Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 749 Der Erleuchtete
Die Verrückten von Barquass von Marianne Sydow Anima und de...
3 downloads
179 Views
797KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 749 Der Erleuchtete
Die Verrückten von Barquass von Marianne Sydow Anima und der Schutzpatron der Piraten
Seit der Jahreswende 3818/19, als Atlan unvermittelt in die Galaxis ManamTuru versetzt wird, ist nach terranischer Zeitrechnung inzwischen fast ein ganzes Jahr vergangen. Der Arkonide hat in dieser Spanne, zumeist begleitet von Chipol, dem jungen Daila, und Mrothyr, dem Rebellen von Zyrph, mit seinem Raumschiff STERNSCHNUPPE schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums verheerend wirkten. Erfolge und Niederlagen für Atlan und sein kleines Team wechselten dabei einander ab. Doch eines blieb beständig, nämlich Atlans und seiner Mitstreiter Wille, dem Erleuchteten und seinen Werkzeugen, sowie dem Neuen Konzil der Hyptons und Ligriden das Handwerk zu legen. Dem aus Anima, GomanLargo und Neithadl-Off bestehenden seltsamen Trio, das seit einiger Zeit ebenfalls in Manam-Turu unterwegs ist, ergeht es ähnlich wie dem Arkoniden und seinen Leuten. Goman-Largo, der Modulmann, und seine Partnerinnen geraten ebenfalls mit Atlans Kontrahenten aneinander. Doch Goman-Largo versteht es meisterhaft, seine Gegner auszutricksen, so daß das Trio auch den Schauplatz des Abenteuers auf Polterzeit unbeschadet verlassen kann. Anima bestimmt das neue Ziel, und damit sind für die ehemalige Orbiterin eine Menge Schwierigkeiten vorprogrammiert. Denn sie trifft auf DIE VERRÜCKTEN VON BARQUASS …
Die Hauptpersonen des Romans: Anima - Die Suche nach ihrem Ritter führt sie nach Barquass. Goman-Largo und Neithadl-Off - Die Gefährten machen sich Sorge um Anima. Urg - Ein seltsamer Vogel. Guray - Ein monströses Wesen hat Angst.
1. »Sie gefällt mir nicht«, sagte Goman-Largo zu Neithadl-Off. »Sie gefällt mir ganz und gar nicht! Sie ist zu still. Geh zu ihr und sieh zu, daß du sie zum Reden bringst. Heitere sie ein bißchen auf, wenn es geht.« Neithadl-Off fand, daß dies leichter gesagt, als getan war. Anima hatte sich in eine kleine Kabine zurückgezogen. Dort saß sie im Halbdunkel, still und stumm, und niemand wußte, was in ihr vorging. Sie reagierte nicht auf Fragen. Als der Modulmann ihr vor einigen Stunden etwas zu essen bringen wollte, hatte sie sich einfach abgewandt. Das Essen hatte sie nicht angerührt. Anima reagierte auch nicht auf Neithadl-Offs vorsichtiges Klopfen. Die Vigpanderin öffnete die Tür und blickte in die Kabine hinein. »Wir haben Barquass fast erreicht«, pfiff sie. »Ich wollte dir das nur mitteilen. Ich nehme an, es interessiert dich.« »Kann man den Planeten schon sehen?« Neithadl-Off war so überrascht, daß sie für einen Augenblick keine Worte fand. »Ja«, behauptete sie dann. »Was willst du eigentlich dort?« Keine Antwort. Anima schien schon wieder verstummt zu sein. »Ich würde dir gerne helfen«, pfiff die Vigpanderin bekümmert. »Aber wie soll ich das tun, wenn ich nicht weiß, was mit dir los ist? Warum willst du nicht mit mir darüber sprechen?« Anima seufzte. »Ich wünschte, ihr würdet mich in Ruhe lassen«, sagte sie leise.
»Das wäre für uns alle am besten.« »Warum?« fragte Neithadl-Off hartnäckig. Anima wandte sich schwerfällig um und sah die Vigpanderin an. Neithadl-Off wartete geduldig. »Ich hoffe, daß ich auf Barquass meinen Ritter wiederfinden werde«, sagte Anima schließlich. »Du glaubst, daß Atlan dort ist?« fragte Neithadl-Off überrascht. »Das klingt nicht sehr wahrscheinlich.« »Nicht Atlan«, erklärte Anima kopfschüttelnd. »Ich meine Hartmann vom Silberstern.« »Du hast ihn erwähnt«, pfiff die Vigpanderin nachdenklich. »Und du hast erzählt, daß er vor sehr langer Zeit gestorben ist. Das stimmt doch, nicht wahr?« Anima nickte. »Dann kann er nicht auf Barquass sein!« »Ich weiß«, seufzte Anima. »Das ist ja das Problem.« »Ich kann nicht behaupten, daß ich das verstehe!« »Natürlich kannst du es nicht verstehen«, sagte Anima leise. »Ich verstehe es ja selbst nicht.« »Vielleicht können wir etwas Klarheit in diese Angelegenheit bringen, wenn wir darüber reden«, schlug Neithadl-Off vor. »Vieles wird klarer, wenn man es ausspricht. Ich erinnere mich …« Sie verstummte abrupt und schluckte die Geschichte, die sie gerade erzählen wollte, einfach hinunter. »Versuchen wir es!« pfiff sie energisch. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, murmelte Anima zweifelnd. »Irgendwo!« forderte Neithadl-Off. »Es ist egal.« »Ich glaube, daß Hartmann vom Silberstern noch existiert«, begann Anima zögernd. »Ich kann es spüren. Ich glaube, daß das psionische Echo, das uns nach Manam-Turu geführt hat, von ihm stammt – nicht von Atlan.« »Dann suchst du also gar nicht mehr nach Atlan?« »Oh, doch. Er ist mein Ritter – aber Hartmann vom Silberstern ist
das ebenfalls. Ich weiß, daß es verrückt klingt, aber ich weiß selbst nicht mehr, welchen von den beiden ich am dringendsten finden möchte.« Neithadl-Off wußte es um so besser. »Diesen Hartmann«, pfiff sie. »Das ist doch ganz klar. Du hast ihn geliebt. Er ist gestorben, und damit war die Sache an und für sich beendet. Aber jetzt bist du dir nicht mehr sicher, daß er wirklich tot ist. Also willst du dir Gewißheit verschaffen. Glaubst du wirklich, daß er auf Barquass sein könnte?« Anima nickte. »Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt«, sagte sie nachdenklich. »So wohl, wie sonst nur in der Nähe von diesem Hartmann«, stellte Neithadl-Off fest und verstand Anima besser als je zuvor. Sie dachte an Goman-Largo und an das Gefühl, in seiner Nähe zu sein. »Was wirst du tun, wenn du ihn findest?« Anima sah sie voller Skepsis an und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß er tot ist«, murmelte sie. »Ich kann ihn also nicht finden.« »Das ist nicht so sicher«, meinte Neithadl-Off. »Warst du dabei, als er starb?« »Ja.« »Und du bist sicher, daß er tot war?« Anima dachte voller Verzweiflung an jenen schrecklichen Kampf zurück, bei dem ihr Ritter gestorben war. Den Kampf gegen Vergalo, dieses Ungeheuer, das sie alle unterschätzt hatten. Sie hatten sich unter einem Vorwand bei ihm eingeschlichen, mit List und Tücke hatten sie Vergalo täuschen können, und sie hätten ihr Ziel durchaus erreichen können – wenn sie vorher gewußt hätten, wer und was Vergalo war. »Ein Speer hat ihn durchbohrt«, sagte sie. »Ich wollte es nicht wahrhaben, daß es ihn nicht mehr geben sollte. Ich habe seinen Körper mitgenommen und versucht, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Eine Zeitlang dachte ich, daß ich es tatsächlich schaffen
könnte. Aber es war ein schrecklicher Irrtum. Ich konnte seinen Körper dazu bringen, wieder zu funktionieren – das war alles. Nein, es hat keinen Sinn, falschen Hoffnungen nachzulaufen. Er ist tot, daran besteht kein Zweifel.« Neithadl-Off betrachtete Anima voller Mitleid. Eine Geschichte fiel ihr ein, in dem Maß glaubwürdig wie alle Geschichten, die Neithadl-Off zu erzählen wußte, und vielleicht sogar wahr – wer konnte das wissen? Diese Geschichte hätte Anima vielleicht trösten können. Trotzdem verzichtete die Vigpanderin darauf, sie zu erzählen. »Aber gerade weil es keinen Zweifel an seinem Tod gibt«, sagte Anima schließlich, »muß ich nach Barquass. Ich muß mir Gewißheit verschaffen und meine innere Ruhe wiederfinden. Das wird mir nur dort gelingen – ich spüre das. Solange ich nicht mit letzter Sicherheit weiß, daß ich Hartmann vom Silberstern für alle Zeiten verloren habe, kann ich Atlan nicht helfen. Jedenfalls nicht so, wie ich es tun sollte. Ich bin im Augenblick einfach nicht imstande, mich nur auf ihn zu konzentrieren.« »Das kann ich verstehen«, pfiff Neithadl-Off nachdenklich. »Sehr gut sogar.« Anima antwortete nicht. Ihr Blick ging ins Leere. »Trotzdem solltest du etwas essen«, bemerkte Neithadl-Off ohne große Hoffnung auf Erfolg. »Du wirst Hartmann vom Silberstern ganz sicher niemals finden, wenn du vor Erschöpfung zusammenbrichst, noch bevor wir Barquass erreicht haben.« Anima sah durch sie hindurch, als wäre sie nicht vorhanden. Neithadl-Off seufzte und verließ die dunkle Kabine. Nachdenklich kehrte sie zu Goman-Largo zurück. »Hast du etwas aus ihr herausbekommen?« fragte der Modulmann gespannt. »Genug, um zu begreifen, daß sie in einem schrecklichen Dilemma steckt«, erwiderte Neithadl-Off. »Wir sollten uns beeilen. Je schneller wir Barquass erreichen, desto besser.«
»Es dauert nur noch ein paar Stunden«, versicherte Goman-Largo. Neithadl-Off schwieg. Sie beobachtete den Modulmann verstohlen und fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn ihm etwas so Schreckliches zustieße, wie es mit Hartmann vom Silberstern geschehen war. Sie hoffte inbrünstig, daß dieser Fall nie eintreten würde. Und sie wünschte Anima mit aller Kraft, daß Barquass sie nicht enttäuschen möge.
2. Guray hatte Angst. Das war nichts Neues, denn Guray konnte sich nicht entsinnen, jemals keine Angst gehabt zu haben. Guray war klein und hilflos, und er wußte das. Der andere dagegen war groß und mächtig, und er haßte Guray. Das war von Anfang an so gewesen, und es würde sich niemals ändern. Das war fast so etwas wie ein Naturgesetz. Guray nannte den anderen schlicht und einfach den Feind. Nie dachte er von ihm als von einem Gegner, denn dieses Wort enthielt die Möglichkeit, daß es zu einem Kampf zwischen ihnen kommen könnte. Ein Kampf mit dem Feind war jedoch unvorstellbar. Guray hatte außer dem anderen keine Feinde oder Gegner irgendwelcher Art, aber dieser eine reichte ihm vollauf. Daß Guray keine sonstigen Feinde hatte, lag ganz einfach daran, daß es niemanden gab, der Guray kannte. Selbst für die Piraten war Guray nicht viel mehr als eine Legende, ein Schutzpatron, wie es viele gab, und von denen einer so unsichtbar blieb wie der andere. Unsichtbar zu bleiben – das war Gurays Spezialität. Er hatte es darin zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, und manchmal war er sogar ein klein wenig stolz darauf. Aber wirklich nur manchmal. Zur Zeit konnte davon keine Rede sein.
Denn Guray wußte, daß es einen gab, vor dem er sich nicht verstecken konnte: Das war der Feind. Wenn der Feind kam, um Guray zu suchen, dann würde keine Tarnung mehr helfen. Denn der Feind kannte Guray, und er wußte, wonach er Ausschau zu halten hatte. Lange Zeit hindurch hatte Guray nichts von dem Feind gehört, obwohl er sorgsam auf alles achtete, wovon er durch seine Gesandten und Diener oder durch die Piraten erfuhr. Es schien, als hätte sich der Feind genauso unsichtbar gemacht wie Guray selbst. Dennoch hatte Guray nie aufgehört, sich vor dem anderen zu fürchten, die ganze, endlos lange Zeit hindurch nicht. Und nun war er da, der Feind! Guray hätte nicht sagen können, warum er sich dessen so sicher war. Es war ganz einfach eine Tatsache. Der andere befand sich in Manam-Turu. Das stand fest. Ebenso offensichtlich war es, daß der andere keineswegs die Absicht hatte, sich unsichtbar zu machen und sich irgendwo zu verstecken. Oh, er würde gewiß darauf achten, daß niemand allzu nahe an ihn herankam, denn im Gegensatz zu Guray, der nur einen Feind hatte, hatte der andere deren viele. Wie zum Beispiel dieses Wesen namens Atlan, von dem Guray den ersten Hinweis erhalten hatte. Wenn Guray jetzt daran dachte, daß er – in totaler Verkennung der Situation – fast versucht hätte, über die Piraten Kontakt zu dem anderen aufzunehmen, dann fühlte er sich auf der Stelle noch kleiner. Geradezu winzig. So winzig, daß er beinahe hoffen mochte, der andere würde ein so jämmerliches Geschöpf wie Guray gar nicht wahrnehmen. Aber das war eine trügerische Hoffnung, und Guray wußte das. Er war kein Optimist. Und dann kam die Zeit, in der er den anderen von weit her spüren konnte, und er kapselte sich noch sorgfältiger nach außen hin ab. Wenn der Feind jetzt so deutlich zu spüren war – hieß das nicht, daß
er immer näher kam? Guray wartete in bebender Angst. Wieder verging geraume Zeit, und dann kam der andere wirklich näher. Guray spürte es genau, und er wünschte sich verzweifelt, daß es ihm möglich gewesen wäre, zu fliehen. Aber das konnte er nicht. Der andere konnte es, aber Guray war dazu verurteilt, dort zu bleiben, wo er sich befand. Für alle Ewigkeit. Oder so lange, bis der andere ihn erreichte. Guray wagte es nicht, darüber nachzudenken, was der andere mit ihm tun würde. Gedanken dieser Art waren für ihn seit jeher tabu gewesen. Selbst in der langen Zeit, in der er nichts von dem anderen gehört und gespürt hatte, war er niemals bereit gewesen, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Der andere konnte mit Guray machen, was immer ihm beliebte, denn er war mächtig, groß und stark – er war all das, was Guray nicht war. Und er war grausam. Auch das war ein Grund, warum Guray es nicht wagte, über die Art der ihm von dem anderen drohenden Gefahren nachzudenken. Er fürchtete die Grausamkeit des Feindes. So, wie Guray den anderen spürte, mochte der andere imstande sein, seinerseits Guray zu spüren, und zwar besser und deutlicher, da er ja auch stärker und mächtiger war. Wenn es so war, dann konnte der andere aus Gurays Gedanken erkennen, wovor dieser sich am meisten fürchtete. Was hätte einen so grausamen und mächtigen Feind daran hindern können, gerade Gurays schlimmste Befürchtungen in die Tat umzusetzen? Nein, es war besser, nicht darüber nachzudenken. Aber allmählich konnte Guray ohnehin kaum noch denken, so sehr wurde er von der Furcht beherrscht. Dann erkannte er plötzlich, daß nur ein Teil des Feindes in Bewegung geraten war. Was hatte das zu bedeuten? Hatte der andere sich geteilt? Oder gab es am Ende sogar zwei von diesen Feinden?
Guray erstarrte vor Entsetzen, und es wäre ihm lieber gewesen, er hätte nichts spüren können. Dann hätte das Schicksal ihn überrascht, und das wäre allemal besser gewesen, als diese lange, elende Zeit des Wartens und der ohnmächtigen Angst. Aber er spürte es, und daran ließ sich nichts ändern. Und so war Guray gezwungen, zu beobachten, wie der zweite andere weit entfernt in Manam-Turu langsam, aber sicher Kurs auf Gurays Versteck nahm. Von diesem Augenblick an gab es keinen Zweifel mehr: Gurays Schicksal war besiegelt. Und er konnte nichts, wirklich und absolut nichts tun, um etwas daran zu ändern. Als Guray das erkannte, da verlor alles, was er bisher gedacht, getan und befürchtet hatte, seinen Sinn. Seine Diener und Gesandten, die Piraten, die gewaltigen Schätze, die er gesammelt hatte – sie alle waren für Guray bereits Teil der Vergangenheit. Es spielte keine Rolle mehr, was sie taten und was aus ihnen wurde, denn Guray konnte ihnen ohnehin nicht helfen. Er konnte ja nicht einmal sich selbst helfen. Aber vielleicht konnten sie noch etwas tun? Guray hatte wenig Hoffnung. Dennoch sorgte er, wenn auch unter großen Mühen, in einer letzten großen Anstrengung dafür, daß zumindest seine Diener und Gesandten erfuhren, welches Schicksal ihnen drohte. Danach war Guray zu erschöpft, um sich noch gegen die Angst wehren zu können. Er konnte niemandem mehr Anweisungen geben, und er wußte nicht, wie seine Diener und Gesandten die schlimme Nachricht aufnahmen. Seine Instinkte zwangen ihn, Zuflucht zu dem einzigen Mittel der Verteidigung zu nehmen, das er je gekannt hatte. Er machte sich klein, noch viel kleiner als sonst. Er zog sich zusammen wie eine Schnecke, die bis in den hintersten Winkel ihres Gehäuses zurückweicht. Er konzentrierte sich völlig auf den innersten Kern seines Seins, und er empfand sich als winzig – so
winzig wie ein Staubkorn in der unendlichen Weite des Alls. Aber selbst in seiner Winzigkeit fühlte er sich noch immer bedroht, und er spürte die Gefahr, die sich ihm unablässig näherte. Der Feind würde ihn aufspüren. Guray hatte keine Hoffnung mehr.
3. Als die STERNENSEGLER landete, kam Anima aus ihrer halbdunklen Kabine hervor. »Ich danke euch, daß ihr mich nach Barquass gebracht habt«, sagte sie so höflich, als hätte sie nicht Goman-Largo und Neithadl-Off, sondern zwei völlig fremde Wesen vor sich, die ihr einen Gefallen getan hatten. »Wenn ihr wollt, könnt ihr euch eurem nächsten Ziel zuwenden. Ich werde wohl für einige Zeit auf Barquass bleiben müssen.« »Rede keinen Unsinn!« pfiff Neithadl-Off empört. »Wir bleiben selbstverständlich hier und helfen dir bei der Suche nach deinem Ritter. Das werden wir doch tun, Goman-Largo?« »Wenn du es sagst«, murmelte der Modulmann amüsiert. »Also an die Arbeit«, pfiff die Vigpanderin unternehmungslustig. »Wo fangen wir an?« Aber Anima schien ihr gar nicht zugehört zu haben. Sie starrte auf den Bildschirm und hatte den Kopf zur Seite gelegt, als lausche sie auf eine leise Stimme, die für die anderen nicht zu hören war. Dabei betrachtete sie die Stadt Barquass. Schließlich nickte sie, drehte sich um und ging davon. »Wo will sie jetzt schon wieder hin?« fragte Neithadl-Off ratlos. »In die Stadt«, vermutete Goman-Largo. »Ich weiß nicht, ob es einen Sinn hat, ihr zu folgen. Diese Suche scheint etwas zu sein, was sie mit sich selbst abmachen muß. Wir haben ohnehin kaum eine Chance, ihr zu helfen.«
»Wir müssen es versuchen«, erklärte die Vigpanderin energisch. »Es ist unsere Pflicht. Übrigens – findest du nicht, daß die Stadt anders aussieht als beim letzten Mal?« »Wir haben Barquass damals nur kurz gesehen«, gab der Modulmann zu bedenken. »Trotzdem – ich kann mich deutlich an drei hohe Türme erinnern, die ganz eng beieinander standen. Jetzt sind nur noch zwei vorhanden.« »Vielleicht hat man den einen abgerissen.« »Außerdem waren nicht so viele Raumschiffe da. Das müssen doch mindestens hundert sein.« »Das kann viele Gründe haben«, wehrte Goman-Largo ab. »Komm jetzt. Wenn wir ihr folgen wollen, müssen wir uns beeilen, sonst verlieren wir sie aus den Augen.« Damit hatte er recht, denn zwischen dem Raumhafen und der Stadt wimmelte es von Leben. Es schien, als seien Tausende von Piraten hier versammelt, die alle miteinander nichts anderes im Sinn hatten, als ständig durcheinanderzulaufen. Anima hatte die Schleuse bereits verlassen und verschwand eben im Gewühl, als Goman-Largo und Neithadl-Off den Boden von Barquass betraten. Sie sorgten dafür, daß niemand die STERNENSEGLER betreten konnte, obwohl sie an diesem Ort keine feindseligen Handlungen befürchteten. Es war reine Gewohnheit, eine selbstverständliche Vorsichtsmaßnahme. Anima trug ein einfaches, weißes Gewand, an dem man sie schon von weitem erkennen konnte, denn die Piraten bevorzugten kräftige, bunte Farben, sofern sie überhaupt eine Kleidung benötigten. Viele von ihnen waren von sehr fremdartiger Gestalt, und es waren pelzige und gefiederte Kreaturen darunter, solche mit Schuppen und andere, die wie seltsame Meerestiere aussahen oder an wabbelnde Geleeklumpen erinnerten. Überall in der Ebene erhoben sich provisorische Zelte und Hütten, und außerhalb der STERNENSEGLER roch es wie auf einem
exotischen Markt. Die Piraten schienen ein großes Fest zu feiern, denn sie aßen und tranken fast ohne Pause und grölten lauthals Lieder, in denen sie ihren eigenen Mut und Kampfgeist besangen. Anima hatte keine Mühe, durch dieses Gewühl zu kommen, denn man machte ihr offensichtlich Platz. Goman-Largo und Neithadl-Off dagegen wurden immer wieder aufgehalten. »Was ist hier eigentlich los?« fragte Goman-Largo schließlich ungeduldig. Niemand antwortete ihm. Ein gedrungenes Wesen mit zehn Zentimeter langen Stielaugen und lächerlich winzigen Flügelchen auf dem geschuppten Rücken rempelte ihn an und bekleckerte ihn mit klebrigem Wein. »Paß auf, du Trottel!« fauchte es den Modulmann an. »Geh mir aus dem Weg, oder ich verpasse dir eine Tracht Prügel!« »Aber du warst es doch, der mich angerempelt hat …« Weiter kam Goman-Largo nicht, denn der Dicke war bereits auf dem Wege zur nächsten Bude, um sich dort mit frischem Wein zu versorgen. »Kümmere dich nicht um ihn!« pfiff Neithadl-Off besorgt. »Wo ist Anima? Ich kann sie nicht mehr sehen.« »Ich verliere sie schon nicht aus den Augen«, versicherte GomanLargo. »Sie ist noch weit vom Stadtrand entfernt. Sind die hier alle verrückt geworden?« »Sie feiern ein Fest«, vermutete Neithadl-Off. »Vielleicht haben sie gerade besonders reiche Beute gemacht. Huch!« Goman-Largo drehte sich um und sah gerade noch, wie zwei kleine, pelzige Wesen vom trampolinähnlichen Körper der Vigpanderin herunterkollerten. »Macht das nicht nochmal!« warnte Neithadl-Off die beiden Kleinen, die verdutzt zu ihr aufsahen und sich den Staub aus dem Pelz schüttelten. Die beiden quietschten entsetzt und huschten davon. »Du solltest vorsichtiger sein«, bemerkte Goman-Largo. »Diese
Wesen sind alle schon ziemlich berauscht. Ich habe keine Lust, mich in eine Schlägerei verwickeln zu lassen.« »Die wollten auf mir herumhüpfen«, pfiff Neithadl-Off empört. Goman-Largo beschloß, nicht weiter darauf einzugehen. Allmählich wurde ihm das ganze wirklich etwas unheimlich, und er sah, daß Anima auch weiterhin sehr schnell vorankam. Eine plötzliche Ahnung sagte ihm, daß man sie nicht alleine in die Stadt gehen lassen durfte. »Beeile dich«, forderte er daher. »Es wird allerhöchste Zeit.« Sie hasteten durch die Menge, vorbei an Verkaufsständen und niedrigen Zelten, umgeben von Piraten, die ein seltsames Geschick darin entwickelten, den beiden Fremden den Weg zu verstellen, ohne dabei eine bestimmte Absicht erkennen zu lassen. »Komm und trink mit mir!« zischte ein blaugefiedertes Wesen Goman-Largo an und drückte ihm einen riesigen Pokal in die Hand, während es seinen kurzen Schnabel mit Nüssen vollstopfte, deren Schalen krachend nach allen Seiten spritzten. »Trinke, mein Freund, solange du noch Zeit dazu hast!« »Was soll das heißen?« fragte Goman-Largo alarmiert. Das Wesen mit den blauen Federn brach in zischelndes Gelächter aus, verschluckte sich an seinen Nüssen und hüpfte krächzend davon. Goman-Largo spürte, daß jemand ihm auf die Schultern tippte, und fuhr herum. »Er hat dir gesagt, daß du trinken sollst, Fremder!« grollte es ihm aus dem Rachen einer froschähnlichen Kreatur entgegen. »Also …« Goman-Largo schüttete den Wein in das riesige Maul, und der seltsame Frosch verstummte gurgelnd, schmatzte nachdenklich, drehte sich im Kreis und legte sich schlafen. »Fremder, trink!« hallte es von links, und auch von der anderen Seite rückten mehrere Piraten mit Pokalen, Gläsern, Bechern und Trinkhörnern an. Einer schleppte gar ein ganzes Faß auf dem Rücken.
Goman-Largo kam zu dem Schluß, daß er sich besser nicht mit dieser verrückten Bande anlegen sollte, und wandte sich zur Flucht. Neithadl-Off rannte vor ihm her. Hinter ihm trompetete, zischte, grunzte und brüllte die Meute der trinkwütigen Piraten, und vor ihm ballte die Menge sich zusammen und versperrte ihm den Weg. Über die Köpfe der Piraten hinweg sah er Anima den kurzen Hang am Stadtrand hinaufsteigen. »Laßt uns in Frieden!« schrie er verzweifelt. »Wir sind Freunde. Wir müssen zu Anima!« Die Piraten kümmerten sich nicht darum. Sie drängten sich immer dichter um Goman-Largo und Neithadl-Off, die notgedrungen stehenblieben. »Was jetzt?« fragte die Vigpanderin. »Sollen wir uns mit Gewalt den Weg freiräumen?« Goman-Largo sah sich ratlos um. Die Piraten wirkten nicht aggressiv oder feindselig, nur verrückt und total betrunken. »Wir müssen in die Stadt«, versuchte er es noch einmal im Guten. »Laßt uns bitte durch. Zwingt uns nicht, etwas zu tun, was uns allen später leid tun würde.« Von einem Augenblick auf den anderen war es ruhig. Schlagartig. Es war, als hätte jemand den Piraten ein Zeichen gegeben. Sie standen da, Trinkgefäße und Speisen in ihren verschiedenartigen Händen und starrten zur Stadt hinüber. Goman-Largo sah Anima, die eben zwischen den ersten Gebäuden verschwand. »Bitte, laßt uns zu ihr gehen!« rief er, von der vagen Hoffnung erfüllt, daß die plötzliche Ruhe auf seine Worte und Animas Ankunft in der Stadt zurückzuführen sei. Aber die Piraten starrten ihn nur verständnislos an, dann wandten sie sich wie auf ein Kommando ab. »In die Schiffe!« schrie jemand mit schriller, überschnappender Stimme. »Alles sofort in die Schiffe. Startet und kämpft!« Andere Piraten griffen den Ruf auf, und alle setzten sich in Bewegung. Dabei warfen sie das, was sie bei sich trugen, einfach
hin, ganz gleich, ob es sich um Dinge handelte, die sie später noch brauchen konnten oder nicht. »Kämpft?« fragte Goman-Largo verständnislos und sah NeithadlOff an. »Gegen wen wollen sie denn kämpfen?« »Woher soll ich das wissen?« entgegnete die Vigpanderin gereizt. »Mir haben sie genauso wenig gesagt wie dir. Auf jeden Fall sind wir sie los. Komm.« Sie hatte sich zu früh gefreut. Als einige Piraten merkten, daß die beiden sich von ihrem Schiff wegbewegten, hielten sie sie auf. »Ihr auch!« sagte der eine drohend und deutete auf die STERNENSEGLER. »Startet und kämpft. Hier macht niemand eine Ausnahme!« »Das lag auch gar nicht in unserer Absicht!« pfiff Neithadl-Off schlagfertig. »Anima ist in die Stadt gegangen, und wir wollen sie zurückholen. Ohne sie können wir nicht starten.« »Und warum nicht?« fragte ein mannshohes Wesen, das einem knorrigen Baumstamm ähnelte. »Weil ihr das Schiff gehört«, behauptete Neithadl-Off. »Es gehorcht nur ihr. Wenn sie nicht an Bord ist, wird die STERNENSEGLER sich um keinen einzigen Zentimeter von der Stelle bewegen.« Die Piraten betrachteten die beiden ungleichen Wesen. Sie wirkten unsicher, und Neithadl-Off hoffte schon, es geschafft zu haben. »Laßt uns endlich durch!« forderte sie. »Je schneller wir in die Stadt kommen und Anima zurückholen, desto schneller sind wir auch startbereit.« Die Piraten gaben sich einen Ruck. »Dummes Zeug!« fauchte der, der wie ein Baumstamm aussah. »Und jetzt ab mit euch, oder ich werde ungemütlich.« »Aber …« Es hatte keinen Sinn. Sowohl Neithadl-Off als auch Goman-Largo wurden von kräftigen Piraten gepackt und bis an die Schleuse der STERNENSEGLER getragen.
»Startet sofort!« befahl man ihnen. »Und dann kämpft.« »Gegen wen oder was sollen wir kämpfen?« fragte Goman-Largo. »Dumme Frage«, sagte der Baumstamm. »Gegen den Feind – gegen wen denn sonst?« »Und wer ist dieser Feind? Wo finden wir ihn?« Aber der Baumstamm stapfte bereits davon, und auch die anderen waren schon zu ihren Raumschiffen unterwegs. »Da soll doch …«, murmelte Goman-Largo und sprang aus der Schleuse, um endlich in Richtung Stadt zu gehen. Der Baumstamm drehte sich um und zog eine Waffe. Er schoß. Goman-Largo hüpfte erschrocken in die Schleuse zurück, denn direkt vor seinen Füßen spritzte Sand auf. »Ich fürchte, wir müssen warten, bis dieses verrückte Volk gestartet ist«, stellte er fest. »Ich möchte nur wissen, was in, sie gefahren ist.« Aber es kam noch schlimmer, denn obwohl die Piraten vorher solche Eile an den Tag gelegt hatten, starteten sie noch lange nicht. Es war totenstill in der Ebene. Alles schien die Luft anzuhalten. Selbst der Wind hatte sich gelegt. »Jetzt reicht es mir«, sagte Neithadl-Off nach einer Stunde wütend. »Ich gehe und suche Anima. Wer mich daran hindern will, der soll es ruhig versuchen.« »Warte noch einen Augenblick, Prinzessin«, bat Goman-Largo. »Ich habe das Gefühl, daß gleich etwas geschehen wird.« Damit hatte er recht. Die Schleusen aller Raumschiffe öffneten sich, und die Piraten strömten in die Ebene hinaus. Es wurde sehr schnell klar, was sie dort zu tun gedachten: Sie setzten ihr Besäufnis fort. Diesmal waren der Modulmann und Neithadl-Off gewarnt. Sie legten keine auffallende Eile an den Tag, sondern schlängelten sich – vorsichtig und behutsam durch die Menge. Die Piraten hatten jegliches Interesse an ihnen verloren. Als sie den Rand der Ebene erreichten und den Hang hinaufstiegen, war unter ihnen das Fest
der Piraten in vollem Gang – und noch immer hatten sie keine Ahnung, was man dort eigentlich feierte. Die Stadt Barquass war leer und tot. Es schien, als ob selbst alle Tiere sie verlassen hätten. Nur der Wind strich durch die Gassen. Es war ein seltsamer Wind, der ständig die Richtung wechselte und viel stärker war als unten in der Ebene. Ein Wind, der sich wimmernd an spitzen Giebeln und eckigen Türmen brach, wobei es den beiden einsamen Wesen oft schien, als käme das Wimmern direkt aus dem Stein. Es war offensichtlich, daß die Piraten die Stadt verlassen hatten. Offensichtlich befanden sie sich vollzählig unten in der Ebene, um dort ihr verrücktes Fest zu feiern. Aber es war mehr als merkwürdig, daß sie alles stehen- und liegengelassen hatten, ohne auch nur Türen und Fenster zu schließen. Es wirkte unnatürlich, ebenso wie die Tatsache, daß niemand zurückgeblieben war, um aufzupassen. Die Türen der Geschäfte standen offen. Es gab keine Alarmanlagen – jeder konnte hineingehen und sich nehmen, was er wollte. Das paßte nicht zu den Piraten und Händlern. Aber die Verlassenheit dieser Stadt hatte auch ihre guten Seiten, denn es war zumindest niemand da, der Goman-Largo und Neithadl-Off daran hindern konnte, nach Anima zu suchen. Anfangs glaubten sie auch noch, daß es leicht sein müsse, sie zu finden – in einer Stadt, in der sich sonst nichts regte. Sie trennten sich und hasteten durch die engen Gassen, immer wieder auf das Geräusch von Schritten lauschend, aber sie fanden Anima nicht. Allerdings war die Stadt zu groß, als daß sie sie zu zweit vollständig absuchen konnten, ganz abgesehen davon, daß Anima still und stumm in irgendeinem Raum sitzen mochte – sie konnten nicht jedes einzelne Haus durchsuchen. »Es hat keinen Sinn«, sagte Goman-Largo mutlos, als sie sich nahe dem Zentrum der Stadt wieder trafen. »Sie ist verschwunden, und sie hat wahrscheinlich auch gar nicht die Absicht, sich von uns
finden zu lassen.« »Oder die Stadt verbirgt sie«, pfiff Neithadl-Off. Der Modulmann sah sie erstaunt an. »Wie meinst du das?« fragte er. »Das weiß ich selbst nicht so genau«, bekannte die Vigpanderin mit ungewöhnlicher Offenheit. »Es ist nur so ein Gefühl.« »Kannst du mir das genauer erklären?« Neithadl-Off trippelte nervös hin und her. Sie klopfte gegen die Wand eines Hauses, behutsam und ängstlich, als fürchte sie, die Wand könne sich in ein riesiges Maul verwandeln, das sie und den Modulmann verschluckte. »Nein«, erwiderte sie schließlich. »Das ist unmöglich. Trotzdem habe ich das Gefühl, daß diese Stadt etwas vor uns versteckt.« Goman-Largo sagte sich, daß dies nicht unwahrscheinlicher war als viele der anderen Geschichten, die Neithadl-Off erzählte – und daß die Vigpanderin erstaunlich oft ins Schwarze traf. Aber was Animas Verschwinden betraf, so gab es genug einfachere und logische Erklärungen. Als sie den Stadtrand erreichten und in die Ebene hinabblickten, rasten die Piraten gerade wieder einmal in ihre Raumschiffe. Aber keines davon startete, und die Insassen kamen alsbald wieder zum Vorschein. »Total verrückt«, kommentierte Goman-Largo erschüttert dieses Hin und Her. »Die sind alle miteinander völlig übergeschnappt.«
4. Anima dachte nicht mehr an Goman-Largo, Neithadl-Off und die STERNENSEGLER, sondern nur noch an ihre Suche. Schon während der Landung hatte sie die Nähe ihres Ritters gespürt, und sie wußte, daß es Hartmann vom Silberstern war, der hier irgendwo sein mußte. Sie war entschlossen, ihn zu finden und
das Rätsel zu lösen, das ihn umgab. Sie mußte es tun, wenn sie jemals wieder zur Ruhe kommen wollte. Das Durcheinander in der Ebene wirkte abstoßend auf sie. Sie beeilte sich, diesen Ort zu verlassen, und sie wunderte sich nicht darüber, daß die Piraten ihr bereitwillig Platz machten. Als sie den Hang erreichte, atmete sie erleichtert auf. Über ihr lag die Stadt, und sie fühlte sich von ihr angezogen. So war es schon bei ihrem ersten Besuch auf dem Planeten Barquass gewesen. Aber damals war alles viel zu schnell gegangen, und sie war gar nicht dazu gekommen, nach den Ursachen zu forschen. Wenn sie ehrlich war, mußte sie allerdings auch zugeben, daß sie damals gar nicht die Absicht gehabt hatte, dies zu tun. Damals hatte sie noch geglaubt, daß es Atlans Ausstrahlung war, die sie nach ManamTuru geführt hatte. Sie wäre gar nicht erst auf die Idee gekommen, nach Hartmann vom Silberstern zu suchen. Wenn sie sich nur hätte sicher sein können! Immer wieder hatte sie sich den Kampf gegen Vergalo und die Tage danach ins Gedächtnis zurückgerufen, obwohl diese Erinnerungen noch immer schmerzten. Sie sah den Speer fliegen und den Ritter zu Boden sinken, und sie sah sich selbst in einen Kampf verstrickt, der es ihr unmöglich machte, Hartmann vom Silberstern sofort zu Hilfe zu eilen. Wenn sie es nur gekonnt hätte – sie hätte ihn retten können! Danach – sie hatte es zwar geschafft, sich wieder von Vergalo zu lösen, aber um welchen Preis! Die organische Verbindung zwischen ihr und diesem Monstrum war bereits hergestellt. Der Vorgang ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Anima war gefangen in einem monströsen Körper von gewaltigem Umfang, groß genug, daß sie später das Raumschiff ANIMA darstellen konnte, als das sie mit Atlan durch Alkordoom geflogen war. Es war ihr schwergefallen, diesen Schock zu überwinden. Halb verrückt vor Angst, Wut und Trauer hatte sie Hartmann vom Silberstern an sich gerissen und war mit ihm geflohen. Ihr riesiger
Körper behinderte sie. Sie konnte viele Wege, die ihr vertraut waren, nicht mehr benutzen, und so verging abermals viel zu viel Zeit, bis sie endlich die SILBERSTERN erreichte. Und schon baute sich ein neues Hindernis auf: Sie war zu groß, um in das Schiff hineinzugelangen. Später hätte sie es geschafft, denn die SILBERSTERN war nicht gerade ein sehr kleines Raumschiff. Aber damals hatte sie noch nicht gelernt, ihren riesigen Körper so zu beherrschen, wie es ihr möglich gewesen war. Um sie herum bebte Vergalos Palast, und seine Schatten lieferten sich zwischen den einstürzenden Mauern erbitterte Kämpfe, während Anima verzweifelt nach einem Ausweg suchte und ihn schließlich auch fand: Sie bildete einen langen Arm aus, schob den Ritter in das Raumschiff hinein, bettete ihn in einen Überlebenstank und befahl der SILBERSTERN, sofort zu starten und einen nahen Planeten anzufliegen, auf dem der Ritter wenigstens vor Vergalo und seinen Schatten sicher war. Dann klammerte sie sich an das Schiff, wohl wissend, daß sie den Start nicht überleben würde. Es war ihr egal. Ihr Ritter war tot, und damit hatte ihr eigenes Leben keinen Sinn mehr. Schon gar nicht in dieser Form, mit diesem Körper. Im nachhinein war ihr klar, daß ihre momentane Verwirrung damals schon begonnen hatte. Sie hatte gewußt, daß Hartmann vom Silberstern tot war. Aber sie hatte es niemals wahrhaben wollen. Als die SILBERSTERN startete, geschah etwas in Animas neuem, unglaublichen Körper. Sie stellte fest, daß sie die Beschleunigung, die Reibungshitze der Luft und selbst das Vakuum ertragen konnte. Ja, sie war sogar imstande, sich von der SILBERSTERN zu lösen und sich frei im Weltraum zu bewegen. Sie war nicht länger von Raumschiffen abhängig, wenn es galt, ferne Planeten zu erreichen. Aber auch das bedeutete ihr wenig. Es hieß für sie lediglich, daß sie nun all ihren Erwartungen zum Trotz doch imstande war, bei ihrem Ritter zu bleiben, und sie schöpfte neue Hoffnung.
Nach der Landung auf einem unbewohnten Planeten mit atembarer Atmosphäre hatte sie festgestellt, daß der Überlebenstank bestens funktioniert hatte. Die furchtbare Wunde in der Brust des Ritters war schon fast verheilt. Hartmann vom Silberstern atmete, und sein Herz schlug. Sie war wie von Sinnen vor Freude. Aber dann kam der Augenblick, in dem die Arbeit des Tanks abgeschlossen war. Das Gerät gab den Ritter frei. Gebannt beobachtete Anima, wie der Tank sich öffnete. »Wach auf!« befahl die Stimme des Tanks. Aber Hartmann vom Silberstern wachte nicht auf. Sie versuchten alles, was nur möglich war, aber sie hatten keinen Erfolg damit. Das Gehirn des Ritters war unbeschädigt, was die organischen Funktionen anging, aber es arbeitete nur auf einer niedrigen, rein vegetativen Basis. Alles andere, was Hartmann vom Silberstern einst ausgemacht hatte, war verschwunden. Anima machte sich die bittersten Vorwürfe. Sie hätte den Ritter nicht diesem leblosen Tank anvertrauen dürfen, sagte sie sich. Sie hätte auch nicht so viel Zeit verlieren dürfen, indem sie von Vergalos Welt floh, obwohl sie sich gegen die Schatten sicher hätte verteidigen können. Sie hätte … Aber sie hatte es getan, und es ließ sich nicht mehr rückgängig machen. In ihrem hilflosen Zorn zerstörte sie den Tank und holte den Ritter aus dem Schiff heraus. Sie bemühte sich mit all ihren Kräften um ihn. Als sie nicht mehr weiter wußte, aktivierte sie das Funkgerät der SILBERSTERN und holte jenen Payarus zu Hilfe, mit dem Hartmann vom Silberstern mehrmals gesprochen hatte. Payarus kam und erklärte ihr, daß es keinen Sinn mehr hatte, den seelenlosen Körper des Ritters am Leben zu erhalten. Für Anima brach eine Welt zusammen. Nichts interessierte sie mehr. Sie fragte niemals, was aus dem Körper des Ritters geworden war, und Payarus sprach von sich aus niemals darüber. Er brachte sie an einen Ort, an dem sie schlafen und vergessen konnte. Es hätte
ihr nichts ausgemacht, wenn sie nie wieder erwacht wäre. Aber man hatte sie geweckt und nach Alkordoom geschickt, und dort hatte sie Atlan kennengelernt, der Hartmann vom Silberstern in vieler Beziehung sehr ähnlich war. Damals hatte sie geglaubt, daß sie imstande sein könnte, Hartmann vom Silberstern zu vergessen. Atlan sollte an seine Stelle treten, und Anima hatte ihm treu gedient, wie es ihre Aufgabe war. Als er im Auge des Erleuchteten in Lebensgefahr schwebte, hatte sie nicht gezögert, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um ihm zu helfen. Sie hatte zwar nicht ihr Leben verloren, wohl aber jenen Teil ihres Körpers, der es ihr erlaubt hatte, ein lebendes Raumschiff zu sein. Obwohl sie sich oft danach gesehnt hatte, wieder eine normale Existenz führen zu können, war der Schock ungeheuer stark und sehr schmerzhaft. Und dann hatte sie beobachten müssen, wie der Sog der Kosmokraten ihren neuen Ritter erfaßte und ihn davonriß, irgendwohin. Es war nicht fair gewesen. Sie hatte erneut ihren Ritter verloren, aber diesmal wußte sie, daß er lebte – nur, wo lebte er? Wenn sie nur den geringsten Hinweis hätte! Aber es gab nichts, kein noch so kleines Zeichen, und kein Kosmokrat meldete sich und teilte Anima mit, wo sie nach Atlan suchen sollte. Dennoch hatte sie es versucht, und sie hatte Glück gehabt: Sie war auf Goman-Largo und Neithadl-Off gestoßen, und sie hatte ein psionisches Signal aufgefangen, das sie nach Manam-Turu führte. Wieder hatte sie Hoffnung geschöpft. Sie würde Atlan finden, das war ihr nun völlig klar. Endlich würde sie wieder ein Leben führen können, wie sie es sich wünschte, und vielleicht … Sie sehnte sich nach Liebe, nach Geborgenheit und nach Verständnis. Sie würde den größten Gefahren trotzen, wenn sie dafür in der Nähe ihres Ritters sein konnte. Und sie war nun kein monströses Riesending mehr, das selbst in dem verständnisvollsten aller Ritter bestenfalls Sympathie erwecken konnte. Sie war wieder
das junge Vardi-Mädchen, das einst – wie lange war das her? – an der Seite Hartmanns vom Silberstern seinen Heimatplaneten verlassen hatte, und sie hoffte, daß Atlan sie in dieser Gestalt anziehend finden würde. Wenn nicht – sie war wandelbar, wenn er das wünschte. Sie konnte ohne weiteres ein anderes Aussehen annehmen. Und sie war nicht so jung, wie sie aussah. Sie war Atlan in mancher Beziehung ähnlich. Sie hatten genug Gemeinsamkeiten, um eine gute Ausgangsbasis zu schaffen. Und sie liebte ihn. Oder etwa nicht? Sie liebte ihn zumindest solange, wie sie sicher sein konnte, daß es keinen Hartmann vom Silberstern mehr gab. Genau das war der Punkt, der Anima zu schaffen machte. Sie schob die Erinnerungen von sich, denn sie hatte das Gefühl, daß es nicht gut für sie war, wenn sie sich allzu intensiv damit beschäftigte. Sie mußte sich auf das konzentrieren, was wirklich vorhanden war: Auf die Stadt Barquass mit ihren engen Gassen und seltsamen Gebäuden, und auf das Gefühl, ihrem Ritter nahe zu sein. Vielleicht befand er sich in dieser Stadt und wartete auf sie, irgendwo in einem dieser Häuser mit den spitzen Giebeln … Anima wanderte lange durch die Straßen, und sie betrat viele Gebäude und sah sich in ihnen um, aber ihren Ritter fand sie nicht. Dabei hatte sie oft genug das Gefühl, daß er direkt neben ihr stand, unsichtbar wie ein Schatten aus einer anderen Welt. Es war ein unheimliches Gefühl, und aus dem anfänglichen Wohlbehagen und der Freude, die seine Gegenwart ihr bereitete, wurden Unbehagen und Furcht. In den Häusern fand Anima Spuren, die darauf hindeuteten, daß die Piraten die Stadt überhastet verlassen hatten. Sie betrat Küchen, in denen verkohltes Fleisch über erloschenen Feuern hing, und sie überlegte, was die Bewohner wohl veranlaßt haben mochte, Barquass zu verlassen. Vielleicht war es die gleiche Furcht, die sie nun zu spüren begann.
Aber wie ließ sich das erklären, wenn doch die Piraten, die niemals etwas mit Animas Ritter zu tun gehabt hatten, unmöglich die Anwesenheit Hartmanns vom Silberstern spüren konnten? Gab es noch etwas anderes in dieser Stadt? Anima verließ eines der Gebäude gerade, als sie aus der Ferne das Geräusch von Schritten hörte. Dann rief jemand ihren Namen, und sie zuckte zusammen. Im ersten Augenblick dachte sie, daß es ihr Ritter war. Dann erkannte sie Goman-Largos Stimme, und sie blieb wie erstarrt stehen. Sie suchten nach ihr. Aber warum wunderte sie das so sehr? Sie hatte doch damit rechnen müssen. Es war völlig klar, daß die beiden Anima nicht so einfach gehen ließen. Vielleicht sollte sie zu ihnen gehen und ihnen erklären, daß sie allein sein wollte. Daß diese Suche nur sie etwas anging, und daß ihr auch niemand dabei helfen konnte. Aber sie wußte, daß sie ihr nicht glauben würden. Sie hielten Anima für etwas verrückt, vielleicht sogar für krank, und schon deshalb würden sie sich dazu verpflichtet fühlen, in ihrer Nähe zu bleiben, um auf sie aufzupassen. Anima kam zu dem Schluß, daß sie keine Aufpasser brauchte. Im Gegenteil: Goman-Largo und Neithadl-Off würden sie nur stören. Sie spürte es schon jetzt, während sie ihren Schritten und Rufen lauschte und dabei darüber nachdachte, was sie tun sollte. Das alles lenkte sie ab, und fast verlor sie das Gespür für die Stadt und das, was in ihr vorging. Leise zog sie sich in das Gebäude zurück und schloß die Tür hinter sich. Drinnen war es dämmerig, aber sie erinnerte sich an eine Treppe, die in den Keller hinabführte. Vorsichtig ging sie hinunter. Die Stufen knarrten, und sie beeilte sich ein wenig, obwohl sie sich sagte, daß man das Knarren draußen selbst dann nicht hören konnte, wenn man direkt vor der Haustür stand. Unten im Keller standen riesige Weinfässer und Behälter mit
verschiedenen Vorräten. Der Anblick einiger Brote auf einem Brett brachte Anima zu Bewußtsein, daß sie großen Hunger hatte. Sie hatte in den letzten Tagen so gut wie nichts gegessen. Sie nahm ein Brot, zog sich damit hinter eines der Fässer zurück und begann zu essen, während sie immer wieder lauschte. Aber es blieb still. Nach einiger Zeit hörte sie ein leises Geräusch, und sie erschrak, denn das Rascheln kam nicht aus der Richtung, in der die Treppe lag, sondern aus einem Winkel, in dem ein Kasten mit Getreide stand. Sie blickte hinüber, und plötzlich sah sie, wie etwas aus dem Kasten hervorkam. Sie stand auf und wartete, zu sofortiger Flucht bereit. Das Etwas war schwarz und spitz und entpuppte sich als ein Schnabel. Der Schnabel hob sich, und dann kam ein ebenfalls schwarzer Kopf zum Vorschein, dem ein verhältnismäßig kleiner, etwas plump wirkender Körper folgte. Schließlich hüpfte das Wesen aus der Kiste heraus, und Anima betrachtete es verwundert. Es schien ein Vogel zu sein, zumindest ein vogelartiges Geschöpf, obwohl es keine Flügel besaß. Es stand auf kräftigen, kurzen Beinen, und die Krallen an seinen langen Zehen sahen aus, als wären sie sehr scharf. Der Vogel – Anima bezeichnete ihn der Einfachheit halber so – legte den Kopf schräg und betrachtete Anima von oben bis unten. Seine dunklen Augen wirkten klug und verständig. Das Wesen sah keineswegs gefährlich aus, und es reichte Anima kaum bis zu den Knien. Sie fand es sogar recht sympathisch. »Was tust du hier?« fragte sie leise, denn es erschien ihr als sehr merkwürdig, daß ein flügelloser Vogel in einem dunklen Keller herumstöberte. Der Vogel hob den linken Fuß und kratzte sich damit ausgiebig am Kopf, während er unsicher auf dem rechten Bein balancierte. Dann drehte er sich um, nahm einen Schnabel voll Körner und schluckte geräuschvoll.
»Ich verstehe«, murmelte Anima. »Aber wie kommt es, daß du hier zurückgeblieben bist? Ich habe außer dir noch nichts Lebendes in der Stadt angetroffen.« Der Vogel gab ein melodisches Glucksen zum Besten, drehte sich ein paarmal im Kreis und reckte sich. Anima kam zu dem Schluß, daß dieses Wesen wohl ein Haustier eines Piraten war, das man versehentlich zurückgelassen hatte. Es mochte schon seit Tagen in diesem Keller sitzen und sich von den Körnern ernähren. Sie hatte Mitleid mit ihm. Der Vogel schien das zu spüren. Er hüpfte näher heran und richtete seine dunklen Augen auf das Brot, das Anima in der Hand hielt. Irgendwie brachte das Wesen es fertig, die Winkel seines Schnabels zu verziehen und auf diese Weise einen äußerst kläglichen Eindruck zu machen. »Die Körner sind wohl nicht gerade deine Lieblingsspeise, wie?« fragte Anima und brach einige kleine Stücke Brot ab. Der Vogel fing sie geschickt mit seinem großen Schnabel auf und verschlang sie. Dann hüpfte er zu einem der Fässer und gluckste. »O nein«, sagte Anima lächelnd. »Es reicht, daß die Piraten betrunken sind. Du bekommst Wasser – das muß dir reichen.« Dem Vogel war es recht. Als sie leise zur Treppe ging, folgte er ihr auf dem Fuß. Sie lauschte, aber oben war es still. Es mußte schon einige Zeit vergangen sein, und Goman-Largo und Neithadl-Off waren sicher längst einige Straßen entfernt, falls sie die Suche nicht schon völlig aufgegeben hatten. Sie mußten sicher sehr schnell einsehen, daß sie unmöglich zu zweit ganz Barquass absuchen konnten. »Komm«, sagte sie zu dem Vogel und stieg die Treppe hinauf. Das Tier piepste kläglich, und sie begriff: Die Stufen waren zu hoch. Sie zögerte, aber der Vogel sah so harmlos aus, daß sie es schließlich doch wagte, ihn zu berühren. Er ließ sich widerstandslos hochheben. Es schien ihm sogar zu
behagen, daß Anima ihn trug, denn er rieb seinen Kopf an ihrem Arm und gluckste zufrieden. Sie mußte lächeln. Das Tier war warm und weich, und seine Federn waren glatt und sauber. Es war ein angenehmes Gefühl, dieses Wesen zu berühren. Es tat ihr beinahe leid, als sie die Küche erreichte und sie das Tier wieder absetzen mußte. Der Vogel hüpfte zu einer Schale, die auf dem Boden stand und noch einen Rest Wasser enthielt. »Urg?« gluckste er fragend, und Anima nickte. »Sofort«, sagte sie und goß Wasser aus einem Krug in die Schale. Der Vogel gluckste vergnügt, sprang in die Schale und spritzte Anima von oben bis unten naß, als er in dem Wasser zu baden begann. »So war das eigentlich nicht gedacht«, murmelte sie, was den Vogel allerdings nicht im geringsten beeindruckte. Sie ging leise zur Haustür und öffnete sie vorsichtig. Von GomanLargo und Neithadl-Off war tatsächlich nichts mehr zu hören oder zu sehen. Anima beschloß, die Stadt zu verlassen, aber auf der anderen, nicht dem Raumhafen zugewandten Seite. Seit sie den Vogel gefunden hatte, war ihre Furcht vor der Stadt noch gestiegen. Sie glaubte nicht länger daran, daß sie hier Hartmann vom Silberstern finden konnte. Und was sollte sie mit dem Vogel machen? Sie ging in die Küche. Das Tier hüpfte eben aus der Schale. Es war tropfnaß und sah kläglich aus, und als es sich kräftig schüttelte und Tropfen nach allen Seiten sprühte, standen seine Federn wie Stacheln von seinem Körper ab. »Ich werde dich zur Ebene bringen«, sagte sie zu dem Tier. »Dann kannst du hinuntergehen und deinen Herrn suchen. Ich hoffe zumindest, daß du das tun wirst.« Der Vogel sagte nichts. Er folgte Anima wie ein kleiner Schatten, als sie das Haus verließ. Er schien gut zu Fuß zu sein, und nur Stufen und ähnliche Hindernisse mißfielen ihm außerordentlich.
Solange er noch naß war, nutzte er jede Gelegenheit, um sich zu putzen, aber sobald sein Gefieder trocknete, begann er mit einem seltsamen Spiel: Er eilte um Anima herum und gab dabei melodische Töne von sich, eine Mischung aus Glucksen und Quaken. Diese Töne bildeten kurze, einfache Melodien, die der Vogel endlos variierte. Er hatte eine sehr tiefe Stimme, und Anima hatte bisweilen das Gefühl, als hörte sie die Baßbegleitung zu einer Melodie, und als gehöre dieser Vogel zu einer Gruppe von Musikern, von der nur er allein übriggeblieben war. Anfangs versuchte sie, das Tier zum Schweigen zu bringen, denn wenn Goman-Largo und Neithadl-Off wider Erwarten doch noch in der Nähe waren, konnten sie leicht aufmerksam werden. Aber der Vogel hörte sich Animas Belehrungen und Verbote zwar sehr aufmerksam an, den Kopf schräg gelegt und die klugen dunklen Augen auf Anima gerichtet, aber sobald sie schwieg, legte er wieder los. Nichts schien ihn daran hindern zu können, und so gab sie es auf. Sie war froh, als sie den Stadtrand erreichten. »Da unten sind die Piraten«, sagte sie zu dem Vogel. »Geh und such deinen Herrn.« Aber noch während sie sprach, trat in der Ebene plötzliche Stille ein. Dann gellten laute Rufe auf, und die Piraten stürmten wie von Sinnen zu ihren Schiffen. Der Vogel sah fragend zu Anima auf. Irgendwie machte er ein pfiffiges Gesicht, obwohl er zu echter Mimik gar nicht fähig war. »Bobbob baab bob!« sagte er, drehte sich um und watschelte in die Stadt zurück. Nach einer kurzen Strecke blieb er stehen, sah sich um und gluckste fragend. Anima zuckte zusammen, als sie im gleichen Augenblick wieder einmal ganz deutlich ihren Ritter spürte. Sie sah den Vogel nachdenklich an. Nein, zwischen diesem Tier und Hartmann vom Silberstern gab es ganz sicher keine Verbindung, und doch … Sie spürte, daß dies kein gewöhnlicher Vogel war. Irgend etwas
stimmte mit ihm nicht. Vielleicht war er gar kein Haustier, sondern – ja, was? Ein Bote, den der Ritter ihr geschickt hatte? »Unsinn!« sagte sie zu sich selbst. Der Vogel quakte ungeduldig. Anima beschloß, ihm fürs erste zu folgen. Sie konnte es sich immer noch anders überlegen, aber zuerst wollte sie sehen, wohin der Vogel sie bringen wollte. Das Tier gluckste zufrieden und marschierte los, sobald Anima ihm zu verstehen gab, daß sie ihm folgen würde. Nach kurzer Zeit nahm er sein Spiel wieder auf, wanderte um sie herum und gab seine seltsamen kleinen Liedchen zum Besten. Anima befürchtete, daß ihr das sehr bald auf die Nerven gehen würde, aber noch war es nicht soweit. Im Gegenteil: Die Stadt wirkte nur noch halb so beängstigend, solange der Vogel sang. Das Tier führte sie auf geradem Weg aus der Stadt heraus, und es wich dabei sorgfältig allen Türmen aus. Das fiel Anima zunächst gar nicht auf. Als sie es merkte, kehrte sie um. Der Vogel war beunruhigt. Er rannte ihr nach und pfiff durchdringend. Sie drehte sich um und befahl ihm ärgerlich, endlich still zu sein. »Ich komme gleich zurück«, versprach sie. »Ich will nur einen dieser Türme aus der Nähe betrachten. Du brauchst keine Angst zu haben – mir wird nichts dabei passieren.« Den Vogel überzeugte das wenig. Er schrie und pfiff, und schließlich blieb er bekümmert zurück. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, als sie sich nach ihm umsah und ihn mit hängendem Kopf auf der Straße hocken sah. Als sie den Turm erreichte, hatte sie das seltsame Gefühl, von tausend Augen beobachtet zu werden. Der Wind wimmerte um die steinernen Kanten. Anima sah nach oben – der Turm war achteckig und hatte in seinem oberen Teil kleine Fenster, schmal wie Schießscharten. Sie ging um das Bauwerk herum und suchte nach einer Tür. Sie fand auch eine, aber als sie die Klinke berührte, durchfuhr sie eine so grauenhafte Angst, daß sie sich in heller Panik
abwandte und davonrannte. Nachdenklich blieb sie stehen, als die Furcht plötzlich nachließ. Sie betrachtete den Turm mißtrauisch, aber sie wagte es nicht, zu ihm zurückzukehren. Zumindest nicht jetzt. Später, wenn sie ihren Ritter gefunden hatte … Sie schalt sich selbst einen unheilbaren Dummkopf. Der Vogel kam ihr entgegen, aber es schien, als müsse er bei jedem Schritt gegen etwas ankämpfen, was sich ihm entgegenstemmte. Er piepste jämmerlich und schien am Ende seiner Kräfte zu sein, als sie ihn erreichte. Anima hatte ihn bisher für sehr kräftig gehalten, und es erschreckte sie, ihn in einem so erschöpften Zustand zu sehen. »Du hattest recht«, sagte sie zu ihm. »Bei diesen Türmen haben wir nichts zu suchen. Es tut mir leid.« Er gluckste leise, als sie ihn aufhob. »Ich werde dich Urg nennen«, murmelte sie beruhigend und streichelte das Tier, denn es zitterte am ganzen Leib. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben.« Sie gab ihm ein Stückchen von dem Brot, das sie aus dem Keller mitgenommen hatte. Der Vogel schlang das Brot gierig hinunter. »Urg!« gluckste er dann. Es klang sehr zufrieden. Die Stadt Barquass war zwischen niedrigen Hügeln erbaut. Während die Ebene mit dem Raumhafen leer und staubig war, völlig frei von Vegetation, waren die Hügel mit üppigen Wiesen und Wäldern bewachsen. Die Wiesen reichten bis an die Gebäude heran. Anima sah sich vergeblich nach Straßen oder wenigstens Fußpfaden um, die durch das Grün führten. Sie sah nichts dergleichen. »Das ist merkwürdig«, sagte sie zu dem Vogel. »Ich dachte, daß es auf dieser Seite der Stadt Felder und Gärten gibt. Die Piraten müssen sich doch ernähren!« Der Vogel strampelte heftig, und sie setzte ihn ab. Er gab einen vergnügten Laut von sich und rannte spornstreichs über die Wiese
zu einem niedrigen Busch, der mit violetten Früchten überreich behangen war. Dort begann er zu fressen. Anima folgte ihrem seltsamen Begleiter nachdenklich. Sie probierte von den Früchten und fand sie außerordentlich wohlschmeckend. Vor Gift brauchte sie sich nicht zu fürchten – ihr Körper war in dieser Beziehung sehr widerstandsfähig. Urg kannte die Früchte sehr genau, und sie kam gar nicht erst auf den Gedanken, daß sie schädlich für das Tier sein könnten. Der Vogel stopfte ungeheure Mengen Nahrung in sich hinein, und Anima wartete gezwungenerweise, bis er endlich satt war. »Gut und schön«, sagte sie. »Aber ich glaube nicht, daß Hartmann vom Silberstern hinter einem dieser Hügel sitzt und auf mich wartet. Wo soll ich hier nach ihm suchen?« Der Vogel gluckste und watschelte schwerfällig nach Norden. Vollgefressen wie er jetzt war, hatte er offenbar keine Lust, seinen Gesang anzustimmen. Anima folgte ihm, denn sie sagte sich, daß diese Richtung so gut wie jede andere war. Jetzt bedauerte sie es, daß sie es versäumt hatte, während der Landung einen Blick auf die Umgebung der Stadt zu werfen. Gab es noch andere Städte auf diesem Planeten? Oder war das Fehlen jeglicher Straßen ein Beweis dafür, daß es nur die Stadt Barquass und die Wildnis gab? Für einen Augenblick dachte sie daran, in die STERNENSEGLER zurückzukehren. Bestimmt gab es Aufzeichnungen all dessen, was man während des Landeanflugs hatte sehen können. Wahrscheinlich wäre es auch klug gewesen, Goman-Largo und Neithadl-Off zu fragen … »Halt, wer da?« erklang eine scharfe Stimme. Anima blieb ruckartig stehen. Auch Urg hielt an. Er drehte aufmerksam den Kopf und gluckste erschrocken, als sich etwas hinter einem nahen Gebüsch bewegte. Anima hielt den Atem an.
Die beiden Gestalten, die auf sie zukamen, sahen sehr exotisch aus, aber ihre gleichförmige Kleidung, die Waffen, die sie geschultert hatten, und ihr exakt aufeinander abgestimmter Gang ließen keinen Zweifel daran, daß es sich um Soldaten handelte. »Ich suche Hartmann vom Silberstern«, sagte Anima ohne große Hoffnung. »Könnt ihr mir sagen, wo ich ihn finde?« Die beiden Soldaten schienen sie gar nicht gehört zu haben. Der eine nahm seine Waffe von der Schulter und richtete sie auf Anima, während der andere das Vardi-Mädchen schnell und gründlich durchsuchte. »Unbewaffnet!« bellte er. »Und das Tier?« fragte der mit der Waffe. »Ungefährlich«, behauptete der andere und gab Anima einen Stoß. »Mitkommen!« Hinter dem nächsten Hügel begann eine breite Straße, auf der Soldaten marschierten und bewaffnete Wagen umherfuhren. Die Wiesen neben der Straße waren zertrampelt und umgewühlt, und flache, graue Zelte erhoben sich in exakten Reihen, genau abgezirkelt und alle mit der Front zur Straße hin ausgerichtet. »Was ist denn hier los?« fragte Anima verwundert. »Mund halten!« befahl der eine Soldat, und der andere stieß ihr seine Waffe in den Rücken. »Weitergehen!« Anima sah sich nach Urg um und entdeckte, daß der Vogel ihr und den beiden Soldaten folgte. Er machte einen sehr bekümmerten Eindruck und piepste klagend, als Animas Blicke ihn trafen. »Tut mir leid, Kleiner«, sagte sie. »Aber ich fürchte, ich kann im Moment nichts ändern.« »Ruhe!« bellte der Soldat sie an. »Kein Wort mehr, verstanden?« Anima zuckte die Schultern und schwieg. Man brachte sie zu einem der Zelte und stieß sie hinein. Drinnen saß ein uniformiertes Wesen auf einem Feldstuhl und studierte mit wichtiger Miene einen Plan. Das sah sehr komisch aus, weil das Wesen lange Stielaugen besaß, die es direkt auf das Papier senken
mußte, weil es wohl sehr kurzsichtig war. »Verdächtiges Subjekt gefangen, General!« meldete jener Soldat, dessen Waffe Anima in ihrem Rücken spürte. Der »General« nahm seine Stielaugen vom Papier und fuhr sie immer weiter aus, bis sie fast an Anima heranreichten. »Näher kommen!« befahl er mit schnarrender Stimme. Anima war nicht sonderlich darauf erpicht, mit den schleimig wirkenden Augen in näheren Kontakt zu kommen, aber man schob sie vorwärts, und sie mußte gehorchen. Die Augen des »Generals« tasteten fast über ihr Gesicht und berührten ihre Nase. Ein seltsamer Geruch ließ sie heftig niesen, woraufhin der »General« seine Stielaugen hastig in Sicherheit brachte. »Fremd hier, wie?« fragte er, wartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr abgehackt fort: »Wohl ein Spion, was? Für den Feind spähen, nicht wahr? Werden wir dir abgewöhnen, jawohl!« Anima hatte das Gefühl, in ein absurdes Theaterstück geraten zu sein, aber sie verbiß sich das Lachen, das in ihr aufsteigen wollte. »Kein Spion!« erwiderte sie und bemühte sich dabei, sich der Sprechweise des stieläugigen »Generals« anzupassen. »Auch nicht für den Feind gespäht. Ritter gesucht.« »Ritter?« fragte das Wesen auf dem Feldstuhl verblüfft. »Was für ein Ritter?« »Er heißt Hartmann vom Silberstern und ist ein großer Held«, erklärte Anima. »Er muß irgendwo hier sein. Ich suche ihn.« »Held? Brauchen keine Helden. Brauchen Disziplin und Tapferkeit.« »Er hat von beidem genug.« »Mut und Schneid!« »Das auch.« »Verstand und List.« »Das sind seine Spezialitäten.« Die Stielaugen wurden wieder etwas weiter ausgefahren.
»Wie heißt der Mann?« schnarrte der »General« fragend. »Hartmann vom Silberstern.« »Nie gehört. Wohl einer vom Feind, was?« »Ganz sicher nicht«, behauptete Anima. »Er kämpft immer auf der Seite des Guten.« »Ach. Seite des Guten. Könnte uns helfen, der Mann. Brauchen jeden, der kämpfen kann. Wo steckt er?« »Ich sagte schon, daß ich ihn suche. Wenn ich wüßte, wo er ist, könnte ich ihn herholen, aber so …« »Schwierig zu finden, was?« »Sehr schwierig.« Die Stielaugen glitten noch ein wenig näher, und Anima mußte erneut niesen. »Wohl ein bißchen erkältet, wie?« fragte der »General«. »Fall für die Krankenstube, nehme ich an. Vielleicht auch Fieber, Halluzinationen? Habe nie von einem Ritter gehört.« »Ich bin nicht krank«, wehrte Anima ab und hörte vom Eingang des Zeltes her ein besorgtes Glucksen. »Was ist denn das!« schnarrte der »General« und lenkte seine Augen an Anima vorbei in Richtung Urg, der besorgt um die Ecke schielte. »Augen geradeaus!« bellte jener Soldat, der immer noch seine Waffe gegen Animas Rücken drückte. Der »General« hüpfte von seinem Feldstuhl hoch. »Was erlaubst du dir, Soldat!« rief er wütend. »Verzeihung, ich meinte das verdächtige Subjekt«, versicherte der Soldat kleinlaut. »Es hat sich umgeschaut. Wahrscheinlich wollte es diesem Tier ein Zeichen geben.« »Tier? Was für ein Tier?« Der zweite Soldat ging hinaus und brachte Urg herein. Er hatte sich den Vogel einfach unter den Arm geklemmt, und das Tier blickte Anima jammervoll an. »Laß ihn los«, bat Anima. »Er ist nur ein harmloser Vogel.«
»Ich entscheide hier, was harmlos ist und was nicht!« schrie der »General«. »Der Vogel ist harmlos, Soldat, setz ihn also ab.« Urg plusterte sich auf und schüttelte sich empört, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte. »Wo waren wir stehengeblieben?« fragte der »General«. »Ach ja, dieser Ritter, Hartmann von Dingsda. Nie gehört, den Namen. Wahrscheinlich eine Lüge, wie?« Anima zählte in Gedanken bis zehn. Die Piraten in der Ebene waren nur betrunken gewesen, aber dieser Bursche hier war ohne jeden Zweifel etwas verrückt. Es hatte wahrscheinlich wenig, Sinn, ihm zu widersprechen – aber sollte sie ihm etwa recht geben? »Sprache verloren?« fragte der Bursche mit den Stielaugen. »Plötzlich stumm geworden? Wohl auch noch Simulant, was?« »Nein«, sagte Anima so ruhig, wie es ihr möglich war. »Ich bitte um die Erlaubnis, meine Suche nach dem Ritter fortsetzen zu dürfen. Das ist alles, was ich möchte.« »Auch noch unverschämt. Möchte Urlaub, wo der Feind schon vor uns steht. Absicht, zu desertieren, wie?« »Selbstverständlich nicht. Wie kann ich desertieren, wenn ich gar nicht zu euch gehöre?« Das war ein Fehler. »Jeder gehört zu uns!« schrie der »General« und fuhr so heftig in die Höhe, daß seine Stielaugen sich fast ineinander verhedderten. »Jeder, verstanden?« »Ja«, sagte Anima erschrocken. »Gut, einverstanden, ich gehöre zu euch. Aber ich bin nicht zum Kämpfen geeignet. Sieh mich doch an – ich bin ein Mädchen. Ich könnte noch nicht einmal eine von diesen schweren Waffen bedienen, die deine Soldaten bei sich tragen.« Der »General« war erstarrt. »Ein Mädchen!« wisperte er entsetzt. »Hier, in der Truppe! Ungeheuerlich! Soldat, weggeschaut!« »Um Himmels willen, nein!« keuchte Anima entsetzt, denn als der
Soldat hinter ihr hastig den Kopf wandte, bohrte sich die Waffe noch fester in ihren Rücken. »Waffen weg!« keuchte der »General«, und sein Gesicht lief purpurrot an, während seine Stielaugen käsig weiß wurden. »Kehrt und marsch!« Die beiden Soldaten trampelten im Gleichschritt davon. »Was soll ich tun?« fragte der »General«, und er machte einen völlig gebrochenen Eindruck. »Ein Mädchen – hier, im Lager! Wenn das jemand merkt …« Er sprang plötzlich auf und wälzte sich mit der Eleganz einer übergewichtigen Raupe zum Eingang des Zeltes. »Mach, daß du wegkommst!« rief er Anima dabei zu, und ein dumpfes Krachen verriet, daß der »General« mit dem Zeltpfosten kollidiert war. »Verschwinde. Geh, wohin du willst, aber laß dich nie wieder hier blicken!« Ächzen und Stöhnen – der »General« hatte Mühe, seine Stielaugen an dem Pfosten vorbeizumanövrieren, ohne dabei in die Nähe Animas zurückzukehren, die er plötzlich zu fürchten schien. »Weg, nur weg!« hörte sie ihn keuchen, dann verklang seine Stimme und wurde zu einem undeutlichen, sich schnell entfernenden Gemurmel. »Weißt du, was mit dem los ist?« fragte Anima den Vogel, der auf dem Boden hockte und sie aufmerksam ansah. »Urg!« gluckste das Tier und streckte den Schnabel unternehmungslustig vor. »Bob baab bob.« »O' nein, nicht jetzt! Wir sollten sehen, daß wir von hier verschwinden, bevor dieser Kerl es sich anders überlegt. Dem traue ich alles zu. Am Ende kommt er noch auf die Idee, mich erschießen zu lassen, verrückt wie er ist. Also – kein Gesinge, verstanden?« Der Vogel sagte nichts, aber er watschelte in den hinteren Teil des Zeltes und schob mit dem Schnabel die Tücher auseinander. »Du hast recht«, nickte Anima. »Hinten herum haben wir diesmal wohl die besseren Chancen.«
Vorsichtig eilten sie über den Wiesenstreifen, der hinter den Zelten lag. Von der Straße her hörten sie laute Kommandos, das Trampeln schwerer Stiefel und mißtönenden Gesang. Schüsse bellten auf, und Anima warf sich zu Boden, aber es schien nur eine Übung zu sein – eine Übung wofür? Für einen Krieg? Gegen wen? »Halt, wer da?« rief es laut und fordernd, als Anima und Urg den Waldrand erreichten. »Jetzt geht das schon wieder los!« stöhnte Anima entsetzt. »Hört zu, ihr Soldaten, ich bin ein Mädchen, und wenn ihr mich ins Lager bringt, schnappt euer General über. Laßt mich lieber durch.« »Stillgestanden!« »Aber ich habe euch doch gerade gesagt …« »Ruhe!« »Wie ihr wollt«, murmelte sie resignierend und fügte sich in das Unvermeidliche. Es waren natürlich andere Posten als die, die sie beim erstenmal erwischt hatten, und so mußten sie Anima selbstverständlich nochmals gründlich untersuchen. Der eine wollte sogar den Vogel abtasten, aber der schien etwas dagegen zu haben, denn er hackte kräftig mit dem Schnabel zu. Der Soldat fuhr zurück. »Der ist gefährlich!« stieß er hervor. »Ich werde …« »Nein!« schrie Anima entsetzt, als der Soldat das Gewehr hob und auf Urg zielte. »Laß die Knarre fallen«, befahl eine schleppende Stimme, und ein abgerissener Bursche mit Schlapphut und enormen Hängeohren trat aus dem Gebüsch. Er hielt eine riesige Pistole in der Hand und winkte damit den zweiten Soldaten zur Seite. »Du auch. So, und nun greift mal hübsch zum Himmel und marschiert immer schön vor mir her. Nein, in die andere Richtung, ihr Galgenvögel – es wird eine Weile dauern, bis ihr euer Lager wiederseht.« Anima sah dem Ganzen verständnislos zu. »Brauchst du eine Extraeinladung?« fragte der Kerl mit den Hängeohren. »Oder hast du was Besseres vor?«
»Ich glaube schon«, sagte Anima vorsichtig. »Ich suche meinen Ritter – Hartmann vom Silberstern. Kennst du ihn, oder hast du etwas über ihn gehört?« »Nicht daß ich wüßte.« »In diesem Fall würde ich es vorziehen, meinen eigenen Weg zu gehen.« »Nun mach dir mal bloß keinen Knoten in die Zunge, Schwester«, riet das Schlappohr gähnend. »Was du vorziehst, interessiert mich einen Dreck. Los, vorwärts. Und vergiß den komischen Vogel nicht.« »Komm, Urg«, sagte Anima resignierend. »Ich fürchte, wir sind vom Regen in die Traufe gekommen.« »Halt die Klappe!« Die Soldaten marschierten voran, zackig und im Gleichschritt, weil sie es offenbar gar nicht anders konnten, dann kamen Anima und Urg, und der Kerl mit den Hängeohren und der riesigen Pistole bildete den Abschluß. »Wohin bringst du uns eigentlich?« fragte Anima, als sie schon mehr als eine Stunde lang schweigend dahinmarschiert waren. »Das wirst du schon sehen, wenn wir da sind«, war die Antwort, und sie ahnte, daß es völlig sinnlos war, weitere Fragen zu stellen. Ein Wald aus mächtigen, sehr alten Bäumen nahm sie auf, dann ging es durch einen rutschigen Hohlweg, vor dem Urg sich fast zu Tode ängstigte, so daß Anima ihn tragen mußte, und schließlich sahen sie unter sich eine kleine Stadt. Es war schon fast Abend, und in den Straßen wurden die Lampen angezündet. Anima musterte mißtrauisch den steilen, felsigen Weg, der in die Tiefe führte. »Da hinunter?« fragte sie zweifelnd. »Was denn sonst? Stell dich nicht so an. Vorwärts!« Er hatte leicht reden. Anima mußte den Vogel tragen, der mit dem steilen Pfad nicht zurechtkam, und dabei hätte sie gut beide Hände brauchen können, um sich an den Felsen festzuhalten. Sie kam sehr
langsam voran. »Geht's vielleicht ein bißchen schneller?« fragte der mit den Hängeohren ungeduldig. »Du hättest eben einen anderen Weg aussuchen müssen«, meinte Anima. »Jetzt paß mal gut auf, Schwester«, sagte der Hängeohrige. »Wenn du mir auf die Nerven gehst, mache ich kurzen Prozeß mit dir, verstanden?« »Wie meinst du das?« fragte Anima erschrocken. »Du hast nicht zufällig eine Zwillingsschwester, wie?« »Nein – warum?« »Weil es dich doppelt geben müßte, denn einer allein kann ja unmöglich so dumm sein. Sieh mal, mit den beiden schrägen Vögeln vom General ist es so eine Sache – die muß man erstmal verhören. Aber bei dir bin ich mir völlig sicher, daß du vom Feind kommst. Und Leute wie dich pusten wir einfach um. Hast du es jetzt verstanden?« »Ich weiß nicht einmal, von welchem Feind du redest.« »Das ist mir klar. Das sagen sie nämlich alle. Ich habe noch keinen getroffen, der es zugegeben hat.« »Aber …« »Spar dir deinen Atem. Und jetzt geh weiter!« Als sie endlich das untere Ende des Pfades erreicht hatte, fühlte Anima sich völlig erschöpft. Urg verhielt sich ganz still, als spüre er das. Als sie ihn auf den Boden setzte, hielt er sich ganz dicht neben ihr. Der Kerl mit den Hängeohren führte sie durch enge, altmodisch wirkende Straßen, die mit Kopfsteinen gepflastert waren und an deren Rändern eine stinkende Brühe durch schmale Gräben plätscherte. Die kleinen, krummen Häuser sahen alle miteinander aus, als könnte jeder kräftigere Wind sie zum Einsturz bringen. Vor den Haustüren saßen die Bewohner dieser bemerkenswerten Metropole – sie waren mindestens so alt wie ihre Häuser, und ihre
Nahrung schien ausschließlich aus angeschimmelten Brotresten zu bestehen. »Eine reizende Stadt«, murmelte Anima. Der Kerl mit den Hängeohren lachte. Wenig später riß er eine Tür auf, und Mörtel bröckelte auf die beiden Soldaten, Anima und Urg herab. »Rein mit euch!« befahl er. Sie stolperten durch einen stockfinsteren Flur, dessen Boden mit allerlei Gerumpel bedeckt war, und dann öffnete sich eine zweite Tür, und Anima blieb verblüfft stehen. Vor ihr lag ein helles, modern eingerichtetes Büro. Der Kerl mit den Hängeohren schob sie vor sich her, schloß sorgfältig die Tür, faßte sich an den Hals und zog eine Maske samt den riesigen Ohren von seinem Gesicht. Darunter kam ein glubschäugiger Krötenkopf zum Vorschein. »Alles Tarnung«, erklärte er, während er auf einen Knopf drückte. »Hier ist A 17. Ich bin eben zurückgekehrt, habe zwei Leute vom General und eine Fremde mitgebracht – ach so, ein Vogel ist auch noch dabei. Nein, ich glaube nicht, daß es sich um eine getarnte Bombe handelt. Das Tier scheint echt zu sein. Ich soll ihm den Wanst aufschneiden? Na, meinetwegen.« »Moment!« rief Anima entsetzt und hob Urg hastig auf. »So geht das doch nicht. Das ist mein Freund!« »Die Fremde sagt, der Vogel ist ihr Freund«, teilte A 17 seinem unsichtbaren Gesprächspartner mit. »Ich bin sicher, daß die beiden vom Feind kommen. Ja, ich denke auch, daß es reicht, wenn wir sie morgen früh alle beide erschießen. Nein, Fluchtgefahr besteht sicher nicht. Ich bringe sie schon sicher unter.« »Ihr könnt uns doch nicht einfach erschießen«, sagte Anima empört. »Warum nicht? Ihr kommt vom Feind, da bleibt uns gar nichts anderes übrig.« »Wer ist dieser Feind? Der General?«
A 17 lachte herzhaft. »Ein toller Scherz«, meinte er dann, abrupt wieder ernst werdend. »Ich will dir mal was sagen, Schwester: Der General ist nichts weiter als ein Verrückter, der sich einbildet, mit seinen lächerlichen Soldaten etwas gegen den Feind ausrichten zu können. Natürlich ist das völlig lächerlich.« »Und ihr wollt dem Feind auf andere Weise zu Leibe rücken«, vermutete Anima. »Wir wollen nicht nur, wir tun es bereits.« »Indem ihr harmlose Leute erschießt?« »Wir erschießen nur die Agenten des Feindes – sonst niemanden.« »Aber ich bin keine Agentin des Feindes.« »Natürlich nicht.« A 17 gähnte gelangweilt. »Woran erkennt man die Agenten des Feindes?« fragte Anima. »Das weißt du besser als ich.« »Meinst du? Aber sie müssen doch irgendein Kennzeichen haben.« »Du scheinst noch dümmer zu sein, als ich zuerst gedacht hatte. Wenn sie ein Kennzeichen hätten, würde ja sogar der General merken, was gespielt wird!« Anima betrachtete A 17 ratlos. »Na schön«, sagte sie schließlich. »Nehmen wir mal an, ich wäre wirklich eine Agentin – welche Absichten hätte ich dann wohl?« »Uns auszuspionieren, natürlich. Was denn sonst?« »Aber ich habe nicht spioniert.« »Warum warst du dann beim General?« »Weil seine Soldaten mich verhaftet haben.« »Nun – sie werden wohl ihre Gründe dafür gehabt haben.« »Nein. Ich bin ihnen einfach in die Arme gelaufen – das war alles.« »Ist ja auch egal«, meinte A 17. »Ich muß dich jetzt einsperren.« »Bitte, beantworte mir nur noch eine Frage: Wer ist der Feind?« »Der Feind ist … nun, er ist eben der Feind.« »Aber kannst du mir denn nichts Genaueres über ihn sagen? Ist es ein Volk, das auf diesem Planeten lebt? Werdet ihr angegriffen, will
man euer Land erobern?« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte A 17 nachdenklich. »Und wenn ich so darüber nachdenke – nein, auf unserem Planeten kann der Feind wohl kaum sein. B 36 war erst gestern in Uschkyuur, das ist auf der anderen Seite von Barquass, und auch dort sucht man den Feind.« »Mit anderen Worten – ihr wißt gar nicht, gegen wen ihr eigentlich kämpft.« »Oh, doch. Gegen den Feind.« Anima seufzte. »Paß auf, A 17«, sagte sie langsam und eindringlich. »Ich heiße Anima, und ich war schon einmal auf Barquass. Damals hatte niemand etwas dagegen einzuwenden. Ich bin gemeinsam mit den Piraten losgezogen, um Atlan zu suchen. Hast du von diesem Unternehmen gehört?« »Nein.« »Das ist schade.« »Oh, mir macht das nichts aus. Ich verrichte meine Arbeit, und das ist alles.« »Wenn ich nur wüßte, wie ich dich davon überzeugen kann, daß ich nichts mit dem Feind zu tun habe!« »Das ist ganz einfach«, behauptete A 17 und zog seine riesige Pistole. »Ich hatte es dir vorhin schon angeboten. Wenn du willst, bringen wir es jetzt gleich hinter uns. Dann ersparst du dir eine Nacht in der Zelle. Es ist ziemlich ungemütlich dort.« »Jetzt reicht es mir aber!« schrie Anima wütend. »Steck endlich dieses verdammte Ding weg. Ich will nicht erschossen werden, weder jetzt noch morgen früh!« »Glaubst du, daß mich das interessiert?« fragte A 17 und drückte ab. Natürlich konnte man Anima nicht mit einem simplen Schuß zur Strecke bringen, aber man konnte sie verletzen, zumindest für die kurze Zeit, die sie brauchte, um sich wieder zu regenerieren, und
auch nur dann, wenn sie nicht genügend Zeit hatte, sich vorzubereiten. Diesmal hatte sie reichlich Zeit gehabt, und darum passierte ihr nichts. Die Kugel blieb harmlos in ihrer Haut stecken. Sie hätte auch das verhindern können, aber sie wollte nicht, daß das Ding als Querschläger durch die Gegend heulte und den armen Urg verletzte. Sie stürzte sich auf A 17 und entwand ihm die Waffe, ehe der Bursche etwas dagegen unternehmen konnte. »So«, sagte sie und hielt ihm seine eigene Waffe unter die Nase. »Und jetzt wirst du mich nach draußen begleiten. Aber komm mir ja nicht auf dumme Gedanken!« »Ich weiß nicht, worüber du dich so aufregst«, murmelte er, stand aber gehorsam auf. »Es war doch ganz klar, daß dir nichts passieren konnte.« »So? Und warum nicht?« »Jeder weiß doch, daß der Feind unüberwindlich und unverwundbar ist, und was für ihn gilt, das gilt auch für seine Agenten. Du denkst doch wohl hoffentlich nicht, daß es dir gelingen könnte, zu fliehen?« »Ich werde fliehen, verlaß dich darauf!« Aber sie hatte sich geirrt, denn plötzlich öffnete sich eine verborgene Tür, und eine ganze Horde von Männern mit Schlapphüten und Hängeohren stürzte herein. Anima wurde gepackt und entwaffnet, und fünf Minuten später saß sie samt dem Vogel in einer düsteren, vor Schmutz starrenden Zelle. »Das hat uns noch gefehlt, wie?« fragte sie den Vogel, und Urg sah sie melancholisch an. Anima zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie sich und den Vogel aus dieser Zelle befreien sollte, und ihr fiel auch einiges dazu ein. Aber all diese Gedanken beruhten auf der Tatsache, daß sie sich verwandeln konnte, und die Wege, die sie fand, waren für Urg nicht begehbar. Sie hätte ihn zurücklassen müssen, und sie wagte es nicht, sich auszumalen, was man dann mit dem armen Tier anstellte.
»Morgen früh wird mir schon etwas einfallen«, sagte sie zu dem Vogel. »Zumindest werden sie nun nicht mehr versuchen, uns zu erschießen.« Der Vogel war bereits eingeschlafen, und Anima beschloß, sich auch etwas Ruhe zu gönnen.
6. Im Traum sah sie Hartmann vom Silberstern, der vergeblich versuchte, sich aus einem engen, gläsernen Gefängnis zu befreien. »Ich komme!« rief sie ihrem Ritter zu. »Ich werde dich befreien!« Sie ließ ihre rechte Hand zu Stahl werden und schlug damit auf das Gefängnis ein, aber die Wände wichen elastisch unter ihren Schlägen zurück. Sie sah, daß ihr Ritter zu ihr sprach, denn sein Mund formte Worte, die die Wände jedoch nicht durchdrangen. »Ich helfe dir«, versicherte sie und rückte dem Gefängnis mit immer neuen Mitteln zu Leibe. Endlich gelang es ihr, die gläserne Wand aufzureißen, und sie hörte, was Hartmann vom Silberstern sagte: »Tu es nicht!« Es war zu spät. Hilflos stand sie vor dem Gefängnis, und ihr Ritter zerfiel zu Staub. Schweißgebadet wachte sie auf. In der Zelle war es stockfinster. Es gab kein Fenster, durch das wenigstens das Licht der Sterne hätte eindringen können, und sie hörte keinen Laut. Es war, als wäre sie lebendig begraben. Aber halt – kratzte da nicht etwas? Sie richtete sich auf und atmete mit offenem Mund, um besser hören zu können. Hinter der Wand kratzte und schabte es ganz leise. Vielleicht war es ein Tier, das in der Zelle Nahrung vermutete. Anima schauderte in der Finsternis und tastete nach Urg. Der Vogel
gab einen verschlafenen Laut von sich, hatte aber nichts dagegen, daß Anima ihn auf den Arm nahm. Allmählich wurde das Kratzen deutlicher und lauter. »Vorsichtig«, wisperte eine Stimme. »Gleich sind wir durch.« Anima hielt den Atem an. Wollte sie jemand befreien? Aber wer? Sie dachte an Goman-Largo und Neithadl-Off. Ja, das konnte sehr leicht sein. Sie mochten sie aus der Ferne beobachtet haben. Aber andererseits hätten sie sich auch etwas Einfacheres einfallen lassen können, als ausgerechnet durch die dicke Steinwand zu kommen! »Jetzt!« Etwas fiel zu Boden und wurde gerade noch abgefangen, ehe es mit lautem Gepolter aufschlagen konnte. »Paß doch auf!« zischte eine Stimme ärgerlich. »Mach endlich das Licht an.« Anima schloß geblendet die Augen. »Leuchte woanders hin, du Trottel. Sie kann ja gar nichts sehen, wenn du sie so blendest!« »Wenn du alles besser weißt, dann mach es doch selber!« »Schon gut. He, du, Fremde!« Anima öffnete vorsichtig die Augen. Durch ein großes Loch dicht über dem Boden blickte ein komplett mit Haaren bedeckter Kopf zu ihr herein. Man konnte gerade noch mit Mühe zwei kleine, listige Augen und einen Mund in dem Gestrüpp erkennen. »Komm, ehe jemand uns bemerkt. Oder willst du da drin verfaulen?« Anima zuckte die Schultern, reichte Urg durch die Öffnung und schlängelte sich dann ebenfalls hindurch. »Nichts wie weg von hier«, zischte der Haarige und gab seinem Kumpan, der ebenso überwuchert war, einen Wink. »Immer ich«, maulte der andere, aber er wuchtete den Steinblock gehorsam an seinen Platz zurück. »Wir müssen direkt unter ihrem Hauptquartier hindurch«, erklärte der Haarige wispernd. »Sorge dafür, daß der Vogel den Schnabel hält. Der kleinste Laut, und sie haben uns.«
Anima nickte. Gebückt schlichen sie durch einen engen Gang, von dessen Wänden ab und zu Wasser tropfte. Anima trug den Vogel, denn erstens hätte er sie sonst beim Vorwärtskommen doch nur behindert, und zweitens würde er so noch am ehesten still sein. Endlich hatte der Gang ein Ende. Sie kamen in einem verkommenen Keller heraus und stiegen über eine verrottete Treppe zu einem schmutzigen Flur hinauf. Irgendwo schnarchte jemand laut und mißtönend. Der Haarige öffnete eine knarrende Tür und brummte unwillig, als er unversehens die Klinke in der Hand hielt. »Einfach lächerlich, diese Tarnung«, murmelte er kaum hörbar. »Vorsicht, der Graben!« Anima stieg vorsichtig über das stinkende Rinnsal hinweg. Die Stadt schlief. Man hatte die Lampen gelöscht, und die alten Leute waren von den Haustüren verschwunden. Durch einige offene Fenster hörte man wahre Schnarchkonzerte. Kleine, quiekende Tiere rannten an den Häusern entlang und suchten nach den Resten der Brotkrumen. Leise schlichen sie sich durch das Dunkel, und Anima atmete auf, als die Stadt samt ihrem Gestank hinter ihr lag. Ein schmaler Pfad führte in den Wald hinein. »Wohin gehen wir?« fragte Anima. »In unser Hauptquartier!« erklärte der Haarige. »Du wirst dich wundern, wenn du es siehst. Diese Hängeohren-Agenten sind nämlich alle ein bißchen verrückt, wenn du weißt, was ich meine.« Sie wußte es nur allzu gut. »Und was ist das für ein Hauptquartier?« erkundigte sie sich. »Seid ihr auch eine Gruppe, die den Feind bekämpft?« »Selbstverständlich. Jeder bekämpft den Feind, das ist doch klar. Es ist unser aller Pflicht. Ich hoffe, du willst dich nicht davon ausnehmen?« »Aber nein! Es ist nur … Diese Leute, aus deren Gefängnis ihr mich gerade befreit habt, waren der Ansicht, daß ich vom Feind
komme.« Der Haarige wiehertevor Lachen. »Das sieht diesen Idioten ähnlich«, behauptete er. »Dann glaubt ihr das also nicht?« »Hätten wir dich sonst befreit?« Anima schwieg. Das Argument klang logisch, aber Anima blieb trotzdem mißtrauisch. Sie hielt nicht viel von der Logik derer, die auf Barquass lebten. Bis zum Hauptquartier der Haarigen war es ein weiter Weg, und die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Das Hauptquartier bestand aus sieben oder acht großen Gebäuden, die sich mitten auf einer Wiese erhoben. Anima mußte zweimal hinsehen, bis sie begriff, warum ihr dieser Anblick so seltsam vorkam: Es führten keine Wege durch diese Wiese zu den Gebäuden hin. Die Wiese blühte in voller Pracht, kein Hälmchen war zu Boden getreten. Zuerst dachte Anima noch, daß es auf der anderen Seite der Gebäude einen Weg gäbe, aber dann marschierte der Haarige mitten durch das Gras, das sich fast unter seinen Füßen wieder aufrichtete. Anima runzelte die Stirn. Hier stimmte doch etwas nicht. Aber sie vergaß diese Angelegenheit schon im nächsten Augenblick, denn der Haarige lotste sie durch eine große Glastür, die nur von drinnen durchsichtig war. »Endlich kann ich diese Vermummung abnehmen«, sagte er und griff sich an den Hals. Anima erstarrte, denn das Krötengesicht mit den Glubschaugen kam ihr reichlich bekannt vor. Jetzt wußte sie auch, warum ihr die Stimme des Haarigen so vertraut geklungen hatte. »A 17!« stieß sie hervor. »Oh, nein, so heiße ich nur bei der Gegenseite«, beteuerte der Agent. »Bei uns gibt es diese albernen Nummern nicht. Hier heiße ich Butterblume. Das dort ist Moosrose.« Anima erwartete, daß auch der andere Haarige seine Maske
abnahm, aber der schien sich damit wohl zu fühlen. Vielleicht war dies auch sein wirkliches Aussehen – wer wollte das wissen? »Und wie heißt du wirklich?« fragte sie. »Du erwartest hoffentlich nicht, daß ich dir meinen echten Namen auf die Nase binde!« sagte Butterblume spöttisch. »Tarnung ist das halbe Leben.« »Verrückt!« dachte Anima. »Einer wie der andere. Ich möchte wirklich wissen, was in diese Kerle gefahren ist. Gibt es denn auf ganz Barquass kein vernünftig denkendes Wesen mehr?« »Was hast du diesmal mit mir vor?« wollte sie wissen. »Ich hoffe, du willst mich nicht schon wieder erschießen!« »Da du unverwundbar bist, hätte das wohl wenig Sinn. Nein, ich habe dich hierher gebracht, weil ich glaube, daß du uns ein paar wichtige Informationen geben kannst.« »Und zwar?« »Komm mit in mein Büro, da erkläre ich dir alles.« Anima folgte ihm mit gemischten Gefühlen. Im Augenblick wünschte sie sich nur, daß sie in der Stadt geblieben wäre. Sie hätte sich viel Ärger erspart, und vielleicht schon längst ihren Ritter gefunden. Hier draußen bei all den Verrückten konnte er wohl kaum stecken. In seiner Rolle als Butterblume schien A 17 ein umgänglicher und sogar sehr höflicher Bursche zu sein. Er rückte Anima einen Stuhl zurecht, besorgte ihr etwas zu essen und zu trinken und fragte sogar, was er für Urg tun könne. Anima war ihm zwar sehr dankbar dafür, denn sie und der Vogel waren völlig ausgehungert, aber sie wünschte sich, er wäre dabei endlich zur Sache gekommen. »Du bist keine von uns«, stellte Butterblume schließlich fest. »Du bist mit einem Raumschiff nach Barquass gekommen, nicht wahr?« Anima nickte vorsichtig. »Und dieser Ritter, den du suchst – der ist also auch mit einem Raumschiff gekommen?« Anima war völlig perplex.
Sie hatte sich über ihren Ritter schon in vieler Hinsicht den Kopf zerbrochen, aber auf diese Frage war sie nie gekommen. »Ich weiß nicht genau«, stotterte sie verwirrt. »Ja oder nein«, fuhr Butterblume sie an. Sie riß sich zusammen. Sie durfte nicht vergessen, daß sie es hier mit Verrückten zu tun hatte. Es hatte keinen Sinn, diese Leute zu reizen. »Ja«, sagte sie. »Na also. Du hattest dem General gesagt, daß dieser Ritter ein großer Held ist.« »Woher weißt du das? Hast du mit dem General gesprochen?« »Unsinn. Ich war einer von den beiden Soldaten, die dich verhaftet haben – natürlich in einer Verkleidung!« »Ich verstehe«, murmelte Anima erschüttert. »Also, ist er wirklich ein so großer Held? Kann er kämpfen?« Sie wußte ja nicht einmal, in welcher Form Hartmann vom Silberstein existierte – falls er existierte. »Ja«, erklärte sie trotzdem. Butterblume rückte näher heran. »Würdest du ihn zu uns bringen?« »Warum?« »Ihr beide sollt uns ein paar Ratschläge geben – besonders dein Ritter, weil er – wie du sagtest – ein großer Kämpfer ist. Siehst du, wir haben Grund zu der Annahme, daß der Feind aus dem Weltraum kommt, und wir, nun ja, einige von uns waren schon draußen im Raum, aber unglücklicherweise betraf es keinen aus unseren Organisationen. Darum schleusen wir uns überall bei den anderen Gruppen ein, aber die scheinen dieselben Probleme zu haben, wenn du verstehst, was ich meine.« »Warum hast du mir dieses Angebot nicht schon als A 17 gemacht?« »Weil das nicht ging. Bei den Hängeohren geht man davon aus, daß der Feind in kleinen Gruppen einsickern wird, bevor der
Angriff beginnt, und darum suchen sie ständig nach Agenten. Wir machen diesen Unsinn natürlich nicht mit, aber wenn ich das dort drüben gesagt hätte, wäre doch sofort herausgekommen, was ich tue.« »Wäre denn das so schlimm gewesen? Ihr meint doch alle denselben Feind, oder etwa nicht?« »Hm«, meinte Butterblume nachdenklich. »Darüber habe ich noch gar nicht so genau nachgedacht, aber ich glaube schon.« »Wäre es dann nicht vernünftiger, wenn ihr euch alle zusammentun könntet? Gemeinsam hättet ihr sicher viel größere Chancen.« »Sollen wir uns etwa mit diesen übergeschnappten Hängeohren oder dem verrückten General verbünden?« fragte Butterblume empört. Anima seufzte. Hier war wohl nicht viel zu machen, zumal sie es nicht wagte, dem ebenso übergeschnappten Agenten die Wahrheit zu sagen. »Nein«, murmelte sie resignierend und stand auf. »Gut, ich verspreche dir, daß ich den Ritter hierherbringe, sobald ich ihn finde. Einverstanden?« Butterblume strahlte. »Bei den Hängeohren habe ich von einem weisen Mann gehört, der dort im Westen, hinter den beiden Hügeln, die du durch dieses Fenster sehen kannst, leben soll. Vielleicht hat er etwas von deinem Ritter gehört.« »Ich werde ihn fragen«, versicherte Anima, nahm Urg unter den Arm und verließ das Büro. Fest entschlossen, sich nicht erneut mit Generälen und Agenten einzulassen, ging sie davon. Als sie die Wiese überquert hatte, drehte sie sich um und schüttelte ratlos den Kopf. Sie hatte keinen einzigen Halm geknickt.
* »So«, sagte Anima, als das Hauptquartier außer Sichtweite war und sie sicher sein konnte, daß weder Butterblume noch sonstige Agenten hinter ihr her schlichen. »Das hätten wir geschafft. Und jetzt kehren wir in die Stadt zurück. Ich bin es leid, hier draußen herumzuirren!« Urg sagte nichts. Er hatte ein paar saftige Früchte gefunden und speiste mit sichtlichem Genuß. Anima setzte sich neben ihn und aß ebenfalls. Hinter ihr ragten blumenüberrankte Felsen auf, und vor ihr erstreckte sich eine blühende Wiese bis zu einem kleinen Bach. Alles war still und friedlich. Sie streckte die Beine aus und genoß die Ruhe. Als sie sich schließlich wieder auf den Weg machten, griff der Vogel sein altes Spiel wieder auf, und Anima lauschte belustigt seinen kleinen Liedern. Sie fanden einen schmalen Pfad, der durch den Wald führte und auf dem sie – hoffentlich – die Stadt der Hängeohren umgehen konnten. Weit und breit ließ sich keiner der verrückten Bewohner von Barquass blicken. »Ich glaube, wir sollten diesem weisen Mann einen Besuch abstatten«, sagte Anima zu dem Vogel, denn die Ruhe machte sie leichtsinnig. »Vielleicht weiß er doch etwas.« Urg blickte sie aufmerksam an und gluckste. Es klang zustimmend. Der Pfad führte auf einen jener Hügel, die Butterblume ihr gezeigt hatte, und als sie oben angekommen waren, sah sie unter sich im Tal die Ruine eines Bauwerks, das ihr irgendwie vertraut vorkam. Daneben stand eine einfache, kleine Hütte. Sie sah aber noch mehr: Über einige niedrigere Hügel und unbedeutende Bodenwellen hinweg reichte ihr Blick bis in eine weite Ebene, auf der ein riesiges Heer lagerte, und noch weiter entfernt erhoben sich gigantische Geschütze in den Himmel.
»Der Feind«, murmelte sie und nickte nachdenklich. »Ich möchte wirklich wissen, auf wen all diese Wesen warten.« Der Vogel stieß sie mit dem Schnabel an und piepste kläglich. Sie nahm ihn auf den Arm und streichelte ihn beruhigend, während sie den Hügel hinabschritt. Mit dem, was in der Ebene geschah, wollte sie nichts zu tun haben, aber der Weise interessierte sie mehr und mehr. Als das verfallene Bauwerk vor ihr aufragte, war sie fast sicher, es schon einmal gesehen zu haben, aber sie wußte nicht, wo und wann das gewesen war. Sie betrachtete die runden Mauerbögen und die geschwungenen Ecken des Daches, und sie fühlte eine vage Furcht in sich aufsteigen. »Gefällt es dir?« fragte eine etwas zitterige Stimme. Sie drehte sich um und erblickte einen kleinen, alten Mann. Er trug ein einfaches, weißes Gewand und stützte sich auf einen knorrigen Stock. Auch er war ihr auf seltsame Weise vertraut. »Wer bist du?« fragte sie vorsichtig. »Ich habe keinen Namen. Man nennt mich den Alten. Ich nehme an, daß du hergekommen bist, um Fragen zu stellen. Alle Welt scheint in letzter Zeit nichts anderes mehr im Sinn zu haben.« »Was ist das für ein Gebäude?« »Eine Nachbildung von einem Palast, der einmal existiert hat – er war allerdings um vieles größer, wenn die Überlieferungen stimmen, und sehr viel prächtiger. Ich habe versucht, die alte Form wieder herzustellen, aber ich fürchte, es ist mir nicht gelungen.« »Wer hat in diesem Palast gelebt?« »Der andere.« »Welcher andere?« »Nun – eben der andere. Es gibt keinen Namen für ihn.« »Ist der andere der Feind, vor dem sich alle fürchten?« fragte Anima aus einem Impuls heraus. »Guray hat uns nicht mitgeteilt, wer der Feind ist, aber ich nehme an, daß es sich in der Tat um den anderen handelt.«
»Guray?« »Wußtest du nicht, daß dies Gurays Welt ist?« fragte der Alte erstaunt. »Aber ich dachte …« Er unterbrach sich und drehte sich hastig um. »Warte doch!« rief Anima enttäuscht, aber der Alte humpelte davon, so schnell er konnte, und verschwand in seiner Hütte. Als Anima ihm folgte, stand sie verblüfft in einem Raum, in dem sich niemand außer ihr und dem Vogel aufhielt. Der Alte war verschwunden. Es gab keine Nebenräume und keine Verstecke, und sie hatte mit eigenen Augen gesehen, daß der alte Mann diese Hütte betreten hatte. »Merkwürdig«, murmelte sie. »Es ist, als hätte er sich aufgelöst.« Sie wartete einen Moment, und als nichts geschah und der Alte nicht zurückkehrte, ging sie wieder zu dem alten Gebäude hinüber. Als sie die Hand gegen die Wand legte, begann Urg kläglich zu piepsen und mit den Beinen zu strampeln. Sie setzte ihn ab, und er eilte hüpfend in den Schatten eines Baumes. Dort blieb er stehen, zeterte lautstark und blickte zu Anima hinüber. Sie kümmerte sich nicht um ihn, denn in dem Moment, als sie die Mauer berührt hatte, hatte sie etwas gespürt, und eine Erinnerung war in ihr erwacht. Sie preßte die Hände gegen die kalten, weißen Steine, und plötzlich sah sie den Palast so vor sich, wie er einmal ausgesehen hatte. Er war viel größer. Diese Nachbildung stellte nur einen kleinen Teil des gesamten Komplexes dar. Und er war prächtig. Es gab in ihm Schätze, wie nur wenige lebende Wesen sie je in solcher Häufung an einem einzigen Ort gesehen hatten. Und doch war dies alles andere als ein festlicher und schöner Ort. Ganz im Gegenteil: Der ganze Palast war erfüllt von einem Gefühl der Bedrohung, der Furcht und des Leidens. Denn in seinem Zentrum saß Vergalo und führte sein grausames Regiment. Sie zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt. Für einen
Augenblick war sie so in ihrer Erinnerung gefangen, daß sie nicht wußte, wo sie sich befand. Dann sah sie den Vogel, der noch immer zeterte, als wolle er sie vor einer drohenden Gefahr warnen. Vergalos Palast, oder vielmehr: Ein Bruchteil davon. Sie erkannte es jetzt ganz deutlich, und sie hätte einen Teil ihres Lebens dafür verwettet, daß es genau diese gewölbten Fenster gewesen waren, hinter denen sie gemeinsam mit Hartmann vom Silberstern und Verrin darauf gewartet hatte, daß Vergalo ihnen eine Audienz gewährte. Aber wie kam dieses Gemäuer nach Barquass? Anima wußte durch die Piraten, daß Guray nach Schätzen aller Art gierte, und seine Sammlung mußte einen gewaltigen Umfang erreicht haben. Aber dieses alte Gemäuer, noch dazu eine höchst unvollkommene Nachbildung, besaß keinen erkennbaren Wert. Sie erinnerte sich an das, was der Alte gesagt hatte. »Wußtest du nicht, daß dies Gurays Welt ist?« Sie hatte gewußt, daß Barquass für Guray eine gewisse Bedeutung besaß, aber sie hatte nicht im Traum daran gedacht, daß Guray sich höchstpersönlich hier auf Barquass befinden könnte. Dieses geheimnisvolle Wesen, das sich stets im Hintergrund hielt und über das man nur mit größter Mühe herausfinden konnte, daß es überhaupt existierte – es sollte hier, auf diesem Planeten sein? Wo? Und wie sah es aus? Sie trat ein paar Schritte zurück, betrachtete das Gemäuer und die Hütte, dachte an den Alten, der einfach verschwunden war, an die furchteinflößende Stadt Barquass, an einen Vogel, der im Keller eines Gebäudes aus einer Getreidekiste kletterte, eine Wiese, in der man keine Spuren hinterließ, eine Stadt, die keine Felder und Gärten hatte, eine andere Stadt, in der es nur uralte Leute gab, was gar nicht möglich war. Sie dachte an den General und seine verrückte Truppe, die beiden merkwürdigen Geheimorganisationen, die Armee und die Geschütze hinter den Hügeln, und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Unbewußt hatte sie es stets gespürt, das war ihr jetzt klar. Sie verstand nicht, warum sie so lange gebraucht hatte, um dahinterzukommen, aber wahrscheinlich war sie einfach nur zu verwirrt gewesen. Sie sah Urg an, der plötzlich still geworden war. »Du bist Guray«, sagte sie leise. »Und der Baum, unter dem du stehst, ist ebenfalls Guray. Dieser alte Mann, die Armee, die Hängeohren und die Haarigen, der General samt seinen Soldaten, ihre Zelte und Waffen, die Städte und Wiesen und Wälder und die Geschütze – all das und noch viel mehr ist Guray!« Der Vogel schwieg und sah sie starr an, und sie fühlte sich plötzlich schwindelig. Sie setzte sich auf einen Stein – gehörte auch der zu Guray? »Jetzt verstehe ich auch, warum es in der Ebene des Raumhafens keine Pflanzen gibt«, sagte sie nachdenklich. »Sie würden zerstört werden. Aber was ist mit den Früchten, die ich gegessen habe? Was ist mit den Piraten, die hier leben und sich ernähren müssen?« Urg gab ihr keine Antwort. Sie fragte sich, ob er nicht sprechen konnte, oder ob er es nur nicht wollte. In jähem Erschrecken fiel ihr das Verschwinden des Alten ein. Sie stand auf und ging vorsichtig auf den Vogel zu. Er rührte sich nicht von der Stelle, und er schien auch keine Angst zu empfinden. »Bleib bei mir«, sagte Anima leise. »Guray, wenn du mich hören kannst – nimm ihn mir nicht weg. Ich brauche ihn – zumindest noch für eine kleine Weile.« Sie erhielt keine Antwort. Als sie die Hand nach dem Vogel ausstreckte und sein weiches, warmes Gefieder berührte, fühlte sie Trost und Zuversicht. Sie nahm das Tier auf den Arm. Unsicher blickte sie zu dem Gemäuer hinüber. »Warum hast du Angst davor?« fragte sie ratlos. »Es ist doch auch nur ein Teil von Guray, genau wie du.« Sie erinnerte sich plötzlich an Butterblume und daran, daß er von einem Agenten berichtet hatte, der auf der anderen Seite dieses
Planeten gewesen war, wo man ebenfalls nach dem Feind suchte. Dies konnte nur eines bedeuten: Guray umspannte ganz Barquass. Vielleicht war er sogar die einzige Lebensform, die es auf diesem Planeten gab. Der Gedanke an die ungeheure Größe dieses Wesens ließ sie schaudern. Sie fragte sich, was die verrückten Aktionen der verschiedenen Teile Gurays zu bedeuten hatten. Konnte ein so gewaltiges Wesen denn wirklich Feinde haben, beziehungsweise sich von deren Existenz in eine solche Panik versetzen lassen? »Es muß etwas mit diesem anderen zu tun haben, von dem der Alte gesprochen hat«, sagte Anima zu dem Vogel, und es war ihr völlig egal, ob Urg sie verstand oder nicht. Vielleicht verstand Guray dafür um so besser. »Der andere …« Sie blickte auf das Gemäuer. Sie glaubte nicht, daß dieses Ding zufällig hier herumstand. Es war auch keine Nachbildung, wie der Alte behauptet hatte, sondern ein Teil von Guray. Eine zu Stein gewordene Erinnerung. An Vergalo? An wen sonst? »Ich muß mit Guray sprechen«, sagte sie und stand auf. »Sofort. Und er muß mir antworten.« Sie ließ den Vogel unter dem Baum zurück, und diesmal zeterte er nicht, als sie zu dem Gemäuer ging.
7. Anima hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend, als sie in das Innere des Gebäudes ging. Die Erinnerungen überfielen sie mit solcher Macht, daß sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt fühlte. Ja, dies war der Raum, an den sie sich erinnerte. Es gab keinen
Zweifel mehr daran. Hier drinnen war nichts verfallen oder auch nur verstaubt. Die Möbel sahen aus, als wären sie erst vor wenigen Stunden noch benutzt worden. Warum gerade diese Räume? Guray hätte den gesamten Palast samt den Schatten und den Schätzen nachbilden können. Aber er hatte es nicht getan. Warum hatte er ausgerechnet diese Räume entstehen lassen? War es ein Versehen? Oder steckte eine bestimmte Absicht dahinter? Anima erkannte, daß sie genau in dem Zimmer stand, in dem Hartmann vom Silberstern damals gewohnt hatte, zumindest für die kurze Zeit, in der Vergalo sie noch wie normale Gäste behandelt hatte. War dies der Ort, nach dem sie gesucht hatte? Aber sie spürte den Ritter hier drinnen nicht stärker als sonst auch. Wo war er? Lief er irgendwo auf Barquass herum, eines der vielen verrückten Wesen, die nach dem Feind suchten? »Guray!« sagte sie leise. »Bitte, sprich mit mir! Sage mir, wo ich meinen Ritter finden kann.« Aber Guray antwortete nicht. Sie fragte sich, was mit ihm passiert sein mochte. Hatte er die Kontrolle über seinen gigantischen Körper verloren? Aber warum? Irgend etwas seufzte. Anima fuhr herum, aber es war niemand zu sehen. »Er dreht ab. Er hat mich nicht gefunden.« Anima zuckte zusammen. Sie hatte die Stimme nicht wirklich gehört. Der Gedanke war plötzlich in ihrem Kopf gewesen, und sie hatte ihn laut ausgesprochen. »Wer dreht ab?« rief sie laut. Statt einer Antwort sah sie ein Bild vor ihrem inneren Auge. Sie sah die Stadt Barquass mit ihren seltsamen Türmen. »Soll ich in die Stadt gehen?« fragte sie. »Wirst du dort mit mir sprechen?« Die Türme der Stadt veränderten sich. Sie fielen nicht in sich
zusammen, sondern sie wurden einfach immer kleiner, als schmolzen sie dahin. Dann folgten die Gebäude, und schließlich blieb nur noch eine große, leere Fläche übrig, aus der hier und da Überreste früherer Bauwerke ragten. Auch das Gebäude, in dem Anima jetzt stand, gehörte dazu, nur erhob es sich an einem anderen Ort. Lange Zeit blieb das Bild unverändert, dann war es, als senke sich eine gewaltige Masse auf die leere Fläche herab, gigantisch, dunkel und grauenerregend, und als die Masse zur Ruhe kam, erhob sich anstelle der Stadt jener Palast, den Anima wohl niemals würde vergessen können. »Ich verstehe«, flüsterte sie. »Vergalos Palast.« Die Türme und Erker zerflossen allmählich, nahmen weichere, organischere Formen an, und Anima erblickte ein gigantisches Ungetüm, das auf dem Planeten Barquass hockte und seine Arme um diese Welt legte, während es mit anderen Armen in den Weltraum hinaufgriff und Raumschiffe und fremde Wesen zu sich holte. Anima wußte nicht, ob Vergalo jemals wirklich so ausgesehen hatte. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Ein solches Ungetüm konnte es einfach nicht geben. Es war unnatürlich. Das Bild vor Animas innerem Auge erlosch. Erschüttert ließ sie sich auf einem der fremdartigen Sessel nieder. Sie hatte zwar noch immer nicht ihren Ritter gefunden, aber sie wußte, daß sie an den Ort zurückgekehrt war, an dem alles begonnen hatte. Barquass war der Planet, auf dem sie gegen Vergalo gekämpft hatten, und Manam-Turu war die Galaxis, aus der Anima stammte. Sie wunderte sich nicht darüber, daß sie das nicht schon vorher erkannt hatte. Es war viel Zeit vergangen, seit dies alles geschehen war, und der Anblick der Sterne und ihrer Konstellationen hatte ihr damals noch nicht viel bedeutet.
Das Volk, dem sie entstammte, war noch weit davon entfernt gewesen, jemals den Sprung zu den Sternen zu tun. Die fernen Sonnen waren für die Vardis nur Zeichen der Götter und der Ahnen gewesen. Selbst als Anima schon einige Zeit mit Hartmann vom Silberstern zusammen gewesen war und wußte, daß man zu diesen Lichtern reisen und auf ihren Planeten landen und umhergehen konnte, hatte sie niemals wirklich begriffen, was das bedeutete. Die Sterne waren für sie auch damals noch ferne Feuer gewesen, an denen Corloque und andere Helden aus vergangenen Zeiten sich wärmen mochten. Als Sonnen erkannte sie sie erst, wenn sie sich ihnen näherte und von der Oberfläche eines Planeten aus zu ihnen aufsah. Nein, es war wirklich nicht verwunderlich, daß sie die Wahrheit nicht erkannt hatte. Kein Wunder, daß es sie nach Barquass gezogen hatte. Unbewußt hatte sie wohl gespürt, daß dies der Ort war, an dem sie ihren Ritter verloren hatte. »Existiert er noch?« fragte sie unsicher. »Oder bilde ich mir das alles nur ein?« Keine Antwort. Vielleicht hatte sie die falsche Frage gestellt. Sie versuchte es mit etwas anderem. »Was ist aus Vergalo geworden? Warum heißt du jetzt Guray?« Die Bilder erschienen wieder, und erneut sah sie den gigantischen Palast. Sie sah, wie er sich zusammenballte und sich erhob, und dann wurde er immer kleiner und raste immer schneller davon, bis er in der Unendlichkeit verschwand. »Er ist also von hier verschwunden«, murmelte Anima und starrte auf die leere Fläche und die wenigen Dinge, die dort zurückgeblieben waren. »Warum hat er nicht alles mitgenommen?« fragte sie. »Warum hat er etwas zurückgelassen?« Das nächste Bild kam so vehement, daß sie aufschrie und die Hände vor die Augen hob, aber das half nichts, weil das Bild in
ihrem Kopf war. Sie sah einen Speer fliegen, und Hartmann vom Silberstern stürzte zu Boden, und während er fiel, bildete sich eine feurige Linie zwischen ihm und einem Teil des Palasts, der gleichzeitig auch ein Teil von Vergalo war. Dann sah sie sich mit Vergalo kämpfen, und auch zwischen ihr und dem Palast entstand diese Linie, wenn auch nicht so stark ausgeprägt. Es war zu viel für Anima. Sie stolperte ins Freie und ließ sich ins Gras fallen, ohne daran zu denken, daß auch das Gras zu Guray gehörte. Sie erinnerte sich an ihre vergeblichen Versuche, Hartmann vom Silberstern wieder zum Leben zu erwecken. Jetzt wußte sie, warum das nicht geklappt hatte. Ein Teil von ihm, und auch etwas von ihr selbst, war in diesem Palast zurückgeblieben. Es steckte in diesem Gemäuer, das Vergalo wie ein Trugbild errichtet hatte, und es mochte zahllose andere Teile geben, in denen ebenfalls etwas von Vergalos unzähligen Opfern hängengeblieben war. Er hatte diese Teile nicht mehr haben wollen. Sie waren ihm lästig. Vielleicht war ihr Einfluß auf seine Entscheidungen größer, als man auf den ersten Blick annehmen konnte, aber das war im Grunde genommen egal. Er hatte diese Teile von sich gestoßen, sie zurückgelassen wie unbrauchbares Gerümpel, und dann hatte er Barquass verlassen, beziehungsweise den Planeten, der viel später diesen Namen erhielt. Anima ahnte, wer der andere war, der Feind, den Guray so sehr fürchtete. Es war nicht Vergalo – nicht mehr, seit er alles, was vielleicht noch positiv an ihm gewesen war, von sich gestoßen hatte. Es war der Erleuchtete.
* Erst nach langer Zeit hatte Anima sich soweit erholt, daß sie es
wagte, noch einmal in das Gemäuer zurückzukehren. »Warum fürchtest du dich vor dem anderen?« fragte sie. »Was wird er mit dir machen, wenn er dich findet?« »Ich weiß es nicht«, sagte eine helle, kindliche Stimme in ihrem Kopf. »Aber es wird etwas Schlimmes geschehen!« »Kannst du dich nicht gegen ihn wehren?« »Oh, nein!« »Warum nicht?« »Weil ich zu klein dazu bin.« Anima starrte verblüfft auf die Wände, die sie umgaben. »Wie kommst du darauf, daß du klein bist?« fragte sie schließlich. »Du bist doch riesengroß. So groß, daß du einen ganzen Planeten umspannst!« »Er ist größer.« »Das glaube ich nicht.« »Er ist alles, was ich nicht bin. Er ist groß, und er ist stark. Er ist sehr BILD mächtig. Ich bin nur schwach. Ich bin nichts gegen ihn.« »Wenn du dir das lange genug einredest, dann wirst du es am Ende natürlich auch glauben. Warum versuchst du es nicht einmal auf die umgekehrte Weise?« »Du hast gesehen, woraus ich entstanden bin«, sagte die helle Stimme traurig. »Ich bin nur ein Überbleibsel.« »Du bist Guray! Du bist der Schutzpatron der Piraten, und du kannst Zehntausende von Raumschiffen zu deiner Verteidigung aufbieten, wenn du es nur wagst, aus deinem Versteck hervorzukommen und sie herzurufen!« »Sie würden nicht kommen.« »Warum nicht?« »Weil ich für sie nicht wirklich existiere. Manche glaube an mich, aber das sind nur wenige. Sie haben mich nie gesehen, mich nie erkannt.« »Dann zeige dich ihnen.« »Das kann ich nicht wagen.«
»Wenn sie sehen könnten …« »Sie könnten es sich nicht vorstellen. Und sie würden sehr schnell erkennen, wie verletzlich ich bin. Ich habe viele Schätze gesammelt. Sie würden mich vernichten und alles davonschleppen.« »Wie kann ein so riesiges Wesen nur so ängstlich sein!« »Ich bin vielleicht in deinen Augen riesig. In Wirklichkeit bin ich klein.« Anima gab es auf. Es hatte keinen Sinn, noch länger auf Guray einzureden. Im Grunde genommen konnte sie dieses Wesen sogar verstehen. Es kannte seinen Ursprung, und es war kein Wunder, daß es mit seinen Minderwertigkeitskomplexen gewachsen war. Leider waren die Komplexe auch noch mitgewachsen. »Wie kommt es, daß du nun plötzlich doch mit mir redest?« fragte sie, um auf ein anderes Thema abzulenken. »Es ist etwas geschehen, was mir ein wenig Hoffnung gibt«, erklärte Guray unsicher. »Ich kann den Feind spüren, seit ich weiß, daß er zurückgekehrt ist. Du kennst den anderen. Sage mir, ob es ihn jetzt zweimal gibt!« »Du meinst, er könnte sich geteilt haben?« »Ich weiß es nicht. Ich habe gespürt, daß er auf mich zukam, aber gleichzeitig auch an Ort und Stelle blieb.« Anima dachte angestrengt nach, aber sie wußte zu wenig über den Erleuchteten, als daß sie Gurays Frage hätte beantworten können. Sie konnte sich jetzt eine gewisse Vorstellung von ihm machen, denn schließlich hatte sie Vergalo kennengelernt, und der Erleuchtete mochte zwar eine ganz andere Gestalt angenommen haben, aber an seiner Beschaffenheit hatte sich gewiß nicht viel geändert. Aber ob er sich geteilt hatte … EVOLO! Sie wußte, daß EVOLO sich selbständig gemacht hatte, und da er vom Erleuchteten stammte, mochte er die gleiche mentale Ausstrahlung haben. »Du mußt EVOLO gespürt haben«, teilte sie Guray mit. »Was
wollte er von dir?« »Das weiß ich nicht. Ich dachte, er sei der Feind, denn er war auf dem Weg hierher. Dann hat er plötzlich die Richtung gewechselt.« Anima verstand. Guray hatte den Tod vor Augen gehabt, und darum hatte er sich abgekapselt. Jetzt war die unmittelbare Gefahr vorüber, und er beruhigte sich ein wenig. Aber er würde nicht aufhören, sich zu fürchten, solange der Erleuchtete und EVOLO existierten. Sie verspürte plötzlich Mitleid mit dieser riesigen und doch so hilflosen Kreatur. »Ich wollte, ich könnte dir helfen«, sagte sie traurig. »Ich weiß nicht, wohin dieser EVOLO will«, erwiderte Guray, »aber ich fürchte, daß er zu dem anderen zurückkehren wird.« »Das wird den Erleuchteten freuen«, meinte Anima sarkastisch. »Er scheint an diesem verdammten Ding zu hängen. Wenn ich nur wüßte, wie man sie alle beide vernichten kann!« »Niemand kann den anderen vernichten«, behauptete Guray. »Ich kann nur hoffen, daß du dich irrst. Guray, existiert Hartmann vom Silberstern noch?« Guray schien zu zögern. »Kehre in die Stadt zurück«, sagte er schließlich. »Nach Barquass.« »Werde ich ihn dort finden?« Anima stand lange in dem alten Gemäuer und wartete auf eine Antwort. Aber Guray meldete sich nicht mehr.
* Anima stellte erstaunt fest, daß über ihrem Gespräch mit Guray viel mehr Zeit vergangen war, als sie geglaubt hatte. Es wurde bereits finster, und die ersten Sterne erschienen am Himmel von Barquass. Sie hielt Ausschau nach dem Vogel und erschrak, als sie ihn nicht sah. Sie fürchtete bereits, daß er – genau wie der Alte – in seiner
Umgebung aufgegangen sein könnte, aber nachdem sie ihn mehrmals gerufen hatte, hörte sie sein vertrautes Glucksen. »Wo hast du denn gesteckt?« fragte sie vorwurfsvoll, aber natürlich konnte er ihre Frage nicht beantworten. Er schien nichts dagegen zu haben, daß sie ihn in die Hütte des Alten trug. Seine Angst, die für Anima noch immer völlig unverständlich war, betraf nur das Bauwerk aus Vergalos Zeiten. »Morgen früh gehen wir zurück in die Stadt«, sagte sie zu dem Tier, während sie für Licht sorgte und Urg und sich selbst an den Tisch des Alten setzte. Es gab Vorräte in der Hütte, und der Vogel stürzte sich auf ein paar Brotkrumen, als hätte er schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Sobald er satt war, kauerte er sich hin und war auch schon eingeschlafen.
8. Obwohl Guray nun offenbar nicht mehr in totaler Panik und Agonie vor sich hindämmerte, dachte er allem Anschein nach nicht daran, dem verrückten Treiben seiner »Ableger« ein Ende zu bereiten. Im Gegenteil: sie waren aktiver als je zuvor. Anima wußte jetzt, daß sie mit all ihren Aktionen kein anderes Ziel verfolgten, als den Erleuchteten entweder abzuwehren oder in die Irre zu führen. Dabei hatten sie offenbar wirklich nicht die geringste Vorstellung davon, was sie erwartete und wie dieser ominöse Feind beschaffen war, beziehungsweise auf welche Weise man ihm ans Leder gehen konnte. Es wunderte Anima, daß Guray nicht wenigstens jetzt, da er sich doch wieder einigermaßen verständlich machen konnte, für Aufklärung sorgte, all seine wild gewordenen Teile unter Kontrolle brachte und ihre Bemühungen auf das richtige Ziel richtete. Es schien, als sei jeder Abschnitt dieses gigantischen Wesens von der fixen Idee befallen, daß er ganz allein dem Feind trotzen müsse.
Jeder schien auch felsenfest davon überzeugt zu sein, daß er, und nur er allein, das richtige Rezept gefunden habe. Jetzt, da sie wußte, wer und was Guray war, fiel es Anima nicht mehr schwer, die Geschehnisse in ihrer Umgebung einzuordnen, und sie kam langsam, aber sicher auf den Verdacht, daß Guray sich nicht ganz ohne Grund so klein und hilfslos fühlte. Gewiß – Guray als Ganzes war ein äußerst imponierendes Gebilde. Aber Anima fragte sich verzweifelt, ob Guray überhaupt in der Lage war, auch als Ganzes zu handeln. Was sie zu sehen bekam, sprach jedenfalls nicht dafür. Schon als sie den Hügel erklommen hatte, konnte sie erkennen, daß die Geschütze in der Ferne noch riesiger geworden waren. Inzwischen hatte man auch andernorts mit dem Bau solcher Gebilde begonnen. Zuerst glaubte sie sogar, daß Guray selbst das veranlaßt hatte. Aber dann sah sie die Soldaten. Es war unverkennbar die Truppe des stieläugigen Generals. Auch er selbst war dabei, und seine Soldaten schleppten die Zelte und die gesamte übrige Ausrüstung mit sich. Aber sie waren nicht auf dem Weg zu einer Übung oder einer imaginären Schlacht. Anima blieb im Schatten des Waldes, während sie den seltsamen Zug beobachtete, der die Soldaten begleitete. Es waren kastenförmige Dinger, die großen Kampfmaschinen ähnelten, aber unverkennbar organisch waren. Sie trampelten geräuschvoll dahin, und wenn einer der Soldaten zur Seite hin ausbrechen wollten, schickten sie peitschenförmige Tentakel aus und trieben den Flüchtling zu den anderen zurück. Auch wenn sie in die Stadt wollte – das Schicksal des Generals und seiner Begleiter ließ Anima keine Ruhe. Sie folgte ihnen in sicherer Entfernung. Die Kästen trieben die Truppe des Generals auf die Ebene hinaus, und dort wimmelte es von Gurays »Ablegern«. Es waren keineswegs nur Soldaten, die man hier zusammentrieb, sondern auch Angehörige vieler anderer Gruppen. Sie lungerten herum, von
den peitschenbewehrten Kästen bewacht, und warteten in dumpfer Resignation auf das, was da kommen sollte. Anima glaubte zunächst, daß sie schlicht und einfach zwangsrekrutiert würden. Aber dann bemerkte sie, daß die Armee, die sich in dieser Ebene versammelt hatte, nicht größer, sondern kleiner wurde, obwohl die Kästen von überall her Wesen herantrieben. Und dann erkannte sie auch den Sinn des Ganzen, und sie war so entsetzt, daß sie sich abwandte und floh. Wenig später sagte sie sich, daß ihre Reaktion dumm und unangemessen gewesen war. Sie wußte ja jetzt, daß all diese Wesen, die hier auf Barquass herumliefen, keine Individuen waren. Sie mochten für kurze Zeit Gestalt annehmen, aber sie würden früher oder später wieder in die Gesamtheit Gurays zurückkehren. Sie kannten es gar nicht anders. Sie wurden nicht geboren, sie brauchten keine Zeit, um sich zu entwickeln, und sie kannten – zumindest solange sie auf Barquass blieben – weder den individuellen Tod, noch die Angst vor dem Sterben. Sie waren einfach nur Teile einer gigantischen, lebenden Masse. Und dennoch hatte es Anima entsetzt, als sie sah, daß all diese Wesen, die man in der Ebene zusammentrieb, zum Aufbau der Geschütztürme dienten, indem sie ihre bisherige Gestalt aufgaben und zu einem Teil dieser gigantischen Waffen wurden. Und dann mußte sie feststellen, daß jene Teile Gurays, die den Bau dieser Waffen für notwendig hielten, sich nicht damit begnügten, nur all jene zu verwenden, die als vernunftbegabte Wesen durch die Gegend liefen.
* Sie wurde durch Urg gewarnt, der plötzlich sein melodisches Spiel aufgab, sich steil in die Höhe reckte und zeterte.
»Was ist los?« fragte sie beunruhigt. Der Vogel sprang sofort auf sie zu und hüpfte vor ihr auf und ab. Sie hob ihn hoch, aber er zeterte weiter und deutete mit ruckartigen Bewegungen seines Schnabels in eine bestimmte Richtung. So hatte er sich noch nie verhalten, und außerdem zitterte er heftig. »Schon gut«, sagte Anima beruhigend. »Ich habe verstanden. Was immer es auch sein mag, wir werden ihm ausweichen.« Aber die Angst des Tieres wurde immer stärker, und sie war ansteckend. Anima begann zu rennen, und plötzlich war vor ihr der Wald zu Ende. Es war nicht einfach so, daß sie den Waldrand erreicht hatten. Nein, es war ganz und gar anders. Anima blieb entsetzt stehen. Sie hielt immer noch den Vogel auf dem Arm, aber der war jetzt verstummt. Zitternd machte er sich so klein wie möglich, während Anima fassungslos und entsetzt beobachtete, was aus dem Wald wurde. Die Bäume veränderten sich. Sie sahen aus, als hätte man sie irgendwann aus einer elastischen Masse geformt und dann aufgeblasen, und nun war jemand gekommen, der die Luft aus ihnen wieder herausließ. Zuerst gingen die Feinheiten verloren. Die Blüten, Blätter und Früchte verschwanden, ohne daß man sie abfallen sah. Dann wurde das zierliche Geäst förmlich in die dickeren Zweige zurückgezogen, bis nur noch der Stamm mit den Hauptästen übrig war. Danach verschwanden auch die Äste und schmolzen in den Stamm zurück, der zusehends an Höhe verlor. Am Ende blieb nur noch eine amorphe Schicht zurück. Anima konnte nicht beurteilen, wie viele Bäume diesem Prozeß bereits zum Opfer gefallen waren, aber sie sah, daß nicht nur die Bäume, sondern auch alle anderen Pflanzen und sogar der Boden, in dem sie zu wurzeln schienen – echte Wurzeln hatten sie ja möglicherweise gar nicht – in diese Verwandlung mit einbezogen
wurden. Die amorphe Schicht, die sich dabei bildete, mußte ziemlich dick sein, und sie erstreckte sich bereits über Hunderte von Metern. Dahinter lagen unberührte Wiesen und Baumgruppen. Zwischen ihnen und der Schicht bildete sich allmählich ein Streifen nackten Bodens. Anima betrachtete zweifelnd die graugrünliche Schicht, die sich am Rand leicht verdickte, als zöge sie sich zusammen. »Da gehe ich nicht hinein«, sagte sie zu dem Vogel. »Auf gar keinen Fall.« Urg schien nicht die Absicht zu haben, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Er war sehr still und rührte sich nicht. Anima, die bisher im Schatten der Bäume gestanden hatte, schrak zusammen, als helles Sonnenlicht sie traf. Sie blickte nach oben – auch hier begann es bereits. Sie rannte durch den Wald, parallel zu dem immer breiter und dicker werdenden Saum der Vernichtung, und hielt verzweifelt Ausschau nach einer Stelle, an der sie auf die andere Seite gelangen konnte, ohne mit dieser unheimlichen Schicht in Berührung zu kommen. Dann entdeckte sie vor sich einen Streifen, der noch voller Bäume, aber gleichzeitig voller Sonnenschein war, und sie begriff sofort, was hier vorging. Hastig stürmte sie vorwärts, und als sie die andere Seite erreicht hatte und keuchend stehenblieb, um sich umzusehen, waren die ersten Bäume schon bis auf die Stämme heruntergeschmolzen. »Warum betrifft es nur die eine Seite, die andere aber nicht?« fragte sie sich, als der Zerfall immer schneller vonstatten ging und die Bäume, unter denen sie nun stand, dennoch unversehrt blieben. Urg stieß sie heftig mit dem Schnabel und deutete zu dem Streifen nackten Bodens, der sich zwischen dem Rand der graugrünen Schicht und dem noch intakten Waldstück bildete. Anima nickte nachdenklich. »Dort sind wir zumindest davor sicher, von diesem komischen Zeug eingeschlossen zu werden«, gab sie dem Vogel recht, und
dann wurde ihr bewußt, daß dieses komische Zeug, wie sie es genannt hatte, nichts anderes als die möglicherweise wahre Gestalt Gurays war. Sofern ein Wesen wie er überhaupt eine »normale« Gestalt besitzen konnte. Der Streifen kahlen Bodens wurde sehr schnell breiter. Sie bückte sich und betrachtete den Boden aufmerksam. Er war tot, ohne die geringste Spur von Humus. Nichts lebte darin. Sie erinnerte sich daran, daß Vergalos Planet einst durchaus eigenes Leben besessen hatte. Oder hatten sie sich geirrt? War das, was sie für unberührte Natur gehalten hatte, auch nichts anderes gewesen, als das, was die Wiesen und Wälder von Barquass heute waren? War Vergalo etwa noch größer gewesen, als sie geglaubt hatten? Der Wald zu ihrer Linken wich immer weiter zurück, und der Streifen toten Bodens wuchs unaufhörlich. Was geschah mit diesem Teil Gurays, wenn der Wald sich endgültig aufgelöst hatte? Würden sich etwa auch hier diese riesigen Geschütztürme erheben? Urg zappelte wieder einmal, und Anima schrak aus ihren Gedanken hoch. Sie sah diese unheimlichen Kästen, die weit vor ihr aufgetaucht waren. »Das läßt uns keine andere Wahl«, sagte sie zu dem Vogel. »Mir ist zwar nicht wohl bei dem Gedanken, noch auf eine einzige Pflanze dieses Planeten zu treten, aber mit diesen Kästen möchte ich nichts zu tun haben.« Dem Vogel schien es genauso zu gehen, denn er erhob keinen Protest, als Anima von ihrem bisherigen Weg abwich und über eine üppige Wiese rannte, bis dichtes Gebüsch sie davor bewahrte, daß diese, gräßlichen Kästen sie bemerkten. »Wenn wir nur erst in der Stadt wären«, sagte sie sehnsüchtig. Aber sie war sich nicht restlos sicher, ob nicht auch die Stadt sich jederzeit auf diese grauenvolle Weise verändern konnte. Als sie nach einiger Zeit zurückschaute, sah sie den Lauf einer
gigantischen Waffe in den Himmel hinaufwachsen.
* Sie verbrachte die Nacht in einer verlassenen Hütte, und sie fühlte sich dabei nicht sehr wohl, aber sie war zu erschöpft, als daß sie ihren Weg hätte fortsetzen können. Am nächsten Morgen brach sie sehr zeitig auf, und sie stellte fest, daß die gigantische Waffe, die über die Hügel ragte, noch höher geworden war. Sie fragte sich, ob dieses Ding überhaupt einen Zweck erfüllte – konnte man aus lebender Materie Waffen formen, die tatsächlich feuern konnten? – aber das waren nutzlose Gedanken, die sie bald beiseite schob. Es war immerhin beruhigend, daß jetzt weit und breit weder peitschenwedelnde Kästen, noch in sich zusammenfließende Bäume zu entdecken waren. Die Landschaft, durch die Anima wanderte, machte im Gegenteil einen idyllischen Eindruck. Es fiel schwer, sich angesichts blühender Wiesen, sprudelnder Bäche und fruchttragender Sträucher des gemeinsamen Ursprungs all dieser Dinge bewußt zu bleiben, sich klarzumachen, daß man auf einem gigantischen Organismus herumlief. Der Gedanke, daß all dies jederzeit zu einer graugrünen Schicht zerfließen konnte, jagte Anima eine Gänsehaut über den Rücken. Am Nachmittag sah sie vor sich die Türme von Barquass, und sie atmete auf. Die Stadt war noch ein gutes Stück entfernt, aber nun konnte Anima wenigstens sicher sein, daß Barquass überhaupt noch existierte. Als sie die Stadt betrat, war es dort nicht mehr so still, wie kurz nach der Landung der STERNENSEGLER. Zwar hielten sich die Piraten noch immer in der Ebene bei ihren Raumschiffen auf, aber ein paar von Gurays »Ablegern« gingen durch die Straßen und spähten in die Häuser, als suchten sie etwas. Urg hatte Angst vor
diesen Wesen, und darum ging Anima ihnen aus dem Weg. Sie fragte sich, wie sie hier Kontakt zu Guray herstellen sollte. Die Nachbildung der Räume aus Vergalos Palast erschienen ihr im nachhinein als der einzig passende Ort für eine Unterhaltung mit diesem riesigen Wesen. Sie waren ein Symbol aus alter Zeit, eine Umgebung, in der Anima keine Scheu gekannt hatte, Guray anzusprechen. Aber damals hatte sie auch noch nicht gewußt, wer und was Guray war. Unsicher sah sie zu einem der Türme hinüber. Vielleicht waren dies die Kontaktstellen innerhalb der Stadt. Sie sagte sich, daß sie hineingehen und es ausprobieren sollte, aber sie hatte Angst davor, und so schob sie es hinaus. Vom Stadtrand aus beobachtete sie kurze Zeit das Treiben auf dem Raumhafen. Kein einziges Schiff war gestartet, seit Anima zu ihrer Suche aufgebrochen war. Auch die STERNENSEGLER stand noch immer am alten Platz. Von Goman-Largo und Neithadl-Off war nichts zu sehen. Die Piraten hatten aufgehört zu feiern. Viele hatten sich einfach auf dem staubigen Boden zusammengerollt und schliefen. Andere standen ratlos herum oder hockten im spärlichen Schatten der Zelte und Buden. Das Fest war vorüber. Die Piraten schienen auf etwas zu warten – vielleicht einfach nur darauf, daß Guray ihnen erlaubte, diesen so unheimlich gewordenen Planeten zu verlassen. Auch jenseits des Raumhafens ragten jetzt die riesigen Geschütztürme auf, gerade noch erkennbar im Dunst der Ferne. Nur um die Stadt Barquass herum war die »Natur« noch intakt. Anima spürte, daß eine seltsame Unruhe sie befiel. Sie konnte nicht lange an einem Ort stehenbleiben – es trieb sie weiter. Und doch konnte sie sich nicht dazu entschließen, etwas zu unternehmen. Sie entschuldigte sich damit, daß sie sich sagte, daß ohnehin bereits der Abend hereinbrach. Außerdem hatte sie in den
letzten Tagen zu viel mitgemacht – sie war körperlich und geistig erschöpft. Sie brauchte Ruhe. Die Frage war nur, ob gerade dies der richtige Zeitpunkt war, an dem sie sich diese Ruhe gönnen konnte. Sie kam an einem Haus vorbei und blieb plötzlich stehen. Sie kannte dieses Gebäude. Hier hatte sie Urg gefunden. Keines von Gurays Geschöpfen war in der Nähe, und so öffnete sie leise die Tür. Urg sah zu ihr auf und plusterte unbehaglich sein Gefieder. Als sie durch die Tür trat, schüttelte er sich heftig, aber dann folgte er ihr. Er war in der letzten Zeit immer stiller geworden, und sie vermißte sein Spiel mit Tönen. Er wirkte nicht mehr so unternehmungslustig wie am Beginn ihrer Bekanntschaft, sondern bedrückt und melancholisch. »Komm«, sagte sie leise zu ihm. »Hab keine Angst, hier passiert dir nichts. Aber in diesem Haus gibt es Brot und Wasser, und wir werden sicher auch einen Platz finden, an dem wir schlafen können. Heute erreichen wir doch nichts mehr.« Der Vogel folgte ihr in die Küche, und sie stellte ihm die Schale hin, nachdem sie frisches Wasser eingefüllt hatte. Urg nahm zwei oder drei Schluck und saß dann trübsinnig da. Diesmal hatte er offensichtlich nicht einmal Lust zu einem Bad. Sie holte ein Brot herauf, und im Vorbeigehen sah sie sich die Kornkiste an. Sie wühlte die Körner zur Seite und nickte nachdenklich. Die Schicht war nicht dick genug, als daß ein Vogel von Urgs Größe sich darunter hätte verstecken können – nicht einmal dann, wenn er sich ganz platt auf den Boden gelegt hätte. Zum ersten Mal fiel ihr auf, daß Guray nur ganz bestimmte Typen von »Ablegern« produzierte. Sie hatte bis auf ein paar alte Frauen in der Stadt der Hängeohren kein einziges weibliches Wesen gesehen. Auch keine Kinder. Und außer Urg kein einziges Tier. Ob das ein Zufall war? Sie glaubte nicht recht daran. Der Vogel fraß nur ein paar Krümel Brot. Seine Augen waren
trübe, und allmählich machte Anima sich Sorgen um ihn. »Bist du krank?« fragte sie und streichelte ihn vorsichtig. Er reagierte kaum. Ratlos beobachtete sie ihn. Sie wagte es nicht, ihre Kräfte auf ihn einwirken zu lassen. Bei einem normalen Vogel hätte es sicher geholfen, aber bei Urg mochte es einen ganz anderen Erfolg haben. Schließlich gab sie sich einen Ruck und stand auf. In einem Zimmer fand sie ein bequemes Lager. Sie legte ein Kissen auf den Boden, setzte den Vogel darauf und stellte Schalen mit Wasser und Brot daneben. Während sie im Dunkeln lag und auf den Schlaf wartete, glaubte sie zu spüren, wie die Stadt um sie herum atmete, und plötzlich sah sie wieder den Wald vor sich, die Bäume, die sich auf so unheimliche Weise veränderten, und Furcht stieg in ihr auf. Sie hatte das untrügliche Gefühl, daß in dieser Nacht etwas geschehen würde, und am liebsten wäre sie davongerannt. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie überzeugte sich davon, daß der Vogel schlief. Dann stieg sie in den Keller hinunter. »Guray!« sagte sie leise. »Kannst du mich hören?« Stille. »Bitte, du mußt mich hören! An dieser Stelle ist Urg zu mir gekommen, also mußt du mich hier auch wahrnehmen können.« »Du hättest nicht herkommen sollen«, sagte die helle, kindliche Stimme in Animas Kopf. »Aber du selbst hast mir doch dazu geraten!« »Das war zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Inzwischen ist viel geschehen.« »Ist der Feind wieder nähergekommen?« »Nein. Der, den du EVOLO nennst, entfernt sich noch immer von mir, und der andere bewegt sich nicht.« »Aber das ist doch großartig. Du gewinnst Zeit.« »Das hilft mir leider nicht, Anima.« »Die Geschütze …«
»Sie sind unbrauchbar. Sie sehen zwar furchterregend aus, aber aus ihnen wird kein einziger Schuß fallen. Das ist auch gar nicht nötig. Es gibt nichts, womit man sich gegen den anderen wehren kann.« »Dann solltest du verhindern, daß noch mehr von den Dingern entstehen. Hör zu, Guray, ich bin davon überzeugt, daß du eine gute Chance hast, den anderen zu täuschen. Sorge dafür, daß aus den Geschützen wieder Wälder und Wiesen werden, und aus den Städten ebenfalls. Ziehe deine Wesen zurück. Gaukele dem anderen einen unbewohnten Planeten vor, auf dem es nichts zu holen gibt.« »Du meinst es gut, aber es würde nicht funktionieren.« »Da bin ich anderer Meinung. Die Tarnung ist perfekt.« »Nein. Du hast sie durchschaut.« »Ja, aber nur, weil ich gewisse Fähigkeiten habe. Ich sehe manche Dinge auf andere Weise, als die meisten anderen.« »Der andere hat diese Fähigkeiten in noch viel stärkerem Maß. Ich kann ihn nicht täuschen.« »Trotzdem solltest du diesem Treiben dort draußen ein Ende setzen«, sagte Anima enttäuscht. »Es ist gräßlich und grauenvoll.« »Ich weiß. Aber ich habe keinen Einfluß mehr darauf.« »Wie meinst du das?« »Ich habe dir gezeigt, was geschah, als Vergalo diesen Planeten verließ. Er hat uns hier zurückgelassen, lauter Einzelteile, überall verstreut, ohne eine Verbindung miteinander. Die meisten dieser Teile hatten kein eigenes Bewußtsein, und so ist es auch noch heute. Auch ich bin nur ein Teil von Guray, nicht das Ganze. Ich kann mit dir sprechen, und es gibt andere, die ebenfalls mit dir sprechen könnten, wenn es noch eine Verbindung zu ihnen gäbe. Aber das ist nicht der Fall. Den Guray, den du kennst, den Schutzpatron der Piraten und den Sammler vieler Schätze, diesen Guray gibt es nur hier, in der Stadt Barquass.« »Aber es muß doch noch eine Verbindung zu den anderen Teilen möglich sein.«
»Ich kann mit ihnen sprechen«, gab Guray zu. »Aber das bedeutet noch längst nicht, daß sie auf mich hören. Wir alle – ich – haben gespürt, wie der Feind sich uns näherte. Guray, der denkende und sprechende Guray, hat sich auf den innersten Kern seines Seins zurückgezogen und seinen Teilen vorher mitgeteilt, daß sie sich auf die Ankunft des Feindes vorbereiten sollen. Es bestand eine geringe Hoffnung, daß sie einen Weg finden würden, den Feind abzuwehren oder in die Irre zu führen.« »Das ist nun nicht mehr nötig.« »Oh, doch, es ist noch immer nötig. Ich kann den anderen deutlich spüren. Er ist zornig. Es wird einen Kampf geben, und wenn dieser Kampf vorüber ist, wird der Sieger hierherkommen und mich vernichten.« »Das hat er gar nicht nötig«, meinte Anima bitter. »Du vernichtest dich selbst, wenn du so weitermachst.« »Die Teile haben viele Wege gefunden«, fuhr Guray unbeirrbar fort. »Sie halten sie für erfolgversprechend, und sie werden weitermachen.« »Was sie da treiben, das ist völlig unsinnig!« »Das mag sein.« »Dann sprich ein Machtwort. Bereite dieser Sache ein Ende!« »Das kann ich nicht. Mein Einfluß ist zu gering.« Anima hätte sich am liebsten die Haare gerauft. »Dann gibt es also nichts, was man dagegen tun kann?« »Nein.« Anima dachte verzweifelt nach. Sie wollte Gurays Antwort nicht akzeptieren. Sie hatte begriffen, was dieses Wesen war, und sie wußte, daß Guray eine ungeheure Macht darstellen konnte, wenn es nur gelang, ihn dazu zu motivieren. Ein fester Wille, ein festes Ziel würde diese vielen einzelnen Teile zusammenschweißen, und es würde ein Wesen entstehen, das … Sie zuckte zusammen. Das war es, was mit Vergalo geschehen war!
Natürlich war er von Anfang an anders als Guray gewesen. Er gierte nach Macht und Reichtum, und er hatte sich mit Hilfe der Bo'oquiden schon damals Macht über viele Planeten verschafft. Aber er hatte damals seine Opfer nicht so sorgfältig ausgewählt, wie er es später in Alkordoom getan hatte. Es waren Individuen darunter gewesen, die Widerstand leisteten, auch noch nach jenem Prozeß, durch den sie zu einem Teil von Vergalo wurden. Und offensichtlich hatte er – um des bloßen Wachstums willen, weil er Macht mit Größe gleichsetzte – unintelligente Teile in sich aufgenommen, die unabhängig von seinen grausamen Zielen weitervegetierten und ihm damit im Weg waren, bloßer Ballast, den er auf lange Sicht nicht gebrauchen konnte. All das hatte er abgestoßen – und damit Guray geschaffen, dieses hilflose, zerrissene Wesen – und nur das mitgenommen, was ihm nützlich war. Und Anima und Hartmann vom Silberstern hatten dazu beigetragen, daß er sich ein Ziel setzte, daß er begriff, wie wichtig es war, Ballast abzuwerfen und diese Galaxis zu verlassen. Sie, und natürlich auch die Kosmokraten, die dem Ritter den Auftrag erteilt hatten, Vergalo unschädlich zu machen. Vergalo hatte geglaubt, unverwundbar zu sein. Er hatte gemeint, es gäbe niemanden, der es auch nur wagen würde, ihn anzugreifen. Bis Anima gekommen war. Anima mit ihrer seltsamen Fähigkeit, zu heilen, aber auch zu zerstören. Es mußte ein Schock für ihn gewesen sein, und ein noch viel schlimmerer Schock, als er in Alkordoom erkannte, daß auch Anima noch immer am Leben war und daß die Kosmokraten sie erneut samt einem Ritter auf ihn angesetzt hatten. Darum war er geflohen. Es war die alte, tiefverwurzelte Angst gewesen, die ihn aus Alkordoom vertrieben hatte, die panische Furcht vor einem VardiMädchen, das eine Waffe besaß, mit der man den mächtigen Erleuchteten verletzen, vielleicht sogar vernichten konnte.
Vielleicht taugte diese Fähigkeit auch dazu, Guray zu heilen? Anima schob diesen Gedanken hastig von sich. Niemals würde sie so etwas tun. Sie kannte Guray jetzt, und sie wußte, daß er keine Gefahr darstellte. Aber das konnte sich ändern, wenn er zu einem Ganzen wurde, sich selbst und seiner Möglichkeiten bewußt. Es würde sich ändern. Wenn Guray begriff, welche Macht er erringen konnte, dann würde er nichts unversucht lassen, um seine Ziele zu erreichen. Er würde nie aufhören, den Erleuchteten zu fürchten, und er würde sich nicht länger verstecken und sich seiner Angst überlassen. Der bloße Gedanke daran, daß zwei so ungeheure Kreaturen in der Galaxis Manam-Turu oder an irgendeinem anderen Ort miteinander kämpfen würden, rief bei Anima Übelkeit hervor. Sie hatte – wenn auch ohne es zu wissen oder gar zu wollen – dazu beigetragen, daß aus dem noch verhältnismäßig harmlosen Vergalo der Erleuchtete wurde. Sie würde eher sterben, als diesen Fehler ein zweites Mal zu begehen. Sie fragte sich, warum der Erleuchtete ausgerechnet nach ManamTuru gekommen war. Sie glaubte nicht daran, daß er nur aus reiner Panik an den Ort seines Ursprungs geflohen war. Es mußte mehr dahinterstecken. Vielleicht sogar der Gedanke an Guray. Sicher erinnerte er sich daran, daß er damals etwas zurückgelassen hatte. Etwas, von dem er schon damals gewußt haben mußte, daß es weiterleben und wachsen würde. Wußte er, wie gewaltig Guray inzwischen geworden war? Nein, dachte Anima, er weiß es ganz sicher nicht. Denn wenn er es wüßte, dann wäre er längst hier. Er hat viel dazugelernt. Er hätte die Macht und auch die Kraft, sich mit Guray zu verbünden, und Guray war viel zu schwach, um ihm zu widerstehen. Er würde dem Erleuchteten zum Opfer fallen, würde ein Teil von ihm werden, und der Gedanke an das, was entstehen mochte, wenn diese beiden
Monstren sich vereinten, war ungeheuerlich. Oder wußte er es vielleicht doch? Wartete er nur noch, um sicherzugehen, um alle Vorbereitungen zu treffen? War es diese Vereinigung, für die er EVOLO geschaffen hatte? Anima wünschte sich sehnlicher als je zuvor ihren Ritter herbei, und im Augenblick wäre es ihr egal gewesen, welcher von beiden es war. Sie brauchte jemanden, mit dem sie über all das reden konnte, jemanden, der genug davon verstand, um ihre Befürchtungen zu zerstreuen. Und vor allem jemanden, der ihr sagte, daß es nicht ihre Schuld war. »Guray!« rief sie. »Wo ist Hartmann vom Silberstern? Sage mir, ob er noch existiert!« Aber Guray hatte sich bereits wieder zurückgezogen.
9. Als sie am nächsten Morgen erwachte, wußte sie zunächst gar nichts mit ihrer Umgebung anzufangen. Dann erkannte sie, daß sie nach dem Gespräch mit Guray im Keller eingeschlafen war, mitten auf dem harten, schmutzigen Steinboden. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Die Erinnerung an den Inhalt des Gesprächs und die damit verbundenen Gedanken war klar und deutlich. Ihr war elend zumute, und das Bewußtsein ihrer Schuld erdrückte sie fast. Es war ihr nicht neu, denn sie hatte sich ihr ganzes Leben lang schuldig gefühlt. Zuerst, weil sie anders als die übrigen Vardis war, weil sie furchtbare Dinge getan hatte, für die man sie aus ihrer Familie entfernte und sie in die Schlucht verbannte. Dann, weil es ihr nicht gelungen war, Hartmann vom Silberstern zu retten. Jetzt, weil sie erkennen mußte, daß er völlig umsonst gestorben war: Es war ihnen nicht gelungen, Vergalo unschädlich zu machen. Im Gegenteil: Durch ihr Versagen hatte jene Entwicklung begonnen, die
den Erleuchteten und damit auch EVOLO entstehen ließ. Wenn sie damals nicht angegriffen hätte, wäre Hartmann vom Silberstern nicht gestorben, und Vergalo wäre vielleicht zu etwas ganz anderem geworden. Wenn … Sie zwang sich, diese Gedanken von sich zu schieben. All diese Dinge waren geschehen. Sie ließen sich nicht rückgängig machen. Als sie die Treppe hinaufging, erinnerte sie sich plötzlich daran, daß sie Guray eigentlich auch noch nach Urg hatte fragen wollen. Sie wollte fragen, warum Guray ihr Urg geschickt hatte – denn das mußte er ja wohl getan haben, da es andere Tiere von seiner Art nicht gab und Anima nicht an so unglaubliche Zufälle glauben mochte, daß das einzige Tier dieser Art ausgerechnet in diesem Keller aus einer Kornkiste ans Licht stieg. Sie zögerte. »Guray?« rief sie leise. Sie erhielt keine Antwort, und dann erinnerte sie sich daran, in welch besorgniserregendem Zustand der Vogel sich gestern befunden hatte. Sie hatte ihn einfach dort oben zurückgelassen und sich die ganze Nacht hindurch nicht um ihn gekümmert. Wenn ihm etwas zugestoßen war, würde sie sich das niemals verzeihen. Sie hastete die Treppe hinauf. Die Tür zu dem Zimmer, in dem sie eigentlich hatte schlafen wollen, stand offen. Sie sah den Vogel auf dem Kissen liegen, und für einen furchtbaren Augenblick glaubte sie, er sei tot. Dann hob er den Kopf ein wenig an und piepste leise. Sie fiel neben ihm auf die Knie. »Was ist nur los mit dir?« fragte sie verzweifelt. »Wenn du doch wenigstens sprechen könntest!« Seine Augen glänzten fiebrig, und er fühlte sich viel zu heiß an. Sie hielt ihm den Napf mit dem Wasser hin, und er trank ein wenig, aber er wollte keine Nahrung annehmen. Anima erinnerte sich an die Früchte, die er so gerne gefressen hatte. Vielleicht würden ihm einige davon wieder auf die Beine
helfen. Aber sie wollte ihn nicht alleine lassen. Also hob sie ihn vorsichtig auf. Er fühlte sich schwer und schlaff an. »Wir werden nach draußen gehen«, sagte sie zu ihm, um ihn zu beruhigen, denn sie hatte immer den Eindruck, daß ihre Stimme einen günstigen Einfluß auf ihn hatte. »Du wirst sehen, bald wird alles wieder gut.« Dann öffnete sie die Haustür – und starrte erstaunt auf die vielen, unterschiedlichen Wesen, die die Stadt jetzt bevölkerten. Was war hier geschehen? Warum kamen all diese Leute plötzlich hierher, nachdem sie die Stadt tagelang gemieden hatten, als herrsche dort die Pest? »He, du, steh da nicht herum, laß mich durch!« Sie fuhr herum. Hinter ihr im Flur stand ein Wesen mit blaßgrüner Haut, tiefschwarzen Augen und einem griesgrämigen Gesicht. Der Fremde trug einen grauen Kittel und eine Mütze mit einem durchsichtigen Schirm, und er hielt ein dickes Bündel Papier unter dem Arm. Er kam unzweifelhaft aus dem Innern des Hauses, obwohl Anima sicher war, daß er sich vorher nicht dort aufgehalten hatte. Sie begriff. Die Stadt selbst produzierte ihre neuen Bewohner. Die ganze Stadt? Sie trat hastig zur Seite, und der Fremde trottete an ihr vorbei zum nächsten Hauseingang. »Wohnst du hier?« fragte jemand von der Seite her. Sie nickte mechanisch, noch bevor sie den nächsten Fremden zu Gesicht bekam. Auch er trug einen Kittel und eine Schirmmütze, und in der Hand hielt er eine Tafel und einen Stift. Letzteren zückte er und deutete damit auf Anima. »Name?« fragte er. Sie antwortete verwirrt. »Herkunft? Alter? Größe? Gewicht? Name des Urgroßvaters väterlicherseits? Schuhgröße?«
»Entschuldige, aber was sollen all diese Fragen?« begehrte Anima zornig auf, denn sie spürte, daß Urg auf ihrem Arm immer schlaffer wurde. Sie mußte hinaus aus dieser Stadt – falls es überhaupt noch etwas gab, was sie für dieses Tier tun konnte. »Ordnung muß sein«, erwiderte der Fremde gelassen. »Jeder Bewohner dieser Stadt wird registriert. Also beantworte bitte meine Fragen gewissenhaft und wahrheitsgemäß. Falsche Aussagen können schlimme Folgen für dich haben.« »Ich werde zurückkommen und deine Fragen beantworten, sobald ich diesen Vogel hier versorgt habe. Sieh doch, er ist krank. Er mag besondere Früchte, die nur außerhalb der Stadt wachsen.« Der Fremde hatte den Kopf zur Seite gelegt, als lausche er aufmerksam, aber sein gelangweiltes Gesicht drückte klar und deutlich aus: »Rede nur. Ich bin ein höflicher Mensch. Aber denke nur nicht, daß mich das interessiert.« »Das Halten von Tieren ist in der Stadt verboten«, sagte er, als Anima schwieg. »Es sei denn, du hast eine Ausnahmegenehmigung. Ich nehme an, du hast keine.« »Als ich herkam, war die Stadt völlig unbewohnt. Woher …« »Uninteressant. Wenn du keine Genehmigung hast, mußt du dir eine besorgen.« »Gut«, sagte Anima resignierend, denn es war schließlich nicht das erstemal, daß sie mit Gurays verrückten »Ablegern« in Konflikt geriet. »Wo bekomme ich diese Genehmigung?« »Im Büro für soziale Problemfälle – wo denn sonst?« »Und wo finde ich dieses Büro?« »Die Straße hinunter und dann rechts, gleich schräg gegenüber dem Eckhaus.« Anima wandte sich zum Gehen. »Hat aber gar keinen Sinn, dorthin zu gehen, bevor du als Bewohner dieser Stadt registriert bist!« rief der Fremde. Sie ließ ihn stehen, denn sie hatte schließlich auch gar nicht die Absicht, sich irgendeine Genehmigung zu holen. Alles, was sie
wollte, war, aus dieser Stadt herauszukommen. Überall eilten Leute mit Kitteln und Schirmmützen umher, und sie trugen ausnahmslos Papierstöße mit sich herum. Manche hatten so viel Papier zu transportieren, daß sie es unmöglich tragen konnten. Sie schoben es schubkarrenweise durch die krummen Gassen. Anima stellte fest, daß jeder angesprochen wurde, der aus einem Haus zum Vorschein kam. Manche der Angesprochenen präsentierten einen zusammengefalteten Bogen Papier von der Größe eines mittleren Stadtplans und durften nach zwei oder drei zusätzlichen Fragen passieren. Wer diesen Wisch nicht hatte, war für die nächsten ein bis zwei Stunden beschäftigt, falls es ihm überhaupt gelang, all die Fragen zu beantworten. Die Sorge um Urg, dessen Zustand sich zusehends verschlechterte, trieb Anima voran, aber sie zwang sich dazu, ruhig auszuschreiten. Sie ahnte, was mit dieser Stadt geschehen war: Irgendein Teil von Guray war auf die Idee gekommen, dem Feind mit Hilfe der Bürokratie zu Leibe zu rücken. Nüchtern gesehen, war diese Methode auch nicht besser oder schlechter als alle anderen. Ob man nun himmelhohe Geschütztürme baute, die völlig unbrauchbar waren, Soldaten hin und her marschieren ließ, Geheimorganisationen bildete, Leute mit hirnlosen Fragen zur Raserei trieb oder was auch immer – gegen den Erleuchteten half weder das eine, noch das andere. Anima befürchtete ständig, daß jemand sie nach dieser obskuren Genehmigung zum Halten von Tieren fragte – wozu, um alles in der Welt, brauchte man eine Genehmigung für etwas, was in dieser Stadt ohnehin niemand tat? – aber niemand sprach sie an, Sie hoffte bereits, den übergeschnappten Bürokraten ohne weiteren Ärger entkommen zu können, als sie die Sperre am Ende der Straße sah. Dahinter leuchteten die satten Wiesen, und überall erhoben sich die niedrigen kleinen Büsche mit den violetten Früchten, die Urg vielleicht wieder auf die Beine bringen konnten. Aber zwischen den Wiesen und Anima standen mehrere Wesen mit Schirmmützen und
ein Tisch mit Bergen von Papieren darauf. Anima blickte auf dieses Hindernis, dann auf Urg, und sie wußte, daß ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Sie nahm all ihren Mut zusammen, beschloß, jede Frage zu beantworten, wie unsinnig sie auch sein mochte, und trat an den Tisch. »Ich möchte die Stadt verlassen«, sagte sie. Ein fischäugiges Wesen lugte unter seiner Schirmmütze hervor zu ihr hoch. »Dein Registrierschein?« »Ich habe keinen.« Der Kerl mit den Fischaugen zog ein ellenlanges Formular mit sieben oder acht angehefteten Blättern aus einem Stapel. »Beantworte diese Fragen«, befahl er. »Wenn du damit fertig bist, gehst du zum Büro zur nachträglichen Legitimation registrationsrelevanter Personenmengen.« »Und was soll ich da?« »Dort wird dein Antrag auf nachträgliche Registrierung beglaubigt und vervielfältigt, was denn sonst?« fragte er erstaunt. »Du bekommst einundzwanzig Kopien. Mit denen gehst du zum Amt zur Überprüfung legitimationswilliger Antragsteller. Nach einer amtsärztlichen Untersuchung und einer eidesstattlichen Erklärung darüber, daß alle von dir gemachten Angaben der Wahrheit entsprechen, werden die Kopien beglaubigt. Du brauchst sie nur noch zu den einundzwanzig verschiedenen Dienststellen zu bringen, die den Fall weiterbearbeiten werden, und einen Antrag auf einen Aushang zu stellen.« »Was für einen Aushang?« fragte Anima benommen. »Nun, du brauchst natürlich Leute, die für dich bürgen. Sonst könnte ja jeder kommen und sich registrieren lassen.« »Wie lange dauert das alles?« »Höchstens sechs Wochen – vorausgesetzt, daß das Ergebnis der Überprüfung positiv ausfallt. Dann müssen die Bürgen überprüft werden und ihrerseits einen Aushang beantragen, denn
selbstverständlich muß auch für ihre Unbedenklichkeit gebürgt werden, und …« »Ich muß die Stadt jetzt verlassen!« »Da mußt du zuerst einen Antrag stellen. Aber das geht nicht, wenn du nicht registriert bist.« Anima schloß die Augen. Sie strich vorsichtig über Urgs Gefieder und spürte, daß er zitterte. »Oh, Guray!« stöhnte sie. »Was hast du dir da nur wieder einfallen lassen. Bitte, laß mir diesen Vogel. Ich brauche ihn!« Aber Guray antwortete nicht, und der fischäugige Bürokrat blieb völlig ungerührt. »Gibt es denn gar keine andere Möglichkeit?« fragte sie verzweifelt. »Irgendeine Ausnahme für Härtefälle oder dergleichen?« Sie kannte die Antwort – der Kerl brauchte ihr gar nicht erst zu antworten. Sie kam zu dem Schluß, daß es diesmal offenbar nicht im Guten ging. Allmählich fragte sie sich sogar, ob die Methode, die man in der Stadt Barquass gefunden hatte, nicht tatsächlich besser als alles andere war, was man bisher ausprobiert hatte. Immerhin hatte sie selbst sich bisher durch nichts entmutigen lassen. Selbst die sich auflösenden Wälder hatten ihr nicht so unüberwindliche Hindernisse in den Weg gestellt, wie es die Bürokraten getan hatten. Sie ballte in hilfloser Wut die Hände, dann zwängte sie sich einfach am Tisch mit den vielen Formularen vorbei. »Halt!« schrie der Fischäugige, holte eine Pfeife aus der Tasche und blies darauf, daß Anima die Ohren schmerzten. »Hiergeblieben, Hilfe! Der Feind! Der Feind!« Anima stieß ihn zur Seite, als er nach ihr greifen wollte. Er landete auf der Stuhlkante, kämpfte um sein Gleichgewicht, versuchte sich an den Papieren festzuhalten und fiel unter den Tisch. Etliche Stapel Papier rauschten hinter ihm her und begruben ihn unter sich. Gedämpft drang der Klang der Pfeife aus dem Berg hervor.
Anima hörte hinter sich Geschrei, und sie rannte, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war. Was auch immer geschehen mochte – die Bürokraten durften sie nicht noch einmal in die Finger bekommen, oder sie hatte bis ans Ende ihres Lebens nur noch damit zu tun, einen idiotischen Fragebogen nach dem anderen auszufüllen.
* Irgendwie gelang es ihr, dichtes Gebüsch zu erreichen, bevor die ersten Städter ins Freie kamen. Vielleicht waren sie einfach deshalb so langsam, weil jeder von ihnen schließlich erst eine Genehmigung brauchte, damit er die Stadt verlassen und die Verfolgung aufnehmen konnte – oder gab es in diesem Fall etwa doch Ausnahmeregelungen? . Sie kauerte sich tief auf den Boden und sah sich um. Dort hing eine Frucht. Sie pflückte sie ab und bot sie dem Vogel an. Er pickte schwach danach, aber er hatte nicht mehr genug Kraft, um die Frucht zu verschlingen. Sie stützte seinen Kopf, und als er den Schnabel öffnete, preßte sie die Frucht zwischen den Fingern und ließ den Saft in seinen Schlund tropfen. Eilig riß sie ein paar Früchte ab. Dann sah sie die ersten Bürokraten zwischen den Häusern hervorkommen. Sie waren nur mit Stiften und Bündeln von Papier bewaffnet, aber Anima hatte diese »Waffen« zur Genüge kennengelernt. Sie rannte den Hügel hinab, tauchte zwischen den hohen Bäumen unter und schlug einen Haken. Sie wollte versuchen, die Stadt zu umgehen – in der Nähe des Raumhafens würden die Bürokraten sie wohl kaum suchen. Als sie zwischendurch anhielt, um Urg abermals mit dem Saft der Früchte zu versorgen, ging es ihm so schlecht, daß er nicht einmal mehr den Schnabel öffnen wollte, und plötzlich wußte Anima, daß
es für den Vogel nur noch einen Weg der Rettung gab: Er mußte zu Guray zurückkehren, mußte wieder ein Teil dieses riesigen Ganzen werden. Sie setzte ihn auf den Boden. »Nimm ihn wieder auf, Guray!« bat sie. Aber nichts geschah. Sie mußte in die Stadt und dort in jenen Keller, in dem sie den Vogel gefunden hatte. Niemand brauchte ihr das zu sagen. Sie wußte es plötzlich ganz instinktiv. »Ich bringe dich zurück« versicherte sie dem Tier. »Und wenn mir hundert von diesen verrückten Kerlen den Weg verstellen – ich gehe in diesen Keller und bringe dich dorthin zurück, woher du gekommen bist.« Er sah traurig zu ihr auf. Als sie den Wald verließ und zur Stadt hinaufblickte, war dort niemand zu sehen. Sie wunderte sich darüber, denn sie hätte nicht gedacht, daß die Bürokraten so schnell aufgeben würden. Aber als sie näherkam, sah sie, daß auch die Tische an den Enden der Straßen verschwunden waren, als hätte es sie nie gegeben. Sollte der Spuk so schnell ein Ende gefunden haben? Sie stieg den Hang hinauf, und sie beeilte sich, denn sie spürte, daß dem Vogel nur noch sehr wenig Zeit blieb. Die Straßen waren bereits fast leer. Ein paar Wesen gingen noch herum, die sinnlosen Formulare in der Hand, aber sie wirkten abwesend. Einer nach dem anderen verschwanden sie in den Gebäuden und kamen nicht wieder zum Vorschein. Anima wußte, daß es keinen Sinn gehabt hätte, sie im Innern der Häuser zu suchen: Die Stadt hatte sie zu sich zurückgeholt. Sie rannte die Straßen entlang, und endlich sah sie das Haus vor sich. Plötzliche Angst überfiel sie, Angst, daß sie zu spät kommen könnte. Sie spürte, daß etwas geschehen würde. Als sie die Treppe hinunter rannte, hob der Vogel plötzlich den Kopf. Er gluckste leise, und sie hielt inne. Vielleicht erholte er sich
doch noch – der Saft der Früchte brauchte möglicherweise etwas Zeit, bevor eine Besserung eintrat. Aber Urg strampelte plötzlich so heftig, daß er ihr vom Arm glitt. Er landete auf der untersten Stufe und sah zu ihr auf. Dann hüpfte er auf den Boden hinab und wanderte in die Richtung der Kornkiste. Dabei sang er eines seiner kurzen, seltsamen Lieder, und es war das traurigste, das Anima je von ihm gehört hatte. »Bleib doch bei mir!« flüsterte sie bittend. Der Vogel hüpfte auf den niedrigen Rand der Kiste und sah zu ihr hinüber. Sie rannte zu ihm und bückte sich, um ihn zu streicheln, aber ihre Hand traf nur noch auf das harte Holz. Für einen Augenblick glaubte sie noch seinen leisen Gesang zu hören, dann wurde es totenstill. »Was geschieht jetzt, Guray?« fragte sie traurig. »Es wird einen Kampf geben«, antwortete Gurays helle Stimme in ihrem Kopf. »Der andere ist böse und wütend. EVOLO hat ihn fast erreicht.« »Und was wirst du tun?« »Ich werde warten, wie ich es immer getan habe.« »Guray – was war das für ein Vogel? Warum hast du ihn mir geschickt?« »Ich habe ihn dir nicht geschickt. Er ist von selbst gekommen.« »Hatte er etwas mit meinem Ritter zu tun?« Guray zögerte einen Augenblick lang. »Ja«, sagte er schließlich. »Hartmann vom Silberstern existiert nicht mehr – nicht in dem Sinn, wie du ihn gekannt hast. Alles, was er war und was er wußte, ist in dem großen Ganzen aufgegangen, das du Guray nennst. Was von ihm noch übrig war, das war … ein Hauch von Sehnsucht.« Anima starrte auf die Kornkiste, in der der Vogel verschwunden war. »Ist es immer noch da?« fragte sie zögernd. »Ja.«
Sie versuchte, an Atlan zu denken, an den Erleuchteten und EVOLO, an den Auftrag, den sie zu erfüllen hatte, aber alles, was sie vor sich sah, war dieser seltsame Vogel, und ihre Gedanken drehten sich um die Schuld, die sie auf sich geladen hatte. »Nimm mich auf«, sagte sie nach langer Zeit. Nichts geschah. Guray schwieg. »Hole mich zu dir, Guray!« schrie Anima verzweifelt. Aber Guray meldete sich nicht mehr.
* Es dauerte lange, bis sie die Kraft fand, den Keller zu verlassen. Als sie die Tür öffnete, hörte sie das Donnern und Dröhnen von Triebwerken. Sie rannte zum Stadtrand und blickte in die Ebene hinab. Die letzten Piratenschiffe starteten gerade. Nur die STERNENSEGLER stand noch auf ihrem Platz. Als die Schiffe fort waren, stieg sie den Hang hinunter. Sie sah, daß die fernen Geschütztürme verschwunden waren. Die Hügel jenseits des Raumhafens wurden wieder grün. Anima vermutete, daß der Kampf zwischen EVOLO und dem Erleuchteten bereits begonnen hatte. Wahrscheinlich hatte der Schock, den diese Begegnung in Guray auslöste, die verschiedenen Teile wieder in das große Ganze zurückgezwungen. Ein scheinbarer Friede breitete sich aus, aber die Stille, die über Barquass lag, war unnatürlich und voller Furcht. Goman-Largo und Neithadl-Off kamen ihr entgegen, als sie sich der STERNENSEGLER näherte. »Wir hatten schon befürchtet, daß wir dich nie wieder sehen würden«, sagte der Modulmann, und Anima dachte, daß er damit sehr leicht hätte recht behalten können. »Hast du deinen Ritter gefunden?« fragte Neithadl-Off. »Ja«, sagte Anima kaum hörbar. »Zumindest habe ich genug
gefunden, um zu wissen, daß ich nicht länger nach ihm zu suchen brauche.« »Wo ist er?« wollte Goman-Largo wissen. »Warum hast du ihn nicht mitgebracht?« »Das ging nicht.« »Dann müssen wir ihn zurücklassen.« Sie sah ihn erstaunt an. »Wir müssen weg von hier«, sagte er eindringlich. »Begreifst du das denn nicht? Die Piraten sind gestartet, als waren böse Geister hinter ihnen her, und ich kann es ihnen nicht verdenken.« »Ich werde Guray nicht verlassen«, erklärte Anima ruhig. »Nicht, bevor ich nicht weiß, wie der Kampf zwischen EVOLO und dem Erleuchteten ausgegangen ist.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst …« »Dann erkläre ich es dir«, fiel Anima ihm ins Wort. Es dauerte lange, bis sie ihnen begreiflich gemacht hatte, wer und was Guray war und in welchem Zusammenhang er mit dem Erleuchteten und jenen Ereignissen stand, bei denen Anima ihren Ritter verloren hatte. Zu lange für Animas Geschmack. Eine kribbelnde Ungeduld befiel sie, und sie sehnte sich danach, in die Stadt zurückzukehren oder über Gurays Land zu wandern – wenn sie nur in seiner Nähe war. »Was wirst du nun tun?« fragte Goman-Largo schließlich. »Ich werde bleiben, bis die Entscheidung gefallen ist«, erklärte sie. »Das hast du schon einmal gesagt. Aber niemand weiß, wie lange dieser Kampf dauern wird – falls es überhaupt einen Kampf gibt.« »Es wird einen geben, verlaß dich darauf. Guray kann sich nicht so sehr irren.« Goman-Largo warf einen zweifelnden Blick auf die Stadt, und sie wußte, was er dachte: Guray hatte sich einige Dinge geleistet, die ihn nicht gerade als ein sehr vernünftiges und logisch denkendes Wesen erscheinen ließen. »Das war etwas anderes«, sagte sie trotzig. »Guray war in Panik,
und er hatte allen Grund dazu. Das ist jetzt vorbei.« »Bis zum nächstenmal«, meinte der Modulmann skeptisch. »Wenn der Kampf vorüber ist …« »Es wird nicht wieder geschehen«, behauptete Anima. »Zumindest nicht in der Form, wie wir es in den letzten Tagen erlebt haben.« Sie selbst war sich dessen keineswegs sicher, aber sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das diesen beiden gegenüber zuzugeben. Es war ihr ziemlich egal, was sie von Guray dachten. Sie hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn sie in die STERNENSEGLER zurückgekehrt und mit ihr davongeflogen wären. Sie sollten nur nicht länger versuchen, Anima von diesem Ort wegzulocken. Sie würde nicht von hier weggehen – mit niemandem. »Du kannst hier nichts tun, als dazusitzen und zu warten«, wandte der Modulmann ein. »Oder bildest du dir ernsthaft ein, daß du imstande bist, irgendeine Bedeutung für ein so gigantisches Wesen wie diesen Guray zu erlangen? Für ihn bist du ein Nichts. Er wird nicht einmal bemerken, daß du hier bist.« »Das bleibt abzuwarten.« »Und wie lange soll das alles dauern?« »Das weiß ich nicht.« »Und du glaubst, daß wir das mitmachen? Daß wir tatenlos zusehen, wie du dich selbst zugrunde richtest.« »Mir wird nichts geschehen«, versicherte Anima geduldig, obwohl es sie mit aller Macht in die Stadt zog. »Und was euch betrifft – ich erwarte ja gar nicht von euch, daß ihr auch hierbleibt.« »Willst du uns loswerden?« Sie lächelte flüchtig. »Nein. Wenn ihr hierbleiben wollt – bitte. Aber wenn nicht, dann geht. Ihr müßt selbst entscheiden.« Goman-Largo sah sie nachdenklich an. »Was wirst du tun, wenn der Kampf vorüber ist und der Sieger –
wer immer das auch sein mag – hierher kommt, um sich Guray vorzunehmen?« Anima dachte lange darüber nach. »Ich hoffe sogar, daß das geschehen wird«, flüsterte sie schließlich. »Ich werde Guray helfen. Ich werde für ihn kämpfen.« »Du bist verrückt. Genauso verrückt wie Guray und seine verdrehten Teile. Wie kannst du auch nur daran denken, es mit dem Erleuchteten oder EVOLO aufzunehmen! Sie werden dich vernichten. Ach was, sie werden gar nicht bemerken, daß du da bist und gegen sie kämpfst.« »Vielleicht hast du recht«, nickte Anima nachdenklich. »Also komm, laß uns von hier verschwinden, ehe es zu spät ist!« Anima drehte sich um und kehrte in die Stadt zurück. Es hatte keinen Sinn, noch länger mit ihnen zu diskutieren. Sie würden es ohnehin nicht begreifen. Während sie durch die stillen, leeren Straßen ging, wartete sie darauf, daß sie das Raumschiff starten hörte, aber es blieb alles ruhig. Nach geraumer Zeit kehrte sie noch einmal an den Stadtrand zurück. Sie blickte auf den Raumhafen hinab: Die STERNENSEGLER stand noch immer am alten Platz. Von GomanLargo und Neithadl-Off war nichts zu sehen. Als sie an einem der Türme vorüberkam, erinnerte sie sich an die unerklärliche Furcht, die sie damals empfunden hatte. Als sie diesmal die Hand auf die Klinke legte, geschah gar nichts. Sie öffnete die Tür und stieg eine enge, gewundene Treppe hinauf, bis sie an die winzigen Fenster gelangte. Von hier oben hatte sie einen guten Überblick, aber in welche Richtung sie auch sah: Es gab nirgends mehr diese riesigen Geschütze. Auch die Armeen und die peitschenbewehrten Kästen waren verschwunden. Sie zweifelte nicht daran, daß es überall auf diesem Planeten so war. Sie verließ den Turm und ging zu dem Haus, in dem sie den Vogel gefunden und auch wieder verloren hatte. Dort wollte sie warten,
bis Guray sich wieder meldete und ihr mitteilte wie der Kampf zwischen EVOLO und dem Erleuchteten ausging. Allerdings war es nicht von Bedeutung, wo sie wartete. Auf diesem Planeten würde Guray überall mit ihr sprechen können – wenn er es wollte.
ENDE
Der Roman, den Sie eben gelesen haben, gab Aufschluß über ein großes Rätsel aus Animas Vergangenheit. Der folgende Band darf ebenfalls als absolutes Muß für alle Atlan-Freunde angesehen werden, denn die Story beinhaltet das Schicksal des Erleuchteten, des Schöpfers von EVOLO … EVOLO – so lautet auch der Titel des von Peter Griese geschriebenen AtlanBandes 750.