 588.)
Wie läßt sich der enge Zusammenhang zwischen genetischer und sprachlicher Evolution erklären|? Nicht mit biologischem Determinismus, sondern mit der Geschichte|: Nicht die Erbmasse, sondern die Kultur, in die der Mensch hineingeboren wird, bestimmt, wie er sprechen wird. Zwar können Sprachgrenzen sehr wohl genetische Barrieren zwischen Menschengruppen schaffen oder verstärken|; aber dies ist nicht die entscheidende Ursache dafür, daß man so viele Parallelen bei Sprachen und Populationen findet. Die Entwicklung der Menschheit ist
kein stetiger Prozeß. Gruppen trennen sich und teilen sich dann mitunter auch räumlich, und die neuen entwickeln unabhängig voneinander genetische und sprachliche Eigenheiten – und so fort bei der nächsten und den weiteren Gabelungen. Doch jeder Splitter trägt Charakteristika des Teils, aus dem er hervorgegangen ist – und dies gilt gleichfalls für jede Gabelung, die man sowohl im genetischen wie im sprachlichen Stammbaum Zweig um Zweig und Ast um Ast zurückverfolgt. Man kann einwenden, daß Splittergruppen sich selten völlig isolieren. Doch müssen sie nicht Ozeane oder Gebirgszüge überqueren, um sich dann anders als die Herkunftsgruppe zu entwikkeln. Räumliche Distanz reicht dafür bereits aus, wie populationsgenetische Untersuchungen an vielen Tierarten erweisen. Der genetische Austausch zweier Gruppen ist normalerweise um so intensiver oder spärlicher, je dichter beieinander beziehungsweise weiter entfernt sie leben. Für Sprachen gilt das gleiche. Sofern nicht wirklich trennende Grenzen existieren, sind die Übergänge hingegen eher fließend|; erst bei schwer überbrückbaren Hindernissen bilden sich leicht genetische und sprachliche Diskontinuitäten heraus. Überlagerung und Verdrängung Zwei Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel, daß ethnische und sprachliche Charakteristika korrespondieren und sich gleichartig verändern, sind zu beachten|: Eine Population kann eine andere Sprache übernehmen, und sie kann sich auch mit einer anderen Population vermischen. Die sprachliche Überfremdung, etwa durch Einwanderer, Eroberer oder eine neue Eliteschicht, ist aber nicht zwangsläufig und weniger wahrscheinlich, wenn die neue Sprache einer anderen als der angestammten Sprachfamilie angehört. Das Baskische ist ein solcher Fall von Resistenz|: Es hat Jahrtausende fortwährenden Sprachwandels in unmittelbarer Nachbarschaft überstanden. Anders verhält es sich bei der – gewöhnlich nur teilweisen – genetischen Überfremdung. Die Durchmischung der beiden Genpools kann ganz graduell verlaufen|; das heißt, die relativen Häufigkeiten aller Gene sind in gleichem Verhältnis betroffen. Während eine Sprache im Prinzip ersetzt werden kann, ist das mit dem Erbmaterial nicht möglich (|totaler Ersatz wäre gleichbedeutend mit der Ausrottung der Urbevölkerung|). SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Zeit in Jahren
Neuguineer und Australier 0
Bewohner der Pazifikinseln Nordostasiaten Nordostasiaten der Arktis Indianer Europäer außereuropäische Kaukasier genetische Distanz 0,20
0,15
0,10
0,05
Eine Sprache kann ihre ursprüngliche Eigenart sogar dann noch bewahren, wenn sie sehr viele Wörter von fremden Sprachfamilien oder Unterfamilien übernimmt. So ist das Englische nach einhelliger Meinung von Linguisten bei allen Anleihen aus dem Französischen, Lateinischen und Griechischen eine typisch germanische Sprache geblieben – das Basisvokabular und die charakteristische Struktur sind beibehalten worden. Der Unterschied von sprachlicher und genetischer Überfremdung bedeutet, daß eine sehr kleine Gruppe von Eroberern ihre Sprache einem großen beherrschten Volk aufzwingen, ihr Erbmaterial jedoch nur proportional dem demographischen Verhältnis untermischen kann. Ein Beispiel dafür sind die Ungarn|: Sie sprechen seit dem Einfall finno-ugrischer Reitervölker im 9. Jahrhundert Magyarisch, das zur uralischen Sprachfamilie (|also nicht zur indoeuropäischen|) gehört|; dem Gen-Muster nach aber sind die heutigen Ungarn nach wie vor durchaus europäisch – es erfordert einigen Aufwand, noch genetische Spuren der Magyaren zu entdecken. Daß Gene großenteils verdrängt werden, kommt wohl seltener vor. Ein wahrscheinliches Beispiel zeigt der komplementäre Stammbaum|: Die Sprache der Lappen (|skandinavisch Samen|), die in Nordskandinavien und in geringer Zahl auch im Nordwesten Rußlands leben, gehört zur uralischen Sprachfamilie|; genetisch leiten sie sich jedoch teils von mongoliden sibirischen Völkern und in stärkerem Maße von den indoeuropäischen Bewohnern Skandinaviens her. Die intensive Durchmischung ist schon äußerlich erkennbar|: Man trifft unter den Lappen sowohl extrem hellhäutige und hellhaarige als auch sehr dunkle Typen. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
60
Population 1
40
Population 2 20
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Zeit in Generationen
0
Wenn Populationen sich trennen, verändern sie sich mit der Zeit auch genetisch in verschiedener Richtung. Aus den Unterschieden und Ähnlichkeiten läßt sich ein Stammbaum heutiger Gruppen rekonstruieren (links). Auch ohne Mutationen des Erbgutes
1 500 2 000 2 500
80
0
Afrikaner
1 000
100
Genfrequenz in Prozent
Südostasiaten
500
LAURIE GRACE
Verzweigungen
driften getrennte Populationen auseinander, wie eine Computersimulation zeigt (rechts). Die relativen Häufigkeiten eines ausgewählten Gens, anfangs naturgemäß gleich, sind in der jeweils hundertsten Generation so verschieden wie nur denkbar.
Auch die Äthiopier sind völlig verschiedener ethnischer Herkunft, wobei im Gen-Mix afrikanischer Völker und arabischer Kaukasier der afrikanische Einschlag überwiegt. Dafür, daß fremde Gene die ursprünglichen überprägen, genügt es schon, wenn eine geringgradige Einkreuzung sich über längere Zeit fortsetzt. Dies kennzeichnet die Situation der USBürger mit afrikastämmigen Vorfahren. Derzeit ist ihr Genpool zu durchschnittlich 30 Prozent europäisch. Diesen Grad der Durchmischung würde man rein rechnerisch erhalten, wenn seit den Anfängen der Sklaverei in Nordamerika jeweils 5 Prozent der Schwarzen jeder Generation eine Verbindung mit Weißen eingegangen wären und man deren sämtliche Nachfahren zur Population der Schwarzen zählte. Um weitere 1000 Jahre hochgerechnet, wäre von dem ursprünglich rein afrikanischen Genom nicht mehr viel übrig. Manchen mag es erstaunen, daß trotz all dieser Durchmischungs- und Verdrängungsprozesse der Zusammenhang zwischen sprachlichen und genetischen Gruppen immer noch so eng ist. Teilweise mag das daran liegen, daß wir die genetischen Analysen auf Urpopulationen beschränkt haben. Aber andere, kleinräumige Untersuchungen stützen unseren Befund. Geradezu frappant stimmt unser Stammbaum der amerikanischen Urbevölkerung mit Greenbergs jüngster Klassifikation der Neuwelt-Sprachen in drei Hauptfamilien überein. Obgleich wir die beiden Projekte unabhängig voneinander durchgeführt und ganz unterschiedliches Datenmaterial verwendet haben, belegen sie übereinstimmend, daß Amerika in etwa fünf deutlich abgegrenzten Schüben besiedelt worden ist.
Die Parallele zwischen Gen- und Sprach-Charakteristika beruht letztlich auf dem Modus der Weitergabe. Gene werden vertikal übertragen, nämlich von den Eltern auf ihre Kinder, Kulturgüter indes auch horizontal, also innerhalb derselben Generation und keineswegs nur zwischen verwandten Menschen. Infiltrations- und Verdrängungsprozesse sind keineswegs lästige Ausnahmen von der Regel, sondern deswegen interessant, weil sie nach eigenen Regeln verlaufen. Wir können daraus viel über die Evolution von Bevölkerungen und Sprachen und somit über die Entwicklung der menschlichen Kultur lernen. Genauere Untersuchungen würden daher unsere eigenen Arbeiten abrunden. Doch müßten die Anthropologen sich damit beeilen, solange es überhaupt noch traditionelle Gesellschaften gibt. Vielleicht regt auch das Vorhaben, das menschliche Genom vollständig zu katalogisieren, dazu an, die genetische Vielfalt des Menschen eingehend zu erforschen, bevor die Identität vieler Populationen verschwunden ist. 왎 Luigi Luca Cavalli-Sforza kommt aus Italien und ist seit 1971 Professor für Genetik an der StanfordUniversität in Kalifornien. Seine Forschungsfelder sind Blutsverwandtschaft, genetische Drift und die Möglichkeiten, sie anhand demographischer Daten vorauszusagen, des weiteren die Wechselwirkungen zwischen biologischer und kultureller Entwicklung, die kulturelle Bedeutung von Namen und Vornamen sowie die Rekonstruktion der menschlichen Evolution.
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SPRACHENVIELFALT
Die
Sprachenvielfalt der Welt
Erstbesiedlung, Ausbreitung der Landwirtschaft, Völkerwanderung, Handel und Eroberung sind die wesentlichen Ursachen dafür, daß eine Sprache sich in einem Gebiet durchsetzt. Ein Zusammenwirken vieler Disziplinen erlaubt es, diese Geschichte für die ganze Erde im einzelnen zu rekonstruieren. VON COLIN RENFREW
I
m 5. Jahrhundert vor Christus notierte der antike Geschichtsschreiber Herodot, der ägyptische Pharao Psammetich I. (|Regierungszeit 664 bis 610 vor Christus|) habe zwei Neugeborene in völliger Isolation aufziehen lassen, bis sie miteinander zu sprechen begannen. Ihre erste Äußerung sei „bekos“ gewesen|: das Wort für Brot in der anatolischen Sprache Phrygisch, wie die Hofschreiber herausfanden. Sie schlossen daraus, daß Phrygisch die Ursprache der Welt sei. Über lange Zeit war die Qualität der einschlägigen Forschung nicht wesentlich besser als dieses abstruse Experiment. Bis zum 19. Jahrhundert waren die Spekulationen über den Ursprung der menschlichen Sprache gar so inhaltsleer geworden, daß die Pariser linguistische Gesellschaft das Thema aus ihren Diskussionen verbannte. Inzwischen jedoch haben Fortschritte in der Archäologie, der Genetik und der Sprachwissenschaft selbst endlich Möglichkeiten eröffnet, die Vielfalt der Sprachen auf der ganzen Erde und ihre Entstehung plausibel nachzuvollziehen. Einzelheiten sind noch heftig umstritten, und jeder Versuch einer Synthese kann bislang nur vorläufig sein|; aber die großen Linien beginnen sich abzuzeichnen. Die Linguisten können ihre Hypothesen auf den Ertrag von 200 Jahren Forschungsarbeit gründen. Manche Sprachen sind einander im Wortschatz, in der Grammatik, der Wortbildung und der Aussprache so ähnlich, daß sie von einem gemeinsamen Vorläufer abstammen müssen. Die berühmteste frühe Zusammenfassung zu einer solchen Sprachfamilie unternahm 1786 Sir William Jones (|1746 bis 1794|), ein britischer Rich-
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ter am Gerichtshof von Kalkutta|: Er erkannte Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sanskrit, Lateinisch, Gotisch und Persisch. Diese Familie nennen wir heute Indoeuropäisch|; im deutschen Sprachraum ist die Bezeichnung Indogermanisch üblich. Spätere Generationen haben die analytischen Methoden dieses Pioniers weiterentwickelt und verfeinert. Heutzutage vergleicht die historische Sprachwissenschaft, die aus der Indogermanistik entstanden ist, systematisch die Sprachen einer Familie und rekonstruiert aus dem gewonnenen Material eine hypothetische gemeinsame Protosprache, aus der alle anderen enstanden seien. Nach dem gleichen Prinzip, nämlich anhand gegenwärtig zu beobachtender Daten Abstammungsverhältnisse aufzuklären, arbeitet auch die Evolutionsbiologie. Von jeher versuchen ihre Vertreter, von anatomischen und physiologischen Merkmalen auf die genetische Verwandtschaft von Arten zu schließen. In den letzten Jahrzehnten haben sie dieses Verfahren auf molekulare Merkmale ausgedehnt|: auf gewisse Nukleotidsequenzen der Erbsubstanz DNA. In beiden Fällen ergibt sich eine Klassifikation, die ausschließlich auf Eigenschaften jetzt lebender Organismen beruht, eine phänetische Taxonomie. Häufig kann man die relative Ähnlichkeit taxonomischer Einheiten – Arten oder Sprachen – in einem Baumdiagramm wiedergeben. Seit Charles Darwin (|1809 bis 1882|) neigen die meisten historisch arbeitenden Wissenschaftler einschließlich der Linguisten und der Paläontologen dazu, einen solchen phänetischen Baum mit dem echten (|phylogenetischen|) Familienstammbaum zu identifizieren. Man unterstellt also, die
Die heute auf der Welt gesprochenen Sprachen zeigen die Spuren von vier deutlich unterscheidbaren Ausbreitungsprozessen: Erstkolonisation durch den anatomisch modernen Menschen, Vordringen der jungsteinzeitlichen Landwirtschaft, die spätere, durch mildes Klima ermöglichte Besiedlung subarktischer Regionen und weiträumige Eroberungen in historischer Zeit. Verschiedene Farben kennzeichnen verschiedene Sprachfamilien.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
DIMITRY SCHIDLOVSKY
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
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SPRACHENVIELFALT
Vorsicht vor Fehlschlüssen Dahinter stecken einige nicht unproblematische Annahmen. Unter anderem muß man voraussetzen, daß der evolutionäre Wandel mit annähernd konstanter Rate stattgefunden habe. In einem Zeitraum von beispielsweise 1000 Jahren, einerlei ob in prähistorischer oder jüngster Vergangenheit, hätte sich stets ungefähr die gleiche Anzahl neuer Wörter in einer Sprache – oder Mutationen innerhalb einer Art – etabliert. Dementsprechend hätten sich räumlich getrennte Sprachen beziehungsweise Arten mit konstanter Geschwindigkeit auseinanderentwickelt. Wenn das nicht zutrifft, können leicht Fehlschlüsse unterlaufen. Man stelle sich etwa vor, das Englische und das Deutsche hätten sich später getrennt, als das Dänische sich von der allen drei gemeinsamen Wurzel abspaltete. Der richtige Stammbaum würde dann Englisch und Deutsch gemeinsam auf einem Zweig und Dänisch auf einem anderen verzeichnen. Man nehme weiter an, Deutsch und Dänisch hätten sich seither wenig, Englisch aber stark verändert. Dann wären Deutsch und Dänisch einander nach wie vor sehr ähnlich und Englisch von beiden deutlich verschieden. Ein Sprachwissenschaftler ohne andere Erkenntnisquellen würde deshalb fälschlich Deutsch und Dänisch zusammenfassen, dem Englischen aber einen getrennten Zweig zuweisen. Eine weitere Grundannahme besagt, daß Ähnlichkeiten auf gemeinsame Abkunft zurückzuführen seien und auf nichts sonst. Das trifft in der Biologie nicht immer zu, denn es gibt Konvergenz|: Ähnlichkeiten, die nicht durch Abstammung, sondern beispielsweise durch Anpassung an gleiche Umweltbedingungen zu erklären sind wie die Flossen der Fische und der Wale. Konvergenz im linguistischen Sinne tritt auf, wenn gleichzeitig gesprochene Sprachen einander durch Entlehnung von Wörtern, Phrasen und grammatischen Formen beeinflussen. Der fast universelle Gebrauch des amerikanischen idiomatischen Ausdrucks „okay“ in Nordeuropa ist ein Beispiel. Weil Entlehnung selten die Grundelemente einer Sprache betrifft, kann man sie in der Regel erkennen. Die Fachleute sind sich allerdings nicht einig darüber, welche Indizien als Beweis für eine Entlehnung ausreichen|;
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Prüfung von Modellen der Vorgeschichte Neuguineer Australier Melanesier Chinesen Japaner Europäer Pygmäen (Kongo/ Kinshasa) Pygmäen (Zentralafrika) 0
0,01 0,02 0,03 0,04 0,05 0,06 0,07 0,08 genetische Distanz
0,09 0,10 0,11
Aus dem Vergleich von Genhäufigkeiten gewonnene Verwandtschaftsbezüge verschiedener Populationen liefern unabhängiges Datenmaterial, mit dem man sprachwissenschaftliche, anthropologische und archäologische Modelle der Vorgeschichte überprüfen kann. Der hier gezeigte Stammbaum basiert auf Arbeiten von Joanna L. Mountain und ihren Kollegen von der Universität Stanford (Kalifornien).
denn immerhin gibt es auch zufällige Ähnlichkeiten. Innerhalb der Sprachwissenschaft ist die Begeisterung für universelle Sprachenstammbäume aber alles andere als ungeteilt. Seit vielen Jahren sind zwei gegnerische Denkschulen deutlich erkennbar|: die der „Spalter“ und die der „Vereinheitlicher“. Erstere betonen eher die Unterschiede, die Sprachen als nicht verwandt erscheinen lassen, und klassifizieren diese dann in kleine, voneinander unabhängige Gruppen. Um dabei falsche Verwandtschaftshypothesen nicht aufkommen zu lassen, legen sie strenge Maßstäbe an|: Eine Gruppe von Sprachen dürfe erst dann als Familie gelten, wenn eine Reihe von Ähnlichkeiten und Entsprechungen zwischen ihnen nachgewiesen sei. Aus genau diesen müsse man auch die hypothetische Ursprache dieser Familie rekonstruieren. Die Vereinheitlicher hingegen halten bereits weniger Indizien für ausreichend, um Verwandtschaftsbeziehungen zu behaupten. Zwar befassen sich einige unter ihnen mit der Rekonstruktion von Protosprachen, andere halten aber selbst das für entbehrlich. Gleichwohl ist die Existenz verschiedener Sprachfamilien im wesentlichen unbestritten. Dazu zählen die indoeuro-
päische, die afroasiatische (|früher hamitosemitisch genannt|), zu der die semitischen Sprachen und die meisten Sprachen Nordafrikas gehören, und die uralische Familie, die unter anderem Finnisch und Ungarisch umfaßt. Ob man gewisse andere Gruppen Familien nennen darf, ist weit weniger klar. Neue Ideen aus Linguistik… Im Jahre 1963 gelang dem Sprachwissenschaftler Joseph H. Greenberg von der Universität Stanford (|Kalifornien|) ein entscheidender Schritt vorwärts auf dem Weg der Vereinheitlichung|: Er gliederte die Sprachen Afrikas nahezu erschöpfend in nur vier Makrofamilien, nämlich Afroasiatisch, Khoi-San, NigerKordofanisch und Nilo-Saharanisch. Anstatt nach der bevorzugten Methode der Linguistik einzelne Wörter zu vergleichen, arbeitete er mit einem Massenvergleich, der sogenannten multilateralen Analyse. Trotz der Einwände der Spalter haben sich viele Gelehrte der Klassifikation Greenbergs für Afrika angeschlossen. Vor kurzem hat er sein Verfahren auf die Sprachen Nord- und Südamerikas angewandt und damit drei wichtige Familien oder Makrofamilien identifiziert. Zwei davon, nämlich EskimoSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
JOHNNY JOHNSON
Entwicklungslinien hätten sich in der zeitlichen Abfolge und nach dem Muster des phänetischen Diagramms getrennt.
Aleutisch und Na-Dené, fanden allgemeine Zustimmung. Dagegen stieß seine Restklasse „Amerindisch“, welche die meisten Eingeborenensprachen Amerikas zu einer einzigen Makrofamilie zusammenfaßt, auf heftige, bisweilen beißende Kritik. Als Archäologe will ich mich zumindest vorläufig eines Urteils über die Gültigkeit dieser Makrofamilien-Rekonstruktion und anderer enthalten, welche der freischaffende Sprachwissenschaftler Merritt Ruhlen aus Palo Alto (|Kalifornien|), ein ausgewiesener Vereinheitlicher, unterbreitet hat. Statt dessen setze ich die umstrittenen Familien in Anführungszeichen, lasse die Frage nach ihrem Wesen offen und wende mich einer konkreteren Frage zu|: Wie kam es zu der gegenwärtigen Verteilung der Sprachen? … und Archäologie In den letzten Jahren sind aus zwei archäologischen Richtungen Lösungsansätze gekommen. Einer hat mit der Evolution unserer Art zu tun, der andere mit der Evolution unserer Kultur. Wir wissen über die frühen Hominiden wesentlich mehr als noch vor zwanzig Jahren. Keiner bezweifelt mehr, daß die Gattung Australopithecus vor vier bis fünf Millionen Jahren in Afrika auftrat. Ebenfalls dort entwickelte sich vor etwa 1,6 Millionen Jahren der früheste Vertreter unserer Gattung, Homo erectus, der sich nach Asien und nach Europa ausbreitete|; Fossilien und Artefakte von ihm sind auf allen drei Kontinenten gefunden worden. Unsere eigene Art, Homo sapiens, geht mit Sicherheit auf Homo erectus zurück und hat seit mehr als 100|||000 Jahren ihre gegenwärtige Gestalt als anatomisch moderner Mensch, Homo sapiens sapiens. Nach Überzeugung der meisten Archäologen fand dieser Prozeß ausschließlich in Afrika statt. Eine alternative Hypothese verlegt den Übergang vom Homo erectus zum Homo sapiens in ein größeres Gebiet und postuliert, er könne sich mehrfach – auch inAsien und vielleicht sogar Europa – ereignet haben|; aber die genetischen Befunde stützen vorerst eher die sogenannte Out-of-Africa-Theorie (|vergleiche die Kontroverse zum Thema in Spektrum der Wissenschaft, Juni 1992, Seiten 72 bis 87|). Diese vorausgesetzt, können wir die Entstehung des Homo sapiens sapiens in Afrika ungefähr auf die Zeit vor 100|||000 Jahren ansetzen. Danach breitete sich der Mensch allmählich über die Alte Welt aus|; vor ungefähr 40|||000 Jahren hatte er SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
den Nahen Osten, Südasien, Europa, Zentral- und Ostasien, Neuguinea und Australien kolonisiert. Vielleicht schon vor etwa 37|||000, spätestens aber vor 16|||000 Jahren hatten Pioniere von Asien aus auch die Beringstraße überquert und mit der Besiedlung der Neuen Welt begonnen. Wir müssen annehmen, daß all diese Völker eine oder mehrere Sprachen hatten, wenngleich wir von ihnen keine klare Vorstellung haben. Die zweite Neuerung betrifft die Darstellung und Interpretation der Mechanismen des kulturellen Wandels. Die Archäologen haben inzwischen die vereinfachende Gleichsetzung von Sprache, Kultur und Volk aufgegeben. Insbesondere neigen sie nicht mehr dazu, einen Wandel in der bildenden Kunst, das Aufkommen einer neuen Religion, die Entstehung einer neuen Sprache, allgemein jede Änderung in menschlichen Frühkulturen ohne weiteres als Ergebnis einer nur vage definierten Wanderung zu erklären. Grundsätzlich gibt es vier Prozesse, die zur Folge haben, daß eine bestimmte Sprache in einem bestimmten Gebiet gesprochen wird|: Erstkolonisierung einer unbewohnten Region, Divergenz, Konvergenz (|beide wurden bereits erwähnt|) und Ersetzung, durch die eine Sprache von einer anderen, auswärtigen verdrängt wird. Wenn nie eine Ersetzung stattgefunden hätte, wäre Divergenz die Hauptursache für den Wandel der Sprachen, und eine entsprechende Weltkarte gliche einem Flickenteppich aus lauter kleinen Einheiten, die sich von ihren Nachbarn deutlich unterscheiden würden und als eigene Familien – genauer|: als isolierte Sprachen – einzustufen wären. Ein solches Mosaik finden wir tatsächlich für die Eingeborenensprachen Nordaustraliens, wo eine große Anzahl von Sprachfamilien sich in einem kleinen Areal drängt. (|Weiter südlich in Australien existiert eine einzige umfassende Sprachfamilie, Pama-Nyunga|; die Ursache dieser außergewöhnlich weiten Verbreitung ist bislang ungeklärt.|) Gleiches gilt für die Gartenbaukulturen auf Neuguinea sowie für den Kaukasus|; auch wenn man die Karte der Eingeborenensprachen von Kalifornien und Teilen Südamerikas studiert (|und dabei einmal Greenbergs Klassifikation als „Amerindisch“ beiseite läßt|), hat man einen ähnlichen Eindruck. Aber weite Bereiche der Weltkarte sehen völlig anders aus.
Einzelne Sprachfamilien nehmen große Gebiete ein – in einer Weise, die nur durch Ersetzung entstanden sein kann. Ich schlage drei einfache Ursachen für dieses Muster vor. Die erste ist Dominanz. Einige wenige Sprachfamilien haben ihre gegenwärtige Ausdehnung durch den Einfluß einer Elite erreicht. Nach diesem Modell ergreift eine neu ankommende Minderheit die Macht, wirft sich selbst zu einer Aristokratie auf und versieht die eigene Sprache mit einem solchen Prestige, daß die eingeborene Bevölkerung sich veranlaßt sieht, sie zu übernehmen und ihr den Vorzug vor der ererbten zu geben. Das setzt voraus, daß die Eroberer über eine zentralistische Organisation verfügen|; deshalb kann eine solche Hypothese nur für späte prähistorische und für historische Zeiten gelten, seit es stark hierarchische Gesellschaften gibt. So ist das Chinesische erst in geschichtlicher Zeit im heutigen Südchina übernommen worden, und zwar infolge der militärischen Expansion des dynastischen Reiches. Die Ausbreitung des Lateinischen in einem großen Teil Europas entspricht diesem Prinzip, ebenso die Ausdehnung indoeuropäischer Sprachen in den Iran sowie nach Nordindien und Pakistan, die man dem Aufkommen nomadischen Hirtentums im zweiten vorchristlichen Jahrtausend zuschreiben kann. Im Mittelalter begannen die altaischen Sprachen im Gefolge der Eroberungskriege zu Pferde in Zentralasien zu dominieren.
Vier Prozesse bestimmen, welche Sprache in welchem Gebiet gesprochen wird Die meisten weitverbreiteten Sprachfamilien sind jedoch als Ergebnis zweier Ausbreitungsprozesse anzusehen, die beide nach dem Ende der letzten Eiszeit vor etwa 10|||000 Jahren stattfanden. Der eine hängt mit der Einführung der Landwirtschaft zusammen, der andere mit dem Eindringen in bislang unbesiedelte Gegenden, die durch milder gewordenes Klima bewohnbar geworden waren. Diese umweltbedingte Ausbreitung betraf Territorien nördlich des 54. Breitengrades, die in der letzten Kaltphase des Pleistozäns noch menschenleer waren. Die Vorfahren der heutigen Sprecher von eskimo-aleutischen Sprachen wanderten sogar wahrscheinlich erst in den letzten Jahrtausenden dort ein, während die uralisch-jukagirischen und die tschuktschisch-kamtschatkischen Sprachen frü-
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SPRACHENVIELFALT her in ihr gegenwärtiges Verbreitungsgebiet vorgedrungen waren. Bei den Na-Dené-Sprachen liegt der Fall komplizierter. Wie Greenberg postuliert hat, kamen ihre Sprecher wahrscheinlich vor denen des Eskimo-Aleutischen nach Nordamerika, wenn auch lange nach der Erstbesiedlung des Kontinents. Nach meiner Überzeugung war ihre Lebensweise bereits früh an die Verhältnisse der Tundra angepaßt. Als die Region später aus klimatischen und ökologischen Gründen unwirtlich wurde, zo-
Die Landwirtschaft dringt vor, die Sprache wird ersetzt gen sie südwärts. Einige Sprecher von Proto-Na-Dené drangen bis nach Arizona und New Mexico vor. Die wichtigste Einzelursache, die für die Entstehung einer weitverbreiteten Sprachfamilie verantwortlich ist, scheint jedoch die Ersetzung der Sprache durch Vordringen der Landwirtschaft gewesen zu sein. Nach dieser Theorie steht am Anfang eines solchen Prozesses die einheitliche Sprache einer Bevölkerung von Jägern und Sammlern, in deren Gebiet es domestizierbare Pflanzen und vielleicht auch Tiere gibt. Im Laufe der Zeit entwickeln die Bewohner eine Wei-
de- und Ackerwirtschaft, die sie auch bei seßhafter Lebensweise ernähren kann, was eine intensivere Nahrungsmittelproduktion, geringere Kindersterblichkeit und höhere Geburtenrate begünstigt. Die Bevölkerungsdichte wächst und damit die lokale Vorherrschaft der Bauern und ihrer Sprache. Es ist plausibel anzunehmen, daß in einigen Fällen die angebauten Pflanzen und in Herden gehaltenen Tiere zusammen mit der zugehörigen Technologie auch unter andersartigen ökologischen Bedingungen gedeihen. Unter solchen Umständen wandern die Sprache oder die Sprachen des jeweiligen Kernareals im Gleichschritt mit den Trägern der Subsistenzkultur in neue Siedlungsgebiete, folgen demnach einer demischen Diffusion, der – im Gegensatz zu Landnahme- oder Eroberungszügen – langsam voranschreitenden Ausbreitungswelle einer Bevölkerung. Eine andere Möglichkeit ist, daß Jäger- und Sammler-Gruppen zusammen mit der neuen Wirtschaftsweise auch die Sprache von benachbarten Ackerbauern übernehmen. In diesem Falle sind – anders als bei demischer Diffusion – die beiden Gruppen von Angehörigen der Sprachengemeinschaft genetisch nicht miteinander verwandt. Ein – im wesentlichen unbestrittenes – Beispiel für demische Diffusion ist die
Verbreitung der Bantu-Sprachen in Afrika innerhalb der niger-kordofanischen Familie. Peter Bellwood von der Australischen National-Universität in Canberra hat gleiches nicht nur für die polynesischen, sondern für die austronesischen Sprachen insgesamt behauptet. Ich selbst habe solche Überlegungen auf archäologischer Basis detailliert auch für die indoeuropäischen Sprachen Europas vorgebracht. Thomas W. Gamkrelidse und Wjatscheslaw W. Iwanow kamen mit linguistischen Mitteln zu im wesentlichen denselben Ergebnissen. Einige Autoren haben eingewandt, daß in Nordwesteuropa eher Kulturübernahme als Bevölkerungsbewegung stattgefunden habe|; mit linguistischen Mitteln wären die beiden Prozesse nicht zu unterscheiden. Genauso kann man für die afroasiatischen und vielleicht auch für die elamo-drawidischen Sprachen sowie für die erste Ausbreitung der altaischen Sprachen innerhalb Asiens argumentieren. Letztere, insbesondere die Turksprachen, wurden später durch die Eliteherrschaft berittener nomadischer Hirten noch viel weiter getragen. Charles F. Higham von der Universität von Otago in Dunedin (|Neuseeland|) hat kürzlich einen ähnlichen Mechanismus für die austroasiatischen Sprachen Südostasiens (|Munda und Mon-Khmer|) postuliert. Diese Gruppe scheint ihren Ursprung in derselben Gegend zu haben, in
Multilateraler Sprachenvergleich
JOHNNY JOHNSON NACH ANGABEN VON MERRITT RUHLEN
Schlichtes Vergleichen einiger Allerweltswörter erhellt bereits die Verwandtschaftsverhältnisse unter den Sprachfamilien Indoeuropäisch (mit den Zweigen Germanisch, Romanisch und Slawisch) sowie Uralisch-Jukagirisch und Baskisch.
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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Datierung von Protosprachen Die Radiokohlenstoff-Methode liefert in zunehmendem Maße genauere Daten für die Ausbreitungsprozesse der Landwirtschaft|; sie liegen generell früher als die von den Linguisten erschlossenen Zeiten für die Frühphase der zugehörigen Sprachfamilien. Allerdings leiden deren Methoden unter einer prinzipiellen Unsicherheit|: Es gibt keinen unabhängigen Maßstab für die Datierung von Protosprachen. Wenn also zahlreiche Sprachfamilien im Gefolge einer Klimaveränderung, einer Revolution in der Lebensweise oder einer Eroberungswelle verbreitet wurden – was ist mit den übrigen? Sie überleben in Rückzugsarealen, die über die Sprachen-Weltkarte als kleine Flecken verstreut sind, und müssen vor langer Zeit in ihre gegenwärtigen Verbreitungsgebiete gekommen sein, nämlich während der ersten Vorstöße des anatomisch modernen Menschen in die jeweiligen Kontinente. Zu ihnen zählen die Khoi-San- und die nilo-saharanischen Sprachen in Afrika, das Baskische, die nord- und die südkaukasischen, die australischen, die zahlreichen kleinen, wahrscheinlich nicht miteinander verwandten Sprachen in Neuguinea (|„Indopazifisch“|) sowie die Vorläufer der Na-Dené-Sprachen in Nord- und Südamerika. Diese letzte, sehr große Kategorie umfaßt ohne Zweifel mehrere Subfamilien, deren räumliche Verteilung größtenteils durch SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Die frühesten direkten Zeugnisse alter Sprachen wie diese Tontafel mit einer Piktogramm-Inschrift aus Uruk in Mesopotamien reichen nicht weiter als ungefähr 5000 Jahre in die Vergangenheit zurück.
sekundäre Prozesse – unter anderem eben die Verbreitung der Landwirtschaft – zustande kam. Dieses Gesamtbild von der Verteilung der Sprachen auf der Erde ist zumindest teilweise mit Hilfe der Molekularbiologie verifizierbar. Man kann zum Beispiel die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Gene in verschiedenen Populationen vergleichen, aus den so gewonnen Daten einen (|zunächst phänetischen|) Baum erstellen, dessen Zweiglängen den genetischen Abständen entsprechen, und anschließend nachprüfen, inwieweit diese Verwandtschaftsbezüge die Aussagen des großen Szenarios bestätigen. Die Out-of-Africa-Theorie ist durch die Auswertung von DNA heute lebender Menschen aus verschiedenen Populationen bereits eindrucksvoll bestätigt worden. Inwieweit hinterlassen die verschiedenen Formen der Sprachverbreitung Spuren im Erbmaterial? Bei der Erstbesiedlung eines Gebiets ist der Fall einfach|: Sprachliche und genetische Abstammungsverhältnisse sind identisch, weil die Pioniere nicht mit anderen Menschen Kontakt haben. Bei der Ausbreitung der Landwirtschaft findet eine nennenswerte Vermischung von Bevölkerungsgruppen gleicher Sprache nur im Falle der demischen Diffusion statt|; eine Kulturübernahme wird allenfalls schwache genetische Spuren hinterlassen, ebenso die Sprachersetzung durch eine Eliteherrschaft|: Eroberer sind üblicherweise männlichen Geschlechts, und selbst wenn sie mit einheimischen Frauen zahlreiche Nachkommen zeugten, gäbe es keine
REUNION DE MUSEES NATIONAUX, PARIS
der in Südostasien erstmalig Reis kultiviert wurde. Die Ausbreitung der tibetochinesischen Sprachen scheint zunächst mit der Kultur von Hirse und anderem Getreide im Tal des Gelben Flusses verknüpft gewesen zu sein und erst später mit der von Reis. Die Annahme einer Ausdehnung im Zusammenhang mit der Landwirtschaft muß in jedem Einzelfall detailliert begründet werden. Das ist mit Mitteln heutiger Archäologie sehr wohl möglich. Man kann nämlich im allgemeinen die ursprüngliche Heimat einer domestizierten Pflanzen- oder Tierart, den ungefähren Zeitpunkt des ersten Auftretens von Zuchtformen und auch den Prozeß ihrer Verbreitung aus materiellen Hinterlassenschaften bestimmen. Dagegen sind linguistische Beweise grundsätzlich indirekter Natur|: Prähistorische – ungeschriebene – Sprachen haben keine archäologisch auffindbaren Spuren hinterlassen|; erst vor etwa 5000 Jahren setzte die schriftliche Überlieferung ein.
Auswirkungen auf die mitochondriale DNA. (|Vergleichende Untersuchungen auf genetische Verwandtschaft nimmt man gemeinhin nicht an den Chromosomen des Zellkerns vor, sondern an den Mitochondrien, semiautonomen Organellen der Zelle mit eigenem Genom|; diese werden nur über die weibliche Linie vererbt.|) Genetische Variationen liefern Beweise Am besten untersucht sind die Bezüge mit der Ausbreitung der Landwirtschaft für Europa. Dessen Landkarte zeigt eine deutliche Variation gewisser Genhäufigkeiten entlang einer Achse von Südost nach Nordwest. Nach neueren statistischen Untersuchungen von Robert R. Sokal und seinen Kollegen von der Staatsuniversität von New York in Stony Brook ist ein wesentlicher Teil dieser Variation mit der Ausbreitung der Landwirtschaft von Anatolien aus zu erklären – womit allerdings noch nicht bewiesen ist, daß diese Bauern einen ursprünglichen indoeuropäischen Dialekt sprachen. Vor kurzem hat der Statistiker Guido Barbujani von der Universität Padua eine vergleichbare Analyse für die anderen Sprachfamilien durchgeführt, deren Verteilung mit dem Vordringen der Landwirtschaft vom Nahen Osten aus erklärt werden kann|: Afroasiatisch, Elamo-Drawidisch und Altaisch. Es fanden sich ähnliche Übereinstimmungen. Im pazifischen Raum korreliert die Verbreitung
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SPRACHENVIELFALT der polynesischen Sprachen noch beeindruckender mit dem genetischen Befund – was allerdings nicht überrascht, denn die Polynesier besetzten unbewohnte Inseln|; ihre Wanderungen lassen sich also unter landwirtschaftlicher Ausbreitung wie auch unter Erstkolonisierung einordnen. Laurent Excoffier von der Universität Genf und seine Kollegen lieferten weitere Bestätigungen. Sie fanden in Afrika eine hochgradige Übereinstimmung zwischen den Varianten von Gammaglobulin in Blutproben und der Sprachfamilie ihrer Probanden. Insbesondere für die afroasiatischen Sprachen stützen die Ergebnisse das hier gezeichnete Bild. Der konsequenteste Verfechter einer Korrelation zwischen genetischen und sprachlichen Daten ist allerdings Luigi Luca Cavalli-Sforza von der Medizinischen Fakultät der Universität Stanford in Kalifornien. In einem ehrgeizigen Unternehmen hat er den genetischen mit dem linguistischen Stammbaum zur Deckung zu bringen versucht – mit einigem Erfolg. Bis jetzt habe ich keine Sprachverwandtschaften ins Feld geführt, die älter als ungefähr 10|||000 Jahre sind. Eine so weit zurückliegende Vergangenheit würden die meisten Sprachwissenschaftler guten Gewissens schon gar nicht mehr untersuchen. Allerdings begründe ich meine Datierungen auch nicht mit irgendwelchen neuen Klassifikationen|; vielmehr setze ich die Ursprungszeit allgemein anerkannter Sprachfamilien früher an als üblich. Die hypothetischen Makrofamilien Nun aber gilt es, im Sinne der Vereinheitlicher noch ein Stück weiter in die Vergangenheit zu gehen, zu den hypothetischen umfassenderen Makrofamilien wie Amerindisch oder Indo-Pazifisch. Deren jeweils gemeinsamer Vorfahr, wenn es tatsächlich eine einzige Protosprache war, wäre deutlich früher als vor 20|||000 Jahren gesprochen worden. Die wahrscheinlich am besten bekannte Makrofamilie haben die russischen Experten Wladislaw M. IllitschSwitytsch und Aaron B. Dolgopolsky von der Universität Haifa (|Israel|) herausgearbeitet. Sie faßten Indoeuropäisch, Afroasiatisch, Drawidisch, Altaisch und Uralisch zu einer einzigen Makrofamilie namens Nostratisch (|von lateinisch noster, unser|) zusammen. Diese wiederum stamme ihrerseits von einem Protonostratisch ab, das vermutlich im Nahen
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Literaturhinweise A Guide to the World’s Languages. Band 1: Classification. Mit einem Nachtrag. Von Merritt Ruhlen. Stanford University Press, 1991. Archaeology, Genetics and Linguistic Diversity. Von Colin Renfrew in: Man, Band 27, Heft 3, Seiten 445 bis 478, September 1992. Linguistic Diversity in Space and Time. Von Johanna Nichols. University of Chicago Press, 1992. World Languages and Human Dispersals: A Minimalist View. Von Colin Renfrew in: Transition to Modernity: Essays on Power, Wealth and Belief. Herausgegeben von J. A. Hall und I. C. Jarvie. Cambridge University Press, 1992. Verschieden und doch gleich. Von Luca und Francesco Cavalli-Sforza. Droemer-Knaur, München 1994.
Osten vor ungefähr 15|||000 Jahren gesprochen worden sei. Greenberg hat eine ähnliche Makrofamilie namens Eurasiatisch definiert. Im Gegensatz zum Nostratischen enthält sie Drawidisch und Afroasiatisch nicht, dafür zusätzlich Eskimo-Aleutisch und TschuktschischKamtschatkisch. Diese Makrofamilien passen erstaunlich gut zum genetischen Befund, wie Cavalli-Sforza ihn anführt, und zumindest teilweise zu den archäologischen Indizien für die Ausbreitung der Landwirtschaft. Gleichwohl haben die Vereinheitlicher unter den Linguisten die Mehrheit ihrer Kollegen noch nicht überzeugen können. Immerhin zehrt die multilaterale Analyse Greenbergs von einer Masse lexikalischen Materials, die den Nichtspezialisten sicherlich beeindruckt|; und die nostratische Schule bequemt sich sogar dazu, die vergleichende Methode der historischen Rekonstruktion anzuwenden, was Greenberg unterlassen hat und wofür er herbe Kritik von seinen Kollegen einstecken mußte. Die archäologischen und genetischen Ergebnisse stimmen jedenfalls gut mit einigen Schlußfolgerungen der Vereinheitlicher überein. Dieser Erfolg läßt vermuten, daß weitere Arbeit in diese Richtung lohnen wird. Einige Forscher, vor allem Ruhlen, haben sogar noch tieferliegende Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Makrofamilien gesehen, zum Beispiel zwischen Amerindisch und Eurasiatisch. Das läuft auf die Hypothese hinaus, manche modernen Wortformen stammten nachweislich von einer einzigen Protosprache ab, die dann unsere frühesten
Vorfahren in ihrer afrikanischen Heimat gesprochen hätten. Eine solche Aussage ist aber kaum nachzuprüfen und wird von den meisten Sprachwissenschaftlern als zu gewagt zurückgewiesen. Immerhin steht sie nicht im Widerspruch zu den archäologischen, anthropologischen und molekularbiologischen Belegen für die Out-of-Africa-Hypothese. Bei aller Ungewißheit läßt sich, so scheint es, ein schwacher Schimmer der wirklichen Geschichte erahnen. Bestätigung kam von sprachwissenschaftlichen Arbeiten, die zunächst gar nicht Verwandtschaften klären sollten. Johanna Nichols von der Universität von Kalifornien in Berkeley hat sehr viele Sprachen nach gewissen strukturellen Merkmalen untersucht. Aufgrund ihrer interessanten Analyse setzt sie für die Entstehung der Sprachen der Welt drei Stadien an, die mit dem von mir vorgestellten Szenario in Einklang gebracht werden könnten. Nach ihrer Einteilung gibt es zwei Typen von Spracharealen|: Ausbreitungszonen sind große Gebiete, die nur eine oder zwei Sprachfamilien beherbergen, wie Europa mit den indoeuropäischen und Nordafrika mit den afroasiatischen Sprachen. In den erheblich kleineren Restzonen dagegen existieren jeweils zahlreiche sehr alte Sprachfamilien; das gilt etwa für den Kaukasus und Neuguinea. Auch Johanna Nichols sieht in den Ausbreitungszonen das Resultat von Ereignissen, die nach dem Ende der letzten Eiszeit stattfanden|; die Restzonen seien im wesentlichen die Überbleibsel früherer Erstkolonisierungen. Es bleibt noch viel zu tun. Dennoch beginnen bereits jetzt die archäologischen, die genetischen und zumindest teilweise die sprachwissenschaftlichen Belege sich zu einem stimmigen Bild zu fügen. Eine große neue Synthese zeichnet sich ab, die in den nächsten zehn Jahren nicht nur die Vielfalt menschlicher Sprachen, sondern auch die ihrer Gene und Kulturen erhellen dürfte. Colin Renfrew ist Professor für Archäologie an der Universität Cambridge (England) und Rektor des dortigen Jesus-College. Er hat Ausgrabungen in Griechenland und auf den Britischen Inseln durchgeführt. In Spektrum der Wissenschaft veröffentlichte er bereits Artikel unter anderem über die Megalithkulturen Europas (Januar 1984). Im Jahre 1991 wurde er zum Lord Renfrew of Kaimsthorn geadelt.
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STEINZEIT
Wörter aus der
Steinzeit – Völker aus dem Nichts
Versuche, durch Rekonstruktion von Sprachstammbäumen auf Herkunft und Kulturgeschichte von Völkern rückzuschließen, unterschätzen die Komplexität der Entwicklung von Sprachen. VON VERA E. BINDER
I
mmer wieder einmal wird versucht, die Indogermanen historisch faßbar werden zu lassen, sie womöglich archäologisch zu identifizieren und eine eindeutige Zuordnung zwischen Sprache, Kultur und Population (in biologischem Sinne) zu schaffen. Urheimat und Wanderbewegungen werden rekonstruiert, und zwar nicht nur der Indogermanen, sondern sogar – wenn man das Nostratische und andere Megafamilien einbezieht – der ganzen Menschheit. Käme man zu allgemein akzeptierten Ergebnissen, hätten sie gute Chancen, zu Schulbuchwissen zu avancieren. Freilich entsteht der Eindruck, in der allgemeinen Euphorie kämen die Sprachwissenschaftler, die Philip E. Ross etwas abfällig „Traditionalisten“ nennt, wenig zu Wort; und tatsächlich haben sie keine solch sensationellen Resultate zu bieten, sondern nur einige Bedenken, Warnungen und methodischen Vorbehalte. Diese sollten aber trotzdem nicht verschwiegen werden. Der erste Vorbehalt betrifft den Rückschluß vom Wortschatz auf die materielle Kultur einer Sprachgemeinschaft. Der Schluß „Es gibt ein gemeinindogermanisches, das heißt in allen oder den meisten indogermanischen Sprachen auf eine Grundform rückführbares Wort für X, also kannten die Indogermanen dieses X, und wenn wir sie archäologisch dingfest machen wollen, müssen wir nach einer Kultur Ausschau halten, die über dieses X verfügte“ scheint von zwingender Logik. Und wirklich wurde versucht, die Urheimat der Indogermanen mit Hilfe des indogermanischen Wortschatzes zu bestimmen. Berühmt geworden ist das BuchenArgument: Da das Wort für Buche (botanischer, aus dem Latein genommener Gattungsname Fagus) in vielen indogermanischen Sprachen etymologisch identisch ist, die lautlichen Unterschiede also regulär sind, lebten die Urindogermanen demnach offenbar in einer Gegend, wo
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Buchen wuchsen – und wo das ist, darüber können die Paläobotaniker Auskunft gegeben. Ähnlich wurde mit dem Wort für Lachs (zoologischer Artname Salmo salar) argumentiert. Allerdings liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Bereits das Griechische verursacht im Falle von „Buche“ Probleme, da das etymologisch passende Wort phe¯gós „Eiche“ bedeutet. Welche Bedeutung ist nun die ursprüngliche? Ist die Frage überhaupt sinnvoll? Wäre es nicht sogar möglich, daß das indogermanische Wort ganz unspezifisch „Laubbaum mit dieser oder jener Eigenschaft“ bedeutet, also gleichermaßen auf Eiche und Buche angewendet werden konnte? Irrwege der Rekonstruktionsversuche Es ist eine altbekannte Tatsache, daß die Sprache oft die für einen Naturwissenschaftler wünschenswerte Differenziertheit vermissen läßt und darum nicht ohne weiteres mit der wissenschaftlichen Nomenklatur verrechenbar ist. Häufig werden unterschiedliche Tier- oder Pflanzenarten mit demselben Wort bezeichnet, oder die Namen sind irreführend. So ist mit „Butterpilz“ zwar immer ein eßbarer Röhrling gemeint, aber keineswegs in allen Gegenden Deutschlands der gleiche; der Buchweizen ist kein Weizen, sondern ein Knöterichgewächs, und der Beutelwolf ist kein Wolf. Wollten wir also über Tier- und Pflanzenhabitate die Frage nach der Urheimat beantworten, so müßten wir sicher sein können, daß zum Beispiel im Falle des Lachs-Arguments das zugrundeliegende indogermanische Wort auch tatsächlich „Salmo salar“ bedeutete und nicht etwa „Lachsforelle“, „eßbarer Fisch“, „Flußfisch“, „Fisch mit rosa Fleisch“ oder dergleichen. Ich kann nicht sehen, woher wir diese Sicherheit nehmen sollten.
Wie sieht es nun mit dem kulturellen Wortschatz aus? Können wir wenigstens zum Beispiel aus der Tatsache, daß es gemeinsame indogermanische Wörter für „Joch“ und „Pferd“ gibt, herleiten, daß die Indogermanen über Pferde als Zugtiere verfügten? Betrachten wir dazu die romanischen Sprachen, die in derselben Weise vom Lateinischen abstammen wie die indogermanischen von dem, was wir „indogermanisch“ nennen. Sie geben also ein ausgezeichnetes Modell ab, an dem sich die Zuverlässigkeit der Rekonstruktionsmethoden überprüfen läßt, weil das Lateinische in üppiger Bezeugung vorliegt. Wollte man nun aus dem gemeinromanischen Wortschatz auf die römische Kultur schließen, so ergäbe sich, daß Rom von Königen beherrscht wurde, daß es Bischöfe gab, daß Kaffee und Tabak in Bars konsumiert wurden und das Wort für Feuer focus lautete (statt in Wahrheit ignis). Noch skurriler wird es, wenn man aus dem Fehlen eines Wortes für Y ableitet, daß die entsprechende Kultur kein Y kannte. Zum Beispiel gibt es kein gemeinromanisches Wort für „Kopf“ (italienisch testa, aber spanisch cabeza). Sollten wir dem entnehmen, daß die Römer kein Wort für Kopf (wie wir wissen, lautet es caput), ja vielleicht überhaupt keine Köpfe hatten? Und doch werden etwa aus dem Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von gemeinsamen Bezeichnungen für bestimmte Metalle genau diese Schlüsse gezogen. Ernst Pulgram, Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität von Michigan in Ann Arbor, hat kritische Überlegungen dazu bereits im Jahre 1958 vorgebracht. Er sieht den Kardinalfehler darin, daß unzulässigerweise „gemeinindogermanische Wörter mit urindogermanischen Wörtern gleichgesetzt“ werden. Der Erkenntnisweg vom Wortschatz zur Kultur ist also voller Fallen. Um den Grund zu verstehen, muß man sich dar-
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STEINZEIT über klar werden, welche Art von Realität den rekonstruierten Formen zuzusprechen ist. Die Meinungen darüber gehen auseinander. Der Optimismus des in Prag und Jena lehrenden Stammbaumtheoretikers August Schleicher (1821 bis 1868) ist heute zwar nicht mehr konsensfähig, aber ebenso übertrieben mag umgekehrt auch die Zurückhaltung des französischen Indogermanisten Antoine Meillet (1866 bis 1936) gewesen sein, der die Meinung vertrat, nicht eine „Wiederherstellung des Indogermanischen als gesprochene Sprache“, sondern nur ein „Entsprechungssystem“ sei zu erreichen. Wenn wir das Indogermanische als Sprache ernst nehmen wollen, müssen wir ihm jedenfalls zugestehen, was alle Sprachen haben: Lehnwörter aus anderen Sprachen, Unregelmäßigkeiten als fossile Überreste längst nicht mehr wirksamer Regeln, lokale Varianten und Archaismen neben Innovationen. Calvert Watkins von der HarvardUniversität in Cambridge (Massachusetts) hat das so ausgedrückt: „Die Grammatik einer rekonstruierten Sprache kann nie synchron sein. Sie kann nicht den état de langue“ – den Zustand – „an einem bestimmten Punkt in Zeit und Raum beschreiben. Wir können zwar für einzelne Erscheinungen eine relative Chronologie aufstellen, aber das Bild eines kompletten Sprachsystems zusammenzufügen liegt außerhalb unserer Möglichkeiten.“ Das heißt: Ob die Erscheinung Q, die wir durch vergleichende Rekonstruktion gewonnen haben, im Rahmen des Indogermanischen ein Archaismus oder eine Innovation war, ist schwierig zu bestimmen, ob eine lokale Variante oder ein Lehnwort, oft unmöglich herauszufinden. Ursprünglich aus anderen Sprachen übernommen (oft, aber durchaus nicht immer zusammen mit dem Gegenstand, den sie bezeichnen), gliedern sich Lehnwörter im Laufe der Zeit immer besser in die Nehmersprache ein, nehmen an Lautveränderungen teil und sind schließlich vielfach nicht mehr als Fremdwörter kenntlich. So ist zum Beispiel jedem klar, daß „Rhythmus“ kein genuin deutsches Wort ist; daß aber „Bauer“ ein germanisches Erbwort, „Mauer“ hingegen eine Entlehnung aus dem Lateinischen ist, läßt sich aus dem Sprachgefühl heraus nicht mehr erkennen. Die Konsequenzen für das Indogermanische formulierte der in Wien und Würzburg lehrende Indogermanist und Hethitologe Heinz Kronasser (1913 bis 1968) so: „Für die Zeitspanne, die zwischen Beginn der Grundsprache und den
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belegten Einzelsprachen liegt, sind wir nicht in der Lage, zwischen Erb- und Lehnwörtern zu unterscheiden; zwischen Erb- und Lehnwort liegt nur ein chronologischer Unterschied.“ Das heißt etwa im Falle von „Joch“ (althochdeutsch joh, gotisch juk, englisch yoke, schwedisch ok, altindisch yugám, griechisch zygón, lateinisch iugum): Wir enden zwar bei einem gemeinindogermanischen Wort (*yugˆ_om – das Sternchen weist darauf hin, daß es erschlossen, also nicht belegt ist); ob dieses aber wiederum ererbt oder aus einem anderen Idiom übernommen worden ist, können wir nicht sagen – und erst recht nicht, wann. Und ebensowenig wie wir bei einer archäologisch bezeugten Kultur mit Joch völlig sicher sein können, hier nun endlich die Indogermanen vor uns zu haben, vermögen wir bei einer jochlosen Kultur Indogermanen auszuschließen: Es könnte sich ja um Indogermanen vor Übernahme des Wortes und der Sache „Joch“ aus einer verschollenen Sprache und Kultur handeln. In Anbetracht dieser Überlegungen scheint es problematisch, aus rekonstruiertem Vokabular weitreichende Schlüsse auf seine eventuellen Benutzer zu ziehen. Fallen beim Aufstellen von Sprachbäumen Ein zweiter Vorbehalt betrifft das Erstellen von Sprachbäumen und die versuchte Parallelisierung mit der Stammesgeschichte des Menschen. Wenn wir sagen, daß die indogermanischen Sprachen vom Indogermanischen „abstammen“, dann deshalb, weil diese Sprachen nicht nur im Wortschatz, sondern vor allem in den Ausdrucksmitteln der Grammatik, der Form- und Stammbildung (die wir in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Biologie „Morphologie“ nennen) systematische Übereinstimmungen aufweisen, die nicht auf Zufall beruhen können. Grammatikalische Übereinstimmungen sind dabei besonders wichtig, weil Formbildungselemente wesentlich schwerer von einer Sprache in eine andere wandern können als ganze Wörter – sie haben keine eigene Bedeutung und sind fest im Kategoriensystem der jeweiligen Sprache verankert, wogegen Wörter geradezu von einer Sprache zur anderen springen und bisweilen auch wieder zurück. Darum sind auch die angeblich 1600 nostratischen Wurzeln des Indogermanischen zwar geeignet, Sprachkontakte plausibel zu machen, nicht aber, Urverwandtschaft zu beweisen – es sei denn, es ließe sich zeigen, daß bestimmte Teile
des Wortschatzes grundsätzlich nicht entlehnt werden. Der russische Linguist Sergej Starostin allerdings behauptet das tatsächlich, wie im Artikel von Philip E. Ross zitiert: „Es ist bekannt, daß Völker Dinge und mit ihnen die Wörter, die sie bezeichnen, entlehnen – aber nicht einen Begriff wie Hand. Das kommt nicht vor.“ Doch diese Grundannahme ist unhaltbar: Unser deutsches Wort „Kopf“ beispielsweise geht auf das lateinische cuppa zurück, dessen ursprüngliche Bedeutung noch im englischen cup durchschimmert, das eine Vielzahl schalen-, becher- oder kelchförmiger Gegenstände bezeichnet. Ob cuppa zum Zeitpunkt seiner Entlehnung bereits umgangssprachlich für „Kopf“ gebraucht werden konnte (so wie testa, das ja auch eigentlich „Schüssel“ hieß) oder ob dieser Bedeutungswechsel erst im Deutschen stattfand, ist dabei unerheblich – es bleibt eine Tatsache, daß „Kopf“ ein Lehnwort ist und das echte Erbwort „Haupt“ praktisch ersetzt hat. Starostin unterschätzt die vielfältigen Möglichkeiten semantischen Wandels. Wortgleichungen sind und bleiben schlechte Argumente, die nicht dadurch besser werden, daß es viele sind. Die Frage „Nachbarn oder Verwandte?“ läßt sich so nicht entscheiden. Als Schleicher es als erster unternahm, über bloße Sprachvergleiche hinaus die Protosprache zu rekonstruieren und einen Stammbaum der indogermanischen Sprachen zu erstellen, war dies eine Frucht seiner Auseinandersetzung mit den Werken Charles Darwins (1809 bis 1882): Schon 1863, vier Jahre nach der Erstpublikation von „Origin of Species“, erschien in Weimar seine Abhandlung „Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft“. Was liegt also näher, als die Stammbäume, die Sprachwissenschaft und Paläoanthropologie liefern, zu vergleichen und den einen zur Ergänzung des anderen heranzuziehen? Bei aller Analogie zur Biologie darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Stammbaummodell die Ausdifferenzierung von Sprachen in mancher Hinsicht keineswegs so adäquat zu beschreiben vermag wie die von Lebewesen. Das liegt unter anderem daran, daß es sich bei biologischen Arten um abgeschlossene, wohldefiniert diskrete Einheiten handelt, zwischen denen in der Regel keine gemeinsamen fortpflanzungsfähigen Nachkommen gezeugt werden können. Sprache und Dialekt lassen sich kaum sauber abgrenzen; und es ist ohne weiteres möglich, daß Sprache A selbst dann, wenn sie nur sehr entfernt oder gar nicht mit Sprache B verwandt ist, diese SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
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Sprachen-Stammbaum von August Schleicher (1821 bis 1868).
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dennoch beeinflußt. Man denke nur an die französischen Wörter im Deutschen oder die Sanskrit-Wörter im Englischen. Aber auch im morphologischen Bereich gibt es Beispiele|: So läßt sich zeigen, daß manche slawischen Sprachen unter dem Einfluß des Griechischen den Infinitiv aufgegeben haben. Wörter wie „Elektroenzephalogramm“ oder „Omnibus“ sind sogar längst nach dem Aussterben des Altgriechischen und Lateinischen ins Deutsche gelangt – man versuche einmal, sich einen analogen Vorgang in der Biologie vorzustellen! Wenn Cavalli-Sforza durchaus zu Recht ein „plausibles Konzept von einem Stammbaum“ in der Grundannahme findet, die genetische Distanz zweier Populationen verhalte sich proportional zur Dauer ihrer Trennung, so ist dies also auf Sprachen nicht ohne weiteres übertragbar. Die These, Sprachen seien um so unterschiedlicher, je länger der Zeitpunkt der Abspaltung vom gemeinsamen Vorfahren zurückliege, trifft zum Beispiel im Falle des Englischen und Französischen nicht zu: Altfranzösisch und Altenglisch weisen gewiß weniger Gemeinsamkeiten auf als ihre heutigen Nachkommen; der Grund dieser Umkehr einer für natürlich gehaltenen Entwicklung ist historischer Art und exakt zu datieren – auf das Jahr 1066, als der normannische Bastard Wilhelm der Eroberer (1035 bis 1087) die Schlacht von Hastings gewann. Ferner sind beim Etablieren von Untergruppen in einem Stammbaum gemeinsame Neuerungen maßgeblich und nicht gemeinsame Archaismen, da diese in verschiedenen Sprachen unabhängig voneinander bewahrt werden können. Dabei muß es sich um signifikante Neuerungen handeln, die nicht unabhängig voneinander auftreten können. Wenn wir also Subeinheiten im Stammbaum ansetzen, zum Beispiel ein hypothetisches Italokeltisch als gemeinsamen Vorfahren der italienischen und keltischen Sprachen, so wäre zu fragen, welche Innovationen vom Indogermanischen aus gesehen diese Sprachen teilen. Die erste Schwierigkeit dabei ist, Neuerungen als solche zu identifizieren: Da wir das Indogermanische auf der Basis der indogermanischen Sprachen rekonstruieren, andererseits aber wieder Phänomene aus den Einzelsprachen als Archaismen oder Neuerungen vom Indogermanischen aus klassifizieren, besteht stets die Gefahr eines Zirkelschlusses. So hat sich denn auch die Beurteilung manch einer sprachlichen Erscheinung ins Gegenteil verkehrt – besonders nach der Entschlüsselung des Hethitischen durch den Prager Orientalisten Friedrich
Hrozny´ (1879 bis 1915) im Jahre 1915. Bis dahin diente beispielsweise in der Verbalkonjugation das Medium auf -r als ein Beleg für die italokeltische Hypothese. (Man vergleiche lateinisch fertur mit altirisch berair; beide bedeuten „er wird getragen“.) Was sollte man mit der Tatsache anfangen, daß es im Hethitischen gleichfalls auftaucht – ein r-Medium nun doch bereits für die Protosprache ansetzen und unterstellen, daß alle anderen Sprachen es aufgegeben hätten, oder lieber eine Untergruppe „Italokeltoanatolisch“ annehmen? Selbst wenn wir sicher sein könnten, daß es sich um eine Neubildung handelt, woher sollen wir wissen, daß sie nicht vielleicht auch in anderen Sprachen eingeführt, dann aber wieder aufgegeben wurde? Wie können wir „X war nie da“ von „X war da, ging aber vor den ersten überlieferten schriftlichen Zeugnissen dieser Sprache verloren“ unterscheiden? Für die Vorgeschichte des Indogermanischen vermutet man ein 2-GenusSystem als Vorläufer des historisch be-
zeugten 3-Genus-Systems, bestehend aus Maskulinum, Femininum und Neutrum, das sich im Deutschen wie in vielen indogermanischen Sprachen erhalten hat. Nun geht die Debatte darum, ob das 2-Genus-System des Hethitischen ursprünglich ist, was implizieren würde, daß dieses sich deutlich früher als alle anderen indogermanischen Sprachen von der Ursprache abgespalten hätte, oder ob es ein ererbtes Femininum zwar einmal besaß, aber so gründlich verlor, daß keine Reste davon mehr zu finden sind. Je nach der Antwort ergeben sich sehr unterschiedliche Stammbäume. Insgesamt ist das Stammbaummodell also nur innerhalb eines begrenzten Geltungsbereichs brauchbar. Übrigens ist seine Unzulänglichkeit schon früh erkannt worden; deshalb hatte bereits 1872 Johannes Schmidt (1843 bis 1901), ein Schüler August Schleichers, als Alternative die sogenannte Wellentheorie vorgeschlagen. Wenn man heutzutage wieder unreflektiert an neuen Stammbäumen bastelt und diese dann
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STEINZEIT
b
Noch eine Replik Der Artikel von Bernard Victorri referiert die umstrittene Position Merritt Ruhlens mit einer gewissen Sympathie, fairerweise aber ohne den Leser im Unklaren zu lassen, daß sich Ruhlens Ansichten keineswegs allgemeiner Beliebtheit erfreuen. Die Argumente der Gegner werden aber nur angerissen. Nehmen wir Ruhlens Ansicht zur Frage, welche Ursachen sprachliche Ähnlichkeiten haben können: Konvergenz (selten), Entlehnung (leicht zu identifizieren), ansonsten nur noch Sprachverwandtschaft. Das ist zu optimistisch. Erstens läßt er einen vierten Grund für Ähnlichkeiten, nämlich den schieren Zufall, außer acht. Das mag weit hergeholt erscheinen; aber wenn wir in der Diagnose von Ähnlichkeit im Lautbestand nur großzügig genug verfahren, werden wir keinerlei Probleme haben, Ähnlichkeiten ausfindig zu machen – wenn etwa ein stimmloser dentaler Okklusiv /t/ bald seinem stimmhaften Pendant /d/ entsprechen darf, bald einem stimmhaften dentalen Reibelaut /∂/ oder
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auch dessen stimmlosen Gegenstück / /, werden wir uns vor Übereinstimmungen kaum retten können, geraten dabei aber in die Fänge purer Beliebigkeit. Genau deshalb bestehen die geschmähten Traditionalisten ja so massiv auf regelmäßigen Übereinstimmungen. Nach traditionalistischer Methodenlehre dürfen wir deutsch „Fuß“ und lateinisch pes nur dann als urverwandt ansehen, wenn wir nachweisen können, daß auch sonst einem lateinischen /p/ ein germanisches /f/ entspricht, etwa wie in „Vater“ (die Schreibung ist in diesem Fall unwesentlich) und lateinisch pater oder deutsch „forschen“ und lateinisch posco (älter *porcsco). Welchen Laut wir nun genau für das Indogermanische rekonstruieren, ist dabei längst nicht so wichtig, wie Ruhlen vorgibt: wir haben uns zwar darauf geeinigt, in diesem Fall ein indogermanisches /p/ anzusetzen, aber im Grunde genommen ist dieses /p/ nur ein Kürzel für den etwas umständlichen Ausdruck „der grundsprachliche Laut, dem im Germanischen regelmäßig ein /f/, im Lateinischen, Griechischen und Sanskrit ein /p/ entspricht, der im Altirischen anlautend ausfällt usw.“.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH W. P. LEHMANN
Al
unkritisch in andere Wissenzu werden. Beim Aussterben schaftszweige übernimmt, ist von Sprachen brauchen nicht dies ein Rückfall ins letzte Jahrauch ihre Sprecher oder deren hundert. Gene zugrunde zu gehen, und Ein dritter und letzter VorbeAusbreitungen müssen nicht jeBaltisch halt betrifft die Gleichsetzung des Mal durch große WandeSlawisch von Sprach- und Genpoolrungen verursacht worden sein. Germanisch Armenisch Gemeinschaft, gegen die sich In welchem Ausmaß Sprachen To ch unter anderem ein so bedeutenin vorgeschichtlicher Zeit unari sc Indoder Sprachwissenschaftler wie blutig und ohne Überfremdung h Keltisch iranisch an Meillet gewehrt hat – und zwar ersetzt wurden, ist schwer zu Ita lisc isc nicht, wie Philip E. Ross unterveranschlagen; doch sollten wir h h Anatolisch stellt, um keinem irgendwie gedabei die menschliche Mobiliisch arteten Rassismus Vorschub zu tät nicht unterschätzen. Griech leisten, sondern weil er sie für All das ist nicht als Auffornicht hinreichend erwiesen an- Zuordnung der indogermanischen Einzelsprachen nach derung gemeint, den interdiszisah. Es ist zwar interessant, daß einer Modellvorstellung von Johannes Schmidt (1843 bis plinären Diskurs zu beenden. ein Volk wie die Basken, deren 1901) Damit Interdisziplinarität jeSprache bis heute isoliert dadoch fruchtbar werden kann, ist steht, auch genetisch vom euroes unerläßlich, die Grenzen despäischen Durchschnitt abweicht – zum sem Zusammenhang auf die genetisch sen, was eine bestimmte Wissenschaft zu Beispiel in der relativen Häufigkeit des europäischen, sprachlich aber magyari- einem bestimmten Zeitpunkt leisten negativen Rhesusfaktors; hier scheinen schen Ungarn. Auch die Romanisierung kann, klar zu ziehen, den Anwendungssich also genetische und sprachliche Iso- Galliens ging keineswegs mit einer Aus- bereich von Modellen zu klären und zu lierung durch die Geschichte hindurch rottung der Kelten einher. Ein Wechsel verhindern, daß nur in einem gewissen bewahrt zu haben. Sind aber die Basken, der Sprache kann in wenigen Generatio- Rahmen gültige Vorstellungen von Wisdie in einem Rückzugsgebiet leben und nen vonstatten gehen und braucht nicht senschaftlern anderer Fachrichtungen von größeren Kolonisations- oder Ex- einmal das Selbstverständnis der Bevöl- gutgläubig übernommen und mit pansionsbewegungen verschont blieben, kerung zu beeinträchtigen. Die heutigen schwerwiegenden Schlußfolgerungen ein typischer Fall? Deutschen in Kasachstan etwa sprechen belastet werden. Mögen die Ergebnisse Cavalli-Sforza räumt selbst ein, daß oft gar nicht mehr Deutsch oder ein sol- noch so geistreich und publikumswirk„eine Population eine andere Sprache ches, das ein Bundesbürger nur mit sam ausfallen – sie müssen sich an den übernehmen oder sich mit einer anderen Mühe versteht, würden es aber empört Kriterien der Wissenschaftlichkeit mesvermischen kann“, und verweist in die- zurückweisen, als Russen apostrophiert sen lassen. Andererseits sind sich lateinisch deus ó (theós) „Gott“ so und griechisch ähnlich, wie man es sich nur wünschen kann; trotzdem sind beide Wörter etymologisch nicht identisch, denn einem lateinischen /d/ entspricht regelmäßig nicht griechisch /th/ (geschrieben ), sondern vielmehr ein griechisches /d/ (geschrieben mit ), vergleiche etwa lateinisch decem „zehn“ und griechisch ´ (déka) oder lateinisch dicere (älter: deicere) „sagen“ zu griechisch ´ (deíknymi) „ich zeige“. Dokumente in Linear B, der mykenischen Silbenschrift, haben überdies ergeben, daß dem griechischen ó ursprünglich ein Stamm thes- zugrunde lag, der sich nun in der Tat vom Lateinischen unterscheidet. Frühe lateinische Inschriften weisen auf altes *deivos. Je weiter wir in der Geschichte des Lateinischen und Griechischen zurückgehen, desto weniger gleichen sich die Wörter. Ihre Ähnlichkeit ist also nicht ursprünglich. Wichtiger als die genaue Etymologie des griechischen Wortes erscheint mir aber in diesem Zusammenhang, daß wir auch, bevor wir Linear B überhaupt lesen konnten, wußten, daß beide nicht auf dieselbe indogermanische Wurzel zurückSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
gehen können. Linear B hat uns nur bestätigt, was ohnehin klar war – aber dabei auch die Zuverlässigkeit unserer Methode demonstriert. Hätten wir uns in diesem Fall mit der bloßen Ähnlichkeit begnügt, wie Ruhlen es offenbar für ausreichend hält, hätten wir eine Fehldiagnose erstellt. Es ist zweifellos ungeheuer mühsam, die Lautgesetze, also die Regeln, in denen sich die regelmäßigen Lautentsprechungen manifestieren, zu formulieren. Manchmal ist es sogar unmöglich. Aber das ist nun einmal der Preis, den wir für eine zuverlässige Methode zu bezahlen haben. Wir bekommen dafür einen Extrabonus: nämlich den Nachweis gemeinsamer Herkunft dort, wo auf den ersten Blick keinerlei Übereinstimmungen festzustellen sind. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, griechisch ´ (d´yo) und armenisch erku „zwei“ oder englisch wheel und Sanskrit cakra „Rad“ eine gemeinsame Wurzel zuzuweisen. Dennoch haben sie eine; die Lautentsprechungen sind regelmäßiger Natur. Indem wir auf regelmäßigen Lautentsprechungen beharren, haben wir uns für eine Methode entschieden, die lieber fälschlich echt Verwandtes aussondert als fälschlich nicht Verwandtes zu Verwandtem deklariert – medizinisch gesprochen ein Test, der keine falsch-positiven Ergebnisse liefert um den Preis, daß wir falsch-negative Resultate in Kauf nehmen. Genau das gilt auch für Lehnwörter, die, anders als Ruhlen behauptet, keineswegs immer leicht zu identifizieren sind. Wir haben zwar sehr wohl ein Instrumentarium, das es uns erlaubt, sichere Lehnwörter herauszufiltern, aber nicht alle. Lehnwörter erkennen wir vor allem daran, daß in ihnen Lautkombinationen erscheinen, die der betreffenden Sprache sonst fremd sind, oder Wörter irreguläre Lautentwicklungen aufweisen. Wenn zum Beispiel einem lateinischen anlautenden /p/ auf Deutsch ein /pf/, nicht das zu erwartende /f/ entspricht (vergleiche deutsch „Pfütze“ und lateinisch putea oder deutsch „Pfund“ zu lateinisch pondus), muß eine Entlehnung vorliegen, in diesem Fall aus dem Lateinischen, die wir auch sonst historisch plausibel machen können: Antike Schriftsteller beDr. Vera E. Binder hat in Tübingen, Pisa und Oxford Latein, Griechisch und Vergleichende Sprachwissenschaft studiert und war zuletzt wissenschaftliche Angestellte am Seminar für Vergleichende Sprachwissenschaft der Universität Tübingen.
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richten von der zeitweisen Besetzung germanischen Sprachraums durch die Römer, archäologische Funde sprechen gleichfalls eine deutliche Sprache. Wir sind also mehrfach abgesichert. Wenn aber Lehnwörter, wie es zu geschehen pflegt, der nehmenden Sprache angepaßt werden und an ihren Wandlungen teilnehmen, sind sie ein integraler Bestandteil der entlehnenden Sprache geworden und intern nicht mehr als Lehnwörter zu identifizieren. Helfen können hier nur noch Kenntnisse von der Geschichte oder der entlehnenden Sprache; wenn diese aber fehlen, weil wir uns im Nebel der schriftlosen Vorgeschichte bewegen, haben wir keine Handhabe mehr. Bezogen auf das Indogermanische heißt das, wir können zwar teilweise den indogermanischen Wortschatz rekonstruieren, aber ob bestimmte Wörter im Rahmen der indogermanischen Grundsprache selbst Erbwörter oder Lehnwörter sind, können wir nicht mehr sagen. Im übrigen betreffen Entlehnungen keineswegs nur Wörter; sie können auch syntaktische Strukturen oder aber Wortbildungselemente umfassen. Deutsch -er zur Bildung von Berufsbezeichnungen wie etwa in Bäcker geht auf lateinisch -arius zurück, das auch ins Griechische übernommen wurde; Bäcker heißt auf Neugriechisch ´ (fúrnaris). Sprachen haben keinen Sex? O doch, sie haben, und sie zeugen dabei oft ganz entzückende Bastarde. Der Streit Merritt Ruhlens gegen die etablierte Sprachwissenschaft ist im Prinzip ein Streit darum, was als wissenschaftlich zu gelten, wer die Beweislast zu tragen habe. Traditionelle Sprachwissenschaftler argumentieren etwa so: Sprachen können sich in stammesgeschichtlich gesehen recht kurzer Zeit sehr stark wandeln bis hin zur Unkenntlichkeit. Wenn jemand behauptet, Sprache X und Sprache Y seien verwandt, werden wir deshalb nie den Gegenbeweis antreten können; wir haben eine nicht falsifizierbare Aussage vor uns. Folglich haben zwei Sprachen als nicht verwandt zu gelten, es sei denn, sie sind sich so ähnlich, daß wir nicht mehr umhin können, als ihre Ähnlichkeit einer Verwandtschaft zuzuschreiben. Diese Ähnlichkeit hat vorwiegend in regelmäßiger Lautentsprechung in Wörtern zu bestehen, besser noch in Flexions- und Konjugationsmorphemen. Die indogermanische Sprachfamilie erfüllt diese Kriterien. Das heißt natürlich nicht, daß traditionelle Sprachwis-
senschaft eine Monogenese der Sprachen ausschlösse; sie meint nur, die Frage sei sprachwissenschaftlicher Methodik unzugänglich, und so erklärt sich das Verdikt der Société linguistique. Wenn alle menschlichen Sprachen von einer einzigen Ursprache abstammen, dann haben sie sich im Laufe der vielen Jahrtausende so weit auseinanderentwickelt, daß wir ihre Gestalt aus den heutigen Sprachen nicht mehr erschließen können. KUAN „Hund“, TEKU „Bein, Fuß“, TIK „Finger“ und TIKA „Erde“ werden als „Urwurzeln“ genannt. Der Indogermanist er-
Sprachen können sich rasch verändern – bis hin zur Unkenntlichkeit kennt in KUAN sofort lateinisch canis, griechisch ´ (kyón) usw. wieder, in TIK lateinisch digitus, aber bereits mit TIKA und TEKU kann er nichts anfangen. Es mutet außerdem ein wenig merkwürdig an, daß drei der vier genannten Wurzeln unterschiedlicher Bedeutung fast gleichlautend sind; ein sehr plausibles Bild für eine funktionstüchtige Sprache gibt das nicht ab. Übrigens sollten wir auch nicht vergessen, daß die indogermanischen Sprachen, deren Verwandtschaft ohne allen Zweifel feststeht und deren Vorfahren wir doch in vielen Zügen recht gut rekonstruieren können, seit dem Beginn ihrer Überlieferung bis heute sehr weit voneinander entfernt sind. Wenn ein Deutscher nach Kalkutta reist, so hilft ihm der Umstand, daß Bengali mit dem Deutschen verwandt ist, überhaupt nichts. Er wird sich dort genauso wenig verständlich machen können wie in Istanbul oder Tokio. Mit anderen Worten: Ruhlen hat recht – oder auch nicht. Vielleicht hat er echte ursprachliche Wurzeln rekonstruiert, vielleicht teilweise, vielleicht gar keine. Wir können es nicht wissen. Beiden Parteien schwebt ein unterschiedliches Wissenschaftskonzept vor: Die eine legt Wert darauf, nur Richtiges zu ermitteln, auch auf die Gefahr hin, mangels Beweisbarkeit mit Falschem auch Richtiges über Bord gehen zu lassen; die andere legt ein gröberes Raster an. Wer der Meinung ist, regelmäßige Lautentsprechungen seien zwar grundsätzlich gut und schön, wenn man die aber nicht finden könne, müsse man eben großzügiger sein, gleicht einem, der seinen im dunklen Park verlorenen Groschen im Schein der Straßenlaterne sucht mit der Begründung, dort sei es heller.
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ARCHÄOLOGIE
Indoeuropäer –
Die aus archäologischer Sicht
Fast alle europäischen Sprachen gehören zu einer einzigen Sprachfamilie. Sie haben sich wohl nicht, wie bislang angenommen, durch Eroberungen, sondern im Gefolge einer durchaus friedlichen Ausbreitung der Landwirtschaft durchgesetzt. VON COLIN RENFREW
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ines der umstrittensten Probleme der Archäologie und der Vorge schichte ist die vor mehr als 200 Jahren erkannte Verwandtschaft unter den Sprachen, die heute unter dem Namen „indoeuropäisch“ (früher „indogermanisch“) zusammengefaßt werden: nahezu alle europäischen Sprachen, zahlreiche, die in Indien und Pakistan, sowie einige, die in den dazwischenliegenden Ländern gesprochen werden. Welcher prähistorische Prozeß liegt der Tatsache zugrunde, daß verwandte Sprachen in einem so großen Gebiet benutzt werden? Welche Schlüsse kann man daraus für die europäische Vor- und Frühgeschichte ziehen? Immerhin bilden die indoeuropäischen Sprachen zumindest quantitativ
die bedeutendste Familie: Bedingt durch die kolonialen Eroberungen des 16. bis 19. Jahrhunderts, werden sie von mehr Menschen gesprochen als die Sprachen irgendeiner anderen Familie. Nach der traditionellen Auffassung entstanden die indoeuropäischen Sprachen aus einer Ursprache, die das Idiom nomadischer Reitervölker im heutigen Westrußland nördlich des Schwarzen Meeres zu Beginn der Bronzezeit war. Als diese berittenen Krieger immer größere Gebiete eroberten, sollen sie den Einheimischen ihr Proto-Indoeuropäisch aufgezwungen haben, aus dem sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte die heutigen europäischen Sprachen entwikkelten. In den letzten Jahren wurde jedoch die traditionelle Erklärung insbe-
sondere von vielen Archäologen als unbefriedigend empfunden. Ich selbst habe die Argumente dafür geprüft und war ebenfalls nicht überzeugt. Hier möchte ich daher eine neue Sichtweise vorstellen, die auf neuen Erkenntnissen über den Ablauf des kulturellen Wandels beruht. Demnach muß man für die Ausbreitung der indoeuropäischen Sprachen keine Eroberung unterstellen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß sie auf friedlichem Wege stattfand – mit der Verbreitung der Landwirtschaft aus deren Ursprungsgebieten in Anatolien und dem Nahen Osten. Diese alternative Erklärung zieht freilich weitreichende Konsequenzen für die Vorgeschichte und die Linguistik der Sprachen Europas nach sich.
JAMES MELLAART, PICTURES OF RECORD, INC.
Çatal Hüyük ist eine frühneolithische Siedlung in der zentralanatolischen Hochebene in der heutigen Türkei. Um 7000 vor Christus entstand hier und in den benachbarten Siedlungen die Landwirtschaft; wenig später begann sie sich in Richtung Norden nach Europa hin zu verbreiten – und mit ihr womöglich die Urform der indoeuropäischen Sprachen.
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Die gemeinsame Wurzel
AUGUST SCHLEICHER
Nicht die Archäologie stößt zuerst auf das Problem des Urspungs der indoeuropäischen Sprachen, sondern die Linguistik. Schon der Schüler, mehr noch der vergleichende Sprachwissenschaftler, bemerkt mühelos, daß Wortschatz, Grammatik und Aussprache der europäischen Sprachen deutliche Parallelen aufweisen. Um die Verwandtschaft von Wörtern zu belegen, genügt es, die Zahlwörter von eins bis zehn in mehreren indoeuropäischen Sprachen zu vergleichen. Eine solche Tabelle verdeutlicht die Ähnlichkeiten vieler europäischer Sprachen untereinander und mit Sanskrit, der Sprache der frühesten literarischen Texte Indiens – ebenso allerdings, daß fernöstliche Sprachen wie beispielsweise Chinesisch oder Japanisch nicht zur gleichen Familie gehören. Durch vertiefte Vergleiche dieser Art vermag die Sprachwissenschaft die europäischen Sprachen in weitere Familien zu untergliedern. Als erste wurde die der romanischen – vom Lateinischen abstammenden – Sprachen identifiziert, zu der Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Rumänisch sowie einige regionale Sprachen gehören. Zur slawischen Sprachfamilie zählen unter anderem Russisch, Polnisch, Tschechisch, Slowakisch, Serbokroatisch und Bulgarisch, zur germanischen Deutsch, Englisch, Niederländisch, Isländisch, Norwegisch, Dänisch und Schwedisch. Nur wenige europäische Sprachen wie Ungarisch, Finnisch und Baskisch können diesem System nicht eingegliedert werden. Wie entstand nun dieses komplexe Gesamtbild? Zunächst bildeten die romanischen Sprachen das Modell einer Antwort. Auch wenn jemand weder von der lateinischen Sprache noch von der Geschichte des römischen Reichs etwas wüßte, könnte er aufgrund der tiefgründigen Ähnlichkeiten zwischen den lebenden romanischen Sprachen nicht nur den naheliegenden Schluß ziehen, daß sie einer gemeinsamen Wurzel entstammen und ihre Unterschiede sich erst später mit der räumlichen Trennung entwikkelten, sondern anhand ihrer Gemeinsamkeiten auch viele Eigenschaften des Lateinischen rekonstruieren. In analoger Weise konnte aus der Analyse verschiedener indoeuropäischer Sprachfamilien ein Stammbaum rekonstruiert werden, der bis zu einem hypothetischen gemeinsamen Urgrund zurückreicht: dem FrühIndoeuropäischen. Diese Stammbaumtheorie hat in den frühen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts der in Prag und Jena lehrende
Das Stammbaum-Modell für die Entstehung der indoeuropäischen Sprachen beruht auf der Auffächerung (Divergenz) von einer gemeinsamen Wurzel: der früh-indoeuropäischen Sprache. Dieser Sprachenstammbaum ist dem „Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen“ des deutschen Linguisten August Schleicher entnommen.
und in Litauen forschende Philologe August Schleicher (1821 bis 1868) entwickelt; sie liegt noch heute den Vorstellungen der meisten Sprachhistoriker über die Entwicklung der Sprachfamilien zugrunde. Der grundlegende Prozeß des Stammbaummodells ist die sprachliche Divergenz (Auffächerung): Aufgrund der gegenseitigen Isolierung wird in verschiedenen Regionen zunehmend unterschiedlich gesprochen, und die sich allmählich entwickelnden Dialekte werden zu deutlich verschiedenen Sprachen. Belege aus der Archäologie Dies ist jedoch nicht das einzige denkbare Erklärungsmodell für die Sprachentwicklung. Nur ein Jahrzehnt nach Schleicher führte Johannes Schmidt (1843 bis 1901), ein anderer deutscher Linguist, das Wellenmodell ein, wonach sich sprachliche Neuerungen wie Wellen ausbreiten, woraus letztendlich Konvergenz – eine Angleichung ursprünglich verschiedener Sprachen – resultiert. Der russische Sprachwissenschaftler und Völkerkundler Nikolai Sergejewitsch Fürst Trubezkoi (1890 bis 1938) schlug sogar vor, die Ähnlichkeiten der indoeuropäischen Sprachen auf diese Weise zu erklären, was allerdings heute von den meisten Linguisten zugunsten des Stammbaummodells verworfen wird. Wengleich das Problem der indoeuropäischen Sprachen aus ihren Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten selbst er-
wächst, so ist an dessen Lösung sicherlich auch die Archäologie beteiligt: An ihren Befunden lassen sich linguistische Hypothesen testen. Zu Anfang dieses Jahrhunderts, als die Archäologen sich des Problems annahmen, konnte die Geschichte der Römer, Griechen und Kelten bereits bis zu den ersten schriftlichen Zeugnissen vom Anfang des ersten vorchristlichen Jahrtausends zurückverfolgt werden. Ferner eröffneten archäologische Funde die Aussicht, Erkenntnisse dieser Art auch über prähistorische Epochen, womöglich sogar über das Paläolithikum (die Altsteinzeit) vieler Regionen Europas zu gewinnen. Anhand der materiellen Relikte sollten sich nach den damaligen Vorstellungen die Kulturen der Sprecher europäischer Sprachen bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen lassen. In jener Phase der Archäologie nahm man an, daß der Kulturwandel im wesentlichen durch Wanderung ganzer Stämme oder gar Völker ausgelöst werde; deren Wege seien mittels unterwegs zurückgelassener charakteristischer Artefakte wie Waffen, Werkzeuge und Keramik rekonstruierbar. Des weiteren könne man davon ausgehen, daß zu einem bestimmten Artefaktspektrum – einer „Kultur“ im Sprachgebrauch der Archäologen – immer ein und derselbe Volksstamm mit einer eigenen Sprache gehöre. So könne aus dem archäologischen Fundmaterial auf die Bewegung der Volksstämme und daraus auf die Verbreitung der frühen indoeuropäischen Sprachen geschlossen werden. Es war demnach nur noch das hypothetische Hei- 왘
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ARCHÄOLOGIE deutsch gotisch
tschechisch lateinisch griechisch sanskritisch japanisch
einer, eine
ains, aina
jeden, jedna
unus, una
heis, mia
ekas
hitotsu
zwei
twai, twôs
dva, dvˇe
duo duae
dyo
dva
futatsu
drei
threis
tˇri
tres
treis
tryas
mittsu
vier
fidwôr
cˇtyˇri
quattuor
tettares
catvaras
yottsu
fünf
fimf
pˇet
quinque
pente
panca
itsutsu
sechs
saihs
ˇsest
sex
hex
sat
muttsu
sieben
sibun
sedm
septem
hepta
sapta
nanatsu
acht
ahtau
osm
octo
okto
asta
yattsu
neun
niun
devˇet
novem
ennea
nava
kokonotsu
zehn
taíhun
deset
decem
deka
dasa
tô
Die Verwandtschaft unter den indoeuropäischen Sprachen sowie der vollkommen andersartige Charakter von Japanisch, das nicht zu dieser Sprachfamilie gehört, werden anhand der Wörter für die Zahlen von eins bis zehn deutlich. Solche Ähnlichkeiten sind es, die das Interesse für die Ursprünge der indoeuropäischen Sprachen geweckt haben.
matland der Indoeuropäer zu finden und ihre Ausbreitung mit Hilfe der archäologischen Zeugnisse zu verfolgen. Die Suche nach diesem Ursprungsland wurde jedoch zum Gegenstand eines nicht nur akademischen Streits. Deutsche Wissenschaftler verlegten es bis vor wenigen Jahrzehnten vorzugsweise nach Nordeuropa. Manche ihrer Arbeiten wurden von den Nationalsozialisten aufgegriffen, um zu beweisen, daß Indoeuropäisch die Sprache der „arischen Herrenrasse“ im nachmaligen Deutschland gewesen sei. Eine andere Sprachfamilie, die semitische, wurde einer als minderwertig abqualifizierten Rasse zugeordnet. Dieser Mißbrauch von Philologie und Anthropologie wurde zur Rechtfertigung der schmutzigen Grundideologie des „Dritten Reichs“ und damit der Massenvernichtung der Juden herangezogen. So wundert es nicht, daß die Wissenschaftler sich in den letzten Jahren – wenn überhaupt – nur sehr vorsichtig an dieses Thema heranwagten. Traditionelle Verknüpfung von Archäologie und Linguistik Die Vorstellung eines nordeuropäischen Heimatlandes für das Indoeuropäische war jedoch nicht die einflußreichste Theorie in wissenschaftlichen Kreisen. Im Jahre 1926 stellte der australische Historiker V. Gordon Childe (1892 bis 1957), nachmals Professor in Edinburgh und dann Direktor des Archäologischen Instituts der Universität London, in seinem Buch „The Aryans“ die These auf,
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das Indoeuropäische habe seinen Ursprung in den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Rußland und sei in die Phase des Übergangs zwischen der späten Jungsteinzeit und der Bronzezeit zu datieren, der in manchen Teilen Europas schon um 3000 vor Christus stattgefunden hatte. Childes Text enthält sowohl archäologische wie auch besonders scharfsinnige linguistische Argumente. Es war nämlich den Sprachforschern gelungen, einen Bestand an sogenannten Wortwurzeln zu erstellen, Wortbestandteilen wie Stammsilben und Suffixen, die man in vielen indoeuropäuschen Sprachen wiederfinden kann, wenngleich jede Sprache diese Bestandteile auf ihre eigene Art zu Wörtern zusammensetzt. Diese Wurzeln, so die Folgerung, seien bereits Bestandteile der Ursprache gewesen und hätten die mannigfachen Wandlungen ihrer jeweiligen Sprache überlebt. Aus der Existenz gewisser Wortwurzeln wurden weitreichende Schlüsse gezogen. Wenn etwa der Name einer Pflanze oder eines Tiers als Wortwurzel auftauchte, dann mußten diese Lebewesen in der Umwelt der frühen Indoeuropäer schon eine Rolle gespielt haben. Andere Wurzeln lieferten Datierungshilfen. So gibt es keine Wurzelwörter für Eisen oder Bronze, wohl aber welche für Pferd und Rad. Demnach müßte die erste Ausbreitung der Indoeuropäer vor dem Beginn der Bronzezeit stattgefunden haben, jedoch erst nachdem das Pferd domestiziert und der Wagen erfunden worden war. Childe verknüpfte diese linguistischen Ideen mit archäologischen Nach-
weisen. Er konzentrierte sich dabei auf die Schnurkeramik, die für Fundstellen aus dem Beginn der Bronzezeit typisch ist (die Töpfer jener Zeit verzierten ihre Gefäße, indem sie Schnüre in den feuchten Ton drückten). In Nord- und Osteuropa wird diese Keramik häufig – zusammen mit steinernen Streitäxten – in aufgeschütteten Erdhügeln (russisch Kurgan) gefunden, den Gräbern der Vornehmen. Childe interpretierte diese Artefakte als materielle Hinterlassenschaft von Gruppen berittener und bewaffneter nomadischer Hirten, die zu Beginn der Bronzezeit aus ihrer Heimat in den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres abgewandert seien – mit einem Wort: der Indoeuropäer. Marija Gimbutas von der Universität von Kalifornien in Los Angeles hat diesen Gedanken mit beeindruckender Akribie fortgeführt. Unter Berücksichtigung neuerer Funde rekonstruierte sie eine ganze Reihe von „Kurgan-Einfällen“, die aus den Gebieten nördlich des Schwarzen Meeres nach Westen führten. Diese Theorie hat sich bei den historischen Linguisten weitgehend durchgesetzt; viele Archäologen folgen ihr ebenfalls und versuchen, andere Argumente dieser anzupassen. Gleichwohl halte ich sie aus mehreren Gründen nicht für überzeugend. Kritik des klassischen Erklärungsansatzes Erstens sind die archäologischen Argumente nicht stichhaltig. Heutzutage sehen viele Archäologen die Schnurkeramik-Gräber als Monumente einer seßhaften Gesellschaft, in denen Mitglieder einer aufkommenden Aristokratie zusammen mit Prestigeobjekten beigesetzt wurden. Das Argument der Wortwurzeln ist ebenfalls nicht überzeugend. Einzelne der sogenannten Wurzelwörter für Pflanzen und Tiere haben ihre Bedeutung im Laufe der Zeit durchaus ändern können; jedenfalls taugen sie nicht für den Rückschluß auf ein bestimmtes geographisches Gebiet. Wörter, die zur Datierung herangezogen wurden, sind gleichfalls suspekt. Robert Coleman von der Universität Cambridge bezweifelt etwa die Behauptung, daß die Wörter für Rad und Pferd zum gemeinsamen Wortbestand vor einer allgemeinen Ausbreitung gehörten. Das stärkste Gegenargument ist jedoch, daß das Gesamtbild nicht überzeugend wirkt. Welche Bevölkerungsexplosion oder welches andere einschneidende SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Meiner Meinung nach sollte man nicht von der gleichen Schnurkeramik auf das gleiche Volk oder die gleiche Sprache schließen. Statt dessen scheint mir eine Analyse der Prozesse des kulturellen Wandels geboten. Es wäre zu fragen, welche sozialen, wirtschaftlichen und demographischen Prozesse mit Änderungen in der Sprache einhergehen. Erst in einem zweiten Schritt kann gefragt werden, wie sich jene Änderungen im archäologischen Fundmaterial widerspiegeln. Zunächst ist jedoch die prozessuale Betrachtungsweise in einigen ausformulierten Modellen zu präzisieren. Vier Modelle des Sprachwandels Es gibt vier wesentlich verschiedene Modelle für den Werdegang einer Sprache in einem Gebiet, die ich hier nur skizzieren kann. Das erste ist Landnahme in einem unbewohnten Gebiet; die Erstbesiedler bringen ihre Sprache mit.
Das zweite Modell beschreibt die schon angesprochenen Auffächerungsprozesse wie etwa die sprachliche Differenzierung im Gefolge von Trennung oder Isolation. Das dritte Modell basiert auf Prozessen der Konvergenz; Johannes Schmidts Wellentheorie ist ein Beispiel dafür, jedoch haben Konvergenzmodelle bei den Linguisten ganz allgemein keinen besonderen Rückhalt gefunden. Diesen langsamen, eher langfristig wirkenden Prozessen überlagert sich in komplizierter Weise ein weiterer Faktor: die Sprachersetzung, die Gegenstand des vierten Modells ist. In vielen Gegenden der Welt sind einheimische Sprachen vollständig oder teilweise durch die Sprachen zuwandernder Menschen ersetzt worden. Ohne diesen störenden Faktor wäre die Sprachgeschichte der ganzen Welt ein getreues Abbild der erstmaligen Ausbreitung des Homo sapiens sapiens, gefolgt von den langsamen Prozessen der sprachlichen Divergenz und Konvergenz. Für den Ursprung der indoeuropäischen Sprachen ist nach meiner Auffas- 왘
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Ereignis in den südosteuropäischen Steppen hätte riesige Horden berittener Krieger denn veranlassen sollen, am Ende des Neolithikums nach Westen zu ziehen, die Ureinwohner Europas zu unterdrücken und ihnen die früh-indoeuropäische Sprache aufzuzwingen? So gesehen, wirkt die ganze schöne Rekonstruktion unglaubwürdig. Das eigentliche Problem ist nach meiner Auffassung, daß die Frage, wie sich ein Wandel der Sprache im materiellen Kulturgut widerspiegelt, zu wenig beachtet worden ist. Viele der erwähnten traditionellen Gedankengänge neigen dazu, ein Artefaktspektrum mit einer wohldefinierten Gruppe, etwa einem Stamm, zu identifizieren. Erst jetzt erkennen die Archäologen, daß das, was sie eine „Kultur“ nennen, zunächst ihr eigenes theoretisches Konstrukt und daß die Identifikation einer Kultur mit einer Menschengruppe problematisch ist. Noch fragwürdiger ist die weitergehende Identifizierung einer so definierten Gruppe mit einer bestimmten Sprache oder Sprachfamilie.
Die Verbreitung des Indoeuropäischen reicht von Irland bis nach Indien. Fast alle Sprachen Europas gehören zu dieser Familie. Zu den Ausnahmen, die heute noch isoliert beSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
stehen, gehören die finnische und die ungarische Sprache, die beide zur finno-ugrischen Gruppe zählen, und außerdem das Baskische.
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ARCHÄOLOGIE
Die Hypothese der „Kurgan-Invasionen“ stellt die ursprünglichen Indoeuropäer als berittene Krieger dar, die um 4000 vor Christus aus ihrem Heimatgebiet, das nördlich des Schwarzen Meeres lag (orange), aufbrachen. Die Abbildung stützt sich auf eine detaillierte Ausarbeitung von Marija Gimbutas von der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Nach diesem Modell
sung die Sprachersetzung das entscheidende Erklärungsmodell. Das vorgeschichtliche Fundmaterial belegt eine ununterbrochene Besiedlung Europas seit der Altsteinzeit. Somit wird das Modell der erstmaligen Besiedlung nicht viel zur Erklärung beitragen können. Auch eine schlichte Divergenztheorie wird kaum das komplexe Verwandtschaftsmuster der europäischen Sprachen zu erklären vermögen. Trubezkois Konvergenztheorie wurde allgemein verworfen. Mithin bleibt durch Ausschluß der übrigen nur noch ein Modell der Sprachersetzung übrig. Die Theorie der Kurgan-Invasion gehört zwar in diese Kategorie, ist aber – wie angemerkt – nicht völlig befriedigend. Welche Alternativen gibt es? Unter den denkbaren Ursachen der Sprachersetzung gibt es zunächst demographische und wirtschaftliche Prozesse. Die Bevölkerung eines Gebietes wird im allgemeinen eine den Gegebenheiten gut
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erreichte die erste, westwärts gerichtete, Invasionswelle (gelb) das heutige Griechenland in der Zeit um etwa 3500 vor Christus. Aus dem eroberten Gebiet verbreiteten sich in weiteren Wellen verschiedene Horden der Invasoren nach Norden und Süden; die farbigen Pfeile zeigen ihre vermuteten Wanderungen nach etwa 2500 vor Christus an.
angepaßte Subsistenzwirtschaft haben. Ob Jäger und Sammler oder Ackerbauern – die Bevölkerungsdichte wird sich dem auf Dauer tragfähigen Maximum dessen genähert haben, was die gegebene Umwelt bei gegebener Wirtschaftsweise ernähren kann. Eine Gruppe von Neuankömmlingen, die diese Region auf friedliche Weise mit bevölkern will, muß eine Technologie beherrschen, mit der sie eine bisher ungenutzte ökologische Nische besetzen oder erfolgreich um die bisherige konkurrieren kann. Nur dann werden sich die Fremden nicht assimilieren, sondern sich so stark vermehren und schließlich kulturell derart dominieren, daß ihre Sprache zur vorherrschenden wird. Andere Formen der Ersetzung sind denkbar. Wenn die eindringende Gruppe gut organisiert und militärisch überlegen ist, kann sie das bestehende gesellschaftliche System übernehmen und mit Waffengewalt beherrschen. Auf diese Weise
kann die neue Elite ihre Sprache den Unterworfenen aufzwingen. Das kann jedoch nur funktionieren, wenn beide Gesellschaften einen relativ hohen Organisationsgrad erreicht haben. Die erobernde Gesellschaft muß über eine überlegene Technologie verfügen und Macht auszuüben verstehen, die eroberte muß so hoch organisiert sein, daß sie überhaupt als Ganzes unterworfen werden kann. Die Kurgan-Invasionen wären ein gutes Beispiel für dieses Modell der Eliteherrschaft, wenn die genannten Bedingungen nachzuweisen wären. Das ist jedoch unwahrscheinlich. Es ist nicht klar, ob es zu jener Zeit schon berittene Krieger gab; damit steht die militärische Überlegenheit der Kurgan-Krieger im Zweifel. Des weiteren muß noch bewiesen werden, daß die Angreifer oder die Bewohner Südost- und Mitteleuropas damals schon hinreichend hoch organisiert waren; es scheint im Gegenteil eine ausgeprägte soziale Gliederung in Europa SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
erst in der Bronzezeit entstanden zu sein. Im vorangehenden Neolithikum waren die meisten Gesellschaften wahrscheinlich egalitär. Zwei andere Formen der Sprachersetzung sollen zumindest am Rande erwähnt werden. Bricht eine hochzentralisierte Gesellschaft zusammen, so können Menschen, die bislang jenseits der Grenzen gehalten wurden, in das entstehende Machtvakuum eindringen, so wie es am Ende des Römischen Reiches geschah. Im Falle eines solchen Systemzusammenbruchs kann die Sprache der erobernden „Barbaren“ jene des Reiches verdrängen. Andererseits entwickelt sich in einer egalitären Gesellschaft mit weitreichendem Gütertausch oftmals eine Handelssprache (lingua franca). Beispiele dafür sind die unterschiedlichen Versionen des Pidgin-Englisch: vereinfachte Mischsprachen aus Englisch und einheimischen Idiomen Ostasiens, Ozeaniens und Schwarzafrikas. Wird Pidgin von einigen Bewohnern als Muttersprache übernommen, nennt man das Kreolisierung, und die Ausbildung solch rudimentärer Hilfssprachen gilt mittlerweile als ein wichtiger Typ der Sprachersetzung.
Wir kommen unserem Ziel wesentlich näher, wenn wir diese Formen der Sprachersetzung – demographischer Wechsel, Eliteherrschaft, Systemzusammenbruch und lingua franca – auf die europäische (Vor-)Geschichte anwenden. Sowohl die Eliteherrschaft als auch ein Systemzusammenbruch erfordern einen Grad der sozialen Organisation, den es vor Beginn der Bronzezeit höchstwahrscheinlich nicht gab. Auch ist es unwahrscheinlich, daß damals bereits ein hinreichend intensiver Handel existierte, um die Entwicklung einer lingua franca auszulösen. Wieder bleibt durch Ausschluß der Alternativen im wesentlichen nur ein Modell übrig, in diesem Falle das zuerst genannte der friedlichen Überfremdung und des Subsistenzwandels. Die Landwirtschaft kam aus Anatolien In der europäischen Vorgeschichte gibt es nur ein Ereignis, das weitreichend und in den Folgen radikal genug war, um in Frage zu kommen, und das paßt genau zu der Bedingung, daß sich der Lebensunterhalt verbessert haben müßte: die
Einführung der Landwirtschaft. Im siebenten vorchristlichen Jahrtausend begann die Verbreitung dieser neuartigen Wirtschaftsweise, die sich auf den Anbau von Weizen und Gerste und die Schafund Ziegenhaltung stützte. Diese Tierund Pflanzenarten waren in Europa nicht heimisch; sie mußten also eingeführt werden. Verfolgt man das Vorkommen der Zuchtvarietäten zurück zu dem nächstgelegenen Stammgebiet ihrer Wildformen, so gelangt man nach Zentralanatolien, einem Teil der heutigen Türkei. Diese Tiere und Pflanzen sind allem Anschein nach annähernd gleichzeitig in mehreren benachbarten Regionen des Nahen Ostens domestiziert worden, jedoch ist Anatolien hier am wichtigsten, da die Kulturformen von dort aus Europa erreichten. Wie sah diese Ausbreitung vom demographischen Standpunkt aus? Albert J. Ammermann und Luca L. Cavalli Sforza von der Universität Stanford (Kalifornien) haben mit ihrem Modell der Fortschrittswellen im wörtlichen und im übertragenen Sinne eine elegante Antwort darauf gegeben. Sie setzen voraus, daß die Landwirtschaft von jeweils ortsansässigen Bauern und deren Nachkom- 왘
Datierung der Fundstelle in Jahren vor unserer Zeitrechnung 3000 bis 2000 4000 bis 3000 5000 bis 4000 6000 bis 5000 früher als 6000
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Die Ausbreitung der Landwirtschaft von ihrem Entstehungszentrum im Nahen Osten über ganz Europa dauerte etwas mehr als 2000 Jahre. Auf der Karte sind jene Fundstellen markiert, an denen die für den frühen Ackerbau typischen Getreidesorten SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
belegt sind. Der Anbau dieser Getreidesorten erreichte Griechenland zwischen 6000 und 5000 vor Christus; 1000 Jahre später war er bereits bis ins heutige Deutschland und Polen verbreitet.
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ARCHÄOLOGIE men getragen wurde. Sobald diese Wirtschaftsweise eine bestimmte Gegend erreichte, erhöhte sich nach dieser Vorstellung deren Bevölkerungsdichte rapide – unter Umständen von einer Person pro zehn Quadratkilometer, wie es für die frühen Jäger- und Sammlergesellschaften als typisch anzunehmen ist, auf das Fünfzigfache. Dieser Bevölkerungszuwachs ist für das Modell von großer Bedeutung. Ammermann und Cavalli-Sforza setzen einen Zeitabstand von 25 Jahren zwischen zwei Generationen voraus. Sie nehmen des weiteren an, daß jeder Bauernsohn im Durchschnitt 35 Kilometer (in irgendeine Richtung) vom Elternhaus weg wanderte, bevor er seinen eigenen Hof gründete. Unter diesen Voraussetzungen hätte die Landwirtschaft sich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von einem Kilometer pro Jahr wie eine Welle über Europa verbreitet. Demnach hätte die neue Subsistenzform, nachdem sie in Anatolien etabliert war, Nordeuropa gut anderthalb Jahrtausende später erreicht, was mit den archäologischen Zeugnissen recht gut übereinstimmt. Selbstverständlich kann ein einzelnes Modell solch
komplexe soziale Prozesse wie die Einführung der Landwirtschaft in Europa nicht im Detail erklären. Unterschiede in Landschaft und Klima sind außer anderen Faktoren die Ursache für erhebliche Abweichungen von den Modellwerten, die auf Durchschnittsverhältnisse berechnet wurden. Modellvarianten Außerdem ist das Modell der Fortschrittswellen keinesfalls das einzig anwendbare, wie Marek Zvelebil von der Universität Sheffield in England und sein Vater Kamil Zvelebil, ein heute in den Niederlanden lebender tschechischer Linguist, gezeigt haben: Die einheimische Jäger- und Sammlerbevölkerung könnte die Landwirtschaft sehr wohl von ihren jeweiligen Nachbarn übernommen haben; dann hätte sich die Seßhaftigkeit samt Ackerbau und Viehzucht etwas langsamer und ohne Sprachersetzung verbreitet, da die Bauern nicht Neuankömmlinge mit neuer Sprache, sondern Einheimische mit neuer Wirtschaftsweise gewesen wären.
Wahrscheinlich kommt eine Kombination beider Modelle der Wirklichkeit am nächsten. Die Landwirtschaft kann durchaus von Fremden nach Griechenland und dann auf den Balkan, nach Mitteleuropa und Süditalien gebracht worden sein. In anderen Gegenden jedoch dürfte sie von den Einheimischen übernommen worden sein, was die ungewöhnliche Dauerhaftigkeit einiger nichtindoeuropäischer Sprachen erklären würde. Eine dieser Sprachen, die bis heute überlebt hat, ist das Baskische. Eine andere war die etruskische Sprache Mittelitaliens, die bis in römische Zeiten gesprochen wurde. Einige weitere nur noch rudimentär bekannte Sprachen wie Iberisch, die frühere Sprache Spaniens, oder Piktisch, eine vorkeltische Sprache Schottlands, können auf diese Weise erklärt werden. Wie auch immer die Landwirtschaft ihren Weg in dieses oder jenes Gebiet gefunden hat – der Prozeß als Ganzes bietet eine in sich stimmige, deutlich abgesetzte Alternative zum herkömmlichen Bild der Verbreitung indoeuropäischer Sprachen nach Europa. Die Einwanderer
ANDREW CHRISTIE
Transformationen der Sprache
Im Gegensatz zur herkömmlichen Vorstellung läßt sich eine Aufeinanderfolge von Transformationen der Sprache parallel zur Ausbreitung der Landwirtschaft denken; sie sind hier numeriert. Die erste fand bei der Ausbreitung von den frühen landwirtschaftlichen Regionen Anatoliens, der Heimat der früh-
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indoeuropäischen Sprache, nach Zentralgriechenland statt, wo sich die Urform des späteren Griechisch entwickelte. Mit jeder weiteren Transformation zweigte jeweils eine neue Sprache oder Sprachengruppe vom bis dahin gebildeten Sprachenstammbaum ab. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
JOHNNY JOHNSON
Hypothetische Ausbreitungswege
Es wird angenommen, daß die Landwirtschaft sich in drei Regionen des Nahen Ostens entwickelte, aus deren jeder sich eine große Sprachfamilie verbreitete. Der anatolische Bereich, in dem sich Çatal Hüyük befindet, kann die Wiege der indoeuropäischen Sprachen gewesen sein. Der zweite Bereich um Jericho war möglicherweise das Ursprungsland der Sprachen Ägyptens und Nordafrikas, das dritte Gebiet um Ali Kosh Quelle einer
kamen nicht aus den Steppen, sondern aus Anatolien und um einige Jahrtausende früher (um 6500 vor Christus), als allgemein angenommen wurde. Aus meiner Hypothese folgt auch, daß die ersten Sprecher des Indoeuropäischen keine einfallenden Krieger mit einer zentral organisierten Gesellschaftsordnung waren, sondern friedliche Bauern, deren Gesellschaft im wesentlichen egalitär war und die im Laufe ihres Lebens vielleicht einige wenige Kilometer gewandert sind. Es ergeben sich wichtige Folgerungen für die Vorgeschichte der Steppenregion Rußlands und für die europäische Vorgeschichte im allgemeinen. Insbesondere müssen demnach die Landwirtschaft und die frühen indoeuropäischen Sprachen die Regionen nordöstlich des Balkans von Westen her erreicht haben anstatt umgekehrt, wie von Childe und Gimbutas postuliert. Tatsächlich gibt es Spuren früher Bauerndörfer in der Ukraine, deren Weizen und Gerste fast mit Sicherheit vom Balkan stammen, wohin der Ackerbau von Anatolien über Griechenland gelangt war. Somit haben sich die ersten Sprecher des Früh-Indoeuropäischen in der Steppenregion wahrscheinlich in einer Sprache anatolischen Ursprungs verständigt, die vorher schon den Weg über GrieSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
weiteren Sprachgruppe in Pakistan und Indien, die erst später durch Sprachen der indoeuropäischen Gruppe ersetzt wurde. Elsloo, Jeitun und Mehrgarh sind Fundplätze früher Agrarsiedlungen auf diesen drei großen Ausbreitungswegen. Die in der Karte gezeigten Ausbreitungswege sind zwar hypothetisch, einen gewissen Anhalt dafür bieten aber neue Erkenntnisse in Linguistik und Genetik.
chenland, Bulgarien und Rumänien genommen hatte. Wenn man die Übernahme des Indoeuropäischen nach Europa bis 6500 vor Christus zurückverlegt, ergibt sich ganz allgemein eine größere Kontinuität in der europäischen Vorgeschichte, als bislang angenommen wurde. Demnach hat der heftige Bruch in der kulturellen Entwicklung zu Beginn der Bronzezeit, der in vielen Lehrbüchern unter dem Stichwort „Ankunft der Indoeuropäer“ beschrieben wird, nicht stattgefunden. Es gab gleichfalls keine Diskontinuität in der Eisenzeit, die durch die Ankunft der Kelten in Nordeuropa ausgelöst worden wäre. Die Vorfahren des legendären Obelix, die Stonehenge, die Steinreihen im bretonischen Carnac und andere Megalithbauten in Europa schufen, waren demnach Indoeuropäer, aus deren Sprache sich die heutigen keltischen Sprachen entwickelt haben.So gesehen erscheint die gesamte europäische Vorgeschichte als eine Abfolge stetiger Wandlungen und evolutionärer Anpassungen auf einer gemeinsamen früh-indoeuropäischen Grundlage, mit einigen wenigen nicht-indoeuropäischen Überbleibseln. Antrieb dieser Entwicklung war nicht eine Folge von Einwanderungen, sondern von komplexen Wechselwirkungen innerhalb eines Europa mit im wesentli-
chen landwirtschaftlich geprägter Ökonomie und indoeuropäischer Sprache. Ich habe mich bisher auf Europa konzentriert; doch ist die Hypothese, daß die Verbreitung einer Sprache mit der Verbreitung der Landwirtschaft gekoppelt ist, auch außerhalb dieses Kontinents anwendbar. Außereuropäische Parallelen Aus archäologischen Zeugnissen geht hervor, daß Anatolien nicht die einzige Zone früher Domestikation war. Im gleichen Großraum existierten noch mindestens zwei Regionen, in denen sich mehr oder weniger selbständig die Landwirtschaft entwickelte: die Levante, ein 50 bis 100 Kilometer breiter Streifen an der Mittelmeerküste der heutigen Staaten Israel samt Westjordanien, Libanon und Syrien sowie die Zagros-Region in Irak und Iran. Da das Fortschrittswellen-Modell der Bevölkerungsausbreitung im wesentlichen auf der Annahme beruht, mit Einführung der Landwirtschaft erhöhe sich die Bevölkerungsdichte, würde man erwarten, daß immer dort, wo Landwirtschaft entstanden ist, eine der europäischen vergleichbare Bevölkerungswelle 왘
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ARCHÄOLOGIE Colin Renfrew ist Professor für Archäologie an der Universität Cambridge (England) und Rektor des dortigen Jesus-College. Nach seiner Promotion in Cambridge 1965 war er zunächst Dozent für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Sheffield und Professor für Archäologie an der Universität Southhampton gewesen, bevor er 1981 nach Cambridge zurückkehrte. Renfrew hat mehrere archäologische Ausgrabungen in Griechenland und auf den britischen Inseln geleitet. In Spektrum der Wissenschaft hatte er bereits im Januar 1984 einen Artikel des Titels „Die Megalith-Kulturen“ veröffentlicht.
sich ausgebreitet habe. Im Falle der Levante bestimmen die geographischen Verhältnisse, daß die Hauptausbreitungsrichtung südwärts auf die arabische Halbinsel und westwärts nach Nordafrika gewesen sein müßte. Die Welle aus der Zagros-Region hätte sich aus ähnlichen Gründen südöstlich und östlich nach Asien fortpflanzen müssen. Mittlerweile häufen sich die Indizien, daß die Landwirtschaft in Afrika nördlich der Sahara nicht viel später einsetzte als in Europa. Dieser Prozeß war nach meiner Auffassung ein getreues Abbild des europäischen. Wie schlug sich dies in der Sprache nieder? Im größten Teil Nordafrikas ist die vorherrschende Sprachgruppe die afroasiatische; diese umfaßt sowohl Altägyptisch und die Berbersprachen als auch die semitischen Sprachen, deren Ursprung man zuweilen in Arabien vermutet. Möglicherweise lassen sich all diese Sprachen zu einer früh-afroasiatischen Wurzel zurückverfolgen, die in dem Bereich erster Seßhaftigkeit in der Levante gesprochen wurde. Aus der Zagros-Region würde man eine Verbreitung der Landwirtschaft nach Osten über den südlichen Iran bis nach Pakistan erwarten. In diesem Zusammenhang ist eine Entdeckung des Sprachwissenschaftlers David McAlpin von der Universität London bemerkenswert: Elamitisch, eine Sprache des alten Reiches von Elam (heute ein Teil Chusestans im südwestlichen Iran), ist mit den drawidischen Sprachen Indiens verwandt. Möglicherweise hat die nach Südosten verlaufende Verbreitungswelle deren gemeinsame Vorläufersprache nach Indien und Pakistan gebracht. Erst
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später wäre dann das Früh-Drawidische von den heute in Indien gesprochenen indoeuropäischen Sprachen verdrängt worden. Diese etwas erweiterte Fassung des Fortschrittswellen-Modells hat zur Folge, daß die Ursprachen der indoeuropäischen, der afroasiatischen und der drawidischen Sprachgruppe vor etwa 10 000 Jahren recht nahe beieinander im Nahen Osten lokalisiert werden können. Diese Hypothese wird von neueren Erkenntnissen aus Linguistik und Genetik gestützt (vergleiche zur Genetik „Zähne als Zeugnisse für die Besiedlung des pazifischen Raums“ von C. G. Turner, Spektrum der Wissenschaft, April 1989). Vor mehr als 30 Jahren schlugen die Sprachwissenschaftler Wladislaw M. Illitsch-Switytsch und Aron Dolgopolsky aus der ehemaligen Sowjetunion vor, eine Anzahl eurasischer Sprachfamilien – darunter die indoeuropäische, die afroasiatische und die drawidische – zu einer Großfamilie namens „Nostratisch“ zusammenzufassen. Die Rekonstruktion solcher Überfamilien, die einen Durchbruch in der Linguistik bedeuten würde, ist bislang noch umstritten (siehe auch „Die Sprachfamilien Amerikas und die Ursprache der Menschheit“ von Manfred Krifka, Monatsspektrum, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1988). Die beiden Wissenschaftler haben ebenfalls Anatolien als das Ursprungsland der proto-indoeuropäischen Sprache vorgeschlagen. Da ich ihre Theorie nicht kannte, als ich meine Thesen aufstellte – sie wird erst allmählich im Westen bekannt –, ist die Übereinstimmung bemerkenswert. Dies wird durch einige neue genetische Entdeckungen der Forschungsgruppen um Cavalli-Sforza und um Allan C. Wilson von der Universität von Kalifornien in Berkeley gestützt. Beide schlossen mit Hilfe statistischer Methoden von der Blutgruppenverteilung heute lebender Menschen auf deren genetische Verwandtschaft. Danach besteht eine vergleichsweise enge Verwandtschaft zwischen den Sprechern der afroasiatischen, der indoeuropäischen und der drawidischen Sprachen. Somit stimmen ihre Erkenntnisse mit der Hypothese von der
Literaturhinweise Zum Ursprung der Indogermanen. Forschungen aus Linguistik, Prähistorie und Anthropologie. Von Lothar Kilian. 2., erweiterte Auflage. Habelt Sachbuch, Band 3, Bonn 1988.
nostratischen Sprachfamilie überein und vielleicht auch mit meiner Hypothese von der eng gekoppelten Ausbreitung von Landwirtschaft und Sprache. Entwirrung der Sprachenvielfalt? Betrachten wir nun zum Schluß die Dinge so global wie überhaupt möglich. Die Idee, Ursprachen und Sprachfamilien bis in die Zeit 10 000 vor Christus zurückzuverfolgen, eröffnet letztlich den Weg zu einem besseren Verständnis des Gesamtphänomens der babylonischen Sprachenvielfalt. Die meisten (wenn auch bei weitem nicht alle) Wissenschaftler glauben heute, daß die vollständige Sprachfähigkeit des heutigen Menschen erst mit dem Homo sapiens sapiens selbst, der anatomisch modernen Form unserer Spezies, entstanden ist. Neue Funde aus Israel und dem Süden Afrikas deuten darauf hin, daß dieser Übergang vor etwa 100 000 Jahren stattfand. Wenig später verbreitete sich der bis heute überlebende Mensch von Afrika aus und bevölkerte weite Teile der Welt. Unter diesen biologischen Rahmenbedingungen sind die menschliche Sprache und deren Vielfalt zu erklären. Das letzte Wort dazu ist allerdings noch nicht gesprochen. Obwohl ich mit umfassenden Betrachtungen abschließe, hatte ich zu Beginn doch ein recht beschränktes Ziel vor Augen: eine Kritik an den traditionellen Erklärungen des Ursprungs der indoeuropäischen Sprachen. Meine einstweilen vorläufige alternative Erklärung wird durch einige aktuelle linguistische und genetische Forschungen bestätigt. Das endgültige Bild wird zweifellos viel komplexer sein als das von mir skizzierte, da es zahlreiche vorgeschichtliche und historische Epochen und eine Vielzahl theoretischer Modelle einbeziehen muß. Dennoch bin ich überzeugt, daß die Ausbreitung der Landwirtschaft von Anatolien nach Europa ein wesentlicher Bestandteil eines künftigen Gesamtbildes sein wird. 왎
Indogermanische Sprachwissenschaft. von Hans Krahe. 6., unveränderte Auflage. Berlin 1985. Archaeology and Language: The Puzzle of Indo-European Origins. Von Colin Renfrew. Cambridge University Press. 1988.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Die Sprache des modernen Europas
E U R– esseO P A N T O very facile und mucho fun!
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nter dem Dach der EU-Verwaltung finden sich Beamte verschiedener Nationalität und Muttersprache versammelt. Jedes Dokument wird in die elf Amtssprachen übersetzt; bei Gipfeltreffen, Versammlungen und Beratungen sorgen Dolmetscher für Verständigung. Bei Begegnungen zwischen Tür und Angel jedoch oder in der entspannten Atmosphäre privater Treffen ist aus schierer Notwendigkeit heraus ein simpler Jargon entstanden, eine wilde Mischung aus sämtlichen Sprachen Europas: das Europanto. „Europanto, esse very facile und mucho fun!“ Der genaue Ursprung des Europanto bleibt ein Geheimnis. Not ist die Mutter aller Erfindungen, und offenbar ist Europanto die Lösung für ein Problem. Die gesellschaftlichen Bedingungen für seine Entstehung sind soziale Mobilität, das Fehlen stabiler Institutionen und das Bedürfnis zu kommunizieren. Auch Kunstsprachen wie Esperanto tragen das Potential internationaler Ausbreitung in sich, aber man muß sie erst einmal lernen. Es sind modernistische und ideologisch eingefärbte Modellsprachen, aber leider für die praktische Anwendung ungeeignet – wie eine Idealstadt von Le Corbusier mitten im Dschungel. Europanto dagegen bildet sich spontan, anarchisch, im täglichen Umgang ... und ist kurzlebig, etwa wie eine Pidginsprache, aber noch urwüchsiger, denn es ist eine Sprache, die kaum Regeln, keine Norm, dafür austauschbare Möglichkeiten des Ausdrucks hat. Genau dieses Spontane macht auch den Charme des Europanto aus: allenfalls unausgegorene grammatische Strukturen, keine Einschränkungen für die Wortwahl, kaum Deklinationen, kaum Konjugationen. Ein Befreiungsschlag. Laut einem Sprecher ähnelt Europanto dem, was einst die Ursprache gewesen sein muß, bevor sich grammatische Zwangsstrukturen herausbildeten: die Sprache der ersten modernen Menschen oder die europäischer Babys.
Diego Marani, Übersetzer im Ministerrat der Europäischen Union in Brüssel. Auf sein Konto geht eine Handvoll humoristischer Erzählungen, die Le soir illustré, eine belgische Wochenzeitung, publiziert hat. Hier die Nachrichten aus Europa: „En 1997, China will adhère aan la UE und in Bruxel un new metro lijn zal relie Schuman aan Peking, via OverijseKarachi. Zo esse kareful no sich endormiren en el metro, porqué your femme wil no believe if you telefone und say que esse in Karachi y que rentre eine bisschen later. De adhesie de la China zal provoke mucha confusione en la UE: Franza zak get dehors de la UE y zal adhère aan Switzerland. Un trou en el tunnel under La Manche zal inonde la Groote Britania que slowly zal sombre nel sea. Only de reine Elizabeth zal sauve sichself, zal ask asyle politik aan Belgika, se marry met el Prince Filip y open ein bistrot à Anderlecht. En germania, zal de Bundesliga take le pouvoir y zal vole todas las reservas de gold des Bundesbank to achete la best equipa de foot del mundo qui sera disqualified by San Marino en la Final de Cup del Monde. Zo germania zal faillite deklare y ne more existe. Eine drastico appel wil esse gelancé aan todo el mundo: »Esse caritative, adopte un allemagno!« Todos los allemagnos zal geadopé worden, sauf M. Kohl, porqué el mange tropo much y no convient. Ik adopte dès now Claudia Schiffer als filleau-pair (père)?“ „1997 wird China EUMitglied sein, und in Brüssel wird eine neue U-Bahn-Linie Schuman und Peking verbinden (über Overijse - Karachi). Paß auf, daß du nicht in der U-Bahn einschläfst: Deine Frau wird dir nicht glauben, wenn du anrufst und sagst, du bist in Karachi und kommst heute ein bißchen später nach Hause. Der Beitritt Chinas wird ein großes Durcheinander in der EU anrichten: Frankreich tritt aus und schließt sich der Schweiz an. Ein Loch im Tunnel unter dem Ärmelkanal wird Großbritannien überschwemmen, das langsam im Meer versinkt. Nur Königin Elizabeth wird sich retten, in Belgien um politisches Asyl nachsuchen, Prinz Philip heiraten und ein Bistro in Anderlecht eröffnen. In Deutschland übernimmt die Bundesliga die Macht und stiehlt die gesamten Goldreserven der Bundesbank, um die beste Fußballmannschaft der Welt zu kaufen, die sich aber im Endspiel der Weltmeisterschaft nicht gegen San Marino durchsetzen kann. Deutschland erklärt sich also bankrott und hört auf zu existieren. Ein drastischer Appell geht um die Welt: ‚Seid barmherzig, adoptiert einen Deutschen!‘ Alle Deutschen werden adoptiert, bis auf Helmut Kohl – er ißt zu viel und ist nicht beliebt. Ich adoptiere ab sofort Claudia Schiffer als Aupair-Mädchen.“ (Unübersetzbares Wortspiel zwischen „fille-aupair“ = „Au-pair-Mädchen“ und gleichlautendem „fille-au-père“ = „Vaterstochter“.)
Das Spontane dieser Sprache verleiht ihr besonderen Charme
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edes Individuum greift auf seine eigenen (internationalen) sprachlichen Ressourcen zurück und setzt sie so für sich jedesmal neu zusammen. Wer hat auf dem Gymnasium nicht schon einmal verschiedene Sprachen durcheinandergemischt, wenn er mit seinen französischen oder englischen Brieffreunden sprach? Mit einem Fehler fängt es an; dann, wenn einem aufgeht, daß der andere einen trotzdem verstehen kann, wird es zu einem Spiel. Die sprachliche Spontaneität bleibt dabei bewahrt. Wenn man eine grundlegende Bildungsregel für Europanto nennen sollte, würde sie lauten: Drück dich aus und verstehe. Prinzipiell kann sich Europanto aus einer beliebigen Anzahl von Sprachen zusammensetzen. Wie sein Name schon sagt, ist es aber überwiegend eurozentrisch: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch werden von vielen verstanden. Baskisch oder Slowenisch etwa führen dagegen eine Existenz am Rande. Außerdem ist das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den Sprachen nicht notwendig konstant; die Wahl eines Wortes ist ganz individuell und hängt nur von der Laune des einzelnen ab. Europanto klingt zwar vertraut, aber liest man es, hinterläßt es doch einen einigermaßen verblüffenden Eindruck. 1997 ist Europanto zum ersten Mal literarisch verwendet worden: dank SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
E
uropanto wird immer erfolgreicher. Nur eine Mode? Oder erleben wir die Entstehung einer wahrhaft europäischen Sprache? Noch sehen die Akademien und die Verfechter künstlicher Sprachen das Europanto bestenfalls als Spiel, schlimmstenfalls als primitive sprachliche Fehlentwicklung. Dabei könnte man sich die Effizienz des Europanto als Beispiel nehmen. Wie wäre es mit der Ausarbeitung eines Asiopanto in Fernost oder eines Afropanto in Afrika.
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LINGUISTIK
Frühgeschichte
Die der indoeuropäischen Sprachen Die Urmutter dieser Sprachenfamilie stammt nicht aus Europa, sondern aus Asien. Aus linguistischen Forschungen ergeben sich ein neuer Wanderungsweg und ein neuer Stammbaum für die verschiedenen Glieder der Familie. Damit verschwimmt die früher deutliche Trennung zwischen einem östlichen und einem westlichen Zweig. VON THOMAS W. GAMKRELIDSE UND WJATSCHESLAW W. IWANOW
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ie Linguistik, die Wissenschaft von der Sprache, kann tiefer in die Vergangenheit des Menschen zurückgreifen als die ältesten schriftlichen Zeugnisse. Durch Vergleich verwandter Sprachen rekonstruiert sie zunächst deren unmittelbare Vorfahren und dringt schließlich bis zum gemeinsamen Urahn der ganzen Familie, der sogenannten Ursprache, vor. Diese wiederum gibt uns Aufschluß über die Umwelt und die Lebensweise ihrer Sprecher und erlaubt damit Rückschlüsse auf die Region und die Zeit, in der sie lebten. Die heutige Linguistik ist aus dem Studium der indoeuropäischen Sprachfamilie entstanden, die mit Abstand die größte Anzahl an Sprachen und Sprechern hat. Fast die Hälfte der Weltbevölkerung spricht eine indoeuropäische Sprache als Muttersprache; nicht von ungefähr gehören sechs der zehn Sprachen, in denen die Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft erscheint – Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Russisch und Spanisch –, zu dieser Großfamilie. In den vergangenen 200 Jahren Rekonstruktionsarbeit hat die Linguistik ein immer vollständigeres, konsistenteres und damit auch gesicherteres Bild der hypothetischen indoeuropäischen Ursprache gewonnen. Sie versucht aufzudecken, auf welchen Wegen sich die Ursprache in Tochtersprachen verzweigte, die sich ihrerseits später über den eurasischen Kontinent ausbreiteten, und sucht im gemeinsamen Ausgangspunkt dieser Wege die Heimat der Ursprache selbst. Die frühen Linguisten verlegten dieses Ursprungsland nach Europa und postulierten Wanderungswege, auf denen sich die Tochtersprachen in zwei wohlunterschiedene Zweige, einen östlichen und einen westlichen, entwickelten. Dagegen ergibt sich aus unseren eigenen
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Forschungen, daß die Ursprache vor mehr als 6000 Jahren in Ostanatolien entstanden ist und daß einige Tochtersprachen im Verlauf der Sprachdifferenzierung zuerst nach Osten und später nach Westen gewandert sind. Es ist bemerkenswert, daß Archäologen, deren Arbeit ja auf ganz anderem Material basiert, im wesentlichen zum gleichen Ergebnis gekommen sind. Die Rekonstruktion toter Sprachen ist dem Verfahren vergleichbar, mit dem Molekularbiologen genetische Stammbäume aufstellen: Man sucht bei Lebewesen ganz verschiedener Arten nach Molekülen ähnlicher Funktion oder Bauweise und versucht daraus auf die Eigenschaften einer hypothetischen gemeinsamen Urahnen-Zelle zu schließen. Entsprechend sucht der Linguist Übereinstimmungen in Grammatik, Wortschatz und Aussprache unter den bekannten Sprachen, um ihre unmittelbaren Vorfahren und am Ende einer langen Kette die Ursprache zu rekonstruieren. Gesetze der Lautveränderung Die Aussprache lebender Sprachen zu vergleichen ist nicht schwer; auch gibt es in der Regel ausreichend viele linguistische Anhaltspunkte, um die Aussprache toter Sprachen, die schriftlich überliefert sind, zu rekonstruieren. Tote Sprachen, für die keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen, jedoch nur rekonstruiert werden, indem man ihre Nachfahren vergleicht und die empirischen Gesetze der Lautveränderung in die Vergangenheit extrapoliert. Die Phonologie (Lautlehre) ist für die historische Sprachwissenschaft von überragender Bedeutung, weil sich Laute über die Jahrhunderte hinweg weniger verändern als Bedeutungen.
Die ersten Erforscher der indoeuropäischen Sprachen konzentrierten sich auf die Sprachfamilien, die ihnen als Europäern am geläufigsten waren: die romanische, die keltische, die germanische, die baltische und die slawische. Schon im 16. Jahrhundert allerdings hatten europäische Reisende Ähnlichkeiten zwischen diesen und den arischen Sprachen des weit entfernten Indien bemerkt. Der britische Orientalist und Jurist Sir William Jones (1746 bis 1794), der mit seiner Kenntnis von 28 Sprachen über beispiellose Vergleichsmöglichkeiten verfügte, äußerte 1786 erstmalig die Vermutung, sie könnten alle einen gemeinsamen Vorfahren haben; damit begründete er die (später so genannte) indoeuropäische Hypothese, die für die Pioniere der historischen Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert Hauptmotiv ihrer Forschung wurde. Die frühen Rekonstruktionen der Ursprache gründen wesentlich auf dem Grimmschen Gesetz der Lautverschiebung, nach welchem Konsonanten einer Gruppe im Verlauf der Zeit in regelmäßiger und voraussagbarer Weise durch Konsonanten einer anderen Gruppe ersetzt werden. Jacob Grimm (1785 bis 1863), der 1822 dieses Gesetz formulierte, ist freilich besser bekannt durch die Märchen, die er zusammen mit seinem Bruder Wilhelm (1786 bis 1859) gesammelt hat. Das Grimmsche Gesetz lieferte unter anderem eine Erklärung, warum einige harte Konsonanten in den germanischen Sprachen erhalten geblieben sind, obwohl der generelle Trend die Ersetzung harter Konsonanten durch weiche ist. Anscheinend waren an die Stelle der weichen, stimmhaften (mit einem kurzen Schwingen der Stimmbänder gesprochenen) Konsonanten b, d und g der Urspra- SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
THOMAS C. MOORE
Der Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen kann auf eine Ursprache zurückgeführt werden, die vor mehr als 6000 Jahren gesprochen wurde – und zwar, den Autoren zufolge, im Nahen Osten. Diese löste sich in Dialekte auf, aus denen sich verschiedene Sprachen entwickelten; diese spalteten sich ihrerseits in Generationen von Tochtersprachen. Tocharisch, eine tote Sprache Asiens, hat Verbindungen zum Keltischen, einer alten europäischen Sprache. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Ähnlichkeiten zwischen der balio-slawischen und der indo-iranischen Sprachfamilie deuten darauf hin, daß sie sich gegenseitig beeinflußten, bevor ihre Sprecher sich trennten und nach Norden beziehungsweise Süden wanderten. Tote Sprachen sind kursiv, Sprachen, die keine schriftlichen Zeugnisse hinterließen, in eckigen Klammern angegeben. Das Albanische, ein selbständiger Zweig des Indoeuropäischen, wäre in dem Stammbaum zu ergänzen.
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LINGUISTIK nannten Fruchtbaren Halbmond liegen, einem langen, gekrümmten Land streifen, der sich von der Balkan-Halbinsel südostwärts nach Anatolien (dem asiatischen Teil der heutigen Türkei) und entlang der Südküste des Schwarzen Meeres bis zum Kaukasus erstreckt. Hier muß der revolutionäre Übergang zur Seßhaftigkeit und zur Landwirtschaft stattgefunden haben. Der dadurch bereitgestellte Uberfluß an Gütern veranlaßte die Indoeuropäer, Dörfer und Stadtstaaten zu gründen, von denen aus sie vor etwa 6000 Jahren den eurasischen Kontinent und damit die Bühne der geschichtlichen Uberlieferung betraten. Zeugnisse früher Sprachen Einige von ihnen drangen um etwa 2000 vor Christus von Osten her nach Anatolien ein und gründeten das hethitische Reich, das spätestens um 1400 vor Christus ganz Anatolien beherrschte. Seine Amtssprache gehört zu den ersten verschrifteten indoeuropäischen Sprachen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts entzifferte Bed˘rich Hrozn´y, ein in Wien und
später in Prag lehrender Linguist hethitische Keilschrifttafeln, die in der Bibliothek der Hauptstadt Hattusa, 200 Kilometer östlich des heutigen Ankara, gefunden worden waren. Die Bibliothek enthielt auch Tafeln in zwei verwandten Sprachen: Luwisch und Palaisch. Die Entwicklung des Luwischen konnte in späteren hieroglyphischen Inschriften verfolgt werden, die um 1200 vor Christus nach dem Untergang des hethitischen Reiches verfaßt worden waren. In diesen Sprachen manifestierte sich die anatolische Sprachfamilie. Zur gleichen Familie zählen die Linguisten auch das (dem Hethitischen verwandte) Lydische und das (dem Luwischen verwandte) Lykische, die durch Inschriften aus dem letzten Jahrtausend vor Christus bekannt sind. Das Auftreten des Hethitischen und anderer anatolischer Sprachen um die Wende vom dritten zum zweiten vorchristlichen Jahrtausend liefert den Forschern eine zeitliche Schranke für die Aufspaltung der indoeuropäischen Ursprache. Da bereits zu dieser Zeit Tochtersprachen der anatolischen Ursprache existierten, muß wiederum diese sich
Wanderungen entfernten die indoeuropäische Ursprache von ihrer Heimat, die die Verfasser südlich des Kaukasus ansiedeln, und zersplitterte sie in Dialekte. Einige breiteten sich westlich nach Anatolien und Griechenland aus, andere südöstlich nach Iran und Indien. Die meisten westlichen Sprachen stammen von einem östlichen Zweig ab, der das Kaspische Meer umrundete. Beim Kontakt mit den semitischen Sprachen Mesopotamiens und mit den kartwelischen Sprachen im Kaukasus wurden viele Fremdwörter übernommen.
THOMAS C. MOORE
che die jeweils entsprechenden harten, stimmlosen Konsonanten p, t und k getreten – nach dem Grimmschen Gesetz hatte eine sogenannte Entstimmung dieser Konsonanten stattgefunden. (Ein Laut wie p wird ohne Schwingen der Stimmbänder gesprochen). Daher gilt das sanskritische dhar als archaische Form des englischen drow und dieses wiederum als archaischer als das deutsche tragen (alle drei Wörter sind bedeutungsverwandt). Mit Hilfe solcher Prinzipien rekonstruierten die Linguisten einen indoeuropäischen Wortschatz, der seinerseits Auskunft über die Lebensumstände seiner Sprecher gibt. Die Wörter beschreiben eine Landschaft und eine Klimazone, die man ursprünglich nach Europa zwischen den Alpen im Süden und der Ost- und Nordsee im Norden lokalisierte. Nach neueren Erkenntnissen hingegen ist die Heimat der indoeuropäischen Ursprache im westlichen Asien zu suchen. Drei Generationen von Archäologen und Sprachwissenschaftlern entdeckten und entzifferten Schriftzeugnisse nahezu eines Dutzends alter Sprachen; die Fundstellen reichen von der heutigen Türkei bis ins weit im Osten gelegene Chinesisch-Turkestan, wo die Sprecher des Tocharischen lebten. Ihre Funde und Befunde zusammen mit neuen Fortschritten in der theoretischen Linguistik erzwangen eine grundsätzliche Revision der Theorie der Sprachentwicklung. Nach den neuen Erkenntnissen muß die Landschaft, von der die Ursprache geprägt worden ist, irgendwo im soge-
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Verschlußlaute in der indoeuropäischen Ursprache
EDWARD BELL
spätestens im vierten vorchristlichen Jahrtausend – und möglicherweise viel früher – von ihrer Mutter-Sprache getrennt haben. Diese Folgerung wird durch das gestützt, was über die nach der Abspaltung der anatolischen Sprachen verbliebenen Mitglieder der indoeuropäischen Sprachen-Großfamilie bekannt ist. Von diesen stammen die Sprachen ab, die bis in die geschriebene Geschichte hinein weiterlebten. Ihren frühesten Zweig bildete die iranische Sprache und die griechisch-armenische. Aus den Keilschrifttafeln von Hattusa geht weiter hervor, daß spätestens in der Mitte des zweiten Jahrtausends aus der indo-iranischen Gruppe die churritische Sprache entstanden war, die im Reich Mitanni an der südöstlichen Grenze Anatoliens gesprochen wurde und sich schon vom Altindischen (häufig Sanskrit genannt) und dem Altiranischen unterschied. Die Sprache kretisch-mykenischer Texte aus derselben Zeit, die in den frühen fünfziger Jahren von den britischen Gelehrten Michael G. F. Ventris und John Chadwick entziffert wurden, entpuppte sich als ein bis dahin unbekannter Dialekt des Griechischen. All diese Sprachen waren vom Armenischen abgezweigt. Eine weitere Sprachfamilie, die sich relativ früh von der indoeuropäischen Ursprache trennte, ist die tocharische. Das Tocharische wurde erst in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in Texten aus dem chinesischen Turkestan identifiziert. Diese Texte waren verhältnismäßig leicht zu entziffern, weil sie in einer Variante der aus Indien stammenden Brahmi-Schrift verfaßt wurden und hauptsächlich Übersetzungen bekannter buddhistischer Schriften waren. Der britische Gelehrte W. H. Henning stellte die These auf, die Tocharer seien mit den Gutäern identisch. Dieser Name erscheint in babylonischen Keilschriften, die ihrerseits in Akkadisch, einer semitischen Sprache, geschrieben sind und aus der Zeit Ende des dritten Jahrtausends stammen, als der König Sargon das erste Großreich Mesopotamiens schuf. Wenn Hennings Ansichten zutreffen, dann sind die sogenannten Tocharer die ersten Indoeuropäer, die in der schriftlich niedergelegten Geschichte des Nahen Ostens erscheinen. Ähnlichkeiten im Wortschatz des Tocharischen und des Italo-Keltischen deuten darauf hin, daß die Sprecher beider Sprachfamilien in der indoeuropäischen Heimat engeren Kontakt miteinander hatten, bevor erstere nach Osten wanderten.
Drei Gruppen von Verschlußlauten (Konsonanten, die durch Unterbrechung des Luftwegs gebildet werden) waren charakteristisch für die indoeuropäische Ursprache. Nach dem klassischen Modell (oben) war eine Gruppe stimmhaft (von einem kurzen Schwingen der Stimmbänder begleitet wie das g in „Tiger“), eine zweite war stimmhaft und aspiriert (gefolgt von einem h-Laut, eine Kombination, die im Deutschen nicht vorkommt), und die dritte war stimmlos (wie das k in „Kind“). In dem hier vorgestellten Modell (unten) besteht die erste Gruppe aus glottalisierten Lauten, hier wird der Luftweg in der Nähe der Stimmbänder unterbrochen, so wie ein Dortmunder das t in „Dortmund“ auszusprechen pflegt. Die zweite Gruppe enthält stimmhafte und stimmhaft-aspirierte, die dritte stimmlose und stimmlosaspirierte Formen. Glottalisierte Verschlußlaute sind mit Apostroph, in der Ursprache fehlende Verschlußlaute in Klammern angegeben.
Die vielfach verzweigten Wanderungswege der Menschen und ihrer Sprachen können jetzt bis zu einer gemeinsamen indoeuropäischen Ursprache und deren Heimat zurückverfolgt werden. Dies folgt aus der obengenannten Revision der phonologischen Regeln. Zum Beispiel gibt es eine unumstrittene Besonderheit des Lautsystems der Ursprache: die fast völlige Abwesenheit eines der drei Labiale (der mit den Lippen gebildeten Konsonanten) p, b und w. Nach der bisherigen Vorstellung war b der fehlende Konsonant. Neuere phonologische Forschungen erbrachten genau das Gegenteil: Wenn einer der drei Labiale in einer Sprache fehlt, dann am ehesten nicht derjenige, der im Deutschen als b geschrieben wird. Rekonstruktion des Sprachenstammbaums Deshalb entschieden wir uns, das gesamte für die Ursprache postulierte Konsonantensystem zu überprüfen, und schlugen schon 1972 ein neues System vor. Es ist nach wie vor Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Diese konzentriert sich allerdings mittlerweile verstärkt auf die Frage, welche Eigenschaften die indoeuropäische Ursprache mit anderen Sprachfamilien denn gemein hat – Ziel der Suche ist die Ursprache der Menschheit schlechthin, von der man nun erste Ahnungen zu haben meint (vergleiche „Die Sprachfamilien Amerikas und die Ursprache der
Menschheit“ von Manfred Krifka, Monatsspektrum, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1988). Nach der klassischen Theorie werden die sogenannten Verschlußlaute – jene Konsonanten, die durch Unterbrechung des Luftstroms gebildet werden – in drei Kategorien eingeteilt. Der labiale Verschlußlaut b erscheint in der ersten Spalte im Bild oben als stimmhafter Konsonant; er ist eingeklammert, weil sein Fehlen in der Ursprache vermutet wird. In die gleiche Gruppe gehören die zwei stimmhaften Verschlußlaute d (Verschluß zwischen der Zungenspitze und dem harten Gaumen) und g (Verschluß zwischen Zungenrücken und Gaumensegel). Hingegen werden in dem von uns entwickelten Schema (im Bild oben unterer Teil), die entsprechenden Konsonanten mit einem Knacklaut (Glottisschlag) gebildet. Dieser entsteht durch Schließen des Kehlkopfes bei den Stimmbändern, was den nach außen gerichteten Luftstrom unterbricht. In unserem Schema ist der stimmlose, labiale Verschlußlaut (p') der fehlende Laut (der Strich bezeichnet den Glottisschlag); in derselben Gruppe folgen t' und k', die sich zu ihren stimmhaften Gegenstücken d beziehungsweise g verhalten wie (p') zu (b). Glottisschläge kommen in vielen verschiedenen, vor allem aber kaukasischen Sprachfamilien vor. Der glottalisierte Verschlußlaut, eine sehr harte Form eines Konsonanten, neigt allerdings dazu, schwächer zu werden und in den meisten Sprachen der Welt vollkommen zu verschwinden. Deshalb haben wir die Ver-
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LINGUISTIK mutung angestellt, daß unter den labialen Verschlußlauten eher das p' als das b dasjenige war, das aus der indoeuropäischen Ursprache verschwand. Unser indoeuropäisches Glottalsystem, das durch den phonologischen Vergleich lebender und geschichtlich bezeugter indoeuropäischer Sprachen konstruiert wurde, scheint uns plausibler zu sein als das klassische System. Die fast völlige Abwesenheit des labialen Phonems (p') läßt sich auch im Rahmen der Entwicklung der zwei anderen glottalisierten Verschlußlaute und des ganzen in Bild auf voriger Seite gezeigten Systems zwanglos erklären.
NANCY FIELD
Rekonstruktion der Entwicklungswege
Die Stammbäume der Wörter können so weit zurückverfolgt werden, wie es schriftliche Zeugnisse gibt; für die Zeit davor werden sie durch die Anwendung von Lautentwicklungsregeln rekonstruiert. Rekonstruierte Wörter sind durch einen Stern gekennzeichnet. In vielen indoeuropäischen Sprachen lassen sich sowohl die Wörter für „Mensch“ als auch die für „Erde“ von der ursprachlichen Wortwurzel *dheghom- herleiten.
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Bei unserer Revision des indoeuropäischen Konsonantensystems haben wir auch die Entwicklungswege der Ursprache zu den historisch belegten indoeuropäischen Sprachen in Frage gestellt. Nachdem wir eine Rekonstruktion der Ursprachen-Konsonanten durchgeführt hatten, konnten wir feststellen, daß diese denen der germanischen, der armenischen und der hethitischen Tochtersprache näher stehen als denen des Sanskrit. Das stellt die klassische Vorstellung genau auf den Kopf, nach der die erstgenannten Sprachen eine systematische Lautverschiebung durchgemacht hätten, während das Sanskrit das ursprüngliche Lautsystem getreulich beibehalten hätte. Die Verwandlung der Konsonanten beim Übergang von Mutter- zu Tochtersprache sei an dem Wort für „Rind“ beispielhaft erläutert. Das entsprechende Wort in Sanskrit ist gáuh und im Griechischen boûs; es ist seit langem unbestritten, daß das deutsche Kuh, das englische cow sowie boûs und gáuh von einem gemeinsamen indoeuropäischen Urwort abstammen. Dieses Wort hat aber je nach Lautsystem verschiedene Formen: Im Glottalsystem heißt es *k’wwou- mit dem stimmlosen Konsonanten (der Stern vor einem Wort kennzeichnet es als rekonstruiert, das hochgestellte w deutet eine Rundung der Lippen an), was es den entsprechenden Wörtern im Englischen und im Deutschen lautlich näher rückt als denen im Griechischen oder im Sanskrit. Im klassischen System heißt das Wort *gwou, was fast die gleiche Form hat wie im Sanskrit. Nach dem Grimmschen Gesetz würde die Verwandlung von *gwou zum deutschen Wort Kuh die Entstimmung des ersten Konsonanten von g nach k erSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
fordern. Hier zeigt sich die Stärke des glottalischen Systems: Es erübrigt die Annahme einer gegen den allgemeinen Trend verlaufenden Entstimmung und setzt die stimmlosen Verschlußlaute in den germanischen Sprachen mit stimmlosen glottalisierten Verschlußlauten der indoeuropäischen Ursprache in Beziehung. So gesehen, sind die germanischen Sprachen archaischer als Sanskrit und Griechisch, und das glottalische System ist konservativer als das klassische, indem es mit weniger Laut-Transformationen auskommt und insbesondere die schwierig zu begründende Entstimmung vermeidet. Wir können mehr über die frühesten Indoeuropäer aus anderen Elementen ihres rekonstruierten Wortschatzes lernen: Einige Wörter beschreiben eine Technik in der Landwirtschaft, die bereits um das Jahr 5000 vor Christus existiert hat. Zu dieser Zeit hatte sich die landwirtschaftliche Revolution schon von ihren Ursprüngen im Fruchtbaren Halbmond, wo der erste archäologische Nachweis für Landwirtschaft bis 8000 vor Christus zurückreicht, nach Norden ausgebreitet. Von demselben Gebiet breitete sich die Landwirtschaft auch in Richtung Süden aus, wo sie für die Zivilisationen Mesopotamiens die materielle Basis lieferte, und westwärts nach Ägypten. Die indoeuropäischen Wörter für Gerste, Weizen und Flachs, für Äpfel, Kirschen, Maulbeeren und deren Bäume, für Weinstöcke und Trauben sowie für verschiedene Geräte zum Anbauen und Ernten lassen auf eine Lebensweise schließen, die in Nordeuropa bis zum dritten oder zweiten vorchristlichen Jahrtausend – der Zeit der ersten archäologischen Zeugnisse – unbekannt war. Die Landschaft, die von der rekonstruierten Ursprache bezeichnet wird, ist gebirgig – wie aus den vielen Wörtern für hohe Berge, Bergseen und reißende, von Bergquellen gespeiste Flüsse bezeugt wird. Ein solches Bild paßt weder zum mitteleuropäischen Flachland noch zu den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres, die ersatzweise als Heimat der Indoeuropäer favorisiert wurden, dagegen sehr gut zur Landschaft Ostanatoliens und Transkaukasiens, die durch den erhabenen Kaukasus begrenzt wird. Die Flora dieser Region findet sich in Wörtern für Bergeiche, Birke, Buche, Hain-
buche, Esche, Weide, Eibe, Pinie oder Tanne, Heidekraut und Moos. Außerdem hat die Sprache Namen für Tiere, die nicht in Nordeuropa heimisch sind: Leopard, Schneeleopard, Löwe, Affe und Elefant. Die Existenz eines Wortes für „Buche“ wurde übrigens als Argument zugunsten des europäischen Flachlandes und gegen die untere Wolga als mutmaßliche indoeuropäische Heimat angeführt. In der Tat wächst die Buche nicht östlich einer Linie von Danzig an der Ostsee bis zur nordwestlichen Ecke des Schwarzen Meeres. Zwei Buchenarten (Fagus orientalis und Fagus sylvatica) gedeihen aber in der heutigen Türkei. Gegen das sogenannte Buchen-Argument steht das Eichen-Argument: Paläobotanische Beweise zeigen, daß die Eiche (die zum Wortschatz der rekonstruierten Sprache gehört) im nacheiszeitlichen Nordeuropa nicht heimisch war, sondern sich erst um die Wende vom vierten zum dritten Jahrtausend allmählich aus dem Süden dorthin ausbreitete. Einen weiteren bedeutenden Hinweis liefern die Bezeichnungen für den beräderten Transport. Es gibt zum Beispiel Wörter für „Rad“ (*rotho-), „Achse“ (*hakhs-), „Joch“ (*iuk'om) und dazugehörige Geräte. (Das hochgestellte h bezeichnet den aspirierten Laut.) „Pferd“ heißt *ekhos und „Fohlen“ *pholo. Namen für die bronzenen Beschläge eines Wagens und für die Bronzewerkzeuge, mit denen die Wagen aus dem Laubholz der Berge hergestellt wurden, enthalten Wortbestandteile, die das Schmelzen von Metall bezeichnen. Petroglyphen, in Stein gehauene Symbole, die im Gebiet vom Transkaukasus bis zum oberen Mesopotamien zwischen den Van- und Urmia-Seen gefunden wurden, sind die frühesten Bilder von Wagen, die von Pferden gezogen werden. Die vermutete Heimat der Indoeuropäer ist zumindest eines der Gebiete, in denen im vierten Jahrtausend vor Christus das Pferd endgültig domestiziert und als Zugtier eingespannt wurde. Von hier aus breiteten sich im dritten und zweiten Jahrtausend Fahrzeuge auf Rädern zusammen mit der Wanderung der Indoeuropäer aus – in Richtung Osten nach Zentralasien, nach Westen in den Balkan und in einem großen Bogen um das Schwarze Meer herum nach Mitteleuropa. Der Wagen ist ein bedeutender Beweis für den Austausch unter den Kulturen, da er sowohl
Über die Wörter der frühen Indoeuropäer können wir auf ihre Welt schließen
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bei den indoeuropäischen Völkern als auch bei den Mesopotamiern eine wesentliche Rolle in Bestattungs- und anderen religiösen Riten spielte. Der Kontakt zu anderen westasiatischen Kulturen wird aber auch durch gemeinsame mythologische Themen bezeugt –zum Beispiel den Diebstahl der Äpfel der Hesperiden durch Herakles und ähnliche altnordische und keltische Sagen. Vermutete Heimat: Ostanatolien Außerdem identifizieren sowohl die semitischen wie auch die indoeuropäischen Sprachen den Menschen mit der Erde. Im Hebräischen bedeutet adam „der Mensch“ und adamah „die Erde“, beide stammen von einer Wurzel in der semitischen Vorgängersprache ab (vergleiche die biblische Schöpfungsgeschichte: „Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß...“). Die Fremdwörter „human“ und „Humus“ im Deutschen entstammen auf dem Weg über die lateinischen Wörter homo und humus dem urindoeuropäischen Word *dheghom-, das zugleich „Erde“ und „Mensch“ („Erdling“) bedeutet. Auf den Ursprung der indoeuropäischen Sprachen in Ostanatolien lassen auch zahlreiche Wörter schließen, die aus damals dort heimischen Sprachen entlehnt wurden: Semitisch, Kartwelisch, Sumerisch und sogar Ägyptisch. Umgekehrt gab auch das Indoeuropäische Wörter an jede dieser Sprachen weiter. Der prominente Pflanzengenetiker Nikolai I. Wawilow aus der ehemaligen Sowjetunion fand ein eindrucksvolles Beispiel für einen solchen Austausch: das russische vinograd („Traube“), das italische vino und das germanische wein („Wein“). Diese lassen sich alle bis zu dem indoeuropäischen *woi-no (oder *wei-no), dem früh-semitischen *wajnu, dem ägyptischen *wns, dem kartwelischen *wino und dem hethitischen *wijana zurückverfolgen. Wir müssen einräumen, daß es in dem weiten Gebiet, in dem wir die Heimat der Indoeuropäer angesiedelt haben, kein archäologisches Zeugnis einer Kultur gibt, die eindeutig als indoeuropäisch klassifiziert werden könnte. Immerhin haben die Archäologen an einer Anzahl von Stätten Relikte einer materiellen und spirituellen Kultur vorgefunden, die zumindest derjenigen ähnlich ist, die im indoeuropäischen Wortschatz ihren Niederschlag gefunden hat. So schmückten die Menschen der Tall-Halaf-Kultur Nordmesopotamiens
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LINGUISTIK dritten vorchristlichen Jahrtausend. Zwei Gruppen indo-iranisch sprechender Menschen gelangten während des zweiten Jahrtausends vor Christus nach Osten. Eine von ihnen, die Sprecher der Kafiri-Sprachen, lebt bis zum heutigen Tag in Nuristan auf den südlichen Hängen des Hindukusch im nordöstlichen Afghanistan. Wawilow stellt in seinem Buch „Fünf Kontinente“, in dem er seine zahlreichen botanischen Expeditionen zwischen 1916 und 1933 eingehend beschreibt, die Theorie auf, die Kafiren könnten einige ursprüngliche Überreste des Indo-Iranischen bis heute bewahrt haben.
THOMAS C. MOORE
Das goldene Vlies, der Lack und der Lachs
Petroglyphen aus Usbekistan (aus dem zweiten oder dritten vorchristlichen Jahrtausend) liefern eine archäologische Bestätigung für die linguistisch begründete Behauptung, daß die Indoeuropäer bespannte Wagen besaßen. Fuhrwerke wie die hier symbolhaft in Stein gezeichneten erleichterten die Landwirtschaft und die Wanderungen, die von wachsendem Bedarf an Weide- und Ackerland ausgelöst wurden.
ihre Gefäße mit religiösen Symbolen – solchen der Männlichkeit wie Stierhörnern und manchmal Widderköpfen sowie stilisierten Leopardenfellen –, die auch in der etwas jüngeren Çatal-Hüyük-Kultur des siebten Jahrtausends vor Christus in Westanatolien zu finden sind. Beide Kulturen haben Ähnlichkeiten mit der späteren transkaukasischen Kultur eines Gebietes, das sich entlang der Flüsse Kura und Arax erstreckt und den Südteil Transkaukasiens, Ostanatolien und den nördlichen Iran umfaßt. Die Einzelheiten der Wanderung In den 2000 Jahren, bevor die in der Heimat verbliebenen Indoeuropäer ihre Geschichte aufzuschreiben begannen, bescherte ihnen die landwirtschaftliche Revolution eine echte Bevölkerungsexplosion. Wir dürfen vermuten, daß der Bevölkerungsdruck die aufeinanderfolgenden Wanderungswellen der Indoeuropäer zu fruchtbaren, noch nicht kultivierten Gebieten ausgelöst hat. Die linguistisch begründete Verlegung des Ursprungslands von Nordeu-
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ropa nach Kleinasien erzwingt eine tiefgreifende Revision der Theorien über die Wanderungswege, auf denen sich die indoeuropäischen Sprachen über den eurasischen Kontinent ausgebreitet haben. Insbesondere sind die hypothetischen Arier, die angeblich die sogenannte arische oder indo-iranische Sprache von Europa nach Indien trugen – und von den Nationalsozialisten als nordische Übermenschen zwangsverpflichtet wurden –, in Wirklichkeit echte Indo-Iraner, die den erheblich plausibleren Weg von Kleinasien am Westrand des Himalaja vorbei und hinab durch das heutige Afghanistan zurücklegten, um sich schließlich in Indien niederzulassen. Daher ist Europa nicht als der Ausgangs-, sondern vielmehr als ein Endpunkt der indoeuropäischen Wanderung anzusehen. Die Sprecher des Hethitischen, des Luwischen und anderer anatolischer Sprachen wanderten über verhältnismäßig kurze Entfernungen innerhalb ihrer Heimat, und ihre Sprachen starben dort mit ihnen aus. Die ausgedehnteren Wanderungen der Sprecher der griechisch-armenisch-indo-iranischen Dialekte begannen hingegen mit Auflösung des Kerns der indoeuropäischen Sprachgemeinschaft im
Die zweite Gruppe von Indo-Iranern, die einen südlicher gelegenen Weg in das Tal des Indus nahmen, sprach einen Dialekt, von dem die historisch belegten Sprachen Indiens abstammen. Deren früheste ist die Sprache der Rig-VedaHymnen, die in einer altertümlichen Variante des Sanskrit verfaßt wurden. Die einheimischen Völker des Indus-Tales, die von archäologischen Funden in ihren Städten Mohenjo-Daro und Harappa bekannt sind, wurden offensichtlich von den Indo-Iranern verdrängt. Nachdem diese nach Osten abgewandert waren, blieb die griechisch-armenische Sprachgemeinschaft noch einige Zeit in der Heimat. Nach der Anzahl der Lehnwörter zu urteilen, hatten sie dort Kontakt zu den Sprechern des Kartwelischen, des Tocharischen und der alten indoeuropäischen Sprachen, aus denen sich später die historisch belegten europäischen Sprachen entwickelten. Eine solche Entlehnung aus dem Kartwelischen wurde zum Wort ko—as, „Vlies“ in den homerischen Epen. Auf einer zweisprachigen Keilschrifttafel, die im Archiv von Hattusa gefunden wurde, ist eine Sage von einem Jäger in der damals schon ausgestorbenen churritischen Sprache zusammen mit einer Ubersetzung ins Hethitische aufgezeichnet. Dieser bemerkenswerten Entdeckung verdanken wir das churritische Wort aschi, von dem askós, Homers Wort für „Fell“, offensichtlich abstammt. Vor ihrer Wanderung zum Ägäischen Meer entlehnten die Griechen auch das hethitische Wort kursa, das durch eine häufig vorkommende lautliche Verschiebung zu búrsa wurde, einem weiteren Synonym für „Vlies“. Diese Wörter scheinen die Vorstellung der alten Griechen zu bestätigen, ihre Vorfahren seien SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Literaturhinweise Indoeuropäisch und die Indoeuropäer: Rekonstruktion und historisch-typologische Analyse einer Ursprache und Ur-Kultur. Von Thomas W. Gamkrelidse und Wjatscheslaw W. Iwanow (in russischer Sprache). Staatliche Universität Tbilisi, 1984. Archaeology and Language: The Puzzle of Indo-European Origins. Von Colin Renfrew. Cambridge University Press, 1988. Reconstructing, Languages and Cultures: Abstracts and Materials from
aus Westasien gekommen, so wie es die Sage von Jason und den Argonauten erzählt, die das goldene Vlies in Kolchis am östlichen Ufer des Schwarzen Meeres suchten. Der Beweis dafür, daß die Griechen von dort in ihre historische Heimat eingewandert sind, läßt die griechischen „Kolonien“ am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres in einem ganz neuen Licht erscheinen. Was bislang für Kolonien gehalten wurde, sind wahrscheinlich sehr frühe Siedlungen gewesen, Stützpunkte der Griechen auf der Wanderung zu ihrer historischen Heimat. Die historischen – literarisch belegten – europäischen Sprachen liefern den Beweis dafür, daß die Dialekte, von denen sie abstammen, mit den Tocharern zusammen nach Zentralasien wanderten. Diese Sprachen haben viele Wörter gemeinsam. Ein Beispiel ist das Wort für „Lachs“, das früher als gewichtiges Argument für eine Heimat in Nordeuropa galt, da die Zuflüsse der Ostsee von Lachsen wimmelten. Das Wort lox („Lachs“) in den germanischen Sprachen findet sich möglicherweise in dem Wort lak- im Hindi wieder; dieses bezeichnet einen Lackfarbstoff, dessen Tönung – rosa – an die des Lachsfleisches erinnert. Eine Lachsart, Salmo trutta, kommt zudem in den Flüssen des Kaukasus vor; und die Wurzel lak-s bedeutet „Fisch“ in früheren und späteren Formen des Tocharischen wie auch in den alten europäischen Sprachen. Daß die Sprecher einiger früher indoeuropäischer Dialekte nach Zentralasien gewandert sind, wird durch Lehnwörter aus der dem nördlichen Ural entstammenden finno-ugrischen Sprachfamilie, der Mutter des modernen Finnisch und Ungarisch, bestätigt. Unter dem Einfluß des Finno-Ugrischen machte das Tocharische eine völlige Verwandlung seines Konsonantensystems durch. Wörter in SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
the First International Interdisciplinary Symposium on Language and Prehistory, Ann Arbor (Michigan), 8. bis 12. November 1988. Herausgegeben von Vitaly Shevoroshkin. Studienverlag Dr. Norbert Brockmeier, 1989. In Search of the Indo-Europeans: Language, Archaeology and Myth. Von J. P. Mallory. Thames and Hudson, 1989. When Worlds Collide: Indo-Europeans and Pre-Indo-Europeans. Herausgegeben von John Greppin und T. L. Markey. Karoma Publishers, 1990.
den alten europäischen Sprachen, die eindeutig aus dem Altaischen und aus anderen Sprachen Zentralasiens entlehnt sind, liefern einen weiteren Beweis dafür, daß sich ihre Sprecher dort aufgehalten haben. Auf ihrem weitgeschwungenen Weg zurück nach Westen ließen sich die alten Europäer eine Zeitlang nördlich vom Schwarzen Meer in einer lose organisierten Gemeinschaft nieder. Es ist deshalb nicht völlig falsch, diese Region als zweite Heimat für diese Völker zu betrachten. Die Beiträge anderer Wissenschaften Vom Ende des dritten zum ersten Jahrtausend vor Christus breiteten sich die Sprecher der alten europäischen Sprachen dann allmählich nach Europa aus. Ihre Ankunft wird archäologisch durch das Auftauchen der halbnomadischen „Hünengrab“-Kultur belegt, in der die Toten in großen Steinsetzungen bestattet wurden. Die Anthropometrie, die wissenschaftliche Vermessung des menschlichen Körpers, untersucht neuerdings, inwieweit sich die in hethitischen Reliefs dargestellte Physiognomie bei den Angehörigen europäischer Völker wiederfindet. Der blonde, blauäugige nordische Typ ist nach wie vor als das Ergebnis einer Vermischung indoeuropäischer Eindringlinge mit ihren Vorgängern in der Besiedlung Europas anzusehen. An die Kultur dieser Urbevölkerung Europas erinnern die megalithischen Bauwerke, wie etwa Stonehenge in England, die einst nahe der Peripherie des Kontinents errichtet worden sind. Die Sprachen der ehemaligen Einwohner Europas wurden – mit Ausnahme des Baskischen, einer nicht-indoeu-
ropäischen Sprache mit möglichen entfernten Verwandten im Kaukasus – von den indoeuropäischen Dialekten verdrängt. Nichtsdestoweniger leisteten jene Sprachen Beiträge zu den historischen europäischen Sprachfamilien, die gewisse Unterschiede zwischen ihnen erklären. Der britische Archäologe Colin Renfrew kam in seinen Studien über die megalithischen Kulturen und deren Verschwinden wie auch über die Ausbreitung der Landwirtschaft vom Nahen Osten her zu Schlüssen über die Ankunft der Indoeuropäer, die mit unseren gut übereinstimmen. Unsere Schlußfolgerungen, die überwiegend auf linguistischen Argumenten beruhen, müssen durch noch ausstehende archäologische Untersuchungen bestätigt werden. Nicht nur das erwähnte Arbeitsprinzip der Molekularbiologen, auch die Ergebnisse ihrer Arbeit könnten für eine solche Bestätigung hilfreich sein: Der Vergleich der DNA-Sequenzen von Angehörigen verschiedener Völker wird zweifellos den Stammbaum der Europäer und damit ihrer Sprachen und damit auch die Wanderungswege genauer zeichnen helfen. Die Anthropometrie und die Geschichtswissenschaft werden ebenfalls zum Gesamtbild beitragen. Unter dem Vorbehalt einer Erweiterung und Korrektur unserer Ergebnisse im einzelnen können wir aber mit einem hohen Grad an Sicherheit behaupten, daß die Heimat der Indoeuropäer, die Wiege eines großen Teils der Weltzivilisation, im Nahen Osten steht: Ex oriente lux!
Thomas W. Gamkrelidse und Wjatscheslaw W. Iwanow sind die Verfasser eines zweibändigen Werks über die indoeuropäische Sprache und die Indoeuropäer, das 1984 auf Russisch erschienen ist. Thomas W. Gamkrelidse leitet das Tsereteli-Institut für Orientalische Studien in Tbilisi (Tiflis) in Georgien und ist Professor für Sprachwissenschaft an der Staatlichen Universität Tbilisi. Wjatscheslaw W. Iwanow ist Professor für Sprachwissenschaft und Direktor der Abteilung für Slawische Sprachen am Institut für Slawische und Balkan-Studien in Moskau. Die Autoren danken Gerard Piel, dem Alt-Herausgeber des Scientific American, für seine Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Artikels.
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INDIANER
Der Sprachstammbaum der Ureinwohner Amerikas Auf die alte Frage, wie Amerika besiedelt wurde, gibt es neuerdings eine linguistische Antwort. Die vielen Indianersprachen lassen sich zu nur drei Familien zusammenfassen; aus dieser Klassifizierung ist auf drei Einwanderungswellen aus Asien zu schließen. VON JOSEPH H. GREENBERG UND MERRITT RUHLEN
V
or etwas mehr als 200 Jahren bemerkte Sir William Jones, ein in Indien dienender englischer Jurist, erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Sanskrit, Altgriechisch und Latein. Er äußerte 1786 die Vermutung, diese Sprachen und wahrscheinlich auch das Gotische und das Keltische seien „einer gemeinsamen Wurzel entsprungen, die vielleicht nicht mehr existiert“. Im folgenden Jahrhundert gaben die Linguisten dieser hypothetischen Ursprache den Namen „Ur-Indogermanisch“ (|im englischen Sprachraum „Proto-Indo-European“|) und bemühten sich um ihre Rekonstruktion. Jones selbst hat nie eine Silbe rekonstruiert. Seine Theorie beruhte auf der Beobachtung „größerer Ähnlichkeit sowohl in den Wurzeln der Verben als auch in den grammatischen Formen, als durch den bloßen Zufall hätte zustande kommen können“. Diese Hypothese von der Evolution der Sprachen blieb auch den Forschern nicht verborgen, die sich für die Sprachen der Neuen Welt interessierten. Nur drei Jahre nach Jones’ vieldiskutierten Äußerungen schrieb Thomas Jefferson (|1743 bis 1826|), der dritte Präsident der USA, Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und vielseitiger Gelehrter|: „Ich bin bemüht, den Wortschatz aller amerikanischen Indianer wie auch den der Asiaten zu sammeln, in der Überzeugung, daß ihre gemeinsamen Vorfahren, wenn es sie je gab, in ihren Sprachen zu erkennen sein werden.“ Doch obwohl die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts Hunderte von amerikanischen Sprachen identifizierten und sie in Familien einordneten, wagte keiner von ihnen eine alles umfassende Klassi-
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fikation, wie sie Jefferson vorschwebte. Vielmehr wuchs unter der traditionellen Beschreibungsweise die Anzahl der Familien bis auf 60 in Nord- und 100 in Südamerika, also auf weit mehr als in der Alten Welt|; in Afrika beispielsweise gibt es nur vier Familien. Das ist irritierend, denn normalerweise nimmt die taxonomische Vielfalt mit der Zeit zu. Demnach müßten die Sprachen Amerikas eine viel geringere Variation aufweisen, denn nach der weit überwiegenden Auffassung der Archäologen und anderer Wissenschaftler trat der anatomisch moderne Mensch vor mindestens 100|||000 Jahren in Erscheinung, wahrscheinlich in Afrika, und erreichte den amerikanischen Kontinent erst vor 20|||000 bis 12|||000 Jahren. Versuche, einen Widerspruch aufzulösen Anfang dieses Jahrhunderts versuchten die amerikanischen Anthropologen Alfred L. Kroeber (|1876 bis 1960|) und Edward Sapir (|1884 bis 1939|) als erste, diesen Widerspruch aufzulösen, indem sie die vielen amerikanischen Sprachen zu einer Handvoll großer Familien zusammenfaßten. Ihr Ansatz stieß auf heftige Kritik von Fachkollegen wie Franz Boas (|1858 bis 1942|), der mehr als vierzig Jahre lang an der Columbia-Universität in New York lehrte. Diese bezweifelten nicht ernsthaft die Ähnlichkeiten zwischen den amerikanischen Sprachgruppen, führten sie jedoch – im Gegensatz zu Kroeber und Sapir – nicht auf ein gemeinsames Erbe, sondern auf Diffusion, die Übernahme von Wörtern aus fremden Sprachfamilien, zurück.
Unsere Forschungen stützen die erste, die sogenannte genetische Hypothese. Einer von uns (|Greenberg|) fand, daß Hunderte amerikanischer Sprachen sich in nur drei Familien gruppieren, indem er die konservativsten Elemente in deren Wortschatz verglich. Jede dieser drei Familien ist einer asiatischen Sprachgruppe näher als den beiden anderen amerikanischen|; daraus folgt, daß es zumindest drei voneinander unabhängige Einwanderungswellen von Asien her gegeben hat. Diese Hypothese wird durch anthropologische Forschungen bestätigt. Die Traditionalisten, die unserer Klassifikation ablehnend gegenüberstehen, können keine bessere anbieten. Statt dessen sind sie überzeugt, durch einen in die Tiefe gehenden Vergleich von jeweils zwei Sprachen irgendwann zum wirklichen System vordringen zu können. Wir halten dieses binäre Verfahren für einen Irrweg. Um eine verwirrende Vielfalt von Sprachen – oder auch von Gesteinen oder Tieren – systematisieren zu können, muß man sie nicht paarweise, sondern in ihrer Gesamtheit vergleichen. Zudem hat unser multilateraler Zugang bereits Erfolge aufzuweisen. Als ich (|Greenberg|) vor etwa 45 Jahren auf diese Weise die afrikanischen Sprachen klassifizierte, begegnete ich ebenfalls der Opposition der Traditionalisten, die mittlerweile jedoch allgemeiner Zustimmung gewichen ist. Wer Sprachen paarweise vergleicht, läßt dabei unvermeidlich relevante Fakten außer acht. Die Verwandtschaft zwischen Englisch und Albanisch ist nicht erwiesen worden, indem man – was eher unergiebig gewesen wäre – die Gemeinsamkeiten der beiden Sprachen systematisch untersuchte, sondern indem SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
GREENBERG, RUHLEN, SCIENTIFIC AMERICAN
Die Klassifikation des Autors Joseph H. Greenberg teilt die vielen ursprünglichen Sprachen Amerikas in nur drei Großfamilien ein. EskimoAleutisch (violett) und Na-Dené (orange) gehören zu Sprachfamilien der Alten Welt, dem Eurasiatischen beziehungsweise Dené-Kaukasischen (kleines Bild). Das Amerindische (gelb) ist etwas entfernter mit dem Eurasiatischen verwandt. Es war die erste Sprachfamilie, die sich in der Neuen Welt ausbreitete, EskimoAleutisch die letzte.
man sie in das große System der indoeuropäischen Sprachen einordnete. Die Erforscher dieser Sprachfamilie haben denn auch den binären Ansatz nie verwendet. Unser System der multilateralen Analyse deckt gerade die Beziehungen auf, die bei einem Paarvergleich der Aufmerksamkeit zu entgehen pflegen. Es geht eher in die Breite als in die Tiefe. Für Hunderte von Sprachen untersuchen wir eine Liste von einigen hundert Allerweltswörtern|: Personalpronomina, Körperteile und Begriffe aus der Natur wie SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Wasser und Feuer. Weil eine Sprachgemeinschaft derartige Begriffe – im Gegensatz etwa zu solchen für exotische Früchte oder Artefakte – in aller Regel nicht von anderen lernt, wird sie selten die zugehörigen Wörter entlehnen. Das Englische zum Beispiel bestätigt diese Regel. Obwohl es viele Wörter aus vielen Sprachen entlehnt hat, stammt der größte Teil seines Grundwortschatzes aus dem Urgermanischen. Die Ähnlichkeit von „one, two, three, I, mine, father, water“ mit „eins, zwei, drei, ich, mein, Vater, Wasser“ ist offensichtlich (siehe je- 왘
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INDIANER
B
efunde aus den Tochtersprachen des Amerindischen deuten darauf hin, daß das Proto-Amerindische eine Wurzel mit der Lautgestalt T’ANA und der Bedeutung „Kind“ hatte, deren drei Vokalisierungsgrade das Geschlecht anzeigten. Weil diese Etymologie in allen elf Unterfamilien des Amerindischen, aber in keiner anderen Familie anzutreffen ist, dient sie als kennzeichnendes (und abgrenzendes) Merkmal dieser Familie. Die erste Spalte enthält die Namen der Unterfamilien, die jeweils erste Spalte der folgenden Kästen nennt einen Vertreter der jeweiligen Familie. Das Almosanisch-Keresanische und das Chibcha-Paezanische bestehen jeweils aus zwei wohlunterscheidbaren Zweigen; deshalb ist jedem von ihnen eine eigene Zeile zugeordnet. Mit Ausnahme des Proto-Uto-Aztekischen, das rekonstruiert ist, werden alle hier aufgeführten Tochtersprachen heute noch gesprochen.
doch das Gegenbeispiel „head“/„Kopf“ und weitere Einwände von Vera Binder in diesem Heft Seite 35). Das Ergebnis des Massenvergleichs veranlaßte mich dazu, die vielen amerikanischen Sprachfamilien zu nur dreien zusammenzufassen|: Eskimo-Aleutisch, Na-Dené und Amerindisch (|Spektrum der Wissenschaft, Januar 1988, Seite 40|). Die beiden ersten – Eskimo-Aleutisch in der Arktis und Na-Dené in Kanada und im Südwesten der USA – waren vorher schon länger akzeptiert|; neu war die Gruppierung aller anderen amerikanischen Sprachen unter der Bezeichnung „Amerindisch“. Diese Familie enthält elf Unterfamilien, die über einen großen Teil Nordamerikas und ganz Südamerika verbreitet sind. Zur Unterstützung meiner These konstruierte ich 300 Etymologien, Gruppen von Wörtern, die ich auf je ein Urwort zurückführte. Die Mitglieder einer solchen Gruppe heißen Kognate. Einer von uns (|Ruhlen|) hat inzwischen durch weitere Forschungen die Zahl der Etymologien auf rund 500 erhöht. Einige dieser Wurzelwörter haben so viele Spuren hinterlassen, daß heute schwer verständlich ist, warum sie so lange übersehen worden sind. Die Ursache ist zweifellos, daß die Spezialisten sich auf nur jeweils eine Sprachfamilie zu konzentrieren pflegten und über der sorgfältigen Untersuchung dieses einzelnen Baumes sprichwörtlich den Wald nicht gesehen haben.
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Die Abgrenzung einer Sprachfamilie
Ein gutes Beispiel einer solchen Etymologie ist eine amerindische Wurzel, die ungefähr wie TANA, TINA oder TUNA geklungen haben muß (|die Großbuchstaben deuten an, daß die Lautgestalt näherungsweise zu verstehen ist|) und deren Bedeutung in den Umkreis von „Kind, Sohn, Tochter“ fiel. Wer sorgfältig den Grundwortschatz dieser Sprachen vergleicht, kann nicht umhin, die außerordentlich hohe Häufigkeit zugehöriger Wörter zu bemerken. Exklusive Innovationen einer Sprachfamilie Wie ist das zu erklären|? Es könnte kulturunabhängige, biologische Gründe geben|; beispielsweise sind Wörter wie „Mama“ oder „Papa“ – in dieser Bedeutung – auf der ganzen Welt zu hören, ohne daß daraus auf Sprachverwandtschaft zu schließen wäre. Aber diese Erklärung paßt hier nicht|; denn Formen wie TANA und TUNA in der Bedeutung „Sohn“ oder „Tochter“ sind außerhalb des Amerindischen selten, innerhalb der Gruppe jedoch massenhaft zu finden. Diese Wurzel hält also gewissermaßen nicht nur das Amerindische zusammen, sondern grenzt es auch von anderen Sprachfamilien ab. Sie ist, wie Linguisten sich ausdrücken, eine exklusive Innovation des Amerindischen. Neuere Forschungen von Ruhlen erklären, warum der erste Vokal der Wur-
zel variiert und warum man sie sowohl in geschlechtsspezifischen Wörtern (|für Sohn/Bruder und Tochter/Schwester|) als auch in neutralen (|für Kind/Geschwister|) so häufig wiederfindet|: Im Ur-Amerindischen, dem gemeinsamen Vorfahren aller modernen amerindischen Sprachen, gab es drei Formen (|sogenannte Grade|) der Wurzel, wobei der erste Vokal das (|natürliche|) Geschlecht bezeichnete|: T’ANA „Kind, Geschwister“, T’INA „Sohn, Bruder, Knabe“ und T’UNA „Tochter, Schwester, Mädchen“. (|Das Apostroph steht für einen glottalen Verschlußlaut nach dem T, wie er zum Beispiel in der Dortmunder Aussprache von „Dortmund“ zu hören ist.|) Während das Amerindische in den letzten 12|||000 oder mehr Jahren in Unterfamilien zerfiel, ging – was naheliegen mag – die Korrelation zwischen erstem Vokal und Geschlecht häufig verloren. Im Endergebnis weisen darum viele Formen, die eindeutig Kognate sind, den falschen Vokal auf. Ein Bei¯ aus dem Proto-Algonkin|; spiel ist *tana es bedeutet „Tochter“, obgleich der er¯ sondern *a ¯ ist. (|Der ste Vokal nicht *u, Stern zeigt an, daß die Form rekonstruiert wurde.|) Wahrscheinlich entstand diese Abweichung, indem der erste Vokal dem zweiten angeglichen oder indem die Grundform auf a auf Kosten der i- und u-Formen durch Analogiebildung ausgeweitet wurde. Ausweitungen dieser Art sind sehr geläufig in der SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
GREENBERG, RUHLEN, SCIENTIFIC AMERICAN
durch eine einzige linguistische Innovation: T’ANA
Sprachgeschichte|: Das unregelmäßige Präteritum „frug“ ist durch „fragte“ (|in Analogie zu „sagte“|) ersetzt worden. Kinder bilden häufig Formen regelmäßiger, als korrekt ist, in Analogie zu anderen|: „am vielsten“, „Älte“ statt „Alter“ in Analogie zu „Größe“, „gezangt“ analog zu „gehämmert“. Andererseits ist bemerkenswert, daß die Vokale i und u, die in diesem Beispiel das Maskulinum beziehungsweise Femininum bezeichnen, in zwei größeren amerindischen Unterfamilien Südamerikas und auch im Chinook, das im US-Bundesstaat Oregon beheimatet ist, generell diese Funktion haben. Diese Übereinstimmungen sind für einen Zufall zu zahlreich und für eine Entlehnung zu weit verbreitet. Insbesondere
GREENBERG, RUHLEN, SCIENTIFIC AMERICAN
Sanskrit
findet man viele von ihnen beiderseits schwer überwindbarer geographischer Hindernisse. Ebenso wie Jones in der indoeuropäischen Familie finden wir im Amerindischen eine beeindruckend gut überlieferte Verbindung einer Wurzel mit verschiedenen grammatischen Affixen. Die pronominalen Präfixe na- (|„mein“|) und ma(|„dein“|) zu der Wurzel T ’ANA finden sich in allen elf amerindischen Unterfamilien. Im Proto-Algonkin heißt *netana ¯ „meine Tochter“, im Kiowa *n¯o-t¯on „mein Bruder“, im Paez ne-tson „mein Schwager“ und im Manao no-tany „mein Sohn“. Pronominale Affixe dieser Art gehören zu den stabilsten Elementen der Sprache|; sie werden fast nie entlehnt.
Altgriechisch
Lateinisch
Altirisch
Gotisch
ich trage
bhár-ami
phér-o
fer-o
bir-u
baír-a
du trägst
bhár-asi
phér-eis
fer-s
bir-i
baír-is
er trägt
bhár-ati
phér-ei
fer-t
ber-id
baír-ith
wir tragen
bhár-amas
phér-omen
fer-imus
ber-mi
baír-am
ihr tragt
bhár-atha
phér-ete
fer-tis
ber-the
baír-ith
sie tragen
bhár-anti
phér-ousi
fer-unt
ber-it
baír-and
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Daß ganze Systeme von einer Sprache in die andere übertragen worden sein könnten, und das auch noch von British Columbia im Nordwesten Kanadas bis nach Feuerland an der Südspitze Chiles, ist abwegig. Zu den amerindischen Suffixen gehören Verkleinerungsformen, die – was naheliegt – auch zur Bezeichnung von Kindern verwendet werden. Das protoamerindische Diminutiv *-i’sa findet sich wieder im Proto-Algonkin *ne-tan¯ ehsa (|„meine Tochter“|), im Mixtekischen tá’nù i’sá (|„die jüngere Schwester“|), im Esmeralda tini-usa (|„Tochter“|) und im Suhin tino-ice (|„junge Frau“|). Das proto-amerindische Diminutiv *-mai ist erkennbar im Luiseño tu’mai (|„Tochterkind“, von der Frau aus 왘
Spuren früher Gemeinsamkeiten veranlaßten William Jones, einen Juristen des 18. Jahrhunderts, fünf alte Sprachen einer Familie zuzuordnen, die heute als Indoeuropäisch bezeichnet wird. Das Deutsche steht dem Gotischen am nächsten.
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INDIANER gesehen|), im Masaca tani-mai (|„jüngere Schwester“|) und im Chapacura tanamuy (|„Tochter“|). Das Proto-Amerindische hatte ein komplexes System von Suffixen. Eines, *-ki, zeigte eine Verwandtschaftsbeziehung in beiden Richtungen an, so daß ein und dasselbe Wort sowohl „Sohn der Schwester“ eines Mannes als auch „Bruder der Mutter“ eines Knaben bedeuten konnte. Dieses Suffix wurde in Verbindung mit verschiedenen Wurzeln, an die es angehängt wird, für das Proto-Sioux rekonstruiert, wie in *-thã-ki für „Schwe-
ster“ eines Mannes, und findet sich in modernen Sprachen der Sioux-Gruppe wie im Pawnee t’i-’i für „Knabe, Sohn“, im südlichen Zweig des Pomo t’i-ki für „jüngere Schwester“ oder „jüngerer Bruder“, im Maza-hua t’i-’i für „Knabe“, im Amaguaje -tsen-ke für „Sohn“ und im Aponegrikanischen -thon-ghi für „Schwester“. Aus der beschriebenen Dreiteilung folgt, daß höchstens drei asiatische Einwanderungswellen ihre sprachlichen Spuren hinterlassen haben können. Es wäre auch denkbar, daß eine Sprachgemein-
schaft sich erst östlich der Landbrücke, die an der Stelle der heutigen Beringstraße lag, aufspaltete und entsprechend weniger Einwanderungen stattgefunden haben. Um deren genaue Zahl zu ermitteln, muß man die Sprachfamilien Amerikas und Asiens vergleichen. Historische Folgerungen Neuere Forschungen russischer und amerikanischer Linguisten deuten auf genau drei Einwanderungswellen hin.
Sprachfamilie
Sprache
Form
Bedeutung
afroasiatisch
Proto-Afroasiatisch
*mlg
saugen, Brust, Euter
Arabisch
mlj
an der Brust saugen
Altägyptisch
mndy
Mutterbrust, Euter
Proto-Indoeuropäisch
*melg-
melken
Englisch
milk
melken, Milch
Lateinisch
mulg-ere
melken
Proto-Finno-Ugrisch
*mälke
Brust
Saami
mielgâ
Brust
Ungarisch
mell
Brust
Tamil
melku
kauen
Malayalam
melluka
kauen
Kuruch
melkha
Kehle
eskimo-aleutisch
Zentral-Yupik
melug-
saugen
amerindisch
Proto-Amerindisch
*maliq’a
schlucken, Kehle
Halkomelem
m lqw
Kehle
Kwakwala
m’lXw-’id
vorkauen
Kutenai
u’mqolh
schlucken
Chinook
mlqw-tan
Wange
Takelma
mülk’
schlucken
Tfaltik
milq
schlucken
Mixe
amu’ul
saugen
Mohave
malyaqé
Kehle
Walapei
malqi’
Kehle, Hals
Akwa’ala
milqi
Hals
Chibcha
Cuna
murki-
schlucken
Andisch
Quechua
malq’a
Kehle
Aymara
malyq’a
schlucken, Kehle
Makro-Tucanisch
Iranshe
moke’i
Hals
Äquatorial
Guamo
mirko
trinken
Makro-Karibisch
Surinam
e’mokï
schlucken
Faai
mekeli
Nacken
Kaliana
imukulali
Kehle
uralisch
drawidisch
Almosan
Penuti
Hoka
Die Etymologie der Wurzel *MALIQ’A, deren Bedeutung mit „schlucken“ oder „Kehle“ anzugeben ist, zeigt Verbindungen zu den Sprachen der Alten Welt. Kognate Formen finden sich in
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e
indoeuropäisch
acht amerindischen Unterfamilien und in mehr als einer Sprache aus jeder der aufgeführten Altweltfamilien. Daß solche Ähnlichkeiten auf Zufall beruhen könnten, ist praktisch ausgeschlossen. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
GREENBERG, RUHLEN, SCIENTIFIC AMERICAN
Die Etymologie der Wurzel *MALIQ'A
N. W. TRA/PHOTO RESEARCHERS, INC.
ARIZONA HISTORICAL SOCIETY LIBRARY
MICHAEL GOODMAN
Das Eskimo-Aleutische ist das östlichste Glied einer großen Familie, die wir Eurasiatisch und die russischen Wissenschaftler Nostratisch nennen. (|Die beiden Klassifikationen unterscheiden sich geringfügig. Zum Eurasiatischen gehören Indoeuropäisch, Uralisch-Jukagirisch, Türkisch, Mongolisch, Tungusisch, Koreanisch, Japanisch, Ainu, Giljakisch, Tschuktscho-Kamtschatkisch und Eskimo-Aleutisch|; das Nostratische umfaßt außerdem noch das Drawidische in Südindien, die kartwelische Familie einschließlich Georgisch im Kaukasus und die afro-asiatische Familie in Nordafrika und dem Mittleren Osten). Die Verwandten des Na-Dené haben unlängst Sergej Starostin vom Institut für Orientalische Studien und Sergej Nikolajew vom Institut für Slawische Studien (|beide in Moskau|) sowie John Bengtson, ein freischaffender Linguist aus Minneapolis (|Minnesota|), identifiziert. Starostin brachte zunächst drei Sprachfamilien der Alten Welt zusammen, die man bisher für unabhängig voneinander gehalten hatte|: Kaukasisch, Sino-Tibetisch und Jenisseisch (|auch Ketisch genannt|), eine Familie aus Zentralsibirien mit einer einzigen überlebenden Sprache. Nikolajew zeigte dann, daß das Na-Dené zweifelsfrei mit dem Kaukasischen (|das er und Starostin zusammen rekonstruiert hatten|) und auf diesem Wege mit dem SinoTibetischen und dem Jenisseischen verwandt ist. In einem noch umfassenderen Vergleich aller relevanten Familien fügte Bengtson das Baskische (|eine isolierte Sprache aus Nordspanien|) und das Buruschaski (|eine isolierte Sprache aus NordSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Anführer. Die Inuit aus den kanadischen Nordwest-Territorien (rechts) zählen zu den Sprechern des Eskimo-Aleutischen, die nördliche Breiten von Sibirien bis Grönland besiedeln. Die drei Gruppen sind sowohl genetisch als auch linguistisch abgrenzbar.
pakistan|) zu dieser Familie hinzu, die nun als Dené-Kaukasisch bezeichnet wird. Na-Dené selbst erweist sich als deren östlichster Zweig. Weil es sich deutlich vom Eurasiatischen unterscheidet, kann sich das Na-Dené nicht auf dem amerikanischen Kontinent vom EskimoAleutischen abgespalten, sondern muß ihn in einer eigenen Einwanderungswelle erreicht haben. In den letzten Jahren haben wir das Amerindische mit den anderen Sprachfamilien der Welt verglichen und herausgefunden, daß es dem Eurasiatischen am nächsten steht. Doch ist der taxonomische Abstand immer noch groß|: Während das Eskimo-Aleutische als Mitglied der eurasiatischen Familie gelten kann, ist das Amerindische bestenfalls mit dem Eurasiatischen als Ganzem verwandt. Das bedeutet, daß die genetische Beziehung entsprechend weit in der Zeit zurückliegt. *MALIQ’A: ein Leitfossil der Linguistik Aus der ersten Einwanderungswelle, die aufgrund archäologischer Daten spätestens vor etwa 12|||000 Jahren stattgefunden haben dürfte, ging die amerindische Sprachfamilie hervor, die den größten Teil der Neuen Welt einnahm, als Christoph Kolumbus 1492 dort ankam. Die zweite, etwas spätere Welle ließ die Na-Dené-Familie entstehen. Schließlich gelangten vor vielleicht 5000 oder 4000 Jahren bei der letzten Einwanderung die Ahnen der heutigen Eskimos und der Aleuten zuerst nach Alaska und später
entlang des nördlichen Polarkreises nach Nordkanada und Grönland. Ein einziges Beispiel möge sowohl die Einheit des Amerindischen als auch dessen Beziehungen zum Eurasiatischen/ Nostratischen illustrieren. Die protoamerindische Wurzel *MALIQ’A mit der Bedeutung „schlucken, Kehle“ hat ihre Spuren in nicht weniger als acht der elf amerindischen Unterfamilien hinterlassen, von Kanada bis zur Südspitze Südamerikas. Im Selischen, einer kanadischen Unterfamilie, finden wir im Halkomelem melqw für „Kehle“. Im Tfalati, einer ausgestorbenen Sprache aus der Unterfamilie Penuti, die in Oregon gesprochen wurde, bedeutet milq „schlukken“. Im Yuma, einem Mitglied der Unterfamilie Hoka, wurde diese Wurzel zum Wort für „Kehle“. Im Mohave in Arizona heißt mal yaqe „Kehle“, während im Akwa’ala auf der Halbinsel Baja California milqi „Hals“ bedeutet. Im Cuna in Panama heißt murki „schlucken“|; die Lautverschiebung von l nach r kommt häufig vor und ist zum Beispiel im Portugiesischen gängig. In der andischen Unterfamilie gibt es im Quechua malq’a für „Kehle“, in der äquatorialen Unterfamilie findet sich im Guamo mirko für „trinken“. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese sich ähnelnden Formen unabhängig voneinander entstanden sind|? Konkreter, wie wahrscheinlich ist es, daß die Ähnlichkeiten zwischen den Formen des Halkomelem und des Tfalati auf Zufall beruhen|? Man kann eine grobe Abschätzung vornehmen, indem man sich auf das Bedeutungsfeld „schlucken/Kehle“ beschränkt und eine Reihe von pho- 왘
e
Unter den Sprechern des Amerindischen waren die Maya; die mehr als 1000 Jahre alte Inschrift ts’apah (links) bedeutet „wurde errichtet“. Zur Familie Na-Dené gehört die Sprache der Apatschen; Geronimo (Mitte) war im 19. Jahrhundert einer ihrer
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INDIANER Literaturhinweise The Settlement of the Americas: A Comparison of Linguistic, Dental, and Genetic Evidence. Von Joseph H. Greenberg, Christy G. Turner II und Stephen L. Zegura in: Current Anthropology, Band 27, Seiten 477 bis 497, 1986. Language in the Americas. Von Joseph H. Greenberg. Stanford University Press, 1987. The American Indian Language Controversy. Von Joseph H. Greenberg in: Review of Archeology, Band 11, Heft 2, Seiten 5 bis 14, Herbst 1990. A Guide to the World’s Languages.
nologischen Annahmen macht. Vernachlässigen wir die Vokale, weil sie ohnehin leichter veränderlich sind als Konsonanten, und unterstellen wir zugunsten der Zufallshypothese, daß es in beiden Sprachen nur die dreizehn Konsonanten p, t, t’, k, k’, q, q’, s, m, n, l, r, j und w gebe. Wie groß ist unter diesen Voraussetzungen die Wahrscheinlichkeit, durch eine Zufallsauswahl ein Wort zu erwürfeln, das m als ersten Konsonanten hat, l oder r als zweiten und k, k’, q oder q’ als dritten|? Es ergibt sich (|1/13|) (|2/13|) (|4/13|) =|||0,003|||641|||329, aufgerundet 0,004. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich diese Kombination rein zufällig in sechs Familien wiederfindet, ist 0,0045 oder ungefähr 1 zu l0 Milliarden. Diese groben Schätzungen setzen voraus, daß alle Konsonanten gleich wahrscheinlich sind – was nicht der Fall ist. Die richtigen Werte liegen deshalb etwas höher, bleiben jedoch winzig klein. Soviel zu zufälligen Ähnlichkeiten. Unabhängige Bestätigungen Wenden wir uns nun der Frage zu, ob die Wurzel MALIQ’A auch in anderen Sprachfamilien anzutreffen sei. Das ist, wie wir am Beispiel T’ANA (|„Kind“|) gesehen haben, nicht unbedingt zu erwarten. In diesem Falle jedoch sind kognate Formen dieser Wurzel über die Alte Welt verstreut. Die ersten Vertreter der Hypothese von der nostratischen Familie, der Russe Wladislaw IllitschSwitytsch und Aaron Dolgopolsky, der jetzt an der Universität Haifa (|Israel|) lehrt, haben eine nostratische Wurzel *mälgi für „an der Brust saugen, stillen“ rekonstruiert. Sie verbindet das proto-
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Band 1: Classification. Von Merritt Ruhlen. Stanford University Press, 1991. Evolution of Human Languages. Herausgegeben von John Hawkins und Murray Gell-Mann. Addison-Wesley, 1992. Proto-Languages and Proto-Cultures. Materials from the First International Interdisciplinary Symposium on Language and Prehistory, Ann Arbor, 8 – 12 November, 1988. Herausgegeben von Vitaly Shevoroshkin. Universitätsverlag Dr. Norbert Brockmeyer, Bochum 1990.
afroasiatische *mlq für „an der Brust saugen“ (|arabisch mlj|), das proto-indoeuropäische *melg für „Milch geben“, das deutsche Wort „Milch“ und das proto-finno-ugrische *mälke für „Brust“ (|wie im Saamischen mielgâ|). Wir haben kognate Formen im Eskimo-Aleutischen gefunden, so im Zentral-Yupic melugfür „saugen“. Schließlich hat auch die drawidische Familie aus Indien offensichtlich kognate Formen, so im Kuruch melcha¯ für „Kehle“ und im Tamil melku für „kauen“. Diese Variation an Bedeutungen legt es nahe, dieser Wurzel die ursprüngliche Bedeutung „Milch geben“ oder „an der Brust saugen“ zuzuschreiben, die sich im Afroasiatischen erhalten hat. Im Indoeuropäischen gab es eine leichte semantische Verschiebung vom Stillen zum Melken, im Uralischen eine andere zu „Brust“, im Drawidischen die zu „kauen“ – naheliegend für jeden, der ein Baby an der Mutterbrust beobachtet –, im Eskimo die zu „saugen“ – nicht unbedingt an der weiblichen Brust – und im Amerindischen schließlich zu „schlukken“ und „Kehle“. Unterstützung für die Hypothese von der amerindischen Sprachfamilie kam 1988, kurz nachdem sie zum ersten Mal vertreten worden war, von unerwarteter Seite. Eine Gruppe von Genetikern an der Universität Stanford (|Kalifornien) unter der Leitung von Luigi L. Cavalli-Sforza entdeckte, daß die Ureinwohner Amerikas sich in drei sauber abgegrenzte genetische Gruppen gliedern, deren geographische Grenzen im wesentlichen mit denen ihrer Sprachfamilien zusammenfallen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß eine solche Koinzidenz zufällig wäre. Der Anthropologe Christy G. Turner II von der Staatsuniversität von Arizona in Tempe fand in der Zahnstruktur der
Bewohner Amerikas eine Aufgliederung in die gleichen drei Gruppen (|siehe seinen Beitrag „Zähne als Zeugnisse für die Besiedlung des pazifischen Raums“, Spektrum der Wissenschaft, April 1989, Seite 120|). Schließlich veröffentlichte 1990 Douglas Wallace von der Medizinischen Fakultät der Emory-Universität in Atlanta (|Georgia|) vorläufige Ergebnisse über die mitochondriale DNA der Ureinwohner Amerikas|; auch diese Analyse scheint unsere Hypothese zu stützen. Die enge Korrespondenz von biologischen und linguistischen Klassifikationen – das sei zur Vermeidung von Mißverständnissen betont – bedeutet nicht, daß die Gene die Sprache eines Menschen bestimmen würden. Die hängt allein von der Gemeinschaft ab, in der man aufwächst. Es ist nicht eine Aufteilung Ursache der anderen, sondern beide haben eine gemeinsame Ursache. Wenn eine Gruppe von Menschen ihr Heimatland verläßt und zum Beispiel auf eine ferne Insel zieht, dann nimmt sie sowohl ihre Sprache als auch ihre Gene mit. Von dieser Zeit an werden beide Merkmale sich allmählich von denen der Daheimgebliebenen wegentwickeln. Es bleiben noch zahlreiche ungelöste Probleme, etwa wie sich die amerindische Sprachfamilie am Anfang ihrer Verbreitung durch Nord- und Südamerika auffächerte. Aber die neueren Ergebnisse erfüllen, zumindest zum Teil, die Hoffnung Jeffersons, daß die Sprachen der Ureinwohner Amerikas eines Tages das Geheimnis ihrer Verwandtschaft und ihre asiatischen Wurzeln preisge왎 ben würden.
Joseph H. Greenberg und Merritt Ruhlen arbeiten in der vergleichenden Sprachwissenschaft zusammen. Greenberg ist emeritierter Professor für Anthropologie und Linguistik der Universität Stanford (|Kalifornien|). Seine Hauptinteressen sind universelle Eigenschaften und die historische Klassifikation von Sprachen. Er ist ehemaliger Präsident der Linguistischen Gesellschaft der USA und Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien. Ruhlen ist freischaffender Forscher in Palo Alto (|Kalifornien|). Er promovierte 1973 an der Universität Stanford im Fach Linguistik und arbeitete dort am Projekt für sprachliche Universalien mit.
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AUSTRONESISCH
Frühe Landwirtschaft und die Ausbreitung des Austronesischen Die Sprachen des pazifischen Raums verbreiteten sich innerhalb von 1500 Jahren über 10 000 Kilometer Küstenlinien und Meere. Dies war die schnellste und ausgedehnteste Expansion in prähistorischen Zeiten. Bauern waren die Schrittmacher. VON PETER BELLWOOD
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südlichen Inseln); letztere ist für sich und als Musterfall, an dem sich allgemeine Fragen klären lassen, Gegenstand dieses Artikels. Warum verbreiten sich Sprachfamilien über so weite Gebiete? Das ist insbesondere durch das Umherziehen ihrer Sprecher zu erklären. Wenn unsere frühen Vorfahren ihr Leben lang zu Hause hocken geblieben wären, hätte die Welt einem Flickenteppich aus Regionen mit untereinander nicht verwandten oder
doch isoliert entwickelten Sprachen geglichen, bevor die ersten Eroberungen und Kolonisierungen der Geschichte das Bild verwischten. Wie langwierig und komplex das Zusammenspiel aus Bevölkerungszuwachs und Völkerbewegungen wahrscheinlich vor sich ging, können Beispiele aus historischer Zeit veranschaulichen. So ist es auf die wechselhafte Geschichte des Kolonialismus im 18. Jahrhundert zurückzuführen, daß im kanadi-
MICHAEL A. TONGG
ange vor den großen Völkerwanderungen geschichtlicher Zeit hatten sich bereits Urformen vieler heute existierender Sprachfamilien über große Teile der Erde verbreitet. Diese Familien – so genannt, weil ihre Mitglieder eine gemeinsame Herkunft erkennen lassen – tragen Bezeichnungen, die ihre ethnische und ursprüngliche geographische Verbreitung beschreiben: Indoeuropäisch, Afroasiatisch, Tibetochinesisch oder Austronesisch (wörtlich: von den
Segler aus Hawaii vollziehen die wagemutigen Reisen ihrer polynesischen Vorfahren nach, der östlichsten Völker im austronesischen Sprachraum. Die äußersten westlichen Zweige der Sprachfamilie reichen immerhin bis nach Madagaskar. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
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AUSTRONESISCH
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Die Expansion der austronesischen Sprachfamilie
schen Québec Französisch, im benachbarten US-Bundesstaat Maine dagegen Englisch gesprochen wird. Zwar kennt die Geschichtsschreibung Gesellschaften, die die Sprache eines Nachbarlands, nicht aber dessen Bevölkerung übernahmen; die Schotten etwa sprechen gemeinhin nicht das Gälische ihrer Vorfahren, sondern Englisch. Aber mit einer derartigen Diffusion ist nicht zu erklären, warum einige Sprachen wie Arabisch, Englisch, Spanisch oder Russisch sich trans- oder interkontinental etabliert haben. Wenn eine Sprache sich so weit von ihrem Ursprungsland entfernt wie die Brasiliens von Portugal, spielt – geplante oder ungeplante – Auswanderung stets
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eine entscheidende Rolle.Man kann sich vorstellen, daß eine einzige Migrationswelle genügt, um eine Sprache über ein großes Gebiet zu verbreiten. In nachfolgenden Phasen kann diese Sprache sich dann in eine Sprachfamilie auffächern. Dieser Prozeß der Ausbreitung und nachfolgenden Differenzierung ist mit der biologischen Evolution verglichen worden, bei der eine Population verschiedene Nischen besetzt; in diesen spaltet sie sich nach der gängigen Auffassung in Untergruppen auf, von denen jede dann wiederum den Ausgangspunkt weiterer Expansionen bilden kann. Die erste Auffächerung einer Sprachfamilie und zuweilen praktisch ihre ge-
samte Ausbreitung lassen sich mit den archäologischen Befunden in Beziehung setzen, wenn man folgende wesentliche Hypothese akzeptiert: daß die Ursprache jeder Familie zunächst durch eine expandierende und Landwirtschaft betreibende Bevölkerung in Regionen getragen wurde, die entweder noch gar nicht oder erst dünn durch Gruppen von Jägern und Sammlern besiedelt waren. Als sich nach Ende der jüngsten Eiszeit vor etwa 10 000 Jahren in den äquatorialen und mittleren Breiten der Erde allmählich das heutige tropische beziehungsweise gemäßigte Klima eingestellt hatte, begannen aus noch nicht gänzlich geklärten Gründen die Menschen in etliSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Die Expansion der austronesischen Sprachenfamilie. Als Urheimat der frühen Austronesier gilt das Kernland der Landwirtschaft in Südostasien, wo auch die verwandte Sprachfamilie Tai-Kadai ihren Ursprung hat. Die Verbreitung der Austronesier ging nach der hier vorgestellten Rekonstruktion in Phasen (1 bis 7) vonstatten: nach Taiwan (4000 vor Christus), den Philippinen (3000), Timor (2500), nach Sumatra westwärts sowie den Marianen-Inseln und Mikronesien ostwärts (1000 vor Christus), nach Hawaii und auf die Osterinsel (300 bis 400 nach Christus) sowie Neuseeland (800). Östlich der Salomon-Inseln waren die austronesisch-sprechenden Bauern die ersten Bewohner überhaupt; in anderen Regionen hatten schon über Zehntausende von Jahren hinweg Jäger und Sammler gelebt.
chen dieser Regionen, die veränderten Umweltbedingungen intensiv zu nutzen: Insbesondere in Vorder- und Südwestasien, Zentral- und Südchina, im Hochland von Papua-Neuguinea sowie in Teilen Mittelamerikas und des westlichen Südamerika entwickelten sie systematische Formen der Nahrungsproduktion. Dafür hat sich seit langem der Begriff neolithische Revolution eingebürgert. Doch unter einer modernen archäologischen Perspektive erweist sich die Vorstellung von einer raschen, tiefgreifenden Umwälzung nur für gewisse Regionen als zutreffend, von denen vielleicht Anatolien und China am besten dokumentiert sind. In anderen Teilen der Erde SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
wie Mexiko oder Zentralafrika scheint dieser Prozeß sich als allmählicher Wandel in Jahrtausenden vollzogen zu haben. Wie auch immer die Vorgeschichtler den Übergang zu Viehwirtschaft und Feldbau interpretieren – sie alle sind sich über seine überragende Bedeutung einig. Sowie eine Gruppe von Menschen erlernt hatte, Nahrung vorausschauend zu produzieren statt sie nach Bedarf zu jagen oder zu sammeln, konnte sie dramatisch anwachsen und sich zu einer komplexeren Gesellschaft entwickeln. Zweifellos breiteten sich viele dieser Gesellschaften in fremde Gebiete aus und führten dabei ihre überlegene Form der Nahrungsgewinnung ein – vielleicht ange-
paßt an die neuen Bedingungen. In der Welt von Jägern und Sammlern können Gruppen, die als erste die systematische Landwirtschaft entwickelten, über längere Zeiträume angewachsen sein und sich ausgebreitet haben, bis Gegebenheiten der Umwelt, Naturkatastrophen oder der Widerstand von ihresgleichen ihnen Grenzen setzten. Dagegen hatte die jeweilige Urbevölkerung ihnen wenig entgegenzusetzen, so daß sie zumindest in fruchtbaren Gebieten mit Leichtigkeit von den Bauern assimiliert oder verdrängt wurde. Systematische Ausbreitung der Bauern Wenn statt dessen die meisten einheimischen Gruppen selbst zur Landwirtschaft übergegangen wären, diese Praxis des Nahrungserwerbs sich mithin vornehmlich durch Diffusion verbreitet hätte, müßte zu Beginn der geschichtlichen Zeit eine weit größere sprachliche Vielfalt in aller Welt geherrscht haben, als wir wissen. Die Jäger und Sammler hatten jedoch triftige sozioökonomische Gründe, sich gegen die freiwillige Übernahme der Landwirtschaft zu sperren: Die damit verbundene Arbeit muß ihnen unnötig schwer vorgekommen sein; das Erfordernis, bestimmte Tätigkeiten im Rhythmus der Jahreszeiten und ohne unmittelbaren Erfolg zu verrichten, war ihnen uneinsichtig und die dichtgedrängte, seßhafte Lebensweise sicherlich zuwider. Die wenigen Völker, die mit einer urtümlichen Lebensweise bis in unsere Zeit bestanden haben, waren nie gezwungen, Zugeständnisse dieser Art zu machen, und brauchten bis in die jüngste Vergangenheit nicht mit Neusiedlern um Land und Bodenschätze zu konkurrieren. Mit den Bauern, soviel ist plausibel, verbreitete sich ihre Sprache. Man kann daher in einer Region, wo die Landwirtschaft erfunden wurde, das Zentrum einer Sprachfamilie erwarten. Dies findet sich in China und insbesondere im Hochland von Papua-Neuguinea bestätigt. Archäologische Forschungen belegen, daß dort die Menschen bereits vor mindestens 6000 Jahren mit Hilfe von Entwässerungsgräben Sümpfe trockenlegten – vielleicht um Taro-Stauden anzupflanzen, deren knollig verdickte Rhizome einen Stärkegehalt zwischen 15 und 25 Prozent haben (Taro wird mittlerweile überall in den Tropen angebaut). Diese offensichtlich eigenständige Entwicklung des Feldbaus vermochte durchaus ein derart machtvolles Bevölker-
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AUSTRONESISCH ungswachstum zu begünstigen, daß ihre Träger, die Sprecher der Papua-Sprachen, weite Gebiete Neuguineas besiedelten sowie westwärts bis nach Timor und Halmahera und ostwärts bis zu den Salomon-Inseln gelangten. Die landwirtschaftliche Revolution Chinas scheint hingegen an zwei voneinander entfernten, aber kulturell zusammenhängenden Zentren eingesetzt zu haben: Am Unterlauf des Gelben Flusses wurde vor etwa 8000 Jahren die Kolbenhirse in Kultur genommen und im Delta des Jangtsekiang ungefähr zur selben Zeit der Reis. Beide Getreidearten erforderten, ebenso wie zahlreiche weniger bedeutende Nutzpflanzen, aufwendige Vorbereitungen wie Roden, Bodenbearbeitung und Anlage von Bewässerungsgräben sowie Aussaat, Pflege und Ernte im Rhythmus der Jahreszeiten. Die großen Mengen an Überresten, die sich in
Ostasien und die pazifische Inselwelt erfaßten. Mehr als 1000 Kilometer südlich von Hemudu könnten sich die ersten Wellen einer neuen, phänomenalen Expansion geregt haben: derjenigen der austronesischen Sprachfamilie. Bis zum Jahre 1500, bevor also der europäische Kolonialismus einsetzte, war dies die verbreitetste der Welt. Noch heute wird sie von mehr als 200 Millionen Menschen auf Taiwan, im Inneren Südvietnams, auf Madagaskar, in Malaysia und auf den Philippinen, in Indonesien und auf den Archipelen des Pazifik samt Hawaii und der Osterinsel gesprochen. Nach dem gegenwärtigen Stand der archäologischen Forschung ist zu vermuten, daß sich diese Familie zunächst durch bereits bewohnte Gebiete von Taiwan bis ins westliche Melanesien ausgedehnt hatte; in einer späteren Phase besiedelten ihre Sprecher als erste ein Gebiet, das im Westen bis Madagaskar und im Osten bis über die SalomonInseln hinausreichte. Daß in manchen dieser Siedlungsgebiete verschiedene Kulturen einander begegneten, zeigt sich am deutlichsten dort, wo andere Sprachfamilien der Ausbreitung des Austronesischen widerstanden haben: auf Taiwan und in Vietnam durch Ausbreitung des Chinesischen und des Vietnamesischen in historischer Zeit sowie im westlichen Melanesien. Dort beherrschen die Papuasprachen den größten Teil Neuguineas, Teile des Bismarck-Archipels und der Salomon-Inseln sowie einige wenige Inseln im östlichen Indonesien – ein Indiz für die erwähnte unabhängige Entwicklung der Landwirtschaft in Neuguinea, die allem Anschein nach auf den weiter westlich gelegenen tropischen Inseln keine Parallele gefunden hat. Im westlichen Melanesien, wo beide entwickelten Kulturen sich begegneten, entlehnten die Sprecher des Austronesischen eine Fülle von Wörtern und grammatischen Konstruktionen von ihren papuanischen Nachbarn und umgekehrt. Solche Entlehnungen sind Beweismittel der Sprachgeschichte. Vergleichende Sprachwissenschaftler können beispielsweise aus den Änderungen der Aussprache einzelner Wörter erschließen, in welcher Reihenfolge sie in eine Sprache übergegangen sind. Indem sie aus ihren Erkenntnissen über den zeitlichen Ablauf der Lautveränderungen ein konsistentes Modell konstruieren, ver-
In China und im Hochland von PapuaNeuguinea begannen die Menschen schon vor mindestens 6000 Jahren, Feldbau zu betreiben Lagergruben und Wohnschichten bei archäologischen Grabungen finden, lassen vermuten, daß diese Getreidesorten rasch zu bedeutenden Nahrungsmitteln avanciert waren. Vor 5000 Jahren hatten sich Reisbauern entlang der Ostküste Chinas, im heutigen Nordvietnam und Thailand und möglicherweise in Nordindien angesiedelt. Die Fülle an Artefakten, die in den Überresten ihrer Behausungen zu finden ist, dokumentiert überzeugend, wie grundlegend diese Wirtschaftsweise das Leben der Menschen änderte. Ein Beispiel ist das 7000 Jahre alte Pfahldorf bei Hemudu an der Südseite der Bucht von Hangtschou in der chinesischen Provinz Tschekiang. Hier fanden sich Töpferwaren, geflochtene Matten und Seile, Spinnwirtel, steinerne Äxte, hölzerne und knöcherne landwirtschaftliche Gerätschaften wie zum Beispiel Spaten, Relikte von gezimmerten Bauten und von Booten, dazu große Mengen Reis sowie Knochen von domestizierten Schweinen, Hunden, Hühnern, Rindern und Wasserbüffeln. Das sind gewiß nicht Habseligkeiten einer Jäger- und Sammlerbevölkerung. Vielmehr waren die Besitzer an einem kulturellen Entwicklungsprozeß beteiligt, dessen Auswirkungen dann ganz
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mögen sie zu bestimmen, ob Ähnlichkeiten zwischen den Wörtern zweier Sprachen auf Entlehnung oder gemeinsame Abstammung zurückzuführen sind. Wortpaare der zweiten Art sind die sogenannten Kognaten, das Rohmaterial, aus dem die Linguisten die gemeinsame Mutter einer Sprachfamilie – Protosprache genannt – rekonstruieren. Die Rekonstruktion verspricht am ehesten Erfolg, wenn es viele lebende Sprachen zu vergleichen gibt und tote in Schriftzeugnissen gut dokumentiert sind. Für das Austronesische trifft leider nur der erste Fall zu; außer in der indisch beeinflußten westlichen Sphäre gibt es im gesamten übrigen Verbreitungsgebiet keine alten Texte. Gleichwohl kann man heute mit ausschließlich linguistischem Beweismaterial Fragen nach der Stammregion der Familie, der Richtung ihrer Ausbreitung und dem Kulturgut ihrer Sprecher schlüssig beantworten. Für die früheste Zeitstufe stellte der als Privatgelehrter arbeitende amerikanische Linguist Paul K. Benedict die Hypothese auf, daß die Tai-Kadai-Sprachfamilie (zu ihr gehören das Thai und das Laotische) und die austronesischen Sprachen eine Austro-Tai genannte Superfamilie bildeten. Deren Mutter Proto-Austro-Tai (abgekürzt PAT), die ihrerseits möglicherweise mehrere Entwicklungsstufen durchgemacht habe, sei dereinst auf dem südlichen chinesischen Festland gesprochen worden. Benedict hat Rekonstruktionen für etliche bedeutende Wörter des PAT vorgeschlagen, zum Beispiel für Feld, Naßfeld (für Reis und Taro), Garten, Pflug, Reis, Zuckerrohr, Vieh, Wasserbüffel, Axt und Boot. Wenn Benedict recht hat – und bisher gibt es keine überzeugende Widerlegung –, dann muß man ernsthaft die Möglichkeit in Erwägung ziehen, daß die Expansion der Sprachfamilie AustroTai von den reisanbauenden neolithischen Gesellschaften an der Südküste Chinas ihren Ausgang nahm. Die archäologischen Befunde liefern reichhaltige Beweise dafür, daß dort solche Gesellschaften im Zeitraum zwischen 8000 und 5000 Jahren vor der Gegenwart existierten. Robert Blust von der Universität von Hawaii in Honolulu führte die Rekonstruktion des Sprachenstammbaums vom Austro-Tai über eine weitere Stufe namens Proto-Austronesisch (PAN) weiter bis zu den einzelnen Zweigen des Austronesischen. Er favorisiert eine geographische Expansion, die in Taiwan (wo er die ältesten austronesischen Sprachen einschließlich PAN lokalisiert) einsetzte, dann die Philippinen, Borneo SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
und Celebes erfaßte und sich schließlich spaltete – in einen westlichen Zweig, der bis nach Java reicht, und einen östlichen über den Bismarck-Archipel nach Ozeanien. Verzweigungen des Austronesischen
MALCOM ROSS, AUSTRALIAN NATIONAL UNIVERSITY
Dieses dürre Schema könnte durch eine Fülle von linguistischen Details ausgefüllt werden. Ich möchte mich hier jedoch auf einige allgemeinere Schlußfolgerungen beschränken. Zu Zeiten des PAT gelang es allem Anschein nach einigen Siedlern mit landwirtschaftlichen Fertigkeiten, vom chinesischen Festland über die Formosastraße nach Taiwan überzusetzen. Dort entwickelten sich die archaischen austronesischen Sprachen; und einige Jahrhunderte später wagten sich von hier aus einige ihrer Sprecher zunächst nach Luzon und dann auf den Rest der Philippinen vor. Infolge dieser Wanderung teilte sich das Austronesische in seine zwei großen Untergruppen, die Formosa-Sprachen und das Malayo-Polynesische (MP). Der Wortschatz des PAN vor der Aufspaltung deutet auf eine Wirtschaftsweise hin, die einem Klima am Rande der Tropen angepaßt war: Anbau von Reis, Hirse und Zuckerrohr, Domestizierung von Hunden und Schweinen und Benutzung von Booten. Das Proto-Malayo-Polynesische (abgekürzt PMP), das mutmaßlich auf den Inseln am Rande der Celebessee gesprochen wurde, ist von großem Interesse, da
es – im Gegensatz zu dem älteren, nördlicher lokalisierten PAN – rekonstruierte Wörter für tropentypische Wirtschaftsweise enthält, zum Beispiel für Taro, Brotfrucht, Banane, Yams, Sago und Kokosnuß. Aus dem PAN haben sich im PMP Begriffe der Töpferei, des Segelns mit Booten und für einige Bauteile von größeren Holzhäusern erhalten. Infolge weiterer Siedlungsbewegungen durch die Philippinen nach Borneo, Celebes und den Molukken teilte sich dann schließlich die malayo-polynesische Untergruppe in einen westlichen und einen zentral-östlichen Zweig, die ihrerseits weiter divergierten. Der zentral-östliche Zweig muß sich auf den Molukken oder den Kleinen Sunda-Inseln abgespalten haben; das östliche Malayo-Polynesische umfaßt alle austronesischen Sprachen des pazifischen Raums mit Ausnahme einiger Sprachen im westlichen Teil Mikronesiens. Der linguistische Befund als solcher sagt uns, daß die Austronesisch sprechenden Völker – Bauern und Seeleute mit hochseetüchtigen Segelbooten – letztlich alle Regionen kolonisierten, die heute von ihren sprachlichen Nachfahren bewohnt werden: von Madagaskar bis zur Osterinsel und von Taiwan bis nach Neuseeland. Archäologische Befunde, auf die ich nun noch einmal eingehe, gestatten diese Ausbreitung zeitlich genauer festzulegen. Es ist sicher, daß vor 30 000 (und möglicherweise schon vor 50 000) Jahren seefahrende Frühmenschen ihren Lebensbereich vom asiatischen Festland südostwärts nach Celebes, Neuguinea
Wortähnlichkeiten unter den austronesischen Sprachen zeigen ihre Herkunft von einer gemeinsamen Ursprache an, die von Linguisten rekonstruiert und ProtoAustronesisch (PAN) genannt wurde. Nicht alle Wurzeln überleben in allen Tochtersprachen: Das Wort für Vogel im Rukai zum Beispiel ist ein Lehnwort. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
und Australien (die damals noch durch eine Landbrücke verbunden waren) sowie Neuirland am Ostrand des Bismarck-Archipels und den nördlichen Salomon-Inseln ausgedehnt hatten. Dazu waren Segeltörns über Entfernungen bis zu 65 Kilometer erforderlich, die frühesten Fahrten über offene See, die in der menschlichen Vorgeschichte nachweisbar sind. Diese Kolonisten waren wahrscheinlich die direkten Ahnen der heutigen australischen Aborigines und der Bewohner Neuguineas, besonders des inneren Hochlandes. Sie gehören auch zu den Vorfahren der Bewohner Melanesiens von der Küste Neuguineas bis zu den Fidschi-Inseln – Gruppen, die sich später mit Sprechern des Austronesischen mischten. Die Sprachen einiger australischer und papuanischer Familien stammen wahrscheinlich auch von den Sprachen dieser ersten Siedler ab. Weitere archäologische Indizien Man kann nicht zweifelsfrei beweisen, daß die Bewohner einer vorgeschichtlichen Stätte oder Mitglieder einer vorgeschichtlichen Kultur eine bestimmte Sprache benutzten. Hier jedoch legt das Gesamtbild eine solche Aussage zumindest nahe: Die Wörter der rekonstruierten Sprachen PAN und PMP beschreiben Landwirtschaft treibende Gesellschaften, die Reis anbauten, Keramik herstellten, in gut konstruierten Holzhäusern lebten und Haustiere hielten. Genau diese Dinge sind auch in weit voneinander entfernten Ausgrabungsstätten auf den Inseln Südostasiens und (abgesehen vom Reis) des westlichen Pazifiks zutage gefördert worden. Sie müssen vor 6000 bis 3500 Jahren binnen relativ kurzer Frist in Gebrauch gekommen sein. Das älteste neolithische Material in Taiwan datiert etwa 6000 Jahre zurück. Es handelt sich um Gegenstände von südchinesischem Typus, die wahrscheinlich von kleineren Gruppen Landwirtschaft treibender Siedler über die Formosastraße von Fukien aus auf die Insel gebracht wurden. Weitverbreitete typische Objekte aus dieser Zeit sind etwa schnurkeramische Töpferwaren, polierte steinerne Äxte und Sicheln, Speerspitzen aus Schiefer und aus Ton gebrannte Spinnwirtel. Es gibt auch Hinweise auf Reisanbau, und aus Pollenanalysen läßt sich auf Rodungen im Inland schließen. Gleichartiges Material findet sich dann in 5000 bis 4000 Jahre alten Kulturschichten an den Küsten und in klimatisch begünstigten Binnenregionen der
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AUSTRONESISCH
PAUL K. BENEDIKT, ROBERT BLUST
Der Stammbaum der austronesischen Sprachen
Philippinen, von Celebes und Nordborneo sowie (in Verbindung mit Knochen von Hausschweinen) südöstlich bis nach Timor. Pollenanalysen im Hochland von Westjava und Sumatra deuten darauf hin, daß schon vor 3000 Jahren, wenn nicht früher, ziemlich intensive Waldrodungen für den Ackerbau vorgenommen wurden. Keramik aus einer Fundstätte im Westen der Provinz Sarawak im malaysischen Teil Borneos wurde unlängst auf ein Alter von ungefähr 4000 Jahren datiert; zur Radiokohlenstoff-Analyse diente Reisspreu, die dem Ton als Magerungsmittel beigemischt worden war. In
vonstatten, wie sich an Keramik vom sogenannten Lapita-Typ verfolgen läßt. Die meisten Fundorte liegen an den Küsten der kleineren Inseln im westlichen Melanesien; die Fundregion erstreckt sich von den Admiralitäts-Inseln des Bismarck-Archipels im Westen bis nach Samoa im Osten über eine Distanz von ungefähr 5000 Kilometern. Die letzte und vielleicht eindrucksvollste Eroberung war die der weiten Räume Polynesiens jenseits von Samoa vor 2500 bis vor etwa 1000 Jahren. Zusammenfassend läßt sich aus dem archäologischen Befund erschließen, daß Austronesisch sprechende und Landwirtschaft betreibende Kolonisten von ihren Stammregionen Südchina und Taiwan in einem Zeitraum von ungefähr 1500 Jahren sich über eine Distanz von 10 000 Kilometern Küstenlinie und Meer bis an die westlichen Grenzen Polynesiens verbreiteten. Die Kolonisation ging schneller voran als irgendeine andere in vorgeschichtlichen Zeiten, war aber auch flüchtiger, denn sie ließ das Binnenland großer Inseln in der Frühphase unberührt. Auf härteren Widerstand stießen diese Ausbreitungswellen offenbar nur im westlichen Melanesien, wo den archäologischen Befunden zufolge schon früher eine unabhängige landwirtschaftliche Revolution stattgefunden hatte. Unlängst hat die Archäologie auch Hinweise für die bemerkenswerten Navi-
Die Kolonisation durch die Austronesier ging schneller voran als irgendeine andere in vorgeschichtlichen Zeiten den äquatorialen Breiten Indonesiens allerdings wandten sich die Menschen vom Reis ab und ernährten sich vorwiegend von tropischen Früchten und Knollen, deren Bezeichnungen sich, wie oben angedeutet, im Wortschatz des PMP wiederfinden. Niemals wurden irgendwelche Getreide auf die pazifischen Inseln eingeführt, mit der einen möglichen Ausnahme von Reis auf den Marianen. Somit waren innerhalb eines Jahrtausends bis vor 4000 Jahren Landwirtschaft betreibende Siedler von Taiwan bis an den westlichen Rand Melanesiens gelangt. Die weitere Ausbreitung bis ins westliche Polynesien ging noch schneller
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gationsfähigkeiten der frühen Austronesier geliefert. Scharfkantige Abschläge von Obsidian, den die Menschen der Lapita-Zeit in der Nähe von Talasea auf der (zum Bismarck-Archipel gehörigen) Insel Neubritannien förderten, kamen an ungefähr 3000 Jahre alten Fundstätten von Nordborneo im Westen bis zu den Fidschi-Inseln im Osten zutage; das vulkanische Glas ist also über eine Distanz von 6500 Kilometern verfrachtet worden. Damit ist der Talasea-Obsidian wahrscheinlich die verbreitetste Handelsware der steinzeitlichen Welt. Da ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Nachkommen dieser Lapita-Siedler imstande waren, die längsten Reisen der menschlichen Vorgeschichte zu unternehmen und während des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung Menschen, Haustiere und Kulturpflanzen bis an die äußersten Grenzen Polynesiens zu transportieren. Obwohl die austronesische Expansion in der Entwicklung der Landwirtschaft ihre Ursache hatte, war sie weit mehr als eine einfache Wanderung von Gruppen landsuchender Bauern. Es wäre eine törichte Vereinfachung, die komplexen Prozesse von Assimilation und Wechselwirkung, Anpassung der Wirtschaftsformen auf unterschiedliche Umweltbedingungen sowie 5000 Jahre kühner und phantasievoller Aktivität nicht zu bedenken und allen heute lebenden Sprechern austronesischer Sprachen lediglich Vorfahren in Südchina oder Taiwan zuzuschreiben. Gleichwohl bleibt die anfängliche neolithische Expansion sprachlich verwandter Völker aus einem Stammgebiet ein zentrales Thema in der SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Geschichte des Austronesischen. Werfen wir noch einen genaueren Blick auf diese Region, die sich vom heutigen Südchina und Taiwan bis zum Tal des Gelben Flusses erstreckt. Obwohl sich die tibetochinesischen Sprachen einschließlich des Chinesischen während der letzten 2000 Jahre dominierend durchsetzten, leben dort immer noch Sprecher von immerhin vier anderen Familien: Austroasiatisch (mit Vietnamesisch, Khmer, den Munda-Sprachen Indiens und einer Reihe von Sprachen Malaysias), Miao-Yao, Tai-Kadai und der austronesischen Dialekte von Taiwan. Nur noch Südwestasien, das westliche Melanesien und Teile von Zentralafrika sind Gebiete vergleichbarer Größe in der Alten Welt mit einer solchen sprachlichen Vielfalt. Und eben diese Gebiete sind ebenfalls Kerne der Entstehung von Landwirtschaft. Gekoppelte Ausbreitung von Sprache und Landwirtschaft Ebenso bedeutsam ist die Beobachtung, daß die Vielfalt innerhalb jeder der ostasiatischen Sprachfamilien ihren Höhepunkt in dieser Region erreicht. Genau das ist zu erwarten, wenn Ostasien eine Keimzelle nicht nur für die Verbreitung der Landwirtschaft, sondern auch der Sprache darstellt. Denn die größten Unterschiede unter den Sprachen einer Familie rühren normalerweise von den ältesten Aufspaltungen her, und diese ereigneten sich im allgemeinen in der Nähe der Region, in der die Ursprache gesprochen wurde. Zum Beispiel besteht innerhalb der austronesischen Familie der ausgeprägteste Unterschied zwischen den Dialekten Taiwans und der malayo-polynesischen Untergruppe der nördlichen Philippinen, die sich am frühesten trennten. Die interne Vielfalt der Familien Tai-Kadai und Miao-Yao ist gleichfalls in SüdLiteraturhinweise Cambridge Enzyklopädie der Archäologie. Herausgegeben von Andrew Sherratt. Christian Verlag, München 1980. Illustrierte Weltgeschichte der Archäologie. Herausgegeben von Leone Fasani. Südwest-Verlag, München 1987. Austro-Thai: Language and Culture, with a Glossary of Roots. Von Paul K. Benedict. HRAF Press, 1975. Man’s Conquest of the Pacific. The
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
china am größten. Über die Beziehungen des Austroasiatischen und des Tibetochinesischen herrscht weniger Sicherheit, aber auch in diesem Falle stützen rekonstruierte Wortschätze und das Muster der internen Differenzierung die Hypothese eines Stammlandes in Ostasien. Das Gesamtbild gleicht dem einer Pflanze mit vielen Blütenknospen – eine Metapher, mit der Andrew und Susan Sherratt vom Ashmolean-Museum der Universität Oxford die Ausbreitung der Sprachen von Vorder- und Südwestasien aus, einem weiteren Ursprungsland der Landwirtschaft, beschrieben haben. In dieser Region, die sich im weitesten Sinne von Südosteuropa und Anatolien bis nach Nordwestindien hinein erstreckt, liegen die vermuteten Ursprungsgebiete der indoeuropäischen, der kaukasischen, der elamo-drawidischen und vielleicht der afroasiatischen Sprachfamilie. Dort sind auch etliche isolierte Sprachen zu lokalisieren, die wir – wie das Sumerische – nur aus Schriftzeugnissen kennen. Für die Herkunft des Indoeuropäischen aus diesem Bereich hat Colin Renfrew plädiert. Entsprechende Keimzellen liegen offenbar im Hochland von Neuguinea (für die bereits genannte papuanische Sprachfamilie) und in Afrika südlich der Sahara. Dort erstreckt sich die Zone früher Landwirtschaft quer über den Kontinent von der Westküste bis nach Äthiopien zwischen dem 5. und 15. nördlichen Breitengrad; sie ist die Ursprungsregion der nilosaharanischen und der niger-kordofanischen Sprachfamilie. Zum Niger-Kordofanischen gehören die Bantusprachen, die sich durch landwirtschaftliche Kolonisation während der letzten 2500 Jahre über ganz Ostund Südafrika ausdehnten und damit die zur Khoisan-Familie gehörigen Sprachen der jagenden und sammelnden Ureinwohner in wesentlich kleinere Gebiete drängten. Angesichts dieser Beispiele gewinnen zwei Hypothesen klarePrehistory of South-East Asia. Von Peter Bellwood. Auckland 1978. Prehistory of the Indo-Malaysian Archipelago. Von Peter Bellwood. Academic Press, 1985. Archaeology and Language: The Puzzle of Indo-European Origins. Von Colin Renfrew. Cambridge University Press, 1987. The Austronesian Homeland: A Linguistic Perspective. Von Robert Blust in: Asian Perspectives, Band 26, Heft 1, Seiten 45 bis 67, 1988.
Peter Bellwood ist Dozent für Urund Frühgeschichte an der Australian National University in Canberra und Autor von fünf Büchern über die Archäologie des pazifischen Raums. Er ist in England geboren und studierte an der Universität Cambridge, wo er 1980 auch promovierte. Er ist Generalsekretär der Indo-Pacific Prehistory Association und gibt deren jährliches Bulletin heraus. Er hat Forschungsreisen und Ausgrabungen in Südostasien und Polynesien geleitet, die letzte auf den nördlichen Molukken in Indonesien. Sein Artikel „Die Besiedelung der pazifischen Inselwelt“ erschien im Januar 1981 in Spektrum der Wissenschaft.
re Konturen: Erstens sollte eine Ursprungsregion der Landwirtschaft zugleich eine überdurchschnittliche Anzahl von überlebenden Sprachfamilien beherbergen; und zweitens sollte für jede dieser Familien das Zentrum größter Vielfalt innerhalb dieser Region liegen. Diese Korrelationen sind freilich nicht zwingend und können in manchen Fällen (wie in der Türkei und größeren Teilen Südchinas) durch Sprachersetzungen verschleiert sein, die ebenfalls seit frühen Zeiten der Landwirtschaft stattgefunden haben. Doch sind beide Hypothesen eine Folgerung (und, wenn bestätigt, eine Stütze) der grundlegenden Vorstellung, daß die Expansion der Landwirtschaft und die der Sprache gekoppelt seien. Dies haben schon früher viele Archäologen und Linguisten dargelegt, besonders an der prähistorischen Kulturentwicklung in Afrika und im westlichen Asien. Dennoch will ich nicht behaupten, daß die frühe Ausbreitung der Landwirtschaft die gesamte Geographie der Sprachfamilien erklären könne. Sie ist eindeutig irrelevant für Jäger- und Sammlerbevölkerungen wie die australischen Aborigines; und aus geschichtlicher Zeit kennen wir viele Fälle von Sprachersetzung und Sprachverbreitung, die andere Ursachen haben. In solchen Fällen ist jedoch nach einer analogen Erklärung zu suchen. Wenn eine Sprache eine andere durch Kolonisierung ersetzt, müssen deren Sprecher auf irgendeine Weise im Vorteil sein. Dies gilt heute ebenso wie vor 10000 Jahren, als einzelne verstreute Menschengruppen mit der Kultivierung der Erde begannen.
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CHINESISCH
DIE CHINESISCHE W SPRACHE Das Chinesische ist die meistgesprochene Sprache der Welt. Es klingt melodisch, denn es ist eine Tonsprache. Die chinesische Schrift versetzt Europäer in Verblüffung, aber die Grundstruktur der Sprache selbst ist bemerkenswert einfach.
SAMMLUNG AVERY BRUNDAGE IM ZENTRUM FÜR KUNST UND KULTUR ASIENS, SAN FRANCISCO
VON WILLIAM WANG
Harmonisches Gleichgewicht zwischen Malerei und Schrift in der bildenden Kunst Chinas: hier ein Detail aus „Blühende Pflanzen und Bäume“ von Chen Shun (16. Jahrhundert, Ming-Dynastie). Die Anordnung ist traditionell, man liest die Schriftzeichen also von oben nach unten und von rechts nach links. Die Bedeutung der Verse lautet: „Jadezweige flattern frei im Wind. Scharlachrote Beeren funkeln im Schnee.“
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er etwas über die chinesische Sprache aussagen will, kann unter Superlativen wählen: Sie hat mehr Sprecher als jede andere Sprache; ihre Literatur ist dreieinhalb Jahrtausende alt und damit die älteste der Welt; ihre scheinbare Komplexität versetzt Europäer, die nur mit den gängigsten europäischen Sprachen vertraut sind, in Angst und Schrecken. Doch je eingehender man sich mit ihr beschäftigt, desto weniger kompliziert ist sie dann letztendlich. In mancher Hinsicht ist das Chinesische sogar viel einfacher als die Sprachen Europas. Zwar sind seine Geschichte und seine Struktur in mehreren grundlegenden Punkten von der europäischer Sprachen verschieden; aber gerade durch diese Unterschiede lernen wir das Wesen menschlicher Sprache überhaupt besser zu verstehen. Das chinesische Schriftsystem wirkt auf Europäer verblüffend, denn diese orientieren sich an Zeilen einfacher alphabetischer Symbole, säuberlich aneinandergereiht; im Chinesischen dagegen verliert sich das Auge in Tausenden unterschiedlicher Schriftzeichen, die oft höchst kompliziert aussehen. Für das Ohr klingt das Chinesische melodisch, fast wie gesungen. Wenn wir aber einmal einen Blick hinter den Vorhang des Augenscheins wagen, erwarten uns erst die wirklichen Überraschungen. Chinesisch besitzt weder Konjugation noch Deklination. Die gefürchteten Listen von Flexionsparadigmen fehlen der chinesischen Grammatik ganz. Für die Formen des Verbs „kaufen“ wie etwa „kaufen“ – „kaufte“ – „gekauft“ – „kaufend“ hat das Chinesische nur eine einzige Form: m˘ai. (Der Zirkumflex – a˘ – auf dem a bedeutet, daß die Silbe mit zuerst absteigendem, dann aufsteigendem Ton artikuliert wird; drei weitere Akzente bezeichnen weitere Töne: á steht für einen steigenden Ton, à für einen fallenden, a¯ für einen einfachen Hochton.) Für die Formen „Buch“, „die Bücher“, „den Büchern“, „des Buches“ benutzt das Chinesische nur sh¯u. Meist verdeutlicht der Kontext Tempus und Modus des Verbs, Kasus und Numerus des Nomens – mit grammatischen Überflüssigkeiten hält das Chinesische sich nicht auf. Zweifellos hatte der amerikanische Sprachwissenschaftler und Anthropologe Edward Sapir diese Einfachkeit der Struktur vor Augen, als er das Chinesische eine „konzise und darum logische Sprache“ nannte. Wenn man das hohe Alter des Chinesischen betrachtet, läuft man Gefahr, einen wichtigen Aspekt unter den Tisch fallen zu lassen: seine Entwicklung. Die Geschichte aller Sprachen auf der Welt
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verliert sich im Nebel der Vorzeit; ob sie einen gemeinsamen Ursprung haben, wissen wir nicht. Jedoch sprachen die Vorfahren der chinesischen Völker bereits vor 4000 Jahren eine primitive Form des Chinesischen – ebenso wie vor 1000 Jahren die Bewohner der Nordhälfte Frankreichs Altfranzösisch sprachen. Chinesisch ist also eine sehr alte Sprache. Nur sumerische Dokumente reichen weiter zurück als die ältesten Schriften Chinas. Die sumerische Keilschrift wird auf etwa 3000 vor Christus datiert; das älteste schriftliche Denkmal des Chinesischen stammt aus der Zeit um 1500 vor Christus. Das Sumerische und von ihm abgeleitete Sprachformen sind jedoch lange vor Christi Geburt ausgestorben; die chinesische Schrift hingegen hat sich weiterentwickelt und ist bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben.
Die ältesten chinesischen Inschriften wurden auf Knochen oder Schildkrötenpanzer eingeritzt. Meist handelt es sich um Orakel: Sie kündigen politische oder religiöse Ereignisse an, sagen die Wetterlage vorher oder behandeln das Militärwesen. Sie kamen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in China zum Vorschein. Die Chinesen nannten sie „Drachenknochen“ und verkauften sie als Heilmittel. Diese Inschriften sind die Kronjuwelen der Archäologie und Sinologie. Mehr als hunderttausend davon wurden bisher entdeckt. Die Summe aller so erhaltenen Zeichen beläuft sich auf über eine Million. Allerdings ist die Anzahl verschiedener Schriftzeichen sehr beschränkt: Der Inhalt der Orakel ist wenig abwechslungsreich, es wiederholen sich immer wieder dieselben Zeichen. Von den etwa zwei- bis dreitausend unterschiedlichen Zeichen ist etwa die Hälfte sicher gedeutet. Einige der ältesten Schriftzeichen sind Piktogramme, das heißt stilisierte Zeichnungen. Das Zeichen für „Regen“ besteht aus mehreren gepunkteten Linien, das Zeichen für „Pferd“ gleicht einem Pferd mit seiner Mähne und seinen vier Beinen. Piktogramme sind jedoch in der Minderheit; schließlich lassen sich die wenigsten Wörter direkt bildlich darstellen. Chinesische Zeichen wurden auf dauerhaften Trägern angebracht und blieben auf diese Weise erhalten: Metallgefäße, Steinwalzen, Schmuckstücke aus Jade, Geldstücke, Spiegel aus poliertem Metall oder Ziegel. Da die Chinesen den Pinsel kannten, finden wir ihre Schriftzeichen auch auf Seidenstoffen, Bambus, Holz und schließlich auch auf Papier – SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
MUSEUM VON PITTSBURGH, RALPH MORSE
Chinesische Orakel
Die Orakel (etwa 1400 vor Christus) sind die ältesten chinesischen Schriftdokumente. Sprünge und Risse auf Rindsknochen oder Schildkrötenpanzern, die entstanden, wenn die Wahrsager sie handhabten oder ins Feuer warfen, wurden gedeutet und zu prophetischen Texten verarbeitet.
so hat sich ihre Form weiterentwickelt und in unterschiedliche Ausprägungen aufgespalten. Mit dem Pinsel war der Schreiber freier in der Gestaltung seiner Schriftzeichen; so konnte insbesondere die Strichbreite variieren. Mit dem Graveursmesser war das nicht möglich gewesen. Die Kalligraphie, die vor allem Eleganz der Linienführung anstrebt, hat in der chinesischen Kultur denselben Stellenwert wie in Europa die Malerei. Übrigens stehen bei den Chinesen Malerei und Kalligraphie in enger Verbindung. Eine Seidenrolle trägt eine Zeichnung und einige Schriftzeichenkolumnen, subtil ausbalanciert. Der künstleri-
sche Wert und die lange Geschichte der chinesischen Schriftzeichen haben eine außergewöhnliche Vielfalt in Form und Gestalt hervorgebracht. Im Jahr 1956 beschloß die Regierung der Volksrepublik China, die Schriftzeichen zu vereinfachen und ein Umschriftsystem für chinesische Wörter in lateinischem Alphabet einzuführen; das hatte erhebliche Auswirkungen auf die Schreibweise. Diese Maßnahmen sollten das Lesen- und Schreibenlernen erleichtern und zielten damit auf eine sprachliche Vereinheitlichung sowie einen höheren Alphabetisierungsgrad in der Bevölkerung. Um das Wesen dieser Vereinfa- 왘
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CHINESISCH chung zu verstehen, wollen wir uns zuerst einmal die Struktur der traditionellen Schriftzeichen ansehen. Ein Schriftzeichen besteht aus Federstrichen, also geraden oder gebogenen Linien; die gebogenen kommen zustande, wenn man das Schreibgerät von der Unterlage abhebt. So setzt sich zum Beispiel das Zeichen für „Sonne“ (rì ausgesprochen) aus vier Strichen zusammen.
Dabei spielen Reihenfolge und Position der Striche eine wichtige Rolle. Es gibt ungefähr 20 verschiedene Striche; das entspricht dem Repertoire von 26
Buchstaben im lateinischen Alphabet. Dieselbe Gruppe von Strichen erscheint zuweilen in mehreren Schriftzeichen: Sie fungiert als Radikal, als Wurzelelement, denn sie signalisiert eine semantische Verwandtschaft aller Schriftzeichen, die diese Gruppe enthalten. Das Zeichen für „Stern“ (x¯ıng ausgesprochen) schreibt sich zum Beispiel so:
In der Literatursprache bezeichnet ein anderes Schriftzeichen die Morgensonne. Man spricht lóng und schreibt es so:
Beide Schriftzeichen enthalten das Radikal „Sonne“, das eine oben, das andere links. Die meisten Radikale sind zugleich auch für sich genommen Schriftzeichen. So sind etwa das Radikal „Sonne“ und das Schriftzeichen für „Sonne“ identisch. Umgekehrt sind aber die meisten der vielen tausend gängigen Schriftzeichen keine Radikale. Die Anzahl der Radikale beläuft sich traditionell auf 214, und man findet sie in fast jedem chinesischen Wörterbuch. Ein 1971 erschienenes Wörterbuch allerdings verschmilzt einige davon und kommt so nur auf 189 Radikale. Das Radikal eines Schriftzeichens wird nun mit einer weiteren Komponente verbunden. Im Zeichen für „Stern“ wird die zweite Komponente (sh¯eng ausgesprochen) unter das Radikal gesetzt. Man schreibt also:
WILLIAM WANG
In „Morgensonne“ wird die zweite Komponente lóng ausgesprochen.
Die Verteilung der wichtigsten chinesischen Dialekte. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung Chinas spricht einen der Mandarin-Dialekte, zu denen auch der Dialekt von Peking (Beijing) gehört. Die chinesische Diaspora überall auf der Welt spricht vor allem die Dialekte der Südküste. Auf chinesischem Staatsgebiet werden auch nichtchinesische Sprachen gesprochen, etwa mongolisch oder tibetisch in Nordwesten und Westen.
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Fast alle neueren Wörterbücher und Lexika ordnen die Schriftzeichen nach ihren Radikalen: so findet man das Zeichen für „Stern“ im Abschnitt für das Radikal „Sonne“. Dort erscheinen alle Schriftzeichen, die dieses Radikal enthalten. Innerhalb dieses Abschnitts werden die Schriftzeichen dann in aufsteigender Reihenfolge nach der Anzahl von Strichen, die die andere Komponente enthält, angeordnet. Im Schriftzeichen „Stern“ umfaßt die andere Komponente fünf Striche; es findet sich also ungefähr in der Mitte des Abschnitts. Der Aufbau der Schriftzeichen „Stern“ und „Morgensonne“ zeigt, daß ihre Bedeutung mit der des Radikals „Sonne“ verwandt ist. Das Radikal ist mithin der Teil, der die Bedeutung des Zeichens trägt; die anderen Komponenten sind phonetische Elemente und verweisen auf die Aussprache. In „Morgensonne“ ist das phonetische Element lóng; so spricht man auch das Schriftzeichen insgesamt aus. Es gibt allerdings historisch bedingt auch Schriftzeichen, die man nicht wie ihre zweite Komponente ausspricht: die zweite Komponente des Zeichens für „Stern“ lautet sh a¯ ng, das Schriftzeichen insgesamt wird aber x¯ıng ausgesprochen. Das Schriftzeichen für „Pferd“ verdeutlicht recht gut, welche Rolle dem phonetischen Element zukommt: man spricht m˘a und schreibt SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
In Verbindung mit dem Radikal „Frau“ ergibt das phonetische Element ma¯ , und das bedeutet „Mutter“.
Mit dem Radikal „Jade“ erhalten wir dann m˘a mit der Bedeutung „Achat“.
Das Schriftzeichen für „Sonne“ besteht aus vier Pinselstrichen: einem senkrechten, einem, der die obere linke Ecke markiert, einem waagerechten in der Mitte und einem Schlußstrich unten. Reihenfolge und Position der Striche ist nicht beliebig. Alle Komponenten eines Schriftzeichens passen in ein Rechteck.
An das Radikal „Insekt“ angehängt ergibt sich als Bedeutung des Schriftzeichens „Ameise“ (immer noch m˘a ausgesprochen).
Erfolg: ein in vereinfachten Schriftzeichen geschriebener Text enthält halb so viele Striche wie derselbe Text, geschrieben vor 1956. So wurde es erheblich leichter, das Lesen zu lernen. Man kann die fünf bis sechs Striche pro Wort durchaus mit den fünf bis sechs Buchstaben eines europäischen Wortes vergleichen. Der Bezug zur Bedeutung ist in der chinesischen Schrift viel direkter als in der lateinischen. Die Buchstabenfolge PF-E-R-D ergibt nur über die Laute, für die die Lettern stehen, einen Sinn. Die Buchstabenform hat überhaupt nichts mit dem Begriff „Pferd“ zu tun, und man könnte ohne weiteres auch griechische Buchstaben benützen, ohne dadurch den Sinn zu verändern. Für einen Chinesen dagegen bezeichnet das Schriftzeichen für „Pferd“ eben Pferd, ohne daß man deswegen m˘a laut sagen müßte. Das Bild ist so lebendig, daß man es förmlich über die Seite galoppieren sieht:
Zwei Radikale „Mund“ oberhalb des phonetischen Elements für „Pferd“ ergeben „beleidigen“ (mà ausgesprochen).
Zahlreiche chinesische Schriftzeichen kombinieren auf diese Weise ein Radikal und ein phonetisches Element. Wenn ein Chinese ein Schriftzeichen zum ersten Mal liest, kann er anhand des phonetischen Elements oft die richtige Aussprache erraten. So besteht folgendes Schriftzeichen
aus dem Radikal „Gold“ und dem phonetischen Element lóng. Auch wenn er das Schriftzeichen nicht zuordnen kann, versteht er doch, daß es ein Metall oder eine Metall-Legierung bezeichnet und lóng ausgesprochen wird. Machen wir uns den Spaß und konstruieren nach dieser Richtlinie ein neues Schriftzeichen aus drei Elementen:
Jeder dieser drei Bestandteile ist ein echtes chinesisches Schriftzeichen. Das erste heißt „Frau“, die anderen „oben“ und „unten“, ausgesprochen shàng und xià. Wenn wir uns für „Frau“ als bedeutungstragendes Radikal entscheiden, ergibt sich als Sinn des erfundenen Schriftzeichens etwa „Fahrstuhlführerin“. Es sieht so aus:
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Traditionelle Schriftzeichen und ihre vereinfachten Entsprechungen. Die einfachsten wie die ersten beiden bleiben von der Vereinfachung unberührt.
Allerdings können wir das Problem, wie unser Schriftzeichen denn nun auszusprechen wäre, nicht lösen – die rechte Komponente enthält ja zwei Elemente. Spräche man beide Silben aus (shàngxià), wäre eine grundlegende Regel der chinesischen Schrift verletzt, nach der ein Schriftzeichen immer nur für eine einzige Silbe stehen kann. Chinesische Wörterbücher und Reimwörterbücher listen Zehntausende von Schriftzeichen auf; um eine Tageszeitung lesen zu können, genügen aber vier- bis siebentausend. Manche sind äußerst kompliziert und enthalten mehr als 30 Striche. Das Vorhaben von 1956 zielte darauf ab, ihre Form zu vereinheitlichen und die Anzahl der erforderlichen Striche zu reduzieren. Mit spektakulärem
Die Schriftzeichen hängen also nicht von der Lautung ab. Aus diesem Grund hat sich die chinesische Schrift viel weniger stark weiterentwickelt als die gesprochene Sprache: Die Schriftsprache hat Jahrtausende überdauert und es vermocht, die verschiedenen Kulturen Chinas zu einem kohärenten Ganzen zu verschmelzen. Der Einfluß der chinesischen Schrift reicht über die Grenzen Chinas hinaus: Viele Jahrhunderte lang gaben die chinesischen Schriftzeichen die gemeinsame kulturelle Basis für ganz Fernost ab; sie sind bis nach Vietnam und Korea präsent. Ein Chinese ohne Japanischkenntnisse kann sich auf einer Reise nach Japan zurechtfinden – wenn er schriftlich kommuniziert. Die meisten Zeichen, deren sich Konfuzius bediente (immerhin im 5. Jahrhundert vor Christus!) erscheinen noch heute in modernen Publikationen, und ein beträchtlicher Teil hat die ursprüngliche Bedeutung bewahrt. Die Schriften des Konfuzius sind für einen heutigen Chinesen viel besser verständlich als das Hildebrandslied (9. Jahrhundert) für einen Deutschen, und auch wenn sich die wundervollen Gedichte der Tang-Dynastie (7. bis 10. Jahrhundert) nicht mehr reimen, wenn man sie heutzutage laut liest, so hat ihre visuelle Kraft doch Bestand. Noch heute werden sie in ganz China hochgeschätzt. Wenn aber Chinesen aus Peking, Shanghai oder Hongkong sie vorlesen, ist der Klangeindruck ganz verschieden. Es ist, als hörte man „6 + 7 = 13“ von einem 왘
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CHINESISCH Deutschen, einem Schweden und einem einigte sich auf ein TranskriptionssyStandardchinesisch verfügt über vier Engländer. Wenn Konfuzius heute ir- stem auf der Basis des lateinischen Al- Töne, die Modulationen der Stimme entgendwo in China unterrichten müßte, phabets. Es heißt Pinyin; wörtlich bedeu- sprechen: aufsteigend, fallend, einfach würde ihn keiner mehr verstehen, denn tet es “den Klang notieren”. Auch im und schleifend (zuerst auf-, dann absteidie Dialekte des riesigen Landes haben vorliegenden Artikel werden alle chinesi- gend). Die Abfolge der Töne macht die sich so weit auseinanderentwickelt, daß schen Wörter nach dem Pinyin-System Musikalität des gesprochenen Chineein Chinese aus Peking nicht unbedingt wiedergegeben. Der chinesischen Regie- sisch aus. In Pinyin markiert man die imstande ist, sich in einem kantonesi- rung ging es, wie sie auch immer wieder Töne durch diakritische Zeichen auf den schen Restaurant sein Abendessen zu be- klarstellte, keineswegs darum, die origi- Vokalen. In der chinesischen Literatur stellen. när chinesischen Schriftzeichen durch wird die Existenz der Töne schon im 6. Die letzte Volkszählung schätzte die Pinyin zu ersetzen; es sollte nur leichter Jahrhundert erwähnt. Eines Tages fragte Anzahl der Sprecher des Chinesischen werden, ihre Aussprache zu erlernen. der Kaiser von Liáng einen seiner Hofauf 1,2 Milliarden. Zwei Drittel davon Würde man die chinesischen Schriftzei- gelehrten, Zh¯ou Shˇe, was man unter den sprechen Mandarin. Der Name rührt da- chen ganz aufgeben, würden künftige vier Tönen zu verstehen habe. Zh¯ou anther, daß dieser Dialekt von den Regie- Generationen ihr reiches kulturelles Erbe wortete mit einem eleganten Bonmot: rungsbeamten, den Mandarins, gespro- einbüßen. chen wurde. Auf chinesisch nennt man Die Pinyin-Umschrift beruht auf der ihn gu a¯ nhuà, das heißt „Amtssprache“. Aussprache des Standardchinesischen Standardchinesich wiederum ist eine Va- (also dem Dialekt von Beijing oder Perietät dieses Dialekts mit Namen guóyˇu, king), wie sie in allen Gegenden Chinas Übersetzt bedeutet dies: „Der Sohn „Nationalsprache“, bˇeifanghuà, ¯ „nördli- gelehrt wird. Die Lautstruktur des Stan- des Himmels ist göttlich und weise“. Die che Sprache“, oder pˇutonghuà, ¯ „Ge- dardchinesichen ist einfach; nur ein Cha- Kaiser von China galten traditionell als meinsprache“. rakterzug ist für Europäer gewöhnungs- Söhne des Himmels und göttlich, egal, Außerhalb Chinas wird Standardchi- bedürftig: die Töne. ob sie nun weise waren oder nicht. Zh¯ous nesisch wenig verwendet. In Aphorismus ist ausgesproSüdostasien dominieren Yue chen geistreich: Jedes Wort und südliches Min, da die steht für einen anderen Ton. dort ansässigen Chinesen Die Silbe gehorcht im vorwiegend aus den südliChinesischen einem melodichen Küstenprovinzen stamschen Schema (eben dem men, wo man diese beiden Ton). Ändert man den Ton, Dialekte spricht. Auch in den ändert sich auch die BedeuUSA sprechen chinesische tung des Wortes, genau so, Staatsbürger Yue-Dialekte. wie sich auf deutsch ein anZur Zeit der Goldfunde in derer Sinn ergibt, wenn man Kalifornien kamen im Jahr einen Vokal oder Konsonan1850 chinesische Einwandeten durch einen anderen errer über den Pazifik. Später setzt. Auf deutsch verwendet waren chinesische Immiman einen aufsteigenden Ton granten stark am Bau der Eiin einer Frage („Háns?“), eisenbahnen im amerikaninen fallenden im Ausruf schen Westen beteiligt. Hun(„Hàns!“). Diese Töne geben derttausende chinesischstämunterschiedliche Sprechhalmiger Amerikaner kommen tungen wieder, aber die Beletzten Endes aus einer deutung bleibt dieselbe. Auf Handvoll Dörfer im Umkreis Chinesisch dagegen bedeutet von 150 Kilometern um Kanmá mit steigendem Ton ton. Die Dialekte dieser Dör„Hanf“, mà mit fallendem fer gehören zur Gruppe der Ton „beleidigen“. Die BeYue-Dialekte, unterscheiden deutung verändert sich in gesich aber stark voneinander. nau der gleichen Weise, wie Im Laufe des letzten Jahrwenn wir etwa das a durch hunderts haben sich obenein i ersetzt hätten (das ergädrein erhebliche Unterschiebe mì „Honig“) oder m durch de zwischen den Sprechern p (das ergäbe pà „fürchten“). Töne sind für die Bedeutung der Wörter relevant. Standardder ursprünglichen DorfdiaIm Chinesischen besitzt chinesisch hat nur 4 Töne: absteigend wie in mà, aufsteigend lekte um Kanton und den jede Silbe einen Silbenkern, wie in má, einfach wie in m¯ a und zuerst ab-, dann aufsteirestlichen Amerikanern chinormalerweise ein Vokal, der gend wie in m˘a . Rechts von jedem Wort zeigt ein Oszillonesischer Abkunft aufgetan. den Ton trägt. Ton und Silgramm, wie die Tonhöhe sich verändert, während ein SpreAbgesehen von der Verbenkern sind mithin die cher das Wort artikuliert. Auf Chinesisch hat ein Wechsel des einfachung der Schriftzeigrundlegenden Bestandteile Tons dieselbe Auswirkung auf die Bedeutung, wie wenn man einen Vokal oder einen Konsonanten durch einen anderen chen traf die chinesische Reder Silbe im Chinesischen. ersetzt. Auf deutsch ändert sich mit einem Wechsel des Tons gierung noch eine weitere Hinzu kommen je nachdem die Sprechhaltung (Frage oder Ausruf); die Bedeutung des sprachpolitische Entscheidrei weitere Elemente: das Wortes selbst aber bleibt gleich. dung von Bedeutung: Man Anfangselement, oft ein Kon-
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Die acht verschiedenen Silbentypen des Chinesischen
Chinesische Morpheme sind einsilbig. Ausnahmslos jede Silbe besitzt einen Ton und einen Kern (häufig ein Vokal), der den Ton trägt. Sie kann ferner einen Konsonanten im Anlaut, einen
sonant, das mittlere Element, oft ein Halbvokal, das Schlußelement, Halbvokal oder Konsonant. Anders als in den meisten europäischen Sprachen existieren im Chinesischen keine Konsonantengruppen im Wortinneren. Um europäische Wörter, die Konsonantengruppen enthalten, auf Chinesisch schreiben zu können, spaltet man sie so auf, daß jeder Konsonant eine eigene Silbe erhält. „Marx“ wird demnach so geschrieben
und m˘a-kè-s¯ı ausgesprochen. Links ist übrigens wieder das Schriftzeichen für „Pferd“ zu erkennen – ein in China weitverbreiteter Familienname. Jede Sprache besitzt ein Reservoir von einigen tausend Morphemen (Einheiten, die semantische und grammatikalische Bedeutung tragen). Das deutsche Wort „Entwickler“ enthält demnach drei Morpheme: Ent - wickl - er. Manche Morpheme bestehen aus mehreren Silben (wickel), manche nur aus einem Laut, im Deutschen etwa -s wie für den Genitiv „des Entwicklers“. Im Chinesischen gibt es nur einsilbige Morpheme. Die meisten sind Substantive, Adjektive oder Verben: sh¯u „Buch“ ist ein Substantiv, m aˇ i „kaufen“ ein Verb, guì „teuer“ ein Adjektiv: solche Morpheme heißen lexikalische Morpheme. Funktionale Morpheme dagegen modifizieren die Bedeutung eines Wortes oder verbinden Wörter im Satz. Zum Beispiel gibt es Morpheme, mit denen man aus dem Morphem „billigen“ etwa „gebilligt“, „billigend“ oder „Billigung“ bilden kann. Deklination und KonjugatiSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Halbvokal im Inlaut und einen Halbvokal oder Konsonanten im Auslaut haben. Aus der Kombination dieser Möglichkeiten ergeben sich für das Chinesische acht verschiedene Silbentypen.
on, die im Deutschen eine so große Rolle spielen, sind im Chinesischen eine zu vernachlässigende Größe. Immerhin kennt das Chinesische eine Wortbildung durch Ableitung; so kann etwa die Änderung des Tons ein Substantiv in ein Verb überführen. Das Wort shˇu heißt „zählen“, shù ist das dazugehörige Nomen „Zahl“. Ebenso findet man lián „verbinden“ und liàn „Kette“ oder mó „mahlen“ und mò „Mühle“. In all diesen Fällen wird der Ton des Verbs durch den fallenden Ton ersetzt und so ein Substantiv gebildet. Wortableitung mit Hilfe des Tons ist mit Sicherheit ein uraltes sprachliches Verfahren des Chinesischen; im heutigen Standardchinesisch ist es allerdings nicht mehr produktiv. In Kanton jedoch werden immer noch Diminutive (Verkleinerungsformen) durch Modifikation des Tons gebildet: „Bonbon“ leitet sich von „Zucker“ ab, „Mädchen“ von „kleine Frau“ usw. Eine andere Ableitungsmethode besteht darin, die Wörter zu verdoppeln. So ergibt sich die Bedeutung „jeder“: rén bedeutet „Individuum“, rénren „jedes Individuum“, „alle“. Das Wort tia¯ n bedeutet „Tag“, tiantian ¯ „täglich“. Bei einem Verb drückt die Verdoppelung die Kürze der entsprechenden Handlung aus: kàn heißt „anschauen“, kànkan aber „einen Blick auf etwas werfen“. Das Wort z ou ˇ bedeutet „gehen“, zóuzou „spazierengehen“. Mittels Verdopplung kann man auch aus einem Adjektiv ein Adverb machen (man muß nur noch das Suffix de anhängen). Aus kuài „schnell“ ergibt sich dann mit kuàikuàide das Adverb „schnell“, aus l a˘ n „faul“ wird l anl ˘ ande, ˘ das Adverb „faul“ (im Deutschen unter-
scheidet man nicht zwischen Adjektiv und Adverb). Bei zweisilbigen Adjektiven und Verben funktioniert die Verdopplung anders. Ein zweisilbiges Verb wie taolùn ˇ „diskutieren“ wird taolùnt ˇ aolùn ˇ „kurz diskutieren“; es wird im Ganzen verdoppelt. Das Adjektiv g¯aoxìng „freudig“ wird dagegen zum Adverb g¯aog¯aoxìngxìngde; hier muß man jede der beiden Silben getrennt wiederholen. Kopplung von Gegensätzen Auch durch die Kopplung von Gegensätzen kann man neue Wörter erzeugen: „kaufen“ und „verkaufen“ bilden gemeinsam das Wort „Handel“, m aˇ imài. Die Wörter „lang“ und „kurz“ ergeben „Länge“, chángduˇan. Die Bedeutung des so gebildeten neuen Wortes ist dabei nicht immer unmittelbar einsichtig. So ergeben fan ˇ „zurückgegeben“ und zhèng „vernünftig“ fanzhèng ˇ „in jedem Fall“. Im Chinesischen und seinen Nachbarsprachen sind Klassifikatoren weit verbreitet. Dies sind Wörter, die zwischen ein Demonstrativpronomen und/oder ein Zahlwort und das so gekennzeichnete Wort gestellt werden; ihre eigentliche Bedeutung ist dabei nicht weiter wichtig. Man sagt zum Beispiel nicht s¯an sh¯u „drei Bücher“ oder nèi m¯ao „diese Katze“, sondern s¯an bˇen sh¯u „drei Stück Buch“ oder nèi zh¯ı m¯ao „dieses Stück Katze“. Hier wurden bˇen und zh¯ı mit „Stück“ übersetzt, ein passenderes Äquivalent gibt es auf deutsch nicht. Diese Klassifikatoren sind in entsprechenden chinesischen Ausdrük왘 ken obligatorisch.
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CHINESISCH
Die Entwicklung der Piktogramme für die beiden wichtigsten Tiere der chinesischen Mythologie, den Tiger und den Drachen.
In einfachen chinesischen Sätzen ist die Reihenfolge der Satzglieder genau wie im Deutschen: Subjekt - Prädikat Objekt. Der Satz wˇomen ch¯ı j¯ı bedeutet wörtlich „wir essen Hähnchen“. Allerdings tendiert das Chinesische dazu, Subjekt oder Objekt auszulassen. Sätze wie wˇomen ch¯ı „wir essen“ und ch¯ı j¯ı „essen Hähnchen“ sind ganz üblich. Wenn ein Chinese aber das Objekt besonders hervorheben will, setzt er es an den Satzanfang: Man sagt dann j¯ı wˇomen ch¯ı „Hähnchen, das essen wir“ und drückt damit aus, daß man eben Hähnchen ißt und nicht etwa etwas anderes. Und nun lassen wir zur Abwechslung das Subjekt weg und setzen das Objekt an die erste Stelle. Heraus kommt der Satz j¯ı ch¯ı, „Hähnchen wird gegessen“; erst der Kontext verdeutlicht die Identität dessen, der das Hähnchen ißt. Gleichwohl kann j¯ı ch¯ı aber auch heißen „das Hähnchen frißt“; dann ist j¯ı das Subjekt. Mit anderen Worten: j¯ı ch¯ı ist für sich genommen mehrdeutig. Solche Mehrdeutigkeiten gibt es indes in jeder Sprache: „Die Mutter ist nicht da“ kann sich sowohl auf die Kindsmutter als auch auf die Schraubenmutter beziehen. (Anmerkung der Redaktion: Semantische Ambiguität im Einzelfall ist etwas anderes als eine systemimmanente grammatikalische Ambiguität. Im Gegenteil löst gerade der lautliche Zusammenfall von Subjekt und Objekt tiefgreifenden Sprachwandel aus: Durch den Ausfall von auslautendem -m und -s im Spätlateinischen wurden für einen bedeutenden Teil der Nomina Nominativ =
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Subjektskasus (kenntlich am auslautenden -s) und Akkusativ = Objektskasus (kenntlich am auslautenden -m) identisch. Das führte dazu, daß die Wortstellung, die im Klassisch-Lateinischen frei gewesen war, regularisiert und fest wurde, Subjekt und Objekt also statt an ihrem Auslaut nunmehr an ihrer Stellung im Satz eindeutig identifizierbar wurden. Eine Sprache, die keine irgendwie gearteten – lautlichen, grammatikalischen – Mittel zur Unterscheidung von Subjekt und Objekt bereitstellt, sondern sich rein auf den Kontext verläßt, ist durchaus ungewöhnlich.) Frühes Forschungsfeld Seit etwa 2000 Jahren ist das Chinesische Gegenstand der Forschung. Schon damals beschäftigte man sich in China mit Semantik und Dialektologie. Im 17. und 18. Jahrhundert legten die großen Gelehrten der Q¯ıng-Dynastie den Grundstein für eine historische Lautlehre des Chinesischen, und noch heute stützen sich moderne Sinologen auf ihre Arbeiten. Da die chinesische Schrift bekanntlich nicht phonetisch funktioniert, scheint es unmöglich zu eruieren, wie sich die gesprochene Sprache vor ein paar Jahrhunderten anhörte. Man könnte auf die Idee kommen, Laute einer in einer Alphabetschrift geschriebenen Sprache (etwa Altkirchenslawisch oder Sanskrit) seien leichter zu rekonstruieren; aber auch das ist nicht der Fall, denn wir wissen letzten Endes nicht, wie die Buchsta-
ben ausgesprochen wurden. Es ist vielmehr die heutige Aussprache, die uns Rückschlüsse auf die frühere Aussprache erlaubt. Man vergleicht die Aussprache einzelner Morpheme in verschiedenen heutigen Dialekten und leitet davon ihre ursprüngliche Aussprache ab. Das sind keine bloßen Hypothesen: sie lassen sich durch alte schriftliche Belege stützen und stehen im Einklang mit den Grundregeln des Lautwandels. Das Chinesische bietet dafür hervorragende Ausgangsbedingungen, nämlich seinen Reichtum an schriftlichen Belegen und Zeugnissen aus sehr alter Zeit. Da die Gestalt der Schriftzeichen nicht von der tatsächlichen Aussprache abhängt, haben es Sprachwissenschaftler dafür um so leichter, die Etymologie von Morphemen zu klären. Natürlich bringt ein solcher Überfluß an Material auch seine Probleme mit sich: Die Datenauswahl nimmt viel Zeit in Anspruch. Heutzutage erleichtern Computer die Datenerfassung und verarbeitung ganz erheblich. Gegenwärtig normalisieren sich die Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und Europa, und so wächst denn auch das Interesse an der chinesischen Sprache. Das Chinesische hat die meisten Sprecher der Welt; seine Literatur ist die langlebigste. Angesichts dessen ist die neue Begeisterung für das Chinesische 왎 nicht mehr als recht und billig. William Wang ist Professor für Linguistik am Institut für Elektronik an der Universität von Hongkong.
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KREOLISCH
Die Sprachen der
Kreolen
Die als Kreolisch bezeichneten weit verstreuten Sprachen ähneln einander auffallend, obwohl sie sich wahrscheinlich unabhängig voneinander entwickelt haben. Die Untersuchung, wie das Kreolisch auf Hawaii entstand, läßt vermuten, daß Kinder beim Spracherwerb zunächst die abstrakte Form einer Kreolensprache ausbilden. VON DEREK BICKERTON
D
er griechische Historiker Hero dot überliefert die Geschichte von Psammetich I., Pharao von Ägypten im siebten Jahrhundert vor Christus, der die Ursprache der Menschheit entdecken wollte. Er ordnete an, zwei Kinder ihren Eltern wegzunehmen und in die Obhut eines stummen Schafhirten zu geben. Diesem wurde aufgetragen, die Kinder isoliert von anderen Menschen aufzuziehen. Der Hirte sollte auf das erste von den Kindern geäußerte Wort achten. Von der Sprache ihrer Vorfahren „unverdorben“, so die Überlegung Psammetichs, würden sie anfangen, in der reinen Sprache zu reden, von der alle anderen abstammen. Der erste verständliche Laut der Kinder war „bekos“. In der alten phrygischen Sprache bedeutete das „Brot“. Daher, folgerte Psammetich, ist das Phrygische die Ursprache der Menschheit. Über diese Geschichte haben Generationen von Linguistik-Studenten gelächelt. Abgesehen von ihrer Überzeugung, daß ein solcher Versuch selbstverständlich niemals durchgeführt werden dürfe, haben die meisten Sprachwissenschaftler das Experiment des Psammetich abgetan, weil es in der Anlage verfehlt und für ein brauchbares Resultat ungeeignet sei. In der Tat ist die Hoffnung, so etwas wie einen „Urwortschatz“ entdecken zu können, mehr als optimistisch zu nennen. Isoliert man einen einzelnen Menschen sprachlich, so bleibt er, wie einige wenige Fälle schwerer Kindesmißhandlung belegen, normalerweise im Wortsinne sprachlos. Gleichwohl wiederholte sich im Laufe der vergangenen fünf Jahrhunderte das Psammetich-Experiment in abgewandelter Form vielmals – bei den Kindern von Sklaven und Arbeitern, die in den Dienst der europäischen Kolonialherren gezwungen wurden. Diese Arbeiter kamen per Schiff aus vielen Teilen der Welt nach Afrika, in das Gebiet des Indischen Ozeans, in den Orient, die Karibik oder nach Hawaii, um
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Plantagen zu unterhalten. Sie waren genötigt, sich in ihrer vielsprachigen Gemeinschaft mit Hilfe eines bruchstückhaften, „Pidgin“ genannten Sprachsystems zu verständigen. Pidgin ist in Satzbau und Wortschatz äußerst reduziert; aber für die Kinder, die in die koloniale Gemeinschaft hineingeboren wurden, war es die einzige gemeinsame verfügbare Sprache. Aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelten sich unter den Kindern neue Muttersprachen, die ganz allgemein Kreolensprachen genannt werden. Wie man leicht zeigen kann, besitzen sie dieselbe Komplexität, den Nuancenreichtum und die Ausdruckskraft, die in den etablierteren Sprachen der Welt zu finden sind. Suche nach der Ursprache – ein Irrweg? Auf den ersten Blick spricht die Entwicklung zahlreicher unterschiedlicher Kreolensprachen dafür, daß die Suche nach einer einzigen Ursprache in die Irre führt. Seit vielen Jahren haben jedoch die Fachgelehrten eine bemerkenswerte strukturelle Ähnlichkeit zwischen allen diesen Kreolensprachen festgestellt. Berücksichtigt man den Ursprung des Kreolischen von Hawaii, so läßt sich inzwischen nachweisen, daß die Ähnlichkeiten zwischen Kreolensprachen nicht auf den Kontakt mit anderen Sprachen, einheimischen oder importierten, zurückzuführen sind. Der Befund legt vielmehr nahe, daß das Gemeinsame der Kreolensprachen tatsächlich überall auf der Welt dem kindlichen Spracherwerb zugrundeliegen kann. Es gibt mittlerweile eindrucksvolles Beweismaterial, um diese Hypothese zu stützen: Im Alter zwischen zwei und vier Jahren spricht das Kind, das in eine Gemeinschaft sprachlich kompetenter Erwachsener hineingeboren wurde, eine Sprachvariante, de-
ren Struktur tiefgreifende Ähnlichkeiten mit der Struktur von Kreolensprachen aufweist. Es hat einen ironischen Anflug von Gerechtigkeit, daß somit die noch lebenden sprachlichen Überreste des Kolonialismus einen unentbehrlichen Schlüssel zum Studium unseres eigenen sprachlichen Erbes bergen. Die historischen Bedingungen, unter denen sich die Kreolensprachen entwikkelt haben, sind gut bekannt. Zwischen 1500 und 1900 errichteten England, Frankreich, die Niederlande, Portugal und Spanien überall in der Welt an einsamen Küsten und auf unterbevölkerten tropischen Inseln zahlreiche arbeitsintensive Landwirtschaften. Die Kolonien betrieben vorwiegend Monokultur, gewöhnlich Zuckerrohr-Anbau. lhre wirtschaftliche Lebensfähigkeit beruhte auf einem Überfluß an billigen Arbeitskräften, die als Sklaven von weither importiert wurden. Die Arbeiter wurden zunächst aus West-, später aus Ostafrika, aus Indien und dem Orient bezogen und sprachen viele wechselseitig nicht verständliche Sprachen. Wären sie unter günstigeren Umständen eingewandert, hätten die Arbeiter oder ihre Kinder vielleicht die Sprache der jeweiligen Kolonialmacht erlernt. Doch zwei Faktoren verhinderten das. Erstens überstieg die Anzahl der Menschen, die die Sprache der Kolonialherren sprachen, selten 20 Prozent der Gesamtbevölkerung und lag oft sogar unter 10 Prozent; es gab also relativ wenige Menschen, von denen man die herrschende Sprache hätte lernen können. Zweitens waren die Kolonial-Gesellschaften klein, autokratisch regiert und streng in Schichten gegliedert. Es gab wenig Gelegenheit zu weitergehenden sprachlichen Kontakten zwischen Feldarbeitern und Sprechern der herrschenden Sprache. Von Hawaii abgesehen gibt es wenig zuverlässiges Belegmaterial zur frühen Sprachgeschichte der Kolonialgesellschaften. Allgemein nimmt man an, daß 왘
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KREOLISCH das Pidgin sich als Kontaktsprache allein mit dem Ziel entwickelte, eine Verständigung zwischen Herren und Arbeitern sowie zwischen Arbeitern unterschiedlicher Einwanderer-Gruppen zu ermöglichen. Zeugen der Sprachgeschichte von Hawaii
borenen wie Europäern, im Verhältnis zwei zu eins überlegen.Als Kommunikationsmittel zwischen Einwanderern und Einheimischen diente anfangs ein Pidgin, das auf der polynesischen Sprache Hawaiianisch basierte. Als die USA 1898 Hawaii annektierten, wurde das Hawaiianische durch Englisch ersetzt. Nach 1900 verfiel die hawaiianische Sprache, so daß das hawaiianische Pidgin als „Lingua franca“ durch ein Pidgin ersetzt wurde, das auf dem Englischen basierte. Als wir in den frühen siebziger Jahren begannen, die Sprachvariationen auf Hawaii intensiv zu erforschen, lebten noch viele sprachliche Zeugen der Jahre l900 bis 1920, Einwanderer wie Einheimische. Unsere Tonband-Aufnahmen von Einheimischen lassen erkennen, daß der Prozeß der Kreolisierung um 1900 noch
AUS DER SAMMLUNG VON RAY JEROME BAKER UND ROBERT E. VAN DYKE
Kreolensprachen entstanden dann unter den Kindern der Arbeiter durch „Expansion“ des Pidgin; es gab wenig Gelegenheit für sie, die Muttersprache ihrer Eltern zu benutzen, und sie hatten noch keinen Zugang zur Sprache der herrschenden Kultur. Wie der Begriff „Expansion“ zu verstehen ist, war allerdings unklar, bis meine Kollegen und ich unsere Untersuchungen auf Hawaii begannen.
Der einzigartige Vorteil bei der Untersuchung der Kreolensprachc von Hawaii liegt darin, daß Einzelheiten ihrer Entstehung zumindest teilweise an der Sprache noch lebender Menschen nachvollzogen werden können. Erste Kontakte zwischen Hawaii und Europa gehen auf das Jahr 1778 zurück. Aber erst eine Änderung der amerikanischen Zollgesetze zugunsten einer freien Einfuhr von Zucker aus Hawaii im Jahre 1876 ermöglichte es den Zuckerrohr-Plantagen auf Hawaii, ihre Produktion um mehrere hundert Prozent zu steigern. Seitdem sammelte sich dort ein vielsprachiges Heer von vertraglich verpflichteten Arbeitern, darunter Chinesen, Filipinos, Japaner, Koreaner, Portugiesen, Puertoricaner und andere. Um 1900 waren diese Zuwanderer den anderen Gruppen auf Hawaii, Einge-
Gedungene Zuckerrohr-Arbeiter, die in einer rudimentären, Pidgin genannten Sprache redeten, zeigt diese 1924 von Ray Jerome Baker auf Hawaii aufgenommene Photographie. Tausende solcher Arbeiter aus vielen Ländern wurden im späten 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert nach Hawaii gebracht, um den Bedarf an Arbeitskraft auf den großen Zuckerrohr- und AnanasPlantagen zu decken. Die Pidgin-Sprache entwickelte sich aus dem Bedürfnis nach Verständigung zwischen den unterschiedlichen Sprachgruppen in diesem Arbeitsheer. Beispielsweise kamen
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die hier abgebildeten Arbeiter zwar vorwiegend von den Phillipinen, sprachen aber ursprünglich eine Vielzahl von wechselseitig nicht verständlichen Sprachen wie Visayan, Ilocano und Tagalog. Die Kinder deren Eltern Pidgin sprachen, hatten kaum Kontakt zu Sprechern des Hawaiianischen oder Englischen. Die vorhergehende Generation gab ihnen also kein schlüssiges sprachliches Modell, das ihre Bedürfnissse hätte befriedigen können. Unter ihnen entstand eine Sprache, die wesentlich differenzierter als das Pidgin ist: die englische Kreolensprache von Hawaii. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
im Gange, um 1920 sicherlich jedoch vollständig abgeschlossen war. Die meisten für die englische Kreolensprache von Hawaii charakteristischen Merkmale finden sich bei Vertretern der Arbeiterklasse, die nach 1905 dort geboren wurden. Unter den vor diesem Zeitpunkt Geborenen sinkt der Anteil der Kreolisch sprechenden Bevölkerung rapide ab. Andererseits ist die Sprache der Einwanderer immer eine Art Pidgin, auch wenn
seine jeweilige sprachliche Form vom Zeitpunkt der Einwanderung nach Hawaii wie vom sprachlichen Hintergrund der Einwanderer abhängt. Das Pidgin der frühesten Einwanderer unter den Befragten ist erheblich weniger entwickelt als das der späteren – wahrscheinlich, weil diese bereits ein Pidgin und zugleich eine Kreolensprache vorfanden. Trotzdem bleibt die Unterscheidung zwischen Pidgin und Kreo-
lisch grundlegend: Jeder Kenner Hawaiis kann allein an Sprachmustern sofort die ethnische Herkunft jedes Einwanderers bestimmen. Ohne einen Anhaltspunkt durch ein Gesprächsthema oder das Aussehen, allein mit Hilfe der Aussprache oder der grammatischen Struktur der Äußerungen kann hingegen niemand zuverlässig die ethnische Herkunft eines auf Hawaii geborenen Sprechers bestimmen. 왘
Die weltweite Streuung der Kreolensprachen
ILIL ARBEL
Die weltweite Verbreitung der Kreolensprachen zeigt die historischen Umstände ihrer Entwicklung auf. Sie entstanden fast alle auf einsamen tropischen Küstenstrichen oder Inseln, wo die Kolonialmächte Landwirtschaften auf der Grundlage billiger eingewanderter Arbeitskräfte errichtet hatten. Weil diese Kolonien weit entfernt voneinander sind, müssen sich die Kreolensprachen unabhängig voneinander entwickelt haben. Die Buchstaben in Klammern nach dem Namen jeder Sprache geben die Kolonialsprache an, aus der der Wortschatz weitgehend entlehnt wurde.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
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KREOLISCH
Pidgin
Hawaii-Kreolisch
Deutsch
Building – high place – wall part – time now-time – and then – now temperature every time give you.
Get one [There is an] electric sign high up on da wall of da building show you what time an’ temperature get [it is] right now.
Hoch oben an der Mauer des Gebäudes befindet sich eine elektrische Einrichtung, die angibt, wieviel Uhr es gerade ist und welche Temperatur gerade herrscht.
Now days, ah, house, ah, inside, washi clothes machine get, no? Before time, ah, no more, see? And then pipe no more, water pipe no more.
Those days bin get [there were] no more washing machine, no more pipe water like get [there is] inside house nowadays, ah?
Damals gab es im Haus keine Waschmaschine und kein Leitungswasser wie heutzutage.
No, the men, ah-pau [finished] work – they go, make garden. Plant this, ah, cabbage... like that. Plant potato, like that. And then – all that one – all right, sit down. Make lilly bit story.
When work pau [is finished] da guys they stay go make [are going to make] garden for plant potato an’ cabbage an’ after little while they go sit down talk story [„shoot the breeze“].
Wenn die Arbeit beendet ist, gehen die Männer in den Garten, um Kartoffeln und Kohl anzubauen, und nach einer Weile setzen sie sich und unterhalten sich.
Good, this one. Kaukau [food] any kind this one. Pilipin island no good. No more money.
Hawaii more better than Philippines, over here get [there is] plenty kaukau [food], over there no can, bra [brother], you no more money for buy kaukau [food], ’a’ swhy [that’s why].
Auf Hawaii ist es besser als auf den Philippinen; hier gibt es viel zu essen, dort nicht, weil man kein Geld hat, Essen zu kaufen.
Zwischen Pidgin und Kreolisch auf Hawaii gibt es strukturelle Unterschiede, wie die beiden Versionen desselben Satzes zeigen. Obwohl man wahrscheinlich alles, was sich auf Englisch oder Kreolisch sagen läßt, auch im Pidgin ausdrücken kann, ist die Struktur des Pidgin kaum entwickelt. Dabei wird häufig alte, als bekannt unterstellte Information der neuen vorangestellt. Das Kreolische entstand auf Hawaii nur unter
Eines der wesentlichen Kennzeichen des Pidgin ist somit, daß es von Sprecher zu Sprecher variiert. Jeder einzelne Einwanderer scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, individuell eine Hilfssprache zu erfinden. Pidginsprechende japanischer Abkunft stellen zum Beispiel im allgemeinen das Verb an das Ende eines Satzes wie in „The poor people all potato eat“ („AII that the poor people ate were potatoes“; „Die armen Leute aßen nur Kartoffeln“). Im philippinischen Pidgin steht das Verb dagegen vor dem Subjekt: „Work hard these people“ („These people work hard“; „Diese Leute arbeiten schwer“). Noch häufiger folgt die Wortstellung keinem festen Prinzip außer dem pragmatischen, daß alte, bereits bekannte Informationen in die Nähe des Satzanfangs und neue in die Nähe des Satzendes gerückt werden. Es ist anzunehmen, daß alles, was auf Kreolisch oder Englisch auszudrükken ist, auch in Pidgin gesagt werden kann. Trotzdem ist der Pidginsprechende erheblich benachteiligt, weil dem Pidgin viele Bausteine entwickelter Muttersprachen fehlen. So selbstverständlich und notwendig scheinende sprachliche Mittel wie Artikel, Präpositionen und Hilfsverben fehlen entweder oder kommen nur vereinzelt und auf ziemlich überraschende Weise vor. Pidgin-Sätze haben keine Nebensätze, und in Äußerungen von Einzelsätzen fehlen oft die Verben. Das erste der folgenden Beispiele wurde von einem Pidgin sprechenden
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den Kindern von Einwanderern und ist in der grammatischen Struktur viel reichhaltiger als das Pidgin. Zudem gleichen sich die Regeln der kreolischen Grammatik unter den Sprechern und ähneln den strukturellen Regeln anderer Kreolensprachen. Aus diesem Befund wurden recht unterschiedliche Theorien abgeleitet. Die englischen Versionen von Wörtern und Sätzen stehen in eckigen Klammern.
Koreaner aufgenommen; ausgelassene Wörter stehen in der Übersetzung in ekkigen Klammern: „And a too much children, small children, house money pay“ („And [I had] too many children, small children, [I had] to pay the rent“; „Und [ich hatte] zu viele Kinder, kleine Kinder, [ich hatte] die Miete zu zahlen“). Das zweite Beispiel wurde von einem japanischen Sprecher aufgenommen: „Before mill no more Filipino no nothing“ („Before the mill [was built; there were] no Filipinos here at all“; „Bevor die Mühle [gebaut wurde, gab es] überhaupt keine Filipinos hier“). Kinder ohne sprachliches Vorbild Die Äußerungen eines pensionierten Busfahrers im dritten Beispiel machen deutlich, welcher heroischen Anstrengungen es bedarf, um im Pidgin etwas Nicht-Alltägliches auszudrücken: „Sometime good road get, sometime, all same bend get, enguru [angle] get, no? Any kind same. All same human life, all same“ („Sometimes there’s a good road, sometimes there’s, like, bends, corners, right? Everything’s like that. Human life’s just like that“; „Manchmal gibt es eine gute Straße, manchmal gibt es eben Kurven und Ecken, sozusagen, klar? So geht’s mit allem. So ist das Leben“). Das Erlernen der Sprache ist für Kinder in einer Gemeinschaft von Menschen, die sich derart artikulieren, eine völlig andere Aufgabe als für Kinder in
der Umgebung von sprachlich kompetenten Erwachsenen. So können die Kinder englischer oder chinesischer Eltern genaue Modelle befolgen. Obwohl ihre Fehler selten ausdrücklich verbessert werden, können sie fast ständig ihre eigenen Äußerungen mit denen älterer Sprecher vergleichen und sie, falls notwendig, an diese anpassen. Wenn sie die einfacheren Strukturen ihrer Sprache erlernt haben, sind komplexere Strukturen fertig verfügbar. Für das auf Hawaii geborene Einwanderer-Kind gab es hingegen kein geschlossenes sprachliches Modell für die Grundwort-Stellung in einfachen Sätzen und oft überhaupt kein Modell für die komplizierteren Sprachstrukturen. Viele solcher Kinder gingen aus ethnisch oder rassisch gemischten Ehen hervor, so daß es selbst zu Hause wenig Gelegenheit gab, die Muttersprache des einen oder anderen Elternteils zu sprechen. Zudem wurden auch Kinder gleichsprachiger Eltern stark motiviert, die Muttersprache ihrer Eltern aufzugeben und in Gesellschaft Gleichaltriger und Erwachsener aus der Nachbarschaft eine Version des Pidgin anzunehmen. Wie Kinder der ersten EinwandererGeneration anderswo wuchsen auch die Kinder der Einwanderer auf Hawaii oft zweisprachig oder sogar dreisprachig auf. Sie nahmen die Umgangssprache der Altersgenossen als Muttersprache an, auch wenn sich die Eltern intensiv bemühten, die Sprache der Vorfahren zu erhalten. Mit dieser historischen Tatsache stimmt SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
EDWARD BELL / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Der Vergleich von Pidgin und Kreolisch auf Hawaii
die Auffassung überein, daß sich die Struktur des Kreolischen ohne bedeutsame Entlehnungen aus anderen Sprachen herausbildete. Zwei- oder dreisprachige Kinder im Schulalter müssen nicht die Struktur-Merkmale der von ihnen gesprochenen Sprachen vermischen (und sie tun es normalerweise auch nicht). Es gibt daher keinen Grund anzunehmen, daß ein solcher Austausch auf Hawaii üblich gewesen wäre. Das zwingendste Argument für ein autonomes Entstehen des Kreolischen ist jedoch die an ihm zu beobachtende Einheitlichkeit. Wie konnte sich innerhalb einer einzigen Generation eine so durchgegliederte und einheitliche Sprache in jenem linguistischen Freiraum entwikkeln, den das Pidgin auf Hawaii bot? Selbst wenn alle Kinder verschiedener Einwanderer-Gruppen damit begonnen hätten, die Sprache ihrer Eltern zu lernen, und wenn dann auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen Pidgins durch Wechselwirkung und Kontakt zwischen den Kindern geglättet worden wären, verlangt die Einheitlichkeit der entstandenen Sprache dennoch nach einer Erklärung. 50 Jahre Kontakt unter erwachsenen Pidgin-Sprechenden reichten nicht aus, die Unterschiede zwischen den verschiedenen sprachlichen und nationalen Gruppen zu verwischen – die Geschlossenheit des Kreolischen muß sich aus den Unterschieden zwischen Kindern und Erwachsenen ergeben haben.
Man könnte immer noch annehmen, daß die strukturelle Einheitlichkeit des Kreolischen von bestimmten Strukturen einer der angestammten Sprachen oder vielleicht auch des Englischen, der Sprache der Plantagenbesitzer, herrührt. Es bestehen jedoch zahlreiche Unterschiede zwischen den Strukturen des Kreolischen und jeder anderen Sprache, mit der Kreolisch-Sprechende Kontakt hätten haben können. Unterschiede zwischen Englisch und Kreolisch So ist es im Englischen möglich, sich auf einen unbestimmten Gegenstand oder eine unbestimmte Gruppe von Gegenständen zu beziehen. Aber die englische Grammatik zwingt den Sprecher, im voraus im Singular oder Plural festzulegen, ob es sich um einen oder mehrere unbestimmte Gegenstände handelt. Man muß entweder sagen „I am going to the store to buy a shirt“ („Ich gehe in den Laden, um ein Hemd zu kaufen“) oder „I am going to the store to buy shirts“ („Ich gehe in den Laden, um Hemden zu kaufen“), selbst wenn man sich auf die Anzahl vorher nicht festlegen möchte. Im Kreolischen kann mit einer grammatisch neutralen Kennzeichnung des Numerus am Substantiv „shirt“ die Angabe der Anzahl vermieden werden: „I stay
go da store for buy shirt“ („I am going to the store to buy a shirt“; „Ich gehe in den Laden, um Hemd zu kaufen“). Im Kreolischen ändert sich die Bedeutung des Satzes ganz wesentlich, wenn man den bestimmten oder unbestimmten Artikel vor das Substantiv „shirt“ setzt. Mit dem Satz „I stay go da store for buy one shirt“ sagt der Sprechende, daß es sich um ein ganz bestimmtes Hemd handelt, während er mit dem Satz „I stay go da store for buy da shirt“ zusätzlich unterstellt, daß der Hörer schon weiß, welches Hemd der Sprecher kaufen wird. Eine Reihe weiterer Merkmale unterscheidet das Kreolische vom Englischen. Während es im Englischen ein Tempus der Vergangenheit gibt, das normalerweise mit der Nachsilbe „-ed“ gekennzeichnet wird, existiert im Kreolischen ein Tempus der Vorzeitigkeit, das ältere Sprecher mit „bin“ und jüngere Sprecher mit „wen“ kennzeichnen. Das Tempus der Vorzeitigkeit ähnelt dem englischen „Past Perfect“, der vollendeten Vergangenheit: „had walked“ („war gegangen“) im Englischen entspricht „bin walk“ im Kreolischen. Und „walked“ („ging“) im Englischen heißt im Kreolischen einfach „walk“. Um irreale oder mögliche Handlungen oder Vorgänge von aktualen zu unterscheiden, verwendet das Englische das Konditional oder das Futur. Im Kreolischen gibt es für all diese Fälle die Par- 왘
EDWARD BELL / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Die kreolische Grammatik Englisch
Hawaii-Kreolisch
Deutsch
The two of us had a hard time raising dogs.
Us two bin get hard time raising dog.
Wir beide hatten es schwer damit, Hunde aufzuziehen.
John and his friends are stealing the food.
John-them stay cockroach the kaukau.
John und seine Freunde stehlen gerade Essen.
He doesn’t want to play because he’s lazy.
He lazy, ’a’swhy he no like play.
Er will nicht spielen, weil er faul ist.
How do you expect to finish your house?
How you expect for make pau you house?
Wie wirst du deiner Meinung nach dein Haus fertigstellen?
lt would have been better if l’d gone to Honolulu to buy it.
More better I bin go Honolulu for buy om.
Es wäre besser gewesen, wenn ich nach Honolulu gefahren wäre, um es zu kaufen.
The one who falls first is the loser.
Who go down first is loser.
Wer zuerst hinfällt, ist der Verlierer.
The man who was going to lay the vinyl had quoted me a price.
The guy gon’ lay the vinyl bin quote me price.
Der Mann, der den PVC-Boden auslegen wollte, hat mir einen Preis genannt.
There was a woman who had three daughters.
Bin get one wahine she get three daughter.
Es gab eine Frau, die drei Töchter hatte.
She can’t go because she hasn’t any money.
She no can go, she no more money, ’a’swhy.
Sie kann nicht fahren, weil sie kein Geld hat.
Strukturelle Unterschiede zwischen Sätzen in der Kreolensprache von Hawaii und ihren Entsprechungen zeigen, daß die kreolische Grammatik nicht ursprünglich der englischen entlehnt ist. Zum Beispiel bezeichnen im Kreolischen – statt der Nachsilbe „-ed“ – die vor dem Hauptverb sehenden Partikel SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
„bin“ oder „wen“ die vollendete Vergangenheit. Der nichtpunktuelle oder progressive Aspekt wird durch das Wort „stay“ ausgedrückt, anstatt durch die Nachsilbe „-ing“. In der kreolischen Version ist weder der Singular noch der Plural angezeigt.
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KREOLISCH Die Konjugation von Verben im Kreolischen von Hawaii, von Haiti und nicht-stativische Verben
EDWARD BELL / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Verbalform
stativische Verben
Englisch
Hawaii-Kreolisch
Haiti-Kreolisch
Srana
Hawaii-Kreolisch Haiti-Kreolisch
Grundform („He walked“; „He loves“)
He walk
Li maché
A waka
He love
Li rêmê
vorzeitig („He had walked“; „He loved“)
He bin walk
Li té maché
A ben waka
He bin love
Li té rêmê
irreal („He will/would walk“; „He will/would love“)
He go walk
L’av(a) maché
A sa waka
He go love
L’av(a) rêmê
nicht-punktuell („He is/was walking“)
He stay walk
L’ap maché
A e waka
vorzeitig + irreal („He would have walked“; „He would have loved“) He bin go walk
Li t’av(a) maché
A ben sa waka
vorzeitig + nicht-punktuell („He was/had been walking“)
He bin stay walk
Li t’ap maché
A ben e waka
–
–
irreal + nicht-punktuell („He will/would be walking“)
He go stay walk
L’av ap maché
A sa e waka
–
–
vorzeitig + irreal + nicht-punktuell („He would have been walking“)
He bin go stay walk Li t’av ap maché A ben sa e waka
–
–
Die Konjungation der Verben ist trotz oberflächlicher lexikalischer Unterschiede in allen Kreolensprachen ähnlich. Ferner unterscheidet sich das kreolische System wesentlich von dem des Englischen oder denen der meisten anderen Sprachen. Die Tabelle enthält die Konjungation für stativische und nichtstativische Verben im Kreolischen von Hawaii, dem von Haiti und im Srana (einem Kreolischen auf englischer Grundlage,
tikel „go“, die vor das Hauptverb tritt und die sogenannte Modalität kennzeichnet. Zum Beispiel lautet der englische Satz „If I had a car, I would drive home“ („Wenn ich ein Auto hätte, würde ich nach Hause fahren“) auf Kreolisch „If I bin get car, I go drive home“. Es gibt auch ein kreolisches Hilfsverb, das das kennzeichnet, was der Sprachwissenschaftler Aspekt nennt, im Kreolischen also die zeitliche Beziehung zwischen zwei Handlungen oder die Charakterisierung des Vorganges. Das Hilfsverb steht ebenfalls vor dem Hauptverb und zeigt an, daß die durch das Verb bezeichnete Handlung nicht punktuell ist, das heißt wiederholt, gewohnheitsmäßig, fortdauernd oder nicht abgeschlossen. Statt „I run in Kapiolini Park every evening“ („Ich laufe jeden Abend im Kapiolini-Park“) muß es auf Kreolisch heißen „I stay run in Kapiolini Park every evening“. Läßt der Sprecher des Kreolischen die Partikel „stay“ aus, dann gilt die Handlung als abgeschlossen oder nicht wiederholt. Im Englischen läßt sich nicht direkt zwischen Zielsetzungen unterscheiden, die verwirklicht worden sind, und solchen, bei denen dies offenbleibt. Der Satz „John went to Honolulu to see Mary“ läßt offen, ob John wirklich Mary gesehen hat. In der Grammatik des Kreolischen muß diese Zweideutigkeit aufge-
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– He bin go love
– Li t’av(a) rêmê
das in Surinam, dem ehemaligen Niederländisch Guayana, gesprochen wird). Stativische Verben sind Verben wie „mögen“, „wünschen“ und „lieben“, die nicht den nicht-punktuellen Aspekt bilden können. Die Grundform des Verbs bezieht sich bei stativischen Verben auf die Gegenwart und bei nicht-stativischen Verben auf die Vergangenheit. Die eingeklammerten englischen Übersetzungen geben die kreolische Bedeutung nur ungefähr wieder.
löst werden. Wenn John Mary gesehen hat und der Sprecher des Kreolischen dies weiß, so muß er sagen „John bin go Honolulu go see Mary“. Wenn John Mary nicht gesehen hat oder wenn der Sprecher nicht weiß, ob dies der Fall war, dann muß er sagen „John bin go Honolulu for see Mary“. Kreolisch – kein Mixtum compositum Ähnliche Unterscheidungen könnten auch zwischen der grammatischen Struktur des Kreolischen und der Struktur anderer Kontaktsprachen festgestellt werden, wie zum Beispiel des Hawaiianischen, des Ilocano (einer im Norden der Philippinen-Insel Luzon gesprochenen Sprache) und des Japanischen. Zwar sind auch Ähnlichkeiten vorhanden, doch beschränken sie sich meist auf idiomatische Wendungen. Zum Beispiel ist der kreolische Ausdruck „O the pretty“ mit der Bedeutung „How pretty he [she/it] is“ („Wie hübsch er [sie/es] ist“) die wörtliche Übersetzung der hawaiianischen Wendung „O ka nani“. Im wesentlichen zwingen unsere Untersuchungen jedoch zu dem Schluß, daß sich die grundlegenden Strukturen des Kreolischen von denen anderer Sprachen unterscheiden. Obwohl es so schei-
nen könnte, daß Kinder von Einwanderern die Struktur der Muttersprache ihrer Eltern auf die sich entwickelnde Kreolensprache übertragen haben könnten, ist dies nicht der Fall gewesen. Die für die Kinder verfügbaren strukturellen sprachlichen Gegebenheiten wurden anscheinend bei der Entwicklung des Kreolischen nicht verwendet. Selbst wenn sich zeigen ließe, daß alle grammatischen Strukturen des Kreolischen wie in einem linguistischen „Selbstbedienungs-Restaurant“ aus der einen oder anderen Sprache entlehnt worden wären, so würde die Einheitlichkeit des Kreolischen doch eine schwierige Frage aufwerfen: Wie sind die Sprecher und Erfinder des Kreolischen übereingekommen, welche Struktur aus welcher Sprache zu entlehnen sei? Ohne eine solche Übereinkunft könnte das Kreolische nicht so einheitlich sein, wie es nun einmal ist. Doch scheint es höchst unglaubwürdig, daß man sich so schnell einigen konnte. Wenn vieles aus den Sprachen der Vorfahren entlehnt worden wäre, hätte die jeweilige, von den einzelnen Gruppen gesprochene Version des Kreolischen zumindest eine Generation nach der ersten Sprecher-Generation überdauert. Die Einheitlichkeit des Kreolischen auf Hawaii ist noch in anderer Hinsicht aufschlußreich. Es stellt sich nämlich SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
im Srana Srana
Deutsch
A lobi
(„er ging“; „er liebt“)
A ben lobi
(„er war gegangen“; „er liebte“)
A sa lobi
(„er wird/würde gehen“; „er wird/würde lieben“)
–
(„er geht/ging gerade“)
(„er wäre gegangen“; A ben sa lobi „er hätte geliebt“) –
(„er ging gerade/ war gerade gegangen“)
–
(„er wird/würde gerade gehen“)
–
(„er wäre gerade gegangen“)
heraus, daß Kreolensprachen auf der ganzen Welt dieselbe Einheitlichkeit und sogar dieselben grammatischen Strukturen aufweisen, wie sie auf Hawaii zu beobachten sind. Der Befund ist um so bemerkenswerter, wenn man ihn mit den nicht gerade bedeutsamen strukturellen Entsprechungen vergleicht, die ich zwischen dem Kreolischen von Hawaii und anderen Kontaktsprachen auf der Inselgruppe festgestellt habe. Zum Beispiel ist die Unterscheidung zwischen Singular, Plural und neutraler Anzahl im Kreolischen von Hawaii auch für alle anderen Kreolensprachen typisch. Ähnlich gibt es in allen anderen Kreolensprachen drei unveränderliche Partikel, die als Hilfsverben fungieren und dieselbe Rolle spielen wie „bin“, „go“ und „stay“ im Kreolischen von Hawaii. In der auf Haiti gesprochenen Kreolensprache bezeichnet beispielsweise das Wort „té“ Vorzeitigkeit beim Verb, das Wort „av(a)“ die irreale Modalität und das Wort „ap“ den nicht-punktuellen Aspekt des Verbs. In dieser Sprache würde der Satz „I have been walking“ („Ich bin gegangen“) lauten „m t’ap [té + ap] maché“. Ähnlich wird im Srana, einem in Surinam (dem ehemaligen Niederländisch Guayana) gesprochenen Kreolisch auf englischer Grundlage, die Vorzeitigkeit durch „ben“, die irreale Modalität durch „sa“ und der nicht-punktuelle Aspekt durch „e“ gekennzeichnet. Der Satz „He would have been walking“ („Er würde gegangen sein“) lautet dort „A ben sa e waka“. Sehr wichtig ist auch, daß in allen Kreolensprachen eine feste Reihenfolge eingehalten werden muß, wenn mehr als eines dieser Kennzeichen im Satz auftreten. Die Tempus-Partikel SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
steht vor der Modal-Partikel und diese vor der Aspekt-Partikel. Kommen wir schließlich auf die erwähnte grammatische Unterscheidung zurück zwischen Zielen, die erreicht wurden, und solchen, bei denen der Ausgang ungewiß bleibt. Diese Unterscheidung, die im Englischen fehlt, ist in allen Kreolensprachen zu finden. Im Kreolisch von Mauritius – es beruht auf dem dort verwendeten französischen Wortschatz – kann ein Satz wie „Er beschloß, Fleisch zu essen“ auf zwei Weisen ausgedrückt werden. Wenn das Subjekt des Satzes sein Vorhaben ausgeführt hat, lautet der Satz „Li ti desid al mâz lavian“, was wörtlich heißt „Er beschloß essen gehen Fleisch“. Im anderen Fall würde er lauten „Li ti desid pu mâz lavian“ oder wörtlich „Er beschloß für essen gehen Fleisch“. Im Kreolischen von Jamaica muß der Satz „Er ging, um zu waschen“ entweder „Im gaan fi bied“ („Er ging in der Absicht zu waschen“) oder „Im gaan go bied“ („Er ging, um zu waschen und führte seinen Vorsatz aus“) lauten. Diese Beispiele deuten das Ausmaß der strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den Kreolensprachen nur an. Diese Einheitlichkeit scheint unabhängig von dem weit verstreuten kreolischen Sprachgebiet und den Unterschieden zwischen Sprachen wie Niederländisch, Englisch und Französisch zu bestehen, aus denen die Kreolensprachen den größten Teil ihres Wortschatzes übernahmen. Gelehrte wie Hugo Schuchardt haben schon im 19. Jahrhundert auf die Ähnlichkeit hingewiesen. In den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts wurden viele Beispiele im einzelnen erforscht, so von Douglas Taylor, von Robert WallaceThompson von der University of the West Indies und Keith Whinnom von der University of Exeter. Schon bevor also die Entwicklung des Kreolischen auf Hawaii ziemlich gut untersucht war, galten die grammatischen Ähnlichkeiten aller Kreolensprachen als wichtiger Befund, der einer Erklärung bedurfte. Die erste Reaktion des Sprachwissenschaftlers auf einen solchen Befund besteht darin, nach einem gemeinsamenVorfahren der ähnlichen Sprachen zu suchen. So hat man beispielsweise angenommen, der sprachliche Vorfahr des Kreolischen sei eine Kontaktsprache gewesen, die im Laufe der ersten portugiesischen Erforschungen Afrikas im 15. und 16. Jahrhundert aus dem Portugiesischen und verschiedenen westafrikanischen Sprachen entstanden war. Nach dieser Hypothese wurde diese Kontaktsprache nach und nach von portugiesi-
schen Seeleuten über die ganze Welt verbreitet. Dabei änderte sie ihren Wortschatz, nicht aber ihre Syntax und Semantik, wenn sie in den Einflußbereich einer anderen Kolonialmacht gelangte. Oberflächlich könnte es so scheinen, als ließe sich auf diese Weise die Entwicklung des Kreolischen auf Hawaii erklären, da während des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts portugiesische Arbeiter in großer Zahl auf die Inseln gebracht wurden. Diese Deutung enthält allerdings einige schwerwiegende Fehler. Erstens gibt es zwischen der Kreolensprache von Hawaii und jeder ihrer Kontaktsprachen, einschließlich Portugiesisch, nur geringfügige Ähnlichkeiten. Zweitens wäre es stark übertrieben, von sprachlicher Ähnlichkeit zwischen Kreolensprachen und Portugiesisch beziehungsweise westafrikanischen Sprachen zu reden. Das wichtigste Argument aber ist, wie unsere Untersuchung von Hunderten von Sprechern auf Hawaii geklärt hat, daß die dortige Kreolensprache mit ziemlicher Sicherheit auf der Inselgruppe selbst entstanden ist. Wir haben keinen überlebenden Einwanderer gefunden, der etwas spricht, was einer Kreolensprache nahekommt.
Alle Kreolensprachen sind ähnlich Stattdessen spricht jeder Einwanderer, mit dem wir uns unterhielten, eine Version des Pidgin. Wenn das Kreolische ursprünglich eine nach Hawaii importierte Sprache gewesen wäre, hätten gerade Einwanderer sie als erste gesprochen und wahrscheinlich auch andere Einwanderer sie erlernt. Man muß daher schließen, daß das Kreolische von Hawaii unter den Kindern der Einwanderer entstand, bei denen es auch heutzutage noch zu hören ist. Des weiteren ist zu folgern, daß eine Kreolensprache, wenn sie sich auf Hawaii ohne Mustersprache entwickeln konnte, überall sonst auf ähnliche Weise entstehen kann. Aus diesem Befund ergeben sich weitreichende Folgerungen. Da die grammatischen Strukturen von Kreolensprachen einander mehr als den Strukturen jeder anderen Sprache ähneln, ist es sinnvoll anzunehmen, daß die meisten oder sogar alle Kreolensprachen von Einwanderer-Kindern erfunden wurden, deren Eltern ein Pidgin sprachen. Da außerdem diese Kreolensprachen jeweils unabhängig voneinander entstanden sein müssen, ist es wahrscheinlich, daß eine allgemeine, allen Menschen inne- 왘
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KREOLISCH wohnende Fähigkeit für die sprachlichen Ähnlichkeiten verantwortlich ist. Die Auffassung, daß die Menschen biologisch zum Gebrauch von Sprache prädisponiert sind, ist nicht neu: Seit mehr als zwei Jahrzehnten vertritt Noam Chomsky vom Massachusetts Institute of Technology die Ansicht, daß es eine angeborene Universalgrammatik gebe, die allen menschlichen Sprachen zugrunde liege. Kreolische Grammatik – angeboren? Die Universalgrammatik wird hauptsächlich mit der Begründung postuliert, daß sich Kinder nur mit ihrer Hilfe ein derartig außerordentlich komplexes System wie eine menschliche Sprache in der erforderlichen kurzen Zeit aneignen könnten. Untersuchungen des verstorbenen Eric H. Lenneberg stützen diese Hypothese. Der Spracherwerb ähnelt dem Erwerb anderer komplexer und flexibler Fähigkeiten im kindlichen Verhalten, wie des Gehens, die zweifellos bis zu einem bestimmten Grad von der neurophysiologischen Entwicklung gesteuert werden. Die von Chomsky angenommene Universalgrammatik ist so etwas wie ein System logischer Schaltkreise, das auf irgendeine Weise neurophysiologisch realisiert wird und dem Kind eine Vielfalt grammatischer Modelle zur Verfügung stellt. Gemäß Chomsky muß das Kind dann „auswählen“, welches der verfügbaren grammatischen Modelle am besten zu der Grammatik der Sprache paßt, in die das Kind hineingeboren wurde. Die an Kreolensprachen gewonnenen Einsichten deuten darauf hin, daß der Erwerb der Erstsprache durch einen ganz anders gearteten angeborenen Mechanismus vermittelt wird. Anstatt eine Auswahl von grammatischen Modellen verfügbar zu machen, versorgt er das Kind mit einem einzigen und recht spezifischen grammatischen Modell. Nur in Gemeinschaften, die ein Pidgin sprachen und in denen kein grammatisches Modell existierte, das in Konkurrenz zur angeborenen Grammatik des Kindes treten konnte, wurde das angeborene grammatische Modell des Kindes nicht am Ende unterdrückt. Die angeborene Grammatik wurde dann mit einem beliebigen, verfügbaren Wortschatz ausgestattet und brachte die heutigen Kreolensprachen hervor. Die Konsequenzen dieser Hypothese lassen eine Vorstellung fragwürdig scheinen, die von den meisten Sprachwissenschaflern, so auch von Chomsky, seit
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vielen Jahren stillschweigend akzeptiert worden ist: daß nämlich auf der Erde keine Sprache für das Kind leichter oder schwerer zu erwerben sei als irgendeine andere. Wenn jedoch dem menschlichen Verstand irgendwie eine kreolische Grammatik eingeprägt ist, dann müßten Kreolensprachen leichter als andere Sprachen zu erwerben sein. Wie erklärt es sich dann aber, daß nicht alle heranwachsenden Kinder eine Kreolensprache sprechen? Die Antwort lautet, daß sie genau das immer wieder mit aller Anstrengung versuchen. Die Menschen ihrer Umgebung sprechen jedoch immerfort Englisch, Französisch oder eine andere Sprache; so muß das Kind die angeborene kreolische Grammatik ändern, bis sie derjenigen aus der sprachlichen Umgebung entspricht. Die Hypothese läßt sich an zwei sprachlichen Verhaltensweisen überprüfen. Wenn erstens eine grammatische Struktur des Kreolischen unvereinbar mit der entsprechenden grammatischen Struktur der sie umgebenden Sprache ist, sollte zu erwarten sein, daß die Kinder systematische Fehler beim Sprechen der Umgebungssprache machen. Wenn andererseits die beiden grammatischen Strukturen eher übereinstimmen, müßte ein sehr früher, schneller und fehlerfreier Erwerb der Struktur dieser Sprache zu beobachten sein. Fehler mit System Nehmen wir zum Beispiel den systematischen Fehler, der David McNeill von der University of Michigan in der Ausdrucksweise eines vierjährigen Jungen aufgefallen ist. In einer Exploration beklagte sich der Junge „Nobody don’t like me“ („Niemand liebt mich nicht“), und die Mutter korrigierte ihn daraufhin: „Nobody likes me“ („Niemand liebt mich“). Nun wiederholte der Junge seinen Satz, und die Mutter bestand auf ihrer Korrektur – insgesamt nicht weniger als achtmal. Schließlich änderte das Kind seinen Satz und schrie verzweifelt „Nobody don’t likes me“. Diesen Fehler machen viele Englisch sprechende Kinder zwischen dreieinhalb und vier Jahren Derek Bickerton ist Linguist an der Universität von Hawai. Er promovierte 1976 mit seiner Publikation „Dynamics of a Creole System“. Bickerton ist auch Autor mehrerer Romane, darunter des 1980 erschienenen „King of the Sea“.
– auch solche, die nicht einem Dialekt des Englischen ausgesetzt sind, in dem die doppelte Verneinung gebräuchlich ist. Es gibt viele Sprachen, wie Französisch und Spanisch, die ebenfalls die doppelte Verneinung verwenden; aber lediglich in den Kreolensprachen können negative Subjekte mit negativen Verben kombiniert werden. Beispielsweise kann man im Papia Kristang – einer auf der Malauschen Halbinsel gesprochenen Kreolensprache auf portugiesischer Grundlage – sagen „Angkosa nte mersimentu“ oder wörtlich „Nichts nicht-haben Wert“. In dem im ehemaligen Britisch Guayana gesprochenen, auf dem Englischen beruhenden Kreolisch kann man sagen „Non dag na bait non kyat“ oder wörtlich „Kein Hund hat nicht keine Katze gebissen“. Ein zweites Beispiel für systematische Fehler liefert die Art von Kindern, Fragen zu bilden. Kinder, die Englisch lernen, kennzeichnen Fragen oft nur durch die Intonation: Subjekt und Hilfsverb werden fast nie umgestellt. So stellen Kinder wiederholt Fragen wie „You can fix this?“ („Du kannst das in Ordnung bringen?“), obwohl sie unzählige Male „Can you fix this?“ („Kannst du das in Ordnung bringen?“) gehört haben. Ähnlich unterscheidet keine Kreolensprache Fragen und Aussagen durch die Wortstellung – dies geschieht ausschließlich durch Intonation. Schauen wir uns den Satz „A gon’ full Angela bucket“ an. Ein solcher Satz ist im Englischen unmöglich zu bilden, in allen auf dem Englischen beruhenden Kreolensprachen, wie denen von Hawaii und Guayana, dagegen ist er vollkommen akzeptabel. Er bedeutet soviel wie „I’m going to fill Angela’s bucket“ („Ich fülle gleich Angelas Eimer“). Er unterscheidet sich aber von der Struktur des englischen Satzes folgendermaßen: Erstens ist das Pronomen der ersten Person „I“ zu „A“ reduziert; zweitens ist das Hilfsverb „am“ ausgelassen; drittens werden die Formen „go“ oder „gon“ benutzt, um das Futur zu kennzeichnen; viertens ist das Kennzeichen des Infinitivs „to“ ausgelassen; fünftens wird das Adjektiv „full“ so verwendet, als sei es ein transitives Verb; und sechstens ist die besitzanzeigende Kennzeichnung mit „-’s“ ausgelassen. Alle diese Merkmale sind typisch für Kreolensprachen, aber dieser Satz ist nicht von einem Sprecher des Kreolischen geäußert worden, sondern von der dreijährigen Tochter eines Englischsprechenden Sprachwissenschaftlers. Wenn ein Merkmal der lokalen Sprache der Struktur des Kreolischen entspricht, machen Kinder gerade die Fehler nicht, die sonst als ganz natürSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Englische Kreolensprache
Deutsch
Where I can put it?
Where I cant put om? (Hawaii)
Wo kann ich es hintun?
Daddy throw the nother rock.
Daddy t’row one neda rock’tone. (Jamaica)
Vati hat den anderen Stein geworfen.
I go full Angela bucket.
I go full Angela bucket (Guyana)
Ich werde gleich Angelas Eimer füllen.
Lookit a boy play ball.
Luku one boy a play ball. (Jamaica)
Schau, da spielt ein Junge Ball.
Nobody don’t like me.
Nobody no like me. (Guyana)
Keiner mag mich.
I no like do that
I no like do that. (Hawaii)
Ich mag das nicht tun.
Johnny big more than me.
Johnny big more than me. (Jamaica)
Johnny ist größer als ich.
Let Daddy get pen write it.
Make Daddy get pen write am. (Guyana)
Laß Vati den Schreiber holen und es schreiben.
I more better than Johnny.
I more better than Johnny. (Hawaii)
Ich bin besser als Johnny.
Sätze, die von zwei- bis vierjährigen Kindern englischsprachiger Eltern gesprochen wurden, gleichen auffallend Sätzen in Kreolensprachen auf englischer Grundlage. Da Kreolensprachen einander ähneln und wahrscheinlich unabhängig voneinander entstanden sind, kann man annehmen, daß sie sich dann unter Kindern weiterentwickelt haben, wenn keine angemessene
lich erscheinen würden. Zum Beispiel erwerben Englisch lernende Kinder in sehr frühem Alter die Nachsilbe „-ing“, die Dauer ausdrückt. Im Alter von weniger als zwei Jahren bereits bilden viele Kinder Sätze wie „I sitting high chair“ (etwa: „Ich sitze auf hohen Stuhl“), in denen das Verb eine fortdauernde Handlung bezeichnet. Man würde erwarten, daß diese Nachsilbe bald nach ihrem Erwerb an jedes mögliche Verb angehängt wird, wie auch das englische Pluralzeichen „-s“ häufig verallgemeinert und fälschlicherweise bei Substantiven wie „foot“ und „sheep“ benutzt wird (die einen unregelmäßigen Plural „feet“ beziehungsweise „sheep“ haben). Man würde deshalb erwarten, daß Kinder grammatisch unkorrekte Sätze bilden wie „I liking Mommy“ („Ich mag Mammi“) und „I wanting candy“ („Ich will Bonbons“). Solche Fehler hört man jedoch erstaunlich selten. Den Kindern scheint irgendwie klar zu sein, daß englische Verben wie „like“ und „want“, die von den Sprachwissenschaftlern stativische Verben („stative verbs“) genannt werden – also Verben, die nicht einen Vorgang bezeichnen – nicht mit der Nachsilbe „-ing“ versehen werden können, um Dauer auszudrücken. In den Kreolensprachen ist die Unterscheidung zwischen stativischen und nicht-stativischen Verben wiederum grundlegend, so daß auch hier kein Zeichen für eine fortdauernde Handlung mit einem stativischen Verb verbunden werden kann. Es ist ein wichtiges Merkmal der Kreolensprachen, wie bereits erwähnt, daß sie zwischen bestimmter und unbestimmter SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
EDWARD BELL / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Kindersprache
Muttersprache vorhanden war, die als Modell hätte dienen können. Der Autor vermutet, daß Kinder, die im Alter von ungefähr zwei Jahren ihrer englischen muttersprachlichen Gesellschaft entzogen werden, später eine Sprache sprechen, deren Wortlaut vor allem englisch ist, deren Grammatik aber eine eigene kreolische Struktur hat.
Bezugnahme unterscheiden. Im Englischen kann man dies mit sehr feinen Nuancen, aber Kinder lernen sie dennoch spielend. Michael P. Maratsos von der University of Minnesota konstruierte eine Reihe von Sätzen, die Kinder ergänzen sollten, indem sie zwischen bestimmter und unbestimmter Bezugnahme zu wählen hatten. Zum Beispiel kann der Satz „John has never read a book“ („John hat nie ein Buch gelesen“), bei dem man sich mit „a book“ auf ein unbestimmtes Objekt bezieht, durch „and he will never read a book“ („und er wird nie ein Buch lesen“) vervollständigt werden. Er kann aber nicht weitergeführt werden mit „and he will never read the book“ („und er wird nie das Buch lesen“). Dagegen kann der Satz „John read a book yesterday („John las gestern ein Buch“), in dem ein bestimmtes Buch unterstellt wird, ergänzt werden durch „and he enjoyed the book“ („und das Buch gefiel ihm“). Dies geht jedoch nicht mit „and he enjoyed a book“ („und ein Buch gefiel ihm“). Schon dreijährige Kinder vermochten diese Unterscheidung in 90 Prozent der Fälle richtig zu treffen. Der Spracherwerb muß noch intensiv erforscht werden, bevor als gesichert gelten kann, daß die Struktur von Kreolensprachen dem Erwerb der Erstsprache zugrundeliegt. Daniel Isaac Slobin von der University of California in Berkeley vertritt die Ansicht, daß es eine Reihe von Prozessen gibt, mit denen Kinder
jede von ihnen gehörte Sprache verarbeiten. Dieses Programm nennt er grundlegende Kindergrammatik („basic child grammar“). Slobins Arbeit bringt Belege für diese Hypothese aus mehreren Sprachen. Anscheinend haben die grundlegende Kindergrammatik und die Kreolensprachen wirklich vieles gemeinsam. Wenn Kreolensprachen als typisches Ergebnis eines neurologisch festgelegten Programms bei der kindlichen Entwicklung aufgefaßt werden können, dann war Psammetich keineswegs der Narr, für den man ihn gehalten hat. Es ist vielleicht möglich, zumindest in groben Zü-
Sind die Kreolensprachen die Basis für den Spracherwerb ? gen die Struktur menschlicher Sprache in den frühen Stadien ihrer Entwicklung zu entdecken. Auch könnten Sprachwissenschaftler bei dem Versuch, eine solche Sprache zu rekonstruieren, eines Tages sogar Fragen beantworten, die der Pharao nicht einmal gestellt hat: Wie ist die menschliche Sprache entstanden? Welche Mindestvoraussetzungen muß ein Phänomen wie die Sprache erfüllen, um sich in der Spezies Mensch zu entwikkeln? Wenn solche Fragen präzise und schlüssig zu beantworten oder erst einmal zu formulieren sind, werden wir uns dem Verständnis dessen nähern, was den Menschen von anderen Arten von Lebewesen unter왎 scheidet.
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BANTU-VÖLKER
Die Wanderungen der
Bantu-Völker
Im südlichen Afrika sprechen etwa 140 Millionen Menschen Bantu. Sprachwissenschaftliche und archäologische Indizien sprechen dafür, daß die ersten Sprecher des Bantu sich vor etwa 2300 Jahren aus einer Region im Norden auf den Weg machten. VON DAVID PHILLIPSON
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ls europäische Forschungsreisende im 19. Jahrhundert von Sansibar oder dem gegenüberliegenden Festland aus ihre Expeditionen vorbereiteten, stellten sie zu ihrer großen Überraschung einen höchst erfreulichen Umstand fest: Ihre Träger und Eskorten sprachen eine Sprache, mit der sie sich über weite Strecken in Subäquatorialafrika verständlich machen konnten; ebenso konnten sie viele Stammesdialekte der Osthälfte der betreffenden Region verstehen. Das lag daran, daß sie eine der vielen Formen des Bantu sprachen, einer Sprachfamilie, der etwa 140 Millionen Schwarzafrikaner angehören, darunter Hunderte von Stammesgruppen, die immer noch einen großen Teil Afrikas südlich des Äquators bewohnen. Die Variante von Sansibar, Kisuaheli, strotzt vor Lehnwörtern aus verschiedenen anderen Sprachen; ihr Name selbst kommt aus dem arabischen sahil „Küste“ und bedeutet soviel wie „Küstendialekt“. Das sprachliche Fundament des Suaheli ist jedoch reines Bantu.
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den erst als Folge des Kontakts mit Arabern und Europäern überhaupt in Schriftform gebracht; daher können weder die mündliche Tradition noch die schriftlichen Aufzeichnungen Aufschluß über den Ursprung des Bantu geben. Um weiter in die Vergangenheit vorzudringen, bedarf es also der Archäologie und der historisch orientierten Sprachwissenschaft. Zwischen 300 vor Christus und 600 nach Christus ereignete sich ein entscheidender kultureller Wandel im größeren Teil Afrikas zwischen dem Äquator und dem Fluß Vaal. Damals tauchte ein charakteristischer Typ von Keramik auf; sie gehört eindeutig einer einzigen Stiltradition an, auch wenn regionale Unterschiede zu verzeichnen sind. Wo diese Keramik vorkommt, finden wir auch Hinweise auf Metallverarbeitung: Eisen und in manchen Gegenden Kupfer. Dies ist das früheste Beispiel für Metallurgie in der gesamten Subäquatorialregion; deshalb nennt man das kulturelle Umfeld, dem die Funde zuzuordnen sind, die frühe Eisenzeit.
Früheisenzeitliche Keramik Subäquatorialafrikas: Die Formen sind erstaunlich ähnlich, auch wenn sie sich in einigen Einzelheiten wie Dekoration, Rand oder Halsweite unterscheiden. Das erste Beispiel (a) ist ein Gefäß von einer der Urewe-Fundstätten am Victoria-See. Die Keramik (b) ist repräsentativ für den östlichen Zweig, (c) für den westlichen.
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Die Bezeichnung Bantu ist eine ausschließlich sprachliche Klassifikation und hat keinerlei kulturelle oder ethnische Implikationen. Sie geht auf einen deutschen Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts zurück, Wilhelm H. I. Bleek: Die Wörter ki-ntu und bi-ntu bedeuten in diesen afrikanischen Dialekten „Ding“ und „Dinge“, mu-ntu und ba-ntu „Mensch“ und „Menschen“. Bantu steht also für „Volk“, in den Augen Bleeks ein sehr passender Namen für eine Sprache, die so vielen Menschen gemein ist. Schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts besteht unter Sprachwissenschaftlern Einigkeit darüber, daß die verschiedenen Bantu-Sprachen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Die Erforschung der afrikanischen Geschichte galt daher vor allem auch der Frage, wie es zu dieser großräumigen geographischen Verteilung kommen konnte. Da diese Geschichte allerdings nur mündlich überliefert ist (Oral History), reichen die Kenntnisse nicht sehr tief in die Vergangenheit hinein. Bantu-Sprachen wur-
Typische Beispiele für früheisenzeitliche Metallarbeiten aus Subäquatorialafrika. Die Eisenaxt (a) hat einen gebogenen Griffpfropfen, und die eiserne Speerspitze (b) hat auf beiden Seiten einen Grat zur Verstärkung. Die Pfeilspitze mit Widerhaken ist im Querschnitt verjüngt (das macht die Schneide schärfer), und die eiserne Klinge einer Hacke (d) hat einen stabilen Griffpfropfen. Die Schmiede der frühen Eisenzeit konnten mit Kupfer umgehen; der Kupferbarren (e) galt vielleicht als Währung, aber das Halsband aus gedrehtem Kupferdraht (f) war vermutlich nur ein persönliches Schmuckstück.
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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
Die oft kunstvollen Verzierungen und der Formenreichtum früheisenzeitlicher Keramik erlauben detaillierte Stilanalysen. Man konnte immerhin bereits mehr als 350 Fundstätten identifizieren. Fast alle liegen in Gegenden, von denen man weiß, daß sie in jüngerer Zeit von Sprechern des Bantu bewohnt wurden. Die Bevölkerung der frühen Eisenzeit bestand offenbar vor allem aus seßhaften Dorfbewohnern, die gemischte Landwirtschaft betrieben. In den Regionen im Süden Zentraltansanias lebten die ersten Menschen mit dieser Wirtschaftsform, die Archäologen nachweisen konnten. Im Rift-Tal und dem benachbarten Hochland Nordtansanias und Südkenias bildeten sich spätestens vor 3000 Jahren seßhafte Gemeinschaften heraus, die Weidewirtschaft betrieben und vermutlich auch Getreide anbauten. Südlicher dagegen setzten sich früheisenzeitliche Produktionsmethoden offenbar in einer Gegend durch, wo die Menschen noch als Jäger und Sammler lebten. Hier ist die früheisenzeitliche Keramik die älteste bekannte Keramik überhaupt – ausgenommen vielleicht der äußerste Süden. Viele Errungenschaften früheisenzeitlicher Kultur, über Töpferei und gemischte Landwirtschaft hinaus, waren in den meisten südlichen Gebieten offenbar bedeutende Innovationen. Diese Kultur etablierte sich fast überall als ganze: nicht nur in Teilaspekten, sondern als überlebensfähiges neues sozio-ökonomisches System. Keramik aus der Zeit vor der frühen Eisenzeit ist bislang noch nirgends in dieser Gegend gefunden worden. Auch die Metallverarbeitung ist offenbar als voll ausgereiftes und funktionstüchtiges Handwerk in einer Region eingeführt worden, in der die Menschen vorher keinerlei Ahnung davon hatten. Und die domestizierten Tiere und zum Teil auch Pflanzen gehörten Arten an, die in Subäquatorialafrika nicht in Wildformen vorkamen. Man kann also davon
ausgehen, daß offenbar rasch und geschlossen Menschen hier einwanderten und eine voll entwickelte Kultur mitbrachten, die anderswo entstanden war. Früheisenzeitliche Kultur Das Ausmaß dieser Wanderung, die für die Ausbreitung früheisenzeitlicher Kultur sorgte, ist schwer abzuschätzen. Die ursprünglichen Bewohner benutzten nur Steinwerkzeuge; folglich muß die Anzahl der Einwanderer hoch genug gewesen sein, um ihre Techniken durchsetzen zu können. Indes ging die ansässige Bevölkerung in vielen dieser Territorien weiterhin, noch Jahrhunderte nach der Ankunft der neuen Siedler, ihrer traditionellen Beschäftigung als Jäger und Sammler nach. Archäologen sind heute in der Lage, mehr als ein Dutzend regionaler Werkstätten hauptsächlich auf der Basis ihres je eigenen Keramikstils zu identifizieren. Zumindest im östlichen Subäquatorialafrika unterscheiden sich die Stilrichtungen stark von denen, die in späterer Zeit
aufkamen. Der detaillierteste Vergleich verschiedener früheisenzeitlicher Keramik ist Robert Soper von der Universität Ibadan, Nigeria, zu verdanken. Auf der Grundlage seiner und meiner eigenen Studien können wir heute zwei größere Untergruppen von Keramik unterscheiden. Ich habe sie vorläufig den östlichen und den westlichen Zweig genannt. Fundstätten, die dem östlichen Zweig zuzuordnen sind, liegen hauptsächlich im Hinterland der ostafrikanischen Küste: in Malawi, Süd- und Ostsambia, im größten Teil von Simbabwe und in Transvaal, Natal und Swasiland. Der westliche Zweig erscheint vor allem in archäologisch weniger gut erforschten Gegenden, läßt sich aber in Zentral- und Westsambia und den angrenzenden Gebieten der Demokratischen Republik Kongo und Angola nachweisen. Obwohl wir diese beiden Zweige nach ihrem Keramikstil klassifiziert haben, unterscheiden sie sich offenbar auch in ihrer Geschichte und Wirtschaftsform. Die älteste uns bekannte Ausprägung früheisenzeitlicher Kultur ist in der ostafrikanischen Region der großen Seen 왘
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DAVID PHILLIPSON
Die wesentlichen geographischen Hindernisse, die Wanderungen in NordSüd-Richtung in Afrika im Wege stehen, sind: die große Wüstenzone entlang dem Wendekreis des Krebses und der Gürtel des Äquatorialwalds, der sich ostwärts fast bis hin zu den Ufern des Albert- und des Tanganjika-Sees erstreckt. Zwischen Wald und Wüste liegt die Savanne, der sudanesische Gürtel. Im Süden geht der Äquatorialwald gleichfalls in Savanne über. Die beiden Grasländer stoßen beim Victoria-See aufeinander. Von dort aus breitete sich die früheisenzeitliche Kultur vor etwa 2000 Jahren nach Subäquatorialafrika aus.
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BANTU-VÖLKER
Früheisenzeitliche Fundstätten in Subäquatorialafrika bilden drei Klassen (Einteilung nach Charakteristika der vertretenen Keramik). Die früheste, von der wir wissen, ist Urewe; die meisten Urewe-Fundstätten gruppieren sich um den Victoria-See herum, aber ein westlicher Ausreißer, Tshikapa, liegt nahe der Grenze zwischen Angola und der Demokratischen Republik Kongo. Fundstätten, die zum östlichen Zweig gehören, bilden 5 Gruppen nördlich und 4 Gruppen südlich des Sambesi. Fundstätten, die zum westlichen Zweig gehören, bilden 4 Gruppen; die meisten nördlich des Sambesi. Fundstätten der Kalambo-Gruppe, in der Nähe des Hyasa-Sees, zeigen Merkmale beider Zweige.
angesiedelt; Erkennungsmerkmal ist ein bestimmter Keramikstil, nämlich die sogenannte Urewe-Keramik. Ihre Hersteller siedelten vermutlich um 500 vor Christus oder kurz darauf an den Westund Südwestufern des Victoria-Sees. Später breiteten sie sich bis zur Ostküste aus und lebten in einem Gebiet, das dem heutigen Südkenia entspricht. Das Volk der Urewe-Kultur kannte mit Sicherheit die Eisenverarbeitung; man hat Schmelzöfen aus dieser Zeit in Ruanda und im Osten der Demokratischen Republik Kongo gefunden. Es spricht vieles dafür, daß die Siedler auch Ackerbauern waren. Aus der Analyse von Pollen aus Bodensedimenten des Victoria-Sees ergab sich, daß die Bewaldung ungefähr in der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends stark zurückgegangen war. Weit südöst-
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lich der großen Seen, in der Nähe der heutigen Grenze zwischen Angola und der Demokratischen Republik Kongo, in den südlichsten Ausläufern des Äquatorialwalds, wurde bei Tshikapa gleichfalls typische UreweKeramik gefunden. Jacques Nenquin von der Universität Gent konnte beweisen, daß die Gefäße aus heimischem Ton angefertigt und nicht aus dem Osten importiert worden waren. Wie wichtig diese Bestätigung einer Westausbreitung der Urewe-Töpfer ist, wird im Folgenden klar werden. Die Aufspaltung in zwei Zweige wird in der Ausbreitung der früheisenzeitlichen Kultur in das südlichzentrale und südliche Subäquatorialafrika am deutlichsten; wir haben es mit einer Serie von Wanderungsbewegungen im Anschluß an die Erstbesiedlung der Seenregion zu tun. Der östliche Zweig stammt von den Urewe-Siedlungen an den großen Seen ab. Der westliche Zweig dagegen stammt entweder auch daher – oder hat einen mit dem östlichen Zweig gemeinsamen Vorfahren. In jedem Fall aber hat der östliche Zweig das Hinterland der Küste Südkenias, die angrenzenden Gebiete Tansanias und eventuell auch Somalias etwa im 2. Jahrhundert nach Christus erreicht. Im 4. Jahrhundert kam es zu einer raschen Migration, welche die früheisenzeitliche Kultur nach Süden durch Malawi, Ostsambia und Simbabwe bis nach Transvaal und Swasiland brachte. Diese überaus schnelle Bewegung erreichte Simbabwe wahrscheinlich ein klein wenig später als Malawi und Ostsambia. Wie auch immer: ungefähr 400 nach Christus ist ein sicheres Datum für den Beginn früheisenzeitlicher Kultur südlich des Flusses Limpopo. Genauer können wir nicht datieren. In Südsambia, in der Gegend der Victoria-Fälle, kamen die früheisenzeitlichen Siedler nachweislich aus Simbabwe; dort erreichte die importierte Kultur erst im 6. Jahrhundert ihre Blütezeit. Der westliche Zweig der früheisenzeitlichen Kultur ist nur in Zentralsambia westlich des Flusses Luangwa und einem angrenzenden Teil Simbabwes am anderen Ufer des Sambesi archäologisch nachweisbar. Außerdem kennen wir verwandte Fundstätten in Shaba (früher
Katanga), einer Provinz der Demokratischen Republik Kongo, und einigen Orten weiter westlich in Richtung Atlantikküste. In der Küstenregion war Keramik schon um 200 vor Christus in Gebrauch. Im 11. Jahrhundert erlosch plötzlich in fast der ganzen Osthälfte Subäqatorialafrikas die früheisenzeitliche Kultur. Das betraf sowohl die Traditionen des westlichen als auch die des östlichen Zweigs. Die Nachfolgekulturen (bekannt unter dem Namen „spätere Eisenzeit“) unterscheiden sich stark voneinander. Trotzdem deuten viele Faktoren – Kultur, Technik und, wie wir später sehen werden, auch Sprache – auf Verbindungen zwischen der späten eisenzeitlichen Kultur und den weiter westlich gelegenen Siedlungen der frühen Eisenzeit, besonders im Südosten der Demokratischen Republik Kongo, hin. Auch in einigen östlichen Regionen ist Kontinuität zwischen früher und späterer Eisenzeit nachweisbar, wenn auch weniger ausgeprägt als weiter westlich. Die Sprachfamilien des Bantu Vor allem indirekte Belege deuten darauf hin, daß die Ausbreitung früheisenzeitlicher Kultur nach Subäquatorialafrika mit jener der bantusprachigen Völker zusammenhängt. Wenn wir zum Beispiel von der Gegenwart auf die Vergangenheit schließen, können wir das Argument ins Feld führen, daß sich die Gegenden Afrikas, wo Bantu gesprochen wird, mit jenen decken, in denen man Hinweise auf früheisenzeitliche Siedlungen fand. Zwei weitere Überlegungen sind zwar für sich genommen nur Indizien, geben aber gemeinsam den Ausschlag: Da ist erstens die starke Ähnlichkeit der Bantu-Dialekte über ein weites Gebiet Subäquatorialafrikas in heutiger Zeit. Sie läßt darauf schließen, daß sie alle von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen und sich erst in jüngerer Vergangenheit differenziert haben. Das zweite Indiz liefert die sprachliche Rekonstruktion der Proto-Bantu-Sprachen. Unter den rekonstruierten Wörtern befinden sich Schlüsselbegriffe früheisenzeitlicher Kultur. Wie aber kommt man zu solchen Rekonstruktionen? Wer sprach Proto-Bantu und wo? Was die zweite Frage angeht, hat die Sicht Joseph Greenbergs, Universität Stanford, Kalifornien, zumindest in ihren Grundzügen weite Zustimmung gefunden; seiner Meinung nach ist die Gegend nahe der nordwestlichen Grenze des heutigen Sprachgebiets des Bantu als dessen Urheimat anzusehen. Erstens weiSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
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schaftsform herausgebildet. Die meisten Getreidearten, die früheisenzeitliche Bauern weiter im Süden anbauten, waren im sudanischen Gürtel bekannt und vielleicht dort auch erstmals kultiviert worden. Die Tiere der früheisenzeitlichen Bauern waren ursprünglich zwar nicht in dieser Gegend domestiziert worden, wurden indes sehr wahrscheinlich schon 2000 vor Christus dort in Herden gehalten. Aber nicht nur die Form der Landwirtschaft spricht dafür, daß die Kultur der frühen Eisenzeit im Sudan entstand. Die beiden wichtigsten Zentren früher Eisenverarbeitung südlich der Sahara sind Nok in Nigeria und Meroe in Nubien. Beide grenzen an den sudanischen Gürtel, und das Know-how der Eisenverarbeitung muß sich zweifellos rasch in dieser Region verbreitet haben. Sudanische Keramik aus dieser Zeit liefert einen weiteren Hinweis; wir wissen zwar insgesamt wenig darüber, aber genug, um sagen zu können, daß sie wohl auf die gleiche Tradition wie die früheisenzeitliche Keramik zurückgeht. Am offenkundigsten wird diese Verwandtschaft in der Zeit (vermutlich um die Mitte des 1. Jahrtausends vor Christus), als sich die Technik der Eisenverarbeitung bei den Bauern dieses Gürtels durchzusetzen begann. Der zentrale Teil dieses Gürtels ist archäologisch wenig erforscht, aber die Hinweise verdichten sich, daß die Bevölkerungsgruppen, auf deren Wirken die früheisenzeitliche Kultur letztlich zurückgeht, ungefähr in diesem Landstrich heimisch waren. Wenn wir aber aufgrund sprachlicher Indizien annehmen, daß Bantu und die früheisenzeitliche Kultur zusammengehören, sehen wir uns einem Problem gegenüber; die besten prähistorischen Belege früheisenzeitlicher Kultur kommen beinahe ausschließlich aus dem Territorium südlich des großen Äquatorialwaldes, also genau auf der anderen Seite der Gegend, wo das Zentrum dieser Kultur gelegen sein sollte. Wie konnte sie dieses geographische Hindernis überwinden? Der Regenwald ist für keinerlei Landwirtschaft geeignet. Konnte ein Volk von Bauern innerhalb kurzer Zeit Hunderte von Kilometern durch den Dschungel zurücklegen? Das ist eher un-
wahrscheinlich. Welchen Weg haben die Menschen dieser Kultur dann genommen, um in die Savanne südlich des Äquators zu gelangen? Die einzige Alternative ist eine Route, die zuerst ostwärts verläuft und sich dann nach Süden kehrt. Entlang der ersten Teilstrecke finden wir ein Gebiet östlich des Tschad-Sees mit Keramik aus dem 1. Jahrtausend vor Christus, die der früheisenzeitlichen Keramik stark gleicht. Es grenzt an das Territorium, wo man heute zentralsudanische Sprachen spricht. Aus linguistischen Merkmalen können wir schließen, daß frühe Bantu-Sprecher Rinder und Schafe zusammen mit den Wörtern für beide Tiere von den Sprechern des Zentralsudanischen übernahmen. Geschah das auf einer Route ostwärts, dem Umweg um den Äquatorialwald herum? Noch etwas spricht für diese Deutung: Um den Victoria-See herum, wo die Route nach Süden abgebogen sein muß, liegen Fundstätten für UreweKeramik.
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chen dort die modernen Bantu-Dialekte am stärksten voneinander ab; zweitens sind dort starke Ähnlichkeiten in Wortschatz und Grammatik zwischen den dortigen Bantu-Dialekten und den anderen regionalen Sprachen festzustellen. Für die Frage nach der Rekonstruktionsmethode stützen wir uns hier auf die Arbeiten von Bernd Heine, Universitäten Köln und Nairobi, und David Dalby, Universität London. Der Ausgangspunkt für die Verbreitung des Proto-Bantu lag wohl ganz im Nordwesten des heutigen BantuGebiets, sehr wahrscheinlich in der Mitte des heutigen Kamerun. Von hier aus verbreiteten sich die Vorläufer der heutigen Bantu-Sprachen im Nordosten der heutigen Demokratischen Republik Kongo in östlicher Richtung immer entlang der Nordgrenze des Äquatorialwaldes. Ungefähr um dieselbe Zeit drang Bantu von seinem Zentrum in Kamerun aus auch direkt in südliche Richtung vor; so kam es auf einer Route an der Küste oder an Flüssen entlang zum südwestlichen Rand des Äquatorialwaldes nahe der Kongo-Mündung voran. Von diesem zweiten Zentrum aus gelangten BantuDialekte auch nach Angola und Namibia. Durch Folgeentwicklungen entstand ein drittes Bantu-Zentrum am Oberlauf der Flüsse Lualaba und Kasai im Südosten der Demokratischen Republik Kongo. Daher stammen nach Heine und Dalby die modernen Bantu-Dialekte der Osthälfte Subäquatorialafrikas; sie ähneln einander stark. Die sprachliche Entwicklung des Bantu kann anhand von Lehnwörtern aus anderen Sprachen verdeutlicht werden. Am intensivsen befaßt sich damit Christopher Ehret von der Universität von Kaliformien, Los Angeles. Aus Lehnwörtern kann man auf die Übernahme kultureller Charakteristika schließen, für die diese Wörter stehen. Unter diesem Aspekt ist die Arbeit Ehrets von besonderem Interesse. So nimmt er etwa an, daß die Wörter für Rind und Schaf in vielen modernen Bantu-Sprachen auf andere Sprachen (nämlich die, die man allgemein als Zentralsudanisch bezeichnet) zurückgehen. Diese spricht man noch heute im Südsudan, Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik jeweils nordwestlich des Albert-Sees. Ungefähr im 2. Jahrtausend vor Christus oder noch früher hatte sich im größten Teil des sudanischen Gürtels, dem breiten Landstrich, der sich zwischen den südlichen Ausläufern der Sahara und der Nordgrenze des Äquatorialwaldes quer über ganz Afrika hinzieht, eine Nahrungsmittel produzierende Wirt-
Bantu-Sprachen werden von mehr als 140 Millionen Schwarzafrikanern gesprochen. Ihre geographische Verteilung über Afrika hinweg ähnelt auffällig der Verteilung früheisenzeitlicher archäologischer Fundstätten. Bantu-Sprecher findet man aber auch im Äquatorialwald weit im Norden, wo er schon in Savanne übergeht. Dort, in der Nähe des Edward- und des Albert-Sees, stehen Bantu-Sprecher in Kontakt mit Sprechern zentralsudanischer Sprachen.
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Diese früheisenzeitlichen Stätten sind der Gegend nordwestlich des Albert-Sees am nächsten, die wir als Heimat dieser Kultur vorschlagen. Außerdem weist die C-14-Methode die UreweKeramik als die älteste früheisenzeitliche Keramik überhaupt aus. Archäologische Überlegungen sprechen also für ein hohes Alter der UreweFundstätten in der Geschichte der früheisenzeitlichen Kultur; linguistische Argumente, wie Heine sie anführt, stützen die Annahme einer frühen Ausbreitung der Bantu-Sprachen nach Osten. Beides paßt genau zusammen, und wir können die These aufstellen, daß die Urewe-Töpfer und ihre Nachkommen einen Bantu-Dialekt sprachen, der wiederum von den Bantu-Dialekten abstammte, die sich schon recht früh vom nördlichen Rand des Äquatorialwaldes bis in die Nähe des Albert-Sees ausgebreitet hatten. Die Nachkommen dieser frühen Dialekte
Bantu auf dem (hypothetischen) Vormarsch seit über 2000 Jahren. Die Sprache taucht bei jungsteinzeitlichen Völkern etwa 1000 vor Christus auf (1). Auf zwei Routen (2A, B) gelangen offenbar Bantu-Sprecher, die schon mit Eisen umgehen konnten, um den Wald herum (3, 5). Eine Bewegung von Ost nach West (4) sorgte dafür, daß Sprachen, die Vorfahren der westlichen Gruppe waren, nach Süden vorankamen (6). Zu Beginn des 1. Jahrtausend nach Christus drang der östliche Zweig nach Süden vor (7, 8). Der westliche Zweig (9) bildete ein Zentrum (10) und breitete sich von hier aus im 11. Jahrhundert nach Christus aus.
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sind Nyali und Mbuti. Man spricht sie heute im äußersten Nordosten Demokratischen Republik Kongo, und dort stellt man immer noch Keramik nach früheisenzeitlichen Mustern her. Die Nachbarvölker sprechen immer noch zentralsudanische Sprachen. Sowohl Archäologie als auch Sprachwissenschaft weisen also auf die Gegend nordwestlich des AlbertSees als den Ort, wo sich die früheisenzeitliche Kultur herausbildete. Leider ist diese Gegend archäologisch praktisch unerforscht. Einige Bantu-Sprecher schlugen aber auch, so scheint es, eine weiter westlich gelegene Route ein, die von ihrer Heimat in Kamerun die Atlantikküste entlang oder in ihrer Nähe direkt nach Süden führte, und gelangten so in die Savanne südlich des Äquatorialwaldes. Demzufolge müssen wir uns fragen, ob der früheisenzeitliche Bantu-Dialekt, von dem wir oben ausgegangen sind, nur von denen gesprochen wurde, die später den östlichen Zweig bildeten, oder von allen früheisenzeitlichen Migranten. Genauer: Konnten sich jene, die dem westlichen Zweig zuzuordnen sind, unabhängig einen Bantu-Dialekt aneignen? Eine solche Sprache ließe sich daraus ableiten, daß sich Bantu auf einer westlichen Route nach Süden ausbreitete. Das erscheint sogar sehr wahrscheinlich, zumindest für einige Gebiete. Wenn meine Datierung der Ostausbreitung des Bantu quer durch die nördlichen Ausläufer des Äquatorialwaldes auch nur ansatzweise richtig ist, müssen zu derselben Zeit, in der früheisenzeitliche Präsenz für die südwestliche Savanne nachweisbar ist, die Träger dieser Kultur westliche Bantu-Dialekte gesprochen haben. Lehnwörter aus zentralsudanischen Sprachen stützen diese Annahme. In den modernen Bantu-Dialekten der Gegenden, die ursprünglich von Migranten des westlichen Zweigs früheisenzeitlicher Kultur kolonisiert wurden, hat man in der Tat zentralsudanische Lehnwörter gefunden. Man kann sogar nachweisen, daß das domestizierte Rind und zentralsudanische Lehnwörter, die Rinder betreffen, mit dem westlichen Zweig ins südliche Afrika gelangt sind. Entsprechend zeigt auch die traditionelle
Keramik des westlichen Zweigs starke Affinität zur Urewe-Keramik. Nehmen wir als Beispiel die Tshikapa-Funde. Sie stehen für eine frühe Ausbreitung der Urewe-Tradition (vielleicht zusammen mit einer Ausbreitung der gesamten früheisenzeitlichen Wirtschaftsform, die sich auf Metallverarbeitung und Landwirtschaft stützte) in die Gegend Nordwestangolas, von wo der westliche Zweig seinen Ausgang nahm. Genau dort war die Möglichkeit eines Kontakts mit den Bantu-Sprechern, die aus ihrer Heimat in Kamerun nach Süden gekommen waren, gegeben. Alte Fundstätten und die Westroute nach Süden Archäologische Indizien für diese frühe Ausbreitung nach Süden im äußersten Westen finden sich in zwei Regionen. Erstens hat man Keramik, die der früheisenzeitlichen gleicht, auf der Fernando-Po-Insel im Kontext jungsteinzeitlicher Werkstätten gefunden, für die glattpolierte Steinwerkzeuge typisch sind; man brachte sie vermutlich an einem Stiel an, um sie als Äxte oder Hacken zu verwenden. Zweitens hat man ähnliche polierte Steinwerkzeuge im Norden rund um die Kongomündung gefunden, zusammen mit Keramik, die weniger dekoriert war als sonst in der frühen Eisenzeit üblich; die Kongo-Fundstätten datiert man auf etwa 200 vor Christus. Wir wissen nicht, ob die SteinzeitMenschen von Fernando Po und dem Unterlauf des Kongo schon Tiere domestiziert hatten; allerdings ist es so schwierig, Herden durch den Äquatorialwald zu treiben, daß wir zumindest für die Kongo-Bevölkerung davon ausgehen können, daß sie noch keine Hirten war. Ziegenherden bilden allerdings vielleicht eine Ausnahme. Die Bantu-Wörter für Rind und Schaf sind vermutlich zentralsudanischer Herkunft; das Wort für Ziege dagegen ist fast allen Bantu-Sprachen gemeinsam. Das läßt darauf schließen, daß Ziegen in der Heimat des Bantu in Kamerun schon Bestandteil der dort praktizierten Form der Landwirtschaft waren. Die Nutzer der jungsteinzeitlichen Werkzeuge an der Küste ernährten sich aber wohl eher, wie in tropischer und subtropischer Landwirtschaft üblich, von Wurzeln wie Yam als von Getreide. Ob sie nun Bantu-Sprecher auf ihrem Weg von Kamerun nach Süden waren oder nicht, sie kannten jedenfalls noch keine Metallverarbeitung. Ob und inwieweit sie Bauern und Hirten waren, entzieht sich noch unserer Kenntnis. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
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auf eine innovative Epoche im Kongogebiet als Folge der Völkerverschmelzung, die den Anlaß für die Ausbreitung des westlichen Zweigs abgab, zurückzuführen sein. Das Bantu, das die Menschen des östlichen Zweigs sprachen, war offenbar ein Dialekt, der auf die frühe Ausbreitung des Proto-Bantu von Kamerun und dem Gebiet der großen Seen aus ostwärts zurückging; unterwegs wurde er mit Lehnwörtern aus dem Zentralsudanischen, welche landwirtschaftliche und metallurgische Techniken betrafen, angereichert. Dalby, Heine und andere haben jedoch schlüssig bewiesen, daß praktisch alle Bantu-Dialekte aus der östlichen Hälfte des gesamten Verbreitungsgebiets des Bantu auf westliches Bantu zurückgehen. Die geographische Verteilung dieser Dialekte (Heine nennt sie die östliche Hochlandgruppe) deckt sich nicht mit der Verteilung der archäologischen Überreste, die man dem östlichen früheisenzeitlichen Zweig zuordnen kann. Sie deckt sich aber sehr wohl auffällig mit der archäologischen Verteilung späteisenzeitlicher Werkstätten. Wie wir bereits gesehen haben, tauchen diese Werkstätten erstmals im 11. Jahrhundert in den Annalen der Archäologie auf. Verbindungen zu der weiter westlich gelegenen Region sind unverkennbar. In der Tat ist die Gegend, aus der laut Heine die östlichen Hochlanddialekte stammen, fast identisch mit der, die ich als Wiege genau der kulturellen Innovationen betrachte, durch die sich die spätere Eisenzeit Subäquatorialafrikas von ihren Vorläufern abhebt. Die heutige Verteilung der östlichen Hochlandsprachen geht also auf eine zweite Ausbreitungswelle des Bantu zurück, die das früheisenzeitliche Bantu überlagerte. Die archäologischen Erkenntnisse über die Abfolge früher und später Eisenzeit in Subäquatorialafrika und die sprachwissenschaftlichen über Ausbreitung und Entwicklungsstadien der Bantu-Sprachen und ihrer Sprecher stimmen also in hohem Maße überein. Allerdings mußten wir uns hier auf die eisenzeitlichen Sprecher des Bantu beschränken
DAVID PHILLIPSON
Diese Menschen, die noch kein Metall verarbeiteten, erreichten den südlichen Ausläufer des Äquatorialwalds entlang des Unterlaufs des Kongo. Sie drangen aber nicht bis in die offene Savanne Nordangolas vor. Das angolanische Grasland war vielleicht schon von früheisenzeitlichen Hirten und Getreidepflanzern besetzt, die den Wald auf der Route entlang der Region der großen Seen hinter sich gelassen hatten; sie brachten eine der Urewe-Keramik verwandte Töpfertradition mit wie die, die man in Tshikapa gefunden hat. Man kann sich leicht ausmalen, wie sich die beiden bantusprachigen Bevölkerungsgruppen trafen und miteinander verschmolzen: Die Gruppe von den großen Seen praktizierte die Metallverarbeitung, hütete Herden und baute Getreide an; die von der Küste benutzte noch Steinwerkzeuge und pflanzte Knollen. Vielleicht ist die Entstehung der BantuKultur im Kongogebiet Nordangolas etwa um die Zeitenwende, die sich kurz darauf in das südlichere Hochland Angolas und Südwestafrikas ausbreitete, dieser Verschmelzung zu verdanken. Eine letzte Expansion dieses westlichen Zweigs der früheisenzeitlichen Kultur führte Migranten vom Hochland nach Westzentralsambia und in den Südosten der Demokratischen Republik Kongo. Ihre Präsenz läßt sich archäologisch ab etwa 500 nach Christus nachweisen. An diesem Punkt begegneten Bevölkerungsgruppen des westlichen Zweigs denen des östlichen an einer gemeinsamen Grenze in Zentralsambia und Nordsimbabwe. Kommen wir auf die Route des östlichen Zweigs in den Süden zurück. Hier verfügen wir über umfassende archäologische Belege und können grob eine Karte der Wanderungsbewegungen zeichnen, insbesondere für den Vorstoß durch Malawi und Ostsambia nach Simbabwe und Transvaal zwischen 300 und 400 nach Christus und etwa 200 Jahre später in einer weiteren Welle nach Südwestsambia. Mit der C-14-Methode gewonnene Daten weisen darauf hin, daß der östliche Zweig schon eine geraume Zeit in Sambia und Simbabwe Wurzeln geschlagen hatte, bevor die nach Osten gerichtete Bewegung des westlichen Zweigs zu einem Kontakt beider führte. In seinen frühen Phasen fehlten dem östlichen Zweig einige Elemente der voll ausgeprägten früheisenzeitlichen Kultur, unter anderem das Rind und einige verfeinerte Techniken der Metallverarbeitung, wohingegen der westliche Zweig schon über diese verfügte. Das kulturelle Repertoire des westlichen Zweigs war umfassender; das mag zumindest teilweise
Das Vordringen des östlichen Zweigs von seiner Urheimat aus, den Urewe-Siedlungen um den Victoria-See herum, entlang der Küste bis in das Gebiet südlich des Limpopo läßt sich in zwei aufeinander folgende Phasen einteilen. Die erste besteht aus einer Wanderung nach Süden und Osten im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus Die zweite und weiter ausholende Wanderung verlief im 4. und 5. Jahrhundert in Richtung Süden. Im 5. und 6. Jahrhundert gab es eine Ostbewegung von Gruppen, die dem westlichen Zweig angehörten.
und die anderen Völker, mit denen sie in Kontakt kamen, weitgehend außer acht lassen. Man sollte jedoch nicht vergessen, daß die Völkerwanderungen und Ansiedlungen, die ich hier beschrieben habe, in Territorien vonstatten gingen, in denen bereits vorher unterschiedliche Völker lebten, deren je eigene Lebensform gut an ihre jeweilige Umwelt angepaßt war. Was diese früheren Einwohner nicht nur genetisch, sondern auch an Kultur, Wirtschaft und Techniken an die eisenzeitlichen Gruppen weitergaben, die letztlich ihren Platz einnahmen und heute die beherrschende Bevölkerungsgruppe in Subäquatorialafrika bilden, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. 쐽 David Phillipson ist Archäologe am British Institute of History and Archaeology in East Africa, Nairobi.
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SPRACHEN OHNE WORTE
Buschtrommeln Buschtrommeln Mit Trommeln übermitteln viele afrikanische Gesellschaften Botschaften, die jeder versteht. VON FRANCE CLOAREC-HEISS
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ie getrommelten Botschaften Schwarzafrikas sind von hinreißender Musikalität; aber nicht nur das, sie sind auch erstaunlich effiziente Verständigungsmittel. Viele afrikanische Gesellschaften verwandten oder verwenden diese Form der Kommunikation; die Prinzipien, nach denen gesprochene Sprache in getrommelte Botschaften umgesetzt wird, sind aber nicht überall identisch. Absender einer Botschaft ist zumeist ein Spezialist, der schnell trommeln kann; die Botschaft selbst aber kann jeder verstehen: Die Adressaten sind in der Lage, die Trommelsprache direkt in gesprochene Sprache zu übersetzen, vorausgesetzt, der Trommler beachtet eine Reihe von Regeln. Simha Arom, Musikwissenschaftler am Centre National de la Recherche Scientifique CNRS, dem nationalen Forschungsrat Frankreichs, und ich haben die Sprache der Banda-Linda erforscht. Die Banda-Linda sind in der Savanne
300 Kilometer nördlich des Äquatorialwaldes in der Zentralafrikanischen Republik beheimatet. Ihre Sprache gehört zur Gruppe der Banda-Sprachen, die etwa 60 Mundarten umfaßt. Sie ist mit dem Adamawa-Obango-Zweig der Niger-Kongo Familie (in der Definition J. Greenbergs) verwandt. Die weitaus überwiegende Mehrheit der Subsahara-Sprachen (und mehr als ein Viertel der Sprachen der Welt) sind Tonsprachen, das heißt, die Tonhöhe, mit der Vokale artikuliert werden, ist bedeutungsrelevant: Ändert man den Ton, ändert sich auch die Bedeutung eines Wortes. Banda-Linda verfügt über drei Töne, die man folgendermaßen mit Akzenten kennzeichnet: den Tiefton mit einem Gravis (à), den Mittelton mit einem horizontalen Strich über dem betreffenden Vokal (a—), und den Hochton mit dem Akut (á). Um aus gesprochener Sprache in die getrommelte Sprache zu übersetzen, verzichtet der Trommler auf Vokale
und Konsonanten und behält nur die Töne bei. Mit zwei Trommelschlegeln schlägt er abwechselnd eine Seite der beiden Holztrommeln (eine kleine und eine große). Wie aber kommen sie zu drei Tönen? Die beiden Flanken einer Trommel sind unterschiedlich dick und geben so zwei verschiedene Töne von sich. Mit den zwei Seiten der großen Trommel bringt der Trommler den Tief- und den Mittelton hervor, und wenn er gegen die eine Seite der kleinen Trommel schlägt, den Hochton. Jedes Dorf besitzt ein Paar Trommeln; der Häuptling bewahrt sie auf. Die Reichweite der Übermittlung hängt von Tageszeit und Witterungsbedingungen ab: von 2 Kilometern bei schlechtem Wetter bis zu 12 Kilometer kurz vor Sonnenaufgang. Die Funktion der Botschaften besteht darin, die Bevölkerung zu informieren und zum Absendepunkt zusammenzurufen: Die Trommeln verkünden Todesfälle, Geburten, einen Markttag, einen Unfall im Busch und dergleichen. Das Repertoire ist aber unbegrenzt. Mit der Kolonisation kamen neue Nachrichtentypen auf: Steuereintreibung etwa oder die Ankunft eines Verwaltungsbeamten oder eines Ärzteteams. Die Sendung dauert durchschnittlich fünf Minuten. Die Botschaft besteht aus einer langen Abfolge von Schlägen in drei fixen Tonhöhen bis zu einer raschen Ka-
SIMHA AROM
Getrommelte Einladung zum Fest
Ausgerüstet mit zwei hölzernen Schlegeln trommelt der Dorftrommler seine Nachricht auf zwei geschlitzten Holztrommeln. Jede Trommel hat unterschiedlich dicke Seiten; so können zwei Töne unterschiedlicher Tonhöhe hervorgebracht werden. Tiefton und Mittelton kommen von den beiden Seiten der großen Trommel, der Hochton von einer Seite der kleinen.
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Einladung zur Investitur eines Häuptlings. Die Botschaft dauert etwa fünf Minuten; hier etwa ein Drittel davon in Umschrift. Die Nachricht beginnt mit einer Anredeformel (violett); die Markierungsformeln (rot) sind unmittelbar verständlich. Sie rahmen botschaftsspezifische informative Einheiten (blau) ein; diese müssen, um verstanden zu werden, in gesprochenes BandaLinda übertragen werden.
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denz (der gesprochenen SpraTeil der Botschaft aus. AnDie Bedeutung der Töne che nämlich). Die Schläge bilders als die Markierungsforden durch Pausen voneinander meln werden sie nicht unmitabgegrenzte Melodiemotive; telbar verstanden; die Abfoleinige werden wiederholt. Dage der Töne muß zuerst in gebei stimmen die getrommelte sprochene Sprache umgesetzt Nachricht und ihre Übersetwerden. Der Trommler geht zung in gesprochenes Bandavon diesen beiden GrundeleLinda in Tonhöhe und Rhythmenten, der Markierungsformus überein. Die Töne einmel und der InformationseinDie Tonhöhe jedes Vokals wird hier auf einer dreistufigen und desselben Wortes werden heit, aus und kann darauf aufTonleiter angegeben. Jedem Wort ist eine Farbe zugeordin kürzerem Abstand getrombauend seine Botschaft frei net. Die Tonfolge beider Sätze unterscheidet sich erst im melt als dieselben Töne unterstrukturieren. Er rahmt die in4. und 5. Ton (rot). Während des Hörens entscheidet man schiedlicher Wörter. Wie aber formativen Teile mit Markiesich, welche Satzteile mit dem Thema kompatibel sind: unterscheidet man zwei Wörrungsformeln ein und er„ich selbst“ paßt zu „ich irren“; „Dummkopf“ folgt auf „ihr spielen“. Die Mehrdeutigkeit im Ton wird aufgelöst, indem ter derselben Tonstruktur? Es schafft so ein bekanntes man rückwirkend die gehörten Wörter identifiziert. gibt spezielle Markierungen, Klangmuster, das die Aufdie die Doppeldeutigkeit, die merksamkeit der Zuhörer fesaus dem Gleichklang der Höhe selt und die Klangpartien, die Ton ist somit praktisch unmöglich. Übriherrührt, auflösen: Der Trommler mar- gens: Während unserer Forschungen (die erst identifiziert werden müssen, abkiert seine Botschaft mit Formeln, die darin bestanden, verschiedene Botschaf- grenzt. Anders gesagt: Markierungsforman sofort wiedererkennt. ten aufzuzeichnen), haben sich alle ange- meln und -segmente verhalten sich zu Der erste Anhaltspunkt, eine Nach- sprochenen Personen in der Tat unver- Trommelsprache wie Trägersubstanz zu richt richtig zu interpretieren, ist ihre züglich zum Absendeort begeben. pharmazeutischem Wirkstoff: Sie sind Herkunft. Inhalt und Adressaten der BotDie Form der getrommelten Nach- der Träger dessen, worauf es ankommt, schaft liefern einen zweiten Typ Infor- richt ist nicht fixiert: Jede Nachricht nämlich der Informationseinheiten. mation: Ist sie für den Dorfhäuptling be- (etwa die Anzeige einer Geburt) kann Das Alphabet der Trommelsprache in stimmt (à-màkònjì mit vier Tieftönen), etwa ein Dutzend unterschiedliche For- Banda-Linda hat also gleichsam drei kündigt die Botschaft eine Verwaltungs- men annehmen, wie in der gesprochenen Buchstaben, nämlich die drei Töne der maßnahme, beispielsweise eine Steuer- Sprache auch. Die Freiheit des Tromm- Sprache, und die Abgrenzung einzelner hebung, an. Richtet sie sich an die Bau- lers hat allerdings ihre Grenzen – er muß Einheiten geschieht durch den Trommelern, àyı—-kı—ndı— kı—ndı— (Tiefton, gefolgt von schließlich auch verstanden werden. Aus rhythmus. Diese Art der Kommunikation fünf Mitteltönen), informiert sie über diesem Grund muß er seine Botschaft läßt ein Grundprinzip der Funktionsweidorfinterne Ereignisse. mit Formeln und Markierungssegmenten se menschlicher Sprache überhaupt erIst der intendierte Empfänger aber strukturieren. Ein solches Markierungs- kennen: die Rekombination. Der eine Einzelperson, schlägt der Trommler segment ist etwa die Formel ma¯ndá Trommler fügt einem getrommelten Satz die Töne seines Namens. Familiennamen (Mittelton plus Hochton), die immer einen Ton hinzu, der Hörer rekombiniert mit nur zwei Vokalen werden systema- dem Vatersnamen voransteht. Ein weite- ihn mit den vorausgegangen Tönen: So tisch wiederholt. Daß es sich um die Wie- res Beispiel für eine Markierungformel überprüft er, ob sich dieser Ton mit der derholung eines zweisilbigen Wortes han- ist der standardisierte Beginn: alle Nach- restlichen Nachricht in Einklang bringen delt, erkennt man daran, daß der Tromm- richten fangen mit einem Hochton an, läßt. Die semantische Kompatibilität eiler den Ton der letzten Silbe besonders der für Banda-Linda wá steht, was man ner Tonfolge lenkt die Wahrnehmung der betont. Wenn nicht einmal drei oder vier in etwa mit dem Ausruf „he!“ wiederge- Wörter ins richtige Gleis. Silben reichen, zieht der Trommler den ben kann. Ebenso zeigt eine SchlußforDer Rekombinationsprozeß, spätere Vatersnamen hinzu, angekündigt durch mel (Tiefton, Tiefton, Mittelton, Mittel- Töne mit den vorhergehenden abzugleidie Tonfolge „Mittelton – Hochton“, was ton) das Ende der Nachricht an. chen, ist für die Kognitionsforschung für ma—ndá „Erbe“ steht. Gelegentlich Markierungsformeln sind Bestandteil von großem Interesse. Er beweist, daß fügt der Trommler Abstammung oder aller Botschaften, egal, welchen Inhalts. menschliche Wahrnehmung überall auf das Dorf des Empfängers hinzu; dies So garniert der Trommler seine Bot- der Welt den gleichen Prinzipien geschränkt die Interpretationsmöglichkei- schaft auch mit Bekräftigungsformeln horcht. Man hört zwar in linearer Abfolten weiter ein. oder Aufforderungen zuzuhören, sich zu ge entlang eines Zeitstrahls, aber man erDa sich die Banda in Kleingruppen versammeln oder beim Trommler einzu- schließt die Bedeutung durch permanenorganisieren, ist ein Irrtum über die Per- finden. Diese Formeln bilden eine den tes Rekombinieren parallel zur eigentlison ausgeschlossen. Ein getrommelter Dorfbewohnern wohlbekannte Melodie: chen Wahrnehmung. Die Erforschung Name mit drei Silben (jede mit einem Sie verstehen sofort. der Sprache der Buschtrommeln stellt so von drei möglichen Tönen) entspricht eiWeitere nachrichtenspezifische For- ein Modell für den kognitiven Prozeß des ner von 27 möglichen Kombinationen. meln zeigen den Inhalt an: Anredefor- Verstehens zur Verfügung. Fügt man den Namen des Vaters hinzu, meln, Geburts- oder Festankündigungen Wie viele Traditionen ist auch diese stehen 36 = 729 Kombinationen zur Ver- und andere machen den informativen Art der Kommunikation akut vom Ausfügung. Das ist bereits eine beträchtliche sterben bedroht. Es ist zu wünschen, daß Zahl, wenn man bedenkt, daß ein großes sie dennoch überlebt. Es wäre ein JamFrance Cloarec-Heiss, ForschungsBanda-Dorf etwa 400 Einwohner hat. mer, die getrommelten Nachrichten des direktorin am CNRS, leitet das Wenn man außerdem noch die AbstamBusches nicht mehr hören zu können; sie Labor für Sprechen, Sprache und mung mitliefert, ergeben sich 39 = 19 683 sind mindestens so schön wie unsere Kultur Schwarzafrikas. Kombinationen. Völliger Gleichklang im Konzertpauken. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
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SPRACHEN OHNE WORTE
Die Gebärdensprache Gehörlose verständigen sich mit dem Körper auf eine ebenso nuancenreiche Art und Weise, wie Hörende es mit Lauten tun.
O
b man taub ist oder hört: Keiner kann auf Sprache verzichten. Sie ist es letztlich, die den Menschen zum Menschen macht. Dabei nehmen Hörende Sprache mit dem Ohr wahr, Taube oder Schwerhörige dagegen mit dem Auge; aber jedes menschliche Wesen ist in der Lage, mit einem begrenzten Repertoire von Zeichen (die auch Gesten sein können) und Regeln, denen diese Zeichen gehorchen, eine unbegrenzte Menge von Äußerungen hervorzubringen. In diesem Sinn ist auch die Gebärdensprache eine echte Spra-
Redundanz (nämlich die doppelte Bezeichnung von Zahlen durch Wort und Geste) minimiert das Risiko eines Mißverständnisses. Die vorliegende Darstellung von Zahlen durch Fingerzeichen stammt aus einem Buch des Renaissancemathematikers Luca Pacioli aus dem Jahr 1494.
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che: Sie kann alles ausdrücken, sogar abstrakte Konzepte. Auch bei Hörenden begleiten oft Gesten die gesprochene Äußerung, besonders, wenn Zahlen mitgeteilt werden sollen. In der Renaissance war das ganz üblich: der Mathematiker Luca Pacioli katalogisierte die Zahlzeichen sogar. Die ersten Schriften, aus denen wir von der Existenz einer Gebärdensprache erfahren, stammen aus der griechischen Antike. Aristoteles und Sokrates setzen sie stillschweigend voraus, verzichten aber auf Einzelheiten (allerdings lehrte Sokrates nur mündlich; seine Philosophie ist nur über die Quellen seiner Schüler tradiert). Die erste präzise Beschreibung verdanken wir vielmehr dem Abbé de l’Épée (1712 bis 1789) aus der Zeit Ludwigs des XVI. Das Anliegen des Abbé, der selbst sehr wohl hören konnte, war die Ausbildung tauber Kinder; zu diesem Zweck befaßte er sich auch mit der Gebärdensprache und versuchte, sie zu verstehen. Er zwängte sie aber in das Raster, das ihm die französische Grammatik vorgab; dadurch veränderte er die ursprüngliche Grammatik, für die er wenig Verständnis aufbrachte, radikal. In der Gebärdensprache drückt man etwa die Tempora (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) aus, indem man den umgebenden Raum in die Äußerung einbezieht. Der Sprecher zieht eine imaginäre senkrechte Achse am Körper entlang quer durch die Schulter: Das Vergangene liegt dahinter (man blickt also über die Schulter hinweg nach hinten), das Zukünftige davor. Mit der Position der Augen kann man sogar unmittelbare oder fernere Zukunft unterscheiden. Ebenso existiert in der Gebärdensprache ein Möglichkeitsmodus. Die Methode des Abbé de l’Épée, nämlich die Fixierung der Gebärdensprache durch „methodische Zeichen“, verbreitete sich rasch. Es gab erstmals Anlaß zur Hoffnung, daß taube Kinder einen ihren Möglichkeiten angepaßten Unterricht würden erhalten können – in einer ihnen natürlich zufließenden Sprache. Leider erschien gleichzeitig eine weitere pädagogische Strömung auf der Bildfläche: die lautzentrierte Strömung nämlich, welche die Gebärdensprache kategorisch
Die Gebärdensprache steht an Ausdrucksfähigkeit keiner anderen Sprache nach. Hier das Zeichen für „Mond“.
ablehnte. Erzieher dieser Richtung erhoben den Anspruch, tauben Kindern Sprache und Verhaltensmuster der Hörenden beibringen zu können. Im Jahr 1880 versammelten sich Ärzte und Erzieher gehörloser Kinder zu einem Kongreß in Mailand und faßten den Entschluß, die Gebärdensprache zu verbieten. Die lautzentrierte Richtung triumphierte. Gehörlose Lehrer traf der Bannstrahl: Sie wurden entlassen. Zur Verhütung von „Ansteckung“ separierte man die der Gebärdensprache kundigen Kinder von denen, die sie noch nicht beherrschten. Sobald ein Kind anfing zu gestikulieren, wurde es streng bestraft: Es kam in Arrest, und man band ihm die Hände zusammen. In einer Gehörlosenschule (Rue St. Jacques in Paris) kann man noch heute die Arrestzellen besichtigen, in die man Kinder einsperrte, die die Gebärdensprache benutzten. In diesen finsteren Zeiten ging die Methode des Abbé de l’Épée einfach unter. Trotz alledem trafen sich die Tauben weiterhin, nun eben heimlich, und brachten ihren Kindern die Gebärdensprache bei; so gelang es ihnen, ihre Sprache vor dem Aussterben zu bewahren. Die Gebärdensprache ist im übrigen so natürlich, daß ein gehörloses Kind sie von Anfang an annimmt. Die Situation der Tauben in Frankreich hat sich erst seit etwa zwanzig Jahren entscheidend verändert. Im Jahr 1976 erwachte das Interesse für die Gehörlosen-Universitäten in den USA; dort haben Taube ZuSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DOSSIER: SPRACHEN
AKADEMIE FÜR GEBÄRDENSPRACHE
VON PATRICK BELISSEN UND SEINER DOLMETSCHERIN, FRANCOISE LEGAULT DEMARE
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AKADEMIE FÜR GEBÄRDENSPRACHE
gang zu einem hohen Ausbildungsniveau und können Berufe wie Arzt oder Anwalt ergreifen. Im Vergleich dazu ist Frankreich ein Entwicklungsland: Der höchste Schulabschluß, der Gehörlosen offensteht, ist das C. A. P. (Berufsreifezeugnis), das sie auf die Stufe eines Arbeiters stellt. Angesichts dieser tristen Realität werden die Gehörlosen endlich aktiv und schließen sich zu Vereinen zusammen, zum Beispiel mit dem Namen „Zwei Sprachen, eine Bildung“. Diese Vereine fordern eine zweisprachige Ausbildung, Gebärdensprache und geschriebenes Französisch. Die Akademie für Gebärdensprache bietet Unterricht in Gebärdensprache für Erwachsene, die mit dem Problem der Taubheit zu tun haben oder sich dafür interessieren. Die französische Gebärdensprache ist nicht mit der amerikanischen identisch. Letztere hat sich schon früh herausgebildet, aber in engem Kontakt mit einer lautzentrierten Tradition; ihrem Einwirken ist es zu verdanken, daß die sogenannte „Daktylologie“ eine große Rolle spielt (Zeichen, die Buchstaben aus dem Alphabet der gesprochenen Sprache wiedergeben, von griechisch dáktylos, Finger). Aus diesem Grund schätzen Amerikaner die französische Gebärdensprache so sehr: Sie ist in ihren Augen natürlicher als ihre eigene. Sie greift nur dann auf Buchstaben zurück, wenn Eigennamen buchstabiert werden müssen. Städtenamen haben dabei ihre je eigenen Zeichen, Namen von Dörfern aber meist nicht; also buchstabiert man ihre französischen Namen daktylologisch. Wenn in einem Dorf aber ein, zwei, drei Taube leben, schaffen sie sich ihr eigenes Zeichen, das sich dann durchsetzt. Manche Zeichen haben eine Geschichte, die rekonstruierbar ist, wenn man ältere Personen befragt: Um „reisen“ zu bezeichnen, hebt man den Arm und öffnet und schließt die Hand einige Male. Dieses Zeichen geht auf die Bewegung zurück, mit der man Pferde mit der Peitsche antreibt. Es hat sich im Lauf der Zeit gewandelt – genauso, wie auch gesprochene Sprachen sich wandeln. Das Wort für „Frau“ bildet man, indem man den Zeigefinger senkrecht die Wange am Mund entlang hinabgleiten läßt; vermutlich geht das auf die Geste zurück, die Frauen vollführen, wenn sie ihr Kopftuch zuknoten. Hörende finden schwer Zugang zur lautlosen Welt der Tauben. Sie bedauern die Gehörlosen und bezeichnen sie als stumm aus dem Mißverständnis heraus, sie seien nicht in der Lage, sich auszudrücken. Aber umgekehrt bedauern auch die Tauben die Hörenden – ihr Gesicht ist für sie ausdruckslos. Wenn sich die Tauben in Gebärdensprache mitteilen, drückt ihr ganzer Körper Emotionen, etwa Wut oder Freude, aus. Das geht sogar so weit, daß sich Taube
Um einen Begriff auszudrücken, setzt man den ganzen Körper ein. Diese Geste bedeutet „zurückschrecken“.
von Personen, die in alle Richtungen gestikulieren, gestört fühlen – genau wie Hörende sich über Leute ärgern, die zu laut oder zu viel reden. Wie einer seine Zeichen vollführt, welche er wählt, welche Haltung er dabei einnimmt – das alles macht seinen persönlichen Stil aus. Es existieren sogar verschiedene Stilebenen: Umgangssprache, Universitätssprache, ja sogar Gedichte in Gebärdensprache sind möglich. Bestimmte Gesten geben der Äußerung eine humorvolle Färbung. Eine echte Sprache Die Überlieferung der Gebärdensprache und der mit ihr verbundenen Kultur ist grundsätzlich mündlich. Eine schriftliche Form gibt es nicht; um Äußerungen festzuhalten, eignet sich die Videokamera am besten. Leider ist das nicht eben billig; Bibliotheken sind in dieser Hinsicht schlecht ausgestattet. Im Fernsehen ist Gebärdensprache nur spärlich vertreten. Diese Wüste in der Medienlandschaft ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Gehörlose Kinder wachsen in kultureller Isolation auf. Dabei sind sie keineswegs krank: Um ihnen Kommunikation zu ermöglichen, bräuchte man nur ihre Sprache als echte Sprache anzuerkennen. Erzogen werden diese Kinder oft von Lehrern, die die Gebärdensprache nicht beherrschen. Wie aber soll ein Lehrer, der die Sprache seiner Schüler nicht spricht, sinnvollen Unterricht halten? Wir müssen einsehen, daß wir erheblich mehr zweisprachige Klassen einrichten müssen. Bedauerlicherweise beurteilen Erzieher und Lehrer Hörbehinderte nur nach ihrer verbliebenen Hörfähigkeit; je weniger sie hören, desto geringer wäre dann ihre Chance auf gesellschaftlichen Erfolg.
Nichts könnte verkehrter sein! Taube sind sehr wohl in der Lage, innerhalb der Gesellschaft ein erfülltes Leben zu führen. Wichtig ist dabei vor allem eins: Sie müssen ihren Zustand als positiv empfinden, und dazu trägt die Beherrschung einer für sie natürlichen Sprache wesentlich bei. Die Bemühungen der Hörenden, Taubheit zu „heilen“, sind nicht sehr hilfreich. Technische Hilfsmittel werden den Problemen Gehörloser oft wenig gerecht, insbesondere üben sie gelegentlich Zwang aus. Das ist nicht akzeptabel. Man nötigte Kinder dazu, Prothesen zu tragen, die gräßliche Kopfschmerzen verursachten. In Zukunft wird man den Einzelfall in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen müssen; es hat keinen Sinn, alle Kinder über einen Kamm scheren zu wollen. Der Weltverband der Tauben wirkt darauf hin, den Tauben selbst die Wahl zu überlassen, insbesondere dann, wenn es um chirurgische Eingriffe geht. Außerdem haben die Resultate von Operationen oft nicht ein ganzes Leben lang Bestand. Wer nach einem zunächst erfolgreichen Eingriff später doch wieder einen Rückfall erleidet, aber die Sprache der Gehörlosen nicht gelernt hat, hat das Nachsehen. Die beste Lösung ist und bleibt, ein taubes Kind die Gebärdensprache lernen zu lassen, und zwar von einem Erwachsenen, der sie beherrscht. Auch hörende Kinder können sie in der Schule erlernen – etwa als Wahlfach und gerade so, wie sie Fremdsprachen erwerben. Pilotprojekte haben ergeben, daß sich dadurch auch die Einstellung hörender Kinder positiv verändert: Sie entdecken die Ausdrucksfähigkeit ihres eigenen Körpers. Patrick Belissen ist Direktor der Akademie für Gebärdensprache in Paris.
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MASSENSTERBEN
Rote Liste für Sprachen Im Laufe des kommenden Jahrhunderts werden die meisten Sprachen der Welt zugrunde gehen.
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ine bestimmte keltische Sprache, so will es die Legende, hatte nur noch zwei Sprecher; eine alte Dame und ihren Papagei. Als sie starb, blieb der Sprachwissenschaft nur noch der begrenzte Wortschatz des Papageis. Wir werden mit elektronischen Medien, vor allem dem Fernsehen, bombardiert. Dies sowie standardisierte Ausbildungsprogramme und die flächendekkende Verfügbarkeit von Transportmitteln werden in Laufe des kommenden Jahrhunderts zwischen 70 und 90 Prozent der Sprachen der Welt zerstören. Eyak in Alaska hat bereits jetzt nur noch zwei Sprecher, Mandan sechs, Iowa fünf. Lediglich zwei Personen können sich noch auf Sirenikski, einer Eskimosprache, unterhalten, und maximal ein Dutzend sprechen noch Ubykh, die Sprache mit der größten Anzahl an Konsonanten. Diese Zahlen sind zweifellos nicht ganz verläßlich, aber sie dokumentieren eine Tendenz. Spielt es eine weltgeschichtliche Rolle, ob eine Sprache 1997 oder erst 2007 verschwindet oder ob ihr jüngster Sprecher 9 oder 90 Jahre alt ist? Ja, es spielt in der Tat eine Rolle: Wir sollten mit modernen Aufzeichnungstechniken wenigstens die Kenntnis ihres Wesens bewahren, wenn wir schon nicht in der Lage sind, dafür sorgen, daß sie weiterhin gesprochen wird.
Wenn Kinder eine Sprache nicht mehr als Muttersprache lernen, ist sie zum Aussterben verurteilt wie Pflanzen- oder Tierarten, die sich nicht mehr fortpflanzen können. (Ausnahme ist das Hebräische, dessen aus Bibelhebräisch und MischnaHebräisch zusammengesetzte Variante seit 1948 Amtssprache in Israel ist). Wie viele Sprachen werden heute nicht mehr von Kindern benutzt? Sprachen, die nicht mehr unterrichtet werden, werden in hundert Jahren mit Sicherheit nicht mehr existieren. In Alaska werden nur zwei von zwanzig Eskimosprachen noch von Kindern gesprochen, im Norden Rußlands sind nur drei von dreißig registrierten Sprachen bei jungen Menschen noch lebendig. In Australien sind 90 Prozent der 250 Eingeborenensprachen Todeskandidaten: Der Todesengel ist offenbar das Englische. In Südamerika wirken Spanisch und Portugiesisch, wenn auch in geringerem Ausmaß, tödlich: „Nur“ zwischen 17 und 27 Prozent der Sprachen gehen ihrer Ausrottung entgegen. Eine Maßnahme, die Sprachpraxis aufrechtzuerhalten, besteht darin, die Bibel zu übersetzen und zu drucken. Die Bibel ist heutzutage in 50 Prozent aller Sprachen übersetzt und für ihre Sprecher zugänglich. Nach Michael Krauss, Professor an der Universität Alaska, gibt es 6000 Sprachen und Dialekte auf der Welt
POUR LA SCIENCE
Die Zahl der Sprachen in den Ländern der Welt
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(Dialekt ist die regional bedingte Form innerhalb einer Sprachgemeinschaft). Jede Sprache wird von durchschnittlich einer Million Individuen gesprochen, aber die sprachliche Vielfalt variiert je nach Sprache und Kontinent stark. Europa und Nahost stellen nur 4 Prozent der Sprachen, Nord- und Südamerika 15 Prozent, die übrigen 81 Prozent fallen auf die übrigen Kontinente. 83 Prozent aller Sprachen sind in nur 23 Prozent der Länder beheimatet. 200 bis 250 Sprachen werden von mehr als einer Million Menschen gesprochen, immer noch 600 von mehr als 100 000; sie sind nicht bedroht. Sprachen mit weniger als 100 000 Sprechern müssen als gefährdet gelten: Das Schicksal des Bretonischen und des Navajo etwa, die sich dieser Schwelle nähern, ist heute ungewiß. Statistiken zeigen, daß das Mittel der durchschnittlichen Anzahl von Sprechern zwischen 5000 und 6000 liegt. Die Situation ist damit gravierender als für gefährdete Tierarten; dort ist die am meisten bedrohte Familie die der Säugetiere. 326 von 8600 Arten gehen sicher dem Aussterben entgegen. Pessimistische Biologen schätzen den Anteil der gefährdeten Arten auf 10 Prozent für die Säugetiere und auf mindestens 5 Prozent für die Vögel. Sprachen sind bekanntlich der kollektive Ausdruck einer kulturellen Identität. Wieso soll also das Verschwinden des Pandas oder des kalifornischen Kondors so viel beunruhigender sein als die Ausrottung der Eskimosprachen? Nero sah seinerzeit ungerührt dem Brand von Rom zu; nicht anders führen wir über verlorene Sprachen Buch, tun aber nichts, um sie zu bewahren.