Im Schutze der undurchdringlichen Vegetation der Wasserwelt Nandy-Cline nehmen Entwicklungen ihren Lauf, die zu einer B...
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Im Schutze der undurchdringlichen Vegetation der Wasserwelt Nandy-Cline nehmen Entwicklungen ihren Lauf, die zu einer Bedrohung des Planeten werden. Noch ahnt niemand etwas von der großen Gefahr, die sich buchstäblich unter den Augen der Beobachtungsschiffe zusammenbraut. Erst im letzten Augenblick wird man auf die Bedrohung aufmerksam, aber da scheint es bereits zu spät zu sein, um die Planeten der Föderation vor einem grauenhaften Schicksal zu retten. Denn wieder waren Streitkräfte der Parahuane auf Nandy-Cline gelandet. Nach dem letzten verlorenen Krieg gegen die Zentralwelten hat die Stimme der Aktion die Oberhand erhalten, und die Vorbereitungen zu einem neuen globalen Überfall laufen auf vollen Touren.
In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 33 Science-Fiction-Romane Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Der Stich der Wespe (2965) So gut wie tot (3007) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (3857) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882) H. Beam Piper: NULL-ABC (2888) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917) Im Reich der Giganten (2937) Fredric Brown: Sternfieber (2925) L. Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit (2931) Der Turm von Zanid (2952) Der Raub von Zei (2977) Die Rettung von Zei (3000) Richard S. Shaver: Im Zauberbann der Venus (2944) Wilson Tucker: Die letzten der Unsterblichen (2959) Die Unheilbaren (2981) C. C. MacApp: Söldner einer toten Welt (2968) Poul Anderson: Feind aus dem All (2990) Andre Norton: Das Geheimnis des Dschungel-Planeten (3013)
Ullstein Buch Nr. 3022 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE DEMON BREED Übersetzung von Ute Seeßlen Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1968 by James H. Schmitz Übersetzung © 1973 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1973 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-13022-4
James H. Schmitz
Dämonenbrut SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
1 Als der Schmerz nachzulassen begann, stellte Ticos Cay mit Erstaunen fest, daß er noch immer auf seinen Beinen stand. Diesmal war die Behandlung besonders brutal gewesen – es hatte Augenblicke gegeben, in denen er schon geglaubt hatte, den Schmerz nicht mehr beherrschen zu können. Aber es war ihm gelungen. Die Empfindungen versehrender Glut, die nicht mit voller Stärke in sein Bewußtsein gedrungen waren, reduzierten sich allmählich zu einem matten Glimmen. Dann hörte auch dieses auf. Sein Wahrnehmungsvermögen kehrte langsam zurück. Vorsichtig erlaubte er sich, seine Körperempfindungen wieder vollständig wahrzunehmen. Es war noch immer ein unangenehmes Erlebnis. Überall spürte er ein scharfes Stechen, so als sei er vor kurzem von tausend winzigen glühenden Messern durchbohrt und aufgeschlitzt worden: der Rückstand des Schmerzes. Was eine solche Schmerzbehandlung dem menschlichen Nervensystem und Sinnesapparat an bleibendem Schaden zufügte, war zwar geringfügig, aber immerhin meßbar. Die Nachwirkungen einer Reihe solcher Behandlungen konnten allerdings nicht mehr als geringfügig bezeichnet werden; und in der vergangenen Woche hatte er mehr als zwanzig
davon über sich ergehen lassen müssen. Jedesmal, wenn Ticos nach einer Behandlung den erlittenen Verlust an physischen Kräften berechnete, fragte er sich, ob der Punkt bereits erreicht sei, an dem er sich eingestehen mußte, daß der Schaden nicht mehr wiedergutzumachen sein würde. Diesmal war es jedenfalls noch nicht so weit. Sein Bewußtsein war zwar getrübt; aber dieser Zustand pflegte nach jeder Behandlung eine Zeitlang fortzudauern. Beruhigt wandte er seine Aufmerksamkeit von sich und seinem inneren Zustand auf seine Umgebung. Der riesige Raum, in dem er sich befand, lag zum größten Teil im Dunkel, da die Ungeheuer bis auf den mittleren Teil der Deckenbeleuchtung alles Licht ausgeschaltet hatten. Der verbliebene Lichtkegel fiel auf einen Abschnitt des langen Arbeitstisches, an dem Ticos lehnte, und auf die erhöhte Plattform in sechs Meter Entfernung, von der herunter sie ihn beobachteten. Die Wände, die Borde mit den biologischen Versuchsobjekten, die Untersuchungs- und Aufzeichnungsgeräte waren in Dunkelheit getaucht. Ticos Cay blickte sich um, nahm die einzelnen Gegenstände wahr und kehrte wieder in die Realität zurück. Zuletzt sah er zu den Ungeheuern hinüber. »Ist es Ihnen wieder gelungen, den Schmerz nicht zu fühlen?« fragte die kleinste der drei Gestalten.
Ticos überlegte. Er wußte zuerst noch nicht so recht, wen er vor sich hatte, aber dann fiel es ihm ein. Ja, das kleine Ungeheuer war Koll – der Großpalach Koll. Einer der einflußreichsten Führer der Ewiglebenden. Der zweite Kommandoführende der Stimme der Tat ... Ticos ermahnte sich innerlich: Nimm dich in acht vor Koll! Er gab einen Laut von sich, der sowohl als Stöhnen wie als vergeblicher Versuch zum Sprechen aufgefaßt werden konnte. Er hätte ohne weiteres antworten können. Aber es war nicht ratsam, zu antworten, solange sein Bewußtsein noch getrübt war – vor allem nicht, wenn Koll die Fragen stellte. Die drei Ungeheuer starrten ihn schweigend und reglos an. Ihre Haut und die umgeschnallten Gurte mit verschiedenen Ausrüstungsgegenständen glänzten feucht, so als seien sie kurz vor Betreten des Raums geradewegs dem Meer entstiegen. Was durchaus möglich war; Salzwasser war ihr Element, und sie fühlten sich unwohl und wurden krank, wenn sie längere Zeit nicht damit in Berührung kamen. Die Gestalt rechts neben Koll trug ein Gerät mit einem glimmenden blauen Lämpchen. Das Aufleuchten des Lämpchens zeigte jedesmal den Beginn einer Schmerzbehandlung an. Das andere Wesen zur Linken Kolls hielt eine Waffe auf Ticos gerichtet. Diese
beiden Ungeheuer waren gedrungene Geschöpfe, die auf muskulösen Froschbeinen hockten. Einmal war Ticos Zeuge gewesen, wie eins dieser Wesen seine Arme um den Brustkorb eines Mannes geschlungen und ihn ohne sichtliche Anstrengung langsam zu Tode gedrückt hatte. Das war auf Kolls Befehl hin geschehen. Die großen Ungeheuer waren Untergebene der Palache und wurden von ihnen Oganoon genannt. Koll gehörte der gleichen Spezies an, war aber viel kleiner und leichter. Er war wie die meisten Großpalache ein runzliger Zwerg, kaum mehr als dreißig Zentimeter groß. In seinem Kapuzenumhang wirkte er wie eine eingeschrumpfte Mumie. Doch er konnte sich mit der Kraft und Geschwindigkeit einer Stahlfeder bewegen. Ticos hatte selbst beobachtet, wie Koll einmal zweieinhalb Meter hoch geschnellt war und einem Oganoon, der ihn geärgert hatte, eine paralysierende Nadel ins Auge gebohrt hatte. Er hatte fünf- oder sechsmal hintereinander zugestoßen, so rasch, daß das Opfer erstarrte, ohne überhaupt begriffen zu haben, was geschehen war. Ticos wollte auf keinen Fall Kolls Zorn erregen. Andererseits mußte er das Schweigen so lange wie möglich ausdehnen, damit sein Bewußtsein sich klärte und er Kolls Frage besser beantworten konnte. Er wartete, bis der Sprechschlitz über Kolls Augen sich
öffnete, und sagte dann mit unsicherer Stimme: »Ich konnte es nicht ganz vermeiden, den Schmerz zu fühlen, aber er blieb erträglich.« »Er blieb erträglich!« echote es aus dem Sprechschlitz, so als sinne Koll über diese Antwort nach. Ticos war an die Tatsache gewöhnt, daß ein Großteil der Ewiglebenden die menschliche Sprache ausgezeichnet beherrschte, doch Kolls Stimme fiel ihm noch immer als unnatürlich auf. Sie hatte einen tiefen, warmen Klang, der ganz und gar nicht zu einem so boshaften kleinen Wesen paßte. »Diese Kinder haben Angst vor Ihnen, Dr. Cay«, teilte Koll ihm mit. »Wußten Sie das?« »Nein, das wußte ich nicht«, antwortete Ticos. »Ein Teil Ihrer Instrumente gleicht den Werkzeugen, mit denen sie für schwere Vergehen bestraft werden«, erklärte Koll. »Sie flößen ihnen Furcht ein. Sie haben Angst vor Ihnen, weil sie glauben, daß Sie ihnen große Pein zufügen können. Und auch noch aus anderen Gründen ... Ihr Kommunikator hat in den letzten beiden Tagen sechs Rufsignale erhalten.« Ticos nickte. »Das habe ich gehört.« »Sie haben vorausgesagt, daß einer von den sogenannten Tuvelas versuchen würde, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen.« Nach kurzem Zögern sagte Ticos: »Der Ausdruck Tuvela stammt von Ihnen. Die Person, auf die Sie sich
beziehen, ist mir unter der Bezeichnung Wächter bekannt.« »Es handelt sich offenbar um die gleiche Art von Geschöpfen«, erwiderte Koll. »Wesen, denen übernatürliche Eigenschaften nachgesagt werden. Darunter auch die Eigenschaft, unbesiegbar zu sein. Dr. Cay, was wissen Sie über diese bemerkenswerten Eigenschaften – falls diese Wesen sie überhaupt besitzen?« Ticos zuckte mit den Schultern. »Wie ich Ihnen bereits erklärte, habe ich erst seit relativ kurzer Zeit Kenntnis von den Wächtern und ihrer Funktion in unserer Zivilisation. Sie arbeiten streng geheim. Ich habe bisher nur eins ihrer Mitglieder persönlich kennengelernt. Sie erschienen mir als ein Mensch mit außerordentlichen Fähigkeiten. Doch wenn sie oder die Wächter im allgemeinen übernatürliche Eigenschaften besitzen sollten, so weiß ich nichts davon.« Er fügte als Nachsatz hinzu: »Offenbar wissen die Ewiglebenden mehr über die Wächter als ich.« »Das ist möglich. Und wie Sie sagten, behaupten sie von sich, unsterblich zu sein.« Ticos schüttelte den Kopf. »Mir wurde gesagt, sie hätten Methoden entwickelt, mit deren Hilfe sie einem Organismus Jugend und Gesundheit wiedergeben und lange Zeit erhalten können, aber nicht, daß sie unsterblich sind. Dieser Ausdruck ist für mich ohne Bedeutung.«
»Die Vorstellung von unsterblichen Lebewesen ist für Sie ohne Bedeutung, Dr. Cay?« Ticos zögerte wieder, denn es konnte gefährlich werden, einem Palach gegenüber zu diesem Thema eine Aussage zu machen. Doch er sagte: »Wer kann beweisen, daß er unsterblich ist, bevor er nicht das Ende der Zeit erreicht hat?« In Kolls dunklem Gesicht zuckte es. Möglicherweise amüsierte ihn diese Antwort. »Ja, wer?« meinte er zustimmend. »Beschreiben Sie mir, wie Ihre Beziehung zu diesen Wächtern aussieht.« Ticos hatte Koll seine Beziehung zu den Wächtern schon mehrfach beschrieben. Er erklärte: »Vor zwei Jahren wurde ich gefragt, ob ich in ihren Dienst treten wolle. Ich habe zugestimmt.« »Weshalb?« »Ich werde alt, Großpalach. Als Entlohnung sollte ich unter anderem in den Methoden der Wächter unterwiesen werden, mit deren Hilfe eine lange Lebensdauer und die Wiederherstellung der Jugendkräfte erzielt werden kann.« »Und Sie haben diese Unterweisung erhalten?« »Ich bin in die Anfangsgründe eingeweiht worden. Offenbar ist man mit meinen Fortschritten zufrieden.« »Worin bestehen Ihre Dienste für die Wächter, Dr. Cay?«
»Ich befinde mich noch in der Ausbildung, und man hat mir bisher nicht mitgeteilt, welcher Art meine zukünftige Tätigkeit sein wird. Ich nehme an, daß meine wissenschaftlichen Kenntnisse dabei eine Rolle spielen werden.« »Die Fähigkeit, durch Nervenkontrolle den Schmerz abzuwehren, haben Sie bei diesen Langlebigkeitsübungen erworben?« »Ja, das habe ich.« Darauf folgte eine lange Pause. Kolls Sprechschlitz hatte sich geschlossen, und er verharrte regungslos, wobei der obere Teil seiner doppellinsigen Augen Ticos mit leerem, bösen Blick anstarrte, während der untere Teil von den Lidern bedeckt war. Die ungeschlachten Untergebenen waren ebenfalls in Reglosigkeit erstarrt, vermutlich um ihren Respekt zu bezeigen. Ticos war nicht sicher, was diese Pause zu bedeuten hatte. Das gleiche hatte sich auch schon bei früheren Befragungen ereignet. Vielleicht dachte das kleine Ungeheuer nur über das, was gesagt worden war, nach. Doch es schien in eine Art Trance verfallen zu sein. Wenn man es in diesem Zustand ansprach, würde es nicht antworten. Es schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Ticos vermutete, daß dem merkwürdigen Verhalten Kolls das gleiche Phänomen zugrunde lag, das bei Menschen Wahnsinn genannt wird. Selbst Großpalache von gleichem Rang
wie er schienen ihn zu fürchten, während er ihnen mit kaum verhüllter Verachtung begegnete. Sein dunkler Kapuzenumhang, der oft nur leidlich sauber wirkte, war aus einfachstem Material, während seine Kollegen ihre winzigen Körper unter reich verzierten und juwelenbesetzten Gewändern verbargen. Allem Anschein nach zogen sie es vor, Kolls Gegenwart zu meiden, doch er übte starken Einfluß auf sie aus. Der Sprechschlitz über Kolls Augen öffnete sich wieder. »Dr. Cay«, ertönte Kolls Stimme, »meine Neigung, Sie in mein Museum der Menschheit einzureihen, wird immer größer. Sie haben meine Kollektion gesehen?« Ticos räusperte sich. »Ja«, meinte er. »Ach ja, natürlich«, sagte Koll, so als sei es ihm gerade eingefallen, »ich habe sie Ihnen vorgeführt, zur Warnung, damit Sie uns nicht anlügen. Und vor allem, damit Sie mich nicht anlügen.« Ticos sagte vorsichtig: »Ich habe mich sehr darum bemüht, Ihnen keine Lügen zu erzählen, Großpalach.« »Tatsächlich? Ich bin dessen nicht so sicher«, meinte Koll. »Glauben Sie, daß die Person, die über den Kommunikator mit Ihnen Verbindung aufzunehmen versucht, die Wächterin ist, von der Sie uns berichtet haben?«
Ticos nickte. »Ja, die Wächterin Etland.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Sie ist die einzige, die die Codenummer meines Kommunikators kennt.« »Weil Sie hier isoliert bleiben sollten?« »Ja.« »Die Wächterin Etland beaufsichtigt Ihre Ausbildung?« »Ja.« »Sie beschreiben sie als eine junge Frau«, meinte Koll. »Ich sagte, daß sie jung aussieht«, stellte Ticos richtig. »Ich weiß nicht, wie alt sie ist.« »Sie sagen, daß diese Wächter oder Tuvelas eine Form der Lebensverlängerung entwickelt haben, die ihnen sogar den äußeren Anschein ewiger Jugend verleiht ...« »So etwas hat die Wächterin Etland angedeutet.« »Und doch behaupten Sie«, fuhr Koll fort, »daß die Wächter Sie mit der Aufgabe betraut haben, hier unter den Lebensformen dieser Welt nach Substanzen zu suchen, die eine Verlängerung des Lebens gewährleisten. Welches Interesse können die Wächter an einer Forschungsarbeit haben, die ihnen nichts weiter einbringt, als was sie bereits besitzen?« Ticos zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, daß sie mich auf verschiedenartige Weise prüfen, und viel-
leicht ist dies die Methode, mit der sie meine Fähigkeiten als Biochemiker prüfen wollen. Aber es ist ebensogut möglich, daß sie noch immer daran interessiert sind, einfachere oder zuverlässigere Methoden der Lebensverlängerung zu finden als die es sind, die sie jetzt besitzen.« »Welche Rolle spielen Chemikalien, bei ihren jetzigen Methoden?« »Das weiß ich nicht. Ich habe die Anfangspraktiken beschrieben, in die ich eingeweiht worden bin und in denen ich mich üben soll. Über die fortgeschritteneneren Prozeduren hat man mich nicht informiert. Meine Forschungsarbeit beschränkt sich auf die Beobachtung der Wirkungen meines Testmaterials.« »Sie haben angedeutet, daß Ihre Forschung für die Ewiglebenden einen gewissen Wert haben könnte ...« »Das habe ich nicht angedeutet«, sagte Ticos. »Ich habe allerdings bemerkt, daß eine Reihe von Palachen meine Testergebnisse beobachtet und die dabei verwendeten Substanzen analysiert.« »Sie sollten daraus nicht schließen, daß das wissenschaftliche Interesse dieser Leute eine Garantie für Ihre weitere Sicherheit ist, Dr. Cay. Unsere Methoden der individuellen Lebensverlängerung bedürfen keiner Verbesserung. Ich bin sicher, daß Sie uns etwas vorlügen. Und ich habe die Absicht herauszufinden, auf welche Weise Sie uns belügen. Weshalb haben Sie
die Erlaubnis erbeten, den Ruf der Wächterin zu beantworten?« »Ich habe dem Palach Moga mein Vorhaben erklärt«, sagte Ticos. »Erklären Sie es mir.« Ticos deutete zu den Gärten und den Forschungsexemplaren in den entfernteren Teilen des Raums hinüber, die im Dunkeln lagen. »Die Verantwortung für dieses Projekt trägt die Wächterin Etland. Sie ist auch für mich und meine Ausbildung verantwortlich. Bis zu Ihrer Ankunft hat sie mich in regelmäßigen Abständen aufgesucht, um meine Fortschritte zu begutachten. Seither hat sie sich nicht mehr blicken lassen.« »Was schließen Sie daraus?« »Es ist möglich, daß die Wächter von Ihrer Anwesenheit Kenntnis haben.« »Diese Möglichkeit sehe ich nicht ein, Dr. Cay.« »Das ist meiner Meinung nach die einzige Erklärung für das Ausbleiben der Wächterin Etland«, entgegnete Ticos achselzuckend. »Vielleicht ziehen die Wächter es vor, daß Sie und die Ihren sich unbemerkt entfernen, bevor es zu einem allgemeinen Aufruhr kommt. Wenn man mir erlauben würde, beim nächsten Rufsignal den Kommunikator zu benutzen, erfahren wir vielleicht, daß die Wächterin bereits auf dem Weg hierher ist, aber nicht meinetwegen, sondern um mit den Ewiglebenden zu sprechen ...«
»Sie würde sich wissentlich in das von uns besetzte Gebiet begeben?« fragte Koll. »Nach dem zu schließen, was verschiedene Palache mir erzählt haben«, meinte Ticos, »wäre das nichts Außergewöhnliches für eine Tuvela. Wenn es wahr ist –« »Nehmen wir an, daß es nicht wahr ist, Dr. Cay.« »Dann sollte man mir trotzdem erlauben, den Ruf zu beantworten und sie davon abzuhalten, mich im gegenwärtigen Zeitpunkt zu besuchen. Wenn sie von Ihrer Anwesenheit noch nichts weiß und hierher kommt, wird sie es bald erfahren. Und selbst wenn Sie sie daran hindern können, wieder abzureisen –« Koll fauchte. »Gewiß werden wir sie daran hindern können, wieder abzureisen.« »Wie Sie mir gegenüber angedeutet haben, geht aus Ihren eigenen Aufzeichnungen hervor, daß Tuvelas äußerst findige Wesen sind«, bemerkte Ticos sanft. »Doch wenn Sie die Wächterin gefangennehmen oder gar töten sollten, werden sofort andere nachfolgen und sie suchen. Ihre Anwesenheit hier wird in jedem Fall entdeckt werden.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich möchte nicht, daß diese Dinge geschehen. Als ein im Dienste der Wächter Stehender ist es meine Pflicht, sie zu verhindern, soweit ich das vermag. Wie Sie wissen, habe ich versucht, einige der Ewiglebenden davon zu überzeugen, daß die Pläne gegen mei-
ne Rasse aufgegeben werden müssen, bevor ein allgemeiner Konflikt unvermeidlich wird.« »Das ist mir bekannt«, sagte Koll. »Sie hatten damit erstaunlich – und beschämend – viel Erfolg. Die Stimme der Vorsicht wird immer hartnäckiger. Sogar die von Ihnen vorgeschlagene Benutzung des Kommunikators findet Unterstützung. Ist es vielleicht möglich, Dr. Cay, daß Sie ein Wächter sind, der sich absichtlich gefangennehmen ließ, um die Ewiglebenden zu verwirren und ihre Entschlußkraft zu schwächen?« »Nein«, antwortete Ticos, »ich bin kein Wächter.« »Sie sind ein Hulon?« »Da das der Name ist, mit dem Sie gewöhnliche Menschen bezeichnen, bin ich ein Hulon.« »Dieser Name bezieht sich auf eine bösartige und dumme Kreatur, der wir in der Vergangenheit begegnet sind«, erklärte Koll. »Wir vernichteten diese Kreatur, so daß die Bezeichnung frei war und von neuem verliehen werden konnte. Trotz all Ihrer Bemühungen werden unsere Pläne nicht aufgegeben werden, Dr. Cay. Ich weiß, daß Sie lügen. Nicht allzu plump, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis wir Ihrer Geschichte auf den Grund kommen ... Inzwischen beschäftigen Sie sich mit Ihrer Kollektion hier – und denken Sie gelegentlich auch mal an meine ...« Ticos sah ihn keine Bewegung machen, aber der Oganoon zur Rechten Kolls befestigte das Nerven-
peinigungsinstrument an einem der um seinen massigen Körper gewundenen Gurte und drehte sich halb herum. Die kleine verhüllte Mumie tat einen raschen Satz und hockte dann unversehens auf der Schulter ihres Untergebenen. Die Gruppe entfernte sich von der Plattform und bewegte sich auf einem erhöhten Gang der Ausgangstür zu, wobei der bewaffnete Diener die Nachhut bildete und sich in kraftvollen kurzen Hupfschritten rückwärts bewegte, seine Waffe unentwegt auf Ticos Cay gerichtet. Die Beleuchtung wurde wieder voll eingeschaltet. Ticos sah, wie die drei Gestalten durch die Tür verschwanden, und hörte die schweren Schlösser zuschnappen. Er holte zitternd Luft, nahm ein kastenförmiges Gerät vom Arbeitstisch und befestigte es an seinem Gürtel. Es war ein kompliziertes Instrument, mit dessen Hilfe er die Temperatur, Feuchtigkeit, Strahlungsabsorption und andere Eigenschaften seiner biologischen Forschungsexemplare in verschiedenen Teilen des Raums kontrollierte. Seine Finger zitterten. Die Befragung war nicht so verlaufen, wie er es sich gewünscht hätte. Koll hatte sich nicht so grausam brutal wie sonst gezeigt – und das, obwohl Ticos ihn ein paarmal absichtlich provoziert hatte. Er hatte nur ein einziges Mal von dem Peinigungsgerät Gebrauch gemacht. Koll war für seine Verhältnisse direkt leutselig gewesen.
Das schien ein schlechtes Omen zu sein. Man konnte daraus schließen, daß Koll tatsächlich überzeugt davon war, die Zweifel, die Ticos in anderen führenden Palachen genährt hatte, zerstreuen zu können, indem er ihnen bewies, daß ihr Gefangener sie falsch informiert hatte. Und Ticos hatte sie in der Tat vollkommen falsch informiert. Im Laufe der letzten Wochen hatte er ein sorgfältig konstruiertes Gebäude von Lügen, Halbwahrheiten und beunruhigenden Andeutungen errichtet, das den Zweck hatte, in den Ewiglebenden Furcht vor den Menschen oder zumindest Furcht vor den Tuvelas zu nähren. Die, soweit Ticos Cay wußte, überhaupt nicht existierten. Es war nicht immer ganz einfach gewesen, Widersprüche zu vermeiden, doch inzwischen war ihm die Geschichte schon so vertraut geworden, daß er manchmal beinahe selbst daran glaubte. Das hatte die Ausführung der Pläne der Ewiglebenden bisher wirksam verhindert. Und trotz Kolls Machenschaften war das vielleicht auch weiterhin möglich – das hing allerdings zu einem großen Teil vom Zufall ab. Ticos seufzte lautlos. Er hatte den Zufallsfaktor so weit wie möglich reduziert, aber er war noch immer zu groß. Viel zu groß! Ticos ging langsam im Raum umher und hantierte ab und zu an seinem Gerät, um die Bedürfnisse seiner biologischen Versuchsexemplare zufriedenzustellen. Er
hatte bisher nicht feststellen können, ob er ständig beobachtet wurde oder nicht, aber es war möglich, und er durfte deshalb keinen allzu besorgten Eindruck machen. Gelegentlich spürte er, wie sich der Boden unter ihm hob und senkte wie das Deck eines riesigen Schiffs, und dann hörte er das Schwappen von Wasser in dem abgeteilten Ende des Raums, in dem sein Kommunikator stand. Er wurde ständig von Oganoonposten bewacht, die aufpaßten, daß Ticos nicht in die Nähe des Kommunikators gelangte, solange ihm dies von den Ewiglebenden nicht erlaubt worden war. Der Boden des Raums war mit Wasser bedeckt, damit die Wachposten ihre ledrige Haut naßhalten konnten. Durch das mit einem Energieschirm gesicherte Lüftungsfenster nahe der Decke drangen dumpfe Laute zu Ticos herein, die wie das entfernte Brüllen eines wilden Tieres klangen. Dieses Geräusch und das gelegentliche Sichheben und -senken des Bodens waren die einzigen Anzeichen, aus denen Ticos in den vergangenen Tagen hatte schließen können, daß draußen noch immer die Taifune rasten ... Regenböen verschleierten die Meeresoberfläche unterhalb des Luftfahrzeugs. In den südlichen Breiten von Nandy-Cline herrschte die Zeit der Stürme ... blauschwarz wölbte sich in der Ferne der Horizont; schwere Wolkenbänke trieben wirbelnd über den
Ozean nach Süden. Das elegante kleine Fahrzeug wurde plötzlich in einen Luftstrudel hineingerissen und hin und her geschleudert, um dann wieder eine Zeitlang ruhig seinen südöstlichen Kurs fortzusetzen. In der Kabine drückte Nila Etland eine Reihe von Tasten auf dem Schaltbrett des Kommunikators und sagte ins Mikrofon: »Giard Pharmazeutische Station – bitte kommen! Hier ist Nila Etland ... Giard, bitte kommen!« Sie wartete einen Augenblick mit gespanntem Gesicht. Aus dem Kommunikator ertönte ein Summen, das sich zu einem schwankenden, von knatternden Geräuschen durchsetzten Heulton steigerte. Ungeduldig drehte Nila die Geräuschfilterung nach rechts und dann nach links. Auf der ganzen Skala das gleiche Rauschen und Knattern. Ihr Kommentar war ein verärgertes Murmeln. Ihre Finger glitten über die Tasten und wählten eine andere Codenummer. »Danrich Parrol – hier ist Nila! Bitte kommen! Dan, kannst du mich hören? Melde dich!« Einen Augenblick lang blieb alles still. Dann ertönte wieder das Rauschen. Nila kniff verärgert die Lippen zusammen. Sie schaltete das Gerät aus und blickte hinab auf das Tier, das neben ihr auf dem Fußboden zu einem dicken Wulst von glänzendem braunen Fell zusammengerollt lag. Es hob seinen schnurrbärtigen Kopf und sah sie mit seinen dunklen Augen an.
»Dan?« fragte es mit hoher piepsiger Stimme. »Weder Dan noch sonst jemand!« fauchte Nila. »Wenn wir über dreißig Kilometer hinausgehen, stoßen wir überall auf eine Suppe von atmosphärischen Störungen.« »Suppe?« »Laß gut sein, Sweeting. Wir wollen versuchen, die Schlittenmänner zu erreichen. Vielleicht können sie uns helfen, Ticos zu finden.« »Ticos finden!« meinte Sweeting beifällig. Die pelzige Gestalt rollte sich auseinander und richtete sich auf. Sweeting stemmte ihre kurzen, kräftigen Vorderbeine gegen das Schaltbrett und blickte suchend auf die Ausschnitte von Meer und Himmel, die auf den Sichtschirmen zu sehen waren, wandte sich dann zu Nila. Sie maß von der Schnauze bis zur Spitze ihres muskulösen Schwanzes zweieinviertel Meter und war die kleinere der beiden mutierten Jagdottern, die Nila gehörten. »Wo sind die Schlittenmänner?« »Irgendwo vor uns.« Nila hatte den Kurs des Fahrzeugs um fünfzehn Grad nach Osten verschoben. »Leg dich hin.« Der Schlitten, den sie vor wenigen Minuten auf den Sichtschirmen erblickt hatte, kam wieder in Sicht, diesmal nur wenige Kilometer entfernt. Der Vergrößerungsschirm zeigte ein hundertfünfzig Meter langes Treibholzfloß mit einem flachen, stromlinienför-
migen Aufbau, das in zehn Meter Höhe auf Kufen über die tosende See glitt. Der mittlere Schlechtwetterkiel war herabgelassen und durchschnitt zwischen den Kufen die Wogen. An einem weniger stürmischen Tag wäre der Schlitten mit hochgezogenem Kiel und gehißten Segeln mit einem Anschein von Schwerelosigkeit über das Meer geschwebt. Jetzt waren die Masten flach über Deck gekippt, und der Schlitten rauschte mit schwerem Geschützantrieb durch den Sturm. Das regennasse Achterdeck war mit zwei tiefblauen Dreiecken geschmückt – dem Blauen-Guul-Symbol der Sotira-Flotte. Als der Schlitten unter der nächsten Wolkenbank verschwand, schaltete Nila den Kommunikator auf Fünfzehn-Kilometer-Kontakt um und sagte ins Mikrofon: »Dr. Nila Etland von Giard Pharmazeutische Station ruft Sotira-Schlitten! Bitte antworten!« Der Nahbereich-Kontakt schien noch in Ordnung zu sein. Und dort unten mußte man sie eigentlich dem Namen nach kennen. Die Sotira-Schlitten brachten für Giard regelmäßig Meeresernte ein. Plötzlich antwortete der Kommunikator: »Hier Kapitän Doncar vom Sotira-Schlitten. Sprechen Sie, Dr. Etland ...« »Ich bin hinter Ihnen in der Luft«, sagte Nila. »Kann ich an Bord kommen?« Kurzes Schweigen. Dann antwortete Doncar:
»Wenn Sie unbedingt wollen. Aber wir werden in weniger als fünfzehn Minuten in einen schweren Sturm geraten.« »Ich weiß – ich möchte Sie nicht aus den Augen verlieren.« »Dann kommen Sie sofort herunter«, riet Doncar. »Wir werden bereit sein.« Und das waren sie. Noch bevor Nila aus dem Fluggerät klettern konnte, war es schon von einem halben Dutzend Männern in Schwimmausrüstung, deren muskulöse nackte Rücken im Regen glänzten, sicher an Deck des Schlittens vertäut worden, gleich neben einem plastikverhüllten Gegenstand, der einem übergroßen Harpunengeschoß ähnlich sah. Es war ein geübter und disziplinierter Einsatz. Als die Männer sich zurückzogen, kam ein braunhäutiges Mädchen, das wegen des Wetters wie die Mannschaft gekleidet war, von der mittleren Kabinenreihe herangelaufen. Sie rief etwas, das von Wind und Regen fast verschluckt wurde. Nila drehte sich um. »Jath!« »Hierher, Nila! Bevor wir von der Nässe ertränkt werden –« Sie liefen auf die Kabinen zu, gefolgt von der Otter, der die Matrosen bereitwillig Platz machten. Viele von Sweetings Verwandten zogen ein Leben in ungehinderter Freiheit im Ozean von Nandy-Cline einem
domestizierten Leben vor; und diese im Meer lebenden mutierten Ottern waren jedem Schlittenmann zumindest vom Hörensagen bekannt. Es hatte wenig Sinn, sich mit ihnen anzulegen. »Hier herein!« Jath stemmte eine Tür auf, schlüpfte hinter Nila und der Otter in die Kabine und ließ die Tür hinter sich zufallen. Auf einem Tisch lagen Handtücher bereit; sie warf Nila zwei davon zu und tupfte mit einem dritten flüchtig ihre kupferfarbene Haut ab. Sweeting schüttelte ihren Pelz, daß es in der Kabine nur so spritzte. Nila wischte ihren tropfenden Overall ab, reichte ein Handtuch zurück und trocknete mit dem anderen Gesicht, Haar und Hände. »Danke!« »Doncar ist im Augenblick beschäftigt«, erklärte Jath. »Er hat mich beauftragt, herauszufinden, was wir für dich tun können. Also – was führt dich bei diesem Wetter zu uns?« »Ich suche jemanden.« »Hier?« Jaths Stimme drückte Überraschung aus. »Dr. Ticos Cay.« Schweigen. »Dr. Cay befindet sich in diesem Bereich?« »Es ist möglich, daß –« Nila hielt inne. Jath hatte ebenso rasch wie absichtsvoll ihre rechte Hand ans Ohr gehalten und wieder sinken lassen. Sie kannten einander gut genug, um diese Geste zu
verstehen. Jemand an Bord des Schlittens lauschte auf das, was in der Kabine gesprochen wurde. Nila zeigte Jath mit einem kurzen Nicken, daß sie verstanden hatte. Offenbar ging in diesem Bereich des Ozeans etwas vor, das die Schlittenmänner als ihre ureigene Angelegenheit betrachteten. Nila kam vom Festland und war somit eine Außenseiterin, wenn auch eine privilegierte. Sie sagte: »Ich habe heute morgen einen meteorologischen Bericht gehört, in dem es hieß, daß eine größere Treibholzinsel, die vor den Taifunen hertreibt, in dieser Gegend gesichtet worden sei. Die Insel, auf der Dr. Cay sich aufhält, könnte zu dieser Trift gehören ...« »Du bist nicht sicher?« »Ganz und gar nicht. Ich habe seit zwei Monaten keine Verbindung mehr mit ihm. Aber der Meralstrom könnte ihn ohne weiteres so weit nach Süden verschlagen haben. Wahrscheinlich ist alles bei ihm in Ordnung, aber ich mache mir doch allmählich Sorgen.« Jath biß sich auf die Lippen und starrte mit ihren blaugrünen Augen auf Nilas Stirn. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Das solltest du auch! Wenn er sich auf der Treibholzinsel aufhält, von der die Meteorologen berichtet haben, so wissen wir nichts davon.« »Weshalb nicht? ... Und warum sagst du, ich sollte mir Sorgen machen?«
»Treibholz ist um diese Jahreszeit gromgorru. Und das Wasser im Umkreis von dreißig Kilometer um jede Insel ebenfalls. Diese Parole ist von der Flotte ausgegeben worden.« Nila erschrak und blieb einen Augenblick lang stumm. »Wann war das?« »Vor fünf Wochen.« Gromgorru ... das war der Ausdruck der Schlittenmänner für Unglück, bösen Zauber. Das heimtückische Unbekannte. Das, wovor man sich hüten mußte. Und das, worüber man normalerweise mit Leuten vom Festland nicht sprach. Jath hatte den Ausdruck absichtlich gebraucht. Die unsichtbaren Lauscher würden darüber nicht gerade erfreut sein. Ein Summzeichen ertönte. Jath blinzelte Nila kurz zu. »Das ist für mich.« Sie ging zur Tür und wandte sich noch einmal um. »Wir haben Vennmitglieder an Bord. Sie werden dich sprechen wollen.« Allein mit Sweeting starrte Nila unruhig auf die geschlossene Tür. Sie konnte sich nicht vorstellen, auf welche Weise diese Gromgorru-Geschichte mit den Treibholzinseln zusammenhing. Doch wenn Ticos Cay sich in diesem Bereich des Ozeans befand – und nach ihren Berechnungen konnte er nicht allzu weit entfernt sein –, dann tat sie gut daran, ihn hier herauszuholen ...
2 Ticos Cay war eines Tages ohne vorherige Ankündigung in der Giard Pharmazeutischen Station auf Nandy-Cline aufgetaucht und hatte Nila besucht. Er war während ihres letzten Universitätsjahres in Orado ihr Biochemielehrer gewesen. Er war weißhaarig, hager, energisch, genial und ein bißchen kauzig und der beste Lehrer, den sie je gehabt hatte. Sie war erfreut gewesen ihn wiederzutreffen. Ticos teilte ihr mit, daß sie der Grund für seine Anwesenheit auf Nandy-Cline sei. »Womit habe ich das verdient?« fragte Nila. »Mit Ihren Forschungsarbeiten über das Treibholz.« Nila warf ihm einen fragenden Blick zu. Sie hatte ein gutes Dutzend wissenschaftliche Aufsätze über Nandy-Clines Treibholzwälder verfaßt, die fortwährend über den Wasserplaneten trieben, auf dem ein kleiner Kontinent und die Eismassen der Polarzonen die einzigen Barrieren für die kreisenden Strömungen des Ozeans bildeten. Über diesen Gegenstand hatte sie von Kindheit an aus eigener Erfahrung Kenntnisse erworben. Die Wälder, die sie besonders genau untersucht hatte, trieben mit dem großen Meralstrom über den Äquator weit nach Süden hinunter. Viele von ihnen kehrten nach einer Umkreisung des Planeten, die vier
bis zehn Jahre dauerte, mit dem gleichen Strom zurück und setzten den Kreislauf fort, bis sie eines Tages von anderen Strömungen abgetrieben wurden. Außer im Falle, daß ein solcher Treibholzorganismus für immer vom Polareis umschlossen wurde oder an einer seichten Stelle auf Grund lief, schien es für ihn kein natürliches Ende zu geben. Diese riesigen Treibholzwälder beherbergten unzählige andere biologische Arten, welche sich auf die verschiedenartigste Weise an die wechselnden klimatischen Bedingungen angepaßt hatte, daneben auch vorübergehende Gäste, die sich in den Wäldern niederließen, während sie ihr Heimatgebiet durchquerten, und sie wieder verließen oder zugrunde gingen, wenn das Treibholz in Bereiche kam, für deren Klima sie nicht geschaffen waren. »Es ist ein interessantes Forschungsgebiet«, meinte sie. »Aber –« »Sie fragen sich, weshalb ich eine dreiwöchige Reise unternommen habe, um dieses Thema mit Ihnen zu erörtern?« »Ja, genau.« »Das war nicht der einzige Grund«, sagte Ticos. »Vor einem Monat oder so habe ich die GiardZentrale in Orado besucht. Und dabei habe ich unter anderem erfahren, daß es auf Nandy-Cline an praktisch ausgebildeten Biologen mangelt.« »Das ist eine Untertreibung«, sagte Nila.
»Offenbar sind Sie dadurch nicht allzusehr behindert worden«, bemerkte Ticos. »Ihr Laboratorium genießt in der Zentrale hohes Ansehen.« »Ich weiß. Wir haben uns dieses Ansehen dadurch verdient, daß wir der Konkurrenz immer weit voraus sind. Doch auf jedes neue Forschungsergebnis, das für Giard von unmittelbarem Nutzen ist, kommen bestimmt Tausende, die wir nicht auswerten konnten. Die Leute, die für uns arbeiten, sind zwar gute Sammler, aber sie können keine Analysen durchführen und wissen nicht, wonach sie suchen sollen. Sie können einem nur das besorgen, was man ihnen aufgetragen hat. Ich begebe mich oft selbst hinaus, wenn ich kann, aber das ist jetzt immer seltener der Fall.« »Und weshalb ist es so schwierig, neue Kräfte zu finden?« Nila zuckte mit den Schultern. »Das liegt doch auf der Hand. Wenn einer ein guter Biologe ist, kann er sich anderswo die besten Stellen aussuchen. Hier würde er wahrscheinlich mehr verdienen, aber so einer hat kaum Interesse daran, die weite Reise bis hierher nach Nandy-Cline zu machen, um dann diese mühsame, nicht ungefährliche Forschungsarbeit zu leisten. Ich ... Ticos, Sie wollen doch nicht etwa hier bei Giard eine Stellung annehmen?« Er nickte. »Doch, so ist es. Ich halte mich für qualifiziert und habe mein eigenes Labor mitgebracht. Es
befindet sich noch im Raumflughafen. Glauben Sie, daß Ihr Chef mich nehmen würde?« Nila lachte. »Parrol wird sich auf Sie stürzen! Aber ich verstehe noch immer nicht ganz. Wie wollen Sie das hier mit Ihrer Universitätsarbeit vereinbaren?« »Anfang dieses Jahres habe ich meine Stellung an der Universität aufgegeben. Was meine Arbeit hier anbetrifft, so muß ich ein paar Bedingungen stellen.« »Und zwar?« »Erstens werde ich meine Arbeit auf die Treibholzinseln beschränken.« Warum eigentlich nicht, sagte sich Nila. Man mußte nur die richtigen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Er schien in guter körperlicher Verfassung zu sein, und wie sie wußte, hatte er schon mehrmals an Forschungsexpeditionen teilgenommen. Sie nickte und meinte: »Wir können Ihnen einen erstklassigen Mitarbeiterstab zur Verfügung stellen. Die Leute sind zwar wissenschaftlich nicht so gut ausgebildet, aber dafür kennen sie sich im Treibholz aus. Sagen wir mal zehn bis –« »M-m!« Ticos schüttelte entschlossen den Kopf. »Sie und ich werden gemeinsam eine Insel aussuchen, auf der ich mich dann allein einrichte. Das ist meine zweite Bedingung. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil des Projekts.« Nila starrte ihn an. Die vielfältigen Lebensformen,
die auf dem Treibholz existierten, waren nicht außergewöhnlich wild oder grausam; aber sie konnten dort nur existieren aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit an die ständig wechselnden Lebensbedingungen, wozu ein häufiger Wechsel von Feinden und Beutetieren und eine ebenso häufige Veränderung des Verteidigungsoder Angriffsapparates gehörten. Für einen uninformierten menschlichen Eindringling konnten diese Lebensformen leicht zu unbeabsichtigten Todesfallen werden. Die von ihnen ausgehende Bedrohung war zwar in den meisten Fällen ebenso unmotiviert und unpersönlich wie die Gefahr, die von Treibsand ausgeht, aber deswegen war sie nicht weniger tödlich. »Sie sind verrückt, Ticos Cay«, stellte sie fest. »Sie würden dort nicht lange überleben! Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon –« »Ja, das habe ich. Ich habe Ihre Aufsätze sorgfältig gelesen und dazu das übrige, recht kärgliche Material, das über die einheimischen Lebensformen auf diesem Planeten Auskunft gibt. Mir ist bewußt, daß durch die Umgebung ernsthafte Probleme auftauchen können. Wir werden sie erörtern. Aber es ist unbedingt erforderlich, daß ich allein bin.« »Ich kann mir nicht vorstellen, aus welchem Grund –« »In persönlicher Hinsicht werde ich hier hauptsächlich Lebensverlängerungsforschung betreiben.«
Sie zögerte kurz und sagte dann: »Ich verstehe, ehrlich gesagt, den Zusammenhang nicht.« »Natürlich nicht«, brummte Ticos. »Ich berichte wohl am besten von Anfang an.« »Das kann nicht schaden. Lebensverlängerungsforschung ...« Nila zögerte. »Haben Sie dafür irgendwelche, äh, persönlichen –« »Ob das Leben, an dessen Verlängerung ich interessiert bin, mein eigenes ist? Aber gewiß. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem diese Frage für mich äußerst wichtig geworden ist.« Nila war bestürzt. Ticos war zwar hager, aber muskulös, beweglich und ganz und gar nicht verkalkt. Sie hatte ihn trotz seiner weißen Haare nicht für alt gehalten. Vielleicht hätte sie ihn auf etwas über sechzig geschätzt. »Sie haben schon mit Erhaltungsbehandlungen begonnen?« fragte sie. »Vor einer ganzen Weile«, bemerkte Ticos trocken. »Was wissen Sie über die verschiedenen Lebensverlängerungsverfahren?« »Ach, das was man so allgemein darüber weiß. Ich habe mich nie eingehend damit beschäftigt. Keiner von meinen Bekannten hat jemals –« Wieder verklang ihre Stimme. »Stoßen Sie sich nicht daran, mit einem alten Zittergreis über diese Angelegenheit zu sprechen«, sagte Ticos.
Sie starrte ihn an. »Wie alt sind Sie denn?« »Fast zweihundert Jahre. Einer der ältesten Einwohner des Zentrums, denke ich. Natürlich nicht mitgerechnet diejenigen, die ihre Zuflucht zum Langzeitschlaf genommen haben.« Zweihundert Jahre stellten praktisch die biologische Lebensgrenze für den Menschen dar. Einen Augenblick lang wußte Nila nicht, was sie sagen sollte. Sie bemühte sich, ihr Erschrecken nicht zu zeigen. Ticos hatte es vielleicht doch bemerkt, denn er fuhr rasch in leichtem Tonfall fort: »Wissen Sie, es ist seltsam, daß wir auf diesem Gebiet noch immer nicht weiter sind. Während der Kriegsjahrhunderte hat man sich natürlich kaum um solche unnützen Forschungen gekümmert.« »Unnütz?« fragte Nila. »Vom Standpunkt der Rasse aus betrachtet. Die Aufhebung der zeitlichen Begrenztheit individueller Lebenseinheiten ist wirklich nicht allzu wünschenswert. Die natürliche Ablösung besitzt offensichtliche Vorteile. Theoretisch kann ich dem zustimmen. Trotzdem ärgert mich die Tatsache, daß die Theorie auch auf mich zutreffen soll ...« Er hatte vor etwa zwei Jahrzehnten begonnen, sich darüber zu ärgern. Bis dahin war er mit biochemi-
schen Anpassungen und Genmanipulationen, unterstützt durch gelegentliche Gewebeübertragungen, außerordentlich gut zurechtgekommen. Dann tauchten Probleme auf, aber so allmählich, daß er sie zuerst gar nicht wahrnahm. Schließlich teilte man ihm mit, daß die Anpassungsergebnisse immer unregelmäßiger ausfallen würden und man nicht imstande sei, sie besser zu regulieren. In Kürze würden größere Verpflanzungen und eine weitgehende Benutzung synthetischen Materials notwendig werden. Man hatte ihm vorgeschlagen, den Inhalt seines Gedächtnisses von einem Computer speichern zu lassen und auf einer Datenbank zu deponieren – und sich dann vielleicht in Langzeitschlaf versetzen zu lassen. Ticos fand, daß ihm keine dieser Aussichten behagte. Sein Interessengrad war nicht merklich gesunken, und er wollte seine Aktivitäten nicht durch einen mehr und mehr zusammengeflickten Körper eingeschränkt sehen oder durch Langzeitschlaf unendlich hinausschieben. Wenn er sich nicht in Langzeitschlaf versetzen ließ, würde er die Zweihundert-JahrGrenze vielleicht überschreiten können, aber offenbar nicht beträchtlich. Früher hatte er sich um Regenerationsforschung kaum gekümmert. Dieses Gebiet hatte er anderen überlassen – er selbst verfolgte eine Vielzahl eigener Projekte. Doch nun fand er, daß er sich besser selbst an die Erforschung dieses Gebiets mach-
te, um annehmbarere Alternativen für die ihm in Aussicht gestellten Möglichkeiten zu finden. »Und das tun Sie jetzt seit zwanzig Jahren?« fragte Nila. »Ja, fast so lange. Ich hatte einige tausend Methoden zu prüfen. Das ist ein weites Gebiet.« »Ich dachte, die meisten dieser Methoden seien nicht ernst zu nehmen«, bemerkte sie. »Das stimmt auch. Aber ich mußte sie trotzdem überprüfen. Das Problem auf diesem Gebiet ist, daß niemand die unbegrenzte Wirksamkeit seiner Methode nachweisen kann – dafür ist keine Methode lange genug praktiziert worden. Aus dem gleichen Grund ist es auch schwierig, die Wertlosigkeit einer Methode zu beweisen, zumindest den Leuten, die daran glauben. Der Subjektivität sind auf diesem Gebiet keine Grenzen gesetzt. Und selbst die orthodoxe Forschungsarbeit ist schlecht koordiniert.« »Das habe ich mir auch sagen lassen«, meinte sie. »Eigentlich könnte sich die Föderation dieser Sache doch annehmen.« »Ja, das könnte sie«, pflichtete Ticos bei. »Wahrscheinlich besteht jedoch auf allerhöchster Ebene, im Obergouvernement, Übereinstimmung darüber, daß eine unbegrenzte Verlängerung des menschlichen Lebens aus ökonomischen und anderen Gründen nicht sehr wünschenswert ist. Jedenfalls behindert die
Föderation die Forschung auf diesem Gebiet nicht, aber sie unternimmt auch nichts zu ihrer Förderung. Man könnte sagen, sie toleriert sie.« »Aber der Rat besteht doch auch aus Menschen. Denken sie denn nicht an ihr eigenes Leben?« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht vertrauen sie auf den Langzeitschlaf – auf irgendeine glückliche Zukunft, in der alle diese Probleme gelöst sein werden. Was weiß ich. Manche glauben natürlich auch, daß die, die zu den Auserwählten zählen, Behandlungen erhalten, deren Wirksamkeit unbegrenzt ist. Das kommt mir allerdings ziemlich unwahrscheinlich vor. Ich jedenfalls setze jetzt mehr auf die Biochemie. Die einzelnen Zellen. Wenn man sie von Verfallsprodukten freihält, lösen sich manche anderen Probleme von selbst. Vor einigen Jahren habe ich auf diesem Gebiet einige Verbesserungen eingeführt. Und ein Ergebnis davon war die augenblickliche Verbesserung meines eigenen Zustands. Tatsächlich habe ich es diesem Zustand zu verdanken, daß mein Körper jetzt noch so gut funktioniert.« »Haben Sie das irgendwo veröffentlicht?« erkundigte sich Nila. »Nicht unter meinem Namen. Diesen Teil der Angelegenheit hat die Universität erledigt. Ich habe die biochemische Forschung weitergeführt, aber seitdem habe ich auch ganz andere Wege verfolgt. Dabei ist
mir mehrfach der Gedanke gekommen, daß unsere Instinkte offenbar dagegen sind, daß wir unbegrenzt weiterleben.« Sie runzelte die Stirn. »Was hat Sie auf diesen Gedanken gebracht?« »Einmal die Tatsache, daß wir im allgemeinen keine sehr großen Anstrengungen auf diesem Gebiet machen. Eine erstaunliche große Anzahl meiner früheren Kollegen ist bei den Behandlungen ausgeschieden, nur weil sie es vergaßen oder ablehnten, die dafür erforderlichen, relativ einfachen Dinge zu tun. Es kam mir so vor, als ob sie zu dem Entschluß gekommen wären, daß es sich nicht lohnte.« »Übertreiben Sie nicht ein wenig?« fragte Nila zweifelnd. »Nein. Das Bild wiederholt sich häufig. Unsere Instinkte akzeptieren den Zyklus von Leben und Tod, selbst wenn wir uns bewußt dagegen sträuben. Das Individuum ist für die Rasse nur bis zu seiner Reife interessant. Es wird von den Instinkten so lange unterstützt, bis es seinen genetischen Beitrag geliefert hat. Dann beginnen die eigenen Instinkte, es hinabzuziehen. Wenn wir eines Tages eine Methode entwickeln könnten, mit der sich Leben und biologische Jugend ohne Anstrengung erhalten ließen, sähe die Sache anders aus. Langzeitschlaf liefert zur Zeit nur eine Illusion davon. Dadurch wird das eigentliche Problem nur verschleiert.
Ich bin auf den Gedanken gekommen, daß die Lebensverlängerungsforschung im wesentlichen durch die Instinkte behindert wird. Ich bin mir heute noch nicht sicher ... aber wir sollten auf diesem Gebiet tatsächlich weiter sein. Deshalb habe ich mich entschlossen, bei Leuten weiter nachzuforschen, die an der Erforschung von weniger leicht zugänglichen Teilen des Gehirns interessiert sind ...« Er war auf zwei Personengruppen gestoßen, die als Nebenprodukte ihrer Experimentiertätigkeit lebensverlängernde und verjüngende Wirkungen zu verzeichnen hatten. Die eine war die Psychovariant Vereinigung. Nila wußte über ihre Arbeit nur das, was in den Periodikas, die sie regelmäßig las, veröffentlicht worden war. Sie benutzten verschiedene Verfahren zur Erweiterung und Modifikation geistiger Erfahrungen. »Arbeiten sie nicht auch viel mit synthetischem Material?« fragte sie. Ticos nickte. »Ja, und zwar verwenden sie es nicht nur als Ersatz für ausgefallene Organe, sondern auch zur Verbesserung von gesunden Organen. Das gehört eben zu ihrer Einstellung, die ich nicht teilen kann. Aber sie haben geistige Übungsverfahren entwickelt, die auf eine emotionale Beeinflussung abzielen. Lebensverlängerung ist dabei für sie nur von sekundärem Interesse, doch es liegen genügend Beweise vor, daß die Übungen diesem Zweck förderlich sind ...«
Bei dem anderen Projekt handelte es sich um einen Zweig des Psychologischen Dienstes der Föderation. Das Ziel war die totale Erforschung der Psyche und der Erwerb bewußter Kontrolle über das unbewußte Potential. Die Methoden waren sorgfältig ausgearbeitet und bewirkten eine tiefgehende therapeutische Anpassung. Das Ergebnis war häufig eine physische Regeneration – und zwar wiederum als Nebenprodukt und nicht als Hauptziel. Ticos fand, daß auch dieses Projekt über seine eigenen Ziele hinausging. Seine Interessen waren nach außen gerichtet; sein Geist diente ihm dabei als wirksames Instrument, und mehr verlangte er von ihm nicht. Beide Organisationen waren jedoch in ihrer Zielsetzung ebenso definitiv auf die Überwindung der normalen menschlichen Grenzen ausgerichtet wie die Lebensverlängerungsforschung. Sie waren sich der inhärenten Widerstände, auf die Ticos gestoßen war, bewußt und hatten Methoden zu ihrer Überwindung entwickelt. »Das Ganze beruht auf psychosomatischer Wechselwirkung«, sagte er. »Ich kann lernen, instinkthafte Einflüsse sowohl in meinem Geist wie auch in damit verbundenen physischen Prozessen zu erkennen und zu kontrollieren. Und das ist das, was ich angefangen habe zu lernen.« Er hatte sein Problem Mitgliedern beider Gruppen
dargelegt, und man hatte für ihn einen modifizierten individuellen Übungsplan ausgearbeitet. Er hatte diese Übungen in geistiger Kontrolle zuerst unter Anleitung seiner Mentoren durchgeführt, bis sie zu der Ansicht gelangten, daß er sie allein fortsetzen könne. Dann hatte er seine Forschungsarbeit an der Universität abgeschlossen. Er wollte seine Suche nach wirksameren biochemischen Seren fortsetzen; er war jetzt davon überzeugt, daß dies der Weg war, der zum Erfolg führen würde. »Wenn es einem gelingt, den Einfluß der Instinkte auszuschalten, ist man vielleicht bald am Ziel!« »Unsterblichkeit?« fragte Nila. Er zeigte sein knappes Lächeln. »Lassen wir es für den Anfang mal bei tausend Jahren bewenden.« Sie lächelte zurück. »Ich glaube es Ihnen beinahe, Ticos! Aber was hat das Einsiedlerdasein auf dem Treibholz mit der ganzen Sache zu tun?« »Nandy-Cline ist offenbar eine Brutstätte des Lebens. Ich habe eine allgemeine Vorstellung von der Art der Substanzen, nach denen ich als nächstes suchen werde, und die Wahrscheinlichkeit, sie hier zu finden, ist mindestens ebenso groß wie sonst irgendwo.« Nila nickte. »Man findet hier fast alles. Aber weswegen wollen Sie ganz allein dort hinausziehen?« »Geplante Einsamkeit«, antwortete Ticos.
»Wozu brauchen Sie die?« »Für meine geistigen Übungen. Sagt Ihnen das etwas, wenn ich Ihnen erkläre, daß ich mich mit diesen Übungen auf ein Terrain begebe, das außerhalb der normalen geistigen Struktur der Gattung Mensch liegt?« Sie überlegte. »Nein, nicht viel. Es handelt sich wohl um sehr fortgeschrittene Übungen, oder?« »Das hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Die Leute, mit denen ich zu tun hatte, betrachten sie als Grundübungen. Trotzdem sind es sehr schwierige Dinge. Die geistige Struktur der Menschen um einen herum dringt durch in die eigene, und wenn es sich um starke Menschen handelt, reißen sie einen aus dem, was man gerade tut, heraus. Deshalb ist es notwendig, daß ich den Umgang mit Menschen so lange auf das Minimum reduziere, bis ich in diesen Praktiken genügend gefestigt bin.« Nila zuckte mit den Schultern. »Das geht offenbar über meinen Verstand. Aber trotzdem ... können Sie nicht einfach in einen Raum gehen und hinter sich die Tür zumachen?« »Nein, das reicht nicht aus. Physischer Abstand ist erforderlich.« »Und für wie lange?« »Schätzungsweise drei bis vier Jahre, hat man mir gesagt.«
»So lange wollen Sie auf dem Treibholz bleiben?« »Ja. Das wird mein Arbeitsplatz sein und zugleich die Bezugsquelle für mein Material. Ich kann nicht irgendwo hinaus in den Weltraum flüchten und weiterhin Forschungsarbeit betreiben. Und ich denke, daß man die Gefahren, die auf mich zukommen können, durch angemessene Vorkehrungen auf ein akzeptables Maß reduzieren kann. Ein gewisses Maß an Gefahr ist nur gut.« »Inwiefern?« »Drohende Gefahr rüttelt den Menschen wach. Die zugrunde liegende Vorstellung ist die, vollkommen wach und lebendig zu sein – nicht irgendwo abgeschlossen hinter einer wirklichen oder symbolischen Schale.« Nila dachte darüber nach. »Das erscheint mir verständlich«, meinte sie. Dann sagte sie zögernd: »Wie ist Ihr gegenwärtiger körperlicher Zustand? Sie sehen zwar gesund aus, aber ...« »Ich bin jetzt gesünder als vor zehn Jahren.« »Sie brauchen keine ärztliche Pflege?« »Ich habe seit Jahren keine mehr benötigt. Einmal ist eine Arterie durch eine gezüchtete ersetzt worden – das ist schon eine ganze Weile her. Doch abgesehen von ein paar kleineren Ausbesserungen, die etwa zur gleichen Zeit oder noch früher gemacht worden sind, sind meine inneren Einrichtungen ansonsten noch die
eigenen. In dieser Hinsicht besteht kein Grund zu Besorgnis.« Nila seufzte. »Trotzdem werden wir Parrol davon überzeugen müssen, daß es kein geplanter Selbstmord ist. Aber Sie können sich als akzeptiert betrachten, Ticos. Fordern Sie ein hohes Gehalt und legen Sie Ihre Bedingungen fest, einschließlich Ihres Interesses an der Auffindung eines lebensverlängernden Serums. Wenn das geregelt ist, werde ich Sie mit den Schwierigkeiten vertraut machen, denen Sie auf Ihrer Insel wahrscheinlich begegnen werden. Dazu reichen ein paar Tage nicht aus. Ich werde Sie wochenlang vorbereiten und instruieren müssen.« Ticos meinte augenzwinkernd: »Deswegen bin ich ja hier.« Sie machte es ihm während des Lehrgangs nicht leicht. Doch Ticos war ein ebenso gelehriger Schüler, wie er ein guter Lehrer gewesen war. Er besaß einen wachen, interessierten Geist und ein außerordentlich aufnahmefähiges Gedächtnis. Körperlich erwies er sich als zäh und elastisch. Nila sorgte dafür, daß seine Überlebenschancen ständig zunahmen, obwohl sie darüber kein Wort verlor. Einige Dinge konnte sie ihm allerdings nicht beibringen. Seine Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen war begrenzt. Er lernte
es, einen Klettergurt einigermaßen sicher zu benutzen; doch wirkliche Fertigkeit im Umgang mit diesem Gerät erforderte lange Übung. Sie versuchte gar nicht erst, ihn in Tauchpraktiken zu unterweisen. Je weniger er mit den Gewässern um die Treibholzinseln in Berührung kam, um so besser. Sie sahen sich im Meralstrom verschiedene Treibholzinseln an und entschieden sich schließlich für einen größeren Inselkomplex, der allen Anforderungen zu entsprechen schien. Ein Schuppen wurde errichtet, der als Wohnraum, Laboratorium und Lagerraum diente und Ticos' Ausrüstung aufnahm. Eine Zucht zweieinhalb Meter großer Protohome und Kulturen von Gigazellen sollten ihm als wichtigstes Testmaterial dienen; beinahe jede bekannte menschliche Reaktion konnte in ihnen künstlich ausgelöst werden, und zwar gewöhnlich in einem viel kürzeren Zeitraum. Die Unterkunft war sorgfältig getarnt. Erntetrupps der Schlittenleute würden wahrscheinlich von Zeit zu Zeit in die Nähe der Insel kommen, und Ticos wollte mit ihnen nicht allzu häufig Berührung haben. Wenn er sich während der Anwesenheit solcher Besucher in seiner Unterkunft aufhielt, würden sie keine Notiz von ihm nehmen. Er besaß einen Kommunikator mit einem codifizierten Rufsignal. Wenn er sich nicht selbst mit ihr in Verbindung setzte, sollte Nila ihn im Abstand von
acht Wochen aufsuchen, um abzuholen, was er für das Giard-Laboratorium gesammelt hatte, und um ihn mit Nachschub zu versorgen. Er wünschte niemanden sonst zu sehen. Parrol schüttelte über diese Abmachungen den Kopf, doch Nila hatte nichts dagegen einzuwenden. Sie stellte fest, daß sie sich nach und nach für diese Sache engagiert hatte. Wenn Ticos Cay den Sprung in ein immerwährendes Leben wagen wollte, statt dahinzusiechen oder in Langzeitschlaf zu versinken, wollte sie ihm dabei den Rücken stärken, wie immer die Sache auch ausgehen mochte. Bis jetzt hatte er sich jedenfalls gut gehalten. Denn allen Erwartungen zum Trotz hatte er sich in seiner neuen Umgebung behauptet, schien an seinem Einsiedlerdasein Gefallen zu finden und war vollkommen vertieft in seine Arbeit. Das Giard-Büro war mit seinen zweimonatlichen Berichten sehr zufrieden. Auszüge davon gingen direkt an seine Universitätskollegen, die sein Projekt weiterführten. Sie waren ebenfalls äußerst zufrieden. Als Nila ihn zuletzt besucht hatte, trieb er seit achtzehn Monaten auf dem Meralstrom dahin, sah gesund und munter aus und wollte mindestens noch einmal so lange dort bleiben. Er berichtete Nila, daß er in seinen mentalen Übungen gut vorangekommen sei ...
3 In der Zentralkabine, zu der Jath Nila führte, warteten drei Männer. Zwei von ihnen kannte sie von früher her, Fiam und Pelad. Beide waren Vennmitglieder, Angehörige der Venntar-Flotte, der höchsten Autorität bei den Schlittenmännern. Es waren alte Männer, die früher Schlittenkapitäne gewesen waren. Ihre runzligen, sonnenverbrannten Gesichter trugen einen gelassenen Ausdruck; doch die Verantwortung lastete auf ihnen. Auf einem Schlitten galt das Wort eines Vennmitglieds mehr als das des Kapitäns. Der dritte war Doncar, der Kapitän des Schlittens. Er war im Verhältnis zu seinem Rang ziemlich jung und machte einen angespannten und verärgerten Eindruck, den er zu unterdrücken versuchte. Im Augenblick war er todmüde, doch er unterdrückte auch die Müdigkeit. Jath schloß hinter Nila und der Otter die Tür und nahm in der Nähe Doncars Platz. Sie besaß hier fast so viel Autorität wie die drei Männer, denn sie hatte vier Jahre lang auf einer Zentral-Universität studiert und sich dort ein technisches Wissen angeeignet, das für ihr Volk von großem Nutzen war. Unter den Schlittenleuten hatten nur wenige Nandy-Cline jemals verlassen. Ihre Vorfahren waren freie Weltraum-
fahrer gewesen, die sich Generationen vor der Ankunft der ersten Föderationskolonisten auf dieser Wasserwelt niedergelassen hatten. Durch ein Abkommen mit der Föderation durften sie ihre Unabhängigkeit und ihre ursprünglichen Seerechte behalten. Dennoch war es in der Vergangenheit zu einem offenen Konflikt zwischen den Flotten und den Festlandgruppen gekommen, und die Schlittenleute waren gegen das Festland und seine Art des Vorgehens traditionsgemäß mißtrauisch gestimmt. Ungeduld regte sich in Nila, doch sie wußte, daß es besser war, diese Leute nicht zu drängen. Sie beantwortete Pelads Fragen und wiederholte dabei im wesentlichen das, was sie Jath bereits erzählt hatte. »Sie wissen nicht genau, wo sich Dr. Cay im Augenblick befindet?« fragte Pelad. Ticos war für die Schlittenleute, die von seinem Projekt wußten, zu einer Art legendären Gestalt geworden. Nila schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er sich im Umkreis von fünfhundert Kilometern aufhält«, meinte sie. »Dies ist lediglich das Gebiet, in dem man am ehesten die Suche nach ihm aufnehmen kann. Wenn es an der Zeit war, ihn zu besuchen, habe ich gewöhnlich Kontakt mit ihm aufgenommen, und er hat mir seine Position durchgegeben. Doch dieses Mal hat er das Rufsignal nicht beantwortet.« Sie fügte
hinzu: »In den letzten Wochen sind natürlich bis zum Festland hin überall erhebliche Kommunikationsstörungen aufgetreten. Aber Dr. Cay hätte mein Signal trotzdem von Zeit zu Zeit empfangen müssen. In den letzten Tagen habe ich immer wieder versucht, zu ihm durchzukommen.« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann sagte Pelad: »Dr. Etland, weiß das Festland, wodurch die Störungen verursacht werden?« Die Frage überraschte und irritierte sie zugleich. Die Störungen waren nichts Neues, ihre Ursache war bekannt. Der Fixsterntypus, der dazu neigte, Wasserwelten zu produzieren, tendierte auch dazu, atmosphärische Störungen hervorzubringen. Auf NandyCline und in seiner Umgebung waren die Kommunikationssysteme, die in der Föderation sonst in Gebrauch waren, selten funktionsfähig. Um mit diesem Problem fertig zu werden, hatte man einige völlig neue Systeme entwickelt und miteinander kombiniert. Darunter war die Nahkontaktfrequenz mit ihren beschränkten Möglichkeiten fast das einzige, das mit einiger Sicherheit funktionierte. Pelad und die anderen hier wußten das ebensogut wie sie. Nila sagte: »Soviel ich weiß, sind darüber keine besonderen Nachforschungen angestellt worden. Messen die Schlittenleute den Störungen denn irgendeine ungewöhnliche Bedeutung bei?«
»Darüber gibt es zwei Ansichten«, antwortete Jath. »Die eine davon ist, daß einige der ständigen Kommunikationsstörungen auf gromgorru zurückzuführen sind. Absichtlich von einer unbekannten, vielleicht auch übernatürlichen Macht hervorgerufen ...« Pelad warf Jath einen Blick zu und sagte dann zu Nila: »Der Venntar hat beschlossen, darüber Stillschweigen zu bewahren. Doch junge Münder plaudern gern. Vielleicht allzu gern. Vielleicht haben wir Gründe zu der Annahme, daß sich etwas im Meer befindet, das die Menschen haßt. Es gibt einige, die im Aufruhr, der unsere Instrumente untauglich macht, Stimmen hören. Sie sagen, es sei ein Gesang von Haß und Angst.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich möchte nicht sagen, was ich darüber denke, solange ich noch nicht genau weiß, was ich denken soll.« Er schaute Fiam an. »Das beste wäre Stillschweigen darüber gewesen, aber es ist gebrochen worden. Dr. Etland ist ein alter Freund der Schlittenleute.« Fiam nickte. »Lassen Sie den Kapitän zu unserem Gast darüber sprechen.« Doncar lächelte kurz. »So wie ich es sehe?« »Wie Sie es sehen, Doncar. Wir kennen Ihre Ansichten. Wir werden zuhören.« »Nun gut.« Doncar wandte sich Nila zu. »Dr. Etland, Sie sind einiges gefragt worden und haben keine Erklärung dafür bekommen. Gestatten Sie mir eine
weitere Frage. Ist es möglich, daß menschliche Wesen derlei Störungen verursachen?« »Indem sie die solaren Einflüsse verstärken?« Nila überlegte, dann nickte sie. »Möglich wäre es. Haben Sie Gründe zu der Annahme, daß dem so sei?« »Einige von uns glauben es«, antwortete Doncar trocken. »Wir haben Leute verloren.« »Verloren?« »Sie verschwinden ... Arbeitsgruppen, die auf einer Treibholzinsel Ernte einbringen – kleinere Schlitten und Unterseeboote, die in die Nähe von Inseln kommen. Später findet man keine Spur mehr von ihnen. Immer, wenn so etwas passierte, war die Kommunikation in dem betreffenden Gebiet vollständig gestört.« »Um die Männer daran zu hindern, über die Angreifer zu berichten?« »Das nimmt man an«, sagte Doncar. »Es geschah zu regelmäßig, als daß man an Zufälle glauben könnte. Sie verstehen, Dr. Etland, daß es sich hier um ein Problem handelt, von dem nicht nur die SotiraSchlitten betroffen sind. In letzter Zeit sind aus anderen Teilen des Ozeans ähnliche Fälle von spurlosem Verschwinden in der Nähe von Treibholzinseln bekannt geworden.« Während Nila sich nach Einzelheiten erkundigte, begann ihr Gehirn fieberhaft zu arbeiten. Sie und Par-
rol waren als hervorragende Störungssucher bekannt. Sie betrachteten dies als einen Teil ihrer Arbeit; es lag in Giards Interesse, auf Nandy-Cline laufende Experimente so glatt wie möglich durchzuführen. Die Schlittenleute hatten in der Vergangenheit ebenso davon profitiert wie das Festland. Und mit Störungen – von Menschen verursachten Störungen – mußte man immer rechnen. Die üppigen Naturprodukte des Planeten verführten dazu ... besonders wenn irgendeine neue Entdeckung gemacht worden war, die geheimgehalten werden sollte. Es konnte sich jetzt durchaus um eine solche Störung größeren Umfangs handeln. Die Fälle von spurlosem Verschwinden waren zuerst nördlich des Äquators aufgetreten und hatten sich dann nach Süden in den Bereich der Schlittenleute fortgepflanzt. Das Ganze hatte vor etwa drei Monaten begonnen. Und der beabsichtigte Zweck, dachte sie, war dann auch genau erreicht worden – daß sich nämlich die Schlittenleute von den Inseln fernhielten. Und zwar so lange, daß derjenige – wer immer es war –, der hinter dem Manöver steckte, Zeit genug hatte, sich die von ihm entdeckten kostbaren Elemente oder Drogen zu verschaffen und damit zu verschwinden. Von den hiesigen Organisationen war keine groß genug, um ein solches Unternehmen durchzuführen. Doch eine hiesige Organisation, die von einem Zen-
tral-Syndikat unterstützt wurde, wäre durchaus in der Lage ... Gromgorru? Nila hielt nichts von dieser Auffassung. Der Planet Nandy-Cline war nur oberflächlich erforscht; große Teile des Ozeans waren auf keiner Karte verzeichnet. Dennoch konnte sie nicht an unbekannte böse Mächte glauben. Ihrer Erfahrung nach steckte hinter jeder Störung ein menschlicher Anstifter. Die anderen hier waren sich dessen nicht so sicher. So etwas wie abergläubische Furcht lastete unausgesprochen, aber schwer in der Atmosphäre dieser Kabine, in welcher der Boden bebte und der Taifun dumpf heulend gegen die Außenwände schlug. Sie hatte den Eindruck, daß Doncar und Jath nicht ganz frei von dieser Furcht waren. Jath hatte sich einen unter den Schlittenleuten ungewöhnlichen Grad an Intellektualismus angeeignet. Doch sie war und blieb eine Angehörige des Volkes der Schlittenmänner, das seit Jahrhunderten die fremden Mysterien des Ozeans und des Weltraums in sich aufgesogen hatte. Das Leben im Weltraum und auf dem Meer hatte nicht gerade ein furchtsames Volk hervorgebracht. Aber es hatte Menschen geschaffen, die nicht ohne weiteres von ihrem Weg abweichen würden, um sich mit Kräften zu messen, die sie nicht verstehen konnten. Nila sagte zu Pelad: »Sie haben von Leuten gespro-
chen, die Stimmen des Hasses hören, sobald die Kommunikation aussetzt.« Die Augen des Venn-Mitglieds flackerten einen Moment lang. Dann nickte er. »Verbinden die Hellsichtigen –« Nila gebrauchte den Ausdruck der Schlittenleute für Psi-Sensitive, »diese Stimmen mit den Fällen von spurlosem Verschwinden in der Nähe der Treibholzinseln?« Pelad zögerte und sagte dann: »Nein, nicht definitiv.« »Sie haben nicht gesagt, daß es sich um Dinge handelt, mit denen Menschen nicht umgehen können?« »Das haben sie nicht gesagt«, gab Pelad zu. »Sie wissen es nicht genau. Sie wissen nur das, was sie uns gesagt haben.« Die Hexenmeister hatten also gerade so viel gesagt, daß man sämtliche Aktionen einstellte. »Dann handelt es sich hier also um zweierlei«, sagte Nila. »Einmal um das, was die Hellsichtigen spüren. Zum anderen um eine menschliche Kraft, die für die gegenwärtigen Störungen auf den Inseln verantwortlich ist. Was geschieht, wenn die Schlittenleute erfahren, daß dies der Fall ist?« Doncar antwortete: »Wir verfügen auf diesem Schlitten über sechs Raumkanonen, Dr. Etland, und auch über Leute, die damit umgehen können.« »Ich selbst gehöre dazu«, sagte Pelad.
Fiam fügte hinzu: »Nicht weit von hier halten sich zwei weitere Sotira-Schlitten auf. Jeder ist mit vier Raumkanonen ausgerüstet – alten Kanonen zwar, die aber bestens funktionieren.« Er lächelte Nila kurz an. »Das Festland kann auf sie zurückgreifen.« »Einverstanden«, sagte Nila. »Werden Sie kämpfen, wenn Sie wissen, daß Sie nicht gegen Gromgorru kämpfen?« »Gegen Menschen werden wir kämpfen«, antwortete Pelad. »Wir haben immer gegen Menschen gekämpft, wenn es nötig war. Aber es wäre unklug, blindlings eine Macht anzugreifen, der Waffen nichts anhaben können und die vielleicht imstande ist, die Schlitten einfach vom Meer zu fegen.« Seine Miene verdüsterte sich wieder. »Manche glauben, daß eine solche Macht sich nicht weit von hier entfernt aufhält.« Nila sagte sich, daß dies der Punkt sei, an dem Vorsicht geboten war. Doch sie konnte mit dem Verlauf des Gesprächs soweit zufrieden sein. Die VennMitglieder waren innerlich zum Kampf entschlossen, wenn sich ihnen ein Feind zeigte, dem man mit Waffen begegnen konnte. Es war noch zu früh, sie zu einer Zusammenarbeit mit den Regierungsstellen des Festlandes aufzufordern. Ihr Mißtrauen saß zu tief. Fünf Minuten später wußte Nila, was sie zu tun hatte. Sie mußte als erstes Ticos aus dem Gefahrenbe-
reich herausholen. Der große Inselverband, nach dem sie gesucht hatte, trieb hundert Kilometer weiter südlich. Ein Kutter der Sotira-Flotte wurde seit einigen Tagen vermißt, und die letzten Meldezeichen, die er ausgesandt hatte, deuteten darauf hin, daß er möglicherweise vom Sturm zu nahe an den Inselbereich herangetrieben worden und ein weiteres Opfer der bedrohlichen Macht geworden war, die die Inselgewässer unsicher machte. Doncars Schlitten hatte in der Nähe des Inselverbands nach dem Kutter gesucht, doch nichts entdeckt, das über den Verbleib des Kutters hätte Aufschluß geben können. Schließlich hatte man die Suche aufgegeben. Da sich im Umkreis von dreihundert Kilometern keine größeren Treibholzinseln befanden, mußte diejenige, auf der Ticos an seinem Projekt arbeitete, zu diesem Inselverband gehören. Das war so gut wie sicher. Wenn sich Nila auf der Stelle in ihr Luftfahrzeug setzte, würde sie die Insel, solange es noch hell war, identifizieren können. Ein größeres Risiko war damit nicht verbunden. Luftfahrzeuge waren bisher nicht verschwunden, und sie besaß ein schnelles Sportmodell. Beim ersten Anzeichen einer Bedrohung würde sie abdrehen. Wenn sich nichts rührte, würde sie über Nahkontakt mit Ticos Verbindung aufzunehmen suchen, um zu erfahren, wie die Lage dort unten war. Sie konnte ihn innerhalb einer Stunde herausgeholt haben.
Wenn das nicht möglich war, konnte sie wegen ihrer unzureichenden Ausrüstung kaum viel mehr unternehmen; in jedem Fall brauchte sie Verstärkung, bevor sie herauszufinden versuchte, wodurch die Treibholzinseln in Todesfallen verwandelt worden waren. Sie fragte: »Können Sie für mich eine Nachricht an das Festland durchgeben?« Alle nickten, die Venn-Mitglieder allerdings zögernd. Jatz meinte: »Das kann mehrere Stunden dauern. Aber bis jetzt ist es den Flotten immer gelungen, durch Störungsgebiete hindurch Nachrichten zu übermitteln.« »Um was für eine Nachricht handelt es sich, Dr. Etland?« fragte Fiam. »Und an wen ist sie gerichtet?« »An Danrich Parrol«, antwortete Nila. »Die GiardStation wird ihn ausfindig machen.« Sie durfte in der Nachricht nicht allzu deutlich über die GromgorruGeschichte sprechen, sonst würde sie abgefangen werden, bevor sie das Festland erreichte. »Geben Sie Parrol die Position des Inselverbands südlich von hier durch. Ich werde dort auf ihn warten. Sagen Sie ihm, daß ich vielleicht Schwierigkeiten haben werde, Dr. Cay von seiner Insel herunterzuholen. Parrol soll die gesamte Ausrüstung für die Störungssuche mitbringen –« »Und Spiff!« warf eine dünne Stimme aus der Ecke des Raums mit Nachdruck ein.
Die Schlittenleute fuhren erschrocken herum. Sweeting blinzelte sie an und begann desinteressiert ihren Brustpelz zu lecken. Leute, die Sweeting nicht gut kannten, waren häufig erstaunt über das Ausmaß, in dem sie den Einzelheiten menschlicher Unterhaltung zu folgen vermochte. »Ja natürlich, und Spiff«, stimmte Nila zu. »Wenn wir herausfinden, was bei den Treibholzinseln los ist, werden wir sofort versuchen, Sie zu benachrichtigen.« Fiam nickte. »In sechs Stunden wird ein Rennschlitten bei den Inseln sein. Über Nahkontakt müßten eigentlich alle Nachrichten durchkommen. Code SotiraDoncar, auf der Frequenz der Schlittenleute ...« »Der Großpalach Koll«, sagte das Ungeheuer auf der Plattform, »hat die Ewiglebenden überredet, ihm die Überprüfung der Tuvela-Theorie zu gestatten.« Ticos Cay antwortete nicht gleich. Sein Besucher war der Palach Moga, der zu den Ewiglebenden gehörte, jedoch einen niedrigeren Rang als die Großpalache einnahm. Äußerlich war er eine Mischung zwischen diesen und den Oganoon, an Größe und Gewicht etwa Ticos gleich. Moga hockte nicht, sondern stand aufrecht auf seinen langen, gestreckten Sprungbeinen, und wenn er ging, hielt er sich ebenfalls aufrecht und machte kurze, unbeholfene Schritte.
Ein enganliegender Harnisch aus kompliziert verflochtenen Silberbändern umschloß seinen Rumpf. Während der Vorgänge hier waren er und Ticos zu vorsichtigen Verbündeten geworden. Ticos war sich bewußt, daß dieses Bündnis von sehr kurzer Dauer sein konnte. »Ich hatte den Eindruck«, sagte Ticos zu Moga, »die Stimme der Vorsicht könne verhindern, daß den leichtsinnigen Forderungen des Großpalachs Gehör geschenkt wird.« Mogas Sprechschlitz zitterte vor Erregung. »Bis jetzt war es auch so«, sagte er. »Aber der Großpalach hat die Herrschaft über die Stimme der Aktion übernommen. Er hat seinen Vorgänger einer Gesetzesübertretung angeklagt, und die Ewiglebenden fanden die Anklage stichhaltig. Dem Vorgänger wurde der einem Palach angemessene Tod zugebilligt. Sie müssen wissen, daß Kolls Forderungen in seiner neuen Position nicht mehr übergangen werden können.« »Ich verstehe ...« Beförderungen kamen bei den Dämonen meist auf gewaltsame Weise zustande. Die bevorzugten Methoden waren eine ritualisierte Form des Mords und der Nachweis, daß ein Vorgesetzter sich einer Gesetzesübertretung schuldig gemacht hat. Beide liefen praktisch auf das Gleiche hinaus. Ticos schluckte. Das war schlecht, sehr schlecht ... Er lehnte
sich gegen den Arbeitstisch, um sich nicht anmerken zu lassen, daß seine Knie zitterten. »Auf welche Weise will der Großpalach die Tuvela-Theorie überprüfen?« »Die Wächterin Etland versucht wieder, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen«, antwortete Moga. »Ja, ich weiß.« Der Kommunikator in dem abgeteilten Ende des Raums hatte in der letzten halben Stunde ein halbes dutzendmal Signale abgegeben. »Die Signale kommen aus dem Kambi-Kanal«, erklärte Moga. Die Nahkontaktwelle! Ticos sagte mit belegter Stimme: »Sie befindet sich bereits in diesem Gebiet?« »Könnte sonst jemand hier nach Ihnen suchen?« »Nein.« »Dann ist es die Wächterin. Im Luftraum über uns ist ein menschliches Luftfahrzeug gesichtet worden. Es ist sehr klein, aber es setzt sich gegen den Sturm durch. Es entfernt sich und kommt dann wieder zurück.« »Die Gestalt der Inseln hat sich verändert, seit sie das letzte Mal hier war«, sagte Ticos. »Vielleicht hat sie noch nicht feststellen können, auf welcher der Inseln sie mich suchen soll.« Hastig fügte er hinzu: »Das gibt uns die Chance, Kolls Aktionen zuvorzukommen! Ich kenne die Codenummer der Wächterin –«
Moga stieß einen Pfiff aus, der absolute Verneinung bedeutete. »Im Augenblick ist es völlig ausgeschlossen, daß Sie Ihren Kommunikator benutzen«, erklärte er. »Ich würde dafür mit meinem Leben bezahlen, wenn ich es ohne ausdrückliche Genehmigung der Ewiglebenden zulassen würde. Man wird Koll seinen Plan durchführen lassen. Er hat eine Testserie zusammengestellt, durch die er herausfinden will, ob eine Tuvela tatsächlich ein solches Wesen ist, wie es nach der Tuvela-Theorie angenommen wird. Der erste Test wird durchgeführt werden, während die Wächterin sich noch in der Luft befindet. In einem bestimmten Augenblick wird der Großpalach eine Vorrichtung betätigen, die auf ihr Fahrzeug gerichtet ist. Wenn sie prompt und korrekt reagiert wird ihr Fahrzeug zwar eingefangen werden, aber sie selbst wird unversehrt bleiben. Wenn sie nicht prompt und richtig reagiert, wird sie auf der Stelle sterben.« Moga starrte Ticos einen Augenblick lang an. »Ihr Tod würde für die Ewiglebenden bedeuten, daß die Tuvelas die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften nicht besitzen. Die Entscheidung über den Großen Plan ist noch nicht gefallen. Soll die Stimmung wieder zugunsten der Stimme der Vorsicht umschlagen, darf die Wächterin nicht versagen. An ihr wird ihre ganze Rasse gemessen. Wenn sie versagt, übernimmt
die Stimme der Aktion sämtliche Kontrollfunktionen. Nehmen wir an, daß sie den ersten Test besteht. Das Fahrzeug landet an einer Stelle, wo Kolls Leibwache aus Oganoon die Wächterin erwartet. Wenn sie nicht über äußerst wirksame Waffen verfügt, dann muß sie sich ihnen ausliefern. Nehmen wir an, sie liefert sich nicht aus und wird getötet, wird man darin ebenfalls ein Versagen sehen. Einer Tuvela dürften derartige Fehler nicht unterlaufen. Eine Tuvela würde sich ausliefern und günstigere Gelegenheiten zum Handeln abwarten.« Ticos nickte langsam. »Werde ich mit der Wächterin sprechen können, wenn man sie gefangengenommen hat?« »Nein, Dr. Cay. Nur der Großpalach Koll wird mit der Wächterin nach ihrer Gefangennahme sprechen. Die Prüfungen werden sogleich fortgesetzt und immer weiter verschärft werden, bis die Wächterin daran entweder zugrunde geht oder den Ewiglebenden die Gültigkeit der Tuvela-Theorie über alle Zweifel hinaus beweist, mitsamt den dazugehörigen Implikationen – nämlich daß die Tuvelas individuell und als Rasse der Faktor sind, der uns veranlassen muß, selbst in diesem letzten Moment noch den Großen Plan aufzugeben. Koll ist felsenfest davon überzeugt, daß die Wächterin versagen wird. Wenn sie versagt, hat er bewiesen, daß er recht hat. Dann werden die
Ewiglebenden nicht länger zögern und die letzte Phase des Großen Plans einleiten.« »Der Großpalach möchte also kurz gesagt die Tuvela-Theorie widerlegen, indem er zeigt, daß er die Wächterin zu Tode foltern und seiner Trophäensammlung eingliedern kann?« fragte Ticos langsam. »Ja, so hat er es angekündigt. Die Folterung gehört bei uns allerdings als bewährtes Testverfahren zur Tradition.« Ticos starrte ihn an und versuchte dabei, sein tiefes Mißbehagen zu verbergen. Dagegen ließ sich kein Argument anführen. Zu dieser Denkungsart waren sie konditioniert. Bevor jemand Palach wurde, unterzog man ihn Folterungen, die nur wenige überlebten. Und während er zur höchsten Daseinsform eines Großpalachs aufstieg, wurde er wieder und wieder getestet. Dies war ihre Art von Auslese- und Beurteilungssystem. Ticos hatte einen Großteil von ihnen davon überzeugen können, daß die Tuvelas das menschliche Gegenstück zu ihnen darstellten, wenn nicht gar mehr. Einige von ihnen glaubten sogar, daß die Tuvelas dem größten der Großpalache überlegen seien – Gegner, die man auf keinen Fall herausfordern dürfe. Koll arbeitete nun darauf hin, Ticos' Gedankengebäude zum Einsturz zu bringen ... »Ich werde Sie über die Geschehnisse auf dem laufenden halten, Dr. Cay«, sagte Moga abschließend.
»Falls Ihnen irgend etwas einfällt, das in dieser Situation von Nutzen sein könnte, benachrichtigen Sie mich sofort. Ansonsten sehen wir im Augenblick keine Möglichkeit, Kolls Plan zu verhindern – es sei denn, die Wächterin selbst ist dazu imstande. Hoffen wir es.« Der Palach drehte sich um und stolzierte den Gang hinunter zur Tür. Ticos starrte ihm nach. Hilflosigkeit lähmte seinen Körper. Er zweifelte nicht daran, daß Nila Etland in dem bewußten Luftfahrzeug saß – und dabei hatte er all seine Hoffnung darauf gesetzt, daß sie nicht jetzt kommen würde. Wenn er nur noch zwei Wochen Zeit gehabt hätte, dann hätte er die Ewiglebenden durch die Stimme der Vorsicht vielleicht dazu bewegen können, den geplanten Angriff auf Nandy-Cline aufzugeben und den Planeten zu verlassen. Nilas Ankunft hatte nun den Lauf der Dinge beschleunigt, und Koll machte sich dies voll zunutze. Der einzige Weg, auf dem Ticos sie hätte warnen können, war versperrt. Vier Worte hätten ausgereicht, dachte er. Wenn er über den Kommunikator mit ihr hätte sprechen können, hätte Nila nach vier Worten Bescheid gewußt. Er hatte sogar schon Maßnahmen getroffen, die sichergestellt hätten, daß niemand ihn daran hindern würde, wenigstens diese vier Worte auszusprechen.
Doch jetzt – ohne Mogas Hilfe und ohne die Erlaubnis der Ewiglebenden – kam er nicht an den Kommunikator heran. Und zwar nicht allein wegen der Posten, sondern wegen der einfachen, aber niederschmetternden Tatsache, daß die Trennwand dreieinhalb Meter hoch und er körperlich nicht in der Lage war, sie zu überwinden. Wenn Nila ein paar Wochen früher gekommen wäre, hätte er es vielleicht noch geschafft. Doch inzwischen hatte er zu viele von diesen gräßlichen Schmerzbehandlungen über sich ergehen lassen müssen. Und wenn sie ihre Ankunft um zwei Wochen verschoben hätte, wäre es vielleicht nicht mehr nötig gewesen, sie zu warnen. Doch sie war pünktlich wie immer. Zumindest hatte er es zuwege gebracht, daß man sie beim Landeanflug nicht schon in der Luft vernichtete, sagte sich Ticos. Sie hatte eine winzige Chance. Aber für ihn wurde es nun Zeit, an Möglichkeiten der Rettung zu denken – und zwar für sie beide. Er hatte auch hierfür schon Vorkehrungen getroffen. Allerdings nicht sehr zufriedenstellende ... »Hungrig«, piepste Sweeting vom Boden des Luftfahrzeugs her. »Dann verhungere eben«, sagte Nila abwesend. Sweeting öffnete ihre Schnauze und lachte lautlos.
»Landen, ja?« schlug sie vor. »Für Nila einen Skilt fangen, ja? Nila hungrig?« »Nein, Nila ist nicht hungrig. Leg dich wieder schlafen. Ich muß nachdenken.« Die Otter schnaubte, legte den Kopf wieder auf die Vorderpfoten und gab vor, die Augen zu schließen. Die Gattung, der sie angehörte, konnte durchaus das Produkt der Fehlkalkulation eines Genetikers sein. Vor gut zwanzig Jahren war eine Lieferung junger Jagdottern nach Nandy-Cline gekommen. Sie stammten von einem erhalten gebliebenen terranischen Otterstamm ab und waren durch Züchtung zu Meeresbewohnern geworden. Der Küstenfarmer, der die Lieferung erworben hatte, erschrak, als die jungen Ottern einige Monate später in der Zentralsprache mit ihm zu reden begannen. Dieses unerwartete Talent schmälerte keineswegs ihren Wert. Die gesprächigen, verspielten und anhänglichen jungen Ottern wurden weiterverkauft und waren nach weiteren anderthalb Jahren ausgewachsen. Als Jäger oder Treiber und Bewacher der Seeherden leistete jede von ihnen soviel wie ein halbes Dutzend ausgebildete Männer. Die ausgewachsenen Ottern neigten jedoch dazu, früher oder später das domestizierte Leben aufzugeben und frei im Meer zu leben, wo sie sich rasch vermehrten. Schlittenmänner hatten in den letzten Jahren von Begegnungen mit ansehnlichen Stämmen wilder Ottern
berichtet. Sie beherrschten noch immer die Zentralsprache. Nilas Otternpärchen, das sie großgezogen hatte, war jedoch bei ihr geblieben. Sie wußte nicht genau, warum. Vielleicht waren die Ottern von ihren Aktivitäten ebenso fasziniert wie Nila von denen der Ottern. Über bestimmte Dinge konnten sie sich wunderbar miteinander verständigen. Bei anderen wieder zeigte sich zwischen ihren Gedankengängen eine unüberbrückbare Kluft. Nila nahm an, daß die Ottern beträchtlich intelligenter waren, als allgemein vermutet wurde, sie hatte jedoch noch nie versucht, dies nachzuweisen. Sie steuerte auf südwestlichem Kurs eine nicht ganz fünf Kilometer entfernte Treibholzinsel an. Auf dem Vergrößerungsschirm sah sie ganz wie die aus, auf der Ticos Cay sich niedergelassen hatte. Geringfügige Abweichungen waren auf Veränderungen zurückzuführen, die die Vegetation der Insel auf ihrer Wanderung nach Süden durchgemacht hatte. Fünf Waldsektionen waren wie die Spitzen eines Pentagramms um eine Lagune angeordnet, die etwa fünfzehnhundert Meter breit war. Sie sah aus wie ein von Wasserpflanzen überwucherter See. Die Oberfläche war zu einem Drittel mit breiten, dunkelgrünen Blattpflanzen bedeckt. Die Wälder von halb parasitären Gewächsen, die auf den dicken, verschlungenen
Treibholzstämmen wuchsen, ragten hundertachtzig Meter hoch über der Lagune auf und bildeten eine dichte, zähe, lebende Wand. Der Taifun, der über sie dahingerast war, hatte kaum sichtbaren Schaden angerichtet. Unterhalb der Wasseroberfläche waren die einzelnen Waldsektionen der Insel durch dickes Wurzelwerk miteinander verbunden. Die Insel trieb langsam nach Süden; sie wurde an den Außenrändern von schäumender Brandung umspült. Das konnten die Ausläufer der Taifunzone sein. Direkt über dem Luftfahrzeug war der Himmel tiefblau und klar, doch auf allen Seiten trieben Wolkenbänke vorbei, und starke Böen rissen das kleine Fahrzeug noch hin und wieder aus seinem Kurs. Ticos Cays unter Bäumen verstecktes Labor mußte sich im zweitgrößten Teil des Inselverbands befinden, etwa ein Drittel der Gesamtbreite von der Seeseite entfernt. Er antwortete nicht auf die Nahkontaktsignale, aber er konnte trotzdem anwesend sein. Auf jeden Fall war dies der Punkt, wo man die Suche beginnen mußte. Von irgendwelchen Eindringlingen war keine Spur zu entdecken – doch das hatte nicht viel zu besagen. Unter den Schutzdächern der Wälder konnten ganze Armeen verborgen sein. Möglichen Eindringlingen konnte man aber ausweichen. Nila fand, daß sie die Sache ohne Parrol erledigen konnte. Es war inzwischen Spätnachmittag, und
selbst wenn ihre Botschaft ihn ohne Verzögerungen erreichte, würde es mindestens Mitternacht werden, bevor Parrol hier auftauchen konnte. Offen sichtbar auf der Insel zu landen, war natürlich ein zu großes Risiko, obwohl Luftfahrzeuge bisher von Angriffen verschont geblieben waren. Aber sie konnte nach Süden schwenken, dort auf dem Wasser niedergehen und unter Wasser zur Insel zurückkehren. Wenn sie ihre Tauchausrüstung mit Düsenantrieb bei sich gehabt hätte, wäre das Ganze überhaupt kein Problem gewesen. Sie hätte das Fahrzeug einige Kilometer vor der Insel zurücklassen, Ticos in seinem Versteck aufsuchen und ohne Gefahr, von jemandem entdeckt zu werden, heraustransportieren können. Doch sie hatte ihre Tauchausrüstung nicht bei sich. Das bedeutete, daß sie das Fahrzeug unter Wasser ganz nahe an die Insel heranmanövrieren mußte, was eine viel kniffligere Angelegenheit war. Aber es ließ sich ohne weiteres machen. Die unter der Wasseroberfläche treibenden Seetanginseln boten genügend Schutz gegen Ortungsgeräte. Nila überprüfte Kurs und Höhe und blickte dann wieder auf den Vergrößerungsschirm. Unten sah alles normal aus. Schwärme von fliegenden Kestern kreisten über der Lagune. Und links von der Treibholzinsel tauchten an der Meeresoberfläche hin und wieder zwei dunkle, torpedoförmige Körper auf: See-Havale, die
ebenfalls der Gattung der Kestern angehörten, aber flügellose, riesige Gesellen waren, die ihre Rachen mit ganzen Schwärmen von Skilten füllten. Ihre Anwesenheit war ein weiteres Zeichen dafür, daß dies Ticos' Insel war. In der Nähe der von ihm ausgewählten Waldzone hatte sich ein See-Haval-Brutplatz befunden. Ein Warngerät begann zu pfeifen, und dann erhob sich ein dumpfes Dröhnen. Nila sah, wie auf der Skala für den Treibstoffverbrauch die Nadel in den roten Gefahrenbereich hochstieg und sich dem Explosionspunkt näherte, während ihre Hand vorschnellte und den Antrieb ausschaltete. Der schrille Pfeifton und das Dröhnen hörten gleichzeitig auf. Das Fahrzeug verlor an Geschwindigkeit und begann zu sinken. »Nila?« »Wir haben Schwierigkeiten, Sweeting.« Die Otter war aufgesprungen und blickte mit gesträubtem Nackenfell hierhin und dorthin. Aber sie wußte, daß sie sich in Notsituationen, die in Nilas Bereich fielen, ruhig zu verhalten hatte. Energieblockierung ... es konnte ein technisches Versagen sein. Aber diese Art von technischem Versagen kam so selten vor, daß Nila seit Jahren nicht mehr von einem solchen Fall gehört hatte. Irgend jemand, der sich im Treibholz verborgen hielt, hatte auf ihr Fahrzeug mit einer unbekannten
Waffe eingewirkt, um es herunterzuholen. Die eingebauten Schwerkraftabsorber würden den Absturz verhindern. Aber – Nila handelte unverzüglich. Als sie wieder auf den Höhenmesser blickte, sah sie, daß sie noch etwa drei Minuten in der Luft bleiben würden. Der Wind hatte das Fahrzeug inzwischen zur Mitte der Insel getrieben, so daß es direkt über der Lagune schwebte. Der Zeitpunkt, an dem der Antrieb beschossen worden war, war sorgfältig geplant gewesen. Wenn das Fahrzeug in die Lagune sank, würde bereits ein Empfangskomitee warten. Nila hatte sich ausgezogen, um im Wasser oder im Treibholz eine möglichst große Bewegungsfreiheit zu haben. Schwimmflossen und eine Sauerstoffmaske lagen neben ihrem Sitz. Die übrigen Gegenstände, die sie mitnahm, gehörten zur Ausrüstung für Treibholzgebiete, die sie bei Verlassen der Giard-Station auf den Rücksitz geworfen hatte. An einem Klettergürtel, der um ihre Taille befestigt war, hingen ein Messer, eine UW-Pistole, Greifsandalen und ein Beutel mit weiteren Ausrüstungsgegenständen, die zu überprüfen sie keine Zeit gehabt hatte. Die Otterpfeife, mit der sie Sweeting und Spiff über eine weite Entfernung herbeirufen konnte, war neben ihrer Armbanduhr am Handgelenk befestigt. Ihre abgelegten Kleider befanden sich in einer wasserdichten Tasche.
»Du weißt, was du zu tun hast?« »Ja!« antwortete Sweeting, wobei ihr Schnurrbart aufgeregt zuckte. Sie würden auf Feinde treffen, und Sweeting würde sich so lange aus allem heraushalten, bis Nila ihr genauere Anweisungen geben konnte. Die Angreifer hatten sich bis jetzt nicht blicken lassen. Sie mußten sich in der Lagune aufhalten, in der Nähe der Stelle, wo das Luftboot den Berechnungen nach herunterkommen würde. Die Böen trieben es auf einen Punkt zu, der vom Treibgehölz etwa dreihundert Meter entfernt war. Diese Stelle entsprach ganz und gar nicht Nilas Wünschen. Doch sie konnte ihre Lage vielleicht noch um einiges verbessern. Sie saß die letzten Augenblicke ruhig da, schätzte die Windstärke ab und blickte zwischen Höhenmesser und einer Stelle jenseits des Wassers, die sie als Landeplatz gewählt hatte, hin und her. Hundert Meter über der Wasseroberfläche betätigte sie dann den Schalter, der zu beiden Seiten des Fahrzeugs breite Gleitschaufeln ausfahren ließ. Die Randzonen eines Taifuns boten nicht gerade ideale Voraussetzungen für antriebsloses Gleiten. Wie von einer wütenden Faust gepackt, kippte das Fahrzeug im Sturm augenblicklich zur Seite. Es folgten Sekunden, in denen das kleine Gefährt richtungslos durch die Luft gewirbelt wurde. Feindlichen Beob-
achtern in der Lagune und im Treibholz mußte das Manöver wie ein vergeblicher und selbstmörderischer Fluchtversuch erscheinen – und das sollte es auch. Nila wollte verhindern, daß auf sie geschossen wurde. Dennoch gelang es ihr, das Fahrzeug unter Kontrolle zu halten. Zweimal sah es fast so aus, als würde es mit dem Bug voran ins Wasser stürzen, doch im letzten Moment riß sie es wieder hoch. Sie hatte die Lagune inzwischen fast überquert. Vor ihr ragten die Wälder auf, unter ihr war die Lagune mit dichtem Seegras bedeckt. Das war ungefähr die Stelle, die sie sich ausgesucht hatte. Sie riß das Fahrzeug noch einmal hoch und ließ dann die Gleitschaufeln wieder einfahren. Das Fahrzeug sank auf seinen Schwerkraftabsorbern nieder. Nila zog die Schwimmflossen über ihre Füße und setzte die Sauerstoffmaske auf. Sie öffnete die Luke. Seegrasbüschel bogen sich zur Seite, als das Fahrzeug klatschend aufsetzte. Sweeting glitt an Nilas Füßen vorbei und verschwand geräuschlos in der Lagune. Nila stieß den Behälter mit den Kleidern durch die Luke hinaus und glitt ins kalte Wasser. Sie drehte sich um, faßte den Lukengriff und schlug die Luke hinter sich zu. Sie packte den neben ihr treibenden Behälter am Griff und tauchte hinab ...
4 Das Seegras, das zehn Meter tiefer in einer Schlammschicht wurzelte, war dicht und stark. Nila wußte gleich nach Verlassen des Flugboots, daß sie im Augenblick vor Verfolgern ziemlich sicher war. Sie hatte während des Flugs über die Lagune ein Boot gesichtet, das ihr folgte. Es würde nicht lange dauern, bis es die Seegrasinsel erreichte, und vielleicht waren Taucher an Bord. Auf offener See hätte ein Taucher, der mit einem Düsenantrieb ausgerüstet war, sie innerhalb von Sekunden eingeholt. Doch wenn es sich darum handelte, flink zwischen Seegrasbüscheln hinund herzuschlüpfen, bot eine Düsenausrüstung kaum Vorteile. Außerdem hätte sie mit ihrem Hörgerät in der Sauerstoffmaske auf hundert Meter das Zischen eines sie verfolgenden Düsentauchers festgestellt. Sie bewegte sich rasch vorwärts. Winzige Lebewesen glitten beim Herannahen ihres Schattens hastig davon. Ein Schwarm junger, zwanzig Zentimeter langer Skilte löste sich über ihr plötzlich in eine Wolke silbrigen Glanzes auf ... Sweeting, die irgendwo in der Nähe sein mußte, hatte sich vielleicht einen kleinen Imbiß genehmigt. Vor ihr bewegte sich eine riesige, dunkle Masse; ein fünfhundert Pfund schwerer Doraschen, dessen schwarzer Panzer unter einem rost-
farbenen Parasitenbelag fast verschwunden war, zog sich vor ihr zurück und schnappte dabei drohend mit seinem Maul. Das Wasser wurde dunkler, ein Zeichen dafür, daß sie sich der Waldregion näherte. Der Seegrasbewuchs hörte auf, und in der trüben Dunkelheit tauchten dikke, verschlungene Treibholzstämme auf. Sie arbeitete sich bis zu ihnen vor und hielt inne, um zurückzublicken. Durch ihr Hörgerät hatte sie ein gedämpftes, gleichbleibendes Dröhnen wahrgenommen. Motorengeräusch. Aber es war noch weit entfernt. Ticos Cays getarnte Unterkunft lag weniger als fünfhundert Meter von hier entfernt. Sie war Nilas nächstes Ziel. Wenige Minuten später hob Nila im Labyrinth der Stämme und Wurzeln den Kopf über die Wasseroberfläche und zog die Sauerstoffmaske ab. Der Kopf der Otter tauchte ein paar Meter weiter auf. »Sind Leute in der Nähe?« fragte Nila. »Ich rieche nichts.« »Boote?« »Skilt-Boot. Kommt langsam näher.« »Wie groß?« »Drei Luftfahrzeuge groß.« Keine Taucher und niemand über ihnen im Wald. Auf Sweetings Geruchssinn war normalerweise Verlaß. Skilt-Boot bedeutete, daß es sich um ein Unter-
wasserboot handelte. Wahrscheinlich das Boot, das Nila in der Lagune gesehen hatte. Sweeting hatte beobachtet, wie es sich der Seegrasinsel unter Wasser näherte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Besatzung das verlassene Luftfahrzeug entdeckte. »Töten?« fragte die Otter. »Noch nicht. Schwimm zurück und beobachte sie, bis ich dich rufe.« Sweeting verschwand. Nila bewegte sich weiter voran durch das dunkle Wasser und achtete darauf, nicht mit den Riesenstämmen in Berührung zu kommen. Sie waren mit Schlamm bedeckt und beherbergten Unmengen von Kriechtieren. Es war nicht gerade die angenehmste Umgebung, aber auf diese Weise würde Nila am schnellsten zur Seeseite des Waldes gelangen, wo sie in die Bäume hinaufsteigen wollte. Ab und zu fiel jetzt Tageslicht durch das schlangenartige Gewirr von Ästen über ihrem Kopf. Das war weit genug ... sie kletterte aus dem Wasser auf einen horizontalen Stamm und befestigte den Behälter mit ihren Kleidern und anderen Dingen an einer Astgabel. Je weniger Hinweise über die Insassen des Luftfahrzeugs man fand, desto besser. Sie tauschte die Schwimmflossen gegen Greifsandalen aus und befestigte die Flossen an ihrem Klettergürtel, den sie auf ein Viertel Schwerkraft einstellte. Sie war jetzt von einem Schwerkraftschirm umge-
ben. Normalerweise war die Fortbewegung in einem Treibholzwald ein Mittelding zwischen Bergsteigen und Bäumeklettern. Doch mit einem Klettergürtel und einiger Übung in seiner Benutzung kam man fast ebenso mühelos voran wie auf ebenem Boden. Nila begann hinaufzuklettern. Der Wald hatte keinen richtigen Boden, sondern einen dicken Teppich aus parasitären Gewächsen, die mit ihren Trinkwurzeln ins Wasser hinabreichten. Nila arbeitete sich durch diese Schicht hindurch und kam in ein relativ offenes Gebiet. Sie blieb stehen und nahm die vertraute Umgebung in sich auf, um ihre Sinne wieder an sie anzupassen. Sie stammte von einer der Siedlungen an seichten Stellen des Ozeans, die auf der dem Festland entgegengesetzten Halbkugel von Nandy-Cline lagen; und immer wenn eine schwimmende Insel sich der Siedlung genähert hatte, waren ihre Leute hinausgefahren, um sie abzuernten, und hatten dabei die Kinder mitgenommen, um sie mit dem Reichtum und den Gefahren des Treibholzes vertraut zu machen. Daß Nila die Inseln später als Studienobjekt gewählt hatte, war eine natürliche Konsequenz ihrer frühen Bekanntschaft mit ihnen. Im Dämmerlicht nahm sie die knorrigen, dicken Stämme wahr, die in die Höhe ragten und das parasitäre Wachstum trugen, in dem sich überall huschen-
des, flatterndes Leben bewegte. Doch sie nahm dies alles halb unbewußt wahr. Eine bewußte Reaktion würde sich erst einstellen, wenn sie auf etwas Unbekanntes oder Gefährliches stieß – oder wenn sie eine Spur von den Eindringlingen entdeckte, die sie aus der Luft heruntergeholt hatten. Sie stieg den sich nach oben krümmenden Stamm hinauf, auf dem sie aus dem Wasser geklettert war. Er verzweigte sich einmal und dann noch einmal. Jetzt begannen die großen, länglichen Blätter des Treibholzwaldes zwischen den übrigen Pflanzen aufzutauchen, bewegte grüne Vorhänge, welche die Sicht auf wenige Schritte begrenzten. Das war für Nila eher ein Vorteil als eine Behinderung. Ihr schlanker, gebräunter Körper, der fast den dunklen Braunton der Äste hatte, würde in dem Gewirr kaum zu unterscheiden sein, falls feindliche Späher in der Nähe waren. Sie befand sich in etwa hundertzwanzig Meter Höhe über dem Meeresspiegel, als das Sonnenlicht durch das grüne Dach über ihr zu flimmern begann. Sie wußte, daß Ticos' Unterkunft nicht mehr weit entfernt sein konnte, und hielt in der üppigen Vegetation unter ihr danach Ausschau. Es war ein geräumiger Bau, aber jemand, der nichts davon wußte, konnte das Gebäude minutenlang anstarren, ohne es als solches zu erkennen. Es war aus dem Material seiner Umgebung kunstvoll in diese hineingebaut worden.
Ein Farnwäldchen, das von Regen und Sturm zerzaust war, diente Nila als Anhaltspunkt. Das Versteck mußte sich neun Meter tiefer zu ihrer Linken befinden. Sie kletterte ein Stück weit hinab und spähte um den Baumstamm herum. Ein Sonnenstrahl fiel direkt auf den getarnten Eingang der Behausung. Ein nackter Mann saß mit untergeschlagenen Beinen vor dem Eingang und starrte mit weit geöffnetem Mund, der wie mitten im Lachen erstarrt wirkte, zu ihr herauf. Als nächstes kam Nila zu Bewußtsein, daß der kurze Lauf ihrer UW-Pistole direkt auf den geöffneten Mund des Mannes gerichtet war. Der Mann rührte sich nicht. Sekundenlang rührte auch sie sich nicht. Die Augen des Mannes schienen sie zu fixieren, und es lief ihr kalt über den Rücken. Der Sonnenstrahl war plötzlich verschwunden. Der Wald ächzte und stöhnte unter erneuten Windstößen. Was sie dort unten sah, war ein toter Mensch, kam es ihr verspätet zu Bewußtsein. Nicht Ticos; der Mann hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Ticos ... aber was hatte den unbekannten Toten in dieser grotesken Stellung erstarren lassen, den Kopf zurückgelehnt und ein schreckliches Grinsen auf dem Gesicht? Sie begann umherzublicken, doch ihre Augen kehrten immer wieder zu der sitzenden Gestalt zurück, so als fürchtete sie, daß der Mann plötzlich
zum Leben erwachen und zu ihr heraufklettern könne. Außer dem Heulen des Sturms, dem Rascheln der Blätter und dem Knarren der Stämme war nichts zu hören. Die Gestalt blieb reglos sitzen. Sie mußte schon längere Zeit dort sitzen, nahm Nila an. Mindestens ein paar Tage lang. Sie war mit Schmutzstreifen bedeckt, so als sei sie mehrmals vom Regen gewaschen, vom Sturm mit Staub bedeckt und wieder vom Regen gewaschen worden. Nila kletterte den Stamm hinunter. Eine Minute später schob sie die Pflanzen beiseite, die den Eingang tarnten, um an dem Mann vorbei einen Blick ins Innere zu werfen. Die Eingangstür war verschwunden. Sie war nicht vom Sturm fortgerissen, sondern absichtlich entfernt worden. Der Eingang selbst war auf beiden Seiten erweitert worden. Innen war es dunkel, doch die Wandbeleuchtung, die teilweise angeschaltet war, gab so viel Licht, daß Nila ins Innere hineinsehen konnte. Abgesehen von einigen Tischen und Wandborden schien alles ausgeräumt worden zu sein. Die Zwischenwände waren entfernt worden, und nur die dicken Außenwände waren zurückgeblieben. Aber der Raum war beileibe nicht leer. In allen möglichen Stellungen hockten, knieten oder lagen zwanzig bis dreißig Gestalten darin. Die starre Unbeweglichkeit ihrer Haltung ließ erkennen, daß in ihnen ebensowenig Leben war wie in
der Gestalt vor dem Eingang. Nila ging mit erhobener Waffe langsam vorwärts. Sie blieb neben dem toten Mann am Eingang stehen und tippte mit einem Finger an seine Schulter. Die Haut fühlte sich kühl und klebrig an; das Fleisch darunter war hart. Sie wollte vorbeigehen, sah sich noch einmal um und erstarrte. Über den Rücken des Mannes zog sich ein klaffender Schnitt. Er war offenbar vollständig ausgenommen worden. Sie starrte einen Augenblick darauf und ging dann ins Innere. Die anderen sahen nicht viel besser aus. Ticos gehörte nicht zu ihnen. Während Nila zwischen den Gestalten umherging, wurde sie aus toten Augen angestarrt. Tote Lippen waren wie bittend vorgewölbt, wütend verkniffen oder zu einem Grinsen verzerrt. Sämtliche Leichen waren auf die eine oder andere Weise schwer verstümmelt. Ein paar von ihnen waren Frauen gewesen. Eine davon trug auf ihrer Stirn das Blaue-Guul-Symbol der Sotira-Flotte – es sollte Glück bringen. Einige Wandstellen waren noch mit Notizen und Zeichnungen bedeckt, die Ticos Cay bei seiner Arbeit als Gedächtnisstützen angefertigt hatte. Sonst schien von ihm nichts weiter da zu sein. Es schien überhaupt nichts weiter da zu sein als das, was der nasse Wind durch den Eingang hereingefegt hatte ... Dann trafen ihre Blicke auf etwas, das nicht vom
Wind hereingetragen worden war. Es saß im Schatten auf einem Wandbord, das ehemals zum Hauptraum gehört hatte. Neugierig trat Nila näher. Das Etwas sah aus wie eine gesichtslose kleine Stoffpuppe in einer Kapuze und war kaum dreißig Zentimeter groß. Sie war auf ein faltiges dunkles Tuch gesetzt worden, das auf dem Bord ausgebreitet lag. Aus der Nähe bemerkte Nila, daß Kapuze und Tuch nur die äußere Hülle waren. Darunter verbarg sich etwas. Sie schob die Kapuze mit dem Lauf ihrer Waffe beiseite und erblickte ein dunkles, runzliges, nichtmenschliches Gesicht, das aus Holz geschnitzt zu sein schien. Die hervorquellenden Augen waren von schweren Lidern verdeckt. Außer ihnen wies nur noch ein schmaler Mundschlitz darauf hin, daß es sich um ein Gesicht handelte. Es war in seiner Miniaturhäßlichkeit sehr eindrucksvoll. Man konnte meinen, daß ein Dämonenidol zum Vorsitz über die Überreste von Ticos Cays Laboratorium bestellt worden war. Nila ließ die Kapuze zurückfallen und wandte sich dem Eingang zu. Dort machte sie noch eine Entdeckung ... in einem Dreckhaufen nahe der Wand bewegte sich etwas, und sie schob den Haufen mit dem Fuß auseinander. Drei von Ticos' Protohomen lagen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und aufgeschlitzt beieinander und bewegten sich noch. Da sie weder die Empfindung noch
das Bewußtsein von Schmerz hatten, war es als Akt der Grausamkeit sinnlos. Aber es paßte zu den übrigen Widerwärtigkeiten, die Nila hier gesehen hatte. Die UW-Pistole zischte dreimal und nahm den Anschein des Lebens von ihnen. Es gab offenbar keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Die Atmosphäre im Raum war bedrückend wie ein Alptraum. Sie konnte kaum atmen. Dennoch wurde sie von dem wiederkehrenden Gefühl gequält, sie könnte etwas übersehen haben. Sie blickte sich noch einmal um. Da waren die toten Gestalten in ihren erstarrten Stellungen. Über ihnen saß das kleine Idol auf seinem Bord und träumte vor sich hin. Nein ... sonst nichts außer unbeantworteten Fragen. In einem Dickicht, etwa hundert Meter vom Eingang entfernt, versuchte Nila über die Fragen nachzudenken. Ihr Gehirn arbeitete zuerst nur langsam, da es ständig von Furcht, Mitleid und Empörung überflutet wurde. Sie mußte diese Gefühle gewaltsam zurückdrängen. Was sie gesehen hatte, paßte nicht zu der Theorie, die sie sich zurechtgelegt hatte. Offenbar war eine ganz andere Art von Mentalität im Spiel. Eine Mentalität, die menschliche Gehirne und Körper systematisch quälte und ihre Opfer selbst im Tod noch entwürdigte und in dieser Entwürdigung zu erhalten trachtete, so als sei dies ein lohnendes Ziel ... Nila konnte darin keinen Sinn sehen. An der ge-
genwärtigen Situation hatte sich jedoch kaum etwas verändert. Wenn Ticos von diesen Eindringlingen gewußt hatte, bevor sie sein Laboratorium entdeckten und derart verunstalteten, konnte er noch in Freiheit sein. Er besaß ein kleines Boot, mit dem er unbemerkt in einen anderen Teil der Insel hätte flüchten können. Da er wußte, daß sie ihn aufsuchen würde, würde er ihr eine Botschaft hinterlassen haben. An irgendeinem Ort, den sie mit ihm in Verbindung brachte ... Nila schüttelte den Kopf. Es gab zu viele solcher Orte. Sie durfte ihre Zeit nicht damit vergeuden, überall nachzuschauen. Wenn Ticos sich noch auf der Insel befand, würde Sweeting vielleicht eine Spur von ihm finden. Ihre Gedanken nahmen eine andere Richtung. Das Luftfahrzeug. Sie mußten es inzwischen erreicht haben. Doch die Luke war zu und ließ sich von außen nicht öffnen. Wenn sie es nicht versenkt oder abgeschleppt hatten, waren sie vielleicht noch immer mit der Untersuchung des Fahrzeugs beschäftigt. Wenn Nila sie dabei beobachten konnte, würde sie über diese Gruppe mehr in Erfahrung bringen, als sich aus Sweetings Berichten entnehmen ließ. Sie machte sich rasch auf den Weg. Als sie das vom Sturm gepeitschte Wasser der Lagune durch die Zweige schimmern sah, hielt sie inne und berechnete ihre Position. Die Stelle, wo sie ihr
Fahrzeug verlassen hatte, mußte nicht weit entfernt zur Rechten liegen. Sie suchte sich einen Ast aus, der weit hinausragte, kroch auf allen Vieren bis zu seinem Ende, bog vorsichtig die Blätter auseinander und blickte hinab auf das im Wind schwankende Seegras sechzig Meter unter ihr. An der Stelle, an der sie mit ihrem Fahrzeug aufgesetzt hatte, war das Seegras niedergedrückt oder beiseite geschoben und eine freie Wasserfläche geschaffen worden. Andere Anzeichen wiesen darauf hin, daß sich ein Boot von der Lagune her einen Weg durch das Schilf gebahnt hatte. Sonst konnte Nila nichts entdecken, und sie glaubte einen Augenblick, daß ihr Fahrzeug bereits zerstört oder abgeschleppt worden sei. Doch dann hörte sie vom Wind gedämpfte metallische Geräusche. Dort unten war jemand beschäftigt, vielleicht damit, die Luke des Fahrzeugs aufzubrechen. Nila wartete mit angehaltenem Atem. Das Klopfen hörte auf. Dann tauchte langsam eine Ecke des Fahrzeugs auf und einen Augenblick später war das ganze Gefährt sichtbar – und auf der Kanzel – Nilas Denken setzte aus. Parahuane ... Vor etwa siebzig Jahren waren sie plötzlich aus dem Weltraum aufgetaucht und hatten gleichzeitig Nandy-Cline und ein Dutzend anderer Wasserwelten
angegriffen. Sie hatten beträchtlichen Schaden angerichtet, doch schließlich zogen sie ihre Streitkräfte zurück; und als die Kriegsschiffe der Föderation ihre Verfolgung durch den Weltraum einstellten, nahm man an, daß von der feindlichen Flotte nur unbedeutende Teile übriggeblieben und in ihre unbekannten Heimatwelten zurückgekehrt waren. Das war das letzte Mal gewesen, daß eine fremde Zivilisation einen offenen Angriff gegen einen Planeten der Föderation gewagt hatte, selbst wenn dieser Planet vom Zentrum so weit entfernt war wie Nandy-Cline. Und dann wurden wir sorglos, dachte Nila. Wir fühlten uns so überlegen, daß wir glaubten, niemand würde es wagen, noch einmal zurückzukehren ... Gebannt starrte sie auf die beiden gedrungenen, amphibienhaften Geschöpfe, die mit muskulösen Froschbeinen auf dem Fahrzeug hockten. Erinnerungen an alte Beschreibungen von Parahuanen schossen durch ihren Kopf. Den blaugrauen Rumpf mit den mächtigen Armen umschlossen Gurte, an denen Werkzeuge und Waffen befestigt waren. Ein großer, runder Kopf mit vorstehenden doppellinsigen Augen, deren unterer Teil an der Luft von Lidern bedeckt war und nur unter Wasser zum Sehen benutzt wurde. Eine Mundöffnung über den Augen mit einem besonderen Atmungssystem. Die beiden Parahuane dort unten schienen sich mit anderen, die sich
außerhalb ihres Blickfeldes befanden, zu unterhalten, doch die von ihnen verursachten Geräusche wurden größtenteils vom Wind verschluckt. Sie hatten es gewagt, zurückzukehren ... und sie mußten bereits in großer Zahl auf dem Planeten gelandet sein und sich während der letzten Monate unter und auf den Treibholzinseln eingerichtet haben. Die kleine Figur in Ticos' verlassener Unterkunft, die rachebrütend über den entstellten menschlichen Leibern hockte, war nach ihrem Bild geschaffen worden. Die Entdeckung machte einige Veränderungen in Nilas Plänen nötig. In dieser sturmgepeitschten, unübersichtlichen Waldlandschaft hatte sie sich vor menschlichen Verfolgern einigermaßen sicher gefühlt. Aber solange sie nicht wußte, welche Fähigkeiten diese fremden Wesen besaßen, durfte sie nichts mehr riskieren. Sie schob sich auf ihrem Ast rückwärts und hielt plötzlich inne. Jenseits der Seegrasinsel bewegte sich etwas in der Lagune. Es war ein riesiges grauweißes Geschöpf. Während sie es anstarrte, sank es langsam unter die Wasseroberfläche und war verschwunden. Nila zog sich zurück. Bei ihrem ersten Überfall hatten die Parahuane ein furchtbares Ungetüm bei sich gehabt, das erfolgreich an den Kämpfen teilnahm. Seinem Verhalten nach zu schließen handelte es sich um ein animalisches Geschöpf, doch einige Anzei-
chen deuteten darauf hin, daß es eine Abwandlung der parahuanischen Lebensform mit Riesenwuchs war. Berichten zufolge besaß es äußerst scharfe Sinne, war auf dem Land ebenso beweglich wie im Wasser und ziemlich immun gegen konventionelle Waffen. Was sie eben dort draußen in der Lagune gesehen hatte, war eins von diesen Geschöpfen – ein parahuanischer Tarm. Während Nila sich von der Lagune entfernte, ließ sie ihre Blicke aufmerksam hin und her schweifen und blieb hin und wieder stehen, um mit dem Messer von verschiedenen ihr bekannten Pflanzen fleischige Blätter, Blüten, Samenhülsen und Stücke des Stammes abzuschneiden. Der Saft dieser Pflanzen hinterließ auf ihren Armen, Beinen, in ihrem Gesicht, ihrem Haar und auf ihrer Ausrüstung grüne, dunkelblaue, ockergelbe, schokoladenbraune, graue und weiße Flecken und Streifen. Diesen Trick, sich zu tarnen, hatten ihre Leute angewandt, wenn sie besonders scheue oder scharfsichtige Tiere im Treibholz jagen wollten. Aber diese Maßnahme allein genügte sicherlich nicht. Die Menschen besaßen eine Reihe von Ortungsinstrumenten, um Leben aufzuspüren. Zweifellos gab es Ähnliches auch bei den Parahuanen. Für einige dieser Instrumente war ein Mensch im Treibholz nichts weiter als eine Lebensform unter vielen ande-
ren. Doch der charakteristische menschliche Geruch blieb verräterisch und konnte sowohl durch scharfe Sinne wie durch Instrumente entdeckt werden. Dagegen gab es nur ein Mittel. Um es anzuwenden, mußte sie in den Bereich von Ticos' Labor zurückkehren ... Sie stutzte. Ticos' Labor! Wenn er ihr irgendeine Botschaft hinterlassen hatte, dann dort! Sie hatte gespürt, daß sie etwas übersehen hatte. Wenn das, was sie vorgefunden hatte, sie nicht so erschreckt hätte – Auf dem Rückweg zum Labor schlug sie die gleiche Route ein, die sie vorher benutzt hatte, nur hielt sie sich dabei etwa neun Meter höher. Plötzlich nahm sie im Gehölz unter sich eine auffallende Bewegung wahr und sah gleichzeitig etwas Graublaues schimmern. Nila drückte sich gegen den Ast, den sie gerade überqueren wollte, und spähte vorsichtig hinab. Der Parahuan kam aus einem Dickicht und bewegte sich auf allen Vieren über einen Ast, was zwar seltsam aussah, aber nicht ungeschickt wirkte. Er kam zu einem parallel verlaufenden Ast, hielt kurz inne, hüpfte hinüber und kroch weiter. Die Tatsache, daß er sich hundert Meter hoch über dem Wasser befand, schien ihn nicht zu stören. Sie waren also gute Kletterer. Als der Parahuan hinter Laubwerk verschwunden war, tauchte ein zweiter auf, der dem Führer in acht Meter Abstand folgte und ebenfalls verschwand.
Nila sah auf die Uhr und wartete zwei Minuten. Niemand folgte den beiden – sie arbeiteten offenbar allein. Nila kletterte noch sechs Meter höher und eilte zurück in Richtung auf die Lagune. Es bestürzte sie, daß die Parahuane in diesem riesigen grünen Labyrinth so rasch ihre Spur gefunden hatten. Denn obwohl ihr dies höchst unwahrscheinlich vorkam, gab es daran keinen Zweifel. Beide trugen schwere Schußwaffen, die an ihren Gurten befestigt waren. Auf dem Kopf des ersten Parahuans befand sich ein gekrümmter Kasten mit seitlich herausstehenden Rohren, die wie Fühler suchend die Luft abtasteten. Am Kopf des zweiten Parahuans war direkt über dem Sprechschlitz ein viel kleineres Instrument angebracht. Hierbei handelte es sich wahrscheinlich um einen Kommunikator. Nila ließ sich hinab und wartete in einem geeigneten Versteck. Der erste Parahuan tauchte auf einem Ast unter ihr wieder auf. Er blieb stehen und blickte sich um. Nila hielt den Atem an und fragte sich, welche Signale sein Suchgerät ihm übermitteln mochte, bis er endlich seinen Weg fortsetzte. Sie ließ ihn ziehen. Im richtigen Abstand tauchte der zweite Parahuan auf. Als er bis auf sieben Meter herangekommen war, drückte Nila auf den Abzug ihrer UW-Pistole. Der wuchtige Körper schwankte und kippte lautlos vom Ast. Nila drehte sich um und zielte wieder. Der Führer
hatte nichts bemerkt. Einige Augenblicke später verschwand auch er in der dichten Vegetation. Der Buti war ein strauchartiges Gewächs mit gezackten Blättern und einem dicken, verholzten Stamm, der innen hohl war und einen geruchlosen Saft enthielt, welcher andere Gerüche überlagerte. In diesem Fall den menschlichen Geruch. Nila hatte sich an die Buti-Sträucher erinnert, die sie bei früheren Besuchen in der Nähe von Ticos' Labor gesehen hatte, und ließ sich jetzt mit Hilfe der Antigravstrahlen ihres Klettergürtels mitten in diese Sträucher hineinfallen. Dort rieb sie mehrere Minuten lang mit peinlicher Sorgfalt ihren Körper und ihre Ausrüstungsgegenstände mit dem Pflanzensaft ein. Ihre Nerven vibrierten; die Nähe des Labors gefiel ihr ganz und gar nicht. Wahrscheinlich wußte man, daß sie dort gewesen war, und wahrscheinlich war auch dort ihre Spur aufgenommen worden. Vielleicht wimmelte es an diesem Ort von den Geschöpfen. Nila beendete ihre Einreibung und steckte für den Notfall noch ein Stück Buti ein. Ihre Spur endete jetzt neun Meter über den Buti-Sträuchern. Wenn die Verfolger der Spur bis dorthin folgten, ohne ihre Fortsetzung zu finden, würden sie vielleicht annehmen, daß Nila abgestürzt sei. Jedenfalls war sie vor einer Verfolgung jetzt ziemlich sicher.
Sie näherte sich dem Labor mit raschen, aber zielbewußten Schritten. Am Eingang schien alles unverändert zu sein. Sie konnte keine Abdrücke von Schwimmhäuten entdecken. Mit vorgehaltener Waffe ging sie hinein. Die reglosen Gestalten starrten sie an, als sie zu Ticos' ehemaligem Arbeitsplatz hinüberging. Sie kam an dem kleinen Idol auf dem Wandbord vorbei und sah es an. Zwei Gedanken schossen gleichzeitig durch ihren Kopf. Noch bevor sie ihre Bedeutung erfaßt hatte, war sie mit einem Satz bei dem Bord. Sie ließ ihre Pistole fallen und hatte im nächsten Moment die Zipfel des Tuches, auf dem das Männlein saß, über seinem Kopf verknotet und hielt sie fest in der Hand. In dem Bündel war inzwischen heftige Bewegung entstanden. Es zerrte und zappelte darin mit einer solchen Gewalt, daß ihr das Tuch fast aus den Händen gerutscht wäre. Doch sie riß es hoch und schlug es hart gegen den Boden, riß es wieder hoch und ließ es noch einmal auf dem Boden aufschlagen. Das Zappeln hatte aufgehört. Nila hob ihre Waffe auf, öffnete das Tuch und ließ das schlaffe Ding darin auf den Boden rollen. Keuchend und zitternd vor Angst und Haß starrte sie darauf nieder. Sein Platz auf dem Bord war um einige Zentimeter verschoben gewesen. Als sie dies registrierte, war ihr
aus alten Berichten eine andere Tatsache eingefallen. Gefangene, die aus der Hand der Parahuane gerettet worden waren, hatten berichtet, daß die parahuanischen Anführer im Vergleich mit dem gemeinen Volk zwergenhafte Wesen seien. Sie erinnerte sich allerdings nicht daran, daß von einer so unglaublichen Winzigkeit die Rede gewesen war. Doch wenn sie dieses Ding nicht getötet hatte, war vielleicht ein nützlicher Gefangener in ihrer Gewalt. Sie kniete sich nieder und zog den Kapuzenumhang herunter. An der Brust des Zwergs war eine flache dunkle Scheibe mit Drehknöpfen befestigt. Wie befestigt? Nila faßte die Scheibe mit der Hand und zog daran, dann schob sie die Klinge ihres Messers zwischen die Scheibe und den Körper des Parahuans und stemmte das Messer hoch. Sie spürte einen Widerstand, doch dann lösten sich mit einem schmatzenden Geräusch vier Zapfen an der Unterseite der Scheibe aus der verrunzelten Haut. Ein Kommunikator? Sie drehte das Instrument in den Händen. Auf diese Weise waren die beiden Parahuane im Wald also auf ihre Fährte gesetzt worden. Und wahrscheinlich war das Gerät vor wenigen Minuten, als sie am Eingang auftauchte, wieder benutzt worden, um weitere Suchtrupps zum Labor zu rufen – Mit fliegenden Fingern öffnete Nila ihre Tasche mit
Ausrüstungsgegenständen. Sie fand ein Knäuel Schnur, mit der gewöhnlich besonders lebhafte Forschungsexemplare, die man lebend benötigte, gefesselt wurden. Sie fesselte die dünnen, drahtigen Arme des Parahuans an seinem Leib, band die Schwimmfüße zusammen und knebelte den Sprechschlitz am oberen Teil des Kopfes. Dann drehte sie den Zwerg rasch hin und her und suchte nach weiteren verborgenen Instrumenten. Doch sie fand nur eine Anzahl glänzender Juwelen, die zum Schmuck oder als Rangabzeichen in die runzlige Kopfhaut eingelassen waren. Sie legte ihren Gefangenen zurück in das Tuch, verknotete es und nahm sich die Zeit, das Bündel mit Buti-Saft einzureiben. Sie ließ es auf dem Boden zurück und ging hinüber in den ehemaligen Arbeitsbereich von Ticos Unterkunft, wo sie seine Botschaft fast augenblicklich zwischen den vielen Kritzeleien an der Wand entdeckte. Dort stand für jedermann sichtbar: Nila: Die Sestran-Zucht muß sorgfältig überwacht werden. Und jetzt so schnell wie möglich fort von hier! Um ein Haar wäre sie nicht schnell genug gewesen. Vor dem Eingang warf sie den Kommunikator fort, hängte sich das Bündel über den Rücken und flüchtete ins nächste Dickicht, das keine hundert Meter entfernt war.
Es war ein gutes, dichtes Versteck. Sie konnte von ihrem Platz aus nur einen begrenzten Teil des Waldes über ihr einsehen. Plötzlich tauchten dort drei Parahuane auf, die über einen Ast krochen. Kurz darauf wieder zwei. Dann wimmelte es rundherum förmlich von Parahuanen. Sie führten eine großangelegte Suchaktion durch, deren Mittelpunkt das Laboratorium war. Nila bewegte sich vorsichtig in entgegengesetzter Richtung. Sie konnte sich nicht einfach auf Antigravstrahlen durch den Wald hinabfallen lassen, da die meisten von ihnen von unten heraufgeklettert kamen. Einige von ihnen krochen so nahe an ihr vorbei, daß sie zum erstenmal ihre Stimmen vernahm: Sie gaben ein seltsam sanftes Pfeifen von sich, das von Zischlauten unterbrochen war. Zwei von ihnen kletterten kaum drei Meter entfernt einen Stamm hinauf. Dann erblickte Nila eine Zeitlang niemanden mehr. Sie nahm an, daß sie sich von den Suchtrupps weit genug entfernt hatte, und begann rascher zu klettern. Über ihr krachte es, und dann stürzte ein dicker, abgebrochener Ast durch das Gewirr herunter und riß kleinere Zweige und Blätter mit sich. Nila sah auf und erstarrte vor Schreck. Dann trat sie langsam einen Schritt zur Seite und ließ sich fallen ... sie fiel und fiel, ohne eine Bewegung zu machen, wie ein Blatt, wie irgendein abgestorbenes, herabfallendes Stück
des Waldes. Ein Ast hielt ihren Fall auf. Sie hielt sich noch immer zitternd vor Angst fest. Wie eine Nebelwand war über ihr hinter einem Baumstamm der Tarm aufgetaucht. Während sie sich fallen ließ, stürzte er so dicht über ihr vorbei. Wenn er sie bemerkt hätte, hätte er leicht einen seiner blassen Fühler ausstrecken und sie damit fangen können. Doch er war weitergestürzt. Sie lauschte auf das sich entfernende Geräusch der Jagd durch den Wald, um sicher zu sein, daß er nicht zurückkehrte, bevor sie sich, noch immer zitternd, auf den Weg machte. Sie näherte sich jetzt der Seeseite des Waldes und konnte nicht mehr weit von der Sestran-Zucht entfernt sein, zu dem Ticos' Nachricht sie gewiesen hatte. Vor acht Monaten hatte sie von einem anderen Teil der Insel Sestran-Schößlinge, die Ticos für seine Forschung benötigte, hierher gebracht und angepflanzt. Ticos hatte gewußt, daß sie den Hinweis verstehen würde. Sie entdeckte die Sestran-Zucht – und gleichzeitig entdeckte sie, daß Chaquoteele über den SestranStauden eine Brutkolonie errichtet hatten. Die winzigen Kestern empfingen sie mit wütendem Pfeifen. Nila duckte sich zwischen die Stauden, aber sie war nicht schnell genug. Ein Schwarm von Chaquoteelen stürzte sich auf sie und hackte auf ihren Rücken ein, bis sich ihr Zorn gelegt hatte und sie von Nila abließen. Der Lärm verstummte rasch wieder.
Nila brauchte nicht lange zu suchen; Ticos hatte das getan, was sie erwartet hatte. Das kleine Schriftaufzeichnungsgerät war seitlich an einer der dicksten Sestran-Stauden befestigt. Nila entledigte sich des Bündels mit ihrem Gefangenen und legte es so neben sich, daß sie es beobachten konnte. Der Zwerg hatte sich noch nicht bewegt, aber damit war nicht gesagt, daß er nicht wach sein konnte. Nila überlegte kurz. Sie war hier ebenso sicher wie an einer anderen Stelle. Wenn Parahuane oder der Tarm auftauchten, konnte sie nach allen Richtungen ausweichen, ohne gesehen zu werden. Und bei Hunderten von verärgerten Chauquoteelen in der Nachbarschaft konnte sie kaum von einem Lebewesen überrascht werden. Ja – sie konnte sich ebensogut hier wie anderswo ansehen, was Ticos ihr mitzuteilen hatte ... Sie setzte sich nieder, hob das Gerät an die Augen und schaltete es ein.
5 Lange bevor Nila das Gerät zum letztenmal absetzte, stand für sie fest, daß Ticos Cay zu den größten Lügnern der Geschichte gehörte. Er lebte noch. Zumindest hatte er vor einer Woche noch gelebt, als er die letzte der vier Schriftrollen hier für sie hinterlegt hatte. Sie blieb ruhig sitzen und ließ sich die Informationen noch einmal durch den Kopf gehen. Vor etwa siebzig Jahren hatten die parahuanischen Führer, gekränkt durch ihre Niederlage, herauszufinden versucht, wie diese Niederlage überhaupt möglich gewesen war. Sie hielten sich für die Rasse, die es auf allen Gebieten zu höchster Vollkommenheit gebracht hatte, einschließlich individueller Unsterblichkeit für diejenigen, die sie verdient hatten. Sie waren die Ewiglebenden. Niemand war ihnen gleich. Alle Wasserwelten der Galaxis waren für sie bestimmt. Seit sie sich das erste Mal von Porad Anz, ihrem Heimatplaneten, dem Heiligen Meer, entfernt hatten, war ihnen nichts begegnet, das dieser Annahme widersprochen hätte. Doch jetzt hatten minderwertige Landbewohner, die eine Anzahl dieser Wasserwelten beherrschten, sich den parahuanischen Streitkräften, welche diese
Welten erobern wollten, widersetzt und die parahuanische Flotte fast vollständig vernichtet. Das war eine niederschmetternde Erfahrung für die Ewiglebenden gewesen. Sie widersprach aller Vernunft. Vor ihrem Angriff hatten sie eine eingehende Untersuchung über die Föderation angestellt. Diese menschliche Zivilisation war zwar sehr ausgedehnt, aber es war eine heterogene, locker organisierte und regierte Zusammenfassung von Individuen, die untereinander gewöhnlich ernste Konflikte auszutragen hatten. Die Analyse menschlicher Gefangener hatte dieses Bild bestätigt. Und dieses verworrene, unstete und emotional unausgeglichene Geschöpf hatte die disziplinierten parahuanischen Streitkräfte besiegt. Irgend etwas stimmte da nicht. Was hatten sie bei ihrer Untersuchung übersehen? Sie begannen erneut mit ihren Untersuchungen. Diese Geschöpfe verhinderten die Ausbreitung von Porad Anz. Das durfte nicht geduldet werden. Hinter ihrem Erfolg steckte ein Geheimnis, das man herausfinden und dann unwirksam machen mußte. Schließlich entdeckte man in der neueren Geschichte dieses Geschöpfes einen aufschlußreichen Hinweis. Daraus entwickelte sich die Tuvela-Theorie ... Nila seufzte ungläubig. Vor nicht viel mehr als zweihundert Jahren – einige Dekaden vor Ticos Cays
Geburt – waren die Zentralplaneten noch ein blutiges Schlachtfeld gewesen. Es war die Zeit der ausgehenden Kriegsjahrhunderte. Im Bestreben, sich zu behaupten oder die Herrschaft über die zentralen Planeten zu erlangen, hatten Tausende von Regierungen interplanetarische Allianzen gebildet, die ebenso schnell wieder aufgelöst wurden. In dieser Zeit vor der Entstehung der Föderation waren die Tuvelas als eine Art von Kriegsherren hervorgetreten. Manche glaubten, daß sie ihre geniale Begabung einer geplanten genetischen Zuchtwahl verdankten. Legenden bildeten sich um sie und ihre Taten. Doch die historischen Quellen, die über jene wirren Zeiten Auskunft gaben, waren äußerst widersprüchlich und unzuverlässig. Fest stand nur, daß die Tuvelas längst ausgestorben waren. Die parahuanischen Palache, die nach einer Erklärung für ihre Niederlage suchten, kamen jedoch zu dem Schluß, daß die Tuvelas nicht ausgestorben sein konnten. Diese geheimnisvollen übermenschlichen Wesen lebten nicht nur – sie waren auch die geheimen wirklichen Herrscher über die Föderation. Sie hatten die Unternehmen organisiert und geleitet, die zur Niederlage der paarhuanischen Expedition führten. Die Ewiglebenden, oder zumindest die Mehrzahl von ihnen, wollten sich damit nicht zufriedengeben.
Sie besaßen jetzt eine Erklärung für das in der Vergangenheit geschehene Unglück, die ihren gekränkten Stolz zum Teil wiederaufrichtete. Von einem Feind mit übernatürlichen Kräften, dessen Existenz einem unbekannt gewesen war, geschlagen worden zu sein, war keine große Schande. Die menschliche Gattung als solche war Porad Anz durchaus unterlegen. Ihre vermeintliche Stärke bestand nur darin, daß sie von diesen grotesken Monstren beherrscht und geleitet wurde. Bei den Ewiglebenden oder wieder der Mehrzahl von ihnen setzte sich die fixe Idee fest, daß man den Tuvelas die Niederlage heimzahlen und sie vernichten müsse. Einige befürchteten jedoch von Anfang an, daß die Tuvelas so gefährliche Gegner sein könnten, daß man sich ein zweites Mal lieber nicht mit ihnen einlassen sollte. Diese Ansicht wurde zwar nie populär, aber man war sich darüber einig, daß alles getan werden müsse, um eine zweite Katastrophe zu verhindern. Die Mehrheit blieb bei der Überzeugung, daß ein parahuanischer Großpalach die höchste Lebensstufe darstellte und deshalb einem menschlichen Tuvela überlegen sein müsse. Die Tuvelas hatten nur den Vorteil gehabt, daß die Ewiglebenden von ihrer Existenz nichts geahnt und deshalb beim ersten Angriff nicht mit ihnen gerechnet hatten. Aus dieser Situation heraus war der Große Plan
entstanden, der auf die Zerstörung der Zivilisation der Zentralplaneten und seiner Beherrscher abzielte. Die widerstreitenden Ansichten wurden durch Gruppen repräsentiert, die unter der Bezeichnung Stimme der Aktion und Stimme der Vorsicht bekannt waren. Zwischen diesen beiden opponierenden Parteien bildete die Zahl der neutral eingestellten Ewiglebenden das flexible Gleichgewicht. Die Stimme der Vorsicht hatte seit siebzig Jahren Einwände gegen den Großen Plan erhoben, ohne dadurch verhindern zu können, daß er langsam heranreifte. Die Parahuane fanden Verbündete – die Föderation der Zentralplaneten besaß mehr Feinde unter den umgebenden Planeten, als sie ahnen mochte. Aber es waren vorsichtige Feinde. Wenn es den Parahuanen gelang, eine Anzahl von Welten der Föderation einzunehmen und einen Großteil ihrer Streitkräfte lahmzulegen ... dann wollten eine Reihe fremder Zivilisationen gleichzeitig an verschiedenen Punkten angreifen und die menschliche Abwehr solange schwächen, bis sie zermürbt war. Die Voraussetzung dafür war allerdings, daß die Parahuane Erfolg hatten. Die Stimme der Aktion war der Ansicht, daß diese Zusage ausreichte. Die Stimme der Vorsicht hingegen nicht. Schließlich kam man mit Hilfe des Gleichgewichts zu dem Entschluß, einen Versuch zu machen:
Man schleuste mit äußerster Vorsicht eine Invasionsflotte in die Meere Nandy-Clines ein. Der mögliche Verlust dieser Flotte war einkalkuliert. Sie sollte allerdings nach allen Berechnungen in der Lage sein, den Planeten in einem Überraschungsangriff mit Leichtigkeit einzunehmen. Der Hauptzweck dieser Aktion bestand jedoch darin, die Tuvelas aus ihrer Anonymität hervorzulocken und ihre Fähigkeiten zu prüfen. Sollte sich erweisen, daß sie den Ewiglebenden tatsächlich überlegen waren – etwa dadurch, daß die übermächtige Invasionsflotte ein zweites Mal vernichtet oder zurückgeschlagen wurde, dann wollte man den Großen Plan fallenlassen. Sollte Nandy-Cline jedoch eingenommen werden, dann bedeutete dies, daß man mit den Tuvelas fertigwerden konnte, nachdem man ihren Einfluß auf die Menschheit einmal erkannt hatte; dann würde die Stimme der Aktion freie Hand haben, weitere Operationen durchzuführen, deren Ziel die Zerstörung der Föderation war. Bei den Vorbereitungen zum Angriff auf den Planeten Nandy-Cline waren die Invasionstruppen auf Dr. Ticos Cay gestoßen ... Sie überraschten ihn in seinem Labor und nahmen ihn gefangen. Eine Untersuchung seiner Arbeitsgeräte sagte ihnen, daß er ein Mensch mit weitreichenden
wissenschaftlichen Kenntnissen war, der ihnen unter Umständen nützliche Informationen liefern konnte. Er wurde sorgfältig behandelt und ausführlich befragt. Viele Palache hatten die Sprache der Föderation erlernt, um den Feind genauer kennenzulernen. Sie befragten Ticos unter Drogeneinfluß und unter gezielter Schmerzzufügung. Seine erworbene Fähigkeit zu bewußter Gedankenbeherrschung ermöglichte es ihm, diesen Druckmitteln Widerstand entgegenzusetzen; das fanden die Palache äußerst interessant. Keiner ihrer menschlichen Gefangenen hatte ähnliche Fähigkeiten besessen. Außerdem verblüffte sie die Entdeckung, daß er unter anderem an der Entwicklung von Lebensverlängerungsdrogen gearbeitet hatte. Allen Berichten zufolge hatte noch nie ein Mensch eine unbegrenzte Lebensdauer erworben; das Fehlen eines umfassenden Unsterblichkeitsprogramms war in der Tat der unumstößliche Beweis dafür, daß die Zivilisation der Föderation trotz aller möglichen Errungenschaften auf anderen Gebieten im Grunde auf einer sehr niedrigen Ebene stand. Bei ihnen selbst galt die Wissenschaft von der Unsterblichkeit als eine heilige Angelegenheit, deren Studium nur Palachen erlaubt war. Offenbar war ihnen an diesem Punkt der Gedanke gekommen, daß Ticos möglicherweise einer Menschheitsschicht angehörte, die wenigstens einiges über
die Tuvelas wußte. Frühere Gefangene hatten nicht einmal etwas von der Existenz ihrer anonymen Herrscher gewußt. Ticos war zuerst verwirrt, als die Befragungen diese neue Richtung nahmen. Er richtete seine Antworten so ein, daß sie weitere, enthüllendere Fragen herausforderten. Schließlich kam er hinter die TuvelaTheorie der Palache – und damit war er auch in der Lage, Möglichkeiten anzudeuten, welche die schlimmsten Befürchtungen seiner Inquisitoren zu bestätigen schienen. Er konnte überzeugend darlegen, daß seine Informationen nur begrenzt waren, gleichzeitig enthielt das, was er sagte, aber Implikationen, die den schwärzesten Spekulation über Wesen und Eigenschaften der Tuvelas entsprachen. Die Mehrheit der zur Expedition gehörenden Ewiglebenden sah ihren Glauben an sich selbst wieder einmal erschüttert. Es kam zu endlosen heftigen Debatten zwischen den widerstreitenden Gruppen, und das Gleichgewicht neigte, vorübergehend jedenfalls, der Stimme der Vorsicht zu. Die Invasion wurde zwar nicht abgeblasen, aber alle Angriffspläne wurden zunächst einmal zurückgestellt. Ticos hatte inzwischen eigene Probleme zu lösen. Nilas nächster Besuch war in einigen Wochen fällig; und er hielt es kaum für möglich, daß er die Palache bis zu ihrer Ankunft dazu überreden konnte, den Planeten
aufzugeben. Wenn er nichts unternahm, würde man Nila gleich bei der Landung töten oder gefangennehmen und auf eine langsamere, sehr unfeine Art zu Tode befördern. Die Parahuane sprangen mit gewöhnlichen Gefangenen nicht gerade sanft um. Soweit er wußte, war er der einzige von den Gefangenen, die man auf Nandy-Cline gemacht hatte, der in ihren Händen mehr als ein paar Tage überlebt hatte. Also hatte er aus Nila eine Tuvela gemacht. Damit war wenigstens eins sichergestellt: Die Palache würden sie nicht töten, solange sie eine Chance sahen, sie lebendig zu fangen – und das wiederum gab Nila die Chance, sich in die Wälder zu retten. Die parahuanischen Wissenschaftler waren an den Ergebnissen seiner Forschungsexperimente interessiert; er durfte deshalb unter Bewachung ins Treibholz gehen, um sich das nötige Material zu besorgen. Bei einer solchen Gelegenheit wollte er diese Informationen an einer Stelle hinterlegen, wo sie sie finden würde. Nachdem sie seinen Bericht gelesen hatte, sollte sie alles versuchen, um von der Insel fortzukommen und den Planeten zu alarmieren. Wenn man sie jedoch gefangennehmen würde, könnten sie gemeinsam versuchen, das Tuvela-Märchen aufrechtzuerhalten und die fremde Streitmacht zum Rückzug zu bewegen. Der Erfolg eines solchen Versuchs war zweifelhaft; aber einen besseren Vorschlag hatte er nicht ...
Nila holte zitternd Luft und blickte zu dem verknoteten Tuch hinüber, das einen parahuanischen Palach barg. Einen Großpalach, verbesserte sie sich. Sie tat gut daran, sich die Informationen einzuprägen, falls es notwendig werden sollte, daß sie die ihr von Ticos zugedachte Rolle einer Tuvela übernahm. Nach Ticos' Beschreibung glaubte sie sogar zu wissen, wie dieser bestimmte Großpalach mit Namen hieß. Sie überlegte und schürzte dabei die Lippen. Sie hatte bereits einen Plan, wie sie mit Danrich Parrols Hilfe die Insel verlassen konnte. Sie wollte jedoch nicht ohne Ticos gehen, und für Ticos sah sie im Augenblick noch keine Möglichkeit zur Flucht. Außerdem hatten sich die Dinge so zugespitzt, daß sie jederzeit eine unvorhergesehene Wendung nehmen konnten. Der fehlgeschlagene Versuch, sie lebend gefangenzunehmen, mußte bei den Ewiglebenden eine äußerst gereizte Stimmung hervorgerufen haben. Wenn sie jetzt auch noch argwöhnen mußten, daß sie die Insel verlassen und Nandy-Cline warnen könnte, bestand die Möglichkeit, daß sie in Panik gerieten und den geplanten Angriff sofort durchführten, solange er noch überraschend kam. Das würde im besten Fall einer großen Anzahl von Menschen das Leben kosten ... Menschenleben, die gerettet wären, wenn man die Fremden zum Rückzug bewegen konnte.
Nila zögerte einen Augenblick. Der Schluß, zu dem ihre Überlegungen führten, gefiel ihr gar nicht – aber er war unvermeidlich. So wie die Dinge gelaufen waren, hatten die Palache Grund zu der Annahme, daß sie es bei ihr mit einer echten Tuvela zu tun hatten. Wenn Ticos es fast geschafft hatte, sie zum Rückzug zu bewegen, dann sollte es einer echten Tuvela möglich sein, diese Aufgabe zu Ende zu führen. Doch das hieß, daß sie sich freiwillig in die Gewalt jener Kreaturen begeben mußte. Bei der bloßen Vorstellung wurde ihr schon der Mund trocken ... Sie blickte wieder zu dem Bündel hinüber, in dem der Großpalach lag. Er war wach. Das Tuch hatte sich ein paarmal bewegt. Die Frage war einfach, ob sie die Rolle einer Tuvela-Wächterin gut genug spielen konnte, um die Fremden zu täuschen. Der Zwerg in dem Tuch dort war ein äußerst aggressiver Repräsentant der Stimme der Aktion. Wenn sie ihn davon überzeugen konnte, daß Porad Anz verloren war, wenn es die Tuvelas noch weiter herausforderte, dann würde sie vielleicht auch die Ewiglebenden insgesamt bluffen können. Warum sollte sie nicht versuchen, das herauszufinden? Zuerst einmal mußte sie selbst an ihre neue Rolle glauben. Sie mußte aufhören, Nila Etland zu sein, und eine Tuvela werden. Je übertriebener, desto bes-
ser. Sie durfte ihm keine kleinen Lügen auftischen, sondern große. Eine Überraschung nach der anderen. Sie feuchtete ihre Lippen an, legte ihre Waffe schußbereit neben sich und knotete das Tuch auf. Der obere Teil der Augen des Parahuans war geöffnet und starrte sie unverwandt an. Die Schnur, mit der Arme und Beine ihres Gefangenen gefesselt waren, saß fest. Nila entfernte die Schnur über dem Sprechschlitz, lehnte das Männchen gegen einen SestranStumpf, trat ein paar Schritte zurück und setzte sich mit ihrer Waffe nieder. Sie musterte den Fremden einige Sekunden. Er sah nicht besonders furchterregend aus, doch Ticos' Warnung vor einer Unterschätzung der Palache war vermutlich begründet. Ihre Annäherung an die Unsterblichkeit bestand in einer Reduzierung auf das Wesentliche, hatte er gesagt. Nun gut, sie wollte auf der Hut sein vor diesem Großpalach ... Was mochte er in ihr sehen? Eine Tuvela? Nila sah sich im Geist – ein schlankes, nacktes, mit farbigem Pflanzensaft beschmiertes Wesen. Sie gab sicher keine sehr eindrucksvolle Figur ab, aber daran war nichts zu ändern. Sie war eine Wächterin der Föderation, eine Tuvela. Ein geheimnisvolles, mächtiges Wesen, das Informationsquellen besaß, von denen ihr Gefangener nichts ahnte. Letzteres zumindest war tatsächlich der Fall.
Sie sagte: »Wie ich annehme, spreche ich mit dem Großpalach Koll.« Das Männchen starrte sie längere Zeit an. Schließlich öffnete sich der Sprechschlitz, und eine Stimme wie Samt sagte: »Und wie ich annehme, spreche ich mit einem Hulon namens Etland.« Hulon – abschätzige parahuanische Bezeichnung für Mensch. »Sie haben noch einen anderen Namen für uns«, sagte die Tuvela gleichgültig. »Aber meinetwegen nennen Sie mich Hulon. Wo halten Sie Dr. Cay im Augenblick gefangen?« »Nicht weit von hier. Welches Interesse haben Sie an Dr. Cay?« »Unser Interesse an Dr. Cay ist nicht mehr das, was es einmal war«, antwortete Nila. »Er hat den Test nicht gut bestanden.« »Test?« wiederholte Koll. Seine Stimme hatte plötzlich einen schneidenden Klang. Nila betrachtete ihn einen Augenblick. »Sie haben sich gewiß schon gewundert, weshalb niemand hergekommen ist, um Dr. Cays Aktivitäten zu überprüfen. Ja, es war ein Test. Nicht daß es Sie etwas anginge, Großpalach, aber Dr. Cay war ein Kandidat für das wahre Leben. Ich bin nicht sicher, ob er es bleiben wird. Als wir merkten, daß Sie ihn entdeckt hatten, haben wir nichts unternommen, weil
wir sehen wollten, wie er mit dieser unerwarteten Situation fertig wird. Ich bin enttäuscht von ihm.« Kolls Sprechschlitz öffnete und schloß sich zweimal, ohne daß ein Ton herauskam. Die Tuvela runzelte nachdenklich die Stirn. »Noch mehr enttäuscht aber bin ich von den Ewiglebenden«, fuhr Nila fort. »Auch wenn Dr. Cays Argumente vielleicht nicht sehr überzeugend waren, hätten Sie mit ein bißchen mehr Verstand NandyCline längst verlassen ... und wären froh darüber! Haben Sie denn nicht gefühlt, daß diese Welt eine Falle darstellt, die jederzeit zuschnappen kann? Ist Porad Anz nicht unsterblich, sondern senil geworden?« Sie zuckte mit den Schultern. Einer Tuvela konnte die Beschränktheit von Porad Anz schließlich gleichgültig sein. »Sie werden sich jetzt auf unseren Befehl hin zurückziehen«, sagte sie. »Sie haben die Wesen, die Sie als Hulon bezeichnen, allzu bedenkenlos abgeschlachtet. Es widert mich an. Offenbar fürchteten Sie die menschliche Gestalt so sehr, daß Sie beim bloßen Anblick eines Menschen auf Ihre tierische Vorstufe zurücksinken. Wir wollen keine Leute mehr verlieren – und Dr. Cay hatte genügend Zeit, seinen Mangel an erforderlichem Potential zu beweisen.« Schweigen. Langes Schweigen. Die Sestran-
Stauden raschelten im Wind. Dunkelheit brach herein. Das Männchen saß reglos da und starrte vor sich hin. Plötzlich sagte die samtene Stimme: »Ich sehe und höre ein Wesen, das kluge Lügen erfindet, um seine Hilflosigkeit zu verbergen. Sie können nicht entfliehen, und Sie können auch keine Verbindung mit den Ihren aufnehmen. Sie sind nicht hierhergekommen, um den Ewiglebenden mitzuteilen, daß sie sich zurückziehen müssen. Sie sind hier, weil Sie in eine Falle gelaufen sind.« Nila kräuselte verächtlich die Lippen. »Glauben Sie, ich hätte den Strahl, mit dem mein Fahrzeug blockiert wurde, nicht abwehren können? Das müßten Sie eigentlich wissen, nachdem Ihre Techniker das Fahrzeug so gründlich untersucht haben. Beim wahren Leben, ich glaube, ich könnte mit einem ganzen Mob von Oganoon und anderen dummen Tieren fertig werden! Großpalach Koll, Stimme der Aktion – sehen Sie sich um! Wer sitzt hier in der Falle, wer ist hier hilflos?« Sie beugte sich vor. »Diese Dummheit von Porad Anz! Es hat versucht, sich in unsere Welten hineinzudrängen, und ist zurückgeschlagen worden. Und alles, was es daraus gelernt hat, war, sich nach Verbündeten umzusehen, bevor es einen neuen Versuch wagte. Sie brauchen zweifellos Verbündete – mehr als
sie finden können. Aber Sie haben schon jetzt zu viele davon, als daß der Große Plan noch durchführbar wäre! Selbst wenn wir keine anderen Informationsmittel besäßen, wäre Ihr Geheimnis schon zu weit bekannt, um noch länger ein Geheimnis zu sein –« Sie brach ab. Koll zitterte am ganzen Körper. Aus seinem Sprechschlitz kamen fauchende Geräusche. »Wir hatten vor, Sie zu verschonen«, setzte die Tuvela wieder an. »Doch –« »Schweigen Sie!« Kolls Stimme war nur noch ein wütendes Wimmern. »Alles Lug und Trug! Die Ewiglebenden werden Ihnen nicht zuhören!« Die Tuvela lachte. »Wenn ich mit einem Großpalach, der in ein Tuch verschnürt an meinem Gürtel baumelt, zu ihnen komme, werden sie mir nicht zuhören?« Koll stieß einen schrillen Schrei aus – und machte einige rasche Bewegungen. Die gefesselten langen Beine schwangen hoch und berührten seine Schulter. Im gleichen Moment schoß ein Feuerstrahl aus der Schulter, der die Fessel löste. Mit den Zehen des einen Fußes zog Koll einen der Juwelen aus seinem Kopf. Das andere Bein hatte er inzwischen aufgestellt, beugte es und hüpfte mit einem kraftvollen Satz auf Nila zu. Der Fuß mit der an dem Juwelen befestigten Nadel schnellte vor ... Nila warf sich zurück und rollte seitwärts –
Aus der Nadel sprang ein rosa Strahl, der neben ihr vorbeiglitt, während sie auf den Abzug der UWPistole drückte. Und damit war die Sache erledigt. Der UW-Strahl war heiß, und Koll, der sich mitten im Sprung befand, wurde fast entzweigerissen. Nila stand mit zitternden Knien auf, schob die Sestran-Stauden, zwischen denen er hindurchgefallen war, auseinander und sah hinab. Sie erblickte nichts weiter als den schattigen grünen Dschungel unter sich ... es hatte wenig Sinn, dort unten nach den Überresten des Großpalachs zu suchen. Ticos hatte vergessen gehabt mitzuteilen, daß die dicke parahuanische Haut als Versteck für ein ganzes Waffenarsenal benutzt werden konnte, aber nachdem sie den Kommunikator gesehen hatte, der in Kolls Haut eingelassen war, hätte sie auch selbst auf diesen Gedanken kommen können. Warum hatte er sie gerade in diesem Augenblick angegriffen? Sie konnte ihn nicht davon überzeugt haben, daß Porad Anz Zerstörung drohte, falls die Invasionsflotte nicht zurückgezogen würde – es sei denn, er war von so glühendem Haß gegen die Menschen besessen, daß das Schicksal seiner eigenen Rasse ihm darüber gleichgültig geworden war. Anscheinend hatte sie ihn jedoch davon überzeugt, daß die Mehrzahl der Palache ihr Glauben schenken würde.
Nun, er mußte es ja wissen, sagte sich Nila. Sie hatte jetzt zwar ihren Gefangenen verloren, aber ein toter, zum Schweigen gebrachter, verschwundener Großpalach Koll legte ebenso eindrucksvoll Zeugnis ab von den Fähigkeiten und der erbarmungslosen Härte einer Tuvela. Mit diesen Tatsachen sollten sich die Ewiglebenden erst einmal eine Weile herumgeschlagen. Sie würde ihnen bald Hinweise dafür liefern, daß sie noch immer auf der Insel war. Das sollte genügen, um einen überstürzten Angriff zu verhindern. Inzwischen wollte sie versuchen herauszufinden, wo Ticos festgehalten wurde, und einige andere Pläne in Angriff nehmen ... Zuerst jedoch wollte sie sich mit Sweeting in Verbindung setzen, um zu hören, was die Otter in Erfahrung gebracht hatte. Nila verließ die Sestran-Zucht und tauchte im Wald unter. Wieder am Wasser, blickte sie zwischen zwei Stämmen hindurch auf den benachbarten Waldabschnitt, der um die Hälfte breiter und länger war als der, in dem sie sich befand, und dessen Baumkronen hundert Meter höher in die Luft ragten als die der umgebenen Wälder. Von ihrem Flugboot aus hatte sie gesehen, daß in der Mitte dieses Waldabschnitts wie Speerspitzen dunkle, blattlose Pflanzen in den Him-
mel ragten. Es war das sogenannte Ölholz. In einigen Wochen, wenn die Insel die elektrischen Sturmzonen des Polarmeers erreicht hatte, würde das Ölholz Blitze anziehen, durch welche seine trockenen Samenhüllen verbrannt wurden, so daß die reifen Samen durch den Wald hindurch ins Meer fielen. Absichtlich angezündet, würde das Ölholz heute nacht ein Signalfeuer abgeben, das Parrol anzeigte, wo sie zu finden war. Die beiden Waldabschnitte waren unter der Wasseroberfläche durch ein Wurzelnetz verbunden, in welchem die Parahuane, die die Suche nach ihr sicherlich noch nicht aufgegeben hatten, sich leicht in den Hinterhalt gelegt haben konnten. Das offene Meer würde ihr in der Dunkelheit mehr Sicherheit bieten. Wieder betätigte Nila die Otterpfeife an ihrem Handgelenk. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann mußte Sweeting auftauchen. Ein Empfänger, der in ihrem Kopf eingelassen war, gab die Signale an ihr Hirn weiter, woraufhin sie unversehens zurückkehrte. »Nila –« »Hier, Sweeting.« In sechs Meter Entfernung tauchte Sweeting aus dem Wasser auf, schüttelte sich, lief auf einem Baumstamm zu Nila und ließ sich neben ihr nieder.
»Das sind üble Burschen«, meinte sie. »Ja«, sagte Nila. »Sie gehören nicht in unsere Welt. Was kannst du mir über sie erzählen?« »Viel«, versicherte Sweeting. »Aber ich habe zwei Nila-Freunde gefunden. Sie können noch mehr erzählen.« »Zwei –« Nila brach ab. Aus dem Wasser waren zwei schnurrbärtige Köpfe aufgetaucht, die zu ihr aufblickten. Wilde Ottern.
6 Die wilden Ottern waren ein Paar, das sich die Lagune als ihr Reservat gewählt hatte. Das Männchen war etwa so groß wie Spiff. Das Weibchen war noch sehr jung und etwas kleiner als Sweeting. Sie waren drei oder vier Generationen von ihren domestizierten Vorfahren entfernt, konnten sich jedoch in der Sprache der Zentralplaneten noch geläufig verständigen. Als die Parahuane auftauchten, hatten die neugierigen Ottern sich einen Spaß daraus gemacht, die unbekannten Wesen und deren Ausrüstung genau zu studieren. Unter der Insel lag ein Schiff vor Anker. Es war beträchtlich größer als die normalen Unterseeboote – offenbar ein Raumschiff. Sein Eingang war ständig offen. In der Nähe befand sich ein zweites großes Schiff, das manchmal nahe an die Insel herankam, meistens aber draußen auf See blieb. Ticos hatte gesagt, daß das Hauptquartier der parahuanischen Flotte offenbar mit der Strömung seiner Insel trieb. Über der Meeresoberfläche hatten die Parahuane etwa zehn bis zwölf kleinere Beobachtungsstationen im Wald eingerichtet. Die Ausnahme bildete der Inselbereich, den Nila aufsuchen wollte. »Großes Haus«, sagte Sweeting. Es befand sich am Rand der Lagune und reichte tief ins Treibholz hinein, von dem es vollständig
verdeckt wurde. Etwa ein Fünftel des Gebäudes lag unter Wasser. Nila erhielt den Eindruck von einem riesigen Blockhaus, nicht weit entfernt vom Brutplatz der See-Havale. Sie selbst hätte sich die Riesenkestern nicht gerade als Nachbarn ausgewählt – ihr Brutplatz verbreitete einen Höllengestank und -lärm –, doch anderen Sinnen machte dies vielleicht nichts aus. Das wichtigste war, daß sie nun wußte, wo Ticos steckte, falls man ihn nach ihrer Ankunft nicht an einen anderen Ort gebracht hatte. Er hatte ihr mitgeteilt, daß er und seine Geräte in solch einem Gebäude untergebracht worden waren, und er hatte ihr dessen ungefähre Lage mitgeteilt. Die wilden Ottern wußten nichts von dem Verbleib Ticos', aber dafür wußten sie einiges über den Tarm zu berichten. Als die Parahuane sich zuerst gezeigt hatten, waren dann und wann zwei von diesen bleichen Ungetümen in der Lagune aufgetaucht. Eins von ihnen war kurz darauf offenbar wieder aus dem Verkehr gezogen worden. Das andere hatte sich, dem Bericht der Ottern zufolge, über die Meeresbewohner hergemacht und gelegentlich Raubzüge durch die oberen Regionen der Wälder durchgeführt. »Habt ihr irgendwelche Schwierigkeiten mit ihm gehabt?« fragte Nila. Diese Frage schien sie zu überraschen. Sie grinsten vor sich hin.
»Überhaupt keine. Der Tarm ist viel zu langsam«, erklärte Sweetings junge Verwandte. »Langsam für euch«, sagte Nila. Jagdottern besaßen ihre eigenen Vorstellungen von Geschwindigkeit. »Aber könnte ich ihm im Wasser entkommen?« Sie überlegten. »Mit Düsenantrieb?« erkundigte sich das Männchen. »Leider nicht.« Sweeting deutete mit Vorder- und Hinterbeinen Schwimmbewegungen an. »Menschliches Schwimmen ...« »Menschliches Schwimmen! Der Tarm wird dich fressen!« sagte das Weibchen zu Nila. »Versteck dich, mach dich geruchlos, Nila! Wie macht man sich geruchlos? Ein Trick, hä?« »Ja, ein Trick. Aber er wirkt nicht im Wasser.« Das Männchen grunzte nachdenklich. »Der Tarm ist unter das große Haus zurückgekehrt. Vielleicht bleibt er dort, vielleicht nicht.« Er fragte das Weibchen: »Sollen wir ihn mit Gift töten?« Wie sich herausstellte, war dies eine Methode, die wilde Otternstämme entwickelt hatten, um ihrem Speisezettel fliegende Kestern beizufügen. Sie benutzten dazu hohle Stengel, die sie mit giftigem gelben Farnsaft füllten. Das Weibchen führte das Verfahren vor, indem es sich auf den Rücken rollte, so tat, als hätte es einen Stengel zwischen den Lippen, und diesen in hohem
Bogen ausspuckte. »Komm, Kester!« Für größere Seetiere hatten sie das Verfahren abgewandelt, indem sie Dorne mit dem Saft füllten, die sie den Tieren in die Haut jagten. Große Tiere starben nicht so rasch wie Seevögel, doch sie starben. »Viele Dorne«, versicherte das Männchen Nila. »Zehn bis zwanzig, und der Tarm wird sterben.« Nila glaubte den gelben Farnsaft zu kennen, von dem sie sprachen. Er enthielt ein schnell wirkendes Nervengift. Welche Wirkung es auf ein Geschöpf wie den Tarm haben würde, war nicht vorherzusehen, aber ein Versuch würde sich lohnen. Sie stellte ihnen weitere Fragen und erfuhr, daß der Tarm wenige Minuten, bevor Sweeting das erste Pfeifsignal erhalten hatte, reglos unter dem Blockhaus gesichtet worden war. Das war sein gewöhnlicher Aufenthalt als Wasserwache. Offenbar war er von der Suche nach der Tuvela zurückgezogen worden. Gruppen von Parahuanen bewegten sich durch die Lagune ... »Die Watschelfüße haben Düsenantrieb«, bemerkte das Männchen. »Langsame Düsen«, meinte das Weibchen. »Keine Gefahr.« Doch im offenen Wasser konnten bewaffnete Taucher mit Düsenantrieb gefährlich werden. Nila beschloß, daß sie trotzdem die Überquerung wagen
wollte. Sie deutete mit dem Kopf zu den dunklen Umrissen des gegenüberliegenden Waldabschnitts hinüber. »Ich muß dort hinüber«, sagte sie. »Sweeting wird mich begleiten. Die Watschelfüße sind bewaffnet und suchen nach mir. Wollt ihr auch mitkommen?« Die Ottern grinsten. »Wir sind Nila-Freunde«, meinte das Männchen. »Wir kommen mit. Das wird ein Spaß. Was sollen wir tun, Nila? Die Watschelfüße töten?« »Wenn wir welchen begegnen, töten wir sie«, sagte Nila. Ein paar Minuten später schlüpften die drei Ottern ins Wasser und waren verschwunden. Nila sah sich noch einmal um, bevor sie ihnen folgte. Am Horizont war noch eine schmale Scheibe der untergehenden Sonne zu sehen, doch unter Wasser würde es bereits dunkel sein. Sie holte zwei Nachtlinsen aus ihrer Tasche, steckte sie unter ihre Lider und blinzelte, bis sie sich über die Pupillen geschoben hatten. Die Linsen paßten das menschliche Auge automatisch veränderten Lichtverhältnissen an. Dies war ein experimentelles Giard-Produkt, und zwar ein sehr brauchbares. Nila zog die Sauerstoffmaske über ihr Gesicht, drückte sich die Stöpsel des Hörgeräts in die Ohren und ließ sich ins Wasser gleiten. Sie tauchte etwa vier Meter tief, wendete und hielt auf die offene See zu.
Im Halbdunkel, an das ihre Augen sich mit Hilfe der Linsen angepaßt hatten, erblickte sie vor sich und zur Rechten ein treibendes Seetangdickicht. Sie machte einen Bogen um das Dickicht herum, hielt sich dann den Kompaß, den sie an ihrem linken Handgelenk befestigt hatte, kurz vor die Augen, um zu überprüfen, ob die Richtung noch stimmte. Die Ottern waren nicht zu sehen. Wenn die Überquerung ereignislos verlief, würden sie sich kaum bei ihr blicken lassen. Sie schwammen etwa dreißig Meter vor ihr, die beiden wilden Ottern an den Flanken und Sweeting an der Spitze, um Nila bei drohender Gefahr rechtzeitig warnen zu können. Nila kam mit ihren Schwimmflossen gut voran. Sie horchte auf die Geräusche der See und spürte die wechselnden Druckwellen an ihrer Haut. Einmal tauchte Sweeting auf, umkreiste sie und war wieder verschwunden. Das war kein Alarmsignal; die Otter hatte nur ihre Position überprüfen wollen. Dann hörte Nila ein Geräusch, das sekundenlang die tausend anderen Geräusche der See übertönte. Ein entferntes, tiefes Dröhnen. Kurz darauf vernahm sie es wieder. Diesmal aus größerer Nähe. Nila behielt ihre Richtung bei, näherte sich aber mehr der Wasseroberfläche. Die riesigen See-Havale waren auf Jagd. Die Begegnung mit einem dieser Ungetüme auf offener See war gewöhnlich für einen
Menschen ebenso ungefährlich wie für jedes andere Lebewesen mit Ausnahme eines Skilts. See-Havale verließen sich bei der Jagd auf ihren Geruchssinn und auf ihre Augen; und Skilte waren das einzige Beutetier, dem sie nachstellten. Aber wenn sie dieses besondere Geräusch machten, dann trieben sie einen größeren Schwarm vor sich her, dem man besser aus dem Weg ging. Falls das möglich war, fügte Nila im stillen hinzu. Und da näherten sich auch schon die ersten Skilte, dreihundert Pfund schwere Brocken, die wie Torpedos auf Nila zurasten. Nila glitt zur Seite und näherte sich noch mehr der Wasseroberfläche. An sich waren es harmlose Geschöpfe, aber ihr Gewicht und die Geschwindigkeit, mit der sie in panischer Flucht dahinrasten, machten sie zu einer tödlichen Gefahr. Bei einem Zusammenstoß mit einem von ihnen würde ihr Körper zerrissen werden. Und das Meer schien nur noch aus heranstürzenden Skilten zu bestehen. Nila durchbrach die Wasseroberfläche und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Es gab nichts, was sie sonst noch hätte unternehmen können. Eine hohe Welle hob sie empor. Dann raste unter ihr mit Donnergetöse ein reißender Strom aus Skiltleibern vorbei, der sie mitzuziehen drohte. Den Abschluß bildeten zwei hohe Gischtwellen, die unter ihr dahinbrausten. Ein See-Haval-Paar war vorbeigezogen.
Einen Augenblick später waren Sweeting und die beiden wilden Ottern zur Stelle. »Nila hier? ... Viel Spaß, hä?« Nila antwortete nichts darauf. Sie hatte die Sauerstoffmaske heruntergezogen und pumpte ihre Lunge voll Luft. Wenig später waren sie und die Ottern wieder unterwegs. Zerdrückte und abgerissene Seepflanzen zeugten auf den nächsten zweihundert Metern von der wilden Flucht des Skilt-Schwarms. Dann nahm die Umgebung wieder ein normales Aussehen an ... Plötzlich tauchte Sweeting auf, glitt dicht vor Nilas Gesicht vorbei, ließ sich drei Meter sinken, drehte sich um und glitt auf ein Seegrasdickicht zu. Komm schnell! sollte das heißen. Nila hatte verstanden und folgte ihr. Sie schlüpfte zwischen die glitschigen Büsche. Die Otter wartete dort auf sie. Das war offenbar weit genug ... Nila drehte sich um, zog die UW-Pistole heraus, bog die Büsche so weit auseinander, daß sie hinaussehen konnte. Als sie wieder zur Seite blickte, war Sweeting verschwunden. Sie wartete. Winzige Skilte glitten vorbei, und dann tauchte von unten ein großer, breiter Schatten auf, drehte sich langsam, bis der Kopf direkt vor ihr war. Das Tier schaute einen Augenblick zu ihr herein und schwamm dann weiter. Es war ein Tang-Skilt, viel-
leicht dreimal so schwer wie die Skilte, die vorhin in panischer Flucht vorbeigejagt waren. Er ernährte sich vorwiegend von Aas. Davon würde es heute nacht auf der Spur der See-Havale und ihrer Beute genügend geben – Plötzlich ein heftiger Tumult: Wasserwirbel, Aufund Niederschwanken der Seegrasspitzen, dumpfe Geräusche, die mit einem Schlag aufhörten ... Nila kannte die Begleiterscheinungen eines Todeskampfes unter Wasser; und hier hatte sich nur wenige Meter entfernt einer abgespielt. Er war jetzt beendet. Sie schlüpfte mit erhobener Waffe aus dem Dickicht und spähte nach oben. Zerfließende dunkle Schwaden trieben herab, und ein massiger Körper sank zwischen ihnen hindurch auf die Seegrasbüschel. Der Kopf des Parahuans schien beinahe abgetrennt zu sein von dem plumpen Körper. Aus seinen Halswunden strömte Blut. Das Werk von Ottern. Sweeting kehrte von oben zurück. Gemeinsam zerrten sie den plumpen Körper an seinen Harnischgurten in das Dickicht hinein. Als sie sich abwandten, tauchte auf der anderen Seite schon der erste hungrige Tang-Skilt auf. Nila hatte durch ihr Hörgerät ein leises Zischen wahrgenommen, das immer lauter wurde. Sie hielt Sweeting zurück. Über ihnen tauchten zwei weitere plumpe Gestalten auf, die schräg herniederschossen
und mit ihren Düsen eine dünne Spur hinterließen. In den Händen hatten sie parahuanische Schußwaffen. Vielleicht hatten sie von dem kurzen Tumult etwas bemerkt und suchten jetzt nach ihrem toten Gefährten. Jedenfalls waren sie keine acht Meter entfernt, als Nila sie entdeckte, und sie starrte sie mit ihren halbkreisförmigen Wasseraugen an. Solche Zielscheiben waren kaum zu verfehlen, und die UW-Pistole funktionierte. Ein Stück vom Brutplatz der See-Havale entfernt, dessen Lärm kaum zu ertragen war, wartete Nila am Ufer der Lagune auf Sweetings Rückkehr und erneuerte dabei ihre Geruchstarnung mit Buti-Saft. Während sie sich gemeinsam der drei Mitglieder der parahuanischen See-Patrouille entledigt hatten, waren die wilden Ottern nicht untätig gewesen und hatten weitere drei Patrouillenmitglieder aufgespürt und beiseite geschafft. Anscheinend war von dieser Patrouille niemand übriggeblieben. Inzwischen würde man sie jedoch vermissen; und Nilas nächster Schritt hing zum Teil davon ab, was die Parahuane als Reaktion darauf unternehmen würden. Der Tarm war an seinem gewöhnlichen Platz unter dem Blockhaus gesichtet worden. Nila war froh darüber. Seit seinem unverhofften Auftauchen drüben im anderen Wald hatte sie immer wieder voller Angst
an das Ungeheuer gedacht. Der Buti-Saft würde sie zwar im Wald davor schützen, daß das Tier ihre Witterung aufnahm, doch im Wasser bot er keinerlei Schutz. Ihre Verbündeten, die wilden Ottern, würden sie vielleicht bald von dieser Angst befreien. Sie hatten sich aufgemacht, um eine größere Menge giftiger Dorne zu besorgen, die sie im dichten Stammgewirr unter dem Blockhaus ohne allzu große Gefahr in den riesigen Leib des Tarm bohren wollten. Sweeting durchstreifte die Lagune, um Nila rechtzeitig vor herannahenden Gefahren warnen zu können. »Tikkos gefunden, Nila!« »Wo?« Sweeting schlüpfte aus dem Wasser und rollte sich auf dem Ast neben Nila zusammen. »In Boot«, sagte sie. »Mit kleinen Watschelfüßen.« »Kleinen Watschelfüßen?« Waren das Palache? »Halbe Größe«, antwortete Sweeting. »Fünf oder sechs. Tikkos spricht zu Wächterin Etland. Dann sprechen Watschelfüße zu Wächterin Etland. Lautsprecher. Du bist Wächterin Etland, hä?« »Das nehmen die Watschelfüße an. Aber jetzt noch einmal ganz genau! Wo ist das Boot mit Ticos und den Watschelfüßen?« Die Otter deutete mit der Schnauze zum östlichen Waldrand hinüber. »Boot kommt in Lagune. Hierher.
Hat Lichter. Lautsprecher spricht in Wald. Sie glauben, daß Wächterin Etland im Wald ist. Tikkos sagt, daß Watschelfüße sprechen wollen, nicht kämpfen. Du sollst mit ihnen sprechen, vielleicht ziehen sie dann ab. Watschelfüße sagen, daß ihnen Kampf leid tut. Keine Waffen in Boot. Du sollst mit ihnen sprechen.« Sweeting wartete und beobachtete Nila. »Sollen wir sie töten und Tikkos holen, gleich?« »Nein«, sagte Nila. »Nein, wir töten sie nicht. Ich werde mir anhören, was sie zu sagen haben. Du sagst, das Boot kommt hierher –« »Ganz langsam. Nicht die Watschelfüße anhören, Nila! Trick, hä? Du kommst nahe, und sie töten dich.« »Vielleicht ist es kein Trick. Bleib hier.« Aber sie fühlte sich etwas schwach in den Knien, als sie ein Stück in den Wald hinein kletterte, nahe an den Brutplatz der See-Havale heran. Theoretisch würde eine Tuvela jetzt natürlich voller Selbstvertrauen mit den Fremden sprechen, um den psychologischen Vorteil, den sie bereits errungen hatte, weiter auszubauen. Andererseits würde eine Tuvela wahrscheinlich auch wissen, was sie zu tun hatte, wenn sich herausstellte, daß sie in eine parahuanische Falle gelaufen war. Nila jedoch war ganz und gar nicht sicher, daß sie wußte, was sie in so einem Fall zu tun hatte. Sie hielt den Atem an, als der Wind umschlug und
den Gestank des Brutplatzes zu ihr herübertrug. Das war weit genug von der Lagune entfernt ... Sie öffnete ihre Tasche, nahm die Rolle mit Schnur heraus, tat dafür die Otterpfeife hinein, schloß die Tasche und schob sie in die eine der Schwimmflossen, das ButiStück in die andere. Dann band sie die Flossen zusammen und klemmte das Paket zwischen zwei Treibholzstämme. Sie behielt nur ihren Klettergürtel und die UW-Pistole bei sich. Sie blickte sich um, prägte sich die Stelle ein und machte sich auf den Rückweg zur Lagune. Sweeting zischte mißbilligend, als Nila zu ihr zurückkehrte. Nila beruhigte die Otter und versuchte ihr die Situation so gut es ging zu erklären. Die Bootslichter waren noch nicht hinter dem östlichen Waldrand aufgetaucht. Sie setzten sich dorthin in Bewegung. Nila kletterte auf den Treibholzstämmen am Ufer entlang, und Sweeting schwamm ein Stück vor ihr im Wasser. Falls man ihnen eine Falle gestellt hatte, müßten sie es bemerken, bevor sie darin waren ... Nach Ticos' Beschreibung handelte es sich bei den sechs Parahuanen, die ihn im Boot begleiteten, um Palache. Nila musterte sie von ihrem Versteck aus, etwa fünfzehn Meter über dem Wasser. Zwei von ihnen hatten ungefähr Ticos' Größe; vier waren kleiner, doch nicht zwergenhaft klein. Die Bootslichter be-
schienen ihre fremdartigen Kopfbedeckungen und das komplizierte Gurtwerk ihrer Harnische ... und natürlich konnten sie verborgene Waffen bei sich tragen. Sie betrachtete Ticos sorgfältiger als die Begleiter. In seiner Art, sich zu bewegen, war etwas Steifes, das auf eine schlechte körperliche Verfassung hinwies. Aber seine Stimme kam klar aus dem Verstärker; und wenn aus seinen Sätzen Unterwürfigkeit herausklang, so gehörte das zu seiner Rolle: ein Mensch niedrigen Ranges, der sich an die Wächterin wendet. Eine selbstgewählte Rolle; keine, zu der man ihn gezwungen hatte. Sie war davon überzeugt, in dieser Hinsicht keinen Hinterhalt fürchten zu müssen. Aber andere Überlegungen drängten sich auf ... Der Lautsprecher begann von neuem zu dröhnen. Er war so eingestellt, daß er das tiefste Walddickicht durchdrang und den brausenden Wind übertönte, um die Wächterin Etland zu erreichen, wo immer sie sich aufhalten mochte. Ticos und einer der Palache benutzten ihn abwechselnd. Die anderen kauerten im Boot, das sich langsam am Waldrand entlang durch die Lagune bewegte. Die Durchsagen wiederholten sich. Sie hatte ihnen jetzt minutenlang zugehört, während sie sich auf der Höhe des Boots hielt. Ihr Gespräch mit dem Großpa-
lach Koll war von den Ewiglebenden mitgehört worden. Als Übertragungsgerät hatte vermutlich ein anderer der auf Kolls Kopf befestigten Juwelen gedient; die Idee stammte wahrscheinlich von Koll selbst: Die anderen Großpalache und Palache sollten Zeuge sein, wie er die Gefangene befragte, und miterleben, wie ihr Anspruch, Wächterin und Tuvela zu sein, sich in Nichts auflöste. Doch in diesem Fall war der Schuß nach hinten losgegangen. Alles, was gesprochen wurde, die Tatsache, daß Koll der Gefangene war, und die offenkundige Vertrautheit der Tuvela mit den Geheimnissen von Porad Anz dienten nur dazu, die Zuversicht der Ewiglebenden weiter zu untergraben. Das erklärte Kolls unvermittelten wütenden Angriff. Er hatte gefühlt, daß er sie sofort zum Schweigen bringen mußte, sollten die Ziele der Stimme der Aktion nicht gefährdet werden. Ein Suchtrupp von Oganoon hatte seinen Körper eine Stunde später gefunden. Nila kam zu dem Schluß, daß in den Reihen der Ewiglebenden seither helle Aufregung geherrscht hatte. Der Verlust der Seepatrouille hatte wenig zu ihrer Beruhigung beigetragen. Da sie von der Hilfe nichtmenschlicher Assistenten nichts ahnten, mußte es ihnen so scheinen, als sei die Tuvela auf ihrem Weg vom anderen Wald hier herüber auf die Patrouille gestoßen und habe sie eigenhändig vernich-
tet, noch ehe Alarmschlagen möglich war. Außerdem hatten sie seit kurzem Meldungen über ein kleines, schnelles Wasserfahrzeug erhalten, das in der Nähe der Drift kurvte – die Schlittenmänner hatten also ihr Versprechen gehalten und einen Rennschlitten hergeschickt, über den sie Nachrichten weitergeben konnte. Die Ewiglebenden brachten das Auftauchen des Schlittens mit der Anwesenheit der Tuvela in Verbindung. Aber sie wußten nichts über seine Zweckbestimmung ... Sie hatten unter psychologischem Druck gestanden, seit die Tuvela sich der unvermeidlich scheinenden Gefangennahme entzogen hatte. Und mit jedem weiteren Schritt, den sie unternahm, hatte sich der Druck verstärkt. Daß sie zu diesen Schritten möglicherweise gezwungen war, kam ihnen nicht in den Sinn. Alles schien ihnen Teil eines abrollenden Plans der Tuvela zu sein ... eines Plans, den sie nicht verstanden und wahrscheinlich auch nicht aufhalten konnten. Sie wußten nicht recht, worauf das alles hinauslaufen sollte. Die Furcht, die sie seit mehr als einem halben Jahrhundert genährt und unterdrückt hatten, stieg wieder mächtig in ihnen empor. Und so hatten sie, die stolzen Palache von Porad Anz, Dr. Ticos Cay und eine Abordnung der Stimme der Vorsicht ausgesandt, um der Tuvela eine Einstellung der Feindseligkeiten anzubieten und ihr Gele-
genheit zu geben, ihnen die Bedingungen der Wächter persönlich darzulegen. Zweifellos gab es eine Anzahl von ehemaligen Koll-Anhängern, die diesen Schritt scharf verurteilten. Konnte sie es wagen, zu ihnen zu sprechen? So wie die Dinge im Augenblick standen, hatte sie sehr gute Aussichten, bald von hier fortzukommen. Dann konnte sie die Ihren vor einem feindlichen Angriff warnen. Wenn sie sich jedoch ins feindliche Lager begab und den Tuvela-Bluff nicht aufrechterhalten konnte, hatte sie diese Chance vertan. Wenn Ticos das wüßte, würde er sie jetzt vielleicht nicht drängen, sich zu zeigen. Wenn sie sich aber versteckt hielt und nicht antwortete, würde der Druck nicht von den Ewiglebenden weichen. Sie würden aus ihrem Schweigen vielleicht schließen, daß das Angebot eines Rückzugs nicht länger galt. Wie würden sie darauf reagieren? Sie hatten wochenlang Zeit gehabt, den Angriff auf Nandy-Cline von ihren verborgenen Treibholz-Basen aus vorzubereiten. Wenn sie sich entschlossen, den gegnerischen Schlägen zuvorzukommen – wie lange würde es dauern, bis sie ihre Raumwaffen auf das Festland abschossen? Stunden? In diesem Fall würde Nilas Warnung zu spät kommen. Die wirkliche Frage lautete möglicherweise, ob sie es wagen konnte, nicht zu ihnen zu sprechen.
Unvermittelt traf Nila ihre Entscheidung. Das Boot der Parahuane bog langsam um die Biegung des Waldes. Der Lautsprecher begann von neuem zu dröhnen. Nach wenigen Worten wurde es still. Der Palach Moga, der neben Ticos Cay stand, ließ das Sprechgerät vorsichtig sinken, so als wolle er eine plötzliche Bewegung vermeiden. Hinter Ticos erhob sich Zischeln und Flüstern. Dann trat Stille ein. Die Bootsmaschinen stoppten, und das Fahrzeug trieb gegen ein Gewirr von Lagunenpflanzen. Ticos und die sechs Fremden starrten auf die reglose Gestalt, die zehn Meter entfernt am Waldrand stand. Die Stimme der Tuvela klang klar und entschieden, als sie sagte: »Dr. Cay!« Ticos räusperte sich. »Ja, Wächterin?« »Lassen Sie das Boot hier herüberbringen und stellen Sie mir die parahuanischen Offiziere vor –« Der Einstieg ins Boot war wie der Beginn eines grotesken Traums. Die natürliche Haltung ihrer Art verleugnend, standen sie aufrecht auf langen Beinen und hielten sich mit ihren breiten Füßen nicht allzu sicher im Gleichgewicht. Die Köpfe der Parahuane neigten sich ehrerbietig vor der Wächterin, als Ticos sie der Reihe nach vorstellte. Aus seinem Bericht kannte sie den Namen des Palachs Moga. Neben einem halben Dutzend von Großpalachen war Moga eines der einflußreichsten Mitglieder der Stimme der Vorsicht. Er
blieb neben Ticos stehen. Die anderen zogen sich zum Heck des Bootes zurück, als es wieder in die Lagune hinauslief. Moga sprach kurz in einen Kommunikator und sagte dann zu Nila: »Die Ewiglebenden versammeln sich, um die Wächterin zu hören ...« Sie fragte nicht nach dem Ort der Versammlung. Eine Tuvela würde für solche Einzelheiten kein Interesse haben. Von einem entfernteren Teil der Lagune klang ein ärgerliches Pfeifen herüber. Sweeting konnte ihren Schritt noch immer nicht billigen. Der Ton zerrte an Nilas Nerven. Sie hatte Angst; und zu wissen, daß sie sich gerade jetzt absolut keine Angstgefühle leisten durfte, machte die Sache nur noch schlimmer. Sie versuchte sich auf das zu konzentrieren, was sie den Ewiglebenden sagen würde, um Fragen zuvorzukommen, die sie beantworten müßte. Es gelang ihr nicht allzu gut. Doch ihre Nerven beruhigten sich allmählich wieder. Stämmige Oganoon, die bis an die Zähne bewaffnet waren, bewachten den Seeingang des Blockhauses. Das Boot fuhr durch einen Tunnel und wurde an einer Plattform festgemacht. Nila folgte Moga in das Innere des Baus. Ticos blieb, getreu seiner Rolle, ein paar Schritt zurück. Nach dem Vorstellungsakt hatte sie nicht mehr zu ihm gesprochen. Auf der nächsten Plattform bemerkte sie, daß er zurückgeblieben war.
Der Palach Moga blieb vor einem geschlossenen Tor stehen. »Wenn die Wächterin die Güte hat, hier zu warten ... Ich will mich davon überzeugen, daß die Versammlung bereit ist ...« Nila wartete. Nach einigen Augenblicken öffnete sich das Tor wieder, und der Palach kam zurück. Er trug eine juwelenbesetzte Tasche, die an einem langen Riemen über seiner Schulter hing. Nila hatte den Eindruck, daß er sich unbehaglich fühlte. »Wenn die Wächterin gestattet ... Hinter diesem Tor sind Großpalache versammelt. Sie sind unbewaffnet. Sie würden es lieber sehen, wenn sich die Wächterin nicht mit einer Waffe in der Hand an sie wendet.« Wenn es ihr nicht gelang, sie zu überzeugen, würde sie hinter diesem Tor sterben, ging es Nila durch den Kopf. Doch eine Tuvela hatte es in diesem Stadium nicht nötig, aus einer Waffe Mut zu beziehen – und die UW-Pistole allein würde nicht genügen, ihr den Rückweg durch die Schar der Wachen, denen sie bis jetzt begegnet waren, zu ermöglichen. Sie löste den Halfter vom Gurt und streckte ihn Moga hin. Dieser steckte ihn vorsichtig in die Tasche und zog dann das Tor auf. Nila ging hinein. Einen Moment lang hatte sie den Eindruck, im Vorraum einer großen, düsteren Halle zu stehen – einer
Halle, die bei weitem zu groß war, um Teil dieses Gebäudes im Flutwald sein zu können. Dann erkannte sie, daß die ganze gegenüberliegende Wand von einem Bildschirm eingenommen wurde. Mit ihr im Raum befanden sich mehr als ein Dutzend Großpalache, die zu beiden Seiten entlang der Wand kauerten ... Geschöpfe, kaum größer als Koll, in vielfarbigen steifen Gewändern und ebenso bunten Hüten. Die übrigen Ewiglebenden, Palache und Großpalache aller Grade, hockten in langen Reihen in der Halle, die ein Teil des unterseeischen Hauptquartiers der Parahuane sein mußte. Zwischen ihnen schwappte Wasser über den Boden. Reglos und schweigend starrten die versammelten Amphibien aus dem Dunkel zu ihr empor. Nila hörte, wie sich hinter ihr leise das Eingangstor schloß. Und seltsamerweise wich in diesem Moment all ihre Unsicherheit. Eine kühle, helle Klarheit schien sich in ihrem Geist auszubreiten ... Sie bemerkte, daß sie sich vorwärts bewegt hatte und mitten im Raum gegenüber dem großen Bildschirm stand. Die Tuvela begann zu sprechen, wobei sie ihre Worte mit eiskalter Präzision wählte.
7 Das Auffallendste in dem großen Raum des Blockhauses, den die Parahuane Ticos Cay als Arbeitsraum zugewiesen hatten, war die Sammlung lebender Forschungsexemplare. Die Lebensformen der Treibholzinsel füllten säuberlich beschriftet ausladende Regale oder waren an drei Wänden entlang in ihrer ursprünglichen Umgebung aufgereiht, saßen auf Treibholzästen oder hingen daran herunter, wurzelten in Waldhumus, schwebten in Lagunenwasser oder drängten sich unter durchsichtigen Kuppeln zusammen. Sie variierten von mikroskopisch kleinen Organismen bis zu solchen mit einer Ausdehnung von zehn Metern. Die meisten befanden sich in einem biologischen Starrezustand, der ihren Stoffwechsel um den Faktor von einigen Millionen verlangsamte, ausbalanciert durch Enzym-Kontrolle. Anders wäre es kaum möglich gewesen, hier zu existieren. Die Wächterin hatte an den Fortschritten, die Dr. Cay mit seinen Projekten erzielt hatte, wenig auszusetzen. »Soweit recht ordentlich«, meinte sie anerkennend, was für die Ohren etwaiger Lauscher bestimmt war. Sie tippte auf die Tabellen, die er ihr zur Inspektion übergeben hatte, und legte sie ins Fach zurück. »Es ist jedoch sehr enttäuschend, daß mein Ein-
greifen in einer Angelegenheit notwendig wurde, von der wir erwartet hatten, Sie würden sie selbständig meistern.« »Mit etwas mehr Zeit hätte ich es vielleicht geschafft!« wandte Ticos demütig ein. »Aber wie Sie wissen, wurde ich durch eine Anzahl störrischer Wesen behindert.« »Ich weiß – ich selbst bin einem davon begegnet. Aber es war kaum eine Frage der Zeit. Die Fakten lagen klar auf der Hand. Wenn sie mit angemessener Klarheit vorgetragen worden wären, hätte eine vernünftige Mehrheit unserer ungeladenen Gäste die richtigen Schlüsse gezogen und sich danach verhalten. Wir müssen das als Versagen werten. Sie brauchen es sich jedoch nicht allzu sehr zu Herzen zu nehmen. Sie haben auf Ihrem Hauptgebiet so gründliche Arbeit geleistet, daß Ihr Versagen dadurch, zumindest teilweise, aufgehoben ist.« Ticos murmelte seinen Dank und stürzte sich mit offensichtlicher Erleichterung wieder auf die Erläuterung seines Projekts. Nila blickte auf ihre Uhr. Es waren zweiundvierzig Minuten vergangen, seit sie mit ausgesuchter Höflichkeit vom Versammlungsraum zum Labor geleitet und dort mit Ticos alleingelassen worden war. Seitdem hatte sie von den Ewiglebenden nichts mehr gehört, und auch der Palach Moga war noch nicht wieder mit ihrer Waffe aufge-
taucht. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Während ihrer großen Ansprache war sie fast eine Tuvela gewesen. Sie hatte sie in Grund und Boden geredet. Ein Gefühl der Erhabenheit hatte sie beseelt. Alle Zweifel waren wie fortgefegt. Die nächstsitzenden Großpalache waren während ihrer Rede weiter zurück an die Wände gerückt und hatten ihre Blicke unruhig erwidert. Danach eine große Ernüchterung. Nichts mehr von einer Tuvela und Wächterin. Nur noch ein verstörtes Menschlein in einer möglicherweise ganz üblen Lage, für das viel zu viel auf dem Spiel stand. Wenn sie sich die leiseste Ungeschicklichkeit, den kleinsten Ausrutscher erlaubt hatte – Im Moment war sie von diesen extremen Zuständen entfernt und wieder im Bereich des Normalen, zwar noch voller Sorge, doch schon wieder eifrig Möglichkeiten wägend und Pläne schmiedend, soweit die Umstände es zuließen. Ein Gegenstand ihrer Überlegungen war dieser Raum selbst. Lang, breit und hoch mußte er irgendwo im oberen Teil des Gebäudes liegen – nach Verlassen des Versammlungsraums war sie wieder Treppen hinaufgestiegen. An beiden Enden des Laboratoriums befanden sich Türen, die jetzt vermutlich verschlossen waren. Letzteres spielte keine große Rolle, da sich ohne allen Zweifel bewaffnete Oganoon vor jeder Tür
scharten, die sicherstellen sollten, daß die Wächterin und ihr Wissenschaftler sich während der Beratung nicht davonmachten. Von der Tür zur Linken führte ein erhöhter Gehweg zu einer Plattform nahe der Raummitte, die etwa ein Meter zwanzig über dem Boden lag. Ticos hatte erklärt, daß die Palache sich normalerweise dorthin begaben, wenn sie mit ihm zu verhandeln hatten. Licht kam von Leuchtstäben, die in Decke und Wände eingelassen waren – primitiv, aber wirksam. Ebenso einfache Ventilatorenanlagen taten den Erfordernissen des Laboratoriums vollkommen Genüge. Dicht unter der Decke an einer Wand war ein breites, dunkles Rechteck zu sehen, das von einem Gitter umgeben war. Dahinter befand sich ein unsichtbares Fenster. Die salzigfeuchte, würzige Waldluft zirkulierte ständig im Raum; andernfalls wären viele von Ticos' Forschungsobjekten binnen weniger Tage eingegangen. Doch die Sturmböen, die das Blockhaus gelegentlich erzittern ließen, wurden vor dem Fenster abgefangen, und es drang kaum ein Laut herein. Das dunkle Rechteck war also ein Energieschirm. Er ließ keinen Lichtstrahl hinaus und würde für feste Objekte wie etwa einen menschlichen Körper sicherlich undurchdringlich sein. Die Schirm-Kontrollen mußten sich außerhalb des Raums befinden, sonst hätte Ticos sie darauf hingewiesen. Aber es gab auf
beiden Seiten des Gitters, welches das Rechteck umschloß, eine bucklige Erhebung. Und darunter befanden sich die Generatoren ... Womit die Frage nach Werkzeugen und Waffen oder waffenähnlichen Gegenständen aufgeworfen war. Ihre UW-Pistole war wohl in keinerlei Hinsicht zu ersetzen. Aber es gab andere Möglichkeiten. Auf dem mittleren Arbeitstisch hatte Ticos ein Mehrzweckgerät zum Schneiden und Zusammenfügen liegengelassen, das sich als nützlich erweisen konnte. Ein weiterer wichtiger Faktor konnte das mit dichten Reihen kleiner Drucktasten ausgestattete Instrument sein, das Ticos an seinem Gürtel trug und mit dem er das innere Gleichgewicht und die individuellen Umweltbedingungen seiner verschiedenen Versuchsobjekte regelte. Die einzigen echten Waffen weit und breit waren die Gewehre in den Händen der drei parahuanischen Wachposten, die im abgesonderten Teil des Raums zur Rechten phlegmatisch in sechzig Zentimeter tiefem Wasser hockten. Von der Plattform aus hatte Nila über die Trennwand kurz einen Blick zu ihnen hinübergeworfen. Zwei von ihnen hockten mit dem Gesicht zur Wand; der dritte hatte sein Gesicht der Ausgangstür zugewandt. Keiner von ihnen bewegte sich, während sie sie musterte. Aber sie machten den Eindruck, als könnten sie sehr rasch reagieren. Bei den
Gewehren handelte es sich um schwerkalibrige, kurzläufige Schußwaffen, die für Hände, viermal so groß wie ihre eigenen, gebaut waren. Auf einem Tisch stand Ticos Cays Kommunikator. Die Gewehre waren höchstens als negativer Faktor zu berücksichtigen. Aber mit einem SotiraRennschlitten in der Nähe, der auf der Nahkontaktwelle zu erreichen war, wurde der Kommunikator zu einem sehr wesentlichen Faktor. Die Ewiglebenden hatten in ihrer nervösen Unsicherheit verfügt, daß er jederzeit einsatzbereit sein müsse, falls sie gezwungen waren, über Dr. Cay dringende Verhandlungen mit den Tuvelas aufzunehmen. Die Wachen waren aufgestellt, um mit jedermann kurzen Prozeß zu machen, der ihn anderweitig zu benutzen versuchte. Ticos Cay selbst war natürlich ebenfalls ein wichtiger Faktor. In physischer Hinsicht konnte er eine schwerwiegende Belastung werden, wenn die Dinge nicht den erwünschten Lauf nahmen. Sein Körper hatte die alte Spannkraft verloren; er war ein geschwächter alter Mann. Selbst wenn er lächelte, wirkte sein Gesicht verzerrt. Wochenlang hatte er körperliche Schmerzen von seinem Bewußtsein ferngehalten; doch sein Organismus hatte unter den fast unerträglichen Belastungen gelitten und schien sich dem Tod zuzuneigen. Selbstverständlich wußte Ticos das. Geistig schien er kaum beeinträchtigt zu sein. Seine
Sprechweise mochte ein wenig verlangsamt sein, doch nicht wesentlich. Nila glaubte, daß sie sich im Notfall, wenn es auf schnelle und genaue Reaktionen ankam, auf ihn verlassen konnte. Denn der letzte Gesichtspunkt ihrer Erwägungen war Ticos Cays Sammlung von Lebensformen der Treibholzinsel. Auf dem Arbeitstisch lagen in der Nähe des Schneidegeräts, das sie bereits registriert hatte, einige Objekte, die aussahen wie hartschalige, runzlige graue Früchte, doppelt so groß wie ihre Faust. Ticos hatte sie einem Behälter entnommen, um ihr zu erklären, in welcher Weise sie seiner Forschung dienten, und sie dann auf dem Tisch liegen gelassen. Sie wurden Bohrwurmäpfel genannt, und die Schalen zeigten an, daß sie reif waren. Was man über reife Bohrwurmäpfel wissen mußte, war, daß sie ruhig blieben, bis sie dem spezifischen Außenreiz von Salzwasser ausgesetzt wurden. In dem Moment zerplatzten sie, und die Bohrwürmer kamen heraus ... Diese Äpfel waren ein ziemlich zweifelhaftes Forschungsobjekt. Und sie waren nicht die einzigen dieser Art hier. Rund eine von fünfzig Lebensformen, die die Regale und Wände bevölkerten, hatte Nila beim ersten Anblick oder beim Einatmen ihres Geruchs innerlich zurückschrecken lassen. Die Mitte des Raums beherrschte eine große, purpurblättrige Inhis, deren fahlblaue Blätter ihrer Pseudoblüten fest einge-
rollt waren. In den Wäldern hätte Nila sich keiner von ihnen weiter als auf zehn Meter Abstand genähert. Sie war als pflanzliche Art klassifiziert. Eine Pflanze mit blitzschnellen Reaktionen. Die Schlittenmänner hatten sie mit gutem Grund Harpunier genannt. Seit Wochen stand sie jetzt drohend dort, genau hinter den Palachen, wenn diese sich auf die Plattform gekauert hatten und auf ihren menschlichen Gefangenen hinunterstarrten ... Sie befand sich jetzt im Schlafzustand wie die meisten der unberechenbaren Spezien – war vollkommen harmlos, ein unendlich verlangsamter Metabolismus. Sie würde so weiterdämmern, bis ihr ein genau berechneter Stimulus gegeben wurde, ein massiver Enzym-Stoß oder ähnliches, der die Starre löste. Und wer war in der Lage, einen solchen Stimulus auszulösen? Nun, kein anderer als Dr. Cay mit seinem Kontrollapparat. Er hatte sichergestellt, daß zumindest einige der Feinde mit ihm in den Tod gehen würden, wenn es zum Äußersten kommen sollte. Was zwar keine abgeklärte wissenschaftliche Haltung sein mochte, aber sicherlich eine sehr menschliche ... Nila warf noch einen Blick auf ihre Uhr. Dreiundvierzig Minuten und dreißig Sekunden. Die Tür zur Linken tat sich auf.
Der Palach Moga kam als erster den Gehweg entlang. Die Tasche, in der die UW-Pistole verschwunden war, baumelte von seiner Schulter. Dieser Umstand hätte beruhigend wirken können, wenn die Gruppe hinter ihm nicht so sehr einem Exekutionskommando geglichen hätte. Nila, die mit dem Rücken zum Arbeitstisch stand, bemühte sich zu verbergen, daß ihre Nerven zum Zerreißen angespannt waren. Ticos warf ihr einen unsicheren, fragenden Blick zu, dann drehte er sich um, ging langsam den Tisch entlang und blieb ein paar Meter entfernt stehen, um die Parahuane zu beobachten. Die Finger seiner rechten Hand spielten geistesabwesend mit dem Kontrollgerät. Moga näherte sich der Plattform in seiner grotesken, aufrechten Gangart, wobei er seine Flossenfüße sorgfältig einen vor den anderen setzte. Zwei Oganoon-Wachen folgten ihm, die Nila anstarrten und massive, kurzläufige Schußwaffen bereit hielten. Zwei unbekannte Palache kamen in kompromißlosem Watschelgang hinterher. Die Gurte ihrer Harnische zeigten das gleiche leuchtende Rot; in beiden Händen trugen sie schwere Waffen. Zwei weitere Wachen bildeten den Schluß der Prozession. Sie hatten ihre Gewehre über den Rücken gehängt und trugen so etwas wie zusammengefaltete schwarze Netze in den Händen. Ein fünfter Posten war im Gefolge der Gruppe zur Tür hereingekom-
men, die wieder geschlossen worden war. Er schleppte eine andere Art von Schußwaffe mit einem langen, schmalen Lauf, die auf einem klobigen Dreifuß befestigt war. Er setzte sie mit einem Plumps auf dem Gehsteig ab und kauerte sich dahinter. Der Lauf der Waffe schwang herum, bis die Mündung genau auf Nila zeigte. Sie machte keine Bewegung. Sie mußte ihnen Anlaß gegeben haben, ihr nicht zu trauen. Die Gruppe hatte die Plattform erreicht und verteilte sich. Moga stellte sich nahe am Rand auf, flankiert von den beiden Palachen im roten Harnisch, die den Griff ihrer Waffen fest umschlossen hielten. Rechts und links von ihnen stellten sich die beiden Wachen mit den Gewehren auf. Die beiden Wachen mit den schwarzen Netzen blieben weiter hinten auf der linken Seite der Plattform stehen. Soweit Nila das beurteilen konnte, zeigten die Gesichter der Parahuane Anzeichen starker nervöser Spannung – die Sprechschlitze zuckten, und die Lider der oberen Augen flatterten. Alle Augen waren auf sie, die Tuvela, gerichtet. Niemand blickte zu Ticos Cay hinüber. »Wächterin, ich werde zuerst für mich selbst sprechen«, sagte Moga unvermittelt. Nila antwortete nicht. »Ich bin in großer Angst um Porad Anz«, fuhr Moga fort. »Als Sie sich bereit erklärten, zu den Ewiglebenden zu sprechen, war ich
sicher, daß Ihre Mission Erfolg haben würde und das Gleichgewicht der Vernunft zustimmen würde. Die Versammlung war von Ihrer Rede sehr beeindruckt. Aber inzwischen haben sich unvorhergesehene Dinge ereignet. Die Stimme der Aktion hat sich mit Gewalt an die Spitze unserer Streitkräfte gesetzt. Das ist ein Bruch mit allen Gewohnheiten, eine Gesetzesübertretung ersten Grades – aber so etwas scheint nicht mehr wichtig zu sein. Hier auf dem Kommandoschiff und andernorts hat es viele Tote gegeben, Großpalache und Palache. Die Überlebenden haben sich der Stimme der Aktion unterworfen, die nun allein die Entscheidungen trifft. Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, was beschlossen worden ist. Und nachdem ich für mich selbst gesprochen habe, werde ich jetzt mit den Worten der Stimme der Aktion sprechen.« Schweigen. Die Gruppe auf der Plattform verharrte vollkommen reglos. Nila betrachtete sie; sie starrten Nila an. Die Palache mit dem roten Harnisch repräsentierten also die Stimme der Aktion ... Sie mußten äußerst mutige Geschöpfe sein. Sie hatten das Labor betreten, um sich einer Legende entgegenzustellen. Jetzt warteten sie darauf, wie die Tuvela auf Mogas Aussage reagieren würde. Die Tuvela verharrte ebenfalls reglos und schweigend.
Der Palach rechts von Moga begann unvermittelt parahuanische Pfeiftöne und Zischlaute auszustoßen, wobei er Nila unverwandt anstarrte. Nach etwa dreißig Sekunden hielt er inne. Moga fing sofort an zu übersetzen. »Wie immer Sie sich nennen mögen, Sie sind eine Tuvela. Das wissen wir jetzt. Sie haben Porad Anz im Namen Ihrer Art bedroht. Das können wir nicht dulden. Sie haben gesagt, daß die Ewiglebenden bei einer feindlichen Begegnung mit den Wächtern geschlagen werden müssen. Diese Lüge soll nun ein für allemal widerlegt werden ...« Moga wartete. Der rotgeharnischte Palach begann wieder zu sprechen. Der zweite Palach wandte kurz den Kopf zu den zwei Oganoon mit den Netzen und sagte etwas zu ihnen. Sie entfalteten die Netze. An den Rändern hingen schwarze Riemen herab ... Moga fuhr fort zu dolmetschen. »Die Stimme der Aktion bietet Ihnen und Dr. Cay den schmerzhaften, aber ehrenwerten Tod eines Palachs an. Wenn Sie einverstanden sind, werden Sie sich freiwillig in diese Netze begeben. Wenn Sie versuchen sollten, Widerstand zu leisten, wird man Sie niederschießen wie einen Hulon. In jedem Fall wird Ihr Tod das Signal zum Angriff auf Ihre Welt sein, Tuvela. Nun zeigen Sie, ob Sie als Tuvela die Macht haben, unsere Absichten zu verhindern.«
Hinter der Gruppe sank der Parahuan, der in der Nähe der Tür hockte, lautlos über seiner Waffe zusammen. Grüne Dämpfe, die einer Lebensform an der Wand hinter ihm entstiegen, hüllten seinen Kopf und Oberkörper ein. Die Wachen auf der Plattform richteten ihre Waffen auf Nila. Ebenso die beiden rotgeharnischten Palache. Die Pseudoblüten der Harpunierpflanze hinter der Plattform zitterten und gingen wie gelb-blaue Augen auf. Nila warf sich zu Boden. So schnell die Harpunierpflanze auch reagierte, vielleicht war es nicht schnell genug, um zu verhindern, daß die auf Nila gerichteten Waffen abgefeuert wurden. Sie wurden nicht abgefeuert. Statt dessen wurden andere Geräusche laut. Mit einem dumpfen Aufprall landete ein Gegenstand nicht weit von ihr auf dem Boden. Überrascht erkannte Nila darin die Tasche, die Moga bei sich getragen hatte. Sie richtete sich auf, ergriff zwei der grauschaligen Bohrwurmäpfel und schleuderte sie über die Trennwand in den mit Wasser überfluteten Teil des Raums. Sie hörte, wie sie klatschend aufschlugen. Automatisch begann sie die Sekunden zu zählen. Sie blickte sich um. Die dort oben waren mit weit aufgerissenen doppellinsigen Augen im Tod erstarrt. In ihren Rücken steckten weiße Stacheln, die durch dicke, gewundene Ranken mit den Pseudoblüten des Harpuniers ver-
bunden waren. Vier von ihnen standen noch schwankend auf steif ausgestreckten Beinen. Drei von ihnen hatte die Pflanze mit ihren Ranken von der Plattform zu sich herangezogen. Nila riß Mogas Tasche auf, holte die UW-Pistole hervor und befestigte sie an ihrem Klettergürtel, als die dreißig Sekunden, die sie im Geist gezählt hatte, um waren. Von drüben hinter der Trennwand waren einige klatschende Geräusche herübergedrungen, doch jetzt war es still. Ticos, der das Kontrollgerät in beiden Händen hielt, nickte ihr zu. Sie stellte ihren Klettergürtel auf Gewichtreduzierung ein, sprang an der Trennwand hoch, hielt sich mit den Händen an der Kante fest und kletterte hinüber. Vor sieben Jahren hatte sie einmal miterlebt, wie Bohrwürmer sich über einen Taucher hergemacht hatten. So etwas konnte passieren, wenn man sich zufällig in dem Augenblick, in dem ein Bohrwurmapfel durch den Wald hindurch ins Salzwasser fiel und dabei aufbrach, in der Nähe befand. Im gleichen Augenblick lösten sich Tausende von kleinen, schwarzen, sich windenden Würmern aus der Schale und fielen über den nächsten lebenden Körper her, in den sie sich im Nu hineinbohrten. Alle drei Wachen lagen mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Zwei von ihnen bewegten sich nicht mehr. Der Körper des dritten zitterte ununterbro-
chen, während sich so etwas wie ein beweglicher schwarzer Pelz über ihn ausbreitete. Alle drei waren betäubt und würden in wenigen Minuten tot sein, wenn die Würmer sich weiter durch sie hindurchgefressen hatten. Für Nila war der Weg frei. Die Würmer waren beschäftigt. Sie lief zu dem Tisch, auf dem Ticos' Kommunikator stand, drehte an den Knöpfen und wartete einen Augenblick, um Atem zu schöpfen. »Sotira-Doncar!« sagte sie dann in die Sprechmuschel. »Sotira-Doncar! Hier sind Parahuane! Parahuane!« Dann schaltete sie den Kommunikator ab. Eine Antwort abzuwarten blieb keine Zeit – »Können Sie die Stinknebel in Bewegung setzen?« »Natürlich, aber –« »Dann tun Sie es!« Sie legte ihm den Klettergürtel um. »Wenn wir es schaffen, hier herauszukommen, können sie uns nichts mehr anhaben.« Ticos blickte zweifelnd zu dem rechteckigen Fenster hinauf. »Ja, wenn –« meinte er. Er drückte eine Taste seines Geräts. »Die Stinknebel sind angeregt. Und jetzt?« Nila bückte sich und verschränkte ihre Finger ineinander. »Steigen Sie darauf und versuchen Sie das Gleichgewicht zu halten. Ich werde Sie hochdrücken.
Dann halten Sie sich am Gitter fest und werfen mir den Gürtel herab!« Sie stemmte ihn mit aller Kraft hoch. Ticos bekam das Gitter zu fassen, hakte sich mit einem Arm ein und warf ihr den Gürtel zu. Dunkle Schwaden begannen den Stinknebeln nahe der Eingangstür zu entsteigen, als Nila sich den Gürtel umband. Ticos hielt sich jetzt mit beiden Händen am Gitter fest. Nila sprang in die Höhe, umklammerte seine Knöchel und kletterte an ihm hinauf. Kurz darauf hatte sie ihre Beine über eine Gitterstange geschlagen und den Klettergürtel wieder um Ticos' Leib geschlungen. Schwer atmend zog er sich neben ihr hoch und griff dann zu seinem Kontrollgerät. »Da unten ist alles vernebelt«, keuchte er. »Ich kann die Tür nicht mehr sehen. Vielleicht setze ich noch ein paar Ungeheuer in Bewegung. Was meinen Sie?« »So viele Sie können, ohne uns selbst zu gefährden.« Außerhalb des Labors mußte man inzwischen wissen, daß die Exekutionspläne auf Widerstand gestoßen waren. Während Nila sich mit den Knien und der linken Hand am Gitter festklammerte, richtete sie die UW-Pistole auf den Buckel in der Gitterfassung, unter dem sich ein Energieschirm-Generator befinden mußte. Unter dem Feuerstrahl begann die Fassung zu glühen. Plötzlich war sie von einem unglaublichen
Gestank umgeben, der ihr die Kehle zuschnürte und das Wasser in die Augen trieb. Sie hörte Ticos husten und spucken. Dann gab die Fassung nach. Irgend etwas im Innern barst und splitterte. Frische, salzige Luft wehte herein. »Hinaus, Ticos! Der Energieschirm ist fort!« Sie schwang sich nach oben, schob einen Arm über den Sims. Plötzlich spürte sie einen Stich in der Schulter. Nervengas! Parahuane im Labor ... Unter sich hörte sie Ticos stöhnen. Sie spähte durch den Nebel hinab. Ticos war das Kontrollgerät entfallen. Er klammerte sich, von Zuckungen geschüttelt, mit beiden Händen am Gitter fest. Nila packte ihn am Arm und zog ihn zu sich hinaus. Während er sich an den nächsten Ästen festhielt, blickte sie noch einmal zurück. Das Laboratorium war vor Nebelschwaden kaum zu erkennen. Sie hörte ein wütendes Pfeifen und Zischen – Parahuane, die von außen eingedrungen waren, mußten mit aktivierten Versuchsobjekten in Berührung gekommen sein. Sie sah gedrungene Gestalten durch den Nebel tappen, von dem sie langsam erstickt wurden. Doch einer von ihnen mußte Ticos vorher noch erkannt und eine Nervengaspistole auf ihn abgefeuert haben ... Um sicherzugehen, daß keiner von denen dort unten den Raum mehr verlassen und berichten konnte,
daß die Gefangenen durch das Energieschirmfenster geflohen waren, schoß sie auf zwei Glasbehälter, denen gleich darauf giftige weißliche Dämpfe entströmten. Ein dritter Schuß, der auf die zentrale Leuchtröhre gerichtet war, löste dort eine kleine Explosion aus, und dann lag das Laboratorium in Dunkelheit. Nila drehte sich zu Ticos um, der sich von Zuckungen geschüttelt an Zweigen festklammerte. »Sind Sie schwer getroffen worden?« fragte sie rasch. »Ich weiß nicht«, brummte er. »Ich bin kein Waffenspezialist. Was war das eigentlich? So etwas wie Nervengas?« »Wahrscheinlich. Sie haben nicht die volle Ladung abbekommen, sonst wären Sie jetzt nicht mehr auf den Beinen. Wenn Sie den Klettergürtel eingeschaltet haben, könnte ich Sie tragen. Aber wenn Sie selbst gehen können –« »Ich kann gehen. Ich kann die Schmerzen niederhalten. Wenn ich Sie nur nicht zu sehr aufhalte.« »Probieren wir es mal«, sagte Nila. »Sie werden uns nicht so bald folgen. Geben Sie mir Bescheid, wenn es zu schwierig für Sie wird ...« Das Bündel mit ihren Sachen lag eingeklemmt zwischen den Baumstämmen, wo sie es zurückgelassen hatte. Sie öffnete es hastig. Ticos stand gebeugt und keuchend hinter ihr und hielt sich an Zweigen fest.
Nila war selbst ziemlich erschöpft. Sie waren vom Dach des Blockhauses geradewegs in den Wald hinaufgestiegen, hatten sich bis in die Nähe des SeeHaval-Brutplatzes durchgeschlagen und waren dann wieder in Richtung auf die Lagune hinabgestiegen. Diesmal war es für sie kein flockenleichter Tanz über Baumstämme gewesen, sondern sie hatte ihr eigenes Gewicht schleppen müssen und spürte die Anstrengung in ihren Muskeln. Dennoch war es Ticos, der mit dem Klettergürtel ausgerüstet war, nicht leichtgefallen, mit ihr Schritt zu halten. Er trug keine Nachtlinsen und war im Gebrauch des Klettergürtels nicht besonders geübt; zudem wurde er in Abständen immer wieder von Krämpfen und Zuckungen geschüttelt, die von dem Nervengas herrührten. Gegen letzteres gab es Gegenmittel, die die Parahuane zweifellos besaßen. Doch im Augenblick war nichts dergleichen verfügbar. Er mußte durchhalten. Noch fünf bis zehn Minuten Kletterei, dann hatten sie es fürs erste geschafft, dachte Nila. Sie wußte, daß Ticos am Ende seiner Kraft war. Wenn die Ladung Nervengas ihn zentraler getroffen hätte, wäre er wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Und auch so war die Gefahr noch nicht überstanden. Sie holte ein zweites Paar Nachtlinsen aus der Tasche und reichte sie ihm. »Setzen Sie lieber Nachtaugen auf.«
»Wie? Oh, danke. Die kann ich gebrauchen.« Von der Lagune klangen schrille Pfeiftöne herauf. Ticos' Kopf fuhr herum. »Das klang fast so wie eine Ihrer Ottern.« »Das war Sweeting.« Nila hatte in den letzten Minuten schon mehrfach das Pfeifen vernommen, ohne es zu erwähnen. Sie holte das Stück Buti hervor. »Sitzen die Linsen richtig?« »Ja.« »Gut. Dann reiben Sie sich jetzt mit Buti-Saft ein. Wir werden vielleicht bald ein Problem haben.« Ticos nahm das Buti-Stück und begann eilig, seine Kleidung einzureiben. »Parahuane?« fragte er. »Vielleicht. Irgend etwas scheint durch die Lagune auf uns zuzukommen. Das eben war Sweetings Warnsignal. Wußten Sie, daß Ihre Freunde einen Tarm bei sich haben?« »Ich habe ihn gesehen.« In seiner Stimme lag Schrecken, aber er fuhr ohne Unterbrechung mit dem Einreiben fort. »Und Sie glauben, das ist es, was –« »Wahrscheinlich ist es eher der Tarm als Parahuane.« »Was können wir tun, Nila?« »Buti-Saft scheint eine gute Tarnung zu sein, wenn er uns nicht sieht. Er war schon einmal ganz in meiner Nähe. Wenn er hier heraufkommt, wird er vermutlich unsere Fährte finden. Ich schau mal eben
nach, was Sweeting zu berichten hat. Sie bleiben so lange hier und reiben sich ganz ein – nur die Schuhsohlen noch nicht.« »Weshalb nicht?« »Vielleicht können wir den Tarm hier abschütteln. Er ist unter Umständen auch nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte.« Er blickte kurz auf und ließ so etwas wie ein Lachen hören. »Noch mehr Tuvela-Zauberei?« »Diese Tuvela hat kleine Helfer ...« Nila befestigte die Otternpfeife am Handgelenk und begab sich rasch zur Lagune hinunter. Nach kurzer Zeit tauchte Sweeting auf. »Nila, paß auf! Der Tarm kommt!« Wenig später war Nila wieder bei Ticos. Der Tarm näherte sich ihnen durch den Treibholzwald. Entweder folgte er ihrer Fährte, oder er bewegte sich blindlings voran, weil er bereits die Wirkung der Giftdorne spürte, welche die wilden Ottern ihm unter dem Blockhaus eingepflanzt hatten. Sweeting hatte berichtet, daß seine Bewegungen schwerfällig geworden seien. Aber eine Zeitlang konnte er noch sehr gefährlich sein. Weitere Erklärungen verschob Nila auf später, und Ticos forderte keine von ihr. Sie eilten zur Lagune
hinunter. Wenn der Tarm nicht zur Seite ausbrach, mußte er auf ihre Fährte stoßen, die an der Lagune enden sollte. Sobald er im Wasser nach ihnen weiterzusuchen begann, würden die Ottern danach trachten, ihn zu erledigen. Sie rieben ihre Schuhsohlen dicht am Wasser mit Buti-Saft ein. Als sie damit fertig waren, hörten sie nicht weit entfernt warnendes Otterpfeifen. Nila kletterte hinauf in den Wald, dicht gefolgt von Ticos, dessen Furcht vor dem Tarm größer war als seine Erschöpfung. Nach etwa dreißig Metern blieb Nila plötzlich stehen. »Schnell, Ticos, legen Sie sich hin!« Sie kauerte sich neben ihm auf dem Stamm, den sie gerade überqueren wollten, nieder. Unter ihnen im Dickicht wurden Geräusche laut, die nicht vom Wind verursacht wurden. Sie schienen sich der Stelle zu nähern, die sie kurz zuvor verlassen hatten. Dann erblickte Nila zum drittenmal den Tarm. Ticos neben ihr erstarrte. Er hatte das Ungeheuer ebenfalls erspäht. Obwohl Nila ihre Nachtlinsen trug, konnte sie keine Einzelheiten erkennen. Das Ungeheuer glitt wie ein fetter Wurm zwischen den Stämmen hindurch. Sie starrte es fasziniert und wie betäubt an, und dann bemerkte sie, daß es stehengeblieben war – ungefähr an der Stelle, wo ihre Fährte zum Wasser führte und endete.
Plötzlich begann es laut zu schnüffeln und die Luft einzusaugen. Die helle Masse schien sich dabei aufzublähen und wieder zusammenzusacken. Das Untier wandte sich ab und glitt zurück in den Wald. Ticos schluckte. »Es kommt –« »Es folgt unserer alten Fährte. Es kommt nicht hierher.« Er seufzte erleichtert. Sie folgten ihm mit den Augen, bis es verschwunden war. Sekunden vergingen. Schließlich blickte Ticos Nila fragend an. Sie schüttelte den Kopf. Es war besser, wenn sie sich jetzt nicht bewegten ... Und dann tauchte der Tarm wieder auf und folgte ihrer Fährte bis zum Ufer. Diesmal glitt er ohne zu zögern ins Wasser und tauchte unter. Otternpfiffe begrüßten seine Ankunft. Sie machten sich sofort auf den Weg. Nila suchte die leichtesten Pfade aus – breite Äste, schräg ansteigende Stämme. Zu mehr war Ticos nicht in der Lage; er keuchte, glitt ständig aus oder stolperte. Schließlich hielt sie an, um ihm eine Verschnaufpause zu gönnen. »Was ist los?« fragte er. »Es hat keinen Sinn, wenn Sie sich jetzt zu Tode hetzen«, erklärte Nila. »Wahrscheinlich hat man noch gar nicht bemerkt, daß wir nicht tot im Labor liegen.« Er brummte. »Wenn sie das Laboratorium noch
nicht durchsucht haben, dann werden sie es bald tun. Sie können sich gegen die giftigen Dämpfe schützen. Und irgend jemandem müßte inzwischen das Fenster eingefallen sein.« Nila zuckte die Achseln. Der Tarm konnte ihr Angst einflößen, aber um parahuanische Verfolger machte sie sich im Augenblick keine allzu großen Sorgen. »Wir haben einen großen Vorsprung«, meinte sie. »Wenn sie unsere Spur bis zur Lagune verfolgen, werden sie nicht wissen, wo sie weiter nach uns suchen sollen. Wir könnten überall auf der Insel sein.« Sie zögerte. »Wenn sie noch ein wenig Verstand besitzen, werden sie an uns überhaupt keine Zeit mehr verschwenden. Sie werden so rasch wie möglich das Festland angreifen. Das ist es, was ich fürchte.« Ticos kicherte in sich hinein. »Das können sie eben nicht, jedenfalls eine Zeitlang nicht!« »Weshalb nicht?« »Das ist ihre Art zu denken. Die Stimme der Aktion konnte ihr Vorgehen nur dadurch rechtfertigen, daß sie den Beweis erbrachte, daß Tuvelas vernichtet werden können. Nachdem ihr dies nicht gelungen ist, werden wieder stundenlange Debatten geführt werden, bevor man sich zum nächsten Schritt entschließt. Daneben wird man allerdings eingehend nach Ihnen suchen. Und wenn wir hier noch lange warten, könnten sie Erfolg haben. Wie weit ist es noch bis zum Inkubator?«
Nila überlegte. »Es können nicht mehr als vierhundert Meter sein. Wir müssen allerdings ziemlich viel klettern.« »Dann lassen Sie uns klettern«, meinte Ticos. »So lange halte ich schon noch durch.«
8 Der Inkubator war eine locker organisierte ZellenKolonie und sah aus wie der kugelförmige Auswuchs des Treibholzstammes, an dem er wuchs. Das Äußere der Kugel bestand aus einer Dornenhecke. Das Innere war eine runde Höhle von neun Meter Durchmesser, in der sich Samenschoten und andere locker miteinander verbundene Organe befanden. Die Stacheln der Hecke variierten von fingerlangen Dornen bis zu ein Meter langen Dolchen und saßen an beweglichen Zweigen. Es gab nur zwei Geschöpfe, die einem Inkubator hätten Schaden zufügen können, weil sie die Möglichkeit gefunden hatten, durch die Hecke hindurch in das Innere einzudringen. Das eine davon war der Mensch. Das andere Geschöpf kam als Feind nicht in Betracht. Es war die fliegende Kester, ein starkes Flugtier mit einer Flügelspannweite von fünf Metern, das auf den Eismeeren des Südens beheimatet war und mit dem Organismus des Inkubators in symbiotischem Austausch stand. In periodischen Abständen flog sie nach Norden den schwimmenden Inseln entgegen, die der Meralstrom mit sich trieb, suchte die auf ihnen wachsenden Inkubatoren auf und legte ihre ledrigen Eier auf deren Samenschoten, um daraufhin
in ihre kalte Heimat zurückzukehren. Bei diesem Vorgang wurde der befruchtende Blütenstaub des Inkubators auf die Kolonien verteilt, womit die fliegende Kester ihren Anteil an dem symbiotischen Austausch geleistet hatte. Wenn die junge Kester auskroch, produzierten die Samenschoten einen Saft, mit dem sie den zukünftigen Befruchter ernährten, bis dieser kräftig genug war, um seine Pflegeeltern zu verlassen und sich in die Luft aufzuschwingen. Menschen konnten mit Hilfe von Energiewaffen unbeschädigt durch die Hecke gelangen. Einfacher war es, so zu tun, als sei man eine Polarkester. »Er steht gleich dort hinter den Büschen«, sagte Nila. Sie deutete auf einen Teil der Abwehrhecke. »Gehen Sie nicht näher heran.« »Ich hatte nicht die Absicht!« versicherte ihr Ticos. Ihre Annäherung hatte in der Hecke ein wildes Rasseln ausgelöst, das sich so anhörte, als würden trockene Knochen aneinandergeschlagen. Der Inkubator hatte sein Warnsignal gegeben. Ticos blieb hinter Nila stehen und beobachtete, wie sie einen drei Meter langen elastischen Stengel zurechtstutzte, mit dem sie sich Zugang zum Inneren des Inkubators verschaffen wollte. Das war ein Trick, den sie in der Kindheit von ihren Leuten gelernt hatte, die Inkubatorsamen und die Eier der Polarkester als Delikatesse betrachteten. Das aufgefächerte Ende des Stengels hatte Ähnlichkeit mit dem Flügel-
gelenk einer Kester. Wenn eine Kester auf einen Inkubator stieß, pflegte sie mit dem Flügelgelenk über einen der wogenden Zweige der Schutzhecke zu streifen. Nach einigen Berührungen wurde sie daraufhin in das Innere der Kugel eingelassen. Nila trat auf das Gebüsch zu, hinter dem sich der Inkubator befand, und bog vorsichtig die Zweige auseinander. Das warnende Rasseln verstärkte sich. Sie berührte mit der Spitze des Stengels einen der Dornenarme des Inkubators und strich sanft darüber hin. Nach einigen Sekunden hörte der Zweig auf, sich zu bewegen, und versteifte sich. Gleich darauf erstarrten auch die Zweige in der nächsten Umgebung. Das Rasseln verstummte nach und nach. Nila fuhr mit ihren streichelnden Bewegungen fort. Plötzlich bogen sich die Zweige vor ihr zur Seite und gaben eine anderthalb Meter hohe und ein Meter breite Öffnung frei. Sie schlüpften dicht hintereinander hindurch. Nila drehte sich um und berührte das Innere der Hecke mit der Stengelspitze. Die Öffnung schloß sich wieder. Ohne künstliche Hilfsmittel hätten Menschenaugen hier drinnen nichts als Dunkelheit registriert. Doch mit ihren Nachtlinsen konnten sie das Nötigste erkennen. »Hier herüber«, sagte Nila und deutete mit dem Kopf die Richtung an. Das Innere des Inkubators war durch Wände aus
einem öligen Gewebe unterteilt und von seilartigen Fasern durchzogen. In einem Abteil zu ihrer Linken befanden sich sieben der großen, kürbisförmigen Samenschoten. Bis auf zwei hatten alle die Kappen aufgerichtet, ein Anzeichen dafür, daß sie weder befruchtete Samen noch Kestereier bargen. »Sollen wir dort hineinkriechen?« fragte Ticos. Er stand zum erstenmal in einem Inkubator. »Ja, Sie zumindest«, antwortete Nila. »In den Schoten ist es sauber und gemütlich, Sie dürfen sich nur nicht daran stoßen, wenn Ihnen ab und zu etwas Blütenstaub auf die Nase fällt. Der Inkubator ist so organisiert, daß er Ungeziefer abstößt. Wir könnten hier für unbegrenzte Zeit kampieren.« »Macht es ihm denn nichts aus, wenn wir in seinem Innern herumtrampeln?« »Falls er ein Bewußtsein hat, wird er wahrscheinlich annehmen, daß sich eine Kester in ihm aufhält. Gehen Sie nur voran!« Ticos ergriff eine der Fasern, zog sich daran zur nächsten Schote hoch und kletterte hinein. »Schön geräumig hier drinnen«, meinte er, während er den Kopf über den Rand herausstreckte. Er wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn. »Hier, ich möchte Ihnen Ihren Gurt zurückgeben.« »Danke.« Nila band sich den Klettergürtel um. »Wo haben Sie Ihren gelassen?«
»Ich habe ihn in meiner Unterkunft versteckt, als ich den Trupp herankommen sah. Ich dachte mir, ich könnte ihn später vielleicht gebrauchen. Aber ich hatte keine Gelegenheit, ihn zu holen. Wahrscheinlich liegt er noch dort.« »Wie fühlen Sie sich jetzt?« Ticos bewegte die Schultern. »Die Zuckungen haben aufgehört. Ansonsten fühle ich mich körperlich erschöpft und geistig wach. Unangenehm wach sogar. Kennen Sie sich mit Nervengas aus?« »Nur mit dem, was bei uns produziert wird. Aber das parahuanische Nervengas scheint die gleiche Wirkung hervorzurufen. Sie haben offenbar nur einen Streifschuß abbekommen. Die übermäßige Wachheit kann in plötzliche Schläfrigkeit umschlagen. Wenn das eintritt, kämpfen Sie nicht dagegen an. Rollen Sie sich in Ihrer Schote zusammen und schlafen Sie. Das ist im Augenblick die beste Medizin für Sie.« »Nicht im Augenblick«, sagte Ticos entschieden. »Ich möchte, daß Sie mir jetzt, da wir eine kleine Pause haben, einige Fragen beantworten. Das Schiff, mit dem Sie offenbar Kontakt aufgenommen haben –« »Das war ein Rennboot der Schlittenmänner. Es hat auf eine Nachricht von mir gewartet.« »Wieso war es hier?« Nila berichtete ihm in knappen Worten, was vor ihrer Ankunft geschehen war. Als sie geendet hatte,
sagte er: »Dann ahnt also noch niemand, was hier vor sich geht ...« »Vielleicht mit Ausnahme der Tuvelas«, bemerkte Nila trocken. »Ja, die Tuvelas. Ich habe Ihnen da eine harte Nuß zu knacken gegeben, nicht wahr?« »Das kann man wohl sagen. Aber es hat mich immerhin davor bewahrt, einfach abgeschossen zu werden. Die neuerlichen Kommunikationsstörungen auf dem Planeten sind also von den Parahuanen verursacht worden?« »Sie haben das ihre dazu beigetragen. Das gehört mit zum Großen Plan. Sie sind mit den bei uns gebräuchlichen Kommunikationssystemen vertraut. Sie haben schon vor Jahrhunderten die gleichen Hauptsysteme auf ihren Wasserwelten ausgearbeitet. Also wußten sie auch über die Störmöglichkeiten Bescheid.« »Und welchen Sinn hatte das Ganze?« »Man wollte prüfen, wie weit man die Kommunikation auf dem Planeten außer Kraft setzen konnte. Die Menschen sollten sich an die Störungen gewöhnen. Kurz vor dem Angriff sollten sämtliche Funkkanäle blockiert werden. Keine Meldungen durften mehr nach außen dringen. Raumschiffe hätten weder starten noch landen können. Bevor sich jemand außerhalb des Planeten über das totale Schweigen hätte
Gedanken machen können, wollte man ihn erobert haben.« Nila fröstelte. »Das könnte Erfolg haben, nicht wahr?« »Bis zu dem Punkt schon. Ich bin kein ausgebildeter Stratege, aber die lokale Abwehr kommt mir nicht sehr eindrucksvoll vor.« »Sie ist nicht für Invasionen größeren Ausmaßes gedacht.« »Wenn die Stimme der Aktion die bisherige Organisation aufrechterhalten und den Angriff geplant und koordiniert durchführen kann, dann könnten sie meiner Meinung nach Nandy-Cline einnehmen und vielleicht sogar eine Zeitlang halten. Es ist natürlich möglich, daß sie heute nacht zu viele andersdenkende Palache umgebracht haben, so daß ihr Militärapparat nicht mehr einwandfrei funktioniert. Und auf lange Sicht ist der Große Plan einfach idiotisch. Porad Anz und seine Verbündeten haben gegen die Zentralsterne keine Chance.« »Sind Sie dessen sicher?« »Ja. Das geht schon aus ihren eigenen Überlegungen hervor. Sie haben sich auf jede erdenkliche Weise alle möglichen Informationen über uns verschafft und sie bis ins kleinste Detail analysiert. Und dann haben sie die Tuvela-Theorie entwickelt ...« »Ich verstehe nicht, wie sie zu dieser Theorie ge-
kommen sind«, meinte Nila. »Es gibt nicht den kleinsten Anhaltspunkt dafür.« »Aus der Sicht der Palache gibt es sogar sehr viele Anhaltspunkte. Es war ein vollkommen logischer Schluß, wenn man bedenkt, daß sie, abgesehen von wenigen Ausnahmen, ihrem Wesen nach nicht in der Lage sind, die wirkliche Erklärung zu akzeptieren: daß nämlich auf der Ebene galaktischer Rivalität ihre Art der unsrigen unterlegen ist. Sie haben ihre Zivilisationsform in einem Zustand erstarren lassen, den sie für vollkommen halten. Wenn sie mit unbekannten Bedingungen konfrontiert werden, fehlt ihnen die Wendigkeit. Der Versuch, Vollkommenes zu verändern, ist für sie unvorstellbar. Bei ihrem ersten Versuch, Zentralwelten zu erobern, trafen sie auf solche Bedingungen und scheiterten daran. Jetzt würden sie auf die gleichen Bedingungen treffen und erneut scheitern.« »Sie haben Verbündete gewonnen«, gab Nila zu bedenken. »Sehr unentschlossene Verbündete. Die Lage von Porad Anz wird vielleicht niemals günstig genug sein, um sie zu aktiver Teilnahme zu bewegen. Und das zeigt, daß sie Verstand besitzen. Als die Menschen während der Kriegsjahrhunderte damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu bekämpfen, haben verschiedene fremde Zivilisationen versucht, sich
Teile der Zentralwelten anzueignen. Allen Anzeichen nach sind die Störenfriede jedesmal blutig zurückgeschlagen worden. Wie erklären Sie sich das?« Nila zuckte mit den Schultern. »Ganz einfach. Sie haben sich sozusagen in einen Familienstreit eingemischt, und die Familie war seit Generationen zu kriegerischen Auseinandersetzungen konditioniert. Kein Wunder, daß die Angreifer keinen Erfolg hatten. Offen gesagt frage ich mich, wie weit wir heute in der Lage wären, einer solchen Situation zu begegnen. Innerhalb der Zentralwelten hat es seit langem keinen Krieg mehr gegeben, abgesehen von den Versuchen rebellischer Untergouvernements, die Macht über die Föderation an sich zu reißen. Doch diese Aufstände wurden jedesmal so rasch niedergeschlagen, daß man kaum von einem Krieg sprechen kann.« »Das stimmt«, meinte Ticos. »Was halten Sie vom Obergouvernement der Föderation?« Sie zögerte. Eine der schlimmsten Folgeerscheinungen von Nervengas, das nicht tödlich gewirkt hatte, war eine sich langsam entwickelnde geistige Inkohärenz, die zu bleibender geistiger Zerrüttung führen konnte, wenn nicht sofort Gegenmaßnahmen getroffen wurden. Sie vermutete, daß Ticos im Begriff war, geistig abzuirren. In diesem Fall war es das Beste, wenn sie ihn über irgendwelche realen Dinge reden ließ, bis die Gefahr vorbei war. Sie sagte: »Das ist eine
ziemlich allgemeine Frage. Ich denke über das Obergouvernement eigentlich nicht viel nach.« »Weshalb nicht?« »Warum sollte ich? Es stört mich nicht und scheint seine Aufgaben zu erfüllen – wie die niedergeschlagenen Versuche der Untergouvernements, die Macht an sich zu reißen, beweisen.« »Es sorgt dafür, daß die Struktur der Föderation erhalten bleibt«, sagte Ticos. »Wir haben schließlich eingesehen, daß eine solche Struktur absolut notwendig ist. Sie darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. In dieser Hinsicht ist dem Obergouvernement nicht das geringste vorzuwerfen. Doch ansonsten hört man immer wieder Klagen. Eine davon ist, daß das Obergouvernement nicht genug zur Eindämmung der Kriminalität unter der Bevölkerung tut.« Nila schüttelte den Kopf. »Dem kann ich nicht zustimmen. Ich hatte öfters mit den Föderationsdienststellen zur Bekämpfung der Kriminalität zu tun. Sie tun genug. Natürlich können sie nicht alles regeln. Aber wenn sie das wollten, würden sie auf die Dauer nicht ohne strenge bürokratische Maßnahmen auskommen – was ich zuallerletzt befürworten würde.« »Sie meinen, die Verbrechensbekämpfung sollte den örtlichen Behörden überlassen bleiben?« »Selbstverständlich, wenn es sich um ein lokales Problem handelt. Kriminalität ist von anderen Pro-
blemen nicht grundsätzlich unterschieden. Wir werden damit selbst fertig. Das haben wir oft genug bewiesen.« »Das ist eine Einstellung, die kaum ein Palach nachvollziehen könnte«, bemerkte Ticos. »Sie scheint zudem typisch für unsere Zivilisation zu sein.« Er schwieg einen Augenblick. »Sie erinnern sich vielleicht, daß ich mich wunderte, weshalb die Föderation so wenig Interesse an Lebensverlängerungsprogrammen, Vererbungsprojekten und ähnlichem zeigte?« Sie warf ihm einen raschen Blick zu. War sein Geist doch intakt? »Sie sehen also einen Zusammenhang?« »Ja, zweifellos. In Fällen von Kriminalität hält sich das Obergouvernement meistens im Hintergrund, so daß die Bürger sich veranlaßt fühlen, die Regelung dieser Probleme selbst in die Hand zu nehmen. Das Resultat davon ist, daß die Kriminalität eine ständige Bedrohung darstellt, die sich jedoch in Grenzen hält. Und so sieht es auch im ganzen aus. Unsere Gesellschaft fördert den aggressiven Wettbewerb auf fast allen Gebieten des Handelns; und das Obergouvernement scheint auf die absolute Legalität der Wettbewerbsmethoden nicht allzu streng zu achten. Die Grenzen werden für gewöhnlich durch Vereinbarungen unter Bürgerorganisationen gesteckt, die auch für ihre Einhaltung sorgen.«
»Sie meinen, das alles ist eine Art Ersatz für Krieg?« »Mehr als das«, versetzte Ticos. »Eine Gesellschaft, die unter schwerer Kriegsbelastung steht, neigt zu einem System strenger Kontrolle, und die Bewegungsfreiheit des einzelnen Durchschnittsbürgers wird entsprechend eingeengt. In der Art von ausgewogener Anarchie, in der wir jetzt leben, ist die Bewegungsfreiheit des Individuums so groß, wie dieses selbst es wünscht und seine Mitbürger es dulden. Für die breite Masse der nichtaggressiven Bürger, die schlicht ihren Geschäften nachgehen und sich aus allem Ärger heraushalten wollen, stellt das keine optimale Situation dar. Sie müssen sich gegen ihren Willen mit vielen unerfreulichen Problemen herumschlagen und werden gelegentlich von Raubtieren in Menschengestalt gequält oder vernichtet. Aber auf lange Sicht scheinen die Menschen in der Lage zu sein, mit diesen Problemen fertig zu werden. Denn ebenso wie es Bösewichte gibt, gibt es auch Menschen, welche die Kraft und Eignung haben, gegen diese vorzugehen, wenn ihnen freie Hand gelassen wird. So sieht die Struktur unserer Gesellschaft aus, und sie scheint sich zu bewähren.« »Aber ist es nicht sehr grausam, wenn man es vorsätzlich dabei beläßt?« fragte Nila. »Es hat in der Tat sehr grausame Seiten«, antworte-
te Ticos. »Aber die Entwicklung des Menschen als Art zeigt, daß er ein sehr zähes, flinkes und anpassungsfähiges Geschöpf ist, das sehr wohl imstande ist, seine eigenen Interessen zu wahren. Diese Eigenschaften wurden während der Kriegsjahrhunderte gefördert und heute vielleicht sogar noch mehr, und zwar, wie ich glaube, absichtlich. Das Obergouvernement ist offenbar nicht daran interessiert, für den harmlosen Bürger ein Paradiesgärtlein zu schaffen. Sein Interesse gilt vielmehr den arterhaltenden Eigenschaften. Und der Mensch als Art bleibt nach wie vor ein äußerst gefährliches Geschöpf. Das Obergouvernement schränkt es nicht mehr als nötig ein. Deshalb unterstützt es auch die Lebensverlängerungsforschung nicht – Unsterblichkeit würde das Geschöpf in einer Weise verändern, die niemand voraussehen kann. Aus dem gleichen Grund werden Vererbungsvorhaben zwar nicht behindert, aber auch nicht gefördert. Meiner Ansicht nach sieht das Obergouvernement es lieber, wenn die Art sich weiterhin auf ihre eigene Weise entwickelt. Man scheut sich davor, genetische Möglichkeiten auszumerzen, welche die Menschheit eines Tages im Kampf mit einer rivalisierenden Art vor einer Niederlage bewahren könnten.« Nach einer Pause sagte Nila: »Ach, Ticos, das sind doch hauptsächlich Spekulationen.« »Gewiß. Aber es ist keine Spekulation, zu behaup-
ten, daß die Zentralwelten auch heute ihre Tuvelas haben und daß sie zu ebensolchen Spitzenleistungen fähig sind wie damals in der Zeit vor der Föderation. Zudem ist ihre Zahl verhältnismäßig groß. Und das macht die Lage der Parahuane und ihrer potentiellen Verbündeten unhaltbar. Sie stehen nicht einer kleinen Kaste von Wächtern gegenüber, sondern würden, wo und wann immer sie angreifen, automatisch auf Tuvela-Strategie stoßen. Einige wenige der Palache haben das erkannt. Moga war einer von ihnen. Deshalb brachte er sich um.« »Moga hat sich umgebracht?« »In dem entscheidenden Augenblick im Labor«, berichtete Ticos, »als Sie sich zu Boden warfen, blieb ich stehen, weil auf mich keine Waffe gerichtet war. Moga konnte zwar nicht wissen, was genau geschehen würde, aber er hatte die Zweckbestimmung meiner Versuchsobjekte erkannt. Er hatte begriffen, daß er und die Gruppe, die mit ihm ins Labor gekommen war, sterben mußten, wenn wir entkommen wollten. Und unser Entkommen war notwendig, um die Stimme der Aktion zu bremsen. Als der Moment nahte, war Moga bereit. Die anderen kamen nicht mehr dazu, die Auslöser ihrer Waffen zu drücken. Doch er fand Zeit, Ihnen rasch die Tasche mit Ihrer Waffe zuzuwerfen. Er wußte, daß Sie ein verletzbares menschliches Wesen sind. Er glaubte nicht an das Märchen
von den unbezwingbaren Tuvelas. Aber er mußte alles in seiner Macht Stehende tun, um dieses Märchen aufrechtzuerhalten. Er nährte einen kalten, hoffnungslosen Haß gegen die Menschheit, weil er sie als die überlegene Art erkannt hatte. Und er fürchtete das Schlimmste für Porad Anz. Da die Masse der Ewiglebenden nicht in der Lage war, die Überlegenheit der Menschen anzuerkennen, mußten sie dazu gebracht werden, wenigstens an die Unbezwingbarkeit geheimnisvoller Supermenschen zu glauben, um zum Rückzug bereit zu sein. Und so verbündete Moga sich mit mir und später mit Ihnen, damit seine Leute den Eindruck ...« Er hielt inne, schüttelte den Kopf und gähnte herzhaft. Nila beobachtete ihn. »Wissen Sie, ich ... oh, was ...« Seine Stimme verlor sich. Seine Augen waren jetzt halb geschlossen, die Lider flatterten. Dann begann sein Kopf zu sinken. »Wie fühlen Sie sich?« fragte sie. »Hm?« Ticos richtete wieder den Kopf auf, schüttelte ihn. »Ich weiß nicht«, sagte er zögernd. »Ich war einen Augenblick ganz durcheinander ... wirbelnde helle Lichter.« Er holte tief Luft. »Vermutlich eine Folge des Nervengases?« »Ja«, sagte sie. »Nervengas ist eine schmutzige Waffe. Man weiß nie, was dabei herauskommt. Was Sie gerade erlebt haben, kann sich über Stunden hin-
ziehen und einen dauernden Hirnschaden verursachen.« »Was kann ich dagegen tun? Ich habe versucht, meinen Geist dagegen abzuschirmen, aber es scheint doch durchzudringen.« »Schlaf ist das richtige. Viel Schlaf – am besten nicht weniger als ein oder zwei volle Tage. Danach dürfte alles wieder im Lot sein.« »Die Schwierigkeit ist die, daß ich ohne Drogen wahrscheinlich nicht schlafen kann. Und da wir keine –« Er warf ihr einen Blick zu. »Oder doch?« Sie nickte. »Ich habe auf dem Weg hierher BalathSamen entdeckt und einige davon mitgebracht.« »Sie denken wohl an alles?« meinte Ticos. »In meinem jetzigen Zustand kann ich unserer Sache doch nicht nützen. Also geben Sie mir von dem Balath und widmen Sie sich wieder Ihren Tuvela-Geschäften. Aber versprechen Sie mir, daß Sie wieder zurückkommen.« »Das verspreche ich.« Das natürliche Ende des Balath-Schlafs war der Tod, der beim menschlichen Organismus nach etwa einer Woche erfolgte. Ticos wußte, daß er nicht wieder aufwachen würde, wenn sie ihn nicht bald zum Festland bringen würde, wo man Gegenmittel besaß. Er ließ sich von ihr drei Balath-Samen geben, hielt sie dicht vor sein Gesicht, sagte: »Halten Sie den
Atem an – alles Gute!« und zerbrach die weichen Schalen zwischen den Fingern. Nila hörte, wie er die aus den Samen quellenden Dämpfe tief in sich einsog. Dann seufzte er und sank in seiner Schote zusammen. Nach wenigen Sekunden schloß sich der Deckel über der Öffnung ... Für eine Weile war er dort drinnen gut aufgehoben. Nila rückte ihren Gürtel zurecht und hob dann lauschend den Kopf. Ein entferntes dumpfes Rollen, das vom Himmel zu kommen schien. Während Ticos sprach, hatte sie schon zweimal ähnliche Geräusche vernommen. Ihm waren sie offenbar entgangen. Es konnte das Rollen von Donner sein, aber sie hielt es nicht für Donner. Sie kletterte zurück zur Außenwand des Inkubators und legte ihre Hände einen Augenblick gegen die Zweige der Hecke. Sie bogen sich zur Seite, und Nila schlüpfte durch die Öffnung hinaus in den Wald. Sie sah sich kurz um und lauschte. Das Geräusch, das wie Donner klang, hatte sich nicht wiederholt, und sonst konnte sie keine Anzeichen einer ungewöhnlichen Aktivität entdecken. Nila stieg rasch durch den Wald hinab, bis sie das Wasser der Lagune plätschern und gurgeln hörte. Der Himmel war jetzt fast wolkenlos und übersät von glitzernden Sternen. Nila ging hinter einem Stamm in Deckung und spähte über die Lagune. Ge-
genüber am Ufer bewegte sich eine Kette kleiner hellblauer Lichter langsam auf und ab. Suchten sie dort drüben nach ihr? Sie betätigte die Otternpfeife. Sweeting tauchte auf, voll Jagdeifer und begierig, neue Instruktionen zu erhalten. Der Tarm war tot oder lag im Sterben. Die Ottern hatten eine neue Batterie giftiger Dorne in seine Haut gerammt, nachdem er sich ins Wasser gestürzt hatte, und kurz darauf war er auf den Grund der Lagune gesunken, hatte sich auf die Seite gelegt und nicht mehr bewegt. Als nächstes hatten sie eine große Gruppe bewaffneter Parahuane entdeckt, die in der Mitte der Lagune die Blattpflanzen durchstreiften. Die Ottern schwammen neben ihnen her und warteten auf günstige Gelegenheiten, in denen sie zuschlagen konnten. Solche Gelegenheiten ließen nicht lange auf sich warten. Als in der Patrouille die ersten Verluste bemerkt wurden, lagen bereits acht leblose Oganoon auf dem Grund der Lagune ... »Ihr habt euch aber nicht sehen lassen, oder?« Sweeting schnaubte verächtlich. »Watschelfuß springt ins Wasser. Kommt nicht wieder hoch. Traurig, nicht? See-Haval hat ihn gefressen? Wächterin Etland hat ihn gefressen? Ottern nicht zu sehen.« Nila konnte sich das Bild vorstellen. Ein Strudel
unter der Wasseroberfläche, drei- oder viermaliges Zuschnappen, und wieder sank ein lebloser Körper hinab ... und keine Spur von einem Angreifer. Die übriggebliebenen Parahuane hatten sich dicht zusammengedrängt, und als sich kanonenbewehrte Boote näherten, um die Patrouille aufzunehmen, hatten Sweeting und ihre Gefährten sich davongemacht. Und gleich darauf: »Peng-peng! Große Kanone –« Das erklärte das Donnern, welches Nila gehört hatte. In dem Bereich der Lagune, in dem die Patrouille überfallen worden war, spritzten Wasserfontänen auf. Die Geschosse kamen von einer versteckten Geschützstellung am anderen Ufer der Lagune. Wen sollten sie vernichten? Die Tuvela? Für das, was dort draußen geschehen war, konnten die Palache keine andere Erklärung haben. Und wenn sie jetzt noch feststellten, daß ihr großer Tarm ebenfalls tot oder verschwunden war ... »Und worauf haben sie später geschossen?« fragte Nila. Sweeting deutete mit dem Kopf zum Himmel und meinte gleichmütig: »Nach oben! Kestern ...« »Kestern?« Offenbar waren es tatsächlich Kestern gewesen. Vielleicht hatte die Geschützmannschaft einen hoch fliegenden Schwarm von Kestern gesichtet und geglaubt, es seien Flugzeuge. Jedenfalls hatte es kurz
nach dem Abfeuern des Geschützes verkohlte und zerstückelte Kestern auf die Lagune herabgeregnet. Nila kaute an ihrer Lippe. Parrol konnte unmöglich schon hergekommen sein, und daß ein anderes Luftfahrzeug um diese Zeit zufällig vorbeigeflogen war, schien höchst unwahrscheinlich. Es sah aus wie ein Fall von Nervosität und Disziplinlosigkeit. Ticos hatte bezweifelt, daß die Stimme der Aktion in der Lage sein würde, unter den Truppen, die jetzt unter ihrem alleinigen Befehl standen, die nötige Disziplin aufrechtzuerhalten. »Und ganz zuletzt?« fragte sie. Während sie sprach, plätscherte es zu ihrer Linken im Wasser. Sie wandte den Kopf und erblickte das wilde Otternpaar, hob zum Gruß die Hand. Die Ottern grinsten und ließen sich näher herantreiben. »Das hatte mit uns nichts zu tun«, berichtete Sweeting. Das Geschützfeuer war wieder auf die Lagune gerichtet worden, diesmal auf einen Bereich, dem keine der Ottern nahegekommen war. Noch eine Panikreaktion? »Und was machen sie dort drüben?« fragte Nila und deutete mit dem Kopf zum nördlichen Ufer der Lagune hinüber. Die Kette von blauen Lichtern bewegte sich noch immer am Ufer entlang. Die Ottern hatten bereits Erkundungen eingezogen. Eine Flotte kleiner Unterseeboote war aufgetaucht, of-
fenbar ausgesandt von dem großen Kommandoschiff. Jedes der Boote kennzeichnete ein blaues Licht. Sie setzten am Waldrand paarweise Wachtposten ab. Nila überlegte. War das der Beginn einer großangelegten Treibjagd auf die Tuvela? Sie bezweifelte es. Wachtposten wurden gewöhnlich zu Verteidigungszwecken aufgestellt. Dort drüben befand sich mindestens ein Geschützstand und vielleicht noch ein paar andere Stellungen, die ihnen nicht sehr sicher erschienen. Vielleicht fürchteten sie, daß die Tuvela aus dem Wasser steigen und diese Stellungen angreifen würde ... Bestand eine Möglichkeit, die Wachtposten aus dem Weg zu räumen? Die Ottern hatten diese Frage gerade erwogen, als Sweeting von Nilas Signal abgerufen worden war. Die parahuanischen Wachtposten waren in verschiedenen Höhen über der Wasseroberfläche stationiert. Ein Paar hockte auf einem Treibholzstamm, der von den Wellen umspült wurde. »Wenn ihr die beiden erledigen könnt, ohne daß einer von ihnen einen Laut von sich gibt, dann tut es«, sagte Nila. »Das wird die übrigen für eine Weile drüben festnageln. Ihr laßt euch danach nicht mehr drüben sehen ... und greift auch sonst keine Watschelfüße mehr an, bis ihr wieder von mir hört.« Sie nickten. »Und was hast du jetzt vor, Nila?« fragte Sweeting.
»Ich werde ein Feuerchen legen, damit Dan uns finden kann.«
9 Zum vierten- oder fünftenmal wurde Nila plötzlich wach, aus dem Schlaf gerissen vielleicht nur durch ein Umschlagen des Windes. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Noch zwei Stunden bis zur Morgendämmerung ... Etwa ebenso lange hatte sie in unruhigem Schlummer am Ufer der Lagune verbracht, wo sie auf Parrols Ankunft wartete. Das Treiben auf der Insel schien sich beruhigt zu haben. Die Parahuane hatten sich in ihre versteckten Quartiere zurückgezogen. Nur hin und wieder bewegte sich noch ein Boot über die Lagune, aber die Mannschaft suchte nicht mehr nach ihr. Man schien im Gegenteil jede Begegnung mit der Tuvela vermeiden zu wollen. Doch die augenscheinliche Ruhe konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Situation aufs äußerste gespannt war. Nach Nilas Berechnung konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Explosion erfolgte ... Die Stimme der Aktion mußte das Gefühl haben, daß sie sich selbst in eine unmögliche Lage hineinmanövriert hatte. Um einen Mißerfolg ihrer Taktik zu vermeiden, hatte sie ein nach ihren eigenen Normen monströses Verbrechen begangen und die Kommandostruktur der Expeditionsstreitmacht gefährlich geschwächt. Porad Anz würde die Ermordung der an-
dersdenkenden Großpalache und Palache nur verzeihen, wenn die eingeschlagene Taktik zum Erfolg führte. Doch jetzt hatte ihre Taktik bereits bei der ersten Prüfung versagt. Sie hatte auf der Behauptung aufgebaut, daß Tuvelas nicht unschlagbar seien. Nilas Tod sollte den Beweis erbringen. Und sobald dieser Beweis erbracht war, sollte der Angriff auf den Planeten folgen. Stunden später war Nila nicht nur noch lebendig, sondern hatte ihnen sogar die Kontrolle über die oberen Bereiche der Insel streitig gemacht. Sie besaßen zweifellos Waffen, mit denen sie die gesamte Treibholzinsel mit Nila darauf hätten in die Luft sprengen können. Doch solange sie selbst noch hier stationiert waren, konnten sie diese Art von Waffen nicht anwenden. Sie konnten sie überhaupt nicht anwenden, ohne den Planeten auf sich aufmerksam zu machen – in welchem Fall sie ebensogut gleich mit dem Angriff beginnen konnten. Ihre Taktik war zu einer Falle geworden. Sie waren nicht in der Lage gewesen, eine einzige Tuvela zu besiegen. Sie konnten deshalb kaum erwarten, daß ein Angriff auf sämtliche Tuvelas des Planeten mehr Erfolg haben würde. Doch wenn sie Nandy-Cline kampflos verließen, blieb ihr Verbrechen ungerechtfertigt, und Porad Anz würde es ihnen niemals verzeihen. Nach Nilas Ansicht mußte sich die Stimme der Akti-
on früher oder später zum Angriff entschließen. Sie hatte gar keine andere Wahl. Und Nila konnte im Augenblick nichts dagegen unternehmen. Doch immerhin hatte sie sie den größten Teil der Nacht über beschäftigt gehalten; und wenn der Sotira-Rennschlitten ihre Botschaft aufgefangen hatte, würde man sich auf dem Planeten allmählich der drohenden Gefahr bewußt werden. Nila seufzte, nahm eine bequemere Stellung ein und blinzelte durch das Gezweig vor ihr. Im Wasser der Lagune spiegelten sich die Sterne und der brennende Ölholzstand. Wenn Dan Parrol nur bald käme ... Sie sank wieder in Schlaf. Etwas Feuchtes berührte sie, und sie schob es mit der Hand fort. Aber es kam wieder. »Nila, wach auf! Spiff ist da!« Sie war sofort hellwach. »Hm? Wo sind –« »Nicht weit!« rief Sweeting fröhlich. »Sie kommen!« Sie hatte in ihrem Signalempfänger eine schwache Resonanz gespürt, ein sicheres Anzeichen dafür, daß Spiff keine drei Meilen entfernt sein konnte. Und wenn Spiff in der Nähe war, konnte auch Parrol nicht weit sein. Erleichtert folgte Nila der Otter zum Uferrand. Es war fast Tagesanbruch. Hinter den Wolken begann sich der Himmel zu lichten, das Wasser schimmerte stahlgrau. »Woher kommen sie?« Sweetings Schnauze schwang wie eine Kompaßna-
del hin und her und pendelte sich in südlicher Richtung ein. Die Otter zitterte vor Erregung. »Nahe! Ganz nahe! Wir warten?« »Wir warten.« Nilas Stimme klang brüchig. »Sie werden gleich hier sein ...« Dan Parrol hatte so reagiert, wie sie erwartet hatte. Er hatte das Ölholzsignal von weitem erkannt, war im Süden auf dem Wasser niedergegangen und hatte sein Fahrzeug unter der Wasseroberfläche bis dicht ans Treibholz heranmanövriert. Er hatte es wahrscheinlich verlassen und näherte sich jetzt mit seiner düsenbetriebenen Tauchausrüstung. »Wo sind deine Freunde? Hat sich inzwischen irgend etwas ereignet?« »Hm? Ja. Zwei Schiffe liegen jetzt unter der Lagune. Große Schiffe.« »Zwei – Ist das Kommandoschiff aufgestiegen?« »Nicht so groß. Watschelfüße bringen Sachen hinein.« »Was für Sachen?« Sweeting schnaubte. »Watschelfußsachen. Vielleicht wollen sie fort. Ho! Da ist Spiff ...« Sweeting verschwand mit einem Pfeifen im Wasser. Nila blickte angestrengt hinaus. Einen Moment lang tauchten weit draußen zwei Otternköpfe über dem Wasser auf, waren dann wieder verschwunden ... »Du siehst aber lustig aus, Nila!« Sie war beim ersten Laut herumgefahren, die UW-
Pistole schußbereit, dann erst registrierte ihr Bewußtsein die bekannte Stimme. Sie stieß einen leisen Fluch aus. »Ich dachte, es wär – ach, vergiß es!« Sechs Meter rechts von ihr war Dan Parrol aufgetaucht. Er saß rittlings auf einem torpedoförmigen Frachtträger, schob seine schwarze Tauchermaske auf die Stirn und griff nach einem Treibholzast, um sich daran festzuhalten. In der rechten Hand hielt er eine UW-Pistole. Er lächelte kurz. »Dr. Cay?« »Im Augenblick in Sicherheit«, sagte Nila. Sie steckte ihre Waffe wieder ein. »Bist du beim Hereinkommen auf Hindernisse gestoßen?« »Gar keine. Ist hier in der Umgebung alles klar?« »Im Moment ja.« Parrol hatte das Festland neun Stunden zuvor verlassen, nachdem er Nilas erste Nachricht erhalten hatte. Er hatte sich die meiste Zeit durch Taifunstürme durchkämpfen müssen, wobei sein Kommunikator ständig blockiert war. Als er sich der Insel bis auf zwei Flugstunden genähert hatte, war ihm durch Schlittenleute über Nahkontakt mitgeteilt worden, daß Dr. Etland inzwischen eine zweite Nachricht ausgesandt hatte. Der Sotira-Rennschlitten hatte sie aufgenommen und in Reichweite anderer Schlitten getragen. Die Nachricht war durch Störbereiche hindurch oder um sie herum weitergegeben worden und
hatte schließlich das Festland erreicht. Parrols Informanten wußten nicht, wie die Nachricht dort aufgenommen worden war; die Kommunikationsmöglichkeiten hatten sich in der Zwischenzeit immer mehr verschlechtert. Aber es bestand kein Zweifel daran, daß man überall auf dem Planeten gewarnt war. Sie gingen die Situation kurz durch. Mit Kriegsschiffen der Föderation, die sich in der Nähe von Nandy-Cline aufhielten, konnte man nicht rechnen. Die auf dem Planeten stationierte Garnison der Föderation war nicht sehr groß. Wenn sie die Verteidigung von Schlüsselstellungen auf dem Festland übernahm, war sie vollauf beschäftigt. Die lokale Polizei und die Bürgerwehr konnten gemeinsam zwar eine ansehnliche Flotte von Patrouillenfahrzeugen auf die Beine stellen, doch gegen schwerbewaffnete Raumschiffe würde sie kaum etwas ausrichten können. Alles in allem gab es auf Nandy-Cline zwar genügend Waffen, aber die wenigsten davon waren für Auseinandersetzungen größeren Ausmaßes geeignet. »Die Schlittenleute haben die alten Raumkanonen wieder angriffbereit gemacht«, sagte Nila. »Jetzt, wo sie wissen, gegen wen sie kämpfen, werden sie sie auch einsetzen.« »Daran ist nicht zu zweifeln«, meinte Parrol zustimmend. »Aber die Aufklärer der Meer- und Raumfahrt sind die einzigen, die tatsächlich für eine solche
Auseinandersetzung ausgerüstet sind. Wir wissen nicht, ob und in welcher Stärke sie im Augenblick verfügbar sind. Wenn deine flossenfüßigen Bekannten in der Lage sind, alle Kommunikationsmöglichkeiten auszuschalten –« »Das sind sie offenbar.« Parrol schwieg einen Augenblick. »Sieht nicht gut aus!« meinte er dann. »Und du glaubst, sie sind trotz ihrer schweren Waffen halbwegs davon überzeugt, daß sie den Kampf verlieren werden, wenn sie uns angreifen?« »Nach allem, was ich von ihnen weiß, ja. Trotzdem glaube ich nicht, daß es sie von einem Angriff abhalten wird.« »Sprechen wir noch einmal mit den Ottern ...« schlug Parrol vor. Die wilden Ottern hatten sich der Gruppe zugesellt und bestätigten Sweetings Bericht von den beiden Schiffen, die unterhalb der Lagune vor Anker lagen. Das zweite war mehr als doppelt so groß wie das erste. An beiden Schiffen herrschte rege Tätigkeit. Parrol und Nila erkundigten sich nach Einzelheiten und hatten bald ein genaues Bild von dem, was sich unter Wasser abspielte. Bei dem zweiten Schiff schien es sich um ein Frachtschiff zu handeln, in das die Parahuane zumindest Teile ihrer Treibholzausrüstung einluden. »Sie räumen also auf«, meinte Parrol, »aber sie sind
noch nicht bereit zum Abzug. Wenn wir ihnen in diesem Stadium den Eindruck vermitteln könnten, daß die Bewohner des Planeten bereit sind – oder gar einen Angriff gegen sie planen –« Nila hatte das auch schon erwogen. »Aber wie?« fragte sie. »Es müßte eine ziemlich drastische Demonstration sein. Wir könnten zum Beispiel ihr Kommandoschiff sprengen.« »In diese Tiefe können wir nicht hinunter. Aber die beiden Schiffe unter der Lagune könnten wir erreichen. Die Wirkung wird drastisch genug sein.« »Was hast du vor?« »Implosionsbomben«, sagte Parrol. »Ich habe deiner Nachricht entnommen, daß es gefährlich werden könnte, und so habe ich drei Zell-Eleven-Haftminen mitgebracht.« Er deutete mit dem Kopf zu dem Frachtträger hinüber. »Sie liegen da drinnen, mitsamt dem ganzen übrigen Zeug.« »Die Luken der Schiffe sind offen«, sagte Nila nach kurzem Zögern. »Zwei müßten genügen, in jedes Schiff eine.« »Es sind Raumschiffe. Vielleicht werden sie nicht ganz zerstört. Aber –« Sie sahen zu Spiff hinüber, der ihnen wie die anderen drei Ottern schweigend zugehört hatte. »Magst du wieder einmal den Bombenleger spielen, Spiff?« fragte Parrol.
Spiffs Augen begannen zu glänzen. Er schnaubte. Parrol erhob sich. »Ich hab' deine Tauchausrüstung mitgebracht«, sagte er zu Nila. »Laß uns Dr. Cay holen und zum Fahrzeug hinüberbringen. Dort ist er am sichersten aufgehoben. Danach werden wir uns die Schiffe genauer ansehen ...« Dicht hinter Parrol und dem Frachtträger schoß Nila sechs Meter unter der Wasseroberfläche dahin und genoß das Gefühl, mindestens ebenso geschwind und beweglich wie jedes Wassertier zu sein. Sie hatten die Ottern am Ufer der Lagune zurückgelassen; so schnell die Tiere auch waren, mit einem Düsenantrieb konnten sie sich nicht messen. Parrol, der den Frachtträger mit dem schlafenden Ticos Cay im Innern steuerte, verlangsamte die Fahrt nur etwas, als sie dichte Tangwaldungen passierten. Als sie das Fahrzeug erreichten, erhob sich gerade blutrot die Sonne über den Horizont. Sie brachte Ticos in dem Fahrzeug unter, verstauten den Frachtträger, sicherten die Türen und rasten unter Wasser zurück zur Lagune, wo sie wieder mit den Ottern zusammentrafen. Spiff und Sweeting hatten bereits Erfahrung im Bombenlegen; ihre freilebenden Verwandten kannten diese Dinge nur vom Hörensagen und bekundeten großes Interesse an dem
Unternehmen. Nachdem die Aufgaben verteilt waren, setzte sich die Gruppe in Bewegung. Der zweieinhalb Meter lange, muskulöse Spiff trug zwei von Parrols Implosionsbomben, die in ihren Behältern an seiner Brust befestigt waren. Die dritte Bombe hatte Parrol zurückbehalten. Bald darauf beobachtete Nila durch das Wurzelwerk, das den Boden der Lagune bildete, die Luken der beiden Raumschiffe unter ihr, aus denen gelbliches Licht fiel. Über dem kleineren Schiff bewegten sich zwei blaue Lichtpunkte hin und her, zwei kleine Patrouillenboote, die wachsam die Gegend durchstreiften. Auch sonst waren Anzeichen einer allgemeinen Unruhe zu bemerken. Eine Gruppe bewaffneter und mit Düsenantrieb ausgestatteter Oganoontaucher umkreiste die Schiffe, und die Luken waren mit Wachtposten besetzt. Die Luke des größeren Schiffs war der Mittelpunkt aller übrigen Aktivität. Parahuanische Taucher trugen Kisten und verpackte Gegenstände herein, kehrten mit leeren Händen zurück und schwammen fort, um neue Gegenstände zu holen. An ihren Köpfen waren Lampen befestigt, die ihnen auf dem Weg leuchteten. Nila drehte sich um, als Spiff durch das Wurzelwerk zu ihr herabglitt. Die Ottern waren noch einmal zur Wasseroberfläche hinaufgeschwommen, um sich vor Beginn der Aktion mit Sauerstoff vollzupumpen.
Neben ihr blickte Spiff zu den Schiffen hinunter und sah sie dann fragend an. Nila schaltete ihr Sprechgerät ein. »Dan?« »Ja, ich höre.« »Spiff ist zurück und bereit.« »Meine Gruppe ist ebenfalls bereit«, antwortete Parrols Stimme. »Wir beginnen mit dem Ablenkungsmanöver. Von jetzt an sechzig Sekunden –« Nilas Muskeln spannten sich. Sie nickte Spiff zu, und er verschwand zwischen den Wurzeln. Sie stützte den Lauf ihrer UW-Pistole auf das Wurzelwerk vor ihr und beobachtete den Bereich zwischen den beiden Schiffsluken. Spiff war nach rechts verschwunden, in ein Versteck oberhalb der Luke des Frachtschiffs, die sein erstes Ziel war. Wo Parrol und die anderen drei Ottern sich im Moment aufhielten, wußte sie nicht. Eine Gruppe von Oganoon näherte sich jetzt der Luke des Frachtschiffs mit einem beladenen Transportträger. Als sie in den erleuchteten Bereich kamen, kippte der Anführer plötzlich zur Seite und überschlug sich im Wasser. Der nächste in der Reihe trieb mit leblos hängenden Beinen nach oben. Einen Augenblick später drang das peitschende Geräusch von Parrols UW-Pistole durch das Hörgerät an Nilas Ohren. An der Luke entstand ein hektisches Durcheinander. Der Rest der Transportmannschaft versuchte sich
an den Wachtposten vorbei hineinzudrängen. Dumpfe Laute zeigten an, daß eine Reihe von parahuanischen Waffen abgefeuert worden waren. Plötzlich schoß eins der beiden Patrouillenboote zielstrebig nach oben auf den Wurzelgrund der Lagune zu. Das zweite folgte nach. »Die Boote halten auf dich zu, Dan!« »Ich ziehe mich zurück.« Die Boote erreichten das Wurzelwerk und manövrierten sich hindurch. Die Taucherpatrouille über dem kleineren Schiff, die sich zerstreut hatte, sammelte sich jetzt wieder. Jemand gab dort unten offenbar Befehle aus. Nila wartete mit klopfendem Herzen. Peitschende Laute aus Parrols Pistole, auf die eine dumpfere Antwort folgte, und wieder die peitschenden Geräusche. Zwischen den Wurzeln war er den Booten gegenüber durch seine Beweglichkeit im Vorteil. Ein Schwarm bewaffneter parahuanischer Düsentaucher schoß aus der Luke des kleineren Schiffes. Einer von ihnen scherte aus und gab der Patrouille über dem Schiff ein Zeichen. Die beiden Gruppen schlossen sich zusammen und glitten zu den Wurzeln hinauf. Der Offizier, der den Befehl erteilt hatte, begab sich zurück zur Luke und sah ihnen nach. »Die Infanterie greift ein«, berichtete Nila. »Dann sind die Schiffe also unbewacht?« »So ziemlich.«
Die Transportmannschaft war inzwischen im Frachtschiff verschwunden. Die beiden Wachtposten lehnten in der Luke. In der Luke des kleineren Schiffs war im Augenblick nur der Offizier zu sehen. Nila betrachtete ihn. Klein, schmal – ein Palach. Vielleicht war er derjenige, der die Operation leitete ... Parrols Stimme sagte: »Die Ottern greifen die Infanterie an. Es kann losgehen!« Nila antwortete nicht. Sie schob den Lauf ihrer Waffe vor, zielte auf einen der Wachtposten in der Luke des Frachtschiffs, drückte ab und richtete den Lauf auf den zweiten Posten, während der erste nach hinten kippte. Im nächsten Augenblick bemerkte sie Spiff, der auf die Luke zuschoß. Er hatte den richtigen Moment abgepaßt. Jetzt hatte sie den Palach an der Luke des kleineren Schiffs im Visier, der von den Vorgängen am Frachtschiff nichts bemerkt hatte. Nila wartete noch, vor Ungeduld bebend. Die beiden Wachtposten, die dort Dienst hatten, waren nicht wieder aufgetaucht; sie wolle sie aus dem Weg räumen, bevor Spiff sein nächstes Ziel ansteuerte. Der Palach sah sich noch einmal um und wollte dann ins Schiff zurückkehren. Mit einem Fingerdruck hinderte sie ihn daran – und etwas Dunkles glitt den Schiffsrumpf herab und an dem sich windenden Körper vorbei in die Luke hinein.
Nila schluckte und verließ ihr Wurzelversteck. Ihr Hörgerät fing dumpfe Geräusche auf; sie konnte nicht unterscheiden, ob einige davon aus dem Schiff kamen. Sie zählte die Sekunden. Sie hörte Parrols Stimme, die irgend etwas sagte, und merkte gleich darauf, daß sie nichts verstanden hatte. Sie schwebte im Wasser, die Augen starr auf die Luke gerichtet. Vielleicht war Spiff zu der Ansicht gekommen, daß die Wirkung seiner zweiten Bombe größer sein würde, wenn er sie im Zentrum des Raumschiffs anbrachte – Ein Parahuan taumelte aus der Luke. Nilas Finger fuhr an den Abzug, aber sie drückte nicht ab. Der Parahuan war tot! Und ein zweiter ... Aus der Luke schoß ein längliches Etwas, das im nächsten Augenblick dreißig Meter entfernt war, sechzig Meter – Nila sagte mit zitternder Stimme: »Die Bomben sind gelegt, Dan! Macht, daß ihr fortkommt!« Sie wandte sich um, betätigte den Düsenantrieb und schoß wie ein Phantomwesen hinter Spiff her. Gleich darauf wurde hinter ihnen mit weithin hallendem Klatschen zweimal die See aufgerissen. An der Oberfläche war es jetzt hell. Zwischen Seegrasbüscheln blitzte Sonnenlicht auf den Wellen. Eine Viertelmeile nördlich zeichneten sich dunkel die Wälder der Treibholzinsel ab. Kesternschwärme krei-
sten darüber, aufgeschreckt von den Implosionen, die in den Boden der Lagune ein großes Loch gerissen hatten. »Kannst du mich sehen?« fragte Parrols Stimme. »Nein, Dan!« Nila hatte ihre Tauchermaske hochgeschoben. »Um mich herum treibt zuviel Seegras. Ich kann nicht weit genug sehen.« »Hier ist es genauso. Wir können nicht allzu weit voneinander entfernt sein.« »Wir werden anscheinend nicht verfolgt«, sagte Nila. »Halten wir uns in südlicher Richtung und lassen wir erst einmal diesen Dschungel hinter uns, bevor wir uns zu treffen versuchen.« Parrol stimmte zu, und Nila tauchte wieder unter die Oberfläche. Spiff und Sweeting befanden sich in der Nähe, obwohl sie im Augenblick nicht zu sehen waren. Die wilden Ottern hatten sich an Parrol gehalten. Es gab eigentlich keinen Grund, eine Verfolgung zu fürchten; die kleinen Patrouillenboote hätten sie vielleicht einholen können, aber sie waren wahrscheinlich inmitten des Wurzelwerks von den Bomben zerstört worden. Sie tauchte tiefer hinab, um aus dem Seegrasgestrüpp herauszukommen, betätigte die Otterpfeife, blickte auf ihren Kompaß und begann in südliche Richtung zu gleiten. Dreißig Sekunden später waren Sweeting und Spiff zur Stelle und hielten sich rechts und links von ihr ...
dann war plötzlich ein schwaches, dumpfes Rollen im Wasser zu hören. »Hörst du das, Nila?« »Ja. Maschinenvibrationen?« »Das könnte es sein. Obwohl ich so etwas wie dieses Geräusch noch nie gehört habe. Hast du eine Vorstellung, woher es kommen könnte?« »Nein.« Sie beobachtete die Ottern. Ihre Köpfe fuhren rasch hin und her. »Sweeting und Spiff wissen auch nicht, woher es kommt ...« Sie fügte hinzu: »Es scheint wieder aufzuhören.« »Hier auch«, sagte Parrol. »Schwimmen wir weiter.« Sie schwiegen ein oder zwei Minuten. Das seltsame Geräusch war immer leiser geworden, schwoll dann wieder an, bis es lauter dröhnte als zuvor. Nila hatte das Gefühl, als ob die ganze See vibrierte. Sie dachte an das große Raumschiff, das monatelang in der Tiefe unter der Treibholzinsel gelegen hatte. Wenn sein Antrieb vorgewärmt wurde, könnte dieses Geräusch entstehen. »Nila«, kam Parrols Stimme. »Ja?« »Sei vorsichtig! Unsere wilden Freunde sind eben wieder aufgetaucht. Sie geben mir zu verstehen, daß sie etwas Wichtiges mitzuteilen haben. Ich schwimme mit ihnen nach oben, um mir anzuhören, was es ist.« »In Ordnung«, antwortete Nila. »Wir passen auf.«
Sie verlangsamte ihre Fahrt ein wenig. Das dumpfe Rollen im Wasser schien gleichzubleiben. Sie wollte gerade wieder mit Parrol Kontakt aufnehmen, als seine Stimme ertönte. »Ich hab' die Mitteilung«, sagte er. »Ein großes Unterseeboot durchstreift die Gegend. Offenbar ist es aber nicht die Quelle dieses Geräusches. Dafür ist es nicht groß genug. Die Ottern haben es dreimal gesichtet – zweimal in tieferem Wasser und einmal nahe an der Oberfläche. Es hatte jedesmal einen anderen Kurs. Es hat vielleicht kein Interesse an uns, aber soviel ich verstanden habe, hält es auf uns zu. Das kann kein Zufall sein.« Nila gab ihm im stillen recht. Sie sagte: »Die Detektoren des Boots werden wahrscheinlich eher dein Fahrzeug entdecken als uns.« »Genau.« »Was sollen wir tun, Dan?« »Wir müssen versuchen, noch vor dem U-Boot zum Fahrzeug zu kommen. Halte dich weiter auf südlichem Kurs. Ich bin offenbar ein Stück vor dir und näher am U-Boot. Die Ottern sind unterwegs, um es zu suchen. Wenn wir darauf stoßen, werde ich es unschädlich machen.« »Wie das?« »Mit Bombe Nummer drei«, sagte Parrol. »Ich hatte so ein Gefühl, daß wir sie noch brauchen könnten ...«
Nila gab Spiff und Sweeting ein Zeichen, wachsam zu sein, und deutete auf den vor ihnen liegenden Bereich. Die beiden Ottern erweiterten den Abstand zwischen sich und ihr und schwammen etwa zehn Meter voraus. Lose treibende Krautbüschel begannen die Sicht zu erschweren, und die Seegrasdecke über ihr war noch immer gleich dicht. Innerlich fluchend bahnte Nila sich einen Weg durch das Kraut. Sie hielt inne, als sie Sweeting zurückkommen sah. Vor ihnen war etwas ... Sie folgte der Otter durch das Dickicht nach unten bis dahin, wo das offene Wasser begann. Die Otter deutete mit der Schnauze die Richtung an. Nila spähte angestrengt. Dann sah sie den langen Schatten eines U-Boots unter sich vorbeigleiten. Sie hielt die Luft an. Im nächsten Moment schoß sie aus dem Dickicht heraus und dem Boot nach – »Dan!« »Ja?« »Wenn du das U-Boot entdeckst, versuch nicht, es zu sprengen!« »Warum nicht?« »Weil es eins von unsern ist, Dummkopf! Ich hab' es gerade eben unter mir gesehen. Es ist ein Kontrollboot. Wahrscheinlich kreuzt es hier herum, weil seine Detektoren das parahuanische Kommandoschiff aufgespürt haben –«
Dan unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens. Dann sagte er: »Es ist wahrscheinlich nicht allein!« »Wahrscheinlich nicht. Wie weit hast du's noch bis zu deinem Fahrzeug?« »Etwa neunhundert Meter«, antwortete Parrol. »Bis wir dort sind, könnte –« »Könnte es hier heiß hergehen!« »Ja. Begeben wir uns lieber nach oben und sehen uns an, was es zu sehen gibt.« Gefolgt von den Ottern schoß Nila nach oben, kam zwischen wogenden Tang- und Grasbüscheln an die Oberfläche und begann sich mühsam aus dem Zeug herauszuarbeiten. Die Morgensonne schien zwischen den windgepeitschten Seegrasspitzen hindurch. »Nila«, kam plötzlich Parrols Stimme, »ich seh' ihr Schiff!« »Ihr Schiff?« »Es muß das parahuanische Schiff sein. Unter mir – es kommt hoch! Es sieht aus, als ob der Meeresgrund sich hebt. Halt dich fern – es ist riesig! Ich dreh' die Düsen auf.« Nila gelangte zu einer offenen Stelle, überquerte sie, kämpfte sich noch einmal durch ein Dickicht brauner Wasserpflanzen und hatte dann das offene Meer vor sich. Sie schob ihre Tauchermaske hoch. Über ihrem Kopf sauste ein Luftfahrzeug dahin, stieg dann wieder auf in den Himmel. Hoch oben kreisten
kleine, in der Sonne blinkende Flecken – Patrouillenfahrzeuge, die hinaus in den Weltraum flogen und die feindliche Kommunikationsblockade durchbrachen – Nila schoß durch die Dünung hinaus und ließ sich dann antriebslos von einem Wellenkamm tragen. Ihre Sicht wurde durch nichts behindert. »Ich sehe drei Schlitten, Dan! Sie kommen hierher.« Er antwortete etwas, aber sie verstand ihn nicht. Kaum eine halbe Meile entfernt tauchte zu ihrer Rechten der schwarze glänzende Rumpf des parahuanischen Kommandoschiffs aus dem Meer auf. Wie der runde Rücken eines riesigen Seeungeheuers. Nila wollte mit Dan sprechen, brachte aber kein Wort heraus. Von Westen her flogen die drei Schlitten wie Sturmvögel über das Meer heran. Auf dem Vorderdeck des ersten Schlittens richteten sich die massiven, häßlichen Mündungen der Raumkanonen auf das parahuanische Schiff, das sich zu einem Drittel aus dem Wasser erhoben hatte. Die Kanonen des Schlittens spuckten weißliche Strahlen auf das Raumschiff, die sich beim Auftreffen in grünes Feuer verwandelten. Die nachfolgenden Schlitten schwenkten ein; sie hatten ebenfalls Raumkanonen an Deck, die in Aktion waren. Um das Raumschiff herum schäumte und dampfte das Meer. Dazwischen flammte grünes Feuer. Tosendes Donnern rollte ständig über Nila hin-
weg. Das Schiff erhob sich immer weiter aus dem Wasser. Die Strahlen der Schlitten hafteten an ihm. Das Feuer wurde vom Raumschiff aus nicht erwidert. Vielleicht waren seine Schießluken gleich zu Anfang durch die Strahlen versiegelt worden. Jetzt war es ganz aus dem Wasser aufgetaucht und flog mit gewaltigem Getöse himmelwärts, eine Wolke von Dampf und Gischt hinter sich lassend. Die Strahlen folgten ihm noch eine Weile, dann wurde nach und nach das Feuer eingestellt. In Nilas Ohren hallte das Donnern noch nach. Sie lag rücklings im Wasser und sah dem Raumschiff nach, das in den strahlend blauen Himmel aufstieg und immer kleiner wurde. Flieht, Palache, flieht! Doch es ist bereits zu spät! Zwei dünne Feuerlinien leuchteten im Blau auf und richteten sich auf den winzigen Punkt des parahuanischen Raumschiffs. Dann flammte an der Stelle, an der eben noch das Raumschiff gewesen war, eine helle Sonne. Die Feuerlinien krümmten sich und verschwanden. Kriegsschiffe der Föderation waren aus dem All aufgetaucht ... Nila drehte sich im Wasser herum, erblickte in sechs Meter Entfernung einen abgebrochenen Treibholzast, schwamm hin und kletterte darauf. Als sie sich aufstellte, wurde der Ast von einer Welle hoch-
gehoben, die rauschend nach Süden schoß. Nila hielt sich an einem Zweig fest und glitt auf der Welle dahin, ihre Augen schweiften über das Meer ... eine strahlend, glitzernde Welt, rauschender Wind und schaumgekrönte Wellen. Einer der großen Schlitten glitt keine hundert Meter entfernt vorbei und hielt auf die Insel zu. Über dem Schlitten flog ein Verband Patrouillenfahrzeuge, deren Luken geöffnet waren. Fallschirmspringer würden in wenigen Minuten aus den Luken springen und damit beginnen, die Insel von den verlassenen Kindern von Porad Anz zu säubern. Im Morgenlicht spielte sich jetzt mit kleinen Variationen überall dort, wo Treibholzinseln auf den Strömen des Ozeans trieben, die gleiche Szene ab. Das Ungeheuer Mensch war erwacht und setzte sich zur Wehr ... »Nila –« »Dan! Wo bist du?« »An der Oberfläche. Ich hab' dich gerade entdeckt. Schau nach Südwesten. Mein Fahrzeug wird gerade aufgenommen. Dr. Cay geht es gut ...« Eine Regung von Schuldbewußtsein – an Ticos habe ich gar nicht mehr gedacht! Ihr Blick glitt über das Meer, blieb an einem Wellenkamm haften. Das war er. Sie hob einen Arm und winkte, sah, wie Parrol den Gruß erwiderte. Dann sprang sie von ihrem Stamm
ins Wasser, setzte die Düsen in Betrieb und glitt durch die kristallenen oberen Bereiche der See auf ihn zu.
10 »Sie sind nicht Dr. Ticos Cay«, sagte die Blonde eindringlich. »Sie sind nicht Dr. Nila Etland. Es gibt kein großes weißes Ungeheuer, das Sie in einem Wald verfolgt!« Rion Gilennic sah sie blinzelnd an. In ihrer silberblauen Uniform war sie ein attraktives junges Geschöpf; aber sie schien sehr besorgt zu sein. »Nein«, versicherte er ihr, »natürlich nicht.« Das Gesicht der Blonden heiterte sich auf. »So ist's besser. Nun, und wer sind Sie? Ich will es Ihnen sagen. Sie sind Rion Gilennic, Abgeordneter des Föderationsrats.« »Ganz recht«, meinte Gilennic. »Und wo sind Sie?« Er blickte sich um. »Im Senderaum.« »Das kann jeder sehen. Aber wo befindet sich der Senderaum?« »Auf dem Flaggschiff. Auf Sektionsadmiral Tatlaws Flaggschiff. Oh, keine Sorge! Wenn ich ich selbst bin, erinnere ich mich an alles. Ich scheine nur manchmal in eine der beiden anderen Personen überzugehen.« »Sie haben uns erzählt«, sagte die Blonde vor-
wurfsvoll, »daß Sie schon früher solche komprimierten Gedächtnis-Abrisse aufgenommen haben.« »Das stimmt auch. Aber ich merke jetzt, daß es ziemlich unbedeutende Abrisse waren. Kleine Dosen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das hier war keine kleine Dosis! Zum einen war es eine doppelte Dosis. Eine Sechsundzwanzig-Minuten-Einheit und eine ZweiMinuten-Einheit. Beide emotionell befrachtet. Dann beinhaltete die Zwei-Minuten-Einheit einen Geschlechtsrollenwechsel, der an sich schon verwirrend ist. Sie hatten ziemlich viel Glück, Abgeordneter! Wenn Sie das nächste Mal wieder eine unbekannte Psycho-Maschine erproben, geben Sie dem Bedienungspersonal wenigstens genaue Informationen. Bei einer so dringenden Angelegenheit wie dieser mußten wir einiges als selbstverständlich voraussetzen. Sie hätten wochenlang verwirrt bleiben können!« »Ich bitte um Verzeihung«, sagte Gilennic. Plötzlich fuhr er bestürzt hoch. »Was ist jetzt los?« fragte die Blonde erschrocken. »Wie spät ist es?« Sie blickte auf ihre Uhr. »Schiff- oder Standardzeit?« »Standard.« Sie gab ihm Auskunft. Gilennic überlegte. »Das läßt mir etwa zehn Minuten Zeit, mich zu sammeln, bevor
Ratsmitglied Mavig sich mit mir in Verbindung setzt.« »Ich kann Ihnen eine Spritze geben, die Sie innerhalb von dreißig Sekunden in Ordnung bringt«, bot die Blonde an. »Dann würde ich mich nicht mehr an die Abrisse erinnern.« »Nicht in allen Einzelheiten. Aber Sie hätten noch immer eine Vorstellung von dem Ganzen.« Gilennic schüttelte den Kopf. »Das reicht nicht aus. Für die Konferenz benötige ich alle Details.« »Nun, soviel ich weiß, hat das Ratsmitglied die Abrisse ebenfalls aufgenommen. Er dürfte in keiner besseren Verfassung sein.« »Ach, den kann so leicht nichts erschüttern«, meinte Gilennic mürrisch. Nach einigem Nachdenken sagte sie: »Ich glaube, Sie sind in Ordnung. Sie haben sich schnell davon gelöst ... Diese zwei Personen hatten einige bemerkenswerte Erlebnisse, nicht wahr?« »Ja, bemerkenswert. Wo halten sie sich zur Zeit auf?« Ihr Gesicht nahm wieder den besorgten Ausdruck an. »Erinnern Sie sich nicht? Sie haben vor etwa einer Stunde das Schiff verlassen. Auf Ihre Anordnung hin. Dr. Etland wünschte, daß Dr. Cay auf den Planeten zurückgebracht wird und in ein Krankenhaus kommt.«
Gilennic dachte nach. »Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Das war kurz bevor dieses Zeug bei mir zu wirken begann, nicht wahr? Ich vermute –« Er brach ab, da die Eingangstür sich öffnete. Eine gepflegte junge Frau trat herein, lächelte, begab sich zum Transmitter, legte ein Bündel Papiere darauf und schaltete den Sichtschirm ein. »Das sind die Berichte, die Sie für die Konferenz haben wollten, Mr. Gilennic«, sagte sie. »Sie haben gerade noch Zeit genug, sie durchzusehen.« »Danke, Wyl.« Gilennic ging zum Transmitter. »Brauchen Sie noch etwas?« fragte Wyl. »Nein«, sagte er, »das ist alles.« Wyl schaute die Blonde an. »Wir gehen jetzt besser.« Die Blonde runzelte die Stirn. »Der Abgeordnete ist in keiner guten Verfassung«, meinte sie. »Als Technikerin des Psychologischen Dienstes bin ich im Besitz eines Berechtigungsscheins der Klasse fünf. Vielleicht –« Wyl ergriff sie am Arm. »Kommen Sie, meine Liebe. Ich bin Mr. Gilennics Privatsekretärin und habe einen Schein der Klasse zwei. Aber das erlaubt mir nicht, hier zu sitzen und zuzuhören.« Die Blonde wandte sich an Gilennic. »Wenn Sie wieder Halluzinationen bekommen sollten –« Er lächelte ihr zu. »Dann werde ich um Hilfe klingeln. Genügt das?«
Sie zögerte. »Ja, wenn Sie es nicht zu lange aufschieben. Ich warte neben dem Summer.« Sie verließ zusammen mit Wyl den Raum. Rion Gillenic ließ sich seufzend neben dem Transmitter nieder. Sein geistiges Fassungsvermögen war überfrachtet – so konnte man es vielleicht am besten beschreiben. Innerhalb von fünfzig Sekunden waren seinem Gedächtnis zwei fremde Erlebnisräume eingespeist worden. Er nahm an, daß die darin enthaltenen emotionellen Effekte so weit wie möglich herausgefiltert worden waren; aber es blieben außerordentlich lebendige Erinnerungen, die von zwei unterschiedlichen Empfindungsmustern erlebt und von zwei unterschiedlichen und sehr scharfen Verstandessystemen aufgenommen worden waren. Während der nächsten Stunden würde ein Teil von ihm tatsächlich Dr. Cay sein, imstande, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was ihm begegnet war – angefangen bei dem ersten Zusammentreffen mit den fremden Wesen bis hin zu dem Moment, als ihm im Inkubator das Bewußtsein schwand. Und ein anderer Teil von ihm würde Dr. Nila Etland sein und nach Belieben über Informationen verfügen, die den Zeitraum von ihrer Diskussion mit den Schlittenmännern bis hin zu dem Augenblick umfaßten, da sie in Begleitung von Danrich Parrol, Dr. Cay und einem Paar mutierter Ottern aufs Festland zurückkehrte.
Jetzt schien Gilennics Geist fähig zu sein, diese Aufpfropfungen als das zu erkennen, was sie waren, und sie von seinem persönlichen Erinnerungsschatz getrennt zu halten. Aber eine Zeitlang hatte in seinem Geist Verwirrung geherrscht, und er hatte in hellwachem Zustand farbenprächtige Treibwald-Alpträume durchlaufen, ohne sagen zu können, wer er war. Er selbst war dadurch weniger beunruhigt worden als die beiden Übertragungs-Technikerinnen, die sich offensichtlich für die Nebeneffekte verantwortlich fühlten. Ein Erinnerungs-Abriß war auf jeden Fall die schnellste und zuverlässigste Methode, um Kenntnis über einen Lebensabschnitt einer Person mitsamt allen dazugehörigen Informationen zu erlangen. Und in wenigen Stunden würden die direkten Eindrücke aus seinem Geist schwinden. Hier sah er kein Problem ... Er blätterte die Berichte durch, die Wyl ihm hingelegt hatte. Darunter befand sich ein Bericht des Stabsarztes über den Zustand von Ticos Cay – eine sehr günstige Prognose. Dr. Cay besaß trotz seines Alters noch eine überdurchschnittlich hohe Regenerationsfähigkeit. Er war in einem Zustand völliger Erschöpfung gewesen; aber nach einigen Wochen Behandlung würde er voraussichtlich wieder auf den Beinen sein. Gilennic freute sich über den Bericht; er hatte sich um den alten Mann Sorgen gemacht. Der letzte Bericht über die militärische Entwick-
lung enthielt nichts von Bedeutung. Die kämpferischen Auseinandersetzungen waren größtenteils vor fünf Stunden beigelegt worden, noch ehe die EtlandGruppe das Festland erreicht hatte. Die Verfolgung im Raum dauerte an; aber die Zahl der parahuanischen Raumschiffe, die noch verfolgt wurden, hatte sich auf zwölf vermindert. Gilennic überlegte. Sollte er Tatlaw anweisen, noch ein paar mehr entkommen zu lassen? Nein, zwei Schiffsladungen voll Parahuane genügten, um die schlechte Nachricht nach Porad Anz zu bringen. Zu viele glücklich Entkommene würden verdächtig wirken – die Parahuane hatten schließlich erfahren, daß die Schiffe der Föderation den ihren überlegen waren. Zirka achthundert in einem Treibwald verborgene Oganoon waren lebend gefangen worden. Die Palache, die bei ihnen waren, hatten Selbstmord verübt. Mit diesem Fang konnte man kaum etwas anfangen – Die übrigen Berichte waren unwichtig. Der Psychologische Dienst frisierte die Nachrichtenquellen auf Nandy-Cline zurecht. Darüber würde er in der Konferenz Näheres erfahren. Gilennic saß einen Moment nachdenklich da und lächelte dann kurz. Die Sache stand nicht schlecht. Gar nicht schlecht! »Kommunikationszentrale ruft den Abgeordneten Gilennic«, sagte eine Stimme aus dem Sprecher.
»Ich höre«, antwortete er. »Die Verbindung mit Orado ist hergestellt. Wenn wir uns ausschalten, ist der Senderaum abgeschirmt.« »Sichern Sie die Abschirmung doppelt«, sagte Gilennic und drückte auf die An-Taste des Bildschirms. »Was hat Sie dazu bewogen, den Befehl zu geben, daß zwei parahuanische Kriegsschiffe entkommen sollen?« fragte Mavig, Mitglied des Föderationsrats. Gilennic blickte die beiden Männer auf dem Schirm an. Neben Mavig saß Tolm Sindhis, ein Direktor des Psychologischen Dienstes – die Öffentlichkeitsdarstellung war bereits ein wichtiger Aspekt der Situation, ganz wie er erwartet hatte. Die Diskussion war nicht auf ihn und seine beiden Gegenüber beschränkt; sie wurde nach Mitteilung Mavigs auf Orados Seite über verschiedene Nebenanschlüsse von anderen mitverfolgt. Er hatte ihre Namen nicht genannt und brauchte es auch nicht. Die führenden Köpfe des Departments begutachteten das Vorgehen des Föderationsratsabgeordneten auf Nandy-Cline. Sollten sie ... Gilennic begann. »Sektionsadmiral Tatlaws Flottenverband näherte sich dem System, als wir eine verstümmelte Nachricht von Nandy-Cline auffingen, der zufolge dort Kampfhandlungen eingesetzt hätten. Tatlaw ließ die Geschwindigkeit erhöhen. Als der Hauptverband Nandy-Cline erreichte, jagten para-
huanische Schiffe in Zweier- und Dreierverbänden in den Raum hinaus. Unsere Schiffe schwärmten aus und begannen sie abzuschießen. Es war klar, daß dem Feind auf dem Planeten etwas Drastisches zugestoßen war. Unsere dort stationierten Streitkräfte waren mobilisiert und in Aktion, aber das konnte nicht die Ursache sein. Es war kein geordneter Rückzug, sondern eine panische Flucht. Welcher Art die Katastrophe auch sein mochte, für uns konnte es sicherlich nur von Vorteil sein, wenn Porad Anz Gelegenheit gegeben wurde, von informierten Überlebenden einen Bericht aus erster Hand zu erhalten. Das Flaggschiff hatte die Verfolgung der beiden größten parahuanischen Schiffe aufgenommen, etwa in der Klasse unserer Kreuzer. Es bestand Grund zu der Annahme, daß sie Parahuane hohen Ranges an Bord hatten. Das Kommandoschiff selbst war noch vor Verlassen der Atmosphäre zerstört worden. Es blieb keine Zeit für Rückfragen bei Orado, selbst wenn dies bei den höllisch schlechten Kommunikationsverhältnissen des Systems möglich gewesen wäre. Wir befanden uns mitten im Kampf, und Tatlaw war im Begriff, den Feind zu vernichten. Ich war in dem Verband der oberste Repräsentant des Zivilgouvernements. Deshalb erteilte ich den Befehl.« Mavig kräuselte die Lippen. »Der Admiral war nicht ganz einverstanden mit diesem Schritt?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Gilennic. »Strategisch gesehen war er sinnlos. Ich selbst habe hinterher vorübergehend an der Klugheit dieses Schritts gezweifelt.« »Ich nehme an, daß sich Ihre Zweifel zerstreuten, nachdem Sie Dr. Etlands Erinnerungs-Abriß aufgenommen hatten«, bemerkte Mavig. »Ja, vollkommen.« »Wir wissen jetzt, was die Invasionsflotte zum Rückzug veranlaßt hat«, fuhr Mavig fort. »Ihr Oberkommando war einer konzentrierten Dosis psychologischer Kriegsführung in einzigartig abschreckender Form ausgesetzt. Ihre Handlungsweise findet unsere Billigung, Abgeordneter. Wie sind Sie auf Dr. Etland und ihre Begleiter aufmerksam geworden?« »Ich begab mich bei erster Gelegenheit auf den Planeten«, berichtete Gilennic. »Dort herrschte noch immer große Verwirrung, und man konnte mir nicht gleich eine Erklärung für den Rückzug der Parahuane geben. Aber ich erfuhr, daß die erste Warnung von einer gewissen Dr. Etland von einer der Treibholzinseln gekommen war. Sie hatte das Festland etwa zur gleichen Zeit wie ich erreicht, und ich fand sie im Krankenhaus, wohin sie Dr. Cay gebracht hatte. Sie machte mich kurz mit den Ereignissen vertraut, und ich überredete sie, mich zusammen mit Dr. Cay auf das Flaggschiff zu begleiten. Sie war einverstanden
unter der Bedingung, daß Dr. Cay unter ständiger ärztlicher Betreuung bliebe. Jetzt ist sie mit ihm wieder in ein Krankenhaus auf dem Festland zurückgekehrt.« Mavig sagte: »Die Personen, die über diese Sache Bescheid wissen –« »Sind Dr. Etland, Dr. Cay und Danrich Parrol«, ergänzte Gilennic. »Die beiden Übertragungs-Technikerinnen haben genügend mitbekommen, um sich ihre Gedanken zu machen. Ebenso meine Sekretärin.« »Das Personal ist kein Problem. Werden die anderen drei die Geheimhaltungsvorschrift befolgen?« »Sie haben es zugesagt. Ich glaube, wir können uns auf sie verlassen. Sie werden die Geschichte verbreiten, daß Dr. Etland und Dr. Cay die Parahuane entdeckt und belauscht hätten, ohne von ihnen gesehen worden zu sein. Die Tuvela-Theorie oder sonst irgend etwas, das in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein könnte, wird nicht erwähnt werden.« Mavig blickte den Direktor des Psychologischen Dienstes an. Sindhis nickte und sagte: »Nach dem Persönlichkeitsbild zu urteilen, das die ErinnerungsAbrisse ergeben, können wir uns auf die Zusage verlassen. Ich möchte anregen, daß diese drei Personen zusätzliche Informationen erhalten, die ihnen die Bedeutung der Geheimhaltung vom Standpunkt der Föderation klarmachen.«
»Einverstanden«, sagte Mavig. »Es steht inzwischen fest, daß die vier übrigen Wasserwelten, auf denen sich ebenfalls Parahuane hätten einnisten können, frei von Invasionstruppen sind. Der feindliche Angriff richtete sich einzig und allein auf Nandy-Cline.« Er wandte sich an Tolm Sindhis: »Wie ich höre, haben Ihre Leute damit begonnen, eine für die Öffentlichkeit bestimmte Darstellung der Ereignisse zu verbreiten.« »Ja«, sagte Sindhis. »Das ist im vorliegenden Fall ziemlich einfach. Wir stützen uns dabei auf eine unter der Bevölkerung Nandy-Clines verbreitete Auffassung.« »Und die wäre?« »Daß die zivilen und militärischen Streitkräfte des Planeten die Invasoren schlugen, bevor sie noch an Rückzug denken konnten. Das steht bereits in den meisten Köpfen fest.« Gilennic meinte nachdenklich: »Wenn Dr. Etlands Warnung nicht gewesen wäre, dann glaube ich, wäre es auch so gekommen. Allerdings nicht ohne schwere Verluste auf unserer Seite. Der Gegenschlag wurde jedenfalls mit großem Enthusiasmus geführt.« »Und wie sieht es mit der allgemeinen Reaktion innerhalb des Hub aus, Direktor?« fragte Mavig. »Wir lancieren es als eine vorübergehende Sensation«, erwiderte Sindhis. »Nach zwei, drei Tagen lassen wir eine Reihe sensationeller Neuigkeiten folgen, die
die Nandy-Cline-Affäre rasch aus den Nachrichten verdrängen werden. Ich sehe da keine Schwierigkeiten.« Mavig nickte. »Bleibt noch die Nachfolge-Aktion. Mir gefällt dieser Ausdruck ›Gromgorru‹. Wir könnten ihn hierfür als Schlüsselwort entleihen.« »Gromgorru und Tuvela-Wächter«, sagte Sindhis. »Ja. Die beiden entkommenen Kreuzer erreichen Porad Anz. Die einzigen Überlebenden der Invasion tragen ihre Geschichte vor. Die Führungsspitzen der Ewiglebenden haben ein oder zwei Wochen Zeit, um sich neue Tuvela-Furcht durch Mark und Bein gehen zu lassen. Man erfährt von keiner bemerkenswerten Reaktion auf seiten der Föderation. Wie geht es weiter? Abgeordneter, Sie haben ein erstaunliches Maß an Vorstellungskraft bewiesen. Wie soll Ihrer Meinung nach die Angelegenheit beendet werden?« »Wie würden Tuvela-Wächter sie beenden?« fragte Gilennic zurück. »Ich denke, wir sollten uns an Dr. Etlands Beispiel halten und eine Haltung einnehmen, die nicht ausgesprochen Verachtung ausdrückt, aber auch nicht weit davon entfernt ist. Wir haben über tausend Gefangene niederen Ranges gemacht, mit denen wir nichts anfangen können. Wächter töten nicht sinnlos. In ein oder zwei Wochen sollten die Gefangenen nach Porad Anz transportiert werden.« »Von einem Flottenverband?« fragte Mavig.
Gilennic schüttelte den Kopf. »Ein Schiff, Ratsmitglied. Ein eindrucksvolles Schiff – ich denke an einen großen Aufklärer. Die Wächterin Etland ist allein auf die Treibholzinsel gekommen, und zwar freiwillig, wie die Parahuane glauben. Die Wächter würden keine Flotte nach Porad Anz schikken. Und auch nicht mehr als einen Wächter.« »Ja – ganz richtig. Und dann?« »Nach dem, was Dr. Cay berichtet wurde«, sagte Gilennic, »gibt es auf Porad Anz keine überlebenden menschlichen Gefangenen. Aber wir sollten uns selbst davon überzeugen. Halb tot oder geistesgestört, wir lassen keinen von den unseren in Feindeshand.« Mavig nickte. »Und was sonst noch, Abgeordneter?« »Auf Nandy-Cline wurden Menschen umgebracht«, versetzte Gilennic. »Die wirklichen Mörder sind mit ziemlicher Sicherheit tot. Aber die Führer auf Porad Anz müssen einen Denkzettel erhalten – dafür und für den Aufruhr, den sie angezettelt haben. Sie sind besitzgierig. Wie wäre es mit territorialen Beschränkungen?« Mavig erwiderte: »Nach Auskunft des Xenodienstes halten sie achtzehn bis zwanzig Wasserwelten besetzt. Man könnte ihnen befehlen, zwei davon für immer zu räumen – sagen wir diejenigen, die der Föderation am nächsten liegen, und ihnen eine bestimmte Frist zur Ausführung des Befehls setzen. Wäre das angemessen?«
»Ich glaube«, sagte Gilennic, »ein Wächter würde dem zustimmen.« Nach kurzem Zögern setzte er hinzu: »Ich meine, die Ausdrücke Tuvela oder Wächter sollten weder in diesem Zusammenhang noch sonst von uns benutzt werden. Die Ewiglebenden von Porad Anz sollen sich ihren eigenen Reim darauf machen, wer ihnen Befehle im Namen der Föderation erteilt. Was uns betrifft, können die Supermenschen in Geheimnis und Gromgorru gehüllt bleiben. Dadurch werden sie um so wirkungsvoller.« Mavig nickte und schaute zur Seite. »Wie ich sehe, ist soeben die Person ausgewählt worden, welche die Weisungen der Föderation an Porad Anz überbringen soll.« Er drückte auf eine Taste. »Ihre Kopie, Abgeordneter –« Rion Gilennic entnahm dem Auswurfschacht des Transmitters eine Karte und las darauf ohne allzu große Überraschung seinen eigenen Namen. »Der Auftrag ehrt mich«, sagte er ernst. »Sie können mit den Vorbereitungen beginnen.« Mavig wandte seine Aufmerksamkeit Tolm Sindhis zu. »Es ist zu erwarten, daß in einigen Wochen Individuen auf Nandy-Cline auftauchen werden, die diskrete Nachforschungen über Dr. Etland und Dr. Cay anstellen werden. Vielleicht ergeben sich daraus irgendwelche Hinweise.« Der Direktor zuckte die Schultern. »Wir werden
natürlich ein Auge auf solche Leute haben. Aber selbst wenn sich Hinweise ergeben sollten, werden wir kaum etwas Neues erfahren ...« Beschlüsse des beratenden Komitees der Lords von Sessegur, Kapitäne der Schwarzen Schiffe. Gegenstand der Sitzung: Der Zusammenstoß von Menschen und Parahuanen auf Nandy-Cline. Die Sitzung fand in der Purpurhalle des Lord Ildaan statt. Neben Lord Ildaan und den ständigen Mitgliedern des Komitees nahm eine wirrollanische Gesandtschaft, angeführt von einem bevollmächtigten Gesandten, teil. Lord Ildaan stellte dem Komitee die Mitglieder der Gesandtschaft vor und erinnerte noch einmal an die von Wirrolla und seinen Verbündeten mehrfach an die Allianz der Lords von Sessegur herangetragenen Forderungen nach einem gemeinsamen Feldzug gegen die Föderation des Hub. Er erklärte, daß die vom Komitee gefaßten Beschlüsse als Antwort auf solche Forderungen betrachtet werden könnten. Dann bat er Lord Toshin, Botschafter der Allianz bei der Föderation des Hub, um einen kurzen Bericht über die Erhebungen des Geheimdienstes in bezug auf die parahuanische Niederlage auf Nandy-Cline.
Lord Toshin: Der mißglückte Versuch der Parahuane, den Planeten Nandy-Cline zu erobern, hat in der Öffentlichkeit der gesamten Föderation kaum einen nennenswerten Eindruck hinterlassen, mit Ausnahme der Bevölkerung des Planeten selbst. Diese nimmt für sich fast das Alleinverdienst an der Zerschlagung der parahuanischen Truppen in Anspruch, während wir eher zu der Annahme neigen, daß die parahuanische Flotte von den Streitkräften der Föderation im Raum vernichtet worden ist. Von der parahuanischen Tuvela-Theorie ist in der Öffentlichkeit der Föderation mit keinem Wort die Rede. Die Person, die in den Berichten parahuanischer Überlebender als »Wächterin Etland« bezeichnet wird, existiert tatsächlich. Wir haben genaueste Nachforschungen angestellt, die ergeben haben, daß Dr. Etland eine auf Nandy-Cline geborene Biochemikerin ist, hochbegabt und äußerst intelligent, offenbar jedoch im Rahmen normaler menschlicher Fähigkeiten. Wir konnten keine Anhaltspunkte dafür finden, daß sie einer Gruppe von möglicherweise mutierten Menschen angehört, die die geheimen Herrscher und Beschützer der Föderation sind. Unsere Nachforschungen über Dr. Ticos Cay, ihren Verbündeten, erbrachten das gleiche Ergebnis. Interessant ist die Tatsache, daß in der Öffentlichkeit der Föderation nichts darüber bekannt ist, daß
diese beiden Personen der Anlaß für die anscheinend kopflose Flucht der Parahuane gewesen sein könnten, wie von den Überlebenden auf Porad Anz behauptet wurde. Man billigt Dr. Etland und Dr. Cay einzig und allein das Verdienst zu, als erste vor fremden Invasoren gewarnt zu haben. Unter diesen Umständen hielt ich es nicht für angebracht, Dr. Etland direkt zu befragen. Dr. Cay zu befragen wäre sowieso nicht möglich gewesen, da er nach längerem Krankenhausaufenthalt offenbar auf eine der vielen Treibholzinseln jenes Planeten zurückgekehrt ist, um seine Forschungsarbeit weiterzuführen; wie es heißt, ist Dr. Etland die einzige, die seinen augenblicklichen Aufenthaltsort kennt. Lord Ildaan: Lord Mingolm, Botschafter der Allianz auf Porad Anz, wird zu den Widersprüchen Stellung nehmen, die in bezug auf die parahuanische Niederlage zwischen der offiziellen Version der Föderation und dem Bericht der überlebenden Parahuane bestehen. Lord Mingolm: Wie dem Komitee bekannt ist, sind nur zwei parahuanische Invasionsschiffe der Vernichtung entgangen und nach Porad Anz zurückgekehrt. An Bord der Schiffe befanden sich zweiundachtzig Palache und Großpalache, von denen achtundzwanzig unmittelbar Zeuge der Begegnung zwischen den Ewiglebenden und der als Wächterin Etland be-
kanntgewordenen weiblichen Person gewesen sind. Sie gehörten sämtlich der unter der Bezeichnung »Stimme der Aktion« bekannten politischen Gruppierung an und waren wegen ihrer Mittäterschaft bei der verhängnisvollen Revolte ihrer Partei des Todes angeklagt. Alle sind wiederholt verhört worden, häufig unter schweren Folterungen. Ich selbst habe einer Anzahl solcher Verhöre beigewohnt und hatte einige Male Gelegenheit, die Angeklagten direkt zu befragen. Ihre Aussagen stimmten in allen wesentlichen Punkten überein. Danach sollen sowohl Dr. Cay wie auch Dr. Etland offen zugegeben haben, daß Dr. Etland eine Wächterin der Föderation sei, für die die Bezeichnung Tuvela ebenfalls zutreffe. Die Anhänger der Stimme der Aktion, die der Tuvela-Theorie schon immer skeptisch gegenübergestanden hatten, schenkten dem keinen Glauben. Doch die Ereignisse sollten sie eines anderen belehren. Offenbar konnte nichts die Wächterin aufhalten. Sie tauchte plötzlich im Wasser oder in den dichten Wäldern auf und verschwand wieder, ohne eine Spur zu hinterlassen. Dazu kam, daß diejenigen, die das Unglück hatten, ihr zu begegnen, später nicht mehr darüber berichten konnten. Sie verschwanden einfach. Die Liste derer, die auf diese Weise ums Leben kamen, ist groß und umfaßt einen als Kämpfer und Anführer der Stimme
der Aktion bekannten Großpalach und einen Tarm, ein wildes, in Schlachten erfahrenes Ungeheuer. Als eine Mehrheit der Ewiglebenden den Wunsch äußerte, die Wächterin anzuhören, begab sie sich freiwillig in ihr Hauptquartier und befahl ihnen, den Planeten zu räumen. Als die Stimme der Aktion merkte, daß die Mehrheit der Ewiglebenden dem Befehl Folge leisten wollte, riß sie mit Gewalt die Macht an sich. Damit war jedoch nichts gewonnen. Die Stimme der Aktion war bei ihrem Schritt von der Annahme ausgegangen, daß die Wächterin in eine Falle gelaufen war. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt unbewaffnet zusammen mit Dr. Cay in einem von Wachen umstellten Raum. Als jedoch zu ihrer Hinrichtung eine Abordnung hineingeschickt wurde, kam diese auf gräßliche Weise durch einheimische Lebensformen um, die bis dahin einen vollkommen harmlosen Eindruck gemacht hatten. Als man dies entdeckte, waren die Wächterin und Dr. Cay anscheinend unverletzt entflohen. Danach wurde keiner der beiden mehr gesehen, aber die Anwesenheit der Wächterin bekundete sich in nicht zu übersehender Weise. Die Palache und Großpalache der Stimme der Aktion, unter denen ein heftiger Streit über die zu ergreifenden Maßnahmen ausgebrochen war, zogen sich in das Kommandoschiff und zwei in der Nachbarschaft liegende Raum-
schiffe zurück. Die Schiffe befanden sich in einer solchen Tiefe, daß man vor der Wächterin sicher zu sein glaubte. Doch plötzlich erhielt das Kommandoschiff die Nachricht, daß die beiden anderen Schiffe angegriffen würden, und gleich darauf erfolgten gewaltige Explosionen, bei denen sie offenbar zerstört wurden. Das gab den Ausschlag. Das Kommandoschiff erteilte an alle auf Nandy-Cline befindlichen Truppen über Funk den Befehl zum sofortigen Abzug. Wie uns bekannt ist, war es zur Flucht bereits zu spät. Die Menschen hatten zum Gegenschlag ausgeholt. Das Kommandoschiff wurde, wie es scheint, noch in der Atmosphäre des Planeten vernichtet, und kurz darauf war praktisch die gesamte Flotte ausgelöscht. Ich muß die psychische Wirkung betonen, die diese relativ rasch aufeinanderfolgenden Ereignisse auf die Parahuane hatten. Den Aussagen der Überlebenden zufolge hatten sie schließlich das Gefühl, so etwas wie eine unzerstörbare übernatürliche Macht herausgefordert zu haben. Selbst während ihres Verhörs schienen sie dadurch noch mehr beunruhigt zu sein als durch den ihnen drohenden Tod. Abschließend möchte ich bemerken, daß der Bericht der überlebenden parahuanischen Zeugen objektiv wahr zu sein scheint. Die Ereignisse haben sich tatsächlich so abgespielt. Ihre Deutung gehört auf ein anderes Blatt. Die innerhalb der Föderation zirkulie-
rende Version ist jedoch insofern eine Fälschung, als in ihr die wirkliche Ursache der parahuanischen Niederlage auf Nandy-Cline – das Auftreten von Dr. Etland – nicht zugegeben wird. Über die möglichen Gründe für diese Fälschung möchte ich keine Meinung äußern. Lord Ildaan: Lord Toshin wird dazu Stellung nehmen. Lord Toshin: Ich stimme der Schlußbemerkung Lord Mingolms zu. Wir dürfen annehmen, daß die parahuanischen Überlebenden die Wahrheit berichtet haben. Dann müssen wir uns allerdings fragen, weshalb in der offiziellen Berichterstattung der Föderation weder von der Tuvela-Theorie noch von der überragenden Rolle Dr. Etlands die Rede ist: Die einfachste Antwort darauf dürfte die sein, daß sie tatsächlich eine Tuvela-Wächterin ist, wie sie und Dr. Cay behauptet haben. Das stellt uns jedoch vor die Frage, weshalb sie ihre geheimste Identität und damit auch die ihrer Gruppe an den Feind verraten sollte. Und auf diese Frage gibt es keine vernünftige Antwort. Darüber hinaus kann ich mir nicht vorstellen, wo in der Struktur des Obergouvernements der Föderation geheime Herrscher Fuß fassen könnten. Es ist ein äußerst vielschichtiger Komplex, in welchem der Föderationsrat, der vom Volk als die Autorität betrachtet wird, häufig nur als Vermittler zwischen mächtigen
Departments auftritt. Daß alle diese von fähigen Einzelpersönlichkeiten geführten Organisationen ohne ihr Wissen das Werkzeug von Tuvela-Wächtern sein sollten, ist vielleicht nicht ausgeschlossen, aber zumindest sehr fragwürdig. Deshalb, so meine ich, sollten wir die Erklärung, daß es sich bei Dr. Etland um eine Wächterin handelt, nicht akzeptieren. Ich bitte Lord Ildaan, das Komitee abstimmen zu lassen. Lord Ildaan: Ich fordere das Komitee zur Abstimmung auf. Das Komitee ist einverstanden. Lord Toshin führt seine Stellungnahme weiter aus. Lord Toshin: Eine zweite mögliche Erklärung wäre darin zu sehen, daß Dr. Etland zwar keine Wächterin oder Tuvela, aber im Besitz übernatürlicher Fähigkeiten ist, die sie dazu benutzt hat, die Invasionsstreitmacht in Schrecken zu versetzen und zum überstürzten Rückzug zu bewegen. Ich meine die sogenannte Psi-Funktion. Dazu kann ich nur bemerken, daß kein Ereignis in ihrem Lebenslauf auf den Besitz derartiger Fähigkeiten hinweist. Und da die Berichte der parahuanischen Überlebenden eine natürliche Erklärung nicht ausschließen, sollten wir uns meiner Ansicht nach um eine solche bemühen. Lord Ildaan: Ich fordere das Komitee zur Abstimmung auf. Das Komitee ist einverstanden. Lord Toshin fährt in seiner Ausführung fort.
Lord Toshin: Es gibt, wie ich eben angedeutet habe, eine dritte, natürliche Erklärungsmöglichkeit. Dr. Cay könnte Dr. Etland auf irgendeine Weise Informationen zugespielt haben, die sie mit Hilfe ihrer Fähigkeiten, ihrer Vertrautheit mit den örtlichen Gegebenheiten und mit konventionellen Waffen zur Demoralisierung des Feindes benutzt haben könnte. Das läßt sich natürlich nicht beweisen. Und offenbar war genau dies die Absicht, die das Obergouvernement der Föderation verfolgte, indem es weder die Tuvela-Theorie noch Dr. Etlands Rolle bei der parahuanischen Niederlage erwähnte. Jeder Nachforscher, der einigermaßen vertraut war mit der parahuanischen Darstellung, mußte zu dem Schluß kommen, daß etwas geheimgehalten wurde, worüber er nur Spekulationen anstellen konnte. Denn es ist nicht wichtig, welche der eben vorgetragenen Erklärungsversuche die Antwort enthält. Für einen Feind ist das unter dem Namen Dr. Etland bekannte Individuum unter dem einen Aspekt ebenso gefährlich wie unter dem anderen. Wir sollten das von der Föderation über diesen Punkt bewahrte Stillschweigen als Warnung betrachten, die an alle die gerichtet ist, welche bei ihren Aktionen von allzu bestimmten Vorstellungen ausgehen – wie beispielsweise Porad Anz. Sie besagt, daß ein feindlicher Eindringling niemals vorher wissen kann, in welcher Gestalt das Unheil auf ihn
zukommen wird, wenn er sich unter Menschen begibt, daß er dem Unerwarteten – ja vielleicht dem Unberechenbaren gegenübersteht. Lord Mingolm: Wir müssen trotzdem Berechnungen anstellen. Bisher haben wir nur festgestellt, daß Dr. Etland ein gefährliches Individuum ist. Aber was können wir aus dem Fehler der Parahuane in bezug auf die Gattung Mensch lernen? Lord Toshin: Daß es sich um eine äußerst veränderliche Gattung handelt. Die von den Parahuanen erstellte Studie basierte auf der Untersuchung einiger tausend Individuen, die über einen langen Zeitraum hinweg nach und nach heimlich gefangengenommen und zu Tode gequält wurden. Porad Anz hat dabei zweifellos eine ganze Menge über diese Menschen erfahren. Der Fehler der Parahuane bestand darin, daß sie das, was sie über die Individuen erfahren hatten, verallgemeinerten und darauf ihre Berechnungen aufbauten. Die Behauptung, daß der Mensch so oder so beschaffen sei, muß bereits eine Lüge sein. Die Gattung, ihre Bräuche und ihre Philosophie bleiben unvorhersehbar. Die Individuen verändern sich mit den Umständen und ebenso die Gattung. Diese Wandelbarkeit scheint ihre Stärke auszumachen. Wir können die Gattung nicht an dem messen, was sie heute ist oder was sie gestern war. Und wir wissen nicht, was sie morgen sein wird. Das ist die Ursache unserer Besorgnis.
Lord Ildaan: Das ist in der Tat die Ursache unserer Besorgnis. Aus den bisherigen Ausführungen scheint sich die Notwendigkeit zu ergeben, daß wir uns mit dem menschlichen Obergouvernement als einem Faktor erster Ordnung beschäftigen. Ich erteile Lord Batras das Wort. Lord Batras: Die Funktion des Obergouvernements besteht darin, die Strategie für die Föderation zu liefern. Diese Strategie richtet sich zum Teil auf das Universum jenseits der Föderation. Aber das ist nur ein kleiner Teil der Aufgaben des Obergouvernements. Betrachten Sie die Föderation unter dem Gesichtspunkt eines Invasionsplans. Sie erstreckt sich über einen ungeheuer weiten Raum. Die bewohnten Welten in diesem Bereich verlieren sich fast unter der viel größeren Anzahl von Welten, auf denen keine Menschen leben. Die politische Organisation scheint ziemlich locker zu sein. Die militärische Streitmacht der Föderation ist groß, aber weit verstreut. Aus all dem ließe sich folgern, daß ein entschlossener und gut vorbereiteter Angreifer im Bereich der Föderation leichtes Spiel haben müßte. Doch wir wissen, daß alle bisherigen Angriffspläne gescheitert sind. Und auch ausgeklügeltere Pläne, die eine Schwächung und Verkrüppelung der menschlichen Zivilisation zum Ziel hatten, sind aus Gründen, die
uns nicht in jedem Fall deutlich sind, gescheitert. Nach allem, was wir bisher festgestellt haben, scheint die Föderation so etwas wie eine biologische Festung zu sein, die durch die Natur ihrer Gattung geschützt wird. Man kann zwar leicht in die Festung eindringen, doch wenn dies geschehen ist, verwandelt sie sich in ein System von unvorhersehbaren und unausweichlich tödlichen Fallen. Wenn dies so ist, müssen wir uns fragen, weshalb das Obergouvernement sich in einer Weise verhält, die anscheinend darauf abgestimmt ist, die Stärke der eigenen Position zu verheimlichen. Wir haben gesehen, daß seine Taktik darin besteht, feindliche Aktivitäten als unbedeutend zu behandeln und in der Öffentlichkeit nicht mehr Informationen darüber zu verbreiten, als unbedingt notwendig ist. Wir dürfen annehmen, daß es seine augenblicklichen galaktischen Nachbarn tatsächlich nicht als eine ernsthafte militärische Bedrohung betrachtet. Dennoch muß die große Zurückhaltung, die es geschlagenen Angreifern gegenüber an den Tag legt, noch andere Gründe haben. Es hat Porad Anz nicht einmal zur Abrüstung gezwungen, obwohl ihm dies ein leichtes gewesen wäre. Ich glaube, wir besitzen jetzt genügend Informationen, um für dieses Verhalten eine Erklärung zu finden. Das Interesse des Obergouvernements richtet
sich in erster Linie auf die eigene Bevölkerung. Und nach dem, was wir von Lord Toshin über die Gattung Mensch erfahren haben, können wir uns denken, was das Obergouvernement zu verhindern sucht. Es wünscht nicht, daß diese veränderliche und gefährliche Gattung eine Weltraumeroberungsphilosophie entwickelt, durch welche sie nicht mehr gewinnen könnte, als sie bereits besitzt, und durch die sie unter Umständen zurückgeworfen werden könnte auf Verhaltensweisen, die für die kriegerischen Zeiten vor Zusammenschluß der Föderation kennzeichnend waren. Welche Absichten das Obergouvernement sonst noch verfolgen mag, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß die Menschheit im Augenblick an einer friedlichen Koexistenz mit anderen intelligenzbegabten Lebewesen interessiert ist. Diese Einstellung könnte sich ändern, wenn die jetzigen Bewohner der Föderation den Eindruck gewännen, daß sie von außerhalb ernsthaft bedroht wären. Bisher hatten sie keinen Grund zu dieser Annahme. Die parahuanische Invasion war nur in den Augen von Porad Anz eine ernsthafte Herausforderung. Wir haben die Niederlage vorausgesehen, doch wir glaubten, daraus wichtige Informationen gewinnen zu können – was nun auch der Fall ist. Ich bin der Ansicht, daß das Komitee genügend informiert ist. Das Obergouvernement hat gezeigt, daß
es die Wirkung, die fortgesetzte Ärgernisse dieser Art auf die Gattung Mensch haben könnten, fürchtet. Wir sollen weise genug sein, um diese Wirkung ebenfalls zu fürchten. Eine fortwährende Herausforderung der Föderation könnte in den Menschen eine Vergeltungseinstellung erzeugen. Das ist die wirkliche Gefahr. Lord Ildaan: Das Komitee stimmt dem zu. Im Namen der Allianz der Lords von Sessegur, Kapitäne der Schwarzen Schiffe, richte ich das Wort an die wirrollanische Gesandtschaft und alle, in deren Auftrag sie hier ist. Bis zum Ende der Ära der Allianz dürfen gegen die menschliche Föderation feindliche Aktionen weder geplant noch vorbereitet werden. Dies verbietet die Allianz, und die Schwarzen Schiffe werden dafür Sorge tragen, daß das Wort der Allianz geachtet wird. Seid gewarnt! Das Komitee hat beschlossen. Die Sitzung ist beendet.