Diplomatische Verwicklungen B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O B R R A ZO B R R A ZO B...
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Diplomatische Verwicklungen B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O B R R A ZO B R R A ZO B R R A ZO B R R A ZO B R R A ZO B R R A ZO B R R A ZO B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O B R R A ZO B R R A ZO B R R A Z O
Lois McMaster Bujold
1 In der Darstellung über der Vid-Scheibe wand sich das Spermium in eleganten, geschmeidigen Kurven. Es zappelte noch energischer, als der unsichtbare Zugriff des medizinischen Mikrotraktors es erfasste und zu seinem Ziel führte, dem Ei, das einer Perle ähnelte: rund, schimmernd und verheißungsvoll. »Noch mal, mein Junge, in die Bresche – für Kaiser, Reich und Vaterland!«, murmelte Miles aufmunternd. »Oder zumindest für Barrayar, mich und vielleicht Großvater Piotr! Ha!« Mit einem letzten Zucken verschwand das Spermium in seinem vorherbestimmten Paradies. »Miles, schaust du schon wieder diese Baby-Bilder an?«, meldete sich Ekaterins Stimme amüsiert, als sie das luxuriöse Badezimmer ihrer Kabine verließ. Sie wickelte gerade ihr dunkles Haar auf dem Hinterkopf hoch, steckte es fest und beugte sich dann über die Schulter ihres Mannes, der in dem stationären Sessel saß. »Ist das Aral Alexander oder Helen Natalia?« »Nun ja, Aral Alexander im Entstehen.« »Aha, du bewunderst also wieder einmal dein Spermium.« »Und dein exzellentes Ei, Mylady.« Er blickte lächelnd zu seiner Frau auf, die in dem Kasack aus schwerer roter Seide, den er ihr auf der Erde gekauft hatte, großartig aussah. Der warme reine Duft ihrer Haut kitzelte seine Nase und er atmete ihn glücklich ein. »Waren sie nicht ein hübsches Gametenpaar? Zumindest zu der Zeit, als sie noch getrennt waren.« 3
»Ja, und es wurden aus ihnen schöne Blastozyten. Weißt du, es ist gut, dass wir diese Reise unternommen haben. Jede Wette, du wärest jetzt dort und würdest versuchen, die Deckel der Replikatoren hochzuklappen, um hineinzugucken, oder du würdest die armen kleinen Dinger herumschütteln wie Winterfestgeschenke, um festzustellen, wie sie klappern.« »Na ja, für mich ist das alles neu.« »Deine Mutter sagte mir beim letzten Winterfest, sobald die Embryos sicher in den Replikatoren eingesetzt wären, würdest du dich aufführen, als hättest du die Fortpflanzung erfunden. Und damals dachte ich noch, sie würde übertreiben!« Er ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Und das sagt die Dame, die das ganze Frühjahr hindurch im Kinderzimmer neben dem Gestell mit den Replikatoren saß, um sie zu studieren? Die plötzlich für alle Aufgaben doppelt so lange zu brauchen schien?« »Was natürlich gar nichts damit zu tun hatte, dass ihr Herr Gemahl zweimal stündlich hereinplatzte, um zu fragen, wie sie vorankäme?« Ihre Hand, die er losgelassen hatte, fuhr auf eine sehr schmeichelnde Weise an seinem Kinn entlang. Miles überlegte, ob er vorschlagen sollte, sich der ziemlich langweiligen Tischgesellschaft im Passagiersalon des Raumschiffes zu entziehen und den Zimmerservice zu beauftragen, sich wieder auszuziehen und den Rest der Wache wieder im Bett zu verbringen. Allerdings schien nichts auf der Reise Ekaterin langweilig vorzukommen. Sie hatten diese galaktische Hochzeitsreise verspätet an4
getreten, aber Miles meinte, es sei vielleicht besser so. Ihre Ehe hatte einen ziemlich schwierigen Start gehabt. Es war gut gewesen, dass ihre Eingewöhnung ins Eheleben eine ruhige Periode häuslicher Routine umfasst hatte. Aber im Rückblick schien es, als wären bis zum ersten Jahrestag jener denkwürdigen, schwierigen, mitten im Winter gefeierten Hochzeit subjektiv nur fünfzehn Minuten vergangen. Sie waren schon lange einer Meinung gewesen, dass sie das Datum feiern würden, indem sie ihre Kinder in deren Uterusreplikatoren zeugen ließen. Umstritten war nie gewesen, wann sie anfangen wollten, sondern bloß, mit wie vielen. Er meinte immer noch, sein Vorschlag, sie alle auf einmal zu zeugen, sei von bewundernswerter Effizienz. Mit der Zahl zwölf war es ihm nie ernst gewesen; er hatte nur die Absicht gehabt, mit diesem Vorschlag zu beginnen und sich dann auf sechs zurückzuziehen. Seine Mutter, seine Tante und – wie es schien – alle anderen Frauen in seinem Bekanntenkreis hatten sich ins Zeug gelegt, um ihm klar zu machen, dass er verrückt war, aber Ekaterin hatte nur gelächelt. Sie hatten sich dann für den Anfang auf zwei geeinigt, Aral Alexander und Helen Natalia. Eine doppelte Portion Staunen, Schrecken und Freude. Am Rande der Vid-Aufzeichnung wurde Babys erste Zellteilung von einem roten, blinkenden Licht unterbrochen; es zeigte an, dass eine Nachricht eingetroffen war. Miles runzelte leicht die Stirn. Sie waren drei Wurmlochsprünge vom Lokalraum der Sonne entfernt, im tiefen interstellaren Bereich auf einem Flug mit weniger als Lichtgeschwindigkeit zwischen zwei Wurmlöchern, der vier volle Tage dauern sollte. Unterwegs nach Tau Ceti, in des5
sen Orbit sie in ein Schiff nach Escobar umsteigen wollten, und dort dann auf ein anderes, das die Sprungroute vorbei an Sergyar und Komarr nach Hause nehmen würde. Eigentlich erwartete er hier keine Vid-Anrufe. »Auf Empfang«, sprach er in den Apparat. Der potenzielle Aral Alexander verschwand, stattdessen erschienen Kopf und Schultern des Kapitäns des taucetischen Passagierlinienschiffes. Miles und Ekaterin hatten auf diesem Abschnitt ihrer Reise zwei- oder dreimal an seinem Tisch diniert. Der Mann schenkte Miles ein angespanntes Lächeln und ein Kopfnicken. »Lord Vorkosigan.« »Jawohl, Kapitän? Was kann ich für Sie tun?« »Ein Schiff, das sich als kaiserlich barrayaranischer Kurier identifiziert, hat uns angefunkt und bittet um die Erlaubnis, auf gleiche Geschwindigkeit zu gehen und anzudocken. Anscheinend hat man eine dringende Botschaft für Sie.« Miles zog die Augenbrauen hoch, ihm wurde flau im Magen. Denn das war, seiner Erfahrung nach, nicht die Art und Weise, wie das Imperium gute Nachrichten übermittelte. Auf seiner Schulter spürte er den festen Griff von Ekaterins Hand. »Gewiss, Kapitän. Stellen Sie sie durch.« Das dunkle Gesicht des Kapitäns von Tau Ceti verschwand und wurde einen Moment später ersetzt durch einen Mann in kaiserlich barrayaranischer Interimsuniform mit Leutnantsabzeichen und den Anstecknadeln von Sektor IV am Kragen. Durch Miles’ Kopf huschten Schreckbilder von einer Ermordung des Kaisers, von einer Brandkatastrophe im Palais Vorkosigan mit den dort befindlichen Replikatoren, oder noch schlimmer: von einem tödlichen 6
Schlaganfall seines Vaters – er fürchtete den Tag, an dem ein Bote mit verkniffenem Gesicht beginnen würde mit der Anrede: »Graf Vorkosigan…« Der Leutnant salutierte vor ihm. »Lord Auditor Vorkosigan? Leutnant Smolyani vom Kurierschiff Turmfalke. Ich habe eine Botschaft, die ich Ihnen persönlich übergeben soll und die mit dem persönlichen Siegel des Kaisers versehen ist. Und danach habe ich den Befehl, Sie an Bord zu nehmen.« »Wir befinden uns doch nicht im Krieg, oder? Es ist hoffentlich niemand gestorben?« Leutnant Smolyani zog den Kopf ein. »Bis jetzt nicht, soweit ich gehört habe, Sir.« Miles’ Puls verlangsamte sich etwas; Ekaterin hinter ihm atmete auf. »Aber eine komarranische Handelsflotte wurde offensichtlich an einem Ort namens Station Graf in der Union der Freien Habitats beschlagnahmt. Das ist als unabhängiges System aufgelistet, da draußen nahe am Rand von Sektor V. Mein unverschlüsselter Flugbefehl lautet, Sie so schnell und so sicher wie möglich dorthin zu bringen und dann nach Ihrem Belieben dort zu warten.« Er lächelte etwas grimmig. »Ich hoffe, es handelt sich nicht um einen Krieg, Sir, denn man scheint nur uns dorthin zu schicken.« »Beschlagnahmt? Nicht unter Quarantäne gestellt?« »Meines Wissens handelt es sich um eine Art juristischer Verwicklung. Sir.« Das riecht mir nach Diplomatie. Miles verzog das Gesicht. »Nun ja, die versiegelte Botschaft wird es bestimmt verständlicher machen. Bringen Sie sie zu mir herüber, und ich werde sie mir anschauen, während wir unsere Sachen packen.« 7
»Jawohl, Sir. Die Turmfalke wird in wenigen Minuten andocken.« »Sehr gut, Leutnant.« Miles legte auf. »Wir?«, fragte Ekaterin in ruhigem Ton. Miles zögerte. Keine Quarantäne, hat der Leutnant gesagt. Und allem Anschein nach auch kein Krieg, bei dem geschossen wurde. Oder zumindest noch nicht. Andererseits konnte er sich nicht vorstellen, dass Kaiser Gregor ihre lange aufgeschobenen Flitterwochen wegen irgendeiner Belanglosigkeit unterbrach. »Ich schaue mir lieber erst einmal an, was Gregor zu sagen hat.« Sie küsste ihn auf den Scheitel und sagte einfach: »Ganz recht.« Miles hob seinen persönlichen Armbandkommunikator an die Lippen und murmelte: »Gefolgsmann Roic – Dienstbeginn, zu meiner Kabine, sofort.« Die Datendiskette mit dem kaiserlichen Siegel, die der Leutnant kurz darauf Miles überreichte, war Persönlich gekennzeichnet, nicht Geheim. Miles schickte Roic, seinen Leibwächter und Offiziersburschen, und Smolyani, um das Gepäck zu ordnen und zu verstauen, gab Ekaterin aber ein Zeichen, sie solle bleiben. Er schob die Diskette in das gesicherte Abspielgerät, das der Leutnant ebenfalls gebracht hatte, setzte es auf dem Nachttisch der Kabine ab und schaltete es ein. Anschließend setzte er sich wieder auf den Bettrand neben seine Frau und spürte dabei die ungemein wohltuende Wärme und Festigkeit ihres Körpers. Ihrem besorgten Blick zuliebe nahm er ihre Hand beruhigend in die seine. 8
Die vertrauten Gesichtszüge von Kaiser Gregor Vorbarra erschienen, hager, dunkel, reserviert. Seine leicht zusammengepressten Lippen verrieten Miles große Irritation. »Es tut mir Leid, dass ich eure Flitterwochen unterbreche, Miles«, begann Gregor. »Aber wenn diese Botschaft dich erreicht, dann heißt das, ihr habt eure Reiseroute nicht geändert. Dann seid ihr jetzt auf jeden Fall auf eurer Heimreise.« Dann tat es ihm also nicht allzu Leid. »Es ist mein Glück und dein Pech, dass zufällig du derjenige bist, der am nächsten an diesem Schlamassel dran ist. Kurz gesagt, eine unserer auf Komarr stationierten Handelsflotten hat an einer Raumstation draußen in der Nähe von Sektor V Halt gemacht, um Nachschub an Bord zu nehmen und Fracht auszutauschen. Einer – vielleicht sind es auch mehrere, die Berichte sind in diesem Punkt unklar – der Offiziere der barrayaranischen Eskorte ist desertiert oder wurde entführt. Oder er wurde ermordet – auch in diesem Punkt sind die Berichte unklar. Die Patrouille, die der Flottenkommandant schickte, um ihn zu holen, bekam Schwierigkeiten mit den Einheimischen. Schüsse – ich formuliere das wohl überlegt – Schüsse wurden abgefeuert, Ausrüstungsgegenstände und Baulichkeiten wurden beschädigt, auf beiden Seiten kamen offensichtlich Menschen zu Schaden. Es wurden noch keine weiteren Todesfälle gemeldet, aber das kann sich geändert haben, bis du diese Botschaft bekommst. Gott helfe uns. Das Problem – oder jedenfalls eines der Probleme – besteht darin, dass sich die Version der Kette der Ereignisse, die wir vom lokalen Beobachter unseres Sicherheitsdien9
stes auf Station Graf bekommen, signifikant von dem unterscheidet, was wir von unserem Flottenkommandanten erfahren. Es wird jetzt berichtet, dass noch mehr barrayaranisches Personal entweder als Geiseln oder in Arrest festgehalten wird, je nachdem welcher Version man Glauben schenken mag. Beschuldigungen wurden erhoben, Strafgebühren und Ausgaben steigen, und die Reaktion der Einheimischen war, alle Schiffe stillzulegen, die derzeit angedockt sind, bis der ganze Kuddelmuddel zu ihrer Zufriedenheit aufgeklärt ist. Die komarranischen Frachtführer schreien jetzt über die Köpfe der barrayaranischen Eskorte hinweg zu uns um Hilfe, was den Ereignissen weitere Dringlichkeit gibt. Zu deinem Vergnügen sind alle Originalberichte, die wir bis jetzt von allen beteiligten Parteien bekommen haben, dieser Botschaft als Anlage hinzugefügt. Ergötze dich daran!« Gregor verzog das Gesicht auf eine Weise, die Miles zusammenzucken ließ. »Damit das Problem noch heikler wird, gehört die fragliche Flotte zu etwa fünfzig Prozent dem Haus Toscane.« Gregors frisch gebackene Ehefrau, Kaiserin Laisa, war von Geburt eine Erbin der Toscane und somit Komarranerin; es hatte sich um eine politische Heirat gehandelt, die von enormer Bedeutung für den Frieden der fragilen PlanetenUnion war, die das Imperium darstellte. »Das Problem besteht darin, wie ich meine Schwiegerverwandten zufrieden stelle und zugleich den Eindruck kaiserlicher Unparteilichkeit gegenüber allen ihren komarranischen Handelskonkurrenten vermittle – ich überlasse das deinem Einfallsreichtum.« Gregors dünnes Lächeln verriet alles. »Du weißt ja, wie es läuft. Ich ersuche dich als meine 10
Stimme, dich mit aller gebotenen Schnelligkeit selbst nach Station Graf zu begeben und die Situation zu klären, bevor sie sich noch weiter verschlechtert. Hol alle meine Untertanen aus den Händen der Einheimischen heraus und bringe die Flotte wieder in Fahrt. Und das bitte, ohne einen Krieg anzuzetteln oder mein kaiserliches Budget zu ruinieren. Und – das ist entscheidend – finde heraus, wer lügt. Falls es der KBS-Beobachter ist, dann wird dieses Problem der Befehlskette des Sicherheitsdienstes übergeben. Falls es der Flottenkommandant ist – bei dem es sich übrigens um Admiral Eugin Vorpatril handelt – dann wird es … in hohem Maße mein Problem.« Oder eher in hohem Maße das Problem von Gregors Stellvertreter, seiner kaiserlichen Stimme, seines kaiserlichen Auditors. Nämlich von Miles. Miles dachte an die interessanten Fallstricke, die in einem Versuch lagen, ohne Verstärkung weit weg von daheim den höchsten Offizier mitten aus seinem langjährigen und vermutlich persönlich loyalen Kommando heraus zu verhaften. Noch dazu einen Vorpatril, den Spross eines barrayaranischen aristokratischen Klans mit ausgedehnten und bedeutsamen politischen Verbindungen innerhalb des Rates der Grafen. Miles’ eigene Tante und sein Cousin waren Vorpatrils. O ja, vielen Dank, Gregor. »Jetzt eine Angelegenheit, die Barrayar näher liegt«, fuhr der Kaiser fort. »Irgendetwas hat die Cetagandaner in der Gegend von Rho Ceta aufgescheucht. Es ist nicht nötig, hier in die entsprechenden Details zu gehen, aber ich hätte es gern, wenn du diese Beschlagnahmungskrise so schnell und effizient lösen würdest, wie du nur kannst. Falls die 11
Rho-Ceta-Geschichte noch sonderbarer wird, hätte ich dich gerne sicher zu Hause. Die Verzögerung der Kommunikation zwischen Barrayar und Sektor V ist zu groß, als dass ich dir über die Schultern schauen könnte, aber es wäre nett, wenn du mir gelegentlich einen Status- oder Fortschrittsbericht schicken könntest, falls es dir nichts ausmacht.« Gregors Stimme ließ keine Spur von Ironie erkennen. Musste sie auch gar nicht. »Viel Glück«, schloss Gregor. Das Vid-Gerät zeigte wieder eine stumme Projektion des kaiserlichen Siegels. Miles schaltete es aus. Die detaillierten Berichte konnte er studieren, sobald er unterwegs war. Er? Oder wir? Er blickte auf zu Ekaterins bleichem Profil; sie richtete ihre ernsten blauen Augen auf ihn. »Willst du mit mir kommen oder die Heimreise fortsetzen?«, fragte er. »Kann ich mit dir kommen?«, fragte sie unsicher. »Selbstverständlich kannst du! Die Frage ist nur. ob es dir gefallen würde.« Sie zog die dunklen Augenbrauen hoch. »Das ist bestimmt nicht die einzige Frage. Glaubst du, dass ich dir von Nutzen wäre, oder würde ich dich nur von deiner Arbeit ablenken?« »Es gibt einen offiziellen Nutzen, und es gibt einen inoffiziellen Nutzen. Der erste ist bestimmt nicht wichtiger als der zweite. Du weißt ja, wie die Leute reden, wenn sie versuchen, mir indirekte Botschaften mitzuteilen, oder?« »O ja.« Sie verzog angewidert die Lippen. »Nun ja, ich weiß, es ist langweilig, aber du bist sehr gut darin, sie auszusortieren, weißt du. Ganz zu schweigen von 12
den Informationen, die man erhält, wenn man die verschiedenen Arten von Lügen studiert, die einem die Leute erzählen. Und die … äh – Nichtlügen. Es mag durchaus Leute geben, die aus dem einen oder anderen Grund mit dir reden, aber nicht mit mir.« Mit einer leichten Geste ihrer freien Hand räumte sie ein, dass dies stimmte. »Und … es wäre eine wirkliche Erleichterung für mich, jemanden dabeizuhaben, mit dem ich offen reden kann.« Ihr Lächeln wurde einen Hauch ironisch. »Reden oder Dampf ablassen?« »Ich – ähem! – fürchte, es wird da viel Dampf abzulassen geben. Glaubst du, dass du es ertragen wirst? Es könnte ziemlich heftig werden. Ganz zu schweigen von der Langeweile.« »Weißt du, du behauptest ständig, dass dein Job langweilig ist, Miles, aber deine Augen haben schon angefangen zu leuchten.« Er räusperte sich und zuckte ohne Reue die Achseln. Ihre Amüsiertheit verflog, und ihre Augenbrauen sanken wieder herab. »Was meinst du, wie lange diese Klärung dauern wird?« Er überlegte, was für eine Rechnung sie zweifellos jetzt gerade angestellt hatte. Bis zu den geplanten Geburten würde es weitere sechs Wochen dauern, zwei oder drei Tage hin oder her. Mit ihrem ursprünglichen Reiseplan wären sie einen bequemen Monat vorher wieder im Palais Vorkosigan eingetroffen. Von ihrem derzeitigen Aufenthaltsort aus gesehen lag Sektor V in der Barrayar entgegengesetzten Richtung, soweit man überhaupt sagen konnte, dass das 13
Netzwerk von Sprungpunkten, durch das man reiste, um von hier nach da zu gelangen, so etwas wie eine Richtung hatte. Einige Tage, um von hier zur Station Graf zu kommen, plus zusätzlich mindestens zwei Wochen, um von dort nach Hause zu reisen, selbst im schnellsten Schnellkurier. »Wenn ich die Sache in weniger als zwei Wochen erledigen kann, dann können wir rechtzeitig heimkommen.« Sie lachte kurz auf. »Wie sehr ich auch versuche, ganz modern und galaktisch zu sein, kommt mir das doch seltsam vor. Alle möglichen Männer kommen nicht rechtzeitig heim zur Geburt ihrer Kinder. Aber wenn jemand sagen müsste: Meine Mutter war verreist, als ich geboren wurde, und deshalb hat sie meine Geburt verpasst. nun, dann erscheint mir das irgendwie als eine gewichtigere Beschwerde.« »Wenn es länger dauert, dann könnte ich dich vermutlich allein heimschicken, mit einer passenden Eskorte. Aber ich möchte auch bei der Geburt dabei sein.« Er zögerte. Es ist mein erstes Mal, verdammt, natürlich macht es mich rasend, war die Feststellung des Selbstverständlichen, die er sich verkniff. Ekaterins erste Ehe hatte bei ihr empfindliche seelische Narben zurückgelassen, und dieses Thema berührte einige davon. Formuliere es anders, o du Diplomat, »Macht es dir … die Sache etwas leichter, dass es für dich das zweite Mal ist?« Ihr Blick richte sich nach innen. »Bei Nikki war es eine körperliche Geburt; da war natürlich alles schwerer. Die Replikatoren nehmen einem so viele Risiken ab – bei unseren Kindern konnten alle genetischen Fehler korrigiert werden, und sie werden keinerlei Beeinträchtigung durch 14
eine schwierige Geburt ausgesetzt sein – und ich weiß, dass die Reifung im Replikator besser ist, in jeder Hinsicht verantwortungsvoller. Es ist nicht so, als kämen sie zu kurz. Und doch …« Er hob ihre Hand und führte ihre Fingerknöchel an seine Lippen. »Du lässt mich nicht zu kurz kommen, das verspreche ich dir.« Miles’ Mutter befürwortete hartnäckig den Gebrauch der Replikatoren, und das aus gutem Grund. Jetzt, mit Anfang dreißig, war Miles versöhnt mit den körperlichen Schädigungen, die er im Leib seiner Mutter als Folge des Soltoxin-Attentats davongetragen hatte. Nur die in diesem Notfall erfolgte Übertragung in einen Replikator hatte sein Leben gerettet. Die restlichen Schädigungen hatte er sich selbst zuzuschreiben, wie er sich eingestehen musste. Dass er noch am Leben war, schien ein geringeres Wunder zu sein als die Tatsache, dass er Ekaterins Herz gewonnen hatte. Ihrer beider Kinder würden keine solchen Traumata erleiden müssen. »Und wenn du meinst, dass du es jetzt zu luxuriös einfach hast, um dich richtig tugendhaft zu fühlen, dann warte nur mal, bis sie aus diesen Replikatoren herauskommen.« »Da hast du Recht!« Sie lachte. »Nun ja.« Er seufzte. »Ich hatte vorgehabt, dir auf dieser Reise die Herrlichkeiten der Galaxis zu zeigen, und das in der elegantesten und kultiviertesten Gesellschaft. Jetzt sieht es so aus, als wäre ich stattdessen unterwegs zum Arsch der Welt von Sektor V in die Gesellschaft eines Haufens sich zankender, hektischer Kaufleute, aufgebrachter Bürokraten und paranoider Militaristen. Das Leben ist voller 15
Überraschungen. Kommst du mit mir, mein Schatz? Meiner geistigen Gesundheit zuliebe?« Sie kniff amüsiert die Augen zusammen. »Wie kann ich einer solchen Einladung widerstehen? Natürlich komme ich mit.« Dann wurde sie wieder ernst. »Würde es eine Verletzung der Sicherheitsbestimmungen bedeuten, wenn ich Nikki eine Nachricht schickte, um ihm mitzuteilen, dass wir uns verspäten werden?« »Überhaupt nicht. Schick sie aber von der Turmfalke ab. Da geht es schneller.« Sie nickte. »Ich bin noch nie so lange von ihm weg gewesen. Ob er sich wohl einsam fühlt?« Auf Ekaterins Seite der Verwandtschaft hatte Nikki vier Onkel und einen Großonkel plus die dazugehörigen Tanten, eine Horde von Cousins, eine kleine Heerschar von Freunden und seine Großmutter Vorsoisson. Auf Miles’ Seite gab es das zahlreiche Personal von Palais Vorkosigan und dessen zahlreiche Familienangehörige, mit Onkel Ivan und Onkel Mark und der ganzen Koudelka-Sippe als Verstärkung. Ihm stand überdies noch die Begegnung mit seinen ihn abgöttisch liebenden Vorkosigan-Stiefgroßeltern bevor, die geplant hatten, nach Miles und Ekaterin zur Geburtsfete einzutreffen, jetzt aber vielleicht eher als die Eltern ankommen würden. Vielleicht würde Ekaterin nach Barrayar vorausreisen müssen, falls Miles den Schlamassel nicht rechtzeitig auflösen konnte, aber auf keinen Fall würden Mutter und Sohn einsam sein, egal wie man das Wort definierte. »Das glaube ich nicht«, sagte Miles ehrlich. »Vermutlich vermisst du ihn mehr als er uns. Sonst hätte er ja mehr zu16
stande gebracht als nur diese eine einsilbige Nachricht, die uns erst auf der Erde einholte. Elfjährige Jungen können ziemlich egozentrisch sein. Ich bin’s jedenfalls gewesen.« Sie runzelte die Stirn. »So? Und wie viele Nachrichten hast du in den vergangenen zwei Monaten an deine Mutter geschickt?« »Es handelt sich doch um eine Hochzeitsreise. Niemand erwartet da. dass man … Auf jeden Fall hat sie ja immer die Berichte von meinen Sicherheitsbegleitern zu lesen bekommen.« Ihre Stirn blieb in Falten. »Ich werde ihr ebenfalls von der Turmfalke aus eine Botschaft schicken«, fügte er wohlweislich hinzu. Er wurde dafür mit einem Lächeln der Solidarität unter Müttern belohnt. Wenn er es recht bedachte, würde er vielleicht seinen Vater in die Adresse mit einbeziehen, obwohl seine Eltern ohne Zweifel seine Schreiben gemeinsam lasen. Und beide auf gleiche Weise deren Seltenheit beklagten. Nach einer Stunde leichtem Chaos war ihr Transfer auf das kaiserlich barrayaranische Kurierschiff abgeschlossen. Schnellkuriere gewannen den größten Teil ihrer Schnelligkeit durch den Verzicht auf Frachtkapazität. Miles konnte nur ihr allernotwendigstes Gepäck mitnehmen. Der beträchtliche Rest zusammen mit einer erstaunlichen Menge an Souvenirs würde die Reise zurück nach Barrayar mit der Mehrzahl ihres kleinen Gefolges fortsetzen: mit Ekaterins Zofe, Miss Pym, und – zu Miles größerem Bedauern – den beiden Gefolgsleuten, die die 17
Verstärkung für Roic darstellten. Als Ekaterin und er es sich in ihrer neuen gemeinsamen Kabine gemütlich machten, fiel ihm zu spät ein, dass er hätte erwähnen sollen, wie eng ihr Quartier sein würde. Während seiner eigenen Jahre im KBS, dem Kaiserlich Barrayaranischen Sicherheitsdienst, war er so oft in ähnlichen Schiffen gereist, dass er ihre Beschränkungen als selbstverständlich hinnahm – einer der wenigen Aspekte seiner früheren Karriere, wo sein kleinwüchsiger Körper sich zu seinem Vorteil ausgewirkt hatte. Dass er den Rest des Tages schließlich mit seiner Frau im Bett verbrachte, lag vor allem daran, dass es sonst keine Sitzgelegenheit gab. Sie klappten das obere Etagenbett hoch, um Kopffreiheit zu gewinnen, und setzten sich auf die gegenüberliegenden Enden des Bettes, Ekaterin, um mithilfe eines Handprojektors still zu lesen, und Miles, um sich in Gregors angekündigte Pandora-Büchse an Berichten von der diplomatischen Front zu stürzen. Er hatte sich noch keine fünf Minuten dieser Lektüre gewidmet, als er ein Ha! ausstieß. Ekaterin zeigte ihre Bereitschaft, sich unterbrechen zu lassen, indem sie aufblickte und mit einem Hm? antwortete. »Gerade habe ich herausgefunden, warum Station Graf mir so bekannt vorkam. Wir sind, bei Gott, in den Quaddie-Raum unterwegs.« »Der Quaddie-Raum? Bist du dort schon einmal gewesen?« »Nicht persönlich, nein.« Diese Angelegenheit würde mehr politische Vorbereitung erfordern, als er erwartet hat18
te. »Allerdings bin ich einmal einer Quaddie begegnet. Die Quaddies sind ein Volk von gentechnisch veränderten Menschen, die vor zwei- oder dreihundert Jahren entwickelt wurden. Bevor Barrayar wiederentdeckt wurde. Sie waren bestimmt, dauernd im schwerelosen Raum zu leben. Wie auch immer der ursprüngliche Plan ihrer Schöpfer für sie aussah, er wurde zunichte, als die neuen Gravitationstechnologien aufkamen, und so wurden die Quaddies zu einer Art wirtschaftlicher Flüchtlinge. Nach allerhand Reisen und Abenteuern siedelten sie sich schließlich gemeinsam am damaligen äußersten Ende des Wurmloch-Nexus an. Inzwischen waren sie gegenüber anderen Menschen misstrauisch geworden, deshalb wählten sie bewusst ein System ohne bewohnbare Planeten, aber mit beträchtlichen Ressourcen an Asteroiden und Kometen. Vermutlich planten sie, für sich zu bleiben. Natürlich hat sich seit damals der erforschte Nexus um sie herum erweitert, und so bekommen sie heute einiges an Devisen, indem sie Schiffe warten und Transfer-Einrichtungen zur Verfügung stellen. Was erklärt, wieso unsere Flotte dort angedockt hat; allerdings ist das keine Erklärung für das. was danach geschehen ist. Die … äh«, er zögerte, »die gentechnische Veränderung umfasste eine Reihe von Veränderungen im Metabolismus, aber der spektakulärste Eingriff war, dass sie anstelle der Beine ein zweites Paar Arme bekamen. Was in der Schwerelosigkeit wirklich praktisch ist. Ich hatte mir oft gewünscht, ein extra Paar Hände zu haben, wenn ich im Vakuum operierte.« Er reichte ihr seinen Projektor und zeigte ihr die Aufnahme eines Quaddie, der in leuchtend gelbe Shorts und 19
ein Trikot gekleidet war und sich mit der Schnelligkeit und Beweglichkeit eines Affen, der sich durch Baumwipfel bewegte, einen schwerkraftlosen Korridor entlang hangelte. »Oh.« Ekaterin schluckte, gewann aber schnell wieder die Kontrolle über ihre Gesichtszüge. »Wie, hm … interessant.« Dann fügte sie hinzu: »Für ihre Umwelt sieht das ganz praktisch aus.« Miles entspannte sich ein wenig. Wie auch immer Ekaterins tief verborgene barrayaranische Reflexe gegenüber sichtbaren Mutationen sein mochten – ihr eisernes Festhalten an den guten Manieren würde sie in Schach halten. Das Gleiche schien leider nicht für ihre Landsleute aus dem Imperium zu gelten, die jetzt im System der Quaddies gestrandet waren. Den Unterschied zwischen einer schädlichen Mutation und einer wohltätigen oder vorteilhaften Modifikation schien hinterwäldlerischen Barrayaranern nicht aufzugehen. Dass ein Offizier die Quaddies in seinen Berichten schreckliche Spinnenmutanten nannte, machte es deutlich, dass Miles zu dem Gemisch an Komplikationen, auf das sie jetzt zurasten, auch noch rassische Spannungen hinzufügen musste. »Man gewöhnt sich ziemlich schnell an sie«, beruhigte er Ekaterin. »Wo bist du einer Quaddie begegnet, wenn sie sich abseits halten?« »Hm …« Miles überlegte schnell, wie er es am besten erzählen konnte. »Das war auf einer KBS-Mission. Darüber darf ich nicht reden. Aber sie war ausgerechnet eine Musikerin. Sie spielte das Zymbal mit allen vier Armen.« 20
Sein Versuch, diesen bemerkenswerten Anblick nachzuahmen, endete damit, dass er sich seinen Ellbogen schmerzhaft an der Kabinenwand anschlug. »Ihr Name war Nicol. Du hättest sie gemocht. Wir befreiten sie aus einer Klemme. Ich frage mich, ob sie es nach Hause geschafft hat.« Er rieb sich den Ellbogen und fügte hoffnungsvoll hinzu: »Ich bin mir sicher, die Techniken der Quaddies für Gartenbau in der Schwerelosigkeit würden dich interessieren.« Ekaterins Augen leuchteten auf. »Ja, bestimmt.« Miles kehrte zu seinen Berichten zurück. Er hatte die unbequeme Gewissheit, dass dies keine Aufgabe sein würde, in die er sich so ohne weiteres und ungenügend vorbereitet stürzen konnte. Er nahm sich vor, einen Abriss der Geschichte der Quaddies auf die Lektüreliste zu setzen, der er sich während der kommenden Tage widmen wollte.
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2 »Steht mein Kragen gerade?« Ekaterins kühle Finger machten sich geschäftig an Miles’ Nacken zu schaffen; er verbarg den Schauer, der ihm über den Rücken lief. »Jetzt ist er in Ordnung«, sagte sie. »Kleider machen den Auditor«, brummelte er. Der kleinen Kabine fehlten auch solche Annehmlichkeiten wie ein großer Spiegel; stattdessen musste er die Augen seiner Frau gebrauchen, was allerdings kein Nachteil zu sein schein. Sie trat so weit zurück, wie sie konnte, einen halben Schritt zum Schott hin, und schaute ihn von oben bis unten an, um die Wirkung seiner Hausuniform der Familie Vorkosigan zu überprüfen: eine braune Jacke, das Familienwappen aus Silberfäden auf dem hohen Kragen, silbern bestickte Manschetten, braune Hosen mit silberner Paspelierung, hohe braune Reitstiefel. In ihrer Blütezeit war die Vor-Klasse eine Kaste von Kavalleriesoldaten gewesen. Jetzt gab es keine Pferde innerhalb von Gott weiß wie vielen Lichtjahren, so viel war sicher. Er berührte seinen Kommunikator, das Gegenstück dessen, den sie trug; allerdings war ihrer für eine Vor-Dame passend mit einem dekorativen silbernen Armkettchen ausgestattet. »Ich werde dich vorwarnen, wenn ich bereit bin, zurückzukommen und mich umzuziehen.« Miles nickte in Richtung auf den schlichten grauen Anzug, den sie schon auf dem Bett bereit gelegt hatte. Die Uniform für die militärisch Denkenden, Zivilkleidung für die Zivilisten. Und das Gewicht barrayaranischer Geschichte, mit elf Generationen von Grafen Vorkosigan in seinem Rücken, sollte 22
seine geringe Körpergröße und seine leicht gekrümmte Körperhaltung wettmachen. Seine weniger sichtbaren Defekte brauchte er gar nicht zu erwähnen. »Was soll ich tragen?« »Da du meine gesamte Entourage spielen musst, sollte es etwas Wirkungsvolles sein.« Er lächelte schief. »Dieses rote Seidendings sollte aufreizend zivil genug sein für unsere Gastgeber auf der Station.« »Nur für die männliche Hälfte, mein Lieber«, erinnerte sie ihn. »Was ist, wenn ihr Sicherheitschef eine weibliche Quaddie ist? Finden Quaddies überhaupt Planetarier attraktiv?« »Eine hat’s offensichtlich getan«, seufzte er. »Daher kommt doch der Schlamassel … Teile der Station Graf sind ohne Schwerkraft; also würdest du vielleicht Hosen oder Leggings tragen wollen anstatt von Röcken im barrayaranischen Stil. Etwas, worin du dich bewegen kannst.« »Ach ja, verstehe.« Es klopfte an der Kabinentür, und Gefolgsmann Roics Stimme meldete sich diskret. »Mylord?« »Bin schon unterwegs. Roic.« Miles und Ekaterin tauschten die Plätze – da er sich ihr gegenüber in Brusthöhe befand, stahl er sich im Vorbeigehen eine angenehm weiche Umarmung –, dann trat er auf den engen Korridor des Kurierschiffs hinaus. Roic trug eine etwas einfachere Version von Miles’ Haus-Vorkosigan-Livree, wie es sich für seine Stellung als eidgeschworener Gefolgsmann ziemte. »Wollen Sie, dass ich Ihre Sachen jetzt schon zusammenpacke für den Transfer zum barrayaranischen Flaggschiff, Mylord?«, fragte er. 23
»Nein, wir bleiben an Bord des Kuriers.« Roic gelang es fast zu verbergen, wie er zusammenzuckte, schließlich war er ein junger Mann von beeindruckender Größe mit einschüchternd breiten Schultern. »Ich gebe nicht gerne schon jetzt die Kontrolle über meine Bewegungen an eine der beiden Seiten in diesem Streit ab«, fügte Miles hinzu, »ganz zu schweigen von meiner Luftzufuhr. Die Betten auf dem Flaggschiff sind auch nicht viel höher, das versichere ich Ihnen, Roic.« Roic lächelte reumütig und zuckte die Achseln. »Sie hätten Jankowski mitbringen sollen, Sir.« »Warum denn, weil der kleiner ist?« »Nein, Mylord!« Roic blickte etwas ungehalten drein. »Weil er ein echter Veteran ist.« Die Leibwache eines Grafen auf Barrayar war durch Gesetz auf zwanzig eidgeschworene Männer beschränkt; einer Tradition folgend hatten die Vorkosigans die meisten ihrer Gefolgsleute aus Veteranen rekrutiert, die sich nach zwanzig Dienstjähren aus dem kaiserlichen Militärdienst zurückzogen. Sie waren eine Spitzentruppe, wenn auch mit grauen Schläfen. Bel Roic handelte es sich um eine interessante neue Ausnahme. »Wann ist daraus ein Problem geworden?« Der Kader der Gefolgsleute von Miles’ Vater behandelte Roic als einen Jungspund, weil er eben einer war, aber wenn sie ihn als einen Bürger zweiter Klasse behandelten … »Äh …« Roic deutete etwas unklar im Kurierschiff umher. Miles schloss daraus, dass das Problem erst in jüngster Zeit entstanden war. Eigentlich hätte er in dem kurzen Korridor vorausgehen 24
sollen, stattdessen lehnte er sich an die Wand und verschränkte die Arme. »Schauen Sie, Roic – es gibt kaum einen Mann im kaiserlichen Militär so alt wie Sie oder jünger, der so viel echte Schusswechsel in kaiserlichen Diensten erlebt hat wie Sie bei der Stadtwache von Hassadar. Lassen Sie sich nicht von den verdammten grünen Uniformen Schiss einjagen. Das ist doch alles nur leere Angeberei. Die Hälfte von denen würde ohnmächtig umfallen, wenn man sie auffordern würde, jemanden zu erledigen wie diesen mörderischen Irren, der auf dem Hauptplatz von Hassadar wild um sich schoss.« »Ich war schon halb über den Platz. Mylord. Das wäre so gewesen, wie wenn man halben Wegs über einen Fluss schwimmt, dann zu dem Schluss kommt, dass man es nicht schafft, und kehrtmacht, um zurückzuschwimmen. Es war sicherer, über ihn herzufallen, als sich umzudrehen und davonzulaufen. In beiden Fällen hätte er genauso viel Zeit gehabt, um auf mich zu zielen.« »Aber nicht die Zeit, um noch ein Dutzend Zuschauer umzubringen. Ein automatisches Nadelgewehr ist eine scheußliche Waffe.« Miles kamen düstere Erinnerungen. »Das stimmt, Mylord.« Trotz seiner körperlichen Größe neigte Roic zu Schüchternheit, wenn er sich gesellschaftlich deklassiert vorkam, was im Dienste der Vorkosigans leider sehr oft vorzukommen schien. Da sich seine Schüchternheit an der Oberfläche als eine Art schwerfälliger Hartnäckigkeit zeigte, wurde sie meist übersehen. »Sie sind ein Gefolgsmann der Vorkosigans«, sagte Miles mit Nachdruck. »Der Geist des Grafen Piotr ist in die25
ses Braun und Silber verwoben. Ich verspreche Ihnen, Sie werden diesen Leuten Angst einjagen.« Roics flüchtiges Lächeln verriet mehr Dankbarkeit als Überzeugung. »Ich wünschte, ich wäre Ihrem Großvater begegnet, Mylord. Nach all den Geschichten, die sie von ihm zu Hause im Distrikt erzählt haben, muss er schon etwas Besonderes gewesen sein. Mein Urgroßvater diente mit ihm in den Bergen während der Besatzung der Cetagandaner. Das erzählt meine Mutter.« »Aha! Hat sie gute Geschichten über ihn gewusst?« Roic zuckte die Achseln. »Er ist an der Strahlung gestorben, nachdem Vorkosigan Vashnoi vernichtet wurde. Meine Großmutter hat nie viel über ihn geredet, deshalb weiß ich nicht viel.« »Das ist schade.« Leutnant Smolyani steckte den Kopf um die Ecke. »Wir sind jetzt an die Prinz Xav angedockt, Lord Auditor Vorkosigan. Die Transfer-Röhre ist angeschlossen, und man erwartet, dass Sie an Bord gehen.« »In Ordnung, Leutnant.« Miles folgte Roic, der den Kopf einziehen musste, durch den ovalen Durchgang in die enge Nische der Personenluke des Kuriers. Smolyani stellte sich an der Lukensteuerung bereit. Das Steuerpad blinkte und piepste; die Tür zur Luftschleuse und der dahinter liegenden Verbindungsröhre glitt zur Seite. Miles nickte Roic zu, der sichtbar Atem holte und sich hindurch schwang. Smolyani salutierte; Miles erwiderte den Gruß mit einem anerkennenden Nicken und einem »Danke, Leutnant«, und folgte Roic. Ein Meter Schwerelosigkeit in der Verbindungsröhre 26
führte in einen ähnlichen Lukeneingang. Miles packte die Handgriffe, schwang sich hindurch und landete in der offenen Luftschleuse sanft auf den Füßen. Von dort trat er in die viel geräumigere Lukennische, während Roic sich in förmlicher Haltung zu seiner Linken postierte. Die Tür des Flaggschiffs schloss sich hinter ihnen. Vor ihm standen stramm drei Männer in grünen Uniformen und ein Zivilist. Keiner von ihnen veränderte den Gesichtsausdruck angesichts seines unbarrayaranischen Körperbaus. Vorpatril, an den sich Miles von ein paar flüchtigen Begegnungen in Vorbarr Sultana kaum erinnern konnte, hatte ihn vermutlich lebhafter im Gedächtnis und deshalb seinen Stab auf die mutoide Erscheinung von Kaiser Gregors kleinster und ganz abgesehen davon jüngster und neuester Stimme vorbereitet. Admiral Eugin Vorpatril war von mittlerer Größe, stämmig, weißhaarig und grimmig. Er trat vor und salutierte schneidig und korrekt vor Miles. »Mylord Auditor, willkommen an Bord der Prinz Xav.« »Danke, Admiral.« Ich freue mich, hierzu sein, fügte er nicht hinzu; keiner in dieser Gruppe konnte sich freuen, ihn unter diesen Umständen hier zu sehen. »Darf ich Ihnen meinen Kommandanten der Flottensicherheit vorstellen. Kapitän Brun«, fuhr Vorpatril fort. Der hagere, angespannte Mann, der noch grimmiger dreinblickte als sein Admiral, nickte knapp. Brun hatte die operationelle Leitung der verhängnisvollen Patrouille gehabt, deren ungestüme Großtaten die Situation von einem kleineren rechtlichen Disput zu einem größeren diplomatischen Vorfall hatten eskalieren lassen. Nein, für Freude 27
war überhaupt kein Anlass. »Senior-Frachtmeister Molino vom komarranischen Flottenkonsortium.« Molino war ebenfalls mittleren Alters und schaute genauso mürrisch drein wie die Barrayaraner, trug jedoch einen eleganten dunklen Anzug im komarranischen Stil. Ein Senior-Frachtmeister war der leitende Geschäftsführer und Finanzvorstand des befristeten Unternehmens, das ein kommerzieller Konvoi darstellte, und als solcher trug er den Großteil der Verantwortlichkeiten eines Flottenadmirals zusammen mit einem Bruchteil von dessen Befugnissen. Er hatte auch die keineswegs beneidenswerte Aufgabe, als Schnittstelle zu dienen zwischen einem Haufen möglicherweise sehr unterschiedlicher kommerzieller Interessen und ihren barrayaranischen militärischen Beschützern, was für gewöhnlich schon ausreichte, um mürrisch dreinzublicken, selbst wenn es keine Krise gab. Molino murmelte höflich: »Mylord Vorkosigan.« Vorpatrils Ton wurde etwas härter. »Der Rechtsoffizier meiner Flotte. Fähnrich Deslaurier.« Deslaurier, ein langer, bleicher und noch von den Spuren jugendlicher Akne gezeichneter Mann, nickte ihm gehemmt zu. Miles blinzelte überrascht. Als er noch unter seiner alten Tarn-Identität eine vorgeblich unabhängige Söldnerflotte für galaktische Operationen des KBS geleitet hatte, da war das Rechtsbüro der Flotte eine Hauptabteilung gewesen; schon allein die Verhandlungen für die friedliche Passage bewaffneter Raumschiffe durch all die verschiedenen Jurisdiktionen lokaler Räume war ein Vollzeitjob von alb28
traumhafter Komplexität gewesen. »Fähnrich.« Miles nickte zurück und wählte seine Worte sorgfältig. »Sie scheinen … äh … eine beträchtliche Verantwortung für Ihren Rang und Ihr Alter zu haben.« Deslaurier räusperte sich und sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Unser Abteilungschef wurde während der Reise nach Hause geschickt, Mylord Auditor. Urlaub aus persönlichen Gründen. Seine Mutter ist gestorben.« Ich glaube, ich verstehe schon, wie der Hase hier läuft. »Ist das zufällig Ihre erste Reise in die Galaxis?« »Ja, Mylord.« »Ich und mein Stab stehen völlig zu Ihrer Verfügung. Mylord Auditor«, warf Vorpatril – möglicherweise gnädig – ein, »und halten unsere Berichte bereit, wie Sie es verlangt haben. Würden Sie mir bitte in unseren Besprechungsraum folgen?« »Ja, danke, Admiral.« Sie schlurften mit geduckten Köpfen durch die Korridore und gelangten in einen standardmäßigen militärischen Besprechungsraum: ein mit einem Holovid ausgestatteter Tisch und dazugehörige stationäre Stühle, alles mit Bolzen am Boden festgeschraubt, darunter Friktionsmatten, voll gesogen mit dem leicht muffigen Geruch eines abgeschlossenen und bedrückenden Raums, der nie in den Genuss von Sonnenlicht oder frischer Luft kam. Hier roch es militärisch. Miles unterdrückte den Impuls, den alten Zeiten zuliebe lang und nostalgisch einzuatmen. Auf sein Handsignal hin bezog Roic direkt an der Innenseite der Tür gleichmütig Stellung als Wache. Die anderen warteten, bis Miles sich gesetzt hatte, dann verteilten sie sich um den 29
Tisch, Vorpatril zu seiner Linken, Deslaurier so weit entfernt wie möglich. Vorpatril zeigte ein deutliches Verständnis für die Anstandsregeln, die dieser Situation angemessen waren – oder zumindest einen Sinn für Selbsterhaltung –, und begann: »Also, wie können wir Ihnen dienlich sein, Lord Auditor?« Miles legte die Hände gefaltet auf den Tisch. »Ich bin Auditor: meine erste Aufgabe ist somit zuzuhören. Beschreiben Sie mir doch bitte, Admiral Vorpatril, den Lauf der Ereignisse von Ihrem Standpunkt aus. Wie sind Sie in diese Sackgasse geraten?« »Von meinem Standpunkt aus?« Vorpatril verzog das Gesicht. »Am Anfang schien es nicht mehr zu sein als das Übliche, ein verdammtes Ding nach dem anderen. Wir sollten fünf Tage lang hier an Station Graf angedockt liegen, um vereinbarte Fracht- und Passagiertransfers vorzunehmen. Da es zu diesem Zeitpunkt keinen Anlass gab für die Vermutung, die Quaddies seien feindlich eingestellt, gewährte ich so vielen Leuten wie möglich Stationsurlaub, was ja das standardmäßige Vorgehen ist.« Miles nickte. Der Zweck der barrayaranischen militärischen Eskorten für komarranische Schiffe reichte vom Offenkundigen über das Raffinierte bis hin zum Nieerwähnten. Offenkundig fuhren Eskorten mit. um Entführer von den Frachtschiffen abzuhalten und dem militärischen Teil der Flotte Manövriererfahrung zu vermitteln, die kaum weniger wertvoll war als die in Kriegsspielen gewonnene. Etwas raffinierter boten diese Unternehmungen die Gelegenheit für alle Art von nachrichtendienstlichen Ermittlungen – im ökonomischen, politischen und sozialen wie auch 30
militärischen Bereich. Und sie boten Kadern junger Barrayaraner aus der Provinz, zukünftigen Offizieren und zukünftigen Zivilisten, ein Kennenlernen der umfassenderen galaktischen Kultur. Was nie erwähnt wurde, waren die anhaltenden Spannungen zwischen Barrayaranern und Komarranern. ein Erbe der – nach Miles’ Ansicht völlig gerechtfertigten – Eroberung der Letzteren durch die Ersteren eine Generation zuvor. Es war die ausdrückliche Politik des Kaisers, von einer Besatzungspolitik überzugehen zu einer vollen politischen und sozialen Assimilierung der beiden Planeten. Dieser Prozess erwies sich als langsam und problematisch. »Das Schiff Idris der Toscane-Handelsgesellschaft dockte an, damit Korrekturen an seinem Sprungantrieb vorgenommen werden konnten, und es traten unerwartete Komplikationen auf, als man die Apparaturen auseinander nahm. Reparierte Teile fielen bei den Kalibrierungstests während des Wiedereinbaus durch und wurden in die Werkstätten der Station zur Überholung zurückgeschickt. Aus fünf Tagen wurden zehn, während diese Streitereien hin und her gingen. Dann stellte sich heraus, dass Leutnant Solian fehlte.« »Habe ich richtig verstanden, dass es sich bei dem Leutnant um den barrayaranischen Sicherheitsoffizier an Bord der Idris handelt?«, fragte Miles. So eine Art Flottenpolizist, beauftragt mit der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung bei Besatzung und Passagieren, mit der Ausschau nach illegalen oder bedrohlichen Aktivitäten oder verdächtigen Personen – nicht wenige Entführungen im Laufe der 31
Geschichte waren von Insidern eingefädelt worden –, und mit der ersten Verteidigungslinie in der Spionageabwehr. Außerdem musste man in aller Ruhe ein Ohr haben für mögliche Verstimmungen unter den komarranischen Untertanen des Kaisers. Und war verpflichtet, dem Schiff jede mögliche Hilfe bei physischen Notfällen zukommen zu lassen und eine Evakuierung oder Rettungsaktion mit der militärischen Eskorte zu koordinieren. Sicherheitsoffizier war ein Job, der binnen eines Wimperzuckens von gähnender Langeweile zur lebensgefährlichen Herausforderung übergehen konnte. »Jawohl, Mylord«, meldete sich Kapitän Brun zum ersten Mal. Miles wandte sich ihm zu. »Einer von Ihren Männern, oder? Wie würden Sie Leutnant Solian beschreiben?« »Er war neu auf diesem Posten«, erwiderte Brun, dann zögerte er. »Ich war mit ihm nicht näher bekannt, aber alle seine bisherigen persönlichen Beurteilungen gaben ihm die besten Bewertungen.« Miles schaute auf den Frachtmeister. »Kannten Sie ihn, Sir?« »Wir sind uns ein paar Mal begegnet«, sagte Molino. »Ich befand mich zumeist an Bord der Rudra, aber mein Eindruck von ihm war. dass er freundlich und kompetent war. Er schien mit der Besatzung und den Passagieren gut zurechtzukommen. Er war ganz die wandernde Werbung für die Assimilation.« »Wie bitte?« Vorpatril räusperte sich. »Solian war Komarraner, Mylord.« 32
»Ach so.« Grrr. Dieses Detail hatten die Berichte nicht erwähnt. Den Komarranern war erst vor einiger Zeit erlaubt worden, in den kaiserlich barrayaranischen Militärdienst einzutreten; die erste Generation derartiger Offiziere war handverlesen und startbereit, um ihre Loyalität und Kompetenz zu beweisen. Des Kaisers Lieblinge, hatte Miles mindestens einen barrayaranischen Offizierskollegen sie mit verhohlener Verstimmung nennen hören. Der Erfolg dieser Integration hatte für Kaiser Gregor eine hohe persönliche Priorität. Das wusste Admiral Vorpatril sicherlich auch. Miles setzte Solians mysteriöses Schicksal auf seiner Liste der dringendsten Prioritäten um eine Stelle nach oben. »Wie waren die Umstände seines Verschwindens?« »Ganz still, Mylord«, antwortete Brun. »Er meldete sich wie üblich vom Dienst ab und tauchte zu seiner nächsten Wache nicht mehr auf. Als später seine Kabine überprüft wurde, schienen einige seiner persönlichen Sachen und eine Reisetasche zu fehlen; die meisten seiner Uniformen waren jedoch noch da. Es gab keine Aufzeichnungen, dass er das Schiff endgültig verlassen hätte, aber schließlich … wüsste er ja am besten von allen, wie man wegkäme, ohne gesehen zu werden. Deshalb unterstelle ich Fahnenflucht. Danach wurde das Schiff gründlich durchsucht. Er muss die Aufzeichnungen abgeändert haben oder mit der Fracht hinausgeschlüpft sein, oder irgendetwas anderes.« »Irgendein Anzeichen dafür, dass er mit seiner Arbeit oder seiner Stellung unzufrieden war?« »Nicht – nein, Mylord. Nichts Besonderes.« »Und etwas nicht Besonderes?« 33
»Na ja, es gab die üblichen Flachsereien über einen Komarraner in dieser«, Brun zeigte auf sich selbst, »Uniform. Vermutlich bekam er in seiner Stellung es von beiden Seiten ab.« Wir versuchen jetzt alle eine einzige Seite zu sein. Miles kam zu dem Schluss, dass dies jetzt nicht der Ort oder die Zeit war, die unbewussten Annahmen hinter Bruns Wortwahl weiterzuverfolgen. »Frachtmeister Molino – wissen Sie etwas, was ein Streiflicht darauf wirft? War Solian einer … äh … Kritik seiner komarranischen Landsleute ausgesetzt?« Molino schüttelte den Kopf. »Der Mann schien bei der Besatzung der Idris beliebt gewesen zu sein, soweit ich es sagen kann. Er hielt sich an seine Arbeit und ließ sich auf keine Auseinandersetzungen ein.« »Trotzdem entnehme ich Ihren Ausführungen, dass Ihr erster … Eindruck war, er sei desertiert?« »Das schien möglich«, räumte Brun ein. »Ich möchte ihn nicht verunglimpfen, aber er war nun einmal ein Komarraner. Vielleicht hatte er entdeckt, dass der Dienst härter war, als er gedacht hatte. Admiral Vorpatril war anderer Meinung«, fügte er gewissenhaft hinzu. Vorpatril machte eine Geste wohlüberlegter Ausgewogenheit. »Umso mehr Grund, nicht an eine Fahnenflucht zu denken. Das Oberkommando ist bei der Auswahl der Komarraner, die man in die Streitkräfte gelassen hat, ziemlich sorgfältig gewesen. Man möchte kein öffentliches Scheitern.« »Auf jeden Fall«, sagte Brun, »alarmierten wir alle unsere eigenen Sicherheitsleute, um nach ihm zu suchen, und 34
baten die Behörden von Station Graf um Hilfe. Die boten sie uns jedoch nicht besonders bereitwillig an. Sie wiederholten nur immer wieder, sie hätten keine Spur von ihm, weder im schwerelosen noch im mit Schwerkraft versehenen Bereich der Station, und auch keine Aufzeichnungen darüber, dass irgendjemand, auf den seine Beschreibung zuträfe, die Station auf einem ihrer Lokalraum-Transporter verlassen hatte.« »Und was ist dann geschehen?« »Die Zeit verstrich«, antwortete Admiral Vorpatril. »Die Reparaturen an der Idris waren abgeschlossen und erledigt. Es wuchs der Druck«, er blickte ungnädig zu Molino hinüber, »Station Graf zu verlassen und die geplante Route fortzusetzen. Ich – ich lasse meine Männer nicht zurück, wenn ich es verhindern kann.« »Es hatte doch wirtschaftlich keinen Sinn«, sagte Molino leicht verärgert, »die ganze Flotte nur wegen eines einzigen Mannes aufzuhalten. Man hätte ein leichtes Schiff oder auch noch ein kleines Team von Ermittlern zurücklassen können, um die Angelegenheit weiterzuverfolgen und dann nachzukommen, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig wären. Den Rest der Flotte hätte man also weiterreisen lassen können.« »Ich habe auch den Dauerbefehl, die Flotte nicht aufzuspalten«, sagte Vorpatril und biss die Zähne zusammen. »Aber wir haben doch schon seit Jahrzehnten in diesem Sektor keine Entführungen mehr erlebt«, warf Molino ein. Miles kam es vor, als beobachtete er hier die x-te Runde einer schon lange andauernden Debatte. »Nicht, seit Barrayar begann, Ihnen kostenlose militäri35
sche Eskorten zur Verfügung zu stellen«, sagte Vorpatril mit gespielter Freundlichkeit. »Ein merkwürdiger Zufall, oder?« Seine Stimme wurde fester. »Ich lasse meine Männer nicht zurück. Das habe ich mir bei dem Debakel von Escobar geschworen, damals, als ich ein milchgesichtiger Fähnrich war.« Er schaute Miles an. »Zufällig unter dem Kommando Ihres Vaters.« Oje. Das könnte Schwierigkeiten geben … Miles zog neugierig die Augenbrauen hoch. »Was war Ihre Erfahrung damals, Sir?« Vorpatril schnaubte nostalgisch. »Ich war Juniorpilot auf einem Kampflandeshuttle, der verwaist war, als unser Mutterschiff von den Escos im Orbit in die Luft gejagt wurde. Vermutlich wären wir ebenfalls ins Nichts gesprengt worden, wenn wir den Rückzug noch geschafft hätten, aber trotzdem. Wir konnten nirgendwo andocken, nirgendwohin fliehen, selbst die wenigen überlebenden Schiffe, die noch eine offene Andockbühne hatten, warteten nicht auf uns, ein paar hundert Männer an Bord, Verwundete eingeschlossen – es war ein richtiger Albtraum, das kann ich Ihnen sagen.« Miles kam es vor, als hätte der Admiral am Ende dieses letzten Satzes gerade noch ein »mein Sohn« runtergeschluckt. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Miles vorsichtig, »ob Admiral Vorkosigan damals noch eine große Wahl hatte, als er das Kommando der Invasion nach dem Tod von Prinz Serg übernommen hatte.« »O nein, er hatte überhaupt keine Wahl«, stimmte ihm Vorpatril mit einer neuerlichen Geste zu. »Ich sage nicht, 36
dass der Mann nicht alles tat, was er konnte, mit dem, was er noch übrig hatte. Aber er konnte nicht alles tun, und ich war unter denen, die geopfert wurden. Ich habe fast ein Jahr in einem escobaranischen Gefangenenlager zugebracht, bevor die Unterhändler mich schließlich nach Hause holten. Die Escobaraner machten für uns keinen Urlaub daraus, das kann ich Ihnen sagen.« Es hätte auch schlimmer sein können, Sie hätten eine weibliche escobaranische Kriegsgefangene in einem von unseren Lagern sein können. Miles beschloss, dem Admiral nicht ausgerechnet jetzt diese Übung der Vorstellungskraft vorzuschlagen. »Das kann ich mir vorstellen.« »Was ich damit sagen will, ist: Ich weiß, was es heißt, zurückgelassen zu werden, und ich werde das keinem meiner Männer aus irgendeinem trivialen Grund antun.« Sein verkniffener Blick auf den Frachtmeister machte deutlich, dass dahinschwindende Profite einer komarranischen Handelsgesellschaft keineswegs als wichtig genug galten, um dieses Prinzip zu verletzen. »Die Ereignisse bestätigten …«Er zögerte und begann den Satz von neuem: »Eine Zeit lang dachte ich, die Ereignisse hätten mich bestätigt.« »Eine Zeit lang«, wiederholte Miles. »Und jetzt nicht mehr?« »Nun … ja … was dann geschah, war ziemlich … ziemlich beunruhigend. Es gab einen nicht autorisierten Funktionszyklus einer Personenluftschleuse in jener Ladebucht der Station Graf, die dem Andockplatz der Idris am nächsten lag. Allerdings wurde dort kein Schiff und keine Personentransportkapsel gesichtet – die Verschlüsse der Verbindungsröhre wurden nicht aktiviert. Als die Sicherheits37
wache der Station dort eintraf, war die Bucht leer. Aber es gab eine bestimmte Menge Blut auf dem Boden sowie Anzeichen, dass etwas zu der Schleuse geschleppt worden war. Bel einem Test zeigte sich, dass das Blut von Solian stammte. Es sah aus, als hätte er versucht, auf die Idris zurückzukommen, und als hätte ihn dabei jemand überfallen.« »Jemand, der keine Fußspuren hinterließ«, fügte Brun düster hinzu. Miles blickte Vorpatril fragend an. »In den mit Gravitation ausgestatteten Bereichen, wo sich die Planetenbewohner aufhalten«, erklärte der Admiral, »flitzen die Quaddies in diesen kleinen Personenschwebern herum. Sie bedienen sie mit ihren unteren Händen, wodurch sie die oberen Hände frei haben. Keine Fußspuren. Überhaupt keine Füße, genau genommen.« »Ah ja, ich verstehe«, sagte Miles. »Blut, aber keine Leiche – hat man eine Leiche gefunden?« »Bis jetzt noch nicht«, erwiderte Brun. »Hat man danach gesucht?« »O ja. In allen möglichen Flugbahnen.« »Vermutlich ist Ihnen schon der Gedanke gekommen, dass ein Deserteur versuchen könnte, seinen eigenen Mord oder Selbstmord vorzutäuschen, um sich der Verfolgung zu entziehen.« »Daran hätte ich denken können«, sagte Brun, »aber ich habe den Boden der Ladebucht gesehen. Niemand könnte so viel Blut verlieren und überleben. Es müssen mindestens drei oder vier Liter gewesen sein.« Miles zuckte die Achseln. »Der erste Schritt bei einem 38
kryonischen Notfalleingriff besteht darin, dem Patienten das Blut zu entnehmen und es durch eine Kryo-Flüssigkeit zu ersetzen. Dabei können leicht einige Liter Blut auf dem Boden zurückbleiben, und das Opfer bleibt – nun ja, potenziell am Leben.« Er selbst hatte eine intime persönliche Erfahrung mit dieser Prozedur gehabt, zumindest hatten es ihm Elli Quinn und Bel Thorne später so erzählt. Das war auf jener Mission der Freien Dendarii-Söldner gewesen, die in einem großen Desaster geendet hatte. Zugegeben, er konnte sich an diesen Teil nicht erinnern, nur an Bels außerordentlich lebhafte Beschreibung des Vorgangs. Brun zog die Augenbrauen hoch. »Daran hatte ich nicht gedacht.« »Mir ist das nur so gekommen«, erwiderte Miles entschuldigend. Ich könnte Ihnen die Narben zeigen. Nachdenklich runzelte Brun die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nicht, dass dafür genug Zeit gewesen wäre, bevor die Sicherheitsleute der Station am Tatort erschienen.« »Auch nicht, wenn eine tragbare Kryo-Kammer bereitstand?« Brun öffnete den Mund, dann machte er ihn wieder zu. Schließlich sagte er: »Das ist ein kompliziertes Szenario. Mylord.« »Ich bestehe nicht darauf«, sagte Miles nachgiebig. Er überdachte das andere Ende des Wiederbelebungsprozesses mit Kryo-Technik. »Ich möchte nur zusätzlich darauf hinweisen, dass es noch andere Quellen für einige Liter schönen frischen persönlichen Blutes gibt als nur den Körper eines Opfers. Zum Beispiel den Synthetisierer eines Wie39
derbelebungslabors oder eines Krankenhauses. Das Produkt würde sicherlich bei einer oberflächlichen DNAPrüfung durchgehen. Man könnte das eigentlich nicht einmal ein falsches positives Ergebnis nennen. Ein bioforensisches Labor könnte allerdings den Unterschied erkennen. Spuren von Kryo-Flüssigkeit wären ebenfalls offensichtlich, wenn nur jemand daran dächte, nach ihnen zu suchen. – Ich hasse Indizienbeweise«, fügte er nachdenklich hinzu. »Wer hat das Blut der Identitätsprüfung unterzogen?« Unbehaglich rutschte Brun hin und her. »Die Quaddies. Wir hatten ihnen Solians DNA-Scan übermittelt, als er vermisst wurde. Aber der Sicherheitsoffizier der Rudra war da schon zum Tatort gegangen – er war an Ort und Stelle in der Ladebucht und beobachtete ihre Arbeit. Gleich als das Analysegerät piepste, meldete er mir die Übereinstimmung der DNA. Da begab ich mich selbst dorthin, um mir alles anzuschauen.« »Hatte er eine andere Probe dabei, um das Ergebnis zu überprüfen?« »Ich … glaube ja. Ich kann den Flottenarzt fragen, ob er eine bekam, bevor – hm – andere Ereignisse uns überholten.« Admiral Vorpatril blickte unangenehm verblüfft drein. »Ich dachte, der arme Solian sei bestimmt ermordet worden. Von einem …«Er verstummte. »Es klingt nicht so, als wäre diese Hypothese schon ausgeschlossen«, tröstete ihn Miles. »Auf jeden Fall haben Sie es zu jenem Zeitpunkt ehrlich geglaubt. Lassen Sie bitte Ihren Flottenarzt die Proben gründlicher untersuchen und 40
teilen Sie mir dann das Ergebnis mit.« »Und auch dem Sicherheitsdienst der Station Graf?« »Äh … vielleicht denen noch nicht.« Selbst wenn die Ergebnisse negativ wären, würde die Anfrage den Verdacht der Quaddies gegenüber den Barrayaranern nur noch mehr schüren. Und wenn sie positiv waren … Darüber wollte Miles zuerst nachdenken. »Nun, was ist dann als Nächstes geschehen?« »Dass Solian selbst zum Sicherheitsdienst der Flotte gehörte, ließ seinen Mord – seinen scheinbaren Mord – besonders unheilvoll erscheinen«, räumte Vorpatril ein. »Hatte er versucht, mit einer Warnung zurückzukommen? Wir wussten es nicht. So strich ich alle Urlaube, versetzte die Flotte in Alarmbereitschaft und befahl, dass alle Schiffe sich von der Dockseite lösten.« »Ohne Erklärung eines Grundes«, warf Molino ein. Vorpatril blickte ihn finster an. »Während einer Alarmbereitschaft hält ein Kommandant nicht inne und gibt Erklärungen für seine Befehle. Er erwartet, dass sie auf der Stelle befolgt werden. Wenn man außerdem bedenkt, wie ungeduldig Sie und Ihre Leute waren und sich über die Verzögerungen beschwerten, da dachte ich kaum daran, dass ich mich wiederholen müsste.« An seinem Kinn zuckte ein Muskel, er holte tief Luft und kehrte zu seinem Bericht zurück. »Zu diesem Zeitpunkt erlebten wir so etwas wie einen Zusammenbruch der Kommunikation.« Hier kommt endlich die Nebelwand. »Wie wir verstanden, war eine zweiköpfige Sicherheitspatrouille, die ausgeschickt war, um einen Offizier zu holen, der sich noch nicht zurückgemeldet hatte …« 41
»Das wäre dann wohl Fähnrich Corbeau?« »Ja, Corbeau. Wie wir es zu diesem Zeitpunkt verstanden, waren die Patrouille und der Fähnrich angegriffen, entwaffnet und von den Quaddies verhaftet worden. Wie später herauskam, war die wirkliche Geschichte komplizierter, aber davon musste ich ausgehen, als ich versuchte, alle unsere Leute von der Station Graf wegzuholen und bereit zu sein für alle Eventualitäten bis hin zur sofortigen Evakuierung aus dem Lokalraum.« Miles beugte sich vor. »Haben Sie geglaubt, es seien irgendwelche beliebigen Quaddies, die Ihre Männer gefangen hatten, oder war Ihnen klar, dass es sich um Sicherheitsleute der Station Graf handelte?« Um ein Haar hätte Vorpatril mit den Zähnen geknirscht. Trotzdem antwortete er: »Ja, wir wussten, dass es ihr Sicherheitsdienst war.« »Haben Sie Ihren Rechtsoffizier um Rat gebeten?« »Nein.« »Hat Fähnrich Deslaurier Ihnen seinen Rat angeboten?« »Nein, Mylord«, flüsterte Deslaurier. »Ich verstehe. Fahren Sie fort.« »Ich habe Kapitän Brun befohlen, ein Kommando hinzuschicken, um inzwischen drei Leute aus einer Situation zu retten, die sich meiner Meinung nach gerade als lebensgefährlich für barrayaranisches Personal erwiesen hatte.« »Vermutlich waren sie mit mehr als nur Betäubern bewaffnet?« »Ich konnte von meinen Leuten nicht verlangen, gegen diese Scharen nur mit Betäubern vorzugehen, Mylord«, sagte Brun. »Da draußen ist eine Million dieser Mutanten!« 42
Miles zog die Augenbrauen hoch. »Auf Station Graf? Ich dachte, deren ständige Bevölkerung betrage etwa fünfzigtausend. Zivilisten.« Brun machte eine Geste der Ungeduld. »Eine Million gegen zwölf, fünfzigtausend gegen zwölf – ist doch egal, unsere Leute brauchten Waffen, die Eindruck machten. Mein Rettungskommando musste so schnell wie möglich hinein und wieder heraus, und dabei sollten die Männer es mit so wenig Widerspruch oder Widerstand zu tun haben wie möglich. Betäuber sind als Waffen zur Einschüchterung nutzlos.« »Dieses Argument ist mir vertraut.« Miles lehnte sich zurück und strich sich über die Lippen. »Fahren Sie fort.« »Meine Patrouille kam an dem Ort, wo unsere Männer festgehalten wurden …« »Sicherheitsposten Nr. 3 der Station Graf, nicht wahr?«, warf Miles ein. »Ja.« »Sagen Sie mir – in der ganzen Zeit, seit die Flotte hier angekommen war, hatte da keiner Ihrer Männer, der Ausgang hatte, eine engere Berührung mit dem Sicherheitsdienst der Station? Keine Betrunkenen, keine Fälle von ungebührlichem Benehmen, keine Verletzungen der Sicherheitsvorschriften, nichts?« Brun, der dreinblickte, als würden ihm die Worte mit einer Zahnarztzange aus der Nase gezogen, sagte: »Drei Männer wurden letzte Woche vom Sicherheitsdienst der Station Graf in Arrest genommen, weil sie in betrunkenem Zustand auf eine unsichere Art und Weise Wettrennen mit Schwebestühlen veranstalteten.« 43
»Und was ist mit ihnen geschehen? Wie hat das der Rechtsberater der Flotte gehandhabt?« »Sie haben ein paar Stunden in der Arrestzelle zugebracht«, murmelte Fähnrich Deslaurier, »dann bin ich hingegangen und habe dafür gesorgt, dass ihre Geldstrafen gezahlt wurden, und ich versprach dem Richter der Station, dass sie für den Rest unseres Aufenthalts in ihren Quartieren bleiben müssten.« »Also waren Sie alle zu diesem Zeitpunkt mit den Standardprozeduren für die Rückholung von Leuten aus Malheuren mit den Stationsbehörden vertraut?« »Diesmal waren es ja keine Betrunkenen oder Randalierer. Das waren Männer unserer eigenen Sicherheitskräfte, die ihre Pflicht erfüllten«, sagte Vorpatril. »Fahren Sie fort«, seufzte Miles. »Was ist mit Ihrer Patrouille geschehen?« »Ich habe immer noch nicht ihren Bericht aus erster Hand, Mylord«, erwiderte Brun steif. »Die Quaddies haben nur einem einzigen unbewaffneten Sanitätsoffizier erlaubt, sie an ihrem derzeitigen Arrestort zu besuchen. Es gab Schusswechsel, sowohl von Betäubern wie auch von Plasmabögen, und zwar im Inneren von Sicherheitsposten Nr. 3. Quaddies wimmelten dort herum, und unsere Männer wurden überwältigt und gefangen genommen.« Zu den »wimmelnden« Quaddies hatte auch – natürlicherweise, nach Miles’ Auffassung – der größte Teil der berufsmäßigen und freiwilligen Feuerwehrleute von Station Graf gehört. Plasmafeuer. Auf einer zivilen Raumstation. Oh, tut mir das weh im Kopf. »Also«, sagte Miles sanft, »nachdem wir die Polizei44
station zusammengeschossen und das Habitat in Brand gesteckt hatten, was haben wir dann noch als Zugabe gegeben?« Admiral Vorpatril biss kurz die Zähne zusammen. »Als die angedockten komarranischen Schiffe meinen dringenden Befehl abzulegen nicht befolgten und stattdessen zuließen, dass sie arretiert wurden, verlor ich leider die Initiative in dieser Situation. Inzwischen waren zu viele Geiseln unter die Kontrolle der Quaddies geraten, die unabhängigen komarranischen Kapitäne-Schiffseigner verzögerten völlig die Befolgung meiner Positionierungsbefehle, und die Miliz der Quaddies durfte Positionen rings um uns besetzen. Wir befanden uns fast zwei volle Tage in einem Patt. Dann bekamen wir den Befehl nachzugeben und auf Ihre Ankunft zu warten.« Dafür sei allen Göttern Dank! Militärische Intelligenz war nichts im Vergleich zu militärischer Dummheit. Aber den halben Weg zur Dummheit zu schlittern und dann innezuhalten, das kam wirklich selten vor. Zumindest das musste man Vorpatril anrechnen. »Zu diesem Zeitpunkt hatten wir keine große Wahl«, warf Brun mürrisch ein. »Wir konnten ja nicht drohen, die Station in die Luft zu jagen, wo doch unsere eigenen Schiffe da angedockt waren.« »Sie konnten die Station in keinem Fall in die Luft jagen«, gab Miles sanft zu bedenken. »Das wäre Massenmord gewesen. Ganz zu schweigen von einem verbrecherischen Befehl. Der Kaiser hätte Sie erschießen lassen.« Brun zuckte zusammen und sank auf seinen Stuhl. Vorpatril presste die Lippen zusammen. »Der Kaiser 45
oder Sie?« »Gregor und ich würden in einem solchen Fall eine Münze werfen, um zu sehen, wer als Erster zum Zuge käme.« Es wurde still in dem Besprechungsraum. »Glücklicherweise«, fuhr Miles fort, »scheinen sich überall die Köpfe abgekühlt zu haben. Dafür danke ich Ihnen, Admiral Vorpatril. Ich möchte noch anfügen, dass Sie das weitere Schicksal Ihrer jeweiligen Karrieren mit Ihrem Operationskommando ausmachen müssen.« Es sei denn, Sie schaffen es, dass ich zur Geburt meiner allerersten Kinder zu spät komme; in diesem Fall sollten Sie schon jetzt lieber anfangen, nach einem tiefen, tiefen Loch zu suchen. »Meine Aufgabe ist, so viele von des Kaisers Untertanen wie möglich aus den Händen der Quaddies herauszupalavern, und das zu einem möglichst niedrigen Preis. Wenn ich wirklich Glück habe, dann können unsere Handelsflotten, sobald ich hier fertig bin, vielleicht eines Tages wieder hier andocken. Sie haben mir für das hiesige Pokerspiel leider kein sehr starkes Blatt gegeben. Trotzdem werde ich sehen, was ich tun kann. Ich möchte jetzt Kopien aller Protokolle haben, die sich auf diese jüngsten Ereignisse beziehen, damit ich sie durchsehen kann. Bitte.« »Jawohl, Mylord«, knurrte Vorpatril. »Aber«, seine Stimme klang fast gequält, »damit weiß ich immer noch nicht, was mit Leutnant Solian geschehen ist.« »Auch dieser Frage werde ich meine schärfste Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, Admiral.« Miles begegnete seinem Blick. »Das verspreche ich Ihnen.« Vorpatril nickte kurz. 46
»Aber, Lord Auditor Vorkosigan!«, warf Frachtmeister Molino eilig ein. »Die Behörden von Station Graf versuchen unsere komarranischen Schiffe mit Strafgebühren zu belegen für den Schaden, den barrayaranische Soldaten angerichtet haben. Man muss ihnen klarmachen, dass in dieser … kriminellen Aktivität das Militär allein steht.« Miles zögerte einen langen Augenblick lang. »Welch ein Glück für Sie, Frachtmeister«, sagte er schließlich, »dass im Falle eines echten Angriffs das Umgekehrte nicht gelten würde.« Dann klopfte er auf den Tisch und erhob sich.
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3 Miles stand auf Zehenspitzen und spähte durch das kleine Bullauge neben der Personenluke der Turmfalke, während das Schiff sich in Richtung seiner zugewiesenen Andockbühne manövrierte. Station Graf war eine ausgedehnte wirre Ansammlung verschiedenster Elemente, ein offensichtliches Chaos an Planung, was nicht überraschte bei einer Einrichtung, die sich jetzt schon im dritten Jahrhundert ausdehnte. Irgendwo im Kern der wuchernden, wie stoppelig wirkenden Struktur befand sich ein kleiner metallischer Asteroid, wabenartig ausgehöhlt, um Raum zu schaffen und das Material zu liefern, das beim Bau dieses allerältesten der vielen Habitats der Quaddies verwendet worden war. Und den touristischen Vids zufolge gab es auch irgendwo in seinen innersten Bereichen wirklich noch Teile des auseinander gebrochenen und wieder zusammengebauten Sprungschiffs zu sehen, mit dem die ursprüngliche Gruppe unerschrockener Quaddie-Pioniere ihre historische Reise zu diesem Zufluchtsort unternommen hatte. Miles trat zur Seite und lud Ekaterin mit einer Geste ein, durch das Bullauge zu schauen. Er dachte an die politische Astrographie des Quaddie-Raums oder – wie er formell genannt wurde – der Union der Freien Habitats. Von diesem Ausgangspunkt hier waren dann Gruppen von Quaddies wie im Bocksprung ausgeschwärmt und hatten Tochterkolonien gegründet, und zwar in beiden Richtungen am inneren der beiden Asteroidenringe entlang, die dieses System für ihre Vorfahren so anziehend gemacht hatten. Einige Generationen und eine Million Einwohner später be48
fanden sich die Quaddies noch nicht in Gefahr, dass ihnen Raum, Energie oder Materialien ausgingen. Ihre Bevölkerung konnte sich so schnell ausdehnen, wie sie bereit war, neue Stützpunkt zu bauen. Nur eine Hand voll ihrer vielen verstreuten Habitats unterhielten Bereiche, die zugunsten von Menschen mit Beinen – Besuchern oder Bewohnern – mit künstlicher Schwerkraft ausgestattet waren oder sich überhaupt mit Leuten von außerhalb befassten. Station Graf gehörte zu jenen orbitalen Arkologien, die Galakter und deren Handel akzeptierten, wie es auch die Stationen Metropolitan, Freistatt, Minchenko und Union taten. Station Union war auch der Sitz der Quaddie-Regierung; dabei handelte es sich um eine Art repräsentativer Demokratie, die von unten nach oben organisiert war und – soweit Miles verstanden hatte – auf dem Arbeitsteam als primärer Einheit beruhte. Er hoffte bei Gott, dass er am Ende nicht mit einem Komitee würde verhandeln müssen. Ekaterin blickte sich um und winkte mit einem aufgeregten Lächeln Roic, er solle einmal hindurchschauen. Roic duckte den Kopf, drückte fast die Nase an das Bullauge und guckte unverhohlen neugierig. Für Ekaterin war es die erste Reise außerhalb des Reiches von Barrayar, und Roic war überhaupt zum ersten Mal von Barrayar weg. Miles war jetzt dankbar für seine leicht paranoiden Gewohnheiten, denen zufolge er sich die Mühe gemacht hatte, Ekaterin und Roic an einem kurzen Intensivkurs in Verhaltensweisen und Sicherheitsvorkehrungen im Weltraum und in der Schwerelosigkeit teilnehmen zu lassen, bevor er sie vom Heimatplaneten entführt hatte. Er hatte an allen Strip49
pen gezogen, um – wenigstens in einer freien Woche zwischen den planmäßigen Unterrichtseinheiten – Zugang zu den Anlagen der Militärakademie zu bekommen, und zwar für eine abgekürzte Version des längeren Kurses, den Roics ältere Kollegen routinemäßig in ihrer früheren Ausbildung beim kaiserlichen Militär durchlaufen hatten. Äußerst erstaunt war Ekaterin gewesen, als Miles sie eingeladen – überredet – ja, gedrängt hatte, sich dem Leibwächter in der im Orbit kreisenden Schule anzuschließen: am Anfang war sie verzagt gewesen; erschöpft und der Meuterei nahe, als der Kurs zur Hälfte hinter ihr lag; stolz und in Hochstimmung am Ende. Bel Passagierschiffen, die Druckausgleichsprobleme hatten, war es die gewohnte Methode, ihre zahlenden Kunden in einfache Kapseln zu stecken, die BodPods genannt wurden, wo sie passiv auf die Bergung warten sollten. Miles hatte selbst ein oder zwei Mal in einem solchen BodPod gesteckt. Er hatte sich geschworen, dass keiner seiner Männer und vor allem nicht seine eigene Frau jemals in einem Notfall so künstlich hilflos sein sollten. Seine gesamte Reisegesellschaft war mit eigenen maßgeschneiderten und schnell anzulegenden Raumanzügen ausgestattet. Zu seinem Bedauern hatte Miles seine alte, persönlich angepasste Kampfrüstung auf dem Speicher im Palais Vorkosigan gelassen … Roic löste sich vom Bullauge. Er blickte besonders stoisch drein, mit dünnen senkrechten Sorgenfalten zwischen den Augenbrauen. »Habt ihr eure Pillen gegen Übelkeit eingenommen?« Roic nickte ernsthaft. »Hast du denn deine genommen?«, fragte Ekaterin. 50
»O ja.« Er blickte an seinem schlichten grauen Zivilanzug hinab. »Ich hatte früher diesen klasse Biochip auf meinem Vagusnerv, der mich daran hinderte, in der Schwerelosigkeit mein Mittagessen von mir zu geben, aber er wurde mir zusammen mit meinen restlichen Eingeweiden bei dieser unangenehmen Begegnung mit der Nadelgranate herausgesprengt. Irgendwann sollte ich ihn mir ersetzen lassen …«Miles trat vor und blickte erneut nach draußen. Die Station war jetzt so groß, dass sie fast das ganze Blickfeld ausfüllte. »Also, Roic. Wenn einige Quaddies, die zu Besuch in Hassadar weilen, sich so aufführen würden, dass es zu einem Besuch im Gefängnis der Stadtwache reicht, und dann taucht noch ein Haufen Quaddies auf und versucht, sie mit militärischen Waffen herauszuholen, und schießt dabei alles über den Haufen und zündet das Gefängnis an, sodass einige Ihrer Kameraden verbrennen, welche Empfindungen hätten Sie dann eigentlich gegenüber den Quaddies?« »Hm … keine besonders freundlichen, Mylord.« Roic zögerte. »Ich wäre stocksauer, genau genommen.« »Das habe ich mir schon gedacht«, seufzte Miles. »Aha, jetzt geht’s los!« Rasseln und Stoßen erklang, während die Turmfalke sanft in Ruhelage kam und die Andockklampen sich ihren Weg zu einem festen Griff suchten. Die Verbindungsröhre suchte sich jaulend ihren Verschluss, gelenkt vom Techniker der Turmfalke an der Lukensteuerung, und dann rastete sie mit einem hörbaren Klirren ein. »Alles dicht, Sir«, meldete der Techniker. »Dann mal los, Leute, auf zur Parade«, murmelte Miles 51
und winkte Roic voran. Der Leibwächter nickte und schlüpfte durch die Luke; einen Moment später rief er zurück: »In Ordnung, Mylord.« Alles war, wenn auch nicht gut und schön, so doch zumindest gut genug. Miles folgte durch die Verbindungsröhre, Ekaterin direkt hinter ihm. Er blickte verstohlen über die Schulter, während er vorwärts schwebte. Sie wirkte anmutig und faszinierend in dem roten Kasack und den schwarzen Leggings; das Haar war in einem raffinierten Zopf um den Kopf gelegt. Die Schwerelosigkeit hatte auf eine gut entwickelte weibliche Anatomie eine bezaubernde Wirkung, doch er beschloss, Ekaterin lieber nicht darauf hinzuweisen. Als Eröffnungszug hatte man dieses erste Treffen ganz offensichtlich deshalb im schwerelosen Bereich von Station Graf anberaumt, um die Besucher aus dem Gleichgewicht zu werfen und zu betonen, wem dieser Raum hier gehörte. Wenn die Quaddies hätten höflich sein wollen, dann hätten sie die Barrayaraner in einem mit Schwerkraft ausgestatteten Bereich empfangen. Die Luftschleuse auf der Stationsseite öffnete sich und gab den Blick frei in einen großen zylindrischen Raum, dessen radiale Symmetrie elegant mit den Begriffen »oben« und »unten« aufräumte. Roic schwebte mit einer Hand am Griff neben der Luke, die andere hielt er sorgfältig entfernt von seinem Betäuberhalfter. Miles reckte den Hals, um das halbe Dutzend Quaddies, männliche und weibliche, ins Auge zu fassen, die in paramilitärischer Halbrüstung in Kreuzfeuerpositionen in dem Raum umherschwebten. Ihre Waffen waren gezogen, aber geschultert; 52
die Förmlichkeit maskierte die Drohung. Aus ihren Hüften traten die unteren Arme hervor, dicker und muskulöser als die oberen Gliedmaßen. Beide Armpaare waren mit Plasma ablenkenden Armschienen geschützt. Miles musste unwillkürlich daran denken, dass er hier Leute vor sich hatte, die tatsächlich gleichzeitig schießen und nachladen konnten. Obwohl zwei die Abzeichen des Sicherheitsdienstes der Station Graf trugen, waren die übrigen interessanterweise in die Farben der Unionsmiliz gekleidet. Eine eindrucksvolle Show, aber das waren nicht die Leute, um die er sich zu kümmern brauchte. Sein Blick schweifte weiter zu den drei Quaddies und dem über Beine verfügenden Planetarier, die direkt gegenüber der Luke warteten. Die leicht erstaunten Mienen, die sie zeigten, als sie ihrerseits seine eigene, nicht dem Standard entsprechende Erscheinung wahrnahmen, wurden auf drei der vier Gesichter schnell unterdrückt. Der ranghöchste Sicherheitsoffizier der Station Graf war sofort an seiner Uniform, seinen Waffen und seinem finsteren Gesicht zu erkennen. Ein weiterer Quaddie mittleren Alters, ebenfalls männlich, trug auch eine Art Stationsdienstuniform, in Schieferblau und einem konservativen Stil, der dazu bestimmt war, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Eine weißhaarige weibliche Quaddie war aufwändiger gekleidet in ein kastanienbraunes Samtwams mit geschlitzten Ärmeln oben, aus deren Schlitzen sich silbrige Seide bauschte, dazu passende bauschige Shorts und enge untere Ärmel. Der Planetarier trug ebenfalls die schieferblaue Uniform, nur mit Hosen und Friktionsstiefeln. Kurzes, ergrauendes braunes Haar umfloss den Kopf, der sich Miles 53
zuwandte. Miles schnürte es die Kehle zu, er zwang sich trotz des Schocks nicht laut zu fluchen. Mein Gott, das ist ja Bel Thorne. Was zum Teufel machte der frühere Söldner und betanische Hermaphrodit hier? Die Frage beantwortete sich von selbst, während sie sich noch stellte. Ach so, jetzt weiß ich, wer unser KBSBeobachter auf Station Graf ist. Das hob plötzlich die Zuverlässigkeit dieser Berichte auf ein weit höheres Niveau … oder? Miles’ Lächeln erstarrte und verbarg, so hoffte er, seine plötzliche Verwirrung. Die weißhaarige Frau sprach in einem sehr frostigen Ton – ein automatischer Teil von Miles’ Intellekt ordnete sie als die ranghöchste wie auch älteste der anwesenden Personen ein. »Guten Tag, Lord Auditor Vorkosigan. Willkommen in der Union Freier Habitats!« Miles, der noch mit einer Hand die blinzelnde Ekaterin in den Raum führte, brachte ein höflich erwiderndes Nicken zustande. Er ließ ihr den zweiten Handgriff, der die Luke flankierte, als Anker und begab sich mitten in die Luft, ohne sich selbst in eine ungewollte Drehung zu versetzen, und zwar aufrecht in Beziehung zu der ranghohen Quaddie-Frau. »Danke«, erwiderte er zurückhaltend. Bel was zum Teufel …? Gib mir ein Zeichen, verdammt. Der Hermaphrodit erwiderte den kurzen Blick von Miles’ weit aufgerissenen Augen mit kühlem Desinteresse und hob wie beiläufig eine Hand, um sich einen Nasenflügel zu kratzen. Vielleicht sollte das ein Signal sein: Warte doch einfach mal ab … »Ich bin Obereichmeisterin Greenlaw«, fuhr die Quaddie-Frau fort, »meine Regierung hat mich beauftragt, mich 54
mit Ihnen zu treffen und für eine Schlichtung zwischen Ihnen und Ihren Opfern auf Station Graf zu sorgen. Das hier ist Gruppenchef Venn vom Sicherheitsdienst der Station Graf, dann Boss Watts, Leitender Beamter der Ausländerbehörde auf Station Graf, und Stellvertretender Hafenmeister Bel Thorne.« »Erfreut, Sie kennen zu lernen, Madame, meine Herren, ehrenwerter Herrn«, redete Miles’ Mund wie von einem Autopiloten gesteuert. Im Augenblick war er durch den Anblick von Bel zu erschüttert, um sich an den Worten Ihre Opfer zu stoßen. »Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen meine Frau vorstelle, Lady Ekaterin Vorkosigan, und meinen persönlichen Assistenten, Gefolgsmann Roic.« Die Quaddies blickten mit missbilligend gerunzelter Stirn auf Roic. Aber jetzt war es an Bel, die Augen weit aufzureißen, als er plötzlich Ekaterin aufmerksam musterte. Ein rein persönlicher Gedanke huschte durch Miles’ Kopf, als ihm klar wurde, dass er sehr wahrscheinlich in Kürze in der unangenehmen Situation sein würde, seiner alten Flamme seine frisch gebackene Ehefrau vorstellen zu müssen. Nicht dass Bels so oft zum Ausdruck gebrachte Schwärmerei für ihn eigentlich jemals verwirklicht worden wäre, was er im Rückblick manchmal bedauert hatte … »Hafenmeister Thorne … äh …« Miles spürte, wie er in mehr als einem Sinn nach festem Boden unter den Füßen suchte. Seine Stimme wurde freundlich fragend: »Sind wir uns schon einmal begegnet?« »Ich glaube, wir sind uns noch nie begegnet, Lord Auditor Vorkosigan. nein«, erwiderte Bel. Miles hoffte, dass er als Einziger herausgehört hatte, wie die vertraute, gedehnt 55
sprechende Altstimme seinen barrayaranischen Namen und Titel leicht betont hatte. »Ach.« Miles zögerte. Wirf einen Köder aus, eine Angelschnur irgendetwas … »Meine Mutter war Betanerin, wissen Sie.« »Was für ein Zufall«, sagte Bel verbindlich. »Die meine auch.« Bel. verdammt! »Ich hatte einige Male das Vergnügen, Kolonie Beta zu besuchen.« »Ich bin während der letzten Jahrzehnte nur einmal dort gewesen.« Das sanfte Aufflackern von Bels bemerkenswert boshaftem Sinn für Humor erlosch in den braunen Augen, und der Hermaphrodit ließ sich so weit erweichen, dass er sagte: »Ich würde gern etwas über den alten Sandkasten hören.« »Es wäre mir ein Vergnügen, darüber zu reden«, antwortete Miles und hoffte dabei, dass dieser Austausch diplomatisch und nicht kryptisch klang. Bald, bald, verdammt bald. Bel erwiderte mit einem herzlichen, anerkennenden Nicken. Die weißhaarige Quaddie-Frau wies mit ihrer oberen rechten Hand zum Ende des Raums. »Wenn Sie uns bitte zum Konferenzraum begleiten wollen, Lord und Lady Vorkosigan, Gefolgsmann Roic.« »Aber gewiss doch, Eichmeisterin Greenlaw.« Miles verbeugte sich mitten in der Luft leicht in ihre Richtung, als wollte er sagen: Nach Ihnen, Madame, dann richtete er sich auf und trat mit einem Fuß gegen die Wand, um sich abzustoßen und ihr zu folgen. Ekaterin und Roic folgten. Ekaterin kam an und bremste an der runden, luftdichten 56
Tür mit ziemlicher Anmut, während Roic krumm und mit einem hörbaren Bums landete. Er hatte sich mit zu viel Kraft abgestoßen, doch Miles konnte hier nicht innehalten, um ihm die Feinheiten beizubringen. Roic würde bald selbst dahinter kommen – oder sich einen Arm brechen. Die nächsten paar Korridore waren mit genügend Griffen ausgestattet. Die Planetarier bewegten sich im Tempo der Quaddies, die sowohl vorauseilten als auch folgten; zu Miles’ Befriedigung musste keine der Wachen anhalten und unkontrolliert rotierende oder hilflos in der Luft schwebende Barrayaraner einsammeln. Schließlich gelangten sie in einen Raum mit einer Fensterwand, die einen Panoramablick über einen Arm der Station hinweg in die tiefe, sternenübersäte Leere gewährte. Jeder Planetarier, der auch nur an einem Anflug von Agoraphobie oder von einer auf den Druckausgleich fixierten Paranoia litt, hätte es zweifellos vorgezogen, sich an der Wand an der gegenüberliegenden Seite festzuhalten. Miles schwebte sanft zu der transparenten Barriere hinauf, stoppte sich mit zwei zart abgespreizten Fingern ab und betrachtete die Raumlandschaft, wobei er unwillkürlich die Mundwinkel nach oben zog. »Das ist sehr schön«, sagte er ehrlich. Er blickte sich um. Roic hatte einen Wandgriff nahe der Tür gefunden, den er etwas befangen mit der unteren Hand eines Quaddie-Wächters teilte, der ihn finster anblickte, während sie beide eine gegenseitige Berührung ihrer Finger zu vermeiden versuchten. Das Gros der Ehrenwache war im benachbarten Korridor verteilt, nur zwei schwebten 57
noch wachsam im Raum, einer von Station Graf und einer von der Union. Die beiden Seitenwände des Raums waren mit dekorativen Pflanzen geschmückt, die aus spiralartigen beleuchteten Rohren hervorwuchsen, welche ihre Wurzeln in einem hydroponischen Dunst hielten. Ekaterin hielt an einem der Gewächse an und untersuchte aufmerksam die vielfarbigen Blätter, dann riss sie ihre Aufmerksamkeit davon los und ihr flüchtiges Lächeln verschwand. Sie beobachtete Miles, beobachtete die Quaddie-Gastgeber und wartete auf ein Stichwort. Ihr Blick fiel neugierig auf Bel, der seinerseits Miles musterte; der Gesichtsausdruck des Hermaphroditen war – nun ja, jemand anderer würde ihn wahrscheinlich als höflich betrachten, Miles hatte den Verdacht, dass er zutiefst ironisch war. Die Quaddies gruppierten sich in einem Halbkreis um eine zentrale Vid-Scheibe. Bel hielt sich in der Nähe seines Kameraden in der schieferblauen Uniform, Boss Watts. Gewölbte Pfosten verschiedener Höhe trugen die Steuertafeln für Kommunikatorverbindungen, die man für gewöhnlich auf den Armlehnen von Stationssesseln fand; sie sahen ein bisschen aus wie Blumen auf Stängeln und waren zugleich genügend weit voneinander aufgestellt, um als Gelegenheit zum Festhalten zu dienen. Miles suchte sich einen Pfosten aus. bei dem er dem offenen Weltraum den Rücken zukehrte. Ekaterin schwebte herüber und nahm einen Platz etwas hinter ihm ein. Sie zeigte sich wieder schweigend und höchst reserviert, was – wie Miles gelernt hatte – nicht dahin gehend missverstanden werden durfte, dass sie unzufrieden war; es konnte einfach nur bedeuten, sie war so konzentriert, dass sie vergaß, lebhaft zu wirken. 58
Glücklicherweise vermittelte das wie aus Elfenbein geschnitzt wirkende Gesicht eine aristokratische Haltung. Zwei jüngere Quaddies, deren grüne Hemden und Shorts sie als Diener auswiesen, boten ringsum Trinkkolben an. Miles wählte etwas, das als Tee gekennzeichnet war, und Ekaterin nahm Fruchtsaft. Roic blickte auf die QuaddieWachen, denen nichts angeboten wurde, und lehnte ab. Ein Quaddie konnte sich mit der einen Hand festhalten und mit der anderen einen Trinkkolben nehmen, und dann hatte er immer noch zwei Hände frei, um eine Waffe zu ziehen und damit zu zielen. Das war wohl kaum fair. »Obereichmeisterin Greenlaw« begann Miles. »Sie haben sicherlich schon mein Beglaubigungsschreiben bekommen.« Sie nickte; ihr kurzes, feines Haar umgab dabei den Kopf wie ein dünner Nimbus. »Leider«, fuhr er fort, »bin ich nicht völlig vertraut mit dem kulturellen Kontext und der Bedeutung Ihres Titels. Für wen sprechen Sie? Und sind Sie dann durch Ihr Wort auf Ehre gebunden? Das heißt, repräsentieren Sie Station Graf, eine Abteilung innerhalb der Union Freier Habitats oder eine noch größere Einheit? Und wer überprüft Ihre Empfehlungen oder sanktioniert von Ihnen getroffene Vereinbarungen?« Und wie lange braucht man normalerweise dafür? Sie zögerte, und Miles fragte sich, ob sie ihn mit der gleichen Eindringlichkeit musterte wie er sie. Quaddies lebten noch länger als Betaner, die es üblicherweise auf den Standard von 120 Jahren brachten, und konnten anderthalb Jahrhunderte zusammenbringen; wie alt war diese Frau? »Ich bin Eichmeisterin für das Unionsministerium für 59
Beziehungen zu Planetenbewohnern; ich glaube, einige auf Planeten siedelnde Kulturen würden mich als eine bevollmächtigte Ministerin für ihr Außenministerium bezeichnen, oder wie auch immer die Behörde heißt, die ihre Botschaften verwaltet. Ich habe in den letzten vierzig Jahren dem Ministerium gedient, dazu gehörten auch Reisen in unsere beiden angrenzenden Systeme als Junior- und SeniorBeraterin der Union.« Also zu den nahen Nachbarn des Quaddie-Raums, ein paar Wurmlochsprünge entfernt auf viel benutzten Routen; sie sagte damit, dass sie eine gewisse Zeit auf Planeten verbracht hatte. Und nebenbei auch, dass sie diese Arbeit schon seit einer Zeit tut, als ich noch gar nicht geboren war. Wenn sie nicht gerade zu den Leuten gehörte, die meinten, wenn man einen Planeten gesehen habe, dann habe man alle gesehen, so klang dies viel versprechend. Miles nickte. »Meine Empfehlungen und die von mir getroffenen Vereinbarungen werden von meinem Arbeitsteam auf Station Union überprüft – das ist der Verwaltungsrat der Union Freier Habitats.« So. so, es gab also doch ein Komitee, aber glücklicherweise war es nicht hier zugegen. Miles stufte Greenlaw als ungefähres Gegenstück zu einem barrayaranischen SeniorMinister im Rat der Minister ein, ziemlich entsprechend seiner eigenen Bedeutung als kaiserlicher Auditor. Zugegeben, die Quaddies hatten in ihrer Regierungsstruktur nichts, was einem barrayaranischen Grafen entsprach, allerdings schien ihnen da nichts zu fehlen – Miles unterdrückte ein trockenes Schnauben. Eine Ebene von der Spit60
ze entfernt hatte Greenlaw eine endliche Zahl von Leuten zufrieden zu stellen beziehungsweise zu überzeugen. Er gestattete sich eine erste leise Hoffnung auf eine ziemlich geschmeidige Verhandlung. Sie zog die weißen Augenbrauen zusammen. »Man hat Sie die Stimme des Kaisers genannt. Glauben die Barrayaner wirklich, dass die Stimme ihres Kaisers über all diese Lichtjahre hinweg aus Ihrem Mund kommt?« Miles bedauerte, dass er sich nicht auf einem Sessel zurücklehnen konnte; stattdessen streckte er sein Rückgrat ein wenig. »Die Bezeichnung ist eine juristische Fiktion, aber kein Aberglaube. ›Stimme des Kaisers‹ ist eigentlich ein Spitzname für meine Tätigkeit. Mein wirklicher Titel ist kaiserlicher Auditor – was daran erinnert, dass meine erste Aufgabe immer das Zuhören ist. Ich bin allein Kaiser Gregor verantwortlich und ich antworte nur für ihn.« Hier schien es ihm passend zu sein, solche Komplikationen wie ein mögliches Amtsenthebungsverfahren und andere Kontrollsysteme barrayaranischer Art nicht zu erwähnen. Wie zum Beispiel Attentate. »Kontrollieren Sie nun die barrayaranischen Militärkräfte hier im Lokalraum der Union?«, meldete sich Venn, der zweite Sicherheitsoffizier. Er hatte offensichtlich inzwischen genügend Erfahrungen mit barrayaranischen Soldaten gesammelt, um einige Schwierigkeiten bei der Vorstellung zu haben, dass der etwas verkrümmte Kümmerling, der da vor ihm schwebte, den raubeinigen Vorpatril oder dessen zweifellos normalwüchsige und gesunde Kämpfer dominierte. Ja, aber Sie sollten meinen Vater sehen… Miles räusper61
te sich. »Da der Kaiser der Oberkommandierende des barrayaranischen Militärs ist, gilt seine Stimme automatisch als höchster Offizier aller barrayaranischen Streitkräfte im Umkreis, jawohl. Falls der Notfall es erfordert.« »Sie sagen damit also, dass diese Brutalos dort draußen schießen würden, wenn Sie es befehlen?«, fragte Venn säuerlich. Miles brachte eine knappe Verbeugung in Venns Richtung zustande, was in der Schwerelosigkeit nicht leicht war. »Sir, falls die Stimme des Kaisers es befiehlt, würden sie sich selbst erschießen.« Dies war pure Angeberei – na ja, teilweise Angeberei –, aber das brauchte Venn ja nicht zu wissen. Bel verzog auch weiterhin irgendwie keine Miene, dank irgendwelcher Götter, die hier zugegen waren, allerdings konnte Miles förmlich das Lachen sehen, das Bel Bel hinunterwürgte … Dass dir nicht die Trommelfelle platzen, Bel. Die weißen Augenbrauen der Eichmeisterin brauchten einen Moment, um sich wieder zu glätten. »Nichtsdestoweniger«, fuhr Miles fort, »während es nicht schwer ist, eine Gruppe von Leuten ausreichend zu erregen, damit sie auf irgendetwas schießen, ist doch ein Zweck der militärischen Disziplin sicherzustellen, dass sie auch auf Befehl aufhören zu schießen. Jetzt ist nicht die Zeit fürs Schießen, sondern fürs Sprechen – und fürs Zuhören. Ich höre zu.« Er legte die Finger vor sich an den Spitzen zusammen, als säße er an einem Tisch. »Wie stellte sich von Ihrem Standpunkt aus gesehen die Folge der Ereignisse dar, die zu diesem unglücklichen Vorfall führten?« Greenlaw und Venn begannen gleichzeitig zu sprechen; 62
doch die Quaddie-Frau machte alsbald mit einer ihrer oberen Hände eine einladende Geste in Richtung des Sicherheitsoffiziers. Venn nickte und fuhr fort: »Es begann, als bei meiner Abteilung ein Notruf einging, wir sollten zwei von Ihren Leuten verhaften, die eine Quaddie-Frau angegriffen hatten.« Damit erschien sozusagen eine neue Darstellerin auf der Bühne. Miles bewahrte einen neutralen Ausdruck. »Angegriffen in welchem Sinn?« »Sind in ihre Wohnung eingebrochen, rempelten sie an, warfen sie herum, brachen ihr einen Arm. Offensichtlich hatte man sie geschickt, um einen bestimmten barrayaranischen Offizier zu suchen, der sich nicht zum Dienst zurückgemeldet hatte …« »Aha. Handelt es sich dabei zufällig um Fähnrich Corbeau?« »Jawohl.« »Und er befand sich in der Wohnung der Frau?« »Ja.« »Auf ihre Einladung hin?« »Ja.« Venn verzog das Gesicht. »Sie hatten sich anscheinend, hm, angefreundet. Granat Fünf ist Primaballerina im Minchenko-Gedächtnisensemble, das LiveVorführungen im schwerelosen Balletttanz für Bewohner der Station und für planetarische Besucher gibt.« Venn holte Luft. »Es ist nicht völlig klar, wer zu wessen Verteidigung eilte, als die barrayaranische Patrouille kam, um ihren säumigen Offizier zu holen, aber das Ganze entwickelte sich zu einer lärmenden Schlägerei. Wir verhafteten sämt63
liche Planetarier und brachten sie zum Sicherheitsposten 3, um alles zu klären.« »Übrigens«, warf Eichmeisterin Greenlaw ein, »Ihr Fähnrich Corbeau hat kürzlich um politisches Asyl in der Union ersucht.« Das war ebenfalls neu. »Was heißt kürzlich?« »Heute Morgen. Als er erfuhr, dass Sie kommen würden.« Miles zögerte. Er konnte sich ein Dutzend Szenarios vorstellen, die das erklären würden, und die vom Düsteren bis zum Närrischen reichten; er konnte leider nicht verhindern, dass seine Gedanken zum Düsteren hüpften. »Steht zu erwarten, dass Sie ihm Asyl gewähren?«, fragte er schließlich. Greenlaw blickte zu Boss Watts. Der machte eine kleine unverbindliche Geste mit einer unteren Hand und sagte: »Meine Abteilung berät noch darüber.« »Wenn ihr meinen Rat haben wollt, dann lasst ihn auflaufen«, knurrte Venn. »Wir brauchen solche Leute hier nicht.« »Ich würde gern bei frühest möglicher Gelegenheit mit Fähnrich Corbeau sprechen«, sagte Miles. »Nun, offensichtlich will er nicht mit Ihnen sprechen«, erwiderte Venn. »Trotzdem. Ich betrachte Beobachtungen aus erster Hand und Aussagen von Augenzeugen als wesentlich für mein korrektes Verständnis dieser komplexen Ereigniskette. Ich werde auch mit den anderen barrayaranischen …«, er schluckte das Wort Geiseln hinunter und fuhr fort: »… Verhafteten sprechen müssen, und zwar aus demselben Grund.« 64
»Die Sache ist gar nicht so komplex«, sagte Venn. »Ein Haufen bewaffneter Schläger kam zu meiner Station, griff sie an, verletzte Anstand und Sitten, betäubte Dutzende unschuldiger Passanten und eine Anzahl von Sicherheitsoffizieren der Station, die versuchten, ihren Dienst auszuüben, dann versuchten sie etwas durchzuführen, was man nur als einen Ausbruch aus einem Gefängnis bezeichnen kann, und verwüsteten fremdes Eigentum. Die Beschuldigungen, die gegen sie wegen ihrer – auf Vid dokumentierten! – Verbrechen erhoben werden, reichen vom Abfeuern illegaler Waffen über Widerstand gegen die Sicherheitskräfte bis zu Brandstiftung in einem bewohnten Gebiet. Es ist ein Wunder, dass niemand getötet wurde.« »Das muss leider noch bewiesen werden«, konterte Miles sofort. »Ein gravierendes Problem besteht darin, dass von unserem Standpunkt aus gesehen die Folge der Ereignisse nicht mit der Verhaftung von Fähnrich Corbeau begann. Admiral Vorpatril hatte schon lange zuvor einen Mann als vermisst gemeldet – Leutnant Solian. Laut Ihren und unseren Zeugen wurde auf dem Boden einer Ladebucht von Station Graf Blut von ihm gefunden, und zwar eine solche Menge, dass sie einem Körperteil gleichkommt. Die militärische Loyalität läuft wohlgemerkt in zwei Richtungen – wir Barrayaraner lassen die Unseren nicht im Stich. Tot oder lebendig, wo ist der Rest von ihm?« Venn knirschte fast mit den Zähnen. »Wir haben nach dem Mann gesucht. Er befindet sich nicht auf Station Graf. Sein Körper befindet sich nicht im Raum in irgendeiner nachvollziehbaren Flugbahn von Station Graf aus. Wir ha65
ben es überprüft. Und wir haben es Vorpatril gesagt, mehrmals.« »Wie schwer – oder leicht – ist es für einen Planetarier, im Quaddie-Raum zu verschwinden?« »Vielleicht darf ich darauf antworten«, mischte sich Bel Bel Thorne geschmeidig ein, »da dieser Zwischenfall in die Zuständigkeit meiner Abteilung fällt.« Greenlaw signalisierte mit einer ihrer unteren Hände Zustimmung, während sie sich zugleich mit einer oberen Hand den Nasenrücken rieb. »Alles, was an und von Bord galaktischer Schiffe geht, ist hier unter voller Kontrolle, nicht nur von Station Graf aus, sondern auch von unseren anderen Depots für Nexushandel. Es ist, wenn auch nicht unmöglich, so doch zumindest schwierig, die Zoll- und Einreisebereiche zu passieren, ohne irgendeine Art Datenspur zu hinterlassen, die allgemeinen Vid-Monitore der Bereiche eingeschlossen. Ihr Leutnant Solian taucht in unseren Computer- oder VidAufzeichnungen für jenen Tag nirgendwo auf.« »Wirklich?« Miles schickte Bel Bel einen Blick, der sagte: Ist diese Geschichte wahr? Bel antwortete mit einem kurzen Nicken: Ja. »Wirklich. Nun, Reisen innerhalb des Systems werden viel weniger strikt kontrolliert. Es ist eher … möglich, für jemanden, unbemerkt von Station Graf zu einem anderen Habitat der Union auszureisen. Falls diese Person ein Quaddie ist. Jeder Planetarier würde in der Menge auffallen. In diesem Fall hat man das standardmäßige Verfahren für vermisste Personen durchgeführt, einschließlich der Benachrichtigung der Sicherheitsabteilungen anderer Habitats. Solian 66
ist einfach nicht gesehen worden, weder auf Station Graf noch auf anderen Habitats der Union.« »Wie erklären Sie sich dann sein Blut in der Ladebucht?« »Die Ladebucht befindet sich auf der Außenbordseite der Zutrittskontrollpunkte der Station. Meiner Meinung nach kam derjenige, der das angerichtet hat, von einem der Schiffe in diesem Dock-und-Schleusen-Sektor und ist auch dorthin wieder zurückgekehrt.« Miles nahm schweigend Bels Wortwahl zur Kenntnis: derjenige, der das angerichtet hat, nicht derjenige, der Solian ermordete. Nun, Bel war damals ebenfalls bei einer gewissen spektakulären Notfall-Kryo-Vor-bereitung dabei gewesen … »Alle Schiffe dort gehörten zu dem Zeitpunkt zu Ihrer Flotte«, warf Venn gereizt ein. »Mit anderen Worten, Sie brachten Ihre eigenen Probleme mit sich. Wir hier sind ein friedliches Volk!« Miles blickte Bel mit nachdenklich gerunzelter Stirn an und änderte seinen Angriffsplan. »Ist die fragliche Ladebucht sehr weit von hier entfernt?« »Sie befindet sich auf der anderen Seite der Station«, erwiderte Watts. »Ich glaube, ich würde sie und die damit verbundenen Bereiche gerne zuerst sehen, bevor ich Fähnrich Corbeau und die anderen Barrayaraner befrage. Vielleicht wäre Hafenmeister Thorne so gut, mich bei einem Rundgang durch die Anlage zu führen?« Bel blickte zu Boss Watts und bekam von ihm ein zustimmendes Zeichen. 67
»Es wäre mir ein Vergnügen, Lord Vorkosigan«, sagte Bel. »Als Nächstes vielleicht? Wir könnten in meinem Schiff um die Station herumfahren.« »Das wäre sehr effizient, ja«, erwiderte Bel. Seine Augen leuchteten zustimmend auf. »Ich könnte Sie begleiten.« »Danke.« Ein guter Trick. So scharf Miles jetzt auch darauf war, von hier fortzukommen und Bel Bel privat auszuquetschen, so musste er sich doch durch weitere Formalitäten hindurchlächeln; dazu gehörte die offizielle Präsentation der Liste der Beschuldigungen, Kosten, Gebühren und Strafgebühren, die Vorpatrils Einsatzkommando angehäuft hatte. Er fing die Datendiskette, die Boss Watts ihm zuwarf, wie beiläufig auf und sagte: »Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich diese Beschuldigungen damit nicht akzeptiere. Ich werde sie jedoch zum frühest möglichen Zeitpunkt eingehend überprüfen.« Mit ernsten Gesichtern nahmen die Quaddies diese Erklärung zur Kenntnis. Die Körpersprache der Quaddies war eine Wissenschaft für sich. Mit den Händen zu reden bot hier so viele weitere Möglichkeiten. Greenlaws Hände waren sehr beherrscht, sowohl die oberen wie auch die unteren. Venn ballte seine unteren sehr oft zu Fäusten, aber schließlich hatte er auch mitgeholfen, seine verbrannten Kameraden nach dem Feuer hinauszutragen. Die Konferenz kam zu einem Ende, ohne etwas zu erreichen, das wie ein Schluss aussah, was Miles als einen kleinen Sieg für seine Seite verzeichnete. Er kam davon, ohne 68
sich oder Gregor einstweilen sonderlich festzulegen. Er sah noch keinen Weg, wie er dieses nicht sehr viel versprechende Gewirr in seine Richtung drehen konnte. Er brauchte mehr Daten, unterschwellige Wahrnehmungen, Leute, einen Handgriff oder Hebel, den er bis jetzt noch nicht entdeckt hatte. Ich muss mit Bel Bel reden. Dieser Wunsch zumindest schien in Erfüllung zu gehen. Auf Greenlaws Wort hin wurde das Treffen aufgehoben und die Ehrengarde eskortierte die Barrayaraner wieder durch die Korridore zu der Bucht, wo die Turmfalke wartete.
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4 An der Schleuse der Turmfalke nahm Boss Watts Bel Bel beiseite und verwickelte ihn in ein geflüstertes Gespräch, bei dem er einige Male besorgt die Hand schwenkte. Bel Bel schüttelte den Kopf, machte Gesten, die Beruhigen Sie sich! bedeuteten, und wandte sich schließlich um und folgte Miles, Ekaterin und Roic durch die Verbindungsröhre in das winzige und nun überfüllte Personenlukendeck der Turmfalke. Roic stolperte; er blickte ein wenig schwindelig drein und musste sich wieder an das Schwerkraftfeld anpassen, fand aber schnell wieder sein Gleichgewicht. Mit wachsam gerunzelter Stirn blickte er auf den betanischen Hermaphroditen in der Quaddie-Uniform. Ekaterin warf Bel einen verstohlen neugierigen Blick zu. »Um was ging es dabei?«, fragte Miles Bel, als sich die Tür der Luftschleuse schloss. »Watts wollte, dass ich ein bis drei Leibwächter mitnehme. Um mich vor den brutalen Barrayaranern zu schützen. Ich sagte ihm, an Bord sei nicht genug Platz, und außerdem seiest du ein Diplomat – kein Soldat.« Bel legte den Kopf zur Seite und schaute Miles mit einem nicht zu enträtselnden Blick an. »Stimmt das?« »Es stimmt jetzt. Äh …«Miles wandte sich Leutnant Smolyani zu. der die Lukensteuerung bediente. »Leutnant, wir werden jetzt die Turmfalke auf die andere Seite der Station Graf zu einer anderen Andockbühne manövrieren. Die Flugkontrolle der Quaddies wird Sie leiten. Fliegen Sie so langsam, wie Sie können, ohne dass es einem komisch vorkommt. Unternehmen Sie zwei oder drei Versuche beim 70
Ausrichten nach den Andockklampen oder etwas in der Art.« »Mylord!«, bemerkte Smolyani empört. Die Schnellkurierpiloten des KBS machten eine Religion daraus, schnell und eng zu manövrieren und flink und perfekt anzudocken. »Vor all diesen Leuten?« »Na ja, machen Sie es, wie immer Sie wollen, aber schinden Sie mir etwas Zeit heraus. Ich muss mit diesem Herrn sprechen. Los, los.« Er winkte Smolyani hinaus. Dann holte er Luft und fügte an Roic und Ekaterin gerichtet hinzu: »Wir übernehmen die Offiziersmesse. Entschuldigt uns bitte.« So schickte er sie und Roic in ihre engen Kabinen, wo sie warten sollten. Um sich kurz bei ihr zu entschuldigen, nahm er Ekaterins Hand. Er wagte nicht mehr zu sagen, solange er Bel nicht unter vier Augen ausgehorcht hatte. Es gab Sicherheitsaspekte, politische Aspekte, persönliche Aspekte – wie viele Gesichtspunkte konnten auf einem Stecknadelkopf tanzen? – und, als die erste Erregung, dieses vertraute Gesicht lebendig und wohlbehalten zu sehen, nachließ, die nagende Erinnerung, dass der Zweck ihrer letzten Begegnung gewesen war, Bel seines Kommandos zu entkleiden und ihn wegen seiner unglücklichen Rolle bei dem blutigen Debakel auf Jackson’s Whole aus der Söldnerflotte zu entlassen. Er wollte Bel vertrauen. Konnte er es wagen? Roic war zu gut trainiert, um laut zu fragen: Sind Sie sich sicher. Mylord, dass Sie mich nicht dabeihaben wollen?, doch seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen tat er sein Bestes, um diese Frage telepathisch zu senden. »Ich werde alles später erklären«, versprach Miles Roic mit gedämpfter Stimme, salutierte andeutungsweise und – 71
wie er hoffte – beruhigend und schickte ihn weg. Er führte Bel die paar Stufen hinauf zu dem winzigen Raum, der als Offiziersmesse, Speisezimmer und Besprechungsraum der Turmfalke diente, schloss beide Türen und aktivierte den Sicherheitskegel. Ein schwaches Summen des Projektors an der Decke und ein Schimmern in der Luft um den kreisförmigen Ess-, Vid- und Konferenztisch überzeugte ihn davon, dass diese Vorrichtung gegen das Abhören der Gespräche funktionierte. Er drehte sich um und entdeckte, dass Bel ihn beobachtete, den Kopf ein wenig seitwärts geneigt, der Blick fragend, den Mund etwas verzogen. Miles zögerte einen Moment lang. Dann brachen sie gleichzeitig in Gelächter aus und fielen einander in die Arme. Bel klopfte ihm auf den Rücken und sagte mit gepresster Stimme: »Verdammt, verdammt, verdammt, du abgesägter kleiner Halbblutverrückter …« Miles trat atemlos einen Schritt zurück. »Bel, bei Gott, du siehst gut aus.« »Bestimmt älter, oder?« »Ja, das auch. Aber ich glaube, darüber darf gerade ich wohl nichts sagen.« »Du siehst prächtig aus. Gesund. Solide. Sehe ich es richtig, dass diese Frau dich richtig ernährt? Oder jedenfalls etwas anderes richtig macht?« »Aber ich bin doch nicht dick, oder?«, fragte Miles besorgt. »Nein, nein. Aber als ich dich letztes Mal sah, wo man dich gerade aus der Kryo-Gefrierung auftaute, da sahst du aus wie ein Schädel auf einem Stock. Da hast du uns allen große Sorgen bereitet.« 72
Bei erinnerte sich offenbar an jene letzte Begegnung mit derselben Deutlichkeit wie Miles selbst. Vielleicht sogar noch deutlicher. »Ich habe mir um dich auch Sorgen gemacht. War bei dir … alles in Ordnung? Wie zum Teufel bist du hier gelandet?« War diese Frage zartfühlend genug? Bel hob die Augenbrauen ein wenig und las in Miles’ Miene. »Vermutlich war ich zuerst ein wenig desorientiert, als ich die Dendarii-Söldner verließ. Mit Oser und dir als Kommandanten hatte ich dort fast fünfundzwanzig Jahre gedient.« »Mir hat das höllisch Leid getan.« »Ich würde sagen, nicht halb so Leid wie mir, aber du bist ja schließlich gestorben.« Bel blickte kurz zur Seite. »Neben anderen Leuten. Keiner von uns hatte ja damals eine Wahl. Ich hätte nicht weitermachen können. Und … auf lange Sicht gesehen war es gut so. Ich war in einen gewissen Trott verfallen, ohne es zu wissen, glaube ich. Ich brauchte etwas, was mich da wieder herausbrachte. Ich war bereit für einen Wechsel. Nun ja, nicht bereit, aber …« Miles, der an Bels Lippen hing, erinnerte sich daran, wo sie waren. »Setz dich, setz dich.« Er wies auf den kleinen Tisch; sie setzten sich nebeneinander. Miles stützte den Arm auf die dunkle Tischfläche und beugte sich zu Bel hinüber, um zu lauschen. »Ich bin sogar für eine kleine Weile nach Hause gegangen«, fuhr Bel fort. »Aber ich fand heraus, dass dieses Vierteljahrhundert, das ich als freier Herrn im Nexus herumgezogen bin, mich irgendwie von der Wellenlänge der Kolonie Beta abgekoppelt hat. Ich nahm ein paar Jobs im 73
Weltraum an, einige davon auf Anregung unseres gemeinsamen Arbeitgebers. Dann bin ich hier gelandet.« Bel strich sich mit gespreizten Fingern seine grau-braunen Ponyfransen aus der Stirn, eine vertraute Geste; sie fielen sofort wieder zurück und wirkten noch rührender als zuvor. »Der KBS ist nicht mehr mein Arbeitgeber, genau genommen«, erwiderte Miles. »So? Was ist er dann für dich, genau genommen?« Miles zögerte einen Moment. »Mein … Nachrichtenlieferant«, sagte er schließlich. »Aufgrund meines neuen Jobs.« Diesmal zog Bel die Augenbrauen höher. »Diese Geschichte von wegen kaiserlicher Auditor ist also keine Tarnung für den jüngsten Trick mit verdeckten Operationen?« »Nein. Das ist echt. Ich habe Schluss gemacht mit den Tricks.« Bels Lippen zuckten. »Was, mit dem komischen Akzent?« »Das ist meine echte Stimme. Der betanische Akzent, den ich für Admiral Naismith kultivierte, war gespielt. Sozusagen. Ich hatte ihn allerdings auf dem Schoß meiner Mutter gelernt.« »Als Watts mir den Namen des vermutlichen Topgesandten nannte, den die Barrayaraner schickten, da dachte ich mir schon, das müsstest du sein. Deshalb sorgte ich dafür, dass ich bei dem Empfangskomitee dabei war. Aber diese Sache mit der Stimme des Kaisers klang für mich wie etwas aus einem Märchen. Bis ich zum Kleingedruckten kam. Dann klang es wie etwas aus einem wirklich grausigen Märchen.« 74
»So, hast du dir meine Stellenbeschreibung angeschaut?« »Ja, es ist ziemlich erstaunlich, was man hier in den historischen Datenbanken findet. Der Quaddie-Raum ist mit dem galaktischen Informationsaustausch voll vernetzt, wie ich herausgefunden habe. Sie sind darin fast so gut wie Kolonie Beta, obwohl sie hier nur einen Bruchteil der dortigen Bevölkerungszahl haben. Dass du kaiserlicher Auditor wurdest, ist eine ziemlich verblüffende Beförderung – wer dir so viel unkontrollierte Macht auf einem Servierteller überreicht hat, muss fast so verrückt sein wie du selbst. Ich möchte gerne hören, wie du mir das erklärst.« »Ja, für Nichtbarrayaraner bedarf es da einiger Erklärungen.« Miles holte Luft. »Du weißt doch, dass meine Kryo-Wiederbelebung ein wenig riskant war. Erinnerst du dich an die Anfälle, die ich direkt danach hatte?« »Ja …«, erwiderte Bel vorsichtig. »Es stellte sich leider heraus, dass sie eine andauernde Nebenwirkung bleiben. Selbst für die KBS-Version des Militärs zu viel, um dies bei einem Offizier in Feldeinsatz zu dulden – wie mir in einer besonders spektakulären Art und Weise zu demonstrieren gelang, aber das ist eine andere Geschichte. Offiziell wurde ich aus medizinischen Gründen entlassen. Das war also das Ende meiner Karriere bei den galaktischen verdeckten Operationen.« Sein Lächeln verzerrte sich. »Ich musste mir einen ehrlichen Job besorgen. Glücklicherweise gab mir Kaiser Gregor einen. Alle Welt nimmt an, dass meine Ernennung der funktionierenden Vetternwirtschaft der hohen Vor zu verdanken ist, um meines Vaters willen. Ich hoffe, ich werde ihnen im 75
Laufe der Zeit zeigen, dass sie Unrecht haben.« Bel schwieg einen Moment, ohne eine Miene zu verziehen. »Dann sieht es also so aus. als hätte ich am Ende Admiral Naismith getötet.« »Nimm nicht ganz die Schuld auf dich. Du hattest jede Menge Helfer«, antwortete Miles trocken. »Mich selbst eingeschlossen.« Ihm wurde bewusst. dass diese kurze Zeit unter vier Augen kostbar und beschränkt war. »Da gilt jetzt sowieso: geschehen ist geschehen, für dich und mich, für uns beide. Heute haben wir andere Krisen vor uns. Kurz und knapp: ich bin beauftragt worden, diesen Schlamassel hier zu klären, zu Barrayars geringsten Kosten, wenn schon nicht zu seinem Nutzen. Falls du unser hiesiger KBSInformant bist – bist du das?« Bel nickte. Nachdem Bel sein Entlassungsgesuch bei den Freien Dendarii-Söldnern eingereicht hatte, hatte Miles dafür gesorgt, dass der Hermaphrodit als ziviler Informant auf die Gehaltsliste des KBS gelangt war. Zum Teil war es eine Erkenntlichkeit gewesen für alles, was Bel für Barrayar getan hatte vor dem schlecht durchdachten Desaster, das Bels Karriere direkt und die von Miles indirekt beendet hatte, aber hauptsächlich war es darum gegangen, den KBS davon abzuhalten, sich darüber lebensgefährlich aufzuregen, dass Bel mit einem Kopf voller heißer barrayaranischer Geheimnisse im Wurmlochnexus umherwanderte. Inzwischen handelte es sich jetzt zum größten Teil um alternde, lauwarme Geheimnisse. Miles hatte sich vorgestellt, die Illusion, man hielte Bel an der Strippe, würde sich für den KBS als beruhigend erweisen, und so war es 76
anscheinend auch gekommen. »Hafenmeister, he? Was für ein ausgezeichneter Job für einen nachrichtendienstlichen Beobachter. Du hast deine Finger in allen Daten über alle und alles, was auf Station Graf ankommt oder abreist. Hat dich der KBS hier untergebracht?« »Nein, diese Arbeit habe ich mir selbst gesucht. Sektor V war allerdings damit zufrieden. Was damals ein zusätzlicher Bonus zu sein schien.« »Ich möchte meinen, sie sollten verdammt noch mal sehr zufrieden sein.« »Die Quaddies mögen mich auch. Es sieht so aus, als wäre ich gut im Umgang mit allen möglichen aufgeregten Planetariern, ohne dass ich meine Ausgeglichenheit verliere. Ich erkläre ihnen aber nicht, dass nach all den Jahren, die ich in deinem Schlepptau herumgezogen bin, meine Definition eines Notfalls erheblich von der ihrigen abweicht.« Miles grinste und rechnete im Kopf. »Dann befinden sich deine neuesten Berichte wahrscheinlich immer noch irgendwo im Transit zwischen hier und dem Hauptquartier von Sektor V.« »Ja, das glaube ich auch.« »Was ist das Wichtigste, was ich hier wissen muss?« »Nun, als Erstes, wir haben euren Leutnant Solian wirklich nicht gesehen. Und auch seine Leiche nicht. Wirklich. Der Sicherheitsdienst der Union hat wirklich gründlich nach ihm gesucht. Vorpatril – ist das übrigens ein Verwandter deines Cousins Ivan?« »Ja, ein entfernter Verwandter.« »Ich dachte mir doch, dass ich da eine Familienähnlich77
keit feststellte. In mehr als einer Hinsicht. Auf jeden Fall, Vorpatril meint, dass wir lügen. Aber wir lügen nicht. Außerdem, eure Leute sind Idioten.« »Ja, ich weiß. Aber sie sind meine Idioten. Erzähl mir was Neues.« »Also gut, dann pass mal auf. Der Sicherheitsdienst von Station Graf hat alle Passagiere und Besatzungsmitglieder von den im Dock beschlagnahmten komarranischen Schiffen heruntergeholt und in Herbergen auf der Station untergebracht, um schlecht durchdachte Aktionen zu verhindern und Druck auf Vorpatril und Molino auszuüben. Natürlich sind die alles andere als glücklich darüber. Die Frachtbegleiter – Nichtkomarraner, die nur Passagen für ein paar Wurmlochsprünge buchten – sind ganz scharf darauf, wegzukommen. Ein halbes Dutzend hat versucht mich zu bestechen, damit ich sie ihre Waren von der Idris oder der Rudra nehmen und auf andere Schiffe umsteigen lasse.« »Haben welche damit … äh … Erfolg gehabt?« »Noch nicht.« Bel grinste. »Allerdings könnte sogar ich in Versuchung geraten, wenn der Preis im derzeitigen Tempo steigt. Jedenfalls erschienen mir einige der ungeduldigsten Gebote … potenziell interessant zu sein.« »Halt mal! Hast du das deinen Arbeitgebern auf Station Graf erzählt?« »Ich habe ein oder zwei Bemerkungen gemacht. Aber es ist nur ein Verdacht. Die einzelnen Leute benehmen sich alle gut – besonders verglichen mit Barrayaranern –, bis jetzt haben wir keinen Vorwand für ein Verhör unter Schnell-Penta.« »Versuchte Beamtenbestechung«, gab Miles zu bedenken. 78
»Diesen letzten Aspekt hatte ich eigentlich Watts gegenüber noch nicht erwähnt.« Als Miles die Augenbrauen hochzog. fügte Bel hinzu: »Wolltest du etwa noch mehr juristische Komplikationen?« »Äh – nein.« Bel schnaubte. »Das dachte ich mir doch.« Der Hermaphrodit hielt einen Moment inne, als würde er seine Gedanken ordnen. »Nun denn, zurück zu den Idioten. Nämlich zu eurem Fähnrich Corbeau.« »Jawohl. Sein Antrag auf politisches Asyl hat alle meine Warnlämpchen aufleuchten lassen. Zugegeben, er steckte in Schwierigkeiten, weil er sich nicht rechtzeitig zurückgemeldet hatte, aber warum versucht er plötzlich zu desertieren? Welche Beziehung hat er zu Solians Verschwinden?« »Überhaupt keine, soweit ich bisher feststellen konnte. Ich bin dem Kerl tatsächlich begegnet, bevor dies alles losging.« »So? Wie und wo?« »Auf gesellschaftlicher Ebene, zufällig. Was ist eigentlich mit euch los, dass ihr Flotten mit Geschlechtertrennung unterhaltet, wo ihr dann alle nach Verlassen der Schiffe gestört seid? Nein, mach dir nicht die Mühe mit einer Antwort, ich glaube, wir alle kennen sie. Aber die Angehörigen all dieser ausschließlich männlichen militärischen Organisationen, die aus religiösen oder kulturellen Gründen dieser Sitte der Geschlechtertrennung folgen, führen sich, wenn sie Urlaub auf der Station haben, auf wie eine schreckliche Mischung aus Kindern, die aus der Schule kommen, und Verbrechern, die man aus dem Gefängnis 79
entlassen hat. Das Schlimmste von beiden ist eigentlich das geringe Urteilsvermögen von Kindern in Verbindung mit dem sexuellen Ausgehungertsein der – ach, lassen wir das. Die Quaddies zucken zusammen, wenn sie euch kommen sehen. Wenn ihr nicht so zügellos Geld ausgeben würdet, dann würden – meine ich – die kommerziellen Stationen in der Union alle dafür stimmen, euch in Quarantäne an Bord eurer eigenen Schiffe zu stecken und euch an sexueller Frustration eingehen zu lassen.« Miles strich sich über die Stirn. »Kommen wir zurück zu Fähnrich Corbeau. einverstanden?« Bel grinste. »Wir sind nicht von ihm abgeschweift. Also, dieser hinterwäldlerische barrayaranische Junge auf seiner allerersten Reise in die glitzernde Galaxis stolpert von seinem Schiff und geht, da er angewiesen wurde, wie ich gehört habe, seinen kulturellen Horizont zu erweitern …« »Das stimmt in der Tat.« »… geht also, das Minchenko-Ballett anzuschauen. Was auf alle Fälle sehenswert ist. Du solltest es dir auch ansehen, solange du auf der Station bist.« »Was, sind das nicht einfach, hm. exotische Tänzerinnen?« »Nicht in dem Sinn schummeriger Nachtclubs. Oder nicht einmal in dem Sinne der ultranoblen Akademie für sexuelles Training im Globus auf Beta.« Miles überlegte, ob er seinen und Ekaterins Flitterwochenaufenthalt beim Globus der Unirdischen Wonnen erwähnen sollte, bei dem es sich möglicherweise um den auf höchst eigenartige Weise nützlichsten Zwischenstopp ihrer Reise handelte … Doch dann verwarf er diesen Gedanken. 80
Konzentrieren Sie sich aufs Wesentliche, Mylord Auditor. »Das Ballett ist exotisch und besteht aus Tänzerinnen, aber es handelt sich um echte Kunst, um etwas Echtes – es geht über bloßes Können hinaus. Eine zweihundertjährige Tradition, ein Kleinod dieser Kultur. Der närrische Junge hätte sich durchaus beim ersten Anblick verlieben dürfen. Doch wie er sich dann aufführte und aus allen Rohren feuerte – diesmal im übertragenen Sinn –, das war ein wenig abwegig. Ein Soldat auf Urlaub begehrt wie verrückt ein einheimisches Mädchen – das ist nicht gerade eine neue Geschichte, aber was ich wirklich nicht verstehe, ist, was Granat Fünf in ihm sah. Ich meine, er ist ein junger Mann, der hübsch genug aussieht, aber dennoch …!«Bel lächelte viel sagend. »Zu groß für meinen Geschmack. Und überhaupt zu jung.« »Granat Fünf ist diese Quaddie-Tänzerin, richtig?« »Ja.« Ziemlich bemerkenswert für einen Barrayaraner, sich von einer Quaddie angezogen zu fühlen; das tief verwurzelte kulturelle Vorurteil gegen alles, was nach Mutation aussah, hätte eigentlich dagegen arbeiten müssen. Hatte Corbeau weniger als das übliche herablassende Verständnis von seinen Kameraden und Vorgesetzten zu spüren bekommen, das ein junger Offizier in einer solchen Lage normalerweise erwarten durfte? »Und in was für einer Beziehung stehst du zu all dem?« Holte Bel besorgt Luft? »Nicol spielt im Orchester des Minchenko-Balletts Harfe und Zymbal. Erinnerst du dich an Nicol, die von uns gerettete Quaddie-Musikerin? Bel dieser Personalbergung, die damals fast den Bach runterging?« 81
»Ich erinnere mich lebhaft an Nicol.« Und das hatte offensichtlich auch Bel getan. »Ich schließe daraus, dass sie es schließlich heil nach Hause geschafft hat.« »Ja.« Bels Lächeln wurde angespannter. »Keineswegs überraschend erinnert sie sich auch lebhaft an dich – Admiral Naismith.« Miles verstummte für einen Moment. Schließlich sagte er vorsichtig: »Kennst du sie … äh … gut? Kannst du sie zur Diskretion veranlassen oder überreden?« »Ich lebe mit ihr zusammen«, erwiderte Bel knapp. »Niemand braucht irgendetwas zu veranlassen. Sie ist diskret.« So, so, jetzt wird vieles klar … »Aber sie ist eine persönliche Freundin von Granat Fünf. Die sich in einer schrecklichen Panik wegen der ganzen Geschichte befindet. Sie ist unter anderem überzeugt, dass das barrayaranische Kommando ihren Freund ohne zu fackeln erschießen will. Die beiden Schläger, die Vorpatril schickte, um euren verlorenen Sohn abzuholen, waren offensichtlich – tja, mehr als rüde. Sie waren zunächst mal beleidigend und brutal, und dann wurde es noch schlimmer. Ich habe die ungekürzte Version der Ereignisse gehört.« »Verstehe.« Miles seufzte. »Ich kann noch nichts versprechen. Außer, dass ich allen zuhöre.« Bel nickte und blickte beiseite. Nach einer Weile sagte er: »Diese deine Geschichte von wegen kaiserlicher Auditor – du bist doch jetzt ein ziemlich großes Rad in der barrayaranischen Maschinerie, oder?« »Etwas dergleichen«, erwiderte Miles. 82
»Stimme des Kaisers – das klingt, als wäre sie ziemlich laut. Die Leute hören ihr doch zu, oder?« »Nun ja, die Barrayaraner hören zu. Der Rest der Galaxis«, Miles verzog den Mund, »tendiert zu der Meinung, dass es sich um eine Art Märchen handelt.« Bel zuckte entschuldigend die Achseln. »Der KBS, das sind Barrayaraner. Also. Die Sache ist, ich habe diesen Ort hier lieb gewonnen – Station Graf, den Quaddie-Raum. Und diese Leute hier. Ich mag sie sehr. Ich glaube, du wirst sehen, warum, wenn ich die Gelegenheit bekomme, dich herumzuführen. Ich spiele mit dem Gedanken, mich hier für immer niederzulassen.« »Das ist … schön«, sagte Miles. Worauf möchtest du hinaus. Bel? »Aber wenn ich hier einen Eid als Neubürger ablege – und ich denke darüber schon eine ganze Weile ernsthaft nach –, dann möchte ich ihn ehrlich ablegen. Ich kann ihnen keinen falschen Eid oder geteilte Loyalitäten anbieten.« »Deine betanische Staatsbürgerschaft hat dich nie bei deiner Karriere bei den Dendarii-Söldnern gestört«, gab Miles zu bedenken. »Du hast mich nie zu einem Einsatz auf Kolonie Beta gebeten.« »Und wenn ich es getan hätte?« »Dann hätte ich … in einem Dilemma gesteckt.« Bel streckte flehentlich die Hand aus. »Ich möchte einen sauberen Anfang machen, ohne dass noch geheime Strippen dabei sind. Du behauptest, dass der KBS jetzt dein privater Nachrichtendienst ist. Miles – kannst du mich bitte noch 83
einmal feuern?« Miles lehnte sich zurück und kaute an seinem Fingerknöchel. »Du meinst, ich soll dich vom KBS loseisen?« »Jawohl. Von allen alten Verpflichtungen.« Miles stieß den Atem aus. Aber du bist hier für uns so wertvoll! »Ich … weiß nicht.« »Weißt du nicht, ob du die Macht dazu hast? Oder weißt du nicht, ob du sie benutzen möchtest?« »Diese Geschichte mit der Macht«, redete Miles drauflos, »hat sich als viel seltsamer herausgestellt, als ich erwartet hatte. Man sollte meinen, dass mehr Macht einem mehr Freiheit bringen würde, aber ich habe herausgefunden, es hat mir weniger Freiheit gebracht. Jedes Wort, das aus meinem Mund kommt, hat dieses Gewicht, das es nie zuvor hatte, als ich der plappernde verrückte Miles war, der Gauner von den Dendarii. Ich musste damals nie auf meine Äußerungen so Acht geben wie jetzt. Es ist manchmal … verdammt unbequem.« »Ich hätte gedacht, es würde dir gefallen.« »Das hätte ich auch gedacht.« Bel lehnte sich zurück und entspannte sich. Er würde diese Bitte nicht noch einmal vorbringen, zumindest nicht so bald. Miles trommelte mit den Fingern auf der kühlen, spiegelnden Oberfläche des Tisches. »Wenn hinter diesem Schlamassel mehr steckt als nur Übererregung und schlechtes Urteilsvermögen – nicht, dass das nicht ausreichte –. dann hängt es am Verschwinden dieses Burschen von der Komarranischen Flottensicherheit, Solian …« Miles’ Armbandkommunikator summte: er hob ihnen 84
die Lippen. »Ja. was ist?« »Mylord«. meldete sich Roics Stimme zaghaft. »Wir befinden uns wieder im Dock.« »Stimmt. Danke. Wir werden gleich draußen sein.« Er erhob sich vom Tisch und sagte: »Du musst Ekaterin richtig kennen lernen, bevor wir hinausgehen und uns wieder dumm stellen müssen. Sie und Roic haben übrigens die volle barrayaranische Sicherheitsüberprüfung durchlaufen – das mussten sie, um so nahe mit mir zusammenwohnen zu können. Sie müssen beide wissen, wer du bist und dass sie dir trauen können.« Bel zögerte. »Müssen sie wirklich wissen, dass ich den KBS vertrete? Hier?« »Sie sollten es wissen, falls ein Notfall eintritt.« »Es wäre mir besonders lieb, wenn die Quaddies nicht wüssten, dass ich Informationen an Planetarier verkauft habe, verstehst du? Vielleicht wäre es sicherer, wenn wir, du und ich, bloß Bekannte wären.« Miles schaute ihn an. »Aber Bel, sie weiß sehr genau, wer du bist. Oder zumindest, wer du warst.« »Was, hast du deiner Frau Kriegsgeschichten von den verdeckten Operationen erzählt?« Sichtlich beunruhigt, runzelte Bel die Stirn. »Diese Regeln galten immer für jemanden anderen, nicht wahr?« »Ihre Einstufung als unbedenklich war verdient, nicht nur einfach gewährt«, sagte Miles ein wenig verkniffen. »Aber Bel, wir haben dir eine Einladung zu unserer Hochzeit geschickt! Oder … hast du sie bekommen? Der KBS teilte mir mit, sie sei zugestellt worden …« »Ach so«, erwiderte Bel und blickte verwirrt drein. 85
»Die? Ja, die habe ich bekommen.« »Ist sie zu spät zugestellt worden? Es sollte ein Reisegutschein dabei gewesen sein – falls sich den jemand unter den Nagel gerissen hat, dann werde ich ihm seine Haut …« »Nein, der Reisegutschein ist schon korrekt angekommen. Vor etwa einem Jahr, nicht wahr? Ich hätte es schaffen können, wenn ich mich beeilt hätte. Als die Einladung ankam, hatte ich gerade eine schwierige Phase. So etwas wie einen Tiefpunkt. Ich hatte eben Beta zum letzten Mal verlassen und steckte mitten in einem kleinen Job, den ich für den KBS erledigte. Einen Ersatz für mich zu etablieren wäre schwierig gewesen. Es bedeutete nur Anstrengung, zu einem Zeitpunkt, wenn noch mehr Anstrengung … Ich habe dir trotzdem alles Gute gewünscht und gehofft, dass du endlich Glück gehabt hättest.« Ein schiefes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Wieder …« »Die richtige Lady Vorkosigan zu finden … war eine größere, seltenere Art von Glück als alles, was ich zuvor gehabt hatte.« Miles seufzte. »Elli Quinn ist auch nicht gekommen. Allerdings schickte sie mir ein Geschenk und einen Brief.« Die beide nicht besonders ernst gewesen waren. »Hm«, sagte Bel und lächelte leicht. Und fügte ziemlich viel sagend hinzu: »Und Sergeantin Taura?« »Die war da.« Miles schürzte unwillkürlich die Lippen. »Auf spektakuläre Weise. Ich hatte einen genialen Einfall und delegierte die Verantwortung, Taura in zivile Kleidung zu stecken, an meine Tante Alys. Damit waren sie beide glücklich beschäftigt. Die Abordnung der alten Dendarii vermisste dich. Elena und Baz waren da – mit ihrem neuen 86
Baby, einem Mädchen, falls du dir das vorstellen kannst – und auch Arde Mayhew. Also war der Anfang der Dendarii-Geschichte voll vertreten. Es war auch gut, dass die Hochzeit klein war. Hundertzwanzig Leute ist doch klein, oder? Es war Ekaterins zweite Heirat, weißt du – sie war Witwe.« Und davon zutiefst gestresst. Ihr angespannter, aufgelöster Zustand in der Nacht vor der Hochzeit hatte Miles nachdrücklich an eine besondere Art von Nervenflattern vor dem Kampf erinnert, das er an Soldaten beobachtet hatte, denen nicht ihr erster, sondern ihr zweiter Kampf bevorstand. Die Nacht nach der Hochzeit, nun – die war Gott sei Dank viel besser verlaufen. Sehnsucht und Bedauern hatten Bels Gesicht überschattet während dieser Aufzählung alter Freunde, die ein Glas gehoben hatten für einen neuen Anfang. Dann belebte sich der Gesichtsausdruck des Hermaphroditen. »Baz Jesek ist wieder auf Barrayar?«, fragte Bel. »Dann muss doch jemand sein kleines Problem mit dem militärischen Behörden von Barrayar geregelt haben, oder?« Und wenn dieser Jemand Baz’ Beziehung mit dem KBS regeln konnte, vielleicht konnte dann derselbe Jemand auch Bels Problem aus der Welt schaffen? Bel musste es nicht einmal laut aussprechen. »Die alten Beschuldigungen wegen Fahnenflucht boten eine zu gute Tarnung, als Baz noch aktiv im Einsatz war, und deshalb hatte man sie nicht für ungültig erklärt, aber diese Notwendigkeit war jetzt überholt. Baz und Elena sind jetzt auch beide weg von den Dendarii. Hast du das nicht gehört? Wir alle sind bald nur noch Geschichte.« Jedenfalls alle von uns, die es überlebt haben. 87
»Ja«, seufzte Bel. »Es ist sehr vernünftig, wenn man die Vergangenheit loslässt und weitergeht.« Der Hermaphrodit blickte auf. »Das heißt, wenn einen die Vergangenheit auch loslässt. Also halten wir diese Sache bei deinen Leuten so einfach wie möglich, bitte?« »In Ordnung«, stimmte Miles widerstrebend zu. »Einstweilen werden wir die Vergangenheit erwähnen, aber nicht die Gegenwart. Mach dir keine Sorgen – sie werden … äh … diskret sein.« Er deaktivierte den Sicherheitskegel über dem kleinen Konferenztisch und öffnete die Türen. Dann hob er seinen Kommunikator an die Lippen und murmelte: »Ekaterin, Roic. könntet ihr bitte in die Offiziersmesse herüberkommen.« Als beide eingetroffen waren – Ekaterin lächelte erwartungsvoll –, sagte Miles: »Wir haben eine Portion unverdientes Glück. Obwohl Hafenmeister Thorne jetzt für die Quaddies arbeitet, ist er ein alter Freund von mir aus einer Organisation, bei der ich in meinen KBS-Tagen mitgearbeitet habe. Ihr könnt euch auf das verlassen, was Bel zu sagen hat.« Ekaterin streckte die Hand aus. »Ich freue mich sehr, Sie endlich kennen zu lernen, Kapitän Thorne. Mein Mann und seine alten Freunde haben Sie sehr gelobt. Ich glaube, man hat Ihre Gesellschaft sehr vermisst.« Bel blickte ausgesprochen verblüfft drein, doch er nahm die Herausforderung an und schüttelte Ekaterins Hand. »Danke, Lady Vorkosigan. Aber ich bekleide hier nicht mehr diesen alten Rang. Nennen Sie mich Hafenmeister Thorne, oder einfach Bel.« Ekaterin nickte. »Und bitte nennen Sie mich Ekaterin. 88
Oh – das gilt vermutlich nur privat.« Sie warf Miles einen stumm fragenden Blick zu. »Ja, richtig«, sagte Miles und machte eine Geste, die auch Roic einschloss, der aufmerksam zuschaute. »Bel kannte mich damals unter einer anderen Identität. Was die Leute von Station Graf angeht, sind wir uns eben erst begegnet. Aber wir verstehen uns prächtig, und Bels Talent im Umgang mit schwierigen Planetariern zahlt sich für die Quaddies aus.« Roic nickte. »Hab verstanden, Mylord.« Miles führte sie in die Lukenbucht, wo der Techniker der Turmfalke darauf wartete, sie durch die Röhre wieder an Bord von Station Graf zu schicken. Miles kam der Gedanke, dass es noch einen anderen Grund gab, warum Ekaterins Sicherheitsstufe so hoch sein musste wie seine eigene: Den historischen Berichten einiger Leute und ihrem eigenen Zeugnis zufolge sprach er im Schlaf. Er beschloss, dies besser nicht zu erwähnen, bis Bel weniger nervös auf diese neue Situation reagierte. Zwei Quaddie-Männer von der Stationssicherheit warteten in der Frachtladebucht auf sie. Da dieser Bereich von Station Graf dem Komfort und der Gesundheit ihrer planetarischen Besucher und Bewohner zuliebe mit künstlich generierten Schwerkraftfeldern ausgestattet war, schwebten die beiden in persönlichen Schwebestühlen, die auf den Seiten mit Markierungen der Stationssicherheit verziert waren. Bei den Schwebern handelte es sich um niedrige Zylinder, die im Durchmesser kaum größer waren als die Schultern eines Mannes: sie vermittelten den allgemeinen Eindruck, 89
als würden Menschen in levitierenden Waschzubern dahinfliegen, oder sie erinnerten vielleicht an den magischen fliegenden Mörser der Baba Yaga in den barrayaranischen Volksmärchen. Bel nickte dem Quaddie-Sergeanten zu und murmelte einen Gruß, als sie in die hallende Kaverne der Ladebucht gelangten. Der Sergeant nickte zurück, sichtlich beruhigt, und richtete seine gebündelte Aufmerksamkeit auf die gefährlichen Barrayaraner. Da die gefährlichen Barrayaraner unverhohlen gafften wie Touristen, hoffte Miles, dass der knallhart wirkende Bursche bald weniger nervös sein würde. »Diese Personenschleuse hier«, Bel zeigte auf die Öffnung, durch die sie gerade gekommen waren, »ist es, die von der nicht autorisierten Person geöffnet wurde. Die Blutspur endete dort drinnen, in einem schmierigen Fleck. Sie begann«. Bel schritt quer über die Bucht bis zur Wand an der rechten Seite, »ein paar Meter entfernt, nicht weit von der Tür zur nächsten Bucht. Hier wurde die große Blutpfütze gefunden.« Miles ging hinter Bel her und musterte das Deck. In den paar Tagen seit dem Vorfall war es gereinigt worden. »Haben Sie das selbst gesehen, Hafenmeister Thorne?« »Ja, etwa eine Stunde, nachdem man es entdeckt hatte. Da war schon die Menge der Gaffer am Ort, aber die Sicherheitsleute haben das Gebiet ziemlich gut gegen Kontamination abgesperrt.« Miles ließ sich von Bel durch die Bucht führen und alle Ausgänge erklären. Es handelte sich um eine dem Standard entsprechende Örtlichkeit, funktionell, kahl, effizient; ein paar Frachthebegeräte standen stumm am anderen Ende 90
neben einer abgedunkelten, luftdichten Steuerkabine. Miles bat Bel, die Kabine aufzusperren und ihm einen Blick ins Innere zu gestatten. Ekaterin ging ebenfalls umher, sichtlich froh, dass sie Platz hatte, um ihre Beine auszustrecken nach den Tagen des beengten Aufenthalts auf der Turmfalke. Während sie sich in dem kühlen, hallenden Raum umschaute, zeigte ihr nachdenkliches Gesicht, dass sie sich an ganz bestimmte Erlebnisse erinnerte. Miles lächelte verständnisvoll. Sie kehrten zu der Stelle zurück, wo das Blut gewesen war und darauf hindeutete, dass man dort Leutnant Solians Kehle durchgeschnitten hatte, und erörterten die Details der Spritz- und Schmierspuren. Roic beobachtete alles mit regem professionellem Interesse. Miles bat einen der Quaddie-Wächter, seinen Schwebezuber zu verlassen: Aus seiner Schale geholt setzte sich der Quaddie auf dem Deck auf sein Hinterteil und seine unteren Arme und sah dabei ein bisschen aus wie ein großer, missmutiger Frosch. Die Fortbewegung der Quaddies ohne Schweber in einem Schwerkraftfeld wirkte auf den Beobachter ziemlich beunruhigend. Sie gingen entweder auf allen vieren, nur wenig beweglicher als ein Mensch auf Händen und Knien, oder sie brachten eine Art aufrechten Watschelgang auf ihren unteren Händen zustande, wobei sie sich vorwärts beugten und die Ellbogen ausstreckten. Beide Methoden sahen irgendwie falsch und ungelenk aus, verglichen mit der Anmut und Gewandtheit, die sie in der Schwerelosigkeit an den Tag legten. Nachdem Bel, der nach Miles’ Meinung fast über die richtige Größe für einen Komarraner verfügte, sich koope91
rativ bereit erklärt hatte, die Rolle der Leiche zu übernehmen, machten sie Experimente bezüglich des Problems, wie eine Person in einem Schweber siebzig oder mehr Kilo träger Körpermasse über die Distanz etlicher Meter bis zur Luftschleuse transportieren konnte. Bel war auch nicht mehr so schlank und athletisch wie früher; die zusätzlichen Körpermassen machten es für Miles schwerer, wieder in seine alte unterbewusste Gewohnheit zu verfallen und Bel für männlich zu halten. Vermutlich machte es nichts aus. Miles fand es extrem schwierig, mit unbequem überschlagenen Beinen auf einem Sitz, der nicht für Planetarier geschaffen war, eine Hand auf der Steuerung des Schwebers in Lendenhöhe zu halten und mit der anderen Bels Kleidung festzuhalten. Bel versuchte schauspielerisch entweder einen Arm oder ein Bein zur Seite hängen zu lassen: Ekaterin stellte sich nur wenig besser an als er, Roic überraschenderweise noch schlechter. Seine überlegene Stärke wurde neutralisiert dadurch, dass er seinen größeren Körper unbeholfen in den becherförmigen Raum quetschen musste. wobei seine Knie herausragten und er versuchen musste, noch die Handsteuerung in dieser beengten Haltung zu bedienen. Der Quaddie-Sergeant schaffte es bequem, blickte aber danach Miles finster an. An Schweber zu kommen, so erklärte Bel, war nicht schwer, da sie als gemeinsamer öffentlicher Besitz betrachtet wurden; allerdings besaßen manchmal Quaddies, die viel Zeit auf der Schwerkraftseite verbrachten, ihre eigenen personalisierten Modelle. An den Zugangsportalen zwischen den Schwerkraft- und Schwerelosigkeitsbereichen der Station waren Abstellplätze für Schweber eingerichtet; 92
dort konnte jeder Quaddie sich einen schnappen und benutzen und nach der Rückkehr wieder abstellen. Zu Zwecken der Wartungskontrolle waren sie nummeriert, aber ansonsten wurde ihre Benutzung nicht aufgezeichnet. Jedermann konnte sich offensichtlich einen beschaffen, indem er einfach hinging und einstieg, selbst betrunkene barrayaranische Soldaten, die Ausgang hatten. »Als wir vorhin zu der ersten Andockbühne auf der anderen Seite kamen, da bemerkte ich eine Menge Personenfahrzeuge, die an der Außenseite der Station herumtuckerten – Rangierer, Personenkapseln, Lokalraum-Flitzer«, sagte Miles zu Bel. »Mir kommt der Gedanke, jemand könnte Solians Leiche aufgenommen haben, kurz nachdem sie aus der Luftschleuse geworfen wurde, und sie dann verdammt nahezu spurlos entfernt haben. Sie könnte inzwischen irgendwo sein, zum Beispiel noch verstaut in der Luftschleuse einer Personenkapsel oder durch einen Abfallvernichter gejagt und zu Ein-Kilo-Klumpen verarbeitet, oder weggesteckt in die zufällige Spalte eines Asteroiden, wo sie mumifiziert wird. Was eine weitere Erklärung dafür anbietet, warum man sie nicht dort draußen herumschwebend gefunden hat. Aber dieses Szenario erfordert entweder zwei Personen, oder einen spontanen Mörder, der sich sehr schnell bewegt hat. Wie viel Zeit hätte wohl eine einzelne Person gehabt zwischen dem Halsdurchschneiden und dem Aufnehmen?« Bel, der sich nach dem letzten Schleppversuch durch die Ladebucht die Uniform und das Haar glättete, schürzte die Lippen. »Es waren vielleicht fünf oder zehn Minuten zwischen dem Zeitpunkt, als die Schleuse ihren Zyklus durch93
lief, und dem Augenblick, als die Sicherheitswache eintraf, um die Schleuse zu überprüfen. Danach vielleicht zwanzig Minuten maximal, bevor alle möglichen Leute draußen herumschauten. In dreißig Minuten … ja, eine Person könnte in etwa die Leiche hinausgeworfen haben, zu einer anderen Bucht gerannt, in ein kleines Fahrzeug gesprungen und herangesaust sein und sie wieder aufgeklaubt haben.« »Gut. Besorgen Sie mir eine Liste aller Dinge und Personen, die in diesem Zeitraum durch eine Schleuse hinausgingen.« Wegen der lauschenden Quaddie-Wachen erinnerte er sich daran, seine Anforderung förmlich abzuschließen mit einem »wenn Sie so gut wären, Hafenmeister Thorne.« »Gewiss doch, Lord Auditor Vorkosigan.« »Mir kommt es verdammt seltsam vor, dass sich jemand solche Mühe mit der Entfernung der Leiche macht, aber dann doch das Blut zurücklässt. Liegt es am Timing? Hat man versucht zurückzukommen, um sauber zu machen, aber dann war es zu spät? War etwas sehr, sehr Seltsames an der Leiche zu verbergen?« Vielleicht war es bloß blinde Panik gewesen, falls der Mord nicht im Voraus geplant worden war. Miles konnte sich vorstellen, wie jemandem, der keine Weltraumerfahrung hatte und eine Leiche an einer Luftschleuse hinausstieß, erst dann aufging, was für ein armseliges Versteck das war. Das passte allerdings nicht gerade mit einer nachfolgenden schnellen und geschickten Aufnahme der Leiche außerhalb der Station zusammen. Und alle Quaddies hatten Weltraumerfahrung. Er seufzte. »Damit kommen wir nicht weiter. Gehen wir und reden wir mit meinen Idioten.« 94
5 Der Sicherheitsposten Nr. 3 von Station Graf lag an der Grenze zwischen der schwerelosen und der mit Schwerkraft ausgestatteten Seite der Station und hatte Zugang zu beiden. Quaddie-Bauleute in gelben Hemden und Shorts und ein paar ähnlich gekleidete Planetarier arbeiteten an Reparaturen am Haupteingang der Schwerkraftseite. Miles, Ekaterin und Roic wurden von Bel und einem ihrer Quaddie-Begleiter hindurch eskortiert; der andere war mit finsterer Miene zurückgeblieben, um an der Andockluke der Turmfalke Wache zu halten. Die Arbeiter drehten ihnen die Köpfe zu und starrten mit Stirnrunzeln auf die vorübergehenden Barrayaraner. Bel führte sie im Zickzack durch ein paar Korridore zu einer tiefer liegenden Ebene, wo sie zu der Steuerkabine am Zugang zu den Haftzellen der Schwerkraftseite gelangten. Ein Quaddie und ein Planetarier waren gerade dabei, eine neue, gegen Plasmafeuer vielleicht widerstandsfähigere Fensterscheibe in ihren Rahmen zu heben; dahinter sah man einen weiteren gelb gekleideten Quaddie, der gerade die letzten Handgriffe an einer Reihe von neu installierten Monitoren erledigte, während ein uniformierter Quaddie in einem Schweber des Sicherheitsdienstes ihn dabei mit verschränkten oberen Armen und verdrießlicher Miene beobachtete. An den mit Werkzeugen übersäten Gerüsten vor der Kabine trafen sie Eichmeisterin Greenlaw und Chef Venn, die – jetzt mit Schwebern ausgerüstet – auf sie warteten. Venn legte Wert darauf, Miles sofort auf alle Reparaturen hin95
zuweisen, die bereits abgeschlossen oder noch im Gange waren, und das ganz detailliert, mit Angabe der ungefähren Kosten und mit einer Aufzählung aller Quaddies, die bei dem Durcheinander verletzt worden waren, einschließlich ihrer Namen, Ränge, medizinischen Prognosen und des Kummers, den ihre Familienmitglieder durchlitten hatten. Miles gab anerkennende, jedoch unverbindliche Töne von sich und ging zu einer kurzen Gegenklage bezüglich des verschwundenen Solian und des düsteren Beweises des Blutes auf dem Deck der Ladebucht über, wobei er in einer kurzen logistischen Erörterung darlegte, wie die nach draußen beförderte Leiche von einem möglichen Mitverschwörer außerhalb der Station fortgeschafft worden sein könnte. Das brachte Venn zumindest zeitweise zum Schweigen; sein Gesicht zuckte wie das eines Menschen mit Magenschmerzen. Während Venn sich zu der Wache in der Steuerkabine begab, um Miles’ Zutritt zu dem Zellenblock zu regeln, blickte Miles auf Ekaterin und schaute sich dann ein wenig zweifelnd in dem keineswegs einladenden Gerüstbereich um. »Möchtest du hier warten oder dabei sein?« »Möchtest du, dass ich dabei bin?«, fragte sie mit einem Mangel an Begeisterung in der Stimme, den sogar Miles spürte. »Ich weiß ja, dass du alle, die sich in deiner Sichtweite befinden, nach Bedarf in Beschlag nimmst, aber ich werde doch dafür sicher nicht gebraucht.« »Nun ja, vielleicht nicht. Aber es sieht danach aus, als könnte es hier draußen etwas langweilig werden.« »Sehen Sie, ich reagiere nicht ganz so allergisch auf Langeweile wie du, mein Lieber, aber um die Wahrheit zu 96
sagen, ich hoffte eher, ich könnte mehr von der Station sehen, während du hier den Nachmittag hindurch gebunden bist. Die Eindrücke, die wir auf dem Weg hierher hatten, schienen mir ganz verlockend.« »Aber ich brauche Roic.« Er zögerte und überdachte das Problem ihrer Sicherheit. Sie blickte freundlich spekulierend zu Bel hinüber, der zuhörte. »Ich gebe zu, ich hätte gern einen Führer, aber glaubst du wirklich, dass ich hier einen Leibwächter brauche?« Es war möglich, dass sie beschimpft werden könnte, wenn auch nur von Quaddies, die wussten, wessen Frau sie war, aber körperliche Angriffe, das musste Miles einräumen, schienen unwahrscheinlich. »Nein, aber …« Bel lächelte sie herzlich an. »Falls Sie meine Begleitung annehmen würden, Lady Vorkosigan, so wäre ich erfreut, Ihnen Station Graf zu zeigen, während der Lord Auditor hier seine Gespräche führt.« Ekaterins Gesicht hellte sich noch mehr auf. »Das würde mir sehr gefallen, ja, danke. Hafenmeister Thorne. Falls die Dinge sich gut entwickeln, wie wir ja hoffen müssen, dann werden wir vielleicht nicht lange hier bleiben. Ich glaube, ich sollte die Gelegenheit nutzen.« Bel war in allem, vom Zweikampf bis zu Flottenmanövern, erfahrener als Roic, und es war wesentlich weniger wahrscheinlich, dass er hier durch Unkenntnis der örtlichen Verhältnisse in Schwierigkeiten geraten würde. »Nun … in Ordnung, warum nicht? Genieße es!« Miles tippte auf seinen Kommunikator. »Ich rufe dich an, sobald ich fertig bin. Vielleicht kannst du etwas einkaufen.« Mit 97
einem Lächeln winkte er ihnen nach. »Bring bloß keine abgeschnittenen Köpfe mit.« Er blickte auf und stellte fest, dass Venn und Greenlaw ihn bestürzt anstarrten. »Ach – das war ein alter Familienscherz«, erklärte er matt. Die Bestürzung nahm jedoch nicht ab. Ekaterin lächelte zurück und rauschte an Bels freundlich angebotenem Arm davon. Zu spät fiel Miles ein, dass Bel in seinem sexuellen Geschmack bemerkenswert vielseitig war und dass er vielleicht Ekaterin hätte warnen sollen, dass sie nicht besonders feinfühlig sein müsste in der Ablehnung von Bels Aufmerksamkeiten, sollte er ihr tatsächlich welche zuteil werden lassen. Aber Bel würde doch sicher nicht … andererseits würden sie vielleicht einfach abwechselnd ausprobieren, wie weit man gehen konnte. Widerstrebend wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu. Die barrayaranischen Gefangenen steckten zu dritt in einer Zelle, die für zwei Insassen bestimmt war, ein Umstand, der Venn halb zu einer Beschwerde, halb zu einer Entschuldigung veranlasste. Sicherheitsposten Nr. 3, so gab er Miles zu verstehen, war auf einen solchen Zustrom widerspenstiger Planetarier nicht vorbereitet gewesen. Miles murmelte verständnisvoll, wenn auch nicht notwendigerweise mitfühlend, und unterließ die Bemerkung, dass die Zellen der Quaddies größer waren als die Schlafkojen für vier Mann an Bord der Prinz Xav. Miles begann die Vernehmung mit dem Führer von Bruns Kommando. Der Mann war bestürzt, als er erkennen musste, dass seine Heldentaten der energischen Aufmerksamkeit eines kaiserlichen Auditors zuteil wurden. Die Folge davon war, dass er sich in seinem Bericht über die 98
Ereignisse voll an den Militärjargon hielt. Die Bilder, die Miles aus solchen formellen Phrasen ableitete wie drangen in den Umkreis ein und geballte feindliche Kräfte, ließen ihn trotzdem zusammenzucken. Doch wenn man den anderen Standpunkt berücksichtigte, dann widersprach die Aussage des Mannes im Grunde der Quaddie-Version der Ereignisse nicht. Schade! Sofort überprüfte Miles die Geschichte des Führers anhand von Stichproben aus den Berichten seiner Kameraden in der Nachbarzelle, die bedauerliche, aber nicht überraschende Details anfügten. Da das Kommando zur Prinz Xav gehörte, war keiner von den Männern mit Leutnant Solian persönlich bekannt, da dieser auf der Idris stationiert gewesen war. Miles verließ den Zellenblock und probierte ein Argument an der Eichmeisterin Greenlaw aus, die schwebend auf ihn wartete. »Es ist völlig unzulässig, dass Sie diese Männer weiter festhalten. Die Befehle, denen sie folgten, mögen zwar schlecht durchdacht gewesen sein, aber sie waren eigentlich nicht illegal nach der Definition des barrayaranischen Militärs. Wenn ihr Befehl gewesen wäre zu plündern, zu vergewaltigen oder zivile Quaddies zu massakrieren, dann wären sie nach dem Militärrecht verpflichtet gewesen, sie zu verweigern, aber es war ihnen in der Tat ausdrücklich befohlen worden, niemanden zu töten. Wenn sie Brun nicht gehorcht hätten, dann hätten sie mit dem Kriegsgericht rechnen müssen. Damit bestünde die Gefahr doppelter Strafverfolgung wegen ein und derselben Tat, und das wäre ihnen gegenüber bedenklich unfair.« »Ich werde diesen Einwand in Betracht ziehen«, erwi99
derte Greenlaw trocken. Etwa zehn Minuten lang, und danach werde ich ihn durch die nächste Luftschleuse hinausstoßen, hing unausgesprochen in der Luft. »Und wenn wir nach vorn schauen«, fügte Miles hinzu, »dann können Sie doch nicht wollen, dass Sie diese Männer auf unbestimmte Zeit am Hals haben. Sicherlich wäre es vorzuziehen, wenn wir sie mitnehmen, sobald wir zurückgehen.« Greenlaw blickte noch kühler drein; Venn knurrte traurig. Miles schloss daraus, dass Venn ebenso froh wäre, wenn der kaiserliche Auditor sie jetzt wegschaffte, sofern nicht die politischen Zusammenhänge der allgemeinen Lage gewesen wären. Miles beharrte nicht weiter auf diesem Argument, aber er merkte es sich, um in naher Zukunft darauf zurückzukommen. Er gab sich kurz einer Wunschfantasie hin: Brun gegen seine Männer eintauschen und ihn hier zurücklassen, wovon das kaiserliche Militär unterm Strich profitiert hätte, aber er sprach diese Vorstellung nicht laut aus. Das Gespräch mit den beiden Männern vom militärischen Sicherheitsdienst, die ursprünglich geschickt worden waren, um Corbeau zu holen, bot auf seine Art noch mehr Anlass, zusammenzuzucken. Sie waren von seinem Rang als Auditor genügend eingeschüchtert, um einen vollen und ehrlichen, wenn auch gestotterten Bericht über das Malheur zu geben. Aber solche unangebrachten Formulierungen wie Ich versuchte nicht, ihr den Arm zu brechen, ich versuchte nur, das Mutantenmiststück von der Wand abprallen zu lassen. Und All diese Hände, die nach mir griffen, machten mir Angst – es war, als wickelten sich Schlangen um mei100
nen Stiefel, brachten Miles zu der Überzeugung, dass er diese zwei Männer nicht gern in der Öffentlichkeit als Zeugen auftreten lassen würde, zumindest nicht in der Öffentlichkeit der Quaddies. Jedoch gelang es ihm, die bedeutsame Tatsache festzustellen, dass zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes auch diese beiden der Meinung gewesen waren, Leutnant Solian sei soeben von einem unbekannten Quaddie ermordet worden. Er verließ die Zelle und sagte zu Venn: »Ich glaube, ich sollte lieber unter vier Äugen mit Fähnrich Corbeau sprechen. Können Sie uns einen geeigneten Raum zur Verfügung stellen?« »Corbeau hat schon eine eigene Zelle«, informierte Venn ihn kühl. »Das ist das Ergebnis der Behandlung durch seine eigenen Kameraden.« »Aha, dann bringen Sie mich bitte zu ihm.« Als die Zellentür zur Seite glitt, sah man einen großen jungen Mann, der schweigend auf einer Pritsche saß, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in die Hände gestützt. Die metallischen Kontaktkreise des neuralen Implantats eines Sprungpiloten schimmerten an den Schläfen und in der Mitte der Stirn, und Miles verdreifachte in Gedanken die Summe, welche die kürzlich erfolgte Ausbildung des jungen Offiziers das Imperium gekostet hatte. Der Mann blickte auf und runzelte verwirrt die Stirn, als er Miles sah. Er war ein typischer Barrayaraner: dunkelhaarig, braunäugig, mit olivfarbenem Teint, den seine Monate im Weltraum hatten blass werden lassen. Seine regelmäßigen Gesichtszüge erinnerten Miles ein wenig daran, wie sein Cou101
sin Ivan im gleichen unreifen Alter ausgesehen hatte. Ein ausgedehnter blauer Fleck um das eine Auge war am Abklingen und wurde langsam gelblich-grün. Sein Uniformhemd war am Hals offen, die Ärmel hochgerollt. Einige verblassende unregelmäßige rötliche Narben verliefen im Zickzack über sein Kinn und kennzeichneten ihn als ein Opfer der sergyaranischen Wurmseuche, die vor einigen Jahren grassiert hatte; er war offensichtlich auf Barrayars neuem Kolonialplaneten aufgewachsen oder hatte dort zumindest während jener schwierigen Phase gelebt, bevor die oralen Wurmmittel perfektioniert worden waren. »Fähnrich Corbeau«, sagte Venn, »das ist der kaiserliche Auditor von Barrayar. Lord Vorkosigan. Ihr Kaiser hat ihn als offiziellen diplomatischen Gesandten geschickt, der Ihre Seite in den Verhandlungen mit der Union vertreten soll. Er wünscht Sie zu sprechen.« Corbeau öffnete beunruhigt den Mund, rappelte sich hoch und drehte den Kopf nervös in Miles’ Richtung. So sprang ihr Größenunterschied direkt ins Auge, und Corbeau zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Wegen der gegen Sie erbrachten Beschuldigungen«, fügte Venn eher peinlich korrekt als freundlich hinzu, »und auch wegen Ihres noch nicht entschiedenen Antrags auf Asyl wird Eichmeisterin Greenlaw ihm nicht gestatten, Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus unserer Schutzhaft zu entfernen.« Corbeau atmete leicht auf, starrte aber Miles immer noch mit dem Ausdruck eines Mannes an, der einer Giftschlange vorgestellt wird. »Er hat sich auch verpflichtet, Ihnen nicht zu befehlen, 102
dass Sie sich selbst erschießen«, fuhr Venn mit einem boshaften Unterton fort. »Danke, Chef Venn«, sagte Miles. »Ich werde das hier jetzt übernehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Venn verstand den Wink und zog sich zurück. Roic bezog schweigend Wachposten neben der Zellentür. die sich zischend schloss. Miles wies auf die Pritsche. »Setzen Sie sich, Fähnrich.« Er selbst setzte sich auf die gegenüberliegende Pritsche, legte den Kopf schief und musterte Corbeau kurz, während dieser sich wieder setzte. »Hören Sie auf zu hyperventilieren«, fügte er hinzu. Corbeau schluckte und brachte nur ein vorsichtiges »Mylord« heraus. Miles verschränkte die Finger. »Sie stammen von Sergyar, oder?« Corbeau blickte auf seine Arme und machte eine halbherzige Bewegung, um seine Ärmel herunterzurollen. »Nicht dort geboren, Mylord. Meine Eltern sind ausgewandert, als ich etwa fünf Jahre alt war.« Er blickte auf den schweigenden Roic in seiner braun-silbernen Uniform und fügte hinzu: »Sind Sie …«, dann verschluckte er. was immer er hatte sagen wollen. Doch Miles konnte die Lücke füllen. »Ich bin der Sohn von Vizekönig und Vizekönigin Vorkosigan, jawohl. Einer von ihren Söhnen.« Corbeau stieß ein stummes Oh aus. Der unterdrückte Schrecken in seinem Gesicht verringerte sich jedoch nicht. »Ich habe gerade die beiden Leute von der Flottenpatrouille gesprochen, die man geschickt hatte, um Sie von 103
Ihrem Ausgang auf der Station zurückzuholen. Jetzt würde ich gerne gleich Ihre Version dieses Ereignisses hören. Aber zuerst – haben Sie Leutnant Solian gekannt, den komarranischen Sicherheitsoffizier an Bord der Idris?« Die Gedanken des Piloten waren so offensichtlich auf seine eigenen Angelegenheiten konzentriert, dass er einen Moment brauchte, um Miles’ Frage zu verstehen. »Ich bin ihm ein oder zwei Mal bei einigen unserer früheren Zwischenstopps begegnet, Mylord. Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn kannte. Ich bin nie an Bord der Idris gewesen.« »Haben Sie über sein Verschwinden nachgedacht? Haben Sie eine Vorstellung, was mit ihm geschehen sein könnte?« »Nein … eigentlich nicht.« »Kapitän Brun meint, er könnte desertiert sein.« Corbeau verzog das Gesicht. »Natürlich denkt Brun so.« »Warum Brun?« Corbeau setzte zum Sprechen an, dann hielt er inne. Er blickte noch unglücklicher drein. »Es wäre nicht passend für mich, meine Vorgesetzten zu kritisieren, Mylord, oder ihre persönlichen Meinungen zu kommentieren.« »Brun hat Vorurteile gegenüber den Komarranern.« »Das habe ich nicht gesagt!« »Das war meine Beobachtung, Fähnrich.« »Ach so.« »Nun, lassen wir das einstweilen. Zurück zu Ihren Problemen. Warum haben Sie nicht den Befehl zur Rückkehr beantwortet, den Sie über Ihren Kommunikator bekamen?« Corbeau tippte auf sein leeres linkes Handgelenk; die 104
Quaddies hatten bei der Verhaftung alle barrayaranischen Kommunikatoren konfisziert. »Ich hatte ihn abgenommen und in einem anderen Zimmer gelassen. Ich muss geschlafen haben, während es piepste. Von dem Befehl zur Rückkehr habe ich erst erfahren, als diese beiden, beiden …«, er rang einen Moment lang mit sich, dann fuhr er bitter fort, »Schläger an die Tür von Granat Fünf schlugen. Sie schoben sie einfach beiseite …« »Haben sie sich ordnungsgemäß ausgewiesen und den Befehl eindeutig überbracht?« Corbeau, zögerte, sein Blick auf Miles wurde schärfer. »Ich gebe zu, Mylord«, sagte er langsam, »Sergeant Touchevs Ankündigung ›Also, Mutanten-Liebhaber, die Show ist vorbei‹ vermittelte meinem Empfinden nach nicht gerade die Nachricht ›Admiral Vorpatril hat allen barrayaranischen Besatzungsmitgliedern befohlen, auf ihre Schiffe zurückzukehren‹. Nicht direkt jedenfalls. Ich war ja gerade erst aufgewacht, wissen Sie.« »Haben sie sich ausgewiesen?« »Nein – nicht mit Worten.« »Haben sie Kennkarten gezeigt?« »Nun ja … sie waren in Uniform, mit ihren Armbinden von der Militärpolizei.« »Haben Sie sie als Sicherheitsleute der Flotte erkannt, oder meinten Sie, es handle sich um einen privaten Besuch – ein paar Kameraden, die in ihrer Freizeit ihren rassistischen Dampf ablassen?« »Es … hm … nun – die beiden Sachen schließen sich nicht gerade gegenseitig aus, Mylord. Meiner Erfahrung nach.« 105
Damit hat der Junge leider Recht. Miles holte Luft. »Aha.« »Ich bewegte mich langsam, noch halb im Schlaf. Als sie mich herumschubsten, dachte Granat Fünf, sie würden mich angreifen. Ich wünschte, sie hätte nicht versucht zu … Ich schlug Touchev erst nieder, als er sie aus ihrem Schwebesessel warf. Von da an … ging alles irgendwie den Bach runter.« Corbeau blickte finster auf seine Füße, die in Friktionspantoffeln aus Gefängnisbeständen steckten. Miles lehnte sich zurück. Wirf diesem Jungen eine Rettungsleine zu. Er ist am Ertrinken. »Wissen Sie«, sagte er sanft, »Ihre Karriere ist nicht schon notwendigerweise im Eimer. Sie haben sich genau genommen nicht unerlaubt von der Truppe entfernt, solange Sie gegen Ihren Willen von den Behörden der Station Graf festgehalten werden, und genauso steht es ja mit Bruns Einsatzkommando hier. Eine kleine Weile werden Sie sich noch im einem juristischen Schwebezustand befinden. Mit Ihrer Ausbildung und Operation als Sprungpilot würden Sie vom militärischen Standpunkt aus gesehen einen teuren Verlust darstellen. Wenn Sie die richtigen Schritte tun, dann könnten Sie aus dieser Sache immer noch ziemlich sauber herauskommen.« Corbeau verzog das Gesicht. »Ich …«Er verstummte. Miles gab einen ermutigenden Laut von sich. »Ich mag meine verdammte Karriere nicht mehr«, stieß Corbeau hervor. »Ich möchte nicht mehr«, er fuchtelte vage herum, »bei diesem, diesem … Affenzirkus mitmachen.« Miles unterdrückte ein gewisses Mitgefühl und fragte: 106
»Wie ist Ihr derzeitiger Status – wie weit sind Sie mit Ihrer Dienstzeit?« »Ich habe mich mit einem dieser neuen fünfjährigen Dienstverträge verpflichtet, und zwar mit der Option zur Weiterverpflichtung oder fünf Jahre Reservedienst. Ich bin jetzt drei Jahre dabei und habe noch zwei vor mir.« Im Alter von dreiundzwanzig, so erinnerte sich Miles. erschienen einem zwei Jahre noch als lange Zeit. In diesem Stadium seiner Karriere konnte Corbeau kaum mehr als ein Juniorpilot sein, wenn auch seine Versetzung zur Prinz Xav auf eine erstklassige Beurteilung hindeutete. Corbeau schüttelte den Kopf. »Heutzutage sehe ich das irgendwie anders. Einstellungen, die ich für selbstverständlich nahm, Witze, Bemerkungen, einfach die Art, wie die Dinge erledigt werden – das alles macht mir jetzt zu schaffen. Es nervt. Leute wie Sergeant Touchev, Kapitän Brun – du lieber Himmel. Waren wir schon immer so schrecklich?« »Nein«, sagte Miles. »Wir waren viel schlimmer. Das kann ich persönlich bezeugen.« Corbeau starrte ihn fragend an. »Doch wenn alle fortschrittlich gesinnten Männer aus den Streitkräften ausgeschieden wären, wie Sie es jetzt zu tun beabsichtigen, dann wäre keine der Veränderungen eingetreten, die ich im Laufe meines Lebens erlebt habe. Wir haben uns geändert. Wir können uns auch noch etwas mehr ändern. Nicht auf der Stelle, nein. Aber wenn alle anständigen Leute den Dienst quittieren und nur die Idioten übrig bleiben, um den Laden zu schmeißen, dann ist das nicht gut für die Zukunft von Barrayar. Um die ich mir 107
Sorgen mache.« Es überraschte ihn, wie leidenschaftlich wahr diese Aussage in letzter Zeit geworden war. Er dachte an die beiden Replikatoren in dem bewachten Raum im Palais Vorkosigan. Ich dachte immer, meine Eltern könnten alles in Ordnung bringen. Jetzt bin ich an der Reihe. Lieber Gott, wie ist das geschehen? »Ich habe mir nie vorgestellt, dass es so etwas geben könnte.« Corbeaus ruckartige Bewegung zielte jetzt, so schloss Miles, auf den ganzen Quaddie-Raum. »Ich habe mir nie vorgestellt, dass es eine Frau wie Granat Fünf geben könnte. Ich möchte hier bleiben.« Miles hatte das unangenehme Gefühl, dass hier ein verzweifelter junger Mann war, der vorübergehenden Reizen zuliebe Entscheidungen fällte, die für immer gelten sollten. Station Graf war auf den ersten Blick attraktiv, aber Corbeau war in einem offenen Land mit echter Schwerkraft und echter Luft aufgewachsen – würde er sich anpassen oder würde ihn die Techno-Klaustrophobie beschleichen? Und die junge Frau, der zuliebe er sein Leben über den Haufen werfen wollte, war sie es wert, oder würde sich herausstellen, dass Corbeau für sie nur ein vorübergehendes Vergnügen gewesen war? Oder, im Laufe der Zeit, ein schlimmer Fehler? Zum Teufel, sie hatten einander nur ein paar Wochen gekannt – niemand konnte es wissen, am wenigsten von allen Corbeau und Granat Fünf. »Ich möchte hier raus«, sagte Corbeau. »Ich halte es nicht länger aus.« »Wenn Sie Ihren Antrag auf politisches Asyl in der Union zurückziehen, bevor die Quaddies ihn ablehnen«, versuchte es Miles erneut, »dann könnte er noch Ihrer gegen108
wärtigen rechtlichen Ungewissheit zugeschrieben werden und man könnte ihn verschwinden lassen, ohne dass Ihrer Karriere weiterer Schaden zugefügt würde. Wenn Sie ihn nicht vorher zurückziehen, dann wird die Anklage auf Fahnenflucht ohne jeden Zweifel an Ihnen hängen bleiben und Ihnen beträchtlich schaden.« Corbeau blickte auf und fragte besorgt: »Bedeutet nicht der Schusswechsel, den Bruns Patrouille hier mit den Sicherheitsleuten der Quaddies hatte, die Hitze des Gefechts? Der Arzt von der Prinz Xav sagte, das sei wahrscheinlich so.« In der Hitze des Gefechts, Fahnenflucht im Angesicht des Feindes, darauf stand nach dem barrayaranischen Miltärgesetz die Todesstrafe. Fahnenflucht in Friedenszeiten wurde bestraft durch lange Aufenthalte in einigen äußerst unangenehmen Militärgefängnissen. Beides bedeutete eine übermäßige Vergeudung, wenn man alles bedachte. »Ich glaube, es wäre schon eine ziemlich komplizierte Verdrehung der Gesetze notwendig, um diese Episode eine Schlacht zu nennen. Überdies würde eine solche Definition direkt dem ausdrücklichen Wunsch des Kaisers zuwiderlaufen, mit diesem wichtigen Handelsposten friedliche Beziehungen zu unterhalten. Jedoch … bei einem hinreichend feindlichen Gericht und einem dilettantischen Verteidiger … würde ich es nicht als klug bezeichnen, ein Kriegsgerichtsverfahren zu riskieren, wenn man es vermeiden könnte.« Miles strich sich über die Lippen. »Waren Sie zufällig betrunken, als Sergeant Touchev kam, um Sie mitzunehmen?« »Nein!« »Hm. Schade. Trunkenheit eignet sich wunderbar zuver109
lässig zur Verteidigung. Ist weder politisch noch gesellschaftlich radikal, verstehen Sie. Vermutlich nicht …?« Corbeau kniff ungehalten die Lippen zusammen. Miles spürte: Corbeau vorzuschlagen, er solle über seinen chemischen Zustand lügen, würde nicht sehr erfolgreich sein. Was allerdings den jungen Offizier in seiner Achtung höher steigen ließ. Doch das machte ihm die Sache um keinen Deut leichter. »Ich möchte immer noch heraus«, wiederholte Corbeau eigensinnig. »Zurzeit mögen die Quaddies Barrayaraner nicht sonderlich, fürchte ich. Sich darauf zu verlassen, dass sie Ihnen politisches Asyl gewähren, um Sie so aus Ihrem Dilemma herauszuholen, halte ich für einen schweren Fehler. Es muss ein halbes Dutzend besserer Methoden geben, um Ihre Probleme zu lösen, wenn Sie Ihr Denken nur für weiter reichende taktische Möglichkeiten öffnen würden. Tatsächlich wäre fast jede andere Methode besser als diese.« Corbeau schüttelte stumm den Kopf. »Nun, denken Sie darüber nach, Fähnrich. Ich vermute, die Situation wird undurchsichtig bleiben, bis ich herausfinde, was mit Leutnant Solian geschehen ist. Dann hoffe ich dieses Gewirr schnell aufzudröseln, und die Chance, Ihre Meinung über wirklich schlechte Ideen zu ändern, könnte sich abrupt erledigen.« Miles erhob sich müde. Nach einem Moment der Unsicherheit stand Corbeau auf und salutierte. Miles antwortete mit einem Kopfnicken und winkte Roic, der in die Gegensprechanlage der Zelle sprach, woraufhin ihnen geöffnet wurde. 110
Miles ging hinaus, die Stirn nachdenklich gerunzelt, und traf auf den wartenden Chef Venn. »Ich möchte Solian haben, verdammt«, sagte Miles griesgrämig. »Sein bemerkenswertes Verschwinden wirft auf die Kompetenz Ihres Sicherheitsdienstes kein besseres Licht als auf unseren, wissen Sie.« Venn blickte ihn finster an, widersprach aber nicht. Miles seufzte und hob den Kommunikator an die Lippen, um Ekaterin anzurufen. Sie bestand darauf, er solle sich mit ihr auf der Turmfalke wieder treffen. Miles war froh für diesen Anlass, der deprimierenden Atmosphäre des Sicherheitspostens Nr. 3 zu entfliehen. Er konnte die Situation leider nicht moralisch unklar nennen. Schlimmer noch, er konnte sie auch nicht juristisch unklar nennen. Es war ganz klar, welche Seite Recht hatte; es war einfach nur nicht seine Seite, verdammt. Er fand Ekaterin in ihrer kleinen Kabine, wo sie gerade seine braun-silberne Uniform des Hauses Vorkosigan auf einen Haken hängte. Sie wandte sich um und umarmte ihn. und er neigte den Kopf in den Nacken zu einem langen, überschwenglichen Kuss. »Also, wie war dein Vorstoß in den Quaddie-Raum mit Bel?«, fragte er. als er wieder zu Atem gekommen war. »Sehr gut, glaube ich. Falls Bel jemals den Posten des Hafenmeisters aufgeben möchte, dann könnte er meiner Meinung nach sich um die Öffentlichkeitsarbeit der Union kümmern. Ich glaube, ich habe die besten Teile von Station Graf gesehen, die man in den Zeitrahmen stopfen konnte, 111
den wir hatten. Herrliche Ausblicke, gutes Essen, Geschichte – Bel brachte mich tief hinunter in den schwerkraftlosen Sektor zu den erhaltenen Teilen des alten Sprungschiffs, mit dem die Quaddies in dieses System kamen. Sie haben es als Museum eingerichtet – als wir dort ankamen, war es voll von Quaddie-Schulkindern, die sich von den Wänden abprallen ließen. Buchstäblich. Sie waren unglaublich niedlich. Es erinnerte mich fast an einen Ahnenschrein auf Barrayar.« Sie ließ ihn los und wies auf eine große Schachtel, die mit glänzenden bunten Bildern und Bauplänen geschmückt war und die Hälfte des unteren Betts einnahm. »Das habe ich für Nikki in dem Museumsladen gefunden. Es ist ein maßstabsgetreues Model des D620-Supersprungschiffs. mit dem die Vorfahren der Quaddies geflohen sind, modifiziert mit dem orbitalen Habitat, das darauf konfiguriert war.« »Oh. das wird ihm gefallen.« Nikki, inzwischen elf Jahre alt, war noch nicht der Leidenschaft für Raumschiffe aller Art, besonders Sprungschiffe, entwachsen. Es war noch zu früh, um Vermutungen anzustellen, ob diese Begeisterung sich zu einem Beruf im Erwachsenenalter wandeln oder auf der Strecke bleiben würde, aber bis jetzt war sie noch nicht erlahmt. Miles guckte etwas eingehender auf das Bild. Der alte D-620 war ein erstaunlich unbeholfen wirkendes Biest von einem Schiff, das in der Wiedergabe durch diesen Künstler eher wie ein riesiger metallener Tintenfisch aussah, der eine Ansammlung von Blechdosen umklammerte. »Ein Modell in großem Maßstab, habe ich Recht?« Sie blickte etwas unsicher auf die Schachtel. »Nicht be112
sonders. Es war halt ein riesiges Schiff. Ich frage mich, ob ich die kleinere Version hätte wählen sollen. Aber die konnte man nicht zerlegen wie diese hier. Jetzt, wo ich das Modell hier habe, bin ich mir nicht ganz sicher, wohin ich es tun soll.« Ekaterin als Mutter war durchaus fähig, den ganzen Weg nach Hause ihr Bett mit dem Ding zu teilen, Nikki zuliebe. »Leutnant Smolyani wird gern einen Platz suchen, wo man es verstauen kann.« »Wirklich?« »Du hast meine persönliche Garantie.« Er verneigte sich leicht vor ihr. die Hand auf dem Herzen. Dann überlegte er kurz, ob er sich noch zwei dieser Modelle schnappen sollte, solange sie hier waren, für Aral Alexander und Helen Natalia, aber das Gespräch mit Ekaterin über altersgemäßes Spielzeug, das sie einige Male während ihres Aufenthalts auf der Erde geführt hatten, bedurfte wahrscheinlich keiner weiteren Wiederholung. »Worüber habt ihr, du und Bel, miteinander geredet?« Sie grinste. »Vor allem über dich.« Verspätete Panik überfiel Miles, doch sie äußerte sich in keiner Selbstbezichtigung, nur in einem gut gelaunten »So?« »Bel war mächtig neugierig darauf zu erfahren, wie wir uns kennen gelernt haben, und er zerbrach sich offensichtlich den Kopf darüber, wie er danach fragen konnte, ohne unhöflich zu sein. Ich erbarmte mich seiner und erzählte ein wenig darüber, wie ich dir auf Komarr begegnet bin, und über die Zeit danach. Wenn man alle Dinge, die geheim bleiben sollen, auslässt, dann hört sich unsere Liebes113
geschichte ziemlich seltsam an, weißt du das?« Er bestätigte es mit einem bedauernden Achselzucken. »Das habe ich schon bemerkt. Da kann man nichts machen.« »Ist es wirklich wahr, dass du bei eurer ersten Begegnung mit einem Betäuber auf Bel geschossen hast?« Offensichtlich war die Neugier nicht einseitig gewesen. »Schon gut, ja. Das ist eine lange Geschichte. Aus einer Zeit, die schon lange her ist.« Um ihre blauen Augen erschienen Lachfältchen. »Ich versteh schon. Allen Berichten nach warst du absolut irre, als du jünger warst. Wenn ich dir damals begegnet wäre, bin ich mir nicht sicher, ob ich beeindruckt oder entsetzt gewesen wäre.« Miles überlegte. »Da bin ich mir auch nicht sicher. Ich nehme an, dass Bel jede Diskriminierung gegen dich als Barrayaranerin abblockte, als ihr unterwegs wart?« Sie richtete sich auf. »Nun, ich hatte keinerlei Probleme. Bel wurde von einem seltsam aussehenden Burschen angesprochen – der hatte die längsten sowie schmälsten Hände und Füße, die ich bisher gesehen habe. Es war auch irgendwas Komisches mit seiner Brust, sie war eigentlich zu groß. Ich fragte mich, ob er vielleicht für einen besonderen Zweck gentechnisch manipuliert worden war, oder ob es sich um eine Art chirurgische Veränderung handelte. Vermutlich trifft man hier draußen am Rande des Nexus alle möglichen Arten von Leuten. Er drängte Bel ihm zu sagen, wann die Passagiere wieder an Bord gelassen würden, und er sagte, es gebe ein Gerücht, dass irgendjemandem erlaubt worden sei, seine Fracht vom Schiff herunterzuholen, doch 114
Bel versicherte ihm – mit Nachdruck! –, dass niemand auf die Schiffe gelassen worden war, seit diese beschlagnahmt worden waren. Einer der Passagiere von der Rudra, der sich Sorgen um seine Waren macht, soweit ich verstanden habe. Er deutete an, die beschlagnahmten Frachten seien Durchsuchungen und Diebstählen durch die QuaddieSchauerleute ausgesetzt, was bei Bel nicht allzu gut ankam.« »Das kann ich mir vorstellen.« »Dann wollte er wissen, was du machst und wie die Barrayaraner reagieren würden. Natürlich sagte Bel nicht, wer ich war. Bel sagte, falls er wissen wolle, was die Barrayaraner täten, dann solle er lieber einen direkt fragen und sich in die Reihe stellen, um wie jeder andere auch über Eichmeisterin Greenlaw einen Termin mit dir zu vereinbaren. Der Kerl war darüber nicht sonderlich glücklich, aber Bel drohte ihm an, er werde ihn von Sicherheitsleuten der Station zu seiner Unterkunft eskortieren und dort unter Arrest stellen lassen, falls er nicht aufhörte, ihn zu nerven. Da war der Mann still und sauste davon, um Greenlaw zu suchen.« »Gut für Bei.« Miles seufzte und zog seine verspannten Schultern hoch. »Vermutlich sollte ich mich als Nächstes lieber wieder mit Greenlaw auseinander setzen.« »Nein, das solltest du nicht«, erwiderte Ekaterin mit Nachdruck. »Du hast seit heute früh nichts anderes getan, als mit Komitees aufgeregter Leute zu reden. Hast du einmal innegehalten, um eine Mahlzeit einzunehmen, oder hast du irgendeine Pause gemacht? Die Antwort ist nein, denke ich.« »Hm … na ja, nein. Wie hast du das erraten?« 115
Sie lächelte nur. »Dann ist der nächste Punkt auf deinem Tagesplan, Mylord Auditor, ein schönes Abendessen mit deiner Frau und deinen alten Freunden. Bel und Nicol führen uns aus. Und danach gehen wir zu dem QuaddieBallett.« »Tun wir das?« »Ja.« »Warum? Ich will sagen, vermutlich muss ich irgendwann etwas essen, aber wenn ich mitten in diesem Fall davonwandere, um mich – hm – zu vergnügen, wird das niemandem gefallen, der darauf wartet, dass ich diesen Schlamassel kläre. Angefangen bei Admiral Vorpatril und seinem Stab, nehme ich an.« »Den Quaddies wird es gefallen. Sie sind ausnehmend stolz auf das Minchenko-Ballett, und wenn man dich sieht, wie du ein Interesse für ihre Kultur zeigst, dann kann dir das bei ihnen nur nützen. Die Truppe tritt nur ein oder zwei Mal in der Woche auf, abhängig vom Passagierverkehr im Hafen und von den Jahreszeiten – haben die hier Jahreszeiten? Von der Zeit des Jahres jedenfalls –, also bekommen wir vielleicht keine zweite Chance mehr.« Ihr Lächeln wurde viel sagend. »Die Vorstellung war schon ausverkauft, aber Bel brachte Granat Fünf dazu, an den Strippen zu ziehen und für uns eine Loge zu bekommen. Sie wird sich uns dort anschließen.« Miles blinzelte. »Sie möchte bei mir ihren Fall in Sachen Corbeau vorbringen, oder?« »Das vermute ich.« Als er unschlüssig die Nase kräuselte, fügte sie hinzu: »Ich habe heute mehr über sie herausgefunden. Auf Station Graf ist sie eine berühmte Person, sie 116
gehört zur hiesigen Prominenz. Die Attacke der barrayaranischen Patrouille auf sie war eine Sensationsnachricht; da sie darstellende Künstlerin ist, bedeutet der gebrochene Arm für sie eine zeitweilige Arbeitsunfähigkeit; der Vorfall war an sich schon schrecklich – aber in den Augen der Quaddies war dies ein extremer Angriff auf ihre Kultur.« »Oh, entsetzlich.« Miles fuhr sich über den Nasenrücken. Er bildete es sich nicht nur ein, er hatte wirklich Kopfschmerzen. »Ja, und was ist dir also der Anblick von Granat Fünf bei dem Ballett wert, in Pluspunkten für die Propaganda, wenn sie dort mit dem barrayaranischen Gesandten freundlich plaudert, als wäre alles vergeben und Friede, Freude, Eierkuchen?« »Ach so!« Er zögerte. »Solange sie nicht am Ende aus meiner Gesellschaft in einem öffentlichen Wutanfall davonrauscht, weil ich ihr noch nichts in Sachen Corbeau versprechen kann. Die Situation ist heikel, und der Junge verhält sich nicht so klug, wie er könnte.« »Sie ist anscheinend eine Person starker Emotionen, aber nicht dumm, zumindest habe ich Bel so verstanden. Ich glaube nicht, dass Bel mich überredet hätte, sie das einfädeln zu lassen, um damit ein öffentliches Desaster auszulösen … aber vielleicht hast du Grund, etwas anderes …?« »Nein …« »Auf jeden Fall bin ich mir sicher, dass du mit Granat Fünf zurechtkommen wirst. Sei einfach so bezaubernd wie gewöhnlich.« Ekaterins Vorstellung von ihm. sagte sich Miles, war nicht ganz objektiv. Gott sei Dank. »Ich habe den ganzen 117
Tag versucht, Quaddies zu verzaubern, doch ohne feststellbaren Erfolg.« »Wenn du es deutlich machst, dass du Leute liebst, dann ist es für sie schwer, der Versuchung zu widerstehen, dich wiederzulieben. Und Nicol wird heute Abend im Orchester spielen.« »Oh.« Er wurde munter. »Das dürfte hörenswert sein.« Ekaterin war eine aufmerksame Beobachterin; Miles hegte keinen Zweifel, dass sie den ganzen Nachmittag hindurch kulturelle Schwingungen aufgenommen hatte, die weit über lokale Moden hinausgingen. Also würden sie zum Quaddie-Ballett gehen. »Wirst du dein schickes neues Outfit tragen, das ich da vorhin gesehen habe?« »Deshalb habe ich es ja gekauft. Wir ehren die Künstler, indem wir uns für sie gut anziehen. Jetzt schlüpfe wieder in deine Vorkosigan-Uniform. Bel wird bald kommen, um uns abzuholen.« »Ich bleibe besser in meinem langweiligen grauen Anzug. Ich habe so ein Gefühl, dass es diplomatisch gesehen eine schlechte Idee wäre, ausgerechnet jetzt vor den Quaddies in einer barrayaranischen Uniform herumzustolzieren.« »Vielleicht im Sicherheitsposten Nr. 3. Aber es bringt nichts, beim Genuss ihrer Kunst gesehen zu werden, wenn wir dabei wie beliebige andere anonyme Planetarier aussehen. Heute Abend sollten wir, so meine ich, beide so barrayaranisch wie nur möglich aussehen.« Mit Ekaterin gesehen zu werden, so stellte sich Miles vor, brachte auch einige Punkte ein, allerdings nicht so sehr für Propaganda, sondern für reine Angeberei und die Kunst, den anderen um eine Nasenlänge voraus zu sein. 118
6 Bel traf pünktlich an der Luke der Turmfalke ein. Er hatte sich umgezogen und trug statt seiner biederen Arbeitsuniform ein verblüffendes, doch fröhliches orangefarbenes Wams mit glitzernden, sternenverzierten blauen Ärmeln, dazu geschlitzte Hosen, die am Knie zu Stulpen gerafft waren, und farblich abgestimmte mitternachtsblaue Strümpfe und Friktionsstiefel. Variationen dieses Stils schienen die hiesige Haute Couture für Männer wie Frauen, Planetarier wie Quaddies zu sein, wie man nach Greenlaws etwas gedeckterem Outfit schließen konnte. Der Hermaphrodit führte sie zu einem ruhigen Restaurant auf der Schwerkraftseite der Station, das über die übliche durchsichtige Fensterwand mit einem Ausblick auf die Station und die Sternenlandschaft verfügte. Gelegentlich sauste ein Schlepper oder eine Personenkapsel still vorüber und machte die Szenerie noch interessanter. Trotz der Schwerkraft, die zumindest die Speisen auf den offenen Tellern hielt, beugte sich das Lokal den Architekturidealen der Quaddies, indem die Tische in verschiedenen Höhen auf eigenen Pfeilern standen und so alle drei Dimensionen des Raums ausnutzen. Bedienungen flitzten in Schwebern hin und her und hinauf und hinunter. Das Design gefiel allen, mit Ausnahme von Roic, der bestürzt den Hals verdrehte, um nach Problemen in 3-D Ausschau zu halten. Doch Bel, der immer umsichtig und überdies in den Sicherheitsvorschriften ausgebildet war, hatte für Roic einen eigenen Sitzplatz oberhalb des ihrigen mit einem Überblick über den ganzen Raum reservieren lassen; als Roic zu sei119
nem Ausguck hinaufstieg, wirkte er mehr oder weniger versöhnt. Nicol wartete auf sie an ihrem Tisch, der ihnen einen ausgezeichneten Blick durch die Fensterwand nach draußen gewährte. Ihre Kleidung bestand aus einem ihre Formen betonenden schwarzen Strickanzug und hauchdünnen regenbogenfarbenen Schultertüchern; ansonsten hatte sich ihr Aussehen gegenüber der Zeit, als Miles sie vor so vielen Jahren und Wurmlochsprüngen kennen gelernt hatte, nicht sehr verändert. Sie war immer noch schlank, von anmutiger Bewegung selbst in ihrem Schweber, mit einer reinen, elfenbeinernen Haut und kurz geschnittenem, ebenholzfarbenem Haar, und ihre Augen tanzten immer noch. Sie und Ekaterin betrachteten einander mit großem Interesse und begannen unvermittelt ein Gespräch, bei dem Bel und Miles nur wenige Stichworte vorgaben. Das Gespräch war schon weit geschweift, als exquisite Speisen in einer zügigen Folge erschienen, aufgetragen vom gut ausgebildeten und unaufdringlichen Personal des Lokals. Musik, Gärtnerei und das Bio-Recycling der Station führten zu einer Diskussion über die Bevölkerungsdynamik der Quaddies und die – technischen, ökonomischen und politischen – Methoden, um neue Habitats in der wachsenden Kette um den Asteroidengürtel zu gründen. Aufgrund einer stummen gegenseitigen Übereinkunft mischten sich keine alten Kriegsgeschichten in den Fluss der Konversation. Als Bel Ekaterin zwischen dem letzten Gang und dem Dessert zur Toilette führte, wartete Nicol, bis sie außer Hörweite waren, dann beugte sie sich zu Miles hinüber und 120
murmelte: »Ich freue mich für Sie, Admiral Naismith.« Miles legte kurz den Zeigefinger an die Lippen. »Freuen Sie sich für Miles Vorkosigan. Ich freue mich jedenfalls.« Nach kurzem Zögern fragte er: »Sollte ich mich ebenso für Bel freuen?« Ihr Lächeln wurde ein wenig verlegen. »Das weiß nur Bel allein. Ich habe es satt, durch den Nexus zu reisen. Ich habe meinen Platz gefunden und bin endlich zu Hause. Bel scheint hier auch zufrieden zu sein, die meiste Zeit, aber – na ja. Bel ist Planetarier. Irgendwann brennt es sie in ihren Schuhen, so sagt man. Bel redet davon, eine Verpflichtung gegenüber der Union einzugehen, doch … irgendwie schafft er es nie, die Anträge auszufüllen.« »Ich bin mir sicher, dass Bel an einem solchen Schritt interessiert ist«, sagte Miles. Sie zuckte die Achseln und leerte den letzten Schluck ihres Limonengetränks. Mit Rücksicht auf ihren später folgenden Auftritt hatte sie auf Wein verzichtet. »Vielleicht liegt das Geheimnis des Glücks darin, dass man für das Heute lebt und nie weiter nach vorn schaut. Oder vielleicht ist das nur eine Denkweise, die sich Bel in seinem früheren Leben angeeignet hat. All diese Risiken, all diese Gefahren – da braucht es eine gewisse Mentalität, um erfolgreich zu sein. Ich weiß nicht, ob Bel seine Natur ändern kann oder wie sehr es ihn verletzen würde, wenn er es versuchte. Vielleicht zu sehr.« »Hm«, sagte Miles. Ich kann ihnen keinen Meineid anbieten, oder eine gespaltene Loyalität, hatte Bel gesagt. Selbst Nicol wusste anscheinend nichts von Bels zweiter Einkommensquelle – und von den damit verbundenen Ge121
fahren. »Ich darf bemerken, dass Bel an vielen Orten einen Job als Hafenmeister hätte finden können. Stattdessen ist er sehr weit gereist, um hier einen zu bekommen.« Nicols Lächeln wurde weich. »Ja, das stimmt.« Dann fügte sie hinzu: »Wissen Sie, dass Bel, als er auf Station Graf ankam, immer noch jenen betanischen Dollar bei sich hatte, den ich Ihnen auf Jackson’s Whole gezahlt hatte, und zwar gut verwahrt in seiner Brieftasche?« Miles gelang es gerade noch, die logische Frage zu unterdrücken, die ihm auf die Lippen wollte: Sind Sie sich sicher, dass es derselbe Dollar war? Ein betanischer Dollar sah schließlich genauso aus wie der andere. Wenn Bel behauptet hatte, es sei derselbe, als er Nicol wiedertraf, wie durfte dann Miles andeuten, es könnte anders gewesen sein? Ein solcher Spielverderber war er nicht, das stand verdammt noch mal fest. Nach dem Essen begaben sie sich unter Bels und Nicols Führung zum Bubble-Car-System, dessen Verkehrsadern kürzlich neu an das dreidimensionale Labyrinth angepasst worden waren, zu dem Station Graf sich entwickelt hatte. Nicol ließ ihren Schweber auf einem allgemeinen Gestell auf der Fahrgastplattform zurück. Ihr Wagen brauchte etwa zehn Minuten, um sie durch die verzweigten Röhren zu ihrem Ziel zu bringen. Miles’ Magen hob sich, als sie die Grenze zur schwerelosen Seite überquerten, und er holte hastig seine Pillen gegen Übelkeit aus der Tasche, schluckte eine und bot diskret Ekaterin und Roic davon an. Der Eingang zur Madame-Minchenko-Gedächtnishalle war weder groß noch eindrucksvoll: einfach nur einer der verschiedenen zugänglichen luftdichten Eingänge, wie sie 122
es hier auf verschiedenen Ebenen der Station gab. Nicol küsste Bel und sauste davon. Noch drängten sich keine Massen in den zylindrischen Korridoren, denn sie waren ziemlich früh gekommen, damit Nicol genug Zeit hatte, um sich hinter die Bühne zu begeben und dort umzuziehen; deshalb war Miles nicht vorbereitet auf den weiten Raum, in den sie hineinschwebten. Es handelte sich um eine riesige Hohlkugel. Fast ein Drittel ihrer Innenfläche bestand aus einer runden, transparenten Fensterwand, sodass das Universum selbst zum Theaterprospekt geworden war, übersät mit leuchtenden Sternen hier auf der Schattenseite der Station. Ekaterin packte ihn ziemlich abrupt an der Hand; Roic stieß einen leisen, würgenden Laut aus. Miles hatte das Gefühl, als schwömme er im Inneren eines gigantischen Bienenstocks, denn der Rest der Wand war mit sechseckigen Zellen gesäumt wie eine Wabe mit Silberrand, die mit regenbogenfarbenen Juwelen gefällt war. Als sie weiter in Richtung der Mitte schwebten, wurden die Zellen zu mit Samt gesäumten Logen für das Publikum, die der Größe nach variierten, von gemütlichen Nischen für einen Zuschauer bis zu Einheiten, die geräumig genug für Zehnergruppen waren, sofern es sich bei diesen zehn um Quaddies handelte, die keine langen, nutzlosen Beine hinter sich herzogen. Bei anderen Sektoren, die dazwischen gestreut waren, schien es sich um dunkle, flache Paneele von unterschiedlicher Form zu handeln, oder um andere Ausgänge. Miles versuchte zuerst, dem Raum eine Vorstellung von oben und unten zuzuordnen, aber dann blinzelte er, und der Raum schien um das Fenster zu rotieren, und schließlich 123
war er sich nicht mehr sicher, ob er nach oben oder nach unten oder seitwärts hindurchschaute. ›Nach unten‹ war eine besonders beunruhigende mentale Konstruktion, da sie den Schwindel erregenden Eindruck vermittelte, man fiele hinab in einen riesigen Sternenbrunnen. Als sie sich satt gegafft hatten, nahm sie ein QuaddiePlatzanweiser, der einen Luftdüsen-Gürtel trug, ins Schlepptau und steuerte sie sanft in Richtung Wand zu ihrem reservierten Sechseck. Es war mit einer dunklen, weichen. Schall schluckenden Polsterung und praktischen Handhalterungen ausgestattet und verfügte über eine eigene Beleuchtung, nämlich die bunten Juwelen, die sie von fern gesehen hatten. Eine dunkle Gestalt, die sich in der großzügig dimensionierten Loge schimmernd bewegte, entpuppte sich, als sie näher kamen, als Quaddie-Frau. Sie war schlank, mit langen Gliedmaßen und feinem weißblondem Haar, das auf Fingerlänge geschnitten war und in einer Aureole ihren Kopf umwehte. Miles musste an die Meerjungfrauen aus den Märchen denken. Wangenknochen, deren Schönheit Männer dazu bringen konnte, sich zu duellieren oder vielleicht schlechte Gedichte zu schreiben oder sich im Suff zu ertränken. Oder schlimmer: von ihrer Brigade zu desertieren. Sie war in eng anliegenden schwarzen Samt gekleidet, mit einer kleinen weißen Spitzenkrause um den Hals. Der Aufschlag am unteren rechten Ellbogen ihrer weich gefältelten schwarzen Samthose … – der Ärmel, entschied Miles, nicht das Hosenbein – war nicht geschlossen, um Platz zu lassen für eine medizinische luftgefüllte Armschiene, die bei Miles schmerzliche Erinnerungen an seine Kindheit 124
mit den zerbrechlichen Knochen wachrief. Dies war das einzige Steife. Anmutlose an ihr, eine grobe Beleidigung der übrigen Erscheinung. Dies konnte niemand anderer sein als Granat Fünf. Doch Miles wartete, bis Bel sie alle richtig vorstellte, was dieser auch sofort tat. Sie schüttelten allseits die Hände; Miles empfand den Griff der jungen Frau fest wie den eines Athleten. »Danke, dass Sie uns diese Plätze so kurzfristig besorgt haben«, sagte Miles und ließ ihre schlanke obere Hand los. »Wie ich höre, haben wir das Privileg, ein sehr schönes Stück Arbeit zu sehen.« Arbeit, so hatte er schon erfahren, war ein Wort, das bei den Quaddies einen ähnlichen Klang hatte wie etwa Ehre auf Barrayar. »Gern geschehen, Lord Vorkosigan.« Ihre Stimme war melodiös; ihr Gesichtsausdruck wirkte kühl, fast ironisch, aber in ihren laubgrünen Augen glomm eine unterschwellige Angst. Miles öffnete die Hand und wies auf ihren gebrochenen unteren rechten Arm. »Darf ich Ihnen meine persönliche Entschuldigung für das schlechte Benehmen einiger unserer Männer ausdrücken? Die Kerle werden dafür bestraft werden, sobald wir sie wiederbekommen. Bitte beurteilen Sie nicht alle Barrayaraner nach unseren schlimmsten Vertretern.« Tja. das kann sie gar nicht: eigentlich schicken wir unsere schlimmsten nirgendwohin. Gregor sei Dank. Sie lächelte kurz. »Das tue ich nicht, denn ich habe auch Ihre Besten kennen gelernt.« Die Sorge in ihren Augen klang auch aus ihrer Stimme. »Dmitri – was wird mit ihm geschehen?« 125
»Nun ja, das hängt zu einem großen Teil von Dmitri selbst ab.« Erwartungen, erkannte Miles plötzlich, konnten hier in zwei Richtungen tendieren. »Wenn er freigelassen wird und zum Dienst zurückkehrt, könnte es mit einem kleinen schwarzen Fleck in seiner Dienstakte abgetan sein – er hätte seinen Kommunikator nicht ablegen dürfen, während er Ausgang auf der Station hatte, wissen Sie, und zwar aus genau dem Grund, den Sie leider erlebt haben –, aber es könnte auch bis zu einer sehr ernsten Anklage wegen versuchter Fahnenflucht reichen, falls er seinen Antrag auf politisches Asyl nicht zurückzieht, solange noch nicht darüber entschieden ist.« Ihr Gesicht erstarrte leicht. »Vielleicht wird der Antrag nicht abgelehnt.« »Selbst wenn er befürwortet wird, könnten die langfristigen Folgen komplexer sein, als Sie vielleicht erwarten. Er würde für immer aus seiner Heimat exiliert sein, niemals in der Lage, zu seiner Familie zurückzukehren oder sie zu sehen. Barrayar mag jetzt in der ersten Aufwallung der … Emotion als eine Welt erscheinen, die hinter ihm liegt, aber ich glaube – ich bin mir dessen sicher –, er könnte es später zutiefst bereuen.« Er dachte an den melancholischen Baz Jesek, der auf Jahre im Exil gewesen war wegen eines noch schlimmer geführten Konflikts. »Es gibt andere, wenn auch weniger schnelle Wege, wie Fähnrich Corbeau am Ende hierher kommen könnte, wenn dieser Wunsch wirklich sein wahrer Wille ist und nicht nur eine zeitweilige Laune. Es würde etwas länger dauern, wäre aber weitaus weniger schädlich – er spielt schließlich damit um den Rest seines Lebens.« 126
Sie runzelte die Stirn. »Wird das barrayaranische Militär ihn nicht erschießen lassen oder auf schreckliche Weise hinschlachten oder – oder aus dem Hinterhalt ermorden?« »Wir befinden uns nicht im Krieg mit der Union.« Jedenfalls noch nicht. Es müssten wohl noch mehr heroische Böcke geschossen werden, bis das der Fall sein würde, aber vermutlich durfte er seine barrayaranischen Landsleute nicht unterschätzen. Und er glaubte nicht, dass Corbeau politisch wichtig genug war, um ihn ermorden zu lassen. Also, dann versuchen wir doch sicherzustellen, dass er nicht so wichtig wird, oder? »Er würde nicht hingerichtet werden. Aber zwanzig Jahre im Gefängnis sind wohl kaum besser, von Ihrem Standpunkt aus gesehen. Sie helfen ihm oder sich selbst nicht, indem Sie ihn zu dieser Fahnenflucht ermutigen. Lassen Sie ihn zum Dienst zurückkehren, lassen Sie ihn seine Zeit abdienen und einen Rückflug hierher bekommen. Wenn Sie dann beide immer noch derselben Meinung sind, dann führen Sie Ihre Beziehung fort, ohne dass sein ungelöster legaler Status Ihrer beider Zukunft vergiftet.« Ihre Miene war noch störrischer geworden. Miles kam sich auf schreckliche Weise vor wie ein langweiliger Vater, der seinem von Angst geplagten Teenager Vorträge hielt, aber sie war kein Kind mehr. Er würde Bel nach ihrem Alter fragen müssen. Ihre anmutige und souveräne Art sich zu bewegen konnte das Ergebnis ihrer Tanzausbildung sein. Er erinnerte sich daran, dass sie, die Besucher, freundlich dreinblicken sollten, und so versuchte er seine Worte mit einem verspäteten Lächeln zu mildern. »Wir wollen Partner werden«, sagte sie. »Auf Dauer.« 127
Nachdem Sie einander nur zwei Wochen gekannt haben? Sind Sie sich da sicher? Er schluckte diese Bemerkung hinunter, als ein Seitenblick von Ekaterin ihn daran erinnerte, wie wenige Tage – oder waren es nur Stunden – es gebraucht hatte, dass er sich in sie verliebte. Zugegeben, der Teil auf Dauer hatte länger gebraucht. »Ich kann gewiss verstehen, warum Corbeau das vielleicht wünscht.« Das Umgekehrte war natürlich rätselhafter. In beiden Fällen. Er selbst fand Corbeau nicht liebenswert – bis jetzt war sein stärkstes Gefühl ein tiefer Wunsch, dem Fähnrich eine kräftige Kopfnuss zu geben –. aber diese Frau hier sah Corbeau mit anderen Augen. »Auf Dauer?«, warf Ekaterin zweifelnd ein. »Aber … glauben Sie nicht, dass Sie vielleicht eines Tages Kinder haben wollen? Oder vielleicht er?« Auf Granat Fünfs Gesicht zeichnete sich Hoffnung ab. »Wir haben darüber schon gesprochen. Wir sind beide daran interessiert, Kinder zu haben.« »Hm … äh«, sagte Miles. »Quaddies sind nicht interfertil mit Planetariern, oder?« »Nun. man muss eine Wahl treffen, bevor sie in die Replikatoren kommen, genauso wie ein Hermaphrodit, der sich mit einem Monosexuellen kreuzt, wählen muss, ob die Genetik angepasst wird, um einen Jungen oder ein Mädchen oder einen Hermaphroditen hervorzubringen. Einige Partnerschaften zwischen Quaddies und Planetariern haben Quaddie-Kinder, andere haben Planetarier-Kinder, und wieder andere haben sowohl als auch – Bel, zeig doch Lord Vorkosigan deine Baby-Bilder!« Miles’ Kopf schnellte herum. »Was?« 128
Bel errötete und kramte in seiner Hosentasche. »Nicol und ich … als wir zum Genetiker zur Beratung gingen, da ließ er eine Projektion aller möglichen Kombinationen ablaufen, um uns die Wahl zu erleichtern.« Der Hermaphrodit hielt einen Holokubus hoch und schaltete ihn ein. Sechs lebensgroße Aufnahmen erschienen über seiner Hand. Die Kinder schienen alle rund ein Dutzend Jahre alt zu sein, die Rundheit der Kindheit begann gerade in die Andeutung erwachsener Gesichtszüge überzugehen. Sie hatten Bels Augen, Nicols Wangenkonturen, das Haar in einem bräunlichen Schwarz mit der vertrauten Stirnlocke. Ein Junge, ein Mädchen und ein Herrn mit Beinen: ein Junge, ein Mädchen und ein Herm als Quaddies. »Oh«, sagte Ekaterin und griff danach. »Wie interessant.« »Die Gesichtszüge sind nur eine elektronische Mischung von Nicols Gesicht und meinem, nicht eine echte genetische Projektion«, erklärte Bel und reichte Ekaterin bereitwillig den Kubus. »Für eine genetische Projektion brauchten sie eine echte Zelle von einem echten Embryo, die sie natürlich nicht haben können, solange nicht ein echter Embryo für die genetischen Modifikationen erzeugt wurde.« Ekaterin drehte die Bilder hin und her und studierte die Porträts von allen Seiten. Miles, der ihr über die Schulter schaute, sagte sich selbst mit Nachdruck, dass sein Holovid mit den sich derzeit im eher langweiligen Blastulastadium befindlichen Kindern Aral Alexander und Helen Natalia sich zum Glück noch in seinem Gepäck an Bord der Turmfalke befand. Aber vielleicht würde er später eine Gelegenheit haben, sie Bel zu zeigen … 129
»Habt ihr beide euch endgültig entschieden, was ihr wollt?«, fragte Granat Fünf. »Für den Anfang ein kleines Quaddie-Mädchen. Wie Nicol.« Bels Gesicht wurde weich, dann nahm es plötzlich wieder sein gewohntes ironisches Lächeln an. »Vorausgesetzt, ich wage den Sprung und stelle meinen Antrag auf die Staatsbürgerschaft der Union.« Miles stellte sich Granat Fünf und Dmitri Corbeau mit einem hübschen, athletischen Quaddie-Kind nach dem anderen vor. Oder Bel und Nicol mit einem Haufen kluger, musikalischer Kinder. Da drehte sich ihm alles im Kopf. Roic, der sprachlos dastand, schüttelte den Kopf, als Ekaterin ihm anbot, die Holo-Bilder näher zu betrachten. »Aha«, sagte Bel. »Die Vorstellung geht gleich los.« Der Hermaphrodit nahm den Holokubus wieder an sich, schaltete ihn aus, steckte ihn wieder sicher tief in die Tasche seiner bauschigen blauen Kniehose und schloss sorgfältig die Lasche. Während sie sprachen, hatte sich die Halle gefüllt, und in den Waben befand sich jetzt eine aufmerksame Menge, zu der auch eine erkleckliche Anzahl anderer Planetarier gehörte; ob es sich dabei allerdings um Bürger der Union oder Besucher aus der Galaxis handelte, konnte Miles nicht immer unterscheiden. Jedenfalls sah man an diesem Abend keine grünen barrayaranischen Uniformen. Die Lichter wurden schwächer, das Stimmengewirr verstummte, und ein paar letzte Quaddies sausten hinüber zu ihren Logen und ließen sich darin nieder. Zwei Planetarier, die ihren Schwung falsch eingeschätzt hatten und in der Mitte gelandet waren, wurden von den Platzanweisern gerettet und zu 130
ihrer Loge eskortiert, was ihnen ein leises Gekicher von denjenigen Quaddies einbrachte, die den Vorfall bemerkt hatten. Eine elektrische Spannung füllte die Luft, die seltsame Mischung aus Hoffnung und Furcht, die jede LiveVeranstaltung mit sich brachte, mit ihrem Risiko der Unvollkommenheit und der Chance zur Größe. Die Lichter erloschen völlig, und nur noch der blau-weiße Sternenschimmer glitzerte über den nun gefüllten Zellen der Halle. Lichter flammten auf, eine überschäumende Fontäne von Rot und Orange und Gold, und von allen Seiten strömten die Tänzer herein. Donnerten herein. Quaddie-Männer, athletisch und enthusiastisch, in eng anliegenden Strickanzügen, übersät mit glitzerndem Flitterwerk, und sie trommelten. Handtrommeln hatte ich nicht erwartet. Andere Vorführungen in der Schwerelosigkeit, die Miles gesehen hatte, ob nun Tanz oder Gymnastik, waren – abgesehen von der Musik und den Toneffekten – geradezu unheimlich stumm gewesen. Quaddies machten ihre eigenen Geräusche, und sie hatten immer noch Hände frei, um mit verschränkten Händen zu spielen; die Trommler trafen sich in der Mitte, packten sich, tauschten Schwung aus und schwebten in einem sich verändernden Muster zurück. Zwei Dutzend Männer nahmen in der Schwerelosigkeit in der Mitte der kugelförmigen Halle perfekt Position ein; ihre Bewegung war dabei so kontrolliert, dass sie kein Abdriften seitwärts gestattete, während die Energie ihrer Drehungen und Verbeugungen, ihrer Biegungen und Wendungen durch ihre Körper floss, vom einen zum anderen und wieder rund herum. Die Luft pulsierte im Rhythmus ihrer Trommelwirbel: 131
Trommeln aller Größen, rund, länglich, doppelköpfig; nicht nur gespielt vom jeweiligen Trommelhalter, sondern einige wurden zwischen ihnen hin und her gestoßen in einer Augen und Ohren betäubenden Mischung aus Musik und Jonglieren, und kein einziger Schlag ging fehl. Die Lichter tanzten. Ihre Spiegelungen übersprühten die Wände und fielen auf erhobene Hände, Arme, helles Tuch, Schmuck und verzückte Gesichter in den Logen. Dann schoss, einem Geysir gleich, von einem anderen Eingang ein Dutzend Quaddie-Frauen, alle in Blau und Grün gekleidet, hinauf in das wachsende geodätische Muster und schloss sich dem Tanz an. Alles, was Miles denken konnte, war: Wer auch immer als Erster Kastagnetten in den Quaddie-Raum gebracht hat, hat vieles zu verantworten. Sie brachten eine lachende Diskantnote in das Geflecht aus Perkussionstönen: Handtrommeln und Kastagnetten, keine anderen Instrumente. Es wurden auch keine gebraucht. Der runde Raum hallte wider und vibrierte. Miles dachte an barrayaranische Marschkapellen. Es war nicht genug, dass Menschen etwas so Schwieriges taten und ein Musikinstrument zu spielen lernten. Nein, sie mussten es noch in Gruppen tun. Während sie herummarschierten. In komplizierten Mustern. Und dann wetteiferten sie miteinander, es noch besser zu tun. Leistung, diese Art von ausgezeichneter Leistung, konnte niemals eine vernünftige ökonomische Rechtfertigung haben. Es musste der Ehre Gottes, des Landes oder des Volkes zuliebe getan werden. Um der Freude willen, ein Mensch zu sein. Das Stück dauerte zwanzig Minuten, bis die Spieler keuchten und der Schweiß in winzigen Perlen von ihnen 132
tropfte und in funkelnden Schlieren in die Dunkelheit schoss, und immer noch wirbelten sie herum. Miles musste sich zwingen, nicht aus Sympathie mit ihnen zu hyperventilieren, den Herzschlag synchron mit ihren Rhythmen. Dann gab es einen letzten großartigen Ausbruch freudigen Lärms – und irgendwie löste sich das Netz aus vierarmigen Männern und Frauen in zwei Ketten auf, die zu den Öffnungen zurückströmten, aus denen sie eine Offenbarung zuvor herausgekommen waren. Es war wieder dunkel. Die Stille war wie ein Schlag; Miles hörte hinter sich Roic ehrfürchtig ausatmen, sehnsüchtig, wie ein Mann, der vom Krieg nach Hause gekommen ist und sich zum ersten Mal entspannt in sein eigenes Bett legt. Der Beifall – Klatschen von Händen natürlich – erschütterte den Raum. Keiner der Barrayaraner, so dachte Miles, musste jetzt Begeisterung für die Quaddie-Kultur heucheln. Es wurde wieder still in der Halle, als das Orchester von vier Stellen aus hereinkam und Stellung um das große Fenster bezog. Das halbe Hundert Quaddies trug eine standardmäßigere Auswahl an Instrumenten – alle akustisch, wie Ekaterin ihm fasziniert zuflüsterte. Sie entdeckten Nicol, der zwei weitere Quaddies assistierten und halfen, ihre Harfe zu bugsieren und zu sichern; dazu kam noch ihr doppelseitiges Zymbal, das aus diesem Blickwinkel wie ein stumpfer länglicher Kasten aussah. Doch das Stück, das folgte, enthielt einen Solopart für sie mit dem Zymbal; ihr elfenbeinfarbenes Gesicht wurde von einem Scheinwerfer hervorgehoben, und die Musik, die zwischen ihren vier rasenden Händen hervorströmte, war alles andere als stumpf: 133
strahlend ätherisch, herzergreifend, elektrisierend. Bel musste das schon Dutzende Male gesehen haben, vermutete Miles, aber der Hermaphrodit war gewiss ebenso fasziniert wie jeder Neuankömmling. Was in Bels Augen leuchtete, war nicht bloß das Lächeln eines Liebenden.Ja, du würdest sie nicht richtig lieben, wenn du nicht auch ihre unbekümmerte, überschwängliche, verschwenderische Leistung liebtest. Kein eifersüchtiger Liebhaber, so gierig und selbstsüchtig er auch war, konnte alles für sich horten; es musste in die Welt strömen, sonst würde seine Quelle bersten. Miles blickte zu Ekaterin hinüber und dachte an ihre großartigen Gärten zu Hause auf Barrayar, die ihr hier sehr fehlten. Ich werde dich nicht viel länger von ihnen fem halten, meine Liebste. Das verspreche ich dir! Es folgte eine kurze Pause, in der Quaddie-Bühnenarbeiter einige geheimnisvolle Pfähle und in seltsamen Winkeln darin steckende Stangen um das Innere der Kugel arrangierten. Granat Fünf, die von Miles aus gesehen seitlich schwebte, murmelte über die Schulter: »Jetzt kommt das Stück, das ich für gewöhnlich tanze. Es ist ein Auszug aus einem größeren Werk, Aljeans klassisches Ballett Die Überquerung. Es erzählt die Geschichte von der Wanderung unseres Volkes durch den Nexus in den QuaddieRaum. Hier handelt es sich um das Liebesduett zwischen Leo und Silver. Ich tanze Silver. Ich hoffe, meine zweite Besetzung vermurkst es nicht …«Sie verstummte, da die Ouvertüre begann. Zwei Gestalten, ein Planetarier und eine blonde Quaddie-Frau, schwebten aus entgegengesetzten Richtungen herein, gewannen an Schwung durch Handspins um zwei 134
der Stangen und trafen sich in der Mitte. Diesmal gab es keine Trommeln, nur den lieblichen, fließenden Klang des Orchesters. Die Beine des Leo-Darstellers wurden wie nutzlos nachgezogen, und Miles brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass er von einem Quaddie-Tänzer mit Beinattrappen gespielt wurde. Wie die Frau vom Drehmoment Gebrauch machte, die verschiedenen Arme anzog oder ausstreckte, während sie herumwirbelte, war brillant kontrolliert, und ihre Wechsel der Flugbahnen um die Stangen waren präzis. Nur wenn Granat Fünf vernehmlich Luft holte oder etwas Kritisches murmelte, konnte Miles ahnen, dass etwas nicht ganz perfekt war. Der Kerl mit den falschen Beinen war absichtlich unbeholfen und erntete damit ein Gekicher von den Quaddies im Publikum. Miles rutschte unbehaglich hin und her, als er erkannte, dass er hier auf beinahe parodistische Weise miterleben durfte, wie Planetarier in den Augen der Quaddies wirkten. Aber die bezaubernden hilfsbereiten Gesten der Frau ließen es eher liebenswert als grausam erscheinen. Bel grinste, beugte sich herüber und murmelte in Miles’ Ohr: »Es ist schon in Ordnung. Leo Graf soll wie ein Ingenieur tanzen. Das war er ja auch.« Der Aspekt der Liebe in der ganzen Geschichte war deutlich genug. Affären zwischen Quaddies und Planetariern hatten anscheinend eine lange und ehrbare Geschichte. Miles kam der Gedanke, dass gewisse Aspekte seiner Jugend vielleicht viel leichter gewesen wären, wenn Barrayar ein Repertoire romantischer Geschichten besessen hätte, in denen kleinwüchsige, verkrüppelte Helden die Stars gewesen wären an Stelle von Mutantenschurken. Falls dies hier 135
ein passendes Beispiel war. dann war es offensichtlich, dass Granat Fünf kulturell vorbereitet war, die Julia für ihren barrayaranischen Romeo zu spielen. Aber diesmal wollen wir keine Tragödie anrichten, ja? Das verzaubernde Stück erreichte seinen Höhepunkt, und die beiden Tänzer grüßten die begeistert klatschenden Zuschauer, bevor sie hinaus schwebten. Die Lichter leuchteten wieder auf; es war Zeit für eine Pause. Die darstellenden Künste, so erkannte Miles. waren grundsätzlich durch die Biologie eingeschränkt, in diesem Fall durch das Fassungsvermögen der menschlichen Blase, egal ob von Planetariern oder Quaddies. Als sie sich alle wieder in ihrer Loge trafen, bemerkte er, dass Granat Fünf gerade Ekaterin die Namenskonventionen der Quaddies beschrieb. »Nein, es ist kein Familienname«, sagte Granat Fünf. »Als die Quaddies von der GalacTech Corporation entwickelt wurden, gab es von uns nur eintausend. Jeder hatte nur einen persönlichen Namen plus eine Personalnummer, und da wir so wenige waren, war jeder Name einmalig. Als unsere Vorfahren in die Freiheit flohen, veränderten sie die Nummerncodierung, aber sie behielten das System einzelner, einmaliger Namen bei, die in einem Register verzeichnet wurden. Da man aus allen Sprachen der alten Erde schöpfen konnte, dauerte es einige Generationen, bis das System an seine Grenzen stieß. Die Wartelisten für die wirklich populären Namen waren irrsinnig lang. So stimmte man für eine Erlaubnis der Mehrfachbenutzung von Namen, aber nur, wenn der Name ein numerisches Suffix hatte, damit wir immer jeden Leo von jedem anderen Leo un136
terscheiden konnten. Wenn man stirbt, dann geht die Name-Nummer-Kombination wieder in das Register zurück, um erneut gezogen zu werden.« »Ich habe einen Leo Neunundneunzig in meinem Dockund-Schleusen-Team«, sagte Bel. »Das ist die höchste Nummer, auf die ich bisher gestoßen bin. Man scheint niedrigere Zahlen oder gar keine Zahlen vorzuziehen.« »Ich bin bisher noch keiner der anderen begegnet, die Granat heißen«, sagte Granat Fünf. »Als ich letztes Mal nachschaute, gab es in der ganzen Union insgesamt acht.« »Ich wette, es wird noch mehr geben«, bemerkte Bel. »Und du wirst daran schuld sein.« Granat Fünf lachte. »Ja, das wünsch ich mir!« Die zweite Hälfte der Vorführung war so eindrucksvoll wie die erste. Während eines der musikalischen Zwischenspiele hatte Nicol eine exquisite Harfenpartie. Es gab zwei weitere große Gruppentänze, der eine war abstrakt und mathematisch, der andere erzählend, anscheinend beruhte er auf einer tragischen Druckabfallkatastrophe einer früheren Generation. Das Finale versammelte alle Darsteller in der Mitte zu einem letzten lebhaften, Schwindel erregenden Wirbel; Trommler, Kastagnettenspielerinnen und Orchester waren vereint zu einer musikalischen Begleitung, die man nur als massiv bezeichnen konnte. Miles kam es vor, als endete die Vorstellung allzu früh, doch sein Chrono sagte ihm, dass vier Stunden während dieses Traumes vergangen waren. Er verabschiedete sich dankbar, doch unverbindlich von Granat Fünf. Als Bel und Nicol die drei Barrayaraner im Bubble-Car zurück zur Turmfalke begleiteten, dachte er darüber nach, wie Kultu137
ren sich ihre Geschichten erzählten und sich so definierten. Das Ballett hatte vor allem den Körper der Quaddies gefeiert. Gewiss würde kein Planetarier die Aufführung des Quaddie-Balletts verlassen und dann die vierarmigen Menschen noch für Mutanten, Krüppel oder sonst wie Benachteiligte oder Unterlegene halten. Man konnte sogar – wie Corbeau demonstriert hatte – hinausgehen und sich in eine Quaddie verliebt haben. Nicht, dass jede verkrüppelnde Schädigung für das Auge sichtbar war. Dieser ganze überschwängliche Athletizismus erinnerte ihn dann, vor dem Zubettgehen die chemische Verfassung seines Gehirns zu überprüfen und zu schauen, wann voraussichtlich sein nächster Anfall stattfinden würde.
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7 Miles erwachte aus tiefem Schlaf, als jemand an die Kabinentür klopfte. »Mylord?«, meldete sich Roic leise. »Admiral Vorpatril möchte mit Ihnen sprechen. Er ist auf der gesicherten KomKonsole in der Offiziersmesse.« Was immer an Inspiration in dem schläfrigen Intermezzo zwischen Schlaf und Erwachen aus seinem Hinterkopf in sein Bewusstheit heraufgeschwebt war, entzog sich ihm unwiderruflich. Miles stöhnte und schwang sich aus dem Bett. Ekaterins Hand hing vom oberen Bett herunter, sie blickte ihn verschlafen an; er nahm die Hand und flüsterte: »Schlaf weiter, Schatz.« Sie schnaufte zustimmend und rollte sich auf die andere Seite. Miles fuhr sich mit den Händen durchs Haar, packte seine graue Jacke, zog sie sich über seine Unterwäsche und tapste barfuß in den Korridor hinaus. Als die luftdichte Tür sich zischend hinter ihm schloss, blickte er auf sein Chrono. Da sich der Quaddie-Raum nicht mit unpraktischen planetarischen Rotationen abgeben musste, galt im Lokalraum eine einzige Zeitzone, an die sich Miles und Ekaterin wahrscheinlich auf der Herreise angepasst hatten. In Ordnung, es war also nicht mitten in der Nacht, es war früher Morgen. Miles setzte sich an den Tisch in der Offiziersmesse, glättete seine Jacke und zog den Kragen am Hals hoch, dann berührte er die Steuertaste an seinem Stuhl. Über der Vid-Scheibe erschienen Admiral Vorpatrils Gesicht und sein Oberkörper. Er war hellwach, angekleidet, rasiert und 139
hatte zur rechten Hand eine Kaffeetasse stehen, der Mistkerl. Vorpatril presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Wie zum Teufel haben Sie es gewusst?«, wollte er wissen. Miles kniff die Augen zusammen. »Wie bitte?« »Ich habe gerade von meinem Chefarzt den Bericht über Solians Blutprobe erhalten. Es war künstlich hergestellt, wahrscheinlich innerhalb von vierundzwanzig Stunden, bevor es auf dem Deck vergossen wurde.« »So, so.« Verdammt noch mal. »Das ist … bedauerlich.« »Aber was bedeutet das? Ist der Mann noch irgendwo am Leben? Ich hätte geschworen, dass er nicht desertiert ist, aber vielleicht hatte Brun Recht.« Wie eine Uhr, die stillstand, konnten auch Idioten mitunter Recht haben. »Ich muss darüber nachdenken. Eigentlich beweist es weder, dass Solian noch lebt, noch, dass er tot ist. Es beweist nicht einmal notwendigerweise, dass er nicht dort getötet wurde, nur. dass man ihm nicht dort die Kehle durchgeschnitten hat.« Gefolgsmann Roic – Gott segne und erhalte ihn auf immer! – stellte eine Tasse mit dampfendem Kaffee neben Miles’ Ellbogen ab und zog sich wieder auf seinen Posten an der Tür zurück. Miles räusperte sich, versuchte seine Verwirrung mit dem ersten Schluck hinunterzuspülen und nahm dann noch einen zweiten Schluck, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Doch Vorpatril hatte bei beidem einen Vorsprung, beim Kaffee und beim Überlegen. »Sollten wir das Chef Venn berichten? Oder … nicht?« 140
Miles gab einen Laut des Zweifels von sich. Sein einziger diplomatischer Trumpf, das Einzige, was ihm hier sozusagen Boden unter den Füßen gegeben hatte, war die Möglichkeit gewesen, dass Solian von einem unbekannten Quaddie ermordet worden war. Dies war jetzt jedoch noch fragwürdiger geworden, so schien es. »Das Blut muss irgendwo hergestellt worden sein. Wenn man die richtigen Geräte hat, dann ist es einfach, und wenn man sie nicht hat, ist es unmöglich. Wenn man herausfindet, wo überall sich solche Geräte auf der Station – oder an Bord von Schiffen, die angedockt sind – befinden, dann muss sich darunter der Ort befinden, wo es hergestellt wurde. Der Ort und die Zeit müssten zu den Leuten führen. Nach dem Ausschlussverfahren. Das ist sozusagen Beinarbeit …« Miles zögerte, doch dann fuhr er fort: »… und für die ist die örtliche Polizei besser ausgerüstet als wir. Wenn man ihr vertrauen kann.« »Den Quaddies vertrauen? Wohl kaum!« »Welche Motivation sollten sie haben, uns anzulügen oder in die Irre zu führen?« Ja, welche? »Ich muss das über Greenlaw und Venn erledigen. Auf Station Graf habe ich keine Autorität aus eigenem Recht.« Nun ja, da gab es Bel, aber er musste Bel sparsam einsetzen, sonst gefährdete er die Tarnung des Hermaphroditen. Er wollte die Wahrheit wissen. Reumütig erkannte er, dass er am liebsten auch ein Monopol auf sie hätte, zumindest bis er Zeit hatte herauszufinden, wie er am besten Barrayars Interessen dienen konnte. Doch wenn die Wahrheit uns nicht dient, was sagt das dann über uns, ha? Er rieb sich über das stoppelige Kinn. »Es beweist deutlich, dass 141
das, was immer in jener Ladebucht geschah, ob nun Mord oder Vertuschung, sorgfältig geplant und nicht spontan geschehen war. Ich werde darüber mit Greenlaw und Venn sprechen. Mit den Quaddies zu reden ist jetzt jedenfalls mein Job.« Als Buße für meine Sünden vermutlich. Welchen Gott habe ich diesmal vergrätzt? »Danke Admiral, und sagen Sie auch Ihrem Chefarzt meinen Dank für seine gute Arbeit.« Vorpatril nickte, wider Willen erfreut ob der ihm zuteil gewordenen Anerkennung, und Miles legte auf. »Verdammt«, murmelte er gereizt und blinkte mit gerunzelter Stirn in die Leere. »Warum hat niemand diese Information schon beim ersten Durchgang beschafft? Es ist doch nicht mein Job, einen verdammten forensischen Pathologen zu spielen.« »Ich nehme an«, begann Gefolgsmann Roic und hielt inne. »Hm … war das eine Frage, Mylord?« Miles drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Eine rhetorische Frage, aber haben Sie eine Antwort?« »Nun ja, Mylord«, erwiderte Roic unsicher. »Es geht um die Größe der Dinge hier. Die Station Graf ist ein ziemlich großes Weltraum-Habitat, aber in Wirklichkeit ist sie nach barrayaranischen Maßstäben eine Art kleine Stadt. Und all diese Raumfahrertypen sind in gewisser Weise ziemlich gesetzestreu. Mit all diesen Sicherheitsregeln. Ich glaube, die haben hier nicht viele Morde.« »Wie viele hattet ihr denn in Hassadar?« Die Station Graf rühmte sich, etwa fünfzigtausend Einwohner zu haben; die Bevölkerung der Distriktshauptstadt der Vorkosigans näherte sich derzeit der halben Million. 142
»Vielleicht einen oder zwei im Monat, durchschnittlich. Sie sind nicht gleichmäßig verteilt. Manchmal gibt es einen ganzen Haufen, dann folgt wieder eine ruhige Periode. Mehr im Sommer als im Winter, ausgenommen um das Winterfest: Dann gibt es gleich mehrere. Die meisten davon waren natürlich keine Rätsel. Aber selbst in Hassadar gab es nicht genügend wirklich seltsame Mordfälle, um unsere Gerichtsmediziner in Übung zu halten. Unsere Mediziner waren meistens Teilzeitkräfte von der Distriktsuniversität auf Abruf. Wenn wir jemals auf etwas wirklich Seltsames stießen, dann holten wir einen Ermittler von Lord Vorbohns Morddezernat aus Vorbarr Sultana. In der Hauptstadt muss es etwa jeden Tag einen Mord geben – alle Arten, und deshalb haben die dort eine Menge Erfahrung. Bestimmt hat Chef Venn nicht einmal eine gerichtsmedizinische Abteilung, nur ein paar Quaddie-Ärzte, die er gelegentlich anzapft. Deshalb würde ich nicht erwarten, dass sie den KBS-Standards entsprechen, an die Sie gewöhnt sind, Mylord.« »Das … ist ein interessantes Argument, Gefolgsmann. Danke.« Miles nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Solian …«, sagte er nachdenklich. »Ich weiß immer noch nicht genug über Solian. Hatte er Feinde? Verdammt, hatte der Mann nicht einmal einen Freund? Oder eine Geliebte? Und wenn man ihn wirklich umgebracht hat, war das dann aus persönlichen oder aus beruflichen Gründen? Das macht einen riesigen Unterschied.« Auf der Herreise hatte Miles Solians militärische Personalakten durchgeschaut und sie für einwandfrei befunden. Falls der Mann jemals zuvor im Quaddie-Raum gewesen 143
war. dann jedenfalls nicht in den sechs Jahren, seit er in die kaiserlichen Streitkräfte eingetreten war. Er hatte schon zwei Reisen mitgemacht, mit anderen Flottenkonsortien und anderen militärischen Eskorten; dabei schien er nichts Aufregenderes erlebt zu haben als die gelegentliche Konfrontation mit einem betrunkenen Besatzungsmitglied oder einem streitsüchtigen Passagier. Im Durchschnitt war auf jeder Tour des Eskortendienstes im Nexus mehr als die Hälfte des militärischen Personals für einander neu. Falls sich Solian in den Wochen, seit diese Flotte Komarr verlassen hatte, Freunde – oder Feinde – gemacht haben sollte, dann mussten diese so gut wie ausschließlich Leute von der Idris gewesen sein. Falls der Zeitpunkt seines Verschwindens näher an der Ankunft der Flotte im Quaddie-Raum gewesen wäre, dann hätte Miles die professionellen Möglichkeiten ebenfalls der Idris zugeschrieben, aber während der zehn Tage im Dock hätte ein neugieriger Sicherheitsmann jede Menge Zeit gehabt, um auch auf der Station in Schwierigkeiten zu geraten. Er trank seine Tasse aus und tippte an der Konsole Venns Nummer ein. Der Sicherheitschef der Quaddies war ebenfalls früh zur Arbeit erschienen. Sein persönliches Büro befand sich offensichtlich auf der schwerkraftlosen Seite. Im Vid-Bild schien er seitwärts zu Miles zu schweben, einen Kaffeekolben in der oberen rechten Hand. Er murmelte ein höfliches »Guten Morgen, Lord Auditor Vorkosigan«, doch er unterhöhlte die verbale Höflichkeit, indem er sich nicht mit Rücksicht auf Miles aufrichtete, sodass dieser sich bewusst bemühen musste, nicht aus seinem Stuhl zu kippen. »Was kann ich für Sie tun?« 144
»Einiges, aber zunächst habe ich eine Frage. Wann gab es den letzten Mord auf Station Graf?« Venns Augenbrauen zuckten. »Es gab einen vor etwa sechs Jahren.« »Und …äh … davor?« »Drei Jahre davor, glaube ich.« Wirklich eine Welle von Verbrechen. »Haben Sie damals die Ermittlungen geleitet?« »Nun, das war vor meiner Zeit – ich wurde vor ungefähr fünf Jahren Sicherheitschef für Station Graf. Aber damals gab es nicht so viel zu ermitteln. Beide Verdächtige waren Planetarier auf der Durchreise – der eine brachte einen anderen Planetarier um, der andere ermordete einen Quaddie, mit dem er in einen törichten Streit wegen einer Zahlung geraten war. Die Schuld wurde bestätigt durch Zeugen und durch Vernehmungen unter Schnell-Penta. In diese Affären sind fast immer Planetarier verwickelt, fällt mir dabei auf.« »Haben Sie jemals bei einer rätselhaften Tötung ermittelt?« Venn richtete sich auf, anscheinend, um seinem düsteren Blick mehr Wirkung zu verleihen. »Ich und meine Leute sind voll ausgebildet in den entsprechenden Verfahrensweisen, das kann ich Ihnen versichern.« »Leider muss ich mir das Urteil über diesen Punkt noch vorbehalten, Chef Venn. Ich habe einige sehr merkwürdige Neuigkeiten. Ich hatte den Chefarzt der barrayaranischen Flotte noch einmal Solians Blutprobe überprüfen lassen. Es sieht so aus, als wäre das fragliche Blut künstlich hergestellt worden, wobei man vermutlich eine ursprüngliche Probe oder eine Matrize von Solians echtem Blut oder Ge145
webe benutzt hat. Sie werden vielleicht den Wunsch haben, Ihre Gerichtsmediziner – wer immer sie sind – Ihre eigenen archivierten Beweise aus der Ladebucht noch einmal untersuchen zu lassen und diese Tatsache zu bestätigen.« Die Runzeln gruben sich noch tiefer in Venns Stirn. »Dann … war er ein Deserteur – überhaupt nicht ermordet! Kein Wunder, dass wir keine Leiche finden konnten.« »Sie rennen – Sie eilen den Dingen voraus, glaube ich. Ich gebe zu, das Szenario ist extrem undurchsichtig geworden. Meine Bitte ist also, dass Sie alle möglichen Einrichtungen auf Station Graf ausfindig machen, wo eine solche Gewebesynthese durchgeführt werden könnte, und dass Sie nachschauen, ob es Aufzeichnungen über die Herstellung einer derartigen Menge Blut gibt und für wen sie hergestellt wurde. Oder ob es möglich gewesen wäre, sie ohne Aufzeichnungen durch die Kontrolle schlüpfen zu lassen. Ich glaube, wir können mit Sicherheit annehmen, dass derjenige, der sie herstellen ließ, ob nun Solian oder ein Unbekannter, an einer Geheimhaltung sehr interessiert war. Der Flottenarzt berichtet, das Blut sei wahrscheinlich höchstens einen Tag, bevor es verschüttet wurde, erzeugt worden, aber um sicherzugehen, sollten die Ermittlungen lieber bis zu dem Zeitpunkt zurückgehen, als die Idris an die Station andockte.« »Ich … folge Ihrer Logik, gewiss.« Venn hielt seinen Kaffeekolben an den Mund, drückte und trank, dann reichte er ihn geistesabwesend an seine untere linke Hand weiter. »Ja, gewiss«, wiederholte er etwas schwächer. »Ich werde mich selbst darum kümmern.« Miles war befriedigt, dass er Venn gerade im richtigen 146
Ausmaß aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, sodass dieser zwar aus Verlegenheit eine wirkungsvolle Aktion unternahm, jedoch nicht in einer Verteidigungshaltung erstarrte. »Danke.« »Ich glaube, Eichmeisterin Greenlaw wollte Sie heute früh auch sprechen, Lord Vorkosigan.« »Sehr gut. Sie können meinen Anruf zu ihr durchstellen, bitte schön.« Greenlaw war ein Morgenmensch, so schien es, oder sie hatte ihren Kaffee schon zuvor getrunken. Sie erschien in dem Holovid in ein anderes kunstvoll gearbeitetes Wams gekleidet und blickte streng hellwach drein. Vielleicht mehr aus diplomatischer Gewohnheit als aus dem Verlangen zu gefallen, nahm sie Miles gegenüber aufrechte Haltung ein. »Guten Morgen, Lord Auditor Vorkosigan. Als Reaktion auf die Petitionen der gestrandeten Passagiere der komarranischen Flotte habe ich für Sie einen Termin mit ihnen um 10 Uhr anberaumt. Sie können sich mit ihnen treffen, um ihre Fragen zu beantworten, und zwar in der größeren der beiden Herbergen, wo sie derzeit untergebracht sind. Hafenmeister Thorne wird sich mit Ihnen an Ihrem Schiff treffen und Sie dorthin führen.« Miles gab es einen regelrechten Ruck angesichts dieser anmaßenden Verplanung seiner Zeit und seiner Aufmerksamkeit. Ganz zu schweigen von dem unverhohlenen Schritt, ihn unter Druck zu setzen. Andererseits … dies lieferte ihm einen ganzen Raum voller Verdächtiger, genau die Leute, die er zu untersuchen wünschte. Er schlug einen Mittelweg zwischen Verärgerung und Wissbegier ein und 147
bemerkte kühl: »Nett von Ihnen, dass Sie mich das wissen lassen. Was stellen Sie sich denn genau vor. was ich ihnen sagen kann?« »Das muss ich Ihnen überlassen. Diese Leute sind mit euch Barrayaranern gekommen; Sie unterstehen Ihrer Verantwortung.« »Madame, wenn das so wäre, dann wären schon alle auf dem Heimweg. Es kann keine Verantwortung ohne Macht geben. Die Unionsbehörden sind es, die diese Leute unter Hausarrest gestellt haben, und deshalb sind es auch die Unionsbehörden, die sie freilassen müssen.« »Wenn Sie fertig sind mit der Zahlung der Strafen, Kosten und Gebühren, die Ihre Leute hier angehäuft haben, dann werden wir nur allzu froh sein, sie gehen zu lassen.« Miles lächelte dünn und verschränkte seine Hände auf der Tischplatte. Er wünschte sich, die einzige neue Karte, die er an diesem Morgen ausspielen konnte, wäre weniger mehrdeutig. Trotzdem wiederholte er ihr gegenüber die Nachricht über Solians künstlich hergestellte Blutprobe, gut gespickt mit einer Beschwerde darüber, dass der Sicherheitsdienst der Quaddies diese merkwürdige Tatsache nicht schon eher festgestellt hatte. Wie schon Venn zuvor, spielte auch sie die Karte sofort zurück, indem sie bemerkte, dieser Beweis stütze eher die Theorie einer Fahnenflucht als die eines Mordes. »Schön«, sagte Miles. »Dann befehlen Sie der Polizei der Union, diesen Mann herbeizuschaffen. Ein ausländischer Planetarier, der im Quaddie-Raum herumwandert, kann für eine kompetente Polizeitruppe doch nicht so schwer zu finden sein. Unter der Voraussetzung, dass sie es 148
tatsächlich versucht.« »Der Quaddie-Raum«, gab sie zurück, »ist kein totalitäres Staatswesen. Wie Ihr Leutnant Solian vielleicht beobachtet haben mag. Unsere Garantien der Bewegungsfreiheit und der persönlichen Privatsphäre könnten ihn durchaus so sehr angezogen haben, dass er sich hier von seinen früheren Kameraden getrennt hat.« »Warum hat er dann nicht um Asyl nachgesucht, wie Fähnrich Corbeau? Nein, ich fürchte sehr, was wir hier haben, ist nicht der Fall eines vermissten Mannes, sondern einer vermissten Leiche. Der Tote kann nicht nach Gerechtigkeit schreien: es ist eine Pflicht der Lebenden, es für ihn zu tun. Und das ist eine meiner Verantwortlichkeiten für die Meinen, Madame.« Damit beendeten sie ihre Konversation; Miles konnte nur hoffen, dass er ihr ihren Morgen so mit Ärger angefüllt hatte wie sie den seinen. Er legte auf und rieb sich den Nacken. »Puh, das nagelt mich für den Rest des Tages fest, ganz bestimmt.« Er blickte zu Roic hoch, der inzwischen entspannt an der Tür stand, die Schultern an die Wand gelehnt. »Roic.« Roic nahm schnell Haltung an. »Mylord?« »Haben Sie schon einmal in einem Kriminalfall ermittelt?« »Nun … ich war meistens nur bei der Straßenstreife. Aber ich musste den höheren Beamten bei ein paar Fällen von Betrug und Körperverletzung helfen. Und bei einer Entführung. Wir brachten das Opfer lebend zurück. Einige Vermisstenfälle. Oh, und etwa ein Dutzend Morde, allerdings waren sie, wie ich schon sagte, kaum rätselhaft. Und 149
die Serie von Brandstiftungen damals, als …« »Ganz recht.« Miles stoppte mit einer Geste diese sanfte Flut der Erinnerungen. »Ich möchte, dass Sie für mich die Detailarbeit im Fall Solian machen. Zuerst den Zeitplan. Ich möchte, dass Sie jede dokumentierte Sache herausfinden, die der Mann getan hat. Seine Wachdienstberichte, wo er war, was er aß, wann er schlief – und mit wem, falls es da jemanden gab – Minute um Minute, oder so nahe, wie Sie herankommen können, zurück von dem Zeitpunkt an, als er verschwand, soweit Sie es schaffen. Besonders alle Bewegungen außerhalb des Schiffs und alle Zeiten, die uns fehlen. Und dann möchte ich die persönliche Neigung haben – Gespräche mit der Besatzung und dem Kapitän der Idris. Versuchen Sie über den Kerl alles herauszufinden, was Sie können. Ich gehe davon aus, dass ich Ihnen keinen Vortrag über den Unterschied zwischen Fakten, Vermutungen und Hörensagen halten muss?« »Nein, Mylord, Aber …« »Vorpatril und Brun werden Ihnen jede Unterstützung zukommen lassen und Ihnen Zugang zu allem geben, das verspreche ich Ihnen. Wenn sie es nicht tun. dann lassen Sie mich’s wissen.« Miles lächelte ein wenig grimmig. »Darum geht es nicht, Mylord. Wer sorgt für Ihre persönliche Sicherheit auf Station Graf, wenn ich unterwegs bin, um in Admiral Vorpatrils Flotte herumzuschnüffeln?« Miles war drauf und dran, leichtfertig zu sagen Ich werde keinen Leibwächter brauchen, doch er schluckte die Bemerkung hinunter, da ihm einfiel, dass sich nach seiner eigenen Lieblingstheorie vielleicht ein verzweifelter Mörder auf der Station herumtrieb. »Ich habe Kapitän Thorne 150
bei mir.« Roic blickte zweifelnd drein. »Dem kann ich nicht zustimmen, Mylord. Er ist nicht einmal Barrayaraner. Was wissen Sie eigentlich über den, hm, Hafenmeister?« »Eine Menge«, versicherte ihm Miles. Tja, wusste ich jedenfalls, Er legte die Hände auf den Tisch und schob sich hoch. »Solian, Roic. Suchen Sie mir Solian. Oder seine Spur aus Brotkrümeln oder irgendetwas.« »Ich werde mich bemühen, Mylord.« Zurück in ihrer Kabine begegnete Miles Ekaterin, die gerade vom Duschen zurückkam und wieder in ihren roten Kasack und die Leggings gekleidet war. Sie gaben sich einen Kuss, und er sagte: »Ich habe einen unfreiwilligen Termin aufoktroyiert bekommen. Ich muss sofort zur Station.« »Aber du wirst dir vorher noch Hosen anziehen, oder?« Miles sah auf seine nackten Beine hinunter. »Ja, das hatte ich vor.« Ihre Augen tanzten. »Du hast so geistesabwesend gewirkt. Da dachte ich, es wäre sicherer, dich zu fragen.« Er grinste. »Ich frage mich, wie seltsam ich mich aufführen könnte, bevor die Quaddies etwas sagen würden.« »Wenn ich mich an einige der Geschichten halte, die mein Onkel Vorthys mir von den kaiserlichen Auditoren vergangener Generationen erzählt hat, dann noch viel seltsamer als jetzt.« »Nein, ich fürchte, es wären nur unsere loyalen Barrayaraner, die sich in die Zunge beißen müssten.« Er fasste ihre Hand und streichelte sie lockend. »Möchtest du mit mir mitkommen?« 151
»Und was tun?«, fragte sie mit löblichem Misstrauen. »Den galaktischen Passagieren der Handelsflotte sagen, dass ich verdammt noch mal nichts für sie tun kann, dass sie hier stecken, bis Greenlaw sich bewegt, vielen Dank, haben Sie noch einen angenehmen Tag.« »Das klingt … wirklich unbefriedigend.« »So würde ich das auch bezeichnen.« »Eine Gräfin ist nach Gesetz und Tradition so etwas wie ein Hilfsgraf. Die Frau eines Auditors jedoch ist keine Hilfsauditorin«, sagte sie mit festem Ton und erinnerte dabei Miles an ihre Tante – Professora Vorthys war selbst die erfahrene Ehefrau eines Auditors. »Nicol und Granat Fünf haben vereinbart, mich heute Morgen mitzunehmen und mir die Gartenkultur der Quaddies zu zeigen. Wenn es dir nichts ausmacht, dann werde ich wohl an meinem ursprünglichen Plan festhalten.« Sie milderte diese vernünftige Ablehnung mit einem weiteren Kuss. Ein Anflug von Schuldbewusstsein ließ ihn das Gesicht verziehen. »Die Station Graf ist nicht gerade das, was wir uns als Zerstreuung während der Flitterwochen vorstellten.« »Oh, mir gefällt es. Du bist es, der sich mit all den schwierigen Leuten rumschlagen muss.« Sie verzog das Gesicht, und er wurde wieder an ihre Neigung erinnert, zu extremer Reserviertheit Zuflucht zu nehmen, wenn sie schmerzlich überwältigt war. Er bildete sich ein, dass dies in letzter Zeit seltener geschah. Es war ihm eine heimliche Freude gewesen zu sehen, wie sich in diesen vergangenen anderthalb Jahren ihr Selbstvertrauen und ihre Unbefangenheit bezüglich der Rolle der Lady Vorkosigan zunah152
men und sich weiter entwickelten. »Vielleicht können wir uns treffen, wenn du mittags frei bist, und du kannst bei mir Dampf ablassen«, fügte sie hinzu, allerdings in einem Ton, als böte sie einen Austausch von Geiseln an. »Aber nicht, wenn ich dich dann erinnern muss zu kauen und zu schlucken.« »Nur den Teppich.« Dies wurde mit einem Kichern belohnt; ein Abschiedskuss erleichterte sein Herz im Voraus, als er zum Duschen ging. Während er, so überlegte Miles, sich glücklich fühlen konnte, dass sie eingewilligt hatte, mit ihm in den Quaddie-Raum zu kommen, war jetzt trotzdem jedermann auf Station Graf, von Vorpatril und Greenlaw angefangen, doch viel glücklicher dran als er. Die Mannschaften aller vier komarranischen Schiffe, die jetzt auf ihren Andockbühnen festsaßen, waren in eine Herberge gebracht worden und wurden dort in Hausarrest gehalten. Die Behörden der Quaddies hätten vorgegeben, die Passagiere nicht zu beschuldigen; bei ihnen handelte es sich um einen bunt zusammengewürfelten Haufen galaktischer Geschäftsleute, die sich mit ihren Waren dem Konvoi für unterschiedliche Abschnitte seiner Route angeschlossen hatten, da dies die ökonomischste Transportweise für ihre Zwecke war. Aber natürlich konnte man sie nicht an Bord unbemannter Raumschiffe lassen, und so hatte man sie notgedrungen in zwei weitere, luxuriösere Herbergen verlegt. Theoretisch konnten sich die früheren Passagiere ohne weitere lästige Erfordernisse frei auf der Station bewegen, außer dass sie sich bei zwei Quaddie-Sichereitswachen an153
und abmelden mussten, welche die Ausgänge der Herberge bewachten – nur mit Betäubern bewaffnet, wie Miles im Vorübergehen bemerkte. Die Passagiere konnten sogar den Quaddie-Raum legal verlassen, nur blieben die Frachten, die die meisten begleitet hatten, noch beschlagnahmt an Bord der entsprechenden Schiffe. Und so wurden sie festgehalten nach dem Prinzip des Affen, dessen Hand in dem Topf mit Nüssen gefangen war, da sie das nicht loslassen wollten, was sie nicht abziehen konnten. Der »Luxus« der Herberge wurde zu einer weiteren Bestrafung durch die Quaddies, da der zwangsweise Aufenthalt zu Lasten der komarranischen Flottenkorporation berechnet wurde. Die Lobby der Herberge machte auf Miles den Eindruck künstlicher Bombastik, mit einer hohen Kuppeldecke, die einen Morgenhimmel mit dahinziehenden Wolken simulierte und wahrscheinlich im Laufe des Tageszyklus auch noch Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und Nacht durchlief. Miles überlegte, welche Planetenkonstellationen angezeigt wurden und ob sie variiert werden konnten, um den jeweils aktuellen Durchreisenden einen Gefallen zu tun. Der große offene Raum war umgeben von einem zweistöckigen Balkon mit einem Wartesaal, einem Restaurant und einer Bar, wo Gäste sich treffen, begrüßen und miteinander essen konnten. In der Mitte trug eine Gruppe hüfthoher trommelförmiger kannelierter Säulen eine lange, doppelt geschwungene Platte aus dickem Glas, die ihrerseits ein großes und komplexes lebendes Blumenarrangement trug. Wo züchtete man solche Blumen auf Station Graf? War Ekaterin in diesem Augenblick gerade dabei, den Herkunftsort dieser Pflanzen zu besichtigen? 154
Zusätzlich zu den üblichen Liftröhren führte eine weit geschwungene Treppe von der Lobby hinunter zur Konferenzebene. Bel führte Miles hinab zu einem zweckmäßiger eingerichteten Sitzungsraum auf der darunter liegenden Ebene. Sie fanden den Raum gerammelt voll mit etwa achtzig erbosten Individuen von scheinbar jeder Rasse, Kleidung, planetarischer Herkunft und Geschlecht aus dem ganzen Nexus. Als galaktische Händler mit einem scharfen Gespür für den Wert ihrer Zeit und ohne irgendwelche barrayaranischen kulturellen Hemmungen bezüglich kaiserlicher Auditoren überschwemmten sie Miles mit den angesammelten Frustrationen mehrerer Tage, als er nach vorn trat und sich ihnen zuwandte. Vierzehn Sprachen wurden von neunzehn verschiedenen Marken von Autotranslatoren verarbeitet, von denen einige nach Miles’ Meinung zu Ramschpreisen von Herstellern gekauft worden sein mussten, die verdienterweise pleite gegangen waren. Nicht, dass seine Antworten auf ihr Bombardement von Fragen eine besondere Belastung für die Translatoren gewesen wären – neunzig Prozent schienen zu lauten: »Das weiß ich noch nicht«, oder »Fragen Sie Eichmeisterin Greenlaw«. Die vierte Wiederholung dieser Litanei erntete schließlich einen Chor herzzerreißenden Geheuls aus dem rückwärtigen Teil des Raums: »Aber Eichmeisterin Greenlaw sagte, wir sollten Sie fragen«; nur ein Übersetzungsgerät meldete sich einen Takt später mit: »Eichelmast Rasen Gesetz Aussage Höflichkeitsform Erkundigen!« Miles ließ sich von Bel heimlich die Männer zeigen, die versucht hatten, den Hafenmeister zu bestechen, damit er 155
ihre Waren freigebe. Dann bat er alle Passagiere von der Idris, die jemals Leutnant Solian begegnet waren, sie sollten dableiben und ihm ihre Erfahrungen mit dem Mann mitteilen. Dies schien in der Tat gewisse Illusionen zu nähren, dass eine Behörde etwas unternahm, und die Übrigen schlurften hinaus und grummelten nur noch. Eine Ausnahme bildete eine Person, die Miles nach einem Moment der Unsicherheit als betanischen Hermaphroditen einordnete. Für einen Hermaphroditen war er ziemlich groß; das Alter, an das seine silbernen Haare und Augenbrauen denken ließen, wurde Lügen gestraft durch die straffe Körperhaltung und die geschmeidigen Bewegungen. Wenn er ein Barrayaraner gewesen wäre, hätte Miles ihn als gesunden und athletischen Sechzigjährigen eingeschätzt – was vermutlich bedeutete, dass er als Betaner schon ein Jahrhundert erreicht hatte. Ein langer Sarong mit einem dunklen, konservativen Aufdruck, ein Hemd mit hohem Kragen und eine langärmlige Jacke gegen die für einen Betaner zweifellos allzu kühle Temperatur der Station und feine Ledersandalen rundeten ein teuer wirkendes Ensemble im betanischen Stil ab. Das gut aussehende Gesicht hatte etwas Adlerhaftes, die dunkel glänzenden Augen beobachteten die Umgebung scharf. Miles kam es vor. als sollte er sich eigentlich an diese außergewöhnliche Eleganz erinnern, aber er konnte das vage Gefühl, die Erscheinung zu kennen, nicht auf etwas Konkretes fokussieren. Verdammte Kryo-Behandlung – er konnte nicht entscheiden, ob es sich um eine wirkliche Erinnerung handelte, wie so viele andere überdeckt von den neuralen Traumata des Wiederbelebungsprozesses, oder um eine falsche, die noch 156
mehr verzerrt war. »Hafenmeister Thorne?«, sagte der Hermaphrodit mit einer weichen Altstimme. »Ja?« Auch Bel musterte seinen betanischen Landsmann mit besonderem Interesse. Trotz des würdigen Alters des Hermaphroditen zog sein gutes Aussehen Bewunderung auf sich, und Miles war amüsiert, als er bemerkte, wie Bels Blick zu dem üblichen betanischen Ohrring wanderte, der vom linken Ohrläppchen des Fremden herabhing. Enttäuschenderweise war dort codiert: Romantisch verbunden, nicht auf der Suche. »Leider habe ich ein besonderes Problem mit meiner Fracht.« Bels Gesichtsausdruck wurde wieder neutral; zweifellos bereitete er sich darauf vor, eine weitere leidvolle Geschichte zu hören, mit oder ohne Bestechung. »Ich bin ein Passagier auf der Idris und transportiere einige hundert genetisch veränderte Tierföten in UterusReplikatoren, die einer periodischen Wartung bedürfen. Die Wartung ist wieder fällig. Ich kann sie nicht viel länger aufschieben. Wenn man sich nicht um sie kümmert, dann können meine Kreaturen beschädigt werden oder sogar sterben.« Eine langfingrige Hand zog nervös an der anderen. »Noch schlimmer, sie nähern sich ihrer Reife. Ich habe eigentlich keine so lange Verzögerung meiner Reise erwartet. Wenn ich hier noch viel länger festgehalten werde, dann müssen sie herausgeholt oder vernichtet werden, und ich verliere den gesamten Wert meiner Fracht und meiner Zeit.« »Welche Art von Tieren?«, fragte Miles neugierig. 157
Der Hermaphrodit schaute auf ihn herab. »Vor allem Schafe und Ziegen. Dazu noch einige andere spezielle Exemplare.« »Hm. Vermutlich könnten Sie drohen, sie auf der Station freizulassen, und so die Quaddies zwingen, sich mit ihnen zu befassen. Wenn einige hundert speziell gefärbte Lämmer in den Ladebuchten herumrennen …« Dies brachte ihm einen extrem trockenen Blick von Hafenmeister Thorne ein, und so fuhr Miles geschmeidig fort: »Aber ich hoffe, es wird nicht so weit kommen.« »Ich werde Ihren Wunsch Boss Watts unterbreiten«, sagte Bel. »Wie ist Ihr Name, ehrenwerter Herrn?« »Ker Dubauer.« Bel verneigte sich leicht. »Warten Sie hier. Ich komme gleich zurück.« Als Bel wegging, um Watts über Vid anzurufen, lächelte Dubauer verhalten und murmelte: »Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben, Lord Vorkosigan.« »Keine Ursache.« Miles runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Sind wir uns schon einmal begegnet?« »Nein, Mylord.« »Hm. Ach, übrigens, als Sie an Bord der Idris waren, sind Sie da Leutnant Solian begegnet?« »Dem armen jungen Mann, von dem jeder meinte, er sei desertiert, aber jetzt sieht es so aus, als hätte er es nicht getan? Ich habe ihn gesehen, als er seinen Pflichten nachging. Zu meinem Bedauern habe ich nie länger mit ihm gesprochen.« Miles überlegte, ob er ihm die Neuigkeit über das synthetische Blut mitteilen sollte, doch dann entschied er sich 158
dafür, dies noch eine kleine Weile zurückzuhalten. Damit konnte er vielleicht noch etwas Besseres, Klügeres anzustellen, als es den übrigen Gerüchten hinzufügen. Etwa ein halbes Dutzend weiterer Passagiere von Aar Idris war während dieses Gesprächs nach vorne gekommen und wartete jetzt darauf, ihre eigenen Erlebnisse mit dem verschwundenen Leutnant vorzubringen. Die kurzen Gespräche waren von zweifelhaftem Wert. Ein kühner Mörder würde sicherlich lügen, ein gerissener aber würde sich einfach überhaupt nicht melden. Drei der Passagiere waren vorsichtig und knapp in ihren Worten, also pflichtgemäß präzis. Die anderen waren eifrig und voller Theorien, die sie mitteilen wollten, doch keine dieser Theorien stand im Einklang mit der Tatsache, dass das Blut in der Andockbucht untergeschoben war. Miles überlegte wehmütig, wie schön es wäre, wenn man jeden Passagier und jedes Besatzungsmitglied der Idris einem kompletten Verhör unter Schnell-Penta unterziehen könnte. Eine weitere Aufgabe, die Venn oder Vorpatril oder beide zusammen schon längst hätten erledigt haben sollen, verdammt noch mal. Leider hatten die Quaddies lästige Regeln über solche invasiven Methoden. Diese Durchreisenden auf Station Graf waren für die abrupteren barrayaranischen Vernehmungsmethoden tabu, und das barrayaranische Militärpersonal, bei dem Miles keine solchen Rücksichten nehmen müsste, stand auf seiner aktuellen Liste der Verdächtigen viel weiter unten. Die komarranischen zivilen Besatzungen stellten einen unklareren Fall dar als barrayaranische Untertanen, die sich jetzt auf Quaddie-Boden – wenn man das so nennen konnte – und unter Arrest der Quaddies befanden. 159
Während dies sich hinzog, kehrte Bel zu Dubauer zurück, der mit gefalteten Händen still am Rand des Raumes gewartet hatte, und murmelte ihm zu: »Sobald der Lord Auditor hier fertig ist, kann ich Sie persönlich an Bord der Idris begleiten, damit Sie Ihre Fracht warten können.« Miles unterbrach den letzten Enthusiasten, der ihm Theorien über Verbrechen vortragen wollte, und schickte ihn weg. »Ich bin fertig«, verkündete er und blickte auf das Chrono in seinem Kommunikator. Konnte er Ekaterin noch zum Mittagessen einholen? Zu diesem Zeitpunkt schien dies zweifelhaft zu sein, aber andererseits konnte sie unvorstellbar viel Zeit aufwenden, wenn sie Pflanzen betrachtete, und so hatte er vielleicht doch noch eine Chance. Die drei verließen den Konferenzraum und stiegen die breite Treppe zu der weitläufigen Lobby hinauf. Weder Miles noch – vermutlich – Bel betrat jemals einen Raum, ohne mit dem Blick nach jedem möglichen Standpunkt für einen Schützen zu suchen, ein Erbe von langen Jahren unangenehmer gemeinsamer Lernerfahrungen. So entdeckten sie gleichzeitig die Gestalt auf dem gegenüberliegenden Balkon, die einen seltsamen länglichen Kasten auf das Geländer hob. Dubauer folgte Miles’ Blick, und seine Augen weiteten sich erstaunt. Miles hatte einen blitzartigen Eindruck von dunklen Augen in einem milchigen Gesicht unter einem Mopp messingblonder Locken, die aufmerksam zu ihm herunterblickten. Miles und Bel, links und rechts von Dubauer, griffen spontan zusammen nach den Armen des überraschten Betaners und warfen sich nach vorn. Grelle Salven ratterten mit laut widerhallenden, klopfenden Geräuschen aus dem 160
Kasten hervor. Blut spritzte von Dubauers Wange, während der Hermaphrodit von seinen Begleitern mitgerissen wurde: Etwas wie ein Schwarm wütender Bienen schien direkt über Miles’ Kopf hinwegzusausen. Dann rutschten alle drei auf dem Bauch und suchten Deckung hinter den dicken Marmortrommeln, die die Blumen trugen. Die Bienen schienen ihnen zu folgen; Schrot aus Sicherheitsglas explodierte in alle Richtungen, Marmorsplitter sprühten in weitem Bogen. Ein ungeheures Vibrato erfüllte den Raum, erschütterte die Luft, das donnernde Trommeln war durchsetzt mit Rufen und Schreien. Miles versuchte den Kopf zu heben, um sich schnell umzuschauen, doch er wurde wieder niedergestoßen von Bel, der über den zwischen ihnen liegenden Betaner hechtete und heftig auf Miles landete. Miles hörte nur die Nachwehen: noch mehr Geschrei, das plötzliche Aufhören des Gehämmers, ein schweres Klonk. Eine Frau schluchzte und hickste in dem überraschenden Schweigen, dann unterdrückte sie die Laute zu einem krampfhaften Schlucken. Miles’ Hand zuckte zurück, als etwas sie weich und kühl küsste, doch das waren nur ein paar letzte zerfetzte Blätter und Blütenblätter, die sanft aus der Luft herabschwebten und um die drei Männer herum zu Boden gingen.
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8 »Bel, gehst du bitte von meinem Kopf runter?«, sagte Miles mit gedämpfter Stimme. Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann rollte Bel zur Seite und setzte sich vorsichtig auf, den Kopf eingezogen. »Tut mir Leid«, erwiderte Bel mit rauer Stimme. »Einen Moment lang dachte ich, ich würde dich verlieren. Schon wieder.« »Du musst dich nicht entschuldigen.« Miles, dessen Herz noch raste und dessen Mund sehr trocken war, schob sich hoch und setzte sich, den Rücken an eine Marmortrommel gelehnt, die jetzt kleiner war als zuvor. Er spreizte die Finger und berührte den kühlen synthetischen Steinboden. Ein Stück weit jenseits der schmalen, unregelmäßigen Fläche, die von den Säulen des Glastisches abgeschirmt war, war das Pflaster von Dutzenden von tiefen Einschusslöchern übersät. Etwas Kleines, Helles aus Messing rollte vorbei. Miles griff danach, doch seine Hand zuckte zurück: das Ding war sengend heiß. Der ältere Hermaphrodit, Dubauer, setzte sich ebenfalls auf und fuhr sich mit der Hand ins Gesicht, wo Blut herabsickerte. Miles warf ihm einen schnellen, prüfenden Blick zu: Anscheinend war der Betaner ansonsten nicht getroffen. Miles rutschte zu ihm hinüber und zog sein Taschentuch mit dem Vorkosigan-Monogramm aus der Hosentasche, faltete es und reichte es schweigend dem blutenden Betaner. Dubauer schluckte, nahm es und tupfte die kleine Wunde ab. Er hielt das Tuch einen Moment lang vor sich und starrte wie überrascht auf sein eigenes Blut, dann 162
drückte er es wieder an seine haarlose Wange. Irgendwie, dachte Miles, war das Ganze doch ziemlich schmeichelhaft. Zumindest irgendjemand hielt ihn für kompetent und effektiv genug, um gefährlich zu sein. Oder vielleicht habe ich etwas herausgefunden. Ich frage mich nur. worum zum Teufel handelt es sich dabei? Bel legte die Hände auf das zerschmetterte Kopfende der Trommel, spähte vorsichtig hinüber und zog sich dann vorsichtig auf die Beine. Ein Planetarier in der Uniform des Herbergspersonals eilte, ein wenig gebückt, herbei und fragte mit erstickter Stimme: »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?« »Ich glaube schon«, erwiderte Bel und blickte sich um. »Was war das eigentlich?« »Es kam von dem Balkon, Sir, Die Person dort oben warf es über das Geländer und floh. Der Türwächter ist hinter ihm her.« Miles erhob sich ebenfalls und wurde fast ohnmächtig. Immer noch hyperventilierend stapfte er über zerbrochene Glaskügelchen, Marmorsplitter, halb geschmolzene Messingklümpchen und den Blumensalat um ihr Bollwerk herum. Bel folgte ihm. Auf der anderen Seite der Lobby lag der längliche Kasten, bemerkenswert eingedellt, seitwärts auf dem Boden. Sie knieten sich nieder und starrten darauf. »Eine automatische Heißnietmaschine«, sagte Bel schließlich. »Er muss … eine Menge Sicherheitsvorrichtungen abgeklemmt haben, damit das Ding das tut.« Eine leichte Untertreibung, dachte Miles. Aber es erklärte, warum ihr Angreifer so unsicher gezielt hatte. Das Gerät war konstruiert worden, um seine Nieten mit einer Prä163
zision von Millimetern, nicht Metern auszuwerfen. Dennoch … wenn es dem verhinderten Attentäter gelungen wäre, Miles’ Kopf auch nur für eine kurze Salve im Visier zu behalten – Miles blickte wieder auf den zerschmetterten Marmor –, dann hätte ihn diesmal keinerlei KryoWiederbelebung wieder ins Leben zurückholen können. Ihr Götter – was wäre gewesen, wenn der Unbekannte nicht daneben getroffen hätte? Was hätte Ekaterin getan, so weit weg von zu Hause und ohne Hilfe, einen scheußlich geköpften Ehemann im Gepäck, bevor noch ihre Hochzeitsreise überhaupt vorbei war, mit niemand anderem zur Unterstützung dabei als dem unerfahrenen Roic – Wenn man auf mich schießt, in welcher Gefahr befindet dann sie sich? In verspäteter Panik klopfte er auf seinen Kommunikator. »Roic! Roic, antworten Sie!« Es dauerte mindestens drei quälende Sekunden, bis Roic antwortete: »Mylord?« »Wo sind – ach, lassen Sie’s. Unterbrechen Sie, was immer Sie gerade tun, begeben Sie sich sofort zu Lady Vorkosigan und bleiben Sie bei ihr. Bringen Sie sie zurück an Bord …«, er verschluckte der Turmfalke. Wäre sie dort sicherer? Inzwischen wussten allerhand Leute, dass man dort nach den Vorkosigans suchen musste. Vielleicht an Bord der Prinz Xav, die sich in einer sicheren Entfernung von der Station befand, umgeben von Soldaten – Barrayars Besten, Gott helfe uns allen – »bleiben Sie einfach bei ihr, bis ich mich wieder melde.« »Mylord, was ist los?« »Jemand hat gerade versucht, mich an die Wand zu nie164
ten. Nein, kommen Sie nicht hierher«, schob er Roics aufkeimenden Protest beiseite. »Der Kerl ist davongerannt, und im Übrigen treffen bereits die Sicherheitsleute der Quaddies ein.« Während er dies noch sagte, kamen zwei uniformierte Quaddies in Schwebern in die Lobby. Auf das Gestikulieren eines der Herbergsangestellten hin stieg einer zügig hoch zum Balkon; der andere näherte sich Miles und seinen Begleitern. »Ich muss mich jetzt mit diesen Leuten befassen. Mir geht es gut. Beunruhigen Sie Ekaterin nicht. Lassen Sie sie nicht aus den Augen. Ende.« Er blickte auf und sah, wie sich Dubauer, der eine von Nieten angenagte Marmortrommel untersucht hatte, mit sehr angespannter Miene aufrichtete. Der Hermaphrodit, der die Hand noch an die Wange drückte, war sichtlich erschüttert, als er herüberkam, um sich die Nietenmaschine anzuschauen. Miles erhob sich geschmeidig. »Entschuldigung, ehrenwerter Herrn. Ich hätte Sie davor warnen sollen, zu nahe neben mir zu stehen.« Dubauer starrte Miles an. Seine Lippen öffneten sich in momentaner Verwirrung, dann bildeten sie ein kleines O. »Ich glaube, meine Herrschaften, Sie haben mein Leben gerettet. Ich … ich habe leider nichts gesehen. Bis dieses Ding – was war es denn? – mich getroffen hat.« Miles bückte sich und hob eine lose Niete auf, eine von Hunderten. Jetzt war sie abgekühlt. »So eine Niete. Bluten Sie noch?« Der Hermaphrodit nahm das Tuch von der Wange. »Nein, ich glaube, es hat aufgehört.« »Hier, nehmen Sie die als Souvenir.« Miles hielt ihm die schimmernde Messingniete hin. »Tauschen wir sie gegen 165
mein Taschentuch aus.« Ekaterin hatte das Tuch eigenhändig bestickt. Es war ein Geschenk von ihr. »Oh …« Dubauer faltete das Tuch über dem Blutfleck noch einmal zusammen. »Ach du meine Güte! Ist es wertvoll? Ich lasse es reinigen und gebe es Ihnen dann zurück.« »Ist nicht notwendig, ehrenwerter Herm. Mein Offiziersbursche kümmert sich um solche Sachen.« Der Betaner blickte betroffen drein. »O nein …« Miles beendete den Wortwechsel, indem er hinüberlangte, ihm das feine Tuch aus den Fingern nahm und es wieder in seine Tasche stopfte. Der Hermaphrodit griff wie im Reflex danach, dann zog er die Hand zurück. Miles hatte schon allerhand zurückhaltende Leute kennen gelernt, aber noch nie zuvor jemanden, der sich dafür entschuldigte, dass er blutete. Dubauer, der als Bürger von Kolonie Beta mit deren geringer Verbrechensrate Gewalt gegen Privatpersonen nicht gewohnt war, befand sich am Rande der Verzweiflung. Eine Sicherheitspolizistin der Quaddies kam besorgt angeschwebt. »Was zum Teufel ist hier passiert?«, wollte sie wissen und klappte einen Rekorder auf. Miles wies auf Bel, und der übernahm es, den Vorfall in den Rekorder zu beschreiben. Bel war so ruhig, logisch und detailgetreu, wie er es bei jeder Einsatznachbesprechung der Dendarii gewesen war, was möglicherweise die Frau noch mehr überraschte als die Menge von Zeugen, die sich eifrig um den Tatort drängten und versuchten, die Geschichte in erregteren Worten zu erzählen. Zu Miles großer Erleichterung war sonst niemand von Nieten getroffen worden, ein paar Leute hatten allerdings abprallende 166
Marmorsplitter abbekommen. Die Zielgenauigkeit des Kerl mochte unvollkommen gewesen sein, aber offensichtlich hatte er nicht vorgehabt, ein allgemeines Massaker anzurichten. Gut für die öffentliche Sicherheit auf Station Graf, aber – wenn man es bedachte – nicht so gut für Miles … Seine Kinder hätten schon jetzt Waisen sein können, noch bevor sie überhaupt die Chance gehabt hatten, geboren zu werden. Sein Testament war auf dem neuesten Stand und hatte den Umfang einer akademischen Abhandlung samt Bibliografie und Fußnoten. Plötzlich erschien es ihm völlig unangemessen für seinen Zweck. »War der Verdächtige ein Planetarier oder ein Quaddie?«, fragte die Polizistin Bel eindringlich. Bel schüttelte den Kopf. »Wegen des Balkongeländers konnte ich die untere Hälfte seines Körpers nicht sehen. Ich bin mir nicht einmal wirklich sicher, dass es ein Mann war.« Ein planetarischer Transitgast und die QuaddieKellnerin, die ihm seinen Drink auf der Wartehallenebene serviert hatte, meldeten sich mit der Information, dass der Angreifer ein Quaddie gewesen und mit seinem Schweber hinab in einen benachbarten Korridor geflohen sei. Der Transitgast schien davon überzeugt, dass es ein Mann gewesen war, die Kellnerin jedoch war sich jetzt, wo die Frage zur Debatte stand, nicht mehr so sicher. Dubauer entschuldigte sich, dass er den Unbekannten überhaupt nicht gesehen habe. Miles stieß mit dem Fuß gegen die Nietenmaschine und fragte Bel in leiserem Ton: »Wie schwer wäre es, so etwas 167
durch die Checkpoints der Stationssicherheit zu tragen?« »Leicht«, erwiderte Bel. »Niemand würde auch nur mit der Wimper zucken.« »Stammt es aus hiesiger Fertigung?« Das Gerät sah sehr neu aus. »Ja, das ist ein Produkt von Station Freistatt. Dort stellt man gutes Werkzeug her.« »Das ist dann der erste Job für Venn. Er soll herausfinden, wo das Ding verkauft wurde und wann. Und an wen.« »O ja.« Miles schwirrte der Kopf in einer seltsamen Mischung aus Freude und Bestürzung. Die Freude kam teilweise aus einem Adrenalinhoch, eine vertraute und gefährliche alte Sucht, teilweise aus dem Bewusstwerden der Tatsache, dass ein Quaddie auf ihn geschossen hatte – was ihm ein Argument gab, um Greenlaws Angriff auf seine barrayaranische Brutalität zurückzuschlagen. Auch Quaddies waren Killer, ha! Sie waren bloß nicht so gut darin … Er erinnerte sich an Solian und nahm diesen Gedanken zurück. Ja, und wenn Greenlaw mich nicht selbst in diese Falle gelockt hat … Nun, das war eine hübsche paranoide Theorie. Er schob sie beiseite, um sie erneut zu untersuchen, sobald sich sein Kopf etwas abgekühlt haben würde. Schließlich mussten ein paar hundert Leute, Quaddies und Transitreisende – alle galaktischen Passagiere der Flotte eingeschlossen –, gewusst haben, dass er an diesem Morgen hierher kommen würde. Ein Quaddie-Sanitätertrupp traf ein, und auf ihren Fersen – direkt hinter ihnen, Chef Venn. Der Sicherheitschef wurde sofort überschüttet mit aufgeregten Beschreibungen 168
des spektakulären Angriffs auf den kaiserlichen Auditor. Nur das ursprüngliche Opfer, Miles, war ruhig und stand wartend da mit einem gewissen grimmigen Vergnügen. Vergnügen war eine Gefühlsregung, die in Venns Gesicht sichtlich fehlte. »Wurden Sie getroffen, Lord Auditor Vorkosigan?« »Nein.« Zeit, ein gutes Wort einzulegen – wir könnten es vielleicht später gebrauchen. »Dank der schnellen Reaktion von Hafenmeister Thorne. Wenn nicht dieser bemerkenswerte Herm gewesen wäre, dann hätten Sie – und die Union Freier Habitats – jetzt einen teuflischen Schlamassel am Hals.« Bestätigendes Geplapper von allen Seiten bestärkte diese Sicht der Dinge, wobei ein paar Leute atemlos beschrieben, wie Bel den zu Besuch weilenden Würdenträger selbstlos mit seinem eigenen Leib geschützt hatte. Bel warf Miles einen kurzen Blick zu, allerdings war sich Miles nicht sicher, ob darin Dankbarkeit oder deren Gegenteil zu lesen war. Die bescheidenen Einsprüche des Hafenmeisters dienten nur dazu, das Bild seines Heldentums noch fester in die Köpfe der Augenzeugen einzuprägen, und Miles unterdrückte ein Grinsen. Einer der Quaddie-Polizisten, der versucht hatte, den Angreifer zu verfolgen, kehrte jetzt zurück und schwebte über die Balkonbrüstung. hielt mit einem Ruck vor Chef Venn an und berichtete atemlos: »Wir haben seine Spur verloren, Sir. Wir haben alle alarmiert, die in Dienst sind, aber wir haben keine ausreichende Täterbeschreibung.« Drei oder vier Leute versuchten diesen Mangel in lebhaften und widersprüchlichen Schilderungen zu beheben. 169
Bel, der zuhörte, runzelte die Stirn. Miles stieß den Hafenmeister in die Seite. »Hm?« Bel schüttelte den Kopf und murmelte: »Einen Moment lang dachte ich, er sieht aus wie jemand, den ich kürzlich gesehen habe, aber das war ein Planetarier, also – nein.« Miles überdachte seinen eigenen kurzen Eindruck. Hellhaarig, hellhäutig, etwas beleibt, von nicht bestimmbarem Alter, vermutlich männlich – das konnte auf ein paar Hundert Quaddies auf Station Graf zutreffen. Der Kerl hatte sich in heftiger Emotion befunden, aber Miles zu diesem Zeitpunkt auch. Da er ihn nur einmal gesehen hatte, aus dieser Entfernung und unter solchen Umständen, glaubte Miles nicht, dass er den Kerl zuverlässig aus einer Gruppe ähnlicher Typen herausfinden konnte. Leider hatte in genau diesem Augenblick keiner der Transitreisenden zufällig eine Vid-Aufnahme vom Dekor der Lobby oder ihren Reisegefährten gemacht. Die Kellnerin und ihr Gast waren sich nicht einmal ganz sicher, wann der Kerl angekommen war: allerdings glaubten sie, er habe ein paar Minuten in dieser Position gewartet, die oberen Hände zwanglos auf die Balkonbrüstung gelegt, als wartete er darauf, dass einer der letzten Nachzügler vom Treffen der Passagiere die Treppe hinaufstiege. Und darauf hatte er ja auch gewartet. Dubauer. immer noch durcheinander, wehrte die Sanitäter ab. Er beharrte darauf, den Streifschuss der Niete selbst behandeln zu können – das Blut war inzwischen geronnen –, wiederholte, er könne nichts zu den Zeugenaussagen hinzufügen, und bat, man solle ihn in sein Zimmer zurückkehren lassen, wo er sich hinlegen wolle. »Das tut mir alles Leid«, sagte Bel zu seinem betani170
schen Landsmann. »Ich werde jetzt eine Weile beschäftigt sein. Wenn ich nicht selbst weg kann, dann sorge ich dafür, dass Boss Watts einen anderen Aufseher schickt, der Sie an Bord der Idris begleitet, damit Sie sich um Ihre Kreaturen kümmern können.« »Danke, Hafenmeister. Das wäre sehr schön. Sie rufen mich auf meinem Zimmer an, ja? Es ist wirklich sehr dringend«, erwiderte Dubauer und zog sich hastig zurück. Miles konnte es Dubauer nicht übel nehmen, dass er floh, denn jetzt trafen die Quaddie-Medien in Gestalt zweier eifriger Reporter ein, und zwar in Schwebern mit dem Logo ihres journalistischen Arbeitsteams. Eine Reihe kleiner Vidcam-Schweber folgte ihnen. Die Vidcams sausten herum und machten ihre Aufnahmen. Eichmeisterin Greenlaw kam eilends hinterher und steuerte ihren Schweber entschlossen durch die wachsende Menge, bis sie an Miles Seite war. Sie wiederum wurde flankiert von zwei Quaddie-Leibwächtern in der Uniform der Unionsmiliz, ausgestattet mit scharfen Waffen und Kampfrüstung. Zwar waren sie nutzlos gegen Attentäter, hatten aber zumindest die heilsame Wirkung, dass die plappernden Zuschauer zurückwichen. »Lord Auditor Vorkosigan, sind Sie verletzt?«, wollte Greenlaw sofort wissen. Miles wiederholte die Versicherungen, die er schon gegenüber Venn abgegeben hatte, und hielt ein Auge auf die Roboter-Vidcams, die zu ihm herschwebten und seine Worte aufnahmen, und das nicht nur, um sicherzustellen, dass er ihnen seine gute Seite zuwandte. Doch anscheinend handelte es sich bei keiner von ihnen um eine getarnte Mi171
niwaffen-Plattform. Er gab Acht, dass er wieder Bels Heldentat laut erwähnte, was die nützliche Wirkung hatte, dass man sich jetzt dem botanischen Hafenmeister zuwandte, der auf der anderen Seite der Lobby ausführlicher von Venns Sicherheitsleuten vernommen wurde. »Lord Auditor Vorkosigan«, sagte Greenlaw förmlich, »ich darf Ihnen mein tiefes persönliches Bedauern für diesen unglücklichen Vorfall ausdrücken. Ich versichere Ihnen, wir werden die gesamten Ressourcen der Union einsetzen, um dieses gestörte Individuum aufzuspüren, das eine Gefahr für uns alle darstellt.« Gefahr für uns alle, in der Tat. »Ich weiß nicht, was hier vor sich geht«, sagte Miles und verlieh seiner Stimme Schärfe. »Und offensichtlich wissen auch Sie es nicht. Das ist jetzt kein diplomatisches Schachspiel mehr. Jemand scheint hier zu versuchen, einen verdammten Krieg vom Zaun zu brechen. Und er hat fast Erfolg damit gehabt.« Sie holte tief Luft. »Ich bin sicher, diese Person handelte auf eigene Faust.« Miles runzelte nachdenklich die Stirn. Die Hitzköpfe sind immer auf unserer Seite, stimmt. Er senkte die Stimme. »Wozu? Vergeltung? Ist einer der Quaddies, die von Vorpatrils Einsatzteam verletzt wurden, in der vergangenen Nacht plötzlich gestorben?« Er hatte gedacht, sie befänden sich alle auf dem Weg der Besserung. Es war schwer sich vorzustellen, dass ein Quaddie-Verwandter oder -Liebhaber oder -Freund blutige Rache für etwas nahm, das noch nicht tödlich ausgegangen war, aber … »Nein«, erwiderte Greenlaw langsam, während sie diese Hypothese überdachte. »Nein, man hätte es mir gesagt«, 172
fügte sie mit fester Stimme hinzu. Also, auch Greenlaw wünschte sich eine einfache Erklärung. Aber sie war wenigstens ehrlich genug, um nicht sich selbst zu täuschen. Miles’ Kommunikator gab das Piepszeichen für höchste Priorität von sich. Er schaltete ihn ein. »Ja?« »Mylord Vorkosigan?« Es war Admiral Vorpatril. Seine Stimme klang angespannt. Immerhin nicht Ekaterin oder Roic. Miles’ Herz, das bis in den Hals geschlagen hatte, beruhigte sich wieder. Er versuchte seine Stimme nicht gereizt klingen zu lassen. »Ja, Admiral?« »Oh, Gott sei Dank! Wir haben einen Bericht bekommen, dass Sie angegriffen wurden.« »Das ist schon vorbei. Man hat mich verfehlt. Die Stationssicherheit ist bereits hier.« Es folgte eine kurze Pause. Dann meldete sich wieder Vorpatrils Stimme, diesmal vorbedeutungsschwanger: »Mylord Auditor, meine Flotte ist in voller Alarmbereitschaft und steht zu Ihrer Verfügung.« Ach, du Scheiße! »Danke, Admiral, aber halten Sie sich zurück, bitte«, sagte Miles hastig. »Wirklich. Die Lage ist unter Kontrolle. In ein paar Minuten melde ich mich wieder bei Ihnen. Unternehmen Sie nichts ohne meinen direkten persönlichen Befehl!« »In Ordnung, Mylord«, erwiderte Vorpatril förmlich, immer noch mit einem sehr verdächtigen Unterton. Miles legte auf. Greenlaw starrte ihn an. »Ich bin Kaiser Gregors Stimme«, erklärte Miles ihr. »Für die Barrayaraner ist es fast, 173
als hätte dieser Quaddie auf den Kaiser gefeuert. Als ich sagte, dass jemand fast einen Krieg ausgelöst hätte, war das nicht nur so eine Redensart. Eichmeisterin Greenlaw. Zu Hause würde es jetzt am Tatort vor KBS-Eliteleuten nur so wimmeln.« Sie legte den Kopf schräg und blickte ihn scharf an. »Und wie würde man einen Angriff auf einen gewöhnlichen barrayaranischen Untertan behandeln? Doch etwas gelassener, nehme ich an.« »Nicht gelassener, sondern auf einer niedrigeren Organisationsebene. Es wäre eine Angelegenheit für die Distriktwache des Grafen.« »Das heißt also, auf Barrayar hängt die Gerechtigkeit, die man bekommt, davon ab, wer man ist? Interessant. Ich bedauere nicht, Ihnen sagen zu müssen, Lord Vorkosigan, dass Sie auf Station Graf wie jedes andere Opfer behandelt werden – nicht besser und nicht schlechter. Seltsam genug verlieren Sie nichts dabei.« »Wie heilsam für mich«, bemerkte Miles trocken, »und während Sie beweisen, wie unbeeindruckt Sie von meiner kaiserlichen Autorität sind, bewegt sich hier ein gefährlicher Killer frei herum. Was wird mit der wunderschönen, egalitären Station Graf geschehen, wenn er nächstes Mal zu einer weniger persönlichen Methode greift, um mich zu beseitigen, wie zum Beispiel zu einer großen Bombe? Glauben Sie mir – selbst auf Barrayar sterben wir alle gleich. Sollten wir dieses Gespräch nicht lieber unter vier Augen fortsetzen?« Die Vidcams, die offensichtlich mit Bel fertig waren, sausten wieder auf Miles zu. »Miles!« Ein atemloser Schrei ließ seinen Kopf herum174
schnellen. Auch Ekaterin eilte auf ihn zu, gefolgt von Roic. Nicol und Granat Fünf folgten in Schwebern. Mit bleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen eilte Ekaterin über die Scherben in der Lobby hinweg, packte seine Hände und umarmte ihn heftig, während er schief lächelte. In vollem Bewusstsein der Vidcams, die ihn gierig umkreisten, erwiderte er die Umarmung und stellte damit sicher, dass kein lebender Journalist, egal wie viele Arme oder Beine er besaß, der Versuchung widerstehen konnte, diese Szene in den Mittelpunkt seiner Berichterstattung zu stellen. Das waren Aufnahmen fürs Gemüt, mitten aus dem prallen Leben, jawohl! »Ich habe versucht, sie zurückzuhalten, Mylord«, sagte Roic entschuldigend, »aber sie bestand darauf, hierher zu kommen.« »Ist schon in Ordnung«, erwiderte Miles mit gedämpfter Stimme. »Ich dachte, das sei hier ein sicherer Ort«, murmelte Ekaterin unglücklich in sein Ohr. »Mir kam es so sicher vor. Die Quaddies erschienen mir als so friedliche Leute.« »Die Mehrzahl ist es auch zweifellos«, sagte Miles. Nicol flog über die Lobby hinweg zu Bel mit ziemlich dem gleichen Gesichtsausdruck, wie ihn auch Ekaterin gehabt hatte, und die Vidcams drängten hinter ihr her. »Wie weit sind Sie mit Solian gekommen?«, fragte Miles Roic leise. »Nicht weit. Mylord. Ich beschloss, mit der Idris zu beginnen, und bekam alle Zugangscodes von Brun und Molino, aber die Quaddies erlauben mir nicht, an Bord zu gehen. Ich wollte Sie gerade anrufen.« 175
Miles grinste flüchtig. »Bestimmt kann ich das jetzt regeln, verdammt noch mal.« Greenlaw kehrte zurück und lud die Barrayaraner in den Besprechungsraum der Herbergsverwaltung ein, den man hastig für diesen Zweck geräumt hatte. Miles hakte Ekaterin bei sich unter und sie folgten Greenlaw; er schüttelte bedauernd den Kopf, als ein Reporter entschlossen auf sie zuschoss, und einer von Greenlaws Milizleuten machte eine strenge abwehrende Bewegung. Als der Quaddie-Journalist seinen Versuch vereitelt sah, stürzte er sich stattdessen auf Granat Fünf. Mit dem Reflex einer Bühnendarstellerin begrüßte sie ihn mit einem blendenden Lächeln. »Hattest du einen schönen Vormittag?«, fragte Miles Ekaterin heiter, während sie sich ihren Weg durch das Durcheinander auf dem Boden suchten. Sie betrachtete ihn etwas verwundert. »Ja, schön. Die Hydrokultur der Quaddies ist außerordentlich.« Ihre Stimme wurde trocken, als sie sich am Kampfplatz umblickte. »Und du?« »Erfreulich. Nun ja, nicht, wenn wir uns nicht geduckt hätten. Aber wenn ich nicht herausfinde, wie ich diesen Vorfall nutzen kann, um unseren toten Punkt zu überwinden, dann sollte ich meine Auditorenkette zurückgeben.« Er unterdrückte ein wölfisches Grinsen und richtete den Blick auf Greenlaws Rücken. »Man lernt ja so allerhand auf einer Hochzeitsreise. Jetzt weiß ich, wie ich dich aus deinen trüben Stimmungen herausholen kann. Ich muss nur jemanden anheuern, der auf dich schießt.« 176
»Ja, das peppt mich richtig auf«, stimmte er zu. »Ich habe schon vor Jahren herausgebracht, dass ich adrenalinsüchtig bin. Ich habe auch herausgebracht, dass es am Ende toxisch werden würde, wenn ich es nicht drossele.« »Wirklich.« Sie atmete ein. Das leichte Zittern der Hand, die in seiner Ellenbeuge lag, nahm ab, und ihr Griff auf seinen Bizeps ließ nach. Ihr Gesicht war wieder täuschend heiter. Greenlaw führte sie durch den Bürokorridor hinter dem Empfangsbereich in einen voll gestopften Arbeitsraum. Von dessen kleinem Vid-Tisch in der Mitte waren die mit Ringen verzierten Becher, geleerten Trinkkolben und Plastikfolien weggeräumt worden; man hatte sie jetzt willkürlich auf einer an die Wand geschobenen Kredenz aufgehäuft. Roic und einer der Quaddie-Milizionäre rangelten sich um die Stellung an der Tür und blickten einander finster an. Miles erinnerte sich daran, dass er ungehalten wirken sollte und nicht begeistert. »Nun«, er ließ in seiner Stimme erkennbaren Sarkasmus anklingen, »das war eine bemerkenswerte Ergänzung meines heutigen Besprechungsprogramms.« »Lord Auditor«, begann Greenlaw, »Sie haben meine Entschuldigung …« »Ihre Entschuldigung ist schon sehr gut. Madame Eichmeisterin, aber ich würde sie gern gegen Ihre Kooperation eintauschen. Angenommen, dass Sie nicht hinter diesem Vorfall stecken«, er ignorierte ihren ungehaltenen Zwischenruf und fuhr geschmeidig fort, »und ich sehe nicht, warum Sie dahinter stecken sollten, trotz der viel sagenden 177
Umstände. Willkürliche Gewalt scheint mir nicht zum üblichen Quaddie-Stil zu gehören.« »Ganz gewiss nicht!« »Nun, wenn es sich nicht um willkürliche Gewalt handelt, dann muss es eine Verbindung geben. Das zentrale Rätsel dieses ganzen Wirrwarrs bleibt das bisher vernachlässigte Verschwinden von Leutnant Solian.« »Das ist nicht vernachlässigt worden …« »Ich widerspreche. Die Antwort darauf hätte man schon vor Tagen zusammenbringen können – sollen! –, nur scheint hier eine künstliche Trennung von Lasche A und Schlitz B auf zwei verschiedene Seiten vorzuliegen, sodass man nicht zusammenbekommt, was zusammengehört. Wenn die Verfolgung des Quaddie, der mich angegriffen hat. eine Aufgabe der Union ist«, er hielt inne und hob die Augenbrauen; sie nickte grimmig, »dann ist die Verfolgung Solians gewiss meine Aufgabe. Es ist der eine Faden, den ich in der Hand habe, und ich habe vor. ihm nachzugehen. Und wenn die beiden Ermittlungsstränge sich nicht irgendwo in der Mitte treffen, dann fresse ich mein Auditorensiegel.« Greenlaw blinzelte. Diese Wendung des Gesprächs schien sie ein bisschen zu überraschen. »Möglicherweise …« »Gut. Dann wünsche ich völligen und ungehinderten Zugang für mich, meinen Assistenten Gefolgsmann Roic und jede andere Person, die ich benennen werde, zu allen Bereichen und Aufzeichnungen, die für diese Suche von Belang sind. Beginnend mit der Idris, und zwar sofort!« »Wir können nicht Planetariern erlauben, sich nach Be178
lieben in Sicherheitsbereichen der Station umherzubewegen, die …« »Madame Eichmeisterin, Sie sind hier, um die Interessen der Union zu fördern und zu schützen, wie ich hier bin, um die Interessen Barrayars zu fördern und zu schützen. Doch wenn es in diesem Durcheinander irgendetwas gibt, das entweder für den Quaddie-Raum oder für das Kaiserreich gut ist, so ist dies für mich nicht erkennbar! Oder etwa für Sie?« »Nein, aber …« »Dann stimmen Sie mir zu, je früher wir zur Mitte der Sache vorstoßen, umso besser.« Sie legte ihre oberen Hände an den Fingerspitzen zusammen und betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Bevor sie weitere Einwände anbringen konnte, betrat Bel den Raum. Er schien endlich Venn und den Medien entkommen zu sein. Nicol begleitete ihn in ihrem Schweber. Greenlaws Miene hellte sich auf. und sie bemächtigte sich des einzigen für die Quaddies im Chaos dieses Morgens günstigen Punktes. »Hafenmeister Thorne. Willkommen! Ich habe gehört, dass die Union Ihnen viel Dank schuldet für Ihren Mut und Ihr schnelles Denken.« Bel blickte auf Miles – etwas trocken, wie Miles dachte – und salutierte vor Greenlaw zurückhaltend. »Das war Routine, Madame.« Miles musste daran denken, dass dies vor langer Zeit einmal wirklich gestimmt haben mochte. Greenlaw schüttelte den Kopf. »Ich hoffe doch, nicht auf Station Graf. Hafenmeister!« 179
»Nun, ich jedenfalls danke Hafenmeister Thorne!«, erklärte Ekaterin mit Wärme in der Stimme. Nicol nahm verstohlen Bels Hand und warf ihm unter ihren dunklen Wimpern hervor einen Blick zu, der einen heißblütigen Söldner jeglichen Geschlechts veranlasst hätte, mit Freuden alle Medaillen, Ehrenbänder und Kampfprämien dagegen einzutauschen und die langweiligen Ansprachen des Oberkommandos noch gratis hinterher zu werfen. Jetzt schien sich Bel allmählich mit der Tatsache zu versöhnen, dass er dran und drauf war, zum Helden der Stunde erklärt zu werden. »Sicherlich«, stimmte Miles seiner Frau zu. »Zu sagen, ich sei erfreut über Hafenmeister Thornes Dienste als Verbindungsmann, ist eine gewaltige Untertreibung. Ich würde es als einen persönlichen Gefallen betrachten, wenn der Herm für die Dauer meines Aufenthalts weiter diese Aufgabe übernehmen dürfte.« Greenlaw fing Bels Blick auf, dann nickte sie Miles zu. »Gewiss doch, Lord Auditor.« Sie war erleichtert, schloss Miles, dass sie ihm etwas geben konnte, was sie kein neues Zugeständnis kostete. Ein leichtes Lächeln erschien auf ihren Lippen – ein seltenes Ereignis. »Überdies gewähre ich Ihnen und den von Ihnen benannten Assistenten Zugang zu den Aufzeichnungen und Sicherheitszonen von Station Graf – unter der direkten Aufsicht des Hafenmeisters.« Miles tat so, als müsste er diesen Kompromiss überdenken, und runzelte gekünstelt die Stirn. »Das wird Hafenmeister Thornes Zeit und Aufmerksamkeit beträchtlich in Anspruch nehmen.« 180
»Ich nehme den Auftrag gerne an«, warf Bel ernst ein, »vorausgesetzt, Boss Watts genehmigt alle meine Überstunden und einen anderen Aufseher, der meine Routineaufgaben übernimmt.« »Kein Problem, Hafenmeister. Ich werde Watts anweisen, die zusätzlichen Kosten für seine Abteilung auf die Dock-Rechnung der komarranischen Flotte zu setzen.« Greenlaw gab dieses Versprechen mit einem Aufblitzen grimmiger Genugtuung. Wenn man das zu der Vergütung hinzurechnete, die Bel vom KBS bekam, würde der Hermaphrodit sozusagen drei Schichten gleichzeitig arbeiten, überschlug Miles im Kopf. Alte Buchhaltungstricks der Dendarii, ha! Nun, Miles würde dafür sorgen, dass das Kaiserreich vollen Wert für sein Geld bekam. »Nun gut«, gab er nach und bemühte sich, etwas pikiert zu wirken. »Dann wünsche ich sofort an Bord der Idris zu gehen.« Ekaterin lächelte nicht, aber ihre Augen funkelten verständnisvoll. Und was wäre gewesen, wenn sie seine Einladung, ihn heute früh zu begleiten, angenommen hätte? Und wäre neben ihm diese Treppe hinaufgegangen – der Angreifer mit seinem unberechenbaren Zielvermögen hätte nicht über ihren Kopf hinweg geschossen. Als er sich die möglichen Ergebnisse ausmalte, spürte er einen unangenehmen Krampf im Magen, und sein noch verbliebenes Adrenalinhoch schmeckte plötzlich sehr sauer. »Was Lady Vorkosigan angeht«. Miles schluckte, »werde ich es so einrichten, dass Lady Vorkosigan an Bord der Prinz Xav bleibt, bis der Sicherheitsdienst von Station Graf 181
den Möchtegernkiller verhaftet hat und dieses Rätsel gelöst ist.« Entschuldigend murmelte er an sie gerichtet: »Tut mir Leid …« »Ist schon in Ordnung«, erwiderte sie verständnisvoll nickend. Nicht glücklich natürlich, aber sie verfügte über zu viel Vernunft als Vor-Lady, um sich über Sicherheitsfragen zu streiten. »Deshalb ersuche ich um besondere Andockerlaubnis für einen barrayaranischen Personen-Shuttle, der sie wegbringt.« Oder zur Turmfalke! Nein, er wagte es nicht, den Zugang zu seinem unabhängigen Transportmittel, Schlupfloch und gesicherten Kommunikationsposten zu verlieren. Greenlaw zuckte nervös. »Verzeihen Sie, Lord Vorkosigan, aber auf genau diesem Weg ist der letzte barrayaranische Angriff auf die Station erfolgt. Wir legen keinen Wert darauf, weitere derartige Eindringlinge aufzunehmen.« Sie blickte auf Ekaterin und atmete ein. »Jedoch verstehe ich Ihre Besorgnis. Ich biete Lady Vorkosigan gern eine unserer Personenkapseln samt Pilot als Zubringer an.« »Madame Eichmeisterin«, erwiderte Miles, »ein unbekannter Quaddie hat gerade eben versucht, mich umzubringen. Ich gebe zu. dass ich eigentlich nicht glaube, dies könnte zu Ihrer Geheimpolitik gehören, aber das entscheidende Wort hier ist unbekannt. Wir wissen noch nicht, dass es kein Quaddie war, der noch eine Vertrauensstellung innehat. Es gibt verschiedene Experimente, die ich gern durchführen würde, um das herauszufinden, aber das hier gehört nicht dazu.« Bel seufzte hörbar. »Falls Sie es wünschen. Lord Auditor Vorkosigan. dann werde ich es übernehmen, Lady Vor182
kosigan zu Ihrem Flaggschiff zu bringen.« Aber dich brauche ich doch hier! Bel verstand offensichtlich seinen Blick, denn er fügte an: »Oder ein Pilot meiner Wahl?« Mit ungeheucheltem Widerstreben stimmte Miles diesmal zu. Der nächste Schritt bestand darin, Admiral Vorpatril anzurufen und ihn über den neuen Gast seines Schiffes zu informieren. Als Vorpatrils Gesicht über der VidScheibe auf dem Konferenztisch erschien, gab er keinen anderen Kommentar ab als: »Gewiss, Mylord Auditor. Für die Prinz Xav wird es eine Ehre sein.« Doch Miles konnte in dem scharfen Blick des Admirals dessen Einschätzung lesen, dass die Situation ernster geworden war. Miles vergewisserte sich, dass noch keine hysterischen ersten Meldungen über den Vorfall auf die einige Tage lange Reise zum Hauptquartier geschickt worden waren; die Nachricht und die beruhigenden Erläuterungen würden also Gott sei Dank gleichzeitig eintreffen. Da er sich bewusst war, dass Quaddies zuhörten, gab Vorpatril keine weitere Bemerkung von sich außer einer höflichen Bitte, dass der Lord Auditor ihn zum frühest möglichen Zeitpunkt über die Entwicklung auf dem Laufenden halten sollte – mit anderen Worten, sobald er eine private gesicherte KomKonsole verfügbar hatte. Die Versammlung löste sich auf. Weitere Unionsmilizionäre waren eingetroffen, und alle gingen wieder in die Lobby der Herberge hinaus, gut – wenn auch verspätet – geschützt von bewaffneten Begleitern. Miles gab Acht, dass er so weit entfernt von Ekaterin ging wie möglich. In der beschädigten Lobby waren Spurensicherer der Quad183
dies dabei, unter Venns Leitung Vid-Aufnahmen zu machen und Messungen vorzunehmen. Miles blickte mit gerunzelter Stirn zum Balkon empor und überlegte, welche Geschossbahnen es von dort gab; Bel, der neben ihm ging und seinen Blick beobachtete, hob die Augenbrauen. Miles sagte plötzlich mit gedämpfter Stimme: »Bel, du meinst nicht, dass dieser Irre auf dich gefeuert haben könnte, was?« »Warum auf mich?« »Nun ja, einfach so. Wie viele Leute verärgert eigentlich ein Hafenmeister üblicherweise im normalen Lauf der Geschäfte?« Er schaute sich um; Nicol war außer Hörweite, sie schwebte neben Ekaterin und war in einen leisen, lebhaften Austausch mit ihr vertieft. »Oder im Laufe der Privatangelegenheiten? Du hast nicht mit irgendjemandes Ehefrau geschlafen, was? Oder mit einem Ehemann«, fügte er der Vollständigkeit halber hinzu. »Oder mit einer Tochter oder was auch immer?« »Nein«, erwiderte Bel mit Nachdruck, »auch nicht mit ihren Haustieren. Was für eine barrayaranische Ansicht von den menschlichen Motiven du hast, Miles.« Miles grinste. »Tut mir Leid. Wie steht es mit … alten Geschäften?« Bel seufzte. »Ich dachte, ich sei all den alten Geschäften entkommen oder hätte sie überlebt.« Der Hermaphrodit warf Miles einen Seitenblick zu. »Fast.« Nach einem Moment des Nachdenkens fügte er hinzu: »Auch dafür wärest du sicher eher dran als ich.« »Möglicherweise.« Miles runzelte die Stirn, und dann war da noch Dubauer. Dieser Hermaphrodit war gewiss 184
groß genug, um als Ziel zu dienen. Aber wie zum Teufel konnte ein älterer betanischer Händler von genveränderten Tieren, der die meiste Zeit auf der Station sowieso in einem Herbergszimmer verbracht hatte, einen Quaddie so sehr erzürnt haben, dass dieser versuchen sollte, ihm den ängstlichen Kopf wegzupusten? Hier gab es verdammt noch mal zu viele Kandidaten als Opfer eines Anschlags. Es war an der Zeit, gesicherte Daten ins Spiel zu bringen.
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9 Der Quaddie-Pilot, den Bel ausgesucht hatte, traf zusammen mit zwei streng blickenden Wachen von der Unionsmiliz ein und holte Ekaterin ab. Miles blickte ihr mit leichter Beklemmung nach. Als sie sich umwandte und über die Schulter zurückblickte, während sie durch die Tür der Herberge hinausging, tippte er viel sagend auf seinen Kommunikator am Handgelenk; als Antwort hob sie stumm den linken Arm, an dem der Armreif mit ihrem Kommunikator glitzerte. Da sie sowieso alle unterwegs zur Idris waren, nutzte Bel die Verzögerung, um Dubauer wieder in die Lobby herunterzurufen. Dubauer, dessen glattes Kinn jetzt sauber mit einem diskreten Tupfer eines flüssigen Pflasters versorgt war, kam prompt und starrte etwas beunruhigt auf ihre neue militärische Eskorte. Doch der schüchterne, elegante Hermaphrodit schien seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen zu haben und murmelte ehrliche Worte des Dankes an Bel dafür, dass er sich trotz all des Tumults an seine Fracht und damit an die Bedürfnisse seiner Kreaturen erinnerte. Die kleine Gruppe ging bzw. schwebte hinter Hafenmeister Thome her und folgte dabei einem bemerkenswert nichtöffentlichen rückwärtigen Weg durch die Zoll- und Sicherheitszone zu der Reihe von Ladebuchten, die der galaktischen Raumschifffahrt vorbehalten waren. Die Bucht der Idris, die an ihrer Andockbühne festlag, war still, dämmerig und menschenleer, abgesehen von zwei Sicherheitsleuten der Station Graf, die die Luken bewachten. 186
Bel präsentierte seine Genehmigung, woraufhin die beiden Wächter beiseite schwebten und Bel den Zugang zur Lukensteuerung gestatteten. Die Tür zu der großen Frachtschleuse glitt nach oben. Miles, Roic und Dubauer folgten Bel an Bord des Frachters und ließen ihre Eskorte zurück; die Milizionäre sollten helfen, den Eingang zu bewachen. Die Idris war wie ihr Schwesterschiff, die Rudra. von einer funktionellen Konstruktion, die auf Eleganz verzichtete. Sie bildete im Wesentlichen ein Bündel von sieben riesigen parallelen Zylindern; der innerste war der Besatzung vorbehalten, vier der äußeren sechs der Fracht. Die anderen beiden Rümpfe, die sich im äußeren Ring gegenüberlagen, enthielten die Necklin-Stäbe des Schiffs, die das Feld erzeugten, das die Idris durch die WurmlochSprungpunkte zog. Die Motoren für normalen Raum hinten, die Massenschildgeneratoren vorne. Das Schiff konnte um seine Mittelachse rotieren, um jeden der äußeren Zylinder an die stationsseitige Frachtschleuse anzulegen, damit Container automatisch geladen oder entladen oder empfindlichere Güter von Hand verladen werden konnten. Die Konstruktion des Raumschiffs entbehrte nicht einer zusätzlichen Sicherheit, denn im Falle eines Druckabfalls in einem oder mehreren der Zylinder konnte jeder der anderen als Zuflucht dienen, während Reparaturen durchgeführt wurden oder eine Evakuierung vonstatten ging. Während sie nun in einem dieser Frachtzylinder unterwegs waren, blickte Miles den mittleren Zugangskorridor hinauf und hinab, der sich in Dunkelheit verlief. Durch eine weitere Schleuse gelangten sie in einen kleinen Vorraum im vorderen Abschnitt des Schiffs. In einer Richtung 187
lagen Luxuskabinen für Passagiere, in der anderen Mannschaftskabinen und Büros. Liftröhren und zwei Treppen führten zu der Ebene empor, die der Schiffsmesse, der Krankenstation und den Erholungseinrichtungen gewidmet waren, und hinunter zu den Lebenserhaltungssystemen, der Technik und anderen funktionellen Bereichen. Roic blickte auf seine Notizen und nickte in Richtung des Korridors. »Hier geht es zu Solians Sicherheitsbüro, Mylord.« »Ich begleite Bürger Dubauer zu seiner Fracht«, sagte Bel, »und komme dann nach.« Dubauer deutete eine Verbeugung an, und die beiden Hermaphroditen gingen weiter in die Schleuse, die zu einer der äußeren Frachtbereiche führte. Roic zählte nach einem zweiten verbindenden Vorraum die Türen und tippte schließlich an einer Schlosstastatur in der Nähe des Hecks einen Code ein. Die Tür öffnete sich, Licht schaltete sich ein und beleuchtete eine winzige, spartanische Kammer, die kaum mehr enthielt als ein Computer-Interface, zwei Stühle und ein paar abschließbare Wandschränke. Miles aktivierte das Interface, während Roic schnell eine Inventur der Inhalte der Schränke vornahm. Alle vom KBS ausgegebenen Waffen und ihre Power-Patronen waren vorhanden, die gesamte Sicherheitsausrüstung sauber verpackt am vorgeschriebenen Ort. Im Büro gab es keine persönlichen Habseligkeiten, keine VidDisplays eines Mädchens aus der Heimat, keine viel sagenden – oder politischen – Witze oder aufmunternde Slogans an den Innenseiten der Schranktüren. Aber Bruns Ermittler waren schon einmal hier gewesen, nachdem Solian 188
verschwunden war, doch bevor das Schiff von den Quaddies nach dem Zusammenstoß mit den Barrayaranern evakuiert worden war. Miles nahm sich vor, Brun und gegebenenfalls auch Venn zu fragen, ob etwas entfernt worden war. Roics Mastercodes riefen prompt alle Aufzeichnungen und Logbücher von Solian auf. Miles begann mit Solians letzter Schicht. Die täglichen Berichte des Leutnants waren lakonisch, eintönig und enttäuschend frei von Anmerkungen über potenzielle Attentäter. Miles fragte sich, ob er der Stimme eines Toten lauschte. Von Rechts wegen hätte ihn ein psychischer Schauer überkommen sollen. Die unheimliche Stille des Schiffes förderte die Einbildung. Während das Schiff angedockt lag. machte sein Sicherheitssystem durchgehende Vid-Aufzeichnungen von allem und jedem, was durch eine aktivierte Schleuse an Bord kam oder von Bord ging; diese Maßnahme diente der Vorbeugung von Diebstahl und Sabotage. Das Kommen und Gehen der ganzen zehn Tage vor der Beschlagnahmung des Schiffes durchzuschauen, würde – selbst im Schnelldurchgang – eine zeitraubende Arbeit darstellen. Man würde auch die entmutigende Möglichkeit untersuchen müssen, dass Aufzeichnungen verändert oder gelöscht worden waren; Brun hatte ja Solian in Verdacht, dass er dies getan habe, um seine Fahnenflucht zu vertuschen. Miles machte sich Kopien von allem, was entfernt relevant erschien, um es später zu prüfen, dann statteten er und Roic zusätzlich Solians Kabine einen Besuch ab, die nur ein paar Meter weiter am selben Korridor lag. Sie war ebenfalls klein, einfach und kahl. Man wusste nicht, wel189
che persönlichen Gegenstände Solian vielleicht in die fehlende Reisetasche gepackt hatte, aber augenscheinlich war nicht mehr viel übrig. Das Schiff hatte Komarr vor sechs Wochen verlassen. Und unterwegs an einem halben Dutzend Raumhäfen angelegt. Wenn ein Schiff angedockt lag, waren dessen Sicherheitsleute am meisten beschäftigt; vielleicht hatte Solian nicht viel Zeit gehabt, um Souvenirs zu kaufen. Miles versuchte aus dem schlau zu werden, was zurückgeblieben war. Ein halbes Dutzend Uniformen, ein paar zivile Kleidungsstücke, eine unförmige Jacke, einige Schuhe und Stiefel … Solians maßgeschneiderter Druckanzug. Dies schien ein teures Stück zu sein, das man vielleicht für einen langen Aufenthalt im Quaddie-Raum brauchen konnte. Allerdings nicht sehr anonym mit den barrayaranischen Militärabzeichen darauf. Da sie in der Kabine nichts fanden, was sie von der Plackerei der Prüfung der Vid-Aufzeichnungen befreit hätte, kehrten Miles und Roic in Solians Büro zurück und fingen an. Wenn nichts anderes dabei herauskäme, so ermutigte Miles sich selbst, dann würde das Betrachten der Sicherheits-Vids ihm einen mentalen Eindruck der potenziellen Hauptpersonen des Dramas geben … die sicherlich irgendwo in der Menge der Personen verborgen waren, die nichts mit der Sache zu tun hatten. Dass er alles anschaute, war ein sicheres Zeichen dafür, dass er noch nicht wusste, was zum Teufel er da tat, doch es handelte sich um die einzige Methode, die er gefunden hatte, um den unauffälligen Anhaltspunkt aufzuspüren, den alle anderen übersehen hatten. 190
Nach einer Weile ließ eine Bewegung in der Bürotür ihn aufblicken. Bel war zurückgekehrt und lehnte am Türrahmen. »Habt ihr schon etwas gefunden?«, fragte der Hermaphrodit. »Bis jetzt nicht.« Miles hielt das Vid-Display an. »Hat sich dein betanischer Freund um seine Probleme kümmern können?« »Nun, er arbeitet noch daran. Er füttert die Viecher und schaufelt den Mist weg, oder zumindest gibt er ein Nährkonzentrat in die Replikatorenreservoirs und entfernt die Abfallbeutel von den Filtereinheiten. Ich kann jetzt verstehen, warum Dubauer unglücklich über die Verspätung ist. Wenn er seine Fracht verliert, dann erleidet er einen mächtigen finanziellen Verlust.« »Hm. Die meisten Tierzüchter versenden eingefrorene Embryos«, sagte Miles. »So hat mein Großvater seine speziell gezüchteten Vollblutpferde von der Erde importiert. Dann implantierte er sie nach der Ankunft in eine aufgekreuzte Stute, um die Sache zu vollenden. Billiger, leichter, weniger Pflege – und eventuelle Verzögerungen beim Transport waren kein Thema. Allerdings nutzt vermutlich Dubauers Methode die Reisezeit für die Reifung.« »Dubauer sagte, die Zeit sei ein wesentlicher Faktor.« Bel zog die Schultern hoch und runzelte unbehaglich die Stirn. »Was haben im Übrigen die Logbücher der Idris über Dubauer und seine Fracht zu sagen?« Miles rief die Daten auf. »An Bord gekommen, als die Flotte sich im Orbit von Komarr versammelte. Unterwegs nach Xerxes – dem nächsten Halt nach Station Graf, was 191
für ihn diesen Schlamassel besonders frustrierend machen muss. Reservierung durchgeführt etwa … sechs Wochen, bevor die Flotte abreiste, und zwar über einen komarranischen Schiffsagenten.« Eine legale Firma; Miles erkannte den Namen wieder. Die Daten zeigten nicht, wo Dubauer und seine Fracht ursprünglich herkamen, und auch nicht, ob der Hermaphrodit beabsichtigt hatte, auf Xerxes auf einen anderen kommerziellen – oder privaten – Transport umzusteigen, um ein weiteres, endgültiges Ziel anzusteuern. Miles blickte Bel fragend an. »Beschäftigt dich irgendetwas?« »Ich … weiß nicht. Irgendwas ist komisch an Dubauer.« »In welcher Hinsicht? Würde ich den Witz verstehen?« »Wenn ich es sagen könnte, dann würde es mich nicht so sehr beschäftigen.« »Er scheint ein pedantischer älterer Herrn zu sein … vielleicht ist er irgendwas im akademischen Bereich?« Universitäre biotechnische Forschung und Entwicklung – das würde zu der seltsam präzisen und höflichen Art passen. Und auch seine persönliche Schüchternheit. »Das könnte eine Erklärung sein«, erwiderte Bel, doch es klang nicht überzeugt. »Komisch. Stimmt.« Miles machte sich eine Notiz, dass er bei seiner Durchsuchung der Vid-Aufzeichnungen die Bewegungen des Hermaphroditen an und von Bord der Idris verfolgen wollte. Bel, der ihn beobachtete, bemerkte: »Greenlaw war übrigens insgeheim von dir beeindruckt.« »War sie das? Es ist ihr sicherlich gelungen, das vor mir geheim zu halten.« 192
Bel grinste. »Sie sagte mir, du wirktest sehr aufgabenorientiert. Im Quaddie-Raum ist das ein Kompliment. Ich habe ihr nicht erklärt, dass du es als einen normalen Teil deiner täglichen Routine betrachtest, wenn man auf dich schießt.« »Na ja, nicht unbedingt täglich. Wäre mir lieber.« Miles verzog das Gesicht. »Und auch nicht normalerweise, in dem neuen Job. Ich gehöre jetzt angeblich zum rückwärtigen Stab. Ich werde alt, Bel.« Aus Bels Grinsen sprach jetzt sardonisches Vergnügen. »Als jemand, der nicht ganz doppelt so alt ist wie du, sage ich es dir in eurem schönen alten barrayaranischen Ausdruck von anno dunnemals: Pferdekacke, Miles.« Miles zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es die bevorstehende Vaterschaft.« »Die ist dir richtig unheimlich, oder?« Bel zog die Augenbrauen hoch. »Nein, natürlich nicht. Oder – nun ja, aber nicht in dieser Weise. Mein Vater war … ich habe ein großes Vorbild, dem ich gerecht werden muss. Und vielleicht muss ich sogar ein paar Sachen anders machen.« Bel neigte den Kopf zur Seite, doch bevor er etwas sagen konnte, hörte man Schritte auf dem Korridor. Dubauers helle, kultivierte Stimme fragte: »Hafenmeister Thorne? Ach, da sind Sie ja.« Bel trat in den Raum, als der große Hermaphrodit in der Tür erschien. Miles bemerkte, wie Roic einen schnellen, taxierenden Blick auf Dubauer warf, bevor der Leibwächter so tat, als richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Vid-Display. 193
Dubauer wirkte etwas nervös, als er Bel fragte: »Kehren Sie bald zur Herberge zurück?« »Nein. Das heißt, ich gehe überhaupt nicht zu der Herberge zurück.« »So, aha.« Der Hermaphrodit zögerte. »Sehen Sie, wo da draußen seltsame Quaddies herumfliegen und auf Leute schießen, da möchte ich wirklich nicht allein auf der Station herumspazieren. Hat man schon etwas gehört – er ist noch nicht gefasst worden, oder? Nein? Ich hatte gehofft … kann jemand mich begleiten?« Bel lächelte mitfühlend über dieses Eingeständnis, dass Dubauer mit den Nerven fertig war. »Ich werde einen meiner Sicherheitswächter mit Ihnen schicken. Ist das in Ordnung.?« »Ich wäre Ihnen äußerst dankbar, ja.« »Sind Sie denn schon fertig?« Dubauer biss sich auf die Lippe. »Nun, ja und nein. Das heißt, ich habe die Wartung meiner Replikatoren beendet und das Wenige getan, was ich konnte, um den Wuchs und den Stoffwechsel des Inhalts zu verlangsamen. Doch wenn meine Fracht noch viel länger hier festgehalten wird, dann werde ich nicht mehr genug Zeit haben, um zu meinem Bestimmungsort zu gelangen, bevor meine Kreaturen zu groß werden für ihre Behälter. Wenn ich sie wirklich vernichten müsste, so wäre das eine Katastrophe.« »Ich glaube, die Versicherung der komarranischen Flotte dürfte den Schaden ersetzen«, erwiderte Bel. »Oder Sie könnten Station Graf verklagen«, schlug Miles vor. »Besser noch, tun Sie beides und kassieren Sie zweimal.« Bel warf ihm einen empörten Blick zu. 194
Dubauer lächelte gequält. »Das beträfe nur den unmittelbaren finanziellen Verlust.« Nach einer längeren Pause fuhr der Hermaphrodit fort: »Um den wichtigeren Teil zu retten, die patentierten biotechnischen Veränderungen, möchte ich Gewebeproben nehmen und sie einfrieren, bevor ich den Rest beseitige. Ich werde auch einige Geräte für die komplette Zerlegung der Biomaterie brauchen. Oder Zugang zu den Konvertern des Schiffes, falls sie nicht mit der Menge, die ich vernichten muss, überlastet werden. Es wird eine zeitaufwändige und – wie ich fürchte – extrem schmutzige Sache werden. Ich habe überlegt, Hafenmeister Thorne … Wenn Sie nicht die Freigabe meiner Fracht aus der Beschlagnahme durch die Quaddies erreichen können, können Sie mir dann wenigstens die Erlaubnis erwirken, an Bord der Idris zu bleiben, während ich die Tötung vornehme?« Bel zog die Augenbrauen zusammen angesichts des grausigen Bildes, das Dubauers sanfte Worte heraufbeschworen. »Hoffen wir, dass Sie nicht zu solch extremen Maßnahmen gezwungen werden. Wie viel Zeit haben Sie eigentlich noch?« Der Hermaphrodit zögerte. »Nicht mehr sehr viel. Und wenn ich meine Kreaturen beseitigen muss – je eher, desto besser. Ich hätte es dann lieber hinter mir.« »Das ist verständlich.« Bel stieß den Atem aus. »Es gäbe noch einige alternative Möglichkeiten, um Ihr Zeitfenster zu erweitern«, sagte Miles. »Zum Beispiel ein kleines, schnelleres Schiff zu chartern, das Sie direkt zu Ihrem Bestimmungsort bringt.« Dubauer schüttelte traurig den Kopf. »Und wer würde 195
für dieses Schiff zahlen, Mylord Vorkosigan? Das Kaiserreich von Barrayar?« Miles biss sich auf die Zunge, um weder zu sagen jawohl, sicherlich!. noch alternative Lösungen vorzuschlagen, die Greenlaw und die Union mit einbezogen. Man erwartete von ihm, dass er sich um das große Ganze kümmerte und sich nicht in all die menschlichen – und unmenschlichen Details verwickeln ließ. Er machte eine neutrale Geste und ließ Bel seinen betanischen Landsmann hinausbegleiten. Miles verbrachte noch ein paar Minuten mit vergeblichen Versuchen, in den Vid-Aufzeichnungen etwas Aufregendes zu finden, dann kehrte Bel zurück. Miles schaltete das Viel ab. »Ich glaube, ich würde mir gern einmal die Fracht dieses komischen Betaners anschauen.« »Da kann ich dir nicht helfen«, sagte Bel. »Ich habe die Codes für die Frachtschränke nicht. Nur die Passagiere sollen vertragsgemäß Zugang zu dem Raum haben, den sie gemietet haben, und die Quaddies haben sich nicht die Mühe gemacht, einen Gerichtsbeschluss zu erwirken, der die Passagiere zwingt, ihre Codes herauszurücken. Das verringert die Haftung der Station Graf für Diebstähle, während die Passagiere nicht an Bord sind. Du musst Dubauer dazu bringen, dass er dich ranlässt.« »Mein lieber Bel, ich bin kaiserlicher Auditor, und das hier ist nicht nur ein auf Barrayar registriertes Schiff, es gehört sogar der Familie von Kaiserin Laisa. Ich gehe, wohin ich will. Solian muss einen Sicherheitsmastercode für jeden Winkel dieses Schiffes haben. Roic?« 196
»Hier haben wir’s, Mylord.« Der Gefolgsmann klopfte auf sein Notizgerät. »Sehr gut, dann gehen wir mal.« Bel und Roic folgten ihm den Korridor hinab und durch die zentrale Schleuse in den angrenzenden Frachtbereich. Die Doppeltür zu der zweiten Kammer öffnete sich, als Roic sorgfältig den Code auf der Schlosstastatur eintippte. Miles steckte den Kopf hinein und schaltete die Lichter an. Es war ein eindrucksvoller Anblick. Glänzende Regale mit Replikatoren standen voll besetzt in dichten Reihen, füllten den Raum und ließen nur schmale Gänge zwischen sich frei. Jedes Regal saß festgeschraubt auf seiner eigenen Schwebepalette, vier Fächer zu je fünf Einheiten – also zwanzig in einem Regal, mannshoch (an Roic gemessen). Unter abgedunkelten Display-Anzeigen blinkten auf jedem Replikator Steuertäfeln mit beruhigend grünen Lichtern. Einstweilen noch. Miles schritt den Gang entlang, der von fünf Paletten gebildet wurde, umrundete das Ende und kam zählend den nächsten Gang zurück. Noch mehr Paletten säumten die Wände. Bels Schätzung von tausend schien ziemlich genau zuzutreffen. »Man sollte meinen, die Plazentakammern für Tiere wären größer. Die hier scheinen fast identisch mit denen bei uns zu Hause zu sein.« Mit denen Miles in letzter Zeit intim vertraut geworden war. Diese Mengen hier waren sichtlich für Massenproduktion bestimmt. Alle zwanzig Einheiten, die auf einer Palette aufgestapelt waren, hatten sparsamerweise Reservoirs, Pumpen, Filtergeräte und die Steuertafel gemeinsam. Miles beugte sich vor. »Ich sehe kein Markenzeichen eines Herstellers.« Und keine Serien197
nummern oder etwas anderes, was den Herkunftsplaneten dieser sichtlich erstklassigen Maschinen verraten würde. Er tippte ein Steuerzeichen ein, um den Monitorschirm zu aktivieren. Der leuchtende Schirm zeigte ebenfalls keine Herstellungsdaten oder Seriennummern an. Nur ein stilisiertes Muster eines scharlachroten schreienden Vogels auf einem silbernen Hintergrund … Miles’ Herz begann zu holpern. Was zum Teufel tat das hier …? »Miles«, meldete sich Bels Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien, »wenn du ohnmächtig werden solltest, dann leg deinen Kopf hin.« »Zwischen meine Knie«, keuchte Miles, »ich sag dann meinem Arsch Lebewohl. Bel, weiß du, was das für ein Zeichen ist?« »Nein«, erwiderte Bel in einem misstrauischen Ton, der zu besagen schien: Was denn jetzt? »Das ist das Zeichen der cetagandanischen Sternenkrippe. Nicht der militärischen Ghem-Lords, nicht ihrer kultivierten – und ich meine das in beiderlei Sinn – Herren, der Haud-Lords – nicht einmal des Kaiserlichen Himmlischen Gartens. Noch höher. Die Sternenkrippe ist der innerste Kern des innersten Rings des ganzen verdammten gigantischen gentechnischen Projekts, welches das cetagandanische Imperium darstellt. Die eigene Gen-Bank der Haud-Ladys. Dort planen sie ihre Kaiser. Die Haud-Ladys arbeiten nicht mit Tier-Genen. Sie glauben, das sei unter ihrer Würde. Das überlassen sie den Ghem-Ladys. Nicht, wohlgemerkt, den Ghem-Lords …« Mit leicht zitternder Hand berührte er den Monitor und 198
rief die nächste Steuerebene auf. Allgemeine Strom- und Reservoir-Anzeige, alles im grünen Bereich. Die nächste Ebene gestattete die individuelle Überwachung eines jeden Fötus, der in einer der zwanzig separaten plazentalen Kammern aufbewahrt wurde. Menschliche Bluttemperatur, Baby-Körpermasse und – als ob das noch nicht genug wäre – winzige eingebaute individuelle Vid-Beobachtungskameras, mit Lichtern, um die Insassen der Replikatoren in Echtzeit zu betrachten, die friedlich in ihren Fruchtblasen schwammen. Der eine auf dem Monitor zuckte mit winzigen Fingern in Richtung des sanften roten Leuchtens und schien die großen dunklen Augen aufzureißen. Wenn auch noch nicht ganz geburtsreif, so war er – nein, sie – doch schon verdammt weit, wie Miles vermutete. Er dachte an Helen Natalia und Aral Alexander. Roic erhob sich auf seine Stiefelabsätze, öffnete bestürzt den Mund und blickte an den Regalreihen mit den glitzernden Geräten entlang. »Heißt das, Mylord, dass all diese Dinger hier voll sind mit menschlichen Babys?« »Nun ja, das ist eine Frage. Genau genommen sind es zwei Fragen. Sind sie voll, und sind sie menschlich? Falls es sich um Haud-Kinder handelt, dann ist Letzteres ein höchst umstrittener Punkt. Was Ersteres angeht, können wir zumindest einmal schauen …«Ein Dutzend weiterer Palettenmonitore, in zufälligen Stichproben im ganzen Raum überprüft, ergab ähnliche Ergebnisse. Als Miles die Prüfung abbrach und es als erwiesen ansah, ging sein Atem rasend schnell. »Was macht also ein betanischer Herrn mit einem Haufen cetagandanischer Replikatoren?«, fragte Roic verwirrt. 199
»Und bloß weil sie aus cetagandanischer Produktion sind, weiß man deshalb schon, ob Cetagandaner drin sind? Vielleicht hat der Betaner die Replikatoren gebraucht gekauft?« Miles wandte sich grinsend an Bel. »Betaner? Was meinst du. Bel? Wie viel habt ihr beide euch über den alten Sandkasten Beta unterhalten, als du seinen Besuch hier überwacht hast?« »Wir haben überhaupt nicht viel geredet.« Bel schüttelte den Kopf. »Aber das beweist nichts. Ich selber neige nicht so sehr dazu, das Thema Heimat anzuschneiden, und selbst wenn ich es getan hätte, wäre ich sowieso auch viel zu wenig auf dem Laufenden, was Beta angeht, um unrichtige Aussagen über aktuelle Ereignisse zu entdecken. Nicht Dubauers Konversation war das Problem. Da war einfach etwas … Fremdartiges in seiner Körpersprache.« »Körpersprache. Genau.« Miles trat zu Bel heran, langte hinauf und drehte das Gesicht des Hermaphroditen ins Licht. Bel zuckte bei dieser körperlichen Nähe nicht zusammen, sondern lächelte nur. Feine Haare schimmerten auf Kinn und Wange. Miles kniff die Augen zusammen, während er noch einmal den Schnitt auf Dubauers Backe sorgfältig visualisierte. »Du hast einen Gesichtsflaum, wie Frauen. Jeder Herm hat das, stimmt’s?« »Gewiss. Es sei denn, sie benützen ein wirklich gründliches Enthaarungsmittel. Einige lassen sich sogar Bärte wachsen.« »Dubauer hat keinen Flaum. Nicht ein Haar in Sicht, außer den hübschen silbrigen Augenbrauen und dem Haupthaar, und ich würde betanische Dollar gegen Sand wetten, 200
dass es sich dabei um Implantate aus jüngster Zeit handelt. Körpersprache, ha! Dubauer ist überhaupt kein Zwitter – was haben sich deine Vorfahren dabei gedacht?« Bel grinste fröhlich. »Er ist völlig geschlechtslos. Dubauer ist kein Herm. Dubauer ist ein Ba.« »Ein was?« »Für den beiläufigen Blick eines Außenseiters scheinen die Ba die speziell gezüchteten Diener des Himmlischen Gartens zu sein, wo der Kaiser von Cetaganda heiter und gelassen in einer Umgebung von ästhetischer Vollkommenheit wohnt, zumindest wollen die Haud-Lords einen das glauben machen. Die Ba scheinen die absolut loyale Dienerrasse zu sein, gewissermaßen menschliche Hunde. Natürlich schön, weil alles im Himmlischen Garten schön sein muss. Ich bin zum ersten Mal vor zehn Jahren auf die Ba gestoßen, als ich in einer diplomatischen Mission nach Cetaganda geschickt wurde – nicht als Admiral Naismith, sondern als Leutnant Lord Vorkosigan. Um an der Beisetzung der Mutter des Kaisers Fletchir Giaja teilzunehmen, der alten Kaiserinwitwe Lisbet. Damals bekam ich viele Ba aus der Nähe zu sehen. Die eines bestimmten Alters – hauptsächlich Überbleibsel aus Lisbets Jugend ein Jahrhundert zuvor – waren alle haarlos gemacht worden. Es war eine Mode, die inzwischen vergangen ist. Aber die Ba sind keine Diener, oder sind jedenfalls nicht nur Diener der kaiserlichen Haud. Erinnerst du dich daran, was ich über die Haud-Ladys der Sternenkrippe sagte, dass sie nur mit menschlichen Genen arbeiten? An den Ba testen die Haud-Ladys zukünftige neue Gen-Komplexe aus, 201
Verbesserungen der Haud-Rasse, bevor sie entscheiden, ob diese gut genug sind, um sie den jeweils neuen Modellen der Haud hinzuzufügen. In einem bestimmten Sinn sind die Ba Geschwister der Haud. Fast ältere Geschwister. Sogar Kinder, von einem bestimmten Blickwinkel aus gesehen. Die Haud und die Ba sind zwei Seiten einer einzigen Medaille. Ein Ba ist genauso klug und gefährlich wie ein HaudLord. Aber nicht so autonom. Die Ba sind ebenso loyal, wie sie geschlechtslos sind, weil sie eben so geschaffen sind, und das aus teilweise denselben Gründen der Kontrolle. Das erklärt zumindest, warum ich immerzu dachte, ich sei Dubauer schon einmal irgendwo begegnet. Wenn dieser Ba nicht die meisten seiner Gene mit Fletchir Giaja höchstpersönlich teilt, dann fresse ich meine, meine, meine …« »Fingernägel?«, schlug Bel vor. Miles nahm schnell die Hand vom Mund. »Wenn Dubauer ein Ba ist«, fuhr er fort, »und ich würde schwören, dass er einer ist, dann müssen diese Replikatoren voll sein mit cetagandanischen … Irgendwas. Aber warum hier? Warum transportiert er sie getarnt und zwar ausgerechnet auf einem Schiff eines einst und vielleicht zukünftig feindlichen Reiches? Nun, ich hoffe, zukünftig nicht mehr – die letzten drei Runden offener Kriege, die wir mit unseren cetagandanischen Nachbarn hatten, waren gewiss genug. Wenn das hier eine offene und korrekte Sache wäre, warum reist er dann nicht auf einem cetagandanischen Schiff mit allem Drum und Dran? Ich garantiere dir, es geht hier nicht um Sparsamkeit. Die Sache ist äußerst geheim, aber vom wem und warum? Was zum Teufel hat die Sternen202
krippe überhaupt vor?« Er drehte sich im Kreis, da er nicht mehr stillhalten konnte. »Und was ist so teuflisch geheim, dass dieser Ba diese lebendig wachsenden Föten diese ganze Strecke mitbringt, aber dann plant, sie alle zu töten, um eher das Geheimnis zu wahren, als um Hilfe zu bitten?« »So ist das also«, sagte Bel. »Ja, das ist … ein bisschen beunruhigend, wenn man darüber nachdenkt.« »Das ist ja schrecklich«, warf Roic ungehalten ein. »Vielleicht hat Dubauer gar nicht wirklich die Absicht, sie zu beseitigen«, bemerkte Bel unsicher. »Vielleicht hat er das nur gesagt, um uns dazu zu bringen, dass wir mehr Druck auf die Quaddies ausüben, damit sie ihm eine Chance geben und ihn seine Fracht von der Idris herunternehmen lassen.« »Ah …«, sagte Miles. Das war eine attraktive Idee – er könnte seine Hände in Unschuld waschen angesichts dieses ganzen fürchterlichen Schlamassels … »Mist. Nein, noch nicht, jedenfalls. Tatsächlich möchte ich, dass ihr die Idris wieder abschließt. Lasst Dubauer nicht – lasst niemanden mehr an Bord. Einmal in meinem Leben möchte ich mich wirklich mit dem Hauptquartier absprechen, bevor ich springe. Und so schnell wie möglich.« Was hatte Gregor gesagt – oder eher angedeutet? Etwas hat die Cetagandaner um Rho Ceta aufgestört. Etwas Eigenartiges. O Majestät, hier haben wir jetzt etwas sehr Eigenartiges. Gab es da Verbindungen? »Miles«, sagte Bel leicht verärgert. »Ich bin gerade durch die Reifen gesprungen und habe Watts und Greenlaw überredet, dass sie Dubauer wieder auf die Idris lassen. Wie soll ich ihnen die plötzliche Kehrtwendung erklären?« 203
Bel zögerte. »Falls diese Fracht und ihr Besitzer für den Quaddie-Raum gefährlich sind, dann sollte ich das melden. Glaubst du. der Quaddie in der Herberge könnte vielleicht auf Dubauer geschossen haben statt auf dich oder mich?« »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, ja.« »Dann ist es … nicht richtig, die Station über etwas im Unklaren zu lassen, was vielleicht ein Sicherheitsthema ist.« Miles holte Luft. »Du bist hier der Vertreter der Station Graf; du weißt es. folglich weiß es auch die Station. Das reicht. Einstweilen.« Bel runzelte die Stirn. »Dieses Argument ist selbst für mich zu hinterhältig.« »Ich bitte dich nur zu warten. Abhängig davon, welche Information ich von zu Hause bekomme, könnte ich schließlich durchaus Dubauer ein schnelles Schiff kaufen, das seine Fracht weiterbringt. Vorzugsweise eins, das nicht auf Barrayar registriert ist. Warte einfach ab. Ich weiß, dass du das kannst.« »Na ja … in Ordnung. Eine kleine Weile.« »Ich brauche die gesicherte KomKonsole auf der Turmfalke. Wir werden diesen Laderaum versiegeln und später weitermachen. Warte. Ich möchte zuerst noch einen Blick in Dubauers Kabine werfen.« »Miles, hast du jemals davon gehört, dass es so etwas wie einen Durchsuchungsbefehl gibt?« »Mein lieber Bel, wie pingelig du doch in deinem hohen Alter geworden bist! Das hier ist ein barrayaranisches Schiff, und ich bin Gregors Stimme. Ich frage nicht nach Durchsuchungsbefehlen, ich stelle sie aus!« 204
Miles ging noch einmal im Laderaum herum, bevor er Roic anwies, ihn wieder zu verschließen. Er entdeckte nichts anderes, nur – beängstigenderweise – mehr von demselben. Fünfzig Paletten machten eine Menge UterusReplikatoren. Leider waren hinter den Replikatorenregalen keine verwesenden Leichen versteckt. Dubauers Unterkunft drüben im Personenmodul bot keine Aufschlüsse. Es war eine kleine Economy-Kabine, und das … Individuum unbekannten Geschlechts hatte offensichtlich alle persönlichen Habseligkeiten eingepackt und mitgenommen, als die Quaddies die Passagiere in die Herbergen umquartiert hatten. Auch hier gab es keine Leichen unter dem Bett oder in den Schränken. Bruns Leute hatten bestimmt die Kabine zumindest einmal, am Tag nach Solians Verschwinden, oberflächlich durchsucht. Miles nahm sich vor, eine mikroskopisch gründlichere forensische Untersuchung der Kabine wie auch des Frachtraums mit den Replikatoren anzuordnen. Allerdings – durch welche Organisation? Er wollte diese Sache noch nicht Venn übergeben, aber die Mediziner der barrayaranischen Flotte widmeten sich hauptsächlich Verletzungen. Ich werde mir etwas ausdenken. Noch nie hatte ihm der KBS so sehr gefehlt. »Haben die Cetagandaner irgendwelche Agenten hier im Quaddie-Raum?«, fragte er Bel, als sie die Kabine verließen und wieder verschlossen. »Bist du je auf deine Kollegen von der anderen Seite gestoßen?« Bel schüttelte den Kopf. »Leute aus deiner Region sind in diesem Zweig des Nexus ziemlich dünn gesät. Barrayar unterhält nicht einmal ein Vollzeit-Konsulat auf der Station 205
Union, und Cetaganda auch nicht. Alles, was sie haben, ist eine Quaddie-Rechtsanwältin, die sie dort auf HonorarBasis engagiert haben und die nach Bedarf den Papierkram für ein Dutzend kleinerer Planetenstaaten erledigt. Visa und Einreisegenehmigungen und dergleichen. Tatsächlich agiert sie sowohl für Barrayar wie auch für Cetaganda, wie ich mich erinnere. Falls es cetagandanische Agenten auf Barrayar gibt, so habe ich sie nicht entdeckt. Ich kann nur hoffen, dass das Umgekehrte auch gilt. Wenn allerdings die Cetagandaner irgendwelche Spione oder Agenten oder Informanten im Quaddie-Raum haben, dann befinden sie sich höchstwahrscheinlich auf Station Union. Ich bin nur aus, hm, persönlichen Gründen hier auf Station Graf.« Bevor sie die Idris verließen, bestand Roic darauf, dass Bel Venn anrief, um das Neueste über die Suche nach dem mörderischen Quaddie aus der Herbergslobby zu erfahren. Venn, dem dies offensichtlich lästig war, ratterte einen Bericht über lebhafte Aktivitäten auf Seiten seiner Polizisten herunter – und konnte keine Ergebnisse vorweisen. Auf dem kurzen Weg von der Andockbucht der Idris zum Dock der Turmfalke war Roic nervös und beäugte ihren bewaffneten Quaddie-Begleiter mit fast so viel Misstrauen, wie er Schatten und Querkorridoren entgegenbrachte. Doch sie kamen ohne weiteren Zwischenfall an ihrem Ziel an. »Wie schwer wäre es, von Greenlaw die Erlaubnis zu bekommen, um Dubauer unter Schnell-Penta zu befragen?«, wollte Miles von Bel wissen, als sie durch die Luftschleuse der Turmfalke gingen. »Nun, dafür brauchst du einen Gerichtsbeschluss. Und eine Begründung, die einen Quaddie-Richter überzeugt.« 206
»Hm, dann erscheint es mir doch die einfachere Alternative zu sein, wenn man Dubauer an Bord der Idris mit einem Hypospray auflauert.« »Einfacher wäre es schon«, seufzte Bel. »Und es würde mich meinen Job kosten, wenn Watts herausfände, dass ich dir dabei geholfen habe. Wenn Dubauer unschuldig wäre, dann würde er sich ohne jeden Zweifel hinterher bei den Quaddie-Behörden beschweren.« »Dubauer ist nicht unschuldig. Zumindest hat er bezüglich seiner Fracht gelogen.« »Nicht notwendigerweise. Auf seinem Frachtschein steht einfach: Säugetiere, genetisch verändert gemischt. Du kannst nicht behaupten, es seien keine Säugetiere.« »Dann also: Transport von Minderjährigen zu unmoralischen Zwecken. Sklavenhandel. Zum Teufel, ich werde mir etwas ausdenken.« Miles winkte Roic und Bel, sie sollten warten, und nahm wieder die Offiziersmesse der Turmfalke in Beschlag. Er setzte sich, stellte den Sicherheitskegel ein und holte tief Luft. Er versuchte seine galoppierenden Gedanken zu sammeln. Es gab keine schnellere Methode, um eine Dichtstrahl-Botschaft – wie auch immer codiert – vom QuaddieRaum nach Barrayar zu schicken, als über das System der kommerziellen Kanäle. Nachrichtenstrahlen wurden mit Lichtgeschwindigkeit durch die lokalen Räumsysteme zwischen den Wurmloch-Sprungpunktstationen geschickt. Die Nachrichten einer Stunde oder eines Tages wurden auf den Stationen gesammelt und dann entweder auf speziellen Kommunikationsschiffen gespeichert, die nach einem regulären Plan hin und her sprangen, um dann die Nachrichten 207
durch die Region des nächsten Lokalraums zu schicken, oder – auf weniger befahrenen Routen – auf das jeweils nächste Schiff, das einen Sprung unternahm. Die Rundreise einer so ausgestrahlten Nachricht zwischen dem QuaddieRaum und Barrayar würde bestenfalls einige Tage dauern. Er richtete die Botschaft dreifach an Kaiser Gregor, KBS-Chef Allegre und an das KBS-Hauptquartier für galaktische Operationen auf Komarr. Nach einer skizzenhaften Darstellung der Situation bis jetzt – inklusive der Versicherung, dass sein Angreifer schlecht zielte –, beschrieb er Dubauer so detailliert wie möglich und die erstaunliche Fracht, die er an Bord der Idris vorgefunden hatte. Er erbat volle Unterrichtung über die neuen Spannungen mit den Cetagandanern, auf die Gregor so indirekt angespielt hatte, und fügte noch eine dringende Bitte um Information über bekannte cetagandische Agenten und Operationen im Quaddie-Raum hinzu. Dann ließ er den Text durch den KBS-Codierer der Turmfalke laufen und schickte ihn auf seinen Weg. Was jetzt? Auf eine Antwort warten, die vielleicht gar keine Aufschlüsse gab? Wohl kaum … Miles zuckte zusammen, als sein Kommunikator summte, Er schluckte und aktivierte ihn. »Vorkosigan.« »Hallo, Miles.« Es war Ekaterins Stimme; sein Herzschlag verlangsamte sich. »Hast du einen Moment Zeit?« »Nicht nur einen Moment. Ich habe die KomKonsole der Kestrel zur Verfügung. Einen Moment der Ungestörtheit, falls du es glauben kannst.« »Ach so, dann warte eine Sekunde …«Der Kommunikator verstummte. Kurz darauf erschien Ekaterins Gesicht 208
und Oberkörper über der Vid-Scheibe. Sie trug wieder dieses vorteilhafte schieferblaue Kleid. »Ach«, sagte sie glücklich. »Da bist du ja. So ist es besser.« »Na ja, nicht ganz.« Er führte die Finger an die Lippen und schickte den Kuss pantomimisch ihrem HolovidEbenbild. Ein kühles Phantom, leider, nicht warmes Fleisch. Dann fragte er, reichlich spät: »Wo bist du?« Allein, so hoffte er. »In meinem Quartier auf der Prinz Xav. Admiral Vorpatril hat mir eine schöne Kabine gegeben. Ich glaube, er hat einen armen höheren Offizier daraus verjagt. Geht es dir gut? Hast du schon dein Dinner gehabt?« »Dinner?« »Ach, mein Lieber, ich kenne diesen Blick. Lass dir wenigstens von Leutnant Smolyani eine Fleischdose öffnen, bevor du wieder losgehst.« »Ja, Schatz.« Er grinste sie an. »Übst du jetzt mütterlichen Drill?« »Ich hielt es eher für einen öffentlichen Dienst. Hast du etwas Interessantes und Nützliches herausgefunden?« »Interessant ist eine Untertreibung. Nützlich – na ja –. da bin ich mir nicht sicher.« Er beschrieb, was er auf der Idris gefunden hatte, und das in nur leicht farbigeren Ausdrücken als in der Botschaft, die er gerade an Gregor geschickt hatte. Ekaterins Augen weiteten sich. »Du lieber Himmel! Und ich war hier ganz aufgeregt, weil ich dachte, ich hätte einen fetten Hinweis für dich gefunden! Ich fürchte, mein Fund ist im Vergleich dazu bloß Klatsch.« »Dann klatsch mal los.« 209
»Bloß etwas, was ich beim Dinner mit Vorpatrils Offizieren aufgeschnappt habe. Sie wirken auf mich als angenehmes Team, das muss ich sagen.« Jede Wette, dass sie sich angenehm gegeben haben. Ihr Gast war schön, kultiviert, ein Hauch Heimat, und die erste Frau, mit der die meisten von ihnen seit Wochen gesprochen hatten. Und mit dem kaiserlichen Auditor verheiratet, haha. Werdet ruhig grün vor Neid, Jungs. »Ich versuchte sie dazu zu bringen, über Leutnant Solian zu reden, aber kaum einer kannte den Mann. Außer dass einer sich daran erinnerte, dass Solian ein wöchentliches Treffen der Sicherheitsoffiziere der Flotte verlassen musste, weil er Nasenbluten bekam. Wie ich hörte, war Solian eher verlegen und verärgert darüber als beunruhigt. Aber mir fiel ein, dass es bei ihm chronisch sein könnte. Nikki hatte eine Weile Nasenbluten, und ich hatte es auch gelegentlich ein paar Jahre lang, als ich ein Mädchen war; bei mir verging es allerdings von allein. Aber falls Solian sich nicht zum Sanitäter seines Schiffes begeben hatte, um es behandeln zu lassen, nun ja, dann wäre das ein anderer Weg gewesen, wie jemand eine Gewebeprobe von ihm hätte bekommen können für dieses künstliche Blut.« Sie hielt inne. »Eigentlich, wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann bin ich mir nicht so sicher, dass es dir hilft. Jeder hätte sein gebrauchtes Taschentuch aus dem Abfall nehmen können, wo immer er auch gewesen ist. Allerdings habe ich vermutet, dass er, wenn ihm die Nase blutete, zumindest zu dem Zeitpunkt noch am Leben gewesen sein muss. Das erschien mir irgendwie ein wenig hoffnungsvoll.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Oder vielleicht auch nicht.« 210
»Danke«, erwiderte Miles aufrichtig. »Ich weiß nicht, ob es hoffnungsvoll ist oder nicht, aber es gibt mir einen weiteren Grund, als Nächstes die MedTechs aufzusuchen. Gut!« Er wurde mit einem Lächeln belohnt. »Und wenn dir irgendwelche Gedanken kommen wegen Dubauers Fracht, dann teile sie mir unbedingt mit. Allerdings einstweilen nur mir.« »Ich verstehe.« Sie zog die Augenbrauen herunter. »Es ist schon sehr seltsam. Nicht seltsam, dass die Fracht existiert – ich meine, wenn alle Haud-Kinder zentral gezeugt und genetisch manipuliert werden, so wie es deine Freundin, die Haud Pel, mir beschrieb, als sie als Botschafterin zu Gregors Hochzeit kam, dann müssen die HaudGenetikerinnen ständig Tausende von Embryos von der Sternenkrippe exportieren.« »Nicht ständig«, korrigierte Miles. »Einmal im Jahr. Die jährlichen Haud-Kinder-Schiffe zu den entfernteren Satrapien werden alle zur selben Zeit abgeschickt. Das gibt all den führenden planetarischen Gemahlinnen unter den Haud-Ladys wie Pel, die mit der Begleitung der Schiffe beauftragt sind, eine Gelegenheit sich zu treffen und miteinander zu beraten. Unter anderem.« Sie nickte. »Aber diese Fracht den ganzen Weg bis hierher zu bringen – und mit nur einem Betreuer, der sich um sie kümmert … Wenn dein Dubauer, oder wer immer er ist, wirklich tausend Babys im Schlepptau hat, ganz egal, ob sie normale Menschen sind oder Ghem oder Haud oder sonst was, dann sollte er lieber irgendwo einige hundert Kindermädchen für sie in Bereitschaft haben.« »Stimmt.« Miles rieb sich die Stirn, die wieder schmerz211
te, und das nicht nur von explodierenden Möglichkeiten. Ekaterin hatte Recht, wie gewöhnlich, bezüglich der Fleischdose. Falls Solian irgendwo, irgendwann eine Blutprobe weggeworfen haben sollte … »Oha!« Er kramte in seiner Hosentasche und zog sein Taschentuch heraus, das er dort seit dem Morgen vergessen hatte, öffnete es und sah den großen braunen Fleck. Eine Blutprobe, in der Tat. Er musste nicht auf Antwort vom Hauptquartier des KBS warten, um eine Identifizierung dieses Individuums zu bekommen. Zweifellos hätte er sich am Ende auch ohne Ekaterins Hinweis an diese Blutprobe erinnert. Eine andere Frage war allerdings, ob vor oder nach der Reinigung durch den tüchtigen Roic, nicht wahr? »Ekaterin, ich liebe dich sehr. Und ich muss auf der Stelle mit dem Arzt der Prinz Xav sprechen.« Er küsste heftig in ihre Richtung, was ihm dieses bezaubernde rätselhafte Lächeln einbrachte, und unterbrach die Verbindung.
212
10 Miles schickte eine dringende Vorwarnung an die Prinz Xav; es folgte eine kurze Verzögerung, während Bel wegen der Flugfreigabe für die Nachrichtendrohne der Turmfalke verhandelte. Ein halbes Dutzend bewaffneter Patrouillenfahrzeuge der Unionsmiliz schwebte noch schützend zwischen Station Graf und Vorpatrils Flotte, die einige Kilometer entfernt gebannt im Exil lag. Es hätte Miles nichts gebracht, wenn seine kostbare Blutprobe mitten im Weltraum von einem Quaddie-Milizionär mit doppelt so vielen ungeduldigen Fingern am Abzug abgeschossen worden wäre. Miles entspannte sich erst, als die Prinz Xav berichtete, dass die Kapsel sicher aufgenommen und an Bord geholt worden sei. Schließlich ließ er sich am Tisch in der Offiziersmesse der Turmfalke mit Bel, Roic und einigen Tabletts mit militärischen Verpflegungsrationen nieder. Er aß mechanisch und schmeckte kaum das zugegebenermaßen nicht sehr schmackhafte warme Essen, immer ein Auge auf das VidDisplay gerichtet, das immer noch im Schnelldurchgang die Aufzeichnungen von der Schleuse der Idris durchlief. Dubauer, so schien es, hatte das Schiff auch nicht ein einziges Mal verlassen, nicht einmal, um auf der Station herumzuspazieren, und das während der ganzen Zeit, als das Schiff angedockt lag, bis er von den Quaddies zwangsweise mit den anderen Passagieren in die Herberge auf der Station verlegt worden war. Leutnant Solian hatte das Schiff fünfmal verlassen, viermal davon auf Dienstgängen zu Routineüberprüfungen 213
von Frachten, das fünfte Mal interessanterweise nach Schichtende an seinem letzten Tag. Das Vid zeigte einen guten Blick auf seinen Hinterkopf, als er wegging, und eine deutliche Aufnahme seines Gesichts, als er etwa vierzig Minute später zurückkehrte. Obwohl Miles auf Standbild schaltete, konnte er keine der Flecken oder Schatten auf Solians dunkelgrüner barrayaranischer Uniformjacke mit Sicherheit als Spuren von Nasenbluten identifizieren, auch nicht in der Vergrößerung. Solians Gesichtsausdruck war starr und düster, als er direkt in die Vid-Sicherheitskamera blickte, für die er schließlich auch verantwortlich war – vielleicht überprüfte er automatisch ihr Funktionieren, der junge Mann blickte nicht entspannt oder glücklich drein, und auch nicht, als freute er sich auf einen interessanten Stationsurlaub, obwohl ihm einer zustand. Er sah aus, als wäre er … mit etwas beschäftigt. Dies war der letzte dokumentierte Auftritt Solians, bei dem man ihn noch lebend gesehen hatte. Kein Hinweis auf seine Leiche war gefunden worden, als Bruns Leute die Idris am nächsten Tag durchsucht hatten, und sie hatten gründlich gesucht, indem sie jeden Passagier mit Fracht, Dubauer eingeschlossen, aufgefordert hatten, ihre Kabinen und Frachträume zur Kontrolle zu öffnen. Daher Bruns mit Nachdruck vertretene Theorie, dass Solian sich unentdeckt hinausgeschmuggelt haben musste. »Wohin ist er also gegangen während dieser vierzig Minuten, als er von Bord des Schiffes war?«, fragte Miles verärgert. »Er hat meine Zollbarrieren nicht durchquert, es sei denn, jemand hat ihn in einen verdammten Teppich gerollt und hindurchgetragen«, sagte Bel entschieden. »Und ich 214
habe keine Aufzeichnungen darüber, dass jemand einen Teppich angeschleppt hat. Wir haben nachgeschaut. Er hatte ziemlich freien Zugang zu den sechs Ladebuchten in dem Sektor und zu allen Schiffen, die damals angedockt waren. Und die waren damals alle vier von euch.« »Nun, Brun schwört, er habe keine Vids von Solian, wie er eines der anderen Schiffe betritt. Vermutlich sollte ich lieber alle anderen Leute überprüfen, die während dieses Zeitabschnitts irgendeines der Schiffe verließen. Solian könnte sich zu einem ruhigen, unbeobachteten Plausch – oder zu einem unheilvolleren Austausch – mit jemandem in irgendeinem Winkel dieser Ladebuchten getroffen haben. Mit oder ohne Nasenbluten.« »Die Ladebuchten werden nicht so genau kontrolliert oder abpatrouilliert«, räumte Bel ein. »Wir erlauben manchmal, dass die Besatzungen und Passagiere die leeren Buchten zur Körperertüchtigung oder für Spiele nutzen.« »Hm.« Irgendjemand hatte wohl später eine Bucht genutzt, um Spiele mit dem synthetisierten Blut anzustellen. Nach ihrem zweckdienlichen Dinner ließ sich Miles von Bel wieder durch die Zollkontrollstellen zu der Herberge führen, wo die Besatzungen der beschlagnahmten Schiffe untergebracht waren. Diese Buden waren merklich weniger luxuriös und dichter belegt als die Quartiere der zahlenden galaktischen Passagiere, und die nervösen Besatzungen hockten schon seit Tagen in ihnen mit nichts anderem zur Unterhaltung als dem Holovid und der eigenen Gesellschaft. Sofort stürzten sich auf Miles verschiedene höhere Offiziere von den beiden Schiffen der Toscane Corporation und den zwei unabhängigen, die in diese Auseinander215
setzung mitverwickelt worden waren, und wollten wissen, wie bald er ihre Freigabe erreichen würde. Er drängte sich durch den Tumult hindurch und verlangte mit den MedTechs zu sprechen, die den vier Schiffen zugewiesen waren, und zwar in einem ruhigen Raum, wo man reden konnte. Nach einigem Hin und Her landete er in einem rückwärtigen Büro zusammen mit einem Quartett nervöser Komarraner. Miles wandte sich zuerst an den MedTech der Idris. »Wie schwer wäre es für einen Unbefugten, Zugang zu Ihrer Krankenstation zu bekommen?« Der Mann blinzelte. »Überhaupt nicht schwer, Lord Auditor. Soll heißen, die Station ist nicht abgesperrt. In einem Notfall könnte es ja notwendig werden, dass Leute direkt hineinkommen, ohne dass sie mich erst suchen müssen. Ich könnte sogar der Notfall sein.«- Er hielt inne, dann fügte er hinzu: »Einige meiner Medikamente und Instrumente werden natürlich in codegesicherten Schubladen aufbewahrt und unterliegen strengeren Inventarkontrollen. Aber für den Rest besteht diese Notwendigkeit nicht. Wenn das Schiff im Dock liegt, kontrolliert die Schiffssicherheit, wer an Bord kommt und von Bord geht, und im Weltraum, na ja, da gibt es das Problem ja nicht.« »Sie hatten also noch keine Probleme mit Diebstahl? Mit Instrumenten, die einen Spaziergang unternehmen, oder mit Materialien, die verschwinden?« »Sehr wenig. Ich meine, das Schiff ist öffentlich, aber nicht ›öffentlich‹. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Die MedTechs von den zwei unabhängigen Schiffen berichteten von ähnlichen Usancen, wenn die Schiffe im 216
Weltraum waren, aber im Dock mussten sie ihre kleinen Bereiche gesichert halten, wenn sie nicht selbst dort Dienst taten. Miles rief sich in Erinnerung, dass einer von diesen Leuten sogar bestochen worden sein konnte, um mit der Person zusammenzuarbeiten, die die Blutsynthese durchgeführt hatte. Vier Verdächtige, ha. Seine nächste Frage brachte an den Tag, dass die Krankenstationen aller vier Schiffe tatsächlich tragbare Blutsynthetisierer als Standardausrüstung in ihrem Inventar hatten. »Wenn sich jemand in eine ihrer Krankenstationen stehlen würde, um Blut zu synthetisieren, würden Sie dann feststellen können, dass Ihr Gerät benutzt worden war?« »Falls man es danach selbst gereinigt hat … vielleicht nicht«, sagte der MedTech der Idris. »Oder – um wie viel Blut geht es?« »Drei bis vier Liter.« Das besorgte Gesicht des Mannes hellte sich auf. »O ja, das heißt, wenn sie meinen Vorrat an Phyllopacks und Flüssigkeiten benutzt und keine eigenen mitgebracht hätten. Wenn so viel fehlen würde, dann hätte ich es bemerkt.« »Wie schnell würden Sie es merken?« »Das nächste Mal vermutlich, wenn ich nachschaue. Oder bei der monatlichen Inventur, wenn ich keinen Anlass hätte, vorher nachzuschauen.« »Haben Sie etwas bemerkt?« »Nein, aber – das heißt, ich habe noch nicht nachgeschaut.« Allerdings dürfte ein entsprechend bestochener MedTech vollkommen in der Lage sein, die Inventarliste solcher nicht kontrollierter Massengüter zu frisieren. Miles 217
entschloss sich, den Druck etwas zu erhöhen. »Der Grund, warum ich frage, ist«, sagte Miles kühl, »dass das Blut, das auf dem Boden der Ladebucht gefunden wurde und das diese bedauerliche – und teure – Kette von Ereignissen ausgelöst hat, ursprünglich bei der DNA-Probe Leutnant Solian zugeordnet wurde, aber jetzt sich als synthetisiert herausgestellt hat. Die Zollkontrolle der Quaddies behauptet, dass sie keine Aufzeichnungen darüber haben, dass Solian jemals auf Station Graf übergewechselt ist, was den Gedanken nahe legt – ihn aber leider nicht beweist –, dass das Blut vielleicht auch außerhalb der Zollbarrieren synthetisiert wurde. Ich glaube, wir sollten lieber als Nächstes Ihre Inventare überprüfen.« Die MedTech von der Rudra, dem im Besitz der Familie Toscane befindlichen Schwesterschiff der Idris, runzelte plötzlich die Stirn. »Da war …« Sie brach ab. »Ja?«, sagte Miles ermutigend. »Da war dieser komische Passagier, der zu mir kam, um mich wegen meines Blut-Synthetisierers zu befragen. Ich dachte mir nur, er sei einer dieser nervösen Reisenden, doch als er sich erklärte, dachte ich auch, dass er einen guten Grund hatte, nervös zu sein.« Miles lächelte vorsichtig. »Erzählen Sie mir mehr über Ihren komischen Passagier.« »Er ging erst hier auf Station Graf an Bord der Rudra. Er sagte, er mache sich Sorgen, falls er unterwegs einen Unfall hätte, denn er könne keinen standardmäßigen Blutersatz bekommen, weil er gentechnisch so sehr verändert sei. Was er auch war. Ich will sagen, ich glaubte ihm das mit dem Problem der Blutkompatibilität. Das ist ja schließ218
lich der Grund, warum wir die Synthetisierer mitführen. Er hatte die längsten Finger – mit Schwimmhäuten. Er sagte mir. er sei amphibisch, was ich nicht ganz glaubte, bis er mir seine Kiemenspalten zeigte. Seine Rippen öffneten sich auf die erstaunlichste Weise. Er sagte, er müsse seine Kiemen dauernd mit einem Befeuchtungsmittel besprühen, wenn er reist, weil die Luft auf den Schiffen und Raumstationen für ihn zu trocken ist.« Sie hielt inne und schluckte. Das war dann bestimmt nicht »Dubauer«. Hm. Ein weiterer Spieler? Aber im selben Spiel? Oder in einem anderen? »Schließlich zeigte ich ihm meinen Synthetisierer«, fuhr die MedTech verängstigt fort, »weil er so besorgt zu sein schien und mich ständig darüber fragte. Ich war hauptsächlich dahingehend besorgt, welche Arten von Beruhigungsmitteln man bei ihm würde gefahrlos benutzen können, wenn er sich als einer von denen herausstellte, die nach acht Tagen Raumreise hysterisch werden.« Wenn ich jetzt herumhüpfe und jauchze, sagte sich Miles mit Nachdruck, dann würde ich wahrscheinlich die junge Frau nur noch mehr erschrecken. Er setzte sich aufrecht hin und schenkte ihr ein munteres Lächeln, was sie nur leicht auf ihrem Stuhl zusammenschrumpfen ließ. »Wann war das? An welchem Tag?« »Hm … zwei Tage, bevor die Quaddies uns alle vom Schiff evakuierten und hierher brachten.« Drei Tag nach Solians Verschwinden. Immer besser. »Wie hieß der Passagier? Könnten Sie ihn wiedererkennen?« »O sicher – ich meine, schließlich hatte er Schwimm219
häute. Er sagte mir, sein Name sei Firka.« Wie beiläufig fragte Miles: »Wären Sie bereit, diese Aussage auch unter Schnell-Penta zu wiederholen?« Sie zog eine Schnute. »Vermutlich ja. Muss ich?« Weder in Panik noch allzu eifrig – das war gut. »Wir werden sehen. Als Nächstes machen wir die materielle Inventur. Wir beginnen mit der Krankenstation der Rudra.« Und für den Fall, dass seine Nase ihn getäuscht hatte, würden die anderen folgen. Es gab noch mehr Verzögerung, während Bel über die KomKonsole mit Venn und Watts wegen der zeitweiligen Freilassung der MedTechs aus dem Hausarrest verhandelte, da sie fachkundige Zeugen seien. Sobald dies genehmigt war, erwies sich der Besuch in der Krankenstation der Rudra als erfreulich, kurz, direkt und fruchtbar. Vom Vorrat an synthetischem Blutgrundstoff fehlten der MedTech vier Liter. Verschwunden war ein Phyllopack mit seinen Hunderten von Quadratmetern vorbehandelter Reaktionsoberflächen, in mikroskopischen Lagen in einen praktischen Einsatz gesteckt. Und die Maschine zur Blutsynthetisierung war unsachgemäß gereinigt worden. Miles grinste mit gefletschten Zähnen, als er höchstpersönlich eine dünne Schicht organischer Rückstände aus den Rohren kratzte und in einem Plastikbeutel barg, zur Ergötzung des Arztes der Prinz Xav. Es klang alles hinreichend wahr, sodass er Roic beauftragte. Kopien der Sicherheitsaufzeichnungen der Rudra einzusammeln, mit besonderem Bezug auf den Passagier Firka, und Bel mit den MedTechs losschickte, um die anderen drei Krankenstationen ohne ihn zu überprüfen. Miles 220
kehrte auf die Turmfalke zurück und überreichte seine neue Probe an Leutnant Smolyani, der sie prompt zur Prinz Xav schicken sollte, dann ließ er sich nieder und startete eine Suche nach dem derzeitigem Aufenthaltsort dieses Firka. Die Spur führte ihn zu der zweiten der beiden Herbergen, in der sich die Passagiere der beschlagnahmten Schiffe befanden, aber der Quaddie, der dort Wachdienst hatte, berichtete, dass der Mann vor dem Dinner die Herberge für den Abend verlassen habe und bis jetzt nicht zurückgekehrt sei. Firkas vorheriger Ausgang an diesem Tag war um die Zeit des Treffens der Passagiere gewesen: vielleicht war er der Mann im Hintergrund des Raums gewesen, allerdings hatte Miles bestimmt keine mit Schwimmhäuten ausgestattete Hand fragend erhoben gesehen. Miles hinterließ bei der Quaddie-Wache der Herberge die Anweisung, ihn oder Gefolgsmann Roic anzurufen, wenn der Passagier zurückehren sollte, und zwar ganz gleich zu welcher Uhrzeit. Mit Stirnrunzeln rief er die erste Herberge an, um Dubauer zu überprüfen. Der betanische bzw. cetagandanische Hermaphrodit oder Ba oder was immer er war, war tatsächlich sicher von der Idris zurückgekehrt, doch nach dem Dinner war er wieder ausgegangen. Das war an sich nicht ungewöhnlich; nur wenige der festsitzenden Passagiere blieben in ihrer Herberge, wenn sie ihre abendliche Langeweile vertreiben konnten, indem sie anderswo auf der Station Unterhaltung suchten. Aber war nicht Dubauer gerade derjenige gewesen, der sich zu sehr gefürchtet hatte, um Station Graf allein, ohne bewaffnete Begleitung, zu durchqueren? Die Runzeln auf Miles’ Stirn wurden noch tiefer, und er hinterließ eine Anweisung an diesen Dienst 221
habenden Quaddie-Wächter, er solle es ihm auch mitteilen, wenn Dubauer zurückkäme. Erneut ließ er die Sicherheits-Vids der Idris im Schnelldurchgang durchlaufen, während er auf Roics Rückkehr wartete. Vergrößerte Standbilder der Hände einer Anzahl ansonsten unauffälliger Schiffsbesucher offenbarten keine Schwimmhäute. Es ging schon auf Mitternacht (nach Stationszeit) zu, als Roic und Bel sich zurückmeldeten. Bel gähnte. »Nichts Aufregendes«, berichtete der Hermaphrodit. »Ich glaube, damit sind wir fertig. Ich habe die MedTechs mit einer Sicherheitseskorte in die Herberge zurückgeschickt, damit sie ins Bett gehen. Was steht als Nächstes an?« Miles knabberte an seinem Finger. »Jetzt warten wir auf den Bericht des Arztes über die Identifizierung der beiden Proben, die ich zur Prinz Xav geschickt habe. Und wir warten darauf, dass Firka und Dubauer in ihre Herbergen zurückkehren, oder wir suchen sie überall auf der Station. Oder besser noch, wir überlassen es Venns Polizisten, außer dass ich sie wirklich nicht ablenken möchte von der Jagd auf meinen Attentäter, bevor sie den Burschen festgenagelt haben.« Roic, der beunruhigt dreingeblickt hatte, entspannte sich wieder. »Ein guter Gedanke, Mylord«, murmelte er dankbar. »Das klingt mir nach einer goldenen Gelegenheit für etwas Schlaf«, meinte Bel. Zu seiner Bestürzung empfand Miles Bels Gähnen als ansteckend. Nie hatte er die bewundernswerte Fähigkeit ihres alten Söldnerkollegen Kommodore Tung so völlig 222
beherrscht, überall und jederzeit, wenn es eine Unterbrechung der Aktionen erlaubte, zu schlafen. Er war sich sicher, dass er noch zu aufgedreht war, um zu dösen. »Vielleicht ein Nickerchen«, gestand er widerwillig zu. Bel ergriff intelligenterweise sofort die Gelegenheit, für einige Zeit zu Nicol nach Hause zu gehen. Miles überstimmte Bels Argument, er selbst sei schließlich ein Leibwächter, und brachte ihn dazu, einen Quaddie-Polizisten mitzunehmen. Miles beschloss zu warten, bis er von dem Arzt etwas gehört hätte, und dann erst Chef Venn anzurufen und aufzuwecken: er konnte sich in den Augen der Quaddies keine Fehler leisten, also räumte er auf und legte sich in seiner winzigen Kabine hin. Falls er eine Wahl gehabt hätte zwischen einer Nacht ununterbrochenen Schlafes und frühen Nachrichten, dann hatte er frühe Nachrichten vorgezogen. Venn würde ihn es vermutlich sofort wissen lassen, wenn die Sicherheitsleute den Quaddie mit der Nietenkanone verhafteten. Einige Raumstationen war absichtlich so gebaut, dass man sich in ihnen nur schwer verstecken konnte. Leider gehörte Station Graf nicht dazu. Ihre Architektur konnte man nur als Wucherung bezeichnen. Sie musste voller vergessener Ecken und Winkel sein. Die beste Chance, den Kerl zu schnappen, wäre, wenn er versuchte, die Station zu verlassen; würde er stattdessen besonnen genug sein, sich in irgendeine Bude zu begeben und dort versteckt zu halten? Oder, da er sein Ziel – wer immer dieses Ziel gewesen sein mochte – beim ersten Mal verfehlt hatte, scharf genug darauf sein, es ein zweites Mal zu versuchen? Smolyani hatte die Turmfalke von ihrer Schleuse 223
gelöst und eine Position ein paar Meter entfernt von der Station eingenommen – für alle Fälle! –, während der Auditor schlief. Wenn man die Frage, wer einen harmlosen älteren betanischen Hermaphroditen erschießen wollte, der Schafe mit sich führte, durch die Frage ersetzte, wer einen cetagandanischen Ba erschießen wollte, der eine geheime menschliche – oder übermenschliche – Fracht von (zumindest für die Sternenkrippe) unschätzbarem Wert schmuggelte … eröffnete man auf eine äußerst beunruhigende Weise ein Spektrum möglicher Komplikationen. Miles hatte schon im Stillen entschieden, dass Passagier Firka für ein frühes Rendezvous mit Schnell-Penta fällig war, mit Kooperation der Quaddies, falls Miles sie bekam, oder auch ohne. Aber wenn man darüber nachdachte, dann war es zweifelhaft, ob die Wahrheitsdroge bei einem Ba funktionieren würde. Miles gab sich kurzen, sehnsüchtigen Phantasien von älteren Verhörmethoden hin. Etwas aus der altvorderen Ära Kaiser Yuri des Wahnsinnigen oder aus der Zeit von Miles’ Ururgroßvater Graf Pierre »Le Sanguinaire« Vorrutyer. Er rollte sich auf seinem schmalen Bett auf die andere Seite; ihm war bewusst, wie einsam die Stille seiner Kabine war ohne den beruhigenden rhythmischen Atem von Ekaterin im oberen Bett. Allmählich hatte er sich an diese nächtliche Anwesenheit gewöhnt. Diese Sache mit der Ehe wurde zu einer Gewohnheit, zu einer seiner besseren Gewohnheiten. Er berührte das Chrono an seinem Handgelenk und seufzte. Wahrscheinlich schlief sie inzwischen. Zu spät, um sie anzurufen und aufzuwecken, nur damit sie sei224
nem Gequatsche lauschte. Er zählte die Tage bis zu Aral Alexanders und Helen Natalias Geburt. Jeden Tag, den er hier herumalberte, wurde ihr Reisevorsprung kürzer. Sein Gehirn bastelte noch ein verdrehtes Liedchen zusammen, nach der Melodie eines alten Kinderliedes, etwas über Schnell-Penta und Welpenschwänze früh am Morgen, als er schließlich glücklicherweise einschlief. »Mylord?« Miles schreckte hoch, als Roics Stimme sich über die Gegensprechanlage der Kabine meldete. »Ja?« »Der Arzt der Prinz Xav ruft über die gesicherte KomKonsole an. Ich sagte ihm, er solle warten, da Sie geweckt werden wollten.« »Ja.« Miles blickte auf die Leuchtziffern des Wandchronos; er hatte etwa vier Stunden geschlafen. Für jetzt mehr als genug. Er griff nach seiner Jacke. »Bin schon unterwegs.« Roic, schon wieder – nein, immer noch – in Uniform, wartete in der zunehmend vertrauten kleinen Offiziersmesse. »Ich glaube, ich sagte Ihnen, Sie sollten etwas schlafen«, bemerkte Miles. »Morgen – inzwischen ist es schon heute, könnte ein langer Tag werden.« »Ich habe die Sicherheits-Vids der Rudra durchgeschaut, Mylord. Ich glaube, ich habe etwas gefunden.« »In Ordnung. Zeigen Sie es mir danach.« Er glitt auf den Stuhl, aktivierte den Sicherheitskegel und dann das VidBild der KomKonsole. Der leitende Flottenarzt, der nach dem Kragenspiegel an 225
seiner grünen Uniform den Rang eines Kapitäns innehatte, schien einer der jungen und fitten »Neuen Männer« von Kaiser Gregors progressiver Regierung zu sein; nach seinen leuchtenden, erregten Augen zu schließen, bedauerte er es nicht sonderlich, dass er in dieser Nacht nicht hatte schlafen können. »Mylord Auditor. Hier spricht Kapitän Chris Clogston. Ich habe das Ergebnis Ihrer Blutprobe.« »Ausgezeichnet. Und was haben Sie gefunden?« Der Arzt beugte sich vor. »Das Interessanteste war der Fleck auf Ihrem Taschentuch. Ich würde sagen, es handelte sich dabei ohne Frage um das Blut eines cetagandanischen Haud, außer dass die Geschlechtschromosomen ausgesprochen seltsam sind, und anstelle des zusätzlichen Chromosomenpaars, auf dem sie gewöhnlich ihre genetischen Modifikationen zusammenstellen, befinden sich zwei zusätzliche Paare.« Miles grinste. Ja! »Ganz richtig. Ein Versuchsmodell. In der Tat handelt es sich um einen cetagandanischen Haud – aber dieser hier ist ein Ba, also geschlechtslos, und stammt mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Sternenkrippe selbst. Frieren Sie eine Portion dieser Probe ein, kennzeichnen Sie sie als streng geheim und schicken Sie sie mit Grüßen von mir mit dem ersten verfügbaren Kurier nach Hause an das Biolabor des KBS. Ich bin mir sicher, die werden sie archivieren wollen.« »Jawohl, Mylord.« Kein Wunder, dass Dubauer versucht hatte, dieses blutbefleckte Taschentuch wiederzubekommen. Ganz abgesehen von der Gefahr seiner Enttarnung ließen die HaudLadys nicht gern eine Gen-Arbeit hohen Ranges der Ster226
nenkrippe zirkulieren, es sei denn, sie gaben sie selbst frei, gefiltert durch ein paar ausgewählte cetagandanische Ghem-Clans über ihre Haud-Gattinnen und -Mütter, die diese quasi als Trophäen bekommen hatten. Zugegeben, die Haud-Ladys sparten sich ihre allergrößte Wachsamkeit für die Gene auf, die sie in ihr gut bewachtes Genom einschlössen, in ein über Generationen hinweg entstehendes Kunstwerk. Miles überlegte, was für einen satten Profit man machen könnte, wenn man Raubkopien dieser Zellen anbot, die er unabsichtlich eingesammelt hatte. Oder vielleicht nicht – dieser Ba war offensichtlich nicht ihr neuestes Werk. Eigentlich schon seit fast einem Jahrhundert veraltet. Ihr neuestes Werk lag im Frachtraum der Idris. Arrg! »Die andere Probe«, fuhr Clogston fort, »war Solian II – d. h. Leutnant Solians synthetisiertes Blut. Identisch mit der früheren Probe – selbe Charge, würde ich sagen.« »Gut! Jetzt kommen wir voran.« Aber wohin, um Gottes willen? »Danke. Kapitän. Das ist von unschätzbarem Wert. Gönnen Sie sich etwas Schlaf, Sie haben ihn sich verdient.« Der Arzt, dem die Enttäuschung darüber, dass er ohne weitere Erklärung entlassen wurde, offen ins Gesicht geschrieben stand, meldete sich ab. Miles drehte sich wieder Roic zu, gerade rechtzeitig, um ihn dabei zu ertappen, wie er ein Gähnen unterdrückte. Der Gefolgsmann blickte verlegen drein und setzte sich aufrechter hin. »Also, was haben wir denn?«, fragte Miles. Roic räusperte sich. »Der Passagier Firka hat die Rudra 227
tatsächlich erst betreten, nachdem sie schon hätte auslaufen sollen, während jener Verzögerung wegen der Reparaturen.« »Hm. Das legt dann den Gedanken nahe, dass dies nicht Teil eines lang gehegten Reiseplans war … vielleicht. Fahren Sie fort.« »Ich habe einige Aufzeichnungen des Burschen herausgefiltert, wo er an Bord des Schiffes geht und es wieder verlässt, bevor es beschlagnahmt wurde und die Passagiere evakuiert wurden. Er hat anscheinend seine Kabine als seine Herberge benutzt, was eine Menge Leute tun, um Geld zu sparen. Zwei seiner Ausflüge entsprechen Zeiten, in denen Leutnant Solian von der Idris weg war – das eine Mal überlappt sich mit seiner letzten routinemäßigen Inspektion der Fracht, und das andere Mal entspricht genau diesen letzten vierzig Minuten, für die wir keine Erklärung haben.« »Oh, sehr schön. Wie sieht denn dieser selbst erklärte Amphibier aus?« Roic fummelte einen Moment lang an der Konsole herum und präsentierte dann eine deutliche Ganzkörperaufnahme, die aus den Vid-Aufzeichnungen von der Schleuse der Rudra stammte. Der Mann war groß, mit einer blassen, ungesund wirkenden Haut und dunklem Haar, das kurz und zu einem fleckenartigen, wenig schmeichelhaften Flaum geschnitten war, wie Flechten auf einem Felsblock. Große Nase, kleine Ohren, ein kummervoller Ausdruck auf dem gummiartigen Gesicht – er sah wirklich fix und fertig aus, die Augen dunkel von Ringen umgeben. Lange, magere Arme und 228
Beine; ein weiter Kittel oder Poncho verbarg die Einzelheiten seines großen Oberkörpers. Seine Hände und Füße waren besonders unverwechselbar, und Miles zoomte näher heran. Eine Hand war halb verborgen in einem Stoffhandschuh mit abgeschnittenen Fingerspitzen, der die Schwimmhäute dem beiläufigen Blick entzog, aber die andere war nackt und halb erhoben, und die Schwimmhäute waren deutlich zu sehen, dunkelrosa zwischen den überlangen Fingern. Die Füße steckten in weichen Stiefeln oder Halbstiefeln, die an den Knöcheln zusammengebunden waren, aber sie hatten ebenfalls etwa die doppelte Länge eines normalen Fußes, waren jedoch nicht breiter. Konnte der Kerl im Wasser seine Schwimmzehen so spreizen, wie er seine mit den Schwimmhäuten ausgestatteten Finger spreizte, um breite Flossen zu bilden? Miles erinnerte sich an Ekaterins Beschreibung des Passagiers, der sie und Bel bei ihrem Ausflug am ersten Tag angesprochen hatte – er hatte die längsten und schmälsten Hände und Füße. Bel sollte sich das in Kürze mal anschauen. Miles ließ das Vid laufen. Der Bursche hatte einen etwas schlurfenden Gang, wenn er lief und diese fast clownesken Füße hob und absetzte. »Woher ist er gekommen?«, fragte Miles Roic. »Seine Papiere behaupten, er sei von Aslund.« In Roics Stimme klangen schwere Zweifel an. Aslund war einer von Barrayars ziemlich nahen Nachbarn im Nexus, eine verarmte Agrarwelt in einem Lokalraum, der als Sackgasse von der Hegen-Nabe abging. »Ho. das sind ja fast unsere Breiten, sozusagen.« »Ich weiß es nicht. Mylord. Die ihn betreffenden Auf229
zeichnungen des Zolls von Station Graf zeigen, dass er von einem Schiff kam, an dessen Bord er auf Tau Ceti gegangen war; es kam hier einen Tag früher an, bevor unsere Flotte ursprünglich auslaufen sollte. Ich weiß nicht, ob er wirklich von dort kam oder nicht.« »Ich würde wetten, nein.« Gab es eine Wasserwelt irgendwo am Rande des Nexus, die besiedelt wurde und deren Kolonisten sich entschlossen hatten, ihre Kinder zu verändern anstatt ihre Umwelt? Miles hatte davon nichts gehört, aber so etwas musste manchmal vorkommen. Oder war Firka ein Einzelprojekt, ein Experiment oder eine Art Prototyp? Miles war schon früher einmal auf ein paar solcher Individuen gestoßen. Beides passte nicht recht mit einem Ursprung auf Aslund zusammen. Allerdings konnte er dort eingewandert sein … Miles nahm sich vor, in seinem nächsten Bericht den KBS um Hintergrundermittlungen über den Kerl zu ersuchen, auch wenn die Ergebnisse wahrscheinlich zu spät einlaufen würden, um noch von unmittelbarem Nutzen zu sein. Zumindest hoffte er doch, dass er diesen Schlamassel schon vorher erledigt und Station Graf verlassen haben würde. »Ursprünglich versuchte er eine Koje auf der Idris zu bekommen, aber dort war kein Platz mehr«, fügte Roic an. »Aha!« Oder hätte das ein Hö? sein sollen? Miles setzte sich auf seinem Stuhl zurück und kniff die Augen zusammen. Er überlegte in Vorwegnahme seines geliebten und viel gewünschten Schnell-Penta – angenommen, dieses eigentümliche Individuum hatte persönlichen Kontakt zu Solian gehabt, bevor der Leutnant verschwand. Angenommen, er hatte sich irgendwie eine Probe von Soli230
ans Blut verschafft, vielleicht ebenso zufällig, wie Miles an Dubauers Blut gekommen war. Warum sollte er dann, im Namen der Vernunft, sich darauf die Mühe gemacht haben, eine gefälschte Blutprobe von Solian herzustellen und sie über eine Ladebucht und zur Luftschleuse hinaus vertröpfelt haben? Um einen anderswo geschehenen Mord zu vertuschen? Solians Verschwinden war schon von seinen eigenen Vorgesetzten als Fahnenflucht eingestuft worden. Da war keine Vertuschung mehr nötig: Falls es ein Mord gewesen war, war es zu diesem Zeitpunkt nahezu das perfekte Verbrechen, und man war drauf und dran gewesen, die Ermittlungen aufzugeben. Eine Intrige? Mit dem Ziel, Solians Mord jemand anderem anzuhängen? Verlockend, aber in dem Fall hätte doch inzwischen schon jemand Unschuldiger aufgespürt und beschuldigt sein sollen. Wenn nicht Firka der Unschuldige war, dann gab es im Augenblick niemanden, gegen den sich die Intrige richtete. Um eine Fahnenflucht zu vertuschen? Konnten Firka und Solian wegen Solians Fahnenflucht zusammengearbeitet haben? Oder … wann war vielleicht eine Fahnenflucht keine Fahnenflucht? Wenn es sich dabei um einen Trick bei verdeckten Operationen des KBS handelte, ja dann. Außer dass Solian dem Sicherheitsdienst der Streitkräfte angehörte, nicht dem KBS: ein Wachmann, kein Spion oder ausgebildeter Agent. Dennoch … ein ausreichend intelligenter, loyaler, hoch motivierter und ehrgeiziger Offizier, der sich in einem komplizierten Wirrwarr wiederfand, mochte vielleicht nicht auf Befehle von oben 231
warten, wenn er eine sich schnell entwickelnde riskante Sache verfolgte. Das zu wissen hatte Miles ja allen Grund. Natürlich konnte ein solcher Offizier dabei umkommen, wenn er solche gefährlichen Risiken auf sich nahm. Das zu wissen hatte Miles ja ebenfalls allen Grund. Ungeachtet der Absicht, was war die tatsächliche Wirkung des Blutköders gewesen? Oder was wäre sie gewesen, wenn nicht die unter einem schlechten Stern stehende Romanze von Corbeau und Granat Fünf mit barrayaranischen Vorurteilen und Rüpeleien in Konflikt geraten wäre? Das prächtige scharlachrote Szenario auf dem Deck der Ladebucht hätte bestimmt die offizielle Aufmerksamkeit wieder auf Solians Verschwinden gerichtet: es hätte so gut wie sicher die Abreise der Flotte verzögert, jedoch nicht so spektakulär, wie es die realen Ereignisse dann getan hatten. Wenn man annahm, die Probleme von Granat Fünf und Corbeau seien zufällig gewesen. Schließlich war sie so etwas wie eine Schauspielerin. Was Corbeaus Kommunikator anging, so hatte man nur sein Wort. »Vermutlich«, sagte Miles nachdenklich, »haben wir keine deutliche Aufnahme dieses Froschmenschen, wie er irgendwann ein halbes Dutzend Literkrüge wegschleppt?« »Leider nicht, Mylord. Er kam und ging allerdings zu verschiedenen Zeitpunkten mit einer Menge von Paketen und Schachteln: die Krüge könnten gut in etwas versteckt gewesen sein.« Pah. Die Gewinnung von Fakten sollte das Denken klären. Diese Sache hier wurde nur immer undurchsichtiger. »Haben die Quaddie-Sicherheitsleute von einer der Herbergen schon zurückgerufen?«, fragte Miles. »Sind Dubau232
er und Firka schon zurück?« »Nein, Mylord. Das heißt, keine Rückrufe.« Miles rief beide Posten an, um es zu überprüfen: keiner der beiden Passagiere, für die er sich interessierte, war schon zurück. Es war jetzt nach vier Uhr früh, 04:20 nach der von der Erde stammenden Vierundzwanzigstundenuhr, an die sich der Quaddie-Raum noch hielt, Generationen nachdem die noch nicht genetisch veränderten Vorfahren ihrer Vorfahren die Heimatwelt verlassen hatten. Nachdem er die Verbindung unterbrochen hatte, fragte Miles quengelig: »Also wohin zum Teufel sind sie gegangen, die ganze Nacht lang?« Roic zuckte die Achseln. »Wenn es das Naheliegende wäre, dann würde ich nicht erwarten, dass sie vor dem Frühstück zurück sind.« Miles ignorierte bewusst Roics deutliches Erröten. »Vielleicht unser Froschmensch, aber ich garantiere Ihnen, dass der Ba keinerlei weibliche Gesellschaft gesucht hat. Hieran ist leider überhaupt nichts Naheliegendes.« Entschlossen griff Miles erneut nach der KomKonsolentastatur. Anstelle von Chef Venn erschien das Bild einer Quaddie-Frau in grauer Sicherheitsuniform vor dem Schwindel erregenden radialen Hintergrund von Venns Büro. Miles war sich nicht sicher, was ihre Rangabzeichen bedeuteten, aber sie sah vernünftig aus, war mittleren Alters und wirkte gestresst genug, um einen ziemlich hohen Rang zu haben. »Guten Morgen!«, begann er höflich. »Kann ich bitte Chef Venn sprechen?« »Er schläft, hoffe ich.« Ihr Gesichtsausdruck legte den 233
Gedanken nahe, dass sie loyal ihr Bestes tun würde, damit es auch so bliebe. »In Zeiten wie diesen?« »Der arme Mann hatte gestern eine Doppelschicht und eine halbe …«Sie kniff die Augen zusammen und schien ihn erst jetzt zu erkennen. »Oh, Lord Auditor Vorkosigan. Ich bin Teris Drei, Chef Venns Leiterin für die dritte Schicht. Kann ich etwas für Sie tun?« »Beamtin im Nachtdienst, ja? Sehr gut. Ja, bitte. Ich möchte die Verhaftung und Vernehmung, möglicherweise unter Schnell-Penta, eines Passagiers der Rudra erwirken. Sein Name ist Firka.« »Möchten Sie eine Anklage wegen eines Verbrechens gegen ihn vorbringen?« »Zuerst einmal brauche ich ihn als unentbehrlichen Zeugen. Ich habe Gründe für den Verdacht, dass er etwas mit dem Blut auf dem Boden der Andockbucht zu tun hat, mit dem dieser ganze Schlamassel begann. Ich möchte mich unbedingt darüber vergewissern.« »Sir, wir können nicht einfach herumgehen und jemanden nach Belieben verhaften und dann unter Drogen setzen. Ich brauche eine förmliche Anzeige. Und wenn der Durchreisende nicht der Vernehmung zustimmt, dann müssen Sie sich die Anordnung eines Richters für das SchnellPenta besorgen.« Dieses Problem, so beschloss Miles, würde er an Eichmeisterin Greenlaw abschieben. Es klang, als gehörte es in ihr Ressort. »In Ordnung, ich beschuldige ihn der öffentlichen Unordnung. Unkorrekte Beseitigung organischer Materialien muss doch hier irgendwie illegal sein.« 234
Unwillkürlich zuckten ihre Mundwinkel. »Das ist ein Vergehen. Ja, das würde passen«, räumte sie ein. »Jeder Vorwand, der die Sache für Sie regelt, passt mir. Ich möchte ihn haben, und ich möchte ihn so schnell haben, wie Sie ihn in die Hände bekommen können. Leider hat er sich gestern um 17:00 Uhr in seiner Herberge abgemeldet und wurde seither nicht mehr gesehen.« »Unser Sicherheitsteam hier ist ernstlich überfordert, wegen des gestrigen … unglücklichen Vorfalls. Kann das nicht bis zum Morgen warten, Lord Auditor Vorkosigan?« »Nein.« Einen Moment lang dachte er, sie würde ihm jetzt ganz bürokratisch kommen, aber nachdem sie einen Augenblick lang auf eine nachdenklich verärgerte Art die Lippen verzogen hatte, gab sie nach. »Also gut denn. Ich werde einen Haftbefehl für ihn ausstellen, vorbehaltlich einer Überprüfung durch Chef Venn. Aber sobald wir ihn aufgreifen, werden Sie sich um den Richter kümmern müssen.« »Danke. Ich verspreche Ihnen, dass Sie keine Schwierigkeiten haben werden, ihn zu erkennen. Ich kann Ihnen von hier einen Steckbrief und einige Vid-Aufnahmen herunterladen, falls Sie das wünschen.« Sie gab zu, dass dies nützlich sein könnte, und die Sache wurde erledigt. Miles zögerte und grübelte über das noch beunruhigendere Dilemma mit Dubauer nach. Es gab, das stand fest, keine offensichtliche Verbindung zwischen den beiden Problemen. Noch nicht. Vielleicht würde Firkas Vernehmung eine Verbindung enthüllen? Miles überließ es Venns Handlangerin, die Sache voran235
zutreiben, und beendete die Verbindung. Er lehnte sich einen Moment lang auf seinem Stuhl zurück, dann rief er wieder die Vid-Aufnahmen von Firka auf und ließ sie ein paar Mal ablaufen. »Also«, sagte er nach einer Weile, »wie zum Teufel hat er diese langen Schlappfüße aus den Blutpfützen herausgehalten?« Roic blickte ihm über die Schulter. »Mit einem Schweber?«, sagte er. »Allerdings müsste er dazu fast doppelte Kniegelenke haben, um seine Beine in einem Schweber zusammenzuklappen.« »Er sieht ja verdammt fast so aus, als hätte er doppelte Gelenke.« Doch wenn Firkas Zehen so lang und greiffähig waren, wie seine Finger vermuten ließen, war er dann vielleicht in der Lage gewesen, mit seinen Füßen den Steuerknüppel zu bedienen, der für die unteren Hände von Quaddies konstruiert worden war? In diesem neuen Szenario brauchte sich Miles die Person in dem Schweber nicht mehr vorzustellen, wie sie einen schweren Körper herumschleppte, sondern nur noch, wie sie die gurgelnden Literkrüge über Bord leerte und mit einem passenden Lappen ein paar künstlerische Schmierer hinzufügte. Nachdem Miles sich dies einige Momente lang vorzustellen versucht hatte, übertrug er Firkas Vid-Aufnahmen in ein Bildbearbeitungsprogramm und setzte den Kerl in einen Schweber. Der vermutliche Amphibier musste nicht einmal doppelte Gelenke haben oder seine Beine brechen, um in den Schweber zu passen. Angenommen, sein Unterkörper war biegsamer als der von Miles oder Roic, so faltete er sich ziemlich hübsch zusammen. Es sah aus, als täte 236
es etwas weh, wäre aber möglich. Miles blickte noch schärfer auf das Bild über der VidScheibe. Die erste Frage, die man beantwortete, wenn man auf Station Graf eine Person beschrieb, war nicht »Mann oder Frau?«, sondern »Quaddie oder Planetarier?«. Der erste Schnitt, mit dem man die Hälfte der Möglichkeiten oder mehr von weiteren Überlegungen ausschloss. Er stellte sich einen blonden Quaddie in einer dunklen Jacke vor, der in einem Schweber einen Korridor entlangsauste. Er stellte sich die verspäteten Verfolger dieses Quaddie vor, wie sie an einem kurz geschorenen Planetarier in einem hellen Gewand vorbeiflitzten, der in die andere Richtung ging. Das war alles, was es in einem ausreichend hektischen Augenblick brauchte. Aus dem Schweber steigen, die Jacke umdrehen, die Perücke in eine Tasche stopfen, den Apparat bei ein paar anderen geparkten Schwebern zurücklassen und dann davonspazieren … Es wäre natürlich viel schwerer gewesen, es umgekehrt zu machen, wenn ein Quaddie einen Planetarier darstellen sollte. Miles starrte auf Firkas hohle, von dunklen Ringen umgebene Augen. Dann zog er einen passenden Mopp aus blonden Locken aus den Grafikdateien und setzte ihn auf Firkas unschönen Kopf. War das eine passende Annäherung an den dunkeläugigen Quaddie mit dem breiten, gewölbten Brustkorb und der Nietenkanone? Den er nur einen Sekundenbruchteil gesehen hatte, auf fünfzehn Meter Entfernung und zu einem Zeitpunkt, da Miles’ Aufmerksamkeit – das 237
musste er zugeben – auf das Funken sprühende, ratternde, heiße Messinggeschosse ausspuckende Objekt in den Händen des Unbekannten gerichtet war … hatten diese Hände Schwimmhäute gehabt? Glücklicherweise konnte er eine zweite Meinung einholen. Er gab den Code von Bel Thornes Wohnung an der KomKonsole ein. Es war keine Überraschung, dass zu dieser unverschämt frühen Stunde das Vid-Bild nicht anging, als Nicols verschlafene Stimme sich meldete: »Hallo?« »Nicol? Hier Miles Vorkosigan. Tut mir Leid, dass ich dich aus deinem Schlafsack hole. Ich muss mit deinem Hausgenossen sprechen. Schmeiß ihn raus und lass ihn ans Vid kommen. Bel hat inzwischen mehr Schlaf abbekommen als ich.« Das Vid-Bild erschien. Nicol richtete sich auf und zog mit einer unteren Hand ein weiches Spitzengewand enger um sich; dieser Teil des Apartments, das sie mit Bel teilte, befand sich offensichtlich auf der schwerelosen Seite der Station. Es war zu dämmerig, um außer ihrer schwebenden Gestalt mehr erkennen zu können. Sie rieb sich die Augen. »Was? Ist Bel nicht bei dir?« Obwohl die Gravitationsanlage der Turmfalke gut funktionierte, spürte Miles in seinem Magen ein Gefühl, als befände er sich im freien Fall. »Nein … Bel ist vor mehr als sechs Stunden heimgegangen.« Nicol runzelte die Stirn. Der Schlaf wich aus ihrem Gesicht, auf dem sich stattdessen Erschrecken abzeichnete. »Aber Bel ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen!« 238
11 Der Sicherheitsposten Nr. 1 der Station Graf, wo sich die meisten der Verwaltungsbüros der Sicherheitspolizei befanden (auch das von Chef Venn), lag völlig auf der schwerelosen Seite der Station. Miles und Roic schwebten, gefolgt von einem verstörten Quaddie, der an der Schleuse der Turmfalke Wache gehalten hatte, in den radial ausgerichteten Empfangsbereich des Postens, von dem röhrenförmige Korridore in seltsamen Winkeln wegführten. Hier war es noch nächtlich still, obwohl sicher bald der Schichtwechsel bevorstand. Nicol war etwas eher angekommen als Miles und Roic. Sie wartete immer noch auf die Ankunft von Chef Venn, unter dem besorgten Auge eines uniformierten Quaddies, den Miles als das Gegenstück zu einem Sergeanten vom Nachtdienst einschätzte. Die Wachsamkeit des QuaddieBeamten nahm zu. als sie beide eintrafen, und eine untere Hand bewegte sich unauffällig zu einer Taste an seiner Konsole; wie beiläufig und sehr prompt kam ein anderer bewaffneter Quaddie-Polizist aus einem der Korridore herabgeschwebt und gesellte sich zu seinem Kameraden. Nicol trug ein einfaches blaues T-Shirt und Shorts; sie hatte sich hastig und ohne künstlerische Note angezogen: ihr Gesicht war blass und sorgenvoll. Miles’ leisen Gruß erwiderte sie mit einem kurzen dankbaren Nicken. Schließlich traf Chef Venn ein und bedachte Miles mit einem kalten, aber resignierten Blick. Er hatte anscheinend geschlafen, wenn auch nicht genug, und hatte sich pessimistisch schon für den Tag angezogen; in seiner adretten 239
Aufmachung zeigte sich keine Hoffnung auf eine Rückkehr in den Schlafsack. Er schickte die bewaffneten Wachen weg und lud den Lord Auditor und dessen Begleitung ein, ihm in sein Büro zu folgen. Die Leiterin der dritten Schicht, mit der Miles vor einer Weile gesprochen hatte – man konnte auch beginnen, es letzte Nacht zu nennen –, brachte Kaffeekolben zusammen mit ihrem Bericht zum Schichtende. Vorsichtig teilte sie die Kolben an die Planetarier aus, anstatt sie durch die Luft zu werfen und zu erwarten, dass diese sie auffangen würden, so wie sie ihren Chef und Nicol bediente. Miles schaltete die Wärmekontrolle auf die Grenze des roten Bereichs und saugte das heiße, bittere Gebräu dankbar ein, und Roic tat es ihm gleich. »Diese Panik könnte voreilig sein«, begann Venn, nachdem er einen ersten Schluck getan hatte. »Hafenmeister Thornes Nichterscheinen kann eine sehr einfache Erklärung haben.« Und welche waren die drei kompliziertesten Erklärungen, an die Venn im Augenblick dachte? Der Quaddie teilte sie nicht mit, aber Miles tat dies schließlich auch nicht. Bel war seit mehr als sechs Stunden verschwunden. Miles dachte an den Unterschied zwischen sechs Stunden ohne Nahrung und sechs Stunden ohne Sauerstoff. Inzwischen konnte diese Panik genauso leicht posthum sein, aber Miles wollte dies nicht vor Nicol laut äußern. »Ich bin äußerst besorgt.« »Thorne könnte woanders schlafen.« Venn warf einen etwas rätselhaften Blick auf Nicol. »Haben Sie schon bei in Frage kommenden Freunden nachgefragt?« 240
»Der Hafenmeister hat ausdrücklich gesagt, er gehe nach Hause zu Nicol, um sich auszuruhen, als er gegen Mitternacht die Turmfalke verließ«, sagte Miles. »Zu einer wohlverdienten Ruhe, wie ich anmerken darf. Ihre eigenen Wachen dürften in der Lage sein, den genauen Zeitpunkt zu bestätigen, an dem Thorne mein Schiff verließ.« »Wir werden Ihnen natürlich einen anderen Verbindungsoffizier zur Verfügung stellen, der Ihnen bei Ihren Ermittlungen hilft, Lord Vorkosigan.« Venns Stimme klang ein wenig kühl; er versuchte Zeit zu gewinnen, um nachzudenken, so interpretierte Miles sein Verhalten. Er konnte sich ebenso gut auch dumm stellen. Miles nahm aber nicht an, dass er wirklich so dumm war, wenn er seine Schlafschicht abgebrochen hatte und binnen Minuten wegen dieser Sache in seinem Büro erschienen war. »Ich möchte keinen anderen haben. Ich möchte Thorne haben. Sie verlieren zu viele Planetarier hier, verdammt noch mal. Das kommt mir allmählich verflucht sorglos vor.« Miles holte tief Luft. »Es muss Ihnen doch wie mir schon der Gedanke gekommen sein, dass gestern Nachmittag sich drei Personen in der Lobby der Herberge in der Schusslinie befanden. Wir alle nahmen an, ich sei das offensichtliche Ziel gewesen. Was, wenn es etwas weniger offensichtlich war? Was, wenn es Thorne war?« Teris Drei machte mit einer oberen Hand eine Einhalt gebietende Geste und warf ein: »Da wir davon sprechen, vor ein paar Stunden sind die Nachforschungen über diese Heißnietenmaschine eingetroffen.« »Ah, gut«, sagte Venn und wandte sich erleichtert ihr zu. »Was haben wir herausbekommen?« 241
»Sie wurde vor drei Tagen gegen bar verkauft, und zwar von einem Laden für Technikerbedarf in der Nähe der schwerelosen Docks. Vom Kunden mitgenommen, nicht ausgeliefert. Der Käufer hat den Garantieschein nicht ausgefüllt. Der Verkäufer war sich nicht sicher, welcher Kunde die Maschine mitnahm, denn es ging ziemlich hektisch zu.« »War es ein Quaddie oder ein Planetarier?« »Er konnte es nicht sagen. Könnte anscheinend beides gewesen sein.« Und wenn bestimmte Hände mit Schwimmhäuten von Handschuhen verdeckt waren, wie bei der Vid-Aufnahme, dann konnte man sie durchaus übersehen haben. Venn verzog das Gesicht. Seine Hoffnungen auf einen Durchbruch waren offensichtlich enttäuscht worden. Die Nachtschichtleiterin sah Miles an. »Lord Vorkosigan hier hat auch angerufen und ersucht, dass wir einen der Passagiere von der Rudra verhaften.« »Haben Sie ihn schon gefunden?«, fragte Miles. Sie schüttelte den Kopf. »Warum wollen Sie ihn haben?«, fragte Venn und runzelte die Stirn. Miles wiederholte seine eigenen Neuigkeiten dieser Nacht über die Vernehmung der MedTechs und über die Auffindung von Spuren von Solians synthetisiertem Blut in der Krankenstation der Rudra. »Nun, das erklärt, warum wir bei den Krankenhäusern und Ambulatorien der Station kein Glück hatten«, knurrte Venn. Miles stellte sich vor, wie Venn die vergeudeten Quaddie-Stunden seiner Abteilung aus der erfolglosen Su242
che zusammenzählte, und ließ ihm deshalb das Knurren durchgehen. »Im Laufe des Gespräches mit der MedTech der Rudra habe ich auch einen Verdächtigen herausgefunden. Es sind alles bis jetzt noch Spekulationen, die auf Indizien beruhen, aber Schnell-Penta ist die Droge, die das beheben wird.« Miles beschrieb den ungewöhnlichen Passagier Firka, sein eigenes ungenügendes, aber nagendes Gefühl des Wiedererkennens und seinen Verdacht über den kreativen Einsatz des Schwebers. Venn schaute immer grimmiger drein. Dass Venn einfach reflexartig Widerstand dagegen leistete, von einem barrayaranischen Dreckschlucker überrannt zu werden, bedeutete noch nicht, dass er nicht zuhörte. Was für ein Bild er sich allerdings durch seine provinziellen kulturellen Filter des Quaddie-Raums von dem Ganzen machte, war viel schwerer zu erraten. »Aber was ist mit Bel?«, meldete sich Nicol mit gepresster Stimme und unterdrückter Angst. Offensichtlich war Venn gegen die Bitte einer schönen Quaddie-Landsmännin weniger immun. Er fing den fragenden Blick seiner Nachtschichtleiterin auf und nickte zustimmend. »Na ja, auf einen mehr kommt es auch nicht mehr an.« Teris Drei zuckte die Achseln. »Ich werde eine Nachricht an alle Polizisten ausgeben, dass sie auch nach Hafenmeister Thorne suchen. Genau wie nach dem Kerl mit den Schwimmhäuten.« Miles knabberte besorgt an seiner Unterlippe. Früher oder später müsste diese lebende Fracht an Bord der Idris den Ba zu sich zurücklocken. »Hafenmeister Thorne hat 243
sich doch gestern Abend noch mit Ihnen in Verbindung gesetzt wegen der Wiederversiegelung der Idris. nicht wahr?« »Ja«, erwiderten Venn und die Nachtschichtleiterin zusammen. Venn nickte ihr kurz entschuldigend zu und fuhr fort: »Konnte dieser betanische Passagier, dem Thorne zu helfen versuchte, sich richtig um seine Tierföten kümmern?« »Dubauer. Hm. ja. Ihnen geht es einstweilen gut. Aber … äh … ich glaube, mir wäre lieb, wenn Sie Dubauer ebenfalls hopp nehmen, wie Firka.« »Warum das?« »Er verließ seine Herberge und verschwand gestern Abend etwa um dieselbe Zeit, als Firka wegging, und ist ebenfalls noch nicht zurückgekehrt. Und Dubauer war der Dritte aus unserem kleinen Triumvirat von Zielen gestern. Nennen wir es für den Anfang mal Schutzhaft.« Venn kniff einen Moment lang die Lippen zusammen, überlegte und beäugte Miles ungnädig. Er hätte schon weniger intelligent sein müssen, als er wirkte, um nicht den Verdacht zu hegen, dass Miles ihm nicht alles sagte. »Nun gut«, sagte er schließlich und winkte Teris Drei. »Machen wir voran und sammeln wir die ganze Clique ein.« »Okay.« Sie blickte auf das Chrono an ihrem linken unteren Handgelenk. »Es ist 07:00 Uhr.« Vermutlich Schichtwechsel. »Soll ich bleiben?« »Nein, nein, ich übernehme. Bringen Sie die neuen Vermisstenmeldungen in Gang, dann gehen Sie und gönnen sich etwas Ruhe.« Venn seufzte. »Heute Abend wird es vielleicht nicht besser sein.« 244
Die Nachtschichtleiterin zeigte mit den Daumen ihrer beiden unteren Hände anerkennend nach oben, dann schlüpfte sie aus dem kleinen Büro hinaus. »Sollten Sie nicht lieber zu Hause warten?«, schlug Venn Nicol vor. »Dort wäre es für Sie doch sicherlich bequemer. Sobald wir Ihren Partner finden, rufen wir Sie an.« Nicol holte Luft. »Ich würde lieber hier bleiben«, sagte sie entschlossen. »Nur für den Fall … nur für den Fall, dass bald etwas geschieht.« »Ich werde dir Gesellschaft leisten«, bot Miles an. »Zumindest eine kleine Weile.« Da sollte Venn doch mal versuchen, Miles’ diplomatisches Gewicht beiseite zu schieben. Zumindest gelang es Venn, sie aus seinem Büro hinauszuschieben, indem er sie in einen privaten Wartebereich führte, von dem er sagte, man sei hier ungestörter. Ungestörter für Venn jedenfalls … Miles und Nicol blieben zurück und betrachteten einander in besorgtem Schweigen. Was Miles am meisten wissen wollte, war, ob Bel zurzeit noch eine weitere KBSSache am Laufen hatte, die vielleicht gestern Abend unerwartet akut geworden war. Aber er war sich nach wie vor sicher, dass Nicol nichts von Bels zweiter Einkommensund auch Gefahrenquelle wusste. Außerdem war dies Wunschdenken. Wenn irgendeine Sache akut geworden war, dann höchstwahrscheinlich der aktuelle Schlamassel. Der inzwischen so verwickelt war, dass sich jedes von Miles’ Nackenhaaren senkrecht sträubte. Bel war aus seiner früheren Karriere fast unbeschadet davongekommen, trotz Admiral Naismiths manchmal leta245
lem Nimbus. Dass der betanische Hermaphrodit so weit gekommen war, der Wiedergewinnung eines Privatlebens und einer persönlichen Zukunft so nahe gekommen zu sein, und jetzt nur seine Vergangenheit wie ein blindes Schicksal nach ihm gegriffen hatte und alles zerstören sollte … Miles schluckte Schuldgefühl und Besorgnis hinunter und hielt sich davon zurück, Nicol gegenüber mit einer unbesonnenen und zusammenhanglosen Entschuldigung herauszuplatzen. Gewiss war gestern Abend Bel irgendwem oder irgendwas begegnet, aber Bel war schnell und clever und erfahren; Bel konnte damit fertig werden. Bel war früher immer mit allem fertig geworden. Doch selbst das Glück, das man sich schmiedete, ging manchmal zu Ende … Nicol unterbrach das gespannte Schweigen, indem sie Roic eine willkürliche Frage über Barrayar stellte, und der Gefolgsmann erwiderte mit schwerfälligem, aber freundlichem Geplauder, um sie von ihrer Anspannung abzulenken. Miles blickte auf seinen Kommunikator am Handgelenk. War es zu früh, um Ekaterin anzurufen? Was sollte er verdammt noch mal überhaupt als Nächstes tun? Er hatte geplant, diesen Vormittag mit Vernehmungen unter Schnell-Penta zu verbringen. All die Fäden, von denen er gedacht hatte, er habe sie in der Hand und flechte sie hübsch zusammen, waren zu beunruhigend ähnlichen abgeschnittenen Enden gelangt: Firka verschwunden, Dubauer verschwunden, und jetzt auch noch Bel verschwunden. Und Solian, nicht zu vergessen! Trotz all ihrer irrgartenartigen Ungeplantheit war die Station Graf doch gar nicht so groß. Waren sie alle von demselben Verließ 246
verschluckt worden? Wie viele Verließe konnte denn dieses verdammte Labyrinth haben? Zu seiner Überraschung wurde er in seiner frustrierten Selbstquälerei von der Nachtschichtleiterin unterbrochen, die zu einer der runden Türen den Kopf hereinsteckte. War sie nicht schon nach Hause gegangen? »Lord Auditor Vorkosigan, könnten wir Sie einen Moment sprechen?«, fragte sie in höflichem Ton. Er bat Nicol. ihn zu entschuldigen, und schwebte hinter Teris Drei her. Roic folgte ihm pflichtbewusst. Sie führte sie durch einen Korridor zurück in Venns nahe gelegenes Büro. Venn beendete gerade einen Anruf über KomKonsole und sagte: »Er ist hier, er ist aufgeregt, und er rückt mir auf die Pelle. Es ist Ihre Aufgabe, mit ihm umzugehen.« Er blickte über die Schulter und brach die Verbindung ab. Miles sah gerade noch, wie über der Vid-Scheibe die Gestalt von Eichmeisterin Greenlaw, in eine Art Bademantel gehüllt, mit Gefunkel verschwand. Als die Tür sich wieder zischend hinter ihnen schloss, drehte sich die Schichtleiterin mitten in der Luft um und erklärte: »Der Polizist, den Sie beauftragten, Hafenmeister Thorne gestern Abend zu begleiten, berichtet, dass Thorne ihn wegschickte, als sie zum Gelenk kamen.« »Zum was?«, fragte Miles. »Wann? Warum?« Sie blickte zu Venn hinüber, der ihr mit einer Geste bedeutete, sie solle fortfahren. »Das Gelenk ist eine unserer wichtigsten Korridornaben auf der schwerelosen Seite, dort gibt es eine Transferstation für Bubble-Cars und einen öffentlichen Garten – viele Leute treffen sich dort, um nach ihrem Schichtwechsel zu essen oder sonst etwas zu tun. 247
Um etwa 1:00 begegnete Thorne dort Granat Fünf, die aus der anderen Richtung kam, und ging mit ihr beiseite, um sich wohl … äh … zu unterhalten.« »Ja und? Sie sind miteinander befreundet, glaube ich doch.« Venn rutschte hin und her – Miles erkannte verspätet, dass es aus Verlegenheit war – und sagte: »Wissen Sie zufällig, wie gut sie befreundet sind? Ich wollte das nicht vor dieser verzweifelten jungen Frau erörtern. Aber wir wissen, dass Granat Fünf, hm, exotische Planetarier bevorzugt, und der betanische Hermaphrodit ist immerhin ein betanischer Hermaphrodit. Alles in allem eine einfache Erklärung.« Ein halbes Dutzend leicht empörter Argumente schoss Miles durch den Kopf, die er aber alle auf der Stelle verwarf. Man nahm von ihm nicht an, dass er Bel so gut kannte. Nicht, dass jemand, der Bel kannte, über Venns delikate Andeutung im Geringsten schockiert gewesen wäre … nein. Bels sexueller Geschmack mochte eklektisch sein, aber der Hermaphrodit gehörte nicht zu den Menschen, die das Vertrauen eines Freundes verraten würden. So einer war er nie gewesen. Wir alle ändern uns. »Sie könnten Boss Watts fragen«, gab Miles zu bedenken. Er bemerkte, wie Roic mit den Augen rollte und mit dem Kopf in Richtung von Venns KomKonsole nickte, die an der gewölbten Bürowand angebracht war. »Noch besser, rufen Sie Granat Fünf an«, fuhr Miles geschmeidig fort. »Falls Thorne dort ist, dann ist das Rätsel gelöst. Wenn nicht, dann weiß sie vielleicht wenigstens, wohin Thorne unterwegs war.« Er versuchte zu entscheiden, welches von beiden mehr Bestürzung auslösen würde. Die Erinnerung an die heißen 248
Nieten, die ihm über den Scheitel sausten, ließen ihn auf das erste Ergebnis hoffen, ungeachtet, was Nicol empfinden mochte. Venn öffnete zustimmend eine obere Hand, drehte sich halb um und tippte mit einer unteren Hand einen SuchCode an seiner KomKonsole ein. Miles’ Herz hüpfte, als das gelassene Gesicht von Granat Fünf erschien und ihre frische Stimme sich meldete, doch es war nur ein automatisches Antwortprogramm. Venns Augenbrauen zuckten; er hinterließ eine kurze Aufforderung, sie solle zum frühest möglichen Zeitpunkt mit ihm Kontakt aufnehmen, und beendete dann die Verbindung. »Sie könnte einfach schlafen«, bemerkte die Schichtleiterin. »Schicken Sie einen Polizisten zur Überprüfung«, sagte Miles mit etwas gepresster Stimme. Dann fiel ihm ein, dass er diplomatisch vorgehen sollte, und er fügte hinzu: »Bitte.« Mit einem Gesicht, als sähe sie ihren Schlafsack vor ihren Augen davonschweben, machte Teris Drei erneut einen Abgang. Miles und Roic kehrten zu Nicol zurück, die ängstliche Blicke auf sie richtete, während sie in den Wartebereich schwebten. Miles zögerte nur kurz, bevor er ihr berichtete, was der Polizist gesehen hatte. »Kannst du dir einen Grund vorstellen, warum sie sich getroffen haben?«, fragte Miles sie. »Eine Menge«, antwortete sie vorbehaltlos und bestätigte damit Miles’ geheimes Urteil. »Ich bin mir sicher, dass sie von Bel Neues über Fähnrich Corbeau erfahren wollte, oder ob irgendetwas geschehen war, was seine Chancen 249
beeinflussen könnte. Wenn sie auf dem Heimweg durch das Gelenk zufällig Bel über den Weg lief, dann hätte sie sicherlich die Chance ergriffen und versucht, von ihm etwas zu erfahren. Oder sie wollte einfach jemanden haben, bei dem sie sich aussprechen konnte. Die meisten ihrer anderen Freunde sind nach dem barrayaranischen Angriff und dem Feuer nicht so mitfühlend, was ihre Romanze angeht.« »Okay, damit wäre die erste Stunde erklärt. Aber nicht mehr. Bel war müde. Was dann?« Sie kehrte hilflos frustriert alle vier Hände nach außen. »Ich habe keine Vorstellung.« Miles eigene Vorstellung war nur allzu heftig aktiv. Brauche Daten, verdammt!, wurde zu seinem privaten Mantra. Er überließ es Roic, weiter ablenkendes Geplauder mit Nicol zu betreiben, und begab sich mit dem Gefühl, ein wenig egoistisch zu sein, an den Rand des Raumes, um über seinen Kommunikator Ekaterin anzurufen. Ihre Stimme war schläfrig, aber fröhlich, und sie beharrte hartnäckig darauf, dass sie schon wach gewesen sei und gerade aufstehen wolle. Sie tauschten ein paar sprachliche Zärtlichkeiten aus, die niemanden etwas angingen außer sie selbst, und er beschrieb, was er als Ergebnis des Klatsches herausgefunden hatte, den sie über Solians Nasenbluten aufgeschnappt hatte, und das schien ihr sehr zu gefallen. »Also, wo bist du jetzt und was hast du zum Frühstück gegessen?«, fragte sie. »Das Frühstück ist aufgeschoben. Ich bin im Hauptquartier des Sicherheitsdienstes der Station.« Er zögerte. »Bel Thorne wird seit gestern Abend vermisst, und man bereitet gerade eine Suche nach ihm vor.« 250
Das wurde mit einem kleinen Schweigen quittiert, und ihre Antwort war so sorgfältig neutral gehalten wie seine eigene Bemerkung. »Oh, das ist sehr Besorgnis erregend.« »Ja.« »Du behältst doch Roic die ganze Zeit bei dir. nicht wahr?« »O ja. Die Quaddies lassen mich jetzt auch von bewaffneten Wachen begleiten.« »Gut.« Sie atmete ein. »Gut.« »Die Situation wird hier ziemlich undurchsichtig. Vielleicht muss ich dich am Ende noch nach Hause schicken. Allerdings haben wir noch vier weitere Tage Zeit bis zu einer solchen Entscheidung.« »Gut, nach vier weiteren Tagen können wir dann darüber reden.« Sein Wunsch, sie nicht weiter zu beunruhigen, und ihr Wunsch, ihn nicht ungebührlich abzulenken, ließ das Gespräch erlahmen, und er riss sich vom beruhigenden Klang ihrer Stimme los, damit sie gehen konnte, um sich zu baden und anzukleiden und ihr eigenes Frühstück einzunehmen. Miles überlegte, ob er und Roic nicht Nicol heimbringen und danach vielleicht versuchen sollten, die Station in der Hoffnung auf eine zufällige Begegnung selbst abzusuchen. Nun, das war der taktisch bankrotteste Plan, den er sich jemals ausgedacht hatte. Dieser Vorschlag würde bei Roic einen völlig zu rechtfertigenden, schmerzlich höflichen Anfall auslösen. Man würde sich einfach vorkommen wie in alten Zeiten. Aber mal angenommen, es gab einen Weg, dieses Vorhaben weniger willkürlich zu machen … Die Stimme der Nachtschichtleiterin wehte vom Korri251
dor herein. Du lieber Himmel, würde die arme Frau nie nach Hause kommen, um zu schlafen? »Ja, sie sind hier, aber meinen Sie nicht, Sie sollten zuerst die Med-Techs aufsuchen …« »Ich muss Lord Vorkosigan sprechen!« Miles wurde mit einem Ruck hellwach, als er erkannte, dass es sich bei der schneidenden, atemlosen weiblichen Stimme um Granat Fünf handelte, Die blonde QuaddieFrau taumelte praktisch durch die runde Tür vom Korridor herein. Sie zitterte und wirkte abgehärmt, fast grünlich, in einem unangenehmen Kontrast zu ihrem zerknitterten karminroten Wams. Ihre Blicke aus den weit aufgerissenen und von dunklen Ringen umgebenen Augen überflogen das wartende Trio. »Nicol, o Nicol!« Sie floh zu ihrer Freundin und umarmte sie mit drei Armen, der geschiente vierte Arm schwankte leicht. Nicol, die bestürzt dreinblickte, erwiderte die Umarmung, doch dann schob sie die Freundin von sich und fragte eindringlich: »Granat, hast du Bel gesehen?« »Ja, nein. Ich bin mir nicht sicher. Das ist einfach Wahnsinn. Ich dachte, man hätte uns beide k.o. geschlagen, aber als ich wieder zu mir kam, war Bel nicht mehr da. Ich dachte, er sei vielleicht vor mir aufgewacht und gegangen, Hilfe zu holen, aber das Sicherheitsteam«, sie nickte in Richtung ihrer Begleiter, »sagte, nein. Hast du nicht etwas gehört?« »Als du wieder zu dir kamst? Warte – wer hat euch k.o. geschlagen? Wo? Bist du verletzt?« »Ich habe schreckliches Kopfweh. Es war eine Art Drogennebel. Eiskalt. Es roch nach nichts, aber es schmeckte 252
bitter. Er sprühte es uns ins Gesicht. Bel schrie noch: ›Atme es nicht ein, Granat!’, aber natürlich musste er atmen, um schreien zu können. Ich spürte, wie Bel ganz schlaff wurde, und dann schwanden mir die Sinne. Als ich aufwachte, war mir so schlecht, dass ich mich fast übergeben musste, ääh!« Nicol und Teris Drei verzogen mitfühlend das Gesicht. Miles nahm an, dass die Frau von der Sicherheit diesen Bericht schon ein zweites Mal zu hören bekam, aber ihre Konzentration ließ nicht nach. »Granat«, mischte sich Miles ein, »bitte, holen Sie tief Luft, beruhigen Sie sich und dann fangen Sie von vorne an. Ein Polizist berichtete, dass er Sie und Bel gestern Abend irgendwo im Gelenk gesehen hat. Stimmt das?« Granat Fünf rieb sich mit den oberen Händen das blasse Gesicht, holte Luft und blinzelte; etwas Farbe kehrte zurück und belebte ihre graugrünen Züge. »Ja, ich bin auf Bel gestoßen, als er von der Haltestelle des Bubble-Cars kam. Ich wollte wissen, ob er gefragt hatte – ob Sie etwas gesagt hätten – ob irgendetwas über Dmitri beschlossen worden war.« Nicol nickte freudlos, aber befriedigt. »Ich kaufte am Kebab-Kiosk diesen Pfefferminztee, den Bel so mag, in der Hoffnung, ihn zum Reden zu bringen. Aber wir waren kaum fünf Minuten dort, als Bel völlig von einem anderen Paar abgelenkt wurde, das da hereinkam. Einer war ein Quaddie, den Bel vom Dock-und-SchleusenTeam kannte. Bel sagte, es sei jemand, auf den er ein Auge habe, weil er ihn verdächtigte, mit gestohlenen Sachen von den Schiffen zu handeln. Der andere war ein wirklich ko253
misch aussehender Planetarier.« »Ein großer, schlaksiger Kerl mit Schwimmhäuten an den Händen und langen Füßen und einer großen gewölbten Brust? Sieht so aus, als hätte seine Mutter den Froschkönig geheiratet, aber der Kuss funktionierte nicht ganz?«, fragte Miles. Granat Fünf starrte ihn an. »Du meine Güte, ja. Nun ja, über die Brust bin ich mir nicht sicher – er trug so ein wallendes Cape. Wie wissen Sie das?« »Das ist jetzt das dritte Mal, dass er in diesem Fall auftaucht. Man könnte auch sagen, er hat meine Aufmerksamkeit festgenietet. Aber fahren Sie fort, was geschah dann?« »Ich konnte Bel nicht beim Thema halten. Er bat mich, mich umzudrehen, sodass ich mit dem Gesicht zu den beiden saß und er ihnen den Rücken zukehren konnte, und er ließ mich berichten, was sie taten. Ich kam mir blöd vor, als würden wir Spione spielen.« Nein. Sie haben nicht gespielt … »Sie stritten sich irgendwie, dann entdeckte der Quaddie Bel und haute ab. Der andere Kerl, der komische Planetarier, ging auch, und dann bestand Bel darauf, dass wir ihm folgten.« »Und Bel verließ das Bistro?« »Wir verließen es beide zusammen. Ich wollte nicht allein zurückbleiben, und außerdem sagte Bei: Oh, in Ordnung, komm mit, du könntest von Nutzen sein. Ich glaube, der Planetarier muss wohl ein Raumfahrer gewesen sein, denn er bewegte sich nicht so unbeholfen, wie es die meisten Touristen auf der schwerelosen Seite tun. Ich glaubte 254
nicht, dass er uns sah. als wir ihm folgten, aber es muss uns gesehen haben, denn er wanderte den Querkorridor hinab und schlängelte sich in alle möglichen Läden hinein und wieder heraus, die um diese Zeit noch auf hatten, aber er kaufte nichts. Dann bewegte er sich plötzlich in einem Zickzack hinüber zum Portal zur Schwerkraftseite. Dort waren keine Schweber abgestellt, und so nahm mich Bel auf den Rücken und folgte weiter dem Burschen. Der schlüpfte in diesen Versorgungsbereich, über den die Läden am nächsten Korridor – drüben auf der Schwerkraftseite – Lieferungen zu und von ihren Hintertüren transportieren. Er schien um eine Ecke zu verschwinden, doch dann sprang er vor uns hervor und schwenkte dieses kleine Rohr vor unseren Gesichtern, das dieses garstige Spray aussprühte. Ich hatte Angst, es wäre ein Gift und wir wären beide so gut wie tot, aber offensichtlich war es nicht so.« Sie zögerte in angstvollem Zweifel. »Auf jeden Fall bin ich aufgewacht.« »Wo?«, wollte Miles wissen. »Dort. Nun ja, nicht ganz dort – ich lag zusammengesackt auf dem Boden in einem Recyclingbehälter auf einer Menge Kartons. Glücklicherweise war er nicht verschlossen. Vermutlich hätte mich dieser schreckliche Planetarier sonst nicht da hineinstopfen können. Es war nicht einfach, da herauszuklettern. Der dumme Deckel drückte immerzu herab. Ich habe mir fast die Finger zerquetscht. Ich hasse die Schwerkraft. Bel war nirgendwo zu sehen. Ich schaute und rief. Und dann musste ich auf drei Händen zurück zum Hauptkorridor gehen, bis ich Hilfe fand. Ich packte die erste Polizistin, auf die ich stieß, und sie brachte 255
mich direkt hierher.« »Dann müssen Sie sechs oder sieben Stunden k.o. gewesen sein«, rechnete Miles laut. Wie verschieden war der Stoffwechsel der Quaddies von dem betanischer Hermaphroditen? Ganz zu schweigen von der Körpermasse und der unterschiedlichen Dosierung, die von zwei dem Angreifer unterschiedlich ausweichenden Personen eingeatmet worden war. »Sie sollten sofort einen Arzt aufsuchen und sofort eine Blutprobe abgenommen bekommen, solange sich noch Spuren der Droge in Ihrem System befinden. Wir könnten sie vielleicht identifizieren, und auch ihren Ursprung, falls es sich nicht einfach um ein lokales Produkt handelt.« Die Nachtschichtleiterin unterstützte diese Idee mit Nachdruck und gestattete den Planetariern wie auch Nicol, an die sich Granat Fünf noch klammerte, mitzukommen, während sie die lädierte blonde Quaddie zur Krankenstation des Postens geleitete. Als Miles sich versichert hatte, dass Granat Fünf in kompetente medizinische Hände übergeben worden war. wandte er sich wieder Teris Drei zu. »Jetzt ist es nicht mehr bloß eine vage Theorie von mir«, sagte er. »Sie haben nachweislich eine gültige Beschuldigung wegen körperlichen Angriffs gegen diesen Burschen Firka. Können Sie die Suche nicht intensivieren?« »O ja«, erwiderte sie grimmig. »Diese Nachricht geht jetzt über alle Kommunikatorkanäle hinaus. Er hat eine Quaddie angegriffen. Und er hat toxische Gase in die öffentliche Luft freigesetzt.« Miles ließ die beiden Quaddie-Frauen Granat und Nicol 256
in der Sicherheit der Krankenstation zurück und drängte die Nachtschichtleiterin, sie solle ihn mit der Polizistin zusammenbringen, die Granat Fünf hergebracht hatte, damit sie ihn zu einer Inspizierung des Tatortes mitnehme. Die Schichtleiterin hielt ihn hin, es folgten weitere Verzögerungen, und Miles setzte Chef Venn auf eine fast undiplomatische Weise zu. Doch schließlich stellte man ihm einen anderen Quaddie-Polizisten zur Verfügung der ihn und Roic tatsächlich zu der Stelle begleitete, wo Granat Fünf so unbequem versteckt gewesen war. Der trüb beleuchtete Versorgungskorridor hatte einen flachen Boden und rechtwinklige Wände; an der Decke führten eine Menge Rohre entlang, und Roic musste sich bücken, um nicht daran zu stoßen. Sie bogen um eine schräge Ecke und stießen auf drei Quaddies, einer in Sicherheitsuniform, die beiden anderen in Shorts und Hemden, die hinter einem quer gespannten Plastikband mit dem Logo des Sicherheitsdienstes der Station zu Gange waren. Endlich Leute von der Spurensicherung, und gerade noch rechtzeitig. Der junge männliche Quaddie saß in einem Schweber, der mit der Identifikationsnummer eines Technikums der Station Graf beschriftet war. Eine aufmerksam dreinblickende Frau mittleren Alters steuerte einen Schweber, der das Zeichen einer der Kliniken der Station trug. Der Mann in Shorts und Hemd im Schweber des Technikums beendete gerade eine Lasersuche nach Fingerabdrücken am Rand und an der Oberseite eines großen quadratischen Behälters, der weit genug in den Korridor hineinragte, dass sich unvorsichtige Passanten ihr Schienbein anhauen konnten. Er bewegte sich zur Seite, seine 257
Kollegin übernahm den Platz und begann die Oberflächen mit etwas abzusuchen, das aussah wie eine Standardausführung eines Handsaugers zum Sammeln von Hautzellen und -gewebe. »Ist das der Behälter, in dem Granat Fünf versteckt war?«, fragte Miles den Quaddie-Polizisten, der die Aufsicht führte. »Ja.« Miles beugte sich vor. wurde jedoch von der aufmerksam saugenden Technikerin zurückgewinkt. Nachdem er ihr das Versprechen abgerungen hatte, über interessante Vergleichsergebnisse informiert zu werden, spazierte er stattdessen den Korridor hinauf und hinab, die Hände gewissenhaft in die Taschen gesteckt, und suchte … wonach? Geheimnisvolle Botschaften, die mit Blut auf die Wände geschrieben waren? Oder mit Tinte, oder Spucke, oder sonst was. Er überprüfte auch Boden, Decke und Versorgungsleitungen, in Bels Höhe und niedriger, und reckte seinen Kopf, um seltsame Spiegelungen aufzufangen. Nichts. »Waren all diese Türen verschlossen?«, fragte er den Polizisten, der ihnen folgte. »Hat man sie schon überprüft? Könnte jemand Hafenmeister Thorne da durch eine von ihnen hineingeschleift haben?« »Das müssen Sie den Beamten fragen, der die Leitung hat, Sir«, erwiderte der Quaddie, in dessen dienstlich neutralen Ton sich Verärgerung mischte. »Ich bin erst mit Ihnen hierher gekommen.« Miles starrte frustriert auf die Türen und ihre Schlösser. Er konnte nicht einfach die ganze Reihe entlang gehen und 258
alle ausprobieren, nicht, solange der Mann mit dem Scanner noch nicht fertig war. Er kehrte zu dem Behälter zurück. »Haben Sie etwas gefunden?«, fragte er. »Nicht …«Die Medizinerin blickte sich nach dem Aufsicht habenden Beamten um. »Ist dieser Bereich gekehrt worden, bevor ich kam?« »Soweit ich weiß, nein, Madame«, erwiderte der Polizist. »Warum fragen Sie?«, wollte Miles sofort wissen. »Nun ja, hier gibt es nicht sehr viel. Ich hätte mehr erwartet.« »Versuchen Sie es weiter weg«, schlug der Techniker mit dem Scanner vor. Sie warf ihm einen etwas verwirrten Blick zu. »Darum geht’s doch nicht. Auf jeden Fall, nach Ihnen.« Sie wies den Korridor hinab, und Miles vertraute eilig seine Besorgnisse bezüglich der Türen dem Aufsicht führenden Beamten an. Das Team scannte pflichtbewusst alles ab, auf Miles’ Beharren auch die Rohrleitungen an der Decke, wo der Angreifer sich versteckt haben könnte, um sich dann auf seine Opfer herabzustürzen. Sie versuchten es an jeder Tür. Mit den Fingern ungeduldig auf seine Hosennähte trommelnd, folgte Miles ihnen den Korridor entlang, während sie ihre Suche durchführten. Alle Türen erwiesen sich als verschlossen … zumindest waren sie es jetzt. Eine öffnete sich zischend, als sie vorbeigingen, und ein Ladenbesitzer, ein Planetarier, steckte seinen Kopf blinzelnd heraus; der Quaddie-Polizist befragte ihn kurz, und der Kaufmann sei259
nerseits half seine Nachbarn zu wecken, damit sie an der Suche teilnahmen. Die Quaddie-Frau sammelte jede Menge kleiner Plastikbeutel mit nicht viel Inhalt. In keinem Behälter, Eingang, Geräteschrank oder Laden neben dem Durchgang wurde ein bewusstloser Hermaphrodit gefunden. Der Versorgungskorridor lief etwa zehn Meter weiter, bevor er sich diskret zu einem breiteren Querkorridor öffnete, der von Läden, Büros und einem kleinen Restaurant gesäumt war. Die Szenerie war wohl während der dritten Schicht vergangene Nacht ruhiger gewesen, aber keineswegs völlig verlassen, und ebenfalls beleuchtet. Miles stellte sich vor, wie der schlaksige Firka Bels kompakte, aber kräftige Gestalt den öffentlichen Weg entlangschleppte oder -zerrte … zur Tarnung in etwas eingewickelt? Es musste fast so gewesen sein. Es wäre ein starker Mann von Nöten, um Bel weit zu schleppen. Oder … jemanden in einem Schweber. Nicht notwendigerweise ein Quaddie. Roic, der ihm über die Schulter ragte, schnüffelte. Die würzigen Gerüche, die in den Korridor wehten, in den das Lokal listigerweise seine Backöfen entlüftete, erinnerten Miles an die Pflicht, seine Kämpfer zu verpflegen. Seinen Kämpfer. Der mürrische Quaddie-Wächter konnte für sich selbst sorgen, entschied Miles. Das Lokal war klein, sauber und gemütlich, die Art von billigem Café, wo die hiesigen Werktätigen aßen. Es war offensichtlich schon nach dem Frühstücksansturm und noch nicht Zeit zum Mittagessen, denn es saßen nur zwei junge Männer da, Planetarier, bei denen es sich um Verkäufer handeln konnte, und eine Quaddie-Frau in einem 260
Schweber, die – nach ihrem voll gestopften Werkzeuggürtel zu schließen – eine Elektrikerin in ihrer Arbeitspause war. Sie schauten verstohlen auf die Barrayaraner – mehr auf den großen Roic in seiner fremdartigen braun-silbernen Uniform als auf den kleinwüchsigen Miles in seiner unauffälligen grauen Zivilkleidung. Der Quaddie-Wächter, der sie begleitet hatte, distanzierte sich etwas von ihnen – man sollte merken, dass er sie zwar begleitete, aber nicht zu ihnen gehörte – und bestellte sich Kaffee in einem Plastikkolben. Eine Planetarierin fungierte als Bedienung und als Köchin und richtete mit geübter Schnelligkeit Speisen auf den Tellern an. Die würzigen Brote, anscheinend eine Spezialität des Lokals, schienen hausgemacht zu sein, die Scheiben mit künstlich gezüchtetem Protein waren einwandfrei und das frische Obst überraschend köstlich. Miles wählte eine große goldene Birne aus, deren Schale eine rosige Tönung und keinerlei Flecken aufwies: Wenn sie nur mehr Zeit gehabt hatten, dann hätte er gern Ekaterin auf die hiesige Landwirtschaft angesetzt – von welcher pflanzenähnlichen Matrix auch immer diese Frucht hier hervorgebracht worden war, sie musste genetisch verändert worden sein, um in der Schwerelosigkeit zu gedeihen. Die Raumstationen des Kaiserreichs konnten solche Gewächse gebrauchen – falls die komarranischen Händler sie sich nicht schon geschnappt hatten. Miles’ Plan, Kerne dieser Frucht in die Tasche zu stecken, um sie nach Hause zu schmuggeln, wurde dadurch vereitelt, dass sie keine Kerne hatte. In der Ecke hatte ein Holovid, das leise gestellt war, von allen ignoriert vor sich hin gebrabbelt, doch ein plötzlicher 261
Regenbogen blinkender Lichter kündigte jetzt eine offizielle Sicherheitsmitteilung an. Alle drehten kurz den Kopf in die Richtung des Vids; Miles folgte den Blicken der anderen und entdeckte, dass jetzt die Aufnahmen des Passagiers Firka von den Schleusen der Rudra gezeigt wurden, die er zuvor dem Sicherheitsdienst der Station heruntergeladen hatte. Er brauchte keinen Ton. um den Inhalt der Ansage zu erraten, welche die ernst dreinblickende Quaddie-Frau im Anschluss daran verlas: ein Verdächtiger, der zur Vernehmung gesucht wurde, er könnte bewaffnet und gefährlich sein, und wenn Sie diesen zweifelhaften Planetarier sehen, dann rufen Sie sofort folgende Nummer an. Es folgten ein paar Aufnahmen von Bel, vermutlich als mutmaßlichem Entführungsopfer; sie stammten aus den gestrigen Interviews nach dem versuchten Attentat in der Herberge, den dann eine Nachrichtensprecherin rekapitulierte. »Können Sie es lauter stellen?«, bat Miles verspätet. Die Nachrichtensprecherin kam gerade zum Ende: und während die Kellnerin noch mit ihrer Fernbedienung zu Gange war, wurde das Bild der Sprecherin durch einen Werbespot für eine eindrucksvolle Auswahl an Arbeitshandschuhen ersetzt. »Oh. tut mir Leid«, sagte die Kellnerin. »Es war sowieso eine Wiederholung. Das haben sie in der letzten Stunde alle fünfzehn Minuten gezeigt.« Sie lieferte Miles eine Zusammenfassung der Alarmmeldung, die in den meisten Punkten Miles’ Vermutungen entsprach. Also, auf wie vielen Holovids auf der ganzen Station erschien jetzt diese Meldung? Jetzt würde es für einen Mann, der gesucht wurde, um eine Größenordnung schwieriger 262
sein, sich zu verstecken, da eine Größenordnung mehr Augenpaare nach ihm Ausschau hielten … aber sah Firka selbst diese Sendung? Wenn ja, würde er dann in Panik geraten und noch gefährlicher werden für jemand, der ihm in die Quere kam? Oder würde er sich stellen und behaupten, dass alles nur ein Missverständnis gewesen war? Roic, der das Vid betrachtete, runzelte die Stirn und trank noch mehr Kaffee. Der des Schlafes beraubte Gefolgsmann hielt sich einstweilen noch recht gut, aber Miles rechnete sich aus, dass sein Begleiter sich nur noch gefährlich dahinschleppen würde, wenn der Nachmittag voranschritt. Miles hatte das unangenehme Gefühl, in einem Treibsand aus Ablenkungen zu versinken und den Bezug zu seiner ursprünglichen Mission zu verlieren. Die was gewesen war? O ja, die Flotte zu befreien. Er unterdrückte den Impuls, zu knurren: Scheiß auf die Flotte, wo zum Teufel ist Bel? Aber wenn es überhaupt einen Weg gab, diese beunruhigende Entwicklung dazu zu benutzen, seine Schiffe aus den Händen der Quaddies loszueisen, so war ihm dieser im Augenblick nicht erkennbar. Sie kehrten zum Sicherheitsposten Nr. 1 zurück, wo Nicol im vorderen Empfangsbereich auf sie wartete wie ein hungriges Raubtier an einem Wasserloch. Sie stürzte sich sofort auf Miles. »Hast du Bel gefunden? Hast du irgendein Lebenszeichen von ihm aufgeschnappt?« Miles schüttelte bedauernd den Kopf. »Keine Spur, weder Haut noch Haar. Nun ja, es könnte Haare geben – wir werden es wissen, sobald die Spurensicherung ihre Analyse erstellt hat –, aber das würde uns nicht mehr sagen, als wir 263
schon durch die Aussage von Granat Fünf wissen.« Deren Wahrheit Miles nicht bezweifelte. »Jetzt habe ich eine bessere Vorstellung vom möglichen Ablauf der Ereignisse.« Erwünschte sich, dass sie mehr Sinn ergab. Der erste Teil – Firka wünschte seine Verfolger aufzuhalten oder abzuschütteln – war ausreichend sinnvoll. Was Rätsel aufgab, war die Lücke, die darauf folgte. »Glaubst du«, Nicols Stimme wurde leiser, »er hat Bel weggeschafft, um ihn irgendwo anders zu ermorden?« »Warum sollte er in diesem Fall eine Zeugin am Leben lassen?«, stieß Miles sofort hervor, um sie zu beruhigen; wenn er darüber nachdachte, fand er dieses Argument ebenfalls beruhigend. Vielleicht. Aber wenn nicht Mord, was dann? Was wusste oder hatte Bel, das jemand anderer sich verschaffen wollte? Es sei denn, Bel war wie Granat Fünf von allein wieder zu Bewusstsein gekommen und verschwunden. Aber … wenn Bel in einem Zustand von Benommenheit und Verwirrung davon gewandert war, dann hätten ihn inzwischen die Polizisten oder irgendwelche hilfsbereiten Mitbürger von der Station aufgefunden haben sollen. Und wenn er in wilder Verfolgungsjagd hinter etwas her wäre, dann hätte er sich melden müssen. Zumindest bei mir, verdammt noch mal. »Wenn Bel …«, begann Nicol und verstummte gleich wieder. Eine erstaunliche Menge drängte sich durch den Haupteingang und hielt inne, um sich zu orientieren. Zwei bärenstarke männliche Quaddies in den orangefarbenen Arbeitshemden und -shorts der Dock- und Schleusenarbeiter hielten die beiden Enden eines drei Meter langen Rohrs. Firka hielt den Mittelteil davon besetzt. 264
Die Hand- und Fußgelenke des unglücklichen Planetariers waren mit einer Unmenge Isolierband an das Rohr gebunden, sodass er zu einem U verkrümmt war. wobei mit einem weiteren Rechteck aus Isolierband sein Mund zugepflastert war und sein Stöhnen gedämpft wurde. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er rollte die Augäpfel in Panik. Drei weitere Quaddies in Orange, keuchend und zerzaust, einer mit einem frischen blauen Fleck um ein Auge, bewegten sich als Begleiter nebenher. Das Arbeitsteam visierte sein Ziel an und schwebte mit der zappelnden Last durch die Schwerelosigkeit, um dann mit einem Bums an der Rezeption zu landen. Ein Quartett uniformierter Sicherheitsleute tauchte aus einem anderen Eingang auf. versammelte sich um die sich sträubende Beute und beäugte sie. Der Dienst habende Sergeant schaltete seine Gegensprechanlage ein und sprach mit gedämpfter Stimme schnell hinein. Der Sprecher des Quaddie-Aufgebots schob sich nach vorn, ein Lächeln grimmiger Befriedigung auf seinem lädierten Gesicht. »Den haben wir für Sie gefangen.«
265
12 »Wo?«, fragte Miles. »Im Frachtbereich Nr. 2«. erwiderte der Sprecher. »Er versuchte gerade. Pramod Sechzehn hier«, er nickte in Richtung eines der bärenstarken Quaddies, der ein Ende des Rohres hielt, »dazu zu bringen, ihn in einer Personenkapsel um die Sicherheitszone herum zu den Docks der galaktischen Sprungschiffe zu bringen. Also können Sie zu der Liste der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen noch hinzufügen: versuchte Bestechung eines Luftschleusen-Technikers, um Bestimmungen zu verletzen, würde ich sagen.« Aha. Eine andere Methode, um Bels Zollschranken zu umgehen … Miles’ Gedanken hüpften zurück zu dem vermissten Solian. »Pramod sagte ihm, er werde etwas arrangieren, schlüpfte hinaus und rief mich. Ich trommelte die Jungs zusammen, und wir stellten sicher, dass er mitkommen und sich Ihnen erklären würde.« Der Sprecher wies auf Chef Venn, der hastig vom Bürokorridor hereingeschwebt war und die Szene mit der zu erwartenden Befriedigung erfasste. Der Planetarier mit den Schwimmhäuten gab unter seinem Isolierband einen klagenden Ton von sich, aber Miles betrachtete dies mehr als Protest denn als Erklärung. »Habt ihr eine Spur von Bel gefunden?«, warf Nicol dringend ein. »Oh, hallo Nicol.« Der Sprecher der Quaddies schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir haben den Kerl da gefragt, aber keine Antwort aus ihm herausbekommen. Wenn ihr alle nicht mehr Glück habt mit ihm, dann haben wir noch ein 266
paar Ideen, die wir ausprobieren können.« Sein finsterer Blick legte den Gedanken nahe, dass es sich dabei vielleicht um die unerlaubte Benutzung von Luftschleusen handelte oder vielleicht um den neuartigen Einsatz von Geräten zur Frachtentladung, der definitiv nicht von den Garantiezusagen des Herstellers gedeckt waren. »Wir könnten ihn bestimmt dazu bringen, dass er aufhört zu schreien und zu reden anfängt, bevor ihm die Luft ausgeht.« »Ich glaube, von hier an können wir den Fall übernehmen, danke«, versicherte ihm Chef Venn. Er blickte ungnädig auf Firka, der an seiner Stange zappelte. »Allerdings behalte ich euer Angebot im Hinterkopf.« »Kennen Sie Hafenmeister Thorne?«, fragte Miles den Quaddie von Docks und Schleusen. »Arbeiten Sie mit ihm zusammen?« »Bel ist einer von unseren besten Aufsehern«, erwiderte der Quaddie. »Ungefähr der vernünftigste Planetarier, den wir je bei uns hatten. Wir wollen ihn auf keinen Fall verlieren, ja?« Er nickte Nicol zu. Sie neigte den Kopf in stummer Dankbarkeit. Die Verhaftung durch die Bürger wurde pflichtgemäß protokolliert. Die Quaddie-Polizisten, die sich hier versammelt hatten, beäugten vorsichtig den langen sich windenden Gefangenen und beschlossen, ihn einstweilen mit Stange und allem anderen zu übernehmen. Das Team von Docks und Schleusen präsentierte mit verständlicher Selbstzufriedenheit auch den Seesack, den Firka getragen hatte. Hier war also Miles’ meistgesuchter Verdächtiger, wenn nicht auf einem Tablett, so doch am Spieß präsentiert. Mi267
les juckte es in den Fingern, ihm das Isolierband vom Gesicht abzureißen und damit zu beginnen, ihn auszuquetschen. Währenddessen traf Eichmeisterin Greenlaw ein, begleitet von einem neuen Quaddie-Mann, der dunkelhaarig war und fit wirkte, wenn auch nicht besonders jung. Er trug gepflegte, schlichte Kleidung, ähnlich wie Boss Watts und Bel, aber in Schwarz anstatt von Schieferblau, Sie stellte ihn als Richter Leutwyn vor. »So, so«, sagte Leutwyn und blickte neugierig auf den mit Isolierband gefesselten Verdächtigen. »Das ist also unsere Ein-Mann-Kriminalitätswelle. Verstehe ich es richtig, dass er auch mit der barrayaranischen Flotte gekommen ist?« »Nein, Herr Richter«, erwiderte Miles. »Er ging hier auf Station Graf an Bord der Rudra, und zwar in letzter Minute. Tatsächlich meldete er sich erst nach dem ursprünglichen Abreisetermin des Schiffes an Bord. Ich wüsste sehr gerne, warum. Ich habe ihn stark im Verdacht, dass er das Blut synthetisiert und in der Ladebucht vergossen hat, dass er gestern in der Lobby der Herberge … jemanden zu ermorden versuchte, und dass er Granat Fünf und Bel Thorne gestern Abend attackierte. Granat Fünf hat ihn zumindest ziemlich deutlich gesehen und dürfte in der Lage sein, diese Identifikation gleich zu bestätigen. Aber die bei weitem dringendste Frage lautet: Was ist mit Hafenmeister Thorne geschehen? Einem Entführungsopfer, das sich in Gefahr befindet, dicht auf den Fersen zu sein ist bestimmt in den meisten Rechtssystemen ausreichender Grund für eine zwangsweise Vernehmung unter Schnell-Penta.« 268
»Auch hier bei uns«, räumte der Richter ein. »Aber ein Verhör unter Schnell-Penta ist ein heikles Unternehmen. In dem halben Dutzend Fälle, bei denen ich zugegen war, habe ich gesehen, dass es nicht annähernd der Zauberstab ist. für den es die meisten Leute halten.« Miles räusperte sich mit gespielter Zurückhaltung. »Ich bin hinreichend vertraut mit der Technik. Herr Richter. Ich habe mehr als hundert Vernehmungen unter Zuhilfenahme von Penta geleitet oder begleitet. Und ich habe sie zweimal am eigenen Leibe erlebt.« Kein Grund, seine idiosynkratische Reaktion auf die Droge zu erwähnen, die diese beiden Vorfälle so Schwindel erregend surreal und bemerkenswert uninformativ gemacht hatte. »So«, sagte der Quaddie-Richter. Es klang unwillkürlich beeindruckt, möglicherweise besonders wegen des letzteren Details. »Ich bin mir der Notwendigkeit voll bewusst zu verhindern, dass aus dem Verhör eine Lynchszene wird, aber man braucht auch die richtigen Suggestivfragen. Ich glaube, dass ich einige parat habe.« »Wir haben den Verdächtigen noch nicht einmal erkennungsdienstlich behandelt«, warf Venn ein. »Ich jedenfalls möchte sehen, was er in diesem Seesack hat.« Der Richter nickte. »Ja. machen Sie weiter, Chef Venn. Ich hätte gerne weitere Aufklärung, falls ich sie bekommen kann.« Lynchszene oder nicht, sie folgten alle den QuaddiePolizisten. die den unglücklichen Firka mit der Stange und allem Drum und Dran in einen hinteren Raum manövrierten. Nachdem man ihm zuerst richtige Hand- und Fuß269
schellen an den knochigen Hand- und Fußgelenken angelegt hatte, dokumentierten zwei der Polizisten seine RetinaMuster und nahmen Laser-Scans von den Fingern und Handflächen. Miles’ Neugierde wurde in einem Punkt befriedigt, als man dem Gefangenen auch die weichen Stiefel auszog; zwischen den fingerlangen, nahezu greiffähigen Zehen, die jetzt entspannt und ausgestreckt waren, gab es breite rosafarbene Schwimmhäute. Die Quaddies scannten sie auch – natürlich scannten die Quaddies routinemäßig alle vier Gliedmaßen –, dann durchschnitten sie die umfangreichen Fesseln aus Isolierband. Währenddessen entleerte ein anderer Polizist, unterstützt von Venn, den Seesack und erstellte ein Inventar von dessen Inhalt. Sie holten verschiedene Kleidungsstücke heraus, meist in schmutzigen Bündeln, dann fanden sie ein großes neues Küchenmesser, einen Betäuber mit einer dubios korrodierten entladenen Energiezelle, aber ohne Betäuberlizenz, eine große Brechstange und eine Ledermappe voller kleiner Werkzeuge. Die Mappe enthielt auch eine Quittung für eine automatische Heißnietenmaschine von einem Technikerladen auf Station Graf, komplett mit den belastenden Seriennummern. An diesem Punkt hörte der Richter auf, so vorsichtig reserviert dreinzublicken, stattdessen begann er nun grimmig zu schauen. Als der Polizist etwas hochhielt, das auf den ersten Blick wie ein Skalp aussah, sich dann aber – ausgeschüttelt – als eine auffällige kurzhaarige blonde Perücke von minderer Qualität entpuppte, schienen es fast zu viel der Beweisstücke zu sein. Von größerem Interesse waren für Miles das Dutzend verschiedener Ausweispapiere. Die Hälfte davon erklärten, 270
ihre Inhaber seien auf Jackson’s Whole beheimatet; die anderen stammten aus Lokalraumsystemen, die alle an die Hegen-Nabe angrenzten, an jenes an Wurmlöchern reiche und an Planeten arme System, das einen der nächsten und strategisch wichtigsten Nexusnachbarn des barrayaranischen Kaiserreichs darstellte. Sprungrouten von Barrayar nach Jackson’s Whole wie auch nach dem Reich von Cetaganda passierten über Komarr und den unabhängigen Pufferstaat Pol die Hegen-Nabe. Venn ließ die Hand voll Ausweise durch eine HolovidStation laufen, die an der gewölbten Wand des Raumes befestigt war. Die Falten auf seiner Stirn wurden immer tiefer. Miles und Roic manövrierten sich an ihn heran und blickten ihm über die Schulter. »Also«, knurrte Venn nach einer Weile, »wer davon ist dieser Kerl wirklich?« Zwei Ausweise für »Firka« enthielten Vid-Aufnahmen von einem Mann, der in seinem Erscheinungsbild von ihrem stöhnenden Gefangenen sehr verschieden war: ein großer, stämmiger, aber vollkommen normaler Mann, der entweder von Jackson’s Whole stammte (ohne Zugehörigkeit zu einem der dort maßgeblichen Häuser), oder von Aslund, einem weiteren Nachbarn der Hegen-Nabe, abhängig davon, welchem Ausweis – falls überhaupt – man glauben wollte. Ein dritter Firka-Ausweis, den der gegenwärtige Firka für die Reise von Tau Ceti zu Station Graf benutzt zu haben schien, enthielt ein Bild des Gefangenen selbst. Schließlich entsprachen seine Vid-Aufnahmen auch dem Ausweis einer Person namens Russo Gupta, der ebenfalls von Jacksons Whole stammte und ebenfalls über keine Zu271
gehörigkeit zu einem Haus verfügte. Dieser Name, das Gesicht und die damit verbundenen Retina-Scans tauchten auch wieder auf der Lizenz eines Sprungschifftechnikers auf, von der Miles erkannte, dass sie von einer bestimmten jacksonischen Organisation der Untergrundwirtschaft stammte, mit der er in seinen Tagen der verdeckten Operationen zu tun gehabt hatte. Nach der daran angefügten langen Datei mit Datumsangaben und Zollstempeln zu urteilen, war dieser Ausweis anderswo als echt durchgegangen. Und auch noch in jüngster Zeit. Eine Aufzeichnung seiner Reisen, gut! Miles deutete auf das Dokument. »Das ist so gut wie sicher eine Fälschung.« Die Quaddies, die sich um sie drängten, schauten ehrlich geschockt drein. »Eine falsche Technikerlizenz?«, hauchte Greenlaw. »Aber das wäre ja unsicher.« »Sie stammt von einem Ort, glaube ich, wo man auch noch die falsche Lizenz eines Neurochirurgen dazu bekäme. Oder für jeden anderen Job, den man gern haben möchte, ohne dass man all die lästige Ausbildung, Prüfung und Zertifikation durchläuft.« Oder für einen Job, den man in diesem Fall wirklich hatte – nun, das war ein beunruhigender Gedanke. Obwohl On-the-job-Training und Selbstunterricht im Laufe der Zeit einige der Lücken ausfüllen würden … irgendjemand war schließlich clever genug gewesen, um diese Heißnietenmaschine zu modifizieren. Unter keinen Umständen konnte aber dieser blasse, schlaksige Mutant als eine kräftige, angenehm hässliche, rothaarige Frau durchgehen, die entweder Grace Nevatt von Jackson’s Whole hieß – auch keine Zugehörigkeit zu 272
einem Haus – oder Louise Latour von Pol, abhängig davon, welchen Ausweispapieren sie den Vorzug gab. Und auch nicht als kleiner, am Kopf verdrahteter, mahagonibrauner Sprungschiffpilot namens Hewlet. »Wer sind bloß all diese Leute?«, murmelte Venn verärgert. »Warum fragen wir ihn nicht einfach?«, schlug Miles vor. Firka – oder Gupta – hatte es endlich aufgegeben zu zappeln und lag einfach mitten in der Luft da. Im Rhythmus seines Keuchens spannten sich die Nasenflügel über dem blauen Rechteck aus Isolierband über seinem Mund. Der Quaddie-Polizist beendete die Aufzeichnung seiner letzten Scans und langte nach einer Ecke des Isolierbands, dann hielt er unsicher inne. »Ich fürchte, das wird ein wenig wehtun.« »Wahrscheinlich schwitzt er genug unter dem Band, dass man es lockern kann«, bemerkte Miles. »Nehmen Sie es mit einem schnellen Ruck. Dann wird es auf lange Sicht weniger wehtun. Das würde ich wollen, wenn ich er wäre.« Ein gedämpftes Maunzen, das anzeigte, dass der Gefangene anderer Meinung war, verwandelte sich in einen schrillen Schrei, als der Quaddie Miles’ Vorschlag ausführte. In Ordnung, also, der Froschkönig hatte um den Mund herum nicht so viel geschwitzt, wie Miles vermutet hatte. Es war immer noch besser, wenn er das verdammte Band herunter hatte als drauf. Doch trotz der Geräusche, die er von sich gegeben hatte, reagierte der Gefangene auf die Befreiung seiner Lippen nicht mit empörtem Protest, Flüchen, Beschwerden oder 273
wüsten Drohungen. Er keuchte einfach weiter. Seine Augen waren eigenartig glasig – der Blick, wie Miles erkannte, eines Mannes, der viel zu lange viel zu sehr erregt gewesen war. Bels loyale Schauerleute mochten ihn vielleicht ein bisschen angerempelt haben, aber er hatte diesen Blick nicht in der kurzen Zeit bekommen, seit er sich in den Händen der Quaddies befunden hatte. Chef Venn hielt zwei Hände voll Ausweisen hoch, links und rechts vor den Augen des Gefangen. »Also, wer sind Sie wirklich? Sie können uns ruhig die Wahrheit sagen. Wir werden es sowieso überprüfen.« Mürrisch und widerstrebend murmelte der Gefangene: »Ich bin Guppy.« »Guppy? Russo Gupta?« »Ja.« »Wer sind dann die anderen?« »Abwesende Freunde.« Miles war sich nicht ganz sicher, ob Venn den Tonfall mitbekommen hatte, und warf ein: »Tote Freunde?« »Ja, das auch.« Guppy/Gupta starrte in eine Ferne, die Miles in Lichtjahren berechnet hätte. Venn blickte erschrocken drein. Miles war hin und her gerissen zwischen dem Verlangen weiterzumachen und einem intensiven Wunsch, sich hinzusetzen und die Ortsund Datumsstempel auf all diesen Ausweisen – echten wie gefälschten – zu studieren, bevor er Gupta abschöpfte. Eine ganze Welt von Enthüllungen verbarg sich darinnen, dessen war er sich ziemlich sicher. Aber größere Dringlichkeiten bestimmten jetzt die Folge des Vorgehens. »Wo ist Hafenmeister Thorne?«, fragte Miles. 274
»Das habe ich diesen Schlägern schon gesagt. Ich habe von dem Burschen nie gehört.« »Thorne ist der betanische Hermaphrodit, den Sie letzte Nacht in einem Versorgungsgang beim Querkorridor mit einem K.o.-Spray besprüht haben. Zusammen mit einer blonden Quaddie-Frau namens Granat Fünf.« Guptas Gesichtsausdruck wurde noch mürrischer. »Hab keinen von den beiden jemals gesehen.« Venn wandte den Kopf und nickte einer Polizistin zu, die daraufhin sofort davonsauste. Kurz darauf kehrte sie durch einen anderen Eingang des Raumes zurück und brachte Granat Fünf herein. Granat hatte jetzt eine viel bessere Gesichtsfarbe, wie Miles erleichtert feststellte, und sie hatte offensichtlich inzwischen ihre Kosmetikutensilien herbeischaffen können, mit denen sie sich für ihr öffentliches Auftreten in die entsprechende Form zu bringen pflegte. »Aha!«, sagte sie fröhlich. »Ihr habt ihn erwischt! Wo ist Bel?« »Ist das der Planetarier«, befragte Venn sie förmlich, »der einen chemischen Angriff auf Sie und den Hafenmeister ausgeführt und letzte Nacht verbotene Gase in die öffentliche Atmosphäre freigesetzt hat?« »O ja«, erwiderte Granat Fünf. »Ich kann ihn nicht verwechseln. Ich meine, schauen Sie doch auf seine Schwimmhäute.« Gupta presste die Lippen zusammen, ballte die Fäuste und krümmte die Füße, aber jedes weitere Leugnen war offensichtlich vergeblich. Venn dämpfte seine Stimme zu einem hübsch drohenden 275
offiziellen Knurren: »Gupta, wo befindet sich Hafenmeister Thorne?« »Ich weiß nicht, wo der Mistkerl von einem schnüffelnden Herm sich aufhält! Ich habe ihn in dem Behälter direkt neben ihr zurückgelassen. Da war er in Ordnung. Das heißt, er hat geatmet und so. Beide haben geatmet. Das habe ich überprüft. Der Herm schläft sich dort wahrscheinlich noch aus.« »Nein«, sagte Miles. »Wir haben alle Behälter in der Passage überprüft. Der Hafenmeister ist verschwunden.« »Na ja, ich weiß doch nicht, wohin er danach gegangen ist.« »Wären Sie bereit, diese Behauptung unter SchnellPenta zu wiederholen und so die Beschuldigung der Entführung zu widerlegen?«, fragte Venn behutsam, um so ein freiwilliges Verhör anzubahnen. Guptas gummiartiges Gesicht erstarrte, und sein Blick glitt in die Ferne. »Das geht nicht. Ich bin allergisch gegen das Zeug.« »Stimmt das?«, fragte Miles. »Überprüfen wir es kurz, einverstanden?« Er kramte in seiner Hosentasche und holte den Streifen mit den Testpflastern heraus, den er sich in Erwartung genau einer solchen Situation aus den KBSVorräten auf der Turmfalke ausgeborgt hatte. Zugegeben, er hatte die zusätzliche Dringlichkeit von Bels beunruhigendem Verschwinden nicht erwartet. Er hielt den Streifen in die Höhe und erklärte Venn und dem Richter, der all dies mit einem richterlichen Stirnrunzeln verfolgte: »Ein Hauttest auf Penta-Allergie auf Sicherheitsstufe. Wenn der Proband eine der sechs Arten künstlich induzierter Über276
empfindlichkeit oder sogar eine leichte natürliche Allergie aufweist, dann erscheint sofort eine Quaddel.« Um die Quaddie-Funktionäre zu beruhigen, löste er eines der klettenartigen Pflaster ab, klatschte es auf seinen eigenen Handrücken und zeigte es mit aufmunternd zappelnden Fingern. Dieser Trick reichte aus, dass außer dem Gefangenen niemand protestierte, als Miles sich vorbeugte und ein weiteres Pflaster auf Guptas Arm drückte. Gupta stieß einen Schreckensschrei aus, der ihm nur verwunderte Blicke einbrachte; unter den Augen der Zuschauer reduzierte er es zu einem kläglichen Wimmern. Miles zog sein eigenes Pflaster ab und zeigte einen deutlichen rötlichen Ausschlag. »Wie Sie sehen, verfüge ich über eine leichte endogene Empfindlichkeit.« Er wartete noch eine kleine Weile, um klar zu machen, worauf er hinauswollte, dann langte er hinüber und löste das Pflaster von Guptas Arm. Die ziemlich blasse natürliche – Pilze waren natürlich, oder? – Hautfärbung war unverändert. Venn, der sich dem Gang der Dinge anschloss wie ein alter KBS-Mitarbeiter, beugte sich zu Gupta vor und sagte: »Das sind bisher schon zwei Lügen. Sie können jetzt aufhören zu lügen. Oder Sie können in Kürze aufhören zu lügen. Beides genügt.« Er richtete die zusammengekniffenen Augen auf seinen Quaddie-Kollegen. »Richter Leutwyn, kommen Sie zu der Entscheidung, dass wir hinreichend Grund haben für eine zwangsweise chemisch unterstützte Vernehmung dieses Durchreisenden?« Der Richter schaute keineswegs ganz begeistert drein, aber er erwiderte: »Im Lichte seiner zugegebenen Verbindung zu dem beunruhigenden Verschwinden eines ge277
schätzten Angestellten der Station, ja, da steht es außer Frage. Ich erinnere Sie daran, dass es den Bestimmungen widerspricht, wenn Sie Verhaftete, die sich in Ihrer Gewalt befinden, unnötigen körperlichen Unannehmlichkeiten unterziehen.« Venn blickte auf Gupta, der jämmerlich in der Luft hing. »Wie kann es ihm unangenehm sein? Er befindet sich in der Schwerelosigkeit.« Der Richter schürzte die Lippen. »Durchreisender Gupta, empfinden Sie abgesehen von Ihrer Fesselung im Augenblick irgendwelche besonderen Unannehmlichkeiten? Brauchen Sie etwas zu essen oder zu trinken, oder Zugang zu sanitären Einrichtungen für Planetarier?« Gupta riss mit den Handgelenken an den Fesseln und zuckte die Achseln. »Nö. Na ja, meine Kiemen trocknen aus. Wenn Sie mich nicht loslassen, dann muss jemand sie besprühen. Das Zeug ist in meinem Sack.« »Das hier?« Die Quaddie-Polizistin hielt etwas hoch, das ein vollkommen gewöhnlicher Plastiksprayer zu sein schien, von der Art, die Ekaterin benutzte, um einige ihrer Pflanzen zu besprühen. Die Polizistin schüttelte den Behälter und er gluckerte. »Was ist da drin?«, fragte Venn misstrauisch. »Vor allem Wasser. Und etwas Glyzerin«, erwiderte Gupta. »Überprüfen Sie es«, sagte Venn zu seiner Polizistin. Sie nickte und schwebte hinaus; Gupta beobachtete ihren Abgang mit etwas Misstrauen, aber ohne besondere Beunruhigung. »Durchreisender Gupta, es scheint, dass Sie für einige 278
Zeit unser Gast sein werden«, sagte Venn. »Wenn wir Ihnen Ihre Fesseln abnehmen, werden Sie uns dann Schwierigkeiten bereiten oder werden Sie sich benehmen?« Gupta schwieg einen Moment lang, dann stieß er einen erschöpften Seufzer aus. »Ich werde mich benehmen. Es nützt mir ja eh nichts.« Ein Polizist schwebte herbei und befreite die Hand- und Fußgelenke des Gefangenen. Nur Roic schien diese unnötige Höflichkeit nicht zu gefallen, er umspannte mit einer Hand einen Wandgriff und setzte einen Fuß auf ein Schott, das nicht mit Geräten besetzt war. bereit, sich vorwärts zu stürzen. Doch Gupta strich sich nur über die Handgelenke, dann bückte er sich, um die Fußknöchel zu reiben, und blickte dabei auf mürrische Weise dankbar drein. Die Polizistin kehrte mit dem Behälter zurück und überreichte sie ihrem Chef. »Der chemische Schnüffler im Labor sagt, dass der Inhalt inert ist. Dürfte sicher sein«, berichtete sie. »Sehr gut.« Venn warf Gupta die Flasche zu, und der fing sie trotz seiner seltsamen langen Hände ohne weiteres auf, fast ohne die übliche Schwerfälligkeit eines Planetariers. Miles war sich sicher, dass der Quaddie dies bemerkte. »Umpf.« Gupta blickte die Schar der Zuschauer etwas verlegen an, dann hob er seinen weiten Poncho hoch. Er streckte sich und atmete ein, die Rippen an seiner großen gewölbten Brust traten auseinander, Hautlappen teilten sich und gaben rote Schlitze frei. Die darunter liegende Substanz schien schwammig zu sein und kräuselte sich wie dicht aneinander liegende Federn. Allmächtiger! Er hat da drunter wirklich Kiemen! Ver279
mutlich half die blasebalgartige Bewegung der Brust Wasser hindurchzupumpen. wenn der Amphibier untergetaucht war. Ein zweifaches System. Hörte er dann zu atmen auf, oder schlossen sich seine Lungen unwillkürlich? Durch welchen Mechanismus schaltete sein Blutkreislauf von der einen mit Sauerstoff anreichernden Schnittstelle auf die andere um? Gupta pumpte mit der Flasche und sprühte einen Nebel in die roten Schlitze, er führte sie hin und her und von rechts nach links, und es schien ihm Erleichterung zu verschaffen. Er seufzte, und die Schlitze schlossen sich wieder, seine Brust schien lediglich von Wülsten und Narben überzogen zu sein. Zum Schluss zog er den Poncho wieder zurecht. »Woher stammen Sie?«, sah sich Miles gedrängt zu fragen. Gupta wurde wieder mürrisch. »Raten Sie mal.« »Nun, von Jackson’s Whole, nach der Last der Beweise, aber welches Haus hat Sie hervorgebracht? Ryoval, Bharaputra, oder ein anderes? Und waren Sie eine Einzelausführung oder Teil einer Reihe? In der ersten Generation genmanipuliert oder aus einer sich selbst vermehrenden Linie von … von Wasserleuten?« Gupta riss überrascht die Augen auf. »Sie kennen Jackson’s Whole?« »Sagen wir mal, ich habe dem Planeten einige schmerzvoll lehrreiche Besuche abgestattet.« In Guptas Überraschung mischte sich ein leiser Respekt und eine gewisse einsame Erwartung. »Das Haus Dyan hat mich hervorgebracht. Ich war einmal Teil eines Sets – wir waren eine Unterwasser-Balletttruppe.« 280
»Sie waren Tänzer?«, platzte Granat Fünf überrascht heraus. Der Gefangene zog die Schultern hoch. »Nein. Ich war für die Unterwasser-Bühnenmannschaft bestimmt. Doch das Haus Dyan erlebte eine feindliche Übernahme durch das Haus Ryoval – bloß ein paar Jahre, bevor Baron Ryoval ermordet wurde, schade, dass das nicht früher geschah. Ryoval löste die Truppe zugunsten anderer Aufgaben auf und kam zu dem Schluss, dass er für mich keine anderweitige Verwendung hatte, sodass ich ohne Arbeit und ohne Schutz war. Naja, es hätte noch schlimmer sein können. Er hätte mich behalten können. Ich ließ mich treiben und nahm verschiedene Technikerjobs an, die ich bekommen konnte. Eines führte zum anderen.« Mit anderen Worten, Gupta war in eine jacksonische Techno-Leibeigenschaft geboren und dann auf die Straße gesetzt worden, als seine ursprünglichen Schöpfer und Besitzer von ihrem skrupellosen kommerziellen Rivalen geschluckt worden waren. Angesichts dessen, was Miles von dem verstorbenen zwielichtigen Baron Ryoval wusste, war Guptas Schicksal vielleicht glücklicher gewesen als das seiner Unterwasser-Kollegen. Nach dem bekannten Zeitpunkt von Ryovals Tod zu schließen, bezog sich diese letzte vage Bemerkung, dass eines zum anderen führte, auf einen Zeitraum von mindestens fünf, vielleicht auch zehn Jahren. »Sie haben also gestern nicht auf mich geschossen«, sagte Miles nachdenklich. »Und nicht auf Hafenmeister Thorne.« Dann blieb nur noch … Gupta blinzelte ihn an. »Ach so! Da habe ich Sie also schon einmal gesehen. Tut mir Leid, nein.« Er furchte die 281
Stirn. »Was haben Sie denn dann dort getan? Sie sind doch keiner von den Passagieren. Sind Sie auch so ein Einwanderer auf der Station wie dieser verdammte übereifrige Betaner?« »Nein. Mein Name ist«, er traf eine spontane, fast unterschwellige Entscheidung, alle Titel fallen zu lassen, »Miles. Ich wurde ausgeschickt, mich um barrayaranische Belange zu kümmern, als die Quaddies die komarranische Flotte beschlagnahmten.« »Aha.« Gupta verlor das Interesse an ihm. Wo zum Teufel blieb eigentlich das Schnell-Penta? Miles dämpfte seine Stimme. »Was ist denn mit Ihren Freunden passiert, Guppy?« Das weckte wieder die Aufmerksamkeit des Amphibiers. »Man hat sie reingelegt. Unterworfen, injiziert, infiziert … verworfen. Wir wurden alle eingewickelt. Verdammter cetagandanischer Mistkerl. Das war nicht abgemacht.« Etwas in Miles schaltete auf Schongang. Hier ist endlich die Verbindung. Sein Lächeln wurde bezaubernd, mitfühlend, und seine Stimme wirkte noch sanfter. »Erzählen Sie mir von dem cetagandanischen Mistkerl. Guppy.« Die Schar der Quaddie-Zuhörer hatte aufgehört zu rascheln und atmete sogar ruhiger. Roic hatte sich an eine Stelle im Schatten gegenüber Miles zurückgezogen. Gupta blickte auf die Leute von der Station Graf, dann auf Miles und sich selbst, die jetzt als einzige Personen mit Beinen in der Mitte des Kreises zu sehen waren. »Was bringt das?« Der Ton war nicht ein Aufheulen der Verzweiflung, sondern eine bittere Frage. »Ich bin Barrayaraner. Ich habe ein besonderes Interesse 282
an cetagandanischen Mistkerlen. Die cetagandanischen Ghem-Lords haben fünf Millionen Menschen aus der Generation meines Großvaters tot zurückgelassen, als sie schließlich aufgaben und von Barrayar abzogen. Ich habe noch meines Großvaters Beutel mit Ghem-Skalps. Für eine bestimmte Art von Cetagandanern wüsste ich vielleicht eine Verwendung, die Sie interessant finden würden.« Der umherschweifende Blick des Gefangenen blieb an Miles hängen und heftete sich auf sein Gesicht. Zum ersten Mal hatte Miles Guptas vollkommene Aufmerksamkeit gewonnen. Zum ersten Mal hatte er angedeutet, dass er vielleicht etwas hatte, das Guppy wirklich haben wollte. Haben wollte? Nach dem er brannte, gelüstete, mit einem verrückten besessenen Hunger gierte. Seine glasigen Augen verrieten einen Heißhunger nach … vielleicht Rache, vielleicht Gerechtigkeit – auf jeden Fall nach Blut. Aber dem Froschkönig fehlten sichtlich persönliche Kenntnisse auf dem Gebiet der Vergeltung. Die Quaddies befassten sich nicht mit Blut. Die Barrayaraner … hatten eine blutigere Reputation. Die – zum ersten Mal im Verlauf dieser Mission – sich tatsächlich von einem gewissen Nutzen erweisen könnte. Gupta holte tief Luft. »Ich weiß nicht, was für einer das war. Ist. Er war ganz anders als alle, denen ich jemals zuvor begegnet bin. Ein cetegandanischer Mistkerl. Er hat uns weggeschmolzen.« »Erzählen Sie mir alles«, hauchte Miles. »Warum Sie?« »Er kam zu uns … über unsere gewöhnlichen Frachtagenten. Wir dachten, es wäre in Ordnung. Wir hatten ein Schiff. Gras-Grace und Firka und Hewlet und ich besaßen 283
dieses Schiff. Hewlet war unser Pilot, aber Gras-Grace war das Gehirn. Ich hatte ein Talent, Sachen zu reparieren. Firka führte die Bücher und kümmerte sich um Vorschriften und Pässe und neugierige Beamte. Gras-Grace und ihre drei Ehemänner, so nannten wir uns. Wir waren eine Ansammlung von Ausschuss, aber vielleicht bildeten wir zusammengenommen einen wirklichen Gatten für sie. Ich weiß es nicht. Einer für alle und alle für einen, denn es war verdammt sicher, dass eine Mannschaft flüchtiger Jacksonier ohne Haus oder Baron im Rücken von niemandem sonst im Nexus eine Chance bekommen würde.« Gupta erregte sich, wahrend er seine Geschichte erzählte. Miles. der mit äußerster Sorgfalt zuhörte, hoffte, dass Venn so vernünftig sein würde, ihn nicht zu unterbrechen. Zehn Leute schwebten in dem Raum, doch er und Gupta, gegenseitig hypnotisiert von der zunehmenden Intensität des Geständnisses des Amphibiers, hätten fast in einer eigenen Blase aus Zeit und Raum schweben können, getrennt von diesem Universum. »Also, wo haben Sie denn diesen Cetagandaner und seine Fracht überhaupt aufgenommen?« Gupta blickte überrascht auf. »Sie wissen von der Fracht?« »Wenn es dieselbe ist, die sich jetzt auf der Idris befindet, dann ja. Ich habe einen Blick darauf geworfen. Ich fand sie ziemlich beunruhigend.« »Was hat er wirklich da drinnen? Ich habe sie nur von außen gesehen.« »Ich möchte es zu diesem Zeitpunkt lieber nicht sagen. Was hat er Ihnen darüber gesagt?« »Gentechnisch veränderte Säugetiere. Nicht, dass wir 284
Fragen gestellt hätten. Wir wurden dafür extra bezahlt, dass wir keine Fragen stellten. Das war die Abmachung, dachten wir.« Und wenn es etwas gab, was die ethisch flexiblen Bewohner von Jackson’s Whole für nahezu heilig hielten, so war es die Abmachung. »Ein guter Handel, oder?« »Es sah so aus. Zwei oder drei Fahrten mehr wie diese, dann hätten wir das Schiff abbezahlt gehabt und es hätte ohne Einschränkungen und eindeutig uns gehört.« Miles gestattete sich in dieser Hinsicht einen Zweifel, wenn die Mannschaft sich für ihr Sprungschiff bei einem typischen jacksonischen Finanzhaus verschuldet hatte. Aber vielleicht waren Guppy und seine Freunde hoffnungslose Optimisten gewesen. Oder hoffnungslos verzweifelt. »Der Auftrag sah einfach genug aus. Wir sollten nur eine kleine Fahrt mit gemischter Fracht durch die Randbezirke des cetagandanischen Reiches unternehmen. Wir sprangen durch die Hegen-Nabe hinein, über Vervain, und dann weiter nach Rho Ceta. All diese arroganten, misstrauischen Mistkerle von Inspektoren, die an den Sprungpunkten zu uns an Bord kamen, konnten uns nichts vorwerfen, obwohl sie es gerne getan hätten, weil nichts anderes an Bord war, als was unser Ladeverzeichnis aufführte. Der alte Firka hatte da was zu kichern. Bis wir zu den letzten Sprüngen starteten, nach Rho Ceta durch diese leeren Puffersysteme, kurz bevor die Route nach Komarr abzweigt. Wir machten dort ein kleines Rendezvous mitten im Raum, das nicht auf unserem Flugplan erschien.« »Mit was für einem Schiff hatten Sie da ein Rendezvous? Mit einem Sprungschiff? Oder war das nur ein Lo285
kalraumkriecher? Konnten Sie es sicher erkennen, oder war es getarnt oder camoufliert?« »Es war ein Sprungschiff. Ich weiß nicht, was es sonst wirklich gewesen sein sollte. Es sah aus wie ein cetagandanisches Regierungsschiff. Es trug auf jeden Fall eine Menge kunstvoller Markierungen. Es war nicht groß, aber schnell – fabrikneu und nobel. Der cetagandanische Mistkerl beförderte seine Fracht ganz alleine, mit Schwebepaletten und Handtraktoren, aber er vergeudete gewiss keine Zeit. In dem Moment, als die Schleusen geschlossen waren, flogen sie los.« »Wohin? Konnten Sie das erkennen?« »Nun, Hewlet sagte, sie hätten eine seltsame Flugbahn. Es war in diesem unbewohnten binären System ein paar Sprünge entfernt von Rho Ceta, ich weiß nicht, ob Sie es kennen …« Miles nickte aufmunternd. »Sie flogen einwärts, tiefer hinein in das Gravitationsloch. Vielleicht planten sie, um die beiden Sonnen herumzuschwenken und sich einem der Sprungpunkte auf einer versteckten Flugbahn zu nähern. Ich weiß es nicht. Das würde einen Sinn ergeben, in Anbetracht alles Übrigen.« »Nur der eine Passagier?« »Ja.« »Erzählen Sie mir mehr von ihm.« »Da gab es nicht viel zu erzählen – damals. Er blieb für sich, aß seine eigenen Rationen in seiner Kabine. Mit mir hat er überhaupt nicht gesprochen. Er musste mit Firka reden, weil Firka ja sein Ladeverzeichnis ausstellte. Zu der Zeit, als wir die erste barrayaranische Sprungpunkt286
inspektion erreichten, hatte die Fracht einen völlig neuen Ursprung. Da war auch er jemand anderer.« »Ker Dubauer?« Venn zuckte bei dieser ersten Erwähnung des bekannten Namens in seiner Hörweite zusammen, öffnete den Mund und holte Luft, aber dann machte er ihn wieder zu, ohne Guppys Gesprächsfluss abzulenken. Der unglückliche Amphibier war jetzt in voller Fahrt und sprudelte seinen Ärger hervor. »Noch nicht, da war er es noch nicht. Er muss während seines Aufenthaltes auf der komarranischen Transferstation Dubauer geworden sein, meine ich. Ich habe seine Identität sowieso nicht aufklären können, dafür war er einfach zu gut. Er hat euch Barrayaraner getäuscht, nicht wahr?« In der Tat. Ein offensichtlicher cetagandanischer Agent von höchstem Kaliber war wie Rauch durch Barrayars Schlüsselpunkt im Nexushandel hindurchgezogen. Der KBS würde Anfälle bekommen, wenn dieser Bericht eintraf. »Wie sind Sie ihm hierher gefolgt?« Der erste Anflug von einem Lächeln huschte über die Lippen in Guptas gummiartigem Gesicht. »Ich war der Schiffstechniker. Ich habe ihn nach der Masse seiner Fracht aufgespürt. Die war irgendwie unverwechselbar, als ich später ging und nachschaute.« Das verzerrte Lächeln ging in düstere Blicke über. »Als wir ihn und seine Paletten an der Ladebucht der komarranischen Transferstation absetzten, schien er glücklich zu sein. Ausgesprochen herzlich. Er ging zum ersten Mal zu jedem von uns und überreichte uns persönlich unsere Boni dafür, dass es keine Probleme gegeben hatte. Er schüttelte 287
Hewlet und Firka die Hand. Er wollte meine Schwimmhäute sehen, und so spreizte ich meine Finger für ihn, und er beugte sich vor und fasste mich am Arm und schien wirklich interessiert zu sein, und er dankte mir. Er tätschelte Gras-Grace die Wange und lächelte sie so glücklich an. Er grinste, als er sie berührte. Wissend. Da sie den Bonusbon in der Hand hielt, erwiderte sie irgendwie sein Lächeln, anstatt ihm eine zu verpassen, obwohl ich sah, dass sie nahe daran war. Und dann stiegen wir aus. Hewlet und ich wollten Urlaub auf der Station nehmen und etwas von unserem Bonus ausgeben, aber Gras-Grace sagte, wir könnten später noch feiern, und Firka sagte, das barrayaranische Reich sei kein gesunder Ort für Leute wie uns, um dort zu verweilen.« Ein verwirrtes Lachen, das nichts mit Humor zu tun hatte, kam von seinen Lippen. Also, dieser erstaunliche Schrei, den Guppy ausgestoßen hatte, als Miles das Testpflaster auf die Haut des Amphibiers legte, war keine Überreaktion, sondern ein Flashback gewesen. Miles unterdrückte ein Schaudern. Tut mir Leid, tut mir Leid. »Es war sechs Tage nach Komarr, nach dem Sprung nach Pol, als das Fieber begann. Gras-Grace ahnte es als Erste, von der Art, wie es begann. Sie war immer die Schnellste von uns. Vier kleine rosafarbene Schwielen, wie eine Art Wanzenbiss, auf Hewlets und Firkas Handrücken, auf ihrer Wange, auf meinem Arm, wo der cetagandanische Mistkerl mich berührt hatte. Sie schwollen an, bis sie so groß waren wie Eier, und in ihnen war ein pochender Schmerz, allerdings nicht so stark wie in unseren Köpfen. Es dauerte nur eine Stunde. Mein Kopf tat so weh, dass ich kaum sehen konnte, und Gras-Grace, der es nicht besser 288
ging, half mir in meine Kabine, sodass ich in meinen Tank konnte.« »Tank?« »Ich hatte einen großen Tank in meiner Kabine aufgebaut, mit einem Deckel, den ich von der Innenseite her zuschließen konnte, weil die Gravitation auf diesem alten Schiff nicht sonderlich zuverlässig war. Darin konnte ich wirklich bequem ruhen, in meiner eigenen Art von Wasserbett. Ich konnte mich ganz ausstrecken und umdrehen. Dank einem guten Filtersystem gab es gutes und sauberes Wasser, und von einem Trinkwasserbrunnen, den ich eingebaut hatte, sprudelte zusätzlicher Sauerstoff auf, dazu noch hübsche bunte Lichter. Und Musik. Mir fehlt mein Tank.« Er stieß einen Seufzer aus. »Sie … scheinen auch Lungen zu haben. Halten Sie unter Wasser die Luft an, oder wie geht das?« Gupta zuckte die Achseln. »Ich habe extra Schließmuskeln in Nase, Ohren und Kehle, die sich automatisch schließen, wenn meine Atmung umschaltet. Das ist immer ein etwas unangenehmer Augenblick, dieses Umschalten; meine Lungen scheinen nicht immer aufhören zu wollen. Oder wieder anfangen, manchmal. Aber ich kann nicht immerzu in meinem Tank bleiben, sonst würde ich am Ende in das Wasser pinkeln, durch das ich atme. Das ist damals passiert. Ich schwebte stundenlang in meinem Tank. Ich weiß nicht, wie lange. Ich glaube, ich war nicht ganz bei Verstand, so starke Schmerzen hatte ich. Doch dann musste ich pinkeln. Wirklich dringend. Also musste ich heraussteigen. Ich wurde fast ohnmächtig, als ich wieder stand. Ich 289
übergab mich auf den Boden. Aber ich konnte gehen. Ich schaffte es schließlich bis zur Stirnseite meiner Kabine. Das Schiff funktionierte noch, ich konnte die Vibrationen durch meine Füße spüren, aber es war ganz still geworden. Niemand sprach oder stritt oder schnarchte, es gab keine Musik. Kein Gelächter. Mir war kalt, ich war nass. Ich zog ein Gewand an – es war eines von Gras-Grace, die es mir gegeben hatte, weil sie behauptete, dick zu sein heize ihr ein, und ich war immer zu kalt. Sie sagte, es liege daran, dass meine Schöpfer mir Froschgene gegeben hatten. Nach allem, was ich weiß, könnte das wahr sein. Ich fand ihre Leiche …«Er hielt inne: der Blick in seinen Augen wurde intensiver. »Etwa fünf Schritte den Korridor hinunter. Zumindest dachte ich, dass sie es sei. Es war ihr Zopf, er schwamm auf dem … Zumindest dachte ich, es sei ihre Leiche. Die Größe der Pfütze schien ungefähr zu stimmen. Es stank wie … Welche Art von verfluchter Krankheit macht Knochen flüssig?« Er holte Luft und fuhr unsicher fort: »Firka hatte es noch bis zur Krankenstation geschafft, und was hat es ihm genutzt? Er war ganz schlaff, als würde die Luft aus ihm entweichen. Und er tropfte. Über den Rand des Krankenbettes. Er stank noch schlimmer als Gras-Grace. Und er dampfte. Hewlet – oder was von ihm übrig war – befand sich in seinem Pilotensessel im Navigationsraum. Ich weiß nicht, warum er dort hinaufgekrochen war, vielleicht war es ein Trost für ihn. Piloten sind seltsam in dieser Hinsicht. Sein Pilotenkopfaggregat hielt irgendwie seinen Schädel aufrecht, aber sein Gesicht … seine Gesichtszüge … sie 290
rutschten einfach herunter. Ich dachte, er hätte vielleicht versucht, eine Notfallnachricht abzuschicken. Helfen Sie uns. Biokontamination an Bord! Aber vielleicht auch nicht, denn es kam niemand. Später dachte ich, er hätte vielleicht zu viele Nachrichten geschickt, und die Retter blieben absichtlich weg. Warum sollten die braven Bürger für uns etwas riskieren? Wir waren doch bloß jacksonischer Schmugglerabschaum. War doch besser, wenn solche Leute tot waren. Sparte einem die Scherereien und die Kosten der Strafverfolgung, oder?« Jetzt schaute er keinen an. Miles fürchtete, Gupta würde jetzt schweigen, sei erschöpft. Aber da war noch so vieles, das verzweifelt wichtig war zu wissen … Er wagte es, einen Trumpf auszuspielen. »Also, ehrlich, da waren Sie also, gefangen auf einem dahintreibenden Schiff mit drei sich auflösenden Leichen, ein toter Sprungpilot eingeschlossen. Wie sind Sie denn da weggekommen?« »Das Schiff … das Schiff war jetzt für mich nicht mehr von Nutzen, nicht ohne Hewlet und die anderen. Sollen doch die Mistkerle von Finanziers es haben, mit der Biokontamination und allem anderen. Ermordete Träume. Aber ich stellte mir damals vor, ich sei der Erbe von allen. Niemand hatte sonst jemanden. Ich hätte nicht gewollt, dass sie meine Sachen bekommen, wenn es andersherum gegangen wäre. Ich ging herum und sammelte die Habseligkeiten von allen ein, das übrige Bargeld, die Kreditbriefe – Firka hatte ein riesiges geheimes Geldversteck. Ja, das war seine Art. Und er hatte alle unsere gefälschten Ausweise. Gras-Grace, nun ja. sie gab ihr Geld vielleicht weg oder verlor es beim Spiel oder gab es für Spielzeug aus oder ließ 291
es irgendwie durch ihre Finger rinnen. Was sie auf lange Sicht gesehen klüger machte als Firka. Hewlet hat das meiste vertrunken, vermute ich. Aber es war genug. Genug, um bis an die Enden des Nexus zu reisen, wenn ich klug damit umging. Genug, um diesen cetagandanischen Mistkerl einzuholen, ob ich nun ernsthaft jagte oder nicht. Mit dieser schweren Fracht würde er nicht so schnell reisen, stellte ich mir vor. Ich nahm alles und lud es in eine Fluchtkapsel. Dekontaminierte zuerst alles und mich, ein Dutzend Mal, und versuchte diesen schrecklichen Geruch des Todes loszuwerden. Ich war nicht … Ich glaube, ich war nicht gerade in bester und vernünftigster Verfassung, aber ganz so weit weggetreten war ich auch nicht. Als ich mich in der Kapsel befand, war es gar nicht so schwer. Man hat sie konstruiert, damit sie verletzte Idioten in Sicherheit bringt, indem sie automatisch den Funkfeuern der Lokalräume folgt … Drei Tage später wurde ich von einem vorüberkommenden Schiff aufgesammelt und erzählte einen Scheiß von wegen, unser Schiff falle auseinander – sie glaubten es, als sie im jacksonischen Schiffsregister nachschauten. Inzwischen hörte ich auf zu weinen.« Jetzt glitzerten Tränen in seinen Augenwinkeln. »Den Bio-Scheiß erwähnte ich nicht, sonst hätten sie mich für immer ins Loch gesteckt. Sie setzten mich auf der nächsten polianischen Sprungpunktstation ab, Von dort entwischte ich den Sicherheitsermittlern und begab mich auf das erste Schiff nach Komarr, das ich bekommen konnte. Ich spürte die Fracht des cetagandanischen Mistkerls auf, nach ihrer Masse im Verhältnis zu der komarranischen Handelsflotte, die gerade ausgelaufen war. 292
Ich startete eine Suche, um eine Route zu finden, wo ich ihn am ersten möglichen Ort einholen würde. Und das war hier.« Er schaute sich um und blinzelte seiner QuaddieZuhörerschaft zu, als wäre er überrascht, sie alle noch hier im Raum zu finden. »Wie ist Leutnant Solian in die ganze Geschichte geraten?« Mit zum Zerreißen gespannten Nerven hatte Miles gewartet, diese Frage stellen zu können. »Ich dachte, ich könnte einfach abwarten und den cetagandanischen Mistkerl aus dem Hinterhalt überfallen, sobald er von der Idris kam. Aber er ging nie von Bord. Er blieb vermutlich in seiner Kabine verkrochen. Ein schlauer Abschaum! Ich konnte nicht durch den Zoll oder die Schiffssicherheit hindurchkommen – ich war kein registrierter Passagier und auch kein Gast von einem, obwohl ich ein paar zu schmieren versuchte. Ich bekam eine Mordsangst, als der Kerl, den ich bestechen versuchte, damit er mich an Bord brächte, damit drohte, er werde mich melden. Dann wurde ich schlau und beschaffte mir eine Koje an Bord der Rudra, damit ich wenigstens legalen Zutritt vorbei am Zoll zu den Ladebuchten bekam. Und um sicher zu sein, dass ich in der Lage sein würde, mitzureisen, falls die Flotte plötzlich abflog, denn sie war da schon überfällig. Ich wollte ihn selbst umbringen, für Gras-Grace und Firka und Hewlet, aber wenn er davonkommen sollte, dann dachte ich, wenn ich ihn vielleicht den Barrayaranern als einen cetagandanischen Spion melden würde … etwas Interessantes wurde auf jeden Fall passieren. Etwas, das ihm nicht gefallen würde. Ich wollte nicht meine Spur in den Vid-Ruf-Aufzeichnungen zurücklassen, so schnappte 293
ich mir den Sicherheitsoffizier der Idris höchstpersönlich, als er draußen in der Ladebucht war. Ich gab ihm einen Hinweis. Ich war mir nicht sicher, ob er mir glaubte oder nicht, aber ich vermute, er ging, um es zu überprüfen.« Gupta zögerte. »Er muss diesem cetagandanischen Mistkerl in die Arme gelaufen sein. Es tut mir Leid. Ich fürchte, ich bin schuld daran, dass er geschmolzen wurde. Wie Gras-Grace und …«Seine Litanei endete in einem erschütterten Würgen. »War das, als Solian Nasenbluten hatte? Wo Sie ihm einen Hinweis gaben?«, fragte Miles. Gupta starrte ihn an. »Was sind Sie eigentlich, eine Art Hellseher?« Klar! »Warum das gefälschte Blut auf dem Boden der Andockbucht?« »Nun … ich hatte gehört, dass die Flotte aufbrach. Man sagte, der arme Trottel, der wegen mir geschmolzen worden war, sei vermutlich desertiert, und man werde ihn abschreiben, so als … als hätte er kein Haus oder keinen Baron, der auf ihn setzen würde, und ich würde auf der Rudra festsitzen und der Cetagandaner würde davonkommen … Ich dachte, es würde die Aufmerksamkeit wieder auf die Idris und was darauf sein mochte richten. Ich hatte nicht im Traum daran gedacht, dass diese militärischen Schwachköpfe die Quaddie-Station angreifen würden!« »Es gab da eine Verkettung von Umständen«, sagte Miles steif. Zum ersten Mal in der – wie es schien – kleinen Ewigkeit heraufbeschworener Schrecken war ihm bewusst geworden, dass sich hier etliche Quaddie-Amtsträger um sie drängten. »Sie haben sicherlich Ereignisse ausgelöst«, 294
sagte er zu dem Amphibier, »aber Sie konnten sie nicht vorausgesehen haben.« Dann blinzelte auch er und schaute sich um: »Äh … hatten Sie Fragen. Chef Venn?« Venn schaute ihn höchst sonderbar an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Äh …« Ein junger Quaddie-Polizist, der – von Miles kaum bemerkt – während Guppys eindringlichem Monolog hereingekommen war, hielt seinem Chef ein kleines, glitzerndes Ding hin. »Ich habe die Schnell-Penta-Dosis, die Sie bestellt haben, Sir …« Venn nahm es und blickte hinüber zu Richter Leutwyn. Leutwyn räusperte sich. »Bemerkenswert. Ich glaube, Lord Auditor Vorkosigan. dies ist das erste Mal, dass ich erlebt habe, wie eine Schnell-Penta-Vernehmung ohne Schnell-Penta durchgeführt wurde.« Miles blickte auf Guppy, der sich in der Luft zusammenrollte und etwas zitterte. Wasserspuren glitzerten noch in seinen Augenwinkeln. »Er … wollte wirklich jemandem seine Geschichte erzählen. Darauf hat er schon seit Wochen gebrannt. Es gab nur im ganzen Nexus niemanden, dem er vertrauen konnte.« »Es gibt immer noch keinen.« Der Gefangene schluckte. »Blasen Sie sich bloß nicht auf, Sie Barrayaraner. Ich weiß, dass niemand auf meiner Seite ist. Aber ich habe mit meinem einen Schuss danebengetroffen, und er hat mich gesehen. Ich war sicher, solange er meinte, ich sei geschmolzen wie die anderen. Jetzt bin ich ein toter Frosch, so oder so. Aber wenn nicht ich ihn mit mir nehmen kann, dann kann es vielleicht ein anderer.«
295
13 »Also …«. sagte Chef Venn, »dieser cetagandanische Bastard, von dem Gupta hier erzählt und sagt, er habe drei seiner Freunde getötet und vielleicht Ihren Leutnant Solian – Sie glauben wirklich, dass dies dieselbe Person ist wie der betanische Durchreisende Dubauer, von dem Sie letzte Nacht wollten, dass wir ihn aufgreifen? Was ist er denn nun, ein Hermaphrodit oder ein Mann oder was?« »Oder was«, antwortete Miles. »Meine Mediziner haben aus einer Blutprobe, die ich gestern glücklicherweise aufsammeln konnte, nachgewiesen, dass es sich bei Dubauer um einen cetagandanischen Ba handelt. Die Ba sind weder männlich noch weiblich oder hermaphroditisch, sondern eine geschlechtslose Diener … kaste – ja. das ist vermutlich das beste Wort – der cetagandanischen Haud-Lords. Genauer gesagt, der Haud-Ladys, die die Sternenkrippe betreiben, im Zentrum des Himmlischen Gartens, der kaiserlichen Residenz auf Eta Ceta.« Und die fast nie den Himmlischen Garten ohne ihre Ba-Diener verließen. Was treibt also dieser Ba hier draußen? Miles zögerte, dann fuhr er fort: »Dieser Ba scheint eine Fracht von tausend der – wie ich vermute – neuesten genetisch veränderten HaudFöten in Uterus-Replikatoren mit sich zu führen. Ich weiß nicht wo. ich weiß nicht wie, und ich weiß nicht für wen. aber wenn Guppy uns die Wahrheit erzählt hat. dann hat dieser Ba vier Leute umgebracht, unseren vermissten Sicherheitsoffizier eingeschlossen, und er hat versucht, Guppy zu töten, um sein Geheimnis zu bewahren und seine Spuren zu verwischen.« Mindestens vier Leute. 296
Greenlaws Gesicht war in Bestürzung erstarrt. Venn betrachtete Gupta und runzelte die Stirn. »Vermutlich sollten wir dann lieber einen öffentlichen Haftbefehl für Dubauer ausgeben.« »Nein!«, rief Miles erschrocken. Venn blickte ihn an und zog die Augenbrauen hoch. »Wir sprechen über einen möglichen ausgebildeten cetagandanischen Agenten«, erklärte Miles schnell, »der vielleicht komplizierte Biowaffen bei sich trägt. Er ist schon äußerst gestresst durch die Verzögerungen, in die dieser Disput mit der Handelsflotte ihn gestürzt hat. Gerade hat er entdeckt, dass er zumindest einen schlimmen Fehler begangen hat, weil Guppy noch am Leben ist. Mir ist es egal, wie übermenschlich er ist, aber er muss inzwischen durcheinander sein. Das Letzte, was Sie tun wollen, ist, einen Haufen argloser Zivilisten gegen ihn loszuschicken. Niemand sollte sich dem Ba nähern, der nicht genau weiß, was er tut und mit wem er es zu tun hat.« »Und Ihre Leute haben diese Kreatur hierher gebracht, auf meine Station?« »Glauben Sie mir, wenn jemand von meinen Leuten schon früher gewusst hätte, was der Ba ist, dann hätte er es nicht an Komarr vorbei geschafft. Die Leute von der Handelsflotte sind auf ihn hereingefallen, sie sind unschuldige Transporteure, dessen bin ich mir sicher.« Nun ja, so sicher war er sich dessen nicht – die Überprüfung dieser leichtfertigen Behauptung würde ein Problem von hoher Priorität für die Spionageabwehr zu Hause darstellen. »Transporteure, Träger …«, wiederholte Greenlaw und blickte streng auf Guppy. Alle Quaddies im Raum folgten 297
ihrem Blick. »Könnte dieser Durchreisende immer noch Träger dieser … was immer es war, dieser Infektion sein?« Miles holte Luft. »Möglicherweise. Aber wenn er es ist, dann ist es bereits verdammt zu spät. Guppy ist inzwischen tagelang auf der ganzen Station herumgelaufen. Zum Teufel, wenn er ansteckend ist, dann hat er schon eine Seuche entlang einer Route durch den Nexus verbreitet, die ein halbes Dutzend Planeten berührt.« Und mich. Und meine Flotte. Und vielleicht auch Ekaterin. »Ich sehe zwei Hoffnungsschimmer. Zum einen musste der Ba nach Guppys Aussage das Ding durch tatsächliche Berührung anbringen.« Die Polizisten, die den Gefangenen angefasst hatten, blickten einander betroffen an. »Und zweitens«, fuhr Miles fort, »wenn die Krankheit oder das Gift etwas ist, das auf biotechnischem Weg von der Sternenkrippe hergestellt wurde, dann ist es wahrscheinlich höchst kontrolliert, möglicherweise absichtlich selbstbeschränkend und selbstzerstörend. Die Haud-Ladys lassen ihren Müll nicht gerne herumliegen, damit ihn dann irgendjemand aufheben kann.« »Aber mir geht es jetzt besser!«, rief der Amphibie. »Ja«, erwiderte Miles. »Warum? Offensichtlich hat etwas in Ihrer einzigartigen Genetik entweder das Ding besiegt oder es lange genug in Schach gehalten, um Sie über die Periode seiner Aktivität hinaus am Leben zu halten. Sie in Quarantäne zu stecken ist inzwischen nutzlos, aber die nächst höchste Priorität nach der Festsetzung des Ba muss sein, Sie durch die medizinische Mangel laufen zu lassen, um zu sehen, ob das, was Sie haben oder hatten, jemand 298
anderen auch retten kann.« Miles holte Luft. »Darf ich die Einrichtungen der Prinz Xav anbieten? Unser medizinisches Personal verfügt über einige spezifische Ausbildung bezüglich cetagandanischer Bio-Bedrohungen.« »übergeben Sie mich nicht diesen Leuten!«, appellierte Guppy in Panik an Venn gerichtet. »Die werden mich sezieren!« Venn, dessen Gesicht sich bei diesem Angebot aufgehellt hatte, warf dem Gefangenen einen verärgerten Blick zu, doch Greenlaw sagte langsam: »Ich weiß etwas über die Ghem und die Haud, aber ich habe nie von diesen Ba oder von der Sternenkrippe gehört.« »Cetagandaner welchen Schlages auch immer«, fügte Richter Leutwyn vorsichtig hinzu, »sind mir bisher nicht viele über den Weg gelaufen.« »Was lässt Sie glauben, die Arbeit der Haud-Ladys sei so sicher, so beschränkt?«, fuhr Greenlaw fort. »Sicher, nein. Kontrolliert, vielleicht.« Wie weit musste er seine Erklärung untermauern, um ihnen die Gefahr klar zu machen? Es war lebenswichtig, dass man die Quaddies dazu brachte, zu verstehen und zu glauben. »Die Cetagandaner … haben diese zweischichtige Aristokratie, die alle nicht-cetagandanischen militärischen Beobachter verwirrt. Den Kern bilden die Haud-Lords, die tatsächlich ein gigantisches genetisches Experiment in der Hervorbringung einer nachmenschlichen Spezies darstellen. Diese Arbeit wird von den Haud-Genetikerinnen der Sternenkrippe geführt und kontrolliert, und diese Sternenkrippe ist das Zentrum, wo alle Haud-Embryos geschaffen und modifiziert werden, bevor sie zu ihren Haud-Konstellationen – Clans, 299
Eltern – auf den entlegenen Planeten des Reiches zurückgeschickt werden. Anders als die meisten früheren historischen Versionen eines solchen Vorhabens begannen die Haud-Ladys nicht mit der Annahme, sie hätten schon das vollkommene Ziel erreicht. Derzeit glauben sie nicht, dass sie mit ihrer Bastelei schon fertig sind. Wenn sie es einmal sind – nun, wer weiß, was dann geschehen wird? Was werden die Ziele und Wünsche der wahren Posthumanen sein? Selbst die Haud-Ladys versuchen nicht, ihre Ur-ur-ur-wasauch-immer-Enkel vorauszusehen. Ich möchte sagen, es ist ungemütlich, sie zu Nachbarn zu haben.« »Haben die Haud nicht einmal versucht, Ihr Barrayar zu erobern?«, fragte Leutwyn. »Nicht die Haud. Die Ghem-Lords. Die Pufferrasse, wenn Sie so wollen, zwischen den Haud und dem Rest der Menschheit. Vermutlich könnte man sich die Ghem als die Bastardkinder der Haud vorstellen, außer dass sie keine Bastarde sind. Jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne, die Haud lassen ausgewählte genetische Linien in die Ghem durchsickern, und zwar über Haud-Ehefrauen, welche die Ghem quasi als Trophäen bekommen – es ist ein kompliziertes System. Aber die Ghem-Lords sind der militärische Arm des Kaiserreichs, immer erpicht darauf, ihren Herren, den Haud, ihre Würdigkeit zu beweisen.« »Die Ghem, die habe ich gesehen«, sagte Venn. »Ab und zu kommen sie hier bei uns durch. Ich dachte, die Haud wären, nun ja, irgendwie degeneriert. Aristokratische Parasiten. Und sie hätten Angst, sich die Hände schmutzig zu machen. Sie arbeiten nicht.« Er rümpfte sehr quaddiehaft geringschätzig die Nase. »Oder kämpfen. Man muss 300
sich fragen, wie lange die Ghem-Krieger sich das von ihnen bieten lassen.« »Oberflächlich gesehen scheinen die Haud die Ghem durch reine moralische Überzeugung zu dominieren. Einzuschüchtern durch ihre Schönheit und Intelligenz und Kultiviertheit, und indem sie sich zur Quelle aller möglichen Arten von Statusbelohnungen machen, die in den Haud-Ehefrauen gipfeln. All das stimmt. Aber darunter … erhebt sich der starke Verdacht, dass die Haud ein biologisches und biochemisches Arsenal zur Verfügung haben, das selbst die Ghem erschreckend finden.« »Ich habe noch nicht gehört, dass so etwas benutzt wurde«, warf Venn in skeptischem Ton ein. »Oh, sicher haben Sie noch nicht davon gehört.« »Warum haben sie es damals nicht gegen euch Barrayaraner benutzt, wenn sie es doch besaßen?«, fragte Greenlaw langsam. »Das ist ein Problem, das auf bestimmten Ebenen meiner Regierung ausgiebig untersucht wurde und immer noch wird. Erstens hätte es die Nachbarschaft alarmiert. Biowaffen sind nicht die einzigen Waffen. Das Kaiserreich von Cetaganda war anscheinend nicht bereit, sich einem Aufgebot von Leuten zu konfrontieren, die so viel Angst hatten, dass sie sich zusammentaten, um die Planeten der Cetagandaner abzubrennen und jede lebende Mikrobe zu sterilisieren. Noch wichtiger ist: Wir glauben, dass es eine Frage der Ziele war. Die Ghem-Lords wollten das Territorium und den Wohlstand haben, die persönliche Glorifizierung, die auf eine erfolgreiche Eroberung gefolgt wäre. Die Haud-Ladys waren einfach nicht so interessiert daran. 301
Nicht genug, um ihre Ressourcen zu verschwenden – nicht Ressourcen an Waffen per se. sondern an Reputation, Geheimhaltung, an einer stummen Drohung von unbekannter Schlagkraft. Unsere Geheimdienste haben in den letzten dreißig Jahren vielleicht ein halbes Dutzend Fälle von Verdacht auf Anwendung von Biowaffen im Stil der Haud gesammelt, und in jedem Fall handelte es sich um eine innere Angelegenheit der Cetagandaner.« Er blickte Greenlaw in das höchst beunruhigte Gesicht und fügte hinzu, in der Hoffnung, dass es nicht wie eine hohle Beruhigungsformel klang: »Von den Vorfällen, die uns bekannt sind, gab es keine absichtliche oder unabsichtliche Verbreitung von Biosubstanzen.« Venn sah Greenlaw an. »Bringen wir also diesen Gefangenen in eine Klinik oder in eine Zelle?« Greenlaw schwieg eine Weile, dann sagte sie: »In die Universitätsklinik der Station. Direkt zur Isolationseinheit für Infektionen. Ich glaube, wir holen unsere besten Experten auf diesem Gebiet her, und das so schnell wie möglich.« »Aber ich bin ein offenes Ziel!«, widersprach Gupta. »Ich habe den cetagandanischen Bastard gejagt, jetzt wird er mich jagen!« »Ich stimme dieser Einschätzung zu«, sagte Miles schnell. »Wohin auch immer Sie Gupta bringen, die Örtlichkeit sollte absolut geheim gehalten werden. Sogar die Tatsache, dass er verhaftet wurde, sollte unterdrückt werden – lieber Gott, die Nachricht von dieser Verhaftung ist doch noch nicht von Ihren Informationsdiensten verbreitet worden, oder?« Das hätte die Meldung über Guptas Aufent302
haltsort in jeden Winkel der Station trompetet … »Nicht offiziell«, erwiderte Venn unsicher. Das spielte vermutlich kaum eine Rolle. Dutzende von Quaddies hatten gesehen, wie der Mann mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern zu Sicherheitsposten gebracht wurde, eingeschlossen alle Leute, an denen Bels Mannschaft der Schauerleute unterwegs vorbeigekommen war. Die Quaddies von Docks und Schleusen würden sicherlich vor jedem, dem sie begegneten, mit ihrem Fang prahlen. »Dann dränge – nein, bitte! – ich Sie, das Gerücht von seiner tollkühnen Flucht auszustreuen. Zusammen mit nachfolgenden Bulletins, die alle Bürger auffordern, wieder nach ihm Ausschau zu halten.« Der Ba hatte vier Leute getötet, um sein Geheimnis zu wahren – wäre er auch bereit, fünfzigtausend zu töten? »Eine Desinformationskampagne?« Greenlaw schürzte widerwillig die Lippen. »Das Leben eines jeden auf der Station könnte durchaus davon abhängen. Geheimhaltung ist Ihre größte Hoffnung auf Sicherheit. Und auch Guptas Hoffnung. Danach sollten Wachen …« »Meine Leute sind schon bis an ihre Grenzen eingespannt«, protestierte Venn und blickte Greenlaw flehentlich an. Miles machte eine anerkennende Geste. »Keine Polizisten. Wachen, die wissen, was sie tun, ausgebildet in Verfahren der Bioverteidigung.« »Wir werden Spezialisten von der Unionsmiliz anfordern müssen«, erklärte Greenlaw in entschiedenem Ton. 303
»Ich werde die Anforderung losschicken. Aber sie werden … einige Zeit brauchen, bis sie hier sind.« »In der Zwischenzeit«, sagte Miles, »kann ich Ihnen ausgebildetes Personal ausleihen.« Venn verzog das Gesicht. »Ich habe einen Zellenblock voll mit Ihrem Personal. Ich bin nicht sonderlich beeindruckt von dessen Ausbildung.« Miles unterdrückte ein Zucken. »Doch nicht die. Leute von der Sanitätstruppe.« »Ich werde Ihr Angebot in Betracht ziehen«, erwiderte Greenlaw neutral. »Einige von Vorpatrils leitenden Medizinern müssen einige Fachkenntnisse auf diesem Gebiet haben. Wenn Sie schon nicht zulassen, dass wir Gupta hinaus in die Sicherheit eines unserer Schiffe bringen, so lassen Sie doch bitte die Mediziner an Bord der Station kommen, um Ihnen zu helfen.« Greenlaw kniff die Augen zusammen. »In Ordnung. Wir werden bis zu vier solcher Freiwilliger akzeptieren. Unbewaffnet. Unter der direkten Aufsicht und dem Kommando unserer eigenen medizinischen Experten.« »Einverstanden«, sagte Miles sofort. Es war der beste Kompromiss, den er wahrscheinlich vorerst erreichen würde. Das medizinische Ende dieses Problems, so erschreckend es auch war, würde man den Spezialisten überlassen müssen; es befand sich außerhalb Miles’ Erfahrungsbereich. Den Ba zu fangen, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte, jedoch … »Die Haud sind nicht immun gegen Betäuberfeuer. Ich … empfehle«, er konnte nicht befehlen, er konnte nicht 304
verlangen, vor allem konnte er nicht schreien, »alle Ihre Polizisten in Ruhe darüber zu informieren, dass der Ba – Dubauer – ohne Warnung betäubt wird. Sobald er unschädlich gemacht ist, können wir in Ruhe die Dinge klären.« Venn und Greenlaw tauschten Blicke mit dem Richter aus. »Es wäre gegen die Vorschriften«, sagte Leutwyn mit gepresster Stimme, »auf solche Weise dem Verdächtigen aufzulauern, wenn er nicht gerade dabei ist, ein Verbrechen zu begehen, sich der Verhaftung zu widersetzen oder zu fliehen.« »Was ist mit Biowaffen?«, murmelte Venn. Der Richter schluckte. »Stellen Sie verdammt sicher, dass Ihre Polizisten den ersten Schuss nicht verfehlen.« »Ihre Entscheidung ist notiert, Sir.« Und wenn der Ba außer Sicht blieb? Was ihm ja ohne Zweifel während der meisten der vergangenen vierundzwanzig Stunden gelungen war … Was wollte der Ba? Vermutlich seine Fracht freibekommen und Guppy umbringen, bevor er reden konnte. Was wusste der Ba zu diesem Zeitpunkt? Oder was wusste er nicht? Wusste er nicht, dass Miles seine Fracht identifiziert hatte … oder? Wo zum Teufel ist Bel? »Auflauern«, wiederholte Miles. »Es gibt zwei Stellen, wo man dem Ba auflauern könnte. Wohin auch immer Sie Guppy nehmen – oder noch besser, wohin auch immer Sie Guppy nach der Meinung des Ba genommen haben. Wenn Sie nicht das Gerücht ausstreuen wollen, dass er entkommen ist, dann bringen Sie ihn an einen verborgenen Ort und richten einen zweiten, weniger geheimen als Köder ein. Dann noch eine weitere Falle auf der Idris. Falls Du305
bauer um die Erlaubnis bittet, wieder an Bord gehen zu dürfen, was er beim letzten Mal, als wir ihm begegneten, zu tun beabsichtigte, sollten Sie sie ihm gewähren. Anschließend kassieren Sie ihn ein, sobald er die Ladebucht betritt.« »Das wollte ich tun«, warf Gupta mit vorwurfsvoller Stimme ein. »Wenn ihr mich in Ruhe gelassen hättet, dann wäre das alles inzwischen schon vorbei.« Miles stimmte ihm insgeheim zu. aber es würde kaum passen, das laut zu sagen, denn es könnte dann jemanden daraufhinweisen, von wem der Druck ausgegangen war, Gupta zu verhaften. Greenlaw sah auf grimmige Weise nachdenklich drein. »Ich möchte diese angebliche Fracht inspizieren. Es ist möglich, dass sie genug Vorschriften verletzt, um eine Beschlagnahmung völlig getrennt vom Thema des Transportschiffes zu rechtfertigen.« Der Richter räusperte sich. »Das könnte rechtlich kompliziert werden, Eichmeisterin. Noch komplizierter. Eine Fracht, die nicht zum Transfer ausgeladen wird, darf normalerweise – selbst wenn sie fragwürdig ist – ohne rechtliche Kommentierung passieren. Man betrachtet sie als unter der territorialen Verantwortung desjenigen Staates befindlich, bei dem der Transporteur registriert ist, es sei denn, sie stellte eine unmittelbare öffentliche Gefahr dar. Tausend Föten, falls es sich darum handelt, stellen … was für eine Bedrohung dar?« Sie zu beschlagnahmen könnte sich als schreckliche Gefahr erweisen, dachte Miles. Es würde auf jeden Fall die Aufmerksamkeit der Cetagandaner auf den Quaddie-Raum 306
ziehen. Sowohl nach historischer als auch persönlicher Erfahrung wäre das nicht unbedingt etwas Gutes. »Ich möchte das auch für mich bestätigen«, sagte Venn. »Und meinen Wachen die Befehle persönlich geben und herausfinden, wo ich meine Scharfschützen aufstelle.« »Und Sie brauchen mich dabei, um in den Frachtraum zu gelangen«, bemerkte Miles. »Nein, nur Ihre Sicherheitscodes«, erwiderte Greenlaw. Miles lächelte sie höflich an. Sie presste die Kinnbacken zusammen. Dann knurrte sie: »Sehr gut, gehen wir, Venn. Sie auch, Richter. Und«, sie seufzte kurz, »Sie, Lord Auditor Vorkosigan.« Gupta wurde von den beiden Quaddies, die ihn schon zuvor angefasst hatten, in Bioschutzhüllen eingewickelt – eine logische Entscheidung, wenn sie auch den beiden nicht sonderlich gefiel. Sie legten selber Schutzkleidung und Handschuhe an und zogen ihn hinter sich her, ohne ihm zu gestatten, irgendetwas anderes zu berühren. Der Amphibier erduldete dies, ohne zu protestieren. Er wirkte völlig erschöpft. Granat Fünf brach zusammen mit Nicol zu Nicols Apartment auf, wo die beiden Quaddie-Frauen vorhatten, einander beizustehen, wahrend sie auf eine Nachricht von Bel warteten. »Ruf mich an«, bat Nicol Miles leise, als sie hinausschwebten. Miles versprach es mit einem Nicken und hoffte im Stillen, dass dies nicht einer dieser schweren Anrufe werden würde. Sein kurzer Vid-Anruf zur Prinz Xav und Admiral Vorpatril war schwer genug. Vorpatrils Gesicht war fast so weiß wie sein Haar, als Miles ihn über alles auf den neue307
sten Stand gebracht hatte. Er versprach, in höchster Eile eine Auswahl an medizinischen Freiwilligen zu schicken. Die Prozession zur Idris umfasste schließlich Venn, Greenlaw. den Richter, zwei Quaddie-Polizisten, Miles und Roic. Die Ladebucht war so trüb beleuchtet und still wie – war das erst gestern gewesen? Einer der zwei dort stationierten Quaddie-Wächter hatte seinen Schweber verlassen und kauerte auf dem Boden, nachdenklich beobachtet von dem anderen. Offensichtlich spielte er ein Spiel mit der Schwerkraft und benutzte dazu eine Hand voll winziger schimmernder Metallkugeln und einen kleinen Gummiball. Es schien darum zu gehen, den Ball vom Boden abprallen zu lassen, ihn wieder zu fangen und dazwischen die kleinen Kugeln zu schnappen. Um es für sich interessanter zu machen, wechselte er bei jeder Wiederholung die Hände. Als er der Besucher ansichtig wurde, steckte er sein Spielzeug hastig ein und kletterte wieder in seinen Schweber. Venn tat so, als hätte er dies nicht gesehen, und fragte einfach, ob sich während ihrer Schicht etwas Bemerkenswertes ereignet habe. Nicht nur hatten keinerlei unbefugte Personen versucht, an ihnen vorbeizukommen, das Untersuchungskomitee stellte überhaupt die ersten lebenden Personen dar, welche die gelangweilten Männer zu sehen bekommen hatten, seit sie die vorhergehende Schicht abgelöst hatten. Venn verweilte mit seinen Polizisten, um den Betäuberhinterhalt für den Ba vorzubereiten, für den Fall, dass er auftauchen sollte, und Miles führte Roic, Greenlaw und den Richter an Bord des Schiffes. Die schimmernden Reihen der Replikator-Regale in Dubauers gemietetem Frachtraum schienen gegenüber dem 308
Vortag unverändert zu sein. Greenlaw presste die Lippen aufeinander, lenkte ihren Schweber in dem Raum zu einem anfänglichen Überblick herum, dann hielt sie inne und starrte die Gänge entlang. Miles glaubte fast sehen zu können, wie sie im Kopf multiplizierte. Sie und Leutwyn schwebten dann zu Miles hin, während er ein paar Steuertafeln aktivierte, um den Inhalt der Replikatoren zu demonstrieren. Es war fast eine Wiederholung von gestern, außer … dass einige der Kontrollleuchten Orange anzeigten statt Grün. Eine genauere Betrachtung ergab, dass sie Messwerte einer Anzahl von Stressor-Signalen darstellten, Adrenalinlevels eingeschlossen. Hatte der Ba Recht damit, dass die Föten in ihren Behältern eine Art biologischer Grenze erreichten? War dies das erste Anzeichen von gefährlichem Überwachstum? Während Miles noch schaute, kehrten einige der Lichtstreifen von selbst von Orange zum ermutigenderen Grün zurück. Er fuhr fort, die Vid-Monitorbilder der individuellen Föten aufzurufen, damit Greenlaw und der Richter sie betrachten konnten. Als das vierte von ihm aktivierte Bild aufleuchtete, zeigte es Schlieren von scharlachrotem Blut im Fruchtwasser. Miles hielt den Atem an. Wie …? Das war sicher nicht normal. Die einzige mögliche Quelle des Blutes war der Fötus selbst. Er überprüfte noch einmal die Stressor-Levels – diese hier zeigten eine Menge Orange –, dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und spähte genauer auf das Bild. Das Blut schien aus einer kleinen, gezackten Schnittwunde auf dem Rücken des Haud-Kindes zu sickern. Die gedämpfte rote Beleuchtung, 309
so versicherte sich Miles mit Unbehagen, ließ es schlimmer erscheinen, als es letztlich war. Er schreckte auf, als er Greenlaws Stimme an seinem Ohr vernahm. »Ist mit dem hier etwas nicht in Ordnung?« »Es scheint irgendeine mechanische Verletzung erlitten zu haben. Das … dürfte eigentlich in einem verschlossenen Replikator nicht vorkommen.« Er dachte an Aral Alexander und Helen Natalia, und sein Magen krampfte sich zusammen. »Falls Sie über Quaddie-Experten für ReplikatorVermehrung verfügen, dann wäre es keine schlechte Idee, sie herzuholen, damit sie sich das anschauen.« Er bezweifelte, dass es sich hier um ein Gebiet handelte, auf dem die Militärärzte von der Prinz Xav eine große Hilfe waren. Venn erschien an der Tür des Frachtraums, Greenlaw wiederholte für ihn die meisten Informationen, die Miles ihr zur Orientierung gegeben hatte. Als Venn die Replikatoren betrachtete, wurde sein Gesichtsausdruck sehr besorgt. »Dieser Froschmensch hat nicht gelogen. Das alles hier ist sehr seltsam.« Sein Armbandkommunikator summte, er entschuldigte sich und schwebte an die Seite des Raums, wo er leise mit irgendeinem Untergebenen sprach, der etwas zu melden hatte. Zumindest hatte das Gespräch leise begonnen, bis Venn brüllte: »Was? Wann?« Miles brach seine besorgte Untersuchung des verletzten Haud-Kindes ab und stahl sich an Venn heran. »Etwa 02:00 Uhr. Sir«, antwortete eine bedrückte Stimme aus dem Kommunikator. »Das war nicht genehmigt!« »Doch, Chef, ordnungsgemäß. Hafenmeister Thorne hat310
te es genehmigt. Da es derselbe Passagier war. den er gestern an Bord gebracht hatte, der, welcher sich um die lebende Fracht kümmern musste. meinten wir nicht, dass etwas daran seltsam wäre.« »Um wie viel Uhr sind sie gegangen?«, fragte Venn. Sein Gesicht war eine Maske der Bestürzung. »Nicht in unserer Schicht. Sir. Ich weiß nicht, was danach geschehen ist. Ich bin direkt nach Hause und habe mich ins Bett gelegt. Ich habe die Suchmeldungen für Hafenmeister Thorne im Nachrichtenstrom erst jetzt gesehen, als ich vor ein paar Minuten zum Frühstück aufgestanden bin.« »Warum haben Sie das nicht in Ihrem SchichtendeBericht erwähnt?« »Hafenmeister Thorne sagte, ich solle das nicht tun.« Die Stimme zögerte. »Zumindest … der Passagier schlug vor, wir sollten das nicht vermerken, sonst würden wir es mit den ganzen anderen Passagieren zu tun bekommen, die dann Zutritt fordern würden, wenn sie davon hörten, und Hafenmeister Thorne nickte und sagte …« Venn zuckte zusammen und holte tief Luft. »Man kann es nicht ändern, Wachtmeister. Sie haben es so früh berichtet, wie Sie konnten. Ich bin froh, dass Sie wenigstens die Nachricht sofort mitbekommen haben. Wir übernehmen jetzt die Sache. Danke.« Venn brach die Verbindung ab. »Um was ging es dabei?«, fragte Miles. Roic war herbeispaziert und schaute ihm über die Schulter. Venn hielt sich mit den oberen Händen den Kopf und stöhnte: »Mein Wächter von der Nachtschicht an der Idris ist gerade aufgewacht und hat die Nachrichtenmeldung ge311
sehen, dass Thorne vermisst wird. Er sagt, Thorne kam letzte Nacht etwa um 02:00 Uhr hierher und führte Dubauer durch die Wachen.« »Wohin ist Thorne danach gegangen?« »Er hat Dubauer anscheinend an Bord begleitet. Keiner von beiden kam wieder zurück, während meine Nachtschichtmannschaft Wache hielt. Entschuldigen Sie mich. Ich muss mit meinen Leuten reden.« Venn packte seine Schwebersteuerung und sauste eilig aus dem Frachtraum davon. Miles stand wie betäubt da. Wie konnte Bel von einem unbequem, aber relativ sicheren Nickerchen in einem Recyclingbehälter in etwas mehr als einer Stunde zu dieser Aktion übergegangen sein? Granat Fünf hatte sechs bis sieben Stunden gebraucht, um aufzuwachen. Sein großes Zutrauen in sein Urteil über Guptas Bericht war plötzlich erschüttert. »Könnte Ihr Herm-Freund übergelaufen sein, Mylord?«. fragte Roic mit zusammengekniffenen Augen. »Oder bestochen worden?« Richter Leutwyn schaute auf Greenlaw, die aussah, als sei ihr vor Ungewissheit übel. »Ich würde eher noch … an mir selbst zweifeln«, sagte Miles. Und das bedeutete, Bel zu verleumden. »Allerdings könnte der Hafenmeister mit der Mündung eines Nervendisruptors bestochen worden sein, der gegen sein Rückgrat gedrückt wird, oder mit etwas, das dem gleichkommt.« Er war sich nicht sicher, ob er sich überhaupt vorstellen wollte, was der Ba an gleichwertigen Biowaffen besitzen mochte. »Bel würde auf Zeit spielen.« »Wie konnte dieser Ba den Hafenmeister finden, wenn 312
wir es nicht konnten?«, fragte Leutwyn. Miles zögerte. »Der Ba jagte nicht Bel. Der Ba jagte Guppy. Wenn der Ba sich ihnen letzte Nacht näherte, als Guppy den Gegenangriff auf seine Beschatter startete … der Ba könnte gleich danach vorbeigekommen oder sogar Augenzeuge gewesen sein. Und er gestattete sich, abgelenkt zu werden, oder er tauschte seine Prioritäten angesichts der unerwarteten Gelegenheit, durch Bel Zugang zu seiner Fracht zu bekommen.« Welche Prioritäten? Was wollte der Ba? Nun ja, sicher wollte er, dass Gupta starb, und das umso mehr, da der Amphibier Zeuge der anfänglichen geheimen Operation und dann der Morde gewesen war, mit denen der Ba versucht hatte, seine Spur völlig zu verwischen. Aber dass der Ba, der seinem Ziel so nah gewesen war. doch davon abschwenkte, legte den Gedanken nahe, dass die andere Priorität überwältigend wichtiger für ihn war. Der Ba hatte davon gesprochen, am Ende seine angeblich tierische Fracht zu zerstören: Er hatte auch davon gesprochen, Gewebeproben zu nehmen und einzufrieren. Der Ba hatte eine Lüge nach der anderen aufgetischt, aber was, wenn dies die Wahrheit war? Miles drehte sich um und starrte den Gang zwischen den Regalen entlang. Es bildete sich ein Bild in seinem Kopf: der Ba, wie er den ganzen Tag arbeitete, mit erbarmungsloser Schnelligkeit und Konzentration. Wie er von jedem Replikator den Deckel hob, wie er Membran, Fruchtwasser und weiche Haut mit einer Probiernadel durchstach, die Nadeln aneinander reihte, Reihe um Reihe, in einer Gefriereinheit von der Größe eines kleinen Reisekoffers. Wie er die Essenz seiner geneti313
schen Nutzlast zu etwas miniaturisierte, das er mit einer Hand davontragen konnte. Um den Preis, dass er die Originale aufgab? Dass er die Beweise zerstörte? Vielleicht hat er das schon getan, und wir können bloß die Auswirkungen noch nicht sehen. Wenn der Ba es fertig brachte, dass erwachsene Körper binnen Stunden ihre eigenen Flüssigkeiten verdampften und zu dickflüssigen Pfützen wurden, was konnte er dann mit solchen kleinen Körpern anstellen? Der Cetagandaner war nicht dumm. Sein Schmuggelvorhaben hätte nach Plan verlaufen können, wenn nicht der Schnitzer mit Gupta passiert wäre. Der dem Ba bis hierher gefolgt war und Solian in die Sache hineingezogen hatte – durch dessen Verschwinden das Durcheinander mit Corbeau und Granat Fünf ausgelöst worden war, was zu dem vermasselten Überfall auf den Sicherheitsposten der Quaddies geführt hatte, der in der Beschlagnahme der Flotte einschließlich der kostbaren Fracht des Ba geendet hatte. Miles wusste genau, wie man sich fühlte, wenn man sah, wie eine sorgfältig geplante Mission durch einen unglücklichen Zufall den Bach hinunterging. Wie würde der Ba auf diese elende, herzzerreißende Verzweiflung reagieren? Miles hatte fast kein Gespür für die Person, obwohl er ihr zweimal begegnet war. Der Ba war gewieft, aalglatt und selbstbeherrscht. Er konnte mit einer Berührung töten und dabei lächeln. Aber wenn der Ba seine Nutzlast auf eine minimale Masse reduzierte, dann würde er seine Flucht bestimmt nicht mit einem Gefangenen belasten. »Ich glaube«, sagte Miles, musste jedoch innehalten, um 314
sich zu räuspern, da seine Kehle ausgetrocknet war. Bel würde auf Zeit spielen. Aber wenn Zeit und Einfallsreichtum ausgingen und niemand kam und niemand kam und niemand kam … »Ich glaube. Bel könnte noch an Bord der Idris sein. Wir müssen das Schiff durchsuchen. Sofort.« Roic schaute sich um und blickte verzagt drein. »Das ganze Schiff, Mylord?« Miles wollte schreien Ja!, doch sein langsames Gehirn wandelte dies um in: »Nein. Bel hatte keine Zugangscodes über die Quaddie-Kontrolle der Luftschleuse hinaus. Der Ba hatte Codes nur für diesen Frachtraum und seine eigene Kabine. Alles, was vorher schon verschlossen war. müsste es immer noch sein. Im ersten Durchgang überprüfen Sie nur ungesicherte Räume.« »Sollten wir nicht auf Chef Venns Polizisten warten?«, fragte Leutwyn unsicher. »Wenn jemand an Bord zu kommen versucht, der noch nicht der Biokontamination ausgesetzt war, dann schwöre ich, ich werde ihn selbst betäuben, bevor er durch die Luftschleuse kommt. Ich mache keinen Spaß.« Miles’ Stimme klang heiser vor Entschlossenheit. Leutwyn sah erschrocken aus, doch Greenlaw nickte nach einem Moment der Erstarrung. »Ich verstehe genau, was Sie meinen, Lord Auditor Vorkosigan. Und ich muss Ihnen zustimmen.« Sie verteilten sich paarweise, die forschend dreinblickende Greenlaw gefolgt von dem etwas verwirrten Richter, Roic entschlossen an Miles’ Schulter. Miles versuchte es zuerst an der Kabine des Ba, doch er fand sie ebenso leer vor wie zuvor. Vier weitere Kabinen waren 315
unverschlossen geblieben, drei davon vermutlich, weil man die Habseligkeiten daraus weggeräumt hatte, die vierte anscheinend aus bloßer Nachlässigkeit. Die Krankenstation war verschlossen, wie man sie nach Bels Inspektion mit den Med-Techs am vergangenen Abend zurückgelassen hatte. Der Navigationsraum war voll gesichert. Auf dem Deck darüber war die Küche offen, wie auch einige der Erholungsbereiche, aber sie fanden dort weder einen betanischen Hermaphroditen noch unnatürlich zersetzte Überreste. Greenlaw und Leutwyn kamen vorbei und berichteten, dass alle anderen Frachträume in dem riesigen langen Zylinder, in dem sich auch die Fracht des Ba befand, noch verschlossen waren, wie es sich gehörte. Venn, so entdeckten sie, hatte eine KomKonsole in der Lounge der Passagiere besetzt; als man ihn über Miles’ neue Theorie ins Bild setzte, erbleichte er und schloss sich Greenlaw an. Fünf weitere Schiffsrümpfe blieben noch zu überprüfen. Auf dem Deck unterhalb der Passagierzone waren die meisten Versorgungs- und Technikbereiche noch verschlossen. Doch die Tür zur Abteilung Kleine Reparaturen öffnete sich, als Miles ihre Steuertastatur berührte. Drei nebeneinander liegende Räume waren voll gestopft mit Werkbänken, Werkzeugen und diagnostischen Geräten. Im zweiten Raum stieß Miles auf eine Bank mit drei BodPods, aus denen die Luft herausgelassen worden war und die das Logo der Idris und Seriennummern trugen. Diese mit zäher Außenhaut ausgestatteten Ballons von Menschengröße waren mit einem ausreichenden Gerät zum Luftrecycling und genügend Energie ausgestattet, um bei 316
einem plötzlichen Druckabfall einen Passagier am Leben zu erhalten, bis Hilfe eintraf. Man musste nur in das Pod steigen, den Reißverschluss zuziehen und den Strom einschalten. BodPods erforderten nur ein Minimum an Bedienungsanleitung, vor allem, weil man kaum etwas tun konnte, wenn man mal in einem drin war. Jede Kabine, jeder Frachtraum und jeder Korridor auf dem Schiff hatte sie, aufbewahrt in Notfallschränken an den Wänden. Auf dem Boden neben der Werkbank stand ein Pod voll aufgeblasen, als hätte man es dort mitten im Test durch einen Techniker stehen gelassen, als das Schiff von den Quaddies evakuiert worden war. Miles trat an eines der runden Plastik-Gucklöcher des Pods und spähte hindurch. Drinnen saß im Schneidersitz Bel, splitternackt. Die Lippen des Hermaphroditen standen offen, seine Augen blickten glasig in die Ferne. So still war diese Gestalt, dass Miles schon befürchtete, auf einen Toten zu schauen, aber dann sah er, dass Bels Brustkasten sich hob und senkte und dass die Brüste zitterten in dem Schauer, der seinen Körper schüttelte. Auf dem ausdruckslosen Gesicht erschien und verblasste eine fiebrige Röte. Nein, lieber Gott, nein! Miles stürzte zu dem Verschluss des Pods, doch seine Hand hielt inne und fiel zurück, ballte sich so fest, dass seine Nägel wie Messer in seine Handfläche schnitten. Nein …
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14 Maßnahme 1: Schließen Sie den biokontaminierten Bereich ab! – War die Zugangsschleuse hinter ihnen geschlossen worden, als sie die Idris betraten? Ja. Hatte sie seitdem jemand geöffnet? Miles hob seinen Kommunikator an den Mund und sprach Venns Kontaktcode hinein. Roic trat näher an das Pod heran, doch er blieb stehen, als Miles die Hand hochriss; er zog den Kopf ein und spähte an Miles’ Schulter vorbei, und seine Augen weiteten sich. Die wenigen Sekunden, bis das Suchprogramm des Kommunikators Venn ausfindig machte, schienen zäh dahinzufließen wie kaltes Öl. Schließlich ertönte die nervöse Stimme des Mannschaftschefs: »Hier Venn. Was ist, Lord Vorkosigan?« »Wir haben Hafenmeister Thorne gefunden. Gefangen in einem BodPod in der Technikabteilung. Der Herm scheint betäubt und sehr krank zu sein, Ich glaube, wir haben hier einen dringenden Notfall von Biokontamination, mindestens Stufe 3 und vielleicht so schlimm wie Stufe 5.« Die höchste Stufe: eine Verseuchung aus biologischer Kriegführung. »Wo sind Sie jetzt alle?« »Im Frachtrumpf Nr. 2. Die Eichmeisterin und der Richter sind bei mir.« »Hat jemand versucht, das Schiff zu verlassen oder zu betreten, seit wir an Bord gegangen sind? Sind Sie aus irgendeinem Grund hinausgegangen?« »Nein.« »Sie verstehen die Notwendigkeit, dass das so bleibt, bis 318
wir wissen, womit zum Teufel wir es zu tun haben?« »Was denn, glauben Sie etwa, ich wäre wahnsinnig genug, irgendeine verdammte Seuche auf meine eigene Station zu tragen?« Klar! »Sehr gut, Chef Venn. Ich sehe, wir sind gleicher Meinung in dieser Sache.« Maßnahme 2: Alarmieren Sie die medizinische Behörde in Ihrem Distrikt. Jedem das Seine. »Ich werde das Admiral Vorpatril berichten und ihn um medizinische Hilfe bitten. Ich nehme an, Station Graf hat ihre eigenen Notfallpläne.« »Sobald Sie meinen Kommunikator-Kanal freigeben.« »In Ordnung. Zum frühest möglichen Zeitpunkt möchte ich auch die Anschlussröhren lösen und das Schiff ein wenig aus seiner Andockbühne wegbewegen, einfach um auf Nummer Sicher zu gehen. Falls Sie oder die Eichmeisterin die Flugkontrolle der Station warnen und den Shuttle, den Vorpatril schickt, genehmigen lassen würden, so wäre das äußerst hilfreich. In der Zwischenzeit lege ich Ihnen unbedingt nahe, die Schleusen zwischen dem Rumpf, in dem Sie sich befinden, und diesem zentralen Bereich zu verschließen bis … wir mehr wissen. Suchen Sie die Atmosphärenkontrolle des Rumpfes und schalten Sie sie auf internen Luftkreislauf, falls Sie das können. Ich bin mir noch nicht … ganz im Klaren darüber, was ich mit dem verdammten BodPod anfangen soll. Nai … Vorkosigan Ende.« Er unterbrach die Verbindung und starrte besorgt auf die dünne Wand zwischen ihm und Bel. Wie gut war die verschlossene Haut eines BodPods als Barriere gegen Biokontamination? Wahrscheinlich sehr gut, dafür, dass sie nicht 319
für diese spezielle Aufgabe hergestellt war. Ein neuer und schrecklicher Gedanke drängte sich unausweichlich Miles’ Vorstellung auf: Wo sollte er nach Solian suchen, oder vielmehr: Was für ein organischer Schleim war jetzt noch von dem Leutnant übrig? Doch diese Schlussfolgerung brachte neue Hoffnung und neuen Schrecken mit sich. Solian war vor Wochen beseitigt worden, wahrscheinlich an Bord genau dieses Schiffes, zu einem Zeitpunkt, als Passagiere und Mannschaft sich frei zwischen der Station und dem Schiff bewegt hatten. Doch es war noch keine Seuche ausgebrochen. Falls Solian mit der gleichen albtraumhaften Methode aufgelöst worden war, die nach Guptas Zeugnis seine Schiffsgenossen dahingerafft hatte, innerhalb eines BodPod, das dann geschlossen und auf den Weg gebracht worden war … dann wäre es für alle vollkommen sicher, falls man Bel in dem Pod und dessen Verschluss ungeöffnet ließe. Natürlich für alle – außer für Bel … Es war unklar, ob die Inkubation oder Latenzperiode der Infektion regulierbar war; allerdings legte das, was Miles jetzt sah, den Gedanken nahe, dass sie es war. Sechs Tage für Gupta und seine Freunde. Sechs Stunden für Bel? Aber die Krankheit oder das Gift oder der biomolekulare Anschlag oder was immer es war, hatte die Jacksonier schnell getötet, sobald es aktiv geworden war, in nur wenigen Stunden. Wie lange hatte Bel noch Zeit, bis ein Eingreifen vergeblich war? Bis das Gehirn des Hermaphroditen begann, sich zusammen mit seinem Körper in blubbernden grauen Schleim zu verwandeln …? Stunden, Minuten – oder war es schon zu spät? Und welche Intervention konnte 320
noch helfen? Gupta hat es überlebt. Deshalb ist ein Überleben möglich. Seine Gedanken gruben sich in diese historische Tatsache ein wie Kletterhaken in eine Felswand. Bleib dran und klettere weiter, alter Junge. Miles hielt den Kommunikator an den Mund und aktivierte den Notfallkanal zu Admiral Vorpatril. Vorpatril antwortete fast sofort. »Lord Vorkosigan? Das medizinische Kommando, das Sie angefordert haben, hat vor ein paar Minuten die Quaddie-Station erreicht. Es sollte sich jeden Moment bei Ihnen melden, um bei der Untersuchung Ihres Gefangenen zu helfen. Haben sie sich noch nicht eingestellt?« »Möglicherweise schon, aber ich bin jetzt an Bord der Idris, zusammen mit Gefolgsmann Roic. Und leider auch mit Eichmeisterin Greenlaw, Richter Leutwyn und Chef Venn. Wir haben befohlen, dass das Schiff verschlossen wird. Wir scheinen an Bord einen Fall von Biokontamination zu haben.« Er wiederholte mit ein paar zusätzlichen Details die Beschreibung von Bel, die er Venn gegeben hatte. Vorpatril fluchte. »Soll ich Ihnen eine Personenkapsel schicken, um Sie abzuholen, Mylord?« »Auf keinen Fall! Wenn hier drinnen irgendetwas Ansteckendes freigesetzt ist – zwar ist das nicht sicher, aber es ist auch noch nicht ausgeschlossen –, dann ist es … äh … schon zu spät.« »Ich werde mein medizinisches Kommando sofort zu Ihnen umlenken.« »Nicht alle, verdammt. Ich möchte, dass einige unserer Leute bei den Quaddies sind und an Gupta arbeiten. Es ist 321
von höchster Dringlichkeit herauszufinden, warum er überlebt hat. Da wir vielleicht hier drinnen eine Weile festsitzen, beschäftigen Sie bitte nicht mehr Leute als erforderlich. Aber schicken Sie mir die Intelligenten. In BiotainerAnzügen für Stufe 5. Sie können alle Geräte, die sie haben wollen, an Bord schicken, aber nichts und niemand geht wieder von diesem Schiff, bis dieses Ding unter Kontrolle ist.« Oder bis die Seuche sie alle geholt hatte … Miles kam eine Vision, wie die Idris von der Station weggeschleppt und aufgegeben wurde, das unberührbare endgültige Grab aller, die an Bord waren. Eine verdammt teure Grabstätte. Er hatte sich schon früher dem Tod gegenüber gesehen und zumindest einmal gegen ihn verloren, aber die einsame Hässlichkeit dieses möglichen Sterbens hier erschütterte ihn zutiefst. Diesmal, so vermutete er, würde es keinen Betrug am Tod durch Kryo-Kammern geben. Gewiss nicht für die, die als letzte Opfer an der Reihe waren. »Nur Freiwillige, verstehen Sie mich. Admiral?« »Ich verstehe Sie«, erwiderte Vorpatril grimmig. »Ich bin schon dabei, Mylord Auditor.« »Gut. Vorkosigan Ende.« Wie viel Zeit hatte Bel? Eine halbe Stunde? Zwei Stunden? Wie viel Zeit würde Vorpatril brauchen, um seinen neuen Trupp medizinischer Freiwilliger und ihre ganze komplizierte Fracht zusammenzustellen? Mehr als eine halbe Stunde, dessen war sich Miles ziemlich sicher. Und was konnten sie tun, wenn sie hierher kamen? Was war, abgesehen von seiner gentechnischen Modifikation, bei Gupta anders gewesen als bei den anderen? Sein Tank? Atmung durch die Kiemen … Bel hatte kei322
ne Kiemen, das war keine Hilfe. Kühlendes Wasser, das über den froschartigen Körper und seine fächerartigen Schwimmhäute floss. durch die mit Blut gefüllten, fedrigen Kiemen, und sein Blut kühlte … konnte etwas von den teuflischen Bestandteilen dieses biochemischen Lösungsmittels hitzeempfindlich oder von der Temperatur ausgelöst sein? Ein Bad in Eiswasser? Die Vision erschien vor seinem inneren Auge, und seine Lippen verzogen sich zu einem wilden Grinsen. Eine technisch einfache, aber beweisbar schnelle Methode, um die Körpertemperatur zu senken, keine Frage. Er konnte persönlich für die Wirkung garantieren. Danke, Ivan. »Mylord?«, sagte Roic unsicher zu seinem Herrn, der wie erstarrt dastand. »Wir rennen jetzt wie der Teufel. Sie gehen in die Bordküche und schauen nach Eis. Wenn keines dort ist, dann starten Sie jede Eismaschine, die da ist, auf volle Pulle. Dann kommen Sie zu mir in die Krankenstation.« Er musste sich schnell bewegen; er hatte keine Zeit, sich dumm anzustellen. »Dort gibt es vielleicht Biotainer-Sachen.« Nach dem Ausdruck auf seinem Gesicht zu schließen, kapierte Roic nichts von dem, was Miles sagte, aber zumindest folgte er seinem Herrn, der unvermittelt hinaus und den Korridor hinab rannte. Sie gelangten durch das Liftrohr zwei Stockwerke höher zu der Ebene, auf der sich die Bordküche, die Krankenstation und die Erholungsbereiche befanden. Mehr außer Atem, als er sich anmerken lassen wollte, winkte Miles Roic in Richtung Küche und galoppierte zu der Krankenstation am anderen Ende des 323
zentralen Schiffsrumpfs. Noch eine frustrierende Verzögerung, während er den Zugangscode eintippte, und dann war er in dem kleinen Sanitätsbereich. Die Einrichtung war karg: zwei kleine Krankensäle, allerdings beide mit Biocontainment-Tauglichkeit Stufe 3, dazu ein Untersuchungsraum, der für kleine chirurgische Eingriffe eingerichtet war und auch die Apotheke beherbergte. Fälle für größere Operationen und mit schweren Verletzungen sollten wohl zu der umfassender ausgestatteten Sanitätsabteilung eines der eskortierenden Militärschiffe gebracht werden. Ja, einer der Baderäume der Krankenstation enthielt eine sterilisierbare Behandlungswanne; Miles stellte sich vor, wie unglückliche Passagiere mit verseuchter Haut hier eingeweicht wurden. Schränke voller Notfallausrüstung. Er riss sie alle auf. Da war der Blutsynthetisierer, da eine Schublade mit mysteriösen und beunruhigenden Objekten, die vielleicht für weibliche Patienten bestimmt waren; es gab eine schmale Schwebepalette für den Transport von Patienten, die hochkant in einem großen Schrank stand, zusammen mit zwei BiotainerAnzügen, jawohl! Der eine war zu groß für Miles, der andere zu klein für Roic. Miles konnte den zu großen Anzug tragen: es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er so etwas tat. Der andere aber war unmöglich. Er konnte es nicht rechtfertigen, Roic in Gefahr zu bringen, also … Roic kam angetrabt. »Hab den Eismacher gefunden, Mylord. Niemand scheint ihn ausgeschaltet zu haben, als das Schiff evakuiert wurde. Er ist bis oben hin voll.« Miles zog seinen Betäuber heraus und legte ihn auf den 324
Untersuchungstisch, dann begann er sich in den kleineren Biotainer-Anzug zu schieben. »Was zum Teufel glauben Sie wohl, was Sie da tun, Mylord?«, fragte Roic misstrauisch. »Wir werden Bel hierher bringen. Oder zumindest ich werde es tun. Die Mediziner werden sowieso die Behandlung hier durchführen wollen.« Falls es überhaupt eine Behandlung gab. »Ich habe eine Idee für eine rasche Erste Hilfe. Hören Sie mir zu: Guppy hat vielleicht überlebt durch das Wasser in seinem Tank, das seine Körpertemperatur niedrig hielt. Laufen Sie in die Technikabteilung. Versuchen Sie einen Druckanzug zu finden, der Ihnen passt. Falls – sobald Sie den Anzug gefunden haben, lassen Sie mich es wissen und ziehen Sie ihn sofort an. Dann kommen Sie dort hin, wo Bel sich befindet. Los!« Mit ausdruckslosem Gesicht lief Roic los. Miles nutzte die kostbaren Sekunden und hastete zur Bordküche, schöpfte einen Plastikabfalleimer voller Eis, brachte ihn auf der Schwebepalette in die Krankenstation und schüttete das Eis in die Wanne. Danach holte er einen zweiten Eimer voll. Dann summte sein Kommunikator. »Hab einen Anzug gefunden, Mylord. Er wird gerade passen, glaube ich.« Roics Stimme zitterte, während er wahrscheinlich seinen Arm bewegte. Rascheln und leises Grunzen zeigten dann, dass der Versuch erfolgreich war. »Sobald ich da drinstecke, kann ich meinen gesicherten Armbandkommunikator nicht mehr benutzen. Ich werde Sie dann über einen öffentlichen Kanal kontaktieren.« »Damit müssen wir leben. Kontaktieren Sie Vorpatril über den Kommunikator Ihres Anzugs, sobald Sie ihn ver325
schlossen haben; stellen Sie sicher, dass seine Mediziner mit Ihnen kommunizieren können, wenn sie mit ihrem Shuttle zu einer der Außenbordschleusen kommen. Und stellen Sie sicher, dass sie nicht versuchen, durch denselben Frachtrumpf zu kommen, wo die Quaddies Zuflucht gesucht haben!« »Ganz recht, Mylord.« »Ich treffe Sie in der Abteilung Kleine Reparaturen.« »In Ordnung, Mylord. Ich ziehe jetzt den Anzug hoch.« Der Kanal verstummte. Mit Bedauern verdeckte Miles seinen eigenen Armbandkommunikator mit dem linken Handschuh des BiotainerAnzugs. Er steckte seinen Betäuber in eine der verschließbaren Außentaschen auf dem Oberschenkel, dann regulierte er die Sauerstoffzufuhr, indem er ein paar Mal auf die Steuerschiene auf seinem linken Arm klopfte. Die Lichter in der Gesichtsscheibe des Helms versprachen ihm, dass er jetzt von der Umgebung abgeschlossen war. Der leichte Überdruck in dem übergroßen Anzug blies ihn prall auf. In den lockeren Stiefeln schlurfte er zum Liftrohr und zog die Schwebepalette hinter sich her. Roic kam gerade den Korridor heruntergestampft, als Miles die Palette durch die Tür der Abteilung Kleine Reparaturen manövrierte. Der Druckanzug des Gefolgsmanns, der mit den Seriennummern der Technikabteilung der Idris gekennzeichnet war, bot bestimmt genauso viel Schutz wie Miles’ Kleidung, allerdings waren seine Handschuhe dicker und schwerfälliger. Miles winkte Roic, er solle sich zu ihm beugen, und berührte mit seiner Gesichtsscheibe Roics Helm. 326
»Wir werden jetzt den Druck in dem BodPod verringern, um teilweise die Luft herauszulassen, dann rollen wir Bel auf die Schwebepalette und bringen ihn nach oben. Ich werde das Pod erst öffnen, wenn wir in der Krankenstation sind und die Molekularbarriere aktiviert ist.« »Sollten wir dafür nicht auf die Mediziner von der Prinz Xav warten. Mylord?«, fragte Roic nervös. »Sie werden bald genug hier sein.« »Nein, denn ich weiß nicht, wie bald es zu spät ist. Ich wage nicht, die Luft aus Bels Pod in die Atmosphäre des Schiffes zu lassen, deshalb werde ich jetzt versuchen, eine Verbindung zu einem anderen Pod herzustellen, das dann quasi als Auffangbecken dient. Helfen Sie mir bei der Suche nach Isolierband und etwas, das man als Luftrohr verwenden kann.« Roic machte eine ziemlich frustrierte Geste, dass er verstanden hatte, und begann die Werkbänke und Schubladen abzusuchen. Miles spähte wieder durch das Guckloch. »Bel? Bel!«, schrie er durch die Gesichtsscheibe und die Haut des Pods. Der Klang war gedämpft, ja, aber man sollte ihn doch wohl hören können, verdammt. »Wir werden dich jetzt verlegen. Halt durch da drin.« Bel saß anscheinend unverändert im Pod, wie ein paar Minuten zuvor, immer noch mit glasigen Augen und ohne zu reagieren. Vielleicht lag es nicht an der Infektion, versuchte Miles sich zu ermutigen. Wie viele Drogen hatte der Hermaphrodit gestern Abend abbekommen, damit seine Kooperation sichergestellt war? Bewusstlos gemacht von Gupta, wieder zu Bewusstsein gebracht von dem Ba, ver327
mutlich abgefüllt mit Hypnotika für den Gang im Idris und dem Betrug an den Quaddie-Wachen. Vielleicht danach Schnell-Penta, und einige Sedativa, um Bel ruhig zu halten, während das Gift sich durchsetzte, wer weiß? Miles warf eines der anderen Pods daneben auf den Boden. Falls sich die Überreste von Solian darin befanden, nun ja, das würde es nicht noch kontaminierter machen, oder? Und wenn Bels Überreste so lange der Aufmerksamkeit entgangen wären wie die von Solian, falls Miles nicht so bald vorbeigekommen wäre – war das der Plan des Ba? Mord und Entsorgung der Leiche in einem Zug … Er kniete neben Bels BodPod nieder und öffnete die Zugriffsklappe zu der Druckkontrolleinheit. Roic reichte ihm ein Stück Plastikrohr und mehrere Streifen Isolierband. Miles wickelte, betete und drehte verschiedene Ventilsteuerungen. Die Luftpumpe vibrierte sanft. Der runde Umriss des Pods wurde weich und sank zusammen. Das zweite Pod dehnte sich aus, nachdem es vorher schlaff und zerknittert gewesen war. Miles schloss die Ventile, unterbrach die Verbindung, verschloss die Pods und wünschte sich ein paar Liter eines Desinfektionsmittels, um es verspritzen zu können. Er hielt den Stoff hoch, weg von dem Klumpen, der Bels Kopf war, während Roic den Hermaphroditen auf die Palette hob. Die Palette bewegte sich in einem flotten Schritttempo; Miles wäre am liebsten gerannt. Sie manövrierten ihre Fracht in die Krankenstation, in den kleinen Krankensaal – so nahe wie möglich an den ziemlich engen Baderaum. Miles winkte Roic erneut, sich zu ihm herunterzubeugen. 328
»In Ordnung. Bis hierher haben Sie mitgemacht. Für das, was jetzt kommt, müssen wir nicht beide zugleich hier drin sein. Ich möchte, dass Sie den Raum verlassen und die molekularen Barrieren einschalten. Dann halten Sie sich bereit, um den Medizinern von der Prinz Xav nach Bedarf zu helfen.« »Mylord, sind Sie sicher, dass Sie es nicht lieber hätten, wenn wir es andersherum machen?« »Ich bin mir sicher. Gehen Sie!« Roic verließ widerstrebend den Baderaum. Miles wartete, bis die Fäden aus blauem Licht, die anzeigten, dass die Barrieren aktiviert waren, vor der Tür erschienen, dann beugte er sich nieder, öffnete das Pod und schlug es von Bels verkrampftem, zitterndem Körper zurück. Selbst durch die Handschuhe hindurch fühlte sich Bels nackte Haut sengend heiß an. Sowohl die Palette als auch sich selbst in den Baderaum zu schieben brachte einiges unbeholfene Gefummel mit sich, aber schließlich hatte er Bel so positioniert, dass er ihn in die Wanne schieben konnte, die mit Eis und Wasser gefüllt wartete. Hochheben, gleiten lassen, platsch! Er verfluchte die Palette und langte hinüber, um Bels Kopf hochzuhalten. Bels Körper zuckte vor Schock; Miles fragte sich, ob sein theoretisch ausgedachtes Palliativ statt der erwünschten Wirkung dem Opfer nicht womöglich einen Herzschlag verpassen würde. Mit einem Fuß schob er die Palette wieder zur Tür hinaus, damit sie aus dem Weg war. Bel versuchte sich gerade zu einer Embryostellung zusammenzurollen, eine ermutigendere Reaktion als das Wachkoma, das Miles bis jetzt beobachtet hatte. Miles zog 329
die gekrümmten Gliedmaßen nach und nach herunter und hielt sie unter das Eiswasser. Miles’ Finger wurden taub vor Kälte, außer dort, wo sie Bel berührten. Die Körpertemperatur des Hermaphroditen schien von dieser brutalen Behandlung kaum beeinflusst zu werden. Wirklich unnatürlich. Aber zumindest wurde Bel nicht noch heißer. Das Eis schmolz sichtlich. Es war einige Jahre her, seit Miles Bel zuletzt nackt gesehen hatte, bei einer Dusche im Einsatz oder beim Anziehen oder beim Ablegen der Raumrüstung im Umkleideraum eines Söldnerschiffes. Anfang fünfzig war nicht alt für einen Betaner, doch die Schwerkraft rückte Bel mehr und mehr auf die Pelle. Uns allen. In ihren gemeinsamen Dendarii-Tagen hatte Bel seine unerwiderte Lust auf Miles in einer Reihe von halb scherzhaften Avancen geäußert, die halb mit Bedauern abgelehnt worden waren. Jetzt bereute Miles im Großen und Ganzen die sexuelle Zurückhaltung seiner jüngeren Jahre. Zutiefst. Wir hätten damals unsere Chancen ergreifen sollen, als wir jung und schön waren und dies nicht einmal wussten. Und Bel war schön gewesen, auf seine eigene ironische Weise: er hatte entspannt in einem athletischen, gesunden und trainierten Körper geleibt und gelebt. Bels Haut war von Flecken überzogen, rot und weiß gesprenkelt; der Leib des Hermaphroditen, der unter Miles’ nervösen Händen in das Eisbad rutschte und sich darin drehte, wies eine seltsame Textur auf, abwechselnd dick geschwollen oder mit Druckstellen wie gequetschte Früchte. Miles rief Bels Namen, versuchte seine beste alte Admiral-Naismith-befiehtl-Stimme, erzählte einen schlechten 330
Witz, doch nichts drang durch die glasige Apathie des Hermaphroditen. Es war keine gute Idee, in einem Biotainer-Anzug zu weinen, fast so schlecht wie sich in einem Druckanzug zu erbrechen. Man konnte sich nicht die Augen trocknen oder den Rotz aus der Nase wischen. Und wenn jemand einen unerwartet an der Schulter berührte, dann sprang man auf wie von einer Kugel getroffen, und der andere schaute einen komisch an, durch die beiderseitigen Gesichtsscheiben hindurch. »Lord Auditor Vorkosigan, sind Sie in Ordnung?«, fragte der in Biotainer gewickelte Arzt der Prinz Xav, als er sich neben Miles am Rande der Wanne niederkniete. Miles schluckte, um die Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. »Mir geht es soweit gut. Dieser Herm hier ist in sehr schlechter Verfassung. Ich weiß nicht, was man Ihnen über die ganze Sache erzählt hat.« »Mir wurde gesagt, dass ich es vielleicht mit einer möglichen akuten Biowaffe aus cetagandanischer Produktion zu tun haben würde, die inzwischen schon drei Menschen getötet hat, und einer habe überlebt. Die Information, dass es einen Überlebenden gebe, ließ mich zweifeln, ob die erste Behauptung stimmte.« »Aha, Sie hatten also noch keine Gelegenheit, Guppy zu sehen.« Miles holte Luft und rekapitulierte kurz Guptas Geschichte oder zumindest ihre relevanten biologischen Aspekte. Während er sprach, hörten seine Hände nicht auf, Bels Arme und Beine wieder unter Wasser zu schieben oder wässerige Eiswürfel über den brennenden Kopf und Hals des Hermaphroditen zu schaufeln. »Ich weiß nicht, ob es an Guptas amphibischer Genetik lag«, sagte er zum 331
Schluss, »oder an etwas, das er tat, was ihm erlaubte, diese Teufelei zu überleben, als seine Freunde starben. Guppy sagte, dass ihr totes Fleisch dampfte. Ich weiß nicht, woher diese ganze Hitze kommt, aber es kann nicht bloß Fieber sein. Die jacksonische Biotechnik konnte ich nicht nachahmen, aber ich dachte, ich könnte zumindest den Trick mit dem Wassertank imitieren. Ein verrückter Empirismus, aber ich dachte, es sei nicht mehr viel Zeit.« Eine behandschuhte Hand langte an ihm vorbei und hob Bels Augenlider, berührte den Hermaphroditen hier und da, drückte und probierte. »Ich verstehe.« »Es ist wirklich wichtig«, Miles nahm einen weiteren Schluck Luft, um seine Stimme zu stabilisieren, »es ist wirklich wichtig, dass dieser Patient überlebt. Thorne ist nicht bloß ein Stationsbewohner. Bel war …« Ihm wurde klar, dass er nicht wusste, wie weit der Arzt vom Sicherheitsdienst eingeweiht worden war. »Wenn der Hafenmeister unter unseren Augen sterben sollte, wäre das ein diplomatisches Desaster. Das heißt, ein weiteres Desaster. Und … und der Herm hat mir gestern das Leben gerettet. Ich schulde …. Barrayar schuldet …« »Mylord, wir werden unser Bestes tun. Ich habe meine Spitzenmannschaft hier; wir übernehmen den Fall jetzt. Bitte, Mylord Auditor, könnten Sie jetzt bitte hinausgehen und sich von Ihrem Mann dekontaminieren lassen?« Eine weitere Figur im Schutzanzug, Arzt oder Sanitäter, erschien durch die Baderaumtür und hielt dem Arzt ein Tablett mit Instrumenten hin. Notgedrungen trat Miles zur Seite, während die erste Blutprobennadel in Bels reaktionsloses Fleisch drang. Er musste zugeben, dass selbst für eine 332
kleine Person wie ihn hier drinnen kein Platz war. Er zog sich zurück. Das freie Krankenbett war in einen Labortisch verwandelt worden. Eine dritte Gestalt in Biotainer-Kleidung legte auf diese provisorische Flache eine viel versprechende Anzahl von Geräten aus Kästen und Eimern, die sich noch auf einer Schwebepalette stapelten. Der zweite MedTech kam aus dem Badezimmer zurück und begann damit, Proben von Bels Blut in die verschiedenen chemischen und molekularen Analysegeräte am einen Ende des Bettes zu geben, während der dritte Mann noch mehr Instrumente am anderen Ende bereitlegte. Roics große Gestalt in dem Druckanzug stand wartend direkt hinter den molekularen Barrieren jenseits der Tür des Krankensaals. Er hielt einen starken lasersonischen Dekontaminator bereit, ein vertrautes Gerät aus barrayaranischen Militärbeständen, und winkte einladend mit der anderen Hand. Miles signalisierte Zustimmung. Auch wenn er noch länger hier bei den Medizinern herumlungerte, so war damit nichts gewonnen. Er würde sie nur ablenken und ihnen im Weg sein, also unterdrücke er seinen verrückten Impuls, ihnen zu erklären, dass Bel durch alte Tapferkeit und Liebe ein besonderes Recht zu überleben erworben habe. Es war vergeblich. Er hätte genauso gut auf die Mikroben selbst einreden können. Selbst die Cetagandaner hatten noch keine Waffe erfunden, die ihre Opfer nach dem Grad der Tugend aussortierte. Ich habe versprochen, Nicol anzurufen. Gott, warum habe ich das versprochen? Von Bels derzeitigem Zustand zu erfahren wäre für sie sicher schrecklicher, als gar nichts 333
zu wissen. Er würde noch ein bisschen länger warten, zumindest bis er den ersten Bericht von dem Arzt erhielt. Wenn es dann Hoffnung gab, konnte er sie mitteilen. Wenn nicht … Langsam trat er durch die summende molekulare Barriere, hob die Arme und drehte sich unter dem noch stärkeren Strahl des Sonic-Waschers und Laser-Trockners aus Roics Dekontaminator. Er ließ sich von Roic jeden Körperteil behandeln, auch die Handflächen, Finger, Fußsohlen und – etwas nervös – die Innenseite seiner Oberschenkel. Der Anzug schützte ihn vor dem, was sonst zu einer scheußlichen Verbrennung geworden wäre und seine Haut gerötet und die Haare versengt hätte. Erst als sie jeden Quadratzentimeter zweimal bearbeitet hatten, winkte er Roic, er solle aufhören. Roic zeigte auf Miles’ Armschiene mit der Steuerung und brüllte durch seine Gesichtsscheibe: »Ich habe jetzt das Kommunikatorrelais des Schiffes zum Laufen gebracht, Mylord. Sie sollten mich auf Kanal 12 hören können, wenn Sie umschalten. Die Mediziner sind alle auf 13.« Hastig schaltete Miles den Kommunikator seines Anzugs ein. »Hören Sie mich?« Roics Stimme erklang jetzt neben seinem Ohr. »Ja, Mylord. Viel besser.« »Haben wir die Anschlussröhren abgestoßen und uns schon von den Andockklampen entfernt?« Roic blickte etwas ungehalten drein. »Nein, Mylord.« Als Miles fragend das Kinn hob, fügte er hinzu: »Äh … sehen Sie, ich bin allein. Ich habe noch nie ein Sprungschiff gesteuert.« 334
»Wenn man nicht gerade tatsächlich springt, dann ist es einfach wie ein Shuttle«, versicherte ihm Miles. »Nur größer.« »Ich habe auch noch nie einen Shuttle gesteuert.« »Ach so. Nun, dann kommen Sie mal. Ich zeige Ihnen, wie man das macht.« Roic beobachtete ihn ernst und voller Bewunderung, während Miles verheimlichte, dass er nach der Steuerung des Röhrenverschlusses suchte – ah, da war sie. Er brauchte drei Versuche, um mit der Flugkontrolle der Station und danach mit der Abteilung Docks und Schleusen in Kontakt zu kommen – wenn nur Bel da gewesen wäre, dann hätte er auf der Stelle diese Aufgabe delegiert … Miles biss sich in die Lippe, überprüfte noch einmal die Entwarnung von der Ladebucht – es wäre die Krönung der Vielzahl von Peinlichkeiten bei dieser Mission gewesen, wenn das Schiff beim Ablegen von der Station die Andockklampen herausgerissen, die Ladebucht dekompressiert und eine unbekannte Anzahl von Quaddie-Polizisten, die dort Wache standen, getötet hätte. Er raste von der Nachrichtenstation zum Pilotensessel, schob den Sprunghelm beiseite und ballte seine behandschuhten Hände kurz zu Fäusten, bevor er die manuelle Steuerung aktivierte. Ein wenig sanfter Druck von den seitlichen Korrekturtriebwerken, ein bisschen Geduld und ein Gegenstoß von der gegenüberliegenden Seite ließ die ausgedehnte Masse der Idris einen hübschen Steinwurf von der Flanke der Station Graf entfernt im Weltraum schweben. Nicht, dass ein Stein, der dort draußen geworfen wurde, etwas anderes tun würde als immerzu weiterzufliegen … 335
Keine Bio-Seuche kann diese Lücke überbrücken, dachte er mit Genugtuung, dann erinnerte er sich sofort daran, was die Cetagandaner mit Sporen anstellen konnten. Hoffe ich. Verspätet fiel ihm ein, dass wiederanzudocken – falls der Arzt der Prinz Xav nach dem Biokontaminationsalarm Entwarnung gab – eine wesentlich heiklere Aufgabe sein würde. Nun ja, wenn er das Schiff freigibt, dann können wir einen Piloten einfliegen. Er las von einer digitalen Wanduhr die Zeit ab. Seit sie Bel gefunden hatten, war kaum eine Stunde vergangen. Ihm kam es vor wie ein Jahrhundert. »Sie sind auch Pilot?«, erklang eine überraschte, gedämpfte weibliche Stimme. Miles schwang im Pilotensessel herum und entdeckte die drei Quaddies in ihren Schwebern in der Tür des Steuerraums. Alle trugen jetzt für Quaddies angefertigte Biotainer-Anzüge in blassem medizinischem Grün. Sein Auge konnte sie schnell unterscheiden. Venn war massiger, Eichmeisterin Greenlaw ein wenig kleiner. Richter Leutwyn bildete die Nachhut. »Nur in einem Notfall«, räumte er ein. »Woher haben Sie die Anzüge bekommen?« »Meine Leute haben sie in einer Drohnenkapsel von der Station herübergeschickt«, erwiderte Venn. Auch er trug seinen Betäuber in einem Halfter an der Außenseite seines Anzugs. Miles hätte es vorgezogen, wenn die Zivilisten sicher drunten im Frachtrumpf eingeschlossen geblieben wären, aber dagegen konnte man jetzt sichtlich nichts mehr tun. »Die immer noch an der Schleuse hängt, ja«, kam Venn 336
Miles’ Frage zuvor. »Danke«, sagte Miles sanft. Er wollte sich unbedingt übers Gesicht wischen und die juckenden Augen reiben, aber er konnte nicht. Was kam als Nächstes? Hatte er alles getan, was er konnte, um diese Sache in Schach zu halten? Sein Auge fiel auf den Dekontaminator, der über Roics Schulter hing. Es wäre wahrscheinlich eine gute Idee, diesen wieder zurück in die Technikabteilung zu bringen und ihre Spuren zu sterilisieren. »Mylord?«, fragte Roic schüchtern. »Ja. Gefolgsmann?« »Ich habe nachgedacht. Die Nachtwache hat gesehen, wie der Hafenmeister und der Ba das Schiff betraten, aber niemand hat berichtet, dass jemand wieder weggegangen sei. Wir haben Thorne gefunden. Ich habe mich gefragt, wie der Ba vom Schiff gekommen ist.« »Danke, Roic, ja. und wie lange das her ist. Eine gute Frage, die wir als Nächstes verfolgen sollten.« »Immer wenn sich eine der Luken der Idris öffnet, dann starten deren Schleusen-Vidrekorder automatisch. Wir sollten, glaube ich, in der Lage sein, von hier aus auf die Schleusenaufzeichnungen zuzugreifen, genauso wie von Solians Sicherheitsbüro aus.« Roic warf einen etwas verzweifelten Blick auf die einschüchternde Reihe von Arbeitsplätzen im Steuerraum. »Irgendwo.« »Das sollten wir in der Tat.« Miles verließ den Pilotensessel und wechselte zum Platz des Flugtechnikers über. Er suchte ein wenig unter den Steuerelementen herum, dann folgte eine kleine Verzögerung, bis eine von Roics Master337
code-Bibliotheken die Sperren überwand, und schließlich konnte Miles ein Duplikat der Datei mit den Sicherheitsaufzeichnungen von der Luftschleuse aufrufen, die sie in Solians Büro gefunden hatten und auf deren Sichtung sie mit trüben Augen so viele Stunden verwendet hatten. Er stellte die Suche auf eine chronologisch umgekehrte Folge ein. Die jüngsten Aufnahmen erschienen als Erstes auf der Vid-Scheibe, eine hübsche Einstellung von der automatischen Drohnenkapsel, die an der Außenbord-Personenschleuse des Frachtrumpfes Nr. 2 andockte. Venn, beunruhigt dreinblickend, sauste mit seinem Schweber in die Schleuse. Er pendelte hin und her und überreichte grüne Anzüge, die in Plastikbeutel zusammengefaltet waren, an wartende Hände, dazu verschiedene andere Objekte: eine große Schachtel mit Erste-Hilfe-Vorräten, einen Werkzeugkasten, einen Dekontaminator, der dem von Roic ähnelte, und dazu offensichtlich einige Waffen, die mehr Wirkung haben dürften als Betäuben Miles brach die Szene ab und ließ die Suche rückwärts laufen. Nur Minuten zuvor kam der barrayaranische militärische Sanitätstrupp in einem kleinen Shuttle von der Prinz Xav an und betrat das Schiff über die Personenschleusen von Rumpf Nr. 5. Die drei Sanitätsoffiziere und Roic waren deutlich zu identifizieren, wie sie eilig ihre Ausrüstung ausluden. Als Nächstes erschien eine Frachtschleuse in einem der Necklin-Antriebsrümpfe, und Miles hielt den Atem an. Eine Gestalt in einem massigen Anzug für Außenbordreparaturen, der mit Seriennummern von der Technik338
abteilung der Idris gekennzeichnet war, stapfte schwerfällig an der Vid-Kamera vorbei und begab sich mit einem kurzen Stoß der Anzugsdüsen ins Vakuum. Die Quaddies, die hinter Miles’ Schulter schwebten, murmelten und zeigten auf die Figur; Greenlaw dämpfte einen Ausruf, und Venn schluckte einen Fluch hinunter. Die nächste Aufnahme stammte von ihnen selbst – den drei Quaddies, Miles und Roic –, wie sie das Schiff von der Ladebucht aus zu ihrer Inspektion betraten, vor wie vielen Stunden das auch immer gewesen sein mochte. Miles schaltete sofort zurück zu der geheimnisvollen Gestalt in dem Technikeranzug. Wann …? »Schauen Sie, Mylord!«, rief Roic aus. »Er haut ab, keine zwanzig Minuten, bevor wir den Hafenmeister fanden. Der Ba muss noch an Bord gewesen sein, als wir das Schiff betraten!« Selbst durch seine Gesichtsscheibe hindurch war zu sehen, dass sein Gesicht eine grünliche Färbung annahm. War Bels rätselhafte Verfrachtung in das BodPod ein teuflisch arrangiertes Ablenkungsmanöver gewesen? Konnten der Krampf in Miles’ Bauch und die Enge in seiner Kehle die ersten Anzeichen einer biotechnisch ausgetüftelten Seuche darstellen …? »Ist das Ihr Verdächtiger?«, fragte Leutwyn nervös. »Wohin hat er sich begeben?« »Wissen Sie, wie groß die Reichweite dieser schweren Anzüge ist, Lord Auditor?«, fragte Venn eindringlich. »Die? Da bin ich mir nicht sicher. Sie sind dafür bestimmt, dass jemand stundenlang außerhalb des Schiffes arbeitet, deshalb vermute ich, dass sie, wenn sie voll ver339
sorgt sind mit Sauerstoff. Treibstoff und Strom … verdammt nah an die Reichweite einer kleinen Personenkapsel herankommen.« Die Reparaturanzüge ähnelten militärischen Raumrüstungen, außer dass sie eine Reihe von eingebauten Werkzeugen hatten anstatt von eingebauten Waffen. Zu schwer selbst für einen starken Mann, um darin gehen zu können, wurden sie voll mit Energie betrieben. Der Ba hätte darin zu jedem Punkt auf der Station Graf gelangen können. Schlimmer noch, der Ba hätte zu einem Treffpunkt mitten im Raum mit einem cetagandanischen Mitagenten fliegen können, oder vielleicht mit einem bestochenen oder einfach übers Ohr gehauenen lokalen Helfer. Der Ba konnte inzwischen Tausende von Kilometern entfernt sein, und der Abstand würde mit jeder Sekunde größer. Unterwegs, um mit einer weiteren gefälschten Identität ein anderes Quaddie-Habitat zu betreten, oder sogar zu einem Rendezvous mit einem vorüberreisenden Sprungschiff, um völlig aus dem Quaddie-Raum zu entkommen. »Der Sicherheitsdienst der Station befindet sich in vollem Alarmzustand«, sagte Venn. »Ich habe alle meine Polizisten und die gesamte Miliz der Eichmeisterin im Dienst auf der Suche nach dem Kerl – der Person. Dubauer kann nicht unbeobachtet wieder an Bord der Station gekommen sein.« Ein leises Beben des Zweifels in Venns Stimme unterminierte die Sicherheit dieser Aussage. »Ich habe der Station eine volle Biokontaminationsquarantäne auferlegt«, sagte Greenlaw. »Alle ankommenden Schiffe und Fahrzeuge werden abgewiesen oder nach Station Union umgelenkt, und keines, das jetzt angedockt 340
ist, darf weg. Wenn der Flüchtling schon wieder an Bord ist – er kommt nicht weg.« Nach dem starren Gesichtsausdruck der Eichmeisterin zu schließen, war sie sich keineswegs sicher, ob das gut war. Miles hatte Mitgefühl mit ihr. Fünfzigtausend potenzielle Geiseln … »Wenn er irgendwo anders hin geflohen ist … wenn unsere Leute diesen Flüchtigen nicht auf der Stelle aufspüren können, dann werde ich die Quarantäne auf den gesamten Quaddie-Raum ausdehnen müssen.« Was wäre die wichtigste Aufgabe für den Ba, jetzt, wo die Verfolgung eröffnet war? Er musste erkennen, dass die strenge Geheimhaltung, auf die er sich zum Schutz bisher verlassen hatte, unwiederbringlich dahin war. War er sich bewusst, wie dicht ihm seine Verfolger auf den Fersen waren? Würde er immer noch Gupta ermorden wollen, um das Schweigen des jacksonischen Schmugglers sicherzustellen? Oder würde er diese Jagd aufgeben, schlimmeren Verlusten vorbeugen und abhauen, wenn er konnte? In welche Richtung versuchte er sich zu bewegen, wieder hinein oder hinaus? Miles’ Blick fiel auf das Vid-Bild des Arbeitsanzugs, das über der Scheibe erstarrt war. Verfügte dieser Anzug über eine solche Telemetrie wie eine Raumrüstung? Noch genauer – war er mit der Art von Ersatz-Fernsteuerung ausgestattet, wie sie einige Raumanzüge hatten? »Roic! Als Sie unten in den Schränken mit den Technikeranzügen nach diesem Druckanzug suchten, haben Sie da eine automatische Befehls- und Steuerungsstation für diese energiebetriebenen Reparaturanzüge gesehen?« »Ich … dort drunten gibt es einen Steuerraum, Mylord. 341
Ich bin daran vorbeigekommen. Ich weiß nicht, was da alles drin sein könnte.« »Ich habe eine Idee. Folgen Sie mir.« Er erhob sich von dem Stuhl und verließ den Navigationsraum in einem schwankenden Trab, wobei sein Biotainer-Anzug unschön an ihm herumrutschte. Roic schritt hinterher; die neugierigen Quaddies folgten in ihren Schwebern. Der Steuerraum war kaum mehr als ein Kabuff, aber er wies eine Telemetrie-Station für Wartungs- und Reparaturarbeiten im Außenbereich auf. Miles ließ sich auf dem entsprechenden Sitz nieder und verfluchte den großen Menschen, der den Sitz in einer Höhe eingestellt hatte, die seine Stiefel in der Luft baumeln ließ. Die permanenten Displays zeigten einige Echtzeit-Vid-Aufnahmen von kritischen Bereichen der äußeren Anatomie des Schiffs, die Richtungsantennen, den Masseschildgenerator und die allgemeinen Korrekturtriebwerke für den Normalraum eingeschlossen. Miles überflog eine verwirrende Fülle von Daten von Sensoren für die bauliche Sicherheit, die über das ganze Schiff verstreut waren. Schließlich meldete sich das Steuerprogramm für die Arbeitsanzüge. Sechs Anzüge wurden überwacht. Miles rief die visuelle Telemetrie von ihren Helm-Vids auf. Fünf antworteten mit Bildern leerer Wände, den Innenseiten ihrer entsprechenden Aufbewahrungssehränke. Der sechste gab ein helleres Bild zurück, das aber rätselhafter war, denn es zeigte eine gebogene Wand. Es blieb so statisch wie die Ansichten von den Anzügen in den Schränken. Miles forderte von diesem Anzug eine volle Übert342
ragung aller telemetrischen Daten. Der Anzug war eingeschaltet, aber untätig. Es gab medizinische Sensoren für grundlegende Daten, nur Herzschlag und Atmung, sie waren aber abgeschaltet. Die Anzeigen der Lebenserhaltungssysteme behaupteten, der Atemrecycler sei voll in Funktion, innere Feuchtigkeit und Temperatur zeigten plausible Werte, aber das System schien keine Last zu tragen. »Er kann nicht weit weg sein«, sagte Miles über die Schulter zu seinen Zuhörern. »In meiner Kommunikatorverbindung gibt es keine Zeitverzögerung.« »Das erleichtert einen aber.« Greenlaw seufzte. »So?«, murmelte Leutwyn. »Wen denn?« Miles streckte seine Schultern, die vor Spannung schmerzten, und beugte sich erneut über die Displays. Der eingeschaltete Anzug musste irgendwo eine externe Hauptsteuerung haben; das war eine allgemeine Sicherheitseinrichtung an diesen zivilen Modellen für den Fall, dass der Mann in dem Anzug plötzlich verletzt, krank oder handlungsunfähig werden sollte …ach ja, da war sie. »Was tun Sie da, Mylord?«, fragte Roic unbehaglich. »Ich glaube, ich kann über die Notfallschaltung die Steuerung von dem Anzug übernehmen und ihn wieder an Bord bringen.« »Mit dem Ba darin? Ist das eine gute Idee?« »Wir werden es gleich wissen.« Er packte die Joysticks, die sich unter seinen Handschuhen schlüpfrig anfühlten, bekam die Kontrolle über die Düsen des Anzugs und versuchte einen sanften Stoß. Der Anzug begann sich langsam zu bewegen, schrammte an der 343
Wand entlang und drehte sich dann weg. Das rätselhafte Bild wurde verständlich – Miles schaute auf die Außenseite der Idris. Der Anzug war versteckt gewesen, eingeklemmt in der Ecke zwischen zwei Rümpfen. Niemand in dem Anzug wehrte sich gegen seine Entführung. Ein neuer und äußerst beunruhigender Gedanke kam Miles. Vorsichtig brachte Miles den Anzug wieder um die Außenseite des Schiffes herum zu der Schleuse, die der Technikabteilung am nächsten lag, an der Außenseite eines der Rümpfe mit den Necklin-Stäben; es war dies die J Schleuse, durch die der Anzug nach draußen gelangt war. Er öffnete die Schleuse und dirigierte den Anzug, dessen Servos ihn aufrecht hielten, herein. Das Licht spiegelte sich in seiner Gesichtsscheibe und verbarg, was immer darin sein mochte. Miles öffnete die innere Schleusentür nicht. »Und was jetzt?«, fragte er in den Raum hinein. Venn blickte auf Roic. »Ich glaube, Ihr Gefolgsmann und ich haben Betäuber. Wenn Sie den Anzug steuern, dann steuern Sie die Bewegungen des Gefangenen. Bringen Sie ihn herein, und wir verhaften den Mistkerl.« »Der Anzug hat auch manuelle Fähigkeiten. Wer immer darin steckt und … am Leben und bei Bewusstsein war. sollte in der Lage gewesen sein, gegen mich zu kämpfen.« Miles räusperte sich voller Besorgnis. »Ich habe mich gerade gefragt, ob Bruns Ermittler auch in diese Anzüge hineinschauten, als sie nach Solian suchten, an jenem Tag, als er verschwand. Und … äh … wie er jetzt beieinander ist – in welchem Zustand seine Leiche jetzt sein mag.« Roic stieß einen leisen Ton aus und protestierte vorwurfsvoll: Mylord! Miles war sich nicht sicher, wie er dies 344
genau interpretieren sollte, aber er meinte, es könnte etwas damit zu tun haben, dass Roic seine letzte Mahlzeit im Magen behalten und nicht über die ganze Innenseite seines Helms erbrechen wollte. Nach einer kurzen, bedeutsamen Pause sagte Venn: »Dann sollten wir ihn uns mal besser anschauen. Eichmeisterin, Richter – warten Sie hier.« Die beiden hohen Beamten widersprachen ihm nicht. »Würden Sie gerne bei Ihnen zurückbleiben, Mylord?«, schlug Roic versuchsweise vor. »Wir alle suchen seit Wochen nach dem armen Kerl«, erwiderte Miles entschlossen. »Wenn er das ist, dann möchte ich der Erste sein, der es erfährt.« Er gestattete jedoch Roic und Venn, dass sie ihm von der Technikabteilung durch die Schleusen in den Rumpf mit dem Necklin-Feldgenerator vorausgingen. An der Schleuse zog Venn seinen Betäuber und bezog Stellung. Roic spähte durch das Guckloch in der inneren Tür der Luftschleuse. Dann drückte seine Hand die Schleusensteuerung herunter, die Tür öffnete sich, und Roic schritt hindurch. Einen Moment später erschien er wieder und schleifte den schweren Arbeitsanzug hinter sich her. Mit der Gesichtsscheibe nach oben legte er ihn auf den Boden des Korridors. Miles trat näher heran und spähte auf die Gesichtsscheibe. Der Anzug war leer.
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15 »Öffnen Sie ihn nicht!«, rief Venn erschrocken. »Das hatte ich nicht vor«, erwiderte Miles sanft. Nicht für alles Geld der Welt. Venn schwebte näher heran, schaute über Miles’ Schulter hinweg hinunter und fluchte. »Der Mistkerl ist entkommen! Aber zur Station oder zu einem Schiff?« Er wich zurück, steckte seinen Betäuber in eine Tasche seines grünen Anzugs, und begann in den Kommunikator seines Helms zu brabbeln: er alarmierte sowohl den Sicherheitsdienst der Station und die Quaddie-Miliz, sie sollten alles verfolgen, anhalten und beschlagnahmen – Schiff, Kapsel oder Shuttle –, was in den letzten drei Stunden auch nur seine Ruhezone an der Außenseite der Station verlagert hatte. Miles stellte sich die Flucht vor. Hatte der Ba sich vielleicht in dem Reparaturanzug wieder an Bord der Station begeben, bevor Greenlaw die Quarantäne verhängt hatte? Ja, vielleicht. Das Zeitfenster war schmal, aber es war möglich. Aber wie hatte er in diesem Fall den Anzug zu dem Versteck außerhalb der Idris zurückgebracht? Es wäre für den Ba sinnvoller gewesen, wenn er von einer Personenkapsel abgeholt worden wäre – von denen sausten dort draußen ständig jede Menge umher – und dann den Anzug mit einem Traktorstrahl in sein Versteck befördert oder ihn von jemand anderem in einem weiteren energiegetriebenen Anzug hätte abschleppen und wegstecken lassen. Aber die Idris stand wie alle anderen barrayaranischen und komarranischen Schiffe unter Bewachung durch die 346
Quaddie-Miliz. Wie oberflächlich war diese Bewachung von außen? Bestimmt nicht so unaufmerksam. Doch eine Person, eine große Person, die in diesem Steuerkabuff saß und die Joysticks bediente, hätte durchaus den Anzug zur Luftschleuse hinausgehen und schnell um den Rumpf herumfliegen lassen und ihn dann geschickt genug verstecken können, dass er der Aufmerksamkeit der Milizwachen entging. Dann mochte er von dem Sitz aufgestanden sein und …? Miles juckten die Handflächen in seinen Handschuhen wie verrückt, und er rieb sie aneinander in dem vergeblichen Versuch, sich Erleichterung zu verschaffen. Er hätte alles dafür gegeben, sich seine Nase reiben zu können. »Roic«, sagte er langsam, »erinnern Sie sich, was der hier«, er stieß mit der Fußspitze gegen den Reparaturanzug, »in der Hand hatte, als er zur Luftschleuse hinausging?« »Hm … nichts. Mylord.« Roic drehte sich leicht und warf Miles durch seine Gesichtsscheibe hindurch einen fragenden Blick zu. »Das habe ich mir doch gedacht.« Ganz recht. Wenn Miles’ Vermutung stimmte, dann hatte sich der Ba vom bevorstehenden Mord an Gupta abgewandt, um die Chance zu ergreifen. Bel dazu zu benutzen, um wieder an Bord der Idris zu gelangen und etwas – was? – mit seiner Fracht anzustellen. Sie zu vernichten? Der Ba hätte sicher nicht so lange gebraucht, um die Replikatoren mit einem geeigneten Gift zu impfen. Er wäre sogar in der Lage gewesen, zwanzig auf einmal zu erledigen, wenn er die giftige Substanz in das Ernährungssystem eines jeden Regals gegeben hätte. Oder – noch einfacher, wenn er nur die ihm 347
Anvertrauten hätte töten wollen – er hätte einfach alle Ernährungssysteme abschalten können, eine Arbeit von nur wenigen Minuten. Aber individuelle Zellproben zum Einfrieren zu entnehmen und zu kennzeichnen, ja, das konnte durchaus die ganze Nacht und auch noch den ganzen Tag gedauert haben. Wenn der Ba alles riskiert hatte, um das zu tun, würde er dann das Schiff ohne seinen Kühlkoffer in der Hand verlassen? »Der Ba hatte über zwei Stunden, um eine Flucht zu bewerkstelligen. Natürlich würde er nicht verweilen …«. murmelte Miles, doch es klang nicht überzeugt. Zumindest Roic bekam das Schwanken seines Herrn sofort mit; sein Helm drehte sich Miles zu, und er runzelte die Stirn. Sie mussten die Druckanzüge zählen und jede Schleuse überprüfen, um zu sehen, ob einer der Vid-Monitore manuell außer Betrieb gesetzt worden war. Nein, das war zu langsam – das wäre eine schöne Aufgabe der Spurensicherung, die man delegieren könnte, wenn man über das entsprechende Personal verfugte, aber Miles fühlte sich gerade im Augenblick der Gehilfen beraubt. Und was war, wenn man entdeckte, dass ein weiterer Anzug fehlte? Die Verfolgung frei herumlaufender Anzüge war ein Job, dem sich auf Venns Befehl schon die Quaddies um die Station herum zuwandten. Doch wenn kein anderer Anzug verschwunden war … Und Miles selbst hatte gerade die Idris in eine Falle verwandelt. Er schluckte. »Ich wollte gerade sagen, wir müssen die Anzüge zählen, aber ich habe eine bessere Idee. Ich glaube, wir sollten in den Navigationsraum zurückkehren und das 348
Schiff von dort aus sektionsweise abschließen. Alle Waffen sammeln, die wir zur Verfügung haben, und eine systematische Suche durchführen.« Venn rutschte in seinem Schwebesessel hin und her. »Was? Glauben Sie etwa, dieser cetagandanische Agent könnte noch an Bord sein?« »Mylord«. mischte sich Roic mit untypisch scharfer Stimme ein. »was ist mit Ihren Handschuhen los?« Miles starrte auf seine Hände und hielt sie hoch. Der Atem stockte ihm in der Brust. Der dünne, feste Stoff seiner Biotainer-Handschuhe zerfiel in Fetzen, die nur noch lose wie an Fäden hingen; durch das Gewebe waren seine Handflächen rot zu sehen. Das Jucken schien sich verdoppelt zu haben. Er stieß den zurückgehaltenen Atem aus und knurrte: »Mist!« Venn kam näher heran, erfasste den Schaden mit geweiteten Augen und schreckte zurück. Miles hielt die Hände hoch und auseinander. »Venn, holen Sie Greenlaw und Leutwyn und übernehmen Sie den Navigationsraum. Sichern Sie sich und die Krankenstation, in dieser Reihenfolge. Roic, gehen Sie mir voraus zur Krankenstation. Öffnen Sie die Türen für mich.« Er hielt einen unnötigen Schrei Rennen Sie! zurück; Roic holte Luft, was über den Kommunikator des Anzugs zu hören war, und setzte sich schon in Bewegung. Im Kielwasser des langbeinigen Roic schlängelte Miles sich durch das halbdunkle Schiff; er berührte nichts und erwartete, dass es ihn bei jedem Herzschlag zerreißen würde. Wo hatte er sich diese teuflische Kontamination geholt? War noch jemand anderer davon betroffen? Alle anderen? 349
Nein. Es mussten die Joysticks der Steuerung des Reparaturanzugs gewesen sein. Sie hatten sich unter seinen behandschuhten Händen fettig angefühlt. Er hatte sie fester gepackt, erpicht darauf, den Anzug wieder an Bord zu bringen. Er hatte den Köder angenommen … Nun war er sich mehr denn je sicher, dass der Ba einen leeren Anzug zur Luftschleuse hatte hinausspazieren lassen. Und dann hatte er eine Falle aufgebaut für jeden Klugscheißer, der die Geschichte mit dem Anzug zu früh herausfand. Er stürzte durch die Tür zur Krankenstation, vorbei an Roic, der zur Seite trat, und direkt weiter durch die blau beleuchtete innere Tür zu dem gegen Biokontamination abgeriegelten Krankensaal. Ein MedTech in Schutzanzug sprang überrascht auf. Miles aktivierte Kanal 13 und stieß hervor: »Jemand soll bitte …«, dann verstummte er. Er hatte rufen wollen: … das Wasser für mich andrehen! und dann seine Hände in ein Waschbecken halten, aber wohin ging dann das Wasser? »Helfen«, beendete er seinen Appell etwas leiser. »Was ist, Mylord Audi …«, begann der Chefarzt, als er aus dem Baderaum trat; dann erfasste sein Blick Miles’ hochgehaltene Hände. »Was ist denn geschehen?« »Ich glaube, ich bin in eine Falle getappt. Sobald Sie jemanden frei haben, schicken Sie ihn doch mit Gefolgsmann Roic hinunter zur Technikabteilung und lassen Sie ihn dort eine Probe von der Fernsteuerung der Reparaturanzüge nehmen. Sie scheint mit einem starken Ätzmittel oder Enzym und … und ich weiß nicht was sonst beschmiert worden zu sein.« »Den sonischen Wascher«, fauchte Flottenarzt Clogston 350
über die Schulter dem MedTech zu, der den provisorischen Labortisch kontrollierte. Der Mann kramte hastig in den gestapelten Geräten und Materialien herum. Dann kehrte er zurück und schaltete das Gerät ein; Miles hielt ihm beide brennenden Hände entgegen. Die Maschine dröhnte, während der MedTech den gerichteten Vibrationsstrahl über die befallenen Gebiete wandern ließ und das mächtige Vakuum die losen Überbleibsel, makroskopische wie mikroskopische, in den verschlossenen Auffangbeutel saugte. Der Arzt beugte sich mit einem Skalpell und einer Pinzette dazwischen und schnitt und riss die restlichen Fetzen der Handschuhe ab, die ebenfalls in das Behältnis gesaugt wurden. Der Wascher schien wirksam zu sein; Miles’ Hände fühlten sich nicht mehr so schlimm an, auch wenn sie noch immer pulsierten. War seine Haut verletzt? Er führte seine nun bloßen Handflächen näher an die Gesichtsscheibe heran, womit er den Arzt behinderte, der leise zischte. Ja, rote Bluttropfen quollen aus den Falten des geschwollenen Gewebes hervor. Mist. Mist, Mist … Clogston richtete sich auf und blickte um sich, die Lippen zu einer Grimasse verzogen. »Ihr Biotainer-Anzug ist völlig versaut, Mylord.« »An dem anderen Anzug gibt es noch ein Paar Handschuhe«, erklärte Miles. »Die könnte ich mir holen.« »Noch nicht.« Clogston beschmierte Miles’ Hände eilends mit einem geheimnisvollen klebrigen Zeug und wickelte sie in Biotainer-Schutztücher, die er an den Handgelenken zuband. Es war Miles, als trüge er Fausthandschuhe über Hände voller Schleim, aber der brennende 351
Schmerz ließ nach. Am anderen Ende des Raums steckte der Techniker Fragmente eines der kontaminierten Handschuhe in ein Analysegerät. War der dritte Mann drinnen bei Bel? Befand sich Bel noch in dem Eisbad? War er noch am Leben? Miles tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug. »Haben Sie schon eine Diagnose bezüglich Hafenmeister Thorne?« »O ja, wir haben sie gerade geliefert bekommen«, sagte Clogston in einem etwas zerstreuten Ton, während er noch die zweite Umwicklung an Miles’ Handgelenk abschloss. »Als wir die erste Blutprobe durchlaufen ließen. Was zum Teufel wir dagegen tun können, ist noch nicht offensichtlich, aber ich habe einige Ideen.« Er richtete sich wieder auf und blickte mit tief gerunzelter Stirn auf Miles’ Hände. »Im Blut und Gewebe des Herms wimmelt es von künstlichen – das heißt, biologisch manipulierten – Parasiten.« Er blickte auf. »Sie scheinen eine anfängliche, latente, asymptomatische Phase zu haben, während der sie sich schnell im ganzen Körper vermehren. Dann schalten sie zu einem bestimmten Zeitpunkt – möglicherweise ausgelöst durch ihre eigene Konzentration – um auf die Produktion zweier chemischer Stoffe in verschiedenen Bläschen ihrer eigenen zellulären Membran. Die Bläschen werden prall gefüllt. Ein Anstieg der Körpertemperatur des Opfers löst das Platzen der Bläschen aus, und die chemischen Stoffe ihrerseits reagieren heftig exothermisch miteinander – töten die Parasiten, schädigen das umgebende Gewebe des Wirtes und regen noch mehr nahe Parasiten an, zu explodieren. Winzige Nadelspitzenbomben im ganzen Körper. Es ist«, in seiner Stimme klang widerwillige Bewunderung an, 352
»elegant. Auf eine grässliche Art.« »Hat – hat dann meine Eiswasserbehandlung Thorne geholfen?« »Ja, unbedingt. Das Absenken der Kerntemperatur hat die Kaskade vorübergehend angehalten. Die Parasiten hatten schon fast die kritische Konzentration erreicht.« Miles kniff die Augen in einem Aufwallen von Dankbarkeit zusammen. Dann öffnete er sie wieder. »Vorübergehend?« »Ich habe noch nicht herausgefunden, wie wir die verdammten Dinger loswerden. Wir versuchen einen chirurgischen Shunt in einen Blutfilter umzuwandeln, um sowohl die Parasiten mechanisch aus dem Blutstrom des Patienten zu entfernen als auch das Blut auf ein kontrolliertes Grad abzukühlen, bevor wir es dem Körper wieder zuführen. Ich glaube, ich kann die Parasiten veranlassen, selektiv über den Schlauch des Shunts auf einen angewandten Elektrophoresegradienten zu reagieren und sie so direkt aus dem Blutstrom herausholen.« »Wäre es dann damit geschafft?« Clogston schüttelte den Kopf. »Mit dieser Methode kommt man nicht an die Parasiten heran, die in anderem Gewebe wohnen und Reservoire der Wiederansteckung darstellen. Es ist keine Heilung, aber ich glaube, wir könnten damit Zeit gewinnen. Eine Heilung müsste irgendwie die Parasiten im Körper bis auf den letzten töten, sonst würde der Prozess wieder von vorn beginnen.« Er verzog den Mund. »Mit internen Vermiziden könnte es verzwickt werden. Wenn man etwas injiziert, das die schon aufgeschwollenen Parasiten im Gewebe tötet, dann würde das 353
bloß ihre chemischen Ladungen auslösen. Schon sehr kleine derartige Mikroverletzungen würden ein teuflisches Spiel mit dem Kreislauf treiben, Wiederherstellungsprozesse überlasten, heftige Schmerzen verursachen – es ist … es ist verzwickt.« »Wird dadurch Gehirngewebe zerstört?«, fragte Miles. Ihm war übel. »Am Ende schon. Sie scheinen die Blut-Hirn-Barriere nicht sehr leicht zu überwinden. Ich glaube, das Opfer wäre bei Bewusstsein bis zu einer … äh … sehr späten Phase der Auflösung.« »Oh.« Miles versuchte zu entscheiden, ob das gut oder schlecht wäre. »Jetzt etwas Positives«, brachte der Arzt vor, »ich könnte den Biokontaminationsalarm von Stufe 5 auf Stufe 3 herabsetzen. Die Parasiten scheinen direkten Blut-zu-BlutKontakt zu brauchen, um auf einen anderen überzuspringen. Außerhalb eines Wirtes scheinen sie nicht lange zu überleben.« »Sie können sich nicht durch die Luft ausbreiten?« Clogston zögerte. »Nun, vielleicht nicht, bis der Wirt beginnt Blut zu husten.« Bis, nicht wenn nicht. Miles bemerkte die Wortwahl. »Ich fürchte, es ist noch zu früh, um von einer Senkung der Alarmstufe zu sprechen. Da draußen treibt sich immer noch ein cetagandanischer Agent herum, der mit unbekannten Biowaffen ausgestattet ist – na ja, unbekannt mit Ausnahme derjenigen, die uns nur allzu bekannt wird.« Er atmete vorsichtig ein und zwang seine Stimme, ruhig zu klingen. »Wir haben Indizien gefunden, die den Gedanken 354
nahe legen, dass der Agent sich noch an Bord dieses Schiffes befindet. Sie müssen Ihren Arbeitsbereich gegen einen möglichen Eindringling schützen.« Flottenarzt Clogston fluchte. »Habt ihr das gehört, Jungs?«,rief er über Kommunikator seinen MedTechs zu. »Oh, großartig«, antwortete man ihm angewidert. »Genau, was wir jetzt im Augenblick brauchen.« »Hey, wenigstens ist es etwas, worauf wir schießen können«, bemerkte eine andere Stimme fast sehnsüchtig. Ah, die Barrayaraner! Miles wurde es warm ums Herz. »Ja, und zwar sofort«, bestätigte er. Diese Leute waren militärisches Sanitätspersonal; sie trugen alle Handwaffen mit sich, Gott sei Dank. Sein Blick huschte über den Krankensaal und den angrenzenden Raum der Sanitätsstation und zählte Schwachpunkte zusammen. Es gab nur einen Eingang, aber war das eine Schwäche oder eine Stärke? Die äußere Tür war auf jeden Fall günstig zu halten und schützte den Krankensaal dahinter; Roic hatte dort ganz automatisch Stellung bezogen. Jedoch schien ein traditioneller Angriff mit Betäuber, Plasmabogen oder Granate … nur unzureichend vorstellbar. Hier hing man noch am Luftkreislauf und an der Stromversorgung des Schiffes, aber von allen Sektionen musste diese hier für beides ihr eigenes Notfallreservoir haben. Die militärischen Biotainer-Anzüge für Stufe 5, welche die Mediziner trugen, dienten auch als Druckanzüge und verfügten über eine komplette interne Luftzirkulation. Das galt nicht für Miles’ billigeren Anzug, selbst bevor er seine Handschuhe verloren hatte; seine Luftversorgung holte sich 355
die Luft aus der Umgebung, und zwar durch Filter und Sterilisatoren. Im Falle eines Druckabfalls würde sein Anzug sich in einen steifen, sperrigen Ballon verwandeln und vielleicht sogar an einer schwachen Stelle platzen. Natürlich gab es an den Wänden Schränke mit BodPods. Miles stellte sich vor, wie er in einem BodPod eingeschlossen war, während das Geschehen ohne ihn weiterging. Angesichts der Tatsache, dass er schon … – was immer diese Ansteckung sein mochte – ausgesetzt war, konnte es eigentlich die Dinge nicht noch schlimmer machen, wenn er sich aus seinem Biotainer-Anzug lange genug herausschälte, um sich in etwas Dichteres zu begeben, oder? Er starrte auf seine Hände und fragte sich, warum er noch nicht tot war. Konnte das Zeug, das er berührt hatte, bloß ein einfaches Korrosionsmittel gewesen sein? Miles zog unbeholfen mit der eingewickelten Hand seinen Betäuber aus der Schenkeltasche und ging zurück durch die blauen Lichtstriche, welche die Biobarriere markierten. »Roic, ich möchte, dass Sie noch mal zur Technikabteilung hinuntersausen und mir den kleinsten Druckanzug holen, den Sie finden können. Ich werde hier Wache halten, bis Sie zurückkommen.« »Mylord«, begann Roic in zweifelndem Ton. »Lassen Sie Ihren Betäuber draußen und geben Sie Acht nach rückwärts. Wir sind alle hier, also wenn Sie etwas sehen, das sich bewegt und nicht grün wie ein Quaddie ist, dann schießen Sie als Erster.« Roic schluckte mannhaft. »Ja, nun, schauen Sie. dass Sie hier bleiben, Mylord. Sausen Sie nicht auf eigene Faust 356
ohne mich los!« »Ich würde nicht im Traum daran denken«, versprach Miles. Roic galoppierte davon. Miles verbesserte seinen linkischen Griff um den Betäuber. stellte sicher, dass er auf maximale Kraft eingestellt war und nahm eine Position ein, die teilweise von der Tür geschützt war. Von dort starrte er mit finsterem Blick den zentralen Korridor entlang hinter der wegeilenden Gestalt seines Leibwächters her. Ich begreife das nicht. Etwas passte nicht zusammen, und wenn er nur zehn zusammenhängende Minuten bekommen könnte, ohne dass neue fatale taktische Krisen auftauchten, dann würde es ihm vielleicht aufgehen … Er versuchte, nicht an seine stechenden Hände zu denken, und nicht daran, war für ein raffinierter mikrobischer Einschleichangriff sich gerade durch seinen Körper stehlen mochte, vielleicht sogar sich seinen Weg in sein Gehirn bahnen würde. Ein gewöhnlicher kaiserlicher Diener-Ba hätte eigentlich sterben müssen, bevor er etwas ihm Anvertrautes wie diese mit winzigen Haud gefüllten Replikatoren aufgab. Und selbst wenn dieser hier als eine Art Spezialagent ausgebildet worden war, warum verwendete er diese ganze kritische Zeit darauf, Proben von den Föten zu nehmen, die zu verlassen oder vielleicht sogar zu zerstören er drauf und dran war? Von jedem Haud-Kind, das jemals erzeugt wurde, wurde die DNA in den zentralen Genbanken der Sternenkrippe archiviert. Sie konnten noch mehr erzeugen, gewiss. Was machte diese Charge so unersetzlich? Seine Gedankengänge kamen vom Weg ab, als er sich 357
kleine gentechnisch erzeugte Parasiten vorstellte, die sich hektisch in seinem Blutstrom vermehrten, blip-blip-blipblip. Beruhige dich, verdammt. Er wusste eigentlich nicht, ob er überhaupt mit derselben schlimmen Krankheit infiziert war wie Bel. Ja, es könnte sogar noch etwas Schlimmeres sein. Doch gewiss sollte ein cetagandanisches Designer-Neurotoxin – oder sogar ein ganz gewöhnliches handelsübliches Gift – viel schneller wirken als das hier. Wenn es allerdings eine Droge ist, die das Opfer mit Paranoia zum Wahnsinn treiben soll, dann wirkt sie wirklich gut. War das Repertoire des Ba an Teufelstränken begrenzt? Wenn er welche hatte, warum dann nicht viele? Die Stimulanzien oder Hypnotika, die er bei Bel benutzt hatte, mussten – gemessen an den Normen der verdeckten Operationen – nichts Außergewöhnliches gewesen sein. Wie viele andere tolle Biotricks hatte er noch auf Lager? War Miles gerade dabei, höchstpersönlich den nächsten zu demonstrieren? Werde ich lange genug leben, um Ekaterin ade zu sagen? Ein Abschiedskuss stand nicht zur Debatte, es sei denn, sie drückten ihre Lippen auf die entgegengesetzten Seiten eines wirklich dicken Glasfensters. Er hatte ihr so viel zu sagen; es schien unmöglich herauszufinden, wo er anfangen sollte. Noch unmöglicher allein mit der Stimme, über einen offenen, ungesicherten öffentlichen Kommunikatorkanal. Kümmere dich um die Kinder. Gib ihnen jeden Abend den Gutenachtkuss für mich, und sage ihnen, dass ich sie geliebt habe, auch wenn es mir nicht vergönnt war, sie zu sehen. Du wirst nicht allein sein – meine Eltern werden dir helfen. Sage meinen Eltern … sage ihnen … 358
Ging es schon los mit diesem verdammten Ding? Oder kamen die heiße Panik, die Tränen und das Würgen in seiner Kehle völlig aus ihm selbst? Ein Feind, der einen von innen her angriff – man konnte versuchen, das Innerste nach außen zu kehren, um ihn zu bekämpfen, aber man würde keinen Erfolg haben – schmutzige Waffe! Offener Kanal oder nicht, ich rufe sie jetzt an … Stattdessen ertönte Venns Stimme an seinem Ohr. »Lord Vorkosigan, schalten Sie auf Kanal 12. Ihr Admiral Vorpatril will Sie sprechen. Dringend.« Miles zischte durch die Zähne und schaltete den Kommunikator seines Helms um. »Hier Vorkosigan.« »Vorkosigan. Sie Idiot …!«In der letzten Stunde hatte der Admiral offensichtlich ein paar Titel aus seinem Wortschatz verloren. »Was zum Teufel ist dort drüben los? Warum antworten Sie nicht über Ihren eigenen Kommunikator?« »Der befindet sich in meinem Biotainer-Anzug und ist im Moment unzugänglich. Leider musste ich den Anzug in großer Eile anziehen. Denken Sie daran, diese Verbindung über den Helm ist ein offen zugänglicher Kanal und nicht gesichert. Sir.« Verdammt, woher hatte sich dieses Sir eingeschlichen? Eine Gewohnheit, eine bloße alte schlechte Gewohnheit. »Sie können von Flottenarzt Glogston über dessen Dichtstrahlkanal seines militärischen Anzugs einen kurzen Bericht anfordern, aber halten Sie es kurz. Er ist im Augenblick sehr beschäftigt, und ich möchte nicht, dass er abgelenkt wird.« Vorpatril fluchte – ob allgemein oder über den kaiserlichen Auditor blieb hübsch im Unklaren – und legte auf. 359
Schwach hallte durch das Schiff der Laut wider, auf den Miles gewartet hatte – das ferne Klirren und Zischen der luftdichten Türen, die sich schlössen und das Schiff in luftdichte Sektionen abschlössen. Die Quaddies hatten es also bis zum Navigationsraum geschafft, gut! Außer dass Roic noch nicht zurück war. Der Gefolgsmann würde sich mit Venn und Greenlaw in Verbindung setzen müssen und sie veranlassen, die Türen auf seinem Rückweg zu öffnen und wieder zu schließen … »Lord Vorkosigan.« Venns Stimme meldete sich wieder an seinem Ohr, diesmal angespannt. »Sind Sie das?« »Bin ich was?« »Der die Sektionen abschließt.« »Ist nicht …«, Miles versuchte vergeblich, seine Stimme auf eine vernünftigere Tonhöhe zu senken. »Sind Sie nicht im Navigationsraum?« »Nein, wir sind noch einmal in Rumpf Nr. 2 zurückgegangen, um unsere Ausrüstung mitzunehmen. Wir waren jetzt gerade dabei, hier wegzugehen.« Hoffnung flackerte in Miles’ pochendem Herzen auf. »Roic«, rief er eindringlich. »Wo sind Sie?« »Nicht im Navigationsraum, Mylord«, meldete sich Roics grimmige Stimme. »Aber wenn wir hier sind und er ist dort, wer macht dann das?«, fragte Leutwyn beklommen. »Was denken Sie denn, wer?«, erwiderte Greenlaw. Ihr Atem keuchte nervös. »Fünf Leute, und nicht einer von uns hat daran gedacht, dafür zu sorgen, dass die Tür hinter uns geschlossen wurde, als wir weggingen – verdammt!« Ein leises Knurren, wie von einem Mann, der von einem 360
Pfeil oder einer Erkenntnis getroffen wurde, drang an Miles Ohr: Roic. »Wer den Navigationsraum besetzt hält«, sagte Miles eindringlich, »hat Zugang zu allen Kommunikatorkanälen des Schiffes oder wird ihn in Kürze haben. Wir müssen abschalten.« Die Quaddies hatten durch ihre Anzüge unabhängige Verbindungen zur Station und zu Vorpatril; das Gleiche galt für die Mediziner. Miles und Roic jedoch würden jetzt, was die Kommunikation betraf, in ein Niemandsland gestürzt werden. Dann plötzlich erstarb der Laut in seinem Helm. Aha, es sieht so aus, als habe der Ba die Kommunikationssteuerung entdeckt … Miles sprang zur Steuerung der Umgebungskontrolle für die Krankenstation links von der Tür, öffnete sie und deaktivierte manuell jede Fernsteuerung. Wenn diese äußere Tür geschlossen blieb, konnten sie den Luftdruck aufrechterhalten, obwohl die Zirkulation blockiert sein würde. Die Mediziner in ihren Anzügen würden davon unberührt bleiben; nur Miles und Bel würden in Gefahr schweben. Er beäugte den BodPod-Schrank an der Wand ungnädig. Im Krankensaal, der gegen biologische Attacken gesichert war, funktionierte Gott sei Dank schon der interne Luftkreislauf, und das konnte so bleiben – solange sie Strom hatten. Aber wie konnten sie Bel kühl halten, wenn man den Hermaphroditen in ein Pod umlagern musste? Miles eilte in den Krankensaal zurück. Er trat an Clogston heran und schrie durch seine Gesichtsscheibe hindurch: »Wir haben gerade unsere Verbindungen über die 361
Kommunikatoren in den Anzügen verloren. Halten Sie sich nur an Ihre militärischen Dichtstrahlkanäle.« »Ich habe es gehört«, schrie Clogston zurück. »Wie kommen Sie mit diesem Filter-Kühler voran?« »Der Kühler ist fertig. Wir arbeiten noch an dem Filter. Ich wünschte, ich hätte mehr Leute mitgebracht, allerdings ist hier drin kaum Platz für mehr.« »Ich glaube, ich bin fast fertig«, rief der MedTech, der über den Labortisch gebeugt war. »Überprüfen Sie das bitte, Sir.« Er wies auf einen der Analysatoren, an dessen Anzeige jetzt eine Reihe von blinkenden Lichtern die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Clogston ging um ihn herum und beugte sich über den Apparat. Gleich darauf murmelte er: »Oh. das ist ja schlau.« Miles. der sich nah genug herangedrängt hatte, um das mitzuhören, fand es nicht beruhigend. »Was ist schlau?« Clogston zeigte auf die Anzeigen seines Analysators, die jetzt in fröhlichen Farben unverständliche Ketten von Buchstaben und Zahlen präsentierten. »Ich hatte nicht verstanden, wie die Parasiten in einer Matrix jenes Enzyms überleben konnten, das Ihre Biotainer-Handschuhe auffraß. Aber sie waren mikroverkapselt.« »Was?« »Ein Standardtrick, wenn man Drogen durch eine feindliche Umgebung – wie Ihren Magen oder vielleicht Ihren Blutstrom – in den Zielbereich schicken möchte. Nur wurde er diesmal verwendet, um eine Krankheit zu schicken. Wenn die Mikroverkapselung aus der feindlichen Umgebung in die – chemisch ausgedrückt – freundliche Zone 362
gelangt, öffnet sie sich und gibt ihre Ladung frei. Kein Verlust, keine Verschwendung.« »Oh, wundervoll. Wollen Sie mir damit sagen, dass ich jetzt den gleichen Mist habe wie Bel?« »Hm.« Clogston blickte auf ein Chrono an der Wand. »Wie lange ist es her, dass Sie mit dem Zeug in Kontakt kamen, Mylord?« Miles folgte seinem Blick. »Vielleicht eine halbe Stunde?« »Sie könnten inzwischen in Ihrem Blutstrom nachweisbar sein.« »Überprüfen Sie das.« »Wir werden Ihren Anzug öffnen müssen, um an eine Vene zu kommen.« »Überprüfen Sie es jetzt. Schnell.« Clogston nahm eine Kanüle; Miles schälte die BiotainerUmwicklung von seinem linken Handgelenk und knirschte mit den Zähnen, als das mit einem Tupfer abgetragene Biozid stach und die Nadel stocherte. Für einen Mann, der Biotainer-Handschuhe trug, war Clogston ziemlich geschickt, das musste Miles ihm lassen. Nervös beobachtete er, wie der Arzt die Nadel vorsichtig in den Analysator gleiten ließ. »Wie lange dauert das?« »Da wir jetzt die Matrix von dem Ding haben, überhaupt nicht lange. Wenn das Ergebnis positiv ist. dann war’s das. Wenn diese erste Probe sich als negativ erweist, dann würde ich gerne die Prüfung alle dreißig Minuten wiederholen, um sicher zu sein.« Clogstons Stimme verlangsamte sich, während er seine Anzeige studierte. »Nun ja, hm. Eine er363
neute Prüfung wird nicht notwendig sein.« »Ganz recht«, knurrte Miles. Er riss seinen Helm auf und schob den Ärmel seines Anzugs hoch. Dann beugte er sich über seinen gesicherten Armbandkommunikator und fauchte. »Vorpatril!« »Ja«, antwortete Vorpatrils Stimme sofort. Wenn er seine Kommunikatorkanäle abhörte, dann musste er entweder im Navigationsraum der Prinz Xav oder vielleicht inzwischen in deren Taktikraum im Dienst sein. »Warten Sie mal. was tun Sie auf diesem Kanal? Ich dachte, Sie hätten keinen Zugang.« »Die Situation hat sich geändert. Machen Sie sich darüber jetzt keine Gedanken. Was ist da draußen los?« »Was ist da drinnen los?« »Das medizinische Team. Hafenmeister Thorne und ich haben uns in der Krankenstation verkrochen. Im Augenblick haben wir noch die Kontrolle über unsere Umgebung. Ich glaube, Venn. Greenlaw und Leutwyn sitzen im Frachtrumpf Nr. 2 in der Falle. Roic ist vielleicht irgendwo in der Technikabteilung. Und der Ba hat, glaube ich. den Navigationsraum besetzt. Können Sie Letzteres bestätigen?« »O ja«, stöhnte Vorpatril. »Er spricht im Augenblick mit den Quaddies auf Station Graf. Droht und stellt Forderungen. Boss Watts scheint dort den heißen Stuhl geerbt zu haben. Ich lasse ein Einsatzteam zusammenstellen.« »Schalten Sie ihn herüber. Das muss ich hören.« Es gab ein paar Sekunden Verzögerung, dann war die Stimme des Ba zu hören. Der betanische Akzent war verschwunden; die akademische Kühle fiel von ihm ab.»… Name spielt keine Rolle. Wenn Sie die Eichmeisterin, den 364
kaiserlichen Auditor und die anderen lebend zurückbekommen wollen, dann sind das meine Forderungen: ein Sprungpilot für dieses Schiff, der auf der Stelle hergebracht wird. Freie und ungehinderte Passage aus Ihrem System heraus. Wenn Sie oder die Barrayaraner versuchen, einen militärischen Angriff auf die Idris zu starten, dann werde ich entweder das Schiff mit allen an Bord in die Luft jagen oder die Station rammen.« »Wenn Sie versuchen, Station Graf zu rammen, dann werden wir selbst Sie in die Luft jagen«, erwiderte die Stimme von Boss Watts, heiser vor Anspannung. »Beides wird reichen«, versetzte die Stimme des Ba trocken. Wusste der Ba, wie man ein Sprungschiff in die Luft jagt? Das war eigentlich nicht einfach. Zum Teufel, wenn der Cetagandaner hundert Jahre alt war, wer mochte da wissen, was er alles wusste? Rammen, nun ja – mit einem so großen und so nahen Ziel brachte das jeder Laie fertig. Greenlaws Stimme mischte sich schroff ein; ihr Kommunikatorkanal war vermutlich auf gleiche Weise zu Watts durchgeschaltet wie der von Miles zu Vorpatril. »Tun Sie es nicht, Watts. Der Quaddie-Raum kann nicht einen Seuchenträger wie diesen zu unseren Nachbarn hindurchpassieren lassen. Eine Hand voll Leben kann nicht die Gefahr für Tausende riskieren.« »In der Tat«, fuhr der Ba nach leichtem Zögern fort, immer noch in demselben kühlen Ton. »Wenn es Ihnen gelingt, mich zu töten, dann werden Sie, fürchte ich, sich ein weiteres Dilemma bereiten. Ich habe auf der Station ein kleines Geschenk zurückgelassen. Die Erfahrungen von 365
Gupta und Hafenmeister Thorne sollten Ihnen eine Vorstellung davon vermitteln, was für eine Art Paket das ist. Sie könnten es finden, bevor es platzt, allerdings würde ich sagen, Ihre Chancen stehen schlecht. Wo sind jetzt Ihre Tausende? Viel näher dran.« Wirkliche Drohung oder Bluff? Miles überlegte hektisch. Es passte sicherlich zum Stil des Ba, wie er ihn bislang demonstriert hatte – Bel im BodPod, die Falle mit den Joysticks der Anzugssteuerung –, grässliche, tödliche Rätsel, die im Kielwasser des Ba ausgeworfen wurden, um seine Verfolger zu stören und abzulenken. Bei mir hat es jedenfalls funktioniert. Vorpatril meldete sich privat über den Armbandkommunikator mit unnötig gesenkter, gepresster Stimme und übertönte den Austausch zwischen dem Ba und Watts. »Glauben Sie, dass der Bastard blufft, Mylord?« »Es spielt keine Rolle, ob er blufft oder nicht. Ich möchte ihn lebend haben. O Gott, wie sehr ich den lebend haben möchte. Nehmen Sie das als höchste Priorität und als Befehl von der Stimme des Kaisers, Admiral.« Nach einer kurzen und – wie Miles hoffte – nachdenklichen Pause erwiderte Vorpatril: »Ich habe verstanden, Mylord Auditor.« »Machen Sie Ihr Einsatzteam bereit, ja …«Vorpatrils bestes Einsatzkommando saß in der Haft bei den Quaddies fest. Wie gut war das zweitbeste? Miles’ Herz sank. »Aber halten Sie es noch zurück. Diese Situation ist extrem instabil. Ich habe noch keine klare Vorstellung davon, wie sie ausgehen wird. Schalten Sie den Kanal des Ba wieder auf.« Miles richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Ver366
handlungen. Kamen sie zu einem Abschluss oder nicht? »Ein Sprungpilot.« Der Ba schien sich zu wiederholen. »Allein, in einer Personenkapsel, zur Schleuse Nr. 5 B. Und, er … ah … soll – nackt sein.« Schrecklicherweise schien in diesem letzten Wort ein Lächeln zu stecken. »Aus offensichtlichen Gründen.« Dann unterbrach der Ba die Verbindung.
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16 Und was jetzt? Verzögerungen, vermutete Miles. während die Quaddies auf Station Graf entweder einen Piloten bereit machten oder das Risiko eingingen, die Entscheidung hinauszuzögern, ob sie einen Piloten in eine solche Gefahr schicken sollten. Und was war, wenn sich kein Freiwilliger meldete? Während Vorpatril sein Einsatzteam aufbot und während die drei Quaddie-Funktionäre, die in dem Frachtrumpf gefangen waren, nun ja – nicht gerade auf ihren Händen saßen, dessen war sich Miles sicher –, während diese Infektion mehr und mehr von mir Besitz ergreift, während der Ba – was tat? Verzögerung ist nicht mein Freund. Aber es war sein Geschenk. Wie spät war es überhaupt? Später Abend – immer noch derselbe Tag, der so früh mit der Nachricht von Bels Verschwinden begonnen hatte? Ja, obwohl es kaum glaubhaft schien. Bestimmt war er in eine Zeitschleife geraten. Miles starrte auf seinen Kommunikator, holte erschrocken tief Luft und rief Ekaterins Code auf. Hatte Vorpatril ihr schon irgendetwas von dem erzählt, was geschah, oder hatte er sie bequem in Unwissenheit gelassen? »Miles!«, antwortete sie sofort. »Ekaterin, Liebling. Wo … äh … bist du?« »Im Taktikraum bei Admiral Vorpatril.« Aha. Damit war diese Frage beantwortet. Irgendwie war er erleichtert, dass er nicht die ganze Litanei schlechter Nachrichten kühl selbst herunterbeten musste. »Du hast 368
dann die Sache also verfolgt.« »Mehr oder weniger. Es ist sehr verwirrend.« »Bestimmt. Ich …«Er konnte es nicht sagen, nicht so nackt. Er wich aus, während er seinen Mut zusammennahm. »Ich hatte versprochen, Nicol anzurufen, wenn ich Nachricht von Bel hätte, und ich hatte dafür noch keine Gelegenheit. Wie du vielleicht weißt, ist die Nachricht nicht gut; wir haben Bel gefunden, aber der Herm ist absichtlich mit einem biotechnisch veränderten cetagandanischen Parasiten infiziert worden, der sich als … tödlich herausstellen könnte.« »Ja, ich verstehe. Ich habe hier im Taktikraum alles mitgehört.« »Gut. Die Mediziner tun ihr Bestes, aber es ist ein Wettlauf mit der Zeit. und nun gibt es diese anderen Komplikationen. Rufst du Nicol an und erfüllst mein Versprechen für mich? Es gibt nicht keine Hoffnung, aber … sie muss wissen, dass es im Augenblick nicht so gut aussieht. Folge deiner Einschätzung, wie sehr du es abmildern musst.« »Meine Einschätzung ist. dass man ihr die nackte Wahrheit sagen sollte. Die ganze Station Graf ist jetzt in Aufruhr wegen der Quarantäne und des Alarms wegen Biokontamination. Sie muss genau wissen, was vor sich geht, und sie hat ein Recht, es zu wissen. Ich werde sie sofort anrufen.« »Oh, gut. Danke. Ich … äh … du weißt, ich liebe dich.« »Ja. Erzähl mir etwas, was ich noch nicht weiß.« Miles blinzelte. Es wurde nicht einfacher, so platzte er damit in einem Atemzug heraus. »Nun, es besteht die Möglichkeit, dass ich hier etwas ziemlich schlimm vermasselt habe. Es kann sein, dass ich da nicht mehr herauskomme. 369
Die Situation ist hier ziemlich unklar und … äh … ich fürchte, die Handschuhe meines Biotainer-Anzugs wurden von einer hässlichen kleinen cetagandanischen Falle, die ich ausgelöst habe, kontaminiert. Ich scheine mich mit dem gleichen Biogift infiziert zu haben, das Bel umgeworfen hat. Allerdings scheint das Zeug nicht sehr schnell zu wirken.« Miles hörte, wie im Hintergrund Admiral Vorpatril fluchte, und zwar in einer exquisiten Kasernenhofsprache, die überhaupt nicht im Einklang stand mit dem Respekt, der einem kaiserlichen Auditor Seiner Majestät Gregor Vorbarra geschuldet wurde. Ekaterin schwieg; er spitzte die Ohren, um ihren Atem zu hören. Die Tonreproduktion auf diesen erstklassigen Kommunikatoren war so ausgezeichnet, dass er es hören konnte, als sie wieder den Atem ausstieß, durch diese geschürzten, köstlichen warmen Lippen, die er weder sehen noch berühren konnte. »Mir tut es …«, begann er von neuem, »mir tut es Leid, dass … ich wollte dir geben – das war nicht, was ich – ich wollte dir nie Schmerz bereiten …« »Miles, hör sofort mit diesem Gebrabbel auf.« »So … äh, ja?« Ihre Stimme wurde schärfer. »Wenn du mir hier draußen wegstirbst, dann werde ich betrübt sein, ja, ich werde stocksauer sein. Es ist alles sehr schön, mein Schatz, aber darf ich darauf hinweisen, dass du im Augenblick gar keine Zeit hast, um in Angst zu schwelgen. Du bist der Mann, der zu seinem Lebensunterhalt Geiseln zu befreien pflegte. Es ist dir nicht gestattet. nicht aus dieser Sache herauszukommen. Also hör auf, dir über mich Sorgen zu machen, 370
und fang an. dem. was du tust, Aufmerksamkeit zu widmen. Hörst du mir zu, Miles Vorkosigan? Untersteh dich, zu sterben! Ich werde es nicht dulden!« Das schien endgültig zu sein. Allem zum Trotz grinste er. »Ja, meine Liebe«, sang er sanft und ermutigt. Die VorAhninnen dieser Frau hatten im Krieg Bastionen verteidigt, o ja. »Also hör auf mit mir zu reden und mach dich wieder an die Arbeit. Okay?« Fast gelang es ihr, den bebenden Schluchzer aus dem letzten Wort herauszuhalten. »Halte die Festung, Schatz«, hauchte er zärtlich. »Immer.« Er hörte, wie sie schluckte. »Immer.« Sie unterbrach die Verbindung. Er nahm es als einen Fingerzeig. Rettung von Geiseln, ha? Wenn du möchtest, dass etwas richtig getan wird, dann tu es selbst. Wenn man es sich recht überlegte – hatte der Ba eigentlich eine Ahnung, was Miles’ frühere Arbeit gewesen war? Oder nahm er an, Miles sei nur ein Diplomat, ein Bürokrat, ein weiterer erschrockener Zivilist? Der Ba konnte auch nicht wissen, wer seine Falle an der Fernsteuerung der Reparaturanzüge ausgelöst hatte. Nicht, dass dieser Biotainer-Anzug nicht schon nutzlos für Raumangriffe gewesen wäre, bevor er völlig versaut worden war. Aber welche Instrumente waren hier auf der Krankenstation verfügbar, die man vielleicht einem Gebrauch zuführen konnte, den sich ihre Hersteller nie vorgestellt hatten? Und welches Personal? Das medizinische Team verfügte über militärische Ausbildung, okay, und Disziplin. Aber die Leute steckten auch 371
bis zu den Ellbogen in anderen Aufgaben von höchster Priorität. Miles’ allerletzter Wunsch war es, sie von ihrem beengten Labortisch und von ihrem kritischen Patienten abzuziehen, damit sie mit ihm Einsatzkommando spielten. Allerdings könnte es dazu noch kommen. Nachdenklich begann er im äußeren Raum der Krankenstation herumzugehen, Schubladen und Schränke zu öffnen und auf ihren Inhalt zu starren. Eine wirre Müdigkeit begann an seinem nervösen, mit Adrenalin voll gepumpten Hoch zu zerren, und hinter seinen Augen meldeten sich Kopfschmerzen. Geflissentlich ignorierte er deren schreckliche Bedeutung. Er blickte durch die blauen Lichtstriche in den Krankensaal. Der Med-Tech eilte vom Labortisch weg in Richtung Baderaum mit einem Ding in den Händen, das gewundene Schläuche hinter sich herzog. »Flottenarzt Clogston!«. rief Miles. Die zweite Gestalt im Schutzanzug drehte sich um. »Ja, Mylord?« »Ich schließe Ihre innere Tür. Sie sollte sich im Falle einer Druckänderung von selbst schließen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich im Augenblick noch irgendwelchen ferngesteuerten Einrichtungen auf diesem Schiff trauen kann. Sind Sie darauf vorbereitet, Ihren Patienten in ein Bod-Pod zu verfrachten, falls notwendig?« Clogston salutierte andeutungsweise mit der behandschuhten Hand zum Zeichen der Bestätigung. »Fast, Mylord. Wir beginnen mit dem Bau des zweiten Blutfilters. Wenn der erste so gut arbeitet, wie ich hoffe, dann dürften wir sehr bald bereit sein, auch Sie anzuschließen.« Was ihn an ein Bett im Krankensaal fesseln würde. Er 372
war noch nicht bereit, seine Bewegungsfreiheit zu verlieren. Nicht, solange er sich noch selbst bewegen und selbst denken konnte. Dann hast du nicht mehr viel Zeit Ungeachtet dessen, was der Ba tut. »Danke, Doktor«, rief Miles. »Lassen Sie es mich wissen.« Er schob die Tür mit dem Notfallhandschalter zu. Was konnte der Ba vom Navigationsraum aus erfahren? Noch wichtiger: Was waren seine blinden Stellen? Miles ging hin und her und überdachte die Struktur dieses zentralen Rumpfes: Es handelte sich um einen langen Zylinder, der in drei Decks eingeteilt war. Diese Krankenstation hier lag am Heck auf dem obersten Deck. Der Navigationsraum befand sich weit vorn, am anderen Ende des mittleren Decks. Die inneren luftdichten Türen aller Ebenen lagen an den drei gleich großen Kreuzungen zu den Fracht- und Antriebsrümpfen und teilten so jedes Deck der Länge nach in Viertel. Der Navigationsraum hatte natürlich Vid-Monitore für die Außensicherheit in allen äußeren Luftschleusen und Sicherheitsmonitore an allen Türen der inneren Sektionen, die das Schiff in luftdichte Abteilungen abschlossen. Einen Monitor außer Betrieb zu setzen würde den Ba teilweise blind machen, aber ihn auch warnen, dass die mutmaßlichen Gefangenen auf Achse waren. Alle auszuschalten, oder zumindest alle, die man erreichen konnte, würde ihn noch mehr verwirren … aber es blieb trotzdem das Problem, dass dies ihn warnen würde. Wie wahrscheinlich war es. dass der Ba seine panische oder vielleicht wahnsinnige Drohung wahr machen würde, nämlich die Station zu rammen? 373
Verdammt, das war so unprofessionell … Miles hielt an. von seinem eigenen Gedanken gefangen. Was war die Standardprozedur für einen cetagandanischen Agenten – in Wirklichkeit für jeden Agenten – dessen verdeckte Mission den Bach hinabging? Alle Beweise vernichten und versuchen, es zu einer Sicherheitszone, einer Botschaft oder einem neutralen Territorium zu schaffen. Wenn das nicht möglich war: die Beweise vernichten und dann stillsitzen und eine Verhaftung durch die Einheimischen hinnehmen, wer immer die Einheimischen sein mochten, und darauf warten, dass die eigene Seite einen entweder freikauft oder befreit, je nachdem. Für die wirklich, wirklich kritischen Missionen: die Beweise vernichten und Selbstmord begehen. Letzteres wurde selten befohlen, weil es noch seltener ausgeführt wurde. Aber die cetagandanischen Ba waren so auf Loyalität zu ihren Haud-Herren – und -Herrinnen – konditioniert, dass Miles gezwungen war, diese Selbstmordvariante im vorliegenden Fall als eine realistischere Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Aber blutige Geiselnahme unter Neutralen oder Nachbarn, Austrompeten der Mission über die Nachrichtensendungen, vor allem aber öffentlicher Gebrauch des höchst privaten Arsenals der Sternenkrippe … Das war nicht die Vorgehensweise eines ausgebildeten Agenten. Das war das gottverdammte Werk eines Amateurs. Und Miles’ Vorgesetzte hatten ihn immer beschuldigt, er sei ein wandelndes Pulverfass – ha! Kein einziger seiner unheilvollsten Schlamassel war jemals so desolat gewesen, wie dieser hier sich entwickelte – leider für beide Seiten. Dieser erfreuliche Schluss machte unglücklicherweise die nächste 374
Aktion nicht leichter vorhersehbar. Ganz im Gegenteil. »Mylord?«, kam Roics Stimme unerwartet aus Miles’ Kommunikator. »Roic!«, schrie Miles freudig auf. »Halt! Was zum Teufel machen Sie auf dieser Verbindung? Sie sollten sich doch nicht außerhalb Ihres Anzugs befinden.« »Ich könnte Ihnen die gleiche Frage stellen, Mylord«, erwiderte Roic in ziemlich scharfem Ton. »Wenn ich Zeit dafür hätte. Aber ich musste sowieso den Druckanzug ausziehen, um in diesen Arbeitsanzug reinzukommen. Ich glaube … ja, ich kann den Kommunikator in meinen Helm hängen. So.« Ein leises Klirren, als würde eine Gesichtsscheibe geschlossen. »Können Sie mich noch hören?« »O ja. Ich schließe daraus, dass Sie sich noch in der Technikabteilung befinden?« »Einstweilen. Ich habe einen wirklich hübschen kleinen Druckanzug für Sie gefunden, Mylord. Und eine Menge anderer Instrumente. Die Frage ist nur: Wie kann ich sie Ihnen bringen?« »Bleiben Sie von allen luftdichten Türen weg – sie werden überwacht. Haben Sie zufällig Schneidewerkzeuge gefunden?« »Ich bin mir … äh … ziemlich sicher, dass solche dabei sind, ja.« »Dann begeben Sie sich so weit wie möglich zum Heck und schneiden Sie gerade nach oben durch die Decke zum Mitteldeck. Versuchen Sie eine Beschädigung der Luftleitungen und Gravitationsgitter sowie der Steuerungen und der Flüssigkeitsrohre zu vermeiden. Und aller anderen Sachen, die im Navigationsraum die Warnlichter aufleuchten 375
lassen würden. Dann können wir Sie für den nächsten Schnitt platzieren.« »In Ordnung, Mylord. Ich dachte mir, dass so etwas gehen würde.« Ein paar Minuten vergingen, in denen nichts zu hören war als Roics Atem, unterbrochen von ein paar halblauten Flüchen, als er nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum entdeckte, wie er die unbekannten Gerätschaften handhaben musste. Ein Knurren, ein Zischen, ein Klirren, das abrupt verstummte. Diese behelfsmäßige Prozedur würde die atmosphärische Integrität der Sektionen ganz schön durcheinander bringen, aber machte das die Dinge notwendigerweise schlimmer, vom Standpunkt der Geiseln aus gesehen? Und ein Druckanzug, o Himmel! Miles überlegte, ob einer der energiebetriebenen Arbeitsanzüge extra klein gewesen war. Fast so gut wie eine Raumrüstung, in der Tat. »In Ordnung, Mylord«, ertönte die willkommene Stimme aus dem Kommunikator. »Ich habe es zum mittleren Deck geschafft. Ich bewege mich jetzt nach hinten … Ich bin mir nicht ganz sicher, wie nah ich unter Ihnen bin.« »Können Sie hochlangen und an die Decke klopfen? Sanft. Wir wollen nicht, dass es durch die Schotten bis hin zum Navigationsraum widerhallt.« Miles warf sich auf den Boden, öffnete seine Gesichtsscheibe, drehte den Kopf zur Seite und lauschte. Ein leises Hämmern, anscheinend von draußen im Korridor. »Können Sie sich weiter in Richtung Heck bewegen?« »Ich werde es versuchen, Mylord. Es ist eine Frage, wie man diese Deckenpaneele auseinander bekommt …« Noch 376
mehr schwere Atmung. »So, ich versuche es jetzt.« Diesmal schien das Klopfen direkt von unten zu kommen. »Ich glaube, das passt, Roic.« »In Ordnung, Mylord. Passen Sie auf, dass Sie nicht da stehen, wo ich durchschneide. Ich glaube, Lady Vorkosigan wäre ziemlich sauer auf mich, wenn ich Ihnen aus Versehen einen Körperteil absäbeln würde.« »Das glaube ich auch.« Miles erhob sich, riss einen Abschnitt der Friktionsmatte ab, huschte zum äußeren Raum der Krankenstation und hielt den Atem an. Ein rotes Glühen in der nackten Deckplatte darunter wurde gelb, dann weiß … Der Punkt wurde zu einer Linie, die wuchs und in einem unregelmäßigen Kreis zu ihrem Ausgangspunkt zurückzitterte. Ein dumpfer Schlag, als Roics behandschuhte Faust, angetrieben von seinem Anzug, durch den Boden nach oben stieß und den geschwächten Kreis aus seiner Matrix riss. Miles sprang hinüber, blickte hinab und grinste, als Roics Gesicht besorgt durch die Gesichtsscheibe eines anderen Reparaturanzugs heraufschaute. Das Loch war zu klein, als dass sich diese massige Gestalt hätte hindurchquetschen können, aber nicht zu klein für den Druckanzug, den er nach oben hindurchreichte. »Gute Arbeit«, rief Miles hinunter. »Bleiben Sie. Ich bin gleich bei Ihnen.« »Mylord?« Miles riss den nutzlosen Biotainer-Anzug herunter und schob sich in Rekordzeit in den Druckanzug. Unvermeidlicherweise war die sanitäre Vorrichtung für Frauen gedacht, deshalb schloss er sie nicht an. So oder so glaubte er 377
nicht, dass er sehr lange in dem Anzug bleiben würde. Er war rot im Gesicht und schwitzte; im einen Moment war ihm zu heiß, im nächsten zu kalt, allerdings wusste er kaum, ob dies von der beginnenden Infektion stammte oder bloß von seinen schlicht überreizten Nerven. Der Helm bot keine Halterung, um seinen Armbandkommunikator aufzuhängen, aber ein bisschen medizinisches Klebeband löste dieses Problem auf der Stelle. Er senkte den Helm über seinen Kopf und verschloss ihn, dann atmete er tief eine Luft ein. die niemand kontrollierte außer ihm selbst. Zögernd stellte er die Temperatur des Anzugs auf kühl. Dann glitt er zu dem Loch und ließ seine Beine hindurchbaumeln. »Fangen Sie mich auf. Drücken Sie nicht zu fest – denken Sie daran, Sie sind energiegetrieben.« »In Ordnung, Mylord.« »Lord Auditor Vorkosigan«. ertönte Vorpatrils Stimme mit Unbehagen. »Was tun Sie jetzt?« »Ich gehe auf Erkundung.« Roic fing ihn an den Hüften auf und setzte ihn mit übertriebener Sanftheit auf dem Mitteldeck ab. Miles blickte den Korridor hinauf, vorbei an dem Loch im Boden, zu den luftdichten Türen am anderen Ende dieses Sektors. »Solians Sicherheitsbüro befindet sich in diesem Bereich. Wenn es auf diesem verdammten Schiff ein Kontrollpult gibt, von dem aus man überwachen kann, ohne wiederum überwacht zu werden, dann muss es dort sein.« Er ging auf Zehenspitzen den Korridor hinab, Roic tappte hinterher. Das Deck knarrte unter den gestiefelten Füßen des Gefolgsmanns. Miles tippte den inzwischen vertrauten 378
Code an der Bürotür ein; Roic passte hinter ihm kaum durch die Tür. Der Auditor ließ sich auf den Dienstsessel des verschollenen Leutnant Solian gleiten, ließ seine Finger spielen und betrachtete die Konsole. Er atmete ein und beugte sich vor. Ja, er konnte Bilder von den Vid-Monitoren einer jeden Luftschleuse auf dem Schiff abrufen – simultan, falls gewünscht. Die Monitore waren so eingerichtet, dass sie einen guten Blick auf jeden gewährten, der sich in der Nähe der Türen befand. Nervös überprüfte er den für diesen mittleren hinteren Bereich zuständigen Monitor. Falls der Ba überhaupt in diese Richtung schaute, wo doch anderswo so viel vor sich ging, so reichte das Bild nicht bis zu Solians Bürotür. Puh! Konnte er vielleicht ein Bild aus dem Navigationsraum aufrufen und insgeheim dessen derzeitigen Insassen ausspionieren? »Was glauben Sie, was Sie machen, Mylord?«, fragte Roic nervös. »Ich glaube, dass ein Überraschungsgriff, der immer wieder anhalten muss, um sich durch sechs oder sieben Schotte zu bohren, um zum Ziel zu gelangen, nicht überraschend genug sein wird. Obwohl wir vielleicht darauf zurückgreifen müssen. Mir läuft die Zeit davon.« Er blinzelte heftig, dann dachte er Zum Teufel damit und öffnete seine Gesichtsplatte, um sich die Augen zu reiben. Das Vid-Bild wurde deutlicher, aber es schien immer noch an den Rändern zu zittern. Miles glaubte nicht, dass das Problem bei der Vid-Scheibe lag. Seine Kopfschmerzen, die als stechender Schmerz zwischen den Augen begonnen hatten, schienen sich zu seinen pochenden Schläfen hin auszubrei379
ten. Er zitterte. Dann seufzte er und schloss die Gesichtsscheibe wieder. »Dieser Bio-Mist – der Admiral sagte, Sie hätten den gleichen Bio-Mist abbekommen wie der Herrn. Das Zeug hat Guptas Freunde dahinschmelzen lassen.« »Wann haben Sie mit Vorpatril gesprochen?« »Gerade bevor ich mit Ihnen gesprochen habe.« »Aha.« »Ich hätte diese Fernsteuerung bedienen sollen«, sagte Roic langsam. »Nicht Sie.« »Es musste wohl ich sein. Ich bin halt mit den Geräten vertrauter.« »Ja.« Roics Stimme wurde leiser. »Sie hätten Jankowski mitbringen sollen, Mylord.« »Nur eine Vermutung – beruhend auf langer Erfahrung, wohlgemerkt …« Miles hielt inne und blickte mit Stirnrunzeln auf die Sicherheitsanzeige. Okay, Solian hatte nicht in jeder Kabine einen Monitor, aber er musste einen besonderen Zugriff auf den Navigationsraum haben, falls er überhaupt irgendetwas hatte … »Aber ich vermute, bevor dieser Tag vorbei ist, wird es noch ausreichend Gelegenheit zum Heldentum geben. Ich glaube nicht, dass wir es rationieren müssen, Roic.« »Das habe ich nicht gemeint«, erwiderte Roic in würdevollem Ton. Miles grinste düster. »Ich weiß. Aber denken Sie doch daran, wie schwer es für Ma Jankowski gewesen wäre. Und für all die nicht so kleinen Jankowskis.« Ein leises Schnauben aus dem Kommunikator, der an der Innenseite von Miles’ Helm klebte, informierte ihn, 380
dass Ekaterin wieder da war und mithörte. Vermutlich würde sie nicht unterbrechen. Plötzlich brach Vorpatrils Stimme in Miles’ Konzentration. »Die rückgratlosen Schurken!«, sprudelte es aus dem Admiral hervor. »Die vierarmigen Mistkerle! Mylord Auditor!« Aha, Miles war wieder befördert worden. »Die gottverdammten kleinen Mutanten geben diesem geschlechtslosen cetagandanischen Seuchenüberträger einen Sprungpiloten!« »Was?« Miles’ Magen krampfte sich zusammen. Noch stärker als zuvor. »Sie haben einen Freiwilligen gefunden? Einen Quaddie oder einen Planetarier?« Es konnte keine so große Auswahl gegeben haben. Die Neuro-Controller, die dem Piloten chirurgisch eingesetzt worden waren, mussten zu den Schiffen passen, die sie durch die Wurmlochsprünge führten. Wie viele Sprungpiloten auch derzeit auf Station Graf einquartiert sein – oder in der Falle sitzen – mochten: Wahrscheinlich war, dass die meisten mit den barrayaranischen Systemen nicht kompatibel waren. War es also der eigene Pilot oder Ersatzpilot der Idris oder ein Pilot von einem der komarranischen Schwesterschiffe …? »Was lässt Sie glauben, dass es sich um einen Freiwilligen handelt?«, knurrte Vorpatril. »Ich kann verdammt noch mal nicht glauben, dass sie einfach …« »Vielleicht haben die Quaddies etwas vor? Was sagen sie?« Vorpatril zögerte, dann stieß er hervor: »Watts hat mich vor wenigen Minuten aus der Leitung geschmissen. Wir hatten einen Streit darüber, wessen Einsatzteam reingehen sollte, unseres oder das der Quaddie-Miliz, und wann. Und 381
unter wessen Befehl. Beide zugleich ohne Koordination kam mir als eine höchst schlechte Idee vor.« »In der Tat. Die potenziellen Gefahren sind offensichtlich.« Der Ba schien allmählich ein wenig in die Unterzahl zu geraten. Aber da waren ja noch seine BioDrohungen … Miles’ aufkeimendes Mitgefühl erstarb, als sein Blick wieder verschwamm. »Wir sind nun einmal Gäste in ihrem Staatswesen … bleiben Sie mal dran. An einer der äußeren Luftschleusen scheint sich etwas zu tun.« Miles vergrößerte das Vid-Bild von dem Sicherheitsmonitor an der Schleuse, das sich plötzlich belebt hatte. Die Docklichter, welche die äußere Tür umrahmten, durchliefen eine Reihe von Prüfungen und Freigaben. Miles erinnerte sich daran, dass der Ba wahrscheinlich dasselbe Bild betrachtete. Er hielt den Atem an. Waren die Quaddies drauf und dran, bei der vorgeblichen Ablieferung des verlangten Sprungpiloten ihr eigenes Einsatzkommando einzuschleusen? Die Tür der Luftschleuse glitt auf und gab einen kurzen Blick frei auf das Innere einer winzigen Ein-Mann-Personenkapsel. Ein nackter Mann trat heraus in die Schleuse, an dessen Stirnmitte und Schläfen die kleinen silbernen Kontaktkreise der neuralen Implantate eines Sprungpiloten schimmerten. Die Tür schloss sich wieder hinter ihm. Er war groß, dunkelhaarig und gut aussehend bis auf die dünnen rosa Narben, die – wie Miles jetzt sehen konnte – sich um seinen Körper wanden. Dmitri Corbeau! Sein Gesicht war blass und starr. »Der Sprungpilot ist gerade eingetroffen«, sagte Miles zu Vorpatril. 382
»Verdammt. Ein Mensch oder ein Quaddie?« Vorpatril würde wirklich noch an seinem diplomatischen Wortschatz arbeiten müssen … »Ein Planetarier«, antwortete Miles anstelle einer spitzeren Bemerkung. Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Es ist Fähnrich Corbeau.« Verblüfftes Schweigen, dann zischte Vorpatril: »Der Scheißkerl …!« »Pst. Der Ba meldet sich endlich.« Miles stellte den Kommunikator lauter und öffnete wieder seine Gesichtsscheibe, damit Vorpatril ebenfalls mithören konnte. Solange Roic seinen Anzug geschlossen hielt, war es … nicht schlimmer als bisher. Ja, und wie schlimm, ist das noch mal? »Wenden Sie sich dem Sicherheitsmodul zu und öffnen Sie Ihren Mund«, instruierte die Stimme des Ba kühl und ohne Vorrede über den Vid-Monitor der Schleuse. »Näher heran! Weiter auf!« Miles bekam einen hübschen Ausblick auf Corbeaus Mandeln. Wenn Corbeau nicht einen mit Gift gefüllten Zahn besaß, dann waren hier keine Waffen versteckt. »Sehr gut …« Der Ba fuhr fort mit einer kühlen Serie von Anweisungen für Corbeau, der eine erniedrigende Folge von Drehungen durchmachen musste, die zwar nicht so gründlich waren wie eine Leibesvisitation, aber doch zumindest eine gewisse Sicherheit vermittelten, dass der Sprungpilot da auch nichts trug. Corbeau gehorchte präzise, ohne zu zögern oder zu widersprechen; sein Gesicht war starr und ausdruckslos. »Nun lösen Sie die Kapsel von den Andockklampen.« Corbeau, der sich zuletzt in der Hocke befunden hatte, 383
erhob sich und trat durch die Schleuse zum Eingangsbereich der Personenluke. Ein Scheppern und ein Klirren – die Kapsel, abgelöst, aber ohne Antrieb, trieb von der Seite der Idris davon. »Hören Sie jetzt auf diese Instruktionen. Sie gehen jetzt zwanzig Meter in Richtung Bug, wenden sich nach links und warten, bis sich die Tür für Sie öffnet.« Corbeau gehorchte, immer noch fast ausdruckslos, nur seine Augen waren aktiv. Sein Blick schoss umher, als ob er etwas suchte oder als versuchte er sich seine Route einzuprägen. Dann war er außer Sichtweite der SchleusenVids. Miles dachte über das eigenartige Muster der alten Wurmnarben auf Corbeaus Körper nach. Er musste sich über ein schlimmes Nest gerollt haben – oder gerollt worden sein. In diesen verblassenden Hieroglyphen schien eine Geschichte geschrieben zu sein. Ein Junge in der Kolonie, vielleicht der neue Junge im Lager oder in der Stadt – war es ein Trick gewesen oder eine Mutprobe, oder hatte man ihn einfach ausgezogen und hineingestoßen? Wieder vom Boden aufstehen, weinend und eingeschüchtert, zum Gejohle eines grausamen Spotts … Vorpatril fluchte leise. »Warum Corbeau? Warum Corbeau?« Miles, der sich hektisch die gleiche Frage stellte, sagte aufs Geratewohl: »Vielleicht hat er sich freiwillig gemeldet.« »Wenn nicht die verdammten Quaddies ihn verdammt noch mal geopfert haben. Anstatt einen der ihren zu riskieren. Oder … vielleicht hat er sich einen anderen Weg aus384
gedacht, um zu desertieren.« »Ich …« Miles unterbrach sich für einen langen Augenblick des Nachdenkens, dann stieß er hervor: »… denke, dass es ein schwerer Weg wäre.« Es war allerdings ein Verdacht, der haften blieb. Als wessen Verbündeter mochte sich Corbeau am Schluss erweisen? Miles erblickte Corbeaus Bild wieder, als der Ba ihn in Richtung auf den Navigationsraum durch das Schiff gehen ließ und dabei kurz luftdichte Türen öffnete und schloss. Er passierte die letzte Barriere aufrecht und stumm; die bloßen Füße tappten leise auf das Deck. Er wirkte … kalt. Und dann war er außer Reichweite des Vids. Miles’ Aufmerksamkeit wurde durch das Aufflackern eines weiteren Luftschleusensensoralarms abgelenkt. Hastig rief er das Bild von einer anderen Schleuse auf – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Quaddie in einem grünen Biotainer-Anzug dem Vid-Monitor mit einem Schraubenschlüssel einen mächtigen Schlag versetzte, während zwei weitere grüne Gestalten an ihm vorbeisausten. Das Bild zersprang und wurde dunkel. Er konnte jedoch noch hören, wie der Schleusenalarm piepste und die Schleusentür sich zischend öffnete – aber kein Zischen mehr, als sie sich schloss. Weil sie sich nicht schloss oder weil sie sich zum Vakuum schloss? Luft und Geräusch kehrten zurück, als die Schleuse ihren Zyklus durchlief; die Quaddies waren in den Raum um die Station entkommen. Das beantwortete seine Frage über ihre BiotainerAnzüge – anders als die billigere Ausgabe von der Idris waren sie für das Vakuum geeignet. Im Quaddie-Raum war 385
das in vielerlei Hinsicht sinnvoll. Ein halbes Dutzend Stationsschleusen boten innerhalb weniger hundert Meter Zuflucht: die fliehenden Quaddies würden die Wahl haben; außerdem schwebten allerhand Personenkapseln oder Shuttles in der Nähe herum, die herbeisausen und sie an Bord nehmen konnten. »Venn, Greenlaw und Leutwyn sind gerade durch eine Luftschleuse entkommen«, berichtete er Vorpatril. »Ein gutes Timing.« Ein schlaues Timing, genau dann zu gehen, als der Ba sowohl durch die Ankunft seines Piloten abgelenkt war und überdies – mit der realen Möglichkeit einer Flucht an der Hand – weniger geneigt war, die Drohung vom Rammen der Station auszuführen. Es war genau der richtige Schritt: bei jeder sich bietenden Gelegenheit Geiseln aus dem Griff des Feindes zu entfernen. Zugegeben, dieses Ausnutzen von Corbeaus Eintreffen war äußerst rücksichtslos berechnet worden. Miles konnte es aber nicht bedauern. »Gut! Ausgezeichnet! Jetzt ist das Schiff völlig von Zivilisten geräumt.« »Außer von Ihnen, Mylord«. gab Roic zu bedenken und wollte noch etwas anderes sagen, doch als er den düsteren Blick auffing, den Miles über die Schulter warf, verfiel er in verlegenes Genuschel. »Ha«, brummte Vorpatril. »Vielleicht wird das Watts umstimmen.«Seine Stimme wurde leiser, als spräche er weg von seinem Mikrofon oder hinter vorgehaltener Hand. »Was, Leutnant?« Dann murmelte er: »Entschuldigen Sie mich«, doch Miles war sich nicht sicher, zu wem. Also, jetzt waren nur noch Barrayaraner an Bord. Plus Bel – der auf der Gehaltsliste des KBS stand und deshalb 386
für alle sterblichen Buchhaltungszwecke Barrayaraner ehrenhalber war. Trotz allem lächelte Miles kurz, als er daran dachte, wie Bel auf einen solchen Vorschlag wahrscheinlich empört reagieren würde. Der beste Zeitpunkt, um ein Einsatzkommando einzuschleusen, wäre, bevor das Schiff sich zu bewegen begann, anstatt mitten im Raum Fangen zu spielen. Irgendwann würde Vorpatril wahrscheinlich aufhören, auf eine Erlaubnis der Quaddies zum Losschicken seiner Männer zu warten, Irgendwann würde Miles zustimmen. Miles richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Problem, den Navigationsraum auszuspionieren. Falls der Ba den Monitor außer Betrieb gesetzt hatte, so wie es die Quaddies gerade bei ihrer Flucht getan hatten, oder vielleicht einfach bloß eine Jacke über die Vid-Kamera geworfen hatte, dann würde Miles kein Glück haben … ah\ Endlich. Über seiner Vid-Scheibe bildete sich ein Bild des Navigationsraums. Aber jetzt hatte er keinen Ton. Miles knirschte mit den Zähnen und beugte sich vor. Das Vid-Aufnahmegerät war anscheinend mitten über der Tür angebracht und gab einen guten Überblick über ein halbes Dutzend Dienstplätze und deren dunkle Konsolen. Der Ba war da, immer noch in das betanische Gewand seiner aufgegebenen Tarnidentität gekleidet: Jacke, Sarong und Sandalen. Allerdings lag in der Nähe, über die Lehne eines Arbeitssessels geworfen, ein Druckanzug – nur einer –, der aus den Vorräten der Idris genommen war. Corbeau, immer noch verletzlich nackt, saß auf dem Pilotensessel, hatte aber noch nicht sein Kopfaggregat gesenkt. Der Ba hielt die Hand hoch und sagte etwas; Corbeau blickte fin387
ster drein und zuckte zusammen, als der Ba kurz ein Hypospray an den Oberarm des Piloten hielt und dann mit einem Aufflackern von Befriedigung auf dem angespannten Gesicht zurücktrat. Drogen? Bestimmt war nicht einmal der Ba verrückt genug, einen Sprungpiloten unter Drogen zu setzen, auf dessen neurale Funktion er in Kürze sein Leben setzen würde. Eine Impfung mit einer Krankheit? Da galt dasselbe Problem; allerdings konnte es etwas Latentes sein – Kooperieren Sie, dann werde ich Ihnen später das Gegenmittel geben. Oder purer Bluff, vielleicht ein Schuss Wasser. Das Hypospray schien insgesamt als cetagandanische Methode zur Verabreichung von Drogen zu primitiv und zu offensichtlich zu sein; für Miles’ Denkweise erinnerte es an einen Bluff, aber vielleicht nicht für die Corbeaus. Man hatte keine Wahl als die Kontrolle dem Piloten zu übergeben, wenn er sein Kopfaggregat senkte und das Schiff an seinen Geist anschloss. Das machte es schwer, einem Piloten wirksam zu drohen. Es machte eher Vorpatrils paranoide Furcht zunichte, dass Corbeau zum Verräter geworden war und sich freiwillig dafür gemeldet hatte, um einen freien Flug aus seiner Haftzelle bei den Quaddies und aus seinem Dilemma zu bekommen. Oder? Ungeachtet früherer oder geheimer Vereinbarungen, der Ba würde nicht einfach bloß vertrauen, wenn er seiner Meinung nach eine Garantie haben konnte. Über seinen Kommunikator hörte Miles – wie aus der Ferne – gedämpft einen plötzlichen, überraschenden Aufschrei von Admiral Vorpatril: »Was! Das ist unmöglich. Sind die verrückt geworden? Nicht jetzt …« 388
Nach einigen Augenblicken ohne weitere Erklärungen murmelte Miles: »Hm, Ekaterin? Bist du noch da?« Sie atmete hörbar ein. »Ja.« »Was ist dort los?« »Admiral Vorpatril ist von seinem Nachrichtenoffizier weggerufen worden. Gerade ist eine Art prioritärer Botschaft vom Hauptquartier für Sektor V eingetroffen. Es scheint etwas sehr Dringendes zu sein.« Auf dem Vid-Bild vor sich beobachtete Miles, wie Corbeau begann, die Vorflugprüfungen zu durchlaufen, indem er unter den harten, wachsamen Augen des Ba sich von Dienstplatz zu Dienstplatz bewegte. Corbeau sorgte dafür, dass er sich mit unverhältnismäßiger Sorgfalt bewegte; nach den Bewegungen seiner ziemlich steifen Lippen zu schließen, erklärte er anscheinend jeden Schritt, bevor er eine Konsole berührte. Und er tat es langsam, wie Miles bemerkte. Viel langsamer als notwendig, wenn auch nicht so langsam, dass es offensichtlich gewesen wäre. Endlich meldete sich wieder Vorpatrils Stimme, oder eher Vorpatrils schwerer Atem. Dem Admiral schienen die Schimpfwörter ausgegangen zu sein. Miles fand das wesentlich beunruhigender als sein vorhergehendes Marinegebrüll. »Mylord.« Vorpatril zögerte. Seine Stimme sank zu einer Art benommenem Knurren herab. »Ich habe gerade Befehle 1. Priorität vom HQ für Sektor V bekommen; ich soll meine Begleitschiffe bereit machen, die komarranische Flotte verlassen und mich mit maximal möglicher Geschwindigkeit zu einem Flottentreffpunkt bei Marilac begeben.« 389
Aber nicht mit meiner Frau, war Miles’ erster Gedanke. Dann blinzelte er und erstarrte in seinem Sessel. Die andere Funktion der militärischen Eskorten, die Barrayar den Komarranischen Handelsflotten zuteil werden ließ, war, still und unauffällig eine Streitmacht aufrechtzuerhalten, die über den ganzen Nexus verstreut war. Eine Streitmacht, die im Fall eines wirklichen dringenden Notfalls schnell versammelt werden konnte, um so eine überzeugende militärische Drohung an strategischen Schlüsselpunkten darzustellen. Wenn es hart auf hart käme, wäre es vielleicht ansonsten zu langsam oder sogar diplomatisch oder militärisch unmöglich, Streitkräfte von den Heimatplaneten durch die Wurmlochsprünge dazwischen liegender Lokalraumstaaten zu den Sammelplätzen zu bekommen, wo sie Barrayar nutzen konnten. Aber die Handelsflotten waren schon vor Ort. Der Planet Marilac war ein barrayaranischer Verbündeter, von Barrayars Blickpunkt aus gesehen an der Hintertür des cetagandanischen Imperiums gelegen, in dem komplexen Netz von Wurmlochsprungrouten, die den Nexus zusammenhielten. Eine zweite Front, so wie Rho Cetas unmittelbare nachbarliche Bedrohung für Komarr als die erste Front betrachtet wurde. Zugegeben, die Cetagandaner hatten die kürzeren Kommunikations- und Logistiklinien zwischen den beiden Kontaktpunkten. Aber die strategische Zange übertraf immer noch die Ein-Front-Strategie, besonders mit der potenziellen Hinzufügung marilacanischer Streitkräfte. Die Barrayaraner würden sich bei Marilac nur sammeln, um Cetaganda zu drohen. Nur dass die Beziehungen zwischen den beiden Reichen 390
so – na ja, herzlich war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck – so unbelastet gewesen waren wie schon seit Jahren nicht mehr. Was zum Teufel konnte das so grundlegend und so schnell geändert haben? Etwas hat die Cetagandaner um Rho Ceta herum aufgestört, hatte Gregor gesagt. Ein paar Wurmlochsprünge von Rho Ceta entfernt hatten Guppy und seine Schmugglerfreunde eine seltsame lebendige Fracht von einem cetagandanischen Regierungsschiff mit vielen kunstvollen Markierungen umgeladen. Vielleicht mit dem Muster eines kreischenden Vogels? Zusammen mit einer und nur einer Person – einem Überlebenden? Danach war das Schiff weggekippt, auf einem gefährlichen Kurs auf die Sonnen des Systems zu. Was, wenn es sich bei dieser Flugbahn nicht um einen Schwenk um die Sonnen gehandelt hatte? Was, wenn es ein direkter Sturz gewesen war, ohne Wiederkehr? »Scheißkerl«, flüsterte Miles. »Mylord?«, erwiderte Vorpatril. »Falls …« »Still«, fauchte Miles. Der Admiral war schockiert, aber er schwieg. Einmal im Jahr verließen die kostbarsten Frachten der Haud-Rasse die Sternenkrippe auf dem Hauptplaneten Eta Ceta. Acht Schiffe, jedes unterwegs zu einem der Planeten des Imperiums, das auf so eigentümliche Weise von den Haud regiert wurde. Jedes trug die Gruppe der HaudEmbryos dieses Jahres mit sich, die genetisch modifizierten und zertifizierten Ergebnisse aller Zeugungskontrakte, die im vorangegangenen Jahr so sorgfältig ausgehandelt worden waren zwischen den Mitgliedern der großen Konstella391
tionen, der Klans, der sorgfältig kultivierten Genlinien der Haud-Rasse. Jede Fracht aus etwa tausend aufkeimenden Leben wurde von einer der acht wichtigsten Haud-Ladys des Imperiums geführt, der planetarischen Gemahlinnen, die das Leitungskomitee der Sternenkrippe darstellten. Alles höchst vertraulich, höchst geheim, etwas, worüber nie mit Außenseitern gesprochen wurde. Wie kam es, dass ein Ba-Agent nicht zurückreisen konnte, um mehr Kopien zu holen, wenn er eine solche Fracht zukünftiger Haud-Leben unterwegs verloren hatte? Wenn er gar kein Agent war. Wenn er ein Abtrünniger war. »Das Verbrechen ist nicht Mord«, flüsterte Miles, und seine Augen weiteten sich. »Das Verbrechen ist Kidnapping.« Die Morde waren eine Folge gewesen, in einer zunehmend panischen Kaskade, als der Ba aus gutem Grund versuchte, seine Spur zu verwischen. Nun ja, es war sicher geplant gewesen, dass Guppy und seine Freunde starben, als Augenzeugen für die Tatsache, dass eine Person nicht bei den Übrigen auf jenem dem Untergang geweihten Schiff gewesen war. Ein Schiff, das – wenn auch nur kurz – vor seiner Zerstörung entführt worden war; die besten Entführungen waren immer Inside-Jobs, o ja. Die cetagandanische Regierung musste darüber verrückt werden. »Mylord, ist mit Ihnen alles in Ordnung …?« »Nein, unterbrechen Sie ihn nicht«, flüsterte Ekaterins Stimme heftig. »Er denkt nach. Er gibt bloß diese komischen Laute von sich, wenn er nachdenkt.« Vom Standpunkt des Himmlischen Gartens aus gesehen 392
war ein Kinderschiff der Sternenkrippe verschwunden, und zwar auf einer eigentlich sicheren Route nach Rho Ceta. Alle Rettungskräfte und Spionageagenten, die das cetagandanische Imperium besaß, würden schon auf den Fall angesetzt sein. Wenn nicht Guppy gewesen wäre, dann wäre die Tragödie vielleicht als eine mysteriöse Fehlfunktion durchgegangen, die das Schiff außer Kontrolle und unfähig, ein Signal zu senden, in sein feuriges Verderben hatte taumeln lassen. Keine Überlebenden, kein Wrack, keine ungeklärten Indizien. Aber da war Guppy. Der mit jedem patschenden Schritt eine wirre Spur von heftig suggestiven Indizien hinter sich zurückließ. Wie weit konnten die Cetagandaner inzwischen ihm auf den Fersen sein? Offensichtlich zu nah, als dass der Ba sich erleichtert gefühlt hätte; es war ein Wunder, dass der Ba, als Guppy am Geländer in der Herberge aufgetaucht war, nicht einfach an einem Herzversagen gestorben war. ohne dass es der Nietenkanone bedurft hätte. Aber die Spur des Ba, die von Guppy mit lodernden Flammen markiert worden war, führte direkt vom Ort des Verbrechens in das Herz eines einst feindlichen Imperiums – Barrayar. Was würden die Cetagandaner aus dem Ganzen machen? Nun, jetzt haben wir einen Anhaltspunkt, nicht wahr? »In Ordnung«, hauchte Miles, dann sagte er etwas deutlicher: »In Ordnung. Sie zeichnen dies alles auf. darauf verlasse ich mich. Also, Admiral, mein erster Befehl als Stimme des Kaisers lautet: Stoßen Sie die Befehle von Sektor V zum Rendezvous um. Danach wollten Sie doch fragen, ja?« »Danke, Mylord Auditor, ja«, sagte Vorpatril dankbar. »Normalerweise wäre das ein Ruf, da würde ich lieber 393
sterben als ihn zu ignorieren, aber … angesichts unserer gegenwärtigen Situation werden die ein wenig warten müssen.« Vorpatril dramatisierte nicht; seine Aussage war eine schlichte Feststellung von Tatsachen. »Nicht zu lange, hoffe ich.« »Sie werden lange warten müssen. Hier ist mein nächster Befehl als Stimme des Kaisers: Kopieren Sie in Klartext alles – alles –, was Sie hier von den letzten vierundzwanzig Stunden aufgezeichnet haben, und schicken Sie es mit höchster Priorität über einen offenen Kanal an die Kaiserliche Residenz, an das barrayaranische Oberkommando auf Barrayar, an das Hauptquartier des KBS und an die KBS-Abteilung Galaktische Angelegenheiten auf Komarr. Und«, er holte tief Luft und hob die Stimme, um Vorpatrils empörten Aufschrei In Klartext! In Zeiten wie diesen? zu überstimmen, »gekennzeichnet von Lord Auditor Miles Vorkosigan von Barrayar zur dringenden, persönlichen Kenntnisnahme von Ghem-General Dag Benin, Chef der Kaiserlichen Sicherheit, im Himmlischen Garten, Eta Ceta, persönlich, dringend, höchst dringend, bei Rians Haaren, das ist echt. Dag. Genau mit diesen Worten.« »Was?«, schrie Vorpatril, dann dämpfte er schnell den Ton und wiederholte gequält: »Was? Ein Rendezvous bei Marilac kann nur bedeuten, dass ein Krieg mit den Cetagandanern bevorsteht! Wir können ihnen diese Art von Nachrichten über unsere Position und unser Bewegungen nicht übermitteln – in Geschenkpapier verpackt!« »Beschaffen Sie sich die kompletten, ungekürzten Aufzeichnungen des Sicherheitsdienstes von Station Graf von der Vernehmung des Russo Gupta und schicken Sie sie 394
mit. so schnell Sie nur können. Noch schneller!« Ein neuer Schrecken erschütterte Miles, eine Vision wie ein Fiebertraum: die großartige Fassade des Palais Vorkosigan in der barrayaranischen Hauptstadt Vorbarr Sultana, auf die jetzt Plasmafeuer herabregnete, wodurch ihre alten Steine schmolzen wie Butter; zwei mit Flüssigkeit gefüllte Kanister, die in einer Dampfwolke explodierten. Oder ein Seuchennebel, der alle Hüter des Hauses tot auf dem Haufen liegend in den Hallen zurückließ, oder auf der Flucht sterbend auf den Straßen; zwei fast vor dem Reifedatum stehende Replikatoren, die unbetreut ihre Arbeit einstellten und langsam abkühlten, während ihre winzigen Insassen aus Mangel an Sauerstoff starben und in ihrem eigenen Fruchtwasser ertranken. Seine Vergangenheit und seine Zukunft, zusammen zerstört … Nikki. auch er – würde er mit anderen Kindern in einer hektischen Flucht hinweggerissen werden oder ungezählt und unvermisst auf fatale Weise allein bleiben? Miles hatte sich vorgestellt, wie er zu einem guten Stiefvater für Nikki werden würde – das stand jetzt völlig in Frage, oder? Ekaterin. es tut mir Leid … Es würde Stunden – Tage – dauern, bevor die neue Dichtstrahlbotschaft Barrayar und Cetaganda erreichen konnte. Wahnsinnig erregte Menschen konnten in bloßen Minuten fatale Fehler begehen. In Sekunden … »Und wenn Sie etwas vom Beten halten, Vorpatril, dann beten Sie, dass niemand etwas Dummes anstellt, bevor die Botschaft ankommt. Und dass man uns glaubt.« »Lady Vorkosigan«, flüsterte Vorpatril eindringlich. »Könnte es sein, dass er wegen der Krankheit halluziniert?« »Nein, nein«, beruhigte sie ihn. »Er denkt nur zu schnell 395
und lässt alle Zwischenschritte aus. Das ist seine Art. Es kann sehr frustrierend sein. Miles, Schatz, hm … wärest du bereit, für uns Übrige das ein bisschen zu entpacken?« Miles tat einen Atemzug – und noch zwei oder drei mehr –, um sein Zittern zu unterdrücken. »Der Ba. Er ist kein Agent und er ist nicht auf einer Mission. Er ist ein Verbrecher. Ein Abtrünniger. Vielleicht wahnsinnig. Ich glaube, er hat das jährliche Schiff mit den Haud-Kindern nach Rho Ceta entführt, das Schiff mit allen an Bord – die wahrscheinlich schon ermordet worden waren – in die nächste Sonne geschickt und sich mit der Fracht davongemacht. Die dann über Komarr weiterverschifft wurde und das barrayaranische Reich auf einem Handelsschiff verließ, das Kaiserin Laisa persönlich gehört – und wie belastend genau dieses besondere Detail gewissen Köpfen in der Sternenkrippe vorkommen wird, möchte ich mir gar nicht vorstellen. Die Cetagandaner denken, wir hätten ihre Babys gestohlen oder bei dem Diebstahl mitgemacht und – du lieber Gott! – eine planetarische Gemahlin ermordet, und so bereiten sie sich darauf vor, gegen uns Krieg zu führen aus Versehen! »So«, sagte Vorpatril ausdruckslos. »Die ganze Sicherheit des Ba beruhte auf perfekter Geheimhaltung, denn sobald die Cetagandaner auf die richtige Spur kamen, dann würden sie nicht ruhen, bis sie dieses Verbrechen aufgeklärt hätten. Aber der perfekte Plan versagte, als Gupta nicht wie geplant starb. Guptas hektische Mätzchen zogen Solian mit hinein, zogen Sie hinein, zogen mich hinein …« Seine Stimme wurde langsamer. »Abgesehen davon, für was in aller Welt möchte der Ba diese 396
Haud-Kinder haben?« »Könnte er sie für jemand anderen gestohlen haben?«, gab Ekaterin zögernd zu bedenken. »Ja, aber die Ba sollen eigentlich nicht bestechlich sein.« »Nun ja, wenn nicht für Bezahlung oder Bestechung, dann vielleicht Erpressung oder Drohung? Vielleicht eine Drohung gegen einen Haud, dem gegenüber der Ba loyal ist?« »Oder vielleicht eine Fraktion in der Sternenkrippe«, bemerkte Miles. »Außer … die Ghem-Lords bilden Fraktionen, die Haud-Lords bilden Fraktionen. Die Sternenkrippe hat immer als Einheit gehandelt – selbst als sie vor einem Jahrzehnt möglicherweise einen Verrat begangen hat, haben die Haud-Ladys keine getrennten Entscheidungen gefällt.« »Die Sternenkrippe hat einen Verrat begangen?«, wiederholte Vorpatril erstaunt. »Das ist bestimmt nicht durchgesickert! Sind Sie da sicher? Ich habe nie etwas davon gehört, dass so hoch im cetagandanischen Imperium Massenhinrichtungen stattgefunden hätten, und ich hätte davon hören müssen.« Er hielt inne und fügte dann in einem Ton der Verwirrung hinzu: »Wie konnte überhaupt ein Haufen von Haud-Ladys. die Babys designen, Verrat begehen?« »Es hat nicht ganz geklappt. Aus verschiedenen Gründen.« Miles räusperte sich. »Lord Auditor Vorkosigan. Das ist Ihr Kommunikatorkanal, ja? Sind Sie da?«, mischte sich eine neue und sehr willkommene Stimme ein. »Eichmeisterin Greenlaw!«, rief Miles fröhlich. »Haben Sie es in die Sicherheit geschafft’ Sie alle?« 397
»Wir sind wieder an Bord von Station Graf«, erwiderte die Eichmeisterin. »Es erscheint mir verfrüht, es Sicherheit zu nennen. Und Sie?« »Immer noch in der Falle an Bord der Idris. Allerdings nicht völlig ohne Ressourcen. Oder Ideen.« »Ich muss mit Ihnen sprechen. Sie können diesen Hitzkopf Vorpatril ausblenden.« »Äh … mein Kommunikator unterhält jetzt eine offene Audioverbindung mit Admiral Vorpatril, Madame. Sie können mit uns beiden gleichzeitig sprechen, wenn Sie wollen«, warf Miles hastig ein. bevor sie sich noch offenherziger ausdrücken konnte. Sie zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. »Gut. Es ist absolut notwendig für uns, dass Vorpatril jedes Einsatzkommando von seiner Seite zurückhält, ich wiederhole: zurückhält. Corbeau bestätigt, dass der Ba eine Art Fernsteuerung oder Totmannschalter an seinem Körper hat, und dieses Ding ist anscheinend verbunden mit der Bio-Waffe, die er an Bord der Station Graf versteckt hat. Der Ba blufft nicht.« Miles blickte überrascht auf sein stummes Vid vom Navigationsraum. Corbeau saß jetzt im Pilotensessel, das Kopfaggregat über den Schädel gesenkt, und sein ausdrucksloses Gesicht war noch geistesabwesender als zuvor. – »Corbeau bestätigt! Wie? Er war splitternackt – der Ba beobachtet ihn unablässig! Hat er einen subkutanen Kommunikator?« »Es war keine Zeit, einen zu finden und einzuführen. Er blinkte mit den Fluglichtern des Schiffes in einem vorher vereinbarten Code.« 398
»Wessen Idee war das?« »Seine.« Ein aufgeweckter Junge aus der Kolonie. Der Pilot war auf ihrer Seite. Oh, aber das war gut wissen … Miles’ Zittern ging in Schauder über. »Jeder erwachsene Quaddie auf der Station, der keinen Notdienst hat, sucht jetzt nach der Bio-Bombe«, fuhr Greenlaw fort, »aber wir haben keine Ahnung, wie sie aussieht oder wie groß sie ist oder ob sie als etwas anderes getarnt ist. Oder ob es da mehr als eine gibt. Wir versuchen so viele Kinder wie möglich in alle Schiffe und Shuttles zu evakuieren, über die wir verfügen, und diese zu verschließen, aber wir können nicht einmal in Bezug auf die Schiffe wirklich sicher sein. Wenn Sie und Ihre Leute irgendetwas tun, das diese verrückte Kreatur die Bombe auslösen lässt – wenn Sie ein nicht autorisiertes Einsatzteam losschicken, bevor diese schreckliche Bedrohung gefunden und sicher neutralisiert ist –, dann schwöre ich, ich werde selbst unserer Miliz den Befehl geben, Ihr Kommando aus dem Weltraum wegzuschießen. Haben Sie verstanden, Admiral? Bitte bestätigen.« »Ich höre Sie«, sagte Vorpatril widerstrebend. »Aber, Madame – der kaiserliche Auditor ist selbst mit einem der tödlichen Bio-Wirkstoffe des Ba infiziert worden. Ich kann nicht – ich werde nicht – wenn ich hier sitzen und untätig sein muss, während ich zuhöre, wie er stirbt …« »Es gibt fünfzigtausend unschuldige Leben auf Station Graf, Admiral – Lord Auditor!« Ihre Stimme versagte eine Sekunde lang, dann kehrte sie verkniffen zurück. »Es tut mir Leid, Lord Vorkosigan.« 399
»Ich bin noch nicht tot«, erwiderte Miles ziemlich spröde. Eine neue und höchst unwillkommene Empfindung kämpfte mit der beklemmenden Furcht, die in seinem Bauch rumorte. »Ich schalte meinen Kommunikator einen Moment lang aus«, fügte er hinzu. »Bin gleich wieder zurück.« Miles machte Roic ein Zeichen, er solle still bleiben, dann öffnete er die Tür des Sicherheitsbüros, trat auf den Korridor hinaus, öffnete seine Gesichtsscheibe, beugte sich vor und erbrach sich auf den Boden. Ich kann’s nicht ändern. Mit einer ärgerlichen Bewegung schaltete er die Temperatur seines Anzugs wieder hoch. Er blinzelte das grüne Schwindelgefühl beiseite, wischte sich den Mund ab, ging wieder hinein, setzte sich und aktivierte erneut seinen Kommunikator. »Fahren Sie fort.« Er zog seine Aufmerksamkeit von Vorpatrils und Greenlaws streitenden Stimmen ab und studierte seine Sicht auf den Navigationsraum eingehender. Ein bestimmter Gegenstand musste dort sein, irgendwo … aha. Da war er, ein kleiner Kryo-Gefrierkoffer von der Größe einer Reisetasche, der sorgfältig neben einem der leeren Dienstsessel in der Nähe der Tür abgesetzt war. Ein kommerzielles Standardmodell, ohne Zweifel irgendwann in den letzten paar Tagen hier auf Station Graf in einem Geschäft für Medizinbedarf gekauft. Alles, dieser ganze diplomatische Schlamassel, diese abwegige Spur des Todes, die sich durch den halben Nexus schlängelte, zwei Imperien, die am Rande des Krieges taumelten, alles lief auf das hinaus. Miles fiel die alte barrayaranische Sage von dem bösen Mutantenhexer ein, der sein Herz in einer Kiste aufbewahrte, 400
um es vor seinen Feinden zu verstecken. Ja … »Greenlaw«, mischte sich Miles wieder ein. »Haben Sie eine Möglichkeit, Corbeau auf seine Signale zu antworten?« »Wir haben eine der Navigationsbojen bestimmt, welche zu den Kanälen der Piloten auf die kybernetische NeuroSteuerung funken. Wir erreichen über sie keine verbale Kommunikation – Corbeau war sich nicht sicher, wie ein solches Signal in seinen Wahrnehmungen herauskommen würde. Wir sind uns aber sicher, dass wir einen einfachen Code über diesen Kanal blinken oder piepsen können.« »Ich habe eine einfache Botschaft für ihn. Dringend. Teilen Sie sie ihm mit, falls Sie können, egal wie. Sagen Sie ihm, er soll alle inneren luftdichten Türen im mittleren Deck des zentralen Rumpfes öffnen. Und dort auch die Sicherheitsmonitore killen, falls er kann.« »Warum?«, fragte sie misstrauisch. »Hier sind Personen eingeschlossen, die in Kürze sterben werden, wenn er das nicht tut«, erwiderte Miles. Nun, es stimmte ja letztlich, oder? »In Ordnung«, gab sie zurück. »Ich werde sehen, was wir tun können.« Er unterbrach seine nach außen gehende Sprechverbindung, drehte sich in seinem Sessel herum und bedeutete Roic mit einer Geste des Kehledurchschneidens, er solle dasselbe tun. Dann beugte er sich vor. »Können Sie mich hören?« »Ja, Mylord.« Roics Stimme klang gedämpft durch die dickere Gesichtsscheibe des Arbeitsanzugs, aber sie war 401
ausreichend zu hören; keiner von beiden musste schreien in diesem stillen kleinen Raum. »Greenlaw wird nicht den Befehl oder die Erlaubnis für die Aussendung eines Einsatzkommandos geben, um eine Gefangennahme des Ba zu versuchen. Nicht ihrem Kommando, nicht unserem. Sie kann es nicht. Es steht das Leben zu vieler Quaddies auf dem Spiel. Das Problem ist meiner Meinung nach, dass diese besänftigende Methode ihre Station nicht sicherer machen wird. Falls dieser Ba wirklich eine planetarische Gemahlin ermordet hat, dann wird er wegen ein paar tausend Quaddies nicht einmal mit der Wimper zucken. Er wird bis zuletzt Kooperation versprechen, dann den Auslöseschalter an seiner Bio-Bombe drücken und davonspringen, nur auf die entfernte Chance hin, dass das Chaos, das er damit hinterlässt, seine Verfolgung um zusätzlich zwei bis drei Tage verzögert oder stört. Können Sie mir soweit folgen?« »Ja, Mylord.« Roic hatte die Augen weit aufgerissen. »Wenn wir bis zur Tür des Navigationsraums kommen können, ohne gesehen zu werden, dann haben wir, meine ich, eine Chance, selbst über den Ba herzufallen. Genauer gesagt, Sie werden über den Ba herfallen. Ich werde für Ablenkung sorgen. Ihnen kann nichts passieren. Betäuberund Nervendisruptor-Feuer wird von diesem Arbeitsanzug zum größten Teil abprallen. Nadelgeschosse würden auch nicht unmittelbar eindringen, falls es dazu kommt. Und das Feuer eines Plasmabogens würde länger brauchen, um den Anzug zu durchbrennen, als die paar Sekunden, die Sie brauchen, um diesen kleinen Raum zu durchqueren.« Roic verzog den Mund. »Was ist, wenn er einfach auf Sie 402
feuert? So gut ist dieser Druckanzug auch wieder nicht.« »Der Ba wird nicht auf mich feuern. Das verspreche ich Ihnen. Die cetagandanischen Haud und ihre Geschwister, die Ba, sind körperlich stärker als alle anderen, abgesehen von den speziellen Schwerweltlern, aber sie sind nicht stärker als ein Energieanzug. Gehen Sie auf seine Hände los. Halten Sie sie. Wenn wir so weit kommen, nun, dann wird der Rest von alleine folgen.« »Und Corbeau? Der arme Kerl ist splitternackt. Wenn auf ihn geschossen wird, hält nichts das Feuer ab.« »Corbeau«, sagte Miles, »wird das allerletzte Ziel sein, auf das der Ba schießt. Aha!« Seine Augen weiteten sich und er wirbelte in seinem Sessel herum. Am Rande des Vid-Bildes erloschen still ein Dutzend kleine Bilder nebeneinander. »Begeben Sie sich auf den Korridor. Machen Sie sich bereit zu rennen. So leise Sie können.« Aus seinem Kommunikator bat Vorpatrils gedämpfte Stimme den kaiserlichen Auditor herzergreifend, er solle bitte seinen nach außen gehenden Sprachkanal wieder öffnen. Er drängte Lady Vorkosigan. sie solle dasselbe fordern. »Lassen Sie ihn in Ruhe«, sagte Ekaterin mit Nachdruck. »Er weiß, was er tut.« »Und was tut er?«, jaulte Vorpatril. »Etwas.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. Oder vielleicht war es ein Gebet. »Viel Glück, mein Schatz.« Eine weitere Stimme mischte sich sozusagen aus dem Abseits ein: Flottenarzt Clogston. »Admiral? Können Sie Lord Auditor Vorkosigan erreichen? Wir sind fertig mit 403
seinem Blutfilter und bereit, ihn auszuprobieren, aber er ist aus der Krankenstation verschwunden. Vor ein paar Minuten war er noch hier …« »Hören Sie das, Lord Vorkosigan?«, versuchte Vorpatril es leicht verzweifelt. »Sie sollen sich in der Krankenstation melden. Jetzt.« In zehn Minuten – in fünf – konnten die Mediziner mit ihm machen, was sie wollten. Miles schob sich aus dem Sessel hoch – er musste beide Hände dazu benutzen – und folgte Roic auf den Korridor vor Solians Büro. Vor ihnen im Dämmer öffnete sich die erste luftdichte Tür leise zischend und gab den Blick auf den Querkorridor zu den anderen Rümpfen dahinter frei. Am anderen Ende begann die nächste Tür zur Seite zu gleiten. Roic setzte sich in Trab. Seine Schritte waren unvermeidlich schwer. Miles trottete hinterher. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt seinen Anfallstimulator benutzt hatte, wie hoch das Risiko im Augenblick war, dass er aus einer Kombination von schlechter Gehirnchemie und Schrecken in einem Anfall zu Boden sank. Er beschloss, das Risiko zu halbieren. Bei diesem Ausflug würde er jedenfalls keine automatischen Waffen verwenden. Überhaupt keine Waffen, außer seinem Grips. Im Augenblick schien das aber ein karges Arsenal zu sein. Das zweite Paar Türen öffnete sich für sie. Dann das dritte. Miles hoffte, dass sie nicht in eine weitere schlaue Falle traten. Aber er glaubte nicht, dass der Ba über eine Methode verfügte, um diesen versteckten Kommunikationskanal abzuhören oder ihn überhaupt zu vermuten. Roic hielt kurz an, trat hinter den Rand der letzten Tür und 404
spähte voraus. Die Tür zum Navigationsraum war zu. Er nickte kurz und ging weiter, Miles auf den Fersen. Als sie näher kamen, sah Miles, dass die Steuertafel links von der Tür mit einem Schneidewerkzeug ausgebrannt worden war, ohne Zweifel mit dem Zwilling des Geräts, das Roic benutzt hatte. Auch der Ba hatte sich in der Technikabteilung mit dem Notwendigen eingedeckt. Miles zeigte darauf; Roics Gesicht hellte sich auf und er zog einen Mundwinkel hoch. Jemand hatte vergessen, so schien es, die Tür hinter sich abzuschließen, als er das letzte Mal hindurchgegangen war. Roic zeigte auf sich, dann auf die Tür; Miles schüttelte den Kopf und winkte ihn näher heran. Ihre Helme berührten sich. »Ich zuerst. Ich muss diesen Koffer zu fassen bekommen, bevor der Ba reagieren kann. Außerdem brauche ich Sie, um die Tür zurückzuziehen.« Roic blickte sich um, atmete ein und nickte. Miles winkte ihn noch einmal Helm an Helm heran. »Und, Roic? Ich bin froh, dass ich nicht Jankowski mitgebracht habe.« Roic lächelte. Miles trat zur Seite. Jetzt. Aufschub war niemandes Freund. Roic bückte sich, spreizte seine behandschuhten Hände über der Tür, drückte und zog. Die Servos in seinem Anzug winselten ob der Belastung. Widerwillig knarrend wich die Tür zur Seite. Miles schlüpfte hindurch. Er schaute nicht zurück oder nach oben. Seine Welt hatte sich auf ein Ziel, auf einen einzigen Gegenstand verengt. Den Gefrierkoffer – dort, 405
immer noch auf dem Boden neben dem Dienstsessel des abwesenden Nachrichtenoffiziers. Er sprang, packte den Koffer und hob ihn hoch, klammerte ihn an seine Brust wie einen Schild. Der Ba drehte sich um und schrie, die Lippen zurückgezogen, die Augen geweitet, die Hände nach dem Koffer ausgestreckt. Miles’ behandschuhte Finger tasteten nach den Verschlüssen. Wenn verschlossen, dann wirf den Koffer in Richtung Ba. Wenn nicht verschlossen … Der Koffer öffnete sich schnappend. Miles riss ihn weit auf, schüttelte ihn heftig und schwang ihn. Eine silbrige Kaskade, der Großteil von tausend winzigen Gewebeprobenadeln zur Kryo-Speicherung, schoss in einem Bogen aus dem Koffer und schlug wahllos auf dem Deck auf. Einige wurden zerschmettert, als sie aufprallten, und machten dabei winzige kristalline Geräusche wie sterbende Insekten. Einige rotierten. Einige glitten dahin und verschwanden hinter Dienstsesseln und in Bodenspalten. Miles grinste grimmig. Der Schrei wurde zu einem Kreischen; die Hände des Ba schossen wie flehend in Miles’ Richtung, wie abwehrend, wie verzweifelt. Der Cetagandaner begann auf ihn zuzustolpern, Schock und Unglauben im grauen Gesicht. Roics Hände in dem Energieanzug schlössen sich um die Handgelenke des Ba und hoben sie hoch. Die Handgelenkknochen knackten, Blut quoll zwischen den behandschuhten Fingern hervor, die sich immer enger schlössen. Der Körper des Ba wurde von Krämpfen geschüttelt, als er hochgehoben wurde. Seine Augäpfel rollten wild in den Augenhöhlen. Der Schrei verwandelte sich in ein unheim406
liches Jaulen und verstummte dann. Mit Sandalen bekleidete Füße stießen um sich und trommelten nutzlos gegen die schwere Schienbeinverkleidung von Roics Arbeitsanzug. Zehennägel splitterten und bluteten, doch ohne Wirkung. Roic stand unerschütterlich da, die Hände erhoben und auseinander, und hielt den hilflosen Ba in die Luft. Miles ließ den Kryokoffer aus seinen Fingern gleiten; der Koffer schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Boden auf. Mit einem geflüsterten Wort aktivierte er wieder das nach draußen gehende Audio in seinem Kommunikator. »Wir haben den Ba gefangen genommen. Senden Sie ein Entlastungskommando. In Biotainer-Anzügen. Sie werden jetzt ihre Kanonen nicht brauchen. Leider gibt es auf dem Schiff eine ziemliche Sauerei.« Seine Knie gaben nach. Er sank selbst auf das Deck und kicherte unkontrollierbar. Corbeau erhob sich aus dem Pilotensessel. Miles winkte ihn mit einer eindringlichen Geste weg. »Bleiben Sie zurück, Dmitri! Ich werde gleich …« Er schob gerade noch seine Gesichtsscheibe auf. Knapp. Das Erbrechen und die Krämpfe, die diesmal seinen Magen schier umstülpten, waren viel schlimmer. Es ist vorbei. Darf ich jetzt bitte sterben? Außer, dass es noch nicht vorbei war. nicht annähernd. Greenlaw hatte um fünfzigtausend Leben gespielt. Jetzt war es an Miles, um fünfzig Millionen zu spielen.
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17 Miles kehrte mit den Füßen voran zur Krankenstation der Idris zurück. Ihn trugen zwei der Männer von Vorpatrils Einsatzkommando, das hastig in ein zum größten Teil medizinisches Entlastungsteam umgewandelt worden war und als solches die Erlaubnis der Quaddies zum Betreten des Schiffes bekommen hatte. Seine Träger fielen fast durch das hässliche Loch, das Roic im Boden zurückgelassen hatte. Miles bekam wieder die persönliche Kontrolle über seinen Bewegungsapparat, zumindest lange genug, um aus eigener Kraft aufzustehen und sich ziemlich wackelig an die Wand neben der Tür zu dem bioisolierten Krankensaal zu lehnen. Roic folgte; er hielt vorsichtig in einem Biotainer-Beutel den ferngesteuerten Auslöser des Ba. Corbeau bildete bleich und mit starrem Gesicht die Nachhut, gekleidet in ein weites medizinisches Hemd und eine Trainingshose; ihn begleitete ein MedTech mit dem Hypospray des Ba in einem weiteren Biotainer-Beutel. Flottenarzt Clogston kam durch die summenden blauen Barrieren heraus und blickte auf seinen neuen Zustrom an Patienten und Assistenten. »In Ordnung«, verkündete er und blickte düster auf das Loch im Deck. »Dieses Schiff ist so verdammt verpestet, dass ich das ganze Ding zu einer Biokontaminationszone Stufe 3 erkläre. Dann können wir uns also ausbreiten und es uns bequem machen, Jungs.« Die MedTechs bildeten eine menschliche Kette, um die Analysegeräte schnell in den äußeren Raum weiterzureichen. Miles nutzte die Gelegenheit für ein paar kurze, eindringliche Worte mit den beiden Männern mit Sanitäts408
abzeichen auf ihren Anzügen, die abseits von den anderen standen – die militärischen Vernehmungsoffiziere von der Prinz Xav. Nicht wirklich getarnt, lediglich diskret, und – das musste Miles zugeben – medizinisch ausgebildet. Der zweite Krankensaal wurde zur vorübergehenden Haftzelle für ihren Gefangenen, den Ba. erklärt, der an eine Schwebepalette gebunden dem Zug folgte. Miles blickte finster drein, als die Palette vorüberschwebte, an der Kontrollleine gezogen von einem wachsamen, muskulösen Sergeanten. Der Ba war fest angeschnallt, doch sein Kopf und seine Augen rollten seltsam und seine mit Speichel befeuchteten Lippen zuckten. Vor fast allen anderen Dingen war es wesentlich, den Ba in barrayaranischen Händen zu behalten. Herauszufinden, wo der Ba seine schmutzige Bio-Bombe auf der Station Graf versteckt hatte, hatte jetzt erste Priorität. Die HaudRasse verfügte über eine gentechnisch erzeugte Immunität gegenüber den meisten allgemeinen Vernehmungsdrogen und ihre Derivate; falls Schnell-Penta bei diesem Burschen hier nicht funktionierte, blieben den Quaddies nur sehr wenige Vernehmungsmethoden, die Richter Leutwyns Zustimmung finden würden. In diesem Notfall schienen militärische Regeln angebrachter zu sein als zivile. Mit anderen Worten, wenn sie uns einfach in Ruhe lassen, dann werden wir für sie dem Ba die Fingernägel herausziehen. Miles fasste Clogston am Ellbogen. »Wie geht es Bel Thorne?«, fragte er. Der Flottenarzt schüttelte den Kopf. »Nicht gut, Mylord Auditor. Zuerst dachten wir, sein Zustand würde sich bessern, als die Filter zu arbeiten begannen – er schien das 409
Bewusstsein wiederzuerlangen. Aber dann wurde er unruhig. Er stöhnte und versuchte zu reden. Übergeschnappt, denke ich. Er schreit dauernd nach Admiral Vorpatril.« Vorpatril? Warum? Warte mal … »Hat Bel gesagt Vorpatril?«, fragte Miles scharf. »Oder nur der Admiral?« Clogston zuckte die Achseln. »Vorpatril ist der einzige Admiral, der zurzeit hier in der Gegend ist, allerdings vermute ich, dass der Hafenmeister völlig halluziniert. Ich mag es nicht, jemanden zu sedieren, der physisch so mitgenommen ist, besonders wenn er sich gerade aus dem Drogennebel herausgekämpft hat. Aber wenn dieser Herrn sich nicht beruhigt, dann werden wir es tun müssen.« Miles runzelte die Stirn und eilte in den Isolierungsraum. Clogston folgte ihm. Miles nahm seinen Helm ab, fischte seinen Armbandkommunikator heraus und hielt die lebenswichtige Verbindung fest in der Hand. Ein MedTech machte das hastig freigeräumte zweite Bett zurecht, vermutlich bereitete er es für den infizierten Lord Auditor vor. Bel lag jetzt in dem ersten Bett, abgetrocknet und in ein blassgrünes Patientenhemd aus barrayaranischen Militärbeständen gekleidet, was auf den ersten Blick ein ermutigender Fortschritt zu sein schien. Doch sein Gesicht war grau, die Lippen purpurblau, die Augenlider flatterten. Eine Infusionspumpe, die nicht von der potenziell ungleichmäßigen Schwerkraft des Schiffes abhängig war, infundierte eine gelbe Flüssigkeit schnell in Bels rechten Arm. Der linke Arm war an ein Brett festgeschnallt; ein Plastikschlauch mit Blut kam unter einem Verband hervor und lief in ein hybrides Gerät, das mit einer Menge Plastikband umwickelt war. Ein zweiter Schlauch lief zurück; seine 410
dunkle Oberfläche war feucht von Kondenswasser. »‘s Balle«, stöhnte Bel. »‘s Balle.« Der Flottenarzt schürzte hinter seiner Gesichtsscheibe die Lippen in ärztlichem Missvergnügen. Er trat vor und blickte auf einen Monitor. »Der Blutdruck ist auch ziemlich hoch. Ich glaube, es ist an der Zeit, den armen Kerl wieder k.o. zu machen.« »Warten Sie!« Miles drängte sich bis zum Rand von Bels Bett und begab sich damit in Bels Blickrichtung. Von unbändiger Hoffnung erfüllt, blickte er auf den Hermaphroditen hinunter. Bel machte ruckartige Bewegungen mit dem Kopf. Die Augenlider flatterten, die Augen weiteten sich. Die blauen Lippen versuchten sich wieder zu bewegen. Bel leckte sie, atmete lang ein und versuchte es noch einmal. »Adm’ral! Wichti. Dies’ Bast’rd hattes im Balle v’steckt. Hatter mir g’sagt. Der sadist’sche Bast’rd.« »Er redet immer noch von Admiral Vorpatril«, murmelte Clogston bestürzt. »Nicht von Admiral Vorpatril. Von mir«, flüsterte Miles. Gab es dort im Bunker seines Hirns noch diesen Geist voller Esprit? Bels Augen waren offen und versuchten, sich auf ihn zu fokussieren, als ob Miles’ Bild im Blick des Hermaphroditen schwankte und verschwamm. Bel versuchte etwas Wichtiges zu sagen. Bel rang mit dem Tod um die Herrschaft über seinen Mund, um eine Botschaft herauszubekommen. Balle? Ballen? Ballern? Nein – Ballett! »Der Ba hat seine Bio-Bombe im Ballett versteckt – in der Minchenko-Halle? Ist es das, was du sagen willst, Bel?« 411
Der gespannte Körper sackte erleichtert zusammen. »Ja, ja. Sag’s ihnen. In der B’leuchtung, glaub ich.« »War da nur eine Bombe? Oder waren da mehr? Hat der Ba was gesagt, hast du es mitbekommen?« »Weiß nicht. Selbs’ gemacht, glaub ich. Prüft! Einkäufe …« »In Ordnung, ich hab’s verstanden! Gute Arbeit, Kapitän Thorne.« Du warst immer der Beste, Bel. Miles wandte sich halb ab und sprach mit Nachruck in seinen Kommunikator; er verlangte zu Greenlaw oder Venn oder Watts durchgestellt zu werden, oder zu irgendjemandem. der auf Station Graf Autorität besaß. Schließlich meldete sich eine ermattete weibliche Stimme: »Ja?« »Eichmeisterin Greenlaw? Sind Sie’s?« Ihre Stimme festigte sich. »Ja, Lord Vorkosigan? Haben Sie etwas?« »Vielleicht. Bel Thorne berichtet, der Ba habe gesagt, dass er die Bio-Bombe irgendwo in der Minchenko-Halle versteckt habe. Möglicherweise hinter Beleuchtungskörpern.« Sie atmete ein. »Gut. Wir werden unsere ausgebildeten Sucher dort konzentrieren.« »Bel glaubt auch, die Bombe sei etwas, das der Ba selbst kürzlich zusammengebaut hat. Er könnte in der Identität von Ker Dubauer Käufe auf Station Graf getätigt haben, die Ihnen einen Anhaltspunkt geben könnten, wie viele dieser Dinger er gebaut hat.« »Aha! In Ordnung! Ich werde Venns Leute darauf ansetzen.« »Beachten Sie, Bel ist in einem ziemlich schlechten Zu412
stand. Es könnte auch sein, dass der Ba gelogen hat. Melden Sie es mir, wenn Sie etwas wissen.« »Ja, ja, danke.« Hastig legte sie auf. Miles kam der Gedanke, ob sie wohl im Augenblick auch in einer schützenden Bio-Isolation eingeschlossen war, wie er es gleich sein würde, und ob sie versuchte, den kritischen Moment aus ähnlich frustrierender Distanz zu gestalten. »Bast’rd«, murmelte Bel. »Hat mich g’lähmt. Hat mich in das v’rdammte BodPod g’legt. Hat mir alles erzählt. Dann zug’macht. Ließ mich z’rück zum Sterben, hat sich vorg’stellt … Wusste … er wusste von Nicol und mir. Hat meinen Vid-Würfel g’sehen. Wo is’ mein Vid-Würfel?« »Nicol ist in Sicherheit«, versicherte ihm Miles. Nun ja, so sehr in Sicherheit, wie es jeder Quaddie in diesem Augenblick auf Station Graf war – wenn nicht in Sicherheit, so wenigstens gewarnt. Vid-Würfel? O ja, der kleine Bilderzeuger voll mit Bels hypothetischen Kindern. »Dein VidWürfel ist in Sicherheit geborgen.« Miles hatte keine Ahnung, ob dies stimmte oder nicht – der Würfel konnte immer noch in Bels Tasche sein, vernichtet mit den kontaminierten Kleidern des Hermaphroditen, oder vom Ba gestohlen. Doch die Behauptung erleichterte Bel. Der erschöpfte Hermaphrodit schloss wieder die Augen, und sein Atem wurde ruhiger. In ein paar Stunden sehe ich genauso aus. Dann solltest du jetzt lieber keine Zeit verschwenden, oder? Mit großer Abneigung ließ sich Miles von einem MedTech dabei helfen, den Druckanzug und die Unterwäsche abzulegen, die vermutlich weggenommen und verbrannt 413
werden sollten. »Falls Sie mich hier festbinden, möchte ich, dass sofort eine KomKonsole neben meinem Bett aufgestellt wird. Nein, das können Sie nicht haben.« Miles wehrte den MedTech ab, der jetzt versuchte, ihm seinen Kommunikator abzunehmen, dann hielt er inne und schluckte. »Und ich brauche etwas gegen Übelkeit. In Ordnung, streifen Sie mir den Kommunikator um den rechten Arm.« Horizontal war kaum besser als vertikal. Miles strich sein eigenes blassgrünes Patientenhemd glatt und reichte seinen linken Arm dem Arzt, der persönlich seine Vene mit einer Art medizinischer Ahle anstach, wobei es Miles vorkam, als hätte sie die Größe eines Trinkhalms. Auf der anderen Seite presste ein MedTech ein Hypospray an Miles’ rechte Schulter – ein Mittel, von dem er hoffte, dass es das Schwindelgefühl und die Krämpfe in seinem Magen beseitigen würde. Aber er schrie erst auf, als der erste Schwall gefiltertes Blut in seinen Körper zurückkehrte. »Mist, das ist ja kalt. Ich hasse Kälte.« »Da kommen wir nicht drum herum, Mylord Auditor«, murmelte Clogston besänftigend. »Wir müssen Ihre Körpertemperatur um mindestens drei Grad senken. Das wird uns Zeit verschaffen.« Miles krümmte sich zusammen, auf unangenehme Weise daran erinnert, dass man noch keine Lösung für dieses Problem hatte. Nicht eine Sekunde würde er sich gestatten zu glauben, dass es keine Heilung gebe, dass dieser Bio-Mist ihn hinunterziehen würde und er diesmal nicht wieder nach oben kommen werde … »Wo ist Roic?« Er hob sein rechtes Handgelenk an den Mund. »Roic?« 414
»Ich bin im äußeren Raum, Mylord. Ich möchte diese Fernauslösung nicht durch die Bio-Barriere tragen, bis wir sicher sind, dass die Bombe entschärft ist.« »In Ordnung, gut gedacht. Einer von den Kerlen dort draußen müsste der Bombenentschärfer sein, den ich angefordert habe. Finden Sie ihn und übergeben Sie ihm das Ding. Dann behalten Sie für mich diese Vernehmung im Auge, ja?« »Jawohl, Mylord.« »Flottenarzt Clogston.« Der Doktor, der an dem behelfsmäßigen Blutfilter herumfummelte, schaute auf. »Mylord?« »Sobald Sie einen MedTech – nein, einen Doktor, das heißt, sobald Sie einige qualifizierte Leute frei haben, schicken Sie sie in den Frachtraum, wo der Ba die Replikatoren stehen hat. Ich möchte, dass Proben genommen werden und dass man versucht herauszufinden, ob der Ba sie in irgendeiner Weise kontaminiert oder vergiftet hat. Dann stellen Sie sicher, dass die Geräte alle richtig funktionieren. Es ist sehr wichtig, dass die Haud-Kinder alle wohlbehalten und am Leben bleiben.« »Jawohl, Lord Vorkosigan.« Falls die Haud-Babys mit den gleichen scheußlichen Parasiten geimpft waren, die derzeit durch seinen eigenen Körper wüteten, konnte dann die Temperatur der Replikatoren herabgesetzt werden, um sie alle abzukühlen und das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen? Oder würde eine solche Kälte die Kinder belasten und sie schädigen … er machte sich Sorgen, stellte Überlegungen an, ehe er noch seine Daten hatte. Ein ausgebildeter Agent, der auf 415
den korrekten Unterschied zwischen Aktion und Vorstellung konditioniert war, mochte eine solche Impfung durchgeführt und jedes bisschen belastender DNA der hohen Haud beseitigt haben, bevor er den Tatort verließ. Aber dieser Ba war ein Amateur. Dieser Ba hatte überhaupt eine andere Art von Konditionierung. Ja, aber bei dieser Konditionierung muss irgendwas sehr schief gelaufen sein, sonst wäre dieser Ba nicht so weit gekommen … Als Clogston sich abwandte, fügte Miles noch hinzu: »Und informieren Sie mich über den Zustand des Piloten, Corbeau, sobald Sie darüber Bescheid wissen.« Die Gestalt in dem Schutzanzug hob zustimmend die Hand, während sie sich zurückzog. Ein paar Minuten später betrat Roic den Krankensaal; er hatte den massigen Arbeitsanzug abgelegt und trug jetzt die bequemere militärische Biotainer-Kleidung für Stufe 3. »Wie geht’s dort drüben voran?« Roic senkte den Kopf. »Nicht gut, Mylord. Der Ba ist in einen seltsamen mentalen Zustand verfallen. Er redet irres Zeug, aber nichts zur Sache, und die Burschen vom Geheimdienst sagen, sein physischer Zustand sei ebenfalls nicht in Ordnung. Sie versuchen ihn zu stabilisieren.« »Der Ba muss am Leben gehalten werden!« Miles rappelte sich halb auf: ihm ging eine Vorstellung durch den Kopf, wie er sich in den benachbarten Raum tragen ließ, um dort die Leitung zu übernehmen. »Wir müssen ihn nach Cetaganda zurückbringen. Um zu beweisen, dass Barrayar unschuldig ist.« Er sank zurück und beäugte das summende Gerät an der linken Seite, das sein Blut filterte. Und Parasiten heraus416
holte, ja, aber auch die Energie abzog, die die Parasiten von ihm gestohlen hatten, um sich selbst zu schaffen. Das Gerät saugte die mentale Schärfe ab, die er jetzt unbedingt brauchte. Dann ordnete er seine herumstreunenden Gedanken und erklärte Roic, was Bel ihm mitgeteilt hatte. »Gehen Sie zum Vernehmungsraum und melden Sie ihnen diese Entwicklung. Schauen Sie, ob Sie eine Bestätigung für das Versteck in der Minchenko-Halle bekommen können, und schauen Sie besonders, ob Sie etwas herausfinden können, woraus man schließen kann, ob es mehr als nur eine Bombe gibt. Oder nicht.« »In Ordnung.« Roic nickte. Er warf einen Blick auf die medizinischen Apparate, an die Miles angeschlossen war. »Übrigens, Mylord, haben Sie dem Arzt gegenüber schon Ihre Anfälle erwähnt?« »Noch nicht. Dafür war noch keine Zeit.« »In Ordnung.« Roic verzog nachdenklich den Mund auf eine kritische Art, die Miles zu ignorieren vorzog. »Ich werde mich dann darum kümmern, ja, Mylord?« Miles krümmte sich zusammen. »Ja, ja.« Roic verließ den Krankenraum mit beiden Aufträgen. Die KomKonsole traf ein; ein Techniker schwenkte ein Tablett über Miles’ Schoß, legte den Rahmen für die VidScheibe darauf und half ihm, mit zusätzlichen Kissen im Rücken, sich aufzusetzen. Er begann wieder zu zittern. Okay, gut, das Gerät stammte aus barrayaranischen Militärbeständen, es war nicht einfach von der Idris abgezogen. Wie auch immer, er hatte jetzt wieder eine sicherbare visuelle Verbindung. Er gab die Codes ein. 417
Ein, zwei Momente brauchte es, bis Vorpatrils Gesicht auftauchte; die Aufmerksamkeit des Admirals, der dies alles vom Taktikraum der Prinz Xav mithörte, wurde ohne Zweifel im Augenblick auch noch von einigen anderen Dingen in Anspruch genommen. Schließlich erschien er und sagte: »Ja, Mylord!« Seine Augen suchten Miles’ Bild auf seinem Vid-Display. Was er sah. beruhigte ihn offensichtlich nicht. Er biss bestürzt die Zähne zusammen. »Sind Sie in …«, begann er, doch er verbesserte sich sofort und fragte: »Wie schlimm ist es?« »Ich kann noch reden. Und solange ich noch reden kann, muss ich einige Befehle aufzeichnen. Während wir die Suche der Quaddies nach der Bio-Bombe abwarten – haben Sie die neuesten Meldungen dazu verfolgt?« Miles brachte den Admiral auf den aktuellen Stand bezüglich Bels Informationen über die Minchenko-Halle und fuhr fort: »Ich möchte, dass Sie inzwischen das schnellste Schiff aus Ihrer Eskorte auswählen und bereit machen, das genug Kapazität für die Last hat. die es tragen soll. Sie wird mich umfassen, Hafenmeister Thorne, ein medizinisches Team, unseren Gefangenen, den Ba mitsamt Wachen, Guppy, den jacksonischen Schmuggler, sofern ich ihn aus den Händen der Quaddies losbekomme, und tausend funktionierende Uterus-Replikatoren. Mit qualifizierten medizinischen Betreuern.« »Und mich«, mischte sich Ekaterins Stimme entschlossen aus dem Abseits ein. Sie beugte ihr Gesicht kurz in die Reichweite von Vorpatrils Vid-Kamera und blickte Miles mit gerunzelter Stirn an. Sie hatte ihren Mann allerdings schon mehr als einmal gesehen, wenn er aussah wie 418
der leibhaftige Tod; vielleicht würde sie nicht so beunruhigt sein, wie es der Admiral sichtlich war. Dass in seinem Zuständigkeitsbereich ein kaiserlicher Auditor zu dampfendem Schleim wegschmolz, würde einen schwarzen Fleck auf seiner Weste hinterlassen, aber Vorpatrils Karriere war wegen dieser Episode ohnehin längst ein Scherbenhaufen. »Mein Kurierschiff wird im Konvoi reisen und Lady Vorkosigan mitnehmen.« Er wischte Ekaterins aufkommenden Widerspruch beiseite: »Ich könnte durchaus einen Ansprechpartner unterwegs brauchen, der sich nicht in medizinischer Quarantäne befindet.« Sie lehnte sich mit einem zweifelnden »Hm« zurück. »Aber ich möchte verdammt sichergestellt haben, dass wir nicht von irgendwelchen Problemen unterwegs aufgehalten werden, Admiral, also setzen Sie Ihre Flottenabteilung sofort auf unsere Durchfluggenehmigungen in allen Lokalraumstaaten an, die wir durchqueren müssen. Schnelligkeit! Schnelligkeit ist wesentlich. Ich möchte in dem Augenblick starten, wo wir sicher sind, dass die Höllenmaschine des Ba von Station Graf entfernt wurde. Mit all diesen Bio-Gefahren an Bord wird zumindest niemand uns anhalten und wegen Inspektionen zu uns an Bord kommen wollen.« »Nach Komarr, Mylord? Oder nach Sergyar?« »Nein. Berechnen Sie die kürzest mögliche Sprungroute direkt nach Rho Ceta.« Vorpatrils Kopf zuckte erschrocken zurück. »Falls die Befehle, die ich vom Hauptquartier von Sektor V erhielt, bedeuten, was wir glauben, dann werden Sie wohl kaum 419
eine Passage dorthin bekommen. Einen Empfang mit Plasmafeuer und Fusionsgranaten würden Sie meiner Erwartung nach bekommen, und zwar in dem Augenblick, wo Sie aus dem Wurmloch auftauchen.« »Entpacken, Miles«, mischte sich Ekaterins Stimme ein. Er grinste kurz über die vertraute Ungehaltenheit in ihrer Stimme. »Bis wir dort ankommen, werde ich unsere notwendigen Erlaubnisse vom cetagandanischen Reich erwirkt haben.« Hoffe ich. Ansonsten würden sie sich alle in größeren Schwierigkeiten befinden, als Miles es sich jemals hätte vorstellen wollen. »Barrayar bringt ihnen ihre entführten Haud-Babys zurück. Am Ende eines langen Stocks. Ich werde der Stock sein.« »Aha«, sagte Vorpatril und zog die grauen Augenbrauen neugierig hoch. »Sagen Sie dem Piloten meines KBS-Kuriers Bescheid. Ich habe vor zu starten, sobald wir alle und alles an Bord haben. Mit dem ›alles‹ können Sie schon beginnen.« »Verstanden, Mylord.« Vorpatril erhob sich und verschwand aus dem Sichtbereich des Vid. Ekaterin erschien wieder und lächelte ihn an. »Okay, endlich machen wir gewisse Fortschritte«, sagte Miles zu ihr, und er hoffte, es wirkte, als sei er guten Mutes, und nicht, als wäre es unterdrückte Hysterie. Sie zog einen Mundwinkel hoch. In ihren Augen lag jedoch Wärme. »Gewisse Fortschritte? Da frage ich mich ja, was du zu einer Lawine sagst.« »Bitte keine arktischen Metaphern. Mir ist kalt genug. Wenn die Mediziner diese … Plage unterwegs unter Kontrolle bekommen, dann werden sie mich vielleicht für Be420
sucher unbedenklich erklären. Später werden wir sowieso das Kurierschiff haben wollen.« Ein MedTech erschien, holte aus dem ableitenden Schlauch eine Blutprobe, fügte eine weitere Infusionspumpe zu den Geräten hinzu, hob die Bettgeländer, beugte sich dann nach vorn und begann das linke Armbrett festzubinden. »He«, protestierte Miles. »Wie soll ich diesen ganzen Schlamassel bereinigen, wenn mir eine Hand hinter den Rücken gebunden wird?« »Befehle von Dr. Clogston, Mylord Auditor.« Entschlossen stellte der MedTech seinen Arm ruhig. »Eine Standardprozedur bei Anfallsrisiko.« Miles knirschte mit den Zähnen. »Dein Anfallstimulator befindet sich mit deinen übrigen Sachen an Bord der Turmfalke«, bemerkte Ekaterin leidenschaftslos. »Sobald ich wieder dort bin, werde ich ihn suchen und dir schicken.« Besonnen beschränkte Miles seine Reaktion auf: »Danke. Melde dich noch mal bei mir, bevor du ihn schickst – möglicherweise gibt es noch ein paar andere Sachen, die ich brauche. Lass es mich wissen, wenn du sicher an Bord bist.« »Ja, mein Schatz.« Sie führte die Finger an die Lippen und hielt sie hoch, dann strich sie damit durch sein Bild, das vor ihr projiziert wurde. Er erwiderte die Geste. Ihm wurde etwas kühl ums Herz, als ihr Bild erlosch. Wie lange würde es dauern, bis sie es wieder wagen konnten, sich Haut an warmer Haut zu berühren? Was, wenn es niemals…? Verdammt, aber mir ist kalt. 421
Der MedTech ging fort. Miles kauerte sich in seinem Bett zusammen. Vermutlich wäre es vergeblich, um Bettdecken zu bitten. Er stellte sich winzige Bio-Bomben vor. die überall in seinem Körper losgingen, Funken sprühend wie ein Feuerwerk zu Mittsommer, aus der Entfernung gesehen draußen über dem Fluss in Vorbarr Sultana. in Kaskaden zu einem großen, tödlichen Finale. Er stellte sich vor, wie sein Fleisch sich zu einem ätzenden Schleim zersetzte, während er noch darin lebte. Er musste dringend an etwas anderes denken. Zwei Imperien, beide gleicherweise entrüstet, begaben sich in Stellung und zogen tödliche Streitkräfte hinter einem Dutzend Wurmlochsprüngen zusammen, jeder Sprung ein Punkt des Kontaktes, des Konflikts, der Katastrophe … das war nicht besser. Tausend fast reife Haud-Föten, die sich in ihren kleinen Kammern wanden, ohne etwas von den Entfernungen und den Gefahren zu wissen, die sie passiert hatten, und von den Gefahren, die noch kamen – wie bald würden sie herausgeholt werden müssen? Die Vision von tausend brüllenden Säuglingen, die ein paar geplagten barrayaranischen Militärärzten anvertraut waren, reichte fast aus, um ihn lächeln zu lassen, wenn er nur nicht so sehr darauf vorbereitet gewesen wäre zu schreien. Bels Atem im Nachbarbett ging schwer. Schnelligkeit. Aus jedem Grund Schnelligkeit. Hatte er alle und alles in Bewegung gesetzt, was er konnte? Er arbeitete in seinem schmerzenden Kopf Checklisten ab, kam durcheinander, versuchte es erneut. Wie lange war es her, seit er zum letzten Mal geschlafen hatte? Die Minuten kro422
chen mit quälender Langsamkeit vorüber. Er stellte sie sich als Schnecken vor, Hunderte kleiner Schnecken, deren Häuser mit cetagandanischen Clan-Zeichen farbig verziert waren, und sie zogen in einer Prozession an ihm vorüber und hinterließen Schleimspuren tödlicher Bio-Kontamination … ein krabbelndes Kleinkind, die kleine Helen Natalia, sie gurrte und langte nach einer dieser hübschen, giftigen Kreaturen, und er war festgebunden und mit Schläuchen angebohrt und konnte nicht schnell genug durch das Zimmer, um die Kleine aufzuhalten … Ein Piepsen von der KomKonsole auf seinem Schoß weckte ihn, bevor er herausfinden konnte, wohin dieser Albtraum führte. Er war jedoch immer noch angestochen mit Schläuchen. Wie spät war es? Er verlor jedes Zeitgefühl. Sein übliches Mantra – Ich kann schlafen, wenn ich tot bin – schien doch ein wenig zu sehr zu passen. Über der Vid-Scheibe bildete sich ein Bild. »Eichmeisterin Greenlaw!« Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten? Gute. Ihr faltiges Gesicht strahlte erleichtert. »Wir haben sie gefunden«, sagte sie. »Sie wurde entschärft.« Miles stieß seinen Atem laut und vernehmlich aus. »Ja, ausgezeichnet. Wo?« »In der Minchenko-Halle, genau wie der Hafenmeister es gesagt hat. An der Wand befestigt in einer Bühnenlichtzelle. Sie schien hastig zusammengebastelt worden zu sein, aber sie war trotzdem tödlich clever. Einfach und clever. Es handelte sich um kaum mehr als einen kleinen verschlossenen Plastikballon, gefüllt mit einer Art Nährlösung, so sagen mir meine Leute. Und eine kleine Sprengla423
dung sowie der elektronische Auslöser. Der Ba hatte die Bombe mit gewöhnlichem Paketband an die Wand geklebt und mit ein wenig schwarzer Farbe übersprüht. Niemand hätte sie im normalen Lauf der Ereignisse bemerkt, nicht einmal, wenn man an der Beleuchtung gearbeitet hätte, es sein denn, man legte direkt die Hand darauf.« »Also selbst gemacht. An Ort und Stelle?« »Es sieht so aus. Die Elektronik, die aus handelsüblichen Teilen bestand – und auch das Klebeband –, stammen aus Quaddie-Produktion. Sie passen mit den Käufen zusammen, die auf Dubauers Kreditkartenkonto am Abend nach dem Angriff in der Lobby der Herberge verzeichnet worden waren. Alle Teile sind nachgewiesen. Es scheint nur diese eine Bombe gegeben zu haben.« Sie fuhr sich mit der oberen Hand durch das silberne Haar, massierte müde ihre Kopfhaut und kniff die Augen zusammen, unter denen sich kleine dunkle Halbmonde aus Schatten abzeichneten. »Das … passt mit dem Zeitplan zusammen, wie ich ihn sehe«, sagte Miles. »Bis zu dem Augenblick, als Guppy mit seiner Nietenkanone auftauchte, dachte der Ba offensichtlich, er sei mit seiner gestohlenen Fracht problemlos davongekommen. Und mit Solians Tod. Alles glatt und perfekt. Sein Plan war, in aller Ruhe durch den QuaddieRaum zu passieren, ohne eine Spur zu hinterlassen. Vorher hätte er keinen Grund gehabt, einen solchen Apparat herzustellen. Aber seit dem misslungenen Mordversuch rannte er erschrocken durch die Gegend und musste schnell improvisieren. Ein seltsames Stück Voraussicht. Er kann gewiss nicht geplant haben, auf der Idris gefangen zu sein, wie es dann geschah.« 424
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat etwas geplant. Die Sprengladung hatte zwei Leitungen zum Auslöser. Eine war ein Empfänger für das Signalgerät, das der Ba in seiner Tasche hatte. Das andere war ein einfacher Geräuschsensor, Eingestellt auf einen ziemlich hohen Dezibelwert. Und zwar auf den einer Halle voller Applaus, zum Beispiel.« Miles schlug die Zähne aufeinander. O ja. »So wäre der Knall der Sprengladung übertönt und gleichzeitig die kontaminierende Substanz über eine maximale Anzahl von Personen verteilt worden.« Sofort stellte sich eine schreckliche Vision ein. »Der Meinung sind wir auch. Es kommen Leute von anderen Stationen aus dem ganzen Quaddie-Raum, um Vorstellungen des Minchenko-Balletts zu sehen. Mit ihnen hätte sich die Ansteckung durch das halbe System verbreitet, bevor sie augenscheinlich geworden wäre.« »Handelt es sich um dasselbe – nein, es kann nicht das sein, was der Ba mir und Bel verpasst hat. Oder? War es tödlich, oder lediglich etwas Schwächendes, oder was?« »Die Probe befindet sich jetzt in den Händen unserer Mediziner. Wir dürften es bald wissen.« »Also hat der Ba seine Bio-Bombe angebracht … nachdem er wusste, echte cetagandanische Agenten würden ihm folgen, nachdem er wusste, er würde gezwungen sein, die äußerst belastenden Replikatoren und ihren Inhalt aufzugeben … Bestimmt hat er die Bombe in Eile zusammengebaut und dort draußen angebracht.« Vielleicht war es Rache. Rache an den Quaddies für die ganzen erzwungenen Verzögerungen, die den perfekten Plan des Ba zunich425
te gemacht hatten …? Nach Bels Bericht zu schließen, war der Ba über solche Motive nicht erhaben; der Cetgandaner hatte einen grausamen Humor an den Tag gelegt, und einen Geschmack für sich verzweigende Strategien. Wenn der Ba nicht auf der Idris in Schwierigkeiten geraten wäre, hätte er dann die Bombe zurückgeholt? Oder hätte er sie einfach ruhig zurückgelassen, damit sie von selbst losging? Nun ja, wenn Miles’ eigene Männer aus dem Gefangenen nicht die ganze Geschichte herausbekommen konnten, dann kannte er einige andere Leute verdammt gut, die das konnten. »Gut«, flüsterte er. »Jetzt können wir abreisen.« Greenlaw riss die müden Augen auf. »Was?« »Ich meine – mit Ihrer Erlaubnis, Madame Eichmeisterin.« Er erweiterte den Aufnahmewinkel seiner VidKamera, um seine bedrückende medizinische Umgebung mit zu erfassen. Zu spät, um noch die Farbbalance in Richtung eines kränklicheren Grün zu verändern. Möglicherweise wäre es auch redundant gewesen. Greenlaw verzog bestürzt den Mund und schaute ihn an. »Admiral Vorpatril hat ein äußerst alarmierendes militärisches Kommunique aus der Heimat erhalten …« Schnell erklärte Miles seinen Schluss über die Verbindung der plötzlich angewachsenen Spannungen zwischen Barrayar und dessen gefährlichem Nachbarn Cetaganda mit den jüngsten Ereignissen auf Station Graf. Er umging sorgfältig die taktische Verwendung der Eskorten von Handelsflotten als Schnelleinsatzkräfte, allerdings bezweifelte er, dass der Eichmeisterin die Implikationen entgingen. »Mein Plan ist es, mich, den Ba, die Replikatoren und so viele Beweise für die Verbrechen des Ba, wie ich zusam426
menbringen kann, nach Rho Ceta zu verfrachten, um Barrayar von jeder Beschuldigung der Kollision reinzuwaschen, die diese Krise vorantreibt. So schnell wie möglich. Bevor ein Hitzkopf- auf beiden Seiten – etwas unternimmt, das – offen gesagt – Admiral Vorpatrils kürzliche Aktionen auf Station Graf als ein Vorbild an Zurückhaltung und Weisheit erscheinen ließe.« Darauf reagierte sie mit einem Schnauben, doch er fuhr fort: »Während der Ba und Russo Gupta beide Verbrechen auf Station Graf verübt haben, haben sie zuerst in den Reichen von Cetaganda und Barrayar Verbrechen gegangen. Ich bringe vor, dass unser Anspruch deutlich Priorität hat. Und schlimmer – ihre bloße fortgesetzte Anwesenheit auf Station Graf ist gefährlich, weil, das verspreche ich Ihnen, früher oder später ihre wütenden cetagandanischen Opfer sie aufspüren werden. Ich glaube, Sie haben eine ausreichende Probe von deren Medizin erlebt, dass Ihnen die Aussicht, ein Schwärm echter cetagandanischer Agenten könnte über Sie herfallen, in der Tat höchst unwillkommen sein dürfte.« »Hm«, sagte sie. »Und Ihre beschlagnahmte Handelsflotte? Ihre Strafgebühren?« »Lassen Sie mich … auf meine Verantwortung bin ich bereit, das Eigentum an der Idris auf Station Graf zu übertragen, anstelle aller Strafgebühren und Auslagen.« Vorsichtig fügte er hinzu: »In ihrem derzeitigen Zustand.« Greenlaw riss die Augen weit auf und sagte ungehalten: »Das Schiff ist kontaminiert.« »Ja, deshalb können wir es sowieso nirgendwohin mitnehmen. Das Schiff zu reinigen könnte eine hübsche kleine 427
Übungsaufgabe für Ihre Bio-Kontroll-Leute darstellen.« Er beschloss, die Löcher, die Roic gebohrt hatte, nicht zu erwähnen. »Selbst mit diesen Ausgaben kommen Sie gut weg. Leider wird die Versicherung der Passagiere den Wert all ihrer Fracht verschlingen, die nicht freigegeben werden kann. Aber ich bin wirklich voller Hoffnung, dass das meiste davon nicht wird in Quarantäne müssen. Und Sie können den Rest der Flotte gehen lassen.« »Und Ihre Männer in unseren Haftzellen?« »Sie haben einen von ihnen herausgelassen. Tut es Ihnen Leid? Können Sie nicht gestatten, dass Fähnrich Corbeaus Mut seine Kameraden freikauft? Das muss eine der tapfersten Taten gewesen sein, die ich je beobachtet habe, wie er da nackt und wissend in den Schrecken schritt, um Station Graf zu retten.« »Das … ja. Das war bemerkenswert«, räumte sie ein. »Nach den Maßstäben aller Völker.« Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Sie sind auch hinter dem Ba hineingegangen.« »Bei mir zählt das nicht«, erwiderte Miles automatisch. »Ich war schon …«, er verschluckte das Wort tot. Verdammt, er war noch nicht tot. »Ich war schon infiziert.« Verblüfft und neugierig zog sie die Augenbrauen hoch. »Und wenn Sie es nicht gewesen wären, was hätten Sie dann getan?« »Nun … es wurde: taktische Augenblick. Ich habe eine Art Begabung für Timing, sehen Sie.« »Und für Doppeldeutigkeiten.« »Die auch. Aber der Ba war einfach mein Job.« »Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie völlig 428
verrückt sind?« »Dann und wann«, gab er zu. Trotz allem verzog ein langsames Lächeln seine Lippen. »Allerdings nicht mehr so oft, seit ich zum kaiserlichen Auditor ernannt wurde. Das ist schon nützlich.« Sie schnaubte sehr leise. Wurde sie weich? Miles setzte zum nächsten Wortschwall an. »Mein Appell ist auch humanitär. Ich glaube – hoffe –, dass die cetagandanischen Haud-Ladys in ihren weiten Ärmeln etwas haben, womit sie die Auswirkungen ihres eigenen Produkts behandeln können. Ich schlage vor, dass wir Hafenmeister Thorne – auf unsere Kosten – mit uns nehmen, damit auch er die Heilung bekommt, die ich jetzt verzweifelt für mich selbst suche. Das ist nur gerecht. Der Herm war, in gewissem Sinn, in meinen Diensten, als er diesen Schaden davontrug. Er war in meinem Team, wenn Sie so wollen.« »Ha, ihr Barrayaraner sorgt wenigstens für die Euren. Das ist einer der wenigen sympathischen Züge an euch.« Miles öffnete die Hände zu einer gleicherweise mehrdeutigen Geste der Anerkennung dieses gemischten Kompliments. »Thorne und ich, wir kämpfen jetzt mit einer Frist, die leider keine Komiteedebatte und niemandes Erlaubnis abwartet. Mit dem derzeitigen Palliativ«, er zeigte linkisch auf den Blutfilter, »gewinnen wir ein wenig Zeit. Im Augenblick weiß niemand, ob wir genug gewinnen.« Sie rieb sich die Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen. »Ja, gewiss … gewiss müssen Sie … oh, Teufel noch mal.« Sie holte Luft. »In Ordnung. Nehmen Sie Ihren Gefangenen und Ihre Beweise und den ganzen verdammten Haufen – und Thorne – und gehen Sie.« 429
»Und Vorpatrils Leute in den Haftzellen?« »Die auch. Nehmen Sie sie alle fort. Ihre Schiffe können alle gehen, ausgenommen die Idris.« Sie rümpfte angewidert die Nase. »Aber wir werden über den Rest Ihrer Strafgebühren und Auslagen weiterdiskutieren, nachdem das Schiff von unseren Inspektoren geschätzt worden ist. Später. Ihre Regierung kann jemanden für diese Aufgabe schicken. Irgendjemanden, aber bitte nicht Sie.« »Danke. Madame Eichmeisterin«, erwiderte Miles erleichtert. Er unterbrach die Verbindung und sank auf die Kissen. Der Krankensaal schien sich um seinen Kopf zu drehen, sehr langsam, in kurzen Rucken. Einen Moment später kam Miles zu dem Schluss, dass es sich nicht um ein Problem mit dem Raum handelte. Flottenarzt Clogston, der an der Tür gewartet hatte, bis der Auditor diese Verhandlung auf hoher Ebene abgeschlossen hatte, trat heran und blickte noch einmal finster auf den zusammengebastelten Blutfilter. Dann richtete er den finsteren Blick auf Miles. »Anfallkrankheit, ja? Ich bin froh, dass es mir überhaupt jemand gesagt hat.« »Je nun, wir hätten nicht gewollt, dass Sie es als ein neues exotisches cetagandanisches Symptom missverstehen. Das läuft ziemlich routinemäßig ab. Wenn es eintritt, geraten Sie bitte nicht in Panik. Nach ungefähr fünf Minuten komme ich wieder zu mir. Für gewöhnlich habe ich danach eine Art Kater, nicht, dass ich allerdings im Moment in der Lage wäre, den Unterschied zu erkennen. Machen Sie sich keine Sorgen. Was können Sie mir über Fähnrich Corbeau sagen?« 430
»Wir haben das Hypospray des Ba überprüft. Es war mit Wasser gefüllt.« »Ach, gut! Ich dachte es mir schon.« Miles lächelte mit wölfischer Befriedigung. »Können Sie ihn folglich als frei von Bio-Schrecken erklären?« »Angesichts der Tatsache, dass er splitterfasernackt in diesem verseuchten Schiff herumgelaufen ist, können wir das erst tun, wenn wir sicher sind, dass wir alle möglichen Gefahren identifiziert haben, die der Ba vielleicht freigesetzt hat. Aber bei den ersten Blut- und Gewebeproben, die wir von ihm nahmen, kam nichts zutage.« Ein hoffnungsvolles – Miles versuchte nicht zu denken: übermäßig optimistisches – Zeichen. »Können Sie den Fähnrich zu mir hereinschicken? Ist das sicher? Ich möchte mit ihm sprechen.« »Wir meinen inzwischen, dass das, was Sie und der Herm haben, nicht virulent ansteckend durch gewöhnlichen Kontakt ist. Sobald wir sicher sind, dass das Schiff frei von allen anderen Sachen ist, werden wir diese Anzüge ablegen können, was eine Erleichterung darstellen wird. Allerdings könnten die Parasiten sexuell übertragen werden – das müssen wir noch untersuchen.« »So sehr mag ich Corbeau nun auch wieder nicht. Dann schicken Sie ihn mal herein.« Clogston warf Miles einen seltsamen Blick zu und ging weg. Miles war sich nicht sicher, ob dem Flottenarzt der schwache Scherz entgangen war oder ob er ihn lediglich für zu schwach hielt, um ihn einer Antwort zu würdigen. Aber diese Theorie von wegen sexueller Übertragung löste in Miles’ Gedanken eine ganze neue Kaskade von unange431
nehmen, unwillkommenen Spekulationen aus. Was, wenn die Mediziner herausfanden, dass sie ihn unbegrenzt am Leben erhalten, aber nicht diese verdammten Dinger loswerden konnten? Würde er für den Rest seines Lebens nie mehr in der Lage sein, Ekaterin intensiver zu berühren als ihr Holovid-Bild …? Diese Geschichte mit der sexuellen Übertragung ließ auch an eine neue Liste von Fragen denken, die man Guppy hinsichtlich seiner jüngsten Reisen würde stellen müssen – nun ja. die Ärzte der Quaddies waren kompetent und bekamen Kopien der medizinischen Dateien der Barrayaraner; ihre Epidemiologen saßen zweifellos schon an der Sache dran. Corbeau schob sich durch die Bio-Barrieren. Er war jetzt etwas flüchtig in eine Wegwerfmaske und Handschuhe gesteckt worden, zusätzlich zu dem Patientenhemd und den Patientenpantoffeln. Miles setzte sich auf, schob sein Tablett fort, zog unaufdringlich sein eigenes Hemd auf und ließ stumm das verblassende Spinnennetz der alten Narben der Nadelgranate Corbeau auf welche Gedanken auch immer bringen. »Sie haben nach mir gefragt, Mylord Auditor?« Corbeau senkte mit einem nervösen Ruck den Kopf. »Ja.« Miles kratzte sich nachdenklich mit der freien Hand an der Nase. »Nun, Sie Held. Da haben Sie gerade einen sehr guten Schritt für Ihre Karriere unternommen.« Corbeau kauerte sich ein wenig zusammen und erwiderte stur: »Ich habe es nicht für meine Karriere getan. Oder für Barrayar. Ich habe es für Station Graf getan und für die Quaddies und für Granat Fünf.« »Und ich bin froh darüber. Trotzdem, man wird zweifel432
los wünschen, Ihnen goldene Sterne anzustecken. Kooperieren Sie mit mir, und ich werde dafür sorgen, dass Sie sie nicht in dem Kostüm entgegennehmen müssen, das Sie trugen, als Sie sie sich verdienten.« Corbeau blickte ihn verwirrt und misstrauisch an. Was war heute mit all seinen Scherzen überhaupt los? Platt, platter, am plattesten. Vielleicht verletzte er eine Art ungeschriebenes Auditorenprotokoll und machte es den anderen unmöglich zu sagen, was sie eigentlich sagen wollten. »Was wollen Sie von mir, Mylord?«, fragte der Fähnrich mit einer spürbar wenig einladenden Stimme. »Dringendere Angelegenheiten – gelinde gesagt – zwingen mich, den Quaddie-Raum zu verlassen, bevor die mir zugewiesene diplomatische Mission ganz abgeschlossen ist. Trotzdem sollte, nachdem der wahre Grund und Verlauf unserer jüngsten Desaster hier endlich ans Licht gebracht wurde, das, was folgt, einfacher sein.« Außerdem zwingt einen nichts so erfolgreich zu delegieren wie die Drohung des bevorstehenden Todes. »Es ist ganz offensichtlich, dass Barrayar schon längst der Union der Freien Habitats einen diplomatischen Konsulatsbeamten in Vollzeitdienst hatte zuweisen sollen. Einen intelligenten jungen Mann, der …«, mit einem Quaddie-Mädchen zusammenwohnt, nein, verheiratet ist, halt mal, so wurde das hier nicht genannt, in Partnerschaft lebt, ja, sehr wahrscheinlich, aber das war ja noch gar nicht geschehen. Allerdings wäre Corbeau ein dreifacher Narr, wenn er diese Gelegenheit nicht beim Schopf packte, um die Dinge mit Granat Fünf ein für alle Mal zu regeln, »… Quaddies mag«, fuhr 433
Miles geschmeidig fort, »und sich durch seinen persönlichen Mut sowohl ihren Respekt als auch ihre Dankbarkeit verdient hat und nichts gegen einen langen Dienst fern der Heimat hat – waren es nicht zwei Jahre? Ja, zwei Jahre. Ein solcher junger Mann könnte besonders gut positioniert sein, um im Quaddie-Raum wirkungsvoll für barrayaranische Interessen einzutreten. Meiner persönlichen Meinung nach.« Miles wusste nicht, ob Corbeaus Mund hinter der medizinischen Maske offen stand, aber seine Augen hatten sich beträchtlich geweitet. »Ich kann mir nicht vorstellen«, fuhr Miles fort, »dass Admiral Vorpatril irgendwelche Einwände dagegen haben würde, Sie für diesen Dienst abzukommandieren und freizugeben. Oder zumindest dagegen, dass er nach all diesen … komplexen Ereignissen nicht mehr mit Ihnen in seiner Befehlsstruktur zu tun hat. Nicht, dass ich geplant hätte, ihm nach betanischer Art ein Stimmrecht in meinen Dekreten als Auditor einzuräumen, wohlgemerkt.« »Ich … ich weiß nichts über Diplomatie. Ich wurde als Pilot ausgebildet.« »Wenn Sie die militärische Sprungpilotenausbildung durchlaufen haben, dann haben Sie schon gezeigt, dass Sie fleißig studieren, schnell lernen und selbstbewusste, schnelle Entscheidungen fällen können, die das Leben anderer Menschen angehen. Einspruch abgelehnt. Sie werden natürlich ein Budget für das Konsulat haben, um Fachpersonal anzustellen, das Ihnen bei Fachproblemen hilft, im Recht, in der Ökonomie der Hafengebühren, in Handelsangelegenheiten und was sonst noch. Aber man wird erwar434
ten, dass Sie genug lernen, da Sie beurteilen werden, ob deren Ratschläge gut für das Imperium sind. Und wenn Sie am Ende der zwei Jahre sich dafür entscheiden, aus dem Dienst auszuscheiden und hier zu bleiben, dann dürften diese Erfahrungen Ihnen einen ziemlichen Auftrieb geben für eine Anstellung im privaten Sektor im Quaddie-Raum. Falls es mit alldem von Ihrem Standpunkt aus – oder von dem von Granat Fünf, übrigens eine sehr vernünftige Frau, lassen Sie sich die nicht entgehen! – Probleme geben sollte, so sind sie für mich nicht ersichtlich.« »Ich«, Corbeau schluckte, »werde darüber nachdenken. Mylord.« »Ausgezeichnet.« Und er hat sich auch nicht bereitwillig aufgedrängt, gut. »Tun Sie das.« Miles lächelte und entließ ihn mit einer Handbewegung; Corbeau zog sich vorsichtig zurück. Sobald er außer Hörweite war, murmelte Miles einen Code in seinen Kommunikator. »Ekaterin, mein Schatz? Wo bist du?« »In meiner Kabine auf der Prinz Xav. Der nette junge Unteroffizier schickt sich gerade an, mir meine Sachen zum Shuttle tragen zu helfen. Ja, danke, das auch …« »In Ordnung. Ich habe uns gerade vom Quaddie-Raum losgeeist. Greenlaw war vernünftig oder zumindest zu erschöpft, um noch mehr zu streiten.« »Sie hat mein vollstes Mitgefühl. Ich glaube nicht, dass ich im Augenblick noch einen funktionsfähigen Nerv übrig habe.« »Du brauchst deine Nerven nicht, nur deinen üblichen Charme. Sobald du an eine KomKonsole rankannst, ruf bitte Granat Fünf an. Ich möchte diesen heroischen jungen 435
Idioten Corbeau zum hiesigen barrayaranischen Konsul ernennen, und ich überlasse es ihm, diesen ganzen Schlamassel zu bereinigen, den ich zurücklassen muss. Es ist nur fair, schließlich hat er das Seine getan, um den Schlamassel anzurichten. Gregor hat mich ausdrücklich darum gebeten, sicherzustellen, dass barrayaranische Schiffe eines Tages hier wieder andocken können. Der Junge schwankt jedoch. Also mach es Granat Fünf schmackhaft und stelle es entsprechend sicher, damit sie sicherstellt, dass Corbeau ja sagt.« »Oh! Was für eine glänzende Idee, mein Schatz. Sie würden ein gutes Team abgeben, glaube ich.« »Ja. Sie mit ihrer Schönheit und … äh … sie mit ihrer Intelligenz.« »Und er mit seinem Mut, gewiss. Ich glaube, es könnte funktionieren. Ich muss überlegen, was ich ihnen als Hochzeitsgeschenk schicke, um meinen persönlichen Dank auszudrücken.« »Als Geschenk zum Beginn der Partnerschaft? Ich weiß es nicht, frag doch Nicol. Oh, da wir gerade von Nicol sprechen.« Miles warf einen Blick auf die in Laken gehüllte Gestalt im Nachbarbett. Nachdem er seine wichtige Botschaft übermittelt hatte, war Thorne wieder in Schlaf – wie Miles hoffte – gefallen, nicht in ein beginnendes Koma. »Ich glaube, Bel sollte wirklich jemanden haben, der mitreist und sich um ihn kümmert. Oder um seine Sachen. Eine Art Verstärkung. Ich erwarte, dass die Sternenkrippe ein Gegenmittel für ihre eigene Waffe hat – sie müssten es haben, für Laborunfälle und so.« Falls wir rechtzeitig dorthin kommen, »Aber es sieht so aus, als wäre damit ein gewisses 436
Maß von wirklich unangenehmer Rekonvaleszenz verbunden. Ich freue mich selbst auch nicht gerade darauf.« Aber denke nur an die Alternative … »Frage sie, ob sie bereit ist. Sie könnte mit dir auf der Turmfalke reisen und dir etwas Gesellschaft leisten.« Und wenn weder Miles noch Bel lebend aus der Sache herauskamen, dann konnten sie sich gegenseitig trösten. »Gewiss doch. Ich rufe sie von hier aus an.« »Melde dich wieder an, wenn du sicher an Bord der Turmfalke bist, mein Schatz.« Oft und immer wieder. »Natürlich.« Sie zögerte. »Ich liebe dich. Ruh dich etwas aus. Du klingst so, als brauchtest du es. Deine Stimme hat diesen Drunten-in-einem-Brunnen-Klang, den sie bekommt, wenn … Es wird genug Zeit sein.« Entschlossenheit blitzte durch ihre eigene hörbare Müdigkeit auf. »Ich würde nicht wagen zu sterben. Denn da gibt es diese wilde VorLady, die mir gedroht hat, sie würde mich umbringen, wenn ich es täte.« Er grinste schwach und brach die Verbindung ab. Er döste eine Weile schwindlig vor Erschöpfung und kämpfte gegen den Schlaf an, der ihn zu übermannen suchte, da er sich nicht sicher sein konnte, dass es nicht die höllische Krankheit des Ba war, die ihm immer näher kam, und dass er wieder erwachen würde. Er bemerkte eine subtile Veränderung in den Geräuschen und Stimmen, die aus dem äußeren Raum drangen, als das medizinische Team die Verlegung vorbereitete. Nach einiger Zeit kam ein MedTech und brachte Bel auf einer Schwebepalette fort. Etwas später wurde die Palette zurückgebracht, und Clog437
ston selbst und ein weiterer MedTech schoben den kaiserlichen Auditor und alle seine lebenserhaltenden Vorrichtungen auf die Palette. Einer der Geheimdienstoffiziere meldete sich bei Miles während einer kurzen Verzögerung im äußeren Raum. »Wir haben endlich die sterblichen Überreste von Leutnant Solian gefunden, Mylord Auditor. Was von ihnen noch übrig war. Ein paar Kilogramm … nun ja. In einem BodPod, das wieder geschlossen und in seinen Wandschrank zurückgestellt worden war, im Korridor direkt außerhalb des Frachtraums, wo sich die Replikatoren befanden.« »In Ordnung. Danke. Nehmen Sie es mit. So wie es ist. Als Beweis und für … der Mann ist im Dienst gestorben. Barrayar schuldet ihm … eine Ehrenschuld. Ein militärisches Begräbnis. Pension, Familie … klären Sie alles später …« Seine Palette hob sich erneut, und zum letzten Mal glitten die Decken der Korridore der Idris an seinem verschwommenen Blick vorbei.
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18 »Sind wir schon da?«, murmelte Miles benebelt. Er öffnete blinzelnd die Augen, die – seltsam genug – nicht verklebt waren und nicht schmerzten. Die Decke über ihm schwankte und wand sich nicht in seinem Blickfeld. Atem, den er durch die weit geöffneten Nasenlöcher einzog, floss kühl und ungehindert in seine Lungen. Kein Schleim. Keine Schläuche. Keine Schläuche? Die Decke war unbekannt. Er suchte in seiner Erinnerung. Nebel. Engel und Teufel in Biotainer-Anzügen, die ihn quälten. Jemand verlangte von ihm, er solle pinkeln. Medizinische Demütigungen, die jetzt gnädig verschwommen waren. Er hatte versucht zu reden. Befehle zu geben, bis ein Hypospray der Finsternis ihn zum Schweigen gebracht hatte. Und davor: der Verzweiflung nahe. Hektische Botschaften hatte er abgeschickt, die seinem kleinen Konvoi vorauseilten. Schon mehrere Tage alte Berichte über blockierte Wurmlöcher, über Ausländer, die von beiden Seiten interniert worden waren, über Beschlagnahme von Besitztümern und Massierung von Schiffen waren zurückgeströmt und hatten Miles eine eigene Geschichte erzählt, die durch die Details noch schlimmer wurde. Er wusste verdammt zu viel über die Details. Wir können jetzt keinen Krieg gebrauchen, ihr Narren! Wisst ihr nicht dass da tausend Kinder involviert sind? Sein linker Arm zuckte, er traf auf keinen Widerstand außer einer glatten Tagesdecke unter seinen sich zur Faust ballenden Fingern. »… schon da?« Ekaterins schönes Gesicht beugte sich von der Seite her 439
über ihn. Nicht halb versteckt hinter BiotainerSchutzkleidung. Einen Moment lang fürchtete er, es handelte sich dabei nur um eine Holovid-Projektion oder um eine Halluzination, aber der echte warme Kuss von Atem aus ihrem Mund, den ein Lachen mit sich trug, vergewisserte ihn, dass sie hier greifbar zugegen war. bevor noch seine zögernde Hand ihre Wange berührte. »Wo ist deine Maske?«, fragte er undeutlich. Er hievte sich auf einen Ellbogen hoch und wehrte eine Welle von Schwindel ab. Gewiss befand er sich nicht auf der überfüllten, nüchternen Krankenstation des barrayaranischen Kriegsschiffs, auf die er von der Idris verlegt worden war. Sein Bett stand in einem kleinen, aber elegant eingerichteten Raum, dessen cetagandanische Ästhetik einem sofort ins Auge sprang, von den Reihen lebender Pflanzen über die heitere Beleuchtung bis zum Blick durch das Fenster auf ein wohltuendes Seeufer. Wellen gischteten auf einen blassen sandigen Strand, den man zwischen seltsamen Bäumen hindurch sah, die harte Schattenfinger warfen. So gut wie sicher war das eine Vid-Projektion, da die unterschwelligen Signale der Atmosphäre und Geräusche ihm eine Kabine in einem Raumschiff zumurmelten. Er trug ein weites, seidiges Gewand in gedämpften grauen Farbtönen; nur dessen seltsame Öffnungen verrieten es als Patientenhemd. Über dem Kopfende seines Bettes zeigte eine diskrete Tafel medizinische Werte an. »Wo sind wir? Was ist los? Haben wir den Krieg aufgehalten? Diese Replikatoren, die sie auf ihrer Seite gefunden haben – das ist ein Trick, ich weiß es …« 440
Das endgültige Desaster – seine dahineilenden Schiffe hatten Dichtstrahlmeldungen aus Barrayar aufgefangen, dass die diplomatischen Gespräche abgebrochen worden waren, als man in einem Lagerhaus außerhalb von Vorbarr Sultana tausend leere Replikatoren entdeckt hatte, die anscheinend aus der Sternenkrippe gestohlen worden und deren Insassen verschwunden waren. Mutmaßliche Insassen? Selbst Miles war sich nicht sicher gewesen. Ein bestürzender Albtraum von Implikationen. Die barrayaranische Regierung hatte natürlich jede Kenntnis darüber, wie sie dorthin gekommen waren oder wo sich jetzt ihr Inhalt befand, heftig verneint. Und ihr wurde nicht geglaubt … »Der Ba – Guppy, ich habe versprochen – all diese Haud-Kinder – ich muss …« »Du musst ruhig liegen bleiben.« Eine feste Hand auf seiner Brust drückte ihn wieder aufs Bett. »Um all die dringenden Angelegenheiten hat man sich gekümmert.« »Wer?« Sie errötete leicht. »Nun ja … ich, hauptsächlich. Vorpatrils Schiffskapitän hätte vermutlich nicht zulassen dürfen, dass ich mich praktisch über ihn hinwegsetzte, aber ich beschloss, ihn nicht darauf aufmerksam zu machen. Du hast einen schlechten Einfluss auf mich, mein Schatz.« Was? Was? »Wie?« »Ich wiederholte einfach nur immer wieder deine Botschaften und verlangte, dass sie an die Haud Pel und an Ghem-General Benin weitergeleitet würden. Benin war genial. Sobald er deine ersten Berichte in der Hand hatte, folgerte er, dass die Replikatoren, die man in Vorbarr Sultana gefunden hatte, nur Attrappen waren, die der Ba vor 441
mehr als einem Jahr nach und nach in jeweils kleiner Anzahl aus der Sternenkrippe herausgeschmuggelt hatte, um diese Tat vorzubereiten.« Sie runzelte die Stirn. »Es handelte sich offensichtlich um einen absichtlichen Taschenspielertrick des Ba, der genau diese Art von Schwierigkeiten verursachen sollte. Ein Plan B für den Fall, dass jemand dahinter kam, dass nicht alle auf dem Kinderschiff gestorben waren, und die Spur bis Komarr verfolgte. Er funktionierte fast. Er hätte funktioniert, wenn nicht Benin so gewissenhaft und besonnen gewesen wäre. Wie ich gehört habe, waren die innenpolitischen Umstände seiner Ermittlungen bis dahin äußerst schwierig. Er setzte wirklich seinen Ruf aufs Spiel.« Möglicherweise sogar sein Leben, falls Miles zwischen diesen einfachen Zeilen richtig las. »Also ihm alle Ehre.« »Die Streitkräfte – ihre und unsere – sind nicht mehr in Alarmbereitschaft und ziehen sich jetzt zurück. Die Cetagandaner haben den Fall zu einer internen, zivilen Angelegenheit erklärt.« Überaus erleichtert entspannte er sich. »Aha.« »Ich glaube, ohne den Namen der Haud Pel wäre ich nicht zu ihnen durchgedrungen.« Sie zögerte. »Und auch deinen.« »Unseren.« Dies ließ ein Lächeln auf ihren Lippen erscheinen. »Lady Vorkosigan scheint ein Titel zu sein, mit dem man zaubern kann. Er gab beiden Seiten zu denken. Und außerdem, dass ich immer wieder die Wahrheit rief. Aber ohne den Namen hätte ich es nicht zusammenhalten können.« »Darf ich zu bedenken gaben, dass es der Name ohne 442
dich nicht zusammengehalten hätte?« Seine freie Hand griff auf der maschinell sauber gehäkelten Tagesdecke nach der ihren. Ihre Hand erwiderte den Druck. Er fuhr wieder auf. »Warte mal – solltest du nicht Biotainer-Schutzkleidung tragen?« »Nicht mehr. Leg dich wieder hin, verflixt. Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?« »Meine letzte deutliche Erinnerung ist, wie ich auf dem barrayaranischen Schiff war, etwa vier Tagesreisen vom Quaddie-Raum entfernt. Mir war kalt.« Ihr Lächeln änderte sich nicht, aber ihre Augen wurden dunkel, als sie sich daran erinnerte. »Kalt ist richtig. Die Blutfilter kamen nicht mit, selbst als vier von ihnen gleichzeitig liefen. Wir konnten sehen, wie das Leben einfach aus dir heraustropfte; dein Stoffwechsel konnte nicht Schritt halten, konnte die Ressourcen nicht ersetzen, die abgesaugt wurden, selbst nicht mit den Infusionen und Nährschläuchen, obwohl sie volle Pulle arbeiteten, und den mehrfachen Bluttransfusionen. Flottenarzt Clogston wusste keinen anderen Weg mehr, um die Parasiten zu unterdrücken, als dich, Bel und die Parasiten in eine Stasis zu versetzen. In einen kalten Winterschlaf. Die nächste Stufe wäre die Kryo-Einfrierung gewesen.« »O nein. Nicht noch einmal …!« »Das war die Ultima ratio, aber sie wurde nicht gebraucht, Gott sei Dank. Als ihr, du und Bel, sediert und genügend abgekühlt wart, hörten die Parasiten auf, sich zu vermehren. Die Kapitäne und Mannschaften unseres kleinen Konvois waren sehr gut darin, uns so schnell, wie es sicher war, oder noch ein bisschen schneller, voran443
zubringen. Oh – ja, wir sind hier; wir sind im Orbit um Rho Ceta angekommen … es war gestern, glaube ich.« Hatte sie seitdem geschlafen? Nicht viel, vermutete Miles. Ihr Gesicht war, obwohl jetzt fröhlich, angespannt vor Müdigkeit. Er langte erneut danach und berührte ihre Lippen leicht mit zwei Fingern, wie er es gewohnheitsmäßig mit ihrem Holovid-Bild getan hatte. »Ich erinnere mich, dass du mich dir nicht richtig Auf Wiedersehen sagen ließest«, beschwerte er sich. »Ich dachte mir, es würde dich stärker motivieren, dich wieder zu mir zurückzukaufen. Und wenn es auch nur für das letzte Wort gewesen wäre.« Er lachte schnaubend und ließ seine Hand wieder auf die Tagesdecke fallen. Die künstliche Schwerkraft in diesem Raum war wahrscheinlich nicht auf 2 g hochgeschaltet worden, obwohl sein Arm sich anfühlte, als wäre er mit Bleigewichten beschwert. Er musste zugeben, er fühlte sich nicht gerade … munter. »Was, dann bin ich befreit von all diesen Teufelsparasiten?« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Alles ist besser. Nun ja, das heißt, diese beeindruckende cetagandanische Ärztin, die die Haud Pel mitgebracht hat, hat dich für geheilt erklärt. Aber du bist noch sehr geschwächt. Du sollst noch ruhen.« »Ruhen, ich kann nicht ruhen! Was ist sonst noch los? Wo ist Bel?« »Pst, pst. Bel geht es auch besser. Du kannst ihn bald sehen, und Nicol auch. Sie sind in einer Kabine auf diesem Korridor ein Stück weiter unten. Bel hat …«Sie runzelte zögernd die Stirn. »Hat mehr Schäden davongetragen als du, aber man erwartet, dass er sich zum größten Teil erholt. 444
Im Laufe der Zeit.« Das klang nicht so, dass es Miles so richtig gefallen hätte. Ekaterin folgte seinem Blick durch den Raum. »Im Augenblick sind wir an Bord des Schiffes der Haud Pel – das heißt, ihres Sternenkrippenschiffes, das sie von Eta Ceta hergebracht hat. Die Frauen der Sternenkrippe hatten dich und Bel herübergebracht, um euch hier zu behandeln. Die Haud-Ladys ließen keinen unserer Männer an Bord, um dich zu bewachen, zuerst nicht einmal Gefolgsmann Roic, was den allerdümmsten Streit auslöste; ich war schon bereit, alle darin Verwickelten zu ohrfeigen, bis sie schließlich beschlossen, dass Nicol und ich mit euch kommen durften. Flottenarzt Clogston war sehr beunruhigt, dass ihm nicht gestattet wurde, dabei zu sein. Er wollte alle Replikatoren zurückhalten, bis sie kooperierten, aber du kannst dir vorstellen, dass ich bei dieser Idee ziemlich energisch geworden bin.« »Gut!« Und das nicht nur, weil Miles gewollt hatte, dass die Barrayaraner sich zum frühest möglichen Zeitpunkt dieser kleinen Zeitbomben entledigen sollten. Er konnte sich kein Manöver vorstellen, das zu dieser späten Stunde psychologisch abstoßender oder diplomatisch katastrophaler gewesen wäre. »Ich erinnere mich, dass ich versucht habe, diesen Idioten Guppy zu beruhigen, der ganz hysterisch war, weil er zu den Cetagandanern zurückgebracht wurde. Ich habe Versprechungen gemacht … ich hoffe, ich habe nicht unter Zähneklappern gelogen. Stimmte es, dass er immer noch ein Reservoir der Parasiten in sich hatte? Haben sie ihn auch geheilt? Oder … nicht? Ich habe bei 445
meinem Namen geschworen, dass Barrayar ihn beschützen würde, wenn er als Zeuge kooperierte, aber ich hatte erwartet, dass ich bei Bewusstsein sein würde, wenn wir ankämen …« »Ja, die cetagandanische Ärztin hat auch ihn behandelt. Sie behauptet, die latenten Reste der Parasiten wären nicht wieder virulent geworden, aber ich glaube, dass sie sich nicht wirklich sicher war. Anscheinend hat bisher noch niemand diese Bio-Waffe überlebt. Ich gewann den Eindruck, dass die Sternenkrippe Guppy für Forschungszwecke noch dringender für sich haben möchte, als der cetagandanische kaiserliche Geheimdienst wegen der Straftaten, und wenn sie um ihn kämpfen müssen, dann wird die Sternenkrippe gewinnen. Unsere Leute haben deinen Befehl ausgeführt; er wird immer noch auf dem barrayaranischen Schiff festgehalten. Einigen der Cetagandanern gefällt das nicht sonderlich, aber ich habe ihnen gesagt, sie müssten jetzt mit dir über dieses Thema verhandeln.« Er zögerte und räusperte sich. »Hm … mir scheint, ich erinnere mich auch daran, dass ich einige Botschaften aufgezeichnet habe. An meine Eltern. Und an Mark und Ivan. Und an den kleinen Aral und an Helen. Ich hoffe du hast sie nicht … du hast sie doch nicht schon abgeschickt, oder?« »Ich habe sie auf die Seite gelegt.« »Oh, gut. Ich fürchte, ich war zu dem Zeitpunkt nicht sehr verständlich.« »Vielleicht nicht«, räumte sie ein, »aber die Botschaften waren bewegend, dachte ich.« »Vermutlich habe ich es zu lange aufgeschoben. Du 446
kannst sie jetzt löschen.« »Niemals«, erwiderte sie mit großem Nachdruck. »Aber ich habe dummes Zeug gebrabbelt.« »Trotzdem werde ich sie aufheben.« Sie strich ihm übers Haar und lächelte schief. »Vielleicht können sie eines Tages recycelt werden. Schließlich könnte es sein, dass du … nächstes Mal keine Zeit mehr hast.« Die Tür des Raumes glitt zur Seite, und zwei große, gertenschlanke Frauen kamen herein. Miles erkannte die ältere der beiden sofort. Die Haud Pel Navarr, planetarische Gemahlin von Eta Ceta, war vielleicht die Frau auf Platz zwei in der seltsamen geheimen Hierarchie der Sternenkrippe, nach der Kaiserin. Haud Rian Degtiar. höchstselbst. In ihrem Aussehen war sie unverändert seit jener Zeit, als Miles ihr vor einem Jahrzehnt zum ersten Mal begegnet war; nur ihre Frisur war vielleicht anders. Ihr enorm langes honigblondes Haar war heute zu einem Dutzend Zöpfe geflochten, die in einer Linie vom einen Ohr zum anderen von ihrem Hinterkopf herabhingen und mit ihren geschmückten Enden zusammen mit dem Rocksaum und den Faltenwürfen um ihre Fußknöchel schwangen. Miles fragte sich, ob der beunruhigende, leicht medusenhafte Effekt beabsichtigt war. Ihre Haut war noch blass und vollkommen, aber man konnte nicht – nicht einmal einen Augenblick lang – sie irrtümlicherweise als jung ansehen. Zu viel Ruhe, zu viel Beherrschung, zu viel kühle Ironie … Außerhalb der innersten Sanktuarien des Himmlischen Gartens bewegten sich Frauen der hohen Haud normalerweise in der Abgeschiedenheit und Geschütztheit persönli447
cher Energiekugeln und waren so vor unwürdigen Augen abgeschirmt. Die Tatsache, dass die Haud Pel hier unverschleiert einherschritt, war allein schon genug, um Miles zu verraten, dass er hier in einem Reservat der Sternenkrippe lag. Die dunkelhaarige Frau neben ihr war alt genug, um Silbersträhnen in den Haaren zu haben, die zwischen ihren langen Gewändern über den Rücken hinabfielen, und eine Haut, die – zwar makellos – deutlich vom Alter weicher geworden war. Sie war kühl, respektvoll und Miles unbekannt. »Lord Vorkosigan.« Die Haud Pel nickte ihm relativ herzlich zu. »Ich freue mich, Sie wach vorzufinden. Sind Sie wieder ganz Sie selbst?« Wieso, wer war ich denn vorher? Er fürchtete, er könnte es erraten. »Ich glaube schon.« »Es war eine große Überraschung für mich, dass wir uns auf diese Weise wiederbegegnen sollten, obwohl sie unter den obwaltenden Umständen nicht unwillkommen war.« Miles räusperte sich. »Auch für mich war es eine Überraschung. Ihre Babys in ihren Replikatoren – haben Sie sie wieder? Geht es allen gut?« »Meine Leute haben gestern Abend ihre Überprüfungen abgeschlossen. Mit ihnen scheint alles in Ordnung zu sein, trotz ihrer schrecklichen Abenteuer. Es tut mir Leid, dass es mit Ihnen nicht so war.« Sie nickte ihrer Begleiterin zu; die Frau erwies sich als Ärztin, die mit ein paar brüsk gemurmelten Bemerkungen eine kurze medizinische Untersuchung des barrayaranischen Gastes durchführte. Womit sie ihre Arbeit abschloss, wie Miles vermutete. Seine Suggestivfragen bezüglich der 448
biotechnisch erzeugten Parasiten stießen auf höfliches Ausweichen, und Miles fragte sich dann, ob sie eine Ärztin sei – oder vielleicht eine Waffendesignerin. Oder eine Veterinärin; allerdings zeigten die meisten Veterinäre, denen er bisher begegnet war, Anzeichen, dass sie tatsächlich ihre Patienten mochten. Ekaterin war besorgter. »Können Sie mir eine Vorstellung davon geben, auf welche langfristigen Nebenwirkungen dieser unseligen Ansteckung wir bei dem Lord Auditor und Hafenmeister Thorne achten sollten?« Die Frau gab Miles ein Zeichen, er solle sein Patientenhemd wieder schließen, wandte sich um und sprach über seinen Kopf hinweg. »Ihr Gatte«-, aus ihrem Mund klang dieses Wort völlig fremdartig, »leidet an einiger Mikrovernarbung von Muskeln und Kreislauf. Der Muskeltonus dürfte sich im Laufe der Zeit allmählich erholen bis zu seinem früheren Niveau. Jedoch würde ich zusätzlich zu seinem früheren Kryo-Trauma eine größere Möglichkeit für Kreislaufzwischenfälle in seinem späteren Leben erwarten. Angesichts der Tatsache, wie kurzlebig Ihre Rasse jedoch ist, werden die paar Jahrzehnte Unterschied in der Lebenserwartung nicht bedeutsam erscheinen.« Ganz im Gegenteil, Madame. Übersetzt hieß das – so vermutete Miles – Schlaganfälle, Thrombosen, Blutgerinnsel, Aneurysmen. O welche Freude! Man füge es einfach an die Liste an, zusammen mit Nadelgewehren, sonischen Granaten. Plasmafeuer und den Strahlen von Nervendisruptoren. Und heißen Nieten und strengem Vakuum. Und Anfällen. Also, was für interessante Synergien konnte man erwarten, wenn diese »Mikrovernarbung« des 449
Kreislaufs den Weg seiner Anfallkrankheit kreuzte? Miles beschloss, diese Frage für seine eigenen Ärzte aufzuheben, zu einem späteren Zeitpunkt. Sie konnten eine Herausforderung gebrauchen. Er würde wieder ein verdammtes Forschungsprojekt darstellen. Ein militärisches wie auch ein medizinisches, erkannte er fröstelnd. »Der Betaner hat merklich mehr inneren Schaden davongetragen«, fuhr die Haud-Frau an Ekaterin gerichtet fort. »Die volle Erholung des Muskeltonus wird sich vielleicht niemals einstellen, und der Herm wird vor Kreislaufbelastungen aller Art auf der Hut sein müssen. Eine Umgebung mit niedriger oder nicht vorhandener Schwerkraft könnte für ihn während seiner Genesung am sichersten sein. Ich habe von seiner Partnerin, der Quaddie-Frau, gehört, dass dies leicht einzurichten wäre.« »Was auch immer Bel braucht, es wird arrangiert«, gelobte Miles. Für eine so schwächende Verletzung im Dienste des Kaisers sollte es nicht einmal einen kaiserlichen Auditor brauchen, um Bel den KBS vom Hals zu schaffen und vielleicht darüber hinaus eine kleine, medizinisch begründete Pension aufzutreiben. Die Haud Pel tat einen winzigen Ruck mit dem Kinn. Die Ärztin erwies der planetarischen Gemahlin eine Verneigung und zog sich zurück. Pel wandte sich wieder Miles zu. »Sobald Sie sich ausreichend erholt fühlen, Lord Auditor Vorkosigan, bittet Ghem-General Benin um die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Ihnen.« »Ah! Dag Benin ist hier? Gut! Ich möchte auch mit ihm sprechen. Hat er den Ba noch in seiner Haft? Ist kristallklar 450
gemacht worden, dass Barrayar bei den verbotenen Reisen Ihres Ba unschuldig, ja düpiert war?« »Der Ba gehörte der Sternenkrippe«, erwiderte Pel, »der Ba wurde der Sternenkrippe zurückgegeben. Es handelt sich um eine interne Angelegenheit; allerdings sind wir natürlich Ghem-General Benin dankbar für seine Unterstützung im Umgang mit Personen außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs, die dem Ba bei seiner … verrückten Flucht geholfen haben mögen.« Also hatten die Haud-Ladys ihren Ausreißer zurück. Miles unterdrückte eine leichte Regung von Mitleid für den Ba. Pels Ton lud nicht zu weiteren Fragen fremdländischer Barbaren ein. Es war hart. Pel war die wagemutigste der planetarischen Gemahlinnen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er sie nach dem jetzigen Augenblick jemals allein, von Angesicht zu Angesicht, treffen würde, war gering, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Angelegenheit in Anwesenheit anderer Personen offen diskutieren würde, war noch geringer. »Ich kam schließlich zu dem Schluss. dass es sich bei dem Ba um einen Abtrünnigen handeln müsse«, fuhr Miles fort, »und nicht, wie ich zuerst gedacht hatte, um einen Agenten der Sternenkrippe. Ich bin höchst neugierig auf die Mechanik dieser bizarren Entführung. Guppy – der jacksonische Schmuggler Russo Gupta – konnte mir nur eine äußere Sicht der Ereignisse vermitteln, und das nur von seiner ersten Kontaktaufnahme an, als der Ba die Replikatoren von dem Schiff entlud, das meiner Annahme nach das jährliche Kinderschiff nach Rho Ceta war, ja?« Pel holte Luft, räumte aber steif ein: »Ja. Das Verbre451
chen war lange geplant und vorbereitet, wie es jetzt scheint. Der Ba tötete die Gemahlin von Rho Ceta, ihre Zofen und die Besatzung des Schiffs mit Gift gleich nach ihrem letzten Wurmlochsprung. Zum Zeitpunkt des Rendezvous mit den Schmugglern waren schon alle tot. Er stellte den Autopiloten des Schiffes so ein, dass er danach das Schiff in die Sonne des Systems steuerte. Man muss es dem Ba anrechnen, dass dies als eine Art würdiger Scheiterhaufen gedacht war«, gestand sie widerwillig zu. In Anbetracht seiner früheren Begegnung mit den geheimnisvollen Riten der Bestattungspraktiken der Haud konnte Miles fast diesen offensichtlichen Punkt zugunsten des Gefangenen nachvollziehen, ohne dass sich seine Gehirnwindungen verkrampften. Fast. Aber Pel sprach von der Absicht des Ba als Tatsache, nicht als Vermutung; folglich hatten die Haud-Ladys in einer Nacht schon mehr Glück bei ihrer Vernehmung des geistig verwirrten Ba gehabt als Miles’ Sicherheitsleute auf ihrer ganzen Reise hierher. Ich habe den Verdacht, dass Glück nichts damit zu tun hat. »Ich dachte, der Ba müsste eine größere Vielfalt von Bio-Waffen bei sich haben, wenn er die Zeit gehabt hätte, das Kinderschiff zu plündern, bevor es aufgegeben und vernichtet wurde.« Pel war normalerweise ziemlich fröhlich, wie es bei planetarischen Gemahlinnen der Haud üblich war, aber diese Bemerkung löste ein frostiges Stirnrunzeln aus. »Diese Angelegenheiten sind überhaupt nicht für Gespräche außerhalb der Sternenkrippe bestimmt.« »Idealerweise nicht. Aber leider schafften es Ihre … privaten Gegenstände in der Tat ziemlich weit außerhalb der 452
Sternenkrippe zu reisen. Wie ich persönlich bezeugen kann. Sie wurden für uns zu einer Quelle sehr öffentlicher Sorgen, als wir den Ba auf Station Graf festnahmen. Zu dem Zeitpunkt, als wir von dort abreisten, war sich niemand sicher, ob wir jede Ansteckung identifiziert und neutralisiert hatten oder nicht.« »Der Ba hatte geplant, die komplette Reihe der Substanzen zu stehlen. Aber der Haud-Lady, die für die … Vorräte der planetarischen Gemahlin verantwortlich war, gelang es noch im Sterben, sie vor ihrem Tod zu zerstören. Wie es ihre Pflicht war.« Pels Augen verengten sich. »Sie wird in unserer Erinnerung bleiben.« Vielleicht das Gegenstück zu der dunkelhaarigen Frau? Bewachte die kühle Ärztin in Pels Namen ein ähnliches Arsenal, vielleicht sogar an Bord dieses Schiffes hier? Komplette Reihe, ha. Miles speicherte dieses stillschweigende Eingeständnis, um es später den höchsten Rängen des KBS mitzuteilen, und lenkte flink das Gespräch wieder zum Thema zurück. »Aber was versuchte der Ba tatsächlich zu tun? Hat er allein gehandelt? Wenn ja, wie hat seine Programmierung auf Loyalität diese überwunden?« »Auch das ist eine interne Angelegenheit«, wiederholte sie düster. »Nun ja, dann sage ich Ihnen mal, was ich vermute«, quasselte Miles weiter, bevor sie sich abwenden und den Gedankenaustausch beenden konnte. »Ich glaube, dieser Ba ist sehr eng mit Kaiser Fletchir Giaja verwandt und deshalb auch mit dessen verstorbener Mutter. Ich vermute, dass dieser Ba einer der engen Ver453
trauten der alten Kaiserinwitwe Lisbet während ihrer Regentschaft war. Ihr Bio-Verrat, ihr Plan, die Haud in konkurrierende Untergruppen aufzuspalten, wurde nach ihrem Tod durchkreuzt …« »Nicht Verrat«, widersprach die Haud Pel schwach, »als solcher.« »Dann unerlaubte einseitige Umgestaltung. Aus irgendeinem Grund wurde dieser Ba nach ihrem Tod nicht mit den anderen ihres inneren Kaders entfernt – oder vielleicht wurde er es, ich weiß es nicht. Vielleicht degradiert? Aber auf jeden Fall vermute ich, dass diese ganze Eskapade eine Art fehlgeleitete Bemühung war, die Vision seiner toten Herrin – oder Mutter? – zu vollenden. Komme ich der Wahrheit nahe?« Die Haud Pel beäugte ihn mit äußerstem Widerwillen. »Nahe genug. In jedem Fall ist es jetzt wirklich vorüber. Der Kaiser wird mit Ihnen zufrieden sein – wieder einmal. Ein Zeichen seiner Dankbarkeit mag durchaus in Kürze zu erwarten sein, bei den Zeremonien aus Anlass der Landung des Kinderschiffes morgen, zu denen Sie und Ihre Gattin eingeladen sind. Als die ersten Ausländer, die jemals so geehrt wurden.« Miles winkte auf diese kleine Ablenkung hin ab. »Ich würde alle Ehrungen für ein Quäntchen Verstehen eintauschen.« Pel schnaubte. »Sie haben sich nicht geändert, oder? Immer noch unstillbar neugierig. Übermäßig neugierig«, fügte sie betont hinzu. Ekaterin lächelte trocken. Miles ignorierte Pels Fingerzeig. »Haben Sie Nachsicht 454
mit mir. Ich glaube, ich habe es noch nicht ganz kapiert. Ich vermute, die Haud – und die Ba – sind noch nicht so posthuman, dass sie schon über Selbsttäuschung hinaus wären; sie ist nur umso raffinierter angesichts ihrer Raffiniertheit. Ich habe das Gesicht des Ba gesehen, als ich in seiner Gegenwart diesen Gefrierkoffer mit den genetischen Proben zerstörte. Da wurde etwas erschüttert. Ein letztes, verzweifeltes … Etwas.« Er hatte die Körper von Männern getötet und die Spuren davongetragen, und er wusste es. Er glaubte nicht, dass er jemals zuvor schon eine Seele getötet, doch den Körper atmend zurückgelassen hatte, beraubt und anklagend. Ich muss das verstehen. Pel war sichtlich nicht erfreut fortzufahren, aber sie verstand die Tiefe einer Schuld, die nicht mit solchen Trivialitäten wie Medaillen und Zeremonien abbezahlt werden konnte. »Es scheint«, sagte sie langsam, »dass der Ba mehr wollte als Lisbets Vision. Er plante ein neues Reich – mit sich selbst als Kaiser und Kaiserin. Er stahl die HaudKinder von Rho Ceta nicht bloß als Kernbevölkerung für seine geplante neue Gesellschaft, sondern als … Gefährten. Partner. Er strebte sogar nach mehr als Fletchir Giajas genetischer Stellung, die – während sie Teil des Ziels der Haud ist – sich selbst nicht als das Ganze vorstellt. Hybris«, seufzte sie. »Wahnsinn.« »Mit anderen Worten«, flüsterte Miles. »der Ba wollte Kinder haben. Auf die einzige Weise, wie er sie … zeugen konnte.« Ekaterins Hand, die zu seiner Schulter gewandert war, packte ihn fest. »Lisbet … hätte ihm nicht so viel erzählen sollen«, sagte 455
Pel. »Sie hat diesen Ba zu ihrem Schoßkind gemacht. Ihn fast wie ein Kind behandelt anstatt wie einen Diener. Sie war eine machtvolle Persönlichkeit, aber nicht immer … klug. Vielleicht … hat sie sich in ihrem Alter auch zu sehr gehen lassen.« Ja – der Ba war Fletchir Giajas Geschwister, vielleicht der Beinahe-Klon des Kaisers von Cetaganda. Sein älteres Geschwister. Erst ein Testlauf, und dann wurde der Test als erfolgreich beurteilt – und danach folgten Jahrzehnte gehorsamen Dienstes im Himmlischen Garten, und immer war die Frage da: Warum hatte man nicht dem Ba anstelle seines Bruders all diese Ehre, Macht, Fülle und Fruchtbarkeit gegeben? »Eine letzte Frage, wenn Sie gestatten: Wie hieß der Ba?« Pel presste die Lippen zusammen. »Er soll von nun an namenlos sein. Auf immer und ewig.« Ausgelöscht. Möge die Strafe dem Verbrechen entsprechen. Miles schauderte. Der luxuriöse Hubtransporter legte sich in die Kurve über dem Palast des kaiserlichen Gouverneurs von Rho Ceta, einem ausgedehnten Komplex, der in der Nacht schimmerte. Der Flugapparat begann in den ausgedehnten dunklen Garten zu sinken, der durchwirkt war mit Girlanden von Lichtern seine Straßen und Pfade entlang, die im Osten der Gebäude lagen. Miles blickte fasziniert zum Fenster hinaus, als sie hinabstießen und dann über eine kleine Hügelkette hinwegflogen, und er versuchte zu erkennen, ob die Landschaft natürlich war oder künstlich, herausgemeißelt 456
aus der Oberfläche von Rho Ceta. Auf jeden Fall zum Teil herausgemeißelt, denn auf der anderen Seite der Anhöhe schmiegte sich die grasbewachsene Mulde eines Amphitheaters in den Hang, der einen seidigen schwarzen See von einem Kilometer Durchmesser überragte. Jenseits der Hügel am anderen Ufer des Sees ließ die Hauptstadt von Rho Ceta den Nachthimmel orangefarben erglühen. Das Amphitheater wurde nur von matt leuchtenden Kugeln erhellt, die reichlich über das Gelände verteilt waren: Die Energiekugeln von tausend Haud-Ladys, auf die Trauerfarbe Weiß eingestellt, gedämpft bis auf eine gerade noch sichtbare Helligkeit. Zwischen ihnen bewegten sich andere fahle Gestalten sanft wie Geister. Das Bild schwenkte aus seinem Blickfeld, als der Pilot den Transporter drehte und zu einer sanften Ladung ein paar Meter entfernt vom Seeufer am Rand des Amphitheaters ansetzte. Die Innenbeleuchtung des Transporters verstärkte sich nur ein wenig, in roten Wellenlängen, die bestimmt waren, den Passagieren bei der Aufrechterhaltung der Anpassung an die Dunkelheit zu helfen. Auf dem gegenüberliegenden Gang wandte sich Ghem-General Benin von seinem Fenster ab. Es war schwer, seine Miene unter den stilisierten Wirbeln der schwarz-weißen Gesichtsbemalung zu erkennen, die ihn als kaiserlichen Ghem-Offizier kennzeichnete, aber Miles interpretierte den Ausdruck als nachdenklich. Im roten Licht glühte seine Uniform wie frisches Blut. Alles in allem – selbst wenn man seine plötzliche enge persönliche Bekanntschaft mit den Bio-Waffen der Sternenkrippe in Betracht zog – war sich Miles nicht sicher, ob er gerne die jüngsten Albträume mit Benin getauscht hätte. 457
Die vergangenen Wochen waren für den leitenden Offizier der inneren Sicherheit des Himmlischen Gartens sehr anstrengend gewesen. Das Kinderschiff mit Personal von der Sternenkrippe, das seiner besonderen Obhut unterstellt war, verschwand unterwegs spurlos; entstellte Berichte, die von Guppys hektischer Fährte eintrafen, deuteten nicht nur auf einen atemberaubenden Diebstahl hin, sondern auch auf eine mögliche Bio-Kontamination aus den geheimsten Vorräten der Sternenkrippe, und dann verschwand diese Fährte im Herzen eines feindlichen Imperiums. Kein Wunder, dass Benin, als er am Vorabend im Orbit von Rho Ceta eingetroffen war, um Miles persönlich zu befragen – mit ausgesuchter Höflichkeit, wohlgemerkt –. selbst unter der Gesichtsbemalung so müde ausgesehen hatte, wie Miles sich fühlte. Ihr Ringen um den Besitz von Russo Gupta war kurz gewesen. Miles hatte gewiss Mitgefühl für Benins heftigen Wunsch, an jemandem seine Frustrationen auszulassen, nachdem ihm der Ba von der Sternenkrippe aus den Händen genommen worden war – aber erstens hatte Miles sein Ehrenwort als Vor gegeben, und zweitens hatte er entdeckt, dass er anscheinend in dieser Woche auf Rho Ceta nichts falsch machen konnte. Trotzdem fragte er sich, wo er Guppy absetzen sollte, wenn all dies vorüber war. Ihn in einem barrayaranischen Gefängnis unterzubringen war eine nutzlose Ausgabe für das Kaiserreich. Ihn wieder auf Jackson’s Whole freizusetzen wäre eine Einladung für ihn gewesen, zu seinen alten Schlupfwinkeln und Tätigkeiten zurückzukehren – kein Gewinn für die Nachbarn und eine Versuchung für cetagandanische Rache. Er konnte sich noch einen anderen 458
hübsch entfernten Ort vorstellen, wo man eine Person mit einem so buntscheckigen Hintergrund und solchen erratischen Talenten absetzen konnte, aber war es fair, Admiralin Quinn das anzutun …? Bel hatte auf diesen Vorschlag hin boshaft gelacht, bis ihm der Atem weggeblieben war. Trotz Rho Cetas Schlüsselstellung in der Strategie und den taktischen Überlegungen Barrayars hatte Miles nie zuvor den Fuß auf diesen Planeten gesetzt. Er tat es auch jetzt nicht, zumindest nicht direkt. Mit einer Grimasse gestattete er Ekaterin und Ghem-General Benin, ihm aus dem Transporter in einen Schweber zu helfen. Er hatte vorgehabt, bei der bevorstehenden Zeremonie auf den Beinen zu stehen, aber ein sehr bescheidender Versuch hatte ihn gelehrt, dass er seine Ausdauer lieber aufsparen sollte. Zumindest war er in seinem Bedürfnis für mechanische Hilfe nicht allein. Nicol begleitete Bel Thorne. Der Hermaphrodit setzte sich aufrecht hin und bediente seine eigene Schwebersteuerung; nur der Sauerstoffschlauch an seiner Nase verriet seine extreme Schwächung. Gefolgsmann Roic, der seine Uniform des Hauses Vorkosigan gebügelt und gebürstet hatte, bezog Stellung hinter Miles und Ekaterin, sehr steif und völlig schweigend. Nach Miles Einschätzung war er total eingeschüchtert, und Miles konnte es ihm nicht verübeln. Miles war zu dem Schluss gekommen, dass er an diesem Abend das gesamte Kaiserreich von Barrayar vertrat und nicht nur sein eigenes Haus, und deshalb hatte er sich entschieden, seinen einfachen grauen Zivilanzug zu tragen. Ekaterin wirkte in einem wallenden Kleid aus Grau und Schwarz groß und anmutig wie eine Haud; Miles vermute459
te, dass seine Frau insgeheim weibliche Unterstützung in Kleidungsfragen von Pel oder einer von Pels vielen Helferinnen bekommen hatte. Während Ghem-General Benin die Gruppe anführte, schritt Ekaterin neben Miles’ Schweber und ließ ihre Hand leicht auf seinem Arm ruhen. Ihr zartes, geheimnisvolles Lächeln war so reserviert wie immer, aber es schien Miles. als ginge sie mit einem neuen und festen Selbstvertrauen, ohne Furcht in der verschatteten Dunkelheit. Benin hielt bei einer kleinen Gruppe von Männern an, die ein paar Meter von dem Hubtransporter entfernt versammelt waren und wie Gespenster in der Dunkelheit schimmerten. Vielschichtige Parfüms wehten von ihrer Kleidung durch die feuchte Luft, ausgeprägt unterschiedlich, aber nicht miteinander im Widerstreit. Der GhemGeneral stellte sorgfältig jedes Mitglied der Gruppe dem gegenwärtigen Haud-Gouverneur von Rho Ceta vor, der aus der Degtiar-Konstellation stammte, also auf gewisse Weise ein Cousin der derzeitigen Kaiserin war. Der Gouverneur war wie alle anwesenden Haud-Männer in die weite weiße Jacke und ebensolche Hosen der vollen Trauer gekleidet, dazu trug er ein vielschichtiges weißes Obergewand, das bis zu den Knöcheln reichte. Der frühere Inhaber dieses Postens, dem Miles einmal begegnet war, hatte deutlich gemacht, dass fremdländische Barbaren kaum zu ertragen waren, doch dieser Mann hier machte eine tiefe und offensichtlich aufrichtige Verneigung, die Hände formell vor der Brust zusammengelegt. Miles blinzelte erstaunt, denn die Geste erinnerte mehr an die Verbeugung eines Ba vor einem Haud als an das Kopf460
nicken eines Haud gegenüber einem Ausländer. »Lord Vorkosigan, Lady Vorkosigan, Hafenmeister Thorne, Nicol von den Quaddies, Gefolgsmann Roic von Barrayar. Willkommen auf Rho Ceta. Mein Haushalt steht Ihnen zu Diensten.« Sie alle antworten mit passend höflichen gemurmelten Dankesworten. Miles überdachte die Formulierung – mein Haushalt, nicht meine Regierung, und wurde daran erinnert, dass das, was er an diesem Abend sehen würde, eine private Zeremonie war. Der Haud-Gouverneur wurde vorübergehend von den Lichtern eines Shuttles abgelenkt, der am Horizont vom Orbit herabkam; er öffnete den Mund, als er in den leuchtenden Nachthimmel hinaufspähte, doch der Flugkörper machte enttäuschenderweise eine Kurve in Richtung der gegenüberliegenden Seite der Stadt. Der Gouverneur wandte sich mit gerunzelter Stirn ihnen wieder zu. Ein paar Minuten höflicher Konversation zwischen dem Haud-Gouverneur und Benin – formelle Wünsche für die andauernde Gesundheit des cetagandanischen Kaisers und seiner Kaiserinnen und etwas spontaner klingende Fragen nach gemeinsamen Bekannten – wurden erneut unterbrochen, als die Lichter eines anderen Shuttles in der Dunkelheit erschienen. Der Gouverneur drehte sich herum und schaute aufs Neue. Miles blickte zurück über die schweigende Schar der Haud-Männer und der Kugeln der HaudLadys, die wie weiße Blütenblätter über die Mulde im Hand verstreut waren. Sie stießen keine Schreie aus und schienen sich kaum zu bewegen, aber Miles spürte mehr als er hörte, wie ein Seufzer aus ihren Reihen aufstieg und 461
die Spannung der Erwartung zunahm. Diesmal wurde der Shuttle größer, seine Lichter wurden heller, während es über dem See dröhnend herunterkam und Gischt aufwühlte. Roic trat nervös zurück, dann wieder vor, näher heran an Miles und Ekaterin, und beobachtete, wie die Masse des Shuttles fast über ihnen aufragte. Lichter an den Seiten hoben am Rumpf das Emblem eines schreienden Vogels hervor; rot emailliert glühte es wie eine Flamme. Der Flugkörper landete auf seinen teleskopartig ausgezogenen Beinen so weich wie eine Katze und sank nieder; das Klirren seiner erhitzten Seiten, die sich jetzt zusammenzogen, klang laut in der atemlosen, erwartungsvollen Stille. »Zeit aufzustehen«, flüsterte Miles Ekaterin zu und brachte seinen Schweber zu Boden. Sie und Roic halfen ihm heraus und auf die Beine und anschließend beim Einnehmen einer strammen Stellung. Das kurz geschorene Gras unter seinen gestiefelten Sohlen fühlte sich an wie ein dicker weicher Teppich; sein Geruch war feucht und moosig. Eine breite Frachtluke öffnete sich, eine Rampe wurde herausgefahren, beleuchtet von unten mit einem bleichen, diffusen Licht. Zuerst kam die Kugel einer Haud-Lady herabgeschwebt – ihr Energiefeld war nicht opak wie bei den anderen, sondern durchsichtig wie Gaze. Man konnte sehen, dass der Schwebesessel im Inneren der Kugel leer war. »Wo ist Pel?«, murmelte Miles Ekaterin zu. »Ich dachte, die ganze Sache dreht sich um sie.« »Das ist für die planetarische Gemahlin von Rho Ceta, 462
die mit dem entführten Schiff unterging«, flüsterte sie zurück. »Die Haud Pel kommt als Nächste, da sie die Kinder anstelle der toten Gemahlin begleitet.« Miles war der Ermordeten vor einem Jahrzehnt kurz begegnet. Zu seinem Bedauern konnte er sich jetzt an wenig mehr erinnern als eine Wolke schokoladenbraunen Haares, die um sie herabgeflutet war, an eine hinreißende Schönheit, die in einer Schar anderer Haud-Frauen von gleichem Glanz verborgen gewesen war, und eine heftige Hingabe an ihre Pflichten. Der Schwebesessel wirkte plötzlich noch leerer. Es folgte eine weitere Kugel und noch mehr, dazu Ghem-Frauen und Ba-Diener. Die zweite Kugel kam bis zur Gruppe um den Haud-Gouverneur, wurde durchsichtig und erlosch dann. Pel saß in ihren weißen Gewändern königlich auf ihrem Schwebesessel. »Ghem-General Benin, bitte übermitteln Sie jetzt, wie Sie beauftragt wurden, den Dank des Kaisers, Haud Fletchir Giaja, an diese Ausländer, die uns die Hoffnungen unserer Konstellation zurückgebracht haben.« Sie sprach in einem normalen Ton; Miles sah keine Mikrofone, aber ein schwaches Echo aus der grasbewachsenen Mulde sagte ihm, dass ihre Worte zu allen übertragen wurden, die hier versammelt waren. Benin rief Bel nach vorn; mit formellen, zeremoniellen Worten verlieh er dem Betaner eine hohe cetagandanische Auszeichnung, ein Papier, das von einem Band zusammengehalten wurde, geschrieben von des Kaisers eigener Hand, mit dem seltsamen Namen »Patent des Himmlischen Hauses«. Miles kannte cetagandanische Ghem-Lords, die 463
ihre eigene Mutter eingetauscht hätten, um auf die jährliche Patent-Liste gesetzt zu werden, außer dass es auch nicht annähernd so einfach war, sich dafür zu qualifizieren. Bel ließ seinen Schweber etwas sinken, damit Benin ihm die Schriftrolle in die Hände drücken konnte, und obwohl in seinen Augen Ironie funkelte, murmelte er seinerseits Dankesworte an den fernen Fletchir Giaja und behielt wenigstens einmal seinen Sinn für Humor voll unter Kontrolle. Wahrscheinlich half dabei, dass der Hermaphrodit noch vor Erschöpfung kaum den Kopf aufrecht halten konnte; Miles hatte nicht erwartet, dass er einmal für genau diesen Umstand dankbar sein würde. Miles blinzelte und unterdrückte ein breites Grinsen, als Ekaterin als Nächste von Ghem-General Benin aufgerufen und mit einer ähnliche Ehre in Form einer Schriftrolle ausgezeichnet wurde. Ihrer offensichtlichen Freude fehlte ebenfalls nicht ein Anflug von Ironie, aber sie antwortete mit elegant formulierten Dankesworten. »Mylord Vorkosigan«, sagte Benin. Miles trat ein wenig besorgt nach vorn. »Mein kaiserlicher Herr, der Kaiser Haud Fletchir Giaja, erinnert mich daran, dass wahres Zartgefühl im Geben von Geschenken den Geschmack des Empfängers berücksichtigt. Deshalb beauftragt er mich nur, Ihnen seinen persönlichen Dank mit seinem eigenen Atem und seiner eigenen Stimme zu übermitteln.« Erster Preis: der cetagandanische Verdienstorden – und was für eine Peinlichkeit war diese Medaille vor zehn Jahren gewesen … Zweiter Preis: zwei cetagandanische Verdienstorden? Offensichtlich nicht. Miles hauchte einen 464
Seufzer der Erleichterung, in den sich ein nur leichtes Bedauern mischte. »Sagen Sie Ihrem kaiserlichen Herrn von mir, dass es wirklich sehr gern geschehen ist.« »Meine kaiserliche Herrin, die Kaiserin Haud Rian Degtiar, Dienerin der Sternenkrippe, hat mich ebenfalls beauftragt Ihnen ihren eigenen Dank mit ihrem eigenen Atem und ihrer eigenen Stimme zu übermitteln.« Miles verbeugte sich wahrnehmbar tiefer. »Ich bin ihr in dieser Angelegenheit zu Diensten.« Benin trat zurück; die Haud Pel kam nach vorn. »In der Tat, Lord Miles Naismith Vorkosigan von Barrayar, die Sternenkrippe ruft Sie zu sich.« Er war diesbezüglich gewarnt worden und hatte es mit Ekaterin besprochen. Praktisch sprach nichts dafür, die Ehre abzulehnen; die Sternenkrippe musste insgeheim schon ein Kilo von seinem Fleisch gespeichert haben, gesammelt nicht nur während seiner Behandlung hier, sondern auch von seinem denkwürdigen Besuch auf Eta Ceta vor all diesen Jahren. So krampfte sich sein Magen also nur ein bisschen zusammen, als er vortrat und einem Ba-Diener gestattete, seinen Ärmel hochzurollen und der Haud Pel das Tablett mit der schimmernden Probennadel zu reichen. Pels weiße langfingrige Hand stach die Nadel in den fleischigen Teil seines Unterarms. Sie war so fein, dass ihr Stich kaum zu spüren war; als sie sie zurückzog, bildete sich ein kleiner Tropfen Blut auf sein Haut, den der Diener abwischte. Sie legte die Nadel in deren Gefrieretui, hielt es einen Moment lang zur öffentlichen Zurschaustellung und Proklamation hoch, schloss es und verstaute es in einem Fach in der Armlehne ihres Schwebesessels. Das leise Ge465
murmel der Schar in dem Amphitheater schien nicht der Empörung zu entspringen, jedoch klang in ihm vielleicht ein Hauch Erstaunen an. Die höchste Ehre, die ein Cetagandaner erreichen konnte, höher noch, als wenn ihm eine Haud-Braut zuteil wurde, war, wenn sein Genom förmlich in die Genbanken der Sternenkrippe aufgenommen wurde – um dort zerlegt, eingehend untersucht und vielleicht selektiv mit den gutgeheißenen Teilen in die nächste Generation der Haud-Rasse eingefügt zu werden. Miles rollte seinen Ärmel wieder herunter und murmelte zu Pel: »Vielleicht ist’s nur Erziehung, nicht Erbgut, wissen Sie.« Ihre erlesenen Lippen unterdrückten ein Lächeln und formten die stumme Silbe Pst. Der Funke eines dunklen Humors in ihren Augen wurde wieder verschleiert, als sähe man ihn durch den Morgennebel, während sie ihren Energieschild reaktivierte. Im Osten, jenseits des Sees und der nächsten Hügelkette, nahm der Himmel eine blasse Färbung an. Nebelschwaden kräuselten sich über den Wassern des Sees; die glatte Oberfläche spiegelte stahlgrau das fahle Licht vor Tagesanbruch. Ein tieferes Schweigen senkte sich über die versammelten Haud, als durch die Tür des Shuttles und die Rampe hinunter ein Replikatorgestell nach dem anderen herabschwebte, geleitet von den Ghem-Frauen und den BaDienern. Konstellation um Konstellation wurden die Haud von der amtierenden Gemahlin, Pel, aufgerufen, um ihre Replikatoren zu erhalten. Der Gouverneur von Rho Ceta verließ die kleine Gruppe besuchender Würdenträger und Helden und schloss sich ebenfalls seinem Clan an, und Mi466
les erkannte, dass seine ehrfurchtsvolle Verneigung von vorhin am Ende keine Ironie gewesen war. Die weiß gekleidete Menge, die hier versammelt war, stellte nicht das Ganze der Haud-Rasse auf Rho Ceta dar. nur den Teil, dessen genetische Verbindungen, die von ihren Clanoberhäuptern arrangiert worden waren, an diesem Tag, in diesem Jahr Frucht trugen. Die Männer und Frauen, deren Kinder heute hier übergeben wurden, mochten bis zu dieser Morgendämmerung einander nie berührt oder überhaupt gesehen haben, aber jede Gruppe von Männern nahm aus den Händen der Sternenkrippe die Kinder ihrer Zeugung entgegen. Sie geleiteten die Gestelle ihrerseits zu den wartenden weißen Kugeln, die ihre genetischen Partnerinnen trugen. Während jede Konstellation sich um ihr Replikatorgestell versammelte, wechselten die Energieschirme ihre Farbe vom dumpfen Weiß der Trauer zu strahlenden Farben, einem prächtigen Regenbogen. Die regenbogenfarbigen Kugeln strömten hinaus aus dem Amphitheater, begleitet von ihren männlichen Gefährten, während der hügelige Horizont jenseits des Sees sich als Silhouette vom Feuer des Morgenrots abzeichnete und am Himmel die Sterne im Blau erloschen. Sobald die Haud ihre heimischen Enklaven erreichten, die über den Planeten verstreut waren, würden die Kinder wiederum in die Hände ihrer Ghem-Ammen und Betreuer übergeben werden, um aus ihren Replikatoren geholt zu werden. Und dann in die erziehenden Krippen ihrer verschiedenen Konstellationen gebracht zu werden. Eltern und Kind mochten sich später wieder begegnen oder auch 467
nicht. Doch es schien bei dieser Zeremonie um mehr zu gehen als nur um Haud-Protokoll. Sind wir nicht am Ende alle aufgerufen, unsere Kinder der Welt zurückzugeben? Die Vor taten es, zumindest in ihren Idealen. Barrayar frisst seine Kinder. hatte seine Mutter seinem Vater zufolge einmal gesagt. Als sie Miles anschaute. Also, dachte Miles müde, sind wir hier heute Helden oder die größten Verräter, dem Galgen entronnen? Was würde aus diesen winzigen Sprösslingen der hohen Haud mit der Zeit einmal werden? Große Männer und Frauen? Schreckliche Feinde? Hatte er, ohne es zu wissen, hier ein zukünftiges Verhängnis für Barrayar gerettet – einen Feind und Vernichter seiner eigenen, noch ungeborenen Kinder? Und wenn ihm ein grausamer Gott eine so furchtbare Präkognition oder Prophetie verliehen hätte, hätte er dann anders handeln können? Mit seiner kalten Hand suchte er die von Ekaterin; ihre Finger umschlossen die seinen mit Wärme. Inzwischen war es hell genug, dass sie sein Gesicht sehen konnte. »Geht es dir gut, mein Schatz?«, murmelte sie besorgt. »Ich weiß es nicht. Lass uns nach Hause gehen!«
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Epilog Im Orbit von Komarr verabschiedeten sie sich von Bel und Nicol. – Miles war auf der Transferstation zu Bels abschließender Dienstbesprechung in den KBS-Büros der Abteilung Galaktische Angelegenheiten mitgefahren, teils, um seine eigenen Beobachtungen einzubringen, teils, um dafür zu sorgen, dass die Jungs vom KBS den Hermaphroditen nicht über Gebühr erschöpften. Ekaterin nahm auch daran teil, sowohl um als Zeugin auszusagen, als auch um sicherzustellen, dass Miles nicht sich selbst erschöpfte. Miles wurde vor Bel weggebracht. »Seid ihr sicher, dass ihr nicht bis ins Palais Vorkosigan mitkommen wollt?«, fragte Miles nervös zum vierten oder fünften Mal, als sie sich in der oberen Passagierhalle zum endgültigen Lebewohl versammelten. »Ihr habt schließlich die Hochzeit verpasst. Wir könnten es euch so richtig gemütlich machen. Meine Köchin allein ist schon eine Reise wert, das verspreche ich euch.« Miles, Bel und natürlich Nicol saßen in Schwebern. Ekaterin stand mit verschränkten Armen daneben und lächelte leicht. Roic wanderte in einem unsichtbaren Umkreis um sie herum, als überließe er ungern seine Pflichten den unauffälligen Wachen des KBS. Der Gefolgsmann war jetzt schon so lange ununterbrochen im Dienst gewesen, dass er wohl vergessen hatte, wie man eine Freischicht nahm, dachte Miles. Er verstand dieses Gefühl. Doch er beschloss: Sobald sie nach Barrayar zurückgekehrt sein würden, wären für Roic mindestens zwei Wochen ununterbrochener Heimaturlaub fällig. Nicol zog die Augenbrauen hoch. »Ich fürchte, wir 469
könnten eure Nachbarn beunruhigen.« »Die Pferde scheu machen, jawohl«, sagte Bel. Miles verneigte sich im Sitzen; sein Schweber schwankte leicht. »Mein Pferd würde dich mögen. Es ist äußerst umgänglich, ganz abgesehen davon, dass es zu alt und zu faul ist, um durchzugehen. Und ich garantiere dir persönlich: Wenn du einen Gefolgsmann in Vorkosigan-Livree im Rücken hast, würde auch der unbedarfteste Hinterwäldler es nicht wagen, dich zu beleidigen.« Roic, der in seinem Rundgang bei ihnen vorbeikam, nickte bestätigend. Nicol lächelte. »Trotzdem vielen Dank, aber ich glaube, ich würde lieber wo hingehen, wo ich keinen Leibwächter brauche.« Miles trommelte mit den Fingern auf den Rand seines Schwebers. »Wir arbeiten daran. Aber schau, wirklich, wenn ihr …« »Nicol ist müde«, sagte Ekaterin, »wahrscheinlich hat sie Heimweh, und sie muss sich um einen Herm in Rekonvaleszenz kümmern. Vermutlich wird sie froh sein, wenn sie in ihren eigenen Schlafsack und zu ihren alltäglichen Pflichten zurückkehren kann. Ganz zu schweigen von ihrer eigenen Musik.« Die beiden tauschten einen dieser Blicke weiblicher Verbundenheit aus, und Nicol nickte dankbar. »Nun«, sagte Miles und gab widerstrebend nach. »Dann passt aufeinander auf.« »Ihr auch«, erwiderte Bel rau. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du diese aktiven Einsatzspiele aufgibst, was? Jetzt, wo du drauf und dran bist, Papa zu werden und so. 470
Mit diesem und dem vorigen Mal muss das Schicksal sich auf dich eingeschossen haben. Ich meine, es wäre eine schlechte Idee, ihm einen dritten Schuss zu erlauben.« Miles blickte unwillkürlich auf seine Handflächen, die inzwischen völlig geheilt waren. »Vielleicht stimmt das. Weiß Gott, wahrscheinlich hat Gregor eine Liste heimischer Aufgaben für mich bereit, die so lang ist wie alle Arme eines Quaddies zusammen. Die letzte Liste enthielt von Anfang bis Ende Komitees, die sich – falls du es glauben kannst – mit einem neuen barrayaranischen Bio-Gesetz befassten, das der Rat der Grafen billigen sollte. Es dauerte ein Jahr. Falls er wieder anfängt mit: ›Du bist doch Halbbetaner, Miles, du wärest genau der richtige Mann‹ – ich glaube, ich würde kehrtmachen und wegrennen.« Bel lachte; Miles fügte hinzu: »Hab ein Auge auf den jungen Corbeau für mich, ja? Wenn ich einen Protegé so ins kalte Wasser werfe, dann bin ich für gewöhnlich lieber mit einem Rettungsring näher zur Hand.« »Granat Fünf schickte mir eine Botschaft, nachdem ich mitteilte, dass Bel überleben würde«, sagte Nicol. »Sie sagt, es geht ihnen so weit recht gut. Jedenfalls haben die Quaddies noch nicht alle barrayaranischen Schiffe auf immer für non grata oder so erklärt.« »Das bedeutet, es gibt keinen Grund, warum ihr beiden nicht eines Tages zurückkommen könntet«, erklärte Bel. »Oder jedenfalls in Kontakt mit uns bleiben. Wir sind jetzt beide frei, um offen miteinander zu kommunizieren, wenn ich das bemerken darf.« Miles’ Gesicht hellte sich auf. »Wenn auch diskret. Ja, das stimmt.« 471
Sie tauschten einige unbarrayaranische Umarmungen miteinander aus; Miles war es egal, was seine KBS-Beobachter dachten. In seinem Schweber sitzend, hielt er Ekaterin an der Hand und schaute zu, wie das Paar in Richtung der kommerziellen Schiffsdocks verschwand. Doch noch bevor sie um die letzte Ecke gebogen waren, fühlte er, wie sich sein Gesicht wie von einer magnetischen Kraft angezogen in die entgegengesetzte Richtung wandte – zum militärischen Arm der Orbitstation, wo die Turmfalke auf sie wartete. In seinem Kopf tickte eine Uhr. »Gehen wir.« »O ja«, erwiderte Ekaterin. Er musste seinen Schweber beschleunigen, um mit ihren großen Schritten die Passierhalle entlang mithalten zu können. Gregor wartete darauf, Lord Auditor und Lady Vorkosigan nach ihrer Rückkehr begrüßen zu können, und zwar bei einem besonderen Empfang in der kaiserlichen Residenz. Miles hoffte, dass die Belohnung, die der Kaiser im Sinn hatte, weniger beunruhigend geheimnisvoll ausfallen würde als die der Haud-Ladys. Aber Gregor würde seine Party ein bis zwei Tage aufschieben müssen. Ihr Geburtshelfer hatte von Palais Vorkosigan aus gemeldet, dass der Aufenthalt ihrer Kinder in den Replikatoren jetzt nahezu das gerade noch sichere Maximum erreicht hatte. Im Ton der Botschaft war genug indirekte medizinische Missbilligung enthalten gewesen, dass es gar nicht mehr Ekaterins nervöser Scherze über Zehnmonatszwillinge – und wie froh sie jetzt über die Replikatoren war – gebraucht hätte, um ihn in die richtige Richtung zu bekommen, und jetzt würde es keine verdammten Unterbrechungen mehr geben. Punkt. 472
Es schien Miles, als wäre er schon tausendmal heimgekehrt, doch bei dieser Heimkehr fühlte es sich anders an als jemals zuvor. Der Bodenwagen, der sie mit Gefolgsmann Pym am Steuer vom militärischen Shuttle-Hafen abgeholt hatte, hielt unter dem Schutzdach von Palais Vorkosigan an. Das massige steinerne Bauwerk ragte auf wie eh und je. Ekaterin war als Erste draußen und blickte sehnsüchtig zur Tür, aber sie hielt an, um auf Miles zu warten. Als sie vor fünf Tagen den Orbit von Komarr verlassen hatten, hatte er den verachteten Schweber gegen einen weniger verachteten Gehstock eingetauscht und die Reise damit verbracht, unaufhörlich die schmalen Korridore der Turmfalke auf und ab zu humpeln. Seine Kraft kehrte zurück, so stellte er sich vor, wenn auch langsamer, als er gehofft hatte. Vielleicht würde er sich für die Zwischenzeit einen Stockdegen beschaffen, wie Kommodore Koudelka einen besaß. Er rappelte sich hoch, schwang keck und trotzig den Stock und reichte Ekaterin seinen Arm. Sie legte ihre Hand leicht darauf, insgeheim bereit zuzupacken, falls nötig. Die Türflügel schwangen auf und gaben den Blick frei auf die große alte, schwarz und weiß geflieste Eingangshalle. Die gesamte Bewohnerschaft des Hauses wartete, angeführt von einer großen Frau mit rötlich-grauem Haar und einem vergnügten Lächeln. Gräfin Cordelia Vorkosigan umarmte zuerst ihre Schwiegertochter. Ein weißhaariger, stämmiger Mann trat aus dem Vorzimmer nach links, das Gesicht strahlend vor Freude, und stellte sich so auf, dass er die Gelegenheit hatte, Ekaterin zu begrüßen, bevor er 473
sich seinem Sohn zuwandte. Nikki kam die geschwungene Treppe heruntergehopst, warf sich in die Arme seiner Mutter und erwiderte ihre feste Umarmung mit nur einem Hauch von Verlegenheit. Der Junge war in den vergangenen zwei Monaten mindestens drei Zentimeter gewachsen. Als er sich Miles zuwandte und den Handschlag des Grafen mit fast schon erwachsener Entschlossenheit nachahmte, entdeckte Miles, dass er in das Gesicht seines Stiefsohns aufblickte. Ein Dutzend Gefolgsleute und Diener standen grinsend herum; Ma Kosti, die unvergleichliche Köchin, drückte Ekaterin einen prächtigen Blumenstrauß in die Hände. Die Gräfin überreichte eine unbeholfen formulierte, aber ehrliche Botschaft mit guten Wünschen zu ihrer bevorstehenden Elternschaft von Miles’ Bruder Mark, der auf Kolonie Beta an seinem Studienabschluss arbeitete, und einen flüssiger geschriebenen Glückwunsch von Miles’ Großmutter Naismith, auch auf Kolonie Beta. Ekaterins älterer Bruder, Will Vorvayne, der unerwarteterweise zugegen war, nahm die ganze Szene auf Vid auf. »Gratulation«, sagte Vizekönig Graf Aral Vorkosigan zu Ekaterin, »für eine gut erfüllte Aufgabe. Hättest du gern eine neue? Ich bin sicher, nach diesem Erfolg findet Gregor für dich eine Stelle im diplomatischen Corps, wenn du das möchtest.« Sie lachte. »Ich glaube, ich habe schon mindestens drei oder vier Jobs. Frag mich wieder in, sagen wir, zwanzig Jahren.« Ihr Blick wanderte zu der Treppe, die zu den oberen Stockwerken und zum Kinderzimmer führte. Gräfin Vorkosigan, die diesen Blick aufgefangen hatte, 474
sagte: »Alles wartet und ist bereit, sobald ihr es auch seid.« Nach einer schnellen Katzenwäsche in ihrer Suite im ersten Stock bahnten sich Miles und Ekaterin ihren Weg durch einen mit Dienern bevölkerten Korridor, um sich mit der Kernfamilie im Kinderzimmer wieder zu treffen. Da noch das Geburtsteam dazukam – ein Geburtshelfer, zwei Med-Techs und ein Biomechaniker –, war der kleine Raum mit Blick auf den rückwärtigen Garten so voll, wie es gerade noch ging. Diese Geburt schien so öffentlich zu sein, wie es damals diese armen Frauen von Monarchen der alten Geschichte ertragen mussten, außer dass Ekaterin den Vorteil hatte, aufrecht stehen zu können, bekleidet und voller Würde. Die ganze fröhliche Aufregung wie damals, aber nichts von Blut oder Schmerz oder Angst. Miles kam zu dem Schluss, dass er damit einverstanden war. Die zwei Replikatoren waren aus ihren Gestellen genommen worden und standen jetzt voller Versprechen nebeneinander auf einem Tisch. Ein MedTech hatte eben noch mit einer Kanüle an einem herumgefummelt. »Sollen wir weitermachen?«, fragte der Geburtshelfer. Miles schaute auf seine Eltern. »Wie habt ihr das damals gemacht?« »Aral hob den einen Verschluss«, sagte seine Mutter, »und ich den anderen. Dein Großvater, General Piotr, lauerte drohend im Hintergrund, aber später weitete sich seine Sicht der Dinge.« Miles’ Mutter und Vater tauschten ein privates Lächeln aus, Aral Vorkosigan schüttelte ironisch den Kopf. Miles schaute auf Ekaterin. »Das klingt gut«, sagte sie. Ihre Augen leuchteten vor 475
Freude. Miles’ hüpfte das Herz in der Brust bei dem Gedanken, dass er ihr dieses Glück bereitet hatte. Sie traten an den Tisch. Ekaterin ging um ihn herum, und die MedTechs machten ihr Platz; Miles hängte seinen Stock mit der Krümmung an den Tischrand, stützte sich mit einer Hand und hob die andere, um es damit Ekaterin gleichzutun. Man hörte die Verschlüsse doppelt schnappen. Miles und Ekaterin gingen einen Schritt weiter und wiederholten die Geste mit dem zweiten Replikator. »Gut«, flüsterte Ekaterin. Dann mussten sie aus dem Weg gehen und beobachteten mit irrationaler Besorgnis, wie der Geburtshelfer den ersten Deckel aufklappte, das Geflecht der Austäuschschläuche beiseite schob, das Epiploon aufschlitzte und das rosafarbene, sich windende Kind ins Licht hob. Es folgten ein paar atemberaubende Momente, als die Atemwege gereinigt und die Nabelschnur entleert und durchschnitten wurden; Miles atmete wieder, als es der kleine Aral Alexander tat, und blinzelte sich die Tränen der Rührung aus den Augen. Er fühlte sich weniger befangen, als er bemerkte, wie sein Vater sich die Augen wischte. Gräfin Vorkosigan packte ihre Röcke an den Seiten und zwang ihre gierigen großmütterlichen Hände zu warten, bis sie an der Reihe waren. Die Hände des Grafen fassten Nikkis Schultern fester; Nikki, der von seinem Standpunkt vorn in der Mitte alles gut sah, hob das Kinn und grinste. Will Vorvayne hüpfte herum und versuchte bessere Winkel für seine VidAufnahmen zu finden, bis seine kleine Schwester ihre entschlossenste Lady-Ekaterin-Vorkosigan-Stimme einsetzte und damit seine Versuche vereitelte, ganz die Regie des 476
Ereignisses zu übernehmen. Er blickte verblüfft drein, zog sich aber zurück. Aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft bekam Ekaterin das Recht, als Erste das Kind in die Hände zu nehmen. Sie hielt ihren neugeborenen Sohn und beobachtete, wie der zweite Replikator ihre allererste Tochter freigab. Miles stützte sich neben ihr auf seinen Stock und verschlang mit den Augen den erstaunlichen Anblick. Ein Baby. Ein wirkliches Baby. Sein Baby. Er hatte gedacht, seine Kinder wären ihm wirklich genug erschienen, als er die Replikatoren berührt hatte, in denen sie heranwuchsen. Doch das war nicht vergleichbar mit dem, was sich jetzt abspielte. Der kleine Aral Alexander war so klein. Er blinzelte und dehnte sich. Er atmete, ja. er atmete wirklich und schmatzte friedlich mit seinen winzigen Lippen. Er hatte bemerkenswert viele schwarze Haare. Es war wunderbar. Es war … beängstigend. »Du bist dran«, sagte Ekaterin und lächelte Miles an. »Ich … ich glaube, ich sollte mich lieber erst hinsetzen.« Halb fiel er in einen Sessel, den man hastig für ihn herholte. Ekaterin schob ihm das in eine Decke gewickelte Bündel in die erschrockenen Arme. Die Gräfin beugte sich über die Sessellehne wie ein mütterlicher Geier. »Er sieht so klein aus.« »Was, vier Komma eins Kilo!«, gluckste Miles’ Mutter. »Ein Mordskerl ist das. Du warst nur halb so groß, als du aus dem Replikator genommen wurdest.« Sie fuhr mit einer wenig schmeichelhaften Beschreibung von Miles’ ersten Momenten fort; Ekaterin verschlang nicht nur jedes Wort, sondern fühlte sich auch ermutigt. 477
Ein herzhaftes Gebrüll auf dem Replikator-Tisch ließ Miles zusammenfahren; erwartungsvoll blickte er auf. Helen Natalia verkündete unmiss-verständlich ihre Ankunft, indem sie ihre frisch befreiten Fäuste schwenkte und heulte. Der Geburtshelfer schloss seine Untersuchung ab und drückte sie ziemlich schnell in die ausgestreckten Arme ihrer Mutter. Miles reckte den Hals. Helen Natalias dunkle, feuchte Haarbüschel würden so kastanienbraun sein wie versprochen, stellte er sich vor, wenn sie erst einmal trocken waren. Da die beiden Babys jetzt herumgereicht wurden, würden alle, die sich hier aufstellt hatten, um sie zu halten, bald genug Gelegenheit dazu haben, beschloss Miles und nahm Helen Natalia, die immer noch schrie, von der lächelnden Mutter entgegen. Die anderen konnten noch ein paar Momente warten. »Wir haben es geschafft«, flüsterte er Ekaterin zu, die sich auf der Armlehne des Sessels niedergelassen hatte. »Warum hat uns niemand aufgehalten? Warum gibt es über diese Sache nicht noch mehr Vorschriften? Welcher Narr, der bei Verstand wäre, würde ausgerechnet mir die Verantwortung für ein Baby übergeben? Für zwei Babys?« Sie zog voller Mitgefühl die Augenbrauen zusammen. »Mach dir keine Gewissensbisse. Ich sitze hier und stelle fest, dass mir elf Jahre plötzlich länger vorkommen, als ich dachte. Ich weiß nichts mehr über Babys.« »Ich bin sicher, es wird dir alles wieder einfallen. Wie zum Beispiel, hm, wie das Steuern eines Leichtfliegers.« Er war der Schlusspunkt der menschlichen Evolution gewesen. Doch in diesem Augenblick kam er sich abrupt 478
eher vor wie ein fehlendes Glied. Ich dachte, ich wüsste alles. Mit Sicherheit wusste ich nichts. Wie war sein eigenes Leben für ihn zu einer solchen Überraschung geworden, so völlig verändert? In seinem Kopf waren tausend Pläne für diese winzigen Leben herumgewirbelt, Zukunftsvisionen, die sowohl hoffnungsvoll als auch furchtbar waren. Einen Moment lang schien sein Gehirn anzuhalten. Ich habe keine Ahnung, wer diese beiden sein werden. Dann waren alle anderen an der Reihe, Nikki, die Gräfin, der Graf. Miles beobachtete neidisch, mit welch sicherem Griff sein Vater das Baby auf der Schulter hielt. Da hörte Helen Natalia tatsächlich auf zu schreien und reduzierte den Lärmpegel auf eine allgemeinere, flüchtige Beschwerde. Ekaterin ließ ihre Hand in die seine gleiten und fasste sie fest. Es fühlte sich an wie ein freier Fall in die Zukunft. Miles erwiderte ihren Druck und flog los.
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Anhang Miles Vorkosigan/Naismith: Sein Universum und seine Zeit Chronologie 200Jahre vor Miles' Geburt Während des BetanischBarrayaranischen Krieges Vordarians Griff nach dem Thron von Barrayar
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Ereignisse Quaddies werden mittels Gentechnik geschaffen. Cordelia Naismith begegnet Lord Aral Vorkosigan, während zwischen ihren Planeten Krieg herrscht. Trotz aller Schwierigkeiten verlieben sie sich und heiraten. Während Cordelias Schwangerschaft misslingt ein Versuch. Aral mit einem Giftgasattentat zu ermorden, doch Cordelia wird in Mitleidenschaft gezogen; Miles Vorkosigan wird mit Knochen geboren, die immer spröde sein werden, dazu kommen weitere medizinische Probleme. Sein Wachstum wird gehemmt sein. Bei der körperlichen Eignungsprüfung zur Aufnahme in die Militärakademie fällt Miles durch. Auf einer Reise zwingen ihn die Umstände, die Freien Dendarii-Söldner ins Leben zu rufen: vier Monate lang erlebt er unbeabsichtigte, aber unausweichliche Abenteuer. Er lässt die Dendarii in Ky Tungs kompetenten Händen zurück und bringt Elli Quinn nach Kolonie Beta zur Wiederherstellung ihres zerstörten Gesichts, dann kehrt er nach Barrayar zurück und vereitelt ein Komplott gegen seinen Väter. Kaiser Gregor setzt alle Hebel in Bewegung, damit Miles in die Akademie aufgenommen wird. Fähnrich Miles besteht sein Examen und muss sofort eine Pflicht des barrayaranischen Adels übernehmen und in einem Mordfall als Detektiv und Richter fungieren.
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Chronik
Scherben der Ehre
Barrayar
Der Kadett
Die Berge der Trauer
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Miles ist 25
Kurz darauf endet sein erster militärischer Auftrag mit seiner Verhaftung. Er muss sich wieder den Dendarii anschließen, um den jungen Kaiser von Barrayar zu retten. Der Kaiser erkennt die Dendarii als seine persönliche Geheimdiensttruppe an. Miles und sein Cousin Ivan nehmen an einem cetagandanischen Staatsbegräbnis teil und werden in die Innenpolitik von Cetaganda verwickelt. Miles schickt Kommandantin Elli Quinn. die auf der Kolonie Beta ein neues Gesicht bekommen hat. mit einen Einzelauftrag nach Station Kline. Miles, inzwischen barrayaranischer Leutnant, geht mit den Dendarii nach Jackson's Whole, um von dort einen Wissenschaftler herauszuschmuggeln. Seine spröden Beinknochen sind gegen Synthetikknochen ausgetauscht worden. Miles lässt sich in das cetagandanische Gefangenenlager auf Dagoola IV einschleusen und schmiedet einen Plan, um die Gefangenen zu befreien. Die Dendarii-Flotte wird von den Cetagandanern verfolgt und erreicht schließlich die Erde, wo Reparaturen durchgeführt werden müssen. Miles muss mit seinen beiden Identitäten gleichzeitig jonglieren, Geld für die Reparaturen beschaffen und ein Komplott vereiteln, bei dem er durch ein geklöntes Double ersetzt werden soll. Ky Tung bleibt auf der Erde; Elli Quinn wird zu Miles' rechter Hand. Miles und die Dendarii starten zu einer Rettungsmission nach Sektor IV. Nach der vorangegangenen Mission liegt Miles im Hospital; seine gebrochenen Armknochen werden durch Synthetik ersetzt. Zusammen mit Simon Illyan vereitelt Miles eine weitere Verschwörung gegen seinen Vater, während er ans
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Der Prinz und der Söldner
Cetaganda
Ethan von Athos
Labyrinth
Die Grenzen der Unendlichkeit
Waffenbrüder
Die Grenzen der Unendlichkeit
Bett gebunden ist.
Miles ist 28
Miles ist 29
Miles ist 30
Miles ist 31
Miles ist 32
Miles begegnet erneut seinem Klon-Bruder Mark (aus Waffenbrüder), diesmal auf Jackson's Whole, wo beide in ungeplantem Zusammenwirken einem kriminellen Kloning-Konzern das Handwerk legen. Miles muss aus gesundheitlichen Gründen den Dienst quittieren. Er deckt eine Verschwörung im Kaiserlichen Sicherheitsdienst auf und wird zum Kaiserlichen Auditor ernannt. Kaiser Gregor schickt Miles nach Komarr, um einen Raumunfall zu untersuchen. Dort entdeckt Miles, dass alte Politik und neue Technologie eine tödliche Mischung ergeben. Und Miles verliebt sich dabei unsterblich in Ekaterin Vorsoisson. Rund um die Hochzeit des Kaisers mit einer Komarranerin gibt es auf Barrayar viele Liebesabenteuer und Intrigen. Hals über Kopf stürzt Miles sich hinein. Während seine eigene Hochzeit kurz bevorsteht, muss Miles über Nacht herausfinden, wer seine Braut vergiften wollte. Statt nach seiner Hochzeit mit Lady Ekaterin die Flitterwochen genießen zu können, muss Miles als Kaiserlicher Auditor die weit entfernte Raumstation Graf aufsuchen, um eine wichtige Handelsflotte aus Komarr zu befreien. Er trifft dort alte Freunde, aber auch neue Feinde.
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Spiegeltanz
Viren des Vergessens
Komarr
Botschafter des Imperiums
Geschenke zum Winterfest Diplomatische Verwicklungen