Dimension X Zukunftsroman von Jimmy Guieu
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Dimension X Zukunftsroman von Jimmy Guieu
Personen: Jean Kariven, Michel Dormoy, Robert Angelvin, Major Bruce, Gunga Shrino, Barbara Turner, Gora Topki, Luwhana, Kwantor,
Archäologe Geophysiker Ethnograph milit. Begleiter der Expedition Führer der Eingeborenen Reporterin Tibetaner Bewohner Athugs Bewohner Athugs
Wir alle haben schon von dem „indischen Seiltrick“, von den unerklärlichen Fähigkeiten der Fakire gehört. Gäbe es eine wissenschaftliche Erklärung für diese Phänomene, so könnte auch der Europäer daran „glauben“. Säße der Fakir zum Beispiel auf einer Metallplatte und würde von einem Magneten über seinem Kopf angezogen, so wäre „das freie Schweben durch die Luft“ tatsächlich erklärt. Kann man aber einem Angehörigen eines Volkes, das noch weit hinter der abendländischen Technisierung zurücksteht, die Anwendung solcher Mittel zutrauen? Aber wer hilft dann den Fakiren? Und aus welchem Grund?
1. Kapitel Ein voller Sommermond stand am Himmel, als der Ozeandampfer S/S „Malacca“ den letzten Tag der Überfahrt bei völlig ruhiger See hinter sich gebracht hatte; am nächsten Morgen würde er gegen elf Uhr Bombay anlaufen. In dem friedlichen, grünschimmernden Wasser zeichnete der Vorderturm des Schiffes ein großes „V“, das von weißem Schaum gesäumt war. Der Himmel, mit funkelnden Sternen übersät, floß am Horizont mit dem Meer zusammen. Auf die Reling gestützt stand ein Mann im Alter von etwa dreißig Jahren. Er trug einen Smoking mit weißer Weste und rauchte eine Zigarette. Mit halb geschlossenen Augen betrachtete er träumerisch den sachten Wellenschlag, den das Schiff auf der spiegelglatten Fläche hervorrief. Aus dem Salon Erster Klasse, wo zahlreiche Passagiere tanzten, drangen gedämpft die Rhythmen von „Moonlight Serenade“. Jean Kariven wandte sich um. Groß und gut gebaut, trug einen feinen schwarzen Schnurrbart, und seine dunklen durchdringenden Augen ließen ihn Clark Gable noch ähnlicher erscheinen, was für ihn übrigens kein Anlaß zur Eitelkeit war. Als Archäologe reiste er im Auftrag der „Societé française d’Archéologie“ und „Royal Archeological Society“ von London nach Tibet, um dort mit zwei Kollegen Forschungen durchzuführen. Diese letzteren waren ebenfalls Spezialisten in ihrem Fach. Sie begleiteten ihn, um geologische, geophysische und. ethnographische Untersuchungen durchzuführen. Kariven blies eine Rauchwolke von sich und summte die berühmte Melodie von Gien Miller mit, die das Orchester spielte. 4
Er tat es ganz unbewußt, denn er war mit den Gedanken woanders, und eine Sorgenfalte stand auf seiner Stirn. Plötzlich schwieg er und lauschte. Jemand ging über das Promenadendeck und pfiff ebenfalls „Moonlight Serenade“. Im Halbdunkel war nur die weiße Weste eines Mannes im Smoking zu erkennen. Der nächtliche Spaziergänger kam an einem erleuchteten Fenster vorbei, und Jean Kariven erkannte ihn. „Bist du das Tanzen und die schönen Frauen schon müde, Mike?“ scherzte Kariven. „Ich gestatte mir nur eine Pause“, antwortete lächelnd Michel Donmoy, genannt „Mike“, ein junger, achtundzwanzigjähriger Geophysiker. Er war blond, breitschultrig und hatte ein sympathisches Gesicht. Er fuhr fort: „Angelvin benutzt unsere letzte ‚zivilisierte’ Nacht ausgiebig. Zwischen zwei Tänzen stürzt er zur Bar und kippt einen Whisky nach dem anderen hinunter.“ „Wenigstens einer, dem alles gleich ist!“ murmelte Jean Kariven, der wieder nachdenklich geworden war. Michel Dormoy betrachtete meinen Freund verstohlen. Nach einer Weile fragte er ihn erstaunt: „Alter Junge, was plagt dich denn eigentlich? Seit ein paar Tagen bist du überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen. So oft ich dich sehe, bist du halb abwesend, besorgt … irgendwie verstört. Fürchtest du, daß unsere Expedition verunglückt? … Auch wenn wir Bakrahna nicht finden und unverrichteter Dinge zurückkommen, vergiß nicht, daß auch andere vor uns diese sagenhafte Stadt nicht gefunden haben. Tibet ist groß, und …“ „Darum geht es nicht, Mike!“ antwortete Kariven, dem sichtlich wenig an dieser Unterhaltung lag. „Ich fühle mich nicht 5
ganz wohl, das ist alles. Wahrscheinlich bin ich ein bißchen seekrank. Entschuldige mich, ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht.“ Michel Dormoy sah ihm nach. Er zog die Brauen hoch, überlegte einen Augenblick, zuckte die Schultern und ging in den Salon „Erster“ zurück. Er blickte suchend durch den Raum, sah Robert Angelvin nicht und ging zur Bar, wo er ihn zu finden hoffte. Worin er sich getäuscht hatte. Ohne von seinem Mixbecher aufzusehen, sagte der Barmann: „Herr Angelvin ist schon vor einer Weile gegangen …“ Er wollte noch etwas sagen, aber er besann sich anders. Beunruhigt beharrte Michel Dormoy: „War er allein?“ „Ja, mein Herr. Er muß in seine Kabine gegangen sein. Herr Angelvin schien heute abend etwas … angeheitert.“ Dormoy lächelte und ging wieder aufs Promenadendeck. Er war fast an seiner Kabine angekommen, als ihn ein Stöhnen stehenbleiben ließ. Gemurmelte Wortfetzen drangen aus nächster Nähe an sein Ohr. Er bog um einen Lüftungsschacht, und unter einem Rettungsboot sah er einen Mann ausgestreckt liegen, der wie er einen Smoking mit weißer Weste trug. Dormoy bückte sich, und mit Erstaunen erkannte er Robert Angelvin. Sein schwarzer Schmetterling hing aufgelöst über seine gestärkte Hemdbrust. Der Geophysiker zog seinen Freund hoch, hob ihn auf und transportierte ihn zu seiner Kabine, so gut es ging. Als er ihn aufs Bett gelegt hatte, öffnete er die Luke und massierte ihm die Wangen. Angelvin brummte und stieß einen Seufzer aus, wobei Dormoy eine kräftige Alkoholfahne anwehte. Nach einer Weile öffnete er die Augen, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und brummte, als er seinen Freund erkannte: „Was ist eigentlich in dich und Kary gefahren? Ihr seid ja 6
völlig verrückt!“ Das brachte Michel Dormoy ziemlich aus der Fassung. Er starrte ihn an und erwiderte: „Was meinst du damit? Kary ist vor einer halben Stunde schlafen gegangen. Er hat uns beide vor mehr als einer halben Stunde im Tanzsalon allein gelassen. Du hast zuviel getrunken, Bob. Ist es eines Ethnographen würdig, sich so aufzuführen?“ versuchte er zu scherzen. Angelvin setzte sich auf und starrte sein Gegenüber erstaunt an. Dann stand er vom Bett auf und ging nachdenklich schweigend in der Kabine auf und ab. Dormoy bemerkte, daß er beschwingten, leichten Schrittes ging, was ein Betrunkener niemals gekonnt hätte. Der Ethnograph blieb vor seinem Freund stehen und fragte ihn: „Du behauptest also, daß ihr beide mich nicht mehr gesehen habt, seit dem Augenblick, wo ihr aus dem Tanzsalon weggegangen seid?“ „Natürlich! Warum sollte ich lügen? Du hast ein Glas zuviel getrunken!“ Robert Angelvin zuckte die Schultern und brummte: „Richtig, ich habe getrunken, aber ich bin nicht im mindesten betrunken. Vielleicht war ich etwas angeheitert, als ich aus der Bar kam, aber nicht so, daß ich nicht mehr weiß …“ „So erzähl doch endlich von Anfang an“, fuhr Dormoy ungeduldig dazwischen. „Ich habe dich unter einem Rettungsboot liegend gefunden, und du murmeltest unzusammenhängende Worte vor dich hin. Ich verstehe nicht, was Kary und ich damit zu tun haben.“ „Natürlich nicht“, erwiderte Angelvin mißmutig. „Wenn ihr beide nicht versucht habt, mich über Bord zu werfen, dann habe ich mich eben getäuscht!“ „Jemand hat versucht …“ 7
„Ja, ‚jemand’ hat versucht“, wiederholte Angelvin zornig. „Zwei Leute im Smoking mit weißer Weste sind über mich hergefallen, als ich aus der Bar kam. Sie waren euch beiden so ähnlich, daß ich zunächst glaubte, ihr wolltet euch einen Scherz mit mir machen. Aber als mich einer bei den Beinen packte, um mich ins Meer zu werfen, habe ich mich losgerissen und um mich geschlagen.“ Er machte eine Pause und zögerte, bevor er fortfuhr: „Sieh mich nicht so ungläubig an und denke vor allem nicht, daß ich Halluzinationen habe. Aber als ich mit dem Fuß gegen einen meiner Angreifer stieß, hatte ich das Gefühl, in Watte zu treten!“ Dormoy zog wie gewöhnlich die rechte Augenbraue hoch, lächelte und wollte gerade seinem Freund den guten Rat geben, in Zukunft etwas mäßiger zu sein. Doch Angelvin ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Das ist gar nichts, Mike! Hör mich erst ganz an. Nachdem ich also den einen meiner Angreifer auf die Matte gelegt hatte, warf ich mich auf den anderen und rannte ihn mit dem Kopf um. Als ich dann außer Atem stehenblieb, fiel mir zu meiner größten Verwunderung auf, daß ich kein Geräusch gehört hatte, als der Kerl ins Wasser fiel. Ich beugte mich über die Reling und sah, daß das Wasser völlig glatt und ruhig war – ohne irgendeine Wellenbewegung, die doch immer entsteht, wenn etwas ins Wasser fällt. Alle Luken unter mir waren geschlossen, also konnte sich der Mann nirgends angeklammert haben oder in eine Kabine gekrochen sein. Schließlich drehte ich mich um und wollte feststellen, ob der erste Angreifer wieder aufgetaucht sei. Er verschwand vor meinen Augen.“ „Meinst du damit, daß er ausriß?“ „Nein. Ich sagte, er verschwand, wie im Film jemand bei ei8
ner Trickaufnahme durchsichtig wird und man ihn schließlich nicht mehr sieht! Der Mann lag am Boden, aber er schmolz sozusagen weg und verschwand im eigentlichen Sinn des Wortes. Ich sagte mir, daß ich betrunken sein mußte … ich dachte, ihr hättet mir einen Streich gespielt, mich tüchtig geschüttelt und dann allein gelassen. Der Kampf, das Verschwinden des einen Mannes, bevor er ins Wasser fiel und das des anderen auf dem Deck war in meinen Augen nur eine Halluzination, die auf den Alkohol zurückging. Ich glaube tatsächlich, daß mich in diesem Augenblick der Alkohol betäubte und ich zu Boden fiel, wo du mich gefunden hast, übrigens habe ich bei dem Kampf einen kräftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Und das ist sicher kein Traum.“ Er zog eine Grimasse und griff mit der Hand in den Nacken. Michel Dormoy schüttelte den Kopf, zündete sich gelassen eine Zigarette an und fragte: „Und was schließt du daraus?“ „Da ich nicht an Gespenster glaube und jetzt weiß, daß weder du noch Kary an der Sache beteiligt waren, muß ich das Opfer eines absolut unerklärlichen Vorgangs gewesen sein.“ „Hm, hm“, machte Michel Dormoy zweifelnd. „Bevor wir unerklärliche Hypothesen aufstellen, wollen wir erst einmal Kary von deinem Katzenjammer erzählen.“ Jean Kariven saß in seiner Kabine auf dem Bett und rauchte sinnend eine Zigarette. Eine schwere 9 mm lag auf seinem Nachttisch neben einem Reisewecker mit Leuchtziffern. Ein leises Klopfen an seiner Tür ließ ihn brüsk aus seiner Träumerei hochfahren. Mit einem Satz war er auf den Füßen, die Pistole in der Hand. Er näherte sich der Tür und fragte in scheinbar unbeteiligtem Ton nach dem Grund dieses nächtlichen Besuches. Dann schob er den Riegel zurück und öffnete. 9
Michel Dormoy sah, daß Jean Kariven noch die Automatic in der Hand hielt; er lächelte gelassen und spottete: „Das Vertrauen regiert! Wenn du in einem derartigen Zustand bist, glaube ich, daß die merkwürdige Geschichte von unserem Freund dich sehr interessieren wird …“ Robert Angelvin berichtete sein Mißgeschick in einigen knappen Sätzen. Als er zu Kariven aufsah, fuhr er ihn an: „Natürlich glaubst du mir nicht?“ Der Gefragte lächelte und erwiderte zum großen Erstaunen seiner Besucher: „Ich habe guten Grund, dir zu glauben, denn ich habe heute nachmittag selbst ein merkwürdiges Erlebnis gehabt. Ich lag auf meinem Bett ausgestreckt, rauchte und blätterte in einem Buch. Es war ganz still in meiner Kabine. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Man hätte dabei an Tuch denken können, das an den Wänden oder am Boden entlangstrich. Beunruhigt wandte ich mich zur Tür und sah, wie sich hier auf dem Tischchen meine Ledermappe bewegte. Ich rührte mich nicht und begann, an meinen Sinnen zu zweifeln. Ich starrte die Mappe an, die wie ihr wißt, unsere wichtigsten Papiere enthält, und mit Erstaunen sah ich, daß sich die Lederriemen von selbst aus den Ösen zogen. Ich hörte deutlich, wie das Schloß aufschnappte und sah, wie die Lederklappe zurückschlug. Die Innentaschen der Mappe öffneten sich – als ob eine Hand hineingefahren wäre –, dann kamen die Papiere langsam heraus und wurden auf den Tisch gelegt. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn, und ich gebe zu, daß ich Angst hatte. Ich glaube ebensowenig wie Angelvin an Gespenster; trotzdem … Die Mappe, die sich öffnete, aus der die Papiere herauskamen, um sich auf dem Tisch auszubreiten – all das ließ mir die Haare zu Berge stehen! Ich wartete noch eine Minute, dann richtete ich mich etwas auf. Eins von den 10
Papieren wurde herausgezogen, dann schwebte es auf unerklärliche Weise über dem Tisch! Ich erkannte sofort das tibetanische Manuskript und die Karte, mit deren Hilfe wir Bakrahna finden wollen! Da sprang ich auf und ergriff das wertvolle Dokument, das zwischen Fußboden und Decke hing. Ich blieb stehen und hatte das unangenehme Gefühl, durch eine flockige Schicht gedrungen zu sein, eine Art unsichtbarer Barriere, die aber doch greifbar war, obwohl sie keinen Widerstand bot. Ich ergriff meine Automatic und steckte alle Dokumente in die Mappe, die ich mit dem Schlüssel abschloß. Sie ist jetzt im Safe des Kapitäns.“ Robert Angelvin kratzte sich am Kopf und zog eine komische Grimasse. „So etwas liebe ich gar nicht!“ brummte er. „Ich habe es lieber mit einem Nahkampf, Mann gegen Mann, zu tun, aber nicht mit solchen Geschichten von Unsichtbaren!“ Kary sagte nachdenklich: „Es kann sich gar nicht um unsichtbare Menschen handeln, denn auch ein Unsichtbarer behält seine Masse und sein spezifisches Gewicht. Sagtest du nicht, Robert, daß kein Geräusch zu hören war, als dein Angreifer über Bord fiel? Er hätte dabei doch genausoviel Wasser verdrängen müssen, wie sein Körper Raum einnahm. Du hast aber kein Geräusch gehört und auch keine Bewegung im Wasser gesehen.“ Er hob die Schulter und schloß: „Also ist bis zum Beweis des Gegenteils der Unsichtbare nur eine Romanfigur von Wells!“ Michel Dormoy, der Geophysiker, fragte Angelvin: „Du beschäftigst dich doch mit den Bräuchen und Gewohnheiten der Menschen und auch mit Psychologie. Was hältst du von außersinnlicher Wahrnehmung? Könntet ihr nicht beide so etwas erlebt haben?“ „Das würde mich wundern; die beiden merkwürdigen Män11
ner, die mich überfallen haben, wären für andere bestimmt auch unsichtbar gewesen, wenn jemand dabei gewesen wäre. Es kann sich also meinerseits nicht um einen Fall persönlicher außersinnlicher Wahrnehmung handeln. Was Jean Kariven angeht, so kann sein Erlebnis nicht mit Telekinese oder Psychokinese erklärt werden, das heißt mit Fernbewegung von Gegenständen durch eine geistige Kraft, die von jemandem ausgeht. der in okkultistischen Experimenten bewandert ist.“ „Erinnern wir uns daran“, warf Dormoy ein, „daß die Psychokinese von der offiziellen Wissenschaft nicht anerkannt wird.“ „Ich weiß“, erwiderte Angelvin. „Wir kommen aber jetzt nach Indien, dem geheimnisvollsten Land der Erde, und dürfen nicht vergessen, daß dort manchmal erstaunliche Dinge Vorkommen, die von der Wissenschaft abgestritten werden, weil sie nicht zu erklären sind.“ Dormoys Gesicht drückte Unglauben aus. „Wir wollen uns nicht weiter darüber den Kopf zerbrechen, sondern möglichst wachsam bleiben. Man bat euch mit geheimnisvollen Erscheinungen beehrt“, fügte er scherzend hinzu, „zweifellos bin ich infolge meines Materialismus’ dieser Erleuchtung unwürdig! Gute Nacht zusammen, schlaft gut und träumt nicht von Gespenstern!“ * Die „Malacca“ hatte angelegt. Die Laufstege wurden heruntergelassen. Nachdem die Hafenpolizei die unvermeidliche Paßkontrolle erledigt hatte, konnten die Passagiere das Schiff verlassen, sie mußten jedoch noch mancherlei Zollformalitäten über sich ergehen lassen, bevor sie endlich an Land gehen konnten. 12
Auf den Kais wimmelte es von schmutzigen, zerlumpten Hindus, die Trägerarbeiten verrichteten, aber jetzt von den Vertretern der verschiedenen Heisebüros und Hotels, die auf der Suche nach Kunden waren, rücksichtslos zur Seite gestoßen wurden. Unsere drei Freunde, die Kakianzüge trugen, erkannten sofort Major Bruce, der mit einem Buschhemd und kurzen Hosen bekleidet war und ihnen mit weitausholenden Armbewegungen zuwinkte. Der Major hatte funkelnde Augen, sein Gesicht war tief gebräunt und wies einen großen, roten Schnurrbart auf, wie er in der englischen Armee und in den Kolonien häufig getragen wird. Der künftige Führer von Karivenis Expedition durch Tibet schüttelte den drei Freunden freudig die Hand und sagte in herzlichem Ton: „Mein Verwalter, Gunga Shrino, wird Ihr Gepäck versorgen und es mit allem Material im Flugzeug nach Tibet schicken. Sie können ihm volles Vertrauen schenken, er hat mich schon bei mehreren Expeditionen unterstützt. Die Kisten mit den Einzelteilen Ihres Hubschraubers werden mit demselben Flugzeug befördert, das wir morgen früh benutzen. Der Hauptstützpunkt wird in der Nähe von Khokhung Tsaka aufgeschlagen. Das Hinterland ist völlig unbekannt, niemand ist bisher weiter nach Zentraltibet hineingekommen.“ Die vier Männer nahmen ein Taxi und waren rasch beim Hause des englischen Majors angelangt. „Major“, begann Kariven, „Sie haben den Nachschub organisiert und einen ausgezeichneten Reiseplan aufgestellt. Zum erstenmal wird eine Expedition so viele Vorteile auf ihrer Seite haben, und wir werden dadurch kostbare Zeit sparen, daß wir den Anmarsch zum Himalaya nicht zu Fuß durchfuhren müssen.“ 13
„Ach was“, antwortete bescheiden Major Bruce, „die Sache war ziemlich einfach, denn ich hatte zehn Monate Zeit, um die Treibstoffe und die Vorräte zum Ausgangspunkt unserer Expedition transportieren zu lassen, nämlich zum Nordabhang des Himalaya. Sie werden sehen, daß es mit dem Hubschrauber ganz einfach sein wird … wir brauchen uns keine Sorgen um den Transport des Materials zu machen, denn ein Militärpflugzeug wird alles nach Khokhung Tsaka bringen. Wir werden also im Rekordtempo Bakrahna erreichen – wenn diese sagenhafte Stadt überhaupt existiert.“ „Sind Sie so skeptisch?“ fragte Jean Kariven, der Archäologe. „Nein, aber vorsichtig. Bei den primitiven Völkerschaften in Nordindien und Tibet vermischen sich Sagen, Legenden und alles Wunderbare eng mit der Wirklichkeit. Es ist besser, man überzeugt sich selbst, als daß man sich auf die Erzählungen der tibetanischen Bauern verläßt, die zudem noch sehr abergläubisch sind. Ich gebe zu, daß man auf Grund einiger Legenden Tempel und Städte fand, die im Urwald verborgen lagen. Aber das kommt ziemlich selten vor.“ Der Major schwieg nachdenklich, dann fuhr er fort: „Was wissen wir denn überhaupt von Bakrahna? Die Handschrift, von der Sie mir eine Fotokopie mit Übersetzung schickten, beschreibt Bakrahna als eine große, für Menschen unzugängliche Stadt, in der die Sieben Weisen von Tibet herrschen. Eine Stadt, die mitten in einem Krater verloren liegt, umgeben von unerforschten Gebirgen. Die Handschrift spricht von Gefahren, Fallen und Verwünschungen, die über den unvorsichtigen Reisenden kommen, der zur Heiligen Stadt Vordringen will. Von den fünf Expeditionen, die Bakrahna suchten, kamen drei unverrichteter Dinge zurück, und von den beiden anderen hat man nie mehr etwas gehört. Alle Zeitungen berichteten 1949 über das Verschwinden der Forscher Bate und Stoker, und 14
ich gebe offen zu, daß ich Sie nur begleite, weil wir alte Freunde sind. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt und möchte noch eine gute Weile leben. Es wäre natürlich Wahnsinn, sich aufs Geratewohl nach Zentraltibet hineinzuwagen, aber nachdem wir alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben und Sie so gutes Material besitzen, glaube ich, daß ich hundert Jahre alt werden kann.“ Alle lachten über diese spaßige Bemerkung. Dann erzählte Jean Kariven dem Major von den beiden Zwischenfällen, die sie am letzten Tag ihrer Überfahrt erlebt hatten. Major Bruce strich sich seinen Schnurrbart und rief: „Donnerwetter! Das ist doch ziemlich beunruhigend! Die Karte von Bakrahna interessierte also diese … diese unsichtbaren Erscheinungen? Ein primitiver Hindu – sei es nur ein sogenannter gebildeter Brahmane oder ein Paria – würde das als eine Warnung der Geister ansehen und Opfer auf den heiligen Altar eines Tempels empfehlen. Aber wir wollen nicht so abergläubisch sein und diese Erscheinungen vielmehr als einen Versuch – von wem? und wie? – betrachten, der uns von unseren Plänen abbringen soll. All das würde schließlich beweisen,. daß Bakrahna wirklich existiert!“ Er hob die Hand und fügte hinzu: „Verlangen Sie nicht von mir, das Unerklärliche zu erklären. Ich war wiederholt Zeuge sehr merkwürdiger und unglaubhafter Vorfälle, die ich niemals aufklären konnte, aber Ihre Geschichte geht weit über das hinaus, was ich in diesem geheimnisvollen Lande gehört oder gesehen habe. Ich rate Ihnen, sich gut in acht zu nehmen, damit Sie keine Überraschungen erleben. All diese gespensterhaften Vorfälle haben eine Gefahr im Hintergrund! – Aber jetzt gehen wir essen.“ Der Major klatschte in die Hände und rief den Boy. Ein junger Hindu mit einem kunstvoll gewickelten Turban, einem bau15
schigen Gewand und roten Lederpantoffeln trat ein und verneigte sich. „Ja, Sahib?“ „Bring das Essen auf die Veranda und bereite drei Zimmer vor. Die französischen Sahibs bleiben heute nacht hier.“ * Nach dem Essen bot der Major seinen Gästen noch ein Glas Scotch an, rauchte seine Pfeife und schlug vor: „Es ist besser, wenn Sie von Ihren merkwürdigen Erlebnissen nicht vor meinem Verwalter Gunga Shrino sprechen. Obwohl er sich als ‚gebildet' betrachtet, lebt in ihm doch noch ein gewisser Rest von Aberglauben wie übrigens bei allen Hindus. Er ist ein braver Junge und mir ganz ergeben, aber ich glaube, daß wir ihm lieber nichts von unseren Befürchtungen erzählen. Er meint, daß wir Ausgrabungen vornehmen und eine Karte von Zentraltibet entwerfen wollen. Lassen wir ihn in diesem Glauben.“ * Der Boy kam, um den Tisch abzuräumen, und als er den Likör brachte, kündigte er den Verwalter an. Gaungia Shrino trat ein und verneigte sich. Sein dunkelbrauner Körper leuchtete durch das Tuch seines Hemdes, das weit offen stand und um den Leib gebunden war. Er trug Shorts und einen khakifarbenen Turban der indischen Armee. Er erklärte, warum er gekommen war. Die vier Anwesenden hatten sich ihm zugewandt, und die drei Franzosen betrachteten ihn neugierig, belustigt von seinem singenden Tonfall und der merkwürdigen Art, den Buchstaben „R“ auszusprechen. Er sagte immer „L“ statt „R“. 16
„Die Kisten der flanzösischen Sahibs sind untelwegs nach Calcutta. Sie welden molgen ankommen. Ich welde das Gepäck lichten, Sahib, und ich …“ Er hielt plötzlich inne. In seinem bisher unbewegten, zuweilen lächelnden Gesicht stand Entsetzen. Seine Lippen zitterten, seine Augen weiteten sich, dann stieß er einen Schrei aus, der ihm in der Kehle erstickte. Mit ausgestrecktem Arm deutete er vor sich und wich zurück. Wie erstarrt von Entsetzen blieb er mit dem Rücken zur Wand stehen. Der Boy kam ins Zimmer, stieß wie der Verwalter einen Schrei aus, wandte sich um und rannte weg, so schnell ihn die Beine trugen. Überrascht sahen sich Major Bruce und seine Gäste an. Doch als sie auf den Tisch blickten, sprangen alle vier mit einem Satz auf und stießen die Stühle um. Eisiger Schrecken ließ sie erschauern. Mitten auf dem Tisch über dem Tablett, auf dem die Gläser gebracht worden waren, stand ein ungeheurer lebendiger schwarz behaarter Kopf mit rotglühenden Augen und spitzen Zähnen, die aus einem blutroten Mund hervorblitzten. Diese brennenden Augen ruhten nacheinander auf jedem der fünf vor Grauen erstarrten Männer. Als sie genauer hinsahen, stellten sie fest, daß dieser Kopf nicht auf dem Tablett ruhte. Er schwebte einige Zentimeter darüber in der Luft. Die Lippen dieser Ausgeburt des Schreckens bewegten sich, die Hakenzähne gingen auseinander, und die teuflische Erscheinung verkündete auf englisch: „Ihr werdet sterben, bevor ihr Bakrahna erreicht! Niemand darf das Geheimnis der verlorenen Stadt verletzen.“ Nach diesen Worten verschwamm die entsetzliche Erscheinung mehr und mehr – sie verschwand, als ob sie sich in Nichts aufgelöst hätte.
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2. Kapitel Der Major war bleich und verwirrt; fragend sah er Kariven an. Dieser wandte sich schließlich unsicheren Blickes zu Angelvin und dem Geophysiker Michel Dormoy. Trotz seiner realistischen Einstellung hatte dieser unerklärliche Zauber nicht verfehlt, ihn nachhaltig zu beeinflussen. Keiner der Zuschauer konnte eine natürliche Erklärung für diese Erscheinung finden. Woher kam der entsetzliche Kopf? Wie hatte er einige Zentimeter über dem Tablett schweben können? Und vor allem, wie konnte er mit Grabesstimme diese unheilverkündende Verwünschung ausstoßen? All diese Fragen gingen den Teilnehmern der Expedition durch den Kopf, doch eine Antwort fanden sie nicht. Ein seltsames Geräusch, das wie ein abgehacktes Klappern klang, veranlaßte sie, sich umzuwenden. Gunga Shrino stand mit dem Rücken zur Wand und klapperte mit den Zähnen. Er war grün vor Angst, die Knie schlotterten ihm, und er zitterte von Kopf bis Fuß. Kariven beherrschte seine Erregung und beugte sich über das silberne Tablett. Es war nichts Verdächtiges zu sehen. Das Eßzimmer wurde bis in den letzten Winkel durchsucht, doch vergebens. Jede Spur des Ungeheuers war verschwunden. In den Möbeln des Raumes war nirgends eine Projektionslampe verborgen, wie Kariven einen Augenblick lang angenommen hatte. Die Erscheinung war also auf dem Tisch entstanden und kam nicht von außerhalb des Bungalows. Kein technischer Trick hatte dieses seltsame und beunruhigende Phänomen hervorgerufen. „Wir sind doch keiner Halluzination zum Opfer gefallen!“ sagte Kariven. „Hör endlich auf, mit den Zähnen zu klappern Gunga Shrino!“ befahl der Major barsch. 18
Der Inder preßte krampfhaft ein Amulett in seiner rechten Hand. Vor Entsetzen stammelte er in einem Mischmasch von Englisch und Hindustanisch: „Ja, Sa … Sa … Sahib! Der böse Geist hat gesplochen. Die Göttel sind unzuflieden. Velzeih, Sahib. Ich glaube, ich kann dich nicht mit den flanzösischen Sahibs begleiten. Ich …“ „Was?“ unterbrach ihn der Major wütend. „Du brichst deinen Treueid gegen die französischen Sahibs und sogar gegen mich? Du, ein Gebildeter“, der schlaue Engländer betonte dieses Wort, „du solltest Angst haben?“ Hin und her gerissen zwischen Angst und dem Verlangen, kultiviert zu erscheinen, stammelte Gunga Shrino: „Ich fühle mich klank, Sahib. Das Fiebel läßt mich mit den Zähnen klappeln. Ich habe einen Anfall von Sumpffiebel. Wenn es mil morgen bessel geht, weide ich die Sahibs begleiten …“ „Es ist gut, Gunga. Nimm eine Chinintablette. Wenn du richtig geschlafen hast, wirst du morgen wieder gesund sein und uns gern begleiten.“ Der Inder verschwand rasch, drückte sein Talisman an die Brust und sah sich noch mehrmals verängstigt um. * Die „Hastings“-Transportmaschine, die einen Teil des Expeditionsmaterials und die Hauptreserve des Treibstoffs für Karivens Hubschrauber mit sich führte, hatte die Grenzen Tibets weit hinter sich gelassen und kreuzte mitten im Herzen des Himalaya. Die steilabfallenden, mit ewigem Schnee bedeckten Berggipfel verschwanden in den Wolken. Das Flugzeug überflog jetzt mit Richtung Nord-Nordost die Kette der „Großen Seen“ in der Gegend von Bongha und Namru. 19
Allmählich wurden die tibetanischen Dörfer immer spärlicher. Die Landschaft machte einen wilden, wüstenähnlichen Eindruck. Das graubraune Gelände wurde allmählich ebener. Jedenfalls erschien diese Gegend im Vergleich zu den gewaltigen Bergketten des Himalaya geradezu einladend. Der zweite Pilot der viermotorigen englischen Maschine orientierte sich auf der Karte und gab bekannt, daß sie jetzt noch knapp hundert Kilometer von Khokhung-Tsaka entfernt seien. Dies war das letzte Dorf in Zentraltibet und diente als Ausgangspunkt für die Trägerkolonne, die Major Bruce angeworben hatte. Der Copilot legte gerade sein Prismenglas nieder, als plötzlich seine Aufmerksamkeit von einem glitzernden Punkt im Mittelhof eines imposanten Lamaklosters gefesselt wurde, das am Abhang des Gebirges lag. Und im gleichen Augenblick setzten Fehlzündungen beim ersten Motor von rechts ein, er stotterte, dann blieb er stehen. Verwundert sahen sich die beiden Piloten an. Ein kurzer Blick auf die Armaturentafel sagte ihnen, daß der Öl- und Treibstoffzufluß normal verlief. Der zweite rechte Motor knatterte und knallte einen Augenblick und blieb dann plötzlich ebenfalls stehen. Das Flugzeug schlingerte und legte sich leicht nach links, setzte jedoch trotzdem seinen Flug fort. „Wir verlieren Höhe!“ schrie der Pilot. „Sofort unsere Position funken … falls wir landen müssen! Ich frage mich, was an dem Mo …“ Er beendete den Satz nicht. Der erste Motor ließ dieselben charakteristischen Fehlzündungen hören. Dann gab er etwas wie ein verzweifeltes Husten von sich, stoppte, und die Umdrehungen des Propellers verlangsamten sich. Der übriggebliebene letzte Motor konnte die Maschine nicht mehr halten. Sie beschrieb eine Kurve nach unten und gehorchte auch dem Steuer nicht mehr. 20
Der Pilot biß die Zähne zusammen, Schweiß stand auf seiner Stirn, und seine Hände krampften sich um den Steuerknüppel. Unermüdlich strahlte der Funker die Position des Flugzeuges aus, und jede Sendung endete mit den gleichen Buchstaben: „SOS … SOS … SOS …“ Das Höhensteuer gehorchte nicht mehr, die schwere Maschine zog nicht mehr nach oben. In diesem Augenblick versagte auch der vierte und letzte Motor. Der Pilot versuchte die letzten Möglichkeiten, um zu manövrieren, und das Flugzeug ging in eine weite Kurve, um auf einem Hochplateau in der Nähe zu landen. „Es wird eine Bruchlandung geben“, grinste der Pilot, „aber wir werden es schaffen. Gib weiter SOS, solange wir in der Luft sind, denn …“ Er verstummte, geblendet vom plötzlichen Aufblitzen eines blauen Strahls, der vom Gebirgsabhang kam und die Maschine traf. Eine gewaltige Explosion riß das Flugzeug in Stücke. Die Treibstoffladung ging noch in der Luft in Flammen auf und bildete eine riesige, glühende Kugel, die von schwarzem Qualm umgeben wurde. Das Treibstoffdepot in Khokhung-Tsaka würde ohne die für die Expedition Kariven vorgesehene Reserve bleiben. * Erschüttert von der Flugzeugkatastrophe, die sie gerade gefilmt hatte, ließ Barbara Turner, ein reizendes, blondes Mädchen, die Kamera sinken. Sie war Reporterin der „Saturday Night“. Ihre tibetanischen Träger standen erschreckt und zitternd vor Angst um sie herum. In ihren einfältigen Köpfen vertrauten sie darauf, daß die weiße Herrin, die sie seit Tschingatse begleiteten, 21
sie vor der Gefahr schützen konnte, die sie ahnten, ohne sie in Worte fassen zu können. Barbara Turner, die im Auftrag ihrer Zeitung eine große Reportage über Zentraltibet machte, hatte mit ihrer kleinen Kolonne von zehn Trägern in der Nähe von Potosho ihr Lager aufgeschlagen. Sie waren etwa sechzig Kilometer von KhokhungTsaka entfernt. Das junge Mädchen hatte ohnmächtig und verzweifelt das Ringen der „Hastings“ miterlebt, die sich nach dem Ausfall ihrer vier Motoren weiter zu halten versucht hatte. Da dies ein unvorhergesehener Zwischenfall war, hatte sie aus Berufsinstinkt fast automatisch das Flugzeug gefilmt. So hatte Barbara Turner zu ihrem größten Erstaunen gesehen, wie der geheimnisvolle blaue Strahl die britische Transportmaschine traf! Dabei hatte sie sofort in die Richtung geblickt, aus der dieser Strahl zu kommen schien. Sie hatte geglaubt, einen kurz aufblitzenden blauen Schein am Steilhang eines benachbarten Berges zu sehen. Die blonde Amerikanerin schloß vor den blendenden Sonnenstrahlen die Augen und beschattete sie mit der Hand. Jede Spur des Strahles oder des blauen Lichtscheins war jetzt verschwunden. Man sah nur ein einfaches, friedliches Lamakloster, das zweifellos tibetanische Mönche beherbergte, die sich der Mystik hingaben und die Einsamkeit liebten. Barbara Turner rief ihren Führer, einen jungen Chinesen, der in Tibet aufgewachsen war und ein kaum verständliches Englisch sprach. „Tschang! Wir brechen das Lager ab und machen uns sofort auf die Reise. Wenn wir uns beeilen, können wir übermorgen in Khokhung-Tsaka sein. Laß die Maultiere zusammentreiben. Wir müssen diesen Unfall dem nächsten Militär- oder Verwal22
tungsposten melden – wenn es einen in dieser Einöde gibt“, fügte sie hinzu und stieß einen Seufzer aus. * Kariven, Dormoy und Angelvin zogen sich in die Zimmer des Bungalows zurück, die ihnen Major Bruce zur Verfügung gestellt hatte. Da sie am nächsten Morgen sehr zeitig aufstehen mußten, waren sie früh schlafen gegangen. Trotz ihrer Besorgnis und trotz des Reisefiebers waren sie eingeschlafen. Jean Kariven schlief sehr unruhig und wälzte sich immer wieder im Bett herum. Die Tropennacht legte sich erstickend auf ihn, und das Moskitonetz, das ihn vor den zudringlichen Insekten schützte, staute um ihn herum heiße Luft an. Plötzlich öffnete der Archäologe die Augen. Er spürte, daß jemand im Zimmer war. Ein Mondstrahl drang durch die halbgeschlossenen Fensterläden. Mit einer vorsichtigen Bewegung tastete Kariven nach seiner Automatic, und als er die Waffe in der Hand hielt, machte er Licht. Blendende Helligkeit flutete durch den Raum. Robert Angelvin stand vor einer Bambuskommode, auf der Karivens Mappe lag. Sie enthielt alle Dokumente, die sich auf die verlorene Stadt bezogen. Kariven warf das Moskitonetz zurück und rief bestürzt: „Was tust du denn hier, Bob?“ Seine Stimme sollte fest und sicher klingen, doch es lag ein Zögern darin. Ein sehr unangenehmes Gefühl überkam ihn. War sein Freund Robert Angelvin, sein Studienkamerad, Nachtwandler oder … ein gewöhnlicher Übeltäter? Unmöglich! Die Pläne von Bakrahna stellten zwar keinen Handelswert dar, doch sie waren von großem wissenschaftlichen Interesse. Ohne seine Waffe aus der Hand zu legen, war Kariven aufgestanden 23
und hielt sich einen Schritt von Angelvin entfernt. Dieser hob plötzlich die linke Hand, schwang einen Dolch und stieß nach dem Archäologen. Kariven wich dem Stoß mit ungewöhnlicher Behendigkeit aus und schoß. Unheilverkündendes Hohngelächter erscholl als Antwort. Entsetzt starrte der Archäologe Angelvin an, der mit verzerrten Lippen nervös lachte. Noch immer hielt er den Dolch in der linken Hand, schien jedoch seinen Mordanschlag nicht wiederholen zu wollen. Eilige Schritte kamen von draußen. Kariven sprang zur Tür und öffnete sie, ohne Angelvin aus der Schußlinie zu lassen. Herbeigerufen durch den Schuß, stürzten Major Bruce, Michel Dormoy und … Angelvin ins Zimmer. Als der echte Angelvin seinen Doppelgänger Jean Kariven gegenüberstehen sah, stieß er eine Verwünschung aus. Er wurde bleich und sah den Archäologen an. Dieser beherrschte seine Erregung und erklärte: „Wir haben es hier mit einem der Leute zu tun, die dich auf dem Schiff angegriffen haben, Bob! Dieser Kerl ähnelt dir wie ein zweites Ich! Und ich habe auf ihn geschossen, weil du, Bob, kein Linkshänder bist! Er hält seinen Dolch in der linken Hand!“ Angelvins Doppelgänger stand mitten im Zimmer und betrachtete die Männer mit unendlich überheblicher Miene. „Dem werde ich eine gute Lehre geben!“ brummte Angelvin und kam näher. Kariven hielt ihn zurück. „Überflüssig, Bob! Schau her …“ Der Archäologe hob seine Waffe und feuerte auf den falschen Angelvin. Dieser hörte nicht auf, höhnisch zu lächeln und schien sich nicht im mindesten behelligt zu fühlen. 24
„Du siehst selbst“, schloß der Archäologe. „Aber wenn du absolut Wert darauf legst, kannst du ja weiter versuchen, ihm eine Lehre zu geben. Glaubst du, daß deine Fäuste wirksamer sind als 9-mm-Kugeln?“ „Das ist ja ein starkes Stück!“ brachte Angelvin mühsam hervor und ließ die Arme sinken. Die merkwürdige Gestalt hörte auf zu lachen. Die Züge verhärteten sich, und der Eindringling sprach mit rauher Stimme: „Ihr seid ohnmächtig gegen uns. Ich könnte euch ohne jede Gefahr töten, aber eure Stunde ist noch nicht gekommen. Nehmt jedoch zur Kenntnis, daß euer Tod nicht mehr fern ist, wenn ihr auf euren frevlerischen Plänen beharrt. Die Sieben Weisen haben euch geschlagen. Dreimal wurdet ihr gewarnt. Wenn ihr nicht den Vorsatz aufgebt, Bakrahna zu finden, müßt ihr sterben!“ Bei diesen Worten löste sich Angelvins Doppelgänger auf, verflüchtigte sich mehr und mehr und war schließlich ganz verschwunden. Unsere Freunde blieben aufs höchste erstaunt zurück. Der Major brach als erster das Schweigen. „Es ist erstaunlich, Angelvin, wie haargenau dieser Kerl Ihnen ähnelte! Als ich Sie hier im Zimmer stehen sah, während ich doch wußte, daß Sie neben mir waren, habe ich angefangen, an meinen Sinnen zu zweifeln. Glauben Sie mir das! Dieser Teufelsspuk hat die 9-mm-Geschosse geschluckt, ohne mit der Wimper zu zucken. Offensichtlich hatte er keinen Körper, das heißt er bestand nicht aus Fleisch und Blut – denn ich sehe keine Möglichkeit, wie ein Mensch sich so verflüchtigen könnte. Das ist Magie … vielleicht haben wir eben eine Persönlichkeitsverdoppelung erlebt. Dann wäre es aber der Doppelgänger eines Menschen nämlich von Angelvin – gewesen, der sich hier gezeigt hat.“ 25
„Hm, hm“, murmelte Kariven zweifelnd, „dem kann ich nicht zustimmen. Ich habe zwar schon außerordentliche Fälle von Verdoppelung erlebt, die ein indischer Magier durchführte. Aber was heute abend geschehen ist, kann damit nicht verglichen werden.“ Er schwieg einen Augenblick und fügte hinzu: „Wir haben es hier mit einer natürlichen Erscheinung, nicht mit Magie zu tun. Dieser Mann ist uns in der Gestalt Angelvins erschienen – was die Sache noch unverständlicher macht –, und zwar auf Grund eines wissenschaftlichen, folglich natürlichen Vorgangs, der sich unserem Verständnis entzieht.“ „Was hat er wohl mit dem Satz gemeint: Die Sieben Weisen haben euch geschlagen?“ fragte Michel Dormoy. „Der Himmel mag es wissen … und selbst er dürfte sich nicht ganz sicher sein!“ versuchte Angelvin zu scherzen. Doch seine Bemerkung blieb ohne Echo. * Die Teilnehmer der Expedition fanden sich nach dieser bewegten Nacht wieder im Eßzimmer zusammen, wo ihnen der Boy ein Frühstück servierte. Die Sonne war gerade aufgegangen. Als sie zum Flughafen fahren wollten, klingelte das Telefon. Major Bruce nahm den Hörer ab und meldete sich. Je länger er zuhörte, desto mehr verfinsterte sich sein Gesicht. Nach einer Weile legte er den Hörer auf und erklärte erregt: „Der Flugplatz von Bombay teilt mir mit, daß die viermotorige ‚Hastings’, die Treibstoff und Material nach KhokhungTsaka bringen sollte, abgestürzt ist. Ein ‚Wellington’-Schulflugzeug, das die Gegend überflog, hat die Trümmer sechzig Kilometer vor Khokhung-Tsaka gefunden. Als der Pilot landete, 26
erstattete ihm eine Amerikanerin, die den Unfall miterlebt hatte, einen ausführlichen Bericht.“ „Eine Amerikanerin? Was hatte denn die in dieser gottverlassenen Gegend zu suchen?“ wunderte sich Kariven. „Nach dem Bericht des Piloten soll sie Reporterin der ‚Saturday Night’ sein. Sie behauptet, ein blauer Strahl habe das Flugzeug erleuchtet, nachdem die vier Motoren stehengeblieben waren.“ Kariven wurde nachdenklich. „Die Sieben Weisen haben uns geschlagen!“ sagte er leise. „Jetzt verstehe ich, was Angelvins Doppelgänger heute nacht gemeint hat.“ „Ob seine Worte sich darauf beziehen sollten?“ fragte Michel Dormoy. „Zweifelst du daran? – Das bestärkt meine Befürchtungen. Wir haben es mit Gegnern zu tun, die über schlagkräftige, wissenschaftliche Hilfsmittel verfügen und nicht mit Jahrmarktsgauklern! Die ‚Hastings’ wurde abgeschossen! Es handelte sich also nicht um einen Unfall, sondern um ein Attentat.“ Kariven entfaltete eine Karte von Tibet, studierte sie aufmerksam und erklärte: „Das Flugzeug wurde in der Gegend von Tsak abgeschossen. Wenn wir dieselbe Route benutzen, riskieren wir das gleiche Schicksal. Ich schlage vor, westwärts zu fliegen, einen Umweg über den See Tschai-Bup-Tso zu machen, dann Nordostkurs zu fliegen, um nach Khokhung-Tsaka zu kommen. So kommen wir nicht in die Nähe von Tsak … und seines mysteriösen blauen Strahls. Das Material, das Major Bruce im Laufe des Jahres dorthin geschafft hat, ist sehr umfangreich, und wir können damit auskommen, bis wir Ersatz für das Verlorene haben. Außerdem müssen die Trägerkolonnen, die seit dem letzten Monat unterwegs sind, inzwischen Khokhung-Tsaka erreicht haben. Wir sollten uns also so rasch wie möglich auf den Weg machen.“ 27
* In der viermotorigen „Universal Freighter“, die von der britischen Verwaltung zur Verfügung gestellt worden war, flog die Gruppe Kariven Tibet entgegen. Major Bruce hatte Gunga Shrino schließlich mit Versprechungen und Schmeicheleien dazu bewegen können, sie zu begleiten. Die Lastmaschine, die umfangreiches Material und zusätzliche Treibstoffreserven für den vorgeschobenen Stützpunkt mitführte, überflog jetzt die Bergketten von Moghbo-Dimrop. Im Osten funkelte der Ammoniak-See in der Sonne wie ein riesiger Aquamarin im braunen Sand der Wüste. Die schwere Maschine hielt Nordnordost-Kurs, um die Gegend von Tsak zu umgehen, wo sich der tragische Unfall ereignet hatte. Später überquerte das Flugzeug die Bergketten und schlug Südkurs ein. Eine halbe Stunde später kam Khokhung-Tsaka in Sicht. Die Maschine ging in eine weite Kurve, senkte sich hinab und landete schließlich auf einem Plateau im Süden des Dorfes. Doch konnte man die kleine Gruppe von Häusern aus aufeinandergeschichteten Steinen wirklich ein Dorf nennen? Sonst sah man nur ein paar Hütten aus Lehm und Stroh und einen Flugzeugschuppen der Armee, der aus zusammengesetzten Fertigteilen bestand. Die Transportmaschine öffnete die hintere Ladeluke, und ein Jeep kam zum Vorschein, den Kariven fuhr. Er rollte langsam heraus und zog eine lange Kiste hinter sich her, die Einzelteile des Hubschraubers enthielt. Dieses Manöver wiederholte Kariven dreimal, und schließlich lagen sämtliche Kisten am Rand der Straße aufgereiht, 28
die zum Dorf führte. Während die Expeditionsteilnehmer schnell das Material und die Treibstofftanks entluden, war schon eine Gruppe von neugierigen Tibetanern herbeigekommen. Es waren etwa fünfzig Träger in schmutzigen, zerrissenen Gewändern mit Pelzmützen auf dem Kopf. Weite Pluderhosen, die in kurzen Stiefeln aus Yakfell verschwanden, ließen sie wie russische Bauern in historischer Tracht erscheinen. Einer von ihnen, der seine Stammesgenossen überragte, trat vor und verneigte sich vor unseren Freunden. Kariven stieg aus dem Jeep und rief Angelvin zu: „Das sind sicher unsere Träger. Erkläre ihnen, daß wir sie brauchen, um die Maschine rascher zu entladen und daß wir morgen aufbrechen.“ Der Völkerkundler suchte seine spärlichen Kenntnisse der tibetanischen Sprache zusammen und bemühte sich, die Anweisungen des Expeditionsleiters zu übersetzen. Dies erwies sich als ein außerordentlich schwieriges Unterfangen. Nach einer Weile gab Angelvin Kariven eine Zusammenfassung dieser Unterhaltung. „Dieser Mann, der Shikaris, das heißt der Anführer unserer Träger, heißt Giudu Pemba. Er sagt, seine Leute würden sich freuen, daß die Sahibs angekommen wären, die sie jetzt gleich bezahlen würden – denn hier zahlt man im voraus. Aber ich rate dir, ihnen nur den halben Lohn zu geben, denn sonst würden uns diese Spitzbuben nachts ausreißen und uns seelenruhig im Stich lassen!“ Auch der Major stimmte dem Rat des Völkerkundlers zu. „Die verlieren wahrhaftig keine Zeit!“ rief Kariven. „Gerade sind wir ausgestiegen, und da wollen sie schon Geld – für eine Arbeit, die sie noch nicht einmal angefangen haben!“ 29
Er zuckte die Schultern und brummte: „Sag dem Shikaris, daß wir heute abend einen Teil des Lohnes auszahlen.“ Nach vielem Hin- und Herreden und mit großem Stimmaufwand brachte der Shikaris Giudu Pemba schließlich seine Leute dazu, die Arbeit aufzunehmen. Unter der Aufsicht von Angelvin und Dormoy wurden die drei großen Kisten geöffnet. Sie waren zwei Meter breit und drei Meter lang und enthielten den auseinandergenommenen Hubschrauber. Kariven und Major Bruce beaufsichtigten den Transport der Treibstofftanks in den Flugzeugschuppen. Dann startete die viermotorige Maschine wieder und stieg unter den unruhigen Blicken der Tibetaner vom Boden auf. Ein unbeschreiblicher Berg von Brettern, Holzstücken und dem verschiedensten Material türmte sich in der Nähe des Hangars auf. Nach einigen Stunden war alles in Ordnung gebracht. Die Lebensmittel- und Treibstoffreserven waren sorgfältig in den Schuppen aufgeschichtet, während der „Bell“-Hubschrauber auf einer Freifläche stand und der Benutzung harrte. Michel Dormoy hatte gerade die kleinen tragbarem Sprechfunkgeräte fertig montiert, mit denen jeder Teilnehmer der Expedition ausgerüstet wurde, und war damit beschäftigt, die Geräte an der Radioeinrichtung des Hubschraubers auszuprobieren. Beunruhigt sahen Kariven und Angelvin Major Bruce zu, als er geheimnistuerisch den Verschluß eines Benzintanks löste, der hundert Liter Treibstoff enthielt. Ihre erstaunten Blicke folgten dem Major, der gerade mit dem Arm in die Öffnung hineinreichte. Er tastete eine Weile darin herum und zog dann einige flache Holzkästchen heraus. „Der Tank enthält also kein Benzin?“ fragte Kariven. 30
„Ich mußte ein bißchen mogeln“, gestand der Engländer lächelnd ein. „Unsere beiden Regierungen hatten uns bestimmte Waffen nicht genehmigt. Da ich die Gegend und die Gefahren kenne, denen wir entgegensehen müssen, hielt ich es für besser, mich darüber hinwegzusetzen und einige zerlegte ThompsonMaschinenpistolen heimlich mitzunehmen.“ Er öffnete eines der sechs Holzkästchen, setzte die Einzelteile zusammen und hielt plötzlich eine prächtige ThompsonSchnellfeuermaschinenpistole in der Hand. „Großartig! Sie wissen sich wirklich zu helfen, Major!“ beglückwünschte ihn Kariven. „Aber ich hoffe, daß Ihre Befürchtungen sich als grundlos herausstellen werden.“ Ein Ausruf von Michel Dormoy ließ sie herumfahren. Der Geophysiker stand aufrecht in der Kabine des Hubschraubers, dessen Plexiglaskuppel er zurückgeschoben hatte und schrie gestikulierend zu ihnen hinüber: „Kommt sofort her und hört zu! Ich habe gerade einen Sender, der in nächster Nähe stehen muß, und wißt ihr, was ich …“ Er unterbrach sich und stellte den Lautsprecher auf volle Stärke ein. Eine mächtige Stimme dröhnte aus dem Gerät: „Kariven! Trotz unserer Warnungen und trotz unserer bisherigen Vergeltungsmaßnahmen besteht ihr darauf, eure frevlerischen Pläne durchzuführen! Was ihr auch immer tut, nichts kann uns entgehen. Ihr habt versucht, uns zu täuschen, indem ihr euren Reiseweg gewechselt habt, doch ihr werdet die Verlorene Stadt nicht lebend erreichen. Ihr werdet alle sterben …“ Die geheimnisvolle Stimme verstummte, und das Gerät gab keinen Ton mehr von sich.
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3. Kapitel Trotz seiner Erregung über diese Drohung von unbekannter Seite rief Robert Angelvin: „Zweite, bearbeitete und erweiterte Auflage!“ „Dieser Funkspruch“, erklärte Kariven, „beweist uns wieder einmal, daß wir es nicht mit orientalischer Magie, sondern mit einer organisierten Gruppe zu tun haben, mit Skrupellosen, die zu allem entschlossen sind.“ „Sie kennen sogar deinen Namen“, trumpfte Dormoy auf, indem er aus dem Hubschrauber stieg. „Ich frage mich, was eigentlich diese geheimnisvolle Verlorene Stadt bedeutet und was sich wohl für wertvolle Dinge dort finden, daß man uns den Zutritt so streng verweigert.“ Kariven zog eine Grimasse. „Ich glaube nicht allzu stark an die Sage vom ‚Verborgenen Schatz’“, sagte er. „Auch wenn es noch so große Reichtümer wären, könnten seine Hüter nicht solche Mittel zur Verfügung haben: eine Sendestation, Unsichtbare und einen Todesstrahl …“ „Der Strahl!“ rief Angelvin. „Dieser sagenhafte Strahl, von dem die Amerikanerin sprach. Übrigens, was ist eigentlich aus ihr geworden? … Auf jeden Fall dürfte es nicht ratsam sein, uns in die Gegend von Tsak vorzuwagen, wo dieser Strahl die Transportmaschine herunterholte, die unseren Nachschub an Bord hatte.“ „Richtig!“ stimmte Kariven zu. „Unsere Gegner haben zweifellos eine Beobachtungsstation im Gebirge, und es wäre unsinnig, wenn wir dorthin zurückkämen und uns umbringen ließen. Ich würde eher vorschlagen, morgen früh im Jeep das Gelände nordöstlich von hier zu erkunden. Wir werden den Anweisungen der Handschrift folgen, und wenn wir die Höhlen finden, die auf der Karte eingezeichnet sind, dann kommen wir mit den 32
Trägern und Untersuchungsmaterial wieder zurück. Wir müssen die ganze Gegend durchforschen, sowohl in archäologischer als auch in geophysikalischer Hinsicht.“ * Major Bruce, Robert Angelvin und Jean Kariven waren schon seit einer Stunde unterwegs, als der Paß in Sicht kam, der auf der vergilbten Karte eingezeichnet war. Zwei Bergketten mit wildgezacktem Graten und schneebedeckten Gipfeln schienen sich an ihrem Fuß in einer Schlucht zu vereinigen – dem Engpaß von Kartsang-La, der aus der Feme äußerst schmal erschien, in Wirklichkeit jedoch zwei bis drei Meter breit sein mußte. Plötzlich zerrissen zwei ferne Gewehrschüsse die Stille der Ebene. Kariven nahm sein Fernglas hoch und suchte den Horizont ab. „Merkwürdig“, murmelte er, „ich sehe eine Gruppe von Leuten, die auf uns zu laufen.“ Bei diesen Worten brachte der Major drei Maschinenpistolen zum Vorschein und überprüfte rasch das Magazin, während Angelvin durch Funk Michel Dormoy benachrichtigte, der im Camp geblieben war. Kariven beobachtete weiter und sagte: „Sie sehen eigentlich mehr wie Ausreißer aus, nicht wie Angreifer, wenn man sie so ungeordnet daherstürmen sieht. Aber wir müssen natürlich auf alles gefaßt sein. Fahren wir ihnen also entgegen.“ Nach zwanzig Minuten war der Jeep, der auf dem Geröllboden hin und her geschüttelt wurde, bis auf zweihundert Meter an die Männer herangekommen. 33
„Es sind Tibetaner, einfache Träger, unbewaffnet und ohne Gepäck“, stellte Kariven fest. „Aber wohin laufen sie nur so rasch?“ Etwa ein Dutzend ärmlich gekleidete Eingeborene kamen im Laufschritt näher – sichtlich erschöpft und von Entsetzen gepackt. Als sie das merkwürdige Ding auf Rädern sahen, das auf sie zurollte, ohne daß ein Zugtier zu sehen war, stießen sie Schreckensschreie aus und zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. „Offenbar Leute, die noch nie in einer Autoausstellung waren!“ scherzte Angelvin. „Was für eine Angst haben wir ihnen mit unserem alten Jeep eingejagt!“ Beunruhigt suchte Kariven mit dem Feldstecher den Engpaß zwischen den beiden Gebirgszügen ab. „Diese Einfaltspinsel haben eine solche Staubwolke aufgewirbelt, daß ich kaum mehr etwas erkennen kann. Trotzdem kommt es mir so vor, als stände ein weiß gekleideter Mann mit ein paar Maultieren am Eingang der Schlucht.“ Angelvin entschied: „Das müssen wir uns einmal näher ansehen!“ Der Jeep beschleunigte sein Tempo, und eine halbe Stunde später hielten sie am Fuß des Gebirges mit den gezackten Steilgipfeln. Etwa acht schwerbeladene Maultiere standen geduldig wartend da und senkten die Köpfe zu Boden. Rings um sie lagen die Gepäckstücke verstreut, die von den Trägem vor ihrer Flucht abgeworfen worden waren. Plötzlich drang hinter einem Felsblock eine gebieterische, entschlossene Frauenstimme hervor: „Hände hoch! Keine Bewegung, sonst kann ich für nichts garantieren!“ Überrascht wandten sich die drei Männer um und betrachteten mit Erstaunen eine blonde, junge Frau in einer weißen Bluse und khakifarbenen Shorts. Sie trug kurze, rote Leder34
stiefel und einen Tropenhelm, den sie keck in den Nacken geschoben hatte. Eine Locke, die unter dem Helm hervorkam, fiel ihr über das rechte Auge und betonte ihre entschlossene Miene. Eine Schmalfilm-Kamera hing auf ihrer Brust. Ihre schmalen, festen Hände umspannt en einen „Winchester“-Karabiner, auf dem ein Zielfernrohr saß. Als Jean Kariven das Mädchen in diesem sehr nach Hollywood anmutenden „Wüstenaufzug“ sah, brach er in Gelächter aus und ließ die Arme sinken; bald folgten ihm Michel Dormoy und Robert Angelvin. Etwas aus der Fassung gebracht, kam die blonde Einzelgängerin näher und fragte, ohne ihre Waffe zu senken: „Wer sind Sie?“ Die drei Männer stellten sich vor, und Kariven fügte hinzu: „Miß Barbara Turner, wenn ich nicht irre? Der Pilot der Aufklärungsmaschine, der den Unfall der ‚Viermotorigen’ meldete, hat in seinem Bericht von ihnen gesprochen.“ Beruhigt hängte die Journalistin ihre „Winchester“ um und drückte den Männern die Hand. „Entschuldigen Sie diesen Empfang, aber nach dem, was geschehen ist, hatte ich das Recht, mich zu sichern.“ Auf die diesbezüglichen Fragen erklärte das Mädchen: „Ich wollte gerade in den Paß eindringen, als plötzlich ein riesiger, teuflischer Kopf zwischen den Felswänden im Leeren hängend erschien. Das … das Ding schwebte mit furchtbar verzerrtem Gesicht in der Luft und stieß ein Hohngelächter aus. Das mag Ihnen unglaubhaft erscheinen, aber ich habe es gesehen, mit meinen eigenen Augen gesehen! Der Kopf war etwa zehn Meter hoch und fünf Meter breit! Erschreckt warfen meine Träger ihre Lasten fort und ließen mich mit den Maultieren im Stich.“ 35
Ihr hübsches Gesicht spiegelte eher Zorn und Enttäuschung wider als Angst. „Ich gebe zu, daß es mir nicht ganz geheuer war, als ich sah, daß ich allein war, nahm ich ‚Fanny’ – meine Winchester – und schoß zweimal nach der scheußlichen Erscheinung. Der Kopf des Ungeheuers fuhr fort zu lachen – es klingt mir jetzt noch in den Ohren –, dann verschwand er mehr und mehr, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.“ Als man sie von den ähnlichen Erlebnissen der vier Forscher unterrichtet hatte, rief die junge Amerikanerin begeistert: „Ich werde eine sensationelle Reportage nach Hause bringen! Und wenn Sie erlauben, schließe ich mich Ihnen an.“ Jean Kariven seufzte, zögerte einen Augenblick und erklärte dann: „Ich sehe jedenfalls gar keine Möglichkeit, wie wir Sie daran hindern könnten. Und da wir uns jetzt um Sie kümmern müssen, ist es besser, wenn Sie gleich mit uns kommen!“ Barbara Turner sah Kariven kühl an und antwortete verärgert: „Davon scheinen Sie ja nicht gerade entzückt zu sein! Lassen Sie mich ruhig hier, ich werde meine Träger schon wieder zusammen bekommen.“ Kariven nahm sie beim Arm und schob sie mit sanfter Gewalt in den Jeep und erwiderte: „Nein, das möchte ich nicht, denn ich finde es immer lächerlich, wenn ein junges Mädchen blindlings in eine Gefahr hineinrennt – auch, wenn sie Reporterin der ‚Saturday Night4 ist!“ Die Amerikanerin setzte sich auf den Platz neben Angelvin. Beide sahen sich an. Der junge Völkerkundler machte eine resignierende Bewegung und sagte halblaut: „So will es unser Reiseleiter. Aber wenn es ihm auch unangenehm ist, so gilt das nicht für mich, Miß Turner!“ Barbara warf ihm einen prüfenden Blick zu, dann lachten beide laut. Der Jeep fuhr ab und ließ die Maultiere vor einer reichlichen 36
Futterportion zurück; später würde sich Gunga Shrino um sie und um das Gepäck der Journalistin kümmern. * Auf dem Rückweg überholte der Jeep die Träger, die die junge Amerikanerin im Stich gelassen hatten. Sie stellte sie zur Rede und schalt sie tüchtig aus, wobei sie ihnen mit allen bösen Geistern drohte, wenn sie nicht sofort ihre Arbeit wieder aufnehmen würden. Als sie ihre Herrin in diesem Teufelswerk auf Rädern sahen, begannen die abergläubischen Träger, die noch ganz unter dem Schock ihres Erlebnisses standen, ihre Klagen herunterzuleiern, wobei sie sich tief verneigten. Jeder versicherte sie seiner völligen Ergebenheit – und zuletzt verlangten sie alle eine wesentliche Lohnerhöhung, wie es bei den Eingeborenen üblich ist, wenn sie sich einem unvorhergesehenen Ereignis gegenübersehen, das sie den Göttern zuschreiben. Nach langem Hin- und Herreden ließen sie sich von ein paar Rupien schließlich dazu bestimmen, zurückzukommen und am Eingang des Passes auf ihre Herrin und die anderen Sahibs zu warten. Gunga Shrino würde noch am selben Abend dort eintreffen. So hatte sich Barbara Turner schließlich wegen ihrer Ladung und der Maultiere beruhigt und kam mit nach Khokhung-Tsaka. Michel Dormoy hielt sich trotz seines Erstaunens über die Ankunft der scharmanten Amerikanerin nicht mit langen Begrüßungsreden auf. Er saß gerade im Flugzeugschuppen an seinem Funkgerät und ging sofort zu einem weniger angenehmen Thema über. „Ich habe eine Sendung in unbekannter Sprache auf der gleichen Wellenlänge aufgefangen wie die Warnung, die wir gerade 37
bekamen. Ich konnte nur einige chinesische und tibetanische Namen unterscheiden, aber es war mir unmöglich, den Sinn dieser Meldung – denn es war bestimmt eine Meldung – zu verstehen. Sie wurde jedenfalls dreimal wiederholt. Ich habe sie mit dem Magnetophon aufgenommen. Hört zu!“ Michel Dormoy legte einen Hebel um, drehte am Lautstärkeregler, überprüfte die Modulation und wartete. Der rechteckige Koffer des Magnetophons funkelte im Licht der Azetylenlampe, die an der Wand hing. Von außen hörte man das Summen der Dynamos, die sämtliche Geräte speisten. Der magnetisierte Draht lief schnell von einer Spule auf die andere. Nach einigen Minuten fing der Lautsprecher an zu brummen, und eine rauhe Stimme ertönte. Robert Angelvin saß zusammengekauert vor dem Apparat und hörte aufmerksam zu. Barbara Turner, der Major. Kariven und Dormoy – letzterer überwachte das magische Auge und die Aussteuerung – gaben keinen Laut von sich. Gunga Shrino streckte schüchtern den Kopf durch die Tür und spähte nach dem Neuankömmling. Der Völkerkundler lauschte gespannt und schien von dem Inhalt der Meldung mehr und mehr überrascht zu sein, die er als einziger verstand. Eine Sorgenfalte stand auf seiner Stirn. Als die mit dem Magnetophon angenommene Stimme endlich schwieg, stand er langsam auf und erklärte bestürzt: „Wenn diese Meldung kein Scherz ist – und es sieht nicht danach aus –, dann sind wir der größten wissenschaftlichen Entdeckung aller Zeiten auf die Spur gekommen.“ „Hast du diese rätselhaften Worte verstanden?“ „Ungefähr, Kary. Der Sprecher benutzte tibetanisches Sanskrit, eine vergessene Sprache, die nur wenige Eingeweihte in den heiligen Klöstern von Lhasa beherrschen. Ein alter Einsiedler, dem ich vor zwei Jahren bei einer Studienreise in 38
der Provinz von Utsang das Leben rettete, hat mich diese uralte Sprache gelehrt. Kurz, die Meldung berichtet, daß ‚die Unbesiegbare Goldene Sonne’ in Bakrahna bereit ist, zuzuschlagen. Die Meldung, die wahrscheinlich an feindliche Agenten oder vorgeschobene Posten gerichtet ist, sagt: ‚Die Armee der Yetis’ – ich erinnere mich nicht mehr an die Bedeutung dieses Wortes – erwartet die letzten Befehle. Der Bau der ‚Ionosphärenraketen’ ist beendet. Die Geschwader stehen bereit, und die ‚Sieben Weisen’ werden bald über diese Welt herrschen.’ Es ist auch die Rede von Kuong-Ling-Tung, dem kommunistischen chinesischen Oberbefehlshaber, sowie von einem gewissen General Michailowitz Brodzky von der Roten Armee. Ich gestehe, daß ich Teile der Meldung nicht ganz verstehe, da meine Kenntnisse des tibetanischen Sanskrit ziemlich unvollkommen sind. Aber die Stellung dieses Generals Brodzky scheint undurchsichtig.“ Jean Kariven verzog den Mund und erklärte: „Zwei Dinge kommen mir in diesem Bericht merkwürdig vor. Wie kann in einer toten Sprache von einer ‚Ionosphärenrakete’ die Rede sein? Und vor allem, wie kann man von Geschwadern sprechen, wenn die ‚Ionosphärenraketen’ erst im Experimentalstadium sind? Soviel ich weiß, sind bisher nur ein Affe und zwei Mäuse mit diesen Raketen in USA befördert worden. Stimmt das?“ fragte er, indem er sich zu Barbara Turner wandte. „Ja, es stimmt“, bestätigte die Amerikanerin verwirrt. „Es ist so“, erklärte Angelvin, „mit ‚Ionosphärenraketen’ habe ich die Worte ‚Drachen mit Kriegern, die über der Luft fliegen’ oder etwas ähnliches übersetzt. Unzweifelhaft meinen diese Leute damit Maschinen, die oberhalb der Atmosphäre fliegen. Man muß also annehmen, daß sie bemannte Raketen besitzen, die wir, die ‚Kulturmenschen’, noch nicht kennen.“ 39
„Unmöglich!“ unterbrach ihn der Major. „Solange es sich um magische Erscheinungen oder sonstigen Teufelsspuk handelt, stimme ich Ihnen zu, weil ich die orientalische Einstellung kenne – aber Raketen? Überlegen Sie doch! Und selbst wenn es so wäre, was sollten sie damit anfangen?“ „Meine Sprachkenntnisse gehen nicht bis zur Hellsichtigkeit“, erwiderte ruhig der Völkerkundler. „Sie werden bemerkt haben, daß ich nur einen Teil der Meldung übersetzt habe und nach bestem Wissen und Gewissen nichts hinzugefügt habe. Viele Stellen sind noch rätselhaft; wir werden sie erst in Bakrahna klären können.“ „Schön! Wann brechen wir auf?“ fragte die blonde Amerikanerin, wobei sie ihre Winchester streichelte. Jean Kariven sah sie an und bemerkte ironisch: „Sie haben sicher viele Wildwestfilme gesehen, Miß Turner? Meinen Sie nicht, daß es angebracht wäre, reiflich zu überlegen, bevor man von Buffalo Bill träumt?“ „Träumen!“ entrüstete sie sich. „Hat Ihnen die Katastrophe der ‚Viermotorigen’ noch nicht die Augen geöffnet? Sehen Sie nicht ein, daß diese Leute … diese … unsere unsichtbaren Feinde uns beobachten und nur darauf bedacht sind, uns zu vernichten? Wir würden gut daran tun, noch heute nacht aufzubrechen, denn wir kämen am Morgen in Bakrahna an, statt noch mehr Zeit zu verlieren! Wer hier träumt, sind Sie!“ Die schlagfertige Antwort der Journalistin gab den anderen zu denken. „Wenn meine Träger und ich am Eingang des Passes diese scheußliche Erscheinung gesehen haben“, fuhr sie fort, „dann bedeutet das, daß uns eine in den Felswänden versteckte Wache beobachtet hat. Nachts kommen wir vielleicht unbemerkt durch.“ „Sie haben recht“, gab Kariven zu und sah seine Freunde an. „Was meint ihr dazu?“ fragte er schließlich. 40
Alle stimmten zu, und nachdem sie rasch eine ausgiebige Mahlzeit zu sich genommen hatten, bereiteten sie sich zum Aufbruch vor. Eine Trägerkolonne, beladen mit Lebensmitteln und Treibstoff, war schon vorher zu dem Paß aufgebrochen, wo sie in den frühen Morgenstunden ankommen würde. Dort sollten sich die Männer östlich vom Eingang der Schlucht verstecken und weitere Befehle abwarten. Um den Jeep möglichst zu erleichtern und ihm so einen größeren Aktionsradius zu geben, nahm der von Dormoy geflogene Hubschrauber einen Teil des Materials und vor allem die Waffen mit, die der Major über die Grenze geschmuggelt hatte. Als der Jeep mit abgeschalteten Scheinwerfern – auch Barbara Turner saß darin und drückte ängstlich ihre Kamera, Filme und die Winchester an sich – am Eingang des Passes angelangt war, fanden seine Insassen Gunga Shrino damit beschäftigt, den Trägern ins Gewissen zu reden, die beim Anflug des Hubschraubers geflüchtet waren. Die abergläubischen Tibetaner wurden von Entsetzen gepackt, aus sie dieses zweite, diesmal fliegende ‚Ungeheuer’ sahen. Sie halten geglaubt, die teuflischen Drohungen ihrer blonden Herrin würden nun in Erfüllung gehen! Der Mond erhellte die wüstenartige Landschaft mit fahlem Licht. In der kalten Nacht standen funkelnde Sterne, über dunklen, gezackten Gebirgskämmen. Heulende Windstöße, die Sand als Vorzeichen des Monsuns mit sich führten, peitschten gegen die Forscher an. Leise wurde der Hubschrauber in der Dunkelheit in eine Bodenvertiefung gezogen, eine natürliche Spalte, die etwa fünfzehn Meter breit war und in den Felsen einschnitt. Das Material, der Treibstoff und die Lebensmittel wurden ebenfalls darin aufgestapelt. Hier sollte ein Teil der Männer auf die Nachschubkolonne warten. 41
Die tragbaren Sprechfunkgeräte mit Trockenbatterie wurden verteilt und die im Jeep eingerichtete Weitstrahlstation auf die des Hubschraubers abgestimmt. Als alles befriedigend funktionierte, blieben Michel Dormoy und Gunga Shrino beim Hubschrauber zurück, während Kariven, Major Bruce, Angelvin und Barbara Turner in den schwerbeladenen Jeep stiegen. Das kleine Fahrzeug fuhr – immer noch mit abgeschalteten Scheinwerfern langsam in die Schlucht von Kartsang-La ein, die sich mehr und mehr verengte. Sie hatten die alte Karte vor der Abfahrt genau studiert und waren deshalb darauf schon gefaßt. In der Stille der Nacht erschien ihnen das Gebrumm des Motors so aufdringlich, als sei es höllischer Lärm. Das Stück Himmel, das sie über der tiefeingeschnittenen Schlucht sehen konnten, verengte sich immer mehr und wurde schließlich zu einem malvenfarbenen, hier und dort von glitzernden Sternen besetzten Band – von Sternen, die stumme Zeugen dieses gefährlichen Unternehmens waren. Sie fuhren durch das Bett eines ausgetrockneten Flusses, daher war der Boden völlig uneben. Der Jeep wurde nach allen Seiten geschüttelt, kletterte bald über einen Felsbrocken, bald hing er gefährlich über steilem abschüssigem Gelände und kam nur ganz langsam vorwärts. „In diesem Tempo“, brummte der Major, „werden wir das Endes dieses verteufelten Schachtes überhaupt nicht mehr zu sehen bekommen!“ „Geduld“, riet Kariven. „Nach der Karte müssen wir sofort in die Ebene kommen, wenn wir das Gebirge durchquert haben. Der Paß von Kartsanig-La ist nur acht Kilometer lang.“ Kaum eine Stunde später, nach zweiundzwanzig Uhr, wichen die Felswände auseinander, und die Ebene lag wieder vor ihnen – 42
düster, öde, ohne Leben – und im Hintergrund sah man eine zweite Gebirgskette. „O weh!“ seufzte Angelvin und versuchte, sich bequem auf seinem Platz einzurichten. „Das Straßenbauamt scheint in diesem verwünschten Land völlig zu streiken!“ „In der Ebene können wir dann schneller fahren“, versprach Kariven. „Noch sechzig Kilometer in nordöstlicher Richtung, und wir sind an dem Berg Sumne-Amne-La, der auf keiner Karte außer dieser alten zu finden ist. Der zweite und letzte Engpaß nach Bakrahna muß östlich vom ‚Drachenzahn’ liegen.“ „Um das zu verstehen, müßte man allerdings wissen, was ‚Drachenzahn’ bedeutet“, bemerkte Barbara Turner, die ihren Gefährten gerade Kaugummi anbot. „Nach dieser Karte“, erklärte Kariven, „ist es eine Felsspitze, die einem Drachenzahn ähnelt.“ „Sehr gut“, sagte die junge Amerikanerin grinsend, „und wir wissen ja alle, wie ein Drachenzahn aussieht.“ Amüsiert hörte Robert Angelvin den ziemlich süß-sauer anmutenden Redensarten zu, die sich Kariven und die hübsche Journalistin an den Kopf warfen. „Bis jetzt ist alles in Ordnung“, stellte er fest. „Hoffentlich werden wir uns nicht größeren Schwierigkeiten gegenüberseihen, als euren Debatten!“ * Wenn Robert Angelvin sich umgewandt und zu dem dunklen Engpaß zurückgeblickt hätte, würde er wohl kaum gesagt haben, daß alles in Ordnung sei. Inmitten der zerklüfteten Felsen wäre ihm etwas Ungewöhnliches auf gefallen. Oberhalb der Schlucht beherrschte ein großer, dreieckiger Turm aus Stahlträgern die verlassen daliegende Landschaft. 43
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Die Antenne eines Fernsehsenders ist in Tibet kein alltäglicher Anblick – und mit gutem Grund! Das Land kennt mit Ausnahme von Lhasa und einigen anderen Städten noch nicht einmal die Elektrizität. Diese „Städte“ sind noch lange nicht im Besitz der technischen Einrichtungen, die bei uns überall üblich sind. In Tibet ist ein Rundfunkgerät eine Sehenswürdigkeit, besser gesagt ein Luxusgegenstand, den sich nur besonders Begüterte leisten können und vor allem auch zu benutzen verstehen. Angelvin wäre auch über den Röhrenlift sehr erstaunt gewesen, der aus der schwindelnden Höhe des Senders auf dem Gipfel bis ins Herz des Gebirges hinabglitt, wo er schließlich vor dem Eingang eines riesigen betonierten Tunnels hielt. Die Schiebetür dieses Aufzugs öffnete sich und entließ einen Tibetaner mit rotem Gewand. Auf seiner Brust leuchtete eine goldgestickte Sonne. Der Mann nahm mit der Behendigkeit, wie sie nur tägliche Gewohnheit verleiht, in einem merkwürdigen doppelsitzigen Fahrzeug Platz, das wie eine Verbindung von Roller und Automobil aussah, und setzte es geräuschlos in Bewegung. Unter dem seltsamen Gefährt glitt eine Metallzunge auf der Mittelschiene entlang, wobei violette Funken nach allen Seiten sprühten. Dreihundert Meter oberhalb des Tunnels erhob sich die Sendestation auf dem Felsgrat. Von dort war ein schwaches Maschinengesumm zu hören. Ein Tibetaner, der wie sein Vorgänger einen roten Umhang mit dem Zeichen der goldenen Sonne darauf trug, bediente aufmerksam die zahlreichen Knöpfe und Hebel einer Schalttafel. Seine wachsamen Augen ruhten auf einem Fernsehschirm, der nun zu flimmern begann. Ein Ausschnitt der Wüstenebene, 45
die unter den bleichen Strahlen des Mondes lag, wurde darauf sichtbar. Jeder Besitzer eines 819-Zeilen-Fernsehgerätes wäre über die im Mondlicht sich abzeichnenden Halbschatten in helle Begeisterung geraten, vor allem über die erstaunliche Bildtiefe, welche alle Erhebungen hervortreten ließ. Ist es überhaupt denkbar, daß all dies nicht auf einem anderen Planeten, sondern auf unserer Erde und noch dazu in einer unzivilisierten Gegend geschah? Nachdem der Tibetaner das Gerät eingeschaltet hatte, ließ er das, was ihn interessierte, auf dem Bildschirm erscheinen. Wie war es möglich, daß der Jeep ohne das Vorhandensein einer vor ihm stehenden Fernsehkamera auf der Bildfläche erscheinen konnte? Westliche Techniker hätten es nicht erklären können. Es war Tibetanern, also rückständigen und abergläubischen Wesen gelungen, etwas zu erfinden, wonach alle Wissenschaftler der Welt verzweifelt suchten: aus der Ferne eine Aufnahme zu machen und zu senden, ohne daß eine Kamera vor dem aufzunehmenden Gegenstand stehen mußte. Das Bild erschien sauber und klar, ohne das vibrierende Zittern der Bildzeilen, das unsere Fernsehgeräte kennzeichnet. Der Jeep schien zum Greifen nahe herangerückt. Seine Insassen fuhren ihrem Schicksal entgegen, ohne im Entferntesten zu ahnen, wie genau sie beobachtet wurden. Der Gelbe lächelte. Er drehte an einem der Schaltknöpfe, und der Jeep verschwand vom Schirm, um einem anderen, diesmal farbigen Bild Platz zu geben. Nun erschien ein runder Raum – offenbar eine Befehlsstation mit metallischen Wänden, an denen Handräder, Schalter, Hebel und Kontrolluhren zu sehen waren. Ein Mann in der gleichen Kleidung überwachte diese Geräte. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf eine große Bildwand, 46
die ständig wechselnde Szenerien zeigte: Das Innere eines Tempels, Laboratorien, Lamaklöster – schließlich sogar die belebten Straßen einer europäischen Stadt! Der Tibetaner wandte sich um und machte einige Schritte. Sein Bild vergrößerte sich auf dem Schirm der Sendestation, die über der Schlucht verborgen war. „Lukden?“ rief der Beobachter. „Ein Jeep mit vier Weißen – drei Männern und einer Frau – kommt auf den Drachenzahn zu. Sie sind bewaffnet, haben jeder ein Sprechfunkgerät und kommen gerade aus dem Engpaß von Kartsang-La. Wir haben sie nicht vor morgen früh erwartet. Kora Topki ist sofort nach Bakrahna zurückgefahren. Er besichtigte gerade meine Fernseheinrichtung, als wir die Weißen entdeckten. Überwache den Eingang des Engpasses von Danka-Kilong. Du weißt, was du zu tun hast, wenn sie einfahren!“ * Der Jeep fuhr langsamer. Der mächtige Gebirgsstock von Sumne-Amne-La stieg vor ihnen auf wie eine unüberwindliche Barriere. „Der Engpaß von Danka-Kilong muß einige Kilometer östlich liegen“, bemerkte Kariven. „Wir werden in weniger als einer Stunde dort ankommen, aber wenn wir in diesen Felskorridor eindringen, werden wir äußerst vorsichtig sein müssen.“ Die Hinweise der Karte erwiesen sich als zutreffend. Zwölf Kilometer östlich lief eine zweite Schlucht durch das Gebirge, die noch dunkler und enger war, als der Paß von Kartsang-La. Der Jeep fuhr langsam in den Gang ein, der mit einer scharfen Kurve begann. Von da an schien der Mond bis auf die Sohle des Passes herab. Der Boden erschien wesentlich ebener, und die Insassen des Wagens atmeten erleichtert auf, als das Rütteln 47
ihres Fahrzeuges nachließ. Die Fahrt über das Wüstengeröll war sehr unangenehm gewesen. Robert Angelvin schaltete den Sender im Jeep ein und rief Michel Dormoy an. Nach mehreren Versuchen drang die Stimme des Geophysikers schwach und wie aus großer Entfernung an sein Ohr. Die Gebirgslandschaft mit ihren tiefeingeschnittenen Tälern wirkte sich für die Funkverbindung hinderlich aus. Angelvin berichtete Dormoy und gab ihm die Position durch. Er wollte gerade abschalten, als ein scharfes, metallisches Knirschen ertönte und unheilverkündend im Paß hinter dem Fahrzeug widerhallte. Beunruhigt wandten Kariven und seine Freunde sich um und verharrten starr vor Erstaunen. Ein hohes Stahlgitter trat aus der einen Felswand hervor und rollte wie auf Schienen zur gegenüberliegenden Wand, in die es sich einfügte. Der Paß von Danka-Kilong war geschlossen, und damit wurde jede Flucht in südlicher Richtung in „zivilisiertere“ Gegenden unmöglich. Niedergeschmettert erklärte Angelvin Dormoy kurz, was geschehen war, dann bat er ihn, jede halbe Stunde fünf Minuten lang auf Empfang zu schalten, um so die Batterien des Hubschraubers nicht allzu stark zu beanspruchen. In diesem Augenblick klang wildes Geröchel durch die Nacht; dieses schreckerregende Geräusch rückte näher und kam schließlich bis auf ein paar hundert Meter an den Jeep heran.
4. Kapitel Kariven bremste jäh. Der Jeep stoppte auf der Stelle und schüttelte seine Insassen durcheinander. Wieder war ein rauhes, 48
langgezogenes unheilverkündendes Heulen zu hören. Es kam immer näher, und auf das Gebrüll folgte dumpfes Schnauben. Während Major Bruce die Thompson-Maschinenpistolen verteilte, schaltete Kariven den Scheinwerfer an und versuchte, im Jeep aufrecht stehend, die Dunkelheit zu durchdringen. Etwa zwanzig glänzende Augen funkelten unter dem Lichtstrahl auf. Erstaunt riefen die in dem Engpaß gefangenen Forscher wie aus einem Mund: „Tiger!“ „Säbelzahntiger!“ betonte Robert Angelvin. „Es müssen mindestens zehn sein – und die Größe! Ich habe noch nie so mächtige Exemplare gesehen. Sie sind gut vier Meter lang.“ Aber trotz ihrer Unerschrockenheit schmiegte sich Barbara Turner eng an Robert Angelvin. Der Major umklammerte seine Maschinenpistole mit beiden Händen; er stand unbeweglich, die Augen fest auf die riesigen Katzen gerichtet. Diese fühlten sich von dem blendenden Strahl des Scheinwerfers belästigt und ließen ein dumpfes Knurren hören, kamen aber dennoch immer näher heran, wobei sie den Kopf nach links und rechts wandten. „Weiße Tiger!“ stammelte der Major. „Riesentiger, die wahrscheinlich aus der Mandschurei oder aus Sibirien kommen. Man hat noch nie von so schreckenerregenden Tieren gehört. Der größte Tiger, der bis jetzt offiziell erlegt wurde, war etwa dreieinhalb Meter lang und wog ungefähr zweihundertsiebzig Kilogramm!“ „Diese Tiere hier müssen mehr als vier Meter lang sein und etwa dreihundertfünfzig Kilogramm wiegen!“ bemerkte Kariven und faßte seine Waffe fester. „Achtung!“ schrie Barbara und sprang auf. Sie legte ihre Winchester an und feuerte dreimal. Ein Säbelzahntiger, der sich im Schatten verborgen hatte, war mit einem Sprung auf den 49
Jeep zugeschnellt. Durch die Augen geschossen fiel er schwer zu Boden. Die Geschosse der Winchester waren ihm in den Schädel gedrungen. „Tot sieht er noch größer aus als lebendig!“ stellte Angelvin lächelnd fest. „Sie schießen ausgezeichnet, Barbara.“ „Ich glaube, wir werden genügend zu tun haben!“ stieß Kariven hervor und preßte den Kolben der Maschinenpistole enger an sich. „Die Tiger kommen näher. Sie scheinen keine Angst vor dem Scheinwerfer zu haben.“ Mit wiegendem Kopf nahten die neun Ungeheuer, wobei sie ein Geknurr hören ließen, das selbst dem kaltblütigsten Jäger Schauer über den Rücken gejagt hätte. Es sah aus, als wollten die Tiere den Wagen umzingeln. Eines davon blieb einen Augenblick vor der Leiche stehen, beschnupperte sie und schlich dann mit einem Umweg auf die Menschen zu; von Zeit zu Zeit schloß es seine übergroßen Augen. „Da es so viele sind, dürfen wir sie nacht zu nahe herankommen lassen, sonst können wir nicht mehr zielen“, flüsterte Kariven. „Nanu“, wunderte er sich, „zwei sind ja plötzlich verschwunden!“ Aufs höchste gespannt, starrten unsere Freunde in die Dunkelheit; Unruhe ergriff sie, und sie waren auf alles gefaßt. Die beiden Säbelzahntiger hatten sich seitwärts entfernt, waren über Geröll geklettert und glitten nun hinter einen Felsblock, um den Jeep von hinten zu überfallen. Leise und vorsichtig umkreisten sie den Felsen und stiegen den Abhang hinab. Kariven blickte gerade nach links, um ein besonders verwegenes Tier im Auge zu behalten. Da fiel sein Blick auf den Rückspiegel, und er sah, wie zwei Riesentiger auf den Jeep zusprangen. Er stieß einen Schrei aus und feuerte eine Salve über den Kopf des Majors hinweg. Überrascht ließ der sich auf den Bo50
den des Wagens fallen. Von Kugeln durchbohrt, stürzten die beiden Tiger auf den hinteren Teil des Jeeps. Unter ihren Krallen und den Zähnen, die scharf wie Rasiermesser waren, zerriß das Klappdeck von oben bis unten. In einer letzten Zuckung des Todeskampfes schlug der eine von ihnen noch einmal mit der Tatze zu. Der Reifen des Reserverades explodierte. Kautschukmantel und Schlauch waren bis auf die Felgen zerfetzt und gähnten auseinander wie die Überbleibsel eines alten Schuhs. „Ich werde einfach losfahren und die Tiere dadurch auseinandertreiben!“ entschloß sich plötzlich Kariven. „Der Boden ist hier ziemlich eben, und während ich fahre, könnt ihr alle feuern. Aber vor allem duckt euch! Fertig?“ „Los!“ schrie Barbara und legte an. Die Thompson-Maschinenpistolen ließen ihr trockenes Geknatter hören und übertönten die Winchester immer wieder. Die Tiger waren von diesem Angriff überrascht und zögerten einen Augenblick – und das wurde ihnen zum Verhängnis. Taumelnd stürzten sie zu Boden und blieben unbeweglich liegen. Der Jeep preschte mit Vollgas vorwärts. Der hintere Kotflügel stieß gegen einen Tiger und verbog sich bei diesem Anprall. Das verletzte Tier stieß ein wütendes Knurren aus und stürzte sich auf die Flüchtigen. Eine zweite Salve streckte es nieder. Die beiden übriggebliebenen Ungeheuer sprangen mit einem Satz zur Seite, wobei sie den Jeep um Haaresbreite streiften, und verfolgten den Wagen mit großen Sprüngen. Barbara Turner richtete einen Scheinwerfer auf die blutdürstigen Raubkatzen. Die roten Augen der Tiere funkelten wie Feuerbrände, aus dem weitoffenen Maul kam dumpfes Röcheln, und zwei lange, gebogene Eckzähne drangen zwischen ihre Lefzen hervor. 51
Der Major und Robert Angelvin zielten auf sie und feuerten gleichzeitig. In der tiefen Schlucht hallten die Schüsse noch lange nach. Getroffen hielten die beiden „Könige des Dschungels“ inne, machten noch einige Bewegungen auf ihre Beute zu, die sich immer mehr von ihnen entfernte und brachen schließlich zusammen. Im Liegen röchelten sie noch ein letztes Mal, und ihr Kopf senkte sich zu Boden, um sich nicht wieder zu erheben. Die Pranken hörten auf zu schlagen. Einige Blutstropfen sickerten auf ihr weißes, streifenloses Fell, das genauso aussah, wie es von den wenigen Forschungsreisenden beschrieben wurde, die diese überaus seltenen Tiere im unerforschten Asien bisher zu Gesicht bekommen hatten: weiße Riesentiger mit Säbelzähnen, ‚Menschenfresser’, Schrecken der primitiven Völker, in deren Augen sie als sagenhafte Ungeheuer erschienen. Immer mehr verlangsamte der Jeep seine rasende Fahrt. Jean Kariven wischte sich über seine schweißbedeckte Stirn. „Ich frage mich, von was diese Riesentiere wohl in einem so verlassenen Landstrich leben?“ sagte der Major. „Außer wenigen wilden Wüstenhunden wüßte ich nicht, was sie zum Fressen finden könnten. Dabei sehen sie doch ganz wohlgenährt aus!“ „Sie leben nicht in Freiheit“, antwortete Kariven. „Sie müssen aus einem geschlossenen Zwinger herausgelassen worden sein, der irgendwo in die Schlucht mündet. Daran gibt es gar keinen Zweifel, und das Stahlgitter hinter uns spricht auch dafür.“ „Was für eine wunderbare Jägerbeute“, seufzte die amerikanische Journalistin. „Wie schade, daß ich den Angriff dieser Ungeheuer nicht von Anfang an filmen konnte. Ich habe nur ein paar ganz zweitrangige Aufnahmen machen können.“ „Ich bitte Sie um Entschuldigung“, warf Kariven ironisch 52
ein. „Am besten hätten wir Sie wohl auf unserem ersten Platz zurückgelassen, damit Sie Ihren Artikel schreiben konnten!“ Barbara Turner wollte gerade etwas erwidern, als ein scharfes Knirschen, das sie diesmal sofort wieder erkannten, hinter ihnen ertönte. Kariven stoppte. Wie er erwartet hatte, fügte sich gerade ein riesiges Stahlgitter, das aus einer Felswand hervorgetreten war, in die gegenüberliegende ein. „Fängt denn das schon wieder an!“ schimpfte Angelvin. „Was haben sie sich denn diesmal ausgedacht? Wilde Büffel oder hochmütige Elefanten?“ Jean Kariven griff nach seinem Feldstecher und spähte in den Engpaß, der geradlinig vor ihnen lag. Der Mond verschwand eben hinter den Gebirgskämmen, und seine bleiche Helligkeit verriet nichts Außergewöhnliches. Der Boden war glatt und mit Kies bedeckt. Die steilen Felswände schienen keine Gefahren zu bergen. Angelvin sah nach seiner Uhr und schaltete das Funkgerät ein. Bald war die Verbindung mit Michel Dormoy hergestellt Dieser hörte den Bericht des Völkerkundlers an, doch bevor er antworten konnte, bat ihn Angelvin auf Karivens Veranlassung, auf Empfang zu bleiben. Etwa zwanzig Meter vor dem Jeep lief ein Flämmchen über die Sohle der Schlucht. Mit einem Schlag verwandelte sich die merkwürdige Erscheinung in eine prasselnde Flammenwand, deren Feuerzungen auf das Fahrzeug zu kamen. Kariven fuhr sofort rückwärts, aber er konnte nicht weiter, da das zehn Meter hohe Stahlgitter ihm den Weg versperrte. Alle hoben die Augen. Es war unmöglich, über das hohe Gitter zu klettern, auf dessen Stäben etwa zwei Meter über dem Boden scharfgeschliffene Metallspitzen saßen, die nadelfein zuliefen. Am Mikrophon schilderte Angelvin Michel Dormoy die Lage. 53
Dieser kündigte ohne Zögern an: „Bleibt zusammen! Ich starte sofort und bringe euch nach Hause!“ „Du kannst mit dem Ding nicht bis zu uns herunterkommen. Die Schlucht ist zu eng!“ „Ich bin schon abgeflogen“, stieß Dormoy hervor. „Mit der Strickleiter aus Nylon kann ich euch herausziehen. Ihr seid ungefähr siebzig Kilometer von meiner jetzigen Position entfernt. In einer halben Stunde bin ich bei euch.“ Die Feuersbrunst schnitt ihnen den Weg ab und ließ rote Lichtreflexe über die Felswände spielen. Auf dem Boden tanzten die Schatten des Jeeps und seiner Insassen. Das Prasseln der Flammenwand übertönte fast die Stimme der Forscher. „Ich verstehe nicht, wo die Flammen so plötzlich herkommen!“ schrie Angelvin, um verstanden zu werden. „Seitdem wir in dieses Abenteuer geraten sind“, wetterte Kariven, „kommen wir aus den Fragen nach ‚Warum’ und ‚Wieso’ überhaupt nicht mehr heraus! Dieser Feuervorhang ist dadurch entstanden, daß irgendwelche Unbekannten, denen wir ungelegen kommen, einen rauch- und geruchlosen chemischen Brennstoff aus der Ferne angezündet haben.“ „Unbekannte, die Riesentiger zur Verfügung haben und von deren Technik wir uns eine Scheibe abschneiden können! Kann man sich überhaupt vorstellen, daß es im Herzen von Tibet rollende Stahlgitter gibt, die automatisch in Bewegung gesetzt werden?“ „Diesen Leuten stehen offenbar außergewöhnliche technische Mittel zur Verfügung“, überlegte Kariven. „Es geht in Frankreich wie in USA über die augenblicklichen Möglichkeiten hinaus, ein Flugzeug mit einem Strahl abzuschießen. Was mich beunruhigt, ist, daß sie uns nicht gleich umgebracht 54
haben, sondern zuerst Tiger und jetzt ein Höllenfeuer auf uns loslassen.“ „Die Feuerwand ist unbeweglich“, stellte Barbara Turner fest. „Solange wir uns in sicherer Entfernung halten, kann sie uns nicht gefährlich werden. Die Flammen steigen zwar sehr hoch, und die Luft wird heißer, aber der Brandherd steht still. Will man uns nur zwischen dem Feuer und dem Gitter gefangenhalten oder … uns vor Schrecken sterben lassen? Da hätten sich die Herrschaften in uns getäuscht!“ Kariven überlegte. Irgend etwas in dem Verhalten der beunruhigenden Meister von Bakrahna stimmte nicht. „Der Hubschrauber!“ schrie Major Bruce, als er ein Surren hörte, das näher kam. Angelvin stülpte sich den Kopfhörer über und rief Michel Dormoy an. Dieser stieg über die Schlucht hinunter und blieb dann mit dem Flugzeug fünfzig Meter über dem Jeep in der Luft stehen. „Ich kann nicht näher herankommen“, sagte er über Funk. „Aber meiner Ansicht nach könntet ihr versuchen, durch die Feuerwand zu fahren. Sie ist nicht einmal zwei Meter breit. Danach sieht die Schlucht wieder normal aus. Also, was wollt ihr tun?“ Die drei Männer und die junge Journalistin berieten sich und entschlossen sich endlich zu Michel Dormoys Vorschlag. „Wir werden mitten durchfahren, Mike. Wenn du das Feuer schlecht geschätzt hast, wird es hinterher angebrannt riechen. Ich schalte jetzt ab. Auf Wiedersehen in fünf Minuten.“ Alle kauerten sich im Wagen eng zusammen und zogen eine Plane über den Kopf. Kariven setzte sich ans Steuer, der Motor heulte auf, und als der Wagen die fünfzehn Meter bis zum Feuer zurückgelegt hatte, brauste er mit fünfundneunzig Stundenkilometern mitten hindurch. 55
Ein glühender Hauch streifte über die Insassen; unerträgliche Hitze legte sich auf sie, und ihre Augen begannen zu schmerzen. Das Ganze dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde – aber für sie schien dieses Zirkuskunststück eine nicht endenwollende Ewigkeit. Sie fanden sich hinter dem Flammenvorhang wieder und sahen, wie noch einige Funken hinter dem Wagen hersprangen. „Hurra!“ schrie Barbara in das Mikrophon, wandte sich um und fiel Angelvin um den Hals. Der junge Völkerkundler war angenehm überrascht, ließ aber dennoch nicht die Funkverbindung außer acht. Er stellte das Gerät an und sprach ins Mikrophon: „Hallo, Mike! Alles ist gut gegangen. Begleitest du uns und fliegst hinter uns her? … Danke, Mike. Sei vorsichtig und halte dich hinter uns. Du siehst ja an unseren Scheinwerfern, wo wir sind, denn da man uns jetzt entdeckt hat, können wir sie ruhig benützen. Wenn die Schlucht zu Ende ist, kannst du ja je nach den Umständen landen.“ Der Jeep fuhr zunächst langsam weiter, beschleunigte aber dann sein Tempo. Sie beeilten sich, aus diesem unangenehmen Engpaß hinauszukommen, wo ihnen hinter jedem Felsblock eine Gefahr zu drohen schien. „Ich habe den Eindruck“, bemerkte Jean Kariven, „daß der Weg merklich besser wird.“ Er beugte sich aus dem Wagen und stellte fest, daß der Kies verschwunden und eine geteerte, ebene Straße mit leichter Neigung an seine Stelle getreten war. Der Boden wurde immer abschüssiger, und Kariven mußte bremsen. Plötzlich stoppte der Jeep – zwei Meter vor ihm öffnete sich mitten in der Schlucht ein tiefer Graben. Im gleichen Augenblick folgte das charakteristische Knirschen dem Geräusch der quietschenden Reifen. Ein drittes Stahlgitter schloß sich, und sofort schob sich eine dichtschließende Panzerwand davor. 56
„Das geht ja schon wieder los!“ erregte sich Robert Angelvin und ergriff mit der einen Hand seine Maschinenpistole, während er mit der anderen den Kopfhörer aufsetzte, um Michel Dormoy zu warnen. Plötzlich öffnete sich an jeder der beiden Felswände eine riesige Steinplatte, und eine kreisförmige Öffnung von drei Meter Durchmesser wurde sichtbar. Einige Sekunden später ertönte ein dumpfes Rauschen, aus den beiden Öffnungen schoß ein brausender Wasserstrom und stürzte in den Graben. Die beiden Sturzbäche flössen ineinander und bildeten zwei tosende Wasserfälle. Kariven schaltete den Scheinwerfer ein. Der Graben erstreckte sich über die ganze Breite der Schlucht. Er war etwa zehn Meter breit und fünf Meter tief und bildete so ein unüberwindliches Hindernis für den Jeep. Auf der anderen Seite stieg die Fahrbahn steil an und schien sich dann horizontal fortzusetzen. Da die Forschungsreisenden wie in einer Schüssel saßen, konnten sie nicht über den jenseitigen Rand hinaussehen. Verwirrt und geängstigt starrten sie auf den Wasserschwall, der jetzt über die Ränder des Grabens trat und schon bis zu den Vorderrädern herangekommen war. Kariven fuhr langsam rückwärts, aber bald mußte er halten, denn die Stahltür versperrte ihm den Weg. „Diesmal ist die Sache ernst“, knurrte der Major. „Wir müssen aus dem Jeep heraus und schwimmen!“ „Wir haben ein kleines Schlauchboot“, bemerkte Kariven. „Aber selbst wenn wir es aufblasen können, bevor uns das Wasser am Hals steht, hilft es uns nicht viel, denn mehr als unsere Waffen und das unbedingt Notwendige kann es nicht fassen.“ Fieberhaft bemühten sie sich, das Boot aus der Hülle zu zie57
hen; dann machten sich Angelvin und der Major rasch daran, es mit einer Luftpumpe aufzublasen. Als es schließlich soweit war, stand den „Schiffbrüchigen“ das Wasser schon bis zu den Knien. Die Sturzbäche schienen überhaupt nicht mehr versiegen zu wollen. Das Rauschen schwoll stetig an, und das kalte Wasser stieg immer höher. Während der Arbeit wateten die drei Männer und das Mädchen bis zu den Schenkeln in dem eiskalten, dunklen Naß. Im Schlauchboot häuften sich Waffen und die unentbehrlichste Ausrüstung auf. Sprechfunkgeräte, Revolver, Winchester, Maschinenpistolen, Kompasse, elektrische Stablampen, Lebensmittel und andere unbedingt notwendige Gegenstände. Auch die Kamera mit einigen Filmen wanderte trotz Karivens Protest in das Boot. Als es voll beladen war, stand das Wasser schon am Armaturenbrett des Jeeps und durchnäßte die Batterie des Funkgerätes, was Angelvin, der gerade mit dem Hubschrauber sprach, einen Fluch ausstoßen ließ. Der Heliokopter schraubte sich in die Höhe und beobachtete von dort aus alles, was geschah. Michel Dormoy würde auf ein entsprechendes Signal sofort die Nylonseile herunterlassen. Der Major und Kariven zogen ihre Stiefel aus, stürzten sich entschlossen in das eiskalte Wasser und schoben das Boot vor sich her. Angelvin und Barbara Turner schwammen hinterher. Einige Minuten später kletterte die kleine Gruppe am Steilhang der anderen Seite des Grabens hinauf. Alle waren bis auf die Haut durchnäßt. Wie durch ein Zauberwort verstummte das Rauschen der Sturzbäche. Das Wasser aus den Öffnungen versiegte. Die Stille legte sich drückend auf sie. In dem Engpaß fiel der Wasserspiegel rasch. Bald waren 58
die feuchtrieselnden Wände des sich entleerenden Grabens zu sehen, und in den vier Ecken sah man deutlich die Abflußlöcher. Schlagartig hob sich vibrierend die betonierte Sohle des Grabens und stieg langsam in die Höhe, um sich schließlich wieder dem Boden anzugleichen. Die Fahrbahn sah nun wieder aus wie vorher. Die vier unfreiwilligen Schwimmer lösten sich aus ihrer Erstarrung, und gerechter Zorn überkam sie. „Zum Teufel!“ wetterte Angelvin. „Erst verwandeln wir uns in Amphibien, und hinterher ist alles umsonst gewesen! Jetzt können wir den Jeep holen und alles wieder umladen … wenn der Motor überhaupt noch anspringt!“ „Aber wozu diese ganzen Mutproben?“ äußerte mißmutig die junge Amerikanerin, deren nasse Kleider am Körper klebten und eine sehr gute Figur verrieten. „Mutproben!“ wiederholte Kariven und sah das Mädchen an, das wie er und seine Freunde mit den Zähnen klapperte. „Sie haben genau das richtige Wort gefunden. All das sieht aus wie eine Reihe von Erprobungen, wie sie bei den Einweihungsriten der Lamas üblich sind. Zuerst die Säbelzahntiger, um unsere Selbstbeherrschung und unseren Mut auf die Probe zu stellen. Danach die Feuerprobe, dann das Wasser und bald wird zweifellos das vierte Element, die Luft, folgen. Denn die Eingeweihten werden auch in der Luft oder im freien Raum auf die Probe gestellt.“ „Man wird uns also in die Luft schleudern – oder vielleicht auf den Mond?“ scherzte Angelvin. „Ich weiß es nicht, aber ich möchte wetten, daß uns noch eine letzte Überraschung dieser Art erwartet.“ Während Kariven den Motor des Jeeps nachsah, versuchte Angelvin, die Wasserschäden am Funkgerät zu beheben, das glücklicherweise tropenfest war. Die Batterie wurde getrock59
net und ihre Isolation überprüft. Nachdem Kariven die Kerzen gereinigt und die wichtigsten Teile des Meters nachgesehen hatte, drückte er die Zündung. Der Motor hustete, spuckte und ließ einige Fehlzündungen hören, doch dann sprang er an und lief. „Gottlob war der Motor nur kurze Zeit unter Wasser, sonst wäre nichts mehr zu machen gewesen. Unser Schutzüberzug hat sich gut bewährt.“ Die Funkstation im hinteren Wagenteil war vom Wasser verschont geblieben. Nur die Batterien mußten ausgewechselt werden, was sofort geschah. Alle Reserveteile waren in wasserdichten Plastikhüllen verpackt. Eine Viertelstunde später hatte der Jeep die Ladung aus dem Schlauchboot übernommen, und die Funkverbindung mit dem Hubschrauber wurde wieder hergestellt. Beruhigt setzte Dormoy seinen Erkundungsflug fort, doch da ihm der Treibstoff ausging, mußte er umkehren und tanken. Er kündigte seinen Freunden im Wagen an, daß er sobald als möglich nach kommen und sie bis zum Ausgang des Passes wieder eingeholt haben würde. Starr und steif vor Kälte zogen die Expeditionsteilnehmer ihre nassen Kleider aus, rieben sich gegenseitig mit Alkohol ab und zogen schließlich gefütterte Lederjacken aus Beständen der britischen Luftwaffe an; dazu warme dicke Uniformhosen aus Baumwollstoff. Danach fühlten sie sich gleich wesentlich wohl er. Auch in diesem Aufzug, dazu noch die Kamera und die Winchester in der Hand, sah die blonde Amerikanerin nicht weniger hübsch aus als zuvor. Sie erwiderte Robert Angelvins Lächeln, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, mit ihr zusammen zu sein. „Hängt eure Schießprügel über die Brust und steigt ein“, be60
fahl Kariven. „Schließlich wollen wir hier ja nicht Wurzel schlagen.“ Der erste Schein der heraufkommenden Morgendämmerung wurde über den Gebirgskämmen sichtbar. Unbehindert rollte das kleine Fahrzeug dahin. Etwa fünfhundert Meter weiter nordöstlich bog der Paßweg scharf ab. Nach der alten Karte mußte er auf eine weite Talmulde führen. Kariven gab Gas, als wolle er dem unheildrohenden Dunkel der Schlucht entfliehen. Bedeutete das Ende dieser Strecke für sie nicht Tageslicht, freien Raum und vor allem das Ende ihrer Ungewißheit? Der Jeep ging in die Kurve. Plötzlich lag in dem natürlichen Rund, das von der Sohle eines früheren Kraters mit steilen Wänden gebildet wurde, Bakrahna vor ihnen. Die sagenhafte Verlorene Stadt, von der viele Legenden erzählten, erglänzte unter den Strahlen der aufgehenden Sonne. Wie eine Märchenstadt aus „Tausendundeine Nacht“ bot Bakrahna mit seinen Tempeln, die mit massiven Goldskulpturen verziert waren – furchtbaren Dämonen und fratzenschneidenden Gottheiten –, mit seinen imposanten Klöstern, den Festungen mystischer Weisheit, einen wahrhaft überwältigenden Anblick. Die vier Forscher trauten ihren Augen nicht und hielten den Atem an. Doch was sie am meisten in Erstaunen geraten ließ, so daß sie stehen blieben und nur noch darauf hinstarrten, war die Unzahl riesiger, raketenförmiger Maschinen, die rings um die Stadt sowie auf einem ungeheuren kreisförmigen Flugplatz aufgestellt waren! Die spindelförmig auslaufenden Rümpfe endeten in Radarantennen. Über die ganze Länge des Rumpfes zog sich eine Reihe von Luken und erstreckte sich bis zum Leitwerk, das deltaförmig gebildet war. Dichte Reihen von riesigen Leitungsmasten, welche Hochspannungsleitungen trugen, zogen sich durch die Talmulde, die 61
gut zehn Kilometer weit sein mußte. Die Masten stiegen den Hang dieses grandiosen Amphitheaters hinan und endeten in einem riesigen, in die Felswände eingelassenen Gebäude, das die ganze Stadt beherrschte. „Großartig!“ rief Barbara. „Als Märchenstadt könnte man sich Bakrahna gar nicht schöner vorstellen, als es aussieht.“ Kariven und seine Freunde stiegen aus dem Wagen und schritten langsam an der Felswand entlang, die in den riesigen Krater mündete. Sie wollten sich mit dem Jeep nicht allzu unvorsichtig im freien Gelände sehen lassen. Plötzlich ließ sie ein scharfes Knirschen herumfahren. Ein letztes Stahlgitter schob sich zwischen die Felswände und trennte die Forscher von ihrem Fahrzeug. Wütend stellten sie fest, daß ihnen der Rückweg jetzt ganz abgeschnitten war. Kariven beglückwünschte sich innerlich zu seinem Ratschlag von vorhin, die Waffen nicht mehr abzulegen. Mit schußbereiten Maschinenpistolen schlichen sie zwei und zwei vorwärts – aufs äußerste angespannt und auf alles gefaßt. Bei jedem Schritt pendelten die Sprechfunkgeräte hin und her. Robert Angelvin zog die Antenne seines kleinen Gerätes heraus und legte den Apparat an das Ohr. Michel Dormoy gab auf keinen seiner Anrufe Antwort. Nach zehn Minuten, als sie gerade den Ausgang der Schlucht erreicht hatten, erfüllte ein vertrautes Surren die Luft. „Der Hubschrauber!“ stieß Barbara freudig hervor. Doch der Schrei erstickte ihr in der Kehle. Eine Falltür, die so breit wie die Sohle des Passes und acht bis zehn Meter lang war, hatte sich unter ihren Füßen geöffnet. Unbezwingbare Angst überfiel die kleine Gruppe, und bevor sie sich irgendwo festklammern konnten, stürzten Major Bruce, Barbara, Kariven und Angelvin in einen Abgrund, der ihnen bodenlos vorkam. 62
* Als Michel Dormoy vom Hubschrauber aus sah, wie seine drei Freunde in der Falltür verschwanden, ließ er den Heliokopter in der Luft stillstehen und schob die Plexiglaskuppel zurück. Mit dem Feldstecher beobachtete er die bodenlos erscheinende gähnende Öffnung, in die Kariven, Major Bruce, Barbara und Robert Angelvin gestürzt waren. Niedergeschmettert stellte er fest, daß er wegen der Enge des Passes nicht landen konnte. Er schraubte sich in die Höhe und flog zu dem Camp zurück. In Khokhung-Tsaka stürzte er zu seiner Funkstation und rief den nächsten Militärposten in Katmandu an. Ein Offizier der Armee von Nepal nahm seine Meldung entgegen und gab sie der englischen Garnison von Gorakhpur in Indien weiter. Die Funkverbindung erwies sich wegen der Gebirgsketten als sehr schwierig. Zuweilen wurden Michel Dormoys Worte und die seines Gesprächspartners von den zahlreichen Fadings so verzerrt, daß die beiden sich kaum verstehen konnten. Dormoy mußte seine Meldung mehrmals wiederholen, bevor man ihn verstand. „Ich wiederhole“, begann Michel Dormoy wieder und betonte jede Silbe. „Hier spricht Michel Dormoy von der Expedition Kariven, anglo-französische Forschergruppe in Zentraltibet … ja, Gruppe Kariven. Der Expeditionsleiter Jean Kariven ist gerade mit seinen Begleitern Major Bruce, Robert Angelvin und Miß Barbara Turner, Reporterin der ‚Saturday Night’, in eine Falle geraten … ja, ich sagte Falle … ein Hinterhalt … ja, richtig … Meine drei Reisegefährten fuhren in einem Engpaß, der 187 Kilometer nordnordöstlich von Khokhung-Tsaka liegt … nein, er ist auf keiner Karte zu finden, die ganze Gegend ist völlig 63
unerforscht! – Am Ende dieser Schlucht liegt in einem früheren Kraterkessel die Stadt Bakrahna … ja, richtig, die Heilige Stadt, die sagenhafte verlorene Stadt, von der die Zeitungen sprachen, als sie über unsere Expedition berichteten … ja, wir haben sie gefunden, aber sie ist nicht von Eingeborenen bewohnt. Die Leute dort verfügen zweifellos über schlagkräftige technische Mittel. Sie haben auch das Flugzeug abgeschossen, das einen Teil unseres Materials transportierte … richtig“, stimmte Dormoy zu, „ich meine den Flugzeugunfall vor drei Tagen in der Gegend von Tsak.“ Ein wiederholtes Knacken unterbrach die Verbindung. Schließlich konnte Dormoy fortfahren: „Leiten Sie bitte meine Meldung an die englischen Behörden nach Delhi sowie an das französische Konsulat weiter und schicken Sie Verstärkung nach Khokhung-Tsaka. Es muß unbedingt alles Menschenmögliche getan werden, um die Expedition Kariven zu befreien, deren einziger Vertreter ich jetzt bin. Vergessen Sie nicht, daß die Gegend von Tsak gefährlich ist. Die Verstärkungsmannschaften müssen einen großen Umweg südöstlich von Tsak machen, um Khokhung-Tsaka von Nordwesten her zu erreichen. Haben Sie alles notiert? … Gut! Jetzt die Einzelheiten: Ein acht bis zehn Kilometer langer Engpaß durchschneidet eine hufeisenförmige Gebirgskette, hinter der eine weite Ebene liegt. Achtzig Kilometer nordöstlich davon erhebt sich ein Granitriegel, von dem Engpässe nach Bakrahna führen. Vor dem ersten Paß warten unsere Träger. Sie können als Nachschubkolonne vielleicht nützlich sein. Ich werde sofort wieder zu einem Erkundungsflug starten und Ihnen nach meiner Rückkehr zwei oder drei Stunden später wieder Bericht erstatten. Wenn Sie bis heute abend nichts mehr von mir gehört haben, können Sie die Operation anlaufen lassen. Wie bitte? … Ob Sie den Generalstab benachrichtigen sollen? … Ja, natürlich! 64
Aber verlieren Sie keine Zeit! Vier Menschenleben stehen auf dem Spiel! Sie finden in unserem Stützpunkt in KhokhiumjgTsaka eine Übersichtskarte dieser Gegend; dort ist auch die Route eingezeichnet, die meine Freunde mit dem Jeep eingeschlagen haben. Die Entfernungen stimmen ungefähr, und da es nur zwei Paßwege durch das Gebirge gibt, um das es sich handelt, ist der Weg leicht zu finden. Der erste Paß ist bei den Tibetanern von Khokhung-Tsaka unter dem Namen ‚Schlucht von Kartsang-La’ bekannt. Das wäre alles. Vielleicht lesen Sie mir die Meldung noch einmal vor?“ Wort für Wort wiederholte der Funkposten von Gorakhpur den langen Text der Meldung, die er mitstenographiert hatte. „Sehr schön!“ schloß Dormoy. „Halten Sie mir den Daumen und auf baldiges Wiederhören, hoffentlich. Ende.“
5. Kapitel Der rechteckige Schacht, in den die vier Forscher gestürzt waren, wies keinerlei Unebenheiten auf. Barbara Turner stieß einen Schreckensschrei aus, der dumpf in dem Abgrund widerhallte. Wie lange dauerte dieser alptraumähnliche Sturz? Das Herz klopfte ihnen zum Zerspringen, das Blut schoß ihnen ins Gesicht, angstvolle Gedanken wirbelten ihnen durch den Kopf, und ständig fielen sie tiefer, in den unmöglichsten Stellungen – wie verrenkte Gliederpuppen. Plötzlich ertönte ein dumpfes Summen, das immer heller und lauter wurde. Grelles Licht flutete durch den Schacht, und ein warmer Luftzug stieg unter Druck aus dem Inneren der Erde auf. Die Fallgeschwindigkeit verlangsamte sich, und zu ihrem größten Erstaunen schwebten die vier immer langsamer in die 65
Tiefe. Der Gegendruck dieser warmen Luftströmung hob ihre körperliche Schwere fast ganz auf. Halb unsicher, halb beruhigt stammelte Angelvin, während er fast gewichtslos im Leeren schwebte: „Die Mutprobe in der Luft ist aber doch bis jetzt die unangenehmste von allen.“ „Dann hätten wir also die vier Stufen der Einweihung hinter uns?“ fragte Barbara. „Aber wozu nur? Schließlich habe ich mich ja nicht um das Amt einer Priesterin beworben.“ „Übrigens würden wir durch unseren Materialismus in den Augen der Orientalen für einen solchen Aufstieg unwürdig erscheinen“, bemerkte Angelvin. „Jetzt fange ich an zu verstehen, warum zwei archäologische Expeditionen, die Bakrahna suchen wollten, nie zurückgekommen sind“, rief Kariven aus. Barbara stieß hervor: „Wollen Sie damit sagen, daß wir auch dasselbe Schicksal teilen müssen?“ „Täuschen wir uns nicht“, warf Kariven ein und drehte sich um seine eigene Achse, während er weiter langsam hinabschwebte. „Wir haben wenig Aussichten, uns aus der Klemme zu ziehen, aber wenn sich eine Möglichkeit bietet, werden wir sie auch ausnützen. Könnt ihr jeder eine Waffe, einen Dolch oder einen Revolver in euren Kleidern verstecken?“ „Schnell, schnell!“ stieß der Major hervor. „Wir …“ Der Luftzug und das Summen ließen nach, und die vier fanden sich auf einem Metallgitter wieder. Im Hintergrund des Schachtes öffnete sich ein hochgewölbter Tunnel, der von kranzförmig angeordneten Scheinwerfern angestrahlt wurde. Kariven war aufgestanden, bückte sich und spähte angestrengt in die Tiefe, um zu erkennen, was unterhalb des Gitters sei. „Ein Riesengebläse!“ stellte er fest. „Ein Gebläse, das An66
gestellte der besten Forschungsinstitute für Strömungsphysik vor Neid erblassen ließe!“ „Die Tibetaner sind also doch nicht lauter rückständige Wirrköpfe“, schloß der Major. „Aber was sollen wir jetzt tun?“ Hinter ihnen leuchtete ein Fernsehschirm auf, der in die Wand eingelassen war. Ein Mann mit einer strahlenden Sonne auf seinem roten Gewand sah die Ankömmlinge aus halbgeschlossenen Augen schweigend an. Er beobachtete sie gelassen, ohne daß sie es ahnten – genau wie eine Katze eine in die Falle gegangene Maus betrachtet. Plötzlich befahl er auf Englisch: „Folgt dem Tunnel und versucht nicht, von euren Waffen Gebrauch zu machen. Vorwärts!“ Überrascht fuhren unsere Freunde herum und sahen das Bild des geheimnisvollen Tibetaners auf dem Schirm. Dieses verschwand immer mehr und ließ sie starr vor Erstaunen zurück. „Fernsehen haben sie also auch!“ murmelte Angelvin. „Fernsehen in einem unerforschten Teil von Tibet, dem ältesten Land der Welt. Man sollte es wirklich nicht für möglich halten!“ Sie schritten mit schußbereiter Waffe vorwärts, keineswegs in der Absicht, dem Befehl nachzukommen. Der Tunnel verlief zunächst gerade und bog dann leicht nach links ab. Von diesem Punkt aus hatten sie noch zwei- bis dreihundert Meter zu. gehen, bis sie an eine Kreuzung kamen. In der Mitte erhob sich ein Pfeiler, ein daran angebrachter Fernsehschirm begann zu leuchten und zeigte einen Tibetaner, der ebenso gekleidet war wie sein Vorgänger. „Werft eure Waffen weg und steigt in den Aufzug, den ihr unter diesem Schirm seht.“ Eine Tür öffnete sich und ließ eine leere Metallkabine erscheinen. Als er sah, daß sein Befehl nicht ausgeführt wurde, schrie der Gelbe: „Werft eure Waffen weg!“ 67
Kariven zögerte, und um die Maschinenpistole auf den Boden des Tunnels zu legen, hob er sie über den Kopf, damit er den Riemen lösen könnte. War sich der Tibetaner über diese Geste im Unklaren? Ein blitzartiger Strahl drang aus einer kleinen Öffnung unter der Bildfläche und traf die Maschinenpistole. Die Waffe wurde plötzlich heiß, glühte auf, erstrahlte blendend weiß und war im Handumdrehen verschwunden. Verdutzt blieb Kariven mit leeren Händen unbeweglich stehen. Seine Arme sanken herunter, und er rief bestürzt: „Ein Atomisierungsstrahl!“ Bedauernd legten seine drei Gefährten ihre Waffen zu Boden und traten resignierend in den Aufzug; Kariven schloß sich ihnen an. Die Kabine fuhr eine Zeitlang mit ziemlicher Geschwindigkeit aufwärts und hielt dann plötzlich. Als die Schiebetür zurückglitt, traten sie aus dem Lift heraus, wichen jedoch sofort von Entsetzen gepackt einen Schrift zurück. Vor ihnen standen im Hof eines unermeßlich großen Gebäudes vier Riesen – jeder etwa drei Meter groß –, die offenbar auf sie gewartet hatten. In den scheußlichen, mit roten Haaren bedeckten Gesichtern, glänzten riesige schwarze Augen, was sie noch tierischer erscheinen ließ. Wie die anderen Tibetaner, die ihnen bisher in diesem Bereich zu Gesicht gekommen waren, trugen sie ein langes, scharlachrotes Gewand mit einer goldenen Sonne auf ihrer gewölbten Brust. In tibetanischer Sprache befahl einer der Riesen mit Grabesstimme: „Folgt uns. Ihr werdet nie mehr aus Bakrahna herauskommen. Versucht nicht zu fliehen, denn es wäre euer sicherer Tod.“ 68
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Robert Angelvin verdolmetschte es den anderen, und niedergeschlagen schritten sie weiter, ständig von den drohend blickenden Ungeheuern umringt. Zitternd hatte Barbara Turner Angelvin am Arm gefaßt und drückte ihn stark. Tiger, die Einsamkeit dieser gottverlassenen Gegend und die überstandenen Gefahren – all das war wenigstens im Bereich des Natürlichen geblieben. Doch behaarte Menschen mit dem Aussehen von Bestien, bisher auf der Erde unbekannte Riesen – das trat aus dem Rahmen des Begreiflichen hinaus und rief bei ihr, wie man sich vorstellen kann, panischen Schrecken hervor. Während Angelvin die Riesen verstohlen betrachtete, überlegte er. Wie mit einem Schlag wurde es ihm klar. Bruchstücke der Meldung in tibetanischem Sanskrit, die Dormoy aufgenommen hatte, fielen ihm wieder ein. „Yetis!“ flüsterte er Kariven ins Ohr. „Es sind Yetis … die ‚Furchtbaren Schneemenschen’, von denen die Sagen des Himalaya berichten. Also gibt es sie wirklich!“ „Sofern wir nicht einer Kollektiv-Halluzination zum Opfer gefallen sind darüber müßte man sich erst klar sein“, murmelte Kariven. Unbekümmert um die Gespräche ihrer Gefangenen passierten die Riesen mit ihnen einen Tunnel und setzten dann ihren Weg zu einem hohen Gebäude fort, das einem Lamakloster ähnelte und im Zentrum der Verlorenen Stadt stand. Auf dem aus blauen Ziegeln gefügten Dach und den Simsen, die Götterfiguren aus Porzellan zierten, spielten irisierende Lichtreflexe der aufgehenden Morgensonne. „Ich hörte diese Sage von Trägern“, gestand der Major, „aber nach ihren Aussagen sind die Yetis oder ‚Furchtbaren Schneemenschen’ wilde Riesen, die nackt in der kalten Einsamkeit des Himalaya leben. Niemand ist jemals an sie herangekommen. 70
Nur ihre Spuren wurden im Schnee beobachtet und sogar fotografiert.“ „Wann war denn das?“ „Am achten November 1951 überschritten die englischen Forscher Eric Shipton und Dr. Michael Ward mit ihren Trägem einen Paß des Mount Everest. In 5800 Meter Höhe fanden und fotografierten sie diese unförmigen Fußspuren, dreißig Zentimeter lang und breiter als die schwersten Alpinistenstiefel. Die Zehen waren deutlich sichtbar, und der Gesamteindruck mußte unbedingt auf menschenartige Wesen schließen lassen.“ Die kleine Gruppe war vor dem geradezu monumentalen Eingang des mächtigen Zentralgebäudes angelangt. Als sie davorstanden, öffneten sich wie von unsichtbarer Hand die beiden Bronzetürflügel, die mit Skulpturen tibetanischer Dämonen und Ungeheuer geschmückt waren. Als die Gefangenen das Portal durchschritten hatten, schlossen sich die Tore hinter ihnen ebenso geräuschlos wie zuvor. Die Yetis führten sie durch einen prächtigen, mit massiven Silbertafeln ausgestatteten Gang und schoben sie zu einer Tür hinaus, durch die sie selbst wegen ihrer Größe nicht gehen konnten. Kariven streckte die Hand aus, doch die Tür, die durch die Unterbrechung eines fotoelektrischen Stromkreises ausgelöst wurde, öffnete sich von selbst. Ein weiter Saal lag vor ihnen, der reich mit BuddhaStatuetten verziert war. Schwere Vorhänge aus rotem Samt schmückten den Raum, und sieben uralte Tibetaner in scharlachroten Gewändern saßen an einem langen Tisch. Auf ihrer Brust erstrahlte die goldgestickte Sonne im hellen Licht des Morgens, das durch weite Glasfenster hereinströmte. Die Gesichter dieser Männer waren runzlig, zerknittert wie 71
Pergament, was die gelbliche Tönung ihrer Haut noch deutlicher hervortreten ließ. „Die Sieben Weisen von Tibet, von denen die Sage berichtet“, murmelte Kariven verdutzt. „Es ist also doch wahr … Bakrahna, die Verlorene Stadt, ist nicht nur eine seltsame moderne Großstadt, sondern auch eine Einsiedelei?“ „Kommt näher!“ befahl einer der Alten auf Englisch. „Ihr habt das Geheimnis von Bakrahna verletzt, und zwar dank einer alten Handschrift, die wir seit Jahrhunderten suchen. Ihr werdet das Schicksal der beiden Expeditionen teilen, die ebenfalls gewagt haben, bis in unseren Schlupfwinkel vorzudringen … und da ihr aus dem Register der Lebenden gestrichen seid, haben wir euch vor dem Eintritt in das Reich der Toten die vier Stufen der Geheimen Einweihung vollziehen lassen – natürlich nur Stufen, wie sie gewöhnlichen Sterblichen bestimmt sind, versteht sich! … Wenn ihr sterbt, wird eure Seele in die hohen Sphären des Jenseits geleitet werden, gemäß den heiligen Riten des Bardo Thödol, des tibetanischen Totenbuches. Unsere Lamas werden darüber wachen, sobald uns eure sterbliche Hülle nicht mehr von Nutzen ist.“ Die Gefangenen sahen sich an und zweifelten am Geisteszustand ihres mystischen Gesprächspartners. Dieser fuhr fort: „Da ihr nun bis zur Auslieferung euerer Seele in unserer Gewalt seid, könnt ihr uns, bevor ihr unsere Untergebenen werdet, Fragen stellen, deren Antworten euren blinden Geist sehender machen – euren Geist, der von einer vorgeblich modernen Zivilisation geblendet ist, auf die stolz zu sein ihr keinerlei Grund habt.“ „Warum habt ihr uns gefangen genommen?“ lehnte sich Kariven auf. „Ganz einfach – weil ihr hierher gekommen seid. Sie dürfen 72
versichert sein, daß wir Sie nicht in der Hauptstadt Ihres Landes aufgesucht hätten, Monsieur Kariven. Unsere Fernseheinrichtung erlaubt uns, alles zu lesen und zu sehen, was in der Welt geschieht. Und seit wir aus euren Zeitungen erfuhren, daß ihr Bakrahna sucht, die sagenhafte Stadt, deren Existenz ernstlich angezweifelt wird, haben wir euch alle auf Schritt und Tritt verfolgt … bis ihr in unser Reich eingedrungen wart.“ „Können Sie uns erklären, warum uns schon mehrmals diese unsichtbaren Wesen erschienen sind?“ fragte Angelvin. „Und durch welchen Trick es ihnen möglich war, meine und Karivens Gestalt anzunehmen?“ Ein anderer Greis ergriff das Wort: „Das ist mein Werk. Verhalten Sie sich einen Augenblick still und passen Sie auf!“ Er drückte einen Knopf, auf einer kleinen Schalttafel, die unter dem Tisch verborgen war. Alsbald hüllte ein bläulicher Lichtkreis die Gefangenen ein, und plötzlich entschwanden sie. Fast im gleichen Moment fanden sie sich in einer Art Laboratorium wieder, dessen Wände vergoldet waren. Seltsame Instrumente und Schalttafeln füllten die hintere Wand aus. In der Mitte des Raumes erblickten die verblüfften Forscher einen durchsichtigen Kreis, drei Meter im Durchmesser, der durch eine geheimnisvolle Kraft unbeweglich in der Luft gehalten wurde. Bei näherem Hinsehen erkannten sie, daß der Kreis eine Schlange darstellte, die ihr Schwanzende zwischen den Zähnen hielt. Neben diesem geheimnisvollen Gebilde erschien der alte tibetanische Weise. „Das ist mein Laboratorium“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Man könnte mich als Physiker des Unbekannten bezeichnen. Ich beherrsche die unsichtbaren Kräfte einer unbekannten Sphäre des Weltalls. Ich heiße Gora Topki. Als wir uns dem Überseedampfer ‚Malacca’ näherten, um 73
euch das Dokument und den Plan zu rauben, die euch den Weg nach Bakrahna gewiesen haben, bedienten wir uns dieses Apparates; er stellt Ouroboros dar, die heilige Schlange. Sie beißt sich in den Schwanz und beschreibt so einen vollendeten Kreis, Symbol der Ewigkeit und des Universums. Wenn wir einen Menschen in diesen Kreis treten lassen, lösen wir seine körperliche Hülle auf und senden ihn, manchmal unter anderer Gestalt, an den von uns gewünschten Ort. Aus diesem Grunde benötigen wir eine Fotografie desjenigen, dessen Äußeres unser Objekt annehmen soll. Bei euch war das sehr einfach, da die französische Presse wiederholt Bilder von den Herren Kariven und Angelvin veröffentlicht hat. Wenn unser Bote in Gefahr ist, lösen wir seine ‚Projektion’ auf, und er kehrt in seiner natürlichen Gestalt hierher zurück. Zur Ausführung gewisser Aufträge bleiben unsere Boten unsichtbar. Das war der Fall bei demjenigen, den Sie überrascht haben, Herr Kariven, als er gerade jenes wichtige Dokument in Ihrer Kabine stehlen wollte. Beim zweiten Versuch ließen wir ihn zu Ihrer Überraschung Herrn Angelvins Gestalt annehmen. Unglücklicherweise war unser Bote Linkshänder und hielt den Dolch in der linken Hand. Das hat Sie vielleicht veranlaßt, einen Ihnen allerdings noch unerklärlichen Anschlag zu wittern, und Sie schossen auf Ihren nächtlichen Besucher, Beziehungsweise auf seine Projektion; das konnte ihn selbst natürlich nicht verletzen. – Das Erscheinen von Köpfen ohne Rumpf, von Ungeheuern und anderen scheußlichen Fratzen beruht ebenfalls auf der Kraft dieses Kreises, in den wir zu diesem Zweck Puppen stellen. Was meinen Sie wohl, wie all die magischen Wunder zustande kommen, von denen die abergläubischen Eingeborenen sowohl in Tibet wie auch in Indien sprechen? Das freie Schweben, die Verdoppelung der Person, der Seiltrick, Erscheinungen, Tempelstatuen, die lebendig werden, und 74
alle anderen Phänomene, die die Wissenschaft leugnet, obschon es sie tatsächlich gibt, alles das hat seinen Ursprung in diesem magischen Kreis und anderen geheimnisvollen Geräten, die in den unterirdischen Gängen gewisser tibetanischer Lamaklöster verborgen sind. Das Merkwürdigste daran ist, daß die Zauberkünstler, die Fakire und die Yogis, die diese Künste zeigen, felsenfest davon überzeugt sind, sie selbst seien die Urheber. Dabei sind sie nur unsere ahnungslosen Werkzeuge.“ Verwirrt rief Kariven dazwischen: „Aber diese Phänomene, ob sie nun Märchen oder Wahrheit sind, gehen doch bis ins früheste Altertum zurück, eine Zeit, in der es weder Maschinen noch eine wissenschaftlich unterbaute Technik gab?“ Gora Topki, der tibetanische Greis, lächelte. Dabei wurde sein faltiges Gesicht noch faltiger. „Bakrahna und die Sieben Weisen, zu denen ich ehrenvollerweise gehöre, kennen keinen Anfang und kein Ende. Wenn unser Körper sich auflöst, hält unsere Seele Einzug in den Körper eines Neugeborenen, und wir werden wiedergeboren mit dem Wissen unserer vorherigen Leben. Wir gehören der höchsten Rangordnung des ‚Nirmâna-Kâya’ an, und unser Sinnen und Trachten ist es, den Menschen ein besseres Dasein zu schaffen …“ „… indem ihr sie gefangen nehmt und anschließend tötet!“ höhnte Major Bruce. „… indem wir ihre Seele von allen körperlichen Fesseln befreien“, berichtigte der Greis, „um sie dann in ein werdendes Wesen zu versetzen, das, wenn es geboren wird, eines der Unseren ist. Bakrahna ist die älteste Stadt der Erde. Sie besteht schon seit den Anfängen der Menschheit. Zwar wurde sie im Laufe der 75
vielen Erdbeben und Erschütterungen des Planeten mehrmals verschüttet, aber jedesmal wurde sie an einer anderen Stelle in Tibet oder Zentralasien, der Wiege der Kulturen, wieder aufgebaut. Unsere Tausende von Jahren alten Überlieferungen berichten, daß Wissen und Erkenntnis einstmals von einem fliegenden Drachen auf die Erde gebracht wurden. Der Tag kommt, da die Erde um das Geheimnis der versunkenen Stadt wissen und sich unsere ungeheuren Erkenntnisse zu eigen machen wird. Jetzt ist sie dessen noch nicht würdig. Und noch eins sollt ihr wissen: Wenn die ‚Goldene Sonne’ die fünf Kontinente erobert hat, werden alle Menschen in einem immerwährenden Glückszustand leben.“ Bei den letzten Worten wies der Greis stolz auf die goldene Sonne, die auf seine scharlachrote Tunika gestickt war. „Um eure Ziele zu verwirklichen“, spottete Bruce. „Zögert ihr nicht Blut zu vergießen!“ „Die gegenwärtigen Regierungen müssen ausradiert werden“, antwortete Gora Topki ruhig, „ebenso alle, die versuchen, unsere Befreiungsarmee aufzuhalten. Wir verfügen über beträchtliche Geschwader von bis aufs letzte vervollkommneten Ionosphären-Raketen, deren Stützpunkte über ganz Tibet verstreut sind. Regimenter vorzüglich ausgebildeter ‚Yetis’ sind fast in allen tibetanischen Lamaklöstern stationiert und warten nur auf das Zeichen zum Kampf.“ „Gibt es denn so viele ‚Schneemenschen’?“ wollte Angelvin wissen. „Wir Ethnographen waren der Meinung, daß es sich nur um wenige Stämme primitivster Menschen handelt, die auf den einsamen Höhen des Himalaya verborgen leben.“ „Die, denen zuweilen Forscher begegnet sind und die man fotografiert hat, sind wilde Schneemenschen, denen wir die Freiheit gelassen haben. Jahrhundertelang schon fangen wir eine große Anzahl dieser primitiven Halbmenschen ein. Ihre 76
Kinder erzogen wir und lehrten sie alles, was ein moderner Krieger wissen muß. Wir verfügen in Tibet insgesamt über siebenhunderttausend ausgebildete Yetis, die zum Teil nicht mehr können, als mit ihren Waffen umzugehen, während der andere Teil aus fähigen Ingenieuren, Offizieren und Technikern besteht. Aber um jede eventuelle Auflehnung zu vermeiden, haben wir alle einer neuro-chirurgischen Operation unterzogen, durch die sie ganz unter unserer Leitung bleiben.“ „Also sind sie in gewisser Weise menschliche Roboter?“ fragte Barbara, die sehr beeindruckt war, mit lebhaftem Interesse. „Keine Roboter, nein“, erwiderte der Greis, „sondern Humanoiden, die Gehorsam leisten müssen. Sie behalten eine gewisse Selbständigkeit und sind imstande, je nach dem Grad ihrer Ausbildung zu denken.“ „Ihr besitzt eine Unmenge Erfindungen, die weit über den unseren stehen“, bemerkte Jean Kariven, „sogar manche Waffen, die uns gänzlich unbekannt sind, wie diesen Atomisierungsstrahl, ganz zu schweigen von den Ionosphären-Raketen. Wie habt ihr das alles nur in dieser gottverlassenen Gegend herstellen können?“ „Wir haben hier beste Techniker. Darüber hinaus benutzen wir auch Wissenschaftler der westlichen Welt, die wir uns je nach Bedarf herholen. Durch eine Atomzentrale werden wir mit Energie versorgt. Im übrigen kosten uns die Hilfskräfte hier in Asien gar nichts. Man darf nicht vergessen, daß Millionen Gelber Hunger leiden. Wenn wir tausend Arbeiter brauchen, um eine Fabrik oder einen Tunnel oder eine der Festungen, die in den Klöstern verborgen sind, zu bauen, dann wirbt einer unserer Boten Chinesen an, von denen wir haben können, soviel wir wollen.“ 77
„Und dann?“ fragte Barbara wißbegierig. „Und dann? Dann töten wir sie. Tausend Leben zählen nicht in der ungeheuren Masse Chinesen.“ „Weiß die Regierung von Lhasa über eure Untersuchungen Bescheid?“ fragte Major Bruce. „Nur drei Mitglieder wissen von unserer Existenz und sind mit uns im Einvernehmen. Wir stehen sogar in freundschaftlichen Beziehungen mit einem General der Roten Armee. Er hat uns seinen und den Beistand der Roten Armee, die in den asiatischen Provinzen stationiert, ist, zugesichert.“ „Ich dachte“, begann Major Bruce vorsichtig, „ihr wolltet die Welt für die gelbe Rasse erobern. Die Russen bezeichnen sich zwar als ‚rot’, aber eigentlich gehören sie doch der weißen Rasse an. Oder?“ Das Gesicht des Alten verzog sich zu einem listigen Lächeln, und mit sarkastischer Stimme meinte er: „Die Rote Armee wird uns unterstützen, wie es uns General Michailowitz versprochen hat. Aber wenn wir unser Ziel erreicht haben, werden die Russen wie alle anderen Weißen Untertanen der ‚Goldenen Sonne’. Versprechen verpflichten nicht, aber sie lassen Raum für Illusionen. Selbst General Kuong-Ling-Tung, der erste Mann der chinesischen Volkspartei, wird seinen Platz räumen für einen Anhänger der ‚Unbesiegbaren Goldenen Sonne’, sobald er seine Rolle auf dem Schachbrett unserer Politik ausgespielt hat.“ „Schöne Aussichten“, bemerkte Kariven, innerlich kochend vor Wut. „Wir töten nur, wo es notwendig ist, und unsere Organisation kennt keine Marterwerkzeuge mehr. Unsere technischen Möglichkeiten erlauben uns, diese primitiven und barbarischen Methoden, mit denen man jemand zum Sprechen bewegt, auszuschalten, Nein, wir sind keine Wilden oder etwa Verbrecher. 78
Für uns wäre es ein Leichtes, euch zu töten; jedoch würde uns das nichts einbringen, außer euren Leichen. Deshalb werden wir euch verwenden. Jeder von euch verfügt über bemerkenswerte wissenschaftliche Kenntnisse, die wir uns zunutze machen wollen. Indirekt werdet ihr auf diese Weise einige eurer Landsleute wiedertreffen.“ Der Greis verharrte einen Augenblick in nachdenklichem Schweigen. „Wir werden euch in eine höhere Sphäre außerhalb der Erde entsenden, wo sich Mitglieder der zwei früheren Expeditionen aufhalten, die wie ihr den Weg nach Bakrahna fanden.“ „Ihr wollt, daß wir die Erde verlassen?“ empörte sich die hübsche Amerikanerin. „Das habe ich nicht gesagt. Ihr werdet nur die Sphäre, nicht den Planeten wechseln. Jeder Planet hat verschiedene Sphären: eine stoffgebundene, in der wir leben, und zwei, drei oder noch mehr nicht stoffgebundene Sphären, wo menschliche Wesen leben, die nur dann in Verbindung mit uns treten können, wenn wir sie aufsuchen. Nur von hier aus gibt es einen Weg zu ihnen, sie selbst sind Gefangene ihrer Sphäre.“ „Und wo ist diese höhere Sphäre?“ fragte Kariven sichtlich berührt. „Sie ist unsichtbar und umgibt uns, das heißt, sie ist in einer anderen Dimension, nennt sie vierte oder fünfte oder Dimension X, wie ihr wollt. Für die meisten Sterblichen ist sie unerreichbar.“ „Warum schickt ihr uns in diese Sphäre?“ wollte Angelvin wissen. „Ihr wißt doch genau, daß wir euren Plänen feindlich gegenüber stehen. Warum geht ihr nicht selbst hin?“ Der Greis unterdrückte ein listiges Lächeln. „Erstens haben die Sieben tibetanischen Weisen wichtigere Dinge zu tun. Zweitens seid ihr, ob feindlich oder nicht, auf unsere Gnade angewiesen. Vergeßt nicht, daß wir euch dorthin 79
schicken, und ihr nur dann wiederkommen könnt, wenn wir euch holen, Wozu wollt ihr den Tod auf der Erde wählen, wenn wir euch das Leben lassen dafür, daß ihr in dieser Sphäre genaue Untersuchungen anstellt? Ihr könnt uns mit euren Kenntnissen, eurem Mut und Verstand sehr nützlich sein.“ „Wird man uns Waffen geben für diese Reise?“ fragte Bruce. „Wozu? Es besteht keine oder zumindestens wenig Gefahr. Die Bewohner der Dimension X sind friedliebend, soweit wir es beurteilen können. Ich halte es für unnötig, sie durch das plötzliche Erscheinen bewaffneter Erdbewohner zu erschrecken. Wenn ihr in der Dimension X ankommt und eure Landsleute antrefft, habt ihr euch mit ihnen zu unterhalten und uns anschließend eure Unterhaltung wortwörtlich mitzuteilen, Wort für Wort, verstanden? Auf alle Fälle seid vorsichtig, und erwähnt nichts von unseren Abmachungen. Binnen zwölf Stunden werden wir euch auf die Erde zurückholen. Ihr habt alle eine Uhr und könnt euch die Zeit merken. Aber ich gebe euch nochmals den ausdrücklichen Befehl: Wenn ihr elf Stunden in der Dimension X verbracht habt, versammelt euch und kehrt dorthin zurück, wo ihr ankommt. Denkt daran, daß wir euch früher oder später doch finden, wenn ihr aus irgendeinem Grunde nicht zurückkehren solltet. Dann allerdings wird unsere Rache furchtbar sein.“ „Ihr würdet besser daran tun, unsere Landsleute zurückzuholen“, warf Bruce ein, „ihr könntet sie dann selbst ausfragen. Warum schickt ihr uns in ein Abenteuer, das euch selbst einige Rätsel aufzugeben scheint?“ „Sie reden entschieden zuviel, Major!“ zischte der Greis bleich vor Zorn. „Ihr werdet dorthin gehen und uns Bericht erstatten über eure Unterhaltung mit den englischen Forschern. Basta! Jetzt macht euch fertig! Ihr werdet augenblicklich abreisen.“ 80
6. Kapitel Der tibetanische Physiker drückte auf einen großen Knopf in der Wand. Alsbald leuchtete der transparente Kreis schwachviolett auf. Ein leichtes Vibrieren ging durch den Raum. Jean Kariven stand zögernd vor der Schlange Ouroboros, die geheimnisvoll in der Leere schwebte. Der Archäologe wandte sich noch einmal zu seinen Freunden, und schicksalsergeben sagte er: „In Gottes Namen also, ich werde als erster gehen. Stellt euch auf die andere Seite.“ Er trat in den Kreis und … entschwand. Bruce folgte ihm ziemlich skeptisch und löste sich ebenfalls in Nichts auf. Barbara umklammerte ängstlich Angelvins Arm. Sie wollten gerade beide zusammen ihren Freunden folgen, da hielt der alte Weise sie zurück. „Einer nach dem anderen!“ Die junge Amerikanerin sah den Ethnographen ernst an, dann gab sie ihm einen Kuß und flüsterte: „Auf Wiedersehen, Bob!“ Dabei zwang sie sich zu einem schwachen. Lächeln. * Jean Kariven schien es, als stiege er eine unsichtbare Treppe hinab. Er betrat einen zartvioletten Boden. Er war nicht mehr auf der Erde. Sanfter lilafarbener Halbschatten umgab ihn. Er schaute empor zum Himmel und erblickte Sterne, die in seltsamen Farben glitzerten. Er suchte nach den gewohnten Sternbildern, aber er fand sie nicht. In diesem Augenblick tauchte Bruce neben ihm auf. Beide Männer schwiegen vor Staunen. Eine lange Allee 81
mit hohen, dunkelblauen Gebäuden führte in eine nächtliche Stadt; eine seltsame, in tiefe Stille gehüllte Stadt. Nur hier und da hörte man undeutliche Geräusche. Jetzt erschien Barbara, dicht gefolgt von Angelvin. Wie die beiden anderen betrachteten sie schweigend diese Welt, die Erdbewohnern sonst unzugänglich war und sich ihnen auf solch wunderbare Weise darbot. „Seht doch!“ stieß Barbara mit erstickter Stimme hervor und wies auf den mattvioletten Himmel. Ein Riesenstern, vieroder fünfmal so groß wie der Mond tauchte langsam über der Stadt auf. Er hüllte die Häuser in klares amethystfarbenes Licht und gab den vier Abenteurern ein gespenstisches Aussehen. „Ein phantastischer Stern“, sagte Angelvin, „er ist diesem … dieser Welt viel näher als der Mond der Erde.“ Rötliche Zonen und violette Flächen – Meere und Kontinente – zeichneten sich auf der Oberfläche dieses riesenhaften „Mondes“ ab. „Was sollen wir jetzt tun?“ wollte Barbara wissen und griff hilfesuchend nach Angelvins Arm. „Wir wollen uns diese Stelle gut einprägen, damit wir sie nachher wiederfinden. Wir haben elf Stunden Zeit, um unsere Landsleute ausfindig zu machen.“ Langsam gingen die vier Erdbewohner die schwach erleuchtete Allee entlang. Eine Lampe, die nach allen Seiten meergrünes Licht ausstrahlte, erschien über ihren Köpfen. Sie war nirgends befestigt, und dennoch hielt sie sich in der Luft, dem Gesetz der Schwerkraft zum Trotz. „Dies alte Gelbgesicht“, spöttelte Kariven – er meinte Gora Topki – „scheint sich in der Dimension X nicht sehr gut auszukennen. Habt ihr sein Zögern bemerkt, als wir ihn fragten, warum er nicht selbst hierher gehen wollte?“ 82
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„Ja, das hat mich auch gewundert“, fügte Bruce hinzu, „sein Ausspruch: ‚Wenn ihr aus irgendeinem Grunde nicht auf die Erde zurückkehrt, finde ich euch früher oder später doch.’ gibt mir zu denken. Vielleicht beherrscht er den außerdimensionalen Kreis nicht ganz.“ „Das ist schon möglich“, gab Kariven zurück, „aber warten wir jetzt nicht länger!“ Sie gelangten ans Ende der Allee, die auf einen großen runden Platz mündete, von dem aus sich wieder andere breite Straßen nach allen Richtungen erstreckten. Hohe dunkelblaue Häuser ragten in zufälliger, aber nicht reizloser Anordnung empor. In fünf Meter Höhe vom Boden waren blaßgrüne Lichtröhren an den Fassaden angebracht. Hohe Türme aus blinkendem Metall überragten viele der Gebäude. Die Mitte des Platzes nahm eine große Statue ein, ein wunderbares Kunstwerk und Zeuge einer hochentwickelten Kultur. Aus einem Alabasterblock gehauen erhob sich eine weibliche Gestalt von unvergleichlicher Schönheit und hohem Wuchs, geschmückt mit kostbarsten Juwelen. Auf ihrer rechten Schulter saß ein Vogel, einer Taube ähnlich, mit ausgebreiteten Flügeln. Die Augen der Statue glänzten seltsam stark unter dem violetten Mond. Verwirrt und bezaubert schaute Kariven zu der Figur empor. Wie im Traum und ohne an seine Begleiter tu denken, sagte er leise der Statue zugewandt: „Du hast mich verzaubert, ich werde nach deinem Anblick nie mehr eine Frau bewundern können!“ „Vielen Dank!“ sagte eine Stimme hinter ihm. Etwas verwirrt kehrte der Archäologe in die Wirklichkeit zurück und lächelte Barbara zu: „Verzeihung! Vor diesem Meisterwerk habe ich meiner Bewunderung freie Bahn gelassen. Wissen Sie, wir Archäologen begeistern uns ebenso für eine antike Skulptur wie für ein paar alte Scherben.“ 84
Arglos erwiderte Barbara sein Lächeln: „Ich muß zugeben, diese ‚Scherben’ verdienen Ihre Begeisterung.“ Die Unterhaltung wurde durch nahende Schritte unterbrochen. Ein junger Mann in kurzem, silbrigem Kimono kam auf die Erdbewohner zu und begann in schlechtem Englisch zu ihnen zu sprechen: „Seid willkommen in unserer Stadt Athug. Eure Ankunft wurde uns durch Radargeräte gemeldet. Von euch gehen bei uns unbekannte Strahlen aus, die uns durch unsere Überwachungsgeräte angezeigt wurden. Ich bin Kwantor, der Direktor unserer wissenschaftlichen Versuchsabteilung. Ich bin euch allein entgegen gekommen, Soldaten hätten euch zu sehr erschreckt. Wir machen es immer so mit Fremden, damit sie nicht glauben, wir hätten böse Absichten gegen sie.“ Die vier Fremden waren angenehm berührt von dieser langen, überhöflichen Vorrede. Sie stellten sich vor, und Kariven ergriff das Wort: „Wie könnt ihr überhaupt wissen, daß nicht wir mit schlechten Absichten kommen? Immerhin sind wir doch Eindringlinge.“ Kwantor entgegnete lächelnd: „Ihr seid Weiße wie wir, und wie eure Vorgänger kommt ihr nicht aus eigener Kraft hierher, sondern auf Befehl der Gelben. Die sind gefährlich. Ihr könnt euch gleich ausführlich mit euren Landsleuten unterhalten, denen wir schon lange Zuflucht gewähren.“ Der junge Mann ging ihnen voraus über den Platz und durch ein paar Straßen, bis er vor einem hohen zylinderförmigen Gebäude anhielt, das wie eine Art Dom aus Kristall anmutete. Ein geräuschloser Aufzug führte sie in eine der oberen Etagen, wo zwei Männer in einem luxuriös eingerichteten Raum auf sie warteten. 85
Die zwei Unbekannten begrüßten die vier Ankömmlinge herzlich, Jean Kariven traute seinen Augen kaum, als er ihnen gegenüber stand. „Professor Bates und Doktor Stoker!“ rief er aus und schüttelte ihnen die Hände. „Ich dachte nicht, daß ich Sie unter solchen Umständen kennenlernen würde!“ Lächelnd antwortete Professor Bates: „Es ist jetzt drei Jahre her, seit wir mit allen Teilnehmern unserer Expedition verschollen sind. Hierhin hat uns die Entdeckung dieser elenden Stadt Bakrahna verschlagen. Die sieben tibetanischen Weisen nahmen uns gefangen und ‚integrierten’ uns mit ihrem außerdimensionalen Kreis hierher. Sie sind ja wohl auf die gleiche Weise hier gelandet! Diese gelben Teufel hatten uns aufgetragen, die Bewohner von Athug auszuspionieren. Was blieb uns anders übrig, als zu gehorchen. Aber als wir in diese geheimnisvolle Welt eindrangen, stellten wir fest, daß ihre Bewohner nicht nur friedliebend, sondern auch hoch entwickelt sind …“ „Aber eins möchte ich wissen“, unterbrach ihn Angelvin, „warum kamen die Tibetaner nicht selbst und studierten an Ort und Stelle dieses supermoderne Volk?“ „Sie waren einmal hier, als Gora Topki vor fünf Jahren den außerdimensionalen Kreis ausprobieren wollte. Anfangs trieb sie nur Wißbegierde, die aber bald in verbrecherische Absichten ausartete. Gora Topki entsandte einen Boten, der sich als Anthropologe ausgab und so mit Leichtigkeit seine Gastgeber täuschen konnte. In kurzer Zeit raubte dieser die Pläne mehrerer kotamdischer Erfindungen – diese Welt heißt nämlich Kotamdo. Dabei waren unter anderem die Pläne für die Ionosphären-Raketen, für eine atomisierende Waffe und noch weitere Spezialgeräte, die einer kämpferischen Nation im Krieg eine ungeheure Vormachtstellung einräumen. Nach dem Diebstahl und dem Verschwinden des tibetani86
schen Anthropologen, griff der kotamdische Sicherheitsdienst natürlich, allerdings etwas zu spät, zu ernsten Vorsichtsmaßnahmen. Heute erstreckt sich ein Netz von Signalgeräten über den ganzen Planeten, das mit den Fernsehstationen verbunden ist und jeden Eindringling sofort meldet. Unter diesen Umständen mußten die Gelben auf weitere Besuche in der Dimension X verzichten. – Wir wurden also in Bakrahna gefangen genommen. Nachdem uns die sieben Weisen mit dem Tode gedroht hatten, schickten sie uns in diese unsichtbare Sphäre und befahlen uns, den Bewohnern von Kotamdo nichts von ihren Absichten zu enthüllen. Gora Topki gab uns den Befehl, innerhalb von zwölf Stunden zu der Stelle zurückzukehren, wo wir angekommen waren. Die schlimmsten Strafen waren uns angedroht, wenn wir nicht Gehorsam leisteten. Da wir nicht wußten, daß der außerdimensionale Kreis nur im Umkreis einer begrenzten Zone funktioniert, hatten wir die feste Absicht, uns an seine Vorschriften zu halten. Bei unserer Ankunft in Kotamdo nahmen uns die Bewohner der Stadt sofort gefangen. In einem Laboratorium wurde unser Unterbewußtsein von Spezialisten getestet. Recht und schlecht deuteten sie nach den Ideogrammen unsere Gedanken, denn diese Menschen konnten natürlich kein Englisch. Nach ein paar Stunden ließ man uns wieder frei. Die Bewohner von Kotamdo machten uns begreiflich, daß sie unsere Freunde seien und für unsere verzweifelte Lage Verständnis hätten. Nur schwer konnten sie uns klar machen, daß wir in einiger Entfernung von der Stelle unserer Ankunft vor den Gelben sicher seien. Wir befanden uns also in einer Zwickmühle: Entweder kehrten wir zurück auf die Erde und blieben auf immer in Bakrahna gefangen, oder wir blieben in Kotamdo und waren frei. Wir entschlossen uns für das letztere. Und Gora Topki wartet noch immer auf uns!“ Damit schloß Professor Bates seinen Bericht, sichtlich amü87
siert bei dem Gedanken an die Wut, der der Alte über diesen Mißerfolg haben mußte. Nach kurzer Pause fuhr er fort: „Wir leben seither außerhalb der Erde. Wir erlernten die übrigens relativ leichte Sprache der Kotamdo, und als Gegenleistung brachten wir denen, die Interesse dafür hatten, die englische bei. In Erwartung eines zukünftigen eventuellen Kontaktes mit der Erde fand unsere Sprache zahlreiche Interessenten. Ihnen wird es also leicht sein, sich in Athug verständlich zu machen.“ „Wo sind die anderen Leute Ihrer Expedition?“ fragte Bruce. „Sie sind auf einer Forschungsreise zum ‚Mond’, das heißt nach Ongbo, dem Riesensatelliten von Kotamdo. Die Bewohner der Dimension X sind schon seit langem imstande, Fahrten durch den Raum zu machen.“ Bei diesen Eröffnungen fielen die vier Forscher von einem Staunen ins andere. „Aber trotz all ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse“, fügte Bates hinzu, „ist es den Kotamdoniern bisher nicht gelungen, einen außerdimensionalen Kreis zu konstruieren. Gora Topki, dieser gerissene Alte, ist genial, das muß man ihm lassen. Wie hat er nur diesen Apparat zustande gebracht, mit dem man die Menschen von der Erde mitten in die Dimension X schicken kann? Diese verblüffende Erfindung, überhaupt die ungeheuerlichste aller Zeiten, übersteigt unsere technischen Möglichkeiten in solchem Maße, daß man sich wirklich fragen muß, ob er nicht ein Zauberer ist.“ „Oder ob er ein altes Geheimnis entdeckt hat, da er doch einer hochentwickelten, längst untergegangenen Kultur angehört“, setzte Kariven hinzu, „in vielen östlichen Legenden ist von Tibet als der Wiege der Menschheit die Rede. Ist Bakrahna vielleicht tatsächlich die älteste Stadt der Erde? Hütet sie die Schätze und die Erkenntnisse untergegangener Kulturen? Hat sie die Weisheit 88
versunkener Völker übernommen? Fast sollte man es annehmen.“ Während sie noch über die rätselhafte Vergangenheit der Erde nachdachten, begann der Morgen zu dämmern Die gläserne Hauswand erstrahlte in seltsam orangefarbenem Glanz. Kwantor verabschiedete sich für kurze Zeit. „Ich will unserer Königin eure Ankunft melden. Unsere Freunde Bates und Stoker sollen euch beim Frühstück Gesellschaft leisten. Ihr habt sicher Hunger nach all euren aufregenden Erlebnissen. Zimmer stehen euch zur Verfügung. Fühlt euch nur wie zu Hause bei uns.“ * Nachdem die Neuankömmlinge sich ein paar Stunden ausgeruht hatten, wurden sie plötzlich durch eine Melodie geweckt, während Kwantor lächelnd auf einem farbigen Fernsehschirm erschien. „Königin Luwhana möchte euch empfangen. Wenn ihr bereit seid, geht den roten Flur zur Linken eurer Zimmer entlang. An seinem Ende findet ihr einen Aufzug, der euch direkt in den königlichen Palast führt. Ich erwarte euch im Prüfsaal. Wir nennen ihn so, weil dort die Besucher vom königlichen Sicherheitsdienst mit Fernsehkameras getestet werden, um die Königin über sie zu informieren. Seit die Gelben uns so übel mitgespielt haben, lassen wir größte Vorsicht walten.“ Der Fernsehschirm wurde wieder dunkel. „Lassen wir die Königin nicht warten, meine Herren“, rief Barbara den anderen zu, als sie aus ihrem Zimmer kam, „ich habe gerade …“ „Danke“, unterbrach sie Kariven amüsiert, „wir haben auch gerade …“ Die blonde Amerikanerin war der Meinung gewesen, 89
sie hätte als einzige Kwantors Botschaft erhalten; sie zuckte die Achseln. Am Ausgang des Aufzuges wartete Kwantor auf unsere Freunde. Er machte eine tiefe Verbeugung und führte sie dann über mehrere verschiedenfarbige Gänge in einen Raum, der ganz in weißes Licht getaucht war. „Das ist die Prüfhalle“, sagte er und blieb vor einem runden, durchsichtigen Fernsehschirm stehen. „Jetzt werden wir gefilmt, und gleich öffnet der Sicherheitsdienst die Tore zum Palast.“ Tatsächlich glitt nach kurzer Zeit der metallene Vorhang auseinander und verschwand in der Wand. Die Fremden betraten einen riesigen Saal mit blauen Wänden, von denen ein sanftes Licht auf die herrlichen Skulpturen fiel, die den Saal schmückten und aus dem gleichen schimmernden Stein waren wie die Wände. In dem azurblauen Metallboden wurde eine drei Meter große, rechteckige Öffnung sichtbar, aus der das leise Geräusch eines Wagens herauftönte. Plötzlich tauchte aus dem Boden eine Frau von unerhörter Schönheit auf. Ihren Kopf schmückte ein mit kostbaren Edelsteinen eingelegtes Diadem. Ein blaßvioletter Gürtel hielt einen Rock aus gelber Seide zusammen, der ihr bis zu den Knien reichte. Ihr Antlitz wurde von ebenholzschwarzen Haaren umrahmt, und ihre Augen glänzten seltsam grün. Auf ihrer rechten Schulter saß eine rote Taube, die den Kopf ein wenig wandte, um die Unbekannten zu betrachten. Kariven mußte einen Ausruf unterdrücken. „Die Statue!“ Die junge Königin, die ihre Besucher mit lebhaftem Interesse beobachtete, war sichtlich amüsiert über den Ausruf des Archäologen. Kwantor machte eine höfische Verbeugung und sagte auf Englisch: „Königin Luwhana, die vier von den Gelben gefangenen 90
Erdbewohner, die diese Nacht dein Reich betraten, stehen vor dir!“ Die Königin neigte leicht den Kopf und begrüßte ebenfalls in Englisch ihre Gäste: „Willkommen in Kotamdo, Fremdlinge der Erde! Professor Bates und Dr. Stoker werden euch bereits von ihren Erlebnissen erzählt haben! Ihr seid also über die Möglichkeiten, die euch unser Planet bietet, unterrichtet? Wenn ihr euch weit genug von dem ‚Tor zur Erde’ entfernt haltet, seid ihr vor der Macht der Gelben sicher. Aber ihr müßt dann bei uns bleiben. Ihr seid jedoch frei, während euch dort, wo ihr herkommt, lebenslängliche Gefangenschaft erwartet. Die Entscheidung liegt bei euch. Entweder die Gelben oder Kotamdo. Über eins aber müßt ihr euch klar sein: Wir haben kein Mittel, euch auf die Erde zurückzuschicken, jedenfalls vorläufig nicht. Unsere beiden Sphären liegen dicht beieinander, aber sie kommen nicht miteinander in Berührung.“ Auf die Worte der Königin folgte ein langes nachdenkliches Schweigen. „Nun, wie habt ihr euch entschieden?“ fragte die Königin in die Stille. Die vier sahen sich an, keiner wagte, einen Entschluß zu fassen. Einerseits ersehnten sie den Frieden von Kotamdo, andererseits wollten, sie Gora Topkis Befehl befolgen und sich wieder in seine Macht begeben in der Hoffnung, ihm eines Tages zu entwischen. Die Königin bemerkte ihr Zögern und sagte: „Wollt ihr es euch noch überlegen? Ihr habt noch sieben Stunden Zeit, um euch endgültig zu entscheiden.“ Sie wandte sich dem Archäologen zu, der ihr immer noch bewundernde Blicke zuwarf. „Vielleicht hast du dich schon entschieden, Kariven?“ Der Archäologe wurde verlegen bei dem unvermittelten „Du“. 91
„Willst du mir nicht antworten?“ fragte sie noch einmal mit reizvollem Lächeln. „Was sagt ihr dazu, wenn ich allein nach Bakrahna zurückkehre? Dann hätten wir noch eine Chance, eine geringe zwar, das gebe ich zu, aber eigentlich dürften wir sie nicht vorübergehen lassen.“ Bruce drehte erregt an seinem Schnurrbart und legte los mit Fragen: „Ich verstehe nichts mehr. Wo ist da noch Hoffnung, wenn Sie sich diesem alten Gelbgesicht ausliefern?“ „Hört erst meinen Plan“, schlug der Archäologe vor. „Zu der von Topki festgesetzten Stunde werde ich zum Tor der Erde zurückkehren mit zerrissenen Kleidern, zerzausten Haaren und blutverschmiertem Gesicht. Wenn ich allein komme, wird der alte Weise sehr beunruhigt sein. Ich erzähle ihm dann, daß ich nicht mit euch in Kotamdo bleiben wollte und daß ihr versucht habt, mich mit Gewalt zurückzuhalten. Mit dieser Komödie kann ich dem Pseudo-Weisen hoffentlich begreiflich machen, wie brennend ich gewünscht habe, die Erde wiederzusehen. Habt keine Angst, ich werde mir gut überlegen, was ich sage, und meine Zuhörer nicht enttäuschen.“ „Tadellos“, gab der Major zu, „aber was erhoffen Sie sich anderes von diesem Unternehmen als ein Leben in Bakrahna?“ „Die Pläne natürlich. Die Pläne des außerdimensionalen Kreises, den Gora Topki konstruiert hat!“
7. Kapitel Als der Archäologe das gesagt hatte, rief Barbara mit ihrem üblichen Ungestüm aus: „Sie sind ein toller Kerl, Kary!“ Luwhana sah Kariven nachdenklich an, dann meinte sie: 92
„Wenn du die Pläne rauben willst, deren Versteck du zuerst ausfindig machen mußt, begibst du dich in eine ungeheure Gefahr. Wäre es nicht besser, zu warten, bis unsere Techniker eine ähnliche Erfindung gemacht haben? Dann kannst du immer noch auf die Erde zurück, um deine Eltern, deine Freunde und die Frau, die vielleicht auf dich wartet, wiederzusehen.“ „Du bringst mich auf eine gute Idee“, rief Kariven aus. „Es wartet zwar niemand auf mich, weder in Frankreich noch sonstwo, aber in Gora Topkis Augen könnte ich meine Rückkehr nach Bakrahna besser rechtfertigen, wenn ich sagte, daß es wegen einer Frau ist.“ Kariven hob den Blick zu Luwhana, und mit merkwürdig fremder Stimme fügte er hinzu: „Die Liebe verleitet die Menschen zu Handlungen, deren sie vielleicht sonst nicht fähig wären. Trotz seines Alters und seiner Weisheit wird Gora Topki dafür Verständnis haben und mir wahrscheinlich Glauben schenken.“ „Aber wie willst du wieder hierher kommen, da das Laboratorium von Bakrahna doch gewiß bewacht ist?“ „Ich werde schon einen Weg finden. Die Gefahr ist groß, das weiß ich, aber sie ist nicht unüberwindlich. Wenn es mir gelingt, werden sich die Techniker von Kotamdo schon bald mit der Konstruktion des außerdimensionalen Kreises befassen. Auf diese Weise haben wir nicht nur die Möglichkeit, auf die Erde zurückzukehren, sondern können so oft wir wollen unsere Freunde in Athug besuchen.“ Luwhana dankte ihm mit einem reizenden Lächeln, und Kariven las in ihren Augen etwas, das ihn mit Freude erfüllte. Die junge Königin kam auf ihn zu und zog von ihrer Hand einen großen goldenen Ring, den sie ihm reichte. „Dieser Ring möge dir ein Unterpfand meiner Freundschaft sein, Jean Kariven. Merk dir gut, was ich dir dazu sage. Wenn man den Diamanten, der in den Ring eingearbeitet ist, hin und 93
her bewegt, wird der Ring zu einer gefürchteten Waffe. Der synthetische Stein sendet einen Strahl aus, der für immer blind macht. Das ist die einzige Waffe, die du ohne Aufsehen bei dir tragen kannst. Sie möge dir bei deinem gefährlichen Vorhaben helfen.“ Die bezaubernde Herrscherin ergriff mit ihren zarten Händen Karivens Rechte und streifte ihm den todbringenden Ring über. Scheinbar mechanisch behielt er Luwhanas Hand in der seinen, sie zog sie nicht zurück. „Viel Glück, Kary“, flüsterte sie, und so leise, daß es niemand sonst hören konnte, setzte sie hinzu: „Alle meine Gedanken werden dich begleiten.“ Ohne den Blick von ihr zu wenden, drückte Kariven einen zärtlichen Kuß auf ihre kleine Hand. „Ich komme wieder, Luwhana!“ Kwantor und seine Freunde begleiteten ihn zum „Tor der Erde“. Dreihundert Meter davon entfernt blieb Kariven stehen. Mit beschmutzten Hosen und zerrissenen Hemdsärmeln machte er sich für die Komödie bereit, die er den Sieben Weisen von Tibet Vorspielen wollte. Kwantor goß ihm eine blutrote Flüssigkeit in die Nase, die langsam über Karivens Gesicht und dann auf sein Hemd floß. In diesem Aufzug sah er tatsächlich schlimm zugerichtet aus. Er wühlte noch seine Haare durcheinander, nahm Abschied von seinen Freunden und lief, so schnell er konnte, los. Das tat er absichtlich, damit das Gelbgesicht auch nicht den mindesten Verdacht schöpfte. Kariven winkte den Wachtposten am Erdentor freundschaftlich zu und verschwand alsbald im Nichts. Früher als vorgesehen erschien der Archäologe in Gora Topkis Laboratorium, der mit einer so schnellen Rückkehr nicht gerechnet hatte. Kariven stieß mit dem Kopf gegen eine Schalttafel und verlor durch den harten Anprall das Bewußtsein. 94
Erstaunt betrachtete der alte Weise seinen Gefangenen, der staubbedeckt, mit zerrissenem Hemd und blutender Nase auf dem Boden lag. Als Kariven wieder zu sich kam, sah er, daß der Alte gerade den Raum verließ. Schnell schloß er die Augen, denn die Tür öffnete sich schon wieder, und der Tibetaner trat mit einem feuchten Tuch und einem Fläschchen Medizin ein. Als der Weise eben das „Blut“ von dem Gesicht des Verwundeten tupfen wollte, drehte dieser den Kopf zur Seite und murmelte unzusammenhängendes Zeug. Neugierig spitzte Gora Topki die Ohren. „Laßt mich“, seufzte Kariven in gespieltem Delirium, „ich will nicht, nein! Die Erde! Ich will zu Jany! Ich … laßt mich doch – ich will zurück, ich werde die Gelben täuschen – oh, Jany, ich hätte dich nie verlassen dürfen. Ich …“ Mit sarkastischem Lächeln versetzte Topki Kariven ein paar kräftige Stöße, dann legte er ihm das feuchte Tuch auf die Stirn. Langsam kam der Archäologe wieder zu sich und richtete sich halb auf. „So“, sagte Gora Topki zornig, „Ihre Freunde sind also in der Dimension X geblieben? Soweit ich verstanden habe, versuchte man, auch Sie zurückzuhalten. Sie haben sich sogar geprügelt mit Ihnen – oder mit den Bewohnern von Kotamdo?“ „Mit meinen Freunden“, erwiderte Kariven. „Warum sind Sie zurückgekommen, wo Sie doch jetzt wissen, daß der Kreis nur eine beschränkte Wirkung bat?“ „Ich“, stammelte Kariven, „ich ziehe die Erde vor.“ Gora Topki horchte auf, mit listigem Lächeln fragte er: „Und wer ist Jany?“ Der Archäologe tat sehr überrascht: „Woher wissen Sie …?“ „Bei Ihrer Rückkehr sind Sie hier gegen eine Schalttafel gestoßen und ohnmächtig geworden“, erwiderte der Greis, „und dann haben Sie gesprochen. Sie glauben also ernstlich, Sie 95
könnten aus Bakrahna entkommen, indem Sie die ‚Gelben’ täuschen? Das sind Ihre eigenen Worte – und Sie wollen ‚Jany’ wiederfinden. Wer ist das?“ fragte er zum zweiten Male. „Meine Verlobte“, log Kariven. „Sperren Sie mich ruhig ein, quälen Sie mich, aber wenn Sie mich nicht töten, tue ich alles, um sie wiederzufinden. Ich weiß, es ist unsinnig. Wir sind Feinde.“ Kariven ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und spielte den Verzweifelten. „Alles, alles würde ich tun, um sie wiederzusehen. Vielleicht habe ich schon den armen Major Bruce getötet, der mich von Ihrem teuflischen Kreis zurückhalten wollte. Ich entsetze mich vor mir selbst, aber ich kann nicht anders. Ihr Asiaten, was wißt ihr schon von der Liebe? Wenn man liebt, ist man oft nicht mehr Herr seiner selbst.“ Gora Topki hörte ihm nachdenklich zu. „Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß wir nicht unnötig Blut vergießen. Ich hätte das Recht, Sie zu töten; aber ich werde mir erst Ihren Bericht anhören und Ihnen vielleicht sogar einen Vorschlag machen.“ Heimtückisch fuhr er fort: „Was haben Sie in der Dimension X erfahren? Was ist aus den Mitgliedern der Expeditionen Bates und Stoker geworden?“ Kariven berichtete, über die Ankunft auf Kotamdo, über den Empfang bei der Königin und die Begegnung mit Professor Bates und Dr. Stoker. „Sie alle denken nicht daran, zurückzukehren. Die Bewohner von Kotamdo haben sie aufgenommen und ihnen eine Beschäftigung gegeben. Sie wollen nie mehr auf die Erde und besonders nicht nach Bakrahna zurück. Ach, übrigens arbeiten die Wissenschaftler in Athug mit Feuereifer an der Konstruktion eines außerdimensionalen Kreises, und sie werden schon bald soweit sein“, bluffte der Archäologe. Der Alte machte ein verwundertes Gesicht, aber er be96
herrschte seine Erregung. Gelassen und selbstsicher erwiderte er: „Das beunruhigt mich nicht. Ich werde in allernächster Zeit einen Riesenkreis konstruieren, durch den man ein Geschwader von Ionosphären-Raketen senden kann. Damit zerstöre ich Athug und seine erlauchten Wissenschaftler. Solange der außerdimensionale Kreis nur von der Erde aus funktioniert, haben wir nichts zu befürchten. Die Bewohner von Kotamdo können niemals hierher kommen, um die Pläne von ‚Ouroboros’ zu rauben. Diese Dokumente werden sorgsam gehütet im Heiligtum des Bu…“ Beinahe wäre dem Alten das Wort entschlüpft, aber er besann sich noch rechtzeitig. „Wir haben sie an einen sicheren Ort gebracht. Im übrigen geht Sie das ja alles gar nichts an.“ „Was Sie nicht sagen!“ entgegnete Kariven ironisch. Der Greis steckte seine Hände in die weiten Ärmel der Tunika und erklärte: „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie mir gehorchen und hierbleiben, ohne einen Fluchtversuch zu machen, der Sie ohnehin in den sicheren Tod treiben würde. Wie Sie gesehen haben, ist Bakrahna auf einem alten Krater erbaut, und der einzige schmale Ausgang ist ständig von Spezialgeräten überwacht, die einen tödlichen Strahl aussenden. Selbst ein Hund auf allen vieren käme nicht hindurch, ohne die Geräte in Bewegung zu setzen, deren Wirkung sich automatisch auf die ganze Gebirgskette überträgt. Die Gipfel sind unerreichbar, und außerdem sind sie durch elektrische Anlagen geschützt. Flucht ist Ihnen also unmöglich. Unter diesen Umständen können Sie sich in Bakrahna frei bewegen. Noch eins, was Sie allerdings als Archäologe wissen werden: Der Buddhatempel ist heilig. Versuchen Sie nicht, aus Neugier dort einzudringen. Die Gläubigen sind sehr eigen in religiösen 97
Fragen und würden es nicht zulassen, daß ein unreiner Weißer das Heiligtum von Gothama-Buddha durch seine Anwesenheit entweiht. Wenn Sie aber auf einen Besuch im Tempel bestehen, werde ich Sie selbst hinführen, jedoch erst in drei Monaten.“ „Ich wäre Ihnen sehr dankbar. Aber was sollen all diese Vorschläge, da ich doch Ihren Ideen feindlich gesinnt bin. Und warum dieser Aufschub von drei Monaten?“ „Weil in einigen Tagen, spätestens in zwei Wochen die Horden der ‚Schneemenschen’ mit den besten kodamdonischen Waffen ausgerüstet und von ganz Asien unterstützt, die Welt erobern werden. Unsere Ionosphären-Raketen bahnen den Weg, indem sie die Rüstungszentren bombardieren, und dann werden die Himalaya-Riesen in die durch den plötzlichen Angriff völlig durcheinander geratenen Länder eindringen. Die Überlebenden werden den schrecklichen Eindringlingen keinen Widerstand leisten und die Flucht ergreifen.“ „Aber wenn sie Paris bombardieren“, rief Kariven aus, „dann muß ja Jany sterben. Wozu machen Sie mir zuerst Hoffnungen, wenn Sie sie gleich darauf wieder zerstören?“ „Ihr Europäer“, meinte der Gelbe und kniff seine Augen noch mehr zusammen, „ihr habt einen unglaublichen Egoismus. Das Schicksal Ihrer Stadt und Ihrer Mitmenschen scheint Sie weniger zu erschüttern als der eventuelle Tod derjenigen, die Sie lieben! Das ist paradox! Sie geben der Frau eine Bedeutung, die sie bei uns nie gehabt hat. Aber regen Sie sich nicht auf! Ihr Land wird wahrscheinlich nicht bombardiert, weil seine Rüstungsbestände nicht der Rede wert sind. Die hauptsächlichen amerikanischen Stützpunkte liegen in Deutschland in der Nähe des Eisernen Vorhangs. Dort und in den USA wird unser Angriff starten. Die europäischen Länder werden sich ohne Widerstand ergeben. Wenn unser Plan soweit gelungen ist, werden Sie eingesetzt.“ 98
„Ich?“ rief der Archäologe verblüfft. „Ja, Sie. Durch Ihre vielen Expeditionen und Veröffentlichungen haben Sie sich einen Namen gemacht. Ihr Bild ist mit lobenden Artikeln schon fast in allen Tageszeitungen erschienen. Sie sind also ein berühmter Mann, und aus diesem Grunde lassen die Sieben Weisen von Tibet Ihnen das Leben, um Ihre Persönlichkeit zu verwenden. Sobald unser Angriff auf die USA und Mitteleuropa siegreich beendet ist, werden Sie mit einem unserer Raketen-Geschwader nach England und Frankreich mitfliegen. Sie sollen die Regierungen dieser von uns verschonten Länder aufsuchen und die Vermittlerrolle spielen, indem Sie ihnen berichten, was Sie über unsere ausgezeichnete Organisation wissen. Ihr Ruf und unsere Macht werden genügen, daß die Regierungen in eine prompte und totale Kapitulation einwilligen. Sie werden gewissermaßen unser diplomatischer Gesandter sein.“ Kariven wußte nicht, was er zu diesem sorgfältig ausgeheckten Plan sagen sollte. Der Gelbe dachte wohl, er sei einverstanden und zu allem bereit um einer egoistischen Liebe willen. „Sie geben mir also“, antwortete er, „die Möglichkeit, den mir teuersten Menschen wiederzusehen, aber dafür soll ich den Verräter spielen. Da bin ich in einer auswegslosen Lage. – Sie haben gewonnen“, sagte er resigniert, „nach dieser Niederlage werde ich nicht wagen, je wieder in meiner Heimat zu leben. Wenn Jany begreift, daß ich der Stimme meines Herzens und meinem Egoismus gefolgt bin, verzeiht sie mir vielleicht. Wir werden Frankreich verlassen und irgendwo zurückgezogen leben, weit von denen, die mir meine Handlungsweise vorwerfen könnten. Einen Verräter, einen Verbrecher haben Sie aus mir gemacht.“ Der teuflische Greis zuckte mit den Achseln und entgegnete mit unschuldigem Lächeln: 99
„Sie werden zum Ruhme der ‚Unbesiegbaren Goldenen Sonne' beitragen und dafür reichlich belohnt werden.“ Kariven wischte sich mit der Hand das „Blut“ aus dem Gesicht und gab sich geschlagen. Erstaunt blickte der Alte auf seine rechte Hand und fragte mit gerunzelter Stirn: „Oh, ein Ring! Den hatte ich gar nicht bemerkt, als Sie hier ankamen?“ Dem Archäologen wurde abwechselnd heiß und kalt. „Das ist ein Geschenk von Jany“, erklärte er so gleichgültig wie möglich. Der Gelbe kam heran und studierte gründlich den herrlichen Diamanten. „Eine seltene Arbeit“, brummte er, „Ihre Verlobte muß unerhört reich sein, daß sie Ihnen einen so wertvollen Ring schenken kann. Ich habe nie einen so schönen Diamanten gesehen.“ Kariven mußte sich wahnsinnig beherrschen, um seine Hand in den hageren Fingern des Alten ruhig zu halten. „Janys Vater ist Juwelier in Amsterdam“, sagte er. „Interessant, sehr interessant“, entgegnete das Gelbgesicht in höhnischem Ton. „Ich verbiete Ihnen, an der Aufrichtigkeit meiner Gefühle zu zweifeln!“ ereiferte sich Kariven. „Na, na, beruhigen Sie sich“, sagte der Weise besänftigend, „ich werde Sie in Gesellschaft bringen – zur Zerstreuung. Ihr Freund Dormoy hat sich intelligenterweise in unsere Macht begeben. Er wollte mitten in der Nacht am Rande von Bakrahna landen.“ Der Alte lachte kurz auf und fuhr fort: „Er schien nicht zu wissen, daß unsere Radargeräte seinen Heliokopter schon seit geraumer Zeit verfolgten. Sie werden ihn gleich sehen, aber ich rate Ihnen, nichts von unseren Abmachungen zu erwähnen. Dormoy könnte es seltsam finden, daß Sie unser Verbündeter sind. Kommen Sie. ich werde Sie zu ihm führen“ 100
Als Michael Dormoy seinen Freund Kariven in Begleitung von Gora Topki kommen sah, traute er seinen Augen kaum. Er hatte nicht erwartet, den Archäologen in so gutem Zustand zu finden. Nachdem sie sich brüderlich umarmt hatten, sah Dormoy Kariven fragend an. Er wollte wissen, wo die anderen waren. Mit Gora Topkis Einverständnis erklärte Kariven dem Freund, daß die anderen jetzt in der Dimension X lebten. Es war nicht so einfach, dem Geophysiker begreiflich zu machen, daß seine Freunde sich in einer anderen Sphäre aufhielten, ohne tot zu sein. Gora Topki bestätigte Karivens Bericht. „Ich werde Befehl erteilen, daß ihr ohne Furcht in Bakrahna umhergehen könnt“, erklärte der Alte dann, „bleibt solange hier, bis ich euch hole.“ Dormoy und Kariven standen in einem fünf Meter langen Raum mit einem Tisch, einem kleinen Bücherschrank und zwei Betten. Vom Fenster aus konnten sie acht Meter tief auf den Hof des Lamaklosters sehen. Tibetaner und einige Yetis, alle in scharlachroten Gewändern, kamen und gingen. In einer Ecke des Zimmers auf einem niedrigen Holztischchen stand ein achtzig Zentimeter hoher Buddha aus purem Gold. Anscheinend waren seine rubinrot leuchtenden Augen von innen elektrisch erleuchtet. Kariven untersuchte die Mundöffnung der Statue und machte seinem Freund ein Zeichen. Erstaunt schwieg Dormoy. Kariven nahm ihn am Arm und zog ihn zum Fenster, dann fragte er ihn: „Haben sie dich gequält, Mike?“ Während der Gefragte antwortete, hauchte Kariven gegen die Scheibe, dann schrieb er schnell mit dem Zeigefinger das Wort „Mikrophon“ darauf. Er wischte es gleich wieder aus und zeigte auf die Statue. Michael Dormoy hatte verstanden und sprach weiter: „Glaubst du, daß Bruce, Angelvin und die kleine Barbara sicher sind da draußen in dieser merkwürdigen Welt?“ 101
In diesem Augenblick betrat der alte Tibetaner lautlos wie ein Schatten das Zimmer. „Folgt mir“, sagte er, „ich habe unseren Yetis befohlen, euch in Ruhe zu lassen. Ich hoffe, ihr werdet eure Gefangenschaft mit Geduld tragen. Und nun kommt! Um acht Uhr wird euch in diesem Zimmer das Abendessen serviert.“ Nachdem die Männer durch mehrere Räume gegangen waren, standen sie plötzlich vor einem Kloster. Sie schlenderten langsam einher wie friedliche Spaziergänger. Das alte Bakrahna hatte enge und breite Straßen, die sich alle durch besondere Sauberkeit auszeichneten. Hier und da blieben sie stehen, um ein Relief, einen Tempel oder eine dieser Riesenporzellanfiguren zu bewundern, in denen zum größten Teil Fernsehschirme verborgen waren. Bald kamen Sie zu einem großen Platz, auf dem sich ein mächtiger Tempel erhob. Vor seinem bronzenen Portal standen zwei Riesen Wache. Die Spitze dieses Tempels schmückte eine gigantische Buddhafigur mit vier Köpfen, die in vier Himmelsrichtungen schauten. Über dem Buddhakopf sah man die Schlange „Ouroboros“ als Kreis mit dem Schwanz zwischen den Zähnen. „Weißt du, was das bedeuten soll, Kary?“ „Gothama-Buddha verkörpert die Weisheit, während die Schlange Ouroboros das Symbol der Ewigkeit und der vollkommenen Erkenntnis ist. Wir wollen lieber den Priester da fragen.“ Ein kahlköpfiger Buddhapriester in gelber Tunika kam die Tempelstufen herab und musterte die Weißen verächtlich. Er sagte nur zwei Worte in seiner Sprache. „Nicht gerade gesprächig, der Bursche“, grinste Dormoy. „Hast du was verstanden?“ Karivens nachdenkliche Züge hellten sich auf. „Es ist der Buddhatempel!“ 102
Dormoy sah ihn neugierig und erstaunt ob seiner Freude an. „Was ist daran so begeisternd?“ „Komm mit!“ sagte Kariven nur. Als sie weit genug von den Yetis weg waren, drückte er sich deutlicher aus. „Als Gora Topki mir von den Erfindungen, über die Tibet verfügt, erzählte, ist ihm im Überschwang der Begeisterung ein Hinweis entschlüpft. ‚Die Pläne der Erfindungen von Ouroboros’, sagte er – ich erkläre dir später, was das heißt –, ‚sind gut versteckt im Heiligtum des Bu…’ Das nicht vollendete Wort sollte Buddha heißen!“ „Im Heiligtum Buddhas!“ Verständnislos kratzte sich Dormoy am Kopf. „Gut, das habe ich verstanden. Die Pläne dieser komischen Erfindung, wie du sagst, sind in dieser Festung, die von zwei baumlangen Riesen bewacht wird. Na und? Bringt uns das irgendwie weiter?“ „Aber natürlich!“ ereiferte sich Kariven. „Wenn wir uns in den Tempel hineinschleichen können und die Pläne des Schlangenkreises entdecken, entwischen wir sofort in die Dimension X. Wir sind dann in Sicherheit auf Kotamdo, wo die wunderbare Luwhana regiert“, endete er so strahlend, als ob ihm schon alles gelungen wäre. „Ich komme bei deinen gelehrten Ausführungen nicht mehr mit. Willst du mir nicht einmal in Ruhe erklären, was es mit den Plänen, mit dem Schlangenkreis und der Dimension X auf sich hat? Und wer ist denn nun schon wieder Luwhana?“ „Luwhana ist bezaubernd, entzückend und …“ Er hüstelte und wechselte das Thema. „Selbstverständlich, Mike, ich werde dir alles erklären. Wenn du die ganze Geschichte weißt, wollen wir versuchen, diesem makabren Gelbgesicht, der meint, er könnte mich weiterhin hier gefangen halten, einen Streich spielen.“ 103
8. Kapitel Drei Tage vergingen, ohne daß die Forscher etwas unternehmen konnten. Sie hatten, um die Zeit totzuschlagen, aufmerksam Bakrahna durchstreift und kannten sich bereits gut aus. Am Morgen des vierten Tages kam Gora Topki höchstpersönlich in ihr Zimmer. Nachdem er sich, wie es das tibetanische Zeremoniell vorschreibt, verbeugt hatte, erkundigte er sich höflich nach ihrer Gesundheit und erklärte dann dien Grund seines Besuches. „Ihr sollt bei der ‚Arbeit’ eines unserer Schüler zuschauen, der in der heiligen Stadt Benares ist.“ Die Hände tief in den Ärmeln seines Gewandes vergraben, schritt der Greis ihnen voran bis zu einem der untersten Stockwerke des Klosters. Schließlich kamen sie in einen U-förmigen großen Saal, der so ähnlich aussah wie ein Tonstudio. Ein verchromter Tisch mit einem Graphoskop und einer Schalttafel mit vielen Knöpfen und Zeichen in tibetanischer Schrift bildeten die ganze Einrichtung. Die Wand am Ende des Studios war ganz durchsichtig wie eine Glaswand, aber dahinter konnte man nichts erkennen. Was lag wohl dahinter? Ein Zimmer oder der Klosterhof? „Setzt euch“, sagte der Weise und wies auf eine gepolsterte Metallbank. Er setzte sich zwischen seine beiden Gäste vor das Pult mit dem Graphoskop und drückte auf einen Kontaktschalter. Die Karte von Behar im Nordwesten der indischen Provinzen erschien auf dem rauhen Glas. Vorsichtig drehte der Alte eine bezifferte Scheibe, bis an der Wand im Nordosten die Stadt Benares erschien. Die Karte lag zum Greifen nah vor den Zuschauern, dann verschwand sie und 104
machte einem Stadtplan von Benares Platz. Die runzligen, zerfurchten Hände des Gelben tasteten von einem Schaltknopf zum anderen, während er mit halbgeschlossenen Augen aufmerksam auf den Plan schaute. Er stellte den Ort ein, den er suchte und drückte dann auf den grünen Knopf einer mehrfarbigen Tastatur. Der Raum wurde stockdunkel, die rechteckige Wand am Ende des Saales erhellte sich langsam, und zum großen Staunen der zwei Zuschauer erschien ein Platz mit einer wimmelnden Menge Hindus aller Kasten. Ein dreidimensionaler Fernsehfilm hätte Kariven und Dormoy nicht so überraschen können wie dieses Panorama, das etwas phantastisch Natürliches an sich hatte. Vor ihnen rollte keine ferngefilmte Szene ab, sondern es war der Schauplatz selbst mit den wirklichen Personen, mit dem tatsächlichen Hintergrund und der dazugehörigen Geräuschkulisse. „Das ist einfach toll!“ rief Michael Dormoy erregt dazwischen. „Sind wir jetzt in Bakrahna im Laboratorium oder in Benares?“ „Toll ist noch gelinde ausgedrückt“, meinte Kariven, „man glaubt, man hätte diese Leute leibhaftig vor sich. Wenn wir nicht sicher wüßten, daß wir zweitausend Kilometer von ihnen entfernt sind, würde ich mal einen von ihnen antippen, um zu sehen, ob das ganze ein Traum oder ein Wunder der StereoFernsehtechnik ist.“ Gora Topki lächelte herablassend und sah den Archäologen an. „Machen Sie doch gleich den Versuch. Sie träumen nicht, Kariven. Gehen Sie ruhig zu der Wand, die ins Nichts führt, und überzeugen Sie sich.“ Kariven warf dem Gelben einen mißtrauischen Blick zu und schaute dann fragend zu seinem Freund hinüber. Der zuckte die Achseln. „Was kann dir schon passieren, Kary. Es ist, wie du sagst, Stereotelevision.“ 105
Der Forscher erhob sich zögernd und durchschritt den langen Raum. Als er nur noch zehn Zentimeter von der Wand entfernt war, rief Topki hinter ihm her: „Nicht weitergehen jetzt! Strecken Sie nur die Hand aus!“ Kariven sah in einem Meter Entfernung alle möglichen Hindus an sich vorbeiziehen. Er zwinkerte dem Weisen lustig zu und schluckte. Dann hob er seinen Arm. Er stellte fest, daß er auf keinen Widerstand traf. Die Wand war nicht mehr da. Seine Hand streckte sich ins Leere, und er fühlte einen warmen feuchten Luftzug. Zögernd berührte er einen Hindu, der erhobenen Hauptes und verächtlich auf die Füße der Elenden spuckend, einherstolzierte. Kariven war erschüttert über dieses Benehmen gegenüber den Angehörigen der niedrigen Kasten und gab dem Überheblichen eine sanfte Ohrfeige. Dann zog er hastig die Hand zurück, fassungslos vor Staunen. Die Leute existierten also wirklich hinter der Wand! Der Hindu blieb sofort stehen und rückte seine verrutschte Kopfbedeckung wieder gerade. Mit großen Augen und grenzenlosem Erstaunen sah er um sich. Er stand völlig frei, also konnte sich keiner seiner Nachbarn diese Unverschämtheit erlaubt haben. Er warf entzürnte Blicke um sich, die aber gleich darauf einem furchtsamen Ausdruck wichen. Vor ihm hatten gerade ein paar Gläubige eine kleine Statue von Kâmadeva, dem Gott der Liebe, enthüllt. Das lächelnde Götzenbild schien den Vornehmen anzusehen, der sich in diplomatischer Reue, hervorgerufen durch die göttliche Warnung – die Ohrfeige Karivens – dem Gott zu Füßen warf. Mit einer demütigen Bewegung warf er dann einem Bettler ein paar Münzen zu. Der so unerwartet Beschenkte stammelte Dankesworte und entfernte sich, indem er den „barmherzigen“ Herrn und seine Nachkommenschaft segnete. Sehr beeindruckt kam Kariven zu Gora Topki zurück, der in scherzhaftem Ton sagte: 106
„Sehen Sie, dieser Hindu wird bis zu seinem letzten Tag der Meinung sein, Kâmadeva habe ihn, zornig über sein hochmütiges Benehmen, bestraft.“ Vor den Blicken der Zuschauer erschien jetzt ein freier Platz, in dessen Mitte ein magerer Hindu kauerte. Das schmutzige Grau seines Turbans und seines Schurzes unterschieden sich kaum von der Asche und dem getrockneten Kuhmist, der seinen Körper bedeckte. Nach und nach gruppierte sich die schweigende Menge um ihn herum und erwartete, daß der Asket aus seiner tiefen Meditation erwachte. Kariven wurde ungeduldig. „Worauf wartet er eigentlich noch? Er soll doch endlich mit der Vorstellung beginnen, dieser Fakir!“ Lächelnd antwortete Gora Topki: „Dieser bekannte Fakir wurde in einem unserer Klöster erzogen. Er betet zu den Göttern und wartet auf ihr Zeichen. Er glaubt, daß die Götter und die geheimen Mächte ihm beistehen. Jedes Mal wenn er ein Wunder vollbringt, das die Naturgesetze widerlegt, meint er, der Himmel käme ihm zu Hilfe. In Wirklichkeit sind es unsere Erfindungen, die in ganz Asien diese Pseudo-Wunder bewirken. Wenn die Fakire, die Yogis und die anderen Magier wüßten, daß sie unsere Marionetten sind und ihre Macht nicht größer ist als die ihrer primitiven Bewunderer, würden sie sicher vor Enttäuschung sterben. So sind die Menschen nun mal! Diese Wundertäter genießen ziemliches Ansehen und haben einen großen Einfluß auf die Masse. Wenn wir uns eines Tages dieser ‚Schüler’ bedienen wollen und ihnen bestimmte Anweisungen geben, werden ihre Anhänger genau das tun, was sie befehlen. Jetzt will ich dem Fakir da ein bißchen helfen“, scherzte Gora Topki, „sonst können die Zuschauer noch lange auf das Wunder warten!“ 107
Bei diesen Worten drehte er langsam an einem Schalter. Unter den furchtsamen und verblüfften Blicken der Gläubigen entschwebte der große dürre Magier in die Lüfte, ohne seine sitzende Stellung aufzugeben. Der Fakir stieg immer höher, plötzlich hielt er zehn Meter vom Boden entfernt an mit unbeweglichem Gesicht, Arme und Beine gekreuzt. Ein bewunderndes Raunen ging durch die ekstatische Menge. Gora Topki wiegte den Kopf lachend hin und her und schien sich köstlich zu amüsieren. Dann drehte er an einem anderen Schalter, und, o Wunder, der Fakir flog durch die Luft, über die Köpfe der Menge hinweg und landete schließlich wieder am Boden. Das Gelingen seiner Vorführung wirkte so stark auf den Hindu, daß ihm große Schweißperlen über die Stirn liefen. Er war überzeugt davon, daß er seine Kräfte für das eben gezeigte Wunder restlos verausgabt hatte. Mit angespannter Miene und halbgeschlossenen Augen kehrte er langsam, unter dem Beifall seiner unfähigen und nicht direkt mit den Göttern verbundenen Brüder, aus seinem Trancezustand zurück. Endlich öffnete der „Beherrscher der übernatürlichen Kräfte“ die Augen und sah mit Befriedigung, wie sein Spendenkorb sich mit Münzen und Reispaketen füllte. „Und das ist die ganze Magie!“ schloß der alte Tibetaner und drückte auf den Kontaktschalter. Darauf verschwand die Szene, und an ihrer Stelle war wieder die transparente Wand zu sehen. „Also dann“, meinte Kariven nachdenklich, „sind Sie der Mann, der die geheimnisvollen übernatürlichen Vorstellungen in Indien in der Hand hat? Sie unterstützen von Bakrahna aus den Aberglauben der Eingeborenen, um sie immer in einer bestimmten Verfassung zu halten, die für Ihre Pläne günstig ist. Zur gegebenen Stunde werden Ihre unter Suggestion stehenden 108
Schüler je nach Ihrem Wunsch die Masse dazu bringen, daß sie sich gegen die Weißen auflehnt.“ „Daran ist kein Zweifel“ „Die gelbe Gefahr“, murmelte Dormoy, dem es irgendwie unbehaglich zumute war. „Ja, ganz recht“, entgegnete Gora Topki, „die gelbe Gefahr, wie Sie sagen. Die östlichen Völker sind es müde, unter der Vormundschaft der westlichen Welt zu leben. Wir werden den fünf Kontinenten beweisen, daß die wirklichen Beherrscher der Erde die Gelben sind.“ Ein grelles Klingeln unterbrach das Schweigen, das auf diese düsteren Voraussagen gefolgt war. Der Alte drückte auf einen Knopf, und ein Fernsehschirm leuchtete auf. Ein Tibetaner mit Schnurrbart erschien. Nach einigen atemlosen Worten verschwand er wieder. Der Fernsehschirm blieb hell. Mit heiterem Lächeln verkündete der Weise: „Ein Geschwader von acht viermotorigen Militärflugzeugen steuert Bakrahna an. Sie überfliegen gerade die Wüste zwischen dem Krater von Kartsang-La und dem Paß bei Danka-KiLong. In einer Viertelstunde werden diese Maschinen Befehl zum Angriff geben. Wenigstens glauben sie das jetzt noch. Ach, übrigens, Herr Dormoy“, fragte das Gelbgesicht mit unschuldiger Miene, „hatte ich Ihnen. schon gesagt, daß unsere Funkgeräte alle Funkmeldungen, ganz gleich welcher Art und von welcher Stelle sie gesendet werden, aufnehmen und registrieren? Wenn Sie das gewußt hätten, hätten Sie die englische Garnison in Gorakhpur wohl nicht verständigt? Wir haben sogar eine Funkstation in Katmandu, von wo Ihre Meldung zurückgefunkt wurde.“ Diese Erklärung verschlug Dormoy die Sprache. Er dachte an die Fallschirmjäger, die jede Minute den Gelben in die Hände 109
fallen konnten, und indirekt war es seine Schuld. Auf dem Fernsehschirm erschienen jetzt eine nach der anderen die viermotorigen Maschinen. In untadeliger Reihenfolge überflogen sie den Danka-Ki-Long-Paß, und binnen weniger Minuten würden sie Bakrahna erreicht haben. Mit unbeweglichem Gesicht, bequem an die Wand gelehnt, erwartete Gora Topki den Angriff. Sobald die ersten Maschinen den Krater überflogen, traf sie eine nach der anderen ein blitzender Strahl. Mit gedrosselten Motoren und leicht vibrierenden Tragflächen schwebten die acht Maschinen geräuschlos wie große verletzte Vögel über dem Krater. An die vierzig Fallschirmjäger sprangen aus den zwei letzten Maschinen, aber die Unglücklichen hatten nicht einmal mehr Zeit, den Fallschirm zu öffnen. Ein grellroter Strahl traf sie, und sie fielen leblos auf den Kratergrund, nicht weit von der verfluchten Stadt, die sie hatten angreifen wollen. Mit lautem Krachen zerbarsten die acht Maschinen in der Wüste und hinterließen nichts weiter als eine gelbe Staubwolke, die noch lange zwischen den Felsen hing, denen das Geschwader zum Opfer gefallen war. Ungefähr fünfhundert Männer, Opfer der Pflicht, ruhten zwischen den rauchenden Resten der fliegenden Festungen. Der vor Schmerz halb wahnsinnige Dormoy mußte sich aufs äußerste beherrschen, um dem Gelben nicht an die Kehle zu springen. Kariven nahm ihn mit zusammengebissenen Zähnen am Arm und hielt ihn krampfhaft zurück. Es nützte nichts, den widerlichen Alten jetzt zu töten. Es hieß abwarten. „Seht ihr“, triumphierte der Physiker in der scharlachroten Tunika, „die Sieger von gestern sind heute die Besiegten. Keiner kann dem Siegeszug der Unbesiegbaren Goldenen Sonne Einhalt gebieten!“ 110
„Die unbesiegte, aber nicht Unbesiegbare Goldene Sonne“, setzte Dormoy hinzu. Topki sah ihn verächtlich an, dann drückte er auf einen Knopf und befahl den Wachtposten über die Fernsehanlage: „Schickt eine Patrouille zu der Unfallstelle und tötet alle Überlebenden! Von heute ab verdoppelt die Wachen und die Spähtrupps! Laßt alle Militärgebäude von Yetis überwachen – es ist nicht nötig, sich einige Tage vor der größten Offensive aller Zeiten noch in Gefahr zu bringen.“ Mit Aufbietung aller Willenskraft fragte Kariven so gelassen wie möglich: „Was haben Sie bei solchen Verteidigungsmitteln denn zu befürchten?“ Der alte Weise sah von einem zum anderen, und mit seinem ewig tückischen Lächeln bemerkte er: „Die Wege des Schicksals sind unergründlich. Hinter der Sicherheit verbirgt sich das Mögliche. Ein unvorhergesehenes Geschehen liegt im Bereich des Möglichen. So etwas nennen Sie Imponderabilität.“ Ruhig hielt Kariven dem Blick des Gelben stand, aber seine Ruhe war nur gespielt. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Fürchtete sich Topki vor irgend etwas? Ahnte er die Imponderabilität voraus, deren Urheber er und Michael Dormoy sein würden? Da die beiden „freien“ Gefangenen sich in ihrem Zimmer nicht unterhalten konnten, gingen sie zu dem großen Platz, wo das Heiligtum Buddhas stand. „Wie wollen wir das nur schaffen?“ fragte Dormoy besorgt. „In acht Tagen überfällt die gelbe Flut die Welt. Selbst wenn wir noch heute abend in den Besitz der Pläne kämen, wäre es deinen Freunden auf Kotamdo möglich, den Kreis vor dem fatalen Tag fertigzustellen?“ „Das weiß ich auch nicht“, knurrte Kariven unwirsch, „und 111
wir haben zu unserer Verteidigung nur meinen Ring. Wenn wir wenigstens die Dolche und die Revolver hätten behalten können!“ „Bedauern hat keinen Zweck. Wir wollen lieber überlegen, wie wir aus dieser Geschichte herauskommen. Auf alle Fälle müssen wir die Nacht abwarten, um das … Unmögliche zu versuchen. Versuchen, mehr können wir nicht. Geht es schief, dann ist es geschehen um uns und … um die Erde.“ * Nach dem Abendessen streckten Dormoy und Kariven sich auf ihrem Lager aus. Sie sprachen über belanglose Dinge, dann rauchten sie eine Zigarette und legten sich schlafen. Im Dunkeln sah Kariven häufig auf die Uhr. Dormoy tat es ihm gleich, und alle Augenblicke hob er die Faust bei der Feststellung, daß die Zeiger anscheinend aus boshaftem Vergnügen nicht schneller vorwärts rückten. Endlich schlug die Klosteruhr Mitternacht. Für einige Sekunden schien es in der schlafenden Stadt lebendig zu werden. Dann, nachdem der Postenwechsel vorbei war, wurde alles wieder still wie in einem Gefängnis, wenn die Lichter ausgelöscht werden. Mit unendlicher Vorsicht standen die zwei Nachtwandler auf. Geräuschlos deckte Kariven den Buddha in der Ecke mit der schweren Bettdecke zu. Nach dieser Vorsichtsmaßnahme umwickelten sie ihre Stiefeln und öffneten leise die Tür. Wie schleichende Füchse näherten sich die beiden der ersten Tür. Mit einem Dietrich, den sie sich aus einem gefundenen Drahtrest gemacht hatten, versuchte Kariven, das Schloß zu öffnen. Nach ein paar vergeblichen Versuchen gab das Schloß nach, und die Tür öffnete sich. Geräuschlos huschten Dormoy 112
und Kariven durch den dunklen Raum, in dem das Schnarchen eines Schläfers ertönte. Der schwache Lichtschein vom Flur fiel geradewegs auf die Haare eines der sieben Weisen. Michel Dormoy beugte sich zu ihm, und mit sicherer Hand zielte er einen mächtigen Schlag auf den Schädel des Schlafenden, der ohne Unterbrechung aus dem nächtlichen in den ewigen Schlaf hinüberschlummerte. Kariven zog sich das Gewand des Toten an und gab Dormoy ein anderes, das er im Schrank gefunden hatte. Beide setzten sich die Lamamützen auf den Kopf. In diesem Aufzug konnten sie mit Leichtigkeit unbemerkt durch die Stadt gehen. Mit gesenktem Haupt, die Hände tief in den Ärmeln vergraben, stiegen sie die Steintreppen zum Klostergang hinunter. Als sie gerade durch das Portal schlüpfen wollten, sahen sie zwischen den Arkaden den Schatten eines Yeti mit einer Pistole in der Hand. Sie warfen sich einen beunruhigten Blick zu. Auf ein Zeichen Karivens entfernten sie die Stofflappen von ihren Schuhen, die sie in den großen Taschen der Kutte verschwinden ließen. Dann gingen sie weiter. Der Riese erschien in der Tür, die Waffe auf die Ankömmlinge gerichtet. Gesenkten Hauptes gingen Kariven und Dormoy entschlossen auf ihn zu. Der Schneemensch machte eine tiefe Verbeugung. Er hatte die scharlachroten Gewänder und vor allem die Lamamützen, das Würdenzeichen der Sieben Erhabenen, erkannt. Ein zweiter Wachtposten, den unsere Freunde nicht gesehen hatten, kam heran und dienerte vor den „Herrschern von Bakrahna“. Ohne den Kopf zu heben und den Angstschweiß wegzuwischen, setzten die beiden verkleideten Weisen ihren Weg fort. In den dunklen Straßen begegneten sie keiner Menschenseele, nach einer halben Stunde etwa kamen sie auf den großen Tem113
pelplatz. Das Heiligtum ragte in den nächtlichen Himmel. Im Mondlicht glich der massige Bau einem Titanenpalast, der nur darauf wartete, die beiden Zwerge, die seine jahrtausendealten Geheimnisse entweihen wollten, zu vernichten. Bevor sie sich auf ihren Entdeckungsgang machten, umwickelten die beiden ihre Schuhe wieder und überquerten, vorsichtig um sich schauend, den mondbeschienenen Platz. Sie stießen einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie im schützenden Schatten des Tempels untertauchten. Vorsichtig schob Kariven nochmals den Kopf um die Ecke, ein furchtbarer Schrecken lähmte seine Glieder. Einer der Yetis, der vor dem Eingang auf und ab wanderte, hatte gerade Halt gemacht. Seine riesige Hand riß das Gewehr hoch und zielte auf den Weißen, obwohl er das Gewand eines Herrschers trug. Offenbar war dies ein intelligenter Vertreter seiner Rasse.
9. Kapitel Bevor noch der Riese abdrücken konnte, streckte Kariven die Hand in seine Richtung aus. Mit steifen Fingern drückte er auf den Ring. Ein unerträglich heller Strahl leuchtete über des Riesen Gesicht. Ein schmerzliches Zucken verzerrte seine Züge. Er ließ die Waffe fallen und preßte die Hände vor die Augen. Dormoy stürzte zu ihm und gab dem Schwankenden mehrere Schläge mit der Bronzestatue, daß er sofort umsank. „Schnell“, flüsterte Kariven, „wenn keiner den Toten entdeckt, haben wir noch zweieinhalb Stunden Zeit, bevor die neue Wache kommt, Hast du den Schlüssel gefunden?“ Dormoy hielt ihm ein rechteckiges, gezacktes Gebilde entgegen, Kariven nahm es und eilte die Stufen empor. Eine Minute später öffneten sich die beiden schweren Bronzeflügel des Por114
tals. Dormoy drückte sie sorgfältig wieder zu und klemmte die kleine Statue dazwischen, für den Fall, daß die Tür sich von selbst wieder schloß. Im spärlichen Licht einer Taschenlampe bewegten sie sich langsam vorwärts. Das Heiligtum, das die Gläubigen nur bei besonderen Gelegenheiten betreten dürfen, bestand aus einem Saal, aber was für einem Saal! Vierzig Meter lang, zwanzig Meter breit und ungefähr fünfundzwanzig Meter hoch. In der Mitte erhob sich auf einem Sockel eine kolossale Buddhastatue. Über dem Antlitz des Gottes lag ein geheimnisvolles Lächeln, und aus den gesenkten Augen schien er den Eindringlingen wohlwollend entgegenzublicken. „Die Pläne können nur in der Statue selbst sein“, flüsterte Kariven, „Götzenbilder dieser Art sind meistens hohl.“ Er tastete mit den Fingerspitzen darüber, und mit leisem Klicken wich eine metergroße Wand zur Seite und gab einen versteckten Eingang frei. Vorsichtig krochen sie auf allen vieren hinein und gelangten in einen fünf Meter großen Raum. In kleinen Nischen standen mehrere unverschlossene Kästchen. Kariven und Dormoy durchwühlten eins nach dem anderen. Pläne mit unbekannter Schrift – sicher handelte es sich um die von Kotamdo geraubten – lagen neben anderen mit tibetanischer Beschriftung. Plötzlich zog Kariven aus dem Papierhaufen einen großen Packen Pläne aus Kunststoff. Auf der ersten Seite war die Schlange Ouroboros aufgezeichnet. „Endlich“, seufzte er, „da haben wir also den Herstellungsplan für den außerdimensionalen Kreis.“ „Und hier die Pläne für die transparente Wand“, rief Dormoy und hielt eine Menge zusammengehefteter Blätter in die Höhe. Sie erkannten den U-förmigen Raum wieder und den Metalltisch mit dem Graphoskop. Sie stopften in ihre Taschen, was hineinging und machten sich auf den Rückweg.
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Die zwei Weisen gingen nicht in ihr Zimmer, sondern zu den Laboratorien. Leise stiegen sie die vielen Stufen hinunter; plötzlich blieben sie stehen und horchten. Schwere Schritte ertönten im Flur. Geräuschlos schlichen die zwei Freunde vorwärts. Mit tiefgebeugtem Haupt sahen sie vor sich hin, dann und wann zur Seite schielend. In fünf Metern Entfernung erblickten sie den Riesen, der ihnen den Rücken zuwandte. Dormoy zog zitternd die Waffe unter seiner Kutte hervor und wartete. Als sich der gräßliche Schneemensch, der noch nichts Böses ahnte, umdrehte, blendete ihn der blitzende Strahl von Karivens Ring. Er stieß einen Schmerzensschrei aus, wankte und hielt die Hände vors Gesicht. Mit sicherem Griff warf Kariven ihn zu Boden, und Dormoy schlug ihm die Waffe über den Schädel. Mit einem Ruck öffnete der Archäologe die Labortür und blieb wie angewurzelt stehen. Gora Topki stand im weißen Arbeitskittel vor einem seltsamen Gerät. Er hatte während der Arbeit den Schrei des Yeti gehört. Als er jetzt die zwei Gefangenen bewaffnet und verkleidet auftauchen sah, wich seine Unruhe einem unbeschreiblichen Entsetzen. Seine flackernden Augen suchten das Zimmer ab, und mit einem Satz stürzte er zu einer Schalttafel. Dormoy zielte auf ihn und schoß ihm durch die Hand, als er gerade einen Knopf drücken wollte. Kariven schloß die Tür und eilte zu dem Schalter, der den außerdimensionalen Kreis in Bewegung setzte. Die Schlange Ouroboros leuchtete auf. Ein leichtes Vibrieren ging durch den Raum. Dias Tor zur Dimension X war geöffnet. Währenddessen hallte das Kloster wider, von Schreien und Rufen vermischt, mit den Befehlen der wachhabenden Yetis. Eine ganze Horde schien sich dem Laboratorium zu nähern. „Mike“, befahl Kariven, „pack den Alten und wirf ihn in den Kreis, schnell!“ 117
Trotz der Wunde versuchte der Weise, Widerstand zu leisten. Ein Kinnhaken machte ihn gefügig. Dormoy hob das leblose Bündel auf und warf es in den Kreis, wo es sich augenblicklich auflöste. „Hilf mir“, bat Kariven wieder, während er einen zwei Meter langen Tisch heranschleppte. Mit einem Blick maß er die Entfernung ab. „Schnell, Mike, spring in den Kreis!“ „Und du?“ fragte Dormoy besorgt, denn die Yetis schlugen draußen schon wie wild gegen die Tür. „Mensch, spring doch!“ brüllte Kariven. Dormoy zuckte die Achseln und verschwand in dem Kreis. Kariven ließ unterdessen den Tisch los und sprang durch die kreisförmige Schlange. Der Tisch fiel auf den Schalter in der Wand und unterbrach so den Kontakt. Das Tor zur Dimension X war wieder geschlossen. Mit blutunterlaufenen Augen brachen die wütenden Schneemenschen in ein leeres Labor ein. * Als Gora Topki zu sich kam, knieten Kariven und Dormoy neben ihm. Durch Fernsehgeräte informiert kamen Bruce, Angelvin, Barbara und die Königin Luwhana in einem schwebenden Wagen aus durchsichtigem Material herbeigefahren. Als die zwei Freunde sahen, daß dieses Fahrzeug keine Räder hatte und zwanzig Zentimeter über dem Boden schwebte, waren sie sprachlos vor Staunen. Die beiden wußten gar nicht, wem sie zuerst antworten sollten. In der Wiedersehensfreude überhäuften ihre Freunde sie mit tausend Fragen, während die Wachsoldaten den Tibetaner ins Krankenhaus schafften. 118
Kariven und Dormoy stiegen in die fliegende Kabine, die sie in Luwhanas Palast führte. Dort wartete schon Kwantor. Luwhana bemühte sich, ihre Bewegung zu verbergen, aber sie blickte strahlend zu Kariven herüber, der sie beinahe mit den Augen verschlang. Dormoy sprach mit seinen Freunden und erzählte ihnen, was inzwischen geschehen war. Kariven benutzte die Gelegenheit und rückte ganz nah zu der jungen Königin. Mit Herzklopfen ergriff er ihre Hand und flüsterte: „Ich bin zurückgekommen, Luwhana.“ „Ich habe so auf dich gewartet, Kary“, sagte sie schlicht mit einem einzigartigen Lächeln. Dormoy wandte sich gerade zu Kariven und rief: „Sag mal, warum zum Teufel, hast du …“ Da zögerte er, denn eben schloß sein Freund Luwhana fest in die Arme. „… Gora Topki mitgenommen?“ vollendete er verlegen den Satz. Kariven und Luwhana mußten ihren ersten Kuß auf später verschieben. Der Archäologe zog die Brauen hoch und amüsiert antwortete er: „Damit er mit den kotamdonischen Ingenieuren zusammenarbeitet, das ist doch klar! Dieser alte Teufel ist als einziger imstande, schnellstens einen großen außerdimensionalen Kreis zu konstruieren. Wir haben zwar die Pläne, aber ihre Übersetzung nimmt immerhin einige Zeit in Anspruch, selbst wenn unser Herr Ethnograph zwanzig Stunden am Tag damit zubringt. Zeit hat er ja genug“, sagte er mit ironischem Seitenblick auf die junge Amerikanerin. „Und du glaubst, er wird den Technikern von Athug helfen, die Waffe für seinen eigenen Untergang herzustellen?“ zweifelte Dormoy. „Ich glaube es nicht nur, ich weiß es sogar bestimmt.“ *
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Im Kreis ihrer Freunde leerten Dormoy und Kariven die Taschen aus. Bald darauf wurde Gora Topki in die Gemächer der Königin geführt. Mit verzerrtem Gesicht, den Arm in der Binde kam der Alte herein. Er warf einen haßerfüllten Blick auf die beiden Weißen, die ihn an der Nase herumgeführt hatten. „Daß Sie mich so täuschen konnten, Kariven“, sagte er, „ich hätte Sie töten sollen, anstatt mich von Ihrem Liebesmärchen rühren zu lassen. Ihre ganze Geschichte von Jany und Ihrer Liebe war bloße Kriegslist.“ „List gegen List“, triumphierte der Archäologe. „Machen Sie sich nur keine Illusionen!“ brüstete sich der Tibetaner. „Ich bin zwar in Ihrer Macht, das gebe ich zu. Aber meine sechs Brüder, die Weisen von Bakrahna, sind frei. Sie werden unsere Pläne weiterführen und die Yetihorden auf die Welt loslassen. Unsere Ionosphärenraketen werden eure Städte bombardieren. Ihr seid hier in Sicherheit, aber für eure Brüder auf der Erde könnt ihr nichts mehr tun. Wenn ihr nach Bakrahna zurückkehrt, werden euch die Yetis töten. Ihr seid frei auf Kotamdo, aber die Erde werdet ihr nie wiedersehen.“ „Du ebenfalls nicht, wenn du uns nicht gehorchst!“ gab Kariven sanft zurück. Der Alte witterte eine Falle und kniff die Augen zusammen. „Mir hat keiner zu befehlen“, sagte er, „ich habe keine Angst vor euren Grausamkeiten. Wir Gelben sind unempfindlich gegen Schmerz.“ „Über diesen Punkt kannst du dich beruhigen“, versicherte Kariven, „wir sind keine Barbaren. Aber du bleibst als Gefangener in Athug, hier wirst du sterben und begraben werden, in dieser Welt, zu der dein Buddha keinen Zugang hat!“ Gora Topki erblaßte. Seine Augen weiteten sich vor Schrecken, und seine Hand zitterte, bevor er mühsam herausbrachte: „Ihr könnt nicht auf die Erde zurück!“ 120
„Und ob wir können, aber du bleibst hier!“ „Nein“, flehte er auf Knien, „das dürft ihr nicht tun! Ich will nicht sterben, ohne daß meine Seele ins Nirwana eingeht. Ich gehorche euch, aber ihr dürft mich nicht hierlassen.“ Gora Topki fügte sich in alles, obschon er innerlich vor Wut schäumte, als man ihm seine Pläne des außerdimensionalen Kreises unter die Nase hielt. Mit Angelvin und den kotamdonischen Ingenieuren sollte er sie durcharbeiten. * Am Nachmittag des fünften Tages war der Kreis fertig. Er stand fünfunddreißig Kilometer von der Stadt entfernt auf einem Berg. Gora Topki betrachtete sein Werk mit einem Gemisch von Bewunderung und Furcht. Warum mochten sie ihm befohlen haben, den Kreis fünfzigmal größer zu machen als den von Bakrahna? Wozu wollten sie dieses gigantische Doppel von Ouroboros verwenden? „Träumen Sie nicht, Gora Topki, setzen Sie lieber den Motor in Gang“, befahl Robert Angelvin. Während in Bakrahna die größte Aufregung herrschte und die letzten Vorbereitungen zum Angriff getroffen wurden – auf Topkis plötzliches Verschwinden hin hatten seine sechs Brüder angeordnet, daß der Kampf sofort beginnen solle, um sich an den Weißen gebührend zu rächen –. setzte Gora Topki auf Kotamdo den Kreis in Bewegung. Die Riesenschlange leuchtete auf, heller als die Sonne, und das wohlbekannte Vibrieren ging durch die Luft. „Der Versuch ist gelungen“, sagte der Tibetaner. Schnellstens wurden Kariven und die anderen benachrichtigt. Schon nach wenigen Minuten trafen sie in einer Ionosphären121
rakete ein. Selbstverständlich sollte auch Gora Topki mitfliegen. Alle lehnten bequem in ihren Sitzen, als die Maschine eine tadellose Runde über den Berg machte. Der Pilot funkte die Befehle der Königin weiter, die ebenfalls diesen ersten Flug durch das Erdentor mitmachen wollte: „Kontaktschalter drücken, Tor zur Erde öffnen. Wenn wir in einer Stunde nicht zurück sein sollten, schickt ein Geschwader hinter uns her … Ende.“ Langsam steuerte die Maschine auf den Kreis zu, in dem sie alsbald verschwand. Mit einem Schlag sahen sich die Insassen in völlige Dunkelheit gehüllt – auf der Erde war Nacht. Zu Gora Topki gewandt, der offensichtlich vollkommen zusammengebrochen seine restlose Niederlage erkannte, fragte Kariven: „Jetzt sind Sie an der Reihe! Standort?“ Der Gelbe schaute auf das Bergland hinab, das sie überflogen, und nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sagte er: „Wir müßten irgendwo in der Nähe des Gebirgszuges Bassandoun-Oula sein. Fliegt nur zu. Wir steuern in Richtung Bakrahna. Da werden euch meine Leute bald herunterholen“, setzte er boshaft hinzu. Fünf Minuten später überflog die Maschine ohne Zwischenfall den großen Krater, in den Bakrahna eingebettet lag. Die Tibetaner verbargen sich nicht mehr und hatten riesige Scheinwerfer eingeschaltet, die den Flugplatz von Bakrahna beleuchteten. „Bombe ausklinken“, ordnete Kariven an. Die Rakete beschrieb einen Bogen, und mit einem schrecklichen Aufheulen stieß sie auf Bakrahna hinunter. „Nein, nicht!“ jammerte Gora Topki und stürzte zum Pilotensitz, aber Dormoy warf ihn auf den Boden. In diesem Augenblick klinkte der Pilot die Bombe aus. 122
Es war eine Spezialbombe mit Selbstzündung und Kettenreaktion. Beim Aufschlag auf den Boden bohrte sie sich tief in die Erde und wühlte ungeheure Erdmassen auf. Die kotamdonische Rakete stieg in fünftausend Meter Höhe. Den Blick auf einen Fernsehschirm gerichtet, warteten alle gespannt. Plötzlich erloschen die Scheinwerfer, und die verruchte Stadt verwandelte sich in einen einzigen schrecklichen Feuerpilz. Bakrahna schien sich ein Stück in den Himmel zu heben und dann zusammenzufallen. „Wie traurig“, meinte Dormoy mit gespieltem Mitleid. Die Maschine flog jetzt tiefer, und unsere Freunde konnten zu ihrem Erstaunen feststellen, daß an der Stelle, wo Bakrahna gewesen war, ein mächtiger Vulkan brodelte. Lavaströme sprudelten aus dem Krater. Aus dem Fenster konnten sie auch die Reste der acht ‚Viermotorigen’ sehen. Ungefähr fünfhundert britische Fallschirmjäger ruhten dort in der Gebirgswüste. Schon begann der Sand, der durch die Explosion aufgewirbelt worden war, sie zuzudecken. „Bist du zufrieden mit deinem Werk?“ knurrte Dormoy, als des Alten Gesicht sich zu einem teuflischen Lächeln verzog. Der Gelbe drehte sich zu ihm um und zischte zwischen den Zähnen: „Ich wollte die gesamte Menschheit vernichten! Ihr habt es verhindert. Aber mich sollt ihr zu nichts mehr zwingen!“ Mit einem grausigen, wahnsinnigen Lachen öffnete er blitzschnell eine Klappe und stürzte sich aus dem Flugzeug in die Tiefe.
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In der nächsten Woche erscheint als UTOPIA-Zukunftsroman Nr. 167 der erste prämierte Roman des Autorenwettbewerbes. Ed Kinson schrieb unter dem Titel
„Der tödliche Strahl“ eine spannende, einfallsreiche, mit knappen Dialogen gewürzte Erzählung, die Ihnen sicher gefallen wird. Wir wünschen Ihnen zu dem UTOPIA-Zukunftsroman Nr. 167 gute Unterhaltung.
UTOPIA-Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden), Pabel-Haus. Mitglied des Remagener Kreises e. V. Einzelpreis 0,60 DM. Anzeigenpreis laut Preisliste Nr. 7. Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastaft (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Verbik & Pabel KG., Salzburg, Gaswerkgasse 7. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. Scan by Brrazo 12/2011
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