Terra Astra Band 626
H. K. Bulmer
Die Zauberer von Senchuria
3. Roman des Dimensionszyklus
Die Hauptpersonen des Ro...
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Terra Astra Band 626
H. K. Bulmer
Die Zauberer von Senchuria
3. Roman des Dimensionszyklus
Die Hauptpersonen des Romans:
Scobie Redfern - Ein Mann auf der Flucht von einer Dimension zur anderen.
Contessa di Montevarchi - Eine gefährliche Frau.
Val - Sie ist ein Porteur.
Tony, Gart und Mina - Vals Freunde.
Vivasjan - Ein Zauberer von Senchuria.
1.
Scobie Redfern dachte an ein dickes, saftiges Steak mit vielen Beilagen und eine heiße,
dampfende Tasse Kaffee, als er durch das dichte Schneegestöber eilte. Ein schwarzer Himmel
schickte weißen Schnee auf schwarze Häuser herunter, und Scobie Redfern, der lieber an
sonnigen Stranden weilte, hüllte sich fröstelnd fester in seinen Wintermantel.
In dieser dunklen, naßkalten Nacht herrschte in Manhattan nur wenig Verkehr. Redfern,
seinen Tennisschläger unter den Arm geklemmt, rannte zur Ecke. Er hatte eine gute Stunde
gespielt und fühlte sich noch ein wenig erhitzt; deshalb fror er auch jetzt im kalten Wind so
sehr, und außerdem blendete ihn der Schnee.
Die Ampel schaltete auf Rot. Ein einziges Taxi stand an der Ampel. Scobie Redfern zog den
Kopf ein und spurtete darauf zu.
Er riß die Tür auf, und angenehme Wärme schlug ihm entgegen. Leider nicht lange, denn
auch die andere Tür wurde aufgerissen, und eine wuchtige Gestalt drängte sich hinein.
Auf der Sitzmitte prallten sie aneinander.
Redfern war ein strammer, breitschultriger junger Mann mit wuschligem, blondem Haar.
Meistens sah er freundlich drein und benahm sich verbindlich. Jetzt aber sagte er: „Mein Taxi,
glaube ich."
Der andere ließ sich jedoch nicht irremachen. Er räkelte sich auf dem Sitz zurecht, schaute
einmal zurück und knallte die Tür zu.
„Wir haben das Taxi gleichzeitig erwischt", meinte er freundlich, aber Redfern glaubte in der
Stimme des anderen einige Unsicherheit zu erkennen. Der große, breite Mann schien besorgt
zu sein.
„Ich habe eben Sport getrieben, bin erhitzt und verschwitzt", erklärte Redfern, der keine Lust
zu Diskussionen hatte. „In diesem Schnee könnte ich mir im Handumdrehen eine
doppelseitige Lungenentzündung holen."
Der Mann gab keine Antwort. Er spähte immer noch durch den Schnee auf die andere
Straßenseite hinüber. Die Spannung in ihm war fast mit Händen zu greifen.
Der Taxifahrer lehnte sich nach rückwärts.
„Wenn die Herren darum würfeln oder raufen wollen - okay. Sie können sich aber auch das
Taxi teilen und mir sagen, wohin Sie wollen."
„Eine scheußliche Nacht", sagte der Große fast so, als wolle er um Entschuldigung bitten, und
zog seine breiten Schultern hoch.
„Stimmt", pflichtete ihm Redfern bei und war lange nicht mehr so abweisend wie vorher. „Ich
will noch in ein Restaurant, das..."
„Das ist mir absolut recht", antwortete der Große.
„Fein", sagte der Taxifahrer und legte den Gang ein. „Ich fühle mich sowieso nicht zum
Schiedsrichter berufen."
Redfern gab ihm die Adresse des Restaurants an und lehnte sich zurück. Die Wärme im Auto,
der Geruch des tauenden Schnees und die Reaktion auf den schnellen Wechsel von Erhitzsein,
Kälte und Wärme machten ihn frösteln.
Etwas Großes, Dunkles und Unheimliches bewegte sich plötzlich « draußen vor dem
Fenster. Der fallende Schnee trübte sein Gesichtsfeld, und Redfern beugte sich nach vorn. Der
Mann neben ihm zog scharf die Luft ein. Dann griff er in die Manteltasche.
Etwas schlug an den Wagen. Redfern beugte sich noch weiter vor und sah eine Hand mit zwei
Fingern und einem kurzen, dicken Daumen, und alle drei Finger hatten lange, blutrote
Krallen. Die Hand ballte sich zu einer Faust, und nun fing sich Licht in den Schuppen. Jede
Schuppe hatte einen violett brennenden Ring, als sende sie Strahlen aus. Die Faust zog sich
jetzt zurück, um zuzuschlagen. Dann tat das Taxi einen Satz, als der Fahrer den Gang
wechselte; die Faust schlug zu, und es gab einen lauten metallischen Ton wie von einem Gong, aber die Faust war verschwunden. „Was,, bei allen Unheiligen, war das?" schrie der Taxifahrer erschrocken. „Hagel", murmelte der Mann und lehnte sich erleichtert zurück., „Hagel?" Der Taxifahrer war beunruhigt. „Da wäre es doch ..." „Fahren Sie weiter", schnappte der Mann. „Na, aber,.." Doch das Taxi fuhr weiter. Innen war es warm, außen unfreundlich und naß, und außerdem gehörte ihm das Taxi nicht, sondern er fuhr es nur. „Was war denn das?" fragte Scobie Redfern. „Haben Sie's gesehen?" „Klar", antwortete Redfern und schluckte. „Irgendein Narr in einem Maskengewand..." „Hm. Ungefähr." Jetzt erst sah Redfern den Colt .45, den der Fremde wieder in seine Mantelinnentasche schob. Redfern fühlte sich ziemlich unbehaglich. „Wenn Sie wollen, können Sie an der nächsten Ecke aussteigen", sagte der große Mann. Scobie Redfern war kein Narr; er bildete sich daher auch nicht ein, es sei alles nur Mache von dem Großen, damit er das Taxi für sich allein hätte. Wenn auch die Nacht kalt, dunkel und unfreundlich war, gab es doch noch mehrere Taxis in New York. Und diese Hand! Brrrr! „Nun?" fragte der große Mann. Redfern warf einen Blick durch das hintere Wagenfenster. Der fallende Schnee fing viel Licht ab, deckte sofort wieder die Reifenspuren zu und machte aus jedem Fußgänger einen wandelnden Schneemann. Es sah ein bißchen komisch aus, wie die Leute mit eingezogenen Köpfen und hochgezogenen Schultern daherstapften. Von dem dunklen Schatten, den Redfern gesehen zu haben glaubte, war keine Spur mehr zu entdecken. „Draußen ist's verdammt kalt", antwortete er. Der Mann gab einen Grunzlaut von sich. Allmählich schien er sich zu entspannen. Das Taxi bog durch den nassen Schnee um die nächste Ecke. Redfern wußte genau, daß er von dieser schuppigen Klauenhand nicht nur geträumt hatte. Aber warum war dieser große, breite Fremde so unruhig darüber? Scobie Redfern versuchte sich einzureden, daß diese Hand nicht echt gewesen sein könne. In seiner relativ kurzen geschäftlichen Laufbahn hatte Scobie Redfern ebenso relativ viele Jobs gehabt. Die meisten davon hatten deshalb ein vorschnelles Ende gefunden, weil er sich rein gewohnheitsmäßig gegen die Autorität stellte. Das Taxi hielt vor einem Restaurant mittlerer Preisklasse, das er jeweils nach dem Zahltag zu besuchen beliebte, während die Tage unmittelbar davor reine Hamburger-Tage waren. Beide Männer stiegen aus. Durch die gelben Fenstervierecke fiel ein freundlicher, wärmender Schein auf den schneebedeckten Gehsteig. Die köstlichen Düfte kochender und bratender nahrhafter Dinge ließen Redfern das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er klemmte sich Tennisschläger und Schuhe noch ein wenig fester unter den Arm und ging auf die Glastüren zu. „Wenn ich darf, komme ich mit", sagte der Fremde. „Klar dürfen Sie." Als das Taxi wegfuhr, kam spritzend ein Auto herangefahren. Redfern hörte es kommen, schaute aber nicht auf, weil er im Geist schon mit einem saftigen, halbgaren Steak beschäftigt war. Ein stürmischer Ziegenbock schien ihn mit den Hörnern ins Kreuz zu stoßen, und im nächsten Moment lag er auf dem Bauch im tiefen, nassen Schnee. Nase, Augen und Mund waren mit Schnee verstopft, und er krächzte, keuchte und spuckte. Die eisige Luft wurde von einem röhrenden, quäkenden Ton zerrissen, dem das Klirren zersplitternden Glases, das krachende Schalten eines Wagens, hysterisches Kreischen und brüllendes Schreien folgte. Unbeholfen drehte sich Redfern um und stand auf. Der Fremde neben ihm kam langsam wieder auf die Beine. Sein Gesicht sah hart und finster aus, aber um die Mundwinkel spielte ein zufriedenes Lächeln. „Alles noch ganz bei Ihnen?" fragte er. Warum wollten Sie mir denn unbedingt das Rückgrat durch den..." „Wenn die Raufbolde der Contessa rauh spielen, dann muß man's ihnen noch ein bißchen rauher heimzahlen."
„Klar", antwortete Redfern, wenn er auch nichts verstand, und spuckte noch ein Restchen Schnee aus, nachdem er Augen und Ohren davon gesäubert hatte. Und jetzt blickte er auf das Restaurant. Viele Leute standen davor und machten besorgte Gesichter. Die ganze Vorderseite war weggerissen. Ehe Redfern noch Zeit hatte, seine Gedanken zu ordnen, packte ihn der Fremde fest am Arm und zerrte ihn über den Gehsteig in eine kleine Seitengasse neben dem Restaurant. Redfern mußte mitrennen. Sie liefen, so schnell sie konnten, und ihr keuchender Atem quoll ihnen als Dampfwolken aus Mund und Nase. Sie hatten ungefähr das halbe Gäßchen hinter sich, als Redfern sich losriß. „He!" Ächzte er und rang nach Atem. „Was soll denn das? Wer sind Sie denn? Ein entlaufener Irrer?" „Nein. Kommen Sie mit. Die haben Ihr Gesicht gesehen. Die kennen Sie jetzt." Angst überfiel Redfern. Der Fremde zerrte ihn weiter. „Ich fühle mich jetzt für Sie verantwortlich. Eigentlich hätte ich Sie aus dem Taxi hinauswerfen sollen. Es wird Ihnen noch leid tun, daß ich's nicht getan habe. Ja, Sie werden sich noch wundern." „Moment mal..." „So kommen Sie doch! Hören Sie, ich heiße Alec MacDonald. Sie sind mitten in den schönsten Schlamassel hineingerutscht. Wenn ich mit einem Freund von mir zusammentreffe, ist alles wieder in Ordnung. Er heißt David Macklin. Und wie heißen Sie?" Redfern sagte es ihm und erschauerte. „Schön, Scobie. Wenn wir unsere Gegner hinausboxen können, die Trugs und die anderen, ist's ja gut. Bis dahin sind wir Füchse, an denen schon die Hunde nagen. Begreifst du das, Scobie?" Redfern wollte es nicht begreifen, obwohl er nickte und weiterrannte. Er hatte es «immer für eine schöne Sache gehalten, wenn einem einmal ein Abenteuer begegnete, aber so hatte er es sich nicht vorgestellt. Und dieser Alec. Wie ein Gangster sah er ja nun wirklich nicht aus; Nein, gewiß nicht. Er erweckte eher den Anschein, als sei er für Recht, Gesetz und Ordnung. Er mußte sich selbst ein wenig gut zureden, um sich aufzuheitern und weiter hinter Alec dreinzustapfen. Vor ihnen lag das Ende des Gäßchens. Ein parkendes Auto warf einen dunklen Schatten über den festgebackenen Schnee. Alec kam mitten aus dem Lauf heraus rutschend zum Stehen. „Sind sie das?" fragte Redfern. Alec nickte. „Ja. Die haben gesehen, daß wir in das Gäßchen eingebogen sind." Er zog einen kleinen Transistor aus der Tasche und zog die Antenne aus. „Das Zeug wollte einfach nicht mehr mittun", sagte er. „Aber ich will's trotzdem noch einmal versuchen." Er legte seinen Mund nahe an den winzigen Sprechgrill. „Hier ist Rauhnacken. Komm herein, Messerwetzer." Nun drückte er ein paar Knöpfchen, und das Gerät knatterte. „Nichts!" Stellte Alec enttäuscht fest. Mit einem Schlag schob er die Antenne zusammen und steckte das nutzlose Ding wieder in die Tasche. Aber nun hatte er seinen Colt .45 in der Hand. „Ist vielleicht im Augenblick nützlicher", sagte er mit seiner tiefen Stimme. Erst hatte sich Scobie Redfern ein wenig gefühlt, als habe man ihn in einen luftleeren Raum gestellt, und dieses Gefühl hatte er als alarmierend empfunden. Irgendwann auf dem Weg durch das Gäßchen war Scobie aber klargeworden, daß er sich in Gegenwart dieses großen Bären, der sich Alec nannte, als Mann zeigen mußte. Redfern schniefte. „Wir schlängeln uns wohl am besten durch ein Haustor. Vielleicht können wir über ein paar Hinterhöfe zum nächsten Gäßchen gelangen." Alec warf ihm einen raschen Blick aus den Augenwinkeln zu, und dann zeigte auf einmal dieses harte, rauhe Gesicht ein breites Lachen. „Scobie, uns beide schaffen die nicht", sagte er mit einer erstaunlich weichen Stimme. Sie fanden eine Tür, schlichen durch eine übelriechende Küche und kamen endlich in ein anderes Gäßchen, in dem der Schnee tief und unberührt lag. Das ganze Gäßchen entlang lagen
größere und kleinere Lichtflecken auf dem Schnee, und das helle Rechteck am Ende wirkte richtig freundlich und einladend. Sie zogen die Köpfe ein und schlugen die Kragen hoch. Alec hatte die Hand fest um die Waffe in seiner Manteltasche geschlossen. Ehe sie die helle Straße erreichten, machte Alec einen neuen Versuch mit seinem Gerät. „Hier ist Rauhnacken. Wo, zum Teufel, steckst du denn, Messerwetzer?" Aber die einzige Antwort, die er bekam, war ein lautes Knattern. Er schüttelte das Ding und versuchte es erneut. Nichts. Redfern wurde allmählich nervös. „Gehen wir doch endlich raus aus dieser Mausefalle", schlug er vor. Sie bewegten sich weiter. Von oben her drang durch den fallenden Schnee ein merkwürdiges, abgehacktes Geräusch. Redfern schaute blinzelnd hinauf. Der Himmel war eine dunkle, wirbelnde Schneeflockenmasse. Alec griff nach seinem Arm. „Stehenbleiben!" zischte er. Etwas, das schwärzer war als die Nacht, schwebte über ihren Köpfen. Redfern erkannte einen eckigen Umriß am Ende einer wie ein Pendel schwingenden Leiter. Er vergaß vor Staunen zu atmen. Alec hob seine Waffe. „He, Alec!" tschirpte eine rostige Stimme. Ehe einer von den beiden noch etwas sagen konnte, rollte vom Ende des Gäßchens ein Gebrüll auf sie zu. Redfern schaute entgeistert in die Richtung. Eine Gestalt in einem langen Regenmantel stürmte ihnen entgegen. Sie trug einen breitrandigen Hut, der tief ins Gesicht gezogen war. Aber Redfern sah in den spärlichen Lichtern des Gäßchens zwei scharlachrote Gruben genau dort, wo das Gesicht hätte sein sollen. Er sah zwei erhobene Hände, und die Hände waren schuppig und hatten rote Krallen. „Ein Trug!" Alec riß Redfern zur Seite. Der Colt machte etliche Male pängpäng-päng-päng-päng-päng pängpäng. Der Trug verhielt zwar einen Moment, rannte dann aber weiter. Er kreischte bösartig wie ein defekter Dampfkessel. Der kleine Schatten am Ende der Leiter tschirpte wieder heftig und schwang sich herunter. „Alec, du solltest wirklich wissen, daß man einen Trug nicht kitzelt! Pack die Leiter, Alec! Die letzten Sprossen sind gebrochen!" Die Leiter schwang herum wie ein lebendes Ding. Alec fing sie auf und schoß gleichzeitig seine letzte Kugel auf den bellenden Trug. Dann war der Colt wie weggezaubert; Alec schwang sich auf die Leiter hinauf. „Schnell, Scobie!" schrie er. Redfern griff nach der untersten Sprosse. Das Metall fühlte sich kalt an. Die Leiter hob sich langsam. Er stieß verzweifelt um sich, aber er rutschte mit dem Fuß vom Boden ab. Endlich gelang es ihm, sich auch mit der zweiten Hand festzuhalten, und nun wurde er wie ein zappelndes Hündchen in die Höhe gehoben. Über ihm hing Alec an der Leiter. „Na, dann weg, Moke!" rief er hinauf. Die Arme taten Redfern weh; Tennisschläger und Schuhe mußte er loslassen, um sich festhalten zu können, und die Dinge verschwanden unten im Schnee. Er hatte das Gefühl, jemand würde ihm die Arme aus den Schultern reißen. Unten tanzte wütend der Trug herum. Er hob den Kopf und sah nach oben, und zwei Flecken höllischen Feuers glühten auf. Redfern spürte, daß er rutschte... Diese scheußlichen Krallen da unten; dieses elende Biest schlug nach ihm. In einem Hosenbein hatte er schon einen langen Riß. Er konnte sich nicht mehr länger festhalten. Er schrie verzweifelt, als seine Finger vom kalten Metall abrutschten. Hilflos plumpste er zu dem verrückten Biest hinunter.
2.
Er kam mit den Füßen auf dem Kopf des Trugs auf. Einen Augenblick lang balancierte er dort
wie ein Akrobat in einem Zirkus. Zwei weitere Gestalten in Regenmänteln 'stürmten vom
Ende des Gäßchens herbei. Er sah teuflisches Feuer aus den Löchern schießen, wo eigentlich
Gesichter hätten sein müssen.
In dem Augenblick, da er hinunterfiel, hörte er zwei Stimmen über sich: eine entschiedene
Männerstimme, die rief: „Bring uns durch, Sarah!"
Eine atemlose, aber klare Mädchenstimme antwortete: „Wir sind genau im Tor - aber der
Trug!"
Als er dem Schnee entgegenflog, hörte er Alec brummen: „Verdammter Trug! Da kommen ja
noch mehr. Bring uns durch, Sarah!"
Er fühlte ein Schlingern, als seine Füße von den mächtigen Schultern des Trugs glitten. Er
versuchte, seine Hände zu heben, um den Fall irgendwie abzubremsen, und da spürte er, wie
sie durch das dichte Geäst eines Baumes streiften. Dünne Zweige peitschten ihm ins Gesicht.
Sein Fuß rutschte von einem Ast ab, und mit einem heftigen Plumps landete er in einer
Astgabel.
Unter ihm bellte der Trug wie irr, schwang seine krallenbewehrten Hände und fiel nach
rückwärts um, als der mächtige Körper durch dichtes Geäst zu Boden stürzte. Der Trug
heulte, als er sich überschlagend vom Baum löste, und sein breitrandiger Hut schwebte
langsam nach unten und verschwand in einem Gewirr dichter Ranken.
Scobie Redfern glaubte einen Moment lang, er sei übergeschnappt.
„Alles in Ordnung, Scobie?"
Er sah zu dem Rufer hinauf.
„Was?" Er schluckte heftig und fing noch einmal an. „Was ist denn da passiert? Wo..."
„Alles in Ordnung, Scobie." Die Leiter fiel zurück und brach durch die Zweige, bis sie an
seiner Astgabel lehnte. „Klettere da heraus. Dann erzählen wir dir alles. Erst mußt du aber
raufkommen. Du siehst aus, als wolltest du jeden Moment runterfallen."
Ziemlich zittrig und reichlich verwirrt kletterte Redfern hinauf. Alec saß auf einer netten,
kleinen hölzernen Plattform zwischen dem Stamm und zwei dicken Ästen. Allmählich gelang
es Redfern, die Szene in sich aufzunehmen.
„Das war ein Hüpfer, Alec", sagte das Mädchen und lächelte Redfern an. Sie war klein,
zierlich, sehr lebhaft und hatte glattes, gepflegtes, honigfarbenes Haar und ein sanftes,
unschuldiges Gesichtchen. Sie trug ein auffallendes Kleid; es wirkte sehr psychedelisch und
hatte ein wirres Zickzackmuster in Smaragdfarbe, Orange und Rot.
„Laß dir nur Zeit, Scobie", sagte der Mann. Er sah ein bißchen merkwürdig aus, hatte einen
sehr eng geschneiderten pfeffer- und salzfarbenen Anzug und einen schwarzen,
breitkrempigen Hut auf dem Kopf. Als er sich mit dem Hut frische Luft zufächelte, sah
Redfern, daß er weißes, schimmerndes Haar hatte.
„Ich bin David Macklin", stellte er sich vor. „Und das hier ist Sarah."
Redfern schluckte wieder. „Ich glaube, Sie haben uns das Leben gerettet", stotterte er
schließlich. Alec lachte.
„Da hast du verdammt recht, Scobie. Ich hatte doch so eine Ahnung, daß da in der Nähe ein
Portal sein müßte, aber..."
„Aber warum hast du nicht...", fiel ihm Sarah ins Wort.
„Das dumme Radio hat nicht mitgespielt", erwiderte Alec gekränkt.
Redfern ließ sich zurückfallen. Mitten in der Luft hing über der hölzernen Plattform eine
kleine ovale Platte aus irgendeinem glänzenden Metall. Darauf standen sechs Sitze mit
glasgedecktem Dach und einem Kontrollpodium vorn. Von der wie durch Zauberhand in der
Luft festgehaltenen Platte hing die Leiter herunter. Eine kleine Kreatur hüpfte ins Blickfeld,
hantelte sich an Ästen und Ranken entlang und landete schließlich mit einem elastischen Sprung auf der Plattform. „Der Trug ist in eine Schnapperorchidee gefallen", verkündete das kleine Wesen mit offensichtlicher Befriedigung. Redfern mußte Luft holen. Das Kerlchen maß von den Zehenspitzen bis zum Scheitel höchstens einen guten Meter, aber jeder Arm maß genausoviel. Der Kleine hockte sich hin und schlang diese langen Arme in seltsam windenden Bewegungen um sich. Er trug eine braungrüne Tarnjacke und einen gelben Lendenschurz. Um den Bauch hatte er einen mit goldenen Knöpfen besetzten Gürtel, und von diesem Gürtel hingen in einem Holster ein Colt.45, eine Machete in einer Scheide aus Weidenzweigen und eine erstklassige Kodakkamera Format fünfunddreißig Millimeter. Sein Mopsgesichtchen mit der plattgedrückten Nase, den faltigen Lippen und großen, glänzenden Augen verzog sich zu einem Grinsen. „Moke, du bist ein kleiner, blutrünstiger Teufel", sagte Macklin, sah aber dabei recht erleichtert drein. „Ist er...", sagte Redfern. „Ist er echt?" Moke lachte keckernd, und Sarah kicherte. Alec beobachtete genau Redferns Gesicht. „Moke ist so menschlich wie jeder Mensch", erklärte er. „Er gehört nur einem anderen Zweig an. Er ist hochintelligent und in seiner eigenen Dimension tödlich. Täusche dich nur nicht in ihm. Und laß dich niemals auf ein Würfelspiel mit ihm ein." Er warf Moke einen warnenden Blick zu. „Er schummelt nämlich." „Ein feiner Freund bist du, Alec. Und wie soll ich mir jetzt schnell ein paar Piepen verdienen können?" „Und, wie du bemerkt haben wirst, er hat auch ein paar amerikanische Slangausdrücke aufgepickt, die er benützt, damit man ihn für einen richtigen..." „Dimension?" fragte Redfern. „Dimension?" „Diese Welt", sagte Macklin, zeigte auf die Baumwipfel, den Wald, das Geflecht des dichten Geästs, den blauen Himmel und strahlenden Sonnenschein, „diese Dimension, dieses Paralleluniversum, diese andere Welt nannten etliche Leute eine nichtkongruente Realität, bis wir ihnen klarmachten, daß diese und alle übrigen Dimensionen sehr kongruent sind. Sogar außerordentlich kongruent." „Du wirst dich daran gewöhnen, Scobie", tröstete ihn Sarah mit ihrer weichen Stimme. „Aber du und Alec, ihr beide habt Glück gehabt, daß wir über Alecs Radio gerade noch so viel auffangen konnten, um festzustellen, wo ihr seid. Wir huschten durch das Portal, packten euch und huschten wieder zurück." „Mit Trug und Gelichter", fügte Alec grimmig hinzu. „Und", erklärte Macklin so gleichmütig, als spreche er vom Wetter, „die Contessa wird dieses Portal sehr rasch entdecken und durchkommen - sie oder eines ihrer Alter Egos, und das wird sehr schnell passieren." „Und?" „Und deshalb müssen wir weg von hier. Ich denke, keiner von uns wünscht weitere persönliche Kontakte mit ihren Trugs." • Redfern fröstelte im schönsten heißen Sonnenschein. „Nein!" Erklärte er mit allem Nachdruck. Dann schien ihm erst die Unmöglichkeit seiner Lage bewußt zu werden, doch das Begreifen konnte die Barriere seines Unglaubens nicht durchbrechen. „Wo sind wir denn eigentlich?" Wollte er wissen. „Es gibt sehr viele Dimensionen", erklärte ihm Macklin. Er trat auf das schwebende Oval hinaus und ließ sich in einen der Sessel fallen. Die anderen folgten ihm, Redfern ein wenig widerstrebend, denn das schwebende Oval erschien ihm unwirklich und unsicher. Aber Alec begab sich sofort zur Kontrollkonsole. „Das ist ein Skimmer", erklärte Alec und schaute dabei Redfern an. „Er stammt von einer Parallelwelt namens Altinum. Ein netter Ort!"
„Aber hier. !" Macklin lachte leise, als Alec den Skimmer glatt von den riesigen Bäumen wegsteuerte und über eine Matte aus ineinander verflochtenen Zweigen schweben ließ. Über ihnen lachte ein strahlendblauer Himmel, und es war sehr heiß. Redfern knöpfte seinen Kragen auf. Sein Mantel lag bereits zu seinen Füßen. „Das ist Mokes Heimatwelt. Sein Volk lebt unter den Bäumen recht behaglich dahin. Diese Dimension heiß Myrcinus, von der wir nur diese Insel kennen, die ungefähr so groß wie Australien ist. Es gibt etliche Portale zwischen den Dimensionen. Und wenn du den Schlüssel hast", er schaute dabei Sarah liebevoll an, „dann kannst du zwischen den Welten herumreisen." „Weißt du, Scobie, ich bin ein Porteur", erklärte ihm Sarah. „Manchmal ist das ein Fluch, aber meistens sehe ich es allein als Belohnung dafür an, daß man am Leben ist." „Es ist unbegreiflich und unglaublich", stellte Redfern nach einigem Nachdenken fest. „Aber ich muß es wohl glauben, weil ich noch vor wenigen Augenblicken in New York gewesen bin, und da hat es geschneit. Jetzt bin ich hier, schwebe über einem Wald und habe über mir den schönsten Sonnenschein. Ich finde, irgendwie ist das eine deutliche Verbesserung." „Aber leider ist unser kleiner Plan gegen die Contessa nicht ganz gelungen", meinte Macklin. „Nun müssen wir also durch ein anderes Portal zur Erde zurück und am besten wohl durch eines unserer normalen. Alec, du hast entschieden Glück gehabt." Alec schniefte. „Ich hab' Tom gut ausgestattet zurückgelassen, und da mußte eigentlich alles in Ordnung sein", erwiderte er. „Das hoffe ich wenigstens", bemerkte Sarah. „Contessa", sagte Redfern. .„Ihr habt den Namen schon einmal erwähnt. Wer..." Alle begannen auf einmal zu sprechen, und dann hörten sie auf, damit David Macklin mit einigem Nachdruck antworten konnte: „Die Contessa Perdita Francesca Cammachia di Montevarchi. Es wäre ein Fauxpas, sie ein.. ."• „... Luder zu nennen", vollendete Sarah giftig. „Aber sie ist jedenfalls eine äußerst gefährliche Frau. Sie beherrscht fast die ganze Dimension, die wir Irunium nennen, und auch noch viele andere Dimensionen, und zwischen ihr und uns gibt es wenig Zuneigung." Er schüttelte den Kopf. „Sei recht vorsichtig, Scobie, wenn du mit ihr zu tun bekommen solltest, wenn ich auch hoffe, daß du niemals in diese unangenehme Lage gebracht wirst." „Sie ist von einem überwältigenden Charme, hat unheimliche Kräfte und verfügt über ein ganzes Heer freiwilliger Agenten, unfreiwilliger Sklaven und williger Werkzeuge. Die Trugs hast du ja schon kennengelernt." Alec lenkte den Skimmer in eine lange, runde Kurve, um höheren Bäumen auszuweichen, die den Wald noch deutlich überragten. „Natürlich gibt es hier Honschi-Garden, diese zischenden Teufel, ihre persönliche Dienerschaft, und die armen Kreaturen, die sie in ihren Juwelenminen für sich schuften läßt. Scobie, halte Abstand zur Montevarchi." Normalerweise hätte Redfern über solche Erzählungen, amüsiert gelächelt, aber er sah ein, daß alles, was er hier erfuhr, für ihn lebenswichtig werden konnte, wenn er diese fremden Dimensionen überstehen wollte. Er glaubte jetzt jedes Wort, das man ihm sagte, denn er wäre ein blinder Narr gewesen, hätte er sich dagegen gestemmt. Jeder Name, jede Tatsache mußte sorgfältig in seiner Erinnerung katalogisiert werden. Macklin legte eine Karte der Stadt New York aus und studierte sie sorgfältig. Redfern sah die bekannten Stadtviertel, Avenuen und Straßen mit einer gewissen Sehnsucht. Über die ganze Karte verteilt bemerkte er eine Anzahl kleiner roter Kreuze. „Ich glaube, hier, Sarah", sagte er schließlich und schob die Karte zu dem Mädchen hinüber. Sein manikürter Fingernagel lag auf einem roten Kreuz im Gebiet der West Seventies. Sie nickte. „Und Moke kann den Skimmer wieder mit nach Hause nehmen." Moke tschilpte.
„Ja", sagte Alec und nickte. „Und viele herzliche Grüße an Mifif." „Sie wird froh sein, wenn sie dich wieder sicher zu Hause weiß", meinte Sarah ein bißchen sehnsüchtig. Macklin schaute von der Karte auf und lächelte. „Fezius geht es sicher ausgezeichnet, Sarah. Nichts kann diesem Energiebündel etwas anhaben." „Ich weiß. Oder ich glaube es zu wissen. Aber er ist jetzt schon so lange weg, und Offa meinte..." „Offa und Fezius sind zusammen nicht einmal von einem Regiment zu schlagen, und das weißt du recht gut. Jetzt konzentriere dich lieber darauf, das Portal auszuschnüffeln." . Redfern wurde sich allmählich darüber klar, daß ihn diese Leute mitten in einem großen Plan zufällig aufgepickt hatten. Sie gefielen ihm. Er mochte die Art, wie sie sich benahmen. In New York führte er eigentlich ein recht einsames Leben, da seine Eltern darauf bestanden, weiter in Cross Plains zu bleiben. Sein häufiger Stellenwechsel war die Ursache dafür, daß er kaum einen Freund besaß. Und jetzt stellte er verwundert fest, daß er hier vielleicht Leute gefunden hatte, mit denen er ohne eigensüchtige Motive Freundschaft schließen konnte. Sein kurzes Liebesleben umfaßte ein Mädchen, großzügig genommen zwei. Er war sich immer dessen bewußt, daß er sich niemals irgendwie etwas diktieren ließe. Sollte er je einmal heiraten, dann würde er es aus eigenem freien Willen tun. Plötzlich schoß Sarah in die Höhe. „Sie sind in der Nähe!" rief sie. Sofort wurden alle von einer furchtbaren Ahnung ergriffen. Redfern, der ja noch nicht wußte, was hier vorging oder was er zu erwarten hatte, fühlte sich sehr einsam. Alec ließ seine linke Hand auf den Kontrollen und nahm mit der rechten seine Automatic aus der Tasche. Auch Moke zog seine Pistole. Der Skimmer flog wieder in einem großen Bogen um eine sehr hohe Baumgruppe, und da tauchte nun ein anderer Skimmer aus dem Schatten auf. Er war größer als der ihre und hatte kein Glas-, sondern ein Metalldach und wirkte, wenigstens für Redfern, sehr bedrohlich. Alec tat einen Schrei und ließ den Skimmer in den Baumschatten eintauchen. Moke schoß und hielt seine Waffe mit beiden Händen. Aus einigen Öffnungen im Metallrumpf des verfolgenden Skimmers schossen hellrosa Lichtblitze. „Das sind die Höllenhunde der Montevarchi", rief Alec. Er vollführte einen irren Tanz mit dem Skimmer. „Da kannst du von Glück reden, daß es keine Porvone sind", rief Macklin, der sich mit beiden Händen an seinem Sitz festhielt und die Landkarte zwischen die Knie geklemmt hatte. „So schlimm, wie die sind, ist die Contessa denn doch noch nicht." Sie befanden sich schon in unmittelbarer Nähe der schützenden Bäume. Die dichtbelaubten Zweige schienen ihnen entgegenzuspringen. Aber dann barst ein rosafarbener Spiralblitz am Heck ihres Skimmers. Das Fahrzeug tat einen Satz. Dann machte es einen unfreiwilligen Salto und schmierte nach unten ab. Redfern sah gerade noch, wie ihm das Astwerk der Bäume entgegenraste. Er hob beide Hände in einer angstvollen Geste der Abwehr, doch die Bäume trafen ihn wie eine riesige Keule. Da wurde er ohnmächtig.
3.
Ein Fuß stieß ihn in die Rippen, und jetzt wußte er, daß dieses ganze Erlebnis nicht nur ein Traum gewesen war. Er stöhnte. Sein Kopf tat scheußlich weh, und als Redfern die Hand hob, fühlte er getrocknetes Blut. Der Fuß stieß erneut zu. Der Gepeinigte setzte sich auf und versuchte, die verklebten Augen zu öffnen. Er fühlte sich unbeschreiblich elend. „Aufstehen und in die Reihe stellen!" Die Stimme klang abgehackt, unangenehm und drohend. Endlich gelang es Scobie Redfern, die Augen zu öffnen, und er starrte begriffsstutzig die Füße an, die ihn gestoßen hatten. Sie standen auf einem Fliesenboden, und es schienen noch viele andere Leute dazusein, denn er hörte ein ständiges Summen. Aber er sah nicht viel. Der rechte Fuß hob sich erneut. Die Schuhe waren dunkelbraun mit cremefarbenen Verzierungen, und sie waren sehr häßlich und plump; mit einem Wort: billig. Redfern griff nach dem Fuß, als er wieder heranschwang, und hielt ihn fest. Der Körper eines Mannes fiel auf ihn. Er holte aus, und seine Fäuste versanken in einer weichen Masse. Er hörte einen ganz gemeinen neapolitanischen Fluch. Dann legte sich ihm ziemlich heftig und unvermittelt eine starre Latte an den Kopf, und jetzt wurde er wieder ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, lag er im Dunkeln auf einem faulig stinkenden Strohsack. Er stöhnte und versuchte sich zu bewegen, aber eine Männerhand an seiner Schulter hielt ihn fest. „Ruhig halten", mahnte eine Stimme, die englisch mit italienischem Akzent sprach. „Laß dir doch Zeit." Ein Wasserkännchen legte sich angenehm kühl an seine Lippen, und er trank gierig. Das Wasser schmeckte nach Eisen. Dann fiel er wieder in die Dunkelheit zurück. Noch zweimal wachte er auf, und da kam ihm vage zum Bewußtsein, daß er sich übergeben hatte. Dann war ihm leichter; es wurde auch heller, und ein verirrter Sonnenstrahl fiel durch ein vergittertes Fenster in seine Steinzelle; er sah Strohsäcke und vier Männer mit harten Gesichtern, die ihn anstarrten. Er wußte, was ihre Mienen ausdrückten. „Jetzt wird es dir wieder bessergehen. Wir haben dir deinen Kopf gewaschen." Er stöhnte. „Wasser...", krächzte er schließlich. Er trank wieder aus dem' Kännchen. Der Eisengeschmack war jetzt noch ausgeprägter als vorher. Dann wurde ihm bewußt, daß er nichts anhatte außer kurzen, grauen Hosen. Er schob das Kännchen weg, und ein paar Wassertropfen fielen auf seine' nackte Brust. „Was... ?" fragte er, und seine Zunge fühlte sich riesig an. „Wo...?" „Die Honschi haben dich hier hereingeworfen. Wir zogen dir deine Kleider aus, weil sie stanken. Ruhe nur aus. Das Frühstück wird bald kommen. Dann wirst du mit uns arbeiten." Der Mann, der sprach, hatte ein hageres, dunkles Gesicht und einen Wust schwarzer Haare auf dem Kopf. Er schien nervös zu sein. Ständig schaute er zur Tür, die mit starkem Eisen beschlagen war. Sie hatte ein winziges Gitter. Draußen vor der Tür hörte man, wie sich Menschen und Pferde bewegten, daß Maschinen liefen. Redfern erschien es geheimnisvoll und irgendwie schrecklich. Wo, zum Teufel, befand er sich nur? „Alec?" fragte er. „Macklin?" „Die Valcini haben dich in irgendeiner Dimension aufgelesen und hierhergebracht. Jetzt arbeitest du für die Contessa." Er ließ sich enttäuscht zurückfallen. Für die Contessa arbeiten! Seine neuen Freunde von den Dimensionen hatten ihn davor gewarnt. Er wußte mit unheimlicher Sicherheit und voll schrecklicher Angst, daß er sich in tödlicher Gefahr befand,
in einer Gefahr, der er für den Rest seines Lebens vielleicht nicht mehr entrinnen konnte. Er wußte, was geschehen war. „Nur ich?" krächzte er. „Sonst niemand?" „Niemand." Das Frühstück wurde von einem verängstigten, halbnackten Mädchen gebracht; die Ärmste hatte matte Augen und stumpfe Haare und sehr schmutzige Füße. Zum Frühstück bekamen sie Haferbrei und Brot. Zu seiner eigenen Überraschung aß Redfern hungrig. Jemand hatte sorgfältig seine Kopfwunden gewaschen, und nach einiger Zeit wurde der Schmerz erträglicher. Kurz nach dem Frühstück kamen die Honschi, um sie abzuholen. Redfern schüttelte sich vor Ekel und Entsetzen. Die Honschi waren nämlich keine Menschen. Sie waren etwa von menschlicher Mittelgröße, standen auf krummen Stampfern und hatten Gesichter wie Frösche. Die weitgesetzten Augen quollen ihnen aus dem Kopf, und ihre Wangen waren graugelb, keilförmig und gegen die Kiefer zu mit blauschwarzen Stoppeln besetzt. Sie trugen einen rötlichen Harnisch und einen hohen, konischen Helm, von dessen Spitze eine Schnur mit drei oder vier Haarbüscheln herunterhing. Ein komischer Helmschmuck, dachte Redfern. Er stolperte zusammen mit den anderen vorwärts und wurde immer wieder einmal von einer scharfen Speerspitze in den Rücken gestoßen. Andere Honschi trieben weitere Männer und Frauen heran. Sie wurden durch steinerne Korridore geführt, die ein leichtes Gefalle aufwiesen. Schließlich waren sie von dumpfer, feuchter Luft eingeschlossen. Bald erreichten sie eine quadratische, aus dem Felsen gehauene Kammer. Männer und Frauen zogen, und das erschien Redfern ganz natürlich, ihre Kleider aus. Ein Honschi stieß ihn ziemlich unfreundlich in die Rippen, und deshalb zog auch Redfern seine Hose aus. Niemand schien ihn zu bemerken oder auf ihn achtzugeben. Die Honschi lockerten ihre Harnische und überwachten sorgfältig die Männer und Frauen, an die nun von einem alten, weißhaarigen Mann Schaufeln und Pickel ausgegeben wurden. Redfern bekam einen Pickel. Ein Mädchen, ein winziges, schmales Ding mit frischen, dicken Striemen an seinen hellen Hüften und einer Mähne schwarzen Haares, sah Redfern an und schüttelte den Kopf. Ein Honschi zog sein blattförmiges Schwert halb aus der Scheide, weil Redfern den Pickel geschultert hatte. Er schluckte und nahm ihn herunter. Das war der Beginn einer Ära härtester Arbeit, in der er Muskeln entdeckte, die das kanadische Holzfällerlager übersehen hatte. An den Händen bekam er Blasen; sie platzten auf, neue Haut wuchs nach und wurde schwielig. Sein Rücken schmerzte, und sein Körper glänzte vor Schweiß. Der Kopf summte ihm wie ein Bienenstock. Am ersten Morgen hackte er eine unendlich lange Zeit an Wänden und Decken herum und lockerte Schauer von kleinen und größeren Steinen, in denen Kristalle schimmerten. Sie wurden sofort von den Schaufelkolonnen in Weidenkörbe geschaufelt, die von schwitzenden Mädchen auf dem Rücken weggetragen wurden. Ungefähr jede Stunde einmal wurde eine kleine Pause eingelegt. Dann ging immer ein Wassersack herum, und das nach Eisen schmeckende Wasser war köstlichster Nektar. Nach diesem ersten Tag schlief er wie ein Toter in seiner Zelle. Der zweite Tag ging vorüber, der dritte, dann eine Woche. Jetzt schwang er seinen Pickel schon geschickter. Einmal kam ein schmuck gekleideter Mann in braunem Hemd und brauner Hose und mit zweifarbigen Schuhen zu ihnen herunter, um zu sehen, wie sie vorwärtskamen. Obo, der Mann, der Redferns Kopf gewaschen hatte und noch ein bißchen mehr Rückgrat und Mut zu haben schien als die anderen, grunzte ein haßerfülltes Wort: „Valcini!" Die Fron ging weiter. Redfern verstand nun, daß sie Edelsteine förderten. Im felsigen Boden lag eine ganze Diamantader. Sie brauchten noch Jahre, ehe sie deren Oberfläche auch nur ankratzten.
Dann, eines Tages, sagte Obo nach der Schicht zu ihm: „Wir fliehen. Ein paar von uns. Wir brauchen kräftige Männer, die noch ein bißchen Mumm in den Knochen haben. Willst du bei uns mittun?" Redferns erste Reaktion war fassungsloses Staunen. Flucht? Dieser Gedanke hatte ihn unaufhörlich beschäftigt, aber Möglichkeiten hatte er keine gesehen. Er nickte. „Natürlich. Und ich bringe auch einen Honschi oder einen Valcini um, wenn es nötig ist." Obos dicke Lippen verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns. „Morgen also. Tony hat seinen Porteur gefunden. Es gibt noch ein paar andere: Galt, Carlo, Nyllee. Sie haben Lebensmittel und Waffen." „Waffen? Nun ja..." Das Wort von den Waffen erschütterte Redfern, der niemals genug Zeit für Waffen und Soldaten gehabt hatte, weil sie ihm zu offensiv waren. Selbst Alec und sein Colt hatten Redferns Einstellung nicht ändern können. Trotzdem war er kein schlechter Schütze, konnte auch mit einem Luftgewehr umgehen und... Die anderen in der Zelle kümmerten sich kaum um Obo und Redfern; die waren schon allzusehr entmutigt. Redfern hatte ja die Strafen beobachtet, die Schläge und Tritte und die Rücksichtslosigkeit, mit der Männer und Frauen zu Tode geschunden wurden. Ja, die Leute, die noch an eine Flucht denken konnten, mußten ganz besondere Menschen sein. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück gab Obo das Signal, als der Honschi kam, um sie abzuholen. Redfern sprang dem Ding auf den Rücken und legte seinen Arm fest um dessen Hals. Die harte Haut und das ganze Wesen widerten ihn an, denn es stank. Dann hatte Obo den Speer des Honschi gepackt und ihn dem Ding in den Bauch gestoßen, so daß der Kerl zusammenfiel. Die anderen in der Zelle begannen zu. schreien und angsterfüllt mit den Armen zu wedeln. Draußen führte Obo Redfern durch die sich allmählich sammelnden Sklaven. Sie behielten ihre Kleider an und liefen schnell in die entgegengesetzte Richtung, in der Redfern noch nie gewesen war. Neben einer Torbogentür hielt ein Honschi Wache und versperrte ihnen den Weg. Obo wehrte ihn mit dem Speer ab. „Sonderauftrag", behauptete er und stieß dem Honschi den Speer in den Leib, als dieser sie nicht passieren lassen wollte. Dann rannten sie den Korridor entlang. Die aus dem Felsen geschlagenen Wände gingen langsam in harte Erde über. Die Korridore verzweigten sich. Der muffige Geruch wurde noch stärker. Vier oder fünf andere Leute in grauen Jacken stießen zu ihnen. Einer gab Obo einen Packen, den er sofort auf den Rücken nahm. „Galt sagte, einer seiner Männer konnte es nicht schaffen. Gestern hat man ihn umgebracht. Du nimmst seinen Platz ein." Damit reichte man auch Redfern einen Packen, den er sich auf den Rücken lud. In einem quadratischen Raum, den sie nun erreichten, mündeten sechs Tunnel. Ungefähr zwanzig Leute mit Bündeln, Speeren, Schwertern und Flinten hatten sich hier versammelt. Von diesen Leuten kannte Redfern niemand, und er kam sich fast wie-ein Eindringling vor. Aber er wollte unter allen Umständen heraus aus diesem teuflischen Minenloch auf Irunium, und daher war es selbstverständlich, daß er die ihm gebotene Chance nutzte. „Wo ist Tony?" fragte ein Mann mit brüchiger Stimme. „Die Honschi werden bald hinter uns her sein." „Ich sterbe lieber, ehe ich wieder zurückgehe", rief eine alte Frau, deren Anwesenheit Redfern staunen machte; aber ein Mann legte einen Arm um sie und drückte sie tröstend an sich. Das war also der Grund, weshalb man ihn zum Mitkommen eingeladen hatte - er war jung, stark und ungebunden. An einem Tunneleingang gab es ein. Getümmel. Vier junge Leute waren hereingestürmt, und der führende junge Mann schwang eine Pistole. Sein mageres, langnasiges Gesicht mit einem
schmallippigen Mund zeigte einige Erregung. Nase und Wangen waren mit Sommersprossen
übersät, und sein sandfarbenes Haar ließ ihn wie einen kleinen, frechen Jungen aussehen.
Das Mädchen neben ihm schien nicht weniger erregt zu sein. Ihr braunes Haar schimmerte im
Licht, und ihr nettes, freundliches Gesicht mit der Stupsnase drückte unerschütterliche
Entschlossenheit aus. Sie sah sich eifrig um. Hinter dem Ohr hatte sie eine scharlachfarbene
Blume.
„Das sind Tony und der Porteur namens Val", sagte Obo. Einer von den beiden anderen
Männern war ein fetter Valcini; der andere trug eine graue Hose zu einem grauen Hemd.
„Aber die zwei..."
Tony mit der Pistole wirbelte zu ihnen herum. „Val glaubt, genau hier ist es!" rief er. Die
anderen schwiegen alle. Sie wußten, daß in diesem Raum ihr Schicksal lag. „Mit diesen zwei
Valcini müssen wir fertig werden."
„Moment mal", widersprach der eine heftig. „Ich bin ja gar kein Valcini, sondern nur ein
Ingenieur..."
Dann hörte der Mann plötzlich zu reden auf, und Redfern sah nichts mehr, weil etliche Leute,
vor ihm standen. Das Mädchen Val, das einer als Porteur bezeichnet hatte, schrie
triumphierend. Sie deutete auf einen anscheinend verlassenen, halb verfallenen Minenschacht.
Ein Seil hing in die Dunkelheit hinunter.
„Dorthinunter", sagte Obo zu Redfern. „Unser Weg in eine andere Welt Unsere Flucht aus
diesem ganzen Elend!"
Einer nach dem anderen, Männer und Frauen, schulterten ihre Bündel und glitten am Seil
nach unten. Das Mädchen saß am Rand des Schachtes und schaute nachdenklich nach unten.
„Jetzt kommen wir endlich weg von diesem verfluchten Ort", flüsterte Tony. „Die Valcini, die
Honschi und all das Gesindel! Jetzt kommen wir durch das Portal in eine neue, frische,
saubere Welt, von der aus wir zu unserem eigenen Volk zurückfinden und ein neues Leben
beginnen können!"
Obo schob Redfern zum Schacht. Tony redete erregt mit den beiden Valcini und schwenkte
dazu seine Waffe.
Redfern hörte etwas von Toren durch die Dimensionen, von einer neuen Welt, die besser sei
als diese hier, und griff nach dem rauhen Seil. Und dann hörte er Tony rufen: „Wir wollen
nicht, daß ihr Gelichter unsere neue Welt verderbt!"
Er fiel den Schacht hinunter...
Die Lichter über ihm wirbelten davon. Es tat weh, als er mit der Schulter an die Wand schlug.
Dann prallte er auf dem Boden auf.
Vorerst begriff er gar nichts mehr. Dann fiel er wieder, diesmal in eine weiße Masse.
Höllische Kälte biß sich in sein Fleisch. Er taumelte und rollte einen Schneehang hinunter,
und Wolken von Schnee stoben um ihn herum auf. Die Kälte war es, die ihn so erschütterte.
Jemand packte seinen Arm und zog ihn in die Höhe. Männer und Frauen schrieen, kreischten
und liefen verzweifelt herum. Ein bleifarbener Himmel hing niedrig über ihnen. Schnee
wirbelte in dicken Flocken. Die Kälte war so grausam und beißend, daß er spürte, wie sich
sein Körper zusammenzog.
Aus dem Nichts heraus erschien plötzlich ein Körper.
Tony fiel wie ein Frosch in diese neue Welt und prallte mit denen zusammen, die sich eben
nach oben mühten. Die ganze Horde kugelte wie eine Menschenlawine wieder nach unten.
„Hier frieren wir uns zu Tode! Es gibt keinen Unterschlupf!"
Redfern sah sich um. Klar, er war wieder in New York. Etwas anderes war ja gar nicht
möglich. Doch die Kälte war noch viel grausamer als an jenem letzten Abend in Manhattan;
aber er war ganz bestimmt zu Hause. Es konnte nicht anders sein.
Und doch - um ihn herum war blankes Nichts. Keine Lichter, kein Verkehr, keine Häuser und
Wolkenkratzer, kein New York, nur eine wüste Leere und ein heulender Schneesturm;
tausend Dämonen mußten ihm pausenlos eisige Messer ins Gesicht werfen. So war ihm
zumute.
Die Leute versuchten, den Hügel hinaufzuklettern, doch sie rutschten und fielen immer
wieder zurück. Verzweifelt starrten sie in das Schneetreiben.
„Was ist denn passiert?"
Vals Gesicht schrumpfte zusammen. „Wir können nicht zurück!" schrie sie. „Hunderte von
Honschi-Garden und Valcini sind hereingedrängt, als ich sprang! Wir müssen hierbleiben!"
„Wir können aber nicht, wir erfrieren ja alle!"
„Ob wir hier erfrieren oder dort zu Tode gequält werden, ist doch einerlei! Was sollen wir
tun?"
4.
Scobie Redferns Zähne klapperten vor Kälte. Seine Haut fühlte sich taub an, und sein Atem war wie die Dampfsäule einer uralten Lokomotive, die mit Volldampf eine Steigung nahm. Die Leute um ihn herum öffneten mit starren Fingern ihre Bündel, holten Mäntel, Decken, Schals und alles heraus, was wärmen konnte, um sich damit vor der beißenden Kälte und dem wirbelnden Schnee zu schützen. Etwas - oder alles - war verhängnisvoll schiefgegangen. „Wir müssen zurück!" Tony war ein Bündel elendester Verzweiflung. Val hängte sich an ihn und keuchte, und ihr Gesicht war weiß und vor Angst verzerrt. „Wir können doch nicht! Die Honschi und Valcini schlagen uns alle kurz und klein!" Ein großer, breiter Mann mit einem kurzen, kohlschwarzen Bart drängte sich durch die Menge. „Gibt es noch ein anderes Tor, Val? Um Arlans willen, beeile dich doch, Mädchen!" Er sprach englisch, wenn auch mit schwerem Akzent. Sie schüttelte verzweifelt den. Kopf. „Es kann vielleicht eines geben, Galt! Meistens existieren mehrere nebeneinander, aber diese Kälte! Sie ist unerträglich. Ich kann nichts mehr fühlen, nicht mehr denken..." Tony ergriff ihren einen Arm, der Bärtige den anderen. Sie schüttelten sie und flehten sie an, und aus ihren Mündern und Nasen strömte wolkiger Atem, und die grausame Kälte schnitt wie mit Messern in ihre Leiber. „Ich will es ja versuchen!" rief sie. „Ich muß nur fühlen!" Sie hörten auf, sie zu schütteln. Andere Leute stellten sich neben sie. Sie froren entsetzlich und hatten ebenso entsetzliche Angst. Ihre Augenbrauen waren weiß verschneit, und ihre Lider hatten Mühe, immer wieder die weißen Kristalle wegzublinzeln. Eine Frau kreischte und deutete. Redfern sah in einem weißen Wirbel einen Honschi aus dem Nichts auftauchen; dann noch einen und ein paar weitere. Ihre flachen Gesichter und die hohen Helme mit den schwingenden Haarbüscheln waren schon dick beschneit, und die Froschaugen drückten die Angst vor so viel Kälte mehr als deutlich aus. Galt schnarrte etwas Kehliges und hob seine Flinte. Seine Decke glitt ihm von den Schultern. Er schoß, und die Honschi stoben auseinander. Eine Gruppe Valcini kam durch. Ihre braunen Hosen und Hemden boten vor der bestialischen Kälte ebensowenig Schutz wie die grauen Hosen und Hemden der anderen. Schüsse knallten, und da und dort färbte sich der Schnee rot. Redfern fühlte sich nackt, und seine Angst nahm eine neue Wendung. Er war erregt, und diese Erregung glich fast einer schwebenden Trunkenheit. Er sah die Honschi, die sie einzukreisen versuchten, und die Valcini schössen von oben nach unten. Er sah und hörte neben sich ein Mädchen zusammenbrechen, und das aus ihrer Kehle kommende Gurgeln erstickte im
Schnee. Er hörte die Flintenschüsse und sah, wie Tony nach oben auf die Valcini schoß. Er
sah Männer und Frauen in den Schnee stürzen.
Ein Mann schrie und beugte sich über das zusammengefallene Mädchen, aber dann lag er
selbst über der leblosen Gestalt, und seine Flinte fiel ihm aus der kältestarren Hand.
Ohne zu denken, nahm Redfern die Flinte des Mannes. Das mußte eine Springfield sein,
Kaliber .30, wie sie von der amerikanischen Armee im Ersten Weltkrieg verwendet wurde. Er
schulterte sie, .und die Kälte des metallenen Laufes biß wie Feuer in seine Finger. Obo
schwang seinen Speer, aber dann fiel er mit dem Gesicht voran in den Schnee.
„Obo!" brüllte Redfern und drückte den Abzug seiner Flinte.
Ein Honschi taumelte, als habe ihn jemand in den Magen getreten. Dann fiel er lautlos in die
Schneemassen.
Er drückte wieder ab, dann noch einmal. Obo rührte sich nicht. Auch er war tot. An seinem
Gürtel hatte er eine gutbestückte Patronentasche. Redfern staunte über sich selbst, weil er mit
unglaublicher Geschwindigkeit seine Flinte nachlud und wieder nach oben schoß. Aber da
verschwand der Valcini, den er sich aufs Korn genommen hatte.
„Sie gehen durch das Tor zurück!" heulte Galt. „Wir haben sie abgeschlagen!" Triumphierend
winkte er mit seiner Flinte.
„Und uns lassen sie zurück, damit wir hier erfrieren", schimpfte Redfern erbittert. Darüber
staunte er selbst am meisten.
„Die kommen mit Verstärkung wieder", erwiderte Galt.
Val drängte sich durch, und ihr Gesicht war wieder heller. „Da ist ein Nodalpunkt, Galt! Ich
spüre ihn. Dort draußen, über dem Eis!"
Tony drückte die rechte Hand auf den linken Arm, und Blut quoll zwischen seinen Fingern
durch. Sein mageres Gesicht sah ganz zusammengeschrumpft aus.
„Wir können nicht mehr lange aushalten", murmelte er.
„Val, führe uns an! Schnell! Suche dieses Portal, bevor wir alle erfrieren!"
Val führte sie über das Eis, und sie rutschten und schlitterten darüber, wo der Wind den
Schnee weggefegt hatte. Das Eis war knochenhart und tückisch. Nur elf Personen gelang es,
die Fläche zu überqueren. Die anderen waren in dem kurzen, mörderischen Gefecht
umgekommen.
„Ich habe nicht gelernt, Porteur zu sein und der Contessa zu entkommen, um dann auf diese
Art zu sterben", sagte Val entschieden.
Ohne irgendwelche Gewissensbisse zu haben, nahm Redfern die Decke von den Schultern des
Toten, der über dem Mädchen lag, nahm dessen Patronengürtel ab, schnallte ihn sich selbst
um und lief nun den anderen nach.
Nein, das war nicht New York. Trotzdem wußte er, daß er auf Gedeih und Verderb bei diesen
Leuten bleiben mußte. Irunium war keine Welt für ihn.
Diese Leute hier kamen aus Montrado, und nach dem wenigen, was er bisher über diese
Dimension gehört hatte, mußte es eine Welt sein, auf der sich leben ließe, bis er zur Erde, zur
richtigen Erde, zu seiner Dimension, zurückkehren konnte.
Jeder Atemzug wurde zu einer wahnsinnigen Anstrengung. Redfern rutschte auf dem Eis,
erreichte aber trotzdem die anderen und legte einen Arm um Tony, der sich erstaunt und
dankbar ein wenig zurücksinken ließ. Miteinander kämpften sie sich vorwärts.
Der Wind pfiff und heulte und fegte ihnen die nadelscharfen Schneekristalle ins Gesicht. Val
stapfte unbeirrt weiter. Mehr als einmal mußte. Redfern stehenbleiben, um ein stolperndes
Mädchen, einen taumelnden Mann zu stützen. Eng zu einer Gruppe zusammengeschlossen,
stemmten sie sich mit eingezogenen Köpfen gegen die heulende, unerbittliche Kälte.
Dann prallte er auf Galt. Die Gesichter der Leute waren weiß gefroren, und ihre Augen
glänzten fiebrig. Verzweifelte Hoffnung war in ihnen, als sich Val langsam und prüfend
umdrehte. Ihr Gesicht drückte eine unendliche Entschlossenheit aus, die aber von Angst
untermalt war.
Nun blieb sie stehen. Ihr Körper versteifte sich. Dann sprach sie wie in Trance: „Es ist da.
Aber es ist klein, sehr klein und schwierig. Und ich bin so müde..."
„Du mußt, Val, du mußt!" flehte Galt sie an.
Er schob eine Frau vorwärts. Ihr schmaler Körper zitterte vor Kälte und Angst. „Wohin geht
es?" fragte sie.
„Ich kann es nicht sagen. Wie soll ich es wissen?" Vals Augen wurden größer, ihre Lippen
öffneten sich. „Es könnte sein... Nein, ich weiß nicht..."
„Na schön!" Galt tröstete die Frau und legte ihr den Arm um die Schultern. „Ich gehe zuerst.
Bringe mich durch und gib mir ein paar Sekunden Zeit. Dann holst du mich wieder zurück.
Aber schnell jetzt, sonst sind wir alle verloren."
Galt verschwand.
Val keuchte. Ihr Körper zitterte vor Spannung, und dann war Galt wieder da. Jetzt hielt er
seine Flinte quer vor den Körper und deutete damit.
„Scheint in Ordnung zu sein." Ihn schauderte, als sich die Kälte wieder in seinen Leib biß.
„Felsen, Sonne und Sand. Kein Schnee..."
„Schick uns durch!" rief Tony, der sich in der Beuge von Redferns Arm zusammenduckte.
Galt verschwand wieder. Tony verschwand. Die magere Frau verschwand. Ein Flüchtling
nach dem anderen wurde von einer Dimension in eine andere geschickt. Als Redfern
durchkam, fühlte er nur ein ganz winziges, unbedeutendes Zucken.
Dann stand er in einer Felsmulde. Die Sonne brannte herunter. Es war wundervoll, wenn man
spürte, wie die Kälte allmählich aus den erstarrten Körpern wich, wie die heiße Sonne nicht
nur den Leib, sondern auch das Herz wärmte.
Val kam ganz zuletzt durch. Der Schnee auf ihren Decken, auf Jacken, Schals und Mützen
schmolz und lief in Bächen auf den sonnenwarmen Fels und verschwand, versickerte im
heißen Sand.
Redfern leckte sich die Lippen. „Wasser", sagte er. „Vielleicht..."
Galt nickte. „Ein paar von uns bleiben hier. Du auch, Val. Wir übrigen schauen uns um."
Mit Galt und vier anderen, zwei Männern und zwei Mädchen, ging Redfern weiter. Sie
kletterten über einen schmalen, staubigen Steg durch die Felsen der Mulde, bis sie auf einem
riesigen, flachen Block landeten, der wahrscheinlich einmal bei einem Vulkanausbruch in
vorgeschichtlichen Zeiten hierhergeschleudert worden war.
„Wenn das alles Wüste ist...", bemerkte Galt, sprach dann aber nicht weiter. Am Horizont
zeichnete sich klar in der trockenen Luft eine Bergkette ab, zu deren Füßen smaragdgrün und
verheißungsvoll ein Wald und Grasland lag, das ihnen einladend entgegenlachte.
Ein Triumphschrei riß die anderen in die Höhe.
Ein rothaariges Mädchen schaute, erstarrte und erschlaffte dann wieder.
„Jetzt hätte ich fast schon geglaubt, ich sei auf meiner eigenen Welt Narlingha. Ach, wäre ich
nur zu Hause!"
„Wir kommen alle wieder in unsere eigenen Dimensionen zurück, Nyllee", sagte Galt tröstend
und doch fast tadelnd.
„O ja, ja!" riefen alle.
Redfern sah Val an; sie lächelte ein wenig unsicher, aber zwischen ihnen gingen klare
Gedanken hin und her. Beide wußten, daß es nicht einfach sein konnte, und ein paar von
diesen Leuten hier würden ihre Heimat vermutlich niemals wiedersehen.
Die kleine Gruppe nahm den Marsch in Richtung Berge und Grüngürtel auf. Galt, der starke,
unbeugsame Mann, führte, und sein schwarzer Bart stach herausfordernd in die Luft. Die
Mittagszeit des Planeten mußte eben vorüber sein, denn als Redfern den Sonnenstand prüfte,
stellte er fest, daß die Sonne den Zenit überschritten hatte. Er hatte keine Ahnung, was ihn in
einer anderen Dimension erwarten konnte, aber es schien ganz logisch zu sein, daß
Schwerkraft, Atmosphäre und Zeit miteinander parallel liefen. Er hoffte wenigstens, es möge so sein. Val lächelte ihn an. Ihr rundes, hübsches Gesicht war wieder fröhlich, und ihre braunen Augen schimmerten warm und tröstlich. Sie ging mit schwingenden Schritten neben Redfern her. „Du bist von der Erde, die auch Terra genannt wird?" fragte sie. Er nickte. „Und du von Montrado?" Nun strahlten ihre Augen. „Es ist eine wundervolle Welt! Sie ist voll Sonne, Licht und reiner Luft. Dort, wo ich lebe, ist der Strand zehn Meilen lang und der schönste, goldenste, sauberste Sand, den du dir vorstellen kannst. Oh, wie ich mich nach Montrado sehne!" „Wie kamst du dann hierher? Ich meine natürlich, nach Irunium." Sie zog eine angewiderte Grimasse. „Eine Feriengruppe im Sand... Ein kleines, freundlich aussehendes Schiff segelte heran, kam uns entgegen. Wir wehrten uns, aber wir wurden eingefangen. Wir verstanden überhaupt nicht, was geschah. Dann, als wir draußen auf See waren... Wir, das Schiff, die See..." „Sie teleportierten uns in eine andere Dimension", erklärte Tony giftig. „Wir waren auf einer anderen See, an einem anderen Strand, und wir hatten große Angst." „Nach einiger Zeit wurden wir durch ein weiteres Tor teleportiert und in eine fremde Stadt gebracht", berichtete Val weiter. „Wir sahen seltsame Dinge. Dann kamen wir nach Irunium." Redfern sah sofort, wo die Probleme lagen. „Dann seid ihr also nicht direkt von Montrado nach Irunium gekommen? Dafür muß es doch einen ganz bestimmten Grund geben." „Ja", antwortete Val. „Ich weiß es, denn ich habe Sprachen studiert und wollte, wie ihr es wahrscheinlich nennt, Philologin werden." Sie hatte eine perfekte englische Aussprache, und doch klangen die Worte eine Spur fremd. „Ich war erst schrecklich enttäuscht, als man mir sagte, auch ich hätte diese entsetzliche Kraft, Menschen durch die Dimensionen zu schicken. Sie war latent in mir vorhanden, wie sie auch in vielen anderen Menschen latent ist und ihr Leben lang bleibt, weil sie nichts davon wissen. Die Contessa und ihre Wissenschaftler schulten diese Kraft bei mir. Ich lernte, daß nicht alle Dimensionen miteinander unmittelbar verbunden sind. Manchmal muß man durch zwei oder drei verschiedene Dimensionen gehen, ehe man die erreicht, die man anstrebt." „Das ist ja wie ein Irrgarten." Sie nickte ein wenig unglücklich. „Ich habe die Philosophie Arlans studiert erklärte Tony. „Galt war unser Professor - ein großer Mann! Die Philosophie Arlans führt dazu, daß man sich eine vollkommene Zufriedenheit und mondäne Orientierung erwirbt, so daß kein äußerer Einfluß die innere Persönlichkeit beeinträchtigen kann." Er lachte bitter. „Arlan scheint jetzt sehr weit weg zu sein." „Und die anderen?" wollte Redfern wissen. „Einige sind Studienkameraden, andere lernten wir in den Minen, Werkstätten oder Sklavensammelstellen kennen, die von der Contessa betrieben werden. Aus deiner Welt kamen auch ein paar, Scobie, aber keiner von ihnen hat überlebt und ist bei uns." „Wir hatten geplant, in eine andere Dimension durchzubrechen", erklärte Tony weiter. „Dann wollten wir andere nachholen, um unseren Weg nach Montrado zu finden. Val lernte immer mehr und wurde als Porteur immer geschickter... Als wir glaubten, sie wisse nun genug, beschlossen wir, den Durchbruch zu wagen. Wir versammelten uns in den aufgelassenen Minen und warteten. Als Val aus dem Trainingslager entwischte..." „Wie? Trainingslager?" fragte Redfern verblüfft. Val schüttelte sich. „Oh, die Contessa ist sehr gründlich und erstklassig organisiert! Sie sammelt die Leute mit latenten Porteurkräften aus allen Dimensionen und schult sie in eigenen Lagern, damit sie für sie arbeiten." Ein anderer, sehr bestürzender Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Alle wollten in ihre eigene Dimension zurückkehren, aber alle trotteten hinter Galt her, den Bergen entgegen. Und
doch war Val die wichtigste Person. Sie allein hatte die Kraft, sie in die Heimatdimension zu
übertragen. Sie war der Schlüssel zu den Dimensionen. Für ihn war Val der Schlüssel zur
Erde und für Tony und Galt der für Montrado.
Wenn ihr etwas passierte, waren sie alle verdammt...
Da beschloß Scobie Redfern, sehr genau, sehr väterlich und sehr kameradschaftlich über Val
zu wachen.
Ein Lichtblitz zuckte aus den Bäumen und verschwand wieder. Sie wunderten sich darüber;
zweimal wiederholte sich dieser Blitz, und es war, als scheine die Sonne auf eine polierte
Oberfläche.
Zwei Männer und ein Mädchen blieben stehen. Sie waren kleiner und dicker als die übrigen
und hatten auch viel stämmigere Beine; sie mußten aus einer der anderen unbekannten
Dimensionen stammen; ihre Haare waren schwarz und glatt und mit Stroh zu Zöpfen
geflochten. Keiner von ihnen hatte eine Flinte, und nur einer trug einen mit Widerhaken
versehenen Speer. Ein dünner Dolch glitzerte im Gürtel des Mädchens. Ihre Sprache klang
guttural und ziemlich plump. Ihr Anführer hieß Thusro.
„Dort drüben sind schlechte Kräfte", sagte Thusro in englischer Sprache mit schwerem
Akzent. „Wir wollen dort nicht hingehen."
„Wir müssen aber zusammenbleiben", entschied Galt.
„Dann kommt doch mit uns", schlug das Mädchen vor, das ohne jeden Zweifel große Angst
hatte.
Ein Gefühl allgemeinen Unbehagens breitete sich aus. Tony stützte sich auf Redfern. „Ich
kann nicht mehr weit laufen", stellte er fest.
„Wir müssen den kürzesten Weg wählen. Dort in den Wäldern gibt es Wasser, Obdach und
Nahrung für uns."
„Nein!" rief Thusro und schwang seinen Speer. „Vor uns liegen Gefahr und Tod."
Eine magere, weißhaarige Frau mit großen, grauen, schmerzerfüllten Augen schwankte. „Ich
kann nicht mehr lange", stöhnte sie. „Ich brauche ein wenig Rast..."
Ein starker, rothaariger junger Mann mit einem breiten Schwert an der Seite und einer
Springfield über der Schulter musterte besorgt die weißhaarige Frau. „Vielleicht sollten wir
wirklich eine Pause einlegen und darüber reden, was..."
„Carlo, wenn wir uns trennen, wie sollen wir dann durch die Dimensionen kommen? Val muß
bei uns bleiben", erklärte Galt entschieden.
Thusro und seine beiden untersetzten Gefährten sahen mißmutig drein. „Val kann mit uns
kommen. Da ist sie sicher."
„Val muß bei uns bleiben!" rief Galts Frau. „Sie kommt aus Montrado wie wir."
„Mina, laß mich reden", sagte Galt.
Die Gruppe bildete einen Kreis.
„Hört mir zu!" rief Galt. „Thusro, wenn du uns keine stichhaltigen Gründe nennen kannst,
warum wir nicht den kürzesten Weg gehen sollen, müssen wir ihn einschlagen. Nun rede!"
Thusro schüttelte den großen Kopf. „Gründe kann ich nicht geben. Ich weiß nur, daß Gefahr
vor uns liegt. Wir spüren sie. Wir verstehen etwas davon. Wir lassen uns nicht von
Wissenschaften blenden."
Nun berieten die drei von Thothtoreth unter sich weiter. Jeder konnte sehen, daß sie Angst
hatten. Dann meldete sich das Mädchen Pathtee zu Wort: „Wir können nicht weitergehen. Wir
bleiben lieber hier und bauen uns hier ein Heim auf. Wenn Val nicht bei uns bleiben will und
es vorzieht, entkörperlicht zu werden..."
„Wieso entkörperlicht?" Carlo, der Rothaarige, wurde blaß.
Pathtee nickte heftig. „Gefahr ist vor uns. Merkwürdige Kräfte können die Seele vom Körper
reißen..."
Galt lachte schallend. „Unsinn! Wir bleiben zusammen, ruhen ein wenig aus und suchen nach
einem anderen Portal, durch das uns Val nach Hause schicken kann." Er winkte zum
Aufbruch. Aber die drei aus Thothtoreth blieben widerspenstig stehen. Der Speer mit den Widerhaken wurde drohend geschwungen. Unwillkürlich griff Redfern nach seiner Springfield und. entzog Tony den stützenden Arm. Die Haltung der drei gefiel ihm nicht., „Ich kann meine Freunde von Montrado nicht im Stich lassen", erklärte Val entschieden. „Ich bleibe bei ihnen. Ihr seid gern bei uns gesehen, aber wenn ihr allein weitergehen wollt, kann ich euch nicht aufhalten." „Ich bleibe bei dir, Val", erklärte Redfern. Der rothaarige Carlo schluckte und sah die weißhaarige, magere Frau mit den tragischen Augen an. „Ich weiß nicht recht..." Sie legte eine Hand auf seinen Arm. „Carlo, auf mich darfst du keine Rücksicht nehmen. Ich muß den kürzesten Weg gehen. Du schuldest mir nichts." Die drei von Thothtoreth machten sich auf den Weg, dem Wald entgegen, aber in einem anderen Winkel als bisher. Nyllee, das rothaarige Mädchen, das über dem Rücken eine Springfield trug, rief: „Ich bleibe bei Val! Mutter Haapan, laß Carlo laufen!" Carlo lief den anderen nach. Mutter Haapan sah resigniert drein. Nyllee legte einen Arm um sie. Galt schien beleidigt zu sein. „Na schön", stellte er fest. „Ist ja ihre Beerdigung. Und wir gehen weiter." Sie marschierten also wieder, und Redfern überlegte sich, wessen Beerdigung es letzten Endes wohl sein würde. Dieser Thusro und seine beiden Freunde schienen absolut von ihrer Ansicht überzeugt zu sein. Nichts hätte sie diesem geheimnisvollen Blitzen im Wald entgegenführen können. Sie waren jetzt noch drei Männer und vier Frauen, die einem vielversprechenden Hafen entgegeneilten. Sie waren müde, und ihre Füße schmerzten. Sie näherten sich den Bergen, deren Ausläufer in den dämmrigen Wäldern verschwanden. Und nun war Redfern überzeugt, wie recht die Leute von Thothtoreth gehabt hatten und wie unheilvoll sich diese fußkranken Wanderer ihrer eigenen Vernichtung näherten.
5.
Es gibt zwei Sorten von Menschen: die, welche Gin trinken, und jene, die Whisky bevorzugen. Jene, die nichts von beidem tranken, entschied Scobie Redfern nüchtern, paßten am besten in diese Gleichung. Gintrinker neigen dazu, düster, unglücklich und schrecklich von den Tatsachen des Lebens belastet zu sein, aber sie treten kaum einmal in ganzen Stämmen oder Herden auf. Whiskytrinker haben eine immer offene Hand, sind heiter, machen sich das Leben leicht und passen im großen und ganzen recht gut in die Welt - oder in irgendeine Welt. Deshalb wünschte sich Scobie Redfern jetzt einen schönen, großen, kalten Scotch. Die Kristallfacetten fingen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ein und glühten in einem satten Rot, das ihn an Blut erinnerte. Wie von Poltergeistern geschleuderte Christbaumlaternchen schwangen und flitzten sie durch die Bäume. Sie strahlten eine Haßaura aus. Daran war kein Zweifel möglich. Galt stand da und ließ seinen Kopf hängen. Val hatte eine Hand auf den Mund gelegt, war blaß und brachte kein Wort heraus- Tony stöhnte und versuchte sich zu bewegen, doch es ging nicht. Die anderen sahen voll entsetzter Ablehnung zu. Es war eindeutig: Die wiegenden, tanzenden und flitzenden Kristalle waren vollgepackt mit Animosität. Jedes Kristallwesen war von ungeheurer Größe und hatte Facetten von gut einem halben Meter Breite. Sie strahlten Unheil und Verderben aus. „Rennt!" schrie Galt, der sich zuerst wieder fing.
Doch sie wußten alle, daß es sinnlos war. Nyllee nahm ihre Flinte vom Rücken und riß den Sicherungshebel zurück. Sie legte an; doch ehe sie den Abzug drücken konnte, schoß ein Flammenblitz aus dem nächsten Kristall und schlug ihr die Flinte aus der Hand. Der Haß wurde drückender. Er hallte in ihren Gehirnen, wirbelte sie herum, knetete ihre Gedanken mit stählernen Fingern und machte sie taub für ihre eigenen Überlegungen. Mutter Haapan und Mina fielen schreiend zu Boden. Nyllee starrte ihre Flinte an, dann ihre Arme, die leblos an den Seiten herabhingen und fauliges, grünliches Licht ausstrahlten. „Wer sind sie?" wisperte Val. Galts Zunge schien weggeschmolzen zu sein. Zwischen winzigen Blumen und dünnen Gräsern kauerte er auf dem Boden und hatte den Kopf demütig gesenkt. „Wenn es Arlans Wille ist...", murmelte er, konnte jedoch nicht weitersprechen. „Arlan!" schrie Tony und riß sich von Redfern los. „Arlan würde niemals einen solchen Haß dulden!" Dann verschwamm alles vor Redfern. Sein Geist weigerte sich, die teuflischen Eindrücke uns Suggestionen zu akzeptieren, die sein Gehirn bombardierten. Ehe sein Geist blank wurde, sah er eine stolz aufgerichtete Val dastehen, und sie schrie den großen Kristallen etwas zu, die blutfarben glühten, dann sank sie ihnen zwischen den Bäumen entgegen. Er fühlte sich wohl, leicht und behaglich, als er aufwachte. Er fühlte keine Spur des leidenschaftlichen Hasses von vorher mehr. Er lag entspannt und lässig da, als sei er eben aus einem erquickenden Schlaf erwacht. Dann machte er die Augen auf. Er lag unter einem elfenbeinfarbenen Dach auf einem Strohsack. Zwei Wände hatten hohe Fenster, durch die ein blauer, wolkenloser Himmel schien, und er sah viele schöne grüne Bäume. Die anderen beiden Wände wiesen eine angenehme grüne Farbe auf und waren mit Landschaften und Seestücken geschmückt. Im Raum waren sieben Strohsäcke, auf jedem Strohsack lag ein Mitglied seiner Gruppe. Alle waren splitternackt. Von Luftschächten, die hoch in den grünen Wänden hingen, strömte angenehme Warmluft herein. Die Fenster waren geschlossen. Tony setzte sich auf, streckte sich und gähnte. „He!" rief er erstaunt. „Mein Arm! Er ist ja geheilt!" Nyllee lachte ihn an und schwang ihre stämmigen Beine über den Rand des Strohsacks. Galt hielt Mina im Arm und redete ruhig mit ihr. Mutter Haapan schlief noch; sie war wirklich nur ein Bündel aus Haut und Knochen. Val wandte sich schlank und zauberhaft Redfern zu. Er sah sie an, und ihm wurde warm ums Herz. Am liebsten hätte er sie in die Arme gerissen und fest an sich gedrückt. Ihre haselbraunen Augen waren nicht mehr überschattet; jetzt schienen tausend boshafte Teufelchen in ihnen zu hüpfen. Redfern glaubte, daß sie wußte, was er jetzt dachte. „Sollten wir nicht ein paar Kleider haben?" meinte Mina, ohne sich jedoch sichtliche Sorgen wegen der allgemeinen Nacktheit zu machen. „Warum denn?" fragte Val. „Ich fühle mich wundervoll, leicht wie eine Feder im Wind. Ich könnte tanzen..." „Hier liegt ein Gefühl von Rechtlichkeit und Güte in der Luft", bemerkte Galt. „Ich sah eigentlich immer auf Zucht und Sitte, aber es ist mir tatsächlich ein unbeschreibliches Vergnügen, und Mina möge es mir verzeihen, daß Val, Mina und Nyllee so nackt sind, wie sie sind." „Da gebe ich dir recht!" rief Tony und schnappte nach Luft. Nyllees muskulöser Arm legte sich um seinen Hals und zog ihn zu sich herunter. Val lachte. Galt lachte ebenfalls. Sogar Mina lächelte und legte ihre Arme um Galt.
„Und doch", bemerkte Galt und streichelte seiner Mina über das Haar, „Für uns ist das gar nicht so natürlich. Wir haben Von diesen drohenden Kristallen Haß erwartet, und jetzt..." „... erfahren wir Liebe", ergänzte Val. „Wir werden manipuliert", stellte Redfern fest. „Solange es aber diese Art Gehirnwäsche und keine Angst ist, werde ich mich nicht beklagen." Ein Stück der grünen Wand öffnete sich wie die Blende einer Kamera. Eine Frau schob einen Wagen durch. Auch die Frau war nackt. Sie hatte kurzes, dunkles Haar und volle Lippen, und sie lächelte alle an. Auf dem Wagen standen alle möglichen Gerichte, die Redfern zwar nicht kannte, deren Duft er aber angenehm fand. Alle aßen hungrig und mit gutem Appetit; die Früchte waren saftig und wohlschmeckend, die flachen, dünnen Pfannkuchen zergingen ihnen im Mund, und verschiedene Getränke in Kristallkelchen sahen nicht nur einladend aus, sondern waren von köstlichem Aroma. „Eßt, soviel ihr wollt", riet ihnen die Frau in tadellosem Englisch. „Es ist für alle genug da." Sie berührte ihr Haar, und Redfern sah darin ein mit schimmernden Steinen besetztes Band. „Ich spreche die euch am besten bekannte Sprache durch den Translator", erklärte sie und lächelte herzlich. „Ihr werdet euch alle bald so wohl fühlen, daß ihr Besuch empfangen könnt." Ehe sie fragen konnten, was diese letzte Bemerkung zu bedeuten hatte, verschwand sie durch die Blende, die sich wieder schloß. „Warum haben wir sie nicht gefragt, wo wir sind und was überhaupt geschehen ist?" fragte Redfern verwirrt. „Wir haben nur zu essen angefangen!" Galt lächelte. „Arlan hat uns unter seine Fittiche genommen." Ganz behaglich fühlte sich Redfern nicht. Wohlgefällig musterte er Val. Wenn sie manipuliert wurden, dann ... Der Gedanke entglitt ihm. Es gefiel ihm so und hier. Arlan, das wußte Redfern, war der Schöpfergenius einer philosophischen Gedankenschule. Galt war ein Wissender, ein Professor, der seine Schüler in der Lehre unterwies, und zu denen hatten Tony und Val gehört. Aber sie kamen von Montrado. Jetzt waren sie in einer anderen Dimension. Redfern wußte nicht, ob die Leute von Montrado diesen Arlan als Gott ansahen oder als kosmische oder metaphysische Kraft. Wenn Galt recht hatte, wie konnte dann dieser Kult Arlans quer durch die Dimensionen fortbestehen, ohne daß diese Wesenseinheit, egal, was sie war, Zugang zu Portalen und Toren hatte? Von sieben Menschen hier in diesem Raum glaubten vier an Arlan. Nyllee mußte ihre eigenen Götter und ihren eigenen Glauben haben. Mutter Haapan, die nun auch aufgewacht war und zu essen begonnen hatte, glaubte vermutlich wieder an andere Dinge. Und Redfern - nun, er hatte nie recht gewußt, welcher der vielen irdischen Religionen er sich am meisten verbunden fühlte. Jede hatte einen Kern Wahrheit. Vielleicht paßte die delikate Nahrung hier oder die fremde Frau mit dem kurzen, braunen Haar in den Kult Arlans. Hm. Die Kristalle... Es war ein Schock für Redfern, als er sich darüber klar wurde, daß er den Kristallen eine Persönlichkeit beimaß. Vielleicht gab es in diesen riesigen, schimmernden Edelsteinen Menschen. Und vielleicht hatten sie Zugang zu den Portalen, zu anderen Dimensionen. Oder die Kristalle arbeiteten mit dem Glauben einer Mehrheit. Er wünschte das eine, erwartete jedoch das andere. Und übrigens - wo war seine Springfield? Badezimmer gab es in einer Art Alkoven, der durch eine Blendentür zu erreichen war. Tony und Nyllee waren lange dort, und als sie zurückkehrten, sahen sie sehr glücklich und sehr erhitzt aus. Redfern lächelte dazu, aber er selbst hatte nicht den Wunsch, auch unter die Dusche zu gehen, solange Val draußen war. Noch nicht, sagte etwas in ihm, als er sich einer drängenden Sehnsucht nach Liebe bewußt wurde. Val war entzückend, aber... Er hatte sich von jeher gegen jeden Zwang gesperrt, egal, woher er kam.
Mensch, wisperte eine Stimme in ihm, nimm sie doch in den Arm! Sie ist warm, lebensvoll und begehrenswert! Spielt es denn eine Rolle? Sie wird es gerne mögen. Genieße doch das, was sich bietet... Er blieb lange unter der Dusche, denn er wußte nicht recht, ob er seine innere Hitze abkühlen wollte oder ob er hoffte, Val möge zurückkehren. Als die fremde Frau die nächste Mahlzeit brachte, wurde die Spannung allmählich unerträglich. Galt und Mina hatten sich leicht und wie selbstverständlich dem Druck gefügt, falls sie einem solchen ausgesetzt waren. Für sie war es aber die Erneuerung eines alten Zaubers. Für Tony und Nyllee jedoch war alles neu und wundervoll. Dann lächelte Val ihn an und berührte seine Hand. Sie hob eine Braue, und er schaute sie an, und er freute sich an ihrem braunen Körper, ihrem lachenden Gesicht, ihrem glänzenden braunen Haar und an dem Wunder ihrer nußbraunen Augen. Eigentlich war er ein Narr, wenn er gegen etwas ankämpfte, was doch ganz natürlich wäre. Doch eine Sturheit in ihm bestand darauf, daß der Kampf das natürliche sei. Aus irgendeinem Grund wurden sie manipuliert. Erst Haß, dann Liebe. Und was kam dann an die Reihe? Der Tod? Im Lauf des Abends wurde das Gefühl des Eingesperrtseins unerträglich. Er wollte frische Luft atmen, und dazu mußte er hinaus. Das dritte Essen wurde nicht von der fremden Frau gebracht. Aus einem Grund, den Redfern erst nicht verstand, erhob sich lächelnd Mutter Haapan und ging auf den starken Mann zu, der den Wagen schob. Er ließ den Wagen mit dem Essen mitten im Raum stehen und streckte der zerbrechlichen, weißhaarigen Frau die Arme entgegen. Aber sie sah jetzt sogar weniger zerbrechlich aus, oder es schien wenigstens so. zu sein. Während des Tages hatte sich ein wenig weiches, elastisches Fleisch auf ihre Knochen gelegt, so daß ihre Wangen und ihre Brüste nun voller wirkten. Sie war eher wieder eine Frau mittleren Alters. Der Mann nahm ihre Hand und führte sie schweigend aus dem Raum. „Na!" sagte Mina. Auch sie sah nun jugendlicher aus; ihre Schönheit blühte wieder. Selbst Nyllee sah nicht mehr so teigig aus, und Val war zauberhafter denn je. „Sie wollen ja, daß wir einander lieben!" stellte Redfern heiser fest. „Aber wir sollen nicht. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich weiß es." „Und doch ist es richtig", erklärte Galt. Auch er war jugendlicher geworden. „Schau dir doch meine Mina an! Sie ist wieder so schön wie damals, als ich sie heiratete." Tony griff kichernd nach Nyllee. Hemmungen kannten sie keine. Nur Redfern weigerte sich noch immer. Val sah ihn sehnsüchtig an. Der Wagen mit den Speisen stand in der Mitte des Raumes; die fremde Frau schaute durch die Blende und winkte Galt, Mina, Tony und Nyllee. Redfern sah sie an, schüttelte den Kopf, winkte aber Val zu. Alle gingen schweigend hinaus. Redfern blieb mit dem Essen allein. Er dachte darüber nach, welch ein Narr er doch war. Er hörte das Mädchen nicht hereinkommen; er sah nur ganz zufällig auf, und da stand sie eben an der Tür, die sich gerade wieder schloß. Jeder junge Mann trägt in seinem .Herzen das Idealbild eines Mädchens mit sich herum, dessen Ebenbild er jedoch in dieser sündigen Welt niemals finden wird. Aber das Wesen, das nun dastand, schien direkt aus seinem Herzen gepflückt und zum Leben erweckt worden zu sein. Sie war schön, jung, schlank und hatte an den richtigen Stellen die richtigen Rundungen. Und sie lächelte ihn an. Ihm verschlug es den Atem, als der fleischgewordene Traum seiner schlaflosen Nächte vor ihm stand. Er sah nichts mehr, nur sie. Eine hauchfeine rosa Wolke schien sie einzuhüllen. Ihr Lächeln vertiefte sich, wurde noch lockender. Er legte ihr zögernd die Hände auf die Schultern. Das juwelenbesetzte Band in ihrem Haar funkelte. Er zog sie an sich, und ihr Körper war warm und verheißungsvoll. Sein Blick verlor sich in ihren Augen.
Ihre Augen... Er sah in flache Linsen. Er sah deren Ausdruckslosigkeit. Diese Augen hatten nie einem menschlichen Wesen gehört, und ihre mechanische Un-Menschlichkeit erfüllte ihn mit Entsetzen. Aber diese Augen versuchten ihn in sich hineinzuziehen. Heißer Atem schlug ihm ins Gesicht. Ihre Hände griffen tastend nach seinem Körper. Ganz plötzlich fühlte er die Knochen ihrer Schultern als rechteckige Konstruktionselemente durch das weiche Fleisch, das er noch umklammert hielt. Ihm wurde übel, und er taumelte zurück. „Weg! Fort!" schrie er. Es würgte ihn. Doch sie folgte ihm, lockte leise; ihre weichen, geschwungenen Lippen öffneten sich. Er fiel rückwärts über einen Strohsack. Die Haare sträubten sich ihm, auf seiner Haut spürte er eine , Million Ameisen krabbeln, und unter jedem Strohsack sah er dicke schwarze und rote Parallelkabel, die unter den Kissen durchliefen und dann in der Wand verschwanden. Das Mädchen, das kein Mädchen war, warf seinen nackten, heißen Körper auf ihn, und ihr Mund, der wie ein Ofen glühte, versuchte, ihn in leidenschaftlicher Glut zu verzehren.
6.
Aber selbst in diesem Augenblick, da sich eine verzehrende Leidenschaft über Scobie Redfern ergoß, vergaß er nicht, was er in den Augen des Quasi-Mädchens gesehen hatte. Diese roten und schwarzen Kabelstränge paßten haargenau dazu. Ihm fiel wieder ein, was die vierschrötigen Leute von Thothtoreth gesagt hatten. Es gab Manipulationen; man stahl ihnen die Psyche; man war entschlossen, ihren Willen zu beugen. Jetzt konnte er nahezu alles glauben, nachdem er durch die Tore der Dimensionen gegangen war und einiges erlebt hatte. Er schob seinen linken Unterarm an die Kehle des Mädchens und drückte das Wesen zurück. Es klammerte sich mit aller Kraft an ihn. Er versuchte sich erneut ihrem Griff zu entziehen, fiel wieder nach rückwärts um und hielt sich an ihrem Haar fest. Aber sie gab keinen Schmerzenslaut von sich. Sie keuchte, und er zerrte immer heftiger, um sich von ihr frei zu machen. Da löste sich ihr Haar vom Kopf. Eine wundervolle Perücke blieb ihm in der Hand, und er sah einen nackten Schädel. Das Mädchen beugte sich erneut über ihn. Und dann fiel das juwelenbesetzte Band aus der Perücke auf seine nackte, schweißfeuchte Brust. Mit einer gewaltigen Anstrengung gelang es ihm, die Keuchende zurückzuschleudern. Nun griff er nach dem juwelenbesetzten Band, schlang es sich um die Faust und schlug ihr damit gegen die Wange. Auch dieser Schlag blieb wirkungslos. Keuchend stand sie mit ihm auf. Er trat einen Schritt zurück und rannte dann mit aller Wucht gegen das Mädchen. Endlich sah er wenigstens einen Blutstropfen an einer geplatzten Lippe, und als sie immer noch nicht von ihm abließ, drehte er sich um und rannte davon. Das reichte ihm. Er wußte jetzt genau, daß es kein sterbliches Mädchen gewesen war, kein Mensch, sondern die Verkörperung schizophrenen Horrors aus einer anderen Welt. Die einzige offene Tür war die, welche zu den Duschen führte. Dorthin rannte Redfern und hielt noch immer das juwelenbesetzte Band in der Hand. Die nackte Frau, die das Essen gebracht hatte, nannte das Band einen Translator. Der konnte ihm nützlich sein. Redfern schlitterte über den feuchten Fliesenboden, und dann hörte er das Patschen nackter Füße. Er drückte sich an die Wand. Das Ding rannte an ihm vorbei. Sofort sprintete er durch die Tür und drückte auf den Knopf, der die Blende schloß. Dann raste er wie ein Irrer der anderen Tür zu.
Ehe er dort ankam, öffnete sich die Blende. Vielleicht gehörte das zum Muster. Er hatte sich stur, idiotisch, genau gesagt menschlich gegen das gewehrt, was man ihm aufzwingen wollte, und im Gegensatz zu den anderen war für ihn der Strohsack nicht zu einem Liebespfuhl geworden. Nun mußte er natürlich die Konsequenzen tragen. Die Blende schloß sich hinter ihm. Er befestigte das Translatorband in seinem eigenen Haar. Sofort hörte er eine laute Stimme in perfektem Englisch: „Wie du meinst! Keinem steht etwas zu, wenn er nicht dafür bezahlen will. Dann wirst du eben auf andere Art bezahlen, denn bezahlen wirst du!" Vor ihm lag ein großer Raum mit hohen Fenstern. Draußen vor den Fenstern sah Redfern blauen Himmel und grünen Wald. Die letzte Spätnachmittagssonne schien herein und warf goldene Lichtstreifen auf den Boden. Am entgegengesetzten Ende sah er einen Farbklecks. Er rannte darauf zu, und dann erkannte er eine Gruppe von Männern und Frauen, die in scharlachrote Roben gekleidet waren. Eine Gestalt trat vor die anderen und hielt eine Hand hoch. Redfern suchte nach einem Ausweg. „Du, der du Scobie Redfern genannt wirst, gehst jetzt in diesen Wald. Die Kristalle tun dir nichts zuleide - noch nicht; erst, wenn du bezahlt hast!" Zwischen zwei Fenstern sah er eine offene Tür; davor lag ein Vorzimmer mit Glaswänden. Er sah die Gesichter von Galt, Mina, Tony und Val, die sich an das Glas preßten. Sie winkten ihm zu und freuten sich, ihn zu sehen; doch dann wurde ihre Freude zu Angst und Entsetzen. Er rannte ihnen entgegen. Er verstand ihr Entsetzen nicht, auch nicht den merkwürdigen Lärm, der an seine Ohren schlug. Etwas patschte wieder hinter ihm her, aber das Mädchending konnte es nicht sein, denn es war hinter der anderen Tür eingesperrt. Nun sah er den weißen Krankenwagen, der mit schimmernden Instrumenten bedeckt war. Auf acht Gelenkbeinen stakste er auf ihn zu. Nun streckte das Ding einen langen Teleskoparm aus und ergriff Redfern mit einem gepolsterten Haken. Verzweifelt versuchte er, sich davon zu befreien, doch es ging nicht. Auf einem anderen Teleskoparm schwebte eine Silberkappe heran, die sich ihm auf Augen, Nase und Mund legte. Da wurde er ohnmächtig.
Die sachliche Selbstverständlichkeit der Operation ärgerte ihn, besonders nach diesem leidenschaftlichen Vorspiel. Als er aufwachte, lagen um seine Hand- und Fußgelenke gepolsterte Metallbänder, die- sich langsam lockerten. Dann zog sich auch ein gepolsterter Griff von seinem Kopf zurück. Über und hinter seinen Ohren spürte er einen dumpfen Schmerz. Er betastete die Stelle, doch sofort wurde seine Hand von einer anderen weggeschoben. „Noch nicht. Erst ganz aufwachen", sagte eine Stimme. Er öffnete die Augen. Eine Frau mit düsterem Gesicht starrte unbeteiligt zu ihm hinunter. Sie trug eine lange, scharlachfarbene Robe, und ihr schweres Make-up verbarg jedes Mienenspiel. Scobie Redfern wußte recht genau, daß es hier für ihn um Leben und Tod ging, und in einem großen Plan wurde seinem Leben kaum etwas an Wichtigkeit beigemessen. Nun mußte er sich scharf konzentrieren und jede geringste Einzelheit äußerst genau nehmen, um seine Probleme nicht automatisch mit seinem eigenen Tod zu lösen. „Jetzt kannst du dich betasten", sagte die Frau monoton. Langsam und vorsichtig befühlte er seinen Schädel. Hinter den Ohren hatte man kalte Gegenstände an seinem Kopf befestigt, und über den Schädel liefen Drähte zum Scheitel, wo Redfern einen Mast mit vielen kleinen Antennen ertastete. Alles in ihm zuckte vor dieser grauenvollen Entdeckung zurück. Er schloß die Augen und versuchte sich in die Hand zu bekommen.
„Was habt ihr mit mir getan?" fragte er. Die Frau wandte sich ab. „Du mußt für alles, was du bekommst, auch bezahlen. Das ist unser oberstes Gesetz. Du hast dich geweigert, zu bezahlen, und die Bezahlung wäre so einfach und erfreulich gewesen. Jetzt mußt du auf andere Art bezahlen. Sie ist nicht so einfach und weit weniger angenehm." „Bezahlen?" fragte er. „Was bezahlen? Mit Geld? Mit Blut?" Ihr geschminktes Gesicht verzog sich angewidert. „Nein, so primitiv sind wir doch nicht! Du trägst in deinem Haar ein Translatorband. Man hat dir zu essen, ein Dach über dem Kopf und Schutz gegeben. Es ist ganz natürlich, daß du bei uns leben willst. Dafür mußt du doch bezahlen. Du wirst für alles bezahlen, was du empfangen hast, und im voraus auch für alles, was du empfangen wirst. Wir sind sehr fair. Wir nehmen nur das, wofür auch wir bezahlen. Verstehst du das?" „Nein." Er griff nach oben und versuchte, den Antennenmast aus seinem Kopf zu reißen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, laß das. Wenn du recht daran zerrst, wirst du nur das Gefühl haben, daß dein Kopf mitgerissen wird. Wir haben einiges daran befestigt. Natürlich ist das alles nur vorübergehend. Du kannst aber nichts davon abreißen, ohne dir selbst große Schmerzen zuzufügen." „Wofür ist denn das Zeug?" schrie er. „Du bezahlst damit." Sie winkte einem jungen Mann in blauem Gewand zu, der Redfern von der Bahre herunterhalf. Aber Redfern schlug die helfende Hand weg. Er funkelte die Leute wütend an. „Bin ich denn jetzt euer Sklave?" Sie sahen ihn entgeistert an. „Natürlich nicht! Wir sind nicht so wie die Völker anderer Dimensionen", antwortete die Frau barsch. „Oh! Dann wißt ihr also von den Toren und..." „Natürlich! Aber wir wollen nichts damit zu tun haben oder sowenig wie möglich. Wir Senchurianer bleiben lieber für uns." Redfern stand, wenn auch schwankend, auf den Füßen. „Ein guter Nachtschlaf wird dich wieder in Form bringen, Redfern", meinte die Frau mütterlich. „Geh jetzt in deine Wohnung." In den anderen Räum zurückgekehrt, fand er nur Val vor, die auf ihrem Strohsack fest schlief. Wo die anderen wohl waren? Er hatte keine Ahnung. Er war so unsäglich müde, daß er sich auf seinen Strohsack warf; nicht einmal nach den Kabeln schaute er mehr. Sonst war er immer frisch und munter aufgewacht und hatte sich mehr oder weniger auf den vor ihm liegenden Tag gefreut. Als ihm an diesem Morgen der vergangene Abend wieder einfiel, war ihm, als habe man ihm eine Schüssel mit siedendem Wasser über den Kopf geschüttet. Es war schauerlich, diesen Mast zu ertasten. Die Kabel unter seinem Strohsack waren noch da und auch richtig angeschlossen. Welchen Zweck hatten diese Kabel? Seine Vorstellungen darüber waren recht vage und unwissenschaftlich. Im Moment interessierte ihn auch viel mehr der Apparat, den er auf dem Kopf mit sich herumtrug. Dann sagte Val etwas Ängstliches, und er drehte sich zu ihr um. Nun sah er, daß auch sie einen solchen Apparat am Kopf trug. Er lächelte sie mühsam an, und er konnte ihr doch nicht sagen, was er dachte - daß diese seltsamen Leute von Senchuria dieses komische Zeug auf ihre Köpfe gebaut hatten, um sie beide unter ihren Willen zu zwingen. Eine Kraft hatte sie gestern mit Liebe aufgeweckt und alle verjüngt. Selbst Redfern fühlte sich viel jünger und körperlich leistungsfähiger. Diese Kraft spürte er heute nicht, denn Val ließ ihn zwar nicht gerade kalt, doch sie erweckte auch kein wärmeres Interesse in ihm. Val schien es ähnlich zu gehen, wenn sie ihn auch freundlich anlächelte. Dann ging die Tür auf, und die fremde Frau schob wieder den Essenwagen herein.
Als sie gegessen hatten, kam die Frau zurück, holte den Wagen ab und entfernte sich wieder.
Die Türblende schloß sich, nur der zentrale Kreis brauchte eine Spur länger dazu.
Redfern raste zur Tür, bückte sich und stieß sein Messer, das er nicht mit dem Geschirr
zurückgegeben hatte, in die Öffnung.
„Kannst du die Tür aufbrechen?" fragte Val gespannt; ihr Gesicht lag an seiner Schulter.
Er stöhnte vor Anstrengung. „Es ist ziemlich schwierig..."
Aber dann schnappte die Blende auf, und das Messer fiel zu Boden. Sofort hob er es wieder
auf. Er schaute in den großen Raum hinaus; er war leer.
Durch die hohen Fenster fiel helles Morgenlicht, das auch in den Fenstern des Glasanbaus
funkelte. „Komm!" rief er Val zu.
Ihre Freunde fand er nirgends.
„Hier ist unser Ausgang", sagte er zu Val, als er die Tür zwischen den hohen Fenstern sah.
„Lauf schnell!" drängte er.
„Schau doch, da ist Mutter Haapan!" rief Val.
Erst wollte er es gar nicht glauben; er ging langsamer und sah durch die Glaswand, wie ein
Mädchen ihr langes, schwarzes Haar kämmte. Er rannte in den Anbau und starrte verblüfft auf
die Person.
„Val, du hast recht", sagte er dann. . „Es ist Mutter Haapan, aber..."
Das Mädchen drehte sich nun um, und er erkannte deutlich die Züge der alten Frau im Gesicht
des jungen Mädchens. Das weiße Drahtgespinst ihrer Frisur war verschwunden, und jetzt
schmiegten sich rabenschwarze Haare um ihr Gesicht.
„Val, beeile dich!" drängte Mutter Haapan. „Du hast nicht viel Zeit."
„Du würdest besser mit uns kommen", schlug Redfern verwirrt vor.
Sie lachte klingelnd. „Was? Schaut doch mal, was sie mit mir gemacht haben! Ich bin jünger
und hübscher, als ich jemals war! Und einen Liebhaber habe ich sogar, einen wundervollen
Mann! Nein, danke für die Einladung. Ich habe nicht den geringsten Wunsch, von hier
wegzugehen."
„Sie hat sich so verändert, seit sie dich gestern weggeholt hatten", erzählte ihm Val. „Aber es
ist doch unglaublich!"
„Ich verstehe natürlich schon, warum sie bleiben will", antwortete Redfern.
„Willst du bleiben, Val?" fragte er.
Sie berührte den Apparat auf ihrem Kopf. „Nein! Das hier haben sie uns nicht zum Spaß
aufmontiert!"
„Damit sollen wir bezahlen. Komm weiter, Val."
Sie gingen vorsichtig zur Ecke des Anbaus. Dort lagen in einem Haufen die alten Kleider, das
alte Zeug, alte Schuhe - und die Flinten!
Er stieß einen leisen Seufzer der Dankbarkeit aus, als er seine Springfield aus dem Haufen
holte. Schnell schlüpfte er in das graue Hemd und die graue Hose, und dann war er froh, als er
die kräftigen US-Stiefel mit den dicken Sohlen an den Füßen spürte. Val zögerte erst noch.
„Ich will nie wieder Sklavenkleider tragen!" sagte sie.
„Sei nicht so ungeschickt, Val", schnappte Redfern. „Die Zeit wird knapp. Draußen brauchst
du Kleider."
Sie schüttelte den Kopf.
Mutter Haapan zog ihr Hemd aus und reichte es Val. „Ich gehe zum Markt und hole mir ein
anderes", erklärte sie lächelnd. Redfern, der sich noch genau an die gebrechliche, weißhaarige
Greisin erinnerte, konnte fast die Augen nicht mehr von ihr losreißen.
„Nimm dir eine Flinte", sagte Redfern zu Val.
Er steckte soviel Munition ein, wie er fand, und vergewisserte sich, daß das Bajonett noch da
war und in der Scheide an seinem Gürtel hing. Dann prüfte er Vals Waffen nach.
Zusammen verließen sie den Glasanbau und liefen zur hohen Tür zwischen den Fenstern. Jenseits lag der Wald, und er winkte ihnen mit grünen und braunen Armen. Redfern schluckte. War er denn wirklich nur ein großer Narr?
7.
Es war kein, Dschungel, durch den sie rannten.
Und es war auch nicht der Wald von Myrcinus, in dem sie vielleicht auf Moke hätten stoßen
können, der sich durch die Zweige schwang oder der sein Koboldgesicht zu einem teuflisch
boshaften Grinsen verzog, wenn er die Würfel warf. ' Um sie herum war dichter Wald mit
vertrauten Bäumen - mit Eichen, Birken und Ahornen; es waren nur Laubbäume, die jetzt in
der vollen Pracht ihrer frischen, grünen Blätter glänzten. Sie liefen zwischen den Stämmen
dahin, sprangen über Wurzeln und umgingen Dornbüsche und Farndickichte, wenn ein
gefallener Baumstamm ihnen den Weg versperrte. Und doch...
Scobie Redfern fühlte sich im Wald nicht recht behaglich.
Durch die Äste fiel weiche Sonne, und der Boden war grün und samtig. Val hatte also die
anderen gesehen, nachdem man ihn, Redfern, davongefahren hatte. Er wußte mit
erschreckender Klarheit, daß er alle Probleme durchdenken mußte. Die Antworten lagen in
seinem Gehirn bereit. Er brauchte sie nur auszugraben.
„Was ist eigentlich mit Tony, Galt und den anderen geschehen?"
Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Plötzlich roch es ganz kräftig nach Veilchen. „Sie
wollten bleiben. Man hatte sie verjüngt, sie waren verliebt, und jeder hatte einen Partner.
Warum sollten sie auch nicht bleiben? Man zeigte ihnen die Stadt..."
„Welche Stadt?"
„Sie liegt jenseits des großen Raumes, in dem wir waren, und sie nimmt den größten Teil des
Landes zwischen Weiden und Wald ein. Es ist ein wundervoller Ort."
„Dann müssen wir einen großen Bogen darum machen und..." Und dann mußte er ihr von der
Erde erzählen. „Eines Tages, wirst du sie sehen, Val." Nun hatte er plötzlich wieder
Selbstvertrauen und Zuversicht. „Und ich werde Montrado sehen. Das Leben wird schon
wieder schön werden, Val, sind wir erst einmal von hier weg und finden ein Portal für dich..."
„Nein!" unterbrach sie ihn.
„Wieso denn?"
„Ich kann Tony und Galt und Mina nicht einfach hier zurücklassen. Sie gehören doch auch
nach Montrado!"
„Nun, natürlich...", fauchte er sie enttäuscht an. „Und jetzt müssen wir ihretwegen zurück.
Und vor allem müssen wir das scheußliche Zeug auf unseren Köpfen losbekommen."
Sie stürzte in ihrer Verwirrung, und Redfern eilte ihr zu Hilfe, um sie in die Höhe zu ziehen.
Sie klammerte sich an ihn, und ihr Körper lag warm und weich an seinem. Er zwang sich zu
einer unnatürlichen Gleichgültigkeit und schaute über die, Schulter dorthin zurück, von wo sie
gekommen waren. Das zahlte sich aus. Dort, wo sich die Stämme zu einer soliden Waldwand
zu schließen schienen, zuckte etwas in einer blitzschnellen Bewegung. Er reagierte sofort.
„Ruhig, Val, ruhig!"
Der glatte Holzgriff der Springfield lag tröstlich in seiner Hand.
Er kniff die Augen zusammen und blickte sich um. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet,
daß man ihn so schnell verfolgen würde.
Er hob seine Flinte, und in diesem Augenblick bemerkte er wieder eine Bewegung. Es war ein
schwarz-gelb gestreifter, harter Pelz, Leder oder Kleidung; was es war, konnte er nicht genau
feststellen. Er legte seine Flinte an. Und dann war der Wald wieder leer.
Val lag auf dem Boden. „Ich habe Angst!" flüsterte sie. Und während sie noch sprach, begannen die Antennen, die vom Mast auf ihrem Kopf ausgingen, zu glühen. Blaue Blitze umzuckten die Antennen. Und die blauen Blitze auf ihrem Kopf wollten nicht aufhören. Auch Redfern wurde von panischer Angst gepackt, und einen wahnsinnigen Augenblick lang ließ er sich von ihr überschwemmen. Val schrie. Sie zuckte zurück und deutete auf seinen Kopf. Er wußte, daß sie auf seine eigenen Antennen deutete, die wahrscheinlich ebenso blaue Blitze spuckten wie die ihren. „Bleibe ruhig, Val. Ich glaube, ich verstehe jetzt einiges. Aber ich weiß nicht genau, ob..." Irgendwo im Wald bewegte sich ein Zweig. Redfern schluckte und versuchte, die Flinte ruhig zu halten. Die Leute aus Senchuria haben uns aus diesen Kristallen mit einer Strahlung puren Hasses überschüttet und uns so überwältigt. Dann übten sie Druck auf uns aus, daß wir einander lieben sollten. Und jetzt sind wir voll Angst, du und ich." „Ja." Sie lehnte sich an ihn. „Deshalb bin ich überzeugt, daß sie uns mit Emotionen manipulieren. Diese Kabel unter den Strohsäcken, diese Antennen auf unseren Köpfen, - sie dienen alle dem gleichen Zweck: Die Leute von Senchuria entziehen anderen Menschen die Gefühle! Vielleicht können sie diese irgendwie speichern. Das weiß ich nicht, aber ich bin überzeugt, daß sie uns entkommen ließen, daß sie alles so hindrehten, daß wir unsere Kleider, die Waffen, die offenen Türen..." „Scobie? Daß sie uns entkommen ließen? Das hieße doch..." Er nickte heftig. „Sie sagten, wir hätten zu bezahlen, und weil wir nicht mit Liebe als Emotion bezahlen wollten, ersetzten sie sie durch Furcht. Sie ließen uns entkommen, und jetzt hetzen sie uns. Damit wollen sie uns immer noch mehr Angst einjagen, und je mehr Angst wir haben, desto besser sind wir für sie; mit unserer Angst füttern wir ihren verdammten Emotionsakkumulator!" Jetzt wurde auch Val zornig. „Du mußt recht haben, Scobie. Mit Arlan hat das gar nichts zu tun. Galt hat sich geirrt. Diese Leute sind nicht gut, sie sind unsere Feinde!" „Ich würde ja am liebsten dieses scheußliche Zeug abreißen", erklärte er, aber sie schüttelte den Kopf. „Ja, ich weiß. Also müssen wir's vorläufig noch ertragen, bis wir es wagen können. Aber ich weiß, daß das, was uns einzuschließen droht, näher kommt. Kannst du mit einer Flinte umgehen, Val?" „Zielen und abdrücken kann ich. Übung habe ich natürlich kaum." „Gut. Zeit zum Üben bleibt uns jetzt nicht. Halte das Ding auf das, was sich uns nähert, und drücke den Abzug. Leicht, jawohl. Wenn wir sonst nichts damit erreichen, dann müssen sie wenigstens die Köpfe einziehen." Wer immer es war, der die von Redfern und Val produzierten Gefühle aufnahm und speicherte, er machte Überstunden. Redfern mußte sich mit aller Kraft dazu zwingen, die Flinte ruhig zu halten und nach dem schwarz-gelben Ungeheuer Ausschau zu halten, das ihn vorher geängstigt hatte. Im Wald bewegte sich etwas. Wieder erhaschte er einen Blick auf einen schwarz-gelben Pelz, und diesmal sah er auch Fänge blitzen. Jetzt hatte sich das Biest hinter einem dicken Baumstamm versteckt. Und nun dachte Redfern haarscharf: Wenn seine anscheinend irren Überlegungen stimmten, dann würden die Leute von Senchuria nicht auf die übliche Art jagen; dann wäre es ihnen auch egal, ob man die Jäger sähe oder nicht. Sie würden auch nicht versuchen, ihre Beute zu töten. Die würden sie einkreisen, ängstigen und sie durch alle denkbaren Stadien emotioneller Erregung schicken. Und dann wurden die Erregungen, falls er recht hatte, roh und rauchend in einen Akkumulator geleitet, um gespeichert zu werden. Ein schreckliches Wesen baute sich in etwa zwanzig Metern Entfernung auf und klappte die Kiefer auf und zu; dann verzog es sich in das Unterholz. Redferns Herz tat einen Satz und Val unterdrückte gerade noch einen Schrei.
Das Ding hatte eigentlich nicht anders ausgesehen als eine ziemlich große Küchenschabe; aber die Küchenschabe hatte ein braun-schwarzes Fell und maß von der spitz zulaufenden Schnauze bis zum stachelbewehrten Schwanz volle zwei Meter. Die Schabe hatte enorme Kiefer, die widerlich mahlten. Redfern fühlte sich fast verloren vor diesem Monstrum. Wirklich, die Zauberer von Senchuria zapften ihm auch das letzte Quentchen an Gefühlen ab! Das Rascheln im Dickicht kam näher. Val schaute sich um. „Scobie, die sind ja überall!" rief sie. „Ich glaube nicht, daß sie uns töten wollen. Sie wollen uns nur Angst einjagen. Na schön. Wir werden sie also bluffen und ihre Schwäche zu unserer Stärke machen. Komm weiter!" Er wurde selbst vor Angst geschüttelt, aber er zog Val mit sich in die Höhe, zerrte sie an einem dicken Baum vorbei auf eine Lichtung hinaus. Eine Schabe schaukelte auf sie zu. Statt davonzurennen, griff, Redfern das Ding an und schwang die Flinte in der linken Hand. Die schlug er dem Ding auf die Schnauze, so daß es seitlich umfiel und seine kurzen Beine hilflos in der Luft zappelten. Erleichtert atmete Redfern auf, und er rannte weiter. „Wenn sie uns wirklich Angst einjagen wollen, dann müssen sie sich schon was anderes ausdenken als das", bemerkte er geringschätzig. Die nächste Schabe kam heran. Diesmal war es ein schwarz-weiß gestreiftes Exemplar mit noch größerer Schnauze. Redfern ließ Val los und packte die Flinte mit beiden Händen, um in seiner Wut entsprechend zuschlagen zu können. Das Ding wich zurück, und seine Kiefer klappten auf und zu. Redfern holte aus und zerschmetterte den Rückenpanzer des Monstrums. Es kreischte und rannte wie irr am Baumstamm hinauf. Entsetzt sah Val dem Biest nach. Immer mehr Schaben erschienen; ihre Kiefer klapperten, und ihre flinken Füße brachten sie den beiden Opfern schnell näher. Redfern schlug wie ein Wahnsinniger um sich. Jeder Schlag traf einen Kopf, einen Panzer oder einen Schwanz, und jedesmal floß eine dunkelpurpurne, dicke Flüssigkeit aus den Wunden. Und dann brach Redfern durch den Ring. „Hierher!" keuchte er. Val folgte ihm und tat einen Satz über eine kampfunfähige, zappelnde Schabe. Der blaue Schimmer an ihren Antennen hatte sich zu einem trüben Gelbbraun gewandelt; die Funken sprühten wie rostroter Speichel. „Val, welche Farbe haben denn die Antennen auf meinem Kopf?" wollte er wissen. Sie riß vor Staunen den Mund auf. „Rot, Scobie! Rot wie Blut." „Ha!" Neue Kraft durchflutete ihn. „Das ist jetzt keine Angst mehr, sondern Zorn! Wir flößen ihnen die für uns bestimmte Angst selbst ein. Natürlich habe ich noch immer ein bißchen Angst, aber mein Zorn ist viel größer, und jetzt zeige ich's ihnen!" Sie liefen weiter durch den Wald. „Woher weißt du das alles, Scobie? Wie kannst du dessen so sicher sein?" „Ich weiß nicht, woher ich es weiß, aber ich bin ganz sicher!" Der Wald um sie herum war normal, freundlich, grün und eine Zuflucht. Redfern reinigte seine Flinte und benutzte dazu weiche, braune Blätter. Die Kraft in ihm steigerte sich noch. „Ich kann mir jetzt vorstellen, wie wütend und enttäuscht die Zauberer von Senchuria sind. Wir haben uns einfach geweigert, bei ihnen mitzuspielen. Als du darauf gewartet hattest, daß ich dich liebe, wunderte ich mich darüber, daß ich es nicht tat, und überlegte mir, ob ich nicht doch ein Narr sei. Ich wollte es gern tun, aber nicht, wenn man mich dazu programmiert." „Aber ich liebe dich doch, Scobie!" Das brachte ihn wieder zu normaler Überlegung. Er schaute sie an, sah das zerrissene weiße Nylonhemd, sah, wie hübsch und anziehend Val war. „Die Frage ist nur die, ob dieses Gefühl echt ist oder ob es dir nur eingepflanzt wurde, damit die anderen daraus Nutzen ziehen." „O Scobie!"
„Wenn die richtige Zeit da ist und wir am richtigen Ort sind, auf meiner oder sonst einer normalen Welt, dann, Val... Jetzt müssen wir weiterhin undurchschaubar bleiben. Wir können uns nicht von einer unsichtbaren Macht gängeln lassen, denn dann sind wir verloren." Allmählich reifte in ihm ein Plan; zugegeben, es war ein irrer Plan, aber die einzige Möglichkeit, sich selbst treu zu bleiben. Klar, ein solches Konzept mochte altmodisch erscheinen, aber das war Redfern egal. Er war sich bisher immer selbst treu geblieben und wollte es auch in Zukunft so halten. Sie liefen zwischen den Bäumen weiter. Eine, goldene, freundliche Sonne zeichnete um jedes Blatt eine Aura und tauchte den ganzen Wald in den schimmernden Zauber einer Unterwasserwelt. Dann veränderten sich die Farben. Grün wurde zu verschiedenen Gelbtönen. Orange und rote Schatten tropften herunter. Die Bäume hatten orangefarbene Stämme und goldene Blätter. Feuer tropfte. Blitze zuckten. Dunkle Flecken trübten ihr Blickfeld. Rasch wechselnde, schillernde Farben stachen wie strahlende Finger in ihre Augen. „Was ist das?" schrie Val. Redfern sah, daß das rauchige Orange ihrer Antennenstrahlung in Grün überging und dann allmählich blau wurde, als sie sich wieder von der alten Angst überschwemmen ließ. Er schüttelte sie heftig. „Sie versuchen nur einen neuen Trick! Polarisiertes Licht, Strahlung auf verschiedenen Wellenlängen - trau dem nicht, was du siehst, Val! Es ist nur ein Trick! Wir müssen zur Stadt durchbrechen. Komm weiter!" Er zog sie mit sich. Ihre Beine zitterten, und ihr Gesicht war eine Maske aus Angst. Durch die wirbelnden falschen Farben des Waldes schimmerte vor ihnen ein neues Licht, eine blaßgelbe Strahlung, die wie eine honigfarbene Lampe hinter einer Nebelwand wirkte. Der Wald um sie herum wand sich in den unmöglichsten Farben. Und nun hörten sie auch ein leises Stöhnen und Seufzen, das sie in die tödliche Umarmung des Waldes zurückholen wollte. Diese gespenstischen Laute dröhnten in seinen Ohren, und in seiner Brust hämmerte das Herz. Er holte keuchend Luft, aber er rannte unentwegt weiter und zog das Mädchen mit sich. Vor ihnen wusch gelbes Licht über die Bäume. Er sah scharlachrote Stämme und orangefarbene Äste, die erst violett, dann malvenfarbig glühten. Er rannte weiter. Dann fielen sie geradezu aus dem Wald hinaus. Vor ihnen lag die Stadt mit Türmchen und Kuppeln und Mauern, die alle aus Edelsteinen zu bestehen schienen. Alles blitzte und funkelte in tausend Farben, die von der gelben Strahlung noch intensiviert wurden. Es war ein Aufruhr an Farben und Glanz unter einer fremden, strahlenden Sonne, die ihren honigfarbenen Schimmer auch auf ihn und Val ausgoß. „Mit ihren scheußlichen Schaben wollten sie uns in die andere Richtung drängen", keuchte er, „aber wir gehen hierher, unseren eigenen Weg. Wir gehen geradewegs in ihre verdammte Stadt hinein!" Zwischen ihnen und der Stadt gab es nur noch wenige Bäume und ein paar kleinere Büsche, aber sonst war alles Grasland, weites, schimmerndes Grasland. Links von ihnen erschien nun eine Gruppe von Schaben, dann auch rechts. Die schwarzgelben und schwarz-weißen Biester schaukelten ihnen entgegen und gaben schrille Jagdlaute von sich. Vor ihnen bäumte sich etwas auf. Redfern blieb stehen. Links von ihm ragte ein Baum empor; auf den ging er zu, beobachtete aber gleichzeitig das andere Ding, das ein Mensch hätte sein können. Dieses Wesen trug die Karikatur einer Rüstung mit verrosteten Brüstplatten, einem verbeulten Visier und verbogenen Beinschienen, die die Nacktheit seiner Schenkel überdecken sollten. Das Ding wartete auf sie. Sein Gesicht glich dem einer Heuschrecke, der man ein paar menschliche Züge verliehen hatte, und es funkelte sie mit riesigen Facettenaugen an. Val schrie, und aus ihren Antennen zuckten blaue Blitze. Aber Redferns Antennen glühten in tiefem, drohendem Rot. Das Ding hob einen Bogen, und ein Pfeil schwirrte heran und blieb zu Redferns Füßen im Boden stecken. Er zögerte ein
wenig. Das Ding legte wieder den Bogen an. Redfern hob die Flinte und schoß. Sein Fuß fing sich in einem Hindernis, und er fiel vornüber auf den Boden. Die Flinte rutschte ihm aus der Hand. Immer noch vor Wut kochend, krabbelte er wieder in die Höhe. Das Ding klapperte mit dem Maul, und der Bogen bewegte sich, um Redfern ins Ziel zu bekommen. „Val, denke daran, sie wollen uns nicht töten!" schrie er und tat einen Satz nach der Springfield. Der Pfeil schwirrte und federte genau dort im Baumstamm, wo er, Redfern, vorher gestanden hatte. Erschüttert blieb er stehen. Dieser Pfeil war abgeschossen worden, um ihn zu töten! „Scobie, jetzt wollen sie uns aber doch umbringen!" schrie Val.
8.
Der Bogen sah schon fast wie eine richtige Armbrust aus. Als Redfern auf Händen und Knien weiterkroch, sah er tatsächlich dem Tod ins Auge, denn aus einem Dickicht marschierten drei weitere dieser Gespenstergestalten mit gesenkten Bogen auf ihn zu, und aus jeder Pfeilspitze züngelte gelbes Licht. Und nun kamen von allen Seiten wieder die pelzigen Schaben herbei. Val weinte, und das machte Redfern nervös. Er warf ihr einen raschen Blick zu. „Es wird doch alles gut, Val! Wenn sie ihre eigenen Regeln abändern wollen, dann sollen sie's doch haben!" Er robbte weiter seiner Flinte entgegen. „Ich weiß ja nicht, aus welchem Friedhof diese Gespenster stammen, aber eine Flintenkugel wird sie verdammt schnell wieder dorthin zurückschicken!" Jetzt begriff er, daß die Zauberer von Senchuria über alles gewacht hatten, was im Wald vorgegangen war. Dazu hatten sie sich ihrer eigenen Wellenlängen bedient, um den Gehirnen der beiden Flüchtlinge ihre Wünsche auf zuzwingen, damit sie deren Gefühle für ihre eigenen Zwecke speichern konnten. Jetzt aber waren die Menschen durch den Ring gebrochen. Sie hatten sich geweigert, zu rennen. Man hatte sie nicht in einer wilden Jagd durch den Wald hetzen können, und statt dessen waren sie zur Stadt vorgestoßen. Die Zauberer von Senchuria mußten ahnen, was Redfern beabsichtigte. Das Spiel war jetzt also aus. Die Menschen hatten die Bezahlung verweigert, und deshalb würde man sie jetzt töten. Ohne zu wissen, woher, wußte Redfern, daß die in ihnen aufgestauten Gefühle im Augenblick ihres Todes für die Zauberer von Senchuria ein äußerst delikater und willkommener Leckerbissen sein mußten. Ihr Tod hatte also Sinn. Jetzt hatte er wieder seine Flinte. Sie lag fest in seiner Hand und verlieh ihm Sicherheit. Ein guter Krieger wäre er zwar nie im Leben geworden, aber irgendwie gehörte eine Flinte mit zum Spiel. Vielleicht war es den Zauberern von Senchuria nur angenehm, wenn er einige dieser häßlichen Schabentiere erschösse. Möglich, daß sie entbehrlich waren. Für ihn und Val jedenfalls ganz bestimmt. Und diese Friedhofsgespenster? Waren sie auch entbehrlich? Redfern hob die Flinte und spähte den Lauf entlang. Das mußte er jetzt sofort herausfinden. Er drückte den Abzug und spürte befriedigt die Explosion und den Rückschlag. Die Kugel traf das Ding mitten in die Brust, als es den Pfeil abschießen wollte. Es fiel seitlich um, tat einen gespenstischen Schrei und schleuderte dabei den Bogen hoch in die Luft, wo er wie irr im Sonnenlicht herumtanzte. Ohne dem wirbelnden Bogen noch einen weiteren Blick zu schenken, legte Redfern wieder an und zielte auf das erste der vorrückenden Gespenster. Natürlich traf er es auch.
Der dritte Schuß ging daneben, und für die beiden restlichen Gespenster brauchte er weitere drei Kugeln. Dann lachte er ein bißchen zittrig und stand auf. „Ich habe mir schon überlegt, ob die auch wirklich liegenbleiben, wenn sie tot sind", bemerkte er, aber sofort wünschte er, das nicht gesagt zu haben. Vals Gesicht sah ganz zerknittert aus. „Nein, Scobie! Das wäre doch..." „Sie sind doch tot, Val! Ist schon gut, Mädchen..." Es ärgerte ihn, daß Vals sprühende Lebendigkeit sich in angstvolle Verzweiflung gewandelt hatte. Die Wut in ihm nahm wieder zu. Wenn diese Zauberer von Senchuria sich jetzt auch als kleine, glückliche Weihnachtsmänner erweisen würden, er hätte nicht die geringsten Hemmungen, sie so zu bedienen wie die Friedhofsgestalten. Ein so obszönes Spiel mit Menschen, und noch dazu mit einem Mädchen, durften auch sie sich nicht erlauben. Er legte frische Patronen ein und setzte sich in Richtung Stadt in Bewegung. Die Schaben folgten. Als nächstes Problem waren wohl wieder die Kristalle und ihre smaragdglühenden Energieblitze an der Reihe. Links hielten die Schaben Schritt mit ihm; rechts öffneten sie ein kleines Loch. „Die wollen uns schon wieder hetzen", bemerkte Redfern grimmig. „Eine ganz einfache, über den Daumen gepeilte Prozedur: Tue genau das Entgegengesetzte von dem, wozu sie dich zwingen wollen. So kommst du wenigstens zu Ergebnissen, wenn sie dir nicht vorher den Kopf abreißen." Val lächelte ihn ängstlich an. „Wir sind doch immer noch am Leben, Scobie", sagte sie. „Bist ein tapferes Mädchen", antwortete er. Unbeirrbar strebte er der Stadt entgegen. Nun drängten links die Schaben immer näher heran und rannten neben ihm her. Er sah vor sich ein hohes Gebäude, das die ganze übrige Stadt überragte. Dieser Turm hatte viele hohe Fenster. „Von dort sind wir gekommen", keuchte er. „Und jetzt wollen sie nicht, daß wir dahin zurückkehren. Fein, fein! Wir wollen es ja auch nicht." Zwischen dem hohen Gebäude und den Außenbezirken der Stadt zog sich ein Waldausläufer dahin. Als die Schaben den Wald erreichten, begannen sie kreuz und quer durcheinanderzulaufen. Das bereitete Redfern ein fast teuflisches Vergnügen; er scherte nach rechts aus und strebte dem nächsten Tor in der Stadtmauer entgegen. Zwischen der Mauer und ihm lag nur eine Straße, die parallel zur Mauer verlief und mit Büschen eingefaßt war, die starrige gelbe Blüten trugen. Darauf rannte er zu, um die Kiesstraße zu überqueren. Von einem Busch löste sich eine gelbe Blüte und schoß ihm wie eine merkwürdig geformte Hummel brummend entgegen. Das beobachtete er aus den Augenwinkeln heraus und duckte sich. Das Ding summte jetzt wie eine riesige Fleischfliege und drehte sich mit solcher Geschwindigkeit, daß es wie eine Scheibe wirkte. Und es schnitt scharf wie ein Rasiermesser eine dicke Strähne aus seinem blonden Haarschopf. Eine weitere Blüte löste sich von ihrem Stengel und schwirrte ihm entgegen. Er schlug sie mit der flachen Hand weg, und das Ding schnitt ihn in die Handfläche. Val schrie, als eine dritte Blüte ihre Schulter verletzte und Blut aus der Wunde floß. War eine Blüte vom Busch abgesprungen, dann bewegte sie sich schnell und in gerader Richtung weiter. Traf sie ihr Ziel nicht, flatterte sie zu Boden. Die Blüten, die ihr Ziel wenigstens streiften, ließen Schnitte zurück, die bluteten und den Menschen schmerzliche Seufzer entlockten. Bald liefen die beiden durch einen Schwarm surrender gelber Blüten. „Wir müssen umkehren!" rief Val. „Nein, weiter!" schrie Redfern. Er wedelte mit den Armen und schwang sie wie Windmühlenflügel. Überall hatte er Schnitte. Er legte die Flinte weg, riß sich die schäbigen Reste seines Hemdes ab und benutzte den Fetzen als Fliegenwedel, den er über seinem Kopf schwang. Ein Stück davon warf er Val zu,
damit sie sich schützen konnte, und er verjagte von ihr so viele Blüten, wie es nur eben möglich war. Ihre braune Haut wies schon unzählige winzige rote Flecken auf. Wie ein tanzender Derwisch schwang Redfern seinen Hemdfetzen, und Val drehte sich wie eine Schleiertänzerin. Und so setzten sie über die Kiesstraße. Was immer diese Dinger auch waren, sanftblättrige Blüten waren sie ganz bestimmt nicht Ihre Kristallkanten mußten mit Silikon geschärft sein. Welche Kraft sie wirbeln und summen ließ, ahnte Redfern natürlich nicht, aber die Zauberer von Senchuria würden auf diese Frage selbstverständlich die Antwort wissen. Scobie Redfern freute sich in grimmiger Wut auf die Begegnung mit ihnen. Er war sich völlig darüber klar, daß die Zauberer über unheimliche wissenschaftliche Kräfte verfügten. Beweis dafür waren die Kristalle, die smaragdfarbenen Energiestrahlen, der psychische und psychologische Druck, der auf sie ausgeübt wurde, und jetzt die mörderischen gelben, summenden Blüten. Gelb. Alles um sie herum war gelb. In einer tödlichen gelben Wolke taumelten sie den Kiesweg entlang. Ihre Körper waren mit roten Flecken übersät, als seien sie durch blutfarbenen Regen gelaufen. Immer wieder mußten sie sich der angreifenden Blüten erwehren. Redfern zog Val mit sich und schlug auch nach deren Angreifern. Irgendwie gelang es ihnen, das Gras auf der anderen Straßenseite zu erreichen. Seine Haut fühlte sich an, als sei sie mit einem groben Reibeisen massiert worden. Die Lungen schmerzten. Von der Stirn tropfte Blut und lief ihm in die Augen. Trotzdem rannte er weiter. „Val, lauf! Nur noch ein paar Schritte! Nicht aufgeben, Val!" Ihr Hemd war rot und gelb verschmiert. Sein Schädel summte und surrte in einem unaufhörlichen Kehrreim. Val empfand er nur noch als Gewicht, das an seinem Arm hing. Noch ein paar Schritte... Tausend verrückte Hornissen, eine bittere Wahrheit - ein erschöpfender Kampf. Sie ließen sich auf das Gras fallen und sahen müde, aber befriedigt zu, wie die gelben Blüten zwei Schritte vor ihnen zu Boden fielen. Redfern lachte. Er wußte genau, daß alles, was um ihn herum vorging, Wirklichkeit war, und doch drängte ihn etwas dazu, an Halluzinationen zu glauben. Wie einfach wären dann alle Antworten! Aber die Welt der Zauberer von Senchuria, in der er nun lebte, war echt und wirklich. „Wir brauchen ärztliche Hilfe", sagte er und stand auf. Noch immer keuchte er, und die zahllosen Wunden schmerzten. „Du siehst schrecklich aus, Scobie", stellte Val fest. „Du siehst wohl auch kaum besser aus. Aber ich liebe dich trotzdem..." Er redete schnell weiter, ehe sie antworten konnte. „Wir müssen in die Stadt hinein und uns säubern. Mir ist, als wäre ich in kochendes Wasser getaucht worden." Seinetwegen redete sie sich selbst Tapferkeit ein. Er sah, wie gut ihr das gelang, und er war stolz auf sie. Die Zauberer von Senchuria sollten sie nicht kleinkriegen. „Sie werden wie unzählige Leute vor ihnen entdecken, daß Gewalttaten nicht die richtige Antwort auf alles sind." „Diese Dinger... folgen uns noch immer", sagte Val. Die Schaben schaukelten an den gelbblütigen Sträuchern vorbei. Keine Blüte bewegte sich. „Ein Übel erkennt das andere", brummte Redfern und lief ein wenig schneller. Aus dem Tor marschierten vier Friedhofsgestalten. Jede von ihnen hob eine Armbrust, zwei schossen Pfeile ab. Redfern drückte sich ins Gras und nahm ein Gespenst nach dem anderen aufs Korn. Diesmal brauchte er trotz der schwirrenden Pfeile für die vier Gestalten nur fünf Kugeln. Er hatte sich ihrer entledigt. Als er an ihnen vorüberkam, schaute er hinunter. Es waren große, knochendürre, spindelige Wesen, die einmal, und das mußte er wohl zugeben, gelebt hatten. Daß sie Insektenköpfe hatten und dem Totengräber von der Schippe
weggelaufen zu sein schienen, konnte reiner Zufall sein. Glücklich machte dieser Gedanke Redfern nicht. Vor ihm erhob sich das Tor. Es war ein phantastisches Durcheinander von Arabesken, Mäandern, Türmchen und Zinnen, und alles war dick mit Juwelen besetzt und mit Gold verziert. Das Tor selbst glich einem maurischen Bauwerk von recht gefälligen Abmessungen, und zu beiden Seiten hatte es zahlreiche sternförmige Öffnungen. Ungefähr zwölf Meter hinter dem Tor wurde das Gras erbärmlich dünn, und festgebackene Erde trat an seine Stelle. Der Laufgraben neben dem Tor mußte, wenn es regnete, ein tiefer Sumpf sein. Der Blutverlust machte sich allmählich sehr nachteilig bemerkbar. Redfern fühlte sich immer leichter werden, und in seinen Ohren rauschte es. Val hing schlaff und mit geschlossenen Augen an seinem Arm. Sie atmete nur noch ganz schwach. Auf ein Geräusch hin drehte er sich um. Er bewegte sich sehr langsam; selbst für seine eingeschränkte Reaktionsfähigkeit war es langsam. Drei Schaben, zwei schwarz-weiße und eine schwarz-gelbe, standen da und schauten ihn an. Ihre Kiefer klappten ständig auf und zu. Er zog sich langsam zurück, bis er innerhalb des Tores war. Dann versuchte er, seine Flinte zu heben, aber sie war viel zu schwer für ihn. Eine grenzenlose Enttäuschung mischte sich mit einem Gefühl, das er nicht identifizieren konnte; vielleicht war es Angst, aber er wußte es nicht genau. Hatte er nicht vor einiger Zeit beschlossen, keine Angst mehr zu haben? So wollte er doch die Zauberer von Senchuria überlisten. Nein, er mochte sie nicht, so viel war sicher. Arme Val! Wie sah sie nur aus! Ihr ganzer Körper war mit Blutflecken übersät. Der seine übrigens auch. Er fühlte sich so unendlich schwach, daß ihm die Flinte aus der Hand fiel. Schlimm. Es war dunkel. Wolkig. Neblig. Besser einmal hinsetzen. Val ist eingeschlafen. Müde. Sehr müde. Gute Idee schlafen...
9.
Einsam und ganz auf sich selbst beschränkt unterhielten die Zauberer von Senchuria ihre Stadt am Rande des riesigen Forstes, am Kreuzweg der Dimensionen. Mit schwebenden Kristallen, deren Facetten smaragdgrüne Energiestrahlen ausschickten, die Tod und Verderben und ganze Fluten von Haß brachten, beherrschten sie die Grassee. Mit Halbinsekten, die aber auch etwas entfernt Menschliches hatten und Friedhofsgespenstern glichen, kontrollierten sie die Wälder. Ihre Jagdschaben hetzten die Opfer wie Hundemeuten zu Tode und fraßen sie auf. Die gelbsternigen Blüten an den Büschen rasten wie rasiermesserscharfe, wirbelnde Sterne, die alles zerfleischten, was in ihre Bahn geriet. Einsam und von allen übrigen Welten abgeschlossen hausten die Zauberer von Senchuria in ihrer Edelsteinstadt. Sie hatten Angst, entsetzliche Angst. Einsam und angstvoll hausten sie in ihrer Edelsteinstadt am Kreuzweg zwischen den Dimensionen, am Rand jenes Waldes, den sie durch Zauberkunst und überentwickelte Wissenschaft schützten, und jede kleinste Zerrung von Zeit und Raum zwischen den Dimensionen ließ sie vor Angst zittern. „Sie durften natürlich nie zugeben, daß sie Angst hatten", sagte Galt so bestimmt wie immer. Sie schlenderten zwischen Blumenbeeten dahin, und es waren richtige Blumen, die im Garten des Chrysoberyllflügels wuchsen. Der süß-herbe Duft seltsamer Chrysanthemenblüten umfächelte sie. Die Zauberer von Senchuria liebten auch in diesen Dingen Ordnung. Redfern nickte. Er ging noch immer ein bißchen vorsichtig. Val klammerte sich an seinen Arm. Nachdem er mehr von der Geschichte der Zauberer von Senchuria gehört hatte, schrieb er im Geist das Wort ZAUBERER immer in Großbuchstaben.
„Ich habe mich allmählich mit ihren Idealen abgefunden", erklärte Galt weiter. „Arlan lehrt eine ähnlich abstrakte Form der Zurückgezogenheit von..." „Aber wärmer, Galt, viel wärmer und menschlicher!" rief Val. Er nickte lächelnd. „In dieser Welt gibt es nichts umsonst. Nun, alles in allem gesehen, geht das schon in Ordnung. Du mußt nur aufpassen, Scobie, daß du dabei nicht zu kurz kommst. Und du hast es dir auch recht schwergemacht" Das hatte Redfern nicht vergessen. Man hatte ihn verbunden, frisches Blut in ihn hineingepumpt, aber seine Genesung brauchte eben doch Zeit. Auch Val sah noch recht bleich aus. Keiner von beiden würde je all das vergessen, was sie durchgemacht hatten, als die Gefühlssender auf ihren Köpfen befestigt waren. Diesen Apparat hatte man inzwischen selbstverständlich abgenommen, wenn ihn auch Redfern noch immer zu fühlen glaubte. „Ja, das habe ich getan", gab er zu. „Meinem ganzen Wesen nach bin ich aber unfähig, eine Autorität anzuerkennen, die sich als inkompetent, übergrausam oder nur dumm erweist." „In diesem Fall war aber die Autorität - die Zauberer - nichts von alldem. Du weißt jetzt, warum sie immer für eine volle Ladung ihrer Akkumulatoren zu sorgen haben. Sie sehen das alles nur im Licht eines fairen Handels." „Fair!" Schnappte Val voll Bitterkeit. Galt lächelte mild tadelnd. Am anderen Ende des Gartens ergingen sich Mina, Tony und Nyllee im Sonnenschein, und ihre weißen Gewänder, die jenen glichen, die auch Galt, Val und Redfern trugen, schimmerten weich und seidig. „Val, ich denke so: Die Zauberer erhalten ihre Unabhängigkeit in einer außerordentlich schwierigen Lage. Jetzt verteidigen sie doch eigentlich uns alle." „Aber diese verdammten Friedhofsgespenster haben uns umzubringen versucht", brummte Redfern. Galt schüttelte seinen mächtigen Kopf. „Nein, nein. Das waren doch nur Betäubungspfeile, wenn auch vielleicht für Menschen eine Spur zu wirksam. Aber die Zauberer haben es im allgemeinen mit Lebensformen zu tun, die viel monströser und drohender sind als Menschen." „Und die Schaben?" „Das sind ausschließlich Jagdtiere. Wir auf Montrado haben für diesen Zweck genauso besondere Lebensformen wie ihr auf der Erde. Und, Scobie, die Zauberer haben dir schon verziehen, daß du ihre Suslincs getötet hast, wie sie diese Schaben nennen. Und die Gara'hec, nun ja... In Wirklichkeit sind sie fast Zombies, und du hast sie mit dem Ausdruck Friedhofsgespenster sehr gut gekennzeichnet. Sie..." „Willst du damit sagen, daß sie wirklich...?" Val ließ die Frage unvollendet. „Ja, Val. Die Zauberer leben hier am Kreuzweg der Dimensionen, und daher ist dieser Nodalpunkt von immenser Größe und Wirksamkeit. Sie müssen alles nur Denkbare und Mögliche einsetzen, um sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Die Gara'hec sind die wirklich Toten, die mit mentalen Techniken und mechanischer und elektronischer Zauberei exoskelettal gestützt und mit isotopischer Batterieenergie bewegt werden. Sie haben ihr eigenes Pseudoleben. Schön anzusehen sind sie ganz gewiß nicht, aber sie sind ausgezeichnete Holzfäller und Wasserfinder." Redfern machte der Gedanke doch ein wenig schaudern. „Aber ich habe sie getötet", erklärte er. Val hängte sich noch fester an ihn. Mina und Tony und Nyllee schritten wie weiße Statuen aus einem sonnigen Zeitalter zwischen den Blumenbeeten dahin. Redfern dachte an die häßlichen Insekten-Menschen-Gesichter, die ihn noch oft quälten. „Arme Teufel", meinte er. „Ist das alles, was die Leute hier zu erwarten haben, wenn sie sterben?" „Ich finde es gar nicht so abwegig", stellte Galt ernsthaft fest, „daß die Zauberer es als Ehre ansehen, auch nach ihrem Tod in dieser Form weiterzudienen."
„Deshalb zapften sie uns also unsere Gefühle ab, um deren Akkumulatoren damit zu speisen? Nun, von mir haben sie bekommen, was sie wollten", sagte Redfern ein klein wenig verlegen. „Ich war nämlich zu Tode geängstigt." „Mir fällt es recht schwer, sie zu mögen", meinte Val mit ihrer sanften Stimme. „Denke an die Techniken Arlans. Sie werden dir helfen." „Du sagtest, die Zauberer würden uns verteidigen", bemerkte Redfern. Darauf mußte er sich erst einstellen, und das kostete Zeit. „Und du sagtest auch, das hier wäre ein immenser Nodalpunkt. Wie können sie dann einsam und isoliert sein?" Die andere Gruppe hatte sich inzwischen zu ihnen gesellt, und nun schlenderten sie gemeinsam weiter. „Ja, Scobie, das kann ich dir sagen", warf Tony mit einer Sicherheit ein, die er vorher nie gezeigt hatte. „Wir haben auf Montrado ein Transportsystem, das dem eurer Eisenbahnen auf der Erde ähnlich ist. Denke einmal daran, daß die Zauberer die zentrale Drehscheibe einer riesigen Kreuzung sind. Viele Leute aus vielen Dimensionen können zu Besuch kommen, doch sie selbst sind von den Netzen der Barrieren eingeschlossen und isoliert. Es kostet viel Kraft, in eine andere Dimension durchzubrechen - außer du hast ein Tor und einen Porteur. Sie bekommen viel Besuch. Mit einigen Rassen anderer Dimensionen treiben sie auch ein wenig Handel. Andere Rassen lehnen sie strikt ab; die mögen sie nicht, und deshalb kämpfen sie gegen sie. Erst im vergangenen Monat mußten sie eine großangelegte Invasion von Halbmenschen abschlagen. Sie quollen durch einen Nodalpunkt im Wald. Das ganze Gebiet hier herum ist mit Toren gespickt. Sie mußten die ganze Macht ihrer emotionellen Waffen einsetzen. Zum Glück für uns haben die Zauberer gewonnen. Hätten sie verloren", er zuckte vielsagend die Schultern, „darin wäre uns bei unserer Ankunft ein anderer Empfang zuteil geworden." Nun machten sie sich auf den Rückweg zum Chrysoberyllflügel. Es war Zeit zum Mittagessen. Galt sprach weiter: „Ich habe zusammen mit Vivasjan diese ganzen Probleme studiert. Er ist das, was ich als ihren Premierminister bezeichnen würde, ein wundervoller alter Mann, mit dem ich ausführlich die Philosophie Arlans diskutiert habe. Seit Beginn ihrer Aufzeichnungen haben sie eine lange Geschichte fortgesetzter dimensionaler Einbrüche. Sie waren eine sehr stolze Rasse, aber sie haben viel von anderen Dimensionen gelernt. Vieles von ihrer Macht und Wissenschaft ist geborgt. Da sie zwischen dem Wald und der Grassee leben, konnten sie immer einen höheren Grad von Technologie beibehalten als die anderen. Der Rest ihrer Welt ist jungfräuliches Land und ungezähmt. Hier kann noch sehr viel geschehen." „Das kommt schon noch", meinte Redfern dazu und befestigte das Translatorband mit den funkelnden Juwelen in seinem Haar. Sie unterhielten sich jetzt absolut fließend, und jeder bediente sich dazu seiner eigenen Sprache. „Ich kann verstehen, daß sie dir in gewisser Weise leid tun. Aber das, was sie tun, ist ja nicht gerade von Pappe. Diese gelben Blumen waren wirklich kein Vergnügen, und ich spüre sie heute noch." Galt seufzte. „Arlans Philosophie lehrt uns, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Klar, die Contessa und ihre ganze üble Bande konnten wir nicht mehr länger ertragen. Ich glaube, du wirst auch noch zur Überzeugung kommen, daß die Zauberer von Senchuria fair sind. Sie nehmen und geben und leben vom Handel. Darin haben sie eine ganz eigene Integrität." „Vermutlich." Sie gingen zusammen zum Mittagsimbiß, den sie in einem weiten, behaglichen Refektorium einnahmen. Das Essen war delikat. Vivasjan und einige seiner Ratgeber gesellten sich zu ihnen. Vivasjan war ein düsterer Mann mit strengem, ausdrucksvollem Gesicht. Er trug die lange, scharlachrote Robe der Zauberer. Man sah ihm an, daß seine Bemühungen, die Kräfte immer im Gleichgewicht zu halten und Stadt und Volk vor fremden Invasionen zu schützen, seine Lebenskraft ziemlich aufgezehrt hatten. Für kurze Zeit hatte Redfern diesen Mann als
Feind gegen sich gehabt, das hatte er wenigstens geglaubt; doch jetzt sah er, wie weise es war, seine Haltung zu revidieren. Vivasjan war vermutlich ein guter Freund und ein böser Feind. Der Premierminister erklärte noch einmal die Situation und fügte hinzu: „Wir können alle Arten von Emotionen aufnehmen und sie für unsere Zwecke abwandeln. Wir ziehen natürlich Liebe vor. Sie ist leichter und angenehmer zu sammeln und in der Wirkung umfassender. Das Gegenstück zu Liebe ist Haß. Wir haben hier Elektroenzephalographen, und wir kennen die psychologische und pathologische Arbeit vieler Dimensionen. Wir haben hier auch einige EEGs von der Erde in Funktion. Die nervösen Energien der Gehirnzellen, die teils elektrisch, teils chemisch sind, können isoliert werden. Das machen wir, damit wir uns ihrer bedienen können. Natürlich machen uns die Emotionen der Liebe viel weniger zu schaffen", erklärte er seufzend. „Haß ist ungeheuer mühsam. Hier in Senchuria sind wir in einer wenig angenehmen Lage." Redfern fühlte Sympathie für diese Zauberer, und die stand in deutlichem Gegensatz zu seinen früheren Gefühlen der Ablehnung. „Die Erde?" fragte er, indem er den Hinweis des Weisen aufnahm. „Dann könnten Sie uns also vielleicht ein Portal zeigen, durch das wir nach Hause können?" „Darum habe ich mich bereits gekümmert, Scobie", sagte Galt. „Mit eurer Erde, mit Montrado oder Irunium gibt es keine direkte Verbindung." Val stellte ihr Weinglas ab. „Wir können doch indirekt zurückkehren. Das heißt, sobald wir wieder stark genug sind." „Ja", bestätigte Vivasjan. „Das wäre auch am besten." Redfern entging es natürlich nicht, daß unter den Zauberern einiges Unbehagen herrschte; es war eine Resignation, die sich hart am Rande der Apathie bewegte. „Wovor haben sie alle so schreckliche Angst?" flüsterte Redfern Galt zu. Der Mann hob die Schultern. „Sie können die verschiedenen über ihr Land verstreuten Nodalpunkte testen. Sie spüren Bewegung, Vorbereitung, ein Zusammenstellen oder Anwachsen von Kräften, die die dimensionalen Barrieren vollkommen vernichten können." „Meinst du damit eine neue Invasion?" fragte Val. Galt nickte düster. Redfern fühlte sich wieder einigermaßen erfrischt und gesellte sich den anderen zu, die einen Rundgang durch die Stadt unternahmen. Er wunderte sich über die Anhäufung von Reichtum und all die Dinge, die dem körperlichen Behagen der Bevölkerung dienten. „Sehr viel von unserer Technik stammt aus Slikitter", erklärte Vivasjan und führte sie in einem juwelenfunkelnden Eskalator zu den Zinnen hinauf. „Sie sind zwar keine besonders angenehmen Leute in ihrem Aussehen, aber sie halten sich an den Grundsatz, daß ein Vertrag oder Geschäft Nutzen bringen soll, und an einmal getroffene Abmachungen halten sie sich auch." Redfern konnte es noch immer nicht recht fassen, daß er in einem Kulturbereich lebte, der Waren, Schätze und Ideen mit anderen Dimensionen austauschte. Eine Gruppe der Gara'hec patrouillierte durch die Festung. Die lebenden Toten trugen ihre bunt zusammengewürfelte und recht schäbige Rüstung und kurze, breite Schwerter. Statt Pfeil und Bogen, mit denen sie in den Wäldern die Menschen gejagt hatten, waren sie nun mit viel raffinierteren Waffen ausgestattet. Über die Grassee patrouillierten die schwebenden Kristalle wie riesige Seifenblasen, die vom Wind getrieben werden, aber hart und mit klaren Facetten, glühend, funkelnd, drohend. Er hatte erfahren, daß in diesen Kristallen kein Lebewesen steckte. Sie hatten ihre eigene Form einer Pseudointelligenz, die auf die Wellenlänge der Sendeeinrichtungen der Zauberer abgestimmt war und von einem darauf eingestellten Empfänger ausgestrahlt wurde. Damit hatten sie rein räumlich gesehen eine begrenzte Reichweite und eine ebenso begrenzte freie Entscheidungsmöglichkeit, unterlagen jedoch im übrigen der überwachenden Kontrolle der
Stadtväter. Die Kristalle kannten ihre Bestimmung und ihre Fähigkeiten sowie ihre Grenzen
und hielten sich daran.
Die Grassee schimmerte unter der strahlenden Sonne, und die grüngelbe Mauer des Waldes,
die fast unmittelbar am Stadtrand begann, bebte vor unsichtbarem Leben.
Redfern wußte nur allzu genau, daß es noch eine ganze Menge ungelöster Fragen gab; er
wußte auch, daß die Antworten darauf mit der Lösung jener Probleme zusammenhingen, die
von ihm und seinen Kameraden noch bewältigt werden mußten. Um ihn herum herrschte
rege Aktivität, die auf einen kommenden Konflikt hinwies. Große Mengen der unheimlichen
Gara'hec marschierten zu den Festungswällen. Eine Meute der Suslincs, jener riesigen,
pelzigen Schaben, brach durch ein Tor neben ihm und schwärmte über die Grassee.
Glühende Kristalle schimmerten, sandten scharfe Blitze aus und woben ein Muster um und
über den Suslincs. Die massiert erscheinenden gelbsternigen Blüten strahlten ein
vibrierendes gelbes Licht aus, und diese Blüten vermehrten sich mit geisterhafter
Geschwindigkeit.
„Ja", sagte Vivasjan und nickte. „Der Bericht wurde empfangen. Von der Welt Infalgon ist
eine neue Invasion zu erwarten." Er seufzte. „Sie haben Kriegsmaschinen und sehr viele
bewaffnete Männer. Und wir von Senchuria müssen uns wieder zu der Narretei
herabwürdigen, kämpfend das zu schützen, woran wir glauben."
„Ich helfe euch!" rief Tony stolz und eifrig. „Ja." Galt nickte düster und grimmig. „Ihr habt
unser Versprechen, daß wir euch helfen."
„Moment mal", protestierte Redfern.
Val lehnte sich an ihn. „O Scobie, du kannst dich doch nicht weigern!"
„Was? Den Zauberern helfen nach dem, was sie uns angetan haben? Val, das geht mir ganz
entschieden gegen' den Strich."
Sie sah ihn bestürzt an, dann besorgt, und schließlich funkelten ihre Augen ziemlich
gefährlich. Redfern konnte nicht anders, er fand das Mädchen bezaubernd. „Aber Galt hat uns
doch alles erklärt! So sind sie nun eben, so arbeiten sie, und sie sind unbestechlich und fair
und haben doch nur Bezahlung für das verlangt, was sie uns..."
„... geboten haben? Ich spüre noch immer diese verdammten Implantationen auf meinem
Kopf! Und diese elenden gelben Blumen hätten mich um ein Haar zu Hackfleisch gemacht.
Ich möchte sagen, es war ein bißchen einseitig, Val. Was haben wir denn schon bekommen?
Gib's doch zu, Val."
Ein Schwarm schwarzer Punkte erschien am Horizont.
„Wenn du die Philosophie Arlans kennen würdest, könntest du alles verstehen. Nehmen und
geben. Daran kann man doch glauben, oder nicht? Und außerdem sind die Zauberer jetzt
unsere einzige Hoffnung. Schau doch!"
Alle in der ganzen Festung schauten und deuteten. Die schwarzen Punkte kamen schnell
näher. Die vordersten nahmen Gestalt und Farbe an, wurden größer, gewannen an
Geschwindigkeit und bildeten mit den anderen ein drohendes Band der Bewegung, das der
Stadt entgegenraste.
Redfern öffnete vor Staunen den Mund, denn jeder dieser Punkte löste sich in eine
hautflügelige Kreatur auf, deren Konturen im Sonnenlicht zu irisierenden Krusten wurden.
Die durchsichtigen, zerbrechlich aussehenden Flügel schlugen in Wirbeln glühender Farben.
Von den Köpfen der Kreaturen zitterten lange Fühlerantennen.
Auf jeder dieser Kreaturen ritt ein plumpes, eckiges Ding, das sehr drohend aussah. Die
Sonne fing sich in den großen Schutzbrillen vor den Gesichtern und den glatten, hohen
Lederhelmen. Das Licht blitzte in den Spitzen der tief geschwungenen Lanzen.
Ein Schauer von Projektilen schoß aus den Reihen der heranstürmenden Feinde.
„Sie fliegen über die gelben Blumen!"
„Macht euch bereit!" rief Vivasjan. „Unsere Feinde wissen, wer hier die Herren sind! Seid standhaft, denn sie sind über uns!"
10.
„Beeilt euch und schafft die Frauen in Sicherheit!" schrie Redfern. Kristalle blitzten, und der fliegende Feind kam in immer dichteren Scharen an. „Warum laßt ihr eure Haßverteiler nicht arbeiten?" rief Val. Vivasjan war enttäuscht. „Das sind ja Kreaturen wie die Gara'hec, und sie haben keine menschlichen Emotionen!" Zwei Gara'hec schwenkten in ihrer unmittelbaren Nähe eine Schnellfeuerkanone, die Granaten mit Aufschlagzünder verschoß. Lärm, Rauch und Feuer verdarben den strahlend schönen Tag. Seit Redfern einiges über die wahre Natur der Zauberer von Senchuria erfahren hatte und wußte, daß ihre Stadt am Schnittpunkt vieler interdimensionaler Verbindungen lag, hatte er diesen Tag gefürchtet. Dabei hatte er nämlich kaum etwas zu gewinnen, sondern nur alles zu verlieren. Was blieb ihm anderes übrig als das, was Val vorgeschlagen hatte? Er mußte mithelfen, diese fliegenden Feinde abzuwehren, denn die Erde war in diesem Moment kreischenden Entsetzens unheimlich weit entfernt. Er rannte zur Schnellfeuerkanone und drückte auf den Auslöseknopf. Tony war mit ein paar Sprüngen neben ihm an einem schweren Maschinengewehr. Furcht schien er nicht zu kennen. „Wie, zum Teufel, wird denn dieses Ding geladen?" rief Redfern. „Keine Ahnung." Tony setzte einen neuen Streifen in sein Maschinengewehr. „Lauf zur Innenmauer! Ich gebe dir Feuerschutz!" Redfern sah sich schnell um. Andere Waffen standen nicht zur Verfügung, und die Infalgon kamen auf ihren Flughauttieren auf die Wälle herunter und schwangen ihre Lanzen. Gara'hec traten ihnen mit formalen Aktionen gegenüber. Redfern sah natürlich mit einem Blick, daß die wandelnden Toten niemals den Schwung und die Initiative aufbrachten, die nötig gewesen wären, um die Fledermausmenschen zurückzuschlagen. Die bebrillten Gesichter kamen drohend immer näher. Starrige, geschuppte Waffenröcke bedeckten knorrige Glieder und Körper mit plumpen, schweren Muskeln. Sie versuchten, an die Gara'hec heranzukommen. Eine Welle von Angst überschwemmte Redfern, doch er kämpfte mutig dagegen an. Galt schob Val und zerrte Mina unter einen niederen Torbogen durch einen Turm, der diesen Teil der Festung beherrschte. Rauch hing in der Luft. Die Gara'hec und einige der Zauberer kämpften gegen die Eindringlinge. Galt fluchte, und Val wehrte sich gegen ihn. „Geh in Deckung, Val! Aber sofort!" „Nein, ich will nicht! Ich kann auch kämpfen!" Galt gab es auf, Val in Sicherheit zu bringen. Er zog sie also wieder aus dem engen Torbogen heraus und schob Mina dafür hinein. Dann quetschte er sich selbst durch, und Redfern erlebte einen kleinen Schock des Unglaubens, als die schwere, edelsteinbesetzte Tür zuschlug. Eine Weile stand Val völlig isoliert da. Dann griff sie nach einer am Boden liegenden Waffe; sie war ein komisches Ding, das aussah wie ein Spazierstock mit schaufeiförmiger Spitze. Redfern saß ein Klumpen in der trockenen Kehle. Er hatte Angst um die Sicherheit dieses Mädchens, und er rief ihr zu. Da sah sie ihn. Aber nun drangen zwei brummende Fledermauskrieger auf sie ein.
Val hob ihre Waffe. Ein Lichtstrahl schoß heraus. Traf er einen Infalgon, so verwelkte dieser ganz einfach und schrumpfte zusammen. Die Fledermausflieger bogen ab, und ihre dünnen Hautflügel flatterten aufgeregt. Endlich hatte Redfern Val erreicht. Er trug sie mit Gewalt zum Turm zurück und setzte sie dort ab. Zwei Säurekugeln schlugen dort auf, wo sie gerade noch gestanden hatten. „Scobie, das ist einfach schrecklich!" „Tony!" brüllte Redfern. Tony lief ihnen entgegen und sprang über eine rauchende Säurekugel. Sein Gesicht drückte helle Begeisterung aus. „Val, wie geht es dir? Wo ist Nyllee?" „Sie ist mit Vivasjan gegangen. Ich habe mich geweigert, auch mitzugehen. Galt..." Ihr Gesichtchen schrumpfte vor Tragik zusammen. „Ich weiß, Val. Denke jetzt nicht über Galt nach. Wenn wir nicht selbst ein sicheres Versteck finden oder zurückschlagen, dann sind wir erledigt." Eine Gruppe Zauberer in scharlachroten Gewändern und mit Waffen in den Händen, die blaßgrüne Strahlen aussandten, säuberte einen ganzen Streifen Gelände vor den Befestigungen der Stadt. Frische Gara'hec kamen nach. Es herrschte ein fürchterlicher Lärm. Die Infalgon purzelten von ihren Fledermäusen herunter und warfen sich in den Kampf Mann gegen Mann. Die ganze Stadt war von kämpfenden Gruppen umgeben. „Welche Chance haben wir denn eigentlich?" fragte Val. Redfern hatte nun einen besseren Überblick. „Könnten wir sie aufhalten, wenn sie die Mauern freigeben müssen, dann können wir die Stadt halten. Aber wenn sie erst einmal die Mauern haben, dann ist die ganze Stadt verloren." Und über etwas wurde sich Redfern klar. Die Infalgon feuerten ihre Säureprojektile von einem kleinen, sehr plumpen Mörser ab, der ihren Reittieren aufgeschnallt war. Wenn das Ding abgeschossen war, mußten sie sich auf Lanzen oder Schwerter verlassen. Nachgeladen wurde nicht einmal, und darin sah Redfern eine Chance. Ein Gara'hec taumelte ihnen entgegen; eine mit Widerhaken versehene Lanze ragte ihm vorn und hinten aus dem Körper. Trotzdem kämpfte er weiter und schlug mit seinem Schwert auf die Infalgon ein. Tony hob sein Maschinengewehr er hatte sich verschossen. Val ließ den Infalgon mit einem blaßgrünen Strahl verwelken. Aber jetzt fiel leider auch der Gara'hec. Redfern tat einen Satz vorwärts, riß das Schwert eines verdorrten Infalgon an sich und ließ die Waffe durch die Luft sausen. Jetzt fielen viel weniger Säuregranaten, und auch der Strom der Fledermausritter hatte nachgelassen. Nun begann eine ganze Reihe heftigster Einzelkämpfe rund um die Stadtmauern von Senchuria. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, da es sich als Vorteil für die Zauberer erwies, daß sie die Waffen vieler Kulturen und Dimensionen kannten. Die Gara'hec schossen die Infalgon zu verdorrten Häufchen zusammen, sobald sie sich ihnen näherten. Und nun sah Redfern auch Kristalle, die sich lässig über die Mauern treiben ließen und auf die hyänengesichtigen Fremden ihre Strahlen verschossen. Redfern schwang sein Schwert und rannte mitten ins Kampfgetümmel. Tony hatte sein leergeschossenes Maschinengewehr weggeworfen und nach dem nächstbesten Schwert gegriffen. Zusammen mit Redfern säuberte er einen ganzen breiten Streifen; die Gara'hec und die Zauberer kamen ihnen zu Hilfe, und bald hatten sie ihr ganzes Viertel freigekämpft. Ein bißchen schämte sich Redfern schon, weil er Leben - wenn auch häßlich, unmenschlich und widerwärtig - zerstörte, aber er konnte sich den Luxus dieses Gefühls nicht leisten, solange ihm ausgerechnet diese Lebensform die Gedärme zu durchbohren suchte. Tony tat einen lauten Schrei. Nyllee, eine von erfolgreicher Jagd kommende Diana, rannte ihnen mit einer rauchenden Springfield in der rechten, mit einem blutigen Dolch in der linken Hand entgegen.
Als Tony und Nyllee einander versichert hatten, daß sie beide unverletzt waren, erblickte
Redfern Val. Ihre Brust wogte. Sie sah überanstrengt und abgekämpft aus, lächelte ihn aber
tapfer an.
„Wir haben also gewonnen, Scobie."
„Scheint so."
Ein Zauberer, der immer an Vivasjans Seite gewesen war, seit der Kampf begonnen hatte,
kam ihnen entgegen und schwang mit einer Hand, die noch immer ein wenig zitterte, seine
Grünstrahlwaffe. Sein ernstes Gesicht ließ Redfern vermuten, daß die Neuigkeiten, die er
brachte, nicht gut sein konnten.
„Das erste Scharmützel haben wir zwar gewonnen", erklärte der Zauberer leise, „aber ihr
vergeßt die Kriegsmaschinen. Bald werden sie über die Grassee kriechen. Dann beginnt erst
der richtige Kampf."
„O nein!" rief Scobie Redfern erschüttert.
Val lachte hysterisch.
Tony küßte Nyllee fest auf den Mund und schob sie von sich.
„Aber wir können sie noch immer schlagen. Nach alldem, was wir erreicht haben, kann Arlan
es nicht zulassen, daß wir verlieren!"
„Aber die Haßprojektoren!" Redfern griff nach Vals Schulter und drückte sie. „Niemand kann
an ihnen vorbeikommen!"
Der Zauberer nickte, aber er schien kein Selbstvertrauen mehr zu haben.
„Die Infalgon sind unseren treuen Gara'hec ähnlich. Aber es gibt doch einen Unterschied
zwischen ihnen. Und den habt ihr ja gesehen."
„Sie sind schneller, zäher, gerissener", meinte Redfern. „Na und?"
„Die Wesen, die sie geschaffen haben, sind vielleicht immun gegenüber unseren
Emotionsprojektoren. Wir werden alle Emotionen an ihnen ausprobieren - Haß, Furcht, Reue,
sogar Liebe. Wir versuchen natürlich, sie zurückzuschlagen. Aber diesen Tag haben wir auf
Senchuria seit langem gefürchtet - jenen Tag, da eine Armee kommt, die auf unsere
emotionellen Verteidigungsanlagen nicht reagiert."
Tonys Schwert fiel klirrend auf den Steinboden. „Wir werden kämpfen!" versprach er.
Nyllee untersuchte sorgfältig, neugierig und mit erstaunlich viel Sachverstand einen der
Grünstrahlprojektoren der Zauberer. Sie schien sich um nichts Sorgen zu machen.
„Klar, Tony", sagte sie und probierte die Knöpfchen und Schalter an dem Projektor aus.
„Klar, wir kämpfen gegen sie."
Aber Scobie Redfern wußte, daß alles trotz aller schönen Worte mißlungen war. Es war fast
so wie eine Leibspeise, von der man sich noch ein Restchen für später aufhebt, das dann doch
sauer wird, und dagegen ließ sich dann nichts mehr tun, gar nichts mehr.
Ein Lärm, der von vielen sich versammelnden Menschen stammte, lenkte ihn von diesen
Gedanken ab. Er sah von den Wällen zur Stadt hinunter. Eine riesige Menge schob sich
langsam den Mauern entgegen. Einzelne Leute kletterten hinauf. Sie trugen ein weniges an
Rüstung, an Waffen. Ihre Kleider waren scharlachrot, braun, schwarz und blau. Ein paar
hatten Strahlenprojektoren, andere Flinten und Gewehre, wieder andere Waffen, die Redfern
noch nie gesehen hatte.
„Alle auf Senchuria werden kämpfen." Das sagte der Zauberer so, als wisse er genau, wie
überflüssig die Worte waren.
„Aber da sind so viele alte Menschen dabei!" wandte Val ein. „Warum verjüngen Sie die
nicht auch so, wie Sie uns verjüngt haben?"
„Seit vielen Generationen wird bei uns verjüngt", erklärte der Zauberer. „Man kann jede
einzelne Person nur einige Male verjüngen. Über eine gewisse Anzahl von Wiederholungen
hinaus ist der Prozeß unwirksam, und die Natur nimmt ihren Lauf. Manche dieser Leute sind
tausend Jahre alt, einige noch viel älter."
„Ihr habt uralte, seltsame und zauberhafte Kulturen hier", bemerkte Val; sie klammerte sich wieder fester an Redferns Arm. „Und nun soll das alles zerstört werden? O Scobie, gibt es denn für uns gar keine Möglichkeit, hier zu helfen?* Redfern hegte noch immer einen Rest von Groll wegen der Behandlung, die ihm die Zauberer hatten zuteil werden lassen, obwohl er allmählich begriff, warum sie ausgerechnet so und nicht anders handeln mußten. Sie waren ein durchaus ernsthaftes und höfliches Volk, das sich auch irdischer Wissenschaften und Technologie bediente, obwohl doch ihre eigenen Verjüngungsprozesse weit über der irdischen Geriatrie standen. Selbst wenn man ihren Standpunkt des Gebens und Nehmens einnahm, schuldete er ihnen jetzt nach diesem Kampf nichts. Redfern sah Val an. Sie schluckte und hielt seinem Blick stand. Dann blinzelte sie heftig und legte wartend den Kopf schief. Redfern fühlte sich in einer Falle gefangen. Vivasjan war langsam zum Wall hinaufgegangen, und die anderen Zauberer redeten eifrig mit ihm und Val. Tony und Nyllee traten zu ihnen. Sie wurden immer erregter. Dann zog Val an Redferns Arm. „Jetzt hast du lange genug vor dich hin gebrütet, Scobie", erklärte sie ihm energisch. „Höre mir zu: Es gibt eine Möglichkeit, die Infalgon zu schlagen..." „Ich weiß." Redfern war selbst schon zu einer Entscheidung gelangt. „Wir werden gegen sie kämpfen. Wir alle. Verlieren wir - nun gut, dann verlieren wir eben. Wir..." „Nein, Scobie!" rief Val, und ihr Gesicht strahlte vor Energie. „Vivasjan weiß, wo es eine große, sehr wirksame Waffe gibt. Nur wer sie besorgt, kann leicht dabei umkommen.
11.
Redfern wußte genau, was er eigentlich hätte tun sollen, bevor er damit einverstanden war, daß man ihn in diese gespenstische Höhle mit ihren Stalaktiten, den düsteren Nischen und dem Atem des Übels beförderte. Die Dunkelheit drückte auf ihn und schloß ihn immer enger ein. Der Strahl ihrer Taschenlampen schnitt papierdünne Scheibchen aus dem Block der Dunkelheit. O ja, Redfern wußte, was er hätte tun sollen, als er den eisigen Untergrundstrom hinabglitt. Er hätte nach Val greifen sollen, um sie zu bitten, einen neuen Nodalpunkt in eine andere, freundlichere Dimension zu finden. Ihre Freunde hätte sie ja mitnehmen können. Wenn er darauf bestanden hätte, könnten sie jetzt in New York sein, ein saftiges Steak mit delikaten Beilagen essen und eine Tasse dampfenden Kaffees trinken. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und er fluchte. „Ruhig, Scobie", mahnte Val und stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. Man hatte sie ausstaffiert und zum Nodalpunkt gebracht, der in der Stadt der Zauberer lag, und Val hatte sie alle durchgeschleust - Tony, Nyllee, sich selbst und Redfern. Und jetzt befanden sie sich in einer anderen Welt, krochen durch gespenstische, unheimliche Höhlen und suchten wieder ein Portal, das in eine andere Welt führte, in ihre Zielwelt. „Ist es noch sehr weit?" wisperte Tony. „Ich spüre es schon vor uns. Ruhig sein." Die Zauberer selbst verfügten über keine Porteure, denn in ihrer Rasse war diese Gabe noch niemals aufgetreten. Sie hielten auch nicht sehr viel davon oder besser gesagt: Sie mochten sie nicht. Val hatte sie daher ziemlich erschüttert. Aber Vivasjan hatte gesagt: „In einer Welt, die Narangon genannt wird und deren Bevölkerung nur aus erbitterten Feinden der Infalgon besteht, gibt es eine Waffe, die deren Kriegsmaschinen zerstören kann. Wir wissen davon, aber noch kein Händler hat sie uns je angeboten. Und nun brauchen wir sie dringend."
„Wir sind ganz nahe daran", flüsterte Val. Sie kletterten über einen riesigen Felsblock. Ganz weit vorn leuchtete ein merkwürdiges, phosphoreszierendes Moos, und dort blieb Val dann stehen. Sie drehte sich suchend nach allen Richtungen. Ihre geschlossenen Augen und ihr angestrengtes, hingebungsvolles Gesicht rührten Redfern zutiefst. Sie hatten diese Höhlen von den Burgverliesen der Stadt der Zauberer aus betreten. Jetzt suchten sie den nächsten Durchlaß auf ihrer makabren Reise zwischen den Dimensionen. Hinter ihnen huschte etwas über lockere Steine. Tony schwang seine Lampe herum. Nyllee bemerkte etwas von hervorquellenden Froschaugen und zog ihre Strahlenwaffe. Redfern fühlte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte. Auch er faßte seine Strahlenwaffe fester. Val stand noch immer da und suchte im insubstantiellen Medium nach dem nächsten Nodalpunkt. Über ihnen hing der Schuppenleib einer riesigen Schlange. Der keilförmige Kopf bog sich über ihnen, und die lange, gespaltene Zunge zuckte aus dem schwarzumrandeten Maul. Vier gefährlich gebogene Fangzähne glitzerten im Licht der menschlichen Taschenlampen. Die Augen des Reptils schössen gelbe Blitze, als das riesige Haupt von einer Seite zur anderen schwenkte. Der gefährliche, keilförmige Kopf schoß auf sie herunter. Er war so riesig, daß er einen ausgewachsenen Menschen mit einem einzigen Schnapper verschwinden lassen konnte. Redfern stellte sich vor Grauen erstarrt vor, wie Vals Arme und Beine aus diesem häßlichen Maul ragten. Nyllee dagegen schoß. Der blaßgrüne Strahl schnitt wie eine Schere durch Haut und Schuppen. Jetzt schoß auch Redfern. Der Schlangenkopf zuckte ihnen entgegen und wirbelte um sie herum, jetzt aber ohne Leib dahinter. Wie ein Fußball hüpfte er in der dunklen Höhle herum. Der Schlangenleib spielte ebenfalls verrückt, aber ganz unabhängig vom Kopf. Schuppen stellten sich auf, bogen sich und schlugen zu. Aber dann bäumte sich die schlängelnde Länge noch einmal heftig auf und blieb still liegen. Die Schlange war tot. „Welch ein Ungeheuer!" rief Nyllee. Val öffnete die Augen. „Wir gehen weiter", sagte sie und gönnte der toten Schlange nicht einmal einen raschen Blick. Sie machten sich also auf den Weg, überkletterten oder umgingen Felsen, Gruben und Schotter und erreichten schließlich ein kleines Flußbett. „Hier", sagte Val einfach. Sie standen nebeneinander, hatten die Arme ineinander verschränkt und die Waffen schußbereit, als Val ihnen befahl, sich für den Durchgang bereitzumachen. Ohne jede Schwierigkeit gelangten sie an ihr Ziel. Das kleine Rinnsal im Flußbett der Höhle war sofort zu einem breiten, braunen, reißenden Strom geworden. Baumstämme und aller mögliche Unrat tanzten auf den Wirbeln. Sie standen am abbröckelnden Ufer, von dem Bäume und Ranken in den Fluß stürzten. Auch die Erde bröckelte in dicken Klumpen ab. Ein Baumriese lockerte sich und fiel krachend um. „Flut", stellte Nyllee fest und schaute sich interessiert um. „Und wohin jetzt, Val?" fragte Redfern. „Ich bin ein wenig verwirrt", erwiderte sie. „Es ist alles so ... neu ..." „Vivasjan kannte den Weg, Val", stellte Redfern mit einer Sicherheit fest, die, wie er hoffte, auf sie übergehen möge. „Und wo sollte das nächste Tor sein?" „Ich glaube, es ist nur noch eine Dimension bis Narangon..." Das Ufer bröckelte weiter ab, und die Reisenden zwischen den Dimensionen traten vorsichtig ein paar Schritte zurück. Redfern überzeugte sich davon, daß noch alle ihre Waffen griffbereit hatten und ihre Packen unversehrt waren. „Gut, Val. Also auf zum nächsten Tor", sagte er entschlossen. Sie gingen ein paar Meter stromaufwärts. „Hier", erklärte Val.
Als geschlossene Gruppe gingen sie durch und standen plötzlich in einer neuen, wilden Welt voll seidiger Spinnweben. Banner und Bänder von unendlicher Zartheit wurden von einer leichten Brise in ihre Gesichter und Augen geweht; sie legten sich ihnen um die Beine und saugten sich in ihre Münder. Jasminduft erfüllte die Luft. Redfern hätte schwören mögen, daß er Beethovens Eroika im Hintergrund hörte, und die süßen, perlenden Töne schwebten nach oben und in die Breite vor einem rollenden, wiegenden, wogenden Hintergrund. Es war ein einziges Schweben und Klingen, ein seidiges Eingehülltwerden. Redfern zog sein Schwert und hieb sich aus den Spinnwebfesseln frei. Die anderen durchschnitten sie mit ihren Messern. Sofort schwebten neue Bänder heran, die in der frischen Brise einen Flattertanz vollführten, um sie wieder zu umgarnen. Ständig mußten sie schneiden und hauen, um diese zarten, zähen Fesseln abzuwehren. „Wohin, Val?" Redfern hörte sich selbst schreien, wußte aber nicht, weshalb. Vielleicht verwirrten ihn die Masse der seidigen Spinnweben, das rasche Spiel von Licht und Schatten unter einem unsichtbaren Himmel, der mächtige Rhythmus der Musik und die Romantik der Düfte. „Hierher... Es ist nicht mehr weit" Sie stapften hinter Val her, kämpften gegen Strähnen und Bänder, arbeiteten sich durch eine scheinbare Ewigkeit und Unendlichkeit weiter vor. Dann blieb Val stehen. „Hier... Ich glaube..." Redfern konnte sich gut in sie hineindenken. Er sah ganz klar, wie ungeheuer schwierig es sein mußte, sich in einer Welt klebender Spinnweben zu finden und zu wissen, welche Welt es war. Er berührte leicht ihren Arm, und lächelte sie dankbar an. „Gut, Val. Wir wollen also eine Gruppe bilden." Nyllee schwang ihr Messer und zerhieb die seidigen Strähnen und Bänder. Sie bildeten also eine Gruppe, verschränkten die Arme ineinander und erwarteten unter Vals Führung den Übergang in die nächste Dimension. Diesmal fielen sie etwa fußhoch auf einen kalten Fliesenboden. Eine alte Frau beschimpfte sie, weil sie Angst hatte. Klar, sie mußten auch reichlich komisch aussehen, denn Ihre vorher frischen, weißen Kleider waren beschmutzt vom Staub der Schlangenhöhle und dem Schlamm des Flußufers, und dicke Spinnweben klebten noch an ihnen. Der schlimmste Umstand war natürlich der, daß sie sich vor der alten Frau praktisch aus dem Nichts heraus materialisiert hatten. Sie beruhigten die alte Frau, die aber noch immer glaubte, sie seien Teufel oder die Abgesandten des Goldenen Ranghavitsah. Trotzdem erklärte sie ihnen, wo das Händlerviertel der Stadt lag. Val lächelte die Alte bezaubernd an. „Habe keine Angst vor uns", sagte sie. „Wir wollen dir, bei Arlan, nichts Böses tun. Wenn wir zurückkommen, werden wir dir ein Geschenk mitbringen. Welchen Wunsch können wir dir erfüllen?" Das alte, dürre Weib blies vor Wonne die faltigen Lederwangen auf. Vor Erregung ließ sie ihren Besen fallen. „Ein neues Gebiß könnte ich brauchen", erklärte sie rundheraus. „Die Zähne vom Oberkiefer halten überhaupt nicht mehr und fallen mir ständig aus dem Mund. Und dabei habe ich seit Jahren keine einzige süße Nuß mehr gegessen!" Redfern verstand ganz klar, was die Alte sagte, und er mußte lachen. Mit ein wenig mehr Hoffnung für die Zukunft machten sie sich auf den Weg in die Stadt Narangon. „Vivasjan hat gesagt, der Weg, den wir gegangen sind, sei ein Abschneider durch die Dimensionen", bemerkte Nyllee, die kräftig ausschritt. Sie hatte ihr Kleid kurzerhand über den Knien abgeschnitten, weil der lange Rock sie beim Gehen hinderte. „Er sagte, er sei sehr gefährlich." „Aber der Umweg außen herum hätte durch zu viele Dimensionen geführt", wandte Val ein. „Außerdem sind die einzelnen Portale oft sehr weit voneinander entfernt. Auch zu dieser
Stadt hätten wir einen sehr weiten Weg zurücklegen müssen, und auf jeden Fall wären wir gezwungen gewesen, durch eine Dimension namens Sharnavoy zu reisen." Sie schritten über lange Avenuen, an denen weitläufige, niedrige Häuser mit gelben Dächern, weißen Mauern und roten Türen standen. Die Sonne war angenehm, wenn auch nicht so warm wie in Senchuria. Leute gingen an ihnen vorbei; trotz ihrer merkwürdigen Aufmachung wurden sie aber kaum beachtet Überall herrschte lebhafter Verkehr; es gab Pferde, andere große Tiere mit vielen bunten Punkten, elektrische Wagen auf dicken Ballonreifen, Skimmer und Hubschrauber. Die weiten Straßen und großen Plätze schienen vor Leben und Energie zu vibrieren. „Unter dem Armbrustzeichen in der Cutler Street", sagte Redfern, der sich jeder Adresse erinnerte, die er von Vivasjan bekommen hatte. Die Cutler Street war leicht zu finden, und sie brauchten nur einmal nach dem Weg zu fragen. Das Haus mit dem Armbrustzeichen war nicht zu übersehen - ein weitläufiges weißes Gebäude mit gelbem Dach und drei Stockwerken. Der vergoldete Bogen schaukelte über der Tür. Sie läuteten. Ein mißtrauischer Mann mit Bart und Bauch führte sie in einen Vorraum. Dort sollten sie warten, bis man sie rufen würde. Endlich wurden sie von einem hartgesichtigen Mann in roter Samtrobe in Empfang genommen, dessen Haltung und goldene Ketten keinen Zweifel daran ließen, wie sehr er sich allen anderen Lebewesen überlegen fühlte. Dieser Mann erklärte ihnen, sie hätten Narangon durch ein nicht akkreditiertes Portal betreten. Dabei hätten sie eine alte Frau fast zu Tode erschreckt und deshalb müßten sie nun Zoll, Reisekosten, Steuern, Visagebühren und Kurtaxe bezahlen. Redfern glaubte an einen Witz. Der Sprecher Narangons, ein Bürokrat namens Narumble IV, erklärte säuerlich, daß man bei ihnen Witz und Geschäft streng voneinander trenne. Redfern wußte sofort, wie dieser Mann zu schlagen wäre, denn etwas noch Dümmeres hätte keiner von sich geben können. Die Leute von Narangon waren an interdimensionalen Handel gewöhnt. Die Beziehungen mit einigen Dimensionen wurden ziemlich geheim behandelt, aber der Handel mit anderen großen Rassen wie den Slikittern, Porvone und Zamash war genau abgesteckt, wobei immer wieder betont wurde, daß auch die Narangonesen eine große Rasse seien. „Wie die Infalgon?" fragte Redfern entwaffnend. * Ebensogut hätte er eine Stinkbombe fallen lassen können... Val erfaßte als erste die Gefahrensignale, glättete sofort geschickt die hochgehenden Wogen und erklärte die Mission der Gruppe. Als Narumble IV hörte, daß sie Waffen wünschten, um die Infalgon zurückzuschlagen, änderte sich sein Benehmen schlagartig. Nun wurde er zum Geschäftsmann, der etwas zu verkaufen hatte und es genoß, ein großes Geschäft abzuwickeln. „Was? Sie sprachen eben von diesen faulen Därmen, die Senchuria angegriffen haben? Das ist die verkommenste und unanständigste Lebensform, die wir kennen. Sie sind leprös, verpestet, unkeusch und korrupt." Narumble IV richtete sich zu voller Größe auf. Sein Gesicht war vor Erregung fleckig, sein Kinn zitterte, und sein ganzer Körper schüttelte sich vor zorniger Ablehnung. „Nur die Porvone sind noch schlimmer als die Infalgon!" Redfern zeigte dem Dicken sein Schwert. „Wir haben eine ganze Horde fliegender Zombies zusammengeschlagen. Wenn Sie uns die Waffen geben, die wir brauchen, räumen wir auch noch mit dem Rest auf." Das war von jeher eine ausgezeichnete Verhandlungsgrundlage. „Geben?" meinte der Dicke enttäuscht. „Wir können nur etwas gegen Bezahlung liefern." „Wir brauchen einen parakatisch-negativen Kohärer..." „Einen P.N.K.? Unmöglich! Die sind einzig und allein für die Streitkräfte von Narangon bestimmt." „Das haben wir auch gehört. Aber wir brauchen einen Paneko, und zwar ganz dringend. Die Kriegsmaschinen der Infalgon sind in diesem Augenblick auf dem Platz, auf dem wir stehen, im Anmarsch auf Senchuria."
Der Narangonese schaute sich um und lächelte ein wenig dümmlich dazu, denn es fiel ihm trotz allen interdimensionalen Handels und trotz aller weltmännischen Kaltblütigkeit doch schwer, sich vorzustellen, daß das, was jetzt und hier vorging, sich gleichzeitig auch in einer anderen Dimension abspielen konnte. „Und wir haben auch gehört, daß Sie immer etwas von Senchuria gewollt haben." Redfern sagte dies mit ein wenig harter Stimme. „Nun, wissen Sie..." Narumble IV begann zu zittern. Sein Eifer wurde zu fast unanständiger Gier. „Sie meinen, daß... der Verjüngungsprozeß... Würden Sie den vielleicht für einen Paneko eintauschen?" „Sie handeln doch seit Jahren mit Senchuria, direkt und über Mittelsleute. Jetzt braucht Senchuria Ihre Hilfe, und das, was bisher verweigert wurde, ist nun zu haben. Wir brauchen vier Panekos. Was sagen Sie dazu?" „Das ist ungeheuer wichtig... Stadtrat... Ratssitzung... Ich muß die Allerhöchsten..." Narumble IV plapperte vor Erregung unzusammenhängendes Zeug. „Aber machen Sie schnell. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Oh, und weil wir eben davon sprechen, vielleicht könnte Ihre Regierung auch gleich ein eigenes Heer durchschicken, um die Infalgon zurückzuschlagen." Narumbie IV eilte davon, warf ihm aber noch einen gekränkten Blick zu. „Die Kampfmittel stellen wir bereit", sagte er noch, und dann war er auch schon weg. Als Narumble IV schließlich zurückkam, brachte er Männer mit, die in der Hierarchie weit über ihm standen. Es waren Leute mit ernsten, würdigen Gesichtern, die alles genau erfahren wollten, bevor sie irgendwelche Zusagen machten oder mit den Allerallerhöchsten redeten. Redfern erklärte, alle Einzelheiten für den Verjüngungsprozeß seien in den Packstücken zu finden, mit denen eine erste Halle gebaut werden könne. Gleichzeitig warnte er sie aber, daß diese Packstücke mit besonderen Sicherungen versehen seien; sie könnten also die Segnungen des Verjüngungsprozesses so lange nicht genießen, als nicht die Panekos zur Verfügung stünden. Noch einmal mußten sie warten, und diesmal wurde auch Redfern ungeduldig. Tony marschierte auf und ab, denn er war nur noch ein Nervenbündel. Nyllee blieb dagegen von stoischer Ruhe. „Was spielen sie denn noch immer herum?" rief er. „Galt ist noch in Senchuria. Inzwischen kann er schon tot sein. O gütiger Arlan, so beeilt euch doch!" Aber die Wände konnte das nicht rühren; sie schwiegen. Endlich kehrte Narumble IV mit noch höheren Herren zurück, die unter ihren Pelzkappen und dicken goldenen Ketten zitterten. Der Allerallerhöchste hatte gnädig zugestimmt! Er wurde allmählich alt und war der Meinung, daß er noch Unwahrscheinliches leisten könne, wenn man ihn verjünge, und all die alten Männer im Raum gaben dazu ihre begeisterte Zustimmung. Narumble IV musterte Vals reizende Gestalt mit einem Feuer, das er schon längst erloschen geglaubt hatte. Redfern lachte und stürzte sich kopfüber in die Einzelheiten des Geschäfts. Man überreichte die Packstücke aus Senchuria und gab die dazu noch nötigen Erklärungen. Alles war ordentlich und übersichtlich für den Bau einer Verjüngungshalle zusammengestellt. Man überreichte ihnen dafür die vier parakatisch-negativen Kohärer. Redfern nahm einen in die Hand. „Ist das einer?" fragte er mißtrauisch. Das Ding sah aus wie eine Spielzeugpistole aus Plastik mit nur ein paar fremdartig wirkenden Zusätzen. Er schwang das Ding herum, und die alten Männer, die sich schon der Vorfreude auf die Verjüngungskur hingaben, kippten eiligst aus der Schußlinie. „Den Drücker nicht berühren!" schrie Narumble IV. Das Gerät funktionierte eigentlich ganz einfach; es band die Energie des Zieles an sich selbst und entflocht die Moleküle. Im Projektor selbst wurden keine Energien benötigt, da er sich
der Zielenergie bediente. Das war einfach, genau und tödlich. Redfern fühlte, wie sich von der Waffe her ein Gefühl der Überlegenheit in seinen Geist stahl. „Das war's also", stellte er ziemlich erleichtert fest. „Erfrischungen... werden Sie nötig haben..." Narumble IV entfernte sich. Die Dimensionsreisenden wollten aber keine Erfrischungen, sondern nach Senchuria zurückkehren, akzeptierten aber dann ein paar krümelige Kekse und ein Glas sauren Weines, um nicht unhöflich zu erscheinen. Sie wußten ja, wie sehnsüchtig sie erwartet wurden, und die Reise zwischen den Dimensionen nahm schließlich auch einige Zeit in Anspruch. „Hören Sie", begann Redfern und schluckte den letzten Krümel hinunter. „Können Sie uns nicht irgendein Transportmittel leihen, das uns zu den Toren in die nächste Dimension bringt? Ich bin nicht ganz sicher..." Er sah Val dabei an. Sie schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit für den langen Weg. Wir nehmen den gleichen, den wir gekommen sind." „In Sharnavoy müßten Sie sehr weit mit einem Griff fliegen", erklärte einer von Narumbles Kollegen. „Dann kämen Sie heraus in einer Dimension, die Ohio heißt. Von hier hätten Sie eine ziemlich lange Autoreise in einen anderen Teil dieser Dimension, der Manhattan genannt wird, und von dort aus können Sie durch vier oder mehr Tore nach Senchuria zurückkehren." Redfern fühlte, wie sich die Wände um ihn zu drehen begannen. Ihm wurde schrecklich heiß, und in seinen Ohren rauschte es wie eine Meeresbrandung. Die Erde! Er konnte jetzt alles von sich abschütteln, den ganzen Horror hinter sich lassen und einfach in eine Dimension übertreten, die ihn direkt nach Ohio brachte... Und Val konnte er mitnehmen. Val mußte ihn und die anderen portieren... Nein, das war nicht möglich, denn Val würde nicht gehen wollen. Sie würde ihm ihren Arlan vorhalten und dann von den Zauberern reden, und er würde zu allem nur nicken, das tun, was sie wollte, und nach Senchuria zurückkehren. Aber die Erde...die ERDE... Redfern hielt es für klüger, nichts zu sagen. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Er schob also das superwissenschaftliche Ding ins Holster zurück und hängte dieses an seinen Gürtel. Die drei anderen folgten seinem Beispiel. Er warf Val einen Blick zu, der von warmer Zuneigung sprach. Nyllee tätschelte ihre Waffe, Tony lächelte dazu. Es waren gute Kameraden, und gute Kameraden kamen überall durch. Sie mußten auch durchkommen, denn das Schicksal von Senchuria, von Galt und den anderen hing davon ab. Sie verließen das Haus und gerieten sofort in einen kleinen Tumult. Ein paar Leute rannten und schauten über die Schulter zurück, denn von dorther näherte sich Lärm. Redfern hatte ein unbehagliches Gefühl, das mehr einer unbestimmten Angst glich. Beamte und hohe Würdenträger liefen und fuhren um die riesigen Topfpflanzen herum den vier Dimensionsreisenden entgegen. Eine Stimme erhob sich, die von kristallener Reinheit und großer Würde war, aber einen Unterton süßer Drohung in sich trug. „Ihr glaubt doch nicht wirklich, daß sie das Geheimnis der Verjüngung mitgebracht haben? Seid ihr Dummköpfe! Ich kann euch mehr geben, als ihr haben wollt - das wahre Elixier des Lebens!" Die Stimme eines Mannes rief einen heftigen Protest. Die unsichtbare Frau zerschlug erbarmungslos die Opposition. „Der Handel mit mir ist euch doch etwas wert? Ich wünsche, daß die Zauberer von Senchuria vernichtet werden, sie und ihre Stadt! Die Infalgon sind mir egal, aber die Zauberer müssen ausgerottet werden!" Wie eine Hand aus Eis griffen diese Worte Redfern ans Herz. „Ihr kennt mich und meine Macht! Schickt diese Hampelmänner weg, aber ohne Waffen! Ich wünsche, daß die Zauberer vernichtet, zerschlagen, zerbrochen werden und alle ihre Freunde mit ihnen!"
12.
Und dann teilte sich die Menge und gab eine stolze Frau frei.
Val griff nach Redferns Arm.
Sie war groß und eisig gebieterisch. Ihr weißes Gewand floß in königlichen Falten zu den
Füßen hinunter. Dunkles Haar war hoch aufgetürmt, und in zahllosen Edelsteinen fing sich
funkelnd das Licht. Ihre blaugetönten Augenlider, die langen, dichten, schwarzgefärbten
Wimpern umrahmten eiskalte blaue Augen. Ihr kleiner Rosenknospenmund zuckte vor
Bosheit und Ekel.
„Sind es diese Kreaturen?" „Ja, Hoheit, das sind die Händler aus Senchuria."
Ihr Blick richtete sich auf Redfern, und er richtete sich hoch auf.
Um das linke Handgelenk trug sie ein reich mit Juwelen besetztes Armband; daran war eine
glitzernde Kette befestigt, an der eine recht merkwürdige Kreatur hing. Sie endete an einem
Metallreifen, der um den Hals dieses Wesens lag. Redfern stutzte, aber dann erfüllte ihn ein
unheiliger Zorn und Ekel.
Das Ding war nämlich ein Mensch; genauer gesagt, ein Menschlein, das einen immens
großen, knolligen Kopf hatte, auf dem eine lächerliche blaue Samtkappe schwebte. Die Feder
darauf war an der Spitze geknickt. Das Männchen war in dunkelroten Samt gekleidet, und der
weiße Spitzenkragen darauf sah aus wie ein Kinderlätzchen.
Der Zwerg bewegte sich, und die Kette klirrte.
„Ruhig, Soloman!" herrschte sie ihn an und zerrte an der Kette.
Val schüttelte sich vor Entsetzen.
„Bei Arlan!" rief Tony und griff an seinen Gürtel.
Nyllee schrie etwas und riß ihren Strahlenprojektor heraus. Der blaß-grüne Strahl zuckte über
die weißgewandete Frau. Aber sie stand gleichgültig und hochmütig da. Der grüne Strahl
wusch über sie wie ein Rasensprenger, kringelte sich zusammen und verschwand.
„Lauft!" rief Val und griff nach Redferns Arm. „Lauft!"
In der Halle brach ein Tumult aus. Männer und Wesen aus anderen Dimensionen rannten
umher und flohen. Der grüne Strahl hatte sich nämlich zu Säulendicke aufgefächert, und nun
senkte sich ein Teil des flachen Daches und brach in einem Chaos aus Staub und Schindeln
zusammen.
.Es war ein ohrenbetäubender Krach. Redfern bemerkte, wie die Frau an der Kette zerrte. Aus
den Schatten heraus sah er einen großen, schwingenden Hut kommen, unter dem ein langer,
fleckiger Regenmantel erschien. Eine Gestalt bewegte sich vorwärts, aber anstelle des
Gesichts hatte sie nur zwei Feuergruben.
„Ein Trug!"
Jetzt wußte er es.
Die Leute rannten in alle Richtungen davon. Narumble IV taumelte zurück, und sein Gesicht
war eine Maske nackter Angst. Nyllee schoß wieder. Dann sah Redfern, daß sie den Strahl
geknickt hatte, so daß noch mehr vom Dach herunterfiel.
Val zupfte ihn am Ärmel, und jetzt wurde auch er aktiv. Er stieß Tony an.
„Schnell weg von hier, Tony! Nimm Nyllee mit und beeile dich!"
Aber Tony gab ein Triumphgeheul von sich. Er schwang den Paneko und zielte damit in das
größte Getümmel.
„Mit der Montevarchi werden wir schon fertig! Darauf haben wir schon lange gewartet! Alle
toten Sklaven der Minen auf Irunium vereinigen sich in diesem Augenblick der
triumphierenden Rache mit uns!"
„Nein, nein!" rief Narumble IV. „Sie werden alles zerstören. Schießen Sie doch bitte den
Paneko nicht ab, Sie Narr!"
Der Bürokrat rannte mit fliegendem Gewand auf Tony zu und wollte ihn anspringen. Redfern glaubte eine dünne Vibrationslinie aus der Mündung des Paneko schießen zu sehen. Ob diese Vibration jedoch wirklich aus der Waffe kam oder vom einstürzenden Haus zurückkehrte, konnte er nicht feststellen. Er sah nur, wie sich diese insubstantielle Linie verdichtete und zu einer soliden, ebenholzdunklen Schwärze wurde. Wohin dieser schwarze Bleistift tippte, hörte das Gebäude zu existieren auf. Luft strömte in die plötzliche Leere, Staub puffte auf und verging; die Moleküle von Steinen und Ziegeln hatten sich aufgelöst. Tony fluchte und schüttelte Narumble IV ab. Er richtete den Paneko auf die Frau in dem weißen Gewand. Der schwarze Bleistift der totalen Vernichtung beschrieb einen Bogen vom Dach zur Mauerkante, zur nächsten Säule, löste sie auf und blieb schließlich an der Brust der Frau hängen. Und jetzt blieb Redfern fast der Atem stehen. Diese unerbittliche Zerstörungskraft, die ihre Energie aus dem Gegenstand oder Wesen bezog, das sie vernichtete, blühte auf. Sie wurde zu einer kugeligen Schale, die sich um die Frau und ihr Männchen legte. Sie lachte wie eine Wahnsinnige. Nyllee griff nach Tonys Arm und schrie: „Sie hat eine Gegenwaffe! Tony, renne! Sonst kommen wir nicht mehr weg!" Tony folgte, und Val zerrte Redfern mit. Die vier Dimensionsreisenden rannten die Cutler Street entlang. Das letzte, was sie noch hörten, war der ungläubige Schrei Narumbles IV, der nicht glauben wollte, daß ein Paneko je versagen könnte. „Man kann schließlich nicht alles haben", keuchte Redfern. „Das war doch die Contessa, oder? Na, die kennen wir ja. Die hat auch auf alles eine Antwort." „Und die falschen Zähne haben wir jetzt auch nicht mehr besorgt", jammerte Val. Aber darüber mußte Redfern schon wieder lachen, als er dem Keller eines Hauses zu jagte, in dem sich ein Tor zu irgendeiner Dimension befand. Dort mußten sie erst eine ganze Gruppe vierschrötiger Wächter mit großen Schutzbrillen und Lederhelmen mit der neuen Waffe in Schach halten, ehe sie auf Vals Kommando hin in die Luft sprangen. Im nächsten Moment hingen schon wieder die klebrigen Spinnennetze an ihnen. Val ließ sich von ihnen nicht beirren, und Redfern durchschlug mit seinem Schwert alles, was sich ihm in den Weg legte. Und dann war da wieder der Jasminduft. Ein Umriß bewegte sich in den weichen Nebeln der Spinnenfäden, und Redfern dachte schon, es sei vielleicht eine Riesenspinne mit Beinen von Baumstammdicke und riesigen Klappkiefern, die hungrig mahlten. Nyllee schoß. Das Ding meckerte ein wenig, taumelte zurück, verfing sich in einem Blizzard von Strähnen, Bändern und Netzen und war nicht mehr zu erkennen. Eine Spinne war es sicher nicht mehr. „Hier sind wir", keuchte Val; alle keuchten und konnten es kaum mehr erwarten, aus dieser Spinnendimension verschwinden zu können. Und dann schrie Redfern, denn er stürzte kopfüber in schäumendes Wasser, und die anderen folgten ihm. Es war ein schweres Stück Arbeit, sich aus den Strudeln wieder an die Oberfläche zurückzukämpfen. Redfern bekam Val zu packen und konnte sich mit der anderen Hand an einem treibenden Baumstamm festhalten. Der Strom führte viel mehr Wasser und Unrat als vorher, und Val befürchtete, daß er die Höhle überschwemmt haben könnte, in der sich das nächste Tor befand. Tony und Nyllee hatten einen anderen Baumstamm gefunden, doch sie trieben weiter in der Strommitte, wo die Wirbel noch viel gefährlicher waren als am Rand. Tony schnappte nach Luft und versuchte, den Baumstamm ans Ufer zu lenken, doch die Strömung war viel zu stark. „Das Tor, das Tor!" schrie Val. „Tony und Nyllee werden vorbeigetrieben!"
Wasser schäumte und rauschte, riß sie in die Strudel und wirbelte sie wieder nach oben.
Wasser drang ihnen in Augen, Ohren, Nase und Mund; sie schluckten und schnappten nach
Luft. Und das Tor kam immer näher.
„Denke jetzt an Galt und die Zauberer", schrie Redfern. „Wir kommen zurück und holen
Tony und Nyllee ..."
Und dann schluckten sie noch ein bißchen mehr Wasser, und als sie es geschluckt hatten,
saßen sie in vollkommener Dunkelheit mitten im Strom der Höhle.
Ihre Taschenlampen zeigten ihnen, daß sie tatsächlich die Schlangenhöhle erreicht hatten.
Schweigend taumelten sie weiter. Ohne ihre beiden Kameraden kamen sie sich nackt, hilflos
und einsam vor. Was hätten sie tun können, um sie mitzuziehen?
„Wir holen sie uns wieder", versprach Redfern, und Val lächelte matt.
Das Schlangenweibchen kroch aus der Dunkelheit heran. Der riesige, keilförmige Kopf mit
den weißen, gebogenen Fängen wiegte sich von einer Seite zur anderen. Würde Val Zeit
genug haben, das Tor nach Senchuria zu finden?
Redfern hob die Grünstrahlwaffe mit zitternden Händen und drückte ab. Nichts passierte. Die
zwei gelben Augenkreise glänzten hypnotisch. „Der Strom hat diese Waffe ruiniert!" stöhnte
Redfern.
Val duckte sich zitternd. Entschlossen zog er den Paneko aus dem Holster. Es war natürlich
möglich, daß ihm das ganze Dach der Höhle auf den Kopf fallen würde, aber was sollte er
sonst tun? Sich lieber von der Schlange fressen lassen?
Er drückte ab. Die insubstantielle Linie zuckte wieder heraus, zitterte, verdichtete sich und
verschmolz zu mitternächtlicher Schwärze. Der Schlangenkopf verpuffte zu Staub.
Dann bäumte sich der riesige Leib auf; die Schuppen schillerten und glühten, und dann lag
der mächtige Körper unbeweglich da. Redfern atmete erleichtert auf. Aber dann brachen
Brocken aus dem Dach und polterten herunter, doch das Gewölbe selbst hielt.
Sie gingen weiter. Bei jedem Stein, der rollte, schreckte Redfern zusammen, denn es konnten
ja noch weitere Schlangen in der Höhle sein, die durch Geräusche angelockt würden. Der
Weg schien kein Ende mehr nehmen zu wollen.
Endlich, allen Göttern sei dafür gedankt, hörte er Val sagen: „Wir sind da, Scobie. Hier ist das
Portal." Er fühlte sich um Jahre gealtert, als er seinen Arm um Vals Schultern legte, um den
Transit zu erwarten.
Für einen, der es gar nicht mochte, herumgeschubst zu werden, war Scobie Redfern in letzter
Zeit reichlich viel herumgeschubst worden; diesmal war es ihm recht, denn er stand auf den
kühlen Steinen der Gewölbe unter der Festung der Zauberer von Senchuria. Er hatte das ein
bißchen abwegige Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.
Der an seinem Gürtel hängende Paneko verlieh ihm das Gefühl von Stärke und Tüchtigkeit.
Außerdem gab es für das, was seiner wartete, keine Alternative. Wenn er schon kämpfen
mußte, dann konnte er es jetzt wenigstens mit einer guten Waffe tun. Ihm kam die Ahnung,
daß er noch nicht alle Tiefen in sich selbst ausgeschöpft hatte.
Redfern und Val rannten zum juwelenverzierten Eskalator, rannten über den Hof, rannten
Hand in Hand zu den Wällen.
Vivasjan eilte ihnen entgegen, und sein Gesicht war von Verzweiflung gezeichnet. Von den
Wällen kam kaum ein Geräusch.
„Ihr seid zu spät zurückgekommen, zu spät! Wir müssen uns beeilen. Alles ist verloren!"
„Zu spät?" Val war enttäuscht und zornig.
„Beeilt euch!" drängte Vivasjan. Er lief an ihnen vorbei, um in die Sicherheit der Festung zu
gelangen, und viele Leute liefen mit, unter ihnen auch Gara'hec und Suslincs. Es war eine
allgemeine Flucht.
„Wartet doch, so wartet doch!" schrie Redfern. „Wir haben die Waffen!"
„Nun...", begann Val. Dann sah sie Galt.
Er war hohlwangig, Mina stützte ihn, nicht umgekehrt. Dann kam Mutter Haapan, die noch in der Schönheit ihrer Jugend strahlte, wenn sie auch von Tragik und Angst umwittert war. Sie hatte den Mann bei sich, der sie aus der Verjüngungshalle abgeholt hatte. Redfern hielt Galt fest. „Was geht hier vor, Galt?" fragte er den Philosophen, der ihn verständnislos anstarrte. Er plapperte etwas Unverständliches. Mina wisperte Val zu: „Gut, daß du da bist. Du kannst dem anderen Porteur helfen. Wir evakuieren die Stadt Senchuria." „Wieso evakuieren? Und was ist mit dem anderen Porteur?" „Ja, du hast doch gehört. Beeilt euch! Sie kamen, um uns in eine andere Dimension zu bringen, es ist sehr eilig! Die Kriegsmaschinen der Infalgon stehen schon fast an den Wällen." „Wo ist der andere Porteur?" fragte Redfern. „Am Tor der Rubine, am anderen Ende des Chrysoberyllflügels. Sie sind durchgekommen und wollen uns jetzt in Sicherheit bringen." Val rannte keuchend neben einem keuchenden Redfern zum Tor der Rubine. Sie drängten sich durch Menschenmengen und erreichten endlich das Tor, als das erste ominöse Getöse von den Wällen kam. Zwischen den Steinen zeigten sich die ersten Löcher; die Kriegsmaschinen der Infalgon waren am Werk. Redfern zögerte. Natürlich würde der Paneko diese Maschinen stoppen, aber er wußte auch, daß er, wollte er in Sicherheit kommen, zu diesem anderen Porteur gelangen mußte. Die Leute schrien, als die ersten Rubine aus dem Tor brachen. Ein Vermögen rollte in den Staub. Ein kurzer, breiter Mann lief auf Redfern zu. Er schwang ein langes Schwert und trug eine recht seltsame Rüstung. An seinem Gürtel hing eine Handwaffe, die Redfern noch nie gesehen hatte. Der Mann sah wie der Teufel persönlich drein, und er schien ein Mann zu sein, der einen Ochsen mit einem Schwertstreich in zwei Hälften zu spalten vermochte. „Zurück, zurück!" schrie der Mann, und Redfern verstand ihn über sein Translatorband. „Zurück! Frauen und Kinder zuerst!" Und nun tauchte aus dem Staub ein Riese auf, der eine Riesenaxt schwang, die kein anderer Sterblicher auch nur hätte anheben können. Sein Gesicht war das eines wütenden Barbaren. Die Flüchtlinge räumten nur allzu freiwillig den Weg, als er dem Tor der Rubine entgegenstürmte. „Fezius, aufhalten!" brüllte er. „Sarah wird sonst erdrückt!" „Offa, du alter Angeber, was glaubst du denn, was ich hier tue?" „Beim Schwarzen Max, du sollst sie nicht mit Samthandschuhen anfassen, sonst muß ich erst..." „Sarah!" brüllte Redfern. „Ist es wirklich Sarah?" Der Stämmige schaute ihn entgeistert an, als sei er eben aus einem Abflußrohr gekrochen. „Dieser Affe hat wohl Ohren, aber er weiß sie nicht zu gebrauchen. Und übrigens, was weißt du von Sarah?" «„Ist David Macklin da? Und Alec?" „He! Da ist ja einer, der sich auskennt!" „Das Mädchen hier, Val, ist auch ein Porteur!" schrie Redfern durch den dicken Staub. „Sie kann Sarah helfen, und ich kümmere mich inzwischen um die Kriegsmaschinen der Infalgon." „Noch ein Porteur? Bei Amra, das ist ja großartig!" Dann erst begriff Fezius, was Redfern gesagt hatte. Er runzelte die Stirn und sah nun wie ein mittelalterlicher Wasserspeier aus. „Die haben aber schreckliche Waffen . . ." „Und ich hab' das hier!" brüllte Redfern und zeigte den Paneko. Er erinnerte sich an das, was David Macklin über Fezius und Offa gesagt hatte, als er auf der Baumwollplattform von Myrcinus saß. Macklin hatte seine Freunde nach ihm ausgeschickt, und er war also nicht vergessen. Es war tröstlich, daß er Fezius und Offa neben sich wußte. „Scobie Redfern, wir haben dich gesucht", berichtete Fezius. „David hat sich ständig Vorwürfe gemacht, er habe dich in die Hand der Montevarchi fallen lassen. Sie kamen knapp mit dem Leben davon, aber du warst verschwunden. Natürlich ahnten sie, wohin. Wir sind
deiner Spur gefolgt, und dann brach dieser kleine Tumult hier aus. Jetzt können wir die
Infalgon ein bißchen aufmischen."
Sie hatten inzwischen die Mauern erreicht, in die schon einige Breschen geschlagen waren.
Redfern sah hinaus auf die Grassee. Massive Maschinen rollten auf Gleisen heran. Viele
hatten sich bis an die Stadtmauer vorgeschoben und droschen nun weiter auf die Mauern ein.
Jede dieser Maschinen war riesengroß, viel wuchtiger als der größte irdische Panzerwagen.
Sie bewegten sich mit drohender Langsamkeit; nur noch ein paar große Kristalle schwebten
über ihnen, und Redfern fühlte noch die Ränder der Haßwogen, die von den Kristallen
ausgingen. Die Maschinen rollten unbeirrt weiter.
„Die sind die schwarze Spucke Amras", sagte Fezius. „Nicht einmal die Emotionsprojektoren
von Senchuria konnten sie aufhalten."
„Nein, aber das hier hält sie auf."
Redfern drückte ab, und wieder zuckte jener insubstantielle Blitz aus dem Lauf der Waffe, der
sich schnell zu tiefster Schwärze verdichtete. Ein paar Kriegsmaschinen lösten sich auf zu
nebelhaftem Staub, und die Luft drückte nach, um das Vakuum zu füllen. Er schwang die
Waffe, bestrich damit alles, was sich den Mauern näherte, pickte die eine oder andere
Maschine heraus, nahm sich die' nächste aufs Korn und wartete darauf, daß sie irgendwie
reagierten.
In Begleitung der beiden Venudiner begann Redfern die Runde um die Stadt. Eine Maschine
nach der anderen löste sich in Staub auf. Nichts deutete mehr darauf hin, daß es sie gegeben
hatte.
Als die Reaktion dann eintrat, war sie kaum zu bemerken, denn sie kam gegen die Kraft des
Paneko nicht auf. Jetzt fühlte sich Redfern ordentlich erleichtert, daß Val die zweite Waffe
hatte. Er hatte sie ihr absichtlich gelassen, weil er wußte, daß sie eine gewisse Garantie für ein
Überleben war.
Ab und zu flog eine Säuregranate aus einer der noch kampffähigen Kriegsmaschinen, doch
ihre Wirkung verpuffte, und Redfern lachte nur darüber. „Da müssen sie sich schon was
Besseres ausdenken", spöttelte er.
„Scobie", sagte Fezius, „die Waffe, die du da hast, die ist wirklich ein Goldstück."
„Es hat auch einiges gekostet, an sie heranzukommen", meinte Redfern trocken.
Als alle Kriegsmaschinen vernichtet waren, fühlte sich Redfern doch ziemlich müde. Mit
Fezius und Offa verließ er die Wälle. Sie fanden Sarah und Val noch immer damit beschäftigt,
Leute durch das Portal zu schaffen, das in der Nähe des Tores der Rubine war.
Die Leute verstanden nicht recht, was da vorging, und begriffen erst recht nicht, als Redfern
den beiden Mädchen erklärte, der Krieg sei aus und sie könnten ihre Tätigkeit einstellen.
„Geht jetzt nach Hause!" rief Fezius mit seiner mächtigen Stimme, die es ihm ermöglichte,
sich von einem Griff zum anderen zu verständigen. „Wir bringen eure Freunde zurück aus..."
„Woher?"
Val schob sich lachend eine braune Strähne aus dem Gesicht. „Sarah ist sehr gut", erklärte sie
begeistert. „Aber ich habe keine Ahnung, wohin wir diese Leute geschickt haben."
Sarah sah in ihrem psychedelischen Kleid makellos aus. Sie lachte und sah das Energiebündel
Fezius liebevoll an.
„Ist ja auch nicht wichtig, wo sie sind. Hauptsache, sie waren in Sicherheit. Und jetzt holen
wir sie zurück. Sie sind in einer Dimension, die Shosunate heißt. Von dort aus gibt es, wie ich
höre, eine direkte Verbindung zur Erde."
Vivasjan sah ein wenig zerrupft, trotzdem aber ungeheuer würdig aus. Er war erleichtert.
Galt gesellte sich nun auch zu ihnen, und er brachte Mina mit. Redfern erzählte ihnen von
Tony und Nyllee, und alle waren recht traurig darüber.
„Ich würde mir keine Sorgen um sie machen, wenn sie ein paar Panekos bei sich haben",
meinte der praktische Fezius. „Wir holen sie schon heraus."
„Klar", pflichtete ihm Sarah bei und lachte Redfern an. „David und Alec sind wieder in New
York. Die Contessa..."
Redfern berichtete nun ebenfalls.
„Sie wird allmählich lästig", meinte Sarah. „Wir werden uns bald mit Perdita befassen
müssen."
„Ist doch eine sehr hübsche und nette Person", bemerkte Offa.
Fezius murmelte etwas von einem Affen und einem Dummkopf und daß der kleinste
Flederwisch von einem Mädchen einen Ochsen wie Offa glatt um den Finger wickeln könne.
Vivasjan bedankte sich im Namen der Zauberer von Senchuria bei Redfern, Val und deren
Freunden für ihre tatkräftige Hilfe.
„Das war ja nur ein Handel, Vivasjan", erwiderte Redfern. „Geben und nehmen, das sind doch
eure Regeln. Ich werde euch noch wissen lassen, was ich dafür haben will."
„Kann euch recht teuer kommen", gab Fezius seinen Kommentar dazu.
Redfern dachte an Tony und Nyllee, an die Suslincs, die Gara'hec und die Gefühlsmelker auf
seinem Kopf und nickte. Er hatte einige Einsichten gewonnen und wußte, daß man manchmal
Druck anwenden mußte; das mußte er akzeptieren, wenn es ihm auch nicht gefiel.
ENDE