Armin Nassehi Die Zeit der Gesellschaft
Armin Nassehi
Die Zeit der Gesellschaft Auf dem Weg zu einer soziologischen ...
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Armin Nassehi Die Zeit der Gesellschaft
Armin Nassehi
Die Zeit der Gesellschaft Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit Neuauflage mit einem Beitrag „Gegenwarten“
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 1993 2. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15855-6
Einleitung
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur ersten Auflage 1993......................................................................................... 7 Vorwort zur Neuauflage 2008 .............................................................................................. 9 Gegenwarten ........................................................................................................................ 11 1. Chronopolitismus? ........................................................................................................ 13 2. Beschleunigung als Problem und als Lösung ............................................................... 21 3. Praxisgegenwarten ........................................................................................................ 24 4. Gesellschaft der Gegenwarten....................................................................................... 30 Literatur................................................................................................................................. 32 Einleitung ............................................................................................................................. 35 I. Kapitel: Zeit und Zeitbewußtsein .................................................................................. 39 1. Die Zeit denken ............................................................................................................. 39 2. Verinnerlichung und Modalisierung der Zeit................................................................ 44 a) Zeit und Zahl. Aristoteles...................................................................................... 44 b) Zeit und Seele. Augustinus ................................................................................... 48 c) Zeit als reine Form der Anschauung. Kant ........................................................... 52 d) Zeit und innere Dauer. Bergson ............................................................................ 58 e) Retention und Protention. Husserl ........................................................................ 62 3. Erste Auszeit ................................................................................................................. 78 II. Kapitel: Intersubjektive und soziale Zeit .................................................................... 81 1. Irrealität vs. Realität der Zeit. McTaggart vs. Bieri ...................................................... 81 2. Von der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zur Phänomenologie des intersubjektiven Zeitbewußtseins.................................................................................. 86 a) Monadologische Intersubjektivität und Kopräsenz. Husserl ................................ 86 b) Sinn und Zeit. Schütz ............................................................................................ 99 3. Relativität und Sozialität der Zeit ............................................................................... 111 a) Relativität und Zeit. Mead und Whitehead ......................................................... 112 Exkurs: Spezielle Relativitätstheorie .......................................................................... 115 b) Handlung und Zeit. Mead.................................................................................... 127 4. Zweite Auszeit............................................................................................................. 138
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Inhaltsverzeichnis
III. Kapitel: Zeit sozialer Systeme ................................................................................... 145 1. Bewußtsein und Kommunikation................................................................................ 145 a) Intersubjektivität vs. Kommunikation................................................................. 145 b) Operative Geschlossenheit, Konstruktivität und Autopoiese ............................. 153 c) Bewußtsein und Kommunikation als autopoietische Systeme ........................... 166 d) Strukturelle Kopplung als Zeitproblem............................................................... 173 2. Zeit, Struktur und Prozeß ............................................................................................ 182 a) Ereignis und Zeit ................................................................................................. 182 b) Beobachtung und Zeit ......................................................................................... 189 c) Selbstreferenz und Zeit........................................................................................ 194 d) Struktur und Prozeß............................................................................................. 203 3. Zeitlichkeit der Systeme und Realität der Zeit............................................................ 210 a) Konstruktivismus und Ontologie ........................................................................ 211 b) Autoontologie...................................................................................................... 218 c) Zeit als differenzlose Differenz? ......................................................................... 222 4. Dritte Auszeit .............................................................................................................. 231 IV. Kapitel: Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit ............................................. 237 1. Systemdifferenzierung und Gleichzeitigkeit............................................................... 238 2. Gleichzeitigkeit und Anwesenheit in segmentär differenzierten Gesellschaften ....... 245 a) Segmentäre Differenzierung der Gesellschaft .................................................... 245 b) Mythos und Zeit .................................................................................................. 252 3. Gleichzeitigkeit und Heilsgeschichte in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften ............................................................................................................. 259 a) Strukturtransformation zur stratifikatorischen Differenzierung ......................... 259 b) Monumentalität und Zeit Altägyptens ................................................................ 266 c) Ewigkeit und Zeit im europäischen Mittelalter................................................... 273 4. Gleichzeitigkeit und Fortschritt an der Epochenschwelle zur Moderne..................... 282 a) Ausdifferenzierung von Religion und Politik ..................................................... 282 b) Gestaltung der Zeit .............................................................................................. 288 c) Fortschritt und Geschichte als Einheit der Differenz.......................................... 292 5. Gleichzeitigkeit und Synchronisation in der funktional differenzierten Gesellschaft ................................................................................................................. 299 a) Funktion und Beobachtung ................................................................................. 299 b) Differenz und Synchronisation ........................................................................... 306 c) Temporalisierte Inklusion und biographische Identität ...................................... 317 6. Moderne Zeiten: Vom Ende der Geschichte zum Risiko der Zeit.............................. 328 a) Negation des Chronos ......................................................................................... 329 b) Risiko und Zeit .................................................................................................... 337 7. Re-Entry ...................................................................................................................... 344 Literatur............................................................................................................................. 349 Sachregister........................................................................................................................ 373 Personenregister ................................................................................................................ 379
Einleitung
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Vorwort zur ersten Auflage 1993
Ob es stimmt, daß das Werk die Totenmaske der Konzeption sei, wie Walter Benjamin sagt, weiß ich nicht. Jedenfalls enthält ein fertiger Text die Konzeption nur noch in geronnener Gestalt, in enem festen Aggregatzustand, der der Dynamik ihrer Entstehung nicht gerecht werden kann. Nach Fertigstellung des Textes läßt sich nichts mehr durch Neukonzeption und Korrektur, durch Gestaltung des Textes, durch Reversibelhalten der Thesen und durch genaueres Hinsehen beeinflussen. Bestenfalls entwickelt das Textcorpus ein Eigenleben – und muß doch dem Autor zugerechnet werden. Ich hoffe, daß Manches hier oder da anschlußfähig ist und Anschlußfähiges auslöst. Die Arbeit lag 1991 der Philosophischen Fakultät der Westfälischen-WilhelmsUniversität Münster als Dissertationsschrift vor. Ich danke den Betreuern der Dissertation, den Professoren Georg Weber und Rolf Eickelpasch, für ihre kritischen und wohlwollenden Anmerkungen und für die Förderung, die sie mir angedeihen ließen. Besonders gilt dies für Georg Webers freundschaftlichen Vertrauensvorschuß, den man für selbständiges Arbeiten braucht. Er hat mir in meiner Zeit als „sein“ wissenschaftlicher Mitarbeiter genug Raum und Zeit eingeräumt, um diese Arbeit abschließen zu können. Desweiteren habe ich zu danken:
Georg Kneer, Dirk Richter und Frank Grunert für wertvolle Hinweise und kritische Anmerkungen, von denen nicht wenige ihren Niederschlag im Text gefunden haben; den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mehrerer Seminare, die sich vom Thema haben infizieren lassen und an deren Immunreaktionen ich mich abarbeiten mußte; der Westfälischen Wilhems-Universität Münster für die Gewährung eines Promotionsstipendiums; meinen Eltern Gisela und Amir Nassehi für vielfältige materielle und immaterielle Unterstützung während und nach dem Studium; meiner Lebensgefährtin Annette Großlohmann dafür, daß sie stets unbeeindruckt von akademischer Gelehrsamkeit die unvermeidlichen Merkwürdigkeiten liebevoll ertragen hat, die sich aus dem Eintauchen in ein abstraktes Thema ergeben. Ihr widme ich dieses Buch.
Armin Nassehi
Münster, im August 1992
Einleitung
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Vorwort zur Neuauflage 2008
Diese Ausgabe gäbe es ohne Frank Engelhardt nicht. Er hat angeregt, meine Dissertation von 1993 nach 15 Jahren neu aufzulegen, und ich danke ihm herzlich dafür. Freilich stellt sich die Frage, was es rechtfertigt, einen nun mehr als eineinhalb Jahrzehnte alten Text neu aufzulegen, zumal den Text einer Qualifikationsarbeit – die Arbeit war 1991 Gegenstand eines Promotionsverfahrens an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster. Nach Durchsicht des Textes, den ich selbst seit seinem Erscheinen kaum konsultiert habe, muß ich in der Tat feststellen, wie aktuell er mir nach wie vor erscheint. Das läßt sich freilich unterschiedlich interpretieren. Es kann bedeuten, dass sich seitdem offensichtlich wenig in meinem Kopf verändert hat – es kann aber auch bedeuten, daß manche der Motive meiner späteren Arbeiten hier bereits vorbereitet wurden. Naturgemäß neige ich zu der letztgenannten Auffassung. Und in der Tat kann ich im Hinblick auf gegenwärtige Arbeiten am Konzept einer Gesellschaft der Gegenwarten sowie im Hinblick auf praxistheoretische Erweiterung systemtheoretischer Denkfiguren unmittelbar an die Zeit der Gesellschaft anschließen. Ich nutze die Gelegenheit, solche Anschlüsse in einem kurzen Beitrag genauer zu erläutern sowie darin die Weiterentwicklungen soziologischer Zeit-Diagnosen zu sichten. Am Haupttext der Zeit der Gesellschaft habe ich bis auf einige wenige Korrekturen nichts geändert. Denn hätte man den Text auf den neuesten Stand der Literatur bringen wollen, wären doch größere Eingriffe in das Corpus nötig gewesen, ohne daß sich der Ertrag der Studie wesentlich verändert und verbessert hätte. Hier hat dann also ein ökonomisches Argument den Ausschlag gegeben. Danken möchte ich neben Frank Engelhardt meiner studentischen Mitarbeiterin Dinah Schardt, die den größten Teil der Korrekturen besorgt hat, sowie meinem Sohn Moritz, der bei der Erstellung der Register geholfen hat. Ferner danke ich noch einmal all jenen, die bereits im Vorwort zur ersten Auflage bedacht worden sind. Das gilt auch für die Widmung an Annette Großlohmann vom August 1992, die bis heute Bestand hat. Armin Nassehi
München, im März 2008
Zur Neuauflage: Gegenwarten
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Zur Neuauflage: Gegenwarten
Die Zeit der Gesellschaft1 hat als sozialtheoretische und gesellschaftstheoretische Arbeit vor allem zwei Thesen stark gemacht: zum einen daß sich eine angemessene soziologische Theorie der Zeit insbesondere als operative Theorie darstellen müsse, die in der Lage sei, soziale Zeit in den Operationen kommunikativer Akte zu lokalisieren. Dazu habe ich in einem Durchgang durch den Bestand soziologischer Theorien der Zeit herausgearbeitet, wie sich eine eigene soziale Zeitstruktur beschreiben läßt, deren operativer Charakter gerade darin besteht, daß es nicht eine Überschneidung oder summarische oder additive Kombination „subjektiver“ Eigenzeiten ist, die die soziale Zeit ausmacht. Gemäß einer operativen soziologischen Theorieanlage habe ich gezeigt, wie eine ereignisbasierte Form sozialer Praxis es selbst ist, die eine Zeitstruktur hervorbringt, die als soziale Zeit firmiert. Zum anderen habe ich gesellschaftstheoretisch gezeigt, daß die Zeit der funktional differenzierten modernen Gesellschaft vor allem dadurch charakterisiert sei, daß sich unterschiedliche Zeitregimes nebeneinander etablieren und damit ein spezifisches temporales Problem hervorbringen, das Problem der Synchronisation nämlich. Die Verbindung zwischen diesen beiden Hauptthesen des Buches besteht darin, daß erst eine operative Theorieanlage es vermag, die Eigenzeiten sozialer Systeme auf den Begriff zu bringen und sie aufeinander zu beziehen. Von diesen beiden Thesen habe ich prinzipiell nichts zurück zu nehmen. Nach wie vor bildet die Husserlsche Figur der „Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“ (Husserl 1980) die am konsequentesten ausgearbeitete Folie für eine operative Zeittheorie, wie ich sie mit Luhmanns operativer Theorie von Kommunikationssystemen herausgearbeitet habe. Und ebenso darf die Diagnose einer Gesellschaft Bestand haben, die sich vor allem dadurch auszeichnet, daß sie nicht durch einen gemeinsamen, sinnstiftenden Zeithorizont zusammengehalten wird, sondern daß sich die Differenzierung der Gesellschaft auch in der Differenzierung von temporalen Programmen, Perspektiven und Horizonten niederschlägt, deren technischer Ausdruck zwar eine global wirksame Welt-/Uhrenzeit ist, deren Funktion aber gerade darin besteht, die unterschiedlichen Zeithorizonte nicht miteinander verschmelzen zu lassen. Für mich ist an der ZdG nach wie vor aktuell – und nur das rechtfertigt eine Neuauflage –, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist: keine angemessene Zeit-Diagnose der Gesellschaft ohne eine angemessene Theorie sozialer Zeit, und keine solche ohne eine Theorie der Gesellschaft, die in der Lage ist, das Nebeneinander der unterschiedlichen Zeitprogramme auch soziologisch zu verstehen. Freilich ist der Abstand von fünfzehn Jahren seit dem ersten Erscheinen der ZdG Anlaß genug, nach neuen Entwicklungen und grundlegenden Themen der Soziologie der Zeit 1
Hier zitiert als ZdG mit den Seitenangaben der vorliegenden Neuausgabe.
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Zur Neuauflage: Gegenwarten
Ausschau zu halten, um von dort her die früheren Thesen einer Relektüre zu unterziehen. Sehe ich recht, so ist es in den letzten Jahren vor allem ein Thema gewesen, das immer wieder bearbeitet worden ist: Beschleunigung (vgl. nur Moore-Ede 1993; Adam 1995; Backhaus/Bonus (Hg.) 1998; Geißler 1999; Gleick 1999; Baier 2000; Borscheid 2004; Reheis 2003; Scheuerman 2004) – ein Motiv variierend, das von Karl Marx’ und Friedrich Engels’ Manifest von 1848 den „beschleunigten Lauf der Maschinen“ (Marx/Engels 1969: 27) betont, über Lewis Mumfords berühmtes Wort, nicht die Dampfmaschine, sondern die Uhr sei die Schlüsselmaschine der industriellen Gesellschaft (Mumford 1934: 17), bis hin zu Paul Virilios dunkler Diagnose, der Sozialpartner sei in der beschleunigten Moderne „kein mit allen Rechten ausgestatteter ‚Gesellschafter’ mehr“, sondern „ein ‚Mensch auf Zeit’“, dessen „Anwesenheit immer mehr schrumpft“ (Virilio 1989: 51f.; auch 1998). Diese Diagnose ist ebenso kompakt wie treffend, und sie hat – zumindest auf den ersten Blick – Alltagserfahrungen auf ihrer Seite. Beschleunigung kann in der Tat als eine der erfolgreichsten Diagnosen in terminis temporis gelten. Das gilt sowohl als kritische wie auch als affirmative Diagnose: affirmativ streben Management-, Lern-, Produktions- und Transportkonzepte nach Beschleunigung, Effizienz und Geschwindigkeit, und kritisch läßt sich Beschleunigung als Sinnentleerung der Zeit und als Notzustand beschreiben. Im Sinne von Luc Boltanski und Laurent Thévenot handelt es sich dabei gewissermaßen um komplementäre Formen der „Rechtfertigung“, der Beschreibbarkeit der Welt, unterschiedlicher Welten, beide ausgestattet mit dem Recht, bestimmte Formen der Urteilskraft ins Werk zu setzen (vgl. Boltanski/Thévenot 2007). Der Charme der Beschleunigungsdiagnose scheint mir darin zu liegen, daß hier die zunächst positiv besetzte moderne Idee der Beschleunigung der Verhältnisse und der Überwindung tradierter Langsamkeit in ihr Gegenteil verkehrt wird: Das Medium der Erneuerung, Beschleunigung, richtet sich gegen sich selbst. Was zunächst Träger von Sinn war, wird nun zum Motor des Sinnverlusts – eine in der Soziologie bewährte Diagnose mit langer Tradition seit Marxens These von der Selbstabschaffung der Bourgeoisie aufgrund ihrer historischen Erfolge und seit Max Webers Analysen über den Doppelcharakter von Rationalisierungsprozessen. Die Beschleunigungsdiagnose gewinnt exakt aus dieser Denkungsart ihr kritisches Potential und verschafft sich Aufmerksamkeit und Anschlußfähigkeit dadurch, daß man sie evident sehen kann – the acceleration of just about everything (Gleick 1999) kann diagnostiziert werden, und wenig spricht gegen diese Erfahrung. Man muß nur einen Blick auf urbane Lebenswelten, auf Wirtschafts- und Medienkreisläufe, auf Verkehrsinfrastrukturen und auf die Organisation eines ganz normalen Alltags im Spannungsfeld von Familie, Erwerbsarbeit und Regenerationsbedürfnissen richten. In der Tat: Diese Diagnose ist ohne Zweifel richtig und bildet sicher einen wesentlichen Zug des modernen Zeitregimes ab – eine Diagnose übrigens, die, wenigstens am Rande, auch die ZdG enthält (vgl. ZdG: 194), begründet insbesondere damit, daß sich mit der Differenzierung der Zeitregime und dem daraus resultierenden Synchronisationsbedarf die Ereignisfrequenz erhöht und damit Beschleunigung erlebt werden kann. Freilich ist diese Diagnose alles andere als aufregend – aber sie hat einen unschätzbaren Vorteil. Sie läßt sich tatsächlich in konkrete Erfahrung übersetzen. Letztlich lautet die Grundthese der fulminanten Studie Beschleunigung von Hartmut Rosa, die die Veränderungen der Zeitstrukturen der Moderne auf den Begriff zu bringen trachtet, daß sich soziale
Zur Neuauflage: Gegenwarten
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Beschleunigung in technischen Dimensionen der Beschleunigung von Produktion und Kommunikation niederschlägt (vgl. Rosa 2005: 124ff.), in der Dimension der Beschleunigung sozialen Wandels als Verkürzung von Gegenwarten (vgl. ebd.: 129ff.) und in der Dimension des Lebenstempos in der „Steigerung der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“, die sich objektiv in der Verkürzung der und Verdichtung von Handlungsepisoden zeigt und subjektiv in der Empfindung von Zeitnot und Zeitknappheit. Die Ästhetik dieser Diagnose besteht in ihrer Übersetzbarkeit in konkrete Erfahrung – und dürfte wohl gerade deshalb die eingängigste und öffentlich wirksamste Zeit-Diagnose darstellen, die sich an unzähligen Beispielen variieren läßt. Ich vermute freilich, daß gerade die Eingängigkeit und Plausibilität dieser Übersetzbarkeit in Erfahrung zu Übersprungshandlungen einer Soziologie der Zeit führt, die ich einen Chronopolitismus nennen möchte. Ich werde im Folgenden deshalb unter diesem Stichwort zunächst die Beschleunigungsdiagnose – vor allem am Beispiel von Hartmut Rosas Arbeit – diskutieren (1.). Rosas Arbeit nehme ich mir nicht wegen besonderer Originalität vor, sondern weil sie im Vergleich zu den meisten anderen Arbeiten zum Topos sicher den soziologisch anspruchsvollsten Anspruch an sich selbst stellt, weil sie die ZdG unmittelbar im Fokus hat und weil ihre Art der Soziologie gerade aufgrund ihres ähnlichen Anspruchs an eine soziologische, nicht nur kulturkritische Deutung des Phänomens produktiv in maximaler Distanz zur ZdG gelesen werden kann. Womöglich erweist sich Beschleunigung dann nicht nur als Problem, sondern auch als Lösung (2.). Daraus werden Konsequenzen zu ziehen sein, die zu einer Präzisierung der in ZdG entwickelten beiden Dimensionen einer sozialtheoretischen und einer gesellschaftstheoretischen Theorie der Zeit beitragen sollen. Ich werde dafür die praxistheoretische Dimension meiner Unterscheidung von Zeit der Autopoiesis und Beobachtungszeit herausarbeiten (3.) und meine Analyse des Synchronisationsproblems unter dem Stichwort Gesellschaft der Gegenwarten noch einmal kurz zusammenfassen (4.).
1.
Chronopolitismus?
Die Beschleunigungsdiagnose berührt die Substanz der ZdG letztlich nicht. Im Gegenteil: Im vierten Kapitel (ZdG: 323ff. und 359ff.) mache ich explizit auf die gesellschaftsstrukturellen und semantischen Entwicklungen aufmerksam, in denen sich das Zeitregime von der Fortschrittsidee der Frühmoderne und von der Planungseuphorie der klassischen Industriegesellschaft zu jenem Synchronisationsproblem entwickelt, vor dem das Nacheinander und die Gleichzeitigkeit von Ereignissen tatsächlich als Beschleunigung erlebt wird. Die gepflegte Zeitsemantik reagiert darauf einerseits mit einer Temporalisierung der Differenz von individuellen/biographischen und sozialen/gesellschaftlichen Zeitprogrammen, was soziologisch letztlich die Plausibilität der Individualisierungsdiagnose gut abbildet. Andererseits reagiert sie mit einer Art traurigem Verzicht und erheblicher Enttäuschung: Die Identität von Zeit und Sinn, eine Erbschaft der klassisch-modernen Idee der gesellschaftlichen, vor allem politischen Herstellung von Einheit einer funktional und vertikal differenzierten Gesellschaft geht verloren, bis sogar das Ende der Geschichte ausgerufen wird – wie wir heute wissen, war dieser Ausruf selbst ein historisches Datum, so daß es gar so schlimm nicht gekommen ist. Die Abkühlung der utopischen Energien der Zeit selbst je-
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denfalls, die klassisch-moderne Idee, daß die Zukunft anders, in jedem Fall aber besser sein wird, die Verheißung auf die Lösung von Problemen, die ja stets in der Zukunft liegt, das Vertrauen in die normativen Potentiale einer zukunftsmächtigen Gestaltbarkeit der Welt – all das hat zu dunklen Diagnosen geführt, die ihren Erfolg dadurch erwirtschaften, daß sie einerseits die klassisch-modernen Verheißungen hinter sich lassen wollen, andererseits aber doch von ihnen zehren. Wenn Peter Sloterdijk, um nur ein Beispiel mit semantischer Breitenwirkung zu nennen, zehn Jahre vor der Jahrtausendwende betont, daß man einen Ausgang aus dem Nihilismus des Chronos nur im und durch den Augenblick erlangen könne (vgl. Sloterdijk 1990: 121), dann nimmt er die Idee der sinnhaften Zeit, des temporalisierten Chronos noch in seiner kairologischen Negation des Augenblicks in Anspruch. Die Diagnose der Beschleunigung, der Gegenwartsschrumpfung und des temporalen Sinnverlusts lebt bisweilen in der bürgerlichen Welt des erfüllten Augenblicks – entweder der außeralltäglichen Überhöhung des Augenblicks, wie wir ihn in den Sphären der Religion, der Kunst, der Erotik oder genialen Innerlichkeit kennen oder der innerweltlichen Vervollkommnung im Sinne einer unterstellten sozialen Einheit, in der und für die die einzelne Tätigkeit von sinnhafter Bedeutung ist. Es ist dies die alte, immer wieder neue Verheißung, daß Differenzierung eben doch auf Einheit verweist, daß sie nur ein Durchgangsstadium zur Integration ist und daß sich die Entzweiungen der Moderne am Ende so auflösen lassen, wie es die frühe Moderne versprochen hatte: in der Integration der Teile für eine bessere Zukunft. Bisweilen sind solche Diagnosen dann auch mit kulturkritischen Konnotationen versehen, in denen die (vormoderne) Langsamkeit und Behutsamkeit als ein Gegenmodell gefeiert wird, ein wenig erinnernd an die romantische Idee, daß alles und alles stets eine Bedeutung haben muß (vgl. etwa Reheis 1998; Chowers 2002; Eriksen 2001). Rosas Studie ist weit weg von solcher Romantik. Sie ist keine Apologie der Langsamkeit und auch kein naives Entschleunigungsprogramm, sondern eine durchaus tiefenscharfe Analyse von Zeitstrukturen, die vielleicht allzu sehr über den Kamm der Beschleunigung geschert werden, die aber zu spannenden, freilich nicht wirklich überraschenden Ergebnissen gelangt. Warum ich diese Studie hier genauer kommentieren möchte, liegt daran, daß sich in Absetzung zu ihr genauer zeigen läßt, wie sich eine Soziologie der Zeit beschreiben läßt, wie ich sie in der ZdG vorgelegt habe – und darüber hinaus: In der herauszuarbeitenden Differenz werde ich genauer Stellung dazu beziehen können, warum ich meine, daß die Grundintuition von Rosas gesellschafts-/modernitätstheoretischem Ansatz aus systematischen Gründen für eine differenzierungs- und praxistheoretische Theorie der modernen Gesellschaft blind bleiben muß. Der Topos Zeit ist dafür ein geeigneter Testfall. Letztlich geht es dabei um nichts weniger als um die Frage, wie und was Soziologie zu sagen hat – was ihr Proprium ist. Aus seiner Beschleunigungsdiagnose, die ich im einzelnen nicht rekonstruiere, zieht Rosa weitreichende Konsequenzen. Die Studie kulminiert in einer fulminanten „beschleunigungstheoretischen Entfremdungskritik“, die er folgendermaßen paraphrasiert: „Die Zeitstrukturen der Beschleunigungsgesellschaft ... bringen die Subjekte dazu, ‚zu wollen, was sie nicht wollen’, d.h. aus eigenem Antrieb Handlungslinien zu verfolgen, die sie aus einer zeitstabilen Perspektive nicht präferieren. Die normativen Maßstäbe einer solchen ZeitKritik liefern daher die Subjekte selbst.“ (Rosa 2005: 483) Das sind starke Sätze, zitierbare Sätze, Sätze, die punkten – es sind aber auch sehr einfache Sätze, denn sie brauchen nicht
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viel, um ihre Plausibilität zu behaupten. Sie kennen, ganz im Stile von Helmut Schelskys transzendentaler Theorie der Gesellschaft, einen Maßstab, der gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft situiert ist, jedenfalls außerhalb jenes Bereichs, der der soziologischen Analyse selbst zugänglich ist. Ganz wie Schelsky begnügt sich Rosa am Ende seiner Analysen damit, „die subjektive Reflexion“ gegen den „Zwang des Sozialen“ zu setzen und seine soziologische Analyse an einem Maßstab zu messen, „der Soziales durch Nichtsoziales erklärt“ (alle Zitate Schelsky 1959: 98 und 105). Angesichts dieser starken Sätze jedenfalls hinterläßt mich Rosas Vorwurf an die ZdG, diese verfüge über keinen Anschluß an eine „empirisch gehaltvolle sozialwissenschaftliche Theoriebildung“ und münde in einen „systemtheoretisch-esoterischen Zeitbegriff“ (Rosa 2005: 22), eigentümlich ratlos. Denn wie soll man denn ernsthaft nach Jahrzehnten einer wohlwollenden Dekonstruktion eines schlicht als Subjekt eines starken Satzes dastehenden Subjekts etwa durch George Herbert Mead oder Jürgen Habermas „die Subjekte selber“ zum Maßstab der Kritik machen – und dabei genau wissen wollen, was sie wollen und was nicht und was ihr eigentlicher Wille ist und was nur ihr vorgestellter (vgl. dazu ausführlich Nassehi 2006: 69-164)? Wie kann man die breite Diskussion um die praxeologische Formierung von Subjekten, um die praktische Herstellung subjektiver Adressen und um Subjektivierungen so systematisch ignorieren? Andreas Reckwitz bringt in seiner materialreichen Analyse die grundlegende Fragestellung treffend so auf den Begriff: „Was sind die spezifischen Praktiken, in denen die moderne Kultur Subjekte mit bestimmten Dispositionen, am Ende auch mit bestimmten kognitiven und emotionalen Innenwelten beständig hervorbringt? Und was sind die spezifischen, immer wieder neu angewandten Dispositionen des Subjekts, die sich in diesen Praktiken ausbilden, sie tragen und reproduzieren?“ (Reckwitz 2006: 35) Dies sind Fragen einer „empirisch gehaltvollen sozialwissenschaftlichen Theoriebildung“, nicht das schlicht behauptete, fast hätte ich gesagt: esoterische Wissen darüber, was „die Subjekte“ wirklich wollen – wenn „empirisch gehaltvoll“ nicht bedeuten soll: gehaltvoll aus der Perspektive eines unterstellten common-sense. Diese letzten Passagen von Rosas Analyse unterschreiten das Niveau der vorherigen Analyse – und geben sich offensichtlich damit zufrieden, daß aus der Beschleunigungstheorie mit einem starken Strich eine kritische Beschleunigungstheorie wird. Daneben gilt dann alles andere nicht mehr als empirisch gehaltvoll, weil die Analyse dem normativen Maßstab widerspricht, der seinerseits offensichtlich so wenig normativ aufgeklärt ist, daß er sich um die Bedingung seiner Möglichkeit keine Gedanken mehr macht. Es rächt sich eben doch, daß kritische Soziologen ihren Habermas nicht mehr lesen, wo sie nachlesen könnten, wie empirienah sich normative Maßstäbe aufstellen müssen, wollen sie nicht einfach nur normative Sätze sein, die an den common sense anschließen und die Ästhetik einer Authentizität und Erfahrbarkeit bedienen, die als Textsorte dann jenseits der materialen Analysen allenfalls feuilletonfähig wird. Die einzige Plausibilität dieses normativen Maßstabes ist der common sense eines gelehrten, bürgerlichen Publikums, das als „Subjekt“ genau weiß, welches die wahren Bedürfnisse sind und was die Leute wirklich wollen und daß sie nicht wollen, was sie zu wollen vorgeben. Pierre Bourdieu verspottet dies treffend als einen „scholastischen Epistemozentrismus“ (Bourdieu 2001: 68). Ich will freilich nicht spotten. Rosas Analyse ist zu klug, als daß diese starken Sätze nur ein Zufall, nur eine Geschmacksfrage sein könnten. Und es gibt für sie in der Tat sozio-
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logische Gründe, die unmittelbar etwas mit Rosas Soziologie der Zeit zu tun haben und die sich auch an seiner Rezeption der ZdG ablesen lassen. An einer entscheidenden Stelle seiner Analyse wagt Rosa einen Blick über den Tellerrand von Beschleunigungsphänomenen – nämlich dort, wo er auf Differenzierungsfolgen trifft. Stark sind seine Argumente dort, wo er auf unterschiedliche Geschwindigkeiten trifft, auf die Langsamkeit der Politik und die Schnelligkeit der Wirtschaft, auf die Widerständigkeit von Lebensformen und den Koordinationsbedarf dieser unterschiedlichen Instanzen. Diese Perspektivendifferenz ist es, die das Problem sozialer Ordnung auch zu einem Problem temporaler Ordnung werden läßt. Daß die unterschiedlichen funktionalen Logiken der Gesellschaft unterschiedliche Geschwindigkeiten haben, ist freilich zunächst selbst das Ergebnis eines temporalen Differenzierungsprozesses. Vielleicht ist es dann auch bisweilen zu eindimensional gedacht, wenn man diese Ausdifferenzierung nicht auch als Ausdifferenzierung von Langsamkeit beobachtet. Man denke etwa an die Verlängerung von Bildungszeiten, an die Erfindung der Kindheit und dazugehöriger Programme in Familien und im Bildungssystem, an die Ausdifferenzierung der Religion als Langsamkeitsgenerator und nicht zuletzt an Politik als denjenigen Bereich der Gesellschaft, der explizit und mit geradezu verfahrenstechnischer Rationalität Langsamkeit in seine Entscheidungsroutinen einbaut. Demokratie ist ein Langsamkeitsgenerator – und erst vor diesem Hintergrund erscheint die Despotie der ökonomischen Schnelligkeit als Despotie, eine Despotie, die im politischen Funktionssystem systematisch bekämpft wird. Ich meine Despotie nicht pejorativ, sondern wörtlich: als Herrschaft, die zentral ausgeübt wird und ein gutes Stück Willkür enthält. Exakt das scheint es zu sein, was ein Markt erfordert – anders als kollektiv bindende Entscheidungen, in denen Herrschaft kontrolliert und damit systematisch gebremst wird – sachlich im Hinblick auf das, was entschieden wird, sozial im Hinblick darauf, wer entscheidet/entscheiden darf, und auch zeitlich im Sinne der Einhaltung langwieriger Verfahren, ohne deren Erfüllung eine Entscheidung nicht gültig ist. Das gilt sowohl für politische Entscheidungen selbst als auch für die gesamte staatliche Verwaltung, deren Langsamkeit keine Geschmacks-, sondern eine Funktionsfrage ist. Rosa würde stärker formulieren: Das Politische scheint das Menschengemäße zu sein, während das Ökonomische allein der „Kapitalverwertungslogik“ (Rosa 2005: 310) folgt und somit jenen Zeitprogrammen widerspricht, die die „Subjekte“ nicht wollen. Vielleicht hätte es sich schon gelohnt, etwas genauer hinzusehen. Rosa richtet an die Adresse der ZdG die Kritik, daß darin behauptet werde, die Desynchronisation zwischen Politik und Wirtschaft (und man müßte ergänzen: Familie, Medien, Recht, Religion, Medizin etc.), auch zwischen kultureller Selbstbeschreibung und gesellschaftlicher Struktur sei „nur ein Symptom“ der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft – so ist es, exakt das wird hier behauptet. Und liest man Rosas durchaus zutreffende Analysen der Probleme von Politik, Langsamkeit durchzuhalten bzw. sich unangemessen an fremde Geschwindigkeiten anzupassen, dann bestätigt er diese These eindrucksvoll. Daß sich in der modernen Gesellschaft eine temporale Asymmetrie zwischen Politik und Gesellschaft (aber auch: zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, Familie und Gesellschaft etc.), systemtheoretisch gesprochen: zwischen System und (gesellschaftssysteminterner) Umwelt zeigt, scheint mir eine empirisch kaum widerlegbare Tatsache zu sein. Jedenfalls hat die ZdG in eingehenden Analysen
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auf die evolutionäre Entwicklung dieses Syndroms insbesondere im Übergang von der Sattelzeit zur Gegenwartsgesellschaft hingewiesen (vgl. ZdG: 304ff.), und ich meine, Rosa nicht Unrecht zu tun, wenn ich seine Beschreibung als eine Variation dieser Analyse lese.2 Was Rosa freilich nicht sieht und nicht sehen will, ist, daß funktionale Differenzierung kein politisches Programm ist, kein Ideal, kein Zweck und auch keine regulative Idee, sondern eine empirische Beschreibung einer Perspektivendifferenz, die keineswegs nur einem kulturellen Weltbild entspricht, sondern einer operativen, einer praktischen Gegebenheit, die ja erst konkurrierende Weltbeschreibungen hervorbringt (vgl. dazu Nassehi 2003a; 2004a).3 Rosa unterschätzt damit das Konfliktpotential und die Widerständigkeit der modernen Gesellschaftsstruktur – und das wiederum ausschließlich mit einem normativen Argument. Er baut sein Beschleunigungsargument zwar auf eine differenzierungstheoretische Begründungsfigur auf, er nimmt aber diese Diagnose der gesellschaftsstrukturellen Entzweiungen einer sich funktional differenzierenden Gesellschaft nicht wirklich ernst, weil diese leugne, daß es sich bei der Moderne um ein Projekt handle. Eine differenzierungstheoretische Perspektive verliere ihre Plausibilität, „weil sie das Autonomie- und Gestaltungsversprechen der Moderne und ihren Charakter als politisches Projekt geradezu programmatisch ignoriert bzw. gering schätzt“ (Rosa 2005: 427). Deshalb könne auch meine Diagnose nicht stimmen, daß die Funktion von Einheit stiftenden Metaphern darin besteht, kompensatorisch auf Differenzierung zu reagieren. Was die ZdG als Temporalisierung und als Linearität der Geschichte diagnostiziere, sei dann letztlich nicht ernst genommen, sondern eben nur Simulation. Das führe dazu, daß der Bruch zwischen der frühmodernen utopischen Energie, die sich auch und gerade in Temporalia ausdrückt („Fortschritt“, „Geschichte“, „Zukunft“) und rezenten Beschleunigungserfahrungen nicht angemessen beschrieben werden könne. Rosas Frage lautet also: Wie kommt es zum Bruch mit dem „Projekt“ der Moderne? Am meisten stört sich Rosa an der Idee der Simulation – die wohl der authentischen Selbstzurechnung des Projekthaften der Moderne widerspricht. Simulation ist freilich kein pejorativer Begriff. Er meint auch nicht, daß Akteure wissentlich simulieren, d.h. zynisch nicht ernst nehmen, was sie tun. Der Begriff der Simulation distanziert sich vielmehr zunächst von der authentischen Vernunft4 und fragt sich erst dann soziologisch, warum Akteure exakt das, was sie tun, ernst nehmen. Das Warum meint: welche Probleme sie damit lösen; welche Ziele sie damit verfolgen; in welchen Kontexten plausibel ist, was sie tun;
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Konzedieren möchte ich, daß die ZdG vielleicht zu wenige Hinweise darauf enthält, die Folgen für Beschleunigungen herausgearbeitet zu haben – würde man freilich an diesem Punkt weiter denken, stieße man sicher auch auf explizite Gegenprogrammierungen. Manche, v.a. populärwissenschaftliche Beschleunigungsphantasie arbeitet sich womöglich an einer allzu romantisierenden Beschreibung einer „langsamen“ und womöglich sich „Naturzyklen“ mimetisch anschmiegenden Vergangenheit ab, worauf Rosa selbst völlig richtig hinweist. Aber daß auch, wie angedeutet, Entschleunigung ein Differenzierungsphänomen ist, könnte systematischer gezeigt werden. Hier wäre einigen bedenkenswerten Hinweisen von Monika Wohlrab-Sahr (1994) zu folgen. Es würde sich lohnen, die Differenz der klassischen politischen Programmatiken/Weltbilder westlicher Demokratien – Liberalismus, Wirtschaftsliberalismus, Konservatismus, Sozialdemokratie, Sozialismus – unter temporalen Gesichtspunkten zu rekonstruieren. Man stieße wohl auch auf je einseitige Steigerungen jeweils funktionsspezifischer Zeitprogramme als Vorbild für politische Prozesse und ihre Legitimierung. Vgl. dazu meine „Kritik der authentischen Vernunft“ (Nassehi 2006: 165ff.).
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wie sie sich anschlußfähig halten usw. Ausschließlich eine solche soziologische Einstellung nimmt Akteure, Akteurskonstellationen, Situationen, Möglichkeiten und Limitationen ernst – und nicht die kleine scholastische Intellektuellenwelt, die immer schon vom Schreibtisch aus weiß, was ein „Subjekt“ will und was einen Willen von einem „echten“ Willen unterschiedet. Pierre Bourdieu hat dies in der wunderbaren Figur der illusio beschrieben. Diese Figur ermöglicht es, den sozialen Sinn von Ereignissen soziologisch zu untersuchen und mitzusehen, daß aus der Perspektive der Akteure und der Situation selbst es tatsächlich um das geht, um was es dort geht. Also: Auch wenn man Einheitsmetaphern soziologisch als Simulationen, als kompensatorische Semantiken beschreibt, geht es ja gerade darum, daß diese Semantiken sich anschlußfähig halten und daß es Akteuren dabei tatsächlich um etwas geht. Bourdieus Soziologie lebt davon, einerseits überall den Kampf um knappe Güter und um die Verbesserung von Ressourcen zu vermuten, andererseits aber empirisch darauf zu stoßen, daß es in den konkreten Praxisgegenwarten tatsächlich um die Sache selbst geht. Wenn auch Bourdieu seinerseits allzu ökonomisch/strukturalistisch argumentiert, indem er überall die Bearbeitung eines ökonomisch modellierten Knappheitsproblems vermutet (vgl. dazu Nassehi 2004b), verdankt die Soziologie diesem französischen Soziologen methodisch eine sehr einfache, aber durchaus weitreichende Idee – oder sollte man besser sagen: Haltung? Gerade weil Bourdieu nicht in erster Linie begriffliche Ableitungsdiskurse betreibt, kann er anerkennen, daß es den Leuten um etwas geht. Selbst wenn hinter ihrem Rücken womöglich ganz andere Kräfte walten, erkennt Bourdieu an, daß handelnde Individuen paradoxerweise zumeist gar nicht anders können, aber doch etwas dafür tun müssen. Die schöne Formulierung von Bourdieu, Individuen seien Ausgeburten von Feldern (vgl. Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996: 138), meint genau das: daß das, was in konkreten Praxisfeldern geschieht, auch praktisch geschehen muß, und seinen Sinn, seinen sozialen Sinn eben durch jene praktische Gegenwart erhält, in der es geschieht. Bourdieus Begriff der illusio meint dabei keineswegs eine Art Verblendung, sondern jene funktionalistische Idee, nach der sich die Situation nicht nach den Motiven richtet, sondern diese nach jenen. Bourdieus soziologische Haltung lebt davon, die Praxisgegenwart in ihrer Gegenwart, das heißt auch in ihren Kontexten, ihren inneren Zugzwängen und ihrer konkreten Problemlösungskapazität ernst zu nehmen. Die etwas kryptische Formulierung einer „Theorie des Eingeborenseins“ (Bourdieu 1987: 40) zielt auf das Ereignishafte, Unüberbietbare, Unentrinnbare der konkreten ereignishaften Praxisgegenwart (vgl. dazu Saake 2004). Und das gilt auch für jene frühmodernen „Simulationen“ von Einheit und Gestaltbarkeit, von Synchronisation und arenahafter Parallelisierung. Von all dem sieht Rosa ab. Er verwechselt die soziologische Analyse mit den kulturellen Weltbildern, um die nicht soziologisch zu streiten ist, sondern deren sozialer Sinn zunächst zu verstehen ist. Worin besteht der soziale Sinn des frühmodernen Zeitregimes? Meine These: Es gilt nicht aus sich selbst heraus, sondern es ist eine gesellschaftliche Lösungsstrategie für das in Modernisierungprozessen neu entstehende Problem der Synchronisation und Koordinierung. Die frühmoderne „Erfindung“ der Gesellschaft als einer in sozialen Termini gesprochen Arena von Sprechern, in sachlichen Termini gesprochen differenzierten Einheit mit funktionaler Spezialisierung und Emanzipationsprozessen von Wissenschaft, Recht, Kunst, auch von Ökonomie und sogar Religion, und in zeitlichen
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Termini gesprochen tatsächlich projekthaften Idee einer gestaltbaren, besseren Zukunft ist in der Tat eine normative Folge gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse. Diese haben sich letztlich hinter dem Rücken der Akteure ereignet, während in ihrem Gesichtsfeld exakt jene Selbstbeschreibungen sichtbar wurden, deren Funktionen für solche Sichtbarkeit sorgen sollten. Daß gesellschaftliche Modernität als ein, wie Rosa schlicht voraussetzt, politisches Projekt erschien und daß es den Protagonisten entsprechend sichtbarer Selbstbeschreibungen politisch exakt um jenes Projekthafte ging, bildet nicht die frühmoderne Gesellschaft ab, sondern nur jene Selbstbeschreibungen, die die Funktion des Politischen in Anspruch nehmen. Ich habe an verschiedenen Stellen gezeigt, daß die Funktion des Politischen keineswegs nur in der Bereitstellung von Kapazitäten für kollektiv bindende Entscheidungen zu suchen ist, sondern auch in der Formierung von Kollektivitäten (vgl. Nassehi 2006: 310ff.). Politische Entscheidungen unterscheiden sich von anderen dadurch, daß sie eben nicht nur Entscheidungen sind, sondern daß diese Entscheidungen – in unvermeidlicher Tautologie – für all jene bindend sind, für die sie bindend sind. Meine Erweiterung der Funktionsbestimmung im Hinblick auf Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit appelliert also exakt an jenes definiens des Politischen, nämlich an jene adressierbare Kollektivität, die ihrer selbst ja ansichtig werden muß, um sich im Konfliktfall an die Entscheidung zu binden bzw. zwangsweise an sie gebunden zu werden. Im Falle des politischen Systems dagegen rekurriert Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit auf eine gesellschaftliche Funktion. Damit stoßen wir auf das Bezugsproblem des Politischen: als Teil des Ganzen zurechnungsfähig fürs Ganze sein zu sollen. Das Besondere der politischen Sichtbarkeit liegt also in der Herstellung von sozialen Räumen, die sich selbst als Öffentlichkeiten beschreiben, die kommunikativ erreichbar sind. Es entsteht so die Simulation gesellschaftlicher Räume und damit jener Raum der Koordination, deren funktionaler Sinn ja gerade darin liegt, daß Unterschiedliches koordiniert werden muß – eben auch in zeitlicher Hinsicht. Die Idee der „Gesellschaft“ und damit auch das „Projekt“ der Moderne wird dadurch erzeugt, daß sich Unterschiedliches, im Sinne der funktionalen gesellschaftlichen Differenzierung sachlich Unterschiedliches im Medium der Gleichzeitigkeit zeigt und so einen Handlungsraum erzeugt, in dem die unterschiedlichen Anschlußzusammenhänge der Gesellschaft wie in einem Brennglas fokussiert erscheinen. Nicht gemeint ist damit, daß derart politisch erzeugte gesellschaftliche Räume eine Koordination oder gar eine Fokussierung des Differenzierten tatsächlich herstellten. Aber es scheint die Funktion von Politik zu sein, einen sichtbaren Zurechnungspunkt dafür zu liefern, so tun zu können, als habe man es mit einer Zentralperspektive zu tun, die als Teil fürs Ganze stehen könnte. Damit inszeniert das politische System letztlich Gesellschaft als eine zurechenbare Einheit. Das politische System macht damit aus Gesellschaft als zunächst abstraktem Horizont aller möglichen Kommunikationen, also aus einem alles Soziale umfassenden, in der Moderne sich längst seit zwei Jahrhunderten als Weltgesellschaft sich darstellenden Zusammenhangs, Gesellschaften. Als Simulation erscheint all dies nur deshalb, weil ein soziologischer Blick sehen kann, daß die Politik der Gesellschaft eben nicht die Gesellschaft ist – wenn ein soziologischer Blick das sehen kann. Aber ein an Bourdieus Figur der illusio geschulter soziologi-
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scher Blick kann auch sehen, daß diese Simulation außerordentlich wirkmächtig ist und daß es den Akteuren dabei tatsächlich um etwas geht. In der Tat: Die gesellschaftliche Arena wurde als ein Projekt erlebt – aber noch nicht das ist eine theoriefähige und empirisch gehaltvolle Aussage. Erst wenn man in den Blick bekommt, warum und wie es in der Frühmoderne gelungen ist, das Differenzierungsproblem vor allem temporal im Sinne von Fortschritt und Geschichte (vgl. ZdG: 315ff.) zu lösen, ließen sich auch Bezugsprobleme für das beschreiben, was Rosa Beschleunigung nennt. In der ZdG habe ich gezeigt, wie sich im Laufe von Modernisierungsprozessen auf semantischer Ebene eine Negation des Chronos (ZdG: 360ff.) beobachten lässt, die offensichtlich das Problem löst, daß sich so etwas wie konkurrenzlose Temporalisierungen nicht mehr beschreiben lassen – und daß die Diachronie als Differenzierungsfolge die semantischen Synchronien überlagert. Das Grundproblem scheint das Selbe zu sein – Differenzierung –, die „Lösung“ hat sich geändert, von der Temporalisierung/Synchronisierung zur „Beschleunigung“.5 Rosa geht mit seinem Insistieren auf den politischen Charakter des Projekts der Moderne letztlich dem semantischen Potential des Politischen auf den Leim. Wenn es stimmt, daß die Funktion des Politischen (auch) darin besteht, Kollektivitäten sichtbar und adressierbar zu machen, dann erscheint Modernisierung in der Tat vor allem als ein politisches Phänomen – und gerade deshalb wird die Idee der Gesellschaft als eine politische Idee gehandelt. Ein genauerer soziologischer Blick freilich zeigt, daß es sich hierbei um die Wirksamkeit exakt jener illusio handelt, die trotz der (gesellschaftlichen) Partikularität des Politischen an seinem holistischen Anspruch festhält. Rosa hätte das sehen können, denn er bezieht sich positiv auf Uwe Schimanks (2000: 274f.) Formulierung, daß auch in einer funktional differenzierten Gesellschaft der Steuerungsanspruch des Politischen fundamental beibehalten werde (vgl. Rosa 2005: 308, Fn. 115). Dem ist in der Tat zuzustimmen – Rosa hätte aber womöglich genauer lesen müssen: Es geht um den Steuerungsanspruch, nicht um eine tatsächliche Steuerungskapazität, wenn man so will: um die die Politik konstituierende illusio, ohne die Politisches tatsächlich nicht möglich wäre. Eine soziologische Analyse freilich greift zu kurz, wenn sie nur die Welt politisch verdoppelt und dann letztlich in politische Rede verfällt. So korrumpiert sich die Chronoanalyse dadurch, daß sie letztlich nur Chronopolitismus sein will, ganz ähnlich wie ein soziologischer Kosmopolitismus (vgl. etwa Beck 2007) für die Bedingungen der soziologischen Rede über die Weltgesellschaft eigentümlich blind bleibt. Hier stellt sich in der Tat die fundamentale Frage nach der Sprecherposition der Soziologie. Rosa exekutiert letztlich, was Michael Buroway in seiner viel beachteten presidential address an die ASA von 2004 im Hinblick auf den öffentlichen Gebrauch der Soziologie gefordert hatte: Engagement statt Distanzierung, nurmehr Sprecherin in der Arena statt Analystin der Arena selbst zu sein. Bei Buroway klingt das so: „If the standpoint of economics is the market and its expansion, and the standpoint of political science is the state and the guarantee of political stability, then the standpoint of sociology is civil society and the defense of the social.“ (Buroway 2005: 24) Explizit bindet Buroway the social an die 5
Es wäre dies eine der Umstellungen der Zeitsemantiken, die parallel und in Abhängigkeit zu gesellschaftsstrukturellen Veränderungen wahrzunehmen sind – wohlgemerkt keine „geplanten“ Umstellungen, wie Hans Werner Prahl (1994: 326) in einer überaus freundlichen Rezension der ZdG suggeriert, sondern unmerkliche Umstellungen, die sich in konkreten Gegenwarten bewähren müssen.
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interests of humanity und spannt damit klassischerweise den Bogen zur Idee der frühmodernen Arena-Gesellschaft. Buroway ruft selbst explizit die Erfahrung des „späten 19. Jahrhunderts“ auf, in dem in Reaktion auf und mit dem „westlichen Kapitalismus“ die Idee der civil society entstand (vgl. ebd.). Buroways Perspektive reflektiert einen Phantomschmerz, der sich freilich nur einstellen kann, wenn man zweierlei nicht in Rechnung stellt: erstens daß die civil society und all die abgeleiteten Begriffe, die daran hängen, nicht nur Voraussetzung, sondern auch und gerade Gegenstand des soziologischen Raisonnements sein können – und es damit keineswegs ausgemacht ist, die bürgerliche Gesellschaft oder civil society sei der standpoint, von dem her die Soziologie operiere; zweitens daß die schwieriger gewordene Anschlußfähigkeit der Soziologie womöglich einen im Gegenstand selbst liegenden Grund haben könnte, nämlich den, daß die „Gesellschaft“ selbst nicht mehr den Konstruktionen jener soziologischen Vernunft glaubt, welche das Bild der (bürgerlichen) Gesellschaft und ihrer soziologischen Weiterentwicklung gezeichnet hatte. Um nicht falsch verstanden zu werden: Nicht gegen eine kritische Einstellung etwa zu Beschleunigungsfolgen wird hier argumentiert, sondern gegen die Nonchalance, mit der die soziologische Analyse sich schlicht zum Sprecher einer Selbstbeschreibungsform macht, deren Bedingungen sie zu untersuchen hätte. Es geht übrigens auch viel an kritischem Potential verloren, wenn man der Beschleunigung der gesellschaftlichen Prozesse schlicht die „Subjekte“ gegenüberstellt und meint, es komme dann nur darauf an, wer sich durchsetzt. So einfach sind die Verhältnisse dann doch nicht. Viel „kritischer“ wird die Soziologie, wenn sie die Widerständigkeit von Differenzierungsfolgen zur Kenntnis nimmt. Im Falle Rosas muß man leider sagen, daß schon der Vorwurf an die Theorie funktionaler Differenzierung, diese schließe eine Perspektive auf das politische Projekt der Moderne programmatisch aus, sehr selbstentlarvend ist. Rosa denkt nur in Programmen – nicht in Theorien. Aber das führt wenigstens zu starken Sätzen.
2.
Beschleunigung als Problem und als Lösung
Vielleicht müßte man Rosas treffende Beschleunigungsdiagnose in der Weise erweitern, sich versuchsweise und in methodischer Einstellung Beschleunigung nicht nur als Problem, sondern als Problemlösung anzusehen. Dann würde deutlich, daß in der Tat ein Bruch zwischen der Frühmoderne und der gegenwärtigen Weltgesellschaft zu beobachten ist, durch den letztlich die Medien der Synchronie weniger wirkmächtig geworden sind. Wer Modernität ausschließlich als politisches Projekt sehen will, blendet systematisch aus, wie widerständig sich die Gesellschaft gerade für planenden Zugriff und politisierbare Steuerung zeigt. Als Lösung erscheint Beschleunigung dann tatsächlich in dem Sinne, daß damit die Unkoordinierbarkeit der unterschiedlichen gesellschaftlichen Logiken „bearbeitet“ wird – mit erheblichen Kosten, wie man von Rosa lernen kann. Als soziologisches Interpretament bietet sich hier eine Figur an, die mir zur ZdG noch nicht zur Verfügung stand: die Optionssteigerung von Funktionen, denen keine Stoppregel inhärent ist (vgl. dazu Nassehi 1999: 43ff.; 2003a: 168ff.). Und hier ließen sich in der Tat Brüche zwischen den Lösungsstrategien der Frühmoderne und der Gegenwartsgesellschaft rekonstruieren – und der Chronopo-
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litismus wäre dabei nur eine der semantischen Folgen eines Syndroms, das die Übersichtlichkeit der frühmodernen Arena längst verloren hat. Diese Andeutungen mögen genügen – ich möchte nur noch auf einen Aspekt zu sprechen kommen, auf den Aspekt der „Subjektivität“ nämlich, den Rosa in seiner Beschleunigungsstudie so stark macht und der in den meisten weniger analytischen Arbeiten zum Topos noch viel selbstverständlicher vorausgesetzt ist. Rosa bringt das „Subjekt“ gegen die Beschleunigung der Gesellschaft in Stellung. Womöglich steckt darin mehr, als die Beschleunigungsdiagnose sehen kann. Womöglich ist – in aller Vorsicht formuliert – das „Subjekt“ selbst ein Effekt oder eine Folge von Beschleunigungsphänomenen. Nehmen wir noch einmal die Fragen von Reckwitz nach den Praktiken auf, in denen die moderne Kultur Subjekte mit bestimmten Dispositionen, am Ende auch mit bestimmten kognitiven und emotionalen Innenwelten beständig hervorbringt, so wäre es sicher nicht ganz abwegig, die Synchronisationsprobleme moderner Differenzierungsprozesse sowie die „temporalisierte Inklusion“ (ZdG: 345ff.) von Personen in funktional differenzierten Gesellschaften als eine der Konstellationen zu beschreiben, vor der sich die Innenwelt des Menschen als Subjektivität abhebt. Vielleicht lohnt sich ein Blick in die Tradition, in die Geschichte der Subjektsemantik. Das „Subjekt“ fiel etwa bei Kant keineswegs mit dem empirischen Individuum zusammen. Subjektivität wurde zwar Individuen zugeschrieben, ist aber nichts Individuelles im Sinne der konkreten Mannigfaltigkeit des empirischen Auftretens, sondern Allgemeinheit schlechthin, mithin also von konkreten Individuen ebenso Abstrahierendes wie diese Verbindendes. Kant hat diese Differenz in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als Differenz zwischen vernünftigen Wesen und mit Begierden und Neigungen als zur Sinnenwelt gehörigen Menschen ausgearbeitet (vgl. Kant 1983a: 58 f.). Mit dieser Unterscheidung wird das theorietechnische Bezugsproblem dieser Art Subjektkonzeption deutlich: Die transzendentale, i. e. nicht-empirische Bestimmung einer allgemeinen Subjektivität vernünftiger Wesen korrespondiert offensichtlich mit der empirischen Erfahrung der Unvernunft empirischer Einzelsubjekte, Menschen eben. In der transzendentalen Analytik schreibt Kant, daß das Selbstbewußtsein, also die moderne Figur eines auf sich selbst reflektierenden Ichs eben keine Anschauung sei, sondern »eine bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts« (Kant 1983b: 257). In aller Deutlichkeit wird hier gezeigt, daß die Idee der Selbsttätigkeit und des denkenden Subjekts nur als denknotwendige Bedingung herangezogen wird, um exakt mit jener gesellschaftlichen Erfahrung sich versöhnen zu können, daß die Freiheitsgrade individueller Selbsttätigkeit in einer allgemeinen Struktur gründen, die aller Freiheit entzogen ist. Ich lese dies als eine Art Theodizee des Willens, als theoretischen Versuch, die Subjektivität des Subjekts, also das alle verbindende Allgemeine, mit den Freiheitsgraden des individuellen Willens zu versöhnen. Oder anders formuliert: Die transzendentale Figur des vernünftigen Subjekts reagiert auf die (wenigstens drohende) empirische Unvernunft der Menschen, denen die Vernünftigkeit ihres Tuns nurmehr in sich selbst und nicht mehr in den Verhältnissen oder gar in Gottes Geboten erscheinen kann. Kant schreibt diese Theorie in einer Welt, in der es für Handlungen keine eindeutigen Algorithmen mehr gibt. Gebote vermögen stets exakt zu sagen, was zu tun und was zu lassen sei. Gebote bewegen sich in einer Welt, die Situationen konkretistisch prädetermi-
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niert. Auf die richtige Handlung kommt es Geboten an – Kant dagegen ist es darum zu tun, die innere Verbindlichkeit des Handlungsmotivs zu betonen und damit Variation zu promovieren. Von Was- wird auf Wie-Fragen umgestellt, um die Freiheitsgrade des Handelnden zugleich zu erhöhen und zu begrenzen: Sie werden erhöht, weil sie universell anwendbar sein müssen und deshalb rein prozedural angelegt sind; sie werden begrenzt, weil sie vernünftigen Prinzipien und Maximen unterworfen werden sollen. Hier beginnt das ArenaModell der Subjektivität, das zwischen der nicht-empirischen Geisterwelt der vernünftigen Wesen und der realen Welt von Neigungen korrumpierter Personen oszilliert. Unschwer ist darin das Bezugsproblem einer sich auf funktionale Differenzierung umstellenden Gesellschaftsstruktur zu entdecken, die sich von der traditionalen, stratifizierten Gesellschaft gerade dadurch unterscheidet, daß sie das bürgerliche Individuum deshalb äußerlich unterbestimmt läßt, damit es sich flexibel auf die nun unterschiedlichen, womöglich antinomischen und beschleunigten Erwartungen einer Gesellschaft einlassen kann, die ihre eigene Kontinuität nun vor allem auf die Diskontinuität unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionen und Kontexte nebeneinander gründet. Wenn es stimmt, daß funktionale gesellschaftliche Differenzierung die Inklusionsform von Personen insofern ändert, als der Mensch nicht mehr als Gesamtperson in die Gesellschaft inkludiert wird, sondern gleichzeitig mit unterschiedlichen Inklusionserwartungen durch unterschiedliche Funktionssysteme, erscheint das Individuum als Adresse für die Gesamtheit all dieser Inklusionserwartungen. Nur deshalb findet sich etwa bei Luhmann die Figur der Exklusionsindividualität (vgl. Luhmann 1989: 160), die nichts anderes besagen soll, als daß sich die Individualität des Individuums letztlich nur jenseits der unterschiedlichen Inklusionsanforderungen inkludierender Funktionssysteme beschreiben läßt. Verwiesen wird das Individuum auf Selbstreferenz – und die historische Genese des bürgerlichen Individuums ist letztlich die Genese einer Reflexionsform, die zur Beschreibung von Individualität deren Selbstreferenz in Anspruch nimmt (vgl. dazu Nassehi 2006: 82ff.). Übersetzt in Zeitverhältnisse bedeutet dies, dass die Entstehung von bürgerlichen Innenwelten, von subjektiven Selbstverhältnissen und damit vom Subjekt als kritischer Instanz sich exakt jenen Zeitverschiebungen verdankt, die sich gewissermaßen wechselseitig beschleunigen und ein Subjekt mit Eigenzeitanspruch hinterlassen, das freilich exakt von jener Beschleunigungspraxis zehrt. Subjektiv wird Beschleunigung unter anderem daran erfahren, daß es unterschiedliche gesellschaftliche Ansprüche sind, auf die das multiinkludierte Individuum reagieren muß. Womöglich greift die Modellierung eines Konflikts zwischen Individuum/Subjektivität und beschleunigter Gesellschaft zu kurz. Stattdessen schlage ich vor, wenigstens darüber nachzudenken, ob man es nicht eher als Steigerungsverhältnis modellieren sollte: als Steigerungsverhältnis zwischen einer sich beschleunigenden Gesellschaft und dem Kontinuitätsanspruch subjektiver Innerlichkeit. Subjektivität und damit auch die Instanz der Kritik entsteht gleichursprünglich mit dem Auseinandertreten sozialer und psychischer Zeitprogrammierung. Man sollte den kritischen Impetus, den widerständigen Eigensinn und die durch Authentizität geradezu naturalisierte Potenz des „Subjekts“ nicht unterschätzen. Es ist in und mit der bürgerlichen Gesellschaft entstanden, als Folge, besser: als Funktion einer Gesellschaft, die schneller ist als das Individuum, die mannigfaltiger ist als die Verarbeitungskapazität des Individuums und in der die Differenz von Innen und Außen zunehmend ein temporales Koordinationspro-
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blem wird. Man muß sich die ökologischen Bedingungen von Akteuren vergegenwärtigen, in denen diese ihr Leiden an der Welt vor allem als Leiden an sich selbst zu stilisieren gelernt haben. Beschleunigung ist dann in der Tat zugleich Problem und Lösung. Eine solche Perspektive wird nicht die normativen Maßstäbe einer Beschleunigungskritik den „Subjekten“ entnehmen, sondern zeigen können, warum sich Beschleunigungskritik gewissermaßen als Kritik an beschleunigten Inklusionsverhältnissen zeigt. Dafür braucht man keinen Begriff eines starken Subjekts – sondern ein empirisches Verständnis von Subjektivität. Genau deswegen hat die Systemtheorie keine Theoriestelle fürs Subjekt, aber dafür kann sie womöglich das Subjekt als das Ergebnis und das Resultat sozialer Praktiken und Operationen in den Blick nehmen. Wo ein starker Subjektbegriff zum grundbegrifflichen Arsenal gehört, kann man starke, leicht zitierbare Sätze bilden – aber es fehlt womöglich der Sensus dafür, wo und wie soziale Praxis Zurechnungsadressen erzeugt, die wir wie Subjekte behandeln. Die Bedeutung des Subjekts erschließt sich aus der Perspektive einer systemtheoretischen Kommunikationstheorie anders. Es schließt Kommunikation an Kommunikation an und erzeugt so eine Eigendynamik, in die die beteiligten Personen gewissermaßen hineingezogen werden, fast mit Haut und Haaren, denn sie haben keine Chance, sich diesem Geschehen zu entziehen, selbst wenn sie an sich selbst erleben, wie weit der subjektiv gemeinte Sinn vom sozialen Sinn der Kommunikation abweicht. In Situationen, in denen gar kein subjektiv gemeinter Sinn benötigt wird, weil sich die Dinge geradezu reflexionsfrei ergeben, kann nicht einmal das erlebt werden. Was wir Soziologinnen und Soziologen lernen müssen, ist, uns von der Vorstellung zu lösen, daß das Handeln durch Reflexion der Normalfall ist und das reflexionsfreie Handeln der erklärungsbedürftige Fall. Es ist vielleicht umgekehrt: Wie schafft die Gesellschaft es, Handelnden Motive zu unterstellen und einzupflanzen? Eine Antwortrichtung lautet: durch die Ungleichzeitigkeit von inneren und äußeren Geschwindigkeiten und das Erleben von Beschleunigung. Es ist dann eine empirische Frage, wo soziales Handeln die reflexive Vorarbeit des Handelnden explizit benötigt und wo solches Handeln so routiniert, selbstverständlich und gewohnheitsmäßig geschieht, daß ein subjektiv gemeinter Sinn des handelnden Subjekts gar nicht erst bewußt wird (vgl. dazu auch Saake/Nassehi 2007; Nassehi 2008).
3.
Praxisgegenwarten
Um das Routinierte, das Selbstverständliche, das Gewohnheitsmäßige geht es auch in der ZdG. Das dort präsentierte systemtheoretische Modell sozialer Zeit setzt exakt dort an: an der gegenwarts- und ereignisbasierten, sich selbst überraschenden, in diesem Sinne selbstreferentiellen Operativität sozialer Prozesse. Was ich hier als Entparadoxierung der Zeit durch die Zeit entwickelt habe, findet sich heute in ähnlicher Gestalt in praxistheoretischen Termini wieder. Ich möchte zunächst kurz den Gedankengang rekonstruieren: Das Argument operiert folgendermaßen: Die Auflösung des Zirkels der Reflexion in der Theorie autopoietischer Systeme stellt von Substanz auf Zeit um. Während traditionelle Lösungen des Problems eine invariante Substanz als Entparadoxierung annehmen, die den Akt der Selbstbeobachtung immer schon enthält, entparadoxieren sich ereignisbasierte,
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autopoietische Systeme durch Zeit. Sobald ein neues Ereignis auftritt, gehört die Beobachtung, die durch gleichzeitige Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum System eine Paradoxie verursacht hat, nun eindeutig zum System, wie eine neue Beobachtung sehen kann, die aber selbst auch eine neue Paradoxie produziert. In diesem Sinne bemerkt Luhmann: „Eine erste Unterscheidung kann nur operativ eingeführt, nicht ihrerseits beobachtet (unterschieden) werden. Alles Unterscheiden von Unterscheidungen setzt diese ja voraus, kann nur nachher erfolgen, erfordert also Zeit bzw., in anderen Worten, ein in Operation befindliches autopoietisches System. Und alle Rationalisierung ist deshalb Postrationalisierung.“ (Luhmann 1990: 80) Die logische Aufhebung der Paradoxie der Selbstbezüglichkeit erfolgt demnach durch die Zeit, d.h. zeitweise, nämlich von Ereignis zu Ereignis. Diese Einheit der Differenz als Akt bzw. als Sich-Ereignen habe ich mit Husserls Theorie der Retention und Protention beschrieben. Diesen Sachverhalt bezeichnet Luhmann als „basale Selbstreferenz“, der „die Unterscheidung von Element und Relation zu Grunde liegt“ (Luhmann 1984: 600). Diese “Mindestform von Selbstreferenz” bildet die Grundbedingung autopoietischer Prozesse: Ein Element schließt an ein anderes Element an, identifiziert sich durch diese Relationierung als Element des Systems und wird nach seinem Verschwinden selbst Relatum einer Relationierung, die wiederum eine neue Gegenwart konstituiert. Dadurch wird Zeit schon auf der Ebene der Autopoiesis konstituiert, was nicht weiter erklärungsbedürftig zu sein scheint, da diese operative Konstitutionstheorie der Zeit bereits von Husserl vorbereitet worden ist. Da Zeit schon auf der elementaren Ebene autopoietischer Operationen durch das Auftreten und Verschwinden von Ereignissen konstituiert wird, kann man hier von Ereignistemporalitäten sprechen. Vom Problem der Ereignistemporalität her habe ich ein Problem aufgegriffen, das sich auch im Zusammenhang mit Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins stellt und das sich im Lichte der Ereignistheorie womöglich ganz anders darstellt. Von verschiedenen Seiten ist Husserl vorgeworfen worden, daß es ihm nicht gelungen sei, die Selbstgegenwart des Bewußtseins paradoxiefrei zu beschreiben, was erhebliche Konsequenzen für die Beschreibung des Zeitbewußtseins hat. Ich meine damit die komplementären Vorwürfe von Jacques Derrida und Manfred Frank an die Adresse Husserls, die ich hier nicht noch einmal rekonstruiere (vgl. dazu ausführlich ZdG: 51-57 und 184ff.). Als Ergebnis habe ich herausgearbeitet, daß operative Systeme sich selbst sozusagen immer schon vorweg sind, da sie sich nie in ihrer Gänze beobachten (geschweige denn: kontrollieren) können. Wir werden letztlich in unserem Bewußtsein von uns selbst überrascht, weil wir den operativen Akten unseres Bewußtseins unhintergehbar ausgesetzt sind. Und Ähnliches geschieht auch in der Kommunikation. Parsons hatte ja bekanntlich die Situation doppelter Kontingenz normativ aufgelöst – unter anderem in dem Sinne, den Überraschungswert sozialer Prozesse für sich selbst möglichst gering zu halten. In der Luhmannschen Variante dagegen wird Kommunikation – wenn man so will – von sich selbst überrascht, weil sie sich immer schon vorreflexiv – d.h. genau: vor der Reflexion – vorfindet. Daß jedes kommunikative Ereignis zunächst eine Beobachtung erster Ordnung ist, wie Luhmann sagt, soll exakt dies bedeuten: daß Kommunikationen in ihrer jeweiligen Gegenwärtigkeit unvermittelt und kontingent auftreten und dann retentional oder erinnernd reflektiert werden. Erst in der nachträglichen Selbstbeobachtung durch das nächste Ereignis
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kann sich Kommunikation auf sich beziehen. Insofern ist die systemtheoretische Kommunikationstheorie eine phänomenologische Theorie der Zeit. Was die Systemtheorie von der Phänomenologie gelernt hat, ist die Einsicht in die Radikalität der Gegenwartsbasiertheit operativer Theorieformen. Das Besondere bei Husserl (und ähnlich, wie ich angedeutet habe, in der Ereignisphilosophie Alfred North Whiteheads) ist die radikale Temporalisierung, die auf eine Praxis verweist, die für sich selbst weitgehend unhintergehbar ist, die eben keine Reflexivität hinter den Ereignissen mehr kennt, sondern die strenge Immanenz allen Geschehens. Soziologisch ist das insofern bedeutsam, als sich damit eine Theorie der Unentrinnbarkeit zeichnen läßt. Es gibt keine Möglichkeit, aus der eigenen Praxis auszusteigen – was nicht nur die Lust an der theoretischen Paradoxie befördern sollte, die man dann dekonstruieren kann. Viel interessanter ist die gewissermaßen protosoziologische Einsicht, daß sich soziale Ereignisketten, das Nacheinander von Handlungen und Kommunikationen, die Anschlußfähigkeit von Ereignissen praktisch ereignen und an ihre operativen Gegenwarten gebunden sind. Die empirischen Konsequenzen dieser Einsicht sollten nicht unterschätzt werden: Es sind in der Tat so etwas wie urimpressionale Gegenwarten, in denen sich Akteure vorfinden und durch die sie zu Akteuren konstituiert werden. In diesem Sinne ist die Theorie autopoietischer Systeme eine phänomenologische Theorie, weil sie keine Referenz außerhalb der eigenen Praxis zuläßt. Viel läßt sich dabei von Derridas Kritik an Husserl lernen (vgl. Derrida 1979). Daß Derrida in der Urimpression einen Rest Metaphysik sehen will, ist kein Zufall – wenn mit dem Titel Metaphysik etwas bezeichnet werden soll, was seine eigene Präsenz gewissermaßen voraussetzt und unerklärbar macht. Das Spannendste an der Figur autopoietischer Systeme wie an der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins liegt in der Möglichkeit, Prozesse zu beschreiben, die von sich selbst überrascht werden können – eben weil sie an ihre urgegenwärtige Praxis gebunden sind. Exakt hier schließt meine theoretische Analyse der ZdG an die Praxistheorie an (vgl. zum Folgenden auch Nassehi 2006: 228ff. und 251ff.). Die Grundidee der sogenannten praxistheoretischen Wende besteht darin, daß das, was uns in der alltäglichen Beobachtung der Teilnehmerperspektive als Quelle des Handelns erscheint, weder Ursache ist noch Wirkung, sondern bloß das Ergebnis einer Praxis, die sich selbst bewirkt. Diese Idee basaler Selbstreferenz der Praxis hat Gabriel de Tarde bereits 1890 in seinen Gesetzen der Nachahmung in den soziologischen Diskurs eingebracht: „Die Gesellschaft besteht aus Nachahmung und Nachahmung aus einer Art Somnambulismus.“ (de Tarde 2003: 111) Die Metapher des Schlafwandelns soll hier nur besagen, daß die Motive des Handelns selbst nicht bewußt entstehen, weil sie kein „Davor“ kennen, denn welcher Art Motive sollten Motive sein, die Motive motivieren? Von de Tardes Nachahmungstheorie kann man also nicht nur lernen, daß soziale Regelmäßigkeit das eigentlich Aufregende ist (nicht: der Wandel). Man kann von ihr auch lernen, dass der soziologische Blick sich dafür zu interessieren hat, wie Praxisformen sich selbst hervorbringen – einschließlich der Selbstbeschreibungen dieser Praxis, die nichts als ein Teil davon sind. Gewissermaßen stößt man bei einem solchen Vorrang der Praxis auf Überraschung, d.h. auf eine Praxis, die je in Gegenwarten erzeugt wird und insofern kein Davor kennt, das außerhalb der Praxis liegt. Dies ist nur eine andere Formulierung für das alte Paradoxieproblem der Selbstimplikation, das alte Problem der Motivation der Motive, in Fichtes Diktion: der Selbstsetzung des Ich. Und soziologisch
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wird dieses Problem eben nicht transzendental, sondern empirisch gelöst. Nicht hinter der Praxis, also: transzendental, ist ihr Gegenstand anzusetzen, sondern in ihr. Was erklärt werden muß, ist dann die Frage, wie ein praktisches Ereignis auf das nächste trifft, wie angeschlossen wird, welche Selbsteinschränkung von Möglichkeiten eine Praxis entstehen läßt, die sich zwar überrascht, aber nicht überfordert. Diese praxistheoretische Perspektive ist eine Theorie der Gegenwart, nicht eine der Präsenz. Die Figur der Überraschung verweist auf eine radikale Temporalisierung des soziologischen Blicks, auf operative Theorieanlagen, die durch den Vorrang der Praxis vor der Repräsentation geradezu erzwungen werden. Inzwischen scheint sich so etwas wie ein practical turn anzukündigen (vgl. Reckwitz 2003), der sich gegen jenen „Mentalismus“ in Stellung bringt, der einer auf Motive fixierten Theorie des Handelns/des Sozialen zugrunde liegt. Vielleicht könnte man von einem zweiten Pragmatismus sprechen, der sich in erster Linie dafür interessiert, was tatsächlich geschieht, nicht was dahinter an Motiven und Repräsentationen vermutet wird. Freilich meint Praxis nicht einfach die Tatsache, daß etwas geschieht. Eine soziologische Frage wird aus der Praxisfrage erst dort, wo es um Kontexte des Geschehens geht, wo Anschlußmöglichkeiten und -wirklichkeiten diskutiert werden und wo Praxen praktisch aufeinander bezogen werden. Andreas Reckwitz, der den practical turn zu systematisieren versucht hat, bringt denn auch die Praxistheorie nicht nur gegen den Mentalismus in Stellung, sondern auch gegen den Strukturalismus (Reckwitz spricht von Textualismus) der foucaultschen Diskursanalyse und die Theorie der Alltagszeichen Roland Barthes’ sowie gegen Luhmanns angebliche „Festlegung des Sozialen auf die Codes und Semantiken von Kommunikationssequenzen ‚in der Umwelt’ von psychischen Systemen“ (ebd.: 289). Ob darin tatsächlich, wie Reckwitz meint, ein konzeptueller „‚Intellektualismus’“ oder gar eine „‚Intellektualisierung’ des sozialen Lebens“ zu sehen ist, wird gerade durch das radikal gegenwartsbasierte Design der Systemtheorie widerlegt. Allerdings bringt Reckwitz durchaus treffend auf den Begriff, der Ort des Sozialen sei keineswegs allein durch Texte und Symbole bestimmt und reproduziere sich weniger durch eine intellektuelle Form einer hermeneutischen Einstellung zur Welt (vgl. dazu Nassehi 2008). Soziale Praktiken bezeichnet er vielmehr „als know-how abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen’ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert’ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten’ materialen Artefakten annehmen“ (Reckwitz 2003: 289). Diese Formulierung weckt sofort Assoziationen zur Metapher des Schlafwandelns bei de Tarde, was darauf gemünzt ist, die soziologische Beobachtung von der Vorstellung zu befreien, ihr Gegenstand sei der Effekt einer mentalen Repräsentation nicht einmal des Handlungsvollzugs selbst, sondern vor allem seiner antezipierten Affekte. Daß hier selbstverständlich der Hinweis auf den „Körper“ nicht fehlen darf, ist nicht zu kritisieren – aber durchaus interpretierbar. Ohne Zweifel sind es Körper, an denen sich soziale Konstellationen und Verhalten sichtbar machen lassen, so sichtbar, daß man soziologische Beschreibungen ganz aufs Körperliche reduzieren kann und in diesem Verfremdungsaspekt dann durchaus auf Einsichten in eine Ordnung stößt, die an den Körpern sichtbar wird. Aber ist das, was da sichtbar wird, tatsächlich nur eine Ordnung des Körpers bzw.
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der Körper? Ich habe den Verdacht, daß die Sichtbarkeit des Körpers allzu sehr auf das Vertrauen in Sichtbarkeit überhaupt setzt und damit dem kritisierten Mentalismus ähnlicher wird, als ihr lieb sein kann. Denn die kulturelle Plausibilität der „Sichtbarkeit“ des Mentalen, also der Motiv- und Innenwelt des Akteurs bestand gerade darin, daß dieses Bild der bürgerlichen Genese der klassischen europäischen Praxis (sic!) der Weltbeobachtung geläufiger war als die Bilder des Körpers. Nun könnten es eher die Bilder des Körpers sein, vermittelt durch eine bebilderte Welt der Massenmedien, in denen die Konfrontation mit allerlei Geschehen ohnehin eine Art „practical turn“ nahelegt, der von Motiven geradezu befreit wird. Es sind andere Sehgewohnheiten dazu gekommen – nicht nur im Gegenstand der Soziologie, sondern auch in ihr selbst. Die Orte des „Wissens“ werden unter anderem Körper, deren Konstellationen dann schlicht so sind, wie sie aussehen – ja die Orte des „Wissens“ wandern sogar aus der Menschenwelt und aus der Zeichenwelt von Verweisungssystemen aus und lassen sich in Artefakten nieder, in Tieren und in der Natur, die ja selbst ebenso Zeichen wie Bezeichnetes ist und darin im Verhältnis von Handelndem und behandelter Welt wieder (sic!) symmetrische Verhältnisse einführt, wie man es aus Gesellschaften kennt, die nicht einmal „nie modern“ waren (locus classicus dazu: Latour 1995). Daß der Körper der Wahrheit näher sei als alle sinnhafte Verweisung psychischer oder sozialer Natur (sic!), zieht sich von der peinlichen Befragung der spätmittelalterlichen Inquisition bis zum Authentizitätsgehabe sexuellen Begehrens, vom Schmerz als religiösem Läuterungsmittel bis zur Reduzierung des Lebens auf die körperliche Reaktion in Extremsportarten, von der Sichtbarkeit angeblicher menschlicher „Rassen“ bis zur eindeutigen geschlechtlichen Identifizierbarkeit weiblicher und männlicher Menschenkörper (vgl. dazu Nassehi 2003b). Der Körper kann als Chiffre jenes „Außenkontaktes“ gelten, der sich zeichen- und operationstheoretisch offenbar nicht mehr beschreiben läßt. Und als soziale Praxis funktioniert das nach wie vor: Der Rekurs auf den Körper kommt mit einer Unmittelbarkeit daher, die sich weiteren Verweisungen entzieht. Der Körper steht für das wirkliche Leben, für jenes reale Substrat, das dem kulturellen Selbstverständnis offenbar abhanden gekommen zu sein scheint – oder ihm, wie im Alltagsverständnis der sexuellen Differenz, radikal vorgeordnet ist. Im Körper scheint sich eine Eindeutigkeit zu manifestieren, die der Arbitrarität des Zeichens Hohn spricht. Der Körper ist authentisch. Wie er in der schon erwähnten hochnotpeinlichen Befragung früherer Tage als Beweismittel und Mäeut der Wahrheit fungierte, der sich der arme Sünder auch durch Verstellen und List nicht entziehen konnte, so dient er heute dazu, die Unmittelbarkeit der Existenz auszudrücken. Wer nicht weiter interpretieren will, verweist auf seinen Körper – und das geht nicht nur als soziale Praxis durch, sondern auch als soziologische Praxis. Nun wäre es naiv, in Abrede zu stellen, daß sich soziale Konstellationen in der Tat auch als Körperkonstellationen darstellen. Richtig ist auch, daß die auf individuelle Motive sich kaprizierende Soziologie die praktische Bedeutung solcher Körperkonstellationen vernachlässigt hat. Die besondere Konzentration auf körperliche Praktiken freilich scheint mir eine starke temporale Implikation zu haben. Wer Körper sieht – sowohl in praxi als auch als forschender Beobachter –, muß sie in einer Gegenwart sehen. Wer Körper sieht, sieht nicht abstrakte Präsuppositionen, Motive oder Kulturbedeutungen, sondern zunächst einmal konkrete empirische Operationen. Das macht offensichtlich das Körperliche für die Soziologie derzeit so interessant – sicher ist das auch eine Gegenreaktion gegen die episte-
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mozentrische, in Bourdieus Worten: scholastische Vernunft soziologischer Normalwissenschaft, die immer schon alle Bedeutungen kennt. Eine besondere hermeneutische Herausforderung scheint deshalb der Körper zu sein, weil er nicht als Gedeutetes auftaucht, sondern etwas tut – selbst wenn man ihn dann als Ergebnis von Praktiken und Deutungen dekonstruieren muß. Das für eine Soziologie der Zeit wirklich Interessante an der Praxissoziologie sehe ich denn auch nicht im Körper, sondern in dem, was den Körper offensichtlich für die Soziologie so interessant macht: die widerständige Gegenwärtigkeit des Operierens, das in actu von sich selbst überrascht wird und sich so geradezu ontologisch nicht für die Praxis, sondern in der Praxis entparadoxiert. Die operative Gegenwart, wie ich sie in der ZdG beschrieben habe, ist eine Praxisgegenwart, die sich vor allem dadurch auszeichnet, daß sie sich in konkreten Gegenwarten bewähren muß. Das hört sich wie eine Tautologie an – und es ist zumindest in der Weise eine Tautologie, als sich Praxisgegenwarten tatsächlich praktisch bewähren müssen. Zwar verfügen etwa Akteure, Konstellationen oder Positionen über Ressourcen von außerhalb der Situation – Macht, Geld, Zuständigkeiten, Wissen, zugerechnete Asymmetrien etc. –, aber diese müssen sich in actu, also in praxi bewähren. Diese methodische Einstellung ist es, die eine praxistheoretische Soziologie in die Lage versetzt, sich für die operative, in diesem Sinne selbstreferentielle Dynamik von Situationen zu interessieren, die im Moment keine anderen Ressourcen haben als jene, die in diesem Moment auch verfügbar sind. Macht ist dafür ein gutes Beispiel: Macht hat man nicht einfach, sondern Macht muß umgesetzt werden, ist von Anschlüssen abhängig, z.B. davon, daß das Gegenüber tatsächlich tut, wie ihm geheißen, wie asymmetrisch das setting auch immer schon gebaut ist. Die praxistheoretische Soziologie interessiert sich exakt für jene gegenwärtigen Formen, in denen gelingt, was gelingt. Den theoretischen Rahmen dafür bietet die ZdG, die systemtheoretische Formulierungen dafür gefunden hat, wie die abstrakte Idee der Ereignisbasiertheit sich als Praxisgegenwart zeigt. Praxisgegenwart ist nicht nur ein operativer, sondern auch ein empirischer Begriff, will heißen: es geht nicht nur um den theorietechnischen Aufweis der Ereignishaftigkeit basaler Selbstreferenz. Es geht auch um die empirische Frage, was praktisch als Gegenwart fungiert. Petra Gehring hat darauf hingewiesen, daß eine systemtheoretische Theorie der Zeit diese Unterscheidung stärker machen solle – an die Adresse der ZdG (216) richtet sie die Anfrage, ob hier nicht womöglich die Unterscheidung reversibel/irreversibel zu stark gemacht und zu eindeutig mit Struktur und Prozess gleichgesetzt wird, ohne daß „nach deren praktischer Seite, also nach situativen Bedingungen für Reversibilität oder aber Irreversibilität“ (Gehring 2007: 8) gefragt wird. Wiewohl meine Analyse durchaus zwischen basaler und reflexiver Selbstreferenz unterscheidet und darauf die Unterscheidung zwischen der operativen Zeit der Autopoiesis und der „Beobachtungszeit“ (ZdG: 192ff.) aufbaut, ist Gehrings Argument durchaus hilfreich. Es ist in der Tat eine praktische Frage, ob und wie (reflexive) Reversibilitäten in Situationen eingebaut werden, etwa in Verhandlungen, durch Entschuldigungen oder ausgedehnte Gegenwarten. Worauf Gehring hier aufmerksam macht, könnte man in der Tat ein praxeologisches Argument nennen: auf die empirische Herstellung von Gegewarten zu achten. Lernen kann meine systemtheoretische Perspektive von der praxistheoretischen Soziologie jedenfalls die empirische Einstellung der Beobachtung konkreter Gegenwarten. Die Praxistheorie dagegen kann von der ZdG
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etwas über praktische Zeitverhältnisse lernen – eben was es bedeutet, daß sich Situationen ausschließlich als Gegenwarten darstellen, mit je empirischen Bewährungsbedingungen für Anschlüsse. Was sie von der ZdG freilich auch lernen kann, ist die Einsicht, daß diese Zeitverhältnisse in einer Gesellschaft stattfinden, daß es sich um Gegenwarten in einer Gesellschaft handelt, um Gegenwarten in einer Gesellschaft der Gegenwarten.
4.
Gesellschaft der Gegenwarten
Sehr treffend formuliert Andreas Reckwitz, die Praxistheorie sehe „‚Handlungen’ nicht als diskrete, punktuelle und individuelle Exemplare vorkommen, sondern dass sie im sozialen Normalfall eingebettet sind in eine umfassende, sozial geteilte und durch ein implizites, methodisches und interpretatives Wissen zusammengehaltene Praktik als ein typisiertes, routinisiertes und sozial ‚verstehbares’ Bündel von Aktivitäten.“ (Reckwitz 2003: 289) Die Formulierung erinnert an Theodore Schatzki, der Praxis als ein „‚bundle’ of activities“ bezeichnet, präziser: als einen „organized nexus of actions“ (Schatzki 2002: 71). Schatzki beschreibt Praktiken als Tätigkeiten in einer Gegenwart, die freilich, ganz wie Reckwitz es formuliert hat, in eine soziale Struktur eingebettet sind. Es fällt auf, daß diese Praxistheorie auf ein ganz und gar traditionelles Problem der soziologischen Begriffsbildung stößt. Wie die traditionelle „mentalistische“ Handlungstheorie auf je gegenwärtige Ereignisse stößt, auf Handlungen eben, entsteht auch für die Praxissoziologie das Problem, wie die unterschiedlichen Handlungen aufeinander bezogen werden, wie sie koordiniert werden und was jenes Medium ist, das es ermöglicht, daß sich Handlungen „am Ablauf des Handelns anderer“ orientieren können. Zwar legt Schatzki Wert darauf, Praktiken als „open, temporally unfolding nexuses of actions“ (ebd.: 72) zu bezeichnen, der Ort aber, an dem und durch den es zu organized constellations kommt, wird nicht recht ausgewiesen. Am Ende bleibt dann doch nur eine Qualität, die an den Akteuren hängt. Reckwitz postuliert sehr nahe an Durkheim eine „Kollektivität von Verhaltensweisen, die durch ein spezifisches ‚praktisches Können’ zusammengehalten werden“ (Reckwitz 2003: 289) – Durkheim begründete den Zusammenhang von Kollektivität und individuellem Vermögen bekanntlich so, daß das Kollektive nicht allgemein sei, weil es in den Einzelnen verankert sei, sondern es sei in den Einzelnen verankert, weil es kollektiv sei (vgl. Durkheim 1961: 111). Und Schatzki spricht von einer „practical intelligibility“ (Schatzki 2002: 75), die er weder normativ noch rationalistisch verstanden wissen will.6 Dennoch sind es „rules“ (ebd.: 79), die er in Anspruch nimmt, um das Bündel von Handlungen zu schnüren, oder jenen Ort, von dem her organized nexuses erzeugt werden – ganz in dem Sinne, in dem Parsons, zwar noch verfangen in einer sehr traditionellen „mentalistischen“ Vorstellung des Akteurs, das Problem der Handlungskoordinierung gelöst hat. Die (behauptete) praxeologische Wende in der Soziologie setzt in der Tat an der Frage an, wie sich Praxen in einer Gegenwart hervorbringen, wie die Qualitäten von Akteuren 6
Folgende Formulierung scheint mir inkonsequent zu sein: „Although the particular actions signified as the ones to do next are often also the ones that the counsels of rationality single out, practical intelligibility and rationality can diverge.“ (Schatzki 2002: 75) Gibt es also doch eine Rationalität außerhalb der Praxis? Und was wäre Rationalität anderes als eine eigene Praxis? Irgendwie mißtraut Schatzki seiner Ontologie der gegenwartsbasierten Hervorbringung von actions und dem nexus, der sie verbindet.
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letztlich in der Praxis erzeugt werden und wie sich daraus ein pragmatistisches Verständnis sozialer Ordnung entwickeln läßt. Aber ganz ähnlich wie etwa bei Mead bleibt die Beantwortung der Frage unterkomplex gelöst, wie sich die Elemente von Praxen zu einem Bündel verdichten und in welchem Kontext dies stattfindet. Offensichtlich rechnet dieses Verständnis von Praxis dann doch mit einer Kollektivitätsidee, mit Sprachspielregeln im Sinne Wittgensteins oder mit strukturalistischen Diskursformationen, wie man sie von Foucault her kennt. Wenn Reckwitz die alleinige Erklärungskraft von Intentionalität, Normativität und kulturellen Schemata in Zweifel zieht, so ist dem nur zuzustimmen. Wenn als Lösung freilich nur angeboten wird, Handeln müsse eher als „wissensbasierte Tätigkeit begriffen werden ..., als Aktivität, in der ein praktisches Wissen, ein Können im Sinne eines ‚knowhow’ und eines praktischen Verstehens zum Einsatz kommt“ (vgl. Reckwitz 2003: 294), dann scheint sich die Praxistheorie von der Frage nach der sozialen Ordnung selbst letztlich verabschiedet zu haben. Es geht dann nur noch um die Entfaltung von Ordnung, zwar ausgestattet mit Freiheitsgraden, aber letztlich organisiert. Beschreiben lassen sich dann settings, eingelassen in soziale Kontexte, die selbst entweder vorausgesetzt oder soziologisch unterkomplex bestimmt werden können. Die ZdG bietet dagegen nicht nur eine Sozialtheorie der Zeit und des gegenwärtigen Operierens, sondern auch eine temporalisierte, eine operative Theorie der Gesellschaft, die in der Lage ist, Gegenwarten aufeinander zu beziehen. Dies ist hier nicht zu wiederholen. Hingewiesen sei lediglich auf die im vierten Kapitel der ZdG entworfene „Gesellschaftstheorie der Zeit“, die insbesondere am Problem der Gleichzeitigkeit ansetzt. Gleichzeitigkeit ist das temporale Komplement zu Differenzierung. Ein differenziertes soziales System muß Unterschiedliches so aufeinander beziehen, daß es gleichzeitig geschehen kann. Es muß Interdependenzen unterbrechen, auf Gesamtregulierungen verzichten und unterschiedliche Anschlußroutinen etablieren, die dann in je eigenen Gegenwarten unterschiedliche Kontexte erzeugen. Was hier abstrakt formuliert wird, läßt sich empirisch spätestens dort beobachten, wo man die vermeintlich wohlgeordnete Struktur einer funktional differenzierten Gesellschaft in der Praxis beobachtet, wo die unterschiedlichen Logiken und Anschlußroutinen in konkreten Gegenwarten aufeinander treffen und sich praktisch auflösen müssen. Die ZdG hat gezeigt, wie segmentäre, hochkulturell stratifizierte, fortschrittsorientiert frühmoderne und funktional differenzierte Designs zu unterschiedlichen Zeitarrangements geführt haben. Für die funktional differenzierte Gesellschaft scheint das Synchronisationsproblem das Grundproblem temporaler Koordination zu sein – mit dem Effekt erlebter Beschleunigung, Entkoppelung und merkwürdiger Friktionen zwischen unterschiedlichen temporalen Programmierungen und Geschwindigkeiten. Es ist dies nicht der Ort, dies im einzelnen auszuformulieren – die entsprechenden Analysen finden sich in der ZdG. Hinweisen möchte ich an dieser Stelle lediglich darauf, wie die Temporalverhältnisse einer funktional differenzierten Gesellschaft einen operativen Gesellschaftsbegriff erfordern, der sozialtheoretisch in einem temporalisierten, praxistheoretisch informierten Modell selbstreferentiellen Prozessen formuliert werden kann, praxistheoretisch von gegenwartsorientierten Arrangements profitiert und gesellschaftstheoretisch in der Lage ist, den Aggregatbegriff der Gesellschaft selbst als operativen, temporalisierten Begriff zu behandeln. In diesem Sinne bereitet die ZdG theoretisch auf das vor, was ich in späteren Arbeiten eine Gesell-
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schaft der Gegenwarten genannt habe (vgl. Nassehi 2003a; 2004a; 2006) und was in zukünftigen Arbeiten einer genaueren Spezifikation bedarf.
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Einleitung
Der Titel Die Zeit der Gesellschaft gibt eine gesellschaftstheoretische Perspektive vor; der Untertitel Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit stellt die folgenden Überlegungen als Teil einer Suchbewegung vor. Obwohl Diagnosen aus den siebziger Jahren, das Thema Zeit sei ein eher vernachlässigter Topos soziologischer Theoriebildung (vgl. Lüscher 1974: 101ff.; Waldmann 1971: 687), heute sicher nicht mehr zutreffen, kann man auch heute noch im Gespräch mit soziologischen und anderen sozialwissenschaftlichen Gesprächspartnern oft Befremden oder zumindest Hilflosigkeit ernten, wenn man sich als Soziologe mit dem Thema Zeit beschäftigt. Ich teile dabei Erfahrungen etwa mit Werner Bergmann (1981a: 9) und Barbara Adam (1990: 1f.). Gleichwohl kann man derzeit ein erhebliches Interesse am Zeitproblem registrieren, wie erst jüngst erschienene Sammelbände belegen (vgl. z.B. Zoll 1988; Tholen/Scholl 1990; Kamper/Wulf 1987). Allein, das ändert noch nichts daran, daß – wie Helga Nowotny treffend bemerkt – trotz des ständigen Umgangs mit Zeit, Zeitverhältnissen und Zeitkonzeptionen „der diskursive Austausch über Zeit unterentwickelt“ (Nowotny 1989: 7) ist. Das gilt nicht zuletzt für die soziologische Theoriebildung, obwohl mit einigen wichtigen Arbeiten bereits entscheidende Schritte auf dem Wege zu einer theoretischen Beschreibung der Zeit der Gesellschaft beschritten worden sind (vgl. Luhmann 1975b und 1980a; Bergmann 1981a; Schmied 1985; Giddens 1988; Adam 1990; überblicksartig Bergmann 1981b). Im Rahmen dieser Suchbewegung beabsichtigt die vorliegende Abhandlung einen weiteren Schritt beizutragen. Man kann bei dieser Suchbewegung verschiedene Wege gehen: Es wäre denkbar, sich für eine soziologische Theorie zu entscheiden und mit ihr das Thema einer soziologischen Zeittheorie durchzuexerzieren (so etwa Bergmann 1981a). Man könnte auch – im Sinne eines Theorienvergleichs – die zeittheoretische Potenz konkurrierender sozialtheoretischer Ansätze gegeneinander abwägen, um so die jeweiligen brauchbaren Versatzstücke zu einer Theorie der Zeit zusammenzufügen (so etwa Schmied 1985). Weiters wäre es möglich, sogleich – sozusagen empirisch – den Gegenstand aufzusuchen, von ihm theoretische Bedingungen abzuziehen und diese zu einer soziologischen Theorie der Zeit zu verdichten (so etwa, jedoch mit geringer theoretischer Tiefenschärfe, Whitrow 1991). Allein, dieses Verfahren begänne bereits mit ungeprüften theoretischen Annahmen, denn moderne Theorieniveaus können sehr wohl wissen, daß sie ihren Gegenstand durch ihren theoretischen Blick miterzeugen. Ich gehe vielmehr von einer zunächst erkenntniskritischen Diagnose aus, die Pitirim A. Sorokin und Robert K. Merton bereits 1937 in ihrem berühmt gewordenen Aufsatz Social Time. A Methodological and Functional Analysis gestellt haben. Sie betonen, daß die schlichte Voraussetzung einer ontologischen Zeitstruktur, die als unabhängige Weltdimension begriffen wird, die Denkmöglichkeit verhindert, Zeit als etwas sozial Konstituiertes zu fassen und die verschiedenen Ebenen sozialer Zeit angemessen abzubilden
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(vgl. Sorokin/Merton 1937: 615ff.).1 Folgerichtig ist meine Abhandlung nicht mit Zeit und Gesellschaft überschrieben, was auf eine Eigenständigkeit der Zeit als quasi außergesellschaftlicher Struktur verweisen würde. Was hier entwickelt werden soll, ist ein theoriegeleitetes Verständnis für Die Zeit der Gesellschaft, also für die Zeit als Bestandteil und Element sozialer Zusammenhänge – welcher Art muß sich in eingehenden Analysen erweisen. Doch auch mit der bloßen Versicherung, Zeit sei etwas sozial Konstituiertes, wird nicht mehr als ein Allgemeinplatz wiedergegeben, dem man kaum eine theoretische Aussagekraft zusprechen kann. Eine anspruchsvolle soziologische Theorie der Zeit muß vielmehr nach jenen Konstitutionsbedingungen suchen, die es erlauben, von einer sozialen Zeit zu sprechen. Ich gebe dabei Barbara Adam Recht, die mit ihrer apodiktischen Aussage „All time is social time“ (Adam 1990: 42) zum Audruck bringt, daß alle Zeitvorstellungen, sowohl alltägliche als auch naturwissenschaftliche, theologische und psychologische, innerhalb sozialer Bedingungen entstehen, wie man schon ihrer Historizität entnehmen kann. Es ist unmittelbar einleuchtend, daß etwa die Einsteinsche Relativitätstheorie der Beobachterrelativität von Zeit sich gegenüber der Newtonschen Annahme einer absoluten und universalen Zeit nicht einfach einer nun besser gewordenen Naturbeobachtung verdankt. Vielmehr spiegeln sich in diesen Theorien radikal unterschiedliche soziale Bedingungen für die Beobachtung der Welt wider, die selbst nichts anderes sind als Elemente von Gesellschaft. Jedoch darf sich die Potenz einer soziologischen Theorie der Zeit nicht im bloßen Nachweis der sozialen und historischen Relativität von Zeitbegriffen erschöpfen, denn eine solche Perspektive kann nichts Entscheidendes zur elementaren Funktion und Struktur sozialer Zeit beitragen. Das theoretische Interesse muß sich demnach der Frage zuwenden, wie Zeitprobleme in sozialen Zusammenhängen überhaupt entstehen, bevor diese sich zu elaborierten Zeitbegriffen verdichten. Das erklärte Ziel meiner Abhandlung ist es folgerichtig, theoretisch über diese Voraussetzungen und Bedingungen aufzuklären, die erst zur sozialen Handhabung von Zeit führen, aus der sich diejenigen sozialen Zeithorizonte entwickeln, die man ‚soziale Zeit’ nennt. Um das gesteckte Ziel zu erreichen, ist es notwendig, grundlegende Bedingungen für eine theoretische Beschreibung von Zeit anzugeben. Ich greife dabei zunächst auf die philosophische Tradition zurück, die die wesentlichen Problemstellungen der Konzeptualisierung von Zeit bereits deutlich ausgearbeitet hat. Ich werde deshalb im I. Kapitel unter dem Stichwort Zeit und Zeitbewußtsein prominente klassische Zeitkonzeptionen von Aristoteles bis Husserl behandeln, in denen sich – bei aller Verschiedenheit – eine erstaunliche Gemeinsamkeit theorietechnischer Probleme nachweisen läßt. Unmittelbar an diese Tradition schließen bereits grundlegende soziologisch relevante Theorieformen an, die die philosophische Beschränkung auf Bewußtseinstheorie in Richtung soziologischer Theoriebildung zu überwinden trachten. Ich werde deshalb unter dem Titel Intersubjektive und soziale Zeit 1
Allerdings gebe ich Werner Bergmann Recht, der in Sorokins und Mertons Ansatz selbst noch keine Anhaltspunkte für eine Überwindung ontologischer Seinsunterstellungen sieht: „Erst mit der Relativierung des ontologischen Zeitbegriffs auf eine Vielzahl sozialer Zeiten hin kann ihrer Meinung nach die Zeit als Kategorie für die Soziologie an Bedeutung gewinnen. Die genannte Begründung erscheint mir als nicht stichhaltig, denn ein ontologischer Zeitbegriff muß die Annahme einer Mehrzahl von Zeiten (...) nicht ausschließen.“ (Bergmann 1981a: 11) Ein kurzer Hinweis zur Zitierweise: Hervorhebungen in Zitaten entsprechen dem Original, soweit nicht explizit auf das Gegenteil hingewiesen wird.
Zur Neuauflage: Gegenwarten
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im II. Kapitel nach einer kurzen Erörterung von McTaggarts Irrealitätsbeweis der Zeit Edmund Husserls und Alfred Schütz’ Versuche einer phänomenologisch-intersubjektiven Theorie der Zeit und George Herbert Meads im Anschluß an Alfred North Whitehead gewonnene relativistische, praktisch-intersubjektive Zeitkonzeption analysieren. Die Diskussion der Potenzen und Beschränkungen dieser beiden Denkwege werden mich zu einer Diagnose führen, die eine Theorieanlage postuliert, in der sich die zwar diametral widersprechenden, jedoch unverzichtbaren Erträge der besprochenen Ansätze theoretisch integrieren lassen. Diese Integrationsleistung kann, wie ich darlegen werde, eine systemtheoretisch informierte Soziologie der Zeit erbringen, wie ich sie im III. Kapitel formulieren werde. Unter dem Titel Zeit sozialer Systeme schließe ich dort an konstruktivistische Epistemologien und an die Theorie autopoietischer Systeme Niklas Luhmanns an. Diese systemtheoretische Perspektive wird mich zu einer soziologischen Theorie der Zeit führen, die im IV. Kapitel in einen Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit münden wird. Dort wird das entwickelte Instrumentarium auf eine Theorie der Gesellschaft anzuwenden sein, die Zeit als wesentliches Strukturelement sozialer Systeme zum Thema hat. Ich werde damit einzulösen versuchen, was der Titel Die Zeit der Gesellschaft verspricht. Die Form einer – wenn ich so sagen darf – induktiven Darstellungsweise erfordert detaillierte darstellende Teile und stets einen zunächst immanenten Zugang zu den behandelten Theorien. Das mag womöglich oft dem Bedürfnis nach kurzer Präsentation und griffigen Ergebnissen nicht sofort entgegenkommen, scheint mir aber aus zwei Gründen angezeigt zu sein: Erstens kommen die internen Möglichkeiten und Beschränkungen der einzelnen Theorieelemente erst nach eingehender immanenter Diskussion so zum Vorschein, daß man mit ihnen nicht wie mit bloßen Behauptungen hausieren gehen muß; zweitens leiden gerade systemtheoretische Arbeiten oft unter einer eigentümlichen Geschichtslosigkeit. Diesem Manko versuche ich durch meine induktive Darstellungsform zu entgehen. Meine Ausführungen beabsichtigen, einen Beitrag zu einer soziologischen Theorie der Zeit zu leisten, indem ich diesen Topos in den Horizont allgemeiner soziologischer Theoriebildung stelle. Ich möchte mich und meine Leser nicht mit weiteren Präliminarien aufhalten, denn auch das Schreiben und Lesen einer Arbeit über Zeit kostet insbesondere dies: Zeit.
Zeit und Zeitbewußtsein
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I. Kapitel: Zeit und Zeitbewußtsein
1.
Die Zeit denken
Die wesentliche Schwierigkeit der Behandlung des Zeitproblems, ungeachtet der wissenschaftlichen Disziplin, innerhalb derer dies geschieht, besteht in der Suche nach einem adäquaten Gegenstand der Behandlung. Es ist vielleicht zu trivial, um überhaupt betont zu werden, doch ist es von entscheidender Bedeutung, daß Zeit als positives Faktum, als ein Äußeres von Erfahrung kaum vorliegt. Gewiß, Zeit ist – etwa als Uhrzeit – eine alltägliche Kategorie, ein Meßbares, von dem uns aber weitgehend nur die Messung als solche, nicht jedoch das Gemessene alltäglich präsent ist. Desweiteren wird wohl kaum jemand widersprechen, wenn man behauptet, Zeit werde uns in der Bewegung der Gegenstände der alltäglichen Lebensumwelt genauso bewußt wie im Wechsel der Jahreszeiten, im Altern Egos und alter Egos sowie im lebensgeschichtlichen Wandel von Erfahrungen, Erlebnissen und im Wandel von Einstellungen und Lebensformen. Auch historischer, politischer und gesellschaftlicher Wandel verweist auf Zeit. „Zu unserer Zeit war alles anders“, mag ein Alter sagen, für einen Jungen war dies vor seiner Zeit, aber ohne Zweifel, die Zeiten haben sich geändert. Daß der Weltrekord im 100-Meter-Lauf der Herren knapp unter zehn Sekunden liegt, daß ein Tag 24 Stunden dauert und daß das menschliche Leben eine ständige Reflexion über die Koordination von Ungleichzeitigem erfordert, daß eine Schulstunde 45 Minuten hat, ein Spiel 90 Minuten dauert (Sepp Herberger), der Omnibus in einem bestimmten regelmäßigen Intervall zu erwarten ist, das Sparguthaben mit der Zeit wächst, ein junger Mensch noch viel Zeit vor sich hat und einem Moribunden „die Stunde schlägt“, gehört nicht nur zum semantischen common sense alltäglicher Routine. Hier werden unmittelbar temporale Bestimmungen bewußt eingesetzt, um Informationen über Wirklichkeit zu formulieren und Einigung über strukturelle Gegebenheiten von Gegenständen und Ereignissen zu ermöglichen. Die Zeit als grundlegende Kategorie der sozialen Welt scheint zum unbefragten Boden gesellschaftlicher Wirklichkeit überhaupt zu gehören. Und zweifellos bietet sich dieser Boden als Horizont für die temporale Verortung von Wirklichkeitsaspekten an. Diese Verortung ist üblicherweise eine Lokalisierung in räumlichen Symbolen, als Zeigerstellung auf einer Uhr oder als räumlicher Ort auf einem Kalenderblatt.1 Dieser Verortung entsprechen soziale Koordinaten, etwa der temporale und spatiale Ort eines Treffpunktes, die Ankündigung eines intersubjektiv zugänglichen Ereignisses, eine behördliche Frist oder ein geschichtliches Datum, etwa der 8. Mai 1945 als Tag des Kriegsendes. Offenbar ist es also doch möglich, ein Äußeres, einen Gegenstand zu bezeichnen, der in sozialen Zusammenhängen als Zeit erscheint. Hätte Zeit nun allein diesen exogenen Charakter, wäre es nicht schwierig, den realen Gegenstand zu benennen, der als Zeit die 1
Die „digitale“ Angabe von Uhrzeit und Kalendertag/-jahr ist selbst wiederum eine Symbolisierung zweiter Ordnung, nämlich ein Zahlensymbol für die Symbolisierung der Zeit durch Uhrzeiger und Kalenderblatt. Zur Kulturgeschichte der Uhr und der Zeitmessung vgl. Landes 1983: passim und Wendorff 1985: 135ff., 246ff., 266ff., 427ff., 541ff. und passim.
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I. Kapitel
Temporalität temporärer Bestimmungen konstituiert. Dies wird aber spätestens dann prekär, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das die Zeit wahrnehmende Subjekt die Zeit zwar als ein Äußeres wahrnimmt, dabei aber in seiner Konstitution selbst zeitlich ist. Fast vorschnell, womöglich unbemerkt, hat sich der Terminus eines die Zeit wahrnehmenden Subjekts in den Text eingeschlichen. Dieser Terminus beinhaltet bereits eine Vorentscheidung über den Charakter des Gegenstandes Zeit und der Art seiner Gegenständlichkeit. Nimmt man an, daß die Kenntnis von Zeit auf einer Wahrnehmung der Zeit durch ein Subjekt beruht – dies könnte man durchaus als eine „Alltagstheorie der Zeit“ bezeichnen –, liefert man zugleich mit: Zeit ist eine vom Bewußtsein des Subjekts prinzipiell unterschiedene Gegebenheit, die als Sinnesdatum wahrgenommen, als Zeit identifiziert und mit einem für Kommunikation zugänglichen Begriff – Zeit, tempus, chronos, time, temps, tiempo... – belegt wird. Zeit würde also als etwas identifiziert, das unabhängig von unserer Erfahrung besteht. Dies wird bereits in Aristoteles’ berühmter Definition der Zeit deutlich. Zeit ist demzufolge als „Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Frühere und das Spätere“ (Aristoteles, Phys. IV: 219 b) zu verstehen, was allerdings schon darauf verweist, daß sie nur durch ein perzipierendes, d.h. hier zählendes Bewußtsein wirklich und erfaßbar wird (vgl. ebd.: 223 c). Diese Vorentscheidung über die Relation zwischen Zeit und Subjekt verliert aber ihre unmittelbare Evidenz, wenn man mitbedenkt, daß Zeit nicht nur ein äußeres, sich an den Gegenständen der Lebensumwelt manifestierendes Phänomen ist. Das übliche Subjekt/Objekt-Verhältnis, das etwa für die Perzeption von Natur und sonstigem gegenständlich Seienden naiv vorausgesetzt wird, läßt sich nicht ohne weiteres auf die Kenntnis der Zeit übertragen. Wer sich mit dem Problem der Zeit beschäftigt, stößt auf ein Problem, das sich ähnlich vielen prominenten Problemen des Denkens stellt. Wie die Theorie des Bewußtseins bereits ein denkendes Bewußtsein voraussetzt, Erkenntnistheorie qua Erkennen operiert, die Lehre vom Glauben bereits den Glauben glauben muß, die Theorie der Gesellschaft bereits eine Position innerhalb der Gesellschaft einnimmt, die Geschichtswissenschaft mit ihrer historischen Bedingtheit konfrontiert wird und die Hermeneutik Verstehen voraussetzt, um Verstehen zu verstehen, ist das Denken der Zeit immer schon ein Denken in der Zeit. Diese unüberwindliche Zirkularität – im geisteswissenschaftlichen Paradigma hermeneutischer Zirkel genannt -, die sich nur durch einen gedachten Beobachterstandpunkt außerhalb der Welt vermeiden ließe, erfordert es auch in einer soziologischen Abhandlung, genauere Rechenschaft über eine Konzeptualisierung von Zeit abzulegen, will man sich weder mit einem metaphysisch legitimierten, noch mit einem Zeitbegriff mittlerer Reichweite begnügen, der zwar ohne Mühe an alltäglicher Erfahrung anzusetzen weiß, dann aber keine Erklärungskraft hat, sondern nur bestätigt, was wir ohnehin schon wissen: als was Zeit im Alltag denn behandelt wird. Die zirkuläre bzw. tautologische Verfassung des Denkens der Zeit sei hier – noch vor aller systematischen Argumentation – an zwei sehr unterschiedlichen Überlegungen angedeutet, die einen Zusammenhang zwischen dem menschlichen Bewußtsein und der Zeit herzustellen trachten, eingedenk der Tatsache, daß Zeit nichts sein kann, was wie ein Objekt von außen wahrgenommen wird, denn schon das Denken der Zeit ist ohne sie undenkbar.
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1) Ich beginne mit einem apokryph anmutenden Text von Martin Heidegger aus einem Vortrag vor der Marburger Theologenschaft, gehalten 1924 und erst kürzlich publiziert: „Zeit ist Dasein. Dasein ist meine Jeweiligkeit, und sie kann die Jeweiligkeit im Zukünftigen sein im Vorlaufen zum gewissen aber unbestimmten Vorbei. Das Dasein ist immer in einer Weise seines möglichen Zeitlichseins. Das Dasein ist die Zeit, die Zeit ist zeitlich. Das Dasein ist nicht die Zeit, sondern die Zeitlichkeit. Die Grundaussage: die Zeit ist zeitlich, ist daher die eigentlichste Bestimmung – und sie ist keine Tautologie, weil das Sein der Zeitlichkeit ungleiche Wirklichkeit bedeutet. Das Dasein ist sein Vorbei, ist seine Möglichkeit im Vorlaufen zu diesem Vorbei.“ (Heidegger 1989: 26)2
Die Auswahl dieses Textes begründet sich keineswegs aus einem philosophiehistorischen oder -philologischen Interesse an Heideggers Theorie der Zeit. Vielmehr scheinen mir in der zitierten Textstelle einige Problemlagen, Strukturen und Paradoxien des Denkens der Zeit geradezu paradigmatisch zum Ausdruck zu kommen, denen – wie zu zeigen sein wird – auch eine soziologisch-gesellschaftstheoretische Konzeptualisierung von Zeit permanent begegnen wird. Die arkane Sprache läßt sie womöglich noch genauer hervortreten. Zunächst hat uns primär nicht zu interessieren, daß hier von der Zeit des Daseins, also des Menschen, bzw. vom Dasein als Zeit die Rede ist. Vielmehr überrascht Heidegger mit der Versicherung, die Zeit sei zeitlich, und belehrt darüber, diese Grundaussage sei keine Tautologie, was auf den ersten Blick falsch erscheint. Warum sollte Heidegger aber einen solchen fundamental logischen Fehler begehen? Es liegt vielmehr der Schluß nahe, daß diese Tautologie etwas zu bedeuten hat. Eine Tautologie bezeichnet einen Sachverhalt durch ihn selbst, sensu strictu bezeichnet sie damit nichts. Gleichwohl wird hier einem Sachverhalt, sogar einem ausgezeichneten, nämlich dem Dasein, eine Qualität zugeschrieben, die es selbst ist. Ferner wird das Dasein noch näher bezeichnet, wenn Heidegger meint, das Dasein sei „sein Vorbei, (...) seine Möglichkeit im Vorlaufen zu diesem Vorbei“. Man könnte nun schließen, die Qualität der Zeit, die offenbar mit dem Dasein zusammenfällt, als die Permanenz des Vorbei und die Möglichkeit des Vorlaufens zu diesem Vorbei zu bezeichnen. Doch warum dann diese komplizierte Formulierung? Hätte es nicht genügt zu sagen: Zeit ist das Vorbeigehen, und sie ermöglicht die Antizipation des Zukommenden als Vorbeigehendem? Zumal Heidegger ja selbst – einige Seiten zuvor – sagt: „Das Grundphänomen der Zeit ist die Zukunft.“ (ebd.: 19). Hätte er so formuliert, wäre allerdings ein wesentlicher Grundzug seiner Aussagen verschleiert worden. Denn durch die nicht-tautologische Verwendung eines Subjekt-Prädikat-Objekt-Satzes wäre Zeit als etwas bestimmt worden, was sie nicht ist. Aber gerade das soll ja vermieden werden: Das Sein von etwas, besser: daß etwas ist, begründet bereits die Qualität seiner Zeitlichkeit; oder umgekehrt: was zeitlich ist, ist. Es kann Heidegger also nur darum gehen – damit referiert er einen für seine Denkepoche phänotypischen Topos (vgl. I.2d und e) –, Zeit als etwas sich 2
Bekanntlich operiert Heidegger in „Sein und Zeit“ (1979) mit einer Theorie, die – als Fundamentalontologie ausgewiesen – die Befragung des Seins über den methodologischen Umweg des Daseins, also des Menschen, angeht. In diesem Sinne schließt an das Zitat eine Bindung des Zeitverständnisses an das – modern gesprochen – subjektive Empfinden der Jeweiligkeit an, wenn Heidegger formuliert: „In diesem Vorlaufen bin ich die Zeit eigentlich, habe ich Zeit. Sofern die Zeit je meinige ist, gibt es viele Zeiten. Die Zeit ist sinnlos; Zeit ist zeitlich.“ (Heidegger 1989: 26)
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I. Kapitel
selbst Konstituierendes zu denken. Es geht ihm darum, zu zeigen, daß Zeit etwas ist, das erst im Vollzug von Konstitution – ob Sein, Bewußtsein, Sozialität oder sonstigen Trägern bleibt zunächst ausgeklammert – zu dem wird, was es ist. Die Tautologie in der Zeitbestimmung besagt dann nichts weiter als die Annahme, daß Zeit und Zeitwahrnehmung – mit den angedeuteten Einschränkungen – nicht unabhängig von den sie erst konstituierenden Operationen existieren. Gleichwohl wird der Zeit aber – im philosophischen Idiom – eine gewisse Seinsmächtigkeit zugeschrieben, denn das Sein des Seienden selbst scheint mit seinem Zeitlichsein kategorial und real zusammenzufallen. Heidegger sagt ausdrücklich nicht: Zeit ist Zeit, sondern: Zeit ist zeitlich. Sie wird letztlich zwar durch sich selbst konstituiert, liegt aber nicht als Seiendes vor, sondern ist an die Operationen eines Seienden, hier: des Daseins, gebunden. Zeit, so könnte man den Gedankengang auf eine Formel bringen, ist immer Zeitlichkeit von etwas. 2) Als zweites Beispiel wähle ich einen erheblich moderneren Text aus, der jedoch erstaunliche Parallelen zum ersten aufweist. In der groß angelegten Untersuchung über Die Zeit in der Geschichte von Günter Dux heißt es: „Zeit richtet sich auf eine Seinslage, von der wir notwendig sagen, daß sie auch ist, wenn das Denken sich nicht auf sie richtet, kein Mensch sie erfaßt. Auch dann gibt es den Wechsel der Zuständlichkeit in der Dynamik des Universums. Die Seinslage, die wir damit in Bezug nehmen, ist ersichtlich vorkategorial gedacht, als Grenzbegriff also. Und das gleiche gilt für diese Zeit. Denn es versteht sich: als Zeit stellt sich die Seinslage selbst erst in dem Konstrukt dar, mit dem wir sie erfassen. Nur ist (...) Zeit nicht nur das Konstrukt, sondern die konstruktiv erfaßte Seinslage, eine Realität also.“ (Dux 1989: 38)
Dieser von Dux so genannte „konstruktive Realismus“ wagt sich weiter vor als der erste Text. Er behauptet eine Realität der Zeit und bestimmt Zeit propositional als „Wechsel der Zuständlichkeit in der Dynamik des Universums“. Diese „Seinslage“ ist bereits vorausgesetzt, bevor ein perzipierendes Subjekt aus dem vorgängigen Wechsel das synthetisiert, was wir Zeit nennen. Allerdings wird auch hier darauf insistiert, daß Zeit keineswegs sui generis ist, sondern erst im Vollzug ihrer Konstitution zu dem wird, was sie qua Wechsel von Zuständen des Universums bereits – man könnte sagen: potentiell – ist. Konstruktiv ist dieser Realismus, weil er Zeit an die synthetisierenden Akte eines Bewußtseins bindet; und ein Realismus ist dieser Konstruktivismus, weil Zeit nicht einfach eine Erfindung des jeweiligen Bewußtseins ist, sondern sich auf ein reales, d.h. bewußtseinsunabhängiges Sein bezieht, nämlich den Wechsel von Zuständen. Anders als bei Heidegger wird hier eine Art Bewegung, ein von Erkenntnis und Wahrnehmung unabhängiges Geschehen vorausgesetzt, dessen sinnhafte Antizipation aber diesem Geschehen Temporalität verleiht. Gleichwohl bindet Dux wie Heidegger die Zeitlichkeit des Wechsels der Zuständlichkeit an die bewußte Erfassung des Wechsels. Daß bei Heidegger hier Dasein als Stellvertreter für das nicht unmittelbar befragbare Sein – Dasein und Zeitlichkeit statt Sein und Zeit – steht und bei Dux die Differenz von realer Sukzession und bewußter Konstitution gleichsam als Differenz von Sein und Wechsel und Sein und Zeit erscheint, spielt hier keine Rolle. Entscheidend ist bei beiden, daß Zeit operativ gebildet wird, d.h. nichts ist, das wir einfach wahrnehmen, sondern das durch hier noch nicht näher bestimmbare Akte im Vollzug dieser Akte konstituiert wird.
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Nun könnte man geneigt sein, gegen Dux ins Feld zu führen, sein „konstruktiver Realismus“ der Zeit unterscheide sich nicht von der Wahrnehmung anderer Dinge. Ein Baum – das kann man spätestens seit der Kantschen Erkenntniskritik wissen – ist nicht einfach ein Baum an sich, sondern wird – je nach erkenntnis-, sprach- und bedeutungstheoretischen Vorentscheidungen – durch Erkennen, Benennen oder Gebrauchskontext zu dem, was er ist: ein Baum. Ein solches Argument sticht zunächst, denn es zeigt tatsächlich Parallelen auf. Wenn Dux – wie ich meine mit Recht – auf dem Boden seiner Zeittheorie erklärt, das sich auf eine zwar reale Seinslage beziehende, letztlich aber nur fiktive Konstrukt Zeit gewinne seine Realität dadurch, daß das Konstrukt selbst real wird (vgl. Dux 1989: 39), besser: als real behandelt wird, könnte dies auch für einen Baum gelten. An einer entscheidenden Stelle jedoch hinkt dieser Vergleich und mithin auch die mögliche Kritik. Das Zeitproblem ist für das Erkenntnisproblem insofern fundamental, als hier von einer Qualität die Rede ist, die den Vollzug selbst qualifiziert. Wer einen Baum erkennt, muß kein Baum sein; noch radikaler: er darf kein Baum sein. Wer aber Zeit konstituiert – gleich ob Zeit konzeptionell an Dasein und sein Vorlaufen in das Vorbei oder an die Dynamik des Universums schlechthin gebunden wird -, konstituiert immer auch eine Qualität, die er selbst ist. Das naiv vorausgesetzte Subjekt/Objekt-Schema kann also nicht greifen, wie schon die subjektphilosophische Tradition lehrt. Bereits Fichte hat bekanntlich in Auseinandersetzung mit Kant die Aporien des Reflexionsmodells der Bewußtseinsphilosophie aufgezeigt. Er zeigt, daß jedes Sich-selbst-Vorstellen des Bewußtseins sich selbst zum Objekt eines neuen Bewußtseins machen müsse, das, um sich selbst wiederum ansichtig zu werden, ein weiteres Subjekt bräuchte, das es als Objekt wahrnehme. Diese Reihe führt in einen unendlichen Regreß, wenn nicht die unendliche Spirale – paradoxerweise – durch einen Zirkel durchbrochen würde. Auch hier wird eine tautologische Denkfigur herangezogen, um den Regressus zu unterbinden, indem dem Subjekt Selbstbewußtsein a priori zugeschrieben wird: „Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst“ (Fichte 1988: 16).3 Analog zu dieser Denkfigur ist der Argumentationszirkel bezüglich der Konzeptualisierung von Zeit aufgebaut. Könnten wir Zeit wahrnehmen und würden wir unserer eigenen Zeitlichkeit bewußt, müßten wir ein erneutes Wahrnehmungssubjekt haben, das jene Zeitlichkeit erkennen könnte, was dann notwendig ein neues voraussetzt, das wiederum jene perzipiert, und so weiter. Aus diesem Grunde muß offenbar das Denken der Zeit mit Argumentationszirkeln beginnen, sobald es sich dessen bewußt wird, daß es das, was es erklären will, bereits im Vollzug seiner selbst sowohl voraussetzt als auch konstituiert. Wer von Zeit redet, darf sich vor Argumentationszirkeln nicht fürchten, ja muß womöglich Theorieanlagen bevorzugen, die den erkenntnistheoretischen Zirkel und die Probleme tautologischer und paradoxer Formulierungen konzeptionell einbinden (vgl. auch Dupré 1974: 1799f.). Doch ich greife vor. Im folgenden werde ich deshalb in einer kurzen Rekonstruktion einschlägiger philosophischer Theorien der Zeit, die keineswegs den Anspruch einer geistes-/ philosophiege3
Aus der Regreßgefahr schließt Fichte keineswegs, Selbstbewußtsein sei nicht erklärbar, vielmehr führt er einen – für den deutschen Idealismus paradigmatischen – privilegierten Zugang des Bewußtseins zu sich selbst ein, der nicht dem Subjekt/Objekt-Schema nachempfunden ist: „Die Identität des Gesetzten und des Setzenden ist absolut, sie wird nicht gelernt, nicht erfahren, sie ist das, was erst alles Lernen und Erfahren möglich macht.“ (Fichte 1982: 31) Indem das Ich als unmittelbar mit sich vertraut angesetzt wird, stellt sich das Problem des Reflexionszirkels nicht mehr.
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I. Kapitel
schichtlichen Vollständigkeit beanspruchen, zu zeigen versuchen, wie die Tradition sich dem dargestellten Problem der Zirkularität der Zeit gestellt hat.
2.
Verinnerlichung und Modalisierung der Zeit
Die folgenden Rekonstruktionen philosophischer Zeittheorien wollen zweierlei nicht. Weder haben sie die Funktion, einen Überblick über die Geistesgeschichte des Problems der Zeit zu vermitteln, noch beabsichtigen sie, den angedeuteten Denkern in ihren Konzeptualisierungen von Zeit vollständig und mit philosophiegeschichtlichem Totalitätsanspruch gerecht zu werden. Die darzustellenden Ansätze sollen lediglich Denkmatritzen demonstrieren, die ich im Vorgriff auf eine soziologisch befriedigende Theorie der Zeit für relevant halte.
a)
Zeit und Zahl. Aristoteles
Es besteht Konsens darüber, daß die Zeittheorie des Aristoteles paradigmatischen Charakter für die gesamte abendländische Denktradition des Zeitproblems hat. Peter Janich sieht in ihr einen, wenn nicht den wesentlichen Vorläufer des Zeitbegriffs der modernen Physik – „abgesehen von den Beiträgen der Relativitätstheorie“ (Janich 1980: 246) -, und Paul F. Conen macht in der Zeittheorie des Aristoteles das modernste Stück von dessen Philosophie aus, das auch diejenigen anzuerkennen hätten, die die klassische hellenische Metaphysik „als einer vorwissenschaftlichen, unkritischen Ära philosophischer Denkbemühungen angehörend in Bausch und Bogen ablehnen“ (Conen 1964: 1). Aristoteles beginnt seine Reflexion des Zeitproblems im vierten Buch der Physikvorlesung, Kapitel 10, mit einer klassischen ontologischen Frage, „ob die Zeit zum Seienden oder Nichtseienden gehöre“ (Aristoteles, Phys. IV: 217b). Darauf, so Aristoteles, könne zunächst nur sehr skeptisch geantwortet werden. Er gibt zu bedenken, daß der Zeit kein Sein zukommen könne, weil sie – zumindest teilweise – aus Nichtseiendem bestehe: „Das eine Stück der Zeit ist vorbei und ist nicht (mehr), das andere Stück kommt erst und ist noch nicht.“ (ebd.: 218a) Es sind verschiedene Jetztpunkte, die die Zeit bilden, und ohne Zweifel bilden sie nur dann Zeit, wenn sie nicht gleichzeitig sind. Allerdings gibt Aristoteles zu bedenken, daß die dargelegte Aporie nur dann gelte, wenn man davon ausgehe, daß die Zeit aus Jetztpunkten bestehe, „es sieht aber nicht so aus“ (vgl. ebd.). Entscheidend hängt also das Problem der Zeit von der Beantwortung der Frage ab, ob der Jetztpunkt, der Vergangenheit und Zukunft trennt, immer derselbe ist oder ob verschiedene Jetztpunkte sich gegenseitig ablösen. Gälte das erste, gäbe es keine Zeit, denn alles wäre jetzt, „das, was vor zehntausend Jahren geschah, gleichzeitig mit den Ereignissen von heute“ (ebd.). Gälte aber das zweite, ergäbe sich eine neue Aporie: Wenn alles, was vergangen ist, durch neue Jetztpunkte ersetzt wird, „muß der frühere Jetztpunkt jeweils untergegangen sein“ (ebd.). Aber wann? In seinem Jetzt kann er nicht untergegangen sein, „denn da hatte er gerade sein Sein“ (ebd.), in einem anderen Jetzt, also zu einem anderen Zeitpunkt kann er auch nicht untergegangen sein, denn zu einem solchen anderen Zeitpunkt ist das Jetzt nicht mehr das
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gleiche, wenn gelten soll, daß Jetztpunkte sich sukzessiv ablösen. Als erstes Ergebnis kann also festgehalten werden: Zeit kann nicht aus Jetztpunkten bestehen, weder aus einem, noch aus vielen. Mit diesem Gedankenschritt löst Aristoteles zumindest die erste Aporie. Denn wenn die Zeit nicht mehr aus Stücken besteht, die jetzt nicht sind, dann besteht sie nicht aus Nichtseiendem. Eine positive Lösung des Problems ist dieses negative Ausschlußverfahren jedoch noch nicht. Im weiteren Gang der Argumentation richtet Aristoteles deshalb sein Augenmerk von den Jetztpunkten zur Veränderung, als die die Sukzession von Jetzten beobachtet werden kann. Sogleich wendet er sich aber gegen die „naive“ (ebd.: 218b) Auffassung, Veränderung, Prozeß oder Bewegung seien Zeit. Letztlich sollen diese Phänomene durch das, was sie angeblich sein sollen, erst erklärt werden. Im Klartext: Haben wir erst ein Verständnis von Zeit, können wir Veränderung, Prozeß und Bewegung – nichts anderes ist die Sukzession von Jetztpunkten – erst erklären. Bewegung, so kann man Aristoteles interpretieren, ist also kategorial der Zeit nachgeordnet.4 Allerdings, so Aristoteles mit Recht, könne Zeit zwar einerseits nicht als Veränderung beschrieben werden, „aber andererseits ist Zeit auch ohne Veränderung wieder nicht möglich“ (ebd.; Hervorh. A.N.). Wenn aber Zeit und Prozeß nicht identisch sind, dieser aber offenbar „Bedingung“ (ebd.) jener ist, resultiert daraus die Frage, welches Moment am Prozeß die Zeit darstelle (vgl. ebd.: 219a). Um diese Frage zu beantworten, stellt Aristoteles zunächst eine Analogie zur Bewegung her. Ein Wesensmerkmal der Bewegung ist ihre Kontinuität, denn Bewegung ist nichts anderes als die Ortsveränderung eines ausgedehnten Körpers, dessen Identität mit sich selbst innerhalb der Bewegung unzweifelhaft ist, anders als die Identität der Jetztpunkte in der Zeit, wie oben dargelegt.5 Der Analogieschluß lautet folgendermaßen: „Weil die Bewegung ein Kontinuum bildet, bildet auch die Zeit ein solches; denn einem Quantum der Bewegung entspricht stets das Quantum der Zeit, die darüber verstrichen erscheint.“ (ebd.) Indem Aristoteles nun die Wahrnehmung der Bewegung untersucht, findet er einen Schlüssel zur Bestimmung der Zeit. Er gebraucht dafür ein höchst modernes Theorieelement, indem er nämlich nicht nach der Einheit fragt, in der die Bewegung bzw. die Zeit ihre Kontinuität erhalten, sondern nach einer bezeichnenden Differenz. Eine Bewegung, so zeigt er, könne nur dann festgestellt werden, wenn ein „Ortsunterschied“ (ebd.) wahrgenommen werden könne. Diesen Unterschied können wir dann feststellen, wenn wir in die Bewegung einen Schnitt machen, um so das Vorher und das Nachher des Schnittes unterscheiden zu können, deren Differenz in der nun anderen Lage im Raum zu sehen ist. Erstaunlicherweise scheint zu dieser Differenz aber noch mehr zu gehören, als die differente Lage im Raum, sondern offenbar auch ein Vorher und Nachher. Die Bewegung läßt sich also, will man sie anhand von Schnitten, d.h. Zustandsdifferenzen beschreiben, als Bewegung nur dann defi4
5
Mit dieser Interpretation folge ich Gernot Böhme (1974: 171). Demgegenüber bringt die Interpretation von Paul F. Conen (1964: 50) zur Geltung, das „Vorher und Nachher in der Bewegung“ hänge vom „Stetigsein der Bewegung“ ab. Damit wäre ein Moment an der Bewegung – nicht die Bewegung selbst – der Zeit vorgeordnet. Letztlich scheint mir aber das Stetigsein selbst wiederum ein temporaler Terminus zu sein, der mit Hilfe des Zeitbegriffs erst zu klären ist. Unter diesen Voraussetzungen wäre die Zeit der Bewegung wieder vorgeordnet, als definiens, nicht als definiendum der Bewegung. Von hier aus wird deutlich, warum Aristoteles das 4. Buch der Physikvorlesung, dessen Hauptthema das Problem der Zeit bildet, mit einer Analyse des Ortes und der Ortsveränderung, d.h. also Bewegung, beginnt (vgl. Phys. IV: 208a – 217b).
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nieren, wenn bereits ein temporales Element in die Definition aufgenommen wird: Das Vorher und Nachher der Lage im Raum als Früher und Später verschiedener Jetztpunkte. Dabei bilden keineswegs das Vorher (Früher) und das Nachher (Später) Teile der Zeit, denn Zeit ist nicht die Summe der Jetztpunkte, sondern das, was die Jetztpunkte zugleich trennt und verbindet. Aristoteles formuliert: „Aber auch die Zeit erfassen wir dann, wenn wir in die Bewegung Schnitte legen und zuvor- und danachliegende Bewegungsphasen voneinander unterscheiden. Und von einer verstrichenen Zeit sprechen wir dann, wenn wir uns solcher Unterschiede an Bewegungsphasen bewußt werden. (...) Sobald wir nämlich diese Schnitte als unterschieden von dem zwischen ihnen Liegenden erfassen und die Seele zwei Zeitpunkte als voneinander unterschieden erlebt, den einen als den früheren, den anderen als den späteren, so sprechen wir von Zeit und nennen dieses Verhältnis Zeit; denn eben dies scheint die Zeit zu sein: das (beidseitig) von einem Jetztpunkt Begrenzte.“ (ebd.) Zeit besteht also weder aus Jetztpunkten, noch aus einer Bewegung, sondern allein aus dem Verhältnis der Jetztpunkte zueinander. Man könnte Zeit nach Aristoteles, bezogen auf das Verhältnis der Jetztpunkte zueinander, auf folgende Formel bringen: Zeit bildet sich dadurch, daß ein Jetzt sich nur dadurch als Jetzt erfährt, indem es sich immer als ein anderes Jetzt eines anderen Jetzt konstituiert. Ich lasse zunächst außer acht, daß Aristoteles in die soeben zitierte Definition der Zeit an entscheidender Stelle das Erleben der Zeit durch eine Seele einbaut, und folge seiner weiteren Argumentation. Die Definition der Zeit als Verhältnis des Früheren zum Späteren, als ein „Mittleres zwischen ihnen“, wie Böhme (1974: 173) formuliert, ist zwar stark an der Bewegung orientiert, jedoch zeigt Aristoteles, daß in seiner Zeittheorie dennoch nicht die Bewegung als differentia specifica fungiert, sondern „das Zahlmoment an der Bewegung“ (ebd.: 219b). Dies ist insofern plausibel, als Aristoteles ja nicht die Bewegung selbst zur Definition der Zeit heranzieht, sondern das, was dank der Bewegung unterschieden werden kann: das Verhältnis eines vorherigen und nachherigen Zustandes eines Prozesses. Das Zahlmoment an der Bewegung ist nichts anderes als eine Chiffre dafür, daß eine Bewegung darin besteht, daß mehrere Zustände in der Bewegung unterschieden – man könnte auch sagen: gezählt – werden müssen, damit man von Zeit sprechen kann. Ein Jetztpunkt, so Aristoteles, ist „sozusagen die die Anzahl aufbauende Eins“ (ebd.: 220a), modern formuliert, das irreduzible und nicht dekomponierbare Element einer sukzessiven Folge. Folgerichtig betont Aristoteles, daß „absolut betrachtet (...) die kleinste Zahl Zwei“ (ebd.) heißt, denn ein Jetztpunkt als Grenze einer Bewegung kann nicht unterschieden werden, so daß kein zeitkonstituierendes „Mittleres“ angegeben werden kann. Zwar kann Aristoteles nachweisen, daß sich Zeit nicht durch Bewegung definieren läßt, weil die Definition der Bewegung selbst einen Zeitbegriff voraussetzt. Allerdings zeigt sich bei Aristoteles’ Behandlung der Frage der Messung der Zeit, daß sich in ihrer Wahrnehmung beide Größen notwendig bedingen: „Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch mittels der Bewegung die Zeit und können dies, weil sich beide wechselseitig bestimmen: Die Zeit bestimmt die Bewegung, weil sie ihre Zahl ist, die Bewegung bestimmt die Zeit.“ (ebd.: 220b) Dies ist evident, denn jegliche Zeitmessung orientiert sich am Früheren und Späteren einer Bewegung (= das Maß) im Hinblick auf das Früher und Später einer anderen Bewegung (= das Gemessene). Dies gilt unabhängig davon, welches Maß man der Messung zugrunde legt, einen Jahreszyklus, Mondphasen und Ster-
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nenbewegung, das Rieseln einer Sanduhr, die Zeiger einer Analoguhr, die Zahlen (sic!) einer Digitaluhr oder ein schwingendes Cäsiumatom. Man stößt hier auf eine Struktur in der Begründung und Konzeptualisierung von Zeit, wie ich sie oben dargestellt habe: Zeit wird nicht einfach als ein Seiendes bestimmt, sondern ist offenbar an die Vollzüge gebunden, die sie erst konstituiert und durch die sie konstituiert wird. Tautologisch mutet schon die Definition der Zeit durch das Frühere und Spätere innerhalb einer Bewegung an, denn diese Ausdrücke haben ohne Zweifel einen temporalen Bezug.6 Allerdings enthält die Aristotelische Definition der Zeit mehr als nur eine tautologische Bestimmung der Zeit durch temporale Ausdrücke. Denn das Verhältnis der Jetztpunkte zueinander ist es, das Zeit definiert, nicht einfach die Summe der Jetzte. Böhme bringt dies treffend zum Ausdruck, indem er betont, daß Zeit „die Einheit aus den in ihrer Folge unterschiedenen Jetzten ist. Sie ist das Ganze, das von diesen Jetzten aufgespannt wird.“ (Böhme 1974: 184; Hervorh. A.N.) Modern gesprochen, ist Zeit also nicht als die Differenz zwischen früheren und späteren Jetzten aufzufassen, sondern als Einheit dieser Differenz. Dies ist zunächst durch die Identität des Seienden mit sich selbst in der Zeit verbürgt (vgl. Aristoteles, Phys. IV: 219b), wofür ja schon die Analogie zur räumlichen Bewegung spricht. Entscheidender jedoch ist, daß Aristoteles den Jetztpunkten keine Substantialität und Existenz sui generis zuschreibt, sondern sie je als Basiszahl der Zählung der Zustände der Bewegung auffaßt. Zeit ist eben nicht ein selbständiges Seiendes, sondern notwendiges, d.h. den Prozeß erst mitkonstituierendes „Moment am Prozeß“ (ebd.: 219a). Damit entfällt aber, genau genommen, die Notwendigkeit, Zeit per Bewegung zu erklären. Letztlich ist der Bewegung die Differenz von Jetztpunkten, i.e. der Moment am Prozeß, der gerade nicht für substantielle Einheit und damit kontinuierliche Bewegung steht, vorgeordnet. Im Bewegungsbegriff scheint Aristoteles’ ontologische Fragestellung durchzuscheinen, die nach dem Sein der Zeit und nicht nach ihrer Konstitution bzw., wie es später heißen wird, nach ihrer operativen Genese fragt. Der Aristotelische Zeitbegriff dürfte damit in seinen wesentlichen Zügen expliziert sein. Ein Problem steht allerdings noch aus – und es wird sich als das entscheidende Problem der Konzeptualisierung der Zeit, auch im Hinblick auf einen anspruchsvollen soziologischen Zeitbegriff, erweisen. Wie schon angedeutet, enthält die Definition der Zeit bei Aristoteles einen Hinweis auf eine die Zeitpunkte unterscheidende Seele (vgl. ebd.). Die Unterscheidung des Früheren vom Späteren ist geradezu die Voraussetzung dafür, daß die Einheit der Differenz von Früher und Später als Zeit sich bilden kann. Wird aber ein perzipierendes Bewußtsein an entscheidender Stelle in die Zeitdefinition eingebaut, stellt sich die ontologische Frage nach dem Sein der Zeit, mit der Aristoteles seine Abhandlung über die Zeit beginnt, neu. Er sieht das Problem selbst, läßt aber seine Lösung eigentümlich in der Schwebe. Zunächst problematisiert er: „Man kann sich die Frage stellen, ob es die Zeit geben könnte, wenn keine Seele existierte; denn wenn es nichts geben kann, was überhaupt zu zählen vermag, so kann es auch nichts geben, zu dessen Abzählung es einmal kommen könnte; woraus folgt, daß es dann zweifellos auch keine Zahl geben kann.“ (ebd.: 223a) Die Anzahl der zu zählenden Jetztpunkte mag zwar durch den Prozeß gegeben sein, ebenso die Differenz von Früher und Später, „aber den Charakter der Zeit erhalten diese Prozeßphasen 6
Hans Wagner (1967: 573) betont in einer Anmerkung zu Phys. IV: 219b 1 – 2: „Das Zeitmoment selbst ist in der gegebenen Zeitdefinition schon vorausgesetzt.“
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eben doch nur insofern, als sie zum Gegenstand möglicher Zählung werden“ (ebd.). So modern diese Fragestellung und das dahinterliegende Problembewußtsein auch ist, vor einer endgültigen Lösung in Richtung auf eine subjekttheoretische Zeittheorie schreckt Aristoteles noch zurück, denn das hätte entscheidende Konsequenzen für die gesamte Ontologie des Griechen. So bestimmt er Zeit schon als Zeit, soweit sie bloßen Möglichkeitscharakter hat, der in der Metaphysik als Bedingung für die Verwirklichung fungiert (vgl. Aristoteles, Met. IX: 1048a). Sie ist schon Zeit, soweit Jetztpunkte zählbar sind, nicht erst, wenn sie gezählt sind.7 Als „Gegenstand möglicher Zählung“ bestimmt, wie soeben zitiert, müssen die Prozeßphasen nicht schon gezählt sein, um Zeit zu konstituieren. Gezählt werden können sie aber ausschließlich durch einen Beobachter, eine Seele, ein Bewußtsein. Trotz Aristoteles’ klassischer griechisch-ontologischer Denkfigur, die unentschieden läßt, ob die Zeit etwas Bewußtseinsunabhängiges, das im Bewußtsein lediglich per Zahl abgebildet wird, oder ein durch Bewußtsein erst Konstituiertes sei, scheint mir bei ihm das Problem des operativen Charakters jeder modernen Zeittheorie bereits vorbereitet zu sein. Die Modernität liegt dabei m.E. weniger in der Orientierung an der Zahl als Chiffre für die Meßbarkeit der Zeit am physikalischen Zeitstrahl. Diese vordergründige Erbschaft des Aristoteles verkennt womöglich das griechische Naturverständnis. Viel entscheidender ist, daß Aristoteles das Problem der Zeit als Beobachtungsproblem einführt. Nicht die Zeitlichkeit des Seienden, sondern die temporale Verknüpfung in der Zählung, resp. Zählbarkeit der Ereignisse macht Zeit zu dem, was sie nach Aristoteles allein ist: zur Einheit der Differenz von Früher und Später. Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Modernität der Aristotelischen Zeittheorie ihre erkennbaren Grenzen hat – wie könnte es auch anders sein? Die Einheit der Differenz von Früher und Später reflektiert Veränderung formal; lebenspraktisch ist die Differenz material bestimmt, als Vergänglichkeit, Verfall und Verschwinden (vgl. Aristoteles, Phys. IV: 221b). Das „Immerseiende“ aber, der unbewegte Beweger, das Göttliche, ist immer. „Folgerichtig ist darum das Immerseiende, als solches betrachtet, nicht in einer Zeit. Denn es wird von Zeit nicht umschlossen und sein Bestehen ist nicht zeitlich meßbar.“ (ebd.) Über das Immerseiende hat die Zeit keine Macht. Darin zeigt sich der hellenische Dualismus, für den, wie Werner Gent treffend fromuliert, „das Zeitlose (...) den Sinn des Zeitlichen“ (Gent 1962a: 41) bestimmt. Der Beweger selbst ist unbewegt.
b)
Zeit und Seele. Augustinus
An der Unbewegtheit der Ursache der Bewegung setzt Aurelius Augustinus, der zweite wichtige abendländische Metaphysiker der Zeit, an – und vereinigt dabei wie Aristoteles ein „modernes“ Problembewußtsein mit der metaphysischen Problemlösungskompetenz seiner Zeit. Dabei führt er im elften Buch seiner Confessiones einen neuen Aspekt aus, den man später als Differenz von äußerer und innerer Zeit bezeichnen wird.
7
Ich folge hier der Interpretation von Conen, der die Aristotelische Zeitdefinition ebenfalls mit der Metaphysik konfrontiert und von daher den Dualismus von dynamei on und energeia on, bezogen auf die Zeit, als potentielle Zählbarkeit und wirkliches Gezähltsein rekonstruiert (vgl. Conen 1964: 156ff., v.a. 168).
Zeit und Zeitbewußtsein
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Wie Aristoteles geht auch Augustinus von der grundlegenden temporalen ontologischen Paradoxie aus, gegen ein Sein der Zeit spreche, daß „doch die vergangene schon nicht mehr und die zukünftige noch nicht ist“ (Augustinus 1982: 312). Doch zunächst sucht Augustinus nach dem Ursprung der Zeit, bevor er seine eigentliche Theorie der Zeit entfaltet. Ist bei Aristoteles der Beweger selbst unbewegt, also nicht von einer Ursache abhängig, in diesem Sinne unbedingt, ist für Augustinus Ewigkeit die Bedingung für Zeit. Ewigkeit bildet den Differenzbegriff für Änderung und Wandel, dem nun – im christlichen Kosmos – eine heilsgeschichtliche Bedeutung zukommt, während die Ursache der Geschichte selbst nicht geschichtlich, also wandelbar ist.8 „Sieh, da sind Himmel und Erde und rufen laut, daß sie geschaffen sind, denn sie ändern und wandeln sich. Was aber nicht geschaffen ist und dennoch ist, in dem ist nichts, was vorher nicht gewesen wäre, also auch keine Änderung und Wandlung.“ (ebd.: 304) Selbst das heilsgeschichtliche Geschehen hat Anfang und Ende, ist also der Zeit unterworfen (vgl. ebd.: 305), während der Schöpfer selbst als Ursache der Zeit nicht zeitlich sein kann. Die Schöpfung ist eine Schöpfung aus dem Nichts und deshalb nichts Abgeleitetes, denn eine Ableitung setzt einen vorherigen Zustand voraus, aus dem sie abgeleitet werden kann. Der Grund der Zeit ist also für Augustinus die Änderung und der Wandel, also Temporales selbst, das offenbar die Zeit konstituiert. Eine einfache Tautologie in der Begründung der Zeit wird aber dadurch vermieden, daß der Grund der Konstitution der Zeit nicht ihr selbst zugerechnet wird, sondern der Schöpfung durch Gott. Nun braucht sich Augustinus nicht mehr mit dem Ursprung der Bedingung der Zeit, die ihre Entstehung einem unbedingten Geschehen verdankt, zu beschäftigen und eröffnet sich damit die Möglichkeit, eine phänomenologische Betrachtung der Zeit in der Realität anzuschließen.9 Wir wissen immer schon, was die Zeit ist, denn gäbe es sie nicht, gäbe es nichts, also auch uns nicht. Die Differenz zum ewigen Gott ist es, die für Augustinus Zeitlichkeit als Differenzbegriff zu Ewigkeit nicht nur empirisch evident, sondern philosophisch/theologisch auch denknotwendig macht. Denn wenn die Gegenwart immer gegenwärtig bliebe, wäre sie nicht mehr zeitlich, sondern ewig, und das hieße für Augustinus ohne Zweifel, die Differenz Gott/Mensch aufzuheben (vgl. ebd.: 312). Daß überhaupt etwas ist, kann nach der Schöpfungslehre nur bedeuten, daß etwas geworden ist. Wenn aber alles Seiende geworden ist, läßt sich nicht von einer absoluten Gleichzeitigkeit sprechen. Zeit ist damit ein Grundkonstitutivum des Seins. Augustinus geht zunächst von der alltäglichen Erfahrung aus, daß wir Zeit länger und kürzer erleben. Welchen Referenten aber hat der Satz: Die Zeit ist lang bzw. kurz? Kann etwas lang oder kurz sein, das nicht mehr oder noch nicht ist? Seiend ist in jedem Falle nur Gegenwart, mithin kann also auch nur sie nach ihrer Länge oder Kürze befragt werden. Die Analyse kommt jedoch zu dem Ergebnis, daß die Gegenwart selbst temporal nicht ausgedehnt sein kann. „Könnte man sich einen Zeitabschnitt denken, der in keine auch noch so 8 9
So macht Gent das Neue in der Augustinischen Zeittheorie gegenüber dem hellenischen Vorbild in der „Entdeckung des historischen Kosmos“ (Gent 1962a: 41) aus. Zur Relativierung dieser schlichten Gleichsetzung von Heilsgeschichte und Geschichte vgl. ausführlich IV.2b. Ähnlich interpretiert Janich: Nachdem Zeit von Augustinus als Realität der Schöpfung eingeführt wird, wird die Möglichkeit eröffnet, „Zeit damit als Teil einer (...) von Gott geschaffenen Natur Gegenstand einer naturphilosophischen Betrachtung werden (zu lassen). Es ist dieser Sachverhalt, der eine von theologischen oder exegetischen Fragen unabhängige Behandlung der augustinischen Zeitdiskussion erlaubt“ (Janich 1980: 260).
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winzige Augenblicksteilchen zerlegt werden könnte, so würde er allein es sein, den man gegenwärtig nennen könnte. Doch der fliegt so reißend schnell aus der Zukunft hinüber in die Vergangenheit, daß er sich nicht zur Dauer ausdehnen kann. Denn wäre da eine Ausdehnung, müßte sie wiederum in Vergangenheit und Zukunft geteilt werden. Für die Gegenwart aber bliebe kein Raum.“ (ebd.: 314f.) Allerdings widerspricht diese Analyse der empirischen Erfahrung, wir nehmen ohne Zweifel Zeiträume wahr (vgl. ebd.: 315). Augustinus’ Erklärungsversuch, man nehme die Zeit im Vorübergehen der Gegenwarten wahr, kann zunächst nicht überzeugen, denn geklärt ist damit keineswegs, was und wo die Gegenwarten sind, solange sie noch nicht bzw. nicht mehr sind. Aber auch hier vermittelt empirische Erfahrung, daß der Vergangenheit und der Gegenwart durchaus ein Sein zukommen muß, da wir doch in der Lage sind, Vergangenes zu erzählen (vgl. ebd.: 316). Würde man diesem Vergangenen kein wie auch immer geartetes Sein zusprechen, könnte man nichts Wahres über Vergangenes sagen. Dies aber würde der im 10. Buch der Confessiones dargelegten Memoria-Lehre widersprechen. Dort zeigt Augustinus, daß die Memoria, das Gedächtnis, als Grundvermögen des Menschen in der Lage ist, Gegenwarten, also reale Ereignisse zu speichern und im Bewußtsein in neuen Gegenwarten zu erinnern. Das Vergangene „bietet sich bequem und in wohlgeordneter Reihenfolge dar, wie man’s haben will, das Frühere macht dem Späteren Platz und läßt sich aufbewahren, um, wenn ich’s brauche, wiederum hervorzukommen“ (ebd.: 254). Das „Gefäß des Gedächtnisses“ (ebd.: 255) ist in der Lage, die ontologische Differenz von Nicht-mehr-Sein und Jetzt-Sein aufzuheben und den Gang des Bewußtseins als Einheit zu denken. Diese Einheit aber ist nichts anderes als die Auflösung der temporalen Paradoxie des gleichzeitigen Seins und Nicht-Seins. Anhand der Memoria-Lehre gelingt es Augustinus, trotz der offenkundigen Unausgedehntheit der Gegenwart die Zeit tatsächlich als eine Art Ausdehnung zu sehen, die allerdings erst durch ein Bewußtsein gestiftet werden muß. „So scheint es mir denn klar, daß die Zeit nichts anderes ist als eine Art Ausdehnung, aber wessen, das weiß ich nicht. Doch sollte es mich wundern, wenn es nicht der Geist selber wäre.“ (ebd.: 325) Folglich messen wir nicht die Zeit als Zeit, sondern die bewußtseinsmäßige Sukzession von Ereignissen, deren temporale Differenz durch das sukzedierende Bewußtsein selbst konstituiert wird (vgl. ebd.: 327). Damit hat Augustinus aber noch keineswegs die Paradoxie des gleichzeitigen Seins und Nicht-Seins aufgelöst, sondern lediglich vom Seienden schlechthin in das Bewußtsein von Menschen verlegt. Er fragt deshalb konsequenterweise nach dem Ort von Vergangenem und Zukünftigem, denn auch dem Bewußtsein kann, streng genommen, nur im Jetzt ein Sein zukommen. Augustinus Antwort auf diese Frage hat durchaus modernes Theorieniveau: „Wo sie auch sein mögen, da sind sie nicht zukünftig oder vergangen, sondern gegenwärtig. Denn wenn sie auch da zukünftig sind, sind sie da noch nicht, und wenn auch da vergangen, sind sie da nicht mehr. Wo sie also und was sie auch immer sein mögen, sie können nur gegenwärtig sein.“ (ebd.: 316) Es gibt – als Existenzaussage – nur Gegenwärtiges, mithin führt also die bewußtseinsmäßige Verortung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht zu einem dreifachen Zeitbegriff oder gar einer Differenzierung dreier Zeiten, sondern zu einer Theorie der Zeitmodalisierung: Die drei Zeiten, von denen wir im alltäglichen Sprachgebrauch ausgehen, lösen sich auf in: „Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen, Gegenwart des Zukünftigen“ (ebd.: 318).
Zeit und Zeitbewußtsein
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Eine Konsequenz dieses Gedankens ist, daß die drei temporalen Extensionen nur in der Seele und sonst nirgendwo anzutreffen sind (vgl. ebd.). Damit zieht Augustinus einen radikalen Schnitt zwischen der äußeren Zeit, d.i. die Zeit der durch die Schöpfung Gottes initiierten Wandlung, Veränderung und Entstehung von Seiendem, und der inneren Zeit, d.i. bewußtseinsmäßige, gegenwartsbasierte Modalisierung der sukzedierten Ereignisse als gegenwärtige Vergangenheit und gegenwärtige Zukunft. Es wird sich zeigen, daß diese Theorie der Zeitmodalisierung für das gesamte weitere Verständnis der Zeit bestimmend sein wird, weswegen man Augustinus durchaus als den Inaugurator der Theorie des inneren Zeitbewußtseins bezeichnen kann. Hinter dieser Theorie – dies gilt im übrigen auch für Aristoteles – steht ein ontologisches Axiom, das Seiendheit immer an ein Jetzt bindet (vgl. auch Janich 1980: 261f.). Die temporalen Paradoxien, wie ich sie bis zu dieser Stelle der Untersuchung diskutiert habe, entstehen nur deshalb, weil von einer Gleichzeitigkeit von Sein und Nicht-Sein ausgegangen wird, wenn man Ereignissukzessionen nicht einfach als beziehungslose Ereignisreihen, sondern als differenzierte Einheit behandeln will. Denn nur so läßt sich überhaupt von Zeit reden – und nicht nur von Zeit. Nur so kann die Sukzession der Worte dieses Satzes, deren Extensionen endlich sind, einen Satz ergeben, dessen differentia specifica gerade die Relation der nacheinander gesprochenen/geschriebenen/gelesenen Worte ist.10 Würden die Worte gleichzeitig gesprochen, wäre der Satz ebenso unverstehbar wie dann, wenn ich mich nicht mit einem Wort auf das vorherige beziehen könnte, ohne daß dieses vorherige gerade ist. Der weitere Gang der Untersuchung wird zu zeigen haben, ob das hier ontologisch genannte Axiom der Gegenwartsbasiertheit von Ereignissen für eine Theorie der Zeit tatsächlich Bestand haben kann. Ich kehre aber zunächst zu Augustinus zurück. Bis jetzt war nur von der Memoria, der selbstbezüglichen Erinnerung an Vergangenes die Rede; dies mit gutem Grund. Die Expectatio, also die Vorwegnahme des Zukünftigen, die Augustinus der Seele ebenfalls als Vermögen zuspricht, birgt theoretische Schwierigkeiten. Das „geheimnisvolle Vorgefühl des Zukünftigen“ (ebd.: 317) erklärt Augustinus analog zur Erinnerung. Er weist aber selbst auf den radikalen Unterschied zwischen den beiden zeitlichen Extensionen hin. Während die gegenwärtige Vergangenheit ein ehemals Seiendes referiert, das eine Spur im Bewußtsein hinterlassen hat, das gleichsam aus dem inneren Speicher der Erfahrung neu rekonstruiert werden kann, referiert – wohlgemerkt, in beiden Fällen: referiert und bildet nicht ab – die gegenwärtige Zukunft nichts Seiendes, nicht einmal seiend Gewesenes. Augustinus’ Hinweis, daß nicht die noch nicht seienden zukünftigen Dinge, sondern „vielleicht ihre Ursachen oder Zeichen“ (ebd.) in der Gegenwart bzw. gegenwärtigen Vergangenheit gesehen werden, ist zwar richtig, kann aber kaum befriedigen. Zu Recht weist Martin Steinhoff darauf hin, daß Augustinus es versäumt hat, den qualitativen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft zu klären. Denn, streng genommen, kann nur das als Zukunft anti10
Daß dies nur eine metaphorische Redeweise ist, müßte nicht eigens betont werden. Ich tue es trotzdem, um schon hier dem Mißverständnis vorzubeugen, Worte als kleinste Temporaleinheiten einzuführen, deren Relation Zeit konstituiere. Auch Worte lassen sich, streng genommen, weiter in kleine Gegenwarten differenzieren. Entscheidend für den bewußtseinsmäßigen und sozialen Gebrauch von Temporalität wird jedoch sein – dies läßt sich jetzt schon ahnen – was als Gegenwart behandelt wird. Dies können durchaus Worte, Sätze, Sprechakte, Tage, u.U. sogar Jahre oder Wahlperioden sein. Vgl. dazu ausführlich IV.2d.
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zipiert werden, was bereits in Vergangenheit und Gegenwart als Bewußtseinsinhalt vorbereitet wurde. Wie Augustinus das – je bewußtseinsbasierte – Sein des Vergangenen durch das Erinnerungsvermögen des Geistes verbürgt sieht, ließe sich ein Sein des Zukünftigen lediglich bei Topoi annehmen, deren Ablauf gesetzmäßig und kontingenzlos festgeschrieben ist (vgl. Steinhoff 1983: 41). Augustinus scheint dies selbst gesehen zu haben, wenn er die Frage der Zukunft an den Kontingenzunterbrecher Gott verweist: Wie Zukünftiges den Seelen ansichtig wird, wird hier nicht wie die Vergangenheit in phänomenologischer Beschreibung des Bewußtseins erklärt, sondern mit einem auf die Heilsgeschichte rekurrierenden Bild: Zukünftiges zeigt sich, wie Gott es seinen Propheten gezeigt hat (vgl. Augustinus 1982: 318). Will man aber Zukunft nicht theologisch-eschatologisch erklären, stößt man auf die Paradoxie, daß das Bewußtsein auf etwas stößt, das noch nicht ist. Augustinus hat folgerichtig also die ontologische Differenz von Nicht-mehr-Sein und Sein bewußtseinstheoretisch aufgelöst, die ontologische Differenz von „Nichtmehr- und Nochnichtsein“ (Steinhoff 1983: 42) jedoch unter Rekurs auf Gott entparadoxiert. Zusammenfassend läßt sich der Ertrag von Augustinus’ Zeittheorie auf folgende Formel bringen: Das Bewußtsein weiß, was es weiß, und es weiß, was es wußte; es weiß aber nicht, was es noch nicht weiß. Es gelingt ihm, die innere Konstitution von gegenwärtiger Vergangenheit plausibel zu machen. Allerdings versäumt er es, die qualitative Differenz zwischen den beiden „Zeiten“ auszuweisen. Hätte er die prinzipiell höhere Kontingenz des Zukünftigen reflektiert, wäre er womöglich auch expliziter auf die Kontingenz des Vergangenen gestoßen. Diese ist zwar kontingenzmäßig und nicht nur, wie Steinhoff meint, von ihrem „Umfang“ her (vgl. ebd.: 41), naturgemäß geringer als die der Zukunft. Doch an der prinzipiellen Kontingenz des Erinnerungsvorganges ändert dies nichts. Denn was das Bewußtsein erinnert, hängt evidenterweise nicht nur davon ab, was in der Erinnerung potentiell angelegt ist, sondern was im jeweiligen Jetzt wie aus dem Fundus des Vergangenen ausgewählt wird.11 Die sich aus Augustinus’ Zeittheorie ergebenden Fragen betreffen insbesondere die spezifische Eigenleistung jenes „Geistes“, durch dessen Operationen Zeit als Einheit der Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erscheint. Diese synthetischen Qualitäten sind es, die die Philosophie der Zeit in der Nachfolge der klassischen und mittelalterlichen Metaphysik beschäftigen.
c)
Zeit als reine Form der Anschauung. Kant
Exakt jene Eigenleistungen des Subjekts sind es, die Immanuel Kants kritischen Idealismus und – bezogen auf das Zeitproblem – die meisten später folgenden Theorien des Zeitbewußtseins bestimmen. Kritisch gegenüber der klassischen Metaphysik, „einer ganz isolierten spekulativen Vernunfterkenntnis, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt“ (KrV: B XV), trachtet Kant, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis herauszu11
Genau genommen, müßte mit Augustinus noch zwischen dem sinnlichen und dem intellektuellen Gedächtnis gemäß der klassischen Aufteilung der Welt in mundus sensibilis und mundus intelligibilis unterschieden werden. Für den Fortgang der Untersuchung ist dies jedoch nicht entscheidend, so daß ich auf eine weitere Erläuterung verzichte; vgl. dazu Herrmann 1971: 317ff.
Zeit und Zeitbewußtsein
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arbeiten. Er geht von der Annahme aus, daß sich die Aporien der spekulativen Metaphysik nur dann überwinden ließen, wenn es gelingen könne, zwischen der Vernunft, „die gänzlich a priori ihr Objekt bestimmt“, von demjenigen, „was aus anderen Quellen kommt“ (KrV: B X), zu unterscheiden. Eine Erfahrungserkenntnis der apriorisch gegebenen Vernunftbegriffe jedenfalls kann nicht widerspruchsfrei gedacht werden, „weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen“ (KrV: B XVIIIf.). Um der petitio principii zu entgehen, bei der Suche nach apriorischen Begriffen diese bereits voraussetzen zu müssen, führt Kant eine andere Erkenntnisform ein, deren Vermögen die Kritik der reinen Vernunft aufzudekken habe. Vernunft, so Kant in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft, ist kein Gegenstand an sich, sondern „das Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt“ (KrV: B 25). Kant nennt diese Erkenntnisform zur Reflexion der nicht in der Erfahrung gegebenen Prinzipien der Erkenntnis transzendentale Erkenntnis, weil diese „sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“ (KrV: B 26). Die Ontologie der spekulativen Metaphysik, die von Dingen überhaupt eine Erkenntnis a priori zu haben vorgibt, muß einer „bloßen Analytik des reinen Verstandes“ (KrV: B 304) weichen. Einer der Grundsätze des Wandels der klassischen Ontologie in Transzendentalphilosophie ist die Unterscheidung der „Dinge als Gegenstände der Erfahrung“ von „Dingen an sich selbst“ (KrV: B XXVIII). Nun sind uns die Gegenstände immer nur als Erfahrungsgegenstände gegeben, weshalb Kant seinen Fokus von der reinen Gegenstandserkenntnis zur Reflexion des reinen Erkenntnisvermögens lenkt. Nur so läßt sich das Unbedingte, d.h. das aller Erfahrung Zugrundeliegende, ohne Widerspruch denken, wohlgemerkt denken und nicht erfahrungsmäßig, d.h. empirisch (vgl. KrV: B 165f.), erkennen.12 Entscheidend für Kant ist bekanntlich die Herausarbeitung jener reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien, die uns immer schon a priori gegeben sind, weshalb wir sie schlechthin nicht erfahren können. „Wir können uns keinen Gegenstand denken ohne durch Kategorien.“ (KrV: B 165) Die Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe gewinnen wir aber nicht vermittels empirischer, sinnlicher Erfahrung, vielmehr sind sie „Elemente der Erkenntnis, die in uns a priori angetroffen werden“ (KrV: B 166). Sie sind nichts anderes als die jeder Erkenntnis und damit auch jeder empirischen, sinnlichen Erfahrung bereits zugrundeliegenden „Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt“ (KrV: B 167). Auf die Diskussion der transzenden12
Nur am Rande: Für Kant ist das Ideal der reinen Vernunft – bisweilen sogar funktionales Äquivalent des Gottesbegriffs – keineswegs ein mit ontologischer Würde versehenes unbedingt Seiendes, sondern lediglich „Richtmaß der Vernunft“ (KrV: B 598). Das Ideal der Vernunft, „noch weiter von der objektiven Realität entfernt, als Kategorien“ (KrV: B 595), welche die Bedingung der Möglichkeit von (empirischer) Erfahrung darstellen, fungiert als göttliches Maß, als das Maß des „göttlichen Menschen in uns“ (KrV: B 597), durch das der Mensch in der Lage ist, seine empirische Unvollkommenheit als Sinnenwesen von der transzendentalen Qualität eines reinen Vernunftwesens zu unterscheiden. Kants Problem scheint trotz aller rationalen, kritischen und ontologiefeindlichen Bestrebungen die Motivation zum Vernunftgebrauch, insbesondere was die praktische Vernunft angeht, zu sein. Jenes Movens nennt Kant das Streben nach Glückseligkeit. Diese aber kann nicht mehr über transzendentale Möglichkeitsbedingungen bestimmt werden. In diesem Zusammenhang vgl. die Annahme des Daseins Gottes als Postulat, nicht: Erkenntnis, der reinen praktischen Vernunft (KpV: A 223ff.).
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talen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe kann hier zugunsten der Frage nach der Situierung des Zeitproblems bei Kant verzichtet werden.13 Entscheidend dafür ist aber eine weitere Denkvoraussetzung Kants. Bisher habe ich auf die dem Verstand innewohnenden transzendentalen Strukturen hingewiesen. Diese allein aber machen noch keine Erkenntnis. Wenn Kant betont, wir könnten uns keinen Gegenstand denken ohne durch Kategorien, so muß er sogleich hinzufügen: „wir können keinen gedachten Gegenstand erkennen, ohne durch Anschauungen, die jenen Begriffen entsprechen.“ (KrV: B 165) Während uns durch die Sinnlichkeit die Gegenstände als Erscheinungen gegeben werden, werden sie durch den Verstand gedacht (vgl. schon KrV: B 33). Letztlich sind es Anschauungen, die dem Bewußtsein jenes Material zur Verfügung stellen, das durch die reinen Verstandesbegriffe verknüpft wird. Denn: Begriffe ohne Anschauung wären leer, weil ohne Anschauung keinerlei Erscheinung im Subjekt wäre, die etwa kausal verknüpft werden könnte. Genauso gilt aber umgekehrt: Anschauungen ohne Begriffe wären blind, weil ohne diese keine „Ordnung“ im Subjekt hergestellt werden könnte. Damit gibt Kant zwei gleichursprüngliche Quellen des Erkenntnisvermögens an, die beide a priori, d.h. als Bedingung jeder Erfahrung fungieren. Am Zeitproblem läßt sich dies verdeutlichen. Es liegt auf der Hand, daß Kant der Zeit keine absolute Realität unabhängig von bewußtseinsmäßigen Konstitutionsleistungen zuschreiben kann. „Die Zeit ist kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden.“ (KrV: B 46) Er ist vielmehr eine „notwendige Vorstellung“ (ebd.), die jeder empirischen Wahrnehmung bereits zugrunde liegt, muß also a priori gegeben sein. Damit qualifiziert Kant die Zeit als ein vernunftmäßiges Vermögen des Subjekts, das nicht Dinge an sich selbst, sondern Erscheinungen so ordnet, „daß einiges zu einer und derselben Zeit (zugleich) oder in verschiedenen Zeiten (nach einander) sei“ (ebd.). Gleichwohl erhebt Kant die Zeit nicht zu einem reinen Verstandesbegriff, nimmt sie auch nicht in die Kategorientafel auf, sondern bezeichnet sie als „reine Form der sinnlichen Anschauung“ (KrV: B 47), und zwar besonders qualifiziert als „Form des inneren Sinnes“ (KrV: B 49, Hervorh. A.N.). Anders als der Raum, den Kant als die reine Form aller äußeren Anschauung bezeichnet, gilt die Zeitlichkeit sowohl als reine Form der inneren Anschauung, also der Selbstwahrnehmung der sukzessiven Bewusstseinsereignisse, als auch der äußeren Wirklichkeit, d.h. aller Erscheinungen überhaupt. Diese Annahmen berechtigen Kant dazu, der Zeit eine objektive Realität zuzusprechen, jedoch unter der Maßgabe, daß wir die Dinge nur als Gegenstände unserer Sinne wahrnehmen. Objektive Realität im Sinne der Kantschen Kritik widerstreitet also der klassischen ontologischen Denkfigur der absoluten Realität, wonach etwa die Aristotelische Zeittheorie sucht: die Frage nach dem absoluten Sein der Zeit zu beantworten. Hätten die Dinge an sich solche Eigenschaften – sie könnten unsere Anschauung gar nicht erreichen. Aus diesem Grunde verzichtet Kant auch beim Zeitproblem auf die ontologische Frage nach dem Sein des Seienden und wendet seinen Fokus von der absoluten Realität der Zeit auf deren „transzendentale Idealität“ (KrV: B 52). Sie fungiert als a priori gegebene Bedingung der Möglichkeit für die empirische Realität der Zeit.14 Ohne damit in der Argumentation vorzugreifen, kann 13 14
Zur Kantschen Kategorientafel vgl. KrV: B 95ff. und Prolegomena: passim, v.a. A 86. Gegen den Einwand, der Zeit komme deshalb eine absolute bzw. transzendentale Realität zu, weil der Wechsel der Bewußtseinszustände ganz ohne Zweifel als wirklich erfahren werde, setzt Kant: „Nun sind Veränderungen in der Zeit möglich, folglich ist die Zeit etwas Wirkliches. Die Beantwortung hat keine Schwierigkeit. Ich gebe das ganze Argument zu. Die Zeit ist allerdings etwas Wirkliches, nämlich die
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hier schon gesehen werden, daß sich die transzendentalphilosophische Denkfigur, wie sie Kants Theorie der Zeit zugrunde liegt, allen späteren Entwürfen – womöglich auch den sich explizit als nicht transzendental ausgebenden – ihren Stempel aufdrückt. Kant hat die Zeit nicht umsonst als formale Bedingung a priori ausgewiesen. Was heißt hier formal? Während reine Verstandesbegriffe und Kategorien durchaus inhaltlich konkret bestimmt sind, etwa Kausalität oder Notwendigkeit, entspricht der Zeit kein solcher inhaltlich qualifizierter Begriff. Zwar weist Kant der Zeit als innerer Bedingung der Möglichkeit von Anschauung eine hohe Universalität zu, läßt sie aber auch eigentümlich unbestimmt. Indem Zeit lediglich „das Verhältnis der Vorstellungen in unserm inneren Zustande“ (KrV: B 50) ist, kann sie selbst nicht angeschaut werden. Man könnte sagen: Zeitbewußtsein ist immer Zeitbewußtsein von etwas. Damit ist für Kant erwiesen, daß die Zeit als reine, d.h. nichts anderes als transzendentale Form der Anschauung ebenso a priori gegeben ist wie die Kategorien. „Die eben angeführten Kategorien sind nichts anderes, als die Bedingungen des Denkens in einer möglichen Erfahrung, so wie Raum und Zeit die Bedingungen der Anschauung zu eben derselben enthalten. Also sind jene Grundbegriffe, Objekte überhaupt zu den Erscheinungen zu denken, und haben also a priori objektive Gültigkeit.“ (KrV: A 111) Um dem Mangel der Unbestimmtheit und transzendentalen Unbestimmbarkeit der Zeit zu entgehen, wählt Kant bezüglich des Zeitproblems eine Argumentation durch Analogiebildung (vgl. ebd. und KrV: B 221). Analogien sind nur Hilfskonstruktionen, sie fungieren explizit „nicht als Grundsätze des transzendentalen, sondern bloß des empirischen Verstandesgebrauchs“ (KrV: B 224), werden aber analog zum Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe gebildet. In der transzendentalen Analytik unterscheidet Kant drei Modi der Zeit: Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein (vgl. KrV: B 220). Diesen Modi entsprechen die Kategorien der Relation, nämlich Substanz, Kausalität und Wechselwirkung (vgl. KrV: B 106). Ich werde diese nur kurz problematisieren, da es mir hier weniger um die Kantsche Philosophie der Zeit als vielmehr um eine typische Struktur des Denkens der Zeit ankommt, die über Kants substantielle Lösungen des Zeitproblems hinaus von Bedeutung ist. Die erste Analogie handelt von der Beharrlichkeit der Substanz. Einen Wechsel, so Kant, kann es als Veränderung ein und desselben Gegenstandes nur dann geben, wenn dessen Beharrlichkeit, sein Bestand in der Zeit, gewährleistet ist. „Die Beharrlichkeit drückt überhaupt die Zeit, als das beständige Correlatum alles Daseins der Erscheinungen, alles Wechsels und aller Begleitung, aus. Denn der Wechsel trifft die Zeit selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit (...). Wollte man der Zeit selbst eine Folge nach einander beilegen, so müßte man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre.“ (KrV: B 226) Nur Akzidenzen wechseln, Substanzen nicht, und die Beharrlichkeit der Substanz ist es, die durch die Einheit der Zeit trotz des Wechsels der Zustände gewährleistet wird. wirkliche Form der innern Anschauung. Sie hat also subjektive Realität in Ansehung der innern Erfahrung, d.i. ich habe wirklich die Vorstellung von der Zeit und meinen Bestimmungen in ihr. Sie ist also wirklich nicht als Objekt, sondern als die Vorstellungsart meiner selbst als Objekt anzusehen.“ (KrV: B 53) Wäre die Zeit uns nicht a priori gegeben, könnten wir die „Wirklichkeit“ der inneren Zeitlichkeit gar nicht wahrnehmen, erkennen wir aber die Apriorizität der Bedingung dieser Wirklichkeit an, bleibt als Argument nur die empirische Realität, bzw. transzendentale Idealität der Zeit, aber keine absolute oder transzendentale Realität mehr.
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Die zweite Analogie, die Zeitfolge, bildet Kant nach dem Gesetz der Kausalität. Eine Zeitfolge kann nur dann entstehen, wenn vorherige und nachherige Zustände in der Zeit miteinander verknüpft werden. Eine solche Verknüpfung aber kann „kein Werk des bloßen Sinnes und der Anschauung“ (KrV: B 233) sein, vielmehr ist sie Ergebnis des a priori gegebenen Vermögens, Erscheinungen nach Ursache und Wirkung (vgl. KrV: B 234) zu ordnen. Nur der reine Verstandesbegriff der Kausalität ist in der Lage, eine Folge als notwendiges Verhältnis von Vorher und Nachher zu konstituieren. Die dritte Analogie, der Grundsatz des Zugleichseins, entspricht dem Gesetz der Wechselwirkung. Während die Beharrlichkeit der Substanz das Sein einer Erscheinung in der Wechselhaftigkeit des in der Zeit Seienden ausdrückt und die Kausalität ein logisches und temporales Nacheinander konstituiert, rekurriert das Zugleich auf das Sein des Seienden in derselben Zeit. „Zugleich sind Dinge, wenn in der empirischen Anschauung die Wahrnehmung des einen auf die Wahrnehmung des anderen wechselseitig folgen kann.“ (KrV: B 257) Zugleich existierend können also nur zwei (oder mehrere) Erscheinungen sein, von denen weder die eine noch die andere Ursache bzw. Wirkung der anderen ist. Diese Analogie verbürgt die Möglichkeit, „die Existenz des Mannigfaltigen in derselben Zeit“ (KrV: B 258) denken zu können. Ohne sie, so Kant, wäre jede Wahrnehmung von der anderen isoliert, und die Mannigfaltigkeit der Welt zerfiele in unzusammenhängende Erscheinungen ohne Ordnung und Struktur. Ferner kann erst die Denkmöglichkeit der Gleichzeitigkeit bzw. der Gemeinschaft der Erscheinungen dafür sorgen, daß wir überhaupt entscheiden können, ob eine Erscheinung kausal auf eine andere folgt, also eine Sukzession konstituiert. „Ohne Gemeinschaft ist jede Wahrnehmung (...) von der anderen abgebrochen, und die Kette empirischer Vorstellungen, d.i. Erfahrung, würde bei einem neuen Objekt ganz von vorne anfangen, ohne daß die vorige damit im geringsten zusammenhängen, oder im Zeitverhältnisse stehen könnte.“ (KrV: B 260f.) Die drei Analogien haben – wie angedeutet – die Funktion, Zeit als reine Form der inneren Anschauung am Beispiel des Gebrauchs der Kategorien der Relation darzustellen. Es ist Kant nur darum zu tun, die Bedingungen der Möglichkeit dafür auszuweisen, wie die Vorstellung des Ganzen eines Mannigfaltigen in der Sukzession gedacht werden kann. Daß dies nur in einer formalen Bestimmung möglich ist, läßt sich darauf zurückführen, daß die Temporalität der Erscheinungen nicht den Erscheinungen selbst anhaftet – das widerspräche der kritischen Philosophie Kants -, sondern durch die formalen Strukturen des Verstandes konstituiert wird, wie auch Böhme betont: „Man sieht, daß diese formale Anschauung durchaus formal bleiben muß. Kant sagt ja auch, daß die Bestimmung des inneren Sinnes unter den Schemata der Kategorien eine Wirkung des Verstandes auf die Form der Sinnlichkeit ist. Was nämlich das Mannigfaltige im einzelnen ist, kann nur empirisch gegeben werden. Daß es aber überhaupt ein Mannigfaltiges in der Sukzession ist, bestimmt sich durch die Form, unter der es aufgefaßt wird, also a priori.“ (Böhme 1974: 268) Die Doppelfunktion der Zeit bei Kant besteht also darin, daß zum einen die Welt als geordneter Kosmos gedacht werden kann und zum anderen das Bewußtsein selbst dieser formalen Ordnung unterliegt, durch die es die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in eine Ordnung bringt. Die Zeit als reine Form der Anschauung ist also zugleich die Bedingung für ihre eigene Konstitution. Dieser unvermeidliche Zirkel in der Bestimmung der Zeit wird bei Kant paradigmatisch ausformuliert und erhält hier letztlich diejenige Form, die er in späteren
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Denksystemen – bei aller Unterschiedlichkeit und Weiterentwicklung der Ansätze – behalten sollte. Entscheidend ist hier vor allem die Abkehr von jeder ontologischen Bestimmung der Zeit als eines den in der Zeit existierenden Objekten Zukommenden zugunsten eines konstitutionstheoretischen, d.h. hier noch exklusiv: bewußtseins- bzw. subjektphilosophischen Ansatzes. Daß Zeit letztlich bewußtseinsbasiert konstituiert wird und nicht wie anderes Seiendes einfach in der Welt vorkommt, ist bereits der antiken und mittelalterlichen Philosophie bekannt gewesen, wie ich am Beispiel Aristoteles’ und Augustinus’ gezeigt habe. Die mit Kant beginnende Reflexion der Zeit beschäftigt sich mehr mit dem Wie dieser Konstitution, mit den Konstitutionsbedingungen der Zeit. Während Kant aber in erster Linie daran interessiert ist, die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Seiendem zu beschreiben, ist er nur sekundär an der individuellen Konstitution subjektiver, empirischer Innerlichkeit interessiert. Auf das Bewußtsein stößt er nur, weil in ihm die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis liegen. Dieses Bewußtsein aber interessiert als Bewußtsein überhaupt, als eine überindividuelle Struktur, nicht als konkretes Ich in der Zeit, wie Kants Differenzierung in transzendentales und empirisches Ich schon anzeigt. Doch was ist dies selbst für eine Unterscheidung, eine empirische oder eine transzendentale? Wäre sie ersteres, könnte sie von dem zweiten Pol des Unterschiedenen nichts wissen. Als transzendental aber kann die Unterscheidung auch nicht recht gelten, geht es Kant doch letztlich nur um die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, und diese kommt ohne das empirische Ich aus. Selbst wo Kant nach dem empirischen Ich denke fragt, stößt er auf die Denknotwendigkeit von nicht-empirischen, also „a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs“ (KrV: B 430), die eben nicht in der empirischen Bestimmtheit des erkennenden Subjekts, sondern in ihrer transzendentalen Bestimmbarkeit begründet liegen. Bezogen auf das Zeitproblem, geht es Kant folgerichtig auch nicht um die Zeitbestimmungen des empirischen Ich, sondern um die apriorische Möglichkeitsbedingung der sinnlichen Anschauung und nicht um ein empirisch vorfindbares Akzidens derselben.15 Ferner ist zu bemerken, daß Kants subjektphilosophische Zeittheorie noch keine Theorie des temporalen Selbstbewußtseins enthält. Daß das Bewußtsein selbst der formalen Bestimmung der Zeit unterliegt, bedeutet explizit nicht eine Zeitlichkeit des Bewußtseins, das Temporalität durch Selbstbewußtsein konstituiert (vgl. Frank 1990a: 7f.). Kant spricht vom „stehenden und bleibenden Ich“, das nicht wesentlich durch seine Temporalität, sondern durch die Beharrlichkeit seiner Substanz geprägt ist, und stellt diesem die Zeitlichkeit des Sinnlichen gegenüber (vgl. KrV: A 123). Also nicht das Ich ist zeitlich, sondern Zeit ist nichts anderes als die Form der sinnlichen Anschauung, als deren Bedingung u.a. die Beharrlichkeit, gleichsam: Ewigkeit des Ich fungiert, wie die erste Analogie anzeigt.16 Der Höhepunkt in der Konzentration des Zeitproblems auf die innere Zeit des konkreten, d.h. empirischen Bewußtseins, vielleicht sollte man sagen: der existierenden Person, sollte erst mit Henri Bergsons lebensphilosophischer Zeittheorie folgen, bei der das Problem des Selbstbewußtseins des zeitlichen Ich im Vordergrund steht. 15 16
Zum Verhältnis von Subjekt, Individuum und Person bei Kant vgl. Frank 1986: v.a. 26ff. Heidegger hat Kants Dualismus von zeitlosem Ich und zeitlicher Sinnlichkeit heftig kritisiert und gegen Kant zur Geltung gebracht, daß die Temporalisierung des Selbstbewußtseins erst die Bedingung für die Temporalität der Anschauung sein kann (vgl. Heidegger 1973: v.a. 182ff.).
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I. Kapitel
Zeit und innere Dauer. Bergson
Wird Kants Philosophie der Zeit noch im wesentlichen durch den Dualismus von ewigem Ich und Zeitlichkeit der Sinnlichkeit bestimmt, tritt bei Bergson eine neue Entgegensetzung auf: die Differenz zwischen äußerer und innerer Zeit. Den Hintergrund dieser Unterscheidung bildet bei Bergson nicht die Augustinsche Differenz von wahrgenommener und geschaffener Zeit, sondern die Differenzierung in quantitiv-naturwissenschaftliche und qualitativ-hermeneutische Erkenntnisweisen, wie sie durch die innere Differenzierung der Wissenschaften seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten ist. Ein Ziel des neuen naturwissenschaftlichen Kosmos war die Simulation von realen Prozessen in Modell und Experiment. Bedingungen für experimentelle Wissenschaft sind zweifellos Homogenität, Meßbarkeit und Wiederholbarkeit. Zeit bildet dabei ein quantitatives Gerüst, das es erlaubt, Prozesse, d.h. Sukzessionen von Zuständen, miteinander zu vergleichen und durch die Wiederholbarkeit der Vergleiche sogar Vergleiche zu vergleichen. Ergebnis ist ein Zahlenmaß, dessen Objekt in der naturwissenschaftlichen Definition der Zeit zunehmend als Wesen der Zeit selbst angesehen wurde. Zeit wurde damit zu einer vom in der Zeit geschehenden Prozeß unabhängigen Variablen (vgl. Blaser 1983: 3). Die berühmte Definition der Zeit von Isaac Newton von 1687, die bis zur modernen thermodynamischen Zeittheorie unangefochten galt, betont ausdrücklich die kategoriale Unabhängigkeit der Zeit: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit fließt in sich und ihrer Natur gemäß ohne Beziehung auf irgend etwas Äußeres gleichmäßig; sie wird mit einem anderen Namen Dauer genannt. Die relative, sichtbare und gewöhnliche Zeit ist ein gewisses wahrnehmbares und äußeres Maß der Dauer mittels Bewegung, sei es nun genau oder ungleichmäßig, dessen man sich gewöhnlich anstelle der wahren Zeit bedient, so etwa der Tag, der Monat, das Jahr.“ (zit. n. Wendorff 1985: 235) Die absolute Zeit ist meßbar, und je nach Meßinstrument kann die an sich homogene, unendlich teilbare, gleichförmige absolute Zeit mehr oder weniger genau quantifiziert werden. An dieser Stelle ist nicht auf die gesellschaftsstrukturellen Hintergründe jener naturwissenschaftlich orientierten Zeitsemantik einzugehen (vgl. dazu IV.2c). Ich deute sie hier lediglich an, um das Differenzschema von Bergsons Zeitkonzeption genauer hervortreten zu lassen. Bergsons Denken ist von der cartesischen Dichotomie zwischen Intensität und Extensität bestimmt. Diesen Oppositionsbegriffen ordnet er die Bestimmungen Qualität und Quantität zu. Er beginnt seine Arbeit „Zeit und Freiheit“ mit der Bemerkung, daß im alltäglichen Sprachgebrauch Bewußtseinszustände – „Empfindungen, Gefühle, Affekte und Willensanstrengungen“ (Bergson 1989: 9) – oft mit quantitativen Prädikaten versehen werden: Ein Gefühl sei dreimal so intensiv wie ein anderes, oder die eine Empfindung größer als die andere. Letztlich wisse man aber gar nicht, was denn das Maß für ein intensiveres Gefühl oder eine größere Empfindung sei, denn solche quantitativen Bestimmungen seien nur dann wirklich eindeutig, wenn sie per Zahlmaß etwas Extensives, also etwas Ausgedehntes bestimmen. Mit intensiven Größen jedoch kann man nicht so verfahren. „Diese Auffassung von der intensiven Größe scheint die des gemeinen Verstandes zu sein: man kann sie aber nicht zum Range einer philosophischen Erklärung erheben, ohne geradezu einen Zirkelschluß zu begehen. Es ist nämlich unbestreitbar, daß eine Zahl mehr ist als eine andere, wenn sie in der natürlichen Zahlenreihe ihren Platz hat nach ihr (...). Die Frage ist
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dann, zu wissen, wie es uns denn gelingt, eine derartige Reihe mit intensiven Größen zu bilden, die ja nicht aus Dingen bestehen, die aufeinander gelegt werden können, und woran wir denn erkennen, daß die Glieder dieser Reihe z.B. anwachsen, statt abzunehmen; und das läuft allemal auf die Frage hinaus, weshalb eine intensive Größe einer extensiven vergleichbar sei.“ (ebd.: 9f.) Bergson wehrt sich dagegen, nach dem naturwissenschaftlichen Paradigma dem Problem durch Erweiterung des Gegenstandsbereichs des Quantifizierbaren zu entgehen. Es genüge nicht, „zwei Arten von Quantität“ (ebd.) zu unterscheiden, die eine extensiv und konventionell meßbar, die andere intensiv und auch – nach nachträglicher Quantifizierung – meßbar. Dagegen setzt Bergson, es gebe „keinen Berührungspunkt zwischen dem Unausgedehnten und dem Ausgedehnten, zwischen Qualität und Quantität“ (ebd.: 57; Hervorh. A.N.). Gegen die sich (natur-)wissenschaftlich konstituierende Psychologie seiner Zeit möchte er zur Geltung bringen, daß jede Quantifizierung psychischer Tatsachen dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand – dem Seelenleben – Gewalt antut. Am Beispiel des Zeitbegriffs versucht Bergson, diese für ihn konstitutive Dichotomie von intensiver und extensiver Wirklichkeit zu beschreiben. Der naturwissenschaftliche Zeitbegriff beschreibt zunächst nichts anderes als eine Sukzession, ein Nacheinander von je gegenwärtigen Zuständen, die wir zählen, „und die Zeit erscheint uns durch ihre Beziehungen zur Zahl zunächst wie eine meßbare Größe, ganz analog dem Raume“ (ebd.: 80). Unzweifelhaft verfügen wir über angemessene Meßinstrumente, die Extensionen des Raumes zu messen, und das heißt letztlich nichts anderes, als etwa Streckenabschnitte oder Kuben zu zählen. Gelingt eine symbolische Verräumlichung der Zeit, so scheint der Zählung der Zeit nichts mehr im Wege zu stehen. Doch bereits Aristoteles’ Zeitbestimmung durch die Zahl warf – wie gezeigt – das Problem auf, die einzelnen Jetztpunkte aufeinander zu beziehen, denn die Gegenwarten selbst drücken evidenterweise noch keine Temporalität aus, sondern nur die Einheit der Differenz der Jetztpunkte. Bergson zeigt am Beispiel des Sekundenzeigers einer Uhr, daß die Bewegung des Zeigers im Raum – nichts anderes mißt der Zeiger letztlich – keine Spur hinterläßt und so das Verhältnis der „Zeit“punkte zueinander gar nicht in den Blick kommt; „dadurch aber verurteile ich mich, fortwährend im Gegenwärtigen zu bleiben, und verzichte darauf, eine Sukzession oder Dauer zu denken“ (ebd.: 80f.). Es ist eine bloße Folge von Jetztzuständen, deren Verhältnis erst durch einen Beobachter konstituiert werden muß. Die Dauer ist also nichts den Gegenständen Anhaftendes, sondern Produkt eines Bewußtseinsprozesses, der nicht auf den quantitativen Aspekt der verräumlichten Zeit reduzibel ist. Wie die Töne einer Melodie in ihrer Abfolge nicht einfach voneinander isolierte Töne sind, sondern erst durch die wechselseitige Durchdringung der einzelnen Töne eine Melodie werden, stellt Bergson Dauer als eine durch das Bewußtsein hergestellte Einheit einzelner Erlebnisinhalte vor, deren zeitlicher Charakter nichts gemein hat mit der dem Raum analog nachgebildeten homogenen Zeit. Doch selbst diese homogene Zeit, so möchte Bergson nachweisen, ist Produkt eines letztlich nicht in quantitativen Begriffen zu beschreibenden Bewußtseins. Das bloße Nacheinander der äußeren Dauer ist noch keine Zeit. Zur Dauer wird sie erst – ich erinnere nochmals an Aristoteles -, wenn ein zählendes Bewußtsein eine Synthese vornimmt, die allerdings – so Bergsons Unterschied zu Aristoteles – nicht in der Zahlform des Gezählten zu suchen ist (vgl. ebd.: 81). Die homogene Zeit als dem Raum analoge Vorstellung kann also als derivativer oder sekundärer Zeitbegriff – Bergson spricht einmal gar von einem „Bastardbegriff“ (vgl. ebd.:
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76) – verstanden werden, dessen Ursprung in dem liegt, was Bergson die innere Dauer oder reine Dauer nennt. Die homogene Zeit ist Bergson nur ein „Phantom des Raumes, das das reflektierte Bewußtsein im Banne hält“ (ebd.: 77). Die reine Dauer ist die ursprüngliche Dauer, die phänomenal früher anzusetzen ist als das von der Raumzeit gleichsam kolonialisierte reflektierte Bewußtsein. Vorreflexiv verfährt das Bewußtsein immer im Modus der reinen Dauer, „wenn es sich untersagt, die Dauer symbolisch vorzustellen“ (ebd.: 81). Die Symbolisierung der Dauer ist nichts anderes als die Verräumlichung der Zeit und damit die nachträgliche quantifizierende Vereinigung der zuvor quasi künstlich getrennten Zeitpunkte. Die reine Dauer dagegen – so Bergsons zentrale Definition – „ist die Form, die die Sukzession unsrer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen“ (ebd.: 77). Unbestreitbar evident ist an dieser Argumentation, daß nicht auf die Differenz der einzelnen Jetztpunkte, sondern die einheitsstiftenden Akte des Bewußtseins abgestellt wird. Der Bewußtseinsstrom kommt gerade dadurch zustande, daß das Bewußtsein sich als Einheit in der Zeit erfährt und in seinen Erlebnissen eine Dauer konstituiert, die nicht an einer „objektiven“ oder der Newtonschen „absoluten“ Zeit orientiert ist, sondern ausschließlich am Selbsterleben der inneren Dauer. Diese jeweils einzigartige innere Dauer des je individuellen Bewußtseins ist von außen nicht beobachtbar, geschweige denn meßbar. Die Zeit des Bewußtseins, die innere Dauer ist also kein extensives Zeitmaß, sondern die Synthese der Mannigfaltigkeit der Bewußtseinszustände, wobei das Mannigfaltige dieser Zustände nicht an der Zahl, sondern an der qualitativen Verknüpfung der Ereignisse orientiert ist. Dauer ist damit keine Entität, sondern Produkt von sinnstiftenden Akten, durch die im permanenten Wechsel des Bewußtseinsstroms Einheit und Identität in der Zeit hergestellt wird. Der Begriff der Zeit und die Form der sich im Bewußtsein konstituierenden Zeit wird bei Bergson erstaunlich in der Schwebe gehalten, er bleibt manchmal sogar – im Vergleich zu Kant – begrifflich unscharf und uneindeutig. Dies scheint mir aber weniger ein Mangel zu sein, als vielmehr konsequenterweise die radikale Distanz seiner lebensphilosophischen Denkweise zum erklärenden Ansatz der wissenschaftlichen Psychologie auszudrücken.17 Von der Kantschen Zeittheorie unterscheidet ihn vor allem, daß für ihn Zeit nicht auf die transzendentale Struktur eines ewigen Ichs zurückgeführt wird, die als Bedingung der Möglichkeit für Bewußtseinsprozesse überhaupt fungiert. Bergson legt vielmehr Wert auf die existentiale Struktur empirischer Iche, deren Operationen erst Dauer markieren können. Es liegt also gleichsam ein existenzphilosophisch-hermeneutisches Interesse vor, das die empirischen Bewußtseinsprozesse deutend verstehen will und nicht auf eine überzeitliche Subjektivität rekurriert.18 In sehr reiner Form findet sich hier das zentrale Paradoxon der 17
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Ohne Zweifel gehört Bergsons Philosophie zum näheren Umkreis der sogenannten Erklären-VerstehenKontroverse, die zu einer Zeit geführt wurde, als sich die nomothetisch orientierten Wissenschaften nicht nur von den traditionellen idiographischen abzusetzen begannen, sondern auch zunehmend einen wissenschaftlichen Alleinvertretungsanspruch anmeldeten (vgl. Apel 1979; zum gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Diskussionsstand der Methodologie der Kulturwissenschaften vgl. Schwemmer 1987). Bergson gehört zu den dezidierten Kritikern der quantifizierenden, erklärenden, damit reduktionistischen Wissenschaft, zumindest der Wissenschaft des Seelenlebens, die für ihn auf verstehende Methoden angewiesen bleibt. Bergson ein explizites existenzphilosophisches Konzept nachzusagen, mag auf Widerspruch stoßen. Ohne Zweifel darf man Bergson nicht zu dieser philosophischen Schule rechnen, allerdings meine ich
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Zeit ausformuliert: Zeit wird erst durch die zeitlichen Operationen ihres Trägers zu dem, was sie ist, hier: zur reinen Dauer. Eine Konsequenz aus dieser eher empirischen als transzendentalen Zeittheorie ist ein weiterer Unterschied zur Kantschen: Kants Bestimmung der Zeit als reine Form der inneren Anschauung beschränkt sich nicht wie bei Bergson darauf, von der allgemeinen, identitätsverbürgenden Verknüpfungsfähigkeit des menschlichen Bewußtseins, von der Fähigkeit der bewußtseinsmäßigen Synthese ungleichzeitiger Bewußtseinszustände überhaupt auszugehen, sondern bestimmt diese in ihrer inhaltlichen Struktur. Nach transzendentalphilosophischem Verständnis ist sie a priori gegeben, also erfahrungsunabhängig, während Bergson zeigt, daß die zeitliche Struktur des Bewußtseins nicht nur erfahrungsgenerierend ist, sondern auch durch Erfahrung generiert ist. Besonders scharf klingt die Anklage gegen Kants Bestimmung der Zeit bei Norbert Elias: „Die Annahme einer solchen ‚Synthese a priori‘ implizierte, daß Menschen nicht nur eine allgemeine Fähigkeit zur Herstellung von Verknüpfungen besitzen, sondern auch eine Anlage, die sie zwang, spezifische Verknüpfungen vorzunehmen und entsprechende Begriffe wie ‚Zeit‘, ‚Raum‘, ‚Substanz‘, ‚Naturgesetze‘, ‚mechanische Kausalität‘ und andere zu bilden, denen damit der Anschein des Nicht-Erlernten und Unveränderlichen gegeben wurde.“ (Elias 1982: 841) Bergsons selbsterfahrungsbezogene Theorie der Zeit spricht in exakt diesem Sinne lediglich von einer spezifisch bewußtseinstypischen Verknüpfungsfähigkeit, die die „ursprüngliche“ Form der Zeit als innere Dauer erst generiert. Dauer ist konsequenterweise ein qualitativer Begriff, dem nur durch hermeneutisches Verstehen der Selbstkonstitution des Bewußtseins und nicht durch erklärendes Zählen von Raumzeitpunkten beizukommen ist. An dieser Stelle lasse ich noch völlig offen, welche Konsequenzen diese Zeittheorie für eine soziologische Konzeptualisierung von Zeit haben kann und hatte, bis auf diesen kurzen Hinweis: Bergsons Theorie der Zeit bildet auf den ersten Blick einen der wesentlichen Angelpunkte für die soziologische Reflexion der Zeit, wie Gerhard Schmied in seiner Habilitationsschrift nachgewiesen hat (vgl. Schmied 1985), obwohl sie im engeren Sinne eine Bewußtseinsphilosophie der Zeit bleibt und damit die theoretischen Möglichkeiten einer Beschreibung der Zeit als sozialem Phänomen beschneidet. Noch erstaunlicher mag dieser Rekurs auf Bergson anmuten, wenn man nicht nur die impliziten Konsequenzen seines individualistischen Ansatzes bedenkt, sondern auch auf seine explizite antigesellschaftliche Position rekurriert. Die Denkfigur der ganz reinen Dauer erfüllt bei Bergson noch eine weitere Funktion als die angedeutete epistemologische. Sie formuliert den radikalen Kontrapunkt zur äußeren, d.h. für Bergson nicht im je konkreten empirischen Individuum konstituierten Zeit. Als soziales Phänomen läßt er letztlich nur den Raum als Bürgen des „Gemeinschaftslebens“ (Bergson 1989: 104) gelten, dem auch nur die nach dem naturwissenschaftlichen Vorbild gebildete „Raum-Zeit“ entspricht. Die unteilbare, freie, für das Erleben und den Bewußtseinsstrom der Person konstitutive Zeit der inneren Dauer dient Bergson dazu, die Innenwelt des Menschen als eigentliche Wirklichkeit zu konzeptualisieren, die ständig der Gefahr der Assimilation und Kolonialisierung durch die „Raum-Zeit“ der sozialen Welt ausgesetzt ist. Freiheit ist für Bergson in letzter Konsequenz die Freiheit mit Wolfgang Janke (1982: 5f.), daß Bergson durchaus zu den Vorläufern der Existenzphilosophie gehört, und zwar zum einen wegen seiner Wissenschafts- und Rationalitätskritik und zum anderen wegen seiner lebensphilosophisch-empirischen Orientierung.
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des gänzlich undeterminierten, seine Dauer selbst konstituierenden Bewußtseinsstroms, das sich vom Getriebe der äußeren Welt isoliert. Treffend bemerkt Schmied zu Bergsons kulturkritischer und gesellschaftsfeindlicher Zeitkonzeption: „Der Mensch, der im Zustand der reinen Dauer leben würde, wäre ein von der Gesellschaft völlig Abgeschlossenes, den selbst von der Leibnizschen Monade noch unterscheiden würde, daß sein Bewußtsein eben nicht mehr im Einklang mit der Außenwelt stünde und sie nicht mehr spiegeln würde.“ (Schmied 1985: 35) Was Bergsons Theorie für eine soziologische Theorie der Zeit jedoch relevant machen könnte und gemacht hat, ist die Dichotomie zwischen einer qualitativen und einer quantitativen Zeit, die – wie ich noch zeigen werde (vgl. IV.6a) – das Denken der Zeit im 20. Jahrhundert bestimmen sollte.
e)
Retention und Protention. Husserl
Ähnlich wie Bergson geht es Edmund Husserl um die Konzeptualisierung des Ursprungs der Zeit im Bewußtsein und nicht durch das Bewußtsein. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Husserlschen Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins bemerkt Frank treffend: „Zeit ist nicht länger nur Thema des Bewußtseins; das Bewußtsein, das Zeit zum Thema machen will, dauert selbst – das Bewußtsein von Zeit ist selbst zeitlich.“ (Frank 1990a: 12) Bevor ich die Husserlsche Zeittheorie expliziere, sind einige Bemerkungen zu Husserls phänomenologischem Verfahren vonnöten. Gegen die sich im wesentlichen naturwissenschaftlich konstituierende Psychologie seiner Zeit bringt Husserl zur Geltung, daß diese das Wesen des Psychischen zur Unkenntlichkeit entstelle, wenn sie sich als „Parallelwissenschaft“ der Naturwissenschaft verstehe. Sie geht, so Husserl in der Krisisschrift, insbesondere fehl „mit der Auffassung: die Seele – ihr Thema – sei Reales eines gleichen Sinnes wie die körperliche Natur, das Thema der Naturwissenschaft“ (Husserliana VI: 216).19 Dieses Vorurteil aber, so Husserl weiter, verhindere geradezu eine Psychologie, „welche Wissenschaft vom wirklich Seelischen ist“ (ebd.), und stelle zwischen die Dinge und das Erkenntnissubjekt eine mathematisierte Weltsicht, zu der seit dem cartesischen Dualismus vor allem die ontologische Differenzierung der Welt in „äußere“ und „innere“ Erfahrung gehört: die erstere Gegenstand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die zweitere das Reich der sich letztlich von der Übermacht der ersteren nicht emanzipierenden Psychologie. Doch Husserl ist es keineswegs darum zu tun, jene Emanzipation zu befördern. Das würde die Spaltung ja noch vertiefen. Vielmehr möchte Husserl folgenden Kategorienfehler auflösen: Wenn Naturwissenschaft auf äußerer und die Psychologie auf innerer Erfahrung basiert, so sind dennoch beide Erfahrung. Schon die sogenannte äußere Erfahrung im alltäglichen Miteinander trifft auf die Relativität des Erkannten und die Perspektivität des Erkennenden und nötigt zur Reflexion dieser Erfahrung. „In den Blick tritt dann die Relativität, und es verwandelt sich das jeweilig als schlicht-daseiend Geltende in der Jeweiligkeit seiner Gegebenheitsweisen im Leben selbst in eine ‚bloß subjektive Erscheinung‘“ (ebd.: 223). Die Konsequenz daraus ist die Frage, warum, sobald die „psychologische“ Frage nach dem Seelischen, nach der sogenannten „Innenwelt“ gestellt ist, nicht der 19
Soweit aus der Husserliana zitiert wird, beschränke ich mich auf die Bandangabe. Sonstige Schriften bzw. Ausgaben von Husserls Schriften werden wie üblich per Erscheinungsjahr zitiert.
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gesamte Gegenstandsbereich der Wissenschaften der Psychologie zugerechnet wird. Wenn letztlich die gesamte Seinswelt oder Lebenswelt ein psychisches Phänomen ist, scheint der angemessene Zugang zur Welt nur diese Phänomenebene selbst zu sein. In Husserls eigenen Worten: „warum heißt die Erfahrung, welche diese Lebenswelt wirklich als Erfahrung zur Gegebenheit bringt und darin – speziell im Urmodus der Wahrnehmung – die bloßen körperlichen Dinge präsentiert, nicht psychologische Erfahrung, sondern in einem angeblichen Kontrast zur psychologischen Erfahrung ‚äußere Erfahrung‘? Natürlich ergibt es Unterschiede in der Weise der lebensweltlichen Erfahrung, ob man Steine, Flüsse, Berge erfährt oder ob man reflektierend sein Erfahren davon erfährt und sonstiges ichliches Tun, eigenes oder auch fremdes, wie das Walten im Leibe z.B. Das mag ein für die Psychologie bedeutsamer Unterschied sein und zu schwierigen Problemen führen, aber ändert das etwas daran, daß alles Lebensweltliche offenbar ein ‚Subjektives‘ ist?“ (ebd.) Husserls Credo, zu den Sachen selbst gelangen zu wollen, bedeutet denn auch nicht eine Überbietung des Empirismus, sondern den erkenntniskritischen Versuch, alles Seiende nach seiner ursprünglichen Gegebenheitsweise hin zu befragen: als Phänomen. Dieser Ausgangspunkt gibt Husserls Verfahren seinen Namen. Die Phänomenologie hat davon auszugehen, daß die unterstellte wirkliche Welt „kein phänomenologisches Datum ist“ (Husserl 1980: 369), mithin also nur nach den Dingen in der subjektiven Erfahrung und ihren Möglichkeits- und Konstitutionsbedingungen zu fragen hat. „Was die Dinge sind, (...) sind sie als Dinge der Erfahrung“, wobei die Dinghaftigkeit der Dinge, d.h. ihre Bewußtseinstranszendenz nirgendwoher zu schöpfen sei, „es sei denn aus dem eigenen Wesensgehalte der Wahrnehmung, bzw. der bestimmt gearteten Zusammenhänge, die wir ausweisende Erfahrung nennen“ (Husserliana III: 111).20 Diese Denkvoraussetzungen erinnern stark an Kants Transzendentalphilosophie, der es im wesentlichen um die Herausarbeitung der die Erfahrung ermöglichenden Bedingungen geht, die als transzendentale Bedingungen denknotwendige Voraussetzungen darstellen und die schon deshalb empirisch nicht vorfindbar sind, weil sie jeder Empirie zugrunde liegen. Ferner schließt Husserl an Kants Umbau der klassischen metaphysischen Ontologie der Antike und des Mittelalters von der Wesensschau bewußtseinsunabhängigen Seins (Wesenheiten, Ideen, creatio/creator etc.) zur Bescheidenheit „einer bloßen Analytik des reinen Verstandes“ (KrV: B 304) an. Anders als Kant hält sich Husserl jedoch nicht die Möglichkeit des Dings an sich offen, das uns lediglich aufgrund des Mangels an nicht subjektrelativer Erkenntnismöglichkeit verschlossen bleibt. „Nicht ist es ein Kantianischer Idealismus, der mindestens als Grenzbegriff die Möglichkeit einer Welt von Dingen an sich glaubt offen halten zu können.“ (Husserl 1977: 88) Vielmehr geht es Husserl nur um die Selbstauslegung des ego als Subjekt jeder möglichen Erkenntnis. „Dieser Idealismus ist nicht ein Gebilde spielerischer Argumentationen, im dialektischen Streit mit ‚Realismen‘ als Siegespreis zu gewinnen. Es ist die an jedem 20
Gleichwohl wird mit dieser methodischen Beschränkung auf die konstituierten Akte des Bewußtseins nicht die cartesische ontologische Differenz von Immanenz und Transzendenz bzw. res cogitans und res extensa abgebildet. Vielmehr ist es Husserl darum zu tun, wie dem Bewußtsein das Seiende als Seiendes bewußt wird, wie also das Bewußtsein dasjenige intentional konstituiert, das für dieses Bewußtsein transzendent ist. Darauf weist auch explizit Klaus Held hin: „Das Transzendente ist dem natürlichen Bewußtsein bewußt als dasjenige, was ist, unabhängig davon, ob ein darauf gerichteter Bewußtseinsvollzug, ein Vermeinen, stattfindet oder nicht. Die Leugnung solcher Transzendenz würde die skeptische Rücknahme alles als seiend Behaupteten ins bloße Vermeinen bedeuten.“ (Held 1972: 4f.)
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mir, dem Ego, je erdenklichen Typus von Seiendem (...). Dasselbe aber sagt: systematische Enthüllung der konstituierenden Intentionalität selbst.“ (ebd.: 88f.) Was Husserl desweiteren von Kant unterscheidet, ist dessen Unterscheidung zwischen dem empirischen Ich und dem transzendentalen Subjekt. Ich habe oben gezeigt, daß die eigentümliche Unvermitteltheit der beiden Ebenen bei Kant dazu führt, daß bloß formale Bedingungen der temporalen Verknüpfungsmöglichkeit von Erscheinungen aufgezeigt werden, nicht aber die Strukturen des temporalen Selbstbewußtseins empirischer Iche in der Zeit. Ferner ist Kants Zeitbegriff quasi dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal seiner Epoche nachempfunden und merkwürdig blind für die empirische Temporalität des empirischen Ich. Nun ist dies bei Kant weniger ein Mangel im Sinne einer nicht ausreichend elaborierten Theorie, sondern ist in der transzendentalen Kategorienlehre methodisch fundiert. Genau an diesem Punkt, nämlich an der Methode der radikalen Scheidung von Empirischem und Transzendentalem, folgt Husserl Kant nicht. Er kritisiert: Wenn Kant „eine transzendentale Subjektivität konstruiert, durch deren verborgene transzendentale Funktionen nach unverbrüchlicher Notwendigkeit die Welt der Erfahrung geformt wird, so gerät er in die Schwierigkeit, daß eine besondere Eigenheit der menschlichen Seele (...) die Leistung einer diese ganze Welt gestaltenden Formung vollziehen und vollzogen haben soll“ (Husserliana VI: 120). Bis hier dürfte Husserl Kant sogar folgen, jedoch nur, soweit diese spezifische Leistung der menschlichen Seele auch wirklich zugerechnet wird und nicht einer bewußtseinstranszendentalen Instanz, die Kant „transzendentale Subjektivität“ nennt. Denn: „Sowie wir diese transzendentale Subjektivität aber von der Seele unterscheiden, geraten wir in ein unverständliches Mythisches.“ (ebd.; vgl. auch ebd.: 117) Dieser Vorwurf Husserls gipfelt gleichsam in einem Metaphysikvorwurf, die Seele mit einer spekulativen Kraft anzureichern, deren Gegebenheitsweise eben nur denknotwendig und widerspruchsfrei ist und die nicht als phänomenales bzw. phänomenologisches Datum vorliegt.21 Für eine empirisch relevantere Zeittheorie als die Kantsche lassen die hier kurz dargelegten Voraussetzungen des phänomenologischen Verfahrens hoffen. Bevor ich jedoch auf die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zu sprechen komme, ist noch zu zeigen, in welcher Weise Husserl das Kantsche Verfahren modifiziert, um die Kantsche Tradition des transzendentalen Verfahrens zugleich zu beerben und entscheidend zu verändern. Im Gegensatz zu Kant denkt Husserl das Verhältnis von empirischem Ich und transzendentalem Ich als Einheit. Danach zeichnet sich jeder Mensch dadurch aus, daß er selbst sowohl ein empirisch einzigartiges Individuum und zugleich von jener transzendentalen Struktur ist, die die Konstitutionsbedingung jeder Erfahrung ist. Während Kant dem durchaus zu21
Wie Manfred Sommer zeigt, hat der Begriff des Mythos bei Husserl keineswegs nur eine polemische Funktion. „Mythische Redeweisen entstehen – und da befindet sich der Phänomenologe im Gefolge positivistischer Mythen- und Metaphysikkritik -, wenn zuerst Begriffe aus ihrer ursprünglichen Verschmelzung mit der sie fundierenden Anschauung herausgelöst werden, wenn danach die Theorie auf der luftigen Leiter solch freigesetzter Begriffe ,regressiv‘ zu noch ferneren aufsteigt und wenn schließlich diesen ,hochgradig‘ formalen und abstrakten Begriffen unversehens wieder anschaulicher Gehalt beigegeben wird.“ (Sommer 1990: 177f.) Im Falle Kants werden die ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit entkleideten Begriffe insofern mythisch, als sie von der „sie fundierenden Anschauung“ schon methodologisch so weit entfernt sind, daß sie letztlich in Husserls Verständnis von gleichem Spekulationswert sein müssen wie die von Kant kritisierte vorkritische Philosophie vor ihm. Der so verstandene mythische Begriffsapparat wird damit „illegitimer Anschauungsersatz“ (ebd.: 178), der nur durch eine strengere Methode zu überwinden ist.
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stimmen würde, so läßt er die empirische und die transzendentale Sphäre jedoch nicht ineinander aufgehen, sondern läßt die eine an der anderen partizipieren und weist die „transzendentale Subjektivität“ somit gerade nicht in der Faktizität realer Iche auf. Husserl betont, „daß also jeder Mensch ein ‚transzendentales Ich in sich trägt‘; aber nicht als realen Teil oder eine Schichte seiner Seele (was ein Widersinn wäre), sondern insofern er die durch phänomenologische Selbstbesinnung aufweisbare Selbstobjektivation des betreffenden transzendentalen Ich ist“ (Husserliana VI: 190). Man darf sich das Ich also nicht als ein Zusammengesetztes vorstellen, sondern als ein solches, dessen transzendentale Strukturen gewissermaßen hinter der unbefragten Naivität der Normalität der natürlichen Einstellung verborgen liegen.22 Diese natürliche Einstellung, in der wir uns immer schon befinden, in der wir alle gewöhnlichen Verrichtungen des Alltags leisten und auch mancherlei Ungewöhnliches tun, basiert auf den mannigfaltigen transzendentalen Funktionen des Bewußtseins. Aber dieses weiß nichts davon und behandelt die eigene empirische Befindlichkeit als Letzthorizont seines Seins. Diese Sicherheit trachtet der Phänomenologe aufzusprengen, um die hinter den empirischen Vollzügen des Bewußtseins wirkenden transzendentalen Funktionen begrifflich zugänglich zu machen, und zwar – so der Anspruch – im Gegensatz zu Kant mit anschaulichen Begriffen. Was bei Descartes der methodische Zweifel am Sein des Seienden überhaupt ist, ist bei Husserl das Verfahren der Epoché, und zwar zunächst zweistufig als phänomenologische und eidetische. Die phänomenologische Epoché klammert die ontologischen Präsuppositionen der natürlichen Einstellung, d.h. die naive Selbstverständlichkeit der Realität der „äußeren“ und der „inneren“ Realität, ein. Der Phänomenologe nimmt die Welt nicht mehr als gegebene Realität, ohne aber cartesisch die Existenz der Welt an sich zu bezweifeln. Ein solcher methodischer Zweifel ist gar nicht vonnöten, weil für die „radikale Epoché (...) jedes Interesse an der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Welt (...) außer Spiel gesetzt“ (Husserliana VI: 182) wird, d.h. kategorial gar nicht möglich ist, solange man bedenkt, daß die Phänomenologie die „psychologische“ Differenz zwischen innerer und äußerer Erfahrung einzieht. „Die Welt (in der Umstellung ‚transzendentales Phänomen‘ genannt) ist von vornherein nur als Korrelat der subjektiven Erscheinungen, Meinungen, subjektiven Akte und Vermögen genommen, in denen sie ständig ihren wandelbaren Einheitssinn hat und immerfort neu gewinnt.“ (ebd.: 182f.) Durch diese Einklammerung und Ausschaltung der „Generalthesis der natürlichen Einstellung“ (Husserliana III: 63) soll dem Phänomenologen die Einsicht vermittelt werden, daß Sein letztlich – wenn Philosophie „strenge Wissenschaft“ (Husserliana XXV: 3ff.) im Sinne der Phänomenologie sein soll – immer nur Bewußt-Sein heißt. Damit ist aber die Potenz des phänomenologischen Verfahrens noch keineswegs ausgeschöpft. Hat die phänomenologische Epoché zunächst die Bewußtseins- und Beobachterrelativität jeder Erfahrung freigelegt, tritt eine zweite Stufe der phänomenologischen Reduktion 22
Nur am Rande: Nicht nur der alltäglichen natürlichen Einstellung und der gesamten Menschheitsgeschichte wirft Husserl jene Naivität vor, sondern v.a. seiner großen Antipodin, der wissenschaftlichen Psychologie. Sie betreibe – wie die Geschichts- und Geisteswissenschaften schlechthin – zwar einen ungeheuren Reflexions- und Methodenaufwand, komme auch zu allerlei Ergebnissen, „aber alle solche Reflexion hält sich in der transzendentalen Naivität, sie ist Vollzug der transzendental sozusagen fertigen Weltapperzeption“ (Husserliana VI: 213), jedoch weiß sie nichts davon, bleibt letztlich für die Ermöglichungsbedingung ihrer selbst blind.
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in Kraft, nämlich die eidetische Epoché. Hier geht es nicht mehr um die Tatsache, daß der wahrgenommene Gegenstand des Erkennens nicht real, sondern lediglich phänomenal vorhanden ist, sondern um das Wesen, korrekter um das immanente Wesen. Phänomenologie versteht sich dann „als eidetische Wissenschaft, als Wesenslehre des transzendental gereinigten Bewußtseins“ (Husserliana III: 142), als „rein deskriptive Wesenslehre der immanenten Bewußtseinsgestaltungen“ (ebd.: 143). Bezogen auf Wahrnehmung geht es letztlich um die erkenntnistheoretisch wichtige Frage, in welcher Weise sich das, was wir wahrnehmen, als Wahrnehmung konstituiert. Anders formuliert: Es geht nicht um die Wahrnehmung des Wahrgenommenen, sondern um die Wahrnehmung der Wahrnehmung. In den Cartesianischen Meditationen formuliert Husserl: „Der so gewonnene allgemeine Typus Wahrnehmung schwebt sozusagen in der Luft – in der Luft absolut reiner Erdenklichkeiten. So aller Faktizität enthoben, ist er zum Eidos Wahrnehmung geworden, dessen idealen Umfang alle idealiter möglichen Wahrnehmungen als reine Erdenklichkeiten ausmachen.“ (Husserliana I: 104) Hier wird die Sphäre des konkreten Ichs verlassen in Richtung der „Transzendenz des Eidetischen“ (Husserliana III: 140), denn das phänomenologische Verfahren bedeutet keineswegs eine Ausschaltung aller Transzendenz, sondern schließt gerade die Transzendenz der wesensmäßigen, d.h. nicht nur im faktischen ego fundierten Bewußtseinsstrukturen ein. Die eidetische Epoché macht gewissermaßen den Schritt von der Selbsterfahrung der Phänomenalität des Phänomenalen in Richtung der Universalität und Transindividualität von Bewußtseinsstrukturen. Die transzendentale Phänomenologie will ja gerade als transzendentale Methode keine psychologische Beobachtung des empirischen Ichs vornehmen, sondern die eidetischen Strukturen von Ichheit schlechthin freilegen, freilich – ich habe auf Husserls Kant-Kritik hingewiesen – fundiert in der konkreten Faktizität des ego. Ziel der Eidetik ist die Entbergung eines Eidos ego als reiner Form des Bewußtseins in transzendentalphilosophischer Absicht (vgl. Husserliana I: 105), das es erlaubt, die wesensmäßigen Funktionen unseres Bewußtseins gereinigt von allen individuellen und kontingenten Besonderheiten zu denken. „Wenn wir also eine Phänomenologie rein nach eidetischer Methode als intuitiv-apriorische Wissenschaft ausgebildet denken, so sind alle ihre Wesensforschungen nichts anderes als Enthüllungen des universalen Eidos transzendentales ego überhaupt, das alle reinen Möglichkeitsabwandlungen meines faktischen und dieses selbst als Möglichkeit in sich faßt.“ (ebd.: 105f.) Eidetische Phänomenologie sucht nach dem „universalen Apriori“ (ebd.: 106) der Konstitution von Erfahrung im Bewußtsein, nach Wesensbegriffen, denen durch das phänomenologische Verfahren selbst sozusagen eine – im weitesten Sinne – empirische Evidenz zukommt.23 Evident erscheint zunächst, wie Husserl auf das Problem des Zeitbewußtseins und der Zeiterfahrung zu sprechen kommt. Nach dem Aufweis der Bewußtseinsrelativität aller 23
Wohlgemerkt: Empirische Evidenz heißt in diesem Zusammenhang keineswegs eine „Verbesserung“ der empirischen Methode der Erfahrungswissenschaften, sondern Fundierung der Wesensbegriffe in der transzendentalen Erfahrungsstruktur von Bewußtsein. Zu den Sachen selbst ist kein empirisches Forschungsprogramm, sondern der Versuch, transzendentalphilosophische Erkenntnis methodisch kontrolliert aller Spekulation zu entreißen und an die Selbstevidenz von Selbstbewußtsein zu binden. Wenn ich hier von empirischer Evidenz spreche, meine ich jenen Appell Husserls an die transzendentalphilosophischen Begriffe, anschaulich zu sein und ihre Genese methodisch zu reflektieren (vgl. Husserliana VI: 117; Sommer 1990: 176ff.). Ob Husserl diesen Anspruch einzulösen in der Lage ist, ist damit jedoch noch nicht entschieden!
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Erscheinungen bemerkt Husserl, daß das phänomenologisch Aufgewiesene, also das vom Bewußtsein konstitutierte intentionale Bewußtsein von etwas, „ein abermals sich mannigfaltig Darstellendes (ist) – ich spreche jetzt vom Wandel der Perspektiven“ (Husserliana VI: 161). Ein solcher Wandel impliziert, will er als Wandel wahrgenommen werden, „daß fortgilt als noch Behaltenes, was nicht mehr erscheint, und in der die einen kontinuierlichen Ablauf antizipierende Vormeinung, die Vorerwartung des ‚Kommenden‘, sich zugleich erfüllt und näher bestimmt“ (ebd.). Wie in den bereits referierten Zeittheorien geht es also auch hier um die Frage, wie sich Zeit als einheitsstiftende Perspektive trotz Wechsels der Gegenwarten erhalten kann, ob dies nun auf ein zählendes Bewußtsein, auf die vereinigende Kraft des Schöpfergottes oder den reinen Verstandesbegriff der Beharrlichkeit der Substanz bezieht. Husserl stellt zur Erklärung dieses Sachverhaltes vom Begriff des Bewußtseins auf den Begriff Bewußtseinsstrom um, der es erlaubt, „den ganzen Erlebnisstrom als Bewußtseinsstrom und als Einheit eines Bewußtseins zu bezeichnen“ (Husserliana III: 203). Der Aufweis der Zeitstruktur des Bewußtseins, also die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins hat transzendentalphilosophisch das, was bei Kant als Apriori der Zeit eingeführt wurde, nicht durch apriorische transzendentale Annahmen deduktiv zu erschließen, sondern soll nach dem phänomenologischen Paradigma geleistet werden, „indem wir das Zeitbewußtsein durchforschen“ (Husserliana X: 10).24 Die erste phänomenologische Reduktion in der Analyse des Zeitbewußtseins besteht für Husserl in der Ausschaltung der objektiven Zeit. Streng nach dem Erfordernis der Phänomenreduktion auf das phänomenal Gegebene, d.h. auf das im und vom Bewußtsein selbst Konstituierte, muß Husserl zunächst alle uns in natürlicher Einstellung evidenten Vorstellungen der Zeit ausschalten. Diese „wirkliche Welt“ mit ihrem Verständnis „zeitlicher Objektivität“ ist für Husserl kein „phänomenologisches Datum“. Er schließt keineswegs aus, daß man sich mit der Frage objektiver zeitlicher Extensionen, mit der Distribution von Zeitintervallen, mit der „wirklichen objektiven Zeit“ beschäftigen könne: „Aber das sind keine Aufgaben der Phänomenologie.“ (Alle Zitate: Husserliana X: 4) Sie hat es vielmehr mit der Frage zu tun, wie sich denn Bewußtseinsakte als immanente Zeitobjekte konstituieren. Die Frage der semantischen Ausgestaltung von Zeitbegriffen, Zeitverständnissen und dem hantierenden Umgang mit Zeit sind diesem Denkverfahren erst nachgeordnet. Es geht hier also um das „primäre Zeiterleben in den vor-apperzeptiven oder vor-wahrnehmungsmäßigen Modi des Bewußtseins“ (Frank 1990a: 16). Gegen eine mögliche Kritik, die methodische Ausschaltung der objektiven Zeit setze diese bereits kategorial voraus, wendet Husserl ein, daß erst das phänomenologische Verfahren die Konstitutionsbedingungen dessen, was wir objektive Zeit nennen, klären kann. Nicht weil wir uns immer schon in der naiv-natürlichen Anschauung befinden, ist diese auch der Quell für den ursprünglicheren Zugang zu den Wurzeln der Erkenntnis. Vielmehr eröffnet erst die durch die phänomenologische epoché erreichte phänomenologische Ein24
Treffend bemerkt Frank dazu, daß Husserl sich damit in die Tradition von Kants Transzendentalphilosophie stelle, diese aber in ihrer Radikalität des Anspruchs übertreffe: „So erbt die Phänomenologie die transzendentalphilosophische Grundorientierung, noch in Überbietung der neukantianischen Demarche, die immerhin einige Gesetze für a priori und bewußtseinsimmanent hielt. Für Husserl gibt es keine Gesetze des Bewußtseins, sondern Bewußtsein von Gesetzen. Gesetze gehören unter die Transzendenzen, von denen Bewußtsein besteht, die aber nicht mystisch hinterrücks Bewußtsein determinieren.“ (Frank 1990a: 16f.)
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stellung einen Einblick hinter die Naivitäten des Alltags und der positivistischen Wissenschaften. Nach diesem methodischen Zweifel wird die quasi-natürliche Evidenz unseres „normalen“ Zeitverständnisses destruiert. „Was wir aber hinnehmen, ist nicht die Existenz einer Weltzeit, die Existenz einer dinglichen Dauer u.dgl., sondern erscheinende Zeit, erscheinende Dauer als solche. Das aber sind absolute Gegebenheiten, deren Bezweiflung sinnlos wäre. Sodann nehmen wir allerdings auch eine seiende Zeit an, das ist aber nicht die Zeit der Erfahrungswelt, sondern die immanente Zeit des Bewußtseinsverlaufes.“ (Husserliana X: 5) Die Untersuchung dieses immanenten Bewußtseinsverlaufes hat Zeitobjekte zum Gegenstand, die nicht einfach Objekte in der Zeit sind, wie wir uns ein Ereignis auf einer von diesem Ereignis verschiedenen Zeitstrahl vorstellen. Vielmehr geht es um Bewußtseinsinhalte, „die Zeitextension auch in sich enthalten“ (ebd.: 23). Wie erscheint nun Dauer an bewußtseinsimmanenten Zeitobjekten? Und wie stellt Husserl sich die Konstitution temporaler Einheit des Bewußtseins vor, die ihn – wie erwähnt – nicht zuletzt auf die Frage des inneren Zeitbewußtseins stößt? Verbürgt wird die Einheit des Bewußtseins durch die Umstellung von Erlebnis auf Erlebnisstrom. Es geht also um das Verfließen der Zeit in der selbstkonstituierten Dauer des Bewußtseins, d.h. also um die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im sich selbst erlebenden Subjekt. Um dies zu verdeutlichen, entwickelt Husserl in einem zweiten Schritt die Theorie der Retention und Protention. Denn wenn die im ersten Schritt ausgeschaltete Objektivität einer realen Zeit ausfällt, um eine temporale Kontinuität von Erscheinungen zu sichern, muß jene Kontinuierungsfunktion phänomenologisch im Bewußtsein selbst aufgewiesen werden. Husserl plausibilisiert dies am Beispiel des Hörens einer Melodie: „Die Sache scheint zunächst sehr einfach: wir hören die Melodie, d.h. wir nehmen sie wahr, denn Hören ist ja Wahrnehmen. Indessen, der erste Ton erklingt, dann kommt der zweite, dann der dritte usw. Müssen wir nicht sagen: wenn der zweite Ton erklingt, so höre ich ihn, aber ich höre den ersten nicht mehr usw.? Ich höre also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen Ton. Daß das abgelaufene Stück der Melodie für mich gegenständlich ist, verdanke ich – so wird man geneigt sein zu sagen – der Erinnerung; und daß ich, bei dem jeweiligen Ton angekommen, nicht voraussetze, daß das alles sei, verdanke ich der vorblickenden Erwartung. Bei dieser Erklärung können wir uns aber nicht beruhigen, denn alles Besagte überträgt sich auch auf den einzelnen Ton. Jeder Ton hat selbst eine zeitliche Extension, beim Anschlagen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein immer neues Jetzt, und das jeweilig vorausgehende wandelt sich in ein Vergangen. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des Tones, und die Objektivität des ganzen dauernden Tones konstituiert sich in einem Aktkontinuum, das zu einem Teil Erinnerung, zu einem kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einem weiteren Teil Erwartung ist.“ (ebd.: 23)
Das „Jetzt“ der Wahrnehmung des Tones ist also immer wieder ein anderes, es rückt gleichsam mit der unmittelbaren Gegenwart des Bewußtseins von Jetzt zu Jetzt, ohne daß die wahrgenommene Phase des Tones damit verloren ginge. Ein unmittelbares „Ton-Jetzt“ versinkt in der Vergangenheit, indem mit dem fortschreitenden Jetzt immer neue Daten wahrgenommen werden. Doch gehört der „versinkende“ Ton, der aktuell gar nicht mehr wahrgenommen werden kann, weil er längst verklungen ist, immer noch zum Aktkontinuum des Bewußtseins. Er behält seine Identität, auch wenn er gar nicht mehr ertönt, und
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dauert damit im Bewußtsein an. „,Während‘ dieses ganzen Bewußtseinsflusses ist der eine und selbe Ton als dauernder bewußt, als jetzt Dauernder. ‚Vorher‘ (falls er nicht etwa erwarteter war) ist er nicht bewußt. ‚Nachher‘ ist er ‚eine Zeitlang‘ in der ‚Retention‘ als gewesener ‚noch‘ bewußt, er kann festgehalten und im fixierenden Blick stehend bzw. bleibend sein.“ (ebd.: 24) Retention bezeichnet also das Präsenthalten von einzelnen Wahrnehmungen, ohne das eine Melodie gar nicht als solche identifiziert werden könnte. Wir würden nur einzelne, unzusammenhängende Töne hören, von denen wir nicht einmal sagen könnten, daß sie nacheinander statthätten, denn ohne das retentionale Vermögen des Bewußtseins könnte kein Ton vom anderen „wissen“. Die Retention hängt der jeweils aktuellen Wahrnehmungsgegenwart einen „Kometenschweif“ von Wahrnehmungen an, der den Fluß der Zeit im Bewußtsein erzeugt und so das Erleben eines zeitlichen Werdens, eines stetigen Wandels ermöglicht. „Dies Bewußtsein ist in beständiger Wandlung begriffen; stetig wandelt sich das leibhaftige Ton-Jetzt (scil. bewußtseinsmäßig, im Bewußtsein) in ein Gewesen, stetig löst ein immer neues Ton-Jetzt das in die Modifikation Übergegangene ab. Wenn aber das Bewußtsein vom Ton-Jetzt, die Urimpression, in Retention übergeht, so ist diese Retention selbst wieder ein Jetzt, ein aktuell Daseiendes.“ (ebd.: 29) Damit produziert das Bewußtsein selbst eine Einheit seiner selbst, und zwar nicht trotz, sondern gerade durch die temporale Modifikation von Wahrnehmungen, die im und durch das Bewußtsein das Erlebnis einer inneren Dauer erzeugt. Die retentionalen Modifikationen vergangener Wahrnehmungsgegenwarten ermöglichen es, die Einheit des Bewußtseins in der Zeit zu sichern. Vergangenheiten sind dann nicht als Vergangenes im Bewußtsein, sondern als modifizierte Vergangenheiten immer gegenwärtige Vergangenheiten. Die vergangene Gegenwart ist dem in der inneren Dauer stetig Jetzte temporal modifizierenden, darin fortschreitenden Bewußtsein unwiederbringlich verloren. Um bewußt zu sein, muß ein Bewußtseinsakt ablaufen; Bewußtseinsakte sind aber stets Akte unmittelbarer Gegenwart. Analog zu den Vergangenheit konstituierenden Retentionen bezeichnet die Protention gewissermaßen eine Art umgekehrter Retention. In der Protention erwartet das Bewußtsein neue gegenwärtige Bewußtseinsakte. Protentionen sind „Erwartungsintentionen, deren Erfüllung zur Gegenwart führt. Jeder ursprünglich konstituierte Prozeß ist beseelt von Protentionen, die das Kommende als solches leer konstituieren und auffangen, zur Erfüllung bringen“ (ebd.: 52). Durch die Protention strebt das Bewußtsein quasi aus dem jeweiligen Jetzt, das in der Retention zu einem „Gewesen“ wird, zu neuen Gegenwarten und wird sich so seiner eigenen Dauer gewahr, oder besser: es konstituiert dadurch seine eigene Dauer selbst. Leer sind die Erwartungsintentionen evidentermaßen deshalb, weil die Zukunft nicht wie die Vergangenheit Spuren im Bewußtsein hinterlassen hat. Allerdings ist die Protention keineswegs völlig unstrukturiert. Bezogen auf Husserls Melodiebeispiel, ließe sich sagen, daß ich beim Hören einer mir bekannten Melodie nicht irgend ein neues Ton-Jetzt, sondern ein ganz bestimmtes protiniere.25 Insofern kann man die ursprüngliche Gegenwart der je gegenwärtigen 25
Kritiker Husserls, etwa Held (1972: 59), sehen in dieser phänomenologischen Beschreibung der Vorbekanntheit des Erwarteten ein unlösbares Problem: Wie soll so die unerwartbare Zukunft, das Überraschungsmoment des Kommenden, die Kontingenz des Noch-nicht erklärt werden? Ich halte diese Kritik für unzutreffend, weil erstens gerade das Überraschende der Zukunft nur insofern wahrgenommen werden kann, als es eine enttäuschungsfähige Vorerwartung gibt. Zweitens spricht Husserl mit der Protention nicht die Zukunft als Seiendes an, sondern nur als die Vorerwartung eines (noch) nicht Seienden, das damit aber keineswegs in der antizipierten Form zum Sein gebracht werden muß.
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Bewußtseinsakte gegen den naturwissenschaftlichen Reduktionismus punktueller Gegenwarten als „zweiseitigen, obschon verschiedenen Horizont“ (Husserliana VI: 171), genauer: als doppelten asymmetrischen Horizont beschreiben.26 Unversehens habe ich von einer „mir bekannten Melodie“ gesprochen. Woher kann mir aber eine Melodie bekannt sein, wenn nicht dadurch, daß ich sie schon einmal gehört habe? Ich muß also erinnern, einen vergangenen Bewußtseinsinhalt zu einem gegenwärtigen machen, ihn appräsentieren. Doch dies scheint ein anderer Vorgang zu sein als der, der mir vorbewußt Bewußtseinsinhalte mindestens so lange präsenthält, daß ich den Aktwandel im Bewußtsein als Kontinuum erfahren kann. Konsequenterweise unterscheidet Husserl streng zwischen der „wiedervergegenwärtigenden Erinnerung und der primären Erinnerung, welche das Jetztbewußtsein extendiert“ (Husserliana X: 45). Zweitere entspricht der Retention, also einer unmittelbaren Intentionalität auf das soeben Gewesene zur Konstitution innerer Kontinuität. Erstere kann mit dieser originären Intentionalität nicht erklärt werden, denn – wie schon der Begriff sagt – eine Wiedervergegenwärtigung bzw. -erinnerung richtet sich intentional auf einen bereits nicht mehr aktuellen Bewußtseinsinhalt, der schon aus dem unmittelbaren retentionalen Abschattungsprozeß verschwunden ist. Gleichwohl: Strukturell gibt es keinen Unterschied zwischen einem Vergegenwärtigungsfluß und jedem anderen zeitkonstituierenden Aktkontinuum. „Der Vergegenwärtigungsfluß ist ein Fluß von Erlebnisphasen, der genau so wie jeder zeitkonstituierende Fluß gebaut, also selbst ein zeitkonstituierender ist.“ (ebd.: 51) Gemäß dem phänomenologischen Verfahren sind wiedervergegenwärtigende immanente Objekte nichts anderes als „Einheiten des inneren Bewußtseins“ (ebd.). Der wesentliche Unterschied besteht nun darin, daß Vergegenwärtigungen, d.h. „sekundäre Erinnerungen“ (ebd.: 4) eine andere Art von Intentionalität haben, nämlich eine solche, die sich selbst auf einen in ursprünglicher Intentionalität konstituierten Fluß des Bewußtseins selbst in der Vergangenheit bezieht. Diese Intentionalität „konstituiert also ein Doppeltes: einmal durch ihre Form des Erlebnisflusses die Vergegenwärtigung als immanente Einheit; dadurch sodann, daß die Erlebnismomente dieses Flusses reproduktive Modifikationen von Momenten eines parallelen Flusses sind (der im gewöhnlichen Fall aus nicht reproduktiven Momenten besteht), und dadurch, daß diese reproduktiven Modifikationen eine Intentionalität bedeuten, schließt sich der Fluß zusammen zu einem konstituierenden Ganzen, in dem eine intentionale Einheit bewußt ist: die Einheit des Erinnerten.“ (ebd.: 52) Womöglich könnte man sogar so weit gehen und sagen, daß diese Intentionalität für Husserl die Einheit des Bewußtseinsstromes verbürgt und damit sogar die Einheit des Erinnernden zum Bewußtsein bringt.27 In dieser kurzen Darstellung der zentralen Aussagen der Husserlschen Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins dürfte deutlich geworden sein, daß die phänomenologische Beschreibung der temporalen Kontinuität der Bewußtseinsakte diejenigen theoretischen Voraussetzungen schafft, die Einheit des Bewußtseins zu denken. Eine solche Theorie könnte überall dort anschlußfähig sein, wo es um die operativen Möglichkeiten von sich selbst konstituierenden Einheiten geht, sich selbst als temporale Einheiten zu beobach-
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Auf die Parallelen zwischen Husserls Theorie der Retention und Protention mit Heideggers „ekstatischem“ Zeitbegriff macht Rudolf Bernet (1990: 82f.) aufmerksam. Die Ähnlichkeiten zu Bergson (vgl. I.2d) sind unverkennbar (vgl. Steinhoff 1983: 638ff.).
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ten.28 Dies scheint mir geradezu die entscheidendste Bedingung einer anspruchsvollen Zeittheorie zu sein, zumal mit Husserl sowohl der metaphysische Rekurs auf die göttliche Kreatürlichkeit der Zeit (Augustinus) als auch ihre Hypostasierung zu einem apriorischen Vermögen (Kant) vermieden wird. Solche Konstruktionen haben – wie ich oben angedeutet habe – die Funktion, regreßunterbrechend und zirkelvermeidend Zeit mit nicht-temporalen Ausdrücken zu definieren. Zunächst scheint Husserl einem solchen Regreß oder einer Zirkelgefahr tatsächlich nicht zu unterliegen. Jedoch habe ich in meiner Darstellung bisher lediglich die – wenn ich so sagen darf – operativen Aspekte der Konstitution von Aktkontinuitäten beschrieben. Dabei habe ich ungefragt in der Beschreibung einen Begriff verwendet, auf den ohne Zweifel Husserls gesamte Zeittheorie zugeschnitten ist: die unmittelbare Gegenwart, das (Ton-) Jetzt, Gegenwart als zweiseitigen Horizont. Diese Begriffe tragen ohne Zweifel temporale Bestimmungen, sie kodifizieren eine bestimmte Qualität von Gegenwart. Was womöglich erstaunt, ist der Umstand, daß diese Begriffe letztlich Umschreibungen eines Husserlschen Begriffs sind, der auf den ersten Blick keine temporalen Bestimmungen trägt: Urimpression. Um nicht nur die operativen, sondern auch die theorietechnischen Aspekte der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins in den Blick zu bekommen, scheint mir diesem Begriff einige Aufmerksamkeit zu schenken zu sein. Er wird von Husserl an entscheidender Stelle seiner Explikation des inneren Zeitbewußtseins eingeführt: „Der ‚Quellpunkt‘, mit dem die ‚Erzeugung‘ des dauernden Objektes einsetzt, ist eine Urimpression.“ (ebd.: 29) Die durch retentionale Abschattung modifizierten urimpressionalen Akte werden stets durch neue Urimpressionen abgelöst, so daß das Ich sich immer schon in unmittelbarer Gegenwart seiner Akte gegeben ist. Alles andere, d.h. Bewußtseinsinhalte, die diese urimpressionale Selbstgegebenheit modifizierend abgelegt haben, ist bereits „sekundäres Bewußtsein“ (ebd.: 90), hat bereits die Unmittelbarkeit „lebendiger Gegenwart“ (ebd.:54) verloren. Es ist „ein sozusagen Totes, sich nicht mehr lebendig Erzeugendes“ (ebd.: 24). Was immer schon gegeben sein muß, ist die urimpressionale Gegenwart des Ich, aus deren Quelle erst diejenigen Funktionen entspringen, die den einigenden Fluß des Bewußtseins stiften.29 Das theoretische Unterfutter der Husserlschen Zeittheorie scheint die Annahme einer unmittelbaren Gegenwart zu sein, von der her Zeit konstituiert wird, die aber selbst nicht konstituiert sein kann, weil sie ja der Grund aller Konstitution ist. Husserl sagt es selbst in den Ideen: „Jedes cogito mit allen seinen Bestandstücken entsteht oder vergeht im Fluß der Erlebnisse. Aber das reine Subjekt entsteht nicht und vergeht nicht“ (Husserliana IV: 103), ist also einfach da, und Einfach-da-Sein geschieht im Modus der Urimpression, intentional auf Protentionen und Retentionen gerichtet. Damit ergibt sich in der Bestimmung von Zeit eine Paradoxie, die sich dem Umstand verdankt, daß Husserl die operativen Aspekte retentionaler und protentionaler Akte,
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Eine soziologische Zeittheorie – so viel darf hier schon vorweggenommen werden – ist exakt auf eine solche Theorieanlage angewiesen, wie ich noch zeigen werde (vgl. II und III). Man stößt hier bei genauerer Analyse auf „das Problem einer gedoppelten Gegenwart“ (Steinhoff 1983: 622), einerseits auf ein Gegenwartsfeld des Bewußtseins, das durch seine retentionale und protentionale Struktur die unmittelbare Zukunft und Vergangenheit einschließt. Andererseits stößt man auf eine eigentliche Gegenwart, auf die zeitlich nicht extendierte Urimpression lebendiger Selbstgegebenheit. Da erstere als Derivat der zweiten anzusehen ist, interessiert phänomenologisch zunächst nur die zweite.
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die das innere Zeitbewußtsein konstituieren, an eine weitere temporale Bestimmung rückbindet, nämlich an die Gegenwart urimpressionaler Akte. Wenn Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins auch ohne Zweifel zu den anspruchsvollsten und modernsten theoretischen Lösungen einer Beschreibung von Zeit gehört, so hat doch insbesondere dieses Problem der urimpressionalen Gegenwart vielfältige Kritik erfahren. Auf die Problematik von Husserls Gegenwartszentrierung stellt Jacques Derrida in seiner kleinen Schrift „Die Stimme und das Phänomen“ (1979) ab. Derridas Interesse an Husserl besteht in der Frage, ob sich bei aller Kritik Husserls an der spekulativen Metaphysik hinter dem phänomenologischen Verfahren nicht „eine metaphysische Präsupposition“ (ebd.: 52) verbirgt und ob es nicht angezeigt ist, „die phänomenologische Kritik der Metaphysik als internes Moment der metaphysischen Selbstvernichtung sich ankündigen zu sehen“ (ebd.: 53). Für Husserls Zeittheorie ist diese Anfrage insofern von Relevanz, als Derrida in der „konkreten Idealität des lebendigen Präsens“ den „letzten und radikalen Rechtfertigungsgrund“ der „die Metaphysik begründende(n) Unterscheidung von Form und Materie“ (ebd.: 55) sieht. Für Derridas eigenes Denken wiederum ist Husserls Analyse des inneren Zeitbewußtseins deshalb von besonderem Interesse, weil der Gedanke der temporalen Modifikation von Präsenz, also von Urimpressionen, Parallelen zu Derridas différance aufweist. Derrida bestreitet die im Repräsentationsmodell behauptete Kongruenz von Signifikant und Signifikat, also von Zeichen und Bezeichnetem. Die Differenz zwischen beiden ist unter keinen Umständen aufzuheben, sie steht vielmehr für die Unmöglichkeit der Bezeichnung der Präsenz, d.h. des Bezeichneten. Es bleiben immer nur Zeichen von etwas, jedoch dieses etwas ist als etwas paradoxerweise nur durch Bezeichnung zugänglich und wegen des Bezeichnens nicht mehr das ursprüngliche etwas. „So verstanden, ist die Supplementarität eben die Differänz: jene Operation des Aufschiebens (différer), die die Präsenz zugleich spaltet und verschiebt, indem sie sie mit einem Schlag der ursprünglichen Teilung und dem Aufschub (delai) unterwirft.“ (ebd.: 145)30 Die Parallele zu Husserl besteht darin, daß auch hier die Präsenz des Präsens nur im Nachhinein, also mit einer differance erscheinen kann. Sie muß sich „kontinuierlich mit einer Nicht-Präsenz und einer Nicht-Wahrnehmung und also mit der primären Erinnerung und Erwartung (attente) (Retention und Protention)“ (ebd.: 119) zusammenschließen, um überhaupt erfahrbar zu sein. Die Präsenz des Präsens, d.h. das Sein der urimpressionalen Gegenwart bleibt dann aber notwendig ein Limesbegriff, sie ist nie zu fassen, weil sie der retentional modifizierten Präsenz als neue Präsenz immer schon vorweg ist. Jedes, wie Derrida ausdrücklich betont, „sogenannte“ gegenwärtige Element ist Gegenwart, nur weil es „sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht“ (Derrida 1988: 39). Doch wie hat man sich diese Beziehung vorzustellen? Derridas Konsequenz aus Husserls offenkundiger Unmöglichkeit, die Präsenz des Präsens theoretisch auszuweisen, also die Konsequenz aus seinem, wenn ich so sagen darf, apophantischen Präsenzbegriff, besteht darin, die Beziehung der temporal voneinander geschiedenen Elemente über eine Zeichentheorie zu erklären. Nur das Gegenwart transzendierende Zeichen kann in der Lage sein, jenen Zusammenschluß zwischen Präsenzen zu ermöglichen. „Denn ein Signifikant (überhaupt) muß in seiner Form trotz aller ihn modifizierenden Unterschiedlichkeit seines empirischen Auftretens stets wiederzuerkennen sein. 30
Derridas Schreibweise differance (deutsch: Differänz) soll durch die Homophonie mit difference (deutsch: Differenz) anzeigen, daß man dem Zeichen das Bezeichnete nicht entnehmen kann.
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Er muß derselbe bleiben und als derselbe immer wiederholt werden können, trotz der Deformation und durch sie hindurch, die das, was man empirisches Ereignis nennt, ihm notwendigerweise zufügt.“ (Derrida 1979: 103) Zwar kann auch kein Signifikant die Präsenz des Präsens ganz und gar aufheben; dann bräuchten wir nämlich die theoretische Scheidung von Signifikant und Signifikat gar nicht. Gleichwohl kann laut Derrida aber erst das Zeichen diejenigen Identitäten stiften, die gewissermaßen die Möglichkeitsbedingungen für die retentional und protentional hergestellte Einheit des Bewußtseinsstroms darstellen. Nun habe ich hier nicht die Kritik Derridas und seine Zeichentheorie zu vertiefen. Ohne Zweifel verweist diese Kritik auf das Problem der transindividuellen Bedeutung, wenn man so will, auf die soziale Dimension von Bedeutungen, die mit Husserls Theorie der Selbstevidenz des reinen Ich womöglich zu kurz kommt. Ich komme darauf zurück (vgl. II.2a).31 Ob dabei Derridas Entwurf einer urschriftlichen Spur der Präsenz, die „nicht von der Gegenwart oder vom Anwesen des Anwesenden her“ (Derrida 1988: 46) zu denken ist und mithin aus dem Teufelskreis der différance niemals auszubrechen vermag, überzeugender ist, darf bezweifelt werden. Diese – so Habermas’ treffende Wendung – „Überbietung der temporalisierten Ursprungsphilosophie“ (Habermas 1985a: 191ff.) bleibt selbst eine – von Derrida eingestandene (vgl. Derrida 1988: 51) – Metaphysik, die von der Präsenz träumt. Jedoch wird der metaphysische Schlaf – Bedingung des guten Traums – in der Moderne durch Kenntnis der „Abwesenheit der göttlichen Schrift“ (Derrida 1972: 21) erheblich gestört, auch wenn Derrida diese Abwesenheit als „Heimsuchung durch das göttliche Zeichen“ (ebd.: 22) erlebt, eine sehr an Heideggers Theorie geschlossener Sprachkosmoi erinnernde Denkfigur. Sieht man einmal von Derridas eigener Weiterentwicklung bzw. Modifikation des Husserlschen Begriffs der lebendigen Gegenwart ab, sind es zwei Bemerkungen von ihm, die für den hier zu verhandelnden Gegenstand von erheblicher Bedeutung sind. Derrida meint, daß Husserls gesamte Argumentation in ihren Grundfesten erschüttert würde, „wenn die Punktualität des Augenblicks ein Mythos, eine räumliche oder mechanische Metapher, ein ererbter metaphysischer Begriff oder all das zugleich ist, wenn also das Präsens der Selbstpräsenz nicht schlicht ist, sondern sich erst in einer ursprünglichen und irreduziblen Synthese konstituiert“ (Derrida 1979: 115f.). Derrida zeigt aber, daß jene Selbstpräsenz nicht qua Selbstpräsenz gegeben ist, sondern immer über etwas anderes erfahrbar ist, als sie selbst ist. Diese unaufhebbare différance, so Derridas zweite Bemerkung, muß das „Präsent-Lebendige“ als „zentralen Begriff der Phänomenologie“ (ebd.: 159) als metaphysi-
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Hierin sieht auch Jürgen Habermas die bedeutendste Kritik Derridas an Husserls Bewußtseinsphilosophie, wenn er auch die Heideggersche Konsequenz von Derridas Zeichentheorie nicht teilt: „Jeder Wahrnehmung liegt eine von Husserl selbst in Begriffen der Protention und Retention untersuchte Struktur der Wiederholung zugrunde. Husserl hat nicht erkannt, daß diese Struktur der Vergegenwärtigung durch die symbolisierende Kraft oder die Stellvertreterfunktion des Zeichens erst ermöglicht wird. Allein der Ausdruck in seiner substrathaften, nicht-sublimierbaren Äußerlichkeit des Zeichencharakters zeitigt die unaufhebbare Differenz einerseits zwischen der Sphäre der sprachlich artikulierten Bedeutungen und der innerweltlichen Sphäre, der die Sprecher und Hörer mit ihren Erlebnissen, der aber auch die Rede und vor allem deren Gegenstände angehören.“ (Habermas 1985a: 207) Gemäß seinem Paradigmenwechsel von der Bewußtseins- zur Sprachphilosophie schätzt Habermas an Derridas Husserl-Kritik insbesondere dessen Kritik der Bewußtseinsphilosophie durch die Einführung des bewußtseinstranszendierenden Zeichens. Dadurch erst eröffnet sich der „Spalt, durch den jenes Licht der Sprache fällt, in dem erst etwas als etwas in der Welt präsent oder anwesend sein kann“ (ebd.; systematisierend und zusammenfassend vgl. auch Habermas 1988a: 63ff.).
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schen Grenzbegriff einführen, der letztlich phänomenologisch nicht ausgewiesen werden kann. Rückgekoppelt auf die erste Bemerkung: Selbstpräsenz scheint nicht schlicht zu sein, sondern muß zunächst theoretisch vorausgesetzt werden, um das andere der Präsenz beschreiben zu können. Wird damit Husserls Zeittheorie wertlos? Keineswegs, denn die Erschütterung der Husserlschen Grundannahmen meint bei Derrida die Relativierung der Behauptung, mit dem phänomenologischen Verfahren tatsächlich die spekulative Metaphysik ein für alle Mal überwunden zu haben. Bestimmte metaphysische Präsuppositionen – so die Antwort auf die Ausgangsfrage, die ich mit Derrida gestellt habe – scheinen auch für Husserl zu gelten: Denken des Seins als Präsenz. Als hätte Husserl Derridas Kritik oder zumindest die These von der Unbezeichenbarkeit der Präsenz vorweggenommen, gibt er indirekt selbst der These Recht, daß der „Quellpunkt“, d.h. die genetische Anfangsbedingung der „Abschattungskontinuität“ des Bewußtseinsstromes phänomenologisch nicht ausweisbar ist. In diesem Sinne betont er: „Im Aktualitätserlebnis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten. Für all das fehlen uns die Namen.“ (Husserliana X: 75; Hervorh. A.N.) Der vergleichsweise ausführliche Rekurs auf Derrida soll im Rahmen meiner Argumentation zeigen: Auch Husserls Zeittheorie kommt letztlich nicht ohne externe Begründung einer ihrer Grundannahmen aus, und zwar mit einem externen Term, der ohne Zweifel temporale Bestimmungen trägt. Die oben dargestellte Gefahr zirkulärer Beschreibungen von Zeit scheint sich also auch in dieser, sicher anspruchsvollsten Theorie des Zeitbewußtseins zu stellen. Sie muß extern das oder einen Teil dessen theoretisch voraussetzen, was sie erklären möchte. Extern meint ein Axiom, das nicht in den Rahmen der Begründungsfigur selbst fällt, sondern dieser vorausgeht, also das zugrunde Liegende ist: ihr – im wörtlichen Sinne – Subjekt. Diese Subjektivität fällt bei Husserl – ganz im Rahmen des bewußtseinsphilosophischen Paradigmas – mit dem Bewußtsein zusammen. Die Konstitutionsbedingung des inneren Zeitbewußtseins ist für Husserl sowohl theorietechnisch als auch gegenstandsbezogen die Subjektivität des Subjekts, jenes metaphysische Zentrum, das seit Descartes und Kant den Blick aufs Ganze des Seins abgelöst hat. Um einen offenen Zirkel zu vermeiden, kann Husserl, da ein phänomenologischer Aufweis der Selbstgegenwart unmöglich erscheint, diese Selbstgegenwart nur als „absolute Subjektivität“ denken, die die Qualität eines Flusses hat. „Dieser Fluß ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so nennen, aber es ist nichts zeitlich ‚Objektives‘. Es ist die absolute Subjektivität (...).“ (ebd.) Wenn wir aber diesen Fluß – ganz im Sinne Derridas – erst nachträglich als solchen wahrnehmen, und wenn dieser Fluß erst das ist, was Husserl die immanente Zeit nennt, ist diese selbst ein aus einem nicht Zeitlichen Abgeleitetes. Wäre dem nicht so, entstünde ein infiniter Regreß. Husserl sieht dies selbst, wie eine eindeutige Bemerkung aus den „Beilagen“ zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins belegt: „Jede zeitliche Erscheinung löst sich also nach der phänomenologischen Reduktion in einen solchen Fluß auf. Das Bewußtsein, in das sich all das auflöst, kann ich aber nicht selbst wieder wahrnehmen. Denn dieses neue Wahrgenommene wäre wieder ein Zeitliches, das zurückverweist auf ein konstitutierendes Bewußtsein ebensolcher Art, und so weiter in infinitum.“ (ebd.: 111) Es bleibt also nur noch der Regreßstop durch Absolution; hier nicht Ablösung der Sünden, sondern – gegen den erklärten Anspruch – Ablösung eines absoluten von einem phänomenologisch real
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nachweisbaren Subjekt. Wer jedoch für diese theoretische Erbsünde der abendländischen Metaphysik die Absolution zu erteilen hat oder ob sie nur in säkularisierter und damit in domestizierter Form wiederkehrt, wird Thema modernerer Theorieanlagen sein.32 Eine zweite Kritik an Husserls Begriff lebendiger Gegenwart, auf die ich hier eingehen werde, bringt Manfred Frank zur Geltung. Derridas Kritik an Husserls Zeittheorie gipfelt – ich habe darauf hingewiesen – in der Aussage, das gesamte phänomenologische Verfahren werde in seinen metaphysikkritischen Voraussetzungen erschüttert, wenn es nicht gelingt, die Selbstgegenwart des Bewußtseins als schlicht seiend vorauszusetzen. Derridas dekonstruktivistisches und poststrukturalistisches Anliegen33 muß ihn freilich zu dem Ergebnis führen, Husserl müsse sich notwendigerweise in metaphysischen Fallstricken verfangen, weil er erstens nicht nach einer urschriftlich fundierten Zeichentheorie suche und zweitens deshalb die différance nicht in den Blick bekomme, auch wenn er – streng methodisch – einräumt, daß ihm für den wichtigsten Begriff seiner Analysen letztlich „die Namen fehlen“. Franks Kritik kommt wie Derrida ebenfalls zu der Einschätzung, Husserl könne keine angemessene theoretische Beschreibung der Selbstgegenwart des Bewußtseins liefern, löst diese jedoch – gemäß seiner hermeneutischen Konzeption von Individualität (vgl. Frank 1986: 116ff.) – ganz anders auf. Für ihn stellt sich die Frage der Realität der urgegenwärtigen Selbstgegebenheit bei Husserl, an deren Begründung offenbar eine zirkelfreie Zeittheorie hängt, nur deshalb, weil Husserl am Reflexionsmodell des Bewußtseins festhält. „Auf ihm basieren nämlich der Zirkel und die Regresse in allen ihren Spielarten. Darum darf man hoffen, ihnen zu entrinnen, wenn man (...) das gegenständliche Bewußtseinsmodell durch ein anderes ersetzt (...).“ (Frank 1990a: 53) Husserl denkt Fremd- und Selbstbewußtsein analog (vgl. ebd.: 56), wie ich oben schon erwähnt habe. Für beide belegt er den Begriff Intentionalität, der nichts anderes bedeutet, als daß Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas ist (vgl. Husserliana X: 52). Husserl bildet nun die Retention exakt nach diesem Intentionalitätsbegriff, der dem klassischen Reflexionsmodell entspricht: „Ein intentionales Erlebnis (...) biegt sich auf sich selbst zurück und macht sich zu seinem/ihrem intentionalen Gegenstand.“ (Frank 1990a: 54) Dies könne jedoch nur zeitversetzt geschehen, denn die urimpressionale Gegenwart beziehe sich nicht duplizierend auf sich selbst, sondern nur auf die unmittelbare Vergangenheit des Bewußtseinsstroms. Deshalb, so Frank, stehe Husserl kein Begriff der Gegenwart zur Verfügung, obwohl wir Gegenwartsbewußtsein ohne Zweifel immer schon hätten: „wir haben (...) Bewußtsein auch von unserer Gegenwart und müssen – per absurdum zu sprechen – nicht erst warten, bis das ‚Urbewußtsein‘ zur Retention geworden ist.“ (ebd.: 59)34 Nach Franks Ansicht zerstört damit Husserl geradezu das Zentrum seiner Argumentation, wenn er die lebendige Gegenwart, die als Quellpunkt des Bewußtseinsstroms fungiert, nicht ausweisen kann. Freilich versucht Husserl dies dadurch, die absolute Subjektivität als unzeitliches Zentrum und Fundament der zeitlichen Extensionen der Cogitationes einzuführen. Jedoch führt diese Regreßvermeidungstechnik – ich habe auf diese theorietechnische Funk32 33 34
Zum Problem der Regreßgefahr bei Husserl vgl. auch Bieri 1972: 195. Vgl. dazu, ebenfalls bezogen auf Derridas Husserl-Studie „Die Stimme und das Phänomen“, Kurthen 1989: 69ff. Ähnlich, jedoch mit weniger analytischer Begriffsschärfe, kommt auch Sommer zu dem Ergebnis, der Gegenwartsbegriff sei durch Husserl nicht phänomenologisch ausgewiesen, sondern komme in der phänomenologischen Theorie nur „in einer Art Mimesis“ (Sommer 1990: 188) zur Geltung.
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I. Kapitel
tion hingewiesen – erneut zu einem Zirkel, wie Frank plausibel nachweist. Ohne Zweifel könne man intentionalen Akten eine gewisse zeitliche Extension, also eine Dauer auf den ersten Blick nicht absprechen.35 Dies aber soll für den absoluten Zeitfluß, also für die die Einheit des Bewußtseinsstroms verbürgende absolute Subjektivität nicht gelten: „Er ist nicht in der Zeit, hat also keine Dauer.“ (ebd.: 55) Weil Bewußtsein für Husserl jedoch immer als Intention gedacht wird, intentionale Akte aber laut Frank notwendigerweise extendiert sind, folgt für Frank, daß ein solcher durch auf sich selbst gerichtete Intentionen gebildeter Zeitfluß entweder nicht absolut oder nicht intendiert sein kann. „Ist er absolut, so dauert er nicht und überfordert die Möglichkeiten des notwendig nur episodisch auftretenden intentionalen Bewußtseins; läßt er sich intentional thematisieren, so ist er endlich (d.h. er erfüllt nur eine gewisse begrenzte Dauer) und ist also nicht absolut.“ (ebd.: 56) Im zweiten Fall jedoch entstünde wieder der oben dargelegte Regreß, denn hinter jedem intentionalen Akt müßte wiederum ein intentionaler Aktor stehen, den wahrzunehmen es eines weiteren intentionalen Akts bedürfte, dessen Aktor schließlich einem erneuten Akt zugänglich werden müsste, und so unendlich weiter. Husserl muß also, um die Urqualität der lebendigen Gegenwart zu retten, selbst so etwas wie ein präreflexives Bewußtsein annehmen, das sich sowohl je gegenwärtig gegeben, als auch ohne die Intentionalität einer von ihm unterschiedenen Instanz in der Zeit ist, um inneres Zeitbewußtsein im von ihm explizierten Sinne retentional und protentional zu konstituieren. Franks Analyse der Beilagen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins macht deutlich, daß Husserl selbst die Notwendigkeit einer präreflexiven Bestimmung der Selbstgegebenheit des Bewußtseins einsieht, und zwar eine solche, die die Hypostasierung der lebendigen Gegenwart zur absoluten Subjektivität vermeiden könnte (vgl. ebd.: 63, bezogen auf Husserliana X: 115). Ließe sich dies tatsächlich vermeiden, könnte sich zugleich die Möglichkeit eröffnen, die Husserlsche Zeittheorie zu beerben, ohne dabei aber auf die transzendentalphilosophische Konzeption absoluter Subjektivität angewiesen zu sein. Denn die empirische Evidenz des phänomenologischen Verfahrens kann sich nur dann eröffnen, wenn dessen erklärter Anspruch eingelöst werden kann, gegen die Kantsche Philosophie die kategoriale Differenz von empirischem und transzendentalem Ich einzuziehen. Wie ich oben angedeutet habe, ist es Husserl ja explizit darum zu tun, das transzendentale Ich in empirischen Individuen und nicht in einer dem Empirischen transzendentalen Subjektivität aufzuweisen.36 Wenn Husserl auch in der Konzeptualisierung lebendiger Gegenwart an diesem selbstgewählten Anspruch scheitert, so weist doch seine in seinem Werk zu beobachtende Unsicherheit in der Bestimmung der präreflexiven Gegenwart in diese Richtung. Für Franks eigenen Ansatz einer „Unhintergehbarkeit von Individualität“ ist genau dies entscheidend: Gegen Theorien der Subjektivität und des Selbstbewußtseins bringt er zur Geltung, daß die allgemeine Struktur des Mit-sich-vertraut-Seins „in die Selbstkenntnis von Individualität sich vermittelt, ohne daß Individualität als einfaches Dedukt eines All35 36
Mit Bedacht wurde formuliert: auf den ersten Blick. Ob diese Annahme Franks auch noch einem zweiten standhält, wird sich erst viel später (vgl. III.2a) erweisen können. Ich betone noch einmal: Unter empirischer Evidenz verstehe ich hier den Anspruch der Phänomenologie, die Strukturen des Bewußtsein phänomenologisch auszuweisen und nicht nach dem Bewußtsein transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit zu suchen. Insofern ist die Phänomenologie wirklichkeitsfundiert, sofern das Sein von etwas an das Bewußt-Sein des Wirklichen gebunden wird.
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gemeinen – also als Besonderes – aufgefaßt wird“ (Frank 1986: 116; vgl. auch 1988a: 3ff.). Mit Rekurs auf Schleiermacher soll die je „individuelle Weltdeutung“ (Frank 1986: 119) der einzelnen als letzter analytischer Bezugspunkt dessen gelten, was man traditionell Subjektivität genannt hat. Erst wenn es, so Frank, gelingt, dieses Bewußt-Sein der Individuen nicht mehr relational – bezogen auf eine allgemeine Struktur oder reflexiv nach dem Subjekt-Objekt-Modell auf sich selbst – zu denken, kann der Anspruch eingelöst werden, die Selbstgegebenheit des Bewußtseins ohne Rekurs auf Absolutes zu denken. Dann stellen sich auch die Aporien der Husserlschen Zeittheorie nicht mehr; der Zirkel kann vermieden werden, und die Regreßgefahr ist durch die Unhinterfragbarkeit der unhintergehbaren Individualität gebannt. Ob damit jedoch das Problem der Urgegenwart und der Hypostasierung der Präsenz wirklich aus der Welt geschafft ist, ist jedoch keineswegs ausgemacht. Zumindest sind einige Zweifel angebracht, wenn man nach dem Status von Franks „präreflexivem Mit-sich-vertraut-Sein“ fragt. Aus der operativen Theorie des inneren Zeitbewußtseins jedenfalls läßt sich dies nicht ableiten, und zugleich scheint mir Franks Ansatz nicht ausreichend deutlich zu machen, in welcher Weise die Selbstgegenwart des Bewußtseins gegeben sein kann, wenn man den Selbstbezug des Bewußtseins, um den es Frank offenbar an erster Stelle geht, im Vergleich zu den operativen Aspekten der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins recht unterbestimmt läßt. Ferner scheint mir noch nicht ausreichend geprüft zu sein, ob Franks stillschweigend vorausgesetzte Behauptung stimmt, (ur-)gegenwärtige intentionale Akte wiesen eine zeitliche Extension auf. Eine Prüfung dieses Sachverhalts ist allerdings nötig, da mit ihr eine in der Form der Husserlschen gebaute operative Theorie der Zeit steht und (womöglich) fällt. Diese Fragen sind auf dem jetzigen Stand der Untersuchung jedoch noch nicht zu lösen. Ich werde weiter unten auf sie zurückkommen (vgl. III.2a). Wie auch immer: Frank bezweifelt selbst die Plausibilität der von ihm eröffneten Lösung, weil auch sie nicht ohne Unterscheidungen auskommt. In der Tat stellt sich auch bei dieser Lösung „das Paradox der gleichzeitigen Einstelligkeit und Gegliedertheit des Selbstbewußtseins“ (Frank 1990a: 134), also die gleichzeitige Identität des Bewußtseins mit sich selbst und die Differenz von Zuständen dieses mit sich Identischen. Doch exakt dies scheint mir die paradoxe Struktur des Selbstbewußtseins in der Zeit realitätsgerecht wiederzugeben. Zeitbegriffe haben immer die Paradoxie des Seins von Sein und NichtSein, die Paradoxie von Wandel und Kontinuität, die Identität und Differenz von Identität und Differenz zu reflektieren. Husserls Zeittheorie, mit Franks schwachem Begriff von individuellem Selbstbewußtsein kritisch hinterfragt, bietet eine operative Zeittheorie an, die diese Paradoxie nicht auflöst, sondern sie benennt und damit theoretisch bearbeitbar macht. Desweiteren liegt der Ertrag dieser operativen Zeittheorie darin, Zeit nicht einfach mit der ontologischen Würde von Realität zu versehen, sondern immer danach zu fragen, von welcher Position aus zeitliche Relata und innere Dauer gebildet werden. Husserl gibt also eine Zeittheorie zur Hand, die die Erkenntnisrelativität des Erkannten – als erste, phänomenologische epoché einer der Grundpfeiler der Phänomenologie – auch auf den Topos Zeit ausdehnt, ohne empirische Zeitbegriffe und -verständnisse durch die Hypostasierung reiner Verstandesbegriffe oder apriorischer semantischer Festlegungen bereits inhaltlich zu fundieren.
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I. Kapitel
Die Analyse der retentionalen und protentionalen Modifikationen urimpressionaler Modifikationen urimpressionaler, d.h. jetzt, je individuell gegenwärtiger Akte gibt diejenigen Bedingungen an, unter denen ein Bewußtsein seine Identität unter sich ändernden Eigenzuständen konstituiert. Diese operative Theorie wegen ihrer paradoxen, mehrstelligen Struktur mit dem Siegel der Ungelöstheit zu versehen, zeugt bei Frank – bei aller heftigen Kritik an der Subjektphilosophie – von einem Letztbegründungsanspruch, der letztlich auf unterscheidungsfreie ontologische Basissätze hinausläuft oder zumindest deren philosophische Letztbegründungsmöglichkeit voraussetzt – der Versuch einer individualitätstheoretischen Überbietung der Transzendentalphilosophie.
3.
Erste Auszeit
Die in einigen Schritten erfolgte Rekonstruktion philosophischer Zeittheorien hatte – wie angedeutet – nicht die Funktion einer philosophie- und ideengeschichtlichen Heranführung an das Zeitthema. Sie beabsichtigt vielmehr, einige Denkmatrizen und grundlegende Konzeptualisierungsprobleme bei der theoretischen Erfassung von Zeit zu berücksichtigen. Als Ergebnis können zwei Aspekte festgehalten werden, die gemeinsam offenbar eine anspruchsvolle Zeittheorie ausmachen: die Frage des operativen Charakters von Zeit und das Problem der paradoxen Form, die Beschreibungen von Zeit annehmen. Bevor ich auf diese beiden Aspekte zu sprechen komme, sei noch auf die Begriffe Verinnerlichung und Modalisierung der Zeit eingegangen, die ich meiner kurzen Rekonstruktion vorangestellt habe. Es läßt sich im Laufe der geistesgeschichtlichen Entwicklung philosophischer Zeitbegriffe eine Tendenz von der ontologischen Frage nach dem Sein der Zeit (vgl. Aristoteles, Phys. IV: 217b) über die theologische Frage nach dem Schöpfer der Zeit (vgl. Augustinus 1982: 304f.) zu einer epistemologischen Frage nach dem Bewußtsein von Zeit (vgl. Husserliana X: 10) beobachten. Man kann hier von einer Entwicklung im Sinne einer Verinnerlichung der Zeit sprechen. Den Begriff Verinnerlichung verwende ich im Sinne von Walter Schulz, der in der gesamten philosophischen Entwicklung eine Tendenz ausmacht, die von den unendlich und absolut gültigen Prinzipien der Metaphysik zu den Konzeptionen der endlichen Innerlichkeit in der Bewußtseins- und Existenzphilosophie führt (vgl. Schulz 1972: 253).37 Neben der Verinnerlichung läßt sich eine Modalisierung der Zeit darin beobachten, daß die Konzepte immer stärker die gegenwartsbasierte Konstitution von Vergangenheit und Zukunft betonen. Ist bei Aristoteles die Gegenwart, das Jetzt, noch derjenige analytische Bezugspunkt, an dem etwas sein kann, so hat die Gegenwart bei Augustinus schon den qualitativen Charakter, Macht über die Vergangenheit und Zukunft dieser Gegenwart auszuüben. Die drei temporalen Extensionen bezeichnen nichts „Objektives“, verstanden im 37
Der Terminus der Verinnerlichung der Zeit als denkgeschichtlicher Bewegung wird hier im gleichen Kontext gebraucht wie an anderer Stelle im Zusammenhang mit einer Verinnerlichung der Todeserfahrung (vgl. Nassehi/Weber 1989: 145). Wie dort ließe sich auch bezüglich der philosophischen Konzeptualisierung von Zeit im einzelnen zeigen, daß in langen semantischen Transformationsprozessen Zeit von einem universalen Weltfaktum zu einem Derivat innersubjektiver Konstitutions- und Konstruktionsprozesse wird. Einer genaueren Erörterung dieser These kann und muß hier jedoch kein Raum gegeben werden.
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Sinne einer bewußtseinsunabhängigen Realität. Sie sind als Modalzeiten vielmehr „Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen, Gegenwart des Zukünftigen“ (Augustinus 1982: 318). Zwar steht auch bei Augustinus noch die ontologische Frage nach dem Sein der Zeit und damit das Paradoxon der Identität von Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem im Vordergrund, doch ist hier die Modalität der Zeit als gegenwartsbasierter Konstitution von Vergangenheit und Zukunft bereits vorbereitet und findet seinen Höhepunkt in Husserls Betonung der Urgegenwart als wesentlichem analytischen Bezugspunkt für die Beschreibung der Zeitentstehung im Bewußtsein. Der Aspekt der Modalisierung der Zeit verweist bereits auf ihren operativen Charakter. Operativ nenne ich Zeit deshalb, weil es die Operationen des Bewußtseins selbst sind, die die Zeit hervorbringen. Keine der dargestellten Zeittheorien geht davon aus, daß Zeit schlicht als Seiendes vorhanden ist. Selbst Aristoteles bindet das Sein der Zeit an eine zählende Seele (vgl. Aristoteles, Phys IV: 223a). Und spätestens mit Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, die die Konstitution von Zeit durch operative Akte des Bewußtseins nachweist, läßt sich Zeit nicht mehr als etwas begreifen, das unabhängig von sie konstituierenden Akten begriffen werden könnte. Ungelöst scheint mir bis jetzt allerdings noch die Frage zu sein, wie man die – wenn ich so sagen darf – operative Basis der Zeit konstituierenden Einheit beschreiben soll. Während sich Aristoteles aufs ontologische Seinsprinzip und Augustinus auf den göttlichen Ursprung alles Seienden verlegen, während Bergson ein nachgerade mystischer Bergiff der fließenden inneren Dauer zur Verfügung steht, weichen Kant und Husserl auf die Transzendentalisierung subjektiver Strukturen aus, die es erlauben, die Konstitution der Zeit gewissermaßen als Derivat einer transzendentalen, und das heißt in letzter Konsequenz: empirisch nicht erläuterungsbedürftigen Einheit anzusetzen. Allein bei Husserl sind Anklänge einer Transformation der transzendentalphilosophischen Regreßvermeidung in Richtung einer empirisch operablen Theorieanlage zu entdecken, die sich auf empirische Akte eines die Zeit hervorbringenden Bewußtseins einlassen könnte. Es scheint dabei nicht mehr um die theorietechnische Plausibilisierung der Identität von Ungleichzeitigem zu gehen, sondern um die empirisch-operative Beschreibung der Differenz von Ungleichzeitigem, die temporale Identität allererst erzeugt. Wie ich mit Manfred Franks Versuch einer Detranszendentalisierung von Husserls Bewußtseinsphilosophie angedeutet habe, sieht sich die operative Zeittheorie einer Paradoxie ausgesetzt. Diese entsteht laut Frank dadurch, daß Husserl nach dem klassischen Reflexionsmodell operiert, das Fremd- und Selbstbewußtsein analog behandelt: Wie sich Intentionalität auf Äußeres richtet, geht es auch mit sich selbst um – mit der Konsequenz, daß sie von ihrer Gegenwart kein Bewußtsein haben kann (vgl. Frank 1990a: 54ff.). Frank sieht eine Alternative darin, daß man die metaphysikverdächtige Urpräsenz des Präsens durch ein Konzept des ursprünglichen Mit-sich-vertraut-Seins des Individuums ersetzt, dem ein Bewußtsein seiner Gegenwart durch diese Unmittelbarkeit zu sich selbst gegeben ist. Ich habe offen gelassen, ob dies ein praktikabler Weg ist, die Paradoxie der Selbstreflexion zu vermeiden. Obwohl ich auf dieses Problem weiter unten noch ausführlich zu sprechen komme (vgl. III.2a), melde ich dennoch hier schon Zweifel an, denn auch die Franksche Vertrautheitsannahme scheint der Paradoxie der Zeit – Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – nicht entgehen zu können (vgl. Frank 1990: 134). Ferner bietet auch sie keinen Weg an, die paradoxe Situation zu vermeiden, daß die Zeit konstituierende Zeitstelle der Ge-
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I. Kapitel
genwart zu dem temporalen Zusammenhang gehört, den sie als temporalen Zusammenhang konstituiert. Jede Bewußtseinsoperation, die durch retentionale und protentionale Akte zustande kommt, findet als Operation in der Zeit statt, deren Sukzession sie erzeugt. Bei der Darstellung der behandelten Ansätze habe ich diesen selbstbezüglichen Sachverhalt in dem Nachweis ausgedrückt, daß die Beschreibung von Zeit stets temporale Bestimmungen trägt. Indem man dies theoretisch sichtbar macht, wird zugleich deutlich, daß die philosophischen Entwürfe stets mit Paradoxievermeidungstechniken arbeiten, die allesamt empirisch wenig operabel sind. Ob Aristoteles die Differenz der Jetztpunkte mit dem Zahlbegriff erläutert, ob Augustinus die Zeit als Geschöpf Gottes ansieht, ob Kant Zeit als transzendentale Bedingung ansieht, ob Bergson sie im Leben fundiert sieht und ob Husserl den transzendentalen Ursprung der intentionalen Urimpression betont, stets geht es darum, die Paradoxie der Selbstbezüglichkeit der operativen Zeit theoretisch unsichtbar zu machen. Allerdings entziehen sich – wie schon gesagt – diese Invisibilisierungstechniken empirischer Evidenz. Lediglich die operativen Aspekte der Zeitkonstitution selbst scheinen diese zu besitzen, und damit stellt sich die Frage, ob nicht die Struktur der Zeitkonstitution selbst paradox und selbstbezüglich ist. Der weitere Gang der Untersuchung wird aufzuweisen haben, wie ein empirisch brauchbarer Zeitbegriff konzipiert sein muß, der die Paradoxie der operativen Zeit erträgt und mit ihr entsprechend umgehen kann. Ist die Unmöglichkeit der paradoxiefreien Beschreibung der Zeit zunächst eingesehen, bleibt noch einmal zu betonen, daß eine detranszendentalisierte Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins selbst auch noch einen blinden Fleck aufweist, nämlich die im VertrautSein-mit-sich-selbst fundierte Selbstgegenwart in der Zeit. Ich habe bereits oben als Hypothese angedeutet (vgl. I.1), daß die Definition von Zeit offenbar nicht zirkelfrei vonstatten gehen kann. Das wird hier jedoch nicht zum Anlaß genommen, nach weiteren Urgründen zu suchen, sondern schlicht die Unmöglichkeit einer Bestimmung der Zeit hinzunehmen, in der definiens und definiendum nicht zumindest partiell zusammenfallen. Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins scheint – auf dem jetzigen Stand der Untersuchung – für diese Erkenntnis die anspruchsvollste, weil am weitesten detranszendentalisierbare Möglichkeit zu bieten. Die Entontologisierung des Zeitbegriffs zugunsten eines operativen Zeitverständnisses scheint der ontologischen Naivität des alltäglichen Umgangs mit temporalen Topoi jedoch einigen Schaden zuzufügen. Es scheint nicht mehr ohne weiteres möglich zu sein, Zeit als etwas Reales unter anderem Realem zu behandeln, als etwas, das immer schon existiert und dessen substantielle Merkmale einer wissenschaftlichen Beobachtung zugänglich zu machen sind. Spätestens seit Husserl kann man Zeit und Zeitbewußtsein nicht mehr anders als unter den operativen Aspekten eines sukzedierenden Bewußtseinsstromes denken, der per Eigentemporalität die Einheit seiner selbst herstellt. Der weitere Gang der Untersuchung auf dem Wege zu einer soziologischen Theorie der Zeit hat exakt an dieses Ergebnis anzuschließen, wobei zu bedenken ist, daß mit der Erläuterung bewußtseinsmäßiger Temporalitäten die Frage der sozialen Zeit noch gar nicht berührt wurde.
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II. Kapitel: Intersubjektive und soziale Zeit
Die bisherigen Überlegungen orientieren sich allein an der Frage, wie ein Bewußtsein seine Zeitlichkeit durch Akte in der Zeit operativ konstituiert. Einer soziologischen Theorie der Zeit scheint dieser Befund einer bewußtseinsbasierten Selbstkonstitution von Zeit jedoch zunächst den Boden unter den Füßen zu entreißen, denn wie soll die Brücke von der bewußtseinsbasierten Konstitution von Zeit zu den gesellschaftlich wirksamen Temporalitäten – man denke nur an die Uhrzeit – zu schlagen sein, wenn man aus epistemologischen Gründen reale Zeit nicht mehr annehmen kann? Als real bezeichnet die philosophische Tradition bekanntlich Seiendes, das unabhängig von seiner bewußtseinsmäßigen Repräsentation existiert.1 Der theoretische Zugang zu einer solchen realen Zeit scheint aber auf den ersten Blick die conditio sine qua non einer soziologischen Theorie der Zeit zu sein, für die die bewußtseinsmäßige Konstitution von Dauer nur von sekundärer Bedeutung sein dürfte. Ich werde dazu zunächst kurz auf die Diskussion der analytischen Philosophie um die Irrealität bzw. Realität der Zeit eingehen (1.). Danach wende ich mich der Entwicklung von der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zur Phänomenologie des intersubjektiven Zeitbewußtseins zu (2.) und komme dabei auf Husserl zurück, dessen Phänomenologie ihre egologische Beschränkung durch eine Theorie der Intersubjektivität zu überwinden sucht, anhand derer sich auch die Zeit des anderen phänomenologisch aufweisen lassen soll. Daran schließt eine kritische Analyse der Adaption und Weiterentwicklung der Husserlschen Intersubjektivitätstheorie durch Alfred Schütz an. Schließlich frage ich im Anschluß an George Herbert Meads Handlungstheorie und Alfred North Whiteheads Prozeß- und Ereignisphilosophie nach der epistemologischen Relativität und der Sozialität und praktischen Intersubjektivität der Zeit (3).
1.
Irrealität vs. Realität der Zeit. McTaggart vs. Bieri
Der philosophiegeschichtliche Wandel von der ontologischen Realität in Richtung transzendentaler Konstruktivität der Zeit destruiert die Möglichkeit, Zeit naiv als gegebene Realität der Welt vorauszusetzen. Zumindest für die wissenschaftliche Beobachtung der Zeit stellen sich – trotz der experimentellen Brauchbarkeit der Annahme der Zeit als eines homogenen Kontinuums in der Newtonschen Physik – neue Unsicherheiten und Zweifel ein. Diese Unsicherheit geht so weit, daß – etwa gleichzeitig mit Husserl – der Cambridger Philosoph J.M.Ellis McTaggart (1908) die Irrealität der Zeit nachzuweisen versuchte. Er 1
Für viele andere Formulierungen vgl. das Krönersche Philosophische Wörterbuch (Schmidt 1982: 572): „real (lat.), wirklich objektiv, nicht nur in Gedanken seiend (...).“ Ob ein solches Verständnis von Realität einer soziologischen Theorie standhalten kann, darf nicht unbefragt hingenommen werden. Vgl. dazu ausführlich III.3.
82
II. Kapitel
geht davon aus, daß wir Zeit in zweifacher Weise beschreiben können: zum einen als eine Zeitreihe, die Ereignisse als früher oder später auf einer Zeitachse ordnet, und zum anderen als Positionsbestimmung, die Ereignisse als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig beschreibt. Während die erste temporale Relation – B-Reihe genannt – unveränderlich ist, beschreibt die zweite – A-Reihe – eine veränderliche Struktur, denn das zukünftige Ereignis wird einmal gegenwärtig und schließlich auch vergangen sein (vgl. McTaggart 1927: 9f.). McTaggart meint nun, daß von Zeit nur im Zusammenhang mit der Bestimmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Rede sein könne, denn es gebe nichts, worauf sich der Terminus Zeit beziehen könne, wenn Ereignisse nur früher oder später abliefen (vgl. ebd.: 15f.), denn Zeit setzt Veränderung voraus. „(...) there could be no time if nothing changed“ (ebd.: 11). Veränderung aber läßt sich nicht per Früher/später-Relationen beschreiben, sondern durch das, was man metaphorisch den Zeitfluß nennt: die Veränderung des Seienden in Richtung des Zukünftigen, wodurch der Eindruck eines Zeitflusses von der Zukunft über die Gegenwart in Richtung der Vergangenheit erzeugt wird. Diese ontologische Festlegung – an die aristotelische Zeittheorie anschließend (vgl. I.2a) – sieht sich mit der bekannten Schwierigkeit konfrontiert, die Relation zweier Ereignisse als Veränderung zu interpretieren, ohne damit die Ereignisse in mystischer Weise sich ineinander verschmelzen zu lassen. Wieder tritt also hier das Problem der temporalen Identität differenter Ereignisse auf den Plan, das sich zirkelfrei offenbar nicht lösen läßt. McTaggarts Intention ist es, mit der Feststellung, daß ein bloßes früher/später von Ereignissen (B-Reihe) noch keine Veränderung erklären kann, die A-Reihe im Hinblick auf ihre Erklärungskraft zu testen. Denn wenn diese widerspruchsfrei Veränderung erklären kann, darf man der Zeit getrost das Siegel der Realität anheften, was jedoch bei negativem Befund zu folgendem Ausschlußbeweis führt: „If there is no real A series, there is no real change. The B series, therefore, is not by itself sufficient to constitute time, since time involves change.“ (ebd.: 13) Laut McTaggart läßt sich jedoch auch die A-Reihe nicht zirkelfrei bilden, denn auch der „Zeitfluß“ von der Zukunft über die Gegenwart in Richtung der Vergangenheit läßt sich nicht ohne die Voraussetzung zeitlicher Veränderung beschreiben. Daraus zieht McTaggart die erstaunliche Konsequenz, durch die Unmöglichkeit, Zeit zirkelfrei zu beschreiben, sie für irreal zu erklären. Mit Bieri kann man diesen Gedankengang auf die Formel bringen, „daß die einzig denkbare reale Veränderung diejenige der Zeit selber sei und daß diese sich deshalb selber voraussetze“ (Bieri 1972: 28). In seiner vielbeachteten Arbeit „Zeit und Zeiterfahrung“ hat Bieri die Diskussion im Anschluß an McTaggarts Irrealitätsbeweis der Zeit systematisiert. Diese Diskussion spielt für meinen Gedankengang keine Rolle, lediglich Bieris Pointe mag als Überleitung zu einer erneuten Auseinandersetzung mit Husserl dienen, nun aber im Hinblick auf die soziologische Potenz der phänomenologischen Zeittheorie. Bieri zeigt, daß McTaggarts Irrealitätsbeweis der Zeit von einem Widerspruch ausgeht, den er selbst erzeugt (vgl. ebd.: 67). Bieri meint den Nachweis zu erbringen, daß sich schon die B-Reihe als einfache Sukzession von Ereignissen widerspruchsfrei als real beschreiben läßt. Er stützt seine These auf die Aussage, daß – anders als McTaggart behauptet – keine logische Abhängigkeit der B-Reihe von der A-Reihe vorliegt. „Es ist nicht widersprüchlich anzunehmen, daß die Ereignisse der Realität in B-Relationen zueinander stehen,
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ohne A-Bestimmungen zu tragen und dem zeitlichen Werden zu unterliegen.“ (ebd.: 55) Zumindest kann eine solche Widerspruchsfreiheit eingesehen werden, wenn man das hier zugrunde gelegte Realitätsverständnis als Bewußtseinsunabhängigkeit des Seienden teilt. Es gilt dann umgekehrt: „Die A-Reihe (...) impliziert logisch B-Relationen, da die Struktur von früher-später ihr Konstruktionsprinzip ist.“ (ebd.; Hervorh. A.N.) Die Zeitreihen sind damit nicht aufeinander reduzibel, jedoch muß eine reale B-Reihe der Konstitution von A-Bestimmungen immer schon vorausgehen. Damit Ereignisse als zukünftig, gegenwärtig oder vergangen beobachtet werden können, müssen sie bereits – beobachtungsneutral – nach Früher/später-Relationen geordnet sein. So kommt Bieri also zu dem Ergebnis, daß man zwar die B-Reihe als real voraussetzen kann, was aber keineswegs impliziert, daß die A-Reihe nicht real sei. Sie kann – ebenfalls widerspruchsfrei – als beobachtungsrelative Darstellungsform zeitlich realer Sukzessionen gedacht werden – selbst real, weil ihr Konstruktionsprinzip real ist. Folgt man Bieri bis hier, ergeben sich entscheidende Konsequenzen für Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Ohne Zweifel läßt sich Husserls Zeitverständnis in McTaggarts Begrifflichkeit nur in Form einer A-Reihe darstellen (vgl. Bieri 1972: 189). Stimmt jedoch Bieris Annahme, daß einer A-Reihe immer schon eine B-Reihe als Konstruktionsprinzip vorausgeht, stellt sich für ihn die Frage, inwiefern Husserl in seiner Beschreibung der retentionalen, urimpressionalen und protentionalen Zeitkonstitution auf Zeitstrukturen rekurriert, „die nicht erst durch sie konstituiert sein können“ (vgl. ebd.: 191), und inwiefern Husserl diese Voraussetzung konzeptionell machen muß, obwohl sie seinem Programm kategorial widerspricht. Bieri zeigt, daß Husserl, um das innere Zeitbewußtsein in der beschriebenen Form konzeptualisieren zu können, nicht ohne die Annahme einer realen Zeit im Sinne der B-Reihe auskommt. Denn die retentionale und protentionale Darstellung von Daten ist auf einen „Nachschub von Daten“ (ebd.: 198) angewiesen, den man kaum anders denn als geordnet nach B-Relationen denken kann.2 Damit ist jedoch, so Bieri weiter, noch keineswegs geklärt, „ob für eine deskriptive Theorie der Zeiterfahrung der Rekurs auf reale B-Relationen genügt, oder ob sie auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als reale Zeitcharaktere erfordert“ (ebd.: 199). Wie die Analyse von McTaggarts Irrealitätsbeweis der Zeit ergeben hat, wäre es durchaus möglich, der A-Reihe, als die sich das sich selbst reflektierende innere Zeitbewußtsein darstellt, den Charakter einer realen Zeitstruktur zu verleihen. Die bloße Deskription des Phänomens läßt dies evident erscheinen, weil „jede Darstellungsweise des Bewußtseins A-Bestimmungen konstituiert“ (ebd.: 200). Folgt man Bieri, dann teilt man zwar Husserls Grundannahmen der Konstitution des inneren Zeitbewußtseins, verwirft jedoch die Ausschaltung der objektiven und realen Zeit. Bevor dieses Ergebnis Bieris auf seine Plausibilität hin geprüft werden kann, ist ihm in seiner weiteren Argumentation zu folgen. Beschränkt man sich wie Husserl auf eine „bloße 2
Bieri rekurriert bei dieser Diagnose auf eigene Bemerkungen Husserls, die sich durchaus in der angedeuteten Richtung interpretieren lassen, etwa aus § 11 der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins: „An jede dieser Retentionen schließt sich so eine Kontinuität von retentionalen Abwandlungen an, und diese Kontinuität ist selbst wieder ein Punkt der Aktualität, der sich retentional abschattet.“ (Husserliana X: 29) Eine andere Stelle aus der Beilage Nr. 50: „Die Wandlung besteht darin (...), daß stetig ein immer neues Ton-Jetzt das in Modifikation übergegangene ablöst.“ (ebd.: 326)
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II. Kapitel
Deskription des Phänomens“ (ebd.), so bleibt letztlich die Frage nach der Realität der A-Reihe – wenn sie auch als denkmöglich erscheint – unentscheidbar. „Denn wie soll man entscheiden können, ob das Bewußtsein, auch wenn es sich gar nicht anders denn als selber zeitlich geordnet beschreiben kann, in dieser Selbstauslegung nicht einfach nur der Universalität seiner zeitlichen Verfassung verfällt?“ (ebd.: 202) Diese Unentscheidbarkeit trachtet Bieri zu umgehen, indem er von Deskription auf Erklärung umstellt. Nicht Erklärung im Sinne der deduktiven Nomologie hat Bieri hier im Sinn. Eine solche müßte nämlich auf allgemeine Gesetze zurückgreifen können, die Zeit bereits voraussetzen. Wollte man damit die Realitätsfrage der Zeit entscheiden, beginge man eine petitio principii. Bieri geht es vielmehr um die „Nennung und Spezifizierung der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Phänomen“ (ebd.: 203).3 Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß die Deskription des Bewußtseins, insbesondere seine Selbstbeschreibung, immer eine A-Reihe benötigt, daß man aber für eine Erklärung nur reale B-Reihen zugrunde legen muß. Denn damit sich eine Abfolge von Daten im Bewußtsein als A-Reihe darstellt, muß diese bereits nach B-Relationen geordnet sein – dieses Argument ist schon aus der Deskription bekannt. Die Erklärung soll nun zeigen, daß die A-Reihe nichts anderes ist als eine vom Bewußtsein modifizierte B-Reihe, so daß zweitere als Bedingung der Möglichkeit der ersteren gelten kann. Damit kommt also auch die sogenannte Erklärung zu dem Ergebnis, daß Zeitbewußtsein (A-Reihe) ein Derivat der realen Sukzession von Ereignissen ist. Es entsteht demnach eine gewisse Divergenz, je nachdem ob man phänomenologisch beschreibt oder im Sinne Bieris erklärt, was hier nichts anderes zu bedeuten scheint, als die Binnenperspektive des temporal operierenden Bewußtseins zu verlassen. Diese Divergenz temporaler (Selbst-)Beschreibung und Erklärung legt für Bieri „die Vermutung nahe, daß es sich bei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schließlich doch nur um Darstellungsmodi von Subjektivität handelt, obwohl, entgegen McTaggarts Meinung, ein schlüssiger Irrealitätsbeweis für diese Zeitstruktur nicht geführt werden kann. In diesem Fall würde der gegen die Bewußtseinstheorie geltend gemachte transzendentale Gesichtspunkt immerhin in diesem Punkt zutreffen: Die Selbstauslegung des Bewußtseins, müßte man nun sagen, verfällt in der Deskription einer nur ihm eigentümlichen Zeitstruktur“ (ebd.: 211). Die wirklich reale Zeit eines Bewußtseins scheint also diesem nicht transparent werden zu können. Nur ein Beobachter kann sie sehen. Bieris realistische Lösung des Zeitproblems besagt folgerichtig, daß das Zeitbewußtsein im Sinne Husserls als Mannigfaltigkeit bewußter Daten, die sich nach A-Bestimmungen darstellen, zu verstehen ist und daß diese Daten eigentlich nach B-Relationen geordnet sind, die als Konstruktionsprinzip der ersteren Bestimmungen deren reale Basis darstellen (vgl. ebd.: 217). Bieri meint, mit dieser Lösung die aporetischen Konsequenzen der Annahme der zeitlosen Subjektivität der Husserlschen Transzendentalphänomenologie zu umgehen. Zweifellos kommt ihm das Verdienst zu, gezeigt zu haben, daß das Subjekt selbst in der Zeit ist. 3
Ob der Terminus „Erklärung“ für diesen Sachverhalt glücklich gewählt ist, scheint mir zweifelhaft – auch wegen der wissenschaftstheoretischen Konnotationen, die dieser Begriff beinhaltet (vgl. nur Riedel 1978: 9ff. et passim; Apel 1979; Schwemmer 1987: 93ff.; Stegmüller 1969: 72ff.). Glücklicher wäre es gewesen, sich auf die „notwendigen und hinreichenden Bedingungen“ der Möglichkeit zu beschränken. Vielleicht will Bieri eine zu starke Anlehnung an die Begrifflichkeit der transzendentalen Methode Kants vermeiden. Er kommt jedoch trotzdem nicht umhin, auf diese Parallelität selbst aufmerksam zu machen (vgl. Bieri 1972: 203, Anm. 14).
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Doch scheint mir die Annahme der Realität der Basis dieses In-Seins selbst wieder ähnliche Funktionen zu haben wie Husserls Annahme der Nicht-Zeitlichkeit der absoluten Subjektivität, nämlich eine paradoxe bzw. infinit regressive Beschreibung von Zeit zu vermeiden. Die Annahme einer vorgängigen Realität der Geordnetheit von Ereignissen nach Früher/später-Relationen wird selbst zum Erklärungsgrund für die Temporalität des Bewußtseins, das seine Einheit durch die temporale Identität temporaler Identität und Differenz selbst konstituieren muß. Selbstverständlich hat Bieri Recht, wenn er sagt, daß der Protentions-, Impressions- und Retentionsprozeß nach einer B-Reihe geordnet ist; und selbstverständlich ist es richtig, daß das Bewußtsein sich selbst, gerade weil es in der Zeit ist, nur durch A-Bestimmungen beschreiben kann. Aber die bloße Geordnetheit von Ereignissen nach B-Relationen und ihre Abbildung als A-Reihe schöpfen noch nicht den Charakter dessen aus, was man Zeit nennt. Die These von der Realität der B-Reihe führt wiederum nur zu dem paradoxen Phänomen, daß die Zeit sich selbst voraussetzt. Mit Recht moniert Frank in „Peter Bieris Konstruktion ein(en) irgendwie mystische(n) Übergang vom Realen/Unbewußten zum Bewußten“ (Frank 1990a: 52). Zwar hat Husserl ohne Zweifel – dies bemerkt auch Frank – Schwierigkeiten, umgekehrt von der bewußten Zeit zur Zeit außerhalb des Bewußtseins zu gelangen. Doch es bleibt das Problem, daß die theoretische Durchdringung des Zeitproblems notwendigerweise die paradoxe Form annimmt, Zeit schon voraussetzen zu müssen. Dies gilt sowohl für die – dank Bieris luzider Argumentation widerspruchsfreie – Annahme einer realen Ereignisstruktur, in der Ereignisse entweder früher oder später sind, als auch für die vermeintlich zeitlose Selbstgegenwart des individuellen Bewußtseins – so das Ergebnis meines Versuchs der „Minimalisierung“ der absoluten Subjektivität Husserls mit Frank (vgl. I.2e). Was Bieri als reale Zeit ausgibt, ist diejenige Zeit, die theoretisch immer schon nötig ist, um die Konstitutionsbedingungen und Erscheinungsformen von Zeit auszuleuchten. Sie ist – gemäß dem, was er Erklärung nennt – diejenige notwendige Bedingung der Möglichkeit, Zeit zu erklären, gleichwohl zirkulär, weil diese Bestimmung selbst das voraussetzt, als dessen Möglichkeitsbedingung sie fungiert. Aus dem Gesagten könnte sich auch folgende Interpretationsmöglichkeit ergeben: Husserls Ausschaltung der objektiven Zeit tritt, wie ich gezeigt habe, explizit mit dem Anspruch auf, die objektive Zeit nicht kategorial vorauszusetzen. Nur „erscheinende Dauer“ ist er bereit hinzunehmen, nicht jedoch „die Existenz einer Weltzeit, die Existenz einer dinglichen Dauer u. dgl.“ (Husserliana X: 5). Es wäre denkbar anzunehmen, daß trotz der methodischen Ausschaltung der objektiven Zeit sich die Notwendigkeit für die Annahme eines Nacheinanders von konstituierten Daten ergibt, das nicht durch das Bewußtsein selbst konstituiert wird. Es bildet vielmehr den Grund für die protentionalen und retentionalen Konstitutionsleistungen des Bewußtseins. Ohne Zweifel bilden die verschiedenen je gegenwärtigen Operationen des Bewußtseins eine sukzedierende B-Reihe, denn jedes Jetzt ist früher als das Protendierte und später als das Retendierte. Damit bestätigt sich meine Voraussetzung eines präreflexiven Bewußtseins, das sich sowohl je gegenwärtig gegeben ist, als auch ohne die Intentionalität einer von ihm unterschiedenen Instanz in der Zeit ist. Damit scheint die objektive Zeit, das, was Bieri die reale B-Reihe nennt, in der phänomenologischen Analyse nach ihrer Ausschaltung wieder auf den Plan zu treten: als das offenbar universale Paradoxon, zur Beschreibung der Zeit diese voraussetzen zu müssen. Jedoch wird die Konstitutionsleistung des Bewußtseins unterschätzt, wenn man wie Bieri die be-
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wußtseinsmäßige Herstellung einer immanenten Zeit auf eine Abbildungs- und Darstellungsform von B-Reihen reduziert. Man muß zwar theoretisch konzedieren, daß der Wechsel von urimpressionalen Gegenwarten nach B-Reihen geordnet ist, jedoch bildet das Bewußtsein nicht diese als A-Reihe ab, sondern konstituiert selbst einen Fluß, der zwar darauf angewiesen ist, daß es ein Nacheinander von Ereignissen gibt. Jedoch muß die protentionale, retentionale und – nicht zu vergessen – die wiedererinnernde Form der Selbstherstellung temporaler Einheit des Bewußtseins als qualitativ eigenständige Konstitutionsleistung angesehen werden, die nicht durch ihre theoretische Möglichkeitsbedingung verbürgt ist. Wer mit Bieri diese operative Binnenperspektive des sich selbst temporalisierenden Bewußtseins verläßt, geht theoretisch derjenigen konstituierenden Mechanismen verlustig, durch die Zeitbewußtsein, Zeithorizonte und zeitliche Einheit erst entstehen. Die B-Reihe ist in der Tat nur eine Bedingung, es muß jedoch auch geklärt werden, wofür. Diese Perspektive scheint die Position der analytischen Philosophie, wie sie Bieri vertritt, nicht zu haben.4 Bieris Bemühung um den Nachweis einer realen Zeitstruktur hat noch eine bisher unerwähnt gebliebene Intention, nämlich die Frage zu klären, wie eine transindividuelle, intersubjektive Zeitstruktur möglich ist. Bieris Antwort lautet, daß dieses Problem erst recht die Annahme realer Zeitverhältnisse erfordert, sonst könnten sich verschiedene Personen nicht auf die Gegenwart eines Ereignisses beziehen. Die Frage, ob „sich die Intersubjektivität von Zeiterfahrung verständlich machen (läßt), wenn man an der transzendentalen Reduktion von Zeit auf einen Modus von Subjektivität festhält“ (Bieri 1972: 213), beantwortet Bieri konsequenterweise dahingehend, daß er die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, auf die sich verschiedene Personen beziehen, nur durch die nicht bewußtseinsbasierte Realität von Zeit verbürgt sieht. Bieri schenkt sich – aus naheliegenden Gründen – eine ausführliche Auseinandersetzung mit Husserls Versuch, Intersubjektivität transzendentalphilosophisch zu begründen. Ich werde mich zur weiteren Klärung des Problembereichs im folgenden diesem Denkversuch zuwenden. Das Problem der Realität der Zeit – das sei hier betont, ohne damit der Argumentation vorzugreifen – ist mit dem Gesagten noch nicht erschöpfend behandelt. Bis jetzt soll die Annahme einer solchen Realität lediglich dafür stehen, daß die Konstitution von Zeit das Konstituierte bereits voraussetzt. Unter soziologischen Gesichtspunkten werde ich auf das Problem der Realität der Zeit ausführlich zurückkommen (vgl. III.3).
2.
Von der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zur Phänomenologie des intersubjektiven Zeitbewußtseins
a)
Monadologische Intersubjektivität und Kopräsenz. Husserl
Das transzendentale Verfahren der Phänomenologie mit seiner methodischen Beschränkung auf Bewußtseinsphänomene stellt sich – nicht nur auf den ersten Blick – als transzendentaler Solipsismus dar, für den der andere, alter ego, zunächst konzeptionell ausfällt. So be4
Dieses Argument mag hier noch recht apodiktisch klingen. Ich werde es jedoch weiter unten noch einmal aufnehmen (vgl. III.3c).
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ginnt Husserl die fünfte Cartesianische Meditation, die sich die Aufgabe der Enthüllung der transzendentalen Seinssphäre als monadologische Intersubjektivität vornimmt, mit selbstkritischen Fragen: „Wenn ich, das meditierende Ich, mich durch die phänomenologische epoché (i. Orig. griechisch, A.N.) auf mein transzendentales ego reduziere, bin ich dann nicht zum solus ipse geworden, und bleibe ich es nicht, solange ich unter dem Titel Phänomenologie konsequente Selbstauslegung betreibe? Wäre also eine Phänomenologie, die Probleme objektiven Seins lösen und schon als Philosophie auftreten wollte, nicht als transzendentaler Solipsismus zu brandmarken?“ (Husserliana I: 121) Würde damit nicht der einzelne als geschlossenes ego, als abgeschlossene Einheit ohne Fremdkontakt, permanent um sich kreisen, ohne die Möglichkeit, je aus diesem Zirkulieren zu entkommen? Wären wir vor allem nicht mehr das, als was wir uns in alltäglicher Naivität immer schon beschreiben: als andere unter anderen? „Aber wie steht es denn mit den anderen egos, die doch nicht bloße Vorstellung und Vorgestelltes in mir sind, synthetische Einheiten möglicher Bewährung in mir, sondern sinngemäß eben Andere. Haben wir also dem transzendentalen Realismus nicht Unrecht getan?“ (ebd.: 19) Husserl sieht die Schwierigkeit, von einer rein egologischen Untersuchungsmethode her, die alles sogenannte „Äußere“ durch phänomenologische Reduktion nur als intentionalen Bewußtseinsinhalt gelten läßt, das Problem einer gemeinsamen Welt angemessen zu behandeln. Es ist für Husserl unmittelbar evident, daß wir die subjektiv konstituierte Welt immer schon als gewissermaßen objektive Welt behandeln. In den „Ideen“ führt Husserl den Begriff einer intersubjektiven natürlichen Umwelt ein. Es gilt: „All das, was von mir selbst gilt, gilt auch, wie ich weiß, für alle anderen Menschen, die ich in meiner Umwelt vorhanden finde.“ (Husserliana III: 61) Diese natürliche Evidenz der Welt als Welt für alle beschreibt Husserl hier zunächst als Bestandteil der natürlichen Einstellung, also der vorphänomenologischen Einstellung, in der wir die Welt in „natürlicher Naivität“ des alltäglichen Umgangs hinnehmen, wie sie eben ist. Wie läßt sich dieser Bestandteil der „Generalthesis der natürlichen Einstellung“ (ebd.: 62) jedoch nach der phänomenologischen Reduktion, d.h. nach seiner „Ausschaltung“ und „Einklammerung“ wieder auffinden? Wie läßt sich der Vorwurf des Solipsismus zurückweisen, ein Vorwurf, der, sollte er zutreffen, wesentliche Bestandteile menschlicher Bewußtseinstätigkeit als phänomenologisch nicht bearbeitbar brandmarken würde? In der Beilage Nr. 20 der Krisisschrift erläutert Husserl, daß sich ein angemessener Weltbegriff nur dann formulieren läßt, wenn man zweierlei bedenkt: Zum einen kann der Begriff Welt niemals nur auf die Subjektivität eines Subjekts reduziert werden, ist für dieses doch Welt immer Welt als Transzendenz, d.h. als die Totalität des Seienden schlechthin. „Die ontologische Weltform ist die der Welt für alle. Jeder kann sie erkennen, wenn er in theoretischer Einstellung sie auslegt, als dieselbe für jedermann.“ (Husserliana VI: 469) An anderer Stelle bestimmt Husserl die Welt denn auch konsequenterweise als das „All der Dinge, (...) der raumzeitlichen ‚Onta‘“ (ebd.: 145). Zum anderen ist jedoch zu bedenken, daß die Erträge der phänomenologischen Denkweise es nahelegen, die Konstitutionsleistungen jener Welt für alle keiner anderen Instanz zuzurechnen als dem jeweiligen Bewußtsein selbst. Der Phänomenologe kann, ja muß wissen, „daß diese ganze Weltgeltung im voraus, in der ich im voraus Mensch unter Menschen bin, Vorstellender unter Vorstellenden, möglicherweise theoretische Welt Erkennender unter Erkennenden, und diese ganze ontologische Weltform, in der Welt für alle ist – für mich allem voraus meine Seinsgel-
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tung ist, ständig Geltendes meines Geltens“ (ebd.: 469). Treffend bemerkt dazu Kurt Rainer Meist, daß Husserls transzendentaler Begründungszusammenhang nur einen „erkenntnistheoretischen, aber keineswegs (...) einen ontologischen Primat des ego cogito“ (Meist 1980: 566) impliziert. Dieser Weltbegriff führt demgemäß nicht zu einer gleichsam objektiven Relativität verschiedener subjektbasierter Welten, sondern nur zu einer Geltungsrelativität der einen Welt, von der wir immer schon wissen, daß sie auch die Welt des anderen Subjekts, die Welt alter egos ist. Um diesen Sachverhalt phänomenologisch ausweisen zu können, muß Husserl Intersubjektivität von der Subjektivität her zu bestimmen suchen. Folgerichtig handelt die fünfte Cartesianische Meditation von monadologischer Intersubjektivität (vgl. Husserliana I: 121ff.). Unter explizitem Rekurs auf Leibniz führt Husserl die Monade als Chiffre für „das gesamte wirkliche und potentielle Bewußtseinsleben“ (ebd.: 102) ein, als diejenige Einheit, von der her die Konstitution von etwas, also auch der Welt gedacht werden muß. Anders als bei Leibniz sind diese Monaden jedoch nicht fensterlose Spiegel der Welt. Sie sind vielmehr gerade nicht fensterlos: „Eine Monade hat also Fenster, um fremde Einwirkungen aufzunehmen“ (Husserliana XIV: 295), und zugleich ist sie an der Konstitution der Welt beteiligt.5 Es ist jedoch sicher kein Zufall, daß Husserl ausgerechnet an der Stelle auf die Monadologie rekurriert, an der er dasjenige in und an der Welt phänomenologisch aufzuweisen versucht, was nicht in toto durch das jeweilige Bewußtsein konstituiert zu sein scheint: den anderen als alter ego. Um die Frage nach der Konstitution und nach dem Seinssinn der objektiven Welt zu klären, muß nach denjenigen monadischen Gegebenheitsweisen gesucht werden, die „objektive Transzendenz“ (Husserliana I: 136), d.h. die Annahme der Existenz einer Welt für alle ermöglichen. Eine Welt für alle stellt sich zunächst als Welt des anderen dar. Husserl geht also von dem jeweiligen ego als selbstgegebenem aus und fragt von diesem „primordialen ego“6 her nach dem anderen bzw. nach anderen überhaupt, also nach egos, die ich nicht bin. „Damit in eins, und zwar dadurch motiviert, vollzieht sich eine allgemeine Sinnesaufstufung auf meiner primordinalen Welt, wodurch sie zur Erscheinung von einer bestimmten objektiven Welt wird, als der einen und selben Welt für jedermann, mich selbst eingeschlossen. Also das an sich erste Fremde (das erste Nicht-Ich) ist das andere Ich.“ (ebd.: 137) Dieses andere Ich bzw. sein phänomenologischer Aufweis eröffnet damit kategorial und „konstitutiv einen neuen unendlichen Bereich von Fremdem, eine objektive Natur und objektive Welt überhaupt“ (ebd.). Ferner eröffnet sich dann die Möglichkeit, die Welt und ihre intersubjektive Konstitution als „Monadengemeinschaft“ zu beschreiben, „und zwar als eine solche, die (...) die eine und selbe Welt konstituiert“ (ebd.). Wird die ontologische Weltform als Welt für alle gedacht, ermöglicht der Gedanke der Konstitution 5 6
Zum Leibnizschen Monadenbegriff vgl. Poser 1984: 117ff. Unter Primordialität versteht Husserl den jeweiligen individuellen Horizont egos, der sich ursprünglich durch die Konstitutionsleistungen des jeweiligen Bewußtseins in der strömenden Gegenwart der immanenten Zeit ergibt. Mit ihm korreliert der Begriff der Urimpression als bewußtseinsmäßige, nicht auf Fremdes reduzible Selbstgegenwart. Zu Sprachgebrauch und Schreibweise bemerkt Held: „Das Adjektiv primordial ist abgeleitet von lat. primordium (=Uranfang, Ursprung, A.N.) und nicht von einem Kompositum mit ordo (=Ordnung, Reihenfolge, A.N.). Die gelegentlich auch bei Husserl auftretende Form ,primordinal‘ ist demnach falsch und sollte aus dem philosophischen Sprachgebrauch verschwinden.“ (Held 1972: 31, Anm. 37) Im folgenden werde ich den korrekten Sprachgebrauch wählen, wörtliche Zitate jedoch selbstverständlich in der von Husserl gestalteten Form wiedergeben.
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der Welt durch eine Monadengemeinschaft das, was man seit Michael Theunissens Studie „Der Andere“ (Theunissen 1981) Sozialontologie nennt. Im Klartext heißt das: Wenn es gelingt, den anderen als alter ego in der monadologischen Struktur egos aufzuspüren, läßt sich ein Ausweg aus dem Dilemma des tranzendentalphilosophischen Solipsismus finden und damit auch ein Weg in Richtung einer soziologischen Theorie der Zeit ebnen. Diesen Weg von ego zu alter beschreitet Husserl innerhalb der Bahnen transzendentaler Bewußtseinsphilosophie. Das einzige, was sich für ihn als unbezweifelbar und absolut darstellt, ist das jeweilige Ich (vgl. Husserliana XIV: 276). Analog dazu muß also in der transzendenten Welt ein anderes Ich in ähnlicher Absolutheit aufgefunden werden, damit das andere Ich auch diejenigen Qualitäten erhalten kann, die es als absolut gelten lassen kann. Die eigentümliche Schwierigkeit, die sich hier stellt, ist die, etwas in der äußeren Welt als Absolutes auffinden zu müssen, was es nach der phänomenologischen Reduktion gar nicht mehr gibt: die äußere Welt und darin Seiendes, kantisch gesprochen das Ding an sich, und alter ego an sich. Husserl behilft sich folgendermaßen: „So ist die Welt einerseits für jedes Ich und zunächst für mich, der ich mich absolut und originär im Ich-bin setzen muss, äussere Welt, aber diese Äusserlichkeit ist nichts anderes als eine im Ich, in seiner Monade, konstituierte Einheit. Aber diese Einheit birgt als einziges Absolutes nur andere Ich.“ (ebd.: 277) Bis hier ist Husserls Annahme nur eine Behauptung. Er muß also begründen, warum das andere Ich als einziges Absolutes nur das andere Ich birgt, ist doch dieses selbst nach phänomenologischer Reduktion nur ein bewußtseinsmäßig Konstituiertes. Ist es dagegen absolut, kann es nicht konstituiert sein. Exakt jenen Mechanismus also, durch den der andere als Absolutes und damit als Möglichkeitsbedingung für Fremdes schlechthin, für Bewußtseinstranszendenz auf den Plan tritt, muß die Phänomenologie der Intersubjektivität plausibilisieren. „Die einzige Weise, wie in meiner immanenten Sphäre ein als ‚wahres Sein‘ Konstituiertes mehr sein kann als eine Einheitsgebung meines individuellen Ich, ist die, dass meine immanent konstituierten Einheiten als ‚Leiber‘ (...) ein zweites Ich rechtmäßig appräsentieren.“ (ebd.) Appräsentation steht bei Husserl für ein unthematisches „Mit-gegenwärtig-machen“ (Husserliana I: 139), unthematisch deshalb, weil es, wie Held formuliert, als nicht aktuell vollzogene Präsentation jede aktuelle Präsentation begleitet (vgl. Held 1972: 9). Man könnte vielleicht von einer mitlaufenden, präreflexiven und -thematischen Hintergrundannahme sprechen, die alle gegenwärtigen Akte muß begleiten können. Der Leib des anderen ist es also, der ein zweites Ich im Originären ermöglicht. Zunächst sehe ich nur einen anderen Körper, der dem meinen gleicht, jedoch mit einem Unterschied: „Mein körperlicher Leib hat, auf sich selbst zurückbezogen, seine Gegebenheitsweise des zentralen Hier; jeder andere Körper und so der Körper des Anderen hat den Modus Dort.“ (Husserliana I: 145f.) Nun ist ein Körper zunächst nichts anderes als ein Ding, das mir als phänomenologisches Datum gegeben ist. Betrachte ich jedoch meinen eigenen Körper, stelle ich fest, daß er sich in entscheidender Weise von anderen res extensae unterscheidet. Er ist als Leib nicht einfach Körper, sondern Mitfungierendes in der Konstitution meines Ich. Ich erfahre meinen Leib nicht als von mir unterschiedenes Ding, er steht vielmehr den Dingen „gegenüber als Organ, und so, dass aller Wechsel dinglicher Gegebenheitsweisen korrelativ bezogen ist auf leibliche Gegebenheitsweisen“ (Husserliana XIV: 413). Entscheidend ist aber, daß ich den Körper anderer analog zu meinem als Leib
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appräsentiere. Es ergibt sich damit ein anderes „Ich, das durch so Erscheinendes als Analogon indiziert und vernünftig als mitdaseiend gesetzt ist“ (ebd.: 277). Ein unthematisch bleibender Analogieschluß auf die dem anderen Leib zugehörige Subjektivität ermöglicht es, daß aus dem wahrgenommenen Dort ein potentielles Hier werden könnte. Ich kann sehen, daß die andere Subjektivität, das andere Ich wie Ich ein Hier ist und daß sein Ich von ihm „als Funktionszentrum für sein Walten ursprünglich konstituiert und erfahren ist“ (Husserliana I: 146). Dieser Analogieschluß setzt am Leibkörper des anderen an und verortet in meiner primordialen Erfahrung diesen fremden Leib als „Appräsentant für den anderen in seiner Primordialität“ (Husserliana XV: 446). Durch diesen Aufweis des anderen als Subjekt der und nicht als Objekt in der Welt wird alter ego zum Mitsubjekt. Es entsteht eine gewisse Deckung meiner primordialen Akte mit denen des anderen, so daß ich meine Welt als Welt für alle erfahren kann. Zugleich muß ich aber erkennen, daß auch der andere in gleicher Weise eine Welt für alle annehmen kann und also diese Welten nicht im Plural vorkommen. Es gibt nur die eine Welt, obwohl jedes ego nur seine primordial reduzierte Welt hat. Diese Welt verbürgt, daß die einzelnen egos andere als Mitsubjekte wahrnehmen und daß sie wechselseitig an der Konstitution eben jener Welt beteiligt sind, die als objektive Welt wiederum Basis für die Mitsubjektivität der anderen ist. Wie in einem Kreisel ergibt sich damit die „Erkenntnis der Identität der erfahrenen Natur der erkennenden Monade und der erfahrenen der erkannten und umgekehrt“ (Husserliana XIV: 267). Die transzendentale Möglichkeit der Intersubjektivität der Welterfahrung führt Husserl zu dem Schluß, daß die bloße Geltungsrelativität der Apperzeption von Welt und der Appräsentation des anderen soziale Ordnung ermöglicht, und zwar eine soziale Ordnung, in der nicht die Monaden als isolierte Einheiten durch eine äußerliche „prä‚etablierte‘ Harmonie“ (ebd.: 266) determiniert werden. Gemäß der phänomenologischen Reduktion auf Bewußtsein denkt Husserl vielmehr von innen her, von der analogen Seinsweise der Ich-Subjekte, die durch ein gemeinsames Eidos, durch ihre wesenhafte Ähnlichkeit, eine gemeinsame Welt konstituieren können. „Die Monaden sind nicht ein bloßer Haufen von isolierten Einheiten mit einer äusserlich ihnen auferlegten Regelung für die in ihnen eintretenden Erlebnisse. Sie ‚richten‘ sich nacheinander.“ (ebd.: 267) Was der eine an Weltkonstitution vorleistet, ist für den anderen vorgegeben und umgekehrt. Durch diese rekursive Beziehung intentionaler Akte bei gleichzeitiger Appräsentation des anderen als alter ego findet sich der einzelne als Subjekt und als Objekt, besser als Subjekt und als Mitsubjekt in einer per se intersubjektiven Welt vor. Welt wird damit zur Lebenswelt als „Welt der schlichten intersubjektiven Erfahrungen“ (Husserliana I: 136), wie Husserl in der Krisisschrift schreibt. Das Gesagte soll zunächst genügen, um Husserls Bemühung des gleichzeitigen Aufweises einer „Idee vollkommenen einzelsubjektiven Seins innerhalb einer unendlich vollkommenen intersubjektiven Allgemeinschaft“ (Husserliana XV: 379) zu skizzieren. Erwähnt sei lediglich noch, daß Husserl das Sein einer objektiven Welt und damit die Möglichkeitsbedingung einer historisch konkreten Lebenswelt in seinen nachgelassenen Schriften zur Phänomenologie der Intersubjektivität (Husserliana XIII, XIV und XV) voraussetzen muß und sich letztlich mit der primordialen Struktur des Bewußtseins als Generator nicht zufriedengeben kann, um die Intersubjektivität der Welt zu begründen. Letztlich kann die Auffassung, die Bedingung der Intersubjektivität allein in den Möglichkeiten der
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Subjektivität aufzufinden, kaum befriedigen. Husserl sieht dies sehr wohl selbst: „Wir sehen, dass man nicht damit auskommen kann, einen allgemeinen Wesensbestand von Bewusstsein und Bewusstseinsvermögen herauszustellen unter dem Titel ‚transzendentale Apperzeption‘, sondern neben diesem Wesensbestand noch eine allgemeine übergreifende Ordnung der Faktizitäten annehmen muss.“ (Husserliana XIV: 291) Husserl ist damit doch nicht mehr weit von Leibniz’ prästabilierter Harmonie als Möglichkeitsbedingung des Monadenalls entfernt, wenn er formuliert: „Eine Substanz als Einzelmonade steht damit in Harmonie mit jeder Substanz.“ (ebd.: 293) Weil er erkennen muß, daß das als Welt Konstituierte sich zwar im primordialen Horizont egos als subjektrelativ darstellt, gleichwohl eine Welt nicht wegzudenken ist, in der die primordialen Differenzen der Horizonte keinen totalen Relativismus rechtfertigen, sondern nur die Geltungsrelativität einer objektiv, resp. intersubjektiv gegebenen Welt,7 gerät Husserl in seinem Spätwerk in den Bannkreis der Aporien und Apodiktionen ontologischer Metaphysik. Das heißt keineswegs, daß Husserl nun in eine ontologische Substanzmetaphysik zurückkehrt, doch dient ihm nun der Begriff der absoluten Wirklichkeit dazu, letztlich die Unmöglichkeit des phänomenologischen Aufweises des dem Bewußtsein transzendenten Seins, also der Welt, zu kompensieren. „Mein faktisches Sein kann ich nicht überschreiten und darin nicht das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc., also die absolute Wirklichkeit.“ (Husserliana XV: 386) Ohne Zweifel hat Husserl Recht – das ist der große Ertrag des phänomenologischen Denkens -, daß die Faktizität des jeweiligen Seins, d.h. des Bewußtseins, nicht zu überschreiten ist. Denn, modern gesprochen: Das Bewußtsein kann nur als Bewußtsein operieren und nicht außerhalb seiner selbst. Aber es kann auch nicht ohne jene Transzendenz der Welt existieren, ohne ein anderes, Fremdes. Es gibt kein Ich ohne Nicht-Ich. Das Manko transzendentaler Ansätze ist jedoch, daß jenes Nicht-Ich nicht mit ihren eigenen Mitteln aufgewiesen werden kann. Damit scheitert Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität an einer petitio principii: Der Versuch des phänomenologischen Aufweises des anderen als Bürge der Konstitution einer intersubjektiven Welt setzt Intersubjektivität bereits voraus. Zu einer identischen Auffassung gelangt auch Held. Er kritisiert, daß es Husserl nicht gelingen kann, die Vergegenwärtigungsart des kopräsenten Mitfungierens des anderen auszuweisen. „Genau die zuletzt genannte Vergegenwärtigungsart wird mit der Theorie der originären Apperzeption des Anderen nicht erklärt, sondern bleibt vorausgesetzt.“ (Held 1972: 44; Hervorh. A.N.) Anders als bei Held wird hier jedoch schon die „Theorie der originären Apperzeption des anderen“ bezweifelt. Es scheint mir kaum hilfreich zu sein, die oben dargelegten Aporien des transzendentalen Ansatzes bei der Konzeptualisierung von Intersubjektivität dadurch überwinden zu wollen, die „Reihenfolge der Konstitutionsschritte“ (ebd.: 46) umzukehren. Held meint: „Nicht das thematische Bewußtsein vom Mitsubjekt als dem ersten Ichfremden fundiert, wie Husserl meint, das Bewußtsein von einer gemeinsamen Welt, sondern umgekehrt. Die Appräsentation der Mitgefaßtheit meiner Welt und des darin Gegebenen durch den unthematisch mitfungierenden Anderen liegt der the7
Den Relativismus als Behauptung der Unmöglichkeit von Wahrheitsgeltung überhaupt weist Husserl mit dem Hinweis zurück, daß relativistische Thesen ihrem Inhalt widersprechen: „Der Inhalt ihrer Behauptungen leugnet das, was überhaupt zum Sinn oder Inhalt jeder Behauptung gehört und somit von keiner Behauptung sinngemäß abtrennbar ist.“ (Husserliana XVIII: 123) Mit dieser Bemerkung liegt also schon eine frühe Form des Vorwurfs des performativen Widerspruchs vor.
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matischen apperzeptiven Erfassung dieses Anderen selbst zugrunde.“ (ebd.: 47) Diese auf Bernhard Waldenfels (1971: v.a. 135) zurückgehende Auffassung muß wie Husserl das „Zwischenreich des Dialogs“, so der Titel von Waldenfels’ Untersuchung, ebenfalls in den Strukturen des Bewußtseins auffinden, mithin also die (vorthematische) Appräsentation alters durch ego voraussetzen. Folgt man Held jedoch bis hier, ist seine Anregung, das Fundierungsverhältnis umzukehren, allerdings plausibel, denn es scheint evident, daß der andere als anderer erst ansichtig wird, wenn die Welt für alle vorliegt.8 Jedoch stärkt dies eher die Diagnose des Scheiterns der Phänomenologie der Intersubjektivität, denn so wird die Welt als intersubjektive erst recht vorausgesetzt; die phänomenologische Erklärung der Konstitution des Fremden ist dann nur noch ein Derivat jener vorphänomenologischen Voraussetzung. Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität gebührt jedoch das Verdienst, mit dem Scheitern einer wirklichen Aufklärung über die Konstitution der Sozialwelt zweierlei gezeigt zu haben: 1)
2)
Eine Theorie des Bewußtseins, des Subjekts, des Verstandes, der Individualität kommt nicht ohne die Annahme einer Sphäre aus, die zwischen den Subjekten angesiedelt ist, d.h. die intersubjektiv positioniert ist. Es fällt schwer, jene Sphäre den intentionalen Akten des Bewußtseins zuzurechnen, weshalb sie denn auch von Transzendentalphilosophen schlicht vorausgesetzt werden muß. Husserl erreicht dies – wie erläutert – über die Behauptung einer Leibkörper-Analogie und damit des Aufweises der Welt im Ich. Man kann nun sehen, daß sich das, was man seit Husserl Intersubjektivität nennt, nicht bewußtseinstheoretisch aufweisen läßt, weil es sich bei ihr offenbar um etwas handelt, was die Subjekte eben nicht sind. Aus philosophischer Perspektive scheint hier – trotz aller soziologischen Aufklärung – die selbstgewählte Zuständigkeit erschöpft. Eindeutig bemerkt Meist, das philosophische Problem bestehe darin, „wie im Ausgang vom transzendentalen ego cogito der ursprüngliche und einheitliche Seinssinn von ‚Welt‘ bzw. ‚objektiver Welt‘ bestimmt werden könne“ (Meist 1980: 583). Es ist nicht zu sehen, wie mit den bisher dargelegten Mitteln der Phänomenologie Husserlscher Provenienz dies geschehen soll. Womöglich ist die Frage falsch gestellt. Es bedarf also anderer theoretischer Techniken, und man scheint damit schon das Fach in Richtung Soziologie zu wechseln. Doch ich greife vor.
Der Fortgang der Untersuchung steht vor einem Dilemma: Einerseits wurde behauptet, Husserls Zeittheorie biete in seinen Grundstrukturen einen anspruchsvollen und hochentwickelten Versuch, die operative Konstruktion von Zeit zu entschlüsseln. Andererseits stellt sich nun heraus, daß eben jene theoretischen Grundlagen, auf deren Basis die Phänomeno8
Innerhalb des von Held abgesteckten Rahmens ist diese Umkehrung auch deshalb plausibel, weil die Vorgängigkeit der Thematisierung des anderen vor der unthematischen Voraussetzung der Welt als Welt zu folgender Konsequenz führen würde: „Das Auftreten des Mitsubjekts geht bewußtseinsgeschichtlich aus einer Aktivität des Vollziehers hervor; es hat mithin einen Anfang, folglich ist eine bewußtseinsgeschichtliche Phase ohne Mitsubjekt anzunehmen. Die primordiale Reduktion ist dann kein bloß methodischer Kunstgriff, sondern Rückgang auf ein Früher im Bewußtseinsleben; denn die Überschreitung der Primordialität ist eine aktive Genesis. Fazit: Am Anfang des Bewußtseinslebens steht ein transzendentaler Robinson.“ (Held 1972: 49)
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logie des inneren Zeitbewußtseins gebaut wird, für eine soziologische Theorie nichts taugt. Ist also völlig neu anzusetzen? Keineswegs, doch zunächst muß geklärt werden, in welcher Weise sich mit Husserl selbst die Komplexe der inneren Zeitlichkeit und der Intersubjektivität der Welt verbinden lassen. Die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins hat ergeben, daß das Bewußtsein in seiner Gegenwart intentional agiert. Ein intentionaler Akt ist immer ein gegenwärtiger Akt, fundiert in der urimpressionalen Sukzession von bewußten Akten und dem primordialen Horizont der Welt. Die Wahrnehmung des anderen ist selbst ein intentionaler Akt eines primordialen egos, fundiert in der appräsentierten, vorthematischen Möglichkeitsbedingung der Konstitution eines alter egos im ego. Als intentionaler Akt ist also das Thematisch-Werden des anderen, seine Präsentation ein gegenwärtiges Geschehen. Diese Vergegenwärtigung unterscheidet sich von der bloßen Wahrnehmung eines Dinges, denn das andere Ich ist für mich nicht wahrnehmbar. Es kommt hier die oben näher beschriebene Leibkörper-Analogie zur Geltung. „Ich lege seinem Körper eine unwahrnehmbare Innerlichkeit ein, durch Vergegenwärtigung.“ (Husserliana XIV: 473) Der andere kann nicht wahrgenommen werden wie sonstige Weltobjekte, sondern wird erst durch Vergegenwärtigung zum anderen, zum Mitsubjekt. „(...) der Andere als anderes Ich mit seinem anderen Bewußtseinsleben, ist prinzipiell nur vergegenwärtigt und nur in Weise einer Vergegenwärtigung zu fortschreitender Klarheit zu bringen.“ (Husserliana XV: 356) Die Vergegenwärtigung ist die in einem gegenwärtigen intentionalen Akt sich vollziehende Konstitution des anderen, von dem ich annehmen kann, daß auch er qua Vergegenwärtigung mich als anderen vergegenwärtigt. Es entsteht dadurch die Kopräsenz von Mitsubjekten, die sich je gegenseitig aufeinander beziehen, sich „nacheinander richten“, wie es oben hieß. Der gemeinsame Welthorizont ist ein solcher in gemeinsamer Vergegenwärtigung des je anderen in einer konkreten Gegenwart. Die Deckung mit dem anderen und die Teilhabe an der gemeinsamen Welt resultiert aus der Wechselwirkung einer Verständigungsgemeinschaft in sukzedierender Gegenwart. „So ist für mich seiende – immer horizonthaft seiende – Welt eine jeweilige Erfahrungswelt der aktuellen Wahrnehmung, Wiedererinnerung, Vorschau, mit einem Horizont der nicht aktuell erfahrenen bekannten Weltobjekte, darunter anderer Menschen, diese Anderen aber als menschliche Mitsubjekte, mit denen ich im Erfahren, Denken, Tun in Verständigungsgemeinschaft stehe.“ (ebd.: 208) Diese Verständigungsgemeinschaft, die Lebenswelt als Welt intersubjektiver Erfahrung, ist Resultat wechselseitiger Beziehungen intentionaler Akte und deshalb je gegenwärtig fundiert. Intersubjektivität erweist sich damit nicht nur als in der unthematischen Appräsentation grundgelegte transzendentale Fähigkeit der Konstitution des Fremden, sondern, temporal gesprochen, auch als Kopräsenz. Die soziale Beziehung, wie Husserl selbst sagt (vgl. ebd.: 204f.), ist folglich wesentlich in der Zeit begründet, und zwar in der Wechselseitigkeit der jeweiligen Gegenwarten. Stellt man sich einen einfachen sozialen Raum vor, etwa einen Dialog zweier Anwesender, wechseln sich die Akte der einzelnen jeweiligen Gegenwarten ab, wodurch die konstituierte gemeinsame Welt – mit Husserl müßte man hier von Sonderwelt oder von der Einheit eines Wir (vgl. ebd.: 208) sprechen – selbst eine zeitliche Gestalt annimmt. Durch die protentionale und retentionale Struktur des Bewußtseinsstroms ist die durch die bewußtseinsmäßige Wechselwirkung entstehende Welt selbst protentionsanalog und retentionsanalog sukzessiv aufgebaut. Dies führt Husserl zu der Konsequenz, „Welt und Menschentum in einer offenen
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Zeitlichkeit auszulegen, sie in den strömenden Zeitmodalitäten gegenwärtige, vergangene, künftige Welt (menschliche Lebenswelt) und als die eine und selbe zu haben (im Strömen eine identische Zeit und identisches verharrendes Weltsein objektiv konstituierend), das ist, sie in dieser Endlichkeit als Welt für jedermann, der in ihr gegenwärtig lebt, für mich und dann für jedermann so erfahren“ (ebd.: 205). Nach dem gleichen Verfahren wie der Nachweis der Intersubjektivität wird die zeitliche Verfaßtheit der Welt von Husserl angestrebt. Auch hier liegt ein gewisser Analogieschluß vor, der von der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins auf die strömende Gegenwart der Welt abzielt. Gleichwohl scheint mir hier, bei der Konzeptualisierung einer gemeinsamen Zeit, bei Husserl ein soziologisch bedeutsamer Gedanke aufzutauchen, der sowohl die Problematik der Begründung von Intersubjektivität als auch die offenkundig zu kurz greifende Grundlegung sozialer Zeithorizonte auf Bewußtseinszustände berührt. Husserl geht selbstverständlich nicht von seiner Phänomenreduktion auf das primordiale Bewußtsein ab, deutet aber an, daß durch die primordialen Akte etwas Neues entsteht, das in seiner Gänze nicht von der Primordialität des Bewußtseins her aufgedeckt wird: historische Tradition und historische Kulturwelt, also ein das einzelne Bewußtsein radikal transzendierender Horizont (vgl. ebd.: 205). In der Wechselseitigkeit intentionaler Akte und dem dadurch entstehenden Nacheinander von Vergegenwärtigungen, an dem immer mindestens zwei verschiedene egos beteiligt sein müssen, entsteht ein reziproker Horizont lebensweltlicher Erfahrungsmöglichkeiten in der Zeit. „Darin impliziert ist dann die von den für mich nun seienden Anderen aus ihren Vermöglichkeiten konstituierte Seinssphäre, sie ist für mich mittelbar seiend, mittelbar zu bestätigen als die ihre und in synthetischer Deckung, sei es auch partieller, mit der meinen als die meine.“ (ebd.: 203f.) Die darin entstehende Welt kann nur deshalb eigene Zeitmodalitäten ausbilden, weil sie in den stetigen Vergegenwärtigungen einzelner intentionaler Akte in der Wechselseitigkeit der Monaden gegenwärtig bleibt. Die Monadengemeinschaft scheint also mehr zu sein als die Summe von egos, die einander alter egos sind. Sie ist vielmehr der eigentliche primordiale Grund für die Sukzession von Welt. Die Betonung liegt hier eher auf Gemeinschaft denn auf Monade. Es wäre verkürzt und verkürzend, wenn man Husserls Theorie der intersubjektiven Welt allein so verstehen wollte, daß sie ein bloßes Korrelat der bewußtseinsmäßigen Intentionalität von Akten ist. Es scheint vielmehr so, als ermögliche die Welt selbst in ihrer sinnhaften Struktur ihre temporale Modalität. Darauf läßt Husserls Randbemerkung über die Differenz von immanenter und intermonadischer Zeit schließen (vgl. ebd: 337ff.). Husserl bringt zunächst zur Geltung, daß die immanente Zeit einer Monade weder „ein Stück (...) einer umfassenderen Zeit“ sein kann, noch sich „zusammenstücken“ läßt „mit den Lebenszeiten anderer Monaden“ (ebd.: 338). Wie die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zeigt, bildet sich der jeweilige Bewußtseinsstrom autonom, autonom im Sinne einer zeitlichen Struktur, die ausschließlich durch die sinnstiftenden intentionalen Akte des jeweiligen primordialen egos gebildet wird. Folglich bestimmt Husserl „die Zeit meines strömenden Lebens und die meines Nachbarn (...) (als) abgrundtief geschieden, und selbst dieses Wort sagt in seiner Bildlichkeit zu wenig“ (ebd.: 339). Nichtsdestotrotz stellt sich evidentermaßen die Frage, wie bei solcher unüberbrückbaren Differenz zwischen den primordialen Temporalitäten eine zeitliche Koexistenz gedacht werden kann. Husserl ist Recht zu geben, wenn er betont, daß die bloße Koexistenz der Körper innerhalb der „natu-
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ralen Allzeit“ (ebd.) nicht ausreicht, um die Kopräsenz der Monaden aufzuweisen. An solchen Stellen zeigt sich die enorme Stringenz und Konsequenz in Husserls Denken. Denn würde er die Gleichzeitigkeit der Monaden qua Gleichzeitigkeit innerhalb einer als natürlich präjudizierten Zeit annehmen, würde er eine phänomenologisch nicht ausweisbare Kategorie zur Grundlage einer Phänomenologie der Kopräsenz machen. Zwar bestreitet Husserl gar nicht, daß „die Seelen“ durch ihre Verleiblichung an der Koexistenz der innerweltlichen Gegenstände teilhaben, doch trifft dies noch nicht die Gegebenheitsweise alter egos, der ja nicht wie sonstiges Innerweltliches apperzipiert wird. Es muß also nach einem phänomenologischen Datum gesucht werden, also letztlich wieder nach primordialen Eigenschaften, in denen die Gleichzeitigkeit urimpressionaler Gegenwarten nachweisbar wäre. Husserl sieht aber auch hier, wie ich oben schon dargestellt habe, daß allein die Primordialität der Seelen als theoretischer Zugang zum gesuchten Phänomen nicht ausreicht. Sehr klar formuliert Husserl: „Jedenfalls selbstverständlich ist, dass, wenn hier eine universale Konkretionsform Zeit für die Allheit der andererseits doch eigenwesentlich getrennten Seelen bestünde, diese, da jede Seele als eine ‚Welt‘ für sich ihre Zeit hat, eine Zeit höherer Ordnung sein müsste.“ (ebd.: 340; Hervorh. A.N.) Hier wäre der Punkt, an dem Husserl erkennen müßte, daß das subjekt- bzw. bewußtseinsphilosophische Paradigma ungenügend bleibt, da es nicht zu begründen vermag, was unmittelbarer Erfahrung je schon gegeben ist: die intermonadische, intersubjektive Zeit. Die von ihm gesuchte Allheitsform der Zeit ist höherer Ordnung als die immanente Zeit des Bewußtseins – und doch bleibt Husserl dabei, daß „in den Seelen selbst von ihnen her ein eigenseelischer Zusammenhang und eine eigenseelische Koexistenzform begründet ist, eine Form der Mehrheit von Seelen“ (ebd.: 340f.) im Sinne jener Allheit, die das Zugleich der primordialen Gegenwarten verbürgen kann.9 Man kann gar nicht bestreiten, daß Bewußtsein von sich aus immer schon auf Koexistenz und Mit-Sein (Heidegger) basiert. Vom aristotelischen zoon logon echon bis zu Habermas’ Verständigungssubjekt lehrt das abendländische Denken dies in mannigfaltigen Variationen.10 Jedoch müßte Husserl einsehen, daß das, worauf das Subjekt sich in jener – wenn ich so sagen darf – Bezogenheit auf das Nicht-Ich richtet, eine terra incognita bleibt. Dies liegt vor allem dann nahe, wenn man sieht, daß er jenes unbekannte Land ausdrücklich benennt, wenn er auf die temporale Koexistenz der Monaden stößt.
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Ähnlich spricht Hans Blumenberg von „intersubjektiver Retention“ (Blumenberg 1986: 301). Nur am Rande: Habermas nimmt Husserl nicht in seine Studie zum „Philosophischen Diskurs der Moderne“ (Habermas 1985) auf, obwohl man auch bei Husserl jene von Habermas an verschiedenen Stellen des philosophischen Dikurses aufzuspürende Wende vom Logozentrismus der propositionalen Geltung (vgl. Habermas 1988b: 58f.) in Richtung einer mehrdimensionalen Vernunft beobachten kann. Bekanntlich geht es Habermas darum, nicht nur Wahrheitsfragen (Konstativa über die objektive Welt), sondern auch Gerechtigkeits- (Normativa über die soziale Welt) und Geschmacksfragen (Expressiva über die subjektive Welt) in den Kanon des Vernünftigen aufzunehmen. Husserls Beschreibung der monadischen Koexistenz als Verständigungsgemeinschaft (vgl. Husserliana XV: 208) weist exakt in jene Richtung. Das, was als gemeinsame Welt behandelt wird, ist dann nicht eine vorgegebene Welt eindeutiger Bedeutungs- und Wahrheitsgehalte, sondern bildet sich erst durch die gemeinsame intentionale Konstitutionsleistung von Subjekten. Husserl gehört aber für Habermas trotz dieses modernen, konstruktivistischen Wahrheits- und Weltverständnisses nicht zu jenem philosophischen Diskurs der Moderne, den er untersucht. Denn anders als Nietzsche, Heidegger, Derrida und Foucault ist es Husserl nicht darum zu tun, das subjektphilosophische Paradigma aufzuheben. Husserl beabsichtigt vielmehr das Inter der Subjekte eindeutig subjektphilosophisch, also von den „primordialen Vermöglichkeiten“ egos her, zu verstehen.
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Im Akt der Einfühlung, d.h. der vergegenwärtigenden Wahrnehmung des anderen als alter ego, kommen „mein urmodales Ich-bin“ mit der „urmodalen Gegenwart des Anderen“ (ebd.: 343) zur Deckung, wodurch auch eine Deckung der temporalen Horizonte der beiden primordialen Gegenwarten entsteht. Dies bildet den Entstehungszusammenhang für eine gemeinsame Zeit, die den immanenten Zeiten der beiden beteiligten egos zwar analog gebildet wird, jedoch keineswegs mit diesen identisch ist. „Die Abwandlungsform der Soeben wiederholt sich in der Vergegenwärtigung und deckt sich Phase für Phase mit der urmodal verlaufenden Abwandlung, und zwar konkret nach Form und Inhalt, und so wiederholt sich auch die in der lebendig strömenden Gegenwart konstituierte Identität des strömend in immer weitere frische Vergangenheit Versinkenden und damit die identisch verharrende erfüllte Zeit Phase für Phase, und das Wiederholte steht Phase für Phase nach Form und Gehalt in Deckung, und so konstituiert sich ein zeitliches Zugleich der übermonadischen oder intermonadischen Zeit höherer Stufe.“ (ebd.: 343) Ausdrücklich denkt Husserl also eine übermonadische Zeit, Zeit einer übermonadischen Sphäre, die er, wie schon angedeutet, Geschichte nennt. Dieser Geschichtsbegriff bestätigt die hier vertretene Diagnose, daß die Transzendenz des Subjektiven auch für Husserl unbenennbar bleiben muß, weil ihm dazu die kategorialen Mittel fehlen. Das Sein der Welt, die zwar geltungsrelative, gleichwohl aber intersubjektiv gültige Welt ist Korrelat tranzendentaler Subjektivität und Intersubjektivität. Genauso ist Geschichte das Korrelat der per se zeitlichen Verfaßtheit der Monade wie der Monadengemeinschaft. Der einzelne erlebt die Welt als transzendent, d.h. sie birgt mehr Möglichkeiten als die Fähigkeit menschlichen Daseins zu verwirklichen in der Lage ist: „Das transzendentale Einzel-Ich (...) lebt, und in verschiedenem Sinne, in einer Endlichkeit, in der sich die ‚Unendlichkeit‘ des Seienden verhüllt.“ (ebd.: 388) Dies gilt sowohl für die räumliche Unendlichkeit von Möglichkeiten als auch für die zeitliche Unendlichkeit eines Vorher und Nachher der jeweiligen Lebenszeit. Dies kann als weiteres Indiz für die Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit der transindividuellen Sphäre der intersubjektiven Zeitform der Welt gelten. Weil Husserl jedoch die kategorialen Mittel fehlen, das dem Einzelsubjekt Transzendente – also Sozialität und Geschichte – phänomenologisch wirklich auszuweisen, arbeitet er auch hier mit Setzungen, die letztlich dazu dienen, das aus dem Beobachtungsschema Herausfallende benennbar zu machen. Wie Husserl Sozialität an die verbürgte Harmonie der Monaden und an eine „allgemeine übergreifende Ordnung der Faktizitäten“ (Husserliana XIV: 291) bindet, ist ihm Geschichte Bewegung hin zum Telos der in der transzendentalen Subjektivität angelegten „Vermöglichkeiten“. Diese Bewegung versteht er so, „dass durch jedes transzendentale Dasein, aber nicht bloss einzeln, sondern in der intersubjektiven Vergemeinschaftung und als intersubjektive Totalität hindurchgeht ein Einheitsstreben der ‚Vervollkommnung‘ „ (Husserliana XV: 404). Es ist dann letztlich nicht nur der Mensch im Sinne seines monadischen solus ipse, sondern ausdrücklich die Menschheit (vgl. ebd.: 406), der jenes Streben zugerechnet wird – eine Kategorie, die nicht allein als phänomenologisches Datum primordialer Selbstgegebenheit gedeutet werden kann. Es dürfte deutlich geworden sein, daß Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität in ihrem Scheitern auf die Notwendigkeit aufmerksam macht, das Inter der Subjektivitäten anders zu bestimmen als über subjektbasierte Qualitäten. Daß in einfachen sozialen Räumen, also etwa in dyadischen Beziehungen, durch das unmittelbare Nacheinander intentio-
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naler Akte so etwas wie eine partiell in Deckung stehende Temporalität entsteht, scheint einsichtig. Daraus aber die Temporalität der Welt als potentieller Welt für alle – so ihre ontologische Form – abzuleiten, scheint mir kaum haltbar zu sein. Freilich verdankt sich jenes Scheitern keineswegs der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Ich halte daran fest, daß mit ihr ein anspruchsvoller Versuch vorliegt, die Entstehung von Zeithorizonten operativ zu beschreiben. Die Frage, die sich mit dem Scheitern von Husserls Intersubjektivitätstheorie vielmehr stellt, ist die, nach theoretischen Möglichkeiten zu suchen, wie die auch von Husserl diagnostizierte Differenz von innermonadischer Zeit so beschrieben werden kann, daß sich daraus ein Ertrag für eine soziologische Zeittheorie ergibt. Ein letzter Hinweis zu Bieris Versuch, durch Aufweis einer realen Zeit die Bedingung der Möglichkeit ihrer Intersubjektivität zu formulieren: Was man von Husserls Weltbegriff lernen kann, ist die Einsicht, Welt sowohl in ihrer ontologischen Form als „Welt für alle“ (Husserliana VI: 469) als auch als „seiend aus meinen Geltungsleistungen“ (Husserliana IX: 464) zu denken. Welt ist demnach für Husserl „weder subjektunabhängig vorgegebene Objektivität noch bloß ‚regulative Idee‘ der Naturforschung, sondern Sinngebilde aus Konstitutionsleistungen transzendentaler Subjektivität, kein ‚Sein‘, keine ‚Idee‘, sondern ‚Geltung‘“ (Welter 1986: 71). Der Gedanke der primordialen Geltungsrelativität einer immer schon vorgegebenen Welt, deren Vorgeltung jedoch durch je meine intentionalen Akte in einem heraklitischen Fluß, in den man bekanntlich nicht zweimal steigen kann, sich wandelt, verunmöglicht die Annahme einer realen Welt, deren objektive Zeitlichkeit im Bewußtsein abgebildet wird. Geltungsrelativität ist mehr als die zweistellige Relation der adaequatio rei et intellectus. Es stellt sich die Frage, inwiefern res und intellectus vergleichbar sind oder ob die Entsprechung der beiden Größen nicht vielmehr rekursiv aufzufassen ist. Bieris Annahme der Darstellung einer realen B-Reihe als subjektrelative A-Reihe schließt an die Annahme der Adäquatheitsrelation von res und intellectus in der Weise an, als die vorgegebene Welt (res) sich als reale Grundlage für bewußte Daten (intellectus) darstellt. Folgt man jedoch Husserl, stellt man fest, daß die vorgegebene Welt zwar vorgegeben ist, diese Vorgabe aber Resultat intentionaler Akte von Bewußtsein ist und somit nicht als bewußtseinsunabhängige Relation der in der Adäquatheitsrelation enthaltenen Korrespondenztheorie der Wahrheit fungieren kann. Bezogen auf Zeit, kann man sehen, daß die von Husserl so genannte intermonadische Zeit höherer Ordnung offenbar nicht diejenige Funktion haben kann, wie Bieri sie als Bedingung für die Intersubjektivität der Zeit voraussetzt. Denn aus der zweistelligen Relation der Adäquatheitsannahme, also der Korrespondenztheorie, wird dann eine mehrstellige, rekursive Relation, wenn die Konstruktion von Möglichkeitsbedingungen in beiden Richtungen gilt: Die intermonadische Zeit ist Resultat der monadischen wie diese Resultat jener. Korrekter: Das, was vermeintlich als Abzubildendes der Abbildung vorausgeht, ist selbst Resultat von abbildenden Akten. Aus Bieris einfachem Schluß von realen B- auf bewußte A-Reihen wird unversehens eine komplexe Beziehung radikal voneinander verschiedener, jedoch rekursiv aufeinander bezogener Zeitebenen. Die kritische Argumentation gegen Bieri basiert auf einer Voraussetzung, die noch zu prüfen ist. Zum einen habe ich behauptet, daß Husserls Theorie der intersubjektiven Zeit diejenigen theoretischen Funktionen erfüllt, die Bieris reale B-Reihe für die Beschreibung einer gemeinsamen Zeit von egos hat, die diese als A-Reihe darstellen. Zum anderen bin
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ich davon ausgegangen, daß diese gemeinsame Zeit von eben jener B-Struktur ist, die Bieri als Möglichkeitsbedingung voraussetzt. Sieht man jedoch genauer hin, beschreibt Husserl die intermonadische Zeit höherer Ordnung in Begriffen, die eher der Darstellungsform einer A-Reihe entsprechen. „Welt“ und „Menschentum“ weist Husserl „Zeitmodalitäten“ zu, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sowie die Gemeinsamkeit der Kopräsenz primordialer egos, die gemeinsam einen intermonadischen Zeithorizont ausbilden (vgl. Husserliana XV: 205).11 Die Zeit von „Welt und Menschentum“ scheint also exakt nach jenen Kriterien aufgebaut zu sein, wie Husserl sie in der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins für das primordiale ego beschreibt. Es kann also keine Rede davon sein, daß eine nach B-Relationen strukturierte Welt die gemeinsame Zeit unterschiedlicher Subjekte ausmacht. Vielmehr ist mit Husserl davon auszugehen, daß jene gemeinsame Zeit selbst eine A-Reihe bildet und somit nach dem Argument von Bieri nicht die analytische Voraussetzung für die je subjektive A-Reihe ist. Oben habe ich Bieri zwar dahingehend kritisiert, daß er die A-Reihe nur als Darstellungsform einer realen B-Reihe anerkennt und damit die qualitativ eigenständige Konstitutionsleistung einer A-Bestimmung nicht reflektiert. Zugleich habe ich ihm in der rein formalen Analyse zugestimmt, daß eine Geordnetheit von Ereignissen bzw. Daten nach einer B-Reihe vonnöten ist, um die Zeitlichkeit der A-Reihe zu erklären. Das heißt jedoch nicht, daß damit die Realität der B-Reihe erwiesen ist, sondern weist erneut auf das theorietechnische Problem hin, zur Konzeptualisierung und Definition von Zeit diese bereits voraussetzen zu müssen. Nimmt man diese Diagnose hier auf, stellt sich gegenüber Husserl erneut das Problem, eine objektive Zeitstruktur trotz ihrer monadischen Ausschaltung voraussetzen zu müssen, um die Horizonthaftigkeit der intermonadischen Zeit erklären zu können. In Bieris Worten: Auch die intermonadische A-Reihe ist nach dem Konstruktionsprinzip einer B-Reihe gebaut. Die entscheidende Frage lautet also nicht, welche reale, soziale, intersubjektive, intermonadische oder objektive Zeit der bewußtseinsbasierten A-Reihe analytisch vorausgeht, sondern wie jene Zeitebene höherer Ordnung, die ebenfalls wie eine A-Reihe aufgebaut zu sein scheint, sich bildet. Das Problem der Konzeptualisierung von Zeit bleibt paradox und zirkulär und setzt eine Früher-später-Struktur schon voraus. Das Zeitproblem ist damit nicht gelöst, sondern nur verschoben, und zwar nun auf eine Stufe der theoretischen Reflexion, die Zeitkonstitution offenbar nicht mehr dem Bewußtsein bzw. ausschließlich dem Bewußtsein zurechnen kann, aber dennoch auf die gleichen konzeptionellen Schwierigkeiten der Definition von Zeit stößt. Es kann nicht befriedigen, die übermonadische Zeit als „ontologische Weltform“ schlichtweg vorauszusetzen. Denn wenn man feststellt, daß diese offenbar strukturgleich wie die bewußtseinsbasierte Zeit einen eigenen Zeithorizont ausbildet, müßte sich auch hier eine operative Zeittheorie formulieren lassen, 11
Neben dem unmittelbaren temporalen Horizont der Kopräsenz weist Husserl der Geschichte als historischer Relativität von Geltung im Sinne einer Sedimentierung von Sinn in historischer Generativität eine entscheidende Bedeutung zu. Geschichte wird damit selbst zum Generator für die Geltungsrelativität von Welt als werdender Welt. Sie ist selbst von modalisierter Zeitstruktur und nicht bloß eine B-Reihe von Ereignissen, die sich etwa dem Historiker als A-Reihe darstellt. Dieser steht vielmehr selbst in der Geltungsrelativität einer gewordenen Welt, die ihm den Horizont der Geschichte in der entsprechenden Weise eröffnet. Vgl. dazu ausführlicher III.2c. Ernst Tugendhat weist darauf hin, daß Husserl sowohl die Geltungsrelativität der Geschichte als auch die geschichtliche Relativität der Behauptung der Geltungsrelativität der Geschichte reflektiert. Vgl. dazu die Überlegungen „Die Geschichtlichkeit der Wahrheit und die Wahrheit des Geschichtlichen“ in Tugendhat 1967: 245-255.
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die nun die Konstruktionsbedingungen sozialer Zeit beschreibt. Das Problem der paradoxen Beschreibung der Zeit gilt also für beide Zeitebenen, sowohl für das monadische innere Zeitbewußtsein als auch für die übermonadische Zeit. Die folgenden Überlegungen zu einer soziologischen Theorie der Zeit haben an der bereits von Husserl vorbereiteten unüberbrückbaren Differenz zwischen bewußtseinsimmanenter und bewußtseinstranszendenter Zeit sowie am Ertrag der phänomenologischen operativen Zeittheorie anzusetzen.
b)
Sinn und Zeit. Schütz
Alfred Schütz’ Soziologie schließt an zwei Denktraditionen an: an die verstehende Soziologie Max Webers und an die Phänomenologie Edmund Husserls. Webers soziologisches Credo besteht bekanntlich darin, soziales Handeln deutend verstehen und ursächlich erklären zu wollen (vgl. Weber 1976: 1). Darin ist sowohl das idiographische Moment der hermeneutischen, d.h. verstehenden Wissenschaften als auch das nomothetische Moment der exakten bzw. objektiven, d.h. erklärenden Wissenschaften ausgedrückt. Der methodische Ansatzpunkt Webers ist der „subjektiv gemeinte Sinn sozialen Handelns“, das in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen am Verhalten anderer orientiert ist. Dieser methodische Individualismus versucht, am gemeinten Sinn des Handelnden diejenigen sozialen Strukturmerkmale aufzudecken, die Gegenstand einer empirischen Sozialwissenschaft sind. Bekanntestes Beispiel eines solchen Vorgehens ist sicher die „Protestantismus-Kapitalismus-These“ (Weber 1981), die, am subjektiv gemeinten Sinn des Puritaners ansetzend, die Reziprozität sozialen Handelns zu erklären sucht und so die historischen Möglichkeitsbedingungen für die Säkularisierung und den „Sinnverlust“ der modernen Produktionsweise aufzudecken trachtet. Für Schütz geht das grundbegriffliche und methodologische Instrumentarium Webers nicht tief genug. Zwar teilt er die wesentlichen Grundannahmen Webers, insbesondere diejenige, verstehend am subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden anzusetzen. Doch gibt er zu bedenken, daß Weber sich kaum Rechenschaft über die „theoretischen Grundlagen seiner Wissenschaft“ (Schütz 1981: 15) abgelegt hat – zugunsten der materialen Arbeit an konkreten Problemen. So sieht Schütz in Webers theoretischen Prämissen einen begrifflichen Apparat, der vorgibt, seine soziologischen Grundbegriffe seien nicht weiter dekomponierbar. Schütz hält dagegen, daß Webers Begriffe sehr wohl nicht nur dekomponierbar, sondern vor allem einer genaueren Klärung bedürftig sind. Er verspricht sich von einer tiefer angelegten begrifflichen Dekomposition ein weiterreichendes Rekombinationsvermögen, das der elementaren Struktur der Sozialwelt und damit der Grundlegung einer „verstehenden Soziologie“ eher gerecht wird. Seine grundlegende Kritik an Weber setzt Schütz folgendermaßen an: „Er (Weber; A.N.) fragt nicht nach der besonderen Konstitutionsweise des Sinnes für den Handelnden, nicht nach den Modifikationen, die dieser Sinn für den Partner in der Sozialwelt oder für den außenstehenden Beobachter erfährt, nicht nach dem eigenartigen Fundierungszusammenhang zwischen Eigenpsychischem und Fremdpsychischem, dessen Aufklärung für die präzise Erfassung des Phänomens ‚Fremdverstehen‘ unerläßlich ist.“ (ebd.) Bei Weber ist die Art und Weise der Sinnhaftigkeit sozialen Handelns und darin die Annahme, „daß auch
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der Andere mit seinem Verhalten einen Sinn verbinde“ (ebd.: 28), schlichtweg vorausgesetzt. Diese Voraussetzung ist für Schütz aber keineswegs so selbstverständlich, wie sie bei Weber erscheint. Erst die Klärung der Konstitution des Handlungssinnes und damit – gemäß der Bezogenheit des sozialen Handelns auf alter – die genaue Analyse der Möglichkeitsbedingungen des Fremdverstehens können laut Schütz ein Licht auf die Konstitution der Sozialwelt werfen. Um dies zu erreichen, setzt Schütz an seinem zweiten Gewährsmann, Husserl, an. Mit explizitem Verweis auf die „Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“ und Bergson weist er auf die im Bewußtseinsstrom sich konstituierende Sinnhaftigkeit der „Je-Meinigkeit“ innerer Dauer hin. „Zur Konstituierung der ‚Je-Meinigkeit‘ aller meiner Erlebnisse genügt eben die innere Zeitform des Ich, die durée, oder wie Husserl es nennt, das innere Zeitbewußtsein (...). Es wäre also unrichtig, ohne jeden Vorbehalt zu behaupten, daß einem meiner Erlebnisse Sinnhaftigkeit prädizieren nichts anderes hieße, als daß dieses Erlebnis von mir erlebt wurde, daß es meiner Dauer zugehöre.“ (ebd.: 94) Zunächst scheint klar, daß ein Erlebnis mein Erlebnis ist. Die Je-Meinigkeit allein jedoch konstituiert noch keinen Sinn, sondern erst die Konstitution der Einheit des Erlebnisstromes in der Zeit. Sinn entsteht durch Erfahrungsaufschichtung. Der Sinn eines bestimmten Erlebnisses „besteht dann in der Einordnung dieses Erlebnisses in den vorgegebenen Gesamtzusammenhang der Erfahrung“ (ebd.: 104). Dieser Gesamtzusammenhang stellt jenen Boden dar, der als Erfahrung zur Deutung neuer Erlebnisse fungiert. Die aufgeschichtete Erfahrung dient demnach als Deutungsschema für neue Erfahrungen, wodurch eine Identität in der Zeit konstituiert wird, die sich je gegenwärtig neu fundieren muß und durch Herstellung einer jemeinigen Relationalität bewußter Erlebnisse sinnstiftend wirkt. Daraus läßt sich schließen, daß Sinn für Schütz keine ontologische, erlebnisunabhängige Größe ist, sondern durch die Relationierung von bewußten Daten subjektrelativ und operativ, d.h. in actu konstituiert wird. Von dem Gesagten her wird deutlich, warum Schütz seine Reflexionen über Sinn mit dem lapidaren Satz beginnt, das Sinnproblem sei ein Zeitproblem (vgl. ebd.: 20). Es fällt auf, daß das Sinnproblem hier in den gleichen Bahnen verhandelt wird wie bei Husserl. Sinn als Herstellung innerer Dauer bedeutet letztlich nichts anderes als die Husserlsche Beschreibung der retentionalen und protentionalen Einheit der Differenz von je gegenwärtigen Urimpressionen. Wie bei Husserl bleiben diese urgegenwärtigen Erlebnisse auch bei Schütz präreflexiv; sie sind nicht selbst sinnhaft, sondern gewinnen ihren Sinn erst durch posthume Reflexion und durch Relationierung mit den bisher erlebten Erlebnissen.12 Von einer soziologischen Revision des Husserlschen Instrumentariums ist bis jetzt also nicht die Rede. Ganz im Gegenteil gilt für Schütz: „Nur mit Hilfe einer allgemeinen Theorie des Bewußtseins, wie Bergsons Philosophie der Dauer oder Husserls transzendentaler Phänomenologie, kann die Lösung der Rätsel gefunden werden, mit denen die Problematik 12
Wie Husserl operiert Schütz reflexionstheoretisch: „Denn da der Begriff des sinnvollen Erlebnisses immer voraussetzt, daß das Erlebnis, dem Sinn prädiziert wird, ein wohlunterschiedendes sei, so zeigt sich mit großer Klarheit, daß Sinnhaftigkeit nur einem vergangenen, d.h. nur einem Erlebnis zuerkannt werden kann, das sich dem rückschauenden Blick als fertig und entworden darbietet. (...) Nur das Erlebte ist sinnvoll, nicht aber das Erleben. Denn Sinn ist nichts anderes, als eine Leistung der Intentionalität, die aber nur im reflexiven Blick sichtbar wird.“ (Schütz 1981: 69) Auch hier spielt demnach die urimpressionale Gegenwart der Selbstgegebenheit die zentrale Rolle für die operative Konstitution der Identität in der Zeit.
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der Sinnsetzungs- und Sinndeutungsphänomene umlagert ist.“ (ebd.: 21) Und exakt jene sind es, die für Schütz erst den von Weber schlicht vorausgesetzten soziologischen Grundbegriff des subjektiv gemeinten Handlungssinns theoretisch explizierbar machen.13 Als weitere Parallele zu Husserl fällt auf, daß Schütz das Zeitproblem an theoretisch entscheidender Stelle einführt, nämlich als Möglichkeitsbedingung für die Herstellung innerer Dauer, die selbst wiederum der sinnhaften Konstitution der Sozialwelt vorausgeht. Folgt man Schütz bis hier, fällt zweierlei auf: Erstens scheint es für ihn ausgemacht zu sein, daß sich das Problem des sozialen Handelns tatsächlich allein auf die sinnstiftenden Akte des Bewußtseinsstromes handelnder Individuen zurückführen läßt. Zweitens ist zu erwarten, daß bei der Beschreibung der Sozialwelt, die sich zwar geltungsrelativ darstellt, aber „von Anfang an nicht meine Privatwelt, sondern intersubjektiv“ (Schütz/Luckmann 1979: 26) fundiert ist, sich ähnliche Aporien einstellen wie bei Husserls Versuch der bewußtseinsphänomenologischen Analyse der Welt als Welt für alle. Den ersten Punkt stelle ich zunächst zurück und wende mich dem zweiten zu. Die wesentliche Differenz zwischen Schütz und Husserl besteht darin, daß Schütz als Soziologe zwar auf den Erträgen insbesondere der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins aufbaut, damit letztlich aber ein anderes Interesse verfolgt als die transzendentale Phänomenologie. Von soziologischer Relevanz, so Schütz, ist gerade derjenige Bereich, den Husserl mit der ersten, der phänomenologischen Epoché, einklammert. Gerade jene „mundane Sozialität“ ist es aber, die Schütz wie Weber als Gegenstand der verstehenden Soziologie sehen. Die Absicht Schütz’, „die Sinnphänomene in der mundanen Sozialität zu analysieren, macht eine darüber hinausgehende Gewinnung transzendentaler Erfahrung und somit ein weiteres Verbleiben in der transzendental-phänomenologischen Reduktion nicht erforderlich“ (Schütz 1981: 56). Dort hat man es nicht mit Konstitutionsphänomenen zu tun, „sondern nur mehr mit den diesen entsprechenden Korrelaten in der natürlichen Einstellung“ (ebd.). Schütz meint, mit dem Rekurs auf die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins das Problem des subjektiv gemeinten Sinns ausreichend behandelt zu haben und wendet sich mit diesem Ergebnis der Frage des Fremdverstehens und dem „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ zu. Das Theorem der Intersubjektivität wird dabei als transzendentale Voraussetzung übernommen, jedoch ohne die Erbschaft transzendentalphilosophischer Begründungslasten anzunehmen. „Für unsere Zwecke“, so Schütz, „genügt uns die Einsicht, daß auch das Du Bewußtsein überhaupt habe, daß es dauere, daß sein Erlebnisstrom die gleichen Urformen aufweise wie der meine.“ (ebd.: 138) Mit dem Verlassen der phänomenologischen Sphäre14 nimmt Schütz die Existenz der Sozialwelt als gegeben hin, „wie wir es im täglichen Leben unter Menschen lebend, aber auch Sozialwissenschaft betreibend, zu tun gewohnt sind“ (ebd.: 137). 13 14
Man könnte sagen, daß mit Schütz der quasi versteckte Kantianismus Webers erst zum Tragen kommt. Zum Weberschen Kantianismus vgl. Schluchter 1988: 80ff. Gegen einen irreführenden Sprachgebrauch betont Thomas Luckmann zu Recht, daß es eine phänomenologische Soziologie nicht gebe und auch nicht geben könne (Luckmann 1979: 196). Gleichwohl schließt er an Schütz an, wenn er meint, die Phänomenologie könne die „invarianten (!; A.N.) Strukturen des Alltagslebens“ (ebd.: 205) freilegen, die bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen für die Konstitution der Sozialwelt. Auch hier liegt also die Annahme zugrunde, daß sich die Sozialwelt unter Rekurs auf den Bewußtseinsstrom Handelnder erklären ließe. Dies mag hier noch unkommentiert bleiben, wird jedoch weiter unten diskutiert (vgl. III.1a und c).
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Kann bis jetzt als Ergebnis festgehalten werden, daß Schütz unmittelbar sowohl an Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins als auch an seine Intersubjektivitätstheorie anschließt, stellt sich die Frage, was bei ihm das Soziale konstituiert. Geht es um den „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“, reicht es evidentermaßen noch nicht aus, die bewußtseinsmäßige Verknüpfungsfähigkeit von Daten zu einer sinnhaften inneren Dauer zu beschreiben. Viel entscheidender ist, wie sich die Sozialwelt sinnhaft konstituiert. Wenn das Sinnproblem ein Zeitproblem ist, müßte sich logischerweise aus der Aufklärung der Sinnhaftigkeit der Sozialwelt ein Instrumentarium zur Beschreibung sozialer Zeit entwikkeln lassen. Dies wird im folgenden zu prüfen sein. Zwar setzt Schütz auf Husserls Intersubjektivitätsparadigma, doch stillschweigend und womöglich ohne es zunächst selbst zu sehen, führt er es ad absurdum, um das Soziale als Soziales überhaupt in den Blick zu bekommen. Husserl meint ja, Intersubjektivität ausdrücklich nicht unter Rekurs auf vorgängige Zeichen erklären zu müssen, sondern – um das phänomenologische Verfahren als Bewußtseinsphänomenologie konsequent durchhalten zu können – das Inter des Subjektiven ausschließlich in den primordialen Akten des Bewußtseins aufspüren zu können (vgl. II.2a). Schütz dagegen hat bei der Analyse des Fremdverstehens trotz der vorausgesetzten Intersubjektivität zu erklären, wie fremdes soziales Handeln verstanden, d.h. mit einem Sinn versehen werden kann. Wenn Sinn als zeitliches Phänomen zunächst bedeutet, daß jeder Handelnde seiner Handlung durch Kontinuierung des je eigenen Bewußtseinsstromes einen Sinn verleiht, steht Fremdverstehen vor folgendem Problem: „Unsere ganzen Betrachtungen werden unter der einschränkenden Bedingung angestellt, daß der Beobachter von dem Beobachteten nichts anderes weiß, als eben jenen Ablauf in der äußeren Welt, welcher ihm als fremdes Handeln zur Deutung aufgegeben ist. Machen wir uns klar, daß diese einschränkende Bedingung die beobachtete Fremdhandlung isoliert und aus ihrem Zusammenhang mit dem Vorher und Nachher herauslöst, aus einem Zusammenhang, in welchem sie sowohl für den Beobachter als auch für das alter ego als dessen Erlebnisablauf steht.“ (ebd.: 161) Im Klartext heißt das: Weil ich den sinnkonstituierenden Bewußtseinsstrom alter egos nicht kenne, weil dies Partizipation am Fremdbewußtsein voraussetzen würde (vgl. ebd.: 139), hat sich meine Deutung seines subjektiv gemeinten Sinns bei mir zunächst nur als mein Erlebnis sinnhaft konstituiert (vgl. ebd.: 156). Diese Gleichzeitigkeit verschiedener zeitlicher Sequenzen – Schütz spricht vom gemeinsamen Altern (vgl. ebd.: 144) – bringt partiale Akte in eine gegenseitige Beobachtungsposition. Reichte Husserl noch die Annahme, diese Gegenseitigkeit transzendental abzuleiten und der Gemeinsamkeit der Welt, deren ontologische Form die der Evidenz der Welt für alle ist, zuzurechnen, greift Schütz auf ein tertium comparationis zurück, das Husserl ausschließt: das Zeichen. Schütz gibt zu bedenken, daß die Sozialwelt nicht allein aus kopräsenten Subjekten besteht, sondern daß immer schon neben dieser unmittelbaren „Umwelt“ (ebd.: 203) eine zwar gleichzeitige, aber räumlich fernere „Mitwelt“ (ebd.: 202) vorausgesetzt wird. Für die theoretische Beschreibung dieser sozialen Sphäre kann eine Sozialtheorie nichts taugen, wenn sie allein Kopräsenzphänomene einschließt. Diese theoretische Beschränkung, wie sie für Husserl gilt, veranlaßt Schütz dazu, die Sozialwelt nicht allein auf das Intersubjektivitätsparadigma zu gründen, sondern zusätzlich auf eine Theorie objektiver Sinnzusammenhänge und eine Zeichentheorie zurückzugreifen.
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Schütz läßt bei der Diskussion des Fremdverstehens zunächst unberücksichtigt, in welcher Weise ein Beobachter den äußeren Handlungsablauf alters denkt. Noch wenig konkretisierend spricht er davon, daß jener äußere Ablauf „in einen erweiterten Sinn und Motivationszusammenhang eingestellt“ (ebd.: 162) werden muß, um verstanden werden zu können. Dabei greift ego entweder auf eigene Erfahrungen oder auf Typen zurück. Im ersten Fall kann ich durch Beobachtung einer Handlung, die ich selbst früher erlebt habe, auf die sinnkonstituierende Temporalität der für mich sichtbaren Sequenz des anderen Bewußtseinsstromes schließen. Im zweiten Fall greife ich auf einen „personalen Idealtypus“ (ebd.: 257) zurück.15 Wenn ich weiß, wie sich Busfahrer im allgemeinen verhalten, kann ich von einer typischen Busfahrerhandlung auf das Vorher und Nachher der kopräsent erlebten Handlung schließen. Schütz spricht in diesem Zusammenhang von objektiven Sinnzusammenhängen, von kollektiv geteilten Typen, die nicht einzelnen alter egos in der Umoder Mitwelt zugerechnet werden können. „Dem objektiven Sinnzusammenhang der idealen Gegenständlichkeit eines Kulturgebildes entspricht kein subjektiver Sinnzusammenhang eines alter ego in der Mitwelt. Wohl aber weist es als objektiver Sinnzusammenhang, als Erzeugnis, auf einen in hohem Maß inhaltsleeren und in hohem Maß anonymen Idealtypus seines Erzeugers zurück.“ (ebd.: 281) Schütz will damit betonen, daß alle Typen, die wir in alltäglicher Einstellung verwenden und die man keinem konkreten ego zurechnen kann, in der gleichen Weise sinnförmig konstituiert werden wie der Bewußtseinsstrom des einzelnen. Gleichwohl ist der objektive Sinnzusammenhang gewissermaßen der materiale Träger des substantiellen Vermögens der Subjekte zur Konstitution einer intersubjektiven Welt. Schütz’ Angaben über Genese, Struktur und Dynamik von objektiven Sinnzusammenhängen bleiben recht vage. Sie weisen vor allem nicht aus, durch welche sozialen Prozesse subjektiver Sinn in objektiven Sinn transformiert wird, denn es ist eine gesellschaftstheoretische Binsenweisheit, daß nicht jeder sinnkonstituierende Akt in gleicher Weise in gesellschaftliche Kommunikation aufgenommen und weitergetragen wird. Der Schützsche Anschluß an Husserls Phänomenologie scheint diese also nur dahingehend zu erweitern, als der Weltbegriff in Richtung eines Begriffs sozialer Welt erweitert wird, deren Struktur im wesentlichen durch ihre Differenzierung in Relevanzbereiche (vgl. Schütz 1971a; Schütz/ Luckmann 1979: 224ff.) und mannigfaltige Wirklichkeiten (vgl. Schütz 1971c: 237ff.) bestimmt ist. Die Gesellschaft wird also – darin ist Schütz Phänomenologe – von der sinnhaften Konstitution des einzelnen her bestimmt, so daß diese immer als subjektiver Sinnzusammenhang gesellschaftlich-objektiver Sinnstrukturen erscheint. Schütz nun allerdings über den Kamm der phänomenologischen Philosophie zu scheren, sieht daran vorbei, daß er sehr wohl entscheidende Beiträge zur soziologischen Theo15
Der Begriff des Idealtypus hat hier eine andere Bedeutung als bei Max Weber, schließt aber unmittelbar an dessen Konzept an. Bei Weber ist der Idealtypus ein methodologisches Konstrukt des Sozialforschers, der durch Überzeichnung signifikanter Merkmale besonders typische Phänomene hervortreten lassen will, um die durch akzidentelle Besonderheiten von konkreten Phänomenen entstehenden Unschärfen zu vermeiden. Folgerichtig sind Idealtypus und Realphänomen niemals eindeutig aufeinander abbildbar. Schütz sieht im Idealtypus ein ähnliches Phänomen wie Weber, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, daß es sich hier nicht um eine wissenschaftliche Methode, sondern um ein Strukturmerkmal der Alltagswelt handelt. Wie der Sozialwissenschaftler operieren Alltagshandelnde mit überzeichneten Typen, anhand derer sich Phänomene in der Sozialwelt leichter auffinden, zuordnen, erwarten und in ihrem Ablauf kalkulierbar machen lassen.
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riebildung geleistet hat. Jürgen Habermas etwa übersieht in seiner Kritik, Schütz’ Verfahren einer phänomenologischen Soziologie betreibe durch ihre Konzentration auf sinnstiftende Bewußtseinsakte lediglich „eine Generalisierung der eigenen Erfahrung“ (Habermas 1982: 234), daß Schütz die phänomenologische Einstellung verläßt und nach Kategorien sucht, die historisch-konkrete Lebenswelten zu beschreiben vermögen. Bekanntlich bildet bei Habermas schon in der Frühphase seines Werkes Sprache die entscheidende Trägerin der Intersubjektivität der Welt. Sprache erst macht die Welt zur Sozialwelt, was Habermas zu der sicher grundsätzlich berechtigten Kritik veranlaßt, das phänomenologische Denken könne durch seine monadologische Anlage die Funktion und Struktur von Sprache nicht entschlüsseln. „Die Monaden spinnen die sprachliche Intersubjektivität erst aus sich heraus. Noch ist Sprache nicht als Gespinst durchschaut, an dessen Fäden die Subjekte hängen und an ihnen zu Subjekten sich erst bilden.“ (ebd.: 240) Gleichwohl trifft diese Kritik Schütz nur am Rande, der zwar die Konstitutionstheorie der inneren Dauer der Subjekte voraussetzt und von Husserl nahezu nahtlos übernimmt, als Sozialtheoretiker aber explizit nach dem übersubjektiven Sinnzusammenhang der sozialen Welt fragt.16 Deutlich wird diese Erweiterung Husserls, wie angedeutet, in der Einführung des Zeichenbegriffs. Unter einem Zeichen versteht Schütz „Handlungsgegenständlichkeiten oder Artefakte, (...) welche kraft besonderer vorangegangener erfahrender Erlebnisse in andere (...) Deutungsschemata eingeordnet werden“ (Schütz 1981: 168). Ein Zeichen ist demnach keine eigenwesentliche Entität, sondern wird erst in actu durch Einordnung in einen vorerfahrenen Zusammenhang zum Zeichen. Zeichen treten demzufolge innerhalb eines Zeichensystems auf, d.h. als sinnhaftes Deutungsschema, „in den das betreffende Zeichen für denjenigen, der es deutend oder setzend gebraucht, eingestellt ist“ (ebd.).17 Bis hier ist noch nicht zu sehen, inwiefern die Einführung des Zeichens die egologische Beschränkung der Transzendentalphänomenologie aufheben könnte. Jedoch weist Schütz darauf hin, daß Zeichen in der Sozialwelt insbesondere die Funktion haben, objektive Sinnzusammenhänge aufzubewahren, sie gleichsam analytisch von der kopräsenten Konstitution eines alter ego abzukoppeln. „Ein Zeichen hat innerhalb des Zeichensystems, dem es zugehört, insofern einen ‚objektiven Sinn‘, als es unabhängig von den Zeichensetzenden und den Zeichendeutenden dem, was es bedeutet, einsinnig zuordenbar ist.“ (ebd.: 172; vgl. auch Schütz/ Luckmann 1984: 208) Träger der intersubjektiven Welt ist also ein Sinnzusammenhang von Sinnzusammenhängen, die zwar je subjektiv-sinnhaft konstituiert werden, gleichwohl aber unabhängig von je konkreten Konstitutionsakten gelten. Insbesondere die Sprache übt dabei als relativ geschlossenes und eindeutiges Zeichensystem die Funktion aus, Bedeutungen, Typen, i.w.S. Sinn aufzubewahren. Sprache ist in der Lage, als Zeichensystem Bedeutungen zu stabilisieren und so gesellschaftliche Kommunikation zu strukturieren. Sprache „als wichtigste der gesellschaftlichen Objektivationen“ (Schütz/Luckmann 1984: 66) bildet denjenigen Sinnbereich, der den einzelnen durch ein reichhaltiges Typen- und Sinnangebot Orientierung und Verstehensmöglichkeiten, auch über die unmittelbar kopräsente Umwelt hinaus, sichert.
16 17
Ähnlich argumentiert Ilja Srubar (1979: 43f.), der Habermas’ Schütz-Kritik vorwirft, den Unterschied zwischen Schütz und Husserl einzuebnen, so auch Grathoff 1989: 30, Fn 13. Vgl. dazu die „zeichentheoretische“ Kritik Derridas an Husserl, I.2e.
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Wenn man an dieser Stelle konstatieren kann, daß es Schütz gelingt, die Leerstellen zumindest zu benennen, die sich aus einer rein phänomenologischen Theorieanlage ergeben, so kann man zweierlei erwarten: 1) 2)
Es müßten sich die Sinnstrukturen der Sozialwelt, insbesondere die der sinnhaften Konstitution der Gesellschaft, darstellen lassen. In Schütz’ Annahme, das Sinnproblem sei ein Zeitproblem, müßte sich demnach der Schlüssel für eine Theorie der sozialen Zeit bzw. der Zeit der Gesellschaft finden lassen.
ad 1) Obwohl Schütz einsieht, daß eine Sozialtheorie sich v.a. dem Bereich der intersubjektiven Welt, ihren Konstitutions- und Entwicklungsbedingungen zuwenden muß, bleiben diese Fragen bei ihm merkwürdig unterbestimmt. Gleichwohl: Was er an Kritik an der Transzendentalphilosophie Husserls, insbesondere an der Frage der Intersubjektivität bereits in seinem Frühwerk vorbereitet, führt ihn in späteren Arbeiten in der zweiten Hälfte der 50er Jahre zu einer radikalen Abkehr von Husserl. Das Herzstück seines Rekurses auf den Begründer der Phänomenologie, die Phänomenologie der Intersubjektivität, versucht er sogar dahingehend zu widerlegen, daß es nicht gelingen kann, die Evidenz der Welt als Welt für alle von der transzendentalen Subjektivität her zu bestimmen. Laut Schütz ist Husserl an der Beantwortung der Frage gescheitert, wie allein aus den primordialen Akten des transzendentalen Ich das Wissen um ein transzendentales Du und um ein gemeinsames transzendentales Wir gestiftet werden kann. „Nur in einem solchen transzendentalen Wir könnte eine Vergemeinschaftung begründet werden.“ (Schütz 1971c: 111) Gegen Husserl bringt Schütz also zur Geltung: tertium datur. Dieses tertium schließlich ist der eigentliche Gegenstand der Sozialwissenschaften, den Schütz in Husserls Lebensweltbegriff der Krisisschrift (vgl. Husserliana VI) bereits vorbereitet sieht. Schütz kehrt darauf aufbauend das Bedingungsverhältnis von ego und Lebenswelt um: Nachdem der transzendentalphänomenologische Versuch, Intersubjektivität aus Bewußtseinsleistungen zu begründen, gescheitert ist, läßt er Intersubjektivität nur als „Gegebenheit der Lebenswelt“ (Schütz 1971d: 116, auch Schütz/Luckmann 1979: 25ff.) gelten. Nicht die Lebenswelt ist somit durch das subjektive Vermögen der Intersubjektivität fundiert, vielmehr haben die Subjekte teil an einer per se intersubjektiv strukturierten Lebenswelt. Dies ist für Schütz nicht weiter begründbar und wohl auch nicht weiter begründungsbedürftig. Die Intersubjektivität der Lebenswelt gilt für ihn als quasi-transzendentales Axiom, das durch seine anthropologische Qualität die ursprüngliche Gegebenheit der Lebenswelt unhintergehbar festschreibt. In Schütz’ fast emphatischen Worten: „Sie (die Lebenswelt, A.N.) ist die ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins in der Welt und somit aller philosophischen Anthropologie. Solange Menschen von Müttern geboren werden, fundiert Intersubjektivität und Wirbeziehung alle anderen Kategorien des Menschseins. Die Möglichkeit der Reflexion auf das Selbst, die Entdeckung des Ich, die Fähigkeit zum Vollzug jeglicher Epoché, aber auch die Möglichkeit aller Kommunikation und der Etablierung einer kommunikativen Umwelt ist auf der Urerfahrung der Wirbeziehung fundiert.“ (Schütz 1971d: 116)
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Trotz dieser scharfen Kritik an Husserl in Schütz’ Spätwerk,18 die Motive seines gesamten Werkes aufnimmt und bekräftigt und die der Habermasschen Kritik am phänomenologischen Verfahren teilweise entgegenkommt, werden Erwartungen an eine Konstitutionstheorie der Lebenswelt enttäuscht. Schütz hält, durchaus konsequent, an seinem von Weber ererbten methodologischen Individualismus fest, nach dem sich die Sozialwelt in ihren objektiven Strukturen subjektiv gebrochen im Bewußtsein abbildet und von dort her mitkonstituiert wird. Gleichwohl finden sich auch in den von Thomas Luckmann nach Schütz’ Tod bearbeiteten Manuskripten des geplanten Hauptwerks „Strukturen der Lebenswelt“ (Schütz/Luckmann 1979 und 1984) keine entscheidenden Hinweise auf die Genese, Dynamik und Differenziertheit der Sozialwelt als solche. Die detaillierten und aufschlußreichen Analysen über Wissens- und Sinnstrukturen der Lebenswelt, über Handlung, Verständigung und Sprachstrukturen, über die Differenz zwischen natürlicher Einstellung und Sinnenklaven etc. haben gemeinsam, daß sie soziale Strukturen in ihrer Verarbeitung durch und ihrer Bedeutung für die sinnhaften Akte der einzelnen untersuchen, jedoch letztlich nicht das, was als Lebenswelt von Schütz als tertium gegen die transzendentale Bewußtseinsphilosophie eingefordert wird. Hans Dieter Erlinger ist in seiner radikalen Kritik beizupflichten, wenn er betont, daß Schütz zwar den individuellen Zugriff auf Lebenswelt beschreiben könne, zum Konstitutionsproblem von Gesellschaft jedoch nicht viel beitragen könne (vgl. Erlinger 1986: 47).19 In eine ähnliche Richtung weist Luckmanns Diagnose, Schütz’ Denken sei keine Soziologie im engeren Sinne, sondern eine „Proto-Soziologie“, die menschliche Erfahrung als Grundlage einer – man muß hinzufügen: von Schütz nicht betriebenen – Gesellschaftstheorie „wieder“ (sic!) entdeckte (vgl. Luckmann 1979: 205).20 M.E. tritt das Defizit von Schütz’ Proto-Soziologie an ihrem Handlungsbegriff besonders eklatant zutage. Schütz geht apodiktisch davon aus, daß man Handeln immer eindeutig intentionalen Akten von Menschen zurechnen kann (vgl. Schütz/ Luckmann 1984: 95). Dies mag zunächst evident erscheinen – und soll auch vorerst nicht weiter problematisiert werden. Nun kann man von Schütz lernen, daß intentionale Akte von Individuen nicht nur in die Sinnstruktur der inneren Dauer, sondern immer auch in eine soziale Sinnstruktur eingebettet sind, die den Handlungsträger mit (Ideal-)Typen, objektiven Sinn- und Zeichensystemen, Relevanzen, Routinen etc. versorgen. Man kann also etwa erfahren, in welcher Weise sich ein sozial Handelnder langsam in ein System von Sinnstrukturen einfindet, um dann seine Relevanzstrukturen langsam dem sozialen Feld anzupassen, dem er nun angehört. Was man 18
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In einer sehr instruktiven Arbeit macht Ilja Srubar darauf aufmerksam, wie Schütz sich zwar von der Phänomenologie Husserls abkoppelt und – wie ich oben gezeigt habe – über den Zeichenbegriff eine nicht primordial egologische Kategorie einführt, trotzdem aber am bewußtseinstheoretischen Paradigma festhält (vgl. Srubar 1983: 68ff.). Diese Kritik schließt jedoch keineswegs einen produktiven Rekurs auf die Schützsche Sozialphänomenologie aus. Im Gegenteil: Die Schützsche Soziologie kann sich da bewähren, wo es in erster Linie darauf ankommt, die Frage der Rückwirkung sozialer Sinnstrukturen auf das individuelle Bewußtsein zu untersuchen. Als Beispiel vgl. die Ausführungen zur Frage einer sozialen Verdrängung des Todes in der Moderne in Nassehi und Weber 1989: 164ff. Es dürfte dort jedoch deutlich werden, daß bei der Analyse der Genese solcher rückwirkenden Wissensstrukturen andere Theoriemittel angewandt werden müssen und auch werden, nämlich solche gesellschaftstheoretischer Art. Walter L. Bühl sieht in dieser bloßen Voraussetzung Ich-bewußter Perspektiven, d.h. in der „Generalthesis des alter ego“, eine „soziologische Leerstelle“ (Bühl 1972: 45), die egos als letztlich transzendental zu begründende „Aprioris“ behandelt. Daß auch das bewußte Ich möglicherweise anders als bewußtseinsphilosophisch beschrieben werden kann, werde ich weiter unten zeigen (vgl. II.3a und b und III.1c).
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aber nicht erfahren kann, ist, wie die handlungsleitenden und -seligierenden Zusammenhänge zustandekommen, die dann als Handlungseinschränkung wirken. Schütz’ Denken geht davon aus, daß man sich immer schon in Sinnstrukturen befindet, in denen soziales Handeln möglich wird. Damit hat er zweifelsohne Recht. Doch wie das komplizierte Geflecht unterschiedlicher Wirkenszusammenhänge letztlich entsteht und wie es über individuelle Akte hinaus seine jeweilige komplexe Struktur erhält, scheint außerhalb des Rahmens der protosoziologischen Erklärungskraft von Schütz’ Sozialphänomenologie zu liegen. Auf einen Punkt gebracht: Das – wie Schütz in seinem Spätwerk darlegt – theoretisch unumgängliche tertium zwischen transzendentalem Ich und transzendentalem Du bleibt unterbestimmt. Es wird in seinem jeweiligen So-Sein genauso naiv vorausgesetzt, wie dies offenbar für Handelnde in der naiv-natürlichen Einstellung gilt. Aus Schütz’ theoretischer Anlage ergibt sich letztlich die Frage, wie die Sinnstruktur jener Welt mundaner Intersubjektivität sich strukturiert. Beantwortet wird sie jedoch nicht. Dies scheint auch daran zu liegen, daß Schütz die theoretische Notwendigkeit einer Revision der Husserlschen Begrifflichkeit einsieht, sie paradoxerweise aber letztlich ignoriert. Richtig bemerkt Srubar: „Obwohl nun die Intersubjektivität anthropologisch als ontologische Bedingung der Lebenswelt verstanden wird, hält Schütz an seinem egologischen Zugang zur Sinngebung weiterhin fest. Sinngebung bedeutet für ihn, unbeschadet der Tatsache, daß ihr sozial vermittelte Relevanzschemata der Auslegung und Thematisierung auferlegt sind, eine notwendigerweise einem Subjekt zuzurechnende Leistung.“ (Srubar 1983: 74f.) Aus dem Blick geraten dann vor allem diejenigen sozialen Phänomene, die nicht allein durch die kopräsente Vis-a-vis-Situation zweier Interaktionspartner mit ähnlichen Relevanzstrukturen konstituiert werden, sondern die – in Schütz’ Idiom – als mitweltliche Zusammenhänge komplexer Gesellschaften zu einer sozialen Dynamik führen, die man nur schwerlich interagierenden Gesprächspartnern zurechnen kann.21 Zwar geht jede Handlung letztlich auf individuelle Träger zurück, doch wie Handlungen aneinander anschließen, kann Schütz nur aus der Perspektive der je Handelnden, nicht aber vom „objektiven“ Sinn der Handlungen selbst her begreifen. Der Verweis auf die sozialen Limitationen sozialen Handelns, verstanden im Sinne des einschränkenden Strukturwerts, den „objektive“ Sinnstrukturen haben, ist eine Sache, die theoretische Aufklärung über die jeweiligen Bedingungen jener Limitationen eine andere. Solange Schütz nicht erklären kann, wie diese Limitationen als soziale Strukturen sich ausbilden, verändern und formieren, bleibt seine ohne Zweifel anspruchsvolle Theorie der subjektiven Konstitution objektiver Sozialphänomene eben nur Proto-Soziologie. ad 2) Folgt man Schütz darin, das Sinnproblem sei ein Zeitproblem, muß der festgestellte Mangel der phänomenologischen Sozialtheorie erhebliche Konsequenzen für eine Theorie der Zeit haben. In seinem Rekurs auf Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins macht Schütz plausibel, daß sich eine innere Dauer des Bewußtseins nur dadurch einstellen kann, daß einzelne sinnhafte Akte sinnhaft miteinander verknüpft werden und in einem retentionalen und protentionalen Bewußtseinsstrom konfundiert werden. Letztlich muß auch der sinnhafte Aufbau der Sozialwelt auf einer solchen Verknüpfungsleistung 21
Alle nicht unmittelbar als Vis-a-vis-Situationen fundierten Sozialverhältnisse erscheinen dann als defizienter Modus dieser, so vor allem in den auf Schütz aufbauenden Überlegungen zur „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und Thomas Luckmann (1969).
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beruhen, der nicht nur in den intentionalen Akten der beteiligten Bewußtseinsströme zu suchen ist, weil dieser jenem immer schon vorausgeht. Eine Theorie der sozialen Zeit benötigte also eine theoretische Erklärung der Verknüpfung sozialen Sinns in der Zeit, denn ohne Zweifel ist alles, was in der Sozialwelt geschieht, ebenso dynamisch und prozessual strukturiert wie die Temporalität des Bewußtseins. Die soziale Zeit müßte sich dann also als Strom von sozialen Handlungen beschreiben lassen, der das Problem der sozialen Zeit behandelt. Denn wenn das Sinnproblem und das Zeitproblem letztlich identisch sind, müßte die Sukzession von Handlungen diesen erst einen Sinn zuschreiben, und umgekehrt müßte sich aus diesem Sinn der Sukzession von selbst ein temporaler Horizont ergeben. Es sollte deutlich geworden sein, daß Schütz so weit nicht geht und mit seinen Mitteln auch nicht gehen kann. Sein theoretisches Instrumentarium endet beim Übergang von der Beschreibung der, gleichwohl sozial strukturierten, aber letztlich individuell organisierten inneren Dauer des Bewußtseins zum Zeithorizont sozialer Sukzessionen, die nicht allein individuellen Akten zurechenbar sind. Die Unterbestimmtheit dessen, was die phänomenologische Soziologie Schütz’ mit dem tertium transzendentaler egos und alters einfordert, wird am Problem der Zeit offensichtlich. Ich werde dies an zwei Komplexen verdeutlichen, zum einen an der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Zeit und zum anderen anhand der Zeitstruktur des Handelns. Ähnlich wie Bergson (vgl. I.2d) unterscheidet Schütz strikt eine äußere von einer inneren Zeit. „Unser Wirken gehört zwei Zeiten ‚zugleich’ an (...): die unteilbare, unräumliche, verfließende innere Zeit; sie ist nur meine Zeit – und die Deine, sofern ich mich in der lebendigen Gegenwart einer Wir-Beziehung erlebe. Und die homogene, anonyme, objektive Weltzeit ist ebenso gewiß nicht schlicht meine, sondern eben auch meine Zeit“. (Schütz/Luckmann 1984: 31; vgl. auch Schütz/Luckmann 1979: 53) Der einzelne lebt nun im „Schnittpunkt beider Zeiten“ (Schütz/Luckmann 1984: 32), wodurch gewissermaßen der Kontakt zwischen Subjekt und Lebenswelt gesichert und die Transzendenz der Weltzeit (vgl. Schütz/ Luckmann 1979: 74) aus der Perspektive der je inneren Dauer gewahr wird. Den Leser eher verwirrend, bemerken Schütz und Luckmann: „Die Struktur der lebensweltlichen Zeit baut sich in Überschneidungen der subjektiven Zeit des Bewußtseinsstroms, der inneren Dauer, mit der Rhythmik des Körpers wie der ‚biologischen Zeit‘ überhaupt, mit den Jahreszeiten wie der Welt-Zeit überhaupt und dem Kalender, der ,sozialen Zeit‘.“ (ebd.: 75, vgl. auch 137) Die einzig konstituierte Zeit, die Schütz mit seinem Instrumentarium zu beschreiben in der Lage ist, scheint diejenige zu sein, die Husserl in der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins beschrieben hat. Die anderen hier genannten – biologische, soziale und Weltzeit – bleiben Begriffe ohne theoretische Anschauung, ergo leer. Sie werden stillschweigend als existent vorausgesetzt und erscheinen als ontologische Setzungen, obwohl gerade in ihnen das bezeichnet wird, was Gegenstand einer genuin soziologischen Zeittheorie ist: die Zeitstruktur überindividueller sozialer Strukturen. Lediglich als Routine- (vgl. Schütz/Luckmann 1984: 79) oder Ablauftypen (vgl. Schütz 1981: 262) tritt so etwas wie die sinnhafte temporale Verknüpfung von sozialen Handlungen in Schütz’ Theorie auf, nicht aber die Zeitlichkeit des Sozialen selbst. Diese Unterbestimmtheit der sozialen Zeit in Differenz zur immanenten Zeit des Bewußtseinsstromes führt zu jenen grobschlächtigen Charakterisierungen der äußeren Zeit als homogen, anonym und objektiv.
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Nach der Differenz innerer und äußerer Zeit nun also zur Zeitstruktur des Handelns: Hätte man noch erwarten können, daß Schütz unter dem Stichwort der Zeitstruktur des Handelns die soziale Dimension der sinnhaften Verknüpfung von Handlungen vornimmt, also an dieser Stelle auf eine Theorie der sozialen Zeit zu sprechen kommt, sieht man sich um so mehr erstaunt, als Schütz offenbar hinter Max Weber zurückfällt. Hatte dieser noch dezidiert Handlungen nicht nur im Hinblick auf den subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden untersucht, sondern als soziale Handlungen explizit auch die Orientierung dieser Handlungen am Verhalten anderer (vgl. Weber 1976: 1), fällt bei Schütz dieser Aspekt fast vollständig aus. Ihn interessiert nur die Frage, wie sich der subjektive Handlungsentwurf und -vollzug in der immanent antizipierten Dauer des Handelnden konstituiert.22 Insofern handelt Schütz die Zeitstruktur des Handelns letztlich nur als immanente Zeitstruktur des Handelnden ab. Danach ist der gesamte Prozeß von Handlungsentwurf und -plan bis zum Handlungsvollzug teleologisch strukturiert, wobei das Telos des Handelns im Entwurf „modo futuri exacti“ (Schütz/Luckmann 1984: 27ff.) vorstrukturiert ist. Die Zeitstruktur des Handelns, wie Schütz sie darlegt, macht erneut deutlich, daß Schütz das notwendige Instrumentarium fehlt, die Zeitstruktur der sinnhaft aufeinander bezogenen Handlungen zu erklären. Dieser Mangel freilich ist kein akzidentelles Merkmal der Schützschen Theorie, sondern wird durch die Substanz ihrer theoretischen Leistungsfähigkeit bestimmt. Insofern ist hier das Zeitproblem nicht eines unter anderen; vielmehr scheint mir die Lösung der Frage der temporalen Beziehung zwischen Handlungen und zwischen Typen konstitutiv für die theoretische Beschreibung des Sozialen zu sein. In eine ähnliche Richtung weist Ilja Srubars Kritik an Schütz’ Typentheorie. Srubar gibt zu bedenken, daß die alltägliche typisierte soziale Wirklichkeit zugleich intersubjektiv gegeben und je nur perspektivisch wahrnehmbar ist. Um dieses widersprüchliche Verhältnis aufzulösen, führt Schütz die „Generalthese der Reziprozität der Perspektiven“ (Schütz 1971c: 365) ein, die – so Srubar – von zwei Voraussetzungen abhängt: „a) Es muß die Identität des Wahrgenommenen, also die intersubjektive Erfaßbarkeit dieser Identität gewährleistet werden. b) Es muß eine wenigstens annähernd gleiche Konstitution (des Wahrgenommenen; A.N.) (...) in der Wahrnehmung angenommen werden.“ (Srubar 1979: 47) Die erste Bedingung kann laut Srubar nur unter der Voraussetzung gelten, daß die Wahrnehmungen gleichzeitig erfolgen, d.h. durch eine übersubjektive Weltzeit synchronisiert werden, die für beide gilt. Die öffentliche Zeit als universelle Zeitstruktur der Alltagswelt (vgl. ebd.: 47f.) verbürgt also die Reziprozität der Wahrnehmung. Die zweite Bedingung schließlich kann nur unter der Voraussetzung gelten, daß die Konstitution des reziprok Wahrgenommenen ebenfalls reziprok erlebt wird. Ego geht – so das Argument – immer schon davon aus, daß auch alter bewußte Akte durch sinnhafte Kontinuierung im Bewußtseinsstrom bildet. Damit verbürgt die immanente Zeitstruktur des Bewußtseinsprozesses die Gleichheit der Konstitution.
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Nur der Vollständigkeit halber, weil immer wieder darauf hingewiesen wird (zuletzt Adam 1990: 35ff.): Schütz legt Wert auf die Unterscheidung von Handeln und Handlungen. Während ersteres den je unmittelbar präsenten Vollzug des Handelns bezeichnet, sind letztere bereits das Ergebnis eines vergangenen Vollzuges (vgl. Schütz/Luckmann 1984: 27). Letztlich bildet sich hier das Husserlsche Modell der Differenz von vorreflexiver Urimpression und reflexiver Retention ab. Für meinen Argumentationsgang spielt dieser Unterschied jedoch keine Rolle.
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Srubar faßt zusammen, daß sich eine „Vermittlung zwischen der Intersubjektivität und der Perspektivität derselben anhand ihrer Zeitstruktur“ (ebd.: 48) darstellen lassen müßte. Er klagt eine Terminologie ein, die auf die Differenz zwischen subjektiven und übersubjektiven Zeitabläufen abstellt und dabei zweitere nicht nur als Residualkategorie behandelt. Zugleich beklagt er, daß Schütz dies bei seinen Überlegungen zur Typenbildung, d.h. zur Entstehung sozialer Limitationen und Strukturen, nicht berücksichtigt (vgl. ebd.: 52). Warum dies der Fall ist, dürfte meine ausführliche Kritik an Schütz deutlich gemacht haben. Um sie noch einmal zusammenfassend auf den Punkt zu bringen: Zwar bringt Schütz, der die Husserlsche Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins nahezu nahtlos übernimmt, gegen Husserl zur Geltung, daß sich die Genese, Struktur und Dynamik der Sozialwelt nicht aus der Primordialität transzendentaler egos verstehen läßt. Doch bleibt er durch seine Beschränkung auf die sinnhaften Akte des Bewußtseins, in dem sich die „objektive“ Sozialwelt „subjektiv“ konstituiert, ein Gefangener der phänomenologischen Denkweise. Dies hat zur Folge, daß die von Schütz gegen Husserl entdeckten Sozialstrukturen letztlich theoretisch unterbestimmt bleiben, was sich am Problem der sozialen Zeit exzeptionell niederschlägt. In Erweiterung des Schützschen Ansatzes macht Srubar den Vorschlag, die übersubjektive Zeit als „Zeitstruktur der sozialen Wirklichkeit“ (ebd.: 53) bei der Struktur- und Typenbildung der sozialen Welt zu berücksichtigen. Auch er geht von einer Differenz zwischen innerer und äußerer Zeit aus, möchte aber letztere nicht einfach als objektive Weltzeit gelten lassen, sondern fragt nach ihrer Entstehungsbedingung. Die innere Zeit, von der Husserl und Schütz handeln, nennt Srubar die konstituierte Zeit. Die übersubjektive äußere nennt er die produzierte Zeit.23 Während sich diese übersubjektive Zeit bei Schütz letztlich auf die aufgrund der Himmelsbewegung quantifizierbare kosmische Zeit beschränkt (Schütz 1971c: 254ff.), betont Srubar ihren sozialen Charakter. Soziale Rhythmen und wiederkehrende Routinen etwa sind, so Srubar, „nicht auf eine kosmische, sondern auf eine soziale Zeit zurückzuführen (...), die nicht vom Ablauf der Himmelskörper, sondern vom Ablauf sozialer Prozesse, in die wir (...) eingegliedert sind, gesetzt wird“ (Srubar 1979: 53f.). Diese Feststellung führt Srubar zu der Frage, wie jene sozialen Prozesse bestimmt werden können, wie sie in ihrer Temporalität zum Bestandteil sozialer Typiken werden können. Er schlägt vor, den bei Schütz zu beobachtenden statischen Charakter der Typen um ihren dynamischen Aspekt zu erweitern, um die Zeitstruktur der Alltagswelt erklären zu können. Sie, so Srubar, wird durch das Wechselspiel von konstituierter und produzierter Zeit getragen. Im Unterschied zu Schütz bringt Srubar zum Ausdruck, daß die Eigenzeitlichkeit der Sozialwelt die theoretische Möglichkeitsbedingung für die Frage der intersubjektiven Typenbildung darstellt. Er fordert mit Recht ein, daß die Zeitstruktur der „alltäglichen sozialen Wirklichkeit“ (ebd.: 48) Eingang in die Theorie der Sozialwelt finden muß. Doch diese Forderung macht das Defizit der phänomenologisch orientierten Sozialtheorie der Zeit um so dringlicher: Die Existenz einer sozialen Zeitstruktur wird zwar zugestanden, die theoretischen Mittel reichen aber nicht aus, um die soziale Genese jener Temporaltypen zu beschreiben. Die phänomenologische Soziologie bleibt eine Theorie des Bewußtseins, und 23
So Srubar auch schon in seiner Frankfurter Dissertation „Glaube und Zeit“ (Srubar 1975: 33ff. und 102ff.).
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ihre Zeittheorie beschränkt sich folgerichtig auf die Konstitution innerer Dauer, die zwar „äußere“ Typen, Zeichen, „objektiven“ Sinn und soziale Erwartung benutzt, diese aber ohne weiteres theoretisches Auflösevermögen reifizierend voraussetzen muß.
3.
Relativität und Sozialität der Zeit
Alle bis hier vorgestellten und diskutierten Ansätze waren wesentlich von dem Problem bestimmt, die Konstitution von Zeit als Bewußtseinstätigkeit, als Operation Ich-bewußter Subjekte zu behandeln. Überlegungen zur Konstitution sozialer Zeithorizonte und die Konzeptualisierung einer Zeit der Gesellschaft konnten folgerichtig nur – wie ich am Beispiel des Übergangs von der Husserlschen monadologischen zur Schützschen mundanen Intersubjektivität gezeigt habe – auf den Fokus einer bewußtseinsbasierten Konstitution auch der sozialen Zeit beschränkt bleiben. Der Hintergrund dieser Beschränkung liegt in der Perpetuierung der Tradition der Bewußtseinsphilosophie, die aus theoretisch-analytischen Gründen das Soziale unterbestimmt lassen muß. Bereits 1912 hat Emile Durkheim in seiner grundlegenden Studie „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ die Zeit als soziale Tatsache beschrieben: „Es ist nicht meine Zeit, die auf diese Weise organisiert ist; es ist die Zeit, wie sie von allen Menschen einer und derselben Zivilisation gedacht wird. Das allein genügt schon, um deutlich zu machen, daß eine derartige Organisation kollektiv sein muß.“ (Durkheim 1981: 29) Durkheim macht unmißverständlich deutlich, daß es gerade nicht die Bergsonsche innere Zeit ist, die in soziale Kontexte eingeht. „Es ist gerade nicht die ,innere Zeit‘, die mir die Einordnung aller Ereignisse ermöglicht, sondern eine sozial konstituierte Zeit.“ (Schmied 1985: 40) In eine ähnliche Richtung weist eine Studie von Pitirim A. Sorokin und Robert K. Merton (1937: 615ff.), die zwar mit Bergson den qualitativen Charakter der Zeit betont, gegen ihn jedoch deren soziale Genese in den Vordergrund stellt.24 Diese qualitative, soziale Zeit besteht aus typischen sozialen Erstreckungen – z.B. „ein Semester“ – oder aus allseits bekannten Fakten, die mit bestimmten temporalen Daten verbunden werden. Dazu gehören etwa auch kalendarische Daten,25 soziale Rhythmen und – um einen Terminus von Maurice Halbwachs aufzugreifen – das „kollektive Gedächtnis“ (Halbwachs 1967), das gesamtgesellschaftliche oder gruppenspezifische Wissensvorräte speichert oder – durch Vergessen – unsichtbar macht. Schon diese wenigen Andeutungen belegen, daß Zeit ohne Zweifel als „soziale Tatsache“ behandelt werden muß, die nicht einem Bewußtsein oder auch nur Bewußtseinsleistungen schlechthin zugerechnet werden kann. Im folgenden werde ich zunächst nicht jene genannten Phänomene der sozialen Rhythmik, der kalendarischen Organisation sozialer Handlungen etc. untersuchen. Ich setze vielmehr eine Analyseebene tiefer an und wende mich der Frage zu, wie soziale Zeit möglich ist und welche theoretischen Mittel aufgewendet werden müssen, um diese Möglichkeit zu be24
25
Ich schließe mich damit der Argumentation von Gerhard Schmied (1985: 34f.) an, die den expliziten und impliziten Einfluß Bergsons auf die soziologische Theoriebildung zum Zeitproblem betont. Schmied stellt heraus, daß die Soziologie von Bergson zwar die Opposition qualitativer und quantitativer Zeitformen übernimmt, sie jedoch nicht an die Differenz innere/äußere Zeit, sondern soziale/kosmische Zeit anlegt. Ob diese Opposition für neueste Theorieniveaus noch gelten kann, wird weiter unten problematisiert werden (vgl. IV). Was Sorokin und Merton übrigens bestreiten. Zur Kritik vgl. wiederum Schmied 1985: 45f.
112
II. Kapitel
schreiben. Dies wird unter den Stichworten Relativität und Zeit (a) und Handlung und Zeit (b) geschehen. Als relativ hat sich die Zeit zum gegenwärtigen Stand der Untersuchung insofern erwiesen, als die Konstitution von Zeit immer auf die Konstitutionsleistung einer operativen Einheit angewiesen ist – so das Ergebnis der Husserlschen Temporalphänomenologie. Der Begriff der Handlung wurde bis jetzt lediglich als Ergebnis intentionaler Akte angesehen, was die Zeitstruktur der Handlung mit der des Bewußtseins zusammenfallen läßt – so meine Kritik an Schütz. Womöglich läßt eine Reformulierung des Handlungsbegriffs auch eine Reformulierung der Zeitstruktur der Handlung zu, was eine Einsicht in die Sozialität der Zeit ermöglichen soll. Unter dem Stichwort Relativität der Zeit rekurriere ich auf die relativistische Theorie George Herbert Meads und die Prozeßphilosophie Alfred North Whiteheads und – in einem kurzen Exkurs – auf die spezielle Relativitätstheorie Albert Einsteins; unter dem Stichwort Handlung und Zeit rekurriere ich auf Meads Handlungstheorie.
a)
Relativität und Zeit. Mead und Whitehead
Die Handlungstheorie George Herbert Meads, von der entscheidende Neuerungen einer Theorie der sozialen Zeit zu erwarten sind, weil sie den Handlungsbegriff im Sinne des amerikanischen Pragmatismus nicht intentionalistisch, also subjektphilosophisch begründet, schließt unmittelbar an zeitgenössische Neuerungen in den Naturwissenschaften und an die ebenfalls naturphilosophisch orientierte Prozeßphilosophie Alfred North Whiteheads an. Ich werde im folgenden zunächst Meads theoretische Voraussetzungen seiner relativistischen Theorie „abklopfen“, diese mit Einsteins Relativitätstheorie konfrontieren und danach Meads Anschluß an Whitehead diskutieren, bevor ich auf die soziologischen Implikationen Meads zu sprechen komme. George Herbert Mead geht in seiner Analyse der Genese der sozialen Zeit von drei Voraussetzungen aus, die sich – auf den ersten Blick – widersprechen: Er betont 1) die Perspektivität und Relativität der Zeit, vermeidet 2) eine Reduktion der sozialen Zeit auf die Zeit des Bewußtseins und lehnt 3) die scharfe Trennung zwischen Natur- und Kultur-/Geistes-/Sozialwissenschaften ab. Es wird zunächst zu prüfen sein, wie sich diese Prämissen vereinbaren lassen, bevor ich auf Meads und Whiteheads Erklärungsversuch im einzelnen eingehe. Seit Aristoteles spielt bei der Bestimmung der Zeit die Position des Beobachters eine entscheidende Rolle (vgl. I.2a). Jedoch wurde die Zeit als Funktion der Zahl (Aristoteles), als Geschöpf Gottes (Augustinus; vgl. I.2b), ja sogar noch in ihrer Bestimmung als reiner Form der inneren Anschauung (Kant; vgl. I.2c) in gewisser Weise als Entität behandelt, die von einem Beobachter wahrgenommen wird bzw. bei Kant transzendentale Bedingung der Möglichkeit einer solchen Wahrnehmung/Erfahrung ist. Erst mit Bergson (vgl. I.2d) und Husserl (vgl. I.2e) wird das Sein der Zeit an die operativen, nicht transzendentalen Fähigkeiten des Bewußtseins gebunden. Dabei spielte immer – besonders bei Bergson – die Unterscheidung zwischen einer inneren, eigentlichen Zeit und der äußeren, teilbaren und homogenen Zeit der Physik eine entscheidende Rolle. Dem liegt eine – besonders in Deutschland – virulente Unterscheidung von Kultur- und Natur-, von idiographischen und
Intersubjektive und soziale Zeit
113
nomothetischen Wissenschaften zugrunde.26 Gegen die nomothetisch orientierten Naturwissenschaften, die die Welt als Netz kausaler Interdependenzen sahen, das prinzipiell und potentiell mit den Mitteln der klassischen Physik, der aristotelischen Logik, der euklidischen Geometrie und der quantifizierenden Messung ins Letzte zu entschlüsseln war, mußten sich die historischen, geisteswissenschaftlich-hermeneutischen und phänomenologischen Wissenschaften den qualitativen Fakten der Kultur zuwenden. Insbesondere am Zeitbegriff – man denke wiederum an Bergson – sollte sich der qualitative Aspekt des Geistes gegen die materiale Natur des Gegenständlichen, in quantitativer Reduktion Gegenstand der Naturwissenschaften, durchsetzen. Die Phänomenologie schließlich brachte die Relativität und Perspektivität jeder bewußtseinsbasierten Position zur Geltung, die zwar in einem abstrakten Weltbegriff koinzidierten. Doch war dieser Koinzidenzpunkt selbst als Welt historischer Natur und damit historisch relativ und veränderlich.27 Als absolut, unveränderlich und damit auch perspektivenübergreifend identisch stellte sich die Welt der Newtonschen Physik dar (vgl. Muth/Pfeil 1986: 71ff.). Der Newtonsche Begriff der absoluten Zeit impliziert, daß man Zeit als eigenständige Entität behandeln kann. Sie ist – im Wortsinne – unbedingt, weil sie letztlich von keinem fremden Bedingungsfaktor abhängt und somit immer und überall gleich gelten kann (vgl. Adam 1990: 50f.). Daß eine solche Zeitkonzeption dem Interesse einer soziologischen Theorie der Zeit widerspricht, liegt auf der Hand. Dies bestätigt auch die – schon erwähnte – Diagnose Schmieds, daß sich die soziologische Theoriebildung zum Zeitproblem die Bergsonsche Opposition von qualitativ-perspektivisch-innerer vs. quantitativ-absolut-äußerer Zeit zu eigen gemacht hat, wobei sie den psychischen Aspekt Bergsons durch den sozialen einer gesellschaftlichen Konstitution der Zeit ersetzt hat (vgl. Schmied 1985: 34ff.). Es mag damit um so erstaunlicher erscheinen, daß Mead gerade an naturwissenschaftlichen Forschungen ansetzt, um sein Programm einer nicht auf Bewußtseinskonstitution reduzierten, Perspektivität betonenden und – bezogen auf die Trennung von nomothetischen und idiographischen Wissenschaften – antidualistisch verfahrenden Theorie zu entwickeln. Wie Yehuda Elkana in seinen wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Studien bemerkt, tritt mit dem Komplexerwerden des modernen Wissenschaftsbetriebes, insbesondere mit der multinationalen Vernetzung der Forschung, das Phänomen der Multiplets in Erscheinung: „(...) dieselbe Theorie, Tatsache oder Interpretation wird von zwei oder mehr Forschern gleichzeitig entdeckt.“ (Elkana 1986: 110) Hier sollen nun nicht Elkanas Analysen der Wissenschaftsentwicklung, insbesondere der Naturwissenschaften interessieren, sondern die Tatsache, daß ein solcher Multiplet zu Beginn unseres Jahrhunderts zwischen den als monolithisch erscheinenden Blöcken der Wissenschaftstypen zu beobachten ist. An eine solche parallele Entwicklung schließt Mead an: die Relativität des Selbstbewußtseins auf der einen Seite, die Relativitätstheorie der Einsteinschen Physik auf der anderen. Schon hier läßt sich erahnen, wie Mead die drei erwähnten, auf den ersten Blick womöglich nicht miteinander kompatiblen Voraussetzungen verbindet. Zumindest die erste – Perspektivität und Relativität der Zeit – und die dritte – antidualistisches Wissenschaftsverständnis – scheinen in jenem Multiplet miteinander vermittelbar zu sein. Diesen beiden Voraussetzun26 27
Zu den Konsequenzen dieser Unterscheidungen für das Verständnis von Zeit vgl. IV.6a. Vgl. meine kurzen Bemerkungen zu Husserls Begriff der Geschichte, II.2a.
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II. Kapitel
gen werde ich mich im folgenden zuwenden; die zweite – Kritik der Reduktion auf die Referenz Bewußtsein – wird daran anschließend behandelt werden. In einem Aufsatz von 1913 – Die soziale Identität – geht Mead, wie Habermas (1988c: 210) formuliert, vom „Zirkel der selbstvergegenständlichenden Reflexion“ aus. Die Zirkularität dieses Modells – das Subjekt muß bereits vorausgesetzt sein, damit es sich objektivierend auf sich als Subjekt zurückbeugen kann – versucht Mead dadurch zu umgehen, daß er jenen reflexiven Akt nicht als subjektiven Akt im Sinne der klassischen Bewußtseinsphilosophie, sondern als sozialen Akt auffaßt. Er betont, „daß die Identität im Bewußtsein nicht als ein ,Ich‘ auftreten kann, sondern stets ein Objekt ist, d.h. ein ,Mich‘ (Mead 1980a: 241). Das Mich resultiert aus der Perspektivenübernahme eines anderen, und diese Übernahme wirkt auf das Ich zurück, das aber niemals als solches ansichtig wird, sondern quasi das unhintergehbare, aber vorbewußte Zentrum des Bewußtseins darstellt. „Das ,Ich‘ tritt nicht in das Rampenlicht; wir sprechen zu uns selbst, aber wir sehen uns nicht selbst. Das ,Ich‘ reagiert auf die Identität, die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt. Indem wir diese Haltungen übernehmen, führen wir das ,ICH‘ (=,Mich‘; A.N.) ein und reagieren darauf als ein ,Ich‘.“ (Mead 1988: 217)28 Die Identität – Mead spricht vom self – ist also nicht Ergebnis eines subjektiv-sinnhaften Prozesses, sie ist vielmehr das Resultat eines Prozesses, den Mead einen „gesellschaftlichen Prozeß“ nennt, „der die gegenseitige Beeinflussung der Mitglieder der Gruppe, also das vorherige Bestehen der Gruppe selbst voraussetzt“ (ebd.: 207). Diese gegenseitige Beeinflussung ist nur deshalb möglich, weil Interaktionspartner ihre Individualität reziprok durch Rollenübernahme und Perspektivenwechsel konstituieren. Individualität ist also kein letzter, vorreflexiver Identitätsgrund einzelner,29 sondern Resultat sozialer Prozesse.30 Entscheidend ist nun folgendes: Mead geht von einer Differenz von Perspektiven aus, die zwar füreinander unaufhebbar, jedoch auch aufeinander angewiesen sind. Die Perspektiven sind notwendigerweise verschieden, sonst würde es keinen Sinn machen, wenn Mead von einer reziproken Perspektivenübernahme spricht. Mich im Spiegel des anderen als Individualität zu konstituieren, heißt explizit nicht, daß ich im anderen aufgehe. Mead bemerkt ausdrücklich, daß es das Ich ist, das auf das Mich reagiert und so eine Identität erzeugt (vgl. auch Wenzel 1985: 34). Damit wird eine unhintergehbare Relativität der Standpunkte und Perspektiven geschaffen – eine Relativität im Wortsinne, denn das Individuum steht immer in Relation zu anderen, wobei diese Differenz durch die Relativität der Perspektive gerade nicht überbrückt wird. Identität resultiert aus der unhintergehbaren Relativität der Positionen zueinander. Diese Relativität der Positionen zueinander, also ihre Unterschiedlichkeit (Differenz) und ihre Bezogenheit aufeinander (Identität) ist eine soziale
28
29 30
Zur Schreibweise: Es gibt keine kritische Gesamtausgabe des Meadschen Werkes in deutscher Sprache, so daß die Übersetzungen nicht aufeinander abgestimmt sind. Während die von Joas edierte Ausgabe der gesammelten Aufsätze (Mead 1980 und 1983) die Begriffe I und Me mit Ich und Mich übersetzt, spricht die deutsche Ausgabe von „Geist, Identität und Gesellschaft“ (Mead 1988) von Ich und ICH. Soweit nicht daraus zitiert wird, halte ich mich an die Joas-Edition. So bestimmt bekanntlich Manfred Frank (1986: v.a. 116ff.) in kritischer Abhebung gegen die klassische Reflexionsphilosophie des Subjekts und in Anlehnung an Schleiermachers Hermeneutik den Begriff der unhintergehbaren Individualität. Vgl. dazu in einem anderen Kontext IV.5c.
Intersubjektive und soziale Zeit
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Relativität, weil sie in der Perspektivenübernahme notwendig auf den sozialen Austausch der Subjekte angewiesen ist. Das Gesagte betont zunächst nur die Frage der strukturellen Genese der Perspektivendifferenz. Man kann schon ahnen, daß für Mead ein analytisches Problem in der Frage der sozialen Organisation der verschiedenen Perspektiven besteht (vgl. Mead 1988: 129). Dieses Problem sei aber hier noch zurückgestellt; ich wende mich zunächst der schon angesprochenen Parallele in den Naturwissenschaften zu.
Exkurs: Spezielle Relativitätstheorie Parallel zu den Zweifeln an der reflexionstheoretischen Letztbegründung des Selbstbewußtseins, die zu einer Relativität der Beobachterstandpunkte führen, deren Vermittlung offenbar eine neue theoretische Herausforderung darstellt, rezipiert Mead die Zweifel an der Letztbegründung der Newtonschen Physik durch die Relativitätstheorie. Diese Zweifel gipfeln in der Annahme, „daß (die Vorstellung) unabhängiger Raum und unabhängige Zeit, worin ein physikalisches Universum konstruiert werden kann, und (die Vorstellung) Materie, die man sich als logisch unabhängig von den aus Materie sich aufbauenden Systemen von Dingen vorstellen kann, aus dem wissenschaftlichen Denken entfernt werden. Dieser Hintergrund der Historizität verschwand mit der Relativitätstheorie und der elektromagnetischen Theorie der Materie“ (Mead 1969: 276). Albert Einsteins Forschungen hatten zur Folge, daß ein absoluter Zeitvergleich im Raum, wie er dem Newtonschen Universum entspricht, nicht mehr denkbar ist (vgl. Muth/Pfeil 1986: 91). Das entscheidende Stichwort lautet: Relativität der Gleichzeitigkeit. Als gleichzeitig gelten für Einstein zwei Ereignisse zunächst dann, wenn durch Beobachtung diese zwei Ereignisse als gleichzeitig wahrgenommen werden. Ein Zug, der um sieben Uhr ankommt, fährt gleichzeitig mit einer bestimmten Zeigerstellung auf meiner Uhr in den Bahnhof ein (vgl. Einstein 1905: 893). Diese Gleichzeitigkeit beruht zwar auf der Wahrnehmung durch einen Beobachter, jedoch hat die vorrelativistische Physik diese Beobachtungsrelativität im Begriff des absoluten Raumes und der absoluten Zeit nicht wahrgenommen. In Einsteins Worten: „Findet irgendwo ein Ereignis statt, so können wir ihm drei Koordinaten xv und einen Zeitwert t zuschreiben, wenn von dem Ereignis feststeht, welche Uhrzeit t der im Koordinatenursprung befindlichen Uhr ihm gleichzeitig sei. Wir geben damit der Aussage der Gleichzeitigkeit distanter Ereignisse (hypothetisch) eine objektive Bedeutung, während oben nur von der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse eines Subjekts die Rede war.“ (Einstein 1969: 19) Unter Bedingungen der euklidischen Geometrie, die die vorrelativistische Physik als Maßgabe der „Lagerungsgesetze idealer fester Körper“ (ebd.: 8) behandelt, bildet das gesamte Universum ein „Inertialsystem“ (ebd.: 28); an anderer Stelle spricht Einstein von einem „ruhenden System“ (Einstein 1905: 892). Indem die Fundierung aller Ereignisse in einem Koordinatensystem die prinzipielle Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von Ereignissen verkürzte, spielte die Frage der Distanz dieser Ereignisse voneinander keine Rolle. Erst die Entdekkung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit führte dazu, daß Raum und Zeit nicht mehr getrennt voneinander betrachtet werden konnten.
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II. Kapitel
Der Gedanke der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit impliziert zweierlei: Erstens braucht das Licht Zeit, um sich im Raum auszubreiten (ca. 1 Sekunde für 300.000 km); zweitens ist diese Geschwindigkeit endlich, d.h. nicht überschreitbar. Dies hat zur Folge, daß bei der Zeitmessung bei entsprechend großen Räumen bzw. genauen Uhren Meßungenauigkeiten auftreten. Einstein macht dies an seinem berühmten Uhrenbeispiel deutlich: An zwei Punkten eines ruhenden Systems sind gleichartige Uhren aufgestellt. Ein Lichtstrahl, der von der Uhr A zur Uhr B gesandt wird, trifft aufgrund der endlichen Lichtgeschwindigkeit bei der Uhr B nicht zur gleichen Zeigerstellung ein, die Uhr A zum Zeitpunkt des Absendens hatte. Sie zeigt vielmehr die Zeit der Uhr A beim Absenden des Strahls, die der Lichtstrahl brauchte, an. Ein Beobachter bei der Uhr B sieht demnach auf der Uhr A eine frühere Zeit angezeigt als auf Uhr B. Daraus folgt, daß die Differenz der wahrgenommenen Zeit der beiden Uhren der Zeit entspricht, die ein Lichtstrahl braucht, um von A nach B zu gelangen (vgl. Einstein 1969: 30f.). Letztlich widerspricht dieses Modell noch nicht der vorrelativistischen Physik, denn die konstante Lichtgeschwindigkeit läßt sich exakt berechnen, wodurch Gleichzeitigkeit auch für einen Beobachter wiederherstellbar ist.31 Zugleich bietet es aber auch keinen Beweis für die vorrelativistische absolute Zeit, denn es gilt, daß diese Zeitdefinition sich nur auf das Inertialsystem K bezieht, „da wir ja ein System von relativ zu K ruhenden Uhren benutzt haben“ (ebd.: 31). Gilt diese Bedingung des gemeinsamen Inertialsystems K nicht mehr, stellt sich das Problem der Gleichzeitigkeit völlig neu. Sobald sich zwei Beobachterpositionen nicht in einem ruhenden Verhältnis zueinander befinden, liegen zwei Inertialsysteme vor. Dies ist speziell dann der Fall, wenn sich zwei Inertialsysteme relativ zueinander bewegen. Nimmt man nun an, daß sich ein Beobachter in der Mitte zwischen den beiden Uhren befindet, müßten diese Chronometer tatsächlich die gleiche Zeit anzeigen, da das Licht jeweils die gleiche Zeit braucht, um den Beobachter zu erreichen. Dies gilt jedoch – das ist die Quintessenz der speziellen Relativitätstheorie – nur für einen unbewegten Beobachter. Einstein zeigt, daß die Annahme der klassischen Kinematik, „daß ein bewegter starrer Körper in der Zeitepoche t in geometrischer Beziehung vollständig durch denselben Körper, wenn er in bestimmter Lage ruht, ersetzbar sei“ (Einstein 1905: 896), nicht gilt. Ein in Relation zum Beobachteten bewegter Beobachter gehört nicht mehr zum ruhenden System der miteinander in Beziehung stehenden Körper. Nach der klassischen Kinematik müßten für einen in der Mitte zweier Uhren befindlichen, mit einer konstanten Geschwindigkeit v von A nach B sich bewegenden Beobachter die Uhren Gleichzeitigkeit anzeigen. Unterlegt man aber das Theorem der konstanten Lichtgeschwindigkeit c, muß man feststellen, daß der bewegte Beobachter im Gegensatz zum unbewegten auch in der Mitte der Strecke zwischen den Uhren keine Gleichzeitigkeit wahrnimmt. Wie bei einem ruhenden Beobachter wird die Differenz zwischen der wahrgenommenen und der tatsächlichen Zeit der Uhr A bzw. der Uhr B berechnet, indem die Wegstrecke r zwischen dem Beobachter und der jeweiligen Uhr durch die Lichtgeschwindigkeit c geteilt wird. Unter tatsächlicher Zeit ist hier selbstverständlich nicht eine absolute, 31
Durch exakte Berechnung der wahrgenommenen Ungleichzeitigkeit lassen sich die Atomuhren der verschiedenen weltweiten Laboratorien internationaler Zeitmessung – in der Bundesrepublik die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig – miteinander zur Internationalen Atomzeitskala TAI (Temps atomique international) synchronisieren. Vgl. dazu Sexl/Schmidt 1990: 23ff.
117
Intersubjektive und soziale Zeit
beobachterunabhängige Zeit zu verstehen, sondern die Zeit, die die jeweilige Uhr tatsächlich anzeigt, wenn der Beobachter die Uhr wahrnimmt. Da sich der Beobachter von der Uhr A zur Uhr B hin bewegt, braucht das Licht von Uhr A zum Beobachter mehr Zeit als das Licht der Uhr B zum Beobachter. Diese Differenz wird berechnet, indem der Wert c bei der Berechnung der wahrgenommenen Zeit der Uhr A um die Eigengeschwindigkeit des Beobachters v verringert, bei der Berechnung der wahrgenommenen Zeit der Uhr B um den gleichen Wert erhöht wird. Die Differenz zwischen der tatsächlichen Zeit der Uhr A tA und der wahrgenommenen Zeit der Uhr A tBeob(A) berechnet sich demnach wie folgt:
tA – tBeob(A) =
rABeob. ------- ; c–v
analog dazu gilt für die Differenz zwischen der wahrgenommenen Zeit der Uhr B tBeob(B) und der tatsächlichen Zeit der Uhr:
tB - tBeob(B) =
rBBeob. ------- . c+v
Daraus folgt: tBeob(A) ist nicht gleich tBeob(B). Aus dem hier sehr kurz Dargestellten schließt Einstein: „Wir sehen also, daß wir dem Begriffe der Gleichzeitigkeit keine absolute Bedeutung beimessen dürfen, sondern daß zwei Ereignisse, welche, von einem Koordinatensystem aus betrachtet, gleichzeitig sind, von einem relativ zu diesem System bewegten System aus betrachtet, nicht mehr als gleichzeitige Ereignisse aufzufassen sind.“ (Einstein 1905: 897). Die spezielle Relativitätstheorie bestätigt also, daß Raum und Zeit nicht unabhängig von Beobachtungspositionen, von räumlichen Entfernungen und Bewegungsrichtungen existieren und somit immer in Relation zu solchen Positionen stehen. Man kann hier durchaus eine Parallele zur Entwicklung der Erkenntnistheorie entdekken. Der Mathematiker Kurt Gödel etwa bemerkt im Anschluß an Einstein, „daß man einen eindeutigen Beweis für die Ansicht jener Philosophen erhält, die, wie Parmenides, Kant und die modernen Idealisten, die Objektivität des Wechsels leugnen und diesen als eine Illusion oder als eine Erscheinung betrachten, die wir unserer besonderen Art der Wahrnehmung verdanken“ (Gödel 1979: 406). Ob gerade der Idealismus Kants hier Pate stehen kann, scheint mir allerdings zweifelhaft zu sein, weil Kant ja gerade die Bedingung der Möglichkeit der Geltung der Newtonschen Physik aufzeigen will und durch die Transzendentalität der Kategorien gewissermaßen ein ruhendes System herstellt, in dem die relativen Beobachterpositionen absolut werden. Vielmehr ist Hans Reichenbach in der Einschätzung zu folgen, daß die Relativitätstheorie selbst in den „Prozeß der Auflösung des synthetischen a priori“ (Reichenbach 1979: 205) gehört – gewissermaßen der philosophische Folgeprozeß der Auflösung des Seins in Richtung Bewußt-Sein, die Walter Schulz philosophiegeschichtlich als „Verinnerlichung“ (Schulz 1972: 247ff.) beschreibt. Womöglich läßt
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II. Kapitel
sich nach der Verinnerlichung des ontologischen Paradigmas von einer Relativierung der Beobachterposition sprechen. Worin Gödel denn auch zuzustimmen ist, ist die Bestätigung des erkenntnistheoretischen Perspektivismus durch die Naturwissenschaften. Analog zu Husserl könnte man sagen: Die jeweilige Beobachterposition ist unhintergehbar, weil jeder Hintergehungsversuch selbst notwendig an die eigene Position gebunden ist. Wie das Bewußtsein Husserls – wenn dieser Vergleich erlaubt ist – die Welt nur als Bewußtseinserlebnis kennen kann und damit für sich selbst irreduzibel an die eigene operative Basis gebunden ist, ist ein Einsteinscher Körper unhintergehbar gefangen in einer Welt relativistischer Horizonte, die ihre Horizonthaftigkeit nicht ablegen können. *** Nach diesem kurzen Exkurs in die spezielle Relativitätstheorie komme ich zu Mead zurück. Mead setzt, wie ich schon angedeutet habe, in seinen Forschungen an jener Parallele zwischen erkenntnistheoretischem Relativismus und physikalischer Relativitätstheorie an, um seine Theorie der Sozialität zu begründen. Aus ihr wird sich ein Zeitbegriff destillieren lassen, der von paradigmatischer Bedeutung für eine anspruchsvolle Theorie der sozialen Zeit sein wird. Meads Annahme des Relativitätsparadigmas hat nun keineswegs eine subjektrelativistische Sozialtheorie zur Folge, wie sie etwa Schütz vertritt (vgl. II.1b). Trotzdem geht er zunächst von den Konsequenzen der Beobachterrelativität beim Messen aus, wie Joas bemerkt: „Jede Messung beruht auf praktischen Handlungen erkennender Subjekte; jede Erkenntnis muß selbstreflexiv den Ort und die Perspektive des erkennenden Subjekts mit einbeziehen.“ (Joas 1989: 170) Ob diese Ortsbestimmung angesichts der Subjektrelativität der Ortsbestimmung selbst möglich ist, sei dahingestellt; worin Joas allerdings ohne Zweifel Recht zu geben ist, ist seine Einschätzung von Meads kritischem Verhältnis zur Weiterentwicklung der Relativitätstheorie zu einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum (vgl. ebd.). Dazu Mead: „Diese Vorstellung von Realität als einer unendlichen Rolle, die sich stückweise vor unseren nur zeitweise daraufblickenden Augen entrollt, erhält eine neue Variante in dem Bild von Realität als einem vierdimensionalen Kontinuum von Raum-Zeit, Ereignissen und Intervallen, das durch seine eigene Geometrie für immer determiniert ist, in das wir uns mit unseren subjektiven Bezugssystemen hineinwagen und in dem wir momentane Eindrücke empfangen, deren jeweilige Eigenschaft eine Funktion unseres Geistes ist und nicht eine Funktion irgendeines Ausschnittes der geordneten Ereignisse im Universum.“ (Mead 1969: 262f.) Letztlich würde durch eine solche Sichtweise der absolute Kosmos Newtons perpetuiert – lediglich erweitert um die vierte Dimension, die Zeit. Eine solche „Erneuerung des physikalischen Mißverständnisses von Zeitlichkeit“ (Joas 1989: 170) hätte zur Folge, daß Relativität nur eine Funktion des individuellen Beobachters wäre, das vierdimensionale Kontinuum dagegen von absoluter, sozusagen restituiert objektiver Struktur. Während etwa Bertrand Russell meint, die Relativitätstheorie sage nicht, „alles sei relativ; im Gegenteil, sie liefert eine Methode zur Unterscheidung dessen, was relativ ist, von dem, was zu einem physikalischen Vorgang selbst gehört“ (Russell 1970: 165), interessiert Mead lediglich die Frage der Beobachterposition: „(...) die Raum-Zeit wird zu einer Realität, in der Verände-
Intersubjektive und soziale Zeit
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rung (lediglich) eine subjektive Reflexion darstellt.“ (Mead 1969: 274) Für diese Interpretation spricht, daß Russell offenbar die Relativität nur von einer Seite her denkt, Relativität aber immer ein reziprokes Verhältnis ist. Selbstverständlich ist jeder physikalische Vorgang real, insofern nicht relativistisch. Er steht aber mit jedem anderen physikalischen Vorgang, der nicht dem gleichen Inertialsystem angehört, in einer Beziehung, die die jeweilige Beobachtung des anderen als relativ und nicht als absolut erscheinen läßt. Eine Relativität der Standpunkte behauptet die spezielle Relativitätstheorie denn auch nicht schlechthin, sondern nur für reziproke Beobachtungen zwischen verschiedenen Inertialsystemen. Um zu vermeiden, daß die Erträge der Relativitätstheorie zugunsten einer neuen statischen Kosmologie mit einer neuen Konstante Raum-Zeit verloren gehen, rekurriert Mead auf die Begriffe Ereignis und Gegenwart bei Alfred North Whitehead (vgl. Mead 1969: 249f.). Dieser hat zwar nicht die Relativitätstheorie Einsteins beerbt (vgl. Heinemann 1990: 119), wurde jedoch als Mathematiker und Physiker von der Erschütterung der Grundlage des Newtonschen Gebäudes entscheidend inspiriert, was sich in seinen wissenschaftsphilosophischen und kosmologischen Arbeiten niederschlägt. Ausgehend von der Einsteinschen Erkenntnis, daß es keine nichtrelative Zeit mehr gibt und damit die Natur keine gemeinsame Gegenwart mehr kennt (vgl. Whitehead 1984: 143), sucht Whitehead nach einem letzten Grund des Seienden. Dieser kann verständlicherweise nicht mehr in einem All-Begriff des Seins gefunden werden, sondern lediglich in ereignishaften Einzelwesen. Sein ontologisches Prinzip lautet, „daß wirkliche Einzelwesen die einzigen Gründe sind; deshalb ist die Suche nach einem Grund immer die Suche nach einem oder mehreren wirklichen Einzelwesen“ (Whitehead 1987: 68). Solche Einzelwesen oder Ereignisse sind keine statischen Entitäten, ihr ontologischer Status zeichnet sich vielmehr dadurch aus, daß sie stets Teile eines Prozesses von Ereignissen sind. Ein Ereignis schließt also prozessual an ein vorheriges Ereignis an: „Es ist ein Werdendsein. Indem es sich so enthüllt, stellt es sich als eines in eine Vielheit von anderen Ereignissen, ohne die es nicht es selbst sein könnte.“ (Whitehead 1984: 205) Wenn ein Ereignis immer ein anderes Ereignis eines anderen Ereignisses ist, müßte sich – ich erinnere an meine Ausführungen zu Aristoteles’ Verknüpfung von Jetztpunkten (vgl. I.2a) und Husserls Verknüpfung sukzedierender Bewußtseinsakte durch Retention und Protention (vgl. I.2e) – ein spezifischer ereignisbezogener Zeithorizont ausbilden.32 Exakt dies beschreibt Whitehead in zweierlei Weise, zum einen in bezug auf die Vergangenheit und zum anderen auf die Gleichzeitigkeit anderer Ereignisse: Jedes Ereignis hat eine eigene Vergangenheit, d.h. „es spiegelt in sich die Modi seiner Vorgänger als Erinnerungen, die in seinen eigenen Inhalt eingeschmolzen werden“ (ebd.: 91). Zugleich hat es auch seine eigene Gegenwart, weil – im Gegensatz zur Newtonschen Auffassung – „keine zwei wirklichen Einzelwesen dieselbe wirkliche Welt“ (Whitehead 1987: 137) definieren. Für Whiteheads relativistisches Anliegen ist entscheidend, „daß das Bezogensein eines Geschehnisses ganz aus inneren Relationen besteht“ (Whitehead 1984: 148). Relationen sind perspektivische Beziehungen zu anderen Ereignissen bzw. Prozessen. Die Relata werden demgemäß nicht von außen gesetzt, sondern sind intrinsische Beobachtungen je aktueller Ereignisse. Daraus resultiert eine multizentrische Weltsicht, die in prozeßkonstituierenden Aktualeinheiten eine emergente Ordnung schafft. 32
Auf die parallelen Ausgangslagen von Whiteheads und Husserls relativistischen Theorien der perspektivischen Konstitution von Zeithorizonten macht Wolfe Mays (1972: 357) aufmerksam.
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Emergent ist diese Ordnung insofern, als zwar jedes Ereignis auf ein früheres bezogen ist, weil es immer Ereignis eines Prozeßzusammenhangs ist. Gleichwohl ist dieser Prozeß offen; er ist nicht in seinem Ablauf determiniert, nicht teleologisch vorstrukturiert (vgl. Rust 1990: 134). Whitehead führt zur Erklärung dieses Sachverhalts den Begriff der „Kreativität“ ein. Prozesse sind keine Entwicklungen, deren Endpunkte bereits im ersten Ereignis als Keim angelegt waren. Sie sind vielmehr als „kreatives Fortschreiten“ (Whitehead 1987: 62) zu verstehen.33 Dieses Fortschreiten ist insofern kreativ, als Whitehead einen Prozeß nicht als im Keim angelegte Serialität von Anschlußereignissen denkt. „Es gibt ein weit verbreitetes Mißverständnis, wonach ,Werden‘ für sein Fortschreiten ins Neue die Vorstellung einer einzigen Serialität voraussetzt.“ (ebd.: 86) Dieser, so Whitehead, „klassische Begriff der Zeit“ mache den Fehler, die alltägliche Erfahrung mit Gegenständen, die ihre Identität zeitfest halten, zu generalisieren und so zum kosmologischen Prinzip zu erhöhen. Dagegen setzt Whitehead, daß sich in Prozessen sehr wohl Kontinuität beobachten läßt, ohne daß diese aber in einer ursprünglichen temporalen Ordnung der Folge aufgehoben wäre. Auf eine griffige Formel gebracht: „Es gibt zwar ein Werden der Kontinuität, aber keine Kontinuität des Werdens.“ (ebd.: 87) Letztere ordnet dem kreativen, ereignishaften Werden eine vorbestimmte Kontinuität vor, was letztlich den Ereignis- durch einen Strukturbegriff zu ersetzen hieße. Eine vorgängige Struktur würde ein Determinationsverhältnis zwischen dem vergangenen und dem entstehenden Ereignis bedeuten. Die Quintessenz von Whiteheads Prozeßphilosophie besteht aber umgekehrt gerade darin, daß eine Kontinuität von Anschlußereignissen durch das je gegenwärtige Ereignis gestiftet werden muß. Er ordnet also das kreative Werden der Kontinuität vor; sie ist Bedingung der Möglichkeit für jene und nicht umgekehrt. Folgerichtig behandelt Whitehead Zeit nicht als ein Strukturmerkmal eines Prozesses, in den sich dieser zu fügen hat wie ein Fluß in sein Bett. Der Begriff der Zeit hat sich vielmehr 33
In eine ähnliche Richtung weist Jacques Derridas Kritik des Strukturalismus, die in der Annahme einer vorgängigen Struktur den Präformismus beerbt: „Die wohlbekannte biologische Lehre, die einer Epigenese entgegengesetzt ist und derzufolge das Ganze der erblichen Charakterzüge im Keim in actu in verkleinerten Dimensionen angelegt ist, die nichtsdestoweniger die Formen und Proportionen des zukünftigen Erwachsenen schon enthalten.“ (Derrida 1972: 41) Diese „implizite Metaphysik jedes Strukturalismus“ (ebd.: 43) muß, so Derrida, aus methodologischen Gründen an der Beobachtung von „Nichtvollendetem oder Fehlerhaftem“ (ebd.: 46) scheitern, es entweder unsichtbar machen oder es in den „Rang eines abweichenden Zufalls“ (ebd.) verweisen. Für Derrida ist dagegen gerade das Unkalkulierbare, das Neue, das Abweichende und die irreduzible Zeichenvermitteltheit der Welt und deren notwendige Unansichtigkeit für uns erklärungsbedürftig (vgl. Derrida 1988). Was hier mit Whitehead „kreatives Fortschreiten“ genannt wird, widerspricht letztlich einer strukturalistischen Perspektive. Derrida kann demnach als Fürsprecher einer ereignisbezogenen Theorieanlage in Anspruch genommen werden, die hinter jeder strukturalistischen Einschränkung eine Totalität des Sinns, also letztlich eine theologische Absicht vermutet. Zugleich aber sieht Derrida nicht an der empirischen Einschränkung der ereignishaften Welt vorbei. Er versucht also, Strukturbildung durch Ereignisbezug zu erklären, vielleicht könnte man sogar modern sagen: Ordnung durch Chaos (vgl. dazu Gleick 1988): „Und wenn der Sinn nur in einer Totalität Sinn ist, wie könnte er dann entstehen, wäre die Totalität nicht durch die Vorahnung eines Endziels beseelt, durch eine Intentionalität, die übrigens nicht notwendig und nicht in erster Linie die eines Bewußtseins zu sein braucht? Wenn es Strukturen gibt, dann sind diese aufgrund jener fundamentalen Strukturen möglich, durch die die Totalität sich öffnet und absticht, um im Vorgriff auf ein Telos, das hier in seiner unbestimmten Gestalt zu verstehen ist, Sinn anzunehmen. Diese Öffnung ist freilich das, was die Zeit und die Genesis freisetzt (und die sich sogar mit ihnen vermischt), sie ist aber auch das, was durch seine Information die Gefahr birgt, das Werden einzuschließen und die Kraft unter der Form zum Schweigen zu bringen.“ (Derrida 1972: 47)
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dem Begriff des Ereignisses und dem Charakter von Geschehensabläufen zu fügen. Der Begriff Zeit „beruht auf der Analyse des inneren Charakters eines Geschehnisses, wenn man es als das konkreteste endliche Einzelwesen betrachtet“ (Whitehead 1984: 153). Whitehead spricht in diesem Zusammenhang von der „Lehre vom epochalen Charakter der Zeit“ (ebd.). Zeitliche Augenblicke gewinnen ihre Zeitlichkeit nicht durch ein zeitliches Kontinuum, das dem Geschehensablauf zugrunde liegt. Analog zur Endlichkeit der konkreten Einzelwesen, also der je gegenwärtigen Ereignisse, konstituiert sich zeitlicher Ablauf durch Zeitschnitte.34 „Ein zeitlicher Augenblick ohne Zeitschnitt ist eine Konstruktion der logischen Einbildungskraft.“ (ebd.: 82) Der Zeitschnitt wird aber nicht durch die Zeit selbst gesetzt, sondern durch die Endlichkeit der Ereignisse, die eine Folge verlangen. Es gilt also umgekehrt: Die endlichen Ereignisgegenwarten setzen Schnitte in die Welt, die als Zeitschnitte eine Beobachtung von Prozessen als zeitlicher Folge ermöglichen. Zeit ist ein bei Whitehead dem Ereignis nachgeordnetes Phänomen, das keine Realität unabhängig von konkreten Prozessen beanspruchen kann, sondern durch je neue Gegenwarten konstituiert wird. Es sollte deutlich geworden sein, daß der – um mit Heinemann zu sprechen – „ontologische Primat der Gegenwart“ (Heinemann 1990: 109ff.) zu einer relativistischen Theorie der Zeit führt, deren analytisches Zentrum das emergente Einzelereignis darstellt, das sich nicht innerhalb einer teleologischen Struktur einem zeitlichen Ablauf fügt, sondern selbst die zeitliche Sukzession und die Modalität der Zeithorizonte konstituiert. Hier setzt Mead an. Er entwickelt eine Theorie der Sozialität, die sowohl am Ereignis- als auch am Gegenwartsbegriff ansetzt, wie ich sie kurz mit Whitehead rekonstruiert habe. Zunächst folgert Mead aus dem Gesagten, „daß Realität in einer Gegenwart stattfindet“ (Mead 1969: 229). Eine solche Gegenwart ist nicht als Punkt auf einem temporalen Kontinuum zu verstehen, sondern ist zunächst – in analytischer Abstraktion – eine Entität sui generis. Der Ereignischarakter des Realen und die – exklusive! – Realität des Ereignisses würden verlorengehen, wenn man das Ereignis gewissermaßen als notwendige Letzteinheit einer allumfassenden, sukzedierenden Welt begreifen würde. „Eine solche allumfassende Existenz wäre keine ewige Gegenwart, denn es wäre überhaupt keine Gegenwart, noch wäre es überhaupt eine Existenz. Denn eine parmenideische Realität gibt es nicht. Existenz impliziert Nicht-Existenz; sie findet statt. Die Welt ist eine Welt von Ereignissen.“ (ebd.) Das kann – aufgrund der Gegenwärtigkeit jedes Ereignisses – nichts anderes bedeuten, als daß die Welt eine Welt von unvermittelten Gegenwarten ist. Die Vermittlung jener Ereignispräsenzen ist weder durch Geschichte, noch durch eine kategoriale Kausalität der Folge verbürgt. Realität ist für Mead allererst – ganz nach Whiteheads Vorbild – das Werdendsein, ist Emergenz durch permanente Neuentstehung von Ereignissen.35 Damit verliert der Weltbegriff seine Universalität und wird in die perspektivi34 35
Bereits Aristoteles bindet Zeit an Schnitte, d.h. an die Unterscheidung von Jetztpunkten, allerdings noch gebunden an den Bewegungsbegriff (vgl. Aristoteles, Phys.: IV 219a; vgl. auch I.2a). Der Meadsche Begriff „the emergent“ wird in der deutschen Ausgabe der Philosophie der Sozialität mit „das Neu-Entstehende“ übersetzt (vgl. Mead 1969: 230). Es läßt sich aber generell fragen, wie der schillernde Begriff „Emergenz“, der derzeit in verschiedensten Kontexten gebraucht wird, zu verstehen ist. Manfred Stöckler (1990) unternimmt den begrüßenswerten Versuch, den vieldeutigen Begriff auf seine Aussagekraft hin zu untersuchen. Er geht davon aus, daß eine fruchtbare Verwendung des Begriffs nur dann gewährleistet ist, wenn er nicht allein die Trivialität bezeichnet, daß es Neues gibt und geben kann. Entscheidend ist vielmehr, daß emergente Phänomene nicht auf ihre Komponenten reduzierbar sind, sondern daß gerade die Nichterklärbarkeit des Phänomens durch die Erklärung seiner einzelnen Komponenten erst auf Emergenz aufmerksam macht. Stöcklers Definitionsvorschlag lautet: „Emergent sind die-
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schen Realitätsebenen emergenter Ereignisse dekomponiert. „Das Neue folgt – wenn es in Erscheinung tritt – immer aus der Vergangenheit, doch bevor es auftritt, folgt es per definitionem nicht aus der Vergangenheit. Es ist unsinnig, auf universellen oder ewigen Eigenschaften zu insistieren, mit deren Hilfe sich ohne Rücksicht auf das, was neu entsteht, vergangene Ereignisse identifizieren ließen, denn entweder könnten wir über sie keine Aussagen machen oder sie werden derart leer, daß sie für die Identifikation unbrauchbar sind. Die Bedeutung (des Begriffs) des Unendlichen in der Antike und der modernen Mathematik illustriert dieses Unvermögen.“ (ebd.: 230) Wie eine unendlich große Menge letztlich dadurch, daß sie keine Grenzen hat, nichts von etwas anderem unterscheiden kann, ist der Begriff des Unendlichen mit einem Denken inkompatibel, das Realität als emergentes Produkt von Ereignissen und Welt als Welt von emergenten Ereignissen beschreibt, die nicht durch Kausalverkettungen vorgängig verknüpft sind. Dieser ontologische Primat der Gegenwart im Ereignisbegriff setzt sich im Vergleich zu teleologischem, geschichtsphilosophischem Denken einer umgekehrten Beweislast aus. Letztere, paradigmatisch am Ende von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ausgedrückt als Bewegung des Geistes, muß das Besondere, das neu Entstehende, an eine Teleologie binden, die bereits vor dem Auftreten des je Besonderen im Allgemeinen aufgehoben war. Sukzession von besonderen Ereignissen ist nicht bloßes Nacheinander, sondern Geschichte, „ist das wissende sich vermittelnde Werden – der an die Zeit entäußerte Geist“ (Hegel 1970a: 590). Dieses Werden ist als Werden die Einheit des Nichts und des Seins (vgl. Hegel 1969: 83). Nicht das je Seiende ist damit analytischer Ansatzpunkt, sondern der im Werden begriffene Übergang vom Nicht-Sein zum Sein. Wer so verfährt, muß nur noch das je Besondere in filigranen Ableitungsdiskursen in den objektiven Gang der Weltgeschichte
jenigen Eigenschaften komplexer Systeme, die nicht allein mit Hilfe jener Teiltheorien und Strategien erklärt werden können, die ausreichen, um das Verhalten der isolierten Komponenten zu erklären. Von Emergenz spricht man aber nur dann, wenn das Erklärungsarsenal wesentlich gegenüber dem Minimalinhalt erweitert werden muß, der ausreicht, um die Komponenten zu erklären.“ (ebd.: 19) Quintessenz dieser Definition ist, daß man es bei emergenten Phänomenen offenbar immer mit Zusammengesetztem zu tun hat, das – um eine beliebte Formel aufzugreifen – mehr ist als die Summe ihrer Teile. Stöcklers Fokus liegt auf der wissenschaftstheoretischen Fragestellung, wie sich verschiedene Theorien zueinander verhalten bzw. welche Phänomene auf die Erklärungskraft einer bestimmten Theorie reduzierbar sind. Beispiel: Ohne Zweifel lassen sich Lebewesen oder auch ihre Teile als physikalische Objekte beschreiben, doch verhält sich das Leben als spezifischer Gegenstand der Biologie emergent zu den Gegenständen der Physik, auch wenn beide Wissenschaften hier auf den ersten Blick mit dem gleichen Untersuchungsgegenstand zu tun haben. Der hier verwendete Begriff der Emergenz trägt zwar einige Charakteristika des Stöcklerschen Definitionsversuchs, unterscheidet sich aber von diesem in einem entscheidenden Punkt. Auch Mead geht es in der Beschreibung von Emergenz darum, eine Realitätsebene zu beschreiben, die sich in ihrer Beschreibung nicht auf die Bestimmung anderer Phänomene reduzieren läßt. Im Klartext: Das je gegenwärtige Ereignis ist zwar Anschlußereignis eines vorherigen, doch läßt es sich nicht eineindeutig von diesem vorherigen Ereignis ableiten. Der entscheidende Unterschied zu Stöcklers Variante liegt darin, daß es Mead – wie übrigens auch Whitehead – hier nicht primär um das Problem der wissenschaftlichen Beschreibung von beobachtbaren Phänomenen geht. Ihre Perspektive ist vielmehr kosmologischer bzw. ontologischer Natur. Danach ist alles, was geschieht, also das Auftreten jedes Ereignisses, letztlich ein emergentes Phänomen, weil sich Ereignisreihen nicht vorgängig durch strukturdeterminierende Entwicklungslogiken eingeschränkt sehen. Daraus jedoch ergibt sich das Problem, daß diese prinzipielle Offenheit von Ereignisreihen stets sehr wohl durch Strukturen eingeschränkt wird. Ich werde sogleich darauf zu sprechen kommen.
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einzumustern verstehen, behandelt damit aber das besondere nur als Entäußerung des Allgemeinen und nicht als singuläres Ereignis. Umgekehrt Mead: Er bemerkt, daß „der unermeßliche Reichtum der Wahrnehmungs-Gegenwart (...) dem Blicke Hegels verschlossen“ (Mead 1969: 57) bleibt. Zugleich verlangt sein Insistieren auf die unmittelbare Gegenwart als Realitätsfokus danach, jenen Übergang von Ereignis zu Ereignis neu zu bestimmen. Eine universale Verbindung und Verkettung von Ereignissen würde den Ereignischarakter der Welt zerstören. Zugleich aber betont Mead, daß jedes emergente Ereignis aus einer Vergangenheit folgt, also durchaus mit anderen Ereignissen vermittelt ist. Diese Vermittlung ist temporaler Natur. Ist die Hegelsche Geschichte „an die Zeit entäußerter Geist“, so ist für Mead Geschichte selbst jenes Kontinuum, das Zeit erst erzeugt. Zeit kann immer nur dadurch entstehen, „daß diese einzigartigen Ereignisse Ablauf strukturieren. (...) Das Verhältnis eines Ereignisses zu den Bedingungen, unter denen es auftritt, nennen wir kausale Verursachung (causation). Die Beziehung des Ereignisses zu den ihm vorhergehenden Bedingungen konstituiert unmittelbar eine Geschichte, und die Einzigartigkeit des Ereignisses macht diese Geschichte zu einer auf dieses Ereignis bezogenen Geschichte.“ (Mead 1969: 264) Diese kausale Verursachung darf nicht im Sinne einer causa materialis, also als notwendige, im vorherigen Ereignis begründet liegende Notwendigkeit des Anschlußereignisses mißverstanden werden; es liegt weiters auch keine causa finalis im Sinne eines Endzwecks der Bewegung vor. Wir haben es hier vielmehr mit einer causa efficiens zu tun, die post eventum das vorausliegende Ereignis in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Gegenwärtigen stellt. Dadurch erst entstehen, man könnte sagen: emergieren Vergangenheit und Zukunft als Horizonte, wie sie in einer Gegenwart erscheinen und wie sie sich mit neuen Ereignissen notwendig verändern. Geschichte ist für Mead also eine gegenwartsrelative Angelegenheit, die kein Sein an sich beanspruchen kann, sondern gegenwartsbasiert konstituiert wird. Ich komme noch einmal auf den Emergenzbegriff zu sprechen. Wenn laut Mead die kausale Verursachung von Ereignissen das Verhältnis eines Ereignisses zu den Anfangsbedingungen seines Entstehens ist und wenn es zutrifft, daß diese kausale Verursachung nur als causa efficiens zu denken ist, hat das folgende Konsequenzen für den Emergenzbegriff: Emergente Phänomene zeichnen sich dann gerade nicht durch eine quasi voraussetzunglose Entstehung aus dem Nichts aus. Emergenz ist keine Schöpfung im Sinne einer creatio ex nihilo, sondern ruht immer auf bereits realen Anfangsbedingungen auf, die für das je gegenwärtige Ereignis gar nicht zur Disposition stehen.36 Das Neue im Sinne des Meadschen Emergenzbegriffs ist also neu immer nur in Relation zum Vorherigen und kann nur an dessen Strukturvorgabe anschließen. Ereignisse sind demnach zwar unbedingt, wenn man darunter die Tatsache verstehen will, daß sie nicht eindeutig determiniert sind, sie sind aber nicht unvermittelt, weil sie stets in temporaler Relation zur je ereignisrelativ konstituierten Vergangenheit stehen. Der Emergenzbegriff trägt dem Umstand Rechnung, daß das Neue 36
Theologisch gesprochen, liegt also eine creatio continua vor, eine Art permanenter Schöpfung, die aber explizit nicht aus dem Nichts, sondern aus je gegenwärtigen Anfangsbedingungen heraus zu erklären ist. Gegen die scholastische Dogmatik des ex nihilo setzt Pierre Teilhard de Chardin, der stets eine Verbindung zwischen theologischer Tradition und naturwissenschaftlichem Evolutionismus herzustellen suchte, den Begriff einer transformatio creatrix (schöpferische Transformation), die das Neue stets in Relation zum bereits Geschaffenen setzt (vgl. Teilhard de Chardin 1972: 28).
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immer nur relativ zum Vergangenen einer Reihe neu ist und zugleich die Entstehung des Neuen keiner ereignisfremden Kraft zugerechnet werden kann.37 Es ist festzuhalten, daß Mead die Sukzession als operatives Geschehen, d.h. als eine aus sich selbst konstituierte Sequenz von Ereignissen mit sich stets wandelnden ereignishaften Gegenwarten versteht. Operativ nenne ich dieses Geschehen, weil seine Operationen selbst es sind, die die Sukzession und damit auch die temporalen Horizonte konstituieren. Diese Operationen sind letztlich die autokreativen Ereignisse. Damit nimmt Mead zwar den Ereignis- und Gegenwartsbegriff von Whitehead auf, wehrt sich aber vehement gegen dessen – wenn ich so sagen darf – aristotelisches Erbe. Mead bindet den ontologischen Primat der Gegenwart ausdrücklich wie Whitehead an die kreative Potenz des Ereignisses, doch radikalisiert er den Whiteheadschen Ansatz in entscheidender Weise, indem er die von Whitehead vorgenommene metaphysische Trennung von wirklichen Einzelwesen und zeitlosen Gegenständen aufzuheben versucht. Zeitlose Gegenstände sind für Whitehead „Abstraktionen“, „Transzendenzen“ wirklicher Ereignisse. Zwar wehrt sich Whitehead gegen den Dualismus von wirklichem Ereignis und zeitlosem Gegenstand, dem metaphysischen Wesen des Wirklichen (vgl. Whitehead 1984: 186). Allerdings erinnert folgende Formulierung stark an das aristotelische Übergehen vom dynamei on zum energeia on: „Der metaphysische Status eines zeitlosen Gegenstandes ist demnach der einer Möglichkeit für eine Wirklichkeit.“ (ebd.; Hervorh. A.N.) Die Emergenz eines Ereignisses ist also ein Akt der Verwirklichung einer Möglichkeit. Schon bei Aristoteles war dies der Versuch, den platonischen Ideenhimmel auf den transzendenten Möglichkeitscharakter des Wirklichen zu reduzieren, ohne damit jedoch die metaphysische Grenze zwischen Form und Materie einzuholen. Das Whiteheadsche Projekt scheint von dem Anliegen geprägt zu sein, den letzten metaphysischen Grund der Ereigniswelt zu finden – und letztlich destruiert dies den möglichen Ertrag der Dekomposition der Welt auf Ereignisse. Die Integration der Welt läuft bei Whitehead in letzter Konsequenz über Werte, d.h. über Grenzen des Möglichkeitshorizontes, der damit auch nur ein begrenztes Verwirklichungspotential darstellt. Das entscheidende theoretische Problem für Whitehead ist also nicht, nach Möglichkeiten zu fragen, wie die strukturelle Offenheit von zeitlichen Ereignisreihen zu emergenten Ordnungsniveaus führt, sondern wie solche Sequenzen schon vorgängig auf bestimmte Wertstandards getrimmt werden. Doch wie begründet sich diese strukturgebende Begrenzung des Möglichen? Whitehead verfährt in geradezu klassischer Manier, um einen regressus ad infinitum zu vermeiden; er rekurriert auf Gott, hier nicht als aristotelischer unbewegter Beweger, sondern als unbegrenzter Begrenzer: „Gott ist die letzte Begrenzung, und seine Existenz ist die grundlegende Irrationalität. Denn man kann keinen Grund für gerade die Begrenzung angeben, die er seiner Natur nachvollzieht. Gott ist nicht konkret, aber er ist die Grundlage der konkreten Wirklichkeit. Für die Natur Gottes läßt sich kein Grund angeben, weil diese Natur die Grundlage der Rationalität ist.“ (Whitehead 1984: 208) Diese, so Michael Welker
37
Davon unberührt bleibt übrigens die – zugegebenermaßen banale – Tatsache, daß sich nicht jedes Ereignis selbst als „neu“ im Sinne von andersartig definieren muß. Doch auch die Wiederholung eines Ereignisses ist letztlich emergent, weil sie nicht ohne Rest auf die Beschaffenheit des vorherigen Ereignisses verrechnet werden kann.
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(1988: 113) mit Recht, „Verlegenheitslösung“ hat in der Tat lediglich die Funktion eines Regreßunterbrechers.38 Auf der Folie dieses recht inkonsequenten Entwurfs einer relativistischen Theorie kann Meads radikalisierte Philosophie der Sozialität besonders kontrastreich in Erscheinung treten. Letztlich ist es nicht Whitehead, sondern Mead, der dem Ereignisbegriff diejenige, auch zeittheoretische Potenz zu geben imstande ist, die er – konsequent durchgeführt – erfüllen kann. Den Grundfehler Whiteheads sieht Mead darin, „die inhaltliche Realität (the ,what it is‘) des Geschehens nicht aus dem Geschehen selbst, sondern vermittels des metaphysischen Prozesses der ,Ingression‘„ (Mead 1969: 250) zu begreifen. Dennoch dispensiert dies nicht von der Frage nach der Beziehung zwischen den einzelnen Ereignissen, also von der Frage der Relativität der Relata zueinander. In völliger Umkehrung Whiteheads ist Meads Problem also – um die Formulierung noch einmal aufzugreifen –, wie die strukturelle Offenheit von Ereignisreihen zu emergenten Ordnungsniveaus führt. Das funktionale Äquivalent Meads zum Whiteheadschen Gotteskonzept ist sein Begriff der Sozialität. Sozialität ist allerdings keine Superstruktur, aus der sich die Ereignisse deduktionslogisch ableiten ließen; vielmehr meint Sozialität die induktionslogische Konstitution der Welt von der Perspektive des einzelnen, gegenwärtigen Ereignisses her. Ich nenne dies induktionslogisch, weil sich die Sicht auf die Welt tatsächlich nicht für alle Ereignisse von einem zentralen Punkt her deduktiv in Deckung bringen läßt, sondern von der je konkreten Position her induktiv bestimmt wird. Sozialität heißt für Mead: „die Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein“ (ebd.: 280). Was bedeutet diese dunkle Formulierung? Entscheidend ist zunächst, daß Mead unter Sozialität keineswegs ein Strukturmerkmal menschlicher Gesellschaften versteht, sondern ein universales, kosmisches Prinzip. Sozialität bedeutet aber nicht einfach ein Bezogensein der verschiedenen Entitäten aufeinander. Dies würde dem ontologischen Primat der Gegenwart widersprechen. Denn wenn die Beziehung zwischen nacheinander gelagerten Gegenwarten bereits vorgängig in einer Struktur festgelegt wäre, die man Sozialität nennt, würde man der Erträge des ereignistheoretischen Ansatzes verlustig gehen, in dessen Zentrum die Annahme steht, daß Ereignisse emergente Phänomene sind und je nur gegenwärtig existieren. Streng genommen, kann also das Bezogensein von Ereignissen aufeinander wiederum nur für ein gegenwärtiges Ereignis real sein, ist doch die unmittelbare Gegenwart der Emergenz eines Ereignisses der einzige Garant für Realität, den Mead gelten läßt. Sozialität muß also, wenn sie etwas Reales bezeichnen soll, in der emergenten Gegenwart eines Ereignisses aufgesucht werden. Sie ist letztlich eine Temporalkategorie, die die kreative Potenz der Gegenwart bezeichnet.39
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Den Theologen Welker interessiert dabei naturgemäß nicht die Frage, wie sich ein metaphysischer Rekurs auf den Letztbegriff Gott vermeiden läßt, sondern wie sich angesichts der Relativität der Welt die Universalität Gottes überhaupt denken läßt. Von hier aus wird plausibel, warum Meads Werk „The Philosophy of the Present“ in deutscher Übersetzung „Philosophie der Sozialität“ heißt. Jedoch bedauert Joas – wie ich meine mit Recht -, daß mit dieser Übersetzung die bewußte Zweideutigkeit des Titels einer „Philosophie der Gegenwart“ verlorengeht (vgl. Joas 1989: 164 und 231, Anm. 1). Denn ohne Zweifel behandelt das Buch sowohl eine Philosophie der je gegenwärtigen Emergenz als auch eine systematische Einschätzung der Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts.
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Bezogen auf die natürliche Evolution, zeigt Mead das Faktum der Sozialität an der Entstehung eines neuen Lebewesens auf: „Das Auftreten jedes neuen Lebewesens führt – wenn es überlebt – zu einer Reaktion in der Gemeinschaft (der Tiere) auf der Wiese oder im Wald. (...) Die Welt ist aufgrund der Ankunft eines neuen Lebewesens eine andere Welt geworden; doch dieses Resultat mit Sozialität zu identifizieren, hieße Sozialität mit System an sich gleichzusetzen. Es ist vielmehr das Stadium genau zwischen dem alten und neuen System, welches ich hier meine. Wenn Entstehung ein Merkmal der Realität ist, dann muß auch diese Phase der Anpassung ein Merkmal der Realität sein, die zwischen dem geordneten Universum liegt, wie es war, bevor das Neue entstand, und dem Universum, wie es ist, nachdem es sich mit dem Neuen arrangiert hat.“ (Mead 1969: 278) Sozialität bezeichnet also den auf frühere Ereignisse bezogenen Anschluß eines neuen Ereignisses, aus dessen Perspektive die Welt eine andere geworden ist. Was Mead als das „Zwischen“ des alten und neuen Stadiums beschreibt, ist die Differenz zwischen den Ereignissen, die von einem Ereignis nur dann als Differenz wahrgenommen werden kann, wenn es die Fähigkeit hat, „gleichzeitig auch in anderen Systemen enthalten“ (ebd.: 295) zu sein, also die Fähigkeit zur Sozialität hat. Die Formulierung eines Stadiums „zwischen“ dem Alten und dem Emergenten scheint mir mißverständlich zu sein. Es ist explizit kein tertium comparationis gemeint, das als Vermittler zwischen Alt und Neu fungiert. Im Gegenteil: Das Zwischen ist exakt jene Differenz, die ein emergentes Ereignis der Welt hinzufügt, um als neues Ereignis sich zu konstituieren. Sozialität ist dann gewissermaßen eine Differenzerfahrung, die neben der eigenen auch die differente Perspektive einnehmen muß, um sich in Beziehung zu anderen Ereignissen setzen zu können. Hätten Ereignisse nicht die Fähigkeit, gleichzeitig mit der eigenen die Perspektive des Vorherigen einzunehmen, könnten sie sich nicht auf das vorherige Ereignis bzw. auf den vorherigen Prozeß beziehen. Diese Beziehung ist aber nötig, damit Anschlußereignisse sich selbst als Anschlußereignisse innerhalb eines Prozesses identifizieren können. Ähnlich wie etwa die Bewußtseinsereignisse in Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins per Retention immer auf vorherige Ereignisse referieren (vgl. I.2e), werden Ereignisse auch hier nicht als isolierte Einheiten ohne Bezug zu Anderem verstanden, sondern finden sich immer als neue Elemente eines Anschlußzusammenhanges vor. Sozialität meint letztlich bei Mead, daß Ereignisse niemals allein auftreten, ohne ereignisrelativen Bezug zu anderen Ereignissen. Aus der Perspektive eines Ereignisses ergibt sich daraus logischerweise die Fähigkeit, gleichzeitig auch in Anderem enthalten sein zu können. Man könnte sagen: Ohne die Fähigkeit zur Sozialität wüßten Ereignisse nichts voneinander. Nur so läßt sich ein Kontinuum denken, ein Kontinuum, das nicht schon per se existiert und in prästabilierter Harmonie temporalisierter Monaden vorgängig kontinuiert ist, sondern je aktuell neu hergestellt werden muß.40 Das Kontinuum kann deshalb nicht als Partizip Perfekt zur Sprache gebracht werden, sondern nur als Partizip Präsens: Es ist kein vorgängig schon kontinuiertes, sondern ein sich je gegenwärtig kontinuie40
Obwohl Mead an einer Stelle auf Leibniz’ Monadologie eingeht. Dabei geht es ihm jedoch nicht um die prästabilierte Harmonie der Monaden, sondern um eine Abgrenzung gegen die Whiteheadsche „Variante des von Spinoza stammenden Begriffs der ,grundlegenden Substanz‘ (underlying substance)“ (Mead 1969: 216) und gegen den platonischen Dualismus, die er im Spiegelungsprinzip der Leibnizschen Monaden zu entdecken meint. In der Monadologie sieht Mead ein Beispiel für die Bedeutung des ereignishaften Einzelwesens.
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rendes Kontinuum. Nur die jeweilige Gegenwart verbürgt den Anschluß ihrer selbst und muß dazu die Fähigkeit haben, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein, um sich als kontinuierendes Ereignis eines Ereigniskontinuums wahrzunehmen. Das impliziert keineswegs ein semantisches Potential, Kontinuität reflexiv als Kontinuität zu definieren – wie sollte dies auch als Strukturmerkmal des Universums aussehen? Es ist vielmehr so, daß jedes Ereignis durch seine Position innerhalb eines bereits strukturierten Kontinuums durch Antezedenzbedingungen vorstrukturiert ist. „Dies bedeutet also, daß alles, was geschieht – auch das Neu-Entstehende -, unter determinierenden Bedingungen geschieht.“ (ebd.: 244) Diese Determination ist jedoch – ich wiederhole mich – nur als causa efficiens und nicht als causa materialis zu verstehen, denn trotz der Bedingtheit jedes Ereignisses determinieren solche Bedingungen „das, was neu entsteht, nicht in seiner vollen Realität“ (ebd.: 246). Ich fasse zusammen: Meads Philosophie der Sozialität steht und fällt mit der Konstruktion eines Anschlußzusammenhanges, der über die Perspektivität temporalisierter Ereignisse seine Kontinuität sichert. Sozialität ist somit kein Spezifikum menschlicher Gesellschaften, sondern liegt im Ereignischarakter der Welt begründet, deren Ereignisse durch ihr eigenes Auftreten emergente Ordnungsniveaus konstituieren, die wiederum selbst als Basis weiterer Emergenzen fungieren. Welt ist Zeit, sie ist ein Nacheinander von Ereignissen und ist sich niemals in einem teleologischen und eschatologischen Entwurf voraus. Zeit ist relativ, und zwar relativ zur je gegenwärtigen Position des Ereignisses. Somit ist Welt relativ, d.h. es gibt keinen privilegierten Ort, von dem her sich eine Koinzidenz der Relata denken läßt – es sei denn, man destruiert wie Whitehead den ontologischen Primat der Gegenwart zugunsten der Grenzenlosigkeit Gottes.41 b)
Handlung und Zeit. Mead
Bereits im vorausgehenden Abschnitt habe ich darauf hingewiesen, daß Mead die soziale Identität nicht als isolierte Bewußtseinsleistung, sondern als Ergebnis eines sozialen Geschehens beschreibt. Das Mich resultiert aus der Perspektivenübernahme eines anderen, und diese Übernahme wirkt auf das Ich zurück (vgl. Mead 1988: 207). Nach der Explikation des Meadschen Begriffs der Sozialität läßt sich leicht sehen, daß dieses Beispiel der Perspektivenübernahme exakt jenen Mechanismus beschreibt, der unter die Formel, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein, fällt. Ferner habe ich darauf hingewiesen, daß Mead gegen die Introspektion der idealistischen Subjektphilosophie zur Geltung bringt, daß die Ich-Identität immer über ein alter ego vermittelt ist (vgl. Mead 1980a: 241f.) und daß der absolute Idealismus zu einem Solipsismus führt, der reale Objekte letztlich zugunsten eines Bewußtseinszustandes aufhebt oder sie in ihren Möglichkeitsbedingungen metaphysisch postulieren muß (vgl. Mead 1969: 199f.). Aus diesen beiden Voraussetzungen zieht Mead eine entscheidende Konsequenz. Wenn sowohl die individuelle Identität nur unter Rekurs auf den anderen bzw. auf die Sozialität als Fähigkeit, gleichzeitig Verschiedenes sein zu können, zu erklären ist als auch die 41
Allerdings gesteht Mead durchaus einen Weltbegriff zu, der die Gesamtheit der Welt als Transzendenz der Perspektiven bezeichnet. Diese, wie er sagt, „Gesamtheit der Perspektiven in ihren Wechselbeziehungen zueinander“ (Mead 1969: 216) jedoch tritt an die Stelle eines substantiellen Weltbegriffs, der eine Welt als Entität sui generis beschreibt, an der individuelle Perspektiven nur in unterschiedlicher Weise partizipieren.
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bewußtseinsphilosophische Tradition der methodischen Introspektion deshalb nicht greifen kann, ist es nur konsequent, wenn Mead das Individuum nur als sekundäres Phänomen behandelt. „Für die Sozialpsychologie ist das Ganze (die Gesellschaft) wichtiger als der Teil (das Individuum), nicht der Teil wichtiger als das Ganze; der Teil wird im Hinblick auf das Ganze, nicht das Ganze im Hinblick auf den Teil oder die Teile erklärt.“ (Mead 1988: 45) Analytischer Ansatzpunkt ist die Wechselseitigkeit der Handlungen handelnder Individuen, die weder allein den inneren Intentionen der Handlungsträger zugerechnet werden können, noch per Reiz-Reaktions-Ketten ausgelöst werden. Das intentionale Modell fällt schon deshalb aus, weil die psychische Disposition des einzelnen, seine Identität, durch das Theorem der Sozialität Ergebnis eines gesellschaftlichen Geschehens ist. Die identitätsstrukturierende Funktion der Perspektivenübernahme schließt eine individualistische intentionale Handlungstheorie – wie sie Schütz vertritt – kategorial aus.42 Das Reiz-Reaktions-Schema scheidet aus einem anderen Grunde aus. Mead bezieht sich dabei auf den berühmten Aufsatz „The Reflex Arc Concept in Psychology“ von John Dewey (1896). Dewey kritisiert darin heftig die Vorstellung, daß äußere Reize, innere Reaktionen und motorische Handlungen unabhängig voneinander existierende, aber kausal aufeinander bezogene Einheiten seien.43 Verfährt man nach diesem Modell, geraten wichtige Phänomene gar nicht in den Blick, so etwa der aktive Part der Wahrnehmung, die Reize je nach Relevanz aufnehmen oder auch ignorieren kann; verschiedene Aufmerksamkeitswerte und Indifferenz gegenüber bestimmten Reizen (vgl. Mead 1988: 63; vgl. dazu auch Joas 1989: 69). Entscheidend für Dewey ist, daß die als Reiz und Reaktion isolierten Phänomene Reduktionen der psychologischen Beobachtung sind. Vor allem gibt er zu bedenken, daß Wahrnehmung und Empfindung selbst nicht einfach Objekte einer unabhängigen Variable Reiz sind, sondern aufgrund der je eigenen psychischen Verfaßtheit – vorherige Erfahrungen, Relevanzen, Aufmerksamkeiten etc. – selbst schon ein aktives Geschehen sind. Der Reiz ist keine causa materialis der Empfindung! Dazu Mead: „Der sogenannte äußere Reiz ist eine Gelegenheit für solche Empfindungen, nicht aber ihre Ursache. (...) Wie der physikalische Reiz (von der reduktionistischen Psychologie; A.N.) auf ein bloßes System bewegter Körper reduziert wird, in dem der Reiz als solcher vollständig verschwindet, so werden die sogenannten psychischen Elemente zu nichts als einer Reihe von Empfindungen reduziert, in der der Charakter einer Reaktion ebenso wirkungsvoll zum Verschwinden gebracht wird, wie der Charakter eines Reizes in der abstrakten physikalischen Welt zum Verschwinden gebracht worden ist.“ (Mead 1980b: 123f.) Ein Reiz ist also nicht 42 43
Auf diesen Unterschied machen Werner Bergmann und Gisbert Hoffmann (1985: 107f.) aufmerksam. Dewey skizziert den Dualismus von Reiz und Reaktion folgendermaßen: „Instead of interpreting the character of sensation, idea and action from their place and function in the sensori-motor circuit, we still incline to interpret the latter from our preconceived and preformulated ideas of rigid distinctions between sensations, thoughts and acts. The sensory stimulus is one thing, the central activity, standing for the idea, is another thing, and the motor discharge, standing for the act proper, is a third. As a result, the reflex arc is not a comprehensive, or organic unity, but a patchwork of disjointed parts, a mechanical conjunction of unallied processes. What is needed is that the principle underlying the idea of the reflex arc as the fundamental psychical unity shall react into and determine the values of its constitutive factors. More specifically, what is wanted is that sensory stimulus, central connections and motor responses shall be viewed, not as separate and complete entities in themselves, but as divisions of labor, functioning factors, within the single concrete whole, now designated the reflex arc.“ (Dewey 1896: 358)
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durch seinen „objektiven“ Gehalt ein Reiz, sondern wird vielmehr durch die psychische Disposition selbst bestimmt. So kann Mead sagen, daß Empfindungen nur deshalb Empfindungen sind, „weil sie als Reize dienen“ (ebd.: 124). Wodurch wird aber ein „objektiver“ Reiz eine „subjektive“ Empfindung? Um diese Frage beantworten zu können, muß auf Meads Begriff des Handelns zurückgegriffen werden. Ich habe betont, daß Meads Sozialpsychologie nicht das Individuum als Teil, sondern die Gesellschaft als Ganzes in den Blick nimmt. Verfährt man so, ergeben sich zwei Konsequenzen: Erstens ist es nicht möglich, Handlungen auf Bewußtseinszustände zu verrechnen, weil diese selbst Ergebnis sozialer Mechanismen sind. Zweitens scheinen Handlungen jene letzten Elementarereignisse zu sein, aus der die Welt als Ereigniszusammenhang aufgebaut ist. Daraus wiederum ergibt sich die Konsequenz, daß die Elemente der Handlung wie Reiz, Reaktion, Bewußtsein und Vollzug als Teile jenes Elementarereignisses nicht isoliert voneinander betrachtet werden können (vgl. dazu Mead 1988: 45f.).44 Für Mead sind Handlungen jene elementaren Gegenwarten, die als Ereignisse die dynamische Welt konstituieren, wie ich sie im vorigen Abschnitt mit Mead und Whitehead beschrieben habe. Wie Husserl Bewußtseinserlebnisse als Letztelemente des temporalen Bewußtseinsstroms behandelt, sind für Mead Handlungen „als etwas in Fluß Befindliches“ (ebd.: 45) emergente Elemente eines Handlungszusammenhanges, also der Gesellschaft.45 Meine Ausgangsfrage war jedoch, wie ein „objektiver Reiz“ zu einer „subjektiven Empfindung“ werden kann. Die Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich davon ab, wie Mead die Genese des Bewußtseins beschreibt. Nach klassischer Auffassung ist das Bewußtsein durch seine Intentionalität der Handlung analytisch vorgeordnet. Mead kehrt dieses Verhältnis um: „Anstatt eine Voraussetzung für gesellschaftliches Handeln zu sein, ist das gesellschaftliche Handeln eine Voraussetzung für Bewußtsein.“ (Mead 1988: 56) Es ist zu betonen, daß für Meads funktionalistische Psychologie, die im Anschluß an Dewey das Individuelle als Teil der Handlung begreift, das Bewußtsein keine Entität sui generis, kein Seiendes von eigener Qualität ist, sondern durch das, was in der Umwelt eines neurophysiologischen Prozesses geschieht, erst ermöglicht wird. „Bewußtsein ist funktional, nicht substantiv“ (ebd.: 153), heißt es lapidar bei Mead.46 Um es traditionell zu formulieren: Die Bedingungen der Möglichkeit für Bewußtsein sind nicht substantielle Vermögen und denknotwendige Voraussetzungen, sondern funktionale Erfordernisse, die durch die Situiertheit in sozialen Kontexten bestimmt werden. Die Welt ist dynamisch, durch ihre Ereignishaftigkeit in permanentem Wandel begriffen. So stellt sie sich auch für den individuellen Beobachter dar. Wäre sie statisch, würde keine problematische Situation auftreten, d.h. Handlungsanschlüsse würden sich gewissermaßen von selbst ergeben, da keinerlei äußere Hemmungen für Handlungen vorliegen. Bewußtsein wäre funktional nicht erforderlich. Aus dem Gesagten läßt sich umgekehrt 44 45 46
Das hat Parsons bekanntlich zu seinem Konzept des allgemeinen Handlungssystems geführt, das als Zusammenspiel notwendiger, jedoch nicht hinreichender Komponenten anzusehen ist (vgl. Parsons 1972: 10ff.). Auch auf diese Parallele machen Bergmann und Hoffmann (1985: 95) aufmerksam. Daraus leitet Mead einen „Parallelismus“ (vgl. Mead 1988: 153f.) ab, der von einer Kopplung der verschiedenen gleichzeitigen Realitätsebenen der beteiligten Komponenten ausgeht, also von einer Parallelisierung von neurophysiologischer, bewußter und „äußerer“ Ebene, die je funktional aufeinander bezogen sind. Zu Begriff und Phänomen der strukturellen Kopplung vgl. weiter unten III.1d.
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II. Kapitel
schließen, daß Bewußtsein als funktionale Reaktion auf die Nicht-Determiniertheit von Anschlußhandlungen aufzufassen ist. So kann man denn auch Tieren mit ihrer physiologisch geringeren Bandbreite von Verhaltensmöglichkeiten eine erheblich geringere Bewußtseinstätigkeit zuschreiben als dem Menschen, der aufgrund seiner biologischen Ausstattung im Verhältnis erheblich mehr Handlungsmöglichkeiten hat, als situativ und gegenwärtig zu realisieren ist. Die größere Wahlmöglichkeit zwischen Anschlüssen hat aber keineswegs eine größere Freiheit zur Folge. Im Gegenteil: Soziale Situationen, also das In-mehreren-Situationen-gleichzeitig-Sein, werden vom Einzelorganismus als Hemmung erfahren, als Handlungshemmung, die vor der Ausführung der Handlung verarbeitet werden muß. Diese komplexe Handlungssituation menschlicher Gesellschaften ist also der Generator des Bewußtseins. Es ist aus dieser Perspektive – eine Zumutung für alle transzendentalphilosophischen oder dualistischen Bewußtseinstheorien – ein Produkt der Naturgeschichte, was bei Max Scheler noch eine der natürlichen Evolution und dem Leben entgegengesetzte Größe genannt wird (vgl. Scheler 1976: 31). Bewußtsein ist für Mead kein anthropologischer Begriff. „Menschliches Verhalten unterscheidet sich zunächst und vor allem vom Verhalten der Tiere durch eine Zunahme der Hemmungen, die eine wesentliche Phase willkürlicher Aufmerksamkeit darstellen. Verstärkte Hemmungen bedeuten eine Zunahme von Gebärden, Anzeichen, von Handlungen, die nicht ausgeführt werden, und von angenommenen Haltungen, deren funktionaler Wert im Verhalten nicht vollständig zum Ausdruck gelangt.“ (Mead 1980c: 228) Gebärden und Gesten haben Mead zufolge die Funktion, passende Reaktionen auf das Verhalten anderer individueller Organismen zu ermöglichen (vgl. Mead 1988: 52, Anm. 9). Sie sind gewissermaßen das funktionale Äquivalent der Handlung in der Situation der Handlungshemmung. Dieser Mechanismus ist der gesamten belebten Natur eigen, jedoch weist Mead dem Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Verhalten durchaus mehr als einen nur quantitativen Aspekt zu. „Wenn wir anerkennen, daß die Sprache eine Differenzierung von Gebärden ist, dann ist das Verhalten aller anderen Lebewesen mit dem der Menschen in bezug auf die Fülle der Gebärden nicht zu vergleichen.“ (Mead 1980c: 228f.) Diese Unvergleichlichkeit belegt Mead mit dem Begriff Geist. Er bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, sinnhaft sein Verhalten zu reflektieren, Distanz zu Reizen aufbauen zu können und sich und sein Verhalten zu kontrollieren (vgl. Mead 1988: 172f.).47 Gleichwohl bleibt der menschliche Geist „eine Evolution in der Natur (...), die in jener Sozialität kulminiert, welche das Prinzip und die Form des Entstehens ist“ (Mead 1969: 318). Es dürfte nun endgültig deutlich geworden sein, warum subjektive Empfindungen als Reize dienen. Die Perspektivenübernahme des einzelnen und seine Wahrnehmung von Handlungshemmungen führen dazu, daß die sinngenerierenden Akte des damit entstehenden Bewußtseins zur Emergenz neuer Handlungen beitragen. Man könnte sagen: Das Bewußtsein entscheidet selbst, welchen „objektiven Reiz“ es zur Empfindung kommen läßt. Dies ist aber – man verstehe diesen Schluß nicht falsch – keineswegs intentionalistisch gedacht, denn die Bewußtseinstätigkeit selbst ist ja durch Perspektivenübernahme sozial strukturiert. Es liegt bei Mead sozusagen eine rekursive Vernetzung von verschiedenen Handlungselementen vor, die durch rekursive Beziehung zueinander erst Handeln konstituieren. 47
Die hier betonte Fähigkeit zur Distanz und die komplexe Beziehung zwischen Reiz und Reaktion erinnern stark an die Thesen der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen (vgl. Plessner 1982: 9ff.).
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Meine ausführliche Rekonstruktion des Meadschen Handlungsbegriffs ist kein Selbstzweck. Wenn Handlungen als jene Ereignisse fungieren, die gemäß der Prozeß-Theorie Whiteheads von Mead als Zeitkonstituenten beschrieben werden, liegt offenbar aus dieser theoretischen Perspektive der Schlüssel zum Phänomen der sozialen Zeit im Ereignischarakter der sozialen Handlung. Eine soziale Handlung, also eine solche, die auf andere handelnde Individuen verweist, bestimmt Mead folgendermaßen: „Eine soziale Handlung kann als eine Handlung definiert werden, bei der der Anlaß oder der Reiz, welcher einen (Handlungs-)Impuls auslöst, in der Eigenart oder in dem Verhalten eines Lebewesens zu suchen ist, welches zur spezifischen Umwelt des Lebewesens gehört, in dem dieser Handlungsimpuls ausgelöst wird.“ (Mead 1969: 84) Soziale Handlung ist für Mead kein anthropologischer Begriff; er betrifft vielmehr die gesamte belebte Natur. Zwar sind Handlungen die Letzteinheiten von Meads Sozialtheorie – ganz im Sinne des Ereignisbegriffs. Doch fungieren Handlungen keineswegs als nicht weiter hinterfragbare Entitäten, sondern können in ihrer Genese nachverfolgt werden. Mead unterscheidet vier Phasen der Handlung: 1) Die Phase des Handlungsimpulses; 2) die Phase der Wahrnehmung; 3) die Phase der Manipulation und 4) die Phase der Handlungsvollendung.48 Ein Handlungsimpuls (1) wird zunächst dadurch ausgelöst, daß „eine Situation mangelhafter Anpassung zwischen dem Individuum und seiner Welt“ (Mead 1969: 106) besteht. Ein potentiell handlungsfähiges Individuum steht damit in einer „bewußten Reaktionseinstellung“ (ebd.: 102) seiner Umwelt gegenüber, die wegen ihres emergenten Ereignischarakters nach Handlungsanschlüssen verlangt. Der Notwendigkeit zu einem, wie Bergmann (1981b: 356) sagt, „wechselseitige(n) Einregulierungsprozeß zwischen Individuum und Umwelt“ geht als Handlungsimpuls gewissermaßen die grundlegende Reaktionsbereitschaft auf äußere Stimuli voraus.49 Unmittelbar aus dieser Reaktionsbereitschaft resultiert die Wahrnehmung (2). Mead beschreibt sie als „eine Relation zwischen einem hochentwickelten physiologischen Organismus und einem Objekt oder einer Umgebung, aus der die Selektion bestimmte Elemente hervorhebt“ (ebd.: 108). Diese Relation führt nicht zu einem rezeptiven Verhalten des Wahrnehmenden, dem ein reales Ding gegenübersteht, das er schlicht abzubilden hat. Vielmehr behandelt die Wahrnehmung Objekte selektiv (vgl. ebd.: 109) und steuert die Selektion in Richtung auf die Beziehung zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem im Hinblick auf die antizipierte Handlung. Mit anderen Worten: Die Wahrnehmung eines Objekts ist immer eine „Distanz-Erfahrung“ (ebd.: 114), eine Erfahrung eines Dings, die noch keine „Kontakt-Wahrnehmung“ (vgl. ebd.) ist, diese aber als antizipiertes Handlungsziel enthält.50 „Die taktile Erfahrung eines entfernten Objektes ruft so ein Han48
49 50
In der Sekundärliteratur wird bisweilen von einer Einteilung in drei Phasen gesprochen, wobei die Phasen 1 und 2 zu einer zusammengefaßt sind (so etwa Reck 1963: 17f. und Bergmann 1981b: 356ff.). Dafür sprechen sicher triftige Gründe, denn Impuls und Wahrnehmung treten in der Tat zusammen auf und bedingen sich gegenseitig. In der Durchführung halte ich mich jedoch – wie übrigens auch Joas (1978: 24f.) – an die Vier-Phasen-Einteilung in Meads „Philosophie der Sozialität“. Reck (1963: 17, Anm. 2) spricht treffend von einer „predisposition of the organism to respond to a given stimulus“. Meads Theorie der Dingkonstitution als Überwindung der „Distanz-Erfahrung“ durch Antizipation einer „Kontakt-Wahrnehmung“ erinnert an Martin Heideggers etwa gleichzeitig geprägten Begriff der „Zuhandenheit“ (Heidegger 1979: 102). Auch hier werden Dinge nicht einfach wahrgenommen, sondern durch die Wahrnehmung selbst wird das Ding innerhalb des Rahmens eines Auslegungszusammenhangs in seiner Dinghaftigkeit bestimmt. Übrigens gilt diese Erkenntnis heute als Selbstverständlichkeit in der
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II. Kapitel
deln hervor, welches seinen impliziten Wert in einer abschließenden Kontakt-Erfahrung erhält.“ (ebd.: 114) Man kann deutlich erkennen, daß Mead mit seinem Handlungsmodell Abstand von einem einfachen Reiz-Reaktions-Modell nimmt, weil der Reiz als Reiz erst durch die Wahrnehmung als aktivem, selektivem Vorgang konstituiert wird. Doch auch dieser selbstselektiv konstituierte Reiz führt nicht unmittelbar zu einem Handlungsvollzug (4), also zur Überwindung der Differenz von Distanz- und Kontaktwahrnehmung, etwa beim Greifen eines Gegenstandes. Zwischen diesem „inneren“ Reiz und dem Vollzug tritt immer die Manipulation (3) als prozeßorientierte Anpassung an das Objekt. Die Manipulation stellt eine „Unterbrechung“ (ebd.: 127) der Handlung dar. Sie ist derjenige Mechanismus, den Mead als Handlungshemmung bezeichnet. Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Die Handlungshemmung ist der Generator, der Bewußtsein funktional erforderlich macht. Aus diesem Grunde ist gerade die dritte Handlungsphase von entscheidender Bedeutung für den Menschen und menschliche Populationen. Beim Tier – Mead bringt das Beispiel eines Affen (vgl. ebd.) – beschränken sich die „manipulatorischen Vorgänge“ auf bloße Korrekturen bei der Annäherung an das Wahrnehmungsobjekt. Beim Menschen dagegen hat die Phase der Manipulation nicht nur die Funktion der Korrektur kinetischer, physiologischer Vorgänge, wozu sowohl hantierende Bewegungen als auch einfache, nicht-sprachliche Gesten und Gebärden gehören, sondern v.a. die Funktion der Abstimmung der Handlung auf und mit Hilfe symbolischer Repräsentanzen. Es gilt zwar: „Der Prozeß des Objekt-Identifizierens und des Korrigierens unserer Einstellungen bei erfolglosem Verhalten, was unter Verwendung signifikanter Symbole (die ihrem Ursprung nach sozial sind) in innerer Konversation geschieht, ist selbst bloß eine Form des Verhaltens und als solcher (sic!, A.N.) genauso unmittelbar wie jede andere Art von Verhalten.“ (ebd.: 119) Es liegt hier – strukturell gesehen – der gleiche Mechanismus vor, der auch den Affen in der Hemmung seiner Handlung zu Korrekturen zwingt. Aber: Beim Menschen geschieht dies symbolvermittelt, durch jene Fähigkeit, die Mead „Geist“ nennt. Symbolen weist Mead zwei Eigenschaften zu, die für die soziologische Potenz seiner Theorie von ganz entscheidender Bedeutung sind: Zum einen zeichnet sich ein Symbol durch seinen zeitfesten Charakter aus, d.h. es verfügt über die Möglichkeit, den Charakter einer (oder mehrerer) Vollzüge möglicher Handlungen antizipatorisch vorzustellen (vgl. Mead 1988: 160). Zum anderen hat ein Symbol für Mead intersubjektiven oder allgemeinen Charakter (vgl. ebd.: 189), d.h. der Symbolgebrauch geht idealiter davon aus, daß andere das gleiche Symbol im gleichen Kontext in gleicher Bedeutung verwenden. Eine menschliche Handlung innerhalb eines sozialen Kontextes besteht also, um das Vier-Phasen-Modell des sozialen Handelns zusammenzufassen, darin, daß aus der Wahrnehmungsbereitschaft (1) als grundlegendem Handlungsimpuls eine Wahrnehmung (2) resultiert, die als Distanz-Erfahrung, also als Reflexion auf die Handlung und ihren Zweck, Handlungsziele und -ergebnisse vorstellt. Diese Vorstellungen werden nicht einfach ausgeführt, sondern haben sich an der Umwelt zu bewähren und können und müssen durch symkonstruktivistischen Kognitionswissenschaft, die auch im Einflußbereich der Naturwissenschaft in Frage stellt, daß die von einer wahrnehmenden Einheit – ob Bewußtsein, Zelle oder Organismus – konstituierte Welt in dieser Form unabhängig vom Konstitutionsvorgang existiert. Vgl. als Überblick Varela 1990: v.a. 88ff.; Stadler/Kruse 1990: 133ff.; sowie Maturana 1990a: 11ff. Ausführlich zum Konstruktivismus vgl. III.1b und 3a.
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bolvermittelte Reflexion verändert und verbessert werden (3). Der Handlungsvollzug schließlich (4) läßt aus der antizipierten Handlung eine wirkliche werden, die von anderen Aktoren wiederum wahrgenommen, symbolisch vorgestellt und als Anlaß für eine neue Handlung genommen werden kann. Bedenkt man nicht mit, daß sowohl die Wahrnehmung als auch die symbolgesteuerte Manipulation sozial vermittelt ist, könnte man sich genötigt sehen, in diesem Handlungsmodell doch eine intentionalistische Handlungstheorie zu vermuten. Mead betont jedoch immer wieder, daß die Teile der Gesamthandlung nicht isoliert voneinander betrachtet werden dürfen und daß die individuellen Perspektiven aus der Perspektivenübernahme, also aus dem Prinzip der Sozialität resultieren. Man kann deshalb mit Fug und Recht sagen, daß für Mead tatsächlich Handlungen und nicht Bewußtseinsakte die elementaren Ereignisse der sozialen Welt sind.51 Diese Ereignisse erst sind es, die die strukturierenden Bedingungen für Anschlüsse neuer, unmittelbarer Handlungsgegenwarten sind. Diese resultieren zwar aus den Handlungsversuchen von Individuen, doch kann man die Handlungen selbst nicht primordial dem Individuum zurechnen, da deren Perspektiven sich nicht der welttranszendenten Sphäre isolierter operativer Einheiten verdanken, sondern durch das Gleichzeitig-in-mehreren-Perspektiven-Sein sozial strukturiert werden. Der zeitfeste und allgemeine Charakter der Symbole hat damit einen hohen Strukturwert für die individuellen Perspektiven und für die Wahrscheinlichkeit von Anschlußhandlungen. Die Allgemeinheit des Symbols ist es, die den zeitfesten Bedeutungscharakter der Welt sichert. Mead spricht in diesem Zusammenhang von „Generalisierungen“ in der Verwendung von Symbolen, die dadurch entstehen, daß bestimmte Erfahrungen immer wieder gemacht werden und so zum Allgemeingut werden können (vgl. Mead 1980d: 295f.). Symbolisierungen als Speicher kollektiver sozialer Erfahrungen haben in menschlichen Gesellschaften die Funktion, die Manipulationsphase des instinktreduzierten Menschen sozial vorzustrukturieren.52 Sie bieten ihm erst die Möglichkeit der Sozialität, nämlich in mehreren Perspektiven gleichzeitig sein zu können. Die Welt wird damit eine Welt sinnhafter Bedeutungen, die in ihrer Sinnhaftigkeit eine große Fülle von Handlungsmöglichkeiten – und damit: Handlungshemmungen – eröffnet. „Sinn ist das, was anderen aufgezeigt werden kann, während es durch den gleichen Prozeß auch dem aufzeigenden Individuum aufgezeigt wird. Insoweit der Einzelne ihn sich selbst in der Rolle des anderen aufzeigt, macht er sich dessen Perspektive zu eigen, und da er ihn dem anderen aus seiner eigenen Perspektive aufzeigt, das Aufgezeigte also identisch ist, muß es in verschiedenen Perspektiven auftreten können. Es muß somit universal sein (...).“ (Mead 1988: 129; Hervorh. A.N.) Für den einzelnen werden die verschiedenen Universalien, die aus der Perspektivenübernahme anderer stammen, zur Idealisierung des „ver51
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In der treffenden Formulierung von Harold N. Lee: „In Mead’s philosophy, the world that is there does not arise from knowledge; instead, knowledge arises from it. The world that is there does not arise within consciousness; instead, consciousness is a response to it. The world that is there, does not arise within experience; experience takes place within it. The world that is there does not arise at all; it is there. It is passage, process. It is the passage that is the ,undifferenciated now‘.“ (Lee 1963: 53) Dies erinnert stark an Gehlens These vom Menschen als Mängelwesen. „Er wäre in jeder natürlichen Umwelt lebensunfähig, und so muß er sich eine zweite Natur, eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt, die seiner versagenden organischen Ausstattung entgegenkommt, erst schaffen.“ (Gehlen 1961: 4) Auf diese Parallele macht übrigens auch Joas (1980: 15) aufmerksam.
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allgemeinerten Anderen“ (ebd.: 130) („generalized other“) integriert. Diese Figur des unterstellten generalisierten Anderen ist sozusagen der je individuelle Vertrauensvorschuß in die Bekanntheit der Welt und die Verstehbarkeit der anderen, die als wesentliche Bedingung der Möglichkeit für die Emergenz von Handlungen anzusehen ist. Zum ersten Mal eröffnet sich im Rahmen der laufenden Untersuchung an dieser Stelle die Möglichkeit, einen Begriff sozialer Zeit zu formulieren, der nicht dem Mangel unterliegt, entweder der sogenannten objektiven oder kosmischen Zeit nachempfunden zu sein oder aber auf die Temporalität intentionaler Ich-Subjekte zurückzugehen. Verbindet man den oben mit Mead und Whitehead dargelegten ereignisbezogenen Zeitbegriff und Meads sozialpsychologisches Credo der Unhintergehbarkeit des Handelns, eröffnet sich ein Begriff sozialer Zeit, deren temporale Letzteinheiten je gegenwärtige Handlungen sind, die emergierend aneinander anschließen. Für Handlungen gilt folgerichtig das Gleiche wie für andere Ereignisse auch: Sie sind je gegenwärtig; sie lassen durch das Übergehen von einem Weltstadium zum nächsten etwas Neues entstehen; sie sind in ihren Anschlüssen nicht prädeterminiert, jedoch gleichfalls nicht beliebig offen; und sie bilden je gegenwärtige Zeithorizonte aus. Es handelt sich hier um einen operativen Begriff sozialer Zeit – operativ in dem oben explizierten Sinne, daß Zeit nichts außerhalb des Zeit konstituierenden Geschehens ist, sondern durch die Operationen selbst entsteht. Dieser Zeitbegriff ist strukturgleich mit dem der Husserlschen Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, mit dem Unterschied, daß nicht Bewußtseinserlebnisse, sondern Handlungen jene – wenn es erlaubt ist – primordialen Urgegenwarten darstellen, durch die der Zeitstrom entsteht. Es fragt sich nur: Für wen entsteht dieser Zeitstrom? Nur für einen externen Beobachter, der eine Sequenz von Handlungen als Handlungszusammenhang wahrnimmt; oder für die Handlung selbst bzw. für die an der Handlung beteiligten Individuen? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es nötig, zwei verschiedene Zeitbegriffe zu unterscheiden: 1) ein temporales Nacheinander von Ereignissen/ Handlungen, das per se von zeitlicher Struktur ist, weil Handlungen nach der Prozeßphilosophie immer Anschlußhandlungen sind; 2) eine abstrakte Zeitform, die auf jenes Nacheinander reflektiert und so eine Handlung explizit als spätere Handlung einer früheren bzw. als frühere einer späteren behandelt. Der erste Zeitbegriff impliziert in der Tat, daß Zeit als Zeit nur durch einen externen Beobachter wahrzunehmen ist und von diesem vielleicht als Möglichkeitsbedingung des Anschlußzusammenhangs wissenschaftlich beschrieben wird. Der zweite Zeitbegriff dagegen behandelt Zeit als Element des Handelns selbst. Ein solcher Zeithorizont tritt nach Mead dann in Erscheinung, wenn das Handeln selbst auf seine Zukunft und Vergangenheit rekurriert. „Zeit ist also die Erfahrung inhibierten Handelns, in der das Ziel als erreichtes Ziel dadurch gegenwärtig ist, daß das Individuum die Einstellung der Kontakt-Reaktion einnimmt und so die zwischen Anfang und Ende der Handlung vorkommenden Ereignisse nur in ihrer abstrakten Eigenschaft als ,passierende‘ Ereignisse gegenwärtig sein läßt.“ (Mead 1969: 167) Zeit als abstrakte Form tritt dann in Erscheinung, wenn eine Handlungshemmung („Inhibierung“) vorliegt. Laut Meads Handlungsbegriff ist die Phase der Hemmung der Generator für Bewußtsein. Ich schlage deshalb vor, diesen abstrakten, perspektivischen, auf seine eigene Zukunft und Vergangenheit reflektierenden Zeitbegriff Zeitbewußtsein zu nennen.
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Dieser Begriff unterscheidet sich allerdings erheblich von Husserls, Bergsons und Schütz’ Begriff des Zeitbewußtseins, denn er bezeichnet nicht die Temporalität einer – mehr oder weniger – transzendentalen, isolierten operativen Einheit. Zeitbewußtsein meint hier vielmehr: Zeitbewußtsein des Handelns. Was auf den ersten Blick als Widerspruch erscheinen mag, wird durch Meads Bewußtseinsbegriff aufgelöst: Wenn Bewußtsein eine Funktion der Handlung ist und nicht umgekehrt, zeichnen sich Handlungen menschlicher Populationen offenbar dadurch aus, daß sie ihren eigenen Vergangenheits- und Zukunftshorizont in den Handlungsablauf miteinbauen, und zwar an der für menschliche Populationen entscheidenden Stelle der Manipulationsphase. Die beiden Zeitbegriffe – das Nacheinander der Handlungen und das Zeitbewußtsein des Handelns – decken sich mit McTaggarts B- und A-Reihe. Auch hier stellt sich heraus: Die B-Reihe ist das Konstruktionsprinzip der A-Reihe, doch ist diese nicht einfach eine – hier sollte man nicht sagen: subjektive, sondern – perspektivische Abbildung jener realen Sukzession. Bereits gegen Bieris Auseinandersetzung mit Husserl (vgl. II.1) habe ich vorgebracht, daß Bieri die Konstitutionsleistung des Bewußtseins unterschätzt, wenn er A- und B-Reihen ein bloßes Abbildungsverhältnis unterstellt. Dies wird auch bei Mead deutlich. Das Nacheinander von Handlungen ist zwar Bedingung für das Zeitbewußtsein des Handelns, doch wird durch die relativistische Manipulationsphase ein bestimmtes Nacheinander erst konstituiert. M.a.W.: Für den externen Beobachter sind angeschlossene Handlungen als B-Reihe miteinander verknüpft. Um sie als B-Reihe beschreiben zu können, muß die so geordnete Handlungskette bereits als solche vorliegen. Die Genese solcher Handlungsketten läßt sich aber nur mit Begriffen beschreiben, die die Perspektivität der A-Reihe ausdrükken. Diese Begriffe sind nach Mead: die emergente Kraft der Sozialität, die unmittelbare Gegenwart der Handlungshemmungen und die Nicht-Determiniertheit der Anschlüsse. Man kann daraus schließen: Die B-Reihe ist und bleibt das Konstruktionsprinzip der A-Reihe, doch mit Meads Handlungsbegriff kann man von der A-Reihe als Konstitutionsprinzip von B-Reihen sprechen. Konstruktion und Konstitution verhalten sich hier wie Sein und Operation zueinander. Das Sein der zeitlichen Reihe läßt sich als nach Früher-später-Relationen konstruiert beobachten. Doch geht dieses beobachtete Sein der Zeitreihe auf ereignisbezogene Operationen zurück, die jene Reihe erst konstituieren. Auch Mead legt damit eine operative Zeittheorie vor, die die Operation, die zu Handlungsanschlüssen führt, einem daraus erst resultierenden Zeitkontinuum vorordnet (vgl. III.3c). Aus dem Gesagten ergeben sich folgende Elemente eines vorläufigen Begriffs sozialer Zeit: 1)
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Soziale Zeit bezeichnet diejenige Perspektive, die sich durch die bewußte Handlungshemmung in Differenz zum Handlungsentwurf und zum antizipierten Handlungsvollzug ausbildet (vgl. Mead 1969: 167). Soziale Zeit ist kein vorgängiges, außerhalb der die Handlung konstituierenden Ereignisse ablaufendes Kontinuum. Vielmehr konstituiert die Handlung ein Wechselspiel von Kontinuität und Diskontinuität, und zwar in der Weise, daß trotz Diskontinuität der Emergenz – es entsteht etwas Neues – eine Kontinuität zum Alten hergestellt werden muß. So bestimmt Mead die Funktion der Vergangenheit zwar nicht als bloße Bewahrerin von Kontinuität trotz Wandels. Er meint vielmehr, „daß wir etwas vervollständigen
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müssen, was in den ablaufenden Vorgängen fehlt“ (Mead 1983a: 34), denn ohne Rekurs auf eine Vergangenheit der Handlung kann diese nicht als Anschlußhandlung verstanden werden. So muß etwa die Antwort auf eine Frage immer im Horizont der Frage erfolgen, sonst wäre eine Kontinuität des sozialen Prozesses nicht gegeben. Soziale Handlungen enthalten immer schon durch ihren Entwurfcharakter eine hypothetische Zukunft und eine selektive Vergangenheit (vgl. Mead 1969: 128f.). Es handelt sich dabei nie um reale Entitäten, sondern um Vorstellungen einer gegenwartsbasierten Vergangenheit oder Zukunft (vgl. ebd.: 261). Die Zukunft ist also durch die in Aussicht gestellte Emergenz eines Handlungsvollzuges gegeben, die Vergangenheit dagegen durch die Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen, die den gegenwärtigen Handlungsablauf bestimmen. Die Temporalität sozialer Handlungen enthält laut Mead einen Primat der Zukunft, weil die Vergangenheit als Bewußtseinsleistung aus dem Bewußtseinsgenerator „Manipulation“ resultiert, der aus der Anpassung bzw. Modifikation des zukünftigen Handlungsentwurfs besteht (vgl. ebd.: 308). So ist die Beantwortung einer Frage nicht nur auf die (vergangene) Frage bezogen, sondern v.a. auf die soziale Situation nach der Beantwortung; sie betrachtet die Welt, um an Schütz anzuschließen, „modo futuri exacti“. Der Begriff sozialer Zeit schließt eine handlungsunabhängige, also nicht-operative, absolute Zeit aus. Das läßt sich daran verdeutlichen, daß der sozialpsychologische Begriff der Gegenwart keine quantitative Größe bezeichnet. Zwar betont Mead, daß Vergangenheit und Zukunft „die Grenzen dessen (sind), was wir Gegenwart nennen“ (Mead 1969: 253), doch wird diese Gegenwart nicht als mathematischer Limes-Wert gebildet, sondern ist ein funktionaler Aspekt der Handlung. Deshalb spricht Mead von „funktionalen Gegenwarten“ (ebd.: 321), die stets weiter reichen als aktuelle Gegenwarten. Diese funktionalen Gegenwarten sind ein Komplement zum menschlichen Bewußtsein: „Sie besitzen Ideationszonen verschiedener Tiefe, und in diesen sind wir fortlaufend mit dem Überprüfungs- und Organisationsprozeß des Denkens beschäftigt.“ (ebd.) Folgerichtig gehören auch Vergangenheit und Zukunft, soweit sie für das Handeln unmittelbar relevant sind, zur funktionalen Gegenwart, denn Vergangenheit und Zukunft sind immer Vergangenheit und Zukunft einer Gegenwartshandlung. So besteht ein Gespräch zwar aus vielen aktuellen Gegenwarten individueller Sprechakte, wird jedoch als funktionale Gegenwart behandelt. Soziale Zeit schließt die Möglichkeit generalisierter Zeitstrukturen ein. Durch Symbole als zeitfeste Sinnspeicher wird verhindert, daß die Relativität der individuellen Perspektiven zu einer völligen Unverbundenheit und Beliebigkeit der seligierten Wirklichkeit führt. Mead führt deshalb ein funktionales Äquivalent des naturwissenschaftlichen Begriffs eines Inertialsystems ein. Wie ich in meinem Exkurs über die Relativitätstheorie gezeigt habe, wird die Relativität der raumzeitlichen Positionen innerhalb eines ruhenden Systems überwindbar und kalkulierbar. Im Klartext: Solange ein ruhendes System vorliegt, sind die Perspektivenunterschiede mit Hilfe der endlichen Lichtgeschwindigkeit berechenbar. Analog zu diesem Modell einer physikalischen Relativitätstheorie bildet Mead eine kulturell-soziale Relativitätstheorie: Nur innerhalb eines Inertialsystems können die emergenten Ereignisse eines Handlungszusammenhangs aufeinander Bezug nehmen.
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Zeit ist laut Mead kein Absolutum, sondern ein abstraktes Korrelat der Handlung. Zeit impliziert jedoch nicht totalen Wechsel, sondern resultiert aus Diskontinuität und Kontinuität. Ereignisse ändern die Welt: „events cannot be undone, thougths not unthought, and knowledge not unknown“ (Adam 1990: 164). Trotzdem, es ändert sich nicht alles, so daß die Ereignisse in ihrem Nacheinander sich in einem permanenten Fluß zu befinden scheinen, der nahezu zeitlos ist. „Wenn wir Zeit jedoch ernst nehmen, dann sehen wir, daß der scheinbar zeitlose Charakter unserer räumlichen Welt und ihrer permanenten Objekte von dem gleichsinnigen System abhängig ist, welches jeder einzelne von uns seligiert. (...) Bestimmte Objekte hören auf, Ereignisse zu sein, hören auf abzulaufen, wie sie in der Realität ablaufen, und werden als permanente Objekte zu den Bedingungen unseres Handelns.“ (Mead 1980e: 310; Hervorh. A.N.) Solche permanenten Objekte sind Institutionen, Organisationen, Verträge, Gewohnheiten etc. Entscheidend an ihnen ist, daß sie den Charakter von Symbolen haben: Sie sind zeitfest, und sie sind als „signifikante Symbole“ (ebd.: 323; vgl. auch Mead 1980d: 290ff.) Garanten für die Intersubjektivität der Perspektivenübernahme.53 Sie sind also symbolische Inertialsysteme, auf deren Boden die „objektive Realität von Perspektiven“ (Mead 1969: 213ff.) zu jener Wechselseitigkeit führt, die die Emergenz von Handlungen hervorbringt. In signifikanten, d.h. intersubjektiv zugänglichen Symbolen ist Zeit damit in zweifacher Weise aufbewahrt: Zum einen erhalten und verteidigen solche Symbole einen Strukturwert gegen die prozeßorientierte Ereignishaftigkeit der Zeit. Darauf habe ich hingewiesen. Zum anderen aber bewahren sie auch Programme für soziale Abläufe auf. So sind soziale Rhythmen, typische Handlungssukzessionen, spezifische „Timetables“ oder die generalisierten Symbole der Uhrzeit Struktur- und Taktgeber für Handlungsverläufe,54 deren Emergenz damit in ihrer prinzipiellen Beliebigkeit und Offenheit durch die symbolische Perspektivenübernahme eingeschränkt ist. Solche temporalen Symbole enthalten eine antizipierte Handlungsfolge und strukturieren damit das Zeitbewußtsein des Handelns. So wird ein vorstrukturiertes Prüfungsgespräch, das beiden Interaktionspartnern bekannt ist, durch das Symbol „Prüfung“ sowohl in seiner Themenwahl als auch in seinem Zeithorizont – dreißig Minuten, die Strukturwert für einen ganzen folgenden Lebensverlauf haben können – eingeschränkt. Sozialität bestimmt Mead als Gegenwart. Soziale Zeit ist demnach eng verknüpft mit Gleichzeitigkeit, definiert Mead doch Sozialität als die Fähigkeit, „gleichzeitig auch in anderen Systemen enthalten“ (Mead 1969: 295) sein zu können. Gleichzeitigkeit als Synchronisation von Perspektiven ist wiederum an ein gemeinsames „Inertialsystem“, hier: an eine intersubjektive symbolische Ordnung, gebunden. Diese symbolische Ordnung ermöglicht erst die reziproke Perspektivenübernahme von Individuen, die sich damit in einem temporalen Horizont eines Anschlußzusammenhangs von HandEine solche Intersubjektivität wird von Mead nicht einfach vorausgesetzt, sondern sie ist Resultat von Handlungsvollzügen. Diesen Sachverhalt drückt Joas’ Buchtitel „Praktische Intersubjektivität“ (Joas 1989) als Gegenbegriff zur egologischen, primordialen Intersubjektivität Husserls und letztlich auch Schütz’ treffend aus. Bergmann meint sogar, daß solche Generalisierungen die Genese „übergreifender System- und Weltzeiten“ (Bergmann 1981b: 362f.) wären. Ob dies die theoretischen Mittel Meads hergeben, muß sich m.E. erst noch zeigen.
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II. Kapitel
lungen bewegen. Hier wird erneut deutlich: Soziale Zeit ist keine Zeit eines isolierten Bewußtseins, sondern wird durch den Anschluß des Weiterhandelns gesichert. In diesen sieben Strukturmerkmalen eines Begriffs sozialer Zeit im Anschluß an Mead ist sowohl das Zeit konstituierende Element von emergenten Handlungsanschlüssen als auch der sinnhafte Aspekt zeitlicher Organisation von Handlungen aufbewahrt. Also sowohl die reale Entstehung als auch die symbolische Handhabung von Zeit läßt sich mit diesem handlungstheoretischen Modell erklären. Es liegt damit eine soziologische Zeittheorie vor, die sowohl die operativen Strukturmerkmale der Phänomenologie enthält als auch ohne Rekurs auf ein intentionales Bewußtsein als Weltsubjekt auskommt.
4.
Zweite Auszeit
Im ersten Kapitel habe ich zu zeigen versucht, wie sich die theoretischen Möglichkeiten zur Beschreibung von Zeit anhand von klassischen Texten der Zeitphilosophie darstellen. Als Ergebnis konnte festgehalten werden, daß zum einen eine immer stärkere Verlagerung des Gegenstandes bei der Untersuchung von Zeit von einer mundanen Entität, die zwar schon bei Aristoteles auf ein zählendes Subjekt angewiesen ist, in Richtung einer vom Bewußtsein selbst konstituierten Bewußtseinsqualität zu beobachten ist. Mit Husserl und der „Minimalisierung“ seines transzendentalen Ansatzes mit Manfred Frank konnte es gelingen, die Zeit nicht mehr als Entität sui generis zu begreifen, die schlicht vorausgesetzt werden muß, sondern als ein Phänomen zu beschreiben, das mit den Operationen seines Trägers erst entsteht. Die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins konnte für eine solche Theorieanlage Pate stehen. Zum anderen konnte gezeigt werden, daß eine völlig zirkelfreie Beschreibung von Zeit offenbar auch mit diesem theoretischen Instrumentarium nicht möglich ist. Stets tragen Aussagen über das operative Geschehen, das als Generator von Zeit angesehen wird, temporale Termini. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist bis jetzt nicht in Sicht, so daß es zunächst als unvermeidlich hingenommen wird. Das Problem der Zirkularität von Beschreibungen der Zeit werde ich in einem späteren Stadium der Untersuchung wieder aufnehmen (vgl. III.3). Das zweite Kapitel setzt sich zum Ziel, die Ergebnisse des ersten in Richtung der soziologischen Grundfragestellung der Untersuchung zu erweitern. Es wurde also versucht, Hinweise darauf zu finden, wie sich die bis dahin nur als Zeit des Bewußtseins beschriebene Zeit in einen sozialen Horizont einmustern läßt. Der Gang der Untersuchung folgt zunächst Bieris Diskussion der McTaggartschen Irrealitätsbeweise der Zeit. Bieri kommt in Auseinandersetzung mit Husserl zu dem Ergebnis, daß die Beschreibung des inneren Zeitbewußtseins als A-Reihe eine bewußtseinsunabhängige, i.e. reale B-Reihe als sein Konstruktionsprinzip voraussetzt. Reale Zeit wäre demnach eine überindividuelle, die subjektiven Zeiten vermittelnde objektive Zeit, die für Bieri bereits alle Merkmale einer sozialen Zeit zu tragen scheint. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Husserls Intersubjektivitätstheorie kommt jedoch zu dem Ergebnis, daß die von ihm vorausgesetzte intermonadische Zeit höherer
Intersubjektive und soziale Zeit
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Ordnung, also die überindividuelle Zeitstruktur, die Funktion nicht erfüllen kann, die Bieris vermeintlich reale B-Reihe theorietechnisch erfüllt. Schon mit Husserl ließ sich andeutungsweise zeigen, daß die intersubjektive Zeit ebenfalls nach dem Prinzip einer A-Reihe gebaut ist und somit in ihrer Operabilität zu entschlüsseln ist. Daß auch Schütz’ phänomenologisch orientierte Soziologie diese Entschlüsselungsleistung nicht vollbringen kann, dürfte nach meiner ausführlichen Diskussion einsichtig geworden sein. Schütz’ Theorie ist zu eng an Husserls Phänomenologie orientiert, als daß sie die soziale Zeitstruktur in ihrer Genese, Struktur und Funktion einsichtig machen könnte. Schütz setzt eine soziale Zeit bereits als existent voraus und interessiert sich lediglich für die Art und Weise, wie jene „objektive“ Sozialstruktur sich „subjektiv“ innerhalb der inneren Dauer des Bewußtseinsstromes niederschlägt. Zwar gesteht Schütz zu, daß jene objektiven Strukturen in ihrer Genese auf subjektive Akte verweisen, doch wie soziale Strukturen – auch solche temporaler Art – von einem subjektiv-intentionalen Geschehen zu einer objektiv-strukturierenden Gestalt gelangen, läßt Schütz völlig unterbestimmt. Die bis dahin erzielten Ergebnisse kommen darin überein, daß auch eine noch so filigran ausgebaute Bewußtseinstheorie der Zeit kein Beobachtungsinstrumentarium für die Beschreibung sozialer Temporalphänomene anbieten kann. Dies gilt auch – oder besser: gerade – dann, wenn innerhalb der theoretischen Reflexion stets die Notwendigkeit des Verweises auf eine überindividuelle Zeit aufscheint, die man nicht einfach als objektive Zeitstruktur hypostasieren darf, um sich so gegen die Einsicht der defizitären Möglichkeiten allein auf Bewußtsein, Subjektivität oder Person referierender Ansätze zu immunisieren. Eine solche katalysatorische Wirkung läßt sich mit Husserls Annahme einer intermonadischen Zeit höherer Ordnung, die für die Bewußtseinsphänomenologie letztlich unsichtbar bleiben muß, ebenso erzielen wie mit Schütz’ fast kommentarloser Voraussetzung einer per se existierenden sozialen Zeit. Um die angedeutete katalysatorische Wirkung auch tatsächlich entfalten zu können, war es nötig, auf Theorieanlagen zu rekurrieren, die zum einen den ausschließlichen, transzendental begründeten Rekurs aufs Bewußtsein fallenlassen, zum anderen aber nicht hinter die Erträge und Stärken der phänomenologisch-operativen Theorie der Zeit zurückfallen. In Whiteheads Prozeßphilosophie und Meads Handlungstheorie meine ich, beide Voraussetzungen als erfüllt ansehen zu können. In der Theorie Whiteheads, deren Letzteinheiten je gegenwärtige Ereigniseinheiten sind, die sich immer als Teil eines Prozesses identifizieren lassen, findet man ein gewissermaßen kosmologisches Komplement zu Husserls Bewußtseinsphilosophie. Wie bewußte Urgegenwarten schließen auch die Whiteheadschen Ereignisse retentional an ein Gewesen an, das nicht mehr ist, sondern je perspektivisch per Gegenwart eingeholt wird. Wie bei Husserl kann die Einheit des Bewußtseinsstromes bzw. des Ereignisprozesses nicht per se vorausgesetzt werden, sondern muß durch je gegenwärtige Akte je neu hergestellt werden und bleibt so irreduzibel an die eigene Gegenwart gebunden. Und schließlich: Wie Husserl schreckt auch Whitehead vor der letzten Konsequenz einer operativen Theorie zurück. Während dieser die empirische Urgegenwart des sukzedierenden Bewußtseinsstromes sowie das Monadenall im Kollektivsingular der absoluten Subjektivität fundiert sieht, löst Whitehead die Dekomposition der Welt in Ereignisse durch Rekurs auf möglichkeitsbindende Werte und auf Gott als unbegrenzten Begrenzer auf.
140
II. Kapitel
Mead schließt unmittelbar an Whitehead an. Er führt den Prozeßgedanken produktiv fort und moniert an Whitehead, „die inhaltliche Realität (the ,what it is‘) des Geschehens nicht aus dem Geschehen selbst, sondern vermittels des metaphysischen Prozesses der ,Ingression‘“ (Mead 1969: 250) zu begreifen. Auf dieser Basis entwickelt er eine Handlungstheorie, die letztlich jene Qualitäten, die Urgegenwarten bzw. Ereignisse bei Husserl bzw. Whitehead haben, auf die Handlung als Letzteinheit überträgt. Um zu vermeiden, die Elemente dieser Handlungstheorie zu wiederholen, sei folgendes kurz betont: Analog zu Husserls operativer Zeittheorie, die auch auf Reihen von je gegenwärtigen Ereignissen beruht, läßt sich eine Handlungstheorie, die Handlungen als je gegenwärtige Ereignisse behandelt, zu einer operativen Theorie sozialer Zeit ausbauen. Grundlegende sieben Strukturmerkmale habe ich im Anschluß an Mead herausgearbeitet (vgl. II.3b). Entscheidend für das Erkenntnisinteresse meiner weiteren Argumentation ist die Tatsache, daß Mead Handlungen, also die zeitkonstituierenden Einheiten, nicht auf intentionale Bewußtseinsakte zurückführt, sondern das Bewußtsein – ähnlich wie Parsons – nur als funktionalen Teil der Handlung führt. Dies verbürgt einerseits das verfolgte Ziel, eine Theorie der überindividuellen, nicht auf einzelne Bewußtseinsakte rückrechenbaren Zeit zu entwerfen. Andererseits stellt sich damit die Frage, ob und inwieweit Mead die unbestreitbare Tatsache bewußter Zeithorizonte neben den mit ihm herausgearbeiteten sozialen Zeithorizonten ausweisen kann. Dazu werde ich im folgenden eine kritische Anmerkung anschließen (1). Ferner ist in einer zweiten kritischen Anmerkung nach Meads gesellschaftstheoretischen Potenzen zu fragen, denn der bisher destillierte Begriff sozialer Zeit scheint noch kaum dazu geeignet zu sein, nach Zeithorizonten zu fragen, die über elementare Handlungssequenzen hinausgehen, die also in der Lage sind, die Zeit der Gesellschaft zu beschreiben (2). 1) Bewußtsein, so habe ich gezeigt, ist für Mead ein funktionaler Aspekt des Handelns. Es entsteht mit dem Handeln und befördert dieses damit. Aus den kreativen Potenzen des Ich, also den präreflexiven, vorsozialen Gründen der Subjektivität jedoch resultiert erst die Differenz zwischen dem Spiegel des anderen, dem Mich, und der sozialen Identität. Diese wiederum ist eine soziale Tatsache und kein bloßes psychisches Phänomen und geht als solches in das Handeln ein. Ferner habe ich von einem Zeitbewußtsein des Handelns gesprochen, also dem funktionalen Aspekt der temporalen Perspektive des an der Handlung beteiligten Bewußtseins als temporalem Aspekt der Handlung selbst. Diese Zusammenhänge dürften ausreichend erläutert sein. Doch ergibt sich aus ihnen eine Frage, die in entscheidendem Maße mit dem Problem einer Theorie der Zeit verbunden ist. Zwar kann es mit Mead gelingen, die Temporalität sozialen Handelns und insbesondere soziale Zeithorizonte zu beschreiben. Doch wo bleibt dann die Temporalität des Bewußtseins, besser: die Zeit des Psychischen, das, was Gegenstand von Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins ist? Mead betont ausdrücklich, daß die Psychologie „nicht ausschließlich das Bewußtsein untersuchen“ (Mead 1988: 43) kann, ohne Entscheidendes ihres Gegenstandsbereichs aus dem Blick zu verlieren. Ich erinnere noch einmal: Bewußtsein ist funktionale Folge der Handlungshemmung in der Distanz-Erfahrung. Es ist damit sozialen Ursprungs. Zugleich aber ist exakt jener soziale Ursprung eben nur Ursprung und nicht die psychische Individualität selbst. Mead betont dies selbst: „Gerade in diesem Stadium der Subjektivität, in dem
Intersubjektive und soziale Zeit
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die Aufmerksamkeit auf eine Lösung des Problems gerichtet ist, d.h. in der Erzeugung der Hypothese über eine neue Welt, findet das Individuum qua Individuum seinen funktionalen Ausdruck oder besteht vielmehr in eben dieser Funktion.“ (Mead 1980b: 140) Daß das Individuum qua Individuum hier seinen Ausdruck findet, läßt sich so interpretieren, daß die bewußtseinsmäßige Individualität immer Element einer Handlung ist, sich jedoch von dieser unterscheidet. Daraus läßt sich schließen, daß das individuelle Bewußtsein nur ein funktionaler Aspekt der Handlung ist und durch das Problematischwerden von Handlungsmöglichkeiten entsteht. Das heißt aber nicht, daß es in der Handlung aufgeht. Handlung und Bewußtsein scheinen ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis einzugehen, das tatsächlich von vollständig reziproker Struktur ist: ohne Handeln in Ermangelung der Hemmung kein Bewußtsein und ohne Bewußtsein in Ermangelung eines Handlungsentwurfs keine Handlung. Auch dies bringt Mead treffend auf den Begriff: „Wie die Funktion der Welt ganz offensichtlich darin besteht, Daten für eine Lösung bereitzustellen, so besteht offenbar die Funktion des Individuums darin, eine Hypothese für die Lösung zu finden.“ (ebd.: 141) Worauf meine Anmerkung abzielt, ist folgendes: Zwar ist Mead ohne Zweifel Recht zu geben in seiner pragmatischen Verhältnisbestimmung von individueller Perspektive und Handlung als Letztelement der sozialen Ereigniswelt. Allerdings meine ich, stärker als Mead den Aspekt der Differenz von Bewußtsein und Handlung betonen zu sollen. Diese Forderung erhält einige Plausibilität, wenn man auf die Temporalaspekte des Verhältnisses von Bewußtsein und Handeln abstellt. Die Temporalaspekte der Handlung dürften ausreichend erläutert sein, auch der Beitrag der Fähigkeit des Bewußtseins, Zukunftsentwürfe und Vergangenheitshorizonte in der Phase der Handlungshemmung als Generator der Handlungsemergenz einzusetzen. Jedoch geht die bewußtseinsmäßige Temporalität nicht in der Eigentemporalität des Ereigniszusammenhangs von aneinander anschließenden Handlungen auf. Denn die Geschichte des jeweiligen Bewußtseinsstroms – auch Mead benutzt diesen Begriff, und zwar im Anschluß an William James (vgl. Mead 1980b: 128f.) – ist nicht identisch mit der Geschichte des Handlungsgeschehens selbst. Man kann sich dies daran verdeutlichen, daß Individuen als Handlungsträger an Handlungssequenzen beteiligt werden, ohne eine solche Sequenz von Beginn an zu kennen. Dies wird schon an einem Beispiel elementarer Interaktion deutlich: Wenn ich etwa als Dritter auf ein Gespräch zwischen zwei Interaktionspartnern stoße, die sich bereits längere Zeit unterhalten, so ist mein Zeithorizont keineswegs identisch mit dem der Handlungssequenz. Trotzdem kann ich mich an dem Gespräch beteiligen, ohne daß ich über die gesamte Geschichte des Gesprächs aufgeklärt werden muß. Hier wird offensichtlich, daß mein „manipulatorischer“ Beitrag zur Handlung sowohl aus der wahrnehmenden Gegenwart als auch aus meiner eigenen Prädisposition meines Bewußtseinsstroms mit seinen Zeithorizonten resultiert.55 Die Emergenz der Handlung ist geradezu darauf angewiesen, daß eine Koordination verschiedener Zeitperspektiven zur gleichzeitigen Handlungsgegenwart verschiedener Individuen geschieht. Sie ist aber auch darauf angewiesen, daß verschiedene Perspektiven überhaupt auftreten, sonst bestünde gar kein Handlungsbedarf, sieht Mead doch das Handeln als einen Mechanismus, der durch die „Relation zwischen dem Individuum und der Umwelt bestimmt“ (Mead 1983b: 95) ist, wobei die Relati55
Es ist hinzuzufügen, daß für Mead ein großer Teil der Gleichsinnigkeit der Perspektiven durch das symbolische Universum einer Kommunikationsgemeinschaft mit ihren zeitfesten Symbolen verbürgt ist.
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II. Kapitel
on sich durch das Problematischwerden der Umwelt für das Individuum auszeichnet. Problematisch werden kann die Umwelt, insbesondere die kulturell-geistige Umwelt, aber nur, wenn eine spezifische Differenzerfahrung zwischen alter und ego vorliegt, wenn alter also eine Handlungshemmung für ego darstellt.56 Die Emergenz des Handelns ergibt sich aus der wechselseitigen Handlungshemmung und dem Vollzug der Handlung, was insbesondere durch die Wechselseitigkeit immer neuerer Differenzerfahrungen zu neuen Handlungsanschlüssen führt. Die Handlungen in ihrem ereignishaften Sukzedieren können durch den sozialen Charakter der Perspektivenübernahme und durch die Wechselseitigkeit der Handlungshemmung keinem der Interaktionspartner eines Gesprächs einsinnig intentional zugerechnet werden. Aus diesem Grunde sieht Mead denn auch Handlungen und nicht Bewußtseinszustände als elementare Weltereignisse an. Und dieser Gedanke ermöglicht die Formulierung einer durch Handlungssequenzen konstituierten sozialen Zeit. Ich meine jedoch, daß neben diesem Ertrag von Meads Theorie für eine Theorie sozialer Zeit die individuelle Zeitperspektive des Bewußtseins zu kurz kommt, obwohl sie mit den Grundannahmen seiner Handlungstheorie durchaus kompatibel ist. Der Aufweis der sozialen Genese des Bewußtseins dispensiert nicht von der theoretischen Notwendigkeit, die eigene Temporalität des Bewußtseins, vielleicht sollte man besser sagen: das Selbst als individuell aggregierter Synthese der verschiedenen Mes zu beschreiben. M.E. wäre zu prüfen, ob sich die Temporalität der Handlung und die Temporalität der beteiligten Bewußtseine so beschreiben lassen, daß man nicht dem Fehler verfällt, das Bewußtsein bilde eine äußere, an sich seiende Realität ab (vgl. Mead 1980c: 223). Meads Ausführungen betonen ausdrücklich die Differenz der individuellen Perspektiven und die Eigensinnigkeit des Handelns als sozialer Letzteinheit. Explizit deutet er an, daß die Welt „für jedes einzelne (Individuum; A.N.) eine verschiedene Ereignisabfolge“ (Mead 1980d: 309) darstellt, was meine Forderung nach einer genaueren Analyse des Bewußtseins in Differenz zur Handlungszeit zu bestätigen scheint. 2) Meine zweite kritische Anfrage an Mead bezieht sich auf die gesellschaftstheoretischen Potenzen der Meadschen Theorie sowie ihre zeittheoretischen Implikationen. Meads Konzept wird gewöhnlich als „symbolischer Interaktionismus“ (vgl. Blumer 1973: 80ff.) oder als „Konzept symbolvermittelter Interaktion“ (vgl. Joas 1989: 91ff.) bezeichnet – Labels, die Mead selbst nie verwendet hat. In ihnen ist jedoch die spezifische Begrenzung des Meadschen Ansatzes treffend auf den Begriff gebracht. Mead bietet tatsächlich nur eine Theorie symbolvermittelter Interaktion, also der elementaren Sozialbeziehung von kopräsenten Handelnden an, jedoch keine Theorie der Gesellschaft als umfassender sozialer Einheit, die weitaus mehr als kopräsentes Interagieren einschließt. So kommt etwa Habermas zu dem Ergebnis, daß Mead alle „nicht-kommunikativen Mechanismen“ (Habermas 1981a: 168f.) und externen Beschränkungen interaktiven Verhaltens ausklammert. Joas nennt als Beispiele „Ökonomie, Kriegführung, Politik als Machtkampf“ (Joas 1989: 18) etc. Harald Wenzel meint sogar, Mead sei letztlich, „wenn man so will, in strengem Sinne kein Soziologe“ (Wen56
Dies widerspricht übrigens nicht dem Gedanken der Perspektivenübernahme, weil diese keineswegs eine vollständige Bedeutungsidentität der Welt impliziert, sondern eher die hypothetische Einstellung des anderen zur Selbstbeobachtung einnimmt. Entscheidend ist, daß der Mechanismus der Perspektivenübernahme von der je individuellen Position her reziprok erfolgt und so die wechselseitige Fremd- und Selbstbeobachtung zu denjenigen Differenzen führt, die Mead Handlungshemmung nennt (vgl. dazu auch Mead 1988: 180; Bergmann 1981b: 354).
Intersubjektive und soziale Zeit
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zel 1985: 50), weil ihm kein Gesellschaftsbegriff zur Verfügung stehe, der in der Lage ist, die gesamtgesellschaftliche Vernetzung konkreter Handlungen zu beschreiben. Für eine anspruchsvolle soziologische Zeittheorie ist eine Abbildbarkeit einer solchen Vernetzung von Handlungen und Handlungsketten unerläßlich. Vernetzt sind Handlungsketten innerhalb der Gesellschaft in unterschiedlicher Weise. Einige Beispiele: Geld kann erst ausgegeben werden, wenn es vorher von der Bank abgeholt wurde; eine juristische Handlungskette kann erst in Gang kommen, wenn bestimmte politische Handlungen der Legislative erfolgt sind; eine berufliche Handlungssequenz ist erst dann möglich, wenn deren Träger an Ausbildungshandlungen beteiligt war; ein Argument kann erst dann begründet werden, wenn es in ein Gespräch eingebracht wurde; eine Volkswirtschaft kann nur dann funktionieren, wenn Investoren auf investitionsfreundliche Bedingungen und kalkulierbare Aussichten stoßen. Alle diese Beispiele haben gemeinsam, daß sie zwei unterschiedliche Phänomene in doppelter Weise verknüpfen: kausal und temporal. Unabhängig davon, ob sie elementar personenbezogen sind oder eher auf abstrakte gesellschaftliche Handlungszusammenhänge abstellen: Das kausale Bedingungsverhältnis impliziert immer auch die temporale Organisation von Handlungsbedingungen. Handlungsvernetzungen sind also immer auch zeitliche Vernetzungen, und ein Begriff sozialer Zeit muß offenbar nicht nur in der Lage sein, den spezifischen Zeithorizont und den „Fluß“ von Handlungsketten zu beschreiben, sondern auch die temporale Organisation unterschiedlicher Handlungen und Handlungszusammenhänge darzustellen. Mit den Mitteln der Meadschen Theorie lassen sich diese komplexen Zeitverhältnisse nicht darstellen. Zwar kann im Zeithorizont von einzelnen konkreten Handlungen durchaus die antizipierte Wirkung des Handelns auf „entfernte“ Handlungen und deren Zeithorizonte, in Schütz’ Worten: auf die Mitwelt, auftauchen. Doch hat dies m.E. noch sehr wenig Erklärungswert für die gesellschaftliche Organisation und Vernetzung von unterschiedlichen Temporalhorizonten. Zwar gesteht Mead sehr wohl eine Struktur des gesellschaftlichen Prozesses zu, aber seine theoretische Erklärung kann kaum zufriedenstellen. Er betont: „Die Organisation der Gesamt-Handlung hat eine Struktur, die andere Individuen, physische Dinge und den Organismus als Selbst und als Ding genau bestimmt; die mitgeteilten Bedeutungen besitzen in der Gemeinschaft, zu der der Organismus gehört, Allgemeingültigkeit. Sie konstituieren ein Universum gemeinsamer Sprache (universe of discourse).“ (Mead 1969: 227) Diese Einlassung Meads enthält zweierlei: den expliziten Verweis auf eine gesamtgesellschaftliche Struktur und den impliziten Verweis auf die kategoriale Unfähigkeit, sie darzustellen. Mead gesteht gleichsam die Existenz einer gesellschaftlichen Ordnung, einer gesellschaftlichen Struktur, die offenbar bestimmte Handlungsanschlüsse wahrscheinlicher macht, andere nahezu ausschließt, zu. Allerdings bleibt diese Struktur unterbestimmt, sie wird lediglich als „universe of discourse“, als vorgängige symbolische Koinzidenz von Perspektiven postuliert, ohne daß die soziale Genese dieser Superstruktur noch ihre Erscheinungsweise – etwa innere Differenziertheit oder partikulare Geltungsräume verschiedener Diskurs-Universen (sic!) – ausreichend begründet werden kann. Wenzel ist in der Einschätzung Recht zu geben, daß Meads Begriff des sprachlich und symbolisch vermittelten Handelns zu präzisieren und zu differenzieren ist, um die Potenz des Modells der Handlung als selbstkonstituierten, emergenten Prozeß voll auszuschöpfen. Nur so, so Wenzel,
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II. Kapitel
kann die soziologische Theoriebildung vorangetrieben werden, denn „sie bedarf überhaupt der Überwindung des substanzmetaphysischen Syndroms materialistischer, positivistischer, idealistischer, dualistischer Ansätze, die vorschnell den Charakter der Geordnetheit von Realität festschreiben, Ordnung dann nicht mehr als selbstkonstitutiv, als emergent begreifen können“ (Wenzel 1985: 51). M.E. liegt diese Gefahr auch bei Mead vor, wenn es nicht gelingt, den „universe of discourse“ durch einen Gesellschaftsbegriff zu ersetzen, der Gesellschaft selbst als emergentes Ordnungsniveau beschreibt. Andernfalls wird aus der symbolischen Ordnung doch ein Wertekonsens wie bei Whitehead – eine offenkundige Notlösung, wie ich oben dargestellt habe (vgl. II.3a) –, der den theoretischen Ertrag der Dekomposition der Welt auf Ereignisse und von Ordnung auf Emergenz zunichte machen würde. Letztlich fällt damit der soziologische, gesellschaftstheoretische Mead hinter den ereignisphilosophischen zurück. Bezogen auf das Zeitproblem: Mit Mead kann die gesamtgesellschaftliche Organisation von Zeit, die Zeit der Gesellschaft nur in der substantiellen symbolischen Bedeutung innerhalb des Bedeutungskosmos einer bestehenden symbolischen Ordnung aufgewiesen werden, nicht aber gewissermaßen empirisch in der Beschreibung von Handlungszusammenhängen und der Analyse von Interdependenzen verschiedener Handlungsaggregationen. Womöglich tritt erst mit einem verfügbaren Gesellschaftsbegriff die empirisch kaum bestreitbare Tatsache ins Auge, daß die soziale Welt nicht nur aus einer, sondern aus mehreren Handlungsketten besteht, die vor allem temporal miteinander verknüpft sind. Der weitere Gang der Untersuchung auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit hat an den zuletzt angeführten Einwänden anzusetzen: Es ist nach einer Theorieanlage zu fragen, die sowohl die Differenz bewußtseinsmäßiger und sozialer Temporalhorizonte darstellen kann als auch in der Lage ist, den theorietechnischen Ertrag eines Begriffs sozialer Zeit gesellschaftstheoretisch nutzbar zu machen.
Zeit sozialer Systeme
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III. Kapitel: Zeit sozialer Systeme
Eine Theorieanlage, die an den bisherigen Befunden ansetzen kann, muß mit gewohnten Techniken brechen. Sie muß den operativen Aspekt der Konstitution von Zeit gegenüber einer ontologischen Bestimmung von Zeit zur Geltung bringen. Sie kann weder auf einer rein subjektorientierten Begrifflichkeit aufbauen noch das Soziale als Entität sui generis behandeln, ohne den „materialen Unterbau“ in Form von Bewußtsein miteinzubeziehen. Sie muß, um die andeutungsweise herausgearbeitete kategoriale Verschiedenheit sozialer und bewußtseinsmäßiger Zeitoperationen in den Blick zu bekommen, von Identität auf Differenz umstellen. Und sie kann nicht vom Ganzen der Welt ausgehen, deren Teile gemeinsam an der Konstitution dieses Ganzen beteiligt sind und damit in einem holistischen Prinzip „Welt“ vereinigt werden müßten. Zumindest der Anspruch, eine Differenz psychischer und sozialer Zeit, kombiniert mit einer operativen Konstitutionstheorie der Zeit, zu formulieren, schließt einen solchen Rekurs aufs Ganze aus. Denn andernfalls könnte eine operative Theorie der Zeit nicht aufrechterhalten werden, würde doch der Gedanke von Teil und Ganzem implizieren, die Teile hätten an einer universalen Zeit teil, die immer schon abläuft. Die Umstellung von Identität auf Differenz, von Einheit auf operative Vielheit, bildet das Zentrum von Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Sie wendet den Blick von der Differenz Teil/Ganzes, die nur das Ganze als Einheit begreifen kann, auf eine neue Differenz: die Differenz von System und Umwelt (vgl. Luhmann 1984a: 22). Eine solche Theorieanlage verspricht aus mehreren Gründen, die im folgenden herauszuarbeiten sind, eine Theorie sozialer Zeit zu formulieren, wie sie in Versatzstücken bereits vorbereitet wurde. Ich werde dazu zunächst auf die theoretisch folgenreichste Differenz von System und Umwelt, nämlich von Bewußtsein und Kommunikation eingehen (1). Danach wende ich mich unter den Stichworten Zeit, Struktur und Prozeß den spezifischen temporalen Operationsweisen sozialer Systeme zu (2), um anschließend das Problem der Realität der Zeit im Zusammenhang mit der Zeitlichkeit von Systemen wiederaufzunehmen, das oben bereits liegengeblieben ist (3).
1.
Bewußtsein und Kommunikation
a)
Intersubjektivität vs. Kommunikation
Die grundlegenden Theorieannahmen von Husserl und Schütz gehen davon aus, daß sich eine Gemeinsamkeit von Perspektiven aus der je primordial gegebenen Subjektivität heraus erklären läßt. Bei der Diskussion von Husserls Intersubjektivitätstheorie konnte oben gezeigt werden, daß schon der Versuch einer Kontaktaufnahme egos mit alter zu einer kopräsenten Zeitstufe höherer Ordnung führt, die nicht auf die temporalen Operationen der ein-
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III. Kapitel
zelnen egos reduziert werden kann (vgl. Husserliana XV: 343). Diesen Verweis auf eine emergente Ebene des Zwischen habe ich gleichgesetzt mit dem Scheitern Husserls am Problem der Intersubjektivität; zugleich sehe ich in dem Scheitern Husserls den – von ihm sicher nicht intendierten – Nachweis, daß sich das Problem der Intersubjektivität nicht auf der Basis primordialer Subjektivität lösen läßt. Zu dieser Diagnose gelangt auch Luhmann: „Husserl war ein viel zu strenger Denker, um die Schwierigkeiten nicht zu sehen, die er sich mit der Position eines transzendentalen Subjektivismus eingehandelt hatte. Das ,Problem der Intersubjektivität‘ stellt sich nur im Kontext und in der Terminologie der Subjekttheorie; aber es fordert implizit dazu auf, diese Theorie selbst zu widerrufen. Er markiert eine Korrekturnotwendigkeit, die die Theorie des Subjekts akzeptieren muß und ohne Selbstaufgabe nicht akzeptieren kann. Das ,Inter‘ widerspricht dem ,Subjekt‘. Oder genauer: jedes Subjekt hat seine eigene Intersubjektivität.“ (Luhmann 1986a: 42) Auch mit Schütz konnte kein befriedigenderes Ergebnis erzielt werden, denn hier wird die Husserlsche Transzendentaltheorie nicht etwa grundlegend verändert, sondern es wird lediglich darauf hingewiesen, daß sich der subjektive Bewußtseinsstrom in einer bereits sinnhaft ausgelegten Sozialwelt vorfindet, über die man letztlich nicht viel erfährt. Luhmanns Ansatzpunkt ist ein anderer: Er geht zunächst von der empirischen Diagnose aus, daß auch eine am Subjekt ansetzende Theorie konzedieren muß, daß dessen „Vorstellungen durch Teilnahme an gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen dermaßen sozialisiert sind“ (Luhmann 1990a: 15), daß keine Rede davon sein kann, daß der Einzelmensch mit seinem subjektiven Vermögen als letzte analytische Bezugsgröße behandelt werden kann. Diese für Sozialisationstheorie, gleich welcher Provenienz,1 banale Tatsache erzwingt es aber geradezu, daß die Differenz zwischen Sozialisand und Sozialisationsinstanz theoretisch bearbeitbar gemacht wird. Dabei kann es nicht darum gehen, zwischen einer – um mit Anthony Giddens (1988: 34) zu sprechen – eher „subjektivistischen“ oder eher „objektivistischen“ Position zu wählen. Vielmehr ist diese Opposition in der Weise aufzulösen, daß nicht für eine der beiden Seiten optiert werden muß, sondern daß die strukturellen Interdependenzen zwischen Bewußtsein und Sozialität adäquat beschrieben werden können. Eine solche theoretische Wendung einer der Lieblingsdichotomien früherer Theoriekontroversen – materialistische vs. idealistische, strukturalistische vs. phänomenologische Theorie – läßt sich nur dann erreichen, wenn es gelingt, die beiden Beschreibungsebenen als je eigenständige, jedoch stets aufeinander bezogene Einheiten zu begreifen. Sobald man beide nicht mehr als unterschiedliche Teile eines Ganzen beschreibt, kann ihre Differenz theore-
1
Es ist letztlich gleichgültig, ob man dabei an die Spiegelbildtheorie Lenins denkt, nach der sich die objektiven gesellschaftsstrukturellen Bedingungen je nach Klassenlage im Bewußtsein abbilden (vgl. Lenin 1947), ob man dagegen eine „weichere“ materialistische Linie fährt (zum Überblick vgl. Holodynski/Rückriem/Seeger 1986), ob man mit Parsons eine Theorie der Internalisierung des Gesellschaftssystems durch das Persönlichkeitssystem vertritt (vgl. Parsons 1981) oder ob man stärker von der Perspektive des soziale Realität aufnehmenden Individuums her denkt (vgl. Berger/Luckmann 1969): Gemeinsam ist all diesen sehr unterschiedlichen Theoriekonzepten, daß sie es ausschließen, das Subjekt als Subjekt der Welt behandeln zu können. Das Gleiche gilt übrigens nicht nur für soziologische, sondern auch für psychologische Sozialisationskonzepte, bei denen es um die Übernahme sozialer Strukturen durch die menschliche Psyche geht (für die Psychoanalyse vgl. zum Überblick Schütze 1980, für Lern- und Verhaltenstheorien Ulich 1980).
Zeit sozialer Systeme
147
tisch beschrieben werden, wie es oben als conditio sine qua non einer anspruchsvollen Theorie sozialer Zeit herausgearbeitet wurde. Grundthese der Luhmannschen Theorie ist die Beobachtung, daß, sobald psychische Systeme Kommunikationsversuche starten, ein System entsteht, das nicht in einem mitteilenden oder verstehenden Bewußtsein aufgeht. „Kommunikation setzt auf diese Weise Systembildung in Gang. Wenn immer sie in Gang gehalten wird, bilden sich thematische Strukturen und redundant verfügbare Sinngehalte. Es entsteht eine selbstkritische Masse, die Angebote mit Annahme/Ablehnungsmöglichkeiten hervorbringt.“ (Luhmann 1984a: 238f.) Ein solches System der Kommunikation, also ein soziales System, wird durch die beteiligten Mitteilungs- und Verstehensversuche von Menschen – besser: von Bewußtseinssystemen2 – zwar in Gang gehalten, doch stellt es eine emergente Realitätsebene dar, die ihre Anschlüsse letztlich nicht in den beteiligten Bewußtseinssystemen findet, sondern in sich selbst. Es gibt selbstverständlich keine Kommunikation ohne Bewußtsein; genausowenig ist Bewußtsein ohne Kontakt zu kommunikativem Geschehen möglich. Gleichwohl bilden sich unterschiedliche Systemarten aus, sobald ego und alter miteinander in kommunikativen Kontakt treten. Der provokative Satz: „Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren“ (Luhmann 1990a: 31; auch 1988a: 884) ist folgerichtig kein Plädoyer für eine freischwebende, von Menschen nicht beeinflußbare Kommunikation3 – etwa im Sinne des Heideggerschen Sprachobjektivismus (vgl. Heidegger 1959: 13). Luhmann möchte vielmehr zeigen, daß Kommunikation eine Eigendynamik entwickelt, die von einzelnen Bewußtseinssystemen gestört, gereizt, angeregt, initiiert und beeinflußt werden kann, sie jedoch keineswegs intentional zu steuern in der Lage ist. In einer prägnanten Formulierung Luhmanns heißt es: „(...) Bewußtsein kann die Kommunikation nicht instruieren, denn die Kommunikation konstruiert sich selbst. Aber Bewußtsein ist für die Kommunikation eine eigenständige Quelle von Anlässen für die eine oder andere Wendung des kommunikationseigenen Verlaufs.“ (Luhmann 1988a: 893) Bewußtsein und Kommunikation versteht Luhmann als je notwendige Umwelten der jeweiligen Systeme: Kommunikation als notwendige Umwelt des Bewußtseins (vgl. Luhmann 1985a: 421) und Bewußtsein als notwendige Umwelt von Kommunikation (vgl. Luhmann 1984a: 346). Die beiden Systemarten verhalten sich damit nicht als Teile eines Ganzen, sondern bilden je eigenständige System/Umwelt-Verhältnisse. Bevor ich auf das spezifisch systemtheoretische Design der Luhmannschen Theorie zu sprechen komme, sind noch einige Bemerkungen zum Begriff der Kommunikation vonnöten. Kommunikation, so Luhmann, ist der Modus derjenigen Ebene, die das Inter der Subjekte beschreiben soll, ohne daß dieses in den Subjekten selbst lokalisiert wird. Es wird dann unmöglich, Kommunikation als bloße Übertragung von Daten zu verstehen, da dies zwei Subjekte erforderlich machen würde, von denen bzw. auf die etwas übertragen wird. Daß es sich dabei nur um eine metaphorische, keineswegs aber theoretisch brauchbare Sprechweise handelt, läßt sich laut Luhmann schon daran erkennen, daß „derjenige, der 2
3
Luhmann hält die Zurechnung von Kommunikation auf „den Menschen“ für ein „Artefakt, eine Konstruktion“, die theoretisch nicht genügen kann (vgl. Luhmann 1990a: 16). Das heißt nicht, daß dem Menschen seine Existenz abgesprochen wird, sondern lediglich, daß man den Menschen nicht als Einheit denken kann, die operativ agiert. Zum gesamten Problemzusammenhang vgl. Dziewas 1992. So etwa oberflächliche Kritiken der Luhmannschen Theorie, die darin eine Entwertung des Menschen und eine Unterjochung unter Systemimperative sehen wollen, für viele Belege vgl. Pfütze 1988: 300ff.
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III. Kapitel
etwas mitteilt, dasjenige, was er mitteilt, ja nicht weggibt, also nicht aufgibt, sondern behält“ (Luhmann 1986a: 50; vgl. auch 1984a: 193). Ferner stellt sich die Frage, was als Einheit der Kommunikation gelten soll, wenn sie nur als ein Übertragungsmedium verstanden wird. Gegen die Übertragungsmetapher denkt Luhmann Kommunikation als dreistellige Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen. Sie müssen zusammenkommmen, damit Kommunikation entsteht: „Irgendein Kommunikationsinhalt muß anders sein, als er sein könnte (Information; A.N.). Irgend jemand muß sich entschließen, dies mitzuteilen, obwohl er es auch unterlassen könnte. Und irgend jemand muß dies Geschehen (unter Einschluß der Differenz von Information und Mitteilung) verstehen, obwohl er sich ebensogut mit ganz anderen Dingen befassen oder die Differenzen und Selektionen auch übersehen oder nicht erfassen könnte.“ (Luhmann 1986a: 51) Information, Mitteilung und Verstehen sind Selektionen, weil sie aus einem größeren Möglichkeitshorizont Einschränkungen auswählen, an die weitere Operationen mit erneuten Selektionen anschließen müssen. Während die Übertragungsmetapher die Kommunikation in der Mitteilung aufgehen läßt, beschränkt sie sich letztlich auf den Mitteilenden, ohne zu sehen, daß eine Mitteilung als Kommunikationsversuch zunächst nichts anderes ist als „ein Selektionsvorschlag, eine Anregung“ (Luhmann, 1984a: 194). Aus der Mitteilung einer Information läßt sich allerdings noch nicht ersehen, geschweige denn durch sie steuern, daß diese Anregung auch aufgegriffen wird und somit Kommunikation zustande kommt. Erst die dritte Selektion, das Verstehen der mitgeteilten Information, sichert, daß Kommunikation als neue, emergente Ebene zustande kommt, die weder allein dem Mitteilenden noch dem Verstehenden zugerechnet werden kann (vgl. ebd.: 205). Erst das Verstehen sichert den Anschluß einer neuen Kommunikation, es ist sozusagen der Garant für den Fortgang des kommunikativen Geschehens.4 Entscheidend ist, daß dieser Fortgang nicht an den psychischen Dispositionen der beteiligten Bewußtseine5 ansetzt, sondern nur daran, was wiederum als Information seligiert, mitgeteilt und wiederum verstanden wird. Gleichwohl hat die Kommunikation zumindest beim Verstehenden durchaus eine entscheidende Wirkung: Sie verändert den Adressaten; Luhmann: „ob man’s glaubt oder nicht!“ (ebd.: 203) Doch auch hier ist Vorsicht geboten. Kommunikation verändert die psychische Disposition des Adressaten, also sein Bewußtseinsgeschehen, ebensowenig linear und unmittelbar, wie das Bewußtsein in einem linear-kausalen Verhältnis zum kommunikativen Geschehen steht. Trotz der Verschränktheit von Kommunikation und Bewußtsein bleiben diese für sich jeweils äußerlich, fremd und unerreichbar, weil keines der beiden auf das andere verrechenbar ist. Das Bewußtsein sitzt zwar an den Schaltstellen der Kommunikation, ohne sie jedoch selbst 4 5
Zu den Konvergenzen des hermeneutischen Verstehensbegriffs mit der Luhmannschen Operation des Verstehens als einer notwendigen Selektion für die Emergenz des Sozialen vgl. Kneer und Nassehi 1991. Man entschuldige den unschönen Ausdruck, der sich aus der Pluralbildung des Ausdrucks Bewußtsein ergibt. Daß er so unschön wirkt, läßt sich freilich erklären: Es ist keineswegs nur ein sprachästhetisches Phänomen, daß der Terminus Unbehagen verursacht, sondern ein theoretisches. Wenn man Theorieanlagen bevorzugt, die das Bewußtsein im Sinne des Subjekts als Kollektivsingular gebrauchen, ist es kaum nötig, den Begriff im Plural zu verwenden, weil ihm ohnehin keine empirische, sondern nur eine transzendental abgeleitete Evidenz zukommt, die auf jedes empirische Exemplar zutrifft, das dann sogar empirisch als Kollektivsingular auftritt – Stichwort: Gattungswesen. Rekurriert man aber gerade auf die Unterschiedlichkeit oder zumindest die Nicht-Koinzidenz beteiligter Bewußtseine (!) zur Erklärung von Kommunikation und Sozialität, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sprachlich einen Plural zu bilden.
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zu vollziehen und ohne selbst in Kommunikation aufzugehen. Für Kommunikation bleibt Bewußtsein eigentümlich intransparent, da es im Bewußtsein immer einen Überschuß von Möglichkeiten gibt, der nicht kommuniziert wird und nicht kommuniziert werden kann und der nur nach den Maßgaben des Bewußtseins selektiv in Mitteilungshandeln übergeht. Was nicht gesagt wird, darüber kann man nicht einmal schweigen, weil das Was des Schweigens gar nicht zum Kommunikationsinhalt werden kann. Genauso wenig ist die Kommunikation für das Bewußtsein transparent, weil es keinerlei Zugriff auf die nachfolgenden Selektionen zur Emergenz weiterer kommunikativer Akte hat und haben kann. Die an Kommunikation Beteiligten versorgen Kommunikation sozusagen mit Selektionsspielräumen, d.h. mit Kontingenz. Der Fortgang der Kommunikation aber ist Sache der Kommunikation. Ego muß so lange warten, bis er sich mit neuem Mitteilungshandeln in das kommunikative Geschehen einklinkt – aber bis dahin ist er qua Verstehen ein anderer geworden, und auch die Kommunikation ist dann längst nicht mehr das, was sie vorher war, denn sie ging ja weiter.6 Die je vorherigen Selektionen der zustande gekommenen Kommunikationen bilden damit lediglich denjenigen Selektionshorizont, an dem die Kommunikation stets von neuem ansetzt: „Kommunikation ist koordinierte Selektivität“ (ebd.: 212). Ego und alter finden sich dann jeweils nur über Verstehens- und Mitteilungsakte temporär an das kommunikative Geschehen gekoppelt vor. Es dürfte schon deutlich werden, daß hier ein Zeitfaktor mit im Spiel ist – doch dazu später mehr. Diese koordinierte Selektivität der Kommunikation macht sich an kommunizierten Themen und sinnhaften Verweisungen fest, wie ich soeben schon kurz erwähnt habe. Sinn ist für Luhmann kein emphatischer Begriff, dessen Negation – Sinnlosigkeit – nichts mit Sinn zu tun hätte. Ganz im Gegenteil: Jede thematisierbare Verweisung auf etwas geschieht in der Form von Sinn, da letztlich nur Thematisierbares auf Thematisierbares verweisen kann – und dazu gehört nicht zuletzt auch eine Semantik der Sinnlosigkeit und des Sinnverlustes, die als sinnhafte Verweisung auf die Erfahrung des Umganges mit Komplexität oder des Verlustes von kommunikativer Orientierung reagiert (vgl. ebd.: 96).7 An die phänomenologische Sinnsemantik anschließend, bemerkt Luhmann folgerichtig: „Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns.“ (ebd.: 93)8 Sowohl Kommunikation als auch Bewußtsein können nur auf der Basis von Sinn und seinen Überschußmöglichkeiten operieren, wobei 6 7 8
Daß die Kommunikation nun etwas anderes ist, ist, theoretisch genau genommen, nicht korrekt formuliert. Ich werde weiter unten zeigen, daß nicht das Sein von Kommunikation, sondern ihr Operieren ihre entscheidende Realitätsgarantie ist (vgl. III.1b und c). Bezüglich der Begrifflichkeit kritisch und erläuternd, letztlich von der Sache her aber zustimmend vgl. Hahn 1987a; vgl. auch Lohmann 1987. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag: Luhmanns Sinnbegriff schließt unmittelbar an Husserls Phänomenologie an. „Husserl hatte nur phänomenologisch beschrieben, daß die Welt, obwohl unendlicher Horizont, ihre eigene Bestimmbarkeit garantiere.“ (Luhmann, 1984a: 122) Dieser – so Luhmann weiter – von der phänomenologischen Soziologie Alfred Schütz’ aufgenommene Gedanke ermögliche es, die Welt als Selektionshorizont zu beschreiben, der die Verweisung von Selektionen aufeinander ermögliche. Schon bei Husserl sieht Luhmann – ich schließe mich hier der Interpretation von Ilja Srubar (1989: 319f.) an – die Entsubjektivierung des Sinnbegriffs angelegt, denn die Transzendentalisierung der sinnhaft operierenden Bewußtseinsstrukturen verweist auf eine Universalität des Sinngeschehens, die weit über empirische Subjekte hinausgeht. Daß die Phänomenologie dies nur implizit nahelegen, nicht aber explizit ausweisen kann, liegt in ihrem aufs Bewußtsein als Subjekt eingeschränkten theoretischen Horizont begründet.
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Sinn nur einen Operationsmodus darstellt und nicht etwa eine über Kommunikation und Bewußtsein situierte Ebene, die wiederum als traditionelle Ganzheitschiffre dienen könnte.9 Die Funktion des Sinnbegriffs bei Luhmann liegt vielmehr darin, daß in ihm die Kontingenz und Unwahrscheinlichkeit jedes kommunikativen oder bewußten Geschehens verdeutlicht werden kann. Der Sinnbegriff bezeichnet demgemäß die Differenz von Aktualität und Möglichkeit. „Im Fortgang des Sinngebrauchs stellt sich heraus, daß dies und nicht das der Fall ist; daß man so und nicht anders weiterlebt, kommuniziert, handelt; daß die Verfolgung bestimmter weiterer Möglichkeiten sich bewährt oder nicht bewährt. Es ist die Grunddifferenz von Aktualität und Möglichkeitshorizont, die es ermöglicht, Differenzen zwischen den offenen Möglichkeiten zu redifferenzieren; sie zu erfassen, zu typisieren, zu schematisieren und der dann folgenden Aktualisierung Informationswert abzugewinnen.“ (ebd.: 111f.) Jede Operation beginnt also mit einer Differenz, nämlich mit der Differenz zwischen dem aktuell Gegebenen und dem nicht aktuell Gewordenen, die den Informationswert der Operation bezeichnet. Luhmann nennt den durch diese Differenz abgesteckten Rahmen Sinndimension und unterscheidet Sach-, Zeit- und Sozialdimension. Diese Sinndimensionen interpretieren die Welt im Hinblick auf Sach-, Zeit- und Konsensfragen (vgl. 112ff.). Sinn sichert so die Kontingenz und Selektivität jedes Geschehens und ermöglicht den Fortgang von Kommunikation, die sich nur dadurch erhalten kann, daß es mehrere Möglichkeiten gibt, was die mitgeteilte Information beinhalten soll, wie sie mitgeteilt und wie sie verstanden wird. Dies schließt notwendig ein, daß zwischen alter und ego eine Perspektivendifferenz sowohl bezüglich der Bedeutung einer Information als auch bezüglich des Verstehens einer Mitteilung besteht. Anhand dieser Perspektivendifferenz läßt sich vertiefend verdeutlichen, daß Bewußtsein und Kommunikation als je eigensinnige Einheiten behandelt werden müssen. Für Luhmann koinzidieren Bewußtseine nicht in einem apriorisch begründeten Allgemeinen oder in einer per se vorkonsentierten Lebenswelt. Seine Grundfrage lautet nicht, wie Kommunikation aufgrund dieser Koinzidenz von Perspektiven verläuft, sondern wie sie gerade wegen der unüberbrückbaren Perspektivendifferenz von alter und ego nötig und möglich ist. Kommunikation kommt eben gerade nicht dadurch zustande, daß Bewußtseine in einem Punkt außerhalb ihrer selbst koinzidieren, sondern im Gegenteil: weil sie allererst verstehen müssen, was – außerhalb ihres operativen Zugriffs – als Information und Mitteilung behandelt werden kann. Luhmann reduziert also Kommunikation nicht auf ein Vermögen der Bewußtseine, sondern versucht, die emergente Ordnung des Sozialen auf deren Perspektivendifferenz zu gründen. Er greift dazu auf das von Parsons stammende Konzept der doppelten Kontingenz zurück. Die Beantwortung der klassischen Frage der soziologischen Theoriebildung, wie soziale Ordnung möglich sei, ergibt sich aus der Instabilität jedes sozialen Kontaktes. Mit doppelter Kontingenz bezeichnet Luhmann die radikale Differenz der Perspektiven, die es unwahrscheinlich macht, daß Kommunikation überhaupt zustande kommt. Parsons war davon ausgegangen, daß in einer Situation doppelter Kontingenz kein Handeln zustande kommen kann, nämlich dann, „wenn Alter sein Handeln davon abhängig macht, wie Ego handelt und Ego sein Verhalten an Alter anschließen will“ (ebd.: 149). Dieser reine Zirkel, 9
So der Vorwurf von Wolfgang Krohn und Günter Küppers, die dem Luhmannschen Sinnbegriff die Superfunktion eines „unbewegten Bewegers“ unterstellen (vgl. Krohn/Küppers 1989: 23).
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so Parsons, kann nur dadurch aufgelöst werden, daß sich beide in einer vorkonsentierten Welt vorfinden, die bereits eine Präferenz für eine Seite festlegt und so als Anfangsimpuls für den sozialen Kontakt dient. Dagegen bemerkt Luhmann, daß nichts dazu zwingt, die Lösung des Problems der doppelten Kontingenz allein über einen schon vorhandenen sozialen Konsens zu suchen (vgl. ebd.: 150). Er bringt vielmehr zur Geltung, daß Soziales, also Kommunikation, erst dadurch emergiert, daß Situationen doppelter Kontingenz entstehen. Gerade die Tatsache, daß es sich um doppelte Kontingenz handelt, also um eine Unterbestimmtheit der Situation von beiden Seiten, macht das Entstehen eines sozialen Kontaktes zugleich unwahrscheinlich und durch das wechselseitige Erleben von Unwahrscheinlichkeit und Kontingenz auch möglich. Schon der Zirkel selbst ist durch seine Wechselseitigkeit auf keine der beteiligten Seiten reduzierbar, was das Entstehen eines Dritten – des sozialen Systems – wahrscheinlicher werden läßt. Sobald nun ein selektiver Zugriff auf Information und Mitteilung erfolgt und dies verstanden wird, entsteht jene Dynamik, die Luhmann mit dem Begriff der Kommunikation belegt. Ein solcher Anfangsimpuls kann viele Gründe haben – jedenfalls führt die Unterstellung eines vorgängigen Konsenses zu dem Argumentationszirkel, das Soziale bei seiner Entstehung bereits voraussetzen zu müssen. Freilich ist anzumerken – darauf weist auch Luhmann selbst hin (vgl. Luhmann 1984a: 168) – daß eine Situation „reiner“ doppelter Kontingenz letztlich nicht vorkommen kann, weil jedes sinnhafte Geschehen in Bewußtseinen auf frühere Kommunikationen und auf Strukturbildung innerhalb eines sozialen Verweisungshorizontes angewiesen ist. Das ist jedoch keineswegs mit einer gesellschaftlichen Normunterstellung gleichzusetzen. Gemeinsam, so Luhmann, ist den Beteiligten lediglich die Erfahrung der Nichtidentität ihrer Perspektiven, was zu einer Instabilität führt, die nur durch ein tertium, also durch Kommunikation, zwar nicht aufgelöst aber doch dynamisiert werden kann. „Für beide ist die Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser Erfahrung konvergieren die Perspektiven, und das ermöglicht es, ein Interesse an Negation dieser Negativität, ein Interesse an Bestimmung zu unterstellen.“ (ebd.: 172)10 Die Negation dieser Negativität versteht Luhmann als den noch relativ strukturlosen Ausgangspunkt jeglichen sozialen Kontaktes, der mit weiterem kommunikativem Geschehen thematische Bindungen erzeugt, die Kontingenz einschränken, aber auch neue Selektionshorizonte eröffnen, die neue Kontingenzen sinnhaft erlebbar machen.11 Entscheidend für den gegenwärtigen Argumentationszusammenhang ist, daß sowohl der dreistellige Kommunikationsbegriff als auch das Theorem der doppelten Kontingenz darauf verweisen, daß Kommunikation und Bewußtsein elementar unterschiedliche operative Ebenen sind, die zwar je aufeinander angewiesen sind, sich aber gerade wegen ihrer 10
11
An anderer Stelle (vgl. Nassehi 1991a: 227) habe ich Luhmann hier eine analogietheoretische Argumentation unterstellt. Korrekterweise muß hinzugefügt werden, daß als Analogon keineswegs eine besondere allgemeine Struktur des Bewußtseins „überhaupt“ fungiert, sondern lediglich das Erleben von Unbestimmtheit, das nur sozial, d.h. kommunikativ aufgelöst werden kann. Welker weist – wie ich meine mit Recht – darauf hin, daß Luhmanns Theorem der doppelten Kontingenz zu sehr an dyadischen Kommunikationsbeziehungen orientiert ist, um die Komplexität „wirklicher“ sozialer Kontakte adäquat abbilden zu können (vgl. Welker 1992). Er schlägt deshalb vor, Luhmanns einfache doppelte Kontingenz durch ein Konzept multipler doppelter Kontingenz zu ersetzen, in dem die größere Verweisungsbreite jedes riskanten Kommunikationsversuches abgebildet werden kann. Entscheidend ist jedoch – dies geht aus Welkers Ausführungen nicht deutlich genug hervor – daß auch die multiple immer noch multiple doppelte Kontingenz ist und keineswegs multiple Kontingenz.
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Differenz gegenseitig ermöglichen. Ferner läßt sich Kommunikation so explizit ohne die Voraussetzung einer vorgängig schon vorhandenen Intersubjektivität konzipieren. „Daher ist Kommunikation denn auch Bedingung für so etwas wie ,Intersubjektivität‘ (wenn man den Ausdruck überhaupt beibehalten will) und nicht Intersubjektivität Bedingung für Kommunikation.“ (Luhmann 1990a: 19)12 Die von der phänomenologischen Intersubjektivitätstheorie vertretene Begründungsrichtung wird damit schlicht umgekehrt: Wollte diese das Inter der Subjekte durch Subjektqualitäten auf den Begriff bringen, versteht Luhmanns Theorie sozialer Systeme dieses Inter als eigenständige Einheit, deren Existenz aber nicht schlicht vorausgesetzt wird, sondern gerade durch die Vernetzung einzelner Bewußtseine miteinander erklärt werden soll. Es wird damit sowohl das phänomenologische Interesse an der Beschreibung der Funktion der operativen Einheit Bewußtsein aufgenommen als auch deren Defizit beseitigt, das die Subjekte Verbindende – oder: Trennende! – schlicht transzendental voraussetzen zu müssen.13 Auch das Soziale kann so als operative 12
13
So argumentiert bekanntlich Jürgen Habermas, der Intersubjektivität zwar nicht primordial an das einsame Bewußtsein bindet, jedoch Kommunikation und wechselseitigen Kontakt erst dort für möglich hält, wo sich Sprecher in einer immer schon intersubjektiv strukturierten Lebenswelt vorfinden. In dieser ist der „Geltungsvorschuß vorgängig konsentierter, eben lebensweltlicher Gewißheiten“ (Habermas 1988a: 89) bereits aufgehoben, wodurch das Problem doppelter Kontingenz sich gar nicht erst stellt. Wenn Intersubjektivität aber als quasi-transzendentale Bedingung der Möglichkeit für eine vorkonsentierte Wirklichkeit, auf deren Boden erst ein diskursives Einlösen von kommunikativen Geltungsansprüchen möglich ist, ausfällt, dann läßt sich auch nicht mehr mit guten Gründen behaupten, daß kommunikative Praxis „vor dem Hintergrund einer Lebenswelt auf die Erzielung, Erhaltung und Erneuerung von Konsens angelegt ist“ (Habermas 1981a: 37). Ausgeklammert bleiben dann die Konstitutionsbedingungen des Konsenses als Sonderfall der doppelten Kontingenz. „Mein Konsens ist Konsens nur in Bezug auf Deinen Konsens, aber mein Konsens ist nicht Dein Konsens, und es gibt auch keinerlei Sachargumente oder Vernunftgründe, die dieses Zusammenfallen (...) letztlich sicherstellen können.“ (Luhmann 1984a: 113) Nicht umsonst ist Habermas auch auf eine quasi-transzendentale Begründung seiner guten Gründe für die Konsenstheorie angewiesen, die selbst die Konstitutionsbedingungen ihrer selbst produziert und sie zugleich ausklammern muß, weil sie sonst auf ihre petitio principii aufmerksam würde: Nichts zwingt notwendig dazu, „die Lösung des Problems der doppelten Kontingenz ausschließlich in schon vorhandenem Konsens“ (ebd.: 150) oder zumindest in der Unterstellung eines zukünftig möglichen Konsenses zu suchen, außer: das Postulat, daß diese Kraft der Sprache apriorisch innewohne. Das Scheitern der phänomenologischen Intersubjektivitätstheorie habe ich oben ausführlich dargestellt (vgl. II.2a). Nach der Einführung der Differenz von Kommunikation und Bewußtsein läßt sich offenbar ein Ausweg aus dem philosophischen Dilemma finden, daß die immanenten Einschränkungen der Bewußtseinsphänomenologie eine adäquate Beschreibung des „Inter“ verbieten. Folgende Ausführungen von Kurt Rainer Meist, die zwar noch aus der Perspektive der transzendentalen Phänomenologie argumentieren, bringen die Notwendigkeit einer soziologischen Umrüstung des Problems der kommunikativen Welt scharfsinnig auf den Begriff. Zunächst kritisiert Meist Schütz: Dieser lasse „(1) die positive Faktizität eines derartigen kommunikativen Bewußtseins der (ursprünglichen) Gemeinschaft in seiner internen genetischen Strukturiertheit gänzlich ungeklärt und setzt (2) in Beziehung auf dieses Faktum kommunikativer Einheit ein weiteres Faktum, nämlich die objektive Dimension der (gemeinsamen) Welt mit ihrer konstitutiven Gliederung in eine gegenständliche Umwelt und eine höherstufige personale Gemeinschaft, als ebenfalls vorgegebenes voraus, statt die transzendentale Genesis solcher Faktizität aus der wechselseitigen Intentionalität des intersubjektiven Bewußtseinslebens aufzuklären.“ (Meist 1980: 586) Diese Kritik bleibt jedoch noch ganz im Rahmen der Husserlschen Fragestellung und moniert an Schütz lediglich, Husserls Problembewußtsein bei der Beschreibung der intersubjektiven Welt in Richtung einer „Ebene naiver Phänomendeskription“ (ebd.) verlassen zu haben. Kurz darauf gelangt Meist jedoch zu der Einsicht, daß hier auch ein weniger „naives“ Verfahren nicht weiterhelfen kann, wenn nicht der alleinige Rekurs aufs Bewußtsein fällt. „Eine revidierte Aufnahme von Husserls phänomenologischen Analysen müßte demnach zuerst das Moment der Nichtidentität bzw. der wechselseitigen Einschränkung innerhalb der intersubjektiven Konstitution hervorheben und mit dem von Husserl selbst
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Einheit beschrieben werden. Im folgenden werde ich mit Luhmann die operative Differenz von Bewußtsein und Kommunikation weiter explizieren. Es dürfte schon deutlich werden, daß die Beschreibung getrennter operativer Einheiten – hier: Bewußtsein und Kommunikation – der entscheidende theoretische Schritt sein wird, die oben herausgearbeiteten Bedingungen einer anspruchsvollen Theorie der sozialen Zeit zu erfüllen.
b)
Operative Geschlossenheit, Konstruktivität und Autopoiese
Die Einsicht in die strukturelle operative Differenz zwischen Kommunikation und Bewußtsein kommt zunächst ohne filigrane systemtheoretische Begrifflichkeit aus. Allerdings sieht Luhmann – wie gerade dargestellt – bereits in der Dynamik individueller Kommunikationsversuche einen Impuls, der notwendigerweise zu Systembildung führt, also zur Emergenz einer neuen Ebene, die ausdrücklich nicht den Kommunikation initiierenden Beteiligten entspricht und der eine Qualität zugesprochen wird, die im Systembegriff aufgehoben wird. Es soll im folgenden keine bloße Definition des Systembegriffs vorgenommen werden. Vielmehr möchte ich kurz auf die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutsamkeit des Systembegriffs und seine Auflösungs- und Problemlösungskapazität eingehen, an die auch Luhmann anschließt, bevor ich meinen Gedankengang weiterverfolge. Mit dem Systemparadigma spielt sich seit den 30er Jahren unseres Jahrhunderts eine wissenschaftliche Neuerung ab, die zu einer von der klassischen analytischen Forschung grundverschiedenen Art der wissenschaftlichen Beobachtung der Welt geführt hat. Diese Umstellung der Beobachtungsweise nahm ihren Ausgang insbesondere in der biologischen Kritik der Physik. Während letztere sich in der Lage wähnte, im Anschluß an das Newtonsche Weltbild die Komplexität der Welt in deduktiver Weise mathematisch zu beschreiben, fand sich die Biologie bei der Beobachtung ihres Forschungsgegenstandes einer gänzlich andersgearteten Komplexitätsanforderung ausgesetzt. Leben, so das Argument, läßt sich nicht auf die zwar isoliert beschreibbaren, jedoch realiter niemals isoliert auftretenden physikalischen und chemischen Vorgänge von Organismen reduzieren. Es ist sicher nicht zu weit hergeholt, wenn man in einer solchen Kritik der klassischen Naturwissenschaften eine Parallele zu Husserls Kritik der Tatsachenwissenschaften in der Krisis-Schrift als nicht lebensbedeutsam sieht (vgl. Husserliana VI: 3f.). Zwar steht Leben für Husserl als Chiffre für transzendentales Leben, für primordiale Subjektivität, doch liegt die Quintessenz seiner Wissenschaftskritik durchaus auf der gleichen Linie wie die biologische: Die Komplexität von Leben – ob transzendental oder biologisch verstanden – ist durch die klassische Wissenschaftsauffassung nicht abbildbar. eingeführten, wiewohl nur unbefriedigend explizierten Begriff wechselseitiger Kausalität verbinden. Denn dadurch erhält der Vollzug der Analogisierung, dem Husserls ganze Aufmerksamkeit gilt, eine andere Bedeutung als die einer bloßen Projektion oder hypothetischen Übertragung introspektiver Selbsterfahrung, durch die sich das Ich meiner Eigenheitssphäre lediglich eine scheinhafte Gegenwelt schüfe.“ (ebd.: 588) Den Schritt, dieses Problem über Kommunikation und doppelte Kontingenz zu lösen, macht Meist jedoch nicht. Gleichwohl: Es wird deutlich, daß die hier vorgetragenen soziologischen Erweiterungen der phänomenologischen Intersubjektivitätstheorie zur Kommunikationstheorie bereits dort vorbereitet worden sind, jedoch durch Selbstfestlegungen auf Bewußtseinstheorie nicht zur Entfaltung kommen konnten.
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In der Biologie führte diese Kritik zu einem Paradigmenwechsel vom Einzelphänomen zum System, also der Vernetzung von Einzelphänomenen. Für diesen Paradigmenwechsel steht der Zoophysiologe Ludwig von Bertalanffy, der sich nicht nur um eine Methodologie biologischer Forschung verdient gemacht hat, sondern auch als Nestor einer interdisziplinären, allgemeinen Systemtheorie („General Systems Theory“) gelten kann. In einem programmatischen Aufsatz zur Gründung des von ihm mit ins Leben gerufenen Yearbook of the Society for the Advancement of General Systems Theory schreibt er: „(...) classical science was highly successfull in developing the theory of unorganized complexity which stems from statistics, the laws of change, and, in the last resort, the second law of thermodynamics. Today our main problem is that of organized complexity. Concepts like those of organizing, wholeness, teleology, control, self-regulation, differentiation and the like an alien to conventional physics. However, they pop up everywhere in the biological, behavioral, and the social sciences, and are, in fact, indispensable for dealing with living organisms or social groups.“ (v. Bertalanffy 1956: 2; Hervorh. A.N.) Organisierte Komplexität sieht v. Bertalanffy dann gegeben, wenn Einzelphänomene in Wechselwirkung zueinander stehen und erst diese reziproke Vernetzung von Elementen ein Bild von Einheit vermittelt. Letztlich besteht ein System also nicht nur aus einzelnen Elementen – etwa ein Organismus aus einer Vielzahl von Zellen. Vielmehr können die überschießenden Systemeigenschaften eines Systems nur über die Analyse der Beziehungen und Vernetzungsbedingungen von Elementen, also über die systemeigene Organisation von Komplexität beschrieben werden. Dies schlägt sich exemplarisch in der allgemeinen Definition v. Bertalanffys nieder, wonach ein System als eine Menge von Elementen zu verstehen ist, „zwischen denen Wechselbeziehungen bestehen“ (v. Bertalanffy 1972: 18; Hervorh. A.N.). Als Beispiele werden Atome als Systeme physikalischer Elementarteilchen genannt, Zellen als Systeme organischer Verbindungen oder eine menschliche Gesellschaft als System vieler menschlicher Individuen (vgl. ebd.). Der wesentliche Gegenstand der Systemtheorie ist demnach die Organisationsform der komplexen Wechselbeziehung zwischen den Elementen. Schon früh führte v. Bertalanffy eine wichtige Unterscheidung ein, die insbesondere dem Interesse der Bio-Wissenschaften, aber auch, wie sich noch zeigen wird, anderer systemtheoretisch arbeitender Disziplinen zugute kam. Es handelt sich um die Unterscheidung offener und geschlossener Systeme. Ein geschlossenes System zeichnet sich dadurch aus, daß es sich homöostatisch erhält und nach Erreichen eines gleichgewichtigen Zustandes nicht verändert. Ein solches System unterhält keine Austauschbeziehungen mit seiner Umwelt und muß deshalb „in einen zeitunabhängigen Zustand des Gleichgewichtes“ (v. Bertalanffy 1949: 122) übergehen.14 In einem solchen System gibt es streng genommen keine organisierte Komplexität, da sich die Systemkomponenten im Zustand der Homöostase in mathematisch eineindeutiger Weise zueinander verhalten, was auch durch Umweltveränderungen aufgrund der völligen Geschlossenheit des Systems nicht veränderbar ist. Ein offenes System dagegen gelangt nicht notwendigerweise in ein solches Gleichgewicht, sondern kann lediglich einen stationären Zustand des Gleichgewichts erreichen, der jedoch selbst wieder variabel, auflösbar und temporär ist. „Ein offenes System ist ein solches, in welchem Ein- und Ausfluß und damit 14
Es handelt sich hier um ein thermodynamisches Gleichgewicht mit maximaler Entropie und minimaler freier Energie, wie v. Bertalanffy betont.
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Wechsel der zusammensetzenden Elemente stattfindet.“ (ebd.: 121) Solche Austauschprozesse zwischen dem System und seiner Umwelt führen dazu, daß offene Systeme sich trotz Zustandswechsels, trotz Wegfalls und Neuentstehung von Elementen erhalten. Es entsteht damit eine Dynamik, die sowohl auf der Ebene der zum System gehörigen Elemente als auch auf der Ebene der Organisationsweise der Beziehung zwischen den Elementen zu beobachten ist. V. Bertalanffy schlägt zur Beschreibung dieses Sachverhaltes den Begriff Fließgleichgewicht (vgl. ebd.: 122) vor. Offene Systeme sind also solche, die durch Austauschprozesse mit ihrer Umwelt eine Dynamik entwickeln und ihre Zuständlichkeiten variieren können, ohne mit jedem Wechsel von Umweltbedingungen sogleich die Systemstrukturen vollständig ändern zu müssen. Es liegt also keine lineare Kausalität zwischen System und Umwelt vor, etwa in dem Sinne, daß ein bestimmter Umweltreiz eine und nur eine mögliche Reaktion des Systems zuließe.15 Offene Systeme zeichnen sich vielmehr dadurch aus, daß sie ihre interne Organisation bei Umweltveränderungen selbst umstellen und nicht von außen kausal bedingt und einlinig bestimmt werden.16 Weil es sich bei solchen Anpassungs- und Veränderungsprozessen stets um interne Operationen handelt, werden Theorien offener Systeme im allgemeinen unter das Paradigma der Selbstorganisation subsummiert.17 Solche Theorien sind in der Lage, den Vernetzungszusammenhang von Elementen zu einem System im Zusammenhang mit Umweltfaktoren zu beschreiben. Das Paradigma der Selbstorganisation stellt im wesentlichen darauf ab, daß Systeme nicht linear von ihrer Umwelt gesteuert werden, sondern je nur nach ihrer inneren Eigenlogik auf Umweltveränderungen reagieren. Werner Leinfellner faßt die Erträge der vielfältigen Ausprägungen der allgemeinen Systemtheorie unter folgenden Stichworten zusammen: Das Ganze sei mehr als die Summe der Teile; Teile und ihre Funktionen könnten nicht unabhängig vom Ganzen verstanden werden; Teil und System bedingten sich wechselseitig; Systeme bildeten eine je innere evolutionäre Dynamik aus (vgl. Leinfellner 1989: 69). War damit das Problem der ersten Generation der Systemtheorie tatsächlich – wie es bei Bertalanffy heißt – das der organisierten Komplexität, richtete sich später das Interesse stärker auf den spezifisch autologischen Aspekt der Organisation, wie er im Begriff der Selbstorganisation zum Ausdruck kommt. Die für die soziologische Systemtheorie Luhmannscher Provenienz entscheidende Form einer Selbstorganisationstheorie ist das von den chilenischen Biologen Humberto R. Maturana und Francisco Varela entwickelte Konzept 15 16
17
Hier wird analog zu John Deweys Kritik des Reiz-Reaktions-Modells argumentiert. Dewey geht es bekanntlich – wie oben schon dargestellt (vgl. II.3b) – darum, den aktiven Part des Gereizten gegenüber dem Reiz zu betonen (vgl. Dewey 1896). Das heißt selbstverständlich nicht, daß es keine essentiellen Umweltbedingungen für sich selbst organisierende Systeme gibt. Als Beispiel mag schon die einfache Beobachtung genügen, daß bestimmte Temperatur-, Luftdruck-, Sauerstoff- und Nahrungsbedingungen notwendige Umwelt etwa von auf dem Land lebenden Säugetieren sind, ohne die Leben nicht möglich wäre. Aus diesem Extremfall einer eindeutigen Punkt-für-Punkt-Korrelation – wenn keine Luft, dann notwendig Tod – jedoch zu schließen, daß System/Umwelt-Verhältnisse per se so einfach gebildet werden, hieße schon den simplen Sachverhalt zu vernachlässigen, daß komplexe Systeme mehr als eine Reaktionsmöglichkeit auf Reize kennen. Eine gründliche Rekonstruktion der Genese und der Variationsbreite des Selbstorganisationskonzepts nehmen Krohn, Küppers und Paslak (1987) vor. Ich gehe diesem Zusammenhang nicht weiter nach, da er für mein Thema nicht von Bedeutung ist. Zum Konzept der Selbstorganisation vgl. desweiteren Kratky (1989) und die einschlägigen Beiträge in Dress, Hendrichs und Küppers (Hg. 1986) sowie in Roth und Schwegler (Hg. 1981).
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der Autopoiesis.18 Die Theorie der Autopoiesis stammt ursprünglich aus unmittelbaren empirischen biologischen Forschungen über Nerven- und Immunsysteme und hat sich inzwischen mit ihren epistemologischen Konsequenzen zu einem neuen Stadium einer allgemeinen Systemtheorie weiterentwickelt. Varela konnte etwa beobachten, daß das Immunsystem selbst nicht zwischen Selbst und Nicht-Selbst unterscheiden kann (vgl. Varela 1989: 195). Es reagiert also letztlich nicht auf eine Umweltveränderung, wenn von außen eine Infektion droht, sondern reagiert auf sich selbst, indem verschiedene Systemkomponenten miteinander in Interaktion geraten. So ist das Nervensystem in der Lage, seinen eigenen Systemzustand bei entsprechender Notwendigkeit auf dem für den Organismus notwendigen Niveau zu halten und muß, um dies zu erreichen, streng genommen nicht auf die veränderten Umweltbedingungen, sondern auf den eigenen Zustand abstellen. Es ist also nicht das Auftreten infektiöser Erreger, das für das System als Reaktions-, besser: als Aktionsparameter dient, sondern die durch das Auftreten solcher Erreger erzeugte Veränderung des Eigenzustandes des Immunsystems.19 Gleiches zeigt Maturana für das Nervensystem: „Ich hatte also die Vorstellung aufzugeben, daß das Nervensystem in der Gegenwart eine Umwelt errechnet; das Nervensystem errechnet vielmehr ausschließlich seine eigenen Übergänge von Zustand zu Zustand, und zwar in einem in sich geschlossenen Prozeß des Operierens als konkret gegebene Struktur hier und jetzt (...).“ (Maturana 1982: 19) So hat etwa das Gehirn keineswegs einen operativen Kontakt zu seiner Umwelt, sondern erhält nur unspezifische elektrophysiologische Reize, die erst im Gehirn selbst zu Wahrnehmungen konstruiert werden (vgl. Roth 1987: 232).20 Trifft dies zu, ergeben sich erhebliche erkenntnistheoretische Konsequenzen. Es macht einen Unterschied, ob man nur behauptet, daß ein System Umweltveränderungen wahrnehmen kann, um dann auf diese zu reagieren, oder ob man davon ausgeht, daß das System gar nicht zwischen sich und seiner Umwelt unterscheiden kann und so Umweltveränderungen nur vermittelt über Selbstbeobachtung, d.h. über die Veränderung von Eigenzuständen und ihrer Wahrnehmung im System vorkommen. Mit einem solchen Konzept verschwindet die Annahme, daß die Welt ein von ihrer Wahrnehmung unabhängiges Seiendes sei, an das sich die Wahrnehmung approximativ annähern kann, um es realitätsgetreu abzubilden. Die Theorie der Autopoiesis geht davon aus, daß die Relativität der systeminternen Wahrnehmung der Welt unhintergehbar ist, d.h. daß kein autopoietisches System außerhalb seiner selbst operieren kann und somit keinen von seinem spezifischen Zugang unabhängigen
18
19 20
Daß es andere Weiterentwicklungen der von Bertalanffy initiierten General Systems Theory gegeben hat, soll hier nicht verschwiegen werden, spielt für die weitere Argumentation aber keine Rolle. Benannt seien lediglich Katastrophentheorie, Theorie dissipativer Strukturen, Synergetik, Chaostheorie (zum Überblick vgl. Kratky 1989: 14ff.; dort auch weiterführende Literatur). Gemeinsam ist diesen theoretischen Perspektiven, daß sie auf die rekursive Reaktion auf Eigenzustände in komplexen Systemen abstellen, d.h. darauf, wie solche Systeme ihre Organisation selbst stabilisieren, verändern, zerstören, konservieren. „Während der gesamten Entwicklung interagieren die Moleküle des Selbst mit den Immunkomponenten auf eine Weise, daß ihre Niveaus innerhalb bestimmter Grenzen gehalten werden, und zwar aufgrund einer ständigen Immunaktivität, die sie in Schach hält.“ (Varela 1989: 196) „Ein Beweis für die Unspezifizität der Nervenpotentiale ist die Möglichkeit, mit ein und demselben künstlichen elektrischen Reiz in unterschiedlichen Gebieten des Gehirns ganz unterschiedliche sensorische Halluzinationen hervorzurufen, z.B. im Hinterhauptscortex visuelle Empfindungen, im temporalen Cortex auditorische, im sog. postcentralen Gyrus somatosensorische.“ (Roth 1987: 233)
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Zugang zur „Realität“ hat. Dieser Sachverhalt wird mit dem Begriff der operativen Geschlossenheit jeder (kognitiven) Operation beschrieben. In diesem Sinne führt Maturana den Begriff der Kognition als Grundbegriff für die Beschreibung des Lebens ein: „to live is to know“ (Maturana 1990a: 33) bedeutet nichts anderes, als daß lebende Systeme durch ihre autopoietische Struktur den – und: nur den – Umweltkontakt haben, den sie sich ermöglichen. Dieser Umweltkontakt jedoch ist für die Systeme selbst nicht wahrnehmbar, da sie als autopoietische operativ geschlossen, also nur innerhalb ihrer Grenzen zu operieren in der Lage sind. Insofern wird verständlich, daß es für Maturana keine Gegenstände der Erkenntnis geben kann, da die Gegenstände selbst erst durch das autopoietische Operieren erzeugt werden (vgl. Maturana 1982: 76). Autopoietische Systeme sind durch ihre operative Geschlossenheit autonom. Alles, was in ihnen geschieht, ist durch ihre interne Organisation vorgeschrieben. „Der Prozeß der Kognition besteht folglich für jedes lebende System darin, durch sein tatsächliches Verhalten in seinem geschlossenen Interaktionsbereich ein Verhaltensfeld zu erzeugen und nicht darin, eine selbständige Außenwelt zu begreifen oder zu beschreiben.“ (ebd.: 73) Aus der Geschlossenheit von autopoietischen Systemen folgt, daß sie nur an Eigenzustände innerhalb ihres kognitiven Bereichs anschließen können.21 Insofern sind Operationen von autopoietischen Systemen rekursive Operationen. Rekursivität bedeutet nach Heinz von Foerster, „daß das Resultat einer Operation aufs neue zum Ausgangspunkt dieser Operation genommen wird, deren Resultat aufs neue zum Ausgangspunkt dieser Operation genommen wird ... usw., usw.“ (v. Foerster 1987: 149).22 Eine Operation ist demnach immer die andere Operation einer anderen Operation des gleichen Systems, so daß eine systeminterne Dynamik entsteht, die sich selbst durch Rekurs auf die eigenen Operationen einschränkt und nicht durch lineare Umwelteinwirkungen eingeschränkt wird. Dadurch erarbeitet ein autopoietisches System eine interne Beschreibung seiner selbst, die seine einzige Realitätsgarantie ist.23 So entsteht eine geschlossene operative Einheit, die ihre Geschlossenheit dadurch erreicht, daß sie sich rekursiv auf ihre jeweiligen Zustände bezieht und damit, das sollte dem aufmerksamen Leser hier schon deutlich werden, alle Voraussetzungen für eine operative Zeittheorie erfüllt, wie sie im Anschluß an Husserl bereits vorbereitet vorliegt. Diese Ergebnisse der in Forschungen über Nerven- und Immunsysteme entstandenen Biologie der Kognition beobachtet Maturana auch an seiner eigenen Theoriebildung. Zunächst betont er, daß kein lebendes autopoietisches System von der Art eines Nerven- oder Immunsystems in der Lage sein könnte, eine Beschreibung seiner Autopoiesis anzufertigen. Dazu bedarf es einer weiteren erkennenden Instanz, nämlich des menschlichen Beobachters. Auch ihn versteht Maturana als lebendes System, jedoch im Unterschied zu anderen nicht nur mit der Fähigkeit des Erkennens ausgestattet, sondern auch mit der Fähigkeit zur Erkenntnisreflexion; er „kann außerdem erkennen, daß er erkennt“ (Maturana 21
22 23
„Der Bereich all der Interaktionen, in die ein autopoietisches System eintreten kann, ohne seine Identität zu verlieren, ist sein kognitiver Bereich, oder mit anderen Worten, der kognitive Bereich eines autopoietischen Systems ist der Bereich aller Beschreibungen, die es zu machen imstande ist. Die spezifische Art der Autopoiese eines autopoietischen Systems bestimmt folglich dessen kognitiven Bereich und Verhaltensvielfalt.“ (Maturana 1982: 221) Zur Erläuterung: Interaktion bedeutet für Maturana schlicht die Bezugnahme von Elementareinheiten autopoietischer Systeme aufeinander. Zum Problem rekursiver Strukturen und Prozesse vgl. auch Hofstadter 1985: 137ff. Zum Realitätsproblem vgl. im einzelnen weiter unten, III.3.
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1982: 32).24 Der menschliche Beobachter kann etwa erkennen, daß die autopoietische Operationsweise eines Nervensystems sehr wohl an eine Umwelt gekoppelt ist und daß die Reaktion auf Umwelt operativ nur als Reaktion auf Eigenzustände möglich ist. Er kann aber auch erkennen, daß seine Erkenntnis letztlich auch nur auf die Eigenzustände der eigenen Erkenntnisoperation reagiert. Die Beobachtung erzeugt damit erst die Wirklichkeit, die sie beobachtet. Beobachtung ist ein „subjektabhängiges Phänomen“ (ebd.: 305), das keineswegs eine objektive Natur abbildet, sondern mit selbstgewählten Unterscheidungen diejenige Wirklichkeit konstruiert, die dann als „objektive“ Wirklichkeit behandelt wird. Die Konsequenz daraus lautet, daß Objektivität eingeklammert werden muß, daß es keine Objektivität unabhängig von der Objektsetzung durch ein Subjekt geben kann. Eine weitere Konsequenz daraus ist, daß von der Vorstellung eines Universums als einheitlicher Welt zugunsten des Multiversums differenter Perspektiven Abschied genommen werden muß (vgl. Maturana 1990b: 57f.). Diese Befunde neurobiologischer Forschung korrelieren mit differenztheoretischen Logiken. Wie etwa George Spencer Browns „Laws of Form“ zeigen, ist Beobachtung immer das Handhaben einer Unterscheidung: „Draw a distinction“ lautet seine erste Anweisung (Spencer Brown 1971: 3). Erst wenn Unterscheidungen vorgenommen werden, kann etwas bezeichnet werden: Etwas ist entweder Subjekt oder Objekt, schwarz oder weiß, Mann oder Frau, heiß oder kalt. Und genauso gilt umgekehrt: Sobald etwas beobachtet wird, hat schon eine Unterscheidung stattgefunden, d.h. wir können nie mit etwas beginnen, da das Operieren, das immer ein Unterscheiden ist, bereits mit einer ersten Unterscheidung begonnen haben muß. Es dürfte damit deutlich werden, daß sich offenbar keine Beobachtungen denken lassen, die nicht mit einer bestimmten Unterscheidung beginnen, ebensowenig wie sich Unterscheidungen denken lassen, die unabhängig von einer Beobachtung „schon da sind“, was immer das heißen mag. Es ist unhintergehbar notwendig, eine erste Unterscheidung zu treffen, um der Welt eine Form zu geben (vgl. ebd.: 105f.). Damit aber ist nicht die Form ein Resultat der Welt, sondern die Welt resultiert aus der formgebenden Unterscheidung. Gotthard Günther zieht daraus die Konsequenz, daß es kein beobachterunabhängiges Sein geben kann, wie es die gesamte metaphysische Tradition des Abendlandes behauptet hatte: „Nothingness and Being are related to each other in such a way that their mutual ontological position is defined by the logical principle of the Tertium Non Datur (TND). Something is or it is not; that is all there is to it in ontology.“ (Günther 1979a: 286) Sein überhaupt, so Günther, ist damit „logisch betrachtet eine ,monokontexturale‘ Struktur, deren Eigenschaften durch die klassische, zweiwertig-formale Logik adäquat beschrieben werden“ (Günther 1979b: 189) kann. Allerdings bedeutet diese Zweiwertigkeit des TND als Grundlage logischer Operationen nach der aristotelischen Logik 24
Diese anthropologische Bestimmung des Menschen schließt unmittelbar etwa an die philosophische Anthropologie an, die den Strukturunterschied der menschlichen zur restlichen Natur auch in der Reflexivität seiner Weltdeutung lokalisiert. So schließen Maturana und Varela – wie an anderer Stelle bereits angedeutet (vgl. Nassehi/Weber 1989: 219f.) – bei der Bestimmung dieses Strukturunterschiedes sogar terminologisch an die traditionelle philosophische Nomenklatur an, wenn sie diejenige Sphäre, die aus der Reflexivität des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses hervorgeht mit dem Begriff „Geist“ belegen (vgl. Maturana/Varela 1987: 250ff.). Allerdings leiten sie daraus nicht wie etwa Scheler (vgl. 1976) eine metaphysische Bestimmung der „geistigen“ Weltsphäre ab, die dem Leben qualitativ und strukturell entgegensteht, sondern beschreiben die menschliche Kognition durchaus als biologisches Phänomen (vgl. etwa Maturana 1982: 32ff.; Vollmer 1990: 84ff.).
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überhaupt auch eine restriktive Beschränkung auf jene monokontexturale Struktur, die nur dann überwunden werden kann, wenn man zu einer „mehrwertigen Logik“ (vgl. ebd.: 181ff.) gelangt, die erkennen kann, daß Zweiwertigkeiten stets beobachterabhängig sind und daß unterschiedliche Unterscheidungen auch unterschiedliche Kontexturen, konstruktivistisch gesprochen: unterschiedliche Konstruktionen von Wirklichkeit darstellen. Der daraus resultierende Begriff „Polykontexturalität“ der Welt schließt einen einheitlichen, beobachterunabhängigen Seins- und Weltbegriff aus – und: er schließt ein, daß auch die Beobachtung, daß jede Beobachtung ein eigenes Universum konstruiert, nur eine Beobachtung von Beobachtungen ist.25 Geistesgeschichtlich gesehen, schließt die hier kurz skizzierte Theorie der Autopoiesis an erkenntnistheoretische Entwicklungen an, die bereits zweihundert Jahre währen. Mit Walter Schulz läßt sich nämlich – wie schon erwähnt – von einer „Verinnerlichungstendenz“ in der modernen Philosophie sprechen, die von der Analyse des subjektunabhängigen Seins auf die Analyse der Innerlichkeit subjektiver Weltkonstitution – welcher theoretischen Provenienz auch immer – umstellt (vgl. Schulz 1972: 247-334). Dies gilt auch für den an die Biologie der Kognition und an die Kybernetik anschließenden „Radikalen Konstruktivismus“.26 Wenn etwa Ernst von Glasersfeld betont, die Tragik der klassischen Erkenntnistheorie bestehe darin, daß sie davon ausgehe, „daß das, was ich erkenne, schon da ist“ (v. Glasersfeld 1987: 411), übersieht er theoriegeschichtliche Kontinuitäten, obwohl er doch stets auf die Kontinuität von Kant bis zum radikalen Konstruktivismus hinweist. Und wenn Siegfried J. Schmidt die Welt, wie wir sie sehen, nicht als ontologisches Faktum, sondern lediglich als „Erfahrungswirklichkeit“ will gelten lassen (vgl. Schmidt 1987: 18), so scheint er eher den common sense zu bestätigen als eine Neuerung – sogar eine radikale! – zu verkünden. Denn das erkenntnistheoretische Motiv der Selbstorganisation der Erkenntnis ist keineswegs so neu, wie die auf neuere biologische Forschungen zurückgehende Theorie der autopoietischen Erkenntnis suggeriert. Bereits Kant hat bekanntlich seine Kritik der reinen Vernunft mit der Einsicht begonnen, „daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen (...) und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können“ (KrV: B 59). Die Kritik der reinen Vernunft entlarvt die bisherige Metaphysik als Spekulation, weil sie naiv die Anschauungen der Dinge nicht von ihrer Dinghaftigkeit zu unterscheiden vermochte. Die Bestimmung der Metaphysik des Aristoteles als einer „Wissenschaft, die das Seiende, sofern es seiend ist, betrachtet und das, was ihm an sich zukommt“ (Met.: IV. 1003a 21), ersetzt Kant durch Erkenntniskritik (vgl. KrV: B 304). Spätestens seit Kant ist es also nicht mehr möglich, das Seiende, insofern es Seiend ist, unabhängig von der bewußtseinsbasierten Konstitution der Erkenntnis des Seienden zu denken. Nicht das Seiende selbst ist also nun das der Welt zugrunde Liegende, sondern das Bewußtsein, weshalb es in der neuzeitlichen Philosophie als Subjekt gehandelt wird. Schon bei Kant kann man also von einem konstruktivistischen Ansatz sprechen, denn wie bei den radikalen Konstruktivisten ist Wirklichkeit auf Erfah25
26
Einen anschaulichen Überblick über die zunehmende Umstellung von Einheitschiffren und Zentren auf das Denken in Differenzen und Relationen gibt Dirk Baecker. Er betont: „Zentrum, wenn man denn danach noch sucht, des Verhältnisses (von Beobachter und Gegenstand; A.N.) ist dieses selbst, nicht der Gegenstand noch wir. Genau darum ist mit Differenz einzusetzen.“ (Baecker 1985: 87) Zur „Entstehung des Radikalen Konstruktivismus aus dem Geiste der Kybernetik“ vgl. Schmidt 1987: 11f.
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rungswirklichkeit beschränkt und als solche subjektimmanent. Lautet die Diagnose also: Nichts Neues seit Kant? Keineswegs: Ganz ohne Zweifel liegt die wesentliche Neuerung des Konstruktivismus im Anschluß an die Kognitionsbiologie und die differenztheoretische Logik darin, daß sie als Erkenntnistheorie das Verhältnis von Erkenntnis und Realgegenstand grundlegender behandelt. Während die traditionelle Kantsche erkenntnistheoretische Frage noch lautete, wie Erkenntnis möglich sei, obwohl sie keinen Zugang zur Realität hat, geht der Konstruktivismus davon aus, daß Erkenntnis nur möglich ist, weil ein solcher Zugang nicht existiert (vgl. Luhmann 1988b: 8f.). Erkenntnis ist sozusagen ein funktionales Äquivalent dafür, daß der Erkenntnisgegenstand nicht realiter und substantiell durch den Erkennenden aufgenommen werden kann, ja daß der Erkenntnisgegenstand als hinter der Erkenntnis vermutetes „Ding an sich“ ganz fallengelassen werden muß. Kurz gesagt: Der Gedanke an einen Apfel ist kein Apfel. So wird es möglich, vom Problem des Ding an sich, also vom Apfel als Apfel, zu abstrahieren und zu sehen, daß es für kognitive Operationen keinen Zugang zur Außenwelt gibt außer dem über die Kognition selbst. Als wesentliche Neuerung kann also festgehalten werden, daß das Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand nicht als gleichsam defizitär aufgefaßt werden muß. Nicht die Unzulänglichkeit des Erkennens führt dazu, daß wir Gegenstände nur als Erkanntes erkennen, sondern die irreduzible Kognitivität jeder Kognition. Es stellt sich dann überhaupt die Frage, ob es sinnvoll ist, das Problem der Differenz von Erkenntnis und Realgegenstand zu behandeln, wenn es doch – konstruktivistisch! – nur eine operative Möglichkeit gibt, das Verhältnis von Erkenntnis und Realgegenstand zu bestimmen, und wenn diese operative Möglichkeit nichts anderes als Beobachtung ist. Ohne Zweifel gelingt es der konstruktivistischen Perspektive, traditionelle Ontologien zu überwinden, indem auf die Erkenntnisrelativität des Erkannten hingewiesen wird. Auch sie ersetzt also Ontologie – es gibt p – durch die Analyse der Erkenntnis – erkennend konstruiere ich p. Die konstruktivistische Erkenntnistheorie stellt damit Beschreibung von Deskription auf Konstruktion um.27 Schon gegen Kant wurde und wird jedoch ins Feld geführt, daß die Prämissen der eigenen Theorie für sie selbst nicht gelten können (vgl. etwa Weismahr 1985: 24f.). Bekanntlich entgeht die Philosophie seit Kant dieser Gefahr durch transzendentale Begründungen. Indem denknotwendige Bedingungen der Möglichkeit für Erkenntnis ausformuliert werden,28 verliert die Theorie ihre Selbstwidersprüchlichkeit durch Ontologisierung des Ontologieersatzes, d.h. dadurch, daß der privilegierte Zugang des Subjekts zu sich selbst in transzendentaler Reflexion das Fundament ersetzt, das der privilegierte Zugang der Philosophie zum Seienden vormals zu haben vorgab. Die gleiche Theorietechnik benutzt der radikale Konstruktivismus. Auch er sucht nach einem letzten analytischen Bezugspunkt, von dem her sich die Theorie so bauen läßt, daß sie nicht mit ihren eigenen Annahmen einstürzt. Schmidt setzt dabei – wie von Glasersfeld und von Foerster – auf traditionelle Lösungswege: Konstruktivistische Modelle sind auf Kognitionen angewiesen, d.h. auf Beobachter, deren Eigenleistung das in der Beobachtung Konstruierte ist. Solche Beobachterstandpunkte verweisen „notwendig auf Bewußtsein“ (Schmidt 1989: 38). Letztlich ist diese theoretische Lösung einerseits keine entscheidende 27 28
Zu den ontologischen Implikationen des radikalen Konstruktivismus vgl. auch Nassehi 1992. Zum Ontologieproblem bezüglich der Konzeptualisierung von Zeit vgl. weiter unten III.3c. Zur Anwendung dieser Theorietechnik bei der Begründung von Zeit vgl. I.2c.
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Weiterentwicklung der Tradition, denn als Restontologie bleibt die Reifizierung des menschlichen Bewußtseins zum Weltzentrum, wodurch die Differenz Subjekt/Objekt auf einer schwächeren Begründungsebene konserviert wird. Andererseits ist gegenüber Kant und der nachfolgenden Bewußtseinsphilosophie mit der Verabschiedung des emphatischen Subjekts als normativ und qualitativ ausgewiesener Form von Selbstbewußtsein ein erheblicher Erkenntnisfortschritt erreicht, der der Pluralität und Dezentrierung moderner Gesellschaft Rechnung trägt. Eigens betont Schmidt, daß individuelles Bewußtsein bei ihm und seinen Gewährsleuten „in einem unemphatischen, rein deskriptiven Sinne“ (Schmidt 1989: 36) gebraucht werde und nicht als emphatisches, kritisches Subjekt im Sinne einer Teleologie der Vernunft. Folgerichtig arbeitet der Konstruktivismus des Schmidtschen Typs nicht mit semantischen Selbstfestlegungen und einer transzendentalen Kategorienlehre, die eine bestimmte historische Form der Logik – bei Kant im wesentlichen die naturwissenschaftliche Logik Newtons – zu reinen Verstandesbegriffen hypostasieren. Eine Deontologisierung von Kants seinerzeit deontologisierender Perspektive (vgl. KrV: B 304) liegt insofern vor, als es dem radikalen Konstruktivismus sehr wohl gelingt, mit den Einheitschiffren der Vernunftphilosophie der Aufklärung zu brechen und eine dezentrische Epistemologie zu formulieren. Welt wird nicht nur in Erfahrungswirklichkeit dekomponiert, sondern in Erfahrungswirklichkeiten von einzelnen. Eine solche Epistemologie bricht eindeutig mit dem Gedanken der Subjektphilosophie, die durch transzendentale Begründungen von Ich-Bewußtsein eine vorgängige Koinzidenz von Beobachterstandpunkten immer schon vorausgesetzt hat. Wird so argumentiert, geht letztlich die empirische Individualität des Einzelbewußtseins verloren, weil es seine Subjektivität dann einem transzendenten Grund verdankt, der es selbst nicht ist.29 Dagegen betont der Konstruktivismus die Autonomie und operative Geschlossenheit jeder individuellen Konstruktion. Als eine wesentliche Konsequenz dieser Umstellung kann gelten, daß die Kontingenzlosigkeit letztbegründeter Transzendentaltheorien fallengelassen wird und sich so die Möglichkeit empirischer Forschung30 eröffnet, wie vor allem Schmidt plausibel betont (vgl. Schmidt 1991b: 312). Das heißt auch: Jede Kognition kann nur die eigenen Unterscheidungen handhaben und ist dadurch operativ geschlossen.
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Aus bewußtseinsphilosophischer Perspektive zeigt Manfred Frank plausibel, daß bereits mit Schleiermacher das Problem der Individualität subjektiver Perspektiven im Zusammenhang mit einer radikalen Kritik des Subjektbegriffs abgehandelt wurde. Selbstbewußtsein und Subjektivität bestimmt Schleiermacher nicht länger „als Ort einer übergeschichtlich sich präsenten Wahrheit, die alle Tatsachen der geschichtlichen Welt in sich enthielte und in deduktiven Schritten freigäbe“ (Frank 1986: 118). Selbstbewußtsein garantiert nach Schleiermacher keineswegs den Besitz einer absoluten, beobachterunabhängigen Wahrheit. Das einzelne Individuum findet sich vielmehr in der Position vor, sein Wissen über die Welt kommunikativen Bewährungsprozessen auszusetzen. Die eine universale Weltgewißheit wird damit zugunsten einer Vielzahl individueller Weltdeutungen ersetzt. Vgl. dazu auch Kneer und Nassehi 1991. Den Unterschied zwischen empirischen und transzendentalen Ansätzen charakterisiert Luhmann treffend so: „Ungeachtet aller spezifischen Theorieannahmen (Bewußtsein, Vernunft, Subjektivität betreffend) kann man eine Theorie als transzendental charakterisieren, wenn sie nicht zuläßt, daß die Bedingungen der Erkenntnis durch die Ergebnisse der Erkenntnis in Frage gestellt werden. Transzendentale Theorien blockieren den autologischen Rückschluß auf sich selber. Als empirisch oder als naturalistisch kann man dagegen Erkenntnistheorien bezeichnen, wenn sie für sich selbst im Bereich der wissenswerten Gegenstände keinen Ausnahmezustand beanspruchen, sondern sich durch empirische Forschungen betreffen und in der Reichweite der für Erkenntnis offenen Optionen einschränken lassen.“ (Luhmann 1990a: 13)
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Daß damit die bekannten Probleme der Subjektphilosophie beerbt werden, liegt auf der Hand. Insbesondere Lösungen des Problems der Mutualität, das seit Husserl unter dem Namen der Intersubjektivität firmiert, scheinen nahezu ausgeschlossen, wenn man einerseits bewußtseinsunabhängige, d.h. im Subjekt/Objekt-Schema erkennbare Realität kategorial ausschließt, zugleich aber dem Subjekt keine semantischen Qualitäten wie Vernunft zuweist, die eine Konvergenz der Perspektiven – modern gesprochen: Konvergenz der Unterscheidungen – denkbar machen – das gilt sowohl für das Problem einer gemeinsamen Zeit als auch für Fragen der inter“subjektiven“ Beziehung von Bewußtseinsprozessen überhaupt.31 Der radikale Konstruktivismus scheint solche Probleme auch zu sehen. Um so mehr erstaunen die kaum brauchbaren Lösungsvorschläge: V. Glasersfelds Lösung über den Begriff der „Vereinbarung“ (v. Glasersfeld 1987: 405), der solche Konvergenzen herstellt, ist zumindest zweifelhaft, während sein Vorschlag, Konvergenzen über „Anpassung“ (ebd.: 440) zu erreichen, schlichtweg indiskutabel ist: An was soll sich Erkenntnis anpassen, wenn ihr die Realität außerhalb der Erkenntnis kategorial unzugänglich ist, ja wenn zwischen „Wahrnehmung“ und „Illusion“ letztlich nicht unterschieden werden kann (vgl. Maturana 1990a: 14; Maturana 1988: 832)? Von Glasersfelds Versicherung, daß auch die über Anpassung erreichte Kommunikation nie „eine ,tatsächliche‘ Übereinstimmung oder Gleichheit“ (v. Glasersfeld 1987: 440) erreichen könnte, trägt nichts zur Auflösung der Beschränkung auf individuelle einzelne bei, zumal die Radikalität des Konstruktivismus dadurch abgemildert wird, daß eine „tatsächliche“ Übereinstimmung überhaupt als analytischer Limesbegriff verwendet wird. Die zitierten Abschwächungen der Radikalität des Konstruktivismus – „Vereinbarung“, „Anpassung“ – scheinen Reaktionen auf das Problem zu sein, eine Ebene des Sozialen überhaupt kategorial fassen zu können. Gibt es also doch Realitätskontakt? Und wenn nicht, wie bilden die einzelnen Konstrukteure eine soziale Ordnung? Erheblich differenzierter und weiterführender als v. Glasersfeld argumentiert Schmidt gemäß der hier zur Diskussion stehenden Ausgangsfragestellung, eine soziologische Beobachtung der Gesellschaft müsse zwischen der bewußten Konstitution von Welt und Wirklichkeit in der je individuellen Psyche und dem Sozialen als nicht auf Einzelbewußtseine reduzierbaren Ebene unterscheiden. Im Gegensatz zu einer rein bewußtseinsorientierten Theorieanlage gesteht Schmidt durchaus eine Differenz zwischen lebenden, psychischen und sozialen Systemen zu (vgl. Schmidt 1991b: 309). Er betont damit, daß sich die Intersystembeziehungen zwischen Bewußtseinen nicht durch die theoretische Beschreibung von Bewußtsein allein abbilden lassen. Dabei schließt er an den Begriff des konsensuellen Bereiches bei Maturana an: Ein konsensueller Bereich zwischen autopoietischen Systemen entsteht dann, wenn diese Systeme an „ineinandergreifenden Interaktionen“ partizipieren, die gemeinsam einen Handlungsraum als Strukturvorgabe für weitere Interaktionen konstituieren (vgl. Maturana 1982: 256). Ist ein solcher konsensueller Bereich bzw. ein soziales System einmal durch wechselseitige Interaktion vergleichbarer Wirklichkeiten geschaffen, macht es bestimmte Kommunikationen wahrscheinlicher und strukturiert so die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen. Der Ausgangspunkt für solche Strukturbildungen ist für Schmidt, rekurrierend auf Peter M. Hejl, die Vernetzung individueller Interaktionsversuche zu sozialen Zusammenhängen. Hejl betont, daß sich Zustände eines lebenden 31
So auch meine eingehende Kritik an Husserl und Schütz (vgl. II.2a und b).
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Systems nicht allein durch deren individuelle Konstitution bestimmen lassen. „Wegen dieser zentralen Rolle sozial ausgebildeter Zustände der lebenden Systeme schlage ich vor, soziale Systeme als ,synreferentiell‘ zu bezeichnen.“ (Hejl 1987: 327) Ausgangspunkt sozialer Systembildung ist also eine gemeinsame („Syn“-)Referentialität von mindestens zwei autopoietischen Bewußtseinssystemen, die einen sozialen Handlungszusammenhang initiieren. Besonderen Wert legen sowohl Hejl als auch Schmidt darauf, individuelles Vermögen, besser: die Individualität einzelner mit ihren konstruktiven und intentionalen welterschließenden und -erzeugenden Akten zur Grundlage für die Konstruktivität der Welt zu machen, da es letztlich immer nur Menschen sind, die jene Fähigkeiten besitzen (vgl. Schmidt 1989: 35-49; Hejl 1987: 325f. et passim). So weit, so gut. Doch welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, bis diese gemeinsame Referentialität auf etwas bei zwei Interaktionspartnern Anschlußfähiges zustande kommt? Laut Schmidt beruht diese Möglichkeit auf zwei Voraussetzungen: „auf der biologischen Voraussetzung der Vergleichbarkeit der neuronalen Ausstattung von Menschen und auf der soziologischen Voraussetzung vergleichbarer sprachlicher Sozialisation und Akkulturation, die einen vergleichbaren Bestand an sprachlichen Konventionen (...) erzeugen läßt“ (Schmidt 1991b: 317; Hervorh. A.N.). Dem läßt sich sicher zustimmen, doch bleibt damit letztlich ungeklärt, in welcher Weise gemeinsame Sozialisations- und Akkulturationsbedingungen gegeben sind. Wahrscheinlich kommt eine konstruktivistische Erkenntnistheorie gar nicht ohne den Rekurs auf Gesellschaft aus, die mehr ist als eine bloße Konstruktion von Aktanten. Denn wie soll sich die Paradoxie auflösen lassen, daß auf der einen Seite die Aktanten selbst Konstrukteure ihrer Wirklichkeiten sind, auf der anderen Seite aber diese Konstruktionsprozesse nur im Kontext ihrer eigenen Konstruktionen ablaufen können? Mit anderen Worten: Auch hier wird – wie ich schon bezüglich Alfred Schütz (vgl. II.2b) und George Herbert Mead (II.3b) gezeigt habe – Gesellschaft und Soziales schlichtweg als Gemeinsames vorausgesetzt, um die sich sozial erst ausbildende Koinzidenz von individuellen Bewußtseinsprozessen erklären zu können. Auch hier wird in letzter Konsequenz „Intersubjektivität“ zugrunde gelegt, eine partielle gemeinsame, in diesem Sinne syn-referentielle Welt, die den Verkehr zwischen operativ geschlossenen Systemen erst ermöglicht. Anstatt die Frage also in der Richtung zu stellen, daß das Soziale die Voraussetzung für die Synreferentialität von Individuen ist, wird hier umgekehrt die Synreferentialität als Bedingung des Sozialen angesetzt.32 Die enge Orientierung an Maturana und dessen Begriff des „konsensuellen Bereiches“ scheint Schmidt und Hejl daran zu hindern, die seit dem Bestehen der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft brisante Frage der Beschreibung sozialer Tatsachen im Unterschied zu psychischer Repräsentation bzw. Konstitution anders als die Fachtradition aufzulösen.33 Auch hier scheint es nicht zu gelingen, 32 33
Dieses Argument ist eine Variation der oben (vgl. III.1a) schon erwähnten Luhmannschen Kritik am Intersubjektivitätsbegriff (vgl. Luhmann 1990a: 19). Treffend – aber leider zustimmend – deutet Volker Kraft (1989: 61) gegenseitiges Verstehen, also die Ausbildung einer sozialen Beziehung nach Maturana „als ein Phänomen intra-intersubjektiver autonomer kognitiver Prozesse“ (Kraft 1989: 61). Daß es sich hierbei um eine Hilfskonstruktion handelt, die theoretische Unzulänglichkeiten kompensieren soll, scheint offenkundig. Denn was hat man sich unter einem autonomen (!) kognitiven Prozeß vorzustellen, der nicht nur intra- sondern auch intersubjektiv wirksam sein soll? Wiederum wird das zu Erklärende – also das Soziale – vorausgesetzt, um es erklären zu können.
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das Soziale als genuinen Gegenstand der Soziologie auszuweisen, ohne ihn einfach als gegeben vorauszusetzen – dieser Vorwurf trifft sowohl Schütz’ Rekurs auf Husserls Intersubjektivitätsbegriff als auch Meads Annahme eines „generalized other“ und Schmidts und Hejls Konzept der „Synreferentialität“ sozialer Systeme, die stets nur als Bedingungen der Möglichkeit fungieren und deshalb theoretisch unterbestimmt bleiben müssen. Bei Maturana fungieren – wie schon kurz erwähnt – konsensuelle Bereiche als Möglichkeitsbedingung der Kopplung und Kommunikation von autopoietischen Systemen. Er formuliert: „(...) wir handeln in aufeinander bezogener Weise zusammen mit anderen Beobachtern in einem konsensuellen Bereich, der durch unsere direkte (Mutter-Kind-Beziehung) oder indirekte (Mitgliedschaft in derselben Gesellschaft) Strukturenkopplung ontogenetisch erzeugt wird.“ (Maturana 1982: 257) Also auch Maturana läßt das Inter „subjektiver“ Perspektiven in einem gattungs- und in einem sozialisationstheoretischen Argument aufgehen. Gleichwohl fährt er fort: „Wenn der Beobachter jedoch vergißt, daß die Adäquatheit der ineinander verzahnten und einander auslösenden Zustandsveränderungen der aufeinander einwirkenden Systeme im konsensuellen Bereich das Ergebnis ihrer ontogenetischen Strukturenkopplung ist, kann er den konsensuellen Bereich so beschreiben, als ob er ein in sich geschlossenes deskriptives System bildete (...).“ (ebd.) Maturanas skeptischer Hinweis deutet darauf hin, daß jener konsensuelle Bereich zwischen zwei autopoietischen Systemen einem Beobachter zwar so erscheinen könnte, er sei immer schon da, daß jedoch bedacht werden müsse, daß dieser selbst erst operativ, d.h. durch das Zusammenspiel autopoietischer Systeme entsteht. Das relativiert freilich sowohl das gattungsspezifische als auch das sozialisationstheoretische Element zur Erklärung des Sozialen und verweist erneut auf die Frage, wie sich das Soziale angemessen beschreiben läßt, ohne es zum einen schlichtweg voraussetzen zu müssen, um es in seiner Genese und Operationsweise erklären zu können, und ohne es zum anderen als bloßes Korrelat des Individuell-Bewußtseinsmäßigen behandeln zu müssen. Solche Fragen sind letztlich erst dann zu beantworten, wenn es gelingt, den konstruktivistischen Ansatz in der Weise zu radikalisieren, daß er soziologisch gewendet wird. Erkenntnistheorie stellt dann nicht mehr allein die Frage nach dem erkennenden Subjekt, sondern fragt zusätzlich, von welcher Art die erkennende, ihre Wirklichkeit konstruierende, in ihren Operationen geschlossene Einheit ist. Dies führt Luhmann zu der Unterscheidung bewußter und kommunikativer Systeme, die je für sich operativ geschlossen sind und damit auch je für sich diejenigen Qualitäten besitzen, die der Konstruktivismus exklusiv dem Bewußtsein zuschreibt. Auf eine vorwegnehmende Formel gebracht: Es sind nicht nur Menschen oder Bewußtseinssysteme, die erkennend und per Unterscheidung eine kontexturale Welt (Gotthard Günther) konstruieren, sondern auch soziale Systme als eigenständige autopoietische, operativ geschlossene Einheiten. Bevor ich jedoch darauf und auf Luhmanns Anschluß an den Konstruktivismus eingehe, sei kurz betont, daß leicht zu sehen ist, daß sich mit einem konstruktivistischen Modell alle Bedingungen einer oben beschriebenen operativen Theorie der Zeit abbilden lassen – zunächst unabhängig davon besehen, wie die verschiedenen „konstruierenden“ operativen Einheiten beschaffen sind und wie sie sich zueinander verhalten. Im Unterschied zur klassischen Systemtheorie des Bertalanffyschen Typs, die vom Kontinuum einer absoluten, homogenen Zeit ausgeht, in der sich die innere Organisation der Komplexität eines Systems entfaltet, beziehen Selbstorganisationstheorien und Theorien des Konstruktivismus die Zeit
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mit in die Organisationsform des Systems ein. Hier „koordiniert jedes System seine Prozesse gemäß einer Eigenzeit (systemischer Zeitrelativismus)“ (Krohn/Küppers/Paslak 1987: 462). Den konstruktivistischen Aspekt der Zeit stellt Maturana heraus, indem er auf die „verhaltensbezogene Unterscheidung sequentieller Zustände eines Beobachters“ (Maturana 1982: 234) abstellt. Indem ein Beobachter mit solchen Eigenzuständen „rekursiv interagiert“, emergiert Zeit als Beschreibungskategorie, die nicht als Gegenstand des beschriebenen Milieus anzusehen ist. Ebenso warnt v. Glasersfeld davor, Zeit mit der bloßen Folge von Ereignissen zu verwechseln. Zeit entsteht demnach erst dann, wenn solche Folgen aufeinander temporal bezogen werden, was freilich wiederum Beobachtung voraussetzt (vgl. v. Glasersfeld 1987: 434f.). Die Parallelen etwa zur Husserlschen operativen Zeittheorie sind sicher nicht zufällig – beide Ansätze gehen von der Annahme aus, daß es keine Operation gibt, die außerhalb des jeweiligen Operators ablaufen kann.34 Die Entstehung von Zeit als konkretem Operations- und abstraktem Beschreibungsniveau der Operation läßt sich so unter Bedingungen operativer Geschlossenheit nicht anders denn als systemeigene, operationsrelative Zeit denken, die keinen Platz für einen objektiven, ereignis- und beobachterunabhängigen Zeitbegriff hat. Eine zweite Parallele liegt freilich darin, daß eine aufs Bewußtsein beschränkte Theorie operativer Zeitbildung mit den gleichen Beschränkungen zu kämpfen hätte, den spezifischen Horizont sozialer Zeit angemessen zu behandeln, wie eine phänomenologische Theorie Husserlschen Typs. Letztlich bildet ein „radikal“ konstruktivistischer Ansatz, was die Möglichkeit der Theoriebildung sozialer Zeit angeht, exakt jenes Theorieniveau ab, das die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins schon erreicht hatte (vgl. I.2e). Es zeigt sich nun aber zusätzlich, daß auch die Umrüstung von Husserls transzendentalphilosophischem zu Franks individualitätstheoretischem Ansatz zwar in die Richtung einer empirischen Zeittheorie operativer, kognitiver Einheiten weist, für eine soziologische Theorie der Zeit jedoch nicht ausreicht. Es zeigt sich damit eine erstaunliche Parallele in der Kritik einer subjektphilosophischen, apriorischen Theorie des Bewußtseins: Sowohl Frank als auch der Konstruktivismus verweisen auf die individuellen, weltgenerierenden Operationen empirischer Individuen. Zugleich müssen aber beide ein gleichsam außertheoretisches Argument bemühen, um den wechselseitigen Verkehr zwischen den empirischen Ich-Bewußtseinen erklären zu können: Frank die regulative Idee der gegenseitigen Verständigung und der Konstruktivismus konsensuelle Bereiche und Synreferentialität als – empirische! – Bedingungen der Möglichkeit. Außertheoretisch nenne ich diese Argumente deshalb, weil sie beide weder dem individualitätstheoretischen noch dem konstruktivistischen Ansatz entsprechen und somit von außen herangezogen werden müssen. Damit wird die behauptete „Radikalität“ des jeweiligen Ansatzes erheblich eingeschränkt. Also auch hier: keine Möglichkeit zur Formulierung einer operativen Zeittheorie des Sozialen. Eine solche kann offenbar nur gewonnen werden, wenn es gelingt, das Soziale selbst als systembildende Ope34
Wie Ernst Florey zeigt, lassen sich Husserls Theorie der Retention und Protention (vgl. I.2e) und Bergsons Gedanke der inneren Dauer (vgl. I.2d) nicht nur in Begriffen einer systemtheoretisch-konstruktivistischen Perspektive abbilden, sondern auch hirnphysiologisch empirisch nachweisen (vgl. Florey 1991: 175ff.). So braucht etwa das Gehirn von der Aufnahme eines (unspezifischen) Reizes bis zur Bewußtwerdung Zeit, was darauf hindeutet, daß Operationen des Gehirns Ereignisse im Whiteheadschen Sinne sind (vgl. II.3a und III.2a), die aneinander anschließen, aufeinander bezogen sind und dadurch eine je eigene, gegenwartsbasierte Zeit konstituieren.
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rationsweise zu beschreiben, wie sie mit Mead bereits ansatzweise, jedoch noch nicht angemessen vorliegt (vgl. II.3b).
c)
Bewußtsein und Kommunikation als autopoietische Systeme
Damit komme ich auf Luhmanns Anschluß an den Konstruktivismus und auf die Konsequenzen seiner Kritik an ihm zu sprechen: Für Luhmann stellt sich – gemäß dem systemtheoretischen Paradigma – die Frage des Verhältnisses von Erkenntnisoperator und Erkenntnisgegenstand als Problem des Verhältnisses von System und Umwelt dar. Die System/Umwelt-Differenz bezeichnet zunächst keinen „objektiven“ Sachverhalt, der unabhängig von einem Beobachter gegeben ist, sondern muß vielmehr je systemrelativ begriffen werden. Diese Differenz gibt nicht eindeutig vor, was System ist und was Umwelt, denn es stellt sich immer die Frage, für wen oder von welcher Perspektive aus was System und was Umwelt ist. „Die Differenz ist keine ontologische, und darin liegt die Schwierigkeit des Verständnisses. Sie zerschneidet nicht die Gesamtrealität in zwei Teile: hier System und dort Umwelt. Ihr Entweder/Oder ist kein absolutes, es gilt vielmehr nur systemrelativ, aber gleichwohl objektiv.“ (Luhmann 1984a: 244) Dies ist nicht so mißzuverstehen, daß das System/Umwelt-Paradigma lediglich ein wechselseitiges Subjekt/Objekt-Schema darstellt – etwa in dem Sinne, daß Objekte selbst wieder Subjekte sind, deren Objekte wiederum die vorherigen Subjekte sind, obwohl sich einem Beobachter die Wechselseitigkeit von Systemen durchaus so darstellen könnte. Eine solche Konstruktion sieht an der entscheidenden Bedeutung der Unterscheidung von System und Umwelt vorbei. Ein System hat laut Luhmann vielmehr „nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht, und keine Umwelt ,an sich‘“ (ebd.: 146). Hier kommt also das konstruktivistische Paradigma zum Tragen: Jedes System unterscheidet sich von seiner Umwelt und konstituiert durch seine Beobachtung erst die Umwelt, die es von sich selbst unterscheidet. Letztlich referiert damit ein solches System immer auf sich selbst, weil es außerhalb seiner selbst gar nicht operieren kann und immer sich selbst im Verhältnis zu einer nur zu sich selbst relativen Umwelt beobachtet. Luhmann belegt diesen Mechanismus mit dem Begriff der Selbstreferenz. Selbstreferenz „bezeichnet die Einheit, die ein Element, ein Prozeß, ein System für sich selbst ist“ (ebd.: 58). Systeme erlangen ihre Einheit also dadurch, daß sie sich selbst in Differenz zu ihrer Umwelt beobachten und sich nur qua eigenen Operationen erhalten können. Beobachten meint hier keinen Bewußtseinsakt, keine kognitive Leistung eines menschlichen Subjekts, sondern – als Grundoperation selbstreferentieller Systeme schlechthin – nichts weiter als die „Handhabung von Unterscheidungen“ (ebd.: 63), wie oben schon mit George Spencer Brown und Gotthardt Günther kurz erläutert. Als grundlegende Unterscheidung, mit der jede Systemoperation zunächst beginnen muß, fungiert die System/Umwelt-Differenz: Beobachtetes ist entweder System oder Umwelt, im Sonderfall der Selbstbeobachtung wird die System/Umwelt-Differenz in das System eingeführt, das sich durch Handhabung eben dieser Differenz erst konstituiert. Es liegt auf der Hand, welche Schwierigkeiten die konsequente Durchführung des System/Umwelt-Modells bereitet, wenn auf die Kommunikation zwischen Systemen mit je selbstrelativer System/Umwelt-Differenz abgestellt wird. Exakt diese Schwierigkeiten
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haben Maturana veranlaßt, eine Koinzidenz der Umwelten in „konsensuellen Bereichen“ anzusiedeln, wobei er sich allerdings fragen lassen muß, wie ein solcher konsensueller Bereich außerhalb des je eigenen operativen Zugriffs denkbar sein soll, wenn man an der konstruktivistischen Erkenntnis festhalten will, daß Kognitionen autonom erzeugte Konstitutionen von Welt sind, die rekursiv an die je eigenen Operationen anschließen. Soziologisch betrachtet, bleibt in diesem Fall nichts anderes übrig, als die Einheit der Gesellschaft in per se konsentierten Bereichen zu lokalisieren, die in objektiven, allgemein zugänglichen Wirklichkeiten, in generalisierten Anderen oder, wie etwa bei Parsons, in der Integration durch normativen Konsens innerhalb der Gesellschaft (vgl. Parsons 1972: 12f.) aufgehoben ist. Der Nachteil einer solchen Theorietechnik liegt darin, das Prozessieren der Gesellschaft selbst nicht adäquat beschreiben zu können – und damit auch der Handhabe beraubt zu sein, eine operative Zeittheorie als Theorie der sozialen Zeit bilden zu können. Luhmann geht anders vor: Er stellt nicht von vornherein auf eine vorkonsentierte Gesellschaft ab, sondern versucht aus der Erkenntnis heraus, daß das Bedingungsverhältnis zwischen Intersubjektivität und Kommunikation umgekehrt werden muß, die operative Eigenständigkeit des Sozialen zu belegen. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß Bewußtsein, also psychische Systeme, und Kommunikation, also soziale Systeme, jeweils Umwelten füreinander sind. Wie ich bezüglich der Unterscheidung von Kommunikation und Intersubjektivität bereits gezeigt habe (vgl. III.1a), zieht Luhmann daraus die Konsequenz, sowohl Bewußtsein als auch Kommunikation als zwei unterschiedliche Systemarten anzusetzen, die zwar unterschiedlich operieren und sich niemals „überlappen“, die aber dennoch aufeinander angewiesen sind. Die Formel lautet: Kein Bewußtsein ohne Kommunikation und keine Kommunikation ohne Bewußtsein. Es ist hier nicht nötig, das Verhältnis von Bewußtsein und Kommunikation noch einmal zu erläutern. Vielmehr soll kurz gezeigt werden, welche Konsequenzen Luhmann sowohl aus diesem Ergebnis als auch aus der konstruktivistischen Theorie autopoietischer Systeme zieht. Zunächst schließt er an den Konstruktivismus in der Weise an, als sein Selbstreferenzkonzept in der Tat davon ausgeht, daß jedes System sich sein eigenes System/Umwelt-Verhältnis schafft und damit eine Welt erzeugt, die unhintergehbar an die eigenen Operationen gebunden ist. Folgerichtig bestimmt Luhmann den Konstruktivismus als „operative Erkenntnistheorie“ (Luhmann 1988b: 21). Zum anderen kritisiert er am Radikalen Konstruktivismus dessen Engführung auf biologische und psychologische Bedingungen der Erkenntnis, was es dem Konstruktivismus selbst ermöglicht, „für sich selbst den Status eines externen Beobachters reklamieren“ (ebd.: 24) zu können. Auf den ersten Blick mag eine solche Kritik erstaunen, denn gerade der Konstruktivismus beobachtet seine eigenen, wissenschaftlichen Beobachtungen nur als Beobachtungen unter anderen möglichen Beobachtungen (vgl. Maturana 1982: 14ff.; Schmidt 1991b: 316) und legt erheblichen Wert auf die Feststellung, jede privilegierte, transzendentale Begründungsebene – etwa bei der Bestimmung des Bewußtseins (vgl. Schmidt 1989: 36) – abgelegt zu haben. Was Luhmann mit dieser Kritik jedoch zum Ausdruck bringen möchte, ist die Beobachtung, daß die Erkenntnistheorie selbst Element innerhalb eines kommunikativen Systems, nämlich der Wissenschaft, ist und – stellt man von biologischer und psychologischer auf soziologische Erkenntnistheorie um – keinen externen Beobachterstandpunkt mehr haben kann. Wenn auch die Radikalen Konstruktivisten ohne Zweifel in ihrer Selbstbeschreibung jenen exter-
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nen Standpunkt ablehnen, so sieht Luhmann ihn empirisch schon deshalb gegeben, weil ein kommunikatives Geschehen Leben und Bewußtsein gleichsam von außen beobachtet. Dazu Luhmann: „Dies ändert sich mit einem soziologischen Begriff der Erkenntnis; denn es gibt nur eine Gesellschaft (...). So wird der Erkenntnistheoretiker selbst Ratte im Labyrinth und muß reflektieren, von welchem Platz aus er die anderen Ratten beobachtet. Dann führt die Reflexion nicht mehr nur auf Gemeinsamkeit der Bedingungen, sondern darüber hinaus auch auf die Einheit des Systems der Erkenntnis; und alle ,Externalisierung‘ muß als Systemdifferenzierung begründet werden. Erst die Soziologie der Erkenntnis ermöglicht einen radikalen, sich selbst einschließenden Konstruktivismus.“ (Luhmann 1988b: 24; vgl. auch Luhmann 1990c: 56f.) Im Unterschied zu Maturana, Schmidt und auch Hejl begrenzt Luhmann die empirische Basis ihre Welt konstitutierender, sich selbst erhaltender autopoietischer Systeme nicht auf biologische und psychische Systeme, sondern erweitert sie auch auf soziale Systeme. Programmatisch kommt dies in folgenden Sätzen zum Ausdruck: „Es gibt mehrere empirische Grundlagen für Kognitionsprozesse, die jeweils eine operative Schließung ihres eigenen Systems voraussetzen, insbesondere Leben, Bewußtsein und Kommunikation. Das Erfordernis der Schließung macht die entsprechenden Kognitionen inkompatibel (was nicht ausschließt, daß sie einander wechselseitig beeinflussen).“ (Luhmann 1990a: 523) Es kommt Luhmann also darauf an, die Frage zu beantworten, wie die operative Geschlossenheit autopoietischer Systeme Offenheit erzeugen kann, durch die erst die wechselseitige Ermöglichung von Bewußtsein und Kommunikation erklärt werden kann (vgl. Luhmann 1984a: 25). Freilich kann man sich nicht einfach mit Luhmanns Behauptung zufrieden geben, auch Kommunikation sei ein zur Kognition befähigtes System, vergleichbar mit lebenden und psychischen Systemen, ohne dabei ausreichend zu erläutern, in welcher Weise die operative Geschlossenheit von Kommunikation erzeugt wird und inwiefern Kommunikation als neue, emergente Ebene in Form eines autopoietischen Systems vorliegt.35 Einer solchen Erläuterung könnte womöglich ein kurzer Rekurs auf den Kybernetiker Ranulph Glanville dienlich sein. Dieser betont nicht nur die klassische Frage der Kybernetik, wie Rückkopplungen zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem sich auf den Kontrollprozeß selbst auswirken, wie also jemand, der etwas beeinflussen möchte, sich auf die Wirkungen seiner eigenen Beeinflussungsversuche einstellen muß, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Ein solches Denkmodell, so Glanville, beschränkt sich in seiner Beobachtung nur auf eine Bewegungsrichtung, nämlich die zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem bzw. – wenn ich so sagen darf – zwischen Aktor und Reaktor (vgl. Glanville 1988: 201; vgl. auch Bateson 1990: 407f.). Eine solche Beobachtung bekommt allerdings nicht in den Blick, daß sich Kontrolle immer in Form wechselseitiger Interaktion zeigt, wie die „second-order-cybernetics“ lehrt: „das, was ,kontrolliert wird‘ (diese Rolle zugeschrieben bekommt), kontrolliert zugleich das, was
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Maturana etwa lehnt Luhmanns Theorie sozialer Systeme aus exakt dem Grunde strikt ab, weil er Kommunikation explizit nicht als eigenständige Ebene ansieht, die als System beschreibbar ist: „Für mich liegt Luhmanns größter Fehler darin, daß er die Menschen ausläßt. Er läßt die Dynamik der Transformation der Menschen aus, die durch die Koordination der Handlungen und durch die Transformation durch die Koordination der Handlungen bewirkt wird. Diese Dynamik geht verloren.“ (Maturana 1990a: 39f., Anm. 17) Ähnlich argumentiert Hejl 1987: 322-327.
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,kontrolliert‘ (diese Rolle zugeschrieben bekommt)“ (ebd.: 205).36 Ein solches kybernetisches Denkmodell hebt den traditionellen Begriff der Kausalität in der Weise auf, daß sich zwei voneinander wechselseitig abhängige Größen nicht durch Hierarchisierung und Unilinearität beschreiben lassen. Übertragen auf die Frage nach dem Verhältnis von Interaktionspartnern bzw. Sprechern zueinander, läßt sich sehen, daß ein kommunikatives Geschehen stets als wechselseitiger Rückkopplungseffekt beschrieben werden muß, der die verschiedenen Reaktionen der Interaktionspartner rekursiv an das jeweils vorherige Ereignis der Kommunikation anschließen läßt. Es soll nun nicht behauptet werden, daß solche Rückkopplungseffekte im kommunikativen Raum mit Rückkopplungen im physikalischen Raum identisch seien, da diese letztlich zu homöostatischen Zuständen streben, was für kommunikative Rückkopplung sicher nicht gilt. Jedoch besteht eine Parallele zumindest darin, daß sich kommunikative Akte stets rekursiv auf den nicht vorhergesehenen Verlauf des kommunikativen Geschehens beziehen und nicht auf anderes außerhalb des kommunikativen Geschehens reduziert werden können. Es ist dann also ausgeschlossen, die Dynamik von Kommunikationen allein den beteiligten Menschen zuzurechnen. Vielmehr müßte erhöhte Aufmerksamkeit auf die Frage des kommunikationseigenen Verlaufs gerichtet werden, auf den individuelle Informations-, Mitteilungs- und Verstehensakte selbstverständlich stets einwirken, wobei diese Einwirkung selbst wiederum nur als Wechselseitigkeit und nicht im Sinne einer Ursache-Wirkung-Beziehung zu verstehen ist. Bei der Frage der Kommunikation selbstreferentieller Systeme miteinander, wie sie in einer Kommunikation zwischen Menschen vorliegt, stellt sich jedoch ein weiteres Problem. Hält man an der konstruktivistischen Annahme fest, daß jedes selbstreferentielle System mit eigenen Unterscheidungen arbeitet, die an die je eigenen Operationen gebunden sind, so stellt sich Kommunikation zwischen solchen Systemen als hochkontingentes Geschehen dar, da es keinerlei prästabilierte Koinzidenzen gibt, die sich in einem solchen konstruktivistischen Modell abbilden ließen. Folgerichtig betont Glanville, daß die theoretische Annahme distinkter, oder, um mit Gotthard Günther zu sprechen, kontexturaler Beobachtungen fällt, wenn man „das traditionelle Konzept einer von einer gemeinsamen Sprache getragenen allgemeinen Semantik (annimmt) (...), um Kommunikation unter diesen Umständen zu ermöglichen“ (Glanville 1988: 109). Er betont dagegen, auf einen von Gordon Pask (1978: 15ff.) stammenden Begriff rekurrierend, „Konversation“ als „Verhandlung zwischen Teilnehmern um die Etablierung gemeinsamer Bedeutung“ (Glanville 1988: 109) anzunehmen. Es stellt sich allerdings auch hier die Frage, wie es gelingen soll, Konversation angemessen zu beschreiben, setzt diese doch wiederum voraus, daß es etwas gibt, auf dessen Basis sie stattfinden kann – und das kann letztlich nichts anderes sein als das, was per Konversation erklärt werden soll. Freilich setzt Glanville diese Möglichkeit nicht schlichtweg voraus, sondern betont auf differenztheoretischer Basis, daß jede Kommunikation zwischen distinkten Beobachtern selbst auf die Basis von Distinktionen angewiesen ist: „es konnte gezeigt werden, daß sich individuelle Unterscheidungen eventuell gegenseitig 36
Glanville bringt hier das bekannte Beispiel eines Thermostaten, der bei entsprechender Temperatur eine Heizung einschaltet, die die Temperatur erhöht, was wiederum zur Abschaltung durch den Thermostaten führt und dadurch eine Abkühlung in Gang setzt, die den Thermostaten veranlaßt, die Heizung wieder anzuschalten usw. usw. Fragt man sich hier, welches der Elemente des Systems der Kontrolleur und welches das Kontrollierte ist, sieht man, daß alle Elemente zugleich beides sind und somit Kontrolle als wechselseitige Interaktion beschrieben werden muß (vgl. Glanville 1988: 202f.).
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implizieren, das heißt, sie sind wiedereintrittsfähig und werden selbstreferentiell und schaffen große Netzwerke von Erfahrungen und Wissen, in denen wir uns einrichten“ (ebd.).37 Zunächst fällt auf, daß Glanville hier selbst noch eine Engführung auf Psychologie fährt. Doch betont er die Selbstreferentialität der wiedereintrittsfähigen Unterscheidungen; und Selbstreferentialität verweist eindeutig auf Systembildung, hier also auf soziale Systembildung im Unterschied zu psychischer. Die der Kommunikation zugrunde liegenden Unterscheidungen werden in der Weise selbstreferentiell, als jeder kommunikative Akt innerhalb eines Kommunikationszusammenhanges an den vorherigen kommunikativen Akt anschließt, dessen Antezedenzbedingung selbst wieder ein vorheriger kommunikativer Akt ist und so weiter. Indem sich durch Kommunikationsversuche von einzelnen also Unterscheidungen herausbilden, die bestimmte Kommunikationen wahrscheinlicher machen als andere, und indem diese Kommunikationen ihr kontingentes Auftreten vorherigen Kommunikationen verdanken, die für sie als Kontingenzeinschränkung dienen, referiert letztlich jedes kommunikative Ereignis mindestens auf das vorherige. So entsteht die Selbstreferenz der Kommunikation, mithin also ein soziales System, das durch seine distinkte Operationsweise selbst als operative Einheit fungiert, für die die beteiligten psychischen Systeme Umwelt sind. Glanvilles eigener Erklärungsversuch kommt jedoch nicht zu der Konsequenz, aus dem Sachverhalt einer durch kommunikationseigene Unterscheidungen gespeisten Selbstreferenz der Kommunikation den Schluß zu ziehen, daß Bewußtsein und Kommunikation zwei unterschiedliche Systemarten sind, die ihre Autopoiesis qua Bewußtsein und Kommunikation sichern und nicht operativ aneinander teilhaben. Bewußtsein und Kommunikation sind folgerichtig beides autopoietische Systeme, die mit je eigenen Unterscheidungen operieren, per Beobachtung eine je eigene „Welt“ selektiv konstituieren38 und füreinander lediglich Umwelt darstellen. Glanvilles kybernetisches Modell einer rückgekoppelten Beziehung wechselseitiger Kontrolle individueller Beobachter muß damit um den entscheidenden Aspekt der Wechselbeziehung von Bewußtsein und Kommunikation erweitert werden. Wie oben bereits dargelegt (vgl. III.1a), versteht Luhmann Kommunikation als das Zusammenspiel der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen. Bewußtseinssysteme sind an jeder dieser Selektionen beteiligt: Sie bieten an, was als Information behandelt werden könnte, machen Versuche, dies in einer bestimmten Weise mitzuteilen, und verstehen die mitgeteilte Information. Entscheidend ist jedoch, daß der kommunikative Akt selbst nur an das anschließen kann, was auch tatsächlich kommuniziert wurde und daß dies keinesfalls als identisch mit dem Bewußtseinsinhalt der Beteiligten angesehen werden darf. Zwar simplifiziert sich Kommunikation meistens in der Weise, daß sie so tut, als gebe es eine Konvergenz der Perspektiven, doch ergibt sich diese Konvergenz letztlich nur dadurch, daß sie als solche wiederum kommuniziert werden muß bzw. in der Kommunikation als solche behandelt wird. Aus dieser Theorieanlage ergibt sich eine entscheidende Fragestellung: Wie verhalten sich die operativ getrennten, autopoietischen Systeme zueinander? Wie konstituiert sich ihr wechselseitiges System/Umwelt-Verhältnis? Wie ermöglichen sie sich gegenseitig? In 37 38
Ähnliches bezeichnet Heinz v. Foersters Begriff Eigenwerte. Eigenwerte sind strukturelle Selbsteinschränkungen, die Anschlüsse wahrscheinlicher machen (vgl. v. Foerster 1985: 210). Zum Weltbegriff als Einheit der Differenz von System und Umwelt vgl. unten III.3b und c.
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„Soziale Systeme“ verwendet Luhmann zur Erklärung dieses Sachverhaltes den Begriff „Interpenetration“. Sie liegt dann vor, wenn „Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen, daß sie in das jeweils andere ihre vorkonstituierte Eigenkomplexität einbringen.“ (Luhmann 1984a: 290) Dies ist lediglich eine alternative Formulierung für den Sachverhalt, daß keine Kommunikation ohne Bewußtsein und kein Bewußtsein ohne Kommunikation operieren kann.39 Diese Wechselseitigkeit der beiden Systemarten ist es, die in der Kybernetik zweiter Ordnung als Rückkopplung zweiter Ordnung beschrieben wird. Danach läßt sich die wechselseitige Kontrolle der interpenetrierenden Systeme nicht in Form einer Punkt-für-Punkt-Korrelation beschreiben, denn das jeweilige System behandelt Umweltereignisse stets nach Maßgabe eigener Operationsweisen und beobachtungsrelevanter Unterschiedungen und paßt sich somit nicht einem „äußeren“ Erfordernis an. Seine Reaktionen auf Umwelt sind stets Selbstanpassungen, da Umwelt nicht als schlicht Seiendes gedacht wird, das nicht das System ist, sondern nur je systemrelativ zu verstehen ist (vgl. etwa Glanville 1988: 103f.).40 In dieser Beschreibung bildet sich der gleiche Zusammenhang ab, der oben bereits als Autopoiesis eingeführt wurde: Jedes Operieren ist ein Operieren nach Maßgabe eigener Unterscheidungen und rekursiv an Eigenzustände gekoppelt. Für psychische und soziale Systeme stellt sich damit jedoch zusätzlich die Frage, wie sie sich bei operativer Geschlossenheit offenhalten können, wie also etwa eine gedachte Information kommuniziert werden kann oder wie Kommuniziertes psychisch verarbeitet wird. Diese Offenheit geschlossener Systeme bindet Luhmann strikt an die theoriekonstituierende Annahme der irreduziblen operativen Differenz von Bewußtsein und Kommunikation. „Es bleibt zwar richtig, daß interpenetrierende Systeme in einzelnen Elementen konvergieren, nämlich dieselben Elemente benutzen, aber sie geben ihnen jeweils unterschiedliche Selektivität und unterschiedliche Anschlußfähigkeit (...).“ (Luhmann 1984a: 293)41 Man könnte sagen, daß die irreduzible operative Differenz zwischen Bewußtseinssystemen es erst erforderlich macht, daß mit Kommunikation eine – siehe Durkheim – Entität sui generis emergiert, die nicht mit einer Koinzidenz von Perspektiven verwechselt werden darf. Es werden nicht einfach selektive Informationen selektiv mitgeteilt, sie müssen auch – wiederum selektiv – verstanden werden, was die Kontingenz und Unwahrscheinlichkeit jedes kommunikativen Verlaufs erheblich erhöht. Die Differenz erzeugende Kontingenz des Verstehens ist gleichsam der Generator für Kommunikation, die sich nur durch rekursive Beziehung auf den eigenen Kommunikationszusammenhang reproduziert.42 39 40
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Mit dem Begriff Interpenetration schließt Luhmann an die Parsonssche Denkfigur an, daß Gesellschaftstheorie nicht als Problem des Verhältnisses von Individuen zueinander zu verstehen ist, sondern als „Beziehung zwischen personalen und sozialen Systemen“. Vgl. dazu Luhmann 1977a: 62. Als Kybernetiker operiert Glanville lediglich mit dem Input/Output-Schema und versteht den Selbstregulationsprozeß eines Systems als selbstreferentiellen Prozeß einer systemrelativen, operativ autonomen „Entscheidung“ über die Relation von Input und Output. Luhmann schlägt dagegen vor, das Input/Output-Schema vollständig durch System/Umwelt-Differenz zu ersetzen, da so besser abgebildet werden kann, daß Input und Output keinerlei absolute Größen sind, sondern selbst wiederum nur systemrelativ erzeugt werden können (vgl. Luhmann 1984a: 275ff.). Die Rede von der „Konvergenz in Elementen“ bietet Anlaß zu Mißverständnissen. Denn autopoietische Systeme sind gerade nicht in der Lage, in Elementen zu konvergieren, da Elemente stets systemrelativ konstituiert werden – eine zwingende Voraussetzung operativer Geschlossenheit (vgl. Luhmann 1984a: 42). Zur Auflösung dieser sprachlichen Inkonsistenz vgl. III.1d. „Die Bildung und laufende Reproduktion sozialer Systeme ist mithin ein Korrelat der Geschlossenheit psychischer Systeme und nicht, wie man meinen könnte, ein Beweis ihrer Offenheit. Wechselseitiger
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Verstehen, so Luhmann explizit, fungiert als „funktionales Äquivalent für Konsens, indem man weitere Operationen statt auf Konsens auf dessen Sicherheitsäquivalenz, eben auf Verstehen stützt“ (Luhmann 1986b: 88). Die stets mitlaufende Verstehenskontrolle koppelt Bewußtseinszustände an das kommunikative Geschehen, und umgekehrt ist die Autopoiesis des Bewußtseins „in jeder Struktur, die sie annimmt, adaptiert, ändert oder aufgibt, (...) angeschlossen an soziale Systeme“ (Luhmann 1984a: 299). Jedoch schließt Kommunikation nicht unmittelbar an solche Bewußtseinszustände an, sondern lediglich an schon Kommuniziertes, das immer schon in spezifischer Weise „verstanden“ wurde.43 Es sollte deutlich geworden sein, daß sich Bewußtsein und Kommunikation in einem reziproken Rückkopplungsverhältnis zueinander verhalten. Jede Kommunikation hinterläßt Spuren im Bewußtsein, und Bewußtseinsleistungen reizen, irritieren und beeinflussen damit den Kommunikationsverlauf. Über das Konvergieren in einzelnen Elementen sind die beiden Systeme aneinander gekoppelt, ohne sich jedoch zu überlappen. Es sei nochmals betont: Beide Systeme sind operative Einheiten, die per rekursiver Beziehung auf Eigenzustände ihre autopoietische Reproduktion sichern und nur an solche Eigenzustände anschließen. Eine solche Theoriekonstruktion ermöglicht es, sowohl das Soziale als auch das Psychische als eigenlogische Operationsebenen zu begreifen, was kausaltheoretische Reduktionen ausschließt. Solche habe ich oben bei Schütz und Mead nachzuweisen versucht: Der erste begreift das Soziale als bloßes Korrelat des Psychischen und muß damit die Operationsweise des Sozialen theoretisch unterbestimmt lassen (vgl. II.2b). Der zweite sieht im Bewußtsein lediglich einen funktionalen Folgeaspekt des Sozialen und schließt damit eine angemessene Behandlung der Frage nach der Differenz von Handlung und Bewußtsein aus (vgl. II.3b). Mit der hier mit Luhmann zugrunde gelegten Differenz der operativen Ebenen Bewußtsein und Kommunikation kommen m.E. beide Elemente zur Geltung, was sich insbesondere in der Möglichkeit einer tragfähigen Behandlung distinkter Zeitebenen niederschlägt. Wie ich gezeigt habe, sind sowohl die Schützsche als auch die Meadsche Zeittheorie nicht in der Lage, beide Zeitebenen so zu behandeln, daß sich die Zeit des Bewußtseins und die soziale Zeit innerhalb eines Theorierahmens beschreiben lassen. Bevor ich im einzelnen auf die distinkten Zeitebenen eingehen werde, ist auf die Frage der Kausalattribution zwischen Bewußtsein und Kommunikation einzugehen, aus der sich ebenfalls ein Zeitproblem ergibt.
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Kontakt ist nur über Kommunikation möglich, das heißt im Sicheinlassen auf hochselektive Bedingungen der Mitteilung und des Verstehens von Informationen.“ (Luhmann 1985a: 405f.) Zur Erläuterung: Auch beim Verstehen muß auf die Systemreferenz geachtet werden. Es ist zwischen dem psychischen Akt des Verstehens und dem, was in der Kommunikation als verstanden gilt, strikt zu unterscheiden. Man kann diesen Sachverhalt in Interaktionen etwa daran erkennen, daß man psychisch den Sinn einer Kommunikation versteht, daß aber bei weiterer Beteiligung am kommunikativen Geschehen deutlich wird, daß die Kommunikation mit ganz anderen, selektiven Verstehensunterstellungen arbeitet, die ihr zur Fortsetzung ihrer Autopoiesis ausreichen. Bei einer genauen Beobachtung anderer Beteiligter wird man feststellen, daß die kommunikative Verstehenskontrolle sich auch von deren psychischer Realität unterscheidet, was man aber sensu strictu gar nicht wissen kann, weil man darüber nur kommunizieren kann. Dirk Baecker weist darauf hin, daß alles Kommunizieren über Bewußtsein immer nur Kommunikation über Bewußtsein bleibt und daß die wissenschaftliche Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation eine Unterscheidung der Kommunikation, nämlich wissenschaftlicher Kommunikation ist (vgl. Baecker 1990a: 1f.).
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Strukturelle Kopplung als Zeitproblem
Was Luhmann in „Soziale Systeme“ noch als „Interpenetration“ bezeichnet, belegt er in neueren Schriften mit dem von Maturana stammenden Begriff „strukturelle Kopplung“. Dieser bezeichnet die Wechselwirkung zwischen autopoietischen Systemen, die zwar gegenseitig aufeinander einwirken, aber durch ihre selbstreferentielle Strukturdetermination auf Störeinwirkungen lediglich durch Selbstanpassung reagieren. Strukturgekoppelte Systeme erfahren damit „Strukturveränderungen ohne Identitätsverlust“ (Maturana 1982: 144), da sie nicht operativ, sondern nur strukturell miteinander gekoppelt sind. Luhmann verwendet den Ausdruck für solche Intersystembeziehungen, die einen „notwendigen Zusammenhang“ (Luhmann 1990a: 38) darstellen, in denen sich autopoietische Systeme also wechselseitig voraussetzen, ohne zu einem einheitlichen System zu verschmelzen (vgl. auch Maturana 1988: 833).44 „Theoretisch ist der Begriff der strukturellen Kopplung vor allem deshalb notwendig und bemerkenswert, weil er einen einschränkbaren Sachverhalt bezeichnet. Er steht nicht für jede beliebige Kausalbeziehung zwischen System und Umwelt, sondern für ausgewählte System-zu-System-Beziehungen, in unserem Falle für die Beziehung zwischen Bewußtseinssystemen und Kommunikationssystemen.“ (Luhmann 1990a: 41) Es sind also nicht alle Intersystembeziehungen solche struktureller Kopplung, sondern nur solche, die wechselseitig ihren Bestand sichern. So können Bewußtseinssysteme nicht strukturell miteinander gekoppelt sein, weil eine solche Intersystembeziehung notwendigerweise auf soziale Systembildung verweist. Ferner dürfte zwischen sozialen Systemen nur in evolutionär unwahrscheinlichen, damit auch seltenen Fällen ein Verhältnis struktureller Kopplung vorliegen.45 In jedem Falle sind aber Bewußtsein und Kommunikation strukturell aneinander gekoppelt; wieder eine Chiffrierung der Formel: keine Kommunikation ohne Bewußtsein und kein Bewußtsein ohne Kommunikation.46 Der theoretische Ertrag dieser Beschreibung erschöpft sich freilich keineswegs allein in der Systemdifferenzierung, die dem theoretischen Beobachter die Möglichkeit einer Behandlung des Psychischen und des Sozialen in ihrer jeweiligen operativen Dynamik an die Hand gibt. Insbesondere der Sachverhalt der strukturellen Kopplung verweist auf ein Spezifikum einer Theorie autopoietischer Systeme, das Zeit ins Spiel bringt. Wiederum ist 44
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Systemtheoretische Ansätze, die nicht zwischen Kommunikation und Bewußtsein unterscheiden und als Elemente sozialer Systeme lediglich Handlungen individueller Akteure behandeln, brauchen keinen Begriff struktureller Kopplung, da die Kopplung gewissermaßen durch das soziale System selbst gesichert ist. Als Integrationschiffren dienen dann Begriffe wie Synreferentialität bei Hejl (1987) oder der an Parsons anschließende Gedanke einer normativen Gesamtintegration sozialer Systeme, in denen Bewußtsein als Teil des Ganzen behandelt wird, so jüngst wieder Münch 1991: 336ff. et passim. Luhmann nennt selbst folgende Beispiele: „strukturelle Kopplung von Erziehungssystem und Wirtschaftssystem über Zertifikate, (...) strukturelle Kopplung von Krankensystem und Wirtschaftssystem über die Krankschreibung durch Arztpraxen (und) Tausende anderer Fälle in einer hochentwickelten Gesellschaft“ (Luhmann 1990e: 208f.). Als Kopplungsinstrument zwischen Recht und Politik nennt Luhmann Verfassungen. All diese Beispiele machen deutlich, daß es sich bei diesen Kopplungsverhältnissen nicht um quasi-„natürliche“ Verhältnisse handelt, sondern daß sie ein gewisses Maß und eine bestimmte Form gesellschaftlicher Evolution voraussetzen, die sich für die gegenwärtige Gesellschaft als primär funktional differenziert darstellt. Vgl. dazu IV.5a. Ein Verhältnis struktureller Kopplung liegt auch zwischen Bewußtsein und Gehirn/Nervensystem bzw. organischem System vor. Diesem Sachverhalt ist hier nicht weiter nachzugehen, vgl. dazu aber Dziewas 1992.
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es Glanville, an dessen systematischer Beschreibung einer Kybernetik zweiter Ordnung sich diese theoretische Potenz ablesen läßt. Sobald man beobachtet, daß Beobachtungen selbst beobachtbar sind bzw. daß Kontrollverhältnisse zwischen Systemen immer über wechselseitige Steuerung ablaufen, zerfällt das traditionelle Newtonsche naturwissenschaftliche Weltbild des hierarchischen, kausalen Aufbaus der Welt. „Konventionelle Weisheit“, so Glanville, geht davon aus, daß Systeme „aus Teilen bestehen, die wiederum aus anderen Teilen bestehen, die in einer Hierarchie organisiert sind, die bei den Elementarteilchen der Physik endet (...). Wir wiederum sind Teile größerer Einheiten (Familien, Vereine, Gesellschaften, Klassen, Religionen, Nationalitäten usw.), so daß die Hierarchie sowohl über uns hinausgeht als auch unter uns sich fortsetzt“ (Glanville 1988: 212). Ein solches Weltverständnis sucht nach letzten Begründungsfiguren bzw. ontologischen Seinsaussagen, auf denen die gesamte Welt aufruht und auf die alles Seiende reduziert werden kann.47 Dem stehen Erkenntnisse der Kybernetik zweiter Ordnung gegenüber, die vom unveränderlichen Sein auf die Dynamik wechselseitiger, zirkulärer Prozesse umstellt.48 Glanville betont: „Wir können nicht länger davon ausgehen, daß der Kontrolleur (oder der Beobachter) ,oberhalb‘ des Kontrollierten (oder Beobachteten) steht, da der Prozeß zirkulär ist.“ (ebd.: 213) Zirkulär ist der Prozeß insofern, als strukturgekoppelte Systeme sich wechselseitig voraussetzen, mithin also keines der Systeme das andere kausal determiniert, sondern – wenn man an Kausalattributionen festhalten will – sie sich beide gegenseitig determinieren, was aus logischen Gründen zunächst unmöglich erscheint (vgl. auch Willke 1989: 44f.) Ein kausales Determinationsverhältnis setzt immer eine zeitliche Operation voraus: Zuerst liegt eine Ursache vor und dann folgt daraus eine Wirkung. Das schließt aus, daß die „Wirkung“ selbst wiederum „Ursache“ sein kann für die erste „Wirkung“. Überträgt man eine solche Kausalattribution auf das Verhältnis von Bewußtsein und Kommunikation, müßte man sich entscheiden, ob nun Bewußtsein Kommunikation determiniert oder umgekehrt Kommunikation Bewußtsein. Die Autopoiesis-Theorie vermeidet einen solchen reduktionistischen Entscheidungsdruck, indem sie zu bedenken gibt, daß sich das System/Umwelt-Paradigma nicht mit Ursache/Wirkung-Relationen verträgt. Wäre das Verhältnis von System und Umwelt eine solche Ursache/Wirkung-Relation, könnte man den Gedanken nicht aufrechterhalten, daß Systeme operativ geschlossen sind. Gäbe es eine kausal eindeutig attribuierbare Wirkung des Systems in seiner Umwelt, könnte das System 47
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Streng genommen, läßt sich dieses Denkschema in der gesamten abendländischen Tradition auffinden. Sein und Welt werden stets auf ein Element reduziert, aus dem sich das Ganze deduzieren läßt. In diese Tradition gehören so unterschiedliche Denkfiguren wie der Atomismus Demokrits, die Ideenlehre Platons, der Gottesbegriff der gesamten theologischen Tradition, die theologische Physik Newtons, die Hegelsche Geschichtsphilosophie und die Axiomatik des kritischen Rationalismus. Gemeinsam ist diesen hierarchischen Denkansätzen, daß sie ihren letzten analytischen Bezugspunkt nicht mehr unterscheiden können und so den hierarchischen Regreß stoppen. Der Regreß entsteht freilich erst dadurch, daß jede Erscheinung bzw. jedes Prinzip auf ein weiteres von höherer Generalität zurückgeführt wird. In den modernen Naturwissenschaften galt die Physik als hochgeneralisierte Basis für Reduktion, was nicht zuletzt ausgehend von der Biologie zum Entstehen systemtheoretischer Konzepte, die solche Reduktionismen relativieren, geführt hat (vgl. III.1b). Zum Problemfeld Systemtheorie und Reduktionismus vgl. die Beiträge in Kratky und Bonet 1989, einführend insbesondere Kratky 1989; vgl. auch Krohn/Küppers/Paslak 1987. Zum Regreßproblem in der Theorie autopoietischer Systeme vgl. III.3b und c. Zum locus classicus für den Paradigmenwechsel „Vom Sein zum Werden“ in den Naturwissenschaften ist inzwischen Prigogine 1988 avanciert.
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auch in seiner Umwelt agieren, was als zweite Konsequenz bedeutete, daß Umwelt als absolute Seinsregion vorausgesetzt werden müßte und nicht als systemrelative Geltung von Welt (vgl. Luhmann 1984a: 244). Hält man dagegen am azentrischen Modell einer polykontexturalen Welt fest, muß immer mitbedacht werden, daß Umwelt sozusagen das systeminterne Außenkorrelat systeminterner Zustände ist. Anders gewendet: Umwelt existiert nur in der durch das System konstituierten Weise und ist damit gleichursprüngliche Konsequenz jeder Systemoperation. Maturanas life is cognition wird so zu Umwelt ist immer Umwelt für ein operierendes System. Wenn die System/Umwelt-Differenz jeder Operation als Unterscheidung zugrunde liegt, bedeutet dies, so Luhmann, daß zwischen beiden kein kausales Determinationsverhältnis vorliegt, sondern ein Verhältnis der Wechselwirkung. Indem ein System – das gilt sowohl für Bewußtsein als auch für Kommunikation – eine Umwelt nach eigenlogischen Strukturen konstruiert, reagiert es nicht auf Umwelt, sondern auf Eigenzustände, für die es in der Umwelt keine Entsprechung gibt – so der Autopoiesis-Gedanke. Bedenkt man nun ein Verhältnis struktureller Kopplung zwischen autopoietischen Systemen, die füreinander Umwelt – zwar notwendige, aber immerhin: Umwelt – sind, so ist das Koppelungsverhältnis kaum als Kausalverhältnis von einer Seite her zu beschreiben. Luhmann ersetzt deshalb das Zeitdistanz schaffende Kausalmodell durch Zeitidentität, also Gleichzeitigkeit. „Der Begriff der strukturellen Kopplung bezeichnet ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit, also kein Kausalverhältnis.“ (Luhmann 1990a: 39)49 Er bildet den Sachverhalt ab, daß die „Differenz von System und Umwelt nur als gleichzeitige etabliert werden“ (Luhmann 1984a: 254) kann. So ist die von Luhmann sogenannte Konvergenz zwischen Bewußtsein und Kommunikation in einzelnen Elementen (vgl. ebd.: 293) nur ein anderer Ausdruck für ein Zeitverhältnis: Strukturgekoppelte Systeme konvergieren letztlich nur durch wechselseitige (!) Gleichzeitigkeit von System und Umwelt, geben aber den gleichzeitigen Ereignissen unterschiedliche Selektivitäten und Anschlüsse. Ist etwa ein kommunikatives Ereignis geschehen, so stellt es für einen Interaktionszusammenhang ein spezifisches autopoietisches Element dar, an das weitere Kommunikationen anschließen. Für ein beteiligtes Bewußtsein hat das kommunikative Ereignis eine völlig andere, zumeist mit erheblichem Sinnüberschuß versehene Selektivität. Insofern ist Luhmann und Peter Fuchs zuzustimmen, wenn sie behaupten, das Bewußtsein sei der Kommunikation überlegen, jedoch mit der Einschränkung: „aber nur im Moment“ (Luhmann/Fuchs 1989a: 133).50 Es hat einen hochselektiven Zugriff darauf, was kommuniziert wird und was nicht, ohne damit aber Kommunikation kausal bestimmen zu können. Kommunikation dagegen kann nur kommunizieren, was kommuniziert wird und kann nicht sehen, was nicht kommuniziert wird.51 Insofern „benutzt“ Kom49
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Die Gleichsetzung von Wechselwirkung und Gleichzeitigkeit findet sich bereits in Kants dritter Analogie der transzendentalen Ästhetik: „Zugleich sind Dinge, wenn in der empirischen Anschauung die Wahrnehmung des einen auf die Wahrnehmung des anderen wechselseitig folgen kann (welches in der Zeitfolge der Erscheinungen, wie beim zweiten Grundsatze gezeigt worden, nicht geschehen kann).“ (KrV: B 257; vgl. auch I.2c) Eine weitere Überlegenheit des Bewußtseins gegenüber der Kommunikation besteht darin, daß nur Bewußtsein in der Lage ist, etwas wahrzunehmen (vgl. Luhmann 1988a: 893), und daß deshalb Bewußtsein für Kommunikation den einzigen Zugang zur Systemumwelt darstellt (vgl. Luhmann 1990a: 45). Die Kommunikation kann zwar etwa darüber kommunizieren, was in einem Bewußtsein vorgehen mag, aber sie kann es eben nur kommunizieren. Was im Bewußtsein „tatsächlich“ geschieht, bleibt für Kommunikation unsichtbar. Jede nicht mitgeteilte Wahrnehmung, Gedanken oder Intentionen bleiben für
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munikation Bewußtsein gewissermaßen als Medium, das für sie zwar unsichtbar bleibt, aber stets vom selektiven Zugriff des Bewußtseins auf Information, Mitteilung und Verstehen „irritiert“ wird (vgl. Luhmann 1988a: 891).52 Hier ist sicher der Schlüssel dafür zu suchen, daß Kommunikationen innerhalb des Kommunikationsprozesses als individuelle Handlungen zugerechnet werden. Eine solche Zurechnung dient, wenn ich so sagen darf, der alltäglichen Selbstsimplifizierung sozialer Prozesse; Stichwort: Reduktion von Komplexität.53 Einem theoretischen Beobachter kann diese Simplifikation jedoch schon deshalb nicht genügen, weil leicht einzusehen ist, daß Handlungen eben nicht allein Absichten, Motiven und Interessen von Menschen zugerechnet werden können, sondern zu einem großen Teil durch den kommunikationseigenen Verlauf ermöglicht, wahrscheinlicher gemacht, womöglich sogar erzwungen werden.54 Wer Kommunikation als Handlung allein auf einzelne hin zurechnet, operiert mit der gleichen zeitlichen Asymmetrie, die ich soeben anhand kausaler Determinationsverhältnisse dargelegt habe: Zuerst ein Handlungsmotiv (Absicht, Intention), dann ein Handlungsplan und schließlich eine Handlungsausführung. So kann einem Beobachter soziales Handeln ohne Zweifel erscheinen, und so wird alltägliches Handeln auch meistens zugerechnet.55 Bedenkt man aber, wie Handlungssituationen aus Situationen doppelter Kontingenz entstehen, und wie Situationen doppelter Kontingenz gewissermaßen von selbst eine soziale Situation emergieren lassen, die durch Asymmetrisierung zur Auflösung des Zirkels wechselseitiger Erwartungserwartung durch einen Anfang führt (vgl. III.1a), scheint diese Reduktion für eine angemessene theoretische Beschreibung nicht auszureichen. Luhmanns Gedanke der unhintergehbaren Gleichzeitigkeit von System und Umwelt zeigt, daß Kom-
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Kommunikation unbeobachtbar, während Kommunikation durch Bewußtsein stets beobachtbar ist (vgl. dazu Luhmann 1990a: 46). Den schon oben von mir erwähnten Begriff der Irritation benutzt Luhmann bei Verhältnissen struktureller Kopplung als Gegenbegriff zu Operation: „Strukturelle Kopplungen produzieren nicht Operationen, sondern nur Irritationen (Überraschungen, Enttäuschungen, Störungen) des Systems, die dann vom System selbst auf Grund des Netzwerks eigener Operationen in weitere Operationen umgesetzt werden.“ (Luhmann 1990d: 103) Noch einmal: Irritationen sind systeminterne Zustände, denen kein Umweltkorrelat entspricht. So bestimmt auch Schmidt Intention als bloßen Beobachterbegriff, der einer Handlung ein psychisches Korrelat im Sinne eines Handlungsgenerators unterstellt (vgl. Schmidt 1991b: 319). Zum Verhältnis von Kommunikation und Handlung vgl. ausführlich Luhmann 1984a: 191ff., v.a. 227ff. Dagegen reduzieren sozialpsychologische Handlungstheorien Handlungen auf eine Handlungsrationalität, die explizit subjektiver, i.e. bewußtseinsmäßiger Natur ist. So heißt es etwa bei Ernst Lantermann: „Das handlungspsychologische Modell behauptet, daß eine Person sich in jeder Situation für die ihr am meisten angemessen erscheinende Handlung entscheidet; ihr wird damit eine ,subjektive Zweckrationalität‘ unterstellt.“ (Lantermann 1980: 142) Ähnliche Formulierungen finden sich bei Krampen 1987: 17. Nur ein Beispiel: Juristische Kommunikation in einem Strafprozeß ist geradezu darauf angewiesen, entsprechend diskriminiertes Handeln konkreten Handlungsträgern als intentional ausgelöstes Geschehen zuzurechnen, um zu Entscheidungen zu kommen. Womöglich entstehen durch eine solche Zurechnung erst die entscheidenden Probleme, die das moderne Recht zu lösen hat. Darf man einem Täter sein Handeln linear zurechnen? Ist er womöglich nicht zurechnungsfähig? Sind andere (auch) schuldig? Oder etwa die „Verhältnisse“? Darf das Recht solche riskanten Fragen überhaupt stellen? Die letzte Frage ist sicher falsch gestellt, denn das Recht wird gerade deshalb solchen Fragen ausgesetzt, weil juristische Beobachtungen wiederum beobachtbar sind. Um diese Beobachtung zu kontrollieren, lehren juristische Fakultäten u.a. Kriminologie. Sie gibt Kriterien vor, nach denen Handlungen zugerechnet bzw. nicht zugerechnet werden können. Einen vollständigen Überblick der einschlägigen Ansätze findet man in Schneider 1987: 359ff.
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munikationen ihre Kontingenz, ihre Hochunwahrscheinlichkeit und ihre Selbstreferenz gerade der Gleichzeitigkeit der strukturgekoppelten Systeme verdankt. Die Attraktivität, Soziales individuellen Handlungen zuzurechnen, besteht dagegen, so Luhmann, gerade darin, „daß die Reduktion auf Handlung das zeitliche Asymmetrisieren sozialer Beziehungen (durch Kausalattribution, A.N.) erleichtert. Wir denken normalerweise Kommunikation immer schon zu sehr als Handlung und können uns daraufhin Kommunikationsketten wie Handlungsketten vorstellen. Die Wirklichkeit eines kommunikativen Ereignisses ist jedoch sehr viel komplexer. Es setzt die Handhabung der doppelten Kontingenz von Ego und Alter auf beiden Seiten voraus, es wird während einer gewissen Zeit in der Schwebe gehalten, mag Rückfragen, bedeutsames Schweigen, Zögern erfordern, bevor es durch Verstehen zum Abschluß kommt; oder es mag, obwohl die Mitteilung als Handlung vorliegt, als Kommunikation scheitern.“ (Luhmann 1984a: 232) Entscheidend ist die Einsicht, daß der primäre Motor für die Emergenz von Kommunikation die Kopräsenz von alter und ego ist und daß die Strukturkopplung von Bewußtsein und Kommunikation in einer punktuellen, wechselseitigen Kopräsenz besteht. Diese wechselseitige Kopräsenz, die schon Husserl (vgl. Husserliana XV: 204f.; vgl. auch II.2a) und Schütz (vgl. Schütz 1981: 144; vgl. auch II.2b) als wesentliche Bedingung für soziale Beziehungen anführen, ist es, die kommunikative Situationen entstehen läßt, in denen wechselseitig Handelnde sich gegenseitig eine gemeinsame Welt unterstellen können, die Anschlüsse für weitere Kommunikationen sichert, ohne daß dafür eine Koinzidenz von Perspektiven – von wem diese auch immer kontrolliert werden soll – vorausgesetzt werden muß.56 Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Die Emergenz von Kommunikation durch die Wechselseitigkeit doppelter Kontingenz resultiert gerade daher, daß Bewußtseinssysteme irreduzibel geschlossen sind und niemals unmittelbar aneinander anschließen können. Aus der Kopräsenz entsteht dann ein Anschlußzusammenhang kommunikativer Autopoiesis, in dem Personen57 je kopräsent immer 56
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Dagegen meint Sigrid Brandt, die Annahme von Gleichzeitigkeit sei „eine ebenso hoch generalisierte Abstraktion wie der Gedanke einer gemeinsamen Welt und Wirklichkeit“ (Brandt 1992: 175). Eine solche Auffassung scheint nicht ausreichend zu bedenken, daß Gleichzeitigkeit eine systemrelative Konstruktion von System und Umwelt ist und keine Superstruktur über den autopoietischen Verläufen. Dem widerspricht übrigens auch keineswegs, daß in der modernen (Welt-)Gesellschaft Gleichzeitigkeit über eine abstrakte, in der Tat hochgeneralisierte Weltzeit hergestellt wird, die eine Integration distinkter Systemgeschichten leistet (vgl. Luhmann 1975b: 103ff.). Auch diese ist aber nur eine systemrelative Zeit, und zwar die des Gesellschaftssystems im Ganzen (vgl. dazu IV.5b). Der Begriff Person bezeichnet bei Luhmann „psychische Systeme, die von anderen psychischen Systemen oder von sozialen Systemen beobachtet werden“ (Luhmann 1984a: 155). Sie sind sozusagen die Adressaten von Kommunikation, sind jedoch nicht identisch mit den durch sie bezeichneten psychischen Systemen, weil autopoietische Systeme eben nur von außen beobachtet werden können. Personen dienen also der „strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen“ (Luhmann 1991c: 174). Die Art und Weise dieser Beobachtung hängt in entscheidendem Maße davon ab, welche beobachtungsrelevanten Unterscheidungen die Beobachtung meines psychischen Systems strukturieren. So erscheine ich als Sozialwissenschaftler einem wissenschaftlichen Beobachter anders als etwa einem anderen Straßenverkehrsteilnehmer oder Freund. Letztlich bildet der Personenbegriff hier das ab, was die soziologische Nomenklatur üblicherweise als „Rolle“ (vgl. etwa Dahrendorf 1961) bezeichnet. Im Gegensatz zum Rollenbegriff, der eine relativ stabile, zeitfeste Struktur voraussetzt, beinhaltet der Personbegriff mehr, nämlich zusätzlich den operativen und damit zeitoffenen, stets wandelbaren Charakter der Beobachtung von Menschen. Daß er zusätzlich das ausdrücken kann, was der traditionelle Rollenbegriff repräsentiert, wird weiter unten bei der Abhandlung des Struktur- und Prozeßbegriffes problematisiert (vgl. III.2d).
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wieder „mit zeitgebundenen Kurzzuständen“ (Luhmann 1980a: 241) an das kommunikative System gekoppelt sind.58 „Indem Personen sich wechselseitig zum Handeln provozieren, verschmelzen die Zeithorizonte simultaner oder quasisimultaner Ereignisse. Damit werden die Zeithorizonte der Handlungsereignisse entlastet von der Sequenzierung durch je eine Bewußtheitskontinuität. Sie gewinnen so erst die Form eines Horizontes, den man als intersubjektiv-gemeinsam unterstellen kann.“ (ebd.: 247) Wohlgemerkt: Er wird unterstellt, und zwar von der Kommunikation, die Bewußtsein temporär als Medium zur Fortsetzung ihrer Autopoiesis in Anspruch nimmt, die aber stets nach kommunikationseigenen Unterscheidungen operiert. Auf Luhmanns Frage, wie Bewußtsein an Kommunikation beteiligt sei (Luhmann 1988a), könnte man antworten: durch Gleichzeitigkeit. Auf die Frage allerdings, wie Kommunikation (und Bewußtsein) eine solche Beteiligung kommunikativ (und psychisch) behandelt, ist jedoch zu antworten: durch Zeitdifferenz, was nichts anderes bedeutet als: durch Kausalattribution. Es kann also festgehalten werden, daß ein Beobachter sehr wohl mehr oder weniger einfache Kausalitäten konstruieren kann, „also etwa beobachten, daß ein bestimmter Gedanke Ursache für eine entsprechende Kommunikation ist oder umgekehrt“ (Luhmann 1990a: 39). Für eine theoretische Beschreibung aber reicht das nicht aus, schon deshalb nicht, weil mindestens ein anderes Bewußtsein verstehen muß, damit Kommunikation und damit Handlung überhaupt zustande kommt. Die Unwahrscheinlichkeit, Unvorhersehbarkeit und Dynamik des kommunikativen Geschehens resultiert gerade daher, daß zwischen Bewußtsein und Kommunikation eine Gleichzeitigkeitsrelation vorliegt, die Kontingenz wechselseitig ins Unermeßliche steigern kann. Von Maturana läßt sich für diese Beschreibung der Kontingenz des kommunikativen Verlaufs das treffende Bild der Drift übernehmen (vgl. Maturana 1988: 833f.). Wenn ein Boot durch Strömung, Wind und Wellen auf einem Meer driftet, läßt sich die genaue Richtung und der exakte Verlauf der Bewegung kaum vorhersagen, weil mehrere Einschränkungen gemeinsam auf das Boot einwirken und so ineinandergreifen. Analog dazu gleicht der kopräsente Verlauf von Bewußtseinssystemen und einem Kommunikationssystem einer solchen Drift, die selbstverständlich keineswegs beliebig ist, aber doch niemals eindeutig vorhersehbar und selbst retrospektiv nicht als „notwendig“ anzusehen ist.59 Zusammenfassend sei betont: Nur wenn man das Verhältnis von System und Umwelt als Gleichzeitigkeit denkt, kann es gelingen, das Verhältnis von strukturgekoppelten Bewußtseins- und Kommunikationssystemen als Verhältnis eigenlogischer operativer Einheiten zu denken. Damit scheint die Forderung eingelöst werden zu können, die ich oben (vgl. II.4) nach der Analyse prominenter Intersubjektivitätstheoretiker an eine anspruchsvolle Theorie der Zeit gestellt habe: Wenn man Kommunikation und Bewußtsein je als autopoietische Systeme denkt, lassen sich sowohl die Erträge der Husserlschen und Schützschen 58
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Empirisch läßt sich dies etwa an der Teilnahme an Interaktionen beobachten. Man nimmt an einem Gespräch teil, das sich durch Informations-, Mitteilungs- und Verstehensversuche fortsetzt, und klinkt sich temporär in das kommunikative Geschehen ein. Danach läuft die Kommunikation ebenso weiter wie das eigene Bewußtsein. Man hat stets wieder die Möglichkeit, sich temporär an die Kommunikation zu koppeln, wird aber stets im eigenen Bewußtsein einen erheblichen Überschuß an Möglichkeiten feststellen, der nicht kommuniziert wird oder werden kann. Von besonderem soziologischen Interesse ist dabei die Frage, wie die prinzipielle Offenheit autopoietischer Verläufe trotzdem zu stabilen erwartbaren Einschränkungen des Möglichen führt. Daß dies in erster Linie ein Zeitproblem darstellt, werde ich weiter unten behandeln (vgl. III.2d).
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Einsichten über die Struktur innerer Dauer beerben als auch die mit Mead explizierte Notwendigkeit erfüllen, zur Beschreibung sozialer Zeit eine operative Einheit zu denken, deren Elemente soziale Entitäten sind und nicht Bewußtseinselemente.60 Diese Möglichkeit ist damit gegeben, daß die Autopoiesis des Bewußtseins und die Autopoiesis der Kommunikation je eigenständige Ereignisreihen sind, deren Eigentemporalität im folgenden weiter zu untersuchen ist. Bevor ich darauf im einzelnen zu sprechen komme, sei noch ein ergänzender Hinweis zur strukturellen Kopplung erlaubt. Bereits oben habe ich erwähnt (vgl. III.1a), daß psychische und soziale Systeme sinnverarbeitende Systeme sind und damit beide Welt nur in Form sinnhafter Verweisungen erleben. Luhmann schließt damit an die phänomenologische Grundannahme an, daß die Welt stets phänomenal gegeben ist, also nur erfahrungsrelativ vorliegt (vgl. Husserliana III: 111; vgl. auch I.2e). Diese Erfahrungsrelativität von Sinn erlebt sich stets als aktuelle Wahl aus Möglichkeiten, wodurch die nicht mitvollzogenen Möglichkeiten zumindest als Möglichkeitshorizont stets mitgegeben sind (vgl. Luhmann 1984a: 111f.).61 Luhmann sieht darin die Grunddifferenz allen Sinngeschehens: die Differenz von Aktualität und Möglichkeit, die die Offenheit und Kontingenz sinnhafter Verweisungen ermöglicht. In Husserls Ideen heißt es: „Ein Ding ist notwendig in bloßen ,Erscheinungsweisen‘ gegeben, notwendig ist dabei ein Kern von ,wirklich Dargestelltem‘ auffassungsmäßig umgeben von einem Horizont uneigentlicher ,Mitgegebenheit‘ und mehr oder minder vager Unbestimmtheit.“ (Husserliana III: 100) Jede sinnhafte Operation ist also ein selektiver Zugriff auf Welt, was eine temporale Asymmetrisierung von „Erscheinungsweise“ und „Mitgegebenheit“ zur Folge hat. Aktuelles ist, was es per aktueller Selektion ist. Es ist somit an die operative Erscheinungsweise seines Sinnes gebunden. Luhmann übernimmt diese Denkfigur von Husserl nahezu nahtlos und schafft sich damit die Möglichkeit, über den Sinnbegriff die „Phänomenalität“, modern gesprochen: die Beobachtungsrelativität jeder sinnhaften Verweisung zu begründen. Anders als Husserl sieht er jedoch in der „Sinnhaftigkeit“ der Operationsweise nicht nur ein bewußtseinsbasiertes Geschehen, sondern die gemeinsame Operationsbasis psychischer und sozialer Systeme. Indem beide Welt nur sinnförmig behandeln, sind sie füreinander wechselseitig koppelbar. Das heißt freilich nicht, daß Luhmann eine in der Phänomenologie beschriebene Bewußtseinsqualität schlicht auf Kommunikation überträgt.62 Vielmehr betont er, daß in der wechselseitigen Co-Evolution von Bewußtsein und Kommunikation strukturelle Kopplung gar nicht anders erklärbar ist als über die Sinnförmigkeit der Welt. Bewußtsein und Kommunikation sind zwar operativ geschlossen, können aber als geschlossene Systeme nur 60 61
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Darauf weist auch Werner Bergmann hin (vgl. Bergmann 1981b: 351ff.). Dieser komplizierte Sachverhalt läßt sich leicht an der Beobachtung von Interaktionen nachvollziehen. Etwas wurde gesagt, daraufhin wird das Gesagte abgelehnt, was immer im Horizont anderer Möglichkeiten – etwa Zustimmung, anders geartete Ablehnung, Ignorierung des Gesagten etc. – beobachtet wird. Das Sinngeschehen legt sich auf Aktuelles fest, das vollzogen wird, und hält das nicht Vollzogene als Horizont fest. Entscheidend ist jedoch, daß die Beobachtung des Nicht-Vollzugs selbst auch beobachterabhängig ist. Wird für den einen die Ablehnung eher im Horizont einer womöglich erwarteten Zustimmung erlebt, könnte sie sich für den anderen eher im Horizont anderer möglicher Ablehnungsstrategien bewegen. So etwa die Kritik von Habermas, der Luhmann eine „Aneignung der subjektphilosophischen Erbmasse“ (Habermas 1985b: 426) mit all ihren Aporien und Beschränkungen, wie sie einer Theorie der kommunikativen Vernunft erscheinen müssen, bescheinigt.
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darum gekoppelt sein, weil sie Sinn als psychisch denkbar und kommunikativ thematisierbar erleben. Es stellt sich freilich die Frage, wie diese gemeinsame Weltform sich mit der Annahme verträgt, Bewußtsein und Kommunikation seien unterschiedlich operierende Systeme, die sich nicht überlappen und die in keinem gemeinsamen übergreifenden Ökosystem (vgl. Luhmann 1990a: 46) vorgängig integriert sind. Dies läßt sich am Husserlschen Gedanken der „Geltungsrelativität“ verdeutlichen. Wie oben dargestellt (vgl. II.2a), geht der phänomenologische Weltbegriff zwar von einer intersubjektiven Welt für alle aus,63 doch sind diese phänomenologisch auf die Geltungsrelativität des aktuellen Vollzugs bewußter Operationen eingeschränkt (vgl. Husserliana VI: 469). Ähnlich kann Luhmann Welt jeweils nur als systemrelative „Sinneinheit der Differenz von System und Umwelt“ (Luhmann 1984a: 283) sehen, die es geradezu ausschließt, so etwas wie einen letzten ontologischen Weltbegriff zu formulieren.64 Somit wird – gemäß dem Güntherschen Konzept der Polykontexturalität – „jede Differenz (...) zum Weltzentrum (...). In diesem Sinne ist die Welt multizentrisch – aber so, daß jede Differenz die anderen dem eigenen System oder dessen Umwelten einordnen kann“ (ebd.: 284). Das hat zur Folge, daß sich autopoietische Systeme schon dadurch, daß sie wechselseitig füreinander Umwelt sind, je unterschiedliche Welten konstituieren, aber trotzdem gemeinsam an der Sinnförmigkeit der Welt teilhaben, wohlgemerkt: nur an ihrer Sinnförmigkeit und nicht an einer absoluten, beobachterunabhängigen Welt. Übertragen auf das Problem der strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation bedeutet dies: Die kopräsente, i.e. wechselseitige Ermöglichung der beiden autopoietischen Systeme wird über zeitgebundene Kurzzustände geleistet, die zwar die Unterschiedlichkeit der Weltperspektiven nicht aufheben, die aber ein konvergierendes Inanspruchnehmen von Sinn in einzelnen Elementen ermöglichen. Allein per Kopräsenz läßt sich also die strukturelle Kopplung psychischer und sozialer Systeme nicht ausreichend erläutern, vielmehr muß auf die Kopräsenz sinnhafter Verweisungen abgestellt werden, die jedoch die irreduziblen Weltperspektiven nicht „aufhebt“. Freilich scheint der Ausdruck Sinn eine geradezu metaphorische Redeweise zu sein, die theorietechnisch durchaus plausibel, aber wenig anschaulich ist. Es ist deshalb nötig, kurz auf Luhmanns Verständnis von Sprache einzugehen. Was theoretisch als gemeinsame Weltform angesprochen wird, zeigt sich in der psychischen und sozialen Wirklichkeit zumeist als Sprache. Die Sinnförmigkeit der Welt ist ohne Zweifel sprachlich kodifiziert. Allerdings baut Luhmann seine Theorie keineswegs auf dem Gedanken eines geschlosse63 64
Daß sich dieser letztlich inkonsequente Gedanke einer unterstellten Weltgemeinschaft der Subjekte einer unangemessenen Beantwortung der Frage nach dem Inter der Subjekte im subjektiven Vermögen verdankt, habe ich oben ausführlich gezeigt (vgl. II.2a). Günter Thomas meint dagegen, die „operative Fiktion einer nicht-systemrelativen zirkulären Geschlossenheit aller sinnhafter Verweisungen“ wirke „für alle Akrobatik selbstreferentiell geschlossener, autopoietischer Systeme wie ein sicheres Netz“ (Thomas 1992: 341), was es Luhmann einfach mache, die Relativität der Welt in der zirkulären Geschlossenheit des Sinngeschehens aufzuheben. Allein, diese Bemerkung scheint zu verkennen, daß die zirkuläre Geschlossenheit allen Sinngeschehens letztlich nur einem Beobachter erscheint, der diese Welt als gesamte Welt gar nicht sehen kann, weil sinnhafte Operationen immer schon dazu zwingen, die Welt zu teilen. Das gilt sowohl in temporaler (Aktualität vs. Potentialität) als auch in sachlicher (dies und nicht das) Hinsicht. Da jede Operation aber asymmetrisiert, wird die operative Gesamtheit der Welt unerreichbar. Sie bleibt sozusagen geheim, unbeobachtbar (vgl. Luhmann in Luhmann/Bunsen/Baecker 1990: 52) – und nur das kann der Beobachter beobachten.
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nen sprachlichen Universums auf,65 was zur Konsequenz hätte, daß Sprache als (Super-)System fungierte, das für Koinzidenz von Bedeutungen sorgt. Er sieht in Sprache lediglich ein evolutionäres Produkt, das als Medium sinnhafte Form ermöglicht66 und so zur Systembildung psychischer und sozialer Art beiträgt. Für Luhmann ist entscheidend, „Sprache als Nicht-System anzusehen, das Systembildungen im Bereich von Bewußtsein und Kommunikation erst ermöglicht. (...) Entscheidend für die Einheit von Sprache ist ihre Doppelfunktion (...) für Kommunikationssysteme und für Bewußtseinssysteme, nicht dagegen ihre Systematizität.“ (Luhmann 1990a: 51) Die angesprochene Funktion der Sprache besteht darin, Sinn zeitfest zu machen. „Jede sinnhaft erfaßte Gegebenheit muß nicht nur im Moment voll präsent sein und damit Erleben bzw. Handeln ,erfüllen‘ können; sie muß außerdem auch den Selbstbezug organisieren, also dafür Vorsorge treffen können, daß sie bei Bedarf wieder verfügbar sein kann, und das in (mehr oder weniger) andersartigen Situationen, zu anderen Zeitpunkten, mit möglicherweise anderen Partnern.“ (Luhmann 1984a: 136) Sprache dient also dazu, Sinn symbolisch zu generalisieren, um ihn wiederverfügbar zu machen. Sie ermöglicht sinnhafte Verweisungen und erleichtert das Wiederverwenden und das Rekombinationsvermögen sinnhafter Operationen. Luhmann legt jedoch Wert auf die Feststellung, daß Sprache kein mehr oder weniger fluktuierendes Zeichensystem ist,67 sondern ein gleichsam sich selbst ermöglichender Verweisungshorizont, der Bedeutungshöfe konstituiert,68 die allerdings keine Bedeutungsidentität als funktionales Äquivalent für Intersubjektivität stiften. Nicht Sprache, so Luhmann, ist der letzte analytische Bezugspunkt, sondern die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation. Sie wird durch die Nicht-Systematizität der Sprache erst ermöglicht, und zwar in der Weise, daß Sprache die Systemgrenzen transzendiert, ohne selbst eine Grenze im Sinne eines System/UmweltVerhältnisses zu konstituieren (vgl. Luhmann 1990a: 51). Sprache existiert folgerichtig nur dadurch, daß sie angewandt wird, will heißen im Vollzug kommunikativer und psychischer Autopoiesis. „Es genügt vollauf zu sagen, daß die Sprache in ihrer Benutzung als Sprache und sodann in der Beobachtung von Sprache durch einen Beobachter konkret existiert.“ (ebd.: 52) Es ist hier nicht der Ort, weiter auf das Problem der Sprache in Luhmanns Theorie sozialer Systeme einzugehen.69 Es sollte lediglich deutlich gemacht werden, daß Sprache als Kopplungsinstrument zwischen Bewußtsein und Kommunikation (vgl. ebd.: 47) den temporalen (Kopräsenz) und logischen (Wechselseitigkeit) Zusammenhang um den Aspekt der zugleich gemeinsam und distinkt erlebten Sinnhaftigkeit jeder Operation erweitert. Es ist die Sinnhaftigkeit kommunikativer Operationen, durch die Bewußtsein sich einer kopräsenten Affizierung durch Kommunikation kaum entziehen kann; und es ist die Sinnhaftigkeit bewußter Operationen, durch die Kommunikation kopräsent mit kontingenten Möglichkeiten versorgt wird, ihre Autopoiesis fortzusetzen. 65 66 67 68 69
So etwa Heideggers (1959) und Derridas (1972) Sprachphilosophie oder – in einer pluralistischen Variante – Lyotards (1983) Theorie der Diskursarten. Die Unterscheidung von Medium und Form übernimmt Luhmann von Fritz Heider (1926). Medien, so Heider, nehmen Formen auf, wie etwa Luft und Licht als Medien akustische und optische Formen ermöglichen. Wobei er freilich zugesteht, daß Sprache auch als Zeichen verwendet werden kann, dies aber nur eine sekundäre Bestimmung der Sprache ist, die ihren Gebrauch bereits voraussetzt (vgl. Luhmann 1990a: 52). Vgl. dazu ähnlich Schütz’ Ausführungen „Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten“ (Schütz 1971c: 237-298). Vgl. dazu etwa Schiewek 1992.
182 2.
III. Kapitel
Zeit, Struktur und Prozeß
Der bisherige Gang der Untersuchung einer systemtheoretischen Analyse von Bewußtsein und Kommunikation hat sich im wesentlichen an den Ergebnissen der Kritik an intersubjektivitätstheoretischen Ansätzen orientiert. Es konnte dabei gelingen, diejenigen theoretischen Bedingungen zu erfüllen, die für eine tragfähige Theorie sozialer Zeit aufgestellt wurden: distinkte operative Einheiten, die beide die Formulierung eines operativen Zeitbegriffs erlauben; Darstellung relativer Autonomie der distinkten Ebenen, um sowohl die Bewußtseinszeit als auch die soziale Zeit, wie sie in vorläufigen Formulierungen vorliegen (vgl. I.3 und II.4), beerben zu können; schließlich – aus dem Zweiten nahtlos folgend – Darstellbarkeit der Wechselseitigkeit der operativen Ebenen zur Vermeidung eines aufs Bewußtsein bzw. aufs Soziale eingeschränkten Untersuchungsfokus. Diese Zusammenhänge sind zunächst ohne Engführung am Zeitproblem entwickelt worden, wobei das Problem der wechselseitigen Ermöglichungsbedingungen von Bewußtsein und Kommunikation bereits auf ein Zeitproblem aufmerksam gemacht hat. Im folgenden werde ich speziell auf die zeittheoretischen Implikationen von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme zu sprechen kommen.
a)
Ereignis und Zeit
Der Sachverhalt, daß soziale und psychische Systeme nur in kopräsenten Kurzzuständen „interpenetrieren“ bzw. strukturell aneinander gekoppelt sind, setzt voraus, daß die Elemente von autopoietischen Systemen, in denen Bewußtsein und Kommunikation konvergieren, von kurzer Dauer sind. Es scheint sich bei autopoietischen Systemen also um temporalisierte Systeme zu handeln, deren Elemente in einem Nacheinander angeordnet sind und die folgerichtig gezwungen sind, zu enden und neuen Elementen Platz zu machen. Dieser „Zwang zum Verschwinden“ (Luhmann 1980a: 241) läßt die Elemente von Systemen zu Ereignissen werden. „Temporalisierte Systeme können also nur aus temporalisierten Elementen, d.h. aus Ereignissen bestehen. Ereignisse lassen sich nur an bestimmten Zeitstellen identifizieren. Sie sind daher an je ihre Gegenwart (im Sinne von ,specious present‘) gebunden, mit der sie entstehen und vergehen. Sie werden zeitlich begrenzt durch die Aktivierung eines Relationierungsmusters, das vor ihnen und nach ihnen anders ausfällt. Sie sind durch die Aktualität des Wechsels definiert, und sie definieren ihrerseits die Grenzen der Gegenwart durch die Aktualität des Wechsels.“ (ebd.: 241f.) Dem aufmerksamen Leser wird sicher aufgefallen sein, daß der hier explizierte Ereignisbegriff in identischer Weise bereits mit Whitehead eingeführt wurde (vgl. II.3a).70 Er reproduziert die Whiteheadsche Auffassung, daß Ereignisse gegenwartsbasierte Entitäten sind, die je ihre eigene Vergangenheits- und Zukunftsperspektive entwickeln und damit je ereignisrelevante Beziehungen zu anderen Ereignissen konstituieren (vgl. auch Hawking 1988: 42ff.). Ihr „Werdendsein“ (Whitehead 1984: 205) läßt durch ihr Verschwinden ein „kreatives Fortschreiten“ entstehen, das Zeit in Form von Zeitschnitten, also Differenzen, hervorbringt, die Ereignisse als 70
Luhmann rekurriert selbst mehrfach bei der Einführung des Ereignisbegriffs auch auf Whiteheads „Prozeß und Realität“, vgl. etwa Luhmann 1984a: 394, Anm. 40.
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andere Ereignisse anderer Ereignisse emergieren lassen (vgl. ebd.: 82). Es entsteht so durch den Wechsel der Ereignisgegenwarten ein zeitlicher Ablauf, wobei der Zeitschnitt nicht durch die Einheit der zeitlichen Sukzession gesetzt wird, sondern die zeitliche Sukzession sich aus der Differenz je gegenwärtiger Ereignisse ergibt. Als Vorteil dieser ereignisbezogenen Zeittheorie habe ich oben angeführt, daß sich mit Whitehead der operative Charakter der Zeit durchsetzt, d.h. daß Zeit erst ein sekundäres Produkt je gegenwärtiger Ereignisse ist. Analog dazu konzipiert Luhmann autopoietische als temporalisierte Systeme. Zunächst bindet er den Element-/Ereignisbegriff – gemäß dem konstruktivistischen Theorem der operativen Geschlossenheit – an die Operationen des Systems. Element ist hier nicht als unveränderlicher Baustein des Seienden oder als invarianter Bestandteil dynamischer Systeme zu verstehen.71 Im Gegensatz dazu stellt Luhmann von einem den Systemoperationen vorgeordneten Elementbegriff auf einen systemrelativen Elementbegriff um. Mit dieser Umstellung beabsichtigt er, „die Vorstellung eines letztlich substantiellen, ontologischen Charakters der Elemente“ in der Weise zu revidieren, als deren „Einheit erst durch das System konstituiert (wird), das ein Element als Element für Relationierungen in Anspruch nimmt“ (Luhmann 1984a: 42; vgl. dazu auch Nassehi 1992). Indem ein Element als Ereignis wieder verschwindet und ein neues Ereignis die Autopoiesis fortsetzt, entsteht jenes Whiteheadsche kreative Fortschreiten, das durch Rekurs auf mindestens das vorherige Ereignis Zeit konstituiert, die einem Beobachter als Zeitstrom erscheint.72 Dies ist jedoch nur eine Metapher, die den Umstand verdeckt, daß der Strom der Zeit letztlich nur durch das ermöglicht wird, was bei Whitehead Zeitschnitt genannt wird; es geht also um eine Differenz, die die Zeit konstituiert, und nicht um die Einheit des Zeitstroms. Dieser kann nur als Einheit der Differenz von vorher und nachher gedacht werden (vgl. Luhmann 1990d: 98).73 Diese Einheit der Differenz als Akt bzw. als Sich-Ereignen läßt sich auch im systemtheoretischen und konstruktivistischen Paradigma mit Husserls Theorie der Retention und Protention beschreiben. Diesen Sachverhalt bezeichnet Luhmann als „basale Selbstreferenz“, der „die Unterscheidung von Element und Relation zu Grunde liegt“ (vgl. Luhmann 1984a: 600). Diese „Mindestform von Selbstreferenz“ (ebd.) bildet die Grundbedingung autopoietischer Verläufe: Ein Element schließt an ein anderes Element an, identifiziert sich durch diese Relationierung als Element des Systems74 und wird nach seinem Verschwinden selbst Relatum einer Relationierung, die wiederum eine neue Gegenwart konstituiert. Dadurch wird Zeit schon auf der Ebene der Autopoiesis konstituiert, was mir nicht weiter erklärungsbedürftig zu sein scheint, da diese operative Konstitutionstheorie der Zeit bereits von Husserl her vorbe-
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Ersteres entspricht dem klassischen Elementbegriff in Chemie und Physik, zweiteres bildet den Diskussionsstand der Theorie offener Systeme mit organisierter Komplexität ab (vgl. dazu Röseberg 1990: 656). Es fällt auf, daß beide Elementbegriffe gerade nicht auf die temporale Endlichkeit von Elementen abstellen, sondern im Gegenteil auf die zeitfeste Struktur von Elementen als den grundlegenden Bausteinen des Seienden. Auf das Problem der Beobachterrelativität von Zeitströmen komme ich weiter unten zurück; vgl. III.2b. Folgerichtig kritisiert Luhmann an dieser Stelle Husserls Einheitsmetapher des Bewußtseinsstroms (vgl. Husserliana III: 203; Husserliana XIII: 18), obwohl dieser die Differenz von Retention und Protention explizit betont. Nicht zu verwechseln mit Systemreferenz! Vgl. dazu III.2c.
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III. Kapitel
reitet ist.75 Da Zeit schon auf der elementaren Ebene autopoietischer Operationen durch das Auftreten und Verschwinden von Ereignissen konstituiert wird, schlage ich vor, hier von Ereignistemporalitäten zu sprechen. Die Unterscheidung vorher/nachher, die den besagten Zeitschnitt schneidet, kann als grundlegende, „nichteliminierbare Unterscheidung der Zeit“ (Luhmann/Fuchs 1989a: 106f.) gelten, ohne die keine Zeitsemantik auskommen kann. Die Handhabung dieser Unterscheidung ist, genau genommen, mit jedem Ereignis neu gegeben, denn Ereignisse treten niemals im „freien Raum“ auf, sondern werden durch die Systemautopoiesis erst konstituiert. Ein Ereignis ist sozusagen zugleich constituens und constitutum: Es wird durch einen autopoietischen Ereigniszusammenhang ermöglicht, und es ermöglicht die Fortsetzung dieses Geschehens. Während der Ereignisgegenwart ist ein solches temporalisiertes Element sozusagen das System, was letztlich auf eine bekannte Paradoxie hinausläuft. Das Ereignis ist zwar, gegenwartsbasiert, das System an einer Zeitstelle, zugleich ist es mehr als es selbst, denn Ereignisse konstituieren sich nach Whitehead immer in Relationierungen zu anderen Ereignissen, die sie gerade nicht sind. Die Paradoxie besteht in einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Luhmann 1990d: 100), da Vergangenheit und Zukunft immer nur gleichzeitig bestehen, nämlich als Horizonte eines gegenwärtigen Ereignisses. Die Paradoxie der Zeit besteht also in der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher „Zeiten“.76 Doch dieses Problem scheint mir nicht schwerwiegend zu sein, denn die Paradoxie löst sich damit auf, daß es durchaus einen Unterschied macht, zwischen Ereignis und System zu unterscheiden. Denn die Differenz, die ein Ereignis zum System, d.h. zu anderen Ereignissen setzt, eröffnet erst den Horizont, durch den die Gleichzeitigkeit des Ereignisses mit seinem Horizont in einer paradoxen Form erscheint, die unhintergehbar zu sein scheint.77 Viel gravierender stellt sich ein anderes Problem dar, das ich bereits mit Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins diskutiert habe (vgl. I.2e) und das sich im Lichte der Ereignistheorie womöglich anders darstellt. Zur Erinnerung: Mit Frank und Derrida habe ich zu zeigen versucht, daß es Husserl offenbar nicht gelingen kann, die Selbstgegenwart des Bewußtseins paradoxiefrei zu beschreiben, was erhebliche Konsequenzen für die Beschreibung des Zeitbewußtseins hat. Während Derrida gegenüber Husserl einklagt, die Phänomenologie hypostasiere die primordiale Gegenwart zur metaphysischen Präsenz, die doch eigentlich erst als Protention sichtbar sein kann, meint Frank umgekehrt, daß Husserl die konstituierende Gegenwart nicht differenziert genug bezeichnet. Seine Argumentation läuft darauf hinaus, daß Husserls Modell der Intentionalität einen tragfähigen Begriff der Gegenwart ausschließt. Denn wenn das Bewußtsein sich wahrnimmt, beugt sich eine urimpressionale Gegenwart auf sich zurück, so daß eine frühere Gegenwart als Retention „auf dem Bildschirm der Gegenwart“ erscheint. Dies schließt aber aus, daß die urimpressionale Gegenwart sich selbst bewußt sein kann. Frank: „(...) wir haben Bewußtsein auch von unserer Gegenwart und müssen – per absurdum zu sprechen – nicht erst warten, bis das ,Urbe75 76
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Diesen Zusammenhang stellt Luhmann übrigens auch selbst explizit her; vgl. Luhmann 1984a: 356f. Auf diese Differenz hat bekanntlich schon Aristoteles (vgl. Phys.: IV, 21a) hingewiesen. Die von mir oben angedeutete „Modernität“ der aristotelischen Zeittheorie läßt sich nun in der Weise belegen, als dort sowohl die paradoxe Form der Zeit als auch die zeitkonstituierende Differenz der Jetztpunkte und die Reflexion auf die Einheit dieser Differenz im Zentrum steht (vgl. I.2a). Vgl. ebenso Augustinus’ Bemühungen um die Einheit der modalisierten Zeiten, I.2b. Zur Auflösung der Paradoxie vgl. III.2b.
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wußtsein‘ zur Retention gekommen ist.“ (Frank 1990a: 59) Frank zieht aus dem Gesagten bekanntlich die Konsequenz, die Urgegenwart des Bewußtseins stärker zu bestimmen als Husserl: als präreflexives Vertrautsein des individuellen Bewußtseins mit sich selbst zur Vermeidung des reflexionstheoretischen Zirkels. Ich selbst habe diese „Individualisierung“ des Husserlschen Ansatzes mit einem kritischen Hinweis auf Franks Denkfigur des präreflexiven Mit-sich-vertraut-Seins des Bewußtseins in der Weise aufgenommen, als der Verzicht auf die Begründungsfigur der absoluten Subjektivität den Weg für eine Theorie individueller, operativer, empirischer Einheiten freigibt, die nicht in einem höchsten Punkt koinzidieren. Doch genug der Wiederholung. Wenn es stimmt, daß die Zeit auf der Ebene der ereignisbasierten Autopoiesis nach dem gleichen Muster beschrieben wird wie in Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, müßten die kritischen Einwände gegen die unmittelbare Gegenwart des Ereignisses auch hier gelten. Dies wird im folgenden zu prüfen sein. Husserl hält an einem letzten vortheoretischen Bezugspunkt fest, von dem her sich die Phänomenologie, insbesondere die des inneren Zeitbewußtseins, bauen läßt: die absolute Subjektivität bzw. die Präsenz des Präsens. Die systemtheoretische Ereignistheorie operiert dagegen mit dem erklärten Anspruch, auf einen solchen transzendentalen Grund zu verzichten und damit auf empirische Ereignisse umstellen zu können (für viele Belege vgl. Luhmann 1990a: 13). Was aber unterscheidet diese Unterscheidung? Zunächst zur Tradition: Wenn, wie bei Frank, behauptet wird, es gebe Selbst- und Gegenwartsbewußtsein, so kann man dem auf den ersten Blick kaum mit guten Gründen widersprechen. Aber, so ist zu fragen, was bedeutet das? Franks Motiv der Kritik des klassischen Reflexionsmodells liegt bekanntlich darin, im Anschluß an Fichte den Regreß zu vermeiden, der entsteht, wenn sich ein Bewußtsein zum Objekt macht: Es bedarf dazu eines weiteren Subjekts, das auf das reflektierende Subjekt reflektiert, das aber wiederum eines erneuten reflektierenden Subjekts bedarf, um sich bewußt zu werden, et ad infinitum. Man muß folgerichtig, um den Zirkel zu vermeiden, das Selbstbewußtsein anders fassen als durch die Analogie von Selbst- und Fremdreflexion. Ob man dafür nun die Chiffren der Subjektphilosophie (Kant, Husserl), der Phänomenologie des Geistes (Hegel) oder aber ein präreflexives Selbstverhältnis (Fichte, Schleiermacher, Frank) einsetzt, mag zwar nuancierte Unterschiede machen. Theorietechnisch sind dies jedoch letztlich alles Verfahren, die die Selbstgegenwart des Bewußtseins transzendental hypostasieren.78 Hinter solchen Begründungsfiguren steckt m.E. die unbefragte Annahme, daß Selbstbewußtsein vollständiges Mit-sich-vertraut-Sein bedeuten müsse bzw. daß die Reflexion auf das Selbst das Selbst als Ganzheit und Einheit erfassen könne. Abgesehen davon, daß es mir fraglich erscheint, wie eine vollständige Transparenz des Selbst für es selbst vonstatten gehen kann,79 scheint mir 78
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Franks Verdienst besteht allerdings ohne Zweifel darin, die vorgängige Koinzidenz bewußter Perspektiven in der Subjektphilosophie zugunsten der irreduziblen Perspektivendifferenz zwischen Sprechern aufzuheben, allerdings nicht ohne die „regulative Idee“ eines kommunikativen Telos zur prozeduralen Erreichung von Perspektiveneinheit, der man sich asymptotisch nähern kann (vgl. Frank 1990b: 81). Hier treffen sich Franks und Habermas’ Linien der Kritik der Bewußtseinsphilosophie partiell (vgl. Frank 1988b). Zur Erläuterung: Es dürfte unmittelbar einsichtig sein, daß der Zugriff des Selbst auf sich immer selektiv ist, d.h. daß Selbstthematisierungen stets nur einen kleinen Ausschnitt der tatsächlichen Ereignisreihen der Vergangenheit wiedergeben, also radikal selektiv verfahren (vgl. bezüglich biographischer Selbstthematisierung Kohli 1981: 515; Schütz/Luckmann 1979: 380f.; Alheit 1988: 376; Hahn 1988: 94; Nas-
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dieses holistische Modell von Selbstbewußtsein einem logischen Kategorienfehler zu unterliegen. Stellt man von der Auffassung einer Seelensubstanz oder funktionaler Äquivalente auf empirische Ereignisse um, bekommt man Folgendes in den Blick: Selbstreferentielle Operationen nehmen notwendigerweise die Form eines Paradoxons an. „Die Referenz verwendet dann genau die Operation, die das Selbst konstituiert, und wird unter dieser Bedingung entweder überflüssig oder paradox.“ (Luhmann 1984a: 59) Die Paradoxie besteht darin, daß die bezeichnende Operation zum Bezeichneten gehört und damit einen Zirkel verursacht, ähnlich dem Reflexionszirkel der Bewußtseinsphilosophie. Löst man den Zirkel aber dahingehend auf, daß die je gegenwärtige Operation eine – wie auch immer begründete – ursprüngliche Selbstbeziehung besitzt, unterstellt man einem operierenden System eine invariante Substanz jenseits seiner Operationen.80 Hält man dagegen wie Luhmann am Ereignisbegriff fest, muß das Problem der Referenz aufs Selbst wiederum mit Hilfe einer Unterscheidung beobachtet werden. Die hier angesprochene Unterscheidung ist die zwischen Beobachtung und Operation (vgl. Luhmann 1990a: 114ff.; Luhmann 1988b: 14f.). Jede Beobachtung, also das Handhaben einer Unterscheidung, ist selbst eine Operation des Systems. Die explizite Referenz aufs Selbst liegt dann in der Form einer Selbstbeobachtung, d.h. der Anwendung der System/Umwelt-Differenz auf sich selbst, vor, die selbst eine Operation des Systems ist (vgl. Luhmann 1984a: 245).81 Die Paradoxie der Selbstbezüglichkeit tritt in autopoietischen Systemen dann auf, wenn das System die Unterscheidung von System und Umwelt auf sich anwendet und sich damit – traditionell formuliert – Selbstbewußtsein bescheinigt.82 Damit ist aber ausgeschlossen, daß die selbstbeobachtende Operation selbst in der Beobachtung enthalten ist, denn eine Beobachtung kann nicht in der Lage sein, sich selbst zu beobachten. Luhmann betont, „daß die Operation des Beobachtens sich in ihrem Vollzug nicht selbst (...) bezeichnen kann, sondern daß dies voraussetzt, daß nun diese Beobachtung ihrerseits beobachtet wird“ (Luhmann 1990a: 85). Ein System ist sich sozusagen immer schon vorweg, da es sich nie in seiner Gänze beobachten kann.83
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sehi/Weber 1990a: 162f.). Solche Wiedergaben dürfen keineswegs als vollständige Ausschnitte vergangener Abläufe angesehen werden, sondern nur als gegenwartsbasierte „Selbstsimplifizierungen“ (vgl. Luhmann 1984a: 374; auch Baecker 1991: 356f.). Auf diesen Sachverhalt werde ich weiter unten bezüglich der Frage biographischer Selbstidentifikation zurückkommen (vgl. IV.5c). So etwa Whiteheads Gottesbegriff; vgl. II.3a. Wenn ein System sich beobachtet, grenzt es sich durch die Unterscheidung Ich/alles andere (=System/ Umwelt) gegen seine Umwelt ab und bezeichnet damit sich selbst. Entwicklungspsychologisch läßt sich etwa sehen, daß die Fähigkeit, auf sich zu referieren, weitgehend mit dem Bewußtsein der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich, also mit der Auflösung symbiotischen Erlebens der Welt, einhergeht. So heißt es bei René Spitz bezüglich der objektlosen Stufe des Neugeborenen: „Das neugeborene Kind ist nicht nur unfähig, ein Ding vom anderen zu unterscheiden, es kann es nicht einmal vom eigenen Körper abgrenzen und empfindet zu diesem Zeitpunkt die Umgebung als noch nicht von sich getrennt. Die ernährende Brust wird daher von ihm als ein Teil seiner selbst wahrgenommen.“ (Spitz 1973: 21; vgl. auch Uexküll/Wesiack 1988: 392ff.) In diesem Stadium der Entwicklung liegt tatsächlich Identität vor; alle späteren Selbstidentifikationsformen, die man auch Identität nennt, stützen sich, genau genommen, auf Differenz, nämlich die Differenz von Ich und Nicht-Ich (vgl. dazu IV.5c). Eine präzise, systemtheoretisch vorgehende Beschreibung der Paradoxie der Selbstbezüglichkeit findet sich bei Elena Esposito 1991: 35ff.; aus der Perspektive der second-order-cybernetics vgl. Glanville 1988: 210f. Es handelt sich hier um ein Sich-vorweg-Sein in der Gegenwart der Operation und analog zu Heideggers Sich-vorweg-Sein in der Antizipation einer Zukunft, nämlich des Todes als Äquivalent für erreichte
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Es könnte nun eingewandt werden, daß hier nichts anderes beschrieben wird als die allseits bekannte Paradoxie der Reflexion aufs Selbst. Dem wäre nicht zu widersprechen. Allerdings unterscheidet sich die Auflösung des Zirkels hier erheblich von der philosophischen Tradition – und hier kommt Zeit ins Spiel. Würde man Beobachtungen als substantielle Entitäten behandeln, wäre in der Tat in Fichtescher Manier nach den Beobachtungen hinter den Beobachtungen zu fragen, hinter denen – wenn man die Beobachtung nicht stoppt – unendlich viele weitere Beobachtungen folgen würden. Jedoch werden Elemente in der Theorie autopoietischer psychischer und sozialer Systeme als Ereignisse geführt, also als temporalisierte Elemente, die nur in Kurzzuständen das System je gegenwärtig sind. Damit eine Beobachtung eines Systems von einer zweiten Beobachtung des gleichen (!) Systems beobachtet werden kann, bedarf es demnach keiner Systemsubstanz und keiner invarianten Elementstruktur des Systems, sondern nur der Unterscheidung von Vorher und Nachher, d.h. der Zeit. Wenn ein System sich beobachtet, tritt die Paradoxie auf, daß die Beobachtung zum Beobachteten gehört. Im Moment der Beobachtung selbst kann das Ereignis dies aber nicht sehen. Die Beobachtung ist selbst nicht in der Lage, den eigenen Vollzug zu beobachten. „Sie tut, was sie tut“ (ebd.: 85), und kann demnach nicht einmal sehen, daß sie nicht sehen kann, was sie nicht sehen kann. Sobald das System sieht, daß die Beobachtung, die das System beobachtet, zum System gehört, ist diese Beobachtung bereits eine retentionale Modifikation durch eine neue Beobachtung, die sich selbst nicht sehen kann. Diese retinierende Modifikation geht so lange weiter, wie ein autopoietisches System operiert. Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß die Auflösung des Zirkels der Reflexion in der Theorie autopoietischer Systeme von Substanz auf Zeit umstellt. Während traditionelle Lösungen des Problems eine invariante Substanz als Entparadoxierung annehmen, die den Akt der Selbstbeobachtung immer schon enthält, entparadoxieren sich ereignisbasierte, autopoietische Systeme durch Zeit.84 Sobald ein neues Ereignis auftritt, gehört die Beobachtung, die durch gleichzeitige Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum System eine Paradoxie verursacht hat, nun eindeutig zum System, wie eine neue Beobachtung sehen kann, die aber selbst auch eine neue Paradoxie produziert. In diesem Sinne bemerkt Luhmann: „Eine erste Unterscheidung kann nur operativ eingeführt, nicht ihrerseits beobachtet (unterschieden) werden. Alles Unterscheiden von Unterscheidungen setzt diese ja voraus, kann nur nachher erfolgen, erfordert also Zeit bzw., in anderen Worten, ein in Operation befindliches autopoietisches System. Und alle Rationalisierung ist deshalb Postrationalisierung.“ (Luhmann 1990a: 80)85 Man könnte also sagen, daß die Aufhebung der Paradoxie der Selbstbezüglichkeit durch die Zeit nur zeitweise erfolgen kann, nämlich von Ereignis zu Ereignis. Die Theorie der Autopoiesis scheint also tatsächlich in der Lage zu sein, die operativen Aspekte der phänomenologischen Zeittheorie Husserls sowie der prozeßphilosophischen Zeittheorie Whiteheads beerben zu können, ohne die konkrete operative Gegenwart bzw. die Einschränkung von Anschlußmöglichkeiten durch eine dem System transzendente
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Gänze (vgl. Heidegger 1979: 235ff.), dessen operative Unerreichbarkeit – wenn ich bin, ist der Tod nicht, wenn der Tod ist, bin ich nicht – die „Unmöglichkeit des Ganzseinkönnens“ symbolisiert. Es handelt sich hier um ein vollständiges Umkehrungsverhältnis: Während Kant in der Beharrlichkeit der Substanz eine Bedingung für zeitliche Extension von Gegenständen sieht (vgl. KrV: B 226), ist hier zeitliche Differenz Bedingung für die Fortsetzung der Autopoiesis. Luhmann bezieht sich hier auf Glanville 1988: 175-194, v.a. 181.
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Struktur annehmen und voraussetzen zu müssen. Zwar eröffnen sich auch hier reflexionstheoretische Zirkel, doch wird dies nicht zum Anlaß genommen, diese transzendentaltheoretisch zu überdecken, sondern sie gleichsam empirisch als unhintergehbar auszuweisen. So scheint jede selbstreferentielle Operation vor dem Problem zu stehen, daß sie für sich selbst nicht voll durchschaubar ist, weil der Akt des Selbstbeobachtens zum Beobachteten gehört. Diese seit Fichte bekannte Paradoxie wird dadurch entschärft, daß das System nicht als statisches Gebilde anzusehen ist, sondern daß es per permanentem Zerfall von Ereignissen die Paradoxie immer weiter nach hinten verschiebt. Die Grundparadoxie wird jedoch nicht aufgelöst, so daß notwendigerweise das entsteht, was Hofstadter „seltsame Schleifen“ oder – im amerikanischen Original – strange loops nennt (vgl. Hofstadter 1985: 17ff.). Diese strange loops sind es, die Bewußtseinsphilosophen wie Manfred Frank bekämpfen und fürchten: Die von ihm monierte Inkonsistenz des selbstreferentiellen Reflexionsmodells ist nichts anderes als der Aufweis eines strange loop, der dahingehend aufgelöst wird, daß jedes Individuum präreflexiv mit sich vertraut ist und somit die Paradoxie der Selbstbezüglichkeit vermeidet. Eine solche theoretische Invisibilisierungstechnik läßt Frank erst dazu kommen, die Selbstgegenwart des Bewußtseins als widerspruchsfreie Basis der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zu denken (vgl. I.2e).86 Dies geschieht allerdings um den Preis, das aus der Reflexionsphilosophie bekannte Paradoxon selbstbezüglicher Einheiten schlicht wegzudefinieren. Womöglich ist gar nicht das Reflexionsmodell das Problematische an der klassischen Bewußtseinsphilosophie, sondern lediglich die transzendentale Vermeidung eines regressus ad infinitum und die Beschränkung auf die Systemreferenz Bewußtsein. Es muß also letztlich eher der Kritik Derridas als der Franks an Husserl gefolgt werden, denn dessen Differänz bezeichnet ja gerade – um eine treffende Formulierung von Baecker aufzugreifen – „exakt diese Unterscheidung, die sich selbst nie zu fassen bekommt, weil sie sich auf dem Umweg über das, was sie selbst bezeichnet, in der Tautologie, und auf dem Umweg über das, was sie ausgrenzt, in der Paradoxie verliert“ (Baecker 1990b: 17). Eine selbstbezügliche Einheit kann also, sensu stricto, gar nicht mit sich vertraut sein, weil sie sich sonst in einer seltsamen Schleife verlieren würde. Entscheidend ist, daß die – in doppeltem Sinne verstanden – „zeitweise“ Entparadoxierung des Zirkels der Selbstbezüglichkeit deutlich macht, daß Zeit bereits auf der elementaren Ebene der Autopoiesis von Systemen auftritt, nämlich dann, wenn ein Ereignis zerfällt und durch ein neues ersetzt wird, besser: wenn ein neues Ereignis anschließt. Dies ist die Minimalbedingung für soziale wie psychische Autopoiese: Es schließen Kommunikationen als basale Elemente sozialer Systeme an Kommunikationen und Gedanken als basale Elemente psychischer Systeme an Gedanken an.87
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Vgl. auch die Kritik an Frank mit einer ähnlichen Denkfigur, jedoch nicht bezogen auf das Zeitproblem, sondern auf das Problem einer systemtheoretischen Reformulierung der Hermeneutik in Kneer/Nassehi 1991. Zur Beschreibung psychischer Autopoiesis und zur Erläuterung von Gedanken als Letztelementen psychischer Systeme vgl. Luhmann 1985a: 402ff.
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b)
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Beobachtung und Zeit
Das bisher herausgearbeitete Zeitverständnis einer Theorie autopoietischer Systeme kann zeigen, in welcher Weise an traditionelle Theorien – insbesondere Husserl und Whitehead – angeschlossen werden kann und inwiefern diese Theoriedesigns zu verändern sind, um eine empirische Theorie psychischer und sozialer Zeit zu entwickeln. Der Befund ist eindeutig: Zeit ist gleichsam eine elementare Bedingung für Systeme, die allerdings nicht als äußere Bedingung der Möglichkeit quasi wie ein materialer Unterbau funktioniert, sondern die durch die Operationen des Systems, durch den Dauerzerfall von Ereignissen, erzeugt wird. Zeit ist also keine ökologische Bedingung der Autopoiesis wie etwa Luft und Nahrung für einen Organismus oder Bewußtsein für Kommunikation. Zeit ist vielmehr an die Operationen des Systems gebunden, was es erlaubt, von einer operativen Theorie der Zeit zu sprechen, wie sie bei Husserl bereits angedeutet (vgl. I.2e) und wie sie mit Mead bereits in einem anspruchsvollen, aber noch vorläufigen Begriff sozialer Zeit vorgedacht ist (vgl. II.3b). Allerdings reicht das bisher Gesagte bei weitem noch nicht aus, um das Potential einer Zeittheorie selbstreferentieller Einheiten ausschöpfen zu können. Es ist deshalb eine Beobachtung der Zeit anzuschließen, die den Beobachter einschließt. Der vorige Abschnitt handelte von einer Paradoxie: der Paradoxie der Selbstbeobachtung, die in autopoietischen Systemen durch Zeit entschärft wird. Die Erläuterung des Sachverhalts dürfte deutlich gemacht haben, daß Zeit sozusagen schon aus logischen Gründen konstituiert werden muß, sobald eine Unterscheidung getroffen wird. Die eine Seite wird aktuell, die andere verschwindet dadurch aber nicht. „Müßte alles auf einmal erlebt und verarbeitet werden, würden alle logischen Strukturen kollabieren. Alles, was auseinandergezogen nebeneinander Platz findet, müßte als Widerspruch erscheinen und dadurch jede Beobachtung und Beschreibung unmöglich machen.“ (Luhmann 1990d: 108) So wird Zeit gewissermaßen blind vorausgesetzt, sobald ein System operiert. Man mache sich das an einer Interaktion deutlich, die notwendigerweise mit Sequenzierungen, mit einem Nacheinander der Sprechakte arbeitet. Dabei konstituiert sich ein Nacheinander von Ereignissen, das durchaus komplex sein kann: Es wird aufgegriffen, was gerade eben gesagt wurde, oder es wird noch einmal an den Anfang der Interaktion angeschlossen. Dies geschieht, ohne daß es temporal thematisiert werden muß. Zugleich sequenziert sich die psychische Realität parallel zur Interaktion in eigene Ereignisreihen, die zwar temporal, aber nicht sachlich mit dem sozialen Geschehen parallelisiert sind. Sowohl die Kommunikation als auch die beteiligten Bewußtseine operieren nahezu blind in der Zeit, und zwar in der Zeit, die durch Gedanken- und Kommunikationsanschlüsse entsteht. Aber – so ist zu fragen – wenn dies nahezu blind in der Zeit geschieht, kann man dann überhaupt von Zeit reden? Ist sie dann nicht nur ein Beobachtungsschema eines Beobachters, der in das blinde Spiel autopoietischer Anschlüsse Zeit hineinvermutet? Die Antwort auf diese Frage lautet: Man kann schon bei der blinden Autopoiesis von Zeit sprechen, und sie ist nur (!) ein Beobachtungsschema. Erläutert an dem Interaktionsbeispiel: Es könnte gesagt werden, daß der Vorschlag, der schon am Anfang des Gesprächs gemacht wurde, vielleicht doch der beste sei; und es könnte gedacht werden, ob das allerbeste Argument (natürlich das eigene!) schon jetzt in die Waagschale geworfen werden solle oder erst, wenn die anderen in ihren Gedanken schon ihren Feierabend planen. Es fällt auf, daß auch hier zunächst auf der Ebene der bloßen Autopoiesis nichts anderes als im ersten Fall ge-
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schieht: es geschieht, was geschieht, und es geschieht sequenziert.88 Zugleich wird aber Zeit hier selbst zum Beobachtungsschema, sie wird thematisiert und damit zum Gegenstand von Unterscheidungen (vgl. Luhmann 1990a: 130). Man kann die – wenn ich so sagen darf – Zeitlichkeit des autopoietischen Systems nutzen, um Zeit als eigenes Beobachtungsschema von Welt behandeln zu können. „Operativ wird Zeit immer schon dadurch aktualisiert, daß die Autopoiesis des Systems von Moment zu Moment fortschreitet (wenn sie überhaupt reproduziert wird). Als Beschreibungsschema wird Zeit nicht in gleicher Weise immer benutzt, sondern nur hin und wieder, nur in einigen Hinsichten, nur wenn es genau darauf ankommt.“ (Luhmann 1990d: 108) Auch hier kommt die Unterscheidung von Operation und Beobachtung zum Tragen, nämlich die Unterscheidung operativer Zeit und Beobachtungszeit. Diese Unterscheidung ist selbst wieder eine Unterscheidung eines – hier wissenschaftlichen – Beobachters und kommt in den Operationen der Systeme selbst also kaum vor. Das heißt nicht, daß es sie dort nicht gibt, sie bleibt aber zumeist unbeobachtet. Luhmann schlägt vor, „Zeit (nach meinem terminologischen Vorschlag: Beobachtungszeit, A.N.) als Interpretation der Realität im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft“ (Luhmann 1990f: 124) zu definieren. Dadurch entsteht die Paradoxie der Zeit, Gleichzeitiges und Ungleichzeitiges gleichzeitig erleben zu müssen; zugleich wird sie aber – so Luhmann – abgemildert, weil das Ungleichzeitige in die Vergangenheit bzw. Zukunft projiziert wird. Genau besehen, sind diese „Zeiten“ jedoch keineswegs unterschiedliche temporale Seinsweisen, sondern nur Zeitmodalisierungen: gegenwärtige Vergangenheit und gegenwärtige Zukunft (vgl. Nassehi/Weber 1990a: 155). Indem diese beiden Seiten der Unterscheidung – je nach Asymmetrisierung – dazu benutzt werden, Kommuniziertes bzw. Gedachtes in die Vergangenheit bzw. in die Zukunft auszulagern, wird der Paradoxie jedoch ihre Spitze genommen: „Es ist Vergangenheit bzw. Zukunft der Gegenwart. Und es ist genau diese Paradoxie des aktuellen Inaktuellen, die durch die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft ,entfaltet‘ und damit invisibilisiert wird.“ (Luhmann 1990a: 106) Systeme, so Luhmann, können sich dann durch die Doppelunterscheidung von Aktualität/Inaktualität und Zukunft/Vergangenheit einen komplexen Möglichkeitshorizont eröffnen, der Aktualität entlastet und Zukunft und Vergangenheit als Horizonte nutzt. „Auf diese Weise gewinnt die Zeit die Form eines Mediums, nämlich die Form eines Bereichs kombinatorischer Möglichkeiten, in den hinein Kausalitäten konzipiert werden und Eigenform gewinnen können.“ (Luhmann 1990d: 116) Temporale Beobachtungen behandeln gegenwärtige Vergangenheiten als vergangene Gegenwarten und entziehen sich damit der Paradoxie, die entsteht, wenn man die Beobachtung der Zeit beobachtet. Analog dazu werden gegenwärtige Zukünfte als zukünftige Gegenwarten behandelt, um sich von Paradoxien zu entlasten. Allerdings wiegt der zweite Fall nicht so schwer, weil die Enttäuschung von Zukunftserwartungen nicht unbedingt der eigenen Beobachtung zugerechnet werden muß. Es ist eben anders gekommen, als man wissen konnte, und daß es immer unwahrscheinlicher wird, die Zukunft zu erraten, liegt dann nicht an der prinzipiellen Unerreichbarkeit des Zukünftigen (vgl. Luhmann 1990f), sondern 88
So wird in der Erzählforschung beobachtet, daß Erzählungen eine komplexe Sequentialisierung aufweisen, die den Anschlußzusammenhang des Erzählten konstituiert (vgl. etwa Rehbein 1980: 64ff.). Zeit wird so nicht nur als Form des Erlebens, sondern auch als Form der Wiedergabe behandelt (vgl. Gumbrecht 1980: 409), wobei eine Theorie der Zeitmodalisierung in der hermeneutischen Auswertung erzählter Texte die Differenz zwischen Erleben und Wiedergabe in die Beobachtung miteinzubauen hat (vgl. Fuchs 1984: 212; Stempel 1973: 325ff.).
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an der Komplexität der Welt, die keinem Plan mehr folgt und sich ständig beschleunigt (vgl. dazu im einzelnen IV.5).89 Die Invisibilisierung der Gegenwarts- und Systemrelativität von Vergangenheit und Zukunft macht Zeit zu einer Sinnbestimmung der Welt (vgl. Luhmann 1980a: 242), zu einer abstrakten Größe, die sich semantisch von einzelnen Ereignissen ablösen kann und so zu einer abstrakten Weltdimension werden kann (vgl. ebd.: 247f.). Beispiele wären etwa Kalender und institutionalisierte Lebenslaufsequenzen, eschatologische Heils- oder Unheilserwartungen und rhythmisierte Legislaturperioden, Semester und Jahrmillionen.90 Gemeinsam ist solchen Temporalbestimmungen, daß sie Beobachtungen sind, die die Unterscheidung vorher/nachher und Vergangenheit/Zukunft verwenden,91 um sich eine Welt sinnhaft zu erschließen.92 In dieser beobachtungsrelativen Bestimmung von Zeit kommt die Gegenwart als Zeitbestimmung nicht vor. Das mag insofern erstaunen, als diese Zeittheorie nahtlos an die Husserlsche Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins anschließt, die Kritik an diesem Modell sich aber gerade an der Hypostasierung der Gegenwart als grundlegender Zeitbestimmung entzündet, wie ich gezeigt habe. Insbesondere Frank beharrt darauf, an Husserl eine Unterbestimmtheit der Selbstgegenwart des Bewußtseins zu erkennen, die sich in Aporien verliere. Dabei setzt Frank schlicht voraus, daß der je gegenwärtige intentionale Akt, der reflektierend Retentionen kontinuiert, notwendig eine zeitliche Extension aufweisen müsse, da er ja endlich sein müsse, um neuen Intentionen Platz zu machen (vgl. Frank 89
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So bemerkt Hans Magnus Enzensberger in einem Essay treffend: „Der Pluralismus verschont nichts. Auch die Zukunft ist nicht gegen ihn gefeit. In allen natürlichen Sprachen ist sie, als ob sich das von selbst verstünde, ein Singularetantum, so wie die Vergangenheit und die Gegenwart, von denen die meisten unter uns nach wie vor glauben, daß sie nur einmal vorkämen. Wenn wir dagegen an das denken, was uns bevorsteht, schwindelt uns der Kopf. Die Fähigkeit, das, was noch nicht da ist, unter die Einzahl zu subsumieren, ist uns abhandengekommen. In diesem Sinn habe wir nicht zu wenig Zukunft vor uns oder gar überhaupt keine, wie die verstaubte Parole No future uns weismachen will, sondern zu viel, will sagen: zu viele. Die Zukunft ist als homogene Vorstellung undenkbar geworden.“ (Enzensberger 1990: 106) Solche Abstraktionen und Generalisierungen können so weit gehen, daß – mit der Epochenschwelle zur Moderne zwischen 1750 und 1850 (vgl. Koselleck 1987) – „die Zeit selbst als die eigentliche bewegende ,Kraft‘ der Geschichte inthronisiert“ (Lichtblau 1991: 22) wurde. Ich komme darauf zurück (vgl. IV.4b und c). Zur kulturellen Variationsbreite solcher abstrakter Temporaldimensionen vgl. die kulturgeschichtlichen Untersuchungen von Wendorff (1985) und Dux (1989). Dem Leser wird nicht entgangen sein, daß diese beiden Formulierungen zeitbezeichnender Unterscheidungen jene Zeitreihen abbilden, die ich oben bereits mit McTaggart und Bieri diskutiert habe: B-Reihe (vorher/nachher) und A-Reihe (Vergangenheit/Zukunft) (vgl. II.1). Daß man diese nicht einfach aufeinander abbilden kann, sollte deutlich sein. Gleichwohl scheint es mir hier legitim zu sein, die beiden Unterscheidungen in der Weise gleichsinnig zu behandeln, als beide in der Lage sind, temporale Beobachtungen zu generieren. Es ist dann lediglich eine Frage, was der Beobachter beobachtet: Vorher/nachher-Phänomene („Man muß zuerst nachdenken und dann schreiben.“) oder Vergangenheit/ZukunftPhänomene („Ich habe gestern nachgedacht, schreibe es heute auf, und morgen kann man es lesen.“). Auf theorietechnische Probleme dieser Unterscheidung im systemtheoretischen Kontext komme ich allerdings noch zu sprechen (vgl. III.3c). Was hochgeneralisiert als die Zeit bezeichnet wird, als Weltdimension fungiert und so sinnhafte Bestimmungen ermöglicht, ist Ergebnis langwieriger evolutionärer Prozesse. So dürfte Zeit als Operationsund Beobachtungskorrelat konstitutiv für soziale Systeme sein; das heißt jedoch nicht, daß in allen Kulturen die Zeit als hochgeneralisierte Weltdimension semantisch bekannt ist. Darauf weist die Tatsache hin, daß es Zeit zwar nicht überall als Wort, jedoch überall als Ordnungs- und Koordinationsprinzip gibt (vgl. Schmied 1985: 11; vgl. dazu ausführlich IV).
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1990a: 55f.; vgl. auch I.2e). M.E. ergibt sich dabei ein mißverständliches Bild, weil auch hier wieder der Beobachter nicht mitbeobachtet wird. Frank setzt in Bewußtseinsakten zeitliche Extensionen schlicht voraus. Das heißt, er bobachtet einen Zeitfluß mit der Unterscheidung vorher/nachher (vorheriger Bewusstseinsakt/nachheriger Bewußtseinsakt) und kommt zu dem Ergebnis, daß diese Akte Zeit brauchen. Bedenkt man aber mit, daß diese Akte selbst Beobachtungen sind bzw. sein können, wird man dagegen feststellen, daß sie sich selbst eben nicht als zeitlich extendiert erscheinen, sondern daß sie als Ereignisgegenwarten operieren und dadurch Zeit erst konstituieren. Was von Whiteheads Prozeßphilosophie zu lernen ist, ist der Sachverhalt, daß Ereignisse keine äußeren Bestimmungen tragen, sondern selbst die Bestimmungsgründe sind. Das gilt auch für die Zeitlichkeit solcher Ereignisse, die das Werden der Kontinuität, nicht aber die Kontinuität des Werdens befördern (vgl. Whitehead 1987: 87). M.a.W.: Ereignisse brauchen keine Zeit, sondern bringen sie hervor. Da aber ein Ereignis nie isoliert auftritt, wird die Hervorbringung der Zeit nicht durch die zeitliche Extension von Ereignisgegenwarten geleistet, sondern durch die Relationierung jener Ereignisgegenwarten, die selbst wieder ereignishaft, d.h. qua Beobachtung, geschieht. Ein Ereignis ist sich schlicht gegeben, indem es auftritt, und deshalb kann es auch nichts von sich wissen, auch nichts von seiner Zeitlichkeit im Sinne der elementaren Zeit der Autopoiesis. Husserl hat dies selbst scharf gesehen: „Wenn nun auch nicht in infinitum Reflexion geübt wird und überhaupt keine Reflexion nötig ist, so muß doch dasjenige gegeben sein, was diese Reflexion möglich macht und, wie es scheint, prinzipiell wenigstens in infinitum möglich macht. Und da liegt das Problem.“ (Husserliana X: 115) In der Tat, da liegt das Problem. Daß Husserls Repertoire nur den Gedanken einer „absoluten Subjektivität“ zur Problemlösung vorsieht, schmälert nicht das Verdienst, auf das Problem der Selbstgegebenheit des Reflektierenden gestoßen zu sein. Man kann heute aber genauer formulieren: Die operative Gegenwart eines Systems tritt stets in Form zeitloser, d.h. verschwindender Ereignisse auf, die sich selbst letztlich nicht sehen können. Dadurch ist sich die ereignende Gegenwart schlicht gegeben und ist, um gleichsam registriert zu werden, auf neue Ereignisse angewiesen, die jene Relationierungen vornehmen, die als Zeit, Kausalität, Folge, Entwicklung, Strom, Unordnung oder Bruch beobachtet werden. Ausgeschlossen ist jedoch stets, daß das Ereignis sich mit einschließt, wenn es um die Selbstbeobachtung des Systems im ganzen geht. Selbstgegebenheit von Systemen bedeutet aus der Perspektive des Systems also: Operieren post eventum per eventum, also ein Operieren in der Zeit, die sie selbst konstituiert.93 93
In Werner Bergmanns Untersuchung über „Die Zeitstrukturen sozialer Systeme“ (Bergmann 1981a) kommt das Problem der paradoxen Form der Zeitkonstitution noch nicht vor. Dies ist selbstverständlich nicht Bergmann zuzurechnen, sondern dem Stand der systemtheoretischen Begrifflichkeit der 70er Jahre. Solange kein Konzept autopoietischer Systeme zur Verfügung steht, kann der paradoxe Doppelcharakter der Zeit nicht gesehen werden. So ist es nur konsequent, daß Bergmann im Anschluß an Bieri eine reale Zeit, die nach B-Reihen geordnet ist, von der „Zeit als Interpretationskategorie der sozialen Wirklichkeit“ (ebd.: 103: Hervorh. A.N.) unterscheidet und nicht wie hier eine operative von der Beobachtungszeit. Indem Bergmann sich Bieris Husserl-Kritik – inneres Zeitbewußtsein ist nur ein subjektiver Darstellungsmodus einer objektiven Realzeit (vgl. II.1) – zu eigen macht, begibt er sich der Möglichkeit, sowohl die operative Zeit als auch ihre temporale Beobachtung systemrelativ zu denken. Die Husserlsche Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins scheint also erst auf dem Niveau der Theorie autopoietischer Systeme systemtheoretisch voll ausgeschöpft werden zu können. Ich komme darauf im Zusammenhang der Diskussion des Problems der Realität der Systemzeit zurück; vgl. III.3c.
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Es ist nach dem Gesagten nur konsequent, wenn Luhmann zu bedenken gibt, „ob die Behandlung der Gegenwart als einer der Zeitmodi adäquat ist“ (Luhmann 1990f: 128). Denn die Unterscheidungen der Zeit setzen die gegenwärtige Selbstgegebenheit eines Systems voraus. Man könnte sagen: Zeit ist immer Zeit einer Gegenwart. Stimmte dies, müßte die Paradoxie, die ich oben (vgl. I.2e) in Husserls Begründung retentionaler und protentionaler Temporalität durch die Temporalität der Urgegenwart des Bewußtseins zu sehen meinte, verschwinden. Dem ist jedoch nicht so. Sie kommt lediglich in anderer Form, womöglich nur in anderen Termini wieder zum Vorschein. Die Paradoxie wird dann sichtbar, wenn man beobachtet, daß jede Handhabung einer temporalen Unterscheidung, d.h. jede zeitliche Beobachtung auf jene Zeit angewiesen ist, die durch die Operationen des Systems konstituiert wird. „Damit wird verständlich, daß die Zeit nur in der Zeit vorkommen, nur in der Zeit Beobachtungen orientieren kann.“ (Luhmann 1990d: 109; Hervorh. A.N.) Die Beobachtungszeit ist auf die Zeit der Autopoiesis angewiesen, sie setzt sich also gewissermaßen selbst voraus. Diese Paradoxie wird dadurch unsichtbar gemacht, daß das Beobachtungsschema den Beobachter invisibilisiert (vgl. ebd.). So erscheint uns die Zeit als etwas von der Beobachtung Unabhängiges, dem man ohne große Mühe den Status eines objektiven Sachverhalts verleihen kann. Gestützt wird diese Invisibilisierung dadurch, daß es dem Kommunikationssystem Gesellschaft gelingt, die Beobachtungsschemata der Zeit so weit zu generalisieren, daß individuelle Beobachtungszeitperspektiven weitgehend synchronisiert werden (vgl. Luhmann 1975b; vgl. auch IV.4c und 5b). Wenn die Beobachtung nicht sieht, daß sie nur beobachtet und nicht eine objektive Realität abbildet, kann sie die Paradoxie der Zeit gar nicht sehen. Denn: „Jede Beobachtung braucht ihre Unterscheidung und also ihr Paradox der Identität des Differenten als ihren blinden Fleck, mit dessen Hilfe sie beobachten kann. Ein anderer Beobachter kann auch dies noch beobachten – aber nur bei anderen, nicht bei sich selbst.“ (Luhmann 1991a: 63) Sichtbar wird die Paradoxie also erst dann, wenn man nicht nur die Welt beobachtet und darin Zeit (hinein-)entdeckt, sondern wenn man zusätzlich beobachtet, daß die Welt beobachtet wird, d.h. wenn man Beobachtungen beobachtet. Dieses Beobachten zweiter Ordnung „setzt voraus, daß man den beobachteten Beobachter unterscheidet, also eine andere Unterscheidung verwendet als er selbst“ (Luhmann 1990a: 86), so etwa die Unterscheidung von Operation und Beobachtung, die die Paradoxie der Zeit sichtbar macht. Gewiß ist auch diese Beobachtung eine solche, die mit einer unhintergehbaren Unterscheidung beginnt, die sie nicht unterscheiden kann. Auch sie invisibilisiert die Genese des Gegenstandes, die in der ersten Unterscheidung zu suchen ist, und sieht nur das Was der Beobachtung. „Gewonnen wird jedoch zusätzlich der Wie-Aspekt. Wenn der Beobachter zweiter Ordnung wissen will, wie der Beobachter erster Ordnung (und das kann er selber sein) beobachtet, muß er beobachten, wie der beobachtete Beobachter mit seiner Paradoxie umgeht; wie er diese Paradoxie auflöst; wie er die Paradoxie des Beobachtens entparadoxiert.“ (ebd.: 98; Hervorh. A.N.)94
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Nur am Rande: Das hat folglich erhebliche Konsequenzen für „ideologiekritische“ Positionen, die die Selbstbezüglichkeit ihrer Position invisibilisieren müssen, um die Differenz zwischen der eigenen und der „ideologischen“ Position entsprechend, d.h. zu eigenen Gunsten, zu asymmetrisieren. Ob damit aber jede Möglichkeit von Kritik verabschiedet werden muß, wie Luhmann bisweilen suggeriert (vgl. Luhmann 1991b), muß wohl bezweifelt werden, da Kritik nicht notwendigerweise „archimedische“ Kritik sein muß. Dieses Problem von Beobachtungen zweiter Ordnung kann ich hier nicht weiter verfolgen.
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Der Ertrag eines solchen Verfahrens besteht primär darin, daß es nicht mehr nötig ist, die offenbar unhintergehbare Paradoxie der Zeit, die nur in der Zeit vorkommen kann, theoretisch unsichtbar zu machen, wie dies etwa Frank mit seinem Konzept des unmittelbaren „Mit-sich-vertraut-Seins“ des Bewußtseins tut. Der Fokus kann jetzt auf die Frage ausgerichtet werden, wie Systeme als Beobachter ihre eigene Paradoxie entparadoxieren. Was vorher als wissenschaftliches, resp. philosophisches Thema von Theorien einer im Namen der klassischen aristotelischen Logik widerspruchsfreien Beschreibung der Welt war, ist nun Thema der wissenschaftlichen Beobachtung operierender Systeme. Wenn also konstatiert wird, daß Zeit stets Paradoxien verursacht, darf daraus nicht die Konsequenz gezogen werden, daß diese Beobachtung der Zeit falsch sein müsse. Vielmehr muß die Einsicht in die Unmöglichkeit vollständig paradoxiefreier Selbstreferenz die Frage provozieren, wie Systeme – sowohl psychische als auch soziale – mit dieser Paradoxie umgehen. Die Antwort scheint zu lauten, daß die Entparadoxierung dadurch gelingt, daß der Beobachter sich selbst aus der Beobachtung ausschließt und so die Zeit als etwas Objektives behandeln kann. Dafür spricht nicht zuletzt, daß das Problem der Zeit spätestens dann wissenschaftlich prekär zu werden begann, als die Annahme der Beobachterrelativität der Welt in den Natur- wie in den Kulturwissenschaften sich allmählich durchsetzte (vgl. dazu meinen Exkurs in II.3a).
c)
Selbstreferenz und Zeit
Die bisherigen Befunde zeigen, daß bei der Beschreibung der Zeitlichkeit autopoietischer Systeme zwischen einer blinden Konstitution von Zeit durch Temporalisierung der Elemente und der Nutzung von Zeit durch Beobachtung zu unterscheiden ist. Im zweiten Falle muß eine temporal relevante Unterscheidung (vorher/nachher, Vergangenheit/Zukunft) angewendet werden, um in dem zuvor explizierten Sinne von Beobachtungszeit sprechen zu können. Das setzt allerdings noch keine filigrane Zeitsemantik voraus, sondern läßt sich bereits in dem elementaren Umstand beobachten, daß komplexe Systeme sich temporalisieren, um ihre Komplexität zu steigern bzw. abzuschwächen. Als komplex kann man Systeme bezeichnen, „wenn sie so groß sind, daß sie nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpfen können. Nach mathematischen Gesetzlichkeiten wachsen bei arithmetischer Vermehrung der Zahl der Elemente die zwischen ihnen möglichen Relationen in geometrischer Proportion. Komplexe Systeme sind dadurch charakterisiert, daß sie das mathematisch Mögliche nicht realisieren können.“ (Luhmann 1980a: 237; vgl. auch Luhmann 1984a: 46 und 1990g: 59ff.) Daraus folgt, daß Systeme nur beschränkte Möglichkeiten haben, zu operieren, was sich wiederum als Selektionszwang darstellt. Einem System stellt sich damit das Problem, daß es erstens nicht alle gewünschten Relationen zwischen Ereignissen realisieren kann und daß dies zweitens erst recht nicht sofort möglich ist. Wenn es gelingt, in den eigenen Operationen Zeit in Anspruch zu nehmen, „um im Nacheinander mehr Relationen zu aktualisieren, als zugleich möglich wären“ (Luhmann 1980a: 238), entlastet sich das System zugleich von momentanem Selektionszwang und eröffnet sich Andeutungen dazu im Zusammenhang mit dem Problem gesellschaftlicher Rationalität vgl. bei Kneer 1992.
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damit neue Selektionshorizonte. Temporalisierung von Komplexität ist damit als selektiver Zugriff auf die sukzessiv geordnete Ereignishaftigkeit zu verstehen; sie dient „einer selektiven Ordnung der Verknüpfung der Elemente im zeitlichen Nacheinander“ (Luhmann 1984a: 77). Es handelt sich hier – wohlgemerkt – um die selektive Relationierung eigener Elemente, was das Zeitproblem als Problem der Selbstreferenz von Systemen darstellt. Schon bei Husserl konstituiert sich die Zeit des Bewußtseins selbstreferentiell, d.h. unter modalisierender Relationierung der früheren (bzw. der zukünftig erwarteten) Bewußtseinsgegenwarten durch aktuelle Bewußtseinsgegenwarten. Diese sehr einfache Form selbstreferentieller Handhabung der Differenz von vorher und nachher muß jedoch erheblich differenzierter gefaßt werden, um die verschiedenen Formen temporalen Selbstbezugs begrifflich erfassen zu können. Ich werde dazu im folgenden mit Luhmann drei Formen der Selbstreferenz, nämlich basale Selbstreferenz (1), Reflexivität (2) und Reflexion (3) unterscheiden und sie kurz am Beispiel sozialer und psychischer Systeme verdeutlichen: (1) Basaler Selbstreferenz liegt die Unterscheidung Element/Relation zugrunde. Das Selbst, auf das die Selbstreferenz referiert, ist hier ein Ereignis, an das das referierende Ereignis anschließt und so eine Relation herstellt (vgl. Luhmann 1984a: 600). Es handelt sich hier um die Ebene reiner Autopoiesis, in der Ereignis an Ereignis anschließt. Im Falle sozialer Systeme sind dies Kommunikationen, im Falle psychischer Systeme Gedanken (Luhmann 1985a: 411). Basale Selbstreferenz ist letztlich identisch mit Husserls Retention: Ein Gedankenereignis enthält zumindest das nachwirkende vorherige, um sich als Anschlußereignis konstituieren zu können; Gleiches gilt für eine Anschlußkommunikation, die keine sein könnte, wenn sie nicht an etwas anschlösse. Die Theorie autopoietischer Systeme ersetzt jedoch das Enthaltensein und das Nachwirken durch die Differenz von Element und Relation. Diese Differenz konstituiert bereits eine elementare Zeit des Systems, die als solche allerdings noch nicht sichtbar wird, weil der Anschluß des Ereignisses dieses Anschließen gar nicht sehen, d.h. nicht kommunikativ thematisieren bzw. psychisch denken kann. Dieser Sachverhalt kann erst einem Beobachter erscheinen, der daraufhin sofort seine „Unschuld“ verliert. Man kann diese Behauptung einem einfachen Test unterziehen: Wer an seiner eigenen Psyche darauf achtet, daß sich Gedankenereignisse „einfach so“ aneinanderreihen, wird paradoxerweise feststellen, daß das nicht stimmt, was als Beleg für die Richtigkeit der These gelten kann. M.a.W., schließen Gedanken an Gedanken an, so wird die sukzessive Form des bewußten Geschehens dem Bewußtsein letztlich gar nicht bewußt. Ein Beobachter kann aber sehen, daß diese Sukzession von Ereignissen durch eine basale Selbstreferenz konstituiert wird, in der jedes Gedankenereignis an ein anderes anschließt. Sobald ein Beobachter dies jedoch tut, bewegt er sich schon auf einer höherstufigen Form der Selbstreferenz, nämlich der Reflexivität, die die Unschuld der basalen Selbstreferenz bereits verlassen hat und sich nur auf diese zurückbeugen kann. Insofern wird die paradoxe Formulierung verständlich, daß der Selbstreferenztest, die eigene Blindheit sehen zu wollen, sich durch seine Unmöglichkeit belegt. (2) Reflexivität oder prozessualer Selbstreferenz liegt die Unterscheidung vorher/ nachher zugrunde. Sie referiert wie die basale Selbstreferenz auch auf die eigene Autopoiesis des Systems, beobachtet diese jedoch als Prozeß (vgl. ebd.: 601). Sowohl soziale als auch psychische Systeme rekurrieren dabei auf sich, indem sie sich in ihrem Ablauf an ihrer
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Sukzession orientieren bzw. indem sie Erwartungen an eine Zukunft haben, die später als erfüllt oder enttäuscht angesehen wird. Prozesse, besser: die Beobachtung des Selbst per prozessualer Selbstreferenz konstituiert eine Eigenzeit des Systems, das damit sich und seine Komplexität temporalisiert. Ob ein Wirtschaftsbetrieb auf seine Geschäftskonten reflektiert, ob eine Interaktion zwischen Liebespartnern die Verfehlungen beider aufzählt, ob eine Regierung den Ablauf der bisherigen Legislaturperiode mit den Chancen in der unmittelbaren Zukunft, in der Wahlen bevorstehen, in Korrelation setzt, ob ein Fußballtrainer beteuert, das nächste Spiel sei immer das schwerste, ob ein Therapeut den Klienten um ein Referat der wichtigsten Ereignisse seit der letzten Sitzung bittet, ob ein Leser noch einmal in einem früheren Kapitel nachsieht, bevor er weiterliest95 und ob ein Schachspieler sich sensibilisiert, nicht noch einmal einem Täuschungsmanöver seines Gegenübers zum Opfer zu fallen, in all diesen Fällen liegt prozessuale Selbstreferenz vor, die eine Eigenzeit des Systems strukturiert, an der sich die Operationen des Systems orientieren. Solche Eigenzeiten entstehen folgerichtig dadurch, daß autopoietische Systeme per prozessualer Selbstreferenz sich selbst als Prozeß beobachten, was zur Entstehung dessen führt, was ich oben als Beobachtungszeit bezeichnet habe. Beobachtungen sind stets systemrelativ, weil sie Operationen von Systemen sind.96 Daraus folgt, daß die durch Selbstbeobachtung des Systems entstehende Zeit im strikten Sinne als Eigenzeit behandelt werden muß, die sich allein der Selbstbeobachtung durch das System verdankt.97 Es liegt damit also dem System keine objektive Zeitstruktur zugrunde, sondern eine Beobachtungszeit, die auf der basalen Selbstreferenz des Systems aufbaut und diese nach Maßgabe von je momentanen Unterscheidungen beobachtet.98 Die prozessuale Selbstreferenz von Systemen rekurriert nicht auf einen Prozeß, wie er objektiv vorliegt, sondern erzeugt ihn durch Beobachtung. Hier wird erneut deutlich, daß Vergangenheit und Zukunft immer Vergangenheit und Zukunft einer Gegenwart sind und sich somit je nach gegenwärtiger Beobachtungslage radikal verändern können. Man könnte sagen: Die Zeiten ändern sich mit der Zeit. Bestimmte Begebenheiten in der Gegenwart können die Vergangenheiten und Zukünfte eines Systems total ändern: Mit der Thematisierung eines außerehelichen Verhältnisses werden Ereignisse in der Vergangenheit einer Ehe völlig neu gedeutet; eine religiöse Bekehrung läßt vorherige Überzeugungen als Täuschung durch die Mächte der Finsternis erscheinen und Martin Luther wurde während der Feierlichkeiten im Jahre 1983 in der DDR (die ja nun keine gegenwärtigen Ereignisse mehr
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In diesem Falle empfehle ich II.2e und hier insbesondere die Beschreibung von Retentionen! Solche Eigenzeiten beschreibt bereits der locus classicus der Kybernetik, Norbert Wieners Cybernetics von 1948. Wiener zeigt, daß rekursive Automaten mit Selbstkontakt Eigenzeiten im Sinne von Sequenzierungen, Rhythmisierungen und zeitfesten Speichern enthalten, die eine Eigenzeit des kybernetischen Apparates konstituieren, die eher der Bergsonschen inneren Dauer als der Newtonschen absoluten Zeit entspricht (vgl. Wiener 1963: 81). Daß das System und seine Selbstbeobachtung selbst wieder von anderen Systemen temporal beobachtet werden können, ist damit nicht ausgeschlossen. Diese Beobachtung kann auch die Unterscheidung vorher/nachher verwenden, was aber nicht auf eine Verschmelzung von Zeithorizonten hinausläuft, sondern auf wechselseitige Beobachtung. Ich komme darauf zurück; vgl. III.2e. So zeigt sich, daß das individuelle Erleben von Dauer nicht als Abbildung einer objektiven Zeitstruktur beschrieben werden kann. Psychologische Forschungen weisen nach, daß das Erleben von Dauer insbesondere vom psychischen Aktivitätsniveau abhängt: Je mehr in kurzer Zeit erlebt wird, um so kürzer wird diese erlebt, bzw. umgekehrt. Vgl. dazu Fraisse 1985: 203ff.; Doob 1971: 167ff.
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hervorbringt) als Vorkämpfer des Sozialismus stilisiert. Systeme häufen also nicht Ereignisse an, die sie speichern und gegebenenfalls wieder aktivieren können, vielmehr bringt ein System Erinnerungen an vergangene Ereignisse als gegenwärtige Ereignisse hervor (vgl. dazu auch v. Foerster 1985: 168f.). Wie Baecker plausibel zeigt, ist die Fähigkeit des Erinnerns, i.e. das Gedächtnis, eines der entscheidendsten Merkmale autopoietischer psychischer und sozialer Systeme, was letztlich bedeutet, daß ein System von seinem Gedächtnis kaum zu unterscheiden ist, wenn das System auch nicht mit seinem Gedächtnis identisch ist (vgl. Baecker 1991: 353 und 355). Doch was leistet ein Gedächtnis, wenn es nicht frühere Ereignisse restituiert? Da für ein autopoietisches System Operationen nur in der Gegenwart möglich sind, ist das Erinnern lediglich eine gegenwartsrelative Operation, die Vergangenes beobachtet. Es werden also nicht gespeicherte Daten reaktiviert und reaktualisiert (vgl. Luhmann 1990d: 109, Anm. 33), sondern nur gegenwartsbasierte Beobachtungen von Vergangenem angefertigt. Die erinnernde Operation beobachtet Operationen des Systems und konstituiert so eine systemrelative Systemgeschichte, in der sich die Selektivität von Ereignissen selektiv reproduziert (vgl. Luhmann 1975b: 106f.). Es handelt sich um eine selektive Reproduktion, weil die je gegenwärtige Erinnerung kontingent ist, d.h. auch andere Unterscheidungen anwenden könnte; und es handelt sich nicht nur um Ereignisse, die erinnert werden, sondern auch um die Selektivität von Ereignissen. Damit reflektiert das System darauf, daß es bestimmte Möglichkeiten aufgenommen, andere aber ausgeschlossen hat, daß also der Prozeß der Ereignissukzession stets ein Prozeß der Selektivität dieser Ereignisse ist. Indem diese Selektivität erinnert wird, tauchen die nicht mitvollzogenen Möglichkeiten des Systems in dessen Horizont auf. Dazu Baecker: „Das Systemgedächtnis rekonstruiert mit der Geschichte des Systems auch die Selektivität dieser Geschichte und vergegenwärtigt sich die den Selektionen des Systems (...) zum Opfer gefallenen Möglichkeiten. Erinnert wird auch das, was hätte geschehen können. Die gegenwärtige Erinnerung versorgt die Vergangenheit und über diese auch die Gegenwart mit Modalisierungen des Systemverhaltens.“ (Baecker 1991: 356) Auch hier tritt die Paradoxie der Zeit auf, die dadurch invisibiliert wird, daß ein System mit prozessualer Selbstreferenz so operiert, als ob die Systemgeschichte sich so zugetragen hat, wie sie in der Beobachtung erscheint. Erst ein Beobachter – der durchaus das System selbst sein kann – kann sehen, daß reflexive Beobachtungen Beobachtungen sind und womöglich die Modalität der Zeit mit all ihren Paradoxien in die Beobachtung/Operation des Systems einbauen. Eine solche Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung setzt zumindest prozessuale Selbstreferenz voraus. Sie ist dann nicht nur in der Lage, eine Eigenzeit des Systems auszubilden, sondern diese Zeit selbst noch einmal zu temporalisieren. Dies sei an zwei Beispielen kurz verdeutlicht: an der Frage der Geschichtsschreibung und an der Frage der biographischen Selbstthematisierung. Reinhart Koselleck zeigt plausibel, daß sich in der modernen Geschichtsschreibung ein Wandel von der Relativität der historischen Beobachtung zur Relativität der Historie selbst beobachten läßt. Nahm der an die Monadenlehre Leibniz’anschließende Johann Martin Chladenius 1742 noch an, daß eine sozusagen objektive Geschichte sich dem Historiker aufgrund seiner subjektiven Perspektive gebrochen darstellen müsse – „Das, was in der Welt geschiehet, wird von verschiedenen Leuten auch auf verschiedene Art angesehen.“
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(Chladenius, zit. n. Koselleck 1975a: 696) -, wurde später der historische Standpunkt selbst historisiert. Spätestens mit Hegel versteht sich die Moderne nicht einfach als das Gegenwärtige, sondern als die Gegenwart eines Neuen, einer neuen historischen Qualität. In der „Vorrede“ zur Phänomenologie des Geistes heißt es: „Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht – ein qualitativer Sprung – und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen (...); die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist.“ (Hegel 1970a: 18) Es ist eine Differenzerfahrung, die Modernität ausmacht, eine Differenz, die sich von einer Vergangenheit absetzt und so die Geschichtlichkeit des Seins selbst konstituiert und sich reflexiv auf die historische Zeit zu beziehen beginnt, die in dieser Reflexivität selbst wiederum vorkommt, weil die historische Zeit diejenige Gegenwart konstituiert, die auf die Geschichte reflektiert (vgl. Koselleck 1989: 320; vgl. auch Habermas 1985c: 9ff. und IV.4 und 5). „Damit ist der geschichtliche Perspektivismus vollends aus einer Erkenntniskategorie zu einer aus der Geschichte selbst herrührenden Grundbestimmung aller Erfahrung und Erwartung geworden. Die zeitliche Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft hat ihre eigene, eine geschichtliche Qualität gewonnen, die sich nur durch Einsichten beurteilen läßt, die sich ihrer Relativität, ihrer ,Zeitlichkeit‘ bewußt bleiben.“ (Koselleck 1975a: 701; vgl. auch Koselleck 1987: 279) Wenn man unter Geschichte den Versuch verstehen will, die Eigenzeit der Welt auszudrücken, d.h. nicht einfach den Ablauf von Ereignisreihen, sondern ihre Verknüpfung, ihren Sinn, ihr Telos oder zumindest ihre Entwicklungslogik (vgl. Koselleck 1975a: 649), so bedeutet die Historisierung der Geschichtsschreibung eine Temporalisierung der Position, von der her die geschichtliche Eigenzeit – etwa als Fortschritt (vgl. IV.4c) – beschrieben wird, im Sinne der Logik Spencer Browns ein re-entry, ein Wiedereintritt der Geschichte in die Geschichte (vgl. Spencer Brown 1971: 69ff.). Moderne Geschichtsschreibung hat also mit der Paradoxie umzugehen, daß sie ihre Beobachterrelativität historisieren muß.99 Um dieses Problem zu kontrollieren, will heißen: um trotz der Paradoxie weiter operieren zu können, wird auf 99
Geschichtsphilosophen pflegen diese Paradoxie dadurch zu invisibilisieren, daß sie der Geschichte ein Telos geben (Hegel 1970b: 524) und als das sie sich wie im Falle Hegels sogar selbst sehen können. So wird es möglich, die Paradoxie dadurch zu vermeiden, daß die Relativität des eigenen Standpunktes mit der Totalität des Seins als Geschichte zusammenfällt. Am grandiosesten gescheitert ist an diesem Problem sicher Adorno, der die Paradoxie gerade dadurch erträglich macht, daß er ihre unerträgliche Allgegenwart in seiner Philosophie – als negative Dialektik – wieder einholt: mit dem Begriff über den Begriff hinaus gehen zu müssen (vgl. Adorno 1982: 23f.). Und selbst dies wird noch eingeholt durch den „Bann“ des total gewordenen verdinglichten Bewußtseins, das auch noch den letzten Begriff verschlingt (vgl. ebd.: 339). Eine andere Form der Entparadoxierung der historischen Paradoxie ist etwa die, die Geschichte für beendet zu erklären, so etwa in Arnold Gehlens These der kulturellen Kristallisation als Erschöpfung der Möglichkeiten einer historischen Epoche, was eine Weiterentwicklung ausschließt (vgl. Gehlen 1963: 311ff.) und das Erlebnis eines „Posthistoire“ generiert (vgl. Gehlen 1957: 88). In Gehlens Thesen finden sich erhebliche Parallelen zur gegenwärtigen Postmoderne-Debatte, worauf Lichtblau hinweist (vgl. Lichtblau 1991: 31ff.); Andeutungen zum Zeitbewußtsein der Postmoderne vgl. in IV.6a.
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der einen Seite die Relativität der historischen Erkenntnis nicht geleugnet, auf der anderen Seite der Anspruch auf objektive Erkenntnis nicht fallengelassen. Eine solche Handhabe verspricht sich etwa Karl Acham durch „intersubjektive Kontrolle“ (Acham 1974: 36) des Erkannten durch eine scientific community.100 Die Paradoxie in der Zeitdimension wird also in die Sozialdimension – Stichwort: intersubjektive Kontrolle – verlagert – und damit unsichtbar. Wenn man dagegen aber sieht, daß die historische Erkenntnisrelativität der Geschichtswissenschaft nicht nur ein Problem der Perspektivendifferenz einzelner Historiker ist, wird man feststellen, daß sie als Teil eines sozialen Systems, der Wissenschaft, selbst der historischen Paradoxie der Historizität historischer Erkenntnis anheimfällt. Allein methodische Kontrolle dispensiert also nicht von der Paradoxie der Zeit in der Zeit – sie macht sie aber zumindest solange unsichtbar als die Historizität jener Methoden nicht mitproblematisiert wird.101 Wo dies aber geschieht, muß Zeit in Form prozessualer Selbstreferenz problematisiert werden. Ein spezifisch modernes Bewußtsein von Geschichte scheint also die eigene Position in die Zeitlichkeit der Welt einbauen zu müssen. Das bedeutet letztlich nichts anderes als die prozessualer Selbstreferenz zugrundeliegende Modalität der Zeit auf das eigene Verhältnis zur Geschichte (und zur Zukunft) anzuwenden.102 Wenn man, Hans Ulrich Gumbrecht folgend, Modernität nicht mehr ausschließlich als qualitative, epochale Kategorie eines Weltzeitalters, sondern – mit zunehmender Modernisierung der Gesellschaft (vgl. dazu IV.4 und 5) – als ereignishafte „Bewegungskategorie“ (Gumbrecht 100 In der Praxis zeigt sich eine solche Kontrolle im wesentlichen als Quellenkritik, Nachvollzug der Recherche und Nachweis der vollständigen Auswertung verfügbarer Quellen. Insofern ist eine zunehmende Methodisierung Ausdruck für Selbstreferenzhandhabung der Wissenschaft: Erst wenn wissenschaftliche Aussagen methodisch kontrolliert sind, sind Ergebnisse zu vergleichen, lassen sich Prozesse wiederholen und überprüfen. Methoden schränken Kontingenz ein, indem sie Erkenntnisse validierbar und damit intersubjektiv überprüfbar machen, und verringern somit das Risiko, der Paradoxie der Erkenntnisrelativität der Erkenntnis aufzusitzen (vgl. Luhmann 1990a: 416). Die Verringerung dieses Risikos besteht freilich darin, die Paradoxie für Kommunikation unsichtbar zu machen, nicht, sie zu überwinden. Das würde extramundane wissenschaftliche Beobachtungspositionen voraussetzen, die angesichts des heutigen Methoden- und Theoriepluralismus und angesichts moderner Beobachtungsverhältnisse kaum noch Resonanzchancen besitzen dürften. Dies gilt im übrigen – das nur am Rande – um so weniger, je normativer sich eine Disziplin versteht. Auf den ersten drei Plätzen: Theologie, Pädagogik, Philosophie. 101 Es soll hier keineswegs einer Paradoxierung historischer Methoden das Wort geredet werden, denn jedes System muß seine Paradoxien kontrollieren. Wenn man aber unter Theorie mit Luhmann im Gegensatz zu Methode die Externalisierung, Öffnung der Wissenschaft zur Welt, also den sinnhaften Zugriff auf ihren Gegenstand, versteht (vgl. Luhmann 1990a: 403ff.), kann eine theoretische Beobachtung von wissenschaftlichen Beobachtungen dazu dienen, die Selbstreferenzprobleme wissenschaftlicher Beobachtungen, ihre blinden Flecke (v. Foerster 1985: 26), sichtbar zu machen. Diese sind im Falle der Geschichtswissenschaft temporaler Natur. Im Falle der Soziologie dagegen sind sie sozialer Natur: Sie ist selbst Teil der Gesellschaft, die sie beobachtet und beschreibt; vgl. dazu IV.7. 102 So schreibt Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung „Über den Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“: Der Mensch „muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt; jede Vergangenheit ist werth, verurtheilt zu werden – denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urtheil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht. Sein Spruch ist immer ungnädig, immer ungerecht, weil er nie aus einem reinen Borne der Erkenntnis geflossen ist (...). Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben zu können und zu vergessen, in wie fern Leben und ungerecht sein Eins ist.“ (Nietzsche 1980a: 269) Diese „Ungerechtigkeit“ ist als die unhintergehbare Gebundenheit an die eigene Perspektive zu verstehen.
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1978: 126; vgl. auch Koselleck 1973: 221) versteht, in der ein Imperativ schnellen Wandels herrscht, kann eine geschichtliche Perspektive nicht mehr paradoxiefrei operieren. Die Paradoxie der Zeit in der Zeit wird aber dadurch unsichtbar, daß die Geschichte als real Abgelaufenes, als wirkliches Geschehen und als wahre Geschichte behandelt wird. Wie oben beschrieben, wird bei Gefahr der Paradoxie der Zeit die Zeit in die Zeit ausgelagert – und die Gefahr der unkontrollierbaren Kontingenz der Beschreibung wird durch wissenschaftliche Methoden eingegrenzt.103 Das zweite Beispiel prozessualer Selbstreferenz beschreibt das Problem biographischer Selbstthematisierung. Analog zur Geschichte ist auch die Biographie eine Selbstbeschreibung eines (hier: psychischen) Systems, das gegenwartsbasiert eine Reihe von Ereignissen beobachtet und so prozessual auf sich referiert. Sie ist also nicht mit dem Lebenslauf, also mit dem, „was wirklich gelaufen ist“, identisch, wie die Geschichte nicht mit dem identisch ist, „was wirklich geschehen ist“. Biographie ist nichts anderes als eine Selbstbeobachtung eines Bewußtseins, die je gegenwärtig mit der Unterscheidung vorher/nachher operiert. „Die selektive Vergegenwärtigung stiftet Zusammenhänge, die es so vorher gar nicht geben konnte. Der Lebenslauf ist uns über die Fiktion biographischer Repräsentation als Wirklichkeit zugänglich.“ (Hahn 1988: 94).104 Auch die biographische Paradoxie besteht also darin, daß eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vorliegt. Diese ist aber so lange nicht problematisch, als der Biograph sich mit seiner Beobachtung suggeriert, daß das, was er an sich beobachtet, auch wirklich so gewesen ist. Die Paradoxie wird temporal in Vergangenheit oder Zukunft ausgelagert, was einen objektiven zeitlichen Ablauf suggeriert. Wenn nun ein Biograph damit konfrontiert wird, daß seine gegenwärtigen Beobachtungen nicht nur Beobachtungen sind, die auch anders hätten ausfallen können, sondern daß sie auch gegenwärtige Beobachtungen sind, die zu früheren Gegenwarten ganz anders ausgefallen wären oder auch sind, kommt das Problem des re-entry des Prozesses in den Prozeß zum Tragen: Die Unterscheidung vorher/nachher wird auf diese Unterscheidung angewandt und nimmt die Form einer Paradoxie an. Diese Paradoxie kann wiederum nur dadurch überwunden werden, daß sie als solche thematisiert wird. Eine Thematisierung führt allerdings zum Erlebnis von Diskontinuität und stellt ein Differenzerlebnis vor die persönliche Identität. Eine solche Differenz kann wiederum nur in der Zeit aufgelöst werden, nämlich dadurch, daß prozessuale Selbstreferenz die prozessuale Selbstreferenz in die Zeit ausdehnt. Hans-Joachim Giegel schlägt dafür treffend die Bezeichnung „Reflexion zweiter Stufe“ (Giegel 1988: 234) vor. Sie besteht darin, daß ein Biograph die prozessuale Selbstreferenz temporal zu modalisieren versteht, um vorherige von nachherigen Beobachtungen von Ereignisreihen unterscheiden zu lernen. Da die Einheit der Differenz von vorher und nachher jedoch Zeit ist, fällt diese Form der Entparadoxierung der Zeitlichkeit prozes103 Der Streit um den methodologischen Status der Oral History etwa läßt dies besonders deutlich werden: Von Gegnern dieser Methode wird eingewandt, daß mündliche Quellen weder repräsentativ, objektiv seien, daß weder die Authentizität des Erzählten noch die Genauigkeit des Gedächtnisses zu überprüfen seien. So richtig dies im einzelnen vielleicht sein mag, verdeckt eine solche Argumentation, daß sich dies Problem prinzipiell bei jeder Art historischer Quellen stellt. Der wissenschaftliche common sense jedoch macht dieses Risiko durch Kanonisierung von Methoden unsichtbar, und muß sich dann durch glänzende Forschungsergebnisse korrigieren lassen. Vgl. zur Methodendikussion Ronald J. Grele 1980: 143ff. 104 Zur Unterscheidung von Biographie und Lebenslauf, die mehr enthält, als hier angedeutet wird, vgl. weiter unten, IV.5c.
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sualer Selbstreferenz mit einer erneuten Temporalisierung von Komplexität zusammen. Resultat einer solchen Selbstbeobachtung ist dann eine Temporalisierung persönlicher Identität, die zu Mehrfachmodalisierung in der Lage ist: Ich kann zwischen der vergangenen Gegenwart und der Gegenwärtigkeit der Beobachtung der vergangenen Gegenwart ebenso unterscheiden wie zwischen der Vergangenheit der vergangenen Gegenwart und der Gegenwärtigkeit der Beobachtung der Vergangenheit der vergangenen Gegenwart. Beide Beispiele zeigen nicht nur, in welcher Weise Systeme in der Lage sind, per prozessualer Selbstreferenz eine Eigenzeit auszubilden. Sie zeigen auch, daß die Mehrfachmodalisierung von Zeit ein re-entry des Prozesses in den Prozeß erlaubt, daß also die Zeitlichkeit der zeitkonstituierenden Operation prozessualer Selbstreferenz selbst Gegenstand prozessualer Selbstreferenz werden kann. Sie zeigen zusätzlich, daß offenbar beide von gesellschaftsstrukturellen Bedingungen abhängen, die jene Selbstreferenztests und die damit verbundenen Probleme erst hervorbringen. Ich komme später darauf zurück (vgl. IV.4 und 5). (3) Die dritte Form der Selbstreferenz ist die Reflexion oder Systemreferenz. Das Selbst, auf das hier referiert wird, ist das System. Deshalb liegt hier die Unterscheidung von System und Umwelt zugrunde (vgl. Luhmann 1984a: 601). Es ist also nicht die blinde Autopoiesis und auch nicht ein zum System gehöriger Prozeß, auf den sich die Beobachtung richtet, sondern das System als Ganzes. Ich kann es mit dem bloßen Hinweis bewenden lassen, daß diese Ganzheit in autopoietischen Systemen nicht erreichbar ist, da ich dies schon ausführlich im Zusammenhang mit Franks Husserl-Kritik diskutiert habe (vgl. III.2a). Auch der Sachverhalt, daß die Paradoxie der Selbstbeschreibung der Zeit per Zeit überwunden wird und doch unhintergehbar bleibt, scheint mir nicht wiederholt werden zu müssen. Unter temporalen Gesichtspunkten ist allerdings von Bedeutung, inwiefern ein System, das aus temporalisierten Elementen, also explizit nicht aus gleichzeitigen Ereignissen besteht, auf seine Einheit referieren kann. Da Systemreferenz eine Operation des Systems ist, „vertritt (sie) sozusagen die Einheit des Systems im System“ (Luhmann 1984a: 618). Solche Reflexionen heben auf die Identität, auf das So-Sein, auf die Einheit des Systems ab. Dabei geht es aber nicht um die Aufdeckung latenter Systemeigenschaften im Sinne substantieller Grundlagen, sondern um den operativen Aspekt, wie Identität durch Operationen des Systems entsteht. „Wir fragen nicht, was etwas Identisches ist, sondern wie das erzeugt wird, was dem Beobachten als Identisches zu Grunde gelegt wird.“ (Luhmann 1990h: 21) Zugleich beinhaltet die Reflexion stets eine temporale Komponente, weil die Einheit des Systems sich als etwas darstellt, das sich in die Zeit hinein ausdehnt. Diese – wohlgemerkt! – metaphorische Redeweise soll lediglich andeuten, wie autopoietische Systeme die Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen unsichtbar machen, nämlich durch Behandlung des Beobachteten als reale Seinsweisen der Vergangenheit und der Zukunft und das Verdecken der Gegenwartsrelativität aller Operationen (vgl. dazu III.2b). Wenn ein System sich also selbst beschreibt, fertigt es einen Temporalhorizont seiner selbst an. So dürften sich sowohl soziale als auch psychische Systeme als geworden oder zumindest – wenn nicht auf Zustandsdifferenzen, sondern auf gleichbleibende, substantielle Eigenschaften abgestellt wird – als zeitfest in Differenz zu einer sich wandelnden Umwelt beschreiben.105 Reflexion beinhaltet also immer ein temporales Element, das aber, genau 105 Wo Weltbeschreibungen eine ewige Sphäre unwandelbarer Prinzipien annehmen, geschieht dies gewöhnlich in Differenz zu einem Gegenteil, nämlich dem Wandel. Berühmtestes Beispiel ist sicher Pla-
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genommen, nur dann sozial thematisch oder psychisch bewußt wird, wenn in die Selbstbeschreibung des Systems der prozessuale Aspekt des jetzigen Zustandes einfließt, wenn also eine temporale Beobachtung durch Anwendung der Vorher/nachher-Differenz auf die Unterschiede von System und Umwelt angewandt wird. Man kann dies kurz an den beiden Beispielen verdeutlichen: Eine Reflexion auf die Gesellschaft ist ohne weiteres auch ohne thematischen Bezug auf ihre Zeitlichkeit möglich wie eine Person sich auch ohne weiteres ohne Rekurs auf die eigene Systemgeschichte identifizieren kann. Sobald aber die Selbstbeschreibung eines Systems Zeit im Sinne von Beobachtungszeit in Anspruch nimmt, entsteht eine Systemgeschichte von Systemreferenzen. Im Falle historischer Beschreibungen wäre hier etwa an eine Geschichte der Selbstdeutung unserer Gesellschaft zu denken – ein Fall von Mehrfachmodalisierung historischer Zeiten. Im Falle biographischer Selbstidentifikation liegt dann eine Identifikation von Identitätswandel vor, die – um es noch einmal zu wiederholen – selbst kontingent ist. Ich fasse die drei Formen der Selbstreferenz unter zeitlichen Aspekten zusammen: Alle drei Formen der Selbstreferenz von psychischen und sozialen Systemen haben eine temporale Komponente. Dabei konstituiert die basale Selbstreferenz die elementare Zeitlichkeit von Systemen, indem sie Gedanke an Gedanke bzw. Kommunikation an Kommunikation anschließen läßt. Die prozessuale Selbstreferenz dagegen ist die eigentliche Form temporaler Selbstreferenz, da sie Zeit in Form von Beobachtungszeit ermöglicht. Sie erlaubt es Systemen, sich auf die eigenen Sukzessionen zu beziehen und sie zum Gegenstand von Beobachtungen zu machen, die auf ihre temporale Relationalität abstellen. Resultat solcher reflexiver Selbstreferenz ist die Emergenz einer Eigenzeit, die bestimmte temporale Horizonte und Muster wiederholbar macht. Ohne prozessuale Selbstreferenz könnte z.B. das Wirtschaftssystem seine Operationen nicht an erwarteten Kurs- und Preisschwankungen ausrichten und könnten Betriebe sich durch Rekonstruktion ihrer Operationen keine Rechenschaft über den besonders guten oder schlechten Geschäftsabschluß ablegen.106 Genausowenig könnte eine Sitzung eines politischen Gremiums ohne prozessuale Selbstreferenz eine Tagesordnung und eine vereinbarte maximale Dauer (die bekanntlich meist überschritten wird) einhalten, sie könnte nicht einmal am Ende ihre Ergebnisse festhalten. Und schließlich: Ein psychisches System könnte ohne prozessuale Selbstreferenz nicht lernen, daß man ein bewährtes Reaktionsschema bei gleicher Erfahrungslage wiederholen sollte. Prozessuale Selbstreferenz ist sozusagen der Zeitgeber eines Systems und ist damit der tons Ideenlehre, die der Sphäre der unwandelbaren, ewigen Ideen eine uneigentliche Sphäre des Wandels und der Endlichkeit gegenüberstellt. Entscheidend ist hier, daß beide Seiten von der anderen Seite ihrer Differenz zehren: die Ideen erlangen ihre Dignität gerade daher, daß sie explizit nicht so sind wie die sichtbare, sinnliche Welt, und diese findet ihre differentia specifica gerade darin, Gegenpol der eigentlichen Welt zu sein. Bemerkenswert ist, daß sich die faktische Asymmetrie zugunsten der sinnlichen Welt im Philosophen als normative Asymmetrie zugunsten der philosophisch geschauten Welt der Ideen verschiebt. 106 Daß Geld nicht stinkt, wie der Volksmund sagt, ist, genau genommen, keine Sinnbestimmung der Sach-, sondern der Zeitdimension. Zwar kann das Wirtschaftssystem seine Operationen prozessual beobachten, doch ist sein Medium, das Geld, eigentümlich geschichtslos. Geld verweist zwar auf eine Vergangenheit, die Bedeutung des Geldes ist aber so hochselektiv, daß es seinen Wert von seiner Geschichte abkoppelt. „Geld fungiert als Gedächtnis der Wirtschaft, aber es erinnert an nichts – außer an sich selbst. Es ist ein Medium der Kommunikation, das sich beliebigen Operationen anpaßt, aber doch von keiner eine Spur behält.“ (Baecker 1987: 528) Man kann Geld in der Tat nicht ansehen, ob es – um ein Beispiel zu konstruieren – aus einem kirchlichen Klingelbeutel oder der Kasse einer Gunstgewerblerin stammt.
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Motor einer systemrelativen Ausbildung von internen Zeithorizonten, mit denen sich auch die Umwelt systemrelativ – wie sonst? – beobachten läßt. Systemreferenz schließlich hat keine genuin temporale Komponente, es sei denn die, daß sie stets – wie jede andere Selbstbeobachtung auch – der Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ausgesetzt ist. Sie kommt aber ohne Thematisierung von Zeit aus, wenn nicht der Sonderfall eintritt, daß die temporale Unterscheidung der prozessualen Selbstreferenz auf die der Systemreferenz angewandt wird.107 Bergmann und Hoffmann weisen mit Recht darauf hin, daß diese drei Formen selbstreferentieller Operationen letztlich nicht isoliert voneinander auftreten, sondern miteinander verschränkt sind (vgl. Bergmann/Hoffmann 1989: 170). Sie sind im Verhältnis zueinander abwärts kompatibel, d.h. die jeweils höhere Form setzt die untere voraus. Daß dies im Falle des Verhältnisses von Prozeß und Reflexion nur bedingt gilt, habe ich erläutert. Es bliebe aber zu fragen, ob ein System ohne die Fähigkeit zu ausreichender prozessualer Selbstreferenz überhaupt in der Lage sein kann, sich per Reflexion zu beschreiben.
d)
Struktur und Prozeß
Die Erläuterungen zu Ereignis, Beobachtung und Selbstreferenz im Zusammenhang mit Zeit haben gezeigt, daß sich autopoietische psychische und soziale Systeme in Prozeßform konstituieren, daß sie ihr Nacheinander je gegenwärtig erneuern und sich so kontinuieren. Dabei bleibt jedoch ein Umstand außer acht, der für psychische, insbesondere aber für soziale Systeme konstitutiv ist. Gemeint ist, daß die Zeit konstituierende Folge zwar prinzipiell offen und uneingeschränkt ist, sie sich aber in praxi stets Einschränkungen ausgesetzt sieht. Gäbe es solche Einschränkungen nicht, müßte alles, was geschieht, als Zufall oder Chaos erlebt werden (vgl. Luhmann 1984a: 379). Man kann damit rechnen, daß Einschränkungen des Möglichen Situationen bestimmbar und verstehbar machen, sie also strukturie107 Man kann sich dies daran verdeutlichen, daß in Reflexionstheorien beide Formen – die temporale und die temporal indifferente – vorkommen. Zur Erläuterung: Für die großen Funktionssysteme der modernen Gesellschaft haben sich Reflexionstheorien herausgebildet, die eine begrifflich-systematische Gesamtbeschreibung von Teilsystemen vornehmen: Staatstheorien für die Politik, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien für die Wissenschaft, Pädagogik für die Erziehung, Jurisprudenz für das Recht, Theologie für die Religion und Wirtschaftswissenschaft für die Wirtschaft (vgl. Luhmann 1984a: 620 und 1990a: 469ff.; vgl. auch Stichweh 1988a). Diese Reflexionstheorien versorgen die Systeme mit semantischen Potentialen zur Selbstbeschreibung, wobei darauf zu achten ist, daß wissenschaftliche Theorien nicht einfach in Teilsysteme eingehen, sondern dort nach Maßgabe der Systemoperationen aufgenommen werden. Was gewöhnlich als Wissenstransfer bezeichnet wird, sind in systemtheoretischer Sicht Probleme der wechselseitigen Beobachtung und Öffnung bei operativer Schließung funktionaler Teilsysteme (vgl. dazu IV.5a). Wie dem auch sei, für die Frage der Temporalität von Reflexion läßt sich an diesen Reflexionstheorien zeigen, daß sie die Einheit des Systems entweder in Form systematischer oder historischer Beschreibungen herstellen. Dies läßt sich etwa für das Erziehungssystem an zwei prominenten gleichwohl willkürlich ausgewählten Beispielen ablesen: Wolfgang Brezinkas „Methatheorie der Erziehung“ (Brezinka 1978) stellt die Einheit des Erziehungssystems durch Differenzierung unterschiedlicher Beobachtungsmuster dar (Erziehungswissenschaft vs. Erziehungsphilosophie vs. praktische Pädagogik), während etwa Dietrich Benners „Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft“ (Benner 1978) diese Einheit durch den historischen Wandel der Selbstbeschreibungen erzieherischen Handelns herstellt. Es muß wohl kaum betont werden, daß beide Beobachtungsschemata zumeist – auch in den erwähnten Beispielen – vermischt erscheinen.
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ren. Man kann übrigens nur so den negativen Fall überhaupt wahrnehmen: Wenn nicht eine Struktur vorliegt, kann auch nicht von ihr abgewichen werden. Der Strukturbegriff, der einer ganzen wissenschaftlichen Tradition – Strukturalismus und Strukturfunktionalismus – einen Namen gegeben hat, stellt darauf ab, daß Einzelphänomene der sozialen Wirklichkeit miteinander sinnhaft verknüpft sind und daß diese Verknüpfung die soziale Struktur eines sozialen Systems ausmacht. So versteht der Parsonssche Strukturfunktionalismus unter Struktur „eine Reihe von verhältnismäßig stabilen Beziehungsmustern zwischen Einheiten“ (Parsons 1973: 54), die die verschiedenen Einheiten normativ und kollektiv integriert (vgl. Parsons 1976: 140). Die Sozialstruktur ist sozusagen ein integrierendes Fundament sozialer Praxis, das den Aufbau, den Zusammenhang und die Einheit des sozialen Systems bzw. der Gesellschaft sichert. Sie ist ein integraler und integrativer Bestandteil der Welt. Demgegenüber unterscheidet Claude Lévi-Strauss in seiner „Strukturalen Anthropologie“ zwischen den praktischen Sozialbeziehungen und der modellhaften Struktur: „Das Grundprinzip ist, daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht. Damit wird der Unterschied zwischen zwei Begriffen, die einander so nahe sind, daß man sie oft verwechselt hat, sichtbar, ich meine zwischen der sozialen Struktur und den sozialen Beziehungen. Die sozialen Beziehungen sind das Rohmaterial, das zum Bau der Modelle verwendet wird, die dann die soziale Struktur erkennen lassen.“ (Lévi-Strauss 1967: 301) Struktur ist für den Strukturalisten Lévi-Strauss kein Realgegenstand, der in der sozialen Praxis aufgefunden werden muß. Struktur ist für ihn vielmehr eine Erkenntniskategorie, Ergebnis einer Beobachtung, während die sozialen Beziehungen sozusagen Operationen sind, die nicht mit der Beobachtung übereinstimmen müssen. Allerdings, so Lévi-Strauss, trifft der Ethnologe (oder der Sozialforscher schlechthin) bereits auf einen Gegenstand, der sich selbst strukturierende Beobachtungen gegeben hat. Man hat es „nicht nur mit dem Rohmaterial zu tun, sondern auch mit Modellen, die von der betreffenden Kultur bereits als Interpretation mitgegeben werden“ (ebd.: 304).108 Strukturen sind also Beobachtungskategorien, die der sozialen Praxis ein Gerüst verleihen und so die sozialen Beziehungen hervorbringen, indem sie sie beobachten. Da Sozialbeziehungen immer einschränkbare Sachverhalte sind, drückt sich in der Sozialstruktur aus, was innerhalb eines sozialen Feldes zu geschehen hat, was ausgeschlossen werden kann und was ausgeschlossen bleibt. Luhmann schließt an diesen Strukturbegriff an – und modifiziert ihn zugleich. Auch er muß erfassen können, daß die Kontingenz von Ereignissen in ihrer prinzipiell unendlichen Komplexität empirisch auf ein bestimmbares Komplexitätsmaß beschränkt bleibt. Er muß erklären, warum tendenziell immer wieder das Gleiche geschieht, obwohl sich Systeme von Ereignis zu Ereignis je neu konstituieren. Er muß klären, ob und inwiefern der Strukturgedanke sich mit der Theorie selbstreferentieller, autopoietischer Systeme verträgt (vgl. Luhmann 1984a: 377). Zunächst konzediert Luhmann, daß kein Systemtheoretiker leugnen wird, „daß komplexe Systeme Strukturen ausbilden und ohne Struktur nicht existieren könnten“ (ebd.: 382). Allerdings koppelt er die Struktur von Systemen von der Diskussion 108 So auch das grundlegende Credo phänomenologischer Soziologie, die mit sinnverstehenden Methoden auf eine bereits sinnhaft strukturierte Wirklichkeit trifft, wobei zwischen methodologischer und alltagsweltlicher Beobachtung strikt zu unterscheiden ist. Für viele Belege vgl. Lehmann 1988: 145ff.
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um invariante Systemeigenschaften, die Möglichkeitseinschränkungen sozusagen a priori enthalten, ab. Eine solche Perspektive würde den Grundannahmen einer operativen, gegenwartsbasierten und ereignistemporalisierten Autopoiesis selbstreferentieller Systeme widersprechen,109 denn diese kann systeminternes Geschehen nur als operativen Akt gegenwärtiger Ereignisse fassen. Auf der Ebene bloßer Autopoiesis ist etwa eine Handlung nichts anderes als ein weiteres Anschlußereignis. Aber trotzdem wird so und nicht anders gehandelt oder werden zumindest einige Handlungsalternativen präferiert. „Diese Einschränkung konstituiert den Sinn von Handlungen, und im laufenden Betrieb selbstreferentieller Systeme motiviert und plausibilisiert der Sinn einer Handlung dann natürlich auch das, was als Verknüpfbarkeit einleuchtet.“ (ebd.: 384) Wenn man ausschließlich von einem individualistischen, intentionalen Handlungsmodell ausgeht, stellt sich das Problem der Struktur völlig anders. Die Handlungseinschränkung ist dann ein der Handlung selbst, die eine rationale Entscheidung ihres Trägers erfordert, Äußerliches, das in Form von normativen und kollektiven Variablen die unterstellte freie Variabilität menschlichen Handelns einschränkt.110 Aus einer solchen Perspektive resultiert eine Diskussion um den „Micro-Macro-Link“, der zwischen dem individualistischen Handlungsmodell und der sozialen Struktur, die individuelles Handeln strukturiert, d.h. einschränkt, vermittelt.111 Aus der Sicht einer individualistischen Handlungstheorie geht allerdings die Frage der Beschaffenheit und Genese sozialer Strukturen, also selektiver Einschränkungen von Möglichkeiten, verloren.112 Insofern ist für Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme das Problem der ihren Sinn konstituierenden Einschränkungen von Handlungsmöglichkeiten ein Problem von Kommunikationssystemen, die sich als Handlungssysteme konstituieren. Es handelt sich hierbei, wie schon öfter erwähnt, um selbstreferentielle, operativ geschlossene Systeme, deren Motor nicht in den Intentionen wie rational auch immer handelnder Akteure zu suchen ist. Solche Systeme können ihre Autopoiesis nur fortsetzen, wenn sie in der Lage sind, die prinzipiell unendlich große Weltkomplexität auf ein Maß zu reduzieren, das ihrer Verarbeitungskapazität entspricht. „Haltlose Komplexität“ (Luhmann 1990g) wird sozusagen operativ dadurch verhindert, daß Systeme nur bestimmte Anschlüsse vornehmen, dabei notwendig andere ausschließen und durch den Ausschluß bereits die Selektion weiterer Selektionen 109 Auch hier wird Luhmanns Anleihe bei Whiteheads Ereigniskonzept deutlich. Zur Frage der Strukturierung von ereignistemporalen Prozessen bei Whitehead und zu Meads Kritik an Whiteheads theologischem „Rückfall“ vgl. II.3a. 110 So etwa Hartmut Esser, der mit dem Modell eines von Habits, d.h. sozial strukturierten Mustern kognitiver Repräsentation, und Frames, d.h. strukturierenden Einschränkungen von individuellen Handlungsentscheidungen, eingeschränkten Modells des Rational-Choice-Theorems der Kritik am Individualismus dieser Theorie zu begegnen sucht (vgl. Esser 1990: 234ff.). 111 Zur Micro-Macro-Diskussion vgl. die Beiträge in Alexander/Giesen/Münch/Smelser (Hg.) 1987, v.a. Giesen (1987), der vier verschiedene gesellschaftstheoretische Modelle der Vermittlung von Micro- und Macro-Aspekten unterscheidet: das „Koordinationsmodell“ (z.B. Coleman), das „kategorial-analytische Modell“ (z.B. Habermas), das „antagonistische Modell“ (z.B. Marcuse) und das „evolutionstheoretische Modell“ wechselseitiger Co-Evolution als Alternative. Zu einer an Luhmann anschließenden Theorie der Co-Evolution psychischer und sozialer Systeme vgl. Gilgenmann 1986. 112 Das scheint aber ebenso für ein nicht individualistisches Handlungsmodell Parsonsscher Provenienz, wie es von Jeffrey C. Alexander vorgetragen wird, zu gelten, wenn das Zusammenspiel von „society, culture, and personality“ (Alexander 1987: 289) als Handlungsgenerator die soziale Struktur geradezu voraussetzt.
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vorbereitet haben. M.a.W., ein Ereignis tritt nicht einfach auf, sondern findet sich beim Auftreten bereits in einer strukturierten Form vor, da es als Anschlußereignis in einem autopoietischen Zusammenhang ohnehin auf selektive Verhältnisse trifft. Man könnte sagen: Strukturen sind immer schon da und entstehen dadurch, daß sie schon auf Strukturiertes treffen. Schon aus logischen Gründen erzeugt ein Ereignis, das mit einer Unterscheidung beginnt, etwas, das ausgeschlossen wird, also eine Einschränkung.113 Strukturbildung ist folgerichtig ein unhintergehbarer, operativer Aspekt der Selektion von Ereignissen, der per eventum geschieht und post eventum selektiv verarbeitet werden muß. Luhmann bringt das auf eine einprägsame Formel: „Die Selektion von Einschränkung wirkt somit als Einschränkung von Selektionen, und das festigt die Struktur. (Luhmann 1984a: 385) In sinnverarbeitenden, d.h. psychischen und sozialen Systemen treten Strukturen in der Form von Erwartungen auf (für psychische Systeme vgl. Luhmann 1985a: 419, für soziale Systeme vgl. Luhmann 1984a: 396f.). „Erwartung entsteht durch Einschränkung des Möglichkeitsspielraums. Sie ist letztlich nichts anderes als diese Einschränkung selbst.“ (Luhmann 1984a: 397) Wenn etwas erwartet wird, ist damit zugleich impliziert, daß etwas anderes nicht erwartet wird. Insofern werden die Strukturen dann sichtbar, wenn Störungen auftreten, d.h. wenn Erwartungen enttäuscht werden.114 Erwartungen müssen nicht als Erwartungen gedacht bzw. thematisiert werden, um zu wirken. Sie machen lediglich bestimmte Anschlüsse wahrscheinlicher und können, genau genommen, erst dann beobachtet werden, wenn sie bereits gewirkt haben. Ähnlich wie die Selbstgegenwart von Systemen durch den Zerfall von Ereignissen stets über sich hinaus ist (vgl. III.2b), ist die Struktur bereits wirksam, bevor sie beobachtet werden kann. Sie ist bereits dort wirksam, wo Operationen sich noch im Stadium einer blinden Selbstevidenz befinden, weil sie in actu nichts von sich wissen können. Dies kann erst eine weitere Operation, die wiederum nichts von sich weiß. Strukturen haben also einen Doppelcharakter: Sie wirken bereits auf der operativen Ebene und kommen erst durch Beobachtung zu Bewußtsein und Kommunikation.115 Es fällt auf, daß die hier angedeuteten Formulierungen eines systemtheoretischen Strukturbegriffs stets eine dynamische Komponente enthalten: Es war davon die Rede, daß Systeme Strukturen ausbilden, daß sie entstehen und sich festigen. Dies widerspricht in der Tat dem klassischen Strukturbegriff, der für Invarianz, Stabilität, Substanz und Ordnung 113 Man kann das wie Lyotard (1983) als Terror empfinden, scheint aber dann eine Welt zu wünschen, in der Nichts unterschieden wird. Muß da aber nicht gefragt werden: wovon? 114 So auch die phänomenologische Soziologie, allerdings mit der Beschränkung auf die bewußtseinsmäßige Repräsentation sozialer Struktur: „Wir können sagen, daß die Fraglosigkeit meiner Erfahrung ,explodiert‘, wenn appräsentierte Aspekte eines Gegenstandes bzw. antizipierte Phasen meines Bewußtseins, zur Selbstgegebenheit gekommen, mit der der vorangegangenen Erfahrung inkongruent sind. Das bishin Fraglose wird im nachhinein in Frage gestellt. Die lebensweltliche Wirklichkeit fordert mich sozusagen zur Neuauslegung meiner Erfahrung auf und unterbricht den Ablauf der Selbstverständlichkeitskette.“ (Schütz/Luckmann 1979: 33) Vgl. dazu auch das Problem der Konstitution von Sicherheit durch Möglichkeitseinschränkung bei Heinz-Günter Vester (1980) und Luhmanns Studie über „Vertrauen als Reduktion von Komplexität“ (Luhmann 1968). Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch Erving Goffmans „Rahmenanalyse“, die soziale Struktur am abgesteckten, möglichkeitseinschränkenden Rahmen von Handlungsmöglichkeiten festmacht (vgl. Goffman 1977: passim, v.a. 376ff.). 115 Hier trifft sich Luhmann übrigens mit Lévi-Strauss, der ebenfalls auf die Beobachtungsrelativität der Struktur abstellt (vgl. Lévi-Strauss 1967: 301f.). Im Unterschied zu Lévi-Strauss behauptet Luhmann allerdings sehr wohl eine empirische, besser: operative Wirkmächtigkeit der Struktur (vgl. Luhmann 1984a: 377f.).
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steht. Luhmann erweitert diesen starren Strukturbegriff um den Aspekt der Dynamik und spricht deshalb bei autopoietischen Systemen von einer „dynamischen Stabilität“ (Luhmann 1985a: 403), was sowohl der im Dauerzerfall der Ereignisse eingebauten Kontingenz als auch der durch Selektion bewirkten Kontingenzeinschränkung entgegenkommt. Die in jeder Stabilität eingeschlossene Dynamik und die jeder Dynamik inhärente Stabilität verweisen auf Zeit. Zunächst dürfte unmittelbar einleuchten, daß Strukturen insofern auf Zeit verweisen, als sie die Einschränkung von Anschlüssen für eine Vergangenheit repräsentieren und entsprechende Zukünfte verbürgen. Zugleich eignet ihnen eine zeitliche Komponente, weil sie durch ihren operativen Charakter nur in einer Gegenwart fungieren: „Strukturen gibt es nur als jeweils gegenwärtige; sie durchgreifen die Zeit nur im Zeithorizont der Gegenwart, die gegenwärtige Zukunft mit der gegenwärtigen Vergangenheit integrierend.“ (Luhmann 1984a: 399) Wenn Zeit nur in Form von gegenwartsbasierten Modalitäten zu denken ist, kann auch der Strukturbegriff nicht anders als per modalisierter Zeit gefaßt werden. Auch Strukturen haben damit mit der temporalen Paradoxie fertig zu werden, daß Zeit nur in der Zeit vorkommen kann; im Klartext: daß die Zeitfestigkeit von Strukturen nur ein Ergebnis temporaler Beobachtung ist, die die paradoxe Modalität ihrer Temporalbegriffe dadurch invisibilisiert, daß sie ihren Sinn in die Zeit verlängert. Strukturen machen durch ihren zeitfesten Charakter unsichtbar, daß sie nur durch gegenwärtige Ereignisse konstituiert werden. Ein System konstituiert sich damit sozusagen induktiv durch strukturierende Ereignisgegenwarten von Ereignis zu Ereignis und nicht deduktiv, d.h. durch Ableitung aus einer dem System vorgeordneten Struktur. So bleibt die Struktur durch ihre operative Zugehörigkeit zum Systemgeschehen stets wandelbar; sie wird permanent Irritationen und „Zufällen“ ausgesetzt, die sie neu strukturieren. „Sie (die Zufälle, A.N.) werden induktiv in Strukturen umgesetzt und so der Selektion ausgesetzt. Die auf diese Weise erzeugten Systeme können trotzdem hohe strukturelle Komplexität erreichen – einfach deshalb, weil der Strukturaufbau im Nacheinander geschieht, also sich selbst epigenetisch verwenden kann.“ (Luhmann 1985a: 419)116 Strukturen stehen demnach für denjenigen Zeitaspekt, der das Nacheinander differenter Gegenwarten operativ ordnet. Wie oben dargelegt (vgl. III.2c), kommen die Zeitstrukturen von autopoietischen Systemen durch reflexive Selbstreferenz, also in Prozeßform zur Geltung. Solche Prozesse enthalten offenbar Strukturen, die die Sukzession der den Prozeß konstituierenden Ereignisse durch selektive Ausschließung anderer Möglichkeiten in ihrem Verlauf eingrenzen. Diese beiden Begriffe setzen sich gegenseitig voraus, denn jeder strukturierte Vorgang konstituiert sich als Prozeß, und jeder Prozeß wird durch Strukturen ermöglicht. Gleichwohl unterscheiden sie sich, und zwar, so Luhmann, im Hinblick auf ihre Temporalität: „Strukturen halten Zeit reversibel fest, denn sie halten ein begrenztes Repertoire von Wahlmöglichkeiten offen. Man kann sie aufheben oder ändern oder mit ihrer Hilfe Sicherheit für Änderungen in anderen Hinsichten gewinnen. Prozesse markieren dagegen die Irreversibilität der Zeit. Sie bestehen aus irreversiblen Ereignissen. Sie können nicht rück116 An dieser Stelle meint Luhmann, der Ausdruck induktiv könne hier nicht als Gegenbegriff zu deduktiv verwendet werden (vgl. ebd., Anm. 31). Dem ist sicher zuzustimmen, so weit es um die Frage der Generierung wissenschaftlicher Aussagensysteme geht. Als empirischer Begriff taugt dagegen Deduktion sehr wohl, nämlich als Annahme einer Ableitung des Besonderen aus allgemeinen Strukturmerkmalen, etwa im Sinne eines Hegelschen objektiven Geistes oder der Marxschen Annahme hinter dem Rücken von Akteuren wirkender Gesetzlichkeiten.
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wärts laufen.“ (Luhmann 1984a: 73f.; Hervorh. A.N.) Strukturen sind somit reversible Erwartungshorizonte, die irreversible Prozesse in ihren Möglichkeiten einschränken. Es sind aber letztlich die irreversiblen Prozesse, die für die Reversibilität von Strukturen sorgen, die also Strukturwandel hervorrufen können. Luhmann ist zuzustimmen, wenn er meint, daß man von Änderung „nur in bezug auf Strukturen“ (ebd.: 472) sprechen kann, da Ereignisse sich nicht ändern können, sondern lediglich abgelöst werden. Indem Erwartungen relativ zeitfeste Strukturen bilden und binden, sind es Prozesse, die darüber entscheiden, ob Erwartungen erfüllt oder enttäuscht werden. Wenn ein soziales System ständig damit konfrontiert wird, daß es gehäuft zu Abweichungen von Erwartungen kommt, wird es entweder seine Erwartungen modifizieren, d.h. seine Strukturen ändern, oder aber dafür sorgen, daß bestimmte Erwartungsenttäuschungen durch andere Einschränkungen nicht mehr vorkommen oder kommunikativ verarbeitet werden können.117 Eine solche Strukturänderung läßt sich selbst als Prozeß beschreiben, in dem eine Reihe von Ereignissen als Auslöser für die Änderung von Erwartungen angesehen werden kann, was keineswegs impliziert, daß es sich hier um bewußt gesteuerte oder auch nur antizipierte Veränderungen handeln muß. Strukturwandel scheint zunächst eher blind zu verlaufen, sichtbar sind lediglich die Prozesse, die man als Teilnehmer oder nur staunender Beobachter erlebt.118 Die Differenz von Reversibilität und Irreversibilität, von Struktur und Prozeß ermöglicht es der Theorie autopoietischer, ereignistemporalisierter Systeme, sowohl die Zeitfestigkeit als auch die Zeitlichkeit von Systemen zu beschreiben. Ihre Besonderheit liegt darin, daß Zeitfestigkeit mit Zeitlichkeit in der Weise zusammenfällt, als sich die Struktur von Systemen mit jedem auftretenden Ereignis erhalten muß und so der theoretische Boden für die Erklärung von Dynamik als auch für Stabilität gegeben ist. Der temporale Unterschied und reziproke Verweisungszusammenhang von Prozeß und Struktur dürfte ausreichend erläutert sein. Lediglich ein Aspekt, der für die temporale Organisation sozialer Systeme von entscheidender Bedeutung ist, sei kurz erwähnt. Die Temporalität sozialer Systeme kann sowohl als Prozeß, d.h. als Ereignissukzession, als auch als Struktur, d.h. als Erwartungshorizont, beschrieben werden. Die temporale Verfassung sozialer Systeme kombiniert jedoch beide: Es läßt sich nicht nur, wie schon erwähnt, Strukturwandel als Prozeß beschreiben, als Sukzession von Strukturen. Vielmehr sind es oft Prozesse, auf die sich Erwartungen richten. Soziale Struktur ist nicht nur eine Chiffre für die Erwartung des nächsten Ereignisses – dies wäre sozusagen die basale Struktur analog zur basalen Selbstreferenz, wie es in Husserls Melodiebeispiel, in dem ein bestimmter Ton protentional erwartet wird, beschrieben wird (vgl. I.2e). Strukturen können auch Prozesse erwarten, nämlich zeitlich geordnete Handlungen, deren Vorher/nachher-Differenz konsti117 Luhmann unterscheidet zwei Erwartungsstile: normative Erwartung, die Konformität und Abweichung unterscheidet, und kognitive Erwartung, die Wissen und Nicht-Wissen unterscheidet (vgl. Luhmann 1984a: 439). Die erste hält bei Enttäuschung an der alten Erwartung fest, die zweite modifiziert dagegen die eigenen Erwartungen. 118 Insofern liegt die Potenz der Beobachtung von Strukturänderungen, die zumeist als Ereignisgeschichte gehalten ist, darin, sich wandelnde Erwartungsstrukturen in den Prozessen sichtbar zu machen, die sich für die Beteiligten als stabil und unwandelbar, als quasi natürlich darstellen. Michel Foucaults genealogische und archäologische Studien über die Strukturgeschichte moderner Verhaltenseinschränkungen (vgl. Foucault 1989a; 1989b; 1989c) und Norbert Elias’ sozio- und psychogenetische Untersuchungen moderner Zivilisation (vgl. Elias 1980a; 1980b) sind Beispiele für solche Beobachtungen des Wandels von Strukturen in Prozessen und des Verlaufs von Prozessen in Strukturen.
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tutiv für das Erwartete ist. So kommen relativ stabile Prozesse zustande, die als Muster erwartet werden können und so zur Struktur werden. Solche Routinen (vgl. Schütz/Luckmann 1984: 79) und Ablauftypen (vgl. Schütz 1981: 262) bilden einen speziellen Fall der Temporalisierung von Komplexität. Wenn unter Komplexität die Nicht-Verknüpfbarkeit aller möglichen Elemente miteinander verstanden wird und wenn Temporalisierung von Komplexität die selektive Verknüpfung von Ereignissen, etwa Handlungen, im Nacheinander meint (vgl. III.2c), dienen Ablauftypen dazu, komplexe Handlungszusammenhänge genau zu definieren, zu organisieren und zu kontrollieren. Beispiele für solche Ablauftypen sind etwa „Karrieren“ verschiedenster Art (z.B. Schul- und Berufskarrieren), betriebliche Abläufe (Einkauf, Kalkulation, Werbung, Verkauf), Gesetzgebungsverfahren (von der parlamentarischen Beratung bis zur Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt) oder Qualifikationsrunden zur Zulassung bei sportlichen Veranstaltungen. Solche typischen Prozesse machen Handlungsabläufe erwartbar und tragen damit – im Sinne der Temporalisierung von Komplexität – der Tatsache Rechnung, daß es mit zunehmender Komplexität sozialer Zusammenhänge immer unwahrscheinlicher wird, daß alles gleichzeitig oder zumindest von selbst in der richtigen Reihenfolge geschieht. Prozeßstrukturen, wie ich sie nennen möchte, machen typische Prozeßformen reversibel, sie halten sozusagen die Irreversibilität von Prozessen kontingent. Dies gilt allerdings nur für prozessuale Muster, also für prospektive Entwürfe, nicht aber für die Prozessualität faktisch stattgefunden habender Abläufe selbst. Wer Prozeßstrukturen ändert, ändert damit keineswegs konkrete Prozesse, die, wenn sie einmal stattgefunden haben, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Hier scheint die radikale Differenz von Vergangenheit und Zukunft auf. Während vergangenes Geschehen geschehen und damit irreversibel ist – wie soll man Geschehenes ungeschehen machen? -, ist die Zukunft prinzipiell offen. Auch hier darf jedoch nicht vergessen werden, daß Vergangenheit und Zukunft als Modalzeiten der Gegenwart zu verstehen sind. Die Vergangenheit ist zwar geschehen, aber ihre gegenwärtige Beobachtung enthält genug Kontingenzspielraum, um sie neu zu deuten, mit anderen Unterscheidungen zu beobachten oder sie mit anderen Selektivitäten als Prozeß zu konstituieren. Ebenso ist die Zukunft als erwartetes Seiendes nicht etwas, das in der Zukunft liegt. Zukunft liegt immer nur als gegenwärtiger Entwurf, als Erwartung oder Telos vor, niemals aber als Zukunft selbst.119 Aus dem Gesagten folgt, daß Prozesse stärker an der Vergangenheit orientiert sind, während Strukturen eher an zukünftig erwarteten Systemzuständen ansetzen.120 Man
119 Dies deshalb, weil Systeme nur in Gegenwarten operieren: „Die Zukunft kann nicht beginnen.“ (Luhmann 1990f: 119) 120 Mit Bedacht wurde formuliert: stärker an der Vergangenheit und eher an der Zukunft. Diese Formulierung schließt nicht aus, daß sich strukturelle Beobachtungen auf Strukturen in der Vergangenheit und prozessuale Beobachtungen auf zukünftige Prozesse beziehen. Genau besehen, wird man aber auch hier feststellen, daß sich das Auffinden von Strukturen in der Vergangenheit letztlich auf Prozesse und ihre negative Selektivität bezieht. Wer Strukturen in der Vergangenheit rekonstruieren will, muß beobachten, was vergangene Gegenwarten erwartet haben und was sie durch diese Erwartung als negative Selektivität angeschlossen haben. Eine solche Beobachtung von Strukturen hat auch Zukunft im Blick, und zwar die gegenwärtige Zukunft vergangener Gegenwarten, die der Beobachtung nur als gegenwärtige Vergangenheit vorliegt. Genauso ist das Erwarten von Prozessen in der Zukunft letztlich eine Orientierung an gegenwärtigen Vergangenheiten zukünftiger Gegenwarten, die – ich erwähne es trotz erheblicher Redundanz – nur als gegenwärtige Zukünfte vorliegen.
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III. Kapitel
kann dies auf die Formel bringen, daß Prozesse die Selektivität der Vergangenheit und Strukturen die Selektivität der Zukunft sicherstellen (vgl. Luhmann 1990f: 141).121
3.
Zeitlichkeit der Systeme und Realität der Zeit
Innerhalb der laufenden Untersuchung habe ich mehrfach angekündigt, daß ich das Problem der Realität der Zeit wiederaufnehmen werde. Das Problem des Realitätsstatus von Zeit hat sich insbesondere anläßlich der Kritik Bieris an Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins angedeutet: Bieri wirft Husserl vor, daß dessen Konstitutionstheorie der Zeit eine objektive Zeitstruktur, die nach einer B-Reihe geordnet ist, implizit voraussetzt, die durch das retentionale und protentionale Zeitbewußtsein, das nach einer A-Reihe geordnet ist, lediglich abgebildet wird. Bieri zieht daraus den Schluß, daß nicht der bewußten A-Reihe, sondern nur deren Konstruktionsprinzip, der B-Reihe, ein Realitätsstatus zukommen kann (vgl. II.1). Würde Bieris Kritik an Husserl zutreffen, hätte dies auch erhebliche Konsequenzen für die hier entwickelte systemtheoretische, operative Zeittheorie Luhmannscher Provenienz. Müßte man tatsächlich eine reale Zeitstruktur voraussetzen, würde die Behauptung der unhintergehbaren Systemrelativität jeder temporalen Operation erheblich erschüttert. Zugleich tritt aber mit einer operativen Zeittheorie, wie ich oben gezeigt habe (vgl. III.2b), die Paradoxie auf, daß Zeit nur in der Zeit vorkommen kann; genauer: daß temporale Beobachtung (Beobachtungszeit) auf die temporale Operation (Zeit der Autopoiesis) angewiesen ist. Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß hier Bieris Begründungsfigur einer objektiven Zeitreihe, die im Bewußtsein (hier: durch Beobachtung) lediglich abgebildet wird, bestätigt wird. Doch auch dieses Problem habe ich bereits andeutungsweise behandelt. Im Rahmen der Explikation des Meadschen Handlungsbegriffs bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß zwar das Nacheinander von Handlungen Bedingung für das – wie ich es genannt habe – Zeitbewußtsein des Handelns ist. Jedoch bildet sich hier nicht, wie Bieri sagen würde, eine B-Reihe als A-Relation ab. Einer solchen Sichtweise habe ich vorgeworfen, sie könne zwar analytisch die B-Reihe als Konstruktionsprinzip einer A-Reihe ansetzen, verkenne aber, daß eine solche B-Reihe, genau genommen, erst durch perspektivische, gegenwartsbasierte, wenn man so will A-Operationen konstituiert wird. Ist also, so die Quintessenz meiner Argumentation, die B-Reihe das analytische Konstruktionsprinzip der A-Reihe, so muß die A-Reihe als operatives Konstitutionsprinzip der B-Reihe konzipiert werden (vgl. II.3b). Damit ist aber das Realitätsproblem bezüglich der Zeit noch gar nicht berührt, geschweige denn gelöst. Ich werde mich deshalb zur Klärung dieser Frage im folgenden dem Problem der Realität von autopoietischen Systemoperationen im allgemeinen und der Zeit solcher Operationen im besonderen zuwenden. Dazu nehme ich unter dem Stichwort „Konstruktivismus und Ontologie“ (a) die Kritik am „Realismus“ der Theorie autopoietischer 121 An dieser Stelle spricht Luhmann allerdings nicht von der Selektivität der Zukunft, sondern von der Selektivität zukünftiger Gegenwarten. Diese Formulierung scheint mir nicht ganz korrekt zu sein, da sich gegenwärtige Erwartungen zunächst auf die Zukunft als Modalzukunft der Gegenwart beziehen. Erst die zukünftigen Prozesse werden zeigen, ob sich die Modalitäten bestätigen oder nicht.
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Systeme von radikal-konstruktivistischer Seite auf, versuche unter dem Stichwort „Autoontologie“ die ontologischen Implikationen einer Theorie autopoietischer Systeme zu klären (b) und komme schließlich auf das Problem der Realität der Zeit zu sprechen (c). a)
Konstruktivismus und Ontologie
Luhmanns Theorie sozialer Systeme beginnt nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel. Das erste Kapitel fängt Luhmann mit der unmißverständlichen Versicherung an: „Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt. (...) Sie beziehen auch nicht die Rückzugsposition einer ,lediglich analytischen Relevanz‘ der Systemtheorie. Erst recht soll die Engstinterpretation der Systemtheorie als eine bloße Methode der Wirklichkeitsanalyse vermieden werden. (...) Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist, und läßt sich damit auf eine Verantwortung für Bewährung seiner Aussagen an der Wirklichkeit ein.“ (Luhmann 1984a: 30) Luhmann läßt nicht den geringsten Zweifel daran, daß er eine „Analyse realer Systeme der wirklichen Welt“ (ebd.) vorzulegen gedenkt und nicht, wie sein Lehrer Parsons, soziale Systeme lediglich als theoretisches Instrument zur Modellbildung ansieht (vgl. Ackerman/Parsons 1976: 72). Zunächst erstaunt diese apodiktische Einstiegsbehauptung insofern, als Luhmanns Theorie sozialer Systeme mit der Annahme steht und fällt, daß Reales, Existierendes, Seiendes nur das Ergebnis systemrelativer Operationen sein kann. Das deontologisierende Interesse der Systemtheorie schließt auf den ersten Blick ontologische Existenzaussagen aus, wenn Seiendes nur systemrelativ ist und ihm keine außerhalb von Systemoperationen wirkende Ur-Sache zukommt, etwa im Sinne einer platonischen Idee, eines aristotelischen unbewegten Bewegers oder einer schöpfungsmythischen creatio ex nihilo. Gleiches müßte auch für die Aussage über die Existenz von Systemen gelten, da die Theorie sozialer Systeme für sich gerade keinen extramundanen Beobachterstandpunkt reklamiert. Als universalistische Theorie, die die Gesamtheit allen kommunikativen Geschehens zu beschreiben sich in der Lage sieht, muß sie als Teil der Gesellschaft selbst in ihrem Gegenstandsbereich vorkommen (vgl. Luhmann 1984a: 9, 33 und 651), was ontologische Aussagen durch die behauptete Deontologisierung ihres Gegenstandes um so unmöglicher macht. Luhmanns realistische, man könnte auch sagen: empirische Theorieanlage hat vielfältige Kritik herausgefordert. Dabei fällt auf, daß die Realitätsunterstellung autopoietischer Systeme weniger von ausgewiesen nicht systemtheoretisch argumentierenden Kritikern beklagt wird (etwa Habermas 1985b; Pfütze 1988; Lipp 1987: 452ff.; vgl. z.T. auch Bühl 1987: 225ff.) als von solchen, die selbst eine systemtheoretische oder konstruktivistische Position vertreten. So wird aus radikal-konstruktivistischer Perspektive Luhmanns Realitätsunterstellung sozialer Systeme als erkenntnistheoretische Naivität eingestuft. Für Schmidt etwa ist schon die Frage nach der Realität sozialer Systeme unsinnig. „,Soziales System‘ ist ein Konstrukt, ein Beobachtungsinstrument, das nach seiner wissenschaftlichen Brauchbarkeit (seiner Problemlösungskompetenz) und nicht nach seiner Wirklichkeitsadäquatheit beurteilt werden muß.“ (Schmidt 1989: 28) Schmidt geht es nicht um eine adaequatio rei et intellectus, sondern allein um die Frage der analytischen Potenz und Kompetenz, die in der Anwendung des Systemparadigmas liegt. Nicht die Realität von Systemen ist für Schmidt die angemessene Frage, sondern, „was man damit gewinnt, wenn man dieses Konzept anwendet und wie man es
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anwendet“ (ebd.: 29). Nach diesem konstruktivistischen Verständnis ist der Systembegriff – wie jeder andere Begriff auch – durch die Linse der je eigenen Beobachtungen gebrochen und kann, da es keine extrakognitiven Kognitionen gibt, den Brechungswinkel der Erkenntniskonstruktion nicht mitberechnen. Der Konstruktivismus trachtet also nicht, die Unterscheidung real/bewußtseinsmäßig zugunsten einer Seite der Unterscheidung zu asymmetrisieren, sondern sieht sich sozusagen als ausgeschlossenen Dritten dieser Kontextur.122 Radikale Konstruktivisten wie etwa Ernst von Glasersfeld sehen in einer solchen Theorieanlage die Möglichkeit verbürgt, ontologische Selbstfestlegungen philosophischer Denksysteme zu überwinden (vgl. v. Glasersfeld 1987: 404f.). Sie binden jede Aussage an die konstruktiven Akte eines Beobachters und begeben sich der Möglichkeit, Ontologie im Sinne der klassischen Metaphysik zu betreiben. Nicht mehr, was das „Seiende, sofern es seiend ist“ (Aristoteles: Met IV. 1003a 21), ist, kann Gegenstand konstruktivistischer Wissenschaftsauffassung sein, sondern allein die Frage, wie dieses Seiende konstruiert wird. Ich habe bereits oben ausführlich darauf hingewiesen, daß die konstruktivistische Epistemologie zwar eine entscheidende Weiterentwicklung traditioneller Erkenntnistheorien darstellt, daß aber seit Kant die Motive epistemologischen Fragens kaum variiert worden sind. Zugleich bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß sich mit der konstruktivistischen Engführung aufs Bewußtsein und den daraus resultierenden Konzepten „konsensueller Bereiche“ (Maturana) oder der „Synreferentialität“ (Hejl) die gleichen Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Sozialen ergeben wie bei intersubjektivitätstheoretischen Ansätzen. Ich klammere diese Fragen hier aus und verweise auf die entsprechenden Ausführungen (vgl. III.1b). Im folgenden beschränke ich mich lediglich auf den formal-epistemologischen Aspekt. Für den dezidiert als analytische Theorie konzipierten Konstruktivismus muß Luhmanns Realitätsunterstellung ohne Zweifel problematisch sein. Schmidt wirft Luhmann gar eine Ontologisierung des Systembegriffs vor, mit der Konsequenz, daß Luhmanns Annahme ihn selbst der Möglichkeit berauben müsse, die Kontingenz von Realitätskonstruktionen in seine Theorie einbauen zu können (vgl. Schmidt 1989: 30). Konsequent zu Ende gedacht, ist dieser Vorwurf gleichbedeutend mit der Annahme, Luhmann falle noch hinter die in der sogenannten alteuropäischen Tradition liegende Kritik der Ontologie als spekulative Metaphysik zurück. Ich werde im folgenden also zunächst zu prüfen haben, in welcher Weise sich das, was unter den philosophischen Titeln Ontologie und Metaphysik firmiert, aus der Perspektive der Theorie selbstreferentieller Systeme darstellt. Als Ontologie bezeichnet Luhmann diejenige Form der Beobachtung, „die in der Unterscheidung Sein/Nicht-Sein besteht“ (Luhmann 1990h: 17).123 Eine solche Unterscheidung klärt über das Sein bzw. Nicht-Sein von etwas auf. Dieses Etwas wird als Seiendes, 122 Den Begriff der Kontextur als den Realitätsbereich einer zweiwertigen Unterscheidung habe ich bereits oben mit Gotthard Günther eingeführt (vgl. III.1b). Was nach dem Grundsatz des tertium non datur aus dem Realitätsbereich der Kontextur herausfällt, kann demnach als ausgeschlossenes Drittes behandelt werden. Es ist, wie Eva Meyer treffend formuliert, in der Umgebung einer Kontextur angesiedelt, denn aus jeder Unterscheidung resultiert ein „Unterschied, der eine Umgebung schafft“ (Meyer 1991: 110). Zur Anwendung dieser Denkfigur vgl. auch meinen Versuch, die Theorie sozialer Systeme als ausgeschlossenes Drittes der Unterscheidung modern/postmodern bzw. universalistisch/partikularistisch zu bestimmen (vgl. Nassehi 1991a: 208ff.). 123 An anderer Stelle habe ich ähnlich argumentiert, jedoch den Ontologiebegriff anders gebraucht, als Luhmanns Definitionsversuch hier vorgibt (vgl. Nassehi 1992). Ich komme auf diesen erweiterten Ontologiebegriff jedoch weiter unten zurück (vgl. III.3b).
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als etwas, das ist, als Ding bestimmt, dem man bestimmte Eigenschaften, Komponenten etc. zuweisen kann. Das Dingschema, also die Konzentration der Beobachtung auf die Sachdimension, ist sozusagen das sinnhafte Korrelat der ontologischen Weltform (vgl. Luhmann 1984a: 115 und 193). Es geht der klassischen Ontologie also, um noch einmal Aristoteles’ Formel aufzugreifen, um das Seiende, insofern es seiend ist.124 Der radikal-konstruktivistische Vorwurf an die Adresse Luhmanns besteht also letztlich in der Behauptung, daß die Aussage „Es gibt soziale Systeme“ oder auch allgemeiner „Es gibt etwas“ das Bezeichnete in einer ontologischen Weltform wiedergibt. Man kann nicht leugnen, daß es die ontologische Behandlung der Welt gibt. Ich will damit nicht das Problem auf die Spitze treiben, wovon man noch behaupten kann, daß es es gebe. Es gibt Vieles, und es ist nicht möglich, alles Seiende aufzuzählen. Bei genauem Lesen wird man jedoch feststellen, daß ich gar keine Aufzählung von Gleichartigem, i.e. Seiendem, begonnen habe. Denn: Daß es die Behandlung der Welt mit der ontologischen Unterscheidung gibt, unterscheidet sich davon, daß es etwas gibt. Im Klartext: Im zweiten Fall liegt das Dingschema vor: Etwas ist, was es ist, und es ist nicht, was es nicht ist. Im ersten Fall dagegen wird nicht ein Seiendes in seinem Was mit dem Existenzsiegel versehen, sondern ein Wie, ein Vorgang, genauer: eine Operation, die eine Beobachtung ist. Was macht hier den Unterschied? Der Unterschied liegt darin, daß die erste Existenzaussage nicht einfach ein Beobachtungsschema (hier: Sein/Nicht-Sein) anwendet, sondern daß sie beobachtet, wie eine Beobachtung (hier: Sein/Nicht-Sein) beobachtet und wie sich daraus eine Kontextur ergibt, in der nichts anderes gesehen werden kann als das, was die Unterscheidung unterscheidet. Es handelt sich hierbei um Beobachtung zweiter Ordnung, also um eine Beobachtung, die sehen kann, daß Beobachtungen (inklusive der eigenen) nicht sehen können, was sie nicht sehen können. Man stellt dann fest: Wer ontologisch/ontologisierend beobachtet, teilt die Welt ein in Sein und Nicht-Sein und wird feststellen, daß wir es immer mit Seiendem zu tun haben, ob man nun einen Hammer ergreift, ein Buch aufschlägt oder jemanden nach dem Weg fragt. Das ausgeschlossene Dritte dieser ontologisierenden Unterscheidung wäre dann etwa die Frage, wie ein Beobachter Seiendes bewußtseinsmäßig oder kommunikativ konstituiert. Solch alltäglicher Umgang mit Seiendem rechnet mit einer Seinswelt, die nicht explizit die Zweiwertigkeit als Beobachtungsschema reflektiert. Das tut nur die explizite, theoretische Beobachtung von ontologischem Umgang mit der Welt.125 Die Welt wird dann vielmehr als einwertige Realität erfahren. 124 Nur als Hinweis: Wenn die ontologische Weltform auch die gesamte abendländische Philosophie durchzieht, taucht der Begriff Ontologie als Lehre vom Sein erst im Übergang vom 16. zum 17. Jahrundert auf (vgl. Wolf 1984: 1189ff.). 125 Zur Erläuterung: Im alltäglichen Hantieren mit Seiendem entscheiden wir uns nicht unterscheidend für das Sein und gegen das Nicht-Sein von Seiendem. Das Identifizieren von Dingen unterscheidet normalerweise das Wahrgenommene, Fokussierte von allem anderen, um es auf dem Bildschirm der Aufmerksamkeit registrieren zu können. Diesem Umstand trägt Luhmann Rechnung, indem er eine weitere Unterscheidung einführt, nämlich die zwischen Ding und Begriff. So legt die Beobachtung von Seiendem „nicht fest, von welchen Unterscheidungen der Beobachter ausgeht. Im täglichen Leben wird es sich zumeist um Referenten handeln, die von allem anderen unterschieden werden. Wir nennen sie Dinge. Beim Invarianzenlernen höherer Stufe wird spezifiziert, von was der Referent unterschieden wird – zum Bespiel eine gute Zensur von einer schlechten Zensur (und nicht vom Lehrer, von den Schulbüchern etc.). Wir wollen solche Referenten Begriffe nennen.“ (Luhmann 1990h: 23) Für eine theoretisch fruchtbare Analyse hat man sich selbstverständlich an Begriffe zu halten, nicht an die naive Seinsunterstellung von Seiendem in Dingen.
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Einfache Beobachtungen erster Ordnung „rechnen mit einer einwertigen Realität. Das Seiende ist, was es ist; und falls sich herausstellen sollte, daß es nicht das ist, was es zu sein schien, hat der Beobachter sich getäuscht.“ (Luhmann 1989a: 329) Es wäre naiv, das Es gibt ontologischer Weltformen zu leugnen oder gar – ideologiekritisch! – gegen solche Weltformen vorzugehen. Noch weiter: „Gegen ontologisierendes Beobachten ist im Prinzip nichts einzuwenden. Wir tun es jeden Tag (...). Das Problem der ontologischen Metaphysik liegt in der Reduktion aller Unterscheidungen, den Beobachter selbst und seinen Wahrheitsanspruch eingeschlossen, auf die ontologische Unterscheidung von Sein und Nicht-Sein.“ (Luhmann 1990h: 19) Wer allein mit dieser Unterscheidung beobachtet, kann das, was er bezeichnet, immer nur als Seiendes im Sinne des Dingschemas erkennen. Eine solche Beobachtungsweise setzt Beobachtetes von bestimmter Qualität voraus: Es muß mit sich identisch sein, also qua eigenem Sein so sein, wie es ist.126 Die vorausgesetzte Identität des Seienden setzt also das ontologisch Bezeichnete als Seiendes an, das sich durch Bezeichnung im Bezeichnenden abbildet (vgl. ebd.). Koppelt man diesen Identitätsbegriff und das explizierte Verständnis von Ontologie auf die radikal-konstruktivistische Kritik an Luhmanns Existenzbehauptung sozialer Systeme zurück, müßte dieser Vorwurf also meinen: Die Behauptung „Es gibt Systeme“ setzt eine selbstgenügsame, substanzontologische Identität des Systems voraus; sie behandelt Systeme wie Dinge, denen Eigenschaften zugeschrieben werden, die als substantielle Eigenschaften das Sosein des Systems ausmachen. Der Vorwurf ontologisierender Theorievoraussetzungen an die Adresse der Theorie autopoietischer Systeme ist nach dem Gesagten also nur haltbar, wenn es stimmt, daß sie Systeme in ihrem – traditionell gesprochen – So-Sein schlicht voraussetzt. Es geht ihr jedoch – wie ich im folgenden zeigen möchte – nicht um das Sein der Systeme, sondern darum, wie diese sich durch eigene Operationen hervorbringen, erhalten und in ihren Operationen fortsetzen. Es ist nicht das Sein, sondern das selbstreferentielle, kontingente Operieren von Systemen, das die Systemtheorie beobachtet und das sie in die Lage versetzt, den Systembegriff als Beobachtungsinstrument einzusetzen. Diese Formulierung enthält einen stark selbstreferentiellen Bezug. Sie trägt – gut konstruktivistisch – dem Umstand Rechnung, daß die Verwendung einer systemtheoretischen Begrifflichkeit selbstverständlich beobachterrelativ zu verstehen ist. Etwas mit systemtheoretischen Unterscheidungen wie System/Umwelt, Selbstreferenz/Fremdreferenz, Operation/Beobachtung, Struktur/Prozeß oder psychisch/ sozial zu beobachten, heißt nicht, daß es in der Umwelt dieser systemgenerierenden Unterscheidungen operative Entsprechungen gibt. Es ist zwar möglich, daß sich etwa eine Organisation im Hinblick auf die semantische Unterscheidung System/Umwelt beobachtet, aber das ist eher die Ausnahme (und setzt eine vorherige Infektion mit systemtheoretischer Semantik bereits voraus). Systemtheoretisches Beobachten ist – wie jedes andere auch – systemrelatives, beobachtergebundenes Beobachten, das keinen Ort außerhalb seiner kennt, wie die Unterscheidung von System und Umwelt impliziert. Die Unterscheidung von System und Umwelt, so Luhmann, „zerschneidet nicht die Gesamtrealität 126 Bei Aristoteles heißt es: „(...) jedes einzelne Ding gilt für nichts anderes als für sein eigenes Wesen und das Sosein wird eben als das Wesen jedes einzelnen bezeichnet.“ (Met.: VII, 1013a) Entscheidend ist, daß das Dingschema hier ein wesenhaftes Sosein der Dinge bezeichnet, deren Identität von überschießenden, im Aristotelischen Idiom: akzidentellen Merkmalen nicht berührt wird.
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in zwei Teile: hier System und dort Umwelt. Ihr Entweder/Oder ist kein absolutes, es gilt vielmehr nur systemrelativ, aber gleichwohl objektiv“ (Luhmann 1984a: 244). Objektiv heißt hier nicht: beobachterunabhängig, sondern das durch Beobachtung als Umwelt Konstituierte ist das einzige Objekt, das Systeme kennen können, nämlich die systemrelative Beobachtung dessen, was in der Umwelt als Objekt behandelt wird.127 Was so als Beobachtetes in der Beschreibung konstituiert wird, ist für das System real. Das gilt ebenso für wissenschaftliche Aussagen systemtheoretischer Provenienz, die damit ohne weiteres die Realität sozialer und psychischer Systeme behaupten können. Daß der radikale Konstruktivismus, der die Beobachtertheorie, die der Theorie autopoietischer Systeme zugrunde liegt, teilt (vgl. erst jüngst Schmidt 1991b), dennoch aber dem Luhmannschen Ansatz eine Ontologisierung des Systembegriffs vorwirft, scheint mir darauf hinzudeuten, daß sich dieser Konstruktivismus radikaler gibt, als er letztlich ist. Indem die explizite Realitätsunterstellung sozialer Systeme (und: von etwas überhaupt) abgelehnt wird, scheint so etwas wie eine beobachtungsunabhängige Realität sui generis zumindest als Desiderat immer noch geführt zu werden. Es ist hinter Maturanas Versicherung, daß zwischen Wahrnehmung und Illusion letztlich nicht unterschieden werden kann (vgl. Maturana 1990a: 14) fast ein trauriger Verzicht zu vermuten, zumindest aber eine Kapitulation vor dem Realitätsproblem, die den eigentlichen Ertrag des konstruktivistischen Ansatzes nicht zur Geltung kommen läßt.128 Man hat den radikalen Konstruktivismus unterschiedlich interpretiert; es scheint aber darauf anzukommen, ihn zu radikalisieren. Ich möchte die Kapitulation des radikalen Konstruktivismus vor dem Realitätsproblem zunächst ohne Engführung auf die Theorie autopoietischer Systeme demonstrieren, und zwar kurioserweise unter Rekurs auf einen Autor, der selbst einem Kantschen, transzendentalen Erkenntnisbegriff verpflichtet ist. Diese Kapitulation verdankt sich m.E. erkenntnistheoretischen Annahmen, die Carl Friedrich Gethmann – übertreibend – eine „popularphilosophische Auffassung“ (Gethmann 1973: 1168) nennt. Er meint damit, die Realität der Gegenstände bewußtseinsmäßiger Erkenntnis an ihr bewußtseinsunabhängiges So-Sein zu binden. Zum Problem wird dann nur die Gegebenheit des Ansichseienden „für uns“ mit der Grundfrage „Ist außerhalb unserer selbst etwas?“ Setzt man so an, muß aus konstruktivistischer Sicht das Realitätsproblem in der Tat als unlösbar gelten. Anders dagegen Gethmanns Verständnis: „Nicht die Frage, ob es außerhalb des Subjekts noch eine von ihm unabhängige (,objektive‘) Gegenstandswelt gibt, macht das philosophische Problem der Realität aus, sondern ob im Sich-Wissen des Subjekts alles Wissen von etwas bereits impliziert ist, oder das Wissen von etwas durch Bedingungen außerhalb des Wissens mitbedingt (...) ist.“ (ebd.: 1169f.) Gethmanns Präferenz liegt – gut kantianisch – auf der ersten Möglichkeit: Im Sich-Wissen des Subjekts ist alles Wissen von etwas bereits impliziert, 127 Objekt ist hier – auch terminologisch – nicht im Sinne des Dingschemas gemeint, sondern als Reminiszens an den klassischen Objektbegriff, der als Gegenbegriff zum Subjekt etwas Für-sich-Seiendes meinte. Die systemtheoretische Reformulierung des Objekt-Begriffs meint dagegen die systemrelative Generierung von Umwelt. Vgl. auch Husserls Begriff des immanenten Objekts (vgl. Husserliana III: 223ff.). 128 Womöglich bildet die Unterscheidung Wahrnehmung/Illusion die ontologische Unterscheidung Sein/Nicht-Sein lediglich ab und läßt dann – im Unterschied zur Tradition – lediglich offen, auf welcher Seite der Unterscheidung man sich gerade befindet. Das scheint mir aber die paradoxe Auswirkung zu haben, daß eine Unterscheidung vorliegt, die nichts unterscheidet, damit nichts bezeichnet – und doch da ist. Womöglich ein Beweis für die Realität der nichts (!) unterscheidenden Unterscheidung?
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d.h. Fremdreferenz ist nur über mitlaufende Selbstreferenz gewährleistet. Die Selbstreflexion der Erkenntnistheorie – als Beobachtung der Beobachtung von Beobachtungen – verdeutlicht, daß man sich in einen epistemologischen, reflexionsphilosophischen Zirkel verwickelt, wenn man qua Bewußtsein Reales als Reales behandelt, ohne das Bewußtsein, i.e. den Beobachter mitzubedenken, denn die einzige subjektbasierte Realitätsgarantie des Seienden ist – so Gehtmann – das Sich-Wissen des Subjekts, also: selbstreferentielles Operieren. Nun kann man, wie der radikale Konstruktivismus (vgl. Schmidt 1989: 38), das Bewußtsein schlicht als real voraussetzen.129 Doch dabei tritt erneut ein Zirkel ein, denn warum soll das Bewußtsein als einzig Reales in einer Welt, die als Realität nicht zugänglich ist, bestehen bleiben? Gethmann gibt dagegen zu bedenken, daß der epistemologische Widerspruch nur dann auftritt, wenn man Bewußtsein qua Bewußtsein als etwas „Reales unter Realem und nicht als Vollzug von Realem“ (Gethmann 1973: 1170) ansieht. Laut Gethmann muß allererst geklärt werden, unter welchen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen Reales als Reales behandelt werden kann – und dazu gehört auch der Selbstreferenztest des Bewußtseins. Luhmanns Kritik am Identitätsbegriff setzt ähnlich wie Gethmann an. Für Luhmann (und übrigens auch für den radikalen Konstruktivismus) ist – ich habe es bereits im Rahmen der Erläuterung prozessualer Selbstreferenz erwähnt (vgl. III.2c) – das Problem der Identität nicht durch eine Was-Frage, also nicht im Dingschema zu lösen. Aus der Sicht autopoietischer Systeme geht es vielmehr um Wie-Fragen, also im Gethmannschen Idiom um den Vollzug von Realem (vgl. Luhmann 1990h: 21). Die Attraktivität von Gethmanns Realitätsverständnis ist der Versuch, von einer erkennenden Substanz auf Dynamik und damit auf Zeit umzustellen. Der Vollzug von Realem bringt Zeit hervor und schafft sich damit erst die Beobachtungsverhältnisse, durch die das System qua gegenwartsbasierter Beobachtung auf die Einheit der (temporalen) Differenz der das System vollziehenden Operationen referieren kann. Die Vergegenständlichung des erkennenden Systems wird so von Luhmann zugunsten der Dynamisierung der Systemoperationen durch temporalisierte Elemente vermieden. Ähnlich wie in Gethmanns Reformulierung des Realitätsproblems betont Luhmann, daß „Kommunikation die einzige Realitätsgarantie des sozialen Systems“ (Luhmann 1984a: 604) ist.130 Diese auf die emergenten Eigenschaften temporalisierter Operationen abgestellte Theorie behandelt Systeme als solche, die sich und damit anderes in ihrem Operieren als real erleben. Nur im Rahmen desjenigen Umweltkontaktes, den sich ein System qua Konstitution einer je eigenen System/Umwelt-Differenz selbst verschafft, kann das Erkannte als real behandelt werden. Es stellt sich hiermit ein zweites Mal heraus, daß es letztlich Zeit ist, die das selbstreferentielle Operieren eines autopoietischen Systems ermöglicht. Oben habe ich in Auseinandersetzung mit Franks Kritik am Reflexionsmodell gezeigt, daß die Entparadoxierung 129 Womit sozusagen lediglich von Substanz auf Subjekt umgestellt wird. Das birgt jedoch die soziologisch bedeutsame Konsequenz, beim begrüßenswerten Verzicht auf einen allgemeinen Begriff des Subjekts die Koinzidenz der nun individualisierten Bewußtseine in Form einer intersubjektiven Welt wieder einzuführen (vgl. dazu III.1b). 130 Daß Gethmann als Kantianer nur die Systemreferenz Bewußtsein kennt und daß Luhmann aufgrund der dargestellten Theorie geschlossener, autopoietischer psychischer und sozialer Systeme den formal-epistemologischen Ertrag transzendentalphilosophischer Ansätze auf soziale Systeme anwenden kann, muß nicht eigens erwähnt werden, was hiermit trotzdem geschehen ist.
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des sich selbst beobachtenden Systems per Zeit geschieht, daß also Zeit die Zirkularität der Selbstbezüglichkeit zeitweise aufhebt. Hier nun läßt sich sehen, daß sich Systeme nur dann als real erleben, wenn sie in der Lage sind, ihre temporalisierten Operationen selbstreferentiell zu erfahren und so per Selbstbeobachtung sowohl auf sich als auch auf Umwelt zu rekurrieren in der Lage sind. Das Sich-Wissen von Systemen ist immer eine temporale Operation, da eine gegenwärtige Beobachtung Relationen zu nicht gegenwärtigen Operationen des Systems herstellen muß. Realität muß im Rahmen einer solchen Theorie nur dann preisgegeben werden, wenn man sie nur als Ergebnis einer Beobachtung ansieht, die mit der ausschließlichen Verwendung der Unterscheidung Sein/Nicht-Sein operiert. Wenn man dagegen der Einsicht folgt, daß jede Operation eines autopoietischen Systems sozusagen eine Realität der Operation in der Zeit entstehen läßt, verliert der Realitätsbegriff seine ontologische Würde. Es ist dann sogar möglich, dem System eine Identität zu unterstellen; allerdings nicht nach der ontologischen Weltform, sondern im Sinne der temporalisierten Form einer operativen Ausbildung von Identität. Identität muß somit auf Identitätsbildung umgestellt werden. Auch dies verweist auf Zeit: Wie Luhmann zeigt, ist Identitätsbildung sozusagen ein „Kondensat einer Mehrheit von Operationen“ (Luhmann 1990h: 22). Ich verstehe dies im Sinne einer sich durchhaltenden Struktur, einer Art von Stilbildung oder Eigenwerten (vgl. v. Foerster 1985: 210), die sich gegen Umwelteinflüsse relativ stabil hält. Im Falle sozialer Systeme wäre etwa an familiale Gewohnheiten, an Führungsstile innerhalb von Organisationen oder an die Philosophie eines Dienstleistungsunternehmens zu denken; im Falle psychischer Systeme an individuell typische Reaktionsmuster, Assoziationen und Verstehensleistungen oder an zeitfeste, wiederkehrende biographische Muster.131 All diese systemund beobachtungsrelativen Identitäten verweisen auf systemgebundene Operationen, die je für sich nicht nur eine Konstruktion einer Wirklichkeit herstellen, sondern die diese Wirklichkeit per Konstruktion überhaupt erst hervorbringen. Es entstehen so Realitäten eigener Art, in die ein theoretischer Beobachter nur dann ontologische Realitäten hineinvermuten kann, wenn nicht die Operationsweise eines sozialen oder psychischen Systems in einer multizentrischen Welt von System/Umwelt-Differenzen als einzige Realitätsgarantie anerkannt wird, die eine Theorie der Polykontexturalität der Welt allein noch konzedieren kann. Erst wenn man eingedenk eines solchen operationsfähigen Realitätsverständnisses sich von einem Realitätsbegriff löst, der dem ontologischen Dingschema von Sein/Nicht-Sein nachempfunden ist, verändert sich die epistemologische Ausgangssituation vom Sein des Systems zu seiner Operationsweise.132 Es sollte deutlich geworden sein, daß der Vorwurf der Ontologisierung des Systembegriffs die Theorie autopoietischer Systeme gar nicht treffen kann, sondern daß dieser 131 Die Psychologie reagiert auf die Zeitfestigkeit von Bewußtseinsstrukturen entweder quasi-substantialistisch mit Charakterkunde (vgl. Künkel 1971) oder aber – mit stärkerem Einbau von Kontingenz und dem autologischen und genetischen Aspekt der psychischen Struktur betonend – mit Selbstkonzeptmodellen (zum Überblick vgl. Stahlberg/Gothe/Frey 1988: 681ff.). 132 Die neue, „trans-klassische“ Ausgangssituation der Epistemologie als Einheit der Differenz von Erkenntnis und Realgegenstand (vgl. Luhmann 1988b: 8) stellt sich in Günthers Formulierung so dar: „a)das klassische Denken (erste Reflexion) thematisiert „Sein“ b)das transklassische Denken (zweite Reflexion) thematisiert das Denken in a).“ (Günther 1976a: 154) Theoretische Äquivalente dazu sind: Umstellung von Was- auf Wie-Fragen; Beobachtung zweiter Ordnung; second-order-cybernetics.
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Vorwurf letztlich auf implizite Hintergrundannahmen des Kritikers zurückschlägt. Ontologie im alten Sinne liegt nur dann vor, wenn sich theoretisches Beobachten allein auf die Sein/Nicht-Sein-Unterscheidung stützt. Daß diese Unterscheidung möglich ist und alltäglich angewandt wird, ist unbestritten. Ebenso unbestritten sollte aber sein, daß diese Unterscheidung für eine theoretisch anspruchsvolle soziologische Beobachtung nichts mehr taugt; nichts mehr, weil gesellschaftsstrukturelle Umstellungen, auf die ich weiter unten zu sprechen komme (vgl. IV.4 und 5), eine Umstellung von Theorie erforderlich gemacht haben und nicht, weil sie per se falsch wäre. Denn: Wer sollte das behaupten, ohne zu beobachten, wie und warum er beobachtet, wie er beobachtet?
b)
Autoontologie
Nachdem der Nachweis geführt wurde, daß es der Theorie autopoietischer Systeme keineswegs widerspricht, die Realität von etwas im allgemeinen und von Systemen im besonderen zu behaupten, möchte ich im folgenden eine Problemverschiebung vornehmen, die ein differenzierteres Verständnis des ontologischen Status von Luhmanns Theorie erlaubt. Dazu ist die Aufmerksamkeit zunächst auf diejenigen operativen Zusammenhänge zu richten, in denen ein autopoietisches soziales oder psychisches System Realität konstituiert. Die Reformulierung des Realitätsproblems von der Frage nach der Existenz einer außerhalb der Beobachtung liegenden Welt in Richtung der Realität des operativen Vollzuges eines Beobachters gibt dem Realitätsproblem zwar eine neue Gestalt, indem das klassische Subjekt/Objekt-Schema durch die systemrelative Konstitution von System/Umwelt-Differenzen abgelöst wird. Das dispensiert jedoch nicht von der Frage, wie die Realität der Beobachtung, besser: des Beobachteten, zustande kommt. Bis jetzt habe ich lediglich herausgearbeitet, daß Kommunikation ihre eigene Realitätsgarantie ist: Kommunikation ist Kommunikation.133 Reale Kommunikationen geben sich allerdings nicht mit dieser Tautologie zufrieden, die letztlich paradox ist. Denn Tautologien sind Unterscheidungen, die nichts unterscheiden. Sie negieren damit, daß das, was sie unterscheiden, einen Unterschied macht. Sie nehmen so die Form einer Paradoxie an, denn sie negieren sich selbst (vgl. Luhmann 1987a: 170; vgl. auch Esposito 1991). Wie soll aber eine Kommunikation zustandekommen, wenn nichts geschieht außer einer bloßen Tautologiegefahr? Es muß also etwas unterschieden werden – und schon kann man nicht mehr anfangen, weil man schon operiert, also schon angefangen hat. „Für jede Art von Selbstreferenz stellt sich (...) das Problem des Unterbrechens eines tautologischen Zirkels. Das bloße Hinweisen des Selbst auf sich selbst muß mit Zusatzsinn angereichert werden“ (Luhmann 1984a: 631), also mit sinnhaften Selektionen, wie sie in Situationen doppelter Kontingenz (vgl. III.1a) vorgenommen werden. Kommunikation, so könnte man in Anlehnung an Husserl sagen, ist immer Kommunikation von etwas. Würden solche Anfangsselektionen nicht geleistet, würde Selbstreferenz unbestimmte, haltlose Komplexität produzieren, mit der Folge, daß kein Selektionsspielraum für weitere Selektionen zur Verfügung stehen könnte (vgl. ebd.: 59; vgl. auch Luhmann 1990g). Damit selbstreferentielle Systeme überhaupt zum Operieren kommen, muß die drohende tautologische Schleife, der „strange loop“ (Hoftstadter) durch133 Analog gilt selbstverständlich: Bewußtsein ist seine eigene Realitätsgarantie: Bewußtsein ist Bewußtsein.
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brochen werden. Dies geschieht durch Unterscheiden, was einen Unterschied, eine Differenz, eine Grenze, einen Schnitt in die Welt setzt. Draw a Distinction! (Spencer Brown 1971: 3) – so lautet die Anweisung, die man nicht hören kann, denn jedes Begonnenhaben hat sie bereits erfüllt. Indem ein System diese erste Anweisung befolgt hat, hat es durch Unterscheidung bereits eine Beobachtung generiert, die einen Realitätsbezug zur Welt herstellt. Realitätsbezug läßt sich danach verstehen als Einheit der Differenz zwischen dem Vollzug der Autopoiesis des operierenden Systems und dem Gegenstand der Beobachtung. Realität stellt sich damit als eine in der Operation emergierende Größe heraus, die sich mit der Enttautologisierung selbstreferentieller Zirkel ergibt. Operationen autopoietischer Systeme sind darauf angewiesen, durch Selektion den unendlichen tautologischen Zirkel zu vermeiden. Sie leisten dies insbesondere durch „Blockieren der Beobachtung“ (Luhmann 1987a: 170). Dabei wird zunächst ein weiteres Dekomponieren der Elemente des Systems blockiert, denn als Element fungiert jeweils nur das, „was für ein System als nicht weiter auflösbare Einheit fungiert“ (Luhmann 1984a: 43). Allein das stellt sicher, daß sich Kommunikation bzw. Bewußtsein als autologische Realitäten erleben können; Kommunikation behandelt nur Kommunikationen als Elemente des Systems und kann Psychisches allenfalls kommunikativ – also wieder: per kommunikativen Elementen – thematisieren. Und Psychisches kennt als Letztelement nur Gedanken, nicht aber seinen neuronalen oder organischen Unterbau – es sei denn via Bewußtsein. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß einem Beobachter (etwa: einem Systemtheoretiker) die Elemente eines Systems nicht als Zusammengesetztes erscheinen können. Es bedeutet lediglich, daß soziale und psychische Systeme ihre Elemente selbst nicht weiter dekomponieren können, weil sie, um ihren Unterbau zu beobachten, neue Elemente produzieren. Neben der Blockade der Dekomposition der elementaren Systemeinheiten findet eine Beobachtungsblockade auch auf der Ebene der Relationen statt. Streng genommen, können Systeme Relationen von Elementen ad infinitum betreiben, verlieren dann aber ihren komplexitätsreduzierenden und -aufbauenden Zugriff auf ihre Operationen. Aus diesem Grunde greifen Systeme auf vorgängige Asymmetrisierungen zurück, d.h. daß „ein System zur Ermöglichung seiner Operationen Bezugspunkte wählt, die in diesen Operationen nicht mehr in Frage gestellt werden, sondern als gegeben hingenommen werden müssen“ (ebd.: 631). Solche Bezugspunkte sind nichts anderes als Unterscheidungen, mit denen ein System immer schon begonnen haben muß, um weiter operieren zu können. Als objektive, nicht weiter hintergehbare Realität muß sich einem System dann das darstellen, was durch solche blinden Unterscheidungen als Realität erscheint. Es handelt sich hierbei um zweiwertige Kontexturen im Sinne Günthers, nämlich um solche, die mit einer bestimmten Unterscheidung operieren, die selbst nicht wieder unterschieden werden kann (Günther 1979b: 189). Es entstehen so mono-kontexturale Wirklichkeitsbereiche, die ihre Wirklichkeit ohne jeden Zweifel als real ansehen, weil monokontexturale Bereiche nur monothematische Wirklichkeiten kennen. In der Formulierung Luhmanns: Es handelt sich um Beobachtungen erster Ordnung, also um das bloße Handhaben von Unterscheidungen. Solche einfachen Beobachtungsschemata lassen die „Welt als Seinswelt erfahren (...). Das Seiende ist, was es ist“ (Luhmann 1989a: 329). Koppelt man diesen Sachverhalt von der Engführung auf die ontologische Unterscheidung von Sein und Nicht-Sein ab und erweitert ihn auf
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Systemoperationen schlechthin, stellt man fest, daß jede systemische Operation mit einer unhintergehbaren monothematischen, zweiwertigen Kontextur beginnt. Auch unter Bedingungen, die eine Beobachtung zweiter Ordnung, also Beobachtung von Beobachtung, ermöglichen (oder erzwingen), bleibt die Blockade der eigenen Beobachtung in Kraft. „Jede Beobachtung braucht ihre Unterscheidung und also ihr Paradox der Identität des Differenten als ihren blinden Fleck, mit dessen Hilfe sie beobachten kann. Ein anderer Beobachter kann auch dies nur beobachten – aber nur bei anderen, nicht bei sich selber.“ (Luhmann 1990i: 123) Dazu muß der Beobachter wiederum Unterscheidungen verwenden, die für ihn nicht unterscheidbar sind. Daraus ist die Konsequenz zu ziehen, daß – um mit Gotthard Günther zu sprechen – nicht nur alle monothematischen Kontexturen „erster Reflexion“ zweiwertig sind, sondern auch alle theoretische, i.e. mehrwertige, weil Zweiwertigkeit beobachtende Reflexion an Zweiwertigkeit gebunden ist. Auch sie ist unhintergehbar an eine, nämlich ihre monothematische Kontextur gebunden (vgl. Günther 1976a: 155f.; Spencer Brown 1971: 105f.).134 „Auch Beobachten des Beobachtens ist ja nichts anderes als Beobachten. Auch dies ist in seiner Weise Beobachtung erster Ordnung. Auch dies kann die eigenen Horizonte nicht durchstoßen. Auch es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann aber durch Einbau von Erfahrungen mit Beobachtung zweiter Ordnung Rückschlüsse auf sich selbst ziehen. Es kann wenigstens sehen, daß es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann.“ (Luhmann 1989a: 334) Eine Beobachtung zweiter Ordnung unterscheidet sich also operativ nicht von jeder anderen Beobachtung, wohingegen solche anspruchsvollen Beobachtungen sehr wohl in der Lage sein können, sich selbst darüber aufzuklären, daß auch ihre eigene Beobachtung unterscheidungsbedingte, entparadoxierende blinde Flecke hat, die unsichtbar bleiben. Unter solchen Beobachtungsverhältnissen, deren soziale Genese hier noch nicht interessieren soll (vgl. dazu IV.5a), kann gelernt werden, daß andere Beobachtungen zu anderen Weltkonstitutionen führen und daß andere Unterscheidungen andere blinde Flecke haben als die eigenen. Erst hier wird das Realitätsproblem relevant, denn wenn Weltbeschreibungen stets die gleiche beobachtungsgenerierende Unterscheidung verwenden, bleibt Gegenstandskonstitution unproblematisch. Sobald aber festgestellt werden kann, daß andere Unterscheidungen andere Beobachtungen hervorbringen, geht man einer Realität verlustig, die vormals als objektiv, als ontologisch unbezweifelbar erschien. Zieht man daraus aber die Konsequenz, daß Realität damit unerreichbar und nicht zweifelsfrei bestimmbar, weil auch anders beobachtbar wird, hält man an einem Realitätsbegriff einer monokontexturalen Welt fest, um Realitätskonstitution in einer polykontexturalen Welt zu erklären. Allein darauf zielen meine kritischen Anmerkungen an die Adresse des radikalen Konstruktivismus, der sein Versprechen, von Was- auf Wie-Fragen umzustellen, offenbar nur halbherzig einlöst. Ich möchte aber auf etwas anderes hinaus: Zwar meine ich, plausibel gezeigt zu haben, daß der Vorwurf der Ontologiebildung bei der Unterstellung der Realität sozialer Systeme die Autopoiesistheorie nicht trifft. Gleichwohl aber sehe ich in dem Umstand, daß Systeme 134 An anderer Stelle geht Günther gar so weit, daß schon die physische Konstitution des Menschen diesen unüberwindbar zu zweiwertigen Operationen zwinge, daß aber die Fähigkeit sinnhafter Abstraktion mehrwertige Operationen erlaube (vgl. Günther 1967: 67). Ich vermute, daß Günther hier eine womöglich unterscheidungsfreie, also ontologische Aussage über die Welt macht, die jenseits kontextureller Beschränkungen angesiedelt zu sein scheint. Diese Vermutung wäre genauer zu überprüfen.
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immer an entparadoxierende Invisibilisierungen und an die irreduzible Zweiwertigkeit ihrer Operationen gebunden sind, ontologische Implikationen. Letztlich bleibt nämlich – trotz Luhmanns Behauptung einer radikalen Deontologisierung – jede Systembildung ontologisch, indem nämlich jeder autopoietische Zusammenhang – ob Bewußtsein oder Kommunikation – seine prozeßgenerierende Asymmetrie „als allopoietisch gegeben behandelt“ (Luhmann 1984a: 631; Hervorh. A.N.). Auch die Kenntnis dieses Zusammenhanges dispensiert kein sinnverarbeitendes System von der Notwendigkeit einer solchen Operationsweise, die ihre eigenen blinden Flecke nicht transzendieren kann. Wie man einen Horizont nie erreicht, weil er sich bei Positionswechsel verschiebt, kann der blinde Fleck nie gesehen werden, weil seine Beobachtung eine andere Unterscheidung erfordert, die wieder einen blinden Fleck entstehen läßt. Es kommt so zu einer Unhintergehbarkeit der Systemoperation für das System, für deren Beschreibung ich bereits an anderer Stelle den Begriff Autoontologisierung vorgeschlagen habe (vgl. Nassehi 1992). Die Realität des selbstreferentiellen Operierens und die Realität des fremdreferentiell mitlaufenden Umweltsinns werden so durch die Operation gesichert. Gegen alle (mehr oder weniger) methodischen Zweifel und gegen jeden Zweifel an der Realität des Beobachteten: operans sum (vgl. ebd.: 17). Es dürfte deutlich geworden sein, daß der dem Begriff Autoontologie zugrundeliegende Ontologiebegriff nicht mit demjenigen Luhmanns identisch ist, der allein Beobachtungen anhand der Differenz von Sein und Nicht-Sein als Ontologie bezeichnet.135 Unter Ontologie verstehe ich in Anlehnung an Gotthard Günther solche Operationen, die im Sinne der klassischen aristotelischen Logik unhintergehbar monothematisch, monokontexturell organisiert sind und durch den Ausschluß von Drittem diese ihre kontexturelle Beschränkung nicht registrieren können (vgl. Günther 1976a: 147). Genau das ist die Ausgangssituation einer jeden Systemoperation, die durch Invisibilisierung der Tautologie des eigenen Operierens überhaupt erst dazu kommt, die Autopoiesis fortzusetzen. Dabei sind die operationsrelevanten Unterscheidungen in actu absolut alternativlos – genauso alternativlos wie vormalige ontologische Weltentwürfe ihre zweiwertige Kontexturalität aufgefaßt haben, ob sie nun als philosophische oder religiöse Semantiken auftraten. Diese Analogie erlaubt es m.E., von einer jeder Systemoperation inhärenten Ontologie zu sprechen, die einem Beobachter als autologischer Rückschluß des Systems auf sich selbst erscheint; deshalb: Autoontologie. Im Unterschied zur traditionellen Ontologie eignet autopoietischen Systemen allerdings eine temporale Komponente. Die Autoontologie autopoietischer Systeme steht nicht für eine zeitfeste Substanz, die Zeit als Sekundärphänomen von der Bewegung des Seienden abzieht, wie dies bei Aristoteles (Phys.: IV, 220b) geschieht. Zeit ist hier elementarer in die Operationsweise des Systems eingebaut. Einerseits invisibilisiert sie die Paradoxie der Selbstbezüglichkeit dadurch, daß sie die Beobachtung des Ereignisses immer einem späteren Ereignis überlassen muß, weil ein Ereignis sich nicht selbst beobachten kann, sondern nur durch andere Ereignisse des gleichen Systems beobachtbar ist, die sich ihrerseits nicht selbst unterscheiden können. Dies habe ich oben auf die Formel gebracht, daß die Paradoxie der Selbstbezüg135 Diesen Unterschied bemerkt und bemängelt auch Luhmann und meint, daß dabei wohl nur eine terminologische Unstimmigkeit vorliege (vgl. Luhmann 1992: 379). Wie ich im folgenden zu zeigen versuche, meint der von mir konzipierte Begriff der Autoontologisierung mehr als Luhmanns auf die Handhabung der Unterscheidung von Sein und Nicht-Sein begrenzte Ontologiebegriff.
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lichkeit durch Zeit erfolgt, dies aber immer nur zeitweise gilt (vgl. III.2a). Andererseits sorgt Zeit dafür, daß ein System nicht ontologisch im Sinne einer Beharrlichkeit der Substanz zu verstehen ist, sondern daß das Problem der Nicht-Unterscheidbarkeit von Unterscheidungen immer wieder auftritt. Immer wenn ein System operiert, entsteht aktuell eine zweiwertige Kontextur, die ihre eigene Systemrelativität nicht sehen kann. Dies führt zu dem, was ich hier Autoontologie nenne, wobei es korrekter ist, den Begriff selbst zu dynamisieren und zu temporalisieren. Ich spreche deshalb von Autoontologisierung, weil ein System eben keine autoontologische Struktur hat, sondern diese operativ hervorbringt.136 Erst in der Zeit, also post eventum, kann ein System beobachten, daß es seine Welt nur per Beobachtung konstituiert und daß andere Systeme ebenso beobachten, aber aus ihrer Perspektive zu anderen „Welten“ kommen. Solche Beobachtungen zweiter Ordnung machen die Welt in der Weise beobachtbar, daß sie unter komplexen Verhältnissen nicht mehr als substantielle Welt für alle fungiert, sondern sich in eine polykontexturale Welt auflöst (vgl. Günther 1979a). Wohlgemerkt: Ein System kann dies an sich jeweils nur mit der Verspätung der operativen Gegenwart, d.h. frühestens für ein vergangenes Ereignis sehen. Das setzt aber Verhältnisse voraus, die nicht immer gegeben sind. Ein System kann also durchaus eine einmal getroffene Grundunterscheidung durch Strukturbildung zeitfest halten und nimmt dann womöglich den Charakter einer substantiellen Identität an, die aber bei genauerem Hinsehen stets operativ erzeugt und bestätigt werden muß. Ausgegangen bin ich vom Problem der Konstitution von Realität und wie es sich aus der Perspektive autopoietischer, sinnhaft operierender Systeme darstellt. Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß sich Realität nicht nur systemrelativ, beobachterabhängig ausbildet, sondern daß die Operationen des Systems selbst die letzte Realitätsgarantie für Bewußtsein bzw. Kommunikation sind, wobei sich das Erlebnis von Realität auf reine Selbstreferenz oder zusätzlich mitlaufende Fremdreferenz bezieht. Das bedeutet, daß die Realitätsgarantie der eigenen Operation nicht – quasi cartesianisch – das operierende System als einziges unbezweifelbares Faktum in einer überkontingenten Welt von Projektionen verbürgt. Vielmehr verbürgen die Operationen selbst eine reale Welt, weil sie immer schon eine ganze Welt mitliefern, die sich aus den jeweils beobachtungsrelevanten Unterscheidungen ergibt. Die Unhintergehbarkeit des Nacheinanders von sich selbst nicht zugänglichen Operationen habe ich unter Rekurs auf Gotthard Günther Autoontologisierung genannt, weil jedes System je aktuell in Unterscheidungen verfangen ist, die es selbst nicht unterscheiden kann.
c)
Zeit als differenzlose Differenz?
Ich habe die Überlegungen über das Problem des ontologischen Status der Systemtheorie angestellt, um das Problem der Realität der Zeit wieder aufnehmen und auf dem Niveau einer Theorie autopoietischer Systeme behandeln zu können. Auf den ersten Blick scheint es sich damit relativ einfach zu verhalten: Wenn die Operationen eines Systems dessen und der Welt Realitätsgarantie sind, ist auch die Zeit im Sinne eines durch die Operationen 136 Den Temporalaspekt bei der Konzeptualisierung einer operativen Ontologie betont auch Glanville 1988: 24.
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hervorgebrachten Beobachtungsschemas real. Daß es die Zeitlichkeit der Autopoiesis selbst ist, die solche temporalen Beobachtungsschemata ermöglicht, muß dann nicht weiter beunruhigen, ist doch damit lediglich die Paradoxie der Zeit in der Zeit angesprochen, die ich oben schon aufgezeigt habe: Die Zeit als Beobachtungsschema kann nur in der Zeit der Autopoiesis vorkommen (vgl. III.2b). Allein, damit ist – gerade angesichts dieser Paradoxie – das Problem der Realität der Zeit noch nicht abschließend behandelt, denn die Paradoxie der Zeit in der Zeit entsteht ja gerade dadurch, daß zur Beschreibung von Beobachtungszeit die Zeitlichkeit der Systeme schlicht vorausgesetzt werden muß. In dem hier explizierten Realitätsverständnis scheint mir zwar die Beobachtungszeit aufgehoben zu sein; doch gilt das auch für die vorausgesetzte Zeit der Autopoiesis? Um diese Frage zu klären, scheint es mir nötig zu sein, das hier entwickelte Konzept der Autoontologisierung von Systemoperationen auf die Systemtheorie selbst anzuwenden. Denn sie, verstanden als kommunikatives System innerhalb des gesellschaftlichen Teilsystems Wissenschaft, ist es letztlich, die die Zeit zur Beschreibung von Zeit schlicht voraussetzt. Nimmt man Luhmanns Universalitätsanspruch seiner Theorie, d.h. die Forderung nach einem Selbstreferenztest, ernst, müßte die Enttautologisierungtechnik und die damit einhergehende Autoontologisierung auch ein Charakteristikum der Systemtheorie selbst sein. Der Satz „Es gibt soziale Systeme“ erschiene dann nicht mehr – wie der radikale Konstruktivismus vorgibt – als eine substanzmetaphysische Aussage über das Sein von Systemen, sondern als Anfangsunterscheidung, als Setzung eines Systems, das in sich und seiner Umwelt soziale Systeme am Werke sieht. Um den autoontologisierenden Status von Luhmanns Systemtheorie aufzuklären, muß gezeigt werden, in welcher Weise sich die Systemtheorie selbst asymmetrisiert, um operieren zu können. Wenn Asymmetrisierungen ontologischer Art – wie gezeigt (vgl. III.3a) – über die Einwertigkeit des Welterlebens vorgenommen werden, muß ein Beobachter der Systemtheorie, der sie selbst sein kann, nach solchen einwertigen Begriffen suchen, die der Systemtheorie zugrundeliegen. Nun soll diese Suche nicht im Stil einer Entlarvung der Systemtheorie – tu quoque – vorgenommen werden. Vielmehr ist direkt an Luhmann anzuschließen, der selbst konzediert, daß die Systemtheorie drei differenzlose, also einwertige Begriffe gebraucht, deren theorietechnische Funktion durchaus dem Gottesbegriff der Tradition äquivalent ist. Solche God Terms haben die Funktion, alle gesellschaftlichen oder theoretischen Unterscheidungen und damit die bei Selbstanwendung entstehenden Paradoxien zu absorbieren (vgl. Luhmann 1988b: 41);137 sie sind sozusagen die schwarzen Löcher des Denkens: Sie sind da, man kann sie aber nicht sehen, und sie entwickeln eine ungeheure Anziehungskraft. Bei Luhmann lauten diese Begriffe: Welt (Einheit der Differenz von System und Umwelt), Realität (Einheit der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand) und Sinn (Einheit der Differenz von Aktualität und Possibilität).138 „Alle diese Begriffe sind differenzlos in dem Sinne, daß sie ihre eigene Negation einschließen. Die Negation der Welt kann nur in 137 Der Begriff God-Term stammt von Kenneth Burke und bezeichnet in dessen Logologie Begriffe, die unhintergehbar bleiben und die nicht weiter bezeichnet werden müssen. „Linguistic entitlement leads to a search for the title of titles, which is technically a ,god-term‘.“ (Burke 1961: 33) 138 Folgerichtig bestimmt Luhmann als „Partner für den radikalen Konstruktivismus (...) nicht die Erkenntnistheorie der Tradition, sondern ihre Theologie“ (Luhmann 1988b: 28), denn diese hat in Gott das Nicht-Unterscheidbare als Grund aller Unterscheidungen gesehen.
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der Welt vollzogen werden. Die Negation von Realität kann nur als reale Operation vollzogen werden. Die Negation von Sinn macht keinen Sinn, wenn sie keinen Sinn macht.“ (ebd.: 42) Diese unterscheidungslosen Begriffe sind sozusagen die Bedingung der Möglichkeit, soziale und psychische Systeme als solche Systeme zu konzeptualisieren, die immer sinnhaft und nie anders, die immer in einer Welt und nie extramundan und die immer real und nicht etwa als Illusion operieren. Diese Begriffe sind zugleich die Bedingung dafür, daß Systeme als Systeme beobachtbar sind. Diese Formulierung ist paradox: Sie enthält sich selbst, indem sie behauptet, daß Systeme nur deshalb als Systeme beobachtbar sind, weil sie als Systeme beobachtet werden. Dies ist das Luhmannsche Beobachtungsschema, das letztlich tautologisch ist und das sich dadurch enttautologisiert, daß es Systeme mit Hilfe ununterscheidbarer Begriffe in ihren Operationen bestimmt. Die Systemtheorie weist in ihrem Selbstreferenztest – quasi im Selbstversuch – nach, was sie theoretisch für ihren Gegenstandsbereich behauptet: die selbstreferentielle, autoontologisierende Konstitution auf das Selbst und auf Fremdes referierender Operationen in einem autopoietischen Systemzusammenhang. Das zwingt die Systemtheorie – trotz des Aufweises einwertiger Grundbegriffe – „zur Verabschiedung aller ontologischen Metaphysik und Aprioristik. Systeme mit eingebauter Reflexion sind gezwungen, auf Absolutheiten zu verzichten“ (Luhmann 1984a: 656). Dies gilt allerdings nur mit den angedeuteten Einschränkungen, nämlich mit der Reflexion auf die notwendige axiomatische Selbstfestlegung auf letztlich ontologische Einwertigkeiten, ohne die kein System emergieren könnte.139 Keiner der oben eingeführten einwertigen Begriffe ist absoluter Begriff im Sinne des Universalienstreites, sondern lediglich absolut im Hinblick auf seine Unnegierbarkeit bei der Beschreibung des Sozialen (und Psychischen) als autopoietisches, sinnverarbeitendes System.140 Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, als habe man es hier mit einer Theorieanlage zu tun, die sich willkürlich Axiome setzt und alle anderen theoretischen Aussagen aus diesen deduziert. Vielmehr reflektiert die Systemtheorie gerade darauf, daß es einer Theorie nicht möglich sein kann, paradoxievermeidend bzw. -frei zu argumentieren. Alle Behauptungen axiomatischen Theorieaufbaus zeigen nämlich sehr deutlich, daß sie die eigenen Unterscheidungen nicht unterscheiden und sich damit einwertige Grundlagen schaffen, die sie mit einem festen Grund verwechseln. Besonders deutlich wird dies etwa an der Idee der kritischen Prüfung des kritischen Rationalismus. So zeigt Hans Albert plausibel auf, daß 139 Wie Hans Blumenberg den „Anfang jeder Vernunft“ als „Münchhausiade“ (Blumenberg 1975: 199) bestimmt, gilt dies offenbar auch für die Entparadoxierungstechnik von Systembildung. 140 Damit befindet sich Luhmann näher an theorietechnischen Problemen der Tradition als er selbst vorgibt. Bereits der kritische Idealismus Kants führte Letztbegriffe als Denknotwendigkeit ein, deren Funktion als Regreßunterbrecher Kant sehr wohl reflektierte. Das Ideal der reinen Vernunft etwa wurde nicht einfach naiv mit ontologischer Würde versehen, sondern fungierte als „ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft“, dem keineswegs eine „objektive Realität (Existenz)“ (KrV: B 597) zugestanden wurde, was die Prinzipien der Erkenntniskritik ausgehebelt hätte. Analog dazu begründet Kant Freiheit als bloße Denknotwendigkeit für Moralität (vgl. KrV: B XXIX). Was Luhmanns Theorieanlage im Vergleich zur Tradition jedoch tatsächlich unterscheidet, ist nicht nur die Relativität der Beobachtungen, sondern die aus dieser Relativität erwachsende Sensibilität für Kontingenz: Alles könnte auch anders sein! Während transzendentale Begründungen zumindest den Anspruch der alten Ontologie auf Einheitschiffren und Kausalnotwendigkeiten beerben, stellt Luhmanns operative Begründung Differenz in den Vordergrund, nämlich sowohl die Differenz der Beobachterperspektiven, als auch die mögliche Differenz in der multiplen Beobachtung gleicher (sic!) Sachverhalte.
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man über letzte Begründungen nicht streiten kann, weil ihr Bestreiten bereits einen anderen Ideenhimmel voraussetzt: „de principiis non disputandum“ (Albert 1980: 34). Dagegen setzt er – zunächst folgerichtig – die kritische Prüfung wissenschaftlicher Aussagen, den Versuch, Argumente gegeneinander abzuwägen und so jeder wissenschaftlichen Aussage einen Fallibilismus-Index zu geben. Gegen ein solches Modell ist sicher kaum etwas einzuwenden – außer der unvermeidlichen Paradoxie, daß die prinzipienkritische Idee der kritischen Prüfung letztlich den Charakter eines Prinzips, einer übergeordneten Regel annimmt. Denn die kritische Prüfung selbst muß zumindest Kriterien entwickeln, nach denen kritisch geprüft werden kann. Albert nimmt ein solches Kriterium in Anspruch, und zwar Rationalität. Er postuliert eine kritische Prüfung und Diskussion, „aller in Frage kommenden Aussagen mit Hilfe rationaler Argumente“ (ebd.: 35), was zwar durch den Fallibilismusvorbehalt letzte Gewißheiten verunmöglicht, aber doch als letzte Gewißheit in bezug auf die kritische Prüfung fungiert. Es ist hier nicht der Ort, über den Rationalitätsbegriff des kritischen Rationalismus zu verhandeln. Ich möchte lediglich aufzeigen, daß jede wissenschaftliche Theorie vor die Paradoxie gerät, ihre Axiome auf ihre Axiome anzuwenden. In diesem Fall: Um nicht in die Versuchung zu kommen, das Prinzip der kritischen Prüfung einer kritischen Prüfung unterziehen zu müssen und um nicht womöglich kritisch prüfen zu müssen, ob das Prinzip der kritischen Prüfung auf sich selbst angewandt werden darf et ad infinitum, wird ein einwertiger Rationalitätsbegriff unterstellt, der nicht weiter begründungsbedürftig zu sein scheint.141 Theorietechnisch haben Luhmanns einwertige Begriffe exakt die gleiche Funktion: Sie sind sozusagen beobachtungsleitende Begriffe, die aber nicht eine unhintergehbare Realität abbilden, sondern die sich aus der systemtheoretischen Beobachtung von Systemen ergeben. Dabei fällt auf, daß auch die einwertigen Begriffe nicht hinter den konstruktivistischen Theorieaufbau zurückfallen. Das gilt sowohl für den Beobachtungs- wie für den Gegenstandsbereich. Für den Beobachtungsbereich gilt dies insofern, als sich das Problem solcher Begriffe für die beobachteten Systeme nicht stellt – es gibt für das theorieinterne Problem letztlich keine Entsprechung in der Umwelt der systemtheoretischen Beobachtung. Im Gegenstandsbereich hingegen stellt sich das, was für die Systemtheorie als Welt, Realität und Sinn gilt, als Asymmetrie der systeminternen, geschlossenen und autonomen Operationsweise dar. „So kann die Welt nur im System ein Orientierungsbegriff sein, der die Differenz von System und Umwelt in das System wiedereinführt. So ist die Differenz von Erkenntnis und Gegenstand eine erkenntnisimmanente Unterscheidung und entsprechend die Annahme, daß Realität etwas beiden Seiten Übergeordnetes sein müsse, im Vollzug der Erkenntnis selbst basiert. Und so gibt schließlich die Differenz von Aktualität und Possibilität nur dann Sinn, wenn sie in actu vollzogen wird, das heißt die momentan vollzogene 141 Es muß Albert jedoch konzediert werden, daß gerade er die Fallstricke von Letztbegründungen wissenschaftlicher Aussagen betont und deshalb für ein pragmatisches Wissenschaftsverständnis plädiert. Albert spricht in diesem Zusammenhang von einem Münchhausen-Trilemma, das bei Letztbegründungsversuchen auftritt: Entweder es entsteht ein infiniter Regreß, der praktisch undurchführbar ist, oder es entsteht ein logischer Zirkel durch Heranziehung von begründungsbedürftigen Aussagen zur Begründung anderer Aussagen, oder aber – dies ist der gebräuchlichste Fall – es wird ein Abbruch des Verfahrens an einer dann nicht weiter hintergehbaren Stelle gewählt (Albert 1980: 13). Alberts blinder Fleck scheint der zu sein, die kritische Prüfung nicht prüfen zu wollen, was – im Sinne praktischer Erfordernisse – pragmatisch, aber nicht mehr theoretisch zu begründen ist. Also eine pragmatische Invisibilisierung der theoretischen Paradoxie der dritten Möglichkeit des Trilemmas?
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Operation auf einen Horizont anderer Möglichkeiten verweist (...).“ (Luhmann 1988b: 43) Der Asymmetrie – System statt Umwelt, Erkenntnis statt Gegenstand und Aktualität statt Possibilität – entspricht die unhintergehbare Systemrelativität jeder Operation. Die Systemtheorie macht mit Hilfe der Einheitsbegriffe Welt, Realität und Sinn nicht nur unsichtbar, daß sie mit Ununterscheidbarem Unterscheidungen grundiert. Sie macht zugleich auch sichtbar, welche letztlich unbeobachtbaren Horizonte sich eröffnen, die eigentlich nur einem externen Beobachter erscheinen können. Sie beobachtet sozusagen das Unbeobachtbare, denn Welt, Realität und Sinn als Einheiten von Differenzen sind als solche nicht zugänglich, weil die operativen Asymmetrien immer schon vorliegen. What about time? Bei genauem Hinsehen stellt man fest, daß der Zeitbegriff theorietechnisch ebenso gebaut ist wie die Trinität von Welt, Realität und Sinn. Ich habe oben gezeigt, daß die Theorie autopoietischer Systeme eine paradoxe Form der Zeit impliziert: Einerseits ist Zeit das Resultat autopoietischer Ereignisreihen, die die autopoietische Zeit im Nacheinander hervorbringen, andererseits ist die Zeit Beobachtung mittels temporaler Unterscheidungen (vorher/nachher; Vergangenheit/Zukunft), was die autopoietische Zeit, also die grundlegende Zeitlichkeit von Systemen erst sichtbar macht. So kann man davon sprechen, daß die Zeit nur in der Zeit vorkommen kann. Daraus resultieren gleichsam Objektivierungen von Zeit, die es durch Invisibilisierung der Paradoxie der gegenwartsrelativen Modalisierung und Mehrfachmodalisierung der Zeit (gegenwärtige Vergangenheit; gegenwärtige Zukunft usw.) erlauben, sie als Entität oder, wie Luhmann neuerdings sagt, als Medium zu behandeln, das Formen des Zeiterlebens und der Zeitorganisation hervorbringt, was sich in entsprechenden kulturellen Zeitsemantiken niederschlägt (vgl. Luhmann 1990d: 116). Zeit läßt sich m.E. auf eine Unterscheidung reduzieren, die Luhmann einmal erwähnt (vgl. ebd.), nämlich die Unterscheidung von Aktualität und Inaktualität. Der Zeitbegriff, ob nun im Sinne einer Bestimmung von vorher oder nachher oder als Vergangenheit oder Zukunft, bezeichnet stets die Einheit der Differenz von Aktualität und Inaktualität.142 Damit wird nicht die Gegenwart als Zeitbestimmung eingeführt, was oben je ausgeschlossen wurde (vgl. III.2b). Vielmehr wird dem Umstand Rechnung getragen, daß das, was per Zeit beobachtet wird, eben nicht aktuell ist, sondern nur aktuell als Inaktuelles konstituiert wird. Die Einheit der Differenz von Aktualität und Inaktualität beinhaltet das der Zeit inhärente Paradoxon, daß sie die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem ausdrückt. Zeit ist sozusagen das Korrelat des Problems, daß nicht alles gleichzeitig geschehen kann und daß die verschiedenen ungleichzeitigen Gegenwarten voneinander wissen müssen, um sich als Anschlußzusammenhang konstituieren zu können. An dieser Unterscheidung kann man sehen: Zeit als Einheit der Differenz von Aktualität und Inaktualität ist ein einwertiger, unnegierbarer Begriff, denn die Negation von Zeit kann nur in der Zeit erfolgen wie die Negation der Welt nur in der Welt, von Sinn nur sinnhaft und von Realität nur als reales Geschehen (vgl. dazu auch Brandt 1992: 174). Zugleich weist auch diese Unterscheidung eine unhintergehbare Asymmetrie auf, denn es kann immer nur aktuell, nicht aber inaktuell operiert werden. Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß die Theorie autopoietischer, sinnhaft operierender Systeme auch Zeit als einwerti142 Nicht zu verwechseln mit der Unterscheidung Aktualität/Possibilität! Diese hebt nicht auf Zeithorizonte, sondern auf Horizonte des Möglichen ab, die sekundär selbstverständlich auch zeitlich asymmetrisiert werden können: Was nicht heute wirklich ist, wird es womöglich morgen sein.
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gen, differenzlosen Begriff führt, der nicht weiter unterschieden werden kann. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß zeitliche Unterscheidungen benutzt werden, doch kann die Zeit selbst nicht mehr unterschieden werden. Das Gesagte erlaubt es, die Formel von der Zeit, die nur in der Zeit vorkommen kann, zu präzisieren. Es ist dabei weiterhin von zwei Zeitbegriffen auszugehen, deren ersten ich als Zeitlichkeit des Sytems und deren zweiten ich als Beobachtungszeit bezeichnet habe. Selbstverständlich bleibt diese Unterscheidung nach wie vor gültig, und es kann bestätigt werden, was oben bereits angedeutet wurde (vgl. III.2b): Jede Handhabung einer temporalen Unterscheidung (Beobachtungszeit) ist auf jene Zeit des Systems angewiesen, die durch die Operation des Systems konstituiert wird (Zeitlichkeit des Systems). Zeit ist also Ergebnis operativer Sukzessionen, die durch das Nacheinander der Operationen erzeugt werden. Dies ergibt sich aus der elementaren Eigenschaft sozialer und psychischer Systeme, daß sie per temporalisierten Elementen, also Ereignissen operieren. Solche Ereignisreihen konstituieren per se Zeit, weil von Ereignis zu Ereignis retentional Relationen zu anderen Ereignissen hergestellt werden, die inaktuell sind. Was hier als elementare, unhintergehbare Zeit der Autopoiesis als Einheit der Differenz von Aktualität und Inaktualität fungiert, ist deckungsgleich mit Husserls innerem Zeitbewußtsein, das treffender Bewußtseinszeit geheißen hätte. Denn es geht dabei nicht um Zeitbegriffe, Semantiken oder voraussetzungsreiche Temporalisierungen von Komplexität, sondern schlicht darum, daß das Nacheinander von Ereignissen sich als Ereignisreihe konstituiert, die per basaler Selbstreferenz resp. Retention stets als Aktuelles auf Nicht-Aktuelles verweist. Beobachtungszeit ist dagegen ein voraussetzungsreicher, steigerungsfähiger Sachverhalt, der auf der Zeit der Autopoiesis aufbaut. Zeit dient zwar der Theorie autopoietischer Systeme dazu, die unhintergehbare Ereignistemporalität von Systemen auszudrücken und kann, weil dies sozusagen die differentia specifica des Systembegriffs ist, nicht weiter unterschieden werden. Gleichwohl kann Zeit im Sinne temporaler Beobachtung sehr wohl Unterscheidungen generieren und ermöglichen, weshalb ich von Zeit als einer differenzlosen Differenz sprechen möchte. Zeit selbst kann nicht mehr unterschieden werden, sorgt aber für Zeitschnitte (Aristoteles, Whitehead), die für Unterscheidungsmöglichkeiten sorgen. Zeit ist also nichts anderes als das zunächst voraussetzungslose Nacheinander von endlichen Ereignissen, die strikt voneinander differenziert sind und in dieser Differenzierung das Nacheinander der Systemgegenwarten konstituieren. Aus diesem Grunde kann die Systemtheorie nicht an den Husserlschen Begriff des Erlebnisstroms oder -flusses (vgl. Husserliana X: 5 und 24) anschließen. Husserl sieht nicht, daß die durch Retentionen konstituierte Zeit sich per se operativ ausbildet, daß aber der Zeitfluß, als der sich der Bewußtseinsstrom darstellt, nur das Ergebnis einer temporalen Beobachtung im Sinne einer durch das Medium Zeit entstandenen Verlaufsform ist (vgl. auch Luhmann 1990d: 98). Welche Bedeutung hat das hier explizierte Verständnis der Zeit als einwertiger Begriff und die Doppelbedeutung der Zeit als differenzlose Differenz für das Problem der Realität der Zeit? Für die Beobachtungszeit dürfte sich hier letztlich kein weiterer Erklärungsbedarf ergeben haben, denn wenn man die Annahme teilt, daß sich Realität durch die autoontologisierende Blockierung der Beobachtung der den Systemoperationen zugrundeliegenden Unterscheidungen ergibt, macht es keine Schwierigkeiten, die Realität der Beobachtungszeit für das System zu unterstellen. Real sind solche Zeiten in der Tat als Eigenzeiten (vgl.
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III. Kapitel
III.2c), ob sie nun sehr spezielle und individuelle Sequenzierungen darstellen oder aber hochgeneralisierte Zeitmuster wie Kalender oder die mitteleuropäische Sommerzeit. Gilt dies auch für die elementare Zeit der Autopoiesis? Man muß diese Frage wohl bejahen, denn wenn die Beobachtungszeit auf der elementaren Zeit der Autopoiesis aufbaut und diese zur Beobachtung nutzt, kann man nicht der einen Realität zusprechen und der anderen nicht. Doch hier schließt sich eine weitere Frage an: Was unterscheidet hier der Realitätsbegriff, wenn dieser sich doch als einwertiger Begriff herausgestellt hat, der die Einheit der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand bezeichnet? Es scheint, als sei die Frage nach der Realität der Zeit zumindest in der Form falsch gestellt, wie ich sie von Bieri geerbt habe. Denn wenn man die Auffassung teilt, daß autopoietische, sinnhaft operierenden Systeme reale Systeme sind, und wenn man autopoietische als temporalisierte Systeme konzipiert, die per se Zeit konstituieren, stellt sich das Realitätsproblem der Zeit gar nicht mehr. Wenn Kommunikation die Realitätsgarantie für Kommunikation ist, dann ist die Realität der Zeit gleich mitgarantiert, und zwar in jeder nur erdenklichen Form, die ihr bzw. dem System zur Verfügung steht. Für Bieri stellt sich das Realitätsproblem der Zeit letztlich nur deshalb, weil er eine Unterscheidung verwendet, für die die Systemtheorie aus gutem Grunde keinen Platz mehr hat. Ich meine die Unterscheidung realer und nicht realer Sachverhalte, die so definiert werden, daß als real das zu gelten hat, was unabhängig vom beobachtenden Zugriff eines Beobachters existiert (vgl. II.1a). Folgt man Bieri, so ist es nur konsequent, die B-Reihe als reale Zeit vorauszusetzen, die von einem Beobachter in eine modalisierte A-Reihe umgedeutet wird. Hinter dieser Argumentationsfigur steht eine Grundvoraussetzung, die mit dem konstruktivistischen Ansatz der Systemtheorie nicht kompatibel ist. Bieri setzt eine zeitfeste Identität des Seienden voraus, dessen Zustände sich ändern, die – unter diesen Voraussetzungen – durchaus als B-Reihe konzipiert werden können. Solche Zustandsänderungen liegen im Bewußtsein laut Bieri in der Weise vor, „daß sich unsere Bewußtseinsdaten inhaltlich verändern, indem entweder die Eigenschaften ein und desselben Datums wechseln oder solche Veränderung dadurch vorliegt, daß die Totalität der jeweils gerade präsenten Daten nicht immer dieselbe ist.“ (Bieri 1972: 205f.) Eine solche Argumentation setzt – ähnlich wie Kants Annahme der Beharrlichkeit der Substanz als Bedingung für Veränderung in der Zeit (vgl. KrV: B 226) – die Identität des Bewußtseins, seine Einheit und Beharrlichkeit voraus (vgl. Bieri 1972: 208), auf deren Folie sich die Zeit als Veränderung darstellt. Einem Bewußtsein, so Bieris Quintessenz, das sich selbst beschreibt, erscheint die Zeit als A-Reihe, die sich dem erklärenden Zugriff eines philosophischen Analytikers als eigentlich nach B-Reihen geordnet erschließt (vgl. ebd.: 210ff.).143 Auf den ersten Blick scheinen sich Bieris Differenzierung von B- und A-Reihe und die Unterscheidung einer elementaren Zeit der Autopoiesis von Beobachtungszeit zu gleichen: Die erste ist immer schon da, während die zweite nur ein Darstellungsmodus der ersten ist. So argumentiert etwa Bergmann, der Bieri in der Weise folgt, als er eine B-gereihte Realzeit unterstellt, die durch die Systeme lediglich perspektivisch abgebildet wird (Bergmann 1981a: 32f.). Man könnte dieser Argumentation dann folgen, wenn man die weitergehende Konsequenz zu ziehen bereit ist, die sich aus der Übernahme von Bieris Ansatz ergibt: die 143 Auf Bieris ungewöhnlichen Erklärungsbegriff in Differenz zur Deskription habe ich oben ausführlich hingewiesen (vgl. II.1).
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Annahme einer Systemsubstanz, auf deren Hintergrund Veränderungen zeitliche Sukzessionen der Veränderung eines Identischen konstituieren. Die Quintessenz dieser Theorie ist es, das Seiende im Sinne eines Dingschemas schlicht in seiner Identität vorauszusetzen, um zu der Annahme zu gelangen, daß das, was hier als reale B-Reihe fungiert, mit dem Sein des Seienden schon da ist. Dies ist ein ontologisches Argument, das nur dann stichhaltig ist, wenn das Dingschema akzeptiert wird. Es mag Dinge geben, die das Dingschema rechtfertigen.144 Autopoietische, sinnhaft operierende Systeme gehören jedenfalls nicht dazu. Ich habe mehrfach betont, daß die Theorie autopoietischer Systeme nicht mehr von einer identischen Substanz von Systemen ausgeht, sondern von Identität auf Identitätsbildung und von zeitfesten Elementen auf temporäre Ereignisse umstellt. Konfrontiert man Bieris Substanzrealismus mit dem operativen Aspekt der Theorie autopoietischer Systeme, kann keine Rede mehr davon sein, daß die systemeigene B-Reihe schlicht vorausgesetzt werden kann oder gar immer schon da ist. Systeme, die aus temporalisierten Elementen, also Ereignissen bestehen, haben keine substantielle Identität, die sie in der Zeit bei akzidenteller Veränderung erhalten, sondern sie bringen sich in jedem Ereignis neu hervor und erhalten oder verändern ihre Struktur von Ereignis zu Ereignis. Das läßt den Schluß zu, daß nicht die B-Reihe das konstitutive Merkmal eines Systems ist, das sich per Beobachtung als A-Reihe darstellt. Es sind vielmehr A-Bestimmungen, die die elementare Autopoiesis des Systems hervorbringen.145 Wie schon im Zusammenhang mit der basalen Selbstreferenz gezeigt (vgl. III.2c), setzt sich die Autopoiesis eines Systems dadurch fort, daß jedem neuen Ereignis zumindest die Unterscheidung Element/Relation zugrunde liegt. Jedes angeschlossene Kommunikationsereignis und jede Bewußtseinsoperation konstituiert in seiner Gegenwart eine Relation zu mindestens einem Ereignis in seiner Vergangenheit.146 Auf den ersten Blick kann man sehen, daß diese zeitlichen Termini A-Bestimmungen tragen. Wenn man wirklich ernst 144 Muß erwähnt werden, daß diese Dinge dann durchs Dingschema erst zu Dingen werden? 145 Die Nicht-Beachtung des unhintergehbar operativen Aspekts der Systembildung und -reproduktion führt Brandt zu der Annahme, die Zeit der Autopoiesis habe für Luhmann die theorietechnische Funktion, in der Ereignistemporalität eine nicht konstituierte Realzeit einzuführen, die vorausgesetzt werden müsse, um das zeitliche Operieren von Systemen beschreiben zu können (vgl. Brandt 1992: 173). Für dieses von Bieri her bekannte Argument, auf das sich Brandt explizit bezieht, steht, wie gezeigt, ein Realitätsverständnis Pate, das mit der Theorie autopoietischer Systeme nicht kompatibel ist. Es hält noch am ontologischen Identitätsbegriff fest und begibt sich des möglichen Ertrags einer operativen Theorieanlage. 146 In diesem Zusammenhang ist der Vorwurf von Felicitas Englisch, Luhmann ersetze die frühere Substanzenontologie durch eine Relationenontologie, geradezu absurd. Englisch schreibt: „Die Relation (Wechselwirkung?; A.N.), Selbstreferenz, Sein-für anderes (?; A.N.) wird ontologisch dem vorgeordnet und dem gegenüber verselbständigt, was da wechselwirkt, sich in Relation befindet. Das hat zur Folge, daß auf die Begriffe Relation, Selbstreferenz unversehens die Bestimmung zurückschlägt, um derentwillen der Substanzbegriff bekämpft worden war. In dem Moment, wo die Erscheinung Verhältnis wird, wird auch das Verhältnis Erscheinung (...).“ (Englisch 1991: 210) Eine solche Kritik mag vielleicht gerade noch für eine Systemtheorie des Bertalanffyschen Typs gelten, die Systeme als Menge von Elementen begreift, zwischen denen Wechselbeziehungen bestehen (vgl. v. Bertalanffy 1972: 18). Eine Theorie, die auf temporalisierte Elemente umgestellt hat, kann diese Kritik nicht treffen, denn gerade sie ordnet den Relationsbegriff den Relata nicht vor, sondern bindet per basaler Selbstreferenz (Unterscheidung Element/Relation) die Relation als Geschehen in die Operation ein: Relationen entstehen erst durch Relationierung, und Relationierung ist retentionaler Bestandteil von Operationen. Wenn schon Ontologie, dann nicht Relationenontologie, sondern Autoontologisierung durch Operationen des Systems selbst (vgl. III.3b).
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nimmt, daß autopoietische Systeme immer in einer Gegenwart operieren und daß sie sich mit jedem einzelnen Ereignis autopoietisch reproduzieren, wenn man weiterhin sieht, daß sich relativ zeitfeste Strukturen und eigenzeitliche Rhythmisierungen immer nur von Ereignis zu Ereignis bestätigen oder enttäuschen lassen, muß man auch konzedieren, daß die elementare, operative Zeit eines Systems per A-Bestimmungen konstituiert wird. Erst ein Beobachter kann sich dann – je nach Fall – dafür entscheiden, ob er die Temporalisierung von Komplexität in A- oder B-Beobachtungen vornimmt. Er kann dann auch womöglich – wie Bieri – beobachten, daß sich A-Bestimmungen in B-Relationen übersetzen lassen oder daß jede Sukzession, auch eine solche, die sich als Differenz von Vergangenheit und Zukunft beschreibt, wie eine B-Reihe geordnet ist. Aber was heißt schon ist? Diese Formulierung impliziert geradezu ein Dingschema, das spätestens dann abzulegen ist, wenn man anerkennt, daß zeitliche Operationen immer die Entparadoxierung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vornehmen müssen. Eine mögliche Technik der Paradoxievermeidung ist in der Tat die Ontologisierung: Man kann dann so tun, als ob man etwas beobachtet, das ohne Beobachtung so ist, wie es beobachtet wird, und dem Beobachteten dann das Realitätssiegel verleihen. Akzeptiert man dagegen, daß auch dies nur eine Beobachtung ist, die mit einer bestimmten beobachtungsrelevanten Differenz operiert (hier: vorher/nachher), dann muß die ontologische Grundannahme einer nicht-konstituierten Zeit fallengelassen werden. Damit bestätigt sich erneut meine Annahme, daß eine Theorie, die von Sein auf ereignishafte Operationen umstellt, durchaus die B-Reihe als Konstruktionsprinzip von A-Reihen annehmen kann, je nachdem wie was beobachtet wird. Der operative Aspekt der Ereignistemporalität zwingt aber dazu, A-Bestimmungen als Konstitutionsprinzip von Ereignisreihen zu denken, die sich durchaus als B-Reihe darstellen lassen. Es ist ohne Zweifel richtig, daß sich die Vorher/nachher-Differenz auf jedes temporale Phänomen als Beobachtungsschema anwenden läßt und daß vergangene Ereignisse stets vor zukünftigen geschehen. Das dispensiert aber nicht vom im Konzept der Ereignistemporalität aufgehobenen A-Charakter der autopoietischen Reproduktion von Systemen. Um es zusammenfassend auf einen Punkt zu bringen: Die Theorie autopoietischer, ereignistemporaler Systeme setzt Zeit bereits an der elementaren operativen Ebene an, in der Ereignisse entstehen und sich in ihrer Gegenwart retentional in Relationen zu vergangenen Ereignissen stellen. Diese Relationierung trägt A-Bestimmungen und konstituiert eine Zeit der Autopoiesis, unthematisch bzw. unbewußt von Ereignis zu Ereignis. Zugleich kann Zeit thematisiert bzw. bewußt werden, was nichts anderes bedeutet, als daß ein System sich oder seine Umwelt mit temporalen Unterscheidungen (vorher/nachher; Vergangenheit/Zukunft) beobachtet. Diese Zeit nenne ich Beobachtungszeit. Beide Zeiten sind real in dem Sinne, daß sie irreduzibel an Systemoperationen gebunden sind, die die Realität ihrer eigenen Operationen und des darin fremdreferentiell Konstituierten garantieren. Schließlich benutzt die Theorie autopoietischer Systeme einen Zeitbegriff, der die Einheit der Differenz von Aktualität und Inaktualität ausdrückt. Dieser Zeitbegriff ist nicht weiter unterscheidbar und nimmt deshalb die Form eines einwertigen Begriffs an, der theorietechnisch der Notwendigkeit Rechnung trägt, die Unhintergehbarkeit der Temporalität der Ereignistemporalität auszudrücken. Die hier explizierte Unterscheidung von Zeit der Autopoiesis, Beobachtungszeit und systemtheoretischem Zeitbegriff zeigt deutlich, daß Zeit einerseits differenzlos gedacht
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werden muß, um die theorietechnische Tautologie zu entparadoxieren, die Zeit der Systeme mit der Ereignishaftigkeit, also: Temporalität der Operationen zu erklären. Hinter einen solchen differenzlosen Begriff kann nicht mehr weiter zurückgefragt werden, wodurch theorietechnisch das einsetzt, was ich oben Autoontologisierung genannt habe. Andererseits ermöglicht die differenzlos gedachte Zeit der Autopoiesis mannigfaltige Beobachtungen, die temporale Differenzen benützen, um der Welt eine zeitliche Form zu geben, die es erlaubt, Weltkomplexität durch Zeit beherrschbar zumachen. Dies führt mich zu der Formulierung, die Zeit als differenzlose Differenz zu bezeichnen, an deren systemrelativer Realität kein Zweifel besteht.
4.
Dritte Auszeit
Meine Diskussion und Analyse intersubjektivitäts- und handlungstheoretischer Ansätze einer soziologischen Theorie der Zeit endeten mit einem doppelten Befund: Es konnte gezeigt werden, daß sowohl der Schützsche als auch der Meadsche Ansatz in der Lage sind, eine Theorie der Zeit als Theorie zeitkonstituierender Operationen zu konzeptualisieren. Die theoretische Grundlage für die Beschreibung einer operativen Zeittheorie entnehmen sie – im Falle Schütz’ – entweder Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins oder – im Falle Meads – Whiteheads Prozeßphilosophie. Gegenüber beiden konnte allerdings gezeigt werden, daß ihre Theorien eigentümliche Leerstellen enthalten, die ihre Brauchbarkeit für eine angemessene soziologische Theorie der Zeit erheblich schmälern. Schütz diskutiert – in engem Anschluß an Husserl – das Zeitproblem als ein Problem der subjektiv konstituierten inneren Dauer, die durch Herstellung innersubjektiver sinnhafter Verknüpfungen die Einheit seiner selbst zu einem Sinnzusammenhang herstellt. Unterbestimmt läßt Schütz dagegen das eigentliche soziologische Thema: die soziale Zeit, in der sich die ihre innere Zeit konstituierenden Subjekte vorfinden. Bei Mead dagegen bleibt die operative Ebene des Bewußtseins unterbestimmt. Für ihn ist das Bewußtsein lediglich ein funktionaler Aspekt der Handlung, die durch ihre Zugehörigkeit zu Handlungssequenzen und -sukzessionen als Letztelement fungiert. Meads Handlungstheorie vermag es, im Sinne des Whiteheadschen Ereignisbegriffs Handlungen und nicht Bewußtseinsoperationen als diejenigen temporalisierten Elemente, i.e. Ereignisse anzusetzen, durch die Zeit konstituiert wird. Dieser soziologisch relevante Vorteil wird allerdings mit dem Preis bezahlt, die Wechselseitigkeit psychischer und sozialer Ereignistemporalitäten nicht beschreiben zu können (vgl. dazu im einzelnen II.4). Nachdem weder die phänomenologische Intersubjektivitätstheorie noch die Theorie „praktischer Intersubjektivität“ (Joas 1989) zu befriedigenden Ergebnissen gelangt ist, mußte eine Theorieanlage gefunden werden, die es vermag, sowohl die bewußtseinsbasierte operative Zeit im Sinne des intersubjektiven Zeitbewußtseins zu beschreiben, als auch die soziale Zeit im Sinne des Operierens qua sozialer Ereignisse. Dieser Forderung entspricht eine Theorieanlage, wie sie mit Luhmanns Theorie autopoietischer sozialer Systeme vorliegt. Es ist nicht nötig, en detail noch einmal die wichtigsten Strukturmerkmale einer systemtheoretisch und konstruktivistisch informierten Theorie des Sozialen zu wiederholen. Lediglich die wichtigsten Konsequenzen dieser Theorie für eine Soziologie der Zeit seien an dieser Stelle noch einmal erwähnt:
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III. Kapitel
Psychische und soziale Systeme bilden als operativ geschlossene Einheiten systemrelative Eigenzeiten aus, die durch die systemeigenen Operationen erzeugt werden (vgl. III.1d und 2a und c). Psychische und soziale Systeme haben nicht teil an einer objektiven, sozusagen transsystemischen Zeitstruktur, durch die sie vorgängig temporal miteinander verknüpft oder gar integriert sind (vgl. III.2a und b). Psychische und soziale Systeme sind sich, da sie gemäß dem Theorem der strukturellen Kopplung nicht kausal aufeinander bezogen sind, als jeweilige Systemumwelt in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit gegeben (vgl. III.1d). Wie in allen anderen selbstreferentiellen Einheiten unterliegen auch autopoietische soziale (und psychische) Systeme der Gefahr eines Reflexionszirkels. Die dadurch entstehende Paradoxie wird von der Theorie autopoietischer Systeme nicht dahingehend aufgelöst, daß eine invariante Systemsubstanz, eine transzendentale Systemstruktur oder ein nicht weiter begründbares Selbstvertrauen des Systems angenommen wird. Vielmehr richtet die Theorie autopoietischer Systeme ihr Augenmerk darauf, wie Systeme mit einer solchen Paradoxiegefahr umgehen, d.h. wie sie sich entparadoxieren. Eine Entparadoxierungsmöglichkeit bietet die Zeit an: Sie entparadoxiert das System dadurch, daß durch den Dauerzerfall von Ereignissen das paradoxieerzeugende Element durch ein neues beobachtbar wird, womit zweierlei geleistet wird: Die Paradoxie der Beobachtung durch das eine Ereignis verschwindet, wobei durch das neue beobachtende Ereignis auch eine neue Paradoxie droht. Mein Formulierungsvorschlag lautet deshalb, daß die Entparadoxierung der Selbstbezüglichkeit durch die Zeit nur zeitweise erfolgen kann (vgl. III.2a). Autopoietische Systeme bringen per se durch den Vollzug ihrer Autopoiesis Zeit hervor. Allerdings kann Zeit auch als Beobachtungsschema, i.e. als Handhabung temporaler Unterscheidungen (vorher/nachher, aktuell/inaktuell, Vergangenheit/Zukunft) erzeugt werden. Ich schlage deshalb vor, zwischen der Zeit der Autopoiesis und der Beobachtungszeit zu unterscheiden (vgl. III.2b). Aus dieser Doppelstruktur resultiert eine Paradoxie für die systemtheoretische Beschreibung von Zeit: Die Zeit kann nur in der Zeit vorkommen, sie kann als Beobachtungszeit Zeit nur in der Zeit hervorbringen. Psychische und soziale Systeme invisibilisieren diese Paradoxie dadurch, daß sie Zeit als beobachterunabhängige Entität behandeln und die Vergangenheit und die Zukunft als gleichsam unabhängig von der Beobachtung existierende Sachverhalte ansetzen. Die Theorie autopoietischer Systeme kann diese Beobachtungstechnik beobachten und kann sehen, daß Systeme nicht sehen können, was sie durch notwendige systemeigene Beobachtungsblockaden nicht sehen können (vgl. III.2b). Mit der Theorie autopoietischer Systeme liegt eine Theorie vor, die ihre selbsterzeugten Paradoxien und Tautologien nicht durch Kanonisierung und Axiomatisierung vermeintlich unhintergehbarer Sachverhalte verdeckt. Sie ist vielmehr in der Lage, diese selbsterzeugten Selbstreferenzprobleme kenntlich zu machen und damit explizit auszuweisen, wie sie mit ihren Zirkeln umgeht. Bezüglich der Zeit konnte gezeigt werden, daß diese als differenzlose Differenz in autopoietischen Systemen immer schon unnegierbar vorliegt (vgl. III.3b und c).
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Damit wird die Vermutung des ersten Kapitels bestätigt, daß es offenbar nicht möglich ist, eine vollständig zirkelfreie Theorie der Zeit zu formulieren (vgl. I.3). Zusätzlich kann nun mit der Unterscheidung von Zeit der Autopoiesis und Beobachtungszeit auch der operative Grund dieser Zirkularität angegeben werden: Die temporale Beobachtung, die die Beobachtungszeit hervorbringt, ist selbst eine Operation, die unhintergehbar in die autopoietische Erzeugung von Zeit durch Systemoperationen eingeordnet ist. Der Zirkel ist demnach nichts, was sich einer womöglich fehlerhaften Beschreibung von Zeit verdankt oder woraus man auf die Irrealität der Zeit schließen sollte (vgl. II.1). Er scheint vielmehr in der operativen Natur von Zeit selbst fundiert zu sein. Schließlich hat dies erhebliche Konsequenzen für das Problem der Realität der Zeit. Die systemtheoretische, konstruktivistische Epistemologie vermag es, auch das Realitätsproblem von seinen substantialistischen und ontologischen Implikationen, die sich in sublimierter Form auch heute noch der Tradition der ontologischen Metaphysik verdanken, zu lösen. Stellt man von einem substantialistischen auf einen operativen Realitätsbegriff um (vgl. III.3a) und verbindet man dies mit der systemrelativen Epistemologie, so ist das Operieren von Systemen zugleich Generator und einziger Garant ihrer Realität. Die Realität der Zeit ergibt sich dann – trotz ihres zirkulären Charakters – durch ihre operative Hervorbringung. Indem Systeme operieren, produzieren sie eine Realitätsbasis, die für sie nicht weiter unterscheidbar ist. Lediglich ein Beobachter – z.B. ein Systemtheoretiker – kann das sehen. Was ich dabei zu sehen bekommen habe, habe ich mit dem Begriff der Autoontologisierung versehen (vgl. III.3b). Durch autoontologisierende Operationen produziert ein System unter anderem die Zeit, mit der und in der es operiert. Dies gilt, wie ich gezeigt habe, sowohl für die Zeit der Autopoiesis als auch für die Beobachtungszeit (vgl. III.3c).
Diesen neun Strukturmerkmalen ist hier nichts weiter hinzuzufügen, außer der Hinweis, daß in ihnen zum einen die Frage der offenbar unhintergehbar paradoxen Darstellungsform von Zeit, wie ich sie schon vom ersten Kapitel geerbt habe, aufgehoben ist. Zum anderen enthalten sie die offenkundige Potenz einer operativen Theorie der Zeit, wie sie Husserl hinterlassen hat. Ferner unterliegen sie nicht den theorietechnisch bedingten Beschränkungen von Theorien phänomenologischer und praktischer Intersubjektivität, weil sie in ihrem Gegenstandsbereich sowohl psychische als auch soziale Systeme vorfinden, die je und in rekursiver Beziehung zueinander Zeithorizonte hervorbringen. Mit diesen Ausführungen darf ein wesentliches Ziel meiner Abhandlung als erreicht angesehen werden, nämlich eine angemessene soziologische Theorie der Zeit in ihren theorietechnischen Voraussetzungen zu umreißen. Allein, eine gewonnene Schlacht ist noch kein Sieg. Denn mit dem bis dato Erarbeiteten ist nur ein Teilziel erreicht, da bisher nur von der Zeit sozialer Systeme, nicht aber der Zeit der Gesellschaft die Rede war. Sowohl Schütz als auch Mead habe ich oben bescheinigt, daß ihre Theoriemittel nicht ausreichen, die Zeit der Gesellschaft angemessen zu beschreiben: Schütz steht ohnehin kein Begriff sozialer Zeit zur Verfügung, und bei Mead bleibt – nicht weniger als bei Schütz – der Begriff der Gesellschaft unterbestimmt. Mit Mead ließe sich die Zeit der Gesellschaft nur dann darstellen, wenn seine Theorie Ansatzpunkte enthielte, die nicht nur die spezifische Natur von sich selbst erzeugenden Handlungsketten beschreiben würden, sondern auch die gesellschaftlichen Vernetzungsbedingungen solcher Handlungsketten. Da das nicht der Fall ist,
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behilft sich Mead mit Begriffen, die der ereignisphilosophischen Potenz seines theoretischen Apparates kaum entsprechen: „generalized other“ oder „universe of discourse“. Dies hat mich zu dem Befund geführt, der soziologische, gesellschaftstheoretische Mead falle hinter den ereignisphilosophischen zurück (vgl. II.4). Mit dem nun vorliegenden Instrumentarium lassen sich soziale Systeme darstellen, die über die Kopräsenz von unmittelbar Handelnden entscheidend hinausgehen. Luhmann unterscheidet in diesem Sinne drei Arten von sozialen Systemen, nämlich Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Unter Interaktionen sind soziale Systeme zu verstehen, die ihre Grenzen dadurch finden, daß Kommunikation nur unter Anwesenden stattfindet (vgl. Luhmann 1984a: 560). Interaktionen sind demnach elementare soziale Systeme, die ohne besondere Voraussetzungen, spontan und oft sehr kurzlebig zustandekommen, sobald eine Situation doppelter Kontingenz unter Anwesenden vorliegt. Von Gesellschaft dagegen ist dann zu sprechen, wenn man die „Gesamtheit der sozialen Beziehungen, Prozesse, Handlungen oder Kommunikationen bezeichnet. (...) Gesellschaft ist danach das umfassende Sozialsystem, das alles Soziale in sich einschließt und infolgedessen keine soziale Umwelt kennt.“ (ebd.: 555) Es ist denkbar, daß Interaktion und Gesellschaft weitgehend zusammenfallen, wenn eine Gesellschaft ihre Autopoiesis nämlich durch die Kopräsenz ihrer Mitglieder sichert. Dieser Fall liegt allerdings nur in sehr einfachen Gesellschaften vor. Alle evolutionär späteren Gesellschaften können nicht mehr nur als Interaktion, mithin also auch nicht interaktionistisch beschrieben werden, will man einem gesellschaftstheoretischen Anspruch genügen. Ein besonderes Merkmal der Unterscheidung von Interaktion und Gesellschaft ist, daß Interaktionen zur Gesellschaft gehören. Für die soziologische Beobachtung ist also relevant, was sie beobachten will: Interaktionen oder die Gesellschaft, die alle möglichen Kommunikationen, auch Interaktionen, umfaßt. Auch Organisationen gehören als soziale Systeme selbstverständlich zur Gesellschaft, ohne daß je eine Gesellschaft nur aus Organisationen bestehen könnte. „Von Organisationen soll dann gesprochen werden, wenn Systeme sich selbst über die Unterscheidung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern ausdifferenzieren und entsprechend die Mitgliedschaft selektiv konditionieren.“ (Luhmann 1990a: 673) Die Mitgliedschaft als Grenzkriterium für Organisationen konditioniert die Sozialdimension: Nur Mitglieder werden an der Kommunikation beteiligt. In der Sachdimension dagegen bestehen Organisationen aus Entscheidungen: „Entscheidungen in diesem Sinne sind Ereignisse, die sich selbst als kontingent thematisieren. Organisationssysteme sind soziale Systeme, die aus Entscheidungen bestehen und Entscheidungen wechselseitig miteinander verknüpfen.“ (Luhmann 1981b: 339f.) Diese Verknüpfung wird durch organisationseigene Ziele und Programme geleistet. In der modernen Gesellschaft binden Organisationen – etwa: Betriebe, Gewerkschaften, Parteien, Universitäten, Vereine, Gerichte, Kirchen, Krankenhäuser etc. – die Kommunikation insbesondere funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft (vgl. IV.5a) und haben deshalb einen erheblichen Strukturwert, weil sie Bestimmtes erwartbar machen und weil umgekehrt nur Organisiertes Erwartungen bündeln kann.147 Dabei bilden Organisationen oft spezifische 147 Ein besonders prägnantes Beispiel für diesen Sachverhalt ist die Form, die soziale Bewegungen annehmen, wenn es ihnen nicht mehr nur auf Bewegung, sondern v.a. auf Erwartungs-, i.e. Strukturbildung ankommt. Ergebnisse solcher Entwicklungen sind etwa die Entstehung der grünen Partei, die zentrale Organisation der Friedensbewegung der frühen 80er Jahre oder die Herausbildung von Interessenverbänden unterschiedlichster Art.
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Zeithorizonte aus, die man etwa in Fristen, Periodisierungen oder programmatischen Plänen wiederfindet. Diese Andeutungen zum Unterschied von Interaktion, Organisation und Gesellschaft mögen genügen, um das weitere Vorgehen meiner Überlegungen zu begründen: Es geht mir im Folgenden nicht um eine Theorie der Zeitkonstitution von Interaktionssystemen und auch nicht um die Frage, wie Organisationen die Vernetzung von Entscheidungen in der Zeitdimension bewerkstelligen. Im Sinne der Zeit der Gesellschaft werde ich lediglich zu untersuchen haben, wie Gesellschaften unterschiedlichen evolutionären Typs die Gesamtheit ihrer Kommunikationen in der Zeitdimension ordnen und welche Zeithorizonte die entsprechenden Gesellschaftstypen ausbilden. Dies ist auf dem jetzigen Stand der Untersuchung deshalb möglich, weil mit der Theorie autopoietischer sozialer Systeme zweierlei vorliegt: Zum einen eine soziologische Theorie, die sowohl die elementare Genese sozialer Kontakte als auch die Gesellschaft als umfassendes soziales System in ihrem Gegenstandsbereich vorfindet; zum anderen ein Instrumentarium, das beobachten kann, wie soziale Systeme ihre temporalen Paradoxien und die Paradoxie ihres selbstreferentiellen Aufbaus behandeln. Mit diesen beiden Bedingungen eröffnet sich die gesellschaftstheoretische Möglichkeit, die Zeit der Gesellschaft in den Blick zu bekommen
Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit
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IV. Kapitel: Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit
Die Herausarbeitung einer tragfähigen und anspruchsvollen Theorie der sozialen Zeit ist mit der Diskussion phänomenologischer, sozialphänomenologischer, handlungstheoretischer und systemtheoretischer Überlegungen weitgehend abgeschlossen. Dazu war es notwendig, aufgrund der herausgearbeiteten Defizite phänomenologischer und pragmatischer Zeittheorien ein Instrumentarium herauszuarbeiten, das an die Erträge sowohl des einen als auch des anderen Ansatzes anzuschließen versteht. Dieses Instrumentarium meine ich, in dem in Anschluß an Niklas Luhmann explizierten systemtheoretischen Konzept sozialer (und psychischer) Zeit ausreichend erläutert zu haben. Im folgenden, abschließenden Kapitel werde ich andeutungsweise versuchen, die systemtheoretische Theorie der Zeit auf gesellschaftstheoretische Topoi anzuwenden. Dabei ist die Bezeichnung Entwurf in zweifacher Weise wörtlich zu nehmen: Zum einen maße ich mir nicht an, auf engstem Raum eine vollständige Gesellschaftstheorie der Zeit vorzunehmen. Es ist sicher keine Koketterie, zu behaupten, daß das nun Folgende lediglich Andeutungen sind, die demonstrieren sollen, inwiefern das hochabstrakte Instrumentarium nicht nur zur allgemeinen Theoriebildung taugt, sondern auch forschungspraktisch, bezogen auf gesellschaftliche Phänomene, anwendbar ist. Zum anderen liegt eine Gesellschaftstheorie aus der Perspektive der Theorie autopoietischer Systeme – laut Luhmann ein „langwieriges Unternehmen“ (Luhmann 1987b: 7) – noch nicht in ausgearbeiteter Form vor. Die folgenden Überlegungen verstehen sich also in der Tat lediglich als Andeutungen, womöglich als Reformulierung längst bekannter Sachverhalte und als Beitrag zu einer Theorie der Gesellschaft auf dem Boden eines tragfähigen theoretischen Instrumentariums am Anwendungsbeispiel der temporalen Verfassung der Gesellschaft. Ausgehend von der Annahme, daß sich System und Umwelt in temporaler Hinsicht stets in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit befinden (vgl. Luhmann 1984a: 254) und eingedenk des – noch erläuterungsbedürftigen – Sachverhalts, daß sich Gesellschaftstypen insbesondere durch die Form ihrer Systemdifferenzierung unterscheiden (vgl. Luhmann 1980b: 22), beginne ich mit der Erörterung des Zusammenhangs von Systemdifferenzierung und Gleichzeitigkeit (1). Daran schließt sich eine evolutionstheoretische Perspektive des soziohistorischen Wandels von gesellschaftlichen Differenzierungsformen an, die ich von segmentär differenzierten Gesellschaften bis zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft im Hinblick auf die gesellschaftliche Organisation von Gleichzeitigkeit verfolge (2-5). Schließlich werde ich unter dem Stichwort Moderne Zeiten ausgewählte Zeitsemantiken der modernen Gesellschaft behandeln (6). Ein abschließendes Re-Entry wird die Untersuchung beschließen (7). Bevor ich mit meinen Erörterungen beginne, sei noch betont, daß es im folgenden um eine gesellschaftstheoretische Perspektive geht. Ich beschränke mich also auf den Aspekt der zeitlichen Organisation des Gesellschaftssystems als umfassendem Sozialsystem und
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IV. Kapitel
lasse temporale Topoi von Sozialsystemen, die sich per Kopräsenz von Personen bzw. per Mitgliedschaftsrollen reproduzieren, nur so weit in die Diskussion einfließen, als sie für die gesellschaftstheoretische Fragestellung von Belang sind (zur Unterscheidung von Gesellschaft, Interaktion und Organisation vgl. III.4).
1.
Systemdifferenzierung und Gleichzeitigkeit
Es ist ein soziologischer common sense, daß zwischen der Differenziertheit und Komplexität einer Gesellschaft und ihren Zeithorizonten ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis besteht (vgl. Schöps 1980: 23f.; Elias 1982: 841ff.; Zoll 1988a: 72ff.; Luckmann 1986: 135ff.; Herrmann-Stojanoff/Stojanoff 1986: 118f.; Schmied 1985: 115ff.; Rammstedt 1975: 47ff.; Nowotny 1989: 8; Dux 1989: 78). In systemtheoretischer Begrifflichkeit lautet diese Diagnose, daß „komplexere Gesellschaftssysteme weitere, abstraktere und in sich differenziertere Zeithorizonte bilden als einfachere Gesellschaften. Sie erreichen damit eine höhere, möglichkeitsreichere Weltkomplexität, die ihnen das Erreichen höherer Selektivität im Erleben und Handeln ermöglicht“ (Luhmann 1975b: 107f.). Letztlich ist aber der Aussagewert einer solchen Diagnose recht begrenzt, weil sie, genau genommen, nur eine Tautologie formuliert: Wenn man davon ausgeht, daß Zeit schon in die operativen Grundlagen autopoietischer Systeme eingebaut ist, dann impliziert die Annahme einer höheren Systemkomplexität fast automatisch auch eine höhere Komplexität des Zeithorizontes. Doch Luhmann fährt fort: „Sie können auf diese Weise zugleich innergesellschaftliche Systemgeschichten besser synchronisieren – und zwar auch Systemgeschichten, die sehr verschiedenartig sind und inhaltlich (zum Beispiel moralisch) nicht integriert werden können; und auch Systemgeschichten, die verschieden lang dauern oder verschieden schnell ablaufen.“ (ebd.) Die Komplexität einer Gesellschaft scheint also nicht unilinear und per konstanter Proportion zu einer ihr entsprechenden Komplexität von Zeithorizonten zu führen. Luhmann stellt vielmehr darauf ab, daß die Zeithorizonte einer Gesellschaft offenbar mit der Differenziertheit in Teilsysteme korrelieren. Im Klartext: Nicht die bloße Komplexität eines Gesellschaftssystems strukturiert ihre Zeithorizonte, sondern Quantität und Qualität ihrer Systemdifferenzierung. Ich werde mich deshalb zunächst dem Zusammenhang von Komplexität und Systemdifferenzierung zuwenden. Von Komplexität ist – wie ich oben schon angedeutet habe (vgl. III.2c) – dann zu sprechen, wenn ein System „nicht mehr jedes seiner Elemente mit jedem anderen verknüpfen kann“ (Luhmann 1980b: 21). Ein komplexes System hat demnach stets mehr Möglichkeiten, als es strukturell verwirklichen kann, und muß deshalb selektiv auf diese Möglichkeiten zugreifen. Differenziert ist dagegen ein System, „wenn es in sich selbst Teilsysteme bildet, das heißt in sich selbst Systembildung wiederholt, also in sich selbst nochmals Differenzen zwischen System und (jetzt: interner) Umwelt schafft“ (ebd.). Nun darf auch der Zusammenhang von Systemdifferenzierung und Komplexität nicht schlicht als Steigerungszusammenhang aufgefaßt werden. Luhmanns gesellschaftstheoretische Grundannahme lautet vielmehr, daß „die Komplexität, die ein Gesellschaftssystem erreichen kann, abhängt von der Form seiner Differenzierung“ (ebd.: 22). Die Form der Differenzierung ist es, die nicht nur den Komplexitätsgrad einer Gesellschaft ausmacht, sondern den Gesamt-
Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit
239
charakter des Gesellschaftssystems mit all seinen Limitationen und Möglichkeiten. So macht es – um ein Beispiel andeutungsweise vorwegzunehmen – durchaus einen Unterschied, ob in einer Gesellschaft der soziale Rang eines Adressaten von Kommunikation oder aber dessen Fachkompetenz etwa wissenschaftlicher oder ökonomischer Art sowie dessen Zugang zu solchen Kommunikationsformen die Kommunikation strukturiert. Eine weitere Grundannahme von Luhmanns gesellschaftstheoretischen und wissenssoziologischen Arbeiten ist die Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik. Während ersteres nichts anderes als die Form der Systemdifferenzierung einer Gesellschaft und deren Konsequenzen für die Reduktion und den Aufbau sozialer Komplexität meint, ist unter zweiterem die sinnhafte Verarbeitung gesellschaftlicher Komplexität zu verstehen. „Die Gesamtheit der für diese Funktion benutzbaren Formen einer Gesellschaft (...) wollen wir die Semantik einer Gesellschaft nennen, ihren semantischen Apparat ihren Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln.“ (ebd.: 19) Die Semantik einer Gesellschaft ist sozusagen der allgemeine Wissensvorrat, der verfügbare Sinn und die kulturelle Tradition, die einer Gesellschaft zur Verfügung steht.1 Es dürfte auf den ersten Blick einleuchtend sein, daß zwischen der Gesellschaftsstruktur und den semantischen Potentialen einer Gesellschaft ein enger Zusammenhang besteht. Um noch einmal ein Beispiel anzudeuten: Daß Gesellschaften mit einem eindeutigen strukturellen Zentrum eher einen zentralen, gesamtgesellschaftlichen Sinn kennen, der sich in Form einer bestimmten semantischen Tradition zeigt, als solche Gesellschaften, deren Gesellschaftsstruktur ein strukturelles Zentrum ausschließt, liegt auf der Hand. Dabei soll nicht die letztlich unfruchtbare Auseinandersetzung um den Motor des gesellschaftlichen Wandels restituiert werden. Ob man eine materialistische Basis/Überbau-Theorie vertritt,2 ob man die Frage nach dem Primat von Interessen oder Ideen in der Schwebe läßt3 oder ob man eine idealistische Position vertritt,4 letztlich ist der Streit nicht entscheidbar. Das mag zum einen an der paradoxen Situation liegen, daß die Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik immer eine Unterscheidung ist, die nur semantisch getroffen werden kann und muß. Zum anderen impliziert ein Vorrang einer der beiden Seiten ein Verhältnis der Kausalität, das sich weder mit der Kontingenz verträgt, die in die dynamische Stabilität autopoietischer Operationen eingebaut ist, noch mit der, die die sinnhafte Beobachtbarkeit der Welt, die nahezu unendlichen und unwahrscheinlichen Kombinations- und Rekombinationsmöglichkeiten sinnhafter Verweisungen auf Sinnhaftes ausmachen. Kurzum: Eine gesellschaftstheoretische Perspektive hat sowohl an gesellschaftsstrukturellen Umstellungen und Charakteristika anzusetzen als auch an der sinnhaften Verarbeitung der gesellschaftlichen Komplexität in und mit semantischen Potentialen. Streng terminologisch gehört selbstverständlich jedes gesprochene Wort, jeder verwendete Ausdruck und jede wirksam gewordene Bedeutung zur Semantik einer Gesellschaft. Von gesellschaftstheoretischem Interesse sind allerdings nur solche semantischen Potentiale, die von besonderem Strukturwert für die gesellschaftliche Kommunikation sind. Solche – wie Luhmann sagt – gepflegte Semantiken (vgl. ebd.: 19) stellen Beobachtungs- und Beschreibungsschemata auf 1 2 3 4
Ähnliche Formulierungen finden sich bei Berger/Luckmann 1969: 43ff.; Tenbruck 1989: 45ff.; Hitzler 1988: 62ff.; Giesen 1991: 83ff. Klassisch dazu vgl. Marx 1969: 99ff. Paradigmatisch vgl. Weber 1972: 252. So Hegels Phänomenologie des Geistes (vgl. Hegel 1970a).
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IV. Kapitel
Dauer. Sie entlasten einerseits von der ständigen Kontingenz, die im Selektionszwang aus mannigfaltigen Möglichkeiten liegt. Andererseits geben sie der gesellschaftlichen Kommunikation eine Struktur, weil sie Bestimmtes erwartbar machen und anderes erwartungsbedingt ausschließen. Gepflegte Semantiken sorgen sozusagen für Strukturwerte, die Heinz von Foerster „(Eigen)-Werte“ (v. Foerster 1985: 210) nennt. An ihnen läßt sich die Operationsweise des Systems und seiner Teilsysteme ablesen. Meine oben eingeführte Unterscheidung der operativen Zeit der Autopoiesis eines Systems von der Beobachtungszeit, die sich durch die Handhabung temporaler Unterscheidungen herausbildet, ist zwar nicht vollständig auf die Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik abbildbar. Allerdings kommt das auf der Ebene der Gesellschaftsstruktur gemeinte Operieren von Systemen dem sehr nahe, was ich als Zeit der Autopoiesis bezeichnet habe. Denn wenn diese die Konstitution des Anschlußzusammenhangs von je gegenwärtigen Systemoperationen meint, wird durch jene basale Ereignistemporalität zugleich mitausgedrückt, welche Ereignisse woran anschließen. Eine durch Differenzierung gekennzeichnete Gesellschaftsstruktur zeichnet sich also dadurch aus, daß es innerhalb einer Gesellschaft mehrere Ereignistemporalitäten nebeneinander gibt, die füreinander nicht anschlußfähig sind. Diese unterschiedlichen Anschlußzusammenhänge unterscheiden sich also wesentlich dadurch, daß sie je unterschiedliche Systeme konstituieren, die füreinander Umwelt sind. Diese Systeme reproduzieren sich durch Rekurs auf Sinn, auf zeitfeste Wissensvorräte und kognitive und normative Erwartungen; und das heißt nichts anderes als: durch und mit ihrem semantischen Apparat. Innerhalb der semantischen Potentiale, mit Hilfe derer sich ein soziales System selbst oder anhand derer es die Welt beschreibt, können selbstverständlich auch temporale Bestimmungen vorkommen. Diese Zeitsemantiken decken sich weitgehend mit dem, was ich oben mit dem Terminus Beobachtungszeit belegt habe. In Zeitsemantiken wird also einerseits – im Sinne von Eigen-Werten – vorstrukturiert, wie sich ein System selbst temporal beschreibt, zum anderen kommt in ihnen zum Ausdruck, inwiefern ein System mit seinem Vergangenheits- und Zukunftshorizont, mit zyklischen Erwartungen, mit Planungsverhalten und Geschichtsverständnis umgeht. In Zeitsemantiken drücken sich, in kulturell akzeptabler und allgemeinverständlicher, i.e. gesellschaftssystemrelativer Weise, die Eigenzeiten von Sozialsystemen aus. Wenn also im folgenden von einer Gesellschaftstheorie der Zeit die Rede ist, geht es um die Frage, in welcher Weise ein Gesellschaftssystem durch Systemdifferenzierung unterschiedliche Ereignistemporalitäten und Zeithorizonte herausbildet, wie diese Zeithorizont miteinander koordiniert werden und wie sich dies in Form einer zentralen bzw. mehrerer divergierender Zeitsemantiken niederschlägt. Zwar dürfte mit dem Gesagten das Problem des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlichen Strukturen und semantischen Codierungen der Beobachtungszeit auf der abstrakten Ebene allgemeiner Theorie ausreichend erläutert sein. Was jedoch mit dem Ausdruck der Koordination von Zeithorizonten belegt wurde, bedarf noch einer weiteren Klärung. Dazu ist es nötig, das Problem der Systemdifferenzierung noch einmal zu erläutern. Es wurde schon gesagt: Durch Systemdifferenzierung wiederholt ein System Systembildung in sich selbst und schafft damit innerhalb seiner Grenzen neue Grenzen, an denen sich erneut System/Umwelt-Verhältnisse ergeben. So differenziert sich ein System in Teilsysteme aus, die füreinander Umwelt sind, wobei es sich bei dieser Umwelt um eine innerge-
Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit
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sellschaftliche Umwelt handelt. Ein Gesellschaft findet – unter Bedingungen der Weltgesellschaft (vgl. dazu IV.5a) – in seiner Umwelt keine soziale Kommunikation mehr vor, sondern nur Nicht-Kommunikatives: psychische und organische Systeme von Menschen, sonstige belebte und unbelebte Natur, den gestirnten Himmel über sich etc. Ihre Teilsysteme dagegen erleben sich in einer kommunikativen Umwelt – und sind doch Systeme mit operativ geschlossener Autopoiesis. Zunächst bereitet dieser Sachverhalt keine Schwierigkeiten, bis man danach fragt, wie Systemdifferenzierung zustande kommt. Die obige Formulierung jedenfalls ist mißverständlich, denn sie suggeriert, daß ein System, hier: eine Gesellschaft, gleichsam selbst seine Ausdifferenzierung in Gang setzt. Das würde implizieren, daß das dann ausdifferenzierte Teilsystem sozusagen von außen, was hier einem von oben gleichkommt, in Gang gesetzt worden wäre, was dem Gedanken der operativen Autonomie und der Selbstreferenz jeder Operation widersprechen würde. Luhmann betont dagegen, daß eine Ausdifferenzierung des Systems in Teilsysteme nicht von oben, sondern quasi von unten geschieht. „Wie jede Bildung sozialer Systeme erfolgt auch systeminterne Systembildung autokatalytisch, das heißt: selbstselektiv. Sie setzt keine ,Aktivität‘ des Gesamtsystems, auch keine Handlungsfähigkeit des Gesamtsystems voraus, geschweige denn einen Gesamtplan. Ebensowenig hilft es weiter zu sagen, daß das Gesamtsystem sich in Teilsysteme gliedere oder in Teilsysteme zerlegt werde. Das Gesamtsystem ermöglicht durch die eigene Ordnung nur die Selbstselektion des Teilsystems.“ (Luhmann 1984a: 260) Die autokatalytische, selbstselektive Teilsystembildung folgt also nicht einem präformistischen Determinismus wie etwa die Zellteilung in organischen Systemen. Teilsystembildung ist vielmehr ein hochunwahrscheinliches Geschehen, das allein dadurch in Gang kommt, daß es geschieht. Das heißt selbstverständlich keineswegs, daß Teilsysteme wie aus dem Nichts entstehen. Es gibt sehr wohl Anfangsbedingungen, die eine Teilsystembildung wahrscheinlicher werden lassen. Allerdings können solche Antezedenzbedingungen stets nur ex post als solche angesehen werden. Sie ex ante zu erkennen, bedürfte der Handhabung kausaler Zukunftserwartungen und Gesetzmäßigkeiten, die ereignistemporalen Systemen nicht zur Verfügung stehen.5 Ich bewege mich zunächst auf der Ebene allgemeiner Theorie sozialer Systeme, bevor ich auf konkrete Systemdifferenzierungen und Teilsystembildungen zu sprechen komme. Auf dieser Theorieebene kommt m.E. ein Sachverhalt zur Geltung, der für die Formulierung einer Gesellschaftstheorie der Zeit von eminenter Wichtigkeit ist. Ich meine das Problem der Synchronisierung. Wenn innerhalb eines Systems, hier: einer Gesellschaft, Sy-stembildung wiederholt wird, entstehen mit den Teilsystemen neue, nun gesellschaftsinterne System/ Umwelt-Verhältnisse. Ich habe bereits oben betont, daß sich die System/Umwelt-Relation in temporaler Hinsicht als ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit darstellt (vgl. III.1d). Da Umwelt stets systemrelativ, also durch Operationen des Systems konstituiert wird, ist Gleichzeitigkeit kein absoluter Sachverhalt, sondern ein solcher, der systemrelativ hergestellt wird und für den es letztlich keinen außerhalb des Systems befindlichen Ansatzpunkt gibt, weil Systeme operativ geschlossen sind. Sobald sich ein System jedoch in Teilsysteme ausdifferenziert, finden diese nicht nur eine bloße gesamtsysteminterne Umwelt vor, sondern v.a. Systeme in dieser Umwelt. „Eine der wichtigsten Konsequenzen des System/Umwelt-Paradigmas ist: daß man zwischen der 5
So auch das Zeitverständnis von Elias’ Zivilisationstheorie (vgl. Elias 1980b: 316ff.).
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IV. Kapitel
Umwelt eines Systems und Systemen in der Umwelt dieses Systems unterscheiden muß. Diese Unterscheidung hat eine kaum zu überschätzende Bedeutung. So muß man vor allem die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Umwelt und System unterscheiden von den Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Systemen.“ (ebd.: 37) Diese Abhängigkeitsbeziehungen hängen selbstverständlich von der Gesellschaftsstruktur ab. Es macht einen Unterschied, ob Teilsysteme horizontal oder vertikal angeordnet sind, ob sie sich bezüglich ihres Strukturwertes für die Gesamtgesellschaft bzw. andere Teilsysteme unterscheiden etc. Doch in all diesen Fällen liegen System/Umwelt-Verhältnisse vor, die bei Vorkommen von Systemen in der Umwelt als wechselseitige System/Umwelt-Verhältnisse zu beschreiben sind. Wenn sich solche Teilsysteme wechselseitig beobachten, liegt logischerweise ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit vor, denn solche Systeme sind füreinander je Umwelt. Allerdings kann Gleichzeitigkeit nicht schlicht vorausgesetzt werden, da es sich bei ihr um ein systemrelativ Konstituiertes handelt. Gleichwohl brauchen Teilsysteme, sobald sie in wechselseitigen Kontakt miteinander treten, einen zumindest „gleichzeitigen“, wenn schon nicht einen „gleichsachlichen“ und „gleichsozialen“ Horizont. Die hier vertretene These lautet, daß in Systemen, in denen sich Teilsystembildung vollzieht, das Problem der Gleichzeitigkeit prekär wird. Sie ist als gemeinsamer Horizont nicht einfach vorhanden, sondern muß erst hergestellt werden, um Systemprozesse miteinander koordinieren zu können. Sobald ein System Teilsysteme bildet, entstehen unterschiedliche Ereignistemporalitäten, die operativ voneinander durch Systemgrenzen getrennt sind. Je unterschiedlicher die semantischen Operationsweisen voneinander sind und je weniger das, was in dem einen System geschieht, für das andere transparent ist, um so differenziertere Eigenzeiten und Zeithorizonte bilden sich nebeneinander aus und um so unwahrscheinlicher wird ein gemeinsamer temporaler Horizont, der die Systemgeschichten miteinander synchronisieren kann. Deshalb ist Luhmann – wie ich schon betont habe – darin zuzustimmen, daß „es zu einfach wäre, ein schlicht lineares Steigerungsverhältnis der Komplexität von Gesellschaftssystem und Zeithorizont zu unterstellen“ (Luhmann 1975b: 108). Denn es kommt in der Tat sowohl auf die gesellschaftsstrukturelle Differenzierungsform einer Gesellschaft als auch auf die sinnhaft-semantischen Differenzen an, die letztlich den Zeithorizont bzw. die Zeithorizonte einer Gesellschaft ausmachen. Daraus ist die Konsequenz zu ziehen, daß eine Theorie der sozialen Zeit, die von der gesellschaftstheoretischen Grundannahme ausgeht, daß sich Gesellschaftssysteme im wesentlichen durch ihr primäres Differenzierungsprinzip unterscheiden, wie folgt zu operieren hat: Es sind die unterschiedlichen Differenzierungsformen, die in ihrer historischen Abfolge eine evolutionstheoretische Perspektive auf die gesellschaftliche Entwicklung vermitteln, im Hinblick auf die Herausbildung unterschiedlicher Ereignistemporalitäten zu untersuchen. Auf der Basis der Befunde solcher gesellschaftsstruktureller Überlegungen ist danach zu fragen, welche Zeitsemantiken mit der strukturellen Differenzierung einhergehen und wie es der jeweiligen Gesellschaft gelingt, die Synchronisation von unterschiedlichen Systemprozessen zu organisieren. Bevor ich mit dieser historischen Typologisierung beginne, sei noch eine Bemerkung erlaubt, um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen. Sie bezieht sich auf den Begriff der Gleichzeitigkeit: Gegen die Diagnose, Gleichzeitigkeit werde durch Systemdifferenzierung prekär, könnte eingewandt werden, daß doch alles, was geschieht, wie unterschiedlich es
Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit
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auch immer sein mag, nur in einer Gegenwart, also gleichzeitig, geschehen könne, wie Luhmann auch selbst bemerkt. „Wir gehen von einer ebenso trivialen wie aufregenden These aus: Daß alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht. (...) Etwas anderes kann nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft des Referenzgeschehens geschehen, sondern nur gleichzeitig. Mit anderen Worten, nichts kann in der Weise schneller geschehen, daß anderes in seiner Vergangenheit zurückbleibt. Nichts kann in die Zukunft anderer Geschehnisse vorauseilen mit der Folge, daß das, was für es Gegenwart ist, für anderes noch Zukunft ist.“ (Luhmann 1990d: 98f.)6 Gleichzeitigkeit ist also ein unhintergehbares Charakteristikum der Differenz von System und Umwelt. Inwiefern kann dann behauptet werden, daß Gleichzeitigkeit durch Systemdifferenzierung prekär werden kann und daß deshalb Mechanismen der Synchronisierung gefunden werden müssen? Daß ein Sachverhalt p und ein Sachverhalt q gleichzeitig sind, setzt voraus, daß sie nicht miteinander identisch sind, weil sonst ihre Gleichzeitigkeit nicht festgestellt werden kann. In Luhmanns Formulierung: „Der Verzicht auf eine Zeitunterscheidung erfordert eine Sachunterscheidung.“ (ebd.: 99) Umgekehrt wird Zeit erst dadurch relevant, daß nicht alles gleichzeitig geschehen kann. Denn wenn etwas aktuell geschieht, wird etwas anderes ausgeschlossen, weil alles Geschehene durch Differenzsetzung „in einem Horizont anderer Möglichkeiten“ (Luhmann 1975b: 105) abläuft. Durch Systemdifferenzierung wird die Unmöglichkeit, daß Unterschiedliches gleichzeitig geschieht, quasi dadurch unterlaufen, daß die Gleichzeitigkeit verschiedener Systeme die Gleichzeitigkeit von Verschiedenem ermöglicht. Damit wird Gleichzeitigkeit insofern prekär, als sachlich verschiedene Ereignistemporalitäten aufeinander abgestimmt werden müssen. Die erkenntnisleitende Frage lautet also, wie eine Gesellschaft mit der Gleichzeitigkeit von Verschiedenem umgeht und wie sachlich unterschiedliche Ereignisreihen synchronisiert werden. Dabei ist leicht zu sehen, daß mit der Unhintergehbarkeit der Gleichzeitigkeit von System und (System in der) Umwelt die Einschränkbarkeit der Synchronisation der verschiedenen Systemprozesse korrespondiert. Synchronisation ist deshalb ein einschränkbarer Sachverhalt, weil die Differenz von System und Umwelt eine Punkt-für-Punkt-Korrelation des Systems mit seiner Umwelt ausschließt. „Es muß auf vollständige Synchronisation mit der Umwelt verzichten und muß die damit gegebenen Risiken der momentanen Nichtentsprechung abfangen können.“ (Luhmann 1984a: 72) Durch diesen notwendigen Verzicht entsteht erst das Synchronisationsproblem, denn da Synchronisation eingeschränkt werden muß, entsteht ein Selektionszwang: in sachlicher Hinsicht die Notwendigkeit, in bestimmter Weise auf bestimmte Anforderungen in der Umwelt zu reagieren, und in zeitlicher Hinsicht im Versuch der temporalen Beobachtung und Beschreibung anderer Systemgeschichten zur Koordination, i.e. Synchronisation des Differenten. Entscheidend ist, daß dies auf mehreren Seiten gleichzeitig (sic!) geschieht und daß dadurch die Gleichzeitigkeit prekär wird. Es entsteht: Synchronisationsbedarf.
6
Das widerspricht übrigens keineswegs der Einsteinschen Relativitätstheorie (vgl. meinen Exkurs in II.3a), denn die dort beobachtete Ungleichzeitigkeit resultiert ja gerade aus der Beobachterrelativität eines Beobachters, der in seiner umweltgenerierenden Beobachtung sehr wohl eine Gleichzeitigkeit konstituiert, die jedoch durch die Differenz der Inertialsysteme nicht gleichzeitig ist, was übrigens nur ein Beobachter sehen kann, nicht aber die beteiligten Systeme (so auch Luhmann 1984a: 254; anders Brandt 1992: 175).
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IV. Kapitel
Als theoretische Hypothese läßt sich formulieren, daß das Problem der Gleichzeitigkeit und der Synchronisationsbedarf von Systemprozessen mit der Unterschiedlichkeit von Teilsystemen steigt. Dabei ist zu betonen, daß dieses Steigerungsverhältnis nicht in jedem Falle mit dem Verhältnis von gesellschaftsstruktureller Komplexität und Zeithorizonten identisch ist. Für die – insbesondere sachliche – Differenz der Teilsysteme ist vielmehr die Differenzierungsform und mit ihr die semantische Dimensionalität einer Gesellschaft verantwortlich, weshalb ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Ich betone noch einmal, daß es hier um soziale Systeme geht und daß deshalb das Problem der Gleichzeitigkeit von sozialen Systemen, hier: von Teilsystemen der Gesellschaft, angesprochen ist. Andere Theorietraditionen betonen zwar ebenfalls die Notwendigkeit, daß das wesentliche Problem der sozialen Zeit ein Synchronisationsproblem sei, doch geht es dort nur um die Synchronisation psychischer bzw. personaler Temporalitäten. Zwar betont etwa Luckmann: „Soziale Zeitkategorien versorgen die unmittelbaren Interaktionen mit einem außerhalb der inneren Dauer der Handelnden liegenden zeitlichen Hintergrund.“ (Luckmann 1986: 158) Er läßt aber – so auch meine Kritik an Schütz (vgl. II.2b) – völlig unbestimmt, was unter einem solchen „zeitlichen Hintergrund“ zu verstehen ist – abgesehen von Hinweisen auf einen gesellschaftlichen Wissensvorrat, in dem auch zeitliche „Objektivationen“ vorkommen. Allerdings läßt Luckmann keinen Zweifel daran, daß der soziale Charakter der Zeit letztlich nur ein Gemeinsames psychischer Realitäten ist. Er fährt fort: „Aber Handeln bedarf auch eines ständigen Aufeinander-Einstimmens. Die Zeitlichkeit des Alltagslebens, so wirksam sie auch immer durch ,abstrakte‘ sozial objektivierte Kategorien strukturiert sein mag, ist die intersubjektive Zeitlichkeit des unmittelbar gesellschaftlichen Handelns und beruht auf der Synchronisierung der inneren Zeit unter Zeitgenossen.“ (ebd.) Daß soziale Situationen mit Kopräsenz von Aktoren selbstverständlich eine Synchronisierung erfordern, ist unbestritten. Ebenso unbestritten ist auch, daß eine solche Synchronisierung erst diejenige Kopräsenz von Aktoren herstellt, die ein soziales System emergieren läßt. Was ich aber energisch bestreite, ist Luckmanns Rekurs auf die „innere Dauer unter Zeitgenossen“: Nicht sie müssen synchronisiert werden, sondern allein die ereignishafte strukturelle Kopplung zwischen Kommunikation und Bewußtsein (vgl. III.1d). Soziale Zeit ist explizit nicht Ergebnis der Synchronie von psychischen Eigenzeiten, sondern ist allein Ergebnis der Emergenz des sozialen Systems, die durch psychische Konvergenz in Elementen (vgl. III.1a) in Gang gehalten und fortgesetzt wird. Eine gesellschaftstheoretische Erörterung von Zeit hat also allein nach solchen sozialen Temporalitäten und nach der Koordination solcher kommunikativer Ereignis- und Beobachtungstemporalitäten zu fragen. Erst aus dieser Perspektive wird es sinnvoll, zu untersuchen, in welchem Verhältnis psychische und personale Eigenzeiten zu sozialen Zeithorizonten stehen. Meine Hypothese lautet, daß auch zwischen diesen Zeithorizonten, die sich ebenfalls in einem System/Umwelt-Verhältnis, d.h. in einem Verhältnis unhintergehbarer Gleichzeitigkeit befinden, ein Koordinierungs- und Synchronisationsbedarf besteht, auf den ich weiter unten zu sprechen komme (vgl. IV.5c). Nachdem ich das Programm einer Gesellschaftstheorie der Zeit dahingehend eingegrenzt habe, daß eine solche den Zusammenhang von Systemdifferenzierung, Zeitsemantik und Synchronisationsmechanismen darzustellen hat, wende ich mich im folgenden dem evolutionären Wandel dieses Zusammenhanges zu. Dabei verfolge ich keine filigrane Kul-
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turgeschichte der Zeit, wie sie etwa von Dux (1989) oder Wendorff (1985) vorliegt. Vielmehr geht es mir nur darum, anhand einer groben Skizze von – zugegebenermaßen idealtypisch überformten – Strukturmustern einen Schritt auf dem Weg meines Entwurfs einer Gesellschaftstheorie der Zeit zu gehen. Ich schließe dabei an die von Luhmann ausgearbeitete evolutionstheoretische Perspektive an, die drei typische Differenzierungsformen von Gesellschaftssystemen unterscheidet, die sich historisch abgelöst haben. Es sind dies segmentär differenzierte Gesellschaften archaischer Kulturen, stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften der sogenannten Hochkulturen und die funktional differenzierte Weltgesellschaft der Moderne (vgl. Luhmann 1980b). Ich werde mich jedoch nicht ganz an diese Typologie halten, sondern zwischen Luhmanns zweite und dritte Phase eine weitere schalten, weil gerade die Übergangsperiode von der vormodernen stratifizierten zur modernen funktional differenzierten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts für die Umstellung der Zeitsemantik von besonderer Bedeutung ist. Mit dieser Einteilung in vier Stufen folge ich zum Teil Bernhard Giesen, der zwischen dem Rangfolgecode der mittelalterlichen und dem Funktionscode der Moderne einen normativen Code als Leitunterscheidung der Gesellschaftsstruktur ausmacht (vgl. Giesen 1991: 38ff.), der sich sowohl von der historisch früheren Stratifikation als auch von der historisch späteren Moderne unterscheidet. Es ist dies – um mit Koselleck zu sprechen – die Zeit der Epochenschwelle zur Moderne (vgl. Koselleck 1987: 296ff.), die weitgehend mit der Aufklärung und der beginnenden Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme einhergeht. Im einzelnen werde ich den Strukturwandel der gesellschaftlichen Organisation von Zeit im Zusammenhang mit der Gleichzeitigkeit und dem Synchronisationsbedarf ungleicher Systemprozesse unter folgenden Stichworten behandeln: Gleichzeitigkeit und Anwesenheit in segmentär differenzierten Gesellschaften (2); Gleichzeitigkeit und Heilsgeschichte in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften (3); Gleichzeitigkeit und Fortschritt an der Epochenschwelle zur Moderne (4) und Gleichzeitigkeit und Synchronisation in der funktional differenzierten Gesellschaft (5).
2.
Gleichzeitigkeit und Anwesenheit in segmentär differenzierten Gesellschaften
a)
Segmentäre Differenzierung der Gesellschaft
Im Rahmen der evolutionären Typen gesellschaftlicher Differenzierungsformen bildet die segmentäre Differenzierung das einfachste Differenzierungsprinzip. Sie ist einfachen Sozialsystemen, etwa archaischen Gesellschaften, zuzuordnen. Das segmentierende Differenzierungsprinzip teilt ein Sozialsystem in gleiche Teile, etwa Familien, Stämme, Dörfer etc. (vgl. Giesen 1991: 28; Sahlin 1973: 114f.). Das Bezugsproblem des jeweiligen Handelns ist hier die unhintergehbare und alternativlose Gemeinsamkeit der sozialen Gruppe. „Jedes Teilsystem sieht die innergesellschaftliche Umwelt nur als Ansammlung von gleichen oder ähnlichen Systemen. Das Gesamtsystem kann dadurch eine geringe Komplexität von Handlungsmöglichkeiten nicht überschreiten.“ (Luhmann 1980b: 25) Diese Limitation von Handlungsmöglichkeiten resultiert daher, daß segmentär differenzierte Gesellschaften sich in solche Teilsysteme ausdifferenzieren, die ihre Grenzen in Lokalitäten und konkreten Handlungssituationen finden (vgl. Giesen 1991: 26). Als wesentliches Kriterium für die
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IV. Kapitel
Zugehörigkeit zum (Teil-)System fungiert demnach die Anwesenheit von Personen (vgl. Luhmann 1975c: 22). Wenn Handlungen und Handlungsmöglichkeiten innerhalb eines Teilsystems auf Anwesenheit, also auf Kopräsenz und gemeinsamer Lokalität aufbauen, folgt daraus, daß sich zum einen nur ein sehr geringer Grad an Arbeitsteilung herausbilden kann und daß zum anderen gerade deshalb nur ein geringer Bedarf für eine komplexe interne Organisation von Anschlußselektionen entsteht. Innerhalb des Gesellschaftssystems sind Handlungsmöglichkeiten und Alternativen weitgehend festgelegt und institutionalisiert, und das unabhängig davon, welcher Familie, welchem Clan oder welchem Dorf eine Person angehört. Die geringe Komplexität, i.e. die geringe Kombinations- und Selektionsvarianz für Erleben und Informationsverarbeitung von Umwelt führt idealiter dazu, daß Wirklichkeit sich von jeder Position innerhalb des Gesellschaftssystems als gleich und symmetrisch darstellt. Das führt dazu, daß Handlungsanschlüsse kaum auf besondere Selektionsspielräume von beteiligten Personen angewiesen sind. „Die Sinndimensionen (zeitlich, sachlich und sozial) sind noch kaum differenziert und deshalb nicht weiträumig auslegbar. Personen haben dann ein nur minimales, auf das Verhältnis zum eigenen Organismus beschränktes autopoietisches Eigenbewußtsein. (...) Alle sozialen Formen werden okkasionell gefunden, bleiben an konkrete Lokalisierungen gebunden und müssen präsent sein, um wirken zu können.“ (Luhmann 1984a: 567) Diese Beschränkung auf Aktualität und Lokalität führt dazu, daß alles, was geschieht, innerhalb eines überschaubaren, transparenten Raumes geschieht, der innerhalb seiner selbst keine Systemgrenzen mehr kennt. Indem Handlungen auf konkrete Handlungssettings angewiesen sind, fehlt einer solchen Gesellschaft zumeist ein semantischer Apparat, der gleichsam getrennt vom Bezeichneten existieren kann. Die „Differenz zwischen Individualität und Allgemeinheit, zwischen Namen und Begriffen, Regeln und Praxis (ist) noch nicht verfügbar“ (Giesen 1991: 26), was zur Folge hat, daß sich kein abstraktes Bewußtsein auf symbolischer Ebene herausbilden kann. Sinnhafte Verweisungen bleiben im wesentlichen auf dem Aktionsniveau, das man mit Jean Piaget als „konkret-operationales Denken“ bezeichnen könnte. Diese Charakterisierung führt Piaget allerdings dazu, sich der These Lucien Levy-Bruhls vom „prälogischen Denken“ der „primitiven Mentalität“ anzuschließen (Piaget 1975: 73ff.). So heißt es bei Levy-Bruhl: „Es scheint, daß die Gesamtheit geistiger Gewohnheiten, die abstrakteres Denken und eigentliche vernunftgemäße Veranlagung ausschließen, bei einer großen Zahl niederer Gesellschaftsordnungen anzutreffen ist, und daß sie einen charakteristischen und wesentlichen Zug in der Mentalität der Naturvölker bildet.“ (Levy-Bruhl 1959: 13) Zwar hebt Levy-Bruhl auf die Gesellschaftsordnung als wesentliches Bestimmungsmerkmal für die „primitive Mentalität“ ab, doch letztlich bleibt sein Argument anthropologisch. Erst eine gesellschaftstheoretische Position aber kann sehen, daß es sich bei der sogenannten „primitiven Mentalität“ quasi um ein Nebenprodukt von Kommunikation handelt, das aus dem geringen funktionalen Erfordernis hoher Sinnkomplexität resultiert. Es ist nötig, diese sinnhafte Verweisungsstruktur aus ihren internen Limitationen selbst heraus zu verstehen, und nicht, wie Levy-Bruhl argumentiert, die semantischen Potentiale archaischer Gesellschaften mit der Logik modernen Denkens zu vergleichen. Ein solcher Vergleich muß – darin bleibt Levy-Bruhl dem Comteschen Fortschrittsgedanken des Dreistadiengesetzes verpflichtet – notwendigerweise zu einer Disqualifizierung einfacher Gesellschaften als
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Ausdruck nicht ausgeschöpfter Seinsmöglichkeiten menschlicher Populationen führen. Wenn ich hier das Abtraktionsniveau archaischer Gesellschaften als konkret-operational oder – um mit Giesen zu sprechen – indexikal (vgl. Giesen 1991: 25) bezeichne, so ist damit allein der funktionale, gesellschaftstheoretische Aspekt der geringeren Komplexitätslage von sozialen Zusammenhängen gemeint, die sich aus der unhintergehbaren Kopräsenz von Handelnden als Konstitution des Settings ergeben. Gleichzeitigkeit als Korrelat jedes System/Umwelt-Verhältnisses ist in segmentär differenzierten Gesellschaften letztlich kein Problem. Da die Sinndimensionen – wie erwähnt – sich noch kaum voneinander entfernt haben, kann Gleichzeitigkeit als Problem der Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem letztlich nicht auftreten. Archaische Gesellschaften sind nicht darauf angewiesen, besondere Synchronisationsleistungen innerhalb ihrer selbst zu vollziehen, da sie durch ihre gleichen Teilsysteme nicht nur Systembildung, sondern sogar die Gesellschaftsbildung in sich wiederholen. Im Klartext: Die verschiedenen Segmente bilden sozusagen für sich selbst eine Gesellschaft, die ein eindeutiges Einschließungs- und Ausschließungsverhältnis kennt: Die Kopräsenz und Kolokalität ihrer Mitglieder. Das System/Umwelt-Verhältnis zu anderen Segmenten scheint also letztlich nur ein Problem der Sozialdimension zu sein, das als Problem gar nicht auftreten dürfte, weil die Verwandtschaftsregeln innerhalb der Segmente Mitgliedschaft nicht einfach freistellen. Auch intern ist ein archaisches Sozialsystem zeitlich nicht in der Weise differenziert, daß es einen Abstimmungsbedarf unterschiedlicher Systemprozesse geben müßte. Gleichzeitigkeit ist durch die Anwesenheit als Mitgliedschaftsregel immer schon verbürgt. „Die Beteiligten sind diejenigen, die eigenes Erleben und Handeln zur jeweiligen Interaktion leisten. Anwesend sind sie, wenn und soweit sie einander wechselseitig (also nicht nur einseitig!) wahrnehmen können.“ (Luhmann 1975c: 22) Diese Wechselseitigkeit des gegenseitigen Kontaktes zwischen den Gesellschaftsmitgliedern sorgt dafür, daß Gleichzeitigkeit des Erlebens und Handelns als sachliche und soziale Reziprozität immer schon gewährleistet ist. Auf der gesellschaftsstrukturellen Ebene, so läßt sich hier schon sehen, liegt in archaischen Gesellschaften ein eindimensionaler, d.h. ein an einer oder zumindest wenigen parallelen Ereignistemporalitäten orientierter Zeithorizont vor. Diese eindimensionale, durch die Sukzession von Ereignissen konstituierte Zeit der Autopoiesis des Systems läßt sich durchaus funktional erklären: In archaischen Gesellschaften ist die soziale Ordnung, bedingt durch die Kopräsenz der Gesellschaftsmitglieder und den geringen Grad gesellschaftlicher Arbeitsteilung, auf der direkten Reziprozität von Handlungen aufgebaut. So zeigt Bronislaw Malinowski: „Die Beständigkeit sozialer Bande, die Gegenseitigkeit von Diensten und Verpflichtungen, die Möglichkeit der Kooperation, gründen in jeder Gesellschaft auf der Tatsache, daß jedes Mitglied weiß, was von ihm erwartet wird, daß es, kurz gesagt, einen allgemeinen Standard des Verhaltens gibt.“ (Malinowski 1973: 52) Dieses Wissen bildet, wie oben ausführlich erläutert (vgl. III.2d), die Struktur eines sozialen Systems, die das prozessuale Nacheinander zukünftiger Ereignisse in erwartbare Bahnen lenkt. Allein, die von Malinowski aufgezeigte Funktion von Erwartungen für die Herausbildung sozialer Strukturen kann letztlich für jedes Gemeinwesen gelten. Es ist kein ausgezeichnetes Merkmal einfacher Gesellschaften. Er fährt aber fort, daß strukturierende Regeln nur dann einen gesellschaftlichen Strukturwert bekommen können, wenn auch die Erwartung erwartbar ist, will heißen: wenn mit der Handlungserwartung auch erwartet werden kann, daß sie ein-
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gehalten wird. Nachdem in einfachen Gesellschaften abstrakte Moralcodes oder justitiable, formale, verallgemeinerte Handlungsregeln fast völlig fehlen, ist hier eine „automatisch wirkende moralische Regel von größter Wichtigkeit für die Bildung jeder Grundlage primitiver Organisation und Kultur. Dies ist nur in einer Gesellschaft möglich, in der es keine private Morallehre, keine persönlichen Regeln für Verhalten und Ehre, keine ethischen Schulen und keine Unterschiede in moralischen Ansichten gibt.“ (Malinowski 1973: 52; Hervorh. A.N.) Dies ist – ich betone es noch einmal – keine anthropologische Feststellung, sondern in der Tat ein Funktionserfordernis einfacher Gesellschaften mit einer sozialen Handlungskoordination durch direkte Reziprozität. Was hier richtiges Verhalten ist, muß nicht individuell herausgebildet werden, sondern ergibt sich aus den konkreten Wechselseitigkeitsregeln, die eine Gesellschaft mit nur sehr kurzen Handlungsketten kennt. Wenn Kopräsenz das Konstitutivum der Gesellschaftsstruktur ist, ergibt sich die Reziprozität schon dadurch, daß es für jedes Gesellschaftsmitglied vergleichsweise transparent ist, was andere tun und lassen. Es bietet sich deshalb an, wechselseitige soziale Koordination und Kontrolle im Sinne von Tauschbeziehungen zu organisieren, die stets ein Wechselseitigkeitsverhältnis implizieren. Lévi-Strauss nennt: „Austausch von Frauen; Austausch von Gütern und Dienstleistungen; Austausch von Mitteilungen.“ (Lévi-Strauss 1967: 322) Sogar den Austausch der „Gene und Phänotypen“ (ebd.), organisiert durch Verwandtschaftsund Heiratsregeln, könne man – so Lévi-Strauss – als Austauschbeziehung behandeln. Das hier entwickelte Verständnis von Reziprozität ist nicht mit Symmetrie zu verwechseln. Wie Lévi-Strauss zeigt, können die beiden Seiten einer diametralen Struktur, also eines Verhältnisses auf Gegenseitigkeit, durchaus ungleich sein, bedingt etwa durch Alter, religiösen Status, Stärke oder durch Position innerhalb eines komplizierten Verwandtschaftssystems (vgl. ebd.: 156).7 Gemeinsam ist solchen reziproken Beziehungen aber, daß es sich nicht um abstrakte Austauschbeziehungen mit formalen Regelcodices oder gar verschriftlichten Gesetzen handelt, sondern um konkrete Austauschhandlungen, die durch ihren pragmatischen und alternativlosen Charakter Strukturwert für die Gesellschaft erlangen. Geht man davon aus, daß soziale Ordnung in einfachen, frühen Gesellschaften sich dadurch herausbildet, daß Handlungserwartungen sich auf reziproke Pflichten zwischen Gesellschaftsmitgliedern beziehen, und geht man weiterhin davon aus, daß sich solche Pflichten sozusagen in actu pragmatisch niederschlagen, hat das folgende Konsequenzen für die temporale Organisation der Gesellschaft: Reziprozität von Handlungspflichten, etwa im Sinne von gegenseitiger Unterstützung beim Hüttenbau, die sich Gesellschaftsmitglieder gegenseitig angedeihen lassen, setzt voraus, daß zwei Hütten nicht gleichzeitig, sondern nacheinander gebaut werden. Diese Diachronie führt dazu, daß sich in einer einfachen Gesellschaft nur sehr wenige Ereignistemporalitäten nebeneinenader herausbilden können, weil solche Gesellschaften noch nicht die Möglichkeit haben, sachlich Unterschiedliches gleichzeitig zu bewältigen. Temporalisierung von Komplexität wird hier also dadurch geleistet, daß Unterschiedliches ins Nacheinander, daß Anforderungen der Synchronie ins Diachronische verschoben werden. 7
Lévi-Strauss stellt differenzierte und ausführliche Überlegungen über die verschiedenen Formen reziproker Strukturen an, die von einfachen Symmetrien zwischen gleichen Elementen über diametrale Asymmetrien bis hin zu konzentrischen Strukturen reichen (vgl. dazu Lévi-Strauss 1967: v.a. 135-180). Dem komplexen Zusammenhang solcher unterschiedlicher Formen muß hier nicht nachgegangen werden.
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Dieser Befund deckt sich mit Luhmanns Analyse von Hilfebeziehungen in archaischen Gesellschaften. Er schreibt: „Eine Mehrzahl von Personen erlebt eine Vielzahl von Bedürfnissen, die für die einzelnen zu wechselnden Zeitpunkten akut werden. Das Problem liegt im Zeitausgleich, durch den die internen Beziehungsmöglichkeiten gesteigert werden und das System gegenüber seiner Umwelt erhaltungsfähiger konstituiert werden kann.“ (Luhmann 1975d: 137) Dieser Zeitausgleich wird durch das Nacheinander der Handlungen hergestellt und nicht durch eine weitere Differenzierung der Gesellschaft, was die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Tätigkeiten erlauben würde. Aus dem Gesagten ist die Konsequenz zu ziehen, daß auf der Ebene der Zeit der Autopoiesis des Gesellschaftssystems durchaus von einem linearen Konzept auszugehen ist, will man überhaupt an der Unterscheidung lineare/zyklische Zeit festhalten. Auf der Ebene der operativen Zeit jedenfalls ist diese Unterscheidung wenig sinnvoll, denn die reziproken Austauschbeziehungen konstituieren sich ereignistemporal in einem Nacheinander von Ereignisgegenwarten. In diesem Sinne verstehe ich Dux’ Annahme, daß sich auch in Gesellschaften, in denen kulturelle Semantiken zyklische Zeitmodelle formulieren, die Zeit konkreter Handlungen linear konstituiert (Dux 1989: 126). Selbst wenn eine bestimmte Sukzession von Handlungen immer wieder wiederholt wird, so sind sowohl die die Sukzessionen konstituierenden Handlungen als auch die Sukzessionen selbst in einem unhintergehbaren Nacheinander angeordnet, auch wenn sich das Handlungssystem selbst nicht so beschreibt, wie man als Beobachter sehen kann.8 Diesen Sachverhalt kann man aber nur dann sehen, wenn man zwischen der Zeit der Autopoiesis und der Beobachtungszeit unterscheidet. Letzterer werde ich mich sogleich zuwenden und dann die Genese und Funktion des zyklischen Zeitverständnisses erläutern. Zunächst sei jedoch noch einmal betont, daß die gesellschaftsstrukturelle Differenzierung in gleiche Teilsysteme, die sich nicht weiter in Teilsysteme mit festen Grenzen ausdifferenzieren, ihren Zeithorizont an nur wenigen, gleichartig aufgebauten Ereignisreihen reziproker Tauschakte von Anwesenden ausbilden kann. Selbstverständlich läßt sich auch in einfachen Gesellschaften eine starke Varianz in der Komplexität der gesellschaftlichen Organisation ausmachen, die von einfachen Jäger- und Sammlerstämmen bis zu relativ komplexen Agrarkulturen reichen. Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal läßt sich hier sicher die wachsende Arbeitsteilung und die damit einhergehende Herausbildung unterschiedlicher Rollen, insbesondere Geschlechtsrollen und Rollen für Sakralfunktionen, ansetzen. Dies bleiben aber sekundäre Differenzen, die nicht auf die Gesellschaftsstruktur im ganzen durchschlagen, solange die Kopräsenz von Anwesenden das Konstitutivum gesellschaftlicher, resp. innergesellschaftlicher Grenzen bleibt.9 Bezogen auf das Zeitproblem, bedeutet dies, daß sich dadurch kaum Verhältnisse der Gleichzeitigkeit von Ungleichem
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Luhmann meint denn auch mit Recht, daß die Unterscheidung zyklisch/linear nur eine sekundäre Differenz ist, die für die operative Beschreibung von Zeit keinen Erkenntniswert besitzt (vgl. Luhmann 1990d: 112, Anm. 42). Allerdings ist zu betonen, daß diese Unterscheidung für die Frage der Zeitsemantik, also der sinnhaft begrifflichen Ebene der Temporalisierung von Komplexität, von eminenter Bedeutung ist. Der hier angedeutete Sachverhalt der Reziprozität von Unterstützungspflichten deckt sich mit dem, was Emile Durkheim „mechanische Solidarität oder Solidarität aus Ähnlichkeiten“ (Durkheim 1988: 118ff.; Hervorh. A.N.) im Gegensatz zur „Solidarität, die sich der Arbeitsteilung verdankt (...), die organische Solidarität“ (ebd.: 162ff.; Hervorh. A.N.) nennt.
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IV. Kapitel
herausbilden, die eine neue Zeitorganisation erforderlich machen würden. Ich komme darauf zurück. Ich wechsle nun die Beschreibungsebene, indem ich mich der sinnhaft-semantischen Organisation von Zeit zuwende. Prozessuale Selbstreferenz sozialer Systeme konstituiert sich durch die Handhabung der Unterscheidung vorher/nachher (vgl. III.2c). Dies geschieht in einfachen Gesellschaften nicht durch abstrakte Zeitschemata, anhand derer sich das Nacheinander der Handlungen ordnen ließe, sondern anhand der Handlungen selbst. Prozessuale Selbstreferenz als Generator sozialer Eigenzeiten referiert hier also nicht auf Zeit als ereignistranszendentes Abstraktum, sondern auf die Ereignisse selbst. So zeigt die berühmte Studie von Edward E. Evans-Pritchard über die Zeitrechnung der Nuer, daß prozessuale Bestimmungen tätigkeitsbezogen generiert werden: „If they wish to state when an event happened they generally refer instead to one of the outstanding activities in process at the time of it’s occurance. Thus people say that they have done something, or they do something (...), at the time of the early camps (...), at the time of the main dry season camps (...), at the time of wedding millet (...), at the time of harvesting the first millet crop (...), at the time of harvesting the second millet crop, &c.“ (Evans-Pritchard 1939: 202) Die Entparadoxierung der Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird hier nicht dadurch bewältigt, daß die Zeit selbst semantisch als Sinndimension einer sukzedierenden Welt eingeführt wird. Es wird vielmehr auf konkrete Ereignisse referiert, die durch ihre Zeitstelle in der Zeit der Autopoiesis zugleich die Zeit qualifizieren und durch die Zeit qualifiziert werden. Es ist so nur konsequent, daß den Nuer kein abstrakter Zeitbegriff zur Verfügung steht (vgl. ebd.: 208), was allerdings nicht dahingehend interpretiert werden darf, es handele sich hier um eine Gesellschaft ohne Zeitdimension. Man kann lediglich formulieren, daß sich die Zeitdimension noch nicht von den anderen Sinndimensionen wegdifferenziert hat, was eine starke Kopplung der Zeitbestimmungen an konkrete Ereignisse erfordert. In der Terminologie Rammstedts liegt hier ein „occasionelles Zeitbewußtsein“ (Rammstedt 1975: 50) vor, das Zeit nur am Ablauf der Ereignisse selbst und nicht getrennt von ihnen erfaßt. Anders als Rammstedt grenze ich jedoch den Begriff des occasionellen Zeitbewußtseins nicht auf „außeralltägliche Ereignisse“ ein. Offenbar meint Rammstedt, daß die Außeralltäglichkeit von Ereignissen durch deren Kontrast zu alltäglichen Ereignissen eine Differenz erzeugt, die die Zeitfolge sichtbar werden läßt. Dem wäre nicht zu widersprechen, würde nicht schon die Ereignishaftigkeit jedes sozialen autopoietischen Geschehens durch den Dauerzerfall von Ereignissen Differenzen erzeugen, die Zeit konstituieren. Daß sich als Zeitbestimmungen selbstverständlich beide Möglichkeiten, also außeralltägliche und alltägliche, besser: singuläre und routinisierte Ereignisse anbieten, ist damit nicht bestritten. Dafür spricht zum einen etwa die Bestimmung von Jahren, die nicht anhand abstrakter Jahreszahlen, sondern anhand von außergewöhnlichen Ereignissen gemessen werden, so etwa „the year of the small flood (1917)“ oder „the year of the large flood (1919)“ oder aber „the year in which the prophet Gwek was killed by Government troops (1928/9)“ (Evans-Pritchard 1939: 210).10 Zum anderen werden auch – um doch noch einmal diesen Begriff aufzugreifen – alltägliche Zeitbestimmungen an konkreten Ereignis-
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So auch Irving Hallowell bezüglich der Zeitrechnung der Pekangikum-Indianer (vgl. Hallowell 1939: 666).
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sen festgemacht.11 So mag als ein Beispiel etwa die Tageszeitbestimmung dienen, die sich semantisch am Sonnenstand festmacht. Es fällt dabei auf, daß für die ersten zwei Stunden des Tages (4.00-6.00 Uhr) fünf verschiedene Zeitbestimmungen vorliegen, während für die restlichen 12,25 Stunden (6.00-18.15 Uhr) nur acht Begriffe zur Verfügung stehen. Evans-Pritchard interpretiert dies dahingehend, daß einerseits im Verhältnis zwischen Erde und Sonne gerade in den Morgenstunden mehr Ereignisse, man könnte auch sagen: Differenzen vorliegen, die es erlauben, Zeitbestimmungen voneinander zu unterscheiden. Zugleich bietet die Veränderung des Sonnenstandes zwischen 15.00 und 18.00 Uhr nur wenig Gelegenheit zur Handhabung von Vorher/nachher-Differenzen. Zum anderen bringt Evans-Pritchard zur Geltung, daß gerade in den Morgenstunden besonders viele unterschiedliche Tätigkeiten vollbracht werden müssen. „(...) these two hours have greater significance in directing activities – starting on journeys, rising from sleep, tethering cattle in kraals, hunting, &c. – than do time units during the rest of the day.“ (ebd.: 206f.) Beide Beispiele zeigen eindeutig, daß jede Form von Zeitbestimmung und Zeitorganisation an konkrete Handlungsfelder und eindeutige Tätigkeitsmuster gebunden ist, die eine abstraktere Zeitlogik funktional nicht erfordern.12 Ein weiterer, sehr eindrucksvoller Hinweis auf die Tätigkeitsbezogenheit von Zeitbestimmungen bei den Nuer bildet die Einteilung des Jahres in Monate. Die Nuer unterscheiden zwei Jahreszeiten, die in je sechs Monate differenziert werden. Dabei handelt es sich nicht um eine arithmetische Einteilung des Jahres in exakt gleiche Teile. Desweiteren werden Monate nicht immer gleich zugeordnet. Die Zuordnung hängt vielmehr von klimatischen und sozialen Notwendigkeiten ab. So nennt Evans-Pritchard folgende Bedingungen für die Zuordnung von Monaten, die für die gesamte Zeitrechnung der Nuer gilt: „the slight climatic variations between Eastern and Western Nuerland; the marginal character of some months which permits their inclusion in either season; and the fact that Nuer do not think of divisions of time so much in terms of physical conditions as in less precise terms of social activities, the concept of seasons being derived from the activities rather than from the climatic changes which determine the activities.“ (ebd.: 191) Diese unspezifische Form der Zuordnung von Monaten kann dazu führen, daß verschiedene Regionen des Nuerlandes wegen der klimatischen Differenzen, die damit unterschiedliche Tätigkeiten erfordern, „gleichzeitig“ unterschiedlichen Monaten angehören. Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß die auf Kopräsenz von Personen abgestellte Gesellschaftsstruktur einfacher Gesellschaften zu einer Zeitsemantik führt, die ganz in den konkreten Ereignissen des gemeinsamen Handlungsfeldes aufgeht. Es bedarf keiner abstrakten Zeitstruktur neben der Handlungsebene, weil Gleichzeitigkeit durch die Koprä11
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Es ist sicher kein Zufall, daß hier außeralltägliche Ereignisse dann als Zeitbestimmung dienen, wenn es um die Datierung von Jahren geht, also um Ereignisse jenseits eines sich wiederholenden Naturzyklus, während alltägliche Ereignisse zur Bezeichnung ständig wiederkehrender Phänomene innerhalb des laufenden Zyklus dienen. Rammstedt hat also nicht ohne Grund auf außeralltägliche Ereignisse rekurriert, um occasionelles Zeitbewußtsein zu beschreiben, grenzt aber damit den Begriff theoretisch zu sehr ein. Zum gleichen Befund gelangen auch Dux und seine Mitarbeiter bezüglich der Macu (Brasilien): „Die Bindung der Zeit an die zentrierte Handlungslogik in primitiven Gesellschaften ist Ausdruck einer Organisationskompetenz, in der es genügt, das Handlungsfeld unter dem Interesse einer vorherrschend verfolgten Handlung zu organisieren. Für die einfachen Handlungsziele dieser Gesellschaften reicht eine Organisationskompetenz hin, die in einem statischen Raum von begrenzter Reichweite die relevanten Daten des Handlungsfeldes dieser Handlung zuordnet.“ (Dux 1989: 255)
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IV. Kapitel
senz der Gesellschaftsmitglieder als auch durch die sukzessive Anordnung unterschiedlicher Handlungsanforderungen nicht zum Problem wird. Durch die reziproke Transparenz aller Positionen innerhalb der Sozialstruktur wird das autopoietische Eigenbewußtsein mit der Ereignistemporalität des sozialen Systems parallelisiert. Nur diese enge strukturelle Kopplung zwischen Bewußtsein und Gesellschaft13 und keineswegs eine anthropologische qualitative Differenz ist es, die den einzelnen kaum aus der Gesellschaftsstruktur heraushebt. Psychische und soziale Ereignistemporalitäten werden in einer Zeitstruktur, nämlich der durch Handlungserfordernisse entstehenden Zeit, miteinander verschränkt.14 Die ereignisbezogene, konkret-operationale Zeitstruktur benutzt sozusagen ein kombiniertes Beobachtungsschema von Vorher/nachher-Unterscheidungen und sachlichen und sozialen Unterscheidungen konkreter Handlungsfelder. Die Beobachtungszeit einfacher Gesellschaften ist dann auch unmittelbar ereignisbezogen, wobei die zeitkonstituierenden Ereignisse selbst wiederum in einem zeitlichen Gesamtzusammenhang stehen. Konkrete Zeitbestimmungen benutzen Bezeichnungen für bestimmte Tätigkeiten – z.B. Melkzeit (vgl. ebd.: 209) -, jedoch sind diese Tätigkeiten selbst wiederum in einen zeitlichen Rahmen eingeordnet, der die Tätigkeiten qualifiziert. Es sind dies in archaischen Gesellschaften insbesondere die klimatischen und vegetativen Zyklen des natürlichen Jahresverlaufs. Dieser Jahresverlauf strukturiert sozusagen die Transzendenz des konkreten Ereignisses, seine Einbindung in einen Sinnzusammenhang. Dieser Sinnzusammenhang ist zyklisch, da der natürliche Ablauf die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ von außen erzwingt. Konsequenterweise bezeichnet Evans-Pritchard diese durch natürliche Zyklizität bestimmte Zeitordnung als „occupational time“ (vgl. ebd.: 208).
b)
Mythos und Zeit
Logischerweise ist in einer sukzessiven Struktur, in der sich Ereignisabfolgen stets wiederholen, ein wiederholbarer Zyklus – nämlich ein Jahr – die längste Zeitspanne, die gemessen werden kann (vgl. ebd.: 190). Das bedeutet aber keineswegs, daß kein Zeitbewußtsein über ein Jahr hinaus bestehen könnte. Doch sind solche Bestimmungen wiederum unhintergehbar an konkrete Ereignisse gebunden, die – in temporaler Hinsicht – ihre eigene Meßlatte sind. Ich habe schon erwähnt, daß Jahre anhand von außergewöhnlichen Ereignissen gemessen
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Selbstverständlich ist strukturelle Kopplung als Wechselseitigkeit sozialer und psychischer Autopoiesis kein einschränkbarer Sachverhalt, will heißen: Wo Bewußtseinssysteme aufeinandertreffen, kommt es notwendigerweise zu einer strukturellen Kopplung von Bewußtsein und damit emergierender Kommunikation (vgl. III.1d). Hier jedoch ist von der Kopplung von Bewußtsein und Gesellschaft die Rede, verstanden als umfassendstes Sozialsystem. Diese ist unter anderen gesellschaftsstrukturellen Bedingungen sehr wohl einschränkbar, wie ich weiter unten noch zu zeigen haben werde (vgl. IV.4 und 5). Es liegt hier der Fall vor, daß Interaktion und Gesellschaft weitgehend zusammenfallen (vgl. III.4). Dies läßt sich übrigens auch an der Vorstellung postmortaler Existenz verdeutlichen. So geht etwa – wie Malinowski aufgezeichnet hat (vgl. Malinowski 1973: 133-241) – die trobriandrische Vorstellung vom Leben nach dem Tode davon aus, daß das jenseitige Leben exakt nach den gleichen Strukturen aufgebaut ist wie das diesseitige. Keine individuelle Unsterblichkeit mit einer antizipierten Existenz in einer abstrakten Zukunft wird hier erwartet, sondern eine Wiederholung oder Fortsetzung des Lebens, letztlich also nichts anderes als die Kontinuität einer ereignisbezogenen sozialen und psychischen Zeit, deren Ereignisse bekannt sind (vgl. dazu ausführlich Nassehi/Weber 1989: 64ff.).
Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit
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werden. Eine andere Methode – wie es nur einem Beobachter als Methode zur Zeitmessung erscheint – ist etwa die Dokumentation linearen Wachstums über den Jahreszyklus hinaus; für die Nuer etwa das Wachstum von Kälbern. Gleichwohl bleibt die Möglichkeit historischer Beobachtung beschränkt, nicht zuletzt deshalb, weil eine auf mündliche Überlieferung angewiesene Gesellschaft die Erinnerung von Personen als einzigen sozialen Speicher von Sinn kennt. Somit können konkrete Ereignisse nur so lange als Zeitbestimmungen dienen, als sich jemand an sie erinnern kann.15 Bestenfalls wird man sich an jemanden erinnern, der sich noch erinnern konnte, doch damit wird die gespeicherte Information bereits einer Modalisierung unterzogen: Sie wird, um die Terminologie von Evans-Pritchard aufzugreifen, zur Tradition, die selbst noch einmal zum Mythos modalisiert wird. „Beyond the limits of historical time one enters a plane of tradition which merges at one end into history and at the other end into myth.“ (ebd.: 215) Was nicht mehr eindeutig als historisches Ereignis erinnert werden kann, wandelt sich in seinem sinnhaften Gehalt in tradierten Sinn wie etwa Abstammungsgeschichten, Familien- und Clantraditionen oder womöglich regionale Besonderheiten. Traditionen haben gewissermaßen immer noch einen historischen Index, ihnen geht aber die konkrete Ereignisbezogenheit der historischen Zeit ab. Mythen dagegen fehlt der historische Index völlig. Sie beziehen sich zwar stets auf vergangenes Geschehen, jedoch wird dieses Geschehen nicht als historisches Ereignis im Sinne eines datierbaren Anfangs gedacht, sondern eher im Sinne eines primordialen Ereignisses, das mit dem Bestehen der Welt fortwirkt. Dem Mythos eignet demnach, wie Lévi-Strauss zeigt, sowohl eine diachrone Ereignissstruktur als auch eine synchrone Wirkmächtigkeit. „Ein Mythos bezieht sich immer auf vergangene Ereignisse: ,vor der Erschaffung der Welt‘ oder ,in ganz frühen Zeiten‘ oder jedenfalls ,vor langer Zeit‘. Aber der dem Mythos beigelegte innere Wert stammt daher, daß diese Ereignisse, die sich ja zu einem bestimmten Zeitpunkt abgespielt haben, gleichzeitig eine Dauerstruktur bilden. Diese bezieht sich gleichzeitig auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ (LéviStrauss 1967: 229f.) Die Zeitstruktur des Mythos transzendiert die konkrete Ereignisbezogenheit der Zeitbestimmungen einfacher Gesellschaften, indem auf Ereignisse rekurriert wird, die letztlich nicht vergangen sind. Dadurch wird eine Kopräsenz mit dem Ursprung der Welt gestiftet, die – um es mit Günther zu sagen – durch ihre alternativlose Kontextur Drittes ausschließt. Wie jede andere Sinnbestimmung auch formuliert der Mythos eine Differenz (vgl. Luhmann 1987c: 257). Differenzen erschaffen damit eine Welt. Wo Differenzen dazu eingesetzt werden, eine Welt im ganzen zu begründen, sind sie die eigentlichen Schöpfer der Welt. Für mythische Gesellschaften bildet der Mythos sozusagen die Leitdifferenz, die nicht weiter unterschieden werden kann (und darf). Die soziale Funktion der mythischen Erzählung ist es, in einer einfachen Gesellschaft, die sich auf die konkrete Handlungslogik aktueller Erfordernisse bezieht, den Handelnden und dem Gemeinwesen ihren Platz in der Welt sinnhaft zu vermitteln. Wie Dux plausibel aufweist, treten Mythen deshalb zumeist nicht im Gewande abstrakter Sinnbestimmungen der Welt auf, sondern nehmen selbst die Form einer sequentiellen Handlungslogik an: Es handelt sich um Berichte über ein Geschehen, das die Welt, wie sie ist, entstehen ließ. Solchen Schöpfungsmythen „liegt als Struktur 15
Auch dies gilt für die Annahme der postmortalen Existenz, die in der mythischen Welt nur so lange währen kann, als noch jemand anwesend ist, der den Verstorbenen kannte (vgl. dazu Nassehi/Weber 1989: 71ff.).
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IV. Kapitel
der Darstellung des Geschehens die Struktur der Handlung zugrunde.“ (Dux 1989: 174) Die Welt im ganzen wird so als Ausdruck und Ergebnis einer Handlung oder Handlungsfolge bestimmt, die damit dem Ganzen einen verstehbaren Sinn verleiht. Dabei ist zu bedenken, daß der Mythos keineswegs legitimierender „Überbau“ ist, der der Welt einen Sinn gibt, vielmehr ist der Mythos selbst die reale Welt, die er repräsentiert. Eine Gesellschaft, deren Sinndimensionen (sachlich, zeitlich, sozial) noch kaum ausdifferenziert sind und die folglich noch nicht die „symbolische Ebene der Wirklichkeitskonstruktion: Bild, Gedanke, Wort, von der Ebene der Referenten“ (ebd.: 172) trennen kann, kann damit auch nicht zwischen Mythos und Welt unterscheiden. Insofern hat der Mythos keineswegs eine Legitimationsfunktion für das So-Sein der Welt (so allerdings Berger/Luckmann 1969: 74ff.), da der Begriff Legitimation zu viel Distanz zwischen Symbol und Referent vermuten läßt. Indem Mythen mit ihren Unterscheidungen die Kontextur der gesamten Welt enthalten, legitimieren sie nichts mehr als sich selbst: eine Geschichte von der Entstehung der Welt, und damit nichts weniger als alles: die Welt. In der treffenden Formulierung von Dux: „Schöpfungsberichte entstehen nicht, weil eine noch unerklärte Welt einer Erklärung bedürfte, deren Konzeption erst noch gefunden werden müßte. Umgekehrt ist die Geschichte zu lesen: Weil die Welt über eine Handlungsstruktur geformt ist, muß ihr Ursprung in einer Schöpfungsgeschichte dargelegt werden.“ (Dux 1989: 175). Das aber kann nur ein Beobachter sehen, der dem mythischen Kosmos nicht angehört. Dieser ausgeschlossene Dritte der mythischen Unterscheidung kann sehen, daß eine mythisch verfaßte Gesellschaft nicht sehen kann, daß man die Welt auch anders sehen kann.16 Geht man von ontologischen Grundannahmen aus, könnte man angesichts dieses Sachverhaltes in den anthropologischen Kanon der These vom prälogischen Denken Levy-Bruhls einstimmen, verkennt dann aber gerade die logischen Antezedenzbedingungen des Mythos. Wie ich oben erörtert habe, fundiert ein autopoietisches, sinnverarbeitendes System die Realität der Welt durch Blockierung der Beobachtungsmöglichkeit der eigenen Beobachterrealität; differenztheoretisch gesagt: durch Unterscheidungen, die nicht weiter unterschieden werden, um selbstauflösende Paradoxien zu vermeiden (vgl. III.3a-c). Das gilt sowohl für die Logik des aristotelischen Typs, wie sie Levy-Bruhl als anthropo-ontologische Vergleichsbasis zur dequalifikatorischen Bestimmung der „prälogischen Mentalität des Primitiven“ heranzieht, wie auch für den Mythos selbst, der mit seinen Entstehungsgeschichten unhintergehbare Primordialitäten setzt. In diesem Sinne formuliert Luhmann mit Seitenblick auf die – wenn ich so sagen darf – logi16
Angesichts dieser Diagnose erstaunt eine breite Diskussion über die Reaktualisierbarkeit von Mythemen und ihrer Funktion in der Moderne. Auch wenn man sich – wie Leszek Kolakowski – vom Mythos ein Gegengewicht gegen die analytische Vernunft der Moderne erhofft (vgl. Kolakowski 1984: 148), wenn man – wie Hans Blumenberg – einen „rettungswürdigen Kern des Mythos“ (Blumenberg 1971: 62) postuliert oder wenn man – wie Odo Marquard – betont: „narrare necesse est“ (Marquard 1981: 95), so befindet man sich schon nicht mehr in mythischen Gesellschaftsstrukturen. Mythen dienen dann womöglich nur noch dazu, kompensatorisch die „Entzweiungen“ der Moderne durch Rekurs auf Ganzheitschiffren zu verdecken (vgl. Eickelpasch 1991: 47f., Anm. 7). Wie dem auch sei: Ob monothematische Beobachtungsschemata in der Moderne überhaupt die Funktion einer Repräsentation der Welt im Ganzen erfüllen können, scheint eher zweifelhaft (vgl. auch Luhmann 1987c: 263ff.). Ähnliche Zweifel scheinen die Entmythologisierungsdebatte um die neutestamentliche Verkündigung im Anschluß an Rudolf Bultmann zu tragen (vgl. Bultmann 1960: 15ff.). Ebenfalls in einem theologischen Kontext warnt etwa Paul Tillich vor der Restitution des Mythos in der Moderne, da dies notwendig mit gewaltsamer Durchsetzung einer nicht mehr bestehenden Monokontexturalität der Welt einhergehen müsse (vgl. Tillich 1962).
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zistische Mythoskonzeption, „daß Logik und Mythik unterschiedliche, funktional äquivalente Formen der Auflösung von Paradoxien anbieten, unterschiedliche Formen der Entparadoxierung der Welt, unterschiedliche Formen des Diskurses im Hinblick auf das, worüber man nicht reden kann“ (Luhmann 1987c: 259).17 Der Mythos dient also dazu, einfache Gesellschaften mit einer Leitunterscheidung zu versorgen, die diejenige Kontextur ausbreitet, die dann als Welt gilt. Der Mythos formuliert also ein Sein, eine Ontologie, die bestimmt, was innerhalb des Kosmos an welchen Platz gehört.18 Ursprungsmythen beinhalten denn auch Unterscheidungen, mit denen die Welt beginnt: mit der Unterscheidung Chaos/Ordnung, wobei das mythische Geschehen von einer Seite der Unterscheidung zur anderen, vom Chaos zur Ordnung wechselt (vgl. Dux 1989: 180); mit der Unterscheidung Mensch/Geist als Ausdruck der Kontinuität sozialer Existenz über die Lebenszeit hinaus etwa im Schöpfungsmythos der Trobriander (vgl. Malinowski 1973: 133ff.); mit der Unterscheidung heilig/profan als Ausdruck des heiligen Ursprungs alles profanen Geschehens (vgl. Eliade 1984: 58ff.); schließlich die Unterscheidung heilige Zeit/profane Dauer (vgl. ebd.: 63ff.) bzw. synchrone/diachrone Zeit (vgl. Lévi-Strauss 1967: 232). All diese Unterscheidungen, die hier durch wissenschaftliche Beobachtung in formalisierter Gestalt vorliegen und in mythischer Gestalt selbstverständlich mit konkreten Semantiken ausgestaltet sind, bilden den Anfang mythischer Wirklichkeitsbildung. Ein Anfang kann nicht hinterfragt werden, denn wenn hinter ihm etwas wäre, wäre er kein Anfang. Leitunterscheidungen der angedeuteten Art üben demnach sozusagen für einfache Gesellschaften eine Doppelfunktion aus: Sie können historischer Anfang der Welt sein, weil sie historisch nicht eindeutig datierbar sind, und sie können sinnhafter Anfang der Welt sein, weil mit ihnen immer schon angefangen wurde. Wenn ein Mythos als Erzählung einer Handlungssequenz, die die Welt erschaffen hat, als reales Geschehen behandelt wird, muß dieses Geschehen sich tatsächlich zugetragen haben. Es hat sich aber zu einer Zeit zugetragen, die nicht datierbar ist, also jenseits von historischen Ereignissen, deren Erinnerung sich eigener Anschauung verdankt. Doch ist das mythische Geschehen nicht nur ein historisches Datum unter anderen; es ist auch nicht einfach nur das erste Datum der Welt, sondern mit ihm wird die Welt erst geschaffen. So ist der Mythos sowohl ein Bericht über ein diachrones Geschehen als auch ein Ausdruck synchronen Wirkens, weil nur dank der synchronen Wirkmächtigkeit des Mythos das diachrone Geschehen erzählt werden kann. In diesem Sinne ist die oben schon zitierte Aussage von Lévi-Strauss zu verstehen, daß dem mythischen Zeitverständnis sowohl eine diachrone als auch eine synchrone Zeitstruktur eignet (vgl. Lévi-Strauss 1967: 229f.). Das historische Geschehen ist zugleich sinnhafter Ursprung, der nicht weiter unterschieden werden kann und somit zum nachwirkenden Zeugnis des Ursprungs der Welt werden kann, das nach wie vor andauert.19 An 17 18
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Diese strukturelle Gleichartigkeit von Logik und Mythik betont auch Hübner 1981: 13ff. und 1985: 267. Der Mythos als Leitunterscheidung eines einfachen Gesellschaftssystems autoontologisiert sozusagen das, was er als Welt anbietet (vgl. III.3b). Oder in den Worten Eliades: „Der Mythos verkündet das Erscheinen einer neuen kosmischen ,Situation‘ oder eines primordialen Ereignisses. Er ist also immer der Bericht einer ,Schöpfung‘: man erzählt, wie etwas ausgeführt wurde, wie es zu sein begann. Aus diesem Grund steht der Mythos in engem Zusammenhang mit der Ontologie: er spricht von Realitäten, von dem, was sich real ereignet, sich voll und ganz manifestiert hat.“ (Eliade 1984: 85). Kurt Hübner bringt die Kombination von Synchronie und Diachronie des Mythos treffend auf den Begriff arché. Archai benennen sowohl ein berichtetes Geschehen vom Anfang der Welt als auch den Anfang aller Bedeutung und allen Sinns (vgl. Hübner 1985: 135ff.).
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dieser Doppelstruktur des Mythos läßt sich ablesen, daß die einer mythischen Gesellschaft zugrundeliegende Kontextur der Entparadoxierung der eigenen Welterklärung dient: Die historische Paradoxiegefahr wird dadurch gemildert, daß das historische Geschehen des Mythos in eine Zeit verlagert wird, an die sich niemand selbst erinnern kann, was durch mündliche Überlieferung kompensiert wird. Die sinnhafte Paradoxie wird dadurch vermieden, daß das mythische Geschehen von einer Schöpfung berichtet, die unhintergehbar ist, weil sie sich selbst einschließt. Das kommt exemplarisch in einem altägyptischen Mythos zum Ausruck, der zugegebenermaßen schon einer nicht mehr rein segmentär differenzierten Gesellschaftsstruktur entstammt, der aber die Grundstruktur der mythischen Paradoxievermeidung sehr deutlich demonstriert.20 So heißt es im Hymnus auf den Weltschöpfer Ptah der altägyptischen Mythologie memphitischer Herkunft: „Gegrüßet seist du, o Ptah, angesichts deiner Urgötter, die du gemacht hast, nachdem du entstanden warest als Gott. Leib, der seinen Leib selbst gebaut hat, bevor der Himmel entstand, bevor die Erde entstand, als die wachsende Flut noch nicht anstieg. Du hast die Erde geknotet, Du hast dein Fleisch zusammengefügt, Du hast deine Glieder gezählt, Du hast dich als Einziger gefunden, der seine Stätte geschaffen hat.“ (zit. n. Schöpfungsmythen 1964: 85f.)
Neben einem nachfolgenden Bericht über die Entstehung der Welt bringt der Mythos zum Audruck, daß die Schöpfung des Schöpfers durch den Schöpfer selbst geschieht. Die Paradoxie der Formulierung benennt die besondere Qualität Ptahs und verhindert damit die Frage nach dem, was dem Anfang zugrunde liegt. Ptah kann nicht weiter unterschieden werden und absorbiert dadurch die Beobachtung des Ursprungs anderer Unterscheidungen, etwa die von Himmel und Erde, die wiederum anderen Göttern, die Ptah geschaffen hat, Plätze zuweisen. Daß in diesem Mythos die Schöpfung einem Schöpfer mit personaler Gestalt zugerechnet wird, verweist – wie schon erwähnt – auf eine Gesellschaft, die offenbar durch einen gewissen Differenzierungsanspruch bereits höhere Entparadoxierunganforderungen stellt. „Notwendig werden personale Götter erst, wenn die Menschen selbst sich personaler wahrnehmen und thematisch machen.“ (Dux 1989: 171) Je näher einfache Gesellschaften aber noch dem Typus einer einlinigen Ereignisstruktur mit nur sehr gering ausgeprägtem Eigenbewußtsein ihrer Mitglieder bleiben, um so weniger bedarf es komplizierter Entparadoxierungsmuster des Mythos und um so näher bleibt das Erzählte an der Handlungslogik der vorfindlichen Welt. Entscheidend ist aber in jedem Fall, daß der Mythos „das Geschehen in der Welt in seinem ,woher‘ zu benennen“ (ebd.) hat. Die unmittelbare Bezogenheit mythischen Sinns auf innerweltliches Geschehen darf als Generator für die dem Mythos eigentümliche Zeitstruktur gelten. Je elementarer eine einfache, segmentär differenzierte Gesellschaft auf die Einlinigkeit ihrer Autopoiese und auf die Kopräsenz der Anwesenden aufbaut, um so enger sind die kontexturellen Grenzen 20
Zur Gesellschaftsstruktur Altägyptens vgl. Wolf 1962: 118ff. und IV.2b.
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der durch den Mythos entfalteten Welt. Wie ich am Beispiel von Evans-Pritchards Studie über die Zeitrechnung der Nuer gezeigt habe, werden Zeitbestimmungen an konkreten Tätigkeiten ausgerichtet, die in einer einfachen, naturnah operierenden Gesellschaft den Erfordernissen, Sequenzialisierungen und Rhythmen natürlicher Abläufe folgen. Die Grundorganisation dieser Prozesse ist zyklisch, d.h. nach einem Jahr wiederholt sich die Sequenz von Neuem. Diese Wiederholung wird nicht einfach als Natur hingenommen, sondern ist durch die Universalität der mythischen Leitunterscheidung selbst ein Teil des mythischen Geschehens. Ein Jahr kann selbst als stete Reaktualisierung des kosmogonen, i.e. welterzeugenden Geschehens angesehen werden. Da die jahreszeitlich bedingten Tätigkeiten in die jährliche Wiederholung der Kosmogonie eingebettet sind, kann es gelingen, sie teilweise als Riten, als Rituale und symbolische Handlungen zu behandeln. Die soziale Funktion von Ritualen besteht darin, Handlungen wiederholbar zu machen. „Die Kommunikation wird als fixierter Ablauf versteift, und ihre Rigidität selbst tritt an die Stelle der Frage, warum dies so ist. Die Elemente des Prozesses und ihre Reihenfolge werden unauswechselbar festgelegt, Worte wie Dinge behandelt, die Gegenwart zählt und ist weder im Hinblick auf die Zukunft noch an Hand jeweils angefallener vergangener Erfahrungen korrigierbar.“ (Luhmann 1984a: 613) Auf der semantischen Ebene wird das rituelle Handeln durch Rekurs auf den kosmogonen Ursprung der im jahreszeitlichen Verlauf sequenzierten Handlungssequenzen begleitet und stabilisiert. So gibt etwa Eliade das Beispiel, daß die Reparatur eines Bootes nicht unbedingt der Abwendung eines Defektes dienen muß. Rituell oder zeremoniell wird ein Boot – auch wenn es wirklich defekt ist – deshalb repariert, „weil in mythischer Zeit die Götter den Menschen gezeigt haben, wie man ein Boot repariert“ (Eliade 1984: 77f.). So wird die Handlungszentriertheit einfacher Gesellschaften durch eine mythische Fixierung, Stabilisierung und Sinngebung von Handlungen und Handlungsmustern temporalisiert. Am Modell des Jahreszyklus läßt sich dann ablesen, welche Tätigkeiten wann zu verrichten sind. Mythische bzw. rituelle Stabilisierungen dienen dann dazu, die letztlich linearen Sequenzen durch Vergegenwärtigung der kosmogonen Vergangenheit in ihre zyklische Prozessualität zu bringen. Diese Vergegenwärtigung geschieht in Form der Wiederholung der heiligen Zeit des Mythos in der profanen Zeit des Handelns. Dabei ist zu bedenken, daß die Unterscheidung heilig/ profan selbst eine mythische Unterscheidung ist, in der die Zeitstruktur des Mythos aufgehoben ist: Das Profane ist nur profan im Hinblick auf ein früheres heiliges Geschehen, während das Heilige durch seine durch den Kosmos bezeugte Gegenwart im Profanen stets reaktualisierbar ist. Nichts anderes besagt die mythische Dialektik einer zugleich diachronen und synchronen Zeitstruktur. Es scheint mir wichtig zu sein, zu betonen, daß einfache Gesellschaften nicht einfach dem natürlichen Zyklus einen kulturellen Überbau geben. Eine solche Unterscheidung von Natur und Kultur würde eine vollkommen andere, differenziertere Gesellschaftsstruktur erfordern. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß das, was einem Beobachter als Natur und Kultur erscheint, im Mythos aufgehoben ist. Eliade bemerkt im Hinblick auf jahreszeitlich-zyklische Vegetationskulte: „Es wäre falsch zu glauben, die sogenannten Vegetationskulte seien abzuleiten von einem profanen, ,naturistischen‘ Erlebnis, das z.B. mit dem Frühling und dem Erwachen der Vegetation zusammenhinge. Im Gegenteil, die religiöse Erfahrung der Welterneuerung (Wiederbeginn, Neuschöpfung) geht der Wertung des Frühlings als Auferstehung der Natur voraus und begründet sie. Das Mysterium der periodi-
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IV. Kapitel
schen Regeneration des Kosmos hat dem Frühling religiöse Bedeutung verliehen.“ (ebd.: 132) Die mythische Kontextur mit ihren rituellen Pflichten und zeremoniellen Vergegenwärtigungen ist es, die den Frühling zum Frühling macht. Mit Recht sieht Eliade ein Indiz dafür in der Tatsache, daß die meisten jahreszeitlich-zyklischen Riten „vor dem ,natürlichen Phänomen‘“ (ebd.: 133), das sie nicht nur erwarten, sondern durch die Verwobenheit mit dem Mythos erschaffen, stattfinden. Findet die Zeremonie nicht statt, kommt auch kein Frühling, weil die Kontinuität des Mythos unterbrochen würde. Das kann aber nur ein Beobachter sehen, wenn er nicht daran „glaubt“. Die einfache Gesellschaft selbst kann das nicht sehen. Dafür sorgt die Zyklizität der Vergegenwärtigung der mythischen Kraft und die Stabilisierung dieser Prozeßstruktur durch Rituale und Zeremonien. Da der Mythos mit dieser Zeitstruktur beginnt, und da man nicht hinter seinen autoontologisierenden Anfang zurück kann, ist die reale Eigenzeit einfacher Gesellschaften zyklisch. Zusammenfassend läßt sich sagen: Auf der gesellschaftsstrukturellen Ebene der Zeit der Autopoiesis einfacher, segmentär differenzierter Gesellschaften läßt sich in den einzelnen Segmenten eine Zeitstruktur ausmachen, die nur eine bzw. sehr wenige Ereignisreihen umfaßt. Die Einlinigkeit der Zeit der Autopoiesis einfacher Gesellschaften rührt daher, daß die gegenseitige Bedürfnisbefriedigung durch mangelnde Arbeitsteilung und Differenzierung nur im Nacheinander der Ereignisse erfolgen kann. Auf der Ebene der Beobachtungszeit lassen sich zwei verschiedene Bestimmungsarten von Zeit analytisch unterscheiden: zum einen die temporale Bestimmung von Prozessen anhand von Ereignissen ohne eine abstrakte Zeitsemantik, die sich den konkreten Ereignissen abgekoppelt hätte; zum anderen die zyklische Zeitstruktur des Mythos, der die Synchronie des Heiligen, i.e. des Ursprungs der Welt mit der Diachronie der konkreten Handlungsabläufe verbindet. Es besteht in einfachen Gesellschaften also kein Bedarf an Synchronisation zwischen Systemprozessen, sondern nur an der Synchronisation des alltäglichen Geschehens mit dem mythischen Uranfang des Systems. Die temporale Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen stellt sich hier nicht als abstraktes Zeitproblem, das über die Blockierung der Beobachtung der Beobachterrelativität und Modalität von Vergangenheit und Zukunft geschieht (vgl. III.2b), sondern als Notwendigkeit, die Handlungsgegenwart an die weltgenerierende Kontextur des Mythos zu binden, der vom Anfang des Systems berichtet und als Anfangsunterscheidung jeden neuen Anfang gleich beginnen läßt. Dadurch gibt es, streng genommen, weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur die Präsenz des Anfangs in Handlungsgegenwarten, deren prozessuale Selbstreferenz der Struktur der ewigen Wiederkehr des Gleichen folgt. Die Datierungsmöglichkeiten vergangener Ereignisse, soweit sie Jahreszyklen transzendieren, bleiben auf Ereignisse beschränkt, die entweder an natur- und tätigkeitsnahen Ereignissen des Alltags orientiert sind – z.B. die „Melkzeit“ – oder aber auf außergewöhnliche Ereignisse in einem vergangenen Zyklus rekurrieren, die eine Differenz zum Gewohnten setzen – z.B. das „Jahr der großen Flut“. In jedem Falle bleiben diese Zeitbestimmungen stets an konkrete Ereignisse gebunden, da es Zeit als abstrakte Form der semantischen Sinnbestimmung noch nicht gibt. Folgerichtig kann zwar nicht auf die Vergangenheit, zumindest aber auf vergangene Ereignisse rekurriert werden; eine Zukunft steht allerdings nicht zur Verfügung, weil es in ihr keine Ereignisse gibt. Das wird sich erst dann ändern, wenn man damit rechnen kann, daß Zukunftserwartungen enttäuscht werden können.
Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit
3.
Gleichzeitigkeit und Heilsgeschichte in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften
a)
Strukturtransformation zur stratifikatorischen Differenzierung
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Was ich bezüglich des theorietechnischen Stellenwertes meiner groben Skizze der Veränderung primärer Differenzierungsformen der Gesellschaft im Hinblick auf die Veränderung von Zeitverhältnissen angekündigt habe, gilt insbesondere für das nun Folgende: Es wird keine Kulturgeschichte des Zeitverständnisses beabsichtigt, sondern nur eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation von Zeit und der jeweiligen Temporalisierung von Komplexität geworfen. Das hat selbstverständlich konzeptionelle Gründe, die in dem hier verfolgten Erkenntnisinteresse zu suchen sind. Es hat aber auch schlicht Gründe quantitativer Art, denn der nun zu behandelnde Differenzierungstyp, die stratifikatorische Differenzierung der Gesellschaft, ist ohne Zweifel der historisch erfolgreichste. Er nahm seinen Ausgang bereits im Übergang von archaischen Stammesgesellschaften in komplexere soziale Verbände und war von den klassischen europäischen, asiatischen und amerikanischen Hochkulturen an bis in die europäische Vormoderne des 15. und 16. Jahrhunderts der vorherrschende gesellschaftsinterne Differenzierungstyp. Welche Variationsbreite und kulturelle Vielfalt diese hochkulturelle Gesellschaftsform bezüglich der Zeitsemantik hervorgebracht hat, bezeugt die breit angelegte Untersuchung von Rudolf Wendorff (1985). Es ist hier nicht der Ort, ausführlicher auf das in der hier verfolgten Typenabfolge enthaltene Problem der sozio-kulturellen Evolution einzugehen, deshalb mögen einige wenige Andeutungen genügen. Von Evolution zu sprechen, impliziert ein Verständnis von Prozessen und Strukturen, wie ich sie mit Luhmann oben dargestellt habe: Prozesse und Strukturen sind nicht durch eine prästabilierte Harmonie der Elemente präformiert, sondern müssen sich durch je neue Elemente, die in temporalisierten Systemen Ereignisse sind, stets erneuern und erhalten – oder aber ändern (vgl. III.2d). Wenn kommunikative Prozesse Strukturen ändern, spricht man von sozio-kultureller Evolution. „In Anlehnung an die erfolgreich arbeitende Theorie präorganischer und organischer Evolution kann auch soziokulturelle Evolution begriffen werden als ein spezifischer Mechanismus für Strukturänderungen, und zwar als ein Mechanismus, der ,Zufall‘ zur Induktion von Strukturen benutzt.“ (Luhmann 1978: 422) Zufall heißt hier jedoch nicht beliebiges, spontanes und strukturloses Geschehen, sondern muß als Ergebnis der Kontingenz von Systemprozessen gedeutet werden: Ein Prozeß ist anders gelaufen, als die Struktur dies hat erwarten lassen. Dabei kommt es selbstverständlich noch nicht in jedem Falle von Enttäuschungserwartung zu Strukturänderung, wodurch auch soziale Ordnung unmöglich würde. Zu evolutionärem Wandel, i.e. Wandel von Gesellschaftsstrukturen und Wandel des semantischen Apparates, kommt es erst, wenn solche Erwartungsenttäuschungen gehäuft auftreten und wenn sie funktional auf innergesellschaftliche und umweltliche Erfordernisse treffen. Dabei ist Evolution stets ein selektiver Vorgang: Es kann mehrere funktional äquivalente Möglichkeiten geben, die aber nicht alle realisierbar sind. Die evolutionäre Bewegung weg von der segmentären Differenzierung zu stratifikatorischer Differenzierung kann exakt als eine solche Umstellung der Gesellschaftsstruktur
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IV. Kapitel
gedeutet werden. Vereinfachend kann man sagen, daß segmentär differenzierte Gesellschaften eine relativ geringe Toleranzbreite für Selektionsdruck haben. Sie sind durch ihre einfache Differenzierungsform in ihren Möglichkeiten stark limitiert, denn sie sind – idealtypisch gesprochen – darauf angewiesen, daß (fast) alle Gesellschaftsmitglieder (fast) das Gleiche tun oder daß zumindest die gesamte Gesellschaft in reziproker Transparenz präsent ist. Diese Limitation auf Gleichartigkeit der Handlungen und Kopräsenz der Handelnden erlaubt es z.B. nur sehr begrenzt, daß sachlich Unterschiedliches gleichzeitig geschehen kann. Das wiederum hat zur Konsequenz, daß der Spielraum der Sachdimension enorm eingeschränkt werden muß. Für die Sozialdimension gilt dies bei eindeutiger Zuweisung von Positionen innerhalb der Gesellschaftsstruktur in besonderem Maße. Eine erste Technik, die Möglichkeit, Variation und Selektion zu steigern, bildet die Arbeitsteilung. Der locus classicus für diesen Sachverhalt ist sicher Durkheims „De la division du travail social“ von 1893 (vgl. Durkheim 1988). Es ist offenkundig, daß sich alle Gesellschaftsformationen nach der segmentär differenzierten Gesellschaft dadurch ausgezeichnet haben, daß sie die Tätigkeiten von Menschen in unterschiedliche Rollen, Berufe, Positionen ausdifferenziert haben und daß der sozio-kulturelle evolutionäre Wandel u.a. dadurch charakterisiert wird, daß dieser Ausdifferenzierungsprozeß immer filigranere innergesellschaftliche Unterschiede hervorgebracht hat.21 Doch allein das kann noch nicht genügen, um den evolutionären Sprung von der segmentären zur stratifizierten Gesellschaft zu erklären, denn ein gewisses Niveau von Rollendifferenzierung und Arbeitsteilung kennen schon einfachste Gesellschaften. Eine der frühesten ausdifferenzierten Rollendifferenzen ist ohne Zweifel die Herausbildung von Sakralrollen (vgl. Luhmann 1989a: 270), andere frühe Formen sind in Geschlechtsdifferenzen und in Differenzen von Lebensaltern (vgl. Evans-Pritchard 1939: 213, Kohli 1985: 1ff.) zu sehen. Zwar erhöhen solche Differenzierungen ohne Zweifel die gesellschaftlichen Kombinationsmöglichkeiten von Ereignissen und damit auch die gesellschaftliche Komplexität. Bis zu einem gewissen Grade muß das aber nicht unbedingt auf die durch „Anwesenheit und Indexikalität“ (Giesen 1991: 25) geprägte Gesellschaftsstruktur durchschlagen. Erst wenn es nicht mehr gelingt, eine gewisse Ungleichheit von Sachverhalten (Rollen, Tätigkeiten, Funktionen etc.) in der gleichen Zeit oder zumindest durch Organisation eines überschaubaren Nacheinander zu bewältigen, muß die Gesellschaft neue Formen „erfinden“, um dem Komplexitätsdruck gewachsen zu sein. Eine zumindest denkbare Reaktion wäre es, gesellschaftliche Komplexität wieder zurückzunehmen. Das wäre aber ein hoffnungsloses Unterfangen, weil man nur sehr schwer vergessen kann, was einmal als neue Form aufgetreten ist und weil die Steigerung von Komplexität schon dadurch einen weiteren Schub erfahren würde, wenn man sie als Komplexität problematisieren würde, um sie wieder loszuwerden. Ein funktionales Äquivalent der Rücknahme von Komplexität ist es jedoch, sie auf mehrere, nun notwendig ungleiche Schultern zu verteilen, die in ihrer Ungleichheit allerdings aufeinander bezogen sein müssen. Als eine solche Reaktion auf nicht mehr handhabbare Steigerung von Komplexität kann die Umstellung der Gesellschaftsstruktur auf stratifikatorische Differenzierung gewer21
Bei Berger und Luckmann findet man das schöne Bild einer Bewegung zwischen zwei Extremen: zwischen einer Gesellschaft, in der es nur gemeinsame Probleme gibt und einer Gesellschaft, die nur ein gemeinsames Problem hat. Berger und Luckmann definieren sozio-kulturelle Evolution als ständige Wegbewegung vom ersten in Richtung des zweiten Typs (vgl. Berger/Luckmann 1969: 84f.).
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tet werden. Auf die Zumutung, daß nicht mehr alle am gleichen Problem arbeiten können, reagiert die Gesellschaft, indem sie Teilsysteme ausdifferenziert, die nicht mehr gleiche Segmente darstellen, sondern die ungleich sind.22 Wären sie gleich, wäre bezüglich des funktionalen Erfordernisses der Verteilung von Komplexität nichts gewonnen, denn es soll ja gerade erreicht werden, die Limitationen, die eine Kombination von nun notwendiger Ungleichheit in der Sachdimension und Gleichheit in der Sozialdimension notwendig implizieren, zu umgehen. Logischerweise bietet sich dazu eine Verschiebung des Problems in die Sozialdimension an: Die Gesellschaft reagiert auf die Notwendigkeit von Ungleichheit in der Sachdimension durch die Ermöglichung von Ungleichheit in der Sozialdimension.23 Sie differenziert sich also in Teilsysteme aus, die ihren Mitgliedern unterschiedliche soziale Positionen und damit unterschiedliche Tätigkeitsbereiche, Rollen, Funktionen und v.a. unterschiedlichen Status zuweisen. Insbesondere Letzteres verweist auf die gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die zwischen den ungleichen Teilsystemen bestehen. Fragt man nach der Einheit eines in Teilsysteme differenzierten Systems, bekommt man die jeweilige Einheit der Differenz in den Blick, also gewissermaßen die Gesamtgestalt des Systems (vgl. Luhmann 1984a: 38). Im Falle der stratifikatorischen Differenzierung drückt sich diese Gesamtgestalt nicht in beliebiger Ungleichheit aus, sondern in einem Verhältnis der Rangordnung. Die Gesellschaft besteht nicht nur aus ungleichen Teilsystemen, sondern vor allem aus solchen, die in einer hierarchischen Beziehung zueinander stehen. Die wesentliche Leitdifferenz, nach der Information innerhalb des Gesellschaftssystems verarbeitet wird und anhand derer sich die Einheit des Systems darstellen läßt, wird anhand der Unterscheidung oben/unten codiert. Das bedeutet, daß alles, was in einer solchen stratifizierten Gesellschaft geschieht, daß alle sozialen Phänomene, Zurechnungen von Kommunikationen, Anschlußfähigkeit von Sinn und Entscheidungslagen in Interaktionen danach geregelt werden, wie sich die Folgen und Nebenfolgen dieser Ereignisse in der hierarchischen Ordnung der Gesellschaft auswirken. Das heißt etwa, daß einer solchen Gesellschaft der Traum des Konsensmechanismus durch einen exklusiven zwanglosen Zwang des besseren Argumentes (Habermas) semantisch noch gar nicht zur Verfügung stehen kann, weil nicht die Sach-, sondern allein die Sozialdimension darüber zu entscheiden hat, was entschieden wird. Im Klartext: Nicht was gesagt wird, sondern wer es sagt, ob oben oder unten stehend, ist entscheidend. Die stratifikatorische Differenzierung teilt die Gesellschaft in Schichten ein, in eine ständische Ordnung, z.B. „Krieger, Priester und Bauern, Adel, Bürger und Bauern, Mönche, Kleriker und Laien oder im Hinblick auf das jenseitige Heil: Heilige, Sünder, Heiden“ 22 23
Womöglich impliziert die Formulierung zuviel Intentionalität, wenn davon die Rede ist, daß die Gesellschaft reagiert. Ich erinnere deshalb daran, daß Systemdifferenzierung nicht Ergebnis einer zentralen Operation des Gesamtsystems ist, sondern gleichsam von unten erfolgt (vgl. IV.1). So ist ein Manko sogenannter „alternativer“ Wirtschaftsbetriebe, in denen möglichst alle möglichst alles können sollen und in denen unterschiedliche Entscheidungen möglichst von allen getroffen werden, daß sie mit der üblichen Wochenarbeitszeit nicht auskommen können. Es fehlt hier offenbar die komplexitätsreduzierende und -erhöhende Ermöglichung der Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem durch Differenzierung der Sozialdimension (vgl. Jacobs 1987: passim, insb. 176ff.). Ähnliches gilt auch für zeitraubende Entscheidungsprozesse in sogenannten basisdemokratischen politischen Organisationen. Die Frage, die sich dabei stellt, ist aber, ob die Differenz in ungleiche Teilsysteme notwendig nach dem Hierarchieschema erfolgen muß oder ob nicht auch andere Differenzierungen in der Sozialdimension möglich sind.
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(Giesen 1991: 35).24 Wie segmentäre Differenzierung ordnet auch die stratifikatorische Differenzierung Personen je einem der Teilsysteme zu. Die Person gehört damit nahezu alternativlos einer Schicht an, was eine eindeutige Selbst- und Fremdzuschreibung von Personen erlaubt. „Die Identität der Person beruht in diesem Sinne auf ihrem ,Stand‘- also direkt auf dem Prinzip sozialer Differenzierung.“ (Luhmann 1980b: 30) Das bestätigt zugleich, daß die Grenzen der Teilsysteme an der Sozialdimension festgemacht werden, was die Differenz in der Sachdimension als sekundär erscheinen läßt, obwohl gerade sie als Movens für die Umstellung der Gesellschaftsstruktur angesehen werden kann.25 Gesellschaftsstrukturell gesehen, liegt hier eine Struktur vor, die die Gesellschaft primär in verschiedene Ereignisreihen differenziert, die füreinander Umwelt sind. Daß sich damit, anders als in der segmentär differenzierten Gesellschaft, verschiedene Ereignistemporalitäten nebeneinander ausdifferenzieren, was womöglich eine ganz neue Form der temporalen Semantik erfordert, läßt sich schon hier erahnen. Bevor ich dies jedoch im einzelnen expliziere, verweile ich noch einen Moment beim Strukturaufbau dieses Gesellschaftstyps. Die eindeutige Anordnung der Teilsysteme in hierarchischen Differenzen birgt eine entscheidende Konsequenz für die Einheit des Gesellschaftssystems. Betrachtet man eine hierarchische Rangfolge und versetzt man sich nacheinander in unterschiedliche Positionen innerhalb dieser Rangfolge, fällt auf, daß die rigide, unhintergehbare Leitdifferenz oben/ unten es erlaubt, Positionen innerhalb der Gesellschaft eindeutig auszumachen, unabhängig davon, von wo aus man beobachtet. Die Schematik der Hierarchie bleibt notwendigerweise die gleiche, aus welcher Perspektive man sie auch immer beobachtet. Beobachtungen des Systems konvergieren deshalb in der Bestimmung der Einheit des Differenten, der „unitas multiplex. Die Differenz hält gewissermaßen das Differente auch zusammen; es ist eben different, und nicht indifferent“ (Luhmann 1984a: 38). Im Falle der hierarchischen Differenzierung ist – wie gesagt – die Beobachtung, Beschreibung und Bestimmung des Systems relativ einfach (vgl. ebd.: 39), und zwar einfach im quantitativen Sinne: Es gibt nur eine Leitdifferenz, mit der sich fast alles, was geschieht, topologisch bestimmen läßt: die Differenz von oben und unten. Auf der semantischen Ebene hat dies zur Konsequenz, daß stratifizierten Gesellschaften trotz der inneren Differenzierung in hierarchisch angeordnete Teil24 25
Ich belasse es bei der Aufzählung dieser Schichten, die im wesentlichen für die europäische Vormoderne gelten. In anderen Kulturkreisen findet man in Hochkulturen selbstverständlich andere Schichtungen, die aber analog strukturiert sind. Es sei ein Sachverhalt erwähnt, der für den Argumentationsduktus nicht entscheidend ist, jedoch die systemstabilisierende Funktion von Schichtung unterstreicht: Die Differenz oben/unten ist, genau genommen, eine durch theoretische Beobachtung gewonnene Abstraktion, denn sie suggeriert eine Binarität von Ungleichheiten, die historisch jedoch zumeist trinär organisiert war, wie die soeben zitierte Einteilung bei Giesen zeigt. Das ist sicher kein Zufall, denn unter funktionalen Gesichtspunkten bietet die trinäre Einteilung einen erheblichen Stabilitätsvorteil gegenüber der binären. „Besteht die soziale Struktur aus einer vertikalen Anordnung von Personen oder Gruppen, die als gesellschaftliche ,Rangfolge‘ verstanden wird, dann gewährt erst der Übergang von dichotomen zu trinären Strukturen eine gewisse Ruhe und Stabilität.“ (Giesen 1991: 34) Dies ist insofern plausibel, als das Auftreten Dritter zum einen als Kontrollinstanz, zum anderen als Verhinderung der Gefahr des Umkippens der Struktur in die andere Richtung erfolgt. Insofern ist das Auftreten von Trinarität in der Tat, so Giesen, als „Übergang von der Gewaltherrschaft zu sozialer Ordnung“ (ebd.) zu werten. Ähnlich deutet Luhmann das Auftreten einer „middle class“ als einen Stabilisator moderner Strukturen, der den Klassenkonflikt von „Kapital“ und „Arbeit“ in der politischen Semantik entschärft (vgl. Luhmann 1985b: 124).
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systeme „eine gesamtgesellschaftliche Grundsymbolik der Hierarchie und der direkten Reziprozität“ (Luhmann 1980b: 29) zur Verfügung steht. Die Strukturnotwendigkeit direkter Reziprozität erlaubt durch das dadurch ermöglichte Zusammenbestehen von unterschiedlichen Teilsystemen im Vergleich zu segmentären Gesellschaften einen ungleich höheren Aufbau von Komplexität und dynamischer Stabilität. Zugleich limitiert diese Differenzierungsform – wie jede andere Selektion aus einem Horizont von Möglichkeiten – ihren Komplexitätsaufbau. „Die Komplexitätsschranken dieses Differenzierungstyps liegen in der Notwendigkeit der Hierarchisierung der Ungleichheit. Jedes Teilsystem kann sich zwar dadurch, daß es sich selbst einer Hierarchie zuordnet, auf das Gesamtsystem beziehen; es kennt seinen Platz im Ganzen. Zugleich muß es dabei jedoch seine innergesellschaftliche Umwelt im Verhältnis zu sich selbst als ungleich definieren, und zwar an Hand von übergreifenden Rangkriterien.“ (ebd.: 26) Jene übergreifenden Rangkriterien müssen deshalb in Form gesellschaftsuniversaler Zentralsemantiken jedem System seinen Platz im Ganzen zuweisen. Dieses semantische Potential trat zumeist in Gestalt von Religion auf. Religion läßt sich damit bestimmen als Repräsentation des Ganzen als Ausdruck der Gesamtselektivität der Welt, die die Zuordnung von Sinn innerhalb der Gesellschaftsstruktur regelt.26 Da stratifizierte Gesellschaften in der Lage sind, ihre Einheit mit Hilfe einer eindeutigen Grundsymbolik semantisch herzustellen, kann per Religion die Gesamtordnung der Gesellschaft stabilisiert werden, auch wenn diese Gesamtordnung durch die Binnendifferenzierung der Gesellschaft erheblich komplexer wird. Religion fügt die Vielheit sozusagen als Einheit zusammen, oder anders gewendet: sie verbürgt die unitas multiplex, während die Binnendifferenzierung der Gesellschaft einen anderen Schwerpunkt impliziert: unitas multiplex. Diese einheitsstiftende Funktion des Religiösen kommt paradigmatisch etwa in Durkheims Definition zum Ausdruck, die der Religion als „kollektive(r) Angelegenheit“ (Durkheim 1981: 75) die Funktion der Gesamtintegration der Welt zuweist. Religion ist also in der Lage, trotz weltlicher Entzweiungen Einheit zu repräsentieren und zu sichern. Bezeichnenderweise besteht das Verhältnis von Religion und Gesellschaft stets aus einer gewissen Distanz, einer Differenz, die man mit Luhmann an dem Schema vertraut/unvertraut festmachen kann (vgl. Luhmann 1989a: 272)27: Das Ganze wird dadurch vertraut, daß das Unvertraute, d.h. Kontingenzen, Unbestimmbares, Unbekanntes etc. durch Handhabung der Differenz vertraut gemacht wird.28 Die Kontingenzen der Welt drücken sich in einfa26
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Bei Luhmann heißt es dementsprechend: „Religion hat demnach die Funktion, die an sich kontingente Selektivität gesellschaftlicher Strukturen und Weltentwürfe tragbar zu machen, das heißt ihre Kontingenz zu chiffrieren und motivfähig zu interpretieren.“ (Luhmann 1972: 250f.) Zu Luhmanns Religionssoziologie, auf deren soziologische und theologische Kritik ich hier nicht näher einzugehen brauche, vgl. Mörth 1978: 84-88; Scholz 1981: 83-166; Schöfthaler 1983: 136 sowie die einschlägigen Beiträge in Welker (Hg.) 1985. Luhmann benutzt diese Unterscheidung auch zur differenztheoretischen Rekonstruktion des Lebensweltbegriffs (vgl. Luhmann 1986c: 180ff.). Dort bezeichnet sie die Kontextur, die – im Sinne eines re-entry – die Unterscheidung vertraut/unvertraut vertraut macht und so die Lebenswelt zum vertrauten Ort des Lebens werden läßt. Ähnliches impliziert Peter Bergers Funktionsbestimmung der Religion als Feind des Unvertrauten: „In allen ihren Manifestationen ist Religion eine gigantische Projektion menschlicher Sinnhaftigkeit in die öde Leere des Universums – eine Projektion freilich, die als fremde Wirklichkeit in die Menschenwelt zurückkehrt und ihre Hervorbringer (wiederum als Unvertrautes!; A.N.) heimsucht.“ (Berger 1973: 97) – und die von religiöser Kommunikation niemals als Projektion verstanden werden darf, weil dann die Vertraut/unvertraut-Differenz notwendig zur anderen Seite hin asymmetrisiert würde. Aus diesem Grun-
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chen Unterscheidungen aus. In einfachen Gesellschaften sind dies „etwa: eßbar/nicht-eßbar, gefährlich/ungefährlich, Dorf und Urwald, Land und Meer“ (ebd.). Später kommen abstraktere Differenzen zur Geltung: Heil/Verdammnis, Leben/Tod, gut/böse. Diese Unterscheidungen werden von religiöser Kommunikation angewendet, wodurch der Aspekt der Unvertrautheit, der Unbestimmtheit der Welt und der Gefährdung durch Kontingenz sozusagen domestiziert wird. Dies geschieht im wesentlichen in der Weise, daß die Welt wie von außen, d.h. durch etwas die Welt Transzendierendes sinnhaft bestimmt wird. Da und indem dies wie von außen geschieht, scheinen alle innergesellschaftlichen Differenzen sowie die gesellschaftlich erlebten Kontingenzen durch Religion bestimmt werden zu können. Man kann also durchaus Transzendenz als Strukturmerkmal des Religiösen in stratifizierten Gesellschaften begreifen, wobei es sich hierbei nicht um einen theologischen oder mythologischen Begriff handelt, sondern um einen gesellschaftstheoretischen. Nicht Transzendenz im Sinne eines Numinosen, das die Welt und den Menschen von außen anspricht (vgl. Otto 1963), ist gemeint, sondern die semantische Transzendierung der innerweltlichen Grenzen zur sinnhaften Bestimmung dieser Grenzen; differenztheoretisch gesprochen: die Bestimmung der Einheit der Differenz.29 Dies kommt paradigmatisch in Eliades Beschreibung des homo religiosus zum Ausdruck: „In welchem geschichtlichen Zusammenhang er auch steht, der homo religiosus glaubt immer an die Existenz des Heiligen, das diese unsere Welt transzendiert, sich aber in dieser Welt offenbart und sie dadurch heiligt und real macht. Er glaubt, daß das Leben heiligen Ursprungs ist und daß die menschliche Existenz alle ihre Möglichkeiten insofern aktualisiert, als sie eine religiöse Existenz ist, d.h. teilhat an der Realität.“ (Eliade 1984: 174)30 Die Differenz von Vertrautem und Unvertrautem wird in Richtung des Vertrauten asymmetrisiert. Dabei wird die Vertrautheit von etwas Externem, das, genau genommen, unvertraut sein müßte, in seiner Vertrautheit bestimmt. Dieses Externe, in diesem Sinne Transzendente ist zum einen der nicht weiter unterscheidbare Bestimmungsgrund für die innergesellschaftlichen Unterscheidungen, die die Hierarchie der Gesellschaft stabilisieren. Zum anderen wird dieses Externe selbst in die Hierarchie eingeordnet, und zwar entweder als Spitze (oben) oder aber sowohl oberhalb als auch unterhalb
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de richten stratifizierte Gesellschaften rigide Instanzen zur Verhinderung von Kontingenzgefahr ein, um die Macht der Verwalter der Weltselektivität zu sichern, wie etwa das Beispiel der Heiligen Inquisition zeigt. In diesem Sinne bemerkt Jan Assmann gegen die Vorstellung einer Heiligung von außen: „Ich gehe vielmehr aus vom Primat der heiligen Handlung und der in ihr verankerten kollektiven religiösen Erfahrung. Die Riten sind älter als die Götter. Erfahrungen und Erlebnisse sind nur möglich innerhalb und außerhalb des Sinnhorizontes von Handeln, sie setzen ihn voraus, auch wo sie ihn transzendieren. In der phänomenologischen Perspektive beschreibt man die religiöse Handlung als ,Antwort‘ des Menschen auf den ,vorgängigen‘ Anstoß des Heiligen. Damit stellt man sich auf den Innenstandpunkt des Handelnden und bezieht sich auf das Eigenverständnis der Kultur.“ (Assmann 1984: 15) Assmann meint dagegen, daß ein Außenstandpunkt, i.e. eine Beobachtung mit anderen Unterscheidungen, zu anderen Ergebnissen mit womöglich größerer Tiefenschärfe gelangt als die Binnenperspektive. Auch wenn die Formulierung homo religiosus zunächst den Anschein einer anthropozentrisierenden Position erweckt, setzt sich Eliade eindeutig vom „klassischen Religionsbegriff“ des frühen 20. Jahrhunderts, wie er etwa von Otto (1963) geprägt wurde, ab. Er konzediert – wenn auch mit einem gewissen trauerndem Verzichtsgestus -, daß die Universalität und gesellschaftliche Totalität der religiösen Weltdeutung ein Phänomen ist, das mit den gesellschaftsstrukturellen Veränderungen der Neuzeit zu Ende geht (vgl. Eliade 1984: 175). Er reflektiert damit weniger auf den substantiellen Aspekt der Bestimmung des Religiösen als auf ihre soziale Natur.
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der sozialen Sphäre (Götter/Dämonen, Himmel/Hölle). Gemeinsam ist diesen Bestimmungen jedoch, daß sie dazu dienen, die hierarchische Ordnung der Gesellschaft sowohl abzubilden als auch durch ihren vorgestellten externen Charakter jenseits der innerweltlichen Unterscheidungen die Einheit der Differenzen, i.e. die Bezogenheit der Teilsysteme aufeinander vom Ruch des Kontingenten zu befreien. Eine andere „Technik“ der Herstellung von Vertrautheit ist die innerweltliche Wiederholung oder Abbildung der Differenz von Vertrautem und Unvertrautem in der Differenz heiliger und profaner Sphäre bzw. in der Ausdifferenzierung von Sakralrollen. Das Heilige muß sozusagen limitiert werden, es muß zu einem knappen Gut gemacht werden, damit es wirkt. „Es darf nicht dahin kommen, daß jedermann irgendetwas behauptet. Die religiöse Kommunikation wird tabuisiert und ritualisiert und damit in einer Weise unsichtbar/sichtbar gemacht, die im alltäglichen Leben als Differenz wirkt und sich dann in Richtung auf Abweichungsverstärkung ausbauen läßt.“ (Luhmann 1989a: 273) Religiöse Gehalte nehmen die Form von Geheimnissen an, also von Inhalten, an die zwar jeder glaubt, die aber nur wenigen wirklich bekannt sind oder die nur von wenigen rituell zugänglich gemacht werden können.31 Das Geheimnisvolle ist zugleich unvertraut und vertraut, denn indem es sich stets in Distanz zum Alltäglichen befindet, ist es unvertraut, und indem es das Alltägliche sinnhaft transzendiert, schafft es Vertrautheit. Seine – wenn ich so sagen darf – ordnungspolitische Funktion kann religiöse Kommunikation allerdings nur dann ausüben, wenn sie eine knappe Ressource bleibt, d.h. wenn sie die Ungleichheit der Positionen innerhalb der Gesellschaft codifiziert, betont und stabilisiert. Aus diesem Grunde findet sich das Heilige meist „in einer eigentümlichen Nähe zu Positionen im Zentrum oder in den Oberschichten der Gesellschaft“ (ebd.: 274), was die „transzendente“ hierarchische Position des Religiösen innerweltlich verstärkt.32 Damit wird nicht nur die Bedeutung der symbolischen Gehalte verstärkt, sondern gleichzeitig auch der ungleiche Zugang zu Gütern bzw. die Ordnung von Gabe- und Fronpflichten geregelt. Es liegt in stratifizierten Gesellschaften also ein ungleicher Zugang zu knappen symbolischen Ressourcen und ökonomischen Gütern vor, was die direkte Reziprozität des Rangfolgecodes auf allen Ebenen gesellschaftlicher Kommunikation ermöglicht und stabilisiert. Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um den gesellschaftsstrukturellen Aufbau hochkultureller, stratifikatorisch differenzierter Gesellschaften mit eindeutigem Sinnmonopol in Form religiöser Kommunikation aufzuzeigen. Bezogen auf das Zeitproblem, läßt sich zeigen, daß mit dem Übergang von segmentär differenzierten Gesellschaften mit wenigen Zeitebenen zu stratifizierten Gesellschaften nun vielfältige Zeitebenen möglich werden. Es gibt – das kann man schon auf der Ebene der autopoietischen Eigentemporalität sehen – die strukturelle Möglichkeit des Nebeneinanders verschiedener Ereignisreihen mit je eigenen Temporalhorizonten, was womöglich durch die Differenz der Eigenzeiten der Teilsysteme zu einem Bedarf an Synchronisationsleistungen führt (vgl. IV.1). Dieser Befund basiert allein auf der Beobachtung der Zeit der Autopoiesis des Systems – korrekterweise muß es heißen: der Autopoiesen des differenzierten Systems. Inwiefern sich dies auf 31 32
Vgl. dazu Max Webers Ausführungen zur Entstehung von Virtuosenreligiosität, Weber 1972: 259ff. Das läßt sich von der politischen Funktion religiöser Rollenträger in Hochkulturen (z.B. Pharaonen in Ägypten) über die Kaiserkrönung durch den Papst im „Heiligen Römischen Reich“ bis zur Funktion der britischen Queen als Oberhaupt der Anglikanischen Kirche nachverfolgen.
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IV. Kapitel
die Beobachtungszeit, i.e. auf die semantische Handhabung temporaler Unterscheidungen auswirkt, wird im folgenden zu prüfen sein. Es ist für den Typ stratifizierter Gesellschaften noch weniger als bei segmentär differenzierten möglich, bei der nahezu unbegrenzten kulturellen Variabilität und bei der historisch bekannten Variationsbreite temporaler Semantiken ein einheitliches Bild zu präsentieren. Ich beschränke mich deshalb lediglich auf zwei Beispiele, die einen Eindruck der Möglichkeiten der Temporalisierung von Komplexität unter Bedingungen stratifikatorischer gesellschaftlicher Differenzierung vermitteln sollen. Als Beispiel einer frühen Hochkultur möge das Beispiel der altägyptischen Zeitvorstellung dienen (b); als Beispiel einer weiter entwickelten Hochkultur führe ich die vorneuzeitliche Gesellschaft des europäischen Mittelalters an (c). b)
Monumentalität und Zeit Altägyptens
Die Gesellschaft des „Alten Reiches“ Ägyptens, die sogenannte „Pharaonenzeit“ (ab ca. 2660 v. Chr.) war geprägt durch die herausgearbeiteten Charakteristika stratifikatorischer Differenzierung: eine feudalistische Struktur mit einem sich herausbildenden Beamtenadel, der sich über Lehnsrechte, Loyalität zum König und Nähe zum religiösen und kultischen Zentrum stabilisierte (vgl. Wolf 1962: 130-134). Die weitere Entwicklung der altägyptischen Gesellschaft stellt sich, wie Assmann zeigt, als „Ausdifferenzierungsprozeß der Religion aus dem Ganzen der Kultur und des Profanen aus dem ursprünglich religiös bestimmten Grundsystem auf der sozialen Ebene“ (Assmann 1984: 9) dar. Dieser offenkundige Differenzierungsprozeß der Gesellschaft in eine heilige und eine profane Sphäre korrespondiert mit einer strikten hierarchischen Differenzierung, die sich im Neuen Reich (ab 1557 v. Chr.) mit König- und Priestertum an der Spitze, Heer und Beamtentum als mittlere Stände und Handwerkern, Bauern etc. als unterster Stand auch zu einer groben Dreiergliederung zusammenfassen läßt (vgl. Wolf 1962: 328-349). Diese Entwicklung hat hier nicht weiter zu interessieren, sie möge lediglich den stratifikatorischen Charakter der Gesellschaft verdeutlichen. Ich komme damit zum altägyptischen Zeitverständnis. Wie zunächst nicht anders zu erwarten, bedient sich die Beobachtungszeit Altägyptens zur alltäglichen Bestimmung von Zeit keines abstrakten Zeitbegriffs, jedoch scheinen wir dieser Kultur die Einteilung des Tages in 24 Stunden zu verdanken (vgl. Whitrow 1991: 53). Allerdings ist die Stunde hier nicht im Sinne unseres homogenen Intervalls zu verstehen, das unabhängig von dem von ihm zu Messenden erscheint. Dabei ist zu bedenken, daß sich die 24 Stunden aus zweimal 12 Stunden für Tag und Nacht zusammensetzen, die aufgrund des jahreszeitlichen Wandels in ihrer Dauer variabel gehalten werden müssen (vgl. Assmann 1983: 194). Ich erwähne dies nur, um zu demonstrieren, daß der altägyptischen Kultur zwar schon ein relativ abstraktes Zeitverständnis zur Verfügung steht, die Zeit sich jedoch noch nicht als abstrakte Weltdimension herauskristallisiert hat. Für diesen Befund spricht etwa auch die semantisch an landwirtschaftlichen Tätigkeiten ausgerichtete Bezeichnung der drei Jahreszeiten – „Überschwemmung, Aussaat, Ernte“ (ebd.) – oder die an Herrscherdynastien bzw. Regierungsjahren ausgerichtete Jahreszählung (vgl. Whitrow 1991: 49). Es ist anzunehmen, daß diese stratifizierte Gesellschaft durch die Herausbildung von Ständen unterschiedlicher
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Struktur und Funktion für das Gesamtsystem durchaus unterschiedliche Zeithorizonte ausbildet. So dürfte etwa der Beamtenstand mit seinen bürokratischen Funktionen und seinem Planungsbedarf bei der Eintreibung von Steuern einen völlig anderen Zeithorizont ausbilden als die primär landwirtschaftlich strukturierte Schicht der Gesellschaft. Es spricht auch vieles dafür, daß schon die Aufteilung des Landes in 42 Gaue mit autochthonen Sakralfunktionen und partieller politischer Selbständigkeit (vgl. Assmann 1984: 46) einen gewissen Bedarf an temporaler Koordination erfordert. Die rangmäßige und räumliche Differenzierung der Gesellschaft läßt in temporaler Hinsicht etwas Neues entstehen, das es unter Bedingungen segmentärer Differenzierung nicht geben kann: Die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem, was durch eine so entstehende unvermeidliche System/Umwelt-Beziehung von Ereignistemporalitäten zu Zeitverschiebungen zwischen System und Umwelt führt (vgl. Luhmann 1984a: 72). Ich nehme jedoch an, daß sich diese Verschiebungen kaum dramatisch auswirken, denn zum einen sind räumliche und soziale Mobilität in frühen Hochkulturen noch sehr gering und ist damit das Erleben von „Geschwindigkeit“ noch kein Problem, das Koordinationsbedarf wecken könnte (vgl. Schmied 1985: 86ff.). Zum anderen dürften sich die verschiedenen Schichten durch die rigide, unhintergehbare Zuordnung von Personen an ihren gesellschaftlichen Ort innerhalb der Schichtung in einem recht „äußerlichen“ Verhältnis zueinander befinden, was einen temporalen (aber auch: sozialen und sachlichen) Abstimmungsbedarf unwahrscheinlich macht. Dafür spricht z.B. auch, daß – insbesondere in den unteren Schichten – die segmentären Strukturen gemeinsamer Anwesenheit in Form lokaler Grenzen und einfach strukturierter Gemeinwesen beibehalten werden (vgl. Giesen 1991: 30). Ein temporaler Abstimmungsbedarf entsteht nur dann, wenn es etwas abzustimmen gibt. Das klingt banal, ist es auch, verweist jedoch auf den funktionalen Aspekt von semantischen und gesellschaftsstrukturellen Synchronisationsleistungen. In einer Gesellschaftsstruktur, in der sich nichts ändert, muß, sensu stricto, deshalb nichts abgestimmt werden, weil sich alles bereits in einem abgestimmten Zustand befindet – man wird später, wenn es sie nicht mehr gibt, von prästabilierter Harmonie sprechen. Abstimmungstechniken sind funktional erst dann erforderlich, wenn man damit rechnen muß, daß Abstimmungserwartungen enttäuscht werden. Dies wiederum ist nur in einer Gesellschaftsstruktur möglich, die auf raschen Wandel, auf permanente Verschiebung von System/Umwelt-Verhältnissen, auf die Kontingenz von Gleichzeitigkeit33 eingestellt ist. Exakt das jedoch ist in der altägyptischen Gesellschaft nicht der Fall. Diese Behauptung läßt sich anhand der zentralen Zeitsemantik Altägyptens verifizieren, an der die gesamte Grundsymbolik dieser frühen Hochkultur hängt. Es erstaunt zunächst nicht, daß die altägyptische Sprache keinen Begriff für Zeit kennt (vgl. Assmann 1983: 193), denn als abstrakte Dimension einer ebenso abstrakten Koordination von Handlungen bzw. Handlungsketten scheint sie – bis auf wenige Ausnahmen, wie gewisse Fortschritte beim Bau von Wasser- und Sonnenuhren zeigen (vgl. Wendorff 1985: 39ff.; Assmann 1983: 194; Whitrow 1991: 52) – funktional nicht erforderlich zu sein. Im Gegenteil:
33
Unter Kontingenz von Gleichzeitigkeit verstehe ich das Erleben von Unsicherheit und Unbestimmbarkeit in bezug auf die Gegenwart bzw. auf antizipierte Gegenwarten von Systemen in der Umwelt von Systemen. Im Klartext: Wenn ich nicht vorgängig schon weiß, wer (Sozialdimension) was (Sachdimension) wann (Zeitdimension) tut, entsteht erst ein Abstimmungsbedarf, der primär zunächst temporal erfüllt werden muß.
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IV. Kapitel
Ein solcher abstrakter, linearer Zeitbegriff wäre geradezu dysfunktional für die Lebensbewältigung Altägyptens. Wenn den alten Ägyptern schon ein einheitlicher Zeitbegriff im uns bekannten Sinne fehlt, so widerspricht das keineswegs der Tatsache, daß die Semantik das Zusammenbestehen mehrerer Wörter und Begriffe für temporale Topoi vorsieht. Dabei ist nicht nur an die schon erwähnten Stunden und Tageszeitbestimmungen, an Jahreszeiten oder auch die Jahreseinteilung in 365 Tage zu denken. Viel entscheidender ist die in einem Zentralmythos Altägyptens, in der von Assmann so genannten „Sonnentheologie“ (Assmann 1983: 206), enthaltene Doppelbedeutung der Zeit als „neheh-Zeit“ und „djet-Zeit“ (vgl. ebd.: 201).34 Diese beiden Zeiten, oder besser: Zeitbegriffe, stehen gemeinsam für den Aspekt der Ewigkeit, die jedoch nicht wie bei Platon (vgl. Timaios 37e-38a) als von der sich wandelnden, sichtbaren Welt getrennte Sphäre des Unwandelbaren anzusehen ist. Ewigkeit steht hier nicht für ein der Welt entgegengesetztes Prinzip, sondern ist Immanenz schlechthin. Immanenz ist in dem Sinne zu verstehen, daß die Ewigkeit als Qualität des Unwandelbaren, der Zeit nicht Unterworfenem, nicht als Negation der Welt fungiert, die ohne Zweifel einem ständigen Wandel unterliegt. Die altägyptische Zeitsemantik versucht vielmehr das Interesse an der Stabilität der Ordnung mit der Kontingenz bzw. der Kontingenzgefahr des Lebens zu verbinden. Assmanns Analysen der Differenz von djet- und neheh-Zeit, deren Einheit in einem Begriff immanenter Ewigkeit zu sehen ist, zeigen, daß die Altägypter die dynamische Stabilität der Welt durch das Zusammenwirken von zwei Temporalprinzipien deuten: durch den resultativen Aspekt (djet) der gegenwärtigen Fortdauer dessen, was geworden ist, was sich in der Zeit vollendet hat, und durch den virtuellen Aspekt (neheh) der alltäglich ablaufenden Zeitfiguren wie Stunden, Tage, Monate und Jahre (vgl. Assmann 1983: 199f.). Neheh steht demnach für das, was noch nicht vollendet ist, aber seiner Vollendung zustrebt, um in djet überzugehen. „Das Wesen der neheh-Zeit tritt für den Ägypter am klarsten an den Bewegungen der Gestirne in Erscheinung, das Wesen der djet-Zeit an der starren Unwandelbarkeit des Gesteins.“ (ebd.: 201) Alles Seiende strebt sozusagen von einer harmonischen Bewegung, die ein Imperfectum impliziert, in Richtung des Perfectums, das immer so bleibt, wie es ist. Diese Denkfigur kann in einer Gesellschaft, in der die Zumutung der sachlichen und sozialen Ungleichheit die Einheit des Ganzen zum Problem macht, für zweierlei sorgen: Einerseits sorgt ein Weltverständnis, in dem alles nach Perfektion strebt und durch Vollendung verewigt wird, für eine rigide Symbolisierung der Ordnung des Ganzen, die zeitfest gehalten werden muß. Andererseits entparadoxiert gerade die binäre Einheit von Zeit als djet und neheh die Paradoxie, die sich unvermeidlich stellt, wenn man die Strukturen der Welt als zeitfest voraussetzt und trotzdem stets dem Erleben innerweltlichen Wandels ausgesetzt ist. Diese Entparadoxierungsleistung dient dazu, die Gesellschaftsstruktur und die darin enthaltene direkte Reziprozität der ungleichen Teile zu stabilisieren.
34
Assmann weist – mit Recht – darauf hin, daß diese Vorstellung nicht „dem Wissen des altägyptischen ,Mannes auf der Straße‘“ entspricht, sondern eher ein Proprium der „,Weltbild-Spezialisten‘, der Priester“ (Assmann 1983: 207) ist. Trotzdem, nein: gerade deshalb repräsentiert dieses Verständnis den Zentralmythos der gesellschaftlichen Bewältigung der Dynamik in jeder autopoietischen Stabilität.
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Am Beispiel des altägyptischen Sonnenkultes läßt sich studieren, wie die Zeit zur Auflösung oder zumindest Invisibilisierung der Paradoxie von Wandel und Kontinuität herangezogen wird. Im Sonnenlauf sehen die Altägypter die beiden Aspekte von imperfekter Virtualität und perfekter Resultativität in Re als Gott des neheh-Prinzips und Osiris als Gott des djet-Prinzips verkörpert (vgl. ebd.: 209f.).35 Der Sonnenlauf vereinigt beide Prinzipien als Werden in der Bewegung der Sonne und als Unwandelbarkeit in der täglichen Vollendung dieses Geschehens. Damit wird der alltäglich neu erlebte Zyklus der Zeit zugleich kontingent gesetzt und von Kontingenz befreit. Kontingent gesetzt wird er dadurch, daß er als willentlicher Ausdruck von Göttern angesehen wird, denen man als handelnden Göttern zumindest einen gewissen Selektionspielraum zugestehen muß. Im Klartext: Götter könnten sich auch anders entscheiden, sonst wären sie keine. Damit ist das Bewußtsein der Katastrophe, der Krise, der Gefahr des Untergangs vielleicht nicht allgegenwärtig, mindestens aber denkbar und damit von religiöser Bedeutsamkeit. Von Kontingenz befreit wird dieses Geschehen dagegen dadurch, daß der Lauf der Sonne rituell begleitet wird. Es muß sozusagen rituell dafür gesorgt werden, daß die Götter ihren Kontingenzspielraum – etwa: keinen neuen Tag entstehen zu lassen – nicht nutzen und aus neheh djet werden lassen, auf das wieder neheh folgt usw. Das Kontingenzerlebnis der Welt und seine Überwindung durch rituelle Handlungen ist ein Geschehen der Temporalisierung von Komplexität, das die Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nutzt, um die universale Weltordnung aufrechtzuerhalten. Im neheh, also in der jeweiligen Gegenwart des werdenden Wandels, ist die Gleichzeitigkeit des Unwandelbaren als Perfectum, als Prozeßziel, als Telos, als djet mit aufgehoben. Das Ritual verbürgt aber erst, daß aus dem distinkten Prinzip der Zeiten eine reale Einheit der Zeit wird. „Im Sonnenkult haben wir es (...) mit Ritualen zu tun, die ganz speziell die Zeit zum Thema haben. Jede einzelne Stunde wird hier mit kultischen Begehungen begleitet, die nicht nur mit der Vorschrift übereinstimmen, sondern auch in genauestem Einklang stehen müssen mit den kosmischen Ereignissen, die für die jeweilige Stunde charakteristisch sind. Dadurch wird nicht nur die Zeit ornamentalisiert, sondern die Krise abgewendet und Kontinuität erzeugt.“ (ebd.: 216; Hervorh A.N.) Diese Kontinuität ist es, die als Ewigkeit die Unwandelbarkeit des Ganzen trotz alltäglichen Wandels bewältigt. Die frühe Hochkultur der Altägypter konnte sich so in die Lage versetzen, die hierarchische Ordnung der Gesellschaft, die raschen Wandel durch die für Hierarchien notwendige reziproke Stabilisierung von oben und unten nicht verarbeiten kann, zu konservieren und zu stabilisieren. Bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, d.h. bis an die Grenzen dessen, was an Komplexität, Mobilität und Konflikten zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft auf dem Boden der Unwandelbarkeit der bestehenden Strukturen möglich ist, kann durch die gegenwärtige Entschärfung von djet und neheh ausgenutzt werden. Während djet für die Unwandelbarkeit der Welt steht, gewissermaßen für das Prinzip des nihil novi sub sole, daß alles so bleiben soll, wie es ist und immer war (vgl. Wendorff 1985: 41), führt neheh als sublimierte Form des imperfekten Stadiums grenzenloser Perfektibilität einen gewissen Selektivitätsspielraum mit. Das läßt sich u.a. daran ablesen, wie die altägyptische Kultur ihre Geschichte schrieb. Wenn eine Gesellschaft immer so bleibt, wie sie ist, kann es keinen Bedarf für die Fixierung von Vergangenem geben, denn dieses dürfte sich kaum von der Gegenwart und ihrer 35
Ausführlich zum Osiris-Mythos vgl. Assmann 1984: 149.
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IV. Kapitel
Zukunft unterscheiden. So darf man sich etwa die nur sehr begrenzte historische Perspektive schriftloser Völker vorstellen. Auch diese sind – darauf hat vehement Rüdiger Schott hingewiesen – keineswegs geschichtslose Völker. Allerdings ist das Gedenken des Vergangenen stets an das Außergewöhnliche gebunden, an Differenzen, die sich in einer kontinuierlichen Welt am Diskontinuierlichen aufzeigen lassen. Solche differenzerzeugenden Ereignisse sind das Auftreten besonderer (Herrscher-)Persönlichkeiten, sonstige Ereignisse wie Naturkatastrophen oder Intervention von außen in eine lokale Gesellschaft, etwa Kriege (vgl. Schott 1968: 170). Nicht ein – zwar begrenztes – Maß an Geschichte fehlt solchen Gesellschaften, sondern, in der Formulierung von Dux: „das Bewußtsein, unter historischen Verhältnissen zu leben“ (Dux 1989: 197). Dieses erst in der Neuzeit auftretende Geschichtsbewußtsein, das die Geschichte und ihre Zeitlichkeit selbst als Differenzen setzendes Movens historischer Beobachtung ansetzt (vgl. Koselleck 1975a: 701 und 1987: 279), kann nur einer Gesellschaftsstruktur entsprechen, die in ihren Grundfesten auf Wandel abgestellt ist. Die ägyptische Hochkultur dagegen schließt gerade diesen Wandel aus und hat dennoch eine gewisse historische Perspektive, die über die bloße Erinnerung an außergewöhnliche Ereignisse hinausgeht. Wie paßt dies jedoch zusammen? Auch der Geschichte wird von den Altägyptern durch die Einheit der distinkten Zeitordnungen neheh und djet die Spitze, i.e. die Gefahr des Erlebnisses von Unstetem und damit des drohenden Chaos genommen. Die Zeitrechnung der Ägypter, ich habe es schon erwähnt, orientiert sich an Dynastien. „Die Jahre werden nicht fortlaufend gezählt, sondern nach den Regierungsjahren der einzelnen Pharaonen, wobei die Zeitrechnung mit jedem neuen Pharao bei 1 begann (...).“ (Whitrow 1991: 49; vgl. auch Dux 1989: 199) Allerdings ist gerade die Sukzession von Königen ein Garant für Stabilität und Kontinuität, denn auch sie sind nichts anderes als Antipoden von Osiris. Im Osiris-Mythos fungiert der Gott Horus als (neheh-)Prinzip des lebenden Königs und seiner Regentschaft, während der König durch Tod zu Osiris als (djet-)Prinzip der erreichten Vollkommenheit wird (vgl. Assmann 1983: 210f.). Auch Leben und Sterben der Könige sind also eingemustert in die immanente Ewigkeit des Umschlags von der Unvollkommenheit des Werdenden zur Vollkommenheit des Ewigen.36 Die Zählung und Datierung von Dynastien und Regentschaften absorbiert dann sozusagen den in ihr immer auch enthaltenen sozialen Wandel, indem dieser nur ein sekundäres Derivat der immanenten Ewigkeit der altägyptischen Welt ist. Ich habe schon kurz angedeutet, daß das hier explizierte Zeitverständnis der altägyptischen Hochkultur in seiner semantischen Fassung im Mythos keine alltägliche Erscheinung ist. Im Gegenteil: Die strikte Trennung von heiliger und profaner Sphäre in der altägyptischen Gesellschaft impliziert vielmehr, daß die semantische Komplexität des Mythos nicht überall anwesend sein kann. Gleichwohl kommt in ihm zum Ausdruck, daß in der hoch36
In diesem Kontext ist etwa die Mumifizierungsbestattung zu sehen, die mit einer ausgeklügelten Technik den Zustand des just Gestorbenen „auf ewig“ konserviert, um die Perfektivität des vom neheh zum djet Übergegangenen symbolisch darzustellen. Darin, wie Wendorff, ein „Bollwerk im Strom“ oder einen „stumme(n) Protest gegen Zeit oder vielmehr gegen das, was durch Zeit ermöglicht werden könnte: Änderung, Neuerung, Entwicklung“ (Wendorff 1985: 41) zu sehen, ist gewiß nicht falsch. Jedoch verdankt sich eine solche Einschätzung m.E. einer zu sehr aufs moderne Zeitverständnis pochenden Perspektive. Denn nicht Protest „gegen die Zeit“ symbolisiert die „Verewigung“ des zu Osiris gewordenen Pharaos. Vielmehr symbolisiert gerade dieses Bollwerk die Zeit, indem es „die Zeit“ des Nacheinanders der innerweltlichen Handlungen paradoxieverhindernd unsichtbar macht.
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kulturellen Gesellschaft Ägyptens kein Bedarf für eine komplexe Zeitsemantik und -metaphorik herrscht, die sich ohne Zweifel im zentralen Zeit-Mythos niedergeschlagen hätte. Allerdings muß auch der ägyptische „Alltag“ dieses Erlebnis der immanenten Ewigkeit gekannt haben, denn die ungeheuren Anstrengungen, die etwa der Tempel- und Pyramidenbau auf sich zog (vgl. Assmann 1988: 92ff.), muß das Monumentale des Geschichtsverständnisses und das Bewahrende der ägyptischen Weltsicht sinnfällig für „jedermann“ ausgedrückt haben. Wie Assmann zeigt, bilden gerade diese monumentalen Denkmäler des pharaonischen Ägyptens „das zentrale Medium und die wichtigste Organisationsform des kulturellen Gedächtnisses“ (Assmann 1988: 96), so daß das „kulturelle Gedächtnis“ weniger durch abstrakte Datierungen mit Hilfe von Königslisten erfolgt, sondern durch die Präsenz des Ewigen in den monumentalen „Speichern“ von gesellschaftlicher Kontinuität. Dieses Bewahrende einer – im Wortsinne – konservativen Kultur ermöglicht, um es noch einmal zusammenfassend auf den Punkt zu bringen, eine Entparadoxierung des Widerspruchs von unvermeidlicher Ereignishaftigkeit des sozialen Lebens und der durch die Gesellschaftsstruktur funktional erforderlichen Kontinuität und Stabilität der direkten Reziprozität rangmäßig angeordneter Teilsysteme der Gesellschaft. In der ägyptischen Hochkultur, das unterscheidet sie insbesondere vom klassischen griechischen Dualismus, ist die Gesellschaft noch eng an die Heilserwartung und -erfüllung durch die religiöse Sphäre gebunden. Diese enge Parallelisierung von mythisch-religiösen und alltäglichen Horizonten, insbesondere was die temporale Verfassung der Gesellschaft angeht, kann nur auf dem Boden einer Gesellschaftsstruktur gedeihen, die keinen raschen und grundlegenden sozialen Wandel erlaubt. Die noch sehr naturnah operierende ägyptische Hochkultur mit ihren bewahrenden, konservativen Zügen konnte Vergangenheitsbewältigung und Zukunftserwartung noch in einer Gegenwart zusammenziehen, die zum einen kaum temporalen Abstimmungsbedarf zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen erforderte und die zum anderen die Präsenz des Heils in der Wiederholung, im Zyklus des Wiederkehrenden synchronisch erleben konnte. Die Apokalypse ist eine gegenwärtige Gefahr, die ebenso gegenwärtig gebannt wird, woraus eine – wenn ich so sagen darf – geschichtslose Eschatologie resultiert. In diesem Sinne formuliert Assmann sehr prägnant: „Im Sinnhorizont einer virtuellen Apokalyptik ereignet sich die Zeit als realisierte Eschatologie, als die volle Gegenwärtigkeit des Heils. Auf dem Hintergrund der glücklich bestandenen Krise erweist sich die Kontinuität der Zeit nicht als Fortschreiten, sondern als Fortwähren, als schiere Präsenz, die keinen Aufschub und keine Distanz, keine Erwartung künftigen und keine Erinnerung vergangenen Heils kennt. Die Riten hatten das Heil zu sichern, indem sie die irdischen Verhältnisse einbanden in die kosmische Zeit, deren Struktur wir uns veranschaulichen weder als Linie, noch als Kreis, sondern als ein Ornament im unendlichen Rapport der periodischen Vereinigung von Neheh und Djet.“ (Assmann 1983: 217f.) Man könnte dieses Verständnis auf die paradoxe Formel einer zyklischen Heilsgeschichte bringen. Ich meine damit, daß es ein Geschehen gibt, das seine Erfüllung sozusagen am Ende jeder Bewegung erreicht. Die ägyptische Religion muß sich nicht mit der Erwartung von zukünftigem exzeptionellem Geschehen befassen – wie später etwa die angekündigte Wiederkunft des Welterlösers in der Person Christi – und deshalb auch nicht abstrakte, heilsgeschichtliche Deutungen beim Ausbleiben der Parusie anstellen. Die Heilsgeschichte Altägyptens ist eher ein Konglomerat von Heilsgeschichten, die nicht auf ein
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zukünftiges Telos sich hinneigen, sondern die mit dem Umschlag von neheh zu djet ihr Eschaton immer schon erreichen. Die Unwandelbarkeit und steinerne Monumentalität des altägyptischen Kosmos gibt der Gegenwart die Qualität einer permanenten Parusie, in der sich alles einer unwandelbaren Ordnung fügt. Diese Selbstgenügsamkeit der Gegenwart läßt die Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gar nicht recht sichtbar werden, was es schlicht funktional nicht erforderlich macht, zur Paradoxievermeidung Vergangenheit und Zukunft als Weltdimensionen und die Zeit als Medium einzuführen (vgl. III.2b). Dies kann aber nur so lange gut gehen, als die gesellschaftliche Komplexität und die strukturellen Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen sich auf eine sich kaum verändernde Gegenwart verlassen können. Je komplexer Gesellschaften werden, um so stärker tritt das Problem der Zeit in Erscheinung und um so größere Anstrengungen müssen sowohl auf der Ebene der gesellschaftsstrukturellen Organisation von Zeit als auch auf der Ebene der Zeitsemantik zur Temporalisierung von Komplexität gefunden werden. Vorstellungen, wie sie im alten Ägypten vorherrschten, also die „steinerne“ Monumentalität des Seins als Ungewordenem und Nicht-Werdendem, werden jedoch länger konserviert, als gemeinhin angenommen wird. Dies dürfte für die Epoche des klassischen Hellas noch wenig erstaunen. Auch hier liegt eine stratifizierte Gesellschaft mit rigiden Schichtgrenzen vor, die durch die semantische Codifizierung einer zentralen Gesamtselektivität der Welt zusammengehalten werden. Dabei drückt eine, wie Jakob Burckhardt formuliert, „völlige Abdiktion des Individuums und sein absoluter Heimfall ans Allgemeine“ (Burkhardt 1939: 267) die Stabilität und Alternativlosigkeit der sozialen Ordnung mit nur geringen Möglichkeiten sozialen Wandels und damit einhergehenden Bewußtseins von der Kontingenz der Welt aus. Die griechische Gesellschaft versteht sich bei aller Differenziertheit und kulturellen und wissenschaftlichen Blüte als Ausdruck einer Substanz, eines Unwandelbaren, das weder historisches Bewußtsein noch einen filigranen Planungs- und Zukunftshorizont kennt. Gleichwohl müssen auch hier die Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Ausdruck von Differenzen in der Zeit und die Paradoxie der Unwandelbarkeit und ewigen Stabilität innerhalb einer sich wandelnden Welt aufgelöst werden. Als besonders deutliches Zeugnis einer Entparadoxierung durch Invisibilisierung der eigenen Leitunterscheidung kann Platons Timaios gelten. Angesichts der Vergänglichkeit des Seienden, das im platonischen Verständnis Ausdruck des Allgemeinen, der Idee, des Einen, des mit sich Identischen ist, und angesichts der Bewegung in der Welt heißt es dort: „(...) dem stets sich selbst gleich und unbeweglich Verharrenden aber kommt es nicht zu, durch die Zeit jünger oder älter zu werden, noch irgend einmal geworden zu sein oder es jetzt zu sein oder in Zukunft zu werden, und überhaupt nicht, was das Werden dem in Sinneswahrnehmung Beweglichen anknüpfte; vielmehr sind diese entstanden als Begriffe der die Unvergänglichkeit nachbildenden und nach Zahlenverhältnissen Kreisläufe beschreibenden Zeit.“ (Timaios 38a) Platon entdramatisiert also die Wandelbarkeit des Seienden durch die Behauptung der Unwandelbarkeit des Seins. Diese Parmenideische Denkfigur korrespondiert nicht nur mit der Notwendigkeit, die stabile Ordnung der Welt stabil zu halten, sondern auch mit dem, wie Dux formuliert, handlungslogischen Zeiterleben, das weniger an abstrakten Temporaldaten denn an konkreten Handlungen und Handlungsmustern orientiert ist (vgl. Dux 1989: 49f.). Ersteres wird durch die Unhintergehbarkeit der bestehenden Ordnung, durch ihre Kontingenzlosigkeit
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formuliert, was Platon an das Ungeworden-Sein bindet. Zweiteres dagegen entspricht unmittelbar der Zeitorganisation einer Gesellschaft mit lokal begrenzten Handlungsketten und der fehlenden Notwendigkeit, solche Handlungsketten über ein bestimmtes Maß hinaus temporal miteinander abzustimmen. Die zyklische Zeitauffassung bleibt dominant.
c)
Ewigkeit und Zeit im europäischen Mittelalter
Es ist sicher eines der weitestreichenden Mißverständnisse in der Behandlung des Zeitproblems, wenn man dem zyklischen Kosmos der frühen Hochkulturen die jüdisch-christliche Linearität der auf die Zukunft gerichteten Zeit gegenüberstellt und damit eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Organisation von Zeit meint. Sicher hat etwa Jakob Taubes Recht, wenn er betont: „Israel ist das unruhige Element in der Weltgeschichte, der Gärungsstoff, der erst eigentlich Geschichte schafft. Es löst sich zuerst vom ruhenden Grund Babyloniens und Ägyptens. Die Kulturen am Nil und zwischen den Strömen scheinen wie ein für alle Mal entstanden. (...) Das Leben vollzieht sich in der ewigen Wiederkehr des Gleichen. (...) Den Lebenskreis der ewigen Wiederkehr des Gleichen durchbricht Israel und erschließt so erst die Welt als Geschichte. Die Geschichte wird ihm zur Mitte, um die sich alles bewegt.“ (Taubes 1947: 15f.) Und genausowenig ist Oskar Cullmann zu widersprechen, wenn er das jüdisch-christliche Zeitverständnis gegen das griechische absetzt: „Die Zeit steht einerseits nicht im Gegensatz zu Gottes Ewigkeit, andererseits ist sie als gerade Linie, nicht als Kreis gedacht. Denn es wird von einem ,Anfang‘ und einem ,Ende‘, einer arché und einem telos gesprochen. Sobald ,Anfang‘ und ,Ende‘ unterschieden werden, ist die Gerade die adäquatere Figur.“ (Cullmann 1962: 60; die ersten beiden Hervorh. i. Orig. griechisch)37 In der Tat verweisen sowohl die jüdische Erwartung des Messias als auch die christliche Parusieerwartung auf ein Ende der Zeiten, also auf eine Zukunft, der man sich nur auf einer Linie, nicht aber durch die Wiederkehr des immer Gleichen nähern kann. Ebenso unbestritten ist sicher auch, daß diese Denkfigur als semantische Vorläuferin einer linearen Zeit- und Geschichtsauffassung anzusehen ist, wie sie in späteren Epochen von erheblicher Bedeutung sein wird. Es wäre jedoch verfehlt, schon der eschatologischen Heilserwartung des christlichen Denkens und der christianisierten Welt am Ausgang und nach der Zerschlagung des römischen Reiches in Europa eine solche Zeitperspektive zu unterstellen. Womöglich resultiert das semantische Potential, das in der neutestamentlichen Eschatologie steckt, gerade daher, daß für die Urgemeinden die Parusie tatsächlich erwartbar war, also innerhalb des eigenen Zugriffs auf eine konkrete (sic!) Zukunft, nicht aber auf eine abstrakte Zukunft am Ende der Zeiten. Nachdem die Naherwartung enttäuscht wurde, mußte zum einen die Zeitstruktur der Heilsgeschichte transformiert werden, zum anderen mußte die semantische Tradition erhalten werden, wodurch womöglich zu erklären ist, daß semantisch bereits ein Potential an Zukunftshorizonten zur Verfügung stand, das gesellschaftlich (noch) nicht zu verarbeiten war. Ob diese Deutung theologisch befriedigt, mögen Theologen entscheiden.38 Die Differenz von Gesellschaftsstruktur und Semantik und die 37 38
Analog dazu vgl. die Ausführungen zu den unterschiedlichen klassisch-hellenischen und jüdisch-christlichen Vorstellungen postmortaler Existenzformen in Nassehi/Weber 1989: 108ff. Hinweise dazu finden sich bei Gräßer 1977 und Klein 1982.
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IV. Kapitel
keineswegs immer parallel laufende Ideen- und Strukturevolution scheinen eine solche Deutung jedoch nahezulegen. Es ist also zu prüfen, in welchem Verhältnis die religiös-eschatologische Heilszeit zur gesellschaftlichen Organisation von Zeit steht. Mit der angedeuteten Diagnose folge ich im wesentlichen Dux. Er bringt zur Geltung, daß die jüdisch-christliche Zeit mit ihrem Konzept einer (Heils-)Geschichte der Schöpfung „mit dem realen historischen Geschehen in seiner inneren Organisation, um deren Erfassung es allem historischen Denken zu tun ist, nichts gemein“ (Dux 1989: 329) hat. Das eschatologische Zeitverständnis ist nicht mit einer Erwartung eines historischen Datums zu verwechseln, und wo eine solche Erwartung doch formuliert wird,39 entspringt sie nicht der Historiographie von Ereignissen im Sinne der innerweltlichen historischen Analyse. Sie ist vielmehr etwas von außen, von Gott an die Welt Herantretendes, gemäß der biblischen Verheißung der Erlösung am Ende der Zeiten. Es ist nicht zu leugnen, daß die eschatologische, heilsgeschichtliche Enderwartung sehr wohl eine historische Dimension hat, es handelt sich aber, wie Dux formuliert, um eine „Deutung oberhalb des realen historischen Geschehens“ (ebd.; Hervorh. A.N.). Wenn man unter historischem Bewußtsein das Erlebnis eines intrinsischen Wandels der Welt versteht, in den der historisch Beobachtende durch seine historische Position eingeschlossen ist, so ist die heilsgeschichtliche Erwartung explizit keine historische Kategorie, denn sie rechnet nicht mit dem Neuen bzw. Kontingenten in der Welt. „Solange man sich im letzten Zeitalter glaubte, konnte das wirklich Neue der Zeit nur der Jüngste Tag sein, der aller bisherigen Zeit ein Ende setzte.“ (Koselleck 1989: 315)40 39
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Naherwartungen der Parusie hat es immer wieder gegeben, und das nicht nur im Urchristentum der ersten ca. 15 Dekaden (vgl. Klein 1982: 274ff. und 295ff.). So werden im gesamten Hochmittelalter immer Berechnungen über das Weltende, die Geburt des Antichristen und die Erlösung durch das Jüngste Gericht angestellt (vgl. Lerner 1982: 305f.). Und selbst bei Luther findet man die Erwartung, „daß der Tag nicht weit sei, und wir wollen ihn noch erleben“ (zit. n. Wendorff 1985: 167). Eine im Vergleich zu der hier vertretenen Ansicht völlig konträre Position vertritt Hubert Cancik. Ihm ist es darum zu tun, die Annahme der Erfindung der linearen Geschichtsauffassung durch die jüdisch-christliche Eschatologie nicht dadurch zu widerlegen, daß auch sie letztlich keine Linearität der Geschichte kennt. Vielmehr versucht er den Nachweis zu führen, daß die dem jüdisch-christlichen Denken zugeschriebene Linearität der Geschichte viel älter ist, nämlich bereits hellenischen und römischen Quellen entstammt. Als Gewährsleute führt Cancik Diodor, den Autor einer Weltgeschichte vom Anfang der Welt bis zur Eroberung Galliens, Cicero, den Stoiker, der das wissenschaftliche Streben nach Erkenntnis mit metaphysischer Würde versah, worin Cancik eine Geschichtstheologie angelegt sieht, und schließlich Seneca, dessen Anleitung zur methodischen Nutzung der Lebenszeit auf eine gestaltbare Zukunft verweist (vgl. Cancik 1983: 257ff.), an. Auf den ersten Blick bestechen Canciks Argumente, die man zusätzlich dadurch bestätigt sehen könnte, daß etwa mit Herodot und Thukydides gemeinhin der Beginn der Geschichtsschreibung als Ausdruck eines entstehenden historischen Bewußtseins angesetzt wird (vgl. etwa Whitrow 1991: 76f.). Dem ist zunächst nicht zu widersprechen. Jene Form der Geschichtsschreibung scheint in der Tat schon über die bloße Datierbarkeit von Vergangenem anhand exzeptioneller Ereignisse, wie sie Evans-Pritchard bei den Nuer aufgezeigt hat (vgl. IV.2a), hinauszugehen. Sie bleibt aber, wie Dux’ Analyse von Herodots Historiographie zeigt, immer noch stark an die Handlungslogik konkreter Ereignisse gebunden, ohne eine abstrakte historische Zeit zu kennen. Dux macht dies v.a. daran fest, daß Herodot Datierungen stets anhand von Herrschaftsverläufen oder anhand von damit in Verbindung stehenden Ereignissen vornimmt – sicher auch heute nichts Ungewöhnliches, aber damals die einzige Form der historischen Datierung (vgl. Dux 1989: 279). Gerade die Datierung anhand von Regentschaften aber scheint mir ein weiteres Indiz dafür zu sein, daß es der antiken Geschichtsschreibung viel weniger um historische Chronologie, um Entwicklungslogiken oder gar um Kontingenzbewältigung des Geschichtsverlaufs geht. Im Vordergrund scheint vielmehr der Versuch zu stehen, die Wahrung der Kontinuität angesichts des Wandels einer Welt zu sichern, die wie die vorchristliche griechisch-römische Welt bereits zu einer ungeheuren Organisationsvielfalt, zu einem erheblichen Diffe-
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Geschichtsmächtig im Sinne der Heilsgeschichte sind demnach nur wenige heilsrelevante Ereignisse – die Schöpfung durch Gott als Anfang der Zeit, die Ankunft des Messias als Mitte und das Jüngste Gericht als Ende der Zeit -, nicht aber ein durch historische Beobachtung erzeugtes Kontinuum.41 Insofern ist Dux rechtzugeben, wenn er in der christlichen Heilserwartung gerade dasjenige Prinzip der Zeitkonstitution am Werke sieht, das der abstrakten Zeit im modernen Sinne, die als Möglichkeitsbedingung historischen Denkens angesehen werden muß (vgl. III.2c), diametral entgegensteht. Er formuliert treffend: „Die Linearität der jüdisch-christlichen Zeit beruht darauf, daß das ganze Weltgeschehen auf die Folie einer einzigen Handlung gespannt ist: der, in der Gott mit seinem Volk hernach in seiner Kirche seine Heilsgeschichte zu verwirklichen weiß. Diese Zeit ist und bleibt der naturwüchsigen Handlungslogik verhaftet, nur gleichsam gestreckt über die ganze Geschichte hin.“ (Dux 1989: 328)42 Zusätzlich eignet dieser Handlung sozusagen der zyklische Charakter der Vollendung, also eines Zyklus, der zu seinem Ausgangspunkt, nämlich zu Gott strebt. Es ist ein Perfectum, das durch die Verletzung der Welt durch die Sünde im paradiesischen Anfang vom Menschen zerstört wurde, und das durch das Heilsgeschehen seiner Vollendung zugeführt wird. „Im Vollzug dieser göttlichen Ökonomie ist alles von und zu Gott, durch Jesus Christus. Das theologische Prinzip, das dieses Schema des Geschichtsprozesses als eines Heilsgeschehens bestimmt, ist die Sünde des Menschen gegen Gottes Willen und Gottes Bereitschaft, seine gefallene Schöpfung zu erlösen. In dieser theologischen Sicht ist der Grundzug der Geschichte eine Bewegung, die von der Entfremdung zur Wiederversöhnung fortschreitet, ein einziger großer Umweg, um am Ende durch immer wiederholte Akte der Empörung und der Hingabe den Anfang zu erreichen.“ (Löwith 1983: 197) Diese Deutung Karl Löwiths läßt sehr prägnant hervortreten, daß die heilsgeschichtliche Handlung Gottes, genau besehen, ein ausgebreiteter Zyklus ist, dessen Anfangs- und Endpunkte zwar nicht zusammenfallen, aber gemeinsamen Ursprungs sind: Sie sind arché und telos in Gott. Ich habe mit Dux betont, daß die heilsgeschichtliche Zeitkonzeption oberhalb der realen Geschichte anzusiedeln ist. Es ist nun genauer zu prüfen, was sich denn unterhalb dieses Geschehens abspielt. Das Bild eines oben und eines unten wirkenden Geschehens scheint die mittelalterliche Welt gut zu treffen. Von seiner Gesellschaftsstruktur her ist das europäische Früh- und Hochmittelalter eine stratifikatorisch differenzierte Gesellschaft im klassischen Sinne. Sie ist in ihren Grundstrukturen hierarchisch gegliedert, und diese Hierarchie wird als gleichsam gottgegebene Ordnung stilisiert. Ich zitiere zur Erläuterung aus
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renzierungsgrad und zur Notwendigkeit der Synchronisation von vielfältigen Systemgeschichten über lokale Grenzen hinweg gefunden hat, in der es zwar schon Geschichtsbedarf, Fortschritt der Wissenschaften und methodische Lebensführung gab, was man jedoch nicht mit historischem Bewußtsein i.e.S. verwechseln darf (vgl. auch Koselleck 1989: 135). Ich spreche hier ausdrücklich nicht von Geschichte, sondern von historischer Beobachtung, da es durch die Modalität der Zeit keine Vergangenheit gibt, sondern nur gegenwärtige Vergangenheit. So ist die Orientierung an der Geschichte stets ein bestimmtes Beobachtungsschema, das – in diesem Falle – die Gesamtselektivität der Welt historisch deuten würde: Die Gegenwart ist Resultat historischer Prozesse und nur als solche zu verstehen. Im vorliegenden Falle der Heilsgeschichte scheinen diese Prozesse aber aus nur sehr wenigen Ereignissen zu bestehen, die in dieser Welt nur in religiös codifizierter Form existieren, nicht aber als historisches Kontinuum wirken. Zum gleichen Befund der eher handlungslogischen als abstrakten Zeitform der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte kommt auch Giesen 1991: 67.
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Johan Huizingas „Herbst des Mittelalters“: „Gott hat das gemeine Volk erschaffen, um zu arbeiten, um den Boden zu bestellen, um durch den Handel dauerhaften Lebensunterhalt zu schaffen, die Geistlichkeit für die Werke des Glaubens, den Adel aber, um die Tugend zu erheben und die Gerechtigkeit zu handhaben, um durch die Taten und Sitten eines Daseins in Schönheit den andern ein Vorbild zu sein.“ (Huizinga 1975: 75; vgl. auch etwa Borst 1979: 341ff.) In der Tat sind hier, insbesondere was die Charakterisierung des Adels angeht, Motive aus dem Herbst des Mittelalters, also schon aus dem 15. Jahrhundert, angesprochen. Es kommt allerdings schon zum Ausdruck, daß die gesamtgesellschaftliche Grundsymbolik der Gesellschaft davon gezeichnet ist, daß jeder einem bestimmten Stand angehört, wobei diese Zugehörigkeit nicht Ergebnis rationaler Wahl ist, sondern durch Gott selbst gestiftet wird.43 Daß es sich dabei nicht nur um eine abstrakte Rangordnung handelt, sondern auch um handfeste Abhängigkeits- und Herrschaftsbeziehungen, kommt etwa im Lehnswesen zum Ausdruck, das sowohl Loyalitäts- und Schutzpflichten innerhalb der Stände als auch eine rigide Abgabenordnung zwischen den Ständen regelt (vgl. LeGoff 1970: 156ff.). So kommt Ende des 11. Jahrhunderts eine Vorstellung auf, die die irdische Hierarchie in den Himmel verlängert, so etwa in Anselms Schrift Cur Deus Homo. Dazu Jacques LeGoff: „Gott tritt als Lehensherr auf, der drei Gruppen von Vasallen gebietet: den Engeln, die als Entgelt für feste und ständige Dienste Lehen innehaben; den Mönchen, die in der Hoffnung dienen, das von ihren treuebrüchigen Voreltern verwirkte Erbteil wiederzuerlangen; und den Laien, die in einer hoffnungslosen Knechtschaft leben. Alle schulden Gott das servitium debitum, den Vasallendienst. Gott seinerseits verhält sich seinen Untertanen gegenüber so, wie es seiner Herrenehre ansteht. Christus opfert sein Leben ad honorem Dei, zur Ehre Gottes; Gott will die Bestrafung des Sünders ad honorem suum, zu seiner eigenen Ehre.“ (LeGoff 1970: 271f.) Eine solche unhintergehbare Ordnung kommt einer Gesellschaftsstruktur entgegen, die noch nicht auf raschen Wandel und auf die Koordination von Systemgeschichten angewiesen ist. Wenn ich oben behauptet habe, daß die Stabilität und Monumentalität der bestehenden Ordnung historisch länger andauert, als man gemeinhin annimmt, so wird dies angesichts des Entwicklungsstandes des mittelalterlichen Europas deutlich. Es gibt durch die lokal begrenzten Wirtschaftsräume, durch das zunächst fast völlige Fehlen des Austausches von Gütern über lokale Grenzen hinweg und durch die agrarische Produktionsweise keinen Bedarf für „Organisationsleistungen größeren Umfangs“ (Dux 1989: 315) und somit auch keinen Bedarf für die Organisation von unterschiedlichen Zeitperspektiven. Die alltäglichen Handlungsabläufe sind schon dadurch routinisiert, daß Personen durch ihr alternativloses Eingebundensein in soziale Zusammenhänge, etwa Familien oder Hauswirtschaften, sich immer schon in einem konkreten Tätigkeitsfeld befinden. Diese soziale Zuweisung von Positionen organisiert einen bestimmten Grad an Arbeitstei43
Paradigmatisch kommt dies bei Thomas von Aquin zum Ausdruck, der den – sowohl klerikalen als auch weltlichen – Stand eines Menschen als Ausdruck von Gottes Willen ansieht, dem man sich zu beugen hat (vgl. summ. theol., Bd. 24: 3f.). Durch seinen Stand steht der Mensch auf seinem Platz innerhalb der Ordnung, deren hierarchische Grundform Thomas darin zum Ausdruck kommen läßt, daß er den Menschen anhält, „daß er sein Haupt nach oben richtet“ (ebd.: 5), d.h. sich gehorsam gegenüber dem Stande über ihm zu verhalten hat. Um die Stabilität der hierarchischen Ordnung zu betonen, begründet Thomas die unhintergehbare Unterschiedlichkeit der Stände mit der unterschiedlichen qualitativen Ausstattung der Menschen, die sie zwar selbsttätig entfalten müssen, deren Substanz aber auf ihre Geschöpflichkeit zurückgeht (vgl. ebd.: 243f.).
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lung, der durch die Parallelisierung sachlicher Differenzen mit sozialen Systemgrenzen keinerlei Temporalisierung von Komplexität erfordert. Diese wird spätestens dann nötig, wenn Unterschiedliches nicht gleichzeitig erfolgen kann. In einer sozialen Situation aber, in der die Gleichzeitigkeit sachlich unterschiedlicher Tätigkeitsfelder durch die soziale Differenz der aufgabenbezogenen Lebensform der Stände ermöglicht wird, ist eine über die Alltagsroutine der konkreten Handlungslogik hinausgehende Zeitorganisation nicht vonnöten. „Zeit- und Sachdimensionen sind nicht ,entzerrt‘ und besitzen keine selbständige Geltung gegenüber der Sozialdimension, es existiert daher keine inhaltsneutrale ,Eindimensionalität‘ der Zeit, die Zukunft und Vergangenheit unumkehrbar differenziert und eine eindeutige Zuordnung von Handlungen auf einem Punkt der Zeitachse zuläßt.“ (Hohn 1988: 130) Dies hat zur Folge, daß die konkrete Handlungszeit der immer wiederkehrenden Handlungsanforderungen bestimmend ist für die alltägliche Struktur der Zeit. Wie LeGoff eindrucksvoll zeigt, geht schon die Möglichkeit einer über die konkrete Handlungsebene hinausgehenden Zeitperspektive in der immerwährenden, langsamen Wiederholung der konkreten Handlungsgegenwarten unter. „Es ist eine schleppende Zeit, die manchmal stillzustehen oder doch jedenfalls allem Wechsel abhold scheint. Da sich kaum etwas ereignet, bedarf es keiner Daten, oder richtiger, die Daten gleichen sich ganz von selber dem Rhythmus der Natur an.“ (LeGoff 1970: 297) Daß sich aus dem Dargestellten ein vorwiegend zyklisches Zeitverständnis ergibt und daß die verschiedenen Ereignistemporalitäten letztlich auch bei aller Verschiedenheit keine filigranen Abstimmungsergebnisse hervorrufen, scheint mir ausreichend erläutert zu sein. Gleichwohl steht noch die Beantwortung der Frage aus, in welcher Weise die – wenn ich so sagen darf – zyklische Linearität der eschatologischen Heilsgeschichte mit der alltäglichen linearen Zyklizität der ewig wiederkehrenden Verrichtungen, die letztlich einer linearen Handlungslogik folgen (vgl. IV.2a), in einer Gesellschaft mit relativ kurzen Handlungsketten miteinander verbunden werden. Es sollte deutlich geworden sein, daß man offenbar die semantische Potenz, die in der jüdisch-christlichen Eschatologie liegt und wie sie im Mittelalter noch gar nicht entfaltet war, nicht mit der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit solcher Ideen verwechseln darf. Zugleich ist es aber undenkbar, daß sich die Idee der Heilsgeschichte Gottes über Jahrhunderte erhält, aber – wie man angesichts der zyklischen Zeitauffassung des Alltags annehmen kann – gesellschaftlich kaum Strukturwert bekommt. Eingedenk der angedeuteten Zweifel scheint mir das Verhältnis von Heilsgeschichte und alltäglicher Zeitorganisation neu bestimmt werden zu müssen. Als Ergebnis kann schon vorweggenommen werden, daß hier ein strukturgleiches Bild der Zeitsemantik vorliegt wie etwa in der mythischen Zeitauffassung: Dem Gegenwartsbezug allen innerweltlichen Geschehens und der relativ begrenzten Lokalität der erwarteten Wirkung von Handlungen korrespondiert eine Transformation der Heilsgeschichte in Heilspräsenz. Das gegenwärtige Geschehen ist weniger ein Jetztpunkt auf dem Weg zum Heil, das in einer Zukunft angesiedelt ist. Vielmehr partizipiert es bereits dadurch am Heilsgeschehen, daß in Gottes Präsenz die Diabolik von Synchronie und Diachronie symbolisch eingeholt wird, d.h. daß die Einheit der Differenz der Synchronie Gottes und der Diachronie der Erlösung ausgedrückt werden kann. Anders gewendet: In der Omnipotenz Gottes, und zwar in zeitlicher (Allgegenwart), sachlicher (er hat alles erschaffen) und sozialer (jeder ist an seinen Platz gesetzt) Hinsicht, wird die Paradoxie der Ungleichzeitigkeit von erlöster Welt und
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Gegenwart aufgehoben: Einerseits ist die Welt durch den Sündenfall unheil und die Erlösung durch Christus zunächst nur versprochen, andererseits bedarf schon die unheile Gegenwart einer symbolischen Stabilisierung, um dem Ganzen eine Ordnung zu geben. In der ewigen Präsenz Gottes wird der Kreis zwischen dem Fatum der Diachronie und dem Bedürfnis nach Synchronie geschlossen. Dies ermöglicht „die Vorstellung einer jeweils gegenwärtig möglichen faktischen (!) Teilnahme an dem vergangenen Heilsereignis“ (Luhmann 1977b: 165) – und, wie man hinzufügen muß, an der zukünftigen Erlösung. Funktional betrachtet, dient das Zusammenziehen von arché und telos in einer sowohl konkreten Handlungsgegenwart als auch einer symbolischen Gegenwärtigkeit des Heils dazu, die Welt in ihrem gegenwärtigen Bestehen zu stabilisieren und damit der Zentralsemantik in christlich-religiöser Form zu einem Strukturwert zu verhelfen, der nötig ist, um das Gefüge der Welt nicht zu stören.44 Um diese Präsenz auch tatsächlich zu präsentieren, müssen Handlungsabläufe in ihrer zyklischen Gestalt sozusagen vergegenwärtigend begleitet werden. Diese Funktion übt im wesentlichen das Kirchenjahr aus. In ihm wird zum einen die heilsgeschichtliche Handlung wiederholt – siehe etwa die Erinnerung an die Schöpfungsgeschichte im Sieben-Tage-Rhythmus oder das Gedenken an die wichtigsten Elemente des Erlösungsgeschehens, z.B. Ostern. Zum anderen trägt dieser starre, immer wiederkehrende Eintritt der Heilszeit in die Handlungszeit der Gegenwart dazu bei, den sinnhaften Grund der Stabilität nicht aus dem Auge zu verlieren (vgl. dazu Hohn 1984: 43; Jörns/Bieritz 1989: 575ff.). Mit dem Gesagten dürfte die Grundstruktur des mittelalterlichen Modells der Zeitorganisation in einer strikt stratifizierten Gesellschaft ausreichend erläutert sein. Bevor ich auf den sicher wichtigsten Motor der Entwicklung des neuen Zeitverständnisses, nämlich die Entwicklung der Städte und die Entstehung weiträumiger Handelsbeziehungen, zu sprechen komme, sei noch auf einen wichtigen Aspekt hingewiesen, der stets im Zusammenhang mit dem Hervortreten moderner Zeitmuster genannt wird: das Kloster. Ohne Zweifel spielten sich innerhalb der Klöster die weitreichendsten Entwicklungen theologisch-philosophischer, wissenschaftlicher und künstlerisch-kultureller Art ab. Als Enklaven der christlichen Kultur innerhalb weiter, noch kaum christianisierter Landstriche Europas waren sie sowohl die wichtigsten Kulturträger als auch Missionszentren, denen die Christianisierung des Landes oblag (LeGoff 1970: 201). Im Unterschied zur Außenwelt sind Klöster bereits im frühen Mittelalter Stätten sowohl methodischer Lebensführung als auch der Organisation und Koordination verschiedener Handlungsketten und -muster. Klöster können also als Zentren gelten, in denen eine Organisationskompetenz gepflegt werden muß, die dem weltlichen Leben noch völlig fremd ist. Nicht zu unterschätzen ist dabei, wie Hohn betont, die technologische Entwicklung – Einsatz von Wasser- und Windkraft, beginnender Überlandtransport -, die für eine erhebliche Produktivität sorgt und die geradezu zu einem Planungs44
Vor diesem Hintergrund ist etwa die Ablehnung chiliastischer Ideen, wie sie am prominentesten von Joachim von Fiore entwickelt wurden (vgl. Taubes 1947: 81f. und 90ff.), durch die Scholastik zu bewerten. Die chiliastische Prophezeiung einer innerweltlichen, also historischen Ankunft eines Friedensreiches auf Erden, das eine radikale Strukturänderung der Welt und damit ein dem mittelalterlichen Kosmos diametral entgegengesetztes Zeitbewußtsein impliziert, verwirft etwa Thomas von Aquin als Häresie. Mit diesem innerweltlichen Entwicklungsgedanken würde die Konstanz und Unwandelbarkeit der Wahrheit und – damit einhergehend – die Stabilität der sozialen Positionierung ins Wanken geraten (vgl. dazu Konrad 1981: 735).
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verhalten zwingt, das die Selbstgenügsamkeit der Gegenwart relativiert (vgl. Hohn 1984: 66f.). Auch die Erfindung von mechanischen Räderuhren mit Gewicht und Hemmung, datierbar auf das Ende des 13. Jahrhunderts (vgl. Wendorff 1985: 135; Schmied 1985: 67; Gimpel 1980: 151), scheint sich nahtlos in das Bild eines von den Klöstern ausgehenden Wandels des Zeitbewußtseins einzufügen. Dagegen gibt Dux jedoch, wie ich meine mit Recht, zu bedenken, daß man die bloße Erfindung eines Instruments der Zeitmessung noch keineswegs als Indiz für das Bestehen solcher Strukturen werten darf, die sich später in der Tat der Uhr als abstraktem Zeitmeßgerät bedienen. Zugleich sieht Dux auch angesichts der komplexer gewordenen Produktionsweise und der arbeitsteiligen Organisation des Klosters – übrigens wie die gesamte Gesellschaft mit stark hierarchisiertem Ordnungsaufbau (vgl. LeGoff 1970: 203f.) – noch keinen strukturellen Grund, das herrschende, zyklische Zeitbewußtsein zu ändern. „Die Reihe der Teilgeschehnisse wird nur dichter, das ist alles. Strukturlogische Änderungen treten erst ein, wenn über die Gleichzeitigkeit der Zeitreihe Zeit-Räume gebildet werden und mit den Zeitintervallen gerechnet wird. Dazu aber bestand im Kloster nicht nur kein Anlaß; der Sinn der mit Hilfe der Tageseinteilung und später auch der Uhren geschaffenen Ordnung war ein ganz anderer: Mit ihr sollte im täglichen Dasein den Bedeutsamkeiten der himmlischen Ordnung Rechnung getragen werden, ebenso wie auch die Feste die Bedeutsamkeiten der Ereignisse der Heilsgeschichte in das irdische Dasein einzubetten suchten.“ (Dux 1989: 321) Die klösterliche Zeitmessung hat in erster Linie weniger die Aufgabe, praktische Handlungen der Produktion, Verwaltung und Verteilung zu koordinieren. Sie hat vielmehr eine liturgische Funktion: das Anzeigen der täglich sieben Gebetszeiten (vgl. Schmied 1985: 68), deren pünktliches Einhalten vom Einklang des klösterlichen Lebens – seiner Handlungslogik – mit der göttlichen Ordnung zeugt.45 Die Uhr – das Gleiche gilt übrigens auch für den Kalender – dient demnach, wie Luhmann und Fuchs betonen, dazu, „in der Zeit die Ewigkeit, im Vergänglichen die Dauer, im Vergehen die Wiederholung, im Bewegten das Unbewegte zu repräsentieren. Der Kalender (und die Uhr; A.N.) leistet einen Wiedereintritt der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene. Er ist also, genau betrachtet, eine paradoxe Erfindung und deshalb ,heilig‘.“ (Luhmann/Fuchs 1989a: 109) Wie die Ägypter dies durch die Doppelstruktur der Zeit als neheh und djet leisteten, stellt das christliche Mittelalter die alltägliche Routine und die gesellschaftliche Ordnung auf den stabilen Boden einer geschaffenen Zeit, die die konkrete Zeit heiligt.46 Weil es sich bei der konkreten Zeit aber stets um die Zeit konkreter Verrichtungen handelt, heiligt die Heilsgeschichte weniger die Zeit selbst als das, was in der richtigen Zeit zu tun ist. Folgerichtig fahren Luhmann und Fuchs fort: Man braucht Zeitbestimmungen, „um zu wissen, was zu bestimmten Zeiten zu tun ist; und nicht nur: um verabreden zu können, was zu bestimmten Zeiten zu tun ist“ (ebd.). Wissen bedeutet hier: den Ort eines jeden Elements der Welt innerhalb ihrer Ordnung wiedererkennen und bestimmen zu können. So kann auch hier die Stabilität des Seins in der zeitlosen Zeit der Heilsgeschichte aufgehoben werden. Gesellschaftsstrukturell gesehen, liegt hier eine vorgängig erschlossene Parallelisierung von Ereignistemporalitäten durch die Selbstgenügsamkeit der Gegenwart vor. M.a.W.: 45 46
Diese handlungslogische, vielleicht sollte man sagen sakralhandlungslogische Zeiteinteilung ist in den katholischen Stundenbüchern für den Jahreskreis noch heute bekannt. Zum Motiv der geschaffenen Zeit vgl. meine Ausführungen zu Augustinus, I.2b.
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Auf der Ebene der Zeit der Autopoiesis sind zwar verschiedene Ereignistemporalitäten – gleichsam die verschiedenen Lebensformen der stratifikatorisch voneinander differenzierten Stände mit ihrer segmentär differenzierten Gliederung in lokale Zusammenhänge – zu beobachten. Durch die Zentralsemantik der religiösen Gesamtdeutung der Welt kann es aber gelingen, diese Systemgeschichten durch die zyklische Routinisierung der Handlungsgegenwarten ohne abstrakten temporalen Abstimmungsbedarf, also ohne filigrane Techniken der Synchronisation von Systemgeschichten, zu bewältigen. Trotz der Ausdifferenzierung verschiedener Ereignistemporalitäten parallel zu innergesellschaftlichen Grenzen in der Sozialdimension wirkt sich dies kaum auf die Zeitdimension aus. Spezielle Synchronisationstechniken sind deshalb funktional noch nicht erforderlich.47 Solche Synchronisation ist, wie ich oben betont habe, erst dann nötig, wenn man erwarten kann, daß Erwartungen enttäuscht werden. Wo sich aber die Welt in einer ausgedehnten Gegenwart des Immergleichen vorfindet, ist diese Erwartung unmöglich und unnötig. Alle über die konkrete Handlungslogik hinausgehende Erwartung kann dann in der Allgegenwart des Heilsgeschehens, das, streng genommen, gar keine Heilsgeschichte ist, entschärft werden. Unerwartetes muß entweder verhindert werden, oder muß seinerseits wieder entzeitlicht werden, etwa durch Chiffrierungen wie „Wunder, Überraschungen, Abenteuer und Geheimnisse“ (Wendorff 1985: 131), über die man nicht reden kann. „Geheimnis“, so Luhmann und Fuchs, „ist (...) eine kommunikationstechnische Entparadoxierung der Zeit. Man optiert für Schweigen, um andere Zeiten nicht zu präjudizieren. Man kann über Zeit verfügen, wenn und so weit man schweigen kann“ (Luhmann/Fuchs 1989a: 106). Selbstverständlich kann man über Geheimnisse, Wunder etc. reden, aber man kann eben nur darüber reden, indem man sie nicht verrät. Sie dürfen nicht entschlüsselt werden, weil sie sonst die Zeitlosigkeit der Zeit, die Stabilität der Ordnung und die Universalität der Wahrheit gefährden. Die gesamte Geschichte der Verfolgung von Häretikern, Hexen und Abweichlern etwa ist als Strategie zu deuten, die Zeitlosigkeit des Bestehenden zu sichern – indem man Alternativen zum Schweigen bringt und so im Besitz des Geheimnisses bleibt, d.h. über Zeit, Handlungszeit und Handlungslogik verfügen kann. Nachdem der Nachweis erbracht worden ist, daß das semantische Potential der christlichen Eschatologie und Heilsgeschichte sich im europäischen Mittelalter keineswegs als prominente Zeitstruktur der Gesellschaft ausgebreitet hat, erstaunt es um so mehr, daß sich die Entwicklung des Zeitbegriffs hin zu einer höheren Aggregationsebene in explizit außerreligiösen Zusammenhängen vollzogen hat. Gemeint ist die Entwicklung der Zeit des Handels und der Städte. Nachdem die Bevölkerung seit ca. dem 7. Jahrhundert wächst und im 9. und 10. Jahrhundert dichter besiedelte Räume entstehen, kommt es zu einem regen Austausch von Gütern und damit zu Handelsbeziehungen und zur Entstehung von Marktsiedlungen sowie dort zur Entstehung von Handelswesen und Handwerk (vgl. Ennen 1987: 78ff.). Zwar hat es stets Austauschbeziehungen gegeben, die ein gewisses Maß an Koordination erfordern – etwa die lehensrechtliche Abgabenordnung, die für bestimmte Jahreszeiten – etwa am Michaelistag – bestimmte naturalwirtschaftliche Zahlungen regelt. Hier wird 47
Das bedeutet nicht, daß es nicht womöglich unterschiedliche standesinterne Zeithandhabungen gegeben habe. Wie etwa Elias zeigt, hat sich in den Oberschichten bereits relativ früh ein „Zwang zur Langsicht“ und damit eine gewisse Handlungskompetenz entwickelt, die ein ganz anderes Zeitverständnis als in den unteren Schichten erforderte (vgl. Elias 1980b: 336ff.). Ähnliches gilt, wie dargestellt, für Kleriker. Aus diesen Differenzen ergibt sich allerdings explizit noch kein abstrakter temporaler Abstimmungsbedarf.
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Gleichzeitigkeit durch den natürlichen Jahreszyklus und das Kirchenjahr hergestellt, was ein abstrakteres Rechnen mit „Zeit“ kaum erfordert. Dies ändert sich aber spätestens dann, wenn neben die rein agrarwirtschaftliche Austauschbeziehung von Überschüssen – Überschuß an Gütern gegen Überschuß an Güte – die Produktion von Gütern speziell für marktförmige Austauschbeziehungen tritt. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Zeitperspektive sowohl der Güterproduktion als auch des Handels: „Der Handwerker, der für den Markt produziert, muß mit der in das Produkt investierten Zeit zu rechnen beginnen, weil er anders nicht überleben kann. Und der Händler muß damit zu rechnen beginnen, weil er anders keine Produzenten, aber, soweit es sich nicht weiter um Luxusgüter handelt, auch keine Käufer findet.“ (Dux 1989: 333) Dieses Rechnen mit der Zeit macht die Zeit nun selbst zu einem Faktor, der sich von den in ihr sich vollziehenden Tätigkeiten wegzudifferenzieren beginnt. Man greift dabei auf ein semantisches Potential zurück, das in den Klöstern entwickelt wurde: die stundenförmig geteilte Tageszeit und die Bereitstellung der Zeit für Kommunikation durch die Uhr. Das mit der Handelsstadt entstehende „städtische Bedürfnis nach Zeitzeichen“ (Wendorff 1985: 145) kommt am sinnfälligsten durch das Aufkommen der Turmuhren seit dem 14. Jahrhundert zum Ausdruck (vgl. Dux 1989: 334).48 Es wäre jedoch verfehlt, in dieser Entwicklung bereits eine vollständige Abkehr von der handlungslogisch aufgebauten, tätigkeitsbezogenen Zeit zu sehen. Abgesehen davon, daß die agrarische Lebensweise nach wie vor und für lange Zeit dem Zyklus der Gleichzeitigkeit von Arbeits- und Heilszeit unterworfen bleibt, benutzt die städtische Lebensform die Zeit der Uhr zunächst nur als Handlungskoordinator, jedoch noch lange nicht als abstrakte Weltdimension. Belegt wird diese Vermutung dadurch, daß in der Frühzeit der Handelsstätten noch keine gesonderte Zeitsemantik entsteht. Dies sollte erst einer Entwicklungsstufe vorbehalten bleiben, in der es nicht nur darauf ankommt, verschiedene Tätigkeiten auf einen Zeitpunkt zu synchronisieren, sondern in der es nötig wird, Gleichzeitigkeit unabhängig von kopräsenten oder zumindest potentiell kopräsenten Adressaten herzustellen. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob man per Zeit, besser: per Koordination von Anfangs- und Endzeiten organisierter Arbeit die Gleichzeitigkeit von Arbeitsbeginn und -ende herstellt49 und dabei noch der Handlungslogik des in der Zeit Geschehenden verhaftet bleibt, oder ob man bereits in Zeiträumen denkt, „in der alle Ereignisse in der Gleichzeitigkeit des ,Jetzt‘ verbunden sind und sich so auch fortbewegen“ (Dux 1989: 336). Solche Zeit-Räume als Gegenbegriffe zur konkreten Handlungszeit entstehen dann, wenn Zeit und Geschehen nicht mehr miteinander identisch sind, wenn man also Zeit-Räume mit unterschiedlichen Handlungen belegen kann. Daraus entsteht zum einen ein neues Raumgefühl, das die Gleichzeitigkeit von sachlich Unterschiedlichem 48
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LeGoff betont, daß die Übernahme der technischen Möglichkeiten der Zeitmessung und -handhabung durch außerreligiöse Kommunikation keineswegs ohne Widerspruch blieb: „Der Hauptvorwurf gegen die Händler war, daß ihr Gewinn eine Hypothek auf die Zeit voraussetzt, die allein Gott gehört.“ (LeGoff 1977: 393) Mit diesem Streit jedoch, der die Differenz zwischen tempus und aeternitas als Streit zwischen Religion und Welt stilisierte, konnte Zeit – zwar noch in sehr begrenztem Maße – als Dimension der Welt erlebt werden, die dem handelnden Zugriff des Menschen und nicht der ewigkeitsspendenden Schöpfung Gottes zugerechnet werden konnte. So berichtet etwa Sylvia L. Thrupp von solchen Anstrengungen aus dem 12. und 13. Jahrhundert, in dem etwa im Städte- und Kirchenbau die Koordination einer großen Zahl von Arbeitskräften mit einer gewissen Formalisierung der Arbeitsbeziehungen einhergeht (vgl. Thrupp 1978: 155f.; vgl. auch Hohn 1984: 105ff.).
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zu verschiedenen Orten annimmt – ein Bewußtsein, das einer auf die Handlungsgegenwart zentrierten Logik der Zeit undenkbar erscheinen muß. Das Motiv dieser Entwicklung ist ohne Zweifel die Verräumlichung des sozialen Geschehens: Ausweitung von Handelswegen und Herrschaftsgebieten und – nicht zuletzt – die Entdeckung der „Neuen Welt“ am Ende des 15. und die Erschließung Ostasiens (China und Indien) ab dem 16. Jahrhundert (vgl. Klempt 1960: 106ff.). Zum anderen erwächst aus der Gestaltbarkeit der Welt neben der universalhistorischen Präsenz der Heilsgeschichte als quasi zeitloser Geschichte ein neues Zeitgefühl, das den Augenblick nicht mehr als ausgedehnte Gegenwart einer universalen, ewigen Wahrheit kennt, in der sich alles einer, besser: ihrer Ordnung fügt. Der Augenblick wird vielmehr derjenige Horizont, der sich sowohl von der Vergangenheit als auch von der Zukunft zu unterscheiden beginnt. Erst hier entsteht eine neue Zeitsemantik, die zwar noch immer auf dem Boden einer strikt stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft erfolgt, mit der sich aber erhebliche Änderungen der Gesellschaftsstruktur ankündigen. Als Vorläufer dieser Veränderung kann ohne Zweifel die seit dem Ende des 14. Jahrhunderts von Italien ausgehende Renaissance angesehen werden, nämlich die – wenn ich so sagen darf – Emanzipation der Gegenwart des Augenblicks von der ausgedehnten Gegenwart der Unveränderlichkeit der Welt in der Heilsgeschichte Gottes. „Man entdeckt das Recht auf die eigene Gegenwart in einem umfassenden Sinne gegenüber Traditionen, die aus Ehrfurcht vor der magischen Größe Vergangenheit oder vor zeitlosen Wahrheiten und Dogmen respektiert und als notwendige Eingrenzung empfunden worden waren.“ (Wendorff 1985: 153) Die eigene Gegenwart wird nun als besonders, als einmalig erlebt, ohne aber letztlich aus dem Kosmos der Ewigkeit des Seins auszubrechen. Die Restituierung des Hellenismus schlägt sich offenbar nicht nur in der Kunst, in der Dichtung und Lebensführung nieder, sondern auch in der gleichen Entparadoxierung der Zeit, wie sie die Griechen anstellten: Einbettung des weltlichen Wandels in eine zeitlose Struktur. Dafür spricht etwa Wendorffs Diagnose, der Renaissance gehe es gerade nicht um eine geschichtsteleologische Deutung ihrer Gegenwart (vgl. ebd.: 155). Vielmehr geht es um die Restituierung einer zeitlosen Form, die in der Antike bereits herrschte (vgl. Gumbrecht 1978: 98f.) und die es wieder herzustellen gilt. Auf das gesellschaftliche Zeitbewußtsein im Ganzen hat diese Entwicklung jedoch noch wenig Auswirkungen. Mit dem Zusammenziehen der Gegenwart in eine gestaltbare Sphäre, die nicht notwendigerweise so bleiben muß, wie sie immer schon einer ewigen Ordnung gemäß war, bereitet sich eine semantische Bedingung für die Umstellung der Zeitvorstellung vor, die die Epochenschwelle zur Moderne einleitet. 4.
Gleichzeitigkeit und Fortschritt an der Epochenschwelle zur Moderne
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Ausdifferenzierung von Religion und Politik
„Es genügt für einen Christen, wenn er glaubt, daß alles von Gott kommt, und wenn er in alledem einen Ausfluß seiner göttlichen, unerforschlichen Weisheit erblickt. Dann wird er alles als ein Geschenk aufnehmen, welche Gestalt auch das Schicksal annimmt, das ihn trifft. Aber nicht richtig finde ich – und muß doch oft beobachten, daß es geschieht –, wenn man versucht unseren Glauben zu stärken und zu stützen durch die Behauptung, er habe unsere irdischen Unternehmungen gedeihen lassen. Unser Glaube ruht auf einem anderen
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Fundament, er bedarf nicht der Rechtfertigung durch äußere Erfolge. Denn wenn sich das Volk an solch billige Argumente, die ihm leicht eingehen, gewöhnt hat, besteht die Gefahr, daß sein Glaube erschüttert wird, sobald sich das Schicksal wendet und Mißerfolge eintreten.“ In diesem Text vom Ende des 16. Jahrhunderts kommen Umstellungen in der Gesellschaftsstruktur zum Ausdruck, die zu einem im Vergleich zum Mittelalter neuen Verhältnis zum innerweltlichen Geschehen und zur temporalen Selbstidentifikation der Gegenwart führen. Der Text stammt aus den Essais von Michel de Montaigne, ist überschrieben „Gottes Eingreifen sollte man vorsichtig beurteilen“ (Montaigne 1969: 114f.) und thematisiert die Verkündigungspraxis seiner Zeit. Montaigne scheint durchaus gutzuheißen, daß ein Christ „alles als ein Geschenk“ auffaßt, paradoxerweise soll er aber nicht davon ausgehen, daß das, was ihm durch seine innerweltlichen Handlungen geschieht, auch Gottes Wille sei. Wie kommt es zu einer Semantik, die dem mittelalterlichen Kosmos so radikal entgegensteht? Für das Mittelalter gilt exakt das Gegenteil: Die Ordnung der Welt, ihre stratifizierte Gliederung, ihre ewige Wahrheit, der Kampf gegen drohende Kontingenz und die Regelmäßigkeit der profanen und sakralen Verrichtungen sind geradezu der Ausdruck dafür, daß „Gott unsere irdischen Unternehmungen gedeihen läßt“. Montaigne dagegen will an solche Zeichen, an die Vollkommenheit der irdischen Ordnung und an Gottes Allgegenwart und Omnipotenz nicht recht glauben. Er meint gar, der Glaube ruhe „auf einem anderen Fundament“, jedenfalls nicht auf „äußerem Erfolg“. Was sich hier semantisch abspielt, ist sozusagen die funktionale Umkehrung der Funktion der Religion: Ist diese in den Hochkulturen darin zu sehen, daß sie die Welt mit ihren drohenden Kontingenzen vertraut macht, indem sie das Unvertraute einholt und somit das Kontingenzerlebnis durch flächendeckende Konditionierung gesellschaftlicher Kommunikation einholt, muß die Religion jetzt offenbar von der Kontingenz der Welt geschützt werden, um ihren Bedeutungs-, besser: Funktionsverlust zu kompensieren. Was hier angesprochen ist, ist nicht nur das als Differenz erlebte Verhältnis von religiösem Postulat und der Unvollkommenheit der Welt, wie es seit dem 17. Jahrhundert unter dem Begriff Theodizee – Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels der Welt (vgl. Trillhaus 1962: 743; Sparn 1980: 17; Janßen 1989: 1ff.) – verhandelt wird. Diese Differenz hat, wie man spätestens seit Max Webers Studien zum Protestantismus weiß, zu einer Restituierung des alttestamentlichen „deus absconditus“ geführt: zur Entfernung Gottes von der Welt (vgl. Weber 1972: 9, Anm 1). Es ist neben dieser gewissermaßen religionsinternen Perspektive von Montaigne auch eine externe, säkulare Perspektive angesprochen, die weniger die religiöse Selbstrechtfertigung des Glaubens als die nichtreligiöse Selbstrechtfertigung der Welt meint. Gegen das Predigen der Gottgewolltheit innerweltlichen Geschehens und gegen die Entmündigung der Christen durch die Kirche setzt Montaigne: Man solle „das Volk darüber aufklären (...), wo die Wahrheit wirklich zu finden ist“ (Montaigne 1969: 115). Allein die Frage! Sie verwirft die stabile Odnung des Mittelalters, indem sie an dem Grundgesetz der sozialen Ordnung rührt und damit eine schon früh begonnene Ausdifferenzierung von Religion und Welt einleitet. Indem man die Religion nicht mehr für allzuständig erklärt, tritt ein zweifacher Effekt ein: Die Differenz vertraut/unvertraut und die religiöse Deutung der Welt werden privatisiert (vgl. Luhmann 1989a: 272), und die Welt wird zur Gestaltung nach eigenen Gesetzen, Regeln und Bedürfnissen freigegeben. Die „anderen Fundamente“ der Religion bzw. des
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Glaubens, von denen Montaigne spricht, sind also diejenigen der Innerlichkeit und des persönlichen Verhältnisses zu Gott und nicht die gottgewollte Ordnung der Welt in ihrem unwandelbaren So-Sein. Sobald die Religion die Zeitlosigkeit der Welt bzw. die Entparadoxierung der Zeit durch die Präsenz der Ewigkeit nicht mehr sichern kann, man könnte auch sagen: sobald die jeweilige Handlungsgegenwart sich nicht mehr selbst genügt, muß die Zukunft zugleich gestaltbar und geheim gehalten werden: Es geht nun um Politik. Das mittelalterliche, religiöse Geheimnis diente dazu, die Zukunft nicht zu präjudizieren, um sich somit wenigstens einen gewissen Kontingenz- und Selektionsspielraum offenhalten zu können. Jetzt geht es umgekehrt darum, die politische Gestaltung der Zukunft nicht dadurch zu gefährden, daß andere, Gegner, Neider, Abhängige etc. wissen, was an politischen Entscheidungen zu erwarten ist. Nicht Kontingenzvorsorge, sondern Kontingenzaufbau ist nun gefragt. Nur wer sich nicht zu früh festlegt, kann flexibel reagieren und damit Zeit nutzen und nach irreversiblen Prozessen Strukturen reversibel halten. Die politische Spitze – König, Fürst, Herrscher – muß ihren Gestaltungsspielraum wahren, indem sie Zeit als Ressource nutzt. Dies bringen Luhmann und Fuchs sehr prägnant folgendermaßen auf den Begriff: „Der Fürst ist die Spitze der Gesellschaft, das Zentrum aller Aufmerksamkeit. Kein Moment seines Lebens bleibt unbeobachtet. Er steht also immer in Kommunikation, selbst, wie man weiß, im Schlafzimmer. Und diese Kommunikation ist immer öffentlich. Will er unter diesen Bedingungen etwas geheimhalten, muß er also simulieren und dissimulieren können. (...) Der Fürst muß Meinungen und Ansichten vortäuschen können, die er nicht wirklich im Sinn hat, und das verbergen und verleugnen, was er wirklich meint. Er muß Kommunikation anstelle von Kommunikation praktizieren können. Und er braucht dazu ein besonders präpariertes, besonders geschultes Bewußtsein, das gleichsam über Überschußkapazitäten verfügt und stets mitdenkt, ob es meint oder nicht meint, was es sagt. (...) Man darf (und muß) dissimulieren, um die Kontrolle über den Zeitpunkt seines Handelns in der Hand zu behalten und dabei konstant bleibende Absichten zu verfolgen. Man darf nicht täuschen, um daraus einen Nutzen zu ziehen, denn das wäre Betrug.“ (Luhmann/Fuchs 1989a: 119f.)50 Durch die Differenzierung von Meinen und Sagen, von Zurückhaltung und Preisgabe und von Ausschluß und Einweihung von Vertrauten und weniger Vertrauten entsteht ein Handlungsfeld, in dem die Zukunft kontingent ist: Es kann so oder anders entschieden werden, aber sowohl so als auch anders sind Zukunftsmodalitäten einer Gegenwart, deren zukünftige Gegenwart niemand kennt – nicht einmal der, der im Horizont seiner gegenwärtigen Zukunft entscheidet. Um Zeit als Ressource nutzen zu können, müssen Gegenwarten gestaltbar gehalten werden. Insofern ist Gegenwart nicht nur als punktuelle Gegenwart zu verstehen, in der ein Ereignis irreversibel geschieht, sondern auch als Handlungsfeld, in dem Entscheidungen, besser: Irreversibilitäten zunächst vermieden werden, um den Gestaltungsspielraum, auf den es nun ankommt, entsprechend zu erhöhen. Diese – so Luhmann – dauernde im Unterschied zur momenthaften Gegenwart „erfordert (und
50
Elias nennt dies treffend eine „Dämpfung der Triebe“ und „Psychologisierung“ des Umgangs (vgl. Elias 1980b: 369ff.).
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ermöglicht; A.N.) Unterbestimmtheit, Offenheit, Reversibilität, denn was irreversibel bestimmt ist, ist eben schon nicht mehr gegenwärtig“ (Luhmann 1981c: 142).51 Daß die Welt durch politischen Zugriff, also durch menschliche, nicht göttliche Fügung gestaltbar und damit veränderbar ist, muß zu einer Gewichtsverschiebung des Verhältnisses von Religion und Welt führen. Waren die Hochkulturen Gesellschaften, die ihren gesamten Ordnungsaufbau über die religiöse Codierung der Welt besorgt haben, indem Religion insbesondere die Aufgabe hatte, „das Moralschema zu generieren“ (Luhmann 1989a: 283), wird Religion nun einem gesellschaftlichen Marginalisierungsprozeß ausgesetzt – ein langwieriger Prozeß, der unter dem Titel Säkularisierung firmiert. Auf den ersten Blick könnte man meinen, Säkularisierung sei nichts anderes als ein Bedeutungs- oder Funktionsverlust der Religion. Das ist sicher nicht falsch, beschreibt den Sachverhalt aber unzureichend. Man hat immer wieder darauf hingewiesen, daß es die Religion selbst ist, die sich durch Ausdifferenzierung von Sakralrollen, durch alleinigen Zugriff auf gesellschaftsweit wirksame Semantiken, durch das Differenzerleben von religiösen Postulaten und weltlicher Wirklichkeit und nicht zuletzt durch ihre semantische Führungsrolle und Zentralfunktion von der Welt wegdifferenziert und die Gesellschaft als Umwelt erfährt. Dabei muß die Welt um so unvollkommener erlebt werden, je rigider diese Grenzen, und damit: je deutlicher die Differenz ist. Ich nenne als Gewährsleute nur Max Weber, der den gleichzeitigen Schrittmacher- und Selbstaufhebungseffekt der Religion betont (vgl. Weber 1972), oder etwa Ernst Troeltsch, der in der Individualisierung des Glaubens und der Lebensführung im Gefolge der Reformation einen wesentlichen Faktor für die Entstehung des Kapitalismus sieht (vgl. Troeltsch 1964).52 An beiden Beispielen kann man sehen, daß die Schrittmacherfunktion der Religion nicht mit ihrer Marginalisierung einhergeht. Vielmehr produziert Religion durch semantische Umstellungen vom wohlgeordneten Weltganzen in Richtung der Angemessenheit des inneren Glaubenserlebens ein neues Verhältnis zur Welt, das man aber nicht kausal der Religion zuschreiben kann. So kann man mit Luhmann Säkularisierung treffend „als die gesellschaftsstrukturelle Relevanz zur Privatisierung religiösen Entscheidens“ (Luhmann 1977b: 232) begreifen. Also nicht die Privatisierung des Glaubenserlebens und der religiösen Semantik selbst ist hier das Thema, sondern diejenigen gesellschaftsstrukturellen Ursachen, die eine solche Privatisierung funktional erfordern. Es ist also eine genuin soziologische, keine theologische oder religionswissenschaftliche Fragestellung angesprochen. Privatisierung der Religion wird funktional spätestens dann notwendig, wenn es ihr nicht mehr gelingen kann, die Gesamtselektivität der Welt gesellschaftsweit zu repräsentieren. Ganz ohne Zweifel hat religiöse Kommunikation selbst stets den Anspruch, diese Gesamtselektivität zu formulieren, sobald aber andere Funktionen innerhalb der Gesellschaft autonomer werden – vor allem Politik und Recht -, kann sie auf die Gesellschaft als ganze nicht mehr zugreifen. Man darf sich dies nicht als sprunghafte Entwicklung oder gar als eindeutig historisch datierbares Geschehen vorstellen, sondern als langsamen Ausdifferenzierungsprozeß, der etwa im Falle der Politik dadurch in Gang kommt, daß die 51 52
Dauernde Gegenwart als kommunikativ erzeugter Handlungs- und Entscheidungsraum unterscheidet sich von der früheren ausgedehnten Gegenwart des Mittelalters, die gleichsam die ewige Ordnung in der Welt repräsentiert (vgl. III.3c). Schon Assmanns Beschreibung der altägyptischen Religion verweist durch Herausbildung von Sakralrollen auf die Ausdifferenzierung der Religion (vgl. Assmann 1984: 9ff.).
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IV. Kapitel
Frage von Macht und Einfluß immer weniger mit religiöser Codierung der Welt parallel läuft und sich deshalb zu einer internen politischen Frage von Regierung/Opposition wandelt. „Die positive Position, das An-der-Regierung-Sein, vermittelt dem politisch Handelnden die Anschlußfähigkeit. Die negative Position des In-der-Opposition-Seins erzwingt die Reflexion der Bedingungen, unter denen man sich in der positiven Position halten kann, und zwar für beide Seiten, für Regierung und für Opposition.“ (Luhmann 1989b: 136) Mit dieser Differenz wird eine Kontextur aufgespannt, die alles andere als Drittes ausschließt: Politik wird zunehmend unabhängiger von Religion und sonstigen Sinnspendern von außen und autonomisiert sich dadurch, daß sie sich selbst als Maßgabe ihres Handelns setzt. Der frühmoderne Staat unterscheidet sich von seinen Vorläufern insbesondere dadurch, daß politische Herrschaft nicht mehr als ein bloßes Derivat der ständischen Ordnung der Gesellschaft behandelt wird. Dort ist der Staat „zunächst nichts, was gegenüber den Ständen und dem Herrscher Eigenständigkeit reklamieren könnte, ist auch nicht mit einer dieser beiden Seiten zu identifizieren, so daß er in der Tat am besten durch den ,Zustand‘ definiert wird, der sich zwischen seinen beiden dualen Prinzipien einspielt“ (Stichweh 1991: 186). Staatliches politisches Handeln war eingemustert in die direkte Reziprozität der stratifizierten Gesellschaft und hatte offenbar auch kaum Zeitbedarf, denn er definierte sich und seine Operationen über die stabile oben/unten-Codierung des Gesamtsystems. Das ändert sich aber spätestens dann, wenn die Universalmächte des Mittelalters – insbesondere die eine Kirche – die Machtverhältnisse nicht mehr eindeutig regeln können. Schon die Reformation kündigte eine Teilung der Herrschaft an (vgl. ebd.: 173f.), die spätestens mit dem Westfälischen Frieden zu Münster und Osnabrück von 1648, nachdem die Errichtung einer Universalmonarchie des Heiligen Römischen Reiches gescheitert war, vollzogen wurde. Zwar sollte die religiöse Legitimation von Herrschaft53 immer noch eine bedeutende Rolle spielen, jedoch wurde diese wiederum mehr und mehr dem Primat absolutistischer Herrscher untergeordnet. Bekanntlich wurde mit dem Ende des dreißigjährigen Krieges in Anlehnung an den Augsburger Religionsfrieden von 1555 das Prinzip cuius regio eius religio für das gesamte Reichsgebiet festgeschrieben, was es dem jeweiligen Fürsten erlaubte, seinen Untertanen seine Konfession zu oktroyieren. Spätestens hier kündigten sich erste Vorboten einer Säkularisierung der Politik und der Gesellschaft an. Indem sich die Politik von den alten Legitimatoren zwar nicht gänzlich unabhängig gemacht, zumindest aber wegdifferenziert hat, entsteht für sie die Notwendigkeit der Reflexion auf sich selbst. Sie muß sich als eigenständige Operationssphäre konstituieren und richtet dafür einen semantischen Apparat ein, der die eigenen Grenzen zu anderen Semantiken genau zu ziehen erlaubt. Als Autonomiebegriffe bilden sich, wie Stichweh zeigt, Staatsräson und Souveränität heraus, die eine eigenständige Interessenlage des Staates gegenüber der Gesellschaft und die Unabhängigkeit der Politik von Kaiser und Papst zum Ausdruck bringen (vgl. Stichweh 1991: 191ff.). Politik, so kann man diese Entwicklung zusammenfassen, stellt von Fremdreferenz auf Selbstreferenz um: Nicht mehr die außerhalb politischen Handelns liegende Codifizierung 53
Im Gegensatz zum Mittelalter bevorzuge ich hier, von Legitimation zu sprechen, da es nun in der Tat darum geht, einen Kontingenzspielraum zu nutzen. Die gefundene Lösung hätte auch anders ausfallen können und bedarf deshalb eigens einer besonderen Legitimation, die nicht immer schon in der Ordnung des Ganzen enthalten ist.
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der Gesamtselektivität der Welt ist der wesentliche Referenzhorizont, sondern die Politik selbst. Sie entdeckt damit „den Staat als letzten Zurechnungspunkt für alles politische Handeln und Entscheiden“ (ebd.: 192). Sie wird gewissermaßen zum letzten Fluchtpunkt ihrer selbst. Semantisch schlägt sich dieses Bemühen in Reflexionstheorien des Politischen nieder, die sich langsam von der Frage der Einbettung von Machtverhältnissen in ein harmonisches Weltganzes entfernen und zu Fragen der Staatskunst, des effektiven Gebrauchs der Macht und der Technik der Machterhaltung übergehen. Als eindrucksvolles Beispiel für dieses Genre politischer Semantik möge die bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstandene Schrift „Il Principe“ Nicolo Machiavellis dienen. Machiavelli behandelt darin im wesentlichen die Frage der Folgen und Nebenfolgen politischen Handelns. Nicht um Fragen der Legitimität oder des politisch Wünschenswerten ist es ihm zu tun, sondern allein, wie Zippelius treffend sagt, um „Ursache und Wirkung in der Politik“ (Zippelius 1980: 83). Diese pragmatische Ausrichtung führt Machiavelli etwa zu folgender Einschätzung: „Die Handlungen aller Menschen und besonders die eines Herrschers, der keinen Richter über sich hat, beurteilt man nach dem Enderfolg.“ (Machiavelli 1978: 74) Es sind die machtpolitischen Realitäten der Welt, die Machiavelli bewegen, nicht der Versuch einer Letztbegründung wahrer Herrschaft, für die etwa Platons politeia und Augustins Gottesstaat Pate stehen. So hält sich Machiavelli nicht lange damit auf, wie die Welt in ihrer Unvollkommenheit einem perfekten Zustand näherkommen könne, wenn er dem Herrscher rät, ein einmal gegebenes Wort nur dann zu halten, wenn dies der Staatsräson – ein Begriff, der Machiavelli noch nicht zur Verfügung steht –, d.h. dem Machterhalt, nicht ausdrücklich schadet. „Wären die Menschen alle gut, so wäre dieser Vorschlag nicht gut; da sie aber schlecht sind und das gegebene Wort auch nicht halten würden, hast auch du keinen Anlaß, es ihnen gegenüber zu halten.“ (ebd.: 72) Was an solchen Äußerungen erstaunt, ist nicht das, was man gemeinhin einen Machiavellismus nennt. Erstaunlich ist vielmehr, daß dieser pragmatische Politikbegriff völlig frei vom Legitimationsproblem bleibt und allein der politischen Klugheit – die Machiavelli selbst virtú nennt – einen besonderen Rang einräumt. Gewiß waren auch frühere Auseinandersetzungen über die Handhabung politischer Macht nicht ohne pragmatische, machtpolitische Elemente denkbar. Doch waren sie stets, wie etwa der Investiturstreit und der jahrhundertelange Konflikt zwischen Papst- und Kaisertum zeigt, nie frei von Begründungsproblemen, in denen stets Probleme der Gesamtselektivität der Welt im Rekurs auf die eigentliche Herrschaft Gottes vorkam (vgl. dazu v. Ranke 1934: passim, v.a. 11ff.). Mit der neu entstehenden politischen Semantik wird die Politik selbst zum God-Term (Burke) des Politischen, und wo noch auf Gott rekurriert wird, ist seine Funktion weniger eine Reminiszenz an die gesellschaftsstrukturelle Stellung der Religion als vielmehr die theorietechnische Invisibilisierung des eigenen Anfangs, in diesem Sinne: Autoontologisierung (vgl. III.2b).54
54
Das Gesagte gilt z.B. für Samuel Pufendorfs theologische Begründung des Naturrechts (vgl. Zippelius 1980: 125). Mutatis mutandis wird die theologische Begründungsfigur durch einen Vernunftbegriff ersetzt, der den Staat in der aufklärerischen Philosophie von Kant über Fichte bis Hegel philosophisch begründet, bzw. durch einen Naturbegriff, wie er bei Rousseau gebraucht wird.
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IV. Kapitel
Gestaltung der Zeit
Ich breche die weitere Erörterung der Entwicklung politischer Semantik ab. Nicht sie ist hier schließlich das Thema, sondern die Frage, welche gesellschaftsstrukturellen Veränderungen sich mit einer Ausdifferenzierung von Religion und Politik vollziehen und welche Konsequenzen dies für die gesellschaftliche Organisation von Zeit hat. Es dürfte plausibel sein, daß sich mit dieser Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Handlungsbereiche die Selbstgenügsamkeit der durch die Ewigkeit Gottes und seine Heilsversprechen verkürzten Präsenz nicht aufrechterhalten läßt. Ist die Handhabung von Zeit in der mittelalterlichen Gesellschaft in erster Linie geprägt durch die relative Unveränderlichkeit von Strukturen, wird nun die Frage der Konservierung – im Falle der Politik: von Macht – prekär. Erhaltung und Kontinuität sind nicht mehr schlicht durch die Gesellschaftsstruktur vorausgesetzt, es bedarf besonderer Erhaltungsanstrengungen, um nicht dem Zerfall, dem Niedergang und damit: der Zeit anheimzufallen. Stichweh sieht im 16. Jahrhundert die Prekarität der neu entdeckten Zeit semantisch als „Dimension des Verfalls und des Niedergangs“ (Stichweh 1991: 127) ausgeprägt, dem ein Streben nach Erhaltung der Ordnung entgegenzusetzen ist. Dieser konservierende Zug darf jedoch nicht als Ausdruck von Stabilität und Unwandelbarkeit ausgelegt werden: Der neu gewonnene Handlungs-, i.e. Selektionsspielraum muß gerade mit Instabilität und Wandelbarkeit operieren, um in einer sich immer schneller verändernden Umwelt den Wegfall immer schon verbürgter Stabilität durch Herstellung derselben zu kompensieren. Daraus resultiert ein eigener Zeithorizont, der sich mit dem Problem von Reversibilität/Irreversibilität auseinandersetzen muß. Dazu Stichweh: „Erhaltungsimperative beziehen sich immer auf eine zu erhaltende Ordnung, die gegen den Zugriff der Zeit stabilisiert werden soll, während umgekehrt das Entstehen von System und Ordnung in einem Sachzusammenhang einer der effektivsten Mechanismen der Erhaltung seiner Komponenten ist und in dieser Hinsicht Ordnungsgenese auch zum Motiv des Handelns werden kann.“ (ebd.: 140) Mit anderen Worten: Um Strukturen intakt zu halten, muß man Prozesse ermöglichen, müssen womöglich Strukturen verändert werden. Ich habe oben gezeigt, daß Zeitfestigkeit und Zeitlichkeit in autopoietischen Systemen mit ereignishafter dynamischer Stabilität zusammenfallen: Mit jedem prozeßgenerierenden Ereignis muß sich die Struktur eines Systems erhalten (vgl. III.2d). Dabei stellt sich eine Struktur um so stabiler dar, je geringer die Kontingenz von Ereignisabfolgen ist, d.h. je schmaler der Selektionsspielraum für Ereignisse ist. Ist dieser relativ stark festgelegt, ist kaum mit der Gefährdung von Strukturen zu rechnen. Was geschieht, ist relativ zeitfest und muß deshalb die Zeitlichkeit der Welt kaum problematisieren, weil sich alles in einer ausgedehnten Gegenwart bewältigen läßt. Dies ist etwa die mittelalterliche Situation einer auf Ganzheitstypologien ausgerichteten Welt. Die Frühmoderne dagegen, insbesondere ihre Politik, hat diese Sicherheit nicht mehr. Sie erfährt durch das Erlebnis der Gestaltbarkeit der Welt Ereignisreihen als kontingent: Man muß, um an der Macht zu bleiben, auf Unvorhergesehenes reagieren, muß für neue Ordnung sorgen, sieht sich der Zumutung von Entscheidungs- und Legitimationsanforderungen ausgesetzt. Dadurch entsteht eine Weltsicht, die der Zeit nicht mehr ausweichen kann. Alles, was geschieht, geschieht in der Zeit: Man muß Wirkungen kalkulieren,
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aus Fehlern lernen, langsichtige Planungshorizonte einrichten55 und ständig auf sich reflektieren, um die Ereignisreihe fortsetzen zu können. Entscheidend ist, daß die Zeitsemantik nicht einfach von Gegenwart bzw. von der durch den kairos der Heilsereignisse göttlicher Handlung entschärften chronos auf Zukunft umstellt, die durch entsprechend kluges Handeln erreicht werden kann. Ohne Zweifel gewinnt die Zukunft enorm an Bedeutung, jedoch ist sie – ich erinnere an die Modalität der Zeit – gegenwärtige Zukunft, also nur Horizont einer Gegenwart und deshalb: offen. Allerdings ist die Kontingenz des Zukünftigen eher ein sekundäres Phänomen, das sich aus dem neuen Selektionsspielraum der Gegenwart ergibt. „Der Zeitbedarf ergibt sich nicht aus der Zukunftslage der Ziele, sondern aus der Komplexität (der Gegenwart!; A.N.) selbst und ist in dieser Form mit offener Zukunft kompatibel. Die Zeit ist dann nicht mehr eine natürliche Reihe von Positionen, sondern Funktion von Komplexität.“ (Luhmann 1980a: 291) Die Zeit selbst wird damit zu einer Weltdimension, die sich von den anderen Sinndimensionen unterscheidet und somit in die Reflexion auf sich selbst eingebunden werden muß. Entscheidungsprozesse – etwa politischer Art – folgen nicht mehr einer Diskontinuität absorbierenden Dauer, sondern erfahren sich als sukzedierende Ereignisgegenwarten, die sich selbstreferentiell herausbilden. Durch prozessuale Selbstreferenz entstehen – ich habe oben darauf hingewiesen – Eigenzeiten, die sich der Selbstbeobachtung von Ereignisreihen verdanken (vgl. III.2c). Solche Beobachtungszeiten entstehen auf der Basis von Ereignistemporalitäten, die durch eine Grenze von anderen Ereignistemporalitäten getrennt sind. Gemäß dem systemtheoretischen Paradigma ist die eine Ereignistemporalität konstituierende Grenze als System/UmweltDifferenz anzusehen. Dieser Umstand verweist darauf, daß sich mit der Herausbildung von auf eigenständigen Ereignistemporalitäten basierenden Beobachtungs- bzw. Eigenzeiten eine radikale Umstellung der Gesellschaftsstruktur vollzieht. Was am Beispiel der Politik angedeutet wurde, gilt mutatis mutandis ebenso für andere gesellschaftliche Bereiche: etwa die Säkularisierung und beginnende Ablösung der Erziehung und der Pädagogik vom Modell stratifikatorischer Ordnung bei gleichzeitiger Herausbildung eines erziehungseigenen Codes (vgl. Stichweh 1991: 106; Luhmann 1989c: 191; Schmidt 1989: 181ff.); die Ausdifferenzierung eines wissenschaftlichen Codes (vgl. Luhmann 1990a: passim); die Herausbildung einer Privatsphäre und eines speziellen Liebescodes (vgl. Luhmann 1984b: 163ff. und 183ff.; Rosenbaum 1982: 251ff.); die Entfernung des Rechts von der politischen Semantik (vgl. Stichweh 1991: 203ff.; Schmidt 1989: 168ff.; Teubner 1989: 21ff.); und, nur zuletzt genannt, aber womöglich mit den folgenreichsten Auswirkungen behaftet, die Entkoppelung der Wirtschaft von Religion und Moral und die vollständige Monetarisierung ökonomischer Beziehungen (vgl. Luhmann 1988c: 43ff. und 230ff.; Baecker 1988: passim, v.a. 96ff.; Weber 1981: passim). Diese Spezifikation von einzelnen Semantiken für sich voneinander entfernende Handlungsbereiche führt dazu, daß sachlich Unterschiedliches gleichzeitig geschieht und daß sich nebeneinander verschiedene Ereignistemporalitäten, unterschiedliche Beobachtungszeiten und Eigenzeiten herausbilden. Die mit der Neuzeit langsam beginnende selbstreferentielle Autonomie der gleichzeitig ablaufenden, aber sach55
Dieser Sachverhalt deckt sich mit dem von Norbert Elias beschriebenen Wandel von zeitlich und räumlich kurzen Handlungsketten zu einer „Ausbreitung des Zwangs zur Langsicht“ (Elias 1980b: 336ff.) in den europäischen Oberschichten seit dem Ende des Mittelalters.
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IV. Kapitel
lich unterschiedlich verlaufenden Handlungsbereiche wird im 17. und 18. Jahrhundert akut und prekär. „Vorher hatte die religiöse Weltsetzung diese Funktionsstelle besetzt. Vielleicht kann man sagen, daß der allem Erleben und Handeln zugedachte Bezug auf Gott als heimliche Selbstreferenz des Gesellschaftssystems fungierte. (...) Die religiöse Semantik war jedoch nicht als Selbstreferenz der Gesellschaft, sie war (und ist auch heute) als Fremdreferenz, als Transzendenz formuliert.“ (Luhmann 1984a: 624) Nun aber haben die sich voneinander entfernenden Handlungsbereiche keinen transzendenten Anker mehr, der gegen alle Strömungen der Kontingenz Position halten könnte; nun gilt es zu steuern, und zwar allein anhand der Reflexivität der eigenen Prozesse, also radikal immanent: Ökonomisches handelt ökonomisch, Politisches auch dann politisch, wenn es auf Ökonomie reagiert und Recht immer rechtsförmig, auch wenn es stets den Zumutungen der Politik ausgesetzt ist. Die Anwendung des systemtheoretischen Instrumentariums auf die hier angedeuteten Phänomene zeigt deutlich, daß es sich bei dem, was ich bisher unterschiedliche Handlungsbereiche genannt habe, um soziale Systeme handelt, die füreinander in einer je systemspezifischen Umwelt vorkommen. Diese Systeme unterscheiden sich dadurch, daß sie unterschiedliche Funktionen erfüllen, die füreinander nicht substituierbar sind. Auf gesellschaftsstruktureller Ebene läßt sich beobachten, daß mit dem „Prinzip der Fokussierung der Teilsystembildung auf einen Funktionsprimat“ (Luhmann 1980b: 28) die primäre Differenzierung der Gesellschaft in ungleiche Schichten durch funktionale Differenzierung ersetzt wird. Dieser seit dem Spätmittelalter währende, mit Ende des 18. Jahrhunderts irreversibel gewordene Prozeß der Umstellung von Schichtung auf Funktion als primäres gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal (vgl. ebd.: 27) führt dazu, daß sich die neu herausbildenden, operativ autonomen funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft quer zur Schichtung stellen und damit den Charakter der Gesellschaft als ganzer grundlegend verändern. Ich werde den vielfältigen Konsequenzen funktionaler Differenzierung weiter unten genauer nachgehen (vgl. IV.2d) und beschränke mich hier auf eine holzschnittartige Erörterung der naheliegenden Konsequenzen dieser Umstellung für die Zeitsemantik an der Epochenschwelle zur Moderne. Zunächst seien jedoch noch einmal einige Bemerkungen zur veränderten Rolle der Religion erlaubt. Ohne Zweifel ist es die Religion, die sich als erstes funktionales Teilsystem vom Rest der Gesellschaft wegdifferenziert hat. Dies sicherte ihr sogar zunächst ihre semantische Führungsrolle, weil sie durch erhebliche Spezialisierung, differenzierte Arbeitsteilung und unaufhebbare Nicht-Substituierbarkeit ihrer gesamtgesellschaftlich relevanten Funktion einen zunächst uneinholbaren Komplexitätsvorsprung hatte. Als Teilsystem hatte die Religion die unangefochtene Führungsrolle, was ihr die vollständige Generalisierung ihrer Beobachtung als gesamtgesellschaftlich relevant nicht nur erlaubte, sondern geradezu nahelegte. Exakt diese Leistungsfähigkeit der Religion als Spenderin des gesamtgesellschaftlichen Ordnungsaufbaus mit seinen universalen, i.e. kontingenzlos gehaltenen Strukturen ist es, was ihr eine friedliche Koexistenz mit der beginnenden Ausdifferenzierung anderer Funktionen, die sich von ihr entfernen, erheblich erschwerte. Im Klartext: Die anderen Funktionsbereiche mußten sich zunehmend säkularer definieren und marginalisierten dadurch die Religion, was mit deren Rolle als Repräsentantin der Gesamtselektivität der Welt kaum kompatibel war (vgl. Luhmann 1989a: 291).
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Es liegt auf der Hand, daß die Religion, zumal nach ihrer inneren Spaltung durch die Reformation und deren Folgen, nicht mehr in der Lage sein konnte, die Langsamkeit des Mittelalters, die Entzerrung des chronos durch die Präsenz der heilsrelevanten kairoi aufrechtzuerhalten. In der religiösen Semantik zeigt sich dies etwa in der Unterscheidung von historia ecclesiastica und historia ethnica bei Melanchthon, der allerdings beide Seiten unter Gottes Regiment stellte (vgl. Klempt 1960: 22ff. und 27ff.).56 Erst mit Jean Bodin wurde Mitte des 16. Jahrhunderts eine kategoriale Differenz zwischen der historia divina und der nun eigenständig werdenden historia humana vollzogen, die die Profangeschichte als Zeithorizont einer nach innerweltlichen Regeln sich vollziehenden Weltgeschichte freigibt (vgl. ebd.: 42f.). Diese semantische Differenzierung kann getrost als Reaktion auf die Säkularisierung der Welt und die Herausbildung autonomer Funktionsbereiche der Gesellschaft angesehen werden. Je rigider die Grenze zwischen der säkularisierten Welt und der religiösen Weltdeutung wird, um so dringlicher muß dem religiösen System die Spannung zwischen der Vollkommenheit Gottes und der Unvollkommenheit der Welt, die als Umwelt erfahren wird, erscheinen. Daß es sich bei diesem Spannungsverhältnis um eine systemrelative, selbstproduzierte Differenz handelt, kann, besser: darf Religion nicht sehen, weil sie dann ihren Anspruch auf Repräsentation der Gesamtselektion der Welt aufgeben müßte. Aber: „Wie geht man mit zuviel Sünde um? Die Einsicht, daß das System die Sünde selbst produziert und daß es damit auf seine eigene Verständnislosigkeit reagiert, ist im System selbst blockiert. Sie würde, in die Selbstbeobachtung des Systems übernommen, eine strukturelle Paradoxie bloßlegen und die Aktivitäten des Systems zum Stillstand bringen.“ (Luhmann 1989a: 291) Wenn die Einsicht in die eigene Beobachtungsblockade blockiert bleiben muß und wenn die Welt für den Zugriff der Entdramatisierung und Ausschaltung der Zeit durch die ewige Wahrheit indifferent geworden ist, muß Religion sowohl ihren gesellschaftlichen Bezugspunkt als auch ihre Zeitverhältnisse ändern. Bereits an anderer Stelle konnte gezeigt werden, daß unter Bedingungen funktionaler Differenzierung sich die Perspektive des Ganzen für Religion nicht mehr aus der Sicht des Kosmos oder der Universalgeschichte gewinnen läßt, sondern nur noch aus der Perspektive der Person und der persönlichen Lebensführung (vgl. Nassehi/Weber 1989: 416). Auch auf diesem Hintergrund und nicht nur als Schrittmacher für die Herausbildung einer „modernen“ Lebensführung im Geist des kapitalistischen Wirtschaftens ist die protestantische Hinwendung zur methodischen Lebensführung als heilsrelevantem Verhalten zu sehen. Aus dem passiven Eingebettetsein in eine religiös begleitete Dauer, die identisch ist mit dem Dauern der Welt, wird die von Gott geschenkte Zeit zum Gestaltungsraum, in dem sich der Gläubige bewähren kann. Wie Alois Hahn zeigt, steht etwa die katholische Gegenreformation im Frankreich des 17. Jahrhunderts der protestantischen Variante bezüglich der Rigidität der ethischen Postulate religiöser Art, wie in einer zunehmend säkularisierten Welt zu leben ist, in nichts nach (vgl. Hahn 1987b: 89).57 Damit wird aber die Spannung zwischen Religion und Welt keineswegs aufgehoben, sie wird gesellschaftlich lediglich dadurch entschärft, daß sie ins Individuum hineinverlagert wird. Insbesondere Bernhard Groethuysen hat in seiner Studie über „Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich“ darauf aufmerksam gemacht, daß neben den „schlichten Gläubigen, die zu glauben vermögen, 56 57
Mit in diesen Zusammenhang gehört selbstverständlich auch Luthers Zwei-Reiche-Lehre. Hahn führt dies primär auf das nachreformatorische Konkurrenzverhältnis der Konfessionen zurück.
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ohne verstehen zu wollen“ (Groethuysen 1978: 29), sich mit dem Bürgertum als kulturellem Träger der „neuen Welt“ eine neue Lebensform entwickelt, die die Spannung Religion/Welt zugunsten der Welt auflöst. Zwar haben sich die bürgerlichen Tätigkeiten vom Zugriff religiöser Legitimation weitgehend abgekoppelt, doch versucht Religion diese Spannung jenseits der profanen Zeit der Gestaltung der Welt in der Lebenszeit des Individuums wieder aufzubauen. Diese Spannung wurde selbst wiederum in temporalen Kategorien gefaßt, als Differenz von Zeit und Ewigkeit, als deren Einheit sich das Problem der Endlichkeit des Menschen eignet. Der Tod fungiert quasi als letztes Monopol, um den innerweltlichen Zeithaushalt zu relativieren und der Unwandelbarkeit göttlicher Ordnung doch noch zu ihrem Recht zu verhelfen (vgl. ebd.: 105). Damit wird Zeit vollends linearisiert: Die Zeit ist frei für Gestaltung und modalisiert sich als offene Zukunft, und die Ewigkeit ist nun nicht mehr etwas, das der Zeit ihre Spitze nimmt; sie wird sozusagen in die Zeit nach der Zeit verschoben. „Die Ewigkeit beginnt mit dem Tode. Sie unterscheidet sich von der Zeit dadurch, daß in ihr nichts mehr zu ändern ist, weder Heil noch Verdammnis.“ (Luhmann/Fuchs 1989a: 128) Für religiöse Kommunikation bedeutet dies, stets auf die gegenwärtige Heilsrelevanz des Handelns zu achten. Für säkulare Kommunikation dagegen ist die Gegenwart als Selektionsspielraum freigegeben, weil Ewigkeit – und damit die Wahrheit des Religionssystems – nur noch in sublimierter Form, nämlich als innere Spannung handelnder Individuen, vorkommt. Im Klartext: In den funktionsspezifischen Ereignisreihen kommt die Differenz von Zeit und Ewigkeit gar nicht mehr an. Sie wird durch individuelle Synthesen absorbiert. Dies ist der die Gegenwart als Selektionsspielraum freigebende Effekt der Säkularisierung: Privatisierung der Glaubensspannung und Freigabe der Zeit als Medium zur handelnden Gestaltung von Formen nach Maßgabe religions-, i.e. ewigkeitsfreier Funktionscodes für Politik, Recht, Wirtschaft etc.
c)
Fortschritt und Geschichte als Einheit der Differenz
Mein oben angedeuteter Befund, daß der moderne Gestaltungsspielraum mit offener Zukunft nicht eine bloße Profanisierung der jüdisch-christlichen Eschatologie ist, sondern vielmehr explizit gegen diese sich herausbilden mußte (vgl. I.2b), wird mit dem Gesagten erneut bestätigt. Das Gleiche gilt übrigens auch für den Fortschrittsgedanken, auf den die Zeitsemantik der Epochenschwelle zur Moderne zuläuft. Dazu bemerkt Hans Blumenberg: „Es gibt keine Anhaltspunkte für eine Umsetzung der Eschatologie in die Fortschrittsidee. Die entscheidende formale Differenz ist diese: die Eschatologie redet von einem in die Geschichte einbrechenden, ihr selbst transzendenten und heterogenen Ereignis; die Fortschrittsidee extrapoliert von einer der Geschichte immanenten und in jeder Gegenwart mitpräsenten Struktur aus in die Zukunft.“ (Blumenberg 1964: 243)58 Nachdem die frühe Neuzeit, insbesondere ihre Politik, das Problem der Gestaltbarkeit der Welt noch im Kontingentwerden der Erhaltung des Bestehenden sah (vgl. Stichweh 1991: 127ff.), wird nun das Erlebnis der Kontingenz der Zukunft mehr und mehr unter die Ägide des Zukünftigen als eigentlichem Ziel jedes Geschehens gestellt. Das Neue in Wissenschaft, Pädagogik, Politik und Wirtschaft ist nicht mehr bedrohlich. Hatte Montaigne noch formuliert: „Eine 58
Konträr dazu, ausschließlich die semantische Oberflächenstruktur berücksichtigend, Schmied 1985: 159.
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Wahrheit ist nicht deshalb vernünftiger, weil sie alt ist.“ (Montaigne 1969: 365), heißt es bei Francis Bacon schon: „Das günstige Vorurtheil für die Alten ist aber ganz grundlos und steht fast mit dem Worte selbst in Widerspruch. Denn es gebührt dem spätern mündigern Alter der Welt, also unsern und nicht jenen jüngern Zeiten, worin die sogenannten Alten lebten, der Name des Alterthums. Jene Zeit ist in Rücksicht auf die unsrige zwar älter, aber in Rücksicht der Welt selbst jünger.“ (Bacon 1974: 62) Montaignes Zeitverständnis bringt zur Geltung, daß die Wahrheit einer Epoche eher ein Problem der Substanz dieser Wahrheit als ein Problem der Zeit sei – damit setzt er sich sowohl von der transzendenten Heilsgeschichte der göttlichen kairoi ab als auch von der Begeisterung der Renaissance für die Antike. Epochen sind potentiell gleich gut (oder schlecht), Bacon dagegen verzeitlicht noch einmal die Differenz verschiedener Zeiten: Die Abfolge der Epochen ist ein Reifungsprozeß von der jungen Antike zur älteren Gegenwart, wobei er die Geschichte selbst als Gebärerin der Wahrheit betrachtet: Er nennt „die Wahrheit eine Tochter der Zeit, nicht des Ansehns“ (ebd.: 63). Das in der Semantik der Epochenschwelle zur Moderne entstehende Fortschrittskonzept kann als funktionales Äquivalent für die vormalige Präsenz der Ewigkeit im Fortgang der sich kaum verändernden Zeiten angesehen werden. Alles, was als gesellschaftliche Tätigkeit geschieht, muß nun unter dem Banner der Geschichte zu Höherem, Besserem, Perfekterem streben und ist kraft dieses Strebens eingemustert in einen Sinnhorizont, der erneut dem Ganzen einen Sinn gibt.59 „Der in Bewegung geratene Erwartungshorizont hat die Geschichte dynamisiert. Die ,Neuzeit‘ der Geschichte und ihr Fortschritt konnten sinngleich verwendet werden.“ (Koselleck 1975b: 391) Der aus dem Fortschreiten der verschiedenen Funktionsbereiche sich erst um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert herausbildende Kollektivsingular Fortschritt soll zum einen die Erfahrungen der einzelnen Funktionsbereiche der Gesellschaft sowohl deskriptiv als auch normativ auf den Begriff bringen. Zum anderen soll er dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, nach der Selbstbeschreibung der Epoche Rechnung tragen. Das Medium dieser Form ist die Zeit in Gestalt der Geschichte als gerichtetem Prozeß. Jürgen Habermas bringt das aus der Verzeitlichung der Welt resultierende Bedürfnis der frühen Moderne, sich im Nacheinander der (historischen) Ereignisse zu identifizieren, folgendermaßen auf den Begriff: „(...) die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen. Das erklärt die Irritierbarkeit ihres Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst ,festzustellen‘.“ (Habermas 1985c: 16) Erstaunlich scheint mir jedoch weniger zu sein, daß die Moderne ihre Normativität aus sich selber schöpfen muß, sondern daß sie überhaupt zur Legitimation ihrer normativen Strukturen gezwungen ist. Stellt man sich etwa die Renaissance vor, in der es um die Restituierung alter, antiker Kulturgehalte ging, so ist dort von Legitimationsproblemen im engeren Sinne noch kaum die Rede. Die substantielle Größe und Vollkommenheit der 59
Friedrich H. Tenbruck bringt diesen Vorgang der auf sich selbst bezogenen Entwicklungsdynamik moderner Wirklichkeitsauffassungen auf den Begriff der „Verselbständigung der Kultur“ und analysiert unter diesem Stichwort die Entkoppelung der verschiedenen kulturellen Träger voneinander, v.a. bezogen auf Wissenschaft und Religion (vgl. Tenbruck 1989: 80ff. et passim).
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antiken Kulturgehalte bedurfte keiner Legitimation. Auch die frühneuzeitliche potestas legitima war noch im 16./17. Jahrhundert, etwa bei Francisco Suárez, Ausdruck für den „Einklang zwischen menschlicher und göttlicher Ordnung“ (Würtenberger 1982: 684), die durch den Ursprung der potestas bei Gott resultiert. Erst später, bei vollzogener Säkularisierung und beginnender funktionaler Differenzierung, wird die Normativität von Macht in der Politik, aber auch von wirtschaftlichem, juristischem oder pädagogischem Handeln legitimationsbedürftig, weil alles, was geschieht, nun im Horizont anderer Möglichkeiten sich ereignet. Es liegt auf der Hand, daß die Umstellung der Gesellschaftsstruktur von rigider stratifikatorischer Differenzierung zu einer zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft nach Funktionscodes eine Leerstelle hinterläßt: die semantische Zentrale nämlich, von der her die sachlich unterschiedlichen Funktionszusammenhänge in ihrem Verhältnis zueinander und zum Ganzen integriert werden. Im evolutionären Übergang zur modernen Gesellschaft schafft diese Leerstelle ein ungeheures Maß an Komplexität: Anschlüsse werden immer unwahrscheinlicher, die Abstimmung sachlich unterschiedlicher Handlungszusammenhänge – etwa wirtschaftliche und politische – immer prekärer und die Grenzen zwischen den Funktionen immer dichter. Es bilden sich, um noch einmal an Gotthard Günthers Terminologie anzuschließen, viele Kontexturen nebeneinander aus, die je füreinander ausgeschlossene Dritte sind. Das Integrationsproblem der frühmodernen Gesellschaft könnte man mit der Frage umschreiben, wie das ausgeschlossene Dritte der jeweiligen funktionsspezifischen Kontexturen in diese wieder eingebunden werden kann. Die Antwort auf diese Frage lautet: Durch Temporalisierung der Komplexität und Universalisierung der Temporalität. Haben vorneuzeitliche Hochkulturen ihre Differenz in der Sozialdimension durch eine weitgehende Einheit der Zeitdimension, nämlich die Einholung der Zeit durch die Ewigkeit, besorgt, reagiert die Frühmoderne ähnlich. Auch sie temporalisiert ihre Komplexität durch Zeit: Die sachliche Differenz der Funktionssysteme wird durch eine einheitliche Zeitdimension eingeholt, die jetzt aber nicht mehr für die Zeitlosigkeit der Welt steht, sondern für die temporale Dynamisierung allen Geschehens. Im Begriff der Geschichte und des Fortschritts – beide als Kollektivsingulare, die die Geschichten und die Fortschritte in Wissenschaft, Moral, Kunst, Recht, Politik und Ökonomie universalisieren – wird den einzelnen Systemgeschichten ein universalistisches Gerüst gegeben, das ihrem Legitimations- und Selbstvergewisserungsbedarf nachkommt. Als universale Kategorie der Neuen Zeit, des Fortschritts und der innerweltlichen Vervollkommnung wird die vollends historisierte Zeit als ausgeschlossenes Drittes der jeweiligen funktionsspezifischen Kontextur in das Funktionssystem eingeführt und vergewissert ihm so seinen Platz im Ganzen. Diese Semantik konnte gewissermaßen als gemeinsames ausgeschlossenes Drittes angesehen werden. Politik, Recht, Moral, Ökonomie und Wissenschaft treten damit zwar mit unterschiedlichen Farben an, ihr Ziel ist aber das Gleiche: dem Fortschritt und der Neuen Zeit zu ihrem Recht zu verhelfen. Mit am prägnantesten kommt die Fortschrittseuphorie der Epoche der französischen Revolution durch Marie Jean Antoine de Condorcet zum Ausdruck. Er schreibt 1794, daß „die Natur der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenze gesetzt hat (...). Ohne Zweifel können diese Fortschritte schneller oder langsamer erfolgen; doch niemals werden es Rückschritte sein, wenigstens solange die Erde ihren Platz im System des
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Universums behält (...).“ (Condorcet 1963: 29f.) In diesen fast kosmologischen Gedanken formiert sich eine Semantik, die für kurze Zeit in der Lage ist, die Integration der verschiedenen Funktionsanforderungen unter einem universalistischen Dach zu versammeln. Dieses Universalitätsprinzip, das Allgemeine, wie es später heißen wird, kommt etwa in vertragstheoretischen Rechtsmodellen zum Ausdruck, die die Unterordnung freier, autonomer Individuen unter ein allgemeines Prinzip der Gesellschaftlichkeit postulieren. „Gesellschaftlichkeit beruht dann auf dem fundamentalen Vertragsschluß autonomer Individuen über staatliche Herrschaft und hat in der Fassung John Lockes nur insoweit Bestand und Dauer, wie der Wille der Individuen reicht.“ (Giesen 1991: 45)60 Und selbst dieser Wille muß noch kontingenzlos gesetzt werden, um die Funktion der universalistischen Integration der partikularistisch gewordenen Teile der Gesellschaft und der aus alternativlosen traditionellen Bezügen entlassenen Individuen zu sichern. Kants kategorischer Imperativ, daß man wollen soll, daß die eigenen Handlungsmaximen universalisierbar sind (vgl. Grundlegung: 51), repräsentiert das Bedürfnis nach Universalität, das angesichts der zunehmenden Differenzierung der Sachdimension nur um den Preis der Formalisierung und Entmaterialisierung des Moralcodes zu haben ist.61 Die Erfindung des transzendentalen Subjekts als Kollektivsingular ist sozusagen das funktionale Äquivalent für die Totalität der Lebensbezüge, in die Personen und mit ihnen gesellschaftliche Funktionen in multifunktionalen Einheiten vormals eingeschlossen und aufgehoben waren. Ganzheitschiffren werden abstrakt und formal, sie können nicht mehr in der gesellschaftlichen Praxis vorgefunden werden. Die Entzweiungen der Moderne haben das „Ganze“ durch die Umstellung von Einheit auf Differenz aus dem Blick geraten lassen. Um so wichtiger, diesen Verlust semantisch einzuholen: „Das Wahre ist das Ganze“ (Hegel 1970a: 24), heißt es bekanntlich in Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. Also, so könnte man fragen, gibt es auch das Wahre nicht, wenn wir des Ganzen verlustig gegangen sind? Es bedarf der Zeit als Möglichkeitsbedingung des Wahren, denn nur in ihr kann es entstehen. Hegel fährt deshalb fort: „Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ (ebd.) Das Wahre ist die fortschreitende „Bewegung des sich in sich selbst Reflektierens“ (ebd.: 26), das sich in der Geschichte ereignet. Die Konsequenzen der beginnenden Umstellung auf funktionale gesellschaftliche Differenzierung für eine die Systemgeschichten transzendierende, i.e. universalistische Zeitsemantik dürfen nicht mit der Gesellschaftsstruktur selbst verwechselt werden. Der noch sehr abstrakte Befund einer Gesellschaft, die sich in sachlich differente Ereignistemporalitäten mit unterschiedlichen Funktionsbezügen ausdifferenziert, sagt noch wenig über die tatsächliche Zeitökonomie dieses Gesellschaftstyps. Ich werde mich diesem Problem, wie 60
61
Gerade angesichts der Ersetzung des religiös formierten Rangfolgecodes durch abstrakte Normativität, Recht und universalistische Begründungen spricht Giesen im Zusammenhang mit der Epochenschwelle zur Moderne von einer Strukturtransformation zum normativen Code und zur Universalisierung (vgl. Giesen 1991: 38ff.). Nicht in einer allgemeinen Geschichtsteleologie sieht Kant den Grund und die Bedingung historischen Fortschritts, sondern in der Allgemeinheit der reinen praktischen Vernunft und ihrem Gebrauch (vgl. Preisfrage: 647).
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angekündigt, sogleich eingehender zuwenden. Vorher sei jedoch noch die Besonderheit des in der revolutionären Epoche ständig präsenten Ringens um Allgemeinheit, wie es sich auch in der Zeitsemantik in den Kollektivsingularen Geschichte und Fortschritt niederschlägt, vom Blickwinkel gesellschaftsstruktureller Veränderungen her diskutiert. Es ist ein soziologischer common sense, daß die Modernisierung des 18./19. Jahrhunderts insbesondere durch den Funktionsverlust der Religion und traditioneller Lebensformen erhebliche Kosten verursacht hat. Die Diagnosen reichen von Max Webers These von der „Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit“ (Weber 1972: 571) und des „Sinnverlustes“ der modernen Welt (vgl. ebd.: 564) bis zu Habermas’ Diagnose von der „Fragmentierung des Bewußtseins“ (Habermas 1981b: 522) und der „Verknappung der Ressource Sinn“ (vgl. ebd.: 212f.).62 So unterschiedlich solche Diagnosen en detail auch immer ausfallen mögen, so thematisieren sie doch gemeinsam das Problem einer Gesellschaftsstruktur, die nicht mehr in der Lage ist, die verschiedenen Teilsysteme und die in diese inkludierten Personen eindeutig innerhalb der Gesellschaft zu verorten. Man könnte von einem Verlust der Fremdreferenz sprechen, was dazu führt, daß sowohl Teilsysteme als auch Personen sich zunehmend über Selbstreflexion definieren müssen (vgl. Luhmann 1980b: 29f.).63 Um die Autopoiesis des Gesellschaftssystems zu sichern, müssen jedoch Formen gefunden werden, die den Verlust der Einheit und der Gesamtintegration der Gesellschaft zunächst kompensieren konnten. Eine solche Integration, für die es letztlich kein geeignetes fundamentum in re in Form eines Teilsystems mit eindeutigem Führungsanspruch mehr geben kann, muß semantisch sozusagen simuliert werden. Dies geschieht, wie ich kurz andeuten möchte, mit Hilfe sinnhaft-semantischer Ausprägungen in der Sozial- und in der Zeitdimension, nachdem die Sachdimension mit funktionaler Differenzierung spezieller Codes unhintergehbar desintegriert bleiben muß. In der Sozialdimension läßt sich beobachten, daß die Auflösung der traditionalen Lebenszusammenhänge zu einer gegenläufigen Entwicklung führt. Zum einen entsteht eine anthropologische Semantik, die den Menschen nicht mehr als Mitglied eines Standes, sondern als Menschen ansetzt.64 Diese Semantik mit ihren Derivaten Menschenrechte, Menschenwürde, Humanität formuliert ein Inklusionsprinzip: die universalistische Inklusion und potentielle Gleichheit aller – für rigide Stratifikation eine unvorstellbare Denkfigur (vgl. Stichweh 1988b: 287).65 Zum anderen bildet sich allerdings fast gleichzeitig ein Exklusionsprinzip heraus: Volk und Nation. Etwa mit Herders Volksgeist wird im Gefolge der französischen Revolution eine Semantik gepflegt, die in der Lage ist, durch ihr Eindringen 62 63 64 65
Ich verzichte auf weitere Literaturbelege, da der Sachverhalt allgemein bekannt und die Zahl der Thematisierungen Legion ist. Das Motiv findet sich mutatis mutandis bei Autoren wie Georg Simmel, Max Scheler, Helmut Schelsky, Peter L. Berger, Friedrich H. Tenbruck, Ulrich Beck u.a.m. Ich betone noch einmal: Das Gesagte gilt sowohl für gesellschaftliche Teilsysteme als auch für Personen. Ich beschränke mich hier zunächst auf den Aspekt sozialer Systeme und behandle das Problem der Inklusion von Personen und deren Zeitorganisation weiter unten (vgl. IV.5c). Auch dieses Motiv findet man schon bei Montaigne, versehen mit einem moralischen Motiv, wenn er über sich als Bürgermeister von Bordeaux schreibt: „Der Herr Bürgermeister und der Herr Montaigne sind immer zweierlei gewesen, sauber geschieden.“ (Montaigne 1969: 347) Die Modernität des Konzeptes Mensch betont Michel Foucault, der den Menschen für eine Erfindung der Humanwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts hält (vgl. Foucault 1980: 413ff.) und zugleich mit dem Ende des humanistischen Zeitalters auch das Ende des Menschen diagnostiziert. Zur Entwicklung der philosophischen Semantik der Anthropologie vgl. Marquard 1971: 362ff.
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in die verschiedenen, voneinander wegstrebenden gesellschaftlichen Teilsysteme eine Einheit zu stiften. Allerdings muß der Inklusionserfolg mit dem Preis der Exklusion von Angehörigen anderer Völker und Nationen bezahlt werden. „Nationalstaat, Nationalökonomie, Nationalerziehung und Nationale Sicherheit motivieren jetzt immer beides: weitreichende Ansprüche jedes einzelnen an die sich autonomisierenden Funktionssysteme und den Widerspruch gegen die Berücksichtigung, ja gar Privilegierung Fremder.“ (ebd.: 288) Diese „Semantik gesellschaftlicher Einheit“ (Fuchs 1991: 89ff.) hat die Funktion, den durch funktionale Differenzierung entstehenden Bedeutungsverlust der Sozialdimension mit all ihren Integrationskrisen der Frühmoderne zu kompensieren.66 Sie dient dazu, Einheit dort zu stiften, wo sie letztlich gesellschaftsstrukturell schon verloren ist.67 Was die Nation für die Sozialdimension ist, sind Fortschritt und Geschichte für die Zeitdimension. Sie üben an der Epochenschwelle zur Moderne die Funktion einer Vereinheitlichung der Eigenzeiten der funktionalen Teilsysteme aus. Bezüglich der Geschichte habe ich bereits oben gezeigt, daß sie in der Frühmoderne die Funktion hat, die Eigenzeit der Welt auszudrücken, und durch die Historisierung der Geschichte in die paradoxe Situation gerät, die Geschichte in die Geschichte einführen zu müssen (vgl. III.2c). Diese Paradoxie wird durch die entsprechende Semantik dadurch invisibilisiert, daß die Geschichte ihrerseits metaphysisch bestimmt wird. Die Geschichte ist gewissermaßen der God-Term einer voll durchhistorisierten Welt – und Hegel geht sogar so weit, die Geschichte als Selbstbewegung des Geistes mit Gott äquivalent zu setzen (vgl. Hegel 1970a: 26f.). Nicht eigentlich die Säkularisierung der Eschatologie ist es, die bei der frühmodernen Zeitsemantik an den theologischen Kosmos früherer Sozialformen erinnert, sondern die theorietechnische Form: Invisibilisierung der Paradoxie der Selbstbeschreibung und -thematisierung der Gesellschaft durch Rekurs auf eine letzte Einheitsmetapher, die von Ewigkeit auf Zeit, vom unbewegten Beweger des Aristoteles auf die Selbstbewegung des Bewegers bei Hegel umgestellt hat. Die frühmoderne Zeitsemantik stellt durch ihren universalistischen Charakter und die Formulierung in Kollektivsingularen eine vermeintliche Gleichzeitigkeit zwischen den sich funktional ausdifferenzierenden Teilsystemen der Gesellschaft her. Es handelt sich dabei nicht um eine quasi technische Synchronisation von Systemgeschichten etwa durch eine homogene Uhrenzeit (vgl. dazu IV.5b). Es geht vielmehr um sinnhaft semantische Synchronisation durch Parallelisierung der Systemgeschichten mit einer abstrakten, linearen, teleologisch gerichteten Weltdimension der Zeit, die der unitas multiplex der differenzierten Gesellschaft ihre Einheit verbürgt. Diese Form temporal-sinnhafter Einheitstypologien war nur von kurzer Dauer und wird spätestens in der Moderne des 20. Jahrhunderts von anderen Formen abgelöst. Das kündigt sich in der Semantik allerdings schon früh an, nämlich da, wo eine Ungleichzeitigkeit der wissenschaftlichen Fortschritte des 17. Jahrhunderts mit den politischen, rechtli66 67
Vgl. dazu ausführlich Nassehi 1990: 261ff. und, bezogen auf eine ethnische Minderheit, nämlich die Siebenbürger Sachsen als deutsche Minderheit in Rumänien, Nassehi/Weber 1990b: 249ff. Zur semantischen Karriere des „Volks“-Begriffs vgl. Hoffmann 1991: 191ff. Wie ungeheuer stabil die Semantik von Volk und Nation bis heute geblieben ist, kann man derzeit an den Entwicklungen in Osteuropa nach dem Zerfall des kommunistischen Machtapparates sehen: Die Chiffrierung gesellschaftlicher Einheit, die vormals über ein repressives politisches System erfolgte, wird nun von ethnischen Semantiken mit zum Teil erheblichem explosivem Gehalt übernommen.
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chen und v.a. moralischen Fortschritten festgestellt wird (vgl. Koselleck 1975b: 395). So läßt etwa Francis Bacon keinen Zweifel daran, daß der Fortschritt der Naturwissenschaften – er spricht von Naturphilosophie – in den vereinzelten Wissenschaften und in den durch diese geprägten Teilen der Gesellschaft nicht ankommt: „Aber niemand erwarte große Fortschritte in den Wissenschaften (...), wofern nicht die Naturphilosophie auf die einzelnen Willenszweige angewandt, und diese wiederum zu Naturphilosophie zurückgeführt sind! Daher kommt es eben, daß Astronomie, Optik, Musik, die meisten mechanischen Künste, ja selbst die Medizin und, worüber man sich noch mehr wundern wird, die Moralphilosophie und Politik sowie die Logik ohne Gründlichkeit und Tiefe sind, sondern auf der Oberfläche der Dinge wankend umherschweifen.“ (Bacon 1974: 5) Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen bewegt auch etwa Hegel, wenn er im programmatischen „Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus“ fordert: Die „Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig“ (Hegel 1971: 236). Fortschritt zeigt sich gemäß diesem Diktum da, wo alles, nicht nur Philosophie oder Staat, an der Selbstbewegung des Geistes teilhat. Und – um ein letztes Beispiel zu nennen – die Marxsche Teleologie lebt geradezu von der Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen: „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen (...) – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“ (Marx/ Engels 1972: 467) Nachdem sich die Produktionskräfte in dieser Weise gesteigert haben, ist zunächst ein Nachhinken, eine Ungleichzeitigkeit von Produktionskräften und Produktionsverhältnissen zu beobachten, die erst durch eine revolutionäre Bewegung wieder vergleichzeitigt werden kann.68 Daß sich überhaupt ein Bewußtsein für Ungleichzeitigkeit einstellt, da doch verschiedende Systemprozesse stets gleichzeitig verlaufen (vgl. IV.1), erstaunt nur auf den ersten Blick. Denn als ungleichzeitig können sich die verschiedenen funktional spezifizierten Systemgeschichten nicht durch bloße wechselseitige Beobachtung erleben, sondern nur anhand eines ihnen gemeinsamen, ihnen letztlich aber doch äußerlichen Maßstabs. Die Funktion dieses Maßstabs wird durch die Zentralsemantik einer fortschreitenden Zeit und einer sich zum Besseren entfaltenden Geschichte gestiftet, die durch ihre Selbstbewegung die einzelnen Systemgeschichten transzendiert. Gleichzeitigkeit resp. Ungleichzeitigkeit sind folgerichtig noch weniger Zeitbestimmungen als Probleme der Sozial- und v.a. der Sachdimension. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist nichts anderes als die qualitative Divergenz gleichzeitiger Sachverhalte.69 Die Einheitsmetaphern der Geschichte und des Fortschritts können nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Grundzug funktionaler Differenzierung offenbar die Differenz von 68
69
Allein, Marx und Engels beklagen diese Ungleichzeitigkeit nicht, sondern sehen in ihr geradezu den Motor der Zeit, denn die Opposition des Ungleichzeitigen befördert die Entwicklung und hebt damit die Differenzen wieder auf. „Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.“ (Marx/Engels 1972: 468) Diese Postulierung der Einheit der Differenz nennt man bekanntlich Dialektik. Sie invisibilisiert die Paradoxie der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in der Zeit. Als Beispiel läßt sich die am Modernisierungsparadigma abzulesende Ungleichzeitigkeit der Weltgesellschaft anführen, die sich an der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Entwicklungsstandards von Weltregionen zeigt (vgl. dazu Nassehi 1991b: 356ff.).
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Eigenzeiten und damit die qualitative Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist, was sich aber erst im 20. Jahrhundert semantisch voll durchsetzt und auf das Zeitverständnis niederschlägt.
5.
Gleichzeitigkeit und Synchronisation in der funktional differenzierten Gesellschaft
a)
Funktion und Beobachtung
Spätestens mit der Mitte des 19. Jahrhunderts, vollends aber zur Jahrhundertwende setzt sich die bereits seit dem Ende des 16. Jahrhunderts sich abzeichnende primäre Differenzierung der Gesellschaft als Differenzierung in nicht füreinander substituierbare Funktionen durch. Gesellschaftsstrukturell gesehen, differenziert sich die Gesellschaft in Teilsysteme, die nicht mehr durch eine allen Systemen gemeinsame Grundsymbolik integriert werden kann. Die einzelnen funktionalen Teilsysteme – Wirtschaft, Politik, Recht, Religion, Erziehung, Wissenschaft etc. – operieren stets aus ihrer jeweiligen funktionsspezifischen Perspektive, die für sie selbst unhintergehbar ist. Diese Teilsysteme operieren nicht einfach mit ihnen zugeordneten, funktionsspezifischen Semantiken, sondern mit Hilfe von beobachtungsleitenden Grundunterscheidungen, die selbst nicht wieder unterschieden werden können. „Man sieht jetzt deutlich, daß die Funktionssysteme sich nicht nur über eigene Kriterien des Richtigen, also nicht nur über Gesamtformeln ihrer Programme (Friede bzw. Gemeinwohl, Wohlstand, Bildung, Gerechtigkeit etc.) ausdifferenzieren, sondern daß dies primär über binäre Codes geschieht.“ (Luhmann 1989b: 430; Hervorh. A.N.) Die Besonderheit funktionaler Teilsysteme ist, daß sie ihr Beobachtungsschema über die strikte Zweiwertigkeit ihrer binären Codes generieren. So ist für Politik entscheidend, ob man Amt und Entscheidungsmacht innehat oder nicht, für Wirtschaft, ob man zahlt oder nicht, für das Recht, ob etwas als rechtmäßig angesehen wird oder nicht, für Wissenschaft, ob eine Aussage wahr ist oder nicht, für Religion, ob etwas dem Heil oder dem moralischen Standard dient oder nicht, für Erziehung, ob etwas im Hinblick auf Chancen im Lebenslauf gelernt wird oder nicht. Auf den ersten Blick mögen solche Unterscheidungen recht banal erscheinen. Selbstverständlich muß wirtschaftliches Handeln darüber entscheiden, ob gezahlt oder nicht gezahlt wird, d.h. ob man kauft, verkauft, investiert, sich beteiligt, spart, an die Börse geht, Kredite aufnimmt, vergibt oder sperrt, hier produziert oder lieber in Fernost, Löhne erhöht, den Politiker besticht oder mit Kapitalflucht droht. Das Gleiche gilt für Politik. Selbstverständlich ist es eine Frage von Amts- und Machtverfügung, wenn man bestimmte Entscheidungen fällen oder verhindern will. Über diese Selbstverständlichkeiten hinaus ist aber zu bedenken, daß die in den binären Codierungen enthaltenen Unterscheidungen nicht irgendwelche kontingenten Beobachtungsgeneratoren sind, die in der Wirtschaft, in der Politik, im Recht usw. neben anderen vorkommen. Sie kommen nicht in den Systemen vor, sondern sie sind es letztlich selbst, die die jeweiligen Teilsysteme als soziale Systeme konstituieren. Die angedeuteten Codierungen sind alle zweiwertig aufgebaut. Wie ich oben gezeigt habe, bilden zweiwertige Unterscheidungsräume Kontexturen, die alles andere, was nicht
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diesen Unterscheidungen unterliegt, als Drittes ausschließen (vgl. III.1b). In der modernen Gesellschaft kann demnach Macht nicht durch wissenschaftliche Wahrheit, religiöses Heil nicht durch Recht und ökonomischer Erfolg nicht durch erzieherische Operationen gesichert werden. Zwar wird niemand bestreiten, daß etwa der Zugang zu Bildung nicht völlig unabhängig von der ökonomischen Zahlungsfähigkeit ist und daß wissenschaftliche Wahrheit oft der Begründung politischer Entscheidungen dient. Gleichwohl sind solche Beziehungen zwischen den funktionalen Teilsystemen stets solche, die die Grenzen zwischen den Systemen nicht sprengen. Die Theorie autopoietischer Systeme zeigt eindeutig, daß Systeme nur innerhalb ihrer selbst operieren können und daß sie ihren Umweltkontakt ausschließlich systemrelativ, d.h. per eigene Systemoperationen, herstellen (vgl. dazu Luhmann 1984a: 242ff.). So kann etwa wirtschaftliche Kommunikation auf politische und rechtliche Umweltveränderungen ausschließlich wirtschaftlich, d.h. unter Handhabung der Unterscheidung Zahlen/Nicht-Zahlen reagieren; umgekehrt können Politik und Recht auf die Wirtschaft nicht per wirtschaftliche Operationen einwirken. Sie können Zahlungen nur so weit konditionieren, als sie politische und rechtliche Umweltbedingungen für Zahlungen herstellen. Deutlich wird dieser Zusammenhang dort, wo etwa die Intervention des einen Systems – z.B. eine politische Entscheidung über die Erhöhung von produktionsbezogenen Abgaben zur Ausstattung staatlicher Umweltprogramme – im anderen System zu systemeigenen Operationen führt, die die politische Intention womöglich konterkarieren – z.B. durch Verlegung von Produktionsstandorten ins Ausland. Das System/Umwelt-Paradigma erlaubt es, solche Fehlentwicklungen nicht als noch nicht voll ausgebildete Perfektibilität des politischen Systems zu erklären, sondern als unaufhebbare operative Differenz zwischen den Teilsystemen.70 Mit dem Begriff der operativen Differenz läßt sich erst die volle Bedeutung des Theorems der binären Codierung abstecken. Ich habe schon angemerkt, daß funktionale Teilsysteme der modernen Gesellschaft sich durch die Zweiwertigkeit ihrer Leitunterscheidung auszeichnen, die eine Welt innerhalb der Werte dieser Unterscheidung aufspannt. Zweiwertige Logiken konstituieren, so Gotthard Günther, eine monokontexturale Struktur, also eine Welt, in der nichts anderes vorkommt als das, was innerhalb dieser Unterscheidung Platz hat (vgl. Günther 1979b: 189). Dieser konstruktivistische Sachverhalt (vgl. III.1b und 3a; vgl. auch Nassehi 1992) läßt sich auch am Beispiel der funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft beobachten: Für das Wirtschaftssystem ist die Welt – sicher überspitzt formuliert – ein Anlageobjekt zur Herstellung und Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit; für die 70
Trotzdem werden auch von Protagonisten der Theorie funktionaler Differenzierung bisweilen Formulierungen gewählt, die eine Steuerung des Ganzen durch einen Teil des Ganzen nahelegen, so etwa Gunther Teubners These von der „Gesellschaftssteuerung durch reflexives Recht“ (Teubner 1989: 81ff.). Mit in diesen Zusammenhang gehört auch Richard Münchs auf Parsons rekurrierendes Interpenetrationskonzept, das wechselseitige Steuerung und Konditionierung der Teilsysteme voraussetzt (vgl. Münch 1991: passim, v.a. 135ff.). In letzter Konsequenz erhofft sich ein solches Konzept durch die Wechselseitigkeit der Interpenetration ein gemeinsames normatives Dach, das gesellschaftliche Kommunikation selbststeuernd auf systemeigene und umweltliche Faktoren reagieren läßt. Wie man sieht, kommt eine epistemologisch anders gebaute Theorie der modernen Gesellschaft zu einer anderen Beschreibung der Gesellschaft. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Interpenetrationskonzept tatsächlich empirisch gehaltvoll genug ist, denn die operative Differenz der Funktionscodes schließt es in der Moderne gerade aus, daß die Systeme ineinander eindringen und sich in Teilfunktionen substituieren und ergänzen lassen.
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Politik ein Raum, in dem Entscheidungen zu treffen sind, je nach Maßgabe, ob man die Macht noch oder noch nicht in Händen hält; für Recht eine Welt, die dadurch strukturiert ist, daß man in ihr Rechtmäßiges von Rechtswidrigem unterscheiden kann; für Religion eine Welt, in der man sich für Heil oder Verdammnis entscheiden und qualifizieren kann;71 für Wissenschaft ein Geltungsraum, in dem es wahre und unwahre Aussagen gibt. Von der konstruktivistischen Epistemologie kann man allerdings lernen, daß diese Differenzierungen die Gesellschaft nicht in Seinsbereiche, nicht in ontische Regionen einteilen. Vielmehr geht es hier nur um distinkte, nicht aufeinander abbildbare Beobachtungsverhältnisse. Nicht das Sein der Welt wird geteilt, sondern es kommt zu unterschiedlichen Beobachtungen – und das heißt bekanntlich nichts anderes als zu unterschiedlichen Handhabungen von Unterscheidungen, mit denen die Welt als ganze beobachtet wird (vgl. Luhmann 1984a: 63; vgl. auch III.3a). Man könnte sagen: Die jeweilige Beobachtung schließt aus, was sie durch ihre Leitunterscheidung nicht sehen kann, und sie schließt ein, was sie durch ihre Operationen ausschließt. Im Klartext: Rechtliche Kommunikation schließt alles aus, was nicht in die Leitunterscheidung des Rechtssystems paßt. Zugleich schließt das Recht seine binäre Opposition, das Unrecht, ausdrücklich ein, um überhaupt Unterscheidungen zu generieren. Recht gibt es nur da, wo es Unrecht gibt,72 Zahlen macht nur Sinn, wenn man es auch lassen kann, und Macht hat nur der, dem Machtlose gegenüberstehen. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch umgekehrt: Unrecht gibt es nur im Horizont von Recht, nicht zahlen kann man nur, wenn man auch zahlen könnte, und machtlos ist man nur, wenn andere die Macht innehaben. „Die strikte Zweiwertigkeit ist (...) so angelegt, daß das System auch mit Unwerten weiterläuft. Unwerte sind zwar nicht anschlußfähig, man kann mit Unwahrheiten (mit Unrecht, mit Machtlosigkeit, mit Nichthaben etc.) im System nichts anfangen; aber die Spezifikation der Tatbestände, die den Unwert erfüllen, dirigiert zugleich das, was trotzdem (oder gerade deshalb) möglich ist. Die Zweiwertigkeit garantiert, mit anderen Worten, gegenüber jedem möglichen Fall die Autopoiesis des Systems.“ (Luhmann 1990a: 191) Die Autopoiesis des jeweiligen Teilsystems autoontologisiert also anhand ihrer dem System zugrundeliegenden binären Codierung sich selbst und damit: nichts weniger als die Welt (vgl. III.3b). Letztlich handelt es sich hierbei formal um den gleichen Sachverhalt, der auch für Hochkulturen gilt: Die Gesellschaft wird anhand einer Leitunterscheidung beobachtet und beschrieben und kann sich dadurch als ganze identifizieren. Solche Ontologie- oder Kosmologiebildung leistete eine „Beschreibung des Ganzen im Ganzen“ (Luhmann 1990a: 210) und hatte gesellschaftsstrukturell auch die Position, dem Ganzen damit einen Sinn zu geben, der sich in Form einer gesamtgesellschaftlichen, stets religiösen Grundsymbolik auf nahezu alle sozialen Kontakte der Gesellschaft regulierend auswirkte. Ihre Einheit gewann diese Grundsymbolik dadurch, daß sie mit Hilfe von Letzt-, zumeist Gottesbegriffen die Kontingenz ihres Anfangs unsichtbar machte. Wie gesagt, formal sind funktionale Teilsysteme in der gleichen Lage. Sie fangen jede ihrer Operationen mit einer Leitunterscheidung, ihrem binären Code, an und können aus 71
72
Dabei hat Religion selbstverständlich immer noch den selbstgesteckten Anspruch, die Gesamtselektivität der Welt zu repräsentieren, hat aber faktisch, in der Moderne zu einem Teilsystem unter anderen degradiert, nur noch einen marginalisierten Kommunikationsanteil an gesellschaftlicher Gesamtkommunikation. Deshalb sagt Luhmann: Am Anfang war kein Unrecht (vgl. Luhmann 1989e: 11f.).
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dieser Kontextur nicht ausbrechen. Invisibilisiert wird hier die Kontingenz des Anfangs dadurch, daß der Code unhintergehbar gesetzt wird: keine Wissenschaft ohne Wahrheit, keine Ökonomie ohne Zahlung, keine Politik ohne Macht.73 Wahrheit, Zahlung und Macht sind sozusagen die God-Terms der entsprechenden Teilsysteme, was eine Transformation einer Operation eines Systems in ein anderes ausschließt. Neben der formalen Ähnlichkeit ist der strukturelle Unterschied dieser Selbstfestlegungen jedoch, daß keines der funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft jene Reichweite vormaliger kosmologischer Weltauffassungen mehr haben kann. Es bilden sich gewissermaßen nebeneinander Kosmologien aus, die damit freilich keine mehr sind und deren Bezugsprobleme völlig anderer Art sind: Nicht mehr die kosmologische Sinnhaftigkeit eines gottgewollten Kosmos mit den Aufgaben der Absorption von Differenzen und der Bewältigung des Grauens angesichts der Endlichkeit des Lebens ist Aufgabe solcher Schrumpfkosmologien, sondern der jeweilige begrenzte Funktionsbezug teilsystemspezifischer Operationen. Der horizontale Aufbau der Gesellschaft schließt keineswegs aus, daß die Teilsysteme der Gesellschaft Gesamtbeschreibungen des Gesamtsystems anfertigen. Allerdings können diese, da an ihren eigenen Code gebunden, keine für alle verbindlichen Beschreibungen abgeben. Die konstruktivistische Epistemologie lehrt: Solche funktionssystemspezifischen Beobachtungen können sich auch nicht partiell oder temporär von ihrem Code lösen, denn erstens können Systeme nicht außerhalb ihrer selbst operieren (vgl. III.1b). Zweitens ist die Form autopoietischer Systeme nicht ein Resultat der Welt, sondern die Welt resultiert gerade aus der formgebenden Unterscheidung (vgl. Spencer Brown 1971: 105f.). Teilsystemspezifische Beschreibungen der Gesellschaft bleiben notwendig teilsystemspezifisch, auch wenn Wissenschaftler, Politiker, Pfarrer oder Lehrer womöglich anderes behaupten – man ist versucht zu sagen: anderes behaupten müssen, um sich behaupten zu können. Die gesellschaftsstrukturelle Konsequenz, die aus diesen Überlegungen zu ziehen ist, heißt, daß es aufgrund der Ausdifferenzierung von für sich selbst unhintergehbaren binären Topologien74 keine zentrale Instanz von gesamtgesellschaftlicher Reichweite mehr geben kann, die alle System/Umwelt-Differenzen transzendieren und damit sinnhaft verbinden könnte. „Daher fehlt jedem Teilsystem in seiner Umweltbeziehung eine Struktur und eine Symbolik, die auf das Ganze verweist. Dieser Verweis liegt ausschließlich in der Funktion selbst, also in einem Prinzip, das die Umwelt sich gerade nicht zu eigen machen kann.“ (Luhmann 1980b: 28) „Welt“ als Einheit der Differenz von System und Umwelt wird damit in perspektivische Welten aufgelöst; aus der Monokontexturalität vormaliger ontologischer Welten wird die Polykontexturalität teilsystemspezifischer Welten in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Ein solcher, multizentrischer Weltbegriff löst „die traditionelle Zentrierung des Weltbegriffs auf eine ,Mitte‘ oder dann auf ein ,Subjekt‘ hin“ (Luhmann 1984a: 284) auf. Dies ist noch keine Beschreibung der Gesellschaft, sondern lediglich ein Symptom, das sich in der philosophischen und wissenschaftlichen Semantik niederschlägt. Es ist aber ein Ausdruck dafür, daß der modernen Gesellschaft letztlich keine Instanz mehr zur Verfügung 73 74
Damit ist der Code eines Teilsystems sozusagen der „blinde Fleck“ des Systems, den man nicht beobachten kann (vgl. Luhmann 1988b: 17), ohne in Paradoxien der Selbstanwendung zu geraten (für die Wissenschaft vgl. Luhmann 1990a: 192). Den Begriff entlehne ich von Giesen, der die Codierungen, die die jeweiligen funktionsspezifischen Räume abstecken, topologische Codes nennt (vgl. Giesen 1991: 21ff.).
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steht, von der her alle Operationen der Gesellschaft prozessiert werden könnten. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft verhindert durch die strukturdeterminierte, dynamische Stabilität der Teilsysteme eine gemeinsame Perspektive, von der her alles, was in der Gesellschaft geschieht, in eine reziproke, d.h. für beide Seiten gleichartige Beziehung gesetzt wird. Wenn innerhalb einer stratifikatorischen Struktur zwei ungleiche Systeme – etwa in Form von Rollenträgern – aufeinandertreffen, ist für beide die Gesamtstruktur der Situation transparent. Jeder weiß, wer oben und wer unten steht. Für ungleiche Teilsysteme mit binär codiertem Funktionsbezug ist dagegen Intransparenz die Regel: Die Religion sieht im Problem der Zerstörung der natürlichen Umwelt einen Eingriff in Gottes Schöpfung, besser: einen unerlaubten Eingriff, denn ganz ohne einzugreifen würde sie verschwinden. Für Wirtschaft dagegen ist es womöglich nur ein künftiger Investitionsnachteil, der sich aus früheren Investitionsvorteilen ergibt. Für die Politik ist es ein entscheidender Faktor bei der Mobilisierung von Wählerstimmen, für Erziehung schließlich ein Problem, dem man durch entsprechende ökologische Bildungsprogramme begegnen muß. Aus der operativen Autonomie der funktionalen Teilsysteme, die sich aus der engen binären Codierung ihrer Operationen ergibt, und aus der Tatsache, daß die moderne Gesellschaft keine Zentralsemantik mehr kennt, die allem, was innerhalb der Gesellschaft geschieht, einen eindeutigen Platz zuweist, darf nicht die Konsequenz gezogen werden, die funktionalen Teilsysteme stünden beziehungslos nebeneinander. Vielmehr sind sie durch ihre gesamtgesellschaftliche Funktion – im Falle des Erziehungssystems etwa Adaption von Personen an gesellschaftliche Erfordernisse – und die Leistung, die sie für andere Teilsysteme erbringen – im erwähnten Falle Erziehung von Arbeits- und Rechtsfähigkeit oder politischer Mündigkeit (vgl. Luhmann 1980b: 29) – miteinander verbunden. Dabei ist zu bedenken, daß auch die funktionalen Teilsysteme selbst keine einheitlichen Gebilde sind, die gleichsam mit einer Stimme sprechen und als Einheit operieren. Was die funktionalen Teilsysteme im Innersten zusammenhält, ist ausschließlich die Anwendung des funktionsspezifischen Codes, nicht aber die Art und Weise dieser Anwendung. Darüber entscheiden die systemeigenen Programme, die die Zuweisung von positiven und negativen Werten der Leitunterscheidung der Teilsysteme konditionieren.75 Solche Programme nehmen in der Wissenschaft die Form von Theorien, im Recht die Form von Gesetzen an, sie treten als politische, pädagogische und ökonomische Programme auf, von denen es in den funktionalen Teilsystemen stets mehrere nebeneinander gibt.76 In diesen Programmen werden Funktions- und Leistungsbezug des jeweiligen Teilsystems sinnhaft-semantisch festgelegt, um den Teilsystemprozessen eine Struktur zu geben. Doch mit dieser formalen Bestimmung ist, genau genommen, das Nebeneinander der Teilsysteme noch nicht adäquat beschrieben. Es wäre naiv zu glauben, die Teilsysteme 75
76
„(...) der Code definiert die Einheit des Systems, er macht erkennbar, welche Operationen das System reproduzieren und welche nicht. Programme sind dagegen Strukturen, die in den Operationen des Systems mal verwendet, mal nicht verwendet werden. Programme können auch, anders als der Code, durch Operationen des Systems geändert werden. Man kann die Beziehung Code/Programm daher mit den Begriffen konstant/variabel formulieren (...)“ (Luhmann 1990a: 401f.) Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß es wenige dominante oder gar ein zentrales Programm in einem Teilsystem gibt. Man kann die Geschichte der Reflexionstheorien der funktionalen Teilsysteme durchaus als Programm- und Programmablösungsgeschichte lesen; für Wissenschaft vgl. Kuhn 1967, für Erziehung Benner 1978, für Politik Zippelius 1980.
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stünden sozusagen gleichberechtigt nebeneinander. Ohne Zweifel gibt es Teilsysteme mit höherem Strukturwert für die Gesamtgesellschaft als andere. Unter Strukturwert verstehe ich keineswegs ein Eindringen funktionaler Codes in fremde Teilsysteme, etwa im Sinne von Jürgen Habermas’ Kolonialisierungsthese der Lebenswelt durch Wirtschaft und Politik (vgl. Habermas 1981b: 522). Ein Strukturwert ist vielmehr ein Erwartungsgenerator, der durch entsprechende Umweltvorgaben die Operationen anderer Teilsysteme zwar nicht steuert, aber bestimmte Erwartungslagen wahrscheinlicher werden läßt als andere. Am Beispiel der Wirtschaft läßt sich etwa sehr deutlich zeigen, daß Operationen in anderen Teilsystemen hochgradig davon abhängen, ob Geld vorhanden ist oder nicht. Sowohl Wissenschaftler als auch Pfarrer, Lehrer, Richter und Verwaltungsbeamte müssen bezahlt werden. Weder Forschung noch die Umsetzung politischer Programme sind ohne Geld zu haben. Daraus aber die Konsequenz zu ziehen, die Wirtschaft oder, je nach Präferenz, die Politik oder das Recht seien die Zentralinstanz der Gesellschaft, wäre falsch. Denn auch wenn Forschung bezahlt werden muß, müssen die Ergebnisse der Forschung auf wissenschaftlichem Wege gewonnen werden,77 und wo Forschung von politischen Dogmen eingeschränkt wird, muß trotzdem innerhalb der wissenschaftlichen Kontextur argumentiert werden.78 Entscheidend für die Diagnose der modernen Gesellschaft ist, daß es zum einen aus Gründen der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft keine Zentralsemantik zur Integration der verschiedenen Funktionen geben kann, daß es zum anderen aber Teilsysteme gibt, die die Operation der anderen Systeme stärker einschränken als andere. Hier spielt ohne Zweifel das ökonomische System eine entscheidende Rolle.79 Für die hier zu entwerfende Gesellschaftstheorie der Zeit ist es nicht nötig – und aus Platzgründen auch gar nicht möglich -, diese gesellschaftsdiagnostischen Zusammenhänge 77
78 79
Politische Parteien etwa vergeben Geld an Wissenschaftler. Deren Ergebnisse kommen als Gutachten der Regierung, Gegengutachten der Opposition, Gegengutachten der Regierung und so fort in der Politik an. Man weiß natürlich als Regierender/Oppositioneller/Außerparlamentarischer, wen man mit einem Gutachten beauftragt, und man ist schlecht beraten, den Wert der Wissenschaft überhaupt in Frage zu stellen, weil zum gleichen Gegenstand völlig konträre Auffassungen mit dem Siegel wissenschaftlicher Wahrheit versehen werden können. Anders könnte es nur sein, wenn man am Gedanken eines substantiellen und damit exklusiven Wahrheitsbegriffs festhielte. Man darf daraus nicht auf käufliche Wissenschaft und Kolonialisierung der Wissenschaft durch Geld schließen, obwohl es dies selbstverständlich auch gibt. Doch selbst in diesem Falle wird das erkaufte Gutachten nicht mit der Höhe des Schmiergeldes, sondern mit wissenschaftlichen Begründungen argumentieren. Es ist zu bedenken, daß die Einheit der Wissenschaft allein durch Anwendung des Codes, nicht aber durch die Ergebnisse dieser Anwendung gestiftet wird. Welche Aussagen welcher Seite einer Unterscheidung zuzuweisen sind, ist eine Frage der Programme, im Falle der Wissenschaft also von Theorien. Von diesen gibt es bekanntlich viele – und sie können nicht alle grau sein, sonst könnte man sie nicht unterscheiden. Ich erinnere nur an das Kuriosum der Durchhalteparolen im real existiert habenden Sozialismus der ehemaligen DDR, wo man den Code selbst sogar an den Wandplakaten der Partei fand: „Die Lehre von Marx und Engels wirkt, weil sie wahr ist.“ Nur zur Erläuterung: Einschränkung heißt nicht Eingreifen in die operative Autonomie der Systeme. Lediglich die Umweltfaktoren können geändert werden, was das betroffene Teilsystem nicht determiniert, sondern lediglich dazu nötigt, nach Maßgabe eigener Unterscheidungen darauf operativ zu reagieren. Luhmann schlägt zur Beschreibung dieses Sachverhalts den Begriff Irritation vor. „Die wechselseitige Abhängigkeit wird herabgesetzt auf die Form wechselseitiger Irritation, die nur im jeweils irritierten System bemerkt und bearbeitet wird.“ (Luhmann 1990a: 36) Was also als Irritation registriert wird, entscheidet sich allein nach Maßgabe des irritierten Systems. Eine irritierende Intervention von außen ist damit ausgeschlossen.
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weiter auszuführen. Die kurzen Andeutungen mögen deshalb genügen, um die Grundstruktur der Theorie funktionaler Differenzierung, deren Ausbau als Gesellschaftstheorie noch aussteht, deutlich zu machen. Entscheidend für das hier zu verhandelnde Thema ist jedenfalls folgende Grundstruktur der Moderne: „Eine Gesellschaftsordnung dieses Typs (...) erfordert ein hohes Maß an Ausdifferenzierung und funktionaler Autonomie der Teilsysteme, verzichtet auf eine starre Regulierung des Verhältnisses dieser Systeme zueinander, ersetzt also generell Intersystembeziehungen durch System/Umwelt-Beziehungen, also ,strict coupling‘ durch ,loose coupling‘. Eben dies macht es schwierig, die Gesellschaft als Einheit in der Gesellschaft noch zu erkennen, ganz zu schweigen davon, sie zu repräsentieren.“ (Luhmann 1987d: 35) Konnte die Frühmoderne solche Repräsentation noch über Geschichts-, Fortschritts-, Vernunfts- oder Nationalitätssemantiken simulieren, sind solche Versuche in der entwickelten Moderne noch unwahrscheinlicher. Zwar gibt es auch heute durchaus prominente Versuche, solche Einheitschiffren zu reformulieren – am elaboriertesten sicher Habermas’ Beschwörung der Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen, die die kommunikative Vernunft als „schwankende Schale im Meer der Kontingenzen“ (Habermas 1988d: 185) ansetzt. Angesichts der unaufhebbaren operativen Differenzen wirken solche Versuche aber nachgerade unbeholfen, weil sie eine Funktion zu restituieren suchen, die angesichts der Autonomie der Funktionssysteme, die sich kaum irritieren lassen, zum „Simulakrum“ (Baudrillard 1982: 77ff.) einer Einheit schrumpft, die längst den Differenzen gewichen ist.80 Denkbar bleibt allein die unaufhebbare Differenz wechselseitiger Beobachtungsverhältnisse. Systeme können das womöglich sehen. Sie bekommen dann in den Blick, daß andere Systeme anders beobachten. Es ist dies derjenige Sachverhalt, den ich oben bereits als Beobachtung zweiter Ordnung diskutiert habe (vgl. III.3b). Zwar ist auch das Beobachten von Beobachtungen nichts anderes als Beobachten, i.e. Handhaben einer Unterscheidung, die sich selbst nicht weiter unterscheiden kann. „Auch dies kann die eigenen Horizonte nicht durchstoßen. Auch es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann aber durch Einbau von Erfahrungen mit Beobachtung zweiter Ordnung Rückschlüsse auf sich selbst ziehen. Es kann wenigstens sehen, daß es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann. 80
Man kann darin – wenn man so will – ein affirmatives Verhältnis zur Welt sehen, aber nur dann, wenn man eine grundlegende Prämisse teilt, die einer solchen Diagnose zugrunde liegt: Die Theorie autopoietischer Systeme habe allein die Aufgabe, die Bedingungen für die Bestandserhaltung der bestehenden Strukturen anzugeben: „Unter dem Namen der Systemrationalität bekennt sich die als vernünftig liquidierte Vernunft zu genau dieser Funktion: sie ist das Ensemble der Ermöglichungsbedingungen für Systemerhaltung.“ (Habermas 1985b: 431; vgl. auch Ebeling 1987: 45) Dazu läßt sich nur sagen, daß dieser Vorwurf mit dem Paradigmenwechsel zur Theorie autopoietischer Systeme nicht mehr gelten kann. Die Parsonssche strukturell-funktionale Theorie hatte in der Tat noch die Bestandsfrage angesichts feststehender Strukturbedingungen in den Vordergrund gestellt. Die Theorie autopoietischer Systeme dagegen kann das Bestandsproblem in dieser Weise aufgrund der Temporalisierung der Systemelemente gar nicht mehr in dieser substantialistischen Weise fassen. „Es geht nicht mehr um eine Einheit mit bestimmten Eigenschaften, über deren Bestand oder Nichtbestand eine Gesamtentscheidung fällt; sondern es geht um Fortsetzung oder Abbrechen der Reproduktion von Elementen durch ein relationales Arrangieren eben dieser Elemente. Erhaltung ist hier Erhaltung der Geschlossenheit und der Unaufhörlichkeit der Reproduktion von Elementen, die im Entstehen schon wieder verschwinden.“ (Luhmann 1984a: 86; vgl. auch die Unterscheidung von Struktur und Prozeß, III.2d) War für die erste Generation soziologischer Systemtheorie noch Instabilität und Strukturwandel der unwahrscheinlichere Fall, sind für die Theorie autopoietischer Systeme eher Stabilität und Bestand hochunwahrscheinlich. Eine per se affirmative Theorieanlage läßt sich aus diesem Ansatz sicher nicht begründen.
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In dem Maße, als die Gesellschaft strukturell in der Lage ist, Beobachtungen zweiter Ordnung zu ermöglichen, kann sie Systeme ausdifferenzieren, die beobachten können, was andere Systeme nicht beobachten können.“ (Luhmann 1989a: 334) Daraus kann selbstverständlich keine einheitliche Perspektive erwachsen; Systeme können aber womöglich lernen, die Differenz der Differenzen zu sehen, und sich so auf die wechselseitige Differenz der Perspektiven einstellen.81 Diese Andeutungen mögen genügen, den strukturellen Aufbau der modernen Gesellschaft zu erläutern. Ihr entscheidendes Signum ist die Differenz der Perspektiven, die sich aus ihrer funktionalen Differenzierung ergibt und die nirgends innerhalb der Gesellschaft zu einer Einheit gebunden werden kann. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Handhabung von Zeit, die sich bereits mit der Frühmoderne ankündigen, die aber in der Entwicklungsgeschichte der Moderne selbst zu erheblichen Strukturänderungen führen. Ich werde mich diesem Problem nun zuwenden.
b)
Differenz und Synchronisation
Auf der Ebene der Zeit der Autopoiesis stellt sich die moderne Gesellschaft als ein Nebeneinander unterschiedlicher Ereignistemporalitäten dar, die je für sich selbstreferentielle Eigenzeiten ausbilden. Nachdem es unter Bedingungen funktionaler Differenzierung keine zentrale Repräsentation der Einheit der Gesellschaft mehr geben kann, bietet sich auch kein Platz mehr für eine zentrale Semantik einer Zeit der Gesellschaft, die eine Koinzidenz der temporalen Perspektiven zu stiften in der Lage sein könnte. Im 20. Jahrhundert gelingt es immer weniger, die Einheit der Gesellschaft wenigstens in der Weise zu simulieren, daß man über anthropologische oder ethnische Universalien (Sozialdimension), über verbindliche Ziele und erstrebenswerte Sachverhalte (Sachdimension) oder über Fortschritts- und Geschichtstopologien (Zeitdimension) gesellschaftliche Kommunikation flächendeckend konditionieren könnte.82 In der Handhabung von Zeit schlägt sich dies in der Weise nieder, daß sich mehrere Zeithorizonte nebeneinander ausbilden, die sich gegenseitig beobachten. 81
82
Georg Kneer reformuliert auf der Grundlage dieses Sachverhalts gesamtgesellschaftliche Rationalität nicht mehr als Einheitschiffre mit dem Ziel einer Konvergenz der Perspektiven, sondern als reziproke Handhabung der Differenz von Beobachtungsschemata. „Dazu muß aber der Begriff der gesamtgesellschaftlichen Rationalität (...) von Einheit auf Differenz, von ,gesamtgesellschaftlich verbindlicher Regulierung eines zentralen Teilsystems‘ auf ,rekursives Zusammenspiel vieler Teilsysteme‘ umgestellt werden.“ (Kneer 1992: 106) Womöglich wagt sich schon diese vorsichtige Formulierung zu weit vor, auch wenn Kneer das Problem selbst sieht: wer stellt um? Dies kann nur durch die Teilsysteme selbst geschehen, d.h. daß gesamtgesellschaftliche Rationalität durch die unabhängig voneinander auftretenden Voraussetzungen in den einzelnen Teilsystemen ein hochunwahrscheinlicher Zustand ist, der sich v.a. wechselseitig nicht kontrollieren läßt. Am erfolgreichsten scheint gegenwärtig noch die Einheitssimulation durch nationale und ethnische Semantiken zu sein. Allerdings muß man sich davor hüten, im Erstarken solcher Konditionierungsformeln mehr Einheit zu erwarten, als sie unter Bedingungen funktionaler Differenzierung faktisch bereitzustellen in der Lage sind. Auch wenn ethnische Konflikte bis heute den Grund für bewaffnete Auseinandersetzungen liefern, sind solche sekundären Kollektivierungen heute weniger stabil als im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die sich in Form von ethnischer Mobilisierung zeigende Renaissance nationaler Topoi ist, wie jede Form kollektiven Handelns in Gesellschaften mit hohem Individualitätsgrad, ein hochkontingentes und -unwahrscheinliches Geschehen. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von „zufälligen Prozessen der Häufung und Zersetzung von Engage-
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Sich gegenseitig beobachtende Systemprozesse verweisen auf die Gleichzeitigkeit von Operationen, die sich in der Sachdimension radikal voneinander unterscheiden. Wenn man das Phänomen des Erlebens von Gleichzeitigkeit mit Luhmann tatsächlich an der Differenz von Sachverhalten festmacht (vgl. Luhmann 1990d: 99), ist die Organisation von Zeit in der modernen Gesellschaft an eine konkrete Gegenwart gebunden, die nur noch als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft erlebt wird. Die ausgedehnte Gegenwart der traditionalen Gesellschaft zeichnete sich noch dadurch aus, daß Ewigkeit als Horizont des Erlebens von Wandel in die Gegenwart hineinragte und so der Welt eine kalkulierbare Form gab, die letztlich gar kein Kalkül erforderte, weil Entscheidungen kaum kontingent waren. „Deshalb zerbricht auch die Unterscheidung von tempus und aeternitas, von Zeit und Ewigkeit, mit der sich, wenn man so sagen darf, die Gegenwart gegen ihre eigene Flüchtigkeit gewehrt hatte. An die Stelle dieses Duals tritt die Notwendigkeit einer einheitlichen Weltzeit, die die Gegenwart nur noch durch die Differenz von Vergangenheit und Zukunft und eben nicht mehr zugleich durch die Differenz von zeitlicher und ewiger Gegenwart markiert.“ (ebd.: 124; Hervorh. A.N.) Weltzeit meint ein temporales Koordinationssystem, das es erlaubt, die verschiedenen funktionsspezifischen Systemgeschichten am Normalmaß eines gemeinsamen Horizonts abzustimmen. Sie bildet das funktionale Korrelat einer Gesellschaft, in der sich eigensinnige funktionale Teilsysteme mit je eigenen temporalen Verweisungsstrukturen ausdifferenziert haben und in der diese füreinander zwar irreduzibel Umwelt, gleichwohl aber stets wechselseitig aufeinander bezogen sind. Durch die Differenz der Sachdimension, i.e. der Funktionsbezüge der funktionalen Teilsysteme kann eine Synchronisation der Systemprozesse nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Wie ich oben schon betont habe, sind Synchronisation und Gleichzeitigkeit zwei unterschiedliche Sachverhalte: Zwar sind sich System und Umwelt stets in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit gegeben, doch ist damit das Problem einer zeitlichen Abstimmung sachlich differenter Systemprozesse noch gar nicht berührt. Dies kann erst durch Techniken der Synchronisation der sachlichen Differenzen geleistet werden. Um dies zu erreichen, kann der Rekurs auf die eigene Systemgeschichte nicht ausreichen. Aus der Eigenzeit ökonomischer Handlungsverläufe etwa läßt sich nicht auf den Zeitbedarf politischer Entscheidungen schließen, die etwa für die ökonomische Entscheidung über Investitionen von Bedeutung wären. Zwar kann es wegen der Differenz der Differenzen, i.e. durch die irreduzible operative Differenz der Beobachtungen, nicht gelingen, die Zeithorizonte zweier funktionaler Teilsysteme verschmelzen zu lassen. Funktional entsteht damit aber die Notwendigkeit abstrakter Formen temporaler Vermittlung, die nicht in ments“, die eine „temporär starke, aber rasch wieder auflösbare Bindung“ (Luhmann 1989c: 255) zeitigen. Solche temporären Bindungen als Möglichkeitsbedingung für kollektive Bewegung treten in Form ethnischer Mobilisierung meist dann auf, wenn weder das ökonomische noch das Politik- oder Rechtssystem in der Lage sind, eine Generalinklusion der Gesellschaftsmitglieder sicherzustellen. Daß dies ausgerechnet anhand ethnischer/nationaler Folien geschieht, läßt sich damit erklären, daß ethnische Semantiken askriptive Merkmale in Form von Sprache, lokalen Sitten und historischen Zurechnungen über die gesamte Geschichte der Moderne gleichsam unter der Oberfläche mitgeführt haben. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, ethnische Semantiken seien gleichsam ein vormoderner Nachklang in der Moderne (so etwa Esser 1988). Ganz im Gegenteil sind solche Topoi genuin moderne Erscheinungen, die seit der französischen Revolution diejenige Einheit simulieren, die gesellschaftsstrukturell ortlos geworden ist, die aber insbesondere während ökonomischer und politischer Strukturkrisen durchaus erheblichen Strukturwert mit zum Teil explosiven Folgen erlangen können (vgl. Nassehi 1990: 269ff.).
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der Eigenzeit der Systeme begründet liegen (vgl. Luhmann 1975b: 111). Abstrakt bedeutet: Abstrahierend von den jeweiligen systemeigenen Codes der Funktionssysteme und gerade wegen dieser Abstraktion überall handhabbar. Eine solche abstrakte Form der Vermittlung muß also generalisierbar sein, d.h. sie darf nicht exklusiv an ein teilsystemspezifisches Zeitregime gebunden sein. Sie ist – aus der Sicht der einzelnen Systemgeschichten – transzendente Zeit, jedoch nicht ewig und kairologisch, sondern chronologisch strukturiert. Diese transzendente Zeit liegt zwar jenseits der innergesellschaftlichen System/Umwelt-Differenzen, chiffriert aber nicht – wie im Mittelalter – Welttranszendenz und gottbezogene Fremdreferenz, sondern Weltimmanenz und gesellschaftliche Selbstreferenz. Die Weltzeit ist Systemzeit, nämlich die Beobachtungszeit des Gesellschaftssystems als ganzem. Symbolisiert und semantisiert wird die Weltzeit als Uhrzeit, die weder mit einer realen Zeitstruktur jenseits der Gesellschaft zu verwechseln ist, noch als „eigentliche“ Zeitstruktur stilisiert werden darf, die der Zeit der Autopoiesis zugrunde liegt. Uhrzeit ist nichts anderes als eine spezifische Form der Beobachtungszeit, also der durch Beobachtung von ereignisbasierten Prozessen generierten Handhabung temporaler Differenzen. Das Besondere an ihr ist jedoch, daß sie die Zeit der Gesellschaft nicht aus den kommunikativen Ereignissen selbst gewinnt, sondern diesen sozusagen bereits vorliegen muß, um ihre Koordinationsfunktion erfüllen zu können. Die Uhrzeit benutzt dafür mechanische, elektromechanische, elektronische und sogar nukleare Ereignisreihen,83 um durch Zählung der Ereignisse ein Maß der Zeit zu erhalten.84 Die gezählten Prozesse, besser: die Ereignisse, die als Prozeß beobachtet werden, zeichnen sich dadurch aus, daß sie strikt homogen sind und somit ein einheitliches Maß abgeben können. Daraus resultiert als Uhrzeit eine Zeitstruktur, die homogen, reversibel, bestimmbar und transitiv ist: Sie ist homogen, weil sie als Zeiteinheiten gleiche und gleichförmige Zeitsequenzen hat; sie ist deshalb reversibel, d.h. Verläufe sind rückrechenbar und bieten dadurch die Möglichkeit der Bestimmung vergangener Dauer und der Antizipation zukünftigen Zeitgebrauchs; sie ist bestimmbar, indem sozial standardisierte Zählweisen zu abstrakten Zeitrechnungen generalisiert werden; und sie ist transitiv, d.h. Zeitsequenzen, die an verschiedenen Ereignis- und Handlungsketten zu verschiedenen Zeiten und Orten gemessen werden, können quantitativ miteinander verglichen werden (vgl. Luhmann 1975b: 111).85 83
84
85
Zu den verschiedenen Techniken der Zeitmessung vgl. Landes 1983: passim. Bei Landes finden sich übrigens auch mannigfaltige Materialien über die Geschichte der Welt- und Uhrzeit, die selbstverständlich nicht im 20. Jahrhundert beginnt, sondern seit dem Beginn der Auflösung traditioneller Lebensformen funktional immer bedeutungsvoller wurde. Für meinen Argumentationszusammenhang spielt diese historische Dimension keine Rolle, so daß ich auf die einschlägige Literatur verweise (vgl. Wendorff 1985: passim; Schmied 1985: 66ff.; Whitrow 1991: 157ff.; Janich 1980: passim). Diese Formulierung erinnert stark an Aristoteles’ Definition der Zeit als „Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Frühere und das Spätere“ (Aristoteles, Phys. IV: 219b). Allein, hier wird erneut deutlich, daß sich Zeit gerade nicht als Bewegung auffassen läßt, weil es gerade nicht die Einheit des sich Wandelnden ist, was man als Zeit beobachtet, sondern die Einheit der Differenz der einzelnen Ereignisjetzte, die dann sekundär als Bewegung erscheint (vgl. dazu auch I.2a). Die Genese dieser Zeitstruktur ist paradox: Die Gleichförmigkeit der Weltzeit im Uhrentakt resultiert aus der Homogenität der Ereignisstruktur des Meßparameters, dessen Homogenität allerdings erst durch Anwendung seines Derivats, i.e. der Uhrenzeit, ermittelt werden kann. Auch hier tritt also die Form der Zeit in der Zeit auf, wobei allerdings die Beobachtung der Homogenität der die Zeit konstituierenden Ereignisse durch die Transformation in räumliche Homogenität gewonnen wird. Bei mechanischen Uhren ist dies unmittelbar evident, denn die Bewegung des Zeigers verläuft entlang einer homogenen Minuten-
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Diese homogene, lineare und hochabstrakte Zeitstruktur liegt in der Weltgesellschaft nahezu allem kommunikativen Geschehen zugrunde. Sie dient allerdings, dies sei noch einmal betont, nicht dazu, Gleichzeitigkeit zwischen den verschiedenen Systemprozessen herzustellen. Diese ist ohnehin gegeben. Was die Welt-/Uhrenzeit86 vielmehr leistet, ist eine Koordination in der Sachdimension. Am Beispiel der ökonomischen Erwartung politischer Rahmenbedingungen für unternehmerisches Entscheiden läßt sich sehen, daß zwar die Gleichzeitigkeit der Systemprozesse dadurch gegeben ist, daß ökonomische Kommunikation registriert: noch kein Signal aus der Regierungspartei, die Gremien diskutieren noch, zur Zeit weiß niemand, wie die Kräfteverhältnisse stehen etc. All dies weiß man gleichzeitig, und das heißt immer: gerade jetzt. Temporale Synchronisation aber spannt differenzierte Zeithorizonte auf, und man weiß: am Tag X wird im Parlament entschieden, oder: am Anfang des kommenden Jahres gilt die neue Steuerverordnung oder das neue Außenhandelsgesetz. Synchronisation heißt also in diesem Fall: Man kann kalkulieren, wann was geschieht, wann in der Sachdimension etwas geschieht und wie man die eigenen Zeitpläne darauf einzustellen hat.87 Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Intersystembeziehungen von funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft, sondern für die Koordination sachlicher und sozialer Topoi, etwa in Interaktionen und Organisationen, schlechthin. Ob ich mich um 20 Uhr zum Bier verabrede, ob ich weiß, daß am nächsten Montag die neue Waschmaschine geliefert wird und ob ich schon jetzt erwarte, daß es zwei Wochen dauert, bis der Handwerker kommt, wenn sie kaputt ist – immer wird die hochgeneralisierte Koordinationszeit wie selbstverständlich vorausgesetzt. Wäre diese Funktionsstelle nicht besetzt, soziale Ordnung wäre unter Bedingungen radikaler sachlicher Differenzen, wie sie als Folge funktionaler Differenzierung zu beobachten ist, nicht möglich: „In the modern social order, clocks are co-ordinated through uniform time dimensions, linked globally across space. Without such linkages, which depend essentially upon the formation of standardized social conventions, the modern world simply could not be ordered as it is.“ (Giddens 1987a: 142; vgl. auch Zerubavel 1981: 69) Die Funktion der Welt-/Uhrenzeit zur Synchronisation von Systemgeschichten und zur temporalen Parallelisierung von Unterschiedlichem hat zwar erhebliche Bedeutung für die Autopoiesis der jeweiligen Systemprozesse der funktionalen Teilsysteme. Das heißt aber
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einteilung, und auch ein Oszillograph arbeitet mit einer homogenen Abszisse, über bzw. unter der sich die Amplituden schwingender Caesium-Atome oder Quarze nacheinander ausbreiten. Jedoch dient die Verräumlichung des Phänomens lediglich der Invisibilisierung der temporalen Paradoxie. Denn die räumliche Homogenität läßt sich nur aus der gleichförmigen Bewegung – des Uhrzeigers bzw. der Phasengeschwindigkeit des Oszillographen – ableiten, diese aber ist bekanntlich ein Derivat temporaler Differenzen, womit die Paradoxie wieder sichtbar wäre. Womöglich ist es gerade diese paradoxe Lage, die es so nahelegt, die Zeit als etwas Reales, als ein Objekt anzunehmen, das durch Uhren gemessen wird. So wird man der Selbstbezüglichkeit der Zeit, die ein Maß ihrer selbst ist, nicht ansichtig. Im folgenden nenne ich die lineare, homogene Koordinationszeit Welt-/Uhrenzeit, weil sie zum einen als Weltzeit die Welttranszendenz jeder System/Umwelt-Differenz symbolisiert und weil sie zum anderen semantisch als zahlenförmige Uhrenzeit in Erscheinung tritt. Wenn das womöglich zu abstrakt erscheint, bedenke man etwa die Verhaltensunsicherheit der Wirtschaft bei der Frage, wie sich das Datum des 1.1.1993 (EG-Binnenmarkt) auf gesamtwirtschaftliche Prozesse auswirkt. Dieses Datum synchronisiert die entsprechenden Bemühungen, ohne sie jedoch damit zentral zu steuern. Synchronisation beschränkt sich sozusagen auf die Handhabung von Gleichzeitigkeit: Wir wissen, wann sich etwas Bestimmtes ereignet, und müssen den eigenen Systemzustand darauf abstimmen, um in der Gleichzeitigkeit des Ereignisses nicht überrascht zu werden.
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nicht, daß eine solche Synchronisation auch Erfolg hat. Sie ist nicht in der Lage, die verschiedenen Systemprozesse sachlich zu koordinieren, sie kann lediglich systemrelative Zeit- und Entscheidungsplanung so strukturieren, daß sich von teilsystemspezifischen Kommunikationen erwartete Gleichzeitigkeitsverhältnisse zumindest initiieren lassen. Doch auch das hebt die sachlichen Differenzen nicht auf; im Gegenteil: gerade sie sind es, die durch ihre Synchronisation besonders deutlich hervortreten. Insofern war etwa die klösterliche Einteilung von Gebetszeiten letztlich kein Mechanismus der Synchronisation, weil es nur darum ging, „gleichartige Tätigkeiten zur gleichen Zeit sicherzustellen, also die Differenz von anwesend/abwesend zu überwinden“ (Luhmann 1990d: 123). Die heutige Chronometrie dagegen hat es über die Frage der Herstellung von Gemeinsamkeit trotz Abwesenheit hinaus – Beispiel: der Jahreswechsel in der Sylvesternacht – mit der Frage zu tun, wie „gleichzeitig Verschiedenes getan werden kann und die Ergebnisse trotzdem koordinierbar bleiben“ (ebd.). Die Welt-/Uhrenzeit ist gewissermaßen das Maß der Differenzen in der Sachdimension, das es erlaubt, die Weltsicht über die bloße Gleichzeitigkeit des Jetzt der System/Umwelt-Verhältnisse hinaus zu dynamisieren. Die wirtschaftliche Beobachtung politischer Beobachtungen etwa – also Beobachtung zweiter Ordnung – benutzt die Welt-/Uhrenzeit, um nicht nur sehen zu können, wie ein anderes System die Welt sieht, sondern um zusätzlich sehen zu können, wie sich die Systemprozesse eines anderen Systems in der temporalen Dynamik ihrer Eigenzeiten verhalten. Zeit dient dabei nur als ein reziprokes Beobachtungsschema, nicht aber als Überbrückerin der operativen Differenzen zwischen den funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft. Das unterscheidet sie übrigens radikal von derjenigen Synchronisationsfunktion, die an der Epochenschwelle zur Moderne anhand von Fortschritts- und Geschichtssemantiken durch die Herstellung einer sachlichen Koinzidenz der Perspektiven per temporaler Koinzidenz einer qualitativen Weltzeit angestrebt wurde. Diese Weltzeit ist quantifiziert worden und damit ihres sinnhaften Charakters für die Gesamtselektivität der Welt verlustig gegangen. Diese Formulierung zwingt geradezu zu der Diagnose, daß die Zeit nicht mehr in der Lage ist, die Funktionsstelle der Religion zu übernehmen. Hat man an der Epochenschwelle zur Moderne durch Individualisierung des Problems der Ewigkeit die Welt für die Heiligung der Zeit als Motor des Fortschritts und der historischen Vervollkommnung freigegeben,88 kann in der Moderne die Zeit nurmehr als verrechenbares, abstraktes Medium begriffen werden. Letztlich kann man von der Zeit selbst nichts mehr erwarten, außer dies: daß sie permanent vergeht und also ein knappes Gut ist. Wodurch kommt diese Transformation zustande? Es wäre zu einfach, sich allein mit dem Befund zufriedenzugeben, die Moderne könne keine zentrale Repräsentation des Ganzen mehr leisten. Letztlich konnte das auch schon das 18. Jahrhundert nicht mehr, weshalb ich oben von einer Simulation von Einheit durch ethnische, nationale und vor allem temporale Topoi gesprochen habe.89 Eine solche Simulation kann nur solange gelingen, als sich 88 89
Vgl. dazu meine Überlegungen zum Rückzug der Religion von der Welt in die individuelle Dimension des sterblichen Menschen, IV.4b. Nur um Mißverständnissen vorzubeugen: Wenn ich von Simulation spreche, meine ich keineswegs, es könne auch eine nicht simulierte, sozusagen substantiell eigentliche und wahre Einheit der Gesellschaft geben. Der Begriff Simulation meint lediglich, daß es offenbar eine Divergenz zwischen der gesellschaftsstrukturellen Verfassung des Nebeneinanders divergenter, nicht durch direkte Reziprozität aufeinander bezogener Ereignistemporalitäten und einer Einheitssemantik gibt, deren Sitz im Leben kaum
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die verschiedenen Systemprozesse tatsächlich miteinander parallelisieren lassen und solange relativ stabile Lebensformen in der „bürgerlichen“ Gesellschaft diese Parallelisierung ansatzweise verbürgen konnten. Diese Einheit der Gesellschaft ist bekanntlich daran gescheitert, daß die fortschreitende funktionale Differenzierung der Gesellschaft zu einer Individualisierung von Lebenslagen und -formen geführt hat, die einheitliche Sozialmilieus immer unwahrscheinlicher werden ließen und die sich von den Systemprozessen der funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft weitgehend entfernt haben.90 Indem die Gesellschaft in mannigfaltige Differenzen zerfällt, entstehen vielfältige zeitliche Orientierungen und Perspektiven, die zumindest technisch miteinander verknüpft werden müssen. „Die Integration ihrer Verpflichtungen wird nur noch formal über Zeitdispositionen bewerkstelligt und nicht mehr durch ein übergreifendes Ethos sichergestellt.“ (Luhmann 1984a: 579)91 Auch wo dieses Ethos zumindest semantisch als Einheit des Fortschritts oder der Geschichte noch gepflegt wird, reduziert sich das Zeitproblem operativ auf die technische Bewerkstelligung der Abstimmung von Unterschiedlichem hinsichtlich der Zeit. Wie Wendorff eindrucksvoll zeigt, ist spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, also gleichzeitig mit der Historisierung der Geschichte und dem Entstehen von weltgeschichtlichen Entwürfen, die eine positive Entwicklungsrichtung vorgeben,92 eine ungeheure Dynamisierung der Gesellschaft zu beobachten. Dies zeigt sich an Phänomenen wie weltumspannendem Handel, Ausbau der Verkehrswege, immer schnellerem Transfer von Informationen,93 hochgradiger Arbeitsteilung industrieller Produktion mit der Notwendig-
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mehr aufgefunden werden kann. Die funktionale Differenzierung erlaubt es gerade nicht, die Differenz zwischen den Funktionssystemen aus allen Perspektiven gleich zu codieren, wie dies die zentrale Semantisierung der Oben/unten-Differenz zu leisten vermochte. In der Moderne scheint man also von der Einheit der Differenzen auf die Differenz der Differenzen umschalten zu müssen (vgl. dazu Nassehi 1991a: 227). Vgl. dazu unter dem Stichwort Individualisierung ausführlicher IV.5c. Was Habermas die Entkoppelung von System und Lebenswelt nennt, bildet den hier beschriebenen Sachverhalt ansatzweise ab (vgl. Habermas 1981b: 522). Während Habermas aber in einem Begriff kommunikativer Vernunft der Lebenswelt eine zumindest kontrafaktische Einheit unterstellt (vgl. Habermas 1988c), wird hier unter differenztheoretischen Gesichtspunkten die primäre Differenzierung der Gesellschaft an den Funktionssystemen festgemacht, die nur wegen ihrer stabilen, binären Codierungen – zumindest operativ – einheitsfähig sind. Das kann man von dem in der Umwelt der Teilsysteme stattfindenden kommunikativen Geschehen sicher nicht behaupten, denn was soll seine Einheit letztlich begründen? Die Aufklärungsemphase und Universalismuseuphorie der französischen Revolution hat kaum ein Jahrhundert gehalten. Vielleicht kann man auch hier von einer Art Parusieverzögerung sprechen, die die Euphorie der Frühmoderne in die Pragmatik der industriellen Revolution und der Moderne des 20. Jahrhunderts übergehen ließ. Vielleicht ist die Analogiebildung ein wenig gewagt, aber die technische Synchronisation über Welt-/Uhrenzeit-Dispositionen gleicht funktional dem mittelalterlichen Pragmatismus, das Ausbleiben der Parusie in der zur Verfügung stehenden erlebbaren Zeit mit der Konstruktion einer Ewigkeit zu kompensieren, die in die Gegenwart hineinragt. So konnte die Kontinuität des Alltags gesichert werden. Zugleich ähneln die in der kulturellen Semantik der Intelligenz im 20. Jahrhundert stets lebendigen Versuche, die Einheit der Vernunft, der Geschichte oder zumindest der unreduzierten Erfahrung zu formulieren, den chiliastischen und millenaristischen Versuchen, die Kontinuität der Welt zugunsten der Erfüllung verheißenen Sinns zu sprengen. Paradigmatisch für eine solche Auffassung ist, um nur einen Autor zu nennen, Auguste Comtes Dreistadiengesetz: Comte unterscheidet bekanntlich drei evolutionär aufeinander aufbauende theoretische Zustände: „den theologischen oder fiktiven Zustand, den metaphysischen oder abstrakten und endlich den wissenschaftlichen oder positiven“ (Comte 1973: 74), in dem sich die Weltgeschichte erfüllt. Einer der wirkungsvollsten Synchronisatoren in der modernen Gesellschaft sind ohne Zweifel die Massenmedien, die die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Information geradezu erzwingen (vgl. Hömberg
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keit der Abstimmung von verschiedenen Produktionssequenzen an verschiedenen Orten etc. (vgl. Wendorff 1985: 414ff.). Diese weltumspannenden Ereignisreihen der Weltgesellschaft, die keine regionalgesellschaftlichen Grenzen mehr kennt, bedürfen einer technischen Koordination durch Zeit, und zwar durch die formalisierte, quantifizierte und damit verrechenbare Welt-/Uhrenzeit, die nichts anderes mehr sein will als ein leeres Maß. Sie ist explizit kein funktionales Äquivalent der sinnhaften Einheit der Geschichte, vielmehr prozessiert sie deren Differenzen.94 Die Formalisierung der Welt-/Uhrenzeit und ihr selbständig gewordener Charakter reduziert das Zeiterleben auf die Gegenwart. „Die Zeit rann und rieselte nicht mehr still-kontinuierlich dahin, sondern machte sich stets aufs neue recht aufdringlich als aktueller Moment bemerkbar.“ (ebd.: 418) Jedoch nicht der Augenblick der Renaissance, die selbstbewußte Gegenwart angesichts des Wiedererstehens vollkommener Formen ist hier gemeint, die sich noch ähnlich selbst genügt wie die mittelalterliche ausgedehnte Gegenwart. Auch nicht der existentielle Augenblick als Kairos der Entscheidung, wie er etwa in Kierkegaards Ernst zum Ausdruck kommt, ist angesprochen (vgl. Kierkegaard 1964: 177). Der aktuelle Moment wird vielmehr als Grenze erlebt, die sich zwischen den Spuren, die die Vergangenheit hinterläßt, und den Entscheidungen, die in der Zukunft Bedeutung gewinnen, behaupten muß. Dieses Zusammenziehen der Zeit auf Aktualität ist unmittelbares Resultat der Differenzierung der Gesellschaft in Gleichzeitigkeitshorizonte, also in systemrelative System/Umwelt-Differenzen, die auf die Synchronisation ihrer Systemgeschichten angewiesen sind. Ein Beobachter der Gesellschaft kann sehen, daß unüberschaubar viele Prozesse innerhalb der Gesellschaft vorgängig unkoordiniert nebeneinander verlaufen. Er kann aber auch sehen, daß die einzelnen Systemperspektiven sich nicht das volle Potential an Gleichzeitigkeit zumuten, das prinzipiell möglich wäre, sondern – gemäß dem Theorem der Systemrelativität jeder Beobachtung – nur einen selektiven Zugriff auf Umwelt nach
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1990: 5ff.). Hatte der Buchdruck in der Frühmoderne noch die Funktion, Informationen möglichst langlebig, speicherbar und distribuierbar zu machen (vgl. etwa Goody/Watt 1986: 63ff.), machen die elektronischen und die Printmedien der Moderne ihre Informationen gerade dadurch kurzlebig, daß sie ihre Zahl und Verfügbarkeit unüberschaubar erhöhen. Man kann heute alles wissen, und man kann deshalb letztlich nichts wissen, weil die ungeheure Zumutung informationeller Gleichzeitigkeit an kapazitative Grenzen stößt. Die Formalisierung der Zeit und ihre Transformation in eine verrechenbare Größe wird zumeist als Ergebnis der Entwicklung des Kapitalismus angesehen: Der von seiner Tätigkeit entfremdete Arbeiter verkauft einen Teil seiner Lebenszeit, wobei seine Arbeitszeit zum einen Teil der Erwirtschaftung seines für seine Reproduktion notwendigen Einkommens dient, den Ertrag der restlichen Zeit verschlingt der Kapitalist als Mehrwert, indem er über die Zeit der Arbeit und des Arbeiters verfügt. Zeit wird so zum eigentlichen produktiven Quantum im Arbeitsprozeß. „(...) die Arbeit zählt nur noch nach ihrem Zeitmaß.“ Und der Kapitalist wacht darüber, „daß keine Zeit ohne Arbeit vergeudet wird. Er hat die Arbeitskraft für bestimmte Zeitfrist gekauft. Er hält darauf, das Seine zu haben.“ (Marx 1969: 210) Im Gefolge dieser von Marx beschriebenen Ökonomisierung der Zeit und Verzeitlichung der Ökonomie wird das moderne Zeitregime – also die Formalisierung, Quantifizierung und Homogenisierung der Zeit – oft als ausschließliches Ergebnis des Industriekapitalismus angesehen (für viele Belege vgl. Scharf 1988: 148ff.; Hohn 1984: 145ff.; Zoll 1988a: 72ff.). Diese Diagnose ist gewiß nicht falsch, sie verkürzt aber die gesamte Entwicklung auf die Entstehung von Industrie und Markt. Der beschriebene Sachverhalt einer Zeit des „Kapitalismus“ scheint vielmehr auf die Entwicklung einer abstrakten Zeit zu verweisen, die zur Koordination wirtschaftlicher und außerwirtschaftlicher Prozesse dient und so erst die Kapitalisierung der Zeit des Arbeitenden ermöglicht. Daß gerade im 19. Jahrhundert die Wirtschaft von besonderem Strukturwert für die gesellschaftliche Handhabung von Zeit war, ist damit selbstverständlich keineswegs bestritten.
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Maßgabe der eigenen beobachtungsleitenden Unterscheidungen pflegen.95 Damit kann man Gleichzeitigkeit, obwohl sie stets gegeben ist, durchaus als einschränkbaren Sachverhalt ansehen. Dies ist jedoch nicht so mißzuverstehen, als könne es mehr oder weniger Gleichzeitigkeit bzw. Gleichzeitigeres als anderes geben. Einschränkbar ist nicht die durch Umweltkontakt ohnehin gegebene Gleichzeitigkeit, einschränkbar sind lediglich die Gegenstände, denen man sich gleichzeitig aussetzt. Ein System kann gleichzeitig nur eine begrenzte Menge an Information bearbeiten und muß deshalb selektiv auf die gleichzeitige Umwelt zugreifen. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und die mit ihr einhergehende sehr enge Spezifikation der Teilsysteme auf ihre binär erzeugte Kontextur sorgen dafür, daß jede Systemperspektive einen hochselektiven Zugriff auf Gleichzeitiges und damit einen eindeutigen Selektionsspielraum zur temporalen Disposition hat. „Da Gleichzeitigkeit immer Unbeeinflußbarkeit bedeutet, schrumpft mit dem Schrumpfen der Gleichzeitigkeit auch die Unbeeinflußbarkeit – und zwar die Unbeeinflußbarkeit der Umwelt durch ihre Systeme ebenso wie die Unbetreffbarkeit der Systeme durch ihre Umwelt. Also entstehen Chancen ebenso wie Gefahren. Die Reduktion der Existenz auf Aktualität reduziert das, was man hinnehmen muß, und gibt deshalb der Zeit eine Chance, Form anzunehmen.“ (Luhmann 1990d: 115) Indem die jeweilige Systemperspektive keinen Blick aufs Ganze mehr hat und demnach nicht mehr durch relativ enge Chiffrierungen der Gesamtselektivität der Welt in seinen Handlungsspielräumen eingeschränkt wird, wird die Konzentration auf die Selbstreferenz des Systems zum wesentlichen Generator für das Entstehen systemischer Eigenzeiten und der eigenlogischen Gestaltung dieser Zeit angesichts einer komplexen, polykontexturalen Umwelt. Die Welt-/Uhrenzeit ist – wenn ich so sagen darf – als Schrumpfzeit das temporale Korrelat geschrumpfter Gleichzeitigkeit. Man kann ihr nicht ansehen, was sie alles mißt – sie wird durch ihren Gegenstand nicht infiziert. Allein das macht ihre Hochgeneralisierbarkeit und ihren Charakter als eigenständige Weltdimension aus. Dieser Gestaltungsspielraum durch die Zeit ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Denn wie man den Geist nicht mehr in die Flasche zurückbekommt, wird man auch die Zeit nicht wieder los. Auch die selektiven Weltausschnitte, die man sich zumutet, muten einem selbst zu, daß sie nicht die Form annehmen, die für die Systemperspektive gerade opportun wäre. Je stärker die sachliche Differenz zwischen Teilsystemen als Handlungsdruck, als Irritation erfahren wird, um so mehr erhöht sich die Notwendigkeit der Synchronisation: Der richtige Moment muß hergestellt werden, um die öffentliche Meinung genau dann über die Machenschaften der Regierung zu informieren, wenn die Wahlen weder zu nah (Wahlkampfstrategie vs. Sachbezogenheit!) noch zu fern (Vergessen!) sind; die Produktion halbfertiger Produkte muß temporal so abgestimmt werden, daß am Fließband alle Teile eines Automobils gleichzeitig zusammentreffen; der Schulbesuch der Kinder und die Arbeitszeiten der Eltern müssen abgestimmt werden; man muß die Einspruchsfrist vor Gericht wahren; man muß als Politiker damit umgehen, daß wissenschaftliche Gutachten oft mehr Zeit brauchen, als zur politischen Argumentation zur Verfügung steht; man muß den richtigen 95
Nur zur Illustration: Wirtschaftliche Kommunikation wird nur mit Ausschnitten anderer Teilsysteme ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit herstellen, und zwar nur mit solchen, die ökonomisch bzw. für eine bestimmte ökonomische Operation von Belang sind. Nur mit solchen muß sie auch gegebenenfalls synchronisiert werden.
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Moment finden, an dem man seine Liebe offenbart (oder besser verschweigt).96 Diese willkürlichen Beispiele mögen zeigen: Sowohl innerhalb teilsystemspezifischer Kommunikation als auch vor allem zwischen ihnen kommt es in der modernen Gesellschaft stets zu temporalem Abstimmungsbedarf, den man aktiv befriedigen muß, weil er sich nicht von selbst einstellt.97 Warten ist unter modernen Bedingungen ebenso dysfunktional, wie es der Wunsch nach aktiver Synchronisation in der traditionalen Gesellschaft war. Ist hier die Zeit gewissermaßen das Symbol für die Notwendigkeit der Wahl, die alles Mögliche zeitigen kann, stand sie dort für die Wahl der Notwendigkeit, die nur eine Möglichkeit zuläßt. Wer wählt, wählt immer in seiner Gegenwart, und tut dies nicht nur im Horizont anderer Möglichkeiten, sondern auch im Horizont anderer Zeiten. Dieser Horizont resultiert daher, daß die Zeitdimension unter den Differenzierungsbedingungen der Moderne in Form einer eigenständigen Weltdimension der Abstimmung von Unterschiedlichem, also der Herstellung von Gleichzeitigkeit, dient. Man kann zwar nur in der Gegenwart handeln, muß aber angesichts der Komplexität der Welt immer mitberücksichtigen, daß dies auch für die anderen Systeme gilt und daß Synchronisation damit sowohl notwendig als auch prekär wird. Notwendig wird sie, weil Systemprozesse nicht vorgängig parallelisiert sind, und prekär wird sie, weil eine solche Parallelisierung nie auf „neutralem Boden“, also durch Drittes, geleistet wird. Es sind die Systeme selbst, die sich aufeinander einstellen müssen, und sie können dies nicht gemeinsam tun, sondern nur jedes nach Maßgabe eigener Operationen. Gemeinsam ist ihnen nur die hochgeneralisierte Welt-/Uhrenzeit, die damit die Form einer Ressource annimmt, die man verbraucht bzw. die durch ihr Fortschreiten verlorengeht. Zeit läßt sich nicht wiedergewinnen – sie wird zu einer Macht, der man deshalb unterliegt, weil alle Positionen der Gesellschaft ihr auch unterliegen. Umgekehrt unterliegen ihr alle Positionen der Gesellschaft, weil man der komplexen Zumutung fast unkontrollierter Gleichzeitigkeit von Ereignissen nur mit sachlicher Selektion und zeitlicher Synchronisation begegnen kann. Die Komplexität der Moderne erlaubt es nicht, allen Anforderungen, die gleichzeitig gegeben sind, auch jetzt zu genügen. Das gilt sowohl für individuelle Lebenslagen als auch für soziale Systeme, insbesondere für gesellschaftliche Teilsysteme: Der einzelne muß sein individuelles Zeitbudget rational planen, das politische System muß seine Reaktion auf eine überkomplexe Umwelt seiner durch das Nacheinander von Legislaturperioden gegebenen Eigenzeit angleichen, und das Interaktionssystem zwischen Therapeut und Klient muß zwar offen für alles (Sachdimension) sein, aber nur für das, was in die – bezahlte! – Therapiestunde paßt (Zeitdimension). Die Synchronisationsnotwendigkeit ist also nicht nur die Ursache, sondern auch die Folge der Zeit als eigenständiger Weltdimension. Die Gegenwart, das konkrete Ereignisjetzt sozialer Situationen, sieht sich im Vergleich zu früheren Sozialformen einer neuen Situation ausgesetzt: Sie wird immer kleiner und begrenzter und gerät unter den Druck früherer und vor allem künftig erwarteter Ereignisse. „Das heißt: In dem Maße als Synchronisation zum Problem wird, beginnen die Horizonte Vergangenheit und Zukunft die Gegenwart zu dominieren.“ (Luhmann 1990d: 124) Die Gegenwart ist dabei nicht als gewissermaßen nur theoretisch vorgestellter Scheidepunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft zu denken. Sie ist angesichts der Weltdimensi96 97
Giddens spricht in diesem Zusammenhang treffend von „Zeitgeographie“ (Giddens 1988: 161). „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, hieß es vor kurzem – wie wahr!
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on Zeit derjenige Ort, an dem sich Vergangenheit und Zukunft ereignen. Daß diese beiden „Zeiten“ nur in modalisierter Form vorliegen, muß nicht noch einmal erwähnt werden; daß Vergangenheit und Zukunft zur Invisibilisierung ihrer Modalität per Beobachtung wie Entitäten behandelt werden, die eine eigene Qualität besitzen, habe ich ebenfalls ausgeführt (vgl. III.2b). Hier ist jedoch entscheidend, daß sich Ereignisse in der Situation vorfinden, daß sie sich nicht selbst genügen, sondern sich stets in einer Sukzession von Ereignissen befinden, die Zukunft als den Ort strukturiert, an dem das jetzt noch nicht Koordinierte synchronisiert sein wird. Weniger kompliziert formuliert: Je differenzierter die Gesellschaft und je säuberlicher getrennt ihre Funktionen, um so radikaler müssen kommende Gegenwarten gegenwärtig, d.h. per gegenwärtiger Operationen, strukturiert und gestaltet werden. Es kommt damit – etwa seit dem 17./18. Jahrhundert (vgl. Luhmann 1990f: 121) – zur Vorstellung einer linearen Zeitvorstellung mit offener Zukunft (vgl. Rammstedt 1975: 50), die zum einen das temporale Noch-Nicht realisierbarer Möglichkeiten und zum anderen die Offenheit der Möglichkeiten selbst enthält (so auch Schmied 1985: 175ff.). Im Klartext: Die Zukunft hat kein Ziel, man kann von der Gegenwart nicht ohne weiteres auf sie schließen. Dies ändert sich auch dann nicht, wenn die jeweilige Gegenwart bereits vergangen ist, denn – so Luhmann – „die Zukunft kann nicht beginnen“ (Luhmann 1990f: 119), weil ereignistemporalisierte Systeme stets nur in ihrer Gegenwart operieren können.98 Zusammenfassend läßt sich die temporale Organisation der modernen Gesellschaft folgendermaßen auf den Punkt bringen: Der hohe Grad an gesellschaftlicher Differenzierung, insbesondere aber die funktionale Spezifikation der ausdifferenzierten Teilsysteme bringen eine große Zahl nebeneinander prozessierender Ereignistemporalitäten mit spezifischen Eigenzeiten hervor. Eine Vermittlung, i.e. Synchronisation solcher Eigenzeiten kann zum einen systemrelativ nach Maßgabe systemeigener selektiver Horizonte geschehen, zum anderen steht dafür eine hochgeneralisierte und homogene Welt-/Uhrenzeit zur Verfügung, deren Generalisierungsgrad eine Transformation in unterschiedliche, operativ autonome Systeme erlaubt. Durch die permanente Notwendigkeit der synchronisierenden Abstimmung zwischen Systemprozessen wird die Gegenwart zum kurzphasigen Entscheidungsraum für zukünftige Systemzustände, was den Druck von Vergangenheit und Zukunft auf die Gegenwart erhöht. Dies wiederum läßt die Zeit als eigenständige Weltdimension hervortreten, der die Systemprozesse nicht entfliehen können und die Systeme mit stets neuen
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Als Varianten der nicht beginnen könnenden Zukunft nennt Luhmann utopische und technologische Zukunftsvorstellungen. Die erste projiziert Hoffnungen und Befürchtungen in die Zukunft, die sie als gegenwärtige Zukunft behandelt: An den Zeichen der Gegenwart lassen sich die positiven/negativen Seiten des Zukünftigen bereits ablesen. Die zweite dagegen plant die Zukunft im Sinn zukünftiger Gegenwart: Eine rationale und methodisch kontrollierte Sukzession von Ereignissen produziert eine Zukunft nach logischem Kalkül (vgl. Luhmann 1990f: 132f.). Wenn man anhand dieser Unterscheidung der Handhabung von Zukunftshorizonten auch – so Luhmann – „die langweiligen Kontroversen marxistische vs. bürgerliche oder utopische vs. technokratische Theorie“ (ebd.: 144) ausfechten kann, so ist beiden doch die erhebliche temporale Dynamisierung der Welt gemeinsam. Um die Langweiligkeit noch zu verschärfen: Genau genommen, hat die technologische Variante der utopischen außerhalb der Theorie längst den Rang abgelaufen, und man sollte darin nicht utopische Untergangsvisionen bestätigt sehen, sondern nach funktionalen Äquivalenten für diese Debatte suchen; etwa: Wie lassen sich Risiken und Gefahren „technologisch“, also im Sinne einer Antizipation zukünftiger Gegenwart, abschätzen, und wie gehen „utopische“ Gehalte einer gegenwärtigen Zukunft in solche Abschätzungen ein? Zur Unterscheidung Risiko/Gefahr im Zusammenhang mit der Zeitsemantik vgl. IV.6b.
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Anforderungen konfrontiert. Die Zeit als lineare, homogene Welt-/Uhrenzeit selbst wird somit in der Moderne zum Motor permanenter zeitlicher Operationen.99 Es ist ohne Zweifel richtig, daß sich in der Strukturgeschichte der Handhabung von Zeit eine gewisse Entwicklungslogik beobachten läßt, die von zyklischen hin zu linearen Vorstellungen führt. Dux etwa diagnostiziert eine Entwicklung weg von der „zentrierten Handlungslogik“ einfacher Gesellschaften hin zur vollen Entfaltung der Linearität als zeitlicher Grundstruktur, die lediglich durch noch mangelnde Organisationskompetenz in frühen Sozialformen verdeckt war (vgl. Dux 1989: 56ff. und 255ff.). Auch Hohn, Whitrow und Wendorff vertreten mutatis mutandis ähnliche Auffassungen (vgl. Hohn 1984: 38ff.; Whitrow 1991: passim; Wendorff 1985: passim), denen durchaus Recht zu geben ist. Genauso läßt sich mein eigener Versuch einer Darstellung der Evolution von Zeithandhabung unter gesellschaftsstrukturellen Gesichtspunkten in eine Typologie von occasionellem Zeitbewußtsein, zyklischem Zeitbewußtsein, linearem Zeitbewußtsein mit geschlossener Zukunft und linearem Zeitbewußtsein mit offener Zukunft einordnen (vgl. Rammstedt 1975: 50).100 Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade in der Moderne nicht nur eine Vielfalt der Zeithorizonte und systemischer Eigenzeiten zu beobachten ist, sondern auch eine Vielfalt unterschiedlicher Typen der Temporalisierung von Komplexität. Schmied weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Evolution der Zeitvorstellungen keineswegs nach einem Stufenplan verläuft, in dem frühere Formen zugunsten neuerer verschwinden.101 Seine Kumulationsthese lautet: „Neue Zeitvorstellungen ersetzen nicht bisherige, sondern treten hinzu. Die Entwicklung des Zeitbewußtseins hat kumulativen Charakter, d.h. das Zeitbewußtsein ändert sich im Laufe der Evolution nicht durch die Ersetzung alter Formen durch neue, sondern durch Hinzufügung von neuen zu älteren, durch Kombination, bisweilen aber auch durch Vermengung älterer und neuer Formen.“ (Schmied 1985: 120)102 Man kann in der Tat beobachten, daß die moderne Gesellschaft nicht nur lineare Zeithandhabungen kennt. Ein Großteil der alltäglichen Handlungsmuster zeichnet sich geradezu durch eine explizit zyklische Struktur aus: durch die Wiederholung des Immergleichen. Schütz spricht in diesem Zusammenhang von „Routinisierung“ (Schütz/Luckmann 1979: 117f.), mit Gehlen könnte man auch von „Institutionalisierung“ 99
Mit dem hier explizierten Strukturrahmen der modernen Zeithandhabung ließe sich eine Forschung initiieren, die die Zeitstruktur der einzelnen funktionalen Teilsysteme, aber auch von anderen Sozialsystemen wie vor allem Organisationen zu untersuchen hätte. Es käme darauf an, die Eigenzeiten solcher Systeme im Hinblick auf ihre Synchronisation mit anderen Eigenzeiten zu untersuchen. Dies kann hier aus Raumgründen nicht weiter verfolgt werden, obwohl es letztlich zu den Desideraten einer Gesellschaftstheorie der Zeit gehört. Einige wenige Andeutungen über die Zeitstrukturen funktionaler Teilsysteme finden sich bei Nassehi/Weber 1990a: 172ff. Auf die spezifischen Zeitstrukturen von Organisationen weisen Luhmann 1990d: 125ff., Giddens 1987a: 140ff. und Moore 1963: 161ff. hin. 100 Allerdings sind die Begriffe nicht ganz auf die hier vorgestellte Konzeption abbildbar: Ohne Zweifel haben einfache Gesellschaften ein occasionales Zeitbewußtsein, jedoch schon mit zyklischem Hintergrund. Die zyklische Variante ist zwar formgebend für die Hochkulturen, jedoch bilden die Ewigkeitsvorstellungen etwa des Mittelalters bereits Elemente der Linearität mit geschlossener Zukunft aus, die allerdings – außer bei chiliastischen und millenaristischen Abweichlern – nicht als historische Zeiten im engeren Sinne zu verstehen sind. Zu seiner Blüte kommt dieses Modell erst in der Frühmoderne, die allerdings im 19. und 20. Jahrhundert durch die moderne Linearität mit offener Zukunft abgelöst wird. 101 Mit Recht weist Schmied in diesem Zusammenhang auf Habermas’ Evolutionsmodell von Legitimationsformen hin, das explizit von einer Ersetzung alter durch neue Strukturen ausgeht (vgl. Habermas 1976: 278). 102 So auch, wie Schmied selbst erwähnt, Rammstedt 1975: 49.
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(vgl. Gehlen 1961: 69ff.) sprechen. Die Funktion solcher wiederholbarer Standardisierungen besteht darin, Handlungssituationen vom Entscheidungsdruck der Linearität zu entlasten. Sowohl Arbeitsabläufe als auch etwa Routinen in Freizeit, aber auch die Abwicklung von juristischen Prozessen und vor allem die Ablauftypen in Organisationen folgen zyklischen Mustern, die von Vergangenheits- und Zukunftsdruck befreien. Neben diesen zyklischen Elementen sind auch lineare mit geschlossener Zukunft zu finden: Die Fertigstellung einer wissenschaftlichen Arbeit wie der vorliegenden, die Beratung eines Gremiums mit festgelegtem Termin zur Entscheidung eines Sachverhalts oder ähnliche, auf ein Ziel gerichtete Ereignissukzessionen folgen dieser Zeitvorstellung, weil jede Handhabung der Differenzierung Aktuell/Inaktuell im Hinblick auf das zu erreichende Ziel der Handlungssequenz geschieht.103 Gemeinsam ist solchen Zeithandhabungen, daß es sich bei ihnen um Beobachtungszeiten handelt, die die Ereignistemporalität systemischer Verläufe erwartbar machen und damit strukturieren. Das spezifisch Moderne an ihnen ist aber, daß sie erstens nicht ineinander übersetzbar sind, weil System/Umwelt-Differenzen unhintergehbar bleiben, und daß sie zweitens als einzelne Ereignistemporalitäten durch die Welt-/Uhrenzeit synchronisierbar sind. Die Zeit der Moderne zeichnet sich also nicht allein durch die lineare Zeit mit offener Zukunft aus, sondern durch die Differenz der systemischen Eigenzeiten, die keine Einheit der Differenz mehr kennen, sondern lediglich durch die Welt-/Uhrenzeit die wechselseitige temporale Beobachtbarkeit steigern.
c)
Temporalisierte Inklusion und biographische Identität
Meine bisherigen Ausführungen handelten, gemäß dem Programm einer Gesellschaftstheorie der Zeit von der temporalen Organisation unterschiedlich differenzierter Gesellschaftssysteme. Nicht problematisiert habe ich die Frage der Zeit psychischer Systeme, die strukturell an das temporale Prozessieren der Gesellschaft gekoppelt ist (vgl. III.1d). Für die früheren Differenzierungsformen war dies auch nicht nötig, weil die Einmusterung des Menschen in die Gesellschaftsstruktur nicht zu temporalen Differenzen geführt hat. Unmittelbar einleuchtend ist dies bezüglich archaischer Gesellschaften, in denen die Anwesenheit von Personen ohnehin das entscheidende Merkmal der Fortsetzung der gesellschaftlichen Autopoiesis ist (vgl. IV.2a). Doch auch die stratifizierten Hochkulturen vermochten es, die Zuordnung von Personen innerhalb der Gesellschaftsstruktur eindeutig zu bestimmen. Dies konnte parallel zur gesellschaftlichen Leitdifferenz oben/unten erfolgen. Solche Gesellschaften ordneten „Personen je einem der Teilsysteme (zu). (...) In geschichteten Gesellschaften wird innerhalb der Schicht geheiratet, so daß die Schichten (nicht: die Familien) rekrutierungsgemäß autonom sind. Auch wo Mobilität vorkommt, gehört die Person im Prinzip einer und nur einer Schicht an. Die Identität der Person beruht in diesem Sinne auf ihrem ,Stand‘- also direkt auf dem Prinzip sozialer Differenzierung.“ (Luhmann 1980b: 30) Es handelt sich hier um eine Vergesellschaftungsform, die Personen eindeutig einer Schicht zuordnet. Diese Zuordnung regelte auch die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation, und zwar in der Weise, daß durch den geringen Selektionsspielraum ge103 Solche Zeitorientierungen bedeuten selbstverständlich nicht, daß man den abgesteckten Zeitrahmen auch einhält. Das gilt, wie man weiß, sowohl für wissenschaftliche Arbeiten als auch für Gremiensitzungen.
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sellschaftlicher Kommunikation Lebensformen in ihrer Struktur weitestgehend festgelegt waren. Zusätzlich trug die aufgabenbezogene Zeit (vgl. Schmied 1985: 69f.) und nicht zuletzt die zyklische Organisation stets wiederkehrender Aufgaben (vgl. IV.3c) dazu bei, daß eine Differenz zwischen Lebenszeit und sozialer Zeit noch nicht in Erscheinung trat.104 Die lebenszeitliche Dimension konnte noch nicht als selbst hergestellte, autonom konstituierte Größe begriffen werden. Sie füllte vielmehr ein vorgegebenes Muster mit klar eingegrenzten Selektionsspielräumen in Sach-, Sozial- und Zeitdimension aus, zu denen es keine Alternative gab. Korrelierend mit der weitgehend zyklischen Organisation alltäglicher Ereignissukzessionen macht Uwe Schimank auf der Ebene des individuellen Handlungserlebens eine „primär repetitive Verlaufsform“ (Schimank 1988: 66) aus. Dem Sachverhalt des basalen Selbstbewußtseins entspricht auf der Ebene des reflexiven Selbstbewußtseins105 eine prozessuale Struktur, die der festgelegten Ablaufform der stratifikatorischen Differenzierung entspricht. „Die Person beschreibt ihre Biographie als gerichteten Prozeß, der an einem bestimmten Telos orientiert mehrere sukzessiv aufeinander aufbauende Stadien durchläuft.“ (ebd.) Man muß hinzufügen: Würde sich eine Biographie unter solchen Umständen beschreiben, würde sie auf die soziale Verlaufsform mit ihren eindeutig präformierten Sukzessionen rekurrieren.106 Elaborierte Selbstbeschreibungen von Personen in der Zeitdimension werden nämlich, so Hahn, erst da „zwingend, wo gleiche Gegenwarten der Endpunkt extrem verschiedener Vergangenheiten sein können, wo also die Gegenwart nicht mehr hinlänglich viel Vergangenheit transparent macht“ (Hahn 1988: 98). Temporalisierung der Selbstbeschreibung ist – analog sozialen Systemen – auch im Bewußtsein erst dann notwendig, wenn Ereignissukzessionen als kontingent erlebt werden. Am Beispiel der Beichte zeigt Hahn, daß sich die religiös motivierte individuelle Selbstbeschreibung im 104 Arthur E. Imhof etwa zeigt, wie sehr Personen auch temporal gesehen in ihre sozialen Bezüge eingebettet sind. Seine folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Nachfolgeregelung eines Hofes in Nordhessen, sie lassen sich aber ohne weiteres strukturell auch auf Nachfolgeregelungen „bei Hof“ anwenden. Strukturell sind Hof- und Dynastienfolge gleichartig. „Nicht der individuelle Johannes Hooss, geboren in diesem und gestorben in jenem Jahr, war jeweils das Entscheidende. Wichtig war vielmehr, daß stets ein Nachkomme Namens Johannes Hooss als Rollenträger bereitstand, um die Geschicke des Hofes während seiner physisch besten und sozial am stärksten integrierten Jahre zu lenken. Auf diese Weise war der Hof nicht bloß zehn oder zwanzig oder dreißig Jahre im Besitz von Johannes Hooss, sondern kontinuierlich während viereinhalb Jahrhunderten. Wahrlich eine erstaunliche Stabilität trotz unsicherer Lebensspannen! (...) Der individuelle Johannes lebte im kollektiven Johannes Hooss weiter. Es gab auch nicht das individuelle Lebenswerk, das mit der Übergabe oder dem Tod zu Ende gegangen wäre. Es gab nur eine mehr oder weniger gute Verwalterschaft des den einzelnen überdauernden Gesamtwerkes, in dessen Dienst man sich stellte. Heute, wo das Individuum und sein spezifisches Lebenswerk dagegen mehr zählt, geht dieses häufig mit ihm aber auch wieder zu Ende.“ (Imhof 1984: 188) 105 Mit dieser Unterscheidung reflektiert Schimank im Anschluß an Luhmann auf unterschiedliche Arten der Selbstreferenz des Bewußtseins (vgl. Schimank 1988: 57ff.), nämlich auf basale Selbstreferenz als grundlegende Form des Anschlusses von Ereignissen und auf reflexive Selbstreferenz als Beobachtung von Ereignisreihen als Prozeß (vgl. III.2c). Ähnliches bildet Alois Hahns Unterscheidung eines impliziten von einem expliziten Selbst ab (vgl. Hahn 1988: 92). 106 Ob Schimanks Gleichsetzung von gerichtetem Prozeß und Telos glücklich ist, scheint mir zweifelhaft zu sein, denn es ist gerade kein abstraktes, zukünftiges Ziel, das die vormoderne Lebenszeit bestimmt, sondern es sind die durch die Sozialstruktur vorgegebenen Prozesse, in die Personen durch ihre Schichtzugehörigkeit eingemustert sind. Teleologisch ist diese Struktur nur insofern, als es das Ziel der aufeinander bezogenen Handlungssequenzen ist, den vorgegebenen prozessualen Mustern auch zu entsprechen. Das Telos ist dann weniger ein Phänomen der Zeit-, sondern der Sozialdimension, das etwa durch moralische Schematisierung sanktioniert wird.
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Laufe der Geschichte von einem rein äußeren Disziplinierungsinstrument über die Kontrolle innerer Motive und Intentionen zu einem Selbstdisziplinierungsinstrument gewandelt hat, das sowohl während der Gegenreformation als auch in der calvinistisch geprägten protestantischen Praxis zur Genese von Sündenbiographien des gesamten Lebenslaufs geführt hat (vgl. Hahn 1987c: 18-22; Hahn 1982: 408ff.). Wo allein äußere Disziplinierung angestrebt wird, muß nur nach Taten und kontrollierbaren Fakten gefragt werden. Schon die Motivkontrolle verweist auf größere Handlungsspielräume und komplexere Beziehungen zwischen sozialer Praxis und bewußtem Erleben, und die Notwendigkeit biographischer Gesamtreflexionen verweist auf eine radikale Differenz individueller und sozialer Autopoiesis. Man kann also spätestens mit der Frühmoderne der sozialen Gegenwart von Personen deren individuelle Vergangenheit nicht mehr ohne weiteres ansehen und braucht deshalb neue Identifikationstechniken in der Zeitdimension: Biographische Reflexion auf gelebte Lebensverläufe. Neben der Beichte ist ein weiteres Indiz für die Biographisierung der sozialen Position die Entstehung von Autobiographien. Wenn Hahn von der „Geburt der Autobiographie aus der Erfahrung der Selbstentfremdung“ (Hahn 1988: 101) spricht, so ist die Autobiographie nicht im Sinne einer inneren Konstitutionsgeschichte zu verstehen. Geschriebene Autobiographien, wie sie im 17./18. Jahrhundert entstanden, sind nicht psychische Ereignisse, sondern soziale Kommunikation. Sie dienen denn auch, so Hartmann Leitner, weniger der Rekonstruktion innerpsychischer Konstitutionsgeschichten, sondern v.a. der Rekonstruktion der Verortung des Lebens in der sozialen Struktur (vgl. Leitner 1982: 115f.). Selbstentfremdung bedeutet in diesem Zusammenhang also, daß soziale und zeitliche Komplexität immer weniger von außen in die Lebenszeit importiert werden kann und sich damit eine Umstellung von rein fremdreferentieller Verortung der Person auf selbstreferentielle Selbstbeschreibung ankündigt. Der gesellschaftsstrukturelle Hintergrund dieser kurz dargestellten Entwicklung hin zu einer stärkeren Differenz von Lebenszeit und Weltzeit (Blumenberg 1986: 99) läßt sich an der veränderten Inklusionsform ablesen, die im Laufe der Modernisierung der Gesellschaft zu einer völlig neuen Verhältnisbestimmung von Gesellschaft und Person geführt hat. Ich habe oben angedeutet, wie vormoderne Hochkulturen die Identität der Person dadurch sichern konnten, daß sie Lebenszeit und soziales Prozessieren parallelisieren und damit aufeinander abbilden konnten. Funktionale Differenzierung dagegen erlaubt eine solche eindeutige Zuordnung nicht mehr. Personen sind gleichzeitig in verschiedene Funktionssysteme inkludiert, sie werden gleichzeitig erzogen, gelten als Rechtssubjekte, gehören einer Familie an, sind Wahlbürger, Gemeindeglieder und Produzenten und Konsumenten von Produkten. Sie stehen gleichsam zwischen den funktional spezifizierten Teilbereichen der Gesellschaft und müssen die verschiedenen funktionalen Semantiken, die bisweilen völlig inkompatibel und kaum „übersetzbar“ sind, über ihre eigene Selbstreferenz sinnhaft miteinander verbinden. Also nicht die bloße Zugehörigkeit zu einem sozialen System sichert Identität, sondern die je individuelle Selbstbeschreibung der Person im Wirkungsbereich verschiedenster gesellschaftlicher Ansprüche. Es „gilt als Postulat und in zunehmendem Maße auch in der Realität das Prinzip der Inklusion aller in alle Funktionssysteme: Jede Person muß danach Zugang zu allen Funktionskreisen erhalten können je nach Bedarf, nach Situationslagen, nach funktionsrelevanten Fähigkeiten oder sonstigen Relevanzgesichtspunkten. Jeder muß rechtsfähig sein, eine Familie gründen können, politische Macht ausüben oder doch mitkontrollieren können; jeder muß
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in Schulen erzogen werden, im Bedarfsfalle medizinisch versorgt werden, am Wirtschaftsverkehr teilnehmen können. Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruhte, daß man einer und nur einer Gruppe angehörte.“ (Luhmann 1980b: 31)107 Die Identität der Person beruht also gerade nicht auf dem Prinzip sozialer Differenzierung; sie steht vielmehr quer zu ihr (vgl. Beck 1986: 218). Mit der nun wesentlichen Systemreferenz – „der zu sich selbst“ (Luhmann 1980b: 29) – ist eine spezifische Individualitätssemantik vonnöten. Während es für Personen in vormodernen Strukturen hieß, „aus der Ordnung heraus(zu)fallen“ (ebd.: 72), wenn sie Individualität in Anspruch nahmen, ist dies in funktional differenzierten Gesellschaften gleichsam die conditio sine qua non, die eine Verortung des Menschen innerhalb der Gesellschaft erst erlaubt. Individuum ist die Person nun deshalb, weil sie durch ihre selbst hervorgebrachten Strukturen das Signum der Unverwechselbarkeit, der Unvertretbarkeit und der Einzigartigkeit erhält. Das wesentliche Persönlichkeitsmerkmal wird nicht mehr fremdreferentiell von außen in die Person importiert, es ist vielmehr „eine Geschichte von Selbstfestlegungen im Bestimmungsbereich der Funktionssysteme (...), die Synthesen von Selbstsein und Fremddienlichkeit, Glückseligkeit und Nutzen ermöglichen. Die Sozialordnung beruht auf der Möglichkeit und hinreichenden Wahrscheinlichkeit solcher Synthesen im Einzelnen selbst, der selbst entscheidet, wie er sich im Magnetfeld der sozialen Anforderungen bewegt.“ (ebd.: 219) Gesellschaftliche Grenzziehungen gehen durch Personen hindurch. Die individuelle Querlage zur Gesellschaftsstruktur läßt das Individuum gegen das, was es nicht ist, nämlich gegen andere Personen und gegen „die Gesellschaft“, hervortreten. So spricht Luhmann konsequenterweise neuerdings von einer Umstellung der Konstitution von Individualität von Inklusion auf Exklusion (vgl. Luhmann 1989c: 149ff.). Die Beschreibung von Individualität setzt gewissermaßen an der Individualitätssemantik an, wie sie im 18. Jahrhundert entstanden ist. Insbesondere die Version des transzenden107 Stichweh macht vier Formen der Inklusion in funktional differenzierten Gesellschaften aus. Diese unterscheiden sich nach dem Bezugsproblem in der gesellschaftlichen Kommunikation: 1) Inklusion als professionelle Betreuung: Differenziert in Leistungs- und Publikumsrollen sind Personen als Professionelle oder Klienten in das Funktionssystem inkludiert, so etwa im Gesundheitssystem, Erziehungssystem, in Recht und Religion. Das unmittelbare Bezugsproblem ist die personale Umwelt des Gesellschaftssystems, etwa Patienten, Schüler etc. 2) Inklusion über Exit/Voice-Optionen: Hier werden Kommunikationen des Publikums nicht als individuelle Akte registriert, sondern quantitativ behandelt und angehäuft. Dies gilt für Zahlungen im Wirtschaftssystem, Meinungsäußerungen im politischen System, Meldungen in den Massenmedien, Stile in der Kunst etc. Als Bezugsproblem figuriert hier gesellschaftliche Kommunikation selbst, also etwa die Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit nach Zahlungen in der Wirtschaft. 3) Inklusion in wechselseitigen Leistungs- und Publikumsrollen: Dies ist die Inklusionsform in Familien und Liebesbeziehungen, in denen Personen ihr Handeln am Erleben des anderen orientieren und in denen spontane Rollenwechsel (Leistung vs. Publikum) stattfinden. Das Bezugsproblem ist die konkrete Personalität der beteiligten Personen selbst. 4) Indirekte Inklusion: Hier ist der Sonderfall des Wissenschaftssystems angesprochen. Zwar sind große Bevölkerungsanteile von der Verwissenschaftlichung von Erkenntnis betroffen, doch werden sie nie Klienten der Wissenschaft. Sie werden lediglich indirekt über das Erziehungssystem (Verwissenschaftlichung der Erziehung/Bildung) in die Wissenschaft inkludiert. (Vgl. Stichweh 1988b: 268-278) In diesen von Stichweh herausgearbeiteten Inklusionsformen kommt keine Inklusion in das Gesamtsystem vor. Die einzelnen Formen beschreiben nur Inklusionen in jeweilige Funktionssysteme der Gesellschaft. Deren Grenzen haben Individuen selbst zu transzendieren, indem sie die gleichzeitige Teilhabe an Kommunikationen, Handlungen und Operationen innerpsychisch und personal integrieren.
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talen Subjekts macht das Individuum gewissermaßen zum Fluchtpunkt aller Beobachtung. Luhmann formuliert treffend: „Das Individuum ist das Subjekt der Welt. Und zugleich: Die Welt individualisiert das Subjekt, weil sie das einzige Ganze ist, das nicht als Teil eines anderen Ganzen begriffen werden kann.“ (ebd.: 207) Das unverwechselbare Individuum wird das Maß, an dem sich religiöse, staatliche, juristische und moralische Kommunikation abarbeiten. Aber – wohlgemerkt – das Individuum kann unter gesellschaftstheoretischen Prämissen nicht als Entität sui generis behandelt werden, sondern ist als Resultat gesellschaftlicher Kommunikation anzusehen. Individualität kompensiert den Verlust der Möglichkeit der eindeutigen Attribution von Handlungen und Zumutungen an die soziale Herkunft des Adressaten. Akzeptiert man diese soziogenetische Beschreibung von Individualität, wird deutlich, daß sich das Bewußtsein im Bestimmungsbereich der Individualitätssemantik einer Paradoxie aussetzt. Der Mensch ist zwar Individuum, einzigartig, moralisch gesprochen sogar autonom. Doch copiert er dabei ein Muster, das es verbietet, Muster zu copieren (vgl. Luhmann 1985a: 440 und 1989c: 221). Selbstreferenz wird dann auch dadurch radikalisiert, daß das Bewußtsein sich zwar als Einheit deutet, damit aber wiederum eine Differenz produziert. Insofern bleibt die Paradoxie erhalten. Das Bewußtsein kann nicht aus ihr ausbrechen. Ein Ausbrechen aus diesem „circulus vitiosus des Copierens“ ist folgerichtig nicht über moralische Urteile und erst recht nicht durch ein noch stärkeres Beharren auf der eigenen Individualität möglich, „sondern nur durch eine allmählich sich versteifende Biographie. Man findet sich dann vor ohne Erinnerung an einen Anfang als Resultat einer Selbstselektion – unbestimmbar und doch fast unabänderlich festgelegt“ (Luhmann 1985a: 443). Nachdem die Paradoxie der Individualität weder in der Sach- und erst recht nicht in der Sozialdimension aufgelöst werden kann, bietet sich die Zeitdimension als Entparadoxierungsmöglichkeit an. Die Individualisierung von Lebenslagen erzwingt gewissermaßen die individuelle Biographisierung der Gleichzeitigkeit der Lebenslagen. Wir finden uns in sozialen Situationen zwar als relativ gleichartig vor, unsere Gegenwarten resultieren aber aus unterschiedlichen Lebensverläufen. Individualisierung und Individualität sind nicht nur Resultate eines linearen Steigerungsverhältnisses von gesellschaftlicher und psychischer Komplexität, sondern stehen für einen qualitativen Wandel von der eindeutigen Zugehörigkeit zu sozialen Aggregaten – deshalb Inklusionsindividualität – zum Verlust eines eindeutigen Weltzentrums, eines Ortes, von dem her Gesellschaft Individualität bestimmen könnte – deshalb Exklusionsindividualität. Seinen semantischen Niederschlag findet dieser gesellschaftsstrukturelle Sachverhalt darin, daß das Individuum sich selbst als das „ganz Andere“ der Gesellschaft gegenüber erfährt. Chiffren wie Entfremdung, Verlust von Gemeinschaft und Solidarität oder wie gängige Termini dafür auch immer lauten mögen, sind Indikatoren für das Prekärwerden der Grenze und der unaufhebbaren Differenz psychischer und sozialer Autopoiesis. Im Bewußtsein kann diese Grenze sodann als Grenze zwischen solchen Vorstellungen beschrieben werden, die entweder der Person selbst entstammen oder – wie man seit der Versozialwissenschaftlichung bildungsbürgerlicher Alltagskommunikation sagt – gesellschaftlich vermittelt sind. Eine Variante davon ist die Konzeption der Doppelung der Identität in einen sozialen und einen personalen Anteil. Sie trägt der Notwendigkeit Rechnung, „sich in mehrere Selbsts, mehrere Identitäten, mehrere Persönlichkeiten zu zerlegen, um der
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Mehrheit sozialer Umwelten und der Unterschiedlichkeiten der Anforderungen gerecht werden zu können“ (Luhmann, 1989c: 223). Als theoretische Erklärung kann ein solches Konzept aber kaum taugen, da es nicht reflektiert, daß gerade die Umstellung auf Exklusionsindividualität, bedingt durch die Multiinklusion in verschiedene funktionale Teilsysteme, eine Theorie des Bewußtseins erfordert, die der radikalen Grenze zwischen psychischen und sozialen Systemen Rechnung trägt. Erst dann wird deutlich, daß die Konstitution beider Identitätsanteile auf der selbstreferentiellen Selbstbeobachtung des psychischen Systems beruht. An die Stelle des Balancemodells tritt Identität als Operation der zirkulären Geschlossenheit des Bewußtseins. Der Akt der Balance wird aufgelöst in der „Selbstbeobachtung/Selbstbeschreibung“ (Luhmann 1984a: 360) des Bewußtseins. Der Dualismus personale und soziale Identität greift unter dieser Voraussetzung nicht mehr. Denn erstens ist eine solche Unterscheidung theoretisch schon deshalb nicht fruchtbar, weil „kein Beobachter in der Lage wäre, diese Identitäten auseinanderzuhalten“ (ebd: 373; vgl. auch 1985: 434). Zweitens ergibt sich eine ganz andere Dichotomie: die soziale und die psychische Umwelt- bzw. Systemkomplexität. Selbstbeschreibung ist also nichts anderes als ein reflexiver Akt, der aus der Perspektive des Beobachters über Selbstbeobachtung, d.h. über die eigene Selbstreferenz sowohl die je eigene als auch die umweltliche Komplexität erfaßt. Identität der Person resultiert primär aus Selbstreferenz, auch wenn das Bewußtsein Sinn aus seiner sozialen Umwelt aufnimmt und dabei die Differenz zwischen sozialer und psychischer Reproduktion permanent mitlaufen läßt.108 Fremdreferenz ist dabei selbstverständlich eine notwendige Operationsbedingung für Bewußtsein, so daß Selbstreferenz nur als permanente Simultanverweisung auf Eigenes und Fremdes denkbar ist. Luhmann nennt dies „mitlaufende Selbstreferenz“ (Luhmann 1984a: 604). Die Konstruktion einer personalen neben einer sozialen Identität wird damit jedoch erst recht obsolet. Diese Gegenüberstellung trägt zwar der Tatsache Rechnung, daß aus der Perspektive des Bewußtseins eine Differenz zur Gesellschaft erlebt wird. Sie macht aber nicht darauf aufmerksam, daß diese Differenz nicht teilbar ist. Das Bewußtsein bzw. eine Ich-Identität besteht nicht aus personalen neben sozialen Elementen. Bewußtsein operiert als autopoietisches System per definitionem – gewiß in einer sozialen Umwelt zwar – nur qua Bewußtsein. Ich habe schon angedeutet, daß die Paradoxie der gesellschaftlichen Konstruktion von Individualität in der Zeitdimension als Prozeß invisibilisiert wird. Individualität nimmt dann die Form einer Biographie an (vgl. III.2c). Biographische Beobachtung und Beschreibung liegt immer dann vor, wenn lebensgeschichtliche Verläufe thematisiert werden (vgl. Kohli 1981: 505). Diese auf den ersten Blick banale Bestimmung trägt der Tatsache Rechnung, daß Biographien nicht einfach dadurch vorliegen, daß ein Individuum in der Zeit operiert. Dies wäre nichts anderes als die Zeit der Autopoiesis eines psychischen Systems. Eine Biographie entsteht erst durch Beobachtung der Autopoiesis des Bewußtseins. Sie generiert damit die Beobachtungszeit des Bewußtseins als Selbstidentifikation einer Gegenwart im Hinblick auf die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Im Anschluß an Hahn nenne ich die Zeit der Autopoiesis Lebenslauf und die Beobachtungszeit Biographie. „(...) die Biographie macht für ein Individuum den Lebenslauf zum Thema.“ (Hahn 108 In ähnlicher Weise argumentiert Uwe Schimank mit seinem Konzept des „reflexiven Subjektivismus“, das auf die Selbstreferenz der Identitätsbildung in funktional differenzierten Gesellschaften abstellt (vgl. Schimank 1985: 447ff.).
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1988: 93; vgl. auch Voges 1983: 15f.; Nassehi/Weber 1990a: 171f.) Für diese gelten alle Strukturmerkmale der Zeitkonstitution, wie ich sie oben für autopoietische Systeme ausführlich dargestellt habe. Insbesondere sind dabei der Aspekt der Gegenwärtigkeit jeder autopoietischen Operation zu nennen sowie der sich daraus ergebende Modalisierungszwang: Biographische Beobachtungen finden immer in einer Gegenwart statt, und von Gegenwart zu Gegenwart kann die Beschreibung des autopoietischen Gesamtzusammenhangs oder einzelner Ereignisse variieren.109 Auch die biographische Vergangenheit bzw. Zukunft ist gegenwärtige Vergangenheit bzw. gegenwärtige Zukunft. Sie übt einen selektiven Zugriff auf den Lebenslauf aus und konstituiert damit biographische Ereignisse und Zusammenhänge, „die es so vorher gar nicht geben konnte. Der Lebenslauf ist uns nur über die Funktion biographischer Repräsentation als Wirklichkeit zugänglich“ (Hahn 1988: 94). Die Unterscheidung von Lebenslauf und Biographie, wie ich sie bis hier expliziert habe, bildet zwar die sozusagen innere Struktur des Verhältnisses der Zeit der Autopoiesis des Bewußtseins und seiner Beobachtungszeit ab, sie unterschlägt aber den für eine gesellschaftstheoretische Perspektive entscheidenden Aspekt des Verhältnisses sozialer und psychischer Ereignissukzessionen. Die biographische Perspektive, die Biographisierung individueller Selbstbeobachtung ergibt sich, wie ich angedeutet habe, aus der veränderten Inklusionsform von Individuen in der modernen Gesellschaft. Zum einen gewinnt der selbstreferentielle Aspekt der Identität erheblich an Gewicht, weil die gesellschaftlichen Teilsysteme nicht in der Lage sind, Individuen als ganze Personen in ihre Operationen zu inkludieren. Zum anderen muß die sich daraus ergebende Komplexität der Lebenslage von einzelnen temporalisiert werden. Temporalisierung von Komplexität bedeutet hier nichts anderes als die Notwendigkeit, individuelle und soziale Systemgeschichten zu synchronisieren. Psychische und soziale Ereignistemporalitäten sind sich zwar eo ipso als wechselseitige Umwelten in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit gegeben (vgl. III.1d), doch verbürgt dies – wie gezeigt – noch keine temporale Koordination (vgl. IV.1). Individuelle Lebenslagen und soziale Ansprüche müssen deshalb nicht nur sozial – etwa durch Zugangsregeln, Bildung oder Anspruchsvoraussetzungen –, sondern auch zeitlich organisiert werden. Daß für diese Synchronisierungsleistung die Welt-/Uhrenzeit nicht ausreicht, versteht sich von selbst, denn diese kann zwar technisch Gleichzeitigkeit von Erwartetem herstellen, jedoch nicht inhaltlich qualifizieren. Dazu bedarf es anderer Methoden des Umgangs mit Zeit. Hahns Unterscheidung von Lebenslauf und Biographie enthält neben der Unterscheidung biographischer Thematisierung und der im Lebenslauf „tatsächlich“ abgelaufenen Ereignisse noch eine zweite Unterscheidung. Kann man die erste gewissermaßen eine epistemologische Unterscheidung nennen, die das Verhältnis von Erkenntnis und Realgegenstand anspricht (vgl. III.3a-c), handelt es sich hier um eine strukturtheoretische Unterscheidung. Unter Lebenslauf sind dabei temporale Ablaufmuster zu verstehen, die als festgelegte Positionssequenzen, als Karrieremuster oder sonstige institutionalisierte Sukzessionen von 109 Solche Neudeutungen der biographischen Wirklichkeit werden besonders dann relevant, wenn unerwartete Gegenwarten auftreten, in deren Horizont sich die Modalzeiten der Vergangenheit und Zukunft anders als vorher darstellen. Dies können – im Sinne kritischer Lebensereignisse (vgl. Filipp 1981: 7f.) – sowohl eher persönliche Ereignisse aus dem sozialen Nahbereich sein wie etwa Krankheit, Tod des Partners, religiöse Bekehrung etc. als auch gesamtgesellschaftlich unerwartete bzw. einschneidende Ereignisse wie Kriege, Konjunkturkrisen etc. (vgl. Schütze 1982: 589).
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erwarteten Ereignissen vorliegen (vgl. Hahn 1988: 93). Wenn solche Muster durchlebt werden, entsteht ein Lebenslauf – im Sinne der ersten Unterscheidung von Biographie und Lebenslauf -, der dann als Biographie beobachtet wird. Um eine Begriffskonfusion zu vermeiden, schlage ich vor, den Lebenslaufbegriff nur im Sinne des Gesamt von Ereignissen innerhalb einer Lebenszeit zu verwenden und im Falle von Lebenslaufmustern, die Hahn ebenfalls mit dem Lebenslaufbegriff belegt, von Prozeßstrukturen zu sprechen. Diesen Begriff habe ich oben bereits eingeführt (vgl. III.2d).110 Er bezeichnet die Herstellung von Erwartungssicherheit nicht nur bezüglich bestimmter Ereignisse, sondern bezüglich in der Zeitdimension festgelegter Prozesse, die so die Form von Strukturen annehmen. Solche Prozeßstrukturen werden von den funktionalen Teilsystemen der modernen Gesellschaft angeboten, um die Gleichzeitigkeit von psychischen und sozialen Operationen synchronisierend zu strukturieren. Diese typischen Prozesse machen Handlungsverläufe (i.e. Prozeß) erwartbar (i.e. Struktur) und tragen damit der Tatsache Rechnung, daß es mit zunehmender Komplexität und Differenzierung der Gesellschaft immer unwahrscheinlicher wird, daß psychische und gesellschaftliche Prozesse vorgängig miteinander parallelisiert sind. Damit wird die Multiinklusion temporalisiert: Ich spreche deshalb von temporalisierter Inklusion in die moderne Gesellschaft bzw. in ihre Teilsysteme.111 Die Prozeßstrukturen, wie sie v.a. in Form von Bildungs- und Berufskarrieren vorliegen, bilden das funktionale Äquivalent für die alternativlose Zugehörigkeit von ganzen Personen zu sozialen Aggregaten in vormodernen Sozialformen. Sie stellen Erwartungssicherheit in der Zeitdimension her und koppeln so individuelle und gesellschaftliche Ereignissukzessionen in der Zeit aneinander.112 Analog zu sozialen Intersystembeziehungen ist die Gleichzeitigkeit bei sachlicher Unterschiedlichkeit auch in der System/Umwelt-Beziehung zwischen psychischen und sozialen Systemen stets unhintergehbar gegeben. Doch je größer die Differenzen in der Sach- und Sozialdimension werden, um so stärkere Anstrengungen müssen unternommen werden, um dies in der Zeitdimension durch Synchronisation von Systemgeschichten zu kompensieren. Prozeßstrukturen dienen demnach dazu, 110 Auch Fritz Schütze spricht im Zusammenhang mit Lebensverläufen von Prozeßstrukturen, jedoch ohne den strukturellen Aspekt von Prozeßstrukturen von ihrem „tatsächlichen“ biographischen Erleben genau zu unterscheiden (vgl. Schütze 1981: 67ff.). 111 Prozeßstrukturen sind in der Lage, die Synchronisation von Gesellschaft und Bewußtsein in der Weise zu leisten, daß sie einzelne als Adressaten von Kommunikation behandeln und dies nicht nur in der Sozial-, sondern auch in der Zeitdimension leisten. Zur Beschreibung dieses Sachverhaltes schlägt Luhmann die Unterscheidung von Bewußtsein und Person vor. Bewußtsein ist als operativ geschlossenes System für Kommunikation intransparent und unzugänglich (vgl. III.1a und c), und trotzdem müssen Bewußtseinssysteme in der Kommunikation als Adressaten behandelt werden: als Personen. „Personen dienen der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen. Sie ermöglichen es den psychischen Systemen, am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird.“ (Luhmann 1991c: 174) Personen werden von psychischen Systemen verinnerlicht, um soziale Erwartungen als eigene Struktur beobachten zu können. Dieser für Sozialisationstheorien längst bekannte Sachverhalt wird so nur um den Aspekt der Unterscheidung von psychischen Operationen und operativen Einschränkungen durch die Sozialstruktur erweitert. Für diese Frage der temporalen Inklusion bedeutet dies: Nicht nur in der Sozial-, sondern auch in der Zeitdimension finden sich Bewußtseine als Personen vor, die durch das Erleben von Kommunikation nicht nur wissen, was von ihnen erwartet wird, sondern auch wann dies der Fall ist. 112 Eingehend wird diese Kopplung von Lebenszeit und sozialer Zeit als „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ (vgl. Kohli 1985: 1ff.; vgl. auch Levy 1977; Mayer 1986: 163ff.; Meyer 1986: 199ff.) beschrieben, auf deren historische Entwicklung ich hier im einzelnen nicht einzugehen brauche.
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die sachliche und soziale Komplexität, die in der modernen Gesellschaft bewältigt werden muß, zu temporalisieren. Ich verzichte hier auf eine eingehende Analyse der Koppelung von gesellschaftlicher und individueller Autopoiesis, da es mir hier lediglich um die Frage der gesellschaftstheoretischen Beschreibbarkeit dieses Sachverhaltes geht.113 Es soll nur deutlich gemacht werden, daß die moderne Gesellschaft das Problem von Gleichzeitigkeit und Synchronisation von Systemgeschichten nicht nur als Phänomen von sozialen Intersystembeziehungen kennt, sondern auch und gerade als Synchronisationsproblem zwischen psychischen und sozialen Anforderungen. Als Synchronisationstechnik benutzt sie Prozeßstrukturen, die die strukturelle Kopplung zwischen psychischer und sozialer Reproduktion vornehmen. Das Verhältnis zwischen diesen Ereignistemporalitäten ist ohne Zweifel asymmetrisch. Ich meine damit nicht die Trivialität, daß die Gesellschaft größer oder gar mächtiger als das Individuum ist, was immer man mit diesen hinkenden Vergleichen ausdrücken will. Es geht mir vielmehr darum, daß Gesellschaft und Bewußtsein völlig unterschiedliche Generatoren ihrer systemischen Einheit besitzen. Wie gezeigt, scheint die moderne Gesellschaft auf eine zentrale Beschreibung ihrer Einheit weitgehend verzichten zu können. Sie reproduziert sich über die Operationen ihrer Teilsysteme, und diese Reproduktion geht nicht einlinig, sondern durch das Nebeneinander einer hohen Zahl unterschiedlicher Ereignistemporalitäten vonstatten. Dies ermöglicht der Moderne erst ihre Formenvielfalt, ihr hohes Potential an Unterschiedlichem und nicht zuletzt die Erprobung von Möglichkeiten, die nicht weiter verfolgt werden. Diese Technik der Komplexitätsbewältigung durch Systemdifferenzierung, d.h. die Differenzierung von Unterschiedlichem und Synchronisation von Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem, steht Bewußtseinssystemen nicht zur Verfügung. Sie sind vielmehr darauf angewiesen, mit Hilfe einer einlinigen Ereignistemporalität zu operieren und müssen deshalb mit Einheitsunterstellungen anderer Art arbeiten. Seit Husserl weiß man, daß Bewußtseinssysteme ihre Einheit durch temporale Selbstbeobachtung herstellen (vgl. I.2e). Weil sie aber nicht in der Lage sind, sich in Teilsysteme zu differenzieren, müssen die unterschiedlichsten sozialen Anforderungen im Bewußtsein gebündelt und sozusagen einlinig miteinander in Deckung gebracht werden. Je differenzierter eine Gesellschaft ist und je höher der Grad an Teilnahme an unterschiedlichen sozialen Systemgeschichten ist, um so differenziertere Horizonte des Bewußtseins müssen sich parallel dazu ausbilden. Die Gesellschaft mutet dem Individuum gewissermaßen zu, daß sich in ihm die sozialen Differenzen zu einer Einheit bündeln, die sinnhaft zu integrieren allein Sache des Bewußtseins geworden ist. In Individuen bündeln sich die sequentiellen Muster der verschiedenen sozialen Systeme, in die sie inkludiert sind, zu konkreten Lebensläufen. Diese aber sind sowohl der Fremd- als auch der Selbstbeobachtung nur als biographische Beobachtung zugänglich. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs durch soziale Prozeßstrukturen, entpuppt sich als soziale Zumutung für das Individuum, selbsttätig die sequentiellen Muster, in die es verstrickt ist, zu ergreifen und den damit gelebten Lebenslauf beobachtend zu einer Biographie zu verdichten. 113 Die Zahl materialer Analysen zu solchen Koppelungen ist inzwischen Legion. Ich verweise nur auf folgende Untersuchungen: Bezüglich Berufsbiographien vgl. Brose (Hg.) 1986; bezüglich Bildungsbiographien vgl. Meulemann 1990; bezüglich staatlicher und rechtlicher Einwirkungen auf Lebensverläufe vgl. Mayer/Müller 1989; bezüglich des Zusammenhangs von ökonomischer Krise und Lebensverlauf vgl. Elder 1974; bezüglich familialer Biographien vgl. Beck-Gernsheim 1983.
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Schon der autopoietische, operativ geschlossene Charakter von psychischen Systemen schließt es aus, daß die unbestreitbaren Dilemmata moderner Identitätsbildung – Integration widerstreitender sozialer Anforderungen z.B. zwischen Familie und Beruf oder Religion und Politik – gleichsam von außen, also sozial aufgelöst werden. Alle Vorstellungen, die Identitätsbildung durch kollektive Identität, durch soziale Modelle oder verbindliche Deutungsmuster erwarten, sehen an der radikalen Differenz von sozialer und psychischer Autopoiesis sowie an der Multiinklusion in der modernen Gesellschaft vorbei (vgl. Luhmann 1985a: 442).114 Was man gemeinhin als Identität bezeichnet, ist vielmehr als Ergebnis einer selbstreferentiellen Selbstbeobachtung und -beschreibung anzusehen, die sich zwar stets im Bestimmungsbereich sozialer Systeme befindet, jedoch immer selbstsozialisierend operiert (vgl. Luhmann 1984a: 327; vgl. auch Gilgenmann 1986: 91ff.). Identität und Einheit des Bewußtseinssystems kann nicht von außen in das System eingeführt, sondern muß selbstreferentiell konstituiert werden. Autopoietische Systeme setzen sich – ich habe oben ausführlich darauf hingewiesen – der Paradoxie der Selbstbezüglichkeit aus, wenn sie sich selbst beschreiben (vgl. III.2a). Das gilt auch für Bewußtsein: Sobald ein Individuum sich selbst beschreibt, führt es seine Einheit in einer Ereignisgegenwart als beobachtende Operation in das System ein. Die Paradoxie besteht darin, daß die Beschreibung der Einheit des Bewußtseins nicht Einheit, sondern Differenz erzeugt: „Die Operation der Reflexion der Einheit kann in einem autopoietischen Kontext immer nur eine im Zusammenhang mit anderen sein, und sie artikuliert daher, ob sie dies intendiert oder nicht, eine Differenz.“ (Luhmann 1985a: 441) Die Beschreibung gehört zugleich zum Beschriebenen dazu, ohne daß sie mitbeschrieben wird. Ich habe oben gezeigt, daß diese Paradoxie der Selbstbeschreibung sich durch Zeit entparadoxiert, daß im nächsten Moment die Selbstbeobachtung wieder beobachtet werden kann, und zwar durch eine erneute Operation, die wieder eine Paradoxie verursacht. Ich habe dies auf die Formel gebracht, daß die Aufhebung der Paradoxie der Selbstbezüglichkeit durch die Zeit nur zeitweise, i.e. von Ereignis zu Ereignis erfolgen kann. Die Selbstbeschreibung des Bewußtseins, so Luhmann, „wird im nächsten Moment durch einen anderen Gedanken als Vorstellung beobachtet mit der dann typischen Bifurkation: entweder bei der vorgestellten Einheit zu bleiben, sie zu kondensieren und sich mit ihr zu langweilen, oder die Vorstellung selbst als Gedanken zu fassen und dabei zu merken, daß die intendierte Einheit gleichsam unter ihr selbst wegläuft.“ (ebd.: 441) Die erste Möglichkeit scheint mir in einer hochkomplexen, dynamischen sozialen Umwelt nur temporär praktikabel zu sein; die zweite dagegen ist auf Dauer unerträglich, insbesondere dann, wenn die Selbstbeschreibung als biographische Beobachtung die Zeitdimension eigens problematisiert. Wie entgeht das Bewußtsein seiner paradoxiegenerierenden Selbstbezüglichkeit? Anders gefragt: Wie blockiert es seine Selbstbeobachtung, um sich Selbstbeobachtung zumuten zu können? Zunächst muß angemerkt werden, daß die Alternative, Selbstreflexion ein114 Die Kritik der modernen Gesellschaft stellt sich oftmals als Trauer um den Verlust identitätsspendender Sozialbezüge dar. Dieses gängige Motiv zieht sich von eher konservativen Modellen á la David Riesman – „The Lonely Crowd“ (Riesman 1958) – über liberale Modelle á la Peter Berger – „Das Unbehagen in der Modernität“ (Berger/Berger/Kellner 1975) – bis zu Oskar Negts und Alexander Kluges „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (Negt/Kluge 1970). Auch Habermas’ Frage, ob die moderne Gesellschaft eine vernünftige Identität ausbilden könne, sowie seine Antwort: ja, aber nur diskursiv unter Angabe der prozeduralen Bedingungen ihrer Erlangung (vgl. Habermas 1976: 92ff.), gehört in diesen Kontext.
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fach auszusetzen, kaum praktikabel ist, weil die Gesellschaftsstruktur es geradezu erfordert, daß psychische Systeme sich als Individuen beschreiben. Wie geht nun die Entparadoxierung vonstatten? Wie geht ein Bewußtsein mit dem Widerspruch um, als Indivduum nur ein soziales Muster, nämlich das der Individualität nolens volens ausfüllen zu müssen? Autopoietische Systeme können bekanntlich nicht ihren Anfang intendieren. Sie operieren immer schon und finden sich dabei bereits in Operation befindlich vor.115 Das bedeutet, daß solche Systeme bereits mit Eigenvalues (v. Foerster 1985: 210), d.h. mit relativ stabilen Selbstfestlegungen arbeiten, die bereits im Sinne dessen, was ich oben Autoontologisierung (vgl. III.3b) genannt habe, zu stabilen Selbstbeschreibungsmustern gefunden haben, die nicht weiter unterschieden werden müssen. Die Selbstidentifikation von Personen – auch biographische Thematisierung – ist damit gewissermaßen eine Selbstsimplifizierung, die es ermöglicht, die Paradoxie der Selbstbeschreibung unsichtbar zu machen. Die Simplifizierung besteht keineswegs nur darin, daß man aus einem Horizont von Möglichkeiten nur eine begrenzte Kapazität auswählen kann. Sie besagt darüber hinausgehend, daß das, was gewählt wird, nicht weiter unterschieden, also gleichsam axiomatisiert wird, um der Paradoxie zu entgehen, Unterscheidungen immer weiter unterscheiden zu müssen. Indem ein Bewußtsein in der Moderne sich nicht mehr über bloße Fremdreferenz bis hin zu einem alle Unterscheidungen einziehenden Gottesbegriff selbst vollständig beschreiben kann, muß es auf innerpsychische God-Terms zurückgreifen, die seine Fremdreferenz, also das, woran es sich festhalten kann, in der selbstreferentiellen inneren Unendlichkeit darstellen. Allerdings ist innere Unendlichkeit schon ein theoretisch elaboriertes, aber praktisch kaum operables Konzept. Sie soll gerade verhindert werden: Das Bewußtsein zieht sich auf Standpunkte, auf „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ und auf kaum beobachtbare Eigenvalues zurück. Blumenberg bemerkt dazu – in Auseinandersetzung mit Feuerbachs Religionskritik – treffend: Es ist „nicht so leicht, der Gott zu sein, den man bis dahin nur gedacht hatte“ (Blumenberg 1975: 108). Die moderne Gesellschaft ist zwar darauf angewiesen, daß sich einzelne als Einheit, als Individuum beschreiben, diese Einheit jedoch ist darauf angewiesen, daß sie ihre gleichzeitige Differenz nicht sieht, weil sie sich sonst in einem Reflexionszirkel verliert. Um diesen Zirkel zu vermeiden – nicht: um Identität von außen zu importieren -, müssen für das Bewußtsein Formen gefunden werden, sich mit Themen und Kontexturen der Selbstbeobachtung zu versorgen, die zugleich die Tautologie der Selbstbeschreibung und die daraus resultierende Paradoxie verdecken und die soziale Anschlußfähigkeit als Bedingung für Inklusion sichern. „Wir vermuten, daß die Morphogenese des Bezugspunktes der Selbstbeobachtung in der Vorstellung sozialer Erwartungen geleistet wird und daß hier Abweichung stärker sozialisiert als Konformität. Das Bewußtsein wird so angeregt, die Differenz zu sich selbst als Differenz zu dem, was erwartet wird, zu artikulieren, und die selbstgefundene Lösung über Anpassung oder Widerstand sich selbst zuzurechnen.“ (Luhmann 1985a: 443) Die ständige strukturelle Kopplung des Bewußtseins mit sozialen Systemen läßt es letztlich nicht zu, daß einem psychischen System seine Paradoxie bewußt wird. Es interpretiert seine (!) Differenz als Differenz zwischen Ich und Welt und inkludiert sich (!) damit in soziale Systeme. Die Entparadoxierung der eigenen Individualität erfolgt damit zum einen durch die Unverwechselbarkeit der eigenen Vergangenheit (und Zukunft), 115 Ähnliches meint Heideggers Begriff „Geworfenheit des Daseins“ (vgl. Heidegger 1979: 175ff.).
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also durch Biographisierung der Identität, zum anderen durch die Attribution von Verhaltenseinschränkung an soziale Bedingungen. Das psychische System wird angehalten, sich nicht als Bewußtsein, sondern als Person zu beschreiben. Es kann sich dann zu diesen Bedingungen verhalten und sich damit Identität zurechnen. Die Unterscheidung eines personalen von einem sozialen Identitätsanteil, wie ich ihn oben als theoretisch wenig ergiebig beschrieben habe, kommt damit sozusagen als Entparadoxierungstechnik wieder zur Geltung. Die Paradoxie, daß individuelles Identitätsmanagement einem nichtindividuellen Muster folgt, wird so gewissermaßen durch Sozialisation, i.e. Orientierung an sozialen Erwartungen, unsichtbar gemacht. Dies geschieht in der modernen Gesellschaft insbesondere unter temporalen Aspekten: Die biographische Identität des Bewußtseins wird durch temporalisierte Inklusion vermittels Prozeßstrukturen gesichert, die für die Morphogenese innerer Anschauung sorgen, an denen sich das Bewußtsein abarbeitet. 6.
Moderne Zeiten: Vom Ende der Geschichte zum Risiko der Zeit
Charlie Chaplins 1936 erstaufgeführter Film Moderne Zeiten („Modern Times“) ist eines der bekanntesten Beispiele für die kritische Darstellung des modernen Lebens: Der Massengesellschaft mit ihrem Konformitäts- und Formalisierungszwang wird das Bedürfnis menschlicher Identität gegen das Reglement des Räderwerkes der „Maschine“ in Industrie, Verwaltung und Kulturindustrie gegenübergestellt. Chaplins Film thematisiert zwar nicht explizit die Zeit als Zwangsmechanismus, sondern vor allem die industrielle Einordnung des Menschen unter die Maschine und ihren Chronos. Doch kann dieses Motiv der Kritik und Entlarvung der modernen Industriegesellschaft durchaus auch in der Semantik moderner Zeiten wiedergefunden werden. Ebenfalls Mitte der dreißiger Jahre schreibt Lewis Mumford in diesem Sinne: „The clock, not the steam-engine is the key-machine of the modern industrial age.“ (Mumford 1934: 14) Im folgenden möchte ich kurz auf einige Aspekte moderner Zeitsemantik eingehen, die die Unerbittlichkeit der Welt-/Uhrenzeit thematisieren. Wovon ich hier nicht sprechen möchte, ist die Frage der Zeit-Politik, also etwa der gewerkschaftlichen Forderung nach Arbeitszeitverkürzung und dem Kampf um Zeitbudgets in modernen Lebensformen, in denen die Erosion traditioneller Rollenverteilungen und das Entstehen neuer Werte zur Notwendigkeit einer neuen Kopplung individueller Zeiten führt. Letztlich bildet dies nur den gesellschaftsstrukturell bedingten Synchronisationsbedarf einer hochdifferenzierten Gesellschaft ab.116 Was mich im folgenden interessiert, ist die semantische Reaktion auf die Entkoppelung der Zeit von dem in ihr sich vollziehenden Geschehen. Diese beiden Elemente – Zeit und Geschehen – waren bis an die Epochenschwelle zur Moderne, also noch bis in die abstrakten Modelle der Simulation von Einheit per Fortschritt und Geschichte, miteinander verknüpft. Das muß sich spätestens dann ändern, wenn die Zeit der Gesellschaft die Form eines eigenständigen, inhaltsleeren, hochgeneralisierten Mediums annimmt, das für das, was in ihm geschieht, völlig indifferent ist. Im Namen des Fortschritts ist die Zeit an Bestimmtes, nämlich an das Bessere, gebunden; für die Welt-/Uhrenzeit ist es gleichgültig, ob sie mit Barbarei oder Erlösung, mit schwarz oder 116 Zu dieser sozialpolitischen Diskussion vgl. Rinderspacher 1984, Negt 1984; Negt 1988; Nowotny 1989; vor allem Hörning/Gerhardt/Michailow 1990.
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weiß, mit Nacht oder Tag, mit plus oder minus einhergeht: Indifferenz. Diese inhaltliche Leere der Zeit werde ich im folgenden unter den Stichworten Negation des Chronos (a) und Risiko und Zeit (b) behandeln. a)
Negation des Chronos
Man kann die Indifferenz der Zeit für das, was in ihr geschieht, zunächst feststellen, ohne dies zu bedauern. Allein, die Geschichte der modernen Zeitsemantik ist voll von Oszillationen zwischen der Trauer um den notwendigen Verzicht einer „heiligenden“ Zeit und dem trotzigen Bemühen um eine Zeit, die nicht die Synchronisationszeit der differenzierten Zeithorizonte ist. Paradigmatisch für eine solche Auffassung ist ohne Zweifel Henri Bergsons Dichotomisierung der Zeit in die physikalische Raumzeit nach dem Modell der Newtonschen Physik und der reinen Dauer der bewußten Innerlichkeit. Dieser Unterscheidung korrespondiert die Unterscheidung extensiver und intensiver Größen (vgl. dazu I.2d). Diese unterscheiden sich weniger dadurch, daß die eine ausgedehnt ist, die andere nicht ausgedehnt. Bergson ist es nicht um eine Deskription von bestimmten Seinsbereichen, von Gegenständen zu tun, die sozusagen gemeinsam für die Welt stehen. Vielmehr ist es ein epistemologisches Problem, das nicht Seiendes voneinander scheidet, sondern verschiedene Auffassungsweisen der Welt differenziert (vgl. Bergson 1989: 57). Bergson vertritt eine Art Kolonialisierungsthese, wenn er die homogene, extensive Zeit als „Phantom des Raumes“ bestimmt, „das das reflektierte Bewußtsein im Banne hält“ (ebd.: 77), welches ursprünglich vorreflexiv und quasi natürlich von einer qualitativen inneren Dauer ist, die sich monadisch von Äußerem abspaltet. Dieses phänotypische Motiv, durchsetzt mit kulturkritischen Zügen eines Unbehagens in der Kultur, findet man in mannigfaltigen Ausprägungen. Stets wird eine qualitative Sphäre der Innerzeitlichkeit einer äußeren Zeit gegenübergestellt, die in der Moderne die qualitative Zeit des Bewußtseins und des Lebens zu majorisieren trachtet. Heideggers Sein und Zeit von 1927 etwa qualifiziert sein ethisches Motiv der Eigentlichkeit und Entschlossenheit als aktive Aufnahme der je individuellen Zeitlichkeit. „Nur so fern das Dasein als Zeitlichkeit bestimmt ist, ermöglicht es ihm selbst das gekennzeichnete eigentliche Ganzseinkönnen der vorlaufenden Entschlossenheit. Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der eigentlichen Sorge.“ (Heidegger 1979: 326) Die ursprüngliche Zeitlichkeit des Daseins, die sich gegen den „vulgären Zeitbegriff“ (ebd. 420ff.) der Weltzeit behaupten muß, rekurriert nicht umsonst auf die Sorge. Sie ist für Heidegger die ekstatische, d.h. die eigene Vergangenheit und die antizipierte Zukunft einschließende (vgl. ebd.: 329) „ursprüngliche Strukturganzheit“ (ebd.: 193). Zeitlichkeit ist sozusagen das Symbol für die in der Moderne kontingent gewordene Einheit des Daseins: „Die ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur liegt in der Zeitlichkeit.“ (ebd.: 327) Und diese Einheit läßt sich nur gegen die Zumutung der äußeren Welt behaupten.117 Noch in Husserls streng methodologisch begründeter „Ausschaltung der objektiven Zeit“ (Husserliana X: 4) schwingt ein Element jenes Motivs mit, das in der Quantifizierung der Zeit einen wesentlichen Grundzug der Moderne sieht. Deren 117 Ich erwähne Bergson und Heidegger nur als prominente Beispiele. Ähnliche Belege finden sich in der gesamten existential- und existenzphilosophischen, aber auch in der phänomenologischen Literatur.
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anfängliche Fortschrittseuphorie ist einer skeptischen Semantik gewichen, die die teilsystemspezifischen Entwicklungen, vor allem verwaltungs- und industrietechnischer, wissenschaftlicher, politischer und ökonomischer Art, begleitet. In Nietzsches Versuch der Enthistorisierung des Historischen wird das Motiv der Dichotomisierung von innerer und äußerer Zeit noch einmal eingeholt. Dabei spricht Nietzsche keineswegs einer Restituierung des Ewigen als Sinnspender das Wort. Im Zarathustra heißt es: „Böse heisse ich’s und menschenfeindlich: all diess Lehren vom Einen und Vollen und Unbewegten und Satten und Unvergänglichen!“ (Nietzsche 1980b: 110) Gerade die Vergänglichkeit ist es, die Nietzsche predigt, die Diskontinuität der Zeit und nicht ihre kontinuierliche Homogenität, wie sie die moderne Masse, die „Heerde“ (ebd.: 25), in ihren Bann zieht. Diskontinuität ist sozusagen zugleich Protest gegen das Vergehen und Symbol des Vergehens zugleich. Den Protest gegen das Vergehen drückt Nietzsche in der entzeitlichenden Potenz der Lust aus: „Oh Mensch! Gieb Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? 'Ich schlief, ich Schlief -, 'Aus tiefem Traum bin ich erwacht: 'Die Welt ist tief, 'Und tiefer als der Tag gedacht. 'Tief ist ihr Weh -, 'Lust – tiefer noch als Herzeleid: 'Weh spricht: Vergeh! 'Doch alle Lust will Ewigkeit -, '- will tiefe, tiefe Ewigkeit!'“ (ebd.: 404)
Nicht Weh, das vergeht, sondern Lust, die nicht für die Ewigkeit steht, sondern sie will, strebt Nietzsche an, um dem sinnlosen Sukzedieren in der Zeit die ekstatische Qualität, die dionysische Erfüllung entgegenzusetzen. Als Symbol des Vergehens ist allerdings die Diskontinuität der ewigen Wiederkehr anzusetzen: Sie setzt die zyklische Unerbittlichkeit des permanenten Neubeginns gegen das lineare Fortschreiten innerweltlicher Chiliasmen und Erlösungshoffnungen. „Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlange – nicht zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichem Leben: – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Größten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, –“ (ebd.: 276) Die ewige Wiederkehr des Gleichen in ihrer modernen, Nietzscheanischen Variante ist nicht einfach ein Versuch, zum mythischen Ursprung mit seiner Neues verhindernden Kreisförmigkeit des Weltgeschehens zurückzukehren. Im Gegenteil scheint Nietzsche gerade die Linearität der Moderne, ihre offenbar nicht hintergehbare Zeitmacht zugleich zu nutzen und zu entlarven. Er nutzt sie, indem er feststellt, daß immer wieder etwas geschieht, nacheinander in einer ewigen Wiederkehr. Es ist aber zu offensichtlich, daß nicht immer das Gleiche geschieht, daß sich die Welt verändert und somit der Zeit unterworfen ist. Was Nietzsche zeigen will, scheint mir zu sein, daß es eine Illusion der modernen Zeitauffassung ist, zu glauben, daß sich überhaupt etwas im Ganzen ändert. Er entlarvt damit die Geschichte und die Moderne als ein Kontinuum, das diskontinuierlich verläuft. Er entlarvt
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es als Illusion, von der linearen Weltzeit zu erwarten, daß sie auf Vergangenem aufbauen kann, daß überwunden geglaubte Barbarei unwiederholbar ist, daß die Fortschritte in Technik und Zivilisation aufeinander aufbauen. Gegen eine solche Unvergänglichkeitsthese der Vergangenheit setzt Nietzsche die ewige Wiederkehr: Wir können nicht von vergangenen Erfolgen leben, die Geschichte ist kein Lernprozeß. In jeder Gegenwart muß neu begonnen werden, weil es die Kontinuität der Zeit nicht gibt. Bei aller Verschiedenheit steht auch die Nietzscheanische Kritik der (Welt-) Zeit wie die Bergsons oder Heideggers für die Dichotomie qualitativ-sinnhafter und quantitativ-sinnimmuner Zeit.118 Die Kultur- und Modernitätskritik ist voll von ähnlichen Motiven. Ob es um die Kritik der Formalisierung der Ethik geht, die keine materialen Maßstäbe mehr ausweisen kann (vgl. MacIntyre 1987: v.a. 75ff.), ob es um die Frage des ständigen Reflexionszwangs in der Moderne geht, der Lebensformen mit einem Übermaß an Kontingenz belastet (vgl. Schelsky 1965: 268ff.), ob die Gefahren flüchtiger Bedeutung, großen Handlungsspielraums und damit des Verlusts von „unfraglichen Überzeugungen“ (Simmel 1983: 35) diagnostiziert werden oder ob die „Unbestimmtheit als Zeitsignatur“ (Gehlen 1957: 100) angesetzt wird, stets geht es darum, die vormodernen Spuren der Untrennbarkeit von Ereignis und Sinn bzw. von Konkretem und Allgemeinem aufzufinden. Diese Modernitätskritik ist gewissermaßen sowohl eine Kritik der Generalisierung als auch – paradoxerweise – eine Kritik ihrer Unmöglichkeit. Sowohl Moral als auch Reflexion, Überzeugungen und die Bestimmung von Lebensformen müssen radikal formalisiert und generalisiert werden, um überhaupt das plurale Prozessieren der Gesellschaft zu ermöglichen. Der Preis für diese Formalisierung und Generalisierung ist aber ohne Zweifel als Differenzierung von Ereignis und Bedeutung, als Verlust eindeutiger Positionierung innerhalb der Gesellschaftsstruktur und nicht zuletzt als kontingente Beobachtbarkeit der Welt erlebt worden – es könnte nicht nur alles auch anders sein, sondern man kann auch alles, was ist und auch anders sein könnte, immer auch anders sehen. Die Generalisierung von prozeduralen Formen der Auffindung des Wahren, Schönen und Guten geht einher mit dem Verlust der Einheit des Wahren, Schönen und Guten. Unter prozeduralen Formen verstehe ich solche, die gerade nicht angeben, was das Wahre, Schöne und Gute sei, sondern die Frage stellen, wie es wissenschaftlich, ästhetisch und moralischpraktisch erreicht werden kann. Darin steckt ein hohes Maß an Kontingenz, denn wenn die Prozedur vor das Ziel gesetzt wird, kann man auf dem Wege hin zum Ziel scheitern bzw. zu unterschiedlichen partikularen Ergebnissen gelangen, die sich womöglich alle auf ein universales, abstraktes Vernunftprinzip der Wissenschaft, der Ästhetik oder der Moral noch einmal generalisiert in einem allgemeinen Begriff der Vernunft stützen. Dies macht zwar Einheit denkmöglich, aber Differenz wird dadurch gerade nicht aufgehoben. Daß in diesem Transformationsprozeß des Vernunftbegriffs nurmehr ein Begriff technischer Rationalität übrig bleibt, ist sattsam bekannt, und die Zahl der Verlustdiagnosen ist Legion.119 Je abstrakter die gedachte Einheit 118 Im Gegensatz zu Bergson und Heidegger liegt bei Nietzsche selbstverständlich keine Dichotomie innerer und äußerer Zeit vor. Gemeinsam mit diesen beiden Autoren ist Nietzsches Philosophie allein die Kritik an der quantitativen, vulgären und historischen Zeit, die sinnimmun ist und deren behauptete Kontinuität als Chimäre entlarvt wird. 119 So erst jüngst wieder, um nur ein Beispiel zu nennen, Hans Ebeling, dem es darum zu tun ist, am Beispiel der ästhetischen Moderne die Frage zu beantworten, „warum das Vernunftinteresse nicht preisgegeben werden kann“ (Ebeling 1989: 112) und warum es einer Disziplin bedarf, die den Grund der Diffe-
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des Differenten mit elaborierten Vernunft-, Rationalitäts- und Normbegriffen dann codifiziert wird, um so stärker werden die Differenzen der vorgestellten Einheit sichtar.120 Nicht ohne Zufall rekurrieren also die genannten Zeit-Kritiker auf letzte Einheitsbegriffe, gewissermaßen auf theorietechnische God-Terms: Bergson auf die Einheit der inneren Dauer, die die Isolation der Jetztpunkte in einem sich selbst gebenden Fluß aufhebt, Heidegger auf die Einheit des Daseins in der Sorge als ursprünglicher Strukturganzheit und Nietzsche auf die Einheit des Schicksals der ewigen Wiederkehr, die keine sinnspendenden Differenzen zwischen Zeitpunkten – also: Entwicklung, Fortschritt, Lernen – duldet. Diese zumeist mit kulturkritischer Attitüde vorgetragenen Ideen könnte man als semantische Nachwehen ihres Gegenteils bezeichnen, nämlich der Modernitätseuphorie der aufklärerischen und revolutionären Epoche. Hatte dort die Semantik der Einheit die Funktion, die Signatur des Zeitalters als universale Bestimmbarkeit auszudrüken, wird dies nun durch die Erklärung ihrer Unbestimmbarkeit versucht. Bezogen auf die Zeitsemantik: War dort die Zeit der Motor der Moderne als Prozeß, als Modernisierung, als Weg in einen perfekteren Zustand der Welt, ist sie nun als entzauberte Welt-/Uhrenzeit ein Symbol für den Verlust von Sinn und die technische Rationalität, die man etwa bei Heidegger unter dem Begriff des „Ge-Stells“ (vgl. Heidegger 1978: 9ff.) und bei Horkheimer unter dem Begriff der „instrumentellen Vernunft“ (vgl. Horkheimer 1985) findet: Sie kann nichts mehr qualifizieren und wird damit zum bloßen Instrument der Koordination von Systemgeschichten, die durch keinen Gesamtsinn mehr zusammengehalten werden. Die Zeit symbolisiert heute, so die Kritik, nicht mehr das Wissen darum, was zu seiner Zeit zu tun ist, sie kann nur noch Beliebiges verabreden, indifferent für das, was in ihr verabredet wird. Zeit-, Sach- und Sozialdimension sind endgültig voneinander geschieden. Dies läßt die Zeit der Moderne, die homogene, lineare Zeit ohne Sachbezug als verdinglichende Macht erfahren, die einem Differenzierungsprinzip der Gesellschaft entspricht, das eine eindeutige Verortung von Individuen in sinnhafte Bezüge einer geordneten Welt nicht mehr kennt.121
renz auslotet: die Philosophie. Sie „ist bei dieser Anstrengung ohne Konkurrenz, weil es gar nicht Aufgabe anderer Erkenntnis-, Handlungs- und Produktionsinstanzen ist, ihren gemeinsamen Grund zu ermitteln“ (ebd.: 173). 120 Was sich im Zuge der Reformation und der Säkularisierung der Gesellschaft in der Figur des deus absconditus niederschlägt, scheint sich in der Moderne mit dem Vernunftbegriff zu wiederholen. Die ratio abscondita ist folgerichtig hochabstrakt, formalisiert, von ihren Inhalten getrennt und nurmehr Bedingung einer Möglichkeit, über deren Möglichkeitsbedingung der Vernunftbegriff selbst keinen Aufschluß zu geben vermag. Auch hier ist Habermas’ Bemühen um die Rettung der Einheit der Vernunft bei gleichzeitiger Anerkennung der Pluralität der Welt paradigmatisch für die aufklärerisch-vernunftphilosophische Version der Moderne. Habermas’ gesamtes Werk treibt mit dem Vernunftbegriff das, was man vormals mit dem Gottesbegriff getan hat: Er muß sich von der Welt entfernen, um nicht von der Pluralität absorbiert zu werden, und er muß in der Welt wieder aufgefunden werden, um nicht seine Potenz und seinen Stachel zu verlieren. Ob man dies eher auf dem Wege transzendentalpragmatischer oder empirisch-rekonstruktiver Ansätze erreicht, ist dann eine prozedurale Geschmacksfrage, über die sich trefflich streiten läßt. Vgl. dazu Karl-Otto Apel 1989: 15ff. 121 Ein ähnliches Motiv findet sich in Paul Virilios Theorie der Geschwindigkeit, der Dromologie, deren Leitmotiv darin besteht, in der Beschleunigung von Prozessen die quasi-natürliche Langsamkeit menschlicher Bedürfnisse bedroht zu sehen. „Wir können also behaupten, daß die Liquidation der Menschheit weitergeht und die Liquefaktion des Hafens (des Bahnhofs, des Flughafens) von einer Auslöschung des Reisenden beim Transport begleitet ist. Der Andere, das alter ego, wird nur noch je nach der mehr oder weniger großen Beständigkeit seines Images zur Kenntnis genommen; der Sozialpartner
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Linearität und Chronos werden als gesellschaftliche Mächte verstanden, die dem anthropologischen Bedürfnis nach kairologischen Augenblicken oder nach der Einheit der zeitlichen Differenz entgegenstehen (vgl. Schmidt 1988: 664ff.). Andere Erfahrungen der Zeit, so Peter Sloterdijk, sind vonnöten, um dem Nihilismus des technokratischen Chronos Paroli zu bieten: „Einen Ausgang aus dem Nihilismus findet darum nur, wer die chronische Zeit verläßt, um im Augenblick zu sein. Mit einer Überwindung des Nihilismus hat dies nichts zu tun, weil auf diese Weise sich nur der Nihilismus der Überwindungen verewigen würde.“ (Sloterdijk 1990: 121) Damit verschärft sich die Semantik: Nicht mehr nur die Dichotomie quantitativer und qualitativer Zeit ist nun Dreh- und Angelpunkt der Zeitsemantik. Vielmehr wird nun die Veränderung, gewissermaßen die Qualifizierung der Zeit selbst preisgegeben: Wer per Handlungsentwurf und politischer Aktion den Chronos überwinden will, unterliegt ihm selbst und macht sich mitschuldig. Für eine Alternative wird der Augenblick, der Kairos, gehalten, den man nur noch außerhalb der Zeit erleben kann. Die Zeitsemantik entwickelt sich von der Jahrhundertwende bis heute von einem Feld, auf dem noch Siege zu erringen sind, zu einem Areal, auf dem alle Schlachten bereits geschlagen sind und nichts mehr geschehen kann. Die Bergsonsche und Heideggersche, auch die Nietzscheanische Zeit-Kritik drängt auf Selbstbehauptung, auf das Streben nach temporaler Einheit wenigstens der inneren Dauer und des Daseins. Noch Sloterdijks Diktum vom Nihilismus des Chronos läßt als Refugium das Augenblickserleben von Subjekten zu. Zunehmend kommt aber eine Semantik auf, die so weit geht, das Ende der Zeit schlechthin zu propagieren. Vorläufer dieser Entwicklung ist sicher Arnold Gehlens Posthistoire-These.122 Sein Diktum von der kulturellen Kristallisation geht davon aus, daß die in der Moderne „angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind“ (Gehlen 1963: 321), was zu einer Phase der Stagnation und der Unmöglichkeit von Entwicklung führt. Gehlen macht dies primär an der Ideengeschichte fest: „Ich exponiere mich mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist, und daß wir im Posthistoire angekommen sind (...).“ (ebd.: 323) Diese Voraussagen vom Anfang der 60er Jahre, der zunächst eine eher optimistische Phase folgt, in der viel von Entwicklungslogiken, von ontogenetischen und phylogenetischen Entfaltungsmodellen kognitiver Fähigkeiten und moralischer Urteile die Rede ist,123 werden von einer breiter werdenden Zeitsemantik der späten 80er Jahre bestätigt und radikalisiert. Am prägnantesten findet man diese in Jean Baudrillards These vom Tod der Moderne und vom Ende der Geschichte ausgeprägt. Wunderte sich Gehlen noch über die Stagnation und die Überraschungslosigkeit der Moderne (vgl. ebd.), ist bei Baudrillard das Moment der Überraschung selbst schon keine Denkmöglichkeit mehr. War bei Gehlen die Signatur des Zeitalters noch die Unbestimmtheit (vgl. Gehlen 1957: 100), die quasi durch historisch ist kein mit allen Rechten ausgestatteter ,Gesellschafter‘ mehr, sondern ein ,Mensch auf Zeit‘, dessen vorübergehende (politische oder kulturelle) Anwesenheit immer mehr schrumpft.“ (Virilio 1989: 51f.) 122 So auch Lichtblau 1991: 15ff. 123 Diese Phase neuer Euphorie ist v.a. mit einem Namen verbunden, nämlich mit Jürgen Habermas. Insbesondere seine Mitte der 70er Jahre angestellten Parallelisierungsversuche der Piagetschen Entwicklungspsychologie und der Evolution von Weltbildern (vgl. Habermas 1976: 62ff. und 93ff.) knüpft unmittelbar an die aufklärerische Tradition des Fortschrittsdenkens und – ein wenig überspitzt – der „Heiligung“ der säkularisierten historischen Zeit an. Das „unvollendete Projekt der Moderne“ (vgl. Habermas 1981c: 444ff.) strebt seiner Vollendung zu, das Medium dieser Vollendung ist die Entwicklungslogik der Geschichte.
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kontingente Entwicklung entstanden ist, wächst bei Baudrillard die Diagnose vom Tod der Moderne zu einer kategorialen Unbestimmbarkeit an. Es kann keine Bedeutung mehr geben, weil keine bedeutungsgenerierenden Unterscheidungen mehr möglich sind. „Ich meine, daß schon alles passiert ist. Die Zukunft ist schon angekommen, alles ist schon angekommen, alles ist schon da. Es lohnt sich nicht, zu träumen oder irgendeine Utopie der Umwälzung oder der Revolution zu nähren. Es ist schon alles umgewälzt. Ich meine, alles hat schon seinen Ort verloren. Alles hat Sinn und Ordnung verloren. Es ist keine Übertreibung, wenn wir sagen, alles sei schon eingetreten.“ (Baudrillard, in Hesse 1983: 103) Für Baudrillard ist die Moderne so überkomplex geworden, daß es keine innergesellschaftlichen Grenzen, Differenzen, Selektionen und Bedeutungshierarchien mehr geben kann, anhand derer man Ordnung entdecken könnte. Wenn die Entstehung von Zeit-Horizonten eine Reaktion auf den Sachverhalt ist, daß nicht alles, was geschehen kann und soll, gleichzeitig geschehen kann, wenn es also stimmt, daß die Temporalisierung von Komplexität „einer selektiven Ordnung der Verknüpfung der Elemente im zeitlichen Nacheinander“ (Luhmann 1984a: 77) entspricht, dann muß in der von Baudrillard geschilderten Situation die Zeit und mit ihr die Geschichte in der Tat verschwinden. Noch radikaler: „Im Grunde können wir gar nicht vom Ende der Geschichte sprechen, denn sie wird keine Zeit haben, ihr Ende zu erreichen. Ihre Wirkungen jagen einander, doch unabwendbar erlahmt ihr Sinn. Schließlich wird sie stillstehen und erlöschen, wie das Licht und Zeit, wenn sie eine unendlich dichte Masse berühren (...)“ (Baudrillard 1990: 13) Wäre das Ende der Geschichte selbst ein historisches Ereignis, die Geschichte würde fortgesetzt, weil es dann immer noch Differenzen zwischen Ereignissen gäbe, als deren Einheit bekanntlich Zeit fungiert. Die unendlich dichte Masse aber verhindert jede Differenz, da in ihr alle Möglichkeiten realisiert sind und ergo nichts mehr ausgeschlossen werden kann. Es gibt nur noch eine universale Gleichzeitigkeit ohne die Möglichkeit und ohne die Notwendigkeit eines Ziels und einer sinnhaften Synchronisation von Verschiedenem. „Das Schlimmste, das erträumte Endereignis, worauf die Utopie baute, die metaphysische Austreibung der Geschichte usw., der Endpunkt liegt schon hinter uns. Wir befinden uns in der Hypertelie. Das heißt, wir sind längst über den Endzweck hinausgeschossen.“ (Baudrillard, in Hesse 1983: 104) An Baudrillard kann man deutlich studieren, daß noch die radikalste Diagnose der Indifferenz und die Diagnose einer amorphen Masse, in der Beliebigkeit zum Signum der Welt geworden ist, nahtlos an das Motiv des Sinnverlustes und, damit äquivalent, des Verlustes sinnstiftender Allgemeinheit anschließt. Die Todesmetapher, das Ende der Moderne, steht, wie Thomas Jung treffend bemerkt, für die „nochmalige Entzauberung der Moderne“ (Jung 1991: 367), nachdem nun auch die letzten metaphysischen Restbestände des aufklärerisch-modernen Diskurses als sinnlos entlarvt sind. In Baudrillards Die fatalen Strategien heißt es: „Und die allerletzte Frage, die man einer entzauberten Welt stellen könnte, lautet: Hat diese Welt einen verborgenen Sinn? Wenn alles übersignifiziert wird, ist der Sinn selber unangreifbar. Wenn alle Werte in einer Art von indifferenter Ekstase bis zum Äußersten exponiert werden (...), dann ist die Glaubwürdigkeit dieser Werte zerstört.“ (Baudrillard 1985: 72) Was Baudrillard hier beklagt, ist weniger die Entzauberung der Welt selbst, sondern die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit. Diese Frage resultiert aus einer Perspektive, die in der modern differenzierten Gesellschaft exakt das sucht, was die Gesellschaftsstruktur selbst ausschließt: Die Repräsentation der Einheit des Differenten in sich selbst. Baudril-
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lard sucht nach dem Elysium, nach dem Zauber, der bindet, was die Mode streng geteilt. Er kann nicht fündig werden und muß also zu dem Befund gelangen, daß Bedeutung nicht mehr möglich ist, weil zum einen ein Zuviel an Einheit zu beklagen ist, zum anderen ein Zuviel an Differenz: Zu viel Einheit, weil in der amorphen Masse des Indifferenten keine Unterscheidungen und damit keine Bedeutungen möglich sind; und zu viel Differenz, weil sich deshalb die Einheit des Vielfältigen, die unitas multiplex nicht mehr sinnhaft ausdrükken läßt.124 Daß gerade die Zeit hier zu einem exponierten Kampfplatz werden muß, meine ich damit erklären zu können, daß sie in der Moderne eine erstaunliche semantische Karriere hinter sich hat. War sie in der Frühmoderne das Symbol für quasi chiliastische und millenaristische Verheißungen, für innerweltliche Erlösung und für die Erfüllung des größten Glücks der größten Zahl, ist sie in der gegenwärtigen Moderne das Symbol für die allein technische Bewältigung der Gleichzeitigkeit von Verschiedenem und der Synchronisation von voneinander Unabhängigem. Hält man an der normativen Prämisse fest, Einheit sei besser als Differenz, ein Zentralsinn oder zumindest theoretische funktionale Äquivalente seien die conditio sine qua non sozialer Ordnung, bieten sich die abstrakte, homogene und universale Weltzeit und ihr Korrelat, die säkularisierte Geschichte, als Kampfplatz für die Restituierung von Einheit geradezu an. Dabei hat man die Wahl zwischen zwei Alternativen: die Sloterdijksche Unterscheidung von kairologischem Augenblick und chronologischem Nihilismus oder die Baudrillardsche Negation jeder Unterscheidung im Tod der Moderne und damit einhergehender Implosion der Zeit. Dieser Befund einer – zugegebenermaßen auf intellektuelle Mandarine beschränkten –125 Zeitsemantik läßt m.E. die Diagnose zu, daß die kulturelle Semantik moderner Zeiten offenbar noch stärker an Einheit orientiert ist, als es zunächst den Anschein hat. Zugleich drückt sich hier eine gewisse Ungleichzeitigkeit aus, die semantisch offenbar das zu retten sucht, was gesellschaftsstrukturell unmöglich geworden zu sein scheint. Nun will ich nicht behaupten, daß die gesellschaftsstrukturelle Differenzerfahrung in der kulturellen Semantik nicht angekommen sei. Im Gegenteil: Die breite Diskussion um die Postmoderne, um die Gefechte zwischen Kontextualismus und Universalismus, Differenz und Einheit, kleine Geschichten und große Erzählungen sind geradezu ein Experimentierfeld für den Umgang mit unaufhebbaren Differenzen geworden. Am prominentesten und prägnantesten wurde und wird dieser Streit insbesondere von Jean Francois Lyotard getragen. Seine Hauptthese lautet, daß jeder Satz einen unaufhebbaren Widerstreit erzeugt, weil es keine übergeordnete Regel gibt, nach der dieser Satz für Sprecher und Empfänger gleichermaßen gilt. Unaufhebbar entsteht so Unrecht (vgl. Lyotard 1983: 9). Das gilt auch für die Zeit: Sie entsteht gewissermaßen notwendig durch Sätze, und wenn jetzt dieser Satz geschieht, kann kein anderer seine Zeitstelle einnehmen – ein Unrecht im Sinne des Widerstreits (ebd.: 11). Über die Zeit zu verfügen, sie im Widerstreit der Diskurse einzusetzen, ist also ein Machtfaktor, 124 Es soll nicht der Eindruck entstehen, Baudrillard strebe so etwas wie eine aufklärerische Perspektive mit universalistischem Gehalt an. Im Gegenteil: Er beklagt gerade, daß sich alle universalistischen Utopien erfüllt haben – aber anders als sie gemeint gewesen (vgl. Baudrillard 1985: 85; vgl. auch die treffende Deutung von Welsch 1987: 149ff.). Da sie sich aber erfüllt haben, gibt es nichts mehr, was zur Erfüllung noch ausstehen könnte, und das ist gleichbedeutend mit dem Ende der Notwendigkeit der Temporalisierung von Komplexität und damit mit dem Ende der Zeit. 125 Aber: Wie könnte es in der funktional differenzierten Gesellschaft auch anders sein?
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der sich in der Verfügung über reale Zeit anzeigt (vgl. ebd.: 292). Lyotard formuliert den différend als Differenzbegriff, der in der Verfügung über die Zeit des anderen durchaus so etwas wie Synchronisationsbedarf anzeigt, wobei es hier nicht um den technischen Aspekt der temporalen Koordination differenter Satz-Regelsysteme geht, sondern um den unaufhebbaren Widerstreit, der einem der Partner Gewalt antut. Auch hier wird Zeit als knappes Gut angesetzt. Der eine Satz verhindert den anderen, nimmt ihm seine Zeit. Die Macht des Chronos geht sozusagen in den gesprochenen Satz über, der den anderen möglichen Sätzen seine Zeit nimmt.126 Damit verfügt derjenige Satz über die Macht, der über die Zeit verfügt, und die Zeit in ihrer chronischen Unerbittlichkeit wird so zum Symbol des Widerstreits. Also auch bei Lyotard läßt sich – zumindest ansatzweise – ein Protest gegen den Chronos beobachten, dessen Unerbittlichkeit Gerechtigkeit, i.e. die Aufhebung des différend, verhindert. Luhmann und Fuchs haben vorgeschlagen, Lyotards Konzept des différend differenztheoretisch zu wenden: als unaufhebbare System/Umwelt-Differenz, die ihre Grenze nicht überschreiten kann. Gegen Lyotard geben sie jedoch zu bedenken: „Aber trotz dieser Einsicht in die operative Unausweichlichkeit der Differenz bleibt für Lyotard die Versuchung stark, auch die Einheit der Differenz noch zu denken – nicht mehr im Sinne von ,Geist‘, wohl aber in der Problematisierung von Normativität, in der Frage nach Gerechtigkeit (...), weiter in einem nicht sehr hoffnungsvollen Appell an Politik oder schließlich in der historischen Selbstcharakterisierung als ,postmodern‘. So liegt eine trotzige Trauer über dem Verzicht auf Einheit – jene rhetorische Einheit von orgé/lype (ira/tristitia), die wenigstens stimmungsmäßig noch festhält, was man verloren weiß.“ (Luhmann/Fuchs 1989b: 10) Dieses stimmungsmäßige Festhalten an Einheit in der gegenwärtigen kulturellen Semantik der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft ist es, das auch das Thema Zeit zum Kampfplatz für die Gewinnung gesellschaftlicher Einheit – wenn auch in sublimierter Form, wie etwa in Lyotards Gerechtigkeitskonzept – werden läßt. Selbst die sich als postmodern bezeichnenden Plädoyers für plurale Verhältnisse, für die Unübersetzbarkeit der Sprachspiele und Lebensformen und für die „kleinen Geschichten“ scheinen der Kontextur der Unterscheidung von Einheit und Differenz bzw. Universalität und Partikularität nicht entfliehen zu können (vgl. Nassehi 1991a: 208ff.). Solche Positionen sind, so Welsch treffend an die Adresse Lyotards, „vom Gift des Gegners gebeizt“ (Welsch 1987: 250).127 Es ist hier nicht der Ort, auf die Postmoderne-Diskussion und ihre semantischen Konsequenzen einzugehen. Ich möchte vielmehr andeuten, daß prominente Ansätze einer (post-)modernen Zeit-Semantik insbesondere auf die Krisenphänomene abstellen, die sich aus der Formalisierung der Zeit als sinnimmunem Chronos ergeben. Das gilt sowohl für Bergsons und Heideggers dualistisches Modell innerer und äußerer Zeit, als auch für Nietz126 Recht traditionell macht Lyotard dies insbesondere an der „ökonomischen Diskursart“ fest, die die Zeit in die ökonomischen Tauschbeziehungen eingliedert. Der Vorrang der Ökonomie nimmt sich die Zeit, die gebraucht wird, und entzieht sie somit anderen Diskursarten (vgl. Lyotard 1983: 286ff.). 127 Das Buch von Welsch (1987) bietet einen Überblick über die verschiedenen Ansätze, die sich postmodern nennen oder die im Kontext der Postmoderne-Debatte diskutiert werden. Neben der glänzenden Darstellung stellt Welsch ein eigenes Konzept vor, das bei ihm unter dem Titel einer „transversalen Vernunft“ firmiert (vgl. ebd.: 295ff.). Freilich scheint auch dieser Versuch vom beizenden Gift des Gegners zumindest gereizt zu sein, rekonstruiert es doch lediglich Lyotards Gerechtigkeitskonzeption auf einem anderen begrifflichen Hintergrund und mit größerem Vertrauen in die Potenz einer vernünftigen, i.e. gerechten Verbindung der Sprachspiele.
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sches Kritik der Kontinuitätsunterstellung der chronologischen Zeit, für Sloterdijks kairologische Augenblicksphilosophie, für Baudrillards These der Hypertelie und sogar für Lyotards Widerstreitsthese. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze scheint den genannten Beispielen eines gemeinsam zu sein: Sie setzen die Krise moderner Zeiten als Verlust sinnstiftender bzw. bedeutungsgenerierender Funktionen der Zeit an. Sinn und Zeit sind füreinander bedeutungslos geworden, ja stehen sich geradezu als Gegner gegenüber. Damit bilden diese Semantiken die Gestalt der modernen Zeit der Gesellschaft erstaunlich treffend ab. Freilich liegt diese Abbildung nur als Negativ vor. Sie wird mit dem Tenor einer Krisendiagnose und eines Verlustsgestus’ gezeichnet, der feststellt: Die Zeit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Keine kairoi, die Sinn spenden; keine Kontinuität, die zumindest von ewig wiederkehrendem Neuanfang entlastet, und keine Geschichte, die Identität vermittelt und Entscheidungsräume anbietet. Diese Diagnose trifft insofern zu, als die kulturell dominante Zeit der modernen Gesellschaft solche Funktionen in der Tat nicht erfüllen kann. Die nach wie vor kulturkritische und bisweilen fatalistische Form der Semantik scheint sich dabei dem – auf den ersten Blick – theorietechnischen Problem zu verdanken, daß funktionale Äquivalente für die entsprechenden Funktionen in der Moderne nicht aufgefunden werden können. Man fragt sich aber: wie auch?, gibt es doch für die vermutete Funktionsstelle keinen gesellschaftsstrukturellen Ort mehr. Es handelt sich also nicht um theorietechnische Probleme, sondern um die Frage: „wie beobachtet die Gesellschaft die Operationen, mit denen sie in der Zeit Irreversibilitäten erzeugt?“ (Luhmann 1990k: 166), d.h. wie sie den Chronos, dem sie unterliegt, selbst hervorbringt. Die Semantik des dargestellten Typs beobachtet dies als Krisenphänomen, das durch die Sinnimmunität der Zeit entsteht. Eine solche Diagnose resultiert womöglich daher, daß diese Beschreibungen der modernen Gesellschaft nicht auf das Strukturmerkmal der funktional differenzierten Gesellschaft abstellen. Sie können damit nicht beobachten, daß sie die Gesellschaft – auch wenn sie „postmodern“ etwas anderes behaupten – mit Einheitsunterstellungen beobachten, die gesellschaftsstrukturell kein fundamentum in re haben. Ob es dann theoretisch ratsam ist, trotzdem auf solche Unterstellungen zurückzugreifen, sei dahingestellt. Und wenn man es nicht tut, präferiert man noch lange nicht die Option, die Habermas der systemtheoretischen Soziologie unterstellt, „das Ensemble der Ermöglichungsbedingungen für Systemerhaltung“ (Habermas 1985b: 431) zu sein. Womöglich bekommt man bestimmte Krisenphänomene der Moderne überhaupt erst dann ins Visier, wenn man gerade an der Nicht-Substituierbarkeit der chronologischen Synchronisationszeit der modernen Gesellschaft durch eine wie auch immer qualitativ ausgewiesene Zeit – ob historisch oder kairologisch qualifiziert – ansetzt. b)
Risiko und Zeit
Eine solche Perspektive scheint seit einigen Jahren die Diskussion um den Risikobegriff anzubieten, mit dem die moderne Gesellschaft sich und ihr temporales Prozessieren von Irreversibilitäten beobachtet und dem ich im folgenden einige Aufmerksamkeit schenken möchte. Daß die moderne Gesellschaft riskante Manöver fährt, gehört spätestens seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl oder ähnlichen, wenn auch auf den ersten Blick weniger dramatischen Katastrophen zum öffentlichen Fundus der Selbstbeschreibung der mo-
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dernen Gesellschaft. Dabei meint der Risikobegriff nicht, daß Unfälle passieren, Störungen auftreten oder Unerwartetes geschieht. Unter Risiko, oder besser: Risikokommunikation ist vielmehr die gegenwärtige Antizipation zukünftiger Schäden zu verstehen, über die in der Gegenwart Unsicherheit besteht, da man sie noch nicht kennt und kennen kann (vgl. Luhmann 1990k: 138). Bezogen etwa auf großtechnische Schäden, verwundert diese Unsicherheit zunächst, hat man doch mit dem Begriff der Kausalität ein technisches Kalkül, das, genau genommen, erwartbare Schäden und Schadensverläufe bereits in der gegenwärtigen Gegenwart als zukünftige Gegenwart antizipieren können müßte. Dieses technische Kalkül nutzt gewissermaßen Zeit und Kausalität, um die Bedingungen zukünftiger Zustände an Entscheidungen in der Gegenwart ablesen zu können. Wie eine glänzende Studie des Organisationssoziologen Charles Perrow über Risiken der Großtechnik demonstriert, funktioniert dieses Kalkül nahezu fehlerlos – allerdings mit dem nicht zu vernachlässigenden Nachteil, daß es erst nach Schadenseintritt wirklich zufriedenstellend arbeitet. Untersuchungskommissionen können „erst nachträglich mit Bestimmtheit angeben, was in dieser Situation falsch gemacht wurde und was man stattdessen hätte tun sollen“ (Perrow 1989: 24).128 Es ist eine Gegenwart eingetreten, die man trotz zur Verfügung stehender Kenntnis der physikalischen, chemischen, elektronischen und sonstigen Erfahrungswerte nicht als gegenwärtige Zukunft hat antizipieren können. Es liegt nahe, solche Störungen auf menschliches Versagen, also Bedienungsfehler oder falsche Einschätzungen der Situation zurückzuführen. Wie Perrow jedoch zeigt, unterstellt eine solche Zurechnung ein Zuviel an Linearität, d.h. an Kausalattributionen auf einem homogenem Zeitstrahl, an dem man Wirkung und Ursache eindeutig und im besten Falle sogar antizipativ zurechnen kann (vgl. ebd.: 125f.). Eine solche Perspektive verkennt allerdings, daß unfallträchtige technische Anlagen in den seltensten Fällen lineare Systeme sind. Perrows Analyse zeigt, daß es sich bei diesen stets um komplexe Systeme handelt. In solchen Systemen liegt eine Gleichzeitigkeit linearer Ereignissukzessionen vor, die man gerade wegen ihrer Gleichzeitigkeit nicht als deterministische Relation beobachten darf. Sobald man den Indeterminismus komplexer Systeme sieht, bekommt man in den Blick, daß man mit steigender Komplexität vermehrt das Unerwartete erwarten muß, da sich eindeutige Erwartungen einer zukünftigen Gegenwart als simplifizierende Phänomenreduktionen decouvrieren. Dazu Perrow: „Die Vorstellung von unerwarteten Interaktionen wird uns allen immer vertrauter. Diese Vorstellung kennzeichnet unsere gesellschaftliche und politische Welt ebenso wie die der Technik und der Industrie. Je mehr die Größe von Systemen und die Anzahl der Funktionen wächst, die sie erfüllen sollen, je feindlicher die Systemumwelten werden und je mehr sich die Systeme miteinander verzahnen, desto undurchschaubarer und unerwarteter sind die Interaktionen, die zwischen ihnen auftreten, und desto verletzlicher werden die Systeme gegenüber Systemunfällen.“ (ebd.: 107) Solchen Systemen fehlt diejenige Funktionsstelle, von der her die Zukunft der gegenwärtigen Operationen eineindeutig überschaut, damit kalkuliert und in ihren Konsequenzen antizipiert werden kann.129 Das Risiko von Risikotechnologien 128 Perrows materialreiche Analyse zeigt zahlreiche Beispiele großtechnischer Unfälle und Risiken auf, die so, wie sie abgelaufen sind, nicht erwartbar waren. 129 Man kann nur in einer Gegenwart und nur an einem Ort handeln. Systemtheoretisch gesprochen, sind demnach Handlungen in nicht-trivialen, i.e. nicht linearen Systemen für sich betrachtet triviale Handlungen, auch wenn sie systemische, vernetzte Wirkungen intendieren. Die Intention läßt sich aber gerade wegen der Nicht-Trivialität des Systems nicht durchhalten, so daß eine Steuerung solcher Syste-
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besteht also darin, daß mit der wachsenden Komplexität der großtechnischen Systeme und der Gleichzeitigkeit funktional spezifizierter Systemkomponenten die Unsicherheit der Zukunfts-vorsorge und damit der Kalkulierbarkeit der Systemprozesse wächst. Auf den ersten Blick wird deutlich, daß das, was Perrow für die Komplexität großtechnischer Anlagen demonstriert, in analoger Weise auch für die moderne Gesellschaft gilt. Auch sie hat sich in funktionsspezifische, gleichzeitig operierende Teilsysteme ausdifferenziert, auch sie weist eine hohe Komplexität auf, die eine lineare Steuerung der mannigfaltigen Ereignissukzessionen ausschließt, und auch sie kennt deshalb keinen innergesellschaftlichen Ort, von dem her man dies versuchen könnte. Da extramundane Standpunkte ausfallen, die es erlauben könnten, Kontingenzvorsorge zumindest per religiöser Deutung des eingetretenen Schadens als Schicksal, Strafe Gottes oder Sündenlohn zu betreiben, wird die Immanenz des Problems nur zu deutlich. Die moderne Gesellschaft produziert die Schäden, auf die sie zu reagieren hat, selbst, und sie kann lernen, dies als Zukunftsrisiko gegenwärtigen Handelns zu begreifen. Risiken sind also Zeitprobleme: Die Zeit enthält weder ihr immanente Gesetzmäßigkeiten, noch gibt es „technologische“ Verfahren, Zeitbindungen linear zu konditionieren, d.h. die Selektivität und die Wechselwirkung von Ereignissen ihrer temporalen Modalität zu entkleiden und über Zukunft nicht nur in Form gegenwartsgebundener Antizipationen zu verfügen. Zwar bedeutet Zeitbindung immer, durch gegenwärtige Operationen die Selektionsmöglichkeiten der Zukunft zu beeinflussen. „In der Gegenwart werden Irreversibilitäten geschaffen, die die Möglichkeiten der Zukunft einschränken, sie aber auch erweitern können.“ (Luhmann 1990k: 142) Aber in seinen vollen Konsequenzen kann das erst ein Beobachter sehen, der die Zukunft der vergangenen Gegenwart bereits kennt – also etwa eine Untersuchungskommission. Im Moment des Entscheidens bleibt die Zukunft riskant: Man weiß, daß sie kommt, aber je komplexer die Entscheidungslage und die wechselseitige Kopplung von Systemen ist, um so weniger weiß man, was kommt. Die temporale Organisation der modernen Gesellschaft, ihre Gleichzeitigkeit von Verschiedenem und die Notwendigkeit, das temporale Prozessieren des Verschiedenen temporal aufeinander abzustimmen und – nicht zuletzt – ihre dadurch bedingte Offenheit und Unbekanntheit des Zukünftigen machen Risikohandhabung unumgänglich. Die Offenheit der Zukunft und der je gegenwärtige Entscheidungszwang der Zeit, dem man in der Moderne kaum noch durch Ausdehnung der Gegenwart begegnen kann, schließt allerdings Risikovermeidung durch Risikohandhabung aus. Auf eine Kurzformel gebracht: Sicher ist nur, daß es keine absolute Sicherheit gibt. Insofern ist nicht zu erwarten, daß durch Verbesserung etwa von technischen Anlagen Sicherheit im Sinne von Risikovermeidung erreicht werden könnte. Selbstverständlich können Atomkraftwerke, Flugzeuge oder Öltanker sicherer gebaut und betrieben werden, doch schon der Einsatz etwa von Sicherheitstechniken birgt neue Risiken, weil in komplexe Systeme nicht risikofrei eingegriffen werden kann.130 me kaum möglich ist. Umgekehrt betrifft dies nicht nur intendierte Steuerungsversuche, sondern potentiell jedes triviale Ereignis in einem nicht-trivialen System, das nicht nur linear antizipierte Effekte erzeugt (vgl. dazu Perrow 1989: 70). Der hier beschriebene Sachverhalt deckt sich übrigens mit dem aus der Chaos-Forschung bekannten Phänomen der großen Wirkung kleinster Ursachen (grundlegend vgl. Briggs/Peat 1990). 130 Um nur ein kurioses Beispiel zu nennen: Gegen Windkraftwerke wird von Umweltschützern eingewandt, daß deren Flügel eine tödliche Falle für Vögel darstellen und daß die Kraftwerke sich nicht ins
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Perrows vorgeschlagene Strategie besteht denn auch darin, Risiken gegeneinander abzuwägen oder durch Vermeidungsstrategien auszuschließen (vgl. Perrow 1989: 22 und 355ff.). Abgesehen davon, daß nicht nur Handlungen, sondern auch Unterlassungen riskant sein können (vgl. Japp 1990: 37), bestätigt sich damit die Diagnose, daß eine Vermeidung von Risiken in der Risikogesellschaft (vgl. Beck 1986) der Moderne gar nicht möglich ist.131 Beobachtet man die moderne Gesellschaft also mit der Unterscheidung Risiko/Sicherheit, gelangt man zu einem paradoxen Ergebnis: Auch das Streben nach Sicherheit kann riskant sein, und man muß notwendig scheitern, wenn man Risiken vermeiden will. Eine andere Möglichkeit ist es, Risiken sozial zuzurechnen, um potentielle oder tatsächliche Schadensverursacher zur Verantwortung ziehen zu können. Die öffentliche Diskussion etwa um ökologische Risiken verläuft exakt mit diesem Tenor: Der Schädiger muß festgestellt, zur Verantwortung gezogen und zur Vermeidung gezwungen werden. Dies ist sicher kein unpraktikables Verfahren, und es kann in Einzelfällen durchaus wirksam sein. Den Sachverhalt des unhintergehbaren Risikos jeder Zeitbindung in komplexen sozialen Situationen berührt dies jedoch nicht, denn wie praktikabel das Verursacherprinzip juristisch auch immer sein mag, es ändert nichts daran, daß man immer riskieren muß, auf Risiken zu stoßen. Die moderne Gesellschaft löst das Zeitproblem der Unbekanntheit bzw. Unkalkulierbarkeit der durch gegenwärtige Zeitbindung mitbedingten Zukunft durch eine Verschiebung von der Zeit- in die Sozialdimension. Luhmann schlägt deshalb vor, die Unterscheidung Risiko/Sicherheit, die gewissermaßen an der Beobachtung der faktischen Existenz von wahrscheinlichem Schadenseintritt ansetzt, durch die Unterscheidung Risiko/Gefahr zu ersetzen, die per Beobachtung zweiter Ordnung darauf abstellt, wie Schadenserwartungen von wem beobachtet werden. Beobachtet man nicht schlicht, daß es Risiken bzw. Gefahren gibt, sondern wie sie beobachtet werden, stößt man auf soziale Attributionsvorgänge, auf „Konstruktionen“ von „Zurechnung/Nichtzurechnung auf Entscheidungen“ (Luhmann 1990k: 137), die Schäden verursachen können. Als Risiko wird die Unsicherheit der Zukunftserwartung dann erlebt, wenn man selbst Entscheidungen fällt oder unterläßt, die für eine chronische Irreversibilität sorgen, welche Wirkungen in der Zukunft zeigen wird. Weder Atommüll noch riskante politische Enthüllungen wird man – irreversibel!132 – wieder los. Als Gefahr wird sie dann erlebt, wenn man nicht zu den Entscheidern gehört, sondern ohne eigenes Zutun von einem Schaden heimgesucht werden kann. Für den Betreiber eines Atomkraftwerkes bleibt das Restrisiko eines Nuklearunfalls, für den Anwohner ergibt sich daraus eine Gefahr. Risiko ist damit der selbstreferentielle, Gefahr der fremdreferentielle Aspekt des möglichen Schadens. Ich habe schon angedeutet, daß Risiken die Gesellschaft nicht nur in Form technischer Katastrophen betreffen.133 Das Strafrecht etwa handelt womöglich riskant, wenn es Landschaftsbild einfügen. Diese Risiken scheinen Kernkraftwerke in der Tat nicht zu besitzen. (Vgl. DER SPIEGEL Nr. 38, 1990: 79-81) 131 Auch der Ruf nach Fehlrfrundlichkeit (sic!) von Systemen (vgl. Weizsäcker/Weizsäcker 1984: 167ff.) kann nur graduell, nicht aber kategorial wirken: Das Risiko des Risikos bleibt. 132 Beim Atommüll mag das unbestreitbar sein. Doch auch politische Entscheidungen, die man rückgängig machen kann, wird man nicht mehr los, denn auch die Rücknahme kann Ereignisse nicht ungeschehen machen. 133 Genau besehen, schließt dieser soziale Aspekt den technologischen selbstverständlich ein, denn als Risiko/Gefahr kann die Gesellschaft die Großtechnik nur dann registrieren, wenn über sie als Risiko/Gefahr kommuniziert wird.
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Schwangerschaftsabbrüche in jedem Fall verbietet und feststellen muß, daß dann nicht weniger, aber medizinisch riskanter abgetrieben wird, oder wenn es durch rigide Strafverfolgung von Drogenkonsumenten deren Kriminalität miterzeugt, die sie dann wieder verfolgt, um sie zu verhindern. Politisches Handeln, etwa Entscheidungen zugunsten bestimmter Gruppen, setzt sich dem Risiko des Verlustes von Wählerloyalität aus. Investitionen sind stets riskant, weil der Markt von hoher Dynamik ist und die Preise nicht vorhersehbar sind. Medizinische Eingriffe riskieren manchmal womöglich höhere Schäden als den erwarteten gesundheitlichen Nutzen. Vielleicht riskiert manche Psychotherapie größere Unsicherheit, als der Klient jetzt beklagt, und vielleicht riskiert schulische Erziehung schon dadurch, daß sie Themen curricular aufgreift, daß diese für Schüler an Interesse und Bedeutung verlieren. Womöglich riskiert die moderne Gesellschaft insgesamt, daß sie Bedingungen schafft, die ihre eigenen Grundlagen zerstören. Das gilt nicht nur für die natürliche Umwelt der Gesellschaft, sondern, so Luhmann: „Ebenso fraglich ist, ob die moderne Gesellschaft die psychischen Mentalitäten, vor allem diejenigen Motive erzeugt, mit denen sie als Gesellschaft fortexistieren kann, oder ob es auch hier zu Diskrepanzen kommen kann, die historisch ohne jede Parallele sind.“ (Luhmann 1988c: 169) Womöglich wandeln sich angesichts solcher globaler Diagnosen erneut die Perspektiven: Wird die Risikohaftigkeit der modernen Gesellschaft womöglich zur Gefahr? Die Unhintergehbarkeit des Problems angesichts der modernen Komplexität offenbart jedenfalls, daß die bloße Reaktion per Zurechnung zwar soziale Positionen markiert, die man politisch, rechtlich und ökonomisch verorten kann, die aber am Risiko/Gefahr-Problem selbst nichts ändern. Luhmann bringt dies treffend auf den Punkt: „Fast zwangsläufig werden (...) auch globale Effekte, wenn man sie vermeiden will, auf Entscheidungen zugerechnet, obwohl die Dringlichkeit gerade darauf beruht, daß das nicht möglich ist. (...) Man glaubt wissen und sagen zu können, daß aus ökologischen bzw. ökonomischen Gründen die falschen Entscheidungen getroffen werden, während das Problem im Falle globaler Effekte gerade darin besteht, daß weder falsche noch richtige Entscheidungen ausgemacht werden können.“ (Luhmann 1990k: 168) Was hier auf den ersten Blick wie Baudrillards These vom Ende der Moderne aussieht, in der man weder Entscheidungen treffen noch Zeit in Anspruch nehmen kann, ist, genauer betrachtet, die Rückrechnung des Problems von der Sozial- in die Zeitdimension. Die moderne Gesellschaft kommuniziert über Risiken zumeist in der Weise, daß entweder Verursacher ausgemacht und kontrolliert werden müssen, daß das Entscheidungsrisiko durch Partizipation besser verteilt wird134 und daß rechtliche, politische, ökonomische, pädagogische und medizinische Programme eine risikofreie oder risikoärmere Handhabung der binären Codes durchsetzen.135 Diese Maßnahmen auf der Ebene der Sozialdimension erzeugen eine hohe Resonanz und sind – ich betone es nochmals – notwendig, um zumindest ansatzweise von höherem auf geringeres Risiko umzustellen; wohlwissend – oder auch nicht -, daß die Antizipation der Folgen der risikoärmeren Entscheidung ebenfalls eine riskante Entscheidung ist, die an der Offenheit der Zukunft durch gegenwärtige Zeitbin134 Nur am Rande: Innerhalb der Linken wurde in den 70er Jahren von Protagonisten entsprechender Parteien ernsthaft behauptet, Atomkraftwerke in sozialistischen Ländern seien nicht riskant, weil sie der Kontrolle der Arbeiterklasse unterliegen und somit durch die Vergesellschaftung des Risikos dieses automatisch vermieden werde, da sich das Proletariat nicht selbst schädigen wolle. 135 Einen ganzen Maßnahmenkatalog der Risiko/Gefahr-Handhabung in der Sozialdimension bietet Ulrich Becks Gegengifte an (vgl. Beck 1988).
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dung nichts ändert. Die Qualifizierung als risikoarm ist selbst nichts anderes als ein Ereignis in der Gegenwart, das seine Zukunft nur als modale Zukunft kennt und auf seine Wirkungen nicht warten kann. Das Problem der offenbar nicht hintergehbaren Risikoproduktion der modernen Gesellschaft ist als Zeitproblem eine Folge der Zukunftsoffenheit, die sich aus der komplexen Situation der Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem und der vielfältigen nicht-linearen Interdependenzen einer hochdifferenzierten Gesellschaft ergibt. Schon meine wenigen Andeutungen zeigen, daß sich dieses Problem der Zeitdimension weder in der Sachdimension durch technologische Redundanzen und Kopplung von Sicherheitssystemen noch in der Sozialdimension durch Attributions- und Partizipationsvorgänge lösen läßt, was immer das heißt. Am Beispiel des Risikophänomens läßt sich ablesen, wie im Laufe der Modernisierung und zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft auch die drei Sinndimensionen verstärkt auseinandertreten. Die Zeit wird so tatsächlich zu einer abstrakten Weltdimension mit konkreten Auswirkungen. Der Chronos der Moderne, der sich der Notwendigkeit der temporalen Koordination der Gleichzeitigkeit von Verschiedenem verdankt, wertet einerseits die unmittelbare Gegenwart, in der gehandelt werden muß, auf, weil sich die Gesellschaft in permanenter Dynamik befindet. Andereseits verliert die Gegenwart zugleich ihren gestaltenden Charakter: Sie ist als Handlungsgegenwart stets zukunftsorientiert, und sie kann die Zukunft aufgrund der Dynamik, Risikohaftigkeit und v.a. wegen des ungeheuren Potentials an Gleichzeitigem, worauf die gegenwärtige Handlungssituation keinen Zugriff hat, nicht präformieren. Nachdem die Frühmoderne angetreten ist, Welt und Zeit gestaltbar zu machen und durch historische Legitimation zukünftigen Fortschritt zu initiieren, ist es in der entwickelten Moderne die Zeit selbst, die Gestaltungsmöglichkeiten, Steuerungspotentiale und Einflußmöglichkeiten weder sachlich noch sozial zuläßt. Es ist zu erwarten, daß die traditionellen Kampfplätze der Moderne – ökonomische Verteilungskonflikte, politische Partizipationsforderungen und rechtliche Bindung an Normen – das grundlegende Problem der Riskanz jedes Ereignisses nicht auflösen können. Die Beobachtung zweiter Ordnung zwingt zu der Diagnose, daß die moderne Gesellschaft keinen Standpunkt kennt, von dem her Risiken allgemeinverbindlich wahrgenommen, geschweige denn steuernd vermieden werden können (vgl. ebd.: 157). Auch die Diagnose dieses Phänomens versetzt niemanden in die Lage, das Problem zu vermeiden, obwohl die Steuerungseuphorie auch bei Soziologen noch lange nicht verschwunden ist. Hielt Karl Mannheim „ein bewußtes Eingreifen an den Fehlerquellen des Gesellschaftsapparates aufgrund eingehender Kenntnis des gesamten Sozialmechanismus und seiner Wirkungsweise“ (Mannheim 1958: 136) noch für möglich und erstrebenswert, ist das Vertrauen in die Gestaltbarkeit zukünftiger Prozesse jedoch mittlerweile erheblich abgekühlt. Sozialtechnologische Linearmodelle mit eindeutigen Kausalitätsunterstellungen läßt schon der epistemologische Standard moderner Sozialwissenschaften nicht mehr zu (für die systemtheoretische Variante vgl. III.3a). Termini wie „Anregung zur Selbständerung autonomer Systeme“ (Willke 1989: 130) oder die Vorstellung der „Entwicklung komplementärer prozeduraler Garantien“ (Wolf 1988: 186) scheinen dennoch zu wenig auf den systemrelativen Aspekt jeder Operationen abzustellen. Risiken entstehen ja gerade durch die Selbständerung von Systemen, die nicht von außen konditioniert werden kann, und die Komple-
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mentarität prozeduraler Garantien ist bei operativer Systemautonomie nichts, was entwikkelt werden könnte, sondern was sich – sozusagen von unten – auf hochunwahrscheinliche Weise herausbilden kann. Diese Zweifel an Steuerungskonzepten, mögen sie auch noch so vorsichtig und abstrakt argumentieren, verweisen auf die Unhintergehbarkeit der Offenheit der Zukunft. Den Grad an Zukunftsoffenheit kann man an der Differenz von gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart messen. Alle früheren Gesellschaftstypen konnten diese Differenz relativ gering halten, indem sie Selektionsspielräume eindeutig einzugrenzen und Abweichung erfolgreich zu sanktionieren vermochten. Die Moderne dagegen kann nicht sanktionierend – etwa durch Moral – auf eine solche Differenz reagieren, vielmehr muß sie lernen, die Unterscheidung gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart in ihre Selektionsräume einzubauen. In die Zeit jedenfalls kann sie kein Vertrauen mehr haben, denn die Zeit zeitigt in der Moderne notwendigerweise Unvertrautes. Die Darstellung des Risikoproblems als Zeitproblem schließt auf erstaunliche Weise an die oben kurz erläuterten Zeitsemantiken (vgl. IV.6a) an, ohne sie aber zu duplizieren. Leben die genannten Ansätze allesamt davon, den Verlust der Qualität und der sinnstiftenden Funktion der Zeit zu diagnostizieren oder zu beklagen, setzt die Risikosemantik auch an der Diskontinuität des vorgestellten Zeitkontinuums an: Keine gegenwärtige Zeitstelle kann für irgendeine andere Zeitstelle bürgen, weil die soziale Struktur sich selbst zu modalisieren beginnt. Stabile Sozialstrukturen früherer Gesellschaften konnten durch Erwartungsbindung zukünftige Gegenwarten relativ enttäuschungsfrei antizipieren, indem sie etwa auf Traditionsfortsetzung bauten, und die Frühmoderne vermochte sich allgemeingültig dadurch zu beschreiben, daß die Zukunft, wenn man es nur richtig anstellt, nur besser werden könne. Dagegen muß in der Moderne die gesellschaftliche Selbstbeschreibung umgestellt werden. Man muß mehr und mehr erwarten, daß strukturgebende Erwartungen oft nicht erwartbar sind. Für das Verständnis von Zeit muß das jedoch nicht bedeuten, daß man wie Baudrillard ihr Ende postuliert, weil sie selbst keine sinnstiftende, Einheit zwischen Gegenwarten herstellende Funktion mehr hat. Im Gegenteil ist gerade die zunehmende Dynamik der Moderne ein Symptom dafür, daß die Zeit als Beobachtungsschema erst recht hervortritt: Sie ist als Chronos quasi eigenständig geworden, weil die Differenz Vorher/Nachher bzw. Vergangenheit/Zukunft das, was sie in der Sach- oder Sozialdimension ausdrückt, gerade nicht qualifizieren kann. Indem die moderne Risikogesellschaft permanent ihres Risikos der Zeitbindung ansichtig wird, erlebt sie die Paradoxie, daß sie über Zeit nur in der Zeit verfügen kann, d.h. daß sie stets an Gegenwarten gebunden ist, die mit ihrem Nacheinander die Zeit immer wieder anders erscheinen lassen. Es gibt nicht nur keine sachlich allgemeingültige und keine sozial verbindliche Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft mehr, sondern vor allem auch keine zeitlich universale. Mit jeder neuen Gegenwart ändert sich die Welt, und daran kann abgelesen werden, daß die Zukunft nur als gegenwärtige Zukunft vorliegt. Die Zukunft ist unhintergehbar unbekannt. Entparadoxierungsversuche, die gegenwärtige Zukunft in der Kommunikation als zukünftige Gegenwart zu behandeln (vgl. III.2b), können immer weniger gelingen, weil Enttäuschungen damit vorprogrammiert werden. Diesem Umstand hätte sich eine spezifisch moderne Zeitsemantik zu stellen, die sich angesichts der gesellschaftlichen Komplexität nicht in der Trauer um den Verlust einer qualifizierten Zeit als Einheitsmetapher erschöpfen sollte.
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Es ist ihrerseits wieder eine Invisibilisierungstechnik, das gesellschaftsstrukturelle Problem der risikogenerierenden Differenz von gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart dadurch aus dem Blick zu bekommen, einen universalen Nihilismus oder das Ende der Zeit zu propagieren. Wie Luhmann betont, kann Risikokommunikation selbst riskant werden, weil damit sichtbar gemacht wird, wer der Entscheider ist (vgl. Luhmann 1990k: 153). Womöglich ist es aber genauso riskant für die moderne Gesellschaft, auf Risikokommunikation zu verzichten und stattdessen an Einheitsmetaphern festzuhalten, für die es kein gesellschaftsstrukturelles Korrelat mehr geben kann. Dies muß zu einer Negation der Gegenwart führen, die als Diagnose eine tragfähige Gesellschaftstheorie als mögliche Selbstbeschreibung der Moderne kategorial ausschließt. Doch gerade die Frage, wie die Moderne die Risiken ihrer Zeitbindung wissenschaftlich und in der Sprache der verschiedenen anderen Teilsysteme beschreibt, hängt davon ab, wie sie semantisch mit ihrer Zeitdimension umgeht. Und diese Semantik entscheidet mit darüber, welche funktionalen Äquivalente für bisherige Versuche der Risikovermeidung, die an traditionellen Themen von Politik, Ökonomie und Recht ansetzen, gefunden werden können. Womöglich ist die modernste Version der von mir oben beschriebenen Zeitsemantiken die Nietzsches. Was auf den ersten Blick wie eine Restituierung der mythischen Kreisform aussieht, ist vielmehr die Diagnose der ewigen Wiederkehr des Gleichen, nämlich von Gegenwarten, die vor dem unlösbaren Dilemma stehen, ihre Vergangenheit nicht als Potential nutzen zu können und ihre Zukunft nicht zu kennen. Von Nietzsche kann man lernen: Die Geschichte ist kein Lernprozeß. Und indem man dies von Nietzsche lernt, kann man lernen: Das schließt Lernen nicht aus.
7.
Re-Entry
Am Ende meiner Überlegungen auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit bin ich an dem Punkt angelangt, an dem man eine Zusammenfassung oder zumindest eine Bestandsaufnahme der eingebrachten Ergebnisse erwartet. Ich enttäusche diese Erwartung, da die ausgearbeiteten Ergebnisse durch die Darstellung des Textes – wie ich hoffe – transparent sein dürften. Stattdessen nehme ich noch einmal ein logisches, besser: ein epistemologisches Motiv auf, das eines der wesentlichen Strukturmerkmale eines systemtheoretisch und konstruktivistisch gearbeiteten Theoriekonzepts darstellt: die Beobachterrelativität des Beobachteten. Jede Beobachtung hantiert mit Unterscheidungen, und jede Unterscheidung generiert eine Form, die Bestimmtes einschließt und anderes ausschließt. Die hier in den ersten drei Kapiteln entwickelten Aspekte einer soziologischen Theorie der Zeit handeln von bestimmten Unterscheidungen, die eine theoretische Form entstehen lassen, die in der durch die Unterscheidung erzeugten Beobachtung das Beobachtete qualifizieren: Zeit wird bestimmt mit den Unterscheidungen seiend/nicht seiend (Aristoteles), empirisch/transzendental (Kant), intensiv/extensiv (Bergson), objektiv/phänomenal (Husserl), real/irreal (McTaggart/Bieri), innen/außen (Schütz), objektiv/relativ (Whitehead/Mead). All diese Unterscheidungen geben vor, wie die Welt einem Beobachter erscheint, und sie generieren damit auch ein Schema zur Beschreibung von Zeit. Sie kann nach dem ontologischen Schema von
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Sein/Nicht-Sein bis zum erkenntnistheoretischen Schema Realgegenstand/Erkenntnis beobachtet werden, und mit jeder Beobachtungsweise taucht etwas anderes auf dem Bildschirm des theoretischen Beobachters auf. Man kann dies beobachten und feststellen, wie andere Beobachtungen beobachten. Weiters kann man dem eine eigene theoretische Beobachtung anschließen, sie mit guten Gründen versehen und mit diesen Gründen begründen, warum diese Möglichkeit lohnender sein könnte als die vorhergehenden. Genau das habe ich getan, indem ich sowohl der phänomenologischen als auch der pragmatischen Intersubjektivitätstheorie nachzuweisen versucht habe, daß beide nicht in der Lage sind, sowohl die soziale als auch die psychische Dimension der Temporalität sowie die Verbindung dieser beiden Dimensionen theoretisch angemessen zu behandeln. Ich habe dabei auf konstruktivistische und systemtheoretische Konzepte, insbesondere an Niklas Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme anschließend, zurückgegriffen. Im letzten Kapitel schließlich habe ich dieses Konzept im Hinblick auf seine Anwendbarkeit getestet und gelangte so zu einem Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit. Nachdem ich andere Beobachter beobachtet habe, ist es nun an der Zeit, meine eigenen Beobachtungen ihrerseits zu beobachten. Dies scheint mir deshalb notwendig zu sein, weil die Rekonstruktion der temporalen Organisation von Zeit in verschiedenen evolutionären Gesellschaftstypen unter anderem ergeben hat, daß die jeweilige Zeitsemantik einer Gesellschaft sozusagen der Bewältigung der strukturellen Bedingungen der Gesellschaft dient. Die hier vorliegende systemtheoretisch informierte Soziologie der Zeit ist ihrerseits nichts anderes als eine – hier teilsystemspezifische – Zeitsemantik, die selbst ebenso beobachtet werden könnte, wie diejenigen Zeitsemantiken, die ich als Beispiele für besonders typische Formen des Umgangs mit Zeit angeführt habe. Das zugrundeliegende Instrumentarium soll also unter Anwendung seiner selbst untersucht werden. Erneut taucht damit die Paradoxie der Selbstbezüglichkeit auf, die man entweder durch Axiomatisierung der ersten Unterscheidung bzw. etwa durch das Apriori der Transzendentalphilosophie ersetzen oder aber anhand einer Beobachtung zweiter Ordnung handhabbar machen kann. Diese Beobachtung des Beobachters kann sehen, daß alles, was man als Form der Welt behandelt, Resultat von beobachtenden Operationen ist. Ein solches ReEntry into the Form, wie es bei George Spencer Brown heißt (vgl. Spencer Brown 1971: 69ff. und 102ff.), schafft einen Raum, in dem die Paradoxie der Selbstbeobachtung dadurch ausgehalten werden kann, daß man wissen, aber nicht sehen kann, daß Beobachtungen stets Operationen sind, die für den Beobachter selbst unhintergehbar bleiben. „We see now that the first distinction, the mark, and the observer are not only interchangeable, but, in the form, identical.“ (ebd.: 76) Die Selbstanwendung der Theorie auf die Theorie ist keine logische Spielerei, sondern bildet gleichsam einen empirischen Sachverhalt der modernen Gesellschaft ab. Die Theorie der Gesellschaft ist selbst ein Teil der Gesellschaft und muß deshalb auch auf sich anwendbar sein, will man nicht einen extramundanen Standpunkt zur Beschreibung mundaner Sachverhalte beziehen. Es ist deshalb geradezu zwingend, die hier entwickelte Beschreibung der Zeit der Gesellschaft auf diese Beschreibung rückzukoppeln. Die hier entwickelte Theorie der Zeit operiert mit drei Leitunterscheidungen: operativ/nicht-operativ, System/Umwelt und Bewußtsein/Kommunikation:
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Zeit liegt niemals als Seiendes vor, sondern ist stets Resultat von Operationen; Zeit generierende Operationen sind stets Operationen eines Systems und nicht etwas, das in der Umwelt des Systems vorkommt; Zeit entsteht entweder per psychischen oder per sozialen Operationen, so dass soziale Zeit nicht durch psychische Temporaloperationen erklärt werden kann.
Diese drei Leitunterscheidungen einer allgemeinen soziologischen Theorie der Zeit sind vorgängig asymmetrisiert: operativ, nicht außerhalb von Operationen, im System, nicht in der Umwelt, und durch Kommunikation, nicht durch Bewußtsein, bilden sich die soziale Zeit und die Zeit der Gesellschaft heraus. Diese Zeitsemantik bringt mit ihren beobachtungsgenerierenden Unterscheidungen die Form der Zeit der Moderne hervor, und sie ist, zur modernen Gesellschaft gehörend, selbst ein Symptom von Modernität:
An der systemtheoretisch-konstruktivistischen Beschreibung der Zeit der Gesellschaft kann abgelesen werden, daß die Moderne sich im wesentlichen dadurch auszeichnet, daß sie nicht über eine festliegende Struktur, über ontologische Hintergrundannahmen oder transzendentale Aprioris beschrieben werden kann, sondern nur als Geflecht von Ereignissen, die aneinander anschließen und die nicht in einer außerhalb der empirischen Anschlüsse vorgeordneten Harmonie prästabiliert sind. Diesem operativen Charakter der Moderne entspricht ein operativer Zeitbegriff, der Zeit nicht als vorgängige Weltform, sondern als Resultat des Operierens in der Welt ansetzt. Erst unter dieser Voraussetzung kann sinnvoll zwischen der Zeit der Autopoiesis und der Beobachtungszeit unterschieden werden. Die systemrelative Unterscheidung von System und Umwelt korreliert mit der modernen Differenziertheit der Gesellschaft. Die Moderne operiert nicht als Einheit, sondern qua Differenz, und zwar qua Differenz von Systemen, die sich wechselseitig als Umwelt beobachten. Das System/Umwelt-Paradigma bildet den Umstand ab, daß die verschiedenen operativen Einheiten der Gesellschaft sich nur in einem äußerlichen Verhältnis gegeben und nicht durch ein übergreifendes Ökosystem miteinander verbunden sind. Das schließt es zugleich aus, daß ein System in seiner Umwelt, also auch: in anderen Systemen, operieren kann. Diesem systemrelativen Charakter der differenzierten Moderne entspricht ein strikt systemrelativer Zeitbegriff, der als intersystemische Zeitstruktur keine ,reale‘ Zeit ansetzt, sondern wiederum nur die Systemzeit der Gesamtgesellschaft. Die Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation als je eigenständig operierenden autopoietischen Systemen ist die theoretische Reaktion auf die moderne Exklusionsindividualität. Wo psychische und soziale Autopoiesis nicht mehr vorgängig parallelisiert und integriert sind, kann man das Verhältnis von Bewußtsein und Gesellschaft nicht mehr durch Metaphern des Enthaltenseins oder durch die Unterscheidung von Teil und Ganzem beschreiben, sondern muß der radikalen Differenz von bewußten und sozialen Ereignisreihen auch theoretisch Rechnung tragen. Diesem nicht mehr anthropologisch bestimmbaren Charakter der modernen Gesellschaft entspricht die Annahme einer irreduziblen Differenz von psychischen und sozialen Ereignistemporalitäten, die sich in der Gleichzeitigkeit einer System/Umwelt-Relation gegeben sind.
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Ein Beobachter dieser Zusammenhänge zwischen der Verfaßtheit der modernen Gesellschaft und der hier skizzierten Zeittheorie wird tatsächlich feststellen, daß die Diagnose der modernen Gesellschaft und ihrer Zeit selbst ein Symptom des von ihr Beschriebenen ist. Er könnte dann monieren, daß die Beschreibung letztlich tautologisch und damit paradox ist und daß sie sich deshalb, genau genommen, im Zirkel ihrer Selbstbezüglichkeit verliert. Diesem Beobachter muß entgegnet werden, daß exakt diese Paradoxiegefahr kein theoretischer Mangel ist, sondern ein empirischer Befund über die Struktur der modernen Gesellschaft. Wie Zeit nur in der Zeit vorkommen kann, wenn man auf epistemologische und ontologische Aprioris verzichtet, kann auch die Theorie der Gesellschaft nur in der Gesellschaft vorkommen, wenn man auf extramundane Standpunkte verzichtet. Eine konstruktivistische Theorieanlage wird stets damit leben müssen, daß Theorie- und Weltform stets koinzidieren, denn in der Tat sind, wie Spencer Brown sagt, beobachtende Unterscheidung und Beobachter identisch (vgl. Spencer Brown 1971: 76). Diese Identität erzeugt den Zirkel, der jeder Differenz zugrunde liegt. Und wer darin eine Paradoxie beklagt und zirkelfreie Lösungen postuliert, produziert wiederum eine Identität, die einen Zirkel erzeugt. Er kann das auch sehen, wenn er sich nur zumutet, die Form in die Form zu re-importieren.
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Literatur
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Gegenwarten
373
Sachregister
A-Reihe ......... 82-86, 97f., 135, 138f., 191, 210, 228-230 (s. auch B-Reihe) Aktkontinuum .......................................... 68, 70 Aktualität ...... 74, 83, 150, 179f., 182, 190, 223, 225-227, 230, 246, 312f. Appräsentation .......................................... 89-93 Arbeitsteilung ............ 246f., 249, 258, 260, 311 Augenblick ....... 14, 50, 73, 121, 282, 312, 333, 335, 337 Autobiographie ...........319 (s. auch Biographie) Autoontologisierung .... 221-223, 229, 231, 233, 287 Autopoiesis .....13, 24-26, 29, 37, 153, 156-159, 162-164, 166-168, 170-197, 201, 203-208, 210f., 214-235, 237-241, 246f., 249f., 252, 256, 258, 265, 280, 288, 256, 301f., 305f., 308f., 317, 319, 321-323, 325-327, 245f. B-Reihe ....... 82-86, 97f., 135, 138f., 191f., 210, 228-230 (s. auch A-Reihe) Bedeutungsidentität ............................. 142, 181 Beharrlichkeit der Substanz ....... 55-57, 67, 187, 222, 228 Beichte ....................................................... 318f. Beobachter ..... 28,40, 48, 59, 84, 99, 102f., 112, 115-118, 129, 134f., 148-161, 164-170, 173f., 176-181, 183, 179-195, 197f., 208, 211-220, 222-224, 226, 228, 230, 232f., 243, 249, 253f., 257f., 312, 322, 339, 344f., 347 (s. auch Beobachtung) Beobachterrelativität ... 118, 183, 194, 198, 243, 248, 344 (s. auch Erkenntnisrelativität) Beobachterstandpunkt . 40, 118, 160f., 167, 211 Beobachtung ...........25f., 29, 36, 80f., 103, 115, 119-121, 128, 147, 153, 155, 158f., 160, 165, 167f., 170, 172, 174, 176f., 179, 181, 186f., 189-194, 196f., 199-210, 212-240, 243f., 249, 252-256, 258, 262, 264-266, 270, 275, 289-291, 298-302, 305-308, 310, 312, 315, 317f., 321-323, 325-327, 340, 342-346
- zweiter Ordnung .......193, 197, 213, 220, 222, 305, 310, 340, 342, 345 Beobachtungszeit ....... 29, 193f., 196, 202, 210, 223, 227f., 230, 232f., 240, 249, 252, 266, 289, 308, 317, 322f. Beschleunigung ............... 12-17, 20-24, 31, 332 Bewegung ..............39f., 42, 45-48, 58f., 78, 96, 121-123, 132, 168, 178, 198f., 221, 234, 260, 268f., 221f., 275, 293, 295, 298, 307309 Bewußtsein ...... 25, 40, 42f., 47f., 50-63, 65-71, 74-79, 81, 83-95, 97f., 100f., 106-108, 110, 112, 114, 118, 120, 129f., 132, 132, 135f., 138-142, 145-153, 159-162, 164168, 170-186, 188f., 191, 193-195, 198200, 206, 210, 212, 216-219, 221, 228, 231, 244, 246, 252, 270, 282, 284, 296, 317f., 321-346 Bewußtseinsakt .... 67, 69f., 104, 119, 133, 140, 166, 192 Bewußtseinsinhalt ................... 52, 70f., 87, 170 Biographie .......................... 200, 318f., 322-325 (s. auch Autobiographie, Lebenslauf) Biographisierung ..................319, 321, 323, 328 Chaos ....................120, 156, 203, 255, 270, 339 Chronopolitismus .....................................13, 20 Chronos .......... 14, 20, 40, 289, 291, 328f., 333, 336f., 342f. Dauer ...............50, 60-62, 68f., 76f., 79, 81, 85, 100-102, 104, 106-109, 111, 139, 165, 179, 182, 196, 202, 231, 240, 244, 255, 266, 279, 289, 291, 295, 297, 308, 329, 332f. Diachronie ......................... 248, 255, 258, 277f. (s. auch Synchronie) Differänz ................................................72, 188 Digitaluhr .......................................................47 Eigenwerte ............................................170, 217
374 Eigenzeit ........11, 23, 110, 165, 196-198, 201f., 227, 230, 232, 240, 242, 244, 250, 258, 265, 289, 297, 299, 307f., 310, 313-317 Einheitsmetaphern .............18, 183, 297f., 343f. Einstellung, natürliche ............. 65, 67, 87, 106f. Einwertigkeit ............................................. 223f. Einzelmonade ................................................ 91 Emergenz ... 121-125, 127, 130, 134-137, 141f., 144, 148f., 177, 202, 244 Entfremdung .................................. 14, 319, 321 Entzauberung ............................................... 334 Epistemologie .............. 37, 161, 217, 233, 301f. Epoché .......................... 65-67, 77, 87, 101, 105 Ereignis ........ 11-13, 18, 25-27, 29f., 39, 44, 48, 50f., 60, 68, 73, 82-86, 98, 111, 115, 117127, 129, 131, 133-137, 139-144, 165, 170, 175, 177, 182-192, 195-209, 221f., 226f., 229-232, 234, 240, 247, 250-253, 255f., 258-261, 270, 274f., 281, 284, 288, 292f., 308, 310f., 315, 318f., 323f., 326, 331, 334, 339f., 342, 346 Ereignisgegenwart .... 121, 183f., 192, 207, 249, 289, 326 Ereignissukzession ..... 51, 197, 208, 317f., 223, 338f. Ereignistemporalität ...... 25, 184, 227, 229-231, 240, 242, 247f., 252, 277, 279f., 289, 306, 310, 315, 317, 323, 325, 346 Erinnerung .......... 51f., 68, 70, 72, 93, 119, 132, 184, 197, 253, 255, 270f., 278, 321 (s. auch Gedächtnis) Erkenntnisrelativität ...................... 77, 160, 199 (s. auch Beobachterrelativität) Erlebnisstrom ....................................... 100, 227 Erwartung ............ 23, 67-69, 72, 106, 111, 176, 190f., 196, 198, 206, 208-210, 234, 240f., 247f., 258f., 267, 271, 273-275, 280, 293, 304, 309, 324, 327f., 338, 340, 343f. Erziehung ............ 173, 203, 289, 297, 299, 303, 320, 341 Eschatologie ....... 52, 127, 191, 271, 273f., 277, 280, 292, 297 Evolution .............. 17, 123, 126, 130, 155, 173, 179, 181, 191, 205, 235, 237, 242, 244f., 259f., 274, 294, 316, 333 Ewigkeit .........49, 57, 268-270, 273, 279, 281f., 284, 288, 292-294, 297, 307, 310f., 330 Exklusion ............ 296f., 320 (s. auch Inklusion)
Sachregister
Exklusionsindividualität .................23, 321, 346 Fließgleichgewicht .......................................155 Fortschritt ............. 13, 17, 198, 245f., 275, 282, 292-298, 305f., 310f., 328, 330-333, 342 Gedächtnis ..............50, 111, 197, 200, 202, 271 (s. auch Erinnerung) Gegenwart ............ 13, 18, 20, 25-32, 49-52, 59, 67-88, 93-98, 100, 108, 119, 121-125, 127, 129, 133-141, 156, 182-201, 207, 209f., 222, 226f., 229f., 243, 253, 257f., 267, 269, 271f., 275, 277-280, 282-285, 289, 292f., 307, 311f., 314f., 318f., 321, 323, 331, 338f., 342-344 (s. auch Ereignisgegenwart; Selbstgegenwart) Geheimnis ....................................265, 280, 284 Geld ........................................29, 143, 202, 304 Geltungsrelativität ......................... 91, 97f., 180 Gemeinschaft ....... 56, 61, 88-90, 93f., 126, 143, 152, 180, 321 Generalinklusion ..........................................307 Geschichte ...............13, 17, 20, 49, 96, 98, 113, 121-123, 141, 191, 197-200, 202, 254, 269f., 273-275, 282, 291-298, 307f., 311f., 319f., 328-337, 344 (s. auch Geschichtsschreibung; Heilsgeschichte; Systemgeschichte) , Ende der .......................................13, 328, 333 Geschichtsschreibung ........................ 197f., 274 Geschwindigkeit ...........12, 16, 24, 31, 116, 332 Gesellschaftsstruktur ...........17, 23, 32, 58, 146, 218, 239f., 242, 244f., 247-249, 251f., 254, 256-260, 262-265, 267f., 270f., 273, 275f., 279, 282, 285, 287-289, 294-297, 299, 301f., 307, 317, 319-321, 327f., 334f., 337, 344 Gleichzeitigkeit .........13, 19, 24, 31, 49, 51, 79, 86, 95, 102, 115-117, 119, 137, 175-178, 184, 200f., 203, 226, 230, 232, 237f., 241251, 258f., 261, 267, 269, 272, 277, 279, 281f., 297-299, 307, 309-314, 321, 323325, 334f., 338f., 342, 346 (s. auch Synchronie; Synchronisation; Ungleichzeitigkeit) God-Term .............223, 287, 297, 302, 327, 332 Gott ........ 22, 49, 51-53, 67, 80, 112, 124f., 127, 139, 174, 223, 256, 269f., 273-278, 291294, 287f., 290f., 294, 297, 303, 327, 332, 339
Sachregister
Götter .......................................256f., 264f., 269 Handlungssystem ......................... 129, 205, 249 Handlungstheorie ............ 30, 81, 112, 128, 133, 139f., 142, 176, 205, 231, 237 Handlungszeit ............................ 142, 277f., 280 Heilige, das ..............................257f., 264f., 286 Heilsgeschichte ........ 49, 52, 259, 271, 273-275, 277, 280, 282 Heilspräsenz ................................................ 277 Heilszeit ....................................... 274, 278, 281 Himmel .................. 49, 110, 241, 256, 265, 276 Hochkultur ..................... 31, 259, 262, 265-267, 269-271, 273, 285, 294, 301, 316f., 319 homo religiosus ........................................... 264 Identität .......... 13, 43, 45, 47, 60, 68, 73, 77-79, 85, 90, 96, 100, 109, 114, 120, 127f., 140, 142, 145, 157, 173, 186, 193, 200f., 214, 216f., 220, 222, 228f., 262, 317, 319-323, 326-328, 337, 347 Immanenz ........................ 26, 63, 268, 308, 339 Indexikalität ................................................. 260 Individualisierung ........ 13, 185, 285, 310f., 321 Individualität ............... 23, 32, 75f., 78, 92, 114, 141, 161, 163, 165, 246, 306, 320-322, 327, 346 Individuum .............22f., 57, 64, 79, 114, 128f., 131, 133f., 141f., 146, 161, 188, 272, 291, 318, 320-322, 325-327 Inertialsystem ..................115f., 119, 136f., 243 Information ..........39, 120, 148, 150f., 169-172, 176, 178, 253, 261, 311-313 Inklusion ....................6, 22-24, 296f., 307, 317, 319-324, 326-328 (s. auch Exklusion) Inklusionsindividualität ............................... 321 (s. auch Exklusionsindividualität) Intentionalität ........ 31, 64, 70, 75f., 85, 94, 100, 120, 129, 152, 184, 261 Interaktion .......... 141f., 156f., 162f., 168f., 172, 175, 178f., 189, 196, 234f., 238, 247, 252, 309, 314, 338 Interpenetration ............................ 171, 173, 300 Intersubjektivität ........... 81, 86-97, 101f., 104f., 107, 110, 137f., 145f., 152f., 162f., 167, 178, 181, 212, 231, 233, 345 Intersubjektivitätstheorie .............. 81, 138, 145, 152f., 231, 345 Irreversibilität ..............29, 207-209, 284f., 288, 290, 337, 340 (s. auch Reversibilität)
375 Jahreszyklus ...........................46, 253, 257, 281 Jetztpunkt .......... 44-48, 59f., 80, 119, 121, 184, 277, 332 Kapitalismus ...........................21, 312, 367, 371 Karriere ..................... 209, 297, 323f., 335, 364 Kausalattribution ............... 172, 174, 177f., 338 Kausalität .............. 55f., 61, 121, 153, 155, 169, 178, 190, 192, 239, 338, 342 Kirchenjahr ...........................................278, 281 Kloster ....................................................... 278f. Kommunikation ........ 1, 13, 24-26, 40, 103-105, 141, 145-153, 162, 164, 166-182, 188f., 193, 195, 199, 202, 205f., 216, 218f., 222, 228, 234f., 239, 241, 244, 246, 257, 261, 263-265, 280f., 283-285, 292, 300f., 306, 310, 313, 317-321, 324, 338, 343-346 (s. auch System, soziales) Komplexität ......... 149, 151, 153-155, 164, 171, 171, 183, 191, 194-196, 201, 204-207, 209, 218, 227, 230f., 238f., 242, 244-246, 248f., 260f., 263, 266, 269f., 272, 277, 289f., 294, 314, 316, 319, 321-325, 334f., 338f., 341, 343 Kontextur .......... 159, 164, 169, 175, 180, 212f., 217, 219-222, 253-256, 258, 263, 286, 294, 299, 300, 302, 304, 313, 327, 336 (s. auch Polykontexturalität) Kontingenz ............ 52, 69, 150-153, 161, 170f., 176-179, 200, 204, 207, 209, 217f., 224, 234, 239f., 259, 263f., 267-269,272, 283f., 286, 288-290, 292, 295, 301f., 331, 339 -, doppelte .....................................151, 153, 371 Kontinuität .............. 23, 45, 68, 70f., 74, 77, 83, 120, 127, 135-137, 159, 178, 192, 200, 252, 255, 258, 269-271, 274, 288f., 311, 330f., 337, 343 Kopräsenz ......... 86, 93, 95, 98, 102, 177, 180f., 234, 238, 244, 246-249, 251, 253, 256, 260 (s. auch Gleichzeitigkeit) Körper ....... 27-29, 33, 45, 62f., 89f., 90, 92-94, 108, 110, 115f., 118, 128, 186, 269 (s. auch Leib; Leibkörper-Analogie) Kosmos ................... 49, 56, 58, 118, 144, 254f., 257f., 272f., 278, 282f., 291, 297, 302 Kunst ..................14, 18, 92, 282, 287, 294, 320 Kybernetik/cybernetics ........ 159, 168-171, 174, 186 196, 217
376 Lebenslauf ............ 191, 200, 299, 319, 322-325 (s. auch Biographie, Karriere) Lebenswelt .........12, 63, 90, 93f., 104-108, 150, 151, 206, 263, 311 Lebenszeit ............... 94, 96, 255, 274, 292, 312, 318f., 324 Leib .................. 63, 89-93, 256 (s. auch Körper) Leibkörper-Analogie ............................. 90, 92f. Lichtgeschwindigkeit ........................ 115f., 136 Logologie ..................................................... 223 Memoria-Lehre ............................................ 50f. Metaphysik .................22, 26, 40, 48, 52f., 63f., 71-75, 78f., 91, 120, 124f., 127, 140, 158f., 184, 212, 214, 233, 274, 297, 311, 334 Micro-Macro-Link ....................................... 205 Mimesis ......................................................... 75 Mit-sich-vertraut-sein ............................ 79, 185 Mitsubjekt .............................................. 90, 92f. Mittelalter ................... 63, 245, 266, 273, 275f., 278-280, 283-286, 288f., 308, 311f., 316 Modalisisierung ............... 44, 51, 78f., 197, 226 Moderne ...........12, 14-17, 19, 21f., 73, 95, 198, 237, 245, 254, 262, 282, 290, 292-298, 300-307, 310-312, 314-317, 325, 328-335, 337, 340-347. Modernität ...19, 48, 198f., 296, 326, 331f., 346 Monade ....62, 88-90, 94-96, 104, 126, 139, 197 Moral ........ 224, 248, 285, 289, 294, 296, 298f., 318, 321, 331, 343 Multiinklusion ............................. 322, 324, 326 Multiplet ...................................................... 113 Mythos .............................. 64, 73, 252-258, 270 Nation ..............................174, 296f., 305f., 310 Nihilismus .............................. 14, 333, 335, 344 Ontologie ...........29, 33, 35f., 44, 47, 49-54, 57, 62f., 65, 78-82, 87f., 91, 97, 100, 102, 105, 107f., 119, 122, 124f., 127, 145, 158160, 166, 174, 180, 183, 210-224, 229f., 233, 254f., 301f., 344, 346 (s. auch Autoontologisierung) Paradoxie ..............24-26, 29, 41, 49-52, 71, 77, 79f., 163, 184, 186-190, 193f., 197-201, 203, 207, 210, 216, 218, 220f., 223-226, 230-232, 235 Parusie .......................................... 271-274, 311 Parusieverzögerung ..................................... 311 petitio principii .......................... 53, 84, 91, 152
Sachregister
Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins .. 11, 25f., 32, 62, 64, 67, 72, 76f., 80f., 83, 86, 93f., 97f., 100-102, 107, 110, 122, 134, 138, 165, 185, 191f., 198, 210, 231 Physik ............44f., 48, 81, 112f., 115-119, 122, 128, 136, 153f., 169, 174, 183, 329, 338 Politik ................... 16, 19f., 142, 173, 203, 282, 284-290, 292, 294, 298-300, 302-304, 307, 326, 336, 344 Polykontexturalität ..............180, 217, 220, 222, 302, 313 Postmoderne ...................................... 198, 335f. Präformismus ...............................................120 Pragmatismus ..........27, 31, 112, 141, 225, 237, 248, 287, 311, 345 Präsenz ............26f., 72-74, 77, 184f., 258, 271, 277f., 282, 284, 291, 293 Protention ............ 25, 62, 68-73, 76, 78, 80, 83, 85f., 93, 100, 107, 165, 183f., 210 (s. auch Retention) Prozeß ....... 17, 21, 24-26, 29, 31, 45-48, 58, 69, 81, 103, 108-110, 112, 114, 119-121, 125f., 129, 131f., 134, 136f., 139f., 143, 145, 156f., 163, 166f., 171, 174, 176f., 182, 191f., 195-203, 205, 207-210, 216, 221, 231, 234, 250, 257-259, 269, 275, 284f., 288-290, 293, 303, 305f., 308, 312, 315, 317-319, 322, 324f., 328, 331f., 337, 339, 342 Prozeßphilosophie/-theorie ..........112, 120, 131, 134, 139, 192, 231 Prozeßstrukturen ....................... 209, 324f., 328 Psychologie ........... 60, 62f., 128, 140, 170, 217 Rationalität ................16, 30, 61, 124, 194, 225, 305f., 331f. (s. auch Vernunft) Raum ......... 45f., 54f., 59-61, 87, 115-119, 169, 184, 281, 329 Raum-Zeit .................... 60f., 87, 118f., 136, 329 Re-Entry .................................... 198, 200f., 237 Realität .............. 42f., 49, 53-55, 65, 75, 77, 79, 81-86, 98, 118, 121-123, 125-127, 129, 137f., 140, 142, 144-149, 156f. 160, 162, 166, 172, 182, 189f., 190, 192f., 210-233, 244, 254f., 264, 287, 319 Realitätsgarantie ........... 149, 216-218, 222, 228 Realzeit .................................................192, 229 Reflexionsmodell .............43, 75, 185, 188, 216
Sachregister
Reflexionszirkel ..................... 43, 186, 232, 327 (s. auch Zirkel) Reflexivität .................... 26, 158, 195, 198, 290 Regreß (infiniter) ............. 43, 64, 71, 74-77, 79, 85, 124f., 174, 185, 188, 224f. Relativitätstheorie ..........36, 44, 112f., 115-119, 136, 243 Religion ................ 16, 18, 174, 203, 263f., 271, 281-293, 296, 299, 301, 303, 310, 320, 326f. Retention ............25, 62, 68-78, 80, 83, 85f., 93, 95, 100, 107, 109, 119, 126, 139, 165, 183-185, 187, 191, 193, 195f., 210, 227, 229f. (s. auch Protention) Reversibilität .........29, 207-209, 284f., 288, 308 (s. auch Irreversibilität) Revolution ........... 296, 298, 307, 311, 332, 334 Rhythmus .......... 108, 110f., 137, 191, 196, 230, 257 Risiko ..........................199f., 315, 328, 337-344 Risikogesellschaft ................................ 340, 343 Sachdimension ...........234, 260-262, 277, 295f., 307, 309f. (s. auch Sozialdimension; Zeitdimension; Sinndimension) Sakralrollen .................................. 260, 265, 285 Säkularisierung .... 99, 285f., 289, 292, 297, 332 Schöpfer .......49, 67, 78, 253, 256 (s. auch Gott) Schöpfung .......49, 51, 123, 253-256, 274f., 281 Seele ........... 46f., 51, 59f., 62, 64f., 79, 95, 186 Selbstbeobachtung .............. 24f., 142, 156, 166, 187, 192, 196, 201, 217, 289, 291, 322f., 325f., 345 Selbstbeschreibung ....... 16, 19, 21, 26, 84, 167, 201-203, 297, 318f., 322, 326f., 337, 343 Selbstbewußtsein ....... 22, 43, 57, 64, 66, 75-77, 79, 113, 161, 185f. Selbstgegenwart .......... 74f., 77, 80, 85, 88, 188, 191, 206 Selbstreferenz ........... 23, 25, 29, 166, 170, 177, 183, 194-197, 199-203, 207f., 214, 216, 218, 223f., 227, 229, 232, 241, 250, 258, 289f., 308, 313, 318f., 321f. Selbstthematisierung .................... 185, 197, 200 Selektivität ..............149f., 171, 175, 197, 209f., 238, 269, 339 Signifikant ........................... 72f., 103, 132, 137 Signifikat ....................................................... 73 Simulation ........................... 17-20, 58, 310, 328
377 Sinndimension ........... 150, 246f., 250, 289, 342 (s. auch Sachdimension; Sozialdimension; Zeitdimension) Sinnverlust ..........................12, 14, 99, 296, 334 Solidarität .......................................... 249, 320f. Solipsismus ................................... 86f., 89, 127 Sozialdimension ..................150, 199, 234, 247, 260-262, 267, 277, 280, 294, 296f., 306, 318, 321, 324, 332, 340-343. Sprache ....... 73, 104, 130, 143, 152, 169, 180f., 191, 307 strange loop ..........................................188, 218 Subjektivität ....... 22-24, 64f., 74-76, 84, 86-88, 90, 96f., 105, 139f., 145f., 153, 161, 185, 192 Substanz ................ 24, 55-57, 67, 91, 109, 126, 144, 186f., 206, 216, 221-223, 228f., 272, 276, 293 Sukzession ............... 42, 45, 50f., 56, 58-60, 80, 82-84, 93, 108, 121, 124, 183, 195, 202, 207f., 227, 230, 249, 270, 315, 318, 323 Synchronie ......... 20f., 244, 248, 255, 258, 277f. (s. auch Diachronie) Synchronisation ............ 11-13, 18, 31, 242-247; 258, 265, 267, 275, 280, 297, 299, 306f., 309f., 312-316, 324f., 328f., 334-336 Synchronisationsbedarf ....... 12, 244f., 328, 336 Systemdifferenzierung ......... 173, 237-244, 261 Systemgeschichte ............. 197, 202, 238, 242f., 275f., 280, 295, 297f., 307-309, 312, 323325, 332 Theodizee ...............................................22, 283 Transzendentalphilosophie ....... 55, 63, 66f., 76, 78, 86, 101, 105, 165, 216 Uhrzeit ................ 39, 81, 115, 137, 308 (s. auch Welt-/Uhrenzeit) Ungleichzeitigkeit ...... 24, 116, 243, 277, 298f., 335 (s. auch Gleichzeitigkeit) Urimpression .......... 26, 69, 71f., 75, 78, 80, 83, 93, 95, 100, 109, 184 Utopie .................................... 13, 17, 315, 334f. Vergangenheit ............ 17, 44, 50-52, 68-71, 75, 78f., 82, 84, 96, 98, 119, 122f., 134-136, 141, 184f., 190f., 194, 196, 198-201, 207, 209f., 229f., 232, 240, 243, 253, 257f., 271, 275, 277, 282, 307, 312, 314f., 317319, 322f., 327, 331, 343f.
378 Vernunft ...........17, 21f., 29, 52-54, 57, 97, 152, 159, 161f., 179, 224, 246, 254, 287, 295, 305, 311, 331f. (s. auch Rationalität) Wahrheit ............. 28, 68, 91, 95, 97f., 161, 214, 278, 280, 282f., 291-293, 295, 300-304 Wechselwirkung .... 55f., 93, 154, 173, 175, 339 Welt-/Uhrenzeit ...... 11, 309-317, 323, 328, 332 Weltzeit ..........68, 85, 108f., 177, 199, 307-310, 319, 329, 331, 335 Wirtschaft/Ökonomie ........12, 14, 16-18, 142f., 173, 196, 202f., 261, 266f., 275f., 280f., 289-291, 294f., 297, 299f., 302-304., 309f., 312f., 320, 336, 344 Wissenschaft ............18, 58, 60-66, 80f., 84, 99, 112f., 115, 118, 122, 153f., 159, 163, 167, 177, 194, 199, 203f., 207, 212, 215, 223, 225, 255, 274, 278, 289, 292-294, 296304, 311, 313, 317, 320, 331, 342, 344 Zahl .......... 39f., 44, 46-48, 58-60, 80, 112, 272, 308 Zeichen .............27f., 32, 51, 72f., 75, 102, 104, 106, 111, 120, 130, 181, 283 Zeitdimension ............. 199, 202, 235, 250, 267, 280, 294, 296f., 306, 314, 318f., 321f., 324, 326, 341f. (s. auch Sachdimension; Sinndimensionen; Sozialdimension)
Sachregister
Zeiterfahrung ................................... 66, 82f., 86 Zeitfestigkeit ........... 120, 132f., 136f., 141, 177, 181, 196, 201, 207f., 217, 221f., 228-230, 240 Zeitschnitt ............................. 121, 182-184, 227 Zeitstrom ..............................................134, 183 Zirkel ....... 24, 40, 43, 56, 58, 71, 74-77, 80, 82, 114, 138, 150f. 176, 185-188, 216, 218f., 225, 232f., 327, 347 (s. auch Reflexionszirkel) Zirkularität ........................40, 44, 138, 217, 233 Zukunft ........ 14, 17, 19, 41, 44, 50-52, 68f., 71, 78f., 82-84, 98, 123, 134-136, 141, 182, 184, 186, 190f., 194, 196, 198, 199-201, 209f., 226, 230, 232, 240f., 243, 252f., 257f., 270-274, 277, 284, 289, 292, 307, 312, 314-317, 322f., 327, 329, 334, 338344 Zweiwertigkeit ................ 159, 213, 220f., 300f. (s. auch Einwertigkeit)
Personenregister
379
Personenregister
Acham, K. .................................................... 199 Ackerman, Ch. ............................................. 211 Adam, B. .................... 12, 35, 36, 109, 113, 137 Adorno, Th. W. ............................................ 198 Albert, H. ................................................... 224f. Alexander, J.C. ............................................ 205 Alheit, P. ...................................................... 185 Apel, K.-O. ...................................... 60, 84, 332 Aristoteles .................. 36, 40, 44-49, 51, 57, 59, 78-80, 112, 119, 121, 138, 159, 184, 213f., 221, 227, 297, 308,344 Assmann, J. ........................... 264, 266-271, 285 Augustinus, A. ........48-52, 71, 78-80, 112, 184, 279 Backhaus, K. .................................................. 12 Bacon, F. .............................................. 293, 298 Baecker, D. .......... 159, 172, 180, 186,188, 197, 202, 289 Baier, L. ......................................................... 12 Bateson, G. .................................................. 168 Baudrillard, J. ....................... 305, 333-335, 343 Beck, U. ......................... 20, 296, 320, 340, 341 Beck-Gernsheim, E. ..................................... 325 Benner, D. ............................................ 203, 303 Berger, B. ..................................................... 326 Berger, P. . ........... 107, 146, 239, 254, 260, 263, 296, 326 Bergmann, W. ...........35f,, 128f., 131, 137, 142, 179, 192, 203, 228 Bergson, H. ....... 58-62, 70, 79f., 100, 108, 111113, 329, 331, 332, 344 Bernet, R. ....................................................... 70 Bertalanffy, L.v. ........................... 154-156, 229 Bieri, P. ........... 75, 81-86, 97f., 135, 138, 191f., 210, 228-230, 344 Bieritz, K.H. ................................................ 278 Blaser, J.-P. .................................................... 58 Blumenberg, H. ..... 95, 224, 254, 292, 319, 327 Blumer, H. ................................................... 142 Bodin, J. ....................................................... 291
Böhme, G. .......................................... 45-47, 56 Boltanski, L. ...................................................12 Bonet, E.M. ..................................................174 Bonus, H. ........................................................12 Borscheid, P. ..................................................12 Borst, A. .......................................................276 Brandt, S. ..............................177, 226, 279, 243 Brezinka, W. .................................................203 Briggs, J. .......................................................339 Brose, H.G. ...................................................325 Bühl, W.L. ............................................106, 211 Bultmann, R. ................................................254 Burke, K. ..............................................223, 287 Burkhardt, J. .................................................272 Buroway, M. ................................................ 20f. Cancik, H. .....................................................274 Chaplin, Ch. .................................................328 Chladenius ................................................. 197f. Chowers, E. ....................................................14 Cicero ...........................................................274 Comte, A. .............................................246, 311 Condorcet, M.J.A. de ................................ 294f. Conen, P.F. ............................................ 44f., 48 Cullmann, O. ................................................273 Dahrendorf, R. ..............................................177 Derrida, J. .......... 25f., 72-75, 95, 104, 120, 181, 184, 188 Descartes, R. .............................................65, 74 Dewey, J. ........................................... 128f., 155 Diodor ..........................................................274 Doob, L.W. ...................................................196 Dress, A. .......................................................155 Dupré, W. .......................................................43 Durkheim, E. ..........30, 111, 171, 249, 260, 263 Dux, G. ............... 42f., 191, 238, 245, 249, 251, 253-256, 270 , 272, 274-276, 279, 281, 316 Dziewas, R. ..........................................147, 173 Ebeling, H. ...........................................305, 331 Eickelpasch, R. .............................................254
380 Einstein, A. ............................. 36, 112-119, 243 Elder, G.H. ................................................... 325 Eliade, M. .................................. 255, 257f., 264 Elias, N. ......... 61, 208, 238, 241, 280, 284, 289 Elkana, Y. .................................................... 113 Engels, F. ....................................... 12, 298, 304 Englisch, F. .................................................. 229 Ennen, E. ..................................................... 280 Enzesberger, H.M. ....................................... 191 Eriksen, Th.H. ................................................ 14 Erlinger, H.D. .............................................. 106 Esposito, E. .......................................... 186, 218 Esser, H. ............................................... 205, 307 Evans-Pritchard, E.E. ... 250-253, 257, 260, 274 Fichte, J.G. ..................... 26, 43, 185, 187f., 287 Filipp, S.-H. ................................................. 325 Florey, E. ..................................................... 165 Foerster, H.v. .............. 157, 160, 170, 197, 199, 217, 240, 327 Foucault, M. ............................. 31, 95, 208, 296 Fraisse, P. ..................................................... 196 Frank, M. ...........25, 32f., 57, 62, 67, 75-79, 85, 114, 138, 161, 165, 184f., 188, 191f., 194 Fuchs, P. ........... 175, 184, 190, 279f., 284, 292, 297, 336 Gehlen, A. .................. 133, 198, 316f., 331, 333 Gehring, P. ..................................................... 29 Geißler, K.A. ................................................. 12 Gent, W. ....................................................... 48f. Gerhardt, A. ................................................. 328 Gethmann, C.F. .......................................... 215f. Giddens, A. .................... 35, 146, 309, 314, 316 Giegel, H.-J. ................................................. 200 Giesen, B. ............ 205, 239, 245-247, 260, 262, 267, 275, 295, 302 Gilgenmann, K. ................................... 205, 326 Gimpel, J. ..................................................... 279 Glanville, R. ................168-171, 174, 186f., 222 Glasersfeld, E.v. ................ 159f., 162, 165, 212 Gleick, J. ................................................ 12, 120 Gödel, K. ................................................... 117f. Goffman, E. ................................................. 206 Goody, J. ...................................................... 312 Gräßer, E. ..................................................... 273 Grathoff, R. .................................................. 104 Grele, R.J. .................................................... 200 Groethuysen, B. ......................................... 291f. Gumbrecht, H.-U. ................................ 199, 282
Personenregister
Günther, G. ..........158, 164, 166, 169, 180, 212, 217, 219-222, 253, 294, 300 Habermas, J. ..............15, 73, 95, 104, 106, 114, 142, 152, 179, 185, 198, 205, 211, 261, 293, 296, 304f., 311, 316, 326, 332f., 337 Hahn, A. ..... 149, 185, 200, 291, 318f., 322-324 Halbwachs, M. .............................................111 Hallowell, A.I. ..............................................250 Hawking, S. ..................................................182 Hegel, G.W.F. .......... 122f., 185, 198, 207, 239, 287, 295, 297f. Heidegger, M. ............. 41f., 57, 70, 73, 95, 131, 147, 181, 186f., 327, 329, 331-333, 336 Heider, F. ......................................................181 Heinemann, G. .....................................119, 121 Hejl, P.M. ..................... 162-164, 168, 173, 212 Held, K. ................................... 63, 69, 88f., 91f. Hendrichs, H. ...............................................155 Herberger, S. ..................................................39 Herder, J.G. ..................................................296 Herodot .........................................................274 Herrmann, F.W.v. ...........................................52 Hermann-Stojanoff, I. ..................................238 Hitzler, R. .....................................................239 Hoffmann, G. .................................... 128f., 203 Hoffmann, L. ................................................297 Hofstadter, D.R. ...................................157, 188 Hohn, H.-W. ................. 277-279, 281, 312, 316 Holodynski, M.G. .........................................146 Hömberg, W. ................................................311 Hörning, K.H. ...............................................328 Horkheimer, M. ............................................332 Hübner, K. ....................................................255 Huizinga, J. ...................................................276 Husserl, E. .................11, 25f., 32, 36f., 62-113, 118f., 126, 129, 134f., 137-140, 145f., 149, 152f., 157, 162, 164f., 177-180, 183,185, 187-189, 191-193, 195, 201, 215, 218, 227, 231, 233, 325, 329, 344, 318 Imhof, A.E. ...................................................318 Jacobs, H. .....................................................261 James, W. .....................................................141 Janich, P. ....................................44, 49, 51, 308 Janke, W. ........................................................61 Janßen, H.-G. ................................................283 Japp, K.P. .....................................................340 Joachim von Fiore ........................................278
Personenregister
Joas, H. ....... 114, 118, 125, 128, 131, 133, 137, 142, 231 Jörns, K.-P. .................................................. 278 Jung, Th. ...................................................... 334 Kamper, D. .................................................... 35 Kant, I. ....... 22f., 43, 52-58, 60f., 63-67, 71, 74, 76, 79f., 84, 101, 112, 117, 159-161, 175, 185, 187, 212, 215f., 224, 228, 287, 295, 344 Kellner, H. ................................................... 326 Kierkegaard, S. ............................................ 312 Klein, G. .................................................... 273f. Klempt, A. ........................................... 282, 291 Kluge, A. ..................................................... 326 Kneer, G. ..................... 148, 161, 188, 194, 306 Kohli, M. ............................. 185, 260, 322, 324 Kolakowski, L. ............................................ 254 Konrad, R. ................................................... 278 Koselleck, R. ............ 191, 197f., 200, 245, 270, 274f., 293, 298 Krampen, G. ................................................ 176 Kratky, K.W. ....................................... 156, 174 Krohn, W. ............................ 150, 155, 165, 174 Kruse, P. ...................................................... 132 Kuhn, Th.S. .................................................. 303 Küppers, G. .......................... 150, 155, 165, 174 Kurthen, M. ................................................... 75 Landes, D.S. .......................................... 39, 308 Lantermann, E.D. ........................................ 176 Latour, B. ....................................................... 28 Lee, H.N. ..................................................... 133 LeGoff, J. ...................................... 276-279, 281 Lehmann, B.E. ............................................. 204 Leinfellner, W. ............................................. 155 Leitner, H. .................................................... 319 Lenin, W.I. ................................................... 146 Lerner, R.E. ................................................. 274 Lévi-Strauss, C. ........... 204, 206, 248, 253, 255 Levy, R. ....................................................... 324 Levy-Bruhl, L. ..................................... 246, 254 Lichtblau, K. ................................ 191, 198, 333 Lipp, W. ....................................................... 211 Locke, J. ....................................................... 295 Lohmann, G. ................................................ 149 Löwith, K. .................................................... 275 Luckmann, Th. ............. 101, 103-109, 146, 185, 206, 238f., 244, 254, 260, 316
381 Luhmann, N. ................. 11, 23, 25, 32f., 35, 37, 145-153, 161, 163f., 166-191, 193-195, 197, 199, 201, 203-227, 229, 231, 234, 237-239, 241-243, 245-247, 249, 253f., 255, 257, 259-263, 265, 267, 279f., 283286, 289-292, 296, 299, 301-308, 310f., 313-318, 320-322, 324, 326, 334, 336f., 339-341, 344f. Lüscher, K. .....................................................35 Luther, M. .....................................196, 274, 291 Lyotard, J.F. .............................. 181, 206, 335f. Machiavelli, N. .............................................287 MacIntyre, A. ...............................................331 Malinowski, B. .......................... 247f., 252, 255 Mannheim, K. ...............................................342 Marquard, O. ........................................254, 296 Marx, K. .................12, 207, 239, 298, 304, 312 Maturana, H. ......... 132, 155-158, 162-168, 173, 178, 212, 215 Mayer, K.-U. ............................................. 324f. Mays, W. ......................................................119 McTaggart, J.M.E. ..... 37, 81-84, 135, 138, 191 Mead, G.H. .............. 15, 31, 37, 112-115, 118f., 121-144, 163f., 166, 172, 179, 189, 205, 210, 231, 233f., 344 Meist, K.R. .................................... 88, 92, 152f. Melanchthon .................................................291 Merton, R.K. ....................................... 35f., 111 Meulemann, H. .............................................325 Meyer, E. ......................................................212 Meyer, J.W. ..................................................324 Michailow, M. ..............................................328 Montaigne, M.de ..................... 283f., 292f., 296 Moore, W.E. .................................................316 Moore-Ede, M.C. ...........................................12 Mörth, I. .......................................................263 Müller, W. ....................................................325 Mumford, L. ...........................................12, 328 Münch, R. .....................................173, 205, 300 Muth, A. ...............................................113, 115 Nassehi, A. ............15, 17-19, 21, 23-28, 32-34, 78, 106, 148, 151, 158, 160f., 183, 188, 190, 212, 221, 252f., 273, 291, 297f., 300, 307, 316, 323, 336 Negt, O. ................................................326, 328 Newton, I. ............36, 58, 60, 81, 113, 115, 117, 119, 153, 161, 174, 196 Nietzsche, F. ................... 95, 199, 330-333, 344
382 Nowotny, H. .................................. 35, 238, 328 Otto, R. ........................................................ 264 Parmenides .................................................. 117 Parsons, T. ............ 25, 30, 129, 140, 146, 150f., 167, 171, 173, 204f., 211, 300, 305 Pask, G. ........................................................ 169 Paslak, R. ..................................... 155, 165, 174 Peat, F.D. ..................................................... 339 Perrow, Ch. ........................................... 338-340 Pfeil, H.-D. .......................................... 113, 115 Pfütze, H. ............................................. 147, 211 Piaget, J. ............................................... 246, 333 Platon ................. 124, 126, 211, 268, 272f., 287 Plessner, H. .................................................. 130 Poser, H. ........................................................ 88 Prahl, H.W. .............................................. 22, 33 Prigogine, I. ................................................. 174 Pufendorf, S. ................................................ 287 Rammstedt, O. .........................238, 250f., 315f. Ranke, L.v. .................................................. 287 Reck, A. ....................................................... 131 Reckwitz, A. ........................ 15, 22, 27, 30f., 33 Rehbein, J. ................................................... 190 Reheis, F. ................................................. 12, 14 Reichenbach, J. ............................................ 117 Riedel, M. ...................................................... 84 Riesman, D. ................................................. 326 Rinderspacher, J.P. ...................................... 328 Rosa, H. .................................................... 12-22 Röseberg, U. ................................................ 183 Rosenbaum, H. ............................................ 289 Roth, G. ..................................................... 155f. Rückriem, G. ............................................... 149 Russell, B. .................................................. 118f. Rust, A. ........................................................ 120 Saake, I. ................................................... 18, 24 Sahlin, M.D. ................................................ 245 Schatzki, Th.R. .............................................. 30 Scheler, M. ................................... 130, 158, 296 Schelsky, H. ................................... 15, 296, 331 Scheuermann, W.E. ....................................... 12 Schiewek, W. ............................................... 181 Schimank, U. ................................. 20, 318, 322 Schleiermacher, F.E.D. .......... 77, 114, 161, 185 Schluchter, W. ............................................. 101 Schmidt, H. .................................................... 81 Schmidt, H.K. .............................................. 116 Schmidt, R. .................................................. 333
Personenregister
Schmidt, S.J. ......... 159-167f., 176, 211f., 215f., 289 Schmied, G. .......... 35, 61f., 111, 113, 191, 238, 267, 279, 292, 298, 308, 315f., 318 Schneider, H.J. .............................................176 Schöfthaler, T. ..............................................263 Scholl, M.O. ...................................................35 Scholz, F. ......................................................263 Schöps, M. ....................................................238 Schott, R. ......................................................270 Schulz, W. ......................................78, 117, 159 Schütz, A. .................. 37, 81, 99-112, 118, 128, 135-137, 139, 143, 145f., 149, 152, 162164, 172, 177f., 181, 185, 206, 209, 231, 233, 244, 283, 316, 323f., 339, 344 Schütze, F. ................................................. 323f. Schütze, Y. ...................................................146 Schwemmer, O. ........................................60, 84 Seeger, D. .....................................................146 Seneca ..........................................................276 Sexl, R. .........................................................116 Simmel, G. ...........................................296, 331 Sloterdijk, P. ...........................14, 333, 335, 337 Smelser, N. ...................................................205 Sommer, M. ........................................64, 66, 75 Sorokin, P.A. ....................................... 35f., 111 Sparn, W. ......................................................283 Spencer Brown, G. ........... 158, 166, 198, 219f., 302, 345, 347 Spinoza .........................................................126 Spitz, R. ........................................................186 Srubar, I. .......................... 104, 106f., 109f., 149 Stadler, M. ....................................................132 Stahlberg, D. .................................................217 Stegmüller, W. ................................................84 Steinhoff, M. ....................................... 51f., 70f. Stempel, W.-D. .......................................55, 190 Stichweh, R. ...... 203, 286, 288f., 292, 296, 320 Stöckler, M. ............................................... 121f. Suárez, F. ......................................................294 Tarde, G. de ................................................. 26f. Taubes, J. ..............................................273, 278 Teilhard de Chardin, P. ................................123 Tenbruck, F. .................................239, 293, 296 Teubner, G. ...........................................289, 300 Theunissen, M. ...............................................89 Thévenot, L. ...................................................12 Tholen, Chr. ...................................................35
Personenregister
Thomas, G. .................................................. 180 Thomas von Aquin .............................. 276, 278 Thrupp, S.L. ................................................. 281 Thukydides .................................................. 276 Tillich, P. ..................................................... 254 Trillhaus, W. ................................................ 283 Troeltsch, E. ................................................. 285 Tugendhat, E. ................................................. 98 Uexküll, Th.v. .............................................. 186 Ulich, D. ...................................................... 146 Varela, F. ................................... 132, 155f., 158 Vester, H.-G. ........................................ 206, 310 Virilio, P. ............................................. 12, 332f. Voges, W. .................................................... 323 Vollmer, G. .................................................. 158 Wagner, H. ..................................................... 47 Waldenfels, B. ............................................... 92 Waldmann, P. ................................................ 35 Wacquant, L.J.D. ........................................... 18 Watt, I. ......................................................... 312 Weber, G. ............ 78, 106, 158, 186, 190, 252f., 273, 291, 297, 316, 323 Weber, M. ........ 12, 99-101, 103, 106, 109, 239, 265, 283, 285, 289, 296 Weismahr, B. ............................................... 160 Weizsäcker, Chr.v. ...................................... 340
383 Weizsäcker, E.U.v. .......................................340 Welker, M. ................................ 124f., 151, 263 Welsch, W. ................................................ 335f. Welter, R. .......................................................97 Wendorff, R. ......... 39, 58, 191, 245, 267, 269f., 274, 279-282, 308, 311f., 316 Wenzel, H. .................................... 113, 142-144 Whitehead, ......................A.N. 37, 81, 112, 119, 120-122, 124-127, 129, 131, 134, 139f., 144, 165, 182-187, 189, 192, 205, 227, 231, 344 Whitrow, G.J. ...... 35, 266f., 270, 274, 308, 316 Wiener, N. ....................................................196 Willke, H. .............................................174, 342 Wohlrab-Sahr, M. ...........................................17 Wolf, U. ........................................................213 Wolf, W. ...............................................256, 266 Wolf, W. .......................................................342 Wulf, Chr. .......................................................35 Würtenberger, Th. ........................................294 Zerubavel, E. ................................................309 Zippelius, R. .........................................287, 303 Zoll, R. 35, 238, 312