Die Zukunft des Kapitalismus Herausgegeben von Frank Schirrmacher und Thomas Strobl
Wie konnte es zur globalen Finanzkr...
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Die Zukunft des Kapitalismus Herausgegeben von Frank Schirrmacher und Thomas Strobl
Wie konnte es zur globalen Finanzkrise kommen, und wie lässt sie sich über winden? Wie sieht die Zukunft des Kapitalismus aus? In diesem Band stellen so unterschiedliche Autoren wie Paul Kirchhof, Martin Walser, Peter Sloter dijk und Wolfgang Schäuble ihre Visionen eines Wegs aus der Krise vor und schildern Eindrücke aus dem Leben in der Marktwirtschaft. W ährend die einen eine stärkere Kontrolle durch die Politik fordern und zur Mäßigung auf rufen, dabei häufig jedoch Wachstum, Steuersenkung, Autokaufprämie oder AllkurbeJung des Konsums weiter als Heilmittel betrachten, andere dagegen glauben, dass der Staat sich als »schlechterer Unternehmer« ganz raushalten solle, denn »ohne Wachstum ist alles nichts«, wollen wieder andere die grund sätzliche Unterscheidung von Eigentum und Besitz neu erörtern und auf Grund der »strukturellen Nichtverantwortlichkeit« immaterieller Eigentums operationen den Kapitalismus als nicht alternativloses >>zeitlich begrenztes Phänomen« denken. Frank Schirrmacher ist Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Thomas Stroh! ist Autor des Blogs Weissgarnix. de und schreibt regelmäßig für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Suhrkamp
Die hier abgedruckten Beiträge erschienen zuerst zwischen Mai 2009 und Januar 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bzw. auf deren Internetseite (s. S.197f.).
Inhalt
9
Vorwort von Frank Schirrmacher THOMAS STROBL
Wohlstand für alle
n
KAREN HORN
Modell Deutschland
18
MARTIN WALSER
Wettbewerb ist ein Gebot der Nächstenliebe
24
DIRK BAECKER edition suhrkarnp 2603 Erste Auflage 2010
© Suhrkamp Verlag Berlin 2010 Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten,
Die Firma ist eine Zumutung
31
GUNNAR HEINSOHN
Die nächste Blase schwillt schon an
insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
PAUL KIRCHHOF
Der Schaden der anderen
44
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
MEINHARD MIE GEL
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,
2015- das Jahr der finalen Krise
vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Jung Crossmedia, Lahnau Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheirn Umschlag gestaltet nach einem Konzept
52
P ETER SLOT ERDIJK
Die Revolution der gebenden Hand
6o
von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt Printed in Gerrnany
ISBN 978-3-518-12603-5 1 2 3 4 5 6 - 15 14 13 12 11 10
MIC HAEL HVORECKY
Amüsieren? Erst mal können vor Lachen!
71
WOLFGANG SCHÄUBLE
ARMIN NASSEHI
Mit ästhetischer Erziehung aus der Finanzkrise?
Ohne Maß ist die Freiheit der Ruin
134
WOLFGANG STREECK
HEINER FLASSBECK
81
Was sozial ist, schafft Arbeit!
Und wenn jetzt noch eine Krise käme?
MICHAEL A. GOTTHELF
144
VIKTOR )EROFEJEW
Was starrt ihr alle auf 1929?!
86
Seelen im Sonderangebot
CHRISTOPH DEUTSCHMANN
93
THOMAS VON STEINAECKER
Das dünne Eis der Fiktion
149
ANNA KATHARINA HAHN
Ohne Aufstiegswille kein Kapitalismus
Die Abschaffung der Kindheit
1 55
W ILHELM HANKEL
98
Retter, die alles noch schlimmer machen
VIKTOR VANBERG
160
WOLFGANG MÜLLER-MICHAELIS
Global robust, lokal verwundbar
102
Wie man den Korken aus der Flasche bekommt
MICHAEL ZÖLLER
EMMANUEL TODD
Haben wir denn im Kapitalismus gelebt?
107
INGO SCHULZE
Monster in der Grube
75
Europa muss sich durchsetzen
181
THOMAS STROBL
112
Die Wirtschaftskrise. Ein erster Rückblick Die Autorinnen und Autoren Drucknachweise 197
FRITZ B. SIMON
Der Untergang findet nicht statt
119
HEINER MÜHLMANN
Sprechstunde beim Betriebspsychologen ANDRZEJ STASIUK
Lichen lässt mir keine Ruhe
129
124
194
186
170
Vorwort
Die Finanzkrise war gut für Leser. Das gefährdete System konnte sich aus sich selbst nicht stabilisieren und brauchte Hilfe von außen, also vom Staat. Da es nicht nur eine Ökonomie des Gel des, sondern auch eine der Gedanken gibt, begann auf breiter Ebene eine Reflexion, die sich nicht mehr von der Binnenlogik angeblich unabweisbarer Funktionsgesetze einschüchtern lassen musste. Man suchte nach Thesen und Quellen außerhalb der Matrix. Man begann zu lesen, Gedanken auszutauschen, Au ßenseiter wahrzunehmen. Sosehr wir uns mittlerweile daran gewöhnt haben: Die Tatsache, dass Banker selbst die Verstaat lichung von Banken forderten, stellte einen fundamentalen Bruch im Selbstverständnis der Sieger von 1989 dar. Lässt man beiseite, was seitdem an Appeasement, Relativierung, Schuldumwälzung vorgetragen wurde, so bleibt, dass, am Höhe punkt der Krise, die Bundeskanzlerirr von einer Gefährdung der Gesellschaftsordnung gesprochen hat. Solche Rhetorik war frü her ausschließlich militanten, systemfeindlichen Kräften - dem deutschen und dem internationalen Terrorismus- vorbehalten. Die Frage ist, ob die Rhetorik zu stark war und die Krise vorüber ist - oder ob diese Gefährdung der Gesellschaftsordnung sich nicht in Wahrheit längst real vollzieht. Im Zuge der Selbstvergewisserung stieß ich eines Tages auf den Blog von Thomas Strobl www.weissgarnix.de. Hier sprach eine interessante Stimme, die sich grundsätzlich von allen anderen unterschied. Das lag an der stupenden Kenntnis nicht nur der ökonomischen, sondern auch des geistesgeschichtlichen Materi als. Während die Welt von »systemischer Krise« sprach, ohne vom System selber zu reden, hatte hier jemand nicht nur Öko nomie, sondern eben auch Luhmann gelesen und Sloterdijk und 9
Ludwig Erhard. Mit solchen Temperamenten kann man Debat ten beginnen. Es begann eine für deutsche Zeitungen recht un gewöhnliche Zusammenarbeit zwischen Blog und dem Feuil leton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, aus der die Serie »Zukunft des Kapitalismus« entstand. Sie hat Zustimm.ung und Ablehnung aus allen Lagern erfahren und deshalb in der System krise genau das entfaltet, was uns vorschwebte: einigen der avan ciertesten Denkern {und Polemikern) ein Forum zu geben, das die systemische Veränderungskraft von Gedanken demonst riert. Denn wer glaubt, alles sei gut, täuscht sich. Im Kern der Finanz krise steckt bereits die demographische Krise, die jenseits aller sonstigen psychologischen und politischen Fragen die Gesell schaft mit erworbenen oder erwarteten Ansprüchen konfrontie ren wird, die in keiner Rechnung über Soll und Haben bislang wirklich eingegangen sind. Doch das Experiment zwischen Blog und Zeitung zeigt auch: Krisen provozieren jene Nachdenklichkeit, der der Philosoph Hans Blumenberg eine seiner schönsten Glossen gewidmet hat. Manchmal entscheidet sie darüber, wo das Herz des Systems schlägt. Frank Schirrmacher
Wohlstand für alle
von THOMAS STROBL
Deutschland hat eine neue Religion: die Soziale Marktwirt schaft. Jetzt, wo der Neoliberalismus in Trümmern liegt und der Sozialismus als gesellschaftliche Alternative längst nicht mehr zur Verfügung steht, glauben wir wieder an die Soziale Markt wirtschaft. Ja, wir fühlen uns sogar regelrecht in ihr zu Hause so wie wir uns früher einmal bei Gott zu Hause fühlten, zu dem wir regelmäßig beteten und den wir in unserer Not anriefen, des sen Wille uns aber immer verschlossen bleiben musste und uns daher entsprechend oft auf dem falschen Fuß erwischte. Auch die Soziale Marktwirtschaft hat ihre Hohepriester gefun den: Bundeskanzlerin Merkel spricht praktisch von nichts ande rem mehr, und Bundespräsident Köhler hat sie in seinen Reden gleichfalls wiederentdeckt. Die FDP liebt die Soziale Marktwirt schaft förmlich, proklamiert sich sogar zu deren »Hüterin« und will sie vor steigendem Staatseinfluss sowie der politischen Lin ken schützen. Die Linke wiederum ist nicht weniger um sie be sorgt, sieht sie aber just durch den programmatischen Liberalis mus der FDP gefährdet. Wo man also hinschaut: keine Partei, ob links oder rechts, welche die Soziale Marktwirtschaft nicht wie der in ihrem Banner tragen würde und deren Spitzen sich nicht als die einzigen und wahren Kreuzritter des neuen Glaubens zu erkennen geben wollten. Die aufgeklärte und säkularisierte Gesellschaft weist jedoch wie früher Religionen auch- den hohen Ansprüchen der Sozia len Marktwirtschaft in der Praxis einen minimalen Ort zu und gefällt sich in der Vorstellung, dass das eine mit dem anderen vereinbar wäre. Oder anders gesagt: Jenseits der politischen Propaganda führt die Soziale Marktwirtschaft ein recht beschei11
denes Dasein. >>Wohlstand für alle« - hinter diesem Leitbild versammelte sich einmal ganz Deutschland, nicht nur in Partei pamphleten und politischen Sonntagsreden, sondern in der konkreten Lebenswirklichkeit. Das war zu einer Zeit, >>die im mer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen« vermochte, wie sich das der politische Vater der So zialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, zum Ziel gesetzt hatte. Erhards Kalkül war dabei recht einfach: Die Politik müsse nur dafür sorgen, dass der Kuchen wachse, dann würde für alle ein entsprechend größeres Stück davon abfallen. Nun wächst der Kuchen heutzutage nicht mehr so kräftig wie zu Erhards Zeiten, aber zumindest in den letzten zehn Jahren wuchs er nach wie vor. Gleichwohl vermochten Erhards politische Er ben sein Versprechen nicht mehr einzulösen: Der reale Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts entfiel fast zur Gänze auf Unterneh mensgewinne und Kapitalerträge, während sich die Arbeitneh mer mit Reallohnstagnation bescheiden mussten. Ist es Zufall, dass diese Entwicklung mit dem Siegeszug des all gemeinen Liberalisierungs-Mantras zusammenfallt? Das politi sche Spitzenpersonal scheint das zu glauben: Nur in absoluten Ausnahmefällen wären staatliche Eingriffe in die Wirtschafts ordnung gerechtfertigt, meinte die Bundeskanzlerin kürzlich, nämlich dann, wenn die Märkte, die ansonsten immer alles am besten regeln, diesem hehren Anspruch aus welchen Gründen auch immer nicht mehr gerecht würden. Also ist offenbar alles wie gehabt. Aber was bedeutet das für die Wirtschafts- und Sozialpolitik von morgen, wenn wir die Krise endlich überstanden haben? Will man uns dann ein >>Weiter so wie vorher« als zukunftsfähige Maxime zumuten? Ein Wirt schaftssystem, das nur dadurch vom alten Paradigma zu unter scheiden wäre, dass es jetzt wieder als >>Soziale Marktwirtschaft« firmierte? Das sollte man als Demokrat nicht akzeptieren. Denn schon bis her klangen sämtliche Parolen,von >>Freiheit« und >>Gerechtig12
keit« für einen Großteil der Bevölkerung wie leeres Gerede ange sichts der eindeutigen, in eine gänzlich andere Richtung weisen den Fakten. Darüber hinaus legt die Wirtschaftskrise aber auch schonungslos den zweiten systemischen Fehler der Marktwirt schaft offen: die finanzielle Instabilität. Denn allen vorschnellen Verurteilungen vermeintlich Schuldiger zum Trotz liegen die Ursachen der Krise weder bei verbrecherischen Bankern noch bei obskuren Finanzprodukten oder ahnungslosen Aufsichtsor ganen, sondern im Wesen der Marktwirtschaft selbst. Seit ihren frühesten Anfängen wird die Marktwirtschaft regel mäßig von Krisen heimgesucht. Neu und bedrohlich ist aller dings, dass diese Krisen seit Mitte der achtziger Jahre in noch nie dagewesener Häufung und Schwere auftreten und dabei jedes mal eine gigantische Vermögensvernichtung nach sich ziehen. Würden wir auf diesem Kurs weitermachen, dann wäre unsere Zukunft einem System anvertraut, das sich neuerdings im Rhythmus von lediglich fünf bis zehn Jahren an den Rand der Selbstzerstörung bringt und nur mittels Einsatz unbeschreiblich hoher finanzieller Ressourcen am Leben halten lässt. Deren Auf bringung aber übersteigt die Leistungsfähigkeit unserer eigenen Generation wie auch die unserer Kinder und Kindeskinder. Gleichzeitig erleben wir in Deutschland eine historisch beispiel lose Konzentration von Einkommen und Vermögen. Nach jüngsten Erhebungen vereinigen die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung mehr als sechzig Prozent des privaten Vermögens auf sich, die reichsten zwanzig sogar achtzig Prozent. Dieser Vermögenskonzentration steht rund die Hälfte der deutschen Bevölkerung gegenüber, die gar kein Vermögen be sitzt. Wer wollte angesichts solcher Verhältnisse noch ernsthaft Lud wig Erhards Geist beschwören? Wer würde sich nicht der Unred lichkeit schuldig machen, wenn er es täte? Muss es in den Ohren der meisten Bürger nicht wie blanker Hohn klingen, wenn die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) allen Ernstes 13
schreibt, die »Neider« würden sich zu Unrecht über die Vermö genseinbußen der Superreichen im Zuge der Finanzkrise freuen, weil die doch mit ihrem Geld Arbeitsplätze schafften? Müsste man also nach Ansicht der IN SM für eine dermaßen ungerechte Vermögensverteilung auch noch dankbar sein? Mit solchen Zuständen kann man sich nicht mehr zufrieden geben. Wir sollten der Politik und den Verbänden nicht länger gestatten, uns mit der wohlklingenden, aber inhaltsleeren Chif fre »Soziale Marktwirtschaft« für dumm zu verkaufen. Die Poli tik trägt eine Verantwortung für die Gesellschaft, und dieser muss sie nachkommen. Die Faktenlage beweist eindeutig, dass der bisherige Kurs zu nichts anderem geführt hat als zu Vertei lungsungerechtigkeit und finanzieller Instabilität. Wenn wir den Kapitalismus als prinzipiell beste Wirtschaftsform für eine pluralistische und demokratische Gesellschaft erhalten wollen, die sich dem christlichen Wertekanon weiterhin ver pflichtet sieht, dann müssen wir unseren Kurs ändern. Die ob szöne Konzentration der Einkommen und Vermögen und die Instabilität des Finanzwesens sind keineswegs auf den unge hemmten Einfluss des Staates zurückzuführen, den die Libe ralen gern und schnell zum Universalschuldigen stempeln, son dern entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Konsequenzen einer Liberalisierungswelle, die unter Kohl ihren Anfang nahm und durch Schröders »Agenda«-Politik auf die Spitze getrieben wurde. Wer daher jetzt die Parole »Mehr Kapitalismus wagen« als neue politische Losung ausgibt, muss die Frage beantworten, wie er damit den negativen Trend umkehren will, der in den letz ten Jahren zu beobachten ist. Wie müsste eine Soziale Marktwirtschaft, die diesen Namen zu Recht trägt - sprich: verteilungsgerecht und finanziell stabil verläuft-, stattdessen aussehen? Oberste Priorität hätte die ge ordnete Abkehr von der einseitigen Fokussierung auf die Ex portwirtschaft, dem beinahe krankhaften Bemühen um einen möglichst hohen Leistungsbilanzüberschuss, um erneut den 14
wertlosen Titel »Exportweltmeister« einzuheimsen. Ein hoher Außenhandelsüberschuss bedeutet deutsche Gewinne auf Kos ten des Auslands, die einseitige Abschöpfung dortiger Kaufkraft und damit automatisch Instabilität - wie wir sie gerade selbst mit voller Wucht zu spüren bekommen, weil sich die globalen Ungleichgewichte im Welthandel gewaltsam auflösen und uns der Export wegbricht. Keine Volkswirtschaft der Welt kann sich einem derart abrupten Wandel, wie er jetzt gerade über uns kommt, kurzfristig anpas sen. Denn wer könnte die Exporteure retten und Opel, Daimler und Co. ihre Autos abkaufen, die sie im Ausland nicht mehr ab setzen können- vom Strohfeuer staatlicher Abwrackprämien sei hier geschwiegen. Sollte es den Regierungen weltweit nicht ge lingen, den gegenseitigen Ausgleich der Leistungsbilanzen kon trolliert zu gestalten, wird die Krise in Deutschland Spuren hin terlassen, von denen selbst die schlimmsten Pessimisten derzeit keine Vorstellung haben. Vor diesem Hintergrund muss eine ernstgemeinte Politik der Sozialen Marktwirtschaft auf eine Stärkung des Binnenmarktes gerichtet sein, insbesondere auf Auf- und Ausbau von Beschäf tigungsmöglichkeiten und daraus fließenden Einkommen. Markteintrittsbarrieren aller Art müssen abgeschafft werden, die Handwerkerordnung etwa und ein großer Teil des Gewerbe rechts. Das wären Maßnahmen, bei denen sich FDP und Union einmal auf sinnvolle Art und Weise um die Liberalisierung ver dient machen könnten. Darüber hinaus muss der Staat in diesen Sektor selbst investieren und damit Beschäftigung schaffen, so lange die Privaten dazu nicht willens oder in der Lage sind. Eine Soziale Marktwirtschaft, die sich wieder um den Wohlstand aller Bürger verdient machen will, wird zudem nicht umhin kommen, den Faktor Arbeit von der massiven Verbrauchsteuer zu befreien, die in Form sozialer Zusatzkosten auf ihm lastet und ihn grundlos verteuert. Die soziale Sicherung ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und liegt nicht in der Verantwortung 15
der Beschäftigten allein. Sie sollte daher zur Gänze aus dem all gemeinen Steueraufkommen finanziert werden. Man stelle sich einmal vor, welch einen gigantischen Beschäftigungseffekt eine derartige Umfinanzierung nach sich ziehen könnte. Selbstverständlich müsste im Gegenzug das Steuersystem in die Lage versetzt werden, die entsprechende Finanzierung auch zu leisten. Das dürfte machbar sein, sobald man sich vom liberalen Steuerwettlauf nach unten endgültig verabschiedet hat. Im in ternationalen Vergleich hat Deutschland ausreichend fiska lisches Potential, insbesondere bei der Einkommen-, Vermögen und Erbschaftsteuer. Darüber hinaus wird es der weitere Verlauf der Krise erforderlich machen, dass Deutschland eine strengere fiskalische Linie gegenüber den europäischen Partnerländern durchsetzt. Bereits jetzt zeigt eine Reihe dieser Staaten deutlich mehr Begeisterung für ein finanzielles Zusammenrücken inner halb der Europäischen Union als für Flat-Tax-Experimente und Niedrigststeuersätze. Und natürlich kommt in einer solchen Sozialen Marktwirtschaft auch dem Finanz- und Kreditsektor eine völlig andere Rolle zu als bisher. Es ist inakzeptabel, dass unsere Bankkonzerne Grö ßenordnungen erreichen, die im Insolvenzfall die gesamte Volkswirtschaft mit in die Tiefe reißen würden - und das auch noch mit Spekulationen und Kreditrisiken, die mit dem wirt schaftlichen Geschehen der deutschen Wirtschaft nicht das Geringste zu tun haben. Die staatliche Politik sowie die Gemein schaft der Steuerzahler werden dadurch in Geiselhaft genom men. Bin ich der Einzige, der das alles andere als normal findet? Die Folgerungen aus der gegenwärtigen Krise lassen deshalb nur eine Alternative zu: Entweder wird der Kreditsektor zur Gänze verstaatlicht, oder das bisherige System der Großbanken wird gesprengt und durch eine V ielzahl kleinerer Institute ersetzt, die jedes für sich keine Systemrelevanz mehr entfalten und daher auch ohne Gefahr für das System pleitegehen können. In einem 16
weiterhin marktwirtschaftlich geprägten Umfeld wäre natürlich die zweite Alternative die deutlich sympathischere. Bereits vor Ausbruch der Finanzkrise herrschten in Deutschland untragbare Zustände: Wir befanden uns nicht mehr auf dem Weg in eine Zweik lassengesellschaft, sondern bereits mitten drin. Außerdem ließen wir es zu, dass das Finanzsystem als Fun dament unserer Wirtschaft ein bizarres Eigenleben entwickelte, in dessen Verlauf es sich praktisch selbst zerstörte. Die derzei tige Krise sollte daher als Katharsis aufgefasst werden, aus der eine neue Wirtschaftsordnung erwachsen wird, die in bester Er hard'scher Tradition wieder auf Wohlstand für alle ausgerichtet ist. Wer hingegen die Soziale Marktwirtschaft zu einer hohlen Phrase degradiert, mit der auch künftig einem marktliberalen Kult gehuldigt werden soll, der versündigt sich nicht nur an Lud wig Erhard, sondern auch an der deutschen Gesellschaft. Und wer meint, eine Kursänderung im obigen Sinne wäre utopisch, der möge sich durch die Fernsehbilder davon überzeugen lassen, dass die Apologeten ganz anderer Utopien bereits wieder dabei sind, auf den Straßen ihre Truppen zu sammeln.
Modell Deutschland
von KAREN
HORN
»Diese Krise zählt zu den unvermeidbaren. Nicht der geringste Abstrich ist zulässig von den drei Hauptsätzen der einzig tref fenden Diagnose: Es lebt sich gut am Vesuv. Leider bricht er ge legentlich aus. Aber niemand weiß, wann.« So brachte ein frühe res Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung den Tatbestand auf den Punkt. Bezeichnenderweise kommen die »drei Hauptsätze« ohne die Worte ))Kapitalismus«, ))Marktwirtschaft«, ))Wettbe werb« oder auch nur ))System« aus. Der Vesuv, das sind wir Men schen selbst. Was sich da als krisenanfällig erweist und gelegentlich ausbricht, das ist nämlich nicht irgendein System in all seiner Abstraktion. Der Vesuv, das ist mitnichten die freie Marktwirtschaft, wie man heute von Kritikern aller denkbaren Schattierungen immer wie der hören muss. Auch nicht der Kapitalismus, jenseits jeder klas senkämpferischen Terminologie schlicht und wohl verstanden als eine Wirtschaftsform, die zukunftsgerichtet durch Kapital bildung, also Sparen und Investieren, auf Wohlstandsmehrung zielt - ein ökonomisches Miteinander, das sich in freiwilligen Austauschbeziehungen auf der Basis von Privateigentum an den Produktionsmitteln konkretisiert. Der Vesuv, das ist noch nicht einmal die unhistorisch so bezeich nete )meoliberale Ideologie«. Die wahre neoliberale Schule aus den dreißiger Jahren versteigt sich gerade nicht zur Heiligspre chung der individuellen Gier und der kollektiven Regellosigkeit. Sie entwirft einen Ordnungsrahmen, der die Grundwerte der Freiheit und Gerechtigkeit, der Verantwortung und Solidarität auch in der Wirtschaft harmonisch zu verbinden erlaubt. Neo18
Iiberalismus ist eben nicht einseitig - und deswegen auch nicht ideologisch. Wenn Ludwig Erhard, der noch weitgehend unumstritten ver ehrte politische Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, einst schrieb, »je freier die Wirtschaft, um so sozialer ist sie auch«, dann machte ihn dies nicht zum verantwortungslosen Prediger eines »marktliberalen Kults«. Wer für freie Märkte wirbt, meint schließlich nicht regellose Märkte. Wer für freie Märkte wirbt, will Märkte, die effizient funktionieren-auf dass die Erhard'sche Formel vom »Wohlstand für alle« Wirklichkeit werde. Der Erfolg hat der Sozialen Marktwirtschaft recht gegeben. Der materielle Aufschwung, den Deutschland in und seit den fünf ziger Jahren erlebt hat, brachte auch breite Zustimmung zu die sem Wirtschaftssystem, das als deutscher Sonderweg in der Welt begriffen und gehegt wurde. Doch man täusche sich nicht diese Zustimmung aufgrund der Nützlichkeit des Systems hat es stets nur im Nachhinein gegeben. Als Ludwig Erhard 1948 den Startschuss für die Marktwirtschaft gab, indem er die Preiskon trollen abschaffte, ritt er keineswegs auf einer Welle der allgemei nen Begeisterung, weder bei den Alliierten noch in den Parteien und der Bevölkerung. Als sich dann nicht nur die Regale füllten, sondern auch die Preise stiegen, eskalierte der öffentliche Pro test, der in einem Generalstreik kulminierte. Damit sich die deutsche Gesellschaft auch heute noch hinter der Sozialen Marktwirtschaft versammeln kann, braucht es folglich mehr als ein Nützlichkeitsargument. Es braucht eine philo sophische Begründung. Entgegen dem kruden utilitaristischen Materialismus der Kapitalismuskritiker sind Märkte nämlich nicht nur Wohlstandsmaschinen. Sie sind als Plattform der In teraktion auch soziale Räume- Räume, in denen es wesentlich, wie in den anderen Sphären der Gesellschaft auch, um individu elle Würde, Selbstbestimmung und Freiheit geht, und darauf aufbauend um gegenseitig vorteilhafte Kooperation im Rahmen allgemeiner Regeln gerechten Verhaltens. 19
Der Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft im Geiste der Neoliberalen ist es, das generelle Streben nach persönlicher Frei heit von Zwang in der Sphäre des ökonomischen Austauschs in der Gesellschaft zu verwirklichen. Dazu braucht es, wie immer wieder betont worden ist, einen Rahmen von universellen Re geln. Natürlich ist die Beobachtung korrekt, dass wir in der Markt wirtschaft Krisen erlebt haben, erleben und erleben werden. Es trifft auch zu, dass hier die Krisen häufiger vorkommen als in weniger freien Systemen. Doch selbst wenn hier Korrelation und Kausalität in eins fallen, so ist der Saldo doch immer noch posi tiv, wie es Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Tech nology (MIT) vor einigen Jahren in einer gründlichen Studie nachgewiesen haben: Die dauerhaften Wohlstandsgewinne sind immer noch mit Abstand größer als die temporären Verluste im krisenhaften Kollaps. Unabhängig von dieser materiellen Bilanz liegt in der Korrela tion von Krise und Markt aber vor allem noch nicht die Antwort auf die eigentliche, systemische Schuldfrage. Die Wurzel des übels liegt vielmehr woanders: in der Conditio humana. Und die ändert sich auch nicht mit einem anderen Wirtschafts system. Die Krisenanfälligkeit ist dem Menschsein an sich im manent. Denn unser menschliches Dasein ist geprägt von fun damentaler Unsicherheit und von regelmäßigen Interessens konflikten. Für T homas Hobbes führt der Ausweg über einen Gesellschafts vertrag, unter dem alle Bürger ihre natürlichen Rechte abtreten - an einen Staat mit unbegrenzter Herrschaftsgewalt In einen ähnlichen Schwanengesang der bürgerlichen Kapitulation stim men nun exakt 358 Jahre später die Kapitalismuskritiker mit dem Ruf nach einem massiv aufgerüsteten Primat der Politik mit ein. Auch heute soll der Staat wieder nicht alles, aber doch manches besser wissen - nur woher derlei überlegenes Wissen kommen 20
soll, ist nach wie vor unklar. »Die Politik hat eine Verantwortung für die Gesellschaft, und dieser muss sie nachkommen«, postu liert T homas Strobl. 1 So adrett gewandet sich heute der Abschied von Eigenverantwortung und Privatsphäre, der Freibrief für staatliche Bevormundung, zu Ende gedacht letztlich die tota litäre Versuchung. Zwar wünscht sich niemand mehr einen ab soluten Herrscher. An seine Stelle tritt deshalb eine zunehmend absolute Demokratie, die Herrschaft der Mehrheit über die Min derheit. Auf die Spitze getrieben, lässt uns diese Kollektivierung aber keine privaten Gärten mehr, die wir frei nach Voltaires Candide bebauen können. Anstelle des Individuums soll nach Strobl nun das Kollektiv ent scheiden, was gerecht ist. Das Kollektiv soll bestimmen, wie groß Banken werden dürfen. Das Kollektiv soll sagen, in welchen Branchen Unternehmer ihr Glück versuchen dürfen- auf jeden Fall offenbar jedoch abseits der Exportwirtschaft, auf dass rasch die Leistungsbilanzüberschüsse abgebaut werden. Als ob es die Salden wären, die unsere Empfindlichkeit gegenüber abrupten Nachfrageeinbrüchen in der Weltwirtschaft ausmachen. Nein, diese ergibt sich per se aus der Verflechtung, das heißt, relevant sind nicht die Salden, sondern die Volumina des Handels. Nach der Strobl'schen Logik tun wir es wohl am besten Diagenes gleich und verkriechen uns in der Tonne der Antiglobalisierung. Verweigern wir uns doch einfach komplett dem spontanen ge sellschaftlichen Austausch. Denn wer sich der Verflechtung ent zieht, kann unter ihr auch nicht leiden, so das Kalkül. Das allerdings wäre höchst bedauerlich, wenn nicht verantwor tungslos. Denn wer sich der Verflechtung entzieht, kann nicht nur nicht unter ihr leiden, sondern er kann auch nicht von ihr profitieren. Nicht nur aus dem materiellen Grund, dass uns Austausch, Arbeitsteilung und Verflechtung schon seit je un endlich viel mehr Wohlstand beschert haben als die Abkapse1
Siehe Thomas Strobl, »Wohlstand für alle<< in diesem Band aufS. 11 ff. 21
lung. Nein, soziale Interaktion bedeutet nicht nur Koordina tion, sondern in der Koordination und durch die Koordination stets auch Lernen. Und dieses Lernen ist nicht planbar. Es ist »Ergebnis menschlichen Handelns, nicht menschlichen Ent wurfs«, wie es Adam Ferguson in seiner berühmten Formel aus gedrückt hat. Der Kapitalismus ist das einzige System, das sich aufgrund der idealerweise von externen Eingriffen unverzerrten, die individu ellen Interessen abbildenden und koordinierenden Rückkopp lungsprozesse immer wieder selbst korrigieren kann. Er ist das einzige System, das einen Mangel an Moral oder an Regeln nach gewisser Zeit anzeigt und uns dazu bringt, Moral oder Regeln neuerlich einzufordern. Nur in der Marktwirtschaft kann es sol che Krisen überhaupt geben- und vor allem die damit verbun dene Selbstreinigung und Innovation. In der Gesellschaft fehlbarer und von fundamentaler Unsicher heit umgebener Menschen, die wir sind, schließt soziales Lernen auch auf der politischen Regelebene Ausprobieren, Gelingen, Scheitern, Hinterfragung, Korrektur und Selbstvergewisserung notwendig mit ein. So ist nun einmal das Leben am Vesuv. Wir können nur versuchen, mit stets verbesserten Regeln den jewei ligen Schaden zu vermindern. Entscheidend ist daher, dass jetzt auch die richtigen Lehren Eingang in die Politik finden. Dazu gehört es essentiell, den regelsetzenden Staat zu stärken. Die Ergebnisse des Weltfinanzgipfels in London geben hier eini germaßen, wenn auch mit Einschränkungen, Anlass zur Hoff nung. Es scheint, die Lektion sei gelernt worden, dass politisches Handeln im Kern bedeuten muss, Spielregeln zu definieren. Das ist ein Fortschritt, den wir gar nicht hoch genug schätzen kön nen. Wenn er von Dauer sein sollte, käme er einer kleinen koper nikanischen Wende im Selbstverständnis der Politik gleich. Da für gilt es freilich noch den ad-hoc-interventionistischen Staat und den Abusus einzudämmen, dass die Spielzüge selbst auch von hoheitlicher Hand ausgeführt werden. Nur dann kann für 22
die Zukunft verhindert werden, dass es wieder zu einer verhee rend exzessiven Geldpolitik, zu einer verantwortungslos kurz fristig denkenden Fiskalpolitik und zu unterlassenen Aufsichts pflichten kommt.
Wettbewerb ist ein Gebot der Nächstenliebe
von M ARTIN WALSER
Ich will nicht sagen, dass ich glücklich bin, aber dass ich ab und zu Glück habe, darf ich schon sagen. Gerade jetzt wieder. Die Welt dröhnt von miserablen Nachrichten, die Sprecherinnen und Sprecher im Fernsehen wollen einander überbieten in Ka tastrophenmimik. Nicht die von der ARD. Aber die anderen schon. Was der Finanzwelt jetzt gesagt werden muss, sagen sie mit grimmiger Freude oder, genauer: mit freudigem Bedauern. Mit einem Das-hab-ich-gewusst-Gesicht. Als sie an Weihnach ten mitteilen mussten, dass die Leute trotz schlimmer Krise fröh lich und massenhaft kauflustig waren, haben sie das zwar herich tet, aber in einem Ton, der hieß: Die werden sich noch wundern, diese naiven Konsumenten. Tatsächlich hat sich der mit dem Geldgeschäft handelnde Kapi talismus unendlich blamiert. Es war eine ansteckende Geistes oder Charakterkrankheit, die aus Amerika herüberflorierte. Dass eine ganze Branche so ansteckbar war, bleibt beschämend. Das Kerngeschäft- solide Kredite für solide Projekte- wird zur Zeit übertönt von unglücksgeilen Kassandren. Und da treffe ich, lerne ich kennen Herrn Michael Ungethüm, Prof. Dr. Dr. Dr. h. c., und lerne lesen sein Buch Verantwortungfür das Ganze. Das ist ein Titel, dessen Gutgemeintheit mich nicht sofort erobert. Es sind Reden und Vorträge von 1989 bis 2009. Und ich erfahre: Michael Ungethüm hat den Vater im Krieg verloren, hat Schlos ser gelernt, dann das Abendabitur gemacht, dann studiert, pro moviert in Ingenieurswissenschaft, habilitiert als Ingenieur im Fach Medizin, vor ihm lag eine akademische Karriere, »die Si cherheit einer Beamtenstelle mit unschätzbarer Freiheit in For schung und Lehre«, aber er verlässt den »Elfenbeinturm der Wissenschaft«. 24
Wie er diese Grenzüberschreitung selbst schildert, hat mich für ihn eingenommen. Die »Nagelprobe für die richtige Erkenntnis« liegt »in deren praktischer Anwendbarkeit«. Das führt ihn, als er sechzig ist, zu der radikalen Formulierung: »Eine Zunahme des theoretischen Wissens ist zunächst einmal völlig belanglos.« Da mit hat er mich natürlich an Kierkegaard erinnert: »Wir haben zu viel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an.« Er ist also aus dem brillanten München ins schlichtere Tutdingen ge zogen, zur Firma Aesculap; jetzt ist er dreißig Jahre bei Aesculap und hat den Umsatz um mehr als das Zwanzigfache gesteigert. Er hat zum Beispiel im Jahr 2001 eine Benchmark Factory ein geweiht, also eine Fabrik, deren Programm heißt Wettbewerbs fähigkeit plus Bestleistung. 1998 hat er auf einer Betriebsver sammlung sein Benchmark-Projekt geschildert. Die Lage der Firma Aesculap: zwei Prozent Marktanteil an einem Ortho pädie/Traumatologie-Weltmarktvolumen von zehn Milliarden DM. Ein Wettbewerber wurde gerade geschluckt von Hoffmann La Rache; der amerikanische Branchengigant Johnson & John son baut in Irland schon mal eine Fabrik für jährlich sechzig tausend Hüftprothesenschäfte, in Tutdingen driften Umsatz entwicklung und Mengenentwicklung drastisch auseinander, für denselben Umsatz müssen immer größere Mengen produ ziert und verkauft werden, Aesculap muss, um zu bestehen, die Benchmark-Fabrik bauen, entweder in Tutdingen oder in Eng land oder in Spanien. Er schlägt einen Standortsicherungsvertrag vor. Die Mitarbeiter arbeiten täglich vierundzwanzig Minuten mehr, und zwar un entgeltlich, werden dafür am Erfolg beteiligt. Aesculap bleibt im Arbeitgeberverband Südwestmetall, das heißt tarifgebunden. Und es gibt keine Kündigung ohne Zustimmung des Betriebs rats. Der Vertrag wird geschlossen, im Dezember 2005 verlän gert, er läuft jetzt bis Ende 2010. Seit Beginn des Vertrags sind vierhundert Mitarbeiter unbefristet eingestellt worden, davon hundert Auszubildende. Berechnet war, dass die Erfolgsbetei25
ligung den Lohnverzicht auswiegen werde. Das ist mehr als ein getroffen. Einer der Credo-Sätze in Michael Ungethüms Schriften: »Sozial ist, was Arbeit schafft.« Man darf bemerken, dass er nicht sagt: »Arbeitsplätze«. Vor dieser Verwaltungsstilistik bewahrt ihn of fenbar sein Sprachgefühl. Die Benchmark Factory läuft. Inzwischen werden mehr als hun derttausend Hüft- und Knieprothesen produziert. Man kann jetzt an den Glaskabinen entlanggehen und den Robotern zu schauen. Der eine fräst die Prothese, der nächste schleift sie, der nächste poliert sie, der nächste rauht sie auf, dann wird sie bei 20 ooo Grad Hitze plasmabeschichtet, damit sie sich mit unse rem Körper besser verbinde. Jeder dieser Roboter rast, drückt äußerste Anstrengung und höchste Konzentration aus. Nach jedem Arbeitsvorgang schiebt er das Stück durch eine Spezial schleuse dem nächsten Kollegen zu. Man kann diesen Arbeits fanatikern nicht zuschauen, ohne sich mit ihnen in einem Ver ständniszusammenbang zu fühlen. Man ist mit ihnen per Du. Dass die Kabinen aus Glas sind, zeigt ja schon, dass man ihnen zuschauen soll. Auf der anderen Seite des Gangs sitzen in größe ren Glasgehäusen Menschen an Computern, sie leiten und len ken die stählernen Arbeitsfanatiker. Ganz am Ende des Gangs nimmt eine Frau aus der letzten Roboterkabine das fertige Pro dukt in Empfang und verpackt es richtig von Hand. Das nächste Mal muss ich noch fragen, ob die gelenkigen Stahlkerle immer so rasend arbeiten oder ob sie's auch langsamer könnten. Michael Ungethüm nennt sich in seinen Schriften des Ofteren einen Grenzgänger. Wissenschaftler-Ingenieur-Mediziner-Un ternehmer. Er hat, gleich als er 1977 nach Tutdingen kam, den ersten Simulator konstruiert, in dem einem Hüft-Prototyp alles abverlangt wird, was er später in unserem Körper leisten muss. Das ist der Typ »Ungethüm I«. In Ungethüms Buch Technolo gische und biomechanische Aspekte der Hüft- und Kniealloarthro plastik gibt es eine Passage, in der der Medizin-Ingenieur und 26
der Unternehmer zugleich zu Wort kommen: »Einleuchtend ist auch, je perfekter die Oberfläche in Geometrie und Finish ist, umso höher werden die Kosten für die Teile. Wilson und Scales fordern, dass die Qualität ein Kompromiss zwischen einem theoretisch gewünschten, einem ökonomisch vertretbaren und klinisch zufriede nstellenden Wert darstellen sollte. Der Autor vorliegender Arbeit ist jedoch der Ansicht, dass der höchstmög liche technische Standard erreicht werden sollte, um Reibung, Verschleiß und die Gefahr der Auslockerung auf ein Minimum zu verringern.« Wenn man Reibung, Verschleiß und Auslocke rung in Patientenleid übersetzt, weiß man diese Unternehmeri sche Entscheidung für das Höchstmögliche zu schätzen. Aber es hat sich ja auch wirtschaftlich bewährt. »All it takes to operate«, mit dieser zugriffssicheren Formel hat sich Aesculap globali siert. Ethik, Unternehmensethik, Wettbewerb und Ethik, das sind seine Themen. Und er ist da kein bisscheu anspruchsloser als im Technologischen: »Das Unternehmen als Wertegemeinschaft«. Auch da, gebe ich zu, war ich nicht gleich dabei. Wenn es in der Sprache Allergien gäbe, litte ich zweifellos unter einer Ethik allergie. Von Aristoteles bis Brecht hat Ungethüm hilfreiche Zi tatenschätze. Wenn er vor der Fabrik eine Stahlplastik von Erich Hauser einweiht, sagt er diesem titellos steil und schön in den Himmel zeigenden Stahlwerk Eigenschaften nach, die seine Er lebnisfähigkeit und sein Ausdrucksvermögen gleichermaßen beweisen. Dass Erich Hauser, dem er »exzentrischen Geist« und >>Unbeirrbare Energie« nachsagt, dass der in diesem Betrieb als Lehrling gelernt hat, mit Stalll umzugehen, ist mehr als eine An ekdote. Aber dass ein erfolgreicher Unternehmer auch die Ästhetik pflegt, ist wenigstens zurzeit nicht so wichtig wie sein Verhältnis zur Ethik beziehungsweise zum Markt, zum Wett bewerb. Wie wirkt heute, was er in den letzten zwanzig Jahren über Wirt schaft und Ethik, über Geschäft und Ethik gesagt hat? Typisch 27
für ihn ist, dass er, wenn er darüber spricht, nicht über die Be weggründe anderer spekulieren will, er beschreibt, wie es ihm persönlich geht, wenn er jeden Tag wirtschaftlich handeln muss. Wir folgen ihm, wenn er beschreibt, dass durch extreme Spezia lisierung und Arbeitsteilung ein »Sinnverlust« drohe. Und ent deckt bei Aristoteles einen Satz, den er brauchen, das heißt an wenden kann. Dass nämlich nicht das Glücklichsein, nicht das Erfolgreichsein das Ziel der Arbeit sei, sondern- und das ist das Zitat: »ein Tätigsein der Seele gemäß ihrer wesenhaften T üchtig keit«. Und sagt: »Ins Heutige übertragen, lässt sich sagen, dass der Wunsch nach Selbstverwirklichung über das Tun, durch die Arbeit, das stärkste Bedürfnis eines jeden von uns ist.« Und ist sofort unternehmerisch praktisch: »Jemand, der das Gefühl hat, sich am Arbeitsplatz verwirklichen zu können, bewegt und leis tet ungleich mehr als ein Mitarbeiter, der das Gefühl hat, seine Selbstverwirklichung beginne erst am Feierabend.« Da höre ich schon den Linken sagen: Aha, nur weil einer mehr leistet, weil er mehr Profit bringt, soll er sich am Arbeitsplatz selbst verwirklichen! Es wird den linken Denker hoffentlich nicht irritieren, wenn er dann liest, dass das der Fall ist. Es soll der Firma nutzen. Aber ebendadurch auch dem, der da arbeitet. Wenn das zum Betriebsklima wird, sagt er, gibt es nicht mehr Gewinner und Verlierer. Wenn ein Leitender glaube, sich mit Härte und Kontrolle durchsetzen zu müssen, dürfe er sich nicht wundern, wenn Härte und Kontrolle alle Ebenen des Unterneh mens beherrschen. Ein Ausdruck, der Michael Ungethüms Da seinsstimmung verrät, lautet »soziale Zärtlichkeit«. Dass es sich aber nicht um eine idealistische Melodie handelt, beweist er in den Sätzen über die Soziale Marktwirtschaft. Zuerst einmal: Die Ethik des Wettbewerbs ist »kein ideologisches Problem, sondern ein zutiefst theoretisches Problem«. Die Rechtfertigungen des Wettbewerbs, die sich auf das Tierreich beziehen, schiebt er ge nauso schnell beiseite wie die, die den Wettbewerb als ein System der Freiheit verteidigen. Sozial ist, was Arbeit schafft. Und geht 28
zurück auf Ludwig Erhards Formel: Wettbewerb schafft Wohl stand für alle. Aber diese Liberalismusformel erfüllt er mit wirklicher Erfah rung und Gedanken, die einfach kühn sind. Da muss man, bevor man sich einmischt, zuerst einmal folgen. Er fragt: Was ist an einer Sozialen Marktwirtschaft, die zu Entlassungen und Insol venzen führt, noch sozial? Das Verfehlte ist, sagt er, wenn man das Soziale an der Sozialen Marktwirtschaft als eine Kompensa tion sieht, eine Art Wiedergutmachung für das, was Markt und Marktwirtschaft angerichtet haben. Sozial ist, was Arbeit schafft. Das heißt: Sozialpolitik nicht als Konsum, sondern als Investi tion in ein besseres Funktionieren von Markt und Wettbewerb. Es geht nicht um die Kosten der Sozialleistungen, sondern um die Rendite, also um die Kosten im Verhältnis zum Ertrag. Es kommt nicht auf die Motive der wirtschaftspolitisch Handeln den an, sondern auf die Wirkung des Wettbewerbssystems für die Menschen. Auf die wohltätigen Wirkungen des Wettbe werbs. Die aber werden erst hervorgebracht durch eine geeignete Wirt schaftsordnung. Eine, die den Namen sittlich verdient. Und da hat er mich doch an Kant erinnert, von dem ich den Satz im Kopf habe, dass die Verfassung die beste sei, die auch noch eine Gesell schaft von Teufeln zwänge, einander Gutes zu tun. Bei Unge thüm heißt das: Di� wohltätige Wirkung des Wettbewerbs wird durch eine geeignete Wirtschaftsordnung erst hervorgebracht. Das ist es doch, die einander nützlich sein könnenden Interes sen, die der Firma und die der in ihr Arbeitenden, so organisie ren, dass sie einander wirklich nützlich sind - das hat Michael Ungethüm nicht nur durchschaut und formuliert, sondern in der Firma Aesculap verwirklicht. Er hat seine Vision sozialpoli tisch �tringent, spürbar erfahrungsgesättigt, nachdenkbar und nachvollziehbar so formuliert: »Wenn die Bedeutung der kom plimentären Interessen transparent gemacht wird, gibt es lauter Gewinner.« Deshalb sieht er, wenn er seine Erfahrung zur Vision 29
werden lässt, den »Wettbewerb als institutionalisierte Form des Gebots der Nächstenliebe«. Da muss ich an den Ökonomen denken, bei dem ich am liebsten lerne: Herbert Giersch. In seinem Buch Abschied von der Natio nalökonomie es ist mehr als ein Buch, es ist ein Werk - steht der Satz: »Durch Globalisierung rückt im Bereich der Moral die Fernstenliebe in die Nähe der Nächstenliebe.« Der große Theoretiker und der große Praktiker in schönster Übereinstim mung. Vielleicht verdient, was uns so angeboten wird, unsere Aufmerksamkeit.
Die Firma ist eine Zumutung
von DIRK BAECKER
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Der Kapitalismus ist jenes Wirtschaftssystem, das Eigentümer auffordert, sich als Schuldner in eigener Sache zu betrachten. Sollte jemand auf die Idee kommen, Güter oder Dienstleistun gen zu produzieren, die man mit Aussicht auf Gewinn abzuset zen erwartet, muss das dazu aufgewendete Vermögen als ein Kre dit betrachtet werden, den man bei sich selbst aufnimmt und an sich selbst auch wieder zurückzuzahlen hat. Sollte der Gewinn aus dem Absatz der eigenen Produktion geringer sein, als andere mit demselben Vermögen und besseren Ideen erzielen können, liegt es in der Natur der Sache, sein Vermögen diesen anderen zur Verfügung zu stellen, sie damit wirtschaften zu lassen und sich aus dem höheren Gewinn den Kredit bezahlen zu lassen. Mit anderen Worten, der Kapitalismus ist eine Zumutung. Er ist eine intellektuelle Zumutung, denn wer steigt nicht bereits nach diesen wenigen Sätzen aus und hört auf mitzurechnen, weil die sachliche, zeitliche und soziale Komplexität sich als Überforde rung darstellt? Es geht um eine riskante Produktion, eine Über brückung von Gegenwart und Zukunft und eine Vernetzung zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern, die so viele Vari ablen enthält, dass unklar ist, ob die Gleichung aufgehen kann. Er ist eine praktische Zumutung, denn er verlangt vom Eigen tümer, sein Kapital auch dann wie ein Fremdkapital zu behan deln, wenn es sein Eigenkapital ist. Mit Hilfe eines Instruments, das auf den schönen Namen der Berechnung von Opportunitätskosten hört, soll ein Eigentümer laufend prüfen, ob ihm nicht durch die Eigenverwendung seines Vermögens Gelegenheiten (Opportunitäten) entgehen, andern orts höhere Gewinne zu erzielen. Nicht zuletzt ist der Kapitalis31
mus genau deswegen auch eine gesellschaftliche Zumutung, denn er setzt den wirtschaftlichen Vergleich der Gelegenheiten an die Stelle der W ürdigung der Sache selbst, ihrer Geschichte und ihrer Einbettung in soziale Praktiken aller Art. Er setzt die Sorge an die Stelle der Schönheit, wie Goethe in seinem unter dem Titel »Faust li« bekannten Lehrbuch der Ökonomie for muliert. Der Sachverhalt wird dadurch nicht angenehmer, dass sich der Kapitalismus in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen nicht nur der Güter und Dienstleistungen, sondern auch des Bodens, der Arbeit, der Information und des menschlichen Kör pers angenommen hat. Es gibt weltweit nicht wenige Menschen, die sich fragen müssen, ob sie nicht eine ihrer beiden Nieren pro fitabler einsetzen können, wenn sie sie verkaufen, als wenn sie sie behalten, vom angeblich ältesten Gewerbe der Welt hier zu schweigen. Nicht erst der Protestantismus hat uns gelehrt, Zeit als Geld zu betrachten und nie aus dem Auge zu verlieren, wo und wie die eigene Arbeitskraft mit der größten Aussicht nicht nur auf Gewinn jetzt, sondern auch auf Gewinn morgen, das heißt auf einen sicheren Arbeitsplatz, eine mögliche Karriere und schließlich auf einigermaßen gute Karten beim Jüngsten Gericht, eingesetzt werden kann. Werner Sombart vertrat deshalb die These, ohne die Einführung einer doppelten Buchführung hätte sich der Kapitalismus nie mals so entwickeln können, wie wir ihn kennen. Dennoch wird die doppelte Buchführung, vormals eine Geheimlehre, erstmals veröffentlicht im Jahr 1494 von Luca Pacioli, einem Franziska nermönch, Mathematikprofessor und Freund Leonardo da Vin cis, bis heute immer noch nicht zureichend als eine der großen Kulturleistungen der Menschheit gewürdigt. Immerhin nennt Oswald Spengler Pacioli in einem Atemzug mit Kopernikus und Kolumbus. Seine Lehre der doppelten Buchführung sei »eine reine Analyse des Wertraums«, bezogen auf ein Koordinatensys tem, dessen Anfangspunkt »die Firma ist«, so liest man in »Der 32
Untergang des Abendlandes«. Und Sombart erinnert daran, dass auch »die Firma« nichts anderes als die institutionelle Verselb ständigung des Rechts und der Pflicht ist, mit einer Unterschrift (ital. firmare: unterschreiben) für seine Absichten und Hand lungen geradezustehen. Deshalb, so Sombart in seinem Hauptwerk Der moderne Kapita lismus, wird das kapitalistische Unternehmen in verschiedenen europäischen Sprachen zugleich Firma, Ditta und Ratio ge nannt: Es gibt einen Unternehmer, der mit seiner Unterschrift dafür bürgt, sein Eigenkapital wie ein Fremdkapital und sein Fremdkapital wie ein Eigenkapital zu behandeln. Dieser Unter nehmer kann nur deshalb, weil er mit seiner Unterschrift hierfür bürgt, kreditwürdig genannt (»ditta«) werden. Und die Voraus setzung für beides ist die Ratio, der Bruch zwischen Fremd- und Eigenkapital und daran anschließend der vernünftige, weil be rechnende Umgang mit Mitteln und Zwecken. Im Rahmen unserer Frage nach der Zukunft des Kapitalismus ist es entscheidend, diese Kulturleistung der doppelten Buchfüh rung korrekt einzuschätzen. Einfach ist das nicht, denn jahrhun dertelang galt die Regel, dass man sich vielleicht mit Verrückten unterhalten kann, unter Umständen sogar mit Ingenieuren, aber mit Sicherheit nicht mit Buchhaltern. Ihre Sprache galt als voll kommen unverständlich. Ihre Fähigkeit, eine einzige Zahlung zugleich auf der Habenseite und auf der Sollseite einer Unter nehmensrechnung zu verbuchen, war den Leuten unheimlich. Wie kann man eine Schuld zugleich als ein Vermögen, ein Ver mögen zugleich als eine Schuld betrachten? Was also ist der Kapitalismus, ein Virus der Kostenrechnung und Gewinnorientierung, das man auch wieder loswerden kann, oder eine Institution der menschlichen Gesellschaft und ihrer Wirtschaft, die man durch Rahmung und Einbettung zähmen, aber nicht abschaffen kann? Xenophon verdanken wir einen der frühesten Texte zur Ökonomie überhaupt, sieht man von den Rechenlegungen babylonischer und ägyptischer Palastwirt33
schaften ab, nämlich den sokratischen Dialog Oikonomikos, in dem sich Sokrates von dem Edelmann Isomachos erzählen lässt, wie man ein Haus gut führt. Wie man weiß, gehört dieser Dialog zu den bei den Römern beliebtesten Texten der alten Griechen überhaupt, und dies nicht nur deswegen, weil eine der Antwor ten auf die gestellte Frage lautet, der Herr des Hauses müsse sich bemühen, seine junge Frau zu lehren, ihre Pflichten gegenüber ihm, ihren Kindern, dem Gesinde und den Haustieren zu erfül len, während er sich um die Geschäfte außerhalb des Hauses kümmert. Aber wichtiger ist der Ausklang des Dialogs. Das Gespräch mit Isomachos endet mit der Einsicht in die Tugend der Sophrosyne, der Selbstbeherrschung. Nur wer das Geheimnis dieser Tugend beherrsche, herrsche über Subjekte, die sich freiwillig unterwer fen. Wer es jedoch nicht beherrsche, der sei dazu verdammt, tyrannisch über Subjekte zu herrschen, die sich nicht freiwillig unterwerfen, und das sei ein Schicksal, schlimmer als das des Tantalos im Hades. Was ist das Geheimnis der Tugend der Selbstbeherrschung? Max Weber hat es am Ende seines Lebens bei der Formulierung des soziologischen Grundbegriffs des »Wirtschaftens« entdeckt und offenbar für so wichtig gehalten, dass er drauf und dran war, seine ganze Soziologie umzuschreiben. Webers Faszination für möglichst präzise Definitionen hatte ihn auf die richtige Spur gebracht. Wirtschaften, so definiert er, sei »die friedliche Aus übung von Verfügungsgewalt«. Schrieb's und, so muss man sich das wohl vorstellen, erschrak. Denn wie kann man Gewalt fried lich ausüben? Dass er die Verfügungsgewalt nicht bloß als recht lichen Terminus technicus nahm, zeigen die ausführlichen Er läuterungen, mit denen er das »pragma der Gewalt«, das sich seinem Blick so plötzlich aufdrängte, sowohl wieder loszuwer den versuchte als auch ernst zu nehmen begann. Aber genau das ist der Kapitalismus, ein durch Gewalt erzwun gener Verzicht auf sofortige Bedürfnisbefriedigung, um die da34
durch gewonnene Zeit und die dadurch gewonnenen Ressour cen derart zur Produktion zu nutzen, dass der Verzicht aus den Früchten, die er bringt, entschädigt werden kann und diese Ent schädigung schließlich zur intrinsischen Motivation werden kann, zur Grundlage der Sophrosyne. Dazu jedoch muss man rechnen, mit der Sache, mit der Zeit und mit den Mitmenschen. Und zu nichts anderem fordert das Kapital uns auf. Dass auf die gewalttätige Ausübung der Gewalt dann schließlich verzichtet werden kann, heißt nicht, wie jedem Kritiker auffällt und wofür jeder Buchhalter eine Kostenstelle bereithält, dass sie nicht fried lich nach wie vor ausgeübt wird.
Die nächste Blase schwillt schon an
von GUNNAR HEINSOHN
Wie war das möglich? Japans Zentralbanker stellten 2002 ge schockt fest: Von acht Yen, die man den Geschäftsbanken gelie hen hatte, kam nur ein einziger bei den Unternehmen an! Ihre geldpolitischen Maßnahmen verpufften offenbar wirkungslos: Läppische 0,5 Prozent Zins verlangten sie für ihre Kredite an die Geschäftsbanken, seit sieben Jahren bereits, aus der damaligen Perspektive ein kühnes Unterfangen - dennoch ohne Erfolg! Und selbst als sie später noch mal nachlegten, den Zins noch tie fer, auf 0,1 Prozent und damit real unter null drückten: keine nennenswerte Wirkung! Stattdessen liehen sich die japanischen Firmen- wie paradox!Geld bei Kredithaien, im großen Stil, die ihnen dafür mit 20 Pro zent Zinsen rund zweihundertmal so viel abknöpften, wie die BoJ den Geschäftsbanken verrechnete. Ähnliches Bild wenige Jahre später in den Vereinigten Staaten: Als die Federal Reserve den Zins von 6,25 Prozent auf 0,75 Prozent senkt und dort volle drei Jahre hindurch belässt, sind auch hier am Ende die Ergeb nisse ernüchternd: Von vier Dollar, die bis 2007 in das Banken system gepumpt werden, führt lediglich ein einziger zu einer Steigerung des Bruttoinlandsprodukts. Was war da los? Woran lag diese sonderbare Schwäche, in den Vereinigten Staaten wie auch zuvor schon in Japan? Diese Frage blieb unbeantwortet: Trotz brillanter Nobelpreisträ ger und Tausender Fachprofessoren gab es niemanden, der die Zentralbanker über das Wesen von Zins und Geld ins Bild setzen hätte können. Stattdessen hielt man unbeirrt an einer Fiktion fest, an die sich die Nationalökonomie bereits seit ihren frühen
Anfängen klammert und die überhaupt nichts erklärt: Die Fik tion einer auf »Tausch« beruhenden Wirtschaft. In dieser wird die Bedeutung von Unternehmen reduziert auf eine Art »Teilelager«, die aus ihren Beständen etwas Nützliches für die Bedürfnisbefriedigung zusammensetzen wollen, dafür jeweils passende und unpassende Teile bei sich vorfinden und diese daher so lange hin und her tauschen, bis alle Teile die opti male Verwendung gefunden hätten. Und weil diese Tauscherei ein kompliziertes Geschäft ist, hat sich eines der Teile im Markt allmählich zum Standardgut »Geld« entwickelt, was das Tau schen kolossal erleichterte, weil unterschiedliche Werte unter schiedlicher Teile jetzt nur noch in diesem einen Teil ausge drückt wurden. Der ganze Prozess wäre gleichsam das Wesen der Ökonomie, be hauptet diese Fiktion, weshalb man sie am besten »Marktwirt schaft« nennen sollte. Und es geht noch weiter: Auch Kredit wäre nichts weiter als Tauschen, nämlich über einen längeren Zeit raum hinweg, dergestalt, dass das verliehene Gut erst nach Ver streichen einer gewissen Frist, beispielsweise zwölf Monate, zum Verleiher zurückkehrt. Nehmen wir also beispielhalber mal an, bei dem Tausch ginge es um eine Kuh, dann müsste der Verleiher zwölf Monate lang auf deren Milch verzichten, und für diesen Konsumverzicht müsste er entschädigt werden, und diese Ent schädigung wäre der Ursprung für den modernen Kreditzins. Sagt die Tauschtheorie. Und das ist falsch. Und weil uns diese Einsicht fehlt, stehen wir Krisen wie der aktuell ablaufenden auch so perplex und hilflos gegenüber. Tatsächlich ist nämlich alles ganz anders: Geld und Kredit haben mit dem physischen Besitz von Sachen nicht das Geringste zu tun, sie resultieren auch nicht aus realen Tauschvorgängen. Es ist das Eigentum an ihnen, auf das es ankommt, ein nichtphysisches Merkmal also, das man weder sehen noch anfassen kann, ein reines Rechtskonstrukt aus ihm werden Geld und Kredit ge schöpft. Der strengen Unterscheidung zwischen Eigentum und 37
Besitz, in der bisherigen Ökonomie sträflich vernachlässigt, kommt beim Verständnis von Krisen die alles entscheidende Be deutung zu. Wenn eine Bank einem Kunden Kredit gewährt und damit gleichzeitig neues Geld an ihn emittiert, als Schuldschein gegen ihr Eigentum (wie dies früher häufige Praxis war), dann verliert sie physisch überhaupt nichts, auch nicht zeitweilig. Aber: Ihr Eigenkapital kann sie bis zur vollen Höhe natürlich nur einmal belasten, das heißt: für die Kreditvergabe beziehungs weise die Geldemission als Sicherheit nutzen. An die wertmäßige Erhaltung dieser Sicherheit ist sie fortan gebunden, sie kann also nicht mehr unbeschränkt darüber ver fugen. Dieser Verlust an Freiheit ist es, über sein Eigentum un eingeschränkt verfugen zu können, der mit Zins ausgeglichen werden muss; ein lediglich immaterieller Verlust, durch den die Eigentumsgesellschaft aber ihren Perpetuum-mobile-Cha rakter gewinnt: Ständig wird etwas Immaterielles aufgegeben, um im Gegenzug eine konkrete Zinszusage zu empfangen. Das Leistungsversprechen, das hinter dieser Zinszusage steckt, ver hilft dem Kapitalismus zu seiner historisch beispiellosen Dyna mik. Geld im modernen Sinne entsteht somit als Eingriffsrecht in das Eigenkapital einer Notenbank, was sie sich mit Zins vergüten lässt. Der Zins ist deshalb nicht der Preis für Geld, über dessen Verbilligung die Zentralbanken den marktwirtschaftliehen Kreislauf wieder in Gang setzen könnten; er ist auch nicht der Preis für den Kredit selbst, denn sonst müssten ja Kredite immer an denjenigen Schuldner gehen, der den höchsten Zins bietet, was aber ja keineswegs der Fall ist. Im Gegenteil: Kredit geht vor zugsweise an den Schuldner, der die besten Sicherheiten stellen kann, und der zahlt dann sogar einen niedrigeren Zins als all gemein üblich. Die Bank vermutet bei ihm ein besonders geringes Ausfallrisiko, und falls dieses doch schlagend wird, kann sie sich aus einem erstklassigen Pfand bedienen. Diese Sicherheit erhöht die Bereit-
schaft der Bank, ihr Eigenkapital in der Kreditvergabe und damit uno actu der Geldemission zu riskieren, was sich in einer gerin geren Zinsforderung niederschlägt. Im Umkehrschluss gilt: Wer kein verpfändbares Eigentum als Sicherheit stellen kann, der kann auch 100 Prozent und mehr an Zins bieten: er wird trotzdem keinen Kredit bekommen. Und würde ihm - etwa direkt von der Zentralbank - ein Nullzins angeboten, käme er mangels Pfand trotzdem nicht an das Geld: Da Banknoten eine Forderung gegen das Eigenkapital der Zen tralbank verkörpern, wäre es kaufmännisch unverantwortlich, diese ohne Hereinnahme entsprechender Pfänder zu emittieren. Aus genau diesem Grund schlichen damals die japanischen Weltfirmen auch zu den Kredithaien: Die verzichteten nämlich auf Pfänder, forderten dafür aber auch 20 Prozent Zins. Solange die japanischen Superexporteure ihre Waren in die ganze Welt verkaufen und damit riesige Cashflows generieren konnten, war das ein gutes Geschäft, denn selbst Wucherzinsen konnten da relativ komfortabel bedient werden. Aktuell liegen die Dinge aber anders: weil überall auf der Welt Konsumflaute herrscht und infolgedessen die Cashflows der japanischen Exporteure einbrechen, sind derartige Kreditkonditionen nicht mehr zu verdienen. Und das liegt just an den radikalen Zins senkungen, mit denen die liebenswerten Zentralbanker doch eigentlich nur Hilfe bringen wollten. Stellen wir also fest: Unternehmen sind keine Teilelager, sondern Vermögensmassen, die ihre Eigentumsseite gegen Preisverfall und Vollstreckung verteidigen müssen. Das tun sie durch Inno vationen, für deren Umsetzung sie Geld in Anlagen und Löhne investieren müssen. Geld, für dessen Erlangung sie Kredite bei Geschäftsbanken aufnehmen, indem sie ihr Eigentum verpfän den und sich darüber hinaus zur Leistung von Zins verpflichten müssen. Ihre Schuldsumme inklusive Zinsen liegt daher immer höher als die im Kredit selbst erhaltene Geldsumme. Wenn sie dieses Mehr am Markt realisieren können, werden ihre Pf
wieder ausgelöst und damit frei für eine neuerliche Verschul dung und die Fortsetzung des Wirtschaftens. Gelingt es ihnen aber nicht, wird vollstreckt, und sie hören auf, als Unternehmen zu existieren. Die treffendere Bezeichnung für unser Wirtschaftssystem wäre daher auch »Eigentumswirtschaft«; in anderen Systemen, wie Stammesgemeinschaften und Adelsherrschaften, wird zwar auch produziert und konsumiert, aber in obigem Sinne nicht »gewirtschaftet«. Bildlich kann man sich den Besitz als Acker vorstellen und das Eigentum als den Zaun drum herum: Allen Wirtschaftssystemen gemeinsam ist, dass in die Erde eingesät und abgeerntet, sprich: produziert wird. Gewirtschaftet aber wird allein mit dem Zaun, dessen Belastung und Verpfändung für Verschuldungszwecke einen späteren Verkauf der Ernte auf dem Markt erst ermöglicht beziehungsweise im Falle des Schei terns vollstreckt wird; damit werden jene immateriellen Bigen turnsoperationen hervorgebracht, die permanente Innovatio nen bei der Dienstbarmachung der Ackerkrume erzwingen. Unternehmen verschulden sich mithin zur Verteidigung ihres Eigentums und nicht wegen eines geringen Zinses, wie dies in Ökonomenkreisen noch immer geglaubt wird. Und schon gar nicht verschulden sie sich ein weiteres Mal, nur weil irgendwo die Zinsen gesenkt wurden. Wenn das Unternehmen einen Preis von beispielsweise einer Milliarde hat und 100 Millionen für die Aufrechterhaltung dieses Werts investieren muss, dann hält ein jährlicher Zins von- sagen wir- 5 statt 3 Millionen die Verschul dung nicht auf. Die 2 Millionen mehr an Zins sind zwar ärger lich, bleiben aber im Verhältnis zur verteidigten Milliarde von untergeordneter Bedeutung. Bereits jede gewöhnliche »Standardkrise« gefährdet Firmen. Wer nicht investiert, reduziert den Wert seines Eigentums und beeinträchtigt dadurch seine Kreditfähigkeit; zehn Fabriken zur Herstellung von mechanischen Schreibmaschinen fallen nach Erfindung des Schreibcomputers im Preis auf null, wenn sie 40
nicht umgehend nachziehen. Und das müssen sie alle, obwohl sie natürlich ganz klar sehen, dass es dadurch zu überkapazitä ten kommen wird: Sie haben also nur die Wahl, durch Nichtstun sofort von der Bildfläche zu verschwinden oder durch recht zeitige Investitionen vielleicht zu den verbliebenen acht von ur sprünglich zehn Firmen zu gehören, die ihre neuen Waren am Markt auch verkaufen können, dadurch wirtschaftlich über leben und durch Tilgung ihrer Bankschulden ihr verpfändetes Eigentum wieder auslösen können. Der brancheninterne Mini Crash lässt zwei von den ursprünglich zehn Firmen Bankrott ge hen, weil alle zehn im Kampf ums überleben ihre Preise senken und damit die Schuldentilgung für alle erschweren. In großen Crashs aber, nach Innovationssprüngen auf dem Ge biet des Transports, der Kommunikation oder der Materialien, die alle Branchen umsetzen müssen - wie im Jahr 2000 nach dem Internet-Boom -, führt der Abbau der unvermeidlichen Überkapazitäten zu einem allgemeinen Einbruch von Unter nehmenswerten wie auch Eigenkapitalpositionen; bestehende Kreditverpflichtungen werden dadurch über Nacht plötzlich unterbesichert. Eine Kreditsicherheit zum ursprünglichen Preis von einer Million für einen Kredit über eine Million mag so also auf 500 ooo oder gar nur 250 ooo geschrumpft sein. Derartige Kredite werden in den Büchern der Banken nicht nur faul (»to xisch«), sondern gleichzeitig haben die betroffenen Unterneh men für frische Kredite auch keine Pfandmasse mehr. Und ihren Gläubigern bleibt nichts anderes übrig, als die Unterbesicherung aus dem Eigenkapital abzuschreiben und damit den Wert ihres eigenen Eigentums zu verkürzen. An diesem Prozess vermag keine Bank und erst recht keine Zen tralbank irgendetwas zu ändern, denn beide können den un tergehenden Firmen nicht das geben, was sie einzig und alleine retten würde: Sie können ihnen keine zusätzlichen Kreditsicher heiten übertragen und darüber hinaus natürlich auch keine konkurrenzfähige Erfindung verraten, mittels deren sie sich im 41
Wettbewerb gegen ihre Konkurrenten durchzusetzen vermögen. Nur diese beiden Faktoren sind entscheidend! Der Zins hinge gen ist für die Unternehmen kaum relevant. Bei den Geschäftsbanken hingegen verhält sich die Sache anders: Was machen die mit den So bis 90 Prozent der Zentralbank kredite, die bei den Firmen mangels verfügbarer Kreditsicher heiten trotz Nullzins nicht ankommen? Sie kaufen sämtliche All lageklassen mit Renditen über null auf - von Rohstoffen über Immobilien bis hin zu Kunstwerken, Staatsanleihen, Firmenak tien oder -anleihen, Hypotheken von pfandlosen Schuldnern oder gleich ganze Konkurrenzbanken. Sie tun das nicht aus Gier, sondern weil sie selbst vom Wertverlust oder vom Verkauf be droht wären, würden sie auf Fünf-Prozent-Geld beharren, wäh rend andere mit den Nullzinsangeboten der Zentralbank profi table Investments tätigen. »Man muss tanzen, solange die Musik spielt«, verteidigte sich Citigroup-Chef Charles Prince deshalb auch durchaus zu Recht. Das Nullzinsgeld der Zentralbanken wird also nicht in die er höhte Effektivität oder die Produktionsausweitung von Firmen investiert, sondern lediglich in steigende Preise aller Anlageklas sen. Als nunmehr im Preis gestiegene Positionen werden sie als Kreditsicherheiten für die nächste Nullzinsmilliarde bei der Zentralbank verpfändet: Im Ergebnis halten daher 2007 die ame rikanischen Banken, die weder produzieren und auch nur fünf Prozent der Erwerbstätigen bei sich beschäftigen, vierzig Prozent aller Schulden in den Vereinigten Staaten - während es 1980 noch »normale« zehn Prozent waren - und vereinigen gar die Hälfte aller Gewinne auf sich; die erwachsen ihnen vorrangig aus Preissteigerungen. Wenn beim Rennen um die Renditen das höchste Preisniveau erreicht ist, auf dem kein Ertrag oberhalb des Nullzinses mehr erzielbar ist, platzt die Blase. Ein »Öl-Future«, für den man sich 1,5 Millionen so ungemein günstig geliehen hatte, fällt schlag artig auf o,s Millionen: Um die ausstehende Million aufzubrin42
gen, wird panisch quer durch alle Anlagen verkauft, wobei im Preis auch das stürzen muss, was eigentlich unverändert solide geführt wird und als »Realwirtschaft« gedanklich abgeschirmt verstanden wird, obwohl es selbstverständlich auch nur über Schulden gedeihen kann. Die Zinsnullung, die ebendiesen guten Unternehmen der Realwirtschaft Geld zuführen sollte, hat sie wegen der im Crash erlittenen Wertverluste bei den Kredit sicherheiten noch wesentlich stärker in ihrer Fähigkeit beein trächtigt, Geld zu leihen. Die liebenswert-naiven Firmenhelfer in den Zentralbanken werden zu wahren Monstern der Unter nehmenszerstörung. Hätte man nach dem Fiasko früherer Nullzinspolitik wenigstens das System zu durchschauen versucht, wäre das Übel womöglich geringer. Stattdessen wird aber am ökonomischen Leib gerade eine Notoperation durchgeführt, bevor die Chirurgen zutref fende Kenntnis von dessen Anatomie besitzen. Unser Verständ nis derselbigen wie auch eine darauf aufbauende geld- und fiskalpolitische Agenda müssen beim Mangel an unternehme rischen Kreditsicherheiten ansetzen. Denn auch in der Krise bleiben die Schuldsummen gegenüber den Banken fix, während die sie unterlegenden Pfänder aus den Unternehmen im Preis abstürzen.
Der Schaden der anderen
von PAUL KIRCHHOF
Unser Denken ist verwirrt. Wer ein gebrauchsfähiges Auto ent gegen seiner Planung vorzeitig abwrackt, erhält eine Prämie. Wer sich bereitfindet, keine Steuererklärung abzugeben und deshalb entgegen dem Gesetz besteuert zu werden, soll einen Bonus von 300 Euro empfangen. Wir spannen für die einen, die sich im Wirtschaftswettbewerb nicht bewährt haben, einen Rettungsschirm, lassen aber die anderen, die an dieser Fehlent wicklung nicht beteiligt sind, im Regen stehen. Wir lagern gift haltige, toxische Papiere in einer »Bad Bank« aus, erhöhen da mit das Vermögen der Bank und vermindern das der Steuerzahler. Diese Aktionen sollen bald wieder ein Wirtschaftswachstum fast um jeden Preis erreichen. Selbst wenn Produktivität und Nach frage nachlassen, weil wir weniger Kinder, damit weniger Nach frager, Unternehmer, Erfinder und Firmengründer haben wer den, wenn der Finanzmarkt deutlich mehr Werte handelt, als tatsächlich vorhanden sind, wenn der Automobilmarkt mehr Autos produziert, als benötigt werden- selbst dann gestatten wir uns keine Phase der Beruhigung, der Neuorientierung in Be scheidenheit, sondern suchen künstlich und auf Kredit das Wachstum in Schwung zu bringen. Diese Scheinprosperität durch Verschuldung lässt sich organisieren, solange deren Lasten anonym bleiben und noch nicht spürbar sind. Wir stehen vor der Aufgabe, unser Wirtschaftssystem in die verantwortliche Freiheit jedes Unternehmers, Finanziers und Nachfragers zu rückzuführen. Der Weg zu diesem anspruchsvollen Ziel wird allerdings oft durch vordergründige Stichworte versperrt. Man cher nennt unsere wirtschaftliche Realität Kapitalismus und er44
klärt diesen eilig für beendet. Doch dürften wir uns mit einer Phase des Postkapitalismus nicht zufriedengeben, wenn damit die Zeit nach persönlicher Freiheit und persönlicher Verant wortlichkeit beginnen würde. Freiheit ist das Recht jedes Menschen, seine eigenen Angelegen heiten im Rahmen verlässlichen Rechts selbst zu bestimmen. Sie berechtigt als Menschenrecht jeden Menschen, sieht also die ein zeine Person in der Verantwortlichkeit für das wirtschaftliche Geschehen. Selbstverständlich können auch die Kapitalgesell schaften die Eigentümerfreiheit, die Berufsfreiheit und die Ver einigungsfreiheit wahrnehmen, müssen dann aber in gleicher Weise wie die Menschen ihr Handeln verantworten und für Feh ler haften. Bisher allerdings haben manche Banken ihre Umsätze erzielt, fast ohne Eigenkapital zu haben und mit diesem zu haften. Zweckgesellschaften haben zweifelhafte Kreditforderungen ge bündelt, verbrieft, zerstückelt und unter neuem, wohlklingen dem Namen weiterverkauft, ohne dass Verkäufer und Käufer den Wert dieser Papiere ermessen konnten. Anleger leihen sich Aktien und spekulieren auf fallende Kurse oder suchen aus Wäh rungsverlusten ihre Vorteile zu ziehen, erzielen gelegentlich so gar Profit dadurch, dass sie Unternehmen zerstören und sodann Unternehmensteile ertragreich veräußern. Diese Umkehrung des Erfolgsprinzips der Wirtschaftsfreiheit veranlasst die Frage, ob die Freiheitsrechte die Instrumente dazu bieten, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, wirt schaftliche Prosperität zu fördern, Wohlstand für alle zu sichern. Markt und Wettbewerb verlieren ihre innere Rechtfertigung, wenn die Gegenwartsprofite langfristig in den Verlust führen. Wirtschaft und Staat rufen nach Konjunkturprogrammen- eine Droge, die gegenwärtig Gewinn und höheres Steueraufkommen verheißt, aber langfristig die Staatsschulden erhöht und alle Be teiligten schädigt. Doch die Wurzeln unserer Denkkrise liegen tiefer. Die Bereit45
schaft zum Verlust meint immer den Verlust des anderen: des
Netzwerken, die Leistung untergraben. Der Rhythmus unter
Spekulationsobjekts, der fremden Währung, des Zerschlagungs
nehmerischen Entscheidens wird durch die Kurzfristigkeit von
gegenstands, des Steuerstaats. Die Freiheit wird genutzt, um
Quartalsberichten, weniger durch langfristige Pflege der Unter
andere zu schädigen. Eine Fremdschädigung aber ist niemals
nehmensentwicklung bestimmt.
durch ein Freiheitsrecht gerechtfertigt. Das Grundprinzip dieses
Wir stehen heute kaum vor dem Problem der Sozialisierung, bei
»Marktes« ist die Unwissenheit. Wer sein Geld in einem Fonds
dem sich der Staat der Privatwirtschaft bemächtigt, sondern wir
anlegt, überlässt dem Fondsmanager die Entscheidung, das Geld
begegnen der Gefahr der Kollektivierung, in der die Wirtschafts
dort zu plazieren, wo die größte Rendite zu erwarten ist. Ob aber
akteure ihre Verantwortlichkeiteil kaum noch kennen und ihre
mit diesem Geld Weizen oder Waffen finanziert werden, interes
»Finanzprodukte« kaum mehr verstehen. Selbstverständlich
siert den Anleger nicht. Er will es nicht wissen. Die Eigentümer
brauchen wir die Kapitalgesellschaften, die Großprojekte der
macht des Anlegers ist getrennt von der Eigentümerverantwort
Telekommunikation, der Automobilproduktion, der Finanz
lichkeit für das, was mit seinem Kapital geschieht. Doch wenn
versorgung organisieren und finanzieren können. Doch diese
wir Eigentümerrechte systematisch von Eigentümerverantwort
Kapitalgesellschaften brauchen Strukturen , die persönliche Ver
lichkeiten sondern, wird die Garantie des Privateigentums auf
antwortlichkeit stärken. Je anonymer und je abstrakter das Ei
Dauer keinen Bestand haben.
gentum und seine Berechtigten werden, desto mehr schwindet
Das Risiko der strukturellen Nichtverantwortlichkeit ist das
die innere Rechtfertigung des Privateigentums.
Kernproblem unseres Krisenszenarios. Die Eigentumsgarantie
Auch die Krise des Finanzmarktes beruht wesentlich auf einer
meint idealtypisch den Verantwortungseigentümer, den Unter
Erwerbsstruktur, bei der die Beteiligten für ihr Produkt und ihre
nehmer, der mit seinem Namen und seinem Vermögen für die
Schuldner kaum noch verantwortlich sind. Herkömmlich leiht
Qualität seiner Leistung einsteht. Der Unternehmer schaut täg
der Bankier bei dem Sparer einen Betrag für drei Prozent, über
lich seinem Kunden ins Auge und weiß deswegen, was der
lässt diesen Betrag dem Investor für sechs Prozent, stimmt die
Kunde, der Markt von ihm erwartet; er rechtfertigt seinen wirt
Laufzeiten beider Verträge aufeinander ab und beobachtet die
schaftlichen Erfolg aus seiner Leistung; die den Bedarf des Nach
Bonität seines Schuldners. Heute hingegen gewährt er Kredit
fragers erkundet und befriedigt. Eigentümerfreiheit ist recht
und verkauft die Forderung an eine Zweckgesellschaft.
liche, definierte - begrenzte - Freiheit. Diese verantwortliche
Damit realisiert er seine Forderung, verliert das Interesse an der
Freiheit verliert sich in der Anonymität eines nicht mehr über
Bonität des Kreditnehmers, entzieht sich also der Verantwort
sehaubaren Marktes, wenn bei Publikumsgesellschaften der
lichkeit für den von ihm ausgewählten Schuldner. Die Zweck
Kapitalgeber auf ein eher formales Recht der Dividende und
gesellschaft verbrieft derartige Forderungen in einem Wert
Wertbeteiligung beschränkt ist, der Ankeraktionär dem von ei
papier, das sie wiederum an Investoren und Banken verkauft
nem zum anderen Unternehmen wechselnden Anleger weicht,
oder auch bei der Zentralbank als Pfand hinterlegt. Die so ge
der Unternehmensvorstand sich eher durch Banken, Bonus
wonnenen Gelder werden wieder zur Kreditvergabe eingesetzt,
berechtigte und übernahmebereite Konkurrenten in die Pflicht
wieder werden die Forderungen verbrieft, wieder verdienen
genommen sieht. Bonussysteme verleiten dazu, nach Kennzah
Banken, Finanzberater, Bewerter, Versicherer und Rückversiche
len und nicht nach nachhaltigen Werten zu streben, sie fuhren zu
rer. In diesen Finanzkonstrukten verliert der Finanzier den Be47
zug zu tatsächlicher Produktivität und Dienstleistung, begegnet auch kaum noch Schuldnern und Gläubigern, tauscht Geld gegen Geld. Die Risiken dieser Geschäfte sind so groß, dass ein Finanzinstitut sie allein nicht tragen kann. Sie werden deshalb in gemeinsamen Gesellschaften verteilt und so vernetzt, dass ein einzelnes Unternehmen von einer bestimmten Größe nicht mehr aus dem Markt ausscheiden kann, seine Geschäfte und Kunden kaum von dem besseren Konkurrenten übernommen werden, vielmehr eine Schwäche im Netz alle Vernetzten in den Niedergang zieht. Das harte, aber richtige Wort der »schöpferi schen Zerstörung« wird durch kartellähnliche Strukturen ge genstandslos. Die Krise eines einzelnen Instituts weitet sich zur allgemeinen Finanzkrise, aus der nur noch der Zugriff auf den Staatshaushalt zu helfen scheint. Damit sind die Entscheidungsträger der Demokratie gefordert. Das demokratische Prinzip baut auf die individuelle Freiheit je des Bürgers, der mit seinem Stimmrecht auf die Entscheidungen des Staates Einfluss nehmen soll. Die Demokratie weiß, dass Herrschaft Widerstand, auch Aufstand provozieren kann, sucht deshalb die gegenläufigen Interessen parlamentarisch und in Wahlen in ständigem Gespräch zu halten, gibt der Minderheit von heute die Chance, die Mehrheit von morgen zu sein, sucht in der Offenheit der Debatte die gegenläufigen Interessen scho nend miteinander auszugleichen. Auch dieser demokratische Ausgleich setzt voraus, dass freiheit liches Wirtschaften selbst, im eigenen Vermögen, verantwortet und nicht zur Gemeinlast wird, die dann durch die Allgemein heit der Steuerzahler zu finanzieren wäre. Verantwortlichkeit heißt im Wirtschaftsleben vor allem Haftung. Das persönliche Risiko des individuellen Fehlers sichert die Qualität der Leis tung. Wer haftet, handelt vorsichtig. Wer zu Lasten anderer spie len und wetten kann, wird risikobereit, wagemutig, tollkühn. Deswegen müssen wir die Frage stellen, ob die Verbriefung von Forderungen in Zweckgesellschaften tatsächlich denjenigen
entlasten darf, der den Schuldner ausgesucht und deswegen die Bonität dieses Schuldners zu verantworten hat. Daneben wird zu Recht geprüft, ob ein Institut, das Anlagen empfiehlt, mit einer Eigenbeteiligung selbst Teile des Risikos der Empfehlung tragen soll. Universalbanken könnten so unterglie dert werden, dass die systemischen Risiken von Spiel und Wette nicht auch die Sparer gefährden, die für Sicherheit eine geringere Rendite in Kauf nehmen. Soweit die Kreditinstitute den Steuer staat als Sanierungshelfer in Anspruch nehmen, sollten vertrag liche Absprachen getroffen werden, die alle begünstigten Unter nehmer verpflichten, nach der erfolgreichen Sanierung an der Sanierung des hochverschuldeten Staates, über die Steuerpflicht hinaus, mitzuwirken. Sodann müssen die Ersichtlichkeit und Verständlichkeit des Marktes neu organisiert werden. Der Fondsanleger sollte durch seine Unterschrift die Verantwortlichkeit für die Art des Wirt schafrens übernehmen, durch die er Rendite erzielen will. Fi nanzprodukte, die nur aus Unwissenheit erworben werden, soll ten vom Markt verschwinden. Spiel und Wette, die Unwissenheit zur Voraussetzung haben, sollten allenfalls für einen gesonder ten Markt eröffnet werden, dessen rechtlichen Rahmen ein Staat zu setzen hat, der grundsätzlich den Spieltrieb des Menschen einzudämmen sucht und dazu verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Schließlich muss die Selbstverständlichkeit, dass hohe Rendi ten in der Regel hohe Risiken voraussetzen, durch eine Haftung auch für Unbestimmtheiten und Unklarheiten bei Empfehlun gen und Werbungen bewusst gemacht werden, die deutlich über eine herkömmliche Prospekthaftung hinausgeht. Die privatwirtschaftlich tätigen Finanzinstitute handeln strikt nach dem Prinzip der Risikoabsicherung. Sie vergeben den Kre dit nicht schon, wenn sie das Geld billig erhalten und teuer über lassen können, sondern fragen nach den Sicherheiten, die der Kreditnehmer bieten kann. Deshalb genügt es nicht, dass der Staat den Finanzinstituten staatliche Gelder zuweist. Gleicher49
maßen wesentlich ist, dass die kreditsuchenden Unternehmen
trauen, der die Bedürfnisse des Kunden erkennt und angemes
hinreichende Sicherheiten bieten können. Wenn eine Bank Gel
sen befriedigt, damit er Wohlstand für alle schafft. Wir haben
der empfangt, ohne für Kredite genügende Sicherheit zu erwar
eine gute Chance, die gegenwärtige Krise zu bewältigen; doch
ten, wird sie Grundstücke, Staatsanleihen, Beteiligungen oder
nicht, indem wir die Krise finanzieren und damit verstetigen,
Unternehmen erwerben. Die Verbilligung des Geldes lässt die
sondern indem wir zur verantwortlichen Freiheit, zum lauteren
Preise für Anlagegüter steigen. Gewinne erwachsen mehr aus
Wettbewerb, zu einem Markt mit persönlicher Haftung zurück
dieser Wertsteigerung, weniger aus realer Produktivität. Sie sam
kehren. Nicht Freiheit und Wettbewerb, sondern Prämien, Fi
meln sich bei Finanzinstitutionen, schwächen Produktion und
nanzanreize und staatlich kreditfinanziertes Wachstum gehören
Handel. Staatlich verbilligtes Geld und staatliche Geldzuweisun
abgewrackt.
gen gefährden Unternehmen. Ein Kernproblem unserer Finanzkrise liegt in dem Versuch, wirtschaftliche Ausgangstatbestände, Prognosen und Rendite� erwartungen allein in Zahlen auszudrücken. Von Steuerbilanzen wissen wir, dass die Zahl nur Zählbares zum Ausdruck bringen kann, die Zukunft und zukünftiges Wollen und Entscheiden des Menschen aber nicht zählbar sind. Der Mensch sucht mehr Si cherheit, als Menschen bieten können. Das gilt für den Wetter bericht, die Wirtschaftsprognosen und die Bewertungen durch Ratingagenturen. Deswegen müssen wir uns wieder darauf einrichten, dass auch Wirtschaften täglich auf die Ungewissheit, die Unsicherheit trifft, dass die Zukunft nicht in Zahlen fassbar ist. Ein Wirtschaftssystem, das Erfolg und allgemeine Prosperität von der individuellen Erwerbsfreiheit erwartet und deswegen auf Markt und Wettbewerb setzt, ist ohne Alternative. Müssten wir heute erstmals ein Wirtschaftssystem entwickeln, würden wir eine Arbeitsteilung vereinbaren, Güter tauschen, sparen und investieren, das Freiheitsinstrument des Geldes entwickeln, Kre dite gewähren, Banken und Unternehmen gründen. Nicht Frei heit und Wettbewerb müssen in Frage gestellt werden. Vielmehr ist die Freiheit auch im Wettbewerb so zu reorganisieren, dass sie stets rechtliche, verantwortliche Freiheit bleibt. Wir geben die Erfahrungen von Adam Smith, Immanuel Kant und Ludwig Er hard weiter, die den Wettbewerb dem Unternehmer anver50
Interview mit MEINHARD MIEGEL
ner vorerst weiter explodierenden Weltbevölkerung den ange strebten Lebensstandard zu ermöglichen. Wir sind hier Opfer einer Ideologie immerwährender wirtschaftlicher Wachstums möglichkeiten.
Alle reden von der Krise, Sie nicht. Weil der Begriff Krise negativ besetzt ist. Ich aber sehe in der ge genwärtigen Entwicklung viel Positives. Hinter uns liegt eine Phase, in der sich viele verhalten haben wie Drogensüchtige. Jetzt haben wir die Chance, aus dem Sumpf herauszukommen.
Jetzt klingen Sie wie Pranz Alt in den achtziger Jahren. Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß jedoch, dass ich mich seit damals dagegen gewehrt habe, mit zum Teil höchst proble matischen Mitteln Wachstum anzukurbeln. Damals wie heute hieß es über das politische Spektrum hinweg: Wachstum, Wachstum. Dieser Wachstumswahn ist jetzt mit der Wirklich keit kollidiert.
2015 - das Jahr der finalen Krise
Was war denn die Droge? Wachstum, Wachstum um jeden Preis. Und da echtes, solides Wachstum vielen nicht reichte, wurden riesige Schaumberge ge schlagen. Jetzt platzen die Bläschen, und der Berg fällt wieder in sich zusammen. Aber keine Angst, das bringt uns nicht ins Ar menhaus. Wir werden nur auf das Niveau gebracht, das unserer eigentlichen Leistungskraft entspricht. Seit wann besteht denn diese Sucht? Seit langem. Aber richtig beängstigend wurde sie Ende der sieb ziger Jahre. Die Börsenkurse sind ein Indiz dafür: Jahrzehntelang verliefen sie ganz ruhig, dann aber fingen sie an, fiebrig und schließlich irrsinnig zu werden. Was in den vergangeneo zehn Jahren geschehen ist, hat mit solidem Wirtschaften nichts mehr zu tun. Und jetzt? Jetzt wird mit enormen Steuermitteln der nächste Schaumberg geschlagen. Was da getrieben wird, ist doch nicht mehr normal. Wir sollten uns als Gesellschaft, vielleicht sogar als Menschheit eingestehen: Wir haben uns übernommen. Die Versorgungs und Entsorgungskapazitäten der Erde reichen nicht aus, um ei52
Aber alle sehen doch Erholung und grüne Sprossen. Aber zu welchem Preis? Allein die großen Länder haben für Kre dite, Bürgschaften, Rettungsschirme und was weiß ich etwa sie ben Billionen Dollar Steuergelder in Aussicht gestellt. Diese Mit tel sind doch gar nicht vorhanden. In der ersten Krise dieses Jahrzehnts wackelten Unternehmen. In dieser Krise wackeln Un ternehmen und Banken. Und in der nächsten, die jetzt vorberei tet wird, werden Unternehmen, Banken und Staaten wackeln. Dann kann nur noch der liebe Gott Rettungsschirme aufspan nen. Diejenigen, die diese Konzepte entwickeln, wirken aber ganz nor mal. Ideologen wirken meistens ganz normal. Schauen Sie, über lange Zeit glaubten Menschen, sie könnten sich von ihren Sünden frei kaufen. Da legte dann die brave Bauersfrau Münze auf Münze, um durch einen Ablassbrief ihren verstorbenen Mann aus dem Fegefeuer zu holen. Das war auch so eine Ideologie. Aber alle Beteiligten wirkten durchaus normal.
53
Wie würden Sie die Ideologie beschreiben? »Ohne Wachstum ist alles nichts« - so nachzulesen in einem jün geren Grundsatzpapier der CDU. Das muss man sich einmal vorstellen. Das ganze Wohl und Wehe der Gesellschaft wird hier
Das Wachstum der letzten Dekaden hatfür Sie aber auch eine an dere Qualität als das Wachstum in den ersten Jahrzehnten der Re publik? Ja, es ist kaum noch wohlstandsmehrend. Erkrankungen, ka
an etwas gehängt, was niemand gewährleisten kann: Erwerbs
putte Familien, Autounfälle, Unwetter - das alles fördert das
arbeit, soziale Sicherheit, ausgeglichene öffentliche Haushalte,
Wachstum, hebt aber nicht den Wohlstand. Und genau das ist
selbst die Demokratie. Nichts funktioniert ohne Wachstum. Ein
die Art von Wachstum, die seit geraumer Zeit dominiert. Überall
wirklich tollkühnes Konzept.
muss repariert werden: mehr Kranke, unterstützungsbedürftige
Dann ist die Krise für Sie ein heilsamer Schock?
wird, ist zunehmend nur der Versuch, Schäden zu beseitigen, die
Kinder und so weiter. Was heute Wohlstandsmehrung genannt Eine überfällige Enttäuschung. Hinter uns liegt eine Phase des
bei einem solideren Wachstum überhaupt nicht aufgetreten
Rausches. Was dringend gebraucht wird, ist Bodenhaftung. Wie
wären.
manche Unternehmen, Banken und Staaten gewirtschaftet ha ben, konnte nicht gutgehen. Sie mussten in den Schuldenbergen
Wollen Sie darauf hinaus, dass Geld nicht glücklich macht?
steckenbleiben, die sie seit Jahren vor sich herschieben. Die
Bis zu einem bestimmten Punkt macht es schon glücklich. Men
künstliche Aufschäumung der Geldmenge sprengt jedes Vorstel
schen, die Not leiden, werden deutlich glücklicher, wenn diese
lungsvermögen. In den zurückliegenden dreißig Jahren hat sich
gelindert oder sogar überwunden wird. Doch es ist ein Irrglaube
die globale Geldmenge schätzungsweise vervierzigfacht, die Gü
anzunehmen, dass immer mehr Geld immer glücklicher mache.
termenge aber nur vervierfacht. Wohin mit dem gigantischen
Die materiellen Bedürfnisse von Menschen sind endlich und las
Geldüberhang?
sen sich durchaus befriedigen. Was dann kommt, sind Ansehen, Macht und dergleichen. Da wird es schon schwieriger. übrigens
Viele sehen aber in der Krise ein Gerechtigkeitsproblem: Wenige haben einige Jahre sehr gut verdient, nun müssen alle Schulden aufnehmen.
hat Ludwig Erhard das genau erkannt, als er in den Sechzigern erklärte, die materielle Wohlstandsmehrung dürfe nicht mehr im Vordergrund stehen.
Das ist auch ein Problem, obwohl die Zusammenhänge oft arg verkürzt dargestellt werden. Denn verloren haben ja zunächst
Die Grünen predigen das seitje.
einmal die Vermögensbesitzer, die zugleich in aller Regel weit
Teils, teils. Es gibt auch unter ihnen ziemliche Wachstumsfeti
überproportional die Steuerlasten zu stemmen haben. Aber wie
schisten.
gesagt: Ein Problem bleibt.
Aber was kommt nach dieser Ideologie, was kommt nach dem Geld? Da hat unsere Gesellschaft unglücklicherweise nicht viel zu bie ten! Fragt man, was macht dich zufriedener, ein Auto oder die Fähigkeit, eine Fremdsprache zu sprechen, dann sagen die meis ten: die Fremdsprache. Das gilt auch im Vergleich: große Woh54
55
nung oder Fähigkeit, ein Instrument zu spielen. Das Instrument macht zufriedener. Doch aufgrund unserer Ideologie verschaf
geordnet. Zum Teil hat das beinahe manische Züge angenom men, zum Beispiel wenn die Familienministerin sinngemäß er
fen derartige Fähigkeiten weit weniger gesellschaftliches An
klärt, eine nachhaltige Familienpolitik stärke das wirtschaftliche
sehen als große Wohnungen oder dicke Autos. Und das ist die
Wachstum und steigere die dringend benötigten Renditen. Oder
Crux. Menschen haben ein natürliches Bedürfnis nach Ansehen, nach Anerkennung. Lässt sich das eher durch Materielles erlan gen, dann streben sie ebe� danach und setzen so einen Teufels
wenn die Bedeutung des Sports nach dessen Beitrag zum Brut toinlandsprodukt bewertet wird. Ähnliches lässt sich für Bil dung und Kunst sagen. Immer wieder heißt es: Was bringen sie
kreis in Gang.
für die Mehrung unseres materiellen Wohlstands? Irgendwie ist
Das könnte sich doch durch die Krise wieder ändern?
logie stand. Jetzt steht es im Dienste des Wachstums.
Das wäre schön. Aber wenn ich die mitunter geradezu hysteri schen Reaktionen auf den wirtschaftlichen Rückgang sehe, bin ich wenig hoffnungsfroh. Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn das Wirtschaftsvolumen in Deutschland auf das Niveau von 2005 zurückgeht? Das waren doch wirklich keine Elendszei ten. Nein, unsere Gesellschaft ist dermaßen auf Wachstum ge trimmt, dass selbst bescheidene Rückschritte als Katastrophe empfunden werden. Ich fürchte, viele sind nicht mehr krisen tauglich.
es wie im Mittelalter. Nur dass damals alles im Dienste der Theo
Sehen Sie denn Länder, in denen diese Ideologie weniger ausge prägt ist? Es gibt allenfalls graduelle Unterschiede. Selbst das sozialistische Lager war ja wachstumsbesessen. In ihrem zentralen Glücks und Heilsversprechen unterscheiden sich Kapitalismus und So zialismus kaum: der Schaffung von Reichen materiellen Über flusses. Die Tragik des Sozialismus war, dass er bei der Einlösung dieses Versprechens kläglich versagte. Der Kapitalismus war un gleich erfolgreicher, stößt aber jetzt ebenfalls an Grenzen.
Und doch wollen fast alle Verantwortlichen möglichst schnell wei termachen wie vorher. Ebendeshalb. Sie wollen nicht die herrschende Ideologie aufge ben, was ja auch schwer ist. Da haben sie jahrzehntelang Wachs
Wie geht es weiter? Die Schnitzel auf den Tellern werden kleiner. Vielleicht genießen wir sie aber nicht zuletzt deshalb umso mehr. Die allermeisten
tum gepredigt und sollen nun erklären, sollte es ausbleiben, wäre
können doch auf vieles verzichten, ohne es auch nur zu bemer
das auch nicht weiter schlimm. Ich komme zurück auf den Ab
ken. Da muss dann eben einmal eine Modesaison oder eine Han
lasshändler. Der soll eines Tages der Bäuerin sagen, behalte dein
dygeneration übersprungen werden. Was macht das schon?
Geld. Für deinen verstorbenen Mann macht es keinen Unter schied, ob du meinen Brief kaufst oder nicht. So etwas erfordert sehr viel Charakter.
Wie wollen Sie denn Ihre Botschaft vom Ende der Wachstumsideo logie unter die Leute bringen?
Das könnte folglich die Stunde der Kultur sein.
vermittelt: Wie bisher geht es nicht weiter.
Das besorgt die Wirklichkeit. Sie hat den Menschen mittlerweile Unbedingt. Zurzeit sind wir eine völlig durchmonetarisierte, auf Wachstum fokussierte Gesellschaft. Alles andere ist dem unter57
Vielleicht rührt daher die Angst, gegenwärtig.
sehen individueller Wertschätzung und wirtschaftlichem Status
Nicht Angst, aber Unsicherheit. Zu wissen, wie bisher geht es
zu unterscheiden. Das eine sollte nicht vom anderen abhängen.
nicht weiter, ist das eine. Aber wie soll, wie wird es weitergehen? Das ist das andere. Und auf diese Frage haben alle Parteien im
In früheren Zeiten war man da schon einmal weiter. Kirchen und Kathedralen, der einst größte Luxus, standen allen offen, Fürs
Kern wieder nur die Antwort: durch Wachstum. Das ist nicht ge
ten und Bettelleuten. Heute wird ständig gewogen und vermes
nug. So viel Ideenarmut verunsichert.
sen, und wehe dem, der für zu leicht befunden wird. Im Sport treibt das die absonderlichsten Blüten: eine hundertstel Sekunde
Nun werden ja erst einmal die Arbeitslosenzahlen steigen. Leider. Weil wir immer noch nicht gelernt haben, eine befriedi gende Beschäftigungslage auch unter Bedingungen wirtschaft
zu langsam - und alles ist aus.
Vom Dopingganz zu schweigen.
lichen Stillstands oder wirtschaftlicher Schrumpfung zu ge
Die ganze Gesellschaft ist gedopt. Sie hat längst ihr inneres
währleisten. Wie soll das eigentlich weitergehen? Brauchen wir
Gleichgewicht verloren, die Balance zwischen innerem und äu
auch noch während der nächsten hundert Jahre zwei Prozent
ßerem Reichtum. Viele vermögen mit »innerem Reichtum« gar
Wachstum zur Aufrechterhaltung der Beschäftigung? Dann
nichts mehr anzufangen. Dabei macht er den Menschen erst
müsste in nicht so ferner Zukunft das Siebenfache des Heutigen
zum Menschen. Kaninchen und Kühe haben ihn nicht.
erwirtschaftet werden. Das kann doch nicht Grundlage einer nachhaltigen Politik sein. Das sind doch Hirngespinste.
Das wissen wir nicht genau.
Können Sie denn ein Beispiel für den von Ihnen avisierten Wandel im Lebensstil nennen?
ben sie keine Religionen, deren Bestreben es ja ist, die Balance
Gut, jedenfalls halte ich es für unwahrscheinlich. Ganz sicher ha von innerem und äußerem Reichtum aufrechtzuerhalten.
Ein Beispiel sind unsere Städte. Sie sind getrimmt auf Produk tion, Konsum und Transport. Das alles ist wichtig, aber nicht an
Stoßen Sie denn auf offene Ohren?
nähernd genug. Eine Stadt muss in erster Linie Lebensraum sein,
Durchaus. Die Politik ist keineswegs schwerhörig. Nur geht das
ein Raum, in dem sich Menschen wohl fühlen, sich entfalten,
meiste schrecklich langsam. Das macht mir Sorge. Die Zeit, die
miteinander kommunizieren. Eine Stadt muss öffentliche Räu
uns für Mentalitätsveränderungen bleibt, ist kurz.
me bieten, in denen sich Menschen gerne aufhalten. Alle schwär men von den oberitalienischen Städten. So etwas gab es bei uns
Inwiefern?
auch einmal. Es wurde ersetzt durch Einkaufsstraßen und Shop
Weil die nächste Herausforderung schon in wenigen Jahren zu
ping-Malls.
bestehen sein wird. Ich schätze, um das Jahr 2015. Manche mei nen, dann käme so etwas wie ein finaler Crash. Doch final oder
So dass, wer sich nichts kaufen kann und nicht arbeitet, auch aus der Gemeinschaft ausgegrenzt wird.
nicht final - wir sollten auf wirklich tiefgreifende Veränderun gen vorbereitet sein.
Das ist weithin die schlimme Wirklichkeit. Die Qualität einer Gesellschaft bemisst sich nicht zuletzt an ihrer Fähigkeit, zwi-
Die Fragen stellte Nils Minkmar. 59
Die Revolution der gebenden Hand von PETER
SLOTERDIJK
der Rechtstitel wird. Wer hierbei zu spät kommt, den bestraft das Leben. Arm bleibt, wer auf der falschen Seite des Zauns existiert. Den Armen erscheint die Welt als ein Ort, an dem die nehmende Hand der anderen sich schon alles angeeignet hat, bevor sie sel ber den Schauplatz betraten. Der Rousseau'sche Mythos von der Entstehung der bürgerlichen
Am Anfang aller ökonomischen Verhältnisse stehen, wenn man
Gesellschaft aus der Landokkupation hat seine Wirkung bei den
den Klassikern glauben darf, die Willkür und die Leichtgläubig
Lesern in der politischen Moderne nicht verfehlt. Marx war von
keit. Rousseau hat hierüber in dem berühmten Einleitungssatz
dem Schema der ursprünglichen Einzäunung so beeindruckt,
zum zweiten Teil seines Diskurses über die Ungleichheit unter
dass er die ganze Frühgeschichte des »Kapitalismus«, die so
den Menschen von 1755 das Nötige erklärt: »Der erste, der ein
genannte ursprüngliche Akkumulation, auf die verbrecherische
Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen:
Willkür einiger britischer Großgrundbesitzer zurückführen
Das gehört mir!, und der Leute fand, die einfältig ( simples) ge
wollte, die es sich einfallen ließen, große Flächen Landes ein
nug waren, ihm zu glauben, ist der wahre Gründer der bürger
zuzäunen und große Herden wolletragenden Kapitals darauf
lichen Gesellschaft ( societe civile) . «
weiden zu lassen - was naturgemäß ohne die Vertreibung der
Demnach beginnt, was wir das »Wirtschaftsleben« nennen, mit
bisherigen Besitzer oder Nutznießer des Bodens nicht geschehen
der Fähigkeit, einen überzeugenden Zaun zu errichten und das
konnte.
eingehegte Terrain durch einen autoritativen Sprechakt unter
Wenn Marx seine Theorie der kapitalgetriebenen Wirtschafts
die Verfügungsgewalt des Zaun-Herrn zu stellen: Ceci est a moi.
weise fortan in der Form einer »Kritik der politischen Ökono
Der erste Nehmer ist der erste Unternehmer - der erste Bürger
mie« entwickelte, so auf Grund des von Rousseau inspirierten
und der erste Dieb. Er wird unvermeidlich begleitet vom ersten
Verdachts, dass alle Ökonomie auf vorökonomischen Willkür
Notar. Damit so etwas wie überschussträchtige Bodenbewirt
voraussetzungen beruhe - auf ebenjenen gewaltträchtigen Ein
schaftung in Gang kommt, ist eine vorökonomische »Tathand
zäunungsinitiativen, aus denen, über viele Zwischenschritte, die
lung« vorauszusetzen, die in nichts anderem besteht als der ro
aktuelle Eigentumsordnung der bürgerlichen Gesellschaft her
hen Geste der Inbesitznahme. Diese muss aber durch eine
vorgegangen sei. Die ersten Initiativen der beati possidentes
nachträgliche Legalisierung konsolidiert werden. Ohne die Zu
kommen ursprünglichen Verbrechen gleich - sie sind nicht we
stimmung der »Einfältigen«, die an die Gültigkeit der ersten
niger als Wiederholungen der Erbsünde auf dem Gebiet der Be
Nahme glauben, ist ein Besitzrecht auf Dauer nicht zu halten.
sitzverhältnisse. Der Sündenfall geschieht, sobald der Privat
Was als Besetzung beginnt, wird durch den Grundbucheintrag
besitz aus dem Gemeinsamen ausgegrenzt wird. Er zeugt sich
besiegelt - zuerst die Willkür, dann ihre Absegnung in rechtsför
fort in jedem späteren ökonomischen Akt.
miger Anerkennung. Das Geheimnis der bürgerlichen Gesell
In solchen Anschauungen gründet der für den Marxismus, aber
schaft besteht folglich in der nachträglichen Heiligung der ge
nicht nur für diesen, charakteristische moderne Habitus der Re
waltsamen Initiative. Es kommt nur darauf an, als Erster da zu
spektlosigkeit vor dem geltenden Recht, insbesondere dem bür
sein, wenn es um den anfänglichen Raub geht, aus dem später
gerlichsten der Rechte, dem Recht auf die Unverletzlichkeit des
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Eigentums. Respektlos wird, wer das »Bestehende<< als Resultat
nur durch eine Rücknahme der anfänglichen Nahme überwun
eines initialen Unrechts zu durchschauen glaubt. Weil das Ei
den werden kann. Hiermit tritt der mächtigste politisch-ökono
gentum, dieser Betrachtung gemäß, auf einen ursprünglichen
mische Gedanke des neunzehnten Jahrhunderts auf die Bühne,
>>Diebstahl« am diffusen Gemeinbesitz zurückgeführt wird, sol
der dank des sowjetischen Experiments von 1917 bis 1990 auch
len die Eigentümer von heute sich darauf gefasst machen, dass
das vergangene Jahrhundert mitbestimmte: Er artikuliert die
eines Tages die Korrektur der gewachsenen Verhältnisse auf die
quasi homöopathische Idee, wonach gegen den ursprünglichen
politische Agenda gesetzt wird. Dieser Tag bricht an, wenn die
Diebstahl seitens der Wenigen nur ein sittlich berechtigter Ge
Einfältigen von einst aufhören, bloße simples zu sein. Dann erin
gendiebstahl seitens der Vielen Abhilfe schaffen könne. Die Kri
nern sie sich an das »Verbrechen«, das von den Errichtern der
tik der aristokratischen und bürgerlichen Kleptokratie, die mit
ersten Zäune begangen wurde. Von einem erleuchteten revolu
Rousseaus ahnungsvoll drohenden Thesen begonnen hatte,
tionären Elan erfüllt, raffen sie sich dazu auf, die bestehenden
wurde vom radikalen Flügel der Französischen Revolution mit
Zäune abzureißen.
der erbitterten Begeisterung aufgenommen, die der gefahrliehen
Von da an muss Politik Entschädigung für die Nachteile bie
Liaison von Idealismus und Ressentiment entspringt.
ten, die von den meisten bei der frühen Verteilung hinzunehmen
Schon bei den Frühsozialisten hieß es alsbald: Eigentum ist
waren: Es gilt jetzt, für das Allgemeine zu reklamieren, was von
Diebstahl. Der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon, auf den der
den ersten privaten Nehmern angeeignet wurde. Auf dem Grund
anzügliche Lehrsatz zurückgeht, hatte in seiner Schrift über das
jeder revolutionären Respektlosigkeit findet man die Über
Eigentum von 1840 die Aufhebung der alten Ordnungen in herr
zeugung, dass das Früher-Dagewesensein der jetzigen >>recht
schaftsfreie Produzentenbünde gefordert - zunächst unter dem
mäßigen« Besitzer letztlich nichts bedeutet. Von der Respekt
heftigen Beifall des jungen Marx. Bekanntlich kehrte Marx we
losigkeit zur Enteignung ist es nur ein Schritt. Alle Avantgarden
nige Jahre später seinen proudhonschen Inspirationen den Rü
verkünden, man müsse mit der Aufteilung der Welt von vorn be
cken, indem er den Anspruch erhob, der Natur des Eigentums
ginnen.
problems, und eo ipso des Diebstahlphänomens, tiefer auf den
Vor diesem Hintergrund ist es leicht zu verstehen, warum alle
Grund gegangen zu sein.
»kritische« Ökonomie nach Rousseau die Form einer allgemei
Mochte Marx auch später noch in klassisch respektloser Tonart
nen Theorie des Diebstahls annehmen musste. Wo Diebe an der
die »Expropriation der Expropriateure« auf seine Fahnen schrei
Macht sind - mögen sie auch schon seit längerem als gesetzte
ben, so sollte dies künftig keineswegs bloß die Wiedergut
Herren auftreten -, kann eine realistische Wirtschaftswissen
machung des vor Zeiten verübten Unrechts bedeuten. Viel
schaft nur als Lehre von der Kleptokratie der Wohlhabenden
mehr zielte das Marx'sche Postulat, getragen von einer klug kon
entwickelt werden. In theoretischer Perspektive will diese erklä
fusen Werttheorie, auf die Beseitigung der sich täglich erneuern
ren, wieso die Reichen seit je auch die Herrschenden sind: Wer
den Plünderungsverhältnisse im Kapitalsystem. Vorgeblich stel
bei der anfänglichen Landnahme zugegriffen hat, wird auch bei
len diese sicher, dass der »Wert<< aller industriellen Erzeugnisse
späteren Machtnahmen ganz vorn sein.
stets ungerecht geteilt werde: das bloße Existenzminimum für
In politischer Perspektive erläutert die neue Wissenschaft von
die Arbeiter, den reichen Wertüberschuss für die Kapitaleigen
der nehmenden Hand, warum die real existierende Oligarchie
tümer.
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Aus der Marx'schen Mehrwerttheorie ergab sich die folgen
Immerhin, in diesen Finanzkrisentagen erfährt man es schon
schwerste These, die je auf dem Feld der Eigentumskritik for
aus den Boulevardzeitungen: Der Kredit ist die Seele jedes Be
muliert wurde. In ihrer Beleuchtung erscheint die Bourgeoisie,
triebs, und die Löhne sind zunächst und zumeist von geliehe
obschon de facto auch eine produzierende Klasse, als ein von
nem Geld zu bezahlen - und nur bei Erfolg auch aus Gewinnen.
Grund auf kleptokratisches Kollektiv, dessen Modus Vivendi
Das Profitstreben ist ein Epiphänom en des Schuldendienstes,
umso verwerflicher sei, als dieser sich offiziell auf allgemeine Gleichheit und Freiheit berufe - nicht zuletzt auf die Vertrags
und die faustische Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers ist der psychische Reflex des Zinsenstresses.
freiheit beim Eingehen von Beschäftigungsverhältnissen. Was
Gleichwohl, die Unters tellung, >> Kapital« sei nur ein Pseudonym
unter der juristischen Form von freien Tauschvereinbarungen
für eine unersättliche räuberische Energie, lebt weiter bis in
zwischen Unternehmern und Arbeitern abgeschlossen werde,
Brechts
sei in der Sache nur ein weiterer Anwendungsfall dessen, was
deute im Vergleich mit der Gründung einer Bank. Wohin man
Sottise, wonach
der Überfall auf eine Bank nichts be
Proudhon das »erpresserische Eigentum« genannt hatte.
auch sieht: In den Analysen der klassischen Linken scheint der
Es führt geradewegs zu jenem Mehrwertdiebstahl, der vorgeb
Diebstahl an der Macht, wie seriös er auch kaschiert sein mag
lich in allen Gewinnen der Kapitalseite zutage tritt. In der Lohn
und wie väterlich sich manche Unternehmer auch für ihre Mit
zahlung verberge sich ein Nehmen unter dem Vorwand des
arbeiter einsetzen. Was den »bürgerlichen Staat« angeht, kann er
Gebens; mit ihr geschehe eine Plünderung im Gewand des frei
diesen Annahmen gemäß nicht viel mehr sein als ein Syndikat
willigen, gerechten Tauschs. Allein aufgrund dieser moralisie
zum Schutz der allzu bekannten »herrschenden Interessen«.
renden Stilisierung der ökonomischen Grundverhältnisse konn
Es würde sich an dieser Stelle nicht lohnen, die Irrtümer und
te »Kapitalismus« zu einem politischen Kampfwort und syste
Missverständnisse aufzuzählen, die der abenteuerlichen Fehl
mischen Schimpfwort werden.
konstruktion des Prinzips Eigentum auf der von Rousseau über
Als solches macht es gegenwärtig erneut die Runde. Es steht für
Marx bis zu Lenin führenden Linie innewohnen. Der Letzt
die Fortsetzung der feudalen Sklaven- und Leibeigenenausbeu
genannte hat vorgeführt, was geschieht, wenn man die Formel
tung mit den Mitteln der modernen oder bourgeoisen Lohn
von der Expropriation der Expropriateure aus der Sphäre sektie
empfängerausbeutung. Das ist es, was mit der These besagt war,
rerischer Traktate in die des Staatsparteiterrors übersetzt. Ihm
die »kapitalistische« Wirtschaftsordnung werde durch den ba
verdankt man die unüberholte Einsicht, dass die Schicksale des
salen Antagonismus von Kapital und Arbeit bewegt - eine These,
Kapitalismus wie die seines vermeintlichen Gegenspielers, des
die bei all ihrem suggestiven Pathos auf einer falschen Darstel
Sozialismus, untrennbar sind von der Ausgestaltung des moder
lung der Verhältnisse beruhte: Das Movens der modernen Wirt
nen Staates.
schaftsweise ist nämlich keineswegs im Gegenspiel von Kapital
Tatsächlich muss man auf den zeitgenössischen Staat blicken,
und Arbeit zu suchen. Vielmehr verbirgt es sich in der antagonis
wenn man die Aktivitäten der nehmenden Hand auf dem neues
tischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern. Es ist die Sorge
ten Stand der Kunst erfassen will. Um die unerhörte Aufblähung
um die Rückzahlung von Krediten, die das moderne Wirtschaf
der Staatlichkeit in der gegenwärtigen Welt zu ermessen, ist es
ten von Anfang an vorantreibt - und angesichts dieser Sorge ste
nützlich, sich an die historische Verwandtschaft zwischen dem
hen Kapital und Arbeit auf derselben Seite.
frühen Liberalismus und dem anfänglichen Anarchismus zu er-
innern. Beide Bewegungen wurden von der trügerischen An
das Phänomen der heutigen Steuerduldsamkeit bei den Wohl
nahme animiert, man gehe auf eine Ära geschwächter Staatswe
habenden zu würdigen, sollte man vielleicht daran erinnern,
sen zu. Während der Liberalismus nach dem Minimalstaat
dass Queen Victoria bei der erstmaligen Erhebung einer Ein
strebte, der seine Bürger nahezu unfühlbar regiert und sie bei
kommensteuer in England in Höhe von fünf Prozent sich dar
ihren Geschäften in Ruhe lässt, setzte der Anarchismus sogar die
über Gedanken machte, ob man hiermit nicht die Grenze des
Forderung nach dem vollständigen Absterben des Staates auf die
Zurnutbaren überschritten habe. Inzwischen hat man sich längst
Tagesordnung.
an Zustände gewöhnt, in denen eine Handvoll Leistungsträger
In beiden Postulaten lebte die für das neunzehnte Jahrhundert
gelassen mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuer
und sein systemblindes Denken typische Erwartung, die Aus
budgets bestreitet.
plünderung des Menschen durch den Menschen werde in abseh
Zusammen mit einer bunten Liste an Schöpfungen und Schröp
barer Zeit
ein Ende kommen: im ersten Fall durch die über
fungen, die überwiegend den Konsum betreffen, ergibt das ei
fällige Entmachtung der unproduktiven Aussaugungsmächte
nen phänomenalen Befund: Voll ausgebaute Steuerstaaten re
Adel und Klerus; im zweiten durch die Auflösung der herkömm
klamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer
lichen sozialen Klassen in entfremdungsfreie kleine Zirkel, die
produktiven Schichten für den Fiskus, ohne dass die Betroffenen
an
selber konsumieren wollten, was sie selber erzeugten.
zu der plausibelsten Re.aktion darauf, dem antifiskalischen Bür
Die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts hat gezeigt, dass
gerkrieg, ihre Zuflucht nehmen. Dies ist ein politisches Dressur
Liberalismus wie Anarchismus die Logik des Systems gegen sich
ergebnis, das jeden Finanzminister des Absolutismus vor Neid
hatten. Wer eine gültige Sicht auf die Tätigkeiten der nehmenden
hätte erblassen lassen.
Hand hätte entwickeln wollen, hätte vor allem die größte Neh
Angesichts der bezeichneten Verhältnisse ist leicht zu erkennen,
mermacht der modernen Welt ins Auge fassen müssen, den ak
warum die Frage, ob der »Kapitalismus« noch eine Zukunft
tualisierten Steuerstaat, der sich auch mehr und mehr zum
habe, falsch gestellt ist. Wir leben gegenwärtig ja keineswegs »im
Schuldenstaat entwickeln sollte. Ansätze hierzu finden sich de
Kapitalismus« - wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhe
facto vorwiegend in den liberalen Traditionen. In ihnen hat man
torik neuerdings wieder suggeriert -, sondern in einer Ordnung
mit beunruhigter Aufmerksamkeit notiert, wie sich der mo
der Dinge, die man cum grano salis als einen massenmedial
derne Staat binnen eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden
animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus auf
und geldspeienden Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen
eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muss. Offiziell
ausformte.
heißt das schamhaft »Soziale Marktwirtschaft«. Was freilich die
Dies gelang ihm vor allem mittels einer fabelhaften Ausweitung
Aktivitäten der nehmenden Hand angeht, so haben sich diese
der Besteuerungswne, nicht zuletzt durch die Einführung der
seit ihrer Monopolisierung beim nationalen und regionalen Fis
progressiven Einkommensteuer, die in der Sache nicht weniger
kus überwiegend in den Dienst von Gemeinschaftsaufgaben ge
bedeutet als ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Ent
stellt. Sie widmen sich den sisyphushaften Arbeiten, die aus den
eignung, mit dem bemerkenswerten Vorzug, dass sich die Pro
Forderungen nach »sozialer Gerechtigkeit« entspringen. Alle
zedur Jahr für Jahr wiederholen lässt - zumindest bei jenen, die
samt beruhen sie auf der Einsicht: Wer viel nehmen will, muss
an der Schröpfung des letzten Jahres nicht zugrunde gingen. Um
viel begünstigen.
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So ist aus der selbstischen und direkten Ausbeutung feudaler
Tatsächlich besteht derzeit gut die Hälfte jeder Population mo
Zeiten in der Moderne eine beinahe selbstlose, rechtlich gezü
derner Nationen aus Beziehern von Null-Einkommen oder nie
gelte Staats-Kleptokratie geworden. Ein moderner Finanzminis
deren Einkünften, die von Abgaben befreit sind und deren Sub
ter ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Verfassung geleistet
sistenz weitgehend von den Leistungen der steueraktiven Hälfte
hat. Das Nehmen mit gutem Gewissen, das die öffentliche Hand
abhängt. Sollten sich Wahrnehmungen dieser Art verbreiten
bezeichnet, rechtfertigt sich, idealtyp isch wie pragmatisch,
und radikalisieren, könnte es im Lauf des einundzwanzigsten
durch seine unverkennbare Nützlichkeit für den sozialen Frie
Jahrhunderts zu Desolidarisierungen großen Stils kommen. Sie
den - um von den übrigen Leistungen des nehmend-gebenden
wären die Folge davon, dass die nur allzu plausible liberale These
Staats nicht zu reden. Der Korruptionsfaktor hält sich dabei
von der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven
zumeist in mäßigen Grenzen, trotz anderslautenden Hinweisen
der längst viel weniger plausiblen linken These von der Ausbeu
aus Köln und München. Wer die Gegenprobe zu den hiesigen
tung der Arbeit durch das Kapital den Rang abläuft. Das zöge
Zuständen machen möchte, braucht sich nur an die Verhältnisse
postdemokratische Konsequenzen nach sich, deren Ausmalung
im postkommunistischen Russland zu erinnern, wo ein Mann
man sich zur Stunde lieber erspart.
ohne Herkunft wie Wladimir Putin sich binnen weniger Dienst
Die größte Gefahr für die Zukunft des Systems geht gegenwärtig
jahre an der Spitze des Staates ein Privatvermögen von mehr als
von der Schuldenpolitik der keynesianisch vergifteten Staaten
zwanzig Milliarden Dollar zusammenstehlen konnte.
aus. Sie steuert so diskret wie unvermeidlich auf eine Situation
Den liberalen Beobachtern des nehmenden Ungeheuers, auf
zu, in der die Schuldner ihre Gläubiger wieder einmal enteignen
dessen Rücken das aktuelle System der Daseinsvorsorge reitet,
werden - wie schon so oft in der Geschichte der Schröpfungen,
kommt das Verdienst zu, auf die Gefährdungen aufmerksam ge
von den Tagen der Pharaonen bis zu den Währungsreformen des
macht zu haben, die den gegebenen Verhältnissen innewohnen.
zwanzigsten Jahrhunderts. Neu ist an den aktuellen Phänome
Es sind dies die überregulierung, die dem Unternehmerischen
nen vor allem die pantagmelische Dimension der öffentlichen
Elan zu enge Grenzen setzt, die überbesteuerung, die den Erfolg
Schulden. Ob Abschreibung, ob Insolvenz, ob Währungsreform,
bestraft, und die Überschuldung, die den Ernst der Haushaltung
ob Inflation - die nächsten Großenteignungen sind unterwegs.
mit spekulativer Frivolität durchsetzt - im Privaten nicht anders
Schon jetzt ist klar, unter welchem Arbeitstitel das Drehbuch der
als im Öffentlichen.
Zukunft steht: Die Ausplünderung der Zukunft durch die Ge
Autoren liberaler Tendenz waren es auch, die zuerst darauf hin
genwart. Die nehmende Hand greift nun sogar ins Leben der
wiesen, dass den heutigen Bedingungen eine Tendenz zur Aus
kommenden Generationen voraus - die Respektlosigkeit erfasst
beutungsumkehrung innewohnt: Lebten im ökonomischen Al
auch die natürlichen Lebensgrundlagen und die Folge der Gene
tertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf
rationen.
Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne
Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand
dahin kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten
leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung
der Produktiven leben - und dies zudem auf missverständliche
der »Gesellschaft« zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als
Weise, nämlich so, dass sie gesagt bekommen und glauben, man
eine Revolution der gebenden Hand. Sie führte zur Abschaffung
tue ihnen unrecht und man schulde ihnen mehr.
der Zwangssteuern und zu deren Umwandlung in Geschenke an
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die Allgemeinheit - ohne dass der öffentliche Bereich deswegen
Amüsieren? Erst mal können vor Lachen!
verarmen müsste. Diese thymotische Umwälzung hätte zu zei
von M I CHAL
HVORECKY
gen, dass in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann.
»In fünf Jahren sind wir wirtschaftlich auf dem Niveau von Ös terreich!«, rief der Mann ins Megafon. Ich war außer mir vor Be geisterung und die Menschenmenge um mich her auch. Ich war dreizehn, es war der eiskalte November 1989, und der Mann hieß Milan Knazko, Schauspieler, Volkstribun und Anführer der slo wakischen demokratischen Opposition. Für viele Bratislavaer, nur sechzig Kilometer von Wien entfernt lebend, war gerade der neutrale Nachbarstaat ein Vorbild, ein Traumland, eine idyl lische Scheinwelt, eine Projektionsfläche aus dem isolierten Gefängnis des Realsozialismus heraus. Auf dem Platz herrschte ausgelassene Stimmung, alle waren begeistert, jenes neuartige Gefühl zu erleben: Alles ist möglich! Milan Knazko absolvierte in den folgenden zwanzig Jahren eine typische osteuropäische Nachwendezeit-Erfolgskarriere: Er war Außenminister der Tschechoslowakei, stand dann politisch dem Rechtspopulisten Vladimir Meciar sehr nahe, war Kultur minister der Slowakei, später Direktor eines erfolgreichen pri vaten Fernsehsenders, Promitänzer und ewiger Talkshowhost. Nebenbei spielte er noch ab und zu in amerikanischen B-Mo vies wie Hostel 2, wo er als russischer Mafioso Sascha gerne Kin dern kaltblütig in den Kopf schoss. Mit Sicherheit hatte sich für ihn bereits um 1994 herum das (selbst gegebene) Wohlstands versprechen erfüllt. Doch wie sah es mit dem Rest des Landes aus? Sieben Jahre lang, von 1999 bis 2006, machte die Slowakei in ternational Schlagzeilen als Musterbeispiel für erfolgreiche neo liberale Reformen. Der ärmere und fast unbekannte Bruder Tschechiens, oft mit Slowenien verwechselt oder völlig verges71
sen, senkte sämtliche Steuern auf neunzehn Prozent, was nur der
Burg und das Nationalsymbol, das Krummhorn in der Hohen
Anfang eines rasanten Strukturwandels war. Das chaotische Sys
Tatra. Zum ersten Mal war der Euro kein Teuro, die sowohl in
tem kommunistischer Bürokratie wurde endlich vereinfacht und das Finanzsystem des verschlafenen Landes übersichtlicher.
slowakischen Kronen als auch in Euro angegebenen Preise in Lä den und Restaurants blieben unverändert. Von den Folgen der
Die Reaktionen in ausländischen Wirtschaftskreisen waren
Rezession blieb das Land trotzdem nicht verschont. Die Auto
durchaus positiv, Investoren aus aller Welt kamen in die Slowa
hersteller in der Slowakei - neben VW haben auch Peugeot/Ci
kei, und in der Folge beschleunigt e sich das Wirtschaftswachs
troen und Kia riesige Fabriken bei uns - erwarten für dieses Jahr
tum, und die Arbeitslosenzahlen sanken dramatisch.
einen Rückgang der Produktion um bis zu 25 Prozent. Die slo
Das jährliche Wirtschaftswachstum von zehn Prozent übertraf
wakische Auto-Monokultur könnte bald zur Detroitisierung des
sogar die optimistischsten Prognosen und machte die Slowakei
ganzen Landes führen. Die im März auch in der Slowakei einge
zum ersten Mal in der Geschichte zum Primus in der Region.
führte Verschrottungsprämie hat der Wirtschaft geholfen - aller
»Glamour« und »Luxus« waren die Wörter, die man damals auf
dings der tschechischen, wo die billigen Skodas für die Slowaken
den Reklamewänden am häufigsten las. Die neuen Superreichen
gebaut werden. 2000 Euro Prämie! Das stieß in der Öffentlich
meldeten sich lauthals zu Wort. 250 Quadratmeter Penthouse
keit auf enormes Interesse, doch der Hyperkonsum der kurzen
mit Dachterrasse an der Donau? Eine eigene Segeljacht? Bitte
Konjunkturphase ist vorbei, und die Kauflaune muss inzwi
schön! Wer es nicht schafft, ist selber schuld.
schen künstlich stimuliert werden.
Doch das alles scheint lange her zu sein. Trotz Lob im Ausland
Der mitteleuropäische Tiger ist müde. Und die Regierung zeigte
wurden die slowakischen Neoliberalen 2006 abgewählt und
sich in dieser schwierigen Zeit wenig kompetent, schlecht vorbe
durch eine der skurrilsten Regierungskoalitionen Europas er
reitet und korrupt. Der große Redekünstler Fico schweigt; seine
setzt, bestehend aus den enorm populären postkommunisti
Regierung versinkt in Skandalen. Nicht nur der Markt, sondern
schen Sozialdemokraten und zwei kleineren rechtspopulisti
auch das politische Leben braucht jetzt rasche und gezielte Hilfe
schen Parteien. Das Zurücknehmen aller Reformen war das
zur Stabilisierung. Das wird nicht leicht im Euro-Neuling-Land,
erfolgreiche Hauptthema im Wahlkampf, doch in der Realität
wo viele Leute erst jetzt wirklich verstehen, wie wenig sie im Ver
änderte sich wenig. Premierminister Robert Fico behauptet al
gleich zu den anderen eigentlich verdienen. Meine Mutter be
lerdings, dass es unter seiner Ägide mehr soziale Gerechtigkeit
kommt mit dreißig Jahren Berufspraxis als Sonderpädagogin im
und weniger regionale Spaltung gibt. Ficos Rekordhöhen errei
Monat 650 Euro brutto, und das bei Lebenshaltungskosten, die
chende Popularität bestätigt, dass ihm das Volk immer noch
denen im Westen schon gefährlich gleichen. Und dieser Lohn
glaubt und die von ihm vollzogene Abkehr vom Privatisierungs
soll jetzt auch noch eingefroren werden? Die Regierung behaup
kurs ankommt. Doch der letzte Jahreswechsel brachte eine ganz
tet, das Volk müsse dringend sparen, doch geht es überhaupt
neue Situation.
noch sparsamer?
Die Einführung des Euro am 1. Januar 2009 ersparte der Slowa
Gerade Wissenschaftler, Künstler und Akademiker verdienen
kei, anders als ihren Nachbarn Tschechien, Polen und Ungarn,
auch zwanzig Jahre nach der Wende extrem wenig, sie werden
die Schockwellen der globalen Finanzkrise. Auf den neuen Euro
immer noch schlechter bezahlt als Österreichische Putzfrauen
Münzen prangen das slowakische Doppelkreuz, die Bratislavaer
und müssen mit 700 Euro auskommen. Wenn nicht alle einen
72
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Nebenjob hätten, könnten sie sich niemals über Wasser halten. Die Geldbörsen der Slowaken sind voll mit Euro-Münzen, nicht mehr mit Banknoten. Jeder zehnte Slowake lebt in dauerhafter Armut, und das Wachs tum hat sich drastisch verlangsamt. Der Bauboom hat sich ab geschwächt. Ein Großteil der Infrastruktur - Fernstraßen, Fuß wege, Schulen, Bibliotheken - bleibt unterentwickelt und erin nert an ein Dritte-Welt-Land. Schafft meine Heimat wirklich nicht mehr? Zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist in der Slowakei eine Generation herangewachsen, die den Kommunis mus nicht mehr erlebt hat. Die Freiheiten, die die heutigen Twens genießen, sind aus dem epochalen Systemwechsel vom November 1989 erwachsen. Damals waren ihre Eltern um die zwanzig und entdeckten das Neuland. Unter ihnen auch der Schauspieler Milan Knazko. Was macht er eigentlich heute? Vor kurzem spielte er in einem Thriller einen deutschen Massen mörder aus den zwanziger Jahren. Hauptberuflich moderiert er jedoch eine neue Fernsehsendung mit dem Titel »So sind wir mal gewesen«, womit sich der Kreis wunderbar schließt. Dort zeichnet er nämlich ein idyllisches Bild von der Vergangenheit, als der Osten noch so wunderbar unkapitalistisch, ruhig und un schuldig war.
Mit ästhetischer Erziehung aus der Finanzkrise? Schöner Rat ist nicht teuer Ein naiver Vorschlag zur Rettung der Welt
vonARMIN NASSEH I
Die Finanzkrise eine Finanzkrise zu nennen ist eine schamlose Verharmlosung. Es geht nicht mehr darum, dass hier einige Fi nanzmanager falsche Entscheidungen getroffen haben. Alles sieht freilich aus wie ein Versagen der Eliten, die nun entspre chend zu Kreuze kriechen. All jene, die zu viel Staatstätigkeit über homöopathische Dosen hinaus vor kurzem noch unter So zialismusverdacht gestellt haben und die Eigenverantwortung von Marktakteuren und die Selbstheilungskräfte des Marktes beschworen haben, rufen nun nach starken allopathischen Do sen: Nur dauerhafte Infusionen aus der Staatskanüle könnten die Wirtschaft noch retten. Notleidende Banken rufen nach dem Staat wie arbeitslos gewordene Arbeitnehmer oder benachtei ligte Gruppen, die sich von Staats wegen Kompensation für ihre Lebenslage erwarten. So viel Ironie hatte man dem Weltgeist vor kurzem noch nicht zugetraut. Aber hätte man eigentlich richtige Entscheidungen treffen kön nen? Es wäre nun billig, zu behaupten, man habe es immer schon gewusst oder wenigstens wissen können- und selbst die Zitation entsprechender Auguren, die die Krise eindeutig und klar vor hergesehen haben, ist naiv. Solche Propheten gefunden zu haben ist ja nur ein Hinweis darauf, was in dieser Gesellschaft alles ge redet wird: Es wird so vieles und so Unterschiedliches prognos tiziert, dass man post eventum stets und für alles eine richtige Prognose wird finden können. Was also kann man aus der Krise lernen? Dass man es besser 75
hätte wissen können? Dass die Eliten versagt haben? Vielleicht ist
man es für beliebig halten würde und einfach verändern könnte,
diese Krise ja eher ein Hinweis darauf, wie sehr wir uns an die
etwa durch beliebige Hinzufügung oder durch Weglassen. Die
Routinen unserer Praxis gewöhnt haben, so dass es kaum auf
Verdoppelung der Welt in der Kunst spielt mit der Unvermeid
gefallen ist, wie fragil jene Normalität zweifelhafter Kredit
lichkeit der Verdoppelung, die man dann für die Welt halten
geschäfte ist, die nur deshalb funktionieren, weil alle Beteiligten
könnte.
den selbsterzeugten Sicherheiten und Versprechen geglaubt
Was in der Welt der Kunst irgendwie sichtbar bleiben muss, scheint für andere Welten nicht zu gelten. Doch ist das Verdop
haben. Würde man in anderen Feldern der Gesellschaft mit solcherlei Wetten und Derivaten arbeiten - etwa im politischen Bereich, in der Medizin oder in der Wissenschaft, gar im Militä rischen -, man wäre für verrückt erklärt worden. Wie sehr frei
peln kein alleiniges Merkmal der Kunst; an ihr lässt sich das Ver doppeln nur deutlicher beobachten. Verdoppelt nicht auch die Politik die Welt oder die Wissenschaft und die Ökonomie? Auf
lich das Geld selbst ein weniger hartes Faktum ist, als die Selbst
dem Bildschirm des Politischen taucht nur auf, was irgendwie
stilisierung der High Potentials es nahelegt, hätte man wissen
auf kollektiv bindende Entscheidung zielen kann - so dass sich
können - sein Wert hängt nicht nur von realwirtschaftlichen
etwa Sachprobleme in Probleme der Mehrheitsfahigkeit, Durch
Faktoren ab, sondern von Vertrauen. Warum heißt der Kredit
setzungsfähigkeit und öffentlichen Legitimität und Legitima
wohl Kredit?
tion verwandeln.
Die Krise ist eine Krise einer vorgestellten Normalität, deren
Auf dem ökonomischen Bildschirm taucht nur auf, was man
selbsttragende Fragilität nun deutlich geworden ist - und da
kaufen, verkaufen, zu Kapital machen oder in Bilanzen ausdrü
durch erst die Bedingungen zerstört, die nötig sind, um die Krise
cken kann. Und dass sich wissenschaftlich nur das sehen lässt,
zu meistern. Die Krise dieser Normalität macht deutlich, dass
was Theorien, Methoden und Messgeräte sichtbar machen, weiß
die wirtschaftlichen Selbstbeschreibungen offensichtlich lange
jeder, der jemals eine wissenschaftliche Aussage treffen musste.
ihr Bild von der Realität mit der Realität selbst verwechselt ha
Diese Verdoppelungen verweisen wie in der Kunst auf selbsttra
ben, oder genauer: Sie konnten nicht sehen, dass das Modell der
gende Welten - nur sind die Techniken andere, dies unsichtbar
Welt eben nur ein Modell der Welt ist und nicht sie selbst. Es
zu machen. In der Kunst ist es die Würde des Kunstwerks selbst,
scheint eine Krise des Blicks, des Sehens, eine ästhetische Krise
das seine Kontingenz verdeckt. In Politik, Ökonomie oder Wis
also zu sein, und das verweist auf die Kunst.
senschaft dagegen steht das Bemühen im Vordergrund, die Ver
Kunst hat es stets mit Verdoppelungen zu tun, in Texten und Bil
doppelung unsichtbar zu machen. Politisch macht man das
dern und in Tönen und Skulpturen, die stets mehr bedeuten als
durch Verfahren und reziprok aufeinander bezogene legitime
sie selbst, aber doch jegliches Original dementieren. Wir haben
Interessen, in der Wissenschaft durch Schulenbildung und For
uns daran gewöhnt, dass das Bild einer Frau keine Frau ist und
schungsroutinen und in der Ökonomie durch Routinen, die un
die Erzählung nicht das Erzählte. Wir erkennen in der Kunst,
sichtbar machen, dass die Bilanzen nur messen, was in den Para
dass das Original unerreichbar ist, und wir würden heute jeg
metern vorkommt, nicht aber, was sie verdoppeln.
lichen Versuch, das zu tun, für naiv halten. Deshalb verweist die
Wenn man also von außen hört, dass sich eine ganze Branche da
Kunst auf totale Kontingenz und darauf, dass alles auch anders
mit zufriedengegeben hat, unbezahlte Kredite nur danach zu be
sein könnte, aber zugleich würde ein Kunstwerk zerstört, wenn
urteilen, dass sie in Bilanzen als Außenstände, mithin also als 77
»Haben<< erscheinen, so ist das ein Hinweis darauf, wie sehr sich
war die Kunst für Friedrich Schiller jene höchste Erkenntnis
die differenzierten Zentralinstanzen der modernen Gesellschaft
sphäre, in der sich der Mensch den Daseinsbeschränkungen des
in ihren selbsterzeugten Welten eingerichtet haben. Die beunru
Lebens entziehen kann ; nicht umsonst sieht Hege! im Argus
higende Botschaft könnte nämlich lauten, dass die nun in der
Panoptes, dem Allesseher, das wesentliche Kunstideal; und nicht
Kritik stehenden Protagonisten gar keine Fehler gemacht haben.
umsonst sollte dann Schelling gar die Kunst als Darstellerirr des
Vielleicht haben sie alles richtig gemacht. Und das ist wirklich
Unendlichen feiern. Diese Sattelzeittheorien begründeten die
beunruhigend.
bürgerliche Erfahrung der Kunst als Entgrenzerin, als Befreierirr aus Notwendigkeiten und Zwängen. Die Kunst hatte nicht nur
Die gegenwärtige Krise ist also tatsächlich mehr als eine Finanz krise. Vielleicht ist es eine Krise unseres Blicks, eine ästhetische
mit dem Erhabenen zu tun - sie war selbst erhaben und begrün
Krise, ästhetisch in dem Sinne, dass wir das Sehen wieder lernen
dete das ganz Andere der Welt in der Welt, religionsähnlich, ge
müssen. Denn das Beunruhigende an der Krise ist ja, dass die
nialisch, schöpferisch, außeralltäglich.
Verdoppelung der Welt gerade jenen unsichtbar bleibt, die die
Heute in der Krise von der Kunst zu lernen müsste die Blickrich
Besten auf ihrem Gebiet sind. Das Management in den großen
tung umkehren: Gerade an der Kunst lässt sich die Begrenztheit
Kredithäusern der Welt kann nicht unisono geirrt haben, und
und Unhintergehbarkeit von Perspektiven erlernen, das Gefan
gerade das macht das Fundamentale jener Krise aus, die letzt
gensein in selbsterzeugten Welten, die unvermeidliche Verdop
lich die Struktur der modernen Gesellschaft abbildet: in selbst
pelung der Welt, ohne Chance, hinter die Verdoppelung selbst
erzeugten Welten zu leben und für wahr zu nehmen, was man
blicken zu können. Vielleicht vermag eine solche Schulung des
darin wahrnehmen kann. Wie fragil all die »Derivate<< sind, mit
Blicks wenigstens eine Ahnung davon zu verleihen.
denen gehandelt wird, wie fragil die Bilanzen waren, die doch
Vielleicht sollte man dem Führungsnachwuchs in den wohlklin
nur der »absorption of uncertainty<< dienen, und wie stabil da
genden neuen Studiengängen nicht nur jene
gegen die wechselseitige Bestätigung, dass es all das wirklich gibt,
mit denen man sich in den selbsterzeugten Welten so geschmei
womit man den ganzen Tag zu tun hat, all das bestätigt auf gera
dig bewegt, dass das Fragile und die Verdoppelung nicht mehr
skills beibringen,
dezu ironische Weise all jene epistemologischen Verunsicherun
auffällt. Vielleicht sollte man sie nicht sicherer machen, sondern
gen, die in den Sozialwissenschaften immer deutlicher predigen:
unsicherer. Vielleicht sollte man sie - ganz bürgerlich - stattdes
dass das als real erfahren wird, was praktisch als real bestätigt
sen in Museen und Galerien schicken, in Opernhäuser und Kon
wird, und dass sich nur das durchsetzt, was sich darin bewährt.
zertsäle, in Kunstwerkstätten und Bibliotheken. Nicht Künstler
Wir leben in selbsterzeugten Welten, in denen es nicht einmal
sollen sie dort werden, aber sehen, wie sich Dinge dadurch for
mehr etwas hilft, alles richtig zu machen.
men, dass sie gemacht werden müssen, und dass nichts not
All das kann man am besten von der Kunst lernen, so könnte
wendig so ist, wie es ist. Nachdem wir uns nun kollektiv so viele
dann das sehr traditionelle Argument lauten. Nicht umsonst war
Milliarden leisten können und müssen, um aus der Krise zu
es die Kritik der Urteilskraft, in der Immanuel Kaut bei der Ver
kommen, sollten wir uns auch diese altmodische, bürgerliche
mittlung von Natur und Freiheit auf die Kunst stößt, in der das
Tugend leisten können und den High Potentials eine ästhetische
freie Spiel des Erkenntnisvermögens sich wenigstens probeweise
Schule des Blicks angedeihen lassen - damit man sehen kann,
den Fesseln der Notwendigkeit entziehen kann; nicht umsonst
was man nicht sehen kann. Und vielleicht liegt die Stärke dieses 79
Vorschlags zur Rettung der Welt nicht darin, dass er so naiv ist.
Was sozial ist, schafft Arbeit!
Naiv sind derzeit viele Vorschläge. Die Stärke liegt vielleicht darin, dass er um seine Naivität weiß.
von H E IN E R
FLASSBECK
Es ist ein großes Unglück über Deutschland gekommen. Eine globale Krise hat unseren Wohlstand auf eine Weise dezimiert, wie es das Land seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht gesehen hat. Das gesamtwirtschaftliche Einkommen ist im ers ten Quartal dieses Jahres genau auf den Wert zurückgefallen, den es im dritten Quartal 2005 schon erreicht hatte. Danach kam die große Koalition und mit ihr der Aufschwung. Die Krise macht somit die Wachstums-Bilanz dieser vier Jahre sehr ein fach: Null! Für das Jahr 2009 bedeutet das einen dramatischen Rückgang der Einkommen, der sich nur deswegen noch nicht voll in den Bilanzen und Portemonnaies niedergeschlagen hat, weil zumeist erst am Jahresende Gewinn-Bilanz gezogen wird. In der deut schen Industrie wird man dann feststellen, dass die Produktion und die dort erzielten Einkommen unter den Wert von 1991 ge fallen sind. Wer aber geglaubt hatte, dass eine solche, menschengemachte Katastrophe - nicht anders als der Einsturz eines Hochhauses in der Frankfurter Innenstadt - sofort zu einer hochnotpeinlichen Untersuchung der Ursachen der Krise führen müsste, ist ver blüfft. Niemand denkt daran, eine unabhängige Kommission einzusetzen, die sich nur der einen Frage verpflichtet fühlt: Wie konnte es dazu kommen? Außer ein paar nichtssagenden Flos keln über die amerikanische Geldpolitik oder das globale Über die-Verhältnisse-Leben hat man nichts darüber gehört, wie der globalen Wirtschaft ohne äußere Einwirkung praktisch über Nacht die Statik abhanden kommen konnte. Niemand, der Ver antwortung trägt, spricht ernsthaft über die Ursachen. Nie81
mand, der die Trümmer beseitigt, sucht akribisch nach Indizien
unterhalt bestreiten zu wollen, sondern sich mit anderen auf
und Hinweisen auf die Urheberschaft.
einen Vertrag zu einigen, bei dem alle einen Vorteil haben und
Was ist geschehen? Kann die Politik die Krise nicht begreifen,
einen Anteil am Ganzen erhalten, der den Bestand des Systems
oder will sie es gar nicht? Fürchtet man die Wahrheit? Ist den re
sichert, markiert diesen Punkt. Genau hier, bei der Entlohnung
gierenden Politikern und den »Experten« der Blick verstellt, weil
von Arbeit, wurde die arbeitsteilige Marktwirtschaft in den ver
sie Angst haben, Glaubenssätze zu erschüttern, die niemals er
gangenen fünfzehn Jahren in Deutschland mehr als anderswo
schüttert werden sollen? Wo ist der tiefgehende akademische
fundamental in Frage gestellt.
Streit um die Ursachen? Fehlanzeige. Offenbar wollen die Pro
Wohlgemerkt, man kann sich bei Vertragsfreiheit durchaus dar
tagonisten der Marktwirtschaft den Kapitalismus um jeden Preis
auf einigen, unterschiedlich knappe Arbeit in absoluten Beträ
schützen, weil sie fürchten, dass die anderen ihn bei dieser Ge
gen unterschiedlich zu entlohnen. Bei der Dynamik des Systems
legenheit um jeden Preis zerstören wollen. Es ist wieder das alte
aber kann man sich der Unternehmerischen Sicht der Dinge
Lied: Markt gegen Staat! Da schrauben die meisten Ökonomen
nicht mehr anvertrauen. Hier kommt der Bruch, der Einfalt von
die Bretter fest, und die Politiker wetzen in die Schützengräben.
Vielfalt scheidet: In einzelwirtschaftlicher Sicht kann man durch
Auf der Strecke bleibt das kritische Denken. Auf der Strecke
Gürtel-enger-Schnallen die Krise zu überwinden suchen. Ge
bleibt womöglich ein System, das tatsächlich schützenswert sein
samtwirtschaftlich ist das aussichtslos, weil die Kosten des einen
könnte, wenn wir denn endlich versuchen würden, es zu begrei
die Erträge eines anderen Unternehmens sind.
·fen.
In einer Krise kann sich ein einzelnes Unternehmen mit seinen
Martin Walser hat im dritten Teil dieser Serie2 seine Version des
Mitarbeitern darauf verständigen, die Löhne zu senken, um Ver
Kapitalismus auf den Punkt gebracht, dass sozial ist, was Arbeit
luste zu vermindern, obwohl die Arbeiter keinerlei Schuld an der
schafft. Das Handeln der Unternehmen ist in dieser Sicht nicht
Krise tragen. Senkt man, wie Daimler das kürzlich getan hat, da
nur Gegenstand des Kapitalismus, es ist seine Richtschnur. Der
durch seinen Verlust um dreihundert Millionen Euro, steigt al
Teil wird so zum Ganzen, Vielfalt wird zu Einfalt. Eine arbeitstei
lerdings der Verlust der anderen Unternehmen um genau diesen
lige Marktwirtschaft ist nämlich mehr als die Summe ihrer Teile.
Betrag, weil die Arbeiter von Daimler zehn Prozent weniger Ein
Selbst wenn das Handeln der Unternehmen sein zentraler Ge
kommen erzielen und folglich zehn Prozent weniger zum Aus
genstand ist, emanzipiert sich volkswirtschaftliches Denken von
geben für Güter der anderen Unternehmen haben.
der Logik des Unternehmens, weil es eine Logik des Ganzen
Gesamtwirtschaftlich ist es auch sinnlos, die Arbeiter dazu zu
schafft, die der einzelwirtschaftlichen häufig diametral entge
bewegen, auf die Teilhabe an den gemeinsam erarbeiteten Zu
gensteht.
wächsen des Systems, den Produktivitätsfortschritt, zu verzich
Einzelwirtschaftliche und volkswirtschaftliche Logik widerspre
ten, wie das die deutsche Wirtschaftspolitik seit Mitte der neun
chen sich schon da, wo die Arbeitsteilung beginnt. Die Entschei
ziger Jahre getan hat. Weil geringere Löhne immer unmittelbar
dung eines Individuums, nicht mehr in Autarkie seinen Lebens-
weniger Nachfrage nach den von Kapital und Arbeit gemeinsam erarbeiteten Gütern bedeutet, erreicht man damit weder mehr
2 Siehe Martin Walser, »Wettbewerb ist ein Gebot der Nächstenliebe«, in diesem Band auf S. 24 ff. 82
Beschäftigung noch eine Umverteilung hin zu den Investoren. Der Versuch, weniger sozial zu sein, scheitert an der inhärenten
Logik der Marktwirtschaft, nicht an zu starken Gewerkschaften.
eines arbeitsteiligen, der Marktwirtschaft impliziten Verspre
Was sozial ist, schafft Arbeit!
chens: Sparen, der Verzicht auf Konsum, ist nur sinnvoll, wenn
Ein Land kann durch Lohnsenkung, also eigenes Unter-den
der Schuldner verspricht, die Ersparnisse produktiv zu verwen
Verhältnissen-Leben, nur dann seine Situation kurzfristig ver
den. Versprechen auf Wetten sind Lügen - nicht für jeden, aber für alle.
bessern, wenn es gelingt, andere Länder dazu zu bewegen, über ihre Verhältnisse zu leben. Das geht besonders leicht in einer
Hat der Kapitalismus eine Chance? Ja, aber nur, wenn wir begin
Währungsunion wie der Euro-Zone, weil die Handelspartner
nen, ihn zu begreifen. Wenn demnächst zusammen mit den von
nicht durch Abwertung ihrer Währung, sondern nur durch langwieriges und schmerzhaftes eigenes Gürtel-enger-Schnallen
Entlassung bedrohten Arbeitern auch die richtigen Unterneh mer und Investoren auf die Straße gehen und gegen die Zocker
parieren können. Wiederum jedoch obsiegt die gesamtwirt
aufbegehren, gibt es eine Chance.
schaftliche Logik: Weil der Verlierer im Standortwettbewerb seine Schulden nicht zurückzahlen kann und wegen dauernder Marktanteilsverluste aus dem Währungsverbund ausscheiden muss, geht mehr verloren als nur ein HandelsvorteiL Aber Standortwettbewerb klingt wie Wettbewerb und damit gut in den Ohren der einzelwirtschaftlichen Einfalt. Wirklicher Wettbewerb freilich ist nicht Wetteifer darum, wer seinen Bürgern größeres Leid abverlangen kann, sondern ist Wettbewerb um Ideen für neue Produkte oder neue Produk tionstechnologien. Nur dieser Wettbewerb bringt in der Arbeits teilung Investitionen hervor, von denen alle profitieren können. Arbeitnehmer und Kapitaleigner können ihre Lebensumstände einschließlich der natürlichen Lebensumstände verbessern, wenn sie bereit sind, sich mit den zwei Prozent Zuwachs zu be scheiden, die gut funktionierende Marktwirtschaften pro Jahr hervorbringen können. Das wollen die Akteure an den Finanzmärkten aber nicht. Folg lich hat das, was ein »investment banker« tut, gerade nicht mit Investieren, sondern mit Wetten und Zocken zu tun. Dabei kann wiederum immer nur ein Einzelner gewinnen, niemals alle. Nullsummenspiele produzieren nichts, selbst wenn es Zocker herden immer wieder gelingt, dies durch Preisexzesse an Ak tien-, Rohstoff- oder Währungsmärkten für ein paar Jahre zu verdecken. Kasinokapitalismus ist die explizite Aufkündigung
Was starrt ihr alle auf 1929 ? ! von M I CHAEL A.
GOTTHELF
Schuld an der ganzen Misere in Deutschland ist laut Strobl der »Siegeszug der allgemeinen Liberalisierungs-Mantras<<. Die Ur sachen der Krise sieht er »im Wesen der Marktwirtschaft selbst«. Und so verwundert es nicht, dass er als Therapievorschlag denn auch die Verstaatlichung der Banken im Koffer hat. Auch dies bezüglich sollte man zunächst einmal die Fakten auf sich wirken
Wenn der Patient erkrankt, gibt man ihm Medizin. Ist der Pa
lassen: Federführend im großen Spielkasino der gegenwärtigen
tient gesundet, wird die Medikamenteneinnahme beendet. Kein
Finanzkrise waren in Deutschland gerade die Landesbanken so
Arzt käme auf die Idee, den Patienten medikamentensüchtig zu
wie als Vorreiter die IKB, wesentlich im Besitz der staatlichen
machen, weil er ja vielleicht wieder in zehn Jahren krank werden
Kreditanstalt für Wiederaufbau, bei der ein anderer Verstaat
könnte. Dies aber ist das Gesundungskonzept Thomas Strobls
lichungsfreund, nämlich Oskar Lafontaine, im Aufsichtsrat sitzt.
für die deutsche Volkswirtschaft.3 Doch bevor wir zu der von
Die riesigen hier eingefahrenen Verluste sollen vermutlich als
ihm empfohlenen Therapie kommen, schauen wir uns doch
Leistungsausweis für eine noch größere Staatsrolle im Banken
zunächst einmal seine Diagnose an: Die Marktwirtschaft wird
wesen dienen. Man will den Bock zum Gärtner machen.
nicht nur »seit ihren frühesten Anfängen regelmäßig von Krisen
Für den Steuerzahler beruhigend ist immerhin, dass die Vor
heimgesucht«, sie bringt sich »neuerdings im Rhythmus von
standsgehälter - bei der Linken als eine der Hauptursachen der
lediglich fünf bis zehn Jahren an den Rand der Selbstzerstö
gegenwärtigen Krise erkannt - in diesen Instituten im Gegensatz
rung<<.
zur Privatwirtschaft von überschaubarer Größe sind. Da fällt es
Da ist uns etwas entgangen. Selbst in der großen Weltwirt
einem fast leicht, ein paar hundert Milliarden Euro zu spendie
schaftskrise 1929 hat sich das System der Marktwirtschaft nicht
ren. Störend wirkt dabei allein die Tatsache, dass die Privatwirt
selbst zerstört, und diese hatte wahrlich andere Dimensionen als
schaft selbst im gegenwärtigen Niedergang noch einige positive
die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise. Mit einigen
Nachrichten zu vermelden hat. Der Deutschen Bank und ihrem
Zahlen lässt sich dies leicht demonstrieren. Damals waren in
Vorsitzenden Ackermann wird es in diesen Kreisen übelgenom
Amerika und in Deutschland Arbeitslosenquoten von mehr als
men, auch in der Krise mehr oder weniger verantwortlich ge
fünfundzwanzig Prozent zu verzeichnen. Sollten wir in diesem
wirtschaftet zu haben und auf Staatshilfe bisher verzichten zu
Jahr ein negatives Wirtschaftswachstum von fünf Prozent zu ver
können. Und die Deutsche Bank ist keine Ausnahme: Zahlreiche
buchen haben, fänden wir uns in etwa auf dem Niveau des Brut
Privatbanken weisen den Gedanken an Staatshilfe von sich.
tosozialprodukts von 2005 wieder - wahrlich kein Traumergeb
Als nächsten Therapievorschlag bietet Strobl die »Abkehr von
nis, aber deutlich entfernt von Selbstzerstörung. Selbst die
der einseitigen Fokussierung auf die Exportwirtschaft, dem bei
größten Pessimisten unter den Nationalökonomen sehen eine
nahe krankhaften Bemühen um einen möglichst hohen Leis
Wiederholung der gegenwärtigen Krise alle fünf bis zehn Jahre
tungsbilanzüberschuss« an. Das ist zumindest originell. Die
als kaum realistisches Szenario an.
Liberalisierung des Außenhandels hat nach dem Zweiten Welt krieg in Deutschland zu einem nie dagewesenen Wohlstand und
3
Siehe Thomas Stroh!, >>Wohlstand für alle« in diesem Band.
86
Millionen von Arbeitsplätzen geführt. Hingegen schreibt Strobl:
»Ein hoher Außenhandelsüberschuss bedeutet deutsche Ge
träger (nicht nur in der Literatur vergibt das Stockholmer Ko
winne auf Kosten des Auslands, die einseitige Abschöpfung dor
mitee Gesinnungspreise) Obama für seine Mahnung an alle
tiger Kaufkraft.« Wir leben also auf Kosten des Auslands, indem
Amerikaner, dass das gesamte Land über seine Verhältnisse ge
wir dem unsere Produkte verkaufen. Wie könnte denn ein Ge
lebt habe und nun der Gürtel enger geschnallt werden müsse.
genvorschlag konkret aussehen?
Krugman fehlt hierbei das klassenkämpferische Element. Er
Tauschen wir bilateral mit jedem Partnerland nur so lange Pro dukte aus, solange sich Ex- und Import entsprechen? Oder ge schieht dies multilateral über eine Clearingzentrale, die dafür zu sorgen hat, dass am Ende nur jeder so viel exportiert, wie er im portiert? Als rohstoffabhängiges Land müssten wir dann bei ei nem Anstieg der Preise für Öl, Gas und anderes quartalsweise Sonderschichten fahren. Das würde ja schon fast an die Harter geschäfte ( Rohstoffe gegen Maschinen) im Handel mit der alten Sowjetunion und deren Konzept einer autarken Volkswirtschaft ennnern. Das will vermutlich niemand. Der gesteigerte Konsum breiter
möchte Wall Street, wenn schon nicht exklusiv, so doch vor allem für die Weltwirtschaftskrise verantwortlich machen. Das Aufzählen der gesamten Verantwortungskette - angefangen beim politischen Ziel Bushs, jeden Amerikaner zumindest als Hausbesitzer ungeachtet dessen wirtschaftlicher Potenz zum Kleinkapitalisten zu befördern, über das Versagen der staat lichen Aufsichtsbehörden inklusive der Notenbank bis hin zum Totalausfall der Ratingagenturen - stört bei seiner politischen Fixierung auf die natürlich ebenso schuldhaft beteiligten lnvest mentbanker. Ganz und gar störend wirkt sich da Obamas Hinweis auf die
Schichten soll es richten, die »massiven Verbrauchssteuern«
Mitverantwortung der vermeintlichen »Opfer« auf das Weltbild
müssen reduziert werden, schreibt Strobl ungeachtet der Tatsa
Krugmans aus. Das ebenso vorhandene Gewinnstreben des klei
che, dass die Krise in Amerika, einem Land mit niedrigen Ver
nen Mannes, der, ungeachtet seiner materiellen Verhältnisse, sei
brauchssteuern, gerade auch durch ungezügelten Massenkon
ner Eigenmittel, alles für den schnellen Profit riskiert: In Florida
sum - aufPump vom Ausland finanziert - ausgelöst wurde. Und
wurden von Taxifahrern und Sekretärinnen mit kleinsten Ein
dort findet er auch weitere Verbündete für seine Thesen.
schüssen Eigentumswohnungen erworben, vor Fertigstellung
Unter amerikanischen Linksintellektuellen ist es derzeit üblich,
schon wieder weiterverkauft und neue größere Projekte nach
den Präsidenten Obama, der von den Republikanern als Sozialist
dem gleichen Muster in Angriff genommen - bis der Krug brach
in Reaktion auf sein jüngstes Wirtschaftsbelebungsprogramm
und zwar, wie man schön bei John Kenneth Galbraith' The Great Crash of 1929 nachlesen kann, eng an das Vorbild der Weltwirt
verteufelt wird, von Iinksaußen zu attackieren. Im » New Yorker« macht man sich Sorgen, dass das Stimulierungspaket von knapp
schaftskrise 1929 angelehnt.
Soo Milliarden Dollar nicht ausreicht. Mit Finanzminister Tim
Das dahinterstehende Menschenbild erscheint simpel: Die
Geithner hat Obama sozusagen den Bock zum Gärtner gemacht,
breite Masse der Bürger kann, ungeachtet der historischen Vor
war dieser doch schon unter Bush für das Entstehen der Krise als
bilder, die Gefahren eines solchen Handeins nicht erkennen.
Präsident der New Yorker Notenbank mitverantwortlich, so das
Dass Hauspreise auch sinken können, zählt nicht zu ihrem Er
New Yorker Wochenmagazin.
fahrungsschatz. Insofern sind sie Opfer des Gewinnstrebens an
Paul Krugman stößt ins gleiche Horn. Gleich nach der Amtsein
derer, nicht etwa des eigenen, und müssen von der Obrigkeit,
führung kritisierte der amerikanische Wirtschaftsnobelpreis-
dem Staat, beschützt werden, der auch für die Wiedererstattung
88
des »Spielgeldes« zuständig ist. Aber selbst wenn man dieses
cherer Länder über einen Abwertungswettlauf, sich komparative
Menschenbild teilt, kann man die von Obama angedeuteten
Kostenvorteile zu verschaffen.
Fakten nicht aus der Welt schaffen: Der amerikanische Konsu
Die Hoffnung bleibt, dass der Euro Opfer der jetzigen Krise wer
ment hat über Jahrzehnte hinweg viel konsumiert, zu viel, wie
den könnte. Wenn nicht, dann könnten doch vor allem die Deut
sich jetzt herausgestellt hat, und muss sich nun auf eine lange
schen die wirtschaftlichen Probleme der betreffenden Länder -
Fastenzeit einstellen.
übrigens mit Irland, Spanien , Italien, Österreich, Griechenland
Die konzertierte Aktion der amerikanischen Regierung mit ih rem Konjunkturpaket und der amerikanischen Notenbank mit
und einem Großteil Osteuropas ungefähr die Hälfte Europas mit zusätzlichem Geld lösen. Natürlich »zeigt eine Reihe dieser
ihren gigantischen Liquiditätsspritzen bei einer angestrebten
Staaten deutlich mehr Begeisterung für ein finanzielles Zusam
mittelfristigen Konsolidierung der Staatshaushalte scheint aus
menrücken innerhalb der Europäischen Union als für Niedrig
heutiger Sicht das probate Mittel. Kühne Optimisten sehen da
steuersätze«, wie Strobl, Krugmans Statthalter in Deutschland,
durch bereits eine Trendwende an den Märkten eingeleitet.
vornehm den Griff in deutsche Taschen umschreibt.
Nicht jedoch Krugman: Ohne sich detailliert zu Fragen der In
Nur darf man sich dann nicht über ein weiteres Ansteigen euro
flationsaussichten und des Auftürmens gigantischer Schulden
pafeindlicher Stimmungen in den Geberländern wundern und
berge für zukünftige Generationen zu äußern, fordert er auch
ein Wiedererstarken radikaler Parteien auf beiden Seiten des
von den Europäern, allen voran den Deutschen, ihre Wirt
politischen Spektrums; ist es doch kaum politisch vermittelbar,
schaftspolitik endlich fallenzulassen und mindestens das ame
dass verantwortungslose Ausgabenpolitik in anderen Ländern
rikanische Niveau des Ausgabenprogramms anzustreben, das ja
von Deutschland mitfinanziert wird.
eigentlich auch zu niedrig sei.
Das deutsche Nachkriegsmodell mit seinen privaten Banken
Die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Laut Internationalem
und seinen exportorientierten Unternehmen kann also gar nicht
Währungsfonds belaufen sich die deutschen Konjunkturpakete
so schlecht funktioniert haben, wie dies seine Gegner ihm gerne
für 2009 auf 1,5 Prozent und für 2010 auf zwei Prozent des Brut
unterstellen, wird es doch weltweit und gerade auch in Amerika
toinlandsprodukts. Amerika bewegt sich mit 2 und 1,8 Prozent
manchem zur Nachahmung empfohlen und weckt es gerade
auf ähnlichem Niveau, Briten (1,4 und minus 0,1 Prozent) und
jetzt paneuropäische Begehrlichkeiten und den Wunsch, unter
Franzosen (jeweils 0,7 Prozent) liegen deutlich darunter. Mit
den deutschen Schirm zu flüchten. Die Werte Freiheit und Ge
anderen Worten: Die Deutschen sind schon da, wo Krugman sie
rechtigkeit erscheinen, anders als für Strobl, den meisten Bür
gerne haben möchte.
gern nicht als »leeres Gerede«, der eine »obszöne Konzentration
Richtig erscheint hingegen Krugmans Beobachtung, dass die
der Einkommen und Vermögen« in Deutschland feststellt. Auch
politische Einigung Europas der wirtschaftlichen mit Zoll- und
hier hilft ein Blick auf die Realität: Der sogenannte Gini-Koeffi
Währungsunion hinterherhinkt Nur böse Zungen würden be
zient, der die Verteilung von Wohlstand in Gesellschaften misst,
haupten, dass dies angesichts der Orientierungslosigkeit des ein
platziert Deutschland etwa deutlich vor Schweden, dem Vorbild
oder anderen Politikers in der jüngsten Krise von Vorteil sei. Die
und Erfolgsmodell so manches Linken.
Schaffung des Euro erscheint ihm hingegen eher als Fehler, ge
Natürlich gibt es auch im deutschen System noch so manches zu
stattet dieser doch nicht den alten Ausweg wirtschaftlich schwä-
kritisieren, insbesondere dann, wenn der Staat, Allmächtigkeit
90
91
vorspiegelnd, in den Wirtschaftsprozess eingreift. Das war schon
Ohne Aufstiegswille kein Kapitalismus
an der Abwrackprämie zu beobachten, die nur ein Strohfeuer
von C H RI STOPH
D E U TSCHMANN
verursachte und den mittelständischen Gebrauchtwagenhandel in eine Existenzkrise trieb und nächstes Jahr, nach der Bundes tagswahl, zu einem Einbruch der Nachfrage nach Autos im un teren und mittleren Preissegment fuhren wird. Da wäre die von Strobl vorgeschlagene Abschaffung vieler Markteintrittsbar
Kapital, das im Überfluss vorhanden ist - kann es so etwas ge
rieren billiger und besser gewesen.
ben? Selbstverständlich, wird der informierte Leser antworten,
Bedrohlicher erscheint hingegen etwas, auf das der deutsche
der gegenwärtige Zustand der internationalen Kapitalmärkte
Staat besonders stolz ist und das angesichts der Bundestagswahl
mit einem immer noch gigantischen Überhang an nicht gedeck
wieder in aller Munde ist: das deutsche Rentensystem und seine
ten Forderungen und auf null zurückgenommenen Zentral
Finanzierung. Experten sehen hier bereits den Keim für die
bankzinsen beweist es. Für die herrschende Wirtschaftstheorie
nächste große Krise gelegt. Es wird interessant sein zu lesen, wie
verhält es sich nicht so einfach. Für sie sind Güter definitions
auch diese von der Linken dem Kapitalismus als Systemversagen
gemäß knapp, folglich auch Kapital als Inbegriff der Mittel zu
untergeschoben wird.
ihrer Herstellung. Deshalb konnten die Verfechter der neoklas sischen Theorie die Krise gar nicht voraussehen, sie kam in ih rem Weltbild nicht vor. Milton Friedman und die Theoretiker »effizienter« Finanzmärkte wollten noch nicht einmal die Mög lichkeit von Finanzmarktblasen einräumen. John Maynard Keynes hatte schon zu Beginn der Weltwirt schaftskrise der dreißiger Jahre eine ganz andere Position vertre ten. In einem Aufsatz über »Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder« wandte er sich gegen allzu großen Pessimis mus. So schmerzhaft die aktuellen Probleme seien, seien sie doch nur ein Symptom dafür, dass der moderne Kapitalismus unablässig an der Überwindung des Menschheitsproblems der Knappheit der Güter und Ressourcen arbeite. In einem System, das die Bedürfnisse der Verbraucher mit im mer geringerem Aufwand befriedige, werde es, wie Keynes später in seiner »General Theory« präzisierte, immer schwieriger, pro fitable Investititionsgelegenheiten zu finden. Kapital aber, das nicht länger knapp ist, bringt auch keine Rendite mehr. Natür lich sei es nicht leicht, die Finanzinvestoren von ihrer Fixierung auf den Renditeanspruch abzubringen. Die staatliche Politik 93
müsse auf eine »Euthanasie des Rentiers« und auf eine »ziemlich
Dort, wo die Klassendichotomie nicht ständisch oder ethnisch
umfassende Sozialisierung der Investitionen<< hinsteuern. Am
verriegelt ist, gibt es für die Vermögenslosen die oft dennoch
Ende jedoch werde eine Ara der Muße und des Überflusses kom
grundlose Hoffnung, sich durch innovative Leistungen am
men. Der Finanzinvestor gleiche einem Menschen, der nicht
Markt sozial hochzuarbeiten und auf die andere Seite zu wech
seine Katze liebt, sondern »die Kätzchen seiner Katze; und in
seln. Die durch das Freiheitsversprechen des Geldes motivierte
Wirklichkeit nicht die Kätzchen, sondern die Kätzchen dieser
Unternehmerische Arbeit der Vermögenslosen wiederum nährt
Kätzchen, und so fort bis zum Ende des Katzentums«. Patholo
die Verwertung des Kapitals der Vermögenden. So entsteht ein
gien dieser Art werde man an die Fachleute für psychische Er
System, das den schuldengetriebenen Zugriff auf das Neue zur
krankungen verweisen.
Bedingung alltäglicher Bedürfnisbefriedigung macht und da
Sind wir heute so weit? Einerseits ja, wie die Überliquidität an
her seiner Natur nach dynamisch ist. Es kann sich nicht auf glei
den Finanzmärkten zeigt, anderseits nein. Mit dem objektiv
cher Stufe reproduzieren, sondern nur wachsen oder schrump
wachsenden Oberfluss an anlagesuchenden Geldvermögen ist
fen.
die Liebe der Anleger zum Geld keineswegs verschwunden. Im
Es wäre naiv, an eine in diese Dynamik eingebaute Tendenz zum
Gegenteil, sie hat sich, getrieben durch die Mechanismen einer
»Gleichgewicht<< zu glauben. Unter sehr spezifischen Bedingun
globalen Finanzindustrie, nachgerade zu einer Gier gesteigert.
gen kann die kapitalistische Dynamik jedoch sehr wohl funk
Keynes' Bild des modernen Kapitalismus erweist sich als noch zu
tionieren: wenn es nicht nur den Klassenunterschied zwischen
einfach, trotz seiner vielen richtigen Intuitionen. Der Kapitalis
Vermögenden und Vermögenslosen, sondern zugleich eine
·mus ist keine harmlose Veranstaltung zur Befriedigung mensch
wachsende, j ugendliche, arme, aber nach sozialem Aufstieg stre
licher Bedürfnisse mit möglichst effizienten Mitteln. Was er
bende Bevölkerung gibt. Die gesellschaftlichen Institutionen
betreibt, ist schöpferische Zerstörung, die Unternehmerische Er
sollten die Eigentumsrechte (auch die der Vermögenslosen)
oberung des Eldorados der kreativen Möglichkeiten freier Lohn
schützen; unterstützende soziale Netzwerke sollten vorhanden
arbeit.
sein. Innovative Ideen sollten nicht nur den Spieltrieb der Inge
Ebenso wenig ist der Kapitalismus eine harmlose »Marktwirt
nieure befriedigen, sondern in der ganzen Gesellschaft Resonanz
schaft<< gleicher und freier Marktsubjekte. Er radikalisiert den
finden und Unternehmer wie Arbeitskraft-Unternehmer zu In
Markt, indem er auch die Grundlagen gesellschaftlicher Repro
vestitionen in neue Kombinationen motivieren.
duktion - den Boden und die Arbeit - dem Geldnexus unter
Diese Bedingungen waren im Europa der industriellen Revolu
wirft. Er verwandelt Geld in ein absolutes Mittel, indem er die
tion gegeben, in den Vereinigten Staaten des neunzehnten und
unermesslichen Potentiale freier Lohnarbeit zum Gegenstand
frühen zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren immer neuen Ein
privater Eigentumsansprüche macht; bei der Liebe zum Geld
wanderungswellen, geradezu beispielhaft im westdeutschen
handelt es sich folglich nicht bloß um eine individuelle Patho
Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg, vielleicht
logie. Der Kapitalismus trennt das Haus vom Betrieb, die Pro
heute (noch) in China, Indien und Brasilien. In den entwickel
duzenten von ihren Produktionsmitteln und spaltet die Gesell
ten Industrieländern - Westeuropa, Nordamerika, Japan, teils
schaft in zwei Klassen, von denen die eine über Geld und Sach
auch den ehemaligen asiatischen »Tigerstaaten<< - sind sie heute
vermögen verfügt, die andere nur über ihre Arbeitskraft.
zweifellos nicht mehr gegeben.
94
95
Hier wächst die Bevölkerung nicht mehr, sondern stagniert oder
bruchs, und der anstehende Übergang zu postfossilen Energie
schrumpft; der wirtschaftlich aktive Teil der Bevölkerung geht
s�stemen wird einen unermesslichen Kapitalbedarf erzeugen.
zurück. Breite Mittelschichten haben sich gebildet, deren Ange
Em neuer, durch die Energiewende getriebener Wachstums
hörige nicht mehr um jeden Preis weiter nach oben streben.
zyklus könnte den Weg aus der Krise bahnen. Aber ein solcher
Geld ist zwar unvermindert beliebt; die Zahl der Vermögensren
Zyklus würde sich kaum im Selbstlauf durchsetzen, sondern
tiers und mit ihnen das Volumen der anlagesuchenden Geldver
massive, internatio nal koordinierte staatliche Interventionen
mögen wächst. Die Unternehmerische Arbeit als notwendiges
voraussetzen.
Gegenstück der Vermögen dagegen verliert an Attraktivität. Die
Die zweite Möglichkeit ist, dass die Überliquidität der Kapital
Zahl der soliden, das heißt potentiell zahlungsfähigen Schuldner
märkte zum Dauerproblem wird. Auch dann wären die demo
in den unteren Schichten geht relativ zurück, und die Vererbung
kratischen Nationalstaaten gefragt . Alles käme freilich darauf an,
der Vermögen und Bildungsprivilegien der Erfolgreichen sor
dass sie sich nicht in einen staatskapitalistischen Konkurrenz
gen dafür, dass die Vermögenslosen den Traum vom Aufstieg
kampf hineintreiben lassen, der zu Staatsbankrotten, Wäh
begraben.
rungszusammenbrüchen und sozialen Unruhen führen müsste.
Vor diesem Hintergrund kann die schon seit Jahrzehnten auf
Es ginge darum, das Interesse des demokratischen Staates an sich
gestaute Überliquidität an den Kapitalmärkten, die sich in der
selbst wahrzunehmen und die Erwartungen der Rentiers und
aktuellen Krise entladen hat, nicht überraschen. Keynes hatte
Finanzinvestoren auf den Boden der Realität zurückzuholen,
also recht mit seiner Prognose, ungeachtet der unzureichenden
was wohl nicht nur mit sanften Mitteln geschehen könnte, wie
historisch-soziologischen Begründung. Das Problem des Kapi
Keynes glaubte.
talismus liegt gerade in seinem eigenen Erfolg. Er mobilisiert die
Liquidität müsste durch höhere Vermögensteuern abgeschöpft,
Individuen, manchmal sehr wirkungsvoll, mit seinem Verspre
Steueroasen müssten ausgetrocknet, größere Teile der Wirt
chen eines Wohlstands für alle. Aber sollte sich diese Hoffnung
schaft verstaatlicht, die Subsistenz der Bevölkerung vielleicht
wirklich für breite Massen erfüllen - was dann? Der Kapitalis
durch eine partielle Kollektivierung des Lohnfonds über die
mus lebt von der Klassenpolarisierung zwischen Reich und Arm,
konventionellen Wohlfahrtssysteme hinaus gesichert werden.
von ihrer immer neuen Herstellung und dynamischen Überwin
All dies müsste in einer international koordinierten Weise nach
dung. Er fordert Menschen, die auf die Zukunft hin leben. Lässt
dem Vorbild des Systems von Bretton Woods geschehen.
die Spannung nach, dann wird Kapital weniger knapp, die Ren
Es würde nicht das Ende der Marktwirtschaft bedeuten, wohl
dite sinkt, und mit ihr lässt die Dynamik nach. Das aber bedeutet
aber das Ende der kapitalistischen Marktwirtschaft mit ihrem
Krise und Armut mitten im Überfluss.
selbstreferentiellen Nexus von Geld und Arbeit. Es wäre eine so
Was folgt daraus für die Zukunft des Kapitalismus? Ich sehe zwei
zial eingebettete Marktwirtschaft, die nicht mehr wachsen
Möglichkeiten: Auf der einen Seite kann man mit gutem Recht
müsste, sondern sich auf die profane Reproduktion des Lebens
argumentieren, dass von einer Überwindung der Kapitalknapp
beschränken könnte. Aber würden die Menschen es ertragen
heit auch heute noch nicht wirklich die Rede sein kann. Große
können, wenn die Geschichte so zu ihrem Ende käme? Ich wage
Teile der Welt, insbesondere der afrikanische Kontinent, befin
keine Antwort.
den sich noch in der Anfangsphase des kapitalistischen Auf97
Das dünne Eis der Fiktion von THOMAS VON
STEINAECKER
haben und einen leeren Begriff dermaßen in die Höhe getrieben haben, dass sich viele Leute haben verleiten lassen, ihr Geld in Aktien an einem neuen Nichts hinzugeben.« Zwar ist das Geschehen an den Märkten in den Zeiten der Glo balisierung ungleich abstrakter und komplexer geworden - der Crash ist jedoch in erster Linie die Folge eines damals wie heute
»Mein Kopf füllte sich mit Projekten und Unternehmungen,
praktizierten Risikospiels. Wenn man der Chronik der Krise
die jenseits meiner Möglichkeiten lagen.<< Das schreibt 1719 der
glaubt, dann nahm sie ihren Anfang mit faulen Hypotheken.
Titelheld eines Textes, der in der Literaturgeschichte als der erste
Faul, weil sie Subprime-Kunden, also Privatleuten mit geringer
moderne Roman gilt: Robinson Crusoe. Neu war der reportage
Bonität, gewährt wurden; faul, weil die Schulden, von Rating
hafte Realismus, mit dem hier das Leben auf einer einsamen In
Agenturen frisiert, weiterverkauft wurden. Diese Kreditgeschäf
sel geschildert wurde; neu auch das Publikum, an das sich das
te wiederum koinzidierten auf unglückliche Weise mit dem Ver
Buch richtete: nicht mehr ausschließlich die gebildeten Stände,
fall von Optionen, dem Recht also, ein Wertpapier zu einem vor
sondern eine breite Leserschaft. Und neu vor allem die Haupt
her festgelegten Preis zu einem späteren Termin zu erwerben,
figur: Als Kaufmann und Koloniallierr ist Robinson ein homo
anders gesagt: Man wettete.
oeconomicus. Er vertraut nicht mehr allein auf Gott, sondern
So entstand eine ganze Kette von für den Laien kaum durch
nimmt mit der Aussicht auf Gewinn sein Schicksal selbst in die
sehaubaren Ereignissen auf einem internationalen Markt, des
Hand und scheut dabei kein Risiko.
sen Mechanismen sich endgültig verselbständigt hatten. Im
Beispielhaft vertritt er einen Menschentyp, der gerade in dieser
Nachhinein wirkt es so, als wandelte die Welt in diesen Jahren
frühkapitalistischen Phase in Europa zum ersten Mal massenhaft
des exzessiven Subprime-Geschäfts auf dem dünnen Eis der Fik
anzutreffen ist: den privaten Projektemacher, der phantastischen
tion: Häuser und Autos wurden gekauft, Ledergarnituren, Le
und oft kaum realisierbaren Geschäftsideen nachhängt. Die Ge
bensmittel - das alles mit nicht vorhandenem Geld. Als diese lie
schichte des modernen Romans und des Kapitalismus fallen hier,
bevoll eingerichtete Blase platzte und die Schuldner vor den
am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, zusammen.
Trümmern ihrer Existenz standen, müssen sie sich vorgekom
Fast dreihundert Jahre später liest sich die Warnung, die der Er
men sein wie auf einem futuristischen Holodeck, auf dem sich
finder der Robinsonade, der Händler, Bankrotteur, Journalist
der Besucher per Computersimulation in seine Wunschwelt be-
und Schriftsteller Daniel Defoe, allen Projektemachern und ihren Kunden mit auf den Weg gab, wie eine wahr gewordene
geben kann. . I st das Programm beendet, steht er freilich wieder nur in einer
Prophezeiung: »Es gibt leider nur zu viele verführerische Vor
nüchternen Kammer. Eine explosive Zunahme von Phantasien
spiegelungen von neuen Entdeckungen, neuen Maschinen und
also auf allen Seiten: hier die Banker, die nicht nur auf steigende
anderem mehr, die, über ihren wahren Wert herausgestrichen,
Gewinne spekulierten, sondern auch immer neue, absurdere
hoch gepriesen werden. Solche Scheinerfindungen haben die
Finanzprodukte erfanden; dort die Anleger und Schuldner, die
Phantasie Leichtgläubiger so erregt, dass sie auf einen bloßen
kurzzeitig ihre Hoffnung auf Wohlstand verwirklicht sahen. Die
Schimmer von Hoffnung hin große Geldmengen aufgebracht
Börse als Traumfabrik 99
Der Roman indes, also jene Gattung, die lange Zeit als Chronik
Dazu erreicht eine weitere Entwicklung, die mit » Robinson Cru
einer kapitalistischen Welt fungierte, hat in den vergangenen
soe« begann, heute ihren vorläufigen Höhepunkt: die der Kom
Jahrzehnten eine dem ökonomischen Bereich genau entge
merzialisierung der Literatur. Zwar ist man als Autor stets ver
gengesetzte Entwicklung vollzogen: Sein bevorzugter Stil ist der
sucht, aus einem spätromantischen Gestus heraus die Branche
des vermeintlichen Realismus; vermeintlich deshalb, weil sich
als autonomen Bereich zu sehen, in dem es um Kunst und nur um
seine Stoffe, sein Vokabular und seine Struktur auf die Erfas
sie geht. Jedes Buch ist aber sowohl Kunstwerk als auch Produkt;
sung der Oberfläche eines unmittelbaren Umfelds konzentrie
mehr noch: Der Literaturbetrieb bildet selbst einen Teil des Wirt
ren. Aber nicht nur dessen phantastische Grundierung gerät dabei aus dem Blick, sondern auch der Sinn für Zusammen
schaftssystems. Diese unangenehme Wahrheit, die jedem idealis tischen Künstler Unwohlsein bereiten muss, führt nicht selten zu
hänge.
einer Ausblendung alles Ökonomischen in den eigenen Arbeiten.
Traditionell wäre es wohl die Aufgabe eines »großen« Gesell
Wird über die Zwänge des Marktes wiederum nicht reflektiert,
schaftsromans a la Hermann Brochs »Schlafwandler« oder Ro
droht der Autor von dessen Mechanismen vollends vereinnahmt
bert Musils »Mann ohne Eigenschaften«, das Diffus-Abstrakte
zu werden. Idealismus wird so zu Naivität oder Borniertheit.
unserer Zeit zu veranschaulichen und zugleich auf den Punkt zu
Es ist anzunehmen, dass wir in den Romanen der nächsten Sai
bringen. Doch wie soll man mit herkömmlichen Mitteln eine
sons schon bald verstärkt von Maklern und Managern lesen wer
Vorstellung von jenen vierzig Billionen Euro vermitteln, die bei
den. Es kann jedoch nicht damit getan sein, aus der Erleichte
der Finanzkrise vernichtet wurden? Wie lassen sich die komple
rung heraus, endlich wieder ein »wichtiges« Thema gefunden zu
xen Kettenreaktionen der über die Welt verteilten Institutionen
haben, in der bekannten Manier über arbeitslose Banker zu
darstellen, die zum Einsturz des Marktes führten? Mit ihrer un
schreiben, die sich kein Sushi mehr leisten können. Diese Art der
gewöhnlichen Anlage und neuartigen Sprache stellen denn auch
Karikatur innerhalb eines angeblichen Realismus verkennt die
William Gaddis' oder Ernst-Wilhelm Händlers Versuche, das
neuen phantastischen Gegebenheiten unserer Wirklichkeit und
ökonomische System zu erkunden, absolute Ausnahmen in der
wird in absehbarer Zeit die völlige soziale Irrelevanz von Litera
neueren Literaturgeschichte dar. Ja, selbst bloße Annäherungen
tur zur Folge haben. Die Geschichte des Kapitalismus und des
wie Richard Fords »Die Lage des Landes« oder Thomas Weiss'
modernen Romans gehören zusammen - es ist wünschenswert,
»Tod eines Trüffelschweins« sind rar.
dass die sogenannte Krise auch im Literaturbetrieb, hat sie ihn
So ist die Finanzkrise auch eine Krise des Romans. Weitgehend
einmal mit ganzer Wucht erreicht, zu nachhaltigen Veränderun
abhanden gekommen ist ihm die Funktion als welterklärendes
gen und einer Neubesinnung führt.
Instrument, das er in den Werken der klassischen Moderne oder bei Solitären wie David Poster Wallace noch besitzt. Eine kurz vor der Krise entstandene Dokumentation wie Let's make money, die es spielend versteht, komplizierte globale Verwicklungen ver ständlich zu machen, zeigt, dass die Literatur ihre Monopolstel Jung als Barometer sozialer Umbrüche längst an den Film ab getreten hat. 100
Global robust, lokal verwundbar von VIKTOR VANBERG
tausch treten oder sich zu gemeinsamen Unternehmungen zusammenschließen können. Dass nicht die bloße Privatisie rung von Staatseigentum, sondern die wirksame Durchsetzung einer Privatrechtsordnung das
sine
qua
non
einer funktionsfä
higen Marktwirtschaft darstellt, ist von manchen postkommu nistischen Transformationsstaaten sträflich vernachlässigt wor Wenn man unter Kapitalismus jene Wirtschaftsordnung ver
den.
steht, die auf Privateigentum und Vertragsfreiheit beruht, gibt es
Die Robustheit der Marktwirtschaft hat ihren Grund darin, dass
wenig Grund, um seine Zukunft besorgt zu sein. Diese Wirt
Menschen die individuellen Freiheiten, die sie gewährt, und die
schaftsordnung, die wir als Marktwirtschaft bezeichnen, hat sich
daraus resultierende produktive Dynamik den Verhältnissen
als die robusteste Spezies unter den konkurrierenden Ordnungs
vorziehen, die sie in alternativen Regimen vorfinden. Die Wan
varianten durchgesetzt, mit denen die Menschheit im Verlauf
derungsbewegungen der neueren Geschichte sprechen hier eine
ihrer Geschichte experimentiert hat. Eine grundsätzliche Alter
deutliche Sprache. So war die mangelnde Attraktivität der Le
native, die ihr in Zukunft diesen Rang streitig machen könnte, ist
bensbedingungen, die kommunistische Regime den Menschen
nicht erkennbar.
boten, der entscheidende Grund für ihren Kollaps, der schon
Die Prinzipien, auf denen sie beruht, sind das Ergebnis eines
wesentlich früher gekommen wäre, hätten die Regierenden nicht
Jahrtausende umspannenden, von Versuch und Irrtum geleite
zu gewaltsamen Mitteln gegriffen, um ihre Bürger an der »Ab
ten kulturellen Evolutionsprozesses, der mit der Entdeckung
stimmung mit den Füßen« zu hindern. Angesichts der Tendenz
seinen Anfang nahm, dass Menschen sich durch Spezialisierung
zur nachträglichen Romantisierung der Verhältnisse in der D D R
und Tausch wechselseitig bessersteilen können. Freiwilliger
ist es nicht überflüssig, daran zu erinnern.
Tausch liegt dort vor, wo Menschen die Dinge, die sie von ande
Nun bedarf die These von der Robustheit der Marktwirtschaft
ren wünschen, dadurch erwerben, dass sie diesen etwas anbie
allerdings einer Präzisierung. Sie ist, um es auf eine einfache
ten, was sie zur Bereitstellung der gewünschten Leistung bewegt.
Formel zu bringen, global äußerst robust, aber lokal durchaus
Die Marktwirtschaft in unserem heutigen Verständnis bildete
verwundbar. Sie ist global robust, weil sie wegen ihrer Attrak
sich in dem Maße heraus, in dem der freiwillige Tausch zum vor
tivität auf ihre Umgebung ausstrahlt und als Magnet wirkt,
herrschenden Ordnungsprinzip des Wirtschaftslebens wurde,
der Menschen anzieht. Sie ist lokal verwundbar, weil die recht
und dies geschah dort, wo eine Rechtsordnung durchgesetzt
lich-institutionellen Bedingungen, von denen ihre Funktions
wurde, die die Voraussetzungen für freiwilligen Tausch - den
fähigkeit abhängt, durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und
Schutz von Privateigentum und Vertragsfreiheit - sichert.
staatliches Handeln gestaltet werden und sie daher nur dort
In der Tat ist die Marktwirtschaft nichts anderes als die Gesamt
zur Geltung kommen kann, wo der politische Wille und die
heit der wirtschaftlichen Transaktionen und Strukturen, die sich
Macht vorhanden sind, diese Bedingungen zu schaffen und zu
in einer Privatrechtsgesellschaft herausbildet. Marktwirtschaft
sichern.
stellt sich da in dem Maße ein, in dem Menschen privatauto
Die Vorteile, die eine marktwirtschaftliche Ordnung den unter
nom mit anderen auf der Grundlage freiwilliger Verträge in Aus-
ihr lebenden Menschen zu bieten hat, sichern ihr nicht per se die
102
103
für ihren Bestand notwendige politische Unterstützung. In einer
reich sind, desto mehr wird die produktive Kraft der Marktwirt
in staatliche Hoheitsgebiete aufgeteilten Welt hängt ihr Schicksal
schaft geschwächt. Auch demokratische Gesellschaften sind aus
von den jeweils lokal herrschenden politischen Bedingungen ab.
diesem Grunde in Gefahr, die institutionellen Grundlagen einer
Unter Bedingungen von Rechtlosigkeit, Anarchie oder Bürger
Wirtschaftsordnung zu zerstören, der sie ihren Wohlstand ver
krieg kann sie sich ebenso wenig entfalten wie unter Macht
danken, ohne dass den Menschen unbedingt klar würde, wo die
habern, die zum Zwecke der eigenen Bereicherung die Freiheit
Ursachen für diesen Erosionsprozess liegen.
wirtschaftlicher Betätigung und des Handels unterdrücken,
Die These von der Robustheit der Marktwirtschaft soll besagen,
oder unter Regierungen, die aus ideologischen Gründen oder
dass sie als System anderen uns bekannten und realisierbaren
schlicht aus Irrtum ihre institutionellen Grundlagen zerstören.
Wirtschaftsordnungen überlegen ist, nicht etwa, dass sie perfekt
Ob und in welchem Ausmaß Menschen in bestimmten Ländern
und krisenfrei wäre. Lässt man einmal die hier nicht weiter zu
in den Genuss der Lebensbedingungen kommen, die die Markt
erörternde Frage beiseite, wie bei der derzeitigen Wirtschafts
wirtschaft ihnen bieten kann, ist daher durchaus ungewiss. Ge
krise die jeweiligen Anteile von »Marktversagen« und »Staats
wiss ist jedoch, dass die Marktwirtschaft sich wegen ihrer At
versagen« zu bemessen sind, so gilt es schlicht festzustellen, dass
traktivität nicht überall und nicht auf Dauer verdrängen lassen
es wenig Sinn hat, aus dem Befund, dass das, was existiert, am
wird.
Maßstab einer perfekten Welt gemessen, Mängel aufweist, auf
Ein tieferliegender und für demokratische Gesellschaften wie die
seine Untauglichkeit zu schließen. Die gegenwärtige Krise gibt
unsere schwerer wiegender Grund für die lokale Verwundbarkeit
Anlass, darüber nachzudenken, in welcher Weise das Regelwerk
der Marktwirtschaft hängt jedoch direkt mit dem Grund für ihre
der Marktwirtschaft verbessert werden könnte, und auch darü
globale Robustheit zusammen, ist gewissermaßen dessen Kehr
ber, ob ihre ethischen Grundlagen nicht stärker ins öffentliche
seite. Es ist der Wettbewerb, der unter Bedingungen wirtschaft
Bewusstsein gehoben werden müssen, als dies in der Vergangen
licher Handlungs- und Vertragsfreiheit in Gang kommt, der
heit geschehen ist Solche Bemühungen sollten aber von der
einerseits die produktive Dynamik entfaltet, der die Marktwirt
realistischen Einsicht getragen sein, dass wir auch in Zukunft
schaft ihre Attraktivität verdankt, der aber andererseits auch mit
Krisen werden meistern müssen.
Anforderungen und Unsicherheiten einhergeht, die Menschen
Zu präzisieren ist die These von der Robustheit der Marktwirt
als belastend empfinden. Dass diese ungeliebte Seite des Wett
schaft schließlich auch in dem Sinne, dass es »die« Marktwirt
bewerbs von seiner geschätzten produktiven Seite nicht zu tren
schaft als in Stein gemeißeltes institutionelles Gebilde nicht gibt.
nen ist, hindert freilich Menschen nicht daran, sich eine Welt zu
Zwar kann es ohne die grundlegenden institutionellen Voraus
wünschen, in der sie die Früchte der Marktwirtschaft ohne die
setzungen von Privateigentum und Vertragsfreiheit keine
Anforderungen des Wettbewerbs genießen können.
Marktwirtschaft geben. Wie jedoch die Rahmenordnung, durch
Um Wählerstimmen werbende Politiker sind immer in Ver
die sie eingehegt wird, im Einzelnen gestaltet werden sollte, ist
suchung, solche Illusionen zu nähren. Der politische Prozess er
eine Frage, die einem Lernprozess unterliegt. Die konkreten
öffnet einzelnen Gruppen die Möglichkeit, für sich das Privileg
Funktionseigenschaften einer Marktwirtschaft werden von der
der Verschonung von Wettbewerbsdruck oder seinen Folgen zu
Art und Weise abhängen, wie die Privatautonomie durch öffent
erstreiten. Je mehr Gruppen bei solcher Privilegiensuche erfolg-
lich-rechtliche Regulierungen eingegrenzt ist, und sie werden
104
105
ihre Grenze dort finden, wo Handlungsbereiche direkter staat
Haben wir denn im Kapitalismus gelebt ?
licher Entscheidungsgewalt unterliegen.
von M I CHAEL ZÖLLER
Die Gestaltungsvarianten marktwirtschaftlicher Rahmenbedin gungen sind in einer globalisierten Ökonomie mit mobilen Menschen und mobilen produ�tiven Ressourcen zunehmend dem Test ausgesetzt, ob sie Bedingungen zu bieten vermögen, unter denen Menschen freiwillig leben und ihre wirtschaftlichen Ressourcen zum Einsatz bringen wollen.
Die gängige, wertkonservative Kritik des Kapitalismus geht von seiner Zählebigkeit aus, doch kommt dieses Eingeständnis als vergiftetes Kompliment daher. Gerade wegen seiner unüberseh baren Vitalität sei er als solcher noch nicht gesellschaftsfähig; Moral, Gesittung und Recht müssten ihm erst beigebracht wer den. Gegenwärtig hat diese Beschreibung des naturwüchsig amoralischen, wenn nicht moralzehrenden Charakters des Ka pitalismus auch deshalb Konjunktur, weil sie sich mit der Mo ritat von Vertreibung und Heimholung der Politik verbindet. Vom Marktradikalismus zunächst verdrängt, genieße die Politik nun wieder den gebührenden Vorrang. Man muss die Frage stellen, ob wir denn wirklich im Kapitalis mus gelebt haben, um an die Hinweise auf das Gegenteil zu er innern. Schon lange bevor es nur noch staatliche, halbstaatliche und direkt oder indirekt staatlich garantierte Banken gab, konn ten wir nicht mehr von Geld sprechen, ohne von Geldpolitik zu reden, und ob etwa der Arbeitsmarkt nach Marktgesetzen funktioniert, ist eine rhetorische Frage. Während solche Ge generzählungen Zweifel am Bild vom ungehemmten Kapita lismus nähren, führt der Vergleich verschiedener Krisen direkt zur Beziehung zwischen Markt, Moral und Staat. Wären näm lich die wiederkehrenden Krisen tatsächlich das direkte Ergebnis einer kapitalistischen Ordnung, dann sollten sie ähnlich verlau fen. Zu den Krisen, die im kollektiven Gedächtnis kaum Spuren hin terließen, zählt diejenige zu Anfang der zwanziger Jahre, in der der amerikanische Präsident Harding sich für keine der gleicher maßen problematischen Handlungsempfehlungen entscheiden 107
mochte. Die Krise war bald ausgestanden, doch ging er als Do
bringt, sich misstrauisch zu beäugen und auf Nummer Sicher zu
nothing-Präsident in die Geschichtsbücher ein. Roosevelt hin
gehen.
gegen entfachte ein Ausmaß staatlicher Eingriffe ins Alltags
Tatsächlich sind die Anzeichen für Einwirkungen von außen
leben, für das es, von Mussolini abgesehen, kein Vorbild gab. An
ebenso zahlreich wie unübersehbar. Sie beginnen mit der uralten
den Kennzeichen der vorgefundenen Krise, etwa der Arbeits
Auseinandersetzung um gutes Geld und schlechtes Geld. Der
losigkeit, änderte das aber nichts. Erst der Krieg erwies sich als
Staat hat sein Gewaltmonopol durch ein Geldmonopol ergänzt
Stimulus.
und dabei unterstellt, dieses sei so alternativlos wie jenes. Aus
Langfristig wirksamer als Roosevelts Politik war der New-Deal
dem Monopol wurde ein Kartell der Geldpolitisierung, das die
Mythos, nicht nur Deutschland und Japan, sondern auch die
Spielräume für die jetzt angeprangerte Gier erzeugte. Der Staat
Weltwirtschaftskrise seien durch große kollektive Anstrengun
selbst betrieb Geldexpansion und ermunterte die Banken, weit
gen überwunden worden. Die Anhänger dieses Glaubens an den
über das Maß ihrer Einlagen und ihres Eigenkapitals hinaus
aktiven Staat und die Kritiker, denen die Staatstätigkeit als Teil
ebenfalls Geld aus dem Nichts zu schaffen. So hat sich seit 1999
des Problems und nicht als dessen Lösung erscheint, stimmen
die umlaufende Dollarmenge nahezu verdoppelt, und die der
allenfalls darin überein, dass alle konkreten Ordnungen unreine
Euros hat sich noch stärker vermehrt. Die Regierung der Ver
Mischsysteme sind.
einigten Staaten nutzte die Banken Fannie Mae und Freddy Mac
Ein Vergleich der beiden jüngsten Krisen fuhrt jedoch über diese
dazu, die Spuren politisch motivierter Darlehensvergabe aus
Banalität hinaus. Als vor wenigen Jahren die sogenannte Dot
ihren eigenen Büchern zu entfernen, erfand also das Instrument
com-Blase platzte, lag die Wertvernichtung bei mehr als dem
der Verbriefung, das auch von der deutschen Bundesregierung
Doppelten dessen, was man der jetzigen Finanz- und Wirt
noch kürzlich gefördert wurde - der Staat als Vorbild in kreativer
schaftskrise bislang zurechnet. Dass diese Krise schon bald
Buchhaltung.
vergessen war, liegt daran, dass sie tatsächlich nach kapitalisti
Er rechtfertigte dies als konjunktur-, wohlstands- oder eigen
schem Drehbuch verlief. Private und institutionelle Investoren
tumsfördernd, also mit der Sorge ums Gemeinwohl. Ob dabei
verloren Geld, während alle anderen von den Folgen verschont
Hypotheken an Leute vergeben wurden, die nur auf steigende
blieben.
Immobilienpreise setzen konnten, oder ob die öffentliche Schul
Wie aber kam es zu der Hypotheken-Blase, die schließlich zu
denlast nur die Hoffnung auf Inflation ließ - der Staat als Spe
einer allgemeinen Wirtschaftskrise führte? Wie war es möglich,
kulant. Und schließlich betätigte der Staat sich als Verdunkler,
dass die Anbieter von Darlehen und ihre Kunden zunächst alle
der die Preissignale unterdrückte und die Spuren der Verant
herkömmlichen Vorsichtsregeln missachten und schließlich
wortlichkeit verwischte.
noch die Folgen ihres Leichtsinns in das gesamte Finanzwesen
Wie steht es also mit der Behauptung, der Kapitalismus sei als
verschieben konnten? Aus Sorglosigkeit wird Verantwortungs
solcher nicht gesellschaftsfähig und schaffe aus sich heraus we
losigkeit, wenn der Zusammenhang zwischen Verhaltensweisen
der Moral noch Recht? Zunächst erzeugt die oft beklagte Kom
und Konsequenzen gelöst wird. Diese Entkoppelung bewirkt
merzialisierung erst das, was wir Gesellschaft nennen, indem sie
wohl kaum der Kapitalismus selbst, da er auf dem Prinzip der
das Prinzip durchsetzt, dass nur der belohnt werden soll, der die
Gegenseitigkeit beruht und, wie seine Kritiker sagen, alle dazu
Interessen anderer im Auge behält. So führten schottische Den-
108
109
ker mit der Beschreibung des Marktes auch den Begriff der
um eine Wertillusion, also eine Blase. Doch selbst wenn wir et
Gesellschaft und eine von der sozialen Zusammenarbeit aus
was zu wissen glauben, nämlich, dass es bei den Banken und in
gehende Moralphilosophie ein. Zugleich erzwingt der Kapitalis
der Automobilindustrie Überkapazitäten gibt, nach welchen
mus eine Verrechtlichung im zweifachen Sinne. Indem er den
Kriterien gehen wir vor? Nur die anonymen Marktkräfte können
Einzelnen aus Strukturen der umfassenden Ein- und Unterord
auch hier für eine Zureche nbarkeit sorgen, also das Ergebnis
nung herauslöst und als Rechtssubjekt isoliert, verbindet er um
moralisch vertretbar machen.
gekehrt Handlungsfreiheit, Eigentum und Haftung, erzeugt also
Auch in den Vereinigten Staaten ist Ralph Naders Warnung ver
eine Kultur der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit.
gessen, schlimmer als ein von General Motors gebautes Auto
Es liegt in der Logik dieser Kulturrevolution, dass solche bürger
könne nur ein von der Regierung entworfenes sein. GM wird
lichen Werte als soziale Veranstaltung verstanden werden. Sie
nun als »Government Motors« ausbuchstabiert, durch amt
sind ein Konstrukt und müssen durch rechtliche Regeln und In
liches fiat wird entschieden, wer sich mit Fiat zu verbinden hat.
stitutionen gesichert werden. Adam Smith war das bewusst, wes
Die Politik verhindert so lange wie möglich die »schöpferisch e
halb er keineswegs vom Glauben an den Homo oeconomicus
Zerstörung«. Sie übersieht dabei, dass sie auf diese Weise nicht
oder an ein wundersames Gleichgewicht ausging, sondern mit
nur das Geld des Steuerzahlers, sondern auch ihr eigenes Legiti
der parasitären Natur des Menschen rechnete. Den Banken zu
mitätskapital aufs Spiel setzt, indem sie den Staat auch psycho
verbieten, Papiere in Umlauf zu bringen, die sie nicht jederzeit
logisch für die ökonomischen Folgen der politisch motivierten
einlösen können, sei eine so vertretbare Einschränkung der per
Entscheidungen haftbar macht.
sönlichen Freiheit wie die Vorschrift zum Bau von Brandmau
Schlimmer noch, der Staat gerät in ein Dickicht von Interessen
ern. Später freilich, etwa in Samuelsons lange maßgeblichem
konflikten und damit in ein unauflösbares moralisches Di
Lehrbuch der Ökonomie, war von Recht und Institutionen keine
lemma. Wie immer er entscheidet, begünstigt er die Interessen
Rede mehr.
der einen zu Lasten der anderen, schlägt sich auf die Seite der Be
Der Kapitalismus strebt jedenfalls von sich aus zur Verrecht
schäftigten und benachteiligt Pensionsfonds und Sparer oder
lichung. Damit schafft er nicht nur das Vertrauen, das Indivi
umgekehrt. Von einer Entlastung der Allgemeinheit durch in
duen zur Zusammenarbeit ermutigt, sondern auch die einzige
dividuelle Vorsorge, also von einer Wettbewerbsgesellschaft, in
Chance, kollektive Entscheidungen moralisch zu bewerten. So
der Freiheit und Selbstverantwortung anerkannt sind, kann
bald wir über die Logik des Gewaltmonopols, nämlich über die
keine Rede mehr sein. Nicht Globalisierung oder Neoliberalis
Notwendigkeit und Zumutbarkeit einer verbindlichen Rechts
mus haben uns in diese Lage gebracht, sondern der Versuch, Lo
ordnung, hinausgehen, haben wir es mit Problemen zu tun, die
gik und Moral des Kapitalismus außer Kraft zu setzen. Dass dies
nach einer Lösung verlangen, obwohl es an gesichertem Wissen,
auf Dauer nicht gelingen kann, ist ein geringer Trost.
an vertretbaren moralischen Prinzipien oder an beidem fehlt. Wir wissen nicht, ob eine wachsende Sparneigung die Krise ver längert oder ob eine höhere Geldmenge die Voraussetzung für Wachstum ist - und dass wir es mit einer Nachfragelücke zu tun haben sollen, ist so plausibel wie die Vermutung, es handele sich 110
Monster in der Grube von INGO
S C H U LZE
Anstieg der Temperaturen bis zum Ende des Jahrhunderts bes tenfalls auf zwei Grad begrenzt werden - im Vergleich zur vor industriellen Zeit, im Vergleich zu heute um 1,6 Grad. Auch die ser begrenzte Anstieg wird die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen zerstören. Gelingt nicht mal dies, werden ganze Welt gegenden nicht mehr bewohnbar sein.
Die Begriffe »Zukunft« und »Kapitalismus« klingen, wenn man
Gerade weil wir in diesem Jahr das Jubiläum des Mauerfalls
sie in einem Atemzug nennt, fremd, als gehörten sie nicht zu
feiern, müssen wir auch über die neuen Mauern und die neuen
sammen. Schon die Bezeichnungen Früh- und Spätkapitalismus
Stacheldrahtzäune sprechen. Jährlich sterben Tausende bei dem
signalisieren, dass man es mit einem zeitlich begrenzten Phä nomen zu tun hat. Seit dem Mauerfall wird der Begriff »Spät
Versuch, die Küsten Europas zu erreichen. Man braucht keine Phantasie zu bemühen, um in ihnen Vorboten zu sehen. Die
kapitalismus« jedoch kaum noch verwendet.
Flüchtlinge riskieren ihr Leben, weil ihre Existenz und die ihrer
Wer östlich des »Eisernen Vorhangs« gelebt hat, empfand die
Familien bedroht ist. An dieser Not haben auch und gerade die
Zeitenwende von 1989/90 auch als eine »Rückkehr aus der Zu
Industrieländer schuld. Einst brachten sie Kolonialismus und
kunft« (Boris Groys) . Aufgewachsen mit gesellschaftlichen Zu
Völkermord, heute sind sie verantwortlich für die Ausbeutung
kunftsentwürfen und der Theorie, die ganze Geschichte sei eine
billiger Rohstoffe und Arbeitskräfte, für Waffenlieferungen und
Entwicklung hin zur klassenlosen Gesellschaft, sah ich mich nun
Nummernkonten, für eine Zerstörerische Subventionspolitik
mit dem »Ende der Geschichte« konfrontiert. »Keine Experi
und fragwürdige Hilfsleistungen und nicht zuletzt für die Kli
mente!«, verkündeten Plakate. Die Mehrheit der Ostdeutschen
maerwärmung.
wollte nicht mehr auf die Zukunft vertröstet werden, sie wollte
In den letzten Jahren war wieder des Ofteren von Zukunft die
die D-Mark und die soziale Markwirtschaft am liebsten sofort.
Rede - und zwar in dem Maße, wie der gegenwärtige Alltag nicht
Wenn man überhaupt einmal von der Zukunft sprach, dann sah
mehr so war, als dass man ihn sich in die Zukunft verlängert
diese ungefähr so aus wie die Gegenwart, verbessert um tech
wünschte.
nische Erfindungen. Jenseits von Wachstumsprognosen, EU
Etwas lief schief. Zuerst sah man das in einigen Staaten Osteu
Beitritten, Olympischen Spielen und Wahlversprechen wurde
ropas und der ehemaligen Sowjetunion. Trotz politischer Frei
die deutsche Öffentlichkeit erst wieder durch die Klimaforscher
heit fielen sie in eine geradezu vormoderne Gesellschaft zurück.
an die Zukunft erinnert.
Der Großteil der Bevölkerung verarmte in einem nicht für mög
Dabei bietet schon die Gegenwart genügend Beispiele für das,
lich gehaltenen Ausmaß. Die Politik sah sich hilflos einer Schur
was uns in Zukunft erwartet: Aralsee und Tschadsee sind im
kenwirtschaft gegenüber, die von Oligarchen, mafiösen Grup
Laufe der letzten Jahrzehnte so gut wie verschwunden, auch das
pen und alten Nomenklatura-Kadern beherrscht wurde. Der
Tote Meer wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Im
Westen ist ratlos angesichts dieser Situation. Und das, obwohl es
Sudan ist die Wüste in den vergangeneu vierzig Jahren hundert
ja vor allem seine eigenen ökonomischen Konzepte sind, die zur
Kilometer gewandert. Wenn es gelingt, auf der Klimakonferenz
Anwendung kommen - nur dass ohne politisches Gegengewicht
in Kopenhagen verbindliche Regeln zu vereinbaren, könnte der
und soziale Standards, ohne Öffentlichkeit, Justiz und Sicherheit
112
113
der BegriffFreiheit als Deckmantel für die hemmungslose Berei
war. Zwanzig Prozent der Bevölkerung besitzen über achtzig
cherung Einzelner diente.
Prozent des privaten Vermögens. Dagegen verfügt die Hälfte der
In Osteuropa kann man beobachten, was man nun nach und
Bevölkerung über gar kein Vermögen. Wir haben ein Zwei-Klas
nach auch als eigenes Problem begreift, nämlich dass politische
sen-Gesundheitssystem; der Schulabschluss und die Berufswahl
Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit fragwürdig ist oder sich sogar
hängen immer stärker von der sozialen Herkunft ab. Wer das
in ihr Gegenteil verkehrt.
sogenannte Arbeitslosengeld II erhält, muss mit 4,25 Euro am
Freiheit und Gleichheit (Gleichheit übersetzt als soziale Gerech
Tag sein Leben fristen. Die Pro-Kopf-Verschuldung beträgt in
tigkeit) sind nicht voneinander zu trennen. Nachdem die Hoff
Deutschland bereits zwischen 20 ooo und 21 ooo Euro (und das
nung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz 1968 in
sind nur die Schulden des Bundes).
Prag durch den Einmarsch der sowjetischen Armee beendet
All das ist keine Folge der Krise, sondern der Politik der letzten
wurde, blieb die soziale Markwirtschaft der einzige Versuch, bei
zwei Jahrzehnte. Die Krise wird diese Tendenz nur weiter ver
des zu vereinen. Dass auch der »alte Westen« auf Kosten der
stärken, die Verschuldung in den nächsten vier Jahren auf 24 ooo
»Dritten Welt« lebte, im Kalten Krieg selbst Kriege führte oder
bis 25 ooo Euro pro Kopf erhöhen und das Auseinanderdriften
Stellvertreterkriege führen ließ, ist dabei sicher mehr als nur eine
der Gesellschaft beschleunigen.
Fußnote.
In Roland Emmerichs »Godzilla«-Film von 1998 führen Atom
Der ungezügelte Kapitalismus, der mit der Politik Reagans und
bombentests zu einer Mutation - aus einem Echsenei kriecht
Thatchers begann, wurde mit dem Fall der Berliner Mauer zum
ein Monster. Ein Wissenschaftler, der in Tschernobyl mutierte
globalen Phänomen und zum fraglos akzeptierten Modell.
Regenwürmer untersucht, wird vom US-Militär nach Panama
Nachdem die Spaltung der Welt in Ost und West zumeist unblu
geholt, wo man Fußspuren des Monsters gefunden hat. Man
tig zu Ende gegangen war, vergab der Westen die Chance, Frei
sieht, wie der Wissenschaftler in eine Grube steigt, sich im Kreis
heit und soziale Gerechtigkeit als Einheit zu propagieren und
dreht und ruft, er könne hier keine Spuren entdecken, wo denn
auch zu praktizieren. Im Rausch des Sieges über das »Reich des
hier Spuren sein sollten? Während man ihn ratlos weiterreden
Bösen« war nur noch von Freiheit die Rede. Diese Freiheit
hört, fährt die Kamera nach oben - und man erkennt: Er steht in
brauchte man, um sich der neuen Märkte zu bemächtigen. So
einem der riesigen Fußstapfen, die das Monster hinterlassen
ziale Gerechtigkeit, sofern man überhaupt an sie dachte, sollte
hat.
sich von selbst einstellen. Markt und Privatisierung würden alles
Die Bundesregierung erinnert mich an diesen Wissenschaftler.
regeln, mit dem Wachstum käme der Segen für alle.
Mit Hilfe der alten Vorstellungen und Kategorien versucht man
Die immense Zahl an billigen Arbeitskräften, die nach 1989
herauszubekommen, mit was für einer Art Monster man es zu
plötzlich zur Verfügung stand, machte die Arbeiter und Ange
tun hat. Doch der Standpunkt, der Ansatz ist der falsche.
stellten im Westen erpressbar. So wuchsen nur noch die Ge
Statt Politik und Demokratie ernst zu nehmen, schafft die Regie
winne, nicht aber die Reallöhne. Und noch immer folgt die EU
rung lieber die Realität ab. Gerade für jemanden, der die DDR
diesem Privatisierungswahn.
bewusst erlebt hat, ist es schockierend zu sehen, wie die Wei
Heute erleben wir eine Polarisierung der Gesellschaft in Arm
gerung, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, zu einer ent
und Reich, wie sie zu Anfang der Neunziger kaum vorstellbar
leerten Rede führt. Als wären Begriffe wie Wachstum, Steuer-
114
115
senkung, Autokaufprämie, Ankurbelung des Konsums und Ähnliches mehr Mantras, die helfen würden. Besonders offen sichtlich wird der Verlust an Realitätssinn, wenn es um die Zahl der Arbeitslosen geht. Die offizielle Arbeitslosenzahl unter schlägt über eine Million Arbeitslose, die zwar von der Agentur für Arbeit ihr Geld erhalten, aber sich in Weiterbildungen und Umschulungen befinden, die einen Ein-Euro-Job haben - und fast alle, die über 58 Jahre alt oder krank sind. Seit Mai 2009 gibt es einen neuen Trick, die Zahlen schönzufärben: Wer von einem privaten Arbeitsvermittler betreut wird, taucht ab sofort nicht mehr in der Statistik auf. In Wirklichkeit haben wir bereits heute 4,5 Millionen Arbeitslose. Und sogar diese Zahl ist noch geschönt, denn viele Arbeitslose bekommen kein Geld, und viele arbeiten, ohne dafür bezahlt zu werden -und damit meine ich nicht nur das Heer der Praktikan ten. Finanzminister Steinbrück sprach vor einiger Zeit davon, dass man in außerordentlichen Situationen »Feuer mit Feuer be kämpfen« müsse. Ich kann mich an kein politisches Handeln er innern, das in den letzten zwanzig Jahren nicht versucht hätte, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Es wäre gut, die Feuerbekämp fung einmal mit Wasser zu versuchen. Man muss nicht Ökonomie studiert haben, um zu wissen, dass man keine verlässlichen Aussagen von Rating-Agenturen erhält, die von denen bezahlt werden, die sie beurteilen sollen. Welchen gesellschaftlichen Nutzen bringen Hedge-Fonds, die auf den Cayman-Inseln ihren Briefkasten haben? Hat man sie 2004 zu gelassen, kann man sie jetzt auch wieder verbieten. Wenn Ärzte als private Geschäftsleute agieren müssen, braucht man sich nicht über hohe Gesundheitskosten zu wundern. Im Falle eines Gewinnes werden die Manager und Aktionäre von Banken reich, sehr reich; hat man sich aber verspekuliert, haftet die gesamte Bevölkerung. Politiker klagen über eine »Kreditklemme«, lassen aber weiter jene über die Geldvergabe entscheiden, die erwieu6
senermaßen nicht das Wohl des Gemeinwesens im Blick haben, sondern ihren Maximalprofit. Warum vertrauen wir unsere Zukunft jenen an, die dem Ge meinwesen das Risiko, sich selbst aber den Gewinn vorbehalten? Die Aktien werden sich erholen, Bund, Land und Kommunen je doch bleiben auf ein paar hundert Milliarden mehr an Schulden sitzen. Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste sozialisiert. Wenn das deutsche Bad-Bank-Spiel denselben Regeln folgen sollte wie in den Vereinigten Staaten, wird wieder die Bevölke rung für die Verluste von wenigen haften. Der Spielraum für Bil dung und Kinderbetreuung, für Umweltschutz und Infrastruk tur, für Kulturelles wird immer kleiner. Ganz abgesehen davon, dass die Kürzungen jene treffen werden, die jetzt schon nicht viel haben. Das Gemeinwesen (vertreten durch Bund, Länder, Kommunen) muss sich darüber klarwerden, was es will. Ob es jede Art und Weise des Geldverdienens duldet oder ob es, wenn privates Ge winnstreben die Interessen der Allgemeinheit bedroht, sich da gegen schützt. Das ist kein neuer Gedanke. Er findet sich schon im Ahlener Programm der CDU von 1947. Dort heißt es: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozia len Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht gewor den [ . . ] Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deut sche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geis tigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.« Wollen wir also »systemrelevante« Einrichtungen (zum Beispiel die Energieindustrie, die Banken, das Verkehrssystem, das Ge sundheitswesen, die Wasserwerke) unter dem Aspekt des priva ten Maximalprofits betrieben sehen, oder sollen sie nach Krite.
117
rien geführt werden, die dem Gemeinwesen förderlich sind? Der
Der Untergang findet nicht statt
demagogische Satz, der in letzter Zeit immer wieder zu hören ist:
von FRITZ
B. SIMON
»Der Staat ist der schlechtere Unternehmer«, sollte durch die Frage, wer der bessere Eigentümer ist und welche Interessen und Ziele der Eigentümer verfolgt, ersetzt werden. Wir müssen sa gen, wofür wir die Wirtschaft brauchen und was wir von ihr wol len. Wir müssen uns darüber klarwerden, wie der Gesellschafts
Im »New Yorker« war vor einiger Zeit eine Karikatur zu sehen,
vertrag aussehen soll, mit dem eine menschenwürdige Zukunft
die ein Ruderboot zeigt, dessen Bug in einem 45-Grad-Winkel
für alle möglich werden könnte.
aus dem Wasser ragt, während das Heck im Wasser versinkt. Den
Um diese Zukunft zu sehen, müssen wir aber erst einmal bereit
beiden Personen im Heck steht das Wasser bis zum Hals, die bei
sein, aus der Grube zu steigen.
den im Bug schweben trocken in luftigen Höhen. »Nur gut, dass das Loch auf der anderen Seite ist«, sagt die Sprechblase der im Trockenen Sitzenden. Ein schönes Bild, um die Logik systemi scher Prozesse zu illustrieren, die auch für unser Wirtschafts system und jedes Gesellschaftssystem bestimmend ist. Der Begriff »systemisch« erfreut sich in letzter Zeit ja einer er staunlichen Beliebtheit, vor allem, wenn es um die aufgrund ihrer »systemischen Bedeutung« zu rettenden Banken geht. Aber was sieht man eigentlich, wenn man aus einer systemtheore tischen Perspektive auf unsere Wirtschaft blickt? Die Zukunft ist zwar generell nicht vorhersehbar, aber dennoch ist ziemlich sicher, dass die Probleme, für die unser gegenwärtiges Wirt schaftssystem eine Lösung bietet, auch in Zukunft gelöst werden müssen: die Produktion und Verteilung von Gütern, insbeson dere von Gütern, die für das individuelle wie kollektive Über leben des Menschen notwendig sind. Der Kapitalismus ist, so betrachtet, nicht Problem, sondern Lösung - wenn auch eine Lösung, die neue Probleme schafft. Dass ein marktwirtschaftliches System nicht die einzige Lösung ist, zeigt die Geschichte. In traditionellen Stammessystemen bot die Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung Sicherheit für den Einzelnen, und in Feudalsystemen war es die Unterwer fung unter einen Herrn, der als Gegenleistung für die erbrachte Fronarbeit verpflichtet war, sich im Notfall um die Versorgung 11 9
seiner Untertanen zu kümmern. In all diesen Systemen waren
werden. Und es gibt nicht einmal objektivierbare Qualitätskrite
Überleben und Lebensqualität des Einzelnen an die Zugehörig
rien für kauf- oder verkautbare Produkte und Dienstleistungen:
keit zu einem übergeordneten sozialen System gebunden: den
Wenn sich ein Käufer findet, kann alles gehandelt werden. Das
Stamm, das Fürstentum, den Staat.
Angebot schafft sich die Nachfrage, und die Nachfrage das An
Dass das überleben des Einzelnen und sein Wohlstand auch
gebot - oder eben auch nicht. Und da man sogar Zahlungen für
heute noch an das Funktionieren größerer sozialer Einheiten -
etwas erhalten kann, was man erst in Zukunft zu verkaufen hofft,
Volkswirtschaften, die EU, Unternehmen, Familie, das Welt
kann sogar die Richtung der Zeit umgekehrt werden.
finanzsystem - gebunden sind, schien bis zum Beginn der gegen
Die pseudodarwinistische Vorstellung, marktwirtschaftliche
wärtigen Krise aus dem Blickfeld geraten. Das hat damit zu tun,
Prozesse würden einer Rationalität folgen, die quasi naturgesetz
dass unsere zeitgenössischen Marktgesellschaften dem Indi
lieh zum Fortschritt führt, verkennt die Logik evolutionärer
viduum Freiheits- und Möglichkeitsräume eröffnen, wie es sie
Selektions- und Veränderungsprozesse. Die »unsichtbare Hand«
menschheitsgeschichtlich zuvor nie gab. Bewertet man die tra
des Marktes, synonym für die Wirtschaft als selbstorganisiertes
ditionellen Gesellschaftsformen positiv, so gewährten sie ihren
System, sorgt zwar meist dafür, dass irgendeine Ordnung sich
Mitgliedern Zukunftssicherheit und Berechenbarkeit durch eine
durchsetzt, nicht aber unbedingt die »bessere« oder »fittere«.
stabile soziale Struktur. Bewertet man sie negativ, so pressten sie
Denn die Bewertung solch eines Selektionsergebnisses ist nicht
das Individuum in eine Zwangsjacke, die jede Handlungsfreiheit
nur vom Beobachter und seinen Kriterien abhängig, sondern
nahm. Solche Systeme waren konservativ, jede Innovation er
kann immer erst retrospektiv erfolgen. Wer oder was überlebt,
forderte Revolution.
hat bis zum Zeitpunkt der Beobachtung hinreichende Fitness
Wo Märkte statt verwandtschaftlicher HUfsverpflichtungen oder
bewiesen, mehr nicht.
feudalistischer Herrschaft die Produktion und Verteilung le
Um die Konsequenz dessen noch einmal deutlich und unmiss
benswichtiger Güter steuern, ändert sich dies radikal. »Geld
verständlich zu formulieren: Märkte sind dumm, ungerecht und
stinkt nicht«, es kann unabhängig davon, wie es erworben wurde
moralfrei, denn sie verfolgen keine eigenen Ziele. Und das ist
- ob durch anrüchige Geschäfte, ehrliche Arbeit, einen Bank
auch gut so. Denn nur aufgrund ihrer Blindheit gegenüber
überfall oder Derivatenhandel -, verwendet werden. Seine Ver
nichtwirtschaftlichen Bewertungen lassen sich wirtschaftliche
gangenheit spielt für seine Zukunft keine Rolle. Die Abstraktion
Mechanismen für ganz widersprüchliche Werte und Zwecke
vom Kontext, die mit der Nutzung von Geld als Kommunikati
nutzbar machen. Man kann Unternehmen gründen, um Profite
onsmittel zwangsläufig verbunden ist, sorgt für seine universelle
zu erwirtschaften, Geld spenden, um die Welt zu verbessern,
Verwendbarkeit. Nach erhaltenen Zahlungen können Zahlun
oder arbeiten, um seine Familie zu ernähren. Der Wirtschaft ist
gen geleistet werden, unabhängig davon, wofür und von wem
egal, wofür ihre Zahlungen erfolgen, solange überhaupt gezahlt
die Zahlungen geleistet wurden, und es bleibt offen, wofür und
wird. Deshalb ist es auch müßig, Managern Gier vorzuwerfen
an wen sie geleistet werden.
oder von den Akteuren des Wirtschaftssystems eine besondere
Daraus ergibt sich eine nahezu unbegrenzte Variationsbreite der
Ethik zu verlangen. Wirtschaft funktioniert vollkommen un
Kombinationsmöglichkeiten. Potentiell kann jeder mit jedem
abhängig von den guten oder bösen Absichten und Motiven ih
ins Geschäft kommen, und alles kann zur handelbaren Ware
rer Teilnehmer. Deshalb sollte man gesellschaftliche Sinnfragen
120
121
genauso wenig von Ökonomen beantworten lassen, wie man
nomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche in breiten Bevöl
sich von seinem Arzt den Sinn des Lebens verordnen lassen
kerungskreisen zur Suche nach sinnstiftenden Gegenwelten
sollte.
geführt: zum Rückzug 'ins Private, zur Wiederentdeckung der
So wie eine Sprache sich Sprecher schafft, die ihre Grammatik
Familie, zum Esoterik-Boom, zu Hunderttausenden Jugend
befolgen, kreiert Geld als Medium der Kommunikation den
lichen bei Kirchentagen und Papstbesuchen, zur neuen Popula
nüchtern kalkulierenden »homo oeconomicus« (und nicht um
rität von Schrebergärten. Und die Frage »Wie wollen wir leben?«
gekehrt, wie die klassischen Wirtschaftswissenschaften suggerie
wird nicht nur privat, sondern auch öffentlich diskutiert.
ren). Diese Wirkung der Verhaltenssteuerung durch Geld ist gut an börsennotierten Unternehmen zu studieren, wo die kurzfris
Die Politik, die in den letzten Jahren versäumt hatte, der desin tegrierenden Wirkung der wirtschaftlichen Logik Grenzen zu
tigen Partikularinteressen von Managern (Boni) zur Bedrohung
setzen, schickt sich erneut an, die Steuerung des Bootes, in dem
der langfristigen Oberlebensfähigkeit ihrer Firmen führen kön
wir alle sitzen, zu übernehmen. Das zeigt sich nicht nur in den
nen. Eine dem entgegenwirkende und korrigierende Funktion
Bemühungen der G-20-Regierungschefs, das Weltfinanzsystem
entfalten all die eigensinnigen Typen sozialer Systeme, deren
zu retten, sondern auch regional und lokal: Gemeinden und
Entscheidungen nicht durch Geld gesteuert werden, wie etwa
Städte haben das Vertrauen verloren, dass der Markt die beste
das Rechtssystem, die Wissenschaft, die Kunst oder idealtypisch
Lösung für die Schaffung und den Erhalt ihrer lebensnotwendi
die Familie. Solange Gerichtsurteile nicht an den Meistbieten
gen Infrastrukturen findet, und kaufen ihre Elektrizitätswerke
den versteigert werden, wissenschaftliche Wahrheiten unabhän
zurück, der Börsengang der Bahn ist abgesagt, und das Modell
gig von den für ihre Erkenntnis aufgewandten Kosten Geltung
VW zeigt, dass der Staat durchaus in der Lage ist, als Anteilseig
erlangen können und stillende Mütter ihren Babys keine Rech
ner ein erfolgreiches, die heimischen Interessen im Blick behal
nung für die Milch schicken, ist die Wirkung von Geld als Kam
tendes Government von Unternehmen zu realisieren.
munikationsmedium nicht totalitär.
Um zu der Metapher, mit der wir unsere Überlegungen begon
Die Ursachen der gegenwärtigen Krise sind relativ einfach zu
nen haben, zurückzukommen: Die Wirtschaft ist das Boot, in
identifizieren: Eine funktional differenzierte Gesellschaft ge
dem wir alle sitzen. Deswegen müssen wir auch die Löcher stop
winnt ihre Rationalität daraus, dass unterschiedliche Funktions
fen, die seinen Untergang zur Folge hätten. Aber die Sinnfrage:
systeme wie Wirtschaft, Recht, Politik sich gegenseitig in ihrer
Wohin wollen wir mit diesem Kahn fahren? - oder realistischer:
Macht begrenzen und in Schach halten. Durch die von Margaret
Wo wollen wir auf keinen Fall landen? - muss öffentlich disku
Thatcher und Ronald Reagan eingeleitete Selbstkastration der
tiert und politisch entschieden werden. Dabei sollten wir uns
Politik ist diese Heterarchie der Funktionssysteme und ihrer
darüber klar sein, dass Boote, die nicht gesteuert werden, an Ufer
Entscheidungskriterien zugunsten der hierarchischen Oberord
getrieben werden können, die man lieber nie entdeckt hätte.
nung der Wirtschaft verändert worden. Doch es besteht Anlass zu Optimismus, denn dieser Prozess, bedauerlicher Irrtum der Geschichte, ist umkehrbar, und wir werden bereits Zeuge dieser Gegenbewegung. Schon vor der aktuellen Krise hat das Unbehagen über die zunehmende Öko122
Sprechstunde beim Betriebspsychologen von H E I N E R MÜHLMANN
Angenommen, Wirtschaftssysteme gehorchten blinden Evolu tionsdynamiken, die man nicht beeinflussen kann; und ange nommen, die Veränderungen des Kapitalismus gehorchten nicht dem Prinzip der menschlichen Rationalität, das die Wirtschafts wissenschaftler für das Axiom der ökonomischen Theorie hal ten: Dann müsste es einen Kapitalismus des Unbewussten geben.
Neurose, Depression und ADHS (also Aufmerksamkeitsdefizit
Und dann sollte man sich fragen, ob es trotzdem Regelmäßigkei
oder Hyperaktivitätsstörung) sind Krankheiten der Individuen.
teil gibt, die ein unbewusstes Wirtschaftssystem beschreibbar
Es gibt aber auch eine Kapitalismuskrankheit, die ganze Kultu
machen.
ren befällt. Sie hat den Namen »Weltwirtschaftskrieg«, ein häss
Möglicherweise liefern in diesem Zusammenhang auffällige
licher Mutant, der aus dem Krieg mit Waffen hervorgegangen
Krankheiten einen Hinweis. Man könnte versuchen, heraus
ist. Demnach werden öffentliche Finanzmittel eingesetzt, um die
zufinden, von welchen Krankheiten die Menschen in den ver
Volkswirtschaften anderer Staaten durch Dumping-Exporte zu
schiedenen Epochen der Kapitalismusgeschichte besonders
schwächen.
häufig befallen wurden. Man sollte natürlich auch darüber nach
Unter allen amerikanischen Banken war Lehman Brothers am
denken, von welchen Krankheiten die Menschen in Zukunft be
meisten mit nichtamerikanischen Banken vernetzt. Also war
fallen werden. Dann würde die Antwort auf die Frage nach der
vorauszusehen, dass ein Lehman-Brothers-Zusammenbruch
Zukunft des Kapitalismus zu einer Voraussage, die sich auf eine
Zusammenbrüche auf der ganzen Welt nach sich ziehen würde.
neue symptomatische Kapitalismuskrankheit bezöge.
Was voraussehbar ist, ist auch strategisch einsetzbar, etwa nach
Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Krankheitsgeschichte des
dem Motto: »Ich bin an einer Sintflut interessiert, weil mein
Kapitalismus. Sie scheint in drei Phasen verlaufen zu sein. Henn
Haus wasserfester gebaut ist als die Häuser meiner Konkurren
ric Jokeit und Ewa Hess beschreiben diesen Prozess in einem
ten.«
Merkur-Aufsatz folgendermaßen: Erste Phase - die Neurose; sie
Denn auch Folgendes war voraussehbar: In einem weltweiten
fällt zusammen mit dem Kapitalismus des neunzehnten Jahr
Wirtschaftschaos würde man dem amerikanischen Staat mehr
hunderts. Zweite Phase - die Depression; sie fällt zusammen mit
Geld leihen in Form von Staatsanleihen als anderen Staaten.
der Kapitalismusentwicklung, die bis zur Schwelle zum einund
Denn Amerika hat die größere Bonität. Dadurch würde der Dol
zwanzigsten Jahrhundert reicht. Dritte Phase, die sich auf die
lar als Leitwährung gestärkt, beispielsweise gegenüber dem Kon
Zukunft bezieht - ADHS; was das bedeutet, soll noch nicht ver
kurrenten Euro. Euro-Staatsanleihen sind nicht möglich, weil es
raten werden.
keinen Euro-Staat gibt. Es sind nur Staatsanleihen an europäi
Begnügen wir uns für die Neurose mit der bloßen Feststellung,
sche Einzelstaaten möglich. Außerdem setzt sich die Bonität der
dass ihr Erscheinen mit der Zeit des brutalen Ausbeutungskapi
Euro-Zone aus der Durchschnittsbonität der europäischen Ein
talismus zusammenfällt. Der Verbreitungsgrad dieser Krankheit
zelstaaten zusammen. Das ist ein Mittelwert zwischen Griechen
reichte immerhin aus, um Sigmund Freud dazu zu veranlassen,
land und Deutschland. Dieser Wert ist eindeutig niedriger als
der Nachwelt die Theorien und Therapiemethoden der Psycho
der amerikanische Bonitätswert
analyse zu hinterlassen. Übrigens äußert Freud in seinen »Vor-
124
125
Iesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« die Meinung,
per schneiden will. Im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert
nicht nur die Bourgeoisie, sondern auch die Mehrzahl der unter
dagegen ist auch das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis zu einer
drückten Arbeiter sei von Neurosen befallen. Sie konsultierten
Beziehung der »Kommensuration« geworden. Auch hier wird
nur deshalb keine Psychologen, weil sie nicht genug Geld hätten.
mit Derivaten gehandelt: Die Schuld eines Schuldners Num
Freud vermachte der Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts den
mer 1 wird vom Gläubiger Nummer 1 aufgeteilt, mit anderen
psychologischen Diskurs. Die auf diese Weise entstandene thera
Teilschulden zusammengelegt, dann an neue Gläubiger Num
peutische Kompetenz breitete sich vor allem in den Vereinigten
mer 2 übergeb en, so dass der ehemalige Gläubiger Nummer 1
Staaten aus. Dort entwickelte sich seit 1920 ein neues Anwen
zum Schuldner Nummer 2 wird.
dungsgebiet die Betriebspsychologie. In ihr begegnet uns eine
Gläubiger Nummer 2 besteht meistens aus einer Gruppe von
funktionale Beziehung zwischen der Wirtschaft und einer für die
Gläubigern. Bei ihr ist die primäre Schuld ihrer ästhetischen
Wirtschaft entwickelten Krankheits- beziehungsweise Gesund
Wahrnehmbarkeit komplett beraubt. Gläubiger Nummer 2
heitstheorie.
kennt nur noch eine Mittelung der Schuld. Dabei handelt es sich
Die Betriebspsychologie verfolgte zwei Ziele: die Fähigkeit der
um eine Zahl, die das Durchschnittsrisiko des Schuldenpakets
»Kommunikation« und den Habitus der »emotionalen Intel
ausdrückt. Hier ist das Stadium der »Kommensuration« ebenso
ligenz«. Vorgesetzte sollten lernen, ihre eigene emotionale Aus
erreicht wie in der Ratgeberpsychologie. Auch die Finanzde
strahlung auf die empathische Wahrnehmung ihrer Unterge
rivate sind emotionale Derivate. Denn die Emotionalität der
benen abzustimmen; gleichzeitig sollten sie ihre eigenen em
Schuld ist durch das Mittelungsprinzip ersetzt worden.
pathischen Reaktionen auf das Verhalten ihrer Untergebenen
Das Finanzderivat ist das Wirtschaftsgut mit den schnellsten
verfeinern. Durch »Kommunikation« sollte dann Emotionskon
Transportwegen. Zu seiner ökonomischen Fitness hat das Inter
trolle bei allen Beteiligten erzeugt werden, um statt eines Be
net beigetragen. Während die Realwirtschaft auf eine langsame
triebsklimas der Unterdrückung eines der Gleichheit entstehen
raumzeitliche Transportlogistik angewiesen ist, vollzieht sich die
zu lassen. Zusammenhänge, denen zuletzt die Soziologin Eva
Transaktion des Finanzderivats in Echtzeit. Globalisierung be
Illouz in ihrem Buch »Die Errettung der modernen Seele« nach
deutet hier: vierundzwanzig Stunden Online-Business gleich
gespürt hat.
zeitig in allen Zeitzonen des Planeten. Deshalb bevorzugen die
Die typische Krankheit in der Epoche von Betriebspsychologie
Banker des Derivate-Handels den sogenannten Leninschlaf. Das
und emotionalem Derivat ist die Depression. Depression ist der
ist der Wach-Schlaf-Rhythmus zwei Stunden Schlaf nach fünf
Zustand totaler Emotionslosigkeit. Das »Selbst« ist erkrankt.
Stunden Wachsein.
Das gesunde »Selbst« ist das schwer erreichbare Ziel für das Stre
Die Krankheit der Zukunft ist ADHS. Sie wird ausgelöst durch
ben nach Selbsttindung und Selbstverwirklichung. Der Selbst
permanente Vigilanz, also Daueraufmerksamkeit beziehungs
verwirklichungskult ist repräsentativ für eine ganze Epoche des
weise Dauerwachheit ADHS und Finanzderivat verdanken ihre
Kapitalismus.
Entstehung dem Internet. Damit wird ein Link zwischen einer
Die Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner ist bei Shake
repräsentativen Krankheit und einem repräsentativen Wirt
speare noch so emotionsgeladen, dass ein venezianischer Ge
schaftsphänomen erkennbar.
schäftsmann seinem Schuldner ein Stück Fleisch aus dem Kör-
Außerdem wird ein allgemeines Beziehungsmuster erkennbar.
126
127
Man kann ihm den Namen »emotionaler Statistikeffekt« geben.
Lichen lässt mir keine Ruhe
Denn das emotionale Derivat der Ehe- und Beziehungsberatung
von ANDRZEJ STASIUK
funktioniert auf der Basis eines emotionalen Statistikeffekts. Der Beziehungserfolg gewinnt auf diese Weise die Anmutung des betriebswirtschaftliehen Erfolgs. Das später erscheinende Fi nanzderivat verdankt seine virusartige epidemische Fitness der katalytischen Kombination von Schuldderivat (statistische Mit
Seit einigen Tagen fahre ich durch Polen. Von Süden nach Nor
telung des Gläubigerrisikos) und Internet. Das Finanzderivat
den und wieder zurück. Insgesamt werde ich etwa zweitausend
enthält ebenfalls den emotionalen Statistikeffekt, weil die
Kilometer zurücklegen. Sonntag kam ich an Rzg6w vorbei, das
Schuldner-Gläubiger-Beziehung ihre emotionale Ästhetik ver
ungefähr in der geographischen Mitte des Landes liegt. Kilo
loren hat. Das Finanzderivat bildet die Voraussetzung für die
meterweit erstrecken sich hier Großhandelsmärkte, Waren
epidemische Störung, aus der sich die gegenwärtige Krise ent
lager und Magazine mit Textilien, Unterwäsche, Galanterieware,
wickelt hat.
Schneiderzubehör, mit allem, was der Mensch zum Anziehen
In den Aggregaten der Finanzderivate werden Banken weltweit
braucht. Von hier aus geht die Ware in die Läden und auf die
miteinander vernetzt Kommt es bei den Schuldnern zu Zah
Wochenmärkte des ganzen Landes. Von dort weiter nach Osten,
lungsausfällen, die eine kritische Größenordnung überschreiten,
in die Ukraine, nach Belarus. Auch am Sonntag blühte der Han
werden die Gläubigerbanken zahlungsunfähig. Wenn der Anteil
del. Hunderte Autos parkten, die ganztags geöffneten Restau
von zahlungsunfähigen Banken einen bestimmten Schwellen
rants empfingen ein hungriges Publikum. Gleich danach kam
wert überschreitet, kommt es zu gravierenden Systemstörungen
L6di, wahrscheinlich die hässlichste Stadt Polens, aber doch
im globalen Finanznetzwerk In derartigen Situationen wird die
faszinierend genug, dass David Lynch immer wieder hierher
Bankenrettung durch Staaten zum erwarteten NormalfalL Es
kommt, um mit den hiesigen Filmstudios zu arbeiten.
stellt sich heraus, dass man mit dieser Normalfallerwartung
L6di wurde Ende des neunzehnten Jahrhunderts zur unange
kriegsartig operieren kann.
fochtenen Metropole des Kapitalismus auf polnischem Boden.
Wenn es zutrifft, dass Wirtschaftssysteme blind evolvieren und
Durch seine Lage an einem Punkt, an dem die Grenzen von drei
sich der bewussten Kontrolle entziehen, dann wird es immer
Kaiserreichen zusammentrafen - Österreich-Ungarn, Preußen
wieder zu Systemkrisen kommen. In wirtschaftlichen Chaossi
und Russland -, verwandelte es sich im Laufe weniger Jahre von
tuationen obsiegt das strategische Verhalten. Dann gilt das Prin
einer kleinen Siedlung in ein mächtiges Zentrum der Textilin
zip »Bonität als Feuerkraft«.
dustrie. Polnische, deutsche und jüdische Vermögen wurden hier im Handumdrehen gemacht. Heute ist L6di eine herunter gekommene, leicht ruinierte Stadt. Wenn ich durch Polen fahre, habe ich oft das Gefühl, ich führe durch ein unbekanntes Land. Alles hat sich verändert: die Land schaft und die Gesichter der Menschen, ihre Kleidung und Au tos, Häuser und Gärten. Eigentlich hat sich die ganze Welt ver129
ändert. Knapp zwanzig Jahre Kapitalismus haben die materielle
heiligen Petrus in Rom werden sollte, erinnert eher an eine
Wirklichkeit in einem nie zuvor gekannten Ausmaß umgestaltet.
Kreuzung von Brandenburger Tor und Istanbuler Hagia So
Um sich zu vergegenwärtigen, wie diese Wirklichkeit früher war,
phia. Es ist pompös, prätentiös und kitschig - so jedenfalls das
ist man auf die Vorstellungskraft angewiesen - geblieben ist von
Urteil von Kunst- und Architekturkennern, die sich mit der
ihr so gut wie nichts. Die freigesetzten Kräfte von Unternehmer
Vision des Dorfpfarrers in Marmor, Granit, Gips nicht anfreun
tum und Konkurrenz, das zurückgegebene oder neu erworbene
den mochten. Das einfache, arme Volk aber kratzte seine letzten
Eigentum haben eine elementare Wirkung entfaltet.
Groschen zusammen und unterstützte den Bau. Aus eigenem
Die Umgebung von L6di ist scheußlich und ausdruckslos. Sie
Antrieb, ohne irgendeinen Zwang und im Bewusstsein der Wir
macht den Eindruck eines frühkapitalistischen Heerlagers. Die
kung seiner unzähligen kleinen Spenden, beseelt von der Vision.
Zahl der Werbeplakate, Reklameschilder, Anzeigen und Hin weisschilder auf Handel, Dienstleistungen, Firmen, Gewerbe
Das Volk nutzte seine Freiheit und die Macht des eigenen Gel des.
und Sortimente am Straßenrand schlägt sämtliche polnische
Lichen also als Symbol des polnischen Kapitalismus, der das
Rekorde. All das ist buntscheckig, geschmacklos, hastig, provi
Importierte geschickt mit dem Heimischen zu verbinden weiß.
sorisch hingehauen, aber es bringt treffend die Energie und Kraft
Katholizismus und Themenpark Denn das Gotteshaus ist nur
zum Ausdruck. Alle sind tätig, alle handeln mit etwas, produzie
ein Element eines noch größeren Ganzen. Ringsum erstreckt
ren, vermitteln, konkurrieren, kämpfen ums Überleben und ge
sich ein gepflegter Park, an den Spazierwegen finden wir Bild
hen gewiss auch nicht selten unter. Eine vielfarbige, chaotische
stöcke, Denkmäler und symbolische Darstellungen in Form gro
Bildergeschichte von der Geburt des Business bedeckt Zäune,
ßer Felssteine mit Inschriften. Sie illustrieren die heldenhafte,
W ände und Dächer. Hinter diesem gigantischen Marketing
komplexe, an Märtyrern reiche Geschichte des polnischen Vol
Fresko ist die normale Welt kaum noch zu erkennen.
kes. Da gibt es sogar eine Wachsfigur oder eher Gipsfigur eines
Hundert Kilometer hinter L6di bog ich nach Norden ab. Ich
SS-Manns, der auf den im Auschwitzer Hungerbunker sterben
wollte endlich einmal Lichen sehen. Lichen ist das größte katho
den katholischen Priester Maximilian Kolbe herabschaut. Das
lische Heiligtum in Polen und vermutlich das siebtgrößte in Eu
ganze Unternehmen trägt die Bezeichnung »Sanktuarium«. An
Horizont entdeckt, erschien es mir
ders als typische Sanktuarien, die langsam und natürlich wuch
wie das größte Bauwerk des Kapitalismus, das wir je hatten er
sen, über Generationen hinweg errichtet wurden, ist dieses in
richten können. Ein bescheidener Dorfpfarrer hatte die Vision
einer einmaligen Kraftanstrengung gebaut, so wie man Banken
ropa. Kaum hatte ich es
am
einer gigantischen Kirche, und er hat sie in die Wirklichkeit um
oder Handelszentren in die Landschaft setzt. Alles hier ist neu.
gesetzt. Etwa zehn Jahre brauchte er dafür.
Die Bäume, die Denkmäler, die Teiche.
Ausschließlich aus Spenden von Gläubigen im ganzen Land
An diesem heiteren Nachmittag spazierten Hunderte Besucher,
baute er eine Art Themenpark zur volkstümlichen polnischen
hier Pilger genannt, zwischen Baumspalieren und gestutzten
Gläubigkeit im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten des
Hecken. Sie sahen aber nicht danach aus, als wollten sie ihre
Kapitalismus. Das ist wahrhaft gigantisch, man sieht es schon
Religiosität auf irgendeine besondere Weise zelebrieren. Sie fla
aus der Entfernung von über zehn Kilometern. Kuppeln und
nierten, nahmen auf den Bänken Platz, aßen Stullen, rauchten
Gold dominieren. Was wohl eine Reminiszenz der Basilika des
Zigaretten und knipsten. Es war ein ruhiges, stilles Picknick im
13 0
131
frischen, blühenden Grün. Eher ein Kurort als ein neues Medu
Es waren eigene, vampirisehe Ziele, zu denen sie unser Mensch
gore.
sein heranzüchten sollten.
Kolossale Summen waren hier investiert worden ohne Erwar
Lichen ließ mir keine Ruhe. Dieses naive und zugleich gigan
tung einer Rendite. An der Straße hinter der Mauer standen ein
tische Projekt eines Themenparks unter dem Motto »Unsere
paar Marktbuden mit Devotionalien. Wandteppiche mit Papst
nationale Identität« war ein Wink, wie unsere Zukunft aussehen
bildnissen, Plastikfiguren der Muttergottes mit abschraubbarem
wird. Mehr als Reichtum und Komfort werden wir in dieser Zu
Kopf, als Flasche für das Wasser aus dem Wunderquell dienend,
kunft eine Antwort auf die Frage brauchen, wer wir sind. Eine
vergoldete Miniaturen des Heiligtums. Bescheidene Restaurants
Antwort in der alten Bedeutung dieses Wortes wird nicht mehr
offerierten anspruchslose Verpflegung. Die Dortbewohner hat
möglich sein. Deshalb müssen wir sie uns mit unserem eigenen
ten auf ihren Höfen gebührenpflichtige Parkplätze für die Besu
Geld und nach unserem eigenen Geschmack bauen. Selbstver
cher eingerichtet. Im Vergleich zu dem Pomp und der aufdring
ständlich, das meiste Geld werden wir in die eigene Gesundheit
lichen Pracht des Heiligtums fiel der »kommerzielle Teil« sehr
investieren, langfristig auch in die biologische Unsterblichkeit.
dürftig aus.
Doch sofort danach wird sich uns die Frage stellen, was wir mit
Aber auch die Pracht und der Pomp schienen völlig selbstlos zu
dieser Unsterblichkeit anfangen sollen. Eine Antwort darauf
sein. Der Dorfpfarrer hatte einen Treffpunkt für normale Men
werden die »Lichens« geben. Wie große Vergnügungsparks wer
schen geschaffen, die einfach nur stolz auf diesen Ort sind. Mehr
den sie uns sagen, woher wir kommen, wer wir sind und wohin
noch - dieser Ort half ihnen dabei, eine eigene Identität aufzu
wir gehen. Natürlich nach unserem Geschmack, und nach un
bauen.
seren finanziellen Möglichkeiten.
Ich verließ Lichen nach wenigen Stunden, doch ging es mir bis zum Ende meiner Reise nicht mehr aus dem Kopf. Ich fuhr durch ein sich entwickelndes Land, ich kam vorbei an den glä sernen Fassaden der Wolkenkratzer und Bankgebäude, an Kreu zungen, Apartment-Siedlungen, ich fuhr über modernisierte Verkehrsarterien in einer Schlange glänzender neuer Autos, zwischen unzähligen gigantischen Lastkraftwagen, die Millio nen nötiger und unnötiger Güter transportierten, und doch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass all diese Mühe vergeblich sei. Die Formen entwickelten und perfektio nierten sich, doch nichts deutete darauf hin, dass sie ein anderes Ziel als die eigene Vollkommenheit hätten. Es waren übernom mene Formen, absolut selbstgenügsam. Sie brachten nichts zum Ausdruck als sich selbst. Eine unpersönliche, kalte Energie sam melte sich in ihnen. Sie sollten das Leben erleichtern und be schleunigen, ohne selbst etwas mit dem Leben gemein zu haben. 132
Aus dem Polnischen von OlafKühl
Ohne Maß ist die Freiheit der Ruin
Was die tieferen Ursachen sind, daran scheiden sich die Geister.
von WOLFGANG
Viele der Übertreibungen, die zur Krise geführt haben, sind
SCHÄUBLE
nicht ohne die Gier vieler Marktteilnehmer zu erklären und auch nicht ohne die Gier der Anleger, die sich die Chance auf Traumrenditen nicht entgehen lassen wollten - von Investment
Sechzig Jahre nach ihrer Gründung erleben wir den stärksten
fonds über Kleinsparer bis zu klammen Kommunen.
wirtschaftlichen Einbruch in der Geschichte unserer Republik.
Manche wollen nun die verständliche Empörung hierüber da
Es ist die erste Wirtschaftskrise, die unsere freiheitliche und so
zu nutzen, den Eigennutz als Antriebsfeder wirtschaftlichen
ziale Wirtschaftsordnung in Frage zu stellen droht. Es wird noch
Wachstums in freiheitlichen Wirtschaftssystemen insgesamt zu
einige Zeit dauern, bis wir vollständig verstanden haben, wie es zu dieser Systemkrise kommen konnte. Aber wenn wir die Ver lässlichkeit des Finanzsystems sicherstellen und wieder begrün
diskreditieren. Doch wie eine Wirtschaftsordnung ohne gesun den Eigennutz funktionieren soll, kann niemand erklären. Was wir erleben, ist kein Wettstreit der Systeme. Die eigentliche Frage
dete Zuversicht für unsere freiheitliche Ordnung gewinnen wol
lautet: Wie schaffen wir es, dass in einer Marktwirtschaft Frei
len, kommen wir nicht umhin, Fehlentwicklungen beim Namen
heiten verantwortlich genutzt werden?
zu nennen und Schlussfolgerungen zu ziehen.
Seit Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Ludwig Erhard lautet
Viele Ursachen der Krise sind diskutiert worden: die laxe Geld
unsere Antwort: mit einer Sozialen Marktwirtschaft, die inner
politik der amerikanischen Notenbank, das sozialpolitisch
halb des Marktgeschehens Vorkehrungen für einen verantwort
gewollte Anheizen des amerikanischen Immobilienmarktes,
lichen Umgang mit Freiheit trifft und darüber hinaus korri
die verhängnisvolle Entscheidung der Securities and Exchange
gierende Elemente außerhalb des Marktgeschehens vorsieht.
Commission zur Aufhebung der Verschuldungsgrenzen für
Beide Elemente haben in der Bundesrepublik ganz wesentlich
Wertpapierhandelshäuser, die Refinanzierung und weltweite
zur Herausbildung einer wirtschaftlich, sozial und politisch zur
Verteilung eines gigantischen Hypothekenrisikos durch Ver
Mitte hin gerichteten, freiheitlichen und sozialen Gesellschaft
briefung und sogenannte Finanzinnovationen.
geführt.
Was den deutschen Kontext angeht, wird man einige Punkte er
Auch die globale »Entfesselung der Märkte«, die der McKinsey
gänzen müssen. Zum Beispiel das Aufblähen der Landesbanken
Berater Lowell Bryan 1996 in seinem Buch »Markets Unbound
mit öffentlichen Geldern. Unter dem Damoklesschwert künf
Unleashing Global Capital« beschrieb, hatte unter dem Strich
tiger Beschränkungen durch die EU-Kommission wollten einige
positive Folgen für Wirtschaft und Beschäftigung in Deutsch
Landesbanken ein letztes Mal ein großes Rad drehen. Dabei
land. Der weltweite Abbau von Schranken und Regularien führte
wurden Risiken eingegangen, die nicht vernünftig waren und of
zu steigenden Investitionen, zu mehr Wachstum und, trotz des
fenbar auch von den Aufsehern kaum verstanden wurden. Auch
mit der globalen Konkurrenz einhergehenden Standortwett
die immer weitergehende Liberalisierung der Regularien für die
bewerbs, auch zu mehr Wohlstand. Die zunehmende interna
Finanzindustrie war im Nachhinein betrachtet ein Fehler. Durch
tionale Vernetzung der Volkswirtschaften war für Deutschland
diese Entscheidungen wurden Freiräume geschaffen, die nicht
mit seinen exportstarken Industrien eine gute Entwicklung.
verantwortlich genutzt wurden.
Ohne die Liberalisierung von Handel und Dienstleistungen,
13 4
135
darunter auch die der Finanzdienstleistungen, wäre der Wohl
sumierende Prekariat nimmt zu, die Mittelschicht gerät unter
stand, den wir heute genießen, nicht denkbar.
Druck, die wirtschaftliche Dynamik schwächt sich ab.
Allerdings ist das, waswir bisher als Maximum an Freiheit in un
Schumpeter hat also prophezeit, wie ein übermaß an Ökonomi
serer Sozialen Marktwirtschaft für richtig hielten, korrektur
sierung und Gewinnstreben zur Schädigung der Grundvoraus
bedürftig. Wilhelm Röpke hat einmal geschrieben: »Selbstdis
setzungen von Wachstum und Wohlstand führt. Darüber sollten
ziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit,
wir nachdenken. Wir können nicht einfach zur Tagesordnung
Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des
übergehen und darauf hoffen, dass nun alle für sich etwas aus der
anderen, feste sittliche Normen - das alles sind Dinge, die die
Krise lernen und künftig vorsichtiger sind. Der Staat ist in der
Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt
Verantwortung, als Hüter und Gestalter unserer Wirtschaftsord
gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen.« Das sind
nung Schlussfolgerungen zu ziehen, wie wir durch mäßigende
hohe Ansprüche, die nicht immer zu erfüllen sind. Die freiheit
Vorkehrungen künftigen übertreibungen vorbeugen können.
liche Verfassung - dieser Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde
Wenn wir wirtschaftliche Freiheit erhalten und Dynamik wie
ist zum sechzigsten Geburtstag des Grundgesetzes oft zitiert
dergewinnen wollen, brauchen wir wirksame Vorkehrungen ge
worden - lebt aber von Voraussetzungen, die sie selbst nicht zu
gen einen exzessiven Gebrauch der Freiheit. Wir müssen dafür
schaffen vermag. Die Finanzkrise zeigt, dass das mutatis mutan
sorgen, dass Krisen am Markt nicht systembedrohend für Markt,
dis auch für die Soziale Marktwirtschaft gilt.
Staat und Gesellschaft werden können. Wir dürfen nicht länger
Das ist keine neue, aber eine wichtige Erkenntnis. Schon Joseph
zulassen, dass Akteure Risiken eingehen, die nicht durch ökono
Schumpeter - darauf hat vor kurzem der Philosoph Dieter
mische Substanz aufgefangen werden können.
Thomä hingewiesen - hat in seinem 1942 erschienenen Buch
Auf den internationalen Finanzmärkten ist das möglich gewe
»Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie« aufgezeigt, dass
sen, weil ein Grundsatz missachtet worden ist, der ein ganz
auch der Kapitalismus, ähnlich wie die Demokratie, kein sich
wesentliches Anreizsystem für maßvolles Handeln ist: die Haf
selbst vollständig regulierendes und reproduzierendes System
tung desjenigen, der R isiken eingeht. »Wer den Nutzen hat, muss
ist. Der Kapitalismus sei vielmehr auf ein gelingendes soziales
auch den Schaden tragen«, hat Walter Eucken gemahnt. Genau
Leben angewiesen, das er nicht nebenbei aus dem Ärmel schüt
das ist durch Praktiken ausgehebelt worden, die zu den Ursachen
teln könne. Schumpeter geht noch einen Schritt weiter. Der
der Krise zu zählen sind: Die wiederholte Verbriefung von Ri
Kapitalismus sei in der Gefahr, seine Voraussetzungen zu unter
siken hat zu einer immer schlechteren Nachvollziehbarkeit der
graben, indem er die »Zersetzung der schützenden Schichten
ihnen entgegenstehenden Sicherheiten geführt. Dadurch sind
und Institutionen« von Wirtschaft und Gesellschaft herbei
die Risiken unüberschaubar geworden, und als es schiefging,
führe. Die Rationalisierung des gesamten Lebens führe zu einer
wurde jegliches Vertrauen auch der Banken untereinander zer
Art unausgesprochener Kostenrechnung auch im Privatleben
stört. Wir brauchen also Vorkehrungen, die den Zusammenhang
und ziehe dadurch zwei verhängnisvolle Entwicklungen nach
von Nutzen und Schaden, von Risiko und Haftung wiederher
sich: den Aufstieg des Konsumenten und den Abstieg der Fami
stellen. Sinnvoll wäre eine Beschränkung der Weitergabe von Ri
lie.
siken, die ohnehin eher dem Wesen des Versicherungsgeschäfts
Heute würden wir vielleicht sagen: Das umlagefinanziert kon-
als dem eigentlichen Bankgeschäft entspricht. Wir werden auch 1 37
eine bessere Aufsicht über solche Geschäfte brauchen. Und wir
tralität und Vielfalt zielende marktwirtschaftl iche Ordnung eine
müssen sicherstellen, dass keine Risiken eingegangen werden
Zentralisierung eingeschlichen, durch die nicht einmal eine
können, die nicht am Ende mit einer ausreichenden Kapital
Handvoll Ratingagenturen zu einer Art Zentralrechner des Fi
deckung unterlegt sind. Vielleicht müssen wir dazu auch das Ge
nanzsystems wurden. Vergeben wurden die Ratingnnoten aber
sellschaftsrecht und das Strafrecht verschärfen, um Geschäfte zu
von Menschen - mit all den Fehlern und Irrtümern, die nun ein
Lasten Dritter wirksamer abzuschrecken.
mal menschlich sind.
Allerdings dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass es
Die Agenturen und ihre Kunden haben diese Ratingergebnisse
mit ein paar Justierungen an den Stellschrauben der Finanz
gleichwohl für unfehlbar gehalten und auf dieser Grundlage
marktregulierung getan sein wird. Auch eine Überregulierung,
Wetten auf zigfach überzeichneter Kapitalbasis abgeschlossen.
die zwangsläufig zu erheblichen Wachstumsverlusten führen
Deshalb brauchen wir eine Dezentralisierung der Bewertung
muss, würde das Problem nicht lösen. Wir müssen ein weiteres
von Risiken. Denn wenn es zwangsläufig ist, dass Menschen sich
Kernproblem angehen, und das ist die mangelhafte Transparenz
irren, dann ist es besser, wir dezentralisieren Entscheidungen.
und Nachvollziehbarkeit von Transaktionen und den dahinter
Im Wettbewerb zeigt sich dann, welche Entscheidungen besser
stehenden Mechanismen. Viele Anleger haben sich auf hochris
und welche schlechter waren. Die Besseren gewinnen, und das
kante Geschäfte eingelassen, weil eine »AAA«-Bewertung einer
Scheitern der Schlechteren reißt nicht gleich alle in den Ab
der großen Ratingagenturen suggerierte, verbriefte ausfallge
grund.
fährdete Kredite seien nicht besonders riskant.
Auch dem Konzentrationsprozess in der Finanzindustrie müs
Hier ist die Finanzindustrie gefordert, durch Transparenz die
sen wir entgegenwirken. Er hat insbesondere im britisch-ameri
Nachvollziehbarkeit von Bewertungen, Berechnungen und
kanischen Bankensektor Einheiten geschaffen, die sich nicht nur
Transaktionen wiederherzustellen. Wenn das nicht passiert,
als »too big to fail« erwiesen, sondern auch als »too big to func
werden sich Banken und Finanzdienstleister nicht von dem Ver
tion«. Sie waren nicht mehr in der Lage, die von ihnen eingegan
trauensschaden erholen, den sie angerichtet haben.
genen Risiken zu übersehen und in verantwortbaren Grenzen zu
Mehr Transparenz ist letztlich auch der einzige Schutz davor,
halten. Zugleich wurde durch mangelnden Wettbewerb offenbar
dass sich Blasen so lange aufblähen, bis ihr Platzen zur System
der Preisfindungsmechanismus eines funktionierenden Marktes
bedrohung wird. Die Aufgabe der Bewertung und damit letztlich
ausgehebelt. Er hätte Überbewertungen zumindest dieser Grö
der Entscheidung über die Vertretbarkeit von Risiken auf Dritte
ßenordnung verhindern müssen. Statt über eine Verstaatlichung
zu verlagern, insbesondere Ratingagenturen, hat nicht funk
weiterer privater Banken oder eine Konzentration staatlicher
tioniert. Deren Ratingnoten beruhten offenkundig nicht auf
Banken nachzudenken, müssen wir Dezentralität und Subsidia
ausreichenden Informationen. Die immer weiter zunehmende
rität auch im Finanzwesen stärken.
Spezialisierung und die Informationsrevolution haben im
Wenn wir die Krise bewältigen und die von Schumpeter um
Finanzsystem dazu geführt, dass Intuition und Urteilsfähigkeit
schriebenen Voraussetzungen unserer Sozialen Marktwirtschaft
vieler tausend Bankmitarbeiter ersetzt wurden durch mathe
erhalten wollen, brauchen wir außerdem wieder stärkere An
matische Risikomodelle und Risikobewertungen einer kleinen
reize für nachhaltiges Wirtschaften. In vielen börsennotierten
Zahl an Spezialisten. So hat sich in unsere eigentlich auf Dezen-
Unternehmen hat sich im Zuge der Entfesselung der Märkte und
13 8
139
der Verabsolutierung des Gewinnstrebens ein kurzfristiges, kurzsichtiges Denken durchgesetzt. In der Finanzindustrie etwa entfallen die meisten Bonuszahlungen auf Transaktionen, deren Profitabilität heute nur vermutet werden kann. Ebendeshalb gibt es für viele Papiere, die vor einem Jahr noch einen funktio nierenden Markt hatten, aktuell keine Käufer. Sie hängen, auf der Basis komplexer mathematischer Verknüpfungen, von der Entwicklung bestimmter Faktoren ab - etwa vom Preis be stimmter Rohstoffe oder der Entwicklung der Nachfrage für be stimmte Produkte. Wenn aber die Grundlage dieser Papiere schwankungsanfällig ist, spricht vieles dafür, auch die Anreize, die über den Mechanismus des Eigeninteresses wesentlich zum Verkauf der Papiere beitragen, an das Schwanken zu koppeln. Dann materialisiert sich die Provision für einen Verkauf nicht schlagartig, sondern über Zeit und in genau dem Maße, in dem sich Wertschöpfung einstellt. Dann führt der Mechanismus des Eigeninteresses zu einem Wettbewerb um wirklich nachhaltig wirtschaftliche Anlagen. Grundsätzliche Fragen stellen sich aber nicht nur in der Finanz industrie: Was hilft es einem Unternehmen, wenn es bestimmte Steigerungsraten erreicht, dabei aber die Eigenkapitalbasis aus gelaugt wird? Rechtfertigt ein höherer Marktanteil Vertriebs methoden, die zu scharfen Konflikten mit Wettbewerbern, Mit arbeitem und Kunden führen? War der Nutzen, den bestimmte Unternehmen aus der Überwachung der Aktivitäten von Mit arbeitern gezogen haben, wirklich größer als der Verlust an Mit arbeitermotivation, Kundenbindung und öffentlichem Ver trauen? Auch die Geschichte zweier Familienuntemehmen, die mit Hilfe des Kapitalmarkts zwei weit größere Unternehmen schlucken wollten, führt hoffentlich zu einem Umdenken und zu nachhaltigeren Anreizstrukturen in den Unternehmen. Ob das gelingt, wird in vielem davon abhängen, wer die Lasten für die Bewältigung der aktuellen Krise trägt. Hier sind in erster Li nie Finanzdienstleister und Anleger gefragt. 140
Offenkundig haben wir auch einen Punkt erreicht, wo es ohne den Staat nicht mehr geht. Das darf aber nicht gleichbedeutend sein damit, dass die Steuerzahler auch für alle Kosten notwen diger Rettungsmaßnahmen aufkommen. So würde nicht nur gegen ein elementares Gerechtigkeitsprinzip verstoßen; zugleich würde ein Anreizsystem dafür geschaffen, so weiterzumachen wie bisher. Deshalb habe ich mich innerhalb der Bundesregie rung dafür eingesetzt, bei allen Stabilisierungsmaßnahmen zwei elementare Prinzipien unserer Sozialen Marktwirtschaft einzu halten: Subsidiarität in der Aufarbeitung durch den Grundsatz der Freiwilligkeit und Rückbindung des Ergebnisses der Aufar beitung an das Kapital derjenigen Unternehmen, die nicht ohne Hilfe des Staates stabilisiert werden können. Jede andere Lösung würde aus meiner Sicht zwei Grundprinzipien unserer freiheit lichen Ordnung gefährden: die Allgemeinverbindlichkeit und die allgemeine Akzeptanzfähigkeit der Regeln in Staat, Wirt schaft und Gesellschaft. Schon die Philosophen der Antike sahen darin den Schlüssel zu einem intakten Gemeinwesen. In der Geschichte unseres Landes war es genau dieses Einverständnis, das die unglaubliche AuE bauleistung nach der totalen Niederlage und moralischen Zer störung des Zweiten Weltkriegs möglich gemacht hat. Wir dür fen nicht zulassen, dass diese Krise die Akzeptanz des Rechts und das Bejahen unserer freiheitlichen Ordnung untergräbt. Wir müssen aufpassen, dass wir auf sie auch nicht überreagieren und in ein anderes Extrem verfallen. Noch schlimmer für das Vertrauen der Menschen in unsere Ordnung wäre es nämlich, wenn der Staat durch überschuldung seine Handlungsfähigkeit einbüßen würde. Nur wenn der Staat leistungsfähig bleibt, kann er auch erfüllbaren Erwartungen gerecht werden. Dazu muss er sich auf Notwendiges beschränken. Die Entfesselung der Märkte hat auch dazu geführt, dass viele dachten, erst das Maximum sei genug. Wer vom rechten Maß, von Mitte und Balance sprach, galt bestenfalls als gestrig. Jetzt, 141
wo die gewaltigen Risiken des Hinterherjagens nach Extremen seien es Renditen, Steigerungsraten oder Lohnzuwächse - deut lich geworden sind, gibt es vielleicht die Chance auf einen neuen wirtschafts- und sozialpolitischen Konsens. Voraussetzung da für ist, dass neues Vertrauen entsteht. Hier sind besonders all jene gefordert, die in unserer Gesellschaft eine herausgehobene Position innehaben. Aufgabe beruflicher Eliten ist es immer auch, ein Berufsethos zu entwickeln, das ihr eigenes Handeln mit allen seinen Konsequenzen in Beziehung zur Gesellschaft setzt. Vielleicht hat man bei der Deregulierung versäumt, den von die sem Freiheitsgewinn besonders profitierenden Eliten die Not wendigkeit eines Ethos zu verdeutlichen. Ohne Ethos gehen nicht nur verantwortlichem Handeln zugrundeliegende Prin zipien verloren, sondern auch der Eigenwert eines Berufsstandes in einer freiheitlichen Gesellschaft. Ohne verantwortliche Be rufsstände gerät die Berufswelt zum Einerlei; die von ihnen er brachten Dienstleistungen werden verwechselbar und beliebig ersetzbar. Weil Diversifizierung Nachhaltigkeit sichert, sollten wir ord nungspolitisch nicht alles über einen Leisten schlagen. Markt und Wettbewerb sind die Voraussetzung für wirtschaftliche Ef fizienz. Eine Ordnung, die Vielfalt gewährleistet, stabilisiert die sen Rahmen. Deswegen sollten wir weder unter dem Stichwort »Deregulierung« jede berufsrechtliche Ordnung bei freien Beru fen wie dem Handwerk abschaffen noch unter überzogenen Renditeerwartungen die Gliederung unseres Bankensystems grundsätzlich in Frage stellen. Auch eine Rückbesinnung auf die Raison d'etre des Finanz wesens ist im ureigensten Interesse der Finanzindustrie selbst. Nicht das Leitbild des Bankers, sondern des Bankiers sollte wie der Vorbild sein. Wenn wir die von Schumpeter umschriebenen Voraussetzungen unserer Ordnung schützen wollen, brauchen wir eine neue Kultur der Mäßigung und Verantwortung. Ohne 142
Grenzen und ohne die freiwillige Einhaltung von Grenzen kommt keine freiheitliche Ordnung aus. Die wirksamste Vorkehrung gegen Schumpeters »Zersetzung« der Voraussetzungen unserer Ordnung sind letztlich nicht Ge setze und Vorschriften, sondern Werte, die wir in Familie und Gesellschaft glaubhaft leben und vermitteln müssen. Dieter Thomä spricht von »uralten, ewig jungen, Tag für Tag sich be währen sollenden Vorstellungen vom guten Leben«. Für mich als Christdemokraten sind es die Orientierung an Maß und Mitte, die Vermeidung von Übertreibungen und die Besinnung auf das bonum commune unserer Republik, den Einklang von Freiheit und Verantwortung.
Und wenn jetzt noch eine Krise käme ? von WOLFGANG STREECK
Wie wird Politik im Kapitalismus aussehen, wenn die Krise vor bei sein wird und die Banken und Automobilfabriken wieder privatisiert sein werden? Diejenigen Politiker, die etwas zu sagen haben, mussten in den Monaten seit dem Zusammenbruch des Finanzsystems in Abgründe blicken, von denen sie nie gedacht hätten, dass es sie geben könnte. Die Erfahrungen dieser Zeit immer neue Hiobsbotschaften, atemlose Hetze von Konferenz zu Konferenz, geheime Verhandlungen mit härtestgesottenen Hilfeerpressern, vertrauliche Briefings durch Beamte mit tief er schrockenen Augen, Pressetermine zum Heucheln von Zuver sicht - werden sie nicht vergessen. Groß geworden ist die heutige Politikergeneration in einer Epoche fast vollkommener Hegemonie des Kapitals und des Marktes. Zwei Jahrzehnte lang hat sie hören müssen, dass Wirt schaft, Politik und Gesellschaft am besten gedeihen, wenn Märkte und Unternehmen in Ruhe gelassen werden; dass die Politik für die Wirtschaft nicht die Lösung ist, sondern das Pro blem; dass es zu freien Märkten keine Alternative gibt. Die meis ten haben das am Ende geglaubt und waren ganz froh darüber, für die Wirtschaft nicht mehr verantwortlich sein zu müssen. Während sie sich durch ihre Parteien nach oben arbeiteten, stiegen die Gehälter der Unternehmensvorstände ins Unabseh bare; zugleich nahm das Ansehen von Politik und Politikern immer weiter ab. Manche suchten Zuflucht in eifriger Identifikation mit dem Ag gressor: Wenn sie von Henkel und Konsorten als inkompetent gegeißelt wurden, hielten sie beeindruckt den Mund. Als dann die ersten Landesbanken unter der Last ihrer »toxischen Pa144
piere<< zusammenbrachen, widersprachen sie nicht, wenn ver breitet wurde, dass dort eben keine richtigen Banker, sondern nur öffentlich-rechtliche Stümper.am Werk gewesen seien. Dann kam Hypo Real Estate und mit ihr mit kaltschnäuziger Selbstverständlichkeit der Ruf nach Rettung des Kapitalismus durch die Politik. Politiker, deutsche zumal, sind es gewohnt, sich wortreich zerknirscht zu entschuldigen, wenn etwas schief gegangen ist. Aber bis heute haben sie aus den Banken außer ul timativen Forderungen nach öffentlicher Unterstützung nichts gehört als dröhnendes Schweigen. Wie konnte sich in den Unternehmen des Finanzsektors, geführt von the best and the brightest, auf einmal so viel Schrott anhäufen? Was ist da pas siert? Die Eliten der Wirtschaft, so heißt es in den kleinen Kreisen, in denen geredet werden darf, lassen uns allein im Regen stehen: Sie drücken sich. Sie überlassen es der Politik, Erklärungen zu erfin den - wenn sie nicht gerade versuchen, ihr die Schuld zuzuschie ben: Schließlich hätten die Staaten versäumt, die Märkte richtig zu regulieren. So etwas kann nicht ohne Folgen bleiben. Selbst wenn am Ende doch noch alles gutgeht - keine »verlorene Dekade« wie in den 1990er Jahren in Japan, keine »verlorene Generation« wie in den dreißiger Jahren in Amerika und darüber hinaus -, mit dem Ver trauen der Politik in den Kapitalismus wird es auflange Zeit vor bei sein. Die Angst, dass sich so etwas wiederholen könnte, sitzt tief und wird lange bleiben. Liberale Rhetorik wird bei denen, die sich nach zwei Jahrzehnten rapider Liberalisierung zur Ret tung und Rechtfertigung des Kapitalismus in Anspruch genom men sehen, nicht mehr verschlagen. Dass die Wirtschaft mehr von Wirtschaft und Politik versteht als die Politik, werden sie nie wieder glauben. Schon gar nicht werden sie noch einmal bereit sein, sich selbst für dümmer zu halten als die Großverdiener in den Vorständen von Daimler oder General Motors. Auch die Zunft der Ökonomen hat unter dem neuen Misstrauen 145
zu leiden. Die Unterscheidung zwischen Risiko und Ungewiss heit - das eine kann man berechnen, die andere nicht - wird in das Alltagsverständnis eingehen. Politiker, die ihr Handwerk verstehen, haben intuitiv schon immer gewusst, dass man die Zukunft genau dann am wenigsten kennen kann, wenn man sie am dringendsten kennen müsste. Sie werden sich von nun an weniger denn je von den Prognosemaschinen der Wirtschafts forschungsinstitute beeindrucken lassen. Der gewaltige und teure mathematische Apparat der neoklassischen Wirtschafts theorie hat die Krise nicht vorhergesehen und hätte sie auch nicht vorhersehen können; noch Ende 2008, als die führenden Politiker das Ungeheuer längst im Anmarsch sahen, war aus den Instituten nur Gutes zu hören. Wohl auch, weil man sich scheute, den mühsam aus der Theorie vertriebenen Interventionsstaat mit neuer Legitimation zu ver sorgen. John Maynard Keynes' abfällige Beschreibung (1937) der ökonomischen Standardtheorie seiner Zeit als Sammlung von »hübschen, netten Techniken« zur Vorhersage einer unvorher sagbaren Zukunft, »erfunden für holzgetäfelte Vorstandszim mer und einen friedlich regulierten Markt«, entsprach schon immer dem Common Sense der practical men in den Minister büros; nach dem Desaster von 2008 werden sie das auch öffent lich erkennen lassen. Zu Hilfe gerufen zu werden sollte eigentlich dem Selbstbewusst sein zuträglich sein. Aber so einfach ist das hier nicht. Die politi sche Klasse hat seit der Verkündung der Agenda 2010 im März 2003 der Bevölkerung unter hohem Risiko für sich selbst viel zu gemutet: ein verkürztes Arbeitslosengeld, reduzierte Sozialleis tungen aller Art, eine verlängerte Lebensarbeitszeit und eine zu mindest ernsthaft versuchte Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und Sozialkassen. Die hierfür entwickelte und über Jahre eingeübte Rhetorik der Nachhaltigkeit und der Solidarität mit künftigen Generationen musste 2009 in kürzester Zeit ent sorgt werden.
Dies gelang auf durchaus erstaunliche Weise: Niemand erinnert sich mehr an sein Gerede der letzten Jahre und wird daran auch vom politischen Gegner nicht erinnert. Dabei hilft das Wahljahr, in dem selbst die Opposition keine Haushaltsgrenzen mehr kennt, sondern nur noch Wähler. Mit einem Mal kann wieder verantwortet werden, was noch vor kurzem als Gipfel der Ver antwortungslosigkeit gegolten hätte: ein Defizit von 90 Milliar den, einschließlich Autoprämie für fünf Milliarden. So etwas wie Erleichterung ist zu erkennen: Endlich darf man wieder ja sagen, Politik darf wieder Spaß machen, Regieren wird leichter, das Lustprinzip ist zurück. Allerdings nur auf sehr kurze Zeit. Alle, die denken können, wis sen, dass alles, was jetzt ausgeteilt wird, wieder eingesammelt werden muss - und zum großen Teil von Leuten, die nichts oder vergleichsweise fast nichts bekommen haben. Die Politik, die ihr Geschwätz von gestern vergaß, hat sich nicht nur nicht aus eige nem Antrieb zum Narren gemacht, sondern sie wird es ein wei teres Mal tun müssen. Die Sanierung wird von vorn zu beginnen haben, auf einem höheren Schuldenstand denn je und mit struk turellen Defiziten, die alles Bisherige in den Schatten stellen. Diejenigen, die weiter nach vorne blicken, malen sich schon heute die Herkulestaten aus, die sie nach der Krise werden voll bringen müssen, nicht zuletzt auf besonderen Wunsch der wie der sicher im Sattel sitzenden Wirtschaftsklasse: Steuern erhö hen, wo Steuersenkungen versprochen wurden; Sozialbeiträge heraufsetzen, die man gerade mühsam gesenkt hatte; Frühver rentungen abschaffen, nachdem man sie soeben wieder einge führt hat - und so weiter. Dann aber wird die Rhetorik der Agenda-Jahre, desavouiert durch die Rhetorik und Praxis der Krisenbewältigung, un brauchbar geworden sein. Aufrufe an den kleinen Mann und die kleine Frau, beim Sparen mitzuhelfen und Opfer zu bringen, werden hohl klingen angesichts der ungeheuren Summen, die der Staat in den Tresoren von verlotterten Organisationen wie 147
der Hypo Real Estate zu versenken bereit war: Ein neues Pro gramm zur Frühverrentung von Langzeitarbeitslosen kostet im Vergleich dazu so gut wie gar nichts. Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen. Die heute amtierende Politikergenera tion könnte sich bei der Rettung ihrer Verächter in den Vor standsbüros der Banken verbraucht haben; die nächste Rolle rückwärts, zu einer Konsolidierungsanstrengung, wird sie viel leicht schon ihren Nachfolgern überlassen müssen. Auch wenn irgendwann Banken wieder 25 Prozent auf ihr Kapi tal verdienen sollten: Die Wunden, die sich der Staat auf dem Feld der Krisenbewältigung gegenwärtig zuzieht, werden lange nicht verheilen. Dass er den Kapitalismus noch einmal vor sich selbst retten könnte, erscheint auf absehbare Zeit undenkbar. Der schlimmste Alptraum, den ein Politiker heute träumen kann - und den man ihm dringend anraten sollte zu träumen -, wäre eine neue Krise in den nächsten fünf oder zehn Jahren; der zweit schwerste, dass die Krise von heute 2010 überdauern könnte. Allzu viele Kugeln sind nicht mehr im Magazin. Die Rettung muss gelingen, sie muss bald gelungen sein, und sie wird lange nicht wiederholbar sein. Auch deshalb wird sich die Politik nie wieder dazu verstehen können und dürfen, der Wirtschafts klasse bei der Vermehrung des Kapitals freie Hand zu lassen. Wo Vertrauen verbraucht ist, muss Kontrolle an seine Stelle treten. Ob und wie sie funktionieren kann, weiß niemand.
Seelen im Sonderangebot von VJ KTOR
JEROFEJEW
Mit dem Kapitalismus stehe ich auf Kriegsfuß. In diesem Punkt bin ich meinem Volk nahe. Zwar bestätige ich gern die Vorteile des kapitalistischen Produktionssystems gegenüber dem Modell des sowjetischen Sozialismus, als dessen Opfer ich mich viele Jahre lang permanent gefühlt habe. Ich bin auch froh über das kapitalistische Paradies in den Moskauer Geschäften, ich schätze die Renaissance der russischen Küche in den Restaurants, und die aufdringliche Werbung überall nervt mich nicht besonders. Aber meine Seele, die werde ich dem Kapitalismus nicht verkau fen. · Der Kapitalismus hatte in Russland immer schon schlechte Karten. Für ihn bestand hier zu keiner Zeit eine moralische oder psychologische Grundlage. Die klassische russische Literatur feuerte ganze Breitseiten von Verachtung und Wut auf den Ka pitalismus ab - und dies bereits seit seiner Entstehung. Einen be sonderen Schlag gegen den Kapitalismus führte Nikolai Gogol schon um 1840 mit seinem Roman »Die toten Seelen«. Am Bei spiel eines findigen Unternehmers, der Gutsbesitzern Listen ver storbener leibeigener Bauern abkauft, brandmarkte der Schrift steller auf Jahrzehnte hinaus die Idee des Unternehmertums. Auf ihn folgten Dostojewskij, Tolstoi, Tschechow und später Gorki, der in der Verbannung auf Capri den revolutionären, antikapi talistischen Roman »Die Mutter« schrieb, sodann Worte in Taten umsetzte und mit seinen Honoraren Lenins Kommunistische Partei unterstützte. Die russische Intelligenzija, weit entfernt von der protestantischen Ethik und dem europäischen Egoismus des aufgeklärten Individuums, applaudierte den Schriftstellern bis hin zur Revolution. Als sie sich dann im Sozialismus wiederfand 1 49
und plötzlich eines anderen besann, war es zu spät: Übrig blieben heimliche Erinnerungen an das süße Leben unter dem Zaren. Die ersten Erlasse Gorbatschows über die Rückkehr zum Privat eigentum wurden von der Intelligenzija mit großem Enthusias mus begrüßt. Doch als man in Vorbereitung auf die Markt wirtschaft mit der Schocktherapie begann, war die anfängliche Begeisterung beinahe augenblicklich verflogen. Überrumpelt von den liberalen Reformen, die mit einer unglaublichen Ar roganz und Wurstigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Men schen durchgeführt wurden, begann die russische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit sich nach Breschnews Sozialismus der Stagnation zurückzusehnen - und diese Nostalgie hält bis heute an. Die Situation ist verfahren: Die Gesellschaft kann nicht vor und nicht zurück. Zum wirtschaftlich aussichtslosen kommu nistischen System zurückzukehren wäre für unser Land heute nicht nur sinnlos, sondern tödlich; es würde eine solche Rück kehr nicht überleben. Aber eine positive Entwicklung des Kapi talismus ist in Russland angesichts des bestehenden moralischen Widerstands gegen seine Normen ebenso aussichtslos. Warum mögen die Russen den Kapitalismus nicht? Historisch erklärt sich das aus einer religiös begründeten Volksmoral, die den Einzelnen dem gemeinschaftlichen Ganzen unterordnet, das Leben auf der Erde als sündhaft und von teuflischen Mäch ten gelenkt begreift. Demut sowie Verweigerung jeglicher Er folgsorientiertheit und Privatinitiative stellen das Herzstück der traditionellen russischen Weltanschauung dar. Darauf beruhte in vielerlei Hinsicht jene Form des östlichen Despotismus, die jahrhundertelang als Muster für die unumschränkte Herrschaft der Zaren diente, im Stalinismus vertieft wurde und neuerdings als nützliches Ideal hier und da wiederauftaucht In der Jelzin-Periode der neunziger Jahre erhielt das notgedrun gen wiederbelebte Modell des Kapitalismus - der Gorbatschow Sozialismus mit menschlichem Gesicht hatte sich als Totgeburt erwiesen - eine stark ausgeprägte kriminelle Färbung. Es ent150
stand die Spezies der >>Neuen Russen«. Ihre Markenzeichen: himbeerfarbenes Jackett und dicke Goldkette um den Hals. Die reinsten Horrorgestalten, schrecklich und lächerlich zugleich. Ihr Anblick bot den Russen, die ihre Ersparnisse verloren hatten und sich im totalen wirtschaftlichen Chaos wiederfanden, wei tere Gründe, den Kapitalismus zu hassen. Jelzin, offenbar er schrocken über die Ausmaße des Banditenkapitalismus, fand eine Alternative: Er unterstellte die Entwicklung des Kapitalis mus der einzigen Institution, die ihre Struktur bewahrt hatte den Geheimdiensten. Nach schwerem Kampf beseitigten diese die himbeerfarbenen Jacketts und rekrutierten aus eigenem Umfeld den zukünftigen Präsidenten. Die wahre Rolle Putins, der ungehorsamen Oligarchen einen Maulkorb umhängte, wird in der Zukunft Gegenstand zalli reicher Diskussionen sein. Erlöser oder Bestrafer? Nach dem Vorbild des russischen traditionellen Konservatismus hat er Russland ein bisschen angefroren, damit es nicht endgültig aus einanderfällt, wobei er gleichzeitig Russlands demokratische, dem Volk keineswegs am Herzen liegende Perspektive opferte und nach und nach drei Begriffe verknüpfte: Staat - Kirche Kapitalismus. Aus historischer Sicht war daher Putin; trotz Wiedereinführung der sowjetischen Hymne, als Totengräber des russischen Kom munismus weitaus radikaler als Jelzin. Er verteidigte sehr prag matisch die Zukunft des russischen Kapitalismus. Dass der Ka pitalismus in den Händen des Staates seinen Unternehmergeist und die für seine Entwicklung notwendige Unabhängigkeit ein gebüßt hat und durch den Prozess gegen Chodorkowskij, den ersten kapitalistischen Märtyrer jener Zeit in Russland, erschüt tert ist, das steht auf einem anderen Blatt. Zugleich jedoch hat der Kapitalismus die in den neunziger Jahren geschmiedete Alli anz der sogenannten »Silowiki«, also der Vertreter von Geheim diensten und Armee, brutal zerschlagen, allein schon dadurch, dass er sie selbst zu Kapitalisten gemacht hat. 15 1
An die Lebensfähigkeit des russischen Kapitalismus zu glauben ist bis heute schwierig. Die propagierte Abgrenzung Russlands vom Westen und die Konflikte mit ehemaligen Sowjetrepubliken versetzen unseren Kapitalismus in eine missliche Lage - er ist nicht daran gewöhnt, isoliert zu existieren, er braucht stabile Absatzmärkte. Andererseits wird die auch in Russland angekom mene Finanzkrise bei uns als das Böse aus dem Westen darge stellt. Russland hat die Bedeutung der globalen Krise noch nicht ganz begriffen: Das vergnügungssüchtige Moskau gibt sich nach wie vor ungestört von der Krise und amüsiert sich in Nachtdubs; die ferne Provinz war auch schon vor der Krise arm. Doch die veralteten Industrieanlagen aus Sowjetzeiten, die Angst vor Hyperinflation und Arbeitslosigkeit, die Rückständigkeit der Wirtschaft insgesamt, all das dringt allmählich ins Bewusst sem. Einerseits blüht der Nationalismus - die Ideologie der Ernied rigten und Beleidigten - bis hin zu seinen radikalsten Formen. Wer die deutsche Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg kennt, dem ist das alles schmerzhaft bekannt. Die Angst vor möglichen orangefarbeneu Revolutionen in Russland selbst, der Glaube, dass sie ein Produkt amerikanischer Konspiration seien, und der Wunsch, von den konservativen Orthodoxen ideelle Unterstüt zung zu erhalten, führen dazu, dass die Staatsmacht die dema gogischen Parolen der Nationalisten duldet und auf einer be stimmten mittleren Ebene innerhalb der Rechtsschutzorgane sogar mit ihnen zusammengeht. Allerdings stellen die Nationa listen eine breite, zersplitterte Bewegung dar. Die einen schwö ren auf Stalin, die anderen auf das Volk, die Dritten auf das hei lige alte Russland, die Vierten auf Hitler, die Fünften hassen den Kreml. Klar, dass der Kapitalismus unter den Nationalisten keine Oberlebenschance hat. Kehren wir zurück zur russischen Intelligenzija. Zwischen Sozi alismus und Kapitalismus bewahrt sie eine distanzierte Neutra lität, aber ihre Meinung interessiert ohnehin kaum jemanden; 152
sie ist verloren und verwirrt, sie spürt ihre historische Rolle nicht. Außerdem hat die gesamte aufgeklärte russische Gesell schaft - besagte Intelligenzija, die Mittelschicht, Studenten, ein Teil der reichen Unternehmer - mit Einsetzen der Krise begon nen, über die ewigen Fragen des Seins nachzudenken. Wieder in Mode kommen die legendären Küchengespräche, Karama sow'sche Diskussionen, Gespräche über den Sinn des Lebens. Es scheint, als trete gerade in diesen Gesprächen die Besonderheit der Russen hervor: die ewige Suche nach dem Sinn des Lebens. Sie suchen ihr ganzes Leben nach dem Sinn des Lebens und ster ben schließlich, ohne ihn gefunden zu haben, ihre Kinder über nehmen den Staffelstab, danach die Enkel. In den elitären Kreisen Moskaus überlässt die Philosophie des Glamours zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihren Platz den wie derauflebenden geistigen Werten. Übrigens sind die mir be kannten reichen Moskauer Unternehmer nicht der Meinung, dass Kapitalismus und geistige Werte unvereinbare Dinge seien. Überhaupt ist der schwarzweiße Blick auf Russland in diesen Kreisen nicht in Mode. Es überwiegt hier der graue Blick - ein Gefühlsgemisch aus Optimismus und Pessimismus. Das heißt: Mit der Emigration hat man es nicht eilig. Das heißt: Mit dem arbeitenden Volk kann man sich einigen, man muss nur den richtigen Zugang zu ihm finden. Das heißt: Russland ist nicht für immer eingefroren, nach einer gewissen Zeit wird es aus dem konservativen Lager herausfinden und sich wieder der zivilisier ten Welt zuwenden, obwohl es möglicherweise in seinen Aus maßen schrumpfen wird. Zum Kapitalismus gibt es keine Alter native, davon sind die Anhänger der Modernisierung Russlands überzeugt. Mit dem Prozess der Modernisierung steht es indessen nicht zum Besten. Die Geschichte des Kapitalismus im heutigen Russland habe ich in Miniaturformat in meinem Treppenaufgang studieren kön nen. Mein Haus steht in einem zentralen Moskauer Stadtviertel, 153
in einer stillen Gasse, einen Katzensprung von der Moskwa ent fernt. Irgendwann einmal, vor der Revolution, wohnten in die sem sechsstöckigen Haus Ärzte aus einem nahe gelegenen gro ßen Krankenhaus - offenbar keine armen Leute, die auch zu Hause Patienten empfingen. Die Revolution fegte all diese Ärzte hinweg; ihre Wohnungen verwandelten sich in »Kommunalki«, in denen vier und mehr Familien zusammengepfercht hausten. Vor etwa fünfzehn Jahren begann die betuchte Mittelschicht da mit, die Moskauer Kommunalki aufzulösen - man kaufte sepa rate kleine Wohnungen an der Peripherie und machte den Fami lien so den Auszug schmackhaft. Man selbst wollte in schönen, vorrevolutionären Wohnungen wohnen. Aber nicht alle Kommunalki in einem Haus wurden aufgelöst; in meinem Treppenaufgang zum Beispiel blieb eine Kommunalka bestehen. Darin lebten zwei Brüder um die dreißig, die beschlos sen, den kapitalistischen Weg einzuschlagen. Sie machten einen Trinkwassergroßhandel auf. Dieses Geschäft warf allem An schein nach Gewinn ab. Alle Stockwerke in unserem Aufgang waren mit Zehnliterplastikflaschen zugestellt, denn die beiden Jungunternehmer hatten keine Lagerräume. Die Brüder ver änderten sich: Sie trugen nur noch modische Kleidung und Schuhe, alles sehr schick und italienisch. Doch dann ging die russische Seele mit ihnen durch: Sie schwammen in Geld und begannen zu trinken - kein Wasser, versteht sich. Sie tranken und tranken, und einer der Brüder trank so viel, dass er starb. Der andere Bruder veranstaltete einen pompösen Leichen schmaus in der Kommunalka. Dabei - sein Bruder war eben erst unter die Erde gebracht - betrank er sich dermaßen, dass er ins Badezimmer verschwand und ebenfalls starb. In unserem Auf gang war es vorbei mit dem Trinkwasser-Kapitalismus. Weit und breit keine Plastikflaschen mehr. Der Kapitalismus steht still. Und was weiter wird, weiß niemand.
Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch
Die Abschaffung der Kindheit. Ein fiktives Gespräch über eine reale Bedrohung mit Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Johannes Haarer, Leiter des Maturitas-Instituts in Berlin-Dahlem von ANNA
KATHARINA HAHN
Herr Professor Haarer, Ihre Arbeiten haben das Gesicht der Welt verändert - mehr als jede andere Entdeckung der Wissenschafts geschichte. Können Sie uns den Moment schildern, an dem Sie feststellten, dass Sie eine weichenstellende Entdeckung gemacht hatten? Nun, am 28. Dezember 2077 fielen die Ereignisse zusammen, so zusagen zwei Blitze, die in dasselbe Haus einschlugen. Im Insti tut hatten wir enorme Fortschritte bei der Weiterentwicklung des Mutabor-Effekts gemacht, die Anwendung an Mäusen, Spitzhörnchen und Rotgesichtmakaken war erfolgreich verlau fen, und er funktionierte auch - die Feuerprobe - bei Schimpan sen. (Anm. der Red.: 2077 entdeckte Haarer den Mutabor-Effekt und erhielt dafür den Nobelpreis für Medizin in den Jahren 2079, 2080 und 2082.) Nach nur 125 Tagen, der Hälfte der natürlichen Tragzeit, entstieg ein körperlich und kognitiv voll entwickeltes Schimpansenmännchen dem Nährlösungsbad und interagierte sofort höchst befriedigend mit den anderen Mitgliedern unserer Dahlemer Horde. Zunächst knackte er ein paar Walnüsse. Als Werkzeug benutzte er dabei eine kleine Platobüste aus der Kaiserzeit; wir haben ein ganz bemerkenswertes Lapidarium in den Außenanlagen des Instituts. Dann kopulierte er mit einem Weibchen der unteren Rangstufe und legte sich später, als hätte er nie etwas anderes getan, mit unserem alten Remo, dem Hor denchef, an. Alles im Alter von drei Stunden. Ja, und in der Cha155
rite erwartete mich mein neugeborener Sohn. Nur geringfügig älter als der Affe. Ein rötlich angelaufenes Bündel mit qualligen, kaum menschlichen Zügen. Defäkierte und trank mit Mühe. Umklammerte meinen Zeigefinger. Schrie durchgehend. Nach dem Erlebnis im Institut schoss es mir durch den Kopf: Ist das ein Mensch? Muss ich das hier wickeln und herumtragen, meine Nächte und meine knappe Lebenszeit dafür opfern? Ist das des Schweißes der Edlen wert? An der Bettstatt dieser rülpsenden und sabbernden Made entwarf ich- unter Berücksichtigung des Mutabor-Effekts- ein Programm für die weltweite Abschaffung der unproduktivsten Phase unserer V ita: der Kindheit. Man darf nie vergessen: Die ersten Lebensjahre, dann die Pubertät - das alles sind Zeiten des absoluten Leerlaufs, hier wird nichts geleis tet, nichts erwirtschaftet. Zudem betreffen diese Phasen nicht allein das Baby, das Kleinkind und den Teenager, sondern auch einen beträchtlichen Anteil seines gesellschaftlichen Umfelds, der ebenfalls an der Produktivität gehindert wird. Unbestritten sind darüber hinaus die enormen psychischen und physischen Beschädigungen, die Kinder ihrer Umwelt zufügen. Das fängt beim Hörverlust der Erzieherinnen in der Krippe an und hört bei der Bindegewebsschwäche der Mutter auf.
Das Unbehagen an der Spezies Kind warja schon lange vorhanden, es schwelte sozusagen im Verborgenen. Ja, ganz richtig, das ist eine zutiefst menschliche Reaktion. Es war nur tabuisiert, darüber zu sprechen, geschweige denn zu for schen. In früheren Jahrhunderten hat man versucht, die Kind heit zu ignorieren, man ließ sie einfach nicht stattfinden. Das Mittelalter behandelte Kinder wie kleine Erwachsene. Wir wis sen heute, spätestens seit den Arbeiten von Murdstone und Spa lanzani, dass das sogenannte Kindchenschema ebenso ein Kon strukt darstellt wie die Elternliebe oder das Märchen von der Intelligenz des Säuglings. Niemand findet ein Neugeborenes niedlich, kein erwachsener Mensch kann Kindergeschrei, Kin-
derspielen, kindlichem Verhalten im Allgemeinen wirklich etwas abgewinnen. Dank der Entdeckung des Mutabor-Effekts haben wir nun die Möglichkeit, das Phänomen Kind ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Dabei retten wir gleichzeitig unzählige Leben: In der westlichen Welt werden die nutzlosen Würmchen nicht mehr in Mülltonnen und Tiefkühltruhen versenkt, und in den Schwellenländern verhindern wir die abstoßende Ausbeu tung ohnehin nicht sehr rentabler Arbeitskräfte in Sweatshops und ähnlichen Einrichtungen.
Wie erklären Sie sich, dass Ihre zugegebenermaßen radikalen The sen international aufso große Zustimmung stoßen? Schauen wir ein paar Jahrzehnte zurück. Am Anfang des dritten Jahrtausends setzte ein schwerwiegender Bewusstseinswandel ein. Die Menschheit stand vor existenzbedrohenden Fragen: der Klimawandel, eine Spirale von Wirtschaftskrisen, verschiedene Pandemien. Da war eine BündeJung aller Kräfte unabdingbar. Niemand konnte sich leisten, seine Zeit mit Kindereien - im wahrsten Sinne des Wortes - zu vergeuden. In Zeiten höchster wirtschaftlicher Produktivität ist kein Platz für Kinder. Sie zeh ren Kräfte auf, die anderweitig gebraucht werden. Hungergurt hat schon 2030 nachgewiesen, dass ein Kind in seinem Umfeld die Arbeitskraft von mehr als zehn Personen bindet. überlegen Sie einmal, wie viel Wirtschaftsleistung und Expertenwissen Ende der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Sphäre der Kindheit und Jugend verklammert waren: die Heer scharen von Pädagogen, Lehrern, Sozialarbeitern, Psychologen und Medizinern, Therapeuten und Dienstleistern - lauter ver kümmerte Talente! Perlen im Sautrog! Und es hat sich im Laufe der ersten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts sehr deutlich gezeigt, dass Kinder in der Tat nicht mehr erwünscht waren. Die Geburtenrate sank trotz eminenter staatlicher Förde rung, vorhandene Kinder wurden weitgehend aus dem Eltern haus ausgelagert. Kinderaufzucht wurde von der Gesellschaft 157
gänzlich negativ bewertet: Nicht nur die völlig aus dem Ruder gelaufene Unterschicht produzierte sozialen Abfall, der für den Arbeitsmarkt in keiner Weise tauglich war. Auch die Mittel- und Oberschichten waren nicht mehr in der Lage, einen für die Be dürfnisse des Marktes geeigneten Nachwuchs hervorzubringen. Ritalinverseuchte Tyrannen überall, es war kein Wunder, dass die Menschen begannen, sich zu wehren. Man kann schlicht fest stellen: Um 2010 war die Zeit des Kindes abgelaufen. Seit es dank der Impfstoffe gegen Alzheimer und Osteoporose keine gehrech liehen Senioren mehr gibt, können auch unsere älteren Mitbür ger noch lange Zeit produktiv sein. Hochbetagte stellen immer hin mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung, und das bei Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent!
Was sind für Sie persönlich die größten Vorteile einer kinderfreien Welt? Neben dem zweifellos beruhigenden Effekt der Wachstums sicherheit spielt für mich persönlich die ästhetische Seite eine große Rolle: Es ist sehr angenehm, wenn Parkanlagen, Museen, Schwimmbäder und öffentliche Verkehrsmittel frei von randa lierenden Schulklassen und kreischenden Säuglingen sind. Das Verschwinden der Kinder und ihrer Insignien aus dem Alltag unserer Städte hat diese aufblühen lassen: Sie sind frei von grin senden Bären, Softeisständen und den monströsen Ikonen des Kinderfernsehens.
Nichtsdestotrotz haben frühere Generationen ihre Kinder aufrich tig geliebt. Und dabei einen bunten Strauß von Neurosen produziert! Der prozentuale Anteil an geistig Gesunden bei den nach dem Muta bor-Effekt gezeugten Menschen beträgt mehr als fünfundneun zig Prozent. Das Durchlaufen einer >>normalen« Kindheit und Jugend Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts bringt es nur auf fünfundsechzig Prozent! Im Reagenzglas werden keine
Neurosen genährt! Sehen Sie sich die hervorragende Studie von Busner, Harley, Hurst und Sikorski an. Was meinen Sie, wie sich das auf die Wirtschaftsleistung eines Landes auswirkt!
Es gibt immer noch eine Protestbewegung gegen das inzwischen weltweit akzeptierte Verfahren der Mutabor-Methode und das da durch ausgelöste Verschwinden der Spezies Kind. In Quickborn Heide in Schleswig-Holstein und in Kattenhorn am Bodensee exis tieren noch Menschen, die auf alte Art Kinder zeugen, gebären und erziehen. Nun, das sind Fanatiker. Mein Großvater nannte solche Leute Modernisierungsverlierer. Er meinte damit Menschen, die sich weigerten, Handys zu benutzen, und die papierne Bücher und Tageszeitungen lasen. Und Sie müssen bedenken, dass diese Ab trünnigen sich gesellschaftlichen Sanktionen aller Art aussetzen - sie erhalten keinerlei staatliche Unterstützung und sind vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist nach China das erste Land, das die Kindheit offiziell abgeschafft hat. Ja, die Chinesen, wie immer zwei Schritte voraus! Doch ins besondere afrikanische Länder, der arabische Raum und auch Teile Skandinaviens tun sich noch schwer mit dem deutschen Weg. Es gibt dort tiefverwurzelte Vorstellungen vom Kind als et was Heiligem. Aber aufgrund der drängenden ökologischen und ökonomischen Probleme wird sich auch in diesen Teilen der Erde unsere Lösung durchsetzen. Denn die Menschheit will überleben.
Retter, die alles noch schlimmer machen von WILHELM
HANKEL
Die gegenwärtige Finanzkrise fällt aus jedem Rahmen des Erleb ten. Sie ist nicht nur schwerer als die letzte, die vor achtzig Jahren begann, sondern auch anders. Denn sie geht nicht von maroden Firmen aus, die ihre Financiers in den Abgrund reißen, sondern von den Financiers selbst. Spitzeninstitute der Weltfinanz haben sie ausgelöst und übertragen sie nun auf Unternehmen, denen ihre Kreditabhängigkeit zum Verhängnis wird. Vor achtzig Jah ren hatte der Zusammenbruch des Kreuger-Konzerns, der das Welt-Zündholzmonopol anstrebte, eine weltweite Kettenreak tion von Bankinsolvenzen ausgelöst. Diesmal zwingt die Angst vor dem Zusammenbruch der organisierten Kreditversorgung den Staat dazu, eine Krise zu bekämpfen, die nicht er verschuldet hat, sondern jene, die immer vor der Politik gewarnt haben, die sie heute ultimativ verlangen: die Wirtschaft mit Geld zu über schwemmen, die Grenzen des Staatskredits zu überschreiten und die öffentliche Hand zum Großaktionär der Volkswirtschaft zu machen. Überdies schwelt parallel zur Finanzkrise eine Währungskrise, genauer eine der westlichen Leitwährung, des US-Dollars. Er befindet sich seit mehr als drei Jahrzehnten auf Talfahrt, was aber - seltsam genug - seine weltweite Verbreitung und Dominanz kaum gemindert hat. Erst seit dem gescheiterten Weltwirt schaftsgipfel vom letzten April in London werden die Stimmen lauter, die auf seine Ablösung als Reservemedium der Zentral banken dringen. Doch nicht der Euro soll ihn ersetzen, sondern ein monetäres Neutrum, die 1969 aus der Taufe gehobenen, seit dem jedoch ein Liliputanerdasein fristenden Sonderziehungs rechte (SZR) des Internationalen Währungsfonds (IWF). 160
Verstärkt wird die Krise drittens durch die Gemeinschaftswäh rung der Europäer, den Euro. Auch wenn ihn die Politik un ermüdlich als >>sicheren Hafen« anpreist, lässt sich nicht mehr verschleiern, dass ihn zwölf von sechzehn Mitgliedern der Wäh rungsfamilie als Mittel innenpolitischer Finanzierungsexzesse gröblich (und vorsätzlich) missbraucht und diskreditiert haben. Statt die vertraglich festgeschriebene »Konvergenz« in der Wirt schafts- und Finanzpolitik der Mitgliedsstaaten herbeizuführen, war er der Blankoscheck, der ihr Auseinanderdriften ermög lichte. Eine Dreiviertelmehrheit der Euro-Staaten leistete sich jahrzehntelang, gestützt auf die dem Euro als »zweiter DM« zu geschriebene Stabilitätsvermutung, Leistungsbilanzdefizite, die in Relation zu ihrer Wirtschaftskraft sogar die der Vereinigten Staaten übertreffen. Spitzenreiter in diesem für Europa selbstmörderischen Rennen sind Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien, gefolgt von Frankreich. Die Europäische Zentralbank (EZB) war nicht in der Lage, sie daran zu hindern. Doch die von außen einbre chende Globalkrise erzwingt nun. den Offenbarungseid: Wegen überdimensionierter Auslandsverschuldung stehen alle defizitä ren Euroländer vor oder bereits mitten im Bankrott von Banken und Staat und können nur noch auf eines hoffen: ihre Auslösung durch Gemeinschaftsaktionen. Doch dafür sind die Aussichten düster: Die Euro-Zone wird nach dem Zusammenbruch der Gläubigerpositionen Deutschlands, der Niederlande, Öster reichs und Finnlands von 2009 an ein den Vereinigten Staaten vergleichbares Leistungsbilanzdefizit aufweisen. Dieses degra diert den Euro zur zweiten kranken Weltwährung neben dem US-Dollar - oder zur dritten und vierten, nimmt man Yen und Pfund Sterling dazu. Zu allen drei Krisenfaktoren wäre unendlich viel zu sagen. Die Bankenkrise ist das Resultat von zwei der fragwürdigsten Inno vationen moderner Finanzwirtschaft. Sie nutzte - oder miss brauchte - die Chancen der Globalisierung (einer technologi161
sehen Revolution von Transport- und Kommunikationsmitteln, die eine »grenzenlose« Erweiterung der Geld- und Gütermärkte ermöglichte) sowohl zur Flucht aus gesetzlicher Überwachung und Kontrolle sowie ihrer Abnabelung vom bislang wichtigsten Geldlieferanten, dem Sparer. Die auf Stützpunkte in »finanziel len Schurkenstaaten<< konzentrierten ebenso exterritorialen wie aufsichtsfreien Interbankenmärkte (allein neunzig Prozent aller Hedge-Fonds domizilieren auf Cayman Islands) ermöglichten Geschäftspraktiken und -usancen, wie es sie bisher noch nicht gab. Banken gewährten sich wechselseitige Kredite in durch keine Kontrolle begrenzter Höhe. Doch diese in Billionen-Volu mina aufgetürmte Schulden-Kredit-Pyramide der Bankwelt un tereinander wurde nicht als das gesehen, was sie in Wahrheit war: als wackligster Turmbau seit Babel, sondern als eine schier unerschöpfliche Finanzierungsbonanza, jenseits aller Quellen und Begrenzungen realer (und somit »echter«) Kapitalbildung durch Sparen und Ausgabeverzicht Der neue Interbankkredit ersetzte die alte Geldbeschaffung bei Sparer und Zentralbank Und er ermöglichte märchenhafte Ren diten, jenseits aller realwirtschaftlichen Begrenzungen. Der im Zwischenhandel der Banken gezahlte Zins kam in inflatorisch finanzierten Kapitalgewinnen des Anlagengeschäfts wieder her ein: doppelt und dreifach! Nur so lässt sich erklären, dass Spit zenbanker Bankenrenditen von 25 Prozent und mehr zur Norm erklärten, obwohl die real verdienten Zinsen meist nur ein Zehn tel dieser Vorgaben erreichten. Der Kreditzins der Banken hatte sich dank der phantastischen Margen im Eigengeschäft, man könnte auch sagen: dank der Blasenbildung an den Vermögens märkten (bei Aktien, Immobilien, Gold, Antiquitäten und der gleichen), um Meilen vom real verdienten Zins der Wirtschaft entfernt. Warum schritt niemand dagegen ein? Währungshüter wie die Aufsichtsbeamten ließ die eskalierende »asset inflation« an den Kapitalmärkten samt ihren Folgen und Zweitrundeneffekten
kalt. Die Zentralbanken ließen als Inflationsmaßstab nur »ih ren<< Lebenshaltungskostenindex gelten; er enthielt keine Ak tien, Immobilien oder andere Vermögensgüter. Aufsichtsämter und (die von Banken bezahlten) Ratingagenturen sahen in den märchenhaften Spekulationsgewinnen der Banken nicht das Risiko, sondern den Ausweis finanzieller Stärke und Bonität. Sie schliefen auch dann noch weiter (oder guckten weg), als die Finanzwelt dazu überging, ihre Einmalkredite in permanent revolvierende umzuwandeln: um sich durch Verbriefung die im Kreditengagement blockierte Liquidität wieder zurückzuholen. Es entstand eine gänzlich neue Fauna »strukturierter« Wert oder richtiger Unwertpapiere (asset-backed securities), denn diese hatten keinen Bezug zu realer Wertschöpfung und realem FirmenkapitaL Auf ihrer Basis konnte sich das Interhanken-Ka russell jetzt endlos drehen, sein Stillstand war nicht zu befürch ten. Ein (noch heute tätiger) Aufsichtsbeamter empfahl sogar den deutschen Banken, diese neuen und innovativen Finanzpro dukte ja nicht zu verpassen. Heute machen sie neunzig Prozent des zu entsorgenden »Giftmülls<< deutscher Banken aus. Der plötzliche Stillstand des Interbankenmarkt-Karussells über raschte alle, obwohl er seit gut drei Jahrzehnten vorauszusehen war. Aber nicht nur Experten ignorierten (oder verdrängten) die erkennbaren Folgen der »asset inflation«, auch Politik und Medienöffentlichkeit Man pries als Leistungsstärke des Systems, was in Wahrheit seine nicht hinnehmbare, sozial explosive Ver wilderung war: die Gleichsetzung von spekulativen Börsen gewinnen mit der Unternehmerischen Belohnung für reale Leis tung und Fortschritt, die nominale (und inflatorische) Ver teuerung des vorhandenen Kapitalstocks mit seiner Vermehrung und Effizienz. Der Zeitgeist fiel zurück in das Jahrhundert vor Adam Smith, als es noch erlaubt war, Geld mit Reichtum zu ver wechseln. Hinter der Bankenkrise - und zeitlich einige Dekaden vor ihr -
wird eine Systemkrise der internationalen Geldordnung sicht bar. Sie begann gleich nach 1945. Damals zwangen die allmäch tigen Vereinigten Staaten dem neu zu errichtenden Weltwäh rungssystem von Bretton Woods (entgegen der Blaupause seines Architekten John Maynard Keynes) ihren Dollar als Leitwäh rung auf. Ein Land wurde zur Bank - zur Bank für die Welt. Die Welt ließ es sich so lange gefallen, wie sie auf die Dollar des Welt bankiers angewiesen war. Nach 1970 war sie es nicht mehr. Unter deutscher Federführung revoltierten die führenden westlichen Industriestaaten gegen den Zwangsankauf der US-Währung zu einem festen Wechselkurs. Was die Politik übersah, die Bankwelt jedoch nicht: Mit der so erzwungenen Freigabe der Wechsel kurse wurden auch die noch vorhandenen Beschränkungen im internationalen Kapitalverkehr obsolet, man brauchte sie nicht mehr. Defizite im Zahlungsverkehr von Nation zu Nation muss ten nicht mehr durch Einsatz von Zentralbankreserven ausge glichen werden : Man konnte die Wechselkurse gleiten lassen (abwerten) oder sich verschulden. Paradox oder nicht: Obwohl das Währungsrisiko stieg (durch die Abwertungsgefahr), ge wann der internationale Kapitalverkehr an Fahrt. Damals be gann der Abmarsch der Banken in die aufsichtsfreien Finanzie rungsoasen. Doch der Weltbankier U SA blieb im Geschäft. Aus dem Bretton-Woods-Dollar für Reservezwecke wurde der welt weite Transaktions- und Kredit-Dollar. Amerika finanzierte mit dem Dollar einen unerhört hohen Le bensstandard; die internationalen Rohstoffkartelle fakturierten in ihm ihre Geschäfte, und die Sparer und Anleger in Dritter und Vierter Welt benutzten ihn als Notgroschen, denn ihre nationa len Währungen waren ja noch schlechter. Der Weltbankier stellte mit seinem Service sicher, dass man überall auf der Welt in Dollar zahlen und Kredit aufnehmen konnte; die finanzielle In frastruktur des US-Bankensystems garantierte weltweite (und kostengünstige) Liquidität. Bis heute zirkulieren siebzig Prozent des Dollarumlaufs außerhalb der Vereinigten Staaten. Ausländi-
sehe Dollarbesitzer gewähren so über ihre »Einlagen« dem Land einen Dauerkredit Doch das könnte sich bald ändern. Der Euro entpuppt sich in dieser Krise nicht als Garant poli tischer Einheit, sondern als Pulverfass, das diese Einheit sprengt. Die überschuldeten Euro-Staaten wollen (und müssen) ausge löst werden. Dasselbe erwarten die Euro-Anwärter vor der ost europäischen Haustür. Doch dafür fehlen die finanziellen Res sourcen. Die EZB kann und darf keinen »toxischen« Giftmüll ankaufen wie ihre amerikanische Schwester. Den alten Bankier ländern, Deutschland, Niederlande, Österreich und Finnland, fehlen die Mittel, sich und die anderen zu retten. Die Euro-Zone ist nicht das Bollwerk in der Krise, sie steht vor ihrer Zerreiß probe. Entweder sie reduziert sich zu einer Kernunion der alten Hartwährungsländer, dem früheren D M - Block. Oder die ehe maligen Schwachwährungsländer verlassen eine Währungs gemeinschaft, die ihnen nicht mehr helfen kann, ihr Selbst hilfepotential (Währungsabwertung, nationale Krisenbekämp fungsprogramme) jedoch blockiert. Tertium non datur. Was folgt daraus für eine Politik, die mit der Krise fertig werden muss, und was folgt für die Menschen, die in ihr nicht ihre Exis tenzgrundlagen verlieren wollen? Mit den Mitteln, die vor achtzig Jahren zum Einsatz kamen, ist diese Krise nicht zu bekämpfen. Es könnte durchaus sein, dass sich die Löschschäden der Feuerwehr als gravierender erweisen als die Verheerungen der Brandstifter. Es gibt keine Marktwirt schaft ohne Dominanz des Privatsektors und keinen Wett bewerb unter Staatskonzernen und bei Suspendierung des Kon kursrichters. Es ist ein Irrtum, zu glauben, der Finanzsektor sei »systemrelevanter« als die unternehmerische Realwirtschaft. Letztere schafft die Arbeitsplätze und verdient das Geld für Mas seneinkommen, höheren Lebensstandard und Sozialleistungen. Der Sozialismus in Deutschland und Osteuropa ist am Mangel von Lebensqualität und Sozialstaatlichkeit zugrunde gegangen und nicht an deren Übermaß.
Der selbstverschuldete Tod eines halben Dutzend verzockter Banken ist keinen Euro öffentlicher Hilfe wert, er wäre keine Ka tastrophe, weder eine globale noch nationale. Die westlichen Volkswirtschaften sind »overbanked«, und der zwischen ihnen bestehende Liquiditätsverbund wird durch den Ausfall einiger Institute nicht zerstört. Genügend gesunde Institute stehen be reit, ihren Part zu übernehmen, und der Staat könnte mit sei nen gesparten Rettungsmilliarden jederzeit neue »good banks« nachgründen, wenn das erforderlich sein sollte. Grundsatz sollte sein, den Geschädigten zu helfen, nicht den Schädigern. Das gilt für Personen wie Unternehmen. Bereits ein Bruchteil der für den Finanzsektor bereitgestellten Mittel (Ga rantien, Beteiligungen, Kredite) würde ausreichen, die Individu alschäden bei Sparern, Anlegern und demnächst möglicher weise auch Rentnern auszugleichen. Der Realwirtschaft ist nicht punktuell zu helfen, durch spek takuläre, jedoch kostspielige und wettbewerbswidrige Einzel aktionen ( Opel, Porsche, Karstadt und so weiter). Es geht um die Bereitstellung von Finanzmitteln für zusätzliche oder bislang zurückgestaute Ausgaben (wie Infrastruktur, Bildung, Bauten). Wichtig ist die gleichzeitige und gleichgewichtige Förderung von Nachfrage und Angebot, denn die neuen Arbeitsplätze und Einkommen sollen ohne die Gefahr von Inflationseffekten ent stehen. Es geht um eine moderne Version des Roosevelt'schen New Deal. Überdies muss die Kredit- und Bankenaufsicht um zwei neue Grundsätze erweitert werden. Den bewährten Riebtsätzen des deutschen Kreditwesengesetzes (KWG), des ältesten Bankauf sichtsgesetzes der Welt, sind diese hinzuzufügen: Bankkredite sind an echte Einlagen (Ersparnisse) zu binden; die Überschrei tungsmarge liegt bei maximal zehn Prozent. Und: Bankkredite sind an reale Geschäfte (Investitionen) zu binden; dasselbe gilt für Wertpapieremissionen (Bankschuldverschreibungen), ihre Erlöse dürfen nur »real« angelegt werden (Aktien, Immobilien). 166
Die Trennung von Kredit und Risiko durch die Ausgabe reiner Risikopapiere (»Wetten«) wie Credit-default-swaps und anderer Derivate ist verboten. Der erste Grundsatz beseitigt den Uralt-Webfehler des Banken systems, die Kreditschöpfung aus dem Nichts. Diese stellt immer eine indirekte Geldschöpfung über den Bankenapparat dar, denn mit diesen Krediten werden Anweisungen auf zusätzliches Bar- oder Zentralbankgeld ausgestellt. Der zweite Grundsatz unterbindet die kreditfinanzierte Spekulation in Vermögens werten über unechte (Un-)Wertpapiere. Beides sind Lehren aus und Reaktionen auf die gegenwärtige Finanzkrise. Außerdem gilt: Internationale Währungssysteme sind »monetä res Völkerrecht«. Die Währungsanarchie der Ära nach Bretton Woods hat klar bewiesen, dass eine sich integrierende Weltwirt schaft von über 185 Nationen darauf nicht verzichten kann. Drei völkerrechtliche Verpflichtungen sind für das neue Bretton Woods der Zukunft konstitutiv: Gleiche (»symmetrische«) Rechte für Schuldner und Gläubigerstaaten, die Bereitschaft, die vereinbarten Wechselkurse real stabil zu halten und nicht nur nominal und die Einigung auf eine systemeigene (neutrale, staa tenlose) Rechnungseinheit, die SZR des IWF. An Währungskrisen sind nicht nur die Schuldner schuld. Die Überschussnationen (die ihre Partner in die Defizite treiben) sind es ebenso. Deswegen müssen sich auch die Gläubigernatio nen an der Krisenüberwindung beteiligen. Real stabile Wechsel kurse heißt: Die Inflationsdisparitäten der Währungspartner müssen sich auch in den Wechselkursen widerspiegeln. Das er öffnet allen beteiligten Nationen die Option, ihre innere Wäh rungspolitik autonom und frei gestalten zu können: Sie können sich für eine Politik der Währungsstabilität bei festen Wechsel kursen oder eine der moderaten Inflation bei entsprechender Wechselkursanpassung (Abwertung) entscheiden. Es war der wohl verhängnisvollste Konstruktionsfehler des alten Bretton Woods-Akkordes, dass es diesen Freiheitsgrad nicht zugestand.
Die Wechselkurse waren nominal fixiert und wurden darüber
gar nicht um das Festhalten an einer Währungsunion, die mit ih
(immer wieder) real instabil.
ren einzementiert real falschen Wechselkursen allen Beteiligten
Die SZR, sowohl Recheneinheit wie Bezugsrecht auf den An
schadet und ihren Weg aus der Krise schmerzhaft verlängert statt
kauf aller 185 IWF-Währungen zum vereinbarten Wechselkurs,
verkürzt. Je eher man das in den Hauptstädten der EU begreift,
gibt allen Beteiligten die Freiheit, ihre Währungsreserven in
desto schneller kommt man aus der Gefahrenzone.
jeder Währung ihrer Wahl zu halten. Sie wären vom »Diktat des US-Dollars« frei. Der IWF stellt ihnen über seine SZR ebenfalls »weltweite Liquidität« zur Verfügung. Doch wie sicher sind diese »papierenen« SZR? Die Frage ist akademisch; denn wenn alle Partner ihren Wechselkurs in SZR definieren, dann sind sie zwar frei, ihren Wechselkurs in SZR zu verändern (abzuwer ten), doch der Wert der SZR bleibt davon unberührt, er kann gegenüber der abwertenden Währung nur steigen. Auch die Sonne, ein Fixstern, bleibt von den Bahnen ihrer Planeten un berührt. Einige dieser Verpflichtungen waren bereits in den Keynes-Ent würfen für das spätere Bretton-Woods-System enthalten. Der Weltbankier USA hatte sie damals brüsk vom Tisch gefegt. Für den Großgläubiger der Welt waren weder bindende Pflichten noch eine monetäre Alternative zum Dollar diskussionswürdig. Jetzt sieht es anders aus. Das Land ist auf Partner, zumal aus den aufstrebenden Schwellenländern, angewiesen. Der Welt bankier muss um seine Einlagen, seinen Dauerkredit also, fürchten. Die Verpflichtung zu real stabilen Wechselkursen würde auch den Vereinigten Staaten den Weg aus ihrer schweren Krise ebnen. Sie könnten ihre unhaltbar gewordene Position als Weltbankier mit Anstand aufgeben. Das Ja oder Nein zu dieser im neuen Bretton Woods angelegten Politik wird zum Prüfstein für die In telligenz und die Kompetenz der neuen amerikanischen Regie rung. Käme es jenseits des Atlantik zu diesen neuen Einsichten, so könnten sie wesentlich zur Korrektur der fatalen Irrtümer des Krisenmanagements im alten Europa beitragen. Es geht in dieser Krise weder um noch mehr Geld noch um mehr Staat und schon 168
Wie man den Korken aus der Flasche bekommt von WOLFGANG
MÜLLER- M I CHAELIS
Wozu brauchen wir eine Wissenschaft noch, die nicht einmal in der Lage ist, die tiefgreifendste Krise vorauszusehen, die die Weltwirtschaft seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhun derts heimgesucht hat? Und wo bleibt die fundierte Kritik an ihr, deren Lehrbücher doch die Drehbücher der gegenwärtigen Krise sind? Fragen, die im Zuge der internationalen Finanzkrise im mer wieder gestellt werden. Wie berechtigt sie sind, wird im wi dersprüchlichen Echo offenbar, das sie bei führenden Vertretern der Ökonomenzunft auslösen: Es reicht von selbstgerechter Zu rückweisung bis zum demütigen Eingeständnis, dass sich die Makroökonomik tatsächlich in einem Erklärungsnotstand be finde. Markt oder Marktlehre auf den Prüfstand? Einhelligkeit dürfte bei allem Meinungsstreit über die Gründe der Misere in der Wahrnehmung einer allgemeinen Orientierungslosigkeit beste hen, die im öffentlichen Diskurs bereits vor Ausbruch der inter nationalen Finanzkrise im Unbehagen über das nationale Re formversagen Ausdruck gefunden hatte. Der Rückschluss auf mangelndes Rüstzeug aus der Werkstatt der ökonomischen Theorie lag umso näher, als das babylonische Sprachgewirr der Stellungnahmen aus Politik und Wissenschaft kaum zur Klä rung der Dinge beizutragen vermochte. Beim Ruf nach einem Paradigmenwechsel und dem Einfordern einer >>Debatte über intelligente Wege aus der Krise, die sich auf das Wesentliche ein lässt« ( Gunter Hofmann, Die Zeit), dürfte sich allerdings ein größerer Zirkelschlag um das Problem als notwendig erweisen, als er in bisherigen Annäherungsversuchen in Ansatz gebracht wurde. 170
Doch was genau ist mit dem Aufwerfen der Systemfrage, um die es letztendlich geht, gemeint? Die Ablehnung einer Wirtschaftsverfassung Erhard'scher Prä gung, die dem Wirtschaftswunder der fünfziger und sechziger Jahre zugrunde lag, sicher nicht. Sind es stattdessen die Wirt schafts- und Sozialwissenschaften, wie sie heutzutage an unseren Universitäten gelehrt werden, oder eher das System angewandter Wirtschaftspolitik, das seit der Schröder'schen Agenda 2010 die politischen Verhältnisse hierzulande maßgeblich konstituiert, die es auf den Prüfstand zu stellen gilt? Im Verhältnis von ordo liberaler Lehre zur Sozialen Marktwirtschaft waren noch große gemeinsame Schnittmengen nachweisbar, so dass beim »Rheini schen Modell« eine gelungene Symbiose aus reiner Lehre und angewandter Wissenschaft zu konstatieren war. Anders verhält es sich mit dem Vorwurf des Marktversagens gegen das weitergefasste kapitalistische System des Westens, wie er im Zuge der aktuellen Weltfinanzkrise erhoben wird, bei dem aber unklar bleibt, wer eigentlich zur Rechenschaft gezo gen werden soll: der Markt, die Lehre oder die Politik. So wenig man beide Modelle über einen Kamm scheren kann, so sehr verbietet es sich, über das durch die Jahrhunderte in unter schiedlichen Kulturen bewährte Marktsystem als solches den Stab zu brechen. Von daher reduziert sich die Systemfrage auf das Aufdecken von Funktionsmängeln, die zwar in beiden Fäl len, gerade auch im bürokratisch verformten Rheinischen Mo dell Berliner Prägung, offen zutage liegen, aber mangels dif ferenzierter Betrachtung der eigentliche Grund dafür sein dürften, dass sich die Marktwirtschaft als gesellschaftliches Ordnungsprinzip per se dem Verdikt ausgesetzt sieht, geschei tert zu sein. Denn ist nicht der marktradikale Ansatz mit seiner Indifferenz gegenüber sozialer Fürsorge für die im Leistungs wettbewerb Zukurzgekommenen seit je Gegenstand europäi scher, vor allem deutscher Systemkritik am amerikanischen Modell gewesen? 17 1
Was ist es also, das in den Ruf nach einer Generalremedur offen bar auch das sozialstaatlich veredelte >>Rheinische Modell« ein zubeziehen trachtet? Unbestritten ist, dass es an genauso hef tigen Beschwerden wie der westliche Kapitalismus im Ganzen leidet. Aber diese sind anderer, bei genauem Hinsehen entgegen gesetzter Natur als jene, die uns die Finanzkrise von jenseits des Atlantik in das europäische Haus » herüberflorierte«, wie es Mar tin Walser an dieser Stelle auszudrücken beliebte (FAZ vom 6. Mai, hier S. 24). Hat dort das Fehlen einer sozialen Kompo nente das Marktsystem in einen »Raubtierkapitalismus« (Hel mut Schmidt) entgleiten lassen, wurde hier eine in die andere Richtung weisende sozialstaatliche Überfrachtung zum Ferment wachsender Lähmung der Marktkräfte. Das würde bedeuten, dass das partielle Marktversagen des gegenwärtig praktizierten deutschen Modells in letzter Konsequenz aus einem Zuviel des sen resultiert, was die Krise der marktradikalen Variante durch ein Zuwenig ausgelöst hat. Die Ironie dieser systemkritischen Doppeldiagnose dürfte auf ein für beide Seiten übereinstimmendes Therapieziel hinauslau fen: Dort auf ein »Change towards«, hier auf ein >>Zurück zu Er hard«. Wobei es für Deutschland und die EU darum ginge, aus der zu einer Sozialbürokratie deformierten Unordnung der Ver hältnisse jenes Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft wieder freizulegen, das nicht nur uns und unseren europäischen Nachbarn, sondern auch den zu respektablen Konkurrenten aufgestiegenen Ländern Südostasiens den im Weltmaßstab höchsten wirtschaftlichen Wohlstand beschert hat, der jemals in der Geschichte erreicht wurde. Im Ergebnis stünde demnach nicht der Kapitalismus auf dem Prüfstand, sondern die Art, wie wir ihn für unsere Zwecke nutzen. Geht es um Werte oder um Zahlen? Bezeichnend für den bis herigen Verlauf der Systemdiskussion ist seine Verzahnung so wohl mit einer allgemeinen Wertedebatte als auch mit einem be reits seit längerem wogenden Lehrmeinungsstreit zwischen der 172
mathematischen und der ordnungspolitischen Ökonomik. Es ist diese aus mehreren Diskussionsebenen gespeiste Heftigkeit und Tiefe der Auseinandersetzung, die über den Kapitalismus hinaus auch seinen theoretischen Unterbau unversehens in die Nähe einer Sinnkrise gestürzt hat. Schon 1985 hatte Kurt Eiedenkopf (»Die neue Sicht der Dinge«) die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit der The se belebt, dass der Triumph der Kopernikanischen Wende nicht nur das Weltverständnis der Neuzeit in Abkehr von der Mytho logie des Mittelalters begründet, sondern damit zugleich die Weichen für den Siegeszug der Naturwissenschaften über die Geistes- und Sozialwissenschaften gestellt habe. Fortan habe als exakte Wissenschaft nur gegolten, was als Ergebnis der Erfor schung der Naturkräfte berechenbar und in mathematischen Formeln ausdrückbar ist. Könnte in der Konsequenz einer derart »frühen Fehlsteuerung« die Krisenhaftigkeit der heutigen Welt auch darauf zurückzu führen sein, dass man am Ausgang des Mittelalters angesichts der Erschütterung über den wissenschaftlichen Nachweis, dass die Erde die Sonne umkreist, die Erforschung der zumindest ebenso wichtigen Frage aus dem Auge verloren hatte, wie die Menschen ihren geistigen Austausch und ihre sozialen Verhält nisse so zu gestalten hätten, dass sie unter Nutzung der naturwis senschaftlichen Erkenntnisse und technischen Errungenschaf ten im Ergebnis konfliktfreier miteinander hätten leben können, als sie dies in den zurückliegenden vier Jahrhunderten zuwege brachten? Zu den Merkwürdigkeiten der aktuellen Debatte gehört, dass mit dem Erfahrungswissen eines erfolgreich augewandten Kon vergenzmodells, wie es der von Ludwig Erhard in politische Pra xis umgesetzte Ordoliberalismus war, der aus der mathematisch fundierten Ökonometrik einen gleichermaßen komplementä ren Nutzen zog wie aus der Stringenz ordnungspolitischer Leit sätze der Freiburger Schule, ein Methodenstreit ausgefochten 173
wird, der an religiöse Glaubenskämpfe erinnert. Forderte der
Was die auf Zahlen und statistische Massen angewiesenen Öko
Physiker Nassim Niebolas Taleb auf der zur Durchleuchtung des
nometriker und die auf Handlungsweisen und Wertorientierun
Weltfinanzdebakels einberufenen Konferenz im kanadischen
gen der Wirtschaftsakteure fixierten Ordnungsökonomen auch
Waterloo die Schließung aller wirtschaftswissenschaftlichen Fa
in Zukunft in gemeinsamer Forschung verbindet, bleiben die
kultäten, beabsichtigen die deutschen Universitäten im Über
Unwägbarkeiten menschlichen Verhaltens. Selbst die mit Hilfe
gang auf die Bachelor-Studiengänge die empirische Wirtschafts
der schnellsten Großrechner gelungene EntschlüsseJung des
politik und Ordnungsökonomie aus den wirtschaftswissen
menschlichen Genoms hat das Rätsel Mensch nicht vollends zu
schaftlichen Lehrveranstaltungen zu streichen.
lösen vermocht. Dem Ordnungsökonomen bleibt daher beim
Dass im Umfeld einer bildungspolitischen Reformdebatte, die
Aufspüren der nach wie vor großen Unbekannten, nach welchen
die Einführung des Fachs »Wirtschaft« in den Bildungskanon
Werten der Mensch wirtschaftlich handelt und wie die Politik
allgemeinbildender Schulen fordert, das Herzstück der moder
sein Handeln in gemeinschaftsdienliche Bahnen zu lenken ver
nen Volkswirtschaftslehre, die Lehre von der Wirtschaftspolitik,
mag, noch viel zu tun.
aus den Lehrplänen der Universitäten verbannt werden soll,
Mit dem Zusammentreffen der Umbruchtriade von Globalisie
kommt einer Schildbürgerei gleich, die zum Dahingleiten dieser
rung in der Wirtschaft, digitaler Revolution in der Technik und
Republik in den trägen Strom der Beliebigkeiten passt.
demographischer Schere in der Gesellschaft am Obergang vom
Wenn jemals Ordnungsökonomen mit ihrem Wissen um die
20. in das 21. Jahrhundert stehen die Wirtschaftsc und Sozialwis
komplexen und komplizierten Kreislaufzusammenhänge der
senschaften Herausforderungen gegenüber, denen sie sich in
Wirtschaft als Ratgeber der Politik gebraucht werden, dann ist es
dieser Massierung in ihrer bisherigen Geschichte nicht ausge
in der heutigen Krisensituation der Fall. Schließlich hat nicht das
setzt sahen. Nachdem sich ein Großteil der Theoreme der klas
Versagen der Ordnungsökonomik, sondern der massive Verstoß
sischen Nationalökonomie zu Zeiten der Frühindustrialisierung
handelnder Akteure gegen altbewährte Regeln des Wirtschafrens
am Modell einer geschlossenen Volkswirtschaft herausgebildet
die Krise herbeigeführt. Viktor Vanberg, der Leiter des Frei
hatte, haben die auf ihnen beruhenden wirtschaftspolitischen
burger Walter Eucken Instituts hat nachgewiesen (FAZ vom
Regelwerke unter den Bedingungen des inzwischen zum Durch
14. April 2009), dass es ein Streit um des Kaisers Bart ist, wessen
bruch gelangten internationalen Freihandels weithin ihre »Pass
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Vorrang gebührt, der
fähigkeit« (Biedenkopf ) verloren.
mathematischen oder der Ordnungsökonomik Weder reiche
Wettbewerbs- und Tarifregeln, die für geschlossene Handels
der »Quantifizierungsehrgeiz« der Ökonometriker aus, »die
räume erdacht und etabliert wurden, wandeln sich zur Selbstfes
Verfügbarkeit verwertbarer Daten zum Kompass dafür zu ma
selung der Wirtschaftskräfte, wenn sich der Wettbewerb un
chen, welche Zusammenhänge man untersucht«, noch vermö
versehens auf weltweit offenen Märkten abspielt. Schwächung
gen die Ordnungspolitiker belastbare Aussagen zu den Auswir
des Binnenwachstums, Beschäftigungseinbrüche und Einkom
kungen von der Politik erwogener Eingriffe zu treffen, ohne sie
mensverluste sind unter diesen Umständen eine hausgemachte
mit Modellrechnungen abgesichert zu haben. Nur im sich er
Folge unterbliebener Anpassung der wirtschaftspolitischen Re
gänzenden Zusammenspiel beider Ansätze sei der erwünschte
gelwerke an die grundlegend veränderten Wirtschaftsverhält
Erkenntnisgewinn zu erzielen.
nisse in der Globalisierung.
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Verschärft wird der Anpassungsdruck durch den im Zuge der di gitalen Revolution beschleunigten Wandel der Produktionsbe dingungen mit der Folge zunehmender Tertiarisierung (Dienst leistungsdichte) der wirtschaftlichen Wertschöpfung. Von der Politik wird bisher kaum wahrgenommen, dass der industrielle Sektor in Deutschland nur noch mit einem Minderheitsanteil von gut zwanzig Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt. Über Dreiviertel des deutschen Sozialprodukts bestehen heute aus nichtindustriellen Leistungen in Handel, Logistik und Dienstleistungsökonomie einschließlich des Handwerks und der sich rapide entwickelnden Online-Wirtschaft, die bei ihrer Erstellung bis auf den Energiesatz kaum einem Ressourcenab bau unterliegen. Vor allem vor diesem Hintergrund entpuppt sich die allseits ge forderte Abkehr vom Wachstumsdenken als ein von rationalen Erwägungen entkoppelter Populismus. Wobei die zeitgeistige Wachstumsphobie auch in der mangelnden öffentlichen Wahr nehmung begründet sein mag, dass es der erst seit den neunziger Jahren auf den Plan getretene Unternehmenstyp des wissens basierten Dienstleisters und Nischenproduzenten ist, der seither bei uns wie überall sonst auf der Welt die Dynamik des moder nen Wirtschaftsgeschehens bestimmt. In völliger Verkennung seines dominanten Leistungsbeitrags wird er gern mit den vergleichsweise unproduktiven High-Touch-Dienstleistungen in einen Topf geworfen (»Wir können uns schließlich nicht alle gegenseitig die Haare schneiden«). Ein Blick in die Kundenlisten der Werbeagenturen zeigt im Übrigen, dass die den Dienstleis tungen einst zugeschriebene Wasserträgerrolle für die Industrie ein längst überholter Mythos ist. Wichtiger ist, dass die Wirt schaftsleistung des tertiären Sektors überwiegend in kleinteilig organisierten Betrieben des Mittelstands erbracht wird, für die Tarifregeln, die einst gutgemeint zur Zähmung der Marktmacht industrieller Großkombinate erdacht wurden, längst in eine Be hinderung ihrer Leistungskraft umgeschlagen sind. Statt ihnen
zur nachhaltigen Krisenbewältigung politischen Flankenschutz zuteilwerden zu lassen, die keineswegs in Form von Subventio nen gefordert, sondern als steuerliche und bürokratische Ent lastung erwartet wird, entfaltet der in überholten Vorstellungen befangene Vater Staat industriepolitischen Aktionismus (Holz mann, Opel, Abwrackprämien), als sei es seine vorrangige Pflicht, von der Evolution aufgegebene Dinosaurier noch mög lichst lange vor dem Aussterben zu bewahren. Die von der Politik ins Feld geführte Rechtfertigung, es ginge dabei um Arbeitsplatzsicherung, erweist sich als wenig über zeugend und fadenscheinig. Denn der beabsichtigte Beschäf tigungseffekt wäre bei einem haushaltsneutralen ordnungspoli tischen Entlastungsschub im wachstumsstarken ))7s-Prozent Sektor« der tertiären Wirtschaftsleistung ungleich größer, als er es beim stattdessen unternommenen staatsschuldtreibenden fis kalpolitischen Kraftakt zugunsten des schrumpfenden, nur gut zwanzig Prozent des Sozialprodukts ausmachenden Industrie sektors je sein könnte. Gerade dieses Beispiel ordnungspolitischer Fehldisposition macht deutlich, dass neues Denken gefragt ist, wenn sich die Verhältnisse grundlegend geändert haben. Auch wenn Apelle an die Vernunft noch selten zur Einsicht führten, könnte die Tiefe der sich anbahnenden realwirtschaftlichen Krise günstigere Vo raussetzungen für ein Umdenken schaffen. Dabei besteht die entscheidende Hürde für ein besseres Verständnis der Zusam menhänge vor allem im gedankenlosen Umgang mit Begriffen, deren ursprüngliche Inhalte dem Wandel der Zeiten mehr und mehr zum Opfer gefallen sind. Das alte Produktivitätsprivileg, das die Industrie bis in die jüngsten wirtschaftspolitischen Bele bungsversuche für sich behauptet, wird längst auch von weiten Bereichen der nichtindustriellen Wertschöpfung beansprucht. Wie bei der Explosion eines alten Sterns haben sich mit der technologischen Revolution der Digitalisierung die Produkti vitätskerne vervielfacht. Sie entfalten ihre Kräfte nicht mehr al177
Iein in der physischen Gestalt des industriellen Maschinenparks, sondern sie haben sich auch in den neuentwickelten Leistungs bereichen der wissensbasierten Dienstleistungsökonomie ein genistet und setzen von dort aus immer wieder neue Wert schöpfungsketten in Gang. Erstmalig in der Menschheitsge schichte gibt es kaum einen Beruf, ob Ingenieur, Manager, Handwerker, Journalist, Lehrer, Arzt oder Theaterregisseur, der nicht auf das von allen gleichermaßen genutzte Universalhand werkszeug des mit dem Internet verbundenen Computers an gewiesen wäre. Quelle der Produktivität in der wissensbasierten Dienstleis tungsökonomie ist nicht wie in der ressourcenverarbeitenden Industrie der den Arbeiter zunehmend ersetzende Maschinen roboter, sondern der von außen nicht erkennbar mit einem Heer von Hochleistungssklaven in Form winziger Elektronikchips ausgestattete, das Informations- und Wissensmanagement steu ernde Mensch. Die Konsequenzen für ein aus dieser Revolutio nierung der Produktionsbedingungen fließendes neues Ver ständnis von Arbeit, Wachstum und Einkommensverteilung sind von der Wissenschaft erst in Ansätzen gezogen worden und haben den politischen Diskurs bisher kaum erreicht. Das gilt vor allem im Hinblick auf die emanzipatorische Kraft, die der elek tronische Halbleiter dem produktiven Tun des Menschen ver leiht, das wir bisher Arbeit nennen, was die Sache aber längst nicht mehr trifft. Heute ist es nicht die Kombination der Produktionsfaktoren Ar beit und Kapital, die wie zu Zeiten von Adam Smith und Karl Marx hinreichte, das Entstehen von Wirtschaftswachstum und die Verteilung der aus ihm fließenden Einkommen zu erklären. Im Zeitalter der nachindustriellen Informations- und Wissens
duktive Leistungsergebnis und die Zuteilung auf seine Erzeuger bestimmen. Zur Lösung der anstehenden Probleme unzureichenden Wachs tums, mangelnder Beschäftigung und stagnierender bis rück läufiger Realeinkommen gilt es daher im ersten Schritt, die inkompatibel gewordenen alten Regelwerke angesichts der ge wandelten Verhältnisse neu zu adjustieren. Ralf Dahrendorf hat hierzu in seinem letzten publizierten Beitrag vor seinem Tod (»Nach der Krise«, Merkur, Heft 5, 2009) einen neuen Umgang mit der Zeit, insbesondere bei der »Rekonstruktion des Sozial staats« angemahnt. Das bedeutet vor allem, das Zeit-Leistungs Verhältnis des tradierten, aus dem Acht-Stunden-Rhythmus der Maschinenlaufzeiten im Industriebetrieb abgeleiteten Arbeits begriffs an die grundlegend veränderten Leistungsprozesse an zupassen, um das von den Schablonen einer »alten Sicht der Dinge« verdeckte und realiter vorhandene Arbeitsangebot für die Beschäftigungspolitik wieder verfügbar zu machen. Um mit dem Prekärsten, zugleich aber Wichtigsten, zu begin nen: Mit der Einführung eines standardisierten Teilzeitarbeits modells (vierhundert Euro pro Monat bei 12,5 Stunden je Wo
gesellschaft sind es die vielfältigen Formen von Kommunikation in Verbindung mit den in den einzelnen Leistungsprozessen in
che, was einem systemischen Mindestlohn von acht Euro pro Stunde entspräche) wäre es möglich, dem Produktivitätshandi cap des Niedriglohnsektors durch Komprimierung des Arbeits einsatzes beizukommen, wenn der Anreiz zur Aufnahme dieser Tätigkeiten durch Freigabe von Mehrfachbeschäftigung nach ei gener Wahl verbunden mit belastungsgerechtem Zuschnitt bei Steuern und Abgaben (bis hin zu brutto gleich netto) geschaffen würde. Die ausreichende Verfügbarkeit derartiger Tätigkeiten unter der Bedingung flexibler Teilzeitarbeit bei einfachen Dienstleistun gen, in Kommunen und gemeinnützigen Einrichtungen sowie in Privathaushalten ist in Untersuchungen zur Schattenwirtschaft
unterschiedlicher Dichte zum Einsatz kommenden Informa tions- und Kommunikationstechnologien (IKT), die das pro-
nachgewiesen worden, wo in den »Katakomben der Volkswirt schaft« (Meinhard Miegel) von schätzungsweise sechs bis acht 179
Millionen Schattenwirtschaftlern jährlich ein Neben-Sozialpro dukt von 350 bis 400 Milliarden Euro erwirtschaftet wird, das auf diese Weise für das offizielle Volkseinkommen zu erschließen
Europa muss sich durchsetzen von EMMANUEL TODD
wäre. Dadurch könnte ein Großteil der heute das Sozialbudget belas tenden Transferzahlungen in Eigenerwerbseinkommen über
Eine Krise wie in den dreißiger Jahren war ebenso absehbar wie
führt werden mit allen sich daraus ergebenden positiven Wir
der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Niedergang
kungen nicht nur auf das gesellschaftliche Klima, sondern auch
Amerikas. Eine der Ursachen ist der Einbruch _der Nachfrage
für die Haushalts- und Sozialkassen sowie für die Belebung der
nach Gütern, den ich 1988 in »Die neoliberale Illusion« unter
Binnennachfrage. Im Facharbeitssektor wäre das Thema der
suchte. Inzwischen sind alle mit diesem Befund einverstanden.
Arbeitslosigkeit ein für allemal lösbar, wenn mit Hilfe einer
Die angelsächsischen Länder teilen ihn voll und ganz. Die Fran
Umwandlung der Arbeitslosenversicherung in eine Berufliche
zosen sowieso. In Deutschland ist man ein bisschen skeptischer,
Weiterbildungsversicherung beschäftigungslose Phasen in ak
was mit seiner Stellung innerhalb der Weltwirtschaft zu tun hat:
tive, der Fortbildung dienende Berufszeiten überführt und auf
Deutschland ist das Exportland par excellence. Aber auch
diesem Wege geschlossene Erwerbsbiographien geschaffen wür
Deutschland lanciert staatliche Programme zur Unterstützung
den.
der Wirtschaft.
Wie der Korken aus der Flasche, der den systemrettenden Geist
Mein Befund seit zehn Jahren: Verantwortlich ist der freie Han
eingeschlossen hält, wäre mit diesen Reformschritten eine Blo
del, der in seiner Endphase angekommen ist. Im Moment seiner
ckade aus dem Arbeitsmarkt genommen, die maßgeblich dazu
stärksten Verbreitung ist er zusammengebrochen.
beiträgt, einen Durchbruch bei den großen Reformvorhaben der
In bestimmten Phasen der Entwicklung hat der Freihandel seine
Politik zu behindern. Eine Umschichtung des Großteils der im
Berechtigung. Er fördert die Spezialisierung in den Bereichen, in
Sozialbudget für konsumtive Zwecke gebundenen Mittel auf
denen die einzelnen Länder am stärksten sind. Zusätzliche
Investitionen in Bildung, Forschung und Logistik sowie in eine
Marktanteile können erobert werden. Doch auf dem Höhe
breite steuerliche Entlastung mittelständischer Betriebe und
punkt ihrer Expansion gerät die uneingeschränkt freie Markt
Privathaushalte würde jenen Treibsatz für Wachstum, Beschäf
wirtschaft mit einem Grundproblem des Kapitalismus in Konf
tigung und gerechtere Einkommensverteilung zünden, dessen
likt: dem Rückstand des Konsums in Bezug auf die Produktion.
das System zur Wiedergewinnung seiner Zukunftsfähigkeit so
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die westlichen Länder ein
dringend bedarf.
jährliches Wachstum von sechs Prozent erreicht. Es gab eine Komplementarität von Wachstum und Produktion. Die Unter nehmen erhöhten die Gehälter im Vertrauen darauf, dass sie damit eine Erhöhung der Nachfrage im eigenen Land vorfinan zierten. Dank der höheren Löhne konnten die Produktivitäts gewinne absorbiert werden. Was man dank dem Fortschritt mehr produzierte, fand Abnehmer. 181
Die Globalisierung hat diese Komplementarität zerstört. Die Gehaltsmasse wurde zum reinen Kostenfaktor. Die Saläre wer den nicht mehr als Investition in die Kaufkraft im eigenen Land betrachtet. Die Produktion wurde nach China verlegt. Oder nach Indien, das im Bereich der Informatik sehr stark ist. Im Westen gingen die Gehälter runter. China entwickelte sich prächtig - mit zweistelligem Wachstum pro Jahr. Doch in den Ländern, die chinesische Produkte importieren, litten Industrie und Kaufkraft. Jetzt hat sich der Teufelskreis geschlossen: Auch für Produkte aus Billigländern gibt es keine Käufer mehr. Die weltweite Krise brach im Augenblick des absoluten Triumphs der neoliberalen Ideologie aus. Auch Länder mit völlig anderer Tradition wie Indien und Brasilien hatten sie übernommen. Es gibt keine Opposition gegen sie, keinen theoretischen Wider spruch. Sie hat alle besiegt. Ihr letzter Gegner ist die Wirklichkeit der Welt. Deshalb gehört zur Analyse der Krise auch die Frage bezüglich der Unfähigkeit, Welt und Wirtschaft außerhalb dieser Ideologie zu denken. In Europa erleben wir das Ende der Religionen. Individualismus und Narzissmus prägen die Zeitgenossen. Diese Entwicklung hat erfreuliche Seiten. Anders als in den dreißiger Jahren droht uns kein Faschismus. Unsere Gesellschaften sind alles andere schlecht. Aber sie haben die Fähigkeit verloren, in Zusammen hängen zu denken, ein Gemeinwohl zu verteidigen. Diese kol lektive Blindheit ist der letzte Sieg des Mai 68: »Es ist verboten, zu verbieten.« Die Achtundsechziger wurden zu den fanatischs ten Vertretern des Neoliberalismus und seines Triumphs über die Politik. Ökonomen erkennen zumindest die Tatsache an, dass die freie Marktwirtschaft die sozialen Unterschiede verschärft. Sie mag für ein Land insgesamt ein Segen sein, aber sie erzeugt auch Ge winner und Verlierer. Und in den letzten Jahren sehr viel mehr Verlierer. Und die Gewinner wurden unverschämt. Auch diese Entwicklung gehört zu den Ursachen der Finanzkrise. Eine
Mehrheit litt zusehends unter Arbeitslosigkeit und schwinden der Kaufkraft, während eine kleine Schar von Privilegierten un glaubliche Gehälter und Gewinnbeteiligungen kassierte. Dieses Geld hat die Spekulation angeheizt und die Gier angestachelt, die die Finanzkrise auslösten. Noch mehr Druck auf die Gehälter, noch mehr Delokalisierun gen, Entlassungen, Sparen verschlimmern sie. Erste Priorität kommt der Schaffung von kontinentalen Zonen zu, die sich durch einen sanften Protektionismus schützen; während einer beschränkten Zeit des Aufschwungs. In dieser Phase sollten die Gehälter erhöht werden, um die binneneuropäische Nachfrage anzukurbeln. Historische Beispiele zeigen, dass dies möglich ist. Dann kommt es sehr schnell - und trotz aller Zollbarrieren - zu einer Zunahme der Importe. Ein europäischer Protektionismus muss gut überlegt sein. Man kann nicht einfach irgendwelche Quoten auf gewisse Produkte einführen und Zollschranken aufbauen. Aber sehr viel kompli zierter als die europäische Landwirtschaftspolitik, die eine Zeit lang recht gut funktionierte, ist es nicht. Vor Gegenmaßnahmen muss Europa keine Angst haben. Befürchtungen zum Beispiel der Deutschen, dass die Chinesen auf den Kauf ihrer Werkzeug maschinen verzichten könnten, sind unbegründet: Die Chine sen haben gar keine andere Wahl. Sie werden sich hüten, aus schließlich von der japanischen Industrie abhängig zu werden. Sie werden ihre Aufträge stets auf mehrere Lieferanten verteilen: bei Airbus und bei Boeing bestellen. Die Vereinigten Staaten könnten von einer protektionistischen Phase profitieren, um ihre Industrien wiederaufzurüsten. Für die Chinesen wäre es eine Möglichkeit, sich um ihren Binnenmarkt zu kümmern. Nur ja nichts überstürzen, wir haben Zeit. Wir ste cken tief in der Krise, und diese wird noch lange dauern. Es geht um Zusammenarbeit und um den Fortschritt aller, nicht um ir gendwelche Feindseligkeiten. Dieser freundliche Protektionis mus ist ein Instrument der globalen Konjunkturförderung.
Die osteuropäischen Billiglohnländer werden in Frankreich von den Verlierern und den Gegnern des Neoliberalismus als Sün denböcke für die Krise verantwortlich gemacht. Nicht ganz ohne Grund: Die niedrigen Gehälter in Rumänien haben in Frank reich großen Schaden angerichtet. Aber wir haben ihnen gegen über eine historische Schuld. Die niedrigen Gehälter sind auch die Folge der sowjetischen Besatzung, während die westeuro päischen Länder nach dem Krieg von den Vereinigten Staaten in einer ersten Phase wirtschaftlich ungemein profitieren konnten. Es geht um hundert Millionen Menschen - ihre Integration und Anpassung an das westeuropäische Niveau kann über einen ver nünftigen Zeitraum hinweg ins Auge gefasst werden. Deutschland hat vom Euro am meisten profitiert und zusätzliche Marktanteile erobert - auf Kosten seiner europäischen Partner länder wie Spanien oder Frankreich. In früheren Zeiten konnten diese durch Abwertung ihrer Währungen einen Ausgleich her stellen. Seit der Einführung des Euro ist das nicht mehr möglich. Deutschland hat sich nicht immer an die Regeln des Fairplay ge halten. Seine wirtschaftliche Effizienz ist unbestritten. Aber jetzt muss es auch seiner Führungsrolle gerecht werden. Den franzö sischen Politikern kann man nur raten, die deutsche leadership anzuerkennen. Aber sie müssen jetzt Deutschland davon über zeugen, dass es auf dem europäischen Binnenmarkt mehr zu gewinnen hat als außerhalb. Entweder akzeptiert Deutschland die Idee eines europäischen Protektionismus - oder der Euro ist am Ende. Das ist keine Drohung. Die Abstimmungen in Frankreich und Holland, welche die eu ropäische Verfassung zu Fall brachten, hatten gezeigt, dass die schnelle Ost-Erweiterung nicht wirklich akzeptiert worden war. Das Projekt eines gesamteuropäischen Protektionismus wäre ein Zeichen der Aussöhnung von Ost- und Westeuropa. Das erste große historische Unterfangen, bei dem beide Teile im gleichen Boot sitzen würden. Europa würde umgehend das Vertrauen sei ner Bürger wiedergewinnen. Die Hoffnung käme zurück - und
psychologische Komponenten spielen in Wirtschaftskrisen eine zentrale Rolle. Es gibt keine andere Wirtschaft als den Kapitalis mus. Aber der Staat muss ihn regulieren. Und heute heißt unser Staat Europa. Die Krise ist von Amerika ausgegangen. In dieser Krise ist der Euro eher schwächer geworden. Ohne eine europäische Vision, ohne ein kollektives Konzept zum Schutz seiner Industrie und Wirtschaft ist der Euro am Ende. Falls sich Europa aber zu einem von allen getragenen protektionistischen Modell entschließt, kann es seine Macht durchsetzen. Und der Euro löst den Dollar als Weltwährung ab.
Aus dem Französischen von fürgAltwegg
Die Wirtschaftskrise. Ein erster Rückblick von THOMAS
STROBL
die zumindest für eine Teilverstaatlichung einzelner Institute plädieren, sofern sich diese benötigtes Kapital nicht am Markt beschafften können. Der Staat solle kein Geld mehr geben, ohne entsprechende Mitspracherechte zu bekommen. Dabei hat sich die Lage im privaten Kreditsektor offenbar stabi lisiert, internationale Finanzgiganten wie Goldman Sachs oder die Deutsche Bank melden jedenfalls wieder Milliardengewinne
Am 1. Mai 2009 eröffneten Frank Schirrmacher und ich in der
und überraschen Freund und Feind mit der Ankündigung, an
Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Serie »Zukunft des Kapita
Management und Mitarbeiter Boni in Rekordhöhe ausschütten
lismus«. Eines Kapitalismus, den der damalige SPD-Chef Franz
zu wollen. Unter die finanziellen Unternehmensnachrichten mi
Müntefering nur zwei Tage später im Interview mit derselben Zeitung »in die Tonne treten« wollte, wie er es in seiner unnach
schen sich auch schrille Töne: Mit einiger Empörung mussten die deutschen Steuerzahler im August 2009 zur Kenntnis neh
ahmlichen Art ausdrückte.
men, dass der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, nach
Einige Monate später, kurz vor Drucklegung dieses Bandes im
eigener Darstellung seinen 6o. Geburtstag auf Einladung von
Dezember 2009, ist die große Wirtschaftskrise noch keineswegs
Angela Merkel im Bundeskanzleramt feierte, gemeinsam mit
überwunden, und die politischen Konsequenzen sind nur sche
handverlesenen Führungskräften aus Wirtschaft, Medien und
menhaft absehbar: Die neue Bundesregierung aus CDU und
Kultur; und Goldman -Sachs- Boss Lloyd Blankfein gewährte der
FDP macht allem Anschein nach dort weiter, wo die Große Koa
Welt zwei Monate später Einblicke in sein Seelenleben, als er in
lition aufgehört hat. Die Krise hat die traditionellen Paradigmen der Parteien erschüttert, was eine deutlich liberalere Ausrich
einem Interview mit der
Sunday Times die Ansicht äußerte, er
und seine Kollegen verrichteten »Gottes Werk«. Selbst für eine
tung der deutschen Regierungspolitik vorerst zu verhindern
Branche, deren führende Vertreter sich gerne als »Masters of the
scheint. Die wirtschaftliche Nachrichtenlage ist verwirrend: Auf
Universe« bezeichnen lassen, ist das eine etwas kühne Behaup
keimende Hoffnung auf konjunkturelle Erholung und allmäh
tung. Aber wer weiß, vielleicht stimmt es die durch Rettungs
lich zurückkehrender Optimismus werden immer wieder ge
pakete und Finanzfallschirme auf Jahre gebeutelten Steuerzahler
trübt durch negative Meldungen, was sich unter anderem in
ja versöhnlich, wenn sie die zurückliegenden finanzpolitischen
starken Kursschwankungen an den weltweiten Aktienbörsen be
Verwerfungen als Teil eines himmlischen Plans betrachten. Im
merkbar macht. Gerüchte über die bevorstehende Insolvenz des
Jahr 1911 bezeichnete Joseph A. Schumpeter die Bankiers noch
arabischen Emirats Dubai machen die Runde, innerhalb der Eu
als die »Ephoren des Kapitalismus« - eine Allegorie, die ein Jahr
ropäischen Union geben die Haushaltsprobleme Griechenlands
hundert später nicht mehr auszureichen scheint: Wenn mitunter
Anlass zu Besorgnis, und in Deutschland warnt Bundeskanzle
eine Milliarde Euro als Kleingeld abgetan wird und Managerjah
rin Merkel vor einer drohenden »Kreditklemme«, die mittels
resgehälter von weniger als 100 Millionen Dollar in einschlägi
weiterer staatlicher Milliardenhilfen für die Großbanken verhin
gen Bankerzeitschriften unter »ferner liefen« rangieren, bleibt
dert werden soll. In diesem Zusammenhang melden sich immer mehr prominente Ökonomen und Wirtschaftsinstitute zu Wort, 186
für standesgemäße Beschreibungen offenbar nur noch der Gott vergleich übrig.
Wo also stehen wir heute in Sachen »Zukunft des Kapitalismus«? Lässt sich aus dem bisherigen Verlauf der Krise und der politi schen Reaktionen daraufbereits abschätzen, wohin die Reise ge hen wird? Zunächst einmal ist man tatsächlich verblüfft, dass bislang keine ernsthaften Schritte unternommen wurden, die Hinter gründe und Ursachen der Krise zu verstehen, wie der Ökonom Heiner Flassbeck in seinem Beitrag zur Serie schreibt: »Außer ein paar nichtssagenden Floskeln über die amerikanische Geld politik oder das globale über-die-Verhältnisse-Leben hat man nichts darüber gehört, wie der globalen Wirtschaft ohne äu ßere Einwirkung praktisch über Nacht die Statik abhanden kommen konnte. Niemand, der Verantwortung trägt, spricht ernsthaft über die Ursachen. Niemand, der die Trümmer besei tigt, sucht akribisch nach Indizien und Hinweisen auf die Ur heberschaft.« Ein Begriff indes ist in den vergangeneu Monaten häufig gefal len: der von der fehlenden »Moral«. Waren die Exzesse und der anschließende Absturz lediglich eine Folge von zu viel Gier? Und wenn ja, auf wessen Seite? Wirklich nur der Banken und ihrer Bonusmillionäre, wie immer wieder zu hören und zu lesen ist? Wie viel Schuld tragen aber dann die Sparer, die ihnen den Al kohol für ihre rauschenden Partys zur Verfügung gestellt haben, und das in historisch beispiellosen Mengen? Der Soziologe Christoph Deutschmann schreibt in seinem Beitrag sinngemäß, die aktuellen Problem deuteten auf etwas viel Größeres hin als auf einen schlichten >>Betriebsunfall«, der sich aus dem Fehlver halten einiger Weniger erklären ließe: Viel zu viel Kapital sei an den Finanzmärkten im Umlauf, daher sei es im traditionellen Sinne nicht mehr länger knapp und produziere demzufolge keine akzeptablen Renditen bei annehmbaren Risiken mehr. Die Lösung des Problems läge deshalb - wie Deutschmann in An lehnung an John Maynard Keynes schreibt -, in der Abkehr von einer >>bedauerlichen, psychischen Verirrung: Der Finanzinves188
tor gleiche einem Menschen, der nicht seine Katze liebt, sondern >die Kätzchen seiner Katze; und in Wirklichkeit nicht die Kätz chen, sondern die Kätzchen dieser Kätzchen, und so fort bis zum Ende des Katzentums< . Pathologien dieser Art werde man eines Tages mit Schaudern an die Fachleute für psychische Erkran kungen verweisen.<< Eine konkrete Behandlungsmöglichkeit die ser folgenschweren Liebe der Anleger und ihrer Handlanger zur Rendite sieht Deutschmann in der Nutzung und Rentabilisie rung des weltweiten Oberschusskapitals in einem neuen, durch die Energiewende getriebenen Wachstumszyklus, wofür aber ein koordiniertes, planvolles Vorgehen der Regierungen weltweit vonnöten sei; andernfalls könne die Überliquidität der Kapi talmärkte zum Dauerproblem werden - auch dann wären die demokratischen Nationalstaaten gefragt. So oder so, Deutsch mann sieht die Politik am Zug. Eine Einschätzung, die auch Heiner Flassbeck teilt; nur sieht er die Politik bereits am Rande der Kapitulation: Statt sich ernst haft mit systemischen Fragestellungen auseinanderzusetzen, sei sie den Unternehmerverbänden hörig und verwechsle das Ganze mit der Summe seiner Teile: Was vorteilhaft für einzelne Unter nehmen und Wirtschaftstreibende sein mag, ist nicht zwingend gut für die gesamte Volkswirtschaft. Ein Umstand, auf den in mitten der schweren Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre hinzuweisen schon John Maynard Keynes nicht müde wurde, was vor allem im bekannten »Sparparadoxon« seinen Nieder schlag fand: Wenn Einzelne ihr Einkommen sparen, statt es aus zugeben, dann mag das individuell betrachtet sinnvoll sein; wenn aber eine ganze Gesellschaft anfängt zu sparen, dann sinkt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit das Volksein kommen - eine Depression ist die Folge. Insofern betrachtet man die ersten Ankündigungen der neuen Bundesregierung, schon in den nächsten Jahren wieder »Sparhaushalte« vorzule gen, um die Kosten von Konjunkturmaßnahmen und Rettungs paketen aufzufangen, mit Skepsis.
Einen ganz anderen, und in den letzten Monaten sehr kontrovers
schaftspolitischen Credo der Wiederaufbaujahre machte. Sie
diskutierten Ansatz propagiert hingegen der Philosoph Peter
wandten sich gegen monopolistische Großkonzerne und Macht
Sloterdijk: Statt weiterhin und in steigendem Maße auf den steu
ballungen und traten ein für eine Förderung des Mittelstands
erfinanzierten Wohlfahrtsstaat zu setzen, mögen wir zu einer
und des Kleinunternehmertums. Fehlentwicklungen, wie sie
»thymotischen« Kultur des Schenkens finden, in der es den
sich unter dem unseligen Motto des »too big to fail<< in den letz
Wohlhabenden zu Stolz und Anerkennung gereicht, wenn sie
ten Monaten eindringlich in das Bewusstsein der Öffentlichkeit
sich von ihrem Reichtum zu sozialen Zwecken trennen. Freiwil
eingebrannt haben, hätten sie demnach auch klar als das be
lig, nota bene. Eine interessante Idee, die als »Utopie« zweifellos
nannt, was sie sind: ein ordnungspolitischer Skandal.
ihre Berechtigung hat, zumal es in den letzten Jahren unter den
Aber auch darüber hinaus ist der Begriff der Sozialen Markt
Superreichen tatsächlich in Mode gekommen zu sein scheint,
wirtschaft zu einer politischen Spielmarke verkommen und
zumindest einen Großteil des zu Lebzeiten angehäuften Vermö
dient vorwiegend der propagandistischen Volksberuhigung,
gens nicht den eigenen Erben, sondern philanthropischen Zwe
mithin also genau jenem Zweck, den Wilhelm Röpke in einer
cken zugutekommen zu lassen; die Namen Warren Buffett und
Festrede für seinen Kollegen Alfred Müller-Armack scherzhaft
Bill Gates seien hier nur beispielhaft genannt. Ob sich derartige
mit den Worten andeutete: »Er hat die glückliche Wortfügung
Einzelerscheinungen allerdings jemals zu einem Alternativmo
>Soziale Marktwirtschaft< geschaffen, und das ist mehr, als die
dell oder auch nur zu einem partiellen Ersatz für den modernen
Marke >Veronal< zu erfinden.« Wissen Sie, was »Verona!« war?
Wohlfahrtsstaat entwickeln werden können? Und ob das unter
Das erste für den deutschen Markt zugelassene Barbiturat, ein
sozial-ethischen Gesichtspunkten überhaupt wünschenswert
Beruhigungsmittel! Und zu viel mehr als zur Beruhigung und
wäre? Die Meinungen dazu sind recht unterschiedlich, wie die in
Beschwichtigung scheint der Begriff in der heutigen Polit-Rhe
der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in
der Zeit veröffent
lichten Stimmen zu Sloterdijks Beitrag anschaulich belegen.
torik auch nicht mehr zu gebrauchen zu sein: Die » Rückkehr« zu den alten Prinzipien der Wirtschaftspolitik wird zwar oft und
Die zentrale Frage für die Zukunft des Kapitalismus wird meiner
gerne propagiert, die Regierung lässt aber keinerlei Anstalten
Ansicht nach sein - und in diesem Punkt stimme ich wohl über
erkennen, vom bisherigen Kurs auch nur geringfügig abzuwei
ein mit den meisten der in diesem Band versammelten Beiträ
chen. Statt für Selbstständige, Kleingewerbetreibende und Mit
ge -, ob wir zurück zu einer Wirtschaft finden, in der das von
telständler, wird Politik zugunsten internationaler Konzern
Martin Walser so plastisch am Beispiel der Firma Aesculap
bürokratien gemacht. »Weiter so wie bisher« ist aber keine
propagierte Motto »Sozial ist, was Arbeit schafft« wieder in den
Lösung, die langfristig Bestand haben wird. Wie ich es in mei
Mittelpunkt rückt; in der das Handeln von Unternehmern und
nem Eröffnungsbeitrag schon zum Ausdruck brachte, wird eine
Unternehmen nicht nur zum Gegenstand, sondern vielmehr zur
solche Lösung, so sie sich als sozial gerecht und finanziell stabil
Richtschnur des Kapitalismus wird.
bewahrheiten soll, darin bestehen müssen, endlich den Binnen
Eine solche Vorstellung lag dereinst dem Programm zugrunde,
markt zu entdecken und die kleinen und mittelständischen Un
das die deutschen Professoren Müller-Armack, Röpke und Eu
ternehmer zu fördern. Darin läge eine »Wachstumsbeschleu
cken in den fünfziger Jahren unter dem Schlagwort »Soziale
nigungsmaßnahme«, die diesen Namen auch verdient. Um es
Marktwirtschaft« vertraten und das Ludwig Erhard zum wirt-
mit einer Abwandlung des Titels von Friedrich Merz' letztem
190
1 91
Buch zu sagen: Deutschland muss nicht mehr Kapitalismus wa gen, sondern einen anderen! Ich möchte am Schluss die Metapher aufgreifen, die der Psycho loge und Systemtheoretiker Fritz B. Sirnon sowohl an den Be ginn als auch an das Ende seines Beitrages stellte: Die Wirtschaft ist ein Boot, in dem wir alle sitzen. Die Sinn- Frage: Wohin wollen wir mit diesem Kahn fahren? - oder realistischer: Wo wollen wir auf keinen Fall landen? -, muss öffentlich diskutiert und poli tisch umgesetzt werden. Dabei sollten wir uns eines stets vor Au gen halten: Boote, die nicht gesteuert werden, können mitunter auch an Ufer treiben, die man ganz gewiss nicht entdecken wollte. - Mögen die Beiträge dieses Buches eine Debatte wach halten und befördern, durch die uns derartige Ufer erspart blei ben.
Thomas Strobl
VIKTOR JEROFJEW schreibt regelmäßig für die New York Review of Books. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch der Essayband Russische Apokalypse (Berlin).
Die Autorinnen und Autoren
DIRK BAECKER lehrt Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen am Bodensee. Zuletzt publizierte er das Buch Kapitalismus als Religion (Kadmos). CHRISTOPH DEUTSCHMANN
lehrt Soziologie an der Universität
Tübingen.
MICHAEL A. GOTTHELF
ist Vorsitzender des Walther Rathenau
Instituts Berlin. ist Schriftstellerin. 2009 erschien im Suhrkamp Verlag ihr Romandebüt Kürzere Tage.
ANNA KATHARINA HAHN
WILHELM HANKEL lehrte vierzig Jahre Währungs-
und Entwick lungspolitik an in- und ausländischen Universitäten ( u. a Fran : furt, Harvard, Georgetown) und leitete unter Karl SehtHer dte Abteilung »Geld und Kredit« im Bundeswirtschaftsministerium.
�
lehrt Sozialwissenschaft an der Universität
Bremen. leitet das Berliner Hauptstadtbüro des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.
KAREN HORN
ist Schriftsteller und veröffentlichte im Frühjahr 2009 den Roman Eskorta (Klett-Cotta) .
M I CHAL HVORECKY
194
MEINHARD MIEGEL ist Vorstand des »Denkwerks« Zukunft Stiftung kulturelle Erneuerung sowie wissenschaftlicher Leiter des Ameranger Disputs der Emst-Freiberger-Stiftung. Zuletzt
erschien von ihm Epochenwende: Gewinnt der Westen die Zu
kunft? (List).
HEINER FLASSBECK war unter Oskar Lafontaine Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und ist heute Chefvolkswirt der UN -Organisation für Welthandel und Entwicklung. Zuletzt er . schien Gescheitert - Warum die Politik vor der Wirtschaft kapttu liert (Westend).
GUNNAR HEINSOHN
PAUL K I RCHHOF lehrt Öffentliches Recht, Verfassungsrecht , Fi nanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg .
HEINER MÜHLMANN lehrt am Institut für Design und Techno logie der ZHdK, Zürich, sowie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Von ihm erschien zuletzt Darwin, Kalter Krieg, Weltwirtschaftskrieg ( Fink) . WOLFGANG MÜLLER-MICHAELIS ist Volkswirt und lehrt Allge wandte Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lü neburg. Zuletzt erschien von ihm Neue Wege zu mehr Beschäfti gung-Ein Gegenentwurfzur gescheiterten Reformpolitik ( Resch).
lehrt Soziologie Universität München.
ARMIN NASSEHr
an
der Ludwig-Maximilians
war unter der Großen Koalition von 2005 bis 2009 Bundesminister des Innem. Seit dem 28. Oktober 2009 ist er Bundesfinanzminister.
WOLFGANG SCHÄUBLE
ist Schriftsteller und veröffentlichte zuletzt den und Evelyn (Berlin).
INGO SCHULZE
Roman Ada m
FRITZ B . SIMON lehrt Führung und Organisation an der Univer sität Witten/Herdecke, zuletzt publizierte er eine Einführung in
die Wirtschaftstheorie.
1 95
ist Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und lehrt dort Philosophie und Ästhe tik. Von ihm erschien zuletzt im Suhrkamp Verlag Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik ( 2009). PETER SLOTERD I J K
ANDRZEJ STA S I U K ist Schriftsteller und lebt in einem Dorf in den
Beskiden. Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag die Reiseskiz zen Fado und Dojczland (beide 2008). THOMAS VON STEINAECKER ist Journalist und Germanist und debütierte 2007 mit dem Roman Wallner beginnt zu fliegen. Zu letzt erschien sein dritter Roman Schutzgebiet (Frankfurter Ver lagsanstalt) .
ist Soziologe und Direktor des Max Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln.
WOLFGANG STREECK
ist Finanzökonom und Publizist. Er betreibt den Blog weissgarnix.de und schreibt regelmäßig für das Feuille
THOMAS STROBL
ton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im Herbst 2010 er scheint sein Buch Ohne Schulden läuft nichts. EMMANUEL TODD ist Demograph und Historiker. Bekannt wurde er durch sein 2005 auf Deutsch erschienenes Buch Welt macht USA. Ein Nachruf ( Piper) .
lehrt Ökonomie an der Universität Freiburg und ist Direktor des dortigen Walter Eucken Instituts.
VIKTOR VANBERG
ist Schriftsteller und veröffentlichte zuletzt den Roman Ein liebender Mann ( Rowohlt).
MARTIN WALSER
M ICHAEL ZÖLLER
Bayreuth.
lehrt Politische Soziologie an der Universität
Drucknachweise
Thomas Strobl, »Wohlstand für alle«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 1. Mai 2009. Karen Horn, »Modell Deutschland«, in: FAZ vom 5· Mai 2009. Martin Walser, »Wettbewerb ist ein Gebot der Nächstenliebe«, in: FAZ vom 7· Mai 2009. Dirk Baecker, ))Die Firma ist eine Zumutung«, in: FAZ vom n. Mai 2009. Gunnar Heinsohn, ))Die nächste Blase schwillt schon an«, in: FAZ vom 22. Mai 2009. Paul Kirchhof, ))Der Schaden der anderen«, in: FAZ vom 29. Mai 2009. Meinhard Miegel, ))2015 - das Jahr der finalen Krise«, in: FAZ vom J. Juni 2009. Peter Sloterdijk, ))Die Revolution der gebenden Hand«, in: FAZ vom 13. Juni 2009. Michael Hvorecky, ))Amüsieren? Erst mal können vor Lachen!«, in: FAZ vom 15. Juni 2009. Armin Nassehi, ))Mit ästhetischer Erziehung aus der Finanz krise?«, in: FAZ vom 17. Juni 2009. Heiner Flassbeck, ))Was sozial ist, schafft Arbeit!«, in: FAZ vom 23. Juni 2009. Michael A. Gotthelf, ))Was starrt ihr alle auf1929?!«, in: FAZ vom 4· Juli 2009. Christoph Deutschmann, ))Ohne Aufstiegswille kein Kapitalis mus«, in: FAZ vom 10. Juli 2009. Thomas von Steinaecker, ))Das dünne Eis der Fiktion«, in: FAZ vom 16. Juli 2009. Viktor Vanberg, ))Global robust, lokal verwundbar«, in: FAZ vom 21. Juli 2009. 197
Michael Zöller, »Haben wir denn im Kapitalismus gelebt?«, in: FAZ vom 3· August 2009. Ingo Schulze, »Das Monster in der Grube<<, in: FAZ vom 5· August 2009. Fritz B. Simon, »Der Untergang findet nicht statt«, in: FAZ vom 7· August 2009. Heiner Mühlmann, »Sprechstunde beim Betriebspsychologen<<, in: FAZ vom n. August 2009. Andrzej Stasiuk, »Lichen lässt mir keine Ruhe<<, in: FAZ vom 18. August 2009. Wolfgang Schäuble, »Ohne Maß ist die Freiheit der Ruin«, in: FAZ vom 28. August 2009. Wolfgang Streeck, »Und wenn jetzt noch eine Krise käme?«, in FAZ vom 8. September 2009. Viktor Jerofejew, »Seelen im Sonderangebot<<, in: FAZ vom 30. Oktober 2009. Anna Katharina Hahn, »Die Abschaffung der Kindheit«, in: FAZ vom 4· November 2009. Wilhelm Hankel, »Retter, die alles noch schlimmer machen<<, online auf FAZ-Net am 4. Januar 2010. Wolfgang Müller-Michaelis, »Wie man den Korken aus der Fla sche bekommt<<, online auf FAZ-Net am 23. Januar 2010. Emmanuel Todd, »Europa muss sich durchsetzen«, in: FAZ vom 12. Januar 2010.