Alain Robbe-Grillet
Djinn Ein rotes Loch
im lückenhaften Pflaster
Roman
Aus dem Französischen
von Elmar Tophoven
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Alain Robbe-Grillet
Djinn Ein rotes Loch
im lückenhaften Pflaster
Roman
Aus dem Französischen
von Elmar Tophoven
Suhrkamp Verlag
Titel der Originalausgabe: Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints.
© 1982 by Les Editions de Minuit, Paris
Zweite Auflage 1984
© der deutschsprachigen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983
Alle Rechte vorbehalten
Satz: LibroSatz, Kriftel
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany
scan by párduc
� 2002
Djinn
Prolog
Es gibt gar nichts — ich meine kein einziges entschei dendes Beweisstück —, das es irgend jemandem er laubte, die Erzählung von Simon Lecœur der Gattung reiner Romandichtungen zuzuordnen. Man kann hin gegen behaupten, daß viele wichtige Elemente dieses wechselvollen, lückenhaften oder gleichsam brüchigen Textes die Wirklichkeit (und zwar die allen bekannte Wirklichkeit) mit einer bemerkenswerten und folglich verwirrenden Eindringlichkeit wiedergeben. Und wenn andere Bestandteile der Erzählung entschieden von ihr abweichen, so geschieht dies jeweils in so verdächtiger Weise, daß man nicht umhinkann, darin eine systematische Absicht des Erzählers zu erkennen, so als habe eine verborgene Ursache ihre Abwandlun gen und Erfindungen bestimmt. Eine solche Ursache entzieht sich freilich unserer Kenntnis, wenigstens jetzt noch. Entdeckten wir sie, so wäre die ganze Angelegenheit dadurch auf einmal aufgeklärt... Man darf es jedenfalls annehmen. Über den Autor selbst wissen wir wenig. Seine wahre Identität ist schon problematisch. Niemand wußte, ob er einen entfernten oder nahen Verwandten hatte. Man entdeckte nach seinem Verschwinden bei ihm zuhause einen französischen Paß auf den Namen Boris Koer shimen, Elektronik-Ingenieur, geboren in Kiew. Die zuständigen Stellen der Polizeipräfektur versichern je doch, daß es sich bei diesem Ausweis um eine grobe Fälschung handele, die vermutlich ausländischer Her kunft sei. Das Foto darin scheint allerdings, laut allen
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Zeugen, wirklich ein Bild des jungen Mannes zu sein. Was den angegebenen Familiennamen betreffe, so sei dabei irgendeine typische ukrainische Klangfolge kaum erkennbar. Er hatte sich übrigens in einer ande ren Schreibweise und mit anderem Vornamen ins Re gister der Amerikanischen Schule in der Rue de Passy* eintragen lassen, wo er seit einigen Monaten Unter richt in modernem literarischem Französisch erteilte, nämlich als »Robin Körsimos, genannt Simon Le cœur«. Es würde sich diesmal also eher um einen Un garn oder einen Finnen handeln, oder vielleicht sogar um einen Griechen; diese letztere Vermutung jedoch könne durch das Aussehen dieses hochgewachsenen jungen Mannes mit ganz blondem Haar und hellgrü nen Augen nur widerlegt werden. Es muß schließlich noch darauf hingewiesen werden, daß seine Kollegen in der Schule, ebenso seine Schüler (in der Mehrzahl Mädchen), ihn nur mit dem Namen »Yann« anredeten, den sie Jan schrieben, wenn sie ihm kurze, den Unter richt betreffende Mitteilungen zukommen ließen; kei ner von ihnen hat je sagen können, warum. Der Text, der uns beschäftigt — neunundneunzig mit doppeltem Zeilenabstand getippte Seiten —, lag ganz auffällig auf seinem Arbeitstisch (in dem bescheidenen möblierten Zimmer, das er in der Rue d'Amsterdam 21 gemietet hatte), neben einer klapprigen Schreibma schine, die, laut Gutachten von Sachkundigen, tatsäch lich die Maschine ist, die zum Tippen benützt wurde. Allerdings liege die Entstehungszeit dieser Arbeit mehrere Wochen, vermutlich sogar mehrere Monate * Ecole franco-américaine de Paris (E.F.A.P.), 56, rue de Passy, 75016.
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zurück; und auch hier könne somit das Nebeneinander von Maschine und Papierbögen das Ergebnis einer Inszenierung, einer Vortäuschung falscher Tatsachen sein, die von diesem ungreifbaren Individuum ausge heckt worden wäre, um seine eigenen Spuren zu ver wischen. Beim Lesen seiner Erzählung hat man zunächst den Eindruck, es mit einem für den Französischunterricht bestimmten Schulbuch zu tun zu haben, von denen es wahrscheinlich Hunderte gibt. Das planmäßige Zu nehmen grammatikalischer Schwierigkeiten der fran zösischen Sprache ist da in der Aufeinanderfolge der acht Kapitel von zunehmender Länge unschwer zu erkennen, die im großen ganzen den acht Wochen eines amerikanischen Universitätstrimesters entspre chen würden. Die Verben werden dort gemäß der klassischen Ordnung der vier Konjugationen einge führt, wobei sogar im Falle der zweiten eine deutliche Gegenüberstellung von Verben mit und ohne inchoa tivem Infix erfolgt. Die Zeitformen und Aussagewei sen sind ebenso vortrefflich geordnet worden, da das Präsens des Indikativs, der Konjunktiv Imperfekt, das zweite Futur und der Konditionalis in strenger Gliede rung aufeinander folgen. Das gleiche gilt für den Ge brauch der rückbezüglichen Fürwörter, deren kompli zierte Formen erst spät auftauchen. Wie üblich, sind die wechselbezüglichen und idiomatischen Verben zum größten Teil dem Ende vorbehalten.* * Unsere Mutmaßung wird übrigens dadurch bestätigt, daß diese acht Kapitel kürzlich in einem Schulbuch-Verlag jenseits des Atlantiks erschienen sind, und zwar bei Holt, Rimbart and Wimton, CBS Inc. 383 Madison Ave, New York N. Y. 70017.
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Nichtsdestoweniger unterscheidet sich der anekdoti sche Inhalt dieser Seiten erheblich von dem absichtlich belanglosen Stoff, dem man im allgemeinen in ähn lichen Schulbüchern begegnet. Der Wahrscheinlich keitsgrad der Geschehnisse ist hier fast immer zu nied rig im Vergleich mit den Regeln des herkömmlichen Realismus. Es ist darum auch nicht abwegig, in dieser vorgeblichen Bestimmung zu Lehrzwecken ein bloßes Alibi zu sehen. Hinter diesem Alibi muß etwas anderes stecken. Aber was? Es folgt nun der vollständige Wortlaut des fraglichen Textes. Oben auf dem ersten Bogen steht der schlichte Titel: Das Rendez-Vous.
1. Kapitel
Ich treffe pünktlich zur festgesetzten Zeit ein: um sechs Uhr dreißig. Es ist schon beinahe dunkel. Der Lager schuppen ist nicht verschlossen. Ich gehe hinein, in dem ich die Tür, die kein Schloß mehr hat, aufstoße. Drinnen ist es ganz still. Bei genauerem Horchen ver nimmt das aufmerksame Ohr lediglich ein kurzes, hel les, regelmäßiges Geräusch aus geringer Entfernung: Wassertropfen, die aus irgendeinem schlecht zuge drehten Hahn in eine Wanne, eine Schüssel oder nur eine Lache auf dem Boden fallen. Im schwachen Tageslicht, das durch die breiten Fen ster mit schmutzigen, zum Teil zerbrochenen Scheiben dringt, unterscheide ich mit Mühe die Dinge um mich herum, die überall in großer Unordnung neben- und übereinanderstehen und wahrscheinlich außer Ge brauch sind: alte, ausrangierte Maschinen, Metallge stelle und verschiedenartige Eisenschrottstücke, denen Staub und Rost einen schwärzlichen, gleichmäßigen, matten Farbton geben. Als meine Augen sich ein wenig an das Halbdunkel gewöhnt haben, bemerke ich endlich den Mann mir gegenüber. Er steht regungslos da, hat beide Hände in den Taschen seines Regenmantels und schaut mich wortlos an, ohne mich auch nur andeutungsweise zu grüßen. Der Mensch trägt eine schwarze Brille, und ein Gedanke geht mir durch den Kopf: er ist vielleicht blind ... Groß, schlank und allem Anschein nach jung, lehnt er mit einer Schulter lässig an einem Stapel Kisten ver
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schiedenen Formats. Von seinem Gesicht zwischen dem hochgeschlagenen Kragen des Trenchcoats und der über die Stirn hinuntergezogenen Hutkrempe ist der Brille wegen nur wenig zu sehen. Das Ganze erin nert einen unausweichlich an irgendeinen alten Krimi nalfilm aus den dreißiger Jahren. Fünf oder sechs Schritt von dem Mann entfernt ste hend, der starr wie eine Bronzestatue verharrt, sage ich, nun selber regungslos, deutlich (wenn auch mit leiser Stimme) die kodierten Kennworte: »Monsieur Jean, nehme ich an? Mein Name ist Boris. Ich komme wegen der Anzeige.« Und dann wieder: bloß das regelmäßige Geräusch von Wassertropfen in der Stille. Sollte dieser Blinde auch noch taub und stumm sein? Nach mehreren Minuten kommt endlich die Antwort: »Sagen Sie nicht Jean, sondern Djinn. Ich bin Ameri kanerin.« Meine Überraschung ist so groß, daß ich sie kaum überspielen kann. Es ist tatsächlich die Stimme einer jungen Frau: eine melodische, warme Stimme mit dun keltönenden Schwingungen, die ihr etwas SinnlichIntimes verleihen. Sie berichtigt jedoch nicht die An rede mit »Monsieur«, die sie gelten zu lassen scheint. Ein Anflug von Lächeln huscht über ihre Lippen. Sie fragt: »Mißfällt es Ihnen, unter dem Kommando eines Mädchens zu arbeiten?« Es liegt etwas Herausforderndes im Ton ihrer Frage. Aber ich beschließe unverzüglich, darauf einzugehen. »Nein, Monsieur«, sage ich, »im Gegenteil.« Es bleibt mir ohnehin nichts anderes übrig.
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Djinn scheint es nicht eilig zu haben, weiterzuspre chen. Sie beobachtet mich aufmerksam und unnach sichtig. Vielleicht hat sie keine gute Meinung von meinen Fähigkeiten. Ich fürchte mich vor dem Urteil, das am Ende der Prüfung gefällt wird: »Sie sind ein ganz hübscher Kerl«, sagt sie, »aber für einen Franzo sen sind Sie zu groß.« Ich muß beinahe lachen. Diese junge Ausländerin ist vermutlich noch nicht lange in Frankreich, und sie ist hier mit Klischeevorstellungen angekommen. »Ich bin Franzose«, sage ich als eine Art Rechtfertigung. »Darum geht es nicht«, sagt sie entschieden nach einem Schweigen. Sie spricht französisch mit einem leichten, bezaubernden Akzent. Ihre singende Stimme und ihr zwitteriges Aussehen beschwören in mir das Bild der Schauspiele rin Jane Frank herauf. Ich mag Jane Frank. Ich sehe mir alle ihre Filme an. Aber ach, wie sagte noch »Mon sieur« Djinn, darum geht es nicht. So verweilen wir noch ein paar Minuten und mustern uns gegenseitig. Aber es wird immer dunkler. Um meine Verlegenheit zu verbergen, frage ich: »Worum geht es denn?« Djinn, die zum ersten Mal entspannt zu sein scheint, deutet Janes entzückendes Lächeln an. »Es ist unbe dingt nötig«, sagt sie, »daß Sie in der Öffentlichkeit nicht auffallen.« Ich habe große Lust, ihr Lächeln zu erwidern und ihr dabei etwas Schmeichelhaftes über ihre Person zu sa gen. Ich wage es nicht: sie ist der Chef. Ich begnüge mich damit, in eigener Sache zu sprechen: »Ein Riese
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bin ich nicht.« Ich bin nämlich kaum einsachtzig groß, und sie ist selbst nicht klein. Sie fordert mich auf, näher an sie heranzutreten. Ich gehe fünf Schritte auf sie zu. Aus geringer Entfernung gesehen, ist ihr Gesicht von seltsamer Blässe und wäch serner Regungslosigkeit. Ich fürchte mich fast, noch näher heranzutreten. Ich starre auf ihren Mund ... »Noch näher«, sagt sie. Diesmal gibt es keinen Zweifel: ihre Lippen bewegen sich nicht, wenn sie spricht. Ich gehe noch einen Schritt weiter und lege die Hand auf ihre Brust. Es ist weder eine Frau noch ein Mann. Ich habe eine Puppe aus Kunststoff für Modeschaufenster vor mir. Mein Irrtum läßt sich durch die Dunkelheit erklären. Das hübsche Lächeln von Jane Frank ist nur meiner Phantasie zuzuschreiben. »Fassen Sie getrost hin, wenn es Ihnen Spaß macht«, sagt voller Ironie die bezaubernde Stimme von Mon sieur Djinn und hebt so die Lächerlichkeit meiner Situation hervor. Woher kommt diese Stimme? Die Töne kommen wahrscheinlich nicht aus der Puppe selber, sondern aus einem genau daneben versteckten Lautsprecher. Ich werde also von irgendeinem unsichtbaren Wesen überwacht. Das ist sehr unangenehm. Ich habe das Gefühl, tölpelhaft, bedroht, schuldig zu sein. Das Mädchen, das zu mir spricht, mag ebensogut mehrere Kilometer von mir entfernt sitzen; und es betrachtet mich auf seinem Fernsehschirm wie ein Insekt in der Falle. Ich bin sicher, daß es sich über mich lustig macht.
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»Am Ende des Mittelgangs«, sagt die Stimme, »ist eine Treppe. Steigen Sie hinauf in den zweiten Stock. Hö her gehen die Stufen nicht.« Ich bin froh, meine leblose Puppe verlassen zu dürfen, und führe die Anweisun gen erleichtert aus. Im ersten Stock angelangt, sehe ich, daß die Treppe hier endet. Es ist also eine im amerikanischen Sinne zweite Etage. Das bestärkt mich in der Meinung, daß Djinn nicht in Frankreich wohnt. Ich befinde mich nun auf einem weiträumigen Spei cher, der genauso aussieht wie das Erdgeschoß: die gleichen schmutzigen Verglasungen und die gleiche Anordnung der Gänge zwischen den Anhäufungen aller möglichen Dinge. Nur ist es ein wenig heller. Ich blicke nach rechts und nach links, auf der Suche nach einem Menschen in diesem Durcheinander aus Pappe, Holz und Eisen. Plötzlich habe ich den verwirrenden Eindruck einer Szene, die sich wie in einem Spiegel wiederholt: mir gegenüber, fünf oder sechs Schritt entfernt, steht die gleiche regungslose Person in ihrem Regenmantel mit hochgeschlagenem Kragen, der schwarzen Brille und dem Filzhut mit in die Stirn hinabgezogenem Rand, das heißt, eine zweite große Puppe, die genaue Nach bildung der ersten, in gleicher Haltung. Ich nähere mich, diesmal, ohne zu zögern und strecke den Arm vor ... Zum Glück halte ich rechtzeitig in meiner Bewegung inne: das Ding hat gerade gelächelt, und zwar hier ganz unbestreitbar, wenn ich nicht wahnsinnig bin. Diese falsche Wachspuppe ist eine echte Frau.
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Sie nimmt die linke Hand aus der Tasche und hebt ganz langsam ihren Arm, um meinen abzuwehren, der we gen meiner Überraschung regungslos ausgestreckt blieb. »Faß das nicht an«, sagt sie, »es ist vermint!« Es ist genau dieselbe Stimme mit demselben sinnlichen Reiz und demselben Bostoner Akzent; nur daß sie mich nunmehr mit ausgesprochener Frechheit duzt. »Entschuldige bitte«, sage ich, »ich bin ein Idiot.« Sofort nimmt sie ihren strengen, keinen Widerspruch duldenden Ton wieder an: »Um der vorgeschriebenen Ordnung willen«, sagt sie, »mußt du mich immer sie zen.« »O.K.«, sage ich, ohne meine augenscheinliche gute Laune aufzugeben. Dieses ganze Theater beginnt je doch, mir auf die Nerven zu gehen. Djinn stellt sich wahrscheinlich absichtlich so an, denn sie fügt nach kurzer Überlegung hinzu: »Und sag nicht O.K., das ist sehr vulgär, vor allem im Französischen.« Ich möchte diese unerquickliche Unterredung schnell beenden: nach einem derartigen Empfang habe ich ja nichts zu erhoffen. Aber gleichzeitig übt dieses kesse junge Mädchen eine seltsame Anziehungskraft auf mich aus. »Vielen Dank«, sage ich, »für den Franzö sischunterricht.« Als erriete sie meine Gedanken, sagt sie daraufhin: »Du hast keine Möglichkeit, uns zu verlassen. Es ist zu spät, der Ausgang wird bewacht. Ich stelle dir Laura vor, sie ist bewaffnet.« Ich wende mich wieder der Treppe zu. Ein anderes Mädchen in genau der gleichen Kleidung, mit schwar
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zer Brille und Schlapphut steht da auf der obersten Stufe und hat die Hände tief in den Taschen ihres Regenmantels. Die Haltung ihres rechten Arms und die Verformung ihrer Tasche verleihen der Drohung eine gewisse Wahrscheinlichkeit: diese junge Person richtet auf mich einen hinter dem Stoff versteckten, großkalibri gen Revolver ... Oder aber, sie tut nur so als ob. »Hello, Laura. Wie geht es Ihnen?« sage ich im besten nüchternen Srillerstil. »Wie geht es Ihnen«, beteuert sie echohaft auf typisch angelsächsische Art. Sie ist in der Organisation ohne besonderen Rang, da sie mich siezt. Ein absurder Gedanke kommt mir in den Sinn: Laura ist nur die leblose Puppe aus dem Erdgeschoß, die mir die Treppe hinauf gefolgt ist und mir nun wieder gegenübersteht. In der Tat sind die Mädchen nicht mehr so wie früher. Sie spielen heute Gängstär wie die Jungens. Sie orga nisieren Räckits. Sie machen Holdapps und Karate. Sie vergewaltigen die wehrlosen Jünglinge. Sie haben Ho sen an ... Das Leben ist unmöglich geworden. Djinn meint wahrscheinlich, daß Erklärungen not wendig sind, denn sie setzt gerade zu einer längeren Rede an: »Du verzeihst hoffentlich unsere Methoden. Wir sind unbedingt genötigt, so zu arbeiten: Auf der Hut sein vor möglichen Feinden, die Treue der neuen Freunde überwachen; kurzum, stets unter Beachtung strengster Vorsichtsmaßregeln verfahren, wie du so eben gesehen hast.« Dann, nach einer Pause, redet sie weiter: »Unsere Ak
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tion ist geheim, notwendigerweise. Sie ist mit großen Gefahren für uns verbunden. Du wirst uns helfen. Wir werden dir präzise Anweisungen geben. Es ist uns jedoch, am Anfang jedenfalls, lieber, dir weder den eigentlichen Sinn deiner Aufgabe noch den allgemei nen Zweck unserer Unternehmung mitzuteilen. Und zwar aus Gründen der Wachsamkeit, aber auch der Wirksamkeit.« Ich frage sie, was geschieht, falls ich mich weigere. In der Tat läßt sie mir keine Wahl: »Du brauchst Geld. Wir zahlen. Also bist du ohne Widerrede einverstan den. Es ist zwecklos, Fragen zu stellen oder Kommen tare zu geben. Du tust, was wir von dir verlangen! Punktum!« Ich liebe die Freiheit. Ich bin gern verantwortlich für meine Handlungen. Ich möchte begreifen, was ich tue ... Dennoch erkläre ich mich mit diesem sonder baren Handel einverstanden. Weder die Angst vor dem imaginären Revolver treibt mich dazu, noch ein so dringender Bedarf an Geld ... Es gibt noch viele andere Möglichkeiten, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn man jung ist. Warum also? Aus Wißbegierde? Aus Übermut? Oder aus einem dunkleren Grund? Jedenfalls habe ich, wenn ich frei bin, das Recht zu tun, was ich möchte, selbst gegen bessere Einsicht. »Du denkst an etwas, das du verheimlichst«, sagt Djinn. — »Ja«, sage ich. — »Und was ist das?« — »Es hat nichts mit der Arbeit zu tun.« Djinn nimmt daraufhin ihre schwarze Brille ab und läßt ihre hübschen, blassen Augen bewundern. Dann
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gönnt sie mir endlich das entzückende Lächeln, das ich seit dem Anfang erhoffe. Und, auf das vorschrifts mäßige Duzen verzichtend, flüstert sie mit ihrer wei chen, warmen Stimme: »Und nun werden Sie mir sa gen, was Sie denken.« »Der Kampf der Geschlechter«, sage ich, »ist die Trieb kraft der Geschichte.« "
2. Kapitel
Als ich wieder allein bin und schnellen Schritts durch die Straßen gehe, die nun durch Laternen und Schau fenster hell erleuchtet sind, stelle ich in mir einen wahren Stimmungswechsel fest: eine ganz neue Leich tigkeit bringt meinen Körper zum Tanzen, bewegt meine Gedanken und läßt die geringsten Dinge um mich herum farbig erscheinen. Es ist nicht mehr die vage, gleichgültige Unbekümmertheit von heute mor gen, sondern eine Art Glück, ja, sogar Begeisterung, ohne bestimmten Grund ... Wirklich ohne Grund? Warum es nicht zugeben? Meine Begegnung mit Djinn ist selbstverständlich die Ursache dieser bemerkenswerten, plötzlichen Ver wandlung. In jedem Augenblick, bei allen möglichen Gelegenheiten denke ich an sie. Und ihr Bild, ihre Gestalt, ihr Gesicht, ihre Gesten, ihre Art sich zu bewegen, ihr Lächeln endlich, sind in mir allzu gegen wärtig: es ist ganz bestimmt nicht meine Aufgabe, der körperlichen Erscheinung meines Arbeitgebers soviel Aufmerksamkeit zu widmen. Ich betrachte die Läden (ziemlich häßlich in diesem Viertel), die Passanten, die Hunde (gewöhnlich hasse ich Hunde) mit Vergnügen, ja, mit Wohlwollen. Ich möchte singen, losrennen. Ich sehe Fröhlichkeit in allen Gesichtern. Im allgemeinen sind die Leute dumm und trübsinnig. Heute sind alle von einer unerklärli chen Anmut angerührt. Meine neue Arbeit ist sicherlich anregend: sie hat etwas Abenteuerliches, ja, sogar noch etwas mehr: etwas
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Liebesabenteuerliches ... Ich war immer romantisch und schwärmerisch, das ist sicher. Es ist also wichtig, diesbezüglich besonders achtzugeben. Meine allzu leb hafte Phantasie kann dazu führen, daß ich mich beim Urteilen irre und mir beim Handeln sogar schwerwie gende Schnitzer leiste. Plötzlich taucht eine Einzelheit, die ich vergessen hatte, wieder in meinem Gedächtnis auf: es wird von mir erwartet, daß ich in der Öffentlichkeit nicht auf falle. Djinn hat es gesagt und mehrmals mit Nachdruck wiederholt. Ich tue jedoch genau das Gegenteil: gewiß fällt allen meine fröhliche Überschwenglichkeit auf. Meine Hochstimmung sinkt deshalb um mehrere Grade. Ich gehe in ein Café und bestelle einen schwarzen Express. Die Franzosen mögen nur italienischen Kaf fee; der »französische« Kaffee ist ihnen nicht stark genug. Aber am schlechtesten schmeckt ihnen der amerikanische ... Warum denke ich an Amerika? We gen Djinn, schon wieder! Es geht mir allmählich auf die Nerven. Paradox ist, daß man in Frankreich, um nicht aufzufal len, einen italienischen Espresso bestellt. Gibt es das überhaupt, »die Franzosen« oder »die Amerikaner«? Die Franzosen sind so, und nichts anders ... Die Fran zosen essen dies, und nicht das ... Die Franzosen kleiden sich auf diese Weise, sie bewegen sich auf diese Art... Was das Essen betrifft, so mag dies vielleicht noch stimmen, allerdings immer weniger. Über der Theke an der Wand ist eine Preisliste angebracht; ich lese: hot-dog, pizza, sandwiches, rollmops, merguez ...
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Der Kellner bringt eine kleine Tasse sehr schwarzer Flüssigkeit mit zwei, in einem einzigen weißen Papier zusammengewickelten Zuckerstückchen und stellt sie vor mich auf den Tisch. Dann geht er wieder und nimmt dabei ein benutztes Glas mit, das auf einem anderen Tisch stehengeblieben war. Ich entdecke nun, daß ich nicht der einzige Gast in diesem Lokal bin, das jedoch leer war, als ich es betrat. In meiner Nähe sitzt eine junge Dame, anscheinend eine Studentin, die eine rote Jacke trägt und in die Lektüre eines dicken Lehrbuchs der Medizin vertieft ist. Während ich sie beobachte, scheint sie zu ahnen, daß mein Blick auf ihr ruht, und sie schaut zu mir herüber. Ich denke voller Ironie: es ist soweit, ich kriege eine schlechte Note, ich bin aufgefallen! Die Studentin be trachtet mich schweigend, eine ganze Weile, so als sähe sie mich nicht. Dann führt sie ihren Blick wieder zu rück zu ihrem Buch. Aber ein paar Sekunden später schaut sie mich wieder prüfend an, und diesmal sagt sie in neutralem Ton mit einer Art ruhigen Selbstsicherheit: »Es ist fünf nach sieben. Sie werden zu spät kommen.« Sie hat nicht einmal auf ihre Armbanduhr geschaut. Ich blicke un willkürlich auf meine. Es ist tatsächlich fünf nach sie ben. Und ich muß um Viertel nach sieben an der Gare du Nord sein. Dieses junge Mädchen ist also eine Spionin, die von Djinn an meiner Strecke eingesetzt wurde, um meine fachliche Zuverlässigkeit zu überwachen. »Arbeiten Sie mit uns?« sage ich nach kurzer Überlegung. Und,
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da sie weiter schweigt, frage ich noch: »Wie kommt es, daß Sie über mich so gut unterrichtet sind? Sie wissen, wer ich bin, wohin ich gehe, was ich zu tun habe und wann es zu geschehen hat. Sie sind also eine Freundin von Djinn?« Sie mustert mich kühl, womöglich sogar streng, denn sie erklärt schließlich: »Sie reden zuviel.« Und sie ver tieft sich wieder in ihre Arbeit. Nach einer Weile sagt sie, ohne ihren Blick von der Lektüre zu lösen, deutlich und ziemlich langsam ein paar Worte, wie zu sich selbst. Sie scheint eine schwierige Stelle in ihrem Buch zu entziffern: »Die Straße, die Sie suchen, ist die dritte rechts, wenn Sie auf der Avenue weitergehen.« Wahrhaftig, dieser Schutzengel hat recht: wenn ich noch länger diskutiere, werde ich mit Verspätung ein treffen. »Ich danke Ihnen«, sage ich, wobei ich meine Unabhängigkeit durch einen übertrieben feierlichen Gruß bekunde. Ich erhebe mich, begebe mich zur Theke, begleiche meine Rechnung und öffne die ver glaste Tür. Von draußen her werfe ich einen Blick zurück in den großen, strahlend erleuchteten Raum, in dem sich nie mand außer der jungen Person mit der roten Jacke befindet. Sie liest nicht mehr. Sie hat den dicken Band auf dem Tisch zugeklappt und schaut mir, ohne die geringste Verlegenheit zu zeigen, mit ruhiger, harter Miene nach. Trotz meiner Lust, das Gegenteil zu tun, um meine Freiheit zu beweisen, setze ich meinen Weg in der richtigen Richtung fort, auf der Avenue, inmitten der Menge von Männern und Frauen, die von der Arbeit
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heimkehren. Sie sind jetzt nicht mehr sorglos und sympathisch. Nunmehr bin ich davon überzeugt, daß alle mich überwachen. Bei der dritten Kreuzung gehe ich nach rechts in eine menschenleere, düstere schmale Straße. Frei von jeglichem Autoverkehr sowie von parkenden Wagen, lediglich hier und da durch veraltete Straßen laternen mit gelblichem, flackerndem Licht beleuchtet und — wie es scheint — sogar von ihren Bewohnern verlassen, bildet diese bescheidene Nebenstraße einen krassen Kontrast zu der großen Avenue, aus der ich gerade gekommen bin. Die Häuser sind niedrig (höch stens einstöckig) und ärmlich, ohne erleuchtete Fen ster. Es gibt hier übrigens vor allem Lagerhallen und Werkstätten. Der Boden ist uneben, mit Steinen in altmodischer Weise gepflastert, in sehr schlechtem Zu stand, mit Pfützen schmutzigen Wassers in den Vertie fungen. Ich traue mich nicht weiter in diese enge, langge streckte Gasse, die so wie eine Sackgasse aussieht: trotz des Halbdunkels erkenne ich eine Mauer ohne Durch gang, die anscheinend das andere Ende absperrt. Und doch trug ein blaues Schild da, wo sie anfängt, den Namen einer echten Straße, das heißt, einer mit dop peltem Zugang: »Rue Vercingétorix III«. Ich wußte nicht von einem dritten Vercingétorix, nicht einmal von einem zweiten ... Wenn ich es recht bedenke, so gibt es am Ende viel leicht eine Passage nach rechts oder links. Aber das Fehlen jedweden Wagens ist beunruhigend. Bin ich wirklich auf dem rechten Wege? Ich hatte eigentlich
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vor, durch die nächste Straße zu gehen, die ich gut kenne. Ich bin sicher, daß sie beinahe ebenso schnell zum Bahnhof führt. Nur das Eingreifen der Medizin studentin hat mich dazu gebracht, diese angebliche Abkürzung zu benützen. Die Zeit drängt. Meine Anwesenheit im Nordbahnhof ist schon in weniger als fünf Minuten fällig. Dieses einsame Gäßchen kann eine lohnende Zeitersparnis bedeuten. Es ist jedenfalls bequem, um schnell voran zukommen: kein Fahrzeug oder Fußgänger stört einen auf dem Wege, und es gibt auch keine Kreuzungen. Da das Risiko (ein wenig aufs Geratewohl, leider) eingegangen wurde, brauche ich nur die Füße mit Bedacht auf die begehbaren Stellen der bürgersteig losen Fahrbahn zu setzen, wo ich möglichst weite Schritte mache. Ich gehe so schnell, daß ich zu fliegen glaube, wie in den Träumen. Ich kenne zur Zeit noch nicht den eigentlichen Sinn meiner Aufgabe: sie besteht lediglich darin, einen be stimmten Reisenden, dessen genaue Beschreibung ich im Kopf habe, ausfindig zu machen. Er kommt in Paris mit dem Zug aus Amsterdam um 19h 12 an. Dann führt mich eine unauffällige Beschattung dieser Person bis zu ihrem Hotel. Das ist alles, vorerst. Ich hoffe, bald das weitere zu erfahren. Ich bin noch nicht an der Hälfte der endlosen Straße angelangt, als plötzlich, zehn Meter vor mir, ein Kind auf sie stürmt. Es kommt von rechts aus einem Haus, das etwas höher als die Nachbarhäuser ist, und über quert die Fahrbahn, so schnell es seine jungen Beine tragen. 25
In vollem Lauf stolpert es über einen holperigen Pfla sterstein und fällt in eine Pfütze schwärzlichen Schlamms, ohne dabei einen Schrei von sich zu geben. Es rührt sich nicht mehr, liegt der Länge nach auf dem Bauch, mit nach vorn ausgestreckten Armen. Nach wenigen weiten Schritten bin ich bei dem re gungslosen kleinen Körper. Ich drehe ihn behutsam herum. Es ist ein Junge von etwa zehn Jahren, sonder bar gekleidet: wie ein Knabe aus dem vorigen Jahrhun dert, mit seinen unter den Knien durch lange, grobe Strümpfe eng umspannten Hosenbeinen und einem weiten Kittel, der ziemlich kurz ist und in der Taille von einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wird. Seine Augen stehen weit offen; aber die Augäpfel be wegen sich nicht. Der Mund ist nicht geschlossen, die Lippen beben ein wenig. Die Gliedmaßen sind weich und schlaff, ebenso wie der Hals; sein ganzer Körper gleicht einer Stoffpuppe. Zum Glück ist er nicht in den Schlamm gefallen, son dern genau auf den Rand des Lochs voll schmutzigen Wassers. Dieses scheint, bei näherer Betrachtung, schmierig zu sein. Es sieht braun aus, beinahe rot, nicht schwarz. Eine unbegreifliche Bangigkeit durchdringt mich plötzlich. Jagt mir die Farbe dieser unbekannten Flüssigkeit Angst ein? Oder was sonst? Ich schaue auf meine Uhr. Es ist neun nach sieben. Von nun an ist es nicht mehr möglich, bei der Ankunft des Zuges aus Amsterdam am Bahnhof zu sein. Mein gan zes Abenteuer, das heute morgen begonnen hat, ist also schon zu Ende. Ich bin jedoch nicht imstande, dieses
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verletzte Kind im Stich zu lassen, nicht einmal aus Liebe zu Djinn ... Wenn schon! Die Ankunft des Zuges habe ich jedenfalls versäumt. Eine Tür zu meiner Rechten steht weit offen. Der Junge kommt aus diesem Haus, daran besteht kein Zweifel. Es gibt jedoch keinerlei sichtbares Licht drin nen, weder im Erdgeschoß noch im ersten Stock. Ich hebe den in meinen Armen liegenden Körper des Jun gen auf. Er ist außerordentlich mager und leicht wie ein Vogel. In der trüben Helle der nahen Straßenlaterne kann ich sein Gesicht besser sehen: er hat keine offensichtliche Verletzung, er ist ruhig und schön, aber außergewöhn lich blaß. Sein Schädel ist vermutlich auf einen Pflaster stein geprallt, und er ist noch ohnmächtig von der Erschütterung. Er ist allerdings nach vorn gefallen, mit ausgestreckten Armen. Der Kopf ist also nicht auf dem Boden aufgeschlagen. Ich überschreite die Schwelle des Hauses mit meiner schmächtigen Last auf den Armen. Ich gehe vorsichtig durch einen langen, rechtwinklig zur Straße verlaufen den Gang voran. Alles ist finster und still. Ohne auf einen anderen Ausgang gestoßen zu sein — auf eine Innentür oder eine Gangabzweigung —, ge lange ich zu einer Holztreppe. Ich meine, einen schwa chen Schimmer im ersten Stock zu gewahren. Ich steige mit langsamen Schritten hinauf, denn ich fürchte mich, zu stolpern oder an irgendein unsichtbares Hin dernis zu stoßen, sei es mit den Beinen oder mit dem Kopf des immer noch leblosen Knaben. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks sind zwei
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Türen. Die eine ist geschlossen, die andere ein wenig geöffnet. Daher kommt eine fragwürdige Helle. Ich drücke mit dem Knie den Türflügel auf und betrete ein weiträumiges Zimmer mit zwei Fenstern zur Straße. Es gibt keine Beleuchtung in dem Raum. Es ist ledig lich das Licht der Straßenlaternen, das von draußen durch die vorhanglosen Fenster dringt; es reicht, um die Umrisse der Möbel zu erkennen: einen einfachen Holztisch, drei oder vier nicht zueinander passende Stühle mit mehr oder weniger durchgesessenen Sitzflä chen, ein spanisches Eisenbett und eine große Anzahl Reisekoffer verschiedener Formen und Größen. Auf dem Bett liegt eine Matratze, aber da sind weder Laken noch Decken. Ich lege das Kind mit allem nur möglichen Zartgefühl auf dieses dürftige Lager. Es ist immer noch bewußtlos und gibt kein Lebenszeichen von sich, außer einer sehr schwachen Atmung. Sein Puls ist beinahe nicht zu spüren. Aber seine großen, offengebliebenen Augen glänzen im Halbdunkel. Ich suche mit den Augen nach einem Knopf, einem Schalter oder irgend etwas anderem, um Licht zu ma chen. Aber ich sehe nichts Derartiges. Ich stelle darauf hin fest, daß es in dem ganzen Raum keine einzige Lampe gibt, keine Deckenampel, Stehlampe oder nackte Glühbirne. Ich kehre wieder auf den Treppenabsatz zurück und rufe, zuerst mit halber Stimme, dann lauter. Keinerlei Antwort dringt an meine Ohren. Das ganze Haus ist in tiefstes Schweigen getaucht, als sei es verlassen. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich bin selbst verlas sen, außerhalb der Zeit.
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Dann führt ein plötzlicher Gedanke meine Schritte zu den Fenstern des Zimmers: wohin wollte das Kind bei seinem kurzen Lauf? Es überquerte die Fahrbahn, von einer Seite zur anderen, auf geradem Wege. Es wohnt demnach vielleicht gegenüber. Aber auf der anderen Straßenseite gibt es kein Haus: nur eine lange Backsteinmauer ohne erkennbaren Durchgang. Etwas weiter links ist eine Bretterwand in schlechtem Zustand. Ich gehe wieder zur Treppe und rufe abermals, immer noch vergebens. Ich höre das Klopfen meines eigenen Herzens. Ich habe diesmal den sehr starken Eindruck, daß die Zeit stillsteht. Ein leichtes Knarren im Zimmer ruft mich wieder zu meinem Kranken. Kurz vor dem Bett angekommen, stutze ich und weiche unwillkürlich zurück: der Junge liegt genauso da wie vorhin, aber nun ruht ein großes Kruzifix auf seiner Brust, ein Kreuz aus dunklem Holz mit silbernem Christus, das von den Schultern bis zur Taille reicht. Ich schaue nach allen Seiten. Es ist niemand da, nur der ausgestreckt daliegende Knabe. Ich vermute also zu nächst, daß er selber der Urheber dieser grausigen Inszenierung ist: er täuscht eine Ohnmacht vor, aber, sobald ich ihm den Rücken gekehrt habe, bewegt er sich. Ich beobachte aus nächster Nähe sein Gesicht; die Züge sind ebenso starr wie bei einer Wachsfigur, und die Gesichtsfarbe ist ebenso fahl. Er sieht wie eine liegende Figur auf einem Grabstein aus. In diesem Augenblick stelle ich, den Kopf hebend, fest, daß ein zweites Kind da ist, das auf der Schwelle des Zimmers steht: ein kleines Mädchen, etwa sieben bis
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acht Jahre alt, verweilt regungslos im Türrahmen. Die Kleine starrt mich an. Woher kommt sie? Wie ist sie hierhergekommen? Kei nerlei Geräusch hat ihr Nahen angekündigt. In der zweifelhaften Helle erkenne ich nichtsdestoweniger deutlich ihr altmodisches Kleid mit einem enganlie genden Mieder und einem weiten, gekräuselten, bau schigen, aber steifen Rock, der bis auf die Knöchel hinabfällt. »Guten Tag«, sage ich, »ist deine Mama da?« Die Kleine starrt mich weiterhin schweigend an. Die ganze Szene ist derart unwirklich, schemenhaft, ver steinert, daß meine eigene Stimme sonderbar falsch in meinen Ohren klingt, ja, sozusagen unwahrscheinlich in dem verzauberten Raum, dem ungewöhnlichen, blauen Licht... Da nichts anderes übrigbleibt, als noch ein paar Worte auf gut Glück zu sagen, bringe ich mit großer Mühe diesen simplen Satz hervor: »Dein Bruder ist hingefallen.« Meine Silben fallen ebenfalls, ohne eine Antwort oder ein Echo hervorzurufen, wie zwecklose, ihres Sinnes beraubte Dinge. Und es tritt wieder Stille ein. Habe ich wirklich gesprochen? Kälte, Unempfindlichkeit und ein Gefühl der Lähmung ergreifen allmählich Besitz von meinen Gliedern.
3. Kapitel
Wie lange hat der Bann gedauert? Die Kleine entschließt sich plötzlich und kommt, ohne etwas zu sagen, festen Schrittes auf mich zu. Ich mache eine riesige Anstrengung, um aus meiner Erstarrung aufzutauchen. Mit der Hand streiche ich mehrmals über meine Stirn und über meine Augenlider. Es ge lingt mir schließlich, an die Oberfläche zu gelangen. Allmählich komme ich wieder zur Besinnung. Zu meiner Verblüffung sitze ich nun auf dem Strohge flecht eines Stuhls am Kopfende des Bettes. Neben mir schläft der Junge immer noch, auf dem Rücken lie gend, mit offenen Augen und dem Kruzifix auf der Brust. Es gelingt mir, ohne allzu große Mühe aufzu stehen. Die Kleine hält einen goldglänzenden Messing leuchter vor sich; darin stecken drei erloschene Ker zen. Sie bewegt sich wie eine Spukgestalt, lautlos glei tend, weil sie Hausschuhe mit Filzsohlen anhat. Sie stellt den Kerzenleuchter auf den Stuhl, von dem ich gerade aufgestanden bin. Dann macht sie die drei Kerzen nacheinander an, ganz behutsam, indem sie jedesmal ein neues Streichholz entzündet, sein Flämm chen nach Benützung wieder auspustet und dann den geschwärzten Holzrest wieder in die Schachtel legt, dies alles mit größtem Ernst. Ich frage: »Wo gibt es hier ein Telefon? Wir wollen einen Arzt für deinen Bruder rufen.« Die Kleine schaut mich herablassend an, so wie man es bei einem Gesprächspartner tut, der unmaßgeblich oder unverständig ist.
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»Jean ist nicht mein Bruder«, sagt sie. »Und der Dok tor nützt nichts, denn Jean ist tot.« Sie spricht bedächtig, wie eine Erwachsene, ohne kind liche Formulierungen. Ihre Stimme klingt melodisch und sanft, verrät jedoch keine Gemütsbewegung. Ihre Gesichtszüge gleichen sehr denen des ohnmächtigen Jungen, sie sehen freilich weiblicher aus. »Heißt er Jean?« sage ich. Die Frage erübrigt sich; aber plötzlich überkommt mich die Erinnerung an Djinn, und ich bin wieder ganz verzweifelt. Es ist nun schon später als sieben Uhr dreißig. Die Angelegenheit ist also wohl vorbei ... oder vielmehr übel vorbei. Die Kleine zuckt die Schultern: »Das ist doch klar«, sagt sie. »Wie soll er denn sonst heißen?« Dann fügt sie immer noch mit der gleichen, ernsten und vernünftigen Miene hinzu: »Er ist gestern schon mal gestorben.« »Was erzählst du da? Wenn man stirbt, dann für im mer.« »Nein, nicht Jean!« behauptet sie so steif und fest, daß ich fühle, wie unsicher ich werde. Gleichwohl lächele ich innerlich bei dem Gedanken an den sonderbaren Anblick, den wir beide bieten, und an die unsinnigen Äußerungen, die wir machen. Ich beschließe jedoch auf das Spiel einzugehen: »Stirbt er oft?« »Zur Zeit ja, ziemlich oft. Sonst lebt er tagelang, ohne zu sterben.« »Und dauert das lange?« »Eine Stunde vielleicht, oder eine Minute, oder ein Jahrhundert. Ich weiß nicht, ich habe keine Uhr.«
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»Erwacht er ganz allein vom Tode? Oder mußt du ihm dabei helfen?« »Manchmal kommt er von selber wieder zu sich. Mei stens, wenn ich sein Gesicht wasche; die Letzte Ölung, wissen Sie.« Jetzt komme ich erst auf das, was womöglich dahinter steckt: der Junge leidet vermutlich unter häufigen Ohnmachtsanfällen, die wahrscheinlich nervöser Na tur sind; das kalte Wasser auf seiner Stirn wirkt als Reizmittel, um ihn wiederzubeleben. Ich kann aller dings diese Kinder nicht vor dem Erwachen des Kran ken verlassen. Das Flammenlicht der Kerzen läßt sein Gesicht nun rosig erscheinen. Wärmere Schimmer zeichnen wei chere Schatten um Mund und Nase. In den Augäpfeln, die ebenfalls von dieser neuen Helligkeit beleuchtet werden, spiegelt sich der flackernde Kerzenschein, der die Starrheit des Blickes löst. Die Kleine im weißen Kleid setzt sich rücksichtslos aufs Bett, zu Füßen der angeblichen Leiche. Unwill kürlich mache ich eine Bewegung, um den Jungen vor Stößen, die sie dem Metallbett versetzen könnte, zu bewahren. Sie wirft mir dafür einen verächtlichen Blick zu. »Tote leiden nicht. Das dürfte Ihnen bekannt sein. Die sind nicht einmal hier. Sie schlafen in einer anderen Welt, mit ihren eigenen Träumen ...« Tiefere Schwin gungen dämpfen den Klang ihrer Stimme, die nun sanfter und entfernter tönt und mir zuflüstert: »Oft schlafe ich neben ihm, wenn er tot ist; wir entschwin den gemeinsam zum Paradies.«
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Ein Gefühl der Leere, eine übermäßige Angst befallen wieder einmal meinen Geist. Weder mein guter Wille noch meine Anwesenheit sind zu irgend etwas nütze. Ich will hinaus aus diesem Spukzimmer, das meinen Körper und Verstand schwächt. Falls ich ausreichende Erklärungen bekomme, gehe ich sofort. Ich wieder hole meine erste Frage: »Wo ist deine Mama?« »Sie ist fort.« »Wann kommt sie wieder?« »Sie kommt nicht wieder«, sagt die Kleine. Ich wage es nicht mehr, weiterzufragen. Ich ahne ir gendein schmerzliches, verborgenes Familiendrama. Um das Thema zu wechseln, sage ich: »Und dein Papa?« »Der ist gestorben.« »Wie oft?« Sie schaut mich ganz erstaunt, mit mitleidigen und vorwurfsvollen Augen an, denen es im Nu gelingt, mir ein schlechtes Gewissen zu verschaffen. Nach einer langen Pause ist sie endlich bereit, zu erklären: »Sie reden dummes Zeug. Wenn einer stirbt, dann ein für allemal. Das wissen sogar die Kinder.« Was ja logisch ist, das läßt sich nicht leugnen. Ich bin nun genausoweit wie vorher. Wie können diese Kinder hier ganz allein wohnen, ohne Vater und Mut ter? Sie leben vielleicht anderswo, bei den Großeltern oder bei Freunden, die sie aus Barmherzigkeit bei sich aufgenommen haben. Aber sich mehr oder weniger selbst überlassen, laufen sie den ganzen Tag bald hier hin, bald dahin. Und dieser verlassene Bau, der weder
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Strom noch Telefon hat, ist nur der Ort, wo sie am liebsten spielen. Ich frage: »Wo wohnt ihr, dein Bruder und du?« »Jean ist nicht mein Bruder«, sagt sie, »er ist mein Mann.« »Und du wohnst mit ihm in diesem Haus?« »Wir wohnen, wo wir wollen. Übrigens, wenn Sie unser Haus nicht mögen, warum sind Sie dann gekom men? Wir haben niemanden um etwas gebeten.« Im Grunde hat sie recht. Ich weiß selbst nicht, was ich hier tue. Ich rekapituliere die Lage: eine falsche Medi zinstudentin lenkt mich von meinem Weg ab in eine kleine Straße, durch die ich gar nicht gehen wollte; ich sehe einen Buben, der genau vor mir über die Straße rennt; er fällt und wird ohnmächtig; ich trage seinen Körper zur nächsten Zufluchtsstätte; dort hält mir eine rechthaberische, geheimnisvolle kleine Göre Reden, die weder Hand noch Fuß haben, über Abwesende und Tote. »Wenn Sie sein Porträt sehen wollen, es hängt an der Wand«, sagt meine Gesprächspartnerin abschließend. Wie hat sie erraten, daß ich wieder an ihren Vater denke? An dem Stück Wand zwischen den Fenstern, auf das sie mit der Hand weist, enthält ein kleiner Ebenholz rahmen tatsächlich die Photographie eines etwa drei ßigjährigen Mannes in der Uniform eines Marineunter offiziers. Ein geweihter kleiner Buchsbaumzweig steckt hinter dem schwarzen Holz. »War er bei der Marine?« »Das ist doch klar.« 35
»Ist er auf See gestorben?« Ich bin sicher, daß sie wieder »Das ist doch klar« sagen und dabei beinahe unmerklich die Schultern zucken wird. Aber ihre Antworten enttäuschen eigentlich im mer wieder meine Erwartungen. Und wie eine Grund schullehrerin, die einen Schüler verbessert, begnügt sie sich diesmal damit, nur zu berichtigen »Auf See umge kommen«, was der richtige Ausdruck ist, wenn es sich um einen Schiffbruch handelt. Es ist jedoch kaum vorstellbar, daß solche Richtigstel lungen aus dem Munde eines so kleinen Kindes kom men können. Und ich habe auf einmal den Eindruck, daß sie eine Lektion aufsagt. Unter das Photo hat eine Hand säuberlich geschrieben: »Für Marie und Jean, ihr lieber Papa.« Ich wende mich halb der Göre zu: »Heißt du Marie?« »Das ist doch klar. Wie soll ich denn sonst heißen?« Während ich mir das Porträt genau ansehe, ahne ich plötzlich eine Falle. Aber schon redet die Kleine wei ter: »Und du heißt Simon. Da ist ein Brief für dich.« Eben ist mir ein weißer Umschlag aufgefallen, der ein wenig unter dem Buchsbaumzweig hervorlugt. Ich habe also nicht die Zeit, über die erstaunlichen Verän derungen im Verhalten Maries nachzudenken: sie duzt mich und kennt meinen Vornamen. Ich fasse den Brief vorsichtig mit zwei Fingern an und ziehe ihn, ohne die Buchsbaumblättchen zu beschädi gen, aus seinem Versteck. Luft und Licht lassen diese Art Papier schnell vergilben. Es ist, wie mir in der
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trüben Beleuchtung scheint, weder vergilbt noch ver blaßt. Es ist bestimmt noch nicht lange hier. Auf dem Umschlag steht der vollständige Name des Adressaten: »Monsieur Simon Lecœur, genannt Bo ris«, das heißt, nicht nur mein richtiger Name, sondern auch der Deckname, den die Organisation, in der ich erst ein paar Stunden arbeite, mir gegeben hat. Und, was noch merkwürdiger ist, die Schrift stimmt in jeder Hinsicht (gleiche Tinte, gleiche Feder, gleiche Hand) mit den Schriftzügen der Widmung auf der Photogra phie des Matrosen überein ... Aber in diesem Moment ruft die Kleine lauthals hinter mir: »Es ist soweit, Jean, du kannst erwachen. Er hat die Mitteilung gefunden.« Ich drehe mich rasch um und sehe, wie der leblose Bub sich plötzlich aufrichtet und sich mit baumelnden Beinen auf den Matratzenrand neben seine begei sterte Schwester setzt. Beide klatschen gleichzeitig in die Hände und schütteln sich vor Freude auf dem Metallbett, das unter ihrem Gelächter wohl eine Minute lang wackelt. Ich komme mir ganz idiotisch vor. Dann ist Marie ebenso unvermittelt wieder ernst. Der Junge ahmt sie bald nach; er hört — scheint mir — auf diese Göre, die unverkennbar jünger ist als er, aber auch pfiffiger. Sie läßt mich daraufhin wissen: »Jetzt bist du unser Papa. Ich bin Marie Lecœur. Und der hier ist Jean Lecœur.« Sie springt auf den Boden, um ganz feierlich auf ihren Komplizen zu zeigen, während sie mir gegenüber einen Knicks macht. Dann läuft sie bis zur Tür am
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Treppenabsatz; da drückt sie wahrscheinlich auf einen Knopf (außerhalb des Raumes), denn im Nu wird das ganze Zimmer von sehr hellem Licht erfüllt, wie ein Theatersaal am Ende eines Aktes. Die zahlreichen Lampen, altmodische, vogelförmige Wandleuchten, sieht man eigentlich recht gut; wenn sie jedoch nicht eingeschaltet sind, können sie unbemerkt bleiben. Marie ist leichtfüßig und lebhaft zum Bett zurückgekehrt, wo sie sich dicht wieder an die Seite ihres großen Bruders gesetzt hat. Sie sagen einander allerlei ganz leise ins Ohr. Dann schauen sie mich wieder an. Sie sehen jetzt auf merksam und artig aus. Sie wollen die Fortsetzung sehen. Sie sitzen im Zuschauerraum, und ich bin auf der Bühne, wo ich ein unbekanntes Stück spiele, das ein Ausländer für mich geschrieben hat... Oder viel leicht eine Ausländerin? Ich öffne den Umschlag, der nicht zugeklebt ist. Er enthält einen zweimal zusammengefalteten Bogen Pa pier. Ich falte ihn behutsam auseinander. Die Schrift ist wieder die gleiche, zweifellos die eines Linkshänders, oder, genauer, die einer Linkshänderin. Mein Herz hüpft, als ich die Unterschrift sehe ... Ich begreife aber plötzlich auch besser den Grund für mein spontanes Mißtrauen, vorhin, angesichts der handschriftlichen, sich nach links neigenden Buchsta ben unter dem schwarzumrahmten Porträt: nur sehr wenige Leute in Frankreich schreiben mit der linken Hand, vor allem in der Altersklasse dieses Seemanns. Der Brief ist freilich nicht gerade ein Liebesbrief. Aber ein paar Worte, das ist schon viel, erst recht, wenn sie
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von einer Person kommen, die man gerade für immer verloren hatte. Ich bin nun voller Schwung und lese, vor meinem jungen Publikum stehend, den Inhalt des Briefes laut vor, wie ein Schauspieler auf der Bühne: »Der Zug aus Amsterdam war eine falsche Fährte, die den Zweck hatte, jeden Verdacht zu zerstreuen. Die eigentliche Aufgabe beginnt hier. Nun, da ihr euch ken nengelernt habt, werden die Kinder dich dahin führen, wohin ihr zusammen gehen sollt. Viel Glück.« Die Unterschrift ist »Jean«, das heißt Djinn, daran ist nicht zu zweifeln. Aber ich verstehe nicht ganz den Satz über den Verdacht. Wessen Verdacht? Ich falte das Papier zusammen und stecke es wieder in den Umschlag. Marie klatscht kurz in die Hände. Mit eini ger Verzögerung tut Jean das gleiche, allerdings ohne begeistert zu sein. »Ich habe Hunger«, sagt er. »Tot sein macht müde.« Die beiden Kinder kommen dann auf mich zu, und jedes erfaßt entschieden eine Hand von mir. Ich lasse es mir gefallen, da es den Anweisungen entspricht. Wir verlassen so zu dritt zunächst das Zimmer und dann das Haus, wie eine Familie, die einen Spaziergang machen will. Das Treppenhaus und der Gang im Erdgeschoß, ebenso wie der Treppenabsatz im ersten Stock, strah len nun ebenfalls dank starken Glühbirnen in glänzen dem Licht. (Wer hat es bloß eingeschaltet?) Da Marie beim Fortgehen weder den Strom ausschaltet noch die Haustür abschließt, frage ich nach dem Grund. Ihre Antwort ist nicht verblüffender als alles andere an dieser Situation:
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»Das macht nichts«, sagt sie, »da Jeanne und Joseph da sind.« »Wer sind Jeanne und Joseph?« »Nun ja, Joseph ist Joseph, und Jeanne ist Jeanne.« Ich beende selber ihren Satz: »... das ist doch klar.« Sie zieht mich an der Hand zur großen Avenue, wobei sie flott vorangeht oder manchmal auf einem Bein von einem holperigen Pflasterstein zum anderen hüpft. Jean hingegen läßt sich ein wenig mitschleppen. Nach ein paar Minuten wiederholt er: »Ich habe großen Hunger.« »Es ist seine Abendessenszeit«, sagt Marie. »Man muß ihm was zu essen geben. Andernfalls wird er wieder sterben; und wir haben keine Zeit mehr, Sterben zu spielen.« Nach diesen letzten Worten bricht sie in ein kurzes, grelles, etwas beunruhigendes Lachen aus. Sie ist völ lig verrückt, wie die meisten Kinder, die allzu vernünf tig sind. Ich frage mich, wie alt sie wohl sein mag. Sie ist klein und zart, aber sie ist womöglich mehr als acht Jahre alt. »Marie, wie alt bist du?« »Es ist doch unhöflich, Damen nach ihrem Alter aus zufragen.« »Sogar in deinem Alter?« »Das ist doch klar. Es ist keine Frage des Alters, wann man anfängt, höflich zu sein.« Sie hat diese Sentenz in belehrendem Ton ohne das geringste verständnisinnige Lächeln ausgesprochen. Ist sie sich der Unsinnigkeit ihrer Folgerungen bewußt oder nicht? Sie ist nach links in die Avenue eingebogen
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und zieht Jean und mich hinter sich her. Ihr Schritt, der ebenso entschieden wie ihr Charakter ist, regt einen nicht gerade dazu an, Fragen zu stellen. Sie jedoch bleibt plötzlich stehen, um, streng zu mir hinauf blickend, folgende Frage zu formulieren: »Kannst du überhaupt lügen?« »Manchmal, wenn es nötig ist.« »Ich lüge sehr gut, sogar wenn es unnötig ist. Wenn man notgedrungen lügt, hat das weniger Wert, das ist doch klar. Ich kann einen ganzen Tag verbringen, ohne etwas Wahres zu sagen. Ich habe sogar einen Preis fürs Lügen bekommen, in der Schule, voriges Jahr.« »Du lügst«, sage ich. Aber meine schlagfertige Ant wort bringt sie keinen Augenblick aus der Fassung. Sie redet unbeirrt und seelenruhig weiter: »Im Logik-Unterricht machen wir dieses Jahr Übun gen im Lügen zweiten Grades. Wir studieren auch die Lüge ersten Grades mit zwei Unbekannten. Und manchmal lügen wir mehrstimmig, das ist sehr aufre gend. In der Oberklasse nehmen sie die Lüge zweiten Grades mit zwei Unbekannten und die Lüge dritten Grades durch. Das muß schwierig sein. Ich wollte, es wäre schon nächstes Jahr.« Dann geht sie ebenso unvermittelt wieder voran. Der Junge jedoch macht den Mund nicht auf. Ich frage: »Wohin gehen wir?« »Ins Restaurant.« »Haben wir dafür noch Zeit?« »Das ist doch klar. Was hat man dir in dem Brief geschrieben?«
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»Daß du mich dahin führen wirst, wohin ich gehen soll.« »Also: da ich dich zum Restaurant führe, mußt du eben zum Restaurant gehen.« Das ist in der Tat unwiderlegbar. Wir kommen übri gens vor einem Speiselokal an. Die Kleine stößt die ver glaste Tür selbstsicher und mit erstaunlichem Schwung auf. Ihr folgend, gehen wir, Jean und ich, hinein. Ich erkenne sofort das Café, in dem ich der Medizinstuden tin mit der roten Jacke begegnet bin ... Sie sitzt immer noch da, auf demselben Platz, in der Mitte des großen, leeren Lokals. Als sie uns kommen sieht, steht sie auf. Ich bin sicher, daß sie meine Rück kehr abgewartet hat. An uns vorbeigehend, gibt sie Marie einen Wink und sagt halblaut: »Geht alles gut?« »Es geht«, sagt Marie, ganz laut und unbefangen. Und gleich anschließend fügt sie hinzu: »Das ist doch klar.« Die Pseudostudentin geht hinaus, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Wir setzen uns an einen der rechteckigen Tische im hinteren Teil des Lokals. Ohne offensichtlichen Grund suchen die Kinder den Tisch aus, der am wenigsten beleuchtet ist. Sie meiden, wie es scheint, allzu grelles Licht. Es ist jedenfalls Marie, die entscheidet. »Ich will eine Pizza«, sagt Jean. »Nein«, sagt seine Schwester, »du weißt doch, daß man sie absichtlich mit Bakterien und Viren füllt.« Sieh mal einer an, sage ich mir, die Prophylaxe gewinnt bei den jungen Leuten an Boden. Oder sollten diese
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beiden in einer amerikanischen Familie erzogen wor den sein? Da der Kellner sich uns nähert, bestellt Marie Croque-monsieur für alle, zweimal Limonade, »und ein Bier für den Herrn, der Russe ist«. Sie schneidet mir eine schreckliche Grimasse, während der nach wie vor stumme Mann wieder geht. »Warum hast du gesagt, ich sei Russe? Die Russen trinken übrigens nicht mehr Bier als die Franzosen oder die Deutschen ...« »Du bist Russe, weil du Boris heißt. Und du trinkst Bier wie alle anderen, Boris Lecœurowitsch!« Sowohl den Ton als auch das Thema wechselnd, beugt sie sich sodann zu meinem Ohr, um mir vertraulich zuzuflüstern: »Ist dir das Gesicht des Kellners aufgefallen? Er ist derselbe wie der auf der Photographie in Marineuni form, in dem Totenrahmen.« »Ist er wirklich tot?« »Das ist doch klar. Auf See umgekommen. Sein Geist erscheint hier wieder, um in diesem Lokal, wo er früher gearbeitet hat, zu bedienen. Darum sagt er nie etwas.« »Ach so«, sage ich. »Ich verstehe.« Der Mann in weißer Jacke taucht plötzlich mit den Getränken vor uns auf. Seine Ähnlichkeit mit dem Seemann ist gar nicht so klar. Marie sagt zu ihm sehr damenhaft: »Ich danke Ihnen. Meine Mutter kommt morgen vor bei, um zu zahlen.«
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4. Kapitel
Während wir speisten, habe ich Marie gefragt, wieso dieser Kellner vor seinem Tode in einer Gaststätte beschäftigt sein konnte, da er doch Seemann war. Aber sie ließ sich dadurch nicht verwirren: »Es war während seiner Urlaubszeiten, das ist doch klar. Sobald er an Land war, kam er her, um seine Ge liebte zu besuchen, die hier arbeitete. Und aus Liebe ser vierte er mit ihr die Gläschen Weißwein und den Cafe creme. Die Liebe läßt einen Großes vollbringen.« »Und was ist aus seiner Geliebten geworden?« »Als sie vom tragischen Ende ihres Liebhabers erfuhr, nahm sie sich das Leben, indem sie eine Industrie-Pizza aß.« Dann wollte Marie wissen, wie die Leute in Moskau leben, da sie mir gerade die russische Staatsbürger schaft zuerteilt hatte. Ich habe ihr gesagt, sie müsse es doch auch wissen, da sie ja meine Tochter sei. Sie hat dann eine neue, ganz hanebüchene Geschichte erfun den: »Eben nicht. Wir wohnten nicht bei dir. Zigeuner haben Jean und mich entführt, als wir noch Babys waren. Wir haben in Wohnwagen gehaust, sind durch Europa und Asien gezogen, haben gebettelt, gesungen und unter Zirkuskuppeln getanzt. Unsere Adoptiv eltern zwangen uns sogar, Geld zu stehlen oder Waren aus den Kaufhäusern. Wenn wir nicht gehorchten, bestraften sie uns grausam: Jean mußte auf dem fliegenden Trapez schla fen, und ich im Tigerkäfig. Zum Glück war der Tiger
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sehr lieb; er hatte nur Alpträume und brüllte die ganze Nacht, was mich immer wieder aus dem Schlaf auf schreckte. Wenn ich morgens aufstand, hatte ich nie genug geschlafen. Du reistest währenddessen durch die ganze Welt, um uns zu suchen. Du gingst jeden Abend in den Zirkus — jeden Abend in einen anderen — und du triebst dich hinter den Kulissen herum, um alle kleinen Kinder, die du antrafst, auszufragen. Aber vermutlich schautest du dir vor allem die Kunstreiterinnen an ... Erst heute haben wir uns wiedergefunden.« Marie sprach schnell, mit einer Art Überzeugungswut. Plötzlich war ihr Übereifer vorbei. Sie überlegte einen Moment, sah auf einmal träumerisch aus und beendete ihre Geschichte dann ganz traurig: »Und zudem ist es noch gar nicht sicher, daß wir uns wiedergefunden haben. Es handelt sich vielleicht gar nicht um uns, und auch nicht um dich ...« Marie, die wahrscheinlich glaubte, schon genug dum mes Zeug geredet zu haben, erklärte daraufhin, daß ich nun an der Reihe sei, etwas zu erzählen. Da ich schneller gegessen habe als die Kinder, bin ich längst fertig mit meinem Croque-monsieur. Marie, die jeden Bissen zwischen ihren langen Erklärungen lang sam und geflissentlich zerkaut, scheint ihre Mahlzeit noch nicht so bald beenden zu wollen. Ich frage, wel che Art von Geschichte sie sich wünscht. Sie verlangt — und zwar ganz entschieden — eine »Geschichte mit Liebe und Science-fiction«, wobei sie dieses letzte Wort freilich so ausspricht, wie es in Frankreich üblich ist. Ich beginne also:
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»Bitte sehr: Ein Roboter begegnet einer jungen Dame ...« Meine Zuhörerin läßt mich nicht weiterreden. »Du weißt nicht, wie man erzählt«, sagt sie. »Eine richtige Geschichte spielt selbstverständlich in der Vergangenheit.« »Wenn dir das lieber ist. Ein Roboter ist also einer jungen Dame begegnet...« »Ach was, nicht diese Vergangenheit! Eine Ge schichte, dazu gehört das historische Perfekt oder die Erzählform, sonst merkt ja niemand, daß es eine Ge schichte ist.« Sie hat zweifellos recht. Ich überlege ein paar Augen blicke, da ich kaum daran gewöhnt bin, solche Vergan genheitsformen anzuwenden, und ich beginne wieder: »Vorzeiten, es ist schon lange her, machte im schönen Königtum Frankreich ein sehr gescheiter Roboter, der allerdings ganz aus Metall war, bei einem Hofball die Bekanntschaft eines jungen, hübschen Edelfräuleins. Sie tanzten miteinander. Er sagte ihr galante Worte. Sie errötete. Er bat sie um Entschuldigung. Sie tanzten abermals. Das Edelfräulein fand ihn etwas steif und doch bezaubernd mit seinen abgezirkelten Manieren, die ihm viel Vornehmheit verliehen. An derntags war schon Vermählung. Sie empfingen prachtvolle Gaben und fuhren von dannen auf die Hochzeitsreise ... Geht es so?« »Umwerfend ist es nicht«, sagte Marie, »aber es mag angehen. Es ist jedenfalls unverkennbar, daß die Ge schichte sich in der Vergangenheit abspielt.« »Ich erzähle also weiter. Die Jungvermählte, die, zum
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Ausgleich dafür, daß sie tiefschwarzes Haar hatte, Blanche hieß, die Jungvermählte, sagte ich, war recht naiv und bemerkte nicht sogleich die kybernetische Beschaffenheit ihres Gemahls. Es fiel ihr jedoch auf, daß er sich immer wieder der gleichen Gesten bediente und daß er immer wieder die gleichen Dinge sagte. Sieh mal an, so dachte sie, das ist ein Mann, der folge richtig denkt und handelt. Aber als sie eines schönen Morgens früher als gewöhn lich aufgestanden war, sah sie, wie er im Bad mit dem Nähmaschinenölkännchen den Mechanismus seiner Hüftgelenke ölte. Doch weil sie wohlerzogen war, machte sie nicht die mindeste Bemerkung. Seit jenem Tage aber ward ihr Herz erfüllt vom Zweifel. Ungeklärte Kleinigkeiten kamen ihr nun wieder in den Sinn: die knirschenden Geräusche nachts, zum Bei spiel, die doch wahrhaftig nicht aus der Matratze kom men konnten, während ihr Gatte sie in der Alkoven heimlichkeit umarmte; oder das Ticken wie von einem Wecker, das merkwürdigerweise um ihn herum zu hören war. Blanche hatte außerdem entdeckt, daß aus seinen grauen, ziemlich ausdruckslosen Augen zuweilen Blinklichter erstrahlten, nach rechts oder nach links, wie bei einem Auto, das die Fahrtrichtung ändern will. Auch andere Zeichen mechanischer Art trugen nach und nach dazu bei, sie vollends zu beunruhigen. Schließlich erlangte sie die Gewißheit von Absonder lichkeiten, die noch verwirrender und, wahrhaft, des Teufels waren: ihr Gatte vergaß nichts, nie und nim mer! Sein verblüffend gutes Gedächtnis bezüglich der
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mindesten alltäglichen Ereignisse sowie seine uner klärliche Schnelligkeit beim Kopfrechnen an jedem Monatsende, wenn sie gemeinsam ihre Haushaltsko sten überprüften, brachten Blanche auf einen tücki schen Gedanken. Sie wollte mehr wissen und faßte deshalb einen skrupellosen Plan ...« Die Kinder haben derweil beide ihre Teller leergeges sen. Und ich sitze wie aufglühenden Kohlen, so unge duldig bin ich, dieses Bistro zu verlassen, um endlich zu erfahren, wohin wir schließlich gehen werden. Ich komme deshalb schnell zu einem Schluß: »Zu allem Unglück«, sage ich, »brach just in dem Moment der Siebenzehnte Kreuzzug aus, und unser Roboter ward einberufen, und zwar zum dritten Pan zerregiment der Kolonialen Infanterie. Er schiffte sich im Hafen von Marseille ein und fuhr zum Nahen Osten, in den Krieg gegen die Palästinenser. Da alle Ritter in gelenkigen Nirostarüstungen steck ten, fielen die körperlichen Eigentümlichkeiten des Roboters hinfort gar nicht mehr auf. Aber er kehrte nie mehr in das liebliche Frankreich zurück, denn er starb blöderweise an einem Sommerabend, ohne Aufsehen zu erregen, an den Mauern Jerusalems. Der vergiftete Pfeil eines Ungläubigen hatte seine Panzerung durch bohrt und im Innern seines elektronischen Gehirns einen Kurzschluß verursacht.« Marie verzieht ihren Mund. »Der Schluß ist albern«, sagt sie. »Du hast zwar ein paar gute Einfalle gehabt, aber du hast es nicht verstan den, deine Ideen witzig zu verwerten. Und du hast es, vor allem, in keinem Augenblick geschafft, deine Per
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sonen lebendig und liebenswert erscheinen zu lassen. Wenn der Held am Ende stirbt, gibt es keinen unter den Zuhörern, dem es zu Herzen geht.« »Als der Held verstarb, hat dein Herz nicht gedarbt?« frage ich scherzhaft. Diesmal habe ich meiner allzu anspruchsvollen Lehre rin der Erzählkunst jedenfalls ein hübsches, lustiges Lächeln entlocken können. Sie antwortet mir im glei chen parodistischen Ton: »Es war mir gleichwohl ein unleugbares Vergnügen, Ihnen zu lauschen, teurer Freund, als Sie uns just von einem Hofball Kunde gaben, bei dem die beiden einst Bekanntschaft schlössen und miteinander tändelten. Als Jean und ich mit unserem Abendessen fertig wa ren, dauerte es uns, denn Sie kürzten daraufhin Ihre Erzählung ab: wir fühlten alsobald Ihre jähe Hast...« Und dann in einem anderen Ton: »Später will ich studieren, um Romanheldin zu werden. Das ist ein guter Beruf, der es einem erlaubt, in der Vergangenheit zu leben. Findest du nicht, daß es schöner ist?« »Ich habe noch Hunger«, sagt ihr Bruder in diesem Moment. »Jetzt will ich eine Pizza.« Es ist wahrscheinlich ein Scherz, da beide lachen. Ich begreife jedoch nicht, warum. Es muß mit ihren Pri vatmätzchen zusammenhängen. Dann folgt ein sehr langes Schweigen, das mir wie eine Lücke in der Zeit oder wie eine weiße Fläche zwischen zwei Kapiteln vorkommt. Ich schließe daraus, daß wahrscheinlich etwas Neues geschehen wird. Ich warte. Meine jungen Gefährten scheinen ebenfalls zu warten. Marie nimmt ihr Messer und ihre Gabel, es macht ihr
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eine Weile Spaß, sie im Gleichgewicht zu halten, indem sie deren beide Enden aneinanderstützt; dann legt sie sie über Kreuz mitten auf den Tisch. Sie verfährt bei diesen nichtssagenden Übungen mit einem solchen Ernst, mit einer so berechneten Genauigkeit, daß diese in meinen Augen den Wert kabbalistischer Zeichen annehmen. Leider weiß ich nicht, wie die Figuren zu deuten sind. Und vielleicht haben sie gar keine Bedeutung. Marie gefällt es, wie allen Kindern und Poeten, mit dem Sinn und dem Widersinn zu spielen. Als ihre Konstruktion fertig ist, lächelt sie vor sich hin, während Jean sein Glas austrinkt. Sie schweigen beide. Worauf warten sie so? Der Bub bricht schließlich das Schweigen. »Nein«, sagt er, »keine Angst! Die Pizza, das war nur, um Sie zu nerven. Es werden übrigens in diesem Lokal seit mehreren Monaten schon nur noch Croque monsieur und Sandwitchs verkauft. Sie fragten sich, worauf wir hier warteten, nicht wahr? Die Zeit, uns auf den Weg zu machen, war ganz einfach noch nicht gekommen. Jetzt werden wir aufbrechen.« Wie seine Schwester drückt auch dieser Junge sich beinahe wie ein Erwachsener aus. Es kommt hinzu, daß er mich siezt. Er hat noch nie so viele Worte gesagt, seidem ich ihn zum ersten Male sah, vor über einer Stunde. Aber nun habe ich begriffen, warum er so ausdauernd schwieg. Er ist nämlich mitten im Stimmbruch; und er scheut das Lächerliche sich überschlagender Töne, die unver mutet an irgendeiner Stelle in seinen Sätzen entstehen.
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Das erklärt vielleicht auch, warum seine Schwester und er lachten: das Wort »Pizza« muß bei seinen Stimmbän dern wohl besonders furchterregende Klangwirkun gen erzeugen. Marie teilt mir dann endlich die Fortsetzung unseres Programms mit: sie selbst muß nach Hause (nach wel chem Haus?), um ihre Schulaufgaben zu machen (Lü genaufgaben?), wohingegen ihr Bruder mich zu einer geheimen Zusammenkunft führt, wo ich genaue An weisungen bekommen werde. Ich selbst darf jedoch nicht wissen, an welchem Ort dieses Treffen stattfin det. Man wird mich deshalb als Blinden verkleiden, mit einer schwarzen, absolut undurchsichtigen Brille. Die Vorsichtsmaßregeln und Heimlichtuereien, die von dieser Untergrundorganisation im Zusammen hang mit ihren Aktivitäten gepflegt werden, nehmen immer absonderlichere Formen an. Ich bin jedoch da von überzeugt, daß ein großer Teil dabei nur Spielerei ist, und ich habe jedenfalls beschlossen, dieses Aben teuer bis zum Ende mitzumachen. Man kann sich leicht denken, warum. Ich täusche also vor, das an ein Wunder grenzende plötzliche Vorhandensein der für meine Verkleidung notwendigen Dinge, der angekündigten Brille sowie eines weißen Stocks, ganz selbstverständlich zu finden. Jean ist in aller Ruhe in eine Ecke des Cafés, nicht weit von der Stelle, wo wir speisten, gegangen, um die dort bereitstehenden Utensilien zu holen. Beide Kinder hatten natürlich wegen der Nähe ihres Verstecks den nicht gerade bequemen, schlecht be leuchteten Tisch ausgesucht. Aber wer hat diese Dinge
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dort hingebracht? Jean oder Marie oder aber die Stu dentin mit der roten Jacke? Diese war wohl seit meinem Fortgehen aus dem Lager schuppen mit den Schaufensterpuppen, wo Djinn mich in ihre Dienste genommen hat, hinter mir hergegan gen. Sie konnte Stock und Brille schon mitgebracht haben. Sie ist mir bis zum Restaurant gefolgt, das sie ein paar Sekunden nach mir betreten hat. Sie hat die besagten Gegenstände sofort in diese Ecke tragen kön nen, ehe sie sich an einen Nachbartisch setzte. Es wundert mich jedoch, daß ich von diesem Hin und Her nichts bemerkt habe. Als ich die Anwesenheit der Studentin entdeckte, saß sie schon da und las seelenru hig in ihrem dicken Anatomiebuch. Ich aber schwelgte in dem Moment in zärtlichen, euphorischen, undeutli chen Vorstellungen, die meinen Wirklichkeitssinn ver mutlich trübten. Eine andere Frage macht mich noch ratloser. Ich selbst wollte einen Kaffee in diesem Lokal trinken, die Pseu dostudentin ist mir nur hierhin gefolgt. Ich hätte doch ebensogut eine andere Gaststätte an der Avenue aus suchen (oder sogar keinen Kaffee trinken) können. Wie sind die Kinder unter diesen Umständen durch ihre Komplizin auf den Ort hingewiesen worden, wo sie Stock und Brille finden würden? Andererseits sprach Marie bei der Ankunft mit dem Kellner, als sei sie sehr gut mit ihm bekannt. Und Jean wußte, welche der Speisen, die auf dem über der Theke hängenden Schild mehr oder weniger irreführend an geboten werden, verfügbar waren. Schließlich haben sie behauptet, ihre Mutter werde in Kürze vorbeikom
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men, um die Rechnung unserer Mahlzeit zu beglei chen; wo es doch genügte, mich selbst diesen beschei denen Betrag zahlen zu lassen. Der Kellner hat nichts dagegen eingewendet. Er hat offensichtlich Vertrauen zu diesen Kindern, die sich ganz wie Stammgäste auf führen. Es ist also alles so, als wäre ich zufällig ausge rechnet in das Restaurant gegangen, das ihnen als Kan tine und Hauptquartier dient. Das ist recht unwahr scheinlich. Allerdings scheint die andere mögliche Er klärung noch befremdlicher zu sein: es geschah nicht »zufällig«; ich bin, im Gegenteil, ohne mein Wissen, von der Organisation selber zu diesem Lokal geführt worden, damit ich der Studentin, die dort auf mich wartete, begegnete. Aber, wenn es sich so verhält, wie bin ich dann dorthin »geführt« worden? Auf welche Weise? Durch Anwen dung welcher geheimnisvollen Methode? Je mehr ich über dies alles nachdenke, umso weniger klar wird alles, und desto mehr schließe ich darauf, daß es hier ein Rätsel gibt. Wenn ich zuerst das Problem der Bezie hung zwischen den Kindern und der Medizinstudentin löste ... Doch ach, ich enträtsele gar nichts. Als ich mir Gedanken darüber machte, stülpten Jean und seine Schwester die schwarze Brille über meine Augen. Die Gummiränder des scheuklappenähnlichen Gestells paßten sich vollkommen meiner Stirn, meinen Schläfen und Backenknochen an. Ich habe sofort fest gestellt, daß ich nichts mehr sehen konnte, weder an den Seiten noch unten, und daß ich auch nichts durch die Brillengläser hindurch erblickte, die tatsächlich un durchsichtig sind.
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Und nun gehen der Bub und ich nebeneinander über den Bürgersteig der Avenue. Wir gehen Hand in Hand. Mit meiner freien rechten Hand halte ich den nach vorn weisenden weißen Stock, dessen Spitze auf der Suche nach möglichen Hindernissen über die Flä che vor meinen Füßen hin- und herstreift. Nach weni gen Minuten handhabe ich dieses Requisit, als wäre ich seit jeher damit vertraut. Während ich mich so wie ein Blinder führen lasse, denke ich über diese merkwürdige Minderung meiner Freiheit nach, die immer mehr eingeschränkt wurde, seitdem ich um sechs Uhr dreißig abends in den mit Ausschußwaren und ausgedienten Maschinen vollge stellten Modepuppenschuppen eingedrungen war, wo hin »Monsieur Jean« mich beordert hatte. Dort bin ich nicht nur darauf eingegangen, den Befeh len einer jungen Frau in meinem Alter (oder sogar einer jüngeren Person) Folge zu leisten, sondern ich habe dies zudem unter der demütigenden Bedrohung durch einen (zumindest hypothetischen) Revolver ge tan, die jeden Eindruck einer freiwilligen Entschei dung zerstörte. Überdies war ich widerspruchslos be reit, in völliger Unkenntnis über meine eigentliche Aufgabe und die von der Organisation verfolgten Ziele zu bleiben. Ich habe unter alledem nicht im geringsten gelitten; ich fühlte mich, im Gegenteil, glücklich und beflügelt. Dann hat eine wenig liebenswürdige Studentin mich in einem Café durch ihr an eine Schulinspektorin oder Lehrerin erinnerndes Gebaren genötigt, einen Weg zu wählen, den ich nicht für den besten hielt. Das hat mich
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dazu gebracht, einen angeblich Verletzten zu versor gen, der bewußtlos auf dem Boden lag, in Wirklichkeit jedoch sein Spiel mit mir trieb. Als ich es erfuhr, habe ich mich nicht über dieses unehrliche Verfahren beklagt. Und ich habe bald ge merkt, daß ich diesmal einer Göre gehorchte, die kaum zehn Jahre alt und überdies verlogen und mythoma nisch ist. Zu guter Letzt habe ich mich noch damit abgefunden, auch den Gebrauch meines Sehvermö gens einzubüßen, nachdem ich nacheinander den mei ner Willensfreiheit und meiner Verstandeskraft verlo ren hatte. So daß ich nunmehr handele, ohne das geringste von dem, was ich tue oder was mir widerfährt, zu begrei fen; ich weiß nicht einmal, wohin ich an der Hand dieses wortkargen Kindes, das vielleicht epileptisch ist, unterwegs bin. Und ich versuche keinesfalls, den An weisungen zuwiderzuhandeln, indem ich ein wenig mit der schwarzen Brille mogele. Es genügte wahrschein lich, unter dem Vorwand, mich an der Augenbraue zu kratzen, das Brillengestell leicht zu verschieben, um auf diese Weise einen Spalt zwischen Gummirand und Nasenflügel entstehen zu lassen ... Aber ich mache keinerlei Versuch in dieser Richtung. Ich war ja willens, ein verantwortungsloser Agent zu sein. Ich hatte nichts dagegen, daß man mir die Augen verband. Falls es Djinn gefällt, werde ich bald selber ein Elementar-Roboter werden. Ich sehe mich schon in einem Rollstuhl: lahm, blind, stumm, taub ... Und was sonst noch? Bei diesem Gedanken habe ich vor mich hingelächelt.
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»Warum lachen Sie?« fragt Jean. Ich antworte, daß, meine jetzige Situation mir eher komisch vorkommt. Der Junge wiederholt dann als Zitat einen Satz, den ich schon aus dem Munde seiner Schwester vernommen habe, als wir im Café waren: »Die Liebe«, sagt er, »läßt einen Großes vollbringen.« Ich habe zuerst geglaubt, er mache sich über mich lustig; und habe ziemlich gereizt erwidert, daß ich keinen Zusammenhang erkennen könne. Da ich je doch darüber nachdenke, kommt mir die Bemerkung des Buben vor allen Dingen unerklärlich vor. Wie ist es möglich, daß er diese (sozusagen sinnlose, jedenfalls geheime) Liebeshoffnung, die ich mir selber kaum eingestanden habe, bereits kennt? »Doch«, behauptet er mit seiner immer wieder zwi schen dunklen und hellen Tönen wechselnden Stimme, »es gibt einen unverkennbaren Zusammenhang: die Liebe ist bekanntlich blind. Jedenfalls dürfen Sie nicht lachen: Blindsein ist traurig.« Ich will ihn gerade fragen, ob er daraus schließt, daß die Liebe traurig sei (was sich als ein vollkommener Syllogismus aus seinen beiden Sätzen bezüglich des Blindseins ergibt), als etwas geschieht, das unserem Gespräch ein Ende bereitet. Wir standen seit einer Weile am Rande eines Bürger steigs (ich hatte mit der Eisenspitze meines Stocks die Bordsteinkante ertastet), und ich hatte angenommen, daß wir auf das Leuchtsignal warteten, das es den Fußgängern erlaubt, die Straße zu überqueren. (Es gibt ja bei uns kaum melodisch erklingende Signale für Blinde wie in vielen Städten Japans.) Aber ich hatte
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mich geirrt. Diese Stelle mußte ein Taxistand sein, wo Jean auf einen freien Wagen wartete. Er läßt mich tatsächlich in ein Auto steigen, in ein anscheinend ziemlich großes, dem bequemen Wagen schlag nach zu urteilen, durch den ich tastend ins Innere gelange. (Meinen Stock habe ich meinem Be gleiter übergeben.) Ich lasse mich auf etwas nieder, was die breite, komfortable Hinterbank sein muß. Während ich mich hinsetzte, hat Jean die Tür zuge schlagen und ist dann wohl um das Fahrzeug herum gegangen, um selbst durch die linke Tür einzusteigen: ich höre, wie sie geöffnet wird und wie jemand sich hereinbemüht und neben mich setzt. Und dieser Je mand ist tatsächlich der Bub, denn seine unnachahm lich überschnappende Stimme sagt zu dem Fahrer: »Fahren Sie uns bitte dahin!« Gleichzeitig vernehme ich ein leises Rascheln von Pa pier. Anstatt mündlich anzugeben, wohin wir wollen, hat Jean dem Fahrer wahrscheinlich einen Zettel ge zeigt, auf den die Adresse geschrieben worden war (von wem?). Dieser Trick erlaubt es, mich über unse ren Bestimmungsort in Unkenntnis zu lassen. Da ein Kind diese List anwendet, kann das Verfahren den Mann am Steuer nicht stutzig machen. Und wenn es kein Taxi wäre?
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5. Kapitel
Während der Fahrt habe ich wieder über die Sinnlosig keit meiner Situation nachgedacht. Ich konnte mich jedoch nicht dazu entschließen, ihr ein Ende zu berei ten. Diese Hartnäckigkeit wunderte mich selbst. Ich machte sie mir zum Vorwurf, obgleich ich mich ganz wohl dabei fühlte. Mein Interesse für Djinn konnte nicht ihr einziger Beweggrund sein. Hinzu kam sicher lich die Wißbegierde. Was sonst noch? Ich fühlte mich hineingerissen in eine Verkettung von Episoden und Begegnungen, bei denen der Zufall ver mutlich gar keine Rolle spielte. Nur ich allein begriff nicht ihren tieferen Zusammenhang. Diese aufeinan derfolgenden geheimnisvollen Ereignisse ließen mich an eine Art Schatzsuche denken: man dringt von Rätsel zu Rätsel weiter voran und entdeckt deren Lösung erst ganz zum Schluß. Und der Schatz war Djinn! Ich habe mich auch gefragt, welche Dienste die Orga nisation von mir verlangte. Scheute man sich, offen mit mir darüber zu sprechen? Handelte es sich um eine so anrüchige Arbeit? Wozu die langen Vorbereitungen? Und warum gab man mir dabei so wenig freie Hand? Das Fehlen jeglicher Aufklärung hatte ich mir immer hin als etwas Vorübergehendes vorgestellt: vielleicht mußte ich zunächst diese erste Phase durchmachen, während ich auf die Probe gestellt wurde. Die Schatz suche wurde auf diese Weise in meinem romantischen Gemüt so etwas wie eine Initiationsreise. Was meine jüngste Verwandlung in die klassische Fi gur eines von einem Kinde geführten Blinden betrifft,
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so stellte sie zweifellos ein Verfahren dar, das Mitleid der Leute zu erregen und somit ihren Argwohn zu beschwichtigen. Aber wenn ich in der Öffentlichkeit nicht auffallen durfte, so wie man es mir ausdrücklich eingeschärft hatte, schien es mir doch ein sehr fragwür diges Mittel zu sein. Überdies bereitete mir ein ganz bestimmtes Problem immer wieder neue Sorge: Wohin begaben wir uns? Welchen Straßen, welchen Boulevards folgten wir? Zu welchen Vororten fuhren wir so? Zu welcher Offenba rung? Oder aber zu welchem neuen Geheimnis? Würde die Strecke dorthin lang sein? Vor allem dieser letzte Punkt — die Dauer der Auto fahrt—bereitete mir, ohne genauen Grund — viel Kopf zerbrechen. Ob Jean es mir sagen durfte? Auf gut Glück habe ich ihn danach gefragt. Er hat mir jedoch geantwortet, er wisse selber nichts davon, was mir noch merkwürdiger vorkam (soweit ich ihm über haupt glaubte). Der Fahrer, der alles, was wir sagten, mithören konnte, mischte sich dann ein, um mich zu beruhigen: »Nur keine Bange. Wir werden bald da sein.« Aber ich habe, im Gegenteil, aus diesen beiden Sätzen, ich weiß selbst nicht warum, eine undeutliche Dro hung herausgehört. Jedenfalls wollte das nicht viel besagen. Ich habe den Straßengeräuschen um uns herum gelauscht, aber sie gaben keinerlei Aufschluß über die Stadtviertel, durch die wir fuhren. Der Ver kehr war da allenfalls weniger rege. Dann hat Jean mir Pfefferminzbonbons angeboten. Ich habe ihm geantwortet, daß ich gern eins hätte.
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Aber ich hatte es eigentlich nur aus Höflichkeit gesagt. Daraufhin hat er meinen linken Arm berührt und ge sagt: »Hier, bitte. Strecken Sie Ihre Hand aus.« Ich habe ihm die offene Hand hingehalten. Er hat eine halb geschmolzene, klebrige Pastille, wie alle Kinder sie in ihren Taschen haben, hineingelegt. Mir war wirklich die Lust darauf vergangen, aber ich wagte nicht, dies dem Spender zu gestehen: nachdem ich die Pastille angenommen hatte, war es unmöglich, sie ihm wieder zurückzugeben. Ich habe sie also mit dem größten Widerwillen in den Mund gesteckt. Sofort fand ich, daß sie sonderbar, nämlich fade und bitter zugleich schmeckte. Ich hätte sie am liebsten wieder ausgespuckt. Das tat ich jedoch nicht, um den Bub nicht zu kränken. Denn da ich ihn nicht sah, wußte ich nie, ob er mich nicht gerade beobachtete. Ich entdeckte hierin eine paradoxe Folge der Blindheit: ein Blinder kann nichts mehr heimlich tun! Die Un glücklichen, die nicht sehen, haben immer Angst da vor, gesehen zu werden. Um dieses unangenehme Gefühl loszuwerden, habe ich in einem ziemlich un logischen Reflex die Augen hinter meinen schwarzen Brillengläsern geschlossen. Ich habe geschlafen, davon bin ich überzeugt; oder aber ich habe zumindest geschlummert. Ich weiß je doch nicht, wie lange. »Aufwachen!« sagte die Stimme des Buben, »wir stei gen hier aus.«
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Und gleichzeitig schüttelte er mich ein wenig. Ich vermute nun, daß die Pfefferminzpastille mit dem zweifelhaften Geschmack ein narkotisches Bonbon war, denn so leicht schlafe ich in einem Wagen sonst nicht ein. Mein Freund Jean hat mir, wie ihm befohlen worden sein muß, ein Rauschgift verabreicht, das ist mehr als wahrscheinlich. Deswegen weiß ich nicht einmal, wie lange die Fahrt auf der gerade von uns zurückgelegten Strecke gedauert hat. Der Wagen steht. Und mein junger Begleiter hat den Fahrpreis schon bezahlt (wenn es sich überhaupt um ein Taxi handelt, was mir immer weniger sicher vor kommt). Nichts läßt mehr darauf schließen, daß noch jemand am Steuer sitzt. Und ich habe das dunkle Ge fühl, mich nicht mehr in demselben Auto zu befinden. Es kostet mich große Mühe, wieder klar im Kopf zu werden. Die Dunkelheit, die mich noch umhüllt, er schwert mir das Erwachen und läßt es mir auch unge wiß erscheinen. Mir ist, als dauere mein Schlaf, wäh rend ich träume, aus ihm aufzutauchen, weiter an. Und ich habe überhaupt kein Zeitgefühl mehr. »Beeilen Sie sich. Wir kommen bestimmt nicht zu früh.« Mein Schutzengel wird ungeduldig und gibt es mir schonungslos mit seiner komischen, immer wieder ausflippenden Stimme zu verstehen. Ich winde mich mühsam aus dem Wagen und richte mich recht und schlecht auf. Mir ist ganz schwindelig, als hätte ich zuviel getrunken. »Und nun«, sage ich, »gibst du mir meinen Stock wieder.«
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Der Bub gibt ihn mir in die rechte Hand und erfaßt dann die linke, um mich mitzureißen. »Lauf nicht so schnell, sonst verliere ich noch das Gleichgewicht. « »Wir kommen bestimmt zu spät, wenn Sie so bum meln.« »Wohin gehen wir jetzt?« »Fragen Sie mich nicht danach. Ich darf es Ihnen nicht sagen. Und außerdem hat es keinen Namen.« Es ist hier jedenfalls ganz still. Mir scheint, daß nie mand mehr um uns herum ist. Ich höre weder Worte noch das Geräusch von Schritten. Wir gehen über Kies. Dann ändert sich der Boden. Wir überschreiten eine Schwelle und betreten ein Gebäude. Drinnen legen wir eine recht komplizierte Strecke zu rück, die der Bub wie im Schlaf zu kennen scheint, denn er zögert nie bei Richtungsänderungen. Nach den Fliesen, anfangs, kam ein Holzfußboden. Oder aber, da ist jetzt noch jemand anders, der uns begleitet oder vielmehr der vorangeht, um uns den Weg zu weisen. Denn wenn ich einen Moment stehen bleibe, so bleibt mein junger Begleiter, der mich an der Hand hält, ebenfalls stehen, und ich meine dann, etwas weiter vorn die Schritte eines Dritten wahrzunehmen, der noch ein paar Sekunden weitergeht. Es ist jedoch schwer, dies mit Sicherheit zu sagen. »Bleiben Sie nicht stehen«, sagt der Bub. Und ein paar Meter weiter: »Geben Sie acht, jetzt kommen Stufen. Halten Sie sich mit der rechten Hand am Geländer fest. Wenn Ihr Stock Sie stört, geben Sie ihn mir.«
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Nein, ohne zu wissen warum, ziehe ich es vor, ihn ihm nicht zu überlassen. Ich ahne so etwas wie eine nahende Gefahr. Ich umklammere also mit derselben Hand das Eisengeländer und den krummen Stockgriff. Ich bin auf alles Mögliche gefaßt. Wenn etwas allzu Unheimli ches geschieht, werde ich mit der linken Hand, die der Bub ziemlich lose in der seinen hält, sofort meine schwarze Brille vom Gesicht reißen und mit der rech ten als Verteidigungswaffe meinen eisenbeschlagenen Stock drohend erheben. Es passiert jedoch nichts Beunruhigendes. Nachdem wir über eine steile Treppe ein Stockwerk hinaufgestie gen sind, gelangen wir bald in einen Saal, wo anschei nend eine Zusammenkunft stattfindet. Jean hat es mich vor dem Hineingehen wissen lassen, und er hat halb laut hinzugefügt: »Machen Sie keinen Lärm. Wir sind die letzten. Wir sollten hier kein Aufsehen erregen.« Er hat die Tür ganz leise geöffnet, und ich folge ihm, immer noch wie ein kleines Kind an der Hand gehal ten. Es sind viele Leute in dem Raum: dies wird mir sofort klar wegen der sehr leisen — aber zahlreichen — verschiedenen Geräusche: Atemholen, unterdrücktes Husten, sich reibende Stoffe, leichte Stöße oder ver stohlenes Rutschen kaum merklich über den Boden streifender Sohlen, usw. Und doch verhalten all diese Leute sich still, davon bin ich überzeugt. Aber sie sind vermutlich stehengeblie ben, und sie bewegen sich ein wenig auf der Stelle, das ist unvermeidlich. Da man mir nichts zum Sitzen an gewiesen hat, setze auch ich mich nicht hin. Um uns herum sagt keiner etwas.
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Und plötzlich kommt es in dieser, von vielen aufmerk samen Anwesenden belebten Stille zu der lange erwar teten Überraschung. Djinn ist da, hier im Saal, ihre liebliche Stimme erklingt ein paar Meter von mir ent fernt. Und ich fühle mich auf einmal für alle meine Geduld belohnt. »Ich habe Sie zusammengerufen«, sagt sie, »um Ihnen ein paar nunmehr nötige Erklärungen zu liefern ...« Ich stelle sie mir auf einem Podest vor, ebenfalls ste hend, ihrem Publikum gegenüber. Steht ein Tisch vor ihr, wie in einem Klassenzimmer? Und wie ist Djinn gekleidet? Immer noch in Regenmantel und Filzhut? Oder hat sie diese Kleidungsstücke wegen der Zusam menkunft abgelegt? Und ihre schwarze Brille, hat sie sie aufbehalten? Zum ersten Mal brenne ich darauf, meine abzunehmen. Aber es hat mir noch niemand die Erlaubnis dazu erteilt; und es ist auch gar nicht der richtige Moment, jetzt, da alle neben mir Stehenden mich sehen können. Von Djinn ganz abgesehen ... Ich muß mich also mit dem begnügen, was mir geboten wird: die entzückende Stimme mit ihrem leichten amerikanischen Akzent. »... internationale Geheimorganisation ... Abschot tung der Aufgabenbereiche ... großes humanitäres Werk ...« Was für ein großes humanitäres Werk? Wovon redet sie? Auf einmal wird mir meine Leichtfertigkeit be wußt: ich höre nicht einmal auf das, was sie sagt! Fasziniert von ihren exotischen Betonungen, ganz da mit beschäftigt, mir das Gesicht und den Mund vorzu stellen, aus dem diese Töne kommen (ob sie wohl
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lächelt? Oder aber hat sie ihre unechte strenge Gang sterboßmiene aufgesetzt?), habe ich das Wesentliche versäumt: mich für die Information zu interessieren, die ihre Worte enthalten; ich genieße diese, anstatt mir ihre Bedeutung zu merken. Wo ich doch immer be hauptete, so darauf erpicht zu sein, mehr über meine zukünftige Arbeit zu erfahren! Und jetzt ist Djinn auf einmal verstummt. Was hat sie eigentlich gerade gesagt? Ich versuche vergeblich, mich dessen zu entsinnen. Mir kommt es allerdings so vor, als wären es nur Begrüßungsformeln gewesen, um die Versammelten in der Organisation willkommen zu heißen, und als stünde das Wichtigste noch aus. Aber warum sagt sie nichts mehr? Und was tun die anderen Zuhörer unterdessen? Keiner rührt sich um mich herum, niemand verrät sein Erstaunen. Ich weiß nicht, ob es an meiner Ergriffenheit liegt, aber ein störendes Kitzeln reizt mein rechtes Auge. Obwohl ich die Lider mehrmals energisch zusammenziehe, ge lingt es nicht, mich von dem Jucken zu befreien. Ich suche eine Möglichkeit, mich unauffällig zu kratzen. Meine linke Hand ist in der des Buben geblieben, der mich nicht losläßt, und in der rechten habe ich den lästigen Stock. Da ich es jedoch nicht mehr aushalten kann, versuche ich mit der rechten Hand mir wenig stens die Umgebung des Auges zu reiben. Durch den krummen Stockgriff behindert, mache ich eine ungeschickte Handbewegung, und das wulstige Brillengestell rutscht nach oben auf den Augenbrauen bogen. Die Gläser haben sich eigentlich kaum verscho ben, der zwischen Haut und Gummirand entstandene
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Spalt genügt jedoch, damit ich erblicken kann, was sich rechts von mir befindet... Es verblüfft mich sehr. So etwas hatte ich nicht ver mutet ... Ich bewege langsam den Kopf, um durch meinen engen Sichtspalt über ein breiteres Feld zu schauen. Was ich allenthalben sehe, steigert nur noch meine erste Verblüffung: ich habe den Eindruck, mich vor meinem Ebenbild zu befinden, das verzwanzigoder verdreißigfacht wurde. Der ganze Saal ist nämlich voll von Blinden, von vermutlich ebenfalls Pseudoblinden: lauter junge Leute meines Alters, die verschieden gekleidet sind (aber deren Aufmachung im Grunde der meinen ziem lich ähnlich ist), mit der gleichen dicken, schwarzen Brille vor den Augen, dem gleichen weißen Stock in der rechten Hand und einem dem meinen genau glei chenden Bub, der sie an der linken Hand hält. Sie stehen alle in die gleiche Richtung gewandt, zum Podest hin. Jedes Paar — ein Blinder und sein Begleiter — ist von seinen Nachbarpaaren durch freie Zwischen räume getrennt, die stets fast gleich groß sind, als hätte man sich bemüht, in genau begrenzten Feldern eine Reihe von gleichförmigen Statuetten aufzustellen. Und plötzlich schnürt mir eine dumme Anwandlung von Eifersucht das Herz zusammen: Djinn hat also nicht ausschließlich zu mir allein gesprochen! Ich wußte wohl, daß es sich um eine Zusammenkunft mehrerer handelte. Aber es ist ganz etwas anderes, mit eigenen Augen feststellen zu müssen, daß Djinn schon zwei oder drei Dutzend junger Leute angeworben hat, die sich kaum von mir unterscheiden und genauso
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behandelt werden wie ich. Für Djinn bin ich nicht mehr als der am wenigsten bemerkenswerte unter ih nen. Aber genau in diesem Moment beginnt Djinn wieder zu sprechen. Sehr merkwürdig ist dabei, daß sie ihre Rede mitten in einem Satz fortsetzt, ohne die vorher gehenden Wörter zur Wahrung des Zusammenhangs ihrer Äußerung zu wiederholen. Und sie sagt nichts, um die Unterbrechung zu erklären; ihr Ton ist ganz genau so, als habe es keine gegeben. »... werden es Ihnen ermöglichen, keinen Verdacht zu erregen ...« Da ich jegliche Vorsicht (und jegliche Beachtung von Verhaltensmaßregeln, die ich plötzlich unerträglich finde) aufgegeben habe, gelingt es mir, bei einer äußer sten Anstrengung des Halses und des Kinns den Kopf weit genug herumzudrehen, um die Mitte des Podests in mein Blickfeld zu bekommen ... Ich begreife nicht sofort, was sich abspielt... Bald muß ich jedoch erkennen, was offensichtlich ist: da ist wohl ein Vortragstisch, aber es sitzt niemand dahinter! Djinn ist gar nicht da, weder an dem Tisch, noch sonstwo im Saal. Ein einfacher Lautsprecher überträgt ihre Ansprache, die wer weiß wo und wann aufgenommen wurde. Der Apparat steht auf dem Tisch, deutlich sichtbar, gera dezu unverschämt. Wahrscheinlich hatte er infolge einer technischen Panne plötzlich versagt: ein Arbeiter ist dabei, Kabel zu überprüfen, die er wohl gerade wieder eingestöpselt hat... Der ganze Reiz dieser frischen, sinnlichen Stimme ist
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auf einmal verschwunden. Zwar ist das, was weiter von der Aufnahme folgt, immer noch von der gleichen guten Qualität; die Worte setzen ihren transatlanti schen Singsang fort; das Tonbandgerät gibt getreu seinen Wohlklang, die Melodie und sogar die gering sten Modulationen wieder ... Aber nun, da die Illusion ihrer körperlichen Anwesen heit dahin ist, habe ich jeden spürbaren Kontakt mit dieser Musik verloren, die vor einer Minute noch so süß in meinen Ohren war. Meine Entdeckung des Betrugs hat den magischen Effekt der Rede vereitelt, die sofort glanzlos und kalt geworden ist: das Tonband spielt sie mir jetzt so anonym und neutral wie eine Flughafendurchsage vor. So daß es mir jetzt überhaupt nicht mehr schwerfällt, ihre Sätze anzuhören und einen Sinn darin zu entdecken. Die gesichtslose Stimme ist gerade dabei, uns unsere Rolle und unsere zukünftigen Funktionen zu erklären. Aber sie verrät sie uns nicht ganz, sondern gibt uns lediglich die Leitlinien bekannt. Sie verbreitet sich mehr über die angestrebten Ziele als über die Metho den: aus Sorge um die Effizienz ziehe sie es vor, so wiederholt sie, uns davon vorerst nur das unbedingt Notwendige mitzuteilen. Ich habe, wie ich schon sagte, den Anfang ihres Vor trags nicht genau verfolgt. Mir scheint jedoch, daß ich das Wichtigste davon mitbekommen habe: was ich nun höre, läßt es mich jedenfalls vermuten, denn ich er kenne darin keine nennenswerten Unklarheiten (es sei denn diejenigen, die von der Vortragenden absichtlich hineingebracht wurden).
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Wir, das heißt alle, die mit mir hier stehen, und ich, seien also — wie sie uns wissen läßt — für ein internatio nales Unternehmen zum Kampf gegen den Maschinis mus angeworben worden. Die kleine Zeitungsanzeige, die mich (nach einem kurzen Schriftwechsel über einen Briefkasten) dazu gebracht hat, Djinn in der stillgeleg ten Werkstätte zu treffen, hatte es mich schon ahnen lassen. Ich hatte aber die Folgen der verwendeten For mulierung »für ein freieres Leben ohne den Imperialis mus der Maschinen« nicht genau ermessen. Die Ideologie der Organisation ist nämlich ziemlich simpel, sogar offensichtlich allzu simpel: »Es ist an der Zeit, daß wir uns von den Maschinen befreien, denn sie und nichts anderes sind es, die uns unterdrücken. Die Menschen glauben, die Maschinen arbeiteten für sie. Wohingegen sie selber es sind, die hinfort für die Maschinen arbeiten. Diese befehlen uns mehr und mehr, und wir gehorchen ihnen. Der Maschinismus ist, zunächst einmal, verantwort lich für die Teilung der Arbeit in winzige Bruchstücke, die jeden Sinnes entbehren. Die Werkzeugmaschine verlangt von jedem Arbeiter die Ausführung ein und derselben Geste, die er während seines ganzen Lebens von morgens bis abends wiederholen muß. Die Zer stückelung ist bei Handarbeiten also unverkennbar. Sie wird aber auch in jedwedem anderen Zweig menschlicher Tätigkeit zur Regel. Das ferne Ergebnis unserer Arbeit (das Fabrikat, die Dienstleistung oder die intellektuelle Untersuchung) entgeht uns somit in jedem Falle ganz und gar. Der Arbeiter kennt davon niemals die Gesamtform oder
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die Endanwendung, es sei denn auf theoretische und rein begriffliche Weise. Ihm obliegt dabei keinerlei Verantwortung, und ihm steht dafür auch keinerlei Gefühl des Stolzes zu. Er ist nur ein winziges Glied der unermeßlichen Fertigungskette, da er nur eine Klei nigkeit an einem Einzelteil, an einem einzelnen Räd chen verändert, an Dingen, die für sich allein völlig bedeutungslos sind. Es gibt niemanden mehr, der in irgendeinem Bereich noch etwas Vollständiges schafft. Selbst das Bewußt sein des Menschen ist zerstückelt. Sie aber sollten sich darüber klarwerden, daß unsere eigene Entfremdung durch die Maschine den Kapitalismus und die Sowjet bürokratie entstehen lassen hat, und nicht umgekehrt. Die Atomisierung des Weltalls hat die Atombombe erzeugt. Allerdings behielt am Anfang dieses Jahrhunderts die allein verschonte herrschende Klasse noch die Ent scheidungsgewalt. Nun hat die Denkmaschine — das heißt der Computer — uns auch diese Entscheidungs fähigkeit genommen. Wir sind nur noch Sklaven, und wir arbeiten an unserer eigenen Zerstörung, im Dien ste — und zum höchsten Ruhme — des allmächtigen Gottes der Mechanik.« Über die anzuwendenden Mittel, um dies der Masse der Leute bewußt zu machen, äußert sich Djinn viel zurückhaltender und weniger ausführlich. Sie spricht von einem »pazifistischen Terrorismus« und von »spektakulären« Aktionen, die von uns inmitten der Menge, in der Métro, auf öffentlichen Plätzen, in Büros und Fabriken organisiert werden ...
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Es gibt allerdings etwas, das mich an diesen schönen Worten ungemein stört; nämlich das Los, das uns als den ausführenden Agenten des Programms beschieden ist: unsere Rolle steht in völligem Widerspruch zu den vorgeschlagenen Zielen. Bis jetzt zumindest hat man dieses Programm kaum auf uns angewandt. Man hat uns, im Gegenteil, ohne jegliche Rücksicht auf un sere Willensfreiheit, gegängelt. Und auch jetzt ver hehlt man nicht, daß uns nur eine Teilkenntnis des Ganzen gestattet sei. Man will das Bewußtsein aller bilden, aber man fängt damit an, uns am Sehen zu hindern. Und, um das Maß vollzumachen, ist es eine Maschine, die zu uns spricht, die uns überredet und uns leitet ... Ich bin wieder mißtrauisch geworden. Ich ahne so etwas wie eine unbekannte, dunkle Gefahr, in der diese manipulierte Versammlung schwebt. Dieser Saal vol ler Pseudoblinder ist eine Falle, in die ich gegangen bin ... Durch den schmalen Spalt, den ich mir sorg sam unter dem rechten Rand meiner dicken Brille offengehalten habe, blicke ich auf den neben mir Ste henden, einen großen, blonden, jungen Mann, der eine ganz schicke, weiße Lederjacke und darunter einen leuchtend blauen Pullover trägt... Auch er hat (wie ich vorhin schon vermutet hatte) die enganliegende, ihn am Sehen hindernde Vorrichtung ein paar Millimeter verschoben, um seine Nachbar schaft zur Linken zu entdecken; so daß unsere beiden Seitenblicke sich bestimmt gekreuzt haben. Durch ein kurzes Zucken seines Mundes gibt er mir übrigens ein Zeichen seines geheimen Einverständnisses. Ich erwi
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dere es in Form des gleichen Mundzuckens, das als ein ihm geltendes Lächeln durchgehen kann. Der Bub, der ihn begleitet und seine linke Hand hält, hat, wie mir scheint, nichts von unseren Schlichen bemerkt. Der kleine Jean sicherlich auch nicht, da er zweifellos außerhalb des Bereichs dieses bescheidenen Austauschs steht. Währenddessen werden wir weiter vergattert und nachdrücklich ermahnt: »Ihr werdet von der Maschine überwacht, fürchtet sie nicht länger! Die Maschine erteilt euch Befehle; ge horcht ihr nicht mehr! Die Maschine beansprucht eure ganze Zeit, schenkt ihr keine mehr! Die Maschine glaubt, den Menschen überlegen zu sein; gebt ihr nicht länger den Vorzug vor ihnen!« Da sehe ich, wie der Kerl mit der weißen Jacke, der seinen Blindenstock ebenfalls in der rechten Hand be halten hat, diesen nun heimlich hinter seinem Rücken zu seiner linken Seite herüberschwenkt, um dessen spitzes Ende mir zu nähern. Mit dieser Eisenspitze zeichnet er geräuschlos komplizierte Figuren auf den Boden. Es ist sicher, daß der Kollege, der ebenso ungehorsam ist wie ich, mir etwas mitzuteilen versucht. Aber ich kann nicht begreifen, was er mir zu verstehen geben will. Er wiederholt mehrmals für mich die gleiche Serie kurzer Striche und sich kreuzender Bögen. Ich mache immer wieder vergebliche Entzifferungsversuche; meine sehr begrenzte Sicht auf den Boden, bei einem überdies außergewöhnlich schrägen Blickwinkel, er leichtert mir meine Aufgabe nicht, das ist sicher.
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»Wir haben«, so redet die Tonbandstimme weiter, »eine einfache Lösung entdeckt, um eure Brüder zu retten. Setzt sie davon in Kenntnis. Schärft sie ihnen ein, ganz unaufdringlich, beinahe ohne daß sie es mer ken. Und verwandelt sie selber in neue Propagandi sten ...« In diesem Moment vermute ich auf einmal einen plötz lichen Aufruhr hinter mir. Geräusche überstürzter Schritte in nächster Nähe stören die Stille des Saals. Ich spüre an der Schädelbasis einen heftigen Schlag und einen stechenden Schmerz ...
6. Kapitel
Simon Lecœur erwachte mit trockenem Mund, als habe er zuviel getrunken, inmitten der aufeinanderge stapelten Kisten und ausrangierten Maschinen. Er kam allmählich wieder zu sich und hatte den vagen Ein druck, aus einem langen Alptraum aufzutauchen. Bald erkannte er seine Umgebung wieder. Es war die ver wahrloste Werkstatt, wo er Djinn kennengelernt hatte. Und fast gleichzeitig fiel ihm der erste Punkt seines Auftrags wieder ein: »Ich muß«, dachte er, »zur Gare du Nord. Ich muß mich sogar beeilen, denn es ist sehr wichtig, daß ich pünktlich bei der Ankunft des Zuges aus Amsterdam da bin. Wenn ich diese erste Aufgabe nicht richtig erfülle, ist zu befürchten, daß man mir kein Vertrauen mehr schenkt und mich nicht mehr weitermachen läßt...« Aber Simon Lecœur spürte deutlich, daß die ganze Geschichte mit dem Bahnhof, dem Zug und dem Rei senden, den er nicht verfehlen durfte, überholt, abge laufen war: diese Zukunft gehörte schon der Vergan genheit an. Irgend etwas brachte Raum und Zeit durcheinander. Und es gelang Simon nicht einmal, darin seine eigene Lage zu bestimmen. Was war ihm widerfahren? Und wann? Und wo? Einerseits lag er nun auf dem Boden, ohne daß er den Grund dafür erkennen konnte, im Staub und inmitten verschiedener Bruchstücke, die in der Werkstatt her umlagen, zwischen den ausrangierten Werkstoffen und Apparaten. Andererseits war es mitten am Tag.
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Die schon hoch am Himmel stehende Sonne eines schönen Frühlingsmorgens schien hell auf die Außen seite der staubigen Scheiben des Glasdaches; wohinge gen es dunkelte, als ihm in diesen selben, nicht mehr benutzten Räumlichkeiten Djinn mit ihrem Regen mantel und Männerhut erschienen war ... Simon erinnerte sich plötzlich an eine Szene aus jüng ster Zeit, die er wieder ganz genau vor Augen hatte: ein etwa zehnjähriger Junge, der, nach seiner vollkomme nen Regungslosigkeit, seiner allzu starren Positur und der wachsweißen Gesichtsfarbe zu urteilen, wahr scheinlich tot war und, mit einem großen Kruzifix auf seiner Brust, im flackernden Schein dreier Kerzen eines Messingleuchters auf der unbezogenen Matratze eines Eisenbetts lag ... Diesem Bild folgte ein anderes, ebenso klares und flüchtiges: derselbe immer noch wie im vorigen Jahr hundert gekleidete Junge, der einen Blinden führte, indem er ihn an der linken Hand hielt. Der Invalide umklammerte mit seiner anderen Hand den krummen Griff eines weißen Stocks, der ihm dazu diente, den Boden vor seinen voranschreitenden Füßen zu erken nen. Eine dicke, schwarze Brille verbarg die Hälfte seines Gesichts. Er trug eine Jacke aus feinem, weißem Leder, mit einem Reißverschluß, der über einem leuch tend blauen Pullover weit geöffnet war ... Ein jäher Gedanke durchdrang Simon Lecœurs Sinn. Er führte die Hand an seine Brust. Er fand unter seinen Fingern nicht das Ebenholzkruzifix (obgleich er selbst ganz genauso auf dem Rücken lag wie der Bub wäh rend der Totenwache), aber er stellte das Vorhanden
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sein der Lammfelljacke und des Kaschmirpullovers fest. Er erinnerte sich daran, sie tatsächlich für sein Treffen von heute abend gewählt zu haben, obgleich das Blau und das Weiß dieser sowohl eleganten als auch saloppen Kleidungsstücke ihm nicht recht zu seiner Stellungssuche gepaßt zu haben schien. »Ach was«, sagte er sich, »es kann nicht das Treffen von heute abend sein. Es ist noch nicht heute abend, und das Treffen hat schon stattgefunden. Es war also vermutlich gestern abend ... Was die beiden Szenen, in denen derselbe Bub vorkommt, betrifft, so muß die zweite sich vorher abgespielt haben, da ja in der ersten das Kind auf seinem Totenbett liegt... Aber woher kommen diese Bilder?« Simon wußte nicht, ob er ihnen den Wert von Erinne rungen beimessen sollte, wie Ereignissen seines wirk lichen Lebens; oder ob es sich nicht vielmehr um jene in den Träumen gebildeten Gestalten handelte, die im Moment des Erwachens in unserem Kopf vorüberzie hen, und zwar meist in umgekehrter zeitlicher Reihen folge. Jedenfalls war da eine Lücke in seiner erlebten Zeit. Es schien nämlich kaum denkbar, daß Simon über zwölf Stunden an diesem unbequemen Ort geschlafen hätte ... es sei denn, Schlafmittel oder stärker wir kende Rauschgifte hätten es verursacht... Ein neues Bild von wer weiß woher taucht überra schend in seinem verwirrten Gedächtnis auf: ein lan ges, schnurgerades, schlecht gepflastertes, von alten Laternen schwach beleuchtetes Sträßchen zwischen zusammenbrechenden Bretterwänden, fensterlosen
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Mauern und halbverfallenen Häuschen ... Und wie der derselbe Bub, der aus einem der Häuser hervor stürmte, fünf oder sechs Schritte weit rannte und der Länge nach in eine rötliche Pfütze fiel... Simon Lecoeur erhob sich mühsam vom Boden. Er fühlte sich wie gerädert, ihm war nicht wohl zumute, er hatte einen schweren Kopf. »Ich muß einen Kaffee trinken und ein Aspirin nehmen«, dachte er. Es fiel ihm wieder ein, bei seinem Kommen durch die große, ganz nahe Avenue mehrere Cafés und Gaststätten gesehen zu haben. Simon klopfte ein paarmal mit der flachen Hand auf den weißen Stoff seiner zerknautschten, aus gebeulten und mit schwarzem Staub bedeckten Hose; aber er konnte ihr freilich nicht ihr normales Aussehen wiedergeben. Als er sich umdrehte, um wegzugehen, bemerkte er, daß ein paar Meter weiter noch jemand in einer ähn lichen Positur auf dem Boden lag. Der Körper war jedoch nicht ganz zu sehen: eine große Kiste verbarg den Kopf und den oberen Teil der Brust. Simon ging vorsichtig darauf zu. Er zuckte zusammen, als er das Gesicht entdeckte: das von Djinn, ohne daß im gering sten daran zu zweifeln war. Die junge Person lag quer auf dem Gang ausgestreckt, hatte immer noch denselben zugeknöpften Regenman tel an und ihre Sonnenbrille und den weichen Filzhut auf, der merkwürdigerweise auf dem Kopf geblieben war, als sie, im Rücken durch eine Messerklinge oder Revolverkugel tödlich getroffen, zusammengebro chen war. Von einer Wunde war nichts zu sehen, aber eine Lache schon geronnenen Bluts hatte sich unter der
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Brust gebildet und sich auf dem schwärzlichen Zement rund um ihre linke Schulter ausgebreitet. Minuten vergingen, ehe Simon sich zu einer Bewe gung entschloß. Er blieb regungslos stehen, ohne et was zu begreifen und auch ohne im geringsten zu ahnen, was er tun sollte. Sein Entsetzen überwindend, bückte er sich schließlich und wollte die Hand der Leiche berühren ... Diese war nicht nur steif und kalt, sondern schien ihm auch viel zu hart, viel zu starr zu sein, als daß man hätte glauben können, sie bestehe aus dem Fleisch und Blut und den Gelenken eines Menschen. Um die letzten Zweifel zu zerstreuen, und obgleich ein unerklärliches Widerstreben ihn noch zurückhielt, zwang er sich dazu, auch die Gliedmaßen, die Brust, die Haut der Wangen und die Lippen zu betasten ... Die offensichtliche Künstlichkeit des Ganzen über zeugte Simon restlos von seinem Irrtum, der eigent lich, ein paar Stunden später, nur die Wiederholung des Mißverständnisses bei seiner Ankunft war: er hatte wie der die Puppe aus Pappmache vor sich. Die dunkelrote Lache war allerdings nicht aus Kunststoff: Simon prüf te mit den Fingerspitzen ihre etwas feuchte, klebrige Beschaffenheit. Man konnte jedoch nicht mit Sicherheit behaupten, daß es sich um echtes Blut handelte. Dies alles kam Simon Lecœur widersinnig vor; ihm schwante jedoch dunkel, daß es eine genaue Bedeutung für diese Vortäuschungen gäbe, wenngleich sie ihm entging ... Die ermordete Puppe lag genau an der Stelle, wo sich Djinn während seiner kurzen Begeg nung mit ihr am Vortage befunden hatte; obgleich
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Simon sich sehr gut daran erinnerte, sie bei dieser Gelegenheit im Erdgeschoß gesehen zu haben ... Es sei denn, er verwechselte jetzt die beiden aufeinander folgenden Szenen, die mit Djinn und die mit der Puppe. Er beschloß, schleunigst fortzugehen, aus Angst da vor, daß sich noch andere Rätsel ergäben, die das Problem noch komplizierter machen würden. Rätsel haftes gab es für ihn schon genug, um mehrere Stun den darüber nachzudenken. Aber, wie dem auch wäre, je mehr er darüber nachdachte, desto weniger erkannte er in alledem einen roten Faden. Er ging die Treppe hinunter. Im Erdgeschoß stand die genaue Nachbildung von Djinn immer noch an dersel ben Stelle, lässig an denselben Kisten lehnend, mit beiden Händen in den Taschen ihres Regenmantels und einem beinahe unmerklichen starren Lächeln auf ihren Wachslippen. Es handelte sich also dort oben um eine zweite, in jeder Hinsicht gleiche Puppe. Das sehr schwache ironische Lächeln um den Mund herum glich überhaupt nicht mehr dem Lächeln von Jane Frank. Simon hatte nur das unangenehme Gefühl, daß man sich über ihn lustig machte. Er zuckte die Schultern und ging in Richtung der Glastür zum Hof. ... Ehe er über ihre Schwelle trat, richtete die Pseudo puppe sich ein wenig auf, und ihr Lächeln verstärkte sich. Die rechte Hand kam aus der Trenchcoattasche, bewegte sich hinauf bis zum Gesicht und nahm lang sam die schwarze Brille ab ... Die hübschen, hellgrü nen Augen erschienen wieder ... Simon selbst war es, der, seinen Weg fortsetzend, sich
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diese letzte Irreführung vorstellte. Aber er gab sich nicht die Mühe, sich umzudrehen, um deren geringe Wahrscheinlichkeit vollends zu zerstören, da er fest da von überzeugt war, diesmal nur eine Amerikanerin aus dem Wachsfigurenkabinett gesehen zu haben. Er über querte den Hof und ging zum Hoftor hinaus; dann, am äußersten Ende des Sträßchens, gelangte er wie vor gesehen auf die große, von Fußgängern wimmelnde Avenue. Simon fühlte sich dabei sehr erleichtert, so als kehrte er endlich, nach einer nicht enden wollenden Ab wesenheit, in die wirkliche Welt zurück. Es konnte, nach dem Stand der Sonne zu urteilen, beinahe Mittag sein. Da Simon seine Armbanduhr letzte Nacht nicht rechtzeitig aufgezogen hatte, war sie freilich stehengeblieben; er hatte dies soeben festge stellt. Da er seine ganze Selbstsicherheit wiedergewon nen hatte, ging er nun flotten Schritts einher. Aber er sah keine einzige Kneipe oder Gaststätte. Obgleich die Avenue, wie er sich erinnerte, in ihrer ganzen Länge zahlreiche Lokale aufwies, mußte die Aufeinander folge der Cafés in Wirklichkeit erst etwas später begin nen. Er ging in das erste, das er erblickte. Simon erkannte den Ort sofort wieder: hier hatte er schon eine Tasse schwarzen Kaffees getrunken, als er zum ersten Mal aus der stillgelegten Werkstatt gekom men war. Aber heute waren schon viele Gäste da, und Simon hatte es nicht leicht, einen freien Tisch zu fin den. Er entdeckte schließlich einen in einer dunklen Ecke, und setzte sich so, daß er das Lokal überblicken konnte. Der schweigsame Kellner vom Tag vorher in weißer
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Weste und schwarzer Hose hatte heute keinen Dienst, es sei denn, daß er hinausgegangen wäre, um aus der Küche irgendeine warme Speise zu holen. Eine ältere Frau in grauem Kittel ersetzte ihn. Sie ging zu dem neuen Gast, um seine Bestellung entgegenzunehmen. Simon sagte ihr, daß er nur einen schwarzen Kaffee wünschte, einen sehr starken mit einem Glas Leitungs wasser. Als sie mit dem weißen Täßchen, einer Karaffe und einem großen Glas auf einem Tablett wiederkam, fragte er sie mit möglichst gleichgültiger Miene, ob der Kellner heute nicht da sei. Sie antwortete nicht sofort, so als dächte sie über die Frage nach; dann sagte sie mit einer etwas beunruhigt klingenden Stimme: »Welchen Kellner meinen Sie?« »Den Mann mit der weißen Weste, der sonst hier bedient.« »Ich bediene hier immer die Gäste«, sagte sie. »Hier ist sonst niemand, selbst bei Hochbetrieb.« »Gestern habe ich aber doch gesehen, daß ...« »Gestern haben Sie gar nichts sehen können: da war Ruhetag.« Sie ging, von ihren Pflichten gedrängt, wieder weg. Ihr Ton war nicht ausgesprochen unangenehm, nur voller Überdruß und sogar Traurigkeit. Simon beobachtete seine Umgebung. Verwechselte er diese Gaststätte mit einer anderen, ähnlich eingerichteten? Abgesehen von der Anwesenheit zahlreicher Gäste (Arbeiter und kleine Angestellte beiderlei Ge schlechts), war die Ähnlichkeit jedenfalls frappierend: die gleiche Glaswand trennte den Gastraum vom Bür
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gersteig, die Tische waren die gleichen und in gleicher Weise angeordnet; die Flaschen hinter der Zinktheke standen genauso nebeneinander, und die gleichen Schildchen waren über der oberen Flaschenreihe ange bracht. Eines davon pries die gleichen Schnellgerichte an: Sandwiches, Croque-monsieur, Pizza usw. »Obgleich man hier schon lange keine Pizza mehr serviert«, dachte Simon Lecœur. Dann wunderte er sich, daß solch eine Gewißheit sich ihm plötzlich so stark aufgedrängt hatte. Er trank seinen Kaffee in einem Zuge aus. Da auf der Preisliste die Pizzapreise verzeichnet waren, konnte man zweifellos welche be stellen. Warum hatte Simon plötzlich das Gegenteil geglaubt? Er verfügte selbstverständlich über keinerlei besondere Auskunft, die es ihm erlaubt hätte. Aber während er die anderen hinter der Theke befe stigten kleinen Plakate studierte, wurde seine Auf merksamkeit durch ein photographisches Porträt be scheidener Ausmaße in schwarzem Rahmen angezo gen, das man ebenfalls da, etwas abseits, in der Nähe der Vorschrift, die den Verkauf alkoholischer Ge tränke an Minderjährige untersagt, aufgehängt hatte. Von einer Wißbegierde ergriffen, die er sich nur schlecht erklären konnte, stand Simon Lecœur, unter dem Vorwand, sich zur Toilette zu begeben, auf und machte einen kleinen Umweg, um an dem Photo vor beizugehen. Da blieb er wie zufällig stehen, um es sich genauer anzusehen. Es stellte einen etwa dreißigjährigen Mann mit klarem, aber beunruhigendem Blick in der Uniform eines Ma rineoffiziers dar, oder, genauer, eines Marineunteroffi
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ziers. Das Gesicht erinnerte Simon an etwas ... Auf einmal begriff er, warum: es war der Kellner, der ihn am Tag vorher bedient hatte. Ein geweihter, unter den schwarzen Holzrahmen ge schobener Buchsbaumzweig ragte ein ganzes Stück an der rechten Seite hervor. Seine von den Jahren ausge dörrten, staubigen Stiele hatten die Hälfte ihrer Blätt chen verloren. Auf den vergilbten, weißen Rand unter die Photographie hatte offensichtlich eine Linkshän derschrift folgende Widmung geschrieben: »Für Marie und Jean, ihr lieber Papa.« »Möchten Sie wissen, was das für eine Uniform ist?« fragte die Kellnerin. Simon hatte sie nicht kommen hören. Die Frau im grauen Kittel war mit dem Abtrocknen von Gläsern hinter ihrer Theke beschäftigt. Sie sagte weiter: »Da sehen Sie meinen Vater. Er war Russe.« Simon, dem dies noch nicht aufgefallen war, mußte anerkennen, daß diese Aufmachung tatsächlich nicht zur französischen Marine gehörte. Aber da der Mann keine Mütze aufhatte, fiel der Unterschied beim ersten Blick gar nicht auf. Nur um etwas zu sagen, fragte er dummerweise, ob der Seemann auf See gestorben sei: »Auf See umgekommen«, verbesserte ihn die Frau. »Und Sie heißen Marie?« »Das ist doch klar!« sagte sie, die Schultern zuckend. Er ging ins Souterrain hinab, wo sich übelriechende Toiletten befanden. Die cremefarben gestrichenen Wände dienten den Benutzern dazu, ihre politischen Meinungen, ihre geschäftlichen Termine und ihre se
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xuellen Phantasien aufzuschreiben. Simon sagte sich, daß vielleicht eine der Mitteilungen für ihn bestimmt sei; zum Beispiel diese Telefonnummer, die, mit einem Rotstift in alle Richtungen geschrieben, immer wieder kehrte: 765—43—21. Die Ziffern waren jedenfalls leicht zu behalten. Als er wieder an seinen Platz zurückkehrte, verweilte sein Blick auf der einspringenden Ecke der Wandver kleidung aus Holzfaserplatten, genau hinter dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte. Ein weißer Stock, wie die Blinden ihn benützen, lehnte in dem Winkel. Diese sehr schlecht beleuchtete Wand war ihm bei seiner Ankunft nicht aufgefallen. Der Stock mußte schon dagewesen sein. Simon Lecœur setzte sich wieder. Als die traurige Kellnerin in der Nähe vorbeikam, gab er ihr ein Zeichen: »Bitte, bringen Sie mir eine Pizza.« »Wir haben seit Monaten keine mehr«, antwortete die graue Frau. »Der Gesundheitsdienst hat uns den Pizza verkauf untersagt.« Simon trank sein Glas Wasser aus und bezahlte den Kaffee. Er ging auf den Ausgang zu, als er sich an etwas erinnerte. »Nanu«, sagte er halblaut, »ich ver gesse ja meinen Stock.« Kein anderer Tisch stand nahe genug an dem Ding, daß es einem anderen Gast gehö ren könnte. Simon kehrte schnell wieder zurück, nahm ohne Zögern den weißen Stock, klemmte ihn unter seinen linken Arm und durchquerte den vollbesetzten Gastraum mit gelassener Miene. Er ging hinaus, ohne daß jemand sich um ihn zu kümmern schien. Vor dem Cafeeingang breitete ein Straßenhändler auf
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dem Bürgersteig Kämme aus künstlichem Schildpatt und anderen Kleinkram aus. Obgleich sie Simon Le cœur übertrieben teuer vorkam, kaufte er sich eine schwarze Brille mit sehr breiten und sehr dunklen Gläsern. Das Gestell gefiel ihm wegen seiner dem Gesicht eng angepaßten Form. Die helle Frühlings sonne tat ihm weh in den Augen, und er hatte es nicht gern, wenn ihre schrägen Strahlen durch allzu weite Seitenöffnungen drangen. Er setzte die Brille sofort auf; sie paßte ihm sehr gut. Ohne daß er wußte, warum — bloß zum Spiel vielleicht —, schloß Simon die Augen in der Geborgenheit seiner schwar zen Gläser und ging los, wobei er den Asphalt vor seinen Füßen mit der Eisenspitze des Stocks ab tastete. Er hatte dabei das Gefühl einer Entspan nung. Solange er noch die Anordnung der Örtlichkeiten um ihn herum im Gedächtnis hatte, konnte er ohne allzu große Schwierigkeiten vorankommen, obgleich er im mer langsamer gehen mußte. Nach etwa zwanzig Schritten hatte er nicht mehr die geringste Vorstellung von den Hindernissen, die ihn umgaben. Er fühlte sich ganz verloren und blieb stehen, öffnete jedoch nicht die Augen. Sein Auftreten als Blinder bewahrte ihn davor, angerempelt zu werden. »Möchten Sie, daß ich Ihnen beim Überqueren der Straße helfe?« Ein Junge redete ihn so an. Simon konnte leicht sein Alter schätzen, da seine Stimme sich ganz unverkenn bar gerade im Wechsel befand. Die deutlich wahr nehmbare Herkunft des Schalls zeigte außerdem die
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Größe des Kindes mit einer Genauigkeit an, die den Pseudoblinden in Erstaunen setzte. »Ja, danke«, antwortete Simon, »sehr gerne.« Der Bub erfaßte seine linke Hand, sanft und fest zu gleich. »Warten Sie einen Moment«, sagte er, »die Wagen haben grünes Licht und fahren schnell auf der Ave nue.« Simon schloß daraus, daß er genau am Rand des Bür gersteigs stehengeblieben war. Er war also schon nach einigen Minuten von seiner ursprünglichen Richtung stark abgewichen. Aber das Experiment verlockte ihn immer noch und faszinierte ihn sogar; er wollte es fortsetzen, bis ein unüberwindliches Hindernis ihm ein Ende bereiten würde. Er erkannte dank der Eisenspitze mühelos die grani tene Randkante und die Bürgersteighöhe, von der er hinabtreten mußte, um auf die Fahrbahn zu gelangen. Sein törichter Starrsinn wunderte ihn selbst: »Ich muß einen schlimmen Ödipuskomplex haben«, sagte er sich, wobei er lächelte, während der Bub ihn voranzog, nachdem die Autos den Fußgängern endlich den Über gang freigegeben hatten. Aber bald verschwand das Lächeln, von folgender stillschweigenden Überlegung vertrieben: »Ich darf nicht lachen: Blindsein ist traurig.« ... Das duftige Bild eines kleinen Mädchens in weißem, in der Taille von einem breiten Band eng zusammenge halten Kleid mit Kräuselfalten zeigte sich, nachdem es ein Weilchen in einer nicht genauer bestimmbaren Er innerung mehrmals flüchtig erschienen war, schließ
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lieh doch deutlich erkennbar hinter der Blende der geschlossenen Augenlider ... Die Kleine steht regungslos im Rahmen einer Tür. Ihre zu dunkle Umgebung läßt kaum etwas erkennen. Aus dem Halbdunkel tauchen nur das weiße Organzakleid, das blonde Haar und das blasse Gesicht auf. Das Kind hält mit beiden Händen einen großen dreiarmigen Leuchter aus blankgeputztem, glänzendem Messing vor sich hin; aber dessen drei Kerzen sind erloschen. Ich frage mich wieder einmal, woher diese Bilder kom men. Dieser Kerzenleuchter ist schon einmal in mei nem Gedächtnis erschienen. Er stand auf einem Stuhl, damals mit brennenden Kerzen, neben dem Kopf eines kleinen Jungen, der auf seinem Totenbett lag ... Aber wir sind jetzt auf der anderen Seite der Straße angelangt, und ich fürchte, daß mein Begleiter mich im Stich läßt. Da ich mich in meiner Blindenrolle noch nicht so recht wohl fühle, möchte ich, daß wir zusam men noch ein paar zusätzliche Minuten lang weiterge hen. Um Zeit zu gewinnen, stelle ich ihm Fragen: »Wie heißt du?« »Ich heiße Jean.« »Wohnst du in diesem Viertel?« »Nein, ich wohne im vierzehnten.« Wir befinden uns jedoch am anderen Ende von Paris. Obgleich zahlreiche Gründe die Anwesenheit dieses Kindes hier erklären könnten, wundere ich mich dar über, daß es sich so auf der Straße herumtreibt, so weit von seiner Wohnung. Im Begriff, ihm hierzu eine
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Frage zu stellen, fürchte ich plötzlich, daß meine Zu dringlichkeit dem Jungen befremdlich vorkommt, daß er sich deswegen beunruhigt und sogar, daß sie ihn fliehen läßt... »Rue Vercingétorix«, präzisiert der Bub mit seiner Stimme, die jäh von hohen Tönen zu tiefen übergeht, mitten in einem Wort sogar. Der Name des Gallierfürsten wundert mich: ich glaube, daß es nur eine Rue Vercingétorix gibt, die in diese Avenue hier mündet, und ich glaube nicht, daß es davon anderswo noch eine gibt, jedenfalls nicht in Paris. Es kann nicht sein, daß derselbe Name für zwei verschiedene Straßen ein und derselben Stadt benutzt wird; es sei denn, es gäbe zwei Männer namens Vercin gétorix in der Geschichte Frankreichs. Ich teile mei nem Gefährten meine Zweifel mit. »Nein«, antwortet er prompt, »es gibt nur einen Ver cingétorix und nur eine nach ihm benannte Straße in Paris. Sie befindet sich im vierzehnten Arrondisse ment.« Sollte ich sie denn mit einem anderen Straßennamen verwechselt haben? ... Es kommt recht häufig vor, daß wir so an ganz unzutreffende Dinge glauben: es genügt, daß ein Erinnerungsbruchstück von anders woher ins Innere eines offengebliebenen, zusammen hängenden Ganzen eindringt, oder aber, daß wir un bewußt zwei nicht zusammenpassende Hälften verei nigen, oder aber, daß wir die Ordnung der Elemente in einem kausalen System umkehren, damit in unserem Kopf Hirngespinste entstehen, die für uns alle äußeren Anzeichen der Wirklichkeit haben ...
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Aber ich verschiebe die Lösung meines topographi schen Problems auf später, da ich fürchte, daß der Bub schließlich meiner Fragen überdrüssig wird. Er hat meine Hand losgelassen, und ich bezweifle, ob er mir noch lange als Begleiter dienen will. Seine Eltern er warten ihn vielleicht zum Mittagessen. Da er seit ziemlich langer Zeit (lange genug, damit es mir bewußt wird) nichts mehr gesagt hat, fürchte ich sogar einen Moment, daß er schon fort ist und daß ich nunmehr meinen Weg allein werde fortsetzen müssen, ohne seinen unverhofften Beistand. Ich muß wohl rat los aussehen, denn ich höre nun seine trotz ihrer selt samen Töne beruhigende Stimme. »Es sieht nicht so aus«, sagte er, »als wären Sie daran gewöhnt, allein zu gehen. Möchten Sie, daß wir noch ein wenig zusammenbleiben? Wohin gehen Sie?« Die Frage bringt mich in Verlegenheit. Ich muß jedoch vermeiden, daß mein improvisierter Begleiter es merkt. Damit ihm nicht bewußt wird, daß ich selbst nicht weiß, wohin ich gehe, antworte ich ganz sicher, ohne zu überlegen: »Zur Gare du Nord.« »Dann hätten wir die Fahrbahn nicht überqueren sol len. Das ist auf der anderen Seite der Avenue.« Er hat freilich recht. Ich gebe ihm, wieder überstürzt, die einzige Erklärung, die mir in den Sinn kommt: »Ich dachte mir, dieser Bürgersteig sei nicht so über füllt.« »Er ist es tatsächlich nicht«, sagt der Bub. »Aber Sie hätten auf jeden Fall sofort nach rechts einbiegen sol len. Nehmen Sie den Zug?«
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»Nein, ich werde auf einen Freund warten.« »Woher kommt er?« »Er kommt aus Amsterdam.« »Wann kommt er an?« Ich habe mich hier abermals auf gefährliches Gelände gewagt. Wenn es nur wirklich einen solchen Zug am frühen Nachmittag gibt! Es ist zum Glück sehr un wahrscheinlich, daß dieses Kind den Fahrplan kennt. »Ich kann mich nicht mehr an die genaue Zeit er innern«, sage ich. »Aber ich bin sicherlich viel zu früh.« »Der Schnellzug aus Amsterdam läuft um 12h 34 im Bahnhof ein«, sagt der Bub. »Wir können rechtzeitig da sein, wenn wir die Abkürzung wählen. Kommen Sie. Beeilen wir uns.«
7. Kapitel
»Wir werden durch das Sträßchen gehen«, sagt der Bub. »Da kommen wir schneller voran. Aber Sie wer den beim Aufsetzen Ihrer Füße achtgeben müssen: die Pflastersteine sind dort nämlich sehr ungleichförmig. Dafür sind da keine Autos und auch keine Fußgänger mehr.« »Gut«, sage ich, »ich werde achtgeben.« »Ich werde Sie, so gut ich es kann, zwischen den Löchern und Buckeln hindurchführen. Wenn eine be sondere Schwierigkeit auftaucht, werde ich Ihre Hand fester umfassen ... So, hier ist es: wir müssen nun rechts einbiegen.« Ich sollte freilich lieber die Augen aufmachen. Es wäre klüger, und auf jeden Fall bequemer. Ich habe jedoch beschlossen, solange es mir möglich sein wird, mich wie ein Blinder voranzubewegen. Es muß so etwas wie ein sinnloses Ansinnen sein. Ich würde im Grunde wie ein Tor handeln, oder wie ein Kind, woran ich kaum gewöhnt bin ... Gleichzeitig scheint mir diese Finsternis, zu der ich mich verdamme und in der es mir zweifellos gefällt, vortrefflich zu der geistigen Unsicherheit zu passen, in der ich mich seit meinem Erwachen herumschlage. Meine freiwillige Blindheit wäre dafür eine Art Meta pher oder Objektivierung oder Verdoppelung ... Der Bub zieht kräftig an meinem linken Arm. Er geht mit weiten, leichten, sicheren Schritten voran, deren Rhythmus ich nur mit Mühe folgen kann. Ich sollte drauflosgehen, mehr Risiken eingehen, aber ich wage
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es nicht: ich taste mit dem Stockende den Boden vor mir ab, als fürchtete ich, mich plötzlich vor einem Abgrund zu befinden, was immerhin sehr erstaunlich wäre ... »Wenn Sie nicht schneller gehen«, sagt der Bub, »wer den Sie nicht rechtzeitig zum Zug kommen, Sie wer den Ihren Freund verfehlen, und wir werden ihn dann im ganzen Bahnhof suchen müssen.« Die Zeit, zu der ich ankommen werde, kümmert mich kaum, und zwar aus gutem Grund. Ich folge meinem Blindenführer jedoch vertrauensvoll und beflissen. Ich habe das komische Gefühl, daß er mich zu etwas Wich tigem führt, von dem ich nichts weiß und das mit der Gare du Nord und dem Zug aus Amsterdam gar nichts zu tun hat. Wahrscheinlich von diesem dunklen Gedanken getrie ben, wage ich mich immer verwegener auf dieses Ge lände voller Überraschungen, an das meine Füße sich allmählich gewöhnen. Bald fühle ich mich darauf ganz wohl. Es will mir beinahe scheinen, als schwömme ich in einem neuen Element... Ich dachte nicht, daß meine Beine so leicht selbständig, sozusagen unkontrolliert funktionieren würden. Sie möchten sogar, mitgerissen von einer Kraft, an der der Bub keinerlei Anteil hat, noch schneller gehen. Ich würde jetzt rennen, wenn er es von mir verlangte ... Aber da stolpert er ja plötzlich. Ich habe nicht einmal Zeit, ihn festzuhalten, seine Hand entgleitet meiner, und ich höre, wie er genau vor mir schwer zu Boden fällt. Es fehlt nicht viel, und ich würde, von meinem Schwung mitgerissen, ebenfalls stürzen, und zwar auf
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ihn, und wir würden zusammen durch das Dunkel rollen, einer über den anderen, wie Figuren von Sa muel Beckett. Ich lache schallend über dieses Bild, während ich mein Gleichgewicht wiedergewinne. Mein Begleiter aber lacht nicht über sein Mißgeschick. Er läßt kein einziges Wort verlauten. Ich höre nicht mehr, daß er sich bewegt. Sollte er infolge eines un wahrscheinlichen mißlichen Umstands verletzt sein? Sollte sein Sturz bei ihm eine Gehirnerschütterung verursacht haben, weil der Kopf auf einen höherragen den Pflasterstein geprallt wäre? Ich rufe ihn beim Vornamen und frage ihn, ob er sich weh getan hat; aber er antwortet nicht. Eine große Stille ist plötzlich entstanden und dauert an, was mich allmählich ernsthaft beunruhigt. Ich taste mit der Eisenspitze meines Stocks den Steinboden ab, wobei ich tausend Vorkehrungen treffe ... Der Körper des Buben liegt quer über die Fahrbahn. Er scheint sich nicht zu bewegen. Ich knie nieder und beuge mich über ihn. Ich lasse meinen Stock los, um seine Kleidung mit beiden Händen abzufühlen. Es erfolgt keinerlei Reaktion, aber unter meinen Fingern spüre ich eine klebrige Flüssigkeit, deren Natur ich nicht bestimmen kann. Diesmal bekomme ich wirklich Angst. Ich öffne die Augen. Ich nehme meine schwarze Brille ab ... Ich werde zunächst durch die Helligkeit geblendet, an die ich nicht mehr gewöhnt bin. Dann ordnen sich die Bilder der Umwelt, werden deutlicher und nehmen Gestalt an, wie bei einem Polaroidphoto, dessen Bild allmählich auf ganz weißem Lackpapier erscheint...
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Aber sie sehen wie aus einer sich wiederholenden und beängstigenden Traumwelt aus, deren innersten Win keln zu entkommen mir nicht gelänge ... Die lange, verlassene Straße, die sich vor mir erstreckt, erinnert mich nämlich an etwas, dessen Zugehörigkeit ich allerdings nicht näher bestimmen könnte: ich habe lediglich den Eindruck von einem Ort, an dem ich schon gewesen war, neulich, einmal jedenfalls, oder vielleicht mehrmals ... Es ist ein schnurgerades, ziemlich enges, leeres, einsa mes Sträßchen, dessen Ende man nicht sehen kann. Es ist, als wäre es von den Menschen verlassen, zum Sperr gebiet erklärt, von der Zeit vergessen worden. Auf bei den Seiten stehen Reihen niedriger, unbestimmter, mehr oder weniger verfallener Bauten: Hütten mit klaf fenden Tür- und Fensterlücken, Werkstattruinen, blinde Mauern und brüchige Bretterwände ... Auf dem altmodischen, groben Pflaster — das wohl seit hundert Jahren nie mehr in Ordnung gebracht wurde — liegt ein etwa zwölfjähriger Bub in einem grauen, bauschigen, in der Taille zusammengehaltenen Kittel, wie sie die kleinen Knaben aus dem Volke im vorigen Jahrhundert trugen, der Länge nach auf dem Bauch, anscheinend ohne Bewußtsein ... Dies alles hätte sich demnach schon zu einem früheren Zeitpunkt zugetragen, mindestens einmal. Die immer hin außergewöhnliche Situation, der ich hier ausge setzt bin, würde nur ein früheres, genau gleiches Aben teuer wiederholen, dessen Wechselfälle ich selbst erlebt hätte, und in dem ich die gleiche Rolle spielte ... Aber wann? Und wo?
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Die Erinnerung verblaßt ganz allmählich ... Je mehr ich mich ihr zu nähern versuche, um so mehr entflieht sie mir ... Ein letzter Schimmer noch ... Dann nichts mehr. Es wird nur eine kurze Sinnestäuschung gewe sen sein. Ich kenne übrigens gut diese lebhaften, flüch tigen Eindrücke, die ich, ebenso wie viele andere, häufig habe, und denen man mitunter den Namen Zukunftsgedächtnis gibt. Es würde sich eigentlich eher um ein Momentange dächtnis handeln; man glaubt, das, was einem ge schieht, sei einem schon früher geschehen, als ob sich die Gegenwart verdoppele, sich in der Mitte in Zwil lingsteile spalte: eine unmittelbare Wirklichkeit und eine Scheinwirklichkeit... Aber die scheinbare schwankt sofort... Man möchte sie fassen ... Sie gleitet hinter unseren Augen hin und her, wie ein durchsichtiger Schmetterling oder ein tanzendes Irr licht, deren Spielzeug wir wären ... Zehn Sekunden später ist alles endgültig verschwunden. Was den Verletzten angeht, so beruhigt mich jedenfalls eines: die zähe Flüssigkeit, mit der ich mir die Finger befleckt habe, als ich den Boden in der Nähe des grauen Leinenkittels abfühlte, ist kein Blut, obgleich einen ihre Farbe ebenso wie ihre Konsistenz auf den Gedan ken bringen könnte. Es ist nur eine gewöhnliche Pfütze rötlichen, durch Roststaub getönten Schlamms, die wahrscheinlich seit dem letzten Regen in dieser Pflastervertiefung sein wird. Das Kind ist, zum Glück für seine Kleider, die ärmlich aber sehr sauber sind, genau auf den Rand gefallen. Vielleicht hat es, weil es mich um dieses
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Hindernis, auf das ich zueilte, herumführen wollte, das Gleichgewicht verloren. Ich hoffe, daß die Folgen sei nes Sturzes nicht allzu beklagenswert sein werden. Aber ich müßte mich unverzüglich darum kümmern. Selbst wenn der Junge sich nichts gebrochen hat, würde die Tatsache, daß er ohnmächtig geworden ist, mich irgendeine schlimme Quetschung befürchten las sen. Ich sehe jedoch, als ich den zartgliedrigen Körper mit mütterlicher Fürsorge umdrehe, weder an der Stirn noch am Kiefer die geringste Verletzung. Das ganze Gesicht ist unversehrt. Die Augen sind geschlossen. Man möchte meinen, daß der Bub schläft. Puls und Atmung scheinen normal, wenn auch sehr schwach zu sein. Jedenfalls muß ich handeln: niemand wird mir an diesem verlassenen Ort beistehen. Wenn die Häuser, die uns umgeben, bewohnt wären, würde ich dort Hilfe holen. Ich würde das Kind dort hin tragen, barmherzige Frauen würden ihm ein Bett anbieten, und wir würden das Unfallkommando oder einen in der Nähe wohnenden Arzt, der bereit wäre, an den Ort des Geschehens zu kommen, anrufen. Aber gibt es überhaupt Mieter in diesen allen Winden offenen Bruchbuden? Das würde mich sehr wundern. Es dürften dort allenfalls Landstreicher wohnen, die mich auslachen werden, wenn ich sie um ein Bett oder ein Telefon bitte. Vielleicht werden sie mir sogar, wenn ich sie bei irgendeiner verdächtigen Beschäfti gung störe, einen noch schlechteren Empfang berei ten. In diesem Augenblick erst bemerke ich genau zu mei ner Rechten ein kleines, zweistöckiges Gebäude, in
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besserem Zustand als die danebenstehenden, dessen Fenster in ihren Öffnungen geblieben sind und noch alle Scheiben enthalten. Die Tür steht halb offen ... Hier werde ich also meinen ersten Besuch wagen. So bald ich den Verletzten an einen geschützten Ort ge bracht habe, werde ich schon ruhiger sein. Aber mir scheint, unerklärlicherweise, daß ich die Fortsetzung schon kenne: indem ich den halb offenste henden Türflügel mit dem Fuß aufstoße, werde ich mit dem leblosen Kind, das ich behutsam in meinen Armen tragen werde, in dieses unbekannte Haus dringen. Drinnen wird alles dunkel und verlassen sein. Ich werde jedoch einen vagen, bläulichen Schimmer sehen, der aus dem ersten Stock kommen wird. Ich werde langsam eine schmale, steile Holztreppe hinaufklet tern, deren Stufen in der Stille knarren werden ... Ich weiß es. Es fällt mir wieder ein ... Ich erinnere mich mit halluzinatorischer Präzision an dieses ganze Haus, an all diese Geschehnisse, die also schon stattge funden hätten, deren Aufeinanderfolge schon hinter mir läge, an denen ich schon aktiv beteiligt gewesen wäre ... Aber wann war das? Am oberen Ende der Treppe war eine halb offenste hende Tür. Ein großes, schlankes junges Mädchen mit sehr blondem Haar stand im Türspalt, als erwartete sie die Ankunft von jemandem. Sie trug ein weites Kleid aus weißem, duftigem, durchscheinendem Stoff, des sen nach den Launen einer kaum denkbaren Brise flatternden Falten die Reflexe jenes blauen Lichts auf fingen, das von wer weiß woher kam. Ein undefinierbares, sehr sanftes, junges, fernes Lä
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cheln ließ ihre blassen Lippen ein wenig offenstehen. Ihre großen, grünen Augen, die im Halbdunkel noch größer aussahen, hatten einen seltsamen Glanz, »wie die Augen eines Mädchens, das aus einer anderen Welt gekommen wäre«, dachte Simon Lecœur, als er sie erblickte. Und er blieb dort auf der Schwelle des Zimmers re gungslos stehen, in seinen Armen (»wie einen Armvoll zum Geschenk dargebrachter Rosen«, sagte er sich) den kleinen ohnmächtigen Jungen. Gebannt betrach tete er die wunderbare Erscheinung und fürchtete jede Sekunde, daß sie wie Rauch verschwinden könnte, vor allem, wenn ein etwas heftigerer Luftzug (dem jedoch nichts anderes im Zimmer ausgesetzt zu sein schien) die Schleierstoffe um sie herumfliegen ließ »wie aschenfarbene Flammen«. Nach einer vermutlich recht langen Zeit (die jedoch nicht mit Sicherheit gemessen werden kann), während der es Simon nicht gelang, in seinem Kopf irgendeinen Satz zu bilden, der dieser außergewöhnlichen Lage entsprochen hätte, sagte er schließlich, weil er sich nicht anders zu helfen wußte, diese einfachen, armseli gen Worte: »Ein Kind hat sich verletzt.« »Ja, ich weiß«, sagte das junge Mädchen, jedoch mit so großer Verspätung, daß Simons Worte, um zu ihr zu gelangen, unermeßliche Räume durchquert zu haben schienen. Dann, nach einem neuen Schweigen, fügte sie hinzu: »Guten Tag. Mein Name ist Djinn.« Ihre Stimme war sanft aber fern, schön aber unfaßlich, wie ihre Augen.
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»Sind Sie eine Elfe?« fragte Simon. »Ein Geist, eine Elfe, ein Mädchen, wie Sie wünschen.« »Mein Name ist Simon Lecœur«, sagte Simon. »Ja, ich weiß«, sagte die Unbekannte. Sie hatte einen leichten, ausländischen Akzent, einen englischen vielleicht, es sei denn, dies wären die sin genden Intonationen der Sirenen oder Feen. Ihr Lä cheln hatte sich während ihrer letzten Worte unmerk lich verstärkt: man hätte gemeint, sie spräche von anderswoher, aus sehr weiter zeitlicher Ferne, sie hielte sich in einer zukünftigen Welt auf, in der alles schon vollendet wäre. Sie machte die Tür weit auf, damit Simon mühelos eintreten könnte. Und sie zeigte ihm mit einer anmuti gen Bewegung ihres bloßen Arms (der sich gerade bei dieser Bewegung aus einem sehr weiten, nach unten breiter werdenden Ärmel befreit hatte) ein altmodi sches Messingbett, dessen Kopfende an der hinteren Wand, unter einem Ebenholzkruzifix, von zwei fun kelnden, vergoldeten Bronzeleuchtern flankiert wurde, die mit zahlreichen Kerzen versehen waren. Djinn be gann, die Kerzen nacheinander anzuzünden. »Man möchte meinen, ein Totenbett«, sagte Simon. »Werden alle Betten nicht eines Tages Totenbetten?« antwortete das junge Mädchen kaum hörbar flüsternd. Ihre Stimme erklang dann etwas voller, um, plötzlich mütterlich, zu versichern: »Sobald Sie ihn auf die wei ßen Laken gelegt haben, wird Jean in einen traumlosen Schlaf sinken.« »Sie wissen also auch, daß er Jean heißt?« »Wie sollte er sonst heißen? Welchen sonderbaren Na
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men sollte er Ihrer Meinung nach haben? Alle kleinen Jungen heißen Jean. Alle kleinen Mädchen heißen Marie. Sie wüßten das, wenn Sie von hier wären.« Simon fragte sich, was sie unter dem Wort »hier« verstand. Bezeichnete es dieses sonderbare Haus? Oder diese verlassene Straße in ihrer Gesamtheit? Oder aber was sonst? Auf das Trauerbett legte Simon ganz sachte das immer noch leblose Kind, dessen Hände Djinn mitten auf der Brust zusammenlegte, wie man es bei denen tut, deren Seele entschwindet. Der Bub ließ es sich gefallen, ohne den geringsten Widerstand zu leisten oder in irgendeiner Weise darauf zu reagieren. Er hatte die Augen weit offen, aber seine Pupillen waren starr. Das Flammenlicht der Kerzen ließ darin tanzende Reflexe schimmern, die ihnen ein fieberhaftes, übernatürliches, beunruhigendes Leben verliehen. Djinn verharrte jetzt wieder regungslos neben dem Bett, das sie mit gelassener Miene betrachtete. Wie sie da in ihrem duftigen, beinahe ätherischen weißen Kleid stand, hätte man sie für einen Erzengel gehalten, der über die Ruhe eines kummervollen Herzens wachte. Simon mußte sich in der bedrückenden Stille, von der das Zimmer plötzlich erfüllt war, einen Ruck geben, um dem jungen Mädchen neue Fragen zu stellen: »Könnten Sie mir auch sagen, unter welcher Krankheit er leidet?« »Es handelt sich«, antwortete sie, »um akute Gedächt nisstörungen, die bei ihm Perioden teilweisen Bewußt seinsverlustes auslösen, die ihn schließlich vollends töten würden. Er müßte sich ausruhen, sonst wird sein
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überbeanspruchtes Gehirn zu schnell ermüden, und seine Nervenzellen werden vor Erschöpfung sterben, ehe sein Körper das Erwachsenenalter erreicht hat.« »Um was für Störungen handelt es sich genau?« »Er erinnert sich mit außergewöhnlicher Genauigkeit an das, was noch nicht geschehen ist: was ihm morgen geschehen wird oder sogar, was er nächstes Jahr tun wird. Und Sie sind hier nur eine Person seines kranken Gedächtnisses. Wenn er erwacht, werden Sie sofort aus diesem Zimmer verschwinden, das Sie in der Tat noch gar nicht betreten haben ...« »Ich werde also später hierherkommen?« »Ja. Zweifellos.« »Wann?« »Ich kenne das genaue Datum nicht. Sie werden erst mals um die Mitte der nächsten Woche in diesem Hause ankommen ...« »Und Sie, Djinn, was würde aus Ihnen, wenn er er wachte?« »Auch ich werde bei seinem Erwachen von hier ver schwinden. Wir werden beide im selben Moment ver schwinden.« »Aber wohin werden wir gehen? Werden wir zusam menbleiben?« »Oh nein. Das würde gegen die Regeln des Zeitablaufs verstoßen. Versuchen Sie zu verstehen: Sie werden sich dahin begeben, wo Sie in diesem Augenblick sein sollten, in Ihre gegenwärtige Wirklichkeit...« »Was verstehen Sie unter ›gegenwärtig‹?« »Ihr zukünftiges Ich befindet sich nämlich hier irrtüm licherweise. Ihr ›jetziges‹ Ich nimmt mehrere Kilome
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ter von hier entfernt, glaube ich, gerade an einer öko logischen Zusammenkunft gegen den elektronischen Maschinismus oder etwas Ähnlichem teil.« »Und Sie?« »Ich bin leider seit drei Jahren tot und werde nirgends hingehen. Nur das zerrüttete Gehirn von Jean hat uns in diesem Hause zufällig vereint: ich gehöre seiner Ver gangenheit an, wohingegen Sie, Simon, ein Teil seiner zukünftigen Existenz sind. Begreifen Sie nun?« Simon Lecœur konnte sich jedoch nicht klarmachen — es sei denn auf ganz begriffliche Weise —, was all dies faktisch bedeuten mochte. Um auszuprobieren, ob er nicht der Traum von irgendeinem anderen war, kam er auf den Gedanken, sich selber fest ins Ohr zu kneifen. Er empfand einen normalen, wirklichen Schmerz. Aber was bewies das? Er mußte gegen das Schwindelgefühl ankämpfen, dem sein Verstand infolge der zeitlichen und räumlichen Verwirrungen ausgesetzt war. Dieses durchschei nende, träumerische, junge Mädchen war vielleicht völlig verrückt... Er hob den Blick. Djinn sah ihn lächelnd an. »Sie kneifen sich ins Ohr«, sagte sie, »um festzustellen, ob Sie nicht träumen. Aber Sie träumen nicht: Sie werden geträumt, das ist etwas ganz anderes. Und ich selbst, die ich tot bin, kann in meinem Körper noch Schmerz oder Lust empfinden: es sind meine vergan genen Leiden und Freuden, an die dieses allzu emp fängliche Kind sich erinnert und denen es wieder ein neues, durch die Zeit kaum abgestumpftes Leben ver leiht.«
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Simon war von widersprüchlichen Empfindungen er füllt. Einerseits faszinierte ihn das seltsame junge Mäd chen, und, ohne es sich einzugestehen, fürchtete er, sie verschwinden zu sehen; selbst wenn sie aus dem Schat tenreich kam, wollte er doch gern bei ihr bleiben. Aber zugleich erregten all diese Ungereimtheiten seinen Zorn: er hatte den Eindruck, man erzähle ihm, um sich über ihn lustig zu machen, ganz unwahrscheinliche Geschichten. Er versuchte, ruhig zu überlegen. Diese Szene (die er gerade erlebte) hätte nur dann ein Teil seines zukünf tigen Daseins — oder des zukünftigen Daseins des Bu ben — sein können, wenn die im Zimmer anwesenden Personen sich tatsächlich später, zum Beispiel nächste Woche, hier vereint finden würden. Dies erwies sich jedoch unter normalen Umständen als unmöglich, wenn das junge Mädchen zwei Jahre zuvor gestorben war. Aus dem gleichen anachronistischen Grund konnte die Szene, die sich hier abspielte, nicht in der vergangenen Existenz Djinns stattgefunden haben, da er ihr zu ihren Lebzeiten nie begegnet war ... Ein plötzlicher Zweifel erschütterte diese allzu beruhi gende Überzeugung ... Blitzartig wurde Simons Geist von der Erinnerung an eine frühere Begegnung mit einem blonden jungen Mädchen durchdrungen, das hellgrüne Augen und einen leichten, amerikani schen Akzent hatte ... Gleich darauf verschwand die ser Eindruck wieder, so plötzlich, wie er entstanden war. Aber der junge Mann blieb verwirrt. Hatte er sie, für die Dauer eines Gedankens, mit ir
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gendeinem Bild der Schauspielerin Jane Frank ver wechselt, die ihn in einem Film stark beeindruckt hätte? Diese Erklärung konnte ihn nicht überzeugen. Und Angst ergriff ihn jetzt erst recht, daß der Bub aus seiner Ohnmacht erwachte und daß Djinn sich vor seinen Augen für immer verflüchtigte. In diesem Augenblick bemerkte Simon eine wichtige Besonderheit der unmittelbaren Umgebung, der er, seltsamerweise, noch keinerlei Aufmerksamkeit ge schenkt hatte: die Vorhänge des Zimmers waren zuge zogen. Aus schwerem, dunkelrotem, wahrscheinlich antikem Stoff (der längs der Falten vom Alter ganz fadenscheinig geworden war) verdeckten sie völlig die Glasflächen, die sich an der Straßenseite befinden muß ten. Warum ließ man sie mitten am Tage geschlossen? Aber Simon dachte dann über die Vorstellung »mitten am Tag« nach. Wie spät war es eigentlich? Von plötz licher Angst bewegt, lief er zu den Fenstern, durch die überhaupt kein Licht drang, weder durch den Stoff, noch an den Seiten. Er hob hastig ein Stück vom Vorhang an. Draußen war pechschwarze Nacht. Seit wann? Das Sträßchen lag in tiefster Finsternis unter einem Him mel ohne Sterne und ohne Mond. Man erblickte auch nicht den geringsten Schimmer — elektrischen oder anderen Lichts — an den Öffnungen der Häuser, die allerdings fast unsichtbar waren. In einiger Entfernung ganz rechts verbreitete eine einzige altmodische Stra ßenlaterne einen schwachen, bläulichen Schein in ei nem Umkreis von nur wenigen Metern. Simon ließ den Vorhang wieder zurückfallen. Sollte
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die Nacht so schnell hereingebrochen sein? Oder aber verfloß die Zeit »hier« nach anderen Gesetzmäßigkei ten? Simon wollte auf seine Armbanduhr schauen. Er war nicht einmal überrascht, als er feststellte, daß sie stehengeblieben war. Die Zeiger standen genau auf zwölf Uhr. Es konnte ebensogut Mitternacht wie Mit tag sein. An der Wand, zwischen den beiden Fenstern, hing ein photographisches Porträt unter Glas in schwarzem Holzrahmen, hinter dem ein geweihter Buchsbaum zweig hervorragte. Simon schaute es sich näher an. Aber das Licht der Kerzenleuchter genügte ihm nicht, um die Gesichtszüge der Person zu erkennen, eines Mannes in militärischer Uniform, wie es schien. Ein jähes Verlangen, das Gesicht deutlicher zu sehen, bemächtigte sich Simons, für den dieses Bild auf einmal eine unerklärliche Bedeutung annahm. Er ging schnell wieder zum Bett, ergriff einen Leuchter, kehrte zum Porträt zurück, das er, so gut er konnte, mit dem flackernden Kerzenschein beleuchtete ... Er hätte wetten mögen, daß es seine eigene Photogra phie war. Da war gar kein Irrtum möglich. Das Ge sicht war genau zu erkennen, wenn auch vielleicht um zwei oder drei Jahre oder kaum mehr gealtert, was ihm einen Ausdruck des Ernstes und der Reife verlieh. Simon war wie versteinert. Er hielt mit ausgestrecktem Arm den schweren Bronzekandelaber vor sich und konnte seinen Blick nicht von seinem Doppelgänger abwenden, der ihm kaum merklich mit zugleich brü derlicher und spöttischer Miene zulächelte. Er trug auf diesem unbekannten Klischee die Uniform
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der Kriegsmarine mit den Rangstreifen eines Haupt bootsmannes. Aber sie glich nicht ganz genau dem in der französischen Armee Üblichen, jedenfalls nicht dem zur Zeit vorschriftsmäßigen Dienstanzug. Simon war übrigens zeitlebens weder Soldat noch Matrose gewesen. Der Abzug hatte eine etwas verwaschene Sepiatönung. Sein Papier schien im Laufe der Zeit vergilbt zu sein und war mit grauen und bräunlichen Flecken getüpfelt. Auf dem unteren Rand verliefen zwei kurze, hand schriftliche Zeilen schräg über die freie Fläche. Simon erkannte sofort seine eigene, wie die der Linkshänder rückwärts geneigte Schrift. Er las leise: »Für Marie und Jean, ihr lieber Papa.« Simon Lecœur drehte sich um. Ohne daß er ihre Be wegung gehört hätte, war Djinn an ihn herangetreten; und sie betrachtete ihn mit einer vergnügten, beinahe zärtlich schmollenden Miene: »Sehen Sie«, sagte sie, »das ist ein Photo von Ihnen, in einigen Jahren.« »Es ist also ebenfalls ein Teil des anomalen Gedächt nisses von Jean und von meiner Zukunft?« »Freilich, wie alles andere hier.« »Außer Ihnen?« »Ja, das stimmt. Weil Jean die Zeiten vermischt. Das eben bringt die Dinge durcheinander und macht sie schwer begreiflich.« »Sie sagten vorhin, daß ich in einigen Tagen hierher kommen werde. Warum? Was sollte ich dann hier tun?« »Sie werden in Ihren Armen einen kleinen, verletzten
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Jungen zurückbringen, das ist doch klar, einen kleinen Jungen, der übrigens Ihr Sohn sein dürfte.« »Jean ist mein Sohn?« »Er ›wird‹ Ihr Sohn ›sein‹, wie diese Widmung unter der Photographie beweist. Und Sie werden auch ein kleines Mädchen haben, das Marie heißen wird.« »Sie sehen doch wohl, daß es unmöglich ist! Ich kann doch nicht nächste Woche ein achtjähriges Kind ha ben, das heute noch nicht geboren ist, und das Sie selber nichtsdestoweniger vor über zwei Jahren schon gekannt hätten!« »Sie denken wirklich wie ein Franzose, wie ein positi vistischer, kartesianischer Franzose ... Jedenfalls habe ich gesagt, daß Sie in einigen Tagen ›erstmals‹ herkommen würden. Aber Sie werden später oft wie der herkommen. Sie werden sogar vermutlich dieses Haus mit Ihrer Frau und Ihren Kindern bewohnen. Warum sollte Ihr Photo sonst diese Wand schmük ken?« »Sie sind keine Französin?« »Ich war keine Französin. Ich war Amerikanerin.« »Welchen Beruf hatten Sie?« »Filmschauspielerin.« »Und woran sind sie gestorben?« »An den Folgen des Versagens einer Maschine, das von einem wildgewordenen Computer verursacht worden war. Deshalb setze ich mich nun gegen die Mechanisie rung und die Datenverarbeitung ein.« »Wieso denn ›nun‹? Ich glaubte, Sie seien tot!« »Na und? Sie selbst sind auch tot! Ist Ihnen nicht das Porträt in dem schwarzen Holzrahmen aufgefallen und
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der geweihte Buchsbaumzweig, der für Ihr Seelenheil da ist?« »Woran bin ich denn gestorben? Woran sollte ich ge storben sein? Oder vielmehr, woran werde ich ster ben?« rief Simon immer aufgeregter. »Auf See umgekommen«, erwiderte Djinn gelassen. Diesmal war es ihm zuviel. Simon machte eine letzte verzweifelte Anstrengung, um aus dem, was nur ein Alptraum sein konnte, aufzutauchen. Er dachte, daß er sich zuerst einmal abreagieren müsse: er mußte schreien, mit dem Kopf gegen die Wand stoßen, etwas zerbrechen ... Außer Rand und Band ließ er den brennenden Leuch ter auf den Boden fallen und ging festen Schrittes auf diese allzu Hübsche, die sich über ihn lustig machte, zu. Er packte sie. Weit davon entfernt, sich ihm zu widersetzen, umschlang sie ihn mit ihren Armen wie eine blonde Qualle, mit einer Sinnlichkeit, die Simon gar nicht erwartet hatte. Für eine Spukgestalt hatte sie einen viel zu warmen und viel zu weichen Körper ... Sie zog ihn zum Bett, aus dem der kleine Junge, wahrscheinlich durch den Lärm geweckt, geflohen war. Auf dem Fußboden brannten die verstreut herumliegenden Kerzen auf die Gefahr hin, daß die Vorhänge Feuer fingen, weiter ... Das war Simon Lecœurs letzte deutliche Vision des Zimmers, ehe er im Vergnügen unterging ...
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8. Kapitel
Als ich voriges Jahr in Frankreich angekommen war, habe ich zufällig die Bekanntschaft eines jungen Man nes in meinem Alter namens Simon Lecœur gemacht, der sich Boris nennen ließ, warum, habe ich nie heraus bekommen. Er hat mir sofort gefallen. Er sah recht gut aus, war groß für einen Franzosen und hatte vor allem eine sehr lebhafte Phantasie, die ihn alle Augenblicke das All tagsleben und dessen simpelste Ereignisse in seltsame, romantische Abenteuer verwandeln ließ, wie man sie in den Science-fiction-Geschichten findet. Aber ich habe mir beinahe sofort gedacht, daß ich wahrscheinlich manchmal viel Geduld brauchen würde, um seine absonderlichen Erfindungen, ich sollte sogar schreiben: seine Verrücktheiten ohne wei teres hinzunehmen. »Ich werde ihn schrecklich gern haben müssen«, habe ich mir schon an diesem ersten Tag gesagt, »sonst werden wir uns sehr bald nicht mehr ertragen können.« Wir sind einander auf eine zugleich seltsame und ba nale Weise dank einer in einer Tageszeitung gelesenen kleinen Anzeige begegnet. Wir suchten beide Arbeit: eine kleine Nebenbeschäftigung, die es uns ermögli chen würde, uns ohne allzu große Mühe, wenn auch nicht das unbedingt Notwendige, so doch wenigstens das Überflüssige zu leisten. Auch er gab sich als Stu dent aus. Eine Kleinanzeige also, geschrieben im Telegrammstil mit mehr oder weniger eindeutigen Abkürzungen,
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suchte einen Jg. M. oder eine jg. F. für zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die vermutlich abends zu hüten, aus der Schule abzuholen, mit in den Zoo zu nehmen oder bei ähnlichen Gelegenheiten zu betreuen waren. Wir haben uns beide an dem Treffpunkt einge funden. Aber außer uns ist niemand gekommen. Der Inserent hatte wohl inzwischen sein Vorhaben aufgegeben oder sich das Benötigte auf anderem Wege beschafft. Sicher ist, daß, als wir, Simon und ich, ein ander gegenüberstanden, jeder von uns zuerst glaubte, der andere sei sein möglicher Arbeitgeber. Als wir entdeckten, daß dies nicht zutraf und daß der Inserent uns eigentlich versetzt hatte (daß er uns genas führt hatte, wie man zu sagen pflegt), war ich meiner seits sehr enttäuscht. Er dagegen machte sich, ohne auch nur eine Sekunde lang die Fassung zu verlieren, ein Vergnügen daraus, freiwillig in seinem Irrtum zu verharren, indem er sogar begann, mit mir zu spre chen, als ob ich fortan sein Chef sein würde. »Würde es Sie nicht stören«, habe ich ihn dann gefragt, »unter dem Kommando eines Mädchens zu arbeiten?« Er hat mir geantwortet, daß es ihm, im Gegenteil, sehr gefalle. Er hatte gesagt »gefällt« und nicht »gefallen würde«, was bedeutete, daß er das Spiel fortsetzte. Ich habe also meinerseits so getan, als wäre ich tatsächlich das, was er sagte, da es mir amüsant vorkam und vor allem, weil ich ihn drollig und charmant fand. Ich habe sogar hinzugefügt, daß die Kinder, die er hinfort für mich beaufsichtigen würde, nicht gerade die Bravsten seien: sie gehörten einer terroristischen
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Organisation an, welche die Atomkraftwerke in die Luft sprenge ... Es war eine idiotische Idee, die mir, ich weiß nicht warum, so plötzlich durch den Kopf gegangen war. Dann sind wir in ein Restaurant an dem nahen Boule vard gegangen, wo er mir einen Café-crème und einen Croque-monsieur angeboten hat. Ich wollte eine Pizza nehmen, aber er hat sich sofort darauf verlegt, neue Fabeln über dieses Lokal zu erzählen, in dem man angeblich den feindlichen Spionen, die man loswerden wollte, vergiftete Speisen serviert hätte. Da der Kellner wenig sagte, griesgrämig war und finster dreinschaute, hat Simon behauptet, es handele sich um einen sowjetischen Agenten, für den die bei den Gören eben arbeiteten. Wir waren beide sehr vergnügt. Wie Verschwörer oder Verliebte flüsterten wir, damit der Kellner uns nicht hörte. Wir machten uns über alles lustig. Alles schien sich in einer merkwürdigen, äußerst günstigen, sozu sagen übernatürlichen Atmosphäre abzuspielen. Der Café-crème schmeckte scheußlich. Aber mein Be gleiter hat mir sehr ernsthaft erklärt, daß ich, wenn ich weiterhin allzu schwarzen Kaffee tränke, erblinden würde, wegen der hellgrünen Farbe meiner Augen. Er hat das natürlich ausgenützt, um mir ein paar übliche Komplimente über meinen »geheimnisvollen Blick« und sogar über den »außeridischen Glanz« meiner Pu pillen zu machen! Ich mußte zur Gare du Nord, um dort meine Freundin Caroline abzuholen, die mit dem Zug aus Amsterdam eintreffen sollte. Es war nicht sehr weit von dem Ort,
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an dem wir uns befanden. Simon, der mich natürlich begleiten wollte, schlug vor, daß wir zu Fuß hingin gen. Ich sollte übrigens besser schreiben: »Simon hat beschlossen, daß wir zu Fuß hingehen«, denn seine unerschöpfliche Phantasie verband sich paradoxer weise mit ziemlich starken autoritären Anwandlun gen. Wir sind fröhlich losgezogen. Simon klügelte allerlei mehr oder weniger phantastische Geschichten aus, die sich auf die Örtlichkeiten, die wir durchstreiften, und auf die Leute, die an uns vorübergingen, bezogen. Aber er hat uns einen sonderbaren, verzwickten Weg wählen lassen, den er nicht ganz genau kannte: Sträß chen, die immer einsamer wurden, sollten, wie es hieß, eine Abkürzung sein. Schließlich haben wir uns ausweglos verirrt. Ich fürch tete, zu spät zu kommen, und Simon fand ich gar nicht mehr so lustig. Ich war heilfroh, wenigstens in ein Taxi auf Kundensuche springen zu können, dessen unver hofftes Erscheinen in dieser verlassenen Gegend mir als eine wunderbare Fügung vorkam. Ehe ich meinen erbärmlichen Cicerone allein ließ, der es — aus seltsamen Gründen — ablehnte, mit mir in den Wagen zu steigen, habe ich mit ihm doch noch ein Treffen für den nächsten Tag verabredet, und zwar unter einem unsinnigen (absichtlich unsinnigen) Vor wand: die Besichtigung dieses trostlosen Viertels ohne die geringsten touristischen Reize genau an der Stelle fortzusetzen, wo wir uns trennten, das heißt mitten auf einem langen, schnurgeraden Sträßchen zwischen alten Bretterwänden und halb zusammengebrochenen
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Mauern mit einem verfallenen Häuschen als Orientie rungshilfe. Da ich fürchtete, diese Stille nicht allein wiederfinden zu können, haben wir beschlossen, uns zu diesem Streifzug in der Gaststätte zu treffen, wo wir heute schon eingekehrt waren. Das Bier dort wäre vielleicht weniger schlecht als der schwarze Kaffee. Aber der Taxifahrer wurde ungeduldig; er behauptete, sein Fahrzeug behindere den Verkehr, was ganz töricht war, denn es gab da überhaupt keinen Verkehr. Indes rückte der Zeitpunkt der Ankunft des Zuges näher, und wir, Simon und ich, haben uns sehr schnell verab schiedet. Im letzten Moment hat er mir noch eine Tele fonnummer, unter der man ihn erreichen könne, zuge rufen: und zwar sieben-sechs-fünf-vier-drei-zwei-eins. Als ich im Taxi saß, das alt und in einem noch schlech teren Zustand war als die Taxis in New York, dachte ich, daß es die gleiche hellgelbe Farbe hatte, an die wir bei uns zuhause gewöhnt sind, die in Frankreich aber außergewöhnlich ist. Simon hatte sich jedoch nicht darüber gewundert. Und dann, nach weiterem Nachdenken, habe ich mich gefragt, wieso sich dieser Wagen ausgerechnet hier auf unserem Wege befand: die Taxis sind im allgemeinen nicht in solch verlassenen, sozusagen unbewohnten Gegenden auf Kundensuche. Das wäre kaum ver ständlich ... Meine Unruhe hat noch zugenommen, als ich fest stellte, daß der Taxifahrer seinen Rückspiegel über der Windschutzscheibe so eingestellt hatte, daß er mich bequem beobachten konnte, anstatt die Straße hinter
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uns im Auge zu behalten. Als ich seinem Blick in dem kleinen, rechteckigen Spiegel begegnete, hat er nicht einmal weggeschaut. Sein Gesicht hatte ausgeprägte, unregelmäßige, asymmetrische Züge. Und ich fand, daß er düster dreinschaute. Unangenehm berührt wegen dieser finsteren, tief in ihren Augenhöhlen liegende Pupillen, die mich weiter hin über den Spiegel fixierten (kannte er sich denn so gut in diesem Labyrinth von Sträßchen aus, daß er hier in dem Tempo, beinahe ohne auf seinen Weg zu ach ten, fahren konnte?), habe ich gefragt, ob die Gare du Nord noch weit sei, worauf sich der Mund des Mannes schrecklich verkrampfte, was vielleicht ein mißlunge nes Lächeln war, und er ganz langsam sagte: »Nur keine Bange, wir werden bald da sein.« Dieser an sich unbedeutende, in unheimlichem Ton gesprochene Satz (ein ängstliches Gemüt hätte ihn sogar bedrohlich gefunden) hat meine Unruhe nur noch gesteigert. Dann wieder habe ich mir mein über triebenes Mißtrauen vorgeworfen und mir gesagt, Si mons unbändige Phantasie müsse wohl ansteckend sein. Ich hatte in dem Moment, als wir, Simon und ich, uns getrennt hatten, geglaubt, ganz in der Nähe des Bahn hofs zu sein. Das Taxi ist jedoch sehr lange durch Stadtviertel gefahren, wo ich nichts wiedererkannte und deren Aussehen eher an entlegene Vororte erin nerte. Dann, plötzlich, an einer Straßenbiegung, befanden wir uns vor der wohlbekannten Fassade der Gare du Nord. Am Rande des Bürgersteigs, da, wo die Taxifah
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rer nach einer schnellen Kehre ihre Fahrgäste ausstei gen lassen, stand Simon, der auf mich wartete. Er hat zuvorkommend meinen Wagenschlag geöffnet und vermutlich selbst den Fahrpreis bezahlt, denn nachdem ich gesehen hatte, wie er sich einen Moment zum heruntergelassenen Wagenfenster des Fahrers neigte, ist dieser ohne weiteres mit hohem Tempo davongefahren. Und doch war dieser Austausch (un hörbarer) Worte äußerst kurz gewesen, und ich erin nere mich nicht daran, zwischen den beiden Männern die geringste Geste wahrgenommen zu haben, die sich auf irgendeinen Zahlungsvorgang beziehen konnte. Ich war übrigens völlig verdutzt wegen des unvermu teten Wiedersehens mit Simon. Er lächelte freundlich, mit glücklicher Miene, wie ein Kind, das einen gelun genen Streich gespielt hat. Ich habe ihn gefragt, wie er hierhergekommen sei. »Ich habe eben eine Abkürzung benützt«, erwiderte er. »Sind Sie zu Fuß gekommen?« »Freilich. Und ich warte schon seit zehn Minuten auf Sie.« »Das ist doch unmöglich!« »Es ist vielleicht unmöglich, aber doch wahr. Sie haben enorm viel Zeit gebraucht, um diese sehr kurze Strecke zurückzulegen. Jetzt haben Sie Ihren Zug verpaßt und Ihre Freundin verfehlt.« Es stimmte leider. Ich hatte fast zehn Minuten Verspä tung, und ich würde große Mühe haben, Caroline in der Menschenmenge ausfindig zu machen. Ich sollte sie beim Aussteigen aus dem Zug am Anfang des Bahnsteigs erwarten.
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»Soll ich Ihnen sagen, was ich vermute?« fügte Simon noch hinzu: »Dieser Fahrer hat Sie absichtlich herum kutschiert, um die Fahrt zu verlängern. Da Sie auf sich warten ließen, habe ich sogar einen Moment geglaubt, Sie würden nie hier ankommen: die gelben Taxis die nen nämlich immer zu Entführungen. Das ist bei uns Tradition. Sie müssen sich von nun an mehr in acht nehmen: auf diese Weise verschwindet in Paris jeden Tag ein Dut zend hübscher Mädchen. Diese Unglückseligen ver bringen den Rest ihres kurzen Daseins in den luxuriö sen Freudenhäusern Beiruts, Macaos und Buenos Aires. Erst im vergangenen Monat hat man noch entdeckt, daß ...« Ganz unvermittelt, als fiele ihm plötzlich etwas Drin gendes ein, hielt Simon mitten in seinen Erfindungen und Schwindeleien inne, um überstürzt zu erklären: »Entschuldigen Sie bitte, ich muß jetzt gehen. Ich habe mich schon zu lange aufgehalten ... Bis morgen also, wie vereinbart.« Er hatte, um mich an unsere Verabredung am nächsten Tag zu erinnern, einen tiefen, geheimnisvollen Ton angenommen wie einer, der die indiskreten Ohren möglicher Spione gefürchtet hätte. Ich antwortete »Bis morgen!«, und ich sah ihn davonlaufen. Er ver schwand sofort in der Menge. Ich wandte mich daraufhin wieder dem Bahnhofsein gang zu und erblickte Caroline, die dort gerade er schien und mit ihrem breitesten Lächeln auf mich zukam. Zu meiner großen Verwunderung hielt sie ein kleines, blondes, sehr hübsches Mädchen an der
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Hand, das vielleicht sieben oder acht Jahre alt war. Caroline, die in ihrer rechten Hand einen Koffer schleppte, ließ das kleine Mädchen los, um mir mit dem linken Arm fröhlich zuzuwinken. Und sie rief mir, ohne auf die Passanten zu achten, die zwischen ihr und mir in allen Richtungen hin und her hasteten, zu: »Ist das deine Art, mich auf dem Bahnsteig zu erwar ten? Du redest da mit jungen Männern herum, ohne dich um die Ankunft meines Zuges zu scheren!« Sie ist bis zu mir gelaufen und hat mich mit ihrer gewohnten Überschwenglichkeit umarmt. Das kleine Mädchen schaute woandershin, mit der taktvollen Miene einer jungen, wohlerzogenen Person, die einem noch nicht vorgestellt worden ist. Ich sagte: »Ja, ich weiß, ich bin ein wenig verspätet. Verzeih mir. Ich werde es dir erklären ...« »Da gibt es nichts zu erklären: ich habe genau gesehen, daß du mit einem schönen jungen Mann zusammen warst! Übrigens, dies ist Marie. Sie ist die Tochter von meinem Bruder Joseph und von Jeanne. Sie wurde mir in Amsterdam anvertraut, damit ich sie wieder zu ihren Eltern bringe.« Das Kind hat dann mir gegenüber ganz artig und ernst einen feierlichen, komplizierten Knicks gemacht, wie man ihn den jungen Damen vor fünfzig oder hundert Jahren beibrachte. Ich sagte: »Guten Tag, Marie!«, und Caroline hat ihre Erklärungen redselig fortgesetzt. »Sie verbrachte ihre Ferien bei einer Tante, weißt du: der Schwester von Jeanne, die mit einem russischen Marineoffizier verheiratet ist. Ich habe dir die Ge schichte schon erzählt: mit einem namens Boris, der
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während einer Zwischenlandung seines Schiffs in Den Haag um politisches Asyl gebeten hat.« In vernünftigem Ton, wie eine erwachsene Person und erstaunlich sprachgewandt für ein Kind dieses Alters, hat die kleine Marie ihren eigenen Kommentar beige tragen: »Onkel Boris ist nicht wirklich ein politischer Flücht ling. Er ist ein sowjetischer Agent, der sich als Dissi dent ausgibt und unter den Arbeitern der Atomindu strie Protestbewegungen schüren und Verwirrung stif ten soll.« »Hast du das ganz allein entdeckt?« fragte ich sie amü siert. »Ja, ich selbst«, antwortete sie, ohne unsicher zu wer den. »Ich habe genau gesehen, daß er auf dem linken Handgelenk eine blautätowierte Agentennummer hatte. Er versucht, sie unter einem Lederband zu ver bergen, das er angeblich trägt, um sein Gelenk zu stärken. Aber das stimmt nicht, da er keinerlei Schwer arbeit leistet.« »Hör nicht auf Marie«, sagte Caroline zu mir, »sie erfindet immerzu unsinnige Geschichten über Scien ce-fiction, Spionage oder Spiritismus. Die Kinder le sen zu viel phantastische Literatur.« In diesem Augenblick habe ich einen Mann bemerkt, der uns, wenige Meter von uns entfernt, beobachtete. Er stand ein wenig abseits in einem Mauerwinkel und heftete auf unsere kleine Gruppe einen anomal interes sierten Blick. Ich glaubte zuerst, es wäre Marie, die auf recht verdächtige Weise seine Aufmerksamkeit anzog. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, vielleicht etwas
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älter, und trug einen grauen, zweireihigen Anzug klas sischen Schnitts (Jacke und dazu passende Hose und Weste), der jedoch alt, abgenutzt und durch den Ge brauch aus der Form gekommen war, sowie ein Hemd und eine Krawatte, die derart schmuddelig aussahen, als hätte er so angezogen während einer sehr langen Eisenbahnfahrt geschlafen. Er hatte einen kleinen, schwarzen Lederkoffer in der Hand, der mich an eine Chirurgentasche erinnerte, ich weiß nicht recht, warum. Die dunklen, durchdringenden, tief in ihren Höhlen liegenden Augen, das Gesicht mit den asymmetri schen, groben, unangenehm ausgeprägten Zügen, der durch eine Art Grinsen verzerrte große Mund, dies alles erinnerte mich stark an etwas ... das doch noch gar nicht lange her war, aber das ich nicht angeben konnte. Dann, auf einmal, fiel es mir wieder ein: es war der Fahrer des gelben Taxis, der mich zum Bahnhof ge bracht hatte. Ich habe dabei einen so lebhaften Ein druck eines beinahe körperlichen Unbehagens gehabt, daß ich errötete. Ich habe meinen Blick von diesem unerfreulichen Zeitgenossen abgewandt. Aber wenige Sekunden später habe ich ihn von neuem betrachtet. Er hatte sich weder gerührt noch seine Blickrichtung geändert. Es war jedoch eigentlich eher Caroline, die er zu überwachen schien. Vergaß ich, darauf hinzuwei sen, daß Caroline sehr hübsch ist? Groß, gut gewach sen, schlank, ganz blond, mit kurzem Haar und einem sanften, etwas zwitterhaften Gesicht, das stark an die Schauspielerin Jane Frank erinnert, ist sie stets das Ziel
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mehr oder weniger aufdringlicher Komplimente von Männern jeden Alters. Ich muß noch etwas anderes gestehen: die Leute be haupten, daß wir uns auf verwirrende Weise gleichen. Man hält uns gewöhnlich für Geschwister, oft sogar für Zwillingsschwestern. Und es ist mehrmals gesche hen, daß Carolines Freunde sich, in dem Glauben, zu ihr zu sprechen, an mich wandten, was eines Tages der Anlaß eines seltsamen Abenteuers war ... Aber Caroline hat meinen Gedankengang unterbro chen: »Was ist denn mit dir los?« hat sie gefragt, wobei sie mich besorgt musterte. »Was machst du für ein Ge sicht? Man möchte meinen, daß du gerade etwas Schreckliches gesehen hast.« Marie, die den Grund meiner Erregung erraten hatte, hat ruhig und ganz laut erklärt: »Der Typ, der uns, seitdem wir den Zug verlassen haben, folgt, ist immer noch da mit seinem Köfferchen voller Messer. Er ist ein Lustmolch, das ist doch klar, das hatte ich sofort gesehen.« »Rede nicht so laut«, flüsterte Caroline, indem sie sich, unter dem Vorwand, die zerknautschten Falten des Röckchens zu glätten, zu der Kleinen hinabbeugte, »er wird uns hören.« »Selbstverständlich hört er uns«, antwortete Marie, ohne leiser zu sprechen. »Dafür ist er doch da.« Unvermittelt streckte sie ihre Zunge in Richtung des Unbekannten heraus, wobei sie ihn engelgleich anlä chelte. Caroline lachte in ihrer gewohnten unbeküm merten Weise, während sie gleichzeitig Marie zum
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Schein, ohne den geringsten Nachdruck, rügte. Dann sagte sie zu mir: »Im Grunde hat die Kleine vielleicht recht. Ich glaube übrigens, daß dieser Typ denselben Zug benützt hat wie wir. Mir ist, als hätte ich ihn im Gang des Waggons herumstreunen sehen, nachdem er mir schon bei der Abfahrt auf dem Bahnsteig in Amsterdam aufgefallen war.« Indem ich von neuem zu dem beunruhigenden Indivi duum mit dem schwarzen Köfferchen hinüberschaute, wurde ich zum Zeugen einer Szene, die mein Erstau nen nur noch steigerte. Der Mann stand da nicht mehr uns zugewandt; er betrachtete nun einen Blinden, der, den Boden mit dem eisenbeschlagenen Ende seines Stocks abtastend, auf ihn zukam. Es war ein großer, blonder junger Mann von zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren in einer eleganten Jacke aus sehr feinem, cremefarbenen Leder über einem leuchtend blauen Pullover. Eine dicke, schwarze Brille verbarg seine Augen. In seiner Rechten hielt er seinen weißen Stock mit dem krummen Griff. Ein etwa zwölfjähriger Bub führte ihn an der linken Hand. Ein paar Sekunden lang habe ich mir wider alle Wahr scheinlichkeit eingebildet, daß es sich um Simon Lecœur handelte, der als Blinder verkleidet wiederge kommen wäre. Freilich habe ich, als ich ihn besser beobachtete, sofort meinen Irrtum erkannt: die weni gen Gemeinsamkeiten, die man im allgemeinen Auf treten, dem Anzug oder der Frisur beider jungen Bur schen hätte entdecken können, waren eigentlich uner heblich.
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Als der junge Mann mit dem weißen Stock und sein Begleiter bei dem Kerl mit der abgetragenen Kleidung und der Arzttasche angekommen waren, haben sie haltgemacht. Aber keiner von ihnen hat auch nur das geringste zu erkennen gegeben. Es kam weder zu Be grüßungen noch zu jenen beim Empfang üblichen Worten oder Gesten, die man unter ähnlichen Umstän den hätte erwarten können. Sie sind dort, ohne etwas zu sagen, einander gegenüber, nunmehr regungslos stehengeblieben. Dann haben sie sich ganz langsam und präzise mit ein und derselben regelmäßigen Bewegung, so als würden ihre drei Köpfe von ein und derselben Maschine be wegt, uns zugewandt. Und sie haben so verharrt, von neuem wie versteinert, ohne sich mehr zu bewegen als drei Statuen: der junge Mann mit dem hellen, halb durch die Brille maskierten Gesicht, flankiert von dem Bürschchen zu seiner Linken und dem kleinen Mann mit dem unförmig gewordenen grauen Anzug zu sei ner Rechten. Sie hatten alle drei ihre Blicke auf mich gerichtet, auch der Blinde, das hätte ich geschworen, hinter seinen enormen schwarzen Brillengläsern. Das magere Ge sicht des Buben war von anomaler, geisterhafter Blässe. Die garstigen Gesichtszüge des kleinen Mannes waren in einem schrecklichen Grinsen erstarrt. Die ganze Gruppe kam mir auf einmal so grauenerregend vor, daß ich am liebsten geschrien hätte, wie um einen Alptraum abzukürzen. Aber genauso wie bei Alpträumen kam nicht der leise ste Ton aus meinem Mund. Warum sagte Caroline
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nichts? Und warum brach Marie, die zwischen uns beiden stand, nicht den Bann mit der Unbefangenheit eines Kindes ohne Furcht und Respekt? Warum rührte sie sich nicht mehr von der Stelle, sie, die ebenfalls, unter der Wirkung welcher Verzauberung, verstummt war? Die Angst stieg in mir so gefährlich an, so unerbittlich, daß ich befürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Um das unerträgliche Mißbehagen, das meiner Natur so wenig entsprach, zu bekämpfen, habe ich versucht, an etwas anderes zu denken. Aber als etwas, woran ich mich hätte klammern können, fand ich nichts außer einer der törichten Reden, die Simon mir eine oder zwei Stunden früher gehalten hatte: Ich sei keine echte Frau, behauptete er, sondern nur eine höchst vervollkommnete elektronische Maschine, die von einem gewissen Doktor Morgan konstruiert worden sei. Dieser führe nun verschiedene Experi mente an mir durch, um meine Leistungen zu erpro ben. Er unterwerfe mich einer Reihe von Prüfungen, wobei er meine Reaktionen durch Agenten in seinem Dienste überwachen lasse, die überall an meinem Wege eingesetzt seien, und von denen einige ebenfalls nur Roboter seien ... Waren die Gesten dieses Pseudoblinden, der wie zufäl lig eben in meinem Blickfeld erschienen war, mir nicht geradezu mechanisch und ruckartig vorgekommen? Diese sonderbare Brille, deren Größe mir immer mon ströser vorkam, verbarg wahrscheinlich nicht echte Augen, sondern ein hochentwickeltes Aufzeichnungs system, vielleicht sogar Sender von Strahlen, die ohne
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mein Wissen auf meinen Körper und mein Bewußtsein einwirkten. Und der Taxifahrer-Chirurg war kein an derer als Morgan selbst. Die Fläche zwischen diesen Leuten und mir hatte sich durch ich weiß nicht welchen Zufall oder welches Wun der geleert. Die Reisenden, die hier einen Augenblick früher noch in großer Zahl hin und her gingen, waren nun verschwunden ... Mit unbegreiflicher Mühe ist es mir gelungen, meinen Kopf von diesen drei Blicken, die mich hypnotisierten, abzuwenden. Und ich habe Hilfe bei Marie und Caroline gesucht... Auch sie starrten mich mit den gleichen, eisigen, un menschlichen Augen an. Sie standen nicht in meinem Lager, sondern in dem anderen, dem gegnerischen ... Ich fühlte, daß meine Knie weich wurden und mein Verstand umkippte und in schwindelerregendem Fall ins Leere stürzte ... Als ich heute morgen erwachte, hatte ich einen leeren, schweren Kopf und einen ganz trockenen Mund, als hätte ich mich tags zuvor alkoholischen Exzessen hin gegeben oder als hätte ich irgendein starkes Schlafmit tel eingenommen. Das war jedoch nicht der Fall... Was hatte ich eigentlich am Abend vorher getan? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern ... Ich mußte Caroline am Bahnhof abholen, aber irgend etwas hatte mich daran gehindert... Ich wußte nicht mehr, was. Ein Bild ist mir jedoch wieder in den Sinn gekommen, aber ich konnte es mit nichts in Verbindung bringen. Es war ein großes Zimmer, das mit nicht zusammen passenden Dingen in sehr schlechtem Zustand, wie
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jenen durchgesessenen Stühlen und nackten Eisenbett gestellen, die man auf den Dachböden alter Häuser aufbewahrte, möbliert war. Dort standen vor allem eine große Anzahl von alten Reisekoffern verschiedener Größen und Formen. Ich habe einen davon geöffnet. Er war voller unmoderner weiblicher Kleidungsstücke, Mieder, Unterröcke und hübscher, verblichener Kleider von früher. Ich hatte Mühe, ihre komplizierten Verzierungen und Sticke reien zu erkennen, denn das Zimmer wurde nur durch zwei Kandelaber beleuchtet, auf denen Reste von Ker zen mit gelber, flackernder Flamme brannten ... Dann habe ich an die Kleinanzeige gedacht, deren Wortlaut Caroline mir vorgelesen hatte, als sie mich anrief, um mir die Ankunft des Zuges mitzuteilen. Da ich mir durch eine Nebenbeschäftigung zu meinem Stipendium noch etwas Geld hinzuzuverdienen suchte, hatte ich mich zu der Adresse begeben, die in dem sonderbaren Stellenangebot stand, das meine Freundin beim Lesen einer ökologischen Wochen schrift gefunden hatte. Ich hatte heute allerdings so lange geschlafen, daß der Moment, mich fertigzuma chen, schon gekommen war, wenn ich noch zur fest gesetzten Zeit da sein wollte. Ich bin pünktlich um sechs Uhr dreißig dagewesen. Es war schon beinahe dunkel. Der Lagerschuppen war nicht verschlossen. Ich ging hinein, indem ich die Tür, die kein Schloß mehr hatte, aufstieß. Drinnen war es ganz still. Im schwachen Tageslicht, das von den Fenstern mit schmutzigen Scheiben her kam, hatte ich Mühe, die Dinge um mich herum zu
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unterscheiden, die in großer Unordnung neben- und übereinander standen und wahrscheinlich außer Ge brauch waren. Als meine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, habe ich endlich den Mann mir gegenüber bemerkt. Er stand regungslos da, hatte beide Hände in den Taschen seines Regenmantels und schaute mich wortlos an, ohne mich auch nur andeutungsweise zu grüßen. Fest entschlossen bin ich auf ihn zugegangen ...
Epilog
Hier endet Simon Lecœurs Erzählung.
Ich sage ganz bewußt ›Simon Lecœurs Erzählung‹,
denn niemand — weder bei uns noch seitens der Polizei
— ist der Meinung, das weiblich abgefaßte 8. Kapitel sei wirklich von einem anderen geschrieben worden: es fügt sich allzu auffällig dem Ganzen ein, sowohl in grammatikalischer Hinsicht als auch gemäß der Logik der erzählerischen Verläufe und Wendungen. Simon ist — in diesem Punkt stimmen alle Aussagen überein - am Donnerstag, dem 8. Mai, wie gewöhnlich zur Schule in der Rue de Passy gekommen, um dort am frühen Nachmittag seinen Unterricht abzuhalten. »Er sah besorgt aus«, haben mehrere seiner Schüler wäh rend der Untersuchung beteuert. Aber die meisten fügen hinzu, daß er immer besorgt aussah. Er stellte nämlich eine verwirrende Mischung aus bei nahe krankhafter Nervosität, schlecht unterdrückter Angst und einer leichten, lockeren, lächelnden Fröh lichkeit dar, die viel von dem unbestreitbaren Charme ausmachte, den jeder ihm mit Vergnügen zuerkannte. Bei der flüchtigsten Korridorunterhaltung mit einem Kollegen, einer Studentin oder sogar einem Vorge setzten legte er oft eine redselige Freundlichkeit vcller unvermuteter, unbekümmerter Erfindungen, eine Spontaneität und einen harmlosen Humor an den Tag, die bewirkten, daß alle ihn gern hatten, so wie man ein Kind gern hat... Dann plötzlich verschwand das unschuldige Lächeln von seinen Lippen, die in wenigen Sekunden ihre hüb
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sehe, sinnliche Form verloren und hart und dünn wur den; seine Augen schienen in ihren Höhlen zu versin ken, und die Pupillen verdunkelten sich ... Und dann kehrte er sich ruckartig um, als glaubte er auf diese Weise einem Feinde die Stirn bieten zu können, der sich heimlich hinter seinem Rücken genähert hätte ... Aber da war niemand, und Simon nahm allmählich seine frühere Haltung gegenüber seinem ratlosen Ge sprächspartner wieder ein. Der selber ratlose junge Mann schien dann Tausende von Kilometern oder Lichtjahre weit entrückt zu sein. Er verabschiedete sich mit ein paar vagen, zusammenhanglosen, kaum hörbaren Worten. Am Freitag, dem 9. Mai, ist er nicht zur Schule gekom men. Man hat sich nichts dabei gedacht: sein Unter richt am Freitag, der an das Ende des Tages gelegt worden war, war der letzte Unterricht der Woche, und viele Schüler neigten — vor allem im Frühling — dazu, ihn für nicht obligatorisch zu halten; es kam bisweilen vor, daß junge Professoren sich genauso verhielten. Aber am Montag, dem 12. Mai, hat man ihn auch nicht wiedergesehen, und am Dienstag gleichfalls nicht. Sein Zimmer war ohne Telefonanschluß. Am Mittwoch hat ein stellvertretender Direktor die Studenten gefragt, ob jemand von ihnen in der Rue d'Amsterdam vorbei gehen könnte, um sich nach der Gesundheit von ›Jan‹ zu erkundigen, der schwerkrank hätte sein können und außerstande, rechtzeitig Bescheid zu geben. Die frei willige Botin fand die Tür verschlossen. Niemand hat auf ihr wiederholtes Klingeln oder auf ihre Rufe geant wortet. Keinerlei Geräusch kam aus der Wohnung.
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Am Donnerstag, dem 15. Mai, war Himmelfahrtstag. Am Freitag, dem 16., hat die Schulbehörde morgens die Polizei alarmiert. Simon Lecœurs Tür ist in Anwe senheit eines Polizeikommissars an jenem Freitag um die Mittagszeit aufgebrochen worden. Im Zimmer, ebenso in der Toilette, haben die Inspek toren alles in Ordnung gefunden, genau so wie unsere Agenten (die selbstverständlich einen Nachschlüssel besaßen) schon zwei Tage zuvor. Es gab da keinerlei Spur einer Auseinandersetzung, eines aufdringlichen Besuchs oder eines überstürzten Aufbruchs. Die neun undneunzig getippten Seiten (die von unseren Leuten nach dem Kopieren wieder an ihren Platz gelegt wor den waren) sind also schon bald zum einzigen Doku ment geworden, das als Indiz angesehen werden kann. Das Interesse der Untersuchungsbeamten an diesem Text hat, wie man sich denken kann, noch zugenom men, als am Sonntag, dem 18. Mai, gegen 19 Uhr in einer stillgelegten Werkstätte nahe bei der Gare du Nord der leblose Körper einer Unbekannten im Alter von ungefähr 20 Jahren entdeckt wurde. Ihr Tod war kaum länger als eine Stunde her, vielleicht weniger. Das junge Opfer hatte keinerlei Papiere bei sich, die seine Identifizierung erlaubt hätten. Aber seine körper liche Erscheinung, seine Kleidung, seine genaue Lage auf dem Boden (so wie übrigens die Stelle selbst) waren ganz genau so, wie sie im 6. Kapitel von Simon Le cœurs Erzählung beschrieben sind. Die Blutlache war, wie er angegeben hatte, künstlich. Der Gerichtsmedi ziner hat sofort festgestellt, daß der Körper keinerlei Verletzung und auch keine andere äußere Beschädi
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gung aufwies, so daß die Todesursache rätselhaft bleibt. Es schien nichtsdestoweniger beinahe unbe streitbar zu sein, daß man es mit einem Mord zu tun hatte und nicht mit einem natürlichen Todesfall. Alle Nachforschungen, die bezüglich der Identität der jungen Frau angestellt wurden, sind bis jetzt vergeb lich geblieben: im ganzen Land ist niemand, auf den die obige Personenbeschreibung zutrifft, als vermißt ge meldet worden. Wegen der Nähe des Bahnhofs werden die Nachforschungen nunmehr in Richtung Antwer pen oder Amsterdam fortgesetzt. Ein anderer Punkt noch kommt der Polizei bedenklich vor: die mehr als merkwürdige Ähnlichkeit (allge meine Erscheinung, Körpermaße, Gesichtszüge,. Farbe der Augen und des Haars usw.), die zwischen der Toten und Simon Lecœur selbst besteht. Die An gelegenheit ist derart verwirrend, daß man sogar einen Moment daran gedacht hat, es handelte sich um ein und dieselbe Person: der charmante Professor der Französisch-Amerikanischen Schule wäre eine verklei dete Frau gewesen. Diese reizvolle Hypothese ist je doch verworfen worden, denn der Schularzt hatte den angeblichen Simon etwa zwei Wochen vorher gründ lich untersucht und bürgte für dessen Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht. Dieser Praktiker — Doktor Morgan — behandelte Simon wegen Sehstörungen, akuten Störungen, wie es scheint, wenngleich nervöser Natur. Der nun Ver mißte hatte nämlich immer behauptet, unter plötzli cher Sehschwäche zu leiden (Minderung der Leucht kraft der Netzhautbilder), die immer häufiger auftrete
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und bis zu völligem Blindsein führen könne, welches manchmal lange Minuten andauere. Morgan, der von der Psychoanalyse besessen war, hatte sofort an einen banalen Ödipuskomplex gedacht. Der Kranke hatte sich damit begnügt, ihm lachend zu antworten, er habe nichts in Colonia zu tun. Dieser Kalauer in Verbindung mit dem Thema der lückenhaf ten Pflasterung, stürzte den Doktor weiterhin in große Ratlosigkeit und in neue Vermutungen. Es ist natür lich nicht ausgeschlossen, daß dieser zeitweilige Blinde ein ganz gewöhnlicher Simulant gewesen ist, aber man erkennt nur schwer die Beweggründe hierfür, da er seinen Arbeitgeber weder um irgendeinen Krankheits urlaub, noch um die geringste Stundenplanänderung bat. Von allen Personen, die in seiner Erzählung auftau chen, existiert jedenfalls wenigstens eine ohne jeden Zweifel: die kleine Marie. Von der stillgelegten Werk stätte aus haben die Untersuchungsbeamten ohne Mühe die Gaststätte wiedergefunden, in der man keine Pizza serviert. Ein Polizist hat dieses Lokal mehrere Tage lang überwacht. Die kleine Marie, immer noch in einem Kleid wie von 1880, hat es am 21. Mai abends betreten (sie kam, wie man später erfuhr, um eine alte Schuld zu begleichen). Als sie das Lokal verließ, ist der Polizist ihr unauffällig gefolgt. Er ist bis zur Vercingé torix-Sackgasse hinter ihr hergegangen. Ungefähr in der Mitte des langen Sträßchens haben Leute von uns eingegriffen. Nachdem sie den allzu wißbegierigen Ordnungshüter sachte angehalten hatten, haben sie ihn wieder auf das Ausgangsfeld des Spiels gestellt.
Der Übersetzer dankt nicht nur dem Autor und Bir gitta Mogge für Hilfe und Ratschläge und den Germa nisten der Ecole Normale Supérieure, Paris, sowie den Teilnehmern am Seminar »Beobachtungen vor Wort« in der Gesamthochschule Essen für ihre kritische Auf merksamkeit bei der Erörterung von Übersetzungs schwierigkeiten, sondern auch dem Europäischen Übersetzerkollegium Straelen e. V. für die Möglichkeit der Benützung eines Textverarbeitungsgeräts, das die Aufzeichnung und Speicherung von Arbeitserfahrun gen erleichterte. E. T.