Gruselspannung pur!
Disconacht Horrornacht
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Wie ein gigantischer schwarzer M...
34 downloads
574 Views
983KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Gruselspannung pur!
Disconacht Horrornacht
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Wie ein gigantischer schwarzer Mantel lag die Nacht über Stralsund. Andi Tomp parkte seinen Trabi am Zaun des ehemaligen Fabrikgeländes. Er schaltete die Scheinwerfer auf Standlicht und stieg aus. Prüfend beäugte er das im Mondschein liegende Grundstück. Totenstille. Nichts rührte sich. Andi wußte, daß der Betrieb kurz nach der Wende Pleite gemacht hatte. Seitdem schien kein Fuß mehr das abgelegene Gelände betreten zu haben. Das Unkraut wucherte kniehoch, und das zweiflüglige Tor war hoffnungslos verrostet, nur provisorisch mit einer Eisenkette gesichert. Echt genial, dachte Andi. Wenn das nicht der ideale Ort für ein abgefahrenes Techno-Event ist, dann will ich nicht länger DJ Andi T. sein. Der 19jährige grinste zufrieden. Noch ahnte er nicht, daß er im Begriff stand, eine Tür aufzustoßen, die geradewegs ins Verderben führte… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! 2
Von der Diele spähte Regina Berg ins Zimmer ihrer Tochter. »Mein Gott, Conny!« entfuhr es ihr. »Bei dir sieht's ja aus, als hättest du einen Kugelblitz als Untermieter!« Die 17jährige reagierte nicht. Bäuchlings lag sie auf dem Schlafsofa und las. Aus den Boxen ihrer Stereoanlage hämmerte der hypnotische Sound von Techno-Trance. Im Zimmer war es stickig. Die Fenstervorhänge waren zugezogen. Es war zehn nach sechs, abends. Conny schmökerte im Schein der grünschirmigen Bankerlampe. Die Mutter sah sich um. Überall lagen Schnellhefter, CDs, Kleidungsstücke und aufgeschlagene Bücher herum. Aus der aufgezogenen Schreibtisch-Schublade quoll Papierkram, knautschig und mit Eselsohren. Die Wände ringsum waren mit Postern von Popstars tapeziert: Sasha, Robby Williams, Boyzone, Oli P und Madonna. Regina Berg schüttelte den Kopf. »Zu meiner Zeit hätte ich mir das nicht erlauben dürfen«, sinnierte sie. »Meine Mutter hätte kurzen Prozeß gemacht. Fenster auf und raus mit dem Zeug. Und wehe, ich hätte mich beschwert! Ich glaube, sie hätte mir obendrein noch eine runtergehauen. - Conny?« Wiederum keinerlei Reaktion. Mit zunehmender Dauer schien der harte Techno-Rhythmus ein Eigenleben zu bekommen. Aber das schien Conny nichts auszumachen. Ungerührt verfolgte sie das Geschehen in ihrem Buch. Der Fänger im Roggen von Salinger. Offenbar schwebte sie in einer anderen Dimension, fernab von den Banalitäten des Alltags. Die Mutter biß sich auf die Unterlippe. Für einen Augenblick huschte ein Schatten über ihre Gesichtszüge. Dann rasch verdrängte sie den aufsteigenden Groll. Vom Alter abgesehen, gleicht mir Conny aufs Haar, dachte sie amüsiert. Auch ich hatte damals den Kopf voller Verrücktheiten. Heiße Musik, Discos, coole Jungs und Spaß, je mehr, desto besser. Hm, alles schien sich im Leben zu wiederholen. Man nannte es nur zu jeder Zeit anders. Regina Berg beschloß, das Tohuwabohu in Connys Zimmer einfach zu ignorieren. In diesem Alter brauchten Jugendliche viel Verständnis. Die Erziehung war auch eine Frage des Fingerspitzengefühls. Ewig nörgelnde und besserwissende Eltern 3
waren megaout. Es würde reichen, wenn sie Conny beim Abendbrot ganz nebenbei auf die Unordnung in ihrem Zimmer ansprach… Aber die Musik, die war echt ätzend! Genervt rollte Regina Berg mit den Augen. »Conny!« rief sie. Nichts. Das Mädchen blätterte eine Seite um und las gedankenversunken weiter. Da beugte sich die Mutter vor und rüttelte an den Jeans des Bücherwurms. »Huaaaah!« Zu Tode erschrocken, fuhr das Mädchen hoch. Es war, als hätte jemand einen Eimer glitschiger Froschlurchen über sie ausgegossen. Der Roman, in dem Conny gelesen hatte, wurde zur Seite geschleudert und plumpste auf den Teppich Regina Berg prallte zurück. Aus geweiteten Augen sah sie zu, wie Conny aufsprang und hechelnd eine Hand auf ihr Herz legte. »Willst du mich um die Ecke bringen, Mutsch?« japste sie. Auch die Mutter holte tief Luft. Sie hatte sich mindestens ebenso erschrocken wie ihre Tochter. Aber im Handumdrehen fing sie sich wieder. Sie blinzelte spitzbübisch. »Um die Ecke bringen?« Regina Berg tat, als würde sie den Gedanken ernsthaft erwägen. »Keine schlechte Idee, Conny. Dann könnte ich alle Klopse, die ich uns zum Abendbrot gebraten habe, ganz allein aufmampfen.« Conny spielte die Szene mit. »Würde ich dir gar nicht leid tun, Mutsch?« fragte sie betont weinerlich. »Immerhin bin ich von deinem Fleisch und Blut.« Sie ging zur Anlage und drehte die Musik auf Zimmerlautstärke, während die Mutter das Buch aufhob und sorgfältig eine umgeknickte Seite glättete. Schließlich legte Regina Berg den Roman auf den Schreibtisch, wandte sich ihrer erwachsenen Tochter zu und strich ihr zärtlich eine goldblonde Strähne aus der Stirn. »Tut mir leid, Kleines. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.« Conny grinste. »Schon gut, Mutsch. Bin halt was schreckhaft. Woher hab ich das bloß? Von dir?« »Kann schon sein«, überlegte Regina Berg laut. »Als ich ein kleines Mädchen war, da nannten mich die Erwachsenen häufig Küken. Wir wohnten damals in Schabernack, einem kleinen Dorf in der Nähe des Rügischen Boddens. Tja, und eines Tages, da 4
hörte ich, wie mein Vater zu Mutter sagte, daß der Habicht nachts wieder eines der Küken geholt hätte. Kurz darauf gingen wir einmal am Wasser spazieren. Da tauchte ein großer Vogel auf, und mein Vater rief: Seht mal, den Raubvogel dort oben. Das ist ein Habicht!« Von der Erinnerung überwältigt, mußte die Frau schmunzeln. »Conny, frag nicht, wie ich gerannt bin. Ich hatte panische Angst, daß mich der Habicht auf der Stelle holen würde. Denn schließlich fühlte ich mich ja selber als Küken. Die Erwachsenen hatten es selbst gesagt.« Mutter und Tochter prusteten vor Lachen. Doch plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, verflog jede Heiterkeit aus Regina Bergs Gesicht. Sie wurde ganz blaß, als sie die Nase hob und schnupperte. »Verflixt!« keuchte sie. »Meine Klopse!« Wie ein Wirbelwind sauste sie aus dem Zimmer, und Conny hörte sie in der Küche poltern. Die 17jährige lachte, bis sie Seitenstiche bekam. Dann wollte sie nachschauen, was aus ihrem Abendessen geworden war. Als Conny hereinkam, packte sie ein Hustenanfall. Bläuliche Dunstschwaden waberten bis an die Küchendecke. Es roch penetrant nach verbranntem Fett. Aus dem dichten Nebel tönte die Stimme der Mutter: »Conny, was hältst du davon, wenn wir heute abend ganz spontan Makkaroni mit Tomatensoße essen würden?« »Sehr viel.« Conny nickte und riß das Fenster auf, damit der Qualm rauszog. »Ich bin dabei, Mutsch.« * Andi Tromp sah unverschämt gut aus. Mit Gel gestyltes, schwarzes Haar. Wasserblaue Augen, die Conny irgendwie an Hans Albers erinnerten. Eine kräftige, gerade Nase. Brauner Teint, Wahnsinnsbody und Klamotten, die der 17jährigen das Herz im Leibe hüpfen ließ. Als Connys Schwarm gegen acht an der Tür stand, hätte sie ihn am liebsten spontan geküßt. Aber sie entschied, das nicht zu tun. Sonst bildete sich der Typ noch was auf sich ein und wurde größenwahnsinnig. 5
»Was gibt es, Andi?« fragte sie kühl. Er grinste. »Lust auf eine Sause, Baby?« Conny schaute ihn groß an. »Doch nicht etwa in deinem klapprigen Trabi?« »Wieso nicht? Das Teil ist tipptopp.« »Ich mag keine Rennpappen. Da kann man sich ja beim Fahren mit den Knien die Ohren zuhalten. Wieso leistest du dir nicht mal ein richtiges Auto? Einen Opel, einen VW oder einen Ford?« »Trabis sind voll trendy«, erklärte Andi. »Echt kultig, die Dinger. Allein das Fahrgefühl ist super.« Conny verbiß sich ein Lächeln. Von Fahrgefühlen schien Andi Tromp wesentlich mehr zu wissen als von richtigen Gefühlen. Sie waren jetzt drei Jahre in derselben Clique. Aber noch nicht ein einziges Mal hatte Andi sie geküßt. Nicht mal einen zaghaften Versuch hatte er gestartet. Vielleicht fand Andi sie nicht sexy genug? Oder, was sehr viel wahrscheinlicher war, er traute sich einfach nicht, sie anzumachen. Conny überlegte. Vielleicht sollte sie ihn ermuntern, damit sein Groschen fiel. »Wo soll deine Sause denn hingehen?« Sie versuchte, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. »Hab 'ne astreine Location aufgerissen«, schwärmte Andi. »Ein ehemaliges Fabrikgelände in Andershof. Dort gibt es eine bombastische Halle, olala! Platz für hundert Raver. Für die Technik würde ich sorgen. Ich hab gerade ein paar neue Songs ausgetüftelt. Da sitzt kolossaler Bumms hinter, sag ich dir. Manche Tracks kommen auf 250 Beats pro Minute.« »Wie 'ne Bohrmaschine«, entgegnete Conny. »Genau. Die Kids werden Kopfstehen, wenn ich ihnen den Sound um die Ohren donnere.« »Aber wie willst du hundert Raver zusammentrommeln?« fragte Conny skeptisch. »So viele Leute kennen wir doch gar nicht.« »Null Problemo!« Andi hatte auf alles eine Antwort. »Noch nie was von Flyers gehört?« Flyers nannte man kleine, selbstgefertigte Handzettel, Werbeflugblätter. Sie stammten noch aus der Frühzeit der Techno-Bewegung. Damit machten die Organisatoren von meist illegalen Events auf ihre Veranstaltung aufmerksam. In Berlin waren eine Zeitlang Partys in geschlossenen, durch die Stadt 6
rasenden Lastwagen beliebt. Auch alte Frachtkähne wurden bereits als Techno-Clubs umfunktioniert. Je kurioser die Location, desto besser. »Ja, mit Flyers könnte es klappen«, gab Conny zu und drehte grübelnd am Knauf der Tür. »Na gut. Überzeugt. Ich komme mit.« Andi Tromp grinste erfreut. »Dann los, schmeiß dich in einen Mantel - und ab die Post!« »Moment, ich muß bloß noch meiner Mutsch beibringen, daß ich ihr heute abend nicht beim Abwaschen helfe«, sagte Conny leise. Andi winkte wegwerfend ab. »Das bißchen Zeugs wird deine Alte wohl allein schaffen.« Conny fuhr herum. Mit funkelnden Augen maß sie ihren Besucher von Kopf bis Fuß. »Ich möchte nicht, daß du so abfällig über meine Mutsch redest. Okay?« Andi zuckte mit den Schultern. »Sorry. Ist mir halt so rausgerutscht. Mach keine Wellen. Okay?« »Nichts ist okay!« Conny war auf Hundertachtzig. »Im Gegensatz zu dir mag ich nämlich meine Mutter. Ich will, daß du das weißt!« »Jaja, beruhige dich! Jetzt weiß ich's ja«, versicherte Andi reumütig. Conny lehnte die Tür an und verschwand in der Wohnung. Andi wartete im Treppenhaus. Nach zwanzig Sekunden war Conny wieder da. Sie hatte sich ein schwarzes Mäntelchen übergeworfen und schlüpfte flink in die Pumps. »Und?« fragte Andi. »Was hat deine - Mutsch gesagt?« Conny lächelte. »Was schon? Sie hat uns viel Spaß gewünscht.« Andi Tromp war baff. Er mußte an seine Mutter denken, die allein im Wohnzimmer vor der Glotze hockte. Als er vorhin von zu Hause weggegangen war, hatte sie gerade ihre zweite Flasche Wein entkorkt. Und als er tschüs sagte, hatte sie nicht mal aufgeblickt… * Es war ein trüber, ungemütlicher Abend. Der Wind kam aus Nordost und schob tiefhängende, schwarzgraue Wolken am 7
Himmel entlang. Es sah nach Regen aus. Andi Tromp lenkte seine Rennpappe über einen holprigen Weg aus Betonplatten. Er hatte eine Kassette mit Ambient-Techno ins Autoradio geschoben, einer etwas weniger hektische Soundvariante. »Wohin kutschierst du uns eigentlich?« fragte Conny, die neben Andi neugierig durch die Frontscheibe guckte. »Hier ist es ja superöde, als würden wir eine Spritztour auf dem Mond machen.« Andi wollte antworten, aber da ratterte der Zweitakter in ein Schlagloch. Die Trabi-Insassen wurden heftig durchgeschüttelt. Andi biß sich dabei auf die Zunge und jaulte auf. Conny feixte. »Bist du sicher, daß dein Asphaltpickel überhaupt Stoßdämpfer hat?« »Hm hm. Wir sind gleich da«, lispelte Andi bärbeißig. Er mochte es nicht, wenn jemand den Trabant verhöhnte. Immerhin hatte er viele Stunden damit zugebracht, das Teil eigenhändig auf Vordermann zu bringen. Als der Wagen die TÜVPlakette erhielt, hätte er vor Freude die ganze Welt umarmen können. Conny merkte, was in dem Jungen vorging. Ohne den Kopf zu drehen, beobachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. Stumm hielt Andi das Lenkrad umklammert. Seine Handknöchel traten weiß hervor. Er spielte die beleidigte Leberwurst. »Nächstes Jahr mache ich auch den Führerschein«, lenkte Conny ab. »Mutsch hat es mir fest versprochen. Sie will mir den Fieppen zum achtzehnten Geburtstag vermachen.« Andi schwieg beharrlich. Er tat, als gäbe es nichts Interessanteres, als auf den trostlosen Betonweg zu starren. »Bringst du mir vorher das Autofahren bei?« Sie blickte ihn fragend an. »Da könnte ich ein paar Fahrstunden einsparen.« Träge tröpfelten die Sekunden dahin. Endlich schien Andi Tromp aus seiner Lethargie zu erwachen. »Deine Mutter schenkt dir den Führerschein?« fragte er. »Einfach so? Bloß weil du achtzehn wirst? Das ist enorm. Woher nimmt sie denn die Kohle? Dein Oller ist doch über alle Berge, und sie ist arbeitslos.« »Zur Zeit verdient Mutsch ganz gut«, versetzte Conny. »Für ein knappes Jahr macht sie einen auf ABMer.« »Und wenn das Jahr rum ist?« »Irgendwie wird es schon weitergehen. Andere schaffen es ja 8
auch. Mutsch ist wahnsinnig sparsam. Jeden Pfennig dreht sie zweimal um, ehe sie ihn ausgibt. Manchmal nervt das total. Besonders, wenn ich neue Klamotten brauche. Dauernd will sie einem so ein billiges Teil aufs Auge drücken.« Conny seufzte. »Aber wahrscheinlich hat sie recht. Man muß sich nach der Decke strecken. Mutsch und ich leben nun mal allein. Da sind die Miete, Versicherungen, Lebensmittel, Schulsachen, Strom… An dieser Scheißlage hat nur mein Vater schuld. Dieser Dreckskerl! Er hat das Sparkassenbuch geplündert und uns einfach im Stich gelassen!« »Wann ist er eigentlich abgedampft?« »Gleich 1990. Wir haben nie wieder was von ihm gehört. Ich war acht Jahre alt. Mutsch hat tagelang nur geheult. Zur selben Zeit haben die meisten HO-Kneipen dichtgemacht, Mutsch wurde geschmissen. Zeitweise mußten wir uns Geld pumpen, um über die Runden zu kommen.« »Ein Unglück kommt selten allein«, meinte Andi und umkurvte geschickt ein fußballgroßes Loch im Betonweg. »Ich kann ein Lied davon singen. Meine Ollen haben schon zu Ostzeiten fleißig gepichelt. Aber nach der Wende wurde es extrem. Besonders bei Mutter. Sie schluckt wie ein Gully. Lange geht das nicht mehr gut. Dann gibt sie den Löffel ab.« »Kann man da gar nichts gegen tun?« Andi schaute seine Beifahrerin traurig an. »Man kann immer etwas tun, Baby. Man muß es nur wollen! Da liegt der Hund begraben.« »Und deine Mutter will nicht?« »Natürlich nicht. König Alkohol hat ihr Gehirn aufgeweicht. Nur eine knallharte Entziehungskur könnte ihr noch helfen.« Conny sagte nichts, und Andi fuhr wütend fort: »Diese Alkis glauben, alles wäre paletti. Mußt sie mal reden hören. Da geht einem das Messer in der Tasche auf.« Conny stieß einen langen Seufzer aus. Andi tat ihr leid. Ihr wurde klar, daß er einen starken Charakter haben mußte. Zu Hause umgab ihn nur Schlechtes. Aber er ließ sich nicht davon anstecken. Andere Kids hätten längst das Handtuch geworfen, wären auf die schiefe Bahn geraten. Andi nicht. Der blieb irgendwie cool. »Themawechsel?« schlug sie vor. »Einverstanden.« 9
Andi blendete auf, und Conny sah, daß die Lichtkegel der Scheinwerfer ein großes, verwahrlostes Backsteingebäude aus der Dunkelheit holten. »Wir sind da.« In Andis Stimme klang Entdeckerstolz. »Wie findest du die Location? Abgefahren, wie?« Conny nickte beeindruckt. »Echt kraß, das Gehöft.« »Die Party wird der absolute Hammer.« Andi schwebte auf Wolke sieben. »An nichts soll es mangeln. Trockeneisnebel, Stroboskopgewitter, mit Dias beklebte Glasscheiben, Lichtcollagen. Auch ein Chill-Out-Room wäre nicht verkehrt. Darin können die Kids ihren Herzschlag wieder in den normalen Bereich herunterfahren.« »Du denkst an alles«, lobte Conny. Durch die Windschutzscheibe betrachtete sie die Halle. Andi freute sich über ihr Lob. Gutgelaunt trommelte er einen Marsch aufs Lenkrad. Als sie ausstiegen, blieb Conny am Sicherheitsgurt hängen. »Warte, Baby. Ich helfe dir.« Andi flitzte um die Motorhaube. »Bleib sitzen, sonst steigst du noch aus und hast das Auto auf dem Rücken«, meinte er. Conny tat, was er sagte, und schnell befreite Andi sie aus der Fessel. Dabei kamen sich ihre Gesichter sehr nahe, und das Mädchen roch sein Aftershave. Ihr wurde heiß. Wie von selbst gingen ihre Augen zu, und wie von selbst spitzten sich ihre Lippen. Bleib cool, Conny! ermahnte sie sich. Reiß dich gefälligst zusammen, du verliebtes Huhn! Es gelang, wenn auch mit ziemlicher Mühe. Neugierig blickte sich Conny um. »Wie still es hier ist«, flüsterte sie. »Als wären wir die beiden letzten Menschen auf der Welt. Richtig unheimlich.« »Das ist bald vorbei«, lachte Andi. »Wenn ich erst meine Tracks durch die Boxen jage, werden alle glauben, ich hätte sie auf die Love Parade gebeamt.« »Angeber!« »Wirst schon sehen.« Andi holte eine Taschenlampe aus dem Kofferraum. Er knipste sie an, ging zu Conny und beleuchtete von unten sein Gesicht. »Hu-huh. Ich bin der Ur-ur-Enkel von Frankenstein«, sang er mit schauriger Stimme. 10
Es war nur ein harmloser Joke, doch Conny Berg schrie entsetzt auf. Verängstigt wich sie ein paar Schritte zurück. »Bist - bist du verrückt?« schnarrte sie Andi an. Er lenkte den Strahl woandershin. »Conny-Baby. Du bist aber schreckhaft.« Conny schluckte. Obwohl eine Faust aus Eisen in ihrem Magen wühlte, gab sie sich gespielt gelassen. »Glaub ja nicht, ich wäre eine Schißbüx. Es war bloß die Überraschung. Verstehst du?« »Klar doch«, meinte Andi. Sie gingen ein paar Schritte. Unter ihren Sohlen knirschte Kies. Conny hielt sich dicht an Andis Seite. Das Eisengatter. Andi löste die Kette. Er hängte das Teil über den Zaun, trat zum Tor, packte es mit beiden Händen, hob es an und zog es so weit zur Seite, daß sie bequem hindurchschlüpfen konnten. »Voila!« Er deutete einen Kratzfuß an. »Mademoiselle, ich stelle Ihnen Block C vor.« »Wieso Block C?« »Weiß nicht. Fiel mir eben ein. Irgendwas müssen wir ja auf die Flyers schreiben. Ehemaliges Betriebsgelände des VEB Soundso? Pah - das würde keinen räudigen Hund hinterm Ofen hervorlocken. Es muß schon was Spritziges sein. Block C finde ich geil. Oder?« »Klingt wie eine Abteilung der Klapsmühle«, fand Conny. Andi mußte lachen. Sie stapften über einen unkrautüberwucherten Plattenweg zum Eingang des Hauptgebäudes. Der Lichtkegel von Andis Taschenlampe tanzte voran. »Heiliger Bimbam!« staunte Conny. »Wie dunkel es heute ist, und immer noch so still. Aber irgendwas ist da. Klingt wie das Surren eines Fahrraddynamos. Hör doch mal!« Beide lauschten. Nichts. Nur das Säuseln des Windes. Keine Tierstimmen, kein Verkehrslärm, kein Fahrraddynamo. Absolut nichts. »Es ist, als marschierten wir geradewegs in das Totenreich«, wisperte Conny. »Ins Reich der ewigen Stille, aus dem es keine Wiederkehr gibt.« »Ist eben sehr friedlich hier.« Andi zog einen Vierkant aus der Hosentasche und klickte das klinkenlose Türschloß auf. »So, das hätten wir geschafft. Hinein in die gute Stube. Du wirst Augen 11
machen.« Andi ging vor. Als Conny über die Schwelle tappte, erhöhte sich ihre Herzfrequenz. Eine Angst, wie sie sie noch nie empfunden hatte, schnürte ihr den Hals zu. »Halloooo!« rief Andi in die Halle. Das Echo hallte vielstimmig zurück. Conny bekam eine Gänsehaut. Sie fröstelte plötzlich. Ihr Unterkiefer begann zu zittern. Schnell steckte sie die Hände in die Manteltaschen und ballte sie darin zu Fäusten. Die 17jährige war sich sicher: Mit dem Haus stimmte was nicht. Irgendwas. Aber was, das konnte sie nicht sagen. Es war eher ein unbestimmtes, vorausahnendes Gefühl, das eine Gefahr signalisierte. Das Gebäude war ihr nicht geheuer. Sie biß sich auf die Lippe, bis es weh tat. Obwohl ihr Puls hämmerte wie ein Buntspecht, folgte sie Andi tapfer in die stockdunkle Halle. Plötzlich war Conny, als würde sie jemand heimlich beobachten. Hektisch machte sie kehrt und starrte zum Eingang. Den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Die Gestalt, die gerade durch das Eisengatter schlich, duckte sich und huschte hinter einen Betonpfeiler. * Vincent van Euyen saß da wie ein Häufchen Unglück. »Ich versteh die Welt nicht mehr«, quäkte er. »Wieso verpaßt Max Unruh gerade mir den Auftrag, eine Fotoserie von einer Techno-Party zu schießen?« Max Unruh war der Chefredakteur der Weimarer Rundschau, für den Vincent als Fotoreporter jobbte. »Vielleicht, weil du der Beste bist, Vince«, schmeichelte ich meinem Besucher. Ich war gerade dabei, die Songs meiner CD-Sammlung zu archivieren, als mein Kumpel unverhofft bei mir hereingeschneit war. Vincent van Euyen war zweiundvierzig und ein unverbesserlicher Naschkater. Deshalb hatte er beachtliches Übergewicht. Für Katzenpfötchen ging er durchs Feuer. Wir 12
kannten uns aus der Redaktion der Weimarer Rundschau, hatten dort zusammengearbeitet. Ich hatte mir einiges bei ihm abgeguckt und fotografierte nun so gut wie er. »Der Beste?« Er wackelte mit dem Kopf. »Manchmal ist es ein Nachteil, gut zu sein. Allein der Gedanke, einen ganzen Abend das monotone Techno-Gehämmer aushalten zu müssen, läßt mir das Blut in den Adern gefrieren.« »Du wirst es überleben, Vince«, schmunzelte ich. Ich nahm eine Compact-Disc aus dem Ständer und betrachtete nachdenklich das Cover. Pink Floyd, The Wall. Es war der Hit des Jahres 1980 gewesen. Ein unglaublicher Knaller. Ich hatte die Scheibe lange nicht gehört. Zwar war ich jetzt achtundzwanzig, aber eigentlich hatte in diesem schicksalträchtigen Jahr 1980 mein Leben erst begonnen. Am 1. Mai wurde ich splitternackt, mit einer Lederkordel um den Hals, an dem ein Silberring hing, in der Weimarer Altstadt aufgegriffen. Ich war völlig verwirrt, hatte das Gedächtnis verloren und schien geradewegs vom Himmel gefallen zu sein. Ein Ehepaar, das Hellmann hieß, adoptierte mich. Sie nannten mich Markus Nikolaus, nach den beiden Initialen, die auf dem geheimnisvollen Ring eingraviert waren. Bald stellte sich heraus, daß mein Ring auf dämonische Aktivitäten reagierte. Er erwärmte sich und fing an, je nach Intensität der überirdischen Erscheinung, gespenstisch zu glimmen. Mein Feldzug gegen das Böse begann. Ich wurde zum Kämpfer des Ring. (Infos zum Rings in MH 31!) Ich legte die Pink-Floyd-CD auf. »Na, wie gefällt dir das?« fragte ich Vincent, als die ersten Töne erklangen. »Super. Pink Floyd ist genau meine Kragenweite. Hast du auch The Dark Side Of The Moon vorrätig?« »Na aber!« Ein Griff in den Ständer, und schon wedelte ich Vincent das Teil unter die Nase. Eine Zeitlang lauschten wir stumm den melodischen Klängen der Band. Vincent starrte hingerissen auf das gelbschwarze Plastiktütchen, das seine Lakritz-Katzenpfötchen beherbergte. Wie ferngesteuert griff er immer wieder hinein. Ich saß im Schneidersitz auf dem Boden vor der Stereoanlage und pfiff leise den Refrain von Another Brick In The Wall mit. Plötzlich fragte Vincent: »Hast du eigentlich zur Zeit einen Fall? 13
Ich meine, bist du gerade einem dieser widerlichen Schwarzblüter auf den Fersen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Vince. Sonst würde ich wohl kaum Muße haben, hier gemütlich herumzuhängen und Musik zu hören.« »Stimmt«, gab Vincent zu. »Es ist seltsam«, sinnierte ich. »Seit Tagen rührt sich rein gar nichts in der Dämonenwelt. Still ruht der See.« »Die Ruhe vor dem Sturm?« Ich nickte. »Kann schon sein, Vince. Womöglich hecken die Kreaturen der Hölle gerade einen besonders widerwärtigen Plan aus.« »Hast du eine Vorahnung?« fragte Vincent kauend. »Ich hab nicht nur eine Ahnung, ich bin mir ziemlich sicher.« »Instinkt?« »Und Intuition.« Ich regulierte die Lautstärke des folgenden Songs. »Letzte Nacht hatte ich wieder einen dieser abscheulichen Alpträume.« Vincent kicherte. »Komisch«, meinte er. »Immer, wenn die gute Tessa nicht in Weimar ist, bekommst du Alpdrücken. Wahrscheinlich fehlt dir der biologische Ausgleich.« Tessa Hayden, Zivilfahnderin bei der Weimarer Kripo, war meine Freundin. Seit Tagen hatten wir uns nicht mehr gesehen, denn Tessa war wieder einmal zu ihrer Schwester Annette Braun in Bansin gefahren. Dort holte sie sich regelmäßig Appetit auf ein harmonisches Familienleben. Mutter, Vater, Kind, Natur. Was soll's? Tessa stand eben drauf. »Mit biologischem Ausgleich hat das nichts zu tun«, meinte ich. »Ich tippe eher, daß ein neuer Auftrag ins Haus steht. Sechster Sinn.« »Von wem hast du denn diesmal geträumt?« forschte Vincent. »War sie wenigstens hübsch?« fügte er spöttisch hinzu. »Es war kein weibliches Wesen.« »Was denn?« »Tja«, ich zuckte mit den Schultern, »wenn ich das wüßte! Im Traum sah ich zuerst nichts weiter als tiefe Finsternis. Aber dann begann sich das Schwarz zu verändern. Es nahm andere Schattierungen an. Und dann schälte sich ein mächtiger, schemenhafter Klumpen heraus.« »Wie? Ein Klumpen?« 14
»Jedenfalls etwas, das keine Form hat, weißt du? Denke mal an den Blob! Eine gallertartige, pulsierende Masse, im gewissen Sinne vernunftbegabt. Durchs Kontraktieren des äußeren Gewebes konnte sich das Monster sogar fortbewegen.« »Iiiih!« Prompt verschluckte Vincent van Euyen ein Katzenpfötchen, kriegte einen Hustenanfall und legte die Tüte aus den Händen. Ich rappelte mich auf und klopfte seinen Rücken. »Auah! Nicht so doll!« protestierte er. »Ich weiß ja, daß du als Zehnkämpfer Mumm in den Knochen hast. - Mark, du prügelst mich ja windelweich!« »Du übertreibst. Ich hab dich doch nur getätschelt.« Vincent sah mich an. »Tessa kann einem leid tun. Wahrscheinlich ist sie zu ihrer Schwester gefahren, um sich von deinen rüden Attacken zu erholen.« »Du und deine Phantasie«, wehrte ich ab. »Du solltest dir eine Freundin zulegen.« Schnell nahm Vincent den Faden wieder auf. »Erzähl weiter, Mark! Jetzt hab ich den Mund leer.« »Nun ja, ich sah, wie diese widerliche Masse hin- und herglitschte. Wie eine Götterspeise von der Größe eines Eisenbahnwaggons. Dann schien das Ding mitgekriegt zu haben, daß es mich gab. Es kroch auf mich zu wie eine ausgehungerte Raupe, die einen appetitlichen Happen aufgespürt hat. Ich wollte wegrennen, um nicht unter ihr zermatscht zu werden. Aber nichts ging. Ich war wie gelähmt. Und das Glibberzeug wabbelte immer näher.« »Heiliges Kanonenrohr!« Der Fotoreporter fingerte nervös in seiner Sakkotasche, stopfte sich Tabak in seine Pfeife und paffte genüßlich. »Um deine Träume bist du nicht zu beneiden, Mark«, sagte er zwischen zwei Zügen. Ich nickte. »Bevor sich das Biest meinen Körper einverleiben konnte, bin ich zum Glück aufgewacht.« Wir schwiegen eine Weile, gaben uns ausschließlich den Klängen der einzigartigen Musik hin. Bis es an der Tür klingelte. Es war mein spezieller Freund, der Hausbesitzer Arthur Stubenrauch. Er wohnte unter mir. Mit überschnappender Stimme wollte er wissen, welche Band denn dieses Urwaldgeplärre verbrochen hätte. 15
»Pink Floyd heißen die.« »Dann spielen sie diesen Pink Floyd auf Zimmerlautstärke!« brüllte er. »Ich habe vor, mir in aller Ruhe die Tagesschau anzuschauen und anschließend den Tatort.« Ich versprach, mir seinen Vorschlag wohlwollend durch den Kopf gehen zu lassen. Dann schlug ich dem arroganten Gernegroß die Tür vor der Nase zu. Der Kerl brachte mich noch mal zur Weißglut. Andauernd spionierte er im Haus herum, lauschte an den Türen und verbreitete Lügen und Tratsch über die Mietparteien. Er schien es noch nicht gerafft zu haben, daß die Zeiten für Anschwärzer vorüber waren. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, empfing mich Vincent mit einem breiten Grinsen. »Nanu, Mark?« flachste er. »Seit wann gibst du so rasch klein bei, wenn dir Stubenrauch auf den Kranz geht?« »Wer sagt das?« Ich ließ die Pink-Floyd-CD herausschnellen, packte sie ein und legte eine neue Scheibe in den Player. Led Zeppelin, Whole Lotta Love, die Langfassung. Vielleicht der härteste Rocksong, den es gab. Vincent fiel fast die Pfeife aus dem Mund, als Jimmy Page die ersten Gitarrenriffs zelebrierte. »Stubenrauch hat sich ja nur über Pink Floyd mokiert!« brüllte ich Vincent an. »Davon, daß er Led Zeppelin nicht mag, war nicht die Rede.« »Ich verstehe kein Wort!« rief Vincent van Euyen. »Es ist so laut hier!« * Es gibt keine Gespenster! hämmerte Conny Berg sich in den Schädel. Verdammt! Ich bin siebzehn, nicht sieben. Ich darf keine Angst haben. Andi darf nicht denken, ich sei eine hysterische Ziege… Der Schein von Andis Stablampe glitt eine verrostete Eisentreppe hinauf. Inzwischen befanden sie sich im hintersten Teil der einstigen Werkhalle. »Wo mag die Treppe hinführen?« Andi knabberte an seiner Unterlippe. 16
Conny spielte die Gelangweilte. »Wohin schon? In irgendwelche keimigen Werkstätten. Mensch, Andi! Da oben gibt's doch nur Dreck und Ungeziefer zu besichtigen.« »Ich geh trotzdem hinauf.« »Und ich?« Conny schluckte. »Willst du mich ganz allein hier unten zurücklassen? Man sieht doch nicht die Hand vor Augen, und wir haben nur eine Funzel.« »Komm einfach mit, Süße. Dann löst sich das Problem von allein.« Schon setzte der 19jährige einen Fuß auf die unterste Stufe. »Du wirst dir was wegholen da oben.« »Was denn?« »Irgendwas. Die Krätze oder was Schlimmeres.« Andi tippte sich an die Stirn. »Die Krätze? Du spinnst, Conny. Sicher, es wird ziemlich schmutzig sein. Spinnweben und so. Aber wenn ich zu Hause bin, wasche ich mich, und alles ist wieder roger.« »Warum gehen wir nicht mal her, wenn es Tag ist?« Conny ließ nicht locker. »Komm, Andi! Wir verdrücken uns. Hab Lust, eine Runde auf dem Boulevard zu drehen.« Ein Glucksen erklang. Es kam von irgendwo oben. Das Mädchen erstarrte zur Salzsäule. »Was war das?« hauchte sie. Andi behielt die Nerven. »Der Wind, was sonst? Es wird angefangen haben zu regnen, und das Dach kannste doch voll in den Skat drücken.« Conny sagte nichts, und Andi kletterte ein paar Stufen höher, stoppte und blickte aufmunternd zu ihr hinunter. »Komm schon! Wir bleiben nicht lange. Ich will nur mal checken, inwieweit wir die oberen Räume für das Event nutzen können. Oder hast du Schiß?«»Ich und Schiß?« Conny tat entrüstet. »Du hast sie ja nicht alle. Ich will mir da oben nicht die Klamotten versauen. Das ist alles.« »Ach ja?« »Was guckst du denn so blöde?« Conny wurde immer wütender. »Mir tut es schon leid, daß ich mit dir mitgekommen bin. In der Flimmerkiste gibt es einen genialen Horror-Schocker.« »Pretty Woman?« äffte Andi. Conny kochte fast über. »Nein. Er heißt Das Monster, das Andi 17
Tromp killte.« Gelassen steckte Andi die Anspielung weg. »Vor der Glotze hängen, finde ich bescheuert«, sagte er. »Ich mach lieber selber Action, statt zuzugucken, wie sich so ein paar geschniegelte Millionärs-Weicheier künstlich über irgendwelche Lappalien aufregen. Außerdem kriegt man 'nen fetten Hintern, wenn man den ganzen Abend vor der Röhre sitzt!« Erneut drang das merkwürdige, glucksende Geräusch an ihre Ohren. Conny fuhr der Schreck in die Glieder. Im letzten Augenblick unterdrückte sie einen Aufschrei. »Das war nicht der Wind, Andi«, wisperte sie. »Bleib hier! Geh nicht nach oben. Irgendwas fleucht da herum.« Andi winkte großspurig ab. »Was soll da oben sein? Höchstens ein Rudel Spinnen, vielleicht ein paar Ratten, wenn es hochkommt. Aber die Biester sind ungefährlich. Wenn sie mitkriegen, daß Menschen aufkreuzen, machen sie 'ne Mücke.« Ratten? Conny überlegte. Das komische Geräusch hatte doch nicht so wie das Fiepen von verängstigten Ratten geklungen. Mit einemmal schien Andi Tromp auch nicht mehr erpicht darauf, die oberen Räume zu inspizieren. Er leuchtete die Treppe hinauf, bis an den Absatz, rüttelte prüfend am Eisengeländer und räusperte sich laut. »Wow!« machte er. »Da oben stinkt's wie in einem Leichenkeller. Irgendwas verwest da doch.« »Ein Grund mehr, nicht im Dunkeln hinaufzugehen.« Andi tat, als bliebe er hartnäckig. Aber seine Stimme klang brüchig. »Trotz allem würde ich gern wissen, ob…« Conny langte es. »Ich will nach Hause!« sagte sie scharf. »Wenn du unbedingt wissen willst, was da oben ist, geh doch rauf. Ich setze mich in deinen Trabi. Ciao!« Andi leuchtete an sich hinab, klopfte Staub von seiner Bündchenjacke und sagte: »Naja, hast schon recht. Verschieben wir die Besichtigung auf später. Wenn es draußen hell ist, sieht man auch viel mehr.« Das flaue Gefühl in Connys Magen wurde schwächer. Sie atmete auf. Sogar ein kümmerliches Lächeln brachte sie zustande. »Hab Durst auf 'ne Cola und Hunger auf 'nen Burger«, sagte sie leichthin. »Fahren wir noch mal zu McDonald's?« »Und danach ziehen wir ein paar Runden um die Blöcke. 18
Okay?« Andi stieg die Treppe hinab. »Vielleicht treffen wir einen aus der Clique.« Kaum waren Andis Worte verhallt, klatschte es laut in der Halte. Es hörte sich an, als hätte jemand einen Kübel Pudding vom Dach auf den Betonboden gekippt. »Andi!!!« Conny packte den Freund am Arm, zog ihn fest zu sich heran. »Das war eben garantiert keine Ratte! Leuchte mal!« Der Lichtstrahl der Lampe wanderte über den ungefegten Boden der Halle. Ungefähr in der Mitte erfaßte er einen gallertartige Haufen, der in Sekundenschnelle zerschmolz, als wäre er ein Schneeball auf einen Ofen gefallen. »Siehst du«, flüsterte Andi. »Regen, wie ich gesagt hab.« »Leuchte mal an die Decke!« Vor Angst schmiegte sich Conny immer enger an ihren Gefährten. Jetzt war es ihr egal, was er von ihr dachte. Er nickte, hob langsam die Lampe und ließ den Lichtfaden langsam an den bröckligen Wänden emporkriechen. Herausgerissene Leitungen, kaputte Rohre, zerstörte Steckdosen. Als sich der Lichtstrahl dem Dachstuhl näherte, passierte es! Der Schein der Taschenlampe wurde schwächer und schwächer. Conny Berg und Andi Tromp standen fast im Dunkeln. »Du Pfeife trabst mit leeren Batterien an!« schimpfte das Mädchen. »Andi, du bist wirklich das Allerletzte!« Andi knipste wie wild an der Taschenlampe herum. Der Schalter klickte hin und her. »Das versteh, wer will«, murmelte er verdutzt. »Aber an den Batterien kann es nicht liegen. Die hab ich erst heute eingelegt. Waren flammneu.« Jetzt breitete sich die Angst in Conny aus wie ein bösartiges Krebsgeschwulst. Ihr war, als würde ein Luftballon in ihrem Innern aufgeblasen. Sie hatte recht gehabt. Hier stimmte was nicht. Sie zitterte, spürte, daß auch Andis Körper bebte. Andi drehte sich um, nahm Conny an der Hand und deutete auf das graue Rechteck des Ausgangs. »Zum Glück haben wir das Tor aufgelassen. Sonst wären wir jetzt verraten und verkauft. Los, Conny! Nichts wie raus hier!« Conny spürte, daß er ihre Hand fester drückte. Als wolle er sicher sein, sie nicht zu verlieren. So schnell sie konnten, hasteten sie dem erlösenden, grauen Rechteck entgegen. Ihre scheppernden Schritte hallten von den 19
kahlen Wänden der Halle wider. Nur noch ein paar Schritte! »Gleich sind wir draußen. Gott sei Dank!« Conny hechelte. Doch bevor sie den Ausgang erreichten, gab es einen lauten Knall. Die Eisentür war krachend ins Schloß gefallen. Das graue Rechteck verschwunden. Jetzt war die Finsternis total. »Ich habe Angst«, sagte Conny und weinte. Andi tastete nach seinem Vierkant in der Hosentasche. Er probierte, die Tür aufzusperren. Obwohl das Teil einrastete, reagierte das schwere Eisentor nicht darauf. Immer wieder rammte die Tür gegen einen starken Widerstand. »Warum funktioniert es nicht?« Conny preßte seinen Arm. »Ich sag dir warum!« heulte Andi. »Weil irgendsoein Saukerl 'ne Kette vorgelegt hat!« »Halt mich ganz doll fest, Andi.« Connys Körper wurde von einer Welle namenloser Furcht geschüttelt. Ihre Knie wurden weich wie Butter und ihr Mund ganz trocken - aber der Junge drückte sie fest an sich. »Brauchst keine Angst zu haben, Kleine«, murmelte er. »Ich bin ja bei dir…« * Klappe zu, Affe tot! Auf Jimmy Möllers Gesicht breitete sich ein schadenfrohes Grinsen aus. Conny Berg und Andi Tromp saßen in der Mausefalle. Geil! Jimmy stellte sich vor, was die beiden gerade für dümmliche Fratzen zogen. Garantiert hätten sie die Hosen gestrichen voll und schlackerten vor Angst. Jimmy Möller haßte Andi Tromp. Dauernd spielte der sich auf, nannte sich DJ Andi T. und zog eine Show ab, die Jimmy anwiderte. Früher, als Jungen, waren sie einmal gute Freunde gewesen. Gemeinsam gingen sie durch dick und dünn. Jeden Tag trafen sie sich. Irgendwann zerbrach die Freundschaft. Das lag eindeutig an Andi. Der hatte auf einmal nur noch Zeit für seinen Technokram. Und, was das Schlimmste 20
für Jimmy war, Andi schleimte sich bei der hübschen Conny ein. Dabei wußte Andi doch ganz genau, daß er, Jimmy, auf das Mädchen scharf war. Schöner Freund! Vorsichtig legte Jimmy ein Ohr an die Eisentür. Im Innern des Gebäudes war es still. Wahrscheinlich hatten die Eingesperrten die Orientierung verloren. Drinnen mußte es stockfinster sein. Fenster gab es nur in den oberen Etagen. Aber alle waren sie blind und hoffnungslos verdreckt. Kein einziges ließ sich öffnen. Das hatte er selbst überprüft. Jimmy lachte böse. Wie Andi war er neunzehn, wie Andi lernte er Maler und Lackierer beim Bildungszentrum am Ziegelgraben. Aber das waren auch schon die einzigen Gemeinsamkeiten. Jimmy wog gute zwanzig Kilo mehr als Andi, obwohl sie beide einsachtzig groß waren. Jimmy trug schwarze Jeans und einen langen, schwarzen Mantel, den er seinem Vater ausgespannt hatte. Er fand, Schwarz stand ihm prima. Es machte ihn schlanker. Außerdem schützte ihn sein dunkler Aufzug vor neugierigen Blicken. Tarnung ist alles… Auf dem Fahrrad war Jimmy Andis Trabant gefolgt, ohne Licht, daß keiner merkte, daß er dicht hinter ihnen her war. »Zur Hölle mit dir, Andi Tromp!« zischte Jimmy leise, als er hörte, daß drinnen an der Tür gefummelt wurde. Die Tür bewegte sich, aber höchstens drei Millimeter. Es knirschte metallisch, als Metall an Metall scharrte. Jimmy feixte. Er hatte eine Gliederkette aus Eisen davorgelegt und ein altes Vorhängeschloß eingeklinkt. Andi konnte drücken, soviel er wollte, die Kette würde halten. Plötzlich spitzte Jimmy die Ohren. Er wollte gerade weggehen und die beiden ihrem Schicksal überlassen, als er hörte, daß drinnen jemand weinte. Conny! Jimmy runzelte die Stirn. Das Mädchen schien große Angst zu haben. Für einen Moment tat sie ihm leid. Doch schnell redete er sich ein, daß es ihr recht geschah. Immerhin hätte sie ja nicht mitzukommen brauchen. Und überhaupt! Was ging es ihn an, wenn sie jetzt flennte? Conny hatte den Denkzettel ebenso 21
verdient. Wieso hatte sie sich mit dem doofen Andi eingelassen? Strafe mußte sein. Auf Zehenspitzen ging Jimmy ein paar Schritte. Dann war da dieser mörderische Schrei. Er klang, als ob jemand in einen Kessel mit kochendem Wasser gesteckt würde. Jimmy erstarrte zur Ölgötze. So einen Schrei hatte er noch nie gehört. Er konnte nicht mal mit Bestimmtheit sagen, ob Andi oder Conny geschrien hatte. . Was soll ich tun? Jimmys Gedanken wirbelten wie Schneeflocken unter seiner Schädeldecke. Zurückgehen? Die Kette aufschließen? Nachgucken? Aber dann würden sie wissen, wer ihnen den Streich gespielt hatte. Weggehen? Aber es könnte ja sonstwas passiert sein. Shit! Jimmy trat von einem Bein aufs andere. Das Knirschen unter seinen Boots war das einzige Geräusch weit und breit. Ansonsten Grabesstille. Jimmy wartete. Wenn Conny laut um Hilfe ruft, dann gehe ich zurück, sagte er sich. Wenn nicht, dann ist alles vielleicht gar nicht so schlimm… Insgeheim hoffte er, daß sich Andi oder Conny bemerkbar machten. Dann würde er ihnen aufschließen. Immerhin waren sie einst Freunde gewesen. Dabei konnte es durchaus passieren, daß Andi durchdrehte und ihm eine Tracht Prügel verabreichte. Und Conny würde zusehen… Jimmy schaute auf die Armbanduhr. Zehn Minuten vor zwölf. Er beschloß, bis Mitternacht zu warten. Wenn bis dahin nichts Außergewöhnliches geschah, würde er weggehen und nach Hause radeln. Er steckte sich eine Zigarette an und rauchte hastig. Als die letzte Minute anbrach, zählte er leise die Sekunden. Es war wie ein Countdown. Punkt zwölf warf Jimmy die Kippe weg, schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr davon. * »Auf ein Wort, Herr Hellmann!« giftete mein Hauswirt. 22
Ich blickte auf ihn hinab. »Bin in Eile, vielleicht ein andermal.« Stubenrauch hatte mir im Treppenhaus aufgelauert. Seine Wohnungstür war angelehnt, und ich hegte den begründeten Verdacht, daß sich dahinter seine bessere Hälfte versteckt hatte, die Ohren gespitzt wie ein Luchs. »Die Orgie gestern nacht…«, sächselte er. »Würden Sie mich bitte vorbeilassen?« »Sie wissen, ich bin für dieses Haus verantwortlich.« Gewichtig ließ er seine Augenbrauen in die Höhe schnellen. »Deswegen liegt mir sehr am Herzen, daß sich alle Mieter hier wohl fühlen. Schließlich besitze ich einschlägige Erfahrungen als Hausvertrauensmann.« »Echt?« Unbeirrt fuhr der kleine Sachse fort: »Lachen Sie nur! Aber ich möchte Sie warnen. Ihr Spott wird Ihnen noch vergehen, und zwar gründlich. Ich werde…« »…jetzt zur Seite gehen!« Ungerührt schob ich den lästigen Zwerg beiseite. Darauf schien Stubenrauch nur gewartet zu haben. »Er hat mich angefaßt!« quiekte er in höchsten Tönen. »Frau, du bist Zeugin. Dieser Mann ist gewalttätig, eine Gefahr für die ganze FlorianGeyer-Straße. Ich werde diese Übergriffe nicht weiter dulden. Ich werde…« Seine Stimme schnappte fast über. Doch da hatte ich die Haustür schon hinter mir. Der Gnom konnte mir den Buckel runterrutschen. Was hatte er gesagt? Hausvertrauensmann? Ich schüttelte den Kopf. Ich war auf dem Weg in den Supermarkt. Meine Vorräte mußten ergänzt werden. In meinem Kühlschrank herrschte totale Flaute, wie immer, wenn Vincent van Euyen am Abend zuvor seine Visitenkarte abgegeben hatte. Ich ließ mich hinters Lenkrad meines BMWs plumpsen, gurtete mich an und ging im Kopf die Dinge durch, die ich einkaufen mußte. Brot, Wurstaufschnitt, Käse, Mineralwasser… Als ich den Motor anließ, fiepte mein Handy. Normalerweise bin ich kein Freund dieser Fernkommunikation. Aber ich hatte mir angewöhnt, das Teil ständig bei mir zu tragen. Am Anfang wegen Max Unruh, dem Chefredakteur der Weimarer Rundschau, für den ich bisweilen Artikel schrieb. Später dann, um als Dämonenjäger rund um die Uhr erreichbar zu sein. Ich schaltete den Motor ab. 23
»Ja, hallo?« »Ich bin's, Junge«, meldete sich die Stimme meines Vaters. »Ich hoffe, ich störe dich nicht.« »Du störst nie, Vater. Schieß los! Was hast du auf dem Herzen?« »Ich hatte gestern abend Besuch«, begann er. »Ich auch!« feixte ich. »Vincent, diese siebenköpfige Raupe, hat sich über meine Vorräte hergemacht. Jetzt muß ich Nachschub holen.« Ulrich ging nicht auf meinen scherzhaften Ton ein. »Mark, ich glaube, ein neuer Fall kündigt sich an. Paul Johannsen hat mich darauf gebracht.« »Dein Besucher gestern abend?« »Richtig. Paul ist extra aus Stralsund zu mir nach Landfried gekommen. Ich kenne ihn aus meiner aktiven Zeit als Polizist. Paul war Sanitäter damals. Ein prima Kerl. Hatte Nerven wie Drahtseile. Es gab nichts, wovor er sich fürchtete. Er gehörte in den Siebzigern zu dem Räumkommando, als die Maschine der INTERFLUG vom Himmel fiel.« »Mein Gott!« Aus alten Zeitungsartikeln wußte ich, daß es damals keine Überlebenden gegeben hatte. Fast zweihundert Tote. Die Leichenteile waren kilometerweit verstreut gewesen. Die Einsatzkräfte damals gingen schon zu Lebzeiten durch die Hölle! »Paul ist der Ansicht, an der Küste scheint was im Gange zu sein, das in unser Ressort fällt. Unerklärliche Phänomene…« Ich horchte auf. »Spann mich nicht auf die Folter. Wer oder was ist es diesmal?« »Was dürfte präziser sein.« »Also keiner aus Mephistos Garde?« »Paß auf! Ich erzähle mal kurz, was Paul Johannsen zugestoßen ist. Und dann sagst du mir, was du von dieser Angelegenheit hältst. Möglicherweise kommen wir beide auf den gleichen Nenner.« »Okay, leg los!« »Paul Johannsen ist ungefähr in meinem Alter. Er wohnt in Altefähr bei Stralsund, gleich hinter dem Rügendamm. Paul hat die Marotte, frühmorgens am Ufer des Strelasunds entlangzubummeln. Oft kilometerweit. Auf dem Dänholm hat er dabei einen außergewöhnlichen Fund gemacht.« 24
Ich klebte geradezu am Hörer. »Zwischen Seetang, Strandsand und Schlick fand er einen faustgroßen Bernstein. Jedenfalls hielt er den Klumpen für Bernstein. Paul sammelt solches Strandgut. Er hat eine ganze Kiste davon. Aber das nur nebenbei. Er hat ihn also seiner Sammlung einverleibt und dann vergessen.« Ulrich senkte bedeutungsvoll die Stimme. »Und jetzt der Hammer!« Ich hielt den Atem an. »Als er eines Morgens in seiner Hobbykeller hinabstieg und in die Kiste guckte, traf ihn fast der Schlag. In der Kiste war ein faustgroßes Loch. Das bernsteinartige Gebilde, das er zuletzt hineingetan hatte, war spurlos verschwunden.« »Nanu!« rief ich überrascht aus. »Wart's ab. Es kommt noch besser«, fuhr Vater fort. »Wie gesagt, die Kiste stand in Pauls Hobbykeller. Als er sie beiseiterückte, glaubte er, im Himmel sei Jahrmarkt. Unter der Kiste war ein Loch. Und was für eines, ein richtiger Tunnel! Im Estrich, verstehst du? Das seltsame Ding hat sich durch Holz und Beton hindurchgefressen und sich wie ein Maulwurf aus seinem Keller verdünnisiert.« »Da brat mir einer 'nen Storch!« Verdutzt rieb ich mein glattrasiertes Kinn. »Seit wann verduften Bernsteine aus Holzkisten?« Ulrich seufzte. »Paul sagt, das Ding hätte mehr Bumms als Salzsäure. Er meint, es müsse irgendwie lebendig sein.« »Dann hätte sich dein Kumpel daran verätzen müssen, als er das Teil am Strand aufgehoben hat.« »Nein«, widersprach Vater. »Nichts dergleichen. Das Gebilde scheint erst in der Kiste ein Eigenleben entwickelt zu haben.« »Uff!« »Genauso habe ich auch zuerst reagiert, Mark. Aber es hilft nichts. Du müßtest mal vor Ort nach dem Rechten sehen. Und vergiß deinen Einsatzkoffer nicht. Er steht noch bei mir im Arbeitszimmer.« »Ich weiß.« »Kommst du heute noch vorbei?« »Klaro«, versprach ich. »Dieser Johannsen, ist er noch in Weimar? Dann kann ich ihn gleich nach Stralsund mitnehmen.« »Nein. Er wollte heute noch einen Bekannten in Apolda besuchen. Aber Adresse und Telefonnummer hab ich notiert. Ich 25
werde ihm gleich Bescheid geben, daß du mal vorbeischaust.« »Tu das«, sagte ich. »Am besten, ich mache mich sofort auf die Socken. Sollte mein Ring auf die Kiste reagieren, ist der Fall klar wie Kloßbrühe.« »Er wird reagieren«, raunte Ulrich. »Da bin ich mir völlig sicher. Also, bis dann!« »Grüß Mutter!« Ich schaltete das Handy ab. Eine Zeitlang blieb ich nachdenklich sitzen, ohne den Motor anzulassen. Ein Stein, der sich aus einer Sammlung Mineralien verkrümelt! Das klang wie ein schlechter Witz. Noch vor einem Jahr hätte ich mir an die Stirn getippt, wenn mir einer diesen Kokolores aufgetischt hätte. Aber inzwischen hatte ich die haarsträubendsten Erlebnisse hinter mir. Ich wußte, daß die Phantasie von Otto Normalverbraucher nicht ausreichte, um sich vorzustellen, welche Auswüchse die Mächte der Finsternis für uns Menschen bereithielten. Kopfschüttelnd ließ ich den Motor an. Dann gab ich Gas. * Irgendwann hatte es zu regnen angefangen. Conny Berg starrte mit leerem Blick in die Finsternis. Sie lauschte, wie die Tropfen auf das Dach prasselten. Das Mädchen hatte keine Ahnung, wie lange sie bereits auf dem feuchten Betonfußboden kauerte. Möglicherweise vier oder fünf Stunden. Noch immer hallte der Schrei, den Andi ausgestoßen hatte, in ihren Ohren wider. Minutenlang war Conny wie gelähmt gewesen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Unfähig, um Hilfe zu rufen. Sie hatte keinen blassen Schimmer, warum Andi gebrüllt hatte. Und fragen konnte sie ihn auch nicht, denn Andi war sofort umgekippt, ohne einen weiteren Laut. Und dann war er einfach liegen geblieben. »Andi!« schluchzte sie immer wieder. »Hörst du mich? Wach doch bitte wieder auf, ja?« Und wieder erhielt sie keine Antwort. Der 19jährige lag, als wäre er ins Koma gefallen. Sein Atem 26
rasselte, und manchmal stieß er einen leichten Seufzer aus, als hätte er Schmerzen. Zärtlich streichelte Conny seine Wange. Sie sah nicht die Hand vor Augen. Die Dunkelheit war total. Nicht einmal durch die Ritzen des Tores fiel ein Schimmer Licht. Deshalb traute sie sich auch nicht, fortzugehen. Nie hätte sie den Freund in der nachtschwarzen Riesenhalle wiedergefunden. Wenn es wenigstens ein Fenster gäbe! dachte sie zum tausendsten Mal. Nur ein kleiner Fetzen Licht. Dann könnte sie sich orientieren. Aber Fenster gab es nur in den oberen Stockwerken. Man müßte die Eisentreppe emporsteigen, in dieser Dunkelheit. Allein der Gedanke daran flößte ihr panischen Schrecken ein. Conny ließ ihre Hand über Andis Körper gleiten, befühlte sein Kinn, seinen Hals und seine Brust, die sich hob und senkte, wenn er atmete. Tapfer kämpfte sie gegen die Angstschauer an, die immer wieder in ihr aufflackerten. Was, zum Teufel, war eigentlich passiert? Wieso war Andi einfach aus den Latschen gekippt? Er war doch nicht krank. Im Gegenteil. Bevor sie diese vermaledeite Fabrikhalle betreten hatten, war er putzmunter gewesen, voller Ideen und Tatendrang. Und jetzt? Lag er da und rührte sich nicht. Abermals füllten sich Connys Augen mit Tränen. Noch nie in ihrem Leben hatte sich die 17jährige so hilflos gefühlt. Wenn wenigstens Mutsch hier gewesen wäre. Oder jemand anders, mit dem man reden konnte. Heulsuse! schalt Conny sich. Du mußt allein etwas unternehmen. Es bringt nichts, wenn du dümmlich neben Andi hockst und flennst. Worauf wartest du? Hilfe kommt sowieso nicht. In die gottverlassene Gegend verirrt sich keine Menschenseele. Und todsicher braucht Andi medizinische Hilfe. Sie dachte wieder an ihre Mutter und erschrak. Vor ihrem inneren Auge tauchte ihr verweintes Gesicht auf. Mutsch würde Kopfstehen vor Sorge. Immerhin war sie, Conny, der einzige Mensch, den die Mutter noch hatte. Mal abgesehen von Oma und Opa in Altefähr. Conny überlegte. 27
Die Eisentreppe. Koste es, was es wolle! Sie mußte diese verdammte Eisentreppe erreichen, um in das nächste Stockwerk zu gelangen. Dort oben wimmelte es bestimmt von Gerumpel. Vielleicht gab es sogar eine Leiter oder irgendwelche vergammelten Stricke. Man könnte ein Fenster einschlagen und sich nach draußen abseilen. Im Fernsehen machten die es doch auch immer so. Doch hier gab es ein Problem. Wenn sie jetzt durch die Finsternis irrte, wie fand sie Andi wieder? Conny schwirrte der Kopf. Sie grübelte eine Weile, kramte in ihrem Gedächtnis, um eine brauchbare Idee zu finden. Und plötzlich kam die Erleuchtung. Ihr Pullover! Mit Hilfe eines Wollfadens würde es klappen, genauso wie in Daidalos' Labyrinth. Das eine Ende würde sie um Andis Handgelenk wickeln. Das andere würde sie selbst nehmen. Somit würde sie jederzeit zurückfinden. Vor Aufregung schlug Connys Herz ein paar Takte schneller. »Ich rette dich, Andi!« rief sie in die Finsternis. Wild entschlossen schraubte sie sich hoch, reckte ihre steifen Glieder und begann vorsichtig, ihren Pulli aufzuribbeln. Als ihr der Faden lang genug erschien, tastete sie sich durch die undurchdringliche Dunkelheit. Ganz langsam, Schritt vor Schritt. Bald ertastete sie eine Wand. Zentimeter für Zentimeter tappte sie vorwärts. Dabei paßte sie genau auf, daß der Faden immer locker blieb. Er durfte keinesfalls zu stramm werden. Dann würde er reißen, und alles wäre aus. Die Wand war rissig und rauh. An vielen Stellen blätterte der Putz ab. Conny mußte sehr vorsichtig sein, um sich nicht zu verletzen. Manchmal erfühlte sie einen spitzen Haken in dem Mauerwerk, auch verbogene Stahlnägel, Verputzsplitter und haarscharfe Drahtenden gab es zuhauf. Plötzlich griff ihre Hand ins Leere. Die Wand war zu Ende. Conny blieb stehen. Sie war an der Eisentreppe angelangt. Schon erfühlte sie das rostzerfressene Geländer. Es gibt keine Gespenster. Ich darf keine Angst haben! Conny warf all ihren Mut in die Waagschale und zählte in Gedanken bis zehn. 28
Als sie bei vier war, merkte sie, wie ein gräßlich fauliger Gestank in ihre Nase zog. Vorhin, als Andi die Treppe hinaufklettern wollte, hatte es bei weitem nicht so abstoßend gerochen. Vielleicht stand sie auch vor einer anderen Treppe? Conny wurde schlecht. Ihr Magen bäumte sich auf. Sie würgte, und schnell kniff sie sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu. Halte durch! ermunterte sie sich. Wenn erst ein Fenster offen ist, kommt frische Luft herein. Dann hatte sie es geschafft. Conny gab sich einen Ruck, ihre Fußspitze erfühlte die erste Stufe. Blubb! Conny erstarrte zu Eis. Irgendwo, hinter ihr, war dieses ekelhafte Geräusch ertönt. Blubb! Etwas fiel aus großer Höhe zu Boden und klatschte auf den Boden. Dann war es wieder mucksmäuschenstill. Nur der sachte Regen ging auf das Dach nieder. Conny betrat die zweite Stufe, anschließend die dritte. Auf der vierten geriet sie ins Straucheln. Sie taumelte. Um Haaresbreite hätte sie die Balance verloren und wäre in die Tiefe gestürzt. Aber instinktiv hatte sie ins Dunkel gegriffen und das Geländer gepackt. Das kalte Eisen ließ sie bis ins Mark erschaudern, und sie spürte, daß der Faden, den sie in der anderen Hand hielt, gefährlich spannte. Eine geraume Weile brachte Conny damit zu, ihren Pulli weiter aufzuriffeln. Dummerweise brauchte sie dazu beide Hände. Um den bestialischen Gestank nicht einzuatmen, hielt sie die Luft an. Endlich spannte der Faden nicht mehr. Conny setzte ihren Aufstieg fort. Behutsam fingerte sie sich am Handlauf empor. Bald hatte sie schon einundzwanzig Stufen hinter sich. Jeden Augenblick konnte sie die obere Plattform oder zumindest den Treppenabsatz erreichen. Noch ein Schritt, dann noch einer. Der letzte ging ins Leere. Conny Berg befand sich in der zweiten Etage. Sie riß die Augen auf. Aber auch hier oben herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Nirgendwo ein heller Fleck, ein Lichtschimmer und schon gar kein 29
Fenster. Enttäuscht ließ das Mädchen die Schultern hängen. Gleichzeitig setzte das Angstgefühl wieder ein. Ihr Unterkiefer fing an zu zittern. Ihre Zähne schlugen wild aufeinander. Conny kämpfte. Die Angst durfte nicht die Oberhand gewinnen. Da hatte sie doch noch ein Wörtchen mitzureden. Weiter! spornte sie sich an. Laß dich nicht einlullen, Conny Berg! Geh einfach weiter! Vorsichtig tat sie einen Schritt in die Dunkelheit. Dabei stieß sie gegen ein Hindernis. Ein schwaches Geräusch war dabei zu hören. Conny streckte eine Hand aus, bückte sich und betastete den unsichtbaren Gegenstand. Das Teil war rund oder oval, hatte scharfe Kanten und war innen hohl. Das Material schien Hartgummi oder Plastik zu sein. Möglicherweise ein Tuppen, wie ihn Maurer zum Anrühren von Mörtel benützen. Conny richtete sich auf. Pah - ein leerer Maurertuppen! Damit konnte sie nichts anfangen. Im Begriff, weiter in den dunklen Raum hineinzutappen, horchte Conny mit einemmal angestrengt. Sie hörte ihren Namen. Dumpf und rollend klang er aus der Tiefe. »Conny?« stöhnte es. »Conny? Wo bist du?« Die 17jährige jubelte. Andi! Er war wieder zu sich gekommen. »Ich komme, Andi!« schrie sie. »Warte! Gleich bin ich bei dir!« Vor Freude war sie herumgewirbelt. Mit einem surrenden Ton zerriß der Faden, der sie zurück ins Erdgeschoß geleiten sollte, und Conny Berg war, als fiele sie in ein tiefes, schwarzes Loch. * Ich fuhr über den Rügendamm in Richtung Norden. Das Haus, in dem Paul Johannsen wohnte, befand sich in Altefähr, der erste Ort auf Deutschlands größter Insel. Auf dem Beifahrersitz stand mein Einsatzkoffer. Darin steckten einige bei meinen früheren Fällen bewährte Gegenstände. Weihwasser, meine SIG Sauer P 6, Silberkugelmunition, der 30
armenische Dolch… Der Verkehr wurde zunehmend dichter. Ich trat auf die Bremse und reduzierte die Geschwindigkeit auf 20 km/h. Jeder, der auf die Insel Rügen wollte, mußte durch das Nadelöhr Rügendamm. Besonders in der Badesaison erwies sich dieser Umstand als äußerst nervig. Stau total! Okay, tagsüber fuhr noch die Fähre Glewitz-Stahlbrode, doch für viele Anreisende wäre es dorthin ein großer Umweg gewesen, da steckten sie lieber im Stau. Vor mir leuchteten die Bremslichter eines Trucks auf. Stopp! Ich hielt an. Auch der Gegenverkehr war zum Erliegen gekommen. Neben mir hielt ein Toyota Corolla. Eine Dame im mausgrauen Kostüm saß hinterm Steuer. Offenbar geistesabwesend fingerte sie an ihren Ohrclips. Ich schenkte ihr einen bewundernden Blick und machte dabei den Hals lang. Plötzlich drehte die Schöne ihren Kopf und schaute mir in die Augen. Ich zwinkerte fröhlich. Sie ließ die Scheibe herunter, legte lässig den Ellbogen auf das Türgummi - und lächelte. Ich bemerkte, daß ihre Bluse aufklaffte, und sofort stand ich unter Strom. Tessa verzeih! »Wie geht es Ihnen?« rief ich hinüber. »Großartig«, antwortete sie und lachte freundlich. »Und Ihnen?« »Auch großartig.« Da zerfetzte der dumpfe Ton einer Hupe unseren Flirt. Es ging weiter. Bedauernd riß ich meinen Blick von der knusprigen Toyota-Fahrerin und legte den ersten Gang ein. Im Schneckentempo zuckelte ich über den letzten Teil der Brücke. Als ich den Rügendamm hinter mir hatte, blinkte ich links und bog auf eine Kopfsteinpflasterstraße ab. Vorbei an einem kleinen Friedhof fuhr ich zur Strandpromenade und hielt nahe eines Bootssteges. Abgesehen vom Gebäude der Gemeindeverwaltung wirkten die Häuser ringsum, als lägen ihre besten Zeiten mindestens dreißig Jahre zurück. Der Aufschwung Ost schien einen großen Bogen um Altefähr gemacht zu haben. Wo man hinschaute, Abrißhäuser, 31
bröckelnde Fassaden, zugenagelte Fenster, löchrige Dächer. Neben der ruinierten Tür der ehemaligen HO-Gaststätte Am Sund hing ein vergilbtes Schild: Zu verkaufen! Aber immerhin gab es einen Parkscheinautomaten. Als ich ausstieg, hätte es mich nicht gewundert, wenn jemand auf mich zugetreten wäre, um ein paar Mark Kurtaxe zu kassieren. Ich stand da, pumpte meine Lungen voll Luft, die nach Salzwasser und Seegras duftete, und blickte auf die andere Seite des Strelasunds hinüber. Die imposanten Umrisse der Stralsunder Altstadt ragten in den bleigrauen Himmel. Drei Minuten später stand ich einem Mann in Strickjacke und dunkelblauen, ausgebeulten Präsent-Hosen gegenüber. Er war ziemlich blaß und hatte dunkle Ringe unter den Augen. »Herr Johannsen?« Ich gab ihm die Hand. »Ich bin Mark Hellmann aus Weimar. Mein Vater läßt Ihnen schöne Grüße ausrichten.« »Danke.« Seine Stimme war brüchig, aber sein Händedruck war der eines Athleten. Ich folgte ihm in die Wohnung. Johannsen drückte die Tür zu und sperrte ab. Aus der Küche walzte eine dicke Frau mit Dauerwelle und Tortenheber in der Hand. Als sie mich sah, wischte sie die Hände an ihrer Kittelschürze ab und bekreuzigte sich. »Gott sei Dank, daß Sie da sind, Herr Hellmann!« Sie tätschelte meinen Oberarm. »Es ist nett, daß Sie sofort gekommen sind. Mein Paul ist außer Rand und Band. Eigentlich nicht seine Art. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? Oder möchten Sie sich erst mal ausruhen? Die Fahrt war sicher kein Zuckerlecken. Bei uns oben gibt's ja noch keine Autobahn. Kommen Sie ins Wohnzimmer. Ich habe Kaffee und Kuchen…« »Hedwig!« maßregelte sie ihr Mann. »Könntest du bitte einen Gang zurückschalten?« »Ich werde Kaffee einschenken.« Sie lief geschäftig in die Küche. Irgendwie erinnerte mich Hedwig Johannsen an Lydia, meine Mutter. Die beiden Frauen waren aus demselben Holz geschnitzt. Ich folgte dem Hausherrn ins Wohnzimmer. Wir setzten uns an den Couchtisch, auf dem das Kaffeegeschirr eingedeckt war. Sogar eine Kerze brannte. Ich sah mich um. 32
Obwohl die Wende ein Jahrzehnt zurücklag, gab es im Zimmer kaum ein Teil, das aus jetziger Produktion stammte. Links stand die zu DDR-Zeiten allgegenwärtige CARATAnbauwand, daneben eine Kommode im Stil der 50er mit einem Robotron-Fernseher darauf. Gegenüber eine altmodische PlüschSitzgruppe. In den Couchecken zwei Kissen, deren Bezüge selbst bestickt waren. Die Wände waren mit Erfurter Rauhfasertapete beklebt und weiß übergerollt. Ich kam mir vor wie auf einem Nostalgietrip. Hätte Johannsen den Fernseher eingeschaltet und es hätte dann Sudel-Edes Propaganda gegeben, ich wäre nicht verwundert gewesen. Der alte Mann schien mich genau beobachtet zu haben. »Wir sind halt einfache Leute«, sagte er. Ich spürte, daß ich rot wurde. »Gibt es Neuigkeiten?« erkundigte ich mich. Er seufzte, schlug die Augen nieder und fummelte an seinem Löffel, der neben der Kaffeetasse lag. »Und ob! Doch es hat nichts mit dem zu tun, weswegen Sie hier sind.« Er hob seinen Blick. »Regina, meine Tochter, hat eben angerufen. Die Ärmste ist mit ihren Nerven am Ende. Cornelia, meine Enkelin, sie ist vergangene Nacht nicht nach Hause gekommen.« »Wie alt ist Ihre Enkelin?« »Siebzehn.« »Naja, das könnte triftige Gründe haben. Mädchen mit siebzehn sind heutzutage schon ziemlich - selbständig.« Paul Johannsen schüttelte den Kopf. »Conny ist da anders. Sie hätte Regina angerufen. Conny hat immer angerufen, wenn sie vorhatte, später nach Hause zu kommen. Auf sie ist Verlaß.« »Haben Sie die Polizei verständigt?« »Ja, natürlich.« Johannsen zeigte auf ein großes Foto im Standrahmen, das auf der Kommode neben dem Fernseher stand. »Das ist Cornelia. Ein hübsches Mädchen, nicht wahr?« Ich betrachtete das Bild. Lockiges Blondhaar, ein verschmitzter Blick, den Mund zu einem fröhlichen Lächeln verzogen. »Wirklich, sehr hübsch«, meinte ich beeindruckt. Die Tür ging auf, und Frau Johannsen brachte den Kaffee. Ohne einen Tropfen zu vergießen, schenkte sie ein und legte Kuchen auf die Teller. Dann setzte sie sich zu uns. Während wir aßen, informierte mich mein Gastgeber über die 33
kuriosen Umstände, die ihn veranlaßt hatten, meinen Adoptivvater aufzusuchen. Aufmerksam hörte ich zu. Beim zweiten Stück Kuchen fragte ich: »Waren Sie inzwischen noch einmal an der Stelle, wo Sie dieses merkwürdige Gebilde gefunden haben?« »Selbstverständlich.« »Und?« Er zuckte die Achseln. »Fehlanzeige. Habe nichts Ähnliches entdeckt.« Frau Johannsen warf mir einen dankbaren Blick zu. »Auf alle Fälle sind wir heilfroh, daß Sie sich der Sache annehmen, Herr Hellmann.« Verschwörerisch senkte sie die Stimme. »Ich weiß, was Sie bisher geleistet haben. Natürlich behalte ich es für mich. Bin doch keine Plaudertasche. Da wäre beispielsweise Ihr Abenteuer mit diesen schauderhaften Skeletten, die Ihrer Freundin Tessa Hayden ganz schön zugesetzt haben (Siehe MH 32). Paul hat mir…« »Hedwig!« Ihr Mann legte seine knorrige Hand auf ihre. »Würdest du bitte dein Mundwerk zügeln? Ich habe Herrn Hellmanns Vater Diskretion zugesichert. Und was tust du?« »Ich bin ja schon still.« Peinlich berührt nippte sie an der Kaffeetasse. Eine Viertelstunde später stieg Paul Johannsen mit mir in den Keller hinab. Seine Frau blieb oben. Er hatte sie darum gebeten. Kaum hatte der alte Mann die Holzgittertür, die in seinen Hobbyraum führte, aufgeschlossen, zuckte es merklich an meinem Ringfinger. Mein magischer Siegelring! Schlagartig begann er zu glühen. Am Anfang war es nur ein leichtes Glimmen, begleitet von einem Kribbeln. Doch als wir ganz nahe an die Kiste traten, Johannsen den Deckel hob und ich in die Hocke ging, um das Teil ausgiebig unter die Lupe zu nehmen, stach es mir wie eine glühende Nadel in die Achselhöhle. Die Kiste war sattgrün lackiert, aus Hartholz, also überaus stabil. Eine ausrangierte Munitionskiste aus den Beständen der ehemaligen Nationalen Volksarmee. An den Längsseiten waren Metallgriffe eingearbeitet. Johannsen hatte all seine Mineralien ausgeräumt und auf ein Wandregal gelegt. Ich betrachtete das Loch im Kistenboden. Es 34
sah aus, als wäre es mit einem dicken Bohrer hineingetrieben worden. Die Ränder waren spiegelglatt, die Späne lagen nicht mehr da. Offensichtlich hatte Frau Johannsen sie weggefegt. »Was halten Sie davon?« fragte Johannsen. Ich schwieg eine Zeitlang. Grübelnd sah ich zu, wie der Rentner schnaufend die Kiste zur Seite rückte. Das Loch im Betonboden kam zum Vorschein. Es war kreisrund und hatte einen glatten Rand. »Wie tief ist es?« wollte ich wissen. Johannsen zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Ich habe mal eine Rohrspirale durchgedreht, so zirka zwanzig Meter. Aber ans Ende bin ich nicht gekommen.« Ich bewegte meine Hand mit dem Ring über dem Loch hin und her. Mein Ring flimmerte und prickelte wie verrückt. Obwohl der Keller unbeheizt war, wurde mir immer wärmer. Als eine Schweißperle von meiner Stirn in das geheimnisvolle Loch tropfte, zischte es, und Dampf quoll heraus. Dann, ganz plötzlich, kühlte der Ring ab. Auch das Flimmern erlosch. Johannsen blickte mich fragend an. »Sie machen so ein besorgtes Gesicht«, meinte er. »Etwas nicht in Ordnung?« Ich nickte zerknirscht. »Was es auch sein mag, irgendwie schafft es dieses Höllending, sich zu tarnen. Mein Ring spricht nicht mehr auf seine Aktivitäten an.« »Ganz schön gewieft für einen… Stein, nicht wahr?« »Ich nehme an, das Ding hat inzwischen eine völlig andere Form. Der Stein scheint nur eine Art Kokon gewesen zu sein.« Ich schraubte mich in die Höhe. Nachdenklich wischte ich mir mit dem Handrücken über die feuchte Stirn, lehnte mich gegen eines der Wändregale und schob meinen Ring am Finger auf und ab. »Haben Sie einen Anhaltspunkt?« forschte Johannsen. »Bis jetzt nicht. Keine Ahnung, welche Kreatur für diesen Spuk verantwortlich ist. Auf alle Fälle ist dieses Steinding gefährlicher als Salzsäure. Sie haben unerhörtes Glück gehabt, Herr Johannsen.« »Wieso?« »Sie hätten sich lebensbedrohlich verätzen können.« »Zum Henker, Sie haben recht!« Er starrte erst mich, dann 35
seine rechte Hand an. »Wenn sich das Steinding durch Holz und Estrich fressen kann, dann auch durch menschliches Gewebe. Vielleicht kommt das Dreckszeug aus irgendeinem Labor?« »Nein, kein Labor. Mein Ring hat zwar nur kurz aufgeleuchtet. Aber ich bin dennoch sicher: Wir haben es mit einer übernatürlichen Erscheinung zu tun.« »Was werden Sie tun?« »Herausfinden, wo das Steinding jetzt steckt.« Ich knöpfte mein Hemd auf und machte meine Brust frei. Auf der linken Seite hatte ich ein Hexenmal, einen siebenzackigen Stern, völlig unempfindlich gegen mechanische Reize. Ich hätte eine glühende Zigarette darauf ausdrücken können, ohne etwas zu spüren. Wenn ich meinen Silberring auf das Mal preßte, reagierte er auf sonderbare Weise darauf. »Was tun Sie da?« Paul Johannsen betrachtete mich entgeistert. »Sie werden sich erkälten, Herr Hellmann.« »Ich muß herausfinden, wohin Ihr wanderlustiges Steinchen abgedampft ist. Passen Sie auf!« Ein Lichtfaden, dünn wie ein Laserstrahl, zuckte aus dem Ring. Damit vermochte ich Runen aus dem altgermanischen FutharkAlphabet auf den Boden zu schreiben, beispielsweise das Wort Suche. Der Strahl tanzte wild auf dem Estrich herum, als wäre er überglücklich, mir behilflich sein zu dürfen. Aber nach und nach blieb er auf einer Stelle des Wandregals haften, in dem Eingemachtes lagerte. »Er zeigt in südöstliche Richtung«, murmelte ich. Paul Johannsen ließ kein Auge von mir. Urplötzlich klickte es in meinem Schädel. Im selben Moment senkte sich ein riesiger Fledermausflügel vor meinen Blick. Ich sah buchstäblich schwarz! Dann tauchte ein Flammenschwert auf, drehte sich einmal um die eigene Achse und zerfetzte das Dunkel in kleine Bruchstücke. Gleichzeitig spürte ich einen massiven Druck unter meiner Kopfhaut. »Herr Hellmann?« fragte Johannsen besorgt. »Geht es Ihnen nicht gut?« Seine Stimme schien von weither zu kommen, als riefe man jemandem bei Sturm etwas über einen Fluß zu. Da tauchte ein ekelerregendes Bild in mir auf. Ich sah die 36
wabernde, amorphe Masse aus meinem Traum. Grünlicher Qualm drang aus ihren schuppigen Poren. Rasch wurde er flüssig und verwandelte sich in klebrigen Schleim. Das Ding ähnelte dem Anblick des Vollmondes, mit seinen Kratern und geheimnisvollen Schatten. Wo bist du? Ich war voll konzentriert und wartete auf einen Fingerzeig. Plötzlich begann ein innerer Impuls in mir aufzuflackern. Schemenhafte Konturen eines rötlichen Gebäudes tauchten auf. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich es völlig klar, dann verschwamm das Bild im Nichts. Ich zog meine Augendeckel hoch. Der Lichtfinger meines Ringes deutete noch immer auf das Eingemachte. »Sind Sie wieder in Ordnung?« Paul Johannsen legte kumpelhaft die Hand auf meine Schulter. »Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.« »Keine Bange, im Augenblick besteht keine Gefahr.« Er atmete auf. »Und? Haben Sie wenigstens einen Anhaltspunkt, wo dieses Steinding steckt?« »Nicht nur das«, erwiderte ich gelassen. »Ich denke, ich weiß jetzt, wo sich das Scheusal eingenistet hat.« Dem Rentner klappte der Unterkiefer herunter. »Sie wissen…?« Er verstummte. Ich stopfte mein Hemd in die Jeans, knöpfte es zu und nickte bedächtig. »Existiert in der Nähe ein verlassenes Fabrikgelände? Mit einem ungefähr dreihundert Quadratmeter großem Backsteingebäude drauf?« Paul Johannsen faltete seine Stirn. »Naja«, meinte er zögernd. »Sogar mehrere.« »In der unteren Etage gibt es keine Fenster«, präzisierte ich. »Und rechts, neben dem Eingangstor, hat jemand in Schulterhöhe einen Graffitispruch gesprüht. Alle Macht dem Volke. Das wurde später erst ergänzt.« Der alte Mann nickte fleißig. »Da kenn ich nur eines«, sagte er mit kratziger Stimme. * In Boxershorts und T-Shirt saß Jimmy Möller in seinem Zimmer. 37
Die Beine auf dem Tisch, blätterte er gelangweilt in einem GruselComic. Nebenbei paffte er einen Glimmstengel. Es war vormittags, kurz vor elf. Normalerweise hätte der 19jährige auf Arbeit im Bildungszentrum am Ziegelgraben sein müssen. Er war im dritten Lehrjahr, und die Gesellenprüfungen standen bevor. Doch als Jimmy morgens aufgestanden war, verwarf er den Gedanken, zum Dienst zu traben. Schnurstracks marschierte er zum Arzt, behauptete, ihm sei schlecht und wurde prompt für eine Woche krank geschrieben. Jimmy versuchte, sich auf die Handlung der Horror-Story zu konzentrieren, die er gerade las. Es ging um ein Spukschloß in Schottland. Angeblich trieb ein dämonischer Werwolf in Vollmondnächten darin sein Unwesen. Aber keiner der Betroffenen wollte daran glauben. Bis der Schloßherr eines Nachts dem Schwarzblüter Auge in Auge gegenüberstand. Der Adlige fiel um wie ein Sack Sülze. Der Werwolf verdünnisierte sich. In einer Kammer schlüpfte er aus seinem Wolfspelz und verwandelte sich in den ungeratenen Sohn des Schloßherrn. Aber plötzlich stand der ehrwürdige Sohnemann einem tatsächlichen Geist gegenüber… Jimmys Vater kam ins Zimmer. »Muß mit dir reden, Jimmy«, sagte er. Gerhard Möller war vierzig, ein stuckiger Mann mit kräftigen Unterarmen und gutmütigem Gesicht. Er trug einen blauen Jogginganzug und Gummilatschen. Jimmy drückte seine Kippe aus, behielt aber die Füße provozierenderweise auf dem Tisch. Unwirsch sah er seinen Vater an. »Was gibt's, Alter?« raunte er. Möller blieb an der Tür stehen. Stirnrunzelnd wedelte er den Rauch beiseite, der ihm entgegenschlug. »Solltest mal lüften, Junge!« Jimmy starrte ihn an. »Das ist mein Zimmer! Ich bin volljährig. Da kann ich tun und lassen, was ich will. Okay?« »Okay okay«, beschwichtigte ihn der Vater. »Bleib auf dem Teppich. Wieso bist du denn so geladen? Hast du wieder dieses Zeug genommen?« »Das geht dich nichts an. Was willst du?« »Frau Berg hat angerufen«, sagte der Vater. »Sie macht sich 38
Sorgen um ihre Conny. Das Mädchen ist die Nacht nicht nach Hause gekommen. Weißt du was?« Jimmys Augen flackerten. Grimmig warf er das Comic-Heft auf den Tisch, nahm die Beine runter und stand auf. Dann marschierte er zum Fenster und schaute hinaus auf die Straße. »Jimmy! Du mußt mir sagen, wenn du etwas weißt!« »Einen Scheißdreck muß ich.« »Reiß dich zusammen. Die Frau ist am Ende ihrer Kräfte. Sie hat sogar die Polizei alarmiert.« »Die Bullen?« Jimmy drehte sich um. »Na was denn sonst? Dem Mädel könnte ja was passiert sein. Du weißt, in Stralsund ist schon so manche auf ewig von der Bildfläche verschwunden. Also los! Wenn du etwas weißt, sage es mir!« Jimmy überlegte. Conny und Andi saßen also immer noch in diesem Gehöft fest. Sein Plan war aufgegangen wie ein Hefekuchen. Niemand hatte sie befreit. Todsicher schwitzten Romeo und Julia Blut und Wasser vor Angst. Pah - DJ Andi T. in der Mausefalle. Recht geschah ihm, diesem großkotzigen Proll! »Jimmy!« Betont lässig zündete sich Jimmy eine frische Zigarette an. »Ich hab keine Ahnung, wo Conny steckt«, log er. »Bin doch nicht ihr Kindermädchen.« »Aber ihr seid in einer Clique.« »Trotzdem nicht.« Jimmy blieb dabei. »Vielleicht ist sie auf 'nem Trip, hängt irgendwo auf einem Rave herum, zugedröhnt bis zum Anschlag. Ich weiß es nicht. Sollen sich die Bullen um die Tusse kümmern.« »Wie redest du bloß über sie?« Gerhard Möller wurde blaß. »Ich denke, ihr seid befreundet?« »Pustekuchen«, widersprach der Junge. »Seit dieser Tromp einen auf DJ macht, himmelt Conny ihn an, als sei er Juan Atkins persönlich.« »Wer ist denn das schon wieder?« »The Godfather of Techno, ein DJ aus Detroit.« Möller nickte. Er war jetzt so schlau wie zuvor. »Du weißt also nicht, wo sie sein könnte?« Jimmy lutschte an der Kippe. »Erraten«, sagte er und kniff böse die Augen zusammen. »Und nun schieb ab, Alter!« Gerhard Möller schenkte seinem Sprößling einen traurigen Blick, 39
dann ging er. Jimmy pflanzte sich mit dem Hintern auf den Tisch, grinste hinterhältig und blies blaue Kringel gegen die Decke. »Meinetwegen könnt ihr verrotten, bis der Jüngste Tag kommt«, murmelte er haßerfüllt. »Wenn's euch langweilig wird, könnt ihr ja Händchenhalten.« Mit einemmal war Jimmy richtig guter Laune. * Regina Berg stand neben dem Telefontischchen in der Diele. Unverwandt starrte Connys Mutter den Apparat an. Noch nie zuvor hatte sie so sehnsüchtig auf ein Klingeln gewartet. Auf dem Polizeipräsidium hatte man ihr versprochen, sie umgehend zu informieren, wenn es Neuigkeiten bezüglich des Verbleibs ihrer Tochter gab. Doch das Telefon schwieg. Frau Berg hatte eine entsetzliche Nacht hinter sich. Stundenlang hatte sie wach gelegen. Erst als der Morgen graute, war sie ein wenig eingeschlummert. Sofort war ein schrecklicher Alptraum zur Stelle. Er gaukelte ihr grauenerregende Bilder vor, bis sie von ihrem eigenen Geschrei aufgeweckt wurde. Ab fünf Uhr wachte sie neben dem Telefontisch. Um sechs rief Regina Berg ihre Arbeitsstelle an. In knappen Worten schilderte sie ihrem Chef ihre Situation. Herr Niemann wirkte hörbar betroffen, als er erfuhr, daß die Tochter seiner Mitarbeiterin vermißt wurde. Sofort bot er seine Hilfe an. Er schlug sogar vor, eine Kollegin ihrer Wahl zu ihr zu schicken, die sich um sie kümmerte. Regina Berg hatte abgelehnt. Doch es tat ihr gut, zu wissen, daß jemand Anteil nahm. Vom ansonsten so gestrengen Niemann hätte sie das gar nicht vermutet. Die Minuten zogen sich endlos in die Länge. Connys Mutter stand da, starrte und wartete, ohne einen Bissen zu essen, ohne einen Schluck zu trinken. Kurz vor zwölf, mittags, klingelte es. Als hätte sie eine Giftschlange gebissen, schnellte ihre Hand vor. Sie riß den Hörer vom Gerät, preßte ihn ans Ohr und lauschte hinein. »Ja - hallo?« »Ich bin's, Mädel, deine Mutter.« »Ach, Mutter…« Regina Berg 40
seufzte enttäuscht. »Beruhige dich, Gina. Aufregung ist nicht gut für dein Herz. Alles wird gut werden. Die Polizei in Stralsund ist auf Draht. Sie werden jeden Stein umdrehen, bis sie deine Conny gefunden haben.« »Was gäbe ich dafür, wenn du recht behieltest, Mutter. Dauernd sehe ich Conny vor mir, und ich mache mir solche Vorwürfe…« »Das brauchst du nicht«, versetzte Hedwig Johannsen burschikos. »Spätestens heute abend hast du Conny wieder zurück. Ich weiß es.« »Dein Wort in Gottes Ohr.« Ohne Übergang wechselte die Anruferin das Thema. »Hab ich dir schon von diesem Mark Hellmann aus Weimar erzählt?« Die Worte sprudelten aus ihr heraus wie das Wasser aus einem isländischen Geysir. »Heute morgen kam er angerauscht. Du weißt doch, wegen dieses ulkigen Steines, den dein Vater auf dem Dänholm gefunden hat.« »Ja, ich erinnere mich.« »Vater meint, dieser Hellmann hätte übersinnliche Kräfte. Als sie unten im Keller waren, wo Vater seine Mineralien aufbewahrt, gingen seltsame Dinge vor sich. Ich nehme an, Hellmann ist ein Weißmagier. Als ich ihn danach fragte, wiegelte er ab und tat, als hätte alles seine Ordnung. Aber komisch gegrinst hat er dabei. Du, Gina?« »Hm?« »Glaubst du, es gibt Wunder?« Regina Berg schluchzte. »Wunder? Wenn es welche gäbe, könnte ich jetzt eines davon gebrauchen.« »Laß den Kopf nicht hängen, Mädel. Wie wär's? Möchtest du zum Mittagessen zu uns nach Altefähr kommen? Es gibt gefüllte Paprikaschoten, mit Wildreis und gemischtem Rohkostsalat. Schon als kleines Mädchen…« »Es geht nicht, Mutter.« »Aber warum?« Regina Berg wischte einen Fussel von der Tastatur des Telefonapparates. »Ich möchte hier sein, wenn die Polizei anruft, weißt du? Außerdem würde ich sowieso keinen Happen runterkriegen, solange ich nicht weiß, was mit meiner Conny passiert ist.« »Gräm dich nicht. Versuch, dich irgendwie abzulenken.« 41
Connys Mutter nickte. »Du, Mutter, sei nicht böse, wenn ich jetzt auflege. Die Polizei könnte mich in diesem Augenblick gerade benachrichtigen wollen. Also, tschüs.« »Gott schütze dich, mein Kind.« Regina Berg legte den Hörer auf, wartete zehn Minuten und kam dann auf die Idee, selbst einmal die Polizei anzurufen. Möglicherweise hatten sie Conny gefunden und nur noch keine Zeit gehabt, sie zu informieren. Ihre Finger zitterten, als sie die Nummer eingab. Es tutete zweimal, und der diensthabende Beamter nahm ab. Als er hörte, um was es ging, senkte er betrübt seine Stimme. Regina Berg bemühte sich, ihre Tränen zurückzuhalten. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, aber Conny Berg hatte tapfer die Zähne zusammengebissen. Zentimeter für Zentimeter hatte sich die 17jährige die Stufen der Eisentreppe hinuntergetastet. Obgleich die Angst sie fast um den Verstand brachte, tappte sie, die Arme weit ausgestreckt, in die Richtung, aus der Andi ständig Laut gab. »Ich komme dir jetzt entgegen«, hörte sie ihn sagen. »Andi, ich bin ja so froh…« Conny stockte, von ihren Gefühlen überwältigt. »Bleib cool, Baby. Deine Stimme klingt schon ganz nah. Noch ein paar Schritte, und du hast es hinter dir.« Die Aussicht, in wenigen Sekunden ihren Andi in die Arme schließen zu können, beflügelte das Mädchen. Ihr Herz wummerte, ihr Puls raste. Aber diesmal nicht vor Angst, sondern vor Freude. Plötzlich ertasteten ihre Fingerspitzen etwas Weiches, Warmes. Andis Hand. Er hielt sie ihr entgegen. Conny jubelte auf. Überglücklich ergriff sie die Hand und sank dem Freund in die Arme. Zärtlich streichelte Andi ihr Haar. »Ich bin ein Idiot«, wisperte er. »Wie kommst du darauf?« »Naja. Vorhin, als wir hier reinkamen, hab ich noch gedacht, du wärst ein Angsthase. Sag, daß ich ein blöder Idiot bin!« verlangte er. Conny hob den Blick, dorthin, wo sie sein Gesicht vermutete. »Andi, ich glaube, ich hab mich in dich verliebt«, flüsterte sie offenherzig. »Als du so jämmerlich geschrien hast, dachte ich, es 42
zerreißt mir das Herz. Ich hatte unwahrscheinliche Angst um dich.« »Komisch«, grübelte Andi. »Auf einmal sauste mir so ein glibbriger Tropfen in den Nacken. Fühlte sich an wie Öl oder Schmierfett. Das Zeug war eiskalt. Mir war, als hätte ich an eine Stromleitung gefaßt. Dann merkte ich bloß noch, wie meine Beine zu Müsli wurden. Plautz! Weg war ich!« »Du, warte mal!« Conny löste sich aus der Umarmung. Sie trat einen Schritt zurück, strich mit einer Hand über Andis Kopf und betastete prüfend seinen Nacken. »He, das kitzelt!« Er kicherte albern. »Seit wann bist du kitzlig?« Plötzlich bohrte sich Connys Zeigefinger in eine Vertiefung in Andis Genick. Das Loch befand sich unterhalb des Haaransatzes. »Du hast da was«, meinte sie. »Wo?« »Im Nacken.« »Ich hatte noch nie was im Nacken.« »Fühl doch mal!« Andi Tromp griff sich ins Genick. Er traf Connys Hand und zwickte sie scherzhaft in einen Finger. »Meinst du das da?« Conny hörte ihn glucksen. »Wenn mich nicht alles täuscht, gehört das Teil zu deinem hübschen Body.« »Ne, du. Ehrlich!« Conny blieb hartnäckig. »Du hast ein Loch im Nacken. Ich hab es genau gespürt.« Andi schien der Umstand nichts auszumachen. Er schlang Conny die Arme um den Hals und sagte mit fremdartig klingender Stimme: »Sicher hast du dich geirrt, Baby. Meine Löcher kenn ich eigentlich ganz gut.« »Du nimmst mich nicht ernst.« »Ich nehme dich ernst, wenn du mir einen Kuß gibst.« »Nach Küssen ist dir?« Verständnislos schüttelte Conny den Kopf. »Mein lieber Schwan! Du kannst aber fix umschalten. Wir hängen hier in einer stockdüsteren Bude herum, und du? Läßt deinem Trieb freien Lauf. Bist du sicher, daß es dir gutgeht?« »Einen Kuß!« Jäh spürte die 17jährige, wie sich eine kalte Hand unter ihren Pullover schob und an ihrem Büstenhalter zu schaffen machte. »Andi!« Conny wurde es zu bunt. »Laß gefälligst diesen Unsinn!« 43
»Erst einen Kuß!« »Hast du nen Spleen?« fuhr sie ihn an. »Ich habe keine Lust, mich hier von dir flachlegen zu lassen.« Andi Tromp schien wie ausgewechselt. »Wieso nicht?« höhnte er. »Du hast es doch noch gar nicht probiert.« »Dein Timing ist unter aller Kanone.« Andi lachte. Mit einer Hand zupfte er an einem der Körbchen. »Hast du nicht gerade eben gesagt, du liebst mich?« »Vergiß es!« grollte sie. »Und nimm endlich deine Finger von meinem Busen.« »Diese süßen Möpse haben es mir angetan. Sie sind so schön groß und warm. Dir wird was entgehen, wenn du weiterhin so störrisch bleibst.« Conny stutzte. Es war überhaupt nicht Andis Art, ein Mädchen zu bedrängen, wenn die nicht wollte. Oft hatte er ihr zu verstehen gegeben, daß er solche Typen wie die Pest haßte. Andi war eher ein Vertreter der sanften Tour. War… Gerade schlüpfte seine Hand in ihren BH. Mit seinen eiskalten Fingern begann er ihre Brüste zu kneten. Als die Fingerkuppen eine Brustwarze umschlossen und daran festzuwachsen schienen, machte Conny dem Spiel ein Ende. Sie holte aus und haute ihm eine runter. Obwohl tiefe Dunkelheit sie umgab, klatschte es laut. Volltreffer! Ihre Handfläche brannte. Blitzartig zog Andi seine Hand unter ihrem Pullover hervor. »Abgekühlt?« fauchte Conny. »Du, ich warne dich! Versuch das nicht noch einmal! Kapiert? Sonst lernst du mich kennen!« Der Junge atmete schwer. »Shit!« meinte er nach einer Weile. »Tut mir echt leid, Conny. Ich weiß nicht, was da eben in mich gefahren ist. Mit einemmal war mir, als wäre ich ferngesteuert. Ich konnte nichts dagegen machen.« »Pah! - Denn sie wissen nicht, was sie tun!« zitierte Conny aus dem »James Dean«-Film. »Komm mir bloß nicht mit solchem Humbug. Da lachen ja die Hühner.« »Ich weiß, es klingt unglaublich.« Andis Stimme klang beschämt. Conny sagte nichts. Ihre Gedanken drehten sich um Andis 44
Aussetzer. Wie konnte er es wagen, sie auf eine derart billige Art und Weise zu bedrängen? Das war fies und gemein. Sie war bitter enttäuscht. Ein Gutes hatte Andis Egotrip jedoch: Ihre Angst hatte sich verflüchtigt. Jetzt schwenkte die Wut das Zepter. Conny fragte sich, wie es weitergehen sollte. Sie kam zu keinem Resultat. »Conny?« »Hm.« »Hast du auch solchen Durst?« »Nein«, erwiderte sie hart. »Ich bin satt bis Oberkante Unterlippe.« »Kannst du es nicht einfach vergessen, was eben passiert ist?« flehte er. »Ich möchte es gern rückgängig machen. Gib mir eine Chance.« »Ihr Bengels seid alle gleich. Habt nur eins in der Rübe. Ich brauche wohl nicht zu sagen, was.« »Du bist ungerecht.« »Und du ein Grabscher!« Auf dem Absatz vollführte Conny eine Kehrtwendung. Ihr war, als hätte sie im monotonen Trommeln des Regens ein anderes Geräusch gehört. Und es kam nicht von drinnen. »Andi!« Sie bekam vor Freude eine Gänsehaut. »Hör mal! Da kommt doch jemand.« »Klingt wie ein Motor, noch weit weg, aber es scheint näher zu kommen.« Conny packte seine Hand. »Komm schon! Jetzt müssen wir ordentlich Radau machen. Sonst fahren die noch vorbei.« * Vom Beifahrersitz lotste mich Paul Johannsen durch die Hansestadt. Als wir von der Greifswalder Chaussee auf einen holprigen Plattenweg in Richtung Andershof abbogen, fing es an zu nieseln. Ich schaltete das Abblendlicht ein. »In fünf Minuten sind wir da«, sagte der alte Mann. Ich hörte, wie seine Stimme vor Erregung vibrierte. Unaufhörlich zupfte er an seinem Sicherheitsgurt, wackelte mit den Schultern und beknabberte seine Unterlippe. Vaters alter Kamerad war hochgradig nervös. Es war kaum noch 45
nachzuvollziehen, daß dieser Mann einst verstümmelte Leichen aus Flugzeugtrümmern geborgen hatte. Möglicherweise machte er sich auch Vorwürfe wegen seines Fundes. Prompt bestätigte sich mein Verdacht. »Wenn nun jemandem etwas passiert ist?« raunte er. »Bloß weil ich alter Depp dieses Ding aufgesammelt hab.« »Hätten Sie es nicht getan«, beruhigte ich ihn, »dann hätte es vielleicht ein kleiner Steppke gefunden. Und das wäre weiß Gott wesentlich schlimmer geworden.« »Das stimmt.« Dankbar sah er mich an. Die Gegend, durch die wir fuhren, wurde zunehmend trostloser. Zu beiden Seiten des Weges wuchs ungebändigtes Unkraut. Dahinter aufgebrochenes, braunes Ackerland. Und über allem dieser unfreundlich bleigraue Himmel. Ich warf Johannsen einen schnellen Blick zu. »Nachher, wenn wir vor Ort sind, bleiben Sie besser erst einmal im Auto.« »Halten Sie das Steinding für so gefährlich?« Ich bemerkte, wie Johannsens Kaumuskeln arbeiteten. Unruhig rutschte er auf dem Sitz hin und her. »Jede übernatürliche Erscheinung birgt Gefahr«, formulierte ich allgemein. »Überhaupt dann, wenn man nicht weiß, mit wem man es zu tun hat. Daher werde ich allein…« Mein Beifahrer murrte. »Sie halten mich für einen alten Tattergreis, nicht wahr?« »Natürlich nicht. Warum sagen Sie so etwas?« Die Scheibenwischer glitten über die Windschutzscheibe. Ich wich einem Schlagloch aus, schaltete in den zweiten Gang und versuchte, in der Waschküche vor mir etwas zu erkennen. Johannsen schwieg. Offenbar fühlte er sich übergangen, weil ich ihn im Auto zurücklassen wollte. Mit einem Kopfnicken deutete er nach vorn. »Sehen Sie!« sagte er. »Da hinten fängt das Fabrikgelände an. Ich überlege gerade, was die früher hergestellt haben. Aber ich komme nicht drauf. Wahrscheinlich verkalke ich.« »Herr Johannsen, reden Sie kein Blech. Für ihre siebzig Lenze sind Sie doch noch gut in Schuß. Und außerdem ist es nicht von Bedeutung, was die da früher fabriziert haben.« »Sie sind ein netter Kerl«, fand er. »Danke für das Kompliment.« Ein zwei Meter hoher Maschendrahtzaun kam in Sicht. Davor 46
parkte ein Trabant. Die Ringe um die Scheinwerfer waren aus Chrom. Der Wagen machte einen außerordentlich gepflegten Eindruck. Ein Liebhaberstück. »Manchmal kommen Angler hierher«, erklärte Johannsen. »Die stellen dann ihren fahrbaren Untersatz vorm Zaun ab, weil der Pfad zum Kleinen Stromrücken oft zu aufgeweicht ist. Man würde steckenbleiben.« »Oder jemand macht sich in der Fabrik zu schaffen.« Ich bugsierte den BMW hinter die legendäre Rennpappe. Als ich ausstieg, vergewisserte ich mich, ob mich meine Vision nicht getäuscht hatte. Der Nieselregen peitschte in mein Gesicht, während ich durch den Maschendrahtzaun spähte. Neben dem Eisentor prangte der Graffitispruch: Alle Macht dem Volke. Demnach war ich hier richtig. Was würde mich erwarten? Ein sonderbares Gefühl machte sich in mir breit. Johannsen steckte seinen Graukopf aus dem Seitenfenster. »Nehmen Sie den Bolzenschneider, den ich Ihnen gegeben habe. Sie werden ihn brauchen. Da hängt nämlich 'ne Kette vor dem Eisentor.« »Okay.« Ich holte das Teil aus dem Kofferraum und nahm auch gleich meinen Einsatzkoffer heraus. Als ich das Schloß aufspringen ließ, meine Pistole vorzog und durchlud, erscholl plötzlich eine Stimme: »Hilfe!!!« Verblüfft ließ ich die Waffe sinken und schaute mich um. Es gab keinen Zweifel. Der Ruf kam aus dem Innern des Gebäudes. »Holen Sie uns hier raus! Wir sind eingesperrt! Fahren Sie nicht weiter!!!« »Kruzitürken!« brüllte Johannsen vom Beifahrersitz. »Herr Hellmann! Die Stimme kenne ich. Das ist…« Er stockte. Gierig schnappte er nach Luft. Dann stieß er die Tür auf, sprang aus dem Wagen und stürzte auf mich zu. »Die Stimme!« Er war außer Rand und Band. »Es ist Cornelia, meine Enkelin.« Schon wollte er weiter. Ich bremste seinen Schwung. Am Ärmel hielt ich ihn fest. »Stopp!« »Äh, wie?« Er starrte mich ungläubig an. »Wir dürfen jetzt nicht überstürzt handeln«, sagte ich ruhig. 47
»Sie wissen, irgendwas steckt in diesem Gemäuer, das nicht geheuer ist. Übereilte Hast wäre Jetzt verkehrt. Wir müssen kühlen Kopf bewahren.« Er versuchte, sich loszureißen. »Haben Sie's nicht auch gehört? Conny hat um Hilfe gerufen. Es ist meine Enkelin, ich schwör es beim Allmächtigen.« »Ein Grund mehr, überlegt zu handeln«, wies ich ihn zurecht. »Ich weiß nicht, wie dieses komische Gebilde, dem wir nachjagen, in diese Bruchbude gelangt ist. Aber ich weiß, es steckt darin. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.« »Aber…« »Sie hüben ja keine Vorstellung davon, welche Tricks die Kreaturen der Finsternis auf Lager haben. Also: Alles wie besprochen! Sie bleiben hier, rühren sich nicht vom Fleck! Ich werde allein nachsehen. Ist alles paletti, gebe ich Entwarnung, und Sie können nachkommen.« Der Rentner war alles andere als meiner Meinung. Steifbeinig stand er da, im Regen, die Fäuste geballt, die Augen zusammengekniffen, aber er fügte sich. »Nun gut«, krächzte er. »Sie sind der Boß.« »Hilfe! Hilfe!« hallte es erneut aus dem Innern der Halle. Ich sah meinen Gefährten scharf an. »Gehen Sie schon«, meinte er. Ich stiefelte los. Das Eisentor war höchstens zehn Meter entfernt. Als ich davorstand, beäugte ich prüfend meinen Ring. Ich wollte herausfinden, ob es eine dämonische Aktivität auf der anderen Seite des Tores gab. Doch das Flimmern blieb aus. Merkwürdig. »Lassen Sie uns hier raus!« flehte eine Mädchenstimme. »Keine Panik«, meldete ich mich. »Heißt jemand von euch Conny?« »Ja, ich!« jauchzte es von drinnen. »Und wer sind Sie? Von der Polente, äh, ich meine von der Polizei?« »Nein, ich bin mit deinem Großvater hier, Conny. Du brauchst keine Angst zu haben.« »Großvater!« Rasch blickte ich mich um. »Einen Augenblick noch, Herr Johannsen!« Dann fragte ich leise gegen die Tür: »Ist euch im Haus etwas aufgefallen? Ich meine, seid ihr allein darin?« 48
Das Mädchen antwortete: »Es ist zwar stockdunkel, aber ich denke, wir sind allein gewesen. Die ganze Zeit.« Ich setzte den Bolzenschneider an ein Kettenglied. »Jemand scheint euch einen üblen Streich gespielt zu haben. Er hat euch eingesperrt und ist verduftet.« Eine Jungenstimme: »Wenn ich den erwische, mache ich Kleinholz aus ihm.« Alles schien in Ordnung. Das Ding, dem ich auf den Fersen war, schien sich woandershin verdrückt zu haben. Es war zum Mäuse melken. Wieder stand ich am Anfang. Verärgert kniff ich das Eisenglied auf. Die Kette rasselte zu Boden, die Tür sprang auf, und ich hob die Pistole. Man kann nie wissen… Doch die unliebsame Überraschung blieb aus. Ein Junge und ein Mädchen stürmten heraus. Vom Scheitel bis zur Sohle waren sie mit Staub bedeckt. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit, schlugen sie die Hände vor das Gesicht. »Andi, wir haben es geschafft!« Das Mädchen schluchzte, und er nahm sie in die Arme. »Dieser gräßliche Alptraum ist endlich zu Ende.« Ich gab Johannsen Entwarnung. »Kommen Sie! Begrüßen Sie Ihre Enkelin!« Der alte Mann rannte, so schnell seine Beine ihn trugen. Während die drei ihr Wiedersehen feierten, marschierte ich zu meinem Koffer, nahm die Taschenlampe heraus und trat in das Gebäude. Womöglich entdeckte ich noch eine Spur oder einen anderen Hinweis. Die Halle war leer. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, hatte man herausgeschleppt und verscherbelt. Die Wände reichten bis hoch zu den Dachbalken. Überall Ölspuren, Reste von Lagerfeuern, Spinnweben und Mäusekot. Ich leuchtete in jeden Winkel. Nichts - bis auf eine flache Mulde von der Größe eines Wohnzimmerteppichs, inmitten des Betonfußbodens. Ich ging in die Hocke und strich mit einem Finger über die Ränder. Sie waren scharfkantig und unregelmäßig, als hätte jemand aus Versehen einen Kübel Säure umgekippt. Das seltsame Ding mußte hiergewesen sein. Und inzwischen schien es eine imposante Größe erreicht zu haben. Mit einem Finger tippte ich auf den Boden, roch an der Kuppe und fuhr 49
angewidert zurück. Im selben Augenblick erklang hinter mir ein wütender Ausruf. Nanu? Über die Schulter blickte ich mich um. »Conny!« Der Bursche war völlig aus dem Häuschen. Er hielt einen aufgeweichten Zigarrenstummel in der Hand und starrte ihn an. »Guck dir das mal an! Die Kippe hier, eine Karo. Als wir reingingen, lag die noch nicht da. - Du, ich kenne nur einen, der das stinkende Kraut pafft!« Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn. Statt dessen ging ich bis ans andere Ende der Halle. Der Lichtkreis meiner Stablampe kroch die Wände empor, erhellte eine Sekunde den verwitterten Dachbalken - und erlosch. Ich stand im Dunkeln. Unwillkürlich zog ich den Kopf zwischen die Schultern. Überrascht fingerte ich an meiner Funzel. »Das ist mir vorhin auch passiert!« rief der Junge herein. »Dabei waren meine Batterien nagelneu.« Wollte ES verhindern, daß ich etwas entdeckte? War das Ding noch hier und belauerte mich? Ich mußte der Sache auf den Grund gehen. Hastig knöpfte ich mein Oberhemd auf, preßte meinen Siegelring gegen das Hexenmal auf meiner Brust und wartete, bis der bleistiftdünne Strahl aktiviert war. Es dauerte nur Sekunden. Dann schwenkte ich den Ring durch die Luft und schrieb die Runen für das Wort Licht auf den schmutzstarrenden Fußboden. Der Lichtfaden, der aus meinem Ring strahlte, schwoll zu einem oberschenkeldicken Balken an. Die Halle wurde in gleißendes Licht getaucht. Draußen ertönten Rufe der Überraschung. Ich verengte meine Augen. Jetzt sah ich jedes noch so klitzekleine Detail. Mein Blick fiel auf die Eisentreppe. Ich ließ den Strahl hinauf huschen und folgte ihm. Ein innerer Impuls suggerierte mir, daß die Lösung des Rätsels nur dort oben zu finden war. Unversehens knirschte es unter mir. Metall scheuerte sich an Metall. Die Stufe, auf der ich stand, gab nach, sackte einfach weg. Ich strauchelte, und fast wäre ich gestürzt. Doch meine Reflexe bewahrten mich davor. Ich bekam den eisernen Handlauf zu fassen, hielt mich fest und hüpfte auf die nächsthöhere Stufe. Sie quittierte das Gewicht 50
meines Körpers mit einem zornigen Ächzen, hielt aber. Unbeirrt stieg ich höher, bis ich eine Plattform erreichte. Ich lenkte den Lichtstrahl durch den Raum. Fiebrige Erwartung hatte von mir Besitz ergriffen. * Die Fäuste geballt, stand Andi Tromp vor der braunlackierten Wohnungstür. Er quetschte seinen Daumen auf den Knopf, über dem auf einen ovalen Emailleschild G. Möller stand. Er hörte es im Korridor läuten. Aber in der Wohnung tat sich nichts. Der 19jährige hoffte inbrünstig, daß der Saukerl Jimmy Möller zu Hause war. Wahrscheinlich lag der faule Sack in seiner Bude, die Kopfhörer auf den Löffeln und hörte Musik. Erneut drückte Andi auf die Klingel. Diesmal länger als beim erstenmal. Er wartete. Im Treppenhaus roch es nach Bratkartoffeln. Irgendwo schimpfte eine schrille Frauenstimme. Gegenüber rief ein Kleinkind nach seiner Mutter. Jimmy schien ausgeflogen zu sein - Shit! Andi boxte gegen die Tür. Drei Atemzüge später ratschte ein Schlüssel ins Zylinderschloß. Die Tür ging auf, und Jimmys pausbäckiges Babygesicht guckte verdattert durch den schmalen Spalt. »Andi? Was willst du denn hier?« Jimmy schien abgeruht zu haben. Schläfrig reckte er sich und gähnte. Auf seiner linken Wange war eine große, rote Druckstelle. Da knallten Andi Tromp die Sicherungen durch. Im Stile eines Ninja-Kämpfers rammte er einen Fuß gegen die Tür. Jimmy schrie auf. Die Klinke in der Hand, prallte er zurück. In seinem Gesicht malte sich schieres Entsetzen aus. Andi zwängte sich durch den Türspalt. Mit dem Hacken knallte er die Tür zu. Blitzschnell packte er den einstigen Kumpel am Schlawittchen. »Du hinterhältiger Mistbolzen!« schnaufte er. Der andere würgte, wurde krebsrot. Andis Griff war fest wie 51
eine Schraubzwinge. »Was willst du von mir?« keuchte Jimmy. »Mich bedanken.« Jimmy starrte den Eindringling verdattert an. »Bedanken, wofür?« »Für die wunderbare Nacht, die du Conny und mir beschert hast. Bei dir fällt der Groschen wohl pfennigweise, wie?« Jimmy blieb stur. »Hast du nen Stich? Keine Ahnung, wovon du da faselst.« Der Schlag kam schnell. Zu schnell für den behäbigen Übeltäter. Er hatte nicht mal Zeit gehabt, die Arme schützend hochzuheben. Andi hatte einfach so, ohne genau zu zielen, ausgeholt und seine Faust mitten in Jimmys Gesicht geknallt. Der Hieb explodierte auf dessen Nase, und es knirschte… »Bist du verrückt?« heulte Jimmy auf. »Du hast mir das Nasenbein gebrochen.« Andi blitzte den Jammernden zähneknirschend an. Tief in seinen Gedärmen loderte ein beängstigendes Feuer. Ohnmächtige Wut, gepaart mit grenzenloser Lust, den dicken Jimmy bei lebendigem Leibe zu enthäuten. Normalerweise verabscheute Andi Gewalt, und die Frage, woher sein plötzlicher Blutdurst rührte, knatterte durch sein Gehirn. Aber nur für eine Sekunde… Das mörderische Begehren, dem angstschlotternden Jimmy das Lebenslicht auszublasen, ließ sein aufflackerndes Gewissen jäh verstummen. Andi schlug. Jimmy schrie. Immer wieder. Dann lag Jimmy auf dem Rücken, das Gesicht blutverschmiert, die Augen zugeschwollen. Mühsam rang er nach Luft. »Andi!« röchelte er. »Du schlägst mich tot.« Mit einem Fußtritt traf er Jimmys Schläfe, und der Gepeinigte flog zur Seite. Sein Kopf krachte gegen die Wand. Doch Andi Tromp hatte noch immer nicht genug. Spähend sah er sich um. Die Küche. Er trat die Tür auf und ging hinein. Von seinen früheren Besuchen, als er und Jimmy noch Kumpels waren, kannte er sich hier bestens aus. Seine Augen flogen wild in den Höhlen umher, blieben auf dem unteren Teil des Küchenbüfetts haften. Er zog die oberste 52
Schublade auf. Darin lagen die unterschiedlichsten Küchenutensilien. Siebe, Bestecke, Schneebesen, Holzkellen, Dosenöffner - Messer. Es gab welche mit Säge, spitze, stumpfe, auch ein handliches Hackebeil. Andi entschied sich für das Beil. Er holte es aus der Lade, glitt prüfend mit einer Fingerkuppe an der Schneide entlang und nickte zufrieden. Das Teil war scharf wie eine Rasierklinge. Was tue ich eigentlich? Wieder meldete sich die Vernunft. Aber im Nu verschwamm der Gedanke, zersplitterte in unzählige Teilchen, die erneut von dem Tötungstrieb überlappt wurden. Er gierte bereits nach dem Zischen, wenn das Beil durch die Luft sauste, kurz bevor es Jimmy traf! Andi Tromp trat in den Korridor, den Stiel fest gepackt, die stechenden Blicke auf Jimmy gerichtet. Als der in sein Gesicht blickte, richtete er sich auf, wischte sich das Blut von den Lippen und schrie: »Du bist wahnsinnig, Mann! Du kannst mich doch nicht umlegen! Denk an Conny! Glaubst du, sie will einen Mörder???« Conny! Mörder! Jimmys Worte bohrten sich tief in Andis Bewußtsein. Das unheimliche Gefühl verzog sich. Er konnte wieder klar denken. Ihm war, als erwachte er aus einem Alptraum. Sein Herz donnerte gegen seine Brust, und sein Atem pfiff, als hätte er soeben einen Marathonlauf absolviert. Betreten senkte er seinen Blick. Er entdeckte das Hackebeil in seiner Hand, sah Jimmy, der sich vor ihm wand wie ein Regenwurm. Er bemerkte Jimmys angstverzerrtes Gesicht, von Beulen und Wunden übersät, und dessen Shirt, das vor Blut und Schweiß klatschnaß war. Andi spürte ein Stechen im Genick. Genau an der Stelle, wo ihn die Nacht zuvor dieser glibbrige Tropfen erwischt hatte. Ich bin besessen! jagte es durch seinen Kopf. Irgendwas versucht mich zu manipulieren. Ich muß mich dagegen wehren. Fast hätte ich Jimmy umgebracht! Dabei waren wir mal die besten Freunde… Das Beil fiel zu Boden. Andi griff sich in den Nacken. Deutlich fühlte er die Vertiefung. Er hatte ein Loch im Pelz. Conny hatte recht gehabt. Und wie tief das verdammte Ding war! So tief, daß Andi seinen ganzen Finger 53
hineinstecken konnte. Schon glaubte er, bis an den Knochen gestoßen zu sein, denn sein tastender Finger erfühlte etwas Hartes. Andi wirbelte herum, jagte aus der Wohnung, hetzte die Treppe hinunter und hielt erst inne, als er ein paar Straßen weiter war. Ich brauche einen Arzt, dachte er. Beim nächsten Anfall töte ich vielleicht einen Menschen… * »… kurz und gut: Ich tappe völlig im Dunkeln«, schloß ich meinen Bericht. Vater räusperte sich am Telefon. »Wir haben es demnach mit einem bislang unbekannten Phänomen zu tun. Das Ding scheint nicht mal einen Namen zu haben.« Ich stand auf dem Dachboden, sprach mit Ulrich in Weimar und spähte dabei durch eine Luke nach draußen. Paul Johannsen und seine Enkelin saßen in meinem BMW und warteten auf mich. Der Bursche, der Andi hieß, hatte es plötzlich sehr eilig gehabt, war in seinen Trabant gesprungen und weggefahren. »Ich bin mit meinem Latein am Ende«, sagte ich. »Wenn ich mich wenigstens auf meinen Ring verlassen könnte. Bei Johannsen im Keller funktionierte er noch. Aber dann war finito.« »Apropos funktionieren. Probier mal, ob es deine Taschenlampe wieder tut.« Ich befolgte Vaters Rat. Sofort zuckte ein Lichtstrahl auf. »Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Meine Funzel geht wieder. Es ist, als ob mich jemand auf den Arm nehmen will.« Die Hupe aus meinem BMW ertönte. Offenbar hatte es Paul Johannsen eilig, seine Enkelin zu Hause abzuliefern. Sehr verständlich. Ebenso mußte die Behörde informiert werden, daß Conny wieder aufgetaucht war. Die Polizei hatten auch so alle Hände voll zu tun. »Laß uns in aller Ruhe überlegen«, schnaufte Vater. »Als du das Haus betreten hast, ging deine Lampe aus. Also muß ES zu diesem Zeitpunkt noch dagewesen sein.« Ich nickte. »Aber jetzt scheint ES über alle Berge zu sein. Gerade eben hab ich meinen Ring nochmals aktiviert. Aber der 54
Strahl wirbelte bloß sinnlos herum.« »Warte mal!« Vater schien etwas eingefallen zu sein. »Du sagtest, es wären zwei Jugendliche, die die Nacht in dieser Werkhalle verbracht hätten?« »Ja. Unfreiwillig. Irgendein Spaßvogel hat sie eingesperrt.« »Sind die beiden noch da?« »Das Mädchen sitzt bei mir im Auto, mit ihrem Großvater. Ich werde Conny nachher nach Hause fahren. Ihre Mutter wird vor Freude Purzelbäume schlagen.« »Und der Junge?« »Abgezittert, als hätte er Hummeln im Hintern. Er wollte seinem Kumpel die Ohren ausreißen.« »So so«, murmelte Vater. Mir ging ein Licht auf. »Glaubst du, er hat ES bei sich?« »Was spricht dagegen? Immerhin waren die zwei die Nacht mit dem Ding zusammen.« »Aber sie machten einen normalen Eindruck.« »Der Junge auch? Denk mal scharf nach!« »Mir fällt nichts ein.« »Mark, du weißt, es gibt Kreaturen, die einen Menschen als Wirt benützen, sie von innen zerstören und dann in andere, gesunde Körper schlüpfen. Es könnte durchaus sein, daß wir es mit solch einem Phänomen zu tun haben.« »Klingt plausibel«, stimmte ich zu. »Das Wesen, was immer es ist, könnte gemerkt haben, daß ihm Gefahr droht. Da hat es seine Energie auf ein Minimum heruntergefahren. ES scheint intelligent zu sein. Obwohl du nahe dran warst, hat das Ding es geschafft, seine Spuren zu verwischen und Fersengeld zu geben.« Ich fluchte. »Es hat mir wahrhaftig den dicken Daumen gezeigt. Aber ich schwöre, die nächste Runde geht an mich.« »Du mußt den Jungen finden, Mark. Er ist der Schlüssel. Beeil dich! Bevor ES einen neuen Wirt beglückt.« »Schon unterwegs!« Ich machte, daß ich fortkam. Als ich die Eisentreppe hinunterkletterte, platschte mir etwas Feuchtes ins Genick. Ich nahm keine Notiz davon. Draußen regnete es, und das Dach der Fabrikhalle war alles andere als dicht…
55
* Andi Tromp stellte seinen Trabant am Straßenrand des Frankenwalls ab. Geflissentlich übersah er den Parkscheinautomat. Er überquerte die Fahrbahn und bog in eine schmale Gasse ein, die von den traurigen Ruinen ehemaliger Bürgerhäuser flankiert war. Kurz darauf befand sich der 19jährige in der Heilgeiststraße. Vor dem imposanten Ziergiebel eines liebevoll rekonstruierten Patrizierhauses blieb er stehen. Ein Schild: Dr. Michael Zander, Allgemeinmediziner. Andi stieß das schwere Portal auf und ging die Treppe hoch. Als er die Praxis betrat, fragte ihn die junge Sprechstundenhilfe, ob er einen Termin hätte. »Nein«, antwortete er. »Ich wollte mich bloß mal durchchecken lassen.« Die junge Frau sah ihn an. Sie hatte ein ausgesprochenes Puppengesicht, alles daran wirkte klein und zierlich. Die langen, braunen Haare waren mit silbernen Spangen hochgesteckt. »Ihre Versicherungskarte bitte«, sagte sie freundlichdesinteressiert. Andi gab sie ihr. »Sie können schon mal Platz nehmen. Aber einen Moment wird es noch dauern.« »Macht nichts. Zeit habe ich genug.« Die Sprechstundenhilfe setzte sich an ihren Computer, und Andi blickte sich um. In dem frisch tapezierten Wartezimmer standen ein Dutzend Metallsessel mit karminroten Plastikbezügen. In der Mitte gab es einen flachen Glastisch, der mit zerlesenen Zeitschriften überfüllt war. Zwei älteren Frauen blätterten in Illustrierten. Als Andi sich setzte, blickten sie kurz auf. Andi nahm ein Magazin mit Lothar Matthäus auf der Titelseite, schlug es aufs Geratewohl auf und versuchte, sich zu konzentrieren. Er wollte sich ablenken. Aber immer wieder wanderte seine Hand ins Genick und betastete die geheimnisvolle Vertiefung. Momentan fühlte Andi sich ganz wohl. Das Böse, das er in sich gespürt hatte, als er bei Jimmy Möller war, schien nicht mehr zu existieren. Doch er hatte eine düstere Vorahnung. Was, wenn 56
dieses Empfinden abermals auftauchte und Macht auf ihn ausübte? Er dachte vorsichtshalber gar nicht weiter. Er hoffte, Dr. Zander konnte ihm helfen. Und wenn nicht? Die Zeitschrift, die er aufgeschlagen auf dem Schoß hatte, raschelte. Seine Hände zitterten. Ich hab einen Tatterich, dachte er. Zum Kuckuck, irgendwas haut mit mir nicht hin! Mechanisch rasten seine Augen die Zeilen des Artikels entlang. Es ging um Lothar Matthäus' Rolle in der Fußballnationalmannschaft. Nachdem Andi den Beitrag gelesen hatte, war er so schlau wie vorher. Er kapierte nicht die Bohne, und er zwang sich, den Bericht ein zweites Mal durchzulesen. »Herr Tromp bitte!« Eine Schwester mit Pferdeschwanz und hohen Stöckelschuhen winkte ihm aus dem Behandlungszimmer. Andi sah sich um. Die beiden Frauen waren fort. Er hatte gar nicht mitbekommen, daß sie gegangen waren. Schnell stand er auf. Er legte das Magazin auf den Tisch und ging an der Schwester vorbei ins Arztzimmer. Ihre dünnen, metallbeschlagenen Absätze klapperten hinter ihm her. Dr. Zander erwartete ihn hinter seinem Schreibtisch sitzend. Der Arzt erinnerte Andi an einen krummen Nagel. Er war spindeldürr, seine Schultern schmal, und auf dem langen Hals steckte ein quadratischer, breitgesichtiger Kopf. »Sie haben also Beschwerden?« Dr. Zander erhob sich. Andi nickte. »Im Nacken.« Der Arzt kam um den Schreibtisch herum. Im Hintergrund dudelte leise Musik. Die Four Tops besangen Bernadette. »Und wann haben Sie diese Schmerzen zum ersten Mal bemerkt?« hakte der Mediziner nach. »Heute morgen, nein!« Andi verbesserte sich hastig. »Eigentlich schon gestern nacht.« Dr. Zander trat neben seinen Patienten. Andi war einsachtzig, und obwohl der Arzt krumm ging, überragte er seinen Patienten um gute zehn Zentimeter. Um seinen Hals baumelte ein Abhörgerät. Ohne hinzusehen, fingerte er daran und sagte: »Ich schlage vor, Sie machen mal Ihren Oberkörper frei. Dann setzen Sie sich auf den Stuhl da, und wir schauen einfach mal nach. Möglicherweise haben Sie sich eine schmerzhafte Muskelzerrung zugezogen. Treiben Sie Sport?« 57
»Nein.« Andi hängte seine Jacke über einen Stuhl. Dann zog er sein Sweatshirt über den Kopf. »Das ist bestimmt keine Zerrung. Eher so was wie ein…« Er brach ab, weil ihm kein passender Vergleich einfiel. Dr. Zander würde ja gleich selber sehen, woran er war. Schon fühlte Andi, wie die warme Hand des Mediziners vorsichtig seinen Nacken abtastete. Dabei sah er zu, wie sich die junge Schwester mit dem Pferdeschwanz bückte, um einen Ordner aus dem untersten Fach des weißlackierten Aktenschrankes zu nehmen. Der blütenweiße Kittel spannte sich über ihrem Hintern. Die dunklen Umrisse eines String-Tangas wurden sichtbar. Andis spitzelte mit der Zunge über seine trockenen Lippen. Für einen Moment fragte er sich, ob Conny auch solche Ritzenklemmer trug. Der Gedanke wurde von einem wollüstigen Schaudern begleitet. Doch jäh erstarb das erotische Prickeln! Schlagartig gewann ein anderes Gefühl die Oberhand. Dr. Zander schien mit einem Instrument die Tiefe des Loches auszuloten. Die Berührung ging Andi durch Mark und Bein. Ein aufzuckender Schmerz raste durch seinen Körper. Ihm war, als würde ein Parasit in ihm hausen, dessen Ziel es war, durch seine Schädeldecke zu entweichen. Andi schrie. Geistesgegenwärtig riß der Arzt seinen Kopf zurück. Wie ein Yo-Yo schnellte Andi von seinem Stuhl. In seinen Gedärmen brannte ein Feuerwerk. Er verspürte einen Würgereiz, riß reflexartig seinen Mund auf, daß er glaubte, die Lippen würden platzen, und krümmte sich vor Schmerz. »Tun Sie doch was!« schnauzte er den versteinerten Allgemeinmediziner an. »Es tut so weh!« Doch Dr. Zander war im Augenblick nicht gerade ein Schnelldenker. Perplex starrte er seinen Patienten an, der gerade von einer unsichtbaren Gewalt nach vorne geschleudert wurde. Andi hatte das Gefühl, von einem Brummi angefahren worden zu sein. Kopfüber stürzte er auf den Schreibtisch. Er fegte eine Handvoll Rezepte und Formulare von der Platte, wurde erneut von einem Würgereiz geschüttelt und übergab sich schließlich. Die Schwester federte aufbrüllend in die Höhe. Sie knickte um, verlor einen ihrer Hackenschuhe und wich 58
leichenblaß ans Fenster zurück. Die Holzlamellen der Jalousie klapperten. Jetzt erwachte der Arzt aus seiner Apathie. Seine hohe Gestalt straffte sich. Er sprang nach vorn, packte Andi bei den Schultern, wollte ihn hochreißen. Doch der Rasende war schweißnaß, und die Hände des Arztes glitten ab. Pfeilschnell wälzte sich Andi auf den Rücken. Sein Gesicht war eine Maske aus Metall. Er stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch, zog die Beine an und trat dem Mediziner mit mörderischer Wucht in die Magengrube. Der lange Arzt krachte gegen eine Liege, riß sie um und fiel seitlich vor das Sideboard, auf dem der. eingeschaltete Radiorecorder stand. Die Moderatorin erfüllte gerade einen Hörerwunsch. Die ersten Takte eines Gassenhauers erklangen, »…in einer Bar in Mexiko, da saßen wir und war'n so froh…« »Schwester!« unterbrach Dr. Zander den Singsang des blonden Heinos. »Eine Injektion! Der Patient hat einen Anfall!« Aber die Schwester rührte kein Glied. Nackte Angst stand in ihrem Gesicht. Dr. Zander rappelte sich auf. Ein zweites Mal versuchte er, Andi vom Schreibtisch hochzureißen. Und wieder ging es schief. Als hätte er auf einem Sprungbrett gelegen, wirbelte Andi Tromp in die Höhe. Die Newtonschen Gesetze der Schwerkraft schienen für ihn nicht zu existieren. Er kam vor dem Aktenschwank auf, an dem die Schwester gerade gehockt hatte. Ihr Absatzschuh lag noch dort. Geifer spritzte aus Andis Mund, als er das Teil packte und sich damit drohend dem zurückweichenden Arzt näherte. »Was… was haben Sie vor?« stotterte der. Andi knallte den Absatz des Schuhs auf die Platte des Schreibtischs. Ein Formular blieb daran hängen, aber das kümmerte ihn nicht. Dr. Zander wollte zur Seite witschen, um durch die Tür in einen Nebenraum zu fliehen. Andi vertrat ihm den Weg. Er stieß ein teuflisches Gelächter aus. »Wahnsinnig!« keuchte der Arzt. »Sie sind wahnsinnig!« Andi ließ den Schuh durch die Luft pfeifen, und Dr. Zanders 59
Augäpfel schienen ihre Höhlen verlassen zu wollen. »Schwe… Schwe… Schwester!« »Dein Schicksal ist besiegelt«, knurrte Andi. »Mach dich fürs Sterben bereit!« »Bleiben Sie, wo Sie sind!« Dr. Zander zitterte wie ein Baum, neben dem eine Sprengbombe eingeschlagen war. Erneut hob Andi den spitzhackigen Damenschuh. Die folgende Bewegung war nur ein Zucken. »Ich…« Weiter kam der Allgemeinmediziner nicht. Den Absatz des Stöckelschuhs bis zum Anschlag in der Brust, drehte er sich noch einmal um die eigene Achse, warf die Arme in die Luft und brach zusammen. »Caramba!« sang Heino, als Andi hinausging. * Das Wohnzimmer der Tromps war eine Zumutung. Als mich Andis Mutter hineinführte, dachte ich, ich würde eine Müllhalde betreten. An der Decke baumelte eine nackte Glühbirne. Die Tapeten ringsum waren vergilbt, die Stores vor dem Fenster nikotinfarben. Auf der verfilzten Auslegeware wimmelte es von Brandlöchern und den unterschiedlichsten Schmutzteilchen. In der zerkratzten Anbaureihe standen leere und angebrochene Weinflaschen. Der riesige Glasascher auf dem Couchtisch quoll über. Über den Monitor des Fernsehers flimmerten Werbespots. Es stank nach kaltem und nach frischem Qualm. Eine filterlose Zigarette im Mund, nahm Frau Tromp einen Packen Zeitungen vom einzigen Sessel und blinzelte mich an. »Setzen Sie sich, Herr…?« »Hellmann.« Ich musterte das verdreckte Sitzmöbel. »Worauf warten Sie?« Sie plump ste auf die Couch. »Im Sitzen unterhält es sich besser. Oder sind Sie anderer Ansicht?« »Nein«, versicherte ich. Andi Tromps Mutter saugte an ihrem Glimmstengel und wirkte ebenso verwahrlost wie ihr Wohnzimmer. Sie hatte eine fleckige Stoffhose an, darüber einen grobgestrickten, dunkelbraunen Pullover. Ihr Alter ließ sich schwer schätzen. Es konnte zwischen fünfunddreißig und fünfzig liegen, Frau Tromps gelblichgraues 60
Gesicht, aus dem mich glasige blaue Augen ansahen, mochte einmal recht anziehend gewesen sein. Lange her. Wahrscheinlich war sie gerade dabei, die Luft aus einer Weinflasche zu lassen, als ich hereinschneite. Jedenfalls deutete das angetrunkene Stielglas, das neben dem Ascher stand, eindrucksvoll darauf hin. Sie nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Ton ab. »Sie sind also von der Zeitung«, lallte sie. »Da haben Sie doch sicher 'nen Ausweis.« »Natürlich.« Ich zuckte meine Pressekarte. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf. »Ganz schöne Mähne hatten Sie damals, Herr…?« »Hellmann«, half ich. »Mein Name ist Mark Hellmann.« »So wie Mark und Pfennig?« Sie kicherte, brach aber unvermittelt ab und starrte mich mit unverhohlener Neugier an. »Ich heiße übrigens Kathrin. - Wieso rücken Sie gerade uns auf die Bude? Ich finde, es gibt weitaus interessantere Menschen in Stralsund.« »Im Grunde genommen geht es mir mehr um Ihren Sohn Andreas«, sagte ich. »Andi?« Sie verzog das Gesicht. »Der Misthaken ist die Nacht nicht nach Hause gekommen. Weiß der Kuckuck, wo sich der Bengel wieder rumtreibt.« »Jemand hat ihn eingesperrt, in eine Fabrikhalle.« Sie schielte nach dem Glas. »Wieso lungert er nachts in Fabrikhallen rum? Er kann doch nach Hause kommen. Ihm ist doch nichts passiert, oder?« Im Begriff zu antworten, spürte ich plötzlich, daß ein stechender Schmerz durch meinen Kopf raste. Ich mußte das Gesicht verzogen haben, denn Frau Tromp fragte: »Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?« Ich riß mich zusammen. »Doch, doch«, sagte ich leichthin. »Es geht schon wieder. Nur ein harmloses Kopfweh.« »Möchten Sie eine Tablette?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. - Also, Frau Tromp, ich dachte eigentlich, ich würde Andi hier antreffen.« Sie stülpte die Unterlippe vor und strich mit einem Finger über den Glasrand, bis es leise summte. »Der Bengel kommt selten nach Hause. Er schämt sich für mich und seinen Vater. Verstehen 61
Sie?« Andi Tromp wurde mir immer sympathischer. »Wann war er dann zuletzt hier?« »Gestern? Vorgestern?« Sie zuckte die Achseln. »Ist Ihnen etwas an seinem Verhalten aufgefallen?« legte ich nach. »Sagen wir, in den letzten zwei Wochen?« Kathrin Tromp lachte heiser. »Wenn Andi in seiner Bude hockt, über seinem Technokram, dann fällt mir bloß auf, daß er höllischen Rabatz macht und ich vor Wut am liebsten an die Decke gehen möchte.« »Denken Sie in Ruhe nach. Auch das kleinste Detail könnte von Bedeutung sein.« »Sind Sie sicher, daß Sie von der Zeitung sind, Herr Horstmann?« »Hellmann«, verbesserte ich geduldig. »Ich heiße Hellmann.« »Hellmann oder Horstmann!« Sie winkte ärgerlich ab. »Was macht das schon für einen Unterschied? - Wie wär's? Möchten Sie auch ein Gläschen Silvaner?« »Äh, lieber nicht. Bin im Dienst«, schwindelte ich. »Na und? Früher, als ich noch Kaltmamsell im FDGB-Heim war, da waren wir auch im Dienst. Aber einen genommen haben wir trotzdem.« Kathrin Tromp rappelte sich auf, leckte sich über den Mund und schielte auf ihr Weinglas. »Trinken Sie auch was! Deiwel noch eins. Vielleicht Tee? Irgendwo muß ich noch ein paar Beutel rumliegen haben.« Wieder zuckte der Schmerz durch meinen Kopf, diesmal verlagerte er seinen Schwerpunkt an die rechte Schläfe, und ich scheuerte behutsam daran. »Bitte keine Umstände, Frau Tromp«, stöhnte ich. »Außerdem habe ich noch einen geschäftlichen Termin. Und wenn Andreas nicht hier ist, hat sich mein Kommen eigentlich erübrigt.« »Nun mal halblang!« Sie starrte mich mit hervorquellenden Augen an. »Ich denke, Sie können auch mich interviewen. Es wird Ihre Leser sicher interessieren, was eine - wie ich so zu sagen hat.« »Na gut«, gab ich nach. »Einen Augenblick habe ich noch Zeit.« Meine Gastgeberin schlurfte aus dem Zimmer, kam mit einer entkorkten Weinflasche zurück und goß ihr Glas voll bis zum Rand. Dann seufzte sie und sah mich grinsend an. »Das einzig Gute an der Wende ist, daß der Wein so schön billig 62
geworden ist«, teilte sie mir mit. »Zu DDR-Zeiten mußte man für 'ne Pulle noch acht bis zwölf Mark berappen, bei einem Verdienst von zirka zwanzig Mark pro Tag. Heute gibt's die Schlüpferstürmer schon ab DM 1,99. Toll, was?« Ich verkniff mir jeglichen Kommentar. Die Frau war Alkoholikerin. Wahrscheinlich bestand ihr Leben nur aus TV-Shows, Zigaretten und Wein. Traurig, aber wahr. Ich wußte, es erging vielen so in den neuen Bundesländern. Mit dem Zusammenbruch der gigantischen, volkseigenen Kombinate waren zigtausende Arbeitsplätze verlorengegangen. Viele der Entlassenen griffen zur Flasche, statt sich neu zu orientieren. Nicht umsonst stand der nordöstliche Teil Meck-Pomms im Alkohol-Pro-Kopf-Verbrauch unangefochten an erster Stelle. Ein bedenklicher Rekord. Nichts, worauf man stolz sein konnte. Ich seufzte bekümmert. Es war zwecklos, Frau Tromp weiter zu befragen. Sie hatte keine Ahnung, was um sie herum passierte. Sie wußte nicht mal, wann ihr Sohn zum letzten Mal zu Hause gewesen war. So entschied ich, meine Zelte in der Trompschen Behausung abzubrechen. Da läutete es im Korridor. Frau Tromp nahm gerade einen kräftigen Zug. »Nanu?« Sie stellte das Glas ab. »Bei mir geht es ja heute zu wie in einem Taubenschlag. - Hm, bin gleich wieder da, Herr Horstmann.« Unsicheren Schrittes tappte sie in die Diele. Ich hörte, wie sie die Tür öffnete und überrascht aufjauchzte. Zwischen Tür und Angel entwickelte sich eine muntere Plauderei. Ich werde warten, bis sie wieder da ist, dachte ich. Dann mach ich mich dünne. Verdammt, wie mein Kopf weh tut. Und wie komisch mir wird. Hm, eigentlich ist die Tromp eine attraktive Frau, ganz schön Holz vor der Hütte. Hoffentlich kommt sie bald wieder rein. Hab Lust auf einen kleinen Flirt; 'n Gläschen Wein wäre auch nicht verkehrt. Verflixt, was ist mit mir…? Auf der stummen Mattscheibe des Fernsehers erschien ein hinreißendes Model im knappen Bikini. Lächelnd warb sie für eine französische Körperlotion. Wie elektrisiert fuhr ich auf. Noch nie gefühlte Wollust peitschte durch meinen Leib. Ich brauchte eine Frau, auf der Stelle, sonst würde ich platzen wie ein Luftballon! »Kathrin«, hörte ich mich hecheln. »Laß mich nicht warten…« 63
* Als Andi Tromp ankam, war Conny gerade dabei, den Tisch zu decken. »Willst du einen Happen mitessen?« fragte sie. »Mutsch hat Rippchen mit Schmorkohl gekocht.« Andi stand in der Küchentür; unschlüssig zog er an seinen Fingern, bis es knackte. Conny schwebte auf Wolke sieben. Peinlich genau plazierte sie die Besteckteile am Rand des runden Kieferntisches. Als sie lagen, hielt sie prüfend den Kopf schief und betrachtete ihr Werk. Andi sagte kein Wort, und Conny hob irritiert den Blick. Jetzt sah sie ihn genauer an. »Was hast du?« fragte sie. »Du siehst ja aus wie sieben Tage Regenwetter.« Andi seufzte. »Aha, der Herr spricht nicht mit jedem.« Conny lachte vergnügt auf, holte drei Gläser aus dem Schrank und setzte sie auf dem Tisch ein. Genau über die Messerspitze, wie es sich gehörte. Abermals wanderte ihr Blick zur Tür. Sie runzelte die Stirn. Andi stand da wie ein bedepperter Schuljunge. Er macht sich Gedanken wegen seiner Grabscherei in der Fabrikhalle, vermutete Conny. Jetzt hat er ein schlechtes Gewissen und will bemitleidet werden. Aber den Zahn werde ich ihm ziehen. Conny beschloß, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. »Wieso bist heute morgen so fix abgehauen?« forschte sie. »Hättest dich bei Opa und dem Hellmann ruhig bedanken können. Wären sie nicht gewesen, steckten wir immer noch in diesem finsteren Loch.« In Andis Gesicht kam ein wenig Leben. Er öffnete den Mund, schloß ihn, öffnete ihn wieder. »Hatte noch was Dringendes zu erledigen«, murmelte er. »Jimmy?« Conny sah ihn groß an. »Er hat uns eingesperrt, nicht wahr?« Andi nickte. »Ich glaube, ich war ein bißchen grob zu ihm.« »Er wird es verkraften.« »Ja, das hoffe ich.« 64
Der Klang seiner Stimme gefiel Conny nicht. Sie stellte drei Papierservietten in die Mitte der Gedecke und ging zum Herd, um den Schmorkohl umzurühren. Dann guckte sie durch das Fenster der Backröhre, in der die Rippchen brutzelten. »Was ist mit dem Event in Block C?« erkundigte sie sich, um Andi auf andere Gedanken zu bringen. »Ziehst du es durch oder nicht? Du, das könnte echt locker werden. Ich freue mich schon darauf.« »Du willst trotz allem, was du durchgemacht hast, noch mal in diese Halle?« Andi schien verdutzt. »Bist du sicher, Conny?« Das Mädchen wirkte kämpferisch. »Wenn ich schon eine Erinnerung an dieses Gehöft habe, dann eine gute.« Jetzt schien Andi aufzutauen. Conny spürte, sie hatte einen Volltreffer gelandet. Sein Gesicht bekam wieder Farbe. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, zupfte gedankenverloren an seinen Ohrläppchen und sprach begeistert über seine Vorstellungen. In den schillerndsten Farben malte er ihr das Event aus. »Es wird ein gigantisches Rave!« sagte er abschließend. »So bombastisch, daß noch unsere Enkel in ihren Schulbüchern darüber lesen werden.« Conny lachte befreit. Jetzt war Andi wieder der alte. Als ihre Mutter vom Einkauf zurückkehrte, setzten sie sich an den Tisch und machten sich über die Rippchen her. Es schmeckte vorzüglich. Andi bot sogar an, mit Conny den Abwasch zu übernehmen. Connys Mutter fiel aus allen Wolken. »Meine Güte!« rief sie aus. »Was ist nur in euch gefahren, Kinder? Seit ihr die Nacht in dieser Räuberhöhle verbracht habt, seid ihr gar nicht mehr wiederzuerkennen.« »Du übertreibst, Mutsch«, meinte Conny und sah ihren Freund an. Andi nestelte gerade in seinem Nacken. * Mein Atem ging immer ungestümer. Mit jeder Sekunde, die vertickte, zirkulierte das Blut in meinen Adern schneller. Gelegentlich packte mich ein Krampf, der bis 65
hinunter in die Zehenspitzen ausstrahlte. Während dieser Phasen rasten gespenstische Energien unter meiner Haut entlang. Es schien nichts zu geben, was sie aufhalten konnte. Ohne daß ich mich dagegen wehren konnte, bekam ich ein neues Bewußtsein. Seltsame Hirngespinste fegten durch meinen Kopf. Plötzlich hielt ich Kathrin Tromp für die schönste Frau der Welt. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als sie anzubaggern und mir gefügig zu machen. Schon sah ich vor meinem geistigen Auge, wie meine Hände über ihren prachtvollen Busen glitten, wie ich ihr Gesicht in beide Hände nahm, wie ich mit ihr und sie mit mir, wie wir beide freudestrahlend in den höchsten Tönen jubilierten… Alle Dinge um mich herum, die mich vor kurzem noch angeekelt hatten, versetzten mich nun in freudige Verzückung. Dann ertappte ich mich bei dem Gedanken, wie aufreizend es wohl sein mochte, jemanden zu ermorden! Wohlig schaudernd lehnte ich mich zurück, sehnte den Augenblick herbei, an dem Kathrin Tromp das Zimmer betrat. Mein Blick schweifte träumerisch zum Fernseher. Ein weiterer Werbespot lief. Der ehemalige Bundestrainer Berti Vogts hockte unter einem Baum. Er löffelte glibbrigen Schleim aus einem Plastikschälchen. Als er aufsah, um die Zuschauern über die Vorzüge seines Schlabberzeugs zu informieren, passierte es! Sein Gesicht veränderte sich. Es verschwamm, wurde konturenlos. Eine milchweiße Nebelwolke wallte auf. Als die Schwaden fortzogen, saß ein anderer Kopf auf den Schultern des Fußbailehrers. Der Kopf meines Vaters… Voller Sorge starrte mir das Trugbild geradewegs in die Augen. Ich sah, wie Ulrich den Mund öffnete und zu mir sprach, verstand aber keine Silbe. Meine Gehörgänge schienen verstopft zu sein. Nur ein dumpfes Bumm-Bumm-Bumm pochte in meinen Ohren. Auch die Stimmen aus dem Korridor hörte ich nicht mehr. Statt dessen fühlte ich, daß mir immer heißer wurde. Ein Prickeln, das in den Fingern meiner rechten Hand begann, strömte durch mein Handgelenk, den Arm hinauf und stach in die Achselhöhle. Ich riß meinen Blick vom Monitor los und sah, daß sich mein Ring wie verrückt gebärdete. Er flimmerte in allen Farben, die es 66
gab. Ich machte dem Spuk ein Ende, steckte ihn in die Hosentasche. Das Bild meines Adoptivvaters flimmerte noch immer über die Mattscheibe. Es schienen kolossal wichtige Dinge zu sein, die er mir mitteilen wollte. Bumm-Bumm-Bumm… Dann verschwand Vaters Abbild. Ein neuer Werbespot, diesmal eine überglückliche Mutter, die freudestrahlend Schlammspuren vom Teppich schrubbte. Auf der Stelle setzte mein Gehör ein. Kathrin Tromp jauchzte nicht mehr, sondern sagte: »Nein, Andi ist nicht hier. Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie ja nachschauen.« Jemand antwortete. »Das wäre sehr freundlich.« Schritte näherten sich. Neugierig blickte ich zur Tür. Zwei Männer traten ein. Sie trugen lange, dunkle Mäntel, hatten die Hände in den Taschen vergraben und sahen mich erstaunt an. »Die Herren sind von der Polizei«, sagte Kathrin Tromp mit tränenerstickter Stimme. »Sie behaupten, Andi habe etwas angestellt.« »Und wer sind Sie?« Der Größere musterte mich aus schmalen Augenschlitzen. Eine schlecht verheilte Narbe kerbte seine linke Wange. Wortlos hielt ich ihm meinen Presseausweis unter die Nase. Dabei zwinkerte ich der Hausherrin zu. Die Frau runzelte verlegen die Stirn. Offenbar wußte sie das Zwinkern nicht recht einzuordnen. »Okay.« Der Narbige gab mir die Karte zurück. Naserümpfend sah sich der Beamte im Wohnzimmer um, während sein Kollege die anderen Räume inspizierte. Nachdem sie erfahren hatten, daß Andis Mutter nicht wußte, wohin ihr Sohn gegangen sein könnte, verschwanden sie unverrichteterdinge. »Was wollten sie von Ihrem Filius?« fragte ich Kathrin, als sie ins Zimmer kam. Fassungslos starrte sie mich an. »Sie sagen, Andi habe einen schlimmen Anfall gehabt. In einer Arztpraxis. Dann sei er Hals über Kopf fortgelaufen. Mein Gott! Andi hatte noch nie einen Anfall! Er ist kerngesund. - Herr Horstmann? Was haben Sie denn? Sie sind ja käseweiß.« 67
»Mir geht es blendend.« Ich stand auf. Ich ging auf sie zu. Die Frau schluckte. Erschrocken wich sie zurück. Mit dem Rücken an die Wand gepreßt, starrte sie mich an. Ich sah die Angst in ihren Augen, und ein prickelndes Vorgefühl versetzte mich in Hochstimmung. Unter meiner Schädeldecke klopfte es unentwegt. Mittlerweile tat es nicht mehr weh. Es war eher angenehm. Ich sah, wie sich Kathrin Tromps massiger Busen hob und senkte, immer schneller. Ich konnte es kaum erwarten, ihn zu berühren. Das Böse hatte mich in seinen Bann gezogen. Neben der Frau stand ein klappriger Lampentisch. Ich hatte bereits einen Arm nach ihr ausgestreckt, als sie nach dem kugelförmigen Schirm griff, ihn aus der Verankerung riß und nach mir schleuderte. Der Lampenschirm bestand aus verziertem Buntglas. Ohne Schaden anzurichten, prallte das Teil von mir ab. Es polterte zu Boden und zerbrach in tausend Stücke. »Was wollen Sie von mir?« kreischte Kathrin Tromp. »Machen Sie, daß sie hinauskommen! Sie sind ja nicht bei Trost!« Ich lachte schallend. Da federte die Angetrunkene zur Seite. Mit affenartiger Geschwindigkeit rannte sie in den Korridor. An der Wohnungstür bekam ich sie am Pullover zu packen. »Hilfe!« Sie machte sich steif. »Hiergeblieben«, schnaufte ich. »Sie können Ihren Gast doch nicht allein lassen. So etwas gehört sich nicht, Kathrin!« »Kathrin?« Ich zog sie an mich. »So heißt du doch. Oder?« So weit es ging, bog die Frau ihren Kopf nach hinten. »Sie sind verrückt«, keuchte sie. »Mein Gott! Was für ein Tag!« »Ein Tag, wie geschaffen für die Liebe«, raunte ich. Sie schrie auf und stemmte sich meinem harten Griff entgegen. Aber ich war der Stärkere. Während ich sie zurück ins Wohnzimmer schleppte, ging in meinem Innern eine Sprengladung hoch. Das neue Bewußtsein war wie fortgeblasen. Sofort ließ ich die zappelnde Frau los. Ich stand da wie belämmert, fieberhaft um eine Erklärung ringend. 68
»Sind Sie wieder in Ordnung?« Frau Tromp belauerte mich mißtrauisch. »Ja, ich denke schon.« »Sie wollten mich flachlegen.« Sie entspannte sich und grinste schief. »Nicht gerade die feine englische Art, so mit einer Dame umzuspringen. Das muß ich schon sagen, Herr Horstmann.« »Tut mir leid«, sinnierte ich und zückte meine Brieftasche. »Natürlich werde ich Ihnen Ihre Lampe, die ich ruiniert habe, ersetzen.« Sie zündete sich eine Zigarette an, blies mir den Qualm ins Gesicht. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß. »Eigentlich sind Sie ein hübscher Bursche«, meinte sie, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Vor Schreck schlief mir fast das Gesicht ein. Erst als ich im Auto saß, auf dem Weg zu den Johannsens nach Altefähr, erholte ich mich allmählich. * Den Telefonhörer ans Ohr gepreßt, wartete Paul Johannsen ungeduldig darauf, daß am anderen Ende der Leitung jemand abnahm. Neben ihm stand Hedwig, seine Frau. »Warum meldet er sich nicht?« Ihre Stimme zitterte. »Ist er nicht zu Hause?« »Ich weiß es nicht«, sagte Paul. »Ulrich wohnt in einem Reihenhaus mit mehreren Etagen. Vielleicht ist er gerade unten, in der Küche bei Lydia. Es kann…« Unvermittelt brach er ab. Wieder dröhnte das mordsmäßige Poltern aus dem Keller. »Seine Tobsuchtsanfälle werden von Mal zu Mal schlimmer«, schau derte Hedwig. »Sollten wir nicht doch lieber die Polizei verständigen?« »Nein«, entschied er. »Zuerst muß ich mit Marks Vater reden.« »Er könnte sich verletzen.« Paul Johannsen blieb hart. »In der Waschküche gibt es nur die Maschinen. Und die Tür ist aus Eisen. Die hält, bis Hilfe da ist Verdammt, Ulrich! Nimm doch endlich ab!« »Er ist ausgegangen«, vermutete Hedwig. »Wir müssen es noch 69
einmal später probieren.« Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Mark braucht so schnell wie möglich Hilfe.« »Aber von wem?« Paul legte auf. Er wußte genau, daß er der einzige Mensch war, der veranlassen konnte, daß Mark Hellmann geholfen wurde. Zum Glück hatte Ulrichs Adoptivsohn den schrecklichen Anfall bekommen, als er einen Korb mit Wäsche in den Keller getragen hatte. Ruckzuck hatte er ihn eingeschlossen. Der Rentner wagte es nicht, sich auszumalen, was passiert wäre, wenn der blonde Hüne im Freien oder oben in der Wohnung kollabiert wäre. Wie irre Marks Augen gefunkelt haben, dachte er. Als wäre der Antichrist höchstpersönlich in ihn gefahren. Seine Frau sah ihn ratlos an. »Und jetzt?« Paul Johannsen drehte sich ruckartig zu ihr und ergriff ihre kalten Hände. »Ich hab's!« keuchte er. »Es gibt da noch jemanden…« »Wer?« Die alte Frau schluckte. »Eine Frau, die Tessa Hayden heißt. Er hat von ihr erzählt.« »Ja, ich erinnere mich. Mark hat sie mal erwähnt. Sie ist Polizistin und besucht gerade ihre Schwester auf Usedom. Aber wie willst du sie erreichen, Paul?« »Dummchen!« Zärtlich versetzte der alte Mann seiner Lebensgefährtin einen Nasenstüber. »Wozu gibt es ein Telefonbuch?« »Es liegt im Schrank«, sprudelte sie hervor. »Warte! Ich renne los und bringe es dir.« Wie ein Blitz stürmte die bejahrte Frau hinaus. Paul Johannsen holte tief Luft. Als er den Hörer abnahm und sich schon zurechtlegte, was er dieser Tessa sagen würde, läutete es an der Tür. Es war Cornelia, seine Enkelin. »Was ist denn bei euch los?« fragte sie ihren Großvater. »Habt ihr einen Poltergeist im Haus? - Du, Opa? Kann ich mir ein paar Teile von euch ausborgen? Andi und ich organisieren gerade eine Techno-Party, und du hast so schöne alte Teile im Hobbykeller.« Da hetzte Hedwig Johannsen in die Diele. Ihre feisten Wangen waren flammrot. »Weißt du noch, wie Tessa Haydens Schwester mit Nachnamen heißt?« keuchte sie. 70
Paul Johannsen nickte, »Annette Braun aus Bansin. Aber wir müssen unter Heringsdorf nachgucken.« Der 17jährigen klappte der Mund auf. Verdattert linste sie von einem zu anderen. »Was ist hier eigentlich los?« erkundigte sie sich. Während der Großvater Annette Brauns Nummer eintippte, führte Hedwig Johannsen ihre Enkelin in die Wohnstube und klärte sie auf. Conny war wie vom Donner gerührt. Stumm sank sie in einen der Sessel. Im Unterbewußtsein hörte sie die gefaßte Stimme des Großvaters aus der Diele. »Frau Braun? Hier Johannsen, Altefähr. Bitte verbinden Sie mich mit Ihrer Schwester! Frau Tessa Hayden. Und beeilen Sie sich! Es geht um Leben und Tod.« Conny Berg staunte Bauklötze. Wie ruhig der alte Mann klang! Richtig cool, dabei ging es doch um alles! * Tessa Hayden war von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet. Sie saß auf ihrer Suzuki, den behelmten Kopf weit nach vorn gebeugt, und düste die B 96 entlang. Tessa war eine ausgezeichnete Motorradfahrerin. Die schwere Suzuki war ihr Hobby. Die Bäume und Sträucher an den Straßenrändern flogen im Zeitraffer an ihr vorbei. Tessa überholte einen Mercedes. Kurz vor der langgezogenen Kurve. Tessa drückte auf die Hupe, immer wieder. Der auf- und abschwellende Signalton klang wie ein Martinshorn. Ein entgegenkommender Brummi gab Lichthupe. Tessa sah den bärtigen Fahrer nur für den Bruchteil einer Sekunde. Der Mann wollte sie warnen. In der Nähe wurde geblitzt. Die breite, neu asphaltierte Bundesstraße verleitete dazu, die zugelassene Geschwindigkeit zu überschreiten. Tessa beugte sich tiefer über den Lenker, legte weiter an Tempo zu. 155… 160… Sie war nur ein Schemen. Tessa hatte nur einen einzigen Gedanken: Mark Hellmann 71
schwebte in akuter Lebensgefahr. Wenn sie zu spät kam, würde er tot oder für immer verloren sein. Der rätselhafte Parasit, der ihn befallen hatte, würde sich in seinem Körper ausbreiten wie ein Buschbrand. Sie mußte ihren Mark retten! Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Verzweifelt brüllte sie seinen Namen. Der Fahrtwind zerfetzte den Schrei. Einen Atemzug später sah sie einen blauen Volkswagen am Fahrbahnrand. Er wirkte, als hätte ihn jemand vergessen. Tessa blendete auf, rauschte vorbei. Ein Blitz zuckte, aber sie war längst über alle Berge, als plötzlich Männer hervorsprangen und aufgeregt gestikulierten. »Halleluja!« Tessa lachte heiser. Ohne die Bremse zu betätigen, legte sie sich in die nächste Kurve. Eine Sperrlinie. Vor ihr knatterte ein Opel Ascona. Im Gegenverkehr erschien das Fahrerhaus eines Tiefladers. Sie fluchte, schwenkte rechts hinüber, jagte auf dem Randstreifen an dem Opel vorüber. Im Rückspiegel sah sie, wie sich der Fahrer an die Stirn tippte. Weiter! Eine gerade Strecke. Tessa beschleunigte. Der Motor heulte auf. Wie eine Kanonenkugel flog sie der nächsten Stadt entgegen. Stralsund. Sie bretterte an einigen Sonntagsfahrern, die in Kolonne fuhren, vorüber. Die ersten Konturen der Hansestadt waren zu erkennen. Geschwindigkeitsbegrenzung. Tessa mäßigte ihr Tempo nur minimal. Im Zickzack brauste sie in die Stadt hinein. Rechts Autohäuser, Gewerbegebiete, links schmucke Eigenheime mit strahlendweißen Fassaden. Eine Ampel stand auf Rot. Eine Gruppe Fußgänger bewegte sich gemächlich über die Straße. Tessa reagierte wie ein Stuntman aus einem Actionknaller. Bremsen, Hintern hoch, rauf den Bürgersteig, und dann wieder Vollgas. Schockiert blieben, die Leute auf der Straße stehen, starrten ihr nach. Tessa bog von der Werftstraße auf den Rügendamm ein. Als sie der riesigen Brücke entgegenraste, sah sie rotes Licht blinken. Die Brücke wurde aufgezogen! Die Fahrzeuge vor ihr stoppten, am letzten war die Warnblinkanlage eingeschaltet. Tessas Fäuste krampften sich um die Handgriffe der Suzuki. Sie 72
zögerte keine Sekunde. Den Kopf eingezogen, erhöhte sie das Tempo. Und wenn ich die Maschine zu Schrott fahre, ich muß es schaffen! Einer Orkanböe gleich, schlängelte sie sich waghalsig durch die wartenden Fahrzeuge hindurch. Und immer wieder hupte sie, um die anderen Verkehrsteilnehmer ihr Kommen anzukündigen. Ungeschoren passierte sie den Rügendamm. Nur noch ein paar Minuten, dann würde sie bei Mark sein. Altefähr. Sie blinkte links. Eine Straße aus Kopfsteinpflaster. Tessa fuhr so schnell, daß sie die Erschütterungen gar nicht wahrnahm. Dann bemerkte sie das blonde Mädchen, das vor den traurigen Überresten einer ehemalige HO-Gaststätte stand. Tessa ließ den kraftstrotzenden Motor zur Begrüßung aufjaulen. Das Mädchen winkte schüchtern. Zehn Zentimeter vor den Zehen des blonden Teenies stoppte Tessa die Suzuki. Kies spritzte auf. Erschrocken wich das Mädchen zurück. Tessa nahm den Helm ab, holte tief Luft und zupfte sich die Handschuhe von den Fingern. Dann warf sie einen schnellen Blick in den Spiegel, nickte und reichte dem Mädchen die Hand. »Hi, du mußt Cornelia Berg sein! Mein Name ist Tessa Hayden.« Conny Berg starrte die gertenschlanke Frau in Schwarz verdutzt an. »Wahnwitz! Kommen Sie wirklich aus Bansin? Mein Großvater hat doch eben noch mit Ihnen telefoniert…« Tessa bockte die Suzuki auf. »Steckt Mark noch im Keller?« fragte sie. Conny nickte hastig. »Ja. Und sein Zustand hat sich weiter verschlechtert.« * Andi Tromp fühlte sich pudelwohl, seit Stunden schon. Mit Feuereifer machte er sich daran, die Veranstaltung in Block C vorzubereiten. Auch seine geheimnisvolle Wunde im Nacken störte ihn nicht mehr. Er pfiff auf sie. Auf mysteriöse Weise hatte er sich an das Loch gewöhnt. Die schrecklichen Erlebnisse mit Jimmy und Dr. Zander waren aus seinem Gedächtnis radiert. Schon heute abend würde das Rave stattfinden. 73
In einem Copycenter hatte Andi zweihundert Handzettel anfertigen lassen. Ein paar Typen aus der Clique brachten die Flyers unter die Leute. Andi rechnete mit großem Zuspruch. Vielleicht würden weit über hundert Kids antraben. Bis dahin gab es noch alle Hände voll zu tun. Gerade war er damit beschäftigt, seine DJ-Box zu installieren. Als er die Teile aus seinem Zimmer schleppte, hatte er seine Mutter schlafend auf der Couch vorgefunden. Sein Kommen blieb völlig unbemerkt. Der Alkohol tat seine Wirkung. Die Mutter schlief wie eine Tote. Um Andi herum herrschte rege Betriebsamkeit. Ein halbes Dutzend Burschen in seinem Alter wuselten wie aufgescheuchte Hühner durch die Werkhalle. Ricky, der Elektrofreak aus der Clique, hatte genialerweise ein vergessenes Starkstromkabel angezapft. Im Handumdrehen hatte er einen Trafo zwischengeschaltet. Jetzt hatten sie mehr Strom, als sie brauchten. Probehalber schaltete Andi das Mischpult ein. Das hektische Wummern von Base-Drums brandete auf. Andi grinste. Seine Botschaft lautete: Renne so schnell du kannst, aber du wirst nicht entkommen. Befriedigt regulierte Andi die Bässe. Er fand seine selbst ausgetüftelten Tracks einsame Spitze. Da konnten sich die TopTen-Heinis mit ihrem Mainstream-Gesülze 'ne Scheibe abschneiden. Andi blickte sich um. Die Halle war nicht wiederzuerkennen. Im hinteren Teil des Saales waren zwei Mädels dabei, ein Getränkebüfett herzurichten. Unentwegt trugen sie Kisten mit Cola, Bier und Energy-Drinks heran. Andi hoffte, daß keiner Drogen anschleppte. Ricky Stöwhas, der Elektrofreak, kam auf ihn zu. Der langaufgeschossene Junge war achtzehn, trug eine riesige Sonnenbrille mit grasgrünen Gläsern und hatte seine auftoupierten Haare lila eingefärbt. Ricky hielt zwei Cola in der Hand. Eine reichte er Andi. »Fertig?« fragte Andi das Technikgenie der Clique. Der Kumpel nickte. »Die Leitungen sind zwar Asbach Uralt, aber sie werden es aushalten. Ich schätze, in zwei Stunden ist unser Raveland betriebsbereit. - Cheers!« »Cheerio!« 74
Gutgelaunt knallten sie die Flaschen aneinander, prosteten sich zu und tranken. »Wo steckt denn deine Schickse?« fragte Ricky. »Conny?« Der andere feixte. »Wer sonst? Oder hast du noch ein paar andere Girlies zu laufen?« »Ne du. Conny hatte noch was Dringendes zu erledigen. Bei ihren Großeltern in Altefähr.« Andi nahm noch einen Schluck Cola. »Du, Ricky«, meinte er dann. »Wo bleiben eigentlich die Jungs mit der Trockeneismaschine? Herbi und Klein-Günter? Die sind schon längst überfällig.« Ricky blähte die Backen auf und warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Keine Ahnung. Vielleicht stehen die Brüder im Stau? Du weißt doch, auf dem Rügendamm ist alles möglich. Also, dann werd ich mal wieder!« Ricky rückte seine Sonnenbrille zurecht und schob ab. Andi kniff geblendet die Augen zu. Ein Scheinwerfer strahlte ihm direkt ins Gesicht. Irgendwo, hoch über ihm, kicherte jemand vergnügt. Andi schüttelte drohend die Faust. »He, laßt den Quatsch!« rief er. »Stellt den Strahler auf die Mitte ein, doch nicht auf mich, ihr Nasen!« Das gleißende Licht glitt woandershin. Andi griff nach seinen Kopfhörern, legte eine Selbstgebrannte CD auf und lauschte verzückt seinen Kompositionen. Niemand bemerkte das drohende Unheil. Es würde nicht lange dauern, und ES würde über die Raver herfallen! Noch wartete ES. ES wußte, daß noch viel mehr Menschen in die Halle kommen würden. ES war ungeduldig, denn schon jetzt hätte es zuschlagen können. Von hoch oben schaute ES auf das muntere Treiben auf dem Boden der Halle herab. Vor Wonne gluckste ES. * »Mark?« 75
Es war Tessas Stimme. Aber ich konnte nicht antworten. Wie durch Zauberhand waren meine Stimmbänder gelähmt. Nur ein gurgelnder Laut quoll aus meinem Kehlkopf. »Mark? Hörst du mich?« Ich trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. »Sehen Sie! Ich hab's Ihnen ja gesagt!« flüsterte eine Stimme. Sie gehörte Hedwig Johannsen. »Kannst du deinen Ring nicht benützen?« fragte Tessa. »Er ist sehr mächtig, Mark. Du mußt mit aller Kraft gegen das Böse ankämpfen, das dich gefangenhält.« Ich ließ von der Tür ab. Ich spürte, wie mein Inneres von einem anschwellendem Brausen erfüllt wurde. ES wollte demonstrieren, wie stark es war. Und ich konnte nichts tun. Ich war wehrlos. ES hatte sich in meinen Eingeweiden eingenistet. ES bestimmte mein Handeln, wie es ihm beliebte. Die Sprache hatte es mir bereits genommen. Was würde als nächstes folgen? Mein Augenlicht? Mein Tastsinn? Was, wenn es mein Gehirn okkupierte? Die Anfälle, die aus mir eine gefügige Marionette machten, wurde immer häufiger und stärker. »Mein Gott!« keuchte Tessa hinter der Tür. »So antworte doch! Versuche dich zu erinnern! Wann hast du dir das Dreckzeug eingefangen? Und was kann ich tun?« Geh in die Fabrik! dröhnte es in meinem Schädel. Geh nach Andershof! Vernichte ES! ES ist ein… Ich schrak zusammen. Meine Gedanken! ES verhinderte, daß. ich seinen Namen auch nur dachte. Es ging also los. ES begann, mein Gehirn zu manipulieren. Schlimmer konnte es nicht kommen. Mark Hellmann als willenloser Gehilfe des Bösen. Möglicherweise würde ich bald in SEINEM Namen entsetzliche Verbrechen begehen? Unschuldige Menschen töten und mich hohnlachend an ihrem Schmerz weiden… Niemals! Dann wäre es besser, ein Ende zu machen. Was Mephisto und all die Höllenbrut nicht geschafft hatten, das würde ES schaffen. ES würde aus dem Kämpfer des Rings einen Kämpfer des Bösen machen. Ich würde den Menschen, die ich liebte, unendliches Elend bereiten. Die gräßliche Aussicht, bald als Kreatur der Finsternis auf der 76
Erde zu wandeln, erschütterte mich zutiefst. Da fühlte ich meinen Ring in der Hosentasche glühen. Es war, als böte er seine Hilfe an. Aber sollte ich mich selbst vernichten? Plötzlich spürte ich, wie sich ein neuerlicher Anfall ankündigte. Vor meinem inneren Ohr brauste ein entfesselter Orkan. »Mark…?« Tessas Stimme verschwamm, wurde leiser und brach dann ab. Ich merkte noch, wie ich umfiel. Erneut wurde mein Körper von Krämpfen geschüttelt. Zum Greifen nahe erblickte ich Kathrin Tromp vor mir. Sie stieg durch die weiß gekalkte Wand, als wäre es ein Klacks für sie. Sie trug dieselben Sachen, die sie anhatte, als ich sie besucht hatte. Auf ihrem zerklüfteten Gesicht erschien ein erwartungsfrohes Lächeln. Ich wand mich auf dem rauhen Betonboden, und sie beugte sich über mich. Auf einem Mal trug sie keinen Pullover mehr. Ich sah, wie ihre Brüste aus dem BH quollen und wie Gewitterwolken über mir hingen. »Herr Horstmann!« Ihre Stimme klang dumpf, wie über ein Mischpult verzerrt. »Eigentlich sind Sie ein ganz hübscher Bursche!« Ich heiße nicht Horstmann! wollte ich schreien. Aber ich winselte nur leise. * Strauchwerk gab es in der Nähe des Fabrikgeländes zuhauf. Jimmy Möller hatte keine Probleme, seinen Drahtesel unsichtbar zu machen. Er hatte vor, ungesehen in die Werkhalle zu schlüpfen. Rache ist Blutwurst, dachte er böse. Im Schutze der Dunkelheit schlich Jimmy auf das Haus zu. Unter einem Arm klemmte eine kleine Segeltuchtasche, in der sich Werkzeuge befanden. Er wußte noch nicht wie, aber irgendwas würde ihm schon einfallen, um diesem Angeber Andi eine deftige Abfuhr zu erteilen. Jimmys Gesicht war noch immer gezeichnet von den rüden Attacken des einstigen Freundes. Durch eine unscheinbare Hintertür schlüpfte Jimmy ungesehen ins Haus. Er knipste seine Taschenlampe an, fand eine schmale Treppe und kletterte vorsichtig ein paar Stufen hinauf. 77
Von nebenan dröhnten die Bässe von Andis Techno-Tracks. Für einen kurzen Moment hob Jimmy den Kopf und lauschte. Er fand den Song gar nicht übel. Andi würde großen Erfolg haben. Also ein Grund mehr, ihm die Suppe zu versalzen. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe erfaßte den Treppenabsatz der nächsten Etage. Ein leerer Raum, nur Bauschutt und Müll lagen darin. Am anderen Ende sah Jimmy eine Tür. Behutsam drückte er auf die Klinke. Die Tür war versperrt. Jimmy trat zurück, öffnete den Reißverschluß seiner Tasche und kramte darin herum. Ein Brecheisen kam zum Vorschein. Er legte die Lampe so auf den Boden, daß ihr Strahl das Türschloß beleuchtete. Ohne Zeit zu verlieren, machte er sich daran, die Tür aufzuhebeln. Es ging leichter als vermutet. Der Türrahmen war morsch, und der knirschende Ton splitternden Holzes ließ ihn erschaudern. Die Tür sprang auf. Jimmy nahm Lampe und Tasche und ging in den nächsten Raum. Das mußte einmal ein Umkleideraum gewesen sein. An einer Wand stand noch ein alter Stahlschrank ohne Tür. Daneben türmten sich die Überreste mehrerer Waschbecken. Ein Hocker mit verbogenen Aluminiumbeinen lag in der Ecke, davor ein Haufen alter Zeitungen. Neues Deutschland, das Zentralorgan der SED. Jimmy mußte grinsen, als er auf ein halbseitiges Foto von Erich Mielke trat. Plötzlich erhaschte er einen merkwürdigen Ton. Er kam von ganz nah und war gut zu hören, obwohl Andi in der benachbarten Halle gerade einen Acid-House-Titel aufgelegt hatte. Der Ton ähnelte einem Glucksen, wie von einem Abfluß, der verstopft war. Jimmy stoppte, hielt den Kopf schief und ließ den Strahl der Lampe langsam über die zerbröselnden Wände gleiten. »Ist da jemand?« fragte er leise. Natürlich war da niemand, er war allein, aber trotzdem keimte das Gefühl in ihm auf, daß irgendwer ihn belauerte. Sekundenlang war er verwirrt. Schwer atmend folgte er dem Lichtkegel der Taschenlampe. Genau über seinem Kopf bemerkte er etwas Merkwürdiges. Ein ungefähr fußballgroßes Gebilde, offenbar aus Schleim, Schmierfett oder Motorenöl. Schnell trat Jimmy einen Schritt beiseite. 78
Der Boden zum oberen Stockwerk schien durchlässig zu sein. An der Decke sammelte sich eine gespenstisch wabernde Masse. Auf den ersten Blick sah sie wie ein wackelnder Pudding aus. »Igittegitt!« Jimmy rümpfte die Nase. »Hier mieft es ja wie in einer Klärgrube.« Da löste sich ein dicklicher Tropfen von der Decke. Wie ein feuchter Spinnenfaden senkte er sich auf Jimmy herunter. Wieder trat Jimmy beiseite. Aber der Glibberfaden schien seinen eigenen Gesetzen zu folgen. Obwohl sich in dem Raum kein Lüftchen regte, pendelte er unvermittelt hin und her, wie das Perpendikel einer Standuhr aus Omas Zeiten. Dabei schied der Faden winzige Tröpfchen aus, die wie Glasmurmeln schimmerten, als sie zu Boden gingen. »Shit happens!« fluchte Jimmy. »Was, zum Henker, ist denn das für ein widerliches Zeug?« Fassungslos sah er zu, wie sich die mysteriösen Murmeln in den Estrich einfraßen. Jimmy war geschockt, reagierte aber in Sekundenschnelle. Ihm wurde klar, wenn ihn solch ein Glibberding erwischte, konnte er sein Testament machen. Schon pendelte der Faden über seinem Kopf. Jimmy ließ seine Werkzeugtasche fallen. Mit einem tollkühnen Sprung hechtete er sich in Richtung Tür. Er kam hart auf, ratschte mit den Handflächen über Schutt und Keramikscherben. Vor Schmerz brüllte er auf. Seine Hände bluteten. Trotz seiner Leibesfülle sprang er wie ein Gummiball auf seine Füße. Die Angst schien ihm Flügel zu verleihen. Jimmy stieß die Tür auf und stürmte in den Nebenraum. Das Licht seiner Taschenlampe erlosch. Im Dunkeln tastete sich Jimmy die Treppe hinunter. Sein Herz schlug bis zum Hals. Das Rachegefühl, das eben noch wie ein loderndes Feuer in ihm brannte, war einem anderen Empfinden gewichen. Er mußte die anderen Kids warnen, bevor es zu spät war! Als er die Hintertür aufstieß und ins Freie stolperte, stieß er mit einer Gestalt zusammen. Eine gertenschlanke Frau, ganz in Leder. Geistesgegenwärtig packte sie zu und bewahrte ihn vorm Hinfallen. Jimmy starrte sie an wie einen Geist. »Da oben«, hechelte er. 79
»ES ist da oben.« »Was ist da oben?« Die Frau packte ihn beim Arm. »Was meinst du?« »Ob Sie's mir glauben oder nicht.« Jimmy wischte sich den Dreck aus dem Gesicht. »Da oben ist - der Blob!« Das Wort schlug ein wie eine Bombe. Tessa Hayden ließ seinen Ärmel los. Kreidebleich wich sie zurück und betrachtete perplex die angelehnte Tür, durch die Jimmy eben gekommen war. Tessa wußte, wenn sie hineinging, erwartete sie dahinter die Hölle. * ES hatte den Hauptteil seines Körpers auf den Dachbalken plaziert, direkt über den Köpfen der zahllosen Raver. Die ersten Kids begannen, sich ent hemmt auf dem blitzblank gefegten Boden der Halle zu schütteln. Hier und da wallte farbiger Nebel auf, der sich hoch oben zu bauschigen Wolken zusammenzog. Das Ungeheuer nahm die Gestalten der einzelnen Menschen nicht mehr genau wahr. Aber das machte nichts. Wenn die Zeit gekommen war, würde ES alle Menschen mit einemmal vernichten. So lautete der Befehl. ES hatte inzwischen vehement an Größe zugelegt. Seine glitschige Schale ähnelte Schimmelpilzen, weißlichgrau, überall mit Saugnäpfen versehen, mit denen es sich an Wänden und unter Decken fortbewegen konnte. Wenn ES wollte, konnte es seine unzähligen Fangarme so weit ausstrecken, daß es jeden Winkel der Halle erreichen konnte. Natürlich auch in jeden der kleinen Nebenräume. Die Arme züngelten durch Türritzen und Fensterschlitze, krochen an den Wänden hoch, verschmolzen an der Decke miteinander und vertropften ihr magisches Gift. Einen Kopf besaß ES nicht. Statt dessen pulsierte unter der Schale ein formloser Kern. Darin befand sich seine magische Kraft. Und die konzentrierte ES gerade, um den finalen Schlag auszuführen. Dann würde es bald viele geben, die so waren wie ES. Und es würden immer mehr werden. 80
Der Anfang war bereits gemacht. Es war wirklich ein vielversprechender Anfang. Das Geschöpf zog seine pelzige Schale zusammen. Es gluckste, denn ES fühlte sich sicher. Niemand würde ES aufhalten können. Niemand. ES brachte all seine rüsselartigen Saugarme in Stellung. Denn jetzt war es soweit. Da stürmte Jimmy Möller in die Halle. Wie von Sinnen stürzte er auf das Podest, auf dem Andi Tromp seine DJ-Box aufgebaut hatte. Er riß dem Zurückprallenden das Mikrophon aus der Hand. »Alle raus!« brüllte er wie von Sinnen. »Das Haus ist…« Er stockte, fand nicht das passende Wort, und ein höhnisches Gelächter schlug ihm entgegen. »Ihr müßt hier raus!« schrie Jimmy. »Sonst werdet ihr alle sterben…« »Geiler Joke!« klang es hinauf. »Aber jetzt mach mal wieder 'n bißchen Power, Andi!« Plötzlich passierten mehrere Dinge zugleich. Zuerst ging das Licht aus. Hoch über den Köpfen der Raver ertönte ein ekelerregendes Glucksen. Hunderte schleimiger Fäden, die im Dunkeln silbrig wie Lametta schimmerten, senkten sich herab. Die ersten Hilferufe wurden laut, vom hypnotischen Gehämmere eines Techno-Tracks überdeckt. Manche schienen das Ganze noch immer für einen irrwitzigen Gag zu halten und klatschten begeistert in die Hände. Dann die ersten Schmerzenschreie, verzweifelt und voller Angst. Jetzt brach das Chaos aus. ES hatte angegriffen. * Für einen Sekundenbruchteil spürte ich mein eigenes ICH wieder. Das Trugbild von Kathrin Tromp verschwamm, schwebte nun körperlos im Raum. Ich riß meinen flimmernden Ring hoch. Schon merkte ich, wie sich der Schleier der Besessenheit erneut über mich senkte, 81
diesmal vielleicht für alle Zeit. »Nein!« Ich kämpfte dagegen an. Mein Arm zitterte. Das Böse, das in mir steckte, versuchte, den Ring mit aller Macht von meinem Hexenmal auf der Brust fernzuhalten. Ich ballte meine Rechte zur Faust, murmelte Beschwörungen. Nichts half. Die schwarzmagische Macht verfügte über gigantische Kräfte. Sie schien meinen Widerstand im Ansatz zu ersticken. Spielte sie mit mir, um mir zu demonstrieren, daß ich völlig chancenlos war? Ich rollte mich zu einem Knäuel zusammen und drückte mit meinem ganzen Körpergewicht meinen Ellbogen gegen meine Brust. Es knackte in mir, als würden meine Knochen zerbersten. Die Schmerzen raubten mir fast den Verstand. Zentimeter für Zentimeter näherte sich mein Ring dem Mal auf meiner Brust. Es fehlte nur noch ein winziges Stück. Mir quollen die Augen aus dem Kopf, so sehr strengte ich mich an. Vergeblich. Die geisterhafte Kraft erwies sich als stärker. Ich schrie verzweifelt - und hörte, wie die Tür aufging. Paul Johannsen stürzte in die Waschküche. Neben mir sank er auf die Knie. Ich schaute in sein Gesicht. Es war leichenblaß, aber völlig ausdruckslos. Hinter ihm brüllte seine Frau: »Tu's nicht! Er ist besessen!« Er achtete nicht auf sie. Statt dessen packte er mein rechtes Handgelenk. Mit einer Leichtigkeit, die mich verblüffte, quetschte er die Hand mit meinem Ring an das Hexenmal auf meiner linken Brust. Es gab einen Knall, Paul wurde zurückgeschleudert. Er krachte gegen die Waschmaschine, rappelte sich aber schnell wieder hoch. Auf seiner Stirn erschien eine Beule. Erneut wummerte es in der Waschküche, als hätte jemand einen Blitzknaller hineingeworfen. Dann flammte ein dünner Lichtstrahl aus meinem Ring. Er züngelte an einer Wand hoch und stoppte auf einem Fleck. »Schreibe, Mark!« fuhr mich der alte Mann an. »Nun schreib schon! Du mußt die anderen retten!!!« Das Böse hatte mich noch in der Gewalt. Aber es war nicht mehr so allgegenwärtig. Ich spürte, daß es seine Macht wiederherstellen wollte. Ich sprang auf die Füße, strauchelte und 82
mußte mich an der Wand stützen. Alle möglichen Gedanken jagten durch meinen Schädel. Pauls Worte hallten wie Trommelschläge in mir. Du mußt die anderen retten! »Schreibe!« Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich schrieb. An der Wand erschienen die Runen für das Wort RETTE. Ein Schwindelanfall packte mich. Ich verlor der Boden unter den Füßen. Paul Johannsen bewahrte mich vor dem Fall. Er richtete mich auf. Das Böse fiel von mir ab. Der Spuk war zu Ende. »Tessa?« keuchte ich. »Mit Conny in Andershof. Die alte Werkhalle.« Ich gab meinem BMW die Sporen, Paul Johannsen begleitete mich. * ES gab einen dumpfen Laut von sich. Statt seinen bevorstehenden Sieg zu genießen, hatte es plötzlich eine beunruhigende Vorahnung. Dabei hatte ES Grund, stolz zu sein. Nicht ein einziger der Menschen hatte es geschafft, ins Freie zu gelangen. Es gab nur einen einzigen Ausgang, und davor hatte ES seine glibbrigen Spinnfäden wie ein Vorhang gezogen. Unten, in der Halle, herrschte Panik. Die Raver liefen von einer Ecke des Raumes in die andere, fielen hin, standen wieder auf und rannten erneut kopflos auf und ab. Alles verlief wie am Schnürchen. Die Menschen saßen in der Falle. Nicht mehr lange, und alle wären hoffnungslos verloren. Und dennoch ahnte ES, daß sich Komplikationen ankündigten. Prompt bestätigt sich sein Verdacht. ES verspürte zum erstenmal in seinem Dasein so etwas wie Furcht. *
83
Ich fand Tessa am Boden liegend, neben ihr krümmte sich Paul Johannsens Enkelin Conny. Beide waren in einem fürchterlichen Zustand. Ihre Körper waren mit glibbrigen Spinnfäden bedeckt, die sie regelrecht an den Boden festleimten. Als ich sah, daß sie lebten, hastete ich weiter. Paul Johannsen blieb bei den Frauen. Inzwischen war mir klar, wer für das Horror-Szenarium verantwortlich war. Das Ding ohne Namen, von dem ich geträumt hatte. Es war der Blob! Auf der Fahrt nach Andershof kam mir der entscheidende Gedanke. Ich wußte, wie ich das wabblige Dreckszeug ins Jenseits verfrachten konnte. Auf Kruzifixe, Weihwasser und Holzpflöcke konnte ich verzichten. Ich schlug einige Türen zu Kleinholz und befand mich alsbald im hinteren Teil der Werkhalle. Bevor ich eintrat, formte ich mit Hilfe meines Rings ein undurchdringliches, magisches Gebilde um meinen Körper. Es schützte mich vor den herabtropfenden Fäden. Ringsum drängten sich die krakeelenden Kids. Ich mußte aufpassen, daß sie mich in ihrer Panik nicht über den Haufen rannten. Nach kurzem Suchen fand ich die provisorische Stromzufuhr. Das Glibberding bestand zumeist aus Wasser; und Wasser war nun mal ein sehr guter Stromleiter. Wild entschlossen riß ich ein Kabel aus der Leitung, hielt die Pole an einige der Spinnfäden und wartete, was passierte. Grellbunte Blitze zuckten auf, als der Strom mit Lichtgeschwindigkeit die langen Fäden hinaufkroch. Nur wenige Sekunden später klatschte ein schwarzes Gebilde, auf den Betonboden. Wild zuckend zerschmolz es zu einem harten Klumpen, nicht größer als meine Faust. Das mußte sein Zentrum sein. Der üble Geruch von verbranntem Aas breitete sich aus. ES hatte den Geist aufgegeben. Aber mein Ring prickelte noch immer. Ich legte das Kabel behutsam beiseite, zog meine SIG Sauer P6, bückte mich und jagte eine Kugel in den steinartigen Klumpen. Das komische Ding zersprang in tausend Stücke. »So!« keuchte ich, als ich mich aufrichtete. »Ich glaube, jetzt hab ich dich endgültig erledigt, Blobby!« Das Prickeln meines Ringes verging, und schnell lief ich, um nach Tessa und Paul Johannsens Enkelin zu sehen. Sie fühlten 84
sich wie neugeboren. Die seltsamen Spinnfäden hatten sich in Luft aufgelöst… * Als ich meinen Bericht beendet hatte, starrte mich Vincent van Euyen bewundernd an. »Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt!« entfuhr es ihm. »Wärst du nur ein paar Minuten später in dieser Fabrikhalle aufgetaucht, o jemine! Nicht auszudenken, was der Blob dann angerichtet hätte.« Wir saßen in meiner Wohnung in der Flarian-Geyer-Straße. Vincent nuckelte aufgeregt an seiner Pfeife. Bis ins kleinste Detail hatte ich ihm mein Abenteuer am Strelasund geschildert. Am meisten freute es mich, daß es keinen einzigen Toten gegeben hatte. Lediglich der Allgemeinmediziner Dr. Zander hatte einiges abbekommen. Zum Glück war seine Brustwunde nicht lebensbedrohlich. Ich stand auf und deutete auf die Uhr. »Halb zehn.« »Na und?« Er sah mich an. »Sag bloß, du willst zu Bett gehen?« »Im gewissen Sinne ja«, erklärte ich. »Tessa wird gleich hier auftauchen. Und ich muß mich noch bei ihr bedanken. Verstehst du?« Vincent lachte. »Du Stromer. Du wirst dich nie ändern.« Ich ging zu meinem CD-Ständer und nahm eine Scheibe heraus. »Hier, Vince«, sagte ich. »Diese hier hat DJ Andi T aufgenommen. Mußt du dir unbedingt mal anhören. Klingt gar nicht so verkehrt. Einen Track hat er übrigens Jimmy gewidmet, seinem Kumpel, mit dem er sich wieder versöhnt hat.« Vincent bekam Murmelaugen. »Du hörst Techno?« »Wieso nicht?« Kopfschüttelnd nahm mir Vincent die CD aus der Hand. Als er hinausging, hörte ich ihn murmeln: »Mark Hellmann als Raver. Mein Gott! Das ist das Ende.«
ENDE
85