Spannende Abenteuer stehen für das unzertrennliche Kleeblatt auf der Tagesordnung. Die ersten beiden Geschichten der ve...
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Spannende Abenteuer stehen für das unzertrennliche Kleeblatt auf der Tagesordnung. Die ersten beiden Geschichten der verwegenen 4 aus der Feder der berühmten Kinderbuchautorin Enid Blyton sind in diesem Band vereinigt. »Die verwegenen 4 reißen aus« Von den Eltern zu der garstigen Misses Grimm in die Ferien geschickt worden zu sein, ist ein hartes Los für die drei Geschwister Lissy, Chris und Peggy, Prompt beschließen sie auszureißen. Und zum Glück gibt es da Ben, sein Boot und eine einsame Insel, auf der sich eine geheimnisvolle Höhle befindet … »Die verwegenen 4 bewähren sich« Ein anderes Mal, während der Ferien am Meer, erregt ein unheimliches altes Haus die Neugierde der Kinder. Es scheint ein düsteres Geheimnis zu bergen. Geht es dort wirklich nicht mit rechten Dingen zu? Mutig stürzen sich die verwegenen 4 erneut in ein riskantes Abenteuer.
Die Autorin
Enid Blyton starb 1968 im Alter von 71 Jahren. Bereits zu Lebzeiten war sie eine der beliebtesten und bekanntesten englischen Autorinnen Es gibt wohl kaum einen Schriftsteller, der größeren Einfluss auf das Kinderbuch der Nachkriegszeit hatte. Enid Blyton liebte die Kinder in aller Welt und schrieb für sie etwa 700 Bucher, 10 000 Kurzgeschichten viele Lieder, Gedichte und Theaterstücke.
Enid Blyton
Abenteuergeschichten mit den verwegenen 4
Bassermann
Der Text des Buches entspricht den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung ISBN 3-8094-1125-6
© 2001 by Bassermann Verlag in der Verlagsgruppe FALKEN/Mosaik, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, 65527 Niedernhausen/Ts. © der neubearbeiteten deutschsprachigen Originalausgabe 1998 by C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag GmbH, München Originaltitel: "Die verwegenen 4 reißen aus", "Die verwegenen 4 bewähren sich", Die Originalausgaben erschienen unter den Titeln "The Secret Island", "The Secret of Spiggy Holes" bei Hodder & Stoughton Ltd. London © Enid Blyton Limited, London Enid Blytons Unterschrift ist ein eingetragenes Warenzeichen von Enid Blyton Limited. Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Innenillustrationen: Silvia Christoph Übersetzung: Ilse Winkler-Hoffmann Redaktion für diese Ausgabe: Stefanie Rödiger Herstellung: Harald Kraft Druck: GGP Media, Pößneck
Inhalt
Die verwegenen 4 reißen aus
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Die verwegenen 4 bewähren sich 142
Enid Blyton
Die verwegenen 4 reißen aus
I Keine Post
»Wieder nichts«, sagte Chris. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und sah dem in der Mittagshitze davonradelnden Briefträger düster nach. Der fuhr langsam um den mit hohen Erlen bestandenen kleinen Teich, den heckenumsäumten Weg hinunter, und ein paar Hühner flogen gackernd auf. »Nein, wieder nichts«, sagte Lissy, Chris’ Zwillingsschwester, die ihrem Bruder so verblüffend ähnlich sah, dass der Vater lachend zu sagen pflegte: »Gut, dass du Röcke trägst, sonst würde sogar ich euch beide verwechseln.« »Wieder nichts«, sagte sie noch einmal und seufzte. Peggy, die jüngste der Geschwister, murmelte, während sie, wie es ihre Gewohnheit war, das Ende ihrer strohblonden Haare in den Mundwinkel steckte: »Und dabei haben wir Tante Hanna doch so gebeten, dass wir zu ihr kommen dürfen.« Die drei hockten in der prallen Sonne auf den Stufen vor einem alten Bauernhaus und Ben, ihr großer Freund, lehnte an der Mauer und zog mit den Hacken Striche und Kreise in 10
den Sand. »Und nun?«, fragte er. »Was wollt ihr nun machen?« Sie hatten ihn auf einem Spaziergang durch die Wiesen kennen gelernt und ihn gleich nett gefunden, weil er sie so freundlich anlachte. Er war ein Stück mit ihnen gegangen und hatte ihnen erzählt, dass er seine Eltern schon vor Jahren verloren hatte und nun mit seinem Großvater zusammen auf dessen kleinem Anwesen lebte. »Großvater ist schon sehr alt«, hatte er gesagt, »und mit den Kindern im Dorf habe ich nicht viel zu tun.« Chris zuckte die Schultern. Ach nein, sie wussten es nicht. Ihre Eltern, Captain Arnold und seine Frau, beide Piloten, waren, wie schon so oft, zu einem großen Flug gestartet und hatten die Kinder während der Ferien zu einer Bäuerin in Pension gegeben. »Hier habt ihr frische Luft und gutes Essen«, hatte die Mutter gesagt, »und die Landschaft ist herrlich. Felder, Wiesen und ein Stück Wald am nahen See. Ihr könnt spazieren gehen, baden und vielleicht auch rudern.« Ja, die Landschaft war herrlich, und mitten darin auf einer Anhöhe lag das lang gestreckte Haus mit dem riesigen Garten voller Obstbäume und dem großen Hof, umgeben von Scheunen und Stallungen. O ja, sie hatten sich auf die Zeit hier gefreut. Wie konnten sie auch wissen, dass Mrs. Grimm, die sie so freundlich empfangen hatte, eine missmutige und geizige Person war, nur darauf bedacht, recht viel Geld an ihnen zu verdienen. »Ha«, sagte Chris plötzlich, »diese Grimm! Eine Ohrfeige 11
hat sie Peggy gegeben, bloß weil sie eine Tasse beim Abtrocknen kaputtgemacht hat! Und jeder Penny, den sie für uns ausgeben soll, tut ihr Leid. Und dabei haben Vater und Mutter so viel Geld für uns bezahlt, und nun lässt sie uns beinahe verhungern, und das Schlimmste ist, dass Mutter schreibt, sie müssten vielleicht noch vier Wochen länger bleiben!« »Und gestern Abend konnte ich vor Hunger nicht einschlafen«, jammerte Peggy und sah dabei so jämmerlich aus, dass alle lachen mussten. »Wisst ihr noch«, begann Chris wieder, »wisst ihr noch, was die Alte für einen herrlichen Tee gekocht hatte, als Mutter uns hierher brachte? Kuchen gab es und frische Brötchen …« »Und Honig und Marmelade.« Peggy seufzte. »Und eine Kirschtorte«, sagte Lissy. »Sie hat Mutter Sand in die Augen streuen wollen«, fügte Peggy eifrig hinzu. »Du meinst wohl Kuchenkrümel?« Chris grinste leicht. »Ich möchte nur wissen, warum sie selber so dick ist«, überlegte Lissy. »Vielleicht isst sie heimlich«, sagte Den, »entweder vor oder nach den so genannten Mahlzeiten.« »Wahrscheinlich«, fand Lissy und Chris knurrte: »So eine Gemeinheit, so eine bodenlose Gemeinheit! Wenn ich nur wüsste«, fügte er nach einer Weile hinzu, »warum Tante Hanna nicht antwortet. Sie ist doch immer so nett, und 12
wenn sie erfährt, dass wir es hier so schlecht haben, müsste sie doch eigentlich schreiben, dass wir kommen sollen.« »Die sind bestimmt mit ihrem Wohnwagen unterwegs«, sagte Peggy und sah sehr unglücklich aus. »Und ehe die unseren Brief haben …« »… sind wir eingegangen wie Primeltöpfe«, vollendete Lissy trübsinnig. »Ich bleibe nicht hier!«, sagte Chris plötzlich. »Kommt gar nicht in Frage! Die Alte freut sich nur, dass sie noch mehr Geld von uns kriegt, aber die soll sich noch wundern!« »Pst«, warnte Ben, »nicht so laut. Schläft sie?« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Haus. »Klar. Wenn du auf die andere Seite gehst und dir Mühe gibst, kannst du sie schnarchen hören.« »Und wir haben den ganzen Abwasch machen müssen«, sagte Peggy empört. »Immer hat sie etwas für uns zu tun.« Lissy seufzte. »Wir helfen ja gern, aber die nutzt uns aus.« »Wenn sie wenigstens genügend kochen würde und nicht immer alles mit nichts drin«, jammerte Peggy und drehte verzweifelt ihre Haare. »Ja, sie ist geizig«, sagte Ben. »Dafür ist sie bekannt wie ein bunter Hund, aber das konnten eure Eltern natürlich nicht ahnen.« Er setzte sich neben Lissy auf die Stufen und murmelte: »Wenn ich euch nur helfen könnte, wenn ich nur einen Ausweg wüsste!« Alle schwiegen, und Chris starrte von neuem den Weg 13
hinunter, auf dem der Briefträger verschwunden war. »Ich bleibe nicht hier«, wiederholte er düster, »ich bleibe nicht hier und wenn ich unter freiem Himmel kampieren müsste! Ha, das ist eine Idee! Ein Zelt müsste man haben! Kaufen könnten wir uns eins«, überlegte er und runzelte die Stirn. »Wir haben ja unser ganzes Taschengeld gespart, hatten ja nie Gelegenheit, etwas auszugeben. Noch nicht einmal nach Poltelly hat sie uns fahren lassen, nicht ein einziges Eis haben wir in der ganzen Zeit gegessen, und das bei dieser Hitze! Einem die Ferien so zu vermiesen! Jawohl, ein Zelt müsste man haben!« Lissy kicherte. »Du hast ja einen Vogel. Wo willst du es denn aufschlagen? Auf dem Hof vielleicht? Oder auf der Landstraße? Oder auf den Wiesen? Irgendwo, wo sie uns gleich erwischen?« »Blödsinn«, murmelte Chris, »Blödsinn. Höchstens auf einer einsamen Insel natürlich.« »Und die zaubern wir einfach hierher«, sagte Lissy und kicherte wieder. »Wenn das ginge!« Peggy seufzte. Ben strich eine Strähne seines blonden Haares zurück und sah einen nach dem anderen an. »Warum nicht?«, sagte er langsam. »Soll ich’s mal versuchen? Soll ich einfach mal sagen: ›Hokuspokusfidibus!‹?« »Jetzt ist er übergeschnappt!«, sagte Chris. »Na ja, wir hätten uns auch nicht gerade in die pralle Sonne setzen sollen.« 14
Ben grinste und dann flüsterte er: »Los, wir gehen in die Scheune, da kann uns keiner hören.« Die drei starrten ihn an. »Was hast du denn nur?«, fragte Chris erstaunt, aber als Ben den Finger an den Mund legte und ihn beim Arm nahm, sprang er auf. Sie gingen alle über den gepflasterten Hof, der still und verlassen in der Mittagssonne lag, und Ben schob das Tor der großen Scheune zur Seite. Er ließ die anderen an sich vorüber und zog es wieder hinter sich zu. Einen Augenblick blieben sie stehen, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. »Los«, flüsterte er, »wir setzen uns da drüben auf die Futterkiste.« Vorsichtig stiegen sie über Geräte und Säcke und schwangen sich auf die Truhe, die neben einem riesigen Heuhaufen an der Wand stand. Alle sahen ihn erwartungsvoll an und er begann leise: »Meinst du das wirklich ernst, Chris, dass du von hier weg willst?« Chris nickte. »Mein voller Ernst. Ich habe es einfach satt, ich habe die Nase voll, und ewig können wir schließlich auch nicht warten, bis Tante Hanna schreibt. Vielleicht hat sie unseren Brief gar nicht bekommen. – Warum fragst du? Nun mach’s nur nicht so spannend.« »Ich wüsste etwas«, flüsterte Ben, »ein großartiges Versteck. Und ich könnte mit euch kommen, denn Großvater 15
fährt übermorgen zu seiner Schwester, und wenn ich ihn bitte, darf ich bestimmt hier bleiben. Das habe ich schon öfter getan.« »Ein Versteck?«, staunte Peggy. »Wo denn?«, fragte Lissy. »Los, erzähl schon!«, schrie Chris. »Pst, nicht so laut, du jagst uns noch die Grimm auf den Hals«, zischte Ben. »Mich darf sie auf keinen Fall hier sehen, ihr wisst ja, dass sie wütend wird, wenn ich mit euch zusammen bin.« Chris runzelte die Stirn. »Klar will sie das nicht, und ich weiß auch, warum. Sie will nicht, dass wir anderen erzählen, wie schlecht wir es bei ihr haben.« »Ja«, sagte Peggy, »und dass wir nicht genug zu essen bekommen.« »Also wenn ihr wirklich wollt, hat das bald ein Ende. Kommt näher heran, damit ich nicht so laut sprechen muss!«
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II Ben kann wirklich zaubern
In diesem Augenblick hörten sie Männerstimmen und schwere Schritte auf dem Hof, die sich langsam der Scheune zu nähern schienen. »Hinter die Truhe«, flüsterte Ben. »Los, fass an, Chris!« Mit vereinten Kräften zogen sie sie ein Stück von der Wand und waren alle gleich darauf dahinter verschwunden. »Die wollen aufs Feld«, flüsterte Chris. »Hoffentlich treiben sie sich vorher nicht zu lange hier herum.« »Pst«, machte Ben. Die Tür wurde geöffnet, jemand stapfte herein und kam näher und näher. Die vier hielten den Atem an. Wenn sie nun entdeckt wurden! »Wo ist das Ding nur?«, hörten sie eine tiefe Stimme. »Ach, da drüben.« Die Schritte entfernten sich, ein metallenes Geräusch kam vom anderen Ende der Scheune, dann ein zufriedenes Brummen, und einen Augenblick später wurde die Tür wieder geschlossen. »Wartet«, flüsterte Ben, »vielleicht kommt er noch einmal 17
wieder.« Von neuem hörten sie Stimmen und dann die Räder eines schweren Leiterwagens auf dem Pflaster und dann war es still. »Puh«, machte Lissy. »Bin ich erschrocken!«, stöhnte Peggy und Chris meinte: »Gut, dass es nicht die Grimm war, die die Hühner füttern wollte, dann hätten wir gleich einpacken können. Also, nun schieß los!« Und gleich darauf hockten sie wieder auf der Kiste, hörten atemlos zu, und Peggy bearbeitete unbarmherzig ihre Haare. »Ihr wart doch schon einmal am See, oder?«, fragte Ben leise. »Ja«, Chris nickte, »ja, ganz am Anfang mit Vater und Mutter. Es ist toll dort, und wir wollten so gern ein Boot mieten und rudern, aber es gab keins.« Ben lachte. »Woher denn auch, bei den wenigen Höfen in dieser Gegend, und außerdem liegen sie alle so weit vom See entfernt, wer sollte sich da schon ein Boot anschaffen? Aber ich weiß trotzdem von einem«, fügte er noch leiser hinzu, »ganz versteckt unter Weiden und Gebüsch. Und nun haltet euch fest: Das Boot gehört mir!« »Dir? Wirklich dir?« »Ja«, sagte er stolz, »ich habe den halb verrotteten Kahn, der niemandem gehörte, wieder flottgemacht, sozusagen seetüchtig, mit ein paar neuen Planken und ein bisschen Teer. Und nun passt auf, mit diesem Dampfer müssen wir 18
nämlich in das Versteck, von dem ich euch erzählte.« »Wieso?«, fragte Lissy. »Liegt es am gegenüberliegenden Ufer?« »Nein«, flüsterte er, »es ist eine kleine Insel im See. Gar nicht weit von hier und gar nicht sehr weit draußen. Einem Fremden würde sie vielleicht überhaupt nicht auffallen. Wald gibt’s massenweise, und auf den ersten Blick könnte man denken, dass sie nur eine Ausbuchtung ist, die ins Wasser hineinragt.« »Eine Insel!«, schrie Chris. »Donnerwetter!« Und die Mädchen staunten. »Eine richtige, eine echte Insel?« »Eine einsame.« Ben nickte und grinste. »Ihr wolltet ja nicht glauben, dass ich zaubern kann.« »Toll«, sagte Chris, »toll! Aber die Leute, die hier wohnen, werden sie doch auch kennen?« »Sicher, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund hält sich nie ein Mensch dort auf. Jedenfalls habe ich noch niemals jemanden hinüberrudern sehen oder dort getroffen.« »Vielleicht spukt es da?«, meinte Peggy mit großen Augen. »Quatsch«, sagte Chris, »fang bloß nicht mit solchem Unsinn an.« »Spuken tut’s nicht«, beruhigte Ben seine Freunde, und dann beschrieb er seine Insel genau und malte den dreien aus, wie herrlich sie dort zusammen wohnen würden. »Prima«, sagte Chris, »jetzt werden es doch noch richtige 19
Ferien!« Lissy strahlte und sagte: »Gut, dass wir dich getroffen haben!« »Können wir nicht heute schon hin?«, fragte Peggy. »Nein«, Ben lachte, »natürlich nicht. Wir müssen uns doch erst genau überlegen, was wir alles brauchen.« »Natürlich«, sagte Chris, »und dann müssen wir erst noch nach Poltelly fahren und einkaufen.« »Ja, vor allen Dingen Schokolade!« Peggy kaute aufgeregt an ihren Haaren. »Du, die sind aber nicht aus Schokolade«, sagte Ben und grinste. Die Kinder lachten; es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie wieder fröhlich waren. »Aber wie kommen wir überhaupt hier weg?«, fragte Lissy plötzlich. »Die Alte wird es doch nie erlauben.« »Wir müssen eben einen triftigen Grund haben«, sagte Peggy eifrig. »Triftigen«, verbesserte Lissy sie und kicherte. »Ist doch egal«, sagte Chris ungeduldig, »sie hat ja Recht, wir müssen uns irgendetwas ausdenken.« »Ich kann ja sagen, dass ich zum Zahnarzt muss«, rief Peggy, »vielleicht …« »Vielleicht, weil dir ein Zahn herausgefallen ist, als sie dir die Ohrfeige gab«, unterbrach Chris sie lachend. »Sagt doch einfach, ihr wolltet euch nun endlich einmal Poltelly ansehen«, schlug Ben vor. »Sagt doch einfach, eure 20
Eltern hätten euch schon ein paar Mal im Brief gefragt, ob ihr da wart. Und wenn ihr euch nicht einschüchtern lasst, kann sie gar nichts machen.« »Also gut.« Chris nickte. »Was anderes fällt mir sowieso nicht ein.« Und dann verabredeten sie, dass sie gleich am nächsten Tag mit dem Omnibus um halb drei fahren wollten und dass Ben sie an der Haltestelle erwarten sollte. Und weil sie befürchteten, dass Mrs. Grimm sie nicht alleine fahren lassen würde, mussten sie sich eine List ausdenken, um sie einfach abzuhängen, wie Ben so schön sagte. Nach langem Hin und Her und nach den verwegensten und unmöglichsten Vorschlägen wurde der von Lissy endlich angenommen. Sie wollten die Uhr in der Diele eine Viertelstunde zurückstellen und dann vorauslaufen, selbst wenn Mrs. Grimm darüber ärgerlich sein würde. Sie würden den Bus gerade noch erreichen, aber Mrs. Grimm auf keinen Fall. »Prima.« Chris klopfte Lissy begeistert auf die Schulter. »So dick, wie sie ist, wird ihr bei der Hetzerei schnell die Puste ausgehen.« »Au!«, schrie Lissy und lächelte verlegen. »Gut«, sagte Ben, »so machen wir’s. Und jetzt müssen wir alles aufschreiben, was wir brauchen. Wartet mal, ich glaube, ich habe einen Bleistift hier und vielleicht auch ein Stückchen Papier. Also, als Erstes müssen wir ein Zelt für euch haben. Am besten ist es natürlich, wenn wir ein gebrauchtes kaufen könnten, das ist viel billiger. 21
Vielleicht haben wir Glück.« »Decken sind vorhanden«, sagte Chris. »Und einen Topf und eine Bratpfanne muss ich haben«, verkündete Lissy. »Und viele Konserven, Fleisch und Gemüse«, sagte Peggy »So viel gibt’s ja gar nicht, wie du in dich hineinstopfen kannst«, sagte Chris und lachte. »Mit frischen Fischen kann ich uns jeden Tag versorgen, ich nehme meine Angel mit«, erklärte Ben. »Fischen ist nämlich meine Leidenschaft und gespickter Hecht meine Spezialität.« Peggy verdrehte verzückt die Augen. »Sei still, sei still, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Wenn wir nur erst auf der Insel wären und gespickten Hecht hätten.« »Und das sage ich euch«, Lissy lehnte sich gegen die warme braune Holzwand und starrte mit seligem Lächeln zur dunklen Decke hinauf, »das sage ich euch, morgen machen wir uns einen schönen Nachmittag. Wir essen Eis und Torte und trinken Kakao mit viel Schlagsahne drauf.« Peggy nickte und schluckte. Sagen konnte sie im Augenblick nichts. Währenddessen hatte Ben eifrig weitergeschrieben. »So«, sagte er endlich, »ich glaube, ich habe jetzt alles. Hoffentlich kann man das Gekritzel nachher überhaupt noch entziffern. Aber es ist auch wirklich eine ägyptische Finsternis hier. Und nun lese ich noch einmal alles vor. Wenn euch noch etwas einfällt, müsst ihr schreien.« 22
Die drei staunten über die endlos lange Liste. Tatsächlich, Ben hatte an alles gedacht. Ihnen fiel nichts mehr ein. Aber dann rief Peggy plötzlich: »Streichhölzer, Streichhölzer müssen wir haben! Die hast du vergessen!« »Wahrhaftig!« Ben grinste. »An die Hauptsache habe ich nicht gedacht. Die müssen her, sogar eine ganze Menge. Ohne Streichhölzer kein Feuer und ohne Feuer kein Mittagessen. Ein dreifaches Hoch auf Peggy!« Doch ehe sie dazu kamen, hörten sie plötzlich eine laute, ärgerliche Stimme. »Chris, Lissy, Peggy!« »Da haben wir’s«, murmelte Ben, »die Grimm hat ihren Schlummer beendet. Am besten, wir verschwinden durch die andere Tür, dann merkt sie nicht, woher ihr kommt, und ich kann mich heimlich aus dem Staub machen.« »Ja, wenn sie sieht, dass wir in der Scheune waren, denkt sie vielleicht, wir haben von ihren kostbaren Runkelrüben genascht.« Chris grinste und die Mädchen kicherten. Sie rutschten von der Truhe und liefen hinaus. »Also, morgen um halb drei an der Bushaltestelle«, sagte Ben leise und war gleich darauf verschwunden.
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III Mrs. Grimm geht die Puste aus
An diesem Abend konnte keines der Kinder einschlafen, so aufgeregt waren sie. Mit weit geöffneten Augen lagen sie in der Dunkelheit, lauschten dem Rauschen des Windes in den Bäumen und dachten an nichts anderes als an die Insel im See und daran, dass sie nun alle bald dort sein würden. »Bist du noch wach?«, flüsterte Peggy endlich. »Ja«, flüsterte Lissy zurück, »ich bin zwar todmüde, aber ich kann und kann nicht einschlafen.« »Ich auch nicht. Ben ist nett, nicht wahr? Fein, dass wir ihn getroffen haben.« »Ja, fein. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, bis wir auf der Insel sind, und …« »He«, rief Chris leise aus dem Nebenzimmer, »ihr schwatzt und schwatzt, euch lässt unser Abenteuer wohl auch keine Ruhe? Habt ihr schon mal daran gedacht, was die Grimm für Augen macht, wenn wir verschwunden sind? Bauklötze wird die staunen!« »Ob wir einen Brief an sie schreiben müssen?«, fragte 24
Peggy. »Am besten mit unserer genauen Adresse, was? Kommt nicht in Frage!« »Pst«, machte Lissy, »schrei nicht so, sonst wacht sie noch auf und …« »… und besucht uns ein bisschen, wie?« Chris lachte. »Na, gute Nacht, mir fallen die Augen schon zu. Es ist bestimmt gleich zwölf, wir müssen unbedingt schlafen, sonst können wir morgen früh überhaupt nicht aufstehen.« »Gute Nacht«, murmelte Lissy. »Gute Nacht.« Peggy gähnte. Eine Weile dauerte es noch, doch dann schliefen sie endlich alle drei tief und fest. Am anderen Morgen zeigte es sich, dass Chris Recht behielt. Mrs. Grimm hatte keineswegs die Absicht, die Kinder allein nach Poltelly fahren zu lassen. Nicht, dass sie ängstlicher Natur war, o nein! Außerdem hatten Mr. und Mrs. Arnold den dreien erlaubt, einmal einen Nachmittag dort zu verbringen. Sie war in diesem Falle also jeder Verantwortung enthoben. Doch alle Versuche der drei, sie daran zu hindern mitzukommen, scheiterten. »Man weiß ja, warum«, murmelte Chris, als er sich vor dem Spiegel das widerspenstige Haar bürstete. »Sie hat Angst, dass wir mit irgendjemandem über sie reden.« »Ist doch egal«, sagte Lissy, »wir hängen sie ja sowieso ab. Ich wundere mich nur, dass sie es überhaupt erlaubt hat.« »Wenn wir nur erst im Bus säßen«, jammerte Peggy. »Ich 25
kann gar nicht so schnell laufen.« »Wird schon klappen«, beruhigte Chris sie, »wir schleifen dich einfach hinterher.« Diese Aussicht schien nicht sehr tröstlich, denn Peggy kaute noch aufgeregter an einer ihrer Haarsträhnen. »Ich glaube, es ist so weit«, sagte Chris und legte die Bürste zur Seite. »Wir müssen runter.« Sie schlichen in die Diele, um die Uhr eine Viertelstunde zurückzustellen, denn Mrs. Grimm würde wohl bald ihren Mittagsschlaf beendet haben. »Wie ein Mensch so viel pennen kann, ist mir schleierhaft«, brummte Chris, während er auf einen Stuhl stieg. Er drehte den großen Zeiger ein Stückchen, grinste zufrieden und sagte: »So, nun kann sie kommen.« »Ich bin so aufgeregt«, jammerte Peggy wieder, »hoffentlich kriegen wir den Bus überhaupt. Wir dürfen ja erst im letzten Augenblick hinkommen, damit die Alte ihn auf keinen Fall mehr schafft.« Chris klopfte ihr auf die Schulter. »Du bist und bleibst ein Angsthase. Ich weiß genau, wie lange wir bis zur Haltestelle brauchen.« Sie gingen durch die Küchentür hinaus, in den Blumengarten und um das Haus herum, um dort auf Mrs. Grimm zu warten. »Ich wollte, sie würde verschlafen«, sagte Peggy, »dann hätten wir diese eklige Hetzerei nicht.« »Sei still, sie kommt! Hört ihr, wie die Treppe unter ihrem 26
Gewicht ächzt und stöhnt?«, meinte Chris. »Ich verstehe wirklich nicht, wie sie bei dieser kümmerlichen Ernährung so dick werden kann.« »Sie isst heimlich«, flüsterte Lissy. »Ich habe ganz vergessen, es euch zu erzählen. Heute nach dem Frühstück habe ich sie dabei erwischt, weißt du, als sie uns zum Fegen auf den Hof geschickt hatte. Ich war durstig und wollte ein Glas Wasser trinken und da saß sie am Tisch und aß Schinkenbrot mit fingerdicken Scheiben herrlichsten Schinken.« »So eine Gemeinheit!«, empörte sich Chris. »So eine Gemeinheit! Na warte, der tut ein kleiner Dauerlauf ganz gut, der gönn ich’s, wenn sie hinter dem Bus herrennen muss. Ha, da ist sie!« Eine pompöse Erscheinung zeigte sich in der Haustür. Ja, Mrs. Grimm war eine übermäßig große und übermäßig dicke Person mit rotem Gesicht und kleinen Augen. Ihre grauen Haare hatte sie unter einem riesigen Hut versteckt, auf dessen Rand ein wahrer Blumengarten blühte, wie Chris flüsternd voller Bewunderung feststellte. »Was sollen diese Albernheiten?«, sagte Mrs. Grimm ungehalten. »Geht, nein, wartet. Was ich noch sagen wollte, die Sache mit der Konditorei schlagt euch nur gleich aus dem Kopf, dazu ist keine Zeit mehr. Ich bin heute Abend eingeladen und deshalb müssen wir mit dem nächsten Bus, eine halbe Stunde später, zurückfahren.« Die Mädchen kicherten und Chris verzichtete auf eine Widerrede. Langsam gingen sie über den Hof, durch das 27
große Tor und dann den von blühenden Hecken gesäumten Feldweg entlang bis zur Landstraße, auf der in etwa hundert Metern Entfernung die Haltestelle lag. Chris sah verstohlen auf seine Uhr. »So, jetzt müssen wir losspurten«, flüsterte er. »Wir laufen schon voraus«, rief er Mrs. Grimm zu, die schwitzend in der Mittagshitze hinter ihnen herwalzte, »sonst bekommen wir keine Fensterplätze mehr!« »Unsinn«, ächzte sie, »Unsinn, wir haben genug Zeit, die Uhr in der Diele zeigte erst zwei. Es ist also kein Grund zur Eile vorhanden.« »Denkste«, murmelte Chris und setzte sich in Trab, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Sie jagten um die Ecke auf die Landstraße und sahen den Omnibus schon stehen, und daneben erkannten sie Ben, der ihnen zuwinkte. Mit Höchstgeschwindigkeit rasten sie die Straße hinunter, Peggy an den Händen haltend und erbarmungslos mit sich schleifend. »Ich kann nicht mehr«, stöhnte sie, »ich kann nicht mehr.« »Wir sind ja gleich da«, keuchte Chris, »los, schnell, es sind ja nur noch ein paar Schritte.« »Der Fahrer hat auf euch gewartet«, sagte Ben und schob Peggy eine Sekunde später die Stufen hoch. Aufatmend ließen sie sich auf die Sitze fallen und der Mann am Steuer drehte sich freundlich grinsend um. 28
»Na, das habt ihr ja gerade noch geschafft«, sagte er, legte den Gang ein und gab Gas. In diesem Augenblick entdeckte er weit hinten Mrs. Grimm, die anscheinend begriffen hatte, dass Eile Not tat. Wie eine Fregatte segelte sie heran, die Arme wie Windmühlenflügel schwingend. Die Kinder verbissen sich das Lachen und Chris flüsterte: »Ob die Blumenpracht auf ihrem Hut hält? Ich wette, ein paar von den Dingern werden im Fahrtwind geknickt. Oh, es wird lustig, ich freue mich schon darauf.« Der Fahrer hob bedauernd die Schultern. »Ich muss die Zeit einhalten. Ist das eure Mutter?«, wandte er sich an die drei. »Behüte«, beeilte sich Chris zu versichern, »die nicht! Sie können ruhig weiterfahren.« Der Mann kniff ein Auge zu und schien sich sein Teil zu denken. Und in vollem Tempo fuhr der Bus davon. Die Kinder stießen sich an und lachten erleichtert. Sie hatten die Fenster aufgeklappt und ab und zu wehte der Duft der blühenden Hecken zu ihnen herüber. Sie fuhren an Feldern und Wiesen vorbei und an vereinzelten Höfen. Und dann wurden die Häuser am Straßenrand zahlreicher, rückten allmählich näher zusammen, und schließlich hielten sie, und der Mann am Steuer rief: »Poltelly, Marktplatz, Endstation, alles aussteigen!« Sie waren am Ziel. Einen Augenblick später standen sie unschlüssig in der Sonne auf dem Platz und plötzlich sagte Peggy mit kum29
mervoller Miene: »Wo hier wohl die nächste Konditorei ist? Ich habe einen riesigen Hunger.«
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IV Torte, Eis und Schlagsahne
Da kam Leben in die vier, alle lachten und sahen sich suchend um. »Eigentlich müsste es hier am Marktplatz doch so etwas geben«, sagte Chris. »Das ist doch in kleinen Städten meistens so.« »Da drüben«, rief Lissy, »seht mal, das sieht nach einer Konditorei aus!« »Also gehen wir und überzeugen wir uns«, entschied Chris. »Stärken müssen wir uns auf alle Fälle, wir werden ganz schön zu schleppen haben.« »Ja, und nach dem Einkaufen haben wir bestimmt noch mal eine Stärkung nötig«, sagte Peggy hoffnungsvoll. »Besonders du«, meinte Ben und grinste. Sie liefen quer über den Platz und drängten und schoben sich zwischen den vielen Menschen hindurch, und dann sahen sie durch die große Schaufensterscheibe, auf der das verheißungsvolle Wort »Café« prangte. »Seht mal den riesigen Baumkuchen«, sagte Peggy und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. »Und rechts und links die Bienenkörbe aus Makronenrin31
gen mit den kleinen Marzipanbienen daran, hübsch, nicht?« »Was heißt hier hübsch«, entgegnete Chris, »Hauptsache, das Zeug schmeckt.« »Die drei Torten davor sind auch nicht schlecht«, sagte Ben. »Sieht alles sehr verlockend aus.« »Redet nicht so viel, kommt lieber rein«, drängte Chris, »diesen Anblick kann ich nicht länger ertragen.« Einer hinter dem anderen stiegen sie die Stufen hinauf und betraten den Laden. Eine kleine, rundliche Frau stand hinter der Theke, auf der noch mehr Herrlichkeiten ausgebreitet waren. »Na, was darf’s denn sein?«, fragte sie freundlich, als die vier zögernd näher kamen. »Wir wollten gern Kakao und Schlagsahne und Torte«, sagte Peggy eilig und übermäßig laut. »So«, die Frau lachte, »na, dann geht nur dort hinein und vorher sucht ihr euch gleich etwas aus.« »Am besten, wir nehmen jeder erst einmal drei Stück«, überlegte Chris stirnrunzelnd. Die Frau lachte wieder. »Verderbt euch nur nicht den Magen.« Dieser Ausspruch veranlasste Lissy, ihr einen mitleidigen Blick zuzuwerfen, und Chris murmelte: »Nur keine Sorge, so ein bisschen Kuchen haut uns nicht um.« Und dann saßen sie an einem runden Marmortischchen und ließen es sich schmecken. »Hübsch ist es hier«, sagte Lissy zwischen zwei Bissen. 32
»Hübsch? Hier ist es wie im Himmel.« Peggy vergaß ihre gute Erziehung und brachte diesen bemerkenswerten Satz hervor, während sie mit vollen Backen kaute. Die anderen verstanden sie trotzdem und Ben zog sie an ihren Haaren. »Und du bist wohl ein Engelchen in diesem schönen Himmel und wirst gleich über die Tische brausen, was?« Peggy war viel zu sehr mit den Herrlichkeiten auf ihrem Teller beschäftigt und so warf sie ihm nur einen kurzen Blick zu. Selbst Chris’ Grinsen und Lissys Kichern konnten sie nicht aus der Ruhe bringen. Sie hatten tatsächlich des Guten ein wenig zu viel getan mit ihrer umfangreichen Bestellung, aber mit großer Ausdauer arbeiteten sie sich durch den guten, süßen Kuchenberg. Die nette Frau, die eine Weile bei ihnen stand und sich mit ihnen unterhielt, gab ihnen noch den Rat, ihre Einkäufe in Mary Thompsons Kaufhaus zu machen, denn dort gäbe es so ziemlich alles. Sie fanden es schnell, denn es lag an der Hauptstraße, doch es war kein richtiges Kaufhaus, sondern nur ein riesiger, dämmriger Laden. Aber zu ihrer Befriedigung stellten sie nach einem kurzen Blick fest, dass sie wahrscheinlich alles hier bekommen würden, was sie brauchten. »Das spart uns viel Lauferei und Schlepperei«, sagte Ben. Noch immer sahen sie sich voller Bewunderung um. In den hohen Regalen an den Wänden standen Töpfe, Schüsseln, Teller, Krüge 33
und Tassen und Konserven jeder Art. Über ihnen von der niedrigen Decke herab baumelten Pfannen und Bürsten, Fischernetze, Würste und Schinken und in der Mitte eine Hängematte, in der Wäscheleinen lagen. Langsam schwang sie hin und her, als Chris ihr einen kleinen Stoß gab. »So ’n Ding wäre prima«, sagte er. »Zu teuer.« Ben winkte ab und ging zum Ladentisch, auf dem Gläser mit bunten Bonbons, Heringen und Gurken standen. Und hinter ihnen tauchte jetzt eine kleine alte Frau auf, die aus einem dämmrigen Gang herangeschlurft gekommen war. »Hähä«, kicherte sie, »gleich vier auf einmal? Wollt wohl Bonbons haben oder Eis, was? Oder habt ihr gar noch andere Wünsche, hähähä?« »Das auch«, sagte Ben, »aber zuerst einmal dies hier.« Er gab ihr die Liste und die Alte griff nach ihrer Brille und murmelte: »Mal sehn, mal sehn. So, so, ein Zelt auch?«, murmelte sie und sah ihn über den Brillenrand hinweg an. »Wollt wohl einen kleinen Ausflug machen, wie? Da habt ihr Glück«, fuhr sie fort, »da hätt ich eins, von Millers Jimmy von nebenan, der will seins verkaufen. Ist noch gut erhalten, hähä, da in der Ecke liegt es, hähä.« »Das da?«, staunte Peggy und betrachtete das zusammengerollte Bündel misstrauisch. »Das soll ein Zelt sein?« »Klar«, sagte Chris, »lass es uns nur erst aufgeschlagen haben, dann wirst du es schon sehen.« »Gut«, entschied Ben nach ein paar sachkundigen Fragen, 34
die die Alte unter fortwährendem Kichern beantwortete, »gut, das nehmen wir!« Die alte Frau nickte. »Ist auch billiger als ein neues und, wie gesagt, hähä, noch gut erhalten.« Und dann begann sie geschäftig hin und her zu laufen und aus den verschiedenen Regalen, Schüben und Kästen die Dinge herbeizuholen, die auf der Liste standen. »Soll wohl ein langer Ausflug werden, wie?«, kicherte sie. Am Ende türmten sich die Einkäufe der Kinder auf dem Ladentisch und Lissy fragte ratlos: »Wie sollen wir das ganze Zeug nur fortschaffen?« »Hähä, hähä, ich verpacke alles in vier Kartons, in vier schöne große Kartons«, sagte die Alte bereitwillig. »Lasst mich nur machen, hähä.« Und nachdem jeder noch ein Eis bekommen hatte, »als Zugabe, sozusagen«, kicherte die Alte, wurde es höchste Zeit, sich mit den wohl verschnürten Paketen auf den Weg zur Autobushaltestelle zu begeben. »Beehrt mich bald wieder, beehrt Mary Thompson bald wieder, hähä«, kicherte sie und schloss die Tür hinter ihnen, wobei ein paar metallene Glöckchen aneinander schlugen. Und nun gingen die vier zurück zum Omnibus, voll bepackt und guter Laune.
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V Ein Boot wartet auf dem See
Sie hatten Glück, der Omnibus war beinahe leer. Bis auf einen Bauern und zwei alte Frauen saß niemand darin und die Kinder fanden genügend Platz für ihre Pakete. »Gut, dass wir alles unter Dach und Fach haben«, sagte Lissy. »Seht mal, die Wolkenwand dahinten, es gibt bestimmt ein Gewitter.« »Ein Gewitter?«, jammerte Peggy. »Vor Gewittern fürchte ich mich furchtbar!« »Quatsch«, sagte Chris, »wir fahren einfach immer unter den Blitzen durch.« Und Ben tröstete sie: »Wenn es einschlägt, dann höchstens in die hohen Bäume am Wegrand.« Langsam stieg die Wolkenwand höher und höher, es wurde dunkler und dunkler, und bald schlugen die ersten schweren Tropfen auf das Dach des Busses und verstärkten sich schnell zu einem wahren Trommelwirbel. »Sauwetter«, brummte der Fahrer und schaltete die Scheinwerfer ein. 36
Blitze zuckten, der Donner rollte und Peggy hielt die Augen fest geschlossen und drehte eine Haarsträhne, bis sie steif und fest wie ein Tauende war. Die breiten Lichtkegel fielen auf die vor Nässe glänzende Straße und zu beiden Seiten huschten die Schatten der Baume hinter dem dichten Vorhang des herniederströmenden Regens vorüber. Die Kinder starrten stumm in das Unwetter. »Da«, sagte Chris plötzlich. Und die übrigen, die seinem Blick folgten, sahen eine Sekunde lang im grellen Licht eines Blitzes zwei Männergestalten mit tropfenden Hüten, den Mantelkragen hochgeschlagen, auf dem Weg auftauchen und gleich darauf im Grau des Regens zurückbleiben. »Na, ich danke«, brummte der Fahrer und schüttelte den Kopf. »Auch kein Vergnügen bei dem Wetter.« »Es wird schon heller«, sagte Ben nach einer Weile. »Ich glaube, wir haben das Gewitter hinter uns gelassen. Hoffentlich hat es aufgehört zu regnen, wenn wir aussteigen müssen.« Wieder hatten sie Glück. Kein Tropfen fiel mehr vom Himmel, als sie endlich mit Sack und Pack am Straßenrand standen und dem davonfahrenden Bus nachsahen. »Zuerst müssen wir die Pakete alle noch bis zum Waldrand bringen«, überlegte Ben. »Dann könnt ihr nach Hause laufen, und ich trage sie, immer zwei auf einmal, ans Ufer, verstaue sie gleich im Boot und warte auf euch.« Lissy nickte. Und gleich darauf folgten sie ihm zum nahen 37
Wald, der sich bis zum See hinunterzog. Der Himmel war noch immer bewölkt, und es fing schon an zu dämmern, als sie den Heckenweg entlang auf das Haus zuliefen. Über dem Städtchen wetterleuchtete es noch hin und wieder. »Hoffentlich ist die Alte wirklich nicht da«, sagte Lissy plötzlich. »Hoffentlich hat sie nicht geschwindelt, als sie sagte, sie sei heute Abend eingeladen. Vielleicht hat sie sich das nur ausgedacht, weil sie nicht mit uns in die Konditorei gehen wollte.« »Ach wo«, beruhigte Chris sie, »so viel Phantasie hat die gar nicht.« Trotzdem schlichen sie, sich möglichst im Schatten der Scheunen haltend, über den Hof. Das Haus lag im Dunkeln, kein Fenster war erleuchtet. Nein, es war niemand da und die Tür abgeschlossen. »Was nun?«, fragte Lissy erschrocken. Chris grinste und zog einen Schlüssel aus der Hosentasche. »Daran hättet ihr natürlich nie gedacht, was?«, sagte er und schloss auf. »Los, wir müssen uns beeilen«, flüsterte Lissy. »Wer weiß, wann die zurückkommt.« Sie liefen die Treppe hinauf in ihr Zimmer und begannen hastig ihre Sachen in die Koffer zu werfen, die sie vom Schrank heruntergeholt hatten. »Hoffentlich kriegen wir die Dinger nachher zu«, murmelte Chris. »Peggy, du nimmst das Kofferradio«, bestimmte Lissy. 38
»Dass wir das bloß nicht stehen lassen. Ach, die Taschenlampen! Hol sie aus der Kommodenschublade!« »Gut, dass du daran gedacht hast«, sagte Chris. »Die hätte ich glatt vergessen.« Endlich hatten sie alles beisammen und sahen sich noch einmal um. »Nichts liegen geblieben«, stellte Lissy befriedigt fest. Und dann schlichen sie, jeder noch eine zusammengerollte Decke unter dem Arm, die Treppe wieder hinunter und weiter durch die Diele bis zur Haustür. »So«, sagte Chris, nachdem er abgeschlossen hatte, »das wäre erledigt. Ha, das Gesicht von der Alten möchte ich sehen, wenn sie uns nicht mehr vorfindet. Ein Glück, dass Vater und Mutter keine Adresse hinterlassen haben, sonst hätten wir das gar nicht machen können. Ängstigen sollen sie sich schließlich nicht um uns.« Sie liefen über den Hof davon Und den Heckenweg entlang. »Prima, dass wir unser Radio haben«, begann er wieder. »Wir müssen immer Nachrichten hören, damit wir erfahren, wenn sie wieder landen. Dann holen wir sie vom Bahnhof ab und Vater kann der Alten ordentlich die Meinung sagen.« »Klar«, sagten die Mädchen, während sie nun durch die Wiesen bis zum Wald liefen, der sich schwarz gegen den kaum mehr erhellten Himmel abhob. Und einen Augenblick später schrie Peggy auf, denn Ben 39
trat ganz plötzlich aus dem Schatten des dichten Gebüsches, neben dem er sie schon erwartet hatte. »Bin ich erschrocken«, jammerte sie. 40
Ben lachte. »Dachtest wohl, es wäre Mrs. Grimm, was?« Er nahm ihr das Radio und Lissy den Koffer ab. »Na, hat alles geklappt? War sie weg?« »Klar, war alles ganz einfach«, sagte Chris. »Oh, Ben, bin ich gespannt auf deine Insel.« »Na, dann los«, sagte der, »kommt.« Sie liefen durch den schon dunklen Wald und manchmal fuhr ein Windstoß durch die Bäume und trieb ihnen einen feinen Sprühregen ins Gesicht. »Es ist nicht mehr weit«, sagte er nach einem Blick in Peggys ängstliches Gesicht, und gleich darauf führte er sie ein Stück am Ufer entlang bis zu dem Platz, an dem Weiden und Gebüsch tief über das Wasser hingen. Und dort, in seinem Versteck, schaukelte das Boot, ein ziemlich großer, schwarz geteerter Kahn. »In das Ding kann man alles stopfen, wir brauchen nur einmal zu fahren«, sagte er stolz. Innerhalb weniger Minuten waren die Koffer neben den Paketen darin untergebracht und Ben machte die Leine los und sprang als Letzter hinein. Er und Chris nahmen jeder einen Riemen und mit ein paar kräftigen Schlägen glitten sie schnell ins tiefere Wasser hinein. Es war ein gutes Stück bis zur Landestelle, denn sie mussten um die ganze Insel herumrudern. Sie war dicht bewaldet und stieg ziemlich steil an. Die Mädchen saßen regungslos und starrten unablässig auf ihr Ziel, dem sie sich nun schnell näherten. 41
Und endlich dirigierte Ben das Boot in eine winzige Bucht, hinter Weiden versteckt, in die es nun langsam hineinglitt. »Endstation, alles aussteigen!« Lachend sprangen die drei ans Ufer, und Chris hockte sich auf seinen Koffer, stützte das Kinn in beide Hände und sah träumerisch über den See. »Hätt ich nie gedacht, dass wir mal so was erleben«, murmelte er. »Am liebsten möchte ich die Gegend gleich ein bisschen unter die Lupe nehmen.« »Das könnte dir so passen«, entgegnete Ben, »damit kannst du auch bis morgen warten. Und nun bitte keine Müdigkeit vorschützen, es ist bald stockfinster, und wir müssen ausladen und das Zelt aufschlagen. Los, los, nicht so lahm.« Sie suchten einen geeigneten Platz für das Zelt, nicht weit vom Ufer entfernt, und es dauerte eine gute Stunde, bis sie die Arbeit beendet hatten. Die Taschenlampen wagten sie nicht zu benutzen, weil sie fürchteten, man könne ihren Schein vom Land aus sehen. Erst als sie müde und erschöpft in ihrer neuen Behausung saßen, knipsten sie die Lampen an und aßen Abendbrot. »Wunderbar!«, seufzte Lissy und sah von einem zum anderen. »Wunderbar! So gemütlich hab ich’s mir gar nicht vorgestellt.« Draußen rauschte der Wind in den Bäumen und ein Käuzchen schrie. 42
»Was war denn das?«, flüsterte Peggy mit großen Augen und verschluckte sich beinahe an einem Stück Schinkenbrot. Ben lachte und klopfte ihr auf den Rücken. »Ein Tiger war’s nicht, hab nur keine Angst.« Und Lissy sagte: »Ob du es glaubst oder nicht, wir haben, solange wir hier sind, noch kein Käuzchen gehört. Die …« »… fürchten sich wahrscheinlich vor Mrs. Grimm«, unterbrach Ben sie, »und deshalb haben sie immer einen weiten Bogen um ihr Haus gemacht.« Sogar Peggy musste nun lachen und vergaß ihren Schrecken. »Endlich einmal satt«, sagte sie nach einer Weile und seufzte zufrieden. »Und todmüde!« Chris gähnte. Und bald lag die Insel dunkel und still wie jede Nacht, denn die vier waren eingeschlafen.
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VI Die Insel
Am nächsten Morgen erwachte Ben als Erster. Der Gesang einer Drossel hatte ihn geweckt. »He, Chris«, rief er laut und gab ihm einen kleinen Stoß in die Seite, »he, du, es wird höchste Zeit zum Aufstehen!« Chris grunzte, blinzelte verschlafen, und dann öffnete er die Augen, sah erstaunt um sich und konnte sich im ersten Augenblick überhaupt nicht daran erinnern, wo er war. Doch dann sprang er auf und schlug einen Trommelwirbel an die Trennwand, hinter der Lissy und Peggy noch sanft und süß schliefen. Und gleich darauf kamen sie beide herausgestürzt und schrien vor Begeisterung. »Keine Wolke am Himmel!«, rief Peggy. »Und seht nur, ein richtiger Strand mit weißem Sand!«, schrie Lissy. »Herrlich!« »Los«, rief Chris, »wir wollen baden, holt euer Badezeug!« »Ja«, sagte Peggy eifrig, »und dann frühstücken wir, Schinken und Marmelade!« Alle außer ihr waren gute Schwimmer. Sie stand bis zum 44
Hals im Wasser, hatte die Hand über die Augen gelegt, sah den anderen nach und wagte sich mit ihren Schwimmkünsten nicht weiter. »He«, schrie Ben, »sollen wir dich an deinen Haaren ins Schlepptau nehmen?« Wütend drehte sie sich um, schwamm zurück und nahm sich fest vor, jeden Tag zu üben, damit keiner sie mehr aufziehen konnte. Doch bald kamen auch die anderen und warfen sich neben sie in den warmen Sand. Faul lagen sie eine Weile in der Sonne, ließen sich trocknen und endlich sprang Ben auf. »Mir hängt der Magen schon bis auf die Füße. Los, sammelt Holz, wir wollen Feuer machen. Holt Wasser aus der Quelle!« Peggy nahm den Kessel, verschwand im dichten Gebüsch, und die anderen liefen in alle Richtungen, kamen kurz darauf mit Armen voll trockenen Holzes wieder, und unter Bens sachkundiger Anleitung brannte bald ein helles Feuer. Der Tee wurde gekocht, Lissy schnitt Brot und Schinken, und Peggy brachte Teller und Tassen aus dem Zelt. Hatte ihnen jemals schon etwas besser geschmeckt? O nein, natürlich nicht, davon waren sie alle fest überzeugt. Später wuschen Lissy und Peggy das Geschirr und die Jungen trockneten ab. Dann traten sie das Feuer aus und nun stand einer Erkundung der Insel nichts mehr im Weg. Lachend und schwatzend liefen sie den Strand entlang, von dem aus man das ferne Ufer und weit über Wiesen und 45
Felder sehen konnte. »Auf der anderen Seite ist das Land näher«, sagte Ben, »und der Wald reicht bis zum Wasser. Kommt, wir wollen mal rüber.« Am Fuße des Abhanges wuchsen dichtes Haselgebüsch, Holunder, Erlen und vereinzelte Weiden. Doch als sie höher stiegen, waren es hauptsächlich Birken und Eichen. Ben war vorausgelaufen. »Von hier oben hat man eine tolle Aussicht!«, rief er. Und dann standen sie unter einer mächtigen Eiche und sahen über den See und das Land ringsum. »Da«, sagte Chris plötzlich, »ist das nicht Mrs. Grimms Haus?« »Ob sie uns schon sucht?«, fragte Peggy und kaute besorgt auf zwei Haarsträhnen zugleich. Chris schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht. Gestern Abend hat sie gar nicht gemerkt, dass wir verschwunden waren. Und jetzt denkt sie bestimmt, wir sind weggelaufen, um uns vor der Arbeit zu drücken.« Ben runzelte die Stirn. »Lange wird’s nicht dauern, bis es so weit ist«, sagte er langsam. »Wir müssen jedenfalls damit rechnen. Vielleicht schlagen wir das Zelt lieber hier in der Nähe auf. Etwas weiter unten weiß ich einen Platz ganz tief im Gebüsch, da entdeckt uns kein Mensch.« »Schade«, sagte Lissy, »ich wäre lieber am Strand geblieben.« »Du bist ja sofort da«, beruhigte er sie. »Wirklich, es ist 46
besser, wir ziehen um. Und von hier oben sieht man auch gleich, wenn ein Boot auftaucht. Kommt, jetzt zeige ich euch noch die Höhle, da können wir unsere Vorräte gut unterbringen.« Sie liefen die andere Seite des Hügels hinunter und über ein Stück Land, das dicht mit Heide, Ginster und Farnkraut bewachsen war. Und dann zeigte Ben auf eine dunkle Öffnung in halber Höhe des Abhanges. »Prima!« Chris war begeistert. »Wollen wir rein?« »Vielleicht morgen. Ich war selber übrigens noch nie drin, verrückt, nicht? Wir müssen zurück und Mittagessen kochen und dann will ich an Land rudern. Großvater fährt heute.« Peggy atmete erleichtert auf. Ihr war nicht sehr wohl bei dem Gedanken, in die dunkle Höhle zu gehen. So machten sie sich also an den Abstieg, und Ben zeigte ihnen noch die Stelle, an der das Zelt aufgeschlagen werden sollte. Der Platz war ziemlich groß und das Gebüsch ringsum beinahe undurchdringlich. »Am besten, ihr bringt schon etwas herauf, wenn ich drüben bin«, sagte er. Nach dem Essen ruderte er davon und Chris, Lissy und Peggy machten sich mit Feuereifer an die Arbeit. Alles sollte fertig sein, wenn er wiederkam. »Wir wollen ihn überraschen«, sagte Lissy. »Der wird sich freuen, dass er dann nichts mehr zu tun braucht«, meinte Peggy. 47
»Dann müssen wir uns aber beeilen«, sagte Chris. So liefen sie ungezählte Male hin und her, keuchend und schwitzend, mit hochroten Gesichtern, und es wurde schon dunkel, als das Zelt endlich von neuem aufgebaut war. Müde und erschöpft saßen sie am Strand und warteten auf ihren Freund. Hinter den Wolken kam ab und zu der Mond hervor und manchmal raschelte und knackte es im Gebüsch. »Müsste er nicht bald kommen?«, fragte Peggy leise. Obwohl Lissy und Chris neben ihr hockten, kam sie sich auf einmal einsam und verlassen vor, und den beiden anderen erging es genauso. »Eigentlich müsste er schon hier sein«, sagte Chris, »aber vielleicht hat er seinem Großvater noch helfen müssen.« »Vielleicht«, sagte Lissy. Eine Weile schwiegen sie und dann begann sie von neuem: »Sein Großvater ist schon ziemlich alt, nicht wahr?« Chris nickte. »Ziemlich.« »Und immer ist er allein mit ihm«, sagte Peggy. »Ich glaube, er freut sich, dass er mit uns zusammen ist.« »Wir uns ja auch«, murmelte Chris. »Schade, dass er nicht mit uns nach Hause kommen kann.« »Ja, schade«, sagten die Mädchen. Endlich hörten sie in der Ferne das Aufschlagen der Riemen im Wasser. Und sie liefen zu der kleinen versteckten Bucht, in die das Boot gerade wie ein schwarzer Schatten glitt. »Wir dachten schon, du kämst überhaupt nicht mehr«, 48
jammerte Lissy. Ben lachte. »Hat ein bisschen gedauert, ich weiß, aber dafür habe ich auch was mitgebracht.« »Was? Zeig her!«, riefen alle im Chor. »Fass mal hierhin«, sagte er und nahm Peggys Hand. »Nein, nicht!«, schrie sie, denn sie hatte etwas Weiches, Warmes berührt. »Was ist denn das?«, flüsterte sie. »Hühner«, sagte er und lachte wieder. »Vier Stück. Großvater hat sie mir geschenkt, als sie noch Küken waren. Nun können wir jeden Morgen ein Ei essen. Na, ist das nichts?« Er reichte Chris den Sack mit dem gackernden Inhalt und warf einen zweiten über die Schulter. »Futter«, erklärte er. »Prima!«, rief Chris. »Ein Frühstück ohne Ei ist gar kein richtiges Frühstück!« »Du denkst natürlich nur ans Essen«, sagte Ben, »aber an die Arbeit denkst du nicht. Morgen müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass sie einen kleinen Stall und einen Auslauf bekommen. Da müsst ihr tüchtig ran.« »Klar, wir werden ihnen eine Villa bauen«, sagte Chris und lachte. »Vielleicht näht Lissy Gardinen für die Fenster.« »O ja«, sagte Peggy eifrig, »o ja, das wollen wir machen und Blumentöpfe müssen wir uns auch noch besorgen.« Die anderen grinsten. »Und wo lassen wir sie heute Nacht?«, fragte Lissy, während sie den Hügel hinaufstiegen. »Wir nehmen sie einfach mit ins Zelt, im Dunkeln sind sie ganz ruhig«, sagte Ben, blieb stehen und ließ die Mäd49
chen ein Stück vorausgehen. »Am liebsten würde ich Daisy, meine Kuh, auch noch holen«, flüsterte er. »Wenn ich jeden Tag zum Melken an Land rudere, fällt es irgendwann auf, und das würde sie sicher auf eure Spur bringen.« »Suchen sie uns etwa schon?«, fragte Chris leise. Ben zuckte die Schultern. »Gehört habe ich noch nichts, aber es kann morgen ja schon so weit sein!«
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VII Daisy muss schwimmen
Am nächsten Morgen wachten die drei erst auf, als Ben vom Melken zurückgerudert kam. Nach dem Frühstück machten sie sich alle gleich daran, einen Stall für die Hühner zu bauen. Dicht hinter dem Zelt rammten sie im Viereck eine Reihe von Pfählen in die Erde, die Ben mit einem Beil geschlagen hatte. Dazwischen flochten sie aus Weidenruten die Wände, genauso wie bei einer Korbtruhe. Das Dach bestand aus quer darübergelegten starken Ästen, die sie mit Grassoden bedeckten. Die Anfertigung der Tür bereitete einige Schwierigkeiten, die Ben am Ende aber überwand. Sie hing ein wenig schief in den Angeln, doch das schadete nichts. Den Zaun rundherum stellten sie auf die gleiche Art her wie die Wände des Stalles und die Zwischenräume wurden mit Heidekraut, Gestrüpp und Erde ausgefüllt. Sie hatten den ganzen Tag zu tun, und nur Lissy verschwand um die Mittagszeit, um eine Dose Fleisch und eine mit Gemüse heiß zu machen. Sie waren sehr hungrig von der ungewohnten Arbeit und froh darüber, eine kleine Ru51
hepause einlegen zu können. »Wenn wir so weiterfuttern, werden unsere Vorräte nicht sehr lange reichen«, sagte Ben plötzlich. Die Mädchen sahen ihn erschrocken an. »Glaubst du das wirklich?«, fragte Peggy entsetzt. »Na ja«, er lachte ein bisschen, »verhungern müssen wir natürlich noch nicht, aber ich habe schon daran gedacht, meine Kuh auf die Insel zu holen. Dann hätten wir jeden Tag literweise Milch. Und jetzt werden die Walderdbeeren reif, es gibt hier wahre Felder davon. Wir könnten Erdbeeren mit Milch essen und wir könnten auch welche aufsetzen zum Sauerwerden. Und Milchsuppe würden wir kochen.« »Prima wäre das!«, schrie Peggy begeistert. Lissy lachte. »Du bist verrückt! Wie willst du eine Kuh hierher bringen? Vielleicht im Boot? Wetten, dass du dann mit ihr zusammen baden gehst? Du hast Ideen!« Chris schwieg. Er wusste ja, aus welchem Grund Daisy hierher gebracht werden sollte. »Ich habe schon hin und her überlegt«, sagte Ben langsam. »Sie müsste schwimmen!« »Schwimmen?«, schrien Lissy und Peggy entgeistert. »Du bist wohl total übergeschnappt!« »Sie tut mir ja auch Leid«, sagte Ben, »aber es bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir immer Milch haben wollen. Und wenn sie ins Wasser kommt, tut sie’s auch.« »Die arme Daisy«, murmelte Peggy und griff nach einer 52
ihrer Haarsträhnen. Während sie nun am Zaun weiterarbeiteten, sprachen sie beinahe den ganzen Nachmittag über von nichts anderem. Und allmählich erschien ihnen der Gedanke nicht mehr ganz so abenteuerlich und undurchführbar. Und als sie dann endlich am Feuer saßen und Abendbrot aßen, sagte Ben: »Also, wenn es dunkel geworden ist, rudere ich rüber und hole sie.« »Ich komme mit«, rief Chris, »allein schaffst du das nie.« »Gut«, sagte Ben, »wenn die Mädchen einverstanden sind, ich meine, wenn Peggy sich nicht fürchtet.« »Ich mich fürchten?«, sagte die empört. »Ich? Ich habe, habe …« »Mut für drei«, ergänzte Chris und grinste und Peggy wollte mit geballten Fäusten auf ihn losgehen. Ben lachte und hielt sie fest. »Hör auf«, sagte er, »war doch nur Spaß. Und wir sehen zu, dass wir so schnell wie möglich wiederkommen. Ich bin ja gespannt, wie euch Daisy gefällt. Sie ist sehr hübsch, wirklich.« »Ja?«, fragte Peggy und vergaß ihren Ärger augenblicklich. »Hat sie große Augen?« »Sehr große.« Ben nickte. »Gibt sie bestimmt literweise Milch?« »Bestimmt!« »Ist sie …?« »Schluss jetzt!«, rief Lissy. »Wir werden es ja sehen.« 53
Als es endlich dunkel wurde, ruderten die beiden davon, und die Mädchen winkten ihnen nach. Die Jungen hielten genau auf die Stelle am anderen Ufer zu, an der Ben sein Boot immer verborgen hatte. Sie zogen die Köpfe ein und glitten durch die tief auf das Wasser herunterhängenden Zweige der Weiden und Erlen, die sich sofort wieder hinter ihnen schlossen. Sie machten das Boot fest und sprangen an Land. Beinahe lautlos schlichen sie durch den Wald, erreichten die Felder und sahen zu dem Haus von Bens Großvater hinüber, das dunkel und verlassen dalag. Gleich daneben, auf einer Wiese, hoben sich die Silhouetten der Pferde und Kühe gegen den nächtlichen Himmel ab. »Siehst du den Schuppen da drüben?«, flüsterte Ben. »Gleich rechts hinter der Tür liegt ein Tau. Holst du es, während ich Daisy suche?« Chris nickte und stolperte über die unebene Wiese davon, und Ben ging, um seine Kuh unter den anderen Tieren herauszufinden, indem er leise ihren Namen rief. Ein großes weißbraunes Tier trennte sich von den übrigen und kam mit schwerfälligem, schwankendem Gang auf ihn zu. Ben fuhr der Kuh über die samtene Nase und sah zu dem verfallenen Schuppen hinüber. In diesem Augenblick kam Chris herausgelaufen, das Tau in der Hand. 54
»Danke«, sagte Ben, nahm es und legte es Daisy um den Hals. »Bleibst du noch eine Minute bei ihr? Mir ist eben eingefallen, dass wir ja noch einen Eimer oder so etwas Ähnliches zum Melken haben müssen.« Chris nickte und Ben lief auf das Haus zu. Er fand einen alten Holzeimer, holte ein paar Hemden, Socken und Hosen aus seiner Kommode, und im Hinausgehen griff er nach einem Handtuch, das an der Tür an einem Haken hing, und stopfte alles in den Eimer. »Sie wollte sich schon selbstständig machen«, sagte Chris vorwurfsvoll. »Wo bist du nur so lange geblieben?« »Ach, ich habe noch ein paar Sachen von mir herausgesucht. Das, was ich anhabe, muss ja schließlich auch mal gewaschen werden. So bald werde ich ja nun nicht wieder hierher kommen. Also los.« Während sie durch Felder und Wiesen gingen, trottete Daisy willig hinter ihnen her. Als sie aber den Wald erreichten, versuchte sie stehen zu bleiben. Sie fürchtete die plötzliche Dunkelheit und das dichte Gebüsch, durch das sie sich zwängen musste, sie fürchtete, am Strick dort hineingezogen zu werden, und stieß ein lautes Brüllen aus. »Lass das«, flüsterte Ben erschrocken, »du wirst uns noch verraten.« Doch Daisy brüllte erneut und dieses Mal noch lauter. Es war ein schweres Stück Arbeit, sie bis hinunter ans Ufer zu führen. Es dauerte zwei Stunden, bis die Jungen es endlich geschafft hatten. 55
Aufatmend blieben sie stehen und wischten sich den Schweiß von der Stirn. »Puh!«, stöhnte Chris. »Das war was! Hätte nie gedacht, dass eine Kuh so störrisch sein kann.« Ben grinste. »Hat eben Charakter, die gute Daisy. Und das Schlimmste kommt noch«, fügte er langsam hinzu. Schritt für Schritt und unter gutem Zureden schob er das verängstigte Tier ins Wasser hinein, und es schrie dabei so entsetzlich, dass die Jungen zusammenfuhren. Dann sprangen sie ins Boot, und Daisy musste, ob sie wollte oder nicht, hinterherschwimmen. Sie verlor den Boden unter den Füßen, begann mit ihren vier langen Beinen seltsame Bewegungen zu vollführen und schwamm! Ihr Kopf ragte aus dem Wasser und sie sah sehr unglücklich aus. Nach einiger Zeit tauchte die Insel als schwarzer Schatten vor ihnen auf und allmählich wurde ihr Umriss deutlicher. »Hat ja ganz gut geklappt«, sagte Ben erleichtert, »bis jetzt wenigstens und das größte Stück haben wir geschafft.« Chris nickte und grinste. »Trotzdem bin ich froh, dass wir nur eine von der Sorte rüberlotsen müssen und nicht eine ganze Herde. Das ginge nämlich über meine Kräfte.« Danach sprachen sie nichts mehr und legten sich tüchtig in die Riemen. Lissy und Peggy hockten noch immer am Strand, warteten sehnsüchtig und starrten schweigend auf das Wasser. Je länger die Jungen ausblieben, desto unruhiger wurden sie. Doch sogar Peggy hütete sich Furcht zu zeigen; die anderen 56
sollten sie nicht wieder auslachen, o nein! Stattdessen bearbeitete sie erbarmungslos ihre Haarenden. Und endlich hörten sie das Aufschlagen der Riemen im Wasser und liefen zur Landestelle. »Habt ihr sie?«, schrien sie. »Klar!«, schrie Ben zurück. »Klar, sie schwimmt wie ein Fisch, nur hat’s ihr wohl keinen Spaß gemacht.« Sie zogen das Boot an Land und Daisy aufs Trockene. »Kommt, helft mir«, sagte Ben und verteilte seine Hemden und das Handtuch, die Sachen, die er im Holzeimer mitgebracht hatte. Später konnte man sie ja wieder waschen. Jetzt musste das frierende, triefende Tier erst einmal abgerieben werden. »Und wohin mit ihr diese Nacht?«, fragte Chris. »Wir binden sie einfach neben dem Zelt an einen Baum. Sie kann sich ins Heidekraut legen, da ist es ganz schön weich und warm.« Sie gingen zusammen zum Zelt zurück und bald beruhigte sich Daisy beim vertrauten Gackern der in ihrer nächtlichen Ruhe aufgestörten Hühner. »Das war ein Unternehmen«, sagte Chris und grinste breit. Ben grinste ebenfalls. »Der Meinung wird Daisy auch sein!«
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VIII Die Fische sind viel zu müde
Am anderen Morgen schliefen sie alle so lange, bis sie durch das ungewohnte Brüllen Daisys geweckt wurden. »Sie muss gemolken werden«, rief Ben und sprang auf. »Ich laufe schnell zur Quelle und spüle den Eimer aus. Ihr könnt inzwischen schon Feuer machen.« Doch dann standen die drei erst einmal um ihren neuen Hausgenossen versammelt und bewunderten ihn gebührend: Das weißbunte Fell, die samtene Nase, die großen dunklen Augen. Es verging eine Weile, bis Ben sich endlich an die Arbeit machen konnte. Wenig später frühstückten sie und tranken Milch, mehr als sie je in ihrem Leben getrunken hatten, und Daisy sah ihnen dabei zu. »Sie ist auch hungrig«, sagte Ben. »Komm, Chris, wir bringen sie auf die andere Seite, da gibt es Gras in Hülle und Fülle.« Und etwa eine Viertelstunde danach ließen sie sie zufrieden kauend auf ihrer neuen Weide zurück. Ben gähnte. »Ich bin todmüde, ist ja auch kein Wunder 58
nach dieser Nacht. Weißt du was, wir gehen jetzt alle an den Strand und aalen uns, was hältst du davon?« Auch von den Mädchen wurde dieser Vorschlag begeistert aufgenommen, denn keiner von ihnen hatte mehr als
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ein paar Stunden geschlafen. Ben nahm seine Angel und setzte sich dort, wo das Schilf am dichtesten war, ans Ufer, und Chris hockte neben ihm, und beide starrten schläfrig über das Wasser. »Wetten, dass keiner anbeißt? Wetten, dass die genauso müde sind wie wir?«, sagte Chris, schob seine Mütze über die Augen und ließ sich in den Sand zurücksinken. »Faultier«, brummte Ben. »Ich kann stundenlang hier sitzen. Aus dir wird nie ein richtiger Angler.« Die Mädchen lagen ein Stück von ihnen entfernt, Lissy auf dem Bauch, vor sich ein Buch, in dem sie las, und Peggy war damit beschäftigt, sich in den warmen Sand einzugraben. »Prima«, murmelte sie, »prima, genau wie im Bett.« Und es dauerte nicht lange, da war sie eingeschlafen. »Hör mal, Chris, die Rohrdommel«, sagte Ben, aber er bekam keine Antwort mehr. »Schlafmütze«, brummte er und sah zu Lissy und Peggy hinüber. Von Peggy sah er nicht viel mehr als die Nasenspitze und die blonden Haarsträhnen, und Lissys Buch schien auch nicht so spannend gewesen zu sein, wie sie meinte, denn jetzt schlug der Wind ein paar Seiten um, ohne dass sie es merkte. »Pennen alle«, murmelte er, lehnte den Kopf gegen einen Baumstamm und schloss die Augen. »Langweilige Gesellschaft«, murmelte er noch und gleich darauf schlief auch er. Die Sonne stand schon hoch, als Ben wieder aufwachte. 60
»He«, rief er, »he! Es muss bestimmt schon drei sein!« »Tatsächlich«, sagte Chris, während er verschlafen nach seiner Uhr sah. Er grinste. »Hätte nie gedacht, dass man bei einem so interessanten Sport so gut schlafen kann. Wie viel hast du denn gefangen?« Ben grinste zurück. »Diesmal nichts. Du hattest Recht, die Fische waren wirklich zu müde.« »Aber du nicht, was?« Chris lachte, sprang auf, lief zu den Mädchen, begann Peggy auszubuddeln und beide mit Wasser zu bespritzen. »Los, wir schwimmen jetzt!«, rief er und einen Augenblick später liefen alle lachend und schreiend ins Wasser. Etwa eine Stunde lang tobten und schwammen sie und lagen dann wieder im heißen Sand. »Puh«, stöhnte Lissy endlich, »ich verdurste!« »Ich auch«, sagte Chris. »Hol bitte Milch und bring was zu essen mit, nebenbei habe ich nämlich einen Mordshunger.« Die Milch war eiskalt, denn Ben hatte den Eimer neben der Quelle in der Erde vergraben. »Wunderbar!« Peggy seufzte, während sie im Schatten einer großen Erle saßen und es sich gut schmecken ließen. »Mrs. Grimms Kühe schienen mehr Wasser als Milch zu geben«, kicherte Lissy und nahm noch eine Scheibe Schinken. »Findet ihr nicht auch?« »Bei uns auf alle Fälle«, sagte Chris. »Wie gut, dass wir nicht bei ihr sind«, meinte Peggy 61
ernsthaft, »sonst wären wir bestimmt bald verhungert.« »Und du zuerst, was?« Ben lachte und sprang auf. »Es ist zu heiß, kommt, wir streifen ein bisschen über die Insel. Ich zeige euch, wo es Erdbeeren gibt, und ich weiß auch eine Stelle, an der Champignons wachsen. Wir nehmen einen Topf mit, dann können wir morgen Mittag Pilze essen.« Sie liefen den Hügel hinauf bis zu der Wiese, auf der Daisy zufrieden graste, und dann an der Höhle vorüber. »Schade, dass wir keine Taschenlampen mithaben«, sagte Chris, »sonst hätten wir einmal hineingehen können.« Sie liefen weiter durch dichtes Gebüsch und zu dem Platz, an dem Unmengen von Erdbeeren wuchsen. »Sie sind reif«, schrie Peggy, »und schmecken wunderbar!« »Morgen gehe ich wieder hierhin und pflücke einen ganzen Korb voll«, sagte Lissy, »und dann rahmen wir die Milch ab und essen Erdbeeren mit Sahne!« »Phantastisch«, sagte Chris und verdrehte verzückt die Augen. Alle lachten. Sie aßen so lange, bis sie einfach nicht mehr konnten, und dann sagte Ben: »Jetzt wollen wir Pilze sammeln.« Auf der Westseite der Insel fanden sie die Wiese und sammelten so viele, wie sie in dem Topf unterbringen konnten. Dann gingen sie ein Stück den Abhang hinauf, der hier ziemlich steinig war, und setzten sich auf einen großen Felsbrocken, von dem aus sie den See weit überblicken konnten. 62
Doch Peggy sprang erschrocken wieder auf, denn der Stein war so heiß in der Sonne geworden, dass sie sich beinahe verbrannt hätte. »Wollen wir etwas spielen?«, fragte Chris. »Irgendwas, vielleicht …« Was Chris spielen wollte, erfuhr niemand mehr, denn plötzlich packte er Bens Arm, während er wie erstarrt dastand und auf die glitzernde Wasserfläche starrte. »Ein Boot«, flüsterte er. »Ein Boot mit Leuten drin.« »Wo?«, sagte Ben schnell und Lissy war ganz blass geworden. »Sie werden doch nicht hinter uns her sein?«, jammerte Peggy. »Nein«, sagte Ben beruhigend, »sie haben ein Radio oder ein Grammofon, hört ihr? Leute, die nach euch suchen, tun das bestimmt nicht mit Musikbegleitung. Wahrscheinlich sind es Ausflügler.« »Ob sie hierher wollen?«, fragte Lissy. »Ich weiß es nicht.« Ben zuckte die Schultern. »Und wenn, dann bleiben sie sicher nicht lange. Und uns werden sie nicht zu sehen bekommen. Sie ahnen ja auch nicht, dass sich jemand auf der Insel aufhält. Wir dürfen nur keine Spuren hinterlassen.« »Dann los«, sagte Chris, »los, wir müssen uns beeilen, lange dauert es bestimmt nicht mehr, bis sie hier sind.« Sie rasten über den Hügel zurück zum Strand. Ben und Chris traten das Feuer aus und schaufelten Sand darüber, 63
nachdem sie die halb verbrannten Holzstücke vergraben hatten, und dann rafften sie alle ihre herumliegenden Sachen zusammen, um sie zu verstecken. »Unser Zelt finden sie nie«, sagte Ben. »Das Gebüsch ist so dicht, dass es kein Mensch sehen kann.« »Und was machen wir mit den Hühnern?«, fragte Lissy. »Gar nichts, wir können nur hoffen, dass sie nicht gackern.« »Und Daisy?«, jammerte Peggy. Ben grinste. »Es gibt hier nur eine Landestelle, und das ist der Strand, und Daisy ist auf der anderen Seite. Da werden die Ausflügler schon nicht hinkommen.« »Wenn sie bloß still ist und nicht brüllt«, meinte Lissy. »Und wo wollen wir hin?«, fragte Chris. »Oben ins Gebüsch. Von dort aus können wir die Leute beobachten, und wenn sie sich wirklich unsere Insel näher ansehen wollen, können wir uns da gut verstecken. Aber ich glaube, wir sind ziemlich sicher, denn sie wissen ja nicht, dass wir hier sind.« »Das ist wahr«, sagte Peggy erleichtert. »Hab nur keine Angst, die finden uns bestimmt nicht«, tröstete Ben sie. »Liegen gelassen haben wir auch nichts. Alles in Ordnung.« Und einen Augenblick später liefen sie das letzte Stück zum Gipfel hinauf. »Sie rudern um die Insel«, flüsterte Ben, »da, seht nur! Sie suchen einen Landeplatz.« Er schwieg und dachte: »Wenn 64
sie nur nicht auf die Idee kommen, sich die Gegend genauer anzusehen!«
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IX Ein Huhn ist keine Amsel
Peggy hockte zusammengekauert dicht neben Ben, der krampfhaft versuchte, die Leute nicht aus den Augen zu verlieren. »Wo ist Lissy?«, fragte sie. »Hier«, kam eine leise Stimme ein Stückchen tiefer aus dem Gebüsch und für einen Augenblick sah sie hinter einem Strauch hervor. »Ist es nicht grässlich, dass sie ausgerechnet hierher kommen mussten? Ich wollte, sie wären schon wieder fort.« »Pst«, machte Ben. Sie konnten die Leute nun nicht mehr sehen, aber jetzt hörten sie sie sprechen. »Hier ist ein schöner Landeplatz«, sagte jemand. »Sie haben den Strand gefunden«, flüsterte Ben. »Hier wollen wir bleiben und picknicken«, sagte eine Frau. »Ist dieses Fleckchen Erde nicht reizend?« Die Kinder hörten das Knirschen des Kiels auf dem Sand und dann schienen die Leute auszusteigen. »Ich nehme das Grammofon«, sagte jemand, »und du 66
bringst den Fresskorb, Eddie.« »Glaubt ihr, dass überhaupt schon jemals ein Mensch auf dieser kleinen Insel war?«, fragte ein Mann. »Ich glaube kaum«, antwortete ein anderer, »sie liegt so versteckt und das Land um den See ist so einsam. Wer sollte schon hierher kommen?« Bei diesen Worten krochen die Kinder noch tiefer ins Gebüsch. In diesem Augenblick begann eines der Hühner ganz unprogrammgemäß zu gackern. Die drei fuhren zusammen und hielten entsetzt den Atem an. »Habt ihr das gehört?«, sagte einer da unten. »Das klang ja gerade wie ein Huhn.« »Haha«, lachte die Frau, »ein Huhn! Sei nicht albern, Eddie. Es wird eine Amsel gewesen sein.« Die Kinder kicherten. Der Gedanke, dass eine ihrer Hennen wie eine Amsel flöten sollte, erschien ihnen doch zu komisch. »Reichst du mir bitte das Salz?«, ließ sich die Frau nun wieder vernehmen. »Danke. Diese Insel ist eine hübsche Entdeckung, nicht wahr? Wie verborgen sie liegt, sie hat direkt etwas Geheimnisvolles, findet ihr nicht auch? Wir sollten sie uns nachher ein wenig genauer ansehen.« »Ein guter Gedanke«, sagte Eddie, dessen Stimme die drei nun schon kannten. Sie sahen sich entsetzt an. Das war gerade das, was die da unten auf keinen Fall tun durften! »Wo Chris nur bleibt«, flüsterte Peggy. »Musste er denn 67
das Boot unbedingt noch besser verstecken?« »Musste er«, sagte Ben, »aber du brauchst dich nicht zu ängstigen, er wird schon vorsichtig sein.« In diesem Augenblick fuhren die Kinder zum zweiten Mal erschrocken zusammen. Ein dumpfes Brüllen ertönte, Daisy brachte sich in Erinnerung. Sie wollte gemolken werden. »Natürlich«, Ben stöhnte, »auch das noch! Daran habe ich gar nicht gedacht. Wenn diese verflixte Bande doch endlich verschwinden würde!« »Eine Kuh!«, sagte Eddie erstaunt. »Das ist irgendwo vom Land hergekommen«, entgegnete die Frau schläfrig. »Oder glaubst du wirklich, hier spazieren Kühe herum?« »Na, ich weiß nicht«, kam die zögernde Antwort, »das klang doch ziemlich nah. Seht mal, sieht das nicht aus wie eine Fußspur?« Die Kinder starrten einander erschrocken an und Ben knurrte: »Diesen Eddie soll der Kuckuck holen, der geht mir langsam auf die Nerven.« Und nun hörten sie ihn von neuem. »Hier liegt übrigens ein Stück Bindfaden, komisch, was?« »Du tust, als ob du sonst was entdeckt hättest«, rief die Frau. »Es werden andere Ausflügler vor uns hier gewesen sein, das ist alles.« »Na schön«, sagte Eddie, »aber ansehen tu ich mir diese Insel nach dem Essen auf jeden Fall genauer.« »Ach, leg eine Platte auf, damit wir dein Gerede nicht 68
mehr zu hören brauchen.« Und bald übertönte plärrende Musik aus dem Grammofon alles andere, und die Kinder konnten insofern wenigstens aufatmen, als die da unten nun nicht hören würden, wenn Daisy wieder brüllte oder eines der Hühner gackerte.
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Ängstlich und bedrückt hockten sie im Gebüsch. Was würde geschehen, wenn die Leute auf der Insel herumgeisterten und sie fanden? Peggy fing an zu weinen. Die Tränen rannen ihr übers Gesicht und Ben legte den Arm tröstend um ihre Schultern. »Wer weiß, ob sie überhaupt noch dazu kommen. Vielleicht haben sie gar keine Zeit mehr. Siehst du da hinten die schwarzen Wolken? Vielleicht gibt es ein Gewitter, heiß genug ist es ja. Findet ihr nicht auch, dass es furchtbar schwül ist? Ich habe entsetzlichen Durst und würde sonstwas für ein Glas Milch von der guten alten Daisy geben.« Peggy wischte sich die Augen und sah hoffnungsvoll zu der drohenden Wolkenwand hinüber. Ach ja, wenn es doch ein Gewitter gäbe! Das würde sie gern in Kauf nehmen, obwohl sie sich immer so sehr davor fürchtete. Aber jetzt war die Hauptsache, diese grässlichen Ausflügler wurden von ihrer Insel vertrieben. Lissy kam zu ihnen gekrochen. »Ich glaube, es gibt was«, flüsterte sie. »Die Luft ist so drückend, kein Blättchen rührt sich und kein Vogel ist mehr zu hören.« »Da!«, hauchte Peggy plötzlich und sah mit schreckgeweiteten Augen auf ein Gebüsch ein Stückchen tiefer am Abhang. »Da!« Dort unten bewegte sich das Blattwerk! »Das ist einer der Ausflügler«, flüsterte Lissy, »das ist Eddie! Er muss uns entdeckt haben! Er kommt auf uns zuge70
schlichen!« Wie erstarrt beobachteten sie die sich leicht bewegenden Äste und Blätter. »In die Höhle, los«, flüsterte Ben. »Da seid ihr sicher. Ich versuche ihm nachzuschleichen und zu sehen, wer er ist.« Er war gerade dabei zu gehen, als der da unten sich auf einmal ganz ruhig verhielt. In dem Gebüsch bewegte sich nichts und Lissy und Peggy starrten wie gebannt darauf, wagten sich nicht zu rühren und fanden die plötzliche Stille noch unheimlicher. Und dann tauchte langsam ein dunkler Haarschopf aus einem der Büsche auf. »Chris!«, schrie Peggy. »Es ist Chris!« »Bist du verrückt!«, zischte Lissy. »Die Fremden können dich ja hören!« Aber glücklicherweise verschlang die lärmende Musik jeden Laut rundum. Erleichtert grinsten die drei zu Chris hinunter. Der grinste zurück, und dann verschwand er von neuem, und wieder begann sich das Laub zu bewegen, als er das letzte Stück heraufkam. »Oh«, seufzte Peggy, »was hast du uns nur für einen Schrecken eingejagt! Wir haben gedacht, es wäre Eddie!« »Ich habe sie beobachtet«, sagte Chris leise und setzte sich zu ihnen. »Es sind drei Männer und zwei Frauen. Sie vertilgen Unmengen aus einem riesigen Fresskorb. Es sieht beinahe so aus, als wären sie bis jetzt bei der Grimm in 71
Pension gewesen. Sie tun so, als ob sie jahrelang nichts gegessen hätten.« »Glaubst du, dass sie sich die Insel noch ansehen?«, fragte Peggy ängstlich. »Vielleicht vertreibt sie das Gewitter.« Chris sah zum Himmel und auf die immer höher heraufsteigenden Wolken. Es wurde dunkler und dunkler, und plötzlich waren die Fledermäuse auf lautlosen Flügeln da und hielten reiche Beute unter den Insekten, die zu tausenden in der schwülen Luft umherschwirrten. Und die Fledermäuse waren es auch, die die Ausflügler vertrieben. »Huch«, schrie eine Frau, »Fledermäuse! Entsetzlich! Packt ein, bloß fort von hier. Wenn ich mich vor etwas fürchte, dann vor diesen grässlichen Tieren! Oh, wie entsetzlich!« »Sei nicht komisch«, sagte einer der Männer, »sie tun dir doch nichts.« »Das ist mir vollkommen egal«, sagte die Frau. »Wir gehen.« Geräuschvoll wurden irgendwelche Dinge ins Boot geworfen und die Kinder sahen sich erleichtert an. »Aber wir wollten doch noch einen Spaziergang über die Insel machen«, hörten sie Eddie protestieren. »Ohne mich«, war die empörte Antwort. Und dann hörten die vier atemlos lauschenden Kinder, wie das Boot ins Wasser geschoben wurde, und gleich dar72
auf das gleichmäßige Eintauchen der Riemen. In diesem Augenblick begann Daisy von neuem zu brüllen und die Kinder fuhren zusammen. »Hört ihr, es donnert schon«, rief die Frau. »Beeilt euch, damit wir an Land kommen, ehe es losgeht!« Die Kinder bogen sich vor Lachen, und Peggy ließ sich zurücksinken, hielt die Hände vor den Mund, um nicht herauszuplatzen, und rollte im Gras hin und her. »Gute alte Daisy«, gluckste sie, »sie hat extra so getan, als ob sie ein Gewitter wäre!« »Vergesst die Fledermäuse nicht«, sagte Chris lachend, »bei denen müssen wir uns vor allem bedanken. Versteht ihr übrigens, wie man sich vor ihnen fürchten kann?« »Nein«, sagte Peggy, »ich mag sie eigentlich ganz gern. Und von jetzt ab mag ich sie noch viel lieber.« Die vier hatten sich nun etwas weiter vorgewagt und spähten durch das Gebüsch. Sie sahen das Boot sich jetzt schnell entfernen. Dann fuhr ein erster plötzlicher Windstoß über das Wasser, ließ das Boot schwanken, und die Frau schrie: »Beeilt euch, wir werden mitten in den Sturm hineingeraten! Oh, da ist schon wieder eins von diesen entsetzlichen Tieren! Nie wieder werde ich auf diese grässliche Insel gehen!« »Wirklich?« Ben grinste. »Wie schade!« Das Boot glitt um die Insel und die Stimmen der Leute wurden schwächer und schwächer. 73
Das Letzte, was die vier hörten, waren ein paar Töne aus dem Grammofon, die der Wind zu ihnen hinübertrug. »Ohne das Gedudel geht’s bei denen wohl nicht«, sagte Ben und reckte sich. »Ha, das war knapp! Und ohne das Gewitter, Daisy und die Fledermäuse hätten wir sie auf dem Hals gehabt.« »Ja«, sagte Lissy und fügte nachdenklich hinzu: »Hoffentlich hört dieser Eddie nichts von fortgelaufenen Kindern und erinnert sich dann an den Fußabdruck, das Stückchen Bindfaden, das Gackern und an das Brüllen einer Kuh.« »Ja«, sagte Ben, »wir müssen uns genau überlegen, wo wir uns verstecken, falls irgend jemand kommt, um euch zu suchen.« Das dumpfe Grollen des Donners kam über das Wasser und er grinste und sagte: »Dieses Mal war’s aber nicht Daisy. Los, wir müssen uns beeilen, sonst werden wir klatschnass. Ich muss noch melken, und Peggy, du bringst die Hühner in den Stall, und Lissy, du musst versuchen Feuer zu machen, ehe es anfängt zu regnen.« »In Ordnung«, riefen alle eifrig, froh, wieder allein auf ihrer Insel zu sein!
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X Konservendosen und Bananenschalen
Das Gewitter zog jetzt schnell herauf. Es wurde finster und der Wind immer stärker. Ben und Chris liefen davon, um Daisy zum Melken zu holen. Peggy brachte die Hühner in den Stall und Lissy versuchte das Feuer anzufachen. Aber es war zu spät, die ersten schweren Tropfen fielen. »Geht ins Zelt«, rief Ben, der mit Chris und Daisy zurückkam, »es hat keinen Zweck, das kriegst du nie mehr an!« Im strömenden Regen wurde Daisy gemolken, und dann trug Chris den gefüllten Eimer ins Zelt, während Ben sie unter das schützende Blätterdach eines Baumes führte. Im Zelt war es stockdunkel und die Kinder hockten zusammen am Eingang und starrten hinaus in den Regen. Chris fror, denn er war ziemlich nass geworden. »Der arme Ben«, sagte er, »er wird vollkommen durchweicht sein.« Ben kam zurück und tropfte wie eine gebadete Katze, aber er war vergnügt wie immer, ihn brachte so schnell nichts aus der Fassung. Dann zogen er und Chris sich um, und alle tranken von 75
der noch warmen Milch beim Schein der alten Stalllaterne, in der eine Kerze brannte. Der Regen trommelte auf das Dach und die vier fanden es sehr gemütlich. »Gut, dass die dichten Büsche den Wind abhalten«, sagte Ben, »wer weiß, ob uns das Zelt sonst nicht davonfliegen würde. Hört nur, wie die Bäume rauschen, es ist ein richtiger Sturm!« Das Gewitter stand jetzt direkt über ihnen. Blitze zuckten und der Donner krachte. »Klingt genauso, als ob jemand mit Möbeln um sich wirft«, sagte Ben nach einem Blick in Peggys blasses Gesicht und lachte. »Das eben hätte ein großer Kleiderschrank sein können.« »Und das jetzt ein Klavier, das die Treppe herunterpoltert«, meinte Chris. Ein greller Blitz zuckte vom Himmel und ließ es eine Sekunde lang taghell werden und Peggy flüsterte: »Ich fürchte mich doch ein bisschen.« »Ach Quatsch, wovor denn«, sagte Chris. »Du willst dich doch nicht etwa genauso albern benehmen wie die Frau vorhin? Außerdem finde ich, dass ein Gewitter eine großartige Sache ist, und wir sind hier ganz sicher.« »Es ist nur ein bisschen laut, das ist alles«, sagte Ben. »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Du kannst froh sein, dass du nicht Daisy bist, die hat es nicht so gut wie wir.« Nach einer Weile folgten Blitz und Donner nicht mehr so 76
kurz aufeinander. Das Krachen war nur noch ein Grollen und Ben grinste Peggy an. »Der himmlische Möbelwagen fährt weiter, höchstens noch ein paar Stühle werden abgeladen, keine großen Stücke mehr.« Alle lachten und Peggy am meisten. Der Regen rauschte noch immer, aber allmählich ließ er nach, und auch der Sturm legte sich. »Na also«, sagte Ben, »es wird schon wieder heller, sogar die Sonne ist noch einmal hervorgekommen. Ich wette, es gibt einen tollen Sonnenuntergang.« Die Kinder sprangen auf und liefen hinaus. »Hab ich einen Hunger«, stöhnte Chris. »Diese blöden Ausflügler haben uns mit ihrer Belagerung ja beinahe umgebracht. Gebt mir bloß was zu essen!« Lissy lachte und holte Brot und Käse und sie alle aßen mit großem Appetit. »Schade«, sagte Peggy, »ich hätte gern Kakao getrunken, aber es gibt auf der ganzen Insel kein trockenes Fleckchen, wo man heute noch Feuer machen könnte.« »Ich wüsste eins«, sagte Ben mit geheimnisvoller Miene, »aber da macht man besser keins.« »Wo?«, fragte Peggy neugierig. »Wo ist das? Dann können wir doch hingehen.« Er grinste. »Da brauchst du nicht weit zu laufen, auf der einzigen trockenen Stelle sitzen wir nämlich. Oder bist du etwa während des Gewitters nass geworden?« 77
Sie machte ein so verblüfftes Gesicht, dass alle sie amüsiert betrachteten, und Chris sagte anerkennend: »Wirklich, Mary Thompson hat uns ein prima Zelt verkauft, nicht ein Tropfen ist durchgekommen.« »Ach, ihr seid blöde.« Peggy sprang auf. »Ich bade jetzt, das Wasser ist immer so schön warm nach einem Gewitter.« »Tolle Idee!«, schrien alle, und gleich darauf stürzten sie den Abhang hinunter und schwammen weit hinaus. »Herrlich«, prustete Lissy, »herrlich warm, wie in der Badewanne.« »Habe ich doch gleich gesagt!«, rief Peggy. »Wahrhaftig, manchmal hast sogar du gute Einfälle«, rief Chris, aber gleich darauf schrie er laut auf: »Au! Jemand hat mich gekniffen!« »Das war ich«, sagte Peggy triumphierend dicht neben ihm. »Ich kann nämlich nicht nur schwimmen, sondern auch tauchen. Ich habe heimlich geübt, und weißt du auch, warum? Damit ich dich einmal ordentlich kneifen kann, wenn du frech wirst.« »Au, du Biest, lass das!«, schrie Chris und wollte nach ihr greifen, aber da war sie schon verschwunden und tauchte erst in sicherer Entfernung wieder auf. Lissy und Ben waren sprachlos vor Staunen und endlich sagte Ben bewundernd: »Toll, einfach toll, wie sie das kann, und keiner hat etwas davon gemerkt!« Als sie endlich aus dem Wasser stiegen, blieb Lissy plötzlich stehen und rief ganz empört: »Seht euch das nur an, was 78
diese Bande aus unserem schönen Strand gemacht hat!« »Ein wüster Anblick«, sagte Ben stirnrunzelnd. »Wenn man bedenkt, dass es Erwachsene waren!« Bananenschalen lagen im Sand, daneben eine leere Zigarettenpackung und zwei Konservendosen, und eine Zeitung wurde vom leichten Wind davongetrieben. Ben stieß mit dem Fuß gegen einen durchweichten Pappbecher, der daraufhin ein Stückchen weiterrollte. »Jetzt können wir denen auch noch nachräumen«, sagte er wütend. »Ja, wir heben alles auf und vergraben es. Es sieht doch zu hässlich aus«, meinte Lissy. »Warte mal.« Ben hielt sie am Arm fest. »Die Zigarettenschachtel, die Dose und zwei Pappbecher werden wir mitnehmen.« »Du bist wohl verrückt«, Chris lachte, »was willst du denn damit? Vielleicht kannst du ja die Bananenschalen auch noch verwenden und einen Pudding davon kochen, was?« »Das kannst du ja machen, guten Appetit übrigens. Ich interessiere mich nur für die Dosen, die Schachtel und die Becher. Ich habe mir nämlich überlegt, dass wir sie vielleicht ganz gut brauchen können, wenn wieder einmal jemand hierher kommt. Dann können wir die Sachen neben unsere Feuerstelle legen, und jeder wird glauben, dass Ausflügler hier gewesen sind und das Zeug liegen gelassen haben.« »Prima Idee!«, schrien alle und Peggy sagte eifrig: »Dann kommt auch niemand auf den Gedanken, nach 79
uns zu suchen, nicht wahr?« Ben bückte sich und hob gerade die Pappbecher auf, da trieb ein Windstoß ihm die Zeitung vor die Füße. Er nahm auch die und sagte: »Da erfahren wir endlich, was draußen in der Welt vorgeht.« Aber sie waren nach dem Baden viel zu müde, um noch zu lesen, und Ben faltete die Zeitung zusammen und legte sie zu seinen Sachen. Dann dauerte es nicht lange und sie waren alle eingeschlafen. Aber Ben schlief unruhig. Er träumte, die Ausflügler kämen zurück, um die leeren Konservendosen und die Pappbecher abzuholen. Ganz deutlich hörte er die Ruderschläge und fuhr schlaftrunken hoch. Er lauschte, aber es blieb totenstill, und er sank sofort wieder zurück. »Verrückt«, dachte er im Traum, »verrückt, doch das sieht diesem Eddie so richtig ähnlich!«
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XI Eine Schlagzeile und ein Schrecken
Am anderen Morgen verschliefen nicht nur die drei Geschwister, sondern auch ausnahmsweise Ben, und sie wurden erst von einem lauten Gebrüll geweckt. So nahe war es, dass sie alle im gleichen Augenblick in die Höhe fuhren und glaubten, es müsse im Zelt gewesen sein. Ben stürzte zum Eingang. »Kommt mal her!«, rief er. »Daisy steht draußen und ist dabei, die Hecke vom Hühnergehege niederzutrampeln.« Zärtlich strich er ihr über das glänzende Fell. »Ja, ja, du bist ein kluges Tier. Du willst gemolken werden, und als ich nicht kam, hast du dich auf den Weg gemacht, um mich zu suchen, und hast mich tatsächlich gefunden. Ja, ja, du bist klug.« Und dann rief er Chris zu: »Bring mir bitte den Holzeimer, und du, Lissy, mach gleich Feuer, sonst können wir heute Frühstück und Mittagessen zusammenlegen, es muss schon furchtbar spät sein!« Lissy lief ins Zelt, um Streichhölzer zu holen, und kam gleich darauf, die Zeitung in der Hand schwenkend, zurück. »Kann ich die zum Feueranmachen nehmen? Dann geht 81
es schneller. Und wenn du unbedingt Neuigkeiten hören willst, kannst du ja das Kofferradio einschalten. Stellt euch vor, wir haben es ganz vergessen und es nicht einmal angestellt. Verrückt, nicht?« »Ja, ja, nimm sie nur«, sagte Ben, der unter der Kuh vor dem schon fast gefüllten Eimer hockte. Lissy kniete vor dem kleinen Holzstoß und wollte die Zeitung gerade zusammenknüllen, um sie darunter zu schieben, als sie plötzlich innehielt und sie hastig glatt strich. »Da«, flüsterte sie aufgeregt, »da! Seht nur, was da steht!« Im Nu versammelten sich alle um sie und starrten auf das Blatt und auf die fett gedruckte Schlagzeile: »Kripo steht vor einem Rätsel! – Drei Kinder spurlos verschwunden!« »Sie suchen uns«, flüsterte Lissy wieder. »Überall suchen sie uns, und wir sind genau beschrieben, sogar von Peggys blonden Haaren ist die Rede!« »Oh«, stöhnte Peggy, »soll ich sie mir etwa abschneiden?« »Quatsch«, sagte Chris mit zusammengezogenen Brauen. »Erst mal abwarten, ob überhaupt jemand hierher kommt.« »Zeig mal«, sagte Ben und riss ihr das Blatt aus der Hand. Dabei fiel sein Blick zufällig auf das Datum. »Regt euch bloß nicht so auf«, sagte er, »die Zeitung ist alt, eine Abendausgabe vom letzten Mittwoch. Außerdem steht hier, dass die nähere Umgebung schon abgesucht worden ist und dass sie nun glauben, ihr hättet euch vielleicht von einem Lastkraftwagen mitnehmen lassen. Wenn die an die Insel gedacht hätten, wären sie längst hier gewesen. Übrigens«, fügte er 82
hinzu und grinste ein bisschen, »hier steht auch noch, dass eure liebevoll besorgte Wirtin Gwendolyn Grimm einen Nervenzusammenbruch erlitt.« Er lachte. »Das gönn ich der Alten, hoffentlich nimmt sie ein paar Pfund dabei ab.« Die drei atmeten auf. »Die hat sich aber mächtig angestrengt, dass sie gleich Alarm geschlagen hat«, sagte Chris. »Hätte ich ihr gar nicht zugetraut.« »Klar«, kicherte Lissy, »der blieb ja auch nichts anderes übrig.« Und Peggy nickte eifrig. »Das hat sie davon, warum hat sie uns nie etwas Ordentliches zu essen gegeben.« »Wir müssen aber trotzdem vorsichtig sein«, sagte Ben. »Wir müssen uns sofort nach einem guten Versteck umsehen. Wir wollen uns mal die Höhlen angucken.« Chris nickte. »Ja, gleich nach dem Frühstück.« Auf ihren Streifzügen hatten sie noch zwei weitere Höhlen entdeckt. Die eine schien sehr groß zu sein, der Eingang zu der anderen aber war so niedrig und eng, dass sich höchstens ein Kind hindurchzwängen konnte, und er lag ganz verborgen hinter dichtem Gebüsch. So machten sie sich also gleich nach dem Essen, mit ihren Taschenlampen und einer Laterne bewaffnet, auf den Weg dorthin. »Wir gehen zuerst in die große«, entschied Ben und ließ gleich darauf den Lichtstrahl in die dunkle Öffnung fallen. Dann ging er als Erster hinein und die anderen folgten ihm. Die Höhle war wirklich riesig, doch leider sehr übersicht83
lich und bot keine Gelegenheit, sich zu verstecken. Es roch dumpf und modrig und Spinnweben hingen überall von Decken und Wänden. Peggy fror. Chris ging an den Wänden entlang und leuchtete jede sorgfältig ab. Und plötzlich entdeckte er weit hinten an der dem Eingang gegenüberliegenden etwas Seltsames. Der Fels war von oben nach unten gespalten in einer Breite von etwa einem halben Meter. Zuerst schien es ihm, als läge dahinter wieder nur Felsen, aber es schien nur so. Ein Gang, von vorspringendem Gestein halb verborgen, führte tiefer in den Hügel hinein. »Kommt her«, schrie er, »ich habe etwas Wichtiges entdeckt!« Aufgeregt drängten sich alle um ihn. Ben leuchtete in den Spalt und zwängte sich gleich darauf hindurch und einer nach dem anderen tat es ihm nach. Der verhältnismäßig breite Gang verlief in vielen Windungen, und manchmal mussten die Kinder über Gesteinsbrocken und Geröll steigen, und tief herabhängende Baumwurzeln berührten ab und zu ihr Haar. Endlich endete er in einer zweiten, seltsamerweise gar nicht so dunklen, ziemlich großen Höhle, in der die Luft viel frischer war. »Da!«, rief Peggy und zeigte hinauf zur Decke. »Man kann ein Stückchen Himmel sehen!« Tatsächlich, dort oben fiel durch eine kleine Öffnung ein Streifen Tageslicht. 84
Ben war erstaunt. »Das haben sicher Kaninchen bei ihrer Buddelei gemacht. Hier könnte man es übrigens im Falle der Not aushalten. Frische Luft ist wenigstens da.« Die Kinder entdeckten noch einen zweiten Gang, der von hier aus in eine andere kleinere Höhle führte. Und zu ihrer Überraschung stellten sie fest, dass sie einen Ausgang ins Freie besaß und es sich um einen niedrigen engen handelte, durch den ein Erwachsener niemals gelangen konnte. Befriedigt von dem Ergebnis ihrer kleinen Expedition, liefen die vier wieder zurück und setzten sich draußen in den warmen Sonnenschein. »Hört zu«, sagte Ben, »in dieser Höhle da hinten können wir uns ganz gut verstecken und Daisy auch.« »Daisy?«, sagte Chris. »Du bist verrückt, die geht doch niemals durch den Spalt!« »Doch, doch, das kann sie«, meinte er, »gleich morgen fang ich an mit ihr zu üben, damit sie sich daran gewöhnt und sich nicht mehr fürchtet, wenn es einmal so weit sein sollte. Zuerst wird sie sich natürlich sträuben und brüllen und im Ernstfall darf sie das ja nicht.« Die anderen starrten ihn ungläubig an. »Na, ihr werdet es ja erleben. Die Hühner können ihr übrigens Gesellschaft leisten. Ich bin bloß froh, dass die nicht auch ihr Format haben.« Peggy kicherte, als sie sich die Hennen so groß wie Kühe vorstellte. »Schade, dass wir das Boot nicht auch reinbringen kön85
nen«, murmelte Chris. »Ach, das entdeckt schon niemand unter dem dichten Gebüsch und den Bäumen. Und unser Zelt? Ob wir es überhaupt abbauen müssen? Vielleicht ist es gar nicht nötig. Es liegt so tief im Dickicht und der Eingang ist so versteckt, dass es kein Mensch finden wird.« »Ich wünschte beinahe, es käme jemand«, sagte Peggy und seufzte, »es wäre so herrlich aufregend!« »Ein bisschen zu aufregend«, fand Ben. »Stell dir nur vor, was los wäre, wenn wir wirklich eines Tages ein Boot auf unsere Insel zubrausen sehen würden, was wir da alles zu tun hätten!« »Wollen wir nicht vielleicht jetzt schon alles genau besprechen?«, fragte Chris. »Ja, also, ich bringe Daisy sofort in Sicherheit, du packst die Hühner in einen Sack, und Lissy muss das Feuer austreten, und es darf kein Fünkchen mehr glimmen, hörst du? Es muss so aussehen, als ob es schon lange kalt wäre. Außerdem musst du die Zigarettenschachtel, die beiden Pappbecher und die Dosen zwanglos verstreuen, damit niemand Verdacht schöpft.« »Und ich?«, fragte Peggy. »Was soll ich machen?« »Du gehst zur Quelle und holst den Milcheimer.« »Gut«, sagten alle und Chris runzelte die Stirn. »In deiner Haut möchte ich nicht stecken, ich möchte Daisy nicht in so einer Hetzjagd da drinnen unterbringen, wäre mir viel zu anstrengend. Und was passiert, wenn sie stecken bleibt?« 86
»Sie bleibt schon nicht stecken«, meinte Ben, »so dick ist sie gar nicht, das täuscht. Übrigens können wir auch Heidekraut in die Höhle bringen, damit wir es ein bisschen bequem haben, wenn wir wirklich länger drinbleiben müssen.« »Und ein paar Kerzen können wir an den Eingang legen«, schlug Lissy vor. »Ich denke es mir scheußlich, so im Dunkeln zu sitzen.« »Und noch eins«, begann Ben wieder. »Wenn wir jetzt öfter in die Höhle gehen, dann nur durch den engen, versteckten Eingang, ja? Dass wir in der großen und im Gang Spuren hinterlassen, ist ja nicht gerade nötig. Mit Daisy muss ich zwar da durch, aber das lässt sich leider nicht ändern.« »Ein tolles Versteck haben wir«, sagte Chris, »so etwas findet man nicht alle Tage.« »Bin ich hungrig!«, stöhnte Lissy plötzlich. »Was haltet ihr von Spiegeleiern? Und Peggy kann noch eine Schüssel voll Erdbeeren pflücken.« »Ja, los«, rief Peggy, froh, die dunklen Höhlen verlassen zu können, und beide liefen den Hügel hinauf. »Moment mal«, sagte Chris, »mir fällt eben ein, dass es vielleicht eine Verbindung zwischen der Höhle, die wir am Anfang gefunden haben, und denen hier gibt. Wollen wir schnell noch nachsehen?« Ben nickte. »Können wir, dauert ja höchstens zwei Minuten.«
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XII Zwei Männer und zwei Koffer
Die Jungen zwängten sich durch das Gebüsch und standen nach wenigen Minuten vor der dunklen Öffnung. »Also los«, sagte Ben. Der kleine runde Raum war stockfinster und roch nach Fledermäusen. Sorgfältig leuchteten sie die Wände ab. Nein, es bestand keine Verbindung zu den anderen Höhlen, es gab nur den einen Zugang am Abhang des Hügels. »Fehlanzeige«, murmelte Ben, drehte sich um, und in diesem Augenblick fiel der Schein seiner Taschenlampe auf eine tiefe Nische dicht neben dem Höhleneingang. »Was ist denn das?«, sagte er, tat ein paar Schritte und betrachtete sie genauer. »Komm mal her«, flüsterte er, »dahinten steht irgendetwas.« Er zwängte sich hinein, Chris hörte einen erstaunten Ausruf, und eine Sekunde später kam Ben mit einem kleinen Koffer in der Hand zurück. Chris starrte verblüfft darauf und schüttelte den Kopf. »Wie kommt denn der hierher?« »Möcht ich auch wissen«, murmelte Ben. 88
»Er kann doch nicht den Ausflüglern gehören, oder?« »Du spinnst, die sind doch gar nicht bis hierher gekommen. Wollen wir ihn aufmachen?« Ben stellte ihn auf den Boden und sie betrachteten ihn schweigend. Dann sahen sie einander an. »Ich weiß nicht«, sagte Chris, »aber ’ne Höllenmaschine wird wohl nicht drin sein.« »Also gut, machen wir ihn auf«, entschied Ben. »Noch nicht mal abgeschlossen«, staunte er, »na, vielleicht ist er ja leer.« Und dann schlug er den Deckel zurück. »Eine Decke aus Kaninchenfellen«, sagte Chris. »Ob irgendwelche Ausflügler das Ding hier vergessen haben?« »Möglich.« Ben zuckte die Schultern und nahm die Felle mit spitzen Fingern heraus. »Noch eins, aber da ist irgendetwas drin eingewickelt.« Und gleich darauf stießen beide einen Schrei aus. »Schmuck!«, stöhnte Chris. »Lauter Schmuck!« Sie hockten beide davor und starrten auf Ketten, Armbänder und Ringe. »Geklaut, das ist bestimmt geklaut!« Ben nickte. »Bestimmt!« »Ich hole die Mädchen!«, schrie Chris und jagte davon. Ben nahm eine Perlenkette und ließ sie durch die Finger gleiten. »Verrückt«, dachte er, »wie soll das Zeug hierher gekommen sein? Ob es schon lange hier liegt? Wenn jemand auf die Insel gekommen wäre, hätten wir es doch merken müssen.« 89
Und plötzlich erinnerte er sich an seinen Traum in der vergangenen Nacht. War es gar kein richtiger Traum gewesen? Er hörte wieder die Schläge der Riemen im Wasser und sein Herz fing schneller an zu schlagen. Und auf einmal wusste er, dass er das alles gar nicht geträumt hatte. Jemand war auf der Insel gewesen, Diebe waren auf ihrer Insel gewesen! Schnelle Schritte ließen ihn hochfahren, und er hörte, wie Lissy sagte: »Du spinnst«, und wie Peggy jammerte: »Du willst uns nur einen Schrecken einjagen, das kenn ich doch, das hast du schon öfter gemacht, du bist immer so gemein!« Und dann Chris’ Stimme: »Na, du wirst’s ja erleben.« Und gleich darauf standen er und die Mädchen neben ihm. »Na«, sagte Chris, »glaubt ihr’s nun?« Ohne ein Wort zu sagen, starrten die beiden auf den funkelnden Inhalt des Koffers. »Jetzt sind wir ja gar nicht mehr sicher«, flüsterte Lissy endlich. »Die können ja jede Minute wiederkommen.« »Ich fürchte mich«, jammerte Peggy, »oh, ich fürchte mich!« »Die kommen höchstens nachts«, tröstete Ben sie, »und dann gehen sie bestimmt nur hierher. Die denken doch gar nicht daran, dass noch jemand auf der Insel sein könnte.« Er schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Übrigens habe ich etwas Komisches erlebt.« Und flüsternd erzählte er ihnen von seinem Traum in der 90
letzten Nacht und dass er jetzt genau wusste, dass er tatsächlich ein Boot hatte kommen hören. »Wir müssen von nun an Wache halten«, schloss er. »Chris und ich wechseln uns ab.« Nachdem sie den Koffer geschlossen und wieder an seinen Platz gestellt hatten, machten sie sich bedrückt und schweigend auf den Rückweg. »Eigentlich müsste man der Polizei Bescheid sagen«, flüsterte Peggy nach einer Weile. »Ha, ha,« machte Chris, »du bist gut und wir dürfen unser Quartier wieder bei der Grimm aufschlagen, was?« »Ich dachte ja nur so«, murmelte sie und kaute an einer ihrer Haarsträhnen. An diesem Tag waren die vier nicht so fröhlich wie sonst. Unablässig mussten sie an ihre Entdeckung denken, und als es dunkel wurde, wurden sie noch schweigsamer. Endlich ging Ben als Erster hinunter zum Strand, um in den Büschen versteckt Wache zu halten. Der Mond war noch nicht aufgegangen und nur der weiße Sand des Strandes leuchtete matt. Manchmal fuhr ein Windstoß durch die Bäume und ab und zu schrie ein Käuzchen. Ben starrte über das Wasser und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen, und er dachte daran, dass sie nun vielleicht jede Nacht hier sitzen und warten mussten. Plötzlich durchfuhr ihn ein Schrecken. Was wäre, wenn der Kerl, oder waren es sogar vielleicht mehrere, sich selber hier verstecken wollte? Dann mussten sie ja die Insel verlas91
sen und Chris, Lissy und Peggy zu Mrs. Grimm zurück. Nein, es blieb ihnen dann wohl nichts anderes übrig, als die Polizei zu benachrichtigen, gleich morgen, und außerdem konnten sie es schließlich nicht zulassen, dass die Diebe den Koffer abholten und damit verschwanden. Etwa eine Stunde war vergangen, als er plötzlich in der Ferne Ruderschläge zu hören glaubte. Mit klopfendem Herzen bog er vorsichtig die Zweige auseinander, um den See besser überblicken zu können. Hatte er sich getäuscht? Aber nein, jetzt hörte er es ganz deutlich, ein Boot näherte sich. Zuerst konnte er nichts erkennen, doch dann tauchte ein dunkler Schatten auf dem Wasser auf. Und ein wenig später erkannte er die Umrisse zweier Gestalten, und ein paar Minuten danach hörte er, wie ein Boot knirschend auf den Strand auflief. Zwei Männer sprangen heraus, der eine trug einen Koffer in der Hand. »Verflucht schwer, das Ding«, hörte er ihn sagen, »hat sich aber gelohnt diesmal!« »Und wem hast du das gute Versteck zu verdanken?«, fragte der andere. »Habe oft als Kind hier gespielt, Räuber und Gendarm, ho, ho, ho!« Die Schritte entfernten sich in Richtung Höhle, und Ben überlegte, dass es vielleicht besser sei, den beiden nachzuschleichen. Vielleicht erfuhr er etwas Wichtiges. Aber vorher musste er Chris Bescheid sagen. »He«, flüsterte er wenig später und fasste ihn an der Schulter, »he, du!« 92
Chris war sofort hellwach. »Ist es so weit? Muss ich dich ablösen?« »Nein, nein, die Kerle sind schon da, eben gekommen, sie sind schon in der Höhle. Ich will jetzt hinterher, und du musst hier bleiben und aufpassen, dass die Mädchen sich ruhig verhalten, falls sie aufwachen.« »Gut«, flüsterte Chris, »aber ich möchte doch …« Er schwieg, denn Ben war wie ein Schatten in der Dunkelheit verschwunden. Lautlos schlich er davon und blieb der dunklen Öffnung im Abhang des Hügels gegenüber regungslos im dichten Gebüsch stehen. Von den beiden war nichts mehr zu sehen, aber er konnte sie sprechen hören. »Also, die haben wir auf Numero sicher«, sagte der eine. »Und wir setzen uns jetzt erst mal ab, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Du kannst in York bleiben und ich geh noch ’n Stückchen weiter rauf. Ich geb dir ’n Brief mit für’n Freund von mir, bei dem kannst du unterkriechen. Hab ihm auch schon mal ’n Gefallen getan.« »Diese verdammten Gören«, brummte der andere, »mussten die ausgerechnet jetzt verschwinden? Wenn die nicht gewesen wären, wären wir schon längst über alle Berge. Aber so, Bullen, wo du hingucktest und spucktest, wärst ja beinah über die Kerle gefallen.« »Lass gut sein, Johnny«, sagte der erste, »hat ja noch geklappt.« Er lachte. »Tatsache, hab auch geglaubt, wir kom93
men nie auf dieses schöne Fleckchen Erde hier.« »Ja«, knurrte der andere wieder, »haben ja die ganze Gegend durchgeschnüffelt nach dieser verflixten Bande. Habe tatsächlich gedacht, die schnappen uns noch bei der Gelegenheit. War höchste Zeit, dass sie die Suche abgeblasen haben!« Die Männer erschienen jetzt am Eingang und gingen gleich darauf langsam an Bens Versteck vorüber. »Also, in ungefähr acht Wochen, sagen wir, na, sagen wir am zwanzigsten September erscheinen wir hier wieder. Dann ist die Luft rein und wir können den Plunder abholen. Aber lass dir nicht einfallen, vorher hier aufzukreuzen. Dann sollst du mich kennen lernen, und dann …« »Was du von mir denkst, bin doch ’n Ehrenmann!« Die Stimmen wurden leiser und leiser. Ben hörte, wie sich die Männer am Boot zu schaffen machten und kurz darauf davonruderten. Dann war es wieder totenstill!
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XIII Billy darf mit
Noch in der Nacht erzählte Ben den dreien alles, und so aufgeregt sie erst waren, so fiel ihnen doch ein Stein vom Herzen, als sie erfuhren, dass man die Suche nach ihnen aufgegeben hatte. »Nun brauchen wir keine Angst mehr zu haben«, sagte Peggy, »und die Diebe kommen auch erst in acht Wochen wieder, dann sind wir schon längst bei Vater und Mutter.« Ben nickte. »Und die Polizei brauchen wir auch noch nicht zu benachrichtigen, das können wir machen, wenn wir von hier fortgehen.« Seit dieser aufregenden Nacht waren ein paar Tage vergangen, jeder warm und sonnig vom Morgen bis zum Abend, und die Kinder wurden braun wie die Indianer, denn sie verbrachten die meiste Zeit am Strand. Dort waren sie am liebsten, lagen im heißen Sand oder schwammen oder ruderten, wenn es dämmerte, ein Stück auf den See hinaus, denn dann brauchten sie nicht zu befürchten, gesehen zu werden. Auch an diesem Abend saßen sie alle im Boot und Ben 95
hatte seine Angeln ausgeworfen. Es war sehr warm und sie blieben lange draußen. Sie sahen über das im Mondschein silberglänzende Wasser hinüber zum anderen Ufer und zum Wald, der sich schwarz gegen den helleren Himmel abhob. Erst als Peggy eingeschlafen war, ruderten sie zurück, befriedigt über Bens Fang und alle todmüde. Und am anderen Morgen verschliefen sie, wie schon so oft. »Dabei habe ich heute noch allerhand vor«, murmelte Ben, und gleich nach dem Frühstück führte er Daisy, nun zum dritten Mal, zur Höhle. Mit großer Geduld hatte er versucht, sie dazu zu bewegen, sich durch den engen Spalt zu zwängen. Anfangs sträubte sie sich sehr, aber er hatte nicht lockergelassen, und zum größten Erstaunen der anderen gelang es ihm endlich, sie in den Gang zu locken. Zur Belohnung gab er ihr eine große, saftige Rübe. Beim zweiten Mal stellte sie sich zwar noch immer auf die Hinterbeine, doch sie brüllte nicht mehr und versuchte auch nicht auszuschlagen. Und wieder bekam sie eine Rübe. Und jetzt war sie ganz friedlich und schien sich genau gemerkt zu haben, dass nach dieser unangenehmen, beschwerlichen Reise etwas Gutes auf sie wartete. »Hoffentlich wird sie nicht dicker«, sagte Chris stirnrunzelnd, »dann kommt sie bestimmt nicht mehr durch.« »Ach wo.« Ben war sehr zufrieden mit seinem Erfolg und auch sehr zuversichtlich. »Die Hauptsache ist, dass sie sich 96
nicht mehr fürchtet.« Hin und wieder musste er nun doch, wenn es dunkel wurde, an Land rudern, um aus des Großvaters Scheune Kartoffeln zu holen, denn leider hatten ihre Vorräte stark abgenommen. Sie brauchten zwar keine Angst zu haben, hungern zu müssen, denn Milch, Eier, Fisch, Pilze und Erdbeeren gab es immer, aber es fehlte jetzt doch an vielem. Zucker, Salz und Brot wurden knapp. »Wenn ohne Salz gekocht wird, esse ich nichts mehr«, verkündete Chris brummig. »Das kann kein Mensch von mir verlangen.« Ben hätte ja in die Stadt fahren können, um einzukaufen, aber sie besaßen kein Geld mehr! »Ich hatte keine Ahnung, dass man so viel Salz braucht.« Lissy seufzte. »Unsere Taschenlampen machen es übrigens auch nicht mehr lange, wir brauchen Batterien, und Kerzen sind auch nicht mehr viele da.« Alle schwiegen bedrückt, doch dann sagte Ben plötzlich: »Also, dann muss ich euch wohl retten und morgen in Poltelly einkaufen.« Alle starrten ihn verblüfft an. »Glaubst du etwa, es schenkt dir einer was?«, fragte Chris. Ben lachte. »Nein, das glaube ich nicht, aber mir ist eben eine großartige Idee gekommen. Wir sammeln morgen ganz früh einen Sack voll Champignons und die verkaufe ich für teures Geld. Für so was gibt’s, glaube ich, ’ne ganze Menge.« »Prima!«, schrie Chris und auch Lissy und Peggy waren 97
begeistert. »Und ich kann Körbchen aus Binsen flechten, ich weiß, wie man das macht, und da legen wir die Pilze rein«, sagte Peggy eifrig. »Toll«, sagte Ben. »Und ich pflücke Erdbeeren, die nimmst du dann auch noch mit!«, rief Lissy. »Ja, das wäre nicht schlecht, die werden, glaube ich, sehr gut bezahlt.« Mit Feuereifer machte Peggy sich daran, kleine Körbe zu flechten, und bald standen die ersten neben ihr im Gras. Als es Abend wurde, zählte sie sie mit hochrotem Gesicht. Es waren 27! »Wenn wir die alle voll bekommen, dann können wir ganz schön Geld einnehmen«, sagte Chris und strahlte, »dann können wir kaufen, was wir brauchen.« An diesem Abend gingen sie sehr früh zu Bett. Da sie keinen Wecker besaßen, schien ihnen das das sicherste Mittel, nicht zu verschlafen, denn sie wollten ja schon bei Morgengrauen aufstehen. Sie legten sich alle draußen vors Zelt ins Heidekraut, so warm war die Nacht. Sie taten es immer, wenn sie sicher sein konnten, dass es nicht regnen würde. Sie fanden es wunderbar, unter den Bäumen, durch deren Zweige sie den Himmel mit den tausend Sternen sehen konnten, zu liegen, und herrlich, nach dem heißen Tag die kühle Brise vom See her zu spüren. 98
Die ersten Male waren sie oft aufgewacht, und schon ein Igel, der vorbeilief, ließ sie hochschrecken. Jetzt aber war es anders. Kein Geräusch konnte ihren Schlaf stören. Eines Morgens sah Lissy, dass eine Spinne ein Netz von Peggys Nasenspitze bis zu deren Haaren gesponnen hatte. Sie konnte kaum aufhören zu lachen und Peggy lachte mit. »Spinnen bringen Glück«, sagte sie und vergaß ganz, sich zu fürchten. Auch in dieser Nacht schliefen sie tief und fest, bis im Osten der Himmel heller wurde, und sie erwachten von dem Gesang eines Rotkehlchens über ihnen in den Zweigen und liefen zum Strand hinunter, um zu baden. »Ganz schön kühl heute«, stellte Chris fröstelnd fest. »Wer zuerst vom Pflücken zurück ist, macht gleich Feuer und setzt Wasser auf, damit wir heißen Tee trinken können.« Die Jungen schlugen den Weg zu der Wiese ein, auf der die Champignons wuchsen, und Lissy und Peggy liefen zu der Stelle, an der Unmengen von Walderdbeeren zwischen dem Grün der Blätter leuchteten. Bald hatten sie die Körbchen gefüllt, und Peggy betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf und sagte, während sie befriedigt an einer ihrer Haarsträhnen kaute: »Hübsch sieht das aus!« Und ein paar Minuten später machten sie Feuer und kochten Tee, und als Lissy gemolken hatte, kamen die Jungen zurück, beladen mit dem Sack voller schneeweißer 99
Champignons. Nach dem Frühstück, das aus Spiegeleiern und geschmorten Pilzen bestand, trugen die Mädchen die Körbe zum Boot, verstauten sie im Heck und bedeckten sie mit Holunderblättern zum Schutz gegen die Fliegen. »Also, dann zieh ich jetzt los«, sagte Ben, trank seinen Tee aus und stand auf. Lachend und schwatzend liefen sie hinunter zum Strand, nur Peggy war seltsamerweise still und schien angestrengt über etwas nachzudenken. »Was ist denn mit dir los?«, fragte Chris und gab ihr einen freundschaftlichen Stoß. »Wie soll Ben eigentlich die vielen Körbe ganz allein bis zur Stadt bringen?«, fragte sie. »Das überlege ich mir schon die ganze Zeit.« »Wird schon gehen«, beruhigte er sie. »Ich habe mir zwei lange Stöcke geschnitten und reihe sie darauf auf und nehme in jede Hand einen.« »Trotzdem«, sagte Lissy langsam, »sie hat Recht. Es sind so viele. Ob du sie überhaupt alle auf einmal mitnehmen kannst?« Ben zuckte die Schultern. »Wenn nicht, muß ich eben welche im Boot lassen und zweimal laufen, aber das wäre dumm.« »Nimm mich mit«, sagte Peggy plötzlich, »bitte nimm mich mit.« »Du bist wohl verrückt geworden«, riefen die drei. »Dich würden sie sofort erkennen, gerade dich mit deinen hellen 100
Haaren!« »Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte sie eifrig. »Wenn ich als Junge gehe, wenn ich Chris’ Schirmmütze aufsetzen würde und die Haare darunter verstecke und wenn ich meine Shorts anziehe und ein Hemd von Chris, niemand würde etwas merken!« Die anderen starrten sie mit offenem Mund an. »Ach, du bist verrückt«, sagte Lissy wieder. »Ihr könnt euch ja selbst überzeugen«, rief Peggy, jagte den Abhang hinauf zurück zum Zelt und war nach wenigen Minuten wieder da. Im bunt karierten Hemd, die Haare sorgsam unter der Mütze versteckt, stand sie breitbeinig vor ihnen und fragte triumphierend: »Na, was sagt ihr jetzt?« »Wirklich, sie sieht aus wie ein Junge!«, schrien alle und Chris sagte anerkennend: »Nein, dich erkennt bestimmt noch nicht mal die Grimm, wenn sie dich zufällig treffen sollte.« »Na, dann komm mit, Billy«, sagte Ben und lachte. »Einen anderen Namen musst du ja nun haben.«
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XIV Beinahe erwischt
Sie ruderten davon, die anderen winkten ihnen nach. Bald erreichten sie den kleinen versteckten Landeplatz, Ben machte das Boot fest, und er und Peggy beluden sich mit den Körben und liefen durch den Wald bis zur Landstraße. »Also komm, Billy«, er grinste, »auf nach Poltelly. Und dass du immer daran denkst, dass du ein Junge bist. Am besten ist es, du tust den Mund so wenig wie möglich auf, das mache ich schon.« Es war ein weiter Weg und es wurde allmählich heiß; ab und zu setzten sie ihre Last ab und wischten sich den Schweiß von der Stirn. »Pass nur auf, dass deine Mütze nicht verrutscht«, sagte Ben besorgt. Endlich erreichten sie die Stadt, und sie hatten Glück, es war gerade Wochenmarkt. Auf dem Platz, an dem auch die kleine Konditorei lag, in der sie damals alle zusammen gegessen hatten, war eine Unmenge von Buden und Ständen aufgestellt. »Prima«, sagte Ben, »an Markttagen werden wir das Zeug 102
leichter los. Halte dich immer dicht hinter mir, hörst du!« Sie drängten sich durch die Menschenmenge und er fing an zu rufen: »Champignons! Zuckersüße Walderdbeeren!« Die Leute blieben stehen und versammelten sich um ihn. Champignons und Walderdbeeren, das war etwas Besonde-
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res. Sie lobten die Ware, bewunderten die geflochtenen Körbchen und kauften. Ein Geldstück nach dem anderen wanderte in seine Hosentasche. Als sein Vorrat zu Ende ging, drehte er sich strahlend nach Peggy um, die wie ein kleiner Hund hinter ihm hertrottete, und nahm ihr die restlichen Körbe ab. Bald waren auch die verkauft bis auf einen. Und diesen einen begutachtete jetzt eine alte Frau und betrachtete Ben dann freundlich über ihren Brillenrand hinweg. »Hähä«, kicherte sie, »dich sollte ich doch kennen, wie? Bist du nicht der Junge, der damals mit den anderen Kindern bei mir, bei Mary Thompson, so viel eingekauft hat? Hähä, das waren doch die drei, die sie überall gesucht haben, wie?« Im ersten Augenblick schwieg er entsetzt, aber dann fasste er sich schnell. »Ach wo«, sagte er und sah die Alte unschuldig an. »Ach wo, die waren das nicht!« »So, so«, sagte sie zweifelnd, und dann fiel ihr Blick auf Peggy, die sie, dicht an Ben gedrängt, krampfhaft seine Hand haltend, erschrocken anstarrte. »Wenn sie doch nur ein Stückchen weitergegangen wäre«, dachte er verzweifelt. Stattdessen starrte sie die Alte an wie ein Kaninchen eine Schlange. Und die begann jetzt von neuem, während sie auf Peggy hinuntersah: »Hähä, und du bist auch schon so tüchtig und hilfst verkaufen? Wie heißt du denn, mein Kleiner?« 104
»Peg …«, stammelte Peggy, verstummte und die Röte stieg ihr ins Gesicht, bis hinauf unter den tief herabgezogenen Mützenrand. Ihr war ganz heiß geworden. Unwillkürlich schob sie die Mütze ein Stück zurück, und eine ihrer blonden Haarsträhnen kam zum Vorschein. Die alte Frau starrte darauf und Ben wurde blass. »Wir müssen weiter«, murmelte er hastig, drehte sich um, zog Peggy mit sich und ließ die Alte mit dem Körbchen in der Hand einfach stehen. »Aber ich habe ja noch gar nicht bezahlt!«, rief sie und sah den Davoneilenden kopfschüttelnd nach. Ein großer Polizist trat zu ihr. »Etwas nicht in Ordnung mit den beiden? Haben sie Sie bestohlen?« »Hähä, nein, nein, im Gegenteil, ich hatte noch gar nicht bezahlt. Aber den Größeren habe ich mit den gesuchten drei Kindern zusammen gesehen, am Tag, ehe sie verschwanden. Und der kleine Junge hat lange blonde Haare unter seiner Mütze versteckt, hähä!« »Was?«, sagte der Polizist und machte sich mit Riesenschritten an die Verfolgung. Er hatte die beiden bald eingeholt und legte Ben die Hand auf die Schulter. Der blieb wie erstarrt stehen und sah an dem Uniformierten hinauf. »Hör mal«, begann der, »Mrs. Thompson sagte mir eben, dass du die drei verschwundenen Kinder kennst und …« »Mrs. Thompson irrt sich«, erklärte Ben so ruhig wie 105
möglich, und Peggy fischte voller Angst nach ihren Haaren, um darauf zu kauen, fand sie aber nicht, weil diese wieder wohl verborgen unter ihrer Mütze steckten. »Heißt du vielleicht Peggy?«, fragte der Polizist. »Mrs. Thompson hat mir gesagt, dass du gar kein Junge bist, sondern ein kleines Mädchen.« Er machte eine Bewegung, wie um nach ihrer Mütze zu greifen. Doch Ben packte ihren Arm und stürzte mit ihr durch die Menge, die sich um sie versammelt hatte. Hände griffen nach ihnen, aber sie rissen sich los und entkamen in der allgemeinen Verwirrung. Sie hetzten an ein paar Häusern vorüber, um die nächste Ecke, durch ein Gartentor, rasten den Weg entlang und verschwanden hinter einem Bauernhaus. Sie jagten weiter durch den Gemüsegarten bis zu einem Hühnergehege mit einem kleinen Stall darin. Schnell stieß Ben die Tür auf und zog Peggy mit sich in das dunkle Innere. Keuchend und außer Atem hockten sie sich in die finstere Ecke ins Stroh. Und dann hörten sie schon viele schnelle Schritte, Rufen und Schreien, und hofften inbrünstig, dass niemand sie hier hereinlaufen gesehen hatte, und krochen noch mehr in sich zusammen. Die Schritte kamen näher und näher, und sie hörten, wie ein Mann sagte: »Ich begreife nicht, wo sie geblieben sind. Diese verflixten Gören, sie sind wie vom Erdboden verschluckt.« Und dann entfernte sich der Lärm, verhallte, und dann 106
war es wieder still. Peggy seufzte tief auf, ihr Herz klopfte noch immer laut und wild. »Pst«, machte Ben, denn er hatte etwas gehört. Aber es war nur eine Henne, die hereinkam, laut gackernd in einem Nest kratzte und sich dann niederließ, um ein Ei zu legen. Stunden um Stunden blieben sie in ihrem Versteck, denn sie wagten es nicht, den Rückweg bei Tage anzutreten, und auch zu sprechen wagten sie kaum. Doch es kam niemand, nur ab und zu ein Huhn, das ein Ei legte und wieder verschwand. »Hoffentlich finden sie uns nicht, wenn sie die Eier holen«, flüsterte Ben und fühlte sich elend, als er daran dachte, wie Chris und Lissy sich ängstigen würden. Und plötzlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass man jetzt sicher von neuem mit der Suche nach ihnen beginnen würde, vielleicht das Boot entdeckte und die beiden auf der Insel vielleicht schon gefunden hatte. Aber davon sagte er Peggy nichts. Am späten Nachmittag kam jemand, um die Eier zu holen. Eine Frau streckte den Arm durch die geöffnete Tür, eine Hand griff in die Nester, und dann wurde die Tür wieder geschlossen. Sie waren nicht gesehen worden! Es dämmerte und die Hühner setzten sich eines nach dem anderen auf ihre Stangen. Als es ganz dunkel geworden war, schlichen die Kinder endlich davon. Es war ganz still rundum, nur aus der Küche des Hauses 107
hörten sie das Klappern von Geschirr. Sie schlichen den Gartenweg entlang, und als sie die Straße erreicht hatten, begannen sie zu laufen. Beinahe den ganzen Weg bis zum See liefen sie, ohne auch nur ein einziges Mal stehen zu bleiben. Würde das Boot noch da sein? Und dann stieß Ben einen Seufzer der Erleichterung aus. Es lag noch dort, wo sie es versteckt hatten, leicht schaukelnd auf dem Wasser, und sie sprangen hinein.
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XV Ist noch Zeit genug?
Ben stieß vom Ufer ab und griff hastig nach den Riemen. »Bloß weg«, flüsterte er, »damit sie uns nicht doch noch erwischen.« Peggy war auf die Bank gesunken und jammerte: »Oh, ich Riesenkamel! Ich habe mich zu blöde benommen. Ich bin schuld, dass sie uns beinahe geschnappt hätten.« »Blödsinn«, sagte Ben. »Ich hätte daran denken müssen, dass irgendetwas passieren könnte. Du warst ja viel zu erschrocken und dann macht man gerade alles falsch.« Schweigend ruderten sie weiter und erreichten die Insel gerade, als der Mond aufging. Lissy und Chris saßen am Strand und warteten voller Angst. Als sie die Ruderschläge hörten, sprangen sie auf und liefen zur Landestelle. »Wo seid ihr nur so lange geblieben?«, riefen sie. »Ist irgendetwas passiert? Wir haben geglaubt, ihr kommt nie wieder!« »Wäre auch beinahe so gewesen«, sagte Ben. »Kommt, wir erzählen euch alles im Zelt.« »Und eingekauft haben wir auch nichts«, murmelte Peggy schuldbewusst. 109
Bald saßen sie am Feuer, tranken heißen Kakao, aßen hart gekochte Eier und gebratenen Fisch und erzählten. Alle waren bedrückt. Ihre Sache stand wirklich nicht gut und Peggy weinte leise. »Heul nicht«, tröstete Ben sie und legte seinen Arm um ihre Schulter. »Schließlich waren wir auf so etwas schon immer gefasst, und wenn wir vorsichtig sind, braucht uns niemand zu finden. Wir wollen erst mal schlafen gehen. Jetzt sind wir viel zu müde und aufgeregt, und es hat keinen Zweck, noch länger über die Sache nachzudenken. Wir besprechen morgen lieber alles in Ruhe.« Eine Weile noch lagen sie wach, doch dann schlief einer nach dem anderen ein. Am nächsten Morgen standen sie sehr früh auf. Daisy wurde gemolken, die Hühner gefüttert, und dann saßen sie beim Frühstück, aber sie waren noch immer sehr still, denn sie dachten an nichts anderes als an das, was am vergangenen Tag geschehen war. »Also, das Erste, was wir tun müssen«, unterbrach Ben das bedrückte Schweigen, »ist, eine ständige Wache einrichten. Einer von uns muss immer oben auf dem Hügel sitzen, dann wissen wir rechtzeitig Bescheid.« »Und nachts?«, fragte Lissy. »Brauchen wir keine, ich glaube nicht, dass sie nachts kommen, und wenn überhaupt jemand kommt, sicher erst in ein paar Tagen. Sie werden zuerst das Land um den See herum absuchen, an die Insel denken sie bestimmt zuletzt.« 110
»Wollen wir nicht lieber das Boot versenken?«, fragte Chris plötzlich. »Da drüben können wir uns ja doch nicht mehr sehen lassen. Wir schlagen einfach ein Loch hinein, und wenn alles vorbei ist, heben wir es und machen es wieder heil. Ich habe immer Angst, dass es doch noch mal entdeckt wird.« »Ja, ja, wir lösen eine Planke heraus, die können wir dann wieder einsetzen, am besten heute noch. Und unser Zelt bauen wir vielleicht auch ab. Ich habe mir überlegt, es ist doch zu gefährlich, wenn wir es stehen lassen. Und Lissy, du siehst nach, ob wir nichts liegen gelassen haben. Jede Kleinigkeit muss verschwinden, zum Beispiel auch so etwas hier.« Ben hob einen Wollfaden hoch. »Auf mich kannst du dich verlassen«, sagte Lissy eifrig. »Wir müssen schon heute alles in die Höhle bringen«, begann Ben von neuem, »außer den paar Sachen, die wir unbedingt brauchen. Was, das weiß Lissy am besten. Schlafen können wir ja vorläufig weiter im Heidekraut, das sind wir ja gewöhnt.« »Und was machen wir mit dem Hühnergehege?«, fragte Peggy. »Chris kann den Zaun herausreißen und den Boden mit Erde und Heidekraut zudecken, die Biester haben ja alles aufgescharrt.« »Und wer übernimmt die erste Wache?«, fragte Chris. »Ich glaube, einer muss jetzt rauf gehen.« »Ja«, sagte Ben, »geh du zuerst. Ich löse dich ab. Schlaf 111
nicht ein und denk daran, dass sie von allen Seiten kommen können.« Er lachte leise. Chris lief den Abhang hinauf und setzte sich auf einen großen Stein. Still lag der See dort unten und von einem Boot keine Spur. Währenddessen waren die anderen damit beschäftigt, in aller Eile ihre Sachen in die Höhle zu schaffen. Dann trugen sie Sand und Heidekraut zum Hühnergehege und legten auch einen Sack griffbereit dazu. »Die Koffer!«, rief Peggy plötzlich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Schmuckkoffer, die müssen wir ja auch mitnehmen!« Ben grinste. »Wenn wir dich nicht hätten, die hätte ich glatt vergessen!« Nach einer Stunde löste er Chris ab, und der ging gleich daran, das Boot zu versenken, und nach einer Weile lag es auf dem Grunde des Sees. Chris ging zufrieden zurück. Er war sicher, dass es niemals gefunden werden würde. Als Nächstes suchte Lissy alles vom Boden auf, was sie hätte verraten können. Ihr entging nichts, aber es war nicht viel, was sie fand, denn sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Rest und jeden Abfall sofort zu vernichten. Und dann übernahm sie den Platz oben auf dem Hügel und nach ihr Peggy. Es war eine recht langweilige Sache, dort zu sitzen und nichts anderes zu tun, als immer über das Wasser zu starren. Peggy hatte Bleistift und Papier mitgenommen und zeich112
nete manchmal ein bisschen, und Lissy hatte Nadel und Garn dabei, um abgerissene Knöpfe anzunähen. Am Abend, als die Reihe wieder an Chris war und er schon hungrig und ungeduldig auf die Ablösung wartete, sah er plötzlich etwas weit hinten auf dem See. Was konnte das sein? Er kniff die Augen zusammen und starrte auf den dunklen Punkt, dann rief er: »Ben, komm schnell! Ich sehe etwas!« Alle kamen heraufgestürzt und starrten nun mit ihm zusammen über das Wasser. »Glaubst du, dass es ein Boot ist?«, flüsterte Chris. »Vielleicht, aber dann muss es sehr schmal sein«, murmelte Ben. »Irgendetwas Schwarzes ist es«, jammerte Peggy. »Wenn doch bloß niemand kommen würde, wenn doch jetzt bloß niemand kommen würde!« Regungslos standen die Kinder da, bis sich das vermeintliche Boot plötzlich in die Luft erhob. »Ein Schwan!«, rief Ben und lachte. »Der schwarze Schwan, den wir vor ein paar Tagen schon einmal gesehen haben. Der hat uns einen schönen Schrecken eingejagt, was? Da fliegt er.« Sie beobachteten ihn, wie er langsam auf sie zuflog, und sie hörten das Geräusch seines Flügelschlages. Und Peggy erinnerte sich daran, wie sehr sie sich gefürchtet hatte, als sie es nachts einmal gehört hatte. Die anderen hatten sie schon ein paar Mal damit aufgezogen, und sie glaubte, sie würden 113
es auch jetzt wieder tun. Aber niemand dachte daran, alle waren viel zu dankbar, dass sich das Boot als Schwan entpuppt hatte! »Ich glaube, für heute können wir hier oben Schluss machen«, sagte Ben endlich, und dann saßen sie am Feuer und aßen Abendbrot, und alle waren viel zuversichtlicher als am Ende des gestrigen Tages. Vielleicht würde überhaupt niemand kommen! Doch am nächsten Morgen, als Peggy als Erste den Beobachtungsposten auf dem Gipfel bezogen hatte, sah sie plötzlich mehrere Leute weit hinten am Ufer des Sees, dort, wo der Wald bis zum Wasser hinunterreichte. Sie erschrak und pfiff leise. Ben kam, und beide beobachteten, wie ab und zu jemand aus dem Wald auftauchte und dann wieder verschwand. »Die suchen etwas«, flüsterte sie. »Jemanden«, sagte Ben leise. Sie riefen die anderen und dann standen alle dicht beieinander hinter Büschen versteckt und starrten mit klopfenden Herzen zum gegenüberliegendem Ufer hinüber. »Es geht los«, sagte Ben endlich. »Heute oder morgen werden sie hier sein.« »Wenn sie nur bald kämen«, meinte Lissy, »wenn’s nun mal sein muss, wollte ich, sie kämen bald. Diese Warterei hält ja kein Mensch aus.« »Ich habe so ein komisches Gefühl in der Magengegend«, flüsterte Peggy. 114
»Geht mir genauso«, sagte Chris, »das kommt vom Schrecken.« Sie standen alle noch eine Weile zusammen, aber dann gingen sie und ließen Ben als Wache zurück. An diesem Tag sahen sie nichts Außergewöhnliches mehr, nur in der Ferne glaubten sie hin und wieder das Motorengeräusch verschiedener Wagen zu hören. Am nächsten Tag war es Chris, der als Erster den Hügel hinaufstieg. Und gleich beim ersten Blick über den See sah er es – ein Boot! Nein, dieses Mal gab es keinen Zweifel! Er rief nach den anderen, die sofort heraufgestürzt kamen. »Ja«, sagte Ben, »sie kommen. Vier Leute sind es. Los, ihr wisst ja, was ihr zu tun habt!« Lissy, Peggy und Chris stürmten den Abhang hinunter zum Lagerplatz, und Ben rannte, um Daisy zu holen. Würden sie noch genug Zeit haben, ihre Spuren zu verwischen, ehe die Leute auf der Insel landeten?
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XVI Schritte im Gang
Nun, da sie sicher waren, dass man sie auf der Insel suchen würde, begannen die vier fieberhaft zu arbeiten. Unter gutem Zureden, aber in großer Eile trieb Ben Daisy in die Höhle. Dann verwischte er sorgfältig ihre Spuren und raste weiter. Auf halbem Wege begegnete ihm Chris mit den Hühnern. Voller Schrecken hörte er sie wild gackern und die Jungen mussten sie mit ein paar Händen voll Korn beruhigen. Währenddessen rafften Lissy und Peggy die noch herumliegenden Sachen am Lagerplatz auf und verstreuten die leeren Konservendosen, die Pappbecher und die Zigarettenpackung um die Feuerstelle. Und dann waren sie endlich alle in der dunklen Höhle versammelt und Chris zündete die Laterne an. »Sie sind noch ein Stück entfernt«, sagte Ben leise vom Eingang her. »Wir werden doch nichts vergessen haben, oder?« Die Kinder dachten angestrengt nach. Nein, ihnen fiel nichts ein. Das Feuer war aus, das Hühnerhaus und der 116
Zaun abgerissen und der Milcheimer von der Quelle geholt. »Wir haben alles getan«, sagte Lissy. Aber plötzlich rief Chris entsetzt: »Meine Mütze!« »Du hast sie den ganzen Morgen aufgehabt«, sagte Lissy. »Oh, Chris, streng dich an und denk nach, wo du sie gelassen hast.« »Wenn sie die finden, ist es aus«, murmelte Ben enttäuscht. »Ich muss sie suchen!«, schrie Chris und stürzte davon. Er zwängte sich durch den Eingang und konnte das Boot sehen, das in einiger Entfernung auf die Insel zusteuerte. Er rannte den Abhang zum Strand hinunter und fand nichts, er rannte weiter zur Quelle, zum Hühnergehege und überall dorthin, wo er an diesem Morgen gewesen war. Vergeblich! Endlich jagte er noch einmal zum Lagerplatz, zwängte sich durch das dichte Gebüsch, und hier fand er sie! Sie schaukelte einsam und verlassen an einem Zweig. Er stopfte sie in die Hosentasche, jagte zurück und erreichte den Eingang gerade, als das Boot auf den Strand auflief. Er kroch durch den Gang in die innere Höhle, in der die anderen ihn voller Angst erwarteten. »Hast du sie?« »Ja«, sagte er und zog seine Mütze aus der Tasche. »Sie hing irgendwo beim Zeltplatz im Gebüsch. Wahrscheinlich hätte sie niemals jemand gefunden. Aber trotzdem bin ich froh, dass ich sie habe. Übrigens«, fügte er leise hinzu, »sie sind gelandet, vier Männer!« 117
»Nur vier?« Ben grinste. »Ich dachte, sie kämen mit einer ganzen Flotte. Na, vielleicht geht’s ja schnell vorbei. Wenn sie nur den Spalt nicht entdecken. Ich habe mir schon überlegt, ob wir nicht vielleicht eine Mauer im Gang bauen. Wenn sie die sehen, werden sie nicht im Traum darauf kommen, dass wir uns hier versteckt haben.« »Toller Gedanke«, sagte Chris, »und wegen des Eingangs brauchen wir ja auch keine Angst zu haben. Da kommt nie im Leben ein Erwachsener durch. Los, wir suchen jetzt Steine und Erdklumpen und machen den Gang dicht.« In fieberhafter Eile begannen sie mit der Arbeit und nach etwa einer halben Stunde war die Mauer fertig. Jetzt erst fühlten sie sich richtig sicher. »Ich gehe mal zum Eingang und schlage da meinen Beobachtungsposten auf«, sagte Ben und rieb sich die schmutzigen Hände am Hosenboden ab. »Wenn sie unseren Bau stürmen, sage ich Bescheid.« Die Männer waren schon dabei, die Insel abzusuchen, und er konnte sie sprechen hören. »Also doch«, rief einer, »hier ist Feuer gemacht worden!« »Wahrscheinlich Ausflügler«, sagte ein anderer. »Da liegt ja auch eine leere Zigarettenpackung und hier zwei Pappbecher. Solche Leute lassen meistens was liegen.« »Hallo«, rief jetzt ein dritter, »hier an der Quelle ist das Gras ganz niedergetreten!« Ben stöhnte leise. »Können auch die Ausflügler gewesen sein. Wenn die 118
Kinder wirklich hier sein sollten, finden wir sie auf alle Fälle! Ich möchte nur wissen, wovon die Bälger leben. Also kommt, du suchst auf der anderen Seite, Tom, und ich auf dieser.« Ben grinste und war froh, dass sie alle in der Höhle saßen. Regungslos stand er und lauschte, bis Chris leise rief: »Was ist los? Nun sag schon.« »Alles in Ordnung bis jetzt«, flüsterte Ben. »Sie sind dabei, die Gegend abzugrasen. Ich bleibe noch ein bisschen.« Da draußen ging die Jagd weiter, aber die Männer schienen nichts zu finden. Doch plötzlich hörte Ben, anscheinend von der anderen Seite, eine Stimme: »Sieh dir das an! Was hältst du davon?« Fieberhaft überlegte er, was sie wohl entdeckt haben könnten. »Scheint so, als sei hier ein Lagerplatz gewesen«, hörte er den ersten wieder sagen, »und hinterher sind Erde und Heidekraut darüber gelegt worden.« Sie hatten das Hühnergehege gefunden! »Das könnten die Kinder gemacht haben«, sagte ein anderer. »Wir müssen uns das Gebüsch hier mal genauer ansehen.« Ben hörte das Knacken von Zweigen und das Rauschen des Blattwerks, als sich die Männer durch das Dickicht zwängten. Nach ungefähr einer Stunde lief er zu den anderen zurück. 119
»Das Hühnergehege haben sie entdeckt?«, fragte Peggy mit großen Augen. »Das ist ja entsetzlich! Und dabei haben wir uns solche Mühe gegeben, dass keiner was merkt!« »Halb so schlimm«, tröstete er sie, »die Hauptsache ist, sie finden uns nicht. Und ewig können sie schließlich auch nicht nach uns suchen. Ich möchte übrigens mal was essen, mir ist schon ganz flau.« Keiner von ihnen hatte bis jetzt daran gedacht, aber nun, da Ben davon sprach, merkten sie, dass sie hungrig waren. Sie aßen den restlichen Pudding vom Vortag mit Walderdbeeren, hart gekochte Eier und tranken dazu Milch. Daisy lag dicht bei ihnen auf ihrem Lager im Heidekraut und rührte sich nicht. Die Hühner gackerten leise und waren noch immer verwundert über ihre seltsame Umgebung. Ben ließ sich nicht viel Zeit; ein paar Minuten später nahm er seinen Beobachtungsposten wieder ein und lauschte angestrengt. Allmählich wurden die Männer des ergebnislosen Suchens müde. Sie hatten eine Pause eingelegt, saßen am Strand und tranken Kaffee aus Thermosflaschen. Er konnte gut verstehen, was sie sprachen. »Sie mögen ja hier gewesen sein«, sagte jetzt einer, »aber nun haben sie sich verdrückt, davon bin ich überzeugt.« »Wirst wohl Recht haben, Tom«, sagte ein anderer, »wir haben jeden Flecken abgesucht. Vielleicht ist ihnen der Boden zu heiß geworden, als die beiden in der Stadt erwischt wurden. Da sind sie einfach in ihren Kahn gestiegen und 120
haben sich aus dem Staub gemacht. Weiß der Kuckuck, wohin.« »Stimmt«, sagte ein dritter, »den Kahn hätten wir ja finden müssen, also kann die Bande ja nicht mehr hier sein.« »Wie wär’s, wenn wir wieder zurückfahren«, sagte der erste wieder, »die Sache ist doch zwecklos.« »Gute Fahrt«, murmelte Ben und grinste. »Halt«, sagte der vierte Mann plötzlich, »gibt’s hier nicht Höhlen? Ich glaube, ich habe mal so was gehört. Vielleicht haben sie sich da versteckt.« »Verdammt«, murmelte Ben und das Lachen verging ihm. »Höhlen?«, fragte ein anderer. »Das habe ich gar nicht gewusst. Dann müssen wir natürlich auch da noch nachsehen, immerhin eine kleine Chance. Also los! Hat jemand eine Taschenlampe?« »Nein, aber eine volle Schachtel Streichhölzer. Mir scheint, ihr habt schon wieder vergessen, dass kein Boot da ist.« »Sie könnten es versenkt haben«, sagte der vierte Mann. »Auf so einen Gedanken kommt kein Kind«, meinte ein anderer und lachte. »Kaum anzunehmen.« Ben, der atemlos lauschte, seufzte leise und dachte: »Gut, dass Chris diese tolle Idee hatte, die hätten das Boot bestimmt gefunden.« »Also los, rein in die sagenhaften Höhlen.« Die Männer schienen aufzustehen. »Aber es ist sinnlos, wir verlieren nur 121
kostbare Zeit.« Lautlos schlich Ben zurück und sein Herz schlug wild. »Sie kommen«, flüsterte er, »sie kommen hierher. Mach die Laterne aus, Chris. Wenn Daisy sich nur nicht rührt! Und ihr haltet den Schnabel!« Kein Laut war in der großen Höhle zu hören. Daisy lag still auf ihrem Lager, die Hühner schliefen, und die Kinder hielten den Atem an. Und dann hörten sie die Männer kommen. Streichhölzer wurden angerissen, und dann entdeckten sie den Spalt! »Sieh mal, Tom«, sagte einer, »da drüben scheint ein Gang zu sein.« »Na, dann weiter«, antwortete der, den sie mit Tom anredeten. Und dann kamen Schritte den Gang entlang!
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XVII Wenn Daisy nicht gewesen wäre
Die Kinder saßen wie zu Stein erstarrt da. Sie atmeten kaum, aber ihre Herzen schlugen so laut, dass sie meinten, sogar die Männer hinter der Mauer müssten es hören. Die Schritte kamen näher und näher. Unter lautem Fluchen zwängten sich die Männer durch den engen, gewundenen Gang. Und dann standen sie plötzlich vor der Mauer. »Aus!«, rief der erste über die Schulter. »Hier geht’s nicht weiter. Die Decke scheint eingestürzt zu sein.« »Na, so was«, sagte der zweite erstaunt. »Wollen wir versuchen durchzukommen?« »Auf keinen Fall«, sagte der erste wieder. »Sollen wir uns vielleicht wie die Maulwürfe durch den ganzen Hügel buddeln? Dass ihr immer noch nicht begreift, dass die Kinder nicht hier sind. Wir gehen zurück.« Doch in diesem Augenblick passierte etwas Schreckliches! Daisy brüllte, dass es dumpf von den Wänden widerhallte. Damit hatten die Kinder nicht gerechnet. Verstört sahen sie einander an und erwarteten nichts anderes, als dass die Männer sofort wiederkommen würden. 123
Eine Sekunde lang herrschte dort drüben Schweigen. »Hast du das gehört?«, fragte endlich einer. »Bin doch nicht taub. Möchte bloß wissen, was das gewesen ist.« »Es klang wie eine Kuh oder so ähnlich«, sagte Tom. »Eine Kuh!«, sagte der erste. »Sonst noch was? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass hier mitten im Hügel eine Kuh grast?« »Natürlich nicht«, Tom lachte, »aber es klang so. Moment, vielleicht hören wir es noch mal.« Eine Stille entstand, und in diesem Augenblick gab Daisy, die anscheinend wusste, dass man etwas von ihr erwartete, ein hohles Husten von sich. Schauerlich hallte es in der Höhle wider. »Hm«, sagte einer, »könnten Steine sein, die von oben runterkommen.« »Das ist’s«, sagte ein anderer. »Lasst uns gehen, hier kann sich kein Mensch aufhalten.« Ben drückte Peggys Hand und atmete auf. Sosehr die Kinder sich zuerst entsetzt hatten, so froh waren sie nun über die Wirkung, die Daisys Brüllen auslöste. Dann hörten sie die Schritte sich entfernen und einen der Männer sagen: »Da drüben ist auch noch eine, die müssen wir uns auch noch ansehen.« »Jetzt gehen sie in unsere Fundgrube«, flüsterte Chris, »wenn die wüssten, was da noch vor kurzem gestanden hat, die würden Augen machen.« 124
»Wenn Vater und Mutter wieder da sind, können wir ja unsere Schätze vor ihnen ausbreiten«, flüsterte Lissy zurück. Wenig später kamen die Männer an den engen Eingang, aber nachdem einer versucht hatte, sich hindurchzuzwängen, hörten sie ihn brummen: »Nichts zu machen, hier hilft höchstens ’ne Schlankheitskur.« »Oder du verwandelst dich in ein Kaninchen.« »Oder in ein Kind«, sagte Tom. »Also, nun hör mal gut zu«, sagte der zweite wieder, »wenn die Kinder hier auf der Insel sind, dann fresse ich einen Besen, und wenn meine Frau auch deswegen vier Wochen lang nicht mehr mit mir sprechen sollte, denn es ist ein guter Rosshaarbesen und noch ziemlich neu.« »Er hat Recht«, brummte der dritte. »Überleg doch mal, es ist kein Boot da, und alles, was wir sonst gefunden haben, Feuerstelle und der Platz mit dem Heidekraut, kann von Ausflüglern stammen. Und wovon sollten sie hier so lange gelebt haben? Nein, Tom, ich glaube nicht, dass sie hier sind, ausgeschlossen.« »Ja, ja, also, dann lasst uns gehen. Aber es fuchst mich doch, dass wir sie nicht gefunden haben. Es ist doch gar nicht zu begreifen, dass sie so spurlos verschwunden sind.« »Wahrhaftig, nicht zu begreifen. In der Gegend müssen sie sich ja noch rumtreiben.« Das war das Letzte, was die vier hörten. Die Stimmen entfernten sich mehr und mehr, denn die Männer stiegen hinunter zum Strand. 125
Ben zwängte sich durch die Öffnung, blieb reglos am Boden hocken und lauschte. Noch immer hörte er Stimmen, dann das Geräusch, mit dem das Boot ins Wasser geschoben wurde, und endlich das regelmäßige Eintauchen der Riemen. »Sie fahren ab«, rief er leise, »sie fahren ab!« Einer nach dem anderen steckte den Kopf durch den Spalt und kroch heraus. Und als das Boot schon ein Stück vom Ufer entfernt war, wagten sie sich ein wenig weiter vor und beobachteten, hinter Büschen versteckt, wie es kleiner und kleiner wurde, und endlich entschwand es ihren Blicken ganz. Und nun fing Lissy plötzlich an zu weinen. Die Aufregung war zu groß gewesen, nun musste sie einfach weinen und konnte gar nicht wieder aufhören. »Wenn Mutter doch hier wäre«, schluchzte sie, »wenn Mutter doch hier wäre!« Die anderen standen ein wenig ratlos neben ihr und fühlten sich dann auf einmal selber ganz einsam und verlassen. Doch jetzt drang ein lang gezogenes, trauriges Brüllen aus der Höhle. »Daisy«, rief Lissy und vergaß ihren Kummer, »die Arme! Wir haben sie ganz allein gelassen. Kommt, wir holen sie.« Sie wischte sich die Tränen ab. So holten sie also ihre vierbeinige Freundin ans Tageslicht und Ben klopfte ihr zärtlich den Hals. »Ich muss dich loben, Alte, denen hast du einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« 126
»Mir auch«, Peggy seufzte, »ich dachte, mir würde das Herz stehen bleiben.« »Und wir«, fuhr Ben fort, während er über Daisys samtene Nase strich, »wir hatten noch Angst, als du gebrüllt hast, hast es ja eben selber gehört. Aber du wusstest es na-
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türlich besser, bist ja auch klüger als wir und vor allen Dingen tausendmal klüger als die Polizei.« »Am unheimlichsten fand ich es, als sie den Gang hinunterkamen und hinter der Mauer standen«, sagte Lissy. »Ja, es war furchtbar.« Peggy seufzte wieder. »Einfach entsetzlich.« »Stellt euch vor, wir hätten da nicht dichtgemacht«, sagte Chris, »dann hätten sie uns auf alle Fälle gefunden!« »Ach, hört auf«, sagte Peggy, »wir wollen gar nicht mehr daran denken, wir wollen lieber Feuer machen und etwas essen.« »Sie hat Recht«, meinte Ben. »Los, Chris, wir schlagen das Zelt wieder auf und kümmern uns um das Hühnergehege.« Sie arbeiteten, ohne aufzusehen, und liefen dann, um die Hühner aus der Höhle zu holen. »Die werden sich genauso freuen wie wir, wenn sie plötzlich zurück ans Tageslicht kommen«, sagte Ben. Unterdessen hatte Lissy Feuer gemacht und war damit beschäftigt, ein gutes Essen zu kochen. Und Peggy pflückte Walderdbeeren zum Nachtisch. Und dann saßen sie alle zusammen vorm Zelt und aßen gemischtes Gemüse mit Gulasch und dazu Pellkartoffeln. Peggy war wieder vergnügt wie immer und schaufelte ungeahnte Mengen gezuckerter Erdbeeren mit Sahne in sich hinein. »Puh«, stöhnte sie, »ich tauge nicht zum Höhlenmenschen und ein Dieb möchte ich auch nicht sein. Das wäre mir viel zu aufregend. Ich bin mir heute wie ein richti128
ger Verbrecher vorgekommen, so mit der Polizei hinter mir her und so.« Die anderen lachten amüsiert und Ben sagte: »Bist ja auch einer, klaust den anderen die ganze Sahne.« Chris seufzte. »Sie hat Recht, jetzt ist es wieder gemütlich, zu viel Aufregung ist nichts für mich.« »Übrigens, das Essen ist großartig«, sagte Ben und klopfte Lissy anerkennend auf die Schulter. »Nur die Tafelmusik fehlt«, rief Chris, sprang auf und lief ins Zelt, um gleich darauf mit dem Kofferradio zurückzukommen. Er stellte es neben sich und begann an den Knöpfen zu drehen. Zuerst knisterte und knackte es ein bisschen, doch dann kam laut und deutlich die Stimme des Nachrichtensprechers. »Ach, die Abendnach …« Peggy brach ab, denn in diesem Augenblick hörten sie die Worte: »Heute um zwölf Uhr fünf landete Captain Peter Arnold, nachdem er einen Rekord mit der D 38 aufstellte. Man erwartet ihn morgen um fünfzehn Uhr in London.«
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XVIII Ben ist so still
»Hurra, hurra, hurra!«, schrie Peggy. »Hurra, hurra!« Sie war aufgesprungen und tanzte außer sich vor Freude um die anderen herum, die noch wie erstarrt dasaßen. »Nun begreife ich nichts mehr«, murmelte Chris. Doch dann kam Leben in sie alle. Sie lachten und schwatzten durcheinander und einer ließ den anderen nicht zu Worte kommen. »Und dass wir es ausgerechnet heute erfahren!«, schrie Lissy. »Als ob sie gewusst hätten, dass wir einen so aufregenden Tag hinter uns haben, und als ob sie …« »Ach, Quatsch«, unterbrach Chris sie und sprang von einem Bein aufs andere. »Sie haben geahnt, dass unser Salz ausgeht …« »Und unsere Konserven!«, rief Peggy. »Unterbrich mich nicht«, schrie Chris, »sie haben geahnt, dass ich morgen unbedingt Sandtorte essen wollte!« »Hör auf«, riefen die Mädchen und Lissy gab ihm einen Stoß in die Seite. »Hör bloß auf, du drehst noch durch!« Auch Ben musste lachen, obwohl ihm als Einzigem ei130
gentlich gar nicht danach zu Mute war, denn für ihn bedeutete ja die Rückkehr der Eltern seiner Freunde das Ende einer schönen Zeit. Es war herrlich gewesen, das Leben mit den dreien zusammen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so froh gewesen zu sein wie in diesen Tagen auf der Insel. »Und was sagst du, Ben?«, fragte Lissy und rüttelte ihn ein bisschen an der Schulter. »Ist es nicht toll, ist es nicht einfach toll? Gerade jetzt, wo wir so in der Klemme sitzen und du dich auch nicht mehr an Land wagen kannst, kommen sie. Stell dir vor, Chris wäre nicht auf den Gedanken gekommen, das Radio einzuschalten, nie hätten wir es erfahren!« »Ach, ich freue mich so«, sagte Peggy, »ich freue mich so! Und wann können sie hier sein? Schnell, rechnet mal aus. Mutter hat gesagt, sie setzen sich gleich in den nächsten Zug und holen uns.« »Da gibt’s nicht viel zu rechnen«, sagte Chris atemlos, »sie können nur mit dem Nachmittagszug kommen, und der ist um sechs Uhr in Poltelly. Und wir müssen um halb vier hier los, nicht wahr, Ben?« Der nickte. »Ja, eine halbe Stunde brauchen wir für die Fahrt mit dem Boot, das müssen wir übrigens noch heben und reparieren, und den Weg durch den Wald bis zur Landstraße, und dann noch mal zwei Stunden bis zur Stadt. Aber ich bin trotzdem dafür, dass wir früher fahren, denn wir müssen noch etwas mitnehmen«, fügte er langsam hinzu. 131
»Und deshalb sollen wir früher fahren, nur weil wir etwas mitnehmen wollen?«, fragte Lissy erstaunt. »Ich meine die Koffer«, sagte er. »Die wollen wir doch lieber nicht hier stehen lassen, wir wollen sie vorher bei der Polizei abgeben.« »Gut«, sagte Chris. »Kinder, bin ich gespannt, was die zu dem Zeug sagen, denen werden die Augen übergehen. Übrigens ganz günstig für uns, dann machen sie nicht so viel Gerede um unser Verschwinden«, meinte er nachdenklich. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, erinnerten sie sich plötzlich daran, dass sie sich ja nun bald von Ben trennen mussten, und Peggy sagte leise: »Wenn du doch bei uns bleiben könntest.« Er schrak zusammen und lachte ein bisschen gequält. »Da würden sich deine Eltern aber wundern.« »Freuen würden sie sich«, rief sie, »bestimmt!« »Ja, das wäre schön«, murmelte Chris, »aber er muss zu seinem Großvater zurück.« »Ach, der ist ja bei seiner Schwester, weil er schon so alt ist«, sagte Lissy. »Und wenn er wiederkommt?«, fragte Chris. »Vielleicht bleibt er für immer da«, sagte Ben langsam. »Er wollte schon immer unser Häuschen verkaufen und mit mir zu ihr ziehen.« »Möchtest du das denn?«, fragte Peggy. »Nicht sehr gern.« Er zuckte die Schultern. »Aber ich muss ja, mir bleibt nichts anderes übrig.« 132
»Dann komm doch mit uns!«, schrie Peggy begeistert. »O ja«, rief Chris, »o ja, wir könnten zusammen zur Schule gehen und in den Ferien nach Hause fahren und manchmal auch verreisen, zum Beispiel nächstes Jahr wieder auf unsere Insel!« »Das geht doch nicht, das ist doch …« »Ach was, ich frage einfach Vater, und der fragt deinen Großvater, und wenn der es erlaubt, dann kommst du mit.« »Aber Chris, nein, das geht wirklich nicht.« Ben war ganz rot geworden. »Deine Eltern können doch nicht einfach einen fremden Jungen aufnehmen.« »Lass mich nur machen«, entgegnete Chris, »und jetzt gehen wir erst mal schlafen.« »Ja«, sagte Ben, »es war ein furchtbar anstrengender Tag und endlos lang, findet ihr nicht auch? Wenn ich an heute Morgen denke, kommt es mir vor, als wäre es schon Ewigkeiten her.« »Mir auch.« Lissy gähnte herzhaft. »Ich bin auch entsetzlich müde«, sagte Peggy. »Merkt man«, Chris grinste, »du drehst deine Haarsträhnen nur noch im Zeitlupentempo.« Und dann lagen sie alle im Heidekraut und dachten noch einen Augenblick voller Vorfreude an das bevorstehende Wiedersehen. »Hoffentlich wachen wir rechtzeitig auf«, murmelte Lissy noch und dann waren sie alle eingeschlafen. Sie wachten rechtzeitig auf. Der Tag versprach so schön zu werden wie alle anderen, doch es hätte ihnen auch nichts 133
ausgemacht, wenn es in Strömen geregnet hätte, so sehr freuten sie sich. Lange hielten sie sich nicht mit dem Frühstück auf, denn sie wollten, ehe sie gingen, alles zum Empfang der Eltern vorbereiten. »Es soll doch hübsch und sauber sein«, sagte Lissy und jagte alle mit immer neuen Aufträgen hierhin und dorthin. Die schwierigste Arbeit war, das Boot zu heben; die Jungen brauchten Stunden dazu. Feuerholz musste gesammelt werden und Lissy schichtete es kunstvoll zu einer Pyramide auf. Dann sammelten sie und Peggy Unmengen von Pilzen, pflückten Erdbeeren, rahmten die Milch ab und stellten den Topf mit der Sahne in das eiskalte Quellwasser. »Die werden staunen«, sagte Peggy, »wenn sie erst am Feuer sitzen und wir ihnen ein so feines Essen vorsetzen.« Und einen Augenblick später stand sie neben Ben und sah bewundernd und mit schief gelegtem Kopf zu, wie er an der Landestelle das Wort »Willkommen« aus kleinen Steinen im weißen Sand zusammenlegte. »Ben ist so still«, flüsterte sie und sah die anderen bedeutungsvoll an.
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XIX Ein Zug fährt ein
Endlich saßen sie alle im Boot und zwischen Lissy und Peggy standen die beiden kostbaren Koffer. Sie ruderten über den in der Sonne funkelnden See und legten dann an dem im Grünen verborgenen Landeplatz an. »Puh«, machte Chris und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, »hier ist es schön schattig und kühl, ich bin schon halb gebraten.« »Ich auch«, jammerte Peggy, »und wenn ich daran denke, dass wir noch zwei Stunden lang in der Gluthitze über die staubige Landstraße trotten müssen, wird mir ganz schlecht.« »Wir können den Bus ja immer noch nehmen«, sagte Chris, »aber ich habe eigentlich keine Lust, mich von irgendwelchen Leuten zur Polizei schleifen zu lassen und mir anzuhören, dass sie nun endlich die gesuchten Kinder gefunden haben. Ich will freiwillig hingehen und ihnen die Koffer allein präsentieren, wenn ich bitten darf! Aber wenn du unbedingt willst«, fügte er hinzu, »bleib doch hier im Boot und penne und wir holen dich nachher ab.« 135
»Du bist wohl verrückt geworden«, fauchte Peggy und sprang an Land. Sie liefen durch den Wald und weiter die in der Nachmittagshitze einsam liegende Landstraße entlang. Nach etwa zwei Stunden erreichten sie die ersten Häuser, und endlich standen sie, nun doch ein wenig ängstlich, vor dem Polizeirevier am Marktplatz. Zögernd gingen sie einer nach dem anderen hinein in einen dämmrigen Flur. In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür, ein Polizist erschien auf der Schwelle und sah die vier verwundert an. »Was wollt ihr denn hier?«, fragte er und dann griff er plötzlich mit der einen Hand nach Chris und mit der anderen nach Lissy. »Ihr seid doch Zwillinge, was? Und du«, er sah auf Peggy hinunter, »du hast ja blonde Haare! Fred«, rief er ins Zimmer hinein, »Fred, komm mal her, was glaubst du, was für Vögelchen uns zugeflogen sind?« Ein anderer Polizist trat aus der Tür, starrte die Kinder an, holte tief Luft und sagte: »Aha!« Sein Blick wurde streng, er zeigte mit dem Daumen über die Schulter und knurrte dann: »Nun mal da schnell hinein mit euch!« Ben und Chris griffen nach den Koffern, die sie neben sich gestellt hatten, stolperten hinter ihm her, und Lissy und Peggy schlichen ihnen nach. »Na, da haben wir euch ja endlich gefangen«, begann der Polizist langsam, »und …« »Ja«, unterbrach Ben ihn eilig, »und wir haben Ihnen auch 136
was mitgebracht.« Er stellte den Koffer auf den Tisch. »Haha«, lachte der Polizist, »wohl Walderdbeeren und Champignons, was? Habe gehört, du bist Spezialist im Verkaufen von solchen Dingen, treibst wohl einen flotten Handel damit, wie? Hoho!« »Ja«, sagte Ben wieder, »ja, das ist nämlich so, das heißt, nein, ich meine, am besten ist es, Sie sehen es sich selber an.« Er schob die Schlösser zurück, hob den Deckel hoch und schlug die Decke auseinander. Es war noch schöner, als die Kinder es sich vorgestellt hatten, und Peggy kniff Lissy heimlich in den Arm. Den beiden Männern schienen die Augen aus dem Kopf fallen zu wollen. »Die stehen morgen früh noch so da«, flüsterte Chris Ben zu. Endlich hatten die beiden sich gefasst. »Was ist denn das?«, fragte der eine mit drohender Stimme. »Wie kommt ihr dazu?« »Gestohlen haben wir es nicht«, sagte Peggy empört und dann fingen sie alle zugleich an zu erzählen. »Nein, so geht es nicht«, sagte der andere, »ich verstehe kein Wort. Vielleicht erklärst du mal die ganze Sache.« Er zeigte auf Ben. »Du bist wohl der Älteste und sicher auch der Vernünftigste.« Und nun begann Ben der Reihe nach zu berichten und die Männer hörten mit wachsendem Staunen zu. »Donnerwetter! Das ist ja toll!«, riefen sie. 137
Und dann stürzte der eine zum Telefon. »Ich muss sofort mit London sprechen«, sagte er atemlos. Chris sah auf seine Uhr. »Ach, bitte, Herr Wachtmeister, dürfen wir jetzt gehen? Sonst verpassen wir nämlich den Zug, mit dem unsere Eltern kommen.« »Wie?«, fragte der Beamte geistesabwesend. »Wie? Ach ja, natürlich, Jack, geh du mit ihnen und sieh zu, dass sie nicht wieder abhanden kommen.« Er grinste die Kinder an und kniff dabei ein Auge zu. »Und lies ihnen noch einmal die Leviten, hast ja selber zwei von der Sorte und kennst dich in so was aus.« Erleichtert atmeten die vier auf, als sie durch den dämmrigen Flur zur Tür gingen. Und dann liefen sie neben dem Polizisten her und mussten auf tausend Fragen antworten. »Ihr seid schon eine tolle Bande«, brummte er, »rückt einfach aus und bringt dann so nebenbei zwei Koffer mit gestohlenen Juwelen zurück. Eine tolle Bande seid ihr! Aber ausreißen dürft ihr nicht wieder, hört ihr!« Sie hatten den Bahnhof erreicht und liefen hastig zum Schalter, um Bahnsteigkarten zu besorgen, denn der Zug musste ja jeden Augenblick einlaufen. Und als sie sich durch die Sperre drängten, sahen sie ihn schon in der Ferne. »Ich bin so aufgeregt«, jammerte Peggy, »wenn sie nun gar nicht drin sind!« »Du hast ja einen Vogel«, schrie Chris, während sie schon am Zug entlangliefen. 138
»Da, da sind sie!«, rief Lissy. »Dahinten!« Und eine Sekunde später umarmten sie die Eltern stürmisch. »Großartig seht ihr aus«, sagte der Vater lachend. »Braun wie die Indianer.« Die Mutter nickte und strich Peggy über das Haar. »Da haben wir wohl das Richtige getroffen mit diesem Ferienaufenthalt«, sagte der Vater und lachte wieder. »Klar!« »Und Mrs. Grimm hat euch sehr gut versorgt«, stellte die Mutter voller Befriedigung fest und sah von einem zum anderen. »Klar!« »Eine liebevoll besorgte Wirtin«, meinte Chris. »Sehr liebevoll.« Lissy kicherte. »Sie hat uns gemästet«, hauchte Peggy. »Und das ist unser neuer Freund«, sagte Chris und griff nach der Hand von Ben, der ein bisschen abseits neben dem Polizisten stand. »Wenn wir den nicht gehabt hätten!« »… hätten wir es nicht ausgehalten«, ergänzte Lissy. Und Peggy meinte: »Dann wären wir jetzt dünn wie die Heringe.« Die Eltern sahen die Kinder verständnislos an. »Und das ist unsere Bewachung«, stellte Chris vor, als der Polizist jetzt auf sie zutrat. »Der hat sich um uns gekümmert, als wir verschwunden waren«, erklärte Peggy. 139
»Ich verstehe gar nichts mehr«, jammerte die Mutter und der Vater schüttelte nur den Kopf. »Das ist nämlich so«, begann der Beamte, und während sie den Bahnsteig entlanggingen, berichtete er in wenigen Worten, was geschehen war. »Es ist nicht zu fassen«, sagte die Mutter entsetzt, »wie konntet ihr nur!« »Da hinter der Sperre, da steht ja die Grimm«, schrie Peggy plötzlich. »Und sie sieht aus, als bekäme sie den Mund nie wieder zu!« »Mit der werde ich ein Wörtchen reden«, murmelte Mr. Arnold, aber dazu kam er nicht mehr, denn Mrs. Grimm war plötzlich verschwunden. »Auch noch feige«, sagte Chris leise. Und dann saßen sie alle in dem einzigen Taxi, das es in Poltelly gab, und fuhren zu ihrer Insel. »Da staunt ihr, was?«, sagte Chris, als das Boot auf den Strand auflief und der Blick der Mutter auf das kunstvoll zusammengesetzte »Willkommen« im weißen Sand fiel. »Hat Ben gemacht.« Es wurde ein herrlicher Abend am Lagerfeuer bei Erdbeeren und Sahne. Und plötzlich sprang Ben auf. »Ich habe ja Daisy vergessen«, rief er. »Ist mir noch nie passiert!« »Kunststück«, entgegnete Chris, »wenn Vater erzählt!« »Ein netter Junge«, sagte Mr. Arnold und sah ihm nach und die Mutter fügte hinzu: »Ein ganz besonders netter 140
Junge.« Jetzt war die Gelegenheit gekommen, auf die die Kinder die ganze Zeit gewartet hatten. »Kann er nicht bei uns bleiben, für immer?« »Er würde bestimmt gern zu uns kommen.« Lissy sah die Eltern beschwörend an. Und Peggy war so aufgeregt, dass sie sogar ihre Haarsträhnen vergaß. »Und sein Großvater ist doch schon so furchtbar alt«, sagte sie. »Wer weiß, wie lange er noch lebt«, murmelte Chris, »und was wird dann aus Ben?« Mit klopfendem Herzen sahen die drei, wie der Vater der Mutter einen fragenden Blick zuwarf. Und sie schrien vor Begeisterung, als sie nickte. Einen Augenblick später stürmten sie Ben entgegen, der jetzt von der anderen Seite des Hügels zurückkam. »Du sollst mitkommen, du sollst bei uns bleiben, für immer!«, schrien sie. Und Frau Arnold ging auf den regungslos stehen gebliebenen Ben zu, fasste dessen Hand und zog ihn mit sich zum Lagerfeuer. Mr. Arnold klopfte ihm auf die Schulter. »Gleich morgen werde ich zu deinem Großvater fahren und mit ihm sprechen.« »Und nächsten Sommer kommen wir wieder hierher auf unsere Insel, mit Ben zusammen!«, schrie Peggy. »Nicht wahr, Vater, du erlaubst es doch?« Der Vater lächelte und sagte: »Mal sehen, was sich machen lässt!« 141
Enid Blyton
Die verwegenen 4 bewähren sich
I Was für ein komischer Name
An einem strahlenden Sommermorgen saßen vier Kinder voll freudiger Erwartung in dem Abteil eines D-Zuges. »Er fährt«, sagte Chris, »endlich! Freut ihr euch auch so? Zwei Monate nicht zur Schule, zwei Monate in einem kleinen Haus an der See und …« »… baden, rudern und faulenzen!«, rief Peggy, die jüngste der Geschwister, und steckte, wie es ihre Gewohnheit war, das eine ihrer blonden Zopfenden in den Mundwinkel. »Schade, dass Vater und Mutter nicht mitgekommen sind«, sagte Lissy, Chris’ Zwillingsschwester, »zu schade, weil wir doch nur in den Ferien zu Hause sind.« »Auf ihre Vortragsreise konnten sie uns ja schließlich nicht mitnehmen«, meinte Chris, »das wäre auch nur langweilig für uns geworden. Und sie kommen ja sobald wie möglich auch nach Spiggy Holes.« »Spiggy Holes«, sagte Ben, »klingt hübsch, nicht? Ich möchte bloß wissen, woher dieser verrückte Name kommt.« Am vorhergehenden Tage waren die Kinder aus der Schule zurückgekehrt, hatten nur eine Nacht zu Hause ver144
bracht und fuhren nun ihrem Ferienziel Cornwall entgegen. Ben war der Aufgeregteste von allen, denn dies war seine erste Reise. Im letzten Sommer hatten Mr. und Mrs. Arnold den elternlosen Jungen adoptiert, da er sich als treuer Freund der Kinder erwiesen hatte und sie sich nicht wieder von ihm trennen mochten. Und nun ging er schon ein Jahr lang mit Chris zusammen in dieselbe Schule und fühlte sich sehr glücklich, so glücklich wie noch nie zuvor in seinem Leben. »Wer versorgt uns eigentlich in Spiggy Holes?«, fragte er nach einer Weile. »Irgendeine Miss Jones«, sagte Lissy. »Sie soll sehr nett sein, weiter weiß ich auch nichts.« »Miss Jones?« Peggy kaute nachdenklich an einem Zopfende. »Wir hatten in der Schule mal eine Miss Jones, und als sie wegging, waren wir alle sehr traurig. Sie war immer furchtbar nett und sehr klein und dünn, hatte graue Haare und eine ganz helle Stimme. Wir haben sie immer ›die Maus‹ genannt.« Chris grinste. »Vielleicht ist unsere ganz anders, groß und dick und mit einem Bierbass behaftet. Wir nennen sie dann ›der Elefant‹.« Peggy kicherte. »Du und deine blöden Witze«, sagte sie. Der Zug brauste weiter und weiter. Ben sah auf eine Karte an der Wand über den Sitzen. »Seht mal«, sagte er plötzlich, »Spiggy Holes scheint gar nicht so weit von unserer Insel entfernt zu sein! Ob wir vielleicht mal rüberfahren können? 145
Wisst ihr noch, im vorigen Sommer? War es nicht einfach toll?« Peggy seufzte. »Eigentlich wollten wir in diesen Ferien ja wieder hin, aber allein durften wir leider nicht.« Chris fuhr mit dem Zeigefinger über die Karte. »So nah ist es nun auch wieder nicht, ungefähr sechzig Kilometer von Spiggy Holes entfernt.« »Ich muss was essen, ich habe riesigen Hunger«, stöhnte Peggy. »Komisch, sowie ich im Zug sitze, habe ich Hunger.« Sie angelte nach einer großen Reisetasche im Gepäcknetz. »He, was Mutter alles eingepackt hat!« »Prima!«, sagte Chris und nahm sich seinen Teil. »Für Brötchen mit Schweinebraten lasse ich mein Leben, und hier, Äpfel und Bananen und sogar Limo, prima!« »Wann sind wir eigentlich da?«, fragte Lissy und biss mit großem Appetit in ihr Brötchen. »Heute Nachmittag um halb fünf. Das heißt, dann sind wir noch nicht in Spiggy Holes, das liegt noch zehn Kilometer von der Station entfernt. Ein Wagen soll uns abholen.« Die Zeit verging nur langsam. Die Kinder lasen, spielten verschiedene Spiele, zählten die Telegrafenmasten und die Tunnels, und lange bevor es halb fünf war, gähnten alle, denn sie wurden sehr müde, schon allein von der Hitze, die im Abteil herrschte. »Ich schlafe jetzt«, verkündete Peggy und legte die Beine auf den gegenüberliegenden Sitz. 146
»Das sieht dir mal wieder ähnlich«, sagte Chris. »Wie man jetzt pennen kann, ist mir schleierhaft.« Aber dann war er der Erste, dem die Augen zufielen, und wenig später war nicht eines der vier Kinder mehr wach. Mit unverminderter Geschwindigkeit donnerte der Zug über Schienen, Weichen und Brücken, durch Bahnhöfe und Tunnels. Erst als er wieder einmal sein Tempo verlangsamte, erwachte Chris, lief ans Fenster und sah hinaus. »Wir müssen raus!«, schrie er. »An der nächsten Station müssen wir raus! Holt schon die Koffer runter, los, los, ihr schlaft ja noch!« Sie stellten das Gepäck auf den Gang und hatten gerade das letzte Stück heruntergezerrt, als der Zug von neuem hielt. Einer nach dem anderen sprang auf den Bahnsteig und Ben reichte die Koffer hinaus. Dann rief er nach einem Gepäckträger. Währenddessen rannte Chris schon durch den Bahnhof auf den freien Platz davor, um nach einem Auto Ausschau zu halten. Es war keins da, nur ein Wagen mit einem schläfrigen braunen Pferd stand ein Stück entfernt im Schatten eines Baumes, gegen dessen Stamm ein junger Mann lehnte. »Seid ihr die Arnolds?«, fragte er. »Ich soll vier Kinder abholen und nach Spiggy Holes bringen.« Ben nickte und winkte dem Gepäckträger, der mit der schwer beladenen Karre herankam. Die Kinder verstauten ihre Sachen in dem kleinen Wagen 147
und lachten dem jungen Mann zu, der breit zurückgrinste, sich auf den Bock schwang und mit der Peitsche knallte. Das Pferd setzte sich in Trab und führte sie dann in gemächlichem Trott hinaus aus dem Ort. Rechts von ihnen lagen die Klippen und tief unten das Meer, leuchtend blau wie der Himmel. Dort, wo sich die Wogen an dem Felsen brachen, schäumte weiße Gischt hoch auf. Auf der anderen Seite dehnten sich goldene Felder vor sanften Hügeln und am Wegesrand blühten roter Mohn und blaue Kornblumen. Die Kinder sahen begeistert um sich. »Hoffentlich bleibt das Wetter so«, sagte Chris, »dann ziehe ich nichts anderes mehr an als meine Badehose.« Immer im gleichen Trott ging es weiter, einen gewundenen Weg entlang hoch oben auf den Klippen. Sie hörten die Wellen gegen den Strand schlagen und empfanden die kühle Brise von der See her als herrlich, denn die Sonne brannte heiß und stand noch hoch am Himmel. »Wie heißt unser Haus denn eigentlich?«, fragte Chris, der hoch auf dem Bock neben dem Kutscher thronte. »Es wird das Guckloch genannt.« Chris lachte. »Guckloch – was für ein komischer Name!« »Du kannst es dort gleich sehen – da ist es schon!« Der junge Mann zeigte mit dem Peitschenstiel auf ein seltsames Gebäude. Es besaß auf der einen Seite einen Turm und war in die Klippen hineingebaut. Die Front war dem Meer zugekehrt. »Es heißt Guckloch«, erklärte der junge Mann, »weil es 148
zwischen zwei Klippen steht und man dadurch wie durch ein Guckloch auf die See sehen kann. Und vom Turm aus kann man den großen Turm des alten Hauses sehen. Es wird erzählt, dass in früheren Zeiten Schmuggler sich durch Lichtsignale von einem zum anderen verständigten.« »Furchtbar aufregend«, rief Ben, »Schmuggler, alte Türme und Lichtsignale! Und ich wette, dass es auch Höhlen gibt.« »Unmengen«, sagte der junge Mann grinsend. »Passt nur auf, dass ihr euch nicht einmal darin verlauft oder von der Flut überrascht werdet. Diese Küste kann verdammt gefährlich sein.« »Hurra, das Guckloch!«, schrie Peggy, als sie nun vor dem kleinen alten Haus hielten. »Und dort in der Tür, das ist bestimmt Miss Jones. Und sie ist gar nicht groß und dick. Gar kein Elefant«, fügte sie leise zu Chris gewandt hinzu. Nein, sie war klein und dünn, eine ältere Frau mit glattem, grauem Haar, großen grauen Augen und einem freundlichen Lächeln. »Willkommen in Spiggy Holes und im Guckloch«, sagte sie mit ihrer hellen Stimme. »Vielen Dank«, riefen die vier, sprangen aus dem Wagen und gaben ihr die Hand. »Ich hoffe, wir werden eine schöne Zeit zusammen verleben.« Sie lächelte und führte alle in die Diele. »Eure Zimmer sind im Turm, ich dachte, es würde euch Spaß machen.« »Im Turm!«, schrie Peggy, sodass Miss Jones erschrocken zusammenfuhr. »Herrlich, prima, wunderbar!« 149
Miss Jones ging ihnen die schmale, gewundene Treppe voraus bis hoch hinauf unters Dach. Die beiden gemütlich eingerichteten Zimmer lagen übereinander, waren aber nicht sehr groß, ganz rund, und jedes von ihnen hatte vier kleine Fenster, nach jeder Himmelsrichtung eines. »Nun macht euch ein bisschen frisch«, sagte ihre Gastgeberin, »und dann kommt schnell herunter zum Tee!«
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II Der gute alte Spiggy
Die Kinder wuschen und kämmten sich und betrachteten voller Bewunderung ihre neue Umgebung. Die Jungen hatten den obersten Raum bekommen und Ben sah aus einem der Fenster. »Von hier hat man einen tollen Blick über das Meer und von hier«, er lief zum gegenüberliegenden, »sieht man das alte Haus und …« »Und von den beiden anderen die Klippen«, unterbrach Chris ihn begeistert. »Einfach toll!« »Der alte Kasten mit dem Turm sieht richtig geheimnisvoll aus«, murmelte Ben. »Ein Riesending, was! Wer wohl darin wohnt?« »Beeilt euch, Kinder«, rief Miss Jones von unten, »der Tee ist fertig!« Lachend und schwatzend liefen sie die Treppe hinunter. Sie fanden das Guckloch wunderbar und den Gedanken nicht weniger, viele, viele Wochen voller Sonne und Nichtstun hier verbringen zu können. Miss Jones saß schon wartend am Tisch und hörte, während sie aßen, aufmerksam ihrem Reisebericht zu. 151
Die Kinder fanden sie sehr nett, denn sie lachte über jeden ihrer Späße, und außerdem schien es ihr nicht das Geringste auszumachen, dass sie den ganzen Kuchen aufaßen. »Ich habe ihn selbst gebacken«, erklärte sie lächelnd, »und ich freue mich immer, wenn ich merke, dass es meinen Gästen schmeckt. Das ist das sicherste Zeichen dafür, dass er gelungen ist.« Ein wenig später räumte sie ab, und es stellte sich heraus, dass sie alle Arbeit allein tat. Aber als die Kinder ihre Hilfe anboten, wehrte sie ab. »Nein, nein, ihr seid hierher gekommen, um euch zu erholen, und nicht, um im Haus zu helfen. Nur um zwei Dinge möchte ich euch bitten: Dass ihr eure Betten selber macht und immer pünktlich zum Essen da seid. Das ist doch nicht zu viel verlangt, nicht wahr?« Sie lächelte wieder. »Ich will euch auch gern, wenn ihr einmal einen ganzen Tag draußen verbringen möchtet, einen schönen Picknickkorb mitgeben.« »O ja, vielen Dank!«, war die begeisterte Antwort. »Und wir tun alles, was Sie wollen!« »Das ist schön«, sagte Miss Jones erfreut. »Und noch eins. Eure Mutter hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass ihr immer spätestens halb neun Uhr im Haus seid.« »Gut«, Chris nickte, »wir richten uns danach, wir haben ja Uhren. Dürfen wir uns jetzt die Gegend ein bisschen ansehen?« »Ja, ja, geht nur, aber nicht länger als eine Stunde. Ich 152
werde inzwischen auspacken.« Sie liefen den Weg hinunter, der über beinahe senkrecht in den Stein gehauene Stufen zum Strand führte. »Genauso gewunden wie die in unserem Turm«, stellte Chris fest. »Donnerwetter, sind die Klippen steil, und wie blau das Meer ist!« Die Sonne ging unter, und dort im Westen schimmerte und glitzerte die See golden, aber im Osten war sie tiefblau. Lachend liefen die Kinder durch den weichen, warmen Sand. »Muscheln!«, schrie Chris. »Ich werde mir eine Sammlung zulegen!« »Und dort sind die Höhlen«, sagte Ben plötzlich und zeigte auf die Klippen, die hinter ihnen lagen. Die anderen drehten sich um und sahen voller Staunen auf die vielen großen und kleinen Öffnungen, die schwarz im Felsen gähnten. »Die muss ich mir ansehen!«, rief Peggy und einen Augenblick später sagte sie: »Oh, kalt und dunkel ist’s da drinnen und feucht und unheimlich.« »Ich möchte zu gern wissen, wie tief sie sind«, murmelte Chris. »Das nächste Mal nehmen wir eine Taschenlampe mit, das ist klar.« »Ach, komm«, sagte Lissy, »wir wollen sehen, ob das Wasser schön warm ist.« Sie zogen ihre Sandalen aus und spielten Haschen im flachen Wasser. Peggy fiel hin und wurde von oben bis unten 153
nass. »Müssen wir nicht nach Hause?«, fragte Lissy plötzlich. Ben sah auf seine Uhr und rief: »Ja, höchste Eisenbahn! Beeilt euch, nicht so müde, sonst kommen wir noch zu spät.« Atemlos und lachend rannten sie die Stufen hinauf und weiter den Weg entlang durch den Garten und endlich durch die Küchentür ins Haus. Miss Jones hatte schon den Tisch gedeckt. Es gab Tomatensuppe, Brötchen und kaltes Fleisch. »Oh, Miss Jones«, rief Chris, »hier ist es einfach prima, und dann die vielen Höhlen unten am Strand!« »Ich weiß«, meinte sie. »Sie heißen Spiggy Holes nach einem berüchtigten Schmuggler, der vor ungefähr einhundertfünfzig Jahren hier lebte. Er wohnte dort oben in dem großen Haus, und es wird erzählt, dass er mein Häuschen als Ausguck benutzt haben soll, wenn die Boote mit der Schmuggelware hereinkamen.« »Wirklich?«, schrie Chris. »Der gute alte Spiggy!« »Nun, gut war er gerade nicht«, sagte sie und lachte. »Im Gegenteil, er war sehr schlecht.« »Ich wollte, es gäbe jetzt auch noch Schmuggler«, meinte Lissy. »Ja, dann könnten wir sie in die Falle locken.« Peggy nickte ernsthaft und kaute an einem ihrer Zopfenden. »Um Himmels willen«, wehrte Miss Jones entsetzt ab. »Dann würde ich keine Nacht mehr ein Auge zutun. Nein, 154
diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Seid ihr satt? Ja? Nun, ich denke, dann geht ihr schlafen. Und ich kann mich darauf verlassen, dass ihr euch die Zähne putzt und dass ihr keinen Lärm macht und dass ihr euch das Gesicht und die Hände wascht und …« »Aber«, unterbrach Chris sie grinsend, »wir sind doch keine Babys mehr.« »Das kann man nie wissen«, sagte sie. »Und nun ins Bett mit euch.« Sie liefen die Treppe hinauf und Peggy strahlte. »Miss Jones ist nett, nicht wahr? Ich mag sie furchtbar gern und unser kleines Turmzimmer auch.« Lissy nickte, während sie die Tür hinter sich schloss. »Aber die Jungens haben es noch besser, weil ihres höher liegt. Los, wir gehen noch mal rauf und sagen Gute Nacht.« Die beiden lagen schon im Bett. »Wir wollten noch einmal von hier oben aus dem Fenster sehen«, sagte Lissy. »Ist es nicht herrlich hier?« Chris gähnte. »Ja, wunderbar und den ganzen Tag haben wir Sonne.« »Das Haus da drüben sieht richtig gespenstisch aus mit seinem alten Turm«, sagte Lissy wieder. »Der sieht genauso aus wie unserer«, fand Ben. »Übrigens hast du Recht, ich mag es auch nicht.« »Quatsch«, murmelte Chris schläfrig, »irgendwann gehen wir rüber und sehen es uns genau an. Hoffentlich steht es leer. Ich möchte zu gern einmal auf den Turm steigen.« 155
»Was das wohl für einer gewesen ist, dieser Spiggy?«, fragte Peggy nachdenklich. »Darum würde ich mich jetzt nicht kümmern«, entgegnete Ben. »Lieber darum, was Miss Jones sagt, wenn sie merkt, dass ihr hier oben rumspukt.« »Ja, ja, wir gehen schon, spielt euch nur nicht so auf«, rief Lissy. Sie liefen die Treppe hinunter und lagen bald darauf in ihren weichen, bequemen Betten. »Ich werde jetzt darüber nachdenken, was wir morgen alles unternehmen können«, sagte Peggy, aber sehr weit kam sie mit ihren Überlegungen nicht, denn sie war bald eingeschlafen und rührte sich nicht, bis die Sonnenstrahlen durch eines der Fenster fielen und irgendetwas sie an der Nase kitzelte. Sie fuhr hoch und starrte Chris verschlafen an. »Lass das«, murmelte sie, »bist du verrückt geworden?« »Aufstehen«, sagte er, »es ist sieben Uhr, wir wollen baden und dann frühstücken.« Lissy und Peggy waren plötzlich hellwach. Sie sahen sich in ihrem sonnigen kleinen Zimmer um, sahen den blauen Himmel durch die Fenster und hörten, wie die Wellen an den Strand schlugen. Mit beiden Beinen sprangen sie aus den Betten, zogen sich ihre Badeanzüge an und liefen hinter den Jungen her die Treppe hinunter. »Ach, ihr seid es«, sagte Miss Jones, die gerade durch die 156
Diele kam. »Ich fürchtete, es sei ein Gewitter.« Die Kinder liefen lachend hinaus, den steilen Weg zum Strand hinab und direkt hinein in die sanft anrollenden Wogen.
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III Das Tor ist offen
Die ersten Tage der Ferien vergingen wie im Fluge. Die Kinder verbrachten die meiste Zeit am Strand, an dem es ziemlich gefährlich werden konnte, denn die Flut kam hinauf bis in die Höhlen, und fast alles stand dann vollkommen unter Wasser. »Wir müssen aufpassen, sonst kommen wir nicht mehr raus«, sagte Ben. Miss Jones hatte sie eindringlich gewarnt und ihnen viele Geschichten von Leuten erzählt, die in den verzweigten Höhlen von der herannahenden Flut überrascht wurden und mit Booten befreit werden mussten. Die vier badeten nur bei niedrigem Wasser und hatten hoch und heilig versprochen, es niemals zu tun, wenn die Ebbe gerade vorüber war, denn dann wurden die Wellen sehr hoch. Miss Jones fürchtete, die Kinder könnten gegen die Felsen geworfen werden. Besonders schön fanden sie es, dass sie den Strand für sich allein hatten, denn nach Spiggy Holes kamen keine Feriengäste. 158
An diesem Tag war die Flut besonders hoch und alle Höhlen waren überflutet. Es war sogar gefährlich, den vom heraufsprühenden Gischt schlüpfrig gewordenen Weg oben auf den Klippen zu benutzen. »Und was machen wir nun?«, fragte Ben, als sie durch den Garten schlenderten, ein paar Schoten abpflückten und die Erbsen aßen. Es war ein wunderhübscher Garten mit vielerlei Gemüse, Salat, Johannisbeeren, späten Kirschen und frühen Pflaumen. Und niemals konnten die Kinder widerstehen, etwas zu stibitzen. »Ich weiß es«, sagte Chris. »Wir gehen und sehen uns den Garten von dem alten Haus an, los!« Sie kamen an Georg, dem jungen Burschen, vorüber, der sie vom Bahnhof abgeholt hatte und der jetzt für Miss Jones Kartoffeln hackte. »Hallo«, rief Lissy, »wir wollen zu dem alten Kasten da drüben. Da wohnt doch niemand mehr, oder?« »Keine Menschenseele, seit zwanzig Jahren«, sagte Georg und wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Der Garten ist übrigens eine einzige Wildnis. Es ist kaum durchzukommen.« »So?«, sagte Ben. Sie sahen einander an und liefen dann über die Klippen davon. Erhitzt blieben sie vor der hohen Mauer stehen, die das Grundstück umgab. »Rüberklettern können wir nicht«, stellte Ben fest, während er emporstarrte. »Die ist viel zu hoch. Und was nun?« »Wie wär’s, wenn wir durchs Tor gingen?«, meinte Chris 159
grinsend. »Oder hast du unbedingt vor, dir hier sämtliche Knochen zu brechen?« Ben gab ihm einen freundschaftlichen Stoß in die Seite und grinste zurück. »Also gehen wir durchs Tor, du Feigling.« Es war natürlich verschlossen, aber verhältnismäßig niedrig. Sie konnten ohne Schwierigkeit darüber klettern. Ein ziemlich breiter Weg im grünen Dämmerlicht lag vor ihnen, denn durch die dichten Kronen der riesigen Bäume zu beiden Seiten fiel kaum ein Sonnenstrahl. Er war ganz und gar von mannshohen Brennnesseln und Disteln überwuchert. Zögernd blieben die Kinder stehen. »Gummistiefel brauchte man und lange Hosen«, murmelte Ben und betrachtete diesen Urwald mit misstrauischen Blicken. »Hier können wir nicht durch«, sagte Lissy, »aber seht mal da drüben, da wächst nur hohes Gras.« Sie wandten sich also nach links zu einem ehemaligen Obstgarten. Die Bäume waren ungepflegt, seit Jahren nicht geschnitten, aber die Pflaumen, die die vier pflückten, waren süß und saftig. »Wenn niemand hier wohnt, können wir uns ruhig ein paar nehmen«, erklärte Peggy. »Sie fallen sonst nur runter und …« »Ach, kommt«, unterbrach Ben sie ungeduldig, »die können wir nachher auch immer noch essen.« Sie bahnten sich einen Weg durch wild wuchernde Ro160
senbüsche und kamen dem alten Haus immer näher. Es war aus weißem Stein gebaut, besaß hohe, schmale Fenster, blind und schmutzig, und die Kinder konnten nur mit Mühe die großen dämmrigen Räume dahinter erkennen. Sie gingen weiter bis zu dem Turm, der dem des Gucklochs gerade gegenüberstand. »Jetzt sieht man erst, wie riesig er ist«, staunte Chris, »mindestens dreimal so groß wie unserer. Da möchte ich mal rauf, die Aussicht muss toll sein.« »Ob wir überhaupt jemals hier reinkommen?«, überlegte Lissy und versuchte eines der Fenster zu öffnen. Aber sie waren alle fest verriegelt. Währenddessen rüttelte Chris an einer Tür, die tief in einer Nische der Mauer lag, doch auch sie war verschlossen. Ben, der ein Stück weitergelaufen war, winkte ihnen plötzlich. Er hatte im hohen Gras eine Leiter gefunden und sie an der Wand aufgerichtet. »Halt mal fest, ich will raufklettern«, sagte er. »Sie reicht gerade bis zum ersten Stock, und das Fenster da oben sieht so aus, als ob es gar nicht richtig zu wäre.« Chris hielt die Leiter und Ben begann, die morschen Sprossen vorsichtig hinaufzusteigen. Eine brach heraus, als er darauf trat. Er erreichte glücklich die nächste, aber die Leiter schwankte bedenklich. Peggy schrie vor Schreck und hielt die Hände vor die Augen. »Pass bloß auf!«, rief sie, doch da war er schon ohne 161
weiteren Zwischenfall am Fenster angelangt und versuchte es aufzudrücken. »Es klemmt«, rief er leise, »aber der Riegel ist zerbrochen.« »Haltet fest, ich versuche es noch einmal, das Ding muss doch zu öffnen sein.«
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»Ja, ja«, rief Chris, »Lissy, fass mit an. Schlag die Scheiben doch einfach ein!« Anstelle einer Antwort fing die Leiter von neuem an zu schwanken, aber Chris und Lissy hielten sie mit vereinten Kräften. »Ich kriege es auf!«, rief Ben. Und im nächsten Augenblick gab es einen Ruck, beide Fensterflügel schlugen zurück, und gleich darauf war er im Innern verschwunden. »Sollen wir hinterher?«, fragte Chris. »Nein, lieber nicht.« Ben beugte sich weit hinaus. »Ich schließe lieber die Tür vom Turm auf.« Chris nickte, nahm die Leiter, ließ sie wieder ins Gras fallen, und Ben verschwand. Sie hörten, wie er eine Treppe hinunterlief, und gleich darauf drehte sich ein Schlüssel widerwillig und kreischend im Schloss. Sie stiegen die schmale Wendeltreppe im Turm hinauf. Vier Zimmer gab es dort, eines über dem anderen, und sie waren genauso rund wie die im Guckloch. Und dann standen die Kinder oben am Fenster und sahen weit über die See hinaus. Sie schimmerte im Sonnenlicht, war tiefblau und wurde nur hin und wieder von Flecken aus weißem Schaum unterbrochen, dort, wo versteckte Felsen unter dem Wasser lagen. »Von hier aus kann man direkt in unsere Fenster sehen«, sagte Chris. »Wahrscheinlich sind sie von den Schmugglern extra so angelegt worden.« »Hm«, murmelte Ben und plötzlich flüsterte Peggy: 163
»Ich höre etwas.« Die anderen schwiegen erschrocken. »Was?«, fragte Ben leise. »Ich höre nur die Möwen und das Meer.« »Nein, nein«, flüsterte sie wieder, »Stimmen.« »Du bist verrückt.« Chris lachte etwas gezwungen. »Stimmen in einem leeren Haus!« »Bestimmt!«, beteuerte sie und dann zeigte sie hinaus. »Das Tor!« Die anderen starrten hinunter. »Es ist offen«, sagte Lissy leise, »und es war doch fest verschlossen, als wir rüberkletterten. Es muss jemand gekommen sein, Peggy hat Recht.« »Vielleicht jemand, der das Haus kaufen will«, sagte Chris hastig und Peggy jammerte: »Sie dürfen uns hier nicht finden. Was sollen wir nur machen?« Jetzt konnten auch die anderen die Stimmen hören. »Es muss jemand im Turm sein«, flüsterte Ben. »Wahrscheinlich sind sie durch die große Eingangstür gekommen.« »Und jetzt sind sie auf der Treppe«, sagte Lissy leise. »Verhaltet euch ruhig, vielleicht entdecken sie uns nicht.« Die Stimmen kamen näher und die Kinder konnten die eines Mannes und einer Frau unterscheiden. »Dieser Turm ist gerade das Richtige«, hörten sie den Mann sagen. Er sprach seltsam, mit starkem Akzent. »Niemand wird auf den Gedanken kommen, hier zu suchen«, sagte die Frau. Dann lachte sie. Die Fremden schienen in das Zimmer im dritten Stock 164
gegangen zu sein, und die Kinder hörten, wie die Frau nun sagte: »Wie einsam es hier ist. Kein Haus weit und breit, außer diesem kleinen dort drüben und dem Bauernhaus dort unten. Günstiger konnten wir es gar nicht treffen, Felipe.« »Ja«, sagte der Mann. »Dann können wir also wieder umkehren.« Die Kinder atmeten auf. »Ich würde mir noch gern das letzte Zimmer ansehen«, hörten sie plötzlich die Frau sagen. »Gut, aber beeilen wir uns. Wir haben wenig Zeit.« Die Schritte kamen näher und näher und die vier standen wie erstarrt. Dicht zusammengedrängt standen sie und warteten. Und dann wurde die Klinke heruntergedrückt, die Tür öffnete sich, und eine blonde Frau erschien und hinter ihr ein dunkelhaariger Mann mit schwarzem, glänzendem Haar. »Na nu«, sagte die Frau erstaunt und ärgerlich zugleich, »was habt ihr denn hier zu suchen?« Ben räusperte sich, dann lächelte er verlegen. »Wir haben im Garten Pflaumen gepflückt«, erklärte er und wurde rot, »und dann wollten wir uns den Turm ansehen und …« Er zeigte zum Fenster. »Wir wohnen nämlich da drüben im Guckloch.« Der Mann starrte ihn mit zusammengezogenen Brauen an. »Ihr habt hier nichts zu suchen«, sagte er, »wir wollen dieses Haus kaufen, und wenn ich euch noch einmal hier erwische, geht es euch schlecht, verstanden? Und nun ver165
schwindet.« Ohne ein Wort zu sagen, rasten die Kinder die gewundene Treppe hinunter. Selten hatte jemand in einem solchen Ton mit ihnen gesprochen. »Los«, flüsterte Peggy, »nichts wie nach Hause!«
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IV Ein gewisser Felipe Diaz
Die Kinder rannten durch das Tor und weiter den Weg entlang und atmeten erleichtert auf, als sie Miss Jones im Garten entdeckten. »Miss Jones«, schrie Peggy und lief auf sie zu, »ein Mann und eine Frau wollen das alte Haus kaufen.« »Ist es möglich?«, sagte sie verwundert. »Es würde sich höchstens als Hotel eignen, für eine Familie ist es viel zu groß.« »Das waren komische Leute«, sagte Ben noch ganz außer Atem und erzählte von ihrer unerfreulichen Begegnung mit den beiden. »Ob wir nun nicht mehr dorthin dürfen?« Miss Jones schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.« Sie nahm den Korb mit den Erbsen und ging ins Haus. »Wenn sie es kaufen, müsst ihr euch selbstverständlich davon fern halten. Ihr habt ja auch genug anderes zu tun.« »Na schön«, murmelte Ben, »ich werde es jedenfalls im Auge behalten.« »Ich auch«, rief Peggy und kaute eifrig auf einem ihrer Zopfenden. »Ich mag es zwar nicht, aber vielleicht muss ich 167
gerade deshalb immer daran denken.« »Unsinn«, sagte Miss Jones. »Es ist nichts Ungewöhnlicheres an ihm als an unserem Guckloch.« »Kommt, wir gehen baden«, ließ Chris sich plötzlich vernehmen. »Diese grässlichen Leute, ich habe keine Lust mehr, an sie zu denken.« Schweigend nahmen sie ihre Handtücher. Sie ärgerten sich noch immer, und sie konnten noch immer nicht begreifen, dass jemand ohne Grund so unfreundlich zu ihnen war. Doch bald vergaßen sie das seltsame alte Haus und das seltsame Paar. Am Nachmittag aber, als sie zum Tee zurückkamen, sahen sie einen Wagen vor der Gartentür stehen, in dem die blonde Frau saß. Als sie an ihr vorüberkamen, musterte sie sie verstohlen. Verwirrt liefen die vier ins Haus und stießen beinahe mit dem dunkelhaarigen Mann zusammen, der mit Miss Jones in der Diele stand. »Oh, wir wussten nicht, dass Sie Besuch haben«, entschuldigte sich Ben höflich. »Er ist im Begriff zu gehen«, sagte sie, und die Kinder stellten fest, dass sie recht ärgerlich aussah. »Lauft hinauf, wascht euch die Hände und kommt dann gleich zum Tee herunter.« Als sie zur Turmtreppe gingen, hörten sie, wie der Mann sagte: »Und warum wollen Sie uns das Häuschen nicht ver168
kaufen? Wir bieten Ihnen mehr, als Sie jemals dafür bekommen würden.« »Ich habe Ihnen schon erklärt, dass ich es auf keinen Fall hergebe«, entgegnete Miss Jones sehr bestimmt. »Es ist seit hundert Jahren im Besitz unserer Familie, und wenn ich mich auch nur im Sommer hier aufhalte, so habe ich doch nicht im Geringsten die Absicht, mich davon zu trennen.« »Dann vermieten Sie es uns für ein Jahr«, versuchte es der Mann von neuem. »Nein, ich habe es noch nie vermietet und ich werde es auch jetzt nicht tun.« »Gut«, sagte der seltsame Besucher, »tun Sie, was Sie wollen. Aber ich finde es geradezu unvernünftig, meinen Vorschlag nicht anzunehmen.« »Ich muss leider gestehen, dass es mir völlig gleichgültig ist, was Sie finden«, sagte Miss Jones kühl. »Ich denke, unsere Unterhaltung ist nun wohl beendet, und außerdem möchten die Kinder ihren Tee trinken.« »Ach ja, die vier«, sagte der Mann. »Ehe ich’s vergesse, sorgen Sie dafür, dass sie mein Grundstück nicht wieder betreten. Ich will nicht, dass sich unerzogene Kinder dort herumtreiben.« »Sie sind nicht unerzogen«, entgegnete Miss Jones noch um einige Grade kühler, »und sie konnten nicht wissen, dass Sie das Haus gekauft haben. Guten Tag!« Sie öffnete die Tür, der Mann ging zum Wagen, ließ den Motor aufheulen und brauste davon. 169
»Einer von der Sorte, die immer Krach machen müssen«, sagte Chris missbilligend und lehnte sich über das Treppengeländer. »Ein ekliger Bursche. Und warum will er das alte Haus kaufen und das Guckloch gleich dazu? Das sieht doch ganz so aus, als ob er sich jeden Beobachter vom Halse halten will. Ist eigentlich auch eine großartige Gegend hier für lichtscheues Gesindel, für Schmuggler zum Beispiel geradezu ideal!« Ben schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht, weil die Frau dabei ist. Aber herauskriegen möchte ich doch, was die vorhaben.« »Ja, mir kommen die beiden auch komisch vor«, sagte Lissy. Ben runzelte die Stirn. »Vielleicht stimmt wirklich etwas nicht, vielleicht ist aber alles ganz harmlos.« »Kinder, wollt ihr denn gar nicht zum Tee kommen?«, rief Miss Jones. »Habt ihr heute keinen Appetit auf frische Brötchen?« »Doch, doch, natürlich. Wir kommen!«, schrien sie und jagten die Treppe hinunter. Miss Jones schenkte den Tee ein, strich Honig auf die Brötchen und schnitt den Kuchen auf. »Wer war der Mann eigentlich?«, fragte Ben. »Ein gewisser Diaz, Felipe Diaz.« Miss Jones schwieg und schüttelte den Kopf. »Zu verlangen, ich solle das Guckloch verkaufen! Als ob ich mein Häuschen jemals verkaufen würde!« 170
»Ich glaube, da ist irgendetwas faul«, murmelte Chris und nahm Zucker in den Tee. »Und wenn es so ist, dann rücken wir dem Kerl auf die Bude, darauf können Sie sich verlassen.« »Ach, ihr mit euren Räuberpistolen«, sagte Miss Jones. »Nichts werdet ihr tun. Ich möchte nicht, dass ihr noch einmal mit diesem Mann zusammengeratet. Also haltet euch von dem Haus fern.« Die Kinder schwiegen. Sie hielten es für angebrachter, keine Versprechungen zu machen, die sie später doch brechen mussten, denn sie waren fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Schweigend aßen sie weiter und endlich sagte Ben und grinste dabei ein bisschen: »Sie haben zu wenig Brötchen gebacken.« »Das stimmt nicht, ihr habt zu viel gegessen«, sagte sie und lachte dabei. »Ich hatte schon gehofft, ich könnte das Abendbrot ausfallen lassen. Ich halte es für ziemlich ausgeschlossen, dass ihr heute noch etwas vertragen könnt.« Auch die Kinder lachten. »Wir wollen mit Georg rudern«, sagte Ben. »Kommen Sie doch mit.« »Nein, nein, das geht leider nicht. Ich habe noch viel zu tun. Lauft nur und amüsiert euch. Und wenn es überhaupt möglich ist, bringt noch ein wenig Appetit zum Abendbrot mit.« Sie rannten hinunter zum Strand, zu dem kleinen Landungssteg, der in einer Höhle lag und in der Georg sein Boot 171
verstaut hatte. Gewöhnlich benutzte er es zum Fischen. »Hast du die Leute gesehen, die den alten Kasten kaufen wollen?«, fragte Ben ihn sofort. Georg, der auf den Planken des Steges saß und ein Netz flickte, nickte. »Sie sind zu mir gekommen und haben mich gefragt, ob ich den Garten ein bisschen in Ordnung bringen könnte, und dann soll ich ihnen ein paar Frauen zum Saubermachen besorgen. Und dann haben sie mich über die Gegend ausgefragt. Was die alles wissen wollten!« »Wirklich?«, fragte Chris interessiert. »Und wozu soll das gut sein?« »Möcht ich auch wissen«, sagte Georg und lachte. »Der Kerl hat bestimmt nichts Gutes vor. Als er hörte, dass mein Boot das einzige am ganzen Strand ist, sollte ich es ihm verkaufen.« »Das hast du doch nicht etwa getan?«, rief Ben entsetzt. »Natürlich nicht, von meinem Kahn trenne ich mich nicht, nicht für tausend Pfund. Ich glaube auch gar nicht, dass sie ihn brauchen. Die wollten nur, dass ich hier verschwinde.« »Glaubst du, dass es Schmuggler sind?«, fragte Chris. Georg zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aber stimmen tut da nicht alles, das ist klar.« Er legte das geflickte Netz unter die Ruderbank. »Ich werde jedenfalls die Augen offen halten.« »Wir auch.« Die vier nickten und dann erzählten sie von ihrer Begegnung im Turm heute Morgen, und er hörte auf172
merksam zu. »Kommt mit«, sagte er plötzlich, »ich will euch etwas zeigen.« Ben und Chris nahmen jeder einen Riemen und schnell glitten sie über die ruhige See. »Es ist ein ziemliches Stück«, erklärte Georg. »Wir müssen ganz um diese Klippen herum. Und um die nächsten auch, aber bis zum Abendbrot seid ihr bestimmt wieder zu Hause.« Es war ein herrlicher Spätnachmittag. Und als sie um die Klippen ruderten und dann durch die Bucht und endlich den Felsen erreichten, der ganz weit draußen aus dem Wasser ragte, stand die Sonne schon sehr tief. Georg zog die Riemen ein und beschattete die Augen mit der Hand. »Nun seht mal rüber zum Land«, sagte er langsam. Ben stieß einen Schrei aus. »Man sieht gerade noch das oberste Fenster vom Turm des alten Hauses und auch das oberste von unserem! Hier verdecken die Klippen sie nicht mehr!« »Ja«, Georg nickte, »und früher, als noch geschmuggelt wurde, ankerten die Schiffe an dieser Stelle, nachts, wenn das Licht in beiden Türmen brannte. Der alte Spiggy zündete die Lampen an zum Zeichen, dass die Luft rein war. Und dann kamen sie mit der Flut herein und keine Menschenseele sah sie.« »Toll!«, sagte Ben. »Glaubst du, dass Mr. Diaz es genauso machen will?« 173
Georg zuckte die Schultern. »Vielleicht«, sagte er, »man kann nie wissen!«
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V Das Licht im Turm
In den nächsten Tagen ließen die Kinder das alte Haus nicht aus den Augen. Sie sahen Rauch aus einem Schornstein steigen, die Putzfrauen waren also am Werk. Auch Georg ging hinauf, um wenigstens die Wege vom Unkraut frei zu machen. Und als er zurückkam, erzählte er, dass die Leute schon in der kommenden Woche einziehen würden. »Die scheinen es mächtig eilig zu haben«, sagte er. »Eigentlich müsste erst mal der Maler in den alten Kasten. Sie haben nichts weiter in Ordnung bringen lassen als den Boiler. Es ist noch alles so schmutzig und verkommen, wie ihr es angetroffen habt. Wie die da bloß wohnen wollen?« Die Kinder badeten, ruderten und fischten wie immer, aber an dem Tag, an dem die Leute einzogen, saßen sie versteckt in einer Eiche dicht am Tor. Sie hatten es sich auf den starken Ästen bequem gemacht, hockten dort gegen den Stamm gelehnt, flüsterten und warteten. Und dann kam plötzlich ein Möbelwagen den Weg her175
aufgefahren. »Komisch«, sagte Ben erstaunt, »so wenig Möbel für das große Haus! Damit können sie ja nur ein paar Zimmer einrichten.« Die Kinder beobachteten, wie vor der Eingangstür abgeladen wurde. Und dann hörten sie von neuem Motorengeräusch. Dieses Mal war es der Straßenkreuzer des Mr. Diaz. Im Fond neben ihm saß die blonde Frau und neben dem Fahrer ein junger, schläfrig aussehender Mann, der sich zu den beiden umwandte und mit ihnen sprach. Genau unter der Eiche hielten sie, weil sie dem Möbelwagen ausweichen mussten, der in diesem Augenblick zurückkam. Mr. Diaz sprang heraus und winkte dem jungen Mann, und während er sich an die Frau wandte, sagte er: »Fahr du schon weiter, Luiz und ich werden inzwischen die Gartenmauer in Augenschein nehmen, vielleicht hat sie eine Reparatur nötig.« Der Wagen fuhr an, und die beiden Männer unter dem Baum begannen leise zu sprechen, aber die vier konnten jedes Wort verstehen. »Nun, ist dieser Platz nicht sicher?«, sagte Mr. Diaz. »Sieh dir nur den Turm an, hoch genug ist er, dass die vom Boot aus das Licht sehen können. Gute Idee, was?« Er lachte. Auch Luiz lachte. »Übrigens«, sagte er, »wann erwartest du die Hunde?« Die Männer entfernten sich und die Antwort auf diese 176
Frage konnten die vier nicht mehr verstehen. Schweigend sahen sie einander an. »Habt ihr das gehört?«, flüsterte Chris endlich. »Hier stimmt’s also doch nicht. Auf ein Boot warten sie und Lichtsignale wollen sie geben!« »Dann sind es also doch Schmuggler«, flüsterte Peggy zurück. »Wenn man nur wüsste, was sie schmuggeln!« »Ja, was?« Chris zuckte die Schultern. »Aber das kriegen wir auch noch raus.« Ben nickte. »Klar, aber sie dürfen auf keinen Fall merken, dass wir ihnen nachschnüffeln. Also, richtet euch danach!« »Natürlich, wir sind doch keine Vollidioten«, sagte Peggy und begann den Stamm hinunterzuklettern. »Kommt, mir wird es allmählich zu unbequem hier oben.« »Bist du verrückt geworden!«, zischte Ben. »Die Kerle können jede Minute zurückkommen und dich erwischen!« Aber Peggy war ins Rutschen geraten, glitt das letzte Stück hinab und landete unsanft auf Händen und Knien. In diesem Augenblick tauchten die beiden Männer wieder auf. Sie sahen Peggy sofort. Mr. Diaz zog die Brauen zusammen. »Komm her«, sagte er. Doch Peggy fürchtete sich viel zu sehr, um diesen Befehl zu befolgen, aber fortzulaufen wagte sie auch nicht. So blieb sie also, wo sie war, und starrte die beiden erschrocken an. Die anderen dort oben im Baum rührten sich nicht und wagten kaum zu atmen. Mr. Diaz ging auf Peggy zu und sagte leise: »Was willst du hier? Habe ich euch nicht verboten, euch hier herumzutrei177
ben?« Er fasste ihre Schulter und schüttelte sie. »Wo sind die anderen? Sind sie auch hier?« Peggy atmete auf. Er hatte nicht gesehen, woher sie gekommen war. »Lassen Sie mich doch los«, jammerte sie und weinte beinahe. »Ich bin doch nur spazieren gegangen und war gar nicht auf Ihrem Grundstück.« »Aber du wolltest hin«, sagte Mr. Diaz und schüttelte sie von neuem. »Mach, dass du fortkommst und bestell deinen Freunden, dass es ihnen Leid tun wird, wenn sie sich noch einmal hier blicken lassen!« »Ja, ja, natürlich«, flüsterte sie und jagte wie der Blitz die Klippen hinunter. »Die kommt nicht wieder«, stellte Luiz schläfrig fest. »Können auch keine neugierigen Kinder gebrauchen. Na, wenn die Hunde erst da sind, werden sie sich sowieso nicht mehr herwagen.« Die beiden Männer gingen langsam durch das Tor, den Weg entlang, und als sie im Eingang verschwanden, sagte Ben leise: »Ein feines Paar, was? Ich habe vielleicht Angst gehabt, dass Peggy Quatsch machen würde. Aber sie hat sich gut gehalten, es hat ganz echt gewirkt, wie sie weglief, nicht?« Er grinste ein bisschen. »Genauso, als ob sie sich sofort in unsere Arme stürzen wollte. Dabei hätte der Kerl nur hochzugucken brauchen.« »Du hast Nerven«, sagte Lissy. »Ich für mein Teil möchte 178
so schnell wie möglich von hier weg. Sieh doch mal, ob die Luft rein ist.« Ben sah sich nach allen Seiten um und nickte. »Los, runter!« Einer nach dem anderen glitt den Stamm hinab und jagte wie gehetzt den Abhang hinunter. Sicher würde Peggy zu Hause auf sie warten. Sie wartete und weinte. »Hör auf«, tröstete Ben sie und legte den Arm um sie. »Du bist wohl sehr erschrocken, was?« »Deshalb ist es ja gar nicht, es ist, weil ich euch beinahe verraten hätte«, schluchzte sie, »beinahe hätte ich doch alles verraten.« »Ist ja noch mal gut gegangen«, sagte Chris. »Hast dich nachher prima gehalten. Heul nicht mehr.« »Na ja«, seufzte sie und wischte sich mit einem ihrer Zopfenden die Tränen ab. »Na ja, so was passiert mir nicht noch mal.« »Wollen wir es Miss Jones erzählen?«, fragte Lissy. Ben schüttelte den Kopf. »Lieber nicht, sie ist so ängstlich und verbietet uns vielleicht zu versuchen, etwas herauszukriegen. Vielleicht können wir es Georg ja mal erzählen, wenn wir Hilfe brauchen.« »Und was haltet ihr von der Sache mit dem Boot?«, fragte Chris. »Wir müssen aufpassen, wenn sie Licht im Turm machen. Von unserem Fenster aus können wir es ja sehen. Und wir können Wache halten und uns ablösen. Und wenn es so weit ist, schleichen wir zum Strand, verstecken uns in einer 179
Höhle und sehen vielleicht auch, was der reizende Mr. Diaz schmuggelt.« »Aber wir müssen furchtbar vorsichtig sein«, flüsterte Peggy. Später erzählte ihnen Georg, dass nur wenige Zimmer des alten Hauses möbliert worden waren, davon auch zwei im Turm. »Den benutzen sie also auch, eine Reinemachfrau hat es mir gesagt.« »Klar.« Chris nickte und warf den anderen unter gesenkten Wimpern einen Blick zu. Doch sie erzählten nichts von dem, was sie vorhatten. Georg war zwar nett, aber immerhin schon erwachsen, und möglicherweise würde er darauf bestehen, dass sie Miss Jones ins Vertrauen zogen, und das wollten sie auf keinen Fall. Sie hofften, alles allein herauszubekommen. An diesem Abend waren die vier sehr aufgeregt. Ben übernahm die erste Wache von zehn bis zwölf. Dann sollte Chris ihn ablösen und nach ihm Lissy an die Reihe kommen. Von da an brauchten sie nicht mehr zu wachen, denn dann wurde es schon hell. Am nächsten Abend war Peggy die Erste auf dem Beobachtungsposten. Sie hatte ihren Bademantel über das Nachthemd gezogen. Die Nacht war warm und dunkel, und über den Himmel zogen schwere Wolken. Sie starrte hinaus in die Finsternis, dorthin, wo sie den Turm vermutete, denn erkennen konnte sie ihn nicht mehr. »Aber das Licht werde ich ja sehen«, dachte sie. Eine Eule 180
schrie und ein Nachtfalter flatterte durch das geöffnete Fenster. Sie fuhr zusammen. Und nachdem fünf Minuten vergangen waren, fing sie an zu gähnen. Sie langweilte sich sehr und wurde immer müder. Erleichtert atmete sie auf, als die ihr beinahe endlos erscheinenden zwei Stunden vorüber waren, und weckte Chris. Verschlafen nahm er ihren Platz ein. »Es hat sich nichts gerührt«, flüsterte sie und zeigte auf den dunklen Turm, der jetzt wieder als schwarze Silhouette in den Himmel ragte, denn es war klarer geworden. »Wer weiß, wie viele Nächte wir hier noch sitzen müssen.« In diesem Augenblick packte Chris ihren Arm. »Da«, flüsterte er, »da!« Dort oben am Fenster leuchtete ein Licht auf, verschwand, leuchtete auf und verschwand von neuem!
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VI Eine seltsame Entdeckung
Chris rannte zu Ben und schüttelte ihn. Der war sofort hellwach, stürzte zum Fenster und warf dabei einen Stuhl um. »Gut, dass wir hier einquartiert sind«, flüsterte Peggy, »sonst würde Miss Jones wahrscheinlich gleich erscheinen.« Atemlos beobachteten sie das blinkende Licht im Turm. »Sie signalisieren«, sagte Ben leise. »Wahrscheinlich wartet das Boot jetzt schon draußen bei den Klippen.« »Wollen wir wirklich runter zum Strand?«, fragte Chris. »Wollen wir das wirklich?« Ben nickte. »Das war doch abgemacht. Weck Lissy, Peggy. Übrigens haben wir genug Zeit, um uns richtig anzuziehen. Die müssen ja erst durch die Klippen, um zu landen.« Peggy hetzte die Treppe hinunter und rüttelte Lissy, sodass sie leise aufschrie. »Es ist Licht im Turm«, flüsterte sie. »Wir müssen sofort zum Strand.« In rasender Geschwindigkeit zogen sie sich an. Sie hatten es schon mehrere Male geübt, sonst wäre es im Dunkeln nicht so schnell gegangen. Lediglich Chris suchte verzweifelt 182
nach seinen Schuhen, die er, unordentlich wie er war, einfach unter das Bett geworfen hatte. Doch nach fünf Minuten war auch er fertig. Ben nahm seine Taschenlampe, und sie schlichen die Stufen hinunter, durch die kleine Tür und weiter über den Gartenweg, und der starke Geruch von Geißblatt strömte ihnen entgegen. »Peggy hat ja meinen Pullover angezogen«, kicherte Lissy. »Pst«, machte Ben. »Denkt daran, dass auch noch andere Leute unterwegs sind.« Schweigend liefen sie die Felsenstufen hinab. Die Flut war halb hoch, der Mond kam hinter einer Wolke hervor und beleuchtete den Strand. Ben blieb stehen und sah über das Meer. »Noch keine Spur von einem Boot«, flüsterte er. »Los, lasst uns in eine Höhle gehen, bevor jemand kommt. Wahrscheinlich werden sie bald hier sein.« Die Kinder hockten sich in eine kleine Höhle in der Nähe des steilen Klippenwegs. Von dort aus konnten sie alles überblicken. Sie saßen auf dem trockenen Sand und unterhielten sich flüsternd. Und plötzlich hörten sie Stimmen. Erstaunt starrten sie einander an, denn sie kamen von rechts, und als der Mond wieder hinter einer Wolke verschwand, spähte Ben vorsichtig um die Ecke. »Ich glaube, es ist Diaz und dieser schläfrig aussehende Bursche«, flüsterte er. »Aber wie sollen sie denn dahin gekommen sein?«, fragte 183
Chris. »Es gibt nur diesen einen Weg zum Strand. Und die Klippen sind alle viel zu steil, da kann kein Mensch hinunterklettern.« Ben zuckte die Schultern. »Komisch«, murmelte er, »sie waren doch noch nicht hier, als wir kamen. Wir hätten sie doch sehen müssen.« Er schwieg. »Vielleicht haben sie auch in irgendeiner Höhle gewartet«, sagte er langsam. »Du lieber Himmel, die werden uns doch nicht entdeckt haben?« Peggy überlief es kalt vor Schrecken. Aber Chris schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Dann hätten sie sich sofort auf uns gestürzt, oder glaubt ihr vielleicht, dass sie Wert darauf legen, von uns beobachtet zu werden?« Plötzlich flüsterte Lissy: »Hört mal, was ist das?« Die Kinder lauschten. Vom Wasser her kam Motorengeräusch. »Ein Motorboot«, sagte Ben leise. »Es hat also hinter den Klippen auf das Licht gewartet. Wir müssen gut aufpassen!« Unwillkürlich waren alle aufgesprungen. Der Mond kam von neuem hinter den Wolken hervor, und sie sahen, wie das große Boot näher und näher auf die Küste zusteuerte. Das starke Geräusch der Motoren erfüllte die Stille der Nacht. Dann wurden sie plötzlich gedrosselt, das Boot lief langsam in die Höhle ein, in der Georgs Kahn vertäut lag, und war den Blicken der vier entschwunden. »Sie legen bestimmt an der kleinen Holzpier an«, flüsterte Ben. »Na, wir werden schon sehen, was sie hier vorbeischleppen, wenn sie zum Klippenweg zurückwollen.« 184
Voller Ungeduld warteten sie. Der leichte Wind trug den Klang gedämpfter Stimmen zu ihnen herüber und dann den dumpfen Laut des Stoßes, mit dem das Boot den Steg rammte. Die Kinder warteten und warteten. Dann kam wieder das Motorengeräusch, das Boot glitt aus der Höhle, fuhr an den Klippen entlang, umrundete den letzten großen Felsen und erreichte das offene Meer. »Jetzt müssen sie gleich hier sein«, flüsterte Ben. »Und jetzt kein Wort mehr!« Doch es ereignete sich nichts! Nicht einen Schatten konnten sie entdecken und auch die Stimmen hörten sie nicht mehr! Nach etwa einer halben Stunde fingen sie an unruhig zu werden. »Verstehst du das?«, fragte Chris. Ben schüttelte den Kopf. Aber dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Wenn sie nun jemanden abgeholt haben? Ich meine mit dem Boot, dann kann auch keiner vorbeikommen.« »Können wir uns nicht wenigstens ein bisschen umsehen?«, fragte Chris von neuem. »Gut, aber verhaltet euch ruhig.« Vorsichtig schlichen sie im Schatten der Klippen zu der kleinen Höhle. Georgs Boot schaukelte auf dem Wasser. Ben leuchtete den Boden nach Fußspuren ab. »Da«, sagte er, »wir wollen ihnen nachgehen. Wir müssen herauskriegen, woher sie gekommen sind.« 185
Sie folgten den Abdrücken im Sand, die aus der Höhle hinaus ein Stück den Strand entlang in eine größere Höhle führten. »Also hier haben sie die ganze Zeit gesteckt«, murmelte Ben. »Komisch«, sagte Chris, der den Lichtstrahl seiner Taschenlampe weiter über den Strand gleiten ließ, »komisch, keine Fußspuren mehr! Sie können also nicht über den Klippenweg gekommen sein. Aber woher sonst?« »Ich weiß. Es muss ein Gang vom alten Haus bis hierher führen«, sagte Lissy plötzlich so laut, dass alle erschrocken zusammenfuhren. »Pst«, machte Ben entsetzt und dann fügte er leise hinzu: »Natürlich, du hast Recht! Daran hätten wir schon längst denken können.« »Der Gang muss in der Höhle anfangen«, sagte sie. »Los, wir gehen rein und sehen nach.« »Klar«, Chris grinste, »und laufen dem reizenden Mr. Diaz in die Arme. Nee, ohne mich! Am Tag gern, aber jetzt auf keinen Fall!« »Ja, wir wollen lieber umkehren«, sagte nun auch Peggy. Sie liefen den Strand entlang, stiegen die Felsenstufen hinauf und liefen weiter durch den Garten, hinein ins Haus. Die Mädchen gingen mit in das Zimmer der Jungen, alle hockten zusammen auf dem Bettrand und unterhielten sich noch eine Weile flüsternd. »Da hätten wir lange warten können«, sagte Chris, »wenn 186
die diesen Gang benutzen.« »Und wann wollen wir ihn uns ansehen?«, fragte Lissy. »Morgen«, sagte Ben. »Du meinst heute.« Chris grinste und zeigte zum Fenster. Im Osten wurde der Himmel schon heller. »Ich glaube, wir brechen die Sitzung hier ab, ich bin hundemüde.« »Und träumt von Mr. Diaz!«, rief Ben den Mädchen nach, als sie die Tür hinter sich schlossen. Innerhalb weniger Sekunden waren alle eingeschlafen, und als Miss Jones sie um halb acht weckte, schien es ihnen, als seien erst fünf Minuten vergangen. »Wollt ihr denn heute überhaupt nicht aufstehen?«, wunderte sie sich. »Sicher habt ihr die halbe Nacht geschwatzt.« »Erraten«, sagte Ben und grinste, aber mehr sagte er nicht.
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VII Die Tür ist nur angelehnt
Trotz der schlaflosen Nacht und ihrer Müdigkeit waren die vier sehr aufgeregt. »Was ist nur mit euch los?«, fragte Miss Jones kopfschüttelnd, als sie mit dem Frühstückstablett hereinkam. »Ihr gähnt und seid albern, alles zur gleichen Zeit. Ihr habt doch keine Dummheiten vor?« »Nein«, versicherte Ben, »nein, nein.« Er trat Chris unter dem Tisch auf den Fuß und warf den Mädchen unter gesenkten Wimpern einen beschwörenden Blick zu. »Nun, das will ich auch nicht hoffen«, sagte Miss Jones, und Lissy lenkte schnell ab, indem sie freundlich bat: »Würden Sie uns wohl heute einen Picknickkorb mitgeben? Wir wollten so gern bis zum Tee draußen bleiben.« Miss Jones nickte lächelnd. »Sicher, gern. Und auf was habt ihr Appetit? Vielleicht auf Kalbsbraten und Schinken, Brötchen und Obst und Kuchen und Limo?« »Wunderbar!«, schrien alle, und Peggy, für das geschickte Eingreifen Lissys dankbar, seufzte erleichtert. Nach dem Frühstück steckten die Kinder ihre Taschen188
lampen ein und auch ein paar Ersatzbatterien. Miss Jones brachte ihnen zwei wohl gefüllte Körbe und Ben und Chris nahmen jeder einen. Dann sagten sie Auf Wiedersehen und liefen durch den Garten und weiter über die Klippen hinunter zum Strand. Die Flut hatte in der Nacht die Fußspuren fortgewaschen, aber die Höhle fanden sie sofort. Vorsichtig sahen sie sich um, um sich zu vergewissern, dass auch niemand in der Nähe war. Finster gähnte ihnen die Öffnung entgegen. Die Höhle war tief, dunkel und feucht. Seetang hing von den Wänden und auf dem Boden wuchsen rote und grüne Seeanemonen. Die vier knipsten die Taschenlampen an und ließen den Schein in alle Winkel und Ecken gleiten. Zuerst entdeckten sie nichts. »Nichts als Wände«, murmelte Chris und ließ den Lichtstrahl über die feuchten Felsen huschen. »Wir werden ihn gar nicht finden«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Da, seht mal«, sagte Ben plötzlich und zeigte hinauf auf die Rückwand der Höhle. Alle drängten sich um ihn. Und dann sahen sie es auch. Roh behauene Stufen, und der Seetang darauf war erst kürzlich niedergetreten worden. »Da ist jemand gegangen«, flüsterte Ben. »Also los!« Sie machten sich daran, die schlüpfrigen Stufen hinaufzuklettern, ein Unternehmen, das sich als recht schwierig erwies. Und plötzlich schrie Peggy auf. Etwas hatte ihr Haar ge189
streift. Und gleich darauf rief sie: »Ein Seil! Ein Seil!« »Donnerwetter«, sagte Ben, »der Retter in der Not.« Chris griff als Erster danach, hängte sich daran und es hielt. »Ich ziehe mich jetzt hoch«, sagte er, »und ihr kommt nach.« Und wenig später schwang er sich durch eine Öffnung in der Felsenwand und ließ die Taschenlampe aufleuchten. Er befand sich jetzt in einer zweiten, kleineren Höhle. Ein paar Kisten und Kästen lagen umher, leer und zerbrochen. »Verdammt«, rief er, »beinah wäre ich gefallen. Passt bloß auf. Hier gibt es eine Unmenge Gerümpel, Bretter mit rostigen Nägeln und so ’n Zeugs.« Einer nach dem anderen tauchte nun in der Öffnung auf und Ben stieß mit dem Fuß gegen eine der Kisten. »Spiggys Schatztruhe«, sagte er, »und wie kommen wir nun weiter?« »Hier ist eine Tür«, sagte Chris leise. »Hoffentlich ist sie nicht abgeschlossen.« Langsam und widerwillig und auf dem Boden schurrend öffnete sie sich, als er vorsichtig auf die Klinke drückte. Und hinter ihr lag der Gang; finster, eng und dumpf führte er weiter hinein in den Felsen. »Na endlich«, murmelte Chris und die Mädchen sahen einander an. Sie fürchteten sich ein bisschen und froren sehr, denn sie trugen nur kurze Shorts und ärmellose Blusen. »Lasst mich vorangehen«, sagte Ben, »ich habe die 190
stärkste Lampe!« Einer hinter dem anderen schlichen sie weiter. Der Gang verlief in vielen Windungen, und die Decke senkte sich hin und wieder derartig, dass sie die Köpfe einziehen mussten. Es ging stetig aufwärts, manchmal sogar recht steil. Nach einiger Zeit bestanden die Wände nicht mehr aus Gestein, sondern aus Erde, und es war trockener. Außer dem leisen Geräusch ihrer Schritte war nichts zu hören. Und dann wurde der Gang plötzlich breiter und weitete sich zu einem kleinen unterirdischen Raum. Auch hier standen Kisten, größer als die ersten und besser erhalten. Auch sie waren leer. »Ob die wohl hier früher gesessen und die Beute verteilt haben?«, überlegte Peggy mit großen Augen. »Bestimmt war es dann Nacht und eine Kerze brannte.« »Hu …«, machte Chris leise und grinste. »Wir müssten doch eigentlich ganz in der Nähe des Hauses sein«, flüsterte Lissy. »Wir sind doch schon so lange gegangen.« Ben nickte. »Sieh mal dort, da ist wieder eine Tür.« Chris tat ein paar schnelle Schritte, drückte die Klinke herunter und sah durch den Spalt steil in die Höhe führende Treppenstufen. Vorsichtig und mit angehaltenem Atem stiegen sie hinauf. Oben angelangt, ließ Ben die Taschenlampe von neuem aufleuchten. Sie befanden sich in einem großen Keller. Hohe Regale standen an den Wänden und reihenweise leere Fla191
schen und in den Ecken große Holzfässer. »Na also, der Keller«, stellte Ben fest, »und die Stufen da führen sicher in die Küche.« Er leuchtete hinauf, und sie sahen, dass die Tür nur angelehnt war. Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch den Spalt. »Bleibt hier, ich sehe erst mal nach, ob die Luft rein ist«, flüsterte er. Die anderen blieben regungslos und mit wild klopfenden Herzen stehen, als er die Tür nun langsam auf stieß. Ben lauschte. Alles blieb still und so wagte er sich ein paar Schritte vor. Er sah in eine große Spülküche mit Steinfußboden. Niemand schien in der Nähe zu sein. Er überlegte. Dieser Raum konnte eigentlich nicht weit vom Turm entfernt liegen. Vielleicht führte sogar die kleine Tür dort drüben hinein. Sie sah ganz ähnlich aus wie die, durch die sie damals in den Turm gelangt waren. Ben konnte nicht widerstehen. Und nachdem er sich noch einmal nach allen Seiten umgesehen hatte, schlich er hinüber. »Nicht abgeschlossen«, stellte er aufatmend fest, und ohne zu überlegen, öffnete er sie und jagte die Wendeltreppe hinauf. Ganz oben erst blieb er atemlos stehen. Und dann hörte er etwas! Er fuhr zusammen und lauschte. Jemand schien dort drinnen im Zimmer zu weinen. Es musste ein Kind sein. Ben drückte auf die Klinke, doch es war abgeschlossen. Leise klopfte er. Auf der anderen Seite wurde es still und dann fragte je192
mand zögernd: »Wer ist da?« Aber gerade, als er antworten wollte, hörte er Stimmen. Irgendwer kam die Treppe herauf. Wohin nun? Nirgends gab es ein Versteck! Aber vielleicht konnte er sich in das untere Zimmer retten. Er jagte die Stufen hinunter und hinein in den kleinen, spärlich eingerichteten Raum und verbarg sich hinter der Tür. Die Stimmen kamen näher und näher. Zitternd presste er sich gegen die Wand. Und nun blieben die Näherkommenden stehen. »Ich will nur schnell nachsehen, ob ich meine Brieftasche hier liegen gelassen habe«, hörte er den immer schläfrig aussehenden Luiz sagen und die Tür wurde aufgestoßen!
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VIII Beinahe geschnappt
Ben wusste, dass Luiz ihn sofort entdecken würde, wenn er nur noch einen Schritt weitertat. Sein Herz schlug so laut, dass er dachte, der andere müsse es hören. Doch zu seiner unsagbaren Erleichterung warf Luiz nur einen flüchtigen Blick hinüber zum Tisch, schloss dann die Tür und stieg weiter die Treppe hinauf. »Ich muss sie woanders gelassen haben«, hörte er ihn sagen. Und dann entfernten sich seine Schritte. Ben konnte sein Glück kaum fassen. Er wartete, bis oben aufgeschlossen wurde, schlich dann hinaus, raste die Treppe hinunter, durch die Tür in die Abwaschküche, in den Keller und ließ sich dann atemlos zu Boden fallen. »Ben! Was ist los? Wo bist du so lange gewesen?«, flüsterte Chris und die Mädchen starrten ihn erschrocken an. »Sie haben mich beinahe geschnappt«, stieß er hervor. »Nur weg hier, raus aus dem Keller, schnell!« Sie rannten über die Stufen in den unterirdischen Raum und Ben flüsterte: »Ich muss mich noch einen Augenblick ausruhen.« Er hockte sich auf eine Kiste und schloss die Au194
gen. »Ich erzähl euch gleich alles, wartet nur einen Moment.« Und ein paar Minuten später begann er: »Die Abwaschküche führt tatsächlich zum Turm, und ich bin raufgelaufen, und oben in dem Zimmer habe ich jemanden weinen hören.« »Weinen?«, rief Lissy. »Haben die etwa einen Gefangenen da?« »Scheint so.« Er nickte. »Es klang nach einem Kind, ein Junge vielleicht, kann natürlich auch ein Mädchen gewesen sein.« Die Kinder sahen einander an. Sie hatten niemals ein Kind in Begleitung dieses Mr. Diaz oder der blonden Frau gesehen. »So!« Chris pfiff leise durch die Zähne. »Dann schmuggeln sie also nicht, sondern sie kidnappen.« »Das wäre entsetzlich«, flüsterte Lissy. Ben nickte. »Furchtbar! Wir müssen unbedingt versuchen herauszukriegen, ob es so ist, und wenn, wer es ist.« »Er wird doch manchmal aus dem Fenster gucken«, sagte Peggy plötzlich, »und wenn wir uns Miss Jones’ Feldstecher borgen, können wir ihn uns genauer ansehen.« »Gute Idee«, sagte Chris, »wirklich. Wir richten also von jetzt an eine Wache am Tag ein.« Einen Augenblick schwiegen sie und dachten über diese seltsame Geschichte nach und dann fragte Lissy leise: »Wie spät ist es eigentlich? Ich bin furchtbar hungrig.« 195
Ben sah auf seine Uhr. »Ziemlich spät schon. Kommt, lasst uns zum Strand zurückgehen.« Sie liefen den Gang entlang. Es war jetzt viel einfacher, weil es bergab ging. Peggys Taschenlampe streikte, und nun stolperte sie über den felsigen, unebenen Grund dicht hinter Ben her, um wenigstens etwas sehen zu können. Wenig später ließ er sich als Erster am Seil hinabgleiten. Plötzlich stieß er einen Schrei aus. »Alles überflutet!«, schrie er und die anderen starrten erschreckt zu ihm hinunter. Und gleich darauf stand er wieder bei ihnen. »Wir Idioten«, murmelte er, »dass wir daran nicht gedacht haben! Jetzt können wir hier Ewigkeiten sitzen und warten, bis das Wasser zurückgeht.« Die Kinder sahen einander verstört an. »Was machen wir denn bloß?«, jammerte Peggy. »Hoffentlich kommt keiner von den Männern runter«, sagte Lissy angstvoll. Doch Ben beruhigte sie. »Unsinn, was sollen die jetzt hier? Nein, deswegen brauchst du keine Angst zu haben. Ich schlage vor, wir gehen wieder in den Raum vor dem Keller zurück, da ist es wenigstens trocken.« So stiegen sie also noch einmal den Gang hinauf, saßen dann beim Schein ihrer Taschenlampen auf den Kisten und packten ihren Proviant aus. Seltsamerweise schmeckte es ihnen in dieser düsteren Umgebung. »Jetzt fühle ich mich wieder etwas besser«, meinte Ben 196
und Chris sah auf seine Uhr. »Es ist vier«, sagte er, »und ich glaube nicht, dass die Höhle vor halb sechs leer ist. Und der Strand ist dann sicher immer noch überschwemmt. Das kann eine langweilige Sitzung werden.« Einen Augenblick saßen sie schweigend da und starrten auf die Wände und dann sagte Lissy endlich: »Könnten wir nicht durch die Abwaschküche entkommen? Da ist doch der Hintereingang. In zehn Minuten wären wir zu Hause.« Ben überlegte. Er hatte selbst wenig Lust, noch stundenlang hier zu bleiben. »Wir müssten sehr vorsichtig sein«, sagte er zögernd. »Wartet, ich will erst nachsehen, ob dort oben alles still ist.« Sie stiegen die Stufen hinauf in den Keller und Ben lief weiter zur Abwaschküche. Sie war leer, aber aus der nebenan liegenden Küche drangen Stimmen und das Klappern von Geschirr. Wahrscheinlich tranken die Putzfrauen ihren Kaffee. Ben winkte den anderen, und dann schlichen sie auf Zehenspitzen zum Hintereingang, wo eine Reihe leerer Flaschen auf den Milchmann wartete. Und dann erlebten die vier eine bittere Überraschung. Zwei große Airedaleterrier liefen frei im Garten umher. »Die lassen uns nie durch«, sagte Ben düster, »die hatte ich ganz vergessen.« Peggy weinte beinahe. »Erst die Flut und nun die Hunde!« »Glaubst du, dass sie uns etwas tun würden?«, fragte Lissy. 197
»Nein, das nicht.« Ben schüttelte den Kopf. »Aber sie würden wie verrückt bellen und das ganze Haus alarmieren.« Er runzelte die Stirn. »Ich muss mal überlegen, was wir jetzt machen können.« »Hoffentlich fällt ihm etwas ein«, dachte Chris. Ben wusste eigentlich immer Rat, wenn sie in der Klemme saßen. Und auch dieses Mal war es nicht anders. »Ich weiß«, flüsterte er nach einer Weile. »Wir gehen in die Waschküche, verstecken uns hinter den Säcken und warten, bis der Milchmann kommt, denn der wird kommen, sonst stünden ja die leeren Flaschen nicht vor der Tür. Dann müssen sie ja die Hunde hereinholen, und den Augenblick passen wir ab, laufen zu dem großen Baum dort, klettern hinauf, springen von da aus auf die Mauer und sind in Sicherheit.« »Prima«, sagte Chris voller Bewunderung. Sie verschwanden also in dem angrenzenden Raum und schlossen die Tür hinter sich, damit niemand sie überraschen konnte. Und dann warteten sie. Endlich hörten sie das Rattern des Milchwagens auf der Straße. »Wurde auch Zeit«, murmelte Ben. »Habt ihr schon einmal so sehnsüchtig auf den Milchmann gewartet? Ich nicht. Passt auf«, flüsterte er dann. Der Mann klingelte am Tor und die Hunde begannen wild zu bellen. Luiz erschien in der Tür, rief sie zurück und band sie mit einem Strick an den nächsten Baum. »Sie können kommen«, rief er dem Mann zu und der kam mit einigen Milchflaschen unter dem Arm und ein paar Päckchen 198
Butter in der Hand den Weg hinauf und verschwand in der Abwaschküche. »Los …«, flüsterte Ben. Die vier stürmten über den Rasen und die Hunde begannen von neuem wie verrückt zu bellen. Von irgendwoher kam eine Stimme: »Ruhig, legt euch!« Aber die Hunde gebärdeten sich wie toll, und obwohl die Kinder schon auf dem Baum in Sicherheit waren, gaben sie keine Ruhe. Luiz trat aus dem Haus und schrie: »Ruhe, zum Teufel, Ruhe! Es ist doch nur der Milchmann!« Doch die Airedaleterrier bellten noch, als er wütend und unverrichteter Dinge wieder gegangen war, während sich die Kinder eines nach dem anderen auf die Mauer fallen ließen und auf der anderen Seite heruntersprangen. Lachend jagten sie über die steilen Klippen zum Guckloch. »Glück gehabt«, Chris grinste zufrieden, »unverschämtes Glück! Unsere Ausbeute war übrigens nicht schlecht, und das Tollste an der ganzen Sache ist der vermeintliche Gefangene im Turm. Übrigens, mir kommt die Geschichte jetzt ziemlich komisch vor, vielleicht haben wir uns nur etwas eingeredet.« »Hm«, machte Ben, der neben ihm herrannte, »vielleicht.« »Na, habt ihr euch amüsiert?«, erkundigte sich Miss Jones freundlich und ahnungslos, als sie ins Haus stürmten. »Welch ein herrlicher, sonniger Tag das war.« 199
»Wirklich?«, fragte Peggy und die anderen sahen sie beschwörend an. Dass sie jetzt nur keinen Quatsch machte! Und Chris sagte hastig: »Sicher, sicher, ganz ausgezeichnetes Wetter hatten wir, ich möchte es als hervorragend bezeichnen.« Miss Jones sah ihn von der Seite an und schüttelte den Kopf. »Was redest du für einen Unsinn. Geht und wascht euch die Hände, wir wollen Tee trinken.« Die vier rasten die Treppe hinauf, nicht nur, um diesen Befehl zu befolgen, sondern um noch schnell einen Blick zum Turm des alten Hauses hinüberzuwerfen. Ob sich dort vielleicht jemand am Fenster zeigte? Aber sie sahen niemanden!
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IX Es ist ein Junge
Nein, sie sahen niemanden, doch trotz dieser Tatsache und obwohl Chris noch vor kurzem Zweifel geäußert hatte, gerieten sie alle in immer größere Erregung. Sie hockten zusammen und sprachen von nichts anderem als von dem Unbekannten im Turm. Nur wenn Miss Jones plötzlich erschien, schwiegen sie. »Sie ist zu ängstlich«, sagte Chris. »Ich überlege mir schon die ganze Zeit, wie wir es anstellen sollen, dass sie nichts merkt, wenn einer von uns oben bleibt. Nachts war es ja einfach mit der Wache, aber am Tag?« »Ach«, meinte Lissy und strich sich das Haar aus der Stirn, »sie kommt doch nur hierher, um sauber zu machen. So lange müssen wir natürlich verschwinden, aber dann kann sich immer einer heimlich zurückschleichen.« Bevor sie an diesem Abend zu Bett gingen, sahen sie wieder hinüber zum Turm, doch außer dem trüben Schein einer Lampe hinter geschlossenen Vorhängen war nichts zu erkennen. »Er ist also noch da«, murmelte Ben, »sonst würde kein 201
Licht brennen.« Chris gähnte. »Gut, dass wir jetzt nicht zu wachen brauchen. Ich bin hundemüde. Außerdem ist es mir am Tag auch lieber, weil man dann wenigstens lesen kann und sich nicht so langweilen muss.« »Nur Miss Jones darf nicht unprogrammmäßig hier oben aufkreuzen, sonst denkt sie womöglich noch, wir haben uns gezankt.« Ben beförderte mit Schwung seinen Pullover auf einen Stuhl. »Das werden wir ihr schon wieder ausreden«, sagte Chris. »Ich glaube übrigens, ich werde heute Nacht allerhand Zeug zusammenträumen. Von finsteren Gängen, verschlossenen Türen und so.« »Ach, Blödsinn«, sagte Ben schläfrig. Einen Augenblick noch lagen sie wach, doch dann schliefen sie ein, und Chris träumte tatsächlich, aber nicht von Gängen und Höhlen, sondern von Mr. Diaz, der zwei Hunde, groß wie Kälber, auf ihn hetzte. Er warf sich unruhig hin und her und stöhnte im Schlaf. Am anderen Morgen galt ihr erster Blick natürlich dem Turm, aber auch jetzt rührte sich dort drüben nichts. Doch gerade als sie zum Frühstück hinuntergehen wollten, drehte sich Ben, die Türklinke schon in der Hand, noch einmal um und stieß einen leisen Schrei aus. »Da drüben ist jemand!« Chris wollte an ihm vorbeistürzen, aber Ben packte seinen Arm. 202
»Lass dich nicht sehen, ich glaube, es ist der ehrenwerte Mr. Diaz.« Ja, er war es. Er stand dort regungslos und starrte zu ih203
rem Fenster herüber. »Wahrscheinlich will er feststellen, ob wir uns für sein Quartier interessieren«, sagte Ben leise. Chris zog die Brauen zusammen. »Der Kerl verfolgt mich schon bis in meine Träume.« Nach einer Weile verschwand Mr. Diaz und Miss Jones rief zum Frühstück. Etwa eine Stunde später begannen die Kinder mit der Wache. Drei Stunden lang saß jedes von ihnen seitlich des Fensters, unliebsamen Blicken verborgen, und wartete. Ben und Lissy sahen den Unbekannten zuerst. Während seiner Wache beschäftigte sich Ben damit, ein kleines Boot zu schnitzen, und er legte es gerade beiseite, als Lissy heraufkam, um ihn abzulösen. Während der Arbeit hatte er beinahe jede Minute aufgesehen, aber bis jetzt niemanden entdecken können. Doch gerade als er aufstand und Lissy ein Buch in die Hand nahm und beide zum alten Haus hinübersahen, stießen sie fast gleichzeitig einen Schrei aus. Dort drüben stand ein Junge. »Da ist er«, sagte Ben. Der Junge lehnte sich aus dem Fenster. Ben griff hastig nach dem Fernglas und nun sah er ihn zum Greifen nahe. »Sieht verdammt blass aus«, murmelte er. »Gib mir mal«, drängte Lissy. »Und traurig«, sagte sie leise. »Ist ja auch kein Wunder.« »Wir wollen winken«, sagte Ben plötzlich. Er lehnte sich 204
weit hinaus, nahm Lissys kleines Taschentuch und schwenkte es heftig. Zuerst bemerkte der Junge ihn nicht, aber dann starrte er auf einmal hinüber. Zitternd vor Aufregung presste Lissy das Fernglas vor die Augen. Endlich, der Junge winkte zurück, und dann konnte sie sogar erkennen, wie er lächelte. Ben ließ das Tüchlein sinken und seufzte zufrieden: »Er hat uns gesehen. Wir müssen uns mit ihm verständigen.« »Nimm ein Blatt Papier«, flüsterte sie hastig, »mal große schwarze Buchstaben darauf, das halten wir dann hoch, schnell!« Ben stürzte hinaus und Lissy winkte unaufhörlich. Doch plötzlich verschwand der Junge und tauchte auch nicht wieder auf. Wahrscheinlich war jemand ins Zimmer gekommen. Enttäuscht ließ sie das Fernglas sinken. Auf der Treppe stieß Ben mit Chris und Peggy zusammen, die heraufgelaufen kamen. »Es wird gleich regnen«, rief Peggy ihm zu. »Hast du nicht die großen schwarzen Wolken gesehen?« »Nein«, flüsterte er, »aber den Jungen! Er steht am Fenster!« Ohne ein Wort zu sagen, rasten die beiden an ihm vorbei und rissen die Tür auf. Als sie hereinkamen, drehte Lissy sich um und sagte: »Er ist weg!« Peggy machte sofort kehrt. »Er ist weg!«, schrie sie Ben nach, und der verlangsamte sein Tempo, sodass sie ihn schnell einholte. 205
»Ich werde Miss Jones nach schwarzer Tinte fragen«, erklärte er und nahm gleich zwei Stufen auf einmal. »Wir müssen uns nämlich mit dem Jungen verständigen.« Leider besaß Miss Jones nur schwarze Kreide. »Ob ihr damit etwas anfangen könnt?«, fragte sie. »O ja, vielen Dank«, Peggy strahlte, »die ist genauso gut. Wir bleiben oben und spielen ein bisschen. Sie sind sicher ganz froh, wenn Sie uns los sind, weil Sie doch Besuch bekommen.« »Sicher.« Sie lächelte und Peggy und Ben stürmten davon. Oben angelangt holten sie ihre Zeichenblöcke hervor, und Ben sagte, während er schon ein großes A über den ganzen Bogen malte: »Ich nehme die ersten acht Buchstaben und ihr jeder sechs. Seht mal, ist das nicht gut geworden? Schön dick und groß, das kann er bestimmt lesen.« Es dauerte nicht lange, bis das ganze Alphabet geschrieben war. Immer wieder unterbrachen sie die Arbeit, um einen Blick zum Fenster hinüberzuwerfen, aber den Jungen sahen sie nicht mehr. Verhältnismäßig früh wurde es dunkel, da der Himmel bewölkt war, und drüben im Turm wurde das Licht von neuem angezündet. Einen Augenblick lang sahen die vier einen Schatten auftauchen und verschwinden. »Wir müssen bis morgen warten«, sagte Ben, »schade.« Am nächsten Tag in aller Frühe begannen sie wieder mit der Wache. Und dann, nach dem Mittagessen, als Peggy Ben noch ein wenig Gesellschaft leistete, sahen sie ihn endlich. 206
Vorsichtig kam er ans Fenster und beugte sich ein wenig hinaus, wie um sich zu vergewissern, dass ihn auch niemand vom Garten her beobachten konnte. »Hoffentlich schleicht der ehrenwerte Diaz nicht durch die Gegend«, murmelte Ben, griff nach den Karten mit den Buchstaben und begann zu winken. »Los, Peggy, du reichst mir einen Bogen nach dem anderen.« Der Junge winkte zurück und starrte auf die schnell hintereinander folgenden Buchstaben. »Wir«, las er und nickte. Ben machte eine kleine Pause. Und dann ging es weiter, »sind Freunde.« Der Junge nickte, winkte wieder und schien zu lächeln. Inzwischen waren Chris und Lissy heraufgekommen, um ihr Badezeug zu holen. In der Tür blieben sie wie angewurzelt stehen. Doch dann waren sie mit ein paar Schritten bei den anderen. »Frag ihn, wer er ist«, flüsterte Peggy, »schnell!« Wieder reichte sie ihm die Buchstaben. Und dann begann der Junge zu antworten, indem er mit dem Finger in die Luft schrieb.
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X Die Blonde fragt sehr viel
Ben presste das Fernglas fest gegen die Augen und die anderen drängten sich dicht um ihn. Sie starrten ihn an, als könnten sie die Antwort des Jungen von seinem Gesicht ablesen. Sie sahen zwar, dass der Junge die Finger bewegte, aber welche Buchstaben er in die Luft schrieb, das konnten sie nicht erkennen. »Wer ist er? Wer ist er?«, fragte Peggy hastig, als Ben das Glas sinken ließ. »Larry King«, sagte er. »Ich wette, dass er der Sohn von diesem Amerikaner ist, von diesem Millionär. Der hat jedenfalls einen Sohn, der Larry heißt.« »Klar«, schrie Peggy, »klar. Trinkt Kings Limonade! Und deshalb haben sie ihn auch gekidnappt. Die wollen Lösegeld von dem Vater. So was gibt’s, so eine Gemeinheit!« »Das traue ich dem ehrenwerten Mr. Diaz übrigens zu«, murmelte Chris und Lissy nickte. Sie war ganz blass geworden. »Auf alle Fälle müssen wir ihn befreien!«, schrie Peggy von neuem. »Sonst tun sie ihm noch was. Gib mal das Glas her.« 208
Ben gab es ihr und sagte: »Wir kriegen ihn schon, irgendwie kriegen wir ihn schon raus. Reg dich bloß nicht so auf.« Voller Mitleid starrte Peggy hinüber. Der Junge schien außergewöhnlich dünn zu sein und hoch aufgeschossen, er trug eine Stoppelfrisur und hatte schmale helle Augen und außergewöhnlich dunkle Wimpern. »Bestimmt geben sie ihm nicht genug zu essen«, sagte sie voller Empörung, »er ist ja ganz abgemagert! Du musst ihm sofort sagen, dass wir ihn befreien.« »Ja«, sagte Ben, und er und Peggy bückten sich, um die nötigen Buchstaben zusammenzustellen. Doch als sie sich wieder aufrichteten, sahen sie gerade noch, wie Larry verschwand, so, als habe ihn jemand vom Fenster fortgezogen. »Duckt euch!«, befahl Ben und riss Peggy mit sich. »Bist du verrückt geworden?«, zischte sie. Aber dann begriff sie, dass etwas nicht in Ordnung zu sein schien. Und Chris und Lissy hatten sich blitzschnell gegen die Wand gepresst. Peggy reckte den Hals ein bisschen, gerade so lange, dass sie einen Augenblick den aufmerksam zu ihnen herüberstarrenden Diaz und Luiz mit den Schlafaugen erkennen konnte. »Sie haben uns doch nicht gesehen?«, flüsterte sie ängstlich, als fürchtete sie, die zwei könnten sie hören. Ben schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht, wir sind gerade zur rechten Zeit verschwunden. Hoffentlich haben sie nicht 209
gesehen, dass Larry Zeichen gegeben hat. Ich möchte aber wetten, dass sie wissen, dass das hier unser Schlafzimmer ist.« »Jedenfalls müssen wir von jetzt an noch viel vorsichtiger sein«, sagte Peggy. »Diesem Mr. Diaz möchte ich nicht noch einmal unangenehm auffallen.« »Das kann ich dir nicht verdenken«, entgegnete Chris, »an deiner Stelle hätte ich auch die Nase voll von ihm.« »Seid still, wir wollen uns lieber überlegen, wie wir Larry befreien können«, meinte Lissy. Schweigend starrten sie vor sich hin. »Es hat keinen Zweck, dass wir es mit dem Gang versuchen, das Turmzimmer ist ja doch verschlossen«, sagte Ben endlich. »Ich habe eine Idee!«, rief Chris plötzlich. »Wie wär’s mit einer Strickleiter?« »Eine Strickleiter? Wie willst du denn die hinaufbringen?«, fragte Lissy und Peggy sagte: »Das geht doch gar nicht.« »Das geht prima, noch nie gehört, wie man so was macht? Pass auf, du nimmst einen Stein, und daran befestigst du einen Bindfaden. Dann knotest du ein dünnes Tau daran und daran wieder ein dickes, und an dem bindest du die Strickleiter fest. Und den Stein werfen wir in Larrys Fenster, er zieht die Leiter hoch, macht sie am Fenster kreuz fest und klettert herunter.« »Großartig!« Alle waren begeistert. 210
»Und woher kriegen wir so viele Taue?«, fragte Lissy. »Vielleicht gibt Georg uns welche. Los, wir wollen ihn gleich fragen.« Chris sprang auf, und alle stürmten die Treppe hinunter und hinaus aufs Feld, denn sie wussten, dass Georg heute dort arbeitete. »Georg, Georg«, schrien sie, »kannst du uns Taustricke leihen? Aber wir brauchen furchtbar viele!« »Na nu, wozu denn das?«, wunderte er sich. Mit dieser Frage hatte Chris gerechnet und so sagte er hastig: »Wir erzählen es dir später.« »Na, dann guckt in meinem Kahn nach«, forderte er sie auf und lachte gutmütig. »Im Heck liegen eine Menge, die könnt ihr haben.« »Vielen Dank«, schrien sie und rannten davon zur Höhle mit der Anlegestelle, sprangen ins Boot und fanden einen wahren Berg heillos verwirrter dicker und dünner Taue. »Das dauert Jahre, ehe wir das Zeug auseinander gekriegt haben«, jammerte Peggy. Ben lachte. »Unsinn, wir sind zu viert und können gleich damit anfangen.« »Und woraus machen wir die Sprossen?«, fragte Lissy, als sie auf den Ruderbänken saßen und die Schlaufen und Knoten entwirrten. »In Miss Jones’ Schuppen habe ich gerade gestern eine ganze Menge kurze, ziemlich dicke Holzstäbe gesehen, die sind ideal.« »Seht mal da«, flüsterte Peggy plötzlich. Durch den wei211
ßen Sand kam die blonde Frau direkt auf sie zugeschlendert. »Was die wohl jetzt von uns will?«, fragte Lissy ganz leise. »Die will uns bestimmt aushorchen, und ihr haltet die Klappe, die verarzte ich schon«, sagte Ben. Die Frau kam langsam näher. Sie trug lange enge Hosen, einen leichten Pullover, und der Rand ihres grellroten Strohhutes beschattete ihr Gesicht. Die Sonnenbrille trug sie sinnigerweise in der rechten Hand. »Oh, ihr seid ja sehr beschäftigt«, begann sie, während sie stehen blieb und ihnen zuwinkte. Sie schien sehr bemüht, ihrer Stimme einen freundlichen Klang zu geben. »Was macht ihr denn da?« »Ach, wir schaffen nur ein bisschen Ordnung«, sagte Ben und lachte sie ganz ungeniert an. »Ihr seid wohl viel am Strand, wie?«, fragte die Frau wieder, betrachtete die Sonnenbrille und drehte sie zwischen den Fingern. Ben nickte. »Beinahe immer. Natürlich nicht, wenn die Flut kommt.« »Natürlich nicht.« Die Frau sah auf. »Habt ihr euch schon die Höhlen angesehen?« Sie zeigte mit der Sonnenbrille zu den dunklen Öffnungen in den Klippen hinüber. »Seid ihr schon einmal darin gewesen?« »Ach, nein, sie sind so finster und feucht.« Ben lächelte ein wenig verlegen. »Die anderen können wohl nicht sprechen?« Sie bohrte die Spitze ihrer aus weißem Leder geflochtenen Sandale in 212
den Sand, betrachtete sie und warf dann den Mädchen und Chris einen lauernden Blick zu. »Wir gehören zusammen und ich bin der Chef«, erklärte Ben und gab sich den Anschein, als erfülle diese Tatsache ihn mit großem Stolz. »Es ist Angelegenheit des Chefs, mit Fremden zu sprechen, das ist abgemacht.« »So? Und wie lange werdet ihr noch im Guckloch bleiben?« »Nicht mehr sehr lange.« »Und ihr schlaft in dem hübschen kleinen Turm, nicht wahr?« »Ja.« »Da habt ihr eine schöne Aussicht und könnt sicher auch den Turm unseres Hauses sehen?«, fragte die Frau und sah Ben geradewegs ins Gesicht. »Darauf habe ich noch nicht geachtet«, sagte Ben, »aber meilenweit können wir über das Meer sehen. Ganz toll, sag ich Ihnen!« In diesem Augenblick hörten sie den Gong, der zum Tee rief, und sprangen auf, froh darüber, den Fragen der Blonden entrinnen zu können. Chris streckte die Hand aus, um ein Bündel Tau mitzunehmen, aber Ben warf ihm unter gesenkten Wimpern einen derartigen Blick zu, dass er sofort verstand, es an seinem Platz ließ und mit einem Satz auf den Steg sprang. Sie sagten alle höflich »Auf Wiedersehen« und liefen dann durch den weißen Sand zurück zum Guckloch. 213
»Wie du das gemacht hast«, stieß Chris atemlos im Laufen hervor. »Einfach toll! Wenn die mich gefragt hätte, ob wir den alten Turm sehen könnten, ich hätte nichts zu sagen gewusst.« Lissy kicherte und warf das lange dunkle Haar zurück. »Dass er darauf noch nicht geachtet hat, ist gut, was? Wie bist du nur auf diese blödsinnige Antwort gekommen?« Ben zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Übrigens, misstrauisch sind die, wie? Das macht das schlechte Gewissen. Mit unserem Nachrichtendienst wird es jetzt wohl aus sein. Die werden von jetzt an scharf aufpassen.« Nach dem Tee gingen sie alle noch einmal zu dem Boot, um das Bündel Tau zu holen, denn die herannahende Flut machte es unmöglich, länger am Strand zu bleiben. »Wollt ihr denn heute gar nicht mehr hinausgehen?«, fragte Miss Jones überrascht. »Wollt ihr den ganzen Abend im Haus zubringen?« »Ja«, sagte Peggy wichtig, »wir haben nämlich ein Geheimnis. Es macht Ihnen doch nichts aus?« »Nicht das Geringste.« Sie lächelte und strich ihr über das Haar. Die Kinder arbeiteten eifrig und bald hatten sie den größten Teil des Taues entwirrt. Befriedigt stellten sie fest, dass es gut erhalten war, und sie fanden auch zwei Enden darunter, die ihnen lang genug für die Herstellung der Strickleiter erschienen. Dann lief Ben hinter den Schuppen, um das Holz für die 214
Sprossen zu holen, und zeigte den anderen, wie man sie am besten in das Tau knotete. Ganz allmählich begann die Leiter Form anzunehmen und Peggy stand bewundernd davor und sagte: »Toll! Die möchte ich ausprobieren, am liebsten noch heute Nacht!«
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XI Tinker und Don
»Unmöglich«, widersprach Ben ihr. »Wir können Larry unmöglich heute schon herausholen. Die Hunde würden wie wahnsinnig bellen und in ein paar Sekunden das ganze Haus aufwecken.« Ratlos sahen sich die anderen an. Du lieber Himmel, die Hunde, die hatten sie ja ganz vergessen! Und in die nachdenkliche Stille hinein sagte Ben: »Ich muss mich mit ihnen anfreunden.« Sie starrten ihn ungläubig an. Keiner von ihnen hätte auch nur im Traum daran gedacht, ein derartiges Wagnis einzugehen. Ben grinste leicht. »Ihr tut gerade so, als seien es Tiger. Tiere sind immer nett zu mir, weil ich immer nett zu ihnen bin. Außerdem habe ich früher bei meinem Großvater jeden Tag mit ihnen zu tun gehabt, da bekommt man allmählich Übung.« Peggy, die ihm gegenüber hockte, hatte mit einem Zopfende im Mundwinkel zugehört. »Du bist mutig«, sagte sie nun. »Hast du gar keine 216
Angst?« Ben zog an einem ihrer Zöpfchen. »Na, so viel wie du nicht, aber ein bisschen auch. Aber es wird mir ja nichts anderes übrig bleiben. Das Richtigste ist, ich gehe gleich heute Abend. Und sobald sie mich kennen und keinen Krach mehr machen, starten wir unsere Aktion.« »Und wie willst du es anstellen, dich mit diesen beiden Riesenviechern anzufreunden?«, fragte Chris gespannt. »Ganz einfach, ich lasse mir von Miss Jones ein paar Brote mit Fleisch geben.« »Die wird sich schön wundern, dass du schon wieder hungrig bist«, meinte Chris. Er hatte richtig vermutet, Miss Jones wunderte sich sehr. »Na nu«, sagte sie kopfschüttelnd, »hast du dich beim Abendbrot nicht satt gegessen? Oder wollt ihr etwa jemanden heimlich durchfüttern?« Sie lachte und ging in die Küche. Und Ben murmelte: »Gar nicht schlecht geraten.« Aber das hörte sie nicht mehr. Einen Augenblick später nahm er einen großen Teller mit Butterbroten und ein paar Scheiben kalten Braten in Empfang. »Aber beklag dich nicht, wenn du morgen einen verdorbenen Magen hast«, sagte sie lächelnd. Als es dunkel wurde, packte er seinen Vorrat in einen der Picknickkörbe und schlich aus dem Haus. Die anderen wären zu gern mitgekommen, aber er schüttelte den Kopf. »Das hat keinen Sinn. Ich muss erst mal allein gehen. 217
In zwei Stunden bin ich zurück.« Und nun war er auf dem Weg zum alten Haus, dessen schwarze Silhouette sich ein Stück vor ihm vom nächtlichen Himmel abhob. Und wieder war das oberste Turmfenster von schwachem Licht erhellt. »Wahrscheinlich liest er noch«, dachte Ben. Und der Junge da oben tat ihm sehr Leid. Dann hatte er die Mauer erreicht und überlegte, wie er es anstellen sollte, in den Garten zu gelangen, ohne dass die Hunde Alarm schlugen. Er wusste, dass sie die ganze Nacht über frei umherliefen und sich sofort auf ihn stürzen würden. Ein glücklicher Zufall kam ihm zu Hilfe. Eine der Frauen, die im Hause arbeiteten, kam den Weg hinauf und ging durch die Hintertür, in deren Nähe Ben wartete. Die Hunde stürzten auf die Frau zu und bellten. Sie war an sie gewöhnt und sagte: »Don, Tinker, seid still, wollt ihr wohl still sein. Ihr kennt mich doch.« »Bist du es, Anna?«, rief jemand von drinnen. »Ja«, rief sie zurück. »Ich verstehe gar nicht, warum sie heute solchen Krach machen.« »Das ist die Gelegenheit«, dachte Ben. »Wenn die beiden jetzt bellen, fällt es gar nicht auf.« Lautlos wie ein Schatten schob er sich durch die Tür. Die Hunde witterten ihn sofort und begannen von neuem mit ihrem wilden Gebell. »Ruhe!«, schrie jemand vom Hause her. »Ruhe, ihr Kö218
ter!« Die Hunde schwiegen, denn sie hatten inzwischen gelernt, dass, wenn man sie zur Ordnung rief, der Besucher ein Freund sein musste. »Don, Tinker«, flüsterte Ben und hockte sich in den Schutz eines dichten Gebüsches. Als sie ihre Namen hörten, spitzten die beiden Hunde die Ohren, aber dann begann Don wieder zu bellen. Tinker betrachtete den Fremden zweifelnd. Anscheinend überlegte er angestrengt, was er nun tun sollte. Ben rührte sich nicht. Er wusste, dass man sich Tieren gegenüber ruhig und abwartend verhalten musste. Aber sein Herz klopfte wild, denn er war nicht sicher, ob sie ihn nicht vielleicht doch noch angreifen würden. Von neuem bellte Don, doch Tinker kam langsam und neugierig näher und beschnupperte die ausgestreckte Hand des Fremden. Ben saß noch immer regungslos da, während der Hund, der das Fleisch roch, versuchte seine Schnauze in den Korb zu bohren. Die Tiere wurden kurz gehalten, denn Mr. Diaz war der Meinung, dass Leckereien sie träge und faul machten. »Guter Hund«, sagte Ben mit leiser, beruhigender Stimme, »guter Hund.« Tinker kratzte eifrig an dem Korb und Ben öffnete ihn langsam. Währenddessen stand Don in angemessener Entfernung, misstrauisch und leise knurrend. »Knurr du nur, Hauptsache, du bellst nicht«, dachte Ben. Tinker nahm ein Brot und schnappte eine Sekunde später 219
nach dem nächsten. Anscheinend kam er auf den Geschmack. Langsam und vorsichtig strich Ben ihm über den Kopf, 220
und der Hund, nicht an Zärtlichkeit gewöhnt, ließ es sich gefallen. »Wir werden noch dicke Freunde«, dachte Ben und gab ihm ein Stück Braten. Don betrachtete die beiden mit schief gelegtem Kopf und meinte, dass, wenn sein Freund sich von diesem fremden Jungen füttern ließ, er es wohl auch tun könnte. Zögernd und noch immer hin und wieder verhalten knurrend, kam er näher. Ben atmete auf. Er wusste, das hatte jetzt nicht mehr viel zu bedeuten. Er gab also auch Don ein Stück Brot und ein Stück Fleisch. Den Rest wollte er für später aufheben. Dann stand er auf und tat ein paar vorsichtige Schritte auf den Turm zu. Die Hunde schien das nicht zu interessieren, sie hielten sich dicht an ihn, die Schnauzen immer am Korb, geräuschvoll schnuppernd. Sogar Don knurrte nicht mehr. Sie gelangten zum Turm, und Ben starrte hinauf und überlegte, ob er es wohl wagen konnte hineinzugehen und ein paar Worte mit Larry zu sprechen. Er drückte die Klinke herunter und die Tür öffnete sich langsam. Ben lauschte. Nichts war zu hören und niemand schien in der Nähe zu sein. Die Hunde drängten sich an ihn; er warf ihnen die beiden letzten Fleischstücke zu und schlüpfte anschließend durch den Spalt. Einen Augenblick stand er da, ohne sich zu rühren, und lauschte von neuem. Finsternis umgab ihn und es blieb totenstill. Er knipste die Taschenlampe an, machte sie sofort wieder aus und begann lautlos und langsam die Stufen hin221
aufzuschleichen. Die Räume, an denen er vorüberkam, waren dunkel, aber als er endlich ganz oben angelangt war, sah er einen schmalen Lichtstreifen unter der Tür. Er lauschte, doch auch dort drinnen war es still. Er bückte sich, presste ein Auge gegen das Schlüsselloch und sah Larry am Tisch sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt. Außer ihm schien niemand im Zimmer zu sein. Ben klopfte leise und Larry hob den Kopf. »Wer ist da?«, fragte er. »Ben, aus dem anderen Turm.« »Kannst du mich herauslassen? Steckt der Schlüssel?« Larry war aufgesprungen. Ben wusste, dass kein Schlüssel vorhanden war, und drückte ohne viel Hoffnung auf die Klinke. Nein, die Tür war natürlich fest verschlossen. »Heute noch nicht«, flüsterte er, »aber wir haben eine Strickleiter gemacht. Und wenn in einer der nächsten Nächte ein Stein in dein Zimmer fliegt, heb ihn auf und zieh die Leiter hoch. Du musst sie dann am Fensterkreuz festmachen. Hast du das begriffen?« »Ja«, flüsterte Larry, dicht an die Tür gepresst, »ja, natürlich.« »Bist du gekidnappt worden?«, fragte Ben. »Ja, sie wollen Lösegeld haben. Mein Vater ist nämlich ziemlich reich, und da denken sie, er wird ’ne Menge für mich bezahlen. Diaz war übrigens der Sekretär von meinem Vater. Und deshalb war es auch ganz einfach für ihn, mich hierher in diesen Turm zu bringen.« 222
»Dann bist du also wirklich der Sohn von dem berühmten King, wir haben uns schon so was Ähnliches gedacht. Ich glaube, es ist das Beste, wenn wir die Polizei holen.« »Nein«, flüsterte Larry hastig, »sie tun mir bestimmt was, wenn sie das merken. Das mit der Strickleiter ist besser.« »In Ordnung«, sagte Ben leise. »Los, dann pass auf. Wir sagen dir vorher Bescheid, wenn wir kommen. Achte auf unser Fenster.« »Vielen Dank«, flüsterte Larry wieder, »vielen Dank.« »Ich glaube, da ist jemand«, sagte Ben hastig, »ich muss weg! Auf Wiedersehen.« Er lief leise die Treppe hinunter und wollte die Tür vom Turm öffnen. Sie war verschlossen! Sein Herz schlug wild. Wie kam er jetzt heraus? Vielleicht durch die Küche? Sie hatte einen Ausgang zum Garten. Er huschte zur Tür, die vom Turm aus in die Abwaschküche führte, tat einen Schritt, trat direkt in eine Zinkwanne, fiel hin und sie schlug mit ungeheurem Getöse um!
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XII Anna sieht Gespenster
Verzweifelt raffte Ben sich auf. Jetzt öffnete sich die Tür, eine der Frauen erschien und knipste das Licht an. Im nächsten Augenblick stieß sie einen gellenden Schrei aus und raste zurück. »Luiz!«, schrie sie. »Ein Dieb, ein Dieb ist in der Abwaschküche!« Ben jagte zur Hintertür. Sie war verschlossen und verriegelt und die Kette vorgelegt. Ehe er sie aufgeschlossen hatte, würden sie kommen. Was sollte er tun? In den Turm zurück? Nein, das war völlig sinnlos. Und plötzlich wusste er einen Ausweg. In ein paar Minuten konnte er am Strand sein, wenn er durch den Geheimgang lief. Er riss die Kellertür auf, zog sie hinter sich zu und stürzte die Stufen hinunter, gerade in dem Augenblick, als Mr. Diaz und Luiz in die Küche traten. »Wo ist er?«, hörte er sie noch rufen. Er hetzte über die Stufen in den kleinen unterirdischen Raum und weiter durch die Tür in den Gang. 224
Sein Herz schlug ihm im Hals und er keuchte vor Anstrengung. Er stolperte über Gestein, zwängte sich durch enge Stellen und zog den Kopf ein, wenn die Decke sich senkte. Und endlich erreichte er die Höhle mit dem Seil. »Gleich habe ich es geschafft, gleich habe ich es geschafft«, dachte er. »Dann laufe ich über den Strand, die steilen Klippen hinauf, und dann bin ich wieder zu Hause.« Doch gleich darauf stieß er beinahe einen Schrei des Entsetzens aus. Die Höhle stand unter Wasser! Die Flut war gekommen! Der Weg war versperrt und er musste warten. Wenn sie nur nicht hier unten nach ihm suchten! »Aber sie kommen bestimmt«, dachte er verzweifelt, »bestimmt. Alle Türen sind noch verschlossen, und sie wissen, dass ich aus keiner raus konnte. Sie brauchen nur zu kommen und dann haben sie mich!« Nein, nun wusste er keinen Rat mehr. Er konnte weder vor noch zurück. »Ich kann doch nicht ins Wasser springen«, dachte er und lauschte auf das Gurgeln dort unten. »Das kann ich doch nicht!« Und dann glaubte er plötzlich, Geräusche oben im Gang zu hören. Sie kamen! Verzweifelt sah er sich um und der Lichtstrahl der Taschenlampe huschte über die feuchten, unebenen Felswände. Dann entdeckte er in der einen Ecke einen schmalen Spalt, gerade breit genug, um sich hindurchzuzwängen. Es war keine Zeit zu verlieren und er schob sich unter 225
großer Mühe hinein. Es war kaum eine Höhle zu nennen, worin er jetzt stand. Auf der anderen Seite ging es in eine zweite, aber auch die war voll von gurgelndem Wasser. Er konnte nichts anderes tun, als hier zu warten. Zitternd stand er dicht an die Wand gepresst, und nach ein oder zwei Minuten hörte er Schritte und gleich darauf Stimmen in der Höhle, die er eben verlassen hatte. »Hier ist er nicht«, sagte Mr. Diaz. »Und ins Wasser wird er doch nicht gesprungen sein? Er wäre sofort ertrunken.« »Vielleicht hat er es versucht«, sagte Luiz ungerührt, »vielleicht hat er es in seiner Angst versucht.« »Wenn er das getan hat, ist er hin«, stellte Mr. Diaz fest. »Gegen die Strömung kann keiner an.« »Na also, wenn er nicht hineingesprungen ist, wo soll er dann sein? Vielleicht in diesem schmalen Spalt?« »Unsinn«, sagte Mr. Diaz ungeduldig, »er ist doch kein Hering. Ich begreife das überhaupt nicht. Wie soll dieser Junge denn hereingekommen sein? Die Hunde lassen keinen durch. Und woher sollte er eine Ahnung von dem Gang haben?« »Also wenn du mich fragst, ich glaube, dass Anna Gespenster gesehen hat«, sagte Luiz gelangweilt. »Irgendetwas ist umgefallen, sie ist erschrocken und hat sich dann eingebildet, sie hätte einen Jungen gesehen.« »Wahrscheinlich«, sagte Mr. Diaz. Ben hörte, wie sich die Schritte der beiden Männer mehr und mehr entfernten und endlich verhallten. Er hatte es ge226
schafft. »Verdammt, das war knapp«, dachte er und atmete tief auf. »Wenn ich den Spalt nicht gesehen hätte! Ob die Flut zurückgeht? Es klingt beinahe so.« Er brachte sich in eine bequemere Stellung, sodass es ihm möglich war, mit der Taschenlampe in die angrenzende Höhle zu leuchten. Sie war nur klein und das Wasser floss schon ab. »Ich glaube, ich kann es versuchen«, dachte er, schob sich durch die Öffnung und sprang auf den nassen Sand. Eine Welle rollte heran und durchnässte ihn völlig. Sie ging zurück und er lief hinter ihr her zum Eingang und sah den Strand hinunter. Wenn er sich sehr beeilte, würde er es schaffen, auf den Felsen hinaufzuspringen. Doch schon kam die nächste Welle und er jagte zurück in die Höhle. Als sie sie wieder verließ, folgte er ihr bis zu den Knien im Wasser watend und sprang auf einen der Felsvorsprünge. Von neuem rollte eine Welle heran, aber sie erreichte nur noch seine Füße. Er hatte sich fest an das Gestein geklammert, und dann kletterte er weiter, stolpernd und rutschend über die schlüpfrigen Felsen, bis er zum Klippen weg gelangte. Erleichtert setzte er den Fuß auf die unterste Stufe und stieg hinauf. Es ging ein starker Wind und Ben rannte zitternd vor Kälte und Erschöpfung weiter. Dann quietschte das Gartentor in der Stille der Nacht, er hatte es geschafft! 227
Er lief die Wendeltreppe hinauf und fand die anderen im oberen Zimmer versammelt. Mit einem Schrei stürzten sie sich alle auf ihn. »Ben, Ben, wo bist du nur so lange gewesen?«, schluchzte Peggy aufgeregt. »Haben sie dich etwa erwischt?« »Beinahe! Ich erzähle euch gleich alles!« Er ließ sich auf das Bett sinken. »Das war die aufregendste Nacht meines Lebens!«
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XIII Larry kommt nicht
Voller Entsetzen und atemloser Spannung hörten die drei zu und bei den aufregendsten Stellen griff Peggy nach Bens Hand. »Du darfst nie wieder allein gehen, nie wieder«, rief sie außer sich. »Stell dir bloß vor, sie hätten dich gefangen! Wir wollen lieber immer alle zusammenbleiben.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal geht das eben nicht. Wir sind zu viele und fallen zu sehr auf.« »Egal«, protestierte Chris, »Peggy hat Recht, wenigstens einer muss mitkommen. Und was wollen wir nun machen?« »Schlafen«, meinte Ben, »ich kann die Augen kaum noch offen halten.« Sie schliefen alle sofort fest ein und am nächsten Morgen musste Miss Jones sie wieder einmal wecken. »Ihr seid richtige Schlafmützen geworden«, stellte sie verwundert fest und betrachtete einen nach dem anderen mit prüfendem Blick. Nach dem verspäteten Frühstück liefen die vier hinunter 229
zum Strand, mit ein paar Flaschen Limo versorgt, denn es war ein heißer Tag. Weit draußen hockten sie sich auf einen Felsen, den schon das Wasser umspülte. »Hier kann uns kein Mensch hören«, sagte Ben und sah sich zufrieden um, während Peggy sofort aufs Ziel lossteuerte. »Und wann wollen wir Larry nun holen? Heute Nacht vielleicht?« »Ich weiß nicht, was die Hunde zu euch sagen«, überlegte Ben stirnrunzelnd. »Wir könnten es natürlich versuchen. Oder halt, es ist doch besser, ich nehme nur Chris mit, vier auf einmal sind zu viel. Und wenn wir nachher nach Hause kommen, müssen wir Larry sofort Bescheid sagen, dass es heute Nacht losgeht.« Die Mädchen waren sehr enttäuscht, aber schließlich sahen sie ein, dass Ben Recht hatte. Vier waren doch entschieden zu viel. »Wir müssen wieder Fleisch für die Hunde mitnehmen«, sagte Chris, »und du musst zuerst reingehen und den Biestern klarmachen, dass sie mich in Ruhe zu lassen haben.« So wurde also beschlossen, dass sie es heute versuchen wollten, und sie gingen früher als sonst zum Guckloch zurück, um Larry zu verständigen. Sie hatten Glück, er stand am Fenster und winkte, als er sie sah. Ben begann sofort seine Nachrichten hinüberzufunken. Einen Buchstaben nach dem anderen hielt er in die Höhe, 230
und jedes Mal, wenn ein Wort zu Ende war, nickte Larry zum Zeichen des Einverständnisses. »So, nun weiß er Bescheid«, sagte Ben und holte tief Luft. Aber dann trat er hastig zur Seite. »Jemand muss dort drüben ins Zimmer gekommen sein. Larry ist ganz plötzlich verschwunden. Aha, der ehrenwerte Mr. Diaz! Er starrt zu uns rüber. Nein, mein Lieber, uns bekommst du nicht zu sehen. Wir sind nämlich nicht so dumm, wie du denkst.« Die anderen, dicht an die Wand gepresst, lachten, und in diesem Augenblick kam der Klang des Gongs von unten herauf. Sie jagten die Treppe hinunter, um gleich wieder hinaufgeschickt zu werden, denn sie hatten vergessen, sich die Hände zu waschen. »Wir waren mit so etwas Aufregendem beschäftigt, deshalb haben wir gar nicht daran gedacht«, entschuldigte sich Lissy. »Und mit was, wenn ich fragen darf?«, fragte Miss Jones und schnitt das Fleisch auf. Ben grinste. »Das ist ein Geheimnis. Möchten Sie es gern wissen?« Miss Jones nickte und lächelte. »Sicher, und ich glaube, ihr werdet es wohl nicht mehr lange aushalten und es mir verraten.« Die vier stießen sich unter dem Tisch an und lachten und ahnten gar nicht, wie Recht sie damit behalten sollte. Am Nachmittag fuhren sie mit Georg im Boot hinaus. Sie fingen ein paar Fische, und Miss Jones versprach sie 231
zum Abendbrot zu braten. »Und dann hätten wir gern noch ein paar schöne Knochen«, bat Ben. Sie starrte ihn verwirrt an und dann lachte sie. »Wollt ihr neuerdings Knochen benagen? Oder haltet ihr euch heimlich ein paar Hunde in eurem Schlafzimmer?« Ben nickte ganz ernsthaft und tat schon den Mund auf, um zu antworten, als Lissy ihm hastig zuvorkam. »Nein, nein, es hat mit unserem Geheimnis zu tun.« »Nun, ich will nicht neugierig sein«, sagte Miss Jones. »In der Speisekammer steht ein Teller mit Kalbsknochen, die könnt ihr haben.« Sie bedankten sich und sagten dann bald »Gute Nacht«, denn sie wollten noch etwas schlafen, bevor sie gingen. Um halb zwölf rasselte der Wecker und sie schlichen alle die Treppe hinunter. Ben trug die Strickleiter und Chris die in Papier gewickelten Knochen. »Macht’s gut und seid schön vorsichtig«, sagte Lissy leise. »Macht’s gut«, flüsterte Peggy, und dann liefen sie wieder hinauf in das Zimmer der Jungen, um von dort aus alles zu beobachten. Währenddessen rannten Ben und Chris über den Klippenweg auf das alte Haus zu. Als sie die Mauer erreicht hatten, schlüpfte Ben durch das Tor, und Chris wartete draußen. Einen Augenblick lang blieb Ben an die Tür gelehnt stehen. Hoffentlich erinnerten sich die Hunde an ihn. 232
Tinker kam freudig auf ihn zugestürzt, während Don leise knurrend in einiger Entfernung stehen blieb. Ben streichelte Tinker und ging dann mit ihm auf Don zu. Der schnupperte, denn er hoffte, der Junge habe wieder etwas Gutes für ihn. Ben nahm die beiden beim Halsband und führte sie aus dem Tor hinaus. Als sie Chris sahen, knurrten sie leise, aber sie bellten nicht, denn er hielt ihnen die Knochen entgegen. Sie schnappten sofort danach und ließen sich sogar von ihm streicheln. Und dann hatten sie etwas Besseres zu tun; sie lagen auf dem Rasen und beschäftigten sich mit ihrer Mahlzeit. »Komm«, flüsterte Ben, und sie liefen hinüber zum Turm, und wieder sahen sie hoch oben den schwachen Lichtschein. Ben bückte sich, hob einen Stein auf, zielte auf das offene Fenster, und der Stein landete drinnen. Im nächsten Augenblick erschien Larry. »Hallo«, rief er leise. Ben nahm den Stein, an dem die Strickleiter befestigt war, und zielte von neuem. Aber er verfehlte sein Ziel. Wieder zielte er und dieses Mal flog der Stein haarscharf an Larrys Kopf vorbei durch das offen stehende Fenster ins Zimmer. Larry hob ihn auf, begann den Bindfaden heraufzuziehen, danach das Tau und endlich die Strickleiter. Und alles glitt lautlos nacheinander an der Mauer empor. »Er hat sie«, sagte Ben leise, »er hat sie. Hoffentlich 233
kommt er bald.« Chris zog vorsichtig an der Leiter, sie straffte sich, und er flüsterte: »Es ist so weit.« Aber nichts rührte sich dort oben. Die Jungen warteten und warteten, doch Larry kam nicht!
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XIV Wenn es nur erst Morgen wäre
»Und warum kommt er nicht?«, fragte Ben. »Verstehst du das? Die Leiter sitzt doch fest.« Chris zuckte die Schultern und starrte hinauf. Das Licht des Mondes fiel auf den Turm und die einsame Strickleiter. »Komisch«, murmelte er. »Glaubst du, er hat Angst bekommen?« »Keine Ahnung, ich weiß nur nicht, was er da oben anstellt. Wir können doch nicht die ganze Nacht hier stehen. Wenn er doch endlich kommen wollte!« Die Hunde drängten sich jetzt um sie und Ben sprach leise auf sie ein. Dann sah er wieder voller Ungeduld hinauf zum Fenster, und dann rüttelte er vorsichtig an der Leiter, aber nichts geschah. Ben und Chris überlegten. »Ich sehe jetzt nach, was los ist«, flüsterte Chris endlich. Ben nickte. »Schön, aber beeil dich.« Und einen Augenblick später turnte Chris wie ein kleiner schwarzer Schatten an der hohen Mauer empor. Inzwischen beobachteten die Mädchen voller Schrecken diese seltsamen Vorgänge. 235
Endlich hatte Chris das Sims erreicht, zog sich ein wenig daran hoch – da griffen zwei Hände nach ihm, umklammerten seine Gelenke, und er wurde emporgerissen, ohne dass er sich auf der schwankenden Leiter zu wehren wagte. Ein Taschentuch wurde ihm vor den Mund gepresst und er hörte Luiz’ schläfrige Stimme: »Da ist er ja.«
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Und dann sah er, wie Mr. Diaz sich aus dem Fenster beugte und die Leiter heraufholte. Chris schloss die Augen, denn ihm wurde plötzlich übel. Als er sie wieder öffnete, sah er Larry blass und regungslos an der gegenüberliegenden Wand stehen. »Ich konnte dich nicht warnen«, flüsterte er, »sie haben die ganze Zeit darauf gewartet, dass du raufkommst.« Luiz sah Larry schläfrig an. »Du hältst den Mund, verstanden?«, sagte er leise. »Und dein Freund hält ihn auch, oder …« Lächelnd wandte er sich dann an Mr. Diaz. »Bis Freitag werden wir das Früchtchen wohl hier behalten müssen, und damit die lieben Kleinen nicht noch einmal auf dumme Gedanken kommen, vernageln wir das Fenster mit Brettern.« Und nun betrachtete er Chris träge. »Dir wird es schon vergehen«, sagte er langsam, »dich um anderer Leute Angelegenheiten zu kümmern.« Mr. Diaz schwieg seltsamerweise. Er hatte die Brauen zusammengezogen und schien angestrengt über etwas nachzudenken. Die beiden Männer gingen hinaus, verschlossen die Tür hinter sich, und Chris rannte zum Fenster und beugte sich hinaus. »Ben!«, rief er leise. »Ben!« »Ja«, sagte Ben und trat aus dem Schatten eines Gebüsches. »Sie haben mich geschnappt, aber sie wissen nicht, dass du auch da bist. Versuch uns so schnell wie möglich hier 237
rauszukriegen. Das Fenster vernageln sie übrigens morgen. Beeilt euch nur!« Ben erschrak wahnsinnig. Sein Herz schlug wild. Was für ein Idiot war er doch gewesen. Er hätte sofort vermuten müssen, dass sie Larry daran gehindert hatten herunterzukommen. »Ja«, flüsterte er, »wir holen euch!« Geduckt rannte er zwischen den Büschen zur Mauer, kletterte auf einen Baum und landete nach wenigen Augenblicken auf der anderen Seite. Dann jagte er über den mondbeschienenen Weg hinunter zum Guckloch. Zitternd vor Aufregung warteten die Mädchen auf ihn. »Oh, Ben«, schluchzte Peggy, »hättest du ihn nur nicht raufklettern lassen. Oh, Ben, was sollen wir nun tun?« Lissy hockte auf dem Bettrand, kreidebleich und außer Stande, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. »Oh, ich Idiot«, stöhnte Ben, »oh, ich Idiot.« »Und Miss Jones?«, flüsterte Peggy. »Und Miss Jones? Wir müssen es ihr gleich sagen, sofort.« Ben nickte und zog die noch immer zitternde Lissy hinter sich her. »Wir wissen ja wenigstens, wo er ist«, tröstete er sie, »wir brauchen nur zur Polizei zu gehen.« »Aber hier gibt es nur einen einzigen Polizisten und der wohnt im nächsten Dorf«, sagte Lissy leise, während sie die Treppe hinunterstiegen. »Na und«, sagte Ben, »der kann ja London benachrichtigen.« 238
Einen Augenblick blieben sie zögernd vor Miss Jones’ Schlafzimmertür stehen. Und dann klopften sie. »Wer ist da?«, kam es von drinnen. »Wir sind’s«, flüsterte Peggy, »dürfen wir hereinkommen?« »Natürlich, selbstverständlich. Ist irgendetwas passiert? Ist einer von euch krank?« Sie öffneten die Tür und Miss Jones knipste die Nachttischlampe an. Sie saß aufrecht im Bett und sah den Kindern freundlich, aber voller Besorgnis entgegen. »Wo ist Chris?«, fragte sie. »Geht es ihm nicht gut?« Zögernd setzten sich die Mädchen auf die Bettkante zu Miss Jones. Und dann begann Peggy die ganze seltsame Geschichte von Anfang bis zu Ende zu erzählen. Mit steigendem Entsetzen hörte Miss Jones zu, und als sie erfuhr, dass Chris gefangen war, seufzte sie. »Das ist ja furchtbar!«, stöhnte sie. »Das ist ja furchtbar! Nein, das Kind!« Sie schwieg und sah eine nach der anderen verstört an. »Und dieser Diaz«, begann sie von neuem. »Hab ich’s doch gleich geahnt, dass er nichts Gutes vorhatte, als er das Guckloch unbedingt kaufen wollte. Aber dass es so etwas war! Wer hätte das gedacht! Nein, das konnte man ja nicht wissen. Und von diesem kleinen Amerikaner las ich neulich schon in der Zeitung, aber dass er so ganz in unserer Nähe ist …« »Und Chris?«, fragte Peggy. »Wann wollen wir ihn holen?« 239
Miss Jones sah nachdenklich vor sich hin. Sofort die Polizei zu benachrichtigen schien ihr nicht ratsam. Sie fürchtete, wenn der dicke Dorfpolizist dort auftauchte, würden sie die Kinder auf der Stelle verschwinden lassen. Und ehe die Kriminalpolizei eintraf, konnte sehr viel geschehen. Nein, ihr war etwas Besseres eingefallen, etwas, das sie erst einmal auf alle Fälle versuchen konnten und das die Kinder in maßlose Erregung versetzte, als sie es erfuhren. »Mein Großvater hat mir früher einmal erzählt«, begann sie, »dass es eine geheime Verbindung zwischen den beiden Türmen gibt. Sie wurde von den Schmugglern benutzt, wenn sie ungesehen vom alten Haus ins Guckloch gelangen wollten oder umgekehrt. Wenn wir die fänden, könnten wir die beiden ganz leicht zurückholen.« »Wir müssen sie finden!«, schrien die Kinder aufgeregt und voller Hoffnung. »In drei Stunden ist es Tag«, sagte sie, »wir suchen dann sofort danach. Und ich hoffe, Georg kann uns dabei helfen. Denn es wird recht schwierig sein, den seit Jahrzehnten unbenutzten und verborgenen Gang zu entdecken. Und außerdem muss, wenn ich mich recht entsinne, ein Stein in der Wand bewegt werden, und das ist wohl eher Männersache.« Noch eine Weile besprachen sie alles Nötige, doch dann schickte Miss Jones die Kinder zu Bett. Und voller Hoffnung, dass alles noch gut würde, schliefen sie endlich ein. Peggy seufzte leise, während sie die Augen schloss, und flüsterte: »Wenn es doch erst Morgen wäre!« 240
XV Wo ist der Eingang?
In aller Frühe weckte Miss Jones sie, und obwohl sie kaum geschlafen hatten, waren sie in Sekundenschnelle wach, und Ben stürzte sofort zum Fenster und musste feststellen, dass Mr. Diaz und Luiz Wort gehalten hatten. Enttäuscht starrte er auf die hässlichen dunklen Bretter vor den Scheiben dort drüben. Und er hatte doch so gehofft, Chris und Larry ein bisschen Mut machen zu können und ihnen hinüberzusignalisieren, dass sie eine geheime Verbindung zwischen den Türmen suchen wollten. Nun war es damit nichts mehr. Gleich darauf saßen die drei bedrückt und ängstlich beim Frühstück, doch Miss Jones schien sehr zuversichtlich, dass ihr Plan gelingen würde. Nachdem sie auf ihren ausdrücklichen Befehl ein wenig gegessen hatten, ging sie mit ihnen hinauf in das Zimmer der Jungen, denn dort oben sollte nach dem Bericht des Großvaters irgendwo der Gang beginnen. Aber es schien ein völlig aussichtsloses Unternehmen, ihn zu finden. Jede Wand suchten sie sorgfältig ab, und jede kleine Unebenheit 241
und jeder Riss wurden in Augenschein genommen, aber sie entdeckten nichts. Gegen zehn Uhr legten sie eine Pause ein, und Miss Jones sah besorgt in Peggys blasses Gesicht. »Ich werde jetzt erst einmal Kakao kochen«, sagte sie, »und dazu esst ihr ein paar Kekse. Ich glaube, ihr habt eine kleine Stärkung nötig.« Unterdessen saß Peggy auf Bens Bett und starrte traurig vor sich hin. »Sicher gibt es so einen Gang überhaupt nicht«, sagte sie, »bestimmt ist das alles nur ein Märchen.« »Ach wo«, meinte Ben und tat so zuversichtlich wie möglich. »Es gibt bestimmt einen, ganz bestimmt. Schließlich ist das früher einmal ein Schmugglernest gewesen, das hast du wohl ganz vergessen, was?« Er setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. »Vielleicht hat Miss Jones ja irgendein altes Buch über Spiggy Holes, worin wir einen Grundriss vom Guckloch oder vom alten Haus finden.« In diesem Augenblick kamen sie und Lissy mit dem dampfenden Kakao zurück. »Miss Jones«, rief Ben, »haben Sie vielleicht ein Buch über Spiggy Holes oder eine alte Karte?« Sie sah ihn überrascht an. »Natürlich«, sagte sie. »Dass ich daran nicht früher gedacht habe! Zwei oder drei stehen unten im Schrank.« Ben verschluckte sich beinahe. »Wir müssen sie sofort holen!«, rief er und sprang auf. »Trinkt nur erst aus«, sagte sie, und nach wenigen Minu242
ten liefen sie alle die Treppe hinunter in das kleine Arbeitszimmer. Zitternd vor Ungeduld sahen sie zu, wie Miss Jones den Schrank aufschloss. »Da sind sie. Das eine heißt ›Spiggy Holes, eine Geschichte aus Schmugglertagen‹, und dies hier hat den Titel ›Schmugglergeschichten‹, und dann ist da auch noch eins mit Aufzeichnungen meines Großvaters.« Die Kinder beugten sich über die beiden ersten. »Da, seht«, rief Lissy plötzlich, »hier ist eine Karte von dem Gang, den wir schon kennen!« Ja, das alte Haus, das Guckloch und die Küste mit ihren Höhlen waren eingezeichnet und der Gang, der von einer von ihnen zum Keller des alten Hauses führte. »Der vom Guckloch zum Turm wäre uns lieber gewesen«, murmelte Ben und blätterte in dem Buch, aber er fand nichts. »Sicher ist es doch nur ein Märchen.« Peggy seufzte enttäuscht. »Das halte ich für ausgeschlossen«, widersprach Miss Jones. »Obwohl es nun schon so viele, viele Jahre her ist, erinnere ich mich noch genau daran, wie mein Großvater mir das Geheimnis anvertraute. Vielleicht findet ihr einen Hinweis in seinem Tagebuch. Er hat es geschrieben, als er noch ein Junge war. Leider ist die Schrift sehr verblichen.« »Oh, geben Sie es mir«, rief Ben, »ich werde es schon irgendwie entziffern!« »Und was machen wir so lange?«, fragte Lissy. 243
»Wir kümmern uns indessen ums Mittagessen, da kommt ihr ein bisschen auf andere Gedanken.« »Auf andere Gedanken? Unmöglich!«, sagte Lissy. Aber Miss Jones behielt Recht, bei der Arbeit vergaßen die beiden für eine Weile ihre Sorgen. Und gerade als sie den Tisch deckten und überlegten, ob sie Ben rufen sollten, hörten sie ihn die Treppe herunterjagen. Die Tür wurde aufgerissen, sodass sie mit einem Krachen gegen die Wand schlug, und alle fuhren zusammen. »Um Himmels willen, was ist?«, rief Miss Jones entsetzt. »Ich hab’s!«, schrie er. »Ich hab’s gefunden!« Lissy und Peggy stürzten sich auf ihn und Miss Jones ließ sich seufzend auf einen Stuhl sinken. »Zeig her!«, schrien sie und Peggy schob ihren Teller beiseite. Ben legte das aufgeschlagene Buch auf den Tisch. »Hört zu«, sagte er, noch ganz außer Atem, »hier steht: ›Heute ist der aufregendste Tag meines Lebens. Ich habe den Gang zwischen dem Guckloch und dem alten Haus gefunden. Eine Möwe war in den Schornstein gefallen, und ich bin hineingeklettert, um sie herauszuholen. Und dabei bin ich zufällig an den Stein gestoßen, der sich in der Mauer dreht und der der Eingang ist.‹« »Nun finden wir ihn, nun finden wir ihn!«, rief Peggy. »Unterbrich ihn doch nicht«, sagte Lissy, blass vor Erregung. »Also«, fuhr er fort, »der Gang fängt oben in unserem Zimmer an, führt in der Wand des Turmes hinunter, dann 244
die Klippen hinauf, hat eine Abzweigung, die zu dem anderen führt, den wir schon kennen, erreicht das alte Haus, führt dort im Turm hinauf, genau wie hier, und endet im obersten Zimmer im Kamin.« Er hatte immer schneller gesprochen und schwieg nun einen Augenblick. »Und hier ist die Karte. Der Großvater hat sie selbst gezeichnet. Und niemandem hat er von seiner Entdeckung erzählt, denn er hatte Angst, sein Vater würde den Eingang zumauern lassen.« Alle starrten auf die verblichene Zeichnung und versuchten dem Verlauf des Ganges zu folgen. »Ich habe also doch Recht behalten«, sagte Miss Jones und war sehr erleichtert. »Los, wir gehen rauf«, rief Peggy, »nun kommt doch schon!« Sie jagten die Stufen hinauf. Jetzt mussten sie den Eingang ja finden!
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XVI Hoffentlich klappt alles
Sie stürmten in das obere Zimmer, doch plötzlich blieb Lissy wie angewurzelt stehen und rief: »Wir sind ja blöd, hier gibt es ja gar keinen Kamin!« »Natürlich«, sagte Ben, »das hatte ich vergessen.« »Unser Zimmer hat einen großen«, schrie Peggy, »bestimmt ist der gemeint!« So jagten sie also die Treppe wieder hinunter in das Zimmer der Mädchen, und Ben starrte in den Kamin hinauf. »Gebt mir mal einen Stuhl«, sagte er, »damit ich die Wände untersuchen kann.« Und gleich darauf tastete er über die rußgeschwärzten Steine und Lissy und Peggy warteten voller Ungeduld. An der einen Seite entdeckte er eine Vertiefung und darin etwas, das ihm wie eine schmale Stufe vorkam. »Ja, ja, das kann gut sein«, sagte Miss Jones hastig. »In alten Tagen wurden kleine Jungen dort hinauf geschickt, um die Kamine zu fegen, und deshalb gibt es auch in manchen diese Stufen. Kannst du hinaufsteigen?« »Vielleicht«, murmelte Ben und versuchte es. Durch auf246
gewirbelten Ruß gelangte er dorthin, wo die Stufen endeten und der Schornstein sich etwas erweiterte. Wenn es den Eingang gab, dann musste er hier sein! Die Steine waren uneben und fühlten sich rau an, als er nun einen nach dem anderen abtastete. Doch den richtigen fand er erst, als er ausrutschte und gegen ihn stieß. Er fiel mit der Schulter dagegen und der Stein gab unter seinem Gewicht nach. Ben hörte ein leises Klicken, und es schien ihm, als drehe der Stein sich. Im Schein der Taschenlampe entdeckte er eine schmale Öffnung, griff hinein und fasste einen eisernen Ring. »Ich habe ihn«, schrie er, »ich habe ihn!« Er riss an dem Ring und der Stein bewegte sich ein Stück. Aber dann rührte er sich nicht mehr, so sehr er auch zog. Er kletterte wieder hinunter, und die beiden Mädchen mussten trotz ihrer Aufregung lachen, als er plötzlich so rußgeschwärzt vor ihnen stand. »Wir müssen Georg holen«, sagte er. »Wahrscheinlich ist der Stein verklemmt, er ist ja auch Ewigkeiten nicht benutzt worden. Bewegt hat er sich zwar, aber nur ein Stückchen. Man müsste ein Tau an den Ring knoten, und Georg hat bestimmt genug Kraft, das Ding dann zu bewegen.« »Er arbeitet im Garten«, sagte Miss Jones. »Halt, bleib hier, du bist zu schwarz.« Aber Ben war schon unterwegs und jagte, mehrere Stufen überspringend, hinunter. Georg sah erstaunt auf, als Ben auf ihn zustürzte, und es 247
dauerte einen Augenblick, bis er begriff, wer da vor ihm stand. »Komm«, rief Ben, zog ihn mit sich und erzählte ihm alle ihre Erlebnisse und von dem eben entdeckten Eingang im Kamin. Georg hörte mit offenem Mund zu, während sie die Treppe eilig hinaufliefen. »Hat er ein Tau mitgebracht?«, rief Peggy ihnen entgegen. Ja, wie gewöhnlich hatte Georg eines um die Taille gebunden. Er sah erst Miss Jones und dann die Mädchen an und endlich fragte er: »Wo ist denn Chris?« »Aber Georg«, sagte Ben ungeduldig, »eben habe ich dir doch alles lang und breit erzählt. Und du hast gar nicht richtig zugehört.« »Lass mich es ihm erklären«, mischte sich Miss Jones ein, »du bist viel zu aufgeregt.« Während sie sprach, nickte Georg ein paar Mal, und als er hörte, dass er den Stein in Bewegung bringen sollte, sagte er ruhig: »Wir holen Chris zurück, das ist klar.« Dann band er das Tau los. Es war lang und stark genug und er verschwand damit im Kamin. Ben wollte hinterhersteigen, kam aber schnell zurück, denn ein wahrer Regen von Ruß fiel auf ihn. Georg fand den Ring, befestigte das Tau daran und sprang herunter. »Und jetzt ziehen wir, mit vereinten Kräften wird’s schon gehen.« Und daran, dass das Tau immer ein wenig nachgab, 248
merkten sie, dass sich der Stein dort oben bewegen musste. Von neuem stieg Ben hinauf und stieß einen Schrei aus, als er die große dunkle Öffnung sah. »Kommt!«, schrie er. Und einen nach dem anderen sah Miss Jones in dem engen, rußigen Schornstein verschwinden; schließlich fasste sie sich ein Herz und folgte ihnen. Georg hatte sich schon durch die Öffnung gezwängt. Ein schmaler Gang führte hinter dem Kamin entlang und endete dort, wo eine Leiter in die Tiefe führte. »Hier ist eine Leiter«, rief er den Kindern zu. »Kommt hinterher!« Die Taschenlampen in der einen Hand, stiegen sie Sprosse um Sprosse hinab. Nur Miss Jones blieb zurück und starrte ihnen ängstlich nach. Die Leiter endete am Fuße des Turmes in einem kleinen Raum, in dem ein paar halb vermoderte Bücher, ein geschnitztes Spielzeugboot und zwei Kreisel auf dem Boden lagen. Von dem kleinen, dumpf riechenden Raum aus führte ein schmaler Gang die Klippen hinauf. »So tief liegt er gar nicht«, stellte Georg fest. »Seht mal, das ist doch Tageslicht.« »Hier haben sich Kaninchen durchgewühlt«, sagte Ben und betrachtete die Öffnung in der Decke über sich. »Die werden sich gewundert haben, als sie hier landeten.« Sie gingen weiter und weiter, bis Georg plötzlich stehen blieb. 249
»Was ist los?«, riefen die drei. »Warum bleibst du stehen?« »Weil die Decke hier heruntergekommen ist. Wir brauchen Spaten, um den Gang freizuschaufeln.« So kehrten sie also um und erzählten Miss Jones, die sie im Zimmer erwartete, wie es dort unten aussah, und dann lief Ben, um Spaten und Schaufeln zu holen. »Wir machen uns sofort an die Arbeit, damit wir die Jungen heute Nacht herüberbringen können«, sagte Georg. Von neuem stiegen sie hinunter, und nach einer Stunde erschienen sie wieder, erhitzt, schmutzig und durstig. Sie badeten, zogen sich um und tranken dann Tee. »Ich bin ganz durcheinander vor Aufregung«, sagte Peggy. »Wenn wir Chris wenigstens sagen könnten, dass wir kommen.« »Er wird es ja bald erleben«, meinte Ben und grinste. »Die Gesichter von den Kerlen möchte ich sehen, wenn sie die Jungen nicht mehr vorfinden«, sagte Georg langsam. »Na, hoffentlich klappt alles!«
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XVII Es ist so weit
Zur gleichen Zeit unterhielten sich Chris und Larry im Turmzimmer des alten Hauses leise miteinander. »Eigentlich heißt sie Elizabeth«, sagte Chris und lachte, »aber sie wird Lissy genannt. Ich habe dir doch schon erzählt, dass sie meine Zwillingsschwester ist?« Larry, der auf der Tischkante hockte, nickte. »Und wie sieht sie aus?«, fragte er. »Sieht sie dir ähnlich?« Er sprach mit amerikanischem Akzent, und wenn er schnell sprach, konnte man ihn kaum verstehen. »Ja, sie hat blaue Augen und langes schwarzes Haar und sie ist nicht sehr groß und ziemlich schlank.« »Und Peggy ist die Jüngste?« »Ja, sie ist klein und etwas dicklich und hat strohblonde Zöpfchen. Und Ben ist der älteste von uns. Er ist übrigens mein Adoptivbruder. Hast du noch Geschwister?« Larry schüttelte den Kopf. »Nein, aber eine Menge Cousins und Cousinen.« Die beiden Jungen schwiegen einen Augenblick. Sie hatten Angst, die ganze Zeit hatten sie Angst, und sie dachten 251
im Grunde an nichts anderes als daran, ob man sie hier noch herausholen würde, ehe es zu spät war. Die Stunden waren verstrichen, einerseits viel zu langsam, andererseits viel zu schnell, und nichts hatte sich bis jetzt ereignet. »Wenn sie wenigstens das Fenster nicht dichtgemacht hätten«, dachte Chris und dann sagte er: »Ben haben wir übrigens voriges Jahr kennen gelernt. Wir waren mit ihm auf unserer Insel, sie liegt ganz in der Nähe. Da haben wir ein richtiges Lagerleben geführt. Dann hat Vater die Insel gekauft, und nun wünschen wir uns ein Motorboot, ein Bootshaus haben wir schon. Du musst unbedingt mal mitkommen, wenn wir hier raus sind.« »Ja, wenn«, sagte Larry und dann schwiegen sie von neuem. Plötzlich hörten sie Schritte auf der Treppe. Die Tür wurde geöffnet und die blonde Frau kam herein. Sie trug ein Tablett und setzte es auf den Tisch. Dann betrachtete sie Chris unter halbgesenkten Wimpern und lächelte etwas. »Nun«, sagte sie, »du hast es ja bald überstanden und kannst wieder nach Hause. Du freust dich doch sicherlich, oder? Du tust den Mund ja gar nicht auf, du kleiner Dummkopf. Wie fühlst du dich denn so ohne Chef? Ja, ja, Schweigen ist Gold, aber auch nur manchmal.« Sie drehte sich um, schloss die Tür wieder hinter sich, und die Jungen hörten das Klappern ihrer hohen Absätze auf den Steinstufen. »Das ist ein Biest«, murmelte Larry, »grundböse. Ohne die 252
hätte mich Diaz nie entführt.« Er nahm das Paket Kekse, öffnete es und hielt es Chris entgegen. »Wieso?«, fragte Chris und nahm sich einige. »Ja«, erklärte Larry, »zwei Männer allein hätten mich nie weggekriegt. Da hätte die Polizei sofort Verdacht geschöpft, aber so haben sie gedacht, sie sei meine Mutter.« Chris sah ihn nachdenklich an. »Aha«, sagte er, »so wird das gemacht. Und wie haben sie dich überhaupt geschnappt?« »Ganz einfach. Diaz war der Sekretär meines Vaters, und eines Nachmittags fragte er mich, ob ich mit zum Flugplatz kommen wolle. Mein Vater war auf dem Flug von San Francisco nach New York und wollte gleich weiter zu einer Konferenz. Er wäre zwischendurch gar nicht nach Hause gekommen, und da war’s ja klar, dass ich ja sagte. Ich sehe meinen Vater nämlich ziemlich selten.« »Und er war natürlich gar nicht da«, sagte Chris. »Natürlich nicht. Diaz erzählte mir, dass die Maschine Verspätung habe. Und da sind wir in seine Wohnung gefahren und haben eine Tasse Kaffee getrunken. Und dann weiß ich nichts mehr. Als ich aufwachte, war ich schon in England. Dann muss es noch eine ganze Weile gedauert haben, bis wir hier landeten, genau kann ich mich an nichts mehr erinnern. Blöderweise war meine Mutter gerade verreist, als sie mich schnappten. Zu Hause haben sie es also viel zu spät bemerkt.« »Damit wird Diaz auch gerechnet haben.« Chris stellte 253
seine Tasse beiseite. »Die da drüben trinken jetzt bestimmt auch Tee«, sagte er leise. »Ob sie überhaupt kommen? Ob sie es schaffen?« Die Stunden schlichen dahin, der Abend kam, nichts geschah, und die beiden Jungen wurden immer mutloser. Hätten sie geahnt, dass Georg und Ben schon im Begriff waren, sie zu befreien, wäre ihnen anders ums Herz gewesen. »Es ist so weit«, sagte Ben und sah auf seine Uhr. »Ja«, Georg nickte, »wir müssen los. Es dauert bestimmt nicht lange, dann sind wir mit den beiden zurück.« »Macht’s gut«, sagte Peggy, während sie sie hinauf in den Turm begleiteten und zusahen, wie sie im Kamin verschwanden. Eine Weile hörten sie noch ihre Schritte, dann herrschte Stille. »Und ihr zieht euch jetzt eure Pullover an«, wandte sich Miss Jones an die Mädchen, »und dann gehen wir zusammen zur Polizei ins Dorf.« »Pullover ist gut«, sagte Peggy, »ich friere furchtbar.« Miss Jones betrachtete sie mit Besorgnis. »Ich mache schnell noch eine Tasse Milch heiß. Das wird euch gut tun.« »Ach«, wehrten die Mädchen ab, »das kommt ja nur von der Aufregung.« Aber die Milch tranken sie doch. »Wo Ben und Georg jetzt wohl sind?«, fragte Lissy leise, als sie wenig später die Haustür hinter sich schlossen. Die beiden waren schnell vorangekommen. An der Einsturzstelle, die sie heute Vormittag freigeschaufelt hatten, leuchtete Georg mit der Taschenlampe zur Decke hinauf. 254
»Sieht ganz so aus, als ob in der nächsten Minute noch mehr runterkommen würde«, brummte er. »Hoffentlich hält sie noch so lange, bis wir wieder zurück sind.« »Das wäre ja furchtbar«, sagte Ben. »Da, da bröckelt’s schon wieder, ich habe eben etwas auf den Kopf bekommen.« Georg zuckte die Schultern. »Hilft nichts, wir müssen’s drauf ankommen lassen.« Und gleich darauf erreichten sie die Abzweigung, die hinüber zu dem Gang zwischen der Höhle und dem alten Haus führte. »Zu dumm, dass die Decke hier auch eingestürzt ist, sonst hätten wir schlimmstenfalls hier runtergehen können«, sagte Georg. Schon am Morgen hatten sie festgestellt, dass der Gang versperrt war, aber nicht versucht, ihn freizuschaufeln, da er möglicherweise ganz verschüttet sein konnte. Sie gingen weiter und standen wenig später vor der eisernen Leiter. Schweigend begannen sie, sie hinaufzusteigen. Sie gelangten an ein schmales Sims, das auch hier hinter dem Kamin entlangführte, und nachdem sie sich hindurchgezwängt hatten, befanden sie sich in einem kleinen dunklen Raum. »Jetzt müssen wir den Ring suchen«, flüsterte Ben. Sie suchten eine ganze Weile, endlich fand Georg ihn, befestigte das Tau daran, und beide begannen zu ziehen. Und dann hörten sie ein leises Schurren, der Stein drehte 255
sich, und vor ihnen gähnte eine dunkle Öffnung, die in den Kamin des Turmzimmers führte. Stimmen drangen zu ihnen. Sie hielten den Atem an und lauschten. Es war Mr. Diaz, der sprach. »… und wenn ihr Lärm macht, dann geht’s euch
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schlecht!« Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen, und Ben und Georg hörten, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte und Schritte sich mehr und mehr entfernten. Doch als Ben eine Bewegung auf den Eingang zu machte, flüsterte Georg: »Wir warten lieber noch einen Augenblick, für den Fall, dass sie zurückkommen. Jetzt«, flüsterte er nach einer Weile, in der sie nichts anderes hörten als die leisen Stimmen der beiden gefangen gehaltenen Jungen. Chris und Larry fuhren zusammen. Ein Geräusch kam vom Kamin her. »Vielleicht ein Vogel im Schornstein«, sagte Chris leise. Von neuem kam das Geräusch und dann Bens Stimme: »Chris, Larry, ich bin’s, erschreckt nicht.« »Ben!«, schrie Chris. »Ben!« Larry, ganz blass geworden, presste ihm die Hand vor den Mund. Ben sprang herunter und grinste Chris an. Und Larry starrte auf die beiden rußgeschwärzten Gestalten. Er wollte sich bedanken, konnte aber kein Wort herausbringen. »Los«, flüsterte Georg, »nichts wie weg!« Schweigend stiegen sie durch den Kamin, die eiserne Leiter hinunter; dann gingen sie den Gang entlang und plötzlich blieb Georg mit einem Ruck stehen. »Was ist?«, fragte Ben. »Die Decke ist eingefallen, wir sitzen fest.« Ben zwängte sich an den anderen vorüber, stand dann neben Georg und starrte auf Erde und Steine, die den Weg 257
versperrten. Ein großer Teil der Decke war eingestürzt. Viel zu viel, um all das Geröll in kurzer Zeit fortzuräumen. Was sollten sie jetzt tun?
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XVIII Stimmen im Gang
»Und was nun?«, fragte Ben verstört. »Das können wir nie wegräumen.« Georg rieb sich nachdenklich das Kinn. Nun konnten sie weder vor noch zurück und hier stehen bleiben konnten sie auch nicht. »Wir wollen uns mal den anderen Gang genauer ansehen«, sagte er endlich. »Wenn wir den freischaufeln könnten, kämen wir zum Strand, und das wäre schließlich genauso gut.« »Schön«, sagte Ben. »Vielleicht ist es dort gar nicht so schlimm. Jedenfalls bleibt uns nichts anderes übrig.« Sie gingen das Stück zurück bis zu der Stelle, an der der Gang abzweigte, und weiter bis zu der Geröllmauer. Georg räumte ein paar Steine fort, um feststellen zu können, ob die Einsturzstelle sehr tief war. »Ich glaube, wenn wir uns ranhalten, schaffen wir’s«, murmelte er. »Schließlich sind wir ja vier. Übrigens können Chris und Larry das ganze Gerümpel hinter uns wieder aufschichten. Dann sieht es so aus, als wären wir hier nie durchgekommen.« 259
»Tolle Idee«, sagte Chris. »Also los, fangen wir an.« Ohne ein weiteres Wort machten sie sich an die Arbeit. Sie räumten die Steine fort, warfen sie hinter sich und bauten so zur gleichen Zeit eine neue Mauer in ihrem Rücken auf. Nach einer Weile hielt Georg plötzlich inne, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ den Strahl seiner Taschenlampe über das Gestein gleiten. »Den Gang kann ich schon sehen«, sagte er hastig. »Ich glaube, es genügt, wenn wir uns hier an dieser Stelle einen schmalen Durchschlupf graben.« Chris und Larry konnten sich nun ein wenig ausruhen, während Ben und Georg weiterarbeiteten. Etwa zwei Stunden vergingen, und sie wurden unruhig, denn sie wollten wenigstens in Sicherheit sein, wenn die Männer Larrys Flucht bemerkten. Endlich war die Öffnung breit genug. Georg ging als Letzter und nach ein paar Schritten drehte er sich um und tat etwas Seltsames. Er nahm einen großen Stein, zielte auf die Decke und sprang zurück. Ein Regen von Erde, Steinen und Felsstücken prasselte herunter und bildete für etwaige Verfolger ein neues Hindernis. »Was machst du denn da?«, fragte Ben fassungslos. »Einen kleinen Erdrutsch.« Georg grinste breit. »Dadurch buddelt sich der Diaz nie!« »Auf den Gedanken wäre ich nicht gekommen«, sagte Chris bewundernd. 260
»Pst«, machte Georg plötzlich und alle standen regungslos da. »Knipst die Taschenlampen aus«, flüsterte er. »Da ist jemand!« Und jetzt hörten es die anderen auch. Stimmen, Stimmen im Gang! »Lasst uns weitergehen«, flüsterte Chris, aber Georg schüttelte den Kopf. »Sie würden uns hören und zum Strand laufen und uns da abfangen.« Sie erkannten nun die Stimmen von Mr. Diaz und Luiz. Die beiden schienen die Einsturzstelle in dem Gang zum Guckloch erreicht zu haben, denn Rufe wurden laut. »Hier können sie nicht durchgegangen sein«, stellte Mr. Diaz fest. »Vielleicht ist der ganze Plunder erst nach ihnen heruntergekommen«, sagte Luiz schläfrig. »Und die Abzweigung ist auch verschüttet«, sagte Mr. Diaz. »Aber wir können sie uns ja mal ansehen.« Atemlos lauschten die Kinder auf die sich schnell nähernden Schritte. Die Männer schienen über die Geröllmauer zu sehen, die sie aufgerichtet hatten, denn nun sagte Luiz: »Dahinten ist die Decke ja noch einmal heruntergekommen. Vielleicht liegen sie ja da drunter.« »Mach keine dummen Witze«, war die wütende Antwort. »Ich nehme an, sie sind auf dem direkten Weg zum Guckloch gewesen, und die Decke ist hinterher eingestürzt. Es ist 261
völlig zwecklos, hier noch länger herumzukriechen.« Schritte und Stimmen entfernten sich und die vier atmeten auf. »Jetzt können wir weiter«, flüsterte Chris. »Da haben wir uns also doch nicht umsonst angestrengt. Ein Glück, dass sie nicht wissen, dass dieser Gang auf den stößt, der von der Höhle zum alten Haus führt. Dann würden sie uns einen schönen Empfang bereiten.« Sie stolperten weiter, an engen Wänden entlang, bis sie endlich an eine kreisrunde Öffnung im Boden gelangten. Georg leuchtete hinein. »Wir brauchen nur runterzuspringen, dann sind wir in dem ersten Gang«, flüsterte er. Einer nach dem anderen ließ sich hinabgleiten und sprang. Dann hasteten sie weiter zur Höhle und kletterten mit Hilfe des Taues über die schmalen Stufen in die zweite. Und einen Augenblick später standen sie am Strand und atmeten tief die kühle Nachtluft ein.
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XIX Im Haus ist alles dunkel
»Also weiter«, sagte Georg, »aber seid vorsichtig, wir wollen nichts mehr riskieren.« Chris griff nach Larrys Hand, und im Schatten der hohen Klippen liefen sie hinter den anderen her, den Strand entlang, weiter die Stufen hinauf und endlich im Schutz der Büsche über den Klippenweg zum Guckloch. Dunkel lag das Haus im Licht des Mondes vor ihnen. Kein Fenster war erleuchtet. »Komisch«, sagte Ben leise, »es muss doch jemand da sein!« Sie liefen weiter durch den Garten, an den Bäumen vorüber, deren dicht belaubte Kronen sich schwarz gegen den helleren Himmel abhoben, und einen Augenblick später standen sie aneinandergedrängt vor der Tür. Georg drückte vorsichtig auf die Klinke. »Abgeschlossen«, murmelte er. »Ob sie noch nicht wieder da sind?« »Vielleicht können wir durch die Küche rein, ich sehe mal nach«, flüsterte Ben und lief davon. 263
Er kam sofort zurück und schüttelte den Kopf. »Und was machen wir nun?« »Das Flurfenster steht meistens offen«, sagte Chris plötzlich, »und die Leiter lehnt am Schuppen. Wollen wir versuchen einzusteigen?« Georg nickte. »Versuchen müssen wir’s. Stehen bleiben können wir hier schließlich nicht.« Er verschwand in der Dunkelheit und erschien gleich darauf mit der Leiter. »Ich gehe gleich als Erster«, sagte er leise und begann Sprosse um Sprosse hinaufzusteigen. »Es ist nur angelehnt«, rief er hinunter. »Kommt!« Und dann standen sie alle in dem finsteren Flur und lauschten. Nichts war zu hören. Langsam tasteten sie sich die Treppe hinab. Wieder blieben sie stehen und wieder lauschten sie. Sie schlichen durch die Diele, in das vom Licht des Mondes schwach erhellte Wohnzimmer, weiter ins Arbeitszimmer und dann in die Küche. Kein Mensch schien im Haus zu sein! »Vielleicht gehen wir in unser Zimmer im Turm und warten dort, bis sie kommen«, sagte Ben endlich. Die anderen nickten nur. Bedrückt schlichen sie die Wendeltreppe hinauf. »Begreifst du das, Georg?«, fragte Ben leise. »Wo können sie nur sein?« Georg zuckte die Schultern. Sie waren jetzt vor der Schlafzimmertür der Mädchen angelangt und plötzlich packte Chris Bens Arm und zeigte auf 264
die Schwelle. »Licht!«, flüsterte er. »Da drinnen ist Licht!« »Sie müssen die Fenster verhängt haben«, flüsterte Ben zurück. »Wer?«, fragte Larry und sein Herz begann wie ein Hammer zu schlagen. »Ihr glaubt doch nicht etwa, dass …« Er schwieg und lehnte sich gegen die Wand. »Vielleicht haben sie sich doch noch durch den Gang gegraben.« »Aber das ging doch gar nicht und außerdem sind sie umgekehrt.« Ben gab keine Antwort, schob sich vorsichtig an die Tür heran und lauschte. Dann fuhr er zusammen. Ein Mann sprach dort drinnen! »Wir müssen weg!«, dachte Ben. »Wir müssen weg!« Aber dann hörte er, wie der Mann sich räusperte und sagte: »Sie können ja noch kommen. Beruhigen Sie sich doch, meine Dame.« Und nach einer kleinen Pause: »Allein kann ich leider nichts unternehmen, wir müssen auf die Kollegen aus London warten.« Und dann eine wohl bekannte Stimme, hastig und voller Besorgnis. »Wenn nur nichts passiert ist! Sie müssten doch längst hier sein!« Miss Jones! Ben bückte sich und sah durch das Schlüsselloch. Ja, sie war es! Da stand sie, presste die Handflächen gegeneinander und starrte mit weit aufgerissenen Augen in eine Richtung. 265
Ben fasste die Klinke und riss die Tür auf. Ein Schrei kam von drinnen, Ben stürzte ins Zimmer, und Chris dachte: »Jetzt ist er verrückt geworden!« Aber im nächsten Augenblick begriff er. Er fühlte sich von Georgs kräftiger Hand vorwärts geschoben und stand im Bruchteil einer Sekunde neben ihm und Larry in dem kleinen, nur vom trüben Licht einer Kerze erhellten Raum Miss Jones gegenüber. Als habe sie eine Erscheinung, starrte sie auf die vier, und auch der Mann in Polizeiuniform, der vor dem Kamin in einem Sessel saß, eine Tasse in der Hand, starrte einen nach dem anderen mit offenem Mund an. Doch dann kam Leben in die beiden. Miss Jones stürzte auf die Kinder zu, umarmte jedes, wobei ihr die Tränen über das Gesicht liefen, und der Mann erhob sich umständlich, setzte die Tasse auf den Tisch, zog seinen Uniformrock über dem dicken Bauch glatt und räusperte sich. »Da seid ihr ja!«, rief Miss Jones. »Da seid ihr ja! Oh, wie habe ich mich geängstigt, wie habe ich mich geängstigt!« »Ist ja alles gut gegangen, liebe Miss Jones.« Georg lachte verlegen, als sie nun auch ihn in die Arme schloss. »Ja, ja, alles gut gegangen«, ließ sich der Polizist mit tiefer Stimme vernehmen und kam schweren Schrittes auf die kleine Gruppe zu. »Da hat sich die Dame umsonst Sorgen und Vorwürfe gemacht.« »Vorwürfe?«, fragte Chris. »Wieso denn?«, fragte Ben. Aber eine Antwort bekamen 266
sie nicht. Zwei Gestalten in Rollkragenpullovern mit zerzaustem Haar waren von den Betten aufgesprungen und jagten auf sie zu. »Ben!«, schrien sie. »Chris, Larry! Dass ihr wieder da seid!« Peggy schlang die Arme um Ben und Lissy um Chris und beide lachten und weinten durcheinander. Völlig erschöpft und todmüde waren sie nach Stunden angstvollen Wartens zu Bett geschickt worden, hatten sich, ohne sich auszuziehen, hingelegt und waren sofort eingeschlafen. Und nun gab es einen derartigen Tumult, wie ihn das kleine Turmzimmer wohl noch niemals erlebt hatte. Ben hob Peggy hoch und schwenkte sie durch die Luft. Chris, Lissy, Georg klopften unaufhörlich Miss Jones’ Schulter und der Polizist drückte den völlig verwirrten Larry gegen seinen dicken Bauch. Dabei sprachen, schrien und lachten sie alle durcheinander. Der Uniformierte hatte inzwischen seine Fassung wiedererlangt, seine Rührung bekämpft und stand nun ruhig und schweigend wie ein Fels in der Brandung. »Ich koche Kaffee, heißen Kaffee!«, rief Miss Jones plötzlich. »Und essen müsst ihr unbedingt auch etwas, ihr Armen!« »O ja!«, schrien alle und jagten die Treppe hinunter, während der Polizist die Tür sorgfältig verschloss, den Schlüssel in die Tasche steckte und ihnen lachend folgte. Und nachdem die Mädchen Miss Jones geholfen und die 267
Jungen und Georg sich ein wenig gewaschen hatten, saßen sie endlich alle um den runden Tisch im Wohnzimmer versammelt. »Dass wir überhaupt kein Licht gesehen haben«, sagte Chris nach einer Weile und nahm sich eine Scheibe Schinken, »unheimlich wirkte das!« »Wir konnten es uns überhaupt nicht erklären«, meinte Ben. Miss Jones lächelte. »Ich hatte noch alte dunkelblaue Vorhänge in einer Truhe, die habe ich mit Hilfe dieses liebenswürdigen Beamten«, sie nickte dem Polizisten zu, »und mit Hilfe der Mädchen angebracht, zur Sicherheit, versteht ihr.« Der Polizist sah auf und nickte zurück, sagen konnte er im Augenblick nichts, weil er mit vollen Backen kaute. Lissy stieß Ben an und kicherte. »Er wollte in den Kamin steigen, um euch zu suchen, aber es ging nicht, wegen des Bauches. Er wäre elend stecken geblieben.« Ben grinste, und Larry, der neben ihm saß, sah starr geradeaus und versuchte vergeblich einen plötzlichen unwiderstehlichen Lachreiz zu unterdrücken. »Nun, mein Junge«, wandte sich Miss Jones freundlich an ihn, »du bist glücklich, nicht wahr? Was für eine entsetzliche Zeit du hinter dir hast! Aber nun ist ja alles wieder gut. Ich nehme an, dass man von London aus deine Eltern sofort benachrichtigt hat. Aber erst einmal bist du selbstverständlich unser Gast.« 268
»Vielen Dank«, sagte Larry. »Mein Vater wird bestimmt so schnell wie möglich kommen.« »Und dann kannst du wieder Baseball spielen«, sagte Chris. »Er tut den ganzen Tag nichts anderes«, wandte er sich an die Mädchen. »Blödsinn«, murmelte Larry und wurde rot. »Baseball?«, fragte Lissy. »Was ist das?« »So was Ähnliches wie Schlagball«, sagte Ben. »Du musst furchtbar schnell rennen können.« »Und sonst?«, fragte Peggy und sah Larry neugierig an. »Und was machst du sonst? Ihr seid doch entsetzlich reich, nicht?« »Aber Kind«, unterbrach Miss Jones sie und sah sie missbilligend an. Doch Peggy ließ sich nicht beirren. »Entsetzlich reich«, wiederholte sie und nickte ein paar Mal eifrig. »Dein Vater ist Millionär, Brausemillionär, hat in der Zeitung gestanden.« »Brausemillionär, hahaha!« Sogar der Polizist lachte laut und dröhnend, das konnte er sich jetzt leisten, denn er hatte gerade wieder einen Bissen hinuntergeschluckt. »Ja, Brause«, bestätigte Larry und fuhr sich verlegen mit der Hand über seine Stoppelfrisur, eine Bewegung, die ihm, wie die Kinder im Verlauf der nächsten Tage noch feststellen sollten, genauso zur Gewohnheit geworden war wie die Peggys, ein Zopfende in den Mundwinkel zu stecken. »Ja, Brause und Öl und alles Mögliche!« 269
»Immer noch besser als Schnaps oder Ähnliches«, murmelte Chris, grinste und trat Larry aufmunternd auf den Fuß. »Schnaps, hoho!« Der Polizist lachte. Und Ben zischte Lissy zu: »Ich glaube, der wäre einem Gläschen nicht abgeneigt.« Da war es um Lissys Fassung geschehen. Sie prustete laut heraus, verschluckte sich, hustete entsetzlich und Larry sprang auf und klopfte ihr den Rücken. Kaum hatte er sich wieder gesetzt, bohrte Peggy weiter: »Fährst du viel Auto und viel …« »Sei still«, flüsterte Chris und packte ihren Arm. »Hört mal!« Aus der Ferne kam ein Geräusch näher und näher und wurde stärker und stärker. »Ein Wagen!«, schrie Ben und sprang auf. »Ihr bleibt hier!«, befahl Miss Jones und fasste Lissys und Peggys Rockzipfel, zur gleichen Zeit mit jeder Hand einen. »Das hätte noch gefehlt! Wenn es nun dieser Diaz ist«, setzte sie flüsternd hinzu und erhob sich, um sich zu vergewissern, dass die Tür auch verschlossen war. »Meine Sache, meine Dame«, sagte der Polizist, schob sie mit nachdrücklicher, aber sanfter Gewalt zur Seite und ging schweren Schrittes hinaus, während er einen Gummiknüppel hervorzog.
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XX Halt!
»Wollen Sie mich umbringen, Hawkins?«, hörten die regungslos mit angehaltenem Atem Wartenden einen Augenblick später eine Männerstimme. »Wir dachten, äh, wir glaubten, äh, ich, äh …« »Schon gut.« Das Gestammel wurde streng unterbrochen. »Weiß schon, Sie dachten, die Burschen kämen, ich weiß.« Ein schlanker Mann betrat das Zimmer, begleitet von dem Polizisten, der ihm das vor Erregung hochrote Gesicht zuwandte, und zwei anderen Männern. »Na also«, flüsterte Ben, »Polizei und nicht unser ehrenwerter Diaz.« »Das konnte man nicht wissen«, flüsterte Miss Jones zurück, tat einen Schritt vorwärts, und der Kommissar schüttelte ihr und dann allen anderen die Hand. »Brown«, stellte er sich vor und dann sagte er mit breitem Lachen: »Na, alles gut überstanden? Und wo ist der Junge, der kleine King? Na, komm näher«, wandte er sich freundlich an Larry, der eine zögernde Bewegung machte, als Miss Jones ihm die Hand auf die Schulter legte. 271
»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«, sagte sie und wies auf die Sessel vor dem Kamin. »Nun, komm näher«, sagte der Beamte wieder, »wir müssen ein paar Fragen an dich stellen. Wann habt ihr die Männer zuletzt gesehen? Kannst du mir die Uhrzeit sagen? Und wann …« Es waren viele Fragen, die er nicht nur an Larry, sondern auch an Miss Jones, Georg und Ben richtete. Er stellte sie schnell, eine nach der anderen, klappte sein Notizbuch zu, erhob sich eilig und ging, gefolgt von den anderen beiden Männern, wieder zur Tür. »Sie bleiben besser hier, Hawkins«, wandte er sich an den Polizisten. »Und«, fügte er lachend hinzu, »seien Sie sparsam im Gebrauch von Gummiknüppeln.« Einen Augenblick später heulte ein Motor auf, die Jungen stürzten zu den Fenstern, zogen die Vorhänge beiseite und sahen dem Wagen nach. »Schweres Geschoss«, stellten Ben und Chris mit Kennermiene fest und Larry murmelte: »Ja, ziemlich schwer.« Es wurde schon Tag, die aufgehende Sonne färbte den Himmel rötlich, und die Vögel begannen zu singen. »Da haben wir uns also die ganze Nacht um die Ohren geschlagen«, sagte Chris, drehte sich um und gähnte. »Ich bin hundemüde.« »Ich glaube, du nicht allein«, sagte Miss Jones und sah in die blassen Gesichter der übrigen. »Ich schlage vor, ihr geht jetzt alle zu Bett. Keine Widerrede! Zum Mittagessen wecke 272
ich euch.« »Und Larry?«, fragte Peggy. »Wo schläft der? Der hat doch gar kein Bett!« »Das werden wir schon beschaffen. Möchtest du mit Chris und Ben im Turmzimmer schlafen?«, wandte sie sich lächelnd an ihn. Als er rot wurde und begeistert nickte, fügte sie hinzu: »Georg und Mr. Hawkins sind vielleicht so freundlich und schaffen die Couch aus dem Arbeitszimmer hinauf.« Und eine Weile später lagen sie alle im Bett, bewacht von dem dicken Polizisten, der seinen Posten auf der Wendeltreppe bezogen hatte. Auf dem Treppenabsatz vor dem Schlafzimmer der Mädchen saß er in einem Sessel, die Hände über dem Bauch gefaltet, in der beginnenden Hitze des Tages vor sich hin dösend. »Was ist das nur für ein Geräusch?«, murmelte Larry schlaftrunken. »Was ist das nur für ein Geräusch? Hört ihr das auch?« Aber niemand antwortete ihm. »Ach so, da schnarcht einer«, dachte er und schloss die Augen von neuem. Tatsächlich, es schnarchte jemand. Polizist Hawkins war den mühevollen Anstrengungen der letzten Stunden erlegen, hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt, den Mund weit geöffnet, die kurzen Beine von sich gestreckt und träumte wahrscheinlich vom Essen. Mr. Diaz hätte leichtes Spiel mit ihm gehabt. Er fuhr erst hoch, als jemand anhaltend und laut gegen 273
die Haustür schlug. Noch halb im Schlaf griff er nach dem Gummiknüppel, erinnerte sich dann aber an den weisen Befehl Kommissar Browns, ließ die Hand wieder sinken und erhob sich. Doch da wurde schon geöffnet und Miss Jones nahm dem Briefträger ein schmales Kuvert ab. »Es war nur der Postbote, Mr. Hawkins«, rief sie hinauf. »Sie brauchen sich nicht herunterzubemühen!« Doch einen Augenblick später erschien sie wieder und bat: »Würden Sie wohl so freundlich sein und die Kinder wecken? Ein Telegramm ist für den kleinen Amerikaner gekommen und es ist ohnehin Zeit aufzustehen.« »Aber erst waschen«, rief sie aus der Küche, als sie die wilde Jagd herunterrasen hörte. »Es gibt übrigens gleich etwas zu essen.« »Mein Vater kommt, mein Vater kommt!«, schrie Larry ein paar Minuten später und schwenkte das Telegramm hoch über dem Kopf. Dann legte er es auf den Tisch und Peggy buchstabierte: »›Eintreffe fünfzehn Uhr London, Daddy.‹ Vielleicht kommen Vater und Mutter auch bald«, murmelte sie und strich das Papier sorgfältig glatt. »Vielleicht«, sagte Miss Jones, und das so geheimnisvoll, dass Ben sie überrascht ansah. Den Nachmittag verbrachten sie am Strand, zum Leidwesen des armen Polizisten, der ächzend und schwitzend die steilen Stufen hinunterkletterte. 274
»Entfernt euch nicht«, sagte er in Gedanken an die Mühsal, die ihm in einem solchen Falle zusätzlich auferlegt werden würde. Gegen Abend, als sie endgültig aus dem Wasser stiegen, hörten sie in der Ferne Motorengeräusch. »Ein Wagen«, sagte Ben. »Mein Vater!«, schrie Larry, schloss den letzten Knopf seines Hemdes, raffte Schuhe, Strümpfe und Hosen auf und raste, ohne die nasse Badehose auszuziehen, die Stufen hinauf. »Halt!«, schrie der Polizist. »Halt!« Aber es gab kein Halten mehr. Larry jagte schon über den Klippenweg und die anderen hinter ihm her, halb angezogen, Lissy mit wehendem Haar und Peggy dauernd stolpernd. »So eine Bande«, murmelte der Polizist und machte sich ächzend und stöhnend an die Verfolgung. Der Tumult, der sich gleich darauf vor dem alten Haus erhob, übertraf den im Turmzimmer noch bei weitem. Bremsen quietschten, eine Autotür wurde aufgerissen, zwei lange Beine kamen zum Vorschein, und gleich darauf wurde Larry unter den wilden Begeisterungsschreien der Übrigen von einem sehr großen, sehr schlanken Mann an den Schultern gepackt und in die Höhe gehoben. Und es dauerte eine ganze Weile, bis sich die eilig herbeigelaufene Miss Jones bemerkbar machen konnte. Dafür gelang es aber jemand anderem sofort. 275
»Halt!«, schrie es irgendwo vom Garten her. Ein hochrotes Gesicht tauchte hinter den Büschen auf, ein Gummiknüppel wurde geschwenkt, und wieder kam es: »Halt!« Das Gelächter, das Polizist Hawkins für diese Extravorstellung erntete, war riesig. Und Lissy konnte gar nicht wieder aufhören, in sich hineinzukichern. Mr. King gefiel allen sehr gut, besonders Peggy, obwohl sie zuerst ein wenig enttäuscht war, denn sie fand, er sähe gar nicht aus wie ein richtiger Millionär. Wobei gesagt werden muss, dass ihre Vorstellung von einem richtigen Millionär eine recht verschwommene war. Aber durch seine Herzlichkeit, sein breites amerikanisches Lachen und besonders dadurch, dass er ihre schönen blonden Zöpfchen lobte, gewann er ihre Zuneigung voll und ganz. Unverständlich blieb ihnen allen jedoch, warum er plötzlich, mit Miss Jones vor dem Kamin sitzend, eine Unterhaltung in geheimnisvollem Flüsterton führte. Dass es sich dabei um eine Überraschung für sie alle handelte, konnten sie natürlich nicht ahnen, aber das war nicht die einzige, die sie zu erwarten hatten. Zum dritten Mal an diesem Tage hörten sie Motorengeräusch, und zum dritten Mal brachen sie gleich darauf in wildes Freudengeschrei aus, denn plötzlich öffnete sich die Tür, und Mr. und Mrs. Arnold erschienen auf der Schwelle. »Vater, Mutter!«, schrien die Kinder und stürzten auf sie 276
zu. »Woher kommt ihr denn? Warum habt ihr nicht vorher Bescheid gesagt?« Mr. Arnold lachte und warf einen Blick auf Miss Jones. »Wir haben von jemandem ein dringendes Telegramm bekommen.« »Aha«, murmelte Ben und auch er sah Miss Jones an. »Wir haben einen Amerikaner befreit«, schrie Peggy, »einen richtigen amerikanischen Millionärssohn …« »Ich weiß«, Mr. Arnold nickte, »ich weiß, das stand auch in dem Telegramm.« Es wurde ein herrlicher Abend, gegen dessen Ende Polizist Hawkins verschwand und nach einer Stunde zurückkehrte. »Wir haben sie gefasst!«, sagte er stolz. »Ich habe gerade mit den Kollegen telefoniert. Sie sind auf dem Flugplatz in London verhaftet worden.« »Ja, wenn ihr nicht gewesen wärt«, sagte Georg, der sich in seinen besten Anzug geworfen hatte, grinste Ben an und kniff ein Auge zu. Am anderen Tage, als sie am Mittagstisch saßen, hörten sie von neuem das Geräusch starker Motoren in der Ferne. »Sicher mein Vater«, rief Larry, sprang auf und lief zum Fenster. Denn Mr. King war gleich nach dem Frühstück geheimnisvoll lächelnd mit unbekanntem Ziel aufgebrochen und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt. Ja, er war es, aber seltsamerweise kam er zu Fuß, und seltsamerweise war sein Lächeln noch geheimnisvoller gewor277
den. »Irgendwas geht da vor«, murmelte Ben, »wenn man nur wüsste, was!« Aber sie erfuhren nichts! Am frühen Nachmittag behauptete Mr. King plötzlich, ihm sei so heiß, dass er unbedingt zum Strand hinuntergehen müsse, um zu baden. Und auch Mr. und Mrs. Arnold fühlten dieses Bedürfnis und, wer hätte das gedacht, sogar Miss Jones. »Hätte nie geglaubt, dass sie schwimmen kann«, flüsterte Ben Chris zu und der flüsterte grinsend zurück: »Es geschehen noch Zeichen und Wunder!« Und wenige Minuten später kannte der Jubel der Kinder keine Grenzen mehr. Ein schnittiges Motorboot schaukelte auf dem Wasser und glänzte in der Sonne. Sie wussten sofort, dass es für sie bestimmt war. Und während Miss Jones, Mr. und Mrs. Arnold und Georg am Strand standen, brausten die fünf, mit Mr. King am Steuer, ganz außer Rand und Band vor Freude, lachend, schreiend und winkend über die See. Plötzlich sagte Ben atemlos: »Jetzt fehlte nur noch, dass Mr. Hawkins auf den Klippen auftaucht und ›Halt!‹ schreit!«
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