ALAN E. NOURSE
Die verbotene Wissenschaft THE MERCY MEN
Science Fiction-Roman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
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ALAN E. NOURSE
Die verbotene Wissenschaft THE MERCY MEN
Science Fiction-Roman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
© 1955, 1968 by Alan E. Nourse. Aus dem Englischen übertragen von Tony Westermayr. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages.
Umschlag: F. Jürgen Rogner. Satz und Druck: Presse-Druck Augsburg. SF 0127 • ze/ho ISBN 3-442-23127-2
Jeff Meyer sucht den Mann, der seinen Vater ermordet hat. Drei Jahre dauert die Jagd, dann ist er ihm auf den Fersen. Im letzten Moment findet der Verfolgte einen Ausweg, der es Jeff fast unmöglich macht, seiner habhaft zu werden: Er verschwindet im unterirdischen Geheimlabor des Hoff man Medical Center. Dort werden Versuche an lebenden Menschen durchgeführt, die deren Persönlichkeit aufs Spiel setzen. Um eindringen und die Verfolgung zu Ende führen zu können, meldet Jeff Meyer sich als Versuchskaninchen…
1
Das Lokal war billig, schmutzig und stank. Es war so ungefähr die übelste Kneipe, die Jeff Meyer in seinem Leben gesehen hatte, und in letzter Zeit hatte er ziemlich viele gesehen. Der junge Mann saß zusammengekauert an einem der hintersten Tische, umklammerte ein Glas und versuchte dem grellen Glanz der ständig wandernden Lichter auszuweichen. Der scharfe Geruch nach schlechtem Schnaps, billigem Parfüm und Schweiß trieb ihm die Tränen in die Augen, aber er schüttelte störrisch den Kopf und starrte durch den rauchigen Dunst zur großen, runden Tanzbar auf der anderen Seite des Raumes hinüber. Dann schaute er auf seine Uhr, und Panik ergriff ihn. Irgend etwas stimmte nicht. Barney hätte schon vor einer Stunde hier sein müssen. Und Jeff wußte, daß er Barneys Hilfe brauchte, wenn Conroe kam. Es war noch früh, nicht einmal zehn Uhr, aber schon füllte sich das Lokal mit Betrunkenen, Barmädchen, verwahrlost aussehenden langhaarigen Burschen und vereinzelten Ausgeflippten, die betäubt herumsaßen, als warteten und horchten sie auf etwas, was sich nie ganz einstellen wollte. Eine Dreimannkapelle hinter der Bar begann mit einer SchockBeat-Nummer, und Jeff versuchte seine Ohren vor dem nervenzerfetzenden Lärm zu verschließen. Er wünschte sich plötzlich, anderswo zu sein, irgendwo weit fort. Er gehörte nicht in ein solches Lokal, hatte nie hineingehört. Aber er konnte nicht weggehen, nicht jetzt, nachdem er so lange auf diesen einen Abend gewartet hatte. Denn innerhalb der nächsten Stunde mußte Conroe hier erscheinen, und die Falle würde zuschnappen. Es war nicht die erste Falle, die Jeff und
Barney in den vergangenen drei Jahren Conroe gestellt hatten, bei weitem nicht, aber es würde die letzte sein. Bisher hatte Conroe die Falle immer rechtzeitig entdeckt und war entwischt. Diesmal würde das nicht geschehen. Jeff war davon überzeugt. Diesmal konnte sich Conroe nirgends verstecken. Inzwischen war das Lokal von Tänzern überfüllt, die der hypnotische Schock-Beat der Kapelle mitriß. Rechts von Jeff erklang hysterisches Gelächter und am Nebentisch murmelte ein stumpf vor sich hin starrender Gammler etwas Unverständliches. Wider Willen betrachtete Jeff den Mann genauer: den hageren Hals, den hinunterhängenden Unterkiefer, den idiotisch unirdischen Ausdruck angestrengten Lauschens auf dem fahlen Gesicht. Dieser Anblick war natürlich nicht neu; das Land war in letzter Zeit voll von solchem menschlichen Treibgut, aber Jeff mußte noch immer eine Welle des Schreckens und Ekels niederkämpfen, sooft eines dieser leeren Gesichter vor ihm auftauchte. Es gab zu viele Kranke wie diesen, zu viele defekte Gehirne in ausgemergelten Körpern, zu viele Menschen, die plötzlich, ohne Vorankündigung, seltsam wurden, Heim und Stellung aufgaben, sich herumtrieben und in solchen Lokalen endeten. Viel zu viele, als daß die Krankenhäuser sie aufnehmen, die Ärzte sie behandeln konnten, und jeden Tag wurden es mehr… Jeff riß seinen Blick los und suchte wieder den Raum ab. Warum kam Barney nicht? Besorgt ging er die Ereignisse der letzten Tage noch einmal durch. Mit Hilfe des Mädchens hatten sie Conroe schließlich wiederentdeckt; er hatte sich nach dem letzten Debakel in einem billigen Hotel auf der anderen Seite des Flusses verkrochen. Barney hatte ein Abhörgerät ins Zimmer geschmuggelt und Conroe Tag und Nacht beobachten lassen, während Jeff mit Barneys Leuten indirekt auch mit dem
Mädchen zusammenarbeitete, um die Falle zu stellen. Heute abend sollte Conroe das Mädchen nach ihrem ersten Auftritt hier treffen; Jeff und Barney würden im Inneren des Lokals Posten beziehen, während ihre Leute die Straßen und Gassen im näheren Umkreis absperrten. Jeff fröstelte; das war alles schön und gut, aber Barney hätte sich vor Einbruch der Dunkelheit hier mit ihm treffen sollen… Wo blieb er? Jeff bedauerte jetzt, mit dem Mädchen nicht direkt verhandelt zu haben, aber die Männer hatten ihm versichert, daß sie mittun würde. »Wie wär’s mit ‘nem Trip, Mister?« Das Barmädchen schenkte Jeff ein strahlendes Lächeln. »Hau ab«, murmelte Jeff. Das Lächeln verschwand. »Ich hab’ doch nur gefragt«, jammerte das Mädchen. »Sie brauchen nicht gleich – « »Hau ab, sage ich.« Sie versperrte ihm die Sicht, und er bog sich zur Seite, um an ihr vorbeisehen zu können. Mit jeder Sekunde wuchs seine Besorgnis, da immer mehr Menschen hereindrängten. Er hörte nicht, was das Barmädchen ihm zuzischte, als sie weiterging; er war zu sehr damit beschäftigt, Gesichter zu fixieren. Die Falle war perfekt, sie konnte einfach nicht versagen. In den drei Jahren, seitdem sie Conroe jagten, hatten sie viel in Erfahrung gebracht… über seine Persönlichkeit, seine Gewohnheiten, über die wenigen Freunde, die er besaß. Beim letztenmal war die Beute durch Jeffs eigenen Fehler im letzten Augenblick entwischt, und Conroe blieb so spurlos verschwunden, als sei er gestorben. Aber dann hatte Barney endlich das Mädchen gefunden und durch sie Conroe aufgespürt. Jeff wußte, daß das Ende des Weges erreicht war. Wenn sie diese Chance vergaben, würde sich nie mehr eine neue bieten.
Endlich sah er einen kleinen, grauhaarigen Mann auf seinen Tisch zukommen. Jeff seufzte erleichtert auf, bis er das sorgenvolle Stirnrunzeln auf Barney Trimbles Gesicht bemerkte. Barney setzte sich zu ihm an den Tisch. »Entschuldige die Verspätung«, sagte er, »aber es ging nicht anders.« »Was ist passiert?« fragte Jeff. »Da stimmt etwas nicht«, erwiderte Barney. »Er hat das Hotel vor einer Stunde verlassen und ist zu einer Telefonzelle gegangen, obwohl er einen Apparat im Zimmer hat. Er führte drei Gespräche, die wir nicht mithören konnten. Dann kehrte er sofort ins Hotel zurück. Dort war er auch noch, als ich wegging.« »Du hast ihn nicht unbeobachtet gelassen?« »Nein, natürlich nicht, aber irgend etwas ist nicht in Ordnung.« Jeff beugte sich über den Tisch. »Barney, glaub mir, es muß heute klappen.« Sein Freund sah ihn müde an. »Nimm dich zusammen«, sagte er. »Du stehst kurz vor einem Zusammenbruch. Selbst wenn Conroe heute abend wirklich käme, würde er dich sofort erkennen.« Jeffs Hand zitterte, als er sich zurücklehnte. »Was meinst du damit?« »Ich meine, daß das lächerlich ist. Er wird sich nicht blicken lassen.« »Er kommt«, sagte Jeff leise. »Woher weißt du das? Du hast nichts als das Wort eines bezahlten Denunzianten dafür.« »Das Mädchen ist hier, oder?« »O ja, kein Zweifel.« »Und sie hat gestern abend mit ihm gesprochen?« Barney nickte.
»Wir haben die Gespräche mitgehört.« »Dann wird er kommen, und wir schnappen ihn«, sagte Jeff. »Das Mädchen hat zuviel Angst, um uns hereinzulegen.« »Und was ist, wenn sie vor Conroe noch mehr Angst hat? Was ist, wenn etwas anderes dazwischenkommt? Angenommen, er entwischt dir wieder – was dann?« Barney hob die Hand, als Jeff antworten wollte. »Oh, ich weiß, es kann einfach nicht schiefgehen. Ich soll so etwas nicht sagen. Ich soll keine Fragen stellen oder irgend etwas erwähnen, was du nicht hören willst. Aber ich kann nicht einfach dasitzen und zusehen, wie du dich kaputtmachst, mein Junge. Du hetzt jetzt seit drei Jahren hinter diesem Mann her, und jedesmal hat etwas nicht geklappt, jedesmal. Was willst du tun, wenn es wieder schiefgeht? Jeff – was ist dir das Ganze wert? Angenommen, du schnappst den Mann heute abend – was hast du dann vor? Was willst du von ihm?« »Du weißt, was ich von ihm will«, sagte Jeff. »Du willst mit ihm reden«, meinte Barney mürrisch. »Richtig. Nur mit ihm reden.« »Und was noch?« »Ich – ich weiß nicht, was noch.« »Du lügst.« Bevor Jeff reagieren konnte, fuhr Barneys Hand in die Rocktasche seines Freundes, zog die schwere Neuralpistole heraus und knallte sie auf den Tisch. »Mit dem kleinen Spielzeug da kannst du einen Menschen umbringen, wenn du ihn triffst, weißt du das nicht? Ich bin von Anfang an auf deiner Seite gewesen, aber bei einem Mord mache ich nicht mit.« Jeff Meyer schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, Barney. Ich will ihn nicht umbringen. Jedenfalls glaube ich nicht, daß ich das will. Ich will nur mit ihm reden. Herausfinden, warum er flieht. Erfahren, warum er meinem Vater das angetan hat.« Er atmete tief ein. »Das muß
ich wissen. Conroe verfolgt mich seit Jahren, und ich habe ihn noch nicht einmal richtig zu Gesicht bekommen. Vielleicht hat er vorher meinen Vater verfolgt. Ich weiß es nicht. Ich muß es aber wissen.« »Bis vor drei Jahren hast du nicht einmal gewußt, daß es Conroe gibt.« »Ja, aber er war trotzdem da, schon seit Jahren hat er mein Unterbewußtsein beherrscht, und ich muß wissen, warum. Wenn ich ihn betäuben und an einen Stuhl fesseln muß, um die Wahrheit zu erfahren, werde ich es tun. Wenn ich jemanden im Hoffman-Institut bestechen muß, damit man eine Gehirnwäsche bei ihm vornimmt, werde ich auch das tun. Das Institut ist ganz in der Nähe, die Labors sind einen Block von hier entfernt, und besonders zimperlich scheint man dort nicht zu sein. Du hast von den Freiwilligen Versuchspersonen, den FVPs, gehört. Nun, egal, was es kostet, ich muß alles über Paul Conroe erfahren.« Barney starrte ihn kurze Zeit an, seufzte schließlich und warf ihm die Waffe wieder zu. »Na gut«, sagte er. »Wie du meinst. Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust. Aber über eines mußt du dir im klaren sein, Jeff. Ich habe zu dir gehalten, weil du mich darum gebeten hast und weil ich zehn Jahre Lang dein Vormund gewesen bin. Aber seit drei Jahren beobachte ich, wie du dich wissentlich ruinierst, und das alles wegen einer fixen Idee, die du nicht einmal selbst begreifst. Es kann schon sein, daß du so weitermachen willst, ich aber nicht. Ich bin am Ende. Wenn heute abend etwas schiefgeht und wir Conroe nicht erwischen, mache ich Schluß.« Jeff nickte, spürte, wie ein Gefühl der Betäubung ihn überkam, als sei in ihm etwas gestorben. Er hatte immer gewußt, daß es früher oder später soweit kommen würde. Er konnte es Barney nicht übelnehmen. Er konnte nicht einmal
widerlegen, was Barney gesagt hatte. Er wußte, wie sehr er sich in den letzten drei Jahren verändert hatte, wußte es sogar noch besser als Barney. Er wußte, wie sehr diese Geschichte sein Leben beeinflußte, und war sich über die Folgen im klaren: die ständige innere Anspannung und die überreizten Nerven, die verbitterten Linien um Augen und Mund, die Aushöhlung der Werte, die er einmal für bedeutsam gehalten hatte, der harte Kern von Zorn, Verzweiflung und blinder Wut, der sich in ihm gebildet hatte. Jeff Meyer wußte, daß er nicht in eine Kaschemme für haltlose Süchtige gehörte. Er mußte zurück in die Hörsäle, die er verlassen hatte, zurück an die Arbeit und sein Ingenieurdiplom machen, das ihm einmal so viel bedeutet hatte. Er konnte nichts anlangen mit diesen leichtfertigen, halbhysterischen Menschen, die sich Nacht für Nacht in raucherfüllten Höhlen drängten, verzweifelt bemüht, dem unerträglichen Druck des Alltags in der Großstadt zu entrinnen. Er haßte den Gestank dieser Lokale, wand sich beim Geheul des erzwungenen Gelächters, fuhr beim Anblick der halbbetäubten Menschen zusammen, die durch die Bars schlichen und sich dort in eine seltsame, unirdische Traumwelt zurückzogen. In diese Welt hatte ihn Conroe gelockt, und er wußte, daß er nicht mehr zurück konnte, gleichgültig, wie sehr er sich auch danach sehnte. Er lehnte sich weiter zurück und versuchte seine Muskeln zu entspannen. »Beruhige dich, Barney«, sagte er leise. »Es wird nichts schiefgehen. Ich werde Conroe heute abend erwischen. Und wenn es diesmal nicht klappt, dann klappt es nächstes- oder übernächstesmal. Mit deiner Hilfe oder ohne sie. Tut mir leid, aber eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Inzwischen war das Lokal brechend voll. Die Kapelle hörte auf zu spielen, die Tänzer kehrten an ihre Tische zurück, und
ein Ansager trat mit einem Mikrofon in der Hand auf die Tanzfläche. Die Beleuchtung wurde abgedunkelt, und ein roter Scheinwerfer richtete sich auf den Vorhang hinter dem Musikerpodium. Jeff sah, wie sich Barney vorbeugte, als es im Saal plötzlich still wurde; der Vorhang hob sich, und zu einem Tusch trat ein Mädchen heraus und ergriff das Mikrofon des Ansagers. »Das ist sie«, sagte Barney. »Bist du sicher?« Barney nickte. »Gar keine Frage. Conroe soll sich nach ihrem Auftritt hier mit ihr treffen.« Er schaute sich unauffällig um. »Ich gehe lieber auf die andere Seite, bevor sie mich bemerkt«, murmelte er. »Sei vorsichtig.« Er entfernte sich lautlos. Das Mädchen war nervös. Man merkte es, als sie zu singen begann. Ihr Gesicht war hübsch – beinahe schön –, bis auf die Angst darin, den seltsam gehetzten Ausdruck, als ihr Blick durch den Raum glitt. Ihr Haar war lang und schwarz und bedeckte die Schultern. Sie bewegte sich graziös zur Musik, aber das Lächeln um ihre Lippen wirkte gekünstelt. Die Musik wurde schneller; der hypnotische Rhythmus jagte Jeff einen kalten Schauer über den Rücken. Die Atmosphäre war angespannt; sogar die Zuschauer schienen zu bemerken, daß etwas nicht in Ordnung war. Das Lied paßte sich dem neuen Rhythmus an, und dann begegneten Jeffs Blicke sekundenlang den ihren. Die Augen des Mädchens weiteten sich, und ihre Stimme schien kurz zu stocken. Erkennen? Ausgeschlossen. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Und doch… Plötzlich stieg sie vom Podium hinunter, das Mikrofon in der Hand, und ging singend von Tisch zu Tisch. Jeff spürte, wie die nervöse Spannung im Saal wuchs, fühlte die Begierde und Verzweiflung in den Augen der Zuschauer, als sie das schöne Mädchen anstarrten. Das Lächeln wirkte jetzt entspannter, die
Angst schien verschwunden zu sein, und das Mädchen bewegte sich selbstsicher, während ihr das Scheinwerferlicht folgte und mit Haar und Kleid spielte. Jeff saß wie gebannt da, als sie näher und näher kam, auf seinen Tisch zu. Und dann stand sie vor ihm, noch ehe er sich rühren konnte, wandte sich mit spöttischem Lachen zu ihm und streckte die Hand aus, auf ihn weisend, als ihn das rote Scheinwerferlicht voll erfaßte. »‘raus aus dem Licht!« schrie Barney ihm von der anderen Seite des Raumes zu. Jeff stieß seinen Stuhl zurück, schob das Mädchen zur Seite und warf sich auf den Boden. Ein Schrei, der Lichtstrahl erfaßte das Mädchen, richtete sich wieder auf Jeff. Der Tisch kippte um; Jeff rollte sich davon und sprang auf, kämpfte sich durch die schreiende Menge. Er hielt die Neuralpistole in der Hand, als er stehenblieb und sich umsah. »Faß ihn! Da ist er!« Jeff fuhr herum und sah einen großen, schlanken Mann, der von der Bar flüchtete. Das Gesicht Paul Conroes war unverwechselbar: die hohlen Wangen, die hohe Stirn, die weit auseinanderstehenden Augen. Es war ein Gesicht, das Jeff tausendmal in seinen Träumen gesehen hatte, das verzerrte, angstvolle Gesicht des Mannes, den er drei lange Jahre gejagt hatte. Einen Augenblick stand Conroe geduckt da und starrte ihn an, dann war er verschwunden wie ein Gespenst, von der Menge verschluckt. »Halt ihn auf!« brüllte Jeff Barney zu. »Er will auf die Straße. Faß ihn!« Er zielte mit der Pistole über die tanzenden Köpfe, feuerte blindlings auf den Fliehenden, fühlte die Waffe in seiner Hand zucken, als die Mikrowellenladung von Wand zu Wand knisterte. Ein Schrei quittierte den Schuß; man warf sich auf den Boden, Gläser klirrten, Tische fielen um. Jemand griff nach Jeffs Beinen, um ihn zu Boden zu reißen, und plötzlich gingen alle Lichter aus.
»Draußen! Er ist durch die Tür entwischt!« Barneys Stimme übertönte den Lärm. Jeff stürzte auf die andere Seite, riß die Tür des Notausgangs auf, die er schon beim Hereinkommen entdeckt hatte, und rannte den schmalen Durchgang zur Straße entlang. Einen halben Häuserblock entfernt sah er eine große Gestalt, die auf die hochragenden Gebäude des HoffmanInstituts für Medizin zulief. Ein Wagen löste sich vom Randstein, um die flüchtende Gestalt zu verfolgen – einer der Männer, die Barney für alle Fälle aufgestellt hatte. Jeff blieb keuchend stehen, als Barney hinter ihm herankam. »Er kann nicht entwischen«, sagte Barney. »An jeder Ecke stehen Leute mit Autos und Scheinwerfern.« »Aber wohin will er denn?« tobte Jeff. »Dieses Mädchen – dieses hinterlistige Weibsstück – sie hat uns verkauft! Sie richtete den Scheinwerfer in dem Augenblick auf mich, als er hereinkam! Aber er muß doch wissen, daß die Straßen blockiert sind. Wo will er hin?« »Keine Ahnung. Im ganzen Block ist nichts außer dem Lokal und dem Hoffman-Institut offen, und aus dem Block kann er nicht hinaus. Unsere Wagen fassen ihn oder treiben ihn zurück.« Sie starrten die halbdunkle Straße hinunter und warteten. Jeffs Hände zitterten, und seine Schultern sanken vor Erschöpfung und Enttäuschung hinab. So nah, so nah. Aber auf der Straße vor ihnen kein Laut, keine Bewegung mehr. Die Tür zum Nachtklub wurde aufgerissen, und die Menschen starrten aufgeregt hinaus. Jeff und Barney traten in den dunklen Durchgang zurück. Nach wenigen Augenblicken verstummte das Gemurmel, und die Leute kehrten in das Lokal zurück, halb erleichtert, halb enttäuscht. Jeff und Barney warteten in der Stille. Fünf Minuten vergingen, dann zehn. Schließlich bog ein Wagen um die Ecke, und einer von Barneys Leuten kam auf sie zu.
»Habt ihr ihn?« fragte der Mann. »Nein. Was ist mit den anderen?« »Keine Ahnung. Jedenfalls ist er nicht bis zum Ende des Blocks gekommen.« »Muß er aber«, sagte Jeff, »falls er nicht durch eine der Nebenstraßen entwischt ist.« »Ausgeschlossen. Die Straßen sind alle abgesperrt«, sagte der Mann. »Ich sehe aber trotzdem nach.« Er trat an den Wagen, griff nach dem Mikrofon des Funkgeräts, sprach kurz hinein und kam kopfschüttelnd zurück. »Nichts.« Jeff starrte Barney ungläubig an. Plötzlich schaute er die Straße hinunter zu den dunklen Türmen des Forschungszentrums. »Das Hoffman-Institut«, sagte er leise. »Irgendwie ist er da hineingekommen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« »Aber das wäre sinnlos«, meinte Barney. »Das ist doch keine normale Klinik, das ist ein großes Forschungsinstitut, in dem Experimente durchgeführt werden. Soviel ich weiß, sind Besucher dort unerwünscht. Wenn er da hineingeht, fliegt er im nächsten Augenblick wieder hinaus.« »Oder man schafft ihn zu den FVPs«, sagte Jeff. »Das geht nicht. Der Staat hat die FVPs vor Jahren verboten.« »Klar. Versteht sich. Heutzutage gibt es so etwas wie die FVPs nicht mehr – bis auf die Gerüchte, daß sie immer noch existieren.« Barney starrte ihn entsetzt an. »Hör mal, Jeff, Conroe mag verzweifelt sein, aber seinen Verstand hat er nicht verloren. Leute, die sich zu den FVPs gemeldet haben, sind nie zurückgekommen.« »Ein paar schon. Wenige. Manche sogar als reiche Leute.« »Ja, mit Rührei statt einem Gehirn, sozusagen als zusätzliche Prämie.« Barney Trimble schüttelte den Kopf. »Jeff, überleg
doch mal vernünftig. Selbst wenn es sie noch gäbe, würde Conroe nie ein solches Risiko eingehen.« »Vielleicht doch, wenn die Angst groß genug ist. Und man würde ihn nehmen. Man würde keine Fragen stellen, sondern ihn einfach schlucken. Vor allem würde man ihn verstecken, und ich glaube nicht, daß man sich den Kopf darüber zerbrechen würde, warum er sich verstecken will.« »Er müßte irrsinnig sein«, murmelte Barney. »Nicht unbedingt. Betrachte es von seinem Standpunkt aus. Er weiß, daß ich seit Jahren hinter ihm her bin. Ich habe keine Ahnung, warum er auf der Flucht ist, aber er kennt den Grund. Er weiß auch, daß ich nicht aufgebe und daß ich früher oder später Sieger bleibe. Er kann sich nicht immer auf sein Glück verlassen, Barney. Ein Mensch kann eine gewisse Zeit auf der Flucht sein und sich verstecken, und dann gehen ihm die Verstecke aus. Aber wenn er so verzweifelt ist, daß er jedes Risiko auf sich nimmt, könnten die FVPs eine letzte Zuflucht sein, das beste Versteck von allen.« Sie standen lange Zeit in der Dunkelheit beieinander, fröstelnd im kalten Wind, der durch die Gasse fegte. Hoch über ihnen durchbrach eine Düsenmaschine mit ihrem Schrei die Stille, und ein Kreiselkompaßwagen bewegte sich flüsternd durch die Straße wie ein Tier auf Raubzug. Irgendwo in einem Flügel des Hoffman-Instituts erlosch ein Licht. Barney seufzte schließlich. »Tja, wenn du recht hast und er wirklich untertauchen konnte, ist deine Jagd zu Ende. Es hat keinen Sinn, sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Er ist tot, und damit Schluß. Nicht einer von Tausend ist da je wieder herausgekommen. Selbst wenn die Gerüchte stimmen, müßtest du Jahre warten und würdest ihn dann vielleicht nicht wiedererkennen.« Jeff Meyer richtete sich auf.
»Tut mir leid«, sagte er, »aber Jahre kann ich nicht warten.« Er sah seinen Freund an. »Paß auf. Laß deine Leute die ganze Nacht auf ihren Posten, für den Fall, daß er irgendwo hier draußen ein Versteck gefunden hat. Ein paar sollen die Dächer absuchen. Die Gassen übernehmen wir selbst. Wenn er hier draußen ist, finden wir ihn.« »Und wenn nicht?« Jeff lächelte. »Dann weiß ich ja, wo ich ihn suchen muß, oder?« »Aber wenn er dort hineingegangen ist, ist er weg! Es hat keinen Sinn mehr, hinter ihm herzujagen.« Jeff starrte seinen Freund in der Dunkelheit an, halb zornig, halb traurig. Der arme Barney… Es hatte keinen Zweck, auch jetzt nicht, ihm das erklären zu wollen. So treu Barney auch war, selbst nach all diesen Jahren begriff er nichts. Jeff streckte die Hand aus und berührte sanft die Schulter des älteren Mannes. »Du bist ein wunderbarer Freund gewesen«, sagte er. »Ein besserer, als du ahnst. Ich muß Conroe aber finden, weißt du. Ich kann nicht anders.« »Aber wo?« rief Barney. »Wo immer er auch sein mag«, erwiderte Jeff. »Und wenn das bedeutet, daß ich ihm in diesen gottverlassenen Bau folgen muß, dann werde ich auch das tun.«
2
Lange Stunden der Dunkelheit folgten, dann brach ein grauer Morgen an. Dunstiger Nieselregen ließ die Straßen feucht werden und lag wie eine bleierne Decke über der Stadt. Das kleine Radiogerät im Wagen brachte zwischen der Zahnpastawerbung Nachrichtenfetzen. »… steigende Verluste im Zentrum von London heute früh, während die Lärmunruhen bereits den elften Tag andauern. Die meisten Straßen im Stadtteil Mayfair bleiben trotz des gestrigen Angriffs britischer Truppen verbarrikadiert. Ein Sprecher der Regierung gab jedoch am Morgen bekannt, daß die Unruhen bereits ihren Höhepunkt überschritten haben und aller Wahrscheinlichkeit nach binnen einer Woche mit der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung zu rechnen ist. Im Inland erholte sich die Börse gestern von einem dreitägigen Kursverfall, nachdem aus Regierungskreisen im Sektor New York bekannt wurde, daß die umstrittene neue Steuererhöhung nicht durchgesetzt werden soll. Im Sektor Philadelphia gaben Sprecher des Hoffman-Instituts für Medizin bekannt, daß in diesem Monat der Index für Geisteskrankheiten um weitere fünf Prozent gestiegen ist, die höchste monatliche Zunahme innerhalb der letzten zwei Jahre…« Jeff Meyer saß mit Barney im Wagen und hörte nur halb hin. Dann schaltete er das Gerät mit einem Wutlaut ab. Stundenlang während der Nacht hatten er und Barney die Nebenstraßen abgesucht, während die anderen Männer die benachbarten Dächer überprüften. Der letzte Mann kam, um Meldung zu erstatten.
»Nichts«, sagte er und breitete die Hände aus. »Keine Spur von ihm.« »Tja«, sagte Barney seufzend, »das wär’s dann wohl, leider.« Jeff nickte. Auf der Straße setzte der Frühverkehr ein, und die Parkrampen gegenüber dem Verwaltungsgebäude des Hoffman-Instituts begannen sich zu füllen. Auf beiden Seiten der Straße erhoben sich die anderen Gebäude des riesigen Institutskomplexes, Etage um Etage, bis die weißen Marmorfassaden im tiefhängenden Nebel verschwanden. Es war eine unübersehbare Anhäufung von Bauten, dieses zentrale Forschungsinstitut, das den ständig wachsenden medizinischen Bedürfnissen eines übervölkerten Landes, einer übervölkerten Welt diente. Überall auf der ganzen Erde gab es Krankenhäuser und Ambulanzkliniken des Hoffman-Instituts, aber dies war das Zentrum. Es umfaßte sechs architektonisch perfekt gestaltete Straßenzüge mit hohen Bäumen und kühlen, grünen Terrassen vor den hochragenden Türmen. Am Fuß dieser Türme herrschte bereits reges Leben. Versorgungslastwagen rollten an die Laderampen, lieferten Nahrungsmittel und Vorräte, Medikamente und Geräte für die zweiundzwanzigtausend Menschen in den Gebäuden – Ärzte, Krankenschwestern, Labortechniker, Ingenieure und Patienten. Nur besondere Patienten, deren Leiden Spezialeinrichtungen, Spezialpflege, Spezialstudium verlangten. Hoch oben in den Turmstationen führten Tausende von Ärzten sorgfältige klinische Untersuchungen durch, Hunderte von Laboratorien beschäftigten sich Tag und Nacht mit allen denkbaren Typen und Variationen von Forschungsvorhaben und Studien auf den Gebieten Medizin, Psychiatrie, Biochemie, Genetik…›Zum Wohle der Menschheit‹, wie das vertraute Schlagwort lautete. Und das entsprach der Wahrheit, da gab es keinen Zweifel. Das Hoffman-Institut für Medizin war in all seiner Unermeßlichkeit und mit all seinen Forschungs- und
Behandlungseinrichtungen ein wahr gewordener Traum, der letzte und größte Schritt auf der uralten Suche nach Methoden, die Krankheit zu besiegen, den Tod zu bekämpfen und den Schmerz zu lindern. Jahrhundertelang war die medizinische Forschung in Tausenden von unabhängigen Instituten betrieben worden: Sinnvolle Organisation, Koordination und eine gemeinsame Zielsetzung fehlten. Bei der Behandlung von Krankheiten gab es sowohl großartige als auch barbarische Methoden. Je mehr das Wissen zunahm, um so größer wurde das Problem, es an die Ärzte weiterzugeben. Das Hoffman-Institut war zunächst als bloßes Speicherzentrum für medizinische Forschungsergebnisse gedacht gewesen. Später wurde es dann aber eine riesige internationale Behandlungs-, Forschungsund Ausbildungsorganisation, die den Mitgliedern aller Glaubensbekenntnisse und Rassen diente. Schließlich war diese gigantische Forschungszentrale geplant und der Grundstein dazu gelegt worden. Beim Bau hatte man keine Kosten gespart; die besten Architekten der Welt hatten die Klinikbauten, die schimmernden Fassaden, die Laboratorien, Archive und Computersäle entworfen, die so tief unter die Erde reichten, wie die Gebäude hoch waren. Beispiellose Anlagen und Geräte waren in den Verbandsräumen und Operationssälen dieses Instituts installiert, und die Ärzte, Krankenschwestern, Forscher und Techniker stammten aus allen Ländern der Erde. Als anerkannt führende Einrichtung in der Welt der Medizin hatte sich das Hoffman-Institut nie ein-, geschweige denn überholen lassen. Aber daran dachte Jeff Meyer jetzt nicht, als er die neblige Straße zu den Glastüren des Verwaltungsgebäudes hinunterstarrte. Er dachte an andere, geheimere Dinge, die irgendwo“ in diesem Riesenkomplex getrieben wurden, und an
einen Mann, der dort verschwunden war. Jeff hob den Kopf und sah zu Barney hinüber. »Du paßt hier draußen für mich auf?« »Versteht sich. Aber das ist doch Wahnsinn, Jeff!« Jeff lachte gezwungen. »Mach dir keine Sorgen. Du wartest einfach, bis du von mir hörst. Und du wirst von mir hören. Ich lasse mich von niemandem in die Enge treiben.« Er hoffte, daß das zuversichtlicher klang, als er sich fühlte. Barney seufzte. »Na gut. Aber gib mir die Neuralpistole, bevor du gehst.« Jeff zögerte und gab ihm schließlich die Waffe. »Da dringen wird sie mir sowieso nicht viel nützen«, meinte er. Er drückte Barney zum Abschied fest die Hand. »Glaub mir, ich komme schon durch.« »Dann viel Glück. Du wirst es brauchen.« Jeff nickte ihm ein letztesmal zu, stieg aus und eilte auf die hohen Glastüren zu. Er wußte, daß sein alter Freund noch einige Zeit warten würde, in der Hoffnung, daß er es sich anders überlegte, aber Jeff schaute nicht zurück. Er wagte es einfach nicht. In der riesigen Eingangshalle blieb er stehen und sah sich voller Staunen und Furcht um. Er war noch nie in einem Gebäude des Hoffman-Instituts gewesen, obgleich er unzählige Male von der Tätigkeit des Instituts hatte reden hören. Die Öffentlichkeit war hier nie willkommen gewesen, abgesehen von den Personen, die sich für die gesetzlich noch zugelassenen freiwilligen Nebenaufgaben meldeten, seit die FVPs offiziell verboten worden waren. Neugierige wurden abgewiesen, aber Presse und Fernsehen ließen sich nicht davon abbringen, über die lebenswichtige und manchmal auch heldenhafte Arbeit hinter diesen Mauern zu berichten. Jeder Tag brachte leidenschaftliche Reportagen über Fortschritte in
der medizinischen Forschung, über neue Entdeckungen, über neue Medikamente. Aber es gab auch andere Geschichten, die nicht in der Presse erschienen… Geschichten, die mündlich weitergegeben wurden, geflüsterte Schreckensnachrichten, begleitet von nervösem Lachen und zynischen Witzen, Gerüchte und Bemerkungen, die man Hilfskräften und Technikern des Instituts zuschrieb, oder Märchen, die großäugige Herumtreiber in den Bars und Gassen erzählten. Geschichten, die kaum zu glauben waren, dachte Jeff, aber die man ebenso schwer vergessen konnte. Auf der anderen Seite der Halle hielt ein Aufzug, aus dem einige weißgekleidete Frauen in Schwesternhäubchen stiegen. Ein Mann im weißen Kittel rannte hinüber, um den Lift noch zu erreichen. Jeff schnupperte argwöhnisch. Die Luft war von einem leicht unangenehmen Geruch erfüllt, alles erschien unerträglich sauber und steril. Obwohl es in der riesigen Halle fast so still wie in einer Kirche war, herrschte hier rege Geschäftigkeit. Lifte fuhren auf und ab, die zwischen den einzelnen Gebäuden verkehrenden Busse hatten hier ihre Endstation, Menschen eilten hin und her. Jeff sah sich prüfend um, entdeckte den zu den Verwaltungsbüros führenden Korridor, die Bus- und Lifthaltestellen, die in regelmäßigen Abständen aufgestellten wachsamen, grauuniformierten Aufseher. Beinahe instinktiv versuchte er sich für später einen genauen Lageplan einzuprägen, denn hier irgendwo würde er Paul Conroe finden. Irgendwo in diesem Labyrinth von Gebäuden und Durchgängen war der Mann, den er so lange gejagt hatte, während der Nacht verschwunden. Das sagte ihm sein Verstand; alle anderen Möglichkeiten waren erschöpft. Jeffs Muskeln schmerzten nach der stundenlangen Suche, seine Augen waren vor Müdigkeit gerötet, aber er spürte heiße, zornige Befriedigung bei dem Gedanken, daß Conroe hier sein
mußte und daß es von hier aus kein Entkommen mehr gab, wenn die schlimmen Gerüchte zutrafen. »Haben Sie hier zu tun, Mister, oder schnüffeln Sie nur herum?« Jeff fuhr herum und wäre beinahe mit dem stämmigen Mann in der grauen Uniform zusammengeprallt. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ja. Nein, meine ich. Ich weiß nur nicht genau, wo ich hin muß.« »Dann gehen Sie vielleicht am besten wieder hinaus.« Der Aufseher starrte ihn argwöhnisch an. »Aber ich suche den Schalter für Freiwillige. In der Zeitung stand, daß Leute mit der Blutgruppe AB gesucht werden.« Der Aufseher brummte. »Okay. Sie müssen zum Verwaltungsbüro.« Er deutete auf einen Korridor mit dem Schild ›Forschungsinstitut Verwaltung‹. »Gleich da drüben, erste Tür rechts. Die Schwester dort kümmert sich um Sie.« Jeff ging auf den Korridor zu. Der Aufseher schaute ihm nach. Es war allgemein bekannt, daß man immer Freiwillige für die Mitarbeit bei Blutgruppenuntersuchungen, Drogenanalysen und ähnlichen Experimenten annahm. Das Institut bezahlte Freiwillige für den Zeitaufwand und die geringen Unbequemlichkeiten, die die Untersuchungen mit sich brachten, relativ gut, ja es warb manchmal sogar mit Anzeigen, wenn ein neues Forschungsprojekt in Angriff genommen wurde. Doch Jeff interessierte sich nicht für diese harmlosen Versuchsprogramme, denn es war unwahrscheinlich, daß sich Conroe für solche Experimente gemeldet hatte, um ihm zu entrinnen. Jeff dachte an etwas anderes. Er wußte zwar nicht, ob es ein solches Projekt überhaupt gab, aber er hatte Gerüchte
gehört: Betrunkene waren angeblich in Ambulanzräume des Instituts gestolpert und nie mehr zurückgekehrt; in Rauschgiftklubs hatte man blitzschnelle, lautlose Razzien durchgeführt, und die Geschnappten waren nie im Polizeirevier angekommen; bei den Gestrandeten, dem Abschaum der Gesellschaft, hatte man für dieses mysteriöse Programm geworben, und es hieß, man habe diesen Menschen unvorstellbare Reichtümer versprochen, wenn sie sich für gewisse Versuche zur Verfügung stellten. Früher hatten hier im Institut ganz offiziell die FVPs, die Freiwilligen Versuchspersonen, gearbeitet; sie dienten als Versuchskaninchen bei lebenswichtigen, aber äußerst gefährlichen Forschungsprogrammen, bis diese Praxis als unmenschlich abgelehnt und gesetzlich verboten worden war. Wenn die Gerüchte zutrafen und es immer noch solche Programme gab, mußten sie geheimgehalten werden und in hohem Maße illegal sein. Aber wie konnte Jeff zu den richtigen Leuten kommen, wenn es so war? Er schaute auf seine ungeputzten Schuhe und fuhr sich mit der Hand über das unrasierte Kinn. Wie würde man einen Freiwilligen testen, der eine Chance wünschte, viel Geld zu verdienen? Was würde man tun, wenn man herausfand, daß er ein Betrüger, ein Eindringling war? Er fröstelte, als er die Tür erreichte. Es war ein Glücksspiel. Er mußte alles auf eine Karte setzen, denn wenn es hier FVPs gab, würde man mit einem Außenseiter, der zum Spionieren hergekommen war, nicht viel Geduld haben. Er müßte einer von ihnen werden oder es zumindest vorgeben. Jeff drehte den Kopf, sah, daß ihn der Aufseher immer noch beobachtete, und öffnete die Tür mit der Aufschrift Registrierung von Freiwilligem. Er kam in einen kleinen Warteraum. An der Wand lehnten mehrere Personen. Auf der anderen Seite befand sich ein Schreibtisch, dahinter saß wie in
einem Käfig, von Glaswänden umgeben, eine Krankenschwester. Ein geduckt wirkender Mann mit kahlem Kopf und unehrlichen Augen sprach mit der Schwester in der Zelle, während sie eine Lochkarte ausfüllte. Der Mann gestikulierte wütend, aber man hörte keinen Laut. Das Ganze wirkte wie eine Filmszene ohne Ton. Schließlich stand der Mann auf und ging, eine ältere Frau nahm seinen Platz am Schreibtisch ein. Die Schwester hatte nicht einmal den Kopf gehoben, als Jeff hereingekommen war. Er setzte sich, kratzte sich nervös am Kopf, schaute auf die Uhr… Mußte sie so langsam sein? Nichts schien die Frau zu drängen, sie beschäftigte sich der Reihe nach mit jeder Person, ruhig, unpersönlich, mit starrem, kühlen Lächeln auf den Lippen. Endlich sah sie Jeff an, nickte kühl, und er ging zu dem Stuhl in der Zelle. »Name bitte«, sagte sie. »Sie haben von mir keine Karte.« Sie sah kurz auf. »Ein neuer Freiwilliger? Fein. Dann bitten wir Sie, eine Datenkarte auszufüllen. Wenn Sie mir Ihren Namen sagen, kann ich an – « Jeff räusperte sich und spürte ein Pochen in der Kehle. »Ich bin mir nicht sicher, wofür ich mich freiwillig melden soll«, sagte er vorsichtig. Die Krankenschwester sah ihn an. »Es gibt mehrere Programme, unter denen Sie wählen können, Sie brauchen sich nicht sofort zu entscheiden. Jeden Dienstag und Donnerstag haben wir regelmäßige Untersuchungsreihen für Antibiotika. Man spritzt Ihnen das Medikament am Morgen und entnimmt um zehn, zwei und vier Uhr Blutproben. Dafür bekommen Sie dreißig Dollar und ein Mittagessen. Sie können auch Blut für Serumuntersuchungen spenden, aber das geht nur einmal im Monat und bringt
höchstens zwanzig Dollar. Außerdem bekommen Sie kein Mittagessen. Oder – « »Sie verstehen mich nicht«, unterbrach sie Jeff. »Ich brauche Geld. Viel Geld.« Er sah ihr ins Gesicht. »Ich habe gehört, daß Sie auch andere Arbeit haben.« Die Augen der Frau verengten sich. »Tja, es gibt natürlich höher bezahlte Forschungsprojekte, aber dafür werden kaum neue Freiwillige angenommen. Sie müssen verstehen, daß in diesen Fällen mehr bezahlt wird, weil die Freiwilligen ein beträchtlich höheres Risiko eingehen. Einen Antrag können Sie natürlich jederzeit stellen. Kreislaufuntersuchungen mit Herzkatheterisierung bringt bis zu tausend Dollar, aber gewöhnlich beginnen wir – « »Ich sagte: Geld«, unterbrach Jeff. »Kein Kleingeld.« Zum erstenmal sah ihn die Frau genau an, betrachtete seine blutunterlaufenen Augen und die Bartstoppeln. Es war ein langer, durchdringender Blick. Ihr Lächeln war völlig verschwunden, ihre Finger wurden plötzlich unruhig. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da reden, junger Mann?« »Ich rede von den Freiwilligen Versuchspersonen.« Sie schwieg einen Augenblick und starrte ihn an. Dann zog sie angewidert die Mundwinkel herunter und stand auf. »Entschuldigen Sie mich bitte.« Sie verschwand durch eine Innentür. Lange Zeit blieb sie fort. Jeff wartete zitternd, spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, war aber zu angespannt, um auch nur ein Taschentuch herausziehen zu können. Endlich kam die Schwester zurück. Sie blieb an der Innentür stehen und sagte: »Treten Sie bitte ein.« Dann hatte er also doch recht gehabt! Jeff versuchte seine Erregung zu unterdrücken, als er in dem kleinen Vorraum Platz nahm. Die Schwester ging zum Telefon und tippte auf der Tastatur eine Nummer. Die Stille war beinahe unerträglich und so vollkommen, daß Jeff die Schwester atmen hören konnte.
Schließlich blinkte eine Signallampe, und die Frau griff nach dem Hörer. »Doktor Schiml? Hier ist die Freiwilligenstelle, Doktor. Tut mir leid, daß ich Sie schon wieder stören muß, aber ich habe meine Anweisungen.« Sie warf Jeff Meyer einen Blick zu. »Hier ist noch ein Mann, den Sie vermutlich sehen wollen.«
3
Später, als er allein im Vorraum war, fragte sich Jeff, ob er sie mißverstanden hatte. Sie hatte noch ein paar Augenblicke kühl und sachlich weitertelefoniert: »Nein, seinen Namen hat er nicht genannt, Doktor… Ja, er ist eben gekommen… Ziemlich jung, Anfang Zwanzig… Ja, das weiß ich, Doktor, aber er drückte sich ganz eindeutig aus… Also gut, ich lasse ihn warten.« Sie legte auf, sah Jeff an, als sei er bereits ein Versuchsobjekt, und ging wortlos hinaus. Jeff stand auf, streckte sich und betrachtete das Zimmer genauer. Es war klein und enthielt nur einen Schreibtisch und zwei oder drei Stühle. Offenbar ein Sprechzimmer. An einer Wand befand sich eine Tafel mit Bedienungsknöpfen, eine Art Computer, der mit einem Zentralarchiv verbunden war, vermutete Jeff. Auf dem Schreibtisch stand das Telefon mit Intern-TV-Bildschirm und der Kamera; über dem Bildschirm verkündete eine kleine Lichttafel in scharf umgrenzten schwarzen Lettern das Datum: 23. April 2109. Der Zeiger der kleinen Transistoruhr darunter war eben weitergerückt und zeigte 9.25 Uhr an. Der halbe Morgen war schon vorbei, und Jeffs Jagdbeute entfernte sich mit jeder Minute weiter. Er wartete ungeduldig und starrte durch das Fenster auf die Reihen übereinandergeschichteter Gebäude. Auf der anderen Seite des Hofes erhob sich der erste der Kliniktürme, und links davon stand eine Anzahl langer, niedriger Bauten mit Dachfenstern: vielleicht Küchen oder Vorratslager. Dutzende von Gebäuden, und in jedem konnte sich Paul Conroe verbergen. Jeff ballte die Fäuste, zwang sich aber dann gewaltsam zur Ruhe. Gerade jetzt durfte er nicht durchdrehen.
Er ahnte vielleicht, wo sich Conroe befand, aber der Arzt, der zu ihm unterwegs war, wußte es mit Bestimmtheit. Jeff hoffte, daß er die Krankenschwester richtig verstanden hatte. ›Hier ist noch ein Mann, den Sie vermutlich sehen wollen.‹ Das konnte nur heißen, daß vor ihm noch ein Mann gekommen war, vielleicht mitten in der Nacht. Hinter ihm ging eine Tür auf, und Jeff drehte sich hastig um. Der Mann, der eintrat, schloß die Tür hinter sich und ging zum Schreibtisch. Er hob lächelnd den Kopf und sah Jeff an. »Ich heiße Roger Schiml«, sagte er freundlich. »Ich leite einen Teil unserer Forschungsarbeiten. Und Sie… Soviel ich weiß, wollten Sie mit mir sprechen.« Er sah Jeff ins Gesicht. Jeff nickte. »Richtig. Ich bin nur hergekommen, um zu fragen – na ja, um mit Ihnen zu sprechen«, schloß er unsicher. Er spürte, wie ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit in ihm wuchs, als alles, was er hatte sagen wollen, wie weggewischt zu sein schien. Der Mann vor ihm sah einem Arzt kaum ähnlich, obwohl er einen makellos weißen Kittel trug und in seiner Tasche das unvermeidliche Stethoskop steckte. Er war groß und schlank, vielleicht fünfzig Jahre alt, hatte ein rundes, gerötetes Gesicht und eine lange, traurige Nase, die seinem Äußeren etwas Komisches verlieh. Ein harmlos aussehender Mann, dachte Jeff, wenn die Augen nicht wären: blaue Augen, die schärfsten, durchdringendsten Augen, die Jeff jemals gesehen hatte. Diese Augen betrachteten ihn gründlicher, als Dr. Schimls Lächeln es zu rechtfertigen schien, verfolgten jede Bewegung Jeffs, studierten ihn. Die Augen waren wissend; außerdem verrieten sie Vorsicht. Der Arzt setzte sich Jeff gegenüber und bot ihm aus einer Dose auf dem Schreibtisch Zigaretten an. Jeff schüttelte den Kopf.
»Nein danke«, sagte er. »Ich rauche nicht. Außerdem dachte ich, daß das Rauchen heutzutage nicht mehr ganz gesetzlich ist.« Der Arzt grinste. »In gewisser Weise ja. Dank unserer Bemühungen, wie Sie wahrscheinlich wissen. Wir waren es schließlich, die erreichten, daß Tabak auf die Verbotsliste gesetzt wurde.« Er lehnte sich zurück, stopfte seine Pfeife und zündete sie an. »Wie dem auch sei, manchmal erleichtert das Rauchen die Unterhaltung. Es soll die Nerven beruhigen, wie man sagt. Übrigens weiß ich Ihren Namen noch nicht.« »Meyer«, sagte Jeff. »Jeffrey Meyer.« Der Arzt lächelte. »Hoffentlich hat Miss Finch Sie nicht allzu lange aufgehalten. Sie beschäftigt sich hier mit den meisten Freiwilligen. Nur in Sonderfällen werde ich eingeschaltet.« Er machte eine Pause. »In Fällen wie dem Ihren zum Beispiel.« Jeff blinzelte ein paarmal. Seine Gedanken jagten einander. Es erforderte großes schauspielerisches Talent, wenn man diesen Mann täuschen wollte. Das Gesicht des Arztes war irreführend offen und gütig, beinahe gefällig, aber die Augen straften den Ausdruck Lügen. Es waren alte, sehr alte Augen, die schon viel mehr gesehen hatten, als Augen normalerweise zu sehen bekommen durften. Einen Mann mit solchen Augen täuschen zu wollen… Jeff atmete tief ein. »Ich möchte den FVPs beitreten«, sagte er. Dr. Schiml sagte lange Zeit nichts und starrte ihn nur an. Schließlich meinte er: »Das ist interessant. Und auch merkwürdig. Dieser Ausdruck, meine ich. Oh, ich kann begreifen, warum gewisse Personen von medizinischer Söldnerarbeit angezogen werden, aber die Bezeichnung ist doch recht seltsam. Man denkt an Szenen aus schlechten
Filmen – gutaussehende junge Assistenzärzte im Kampf gegen den Tod, tapfere Helden, die sich zum Wohl der Menschheit opfern.« Die Augen wurden hart. »Wo haben Sie von den FVPs gehört?« Jeff zuckte die Achseln. »Das ist ein offenes Geheimnis, Doktor. Jeder hat von den FVPs gehört. Sie werben natürlich nicht mehr in den Zeitungen, aber man weiß, daß hier auf jeden, der das Risiko eingehen will, große Reichtümer warten.« Dr. Schiml sah ihm in die Augen. »Angenommen, ich erklärte Ihnen, daß es eine solche Einrichtung nicht mehr gibt, weder hier noch anderswo?« Jeff lächelte. »Dann würde ich Sie einen Lügner nennen.« Schiml zog die Brauen hoch. »Ein großes Wort. Können Sie es auch belegen?« Jeff erinnerte sich plötzlich an etwas. »Und ob! Ich weiß, daß es hier noch Freiwillige Versuchspersonen gibt. Ich habe mit jemandem von ihnen gesprochen, vor nicht ganz einem Vierteljahr. Als ich ihn kennenlernte, war er ein Herumtreiber – ein Morphiumsüchtiger, der sich nur Bier leisten konnte und Appetit auf Champagner hatte. Dann verschwand er für sechs Monate, verschwand spurlos. Und als er vor ein paar Monaten wieder auftauchte, hatte er eine vornehme Villa in den Catskill-Bergen und mehr Bargeld, als er ausgeben konnte. Natürlich verwendet er sein ganzes Geld dafür, ein paar hundert Katzen in seinem Keller zu füttern und – « Jeff hob den Kopf. »Bevor er verschwand, hatte er für Katzen nicht viel übrig, und er ist auch in anderer Beziehung ziemlich eigenartig. Nichts Ernstes, versteht sich, nur – eigenartig. Drogen scheint er aber keine mehr zu brauchen. Und er ist steinreich.«
Schiml lächelte und legte die Fingerspitzen aneinander. »Das muß Luke Tandy sein. Ja, Luke war ein bißchen anders, als er wegging, aber er leistete zufriedenstellende Arbeit, und wir zahlten aus.« »Wie man hört«, sagte Jeff. »Dreihundertfünfzigtausend Dollar. Bar auf die Hand, für ihn oder seine Erben. Oder für die Katzen, wenn er keine Erben hat.« »Und was wollen Sie hier?« fragte Dr. Schiml plötzlich. »Ich möchte auch dreihundertfünfzigtausend Dollar.« »Unsinn«, sagte der Arzt. Jeff wurde rot. »Was meinen Sie damit?« »Ich meine, Sie sollen mich nicht anlügen«, gab Dr. Schiml zurück. »Ich erwische Sie jedesmal.« Die Augen des Arztes waren hart. »Wofür halten Sie mich eigentlich? Ich sehe einen kräftigen, gesunden, intelligenten jungen Mann vor mir, der in seinem ganzen Leben bestimmt keine einzige Mahlzeit entbehrt hat. Na schön, Sie haben eine Nacht nicht geschlafen und sich ein, zwei Tage nicht rasiert. Na und? Sie tragen schmutzige Kleider, aber als Sie sie kauften, haben Sie viel Geld dafür bezahlt. Sie trinken offensichtlich nicht. Sie nehmen anscheinend keine Drogen. Sie sind kräftig und geistig gesund. Und dann erzählen Sie mir, daß Sie um des Geldes willen zu den FVPs wollen. Also lügen Sie. Ich frage Sie noch einmal: Was wollen Sie hier?« »Geld. Dreihundertfünfzigtausend Dollar.« Der Arzt seufzte und lehnte sich zurück. »Na schön, Sie wollen nicht antworten. Es ist auch nicht wichtig, jedenfalls noch nicht. Aber etwas anderes ist wichtig: Welche Risiken sind Sie bereit einzugehen?« »Jedes Risiko, das nötig ist«, sagte Jeff leise. »Solange das Honorar stimmt.«
»Gut. Dann will ich Ihnen etwas sagen«, erklärte Schiml. »Sie sollten genau zuhören. Es war kein Aufschrei der Öffentlichkeit, durch den die Arbeit der FVPs vor fünfzehn Jahren gesetzlich verboten wurde. Das Hoffman-Institut selbst hat ein solches gesetzliches Verbot gefordert. Es ist auch kein Zufall, daß die Informationen über das Programm so verschwommen sind. Wir haben dafür gesorgt, daß keine Einzelheiten an die Öffentlichkeit drangen. Je ungenauer die Geschichten sind, desto weniger Schnüffler, Sensationslustige und Wichtigtuer kümmern sich um unsere Arbeit. Je abstoßender die Geschichten sind, die wir verbreiten, desto verzweifelter müssen die Menschen sein, wenn sie hier auftauchen. Genau das ist es, was wir wollen. Die Arbeit, die wir hier leisten, verlangt nämlich völlig verzweifelte Menschen als Freiwillige.« Der Arzt hatte während dieser Worte eine Schublade geöffnet und ein Päckchen Karten herausgenommen. Er ließ sie durch die Finger gleiten. Jeff achtete zunächst nicht darauf, aber dann sah er die Karten, und in seiner Brust schien sich etwas zu verkrampfen. Es waren seltsame Karten, keine richtigen Spielkarten, sondern mit eigenartigem Aufdruck – einfachen Symbolen in Rot und Weiß, die Jeff nicht kannte. Trotzdem schauderte er, als er sie betrachtete. Er rutschte zitternd auf seinem Stuhl hin und her und zwang sich, den Blick abzuwenden. »Verzweifelt«, wiederholte er. »Sie sagten, Sie brauchen verzweifelte Menschen.« Dr. Schiml lehnte sich zurück, blätterte die Karten noch einmal durch und warf sie auf den Schreibtisch. »Genau. Je verzweifelter, desto besser. Wir haben seit der Eröffnung des Instituts äußerst wichtige Arbeit geleistet – Arbeit auf der Grundlage langjähriger Forschung. Vor einem Jahrhundert rangen die Ärzte mit schrecklichen medizinischen
Problemen. Die Hepatitis mordete die Menschen. Ebenso Lungenentzündung, Herzkrankheiten, Krebs. Alle diese Leiden sind heute besiegt, aber als die alten Feinde geschlagen waren, traten neue auf. Denken Sie an die neurotoxischen Virusepidemien, die vor fünfzig Jahren anscheinend aus dem Nichts entstanden und die noch immer nicht überwunden sind. Sehen Sie sich die Herumtreiber an, die Sie heute in jeder Bar treffen, eine völlig neue Art der Streß- und Panikpsychose, die wir noch nicht einmal ganz beschreiben, geschweige denn heilen können. Betrachten Sie die Statistiken über alle Arten von Geisteskrankheiten, die beinahe jedes Jahr in geometrischer Progression zunehmen.« Der hochgewachsene Arzt stand auf und trat ans Fenster. »Damit vor allem befaßt sich das Hoffman-Institut. Wir wissen nicht, warum es geschieht, wir wissen nicht einmal genau, was mit den Gehirnen der Leute geschieht, aber es geschieht etwas damit, etwas Furchtbares. Etwas, dem Einhalt geboten werden muß.« Er griff nach den Karten, blätterte sie durch und steckte sie in die Tasche. »Das ist eine unserer Aufgaben – herauszufinden, worin diese schleichenden Krankheiten bestehen, und zu entdecken, wie man sie aufhalten kann. Wir vermögen aber nicht einmal einen Hinweis zu finden, bevor wir nicht weit mehr als bisher über das menschliche Gehirn und seine Funktionsweise wissen. Wir begreifen nicht einmal ganz die Struktur des Nervensystems, geschweige denn, wie es funktioniert. Außerdem ist uns inzwischen klar, was wir durch das Studium an Katzen, Hunden und Affen noch dazulernen können. Die weitere Untersuchung des Affen kann uns zwar noch vieles über dieses Tier lehren, aber nicht mehr über den Menschen – « Er machte eine Pause und sah Jeff an. »Ich glaube, Sie verstehen, worauf ich hinauswill.« Jeff Meyer nickte langsam. »Sie brauchen Menschen«, sagte er.
»Richtig. Menschen zum Experimentieren, so schrecklich das auch klingen mag. Was wir wissen müssen, können wir nur durch das Studium am Menschen erfahren. Aber da gibt es Probleme. Wenn man mit dem menschlichen Gehirn experimentiert, kann die Versuchsperson sterben. Oder sie erleidet irreparable Schäden und wird wahnsinnig. Wir bereiten unsere Experimente sorgfältig vor, aber die Ergebnisse können wir immer noch nicht vorhersagen. Einige dieser Ergebnisse sind entsetzlich. Ihr Freund aus den Catskill-Bergen gehört zu den Leuten, die Glück gehabt haben. Doch wir machen Fortschritte. Keine schnellen Fortschritte, aber immerhin, wir kommen voran. Wir brauchten von Anfang an Freiwillige, eine besondere Art von Freiwilligen. Niemand, der bei Verstand ist, würde sich ohne weiteres für eine solche Tätigkeit melden, also haben wir einen Anreiz geschaffen: Wir bezahlen für die Dienste unserer Mitarbeiter, und wir zahlen gut. Dreihunderttausend Dollar steuerfrei ist nach unseren Maßstäben ein niedriges Honorar. Manche Aufträge bringen Millionen. Wir haben alle Staaten der Welt hinter uns, und wenn wir einen bestimmten Menschen für eine bestimmte Aufgabe brauchen, gibt es überhaupt kein Limit. Das Honorar wird bezahlt, sobald der Auftrag erledigt ist, entweder an die Versuchsperson oder an die Erben. Die Arbeit ist nicht angenehm, und wir finden auch keine angenehmen Mitarbeiter. Diese nennen sich auch manchmal Medizinsöldner. Sie begreifen, warum wir wollen, daß sie verzweifelt sind, wenn sie uns aufsuchen. Verzweifelter als Sie es sind, nach allem, was ich sehen kann.« Jeff Meyer starrte seine Hände an und wartete in der Stille. Sein Blick glitt zurück zu den seltsamen Karten, und wieder spürte er den Krampf in der Brust. Es war nichts Neues, was ihm Dr. Schiml gesagt hatte. Das Institut war eine letzte
Zuflucht, eine Straße, die im Entsetzen oder im Tod enden konnte. Barney Trimble hatte gesagt, daß es sich nicht lohnte; Paul Conroe würde sowieso nicht lebend entkommen, hatte er gemeint. Aber Jeff wußte, daß Conroe es doch konnte. Ihm hierher zu folgen war irrsinnig, war mit einem furchtbaren Risiko verbunden, aber aus einem unklaren Grund schien das Risiko keine Rolle mehr zu spielen. Jeff hatte sein Leben schon weggeworfen, drei Jahre brachte er damit zu, einen Mann wie eine Raubkatze im Dschungel zu jagen. Nichts anderes hatte ihm in diesen drei Jahren etwas bedeutet. Es war quälend gewesen, der Spur des Mannes zu folgen, auf seiner Fährte zu bleiben, ihn ständig zu beobachten, Falle um Falle zu stellen. Nun hatte sich Conroe in seiner Verzweiflung hierher geflüchtet. Warum? Jeff wußte es nicht. Er wußte nur, daß auch er verzweifelt war. Aber er konnte nicht mehr zurück. Und wenn er nicht hier ist, Jeff? Was dann? Was ist, wenn er dir entwischt und nicht ins Institut geflüchtet ist? Diese Frage hatte ihn die ganze Zeit über beschäftigt, doch er schob sie jetzt zornig beiseite. Er ist hier. Er muß hier sein. Vor mir kam ein anderer Mann. Jeff sah den Arzt scharf an. »Ich habe es mir nicht anders überlegt«, sagte er. »Was muß ich tun, um angenommen zu werden?« Dr. Schiml seufzte und trat an die Bedienungstafel. »Es gibt keine Garantie, daß wir Sie überhaupt brauchen können«, sagte er. »Wir suchen Leute mit bestimmten Eigenschaften. Mit anderen können wir überhaupt nichts anfangen. Sie müssen gründlich untersucht werden, bevor wir Bescheid wissen. Wir brauchen außerdem auch einen echten Beweis für Ihr Alter, aber das läßt sich bei den Untersuchungen leicht feststellen. Inzwischen werden Sie einer Vorbereitungsstation zugeteilt, und Sie haben sich an die dort geltenden Vorschriften zu halten. Die Vorschriften werden
Ihnen nicht behagen, ebensowenig die Gesellschaft, aber das ist Ihr Problem, nicht das meine. Ein falscher Schritt, und Sie sitzen draußen auf der Straße. Das hängt allein von Ihnen ab.« »Und wenn ich die Prüfung bestehe?« »Bekommen Sie einen Auftrag, unterschreiben eine Einverständniserklärung und sind angenommen.« Der Arzt beugte sich vor, tippte eine Nummer in den Bildschirm und griff nach dem Hörer. Er trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, als ein Gesicht auf dem Bildschirm erschien. »Blackie«, sagte er müde, »schicken Sie den Bösen Franzosen herauf. Wir scheinen einen weiteren Rekruten zu haben.« Das Gerät schaltete ab. Jeff saß erstarrt auf seinem Stuhl. Sein Herz hämmerte. Dr. Schiml sagte etwas zu ihm, aber er hörte ihn nicht; seine Augen hafteten immer noch an dem dunklen Bildschirm. Einen Augenblick lang war das Gesicht dort deutlich zu sehen gewesen: ein Frauengesicht, mit großen grauen Augen, umrahmt von langem, schwarzem Haar. Es war ein Gesicht, das Jeff nie vergessen würde – das Gesicht des Mädchens, das er am Abend zuvor im roten Scheinwerferlicht hatte singen hören.
4
Es gab keinen Zweifel, das war das Mädchen aus dem Nachtklub gewesen, die Sängerin mit dem langen Haar, die sie zu Conroe geführt und dann verraten hatte. Jeff bemühte sich, seiner Erregung Herr zu werden, als er merkte, daß Dr. Schiml ihn mit zusammengezogenen Brauen musterte. »Es ist nichts«, sagte Jeff, »nur die Nerven, denke ich.« Aber eine Stimme schrie in ihm: Er ist hier! Conroe ist hier! Aber warum war sie hier? Schiml hatte sie ›Blackie‹ genannt, in vertraulichem Ton mit ihr gesprochen. Jeffs Gedanken überschlugen sich. Er hatte plötzlich das seltsame Gefühl, daß ihm irgendwann etwas entgangen war, etwas, was er spürte, aber nicht ganz zu fassen vermochte. Was konnte es bedeuten, daß das Mädchen hier war? Oder war eher ihr Auftreten im Nachtklub ungewöhnlich gewesen? Ein Summer ertönte, die Bürotür öffnete sich, und ein kleiner Mann mit spitzem Gesicht kam herein. Der Arzt hob den Kopf und lächelte. »Hallo, Jacques«, sagte er. »Das ist Jeff Meyer, ein Neuer. Bringen Sie ihn hinunter und quartieren Sie ihn in 17 D ein, ja? Unterwegs können Sie ihn ein bißchen einweihen. Er ist noch völlig grün.« Der kleine Mann kratzte sich die lange Nase und starrte Jeff kalt an. »Ein Neuer? Kein Spezieller, hoffe ich. Da warten schon zu viele.« »Nein, kein Spezieller. Wir wollen erst sehen, was sich ergibt. Wenn wir ihn brauchen können, unterhalten wir uns
weiter. Erst muß er die Regeln lernen. Sie können sie ihm beibringen.« Das Gesicht des kleinen Mannes verzog sich zu einem unangenehmen Lächeln, das eine Reihe schmutziggelber Zähne freigab. »Klar, Doc. Sie kennen mich.« Er betrachtete Jeff kritisch, und sein Grinsen wurde breiter. »Ein großer noch dazu, so groß wie Harpo. Aber die stürzen genauso schwer wie die anderen. Soll ich ihn gleich hinunterbringen?« Schiml nickte. »Vielleicht ist die Verpflegungsstelle noch offen. Er hat noch nicht gegessen.« Er sah Jeff an. »Das ist Jacques«, sagte er. »Man nennt ihn den ›Bösen Franzosen‹, aber das ist natürlich nur Spaß. Er ist schon lange hier und kann Sie einweisen. Lassen Sie sich von seiner Art Humor nicht aus der Ruhe bringen. Er ist schon lange hier, wie gesagt. Sie bekommen eine Unterkunft zugewiesen und bleiben zum Essen und während Ihrer Freizeit auf der Station. Das heißt, daß Sie, solange Sie hier sind, keinen Kontakt mit der Außenwelt haben werden. Sie bekommen täglich Zeitungen geliefert, in der Bibliothek gibt es Zeitschriften und Bücher. Wenn Sie anderswo irgend etwas zu tun haben, gehören Sie nicht hierher.« Er schwieg einen langen Augenblick und sah Jeff seltsam, beinahe lächelnd an. »Ach, ja, noch etwas: Fragen sind hier nicht gern gesehen. Ganz egal, was für Fragen. Fragenstellen kann einen hier sehr unbeliebt machen.« Der Böse Franzose scharrte nervös mit den Füßen, und Jeff ging zur Tür. Der kleine Mann drehte sich noch einmal um. »Vor zehn Minuten haben sie Tinker zurückgebracht. Er ist in ziemlich schlechter Verfassung. Wollen Sie sich ihn ansehen?« »Das war die große Sache heute, nicht?« Dr. Schimls Augen funkelten. »Was hat Doktor Gabriel gesagt?«
»Nichts zu machen, sagte er. Eine Pleite.« »Aha. Na ja, vielleicht liegt es nur am Abklingen der Narkose, aber ich komme hinunter und sehe nach.« . Der Böse Franzose brummte etwas vor sich hin und wandte sich Jeff zu. Er lächelte immer noch unangenehm. »Gehen wir, Großer«, sagte er und marschierte hinaus.
5
Jeff wußte nicht, wo ›unten‹ war, aber offenbar ging es sehr weit hinunter. Auf jeden Fall nicht hinauf in einen der Kliniktürme, wie er es sich vorgestellt hatte. Jeff folgte dem kleinen Mann, zählte unterwegs die Korridore und hoffte, nicht die Orientierung zu verlieren. Er schaute ungeduldig auf die Uhr. Die Minuten vergingen, Minuten, die für ihn Erfolg oder Niederlage bedeuten konnten. Viele Fragen beschäftigten ihn, Dinge, die sich nicht miteinander in Übereinstimmung bringen ließen, aber im Mittelpunkt stand immer das Mädchen. Sie mußte der Schlüssel zu allem sein. Sie würde wissen, wo Conroe in diesem Gewirr von Tunnels und Fluren zu finden war. Sie erreichten einen Aufzug, traten ein und schossen so schnell abwärts, daß sich Jeff festhalten mußte. Sie fuhren weit hinunter; zweimal gingen ihm die Ohren zu, bevor die Kabine hielt und ihn der kleine Mann in einen grell beleuchteten Korridor hinausführte. Leuchttafeln an den Wänden verbreiteten Helligkeit wie am Tag, warfen aber keine Schatten. Der Böse Franzose trat an einen Rufkasten und drückte Tasten; Sekunden später glitt der Wagen einer Einschienenbahn heran und sank herunter, um sie einsteigen zu lassen. »‘rein«, sagte der kleine Mann. Der Wagen war für zwei Personen etwas eng, aber Jacques betätigte die Steuerung mit einer Hand. Der Wagen erhob sich an die Decke und fuhr los, wild hin und her schwankend, als er durch ein Labyrinth von Korridoren und Kurven schoß. Sie kamen an Menschen vorbei: Krankenschwestern, Ärzten,
Pflegern, die Patienten auf fahrbaren Betten schoben, an ein paar Männern und Frauen in derselben blauen Kattunkleidung, die Jacques trug, gelegentlich sahen sie einen grauuniformierten Aufseher mit Neuralpistole im Halfter. Jeff bewegte sich nervös. Mit jeder Biegung wurde er unsicherer. »Hören Sie, wohin fahren wir mit dem Ding eigentlich?« fragte er. Jacques knurrte ihn an. »Haben Sie Angst?« »Na ja, es sieht so aus, als wären wir zum Mittelpunkt der Erde unterwegs. Ich möchte irgendwann wieder einmal hinausfinden.« »Warum?« Die Frage war so unverblümt, daß Jeff der Mund offenstehen blieb. »Tja, ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens hier zu verbringen.« Jacques lachte ich sich hinein. »Nein? Sie denken wohl nur an einen ruhigen, schönen Urlaub, was? Na, ihr Schlauköpfe seid alle gleich. Träumen Sie ruhig weiter.« Er wandte sich wieder der Steuerung zu, und der Wagen bog scharf nach rechts ab – in einen weiteren Korridor. Jeff zog die Brauen zusammen und sah Flure vorbeizucken. Fuhren sie wirklich so tief hinunter? Oder war das nur eine Täuschung, eine bewußte Maßnahme, um Neulinge so irrezuführen, daß sie ohne Hilfe nie mehr hinausfinden konnten – oder es jedenfalls glaubten? Jeff zuckte die Achseln. Es spielte keine sehr große Rolle. Er hatte etwas zu erledigen, und es mußte hier getan werden. Über die Flucht würde er sich den Kopf zerbrechen, wenn es an der Zeit war. Er sah Jacques kurz an. »Ist das Mädchen, das der Doktor Blackie genannt hat, auch hier unten?« fragte er.
»Woher soll ich das wissen?« erwiderte der kleine Mann. »Ich hab’ sie doch nicht an der Leine.« »Natürlich nicht. Ich wollte nur wissen, ob sie zu der Gruppe, zu den FVPs, gehört.« Jacques ignorierte die Frage. Er drehte einen Schalter, und der Wagen bog in einen Nebenkorridor ein. Im trüben Licht wirkte das Gesicht des Mannes teigig-gelb, verrunzelt und verbittert. Mit seinem strähnigen braunen Haar sah er aus wie eine Mumie; der Eindruck verstärkte sich noch, wenn er grinste. Jeff blickte ihn ein paar Sekunden an, dann versuchte er es noch einmal. »Sind Sie schon lange hier? Bei den FVPs?« »Ja.« Jacques starrte vor sich hin. »Wie sind Sie hierhergekommen?« »Hören Sie mal, habe ich Sie gefragt, warum Sie hier sind?« »Nein.« »Dann fragen Sie mich nicht.« Er beachtete Jeff eine Weile nicht, sagte aber schließlich: »Lassen Sie sich einen Rat geben. Halten Sie den Mund und fügen Sie sich ein, so schnell Sie können. Stellen Sie keine Fragen, tun Sie nur, was man Ihnen sagt. Sie teilen mit einem anderen ein Zimmer, und Sie essen um sieben, um zwölf und um sechs. Man untersucht Sie, sobald man soweit ist, und Sie haben in Ihrem Zimmer zu sein, wenn man Sie braucht. Außerdem müssen Sie am Leben sein. Manche Neulinge schaffen es nicht mal bis zur Untersuchung. Sie haben Unfälle oder so was Ähnliches.« Er grinste. »Bis Sie untersucht und eingeteilt sind und unterschrieben haben, sind Sie hier gar nichts wert. Wenn Sie die Untersuchungen überstehen, haben Sie vielleicht Glück und bekommen einen guten Auftrag. Zum Teil arbeitet man am zentralen Nervensystem, zum Teil am autonomen Nervensystem, manchmal beschäftigt man sich mit Rückenmark und
Nervenübertragung, aber heutzutage interessiert man sich in erster Linie für das Gehirn selbst. Dafür wird auch am besten bezahlt – eine Viertelmillion auf einmal. Und die Aussichten sind ziemlich gut.« »Was betrachten Sie als gute Aussichten?« Jacques zuckte mit den Schultern. »Vielleicht zehn Prozent volle Genesung. Das heißt volle Genesung von der Arbeit, keine Sekundärinfektion, vollständige Wiederherstellung der Gehirnfunktionen. Bei einem Job mit mäßig guten Aussichten ist das Risiko größer, man kann nur mit fünf Prozent Genesung rechnen. Ein Job mit schlechten Aussichten bringt im Durchschnitt bestenfalls ein bis zwei Prozent Genesung.« Der kleine Mann grinste ihn an. »Um ehrlich zu sein, Sie hätten eine bessere Chance, ein Erschießungspeloton zu überleben als manche von diesen Versuchen. Und sobald Sie die Erklärung unterschieben haben, mit der Sie das Krankenhaus und die Ärzte aller Verantwortung entheben, sind Sie vertraglich gebunden und können nicht mehr aussteigen. Wenn Sie aber das Glück haben, davonzukommen – « Zum erstenmal schienen die Augen des kleinen Mannes lebendig zu werden, sie funkelten vor Habgier. »Wenn Sie es schaffen, wird gezahlt. Und wie! Sie können hier als reicher Mann weggehen. Wenn Sie Glück haben, bekommen Sie einen schönen Auftrag und verdienen vielleicht hunderttausend Dollar, praktisch ohne Risiko.« Er machte eine Pause und sah Jeff an. »Natürlich gibt es unter den ›Glücklichen‹ auch Leute, die einen Knacks haben. Manchmal fällt es den Ärzten schwer, die Presse fernzuhalten, falls sie überhaupt entlassen werden. Ziemlich scheußlich. Manchmal jedenfalls.« Jeff begriff, daß ihn der Mann herausforderte und ein perverses Vergnügen daran hatte, seine Reaktion auf diese Horrorgeschichten zu beobachten, die um so grausamer waren,
da sie unzweifelhaft der Wahrheit entsprachen. Ließ er den Wagen im Kreis herumlaufen, nur um die Folter zu verlängern? Jeff wies den Gedanken zurück. Vielleicht war es so… Aber was hatte er hier erwartet? Güte und Mitgefühl? Was für Menschen hielten sich überhaupt hier unten auf? War Jacques ein anderer Mensch gewesen, bevor er in das Institut gekommen war? Wie lange war er schon hier und wartete von einem Experiment zum anderen, wartete auf Leben oder Tod, auf die große Auszahlung, auf den überwältigenden Reichtum, der ihm am Ende eines Projekts gehören mochte? Was mußte ein solches Leben aus einem Menschen machen? Nichts Gutes, Jeff. Bestimmt nichts Gutes. Der Wagen bog scharf um eine Ecke, glitt hinunter und hielt. Jacques sprang hinaus und winkte Jeff zu. Am Ende des Flurs war ein Lift; Jeff starrte jede Tür an, an der er vorbeikam, und hielt Ausschau nach dem schwarzhaarigen Mädchen. »Um auf Blackie zurückzukommen«, sagte er schließlich, »ich wußte nicht, daß es hier auch Frauen gibt. Wer ist sie?« Jacques blieb stehen. »Sagen Sie mal, was soll das?« fragte er. »Ist sie eine alte Freundin von Ihnen, weil Sie immer wieder nach ihr fragen?« »Ich kenne sie nur flüchtig, das ist alles.« »Was wollen Sie dann dauernd von mir?« Jeff schoß das Blut ins Gesicht. »Ich möchte sie sehen, was ist denn dabei? Regen Sie sich doch nicht gleich so auf.« Der kleine Mann fuhr herum und drehte ihm die Arme auf den Rücken, bis die Knochen zu krachen begannen. Mit unglaublicher Kraft stieß Jacques ihn an die Wand und starrte ihn zornig an. »Sie sind ein Schlaumeier, was? Kommen einfach daher und stellen Fragen«, fauchte er ihn an und verdrehte ihm brutal den Arm. »Sie glauben wohl, daß Sie mir etwas vormachen
können? Sie fragen dies, Sie fragen das, über Blackie, über mich. Warum so neugierig? Was wollen Sie hier? Das Geld oder Fragen stellen?« »Das Geld!« stieß Jeff hervor. Er wehrte sich verzweifelt gegen den eisernen Griff. »Dann lassen Sie die Fragerei! Wir mögen hier keine Neugierigen, wir wollen Leute, die anständig mitspielen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« Der kleine Mann riß Jeffs Arm noch einmal nach hinten und ließ ihn los, sprang zurück, geduckt und kampfbereit, forderte Jeff heraus, sich zu stellen. Jeff sank an die Wand, rieb sich den schmerzenden Arm und kämpfte um seine Beherrschung. Eine Schlägerei in diesem Augenblick würde alles verderben. Er hatte bereits einen großen Fehler gemacht. Er fluchte leise vor sich hin. Auch ohne die Warnung des Arztes hätte er wissen müssen, daß man hier keine Schnüffelei dulden würde. Jetzt würde es sich gewiß bis zu dem Mädchen herumsprechen, daß er Fragen über sie gestellt hatte… … wenn er nicht vorher zu ihr gelangte. Er wandte sich an den bösen Franzosen und rieb sich die Schulter. »Okay, erledigt«, sagte er. »Ich stelle keine Fragen mehr. Wohin müssen wir jetzt?«
6
Das Zimmer war klein und nackt. Sterile weiße Wände und Stahlrohrmöbel. Makellos, aber bedrückend. Jeff fühlte sich noch deprimierter als vorher. Er trat zusammen mit Jacques ein und starrte die beiden Krankenhausbetten an, die beiden Spinde, die beiden Tisch-Stuhl-Kombinationen. Es gab kein Fenster, nur Leuchttafeln in den Wänden und einen Ventilator. Die Wände waren frisch gestrichen, der Boden mit sauberem Kunststoff ausgelegt. An einer Wand stand ein Fernsehgerät; an der gegenüberliegenden Seite führte eine Tür in eine kleine Toilette mit Dusche. Als Jeff hineinschaute, sah er, daß sie auch mit dem Doppelzimmer daneben verbunden war. »Kein Grandhotel«, sagte Jacques mürrisch, »aber sauber. Ein Schlafplatz. Auf diesem Korridor ist Ihre ganze Station untergebracht. 17 D. Andere Stationen sind in den übrigen Etagen, oben und unten.« Jeff schaute sich bedrückt um. »Wie steht es mit dem Essen?« »Der Speisesaal ist vier Treppen tiefer – nehmen Sie den Lift am Ende des Flurs. Er schließt in einer halben Stunde. Beeilen Sie sich lieber. Wenn Sie klug sind, gehen Sie unterwegs nicht auf Erkundungsfahrt. Die Jungs in Grau, die Sie überall sehen, tun nichts lieber, als Leuten, die sie dort finden, wo sie nicht hingehören, den Schädel einzuschlagen.« Der kleine Mann ging zur Tür und blieb noch einmal stehen. »Noch ein Tip, aus reiner Freundlichkeit«, sagte er. »Ziehen Sie sich um, bevor Sie zum Essen hinuntergehen. Je weniger man Ihnen anmerkt, daß Sie ein Neuer sind, desto besser geht es Ihnen.« Damit drehte er sich um und verschwand im Korridor.
Jeff seufzte und sah sich das Zimmer genauer an. Eines der Spinde enthielt eine erstaunliche Sammlung sauberer und schmutziger Kleidungsstücke. Das unterste Fach war mit schmutzigen Hemden und Hosen vollgestopft, und mitten auf dem Stapel lag ein Berg goldener Ringe und Armbanduhren. Jeff traute seinen Augen nicht. Er war nicht auf den Gedanken gekommen, nach seinem Zimmergenossen zu fragen. Im anderen Spind Tagen saubere Hemden und Kattunkleidung; er begann sich umzuziehen. Seine Muskeln schmerzten, und die Augen brannten vor Schlaflosigkeit. Der Arm, den ihm Jacques verdreht hatte, tat bei jeder Bewegung weh. Mehr als alles andere wünschte er sich, eine Weile zu schlafen – aber das hieß, noch mehr wertvolle Zeit vergeuden. Im Speisesaal würde er vielleicht das Mädchen entdecken. Er dachte angestrengt nach. Zuerst mußte er das Mädchen finden, und zwar so schnell wie möglich – bevor sie sich eine Erklärung ausdenken oder sich verstecken konnte. Conroe würde sich bestimmt verbergen und sich keinesfalls sehen lassen, bevor er nicht sicher war, daß ihn niemand verfolgte. Auch er mußte überrascht werden. Wenn Conroe Zeit zum Planen blieb, würde er Jeff sogar hier entwischen. Ein Schienenwagen summte den Korridor entlang und hielt kurz vor der Tür. Jeff hörte Stimmen, gedämpft und seltsam schrill. Er lauschte, hörte unvertraute Laute – ein Brummen, einen leisen Fluch, Geflüster, schwaches Pfeifen. Dann wurde die Tür zum Nebenzimmer aufgerissen, und er hörte das Quietschen und Poltern eines fahrbaren Betts. »Mensch, was für ein Job!« »Ja, sieht nicht gut aus. Hat ihn der Doktor gesehen?« »Noch nicht. Er will später herunterkommen.« »Er muß wohl erst zu sich kommen, bevor man etwas sagen kann. Diesmal hat es ihn richtig erwischt.«
Jeff ging leise zur Tür der gemeinsamen Toilette und lauschte. Er bereute es schnell. Ein neuer Laut wurde hörbar, ein schwaches, mühsames, gurgelndes Atmen. Jeff schauderte; ein solches Geräusch hatte er erst einmal in seinem Leben gehört, bei Unruhen in Chicago, als ein Mann von einem Schrapnellsplitter in der Kehle getroffen worden war. Vorsichtig schob er die Tür einen Spalt auf und starrte in den anderen Raum. Dort standen drei Männern und hoben den Patienten von der Bahre aufs Bett. Der Mann war vom Kopf bis zu den Schultern in Verbände gehüllt. An der Schläfe sah man einen frischen Blutfleck, und dort, wo der Mund sein sollte, ragte ein Gummischlauch heraus. »Liegt er? Zieh lieber die Decke fest. Und die Gurte, er wirft sich vielleicht herum. Der Doktor sagte, daß es drei Wochen dauert, bis der Schock abklingt, wenn er überhaupt die Nacht übersteht.« »Ja. Und dabei wäre das die große Chance für Tinker. Ich hab’ gehört, daß Harpo beinahe den Auftrag bekommen hätte, aber Schiml hatte ihn schon Tinker versprochen.« Jeff fröstelte. Das war also ein FVP nach dem ›Job‹. Das gurgelnde Geräusch wurde mit jedem Atemzug des Mannes lauter und leiser, kurz, flach, ein Zeichen des bevorstehenden Todes. Ein Experiment war abgeschlossen… Jeff schloß lautlos die Tür. Sein Gesicht blickte ihn aus dem Spiegel kalkweiß an, und seine Hände zitterten. Dies war, was er von Anfang an gewußt, sich aber nicht ganz eingestanden hatte: eine Straße ohne Wiederkehr. Er mußte Conroe finden und diesen Weg sofort verlassen. Es wäre Wahnsinn gewesen, auf ihm zu lange weiterzugehen. Aber es ist Wahnsinn, überhaupt hier zu sein, sagte das Gesicht im Spiegel.
Nein, nicht Wahnsinn. Er mußte Conroe finden, das war alles. Aber warum? Was ist das wert? Warum mußt du ihn finden? Bis vor drei Jahren hast du nicht einmal gewußt, daß es ihn gibt! Ich wußte es nicht, nur in meinen Träumen, aber es gab ihn trotzdem. Und dann, eines Tages… Er erinnerte sich so genau daran, wie es angefangen hatte, als sei es gestern gewesen. Ein feuchter, windiger Tag vor drei Jahren, kalt und trist. Was hatte er, Jeff, getrieben? Ah ja. Er war durch das Universitätsgelände zur Bibliothek gegangen, eine Zeitung als Schutz über dem Kopf, weil es regnete, als wollte sich der ganze Himmel entleeren. Den Kopf gegen den Wind gesenkt, hatte Jeff die Stufen zur Bibliothek fast erreicht, als er den Mann zur Tür herauskommen und an sich vorbeigehen sah – einen hochgewachsenen, hageren Mann. Jeff sah sein Gesicht, ihre Blicke begegneten sich für den Bruchteil einer Sekunde, und Jeff blieb wie angewurzelt stehen, erstarrt, unfähig, sich zu bewegen, während der Regen an seinem Hals hinablief, seine Kleider durchnäßte und die Schuhe füllte. Die Zeitung weichte auf und fiel in feuchten Klumpen zu Boden… Jeff durchzuckte wie ein sengender Blitz ein quälender Gedanke: Dieser Mann hat meinen Vater umgebracht. Er… hat… meinen… Vater… umgebracht. Es gab keinen Zweifel, kein Zögern. Er wußte es. Nicht irgendein anderer Mann, der so aussah wie dieser, nicht jemand von dieser Größe, dieser Figur, dieser Erscheinung… sondern dieser Mann. Dann hatte ihn Panik ergriffen. Es war irrational, unmöglich, wahnsinnig – er hatte diesen Mann noch nie gesehen. Er besaß nur die undeutlichsten Erinnerungen an seinen Vater – aus einer Zeit, als er ein kleiner Junge war. Er hatte nie gewußt, wie sein Vater gestorben war oder warum, unter welchen
Umständen. Er war damals acht Jahre alt gewesen, und sein Vater war weit fort. Jetzt, in diesem Augenblick, fragte Jeff nicht danach, woher er es wußte. Er wußte es, nur darauf kam es an. Er fuhr blitzschnell herum, stieß einen krächzenden Schrei aus, als die hochgewachsene Gestalt um die Ecke des Hauses auf der anderen Seite hastete. Jeff begann zu laufen, hetzte Sekunden später um die Ecke, aber der Mann war verschwunden. Ein Mädchen im hellen Regenmantel kam vorbei; Jeff packte sie bei den Aufschlägen, rannte sie beinahe um. »Wo ist er hingegangen? Schnell, ich muß ihn finden!« Sie machte sich los, starrte ihn an, und er schob sie beiseite, raste zum nächsten Gebäude, riß die Tür auf und starrte in den leeren Flur. Wie ein Wahnsinniger stürzte er zum nächsten Bau. Ein vorbeifahrendes Auto streifte ihn beinahe. Danach verschwamm alles; der Regen prasselte immer stärker herab. Bis auf die Haut durchnäßt rannte er weiter, auf der Suche nach der großen, hageren Gestalt. Einmal rutschte er aus und fiel in den Schmutz, fluchte wild vor sich hin und lief weiter. Später packte ihn jemand beim Kragen, und er starrte in das gelassene, nicht unfreundliche Gesicht des Campus-Polizisten. »Langsam, mein Junge, beruhigen Sie sich. Kommen Sie erst mal zur Besinnung und erzählen Sie mir, was los ist.« Im Wagen des Polizisten berichtete er, aber seine Geschichte klang verrückt, er wußte es selbst, »und er wollte sich aus dem Wagen stürzen, aber der Polizist hielt ihn zurück.« »So können Sie nicht herumlaufen. Sie sind ja naß bis auf die Knochen. Sie müssen schleunigst zum Arzt. Ich bringe Sie hin. Ich wette, daß Sie vierzig Grad Fieber haben…« Jeff schüttelte den Kopf, besann sich und nickte langsam. Vielleicht war es so. Er hatte eine schwere Erkältung gehabt und am Morgen viel husten müssen. Jetzt kam ihm der kalte,
nasse Tag wieder wirklich vor, nicht brandrot, und er kam zu Atem, kehrte zurück in die Wirklichkeit. Aber der Mann war keine Ausgeburt seiner Fieberträume gewesen. Jeff erinnerte sich an das hagere Gesicht, an die vorstehenden Augen. Und tief in seinem Inneren fühlte er mit kalter, unerschütterlicher Gewißheit: Wer er auch sein mag, er hat meinen Vater getötet. Er war es und kein anderer. Er hatte wirklich Fieber, wie man feststellte, und die Röntgenaufnahme zeigte beginnende Lungenentzündung. Fünf Tage lag er im Krankenhaus. Dann wurde er entlassen, doch er mußte versprechen, noch eine Woche in seinem Zimmer zu bleiben. Gleich am ersten Abend hatte er Barney und Em angerufen. »Nein, keine Lungenentzündung, nur eine Bronchitis. Nein, nicht herkommen, das ist wirklich nicht nötig, vor allem, wo Em selbst so krank ist. Ja, ich halte euch auf dem laufenden.« Aber er hatte Barney noch nichts von dem Mann erzählt, und er wußte, daß er keine Zeit hatte, sich im Bett auszuruhen. Keine Zeit für irgend etwas. Er mußte den Mann finden, wer und wo er auch sein mochte. Der erste Schritt war, die Universität zu durchsuchen. Er mußte sich Gebäude für Gebäude, Professor für Professor, Vorlesung für Vorlesung vornehmen. Einige Zeit tat er so, als studiere er weiter, aber er hatte keine Zeit mehr, Vorlesungen zu besuchen. Kein Erfolg in der ersten Woche oder in der folgenden, bis die alberne Sekretärin des Registrators seine Avancen für echt hielt und ihm einen Schlüssel für die Archivunterlagen verschaffte und er endlich erfuhr, wer der Mann war. Name: Paul Conroe, Lehrbeauftragter für Psychologie; Spezialist für statistische Analyse und Wahrscheinlichkeitstheorie; eine Vorlesung in der Woche; Bakkalaureus der Naturwissenschaften in Princeton, Magister in Yale, einjähriges Forschungsstipendium hier. Aber als Jeff
ihn aufsuchen wollte, war der Mann verschwunden. Alle waren erstaunt; eines Morgens war Conroe einfach nicht erschienen, und niemand wußte, wo er war. An welchem Morgen? Am Morgen, nachdem Jeff ihn verfolgt hatte. Keine Angaben darüber, wohin er gegangen war, aber es gab eine ständige Postanschrift, irgendwo mitten im Land. Jeff Meyer war damals in sein Zimmer zurückgekehrt und hatte dem Rektor brieflich mitgeteilt, daß eine schwere Familienkrise eine vorübergehende Unterbrechung seines Studiums erfordere, und zwar sofort – schließlich war Em wirklich an einem dieser gefährlichen neuen Viren erkrankt, und Barneys Stimme hatte am Telefon besorgt geklungen –, und an diesem Abend nahm Jeff die Nonstopmaschine nach Osten. Er wußte weder, wohin er wollte, noch was er vorhatte. Er wußte nur zwei Dinge, die beide zugleich irrational und wahr waren: Erstens, daß Paul Conroe seinen Vater ermordet hatte, und zweitens, daß diese Tatsache für ihn bedeutsam war, obwohl er sich an seinen Vater kaum erinnern konnte und von seinem Tod nichts wußte. Sie war wichtiger für ihn als alles andere. Er wußte nicht, warum, aber Paul Conroe mußte gefunden werden. Die lange Jagd hatte begonnen. Und jetzt, während er in einem Zimmer für Freiwillige Versuchspersonen des Hoffman-Instituts für Medizin stand, tief unter der Erde, während er noch das qualvolle Atmen des Mannes nebenan in den Ohren hatte, wußte Jeff, daß die Jagd hier irgendwo zu Ende gehen mußte. Er zog sich fertig an und öffnete die Tür zum Flur. Die Luft kam ihm frischer vor, wie eine beruhigende Brise nach der dumpfen Luft im Zimmer. Jeff ging zum Aufzug. Es war fast zwei Uhr, und er beeilte sich, um den Speisesaal noch rechtzeitig zu erreichen. Er verdrängte die Gedanken an den Mann im Nebenzimmer, unterdrückte die bitteren Erinnerungen an die lange Jagd auf Conroe und konzentrierte sich wieder auf das Mädchen. Der
Aufzug knarrte, als er hinabfuhr. Wenn er sich jetzt wenigstens bei Barney vergewissern könnte, daß die Spur wirklich im Hoffman-Institut endete und Conroe nicht doch noch irgendwo draußen war! Eines schien festzustehen: Wenn er hier war, standen auch ihm Untersuchung und Einstufung bevor; er befand sich auf derselben düsteren Straße wie Jeff. Und als Neuer würde auch er mit Argwohn betrachtet werden. Jeff blieb auf einem Treppenabsatz stehen, weil ihm plötzlich zum Bewußtsein kam, daß er nicht mitgezählt hatte, wie viele Etagen er hinuntergefahren war. Zu viele, es mußten mehr als vier gewesen sein. Er ging zur Rolltreppe, die nach oben führte. Sie ächzte, als sei jede Bewegung vielleicht ihre letzte, und Jeff starrte die vorbeigleitende Wand an, wartete, fuhr am offenen Schacht zur gegenüberliegenden Seite vorbei… … und starrte in das blasse, verängstigte Gesicht des Mannes auf der nach unten führenden Rolltreppe. In den kurzen Sekunden des Erkennens war Jeff wie gelähmt; dann drehte er sich mit einem Aufschrei um und taumelte, immer wieder stürzend, die aufwärts führende Rolltreppe hinab. Endlich, lange Augenblicke später, erreichte er die Öffnung und hechtete über die Sperre. Er sah den Mann ganz kurz von der Rolltreppe aus in einen Flur laufen und schrie wieder vor Zorn auf. Er nahm die Stufen mit weiten Sprüngen, ohne Schmerz zu spüren, als sein Fuß aufprallte, umknickte und er auf die Knie fiel. Doch er war gleich wieder auf den Beinen und raste den Korridor hinunter. Der Korridor teilte sich in zwei Gänge, wie ein Y. Beide Seiten waren dunkel, beide waren leer. Jeff blieb keuchend stehen und sah sich hilflos um. Dann hastete er den einen Gang hinunter, riß eine Tür auf, starrte in ein kleines, leeres Büro. Er probierte es bei einer anderen Tür, bei einer dritten, drehte sich um, lief zur Gabelung zurück, warf sich um die Ecke und
rannte den anderen Flur entlang. In der Dunkelheit hörte er nur den Widerhall seiner eigenen Schritte. An der Gabelung wieder angelangt, sank er keuchend zusammen, schluchzte laut vor Wut, ballte die Fäuste, während er versuchte, seine Beherrschung wiederzugewinnen. Zorn erfüllte ihn und Verzweiflung, aber noch etwas anderes: eine wilde freudige Erregung. Denn jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Paul Conroe war unter den Freiwilligen Versuchspersonen. Zwei Männer näherten sich aus dem beleuchteten Korridor. Der eine richtete seine Neuralpistole auf Jeffs Brust; der andere, ein riesiger, muskulöser Kerl, zerrte ihn hoch. »Wo gehörst du hin, Freundchen?« Jeff sah den grauen Stoff der Jacke, den schwarzen Patronengurt über der Schulter. »Siebzehn’ D«, keuchte er. Der Faustschlag traf ihn voll am Kinn und schleuderte seinen Kopf nach hinten. »Wieder so ein Naseweis, der ohne Passierschein herumläuft. Ihr Halunken glaubt wohl wirklich, daß ihr hier zu bestimmen habt, was?« Eine Handkante traf seinen Unterkiefer, eine Faust seine Magengrube. Als Jeff sich zusammenkrümmte, sah er eine erhobene Hand herabsausen; hinter seinem Ohr explodierte etwas, und seine Knie knickten ein. Später nahm er verschwommen wahr, daß ihn die Aufseher eine Rolltreppe halb hinauftrugen, halb schleiften, durch einen Korridor zerrten. Er hörte die Tür aufgehen und fiel zu Boden. Die Stimme des Aufsehers sagte: »Da ist dein Zimmergenosse, Puppe. Sorg künftig dafür, daß er zu Hause bleibt«, und die Tür fiel hinter ihm zu. Mühsam stemmte sich Jeff in die Höhe und schüttelte betäubt den Kopf. Er versuchte aufzustehen und brach wieder zusammen.
»Haben Sie Schwierigkeiten?« Die Stimme klang hart und spöttisch. Jeff riß den Kopf hoch. Das Mädchen sah ihn gleichgültig an und zog eine verbogene Zigarette aus der Brusttasche ihres blauen Wollhemds. Sie entzündete mit dem Daumennagel ein Streichholz und führte die Flamme an die Zigarette. Dann sah sie Jeff wieder an. »Tut mir leid, Jack«, sagte das Mädchen namens Blackie, »aber wir scheinen Schlaf genossen zu sein. Am besten gewöhnen Sie sich gleich an den Gedanken.«
7
In diesem Augenblick geschah etwas, was bisher sehr selten vorgekommen war: Jeff Meyer verlor völlig die Beherrschung. Natürlich hatte er etwas Ähnliches schon erlebt. Zum Beispiel damals, als er zehnjährig zu Barney und Em gekommen war. Er hatte sich auf Barney gestürzt, mit Armen und Beinen um sich schlagend, vor irrer Wut überwältigt. Er konnte sich jetzt nicht mehr an den Grund erinnern; es mußte mit dem blinden Fleck in seinem Gedächtnis nach dem Tod seines Vaters zusammenhängen. Und wieder an dem Tag, als er vor drei Jahren zum erstenmal Conroe gesehen hatte – er wäre fähig gewesen, jeden umzubringen, der sich ihm in den Weg gestellt hätte. Aber jetzt war es anders. Früher schien ihn etwas anzutreiben, was er nicht verstand, aber diesmal wußte er genau, was es war. Er hatte das Gesicht dieses Mädchens auf Dr. Schimls Videophon-Bildschirm gesehen. Und am Abend zuvor war er ihr in dem Nachtlokal begegnet – der Sängerin mit dem langen, schwarzen Haar, die versprochen hatte, ihm Conroe in die Arme zu treiben, und ihn dann verriet. Jetzt übermannte Jeff blinde Wut; er stürzte sich auf das Mädchen, packte sie bei den Schultern, daß die Zigarette davonflog. »Na schön«, fauchte er, »wo ist er? Los, los, rede schon. Ich weiß, daß er hier ist, mach mir nichts vor. Ich habe ihn eben unten gesehen. Ich bin ihm nachgerannt. Wo ist er?« Sie riß sich los, trat ihm ans Schienbein und versuchte, an ihm vorbeizukommen. Als er sie aufhalten wollte, packte sie seinen Arm, verdrehte ihn mit verblüffender Geschicklichkeit und schleuderte den Gegner zurück an die Wand.
Jeff prallte hart auf; als er wieder klar denken konnte, war sie schon ein paar Meter entfernt, stand ihm geduckt gegenüber, ein Messer in der rechten Hand, die Klinge nach oben gerichtet. Ihre Augen waren groß vor Zorn, ihre Lippen zuckten. »Kein Schritt, Freundchen«, warnte sie ihn. »Kein Schritt!« Jeff starrte sie an und verzagte. Das Messer bemerkte er kaum, es war ihr Gesicht, das ihn störte, jetzt, wo er es aus der Nähe sah. Irgend etwas stimmte nicht. Die Lippen schienen nicht voll genug, die Nase war ein bißchen zu lang, die Backenknochen standen etwas zu hoch. Die Ähnlichkeit war vorhanden, gewiß, aber wenn man genauer hinsah, stimmte zu vieles nicht. Es war gar nicht das Mädchen aus dem Nachtklub. Er hob hilflos die Arme. »Wo – wo ist er?« fragte er. »Wo ist wer?« »Conroe – «, sagte Jeff und verstummte. Er schüttelte den Kopf, versuchte zu begreifen. Das war ohne Frage das Mädchen, das er auf dem Bildschirm gesehen hatte, ja – dasselbe Gesicht, dieselbe Kleidung. Aber es war nicht das Mädchen aus dem Nachtklub. »Conroe«, wiederholte er klagend. »Sie wissen doch, Conroe?« »Ich habe nie von Conroe gehört.« »Aber Sie müssen doch – gestern nacht, im Nachtklub, als Sängerin – « Sie starrte ihn einen Augenblick an, klappte plötzlich das Messer zu, ließ sich auf das Bett fallen und sah ihn angewidert an. »Gehen Sie weg«, sagte sie müde. »Der Humor von diesem Mistfranzosen – ich hätte es mir denken können.« Sie sah zu ihm auf. »Los, ‘raus hier«, sagte sie. »Ich wohne nicht mit einem verrückten Süchtigen zusammen, Jacques hin, Jacques her. Suchen Sie sich ein anderes Opfer aus.«
»Sie kennen Conroe nicht?« Sie blickte ihn scharf an. »Hören Sie«, sagte sie, »ich weiß nicht, wer Sie sind, und Ihren Freund Conroe kenne ich auch nicht. Und gestern abend habe ich ganz bestimmt nicht in einem Nachtlokal gesungen. Ich war unten im Tank und habe Doktor Barnes geholfen, einen Verrückten so weit zu beruhigen, daß sie heute früh seinen Schädel operieren konnten. Glauben Sie mir, Sie werden auch bald im Tank sein, wenn Sie ohne Grund irgendwelche Leute anspringen. Da gefällt es Ihnen bestimmt nicht. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, und hauen Sie ab.« Jeff sank auf das andere Bett und umfaßte seinen Kopf mit den Händen. »Sie sehen ihr so ähnlich.« »Dann sehe ich ihr eben ähnlich«, höhnte sie. »Warten Sie nur, bis ich diesen Franzosen in die Hände kriege.« Sie zog die Beine an und warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Na gut, es tut mir leid«, sagte Jeff. »Ich hab’ mich eben geirrt. Kann nichts dafür. Und mit dem Weggehen wird es nichts werden. Bei meinem letzten Ausflug bin ich in ein Paar Fäuste gerannt.« Blackie lachte. »Versteht sich. Die Aufseher können uns nicht leiden. Sie prügeln einen, sooft sie Gelegenheit dazu bekommen.« »Aber warum? Ich habe doch gar nichts getan.« Sie lachte rauh. »Nichts, als dort herumzulaufen, wo Sie nicht hingehören. Das machen die Neuen doch jedesmal. Sie müssen sich schon damit abfinden: Sie sind im Gefängnis. Man nennt es nicht so, und es gibt auch keine Gitter, aber Sie können nirgends hin, und die Jungs in Grau sorgen dafür, daß es so bleibt. Sie hassen uns, weil wir Aussicht auf das Geld haben, um das sie sich nicht einmal zu bemühen trauen. Sie müssen mit dem
Gehalt eines Aufsehers auskommen, während wir um das große Geld spielen, selbst wenn es bedeutet, daß sie uns das Gehirn ausrenken. Ich meine, das tun wir doch hier, oder?« Sie sah zu ihm auf, und ihre Augen verengten sich. »Oder nicht?« »Ich nehme es an«, sagte Jeff. »Deshalb bin ich hier. Ich warte auf die Untersuchung. Die Geschichte mit Conroe ist nur eine alte, private Auseinandersetzung. Davon verstehen Sie nichts. Sie sehen dem Mädchen so ähnlich – « Er betrachtete ihr Gesicht genauer. Sie war nicht so jung, wie er zuerst geglaubt hatte. Um ihre Augen hatten sich feine Fältchen gebildet, die Schminke war ein wenig zu dick aufgetragen, und ihre Augen wirkten müde. Ein geschlagener Ausdruck, den sie nicht ganz verbergen konnte. Sie legte sich zurück, aber selbst dadurch wich die Härte nicht aus ihrem Gesicht. Nur das kohlschwarze Haar und die glatten, schwarzen Brauen wirkten jung und frisch. Jeff schüttelte den Kopf. »Ich begreife aber immer noch nicht, was Sie hier tun.« »Das ist mein Zimmer«, sagte sie. »Ich wohne hier.« »Aber ich bin hier eingewiesen worden.« »Ja. Das versteht dieser Mistfranzose unter Humor. Ich erwische immer die Neuen.« Jeff sah sie an. »Gehören Sie zu den Mitarbeitern?« »Sie meinen, ob ich eins der Versuchstiere bin?« gab sie verächtlich zurück. »Klar. Eine von den Freiwilligen Versuchspersonen. Ganz freiwillig.« Sie lachte. »Was dachten Sie? Vielleicht, daß es für die Damen ein eigenes Boudoir gibt? Daß ich nicht lache! Wie geht man mit Versuchstieren um? Es ist ihnen ganz egal, was wir tun oder wie wir leben. Sie brauchen nur gesundes, menschliches Material, sobald ihre Experimente danach verlangen. Nicht mehr. Das heißt, daß sie uns ernähren und unterbringen müssen. Punkt. Ich kann wieder mal nichts machen, wie gehabt. Aber wenn Sie wieder so
reizende Ideen haben wie vorhin, probieren Sie es ruhig. Nur einmal. Sie werden bald sehen, daß ich Verrückte als Zimmergenossen nicht mag.« Jeff lehnte sich zurück. Seine Hände zitterten. Das Zimmer schien vor seinen Augen zu verschwimmen, und er spürte, wie seine Muskeln vor Schmerz und Erschöpfung schlaff wurden. Er hatte so sehr auf Informationen durch das Mädchen gehofft, als er ihr Gesicht auf dem Bildschirm sah, aber offensichtlich war sie nicht die Sängerin aus dem Nachtklub. Eine oberflächliche Ähnlichkeit, mehr nicht. Und plötzlich fühlte er sich entsetzlich einsam, zerschlagen, hilflos, unfähig weiterzumachen. Wo konnte er hingehen? Wie konnte er auf einer Fährte bleiben, die immer wieder an einer Mauer endete? Er streckte sich aus, überließ sich seiner Erschöpfung und dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Vielleicht hat Barney recht, dachte er müde, vielleicht finde ich Conroe nie. Er seufzte, als sich die Dunkelheit der totalen Erschöpfung um ihn schloß, und ließ den Kopf auf das Kissen sinken. Vielleicht würden die Alpträume nie aufhören.
8
Er wußte, daß er träumte. Irgendein winziger Teil seines Ichs mahnte ihn, erklärte ihm, daß er nicht schlafen durfte, sondern unterwegs und auf der Jagd sein sollte; zum Schlafen bleibe keine Zeit, aber er schlief trotzdem, unruhig, und träumte… Er ging an einem Bach entlang, auf einem Spaziergang, den er vor vielen Jahren gemacht hatte. Eine Brise wehte von der Wiese herüber, zerzauste sein Haar, und er konnte das Wasser gurgeln hören, als es um die Steine plätscherte. Ein schöner Ort an einem Sommernachmittag, aber irgend etwas daran ängstigte ihn, versuchte ihn bei jedem Schritt zurückzuhalten In seinem Inneren warnte ihn etwas, wollte ihn wegtreiben. Geh fort, Jeff. Hör auf, solange du noch kannst. Wenn du weitergehst, bist du tot. Er versuchte, die Warnung zu ignorieren und weiterzugehen, aber seine Beine gehorchten nicht. Plötzlich überkam ihn an diesem sonnigen Ort eine Welle der Angst. Er drehte sich um und lief wie der Wind. Und während er rannte, verschob sich die Zeit. Er war kein Mann mehr, sondern ein kleiner Junge, rennend, vor Angst schreiend. Dann stand plötzlich ein Mann mit ausgestreckten Armen vor ihm, und Jeff warf sich in die Arme seines Vaters, schluchzend, als wolle sein Herz brechen, klammerte sich mit unaussprechlicher Erleichterung an ihm fest, vergrub sein Gesicht an der starken, tröstenden Brust. Er blickte in das lächelnde Gesicht seines Vaters, sah die starken, empfindsamen Linien um seinen Mund, die Kraft und Weisheit in seinen Augen. Nirgendwo sonst auf der Welt spürte er diese Kraft, diese unbegrenzte Macht, diesen
vollkommenen Trost. Er umarmte Jacob Meyer, und Frieden erfaßte ihn. Dann veränderte sich plötzlich etwas, und er hatte wieder Angst, mehr Angst als je zuvor. Er hob den Kopf und schrie, denn nicht sein Vater hielt ihn fest, sondern ein anderer Mann, ein Mann mit hoher Stirn und vortretenden Augen und schmalem, blutleerem Gesicht… Conroe. Er schrie wieder, versuchte sich loszureißen, aber Conroe hielt ihn fest, während sein Entsetzen wuchs. Er hat deinen Vater getötet, Jeff. Er hat deinen Vater ermordet, ihn wie ein Tier niedergeschossen, kaltblütig. Aber warum? Warum hat er es getan? Es gab keine Antwort. Plötzlich war Conroe verschwunden, hielt ihn nicht mehr fest. Wiese und Bach waren fort, und Conroe floh, eine winzige, ferne Gestalt, die wie der Wind durch einen schmalen, dunklen Krankenhauskorridor lief. Und Jeff versuchte vergeblich, die flüchtende Gestalt einzuholen. Die Wände waren aus grauem Stein; Conroe lief unbehindert, aber Jeff kam nicht voran. Graugekleidete Aufseher traten aus den Wänden, um ihn aufzuhalten. Er wich ihnen aus, stolperte und fiel, raffte sich wieder auf, als die Gestalt um eine ferne Ecke verschwand. Er erreichte die Gabelung und fand beide Gänge leer. Als er die fliehende Gestalt wieder erblickte, war sie weit entfernt, aber sie befanden sich nicht mehr im Hoffman-Institut. Sie rannten einen Berghang hinunter, einen braunen, unbewachsenen Hügel, übersät mit langen Messern, Speeren und Schwertern, deren blitzende Klingen gerade aus dem Boden wuchsen, im metallischen Licht schimmernd. Conroe hatte einen großen Vorsprung, er wand sich geschickt zwischen den Schwertern hindurch; Jeff vermochte ihm nicht mehr zu folgen. Er blieb keuchend stehen, als die Gestalt in der Ferne verschwand, dann sank er weinend, vom Schluchzen geschüttelt, zu Boden. Und
die Stimme des Mädchens höhnte: ›Du wirst ihn nie erwischen, Jeff, sosehr du dich auch bemühst.‹ ›Aber ich muß‹, schrie er. ›Pappi hat mir gesagt, ich – ‹ Er erwachte plötzlich, den Widerhall seiner Stimme noch im Ohr. Er schreckte hoch, suchte seine Uhr, fand sie nicht – wie lange hatte er geschlafen? Das andere Bett war leer. Er stöhnte und stand mit dem entsetzlichen Gefühl auf, daß ihm im Schlaf etwas entgangen war. Etwas von entscheidender Wichtigkeit. Wieder suchte er seine Uhr – sie befand sich nicht mehr an seinem Handgelenk. Fluchend stürmte er durch das Zimmer und riß Blackies Spind auf. Dort lag die Uhr, auf dem Stapel von Goldschmuck, inmitten der schmutzigen Kleider. Er starrte die Sachen an, als er die Uhr wieder an seinem Handgelenk befestigte. Dann ging er in den Waschraum, spritzte sich Wasser ins Gesicht und versuchte das schmerzende Pochen in seinem Kopf zu lindern. Nach seiner Uhr war es 20.30 Uhr. Er hatte fünf kostbare Stunden verloren. Fünf Stunden für Conroe, sich zu verbergen, seine Fährte zu verwischen, noch tiefer in diesem Labyrinth zu verschwinden. Jeff taumelte zur Tür, öffnete sie einen Spalt und schloß sie wieder, als draußen zwei grauuniformierte Aufseher vorbeigingen. Von Hunger überwältigt, durchsuchte er den Raum. Schließlich fand er ein paar Kekse und ein Stück Käse am Boden von Blackies Spind. Er verschlang alles und trank Wasser aus der Leitung nach. Dann sank er auf die Bettkante. Wieder der Traum, derselbe Alptraum wie immer. Er hatte ihn schon oft geträumt, lange, bevor er Conroe gesehen hatte. Stets waren die Einzelheiten verschieden, die Grundzüge des Traums jedoch immer gleich. Das Gesicht, das ihn verfolgte, seit er sich erinnern konnte, das Gesicht, das ihn an dem Tag, als er Conroe vor der Bibliothek begegnet war, fast zum Wahnsinn getrieben hatte. Das Gesicht des Mannes, den er
seitdem jagte, eines Mannes, der jeder Falle mit unbarmherziger Geschicklichkeit ausgewichen war, aber schließlich so verzweifelte, daß er in diese alptraumhafte Klinikwelt flüchtete, um die Konfrontation zu vermeiden. Jeff schüttelte den Kopf, hoffnungslos bemüht, einen Sinn darin zu entdecken. Dies war eine Scheinwelt habgieriger Männer und Frauen, die sich für unglaubliche Honorare verkauften, eine halbe Welt, noch wahnsinniger als die verzerrte Welt der Unterdrückung und des schleichenden Wahnsinns außerhalb des Hoffman-Instituts. Und in dieser Welt gab es einen Arzt, der wußte, daß Jeff ein Betrüger war, eine Kleptomanin, die ihn für rauschgiftsüchtig hielt, und – irgendwo – die hagere Gestalt des Mannes, den er jagte. Als er wieder hinausschaute, waren die Aufseher fort. Irgendwo zu seiner Rechten hörte er Gelächter und viele Stimmen. Kaffeegeruch erfüllte verlockend den Flur. Jeff folgte den Geräuschen, bog um eine Ecke und stand an der Tür zu einem langen, großen Raum, der als Freizeitsaal für die FVPs seiner Station diente. Der Raum war voller Menschen. Mehrere Gruppen hatten sich gebildet, die Leute saßen an Spieltischen oder hockten am Boden. Wilde Erregung hatte sie ergriffen. Im grellen, weißen Licht der Wandtafeln sah Jeff Würfel rollen. Er hörte das Schwirren von Spielkarten beim Mischen und das hohe, rauhe Lachen eines Gewinners, der den Gewinn einheimste. Dann stand Jaques neben ihm, die Augen brennend vor Erregung. In der einen Hand hielt er eine Tasse tiefschwarzen Kaffee, in der anderen eine Anzahl weißer Zettel. Er grinste Jeff mit unverhohlener Boshaftigkeit an. »Wird Zeit, daß Sie kommen«, sagte er. »Wir wollten Sie eben holen. Wenn so viel Geld in Aussicht steht, wollen Sie
doch sicher auch ein paar Wetten abschließen, oder? Nur herein, Schlaukopf, es geht gerade richtig los.« Blinzelnd trat Jeff in den Raum.
9
Im selben Augenblick, als Jeff den überfüllten Raum betrat, drängte es ihn, sich umzudrehen und davonzulaufen. Es gab keine Erklärung für die plötzliche Welle der Panik, die in ihm hochwallte; er verstand das überwältigende Gefühl von Furcht und drohender Gefahr nicht, das ihn erfaßte. Aber das Gefühl war vorhanden; ein Gefühl, daß in diesem Raum irgend etwas unerträglich falsch war. Er trat langsam ein, spürte die Tür an seiner Hand zerren, als er sie schloß, so als ziehe ein Luftzug im Korridor sie hinter ihm zu. Bis auf Jacques schien ihn niemand wahrzunehmen. Alle starrten gebannt auf die rollenden Würfel oder die ausgegebenen Karten. Jacques winkte ihm zu und zwängte sich durch die Menge. Jeff folgte ihm; verblüfft schaute er um sich. Das Ganze war ein Spielsalon, und an allen Tischen herrschte Hochbetrieb. Aus einem Lautsprecher an der Decke dröhnte hämmernd eine von Silly Giggins Beatnummern, doch der Raum war von Stimmengewirr erfüllt, das sogar die Musik übertönte. Die meisten Gesichter waren Jeff neu – müde, ausgelaugte Gesichter, von Angst gezeichnet, verfolgte Gesichter, gestempelt von Resignation und Hoffnungslosigkeit. Er sah zusammengepreßte, blutleere Lippen, Augen, die kalt und zynisch waren, oft sehr scharfe, intelligente, aber irgendwie entstellte Gesichter. Zuschauer drängten sich angespannt um die Spieler an den Tischen, starrten fasziniert auf die Karten, setzten nebenher, sobald eröffnet wurde. Andere Gruppen kauerten am Boden, für Augenblicke stumm, als die Würfel rollten. Die Musik hämmerte und kreischte; Gelächter brandete auf. Und Jeffs
Gefühl, daß hier etwas falsch und verzerrt war, wuchs immer mehr… Er suchte den Raum ab, während er zwischen den Spielern weiterging. Drüben auf der anderen Seite entdeckte er Blackie. Ihre Blicke begegneten sich kurz, und das Gefühl, daß etwas nicht stimmte, nahm zu. Er blieb bei einer Gruppe von Würfelspielern stehen und tippte einem Mann auf die Schulter. »Wie steigt man da ein?« fragte er und deutete auf das Spiel. Der Mann sah ihn seltsam an. »Man legt sein Geld hin und spielt«, sagte er. »Wie denn sonst? Wenn Sie pleite sind, können Sie immer noch auf Ihre große Auszahlung Schulden machen. Was ist los, sind Sie neu hier oder was?« Der Mann ging kopfschüttelnd weiter. Plötzlich ergab das Ganze einen Sinn – oder wenn nicht das Ganze, so doch ein Teil. Was lag näher als Glücksspiel um hohe Einsätze in einer Welt, wo die Menschen von Tag zu Tag am Abgrund des Todes standen? Sie verspielten hier ihr Leben; natürlich auch ihr Geld. Das Bedürfnis nach Erregung, nach gewaltsamer Entspannung mußte in dieser tristen, gefängnishaften Umgebung überwältigend sein. Und als Einsatz wurden noch nicht verdiente Vermögen verwendet! Jeff schauderte. Halsabschneiderische Spiele, aber das Institut schien sich nicht einzumischen. Wahrscheinlich würde man die Leidenschaft noch schüren. Es gab kaum eine bessere Methode, eine stabile FVP-Mannschaft zu behalten. Das wenigstens ergab einen Sinn, aber es erklärte nicht die alles durchdringende, explosive Spannung, die offenbar entstanden war, als Jeff eintrat. Er beobachtete eine Weile das Würfelspiel und durchquerte dann den Raum, um Jacques zu suchen. Der kleine Mann trank in der Ecke seinen schwarzen Kaffee und sprach eifrig auf einen kahlköpfigen Riesen ein, der an der Wand lehnte und ihn anstarrte. Jeff entdeckte Blackie auf der anderen Seite. Sie
kniete vor einem Mann mit vorstehenden Zähnen und warf drei farbige Würfel in ununterbrochener Reihenfolge, immer wieder. Mit jedem Wurf folgte ihr Blick den Würfeln, ihre Augen glänzten unnatürlich. Jeff schüttelte den Kopf. Von allen Würfelspielen war Hanoi das schlimmste, ein temporeiches Hochspannungsspiel für Leute mit stählernen Nerven. Die meisten zugelassenen Spielkasinos hatten es verboten; die berühmten Tücken des Spiels führten zu oft zur Katastrophe, wenn die Einsätze höher und höher stiegen. Das Mädchen schien zu gewinnen; sie rollte die Würfel mit tranceartiger Regelmäßigkeit, und der Mann mit den Raffzähnen wurde grau im Gesicht, als sein Geldstapel schrumpfte. Gegenüber ging ein Spiel mit zwei Würfeln blitzschnell vonstatten, während enorme Summen von Hand zu Hand wanderten, und die Kartenspiele, obgleich langsamer, hinterließen auf den Gesichtern der Spieler die Zeichen anhaltender Spannung. Jeff blickte sich um, bis er alle Gesichter gesehen hatte. Conroe war nicht hier. Jeff hatte nicht damit gerechnet, ihn zu finden, aber er war auch nicht auf diese bis zum Wahnsinn gespannte Atmosphäre vorbereitet. Was ging hier vor? Niemand außer ihm schien etwas zu bemerken. War er der einzige, der die unheimliche Veränderung in der Luft, in den Geräuschen um sich, sogar in der Farbe des Lichts spürte? Irgend etwas trieb ihn an, zu fliehen, davonzulaufen, diesen Raum zu verlassen, solange es noch ging. Aber als er versuchte zu analysieren, was ihn störte, entzog es sich seinem Zugriff. Schließlich erreichte er die Ecke des Raumes. Er hörte, wie der Franzose mit nasaler Stimme auf den kahlköpfigen Riesen einredete, und blieb stehen, um zuzuhören. »Ich sage dir, Harpo, ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Schiml ist noch nie so aufgeregt gewesen! Und Louie Grekko sagte, daß die ganze Station 19 C aufgeteilt wird. Ich hab’ mit
ihm gesprochen, als ich heute nachmittag durchging. Er war auch ganz aufgeregt.« »Aber warum soll die 19 C aufgeteilt werden?« knurrte Harpo. »Louie trau’ ich überhaupt nicht, und du hörst, was du hören willst. Was hat es für einen Sinn, eine Station aufzuteilen? Schiml kommt mit seiner Arbeit, für die er uns braucht, gut voran.« »Das ist es ja«, gab Jacques zurück. »Wir sind gut vorangekommen, und jetzt tut sich etwas, was uns glatt ruinieren könnte. Begreifst du denn das nicht? Da steht etwas Großes bevor. Sie arbeiten an einer wichtigen Sache, Schiml und seine Leute, und sie haben einen Neuen, von dem sie ganz begeistert sind. Einer, der Wände einrennen kann, wenn er sie nur anschaut, und dergleichen.« Harpo schnaubte verächtlich. »Du meinst die alte Geschichte mit der extrasensuellen Perzeption?« fragte er. »Warum soviel Angst? Paß auf, du brauchst Schiml nur das Wort zuzuflüstern, und er ist automatisch wieder auf Gespensterjagd. Das weißt du. Aber mehr ist es eben auch nicht: eine Gespensterjagd. Mehr war es nie. Schiml wird diese Phase bald überwunden haben, genau wie beim letztenmal, und dann läuft alles wieder normal.« »Vielleicht – aber diesmal ändern sie alles, und das bringt nur Ärger.« Er bemerkte Jeff, sprach aber weiter. »Paß auf. Sie stellen ein großes Programm auf, ein hübsch langfristiges Programm mit geringen Risiken, und weisen uns allen Aufträge zu, die gute Aussichten bieten, sie teilen die Arbeit für Monate im voraus ein. Und schlagartig kommt etwas Neues daher, sie regen sich über etwas auf. Und was passiert? Sie streichen unser Programm, legen uns vielleicht monatelang auf Eis, werfen alles um, ändern die Honorare, ändern die Arbeit, und am Ende drücken sie das große Geld einem Neuen in die Hand, der gerade erst hereingeschneit ist. Na, mir paßt das
jedenfalls nicht. Ich bin schon zu lange hier. Ich habe zu viele harte, miese Jobs für sie übernommen, um mich jetzt einfach beiseite schieben zu lassen, nur weil sie sich zufällig nicht mehr für das interessieren, was wir vorher gemacht haben. Und sie sagen uns auch nie etwas. Wir wissen nie etwas Genaues, wir müssen einfach warten, herumrätseln und hoffen.« Die Augen des kleinen Mannes glitzerten. »Hm, vielleicht sagen sie uns nichts, aber ich habe auch ein bißchen ESP, und ich sage, das ist diesmal keine Geisterjagd. Irgend etwas stimmt nicht, irgend etwas wird passieren. Ich spüre es.« Jeff Meyer lief ein Schauer über den Rücken. Natürlich war das die Antwort. Es stimmte tatsächlich etwas nicht – aber es war noch nicht geschehen. Es war etwas, was erst geschehen sollte. Er starrte eine Gruppe an, die um ein Hanoi-Spiel kauerte, beobachtete die grellfarbenen Würfel, wie sie hin und her rollten, hin und her. Ein Neuling, hatte Jacques gesagt, jemand, der hereingeschneit war und den flüssigen Arbeitslauf des Instituts gestört, der die Ärzte schlagartig in helle Aufregung versetzt hatte. Und jetzt plante man eine Gespensterjagd… Was für eine Art von Gespensterjagd? Warum gerade diese Wortwahl? Konnte Conroe der Neuling sein, von dem Jacques gesprochen hatte? Dafür schien es viel zu früh zu sein; man müßte ihn unglaublich schnell getestet haben. Aber wenn es nicht Conroe war, wer war es dann? Und was hatte das mit dem nicht zu unterdrückenden Gefühl drohender Gefahr zu tun, das den ganzen Raum zu durchdringen schien? Sein Blick haftete immer noch an dem Würfelspiel, und plötzlich schälte sich etwas scharf heraus. Jeff wehrte sich mit aller Kraft, ohne vernünftigen Grund, diese Würfel anzusehen. Er zog die Brauen zusammen, wütend auf sich selbst. Warum nicht hinsehen? Was war so bedrohlich an einem Würfelspiel?
Er trat näher und starrte die Würfel fasziniert an. Dann ließ er sich auf die Knie nieder, um sich der Gruppe anzuschließen. »Sind Sie dabei?« fragte jemand. Jeff nickte. Sein Mund war trocken, als er Geld aus der Tasche zog und die Scheine auf den Boden legte. Jemand gab ihm die Würfel… Er wandte sich dem Mann mit den schwarzen Knopfaugen zu und hob die drei farbigen Würfel, warf sie in der vertrauten Folge. Gemeinsam standen sie nach vier Würfen gleich und blockierten den Pott, dann hielten sie sieben Würfe durch, ohne zu erhöhen, weil keiner es wagte, den Gleichstand zu durchbrechen. Jeff spürte plötzlich, daß sich die Chancen umkehrten, erhöhte beim nächsten Wurf und hielt den Atem an, als der Mann gegenüber gleichzog. Die Würfel rollten und führten wieder zum Gleichstand; rings um sie ächzten Zuschauer und rückten näher heran. Ein dritter Satz Würfel kam ins Spiel, damit der Gleichstand aufgehoben wurde, und dann ein vierter, als sich die komplizierte Struktur des Spiels wie ein Kartenhaus aufbaute und die Einsätze sich vervielfachten. Endlich zeigten Jeffs Würfel die kritische Zahl, der Gleichstand wurde überwunden, Wurf um Wurf, und das Geld wanderte in seine Hände. Vier oder fünf andere setzten nebenher und kassierten mit ihm, als er das nächste Spiel aufnahm, es aufbaute, kalt verlor und weiterspielte, mit wachsender Erregung. Plötzlich stieß jemand einen Schrei aus. Man hob erschrocken die Köpfe, sah zu zwei Männern in einer Ecke hinüber, die einander anfunkelten. »Wirf sie! Los, wirf sie, dann siehst du selbst, wie sie fallen!« Jemand rief: »Was ist los, Archie?« »Er hat falsche Würfel!« Archie wies anklagend auf den anderen Mann. »Sie fallen nicht richtig, mit denen stimmt etwas nicht!«
Sein Gegner fauchte: »Na schön, du gewinnst nicht mehr. Und? Du hast die Würfel selbst geholt!« »Aber die Chancen stimmen nicht. Da ist etwas nicht in Ordnung.« Jeff wandte sich wieder seinem eigenen Spiel zu, spürte, daß es zu einer Katastrophe kommen mußte. Das Spiel ging weiter, schneller und immer schneller. Irgendwo auf der anderen Seite kam es zu einem Streit – und wieder zu einem Streit. Mehrere Männer hörten auf zu spielen, traten an die Wand und sahen zornig zu, als die anderen weitermachten. Und dann warf Jeff vierzehnmal hintereinander drei Sechsen, warf die Würfel seinem fassungslosen Gegenspieler hin, ohne auch nur nach seinem Geldstapel zu greifen, und ging schwankend zurück in die Ecke, während sich der ganze Raum um ihn drehte. Denn schlagartig waren die Gesetze der Wahrscheinlichkeit in diesem Raum ausgehoben. Jeff konnte die wechselnde Spannung der Atmosphäre spüren, so wirklich und bedrückend, als sei sie etwas Festes, durch das er zu waten hatte. Das war es, was ihn die ganze Zeit gestört und bedrückt hatte. Etwas Unmögliches war plötzlich im Gange, etwas Unerklärliches. Karten tauchten in unmöglichen Folgen auf und wiederholten sich mit idiotischer Regelmäßigkeit. Bei jedem Spiel fielen die Würfel falsch, trotzten dem Gesetz der Schwerkraft, während sie sich am Boden und auf Tischen drehten. Im ganzen Raum herrschte Aufruhr, als die Spieler aufhörten und einander anstarrten, unfähig, das Unmögliche zu begreifen, das sich vor ihren Augen abspielte. Und Jeff hatte die ganze Zeit gewußt, daß es so kommen würde! Er sah Blackie vorbeigehen; ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen flackerten verzweifelt. Impulsiv streckte er die Hand aus und hielt sie auf. »Spiel«, sagte er scharf. Ihre Augen blitzten ihn an.
»Was für ein Spiel?« »Irgendeins.« Er hielt ihr die Armbanduhr hin. »Wir können darum spielen.« In ihren Augen glomm kurz etwas auf, dann war sie auf den Knien, schob die Ärmel hoch, Angst im Blick, als sie ihn ansah. »Irgend etwas geht vor«, sagte sie leise. »Die Würfel fallen nicht richtig.« »Ich weiß«, erwiderte er. »Warum nicht?« Sie sah ihn fassungslos an. »Keine Ahnung, es gibt keinen Grund, aber sie fallen nicht richtig, sie tun es einfach nicht.« Jeff grinste sie an. »Los, werfen Sie.« Sie warf die Würfel, sah sie am Boden tanzen, rief ihre Zahl. Jeff warf die Würfel, schlug Blackie, ergriff das Geld. Er warf noch einmal und wieder. Die Anspannung um die Augen des Mädchens nahm zu; kleine, dünne Linien um ihren Mund wurden hart. Nervös steckte sie eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an, während die Würfel rollten. Sie verlor. Sie verlor wieder. Rings um sie setzte man zusätzlich, als die Zuschauer von der zunehmenden Spannung mit ergriffen wurden. »Was ist los?« »Die Würfel sind verrückt geworden!« »Blackie verliert, nicht zu fassen!« »Verliert? Beim Würfeln verliert sie nie – wer ist der Kerl?« »Hab’ ihn noch nie gesehen. Schau, er hat schon wieder gewonnen! Die Würfet sind verhext.« »Meine Karten waren auch übergeschnappt. Bei jedem Spiel ein Straight Flush, sechsmal hintereinander. Wie kann man bei so etwas setzen?«
Die Schock-Beat-Aufnahme kreischte lauter; dann krächzte der Lautsprecher, als jemand den Plattenspieler mit dem Fuß zertrat. Ein Päckchen Spielkarten wurde auf den Boden geschleudert, ein Schrei tönte durch den Raum. Zwei Männer schlugen wegen eines Würfelspiels aufeinander ein; andere kauerten mit zusammengepreßten Lippen am Boden. Ein breitschultriger Mann brach in Tränen aus und starrte seine Würfel an. »Das können sie doch überhaupt nicht machen«, jammerte er, »das geht doch einfach nicht!« Jeff beobachtete die rotierenden Würfel, warf sie, warf sie, und sah das Gesicht des Mädchens bei jedem Wurf finsterer werden. Plötzlich riß sie ihm die Würfel mitten im Wurf aus der Hand und schleuderte sie durch den Raum, starrte ihn und die Zuschauer mit glühenden Augen an, wie ein in die Enge getriebenes Tier. »Ihr seid alle schuld«, fauchte sie. »Ihr wendet sie gegen mich, ihr macht, daß sie falsch fallen.« Sie drehte sich um und ging zur Tür. Wütend blickte sie die Leute ringsherum an, aber Jeff sah in ihren Augen auch Angst. Er ging ihr nach, fühlte sich zurückgehalten. »Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte Jacques. »Sie bekommen Ärger, wenn Sie es nicht tun. Sehen Sie, was ich meinte, als ich sagte, daß etwas nicht stimmt? Der ganze Haufen hier ist überreizt. Wer hat jemals Würfel oder Karten so fallen sehen? Es sei denn, jemand lenkt sie.« Jeff starrte den Mann an. »Alle Würfel im Saal auf einmal? Wovon reden Sie?« Die Lippen des kleinen Mannes verzerrten sich zornig. »Was denn sonst? Sie sehen doch, was da vorgeht, oder nicht?« Jeff wandte sich ab und zwängte sich durch die Menge zur Tür. Jacques hatte nicht unrecht und erkannte vielleicht einen
Teil der Wahrheit, aber hinter dem Ganzen steckte noch viel mehr. Es war nicht nur so, daß jemand die Würfel steuerte. Jeff wußte plötzlich, daß die im Spielsaal eben abgelaufene Stunde den Schlüssel zu allem enthielt, wenn er ihn nur zu gebrauchen verstand: die Antwort auf das verschlungene Rätsel von dem Mädchen und Paul Conroe, von Dr. Schiml und den Freiwilligen Versuchspersonen. Die Antwort war da, er wußte es mit absoluter Gewißheit. Er wußte auch, daß Blackie in seinem Zimmer auf ihn warten würde, mit kaltem Feuer in den Augen, am Tisch sitzend, einen Satz farbiger Würfel vor sich. Jeff hastete durch den abgedunkelten Korridor; er hatte Angst. Blackie würde dasein, und er ahnte, warum sie dasein würde, ergrimmt und bebend, wenn er ins Zimmer trat. Er hatte ihre Augen und ihr Gesicht beim Würfeln gesehen, und es gab keinen Zweifel mehr, wer die Würfel gesteuert hatte. Sie wartete natürlich. Er trat ins Zimmer, schloß die Tür hinter sich und sperrte sie ab. Dann begegnete er Blackies verzweifeltem Blick, während sie die farbigen Würfel rollte. »Spiel!« forderte Blackie ihn mit heiserer Stimme heraus. Zitternd setzte er sich zu ihr an den Tisch.
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Jeff streckte die Hand aus und nahm ihr die Würfel weg. »Legen Sie sie weg, Blackie«, sagte er leise. »Mir brauchen Sie nichts zu beweisen. Ich weiß schon Bescheid.« »Spiel«, wiederholte sie kopfschüttelnd. »Nein, denken Sie doch mal nach. Vorne im Spielsaal, wissen Sie, was sich da abgespielt hat?« Ihre Augen starrten ihn an; sie waren weit aufgerissen. »Spiel«, flüsterte sie. Ihre Hände zitterten. »Sie müssen mit mir spielen!« Er seufzte, fühlte sich plötzlich todmüde und warf die Würfel. Eine Drei, eine Vier, eine Fünf fielen; Blackie nickte, bestätigte die Sequenz. Dann griff sie nach den Würfeln. Jeff spürte ihren Zorn und umklammerte die Tischkante, als die Würfel tanzten und zur Ruhe kamen: eine Drei, eine Vier und eine Fünf. Das Mädchen starrte ihn an, dann die Würfel. Langsam griff sie nach dem Würfel mit der Fünf, ließ ihn über den Tisch rollen. Er rotierte, hüpfte und kam zum Stillstand. Wieder zeigte er die Fünf. Mit zitternder Hand ergriff sie alle drei Würfel, warf sie heftig von sich, ballte die Fäuste, als sie fielen. Die Drei und die Vier lagen sofort da. Jeff beobachtete den dritten Würfel, der sich auf einer Spitze drehte, endlos drehte… Jeff fühlte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenkrampfte. Und der kleine Würfel rotierte weiter, unsinnig, endlos, bis er plötzlich umkippte und liegenblieb. Mit der Fünf nach oben. Blackie schrie auf, leichenblaß im Gesicht.
»Dann sind Sie es gewesen!« sagte sie. »Sie haben das gemacht, absichtlich. Sie haben die Chancen verkehrt, die Würfel gegen mich eingestellt.« »Nein.« Jeff schüttelte heftig den Kopf. »Nicht ich – wir. Keiner hätte das allein scharfen können, aber wir haben tatsächlich gegeneinander gekämpft, ohne es zu wissen, und da fing es an.« »Machen Sie mir nichts weis«, gab sie zurück. »Sie waren es!« Jeff deutete statt einer Antwort auf die Würfel. Blackie starrte sie entsetzt an, als der mit der Fünf zuckte, wie eine springende Bohne hüpfte, sich drehte, in einem unfaßbaren, grotesken Tanz auf der Spitze zu rotieren begann. »Ich will eine Fünf«, sagte Jeff. »Zwingen Sie irgendeine andere Ziffer herbei, die Sie haben wollen. Los, strengen Sie sich an!« Und der Würfel rotierte weiter, wollte nicht umfallen… Schließlich schlug Blackie mit der Hand zu und schleuderte den Würfel durchs Zimmer. »Geht nicht, was?« »Sie haben es die ganze Zeit gewußt«, beschuldigte sie Jeff. »Sie sind nur hereingekommen, um mich zu quälen, um mich bloßzustellen.« »Das ist es ja«, sagte Jeff. »Ich hatte keine Ahnung, bis ich die Würfel im Spielsaal in die Hand nahm. Ich wußte nur, daß etwas passieren würde. Ich wußte nicht, was. Selbst dann begriff ich nicht, was es war, außer, daß die Würfel taten, was ich wollte, während Sie kein Glück hatten.« Er suchte ihren Blick. »Sie müssen mir das glauben: Ich hatte keine Ahnung, daß Sie es waren. Ich wußte aber, daß jemand gegen mich kämpfte, daß jemand die Würfel beeinflußte. Jemand, der sie schon immer beeinflußt hatte, ohne ertappt zu werden, und dem es plötzlich nicht mehr gelang, sie zu steuern.«
Blackie traten die Tränen in die Augen. In ihrem Gesicht zuckte es. »Ich mußte – ich mußte gegen sie gewinnen – « »Und als wir beide anfingen, sie zu beeinflussen, als wir gegeneinander kämpften, verloren die das Spiel bestimmenden Gesetze ihre Gültigkeit.« Blackie begann zu schluchzen und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich konnte sie immer steuern, es klappte immer, es war das einzige, was ich überhaupt konnte, was ich fertigbrachte. Alles andere ist mir immer schiefgegangen.« Sie weinte wie ein Kind, mit zuckenden Schultern. Jeff beugte sich vor und berührte ihr Haar. »Wann haben Sie erkannt, daß Sie die Würfel beeinflussen können?« Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Ich merkte es erst hier im Institut. Vorher hatte ich keine – Ahnung. Und als ich dahinterkam, war es einfach das einzige, bei dem ich gewinnen konnte. Bei allem anderen verlor ich. Mein ganzes Leben lang habe ich nur verloren.« »Was haben Sie verloren?« »Alles. Alles, was ich anrühre, geht daneben. Schon immer.« »Aber was denn?« Jeff starrte sie an. »Was tun Sie hier? Warum sind Sie überhaupt hierhergekommen?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie tonlos. »Was wäre mir sonst übriggeblieben? Ich war hart im Nehmen, glauben Sie mir. Ich konnte bis zu einem bestimmten Punkt einstecken, aber es wurde immer schlimmer, bis ich es nicht mehr aushielt. Alles, was ich versuchte, ging schief, und es traf auch jeden, der mir nahestand.« Sie sah trotzig zu ihm auf und strich sich das Haar aus der Stirn. »Hören Sie, ich bin vielleicht keine Schönheit, aber abstoßend bin ich doch auch nicht, oder? Nun, warum, glauben Sie, hatte ich keinen Zimmergenossen, als man Sie
herbrachte? Weil niemand so nah bei mir sein will, deshalb! Ich bekomme jedesmal die Neuen, bis sie sich ein Bein oder sonst was brechen, und dann riechen sie den Braten und suchen sich etwas anderes, irgend etwas!« Sie schnupfte. »Draußen wurde es so schlimm, daß nichts mehr klappte. Ich konnte nicht mal mehr ein Ding drehen.« »Was meinen Sie damit?« »Alles mögliche. Ich war an einem Dutzend Unternehmen beteiligt – seit dem Krieg. Vater kam bei der ersten Bombardierung um, als ich noch klein war, zwölf oder dreizehn, ich weiß es nicht mehr. Er starb, als er uns aus der Stadt hinausbringen wollte, in das Sicherheitsgebiet im Norden. Die Strahlung erwischte ihn. Erst starb Vater, dann auch Mutter.« Sie richtete sich auf und wischte sich die Augen mit dem Ärmel. »Wir konnten nicht aus dem verwüsteten Gebiet hinaus – eine Weile brachten wir Hunde und Katzen um. Als alles vorbei war, kam die Inflation, die verbrannte Ernte, das ganze Schlamassel. Es war eine schwere Zeit. Zuerst waren wir Guerillas, dann überfielen wir Leute, die unterwegs waren, schließlich gingen wir in die Stadt zurück, um die Reichen auszunehmen, die sich in den Bergen versteckt hatten und noch reicher geworden waren.« »Aber wieso sind Sie hier gelandet, wenn alles so gut ging?« »Es ging eben nicht gut, das war es ja. Das Pech klebte mir an den Händen, und es wurde immer schlimmer. Dann wurde ich rauschgiftsüchtig. Die Rauschgiftüberwachung wurde bald wieder eingeführt, aber es gab Stoff genug, und ich wurde von den Drogen abhängig.« Sie zuckte die Achseln. »Tja, schließlich kam ich hierher, und Schiml überzeugte mich. Er versprach mir, mich zu entwöhnen. Was hatte ich noch zu verlieren? Ich war zu erschöpft, um mich noch um irgend etwas zu kümmern. Ich wollte nur wieder essen können, vom Rauschgift loskommen und soviel Geld zusammenkratzen, daß
ich vielleicht etwas Anständiges anfangen konnte, etwas, was mir Glück brachte.« »Und dann entdeckten Sie die Sache mit den Würfeln«, sagte Jeff. »Ja. Ich merkte, daß sie mir völlig zu Willen waren. Ich war natürlich vorsichtig, ich achtete darauf, daß niemand dahinterkam. Manchmal verlor ich sogar absichtlich, damit niemand argwöhnisch wurde, aber sie folgten mir immer. Bis heute abend.« Jeff nickte. »Bis heute abend. Denn da merkte ich, daß sie auch mir folgen. Und Sie konnten mich nicht schlagen.« Ihre Stimme klang schwach. »Ich – ich konnte sie nicht mehr beeinflussen. Die Würfel fielen, wie Sie es wollten.« »Das ist nicht möglich, und Sie wissen es«, sagte Jeff leise. »Seit Jahrhunderten versuchen Wissenschaftler zu beweisen, daß es Psychokinese oder andere extrasensuelle Kräfte gibt, aber es ist ihnen bisher nicht gelungen.« Blackie grinste traurig. »Schiml versucht es seit eh und je. Von Zeit zu Zeit flackert sein Interesse wieder voll auf. Wie jetzt zum Beispiel. Sie müssen eben jemanden getestet haben, der sie enorm in Aufregung versetzt hat. Man stellt gerade ein völlig neues Programm auf.« »Ja«, sagte Jeff, »und darauf will ich hinaus. Wer ist dieser Jemand?« »Keine Ahnung. Ich habe nur Gerüchte gehört. Ein Neuer, nehme ich an.« »Ein Neuer namens Conroe?« Sie sah ihn an. »Weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal mit Bestimmtheit, daß es überhaupt eine solche Person gibt.«
»Ich muß das jedenfalls feststellen. Und Sie können mir dabei helfen.« Jeffs Stimme schwankte. »Ich weiß, daß er hier ist, ich habe ihn heute nachmittag auf der Rolltreppe gesehen. Erinnern Sie sich, wie durcheinander ich war, als mich die Aufseher zurückbrachten? Ich hatte ihn gesehen und verfolgt, aber er entwischte mir, und dann fanden mich die Aufseher. Aber er ist mit Sicherheit hier und versteckt sich irgendwo.« »Was wollen Sie von ihm?« fragte Blackie. »Warum sind Sie hinter ihm her? Ich will in nichts hineingeraten.« »Nein, Sie bekommen nichts mit der Sache zu tun. Ich kann Ihnen auch nicht die ganze Geschichte erzählen, ich verstehe sie selbst nicht einmal. Dieser Mann, dieser Conroe, hat meinen Vater umgebracht. Ich weiß nicht, warum oder wie, aber ich muß es erfahren. Das ist alles.« Sie glaubte ihm offenbar nicht, zuckte aber nur mit den Achseln. »Und Sie sagen, der Mann ist hier?« »Er ist hier. Ich muß ihn finden, bevor ich getestet und einem Projekt zugeteilt werde. Ich muß schnell handeln und brauche Hilfe. Sie könnten sie mir geben.« Das Mädchen starrte lange Zeit vor sich hin. Schließlich griff sie nach den Würfeln und drehte sie unentschlossen in den Fingern. »Ich habe Ihnen erzählt, daß ich hier geschickt vorgegangen bin, mit den Würfeln – bis Sie auftauchten«, sagte sie leise. »Ich könnte so weitermachen.« Sie sah zu ihm auf. »Wenn Sie mich lassen.« »Ich verstehe«, sagte er langsam. »Es sieht so aus, als bleibt mir nichts anderes übrig. Aber Sie müssen Resultate liefern. Ich brauche Grundrisse vom Institut und Angaben darüber, wie man den Aufsehern ausweichen kann. Ich muß wissen, wo die Unterlagen aufbewahrt werden, ich brauche die Personallisten, die Programmpläne – «
»Also abgemacht?« fragte sie eifrig. Jeff blickte ihr in die Augen. Einen Augenblick lang bemerkte er etwas darin, eine Andeutung der Angst, die dort verborgen war. Er sah kurz das Bild des kleinen Kindes aufblitzen, das gegen eine Übermacht der Chancen angekämpft hatte, um Halt zu finden, einen Kampf ausgetragen hatte, den es verlor, wissend verlor, das sich hilfeflehend an ihn wandte. Dann war es vorbei, und ihre Augen wurden wieder ausdruckslos. Jeff berührte ihre Hand, drückte kurz ihre Finger. »Abgemacht«, sagte er.
11
Irgendwo im Korridor erlosch das Licht an einer Tür. Jeff Meyer blieb stehen und starrte ins Dunkel, dann sprang er in eine Besennische, als sich Schritte näherten. An Besen und Schrubber gepreßt, wartete er. Gespannt hielt er den Atem an, als jemand im blauen Kattun der FVPs vorbeiging. Wahrscheinlich unterwegs zum Spielsaal, dachte Jeff. Oder zu einem anderen Ziel. Darauf kam es nicht an. Er atmete erleichtert auf und beschloß, hier noch eine Weile zu warten. Jeff und Blackie hatten sich zwei, vielleicht drei Stunden unterhalten. Genau wußte er es nicht. Sie lebte schon seit über zwei Jahren im Institut und war gewitzt; sie wußte, was er in Erfahrung bringen wollte. Zum Essen in der Cafeteria war es zu spät, und er war halb verhungert. Als er davon sprach, ging Blackie in den Waschraum und holte einen erstaunlichen Vorrat an Dosennahrungsmitteln heraus, der in einem Wäschefach versteckt war, das er übersehen hatte. Dazu einen entwendeten Dosenöffner, einen Teller, eine Gabel und nach längerem Zögern eine Dose Bier. Er staunte; das Mädchen verbrachte offenbar ihre ganze Freizeit damit, andere Leute zu berauben. Blackie schien sich schon seit längerem mit der Küche zu befassen. »Na ja«, meinte sie zu ihrer Verteidigung, »was bleibt einem anderes übrig? Keine Süßigkeiten- oder Kaugummiautomaten im Spielsaal – schlecht für den Blutzucker. Und kein Alkohol, versteht sich. Wenn jemand herkommt, der ihn wirklich braucht, wird er als erstes entwöhnt.« Er genoß das Festmahl. Danach gingen sie Grundrisse und Organisation des Instituts durch. Schließlich konnte er sich
wenigstens mit einer verschwommenen Vorstellung von seinem Ziel auf den Weg machen. Als er zur Rolltreppe ging, glaubte er, die Erlebnisse im Spielsaal wenigstens vorübergehend vergessen zu können. Er stellte fest, daß er sich geirrt hatte. Er war von der unfaßbaren Entdeckung noch immer wie betäubt, von der plötzlichen, unglaublichen Erkenntnis, daß er und Blackie lautlos und angestrengt gegeneinander um die Herrschaft gekämpft hatten, mit einer Wut, die auf irgendeine Weise die Gesetze der Wahrscheinlichkeit in dem überfüllten Spielsaal aufhob. Doch wie konnte er zu einem solchen Vorgang beigetragen haben? Er hatte auch nicht andeutungsweise geahnt, daß er eine solche Fähigkeit besaß, aber hier war ein Beweis, der sich nicht widerlegen ließ. Und wie hing das Ganze mit Paul Conroe oder dem geheimnisvollen neuen Zugang bei den FVPs zusammen, den man eben getestet hatte? Konnte Conroe dieser Mann sein? Es gab keine Möglichkeit, das zu entscheiden. Und doch…. Denk nach, Jeff. Denk an die lange Reihe der Vorfälle, als er entwischte, immer wieder entkam, selbst als das ausgeschlossen zu sein schien. Zufall? Glück? Vielleicht. Wenn Conroe aber extrasensuelle Kräfte besitzt, kann er dir immer wieder entkommen, es sei denn, du findest einen Weg, ihnen zu begegnen. Jeff schüttelte zornig den Kopf. Wie konnte er das sagen? Er hatte keine Beweise dafür, daß Conroe irgendwelche parapsychologischen Fähigkeiten besaß; wenn das aber doch der Fall war, so gab es keinen Hinweis, daß Conroe davon wußte. Es gab so viele, viele Möglichkeiten und so wenig Konkretes. Warum war Conroe, wenn er wirklich solche Fähigkeiten hatte, so erschrocken, als er Jeff auf der Rolltreppe begegnete? Warum der Ausdruck von Angst und Ungläubigkeit – beinahe Panik – auf seinem Gesicht? Jeff
schaute auf die Uhr, sah den Minutenzeiger auf 23.30 Uhr vorrücken. Er durfte nicht mehr warten, er mußte sich beeilen. Die Aufseher würden in wenigen Augenblicken die Rolltreppe herunterkommen. Und diese Überlegungen führten sowieso zu nichts. Conroe war entsetzt gewesen, ihn zu sehen. Es mußte Conroe einen Schlag versetzt haben, zu erkennen, daß ihm der Feind hierher gefolgt war, zu begreifen, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als das Risiko auf sich zu nehmen und seine Rolle als Freiwillige Versuchsperson ganz zu spielen. Unzählige Gedanken stürmten auf Jeff ein. Er selbst wartete auf die Untersuchung; vielleicht war Conroe schon getestet worden. Konnte es ihm gelingen, Schiml hinzuhalten, vor allem wenn die Gerüchte, die er im Spielsaal gehört hatte, zutrafen? Auf alle diese Fragen gab es keine Antwort. Jeff konnte nichts anderes tun, als die Archivräume zu durchsuchen, die ihm Blackie bezeichnet hatte, um herauszufinden, wo in diesem Labyrinth sich Conroe aufhielt und was er trieb. Er trat von der Rolltreppe und betrachtete noch einmal Blackies Skizze. Die Archivräume befanden sich zwei Etagen tiefer. Jeff hoffte sie zu erreichen, ohne aufgehalten zu werden, und ging zur Rolltreppe, die nach unten führte. Immer wieder sah er sich vorsichtig um und hielt nach Aufsehern Ausschau. Unten blieb er wie angewurzelt stehen. Drei Männer in Weiß schoben eine Bahre den Korridor entlang. Jeff blickte auf die zuckende Gestalt, die unter den Decken lag, und wandte hastig den Blick ab. Einer der Männer blieb zurück und rief Jeff heran, als dieser von der Treppe stieg. Der Mann hatte den Mundschutz noch um den Hals hängen, und auf dem Kopf trug er eine enganliegende Operationskappe. Er wies mit dem Daumen über die Schulter. »Reparieren Sie die Pumpe?« Jeff blinzelte.
»Richtig«, krächzte er. »Ist – ist Jerry mit dem Werkzeug schon da?« »Bis jetzt ist noch niemand hiergewesen, wir sind eben fertig. Seit drei Uhr nachmittags arbeiten wir, die Pumpe fiel ganz plötzlich aus. Wir mußten den armen Kerl selbst beatmen, und wenn Sie meinen, das sei keine Arbeit – « Der Arzt wischte sich die Stirn. »Richten Sie das Ding möglichst heute noch. Morgen früh ist wieder einer dran, wir brauchen die Pumpe unbedingt – « »Keine Sorge, wird erledigt.« Jeff ging den Flur hinunter. Sein Herz raste. Er erreichte die offene Tür ›zu einem der Operationssäle, schlüpfte schnell in den kleinen, angebauten Umkleideraum und riß einen Kittel und eine Mütze vom Haken. Wenn man noch so spät operierte, war das eine vom Himmel geschenkte Gelegenheit; kein Aufseher würde wagen, ihn zu belästigen, wenn er die weiße oder grüne Uniform eines Arztes trug. Er zwängte sich in den Kittel, knotete ihn hinter dem Rücken zu und schob die Mütze über den Kopf. Schließlich fand er eine Gesichtsmaske und setzte sie auf, wie er es bei dem Arzt im Korridor gesehen hatte. Einen Augenblick später stand er wieder auf der Rolltreppe und fuhr zur nächsten Etage hinunter. Unten hastete er den von Blackie angegebenen Korridor entlang und warf auf jede Tür einen schnellen Blick. Bei den ersten beiden sah er durch die Ritzen Licht schimmern – anscheinend handelte es sich um Operationssäle, in denen noch gearbeitet wurde. Schließlich blieb er vor einer großen, schweren Tür mit der Aufschrift Unbefugten Zutritt verboten‹ stehen. Er drehte den Türknopf, aber es war abgesperrt. Hastig kramte er in der Tasche nach dem gestohlenen Schlüssel, den ihm Blackie nach längerem Verhandeln gegeben hatte. Der Schlüssel paßte, und Jeff betrat den Raum.
Jeff fand, daß es keinen Sinn hatte, auf Zehenspitzen herumzuschleichen – jetzt, wo er als Arzt getarnt war. Er würde nur Verdacht erregen. Auch war es besser, wenn er die Tür nicht schloß und so tat, als stelle er berechtigte Nachforschungen an. Er ließ also die Tür weit offenstehen, knipste das Licht an und ging durch den Raum zu der riesigen Registerkonsole. Es war nicht das erstemal, daß Jeff einem solchen Lochkartensystem begegnete, das in jedem Unternehmen mit enormen Mengen von Unterlagen notwendig war, weil man diese in altmodischen Archiven nicht mehr hätte unterbringen und bewältigen können. Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren die traditionellen dicken Krankenakten, die Fieberkurven und Tabellen enthielten, verschwunden. Die modernen Archivcomputer nahmen diktierte Notizen direkt vom Band auf, verglichen Ausdrücke und Sätze mit Hunderttausenden von programmierten Wortschatz-Bits, analysierten sie, identifizierten sie mit Kodemustern und lochten die Informationen in Karten, so daß die medizinische Anamnese eines Patienten auf einem winzigen Stückchen Kunststoff gespeichert werden konnte. Sobald man eine bestimmte Angabe benötigte, kehrte der Computer den Ablauf um, rief die verlangte Information ab und schrieb sie säuberlich auf eine Papierrolle. Das Bedienungspersonal brauchte nur die Klassifizierung der aufgezeichneten Information zu kennen, und die glaubte Jeff erraten zu können. Er trat schnell an die Steuertafel, suchte nach der InputTastatur und tippte: Forschung – Freiwilliges Personal. Zuerst gedachte er die einfache Kodebezeichnung für Conroes Namen zu versuchen. Er hoffte, daß Conroe beim Eintritt so wie Jeff seinen eigenen Namen angegeben hatte – aus Angst, bei einer Lüge ertappt und hinausgeworfen zu werden. Als die Kodekarte herausfiel, drückte Jeff die erforderlichen Knöpfe
für eine alphabetische Abtastung von Conroes Namen und wartete, während die Maschinerie zu surren begann. Nach kurzer Zeit erschien ein Schriftband mit zwei Worten: ›Keine Information‹. Jeffs Finger hetzten erneut über die Tastatur, als er eine Beschreibung einfütterte. Er bezeichnete Größe, Gewicht, Augenfarbe, Haarfarbe, Knochenbau, Nasenform, alle kennzeichnenden Merkmale, die ihm einfielen. Dann drückte er den Suchknopf. Diesmal fielen mehrere Dutzend Karten in das Fach. Er nahm sie heraus und ging sie langsam durch, betrachtete die kleinen Fotos auf den Karten und die Kodebezeichnung für den Eintrittstag. Wieder fand er nichts. Verärgert versuchte er es noch einmal, diesmal mit zwei einschränkenden Kodesymbolen: ›Freiwilliges Personal‹ und ›kürzlicher Eintritt‹. Weniger Karten diesmal, aber wieder negativ. Nicht eine einzige konnte auf Paul Conroe zutreffen. Jeff setzte sich vor die Schalttafel und dachte über eine andere Möglichkeit zur Identifizierung nach. Dann kam ihm ein Gedanke. Krankenhausarchivcomputer waren stark verfeinerte Geräte, und das Hoffman-Institut besaß zweifellos das leistungsfähigste und vielseitigste System. Jeff zog seine Brieftasche und nahm ein kleines Paßfoto von Conroe heraus, das er stets bei sich trug. Nach kurzem Suchen fand er die kleine Foto-Abtastkammer für die Speicherung der Abtastung von Fotografien. Er schob das Bild in den Schlitz, drückte die Such- und Abtastknöpfe und wartete wieder. Diesmal dauerte es länger, aber nach einigen Augenblicken fiel eine einzelne Karte in das Fach. Jeff riß sie hastig heraus und starrte auf das angeheftete Foto, das dem aus seiner Brieftasche fast genau entsprach. Oben auf der Karte war ein offenkundig handgetippter Vermerk angebracht? ›Conroe, Paul. Beschränkte Auskunft. Alle Angaben im Hoffman-
Institut Zentralarchiv gespeichert. Sondergenehmigung erforderlich.‹ Unter diesem Vermerk stand eine Reihe von Daten. Jeff starrte sie ungläubig an. Unfaßbar, diese Daten! Es waren über zwei Dutzend Aufnahme- und Entlassungsdaten; Untersuchungsund Behandlungsdaten. Es war ausgeschlossen, daß Conroe zu den Zeiten, die auf der Karte vermerkt waren, hiergewesen sein konnte – vor zehn Jahren, als das Institut kaum eröffnet war, wieder vor fünf Jahren, dann immer häufiger, während der Zeit, als Jeff ihn Verfolgte. Es ergab einfach keinen Sinn, daß Conroe so oft hiergewesen war, ohne daß Jeff etwas davon wußte, aber die Daten standen schwarz auf weiß auf der Karte, kalt, unpersönlich, unwiderlegbar. Und nach dem letzten Datum ein abschließender Vermerk, handschriftlich: ›Zentralarchiveinstufung: ESP-Forschung.‹ Es war unglaublich, aber es hatte etwas zu bedeuten. Jeff steckte die Karte in sein Hemd und warf die unbrauchbaren Informationen in den Papierschlucker. Was es auch bedeuten mochte, es paßte ins Bild. Der nächste Schritt mußte zum Zentralarchiv führen. Jeff drehte sich um, ging zur Tür und blieb wie angewurzelt stehen. »Ah, guten Abend«, sagte ein Mann an der Tür. »Schiml!« entfuhr es Jeff. Der Arzt lehnte am Türpfosten, die grüne Kappe schief auf dem Kopf, den Mundschutz um den Hals. Schiml lächelte Jeff an, während er zwei Würfel in die Luft warf und sie wieder auffing. »Ich wollte nicht stören«, sagte er, »aber wir haben Sie überall gesucht. Wir müssen ein paar Untersuchungen durchführen.« »Sie – Sie meinen morgen«, stammelte Jeff.
Dr. Schimls Lächeln wurde breiter. Er schüttelte den Kopf, warf die Würfel noch einmal in die Luft und steckte sie in die Tasche. »Nicht morgen, Jeff«, sagte er. »Jetzt.«
12
Jeff starrte den Mann an und versuchte seine Fassung wiederzugewinnen. Wie lange hatte Dr. Schiml schon an der Tür gestanden? Nur ein paar Sekunden? Oder zehn Minuten und noch länger, um zu verfolgen, wie Jeff den Computer bediente, wie er die Lochkarte einsteckte? Das lächelnde Gesicht des Arztes gab ihm keine Antwort, auch nicht das Verhalten der Aufseher, die hinter Dr. Schiml im Korridor standen und nach den Neuralpistolen griffen. Schiml nickte den Aufsehern zu, und sie verschwanden. Der Arzt wandte sich wieder Jeff zu. In seinen Augen zeigte sich immer noch der Schatten eines Lächelns. »Haben Sie etwas Interessantes gefunden?« fragte er. »Nicht viel«, erwiderte Jeff heiser. »Ich habe mich schon lange nicht mehr mit einem solchen Register beschäftigt.« Er begegnete trotzig Schimls Blick. Der Arzt zuckte schließlich die Achseln, ging zur Schalttafel und prüfte das Fach nach Karten. »Haben Sie etwas Bestimmtes gesucht?« erkundigte er sich. »Nichts Bestimmtes.« »Aha. Nur so eine Art Besichtigung.« Jeff hob die Schultern. »Mehr oder weniger. Ich wollte mich einmal umsehen.« Schiml lachte leise in sich hinein. »Vor allem in den medizinischen Unterlagen schnüffeln«, meinte er. »Na, das lag nahe. Blackie behauptete zwar, Sie seien in den Spielsaal gegangen, als wir Sie holen wollten, aber da waren Sie nicht. Seltsamerweise ist das hier der erste Ort, wo ich nachsah.« Die Augen des Arztes wurden hart. »Und
auch noch angezogen wie ein Arzt – « Er streckte die Hand aus und riß Jeff die Kappe vom Kopf, zerriß den Gürtel des Arztkittels. »Merken Sie sich eines: Hier tragen Sie so etwas grundsätzlich nicht. Nur Ärzte tragen es, sonst niemand. Ist das klar? Gut. Man läuft auch nicht herum und dringt in Archivräume ein, nur um sich einmal umzusehen. Wenn die Aufseher Sie dabei erwischt hätten, wären Sie jetzt nicht mehr am Leben, was wir bedauern müßten, weil wir Pläne mit Ihnen haben.« Er hielt ihm die Hand hin. »Den Schlüssel bitte. Zweifellos hat ihn Blackie geliefert. Sie muß ein Dutzend davon irgendwo versteckt haben. Jedesmal wenn wir ein Schloß auswechseln, hat sie am nächsten Tag den Schlüssel dafür.« Er nahm Jeff den Schlüssel ab und steckte ihn in die Tasche zu den Würfeln. »Okay, gehen wir. Wir haben zu arbeiten.« Jeff ging neben ihm her. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, heute noch Untersuchungen durchzuführen?« »Mein voller Ernst. Warum denn nicht?« »Na ja – es ist spät. Ich bin morgen auch noch hier. Warum die Eile?« Der Arzt ging stumm weiter, ohne ihn zu beachten. Jeff hielt Schritt mit ihm und bemühte sich, ein Dutzend Fragen gleichzeitig zu ordnen und zu beantworten. Wieviel wußte Schiml? Was argwöhnte er? Was wollte er mit diesen Würfeln? Hatte Blackie ihm alles erzählt? Nein, das war nicht anzunehmen. Sie legte in dieser Beziehung größeren Wert auf Geheimhaltung als er. Aber vielleicht hatte Schiml von den seltsamen Vorgängen im Spielsaal aus anderen Quellen erfahren. Vielleicht. Was die Untersuchung anging – das gefiel Jeff wirklich nicht. »Hören Sie«, stieß er hervor, »wenn es nicht einen ganz dringenden Grund für Sie gibt, diese Untersuchungen
ausgerechnet um Mitternacht durchzuführen, warum warten wir nicht einfach bis morgen früh?« Schiml blieb plötzlich stehen und sah Jeff gereizt an. »Nicht zu fassen«, sagte er. »Sie glauben wohl immer noch, daß wir hier ein Vergnügungsetablissement betreiben? Eine Art Sanatorium oder so. Das ist ganz und gar nicht der Fall. Wir erfüllen eine Aufgabe, eine Aufgabe, die nicht bis morgen Zeit hat. Morgen! Unser Arbeitsplan erstreckt sich über vierundzwanzig Stunden am Tag. Die Arbeit hört nicht auf und ruht über Nacht. Und von den Freiwilligen Versuchspersonen erwartet man nur, daß sie das Material liefern, damit die Arbeit weitergehen kann, wann und wo sie nötig ist. Nicht mehr.« »Aber ich bin müde und nervös – ich weiß nicht, wie ich jetzt einen Test bestehen soll.« Schiml schnaubte verächtlich. »Darauf kommt es nicht an. Das sind keine Tests, die man besteht oder nicht. Je müder und nervöser Sie sind, desto besser ist es sogar. Die Tests bilden für Sie einen zusätzlichen Sicherheitsfaktor, sobald die Einteilung für die Projekte ansteht. Die Tests sagen uns, was wir von Ihnen erwarten können, sie geben uns das absolute Minimum. Im Grunde strengen wir uns sehr an, Ihr Leben für Sie zu retten.« Jeff folgte ihm stirnrunzelnd durch Schwingtüren in einen langen, grell beleuchteten Korridor mit grünen Wänden und schimmerndem Fliesenboden. »Was heißt, mein Leben retten? Sie scheinen hier, nach allem, was man so hört, genau am Gegenteil Freude zu haben.« Der Arzt winkte ungeduldig ab. »Hören Sie sich an, was Sie wollen, das interessiert mich nicht. Wenn Sie die Horrorgeschichten über unsere Arbeit glauben wollen, ist das Ihre Sache. Sie sollten aber einsehen, daß sie selbst im besten Fall nur zur Hälfte stimmen, die
meisten sogar pure Erfindung sind. Meine größte Sorge ist es, ideale Bedingungen für den Erfolg jedes Experiments zu schaffen. Mit ›ideal‹ meine ich die besten aller möglichen Bedingungen von verschiedenen Standpunkten aus. Dazu gehören Probleme, die sowohl das Experiment selbst als auch den Forscher betreffen. Aber vor allem und mit Vorrang vor jedem anderen Gesichtspunkt brauchen wir ideale Bedingungen für die Rettung der Versuchstiere – in diesem Fall also Sie.« »Aber wir sind trotzdem für Sie nicht mehr als Versuchstiere«, sagte Jeff bitter. »Nicht einfach Versuchstiere«, meinte der Arzt. »Sie sind die Versuchstiere. Mit Menschen zu arbeiten ist nicht dasselbe, wie mit Katzen, Hunden oder Affen zu experimentieren – ganz im Gegenteil. Katzen und Hunde sind viel kräftiger und zäher als Menschen, sie halten wesentlich mehr aus. Es gibt kein widerstandsfähigeres Wesen als einen abgehärteten Kater. Deshalb sind Katzen für einen Großteil unserer Vorexperimente so wichtig. So häßlich das auch klingen mag – sie sind für uns im Grunde entbehrlich. Wenn etwas schiefgeht, ist es bedauerlich, aber wir haben etwas gelernt. Wenn wir einen Hund oder eine Katze opfern müssen, um zu erfahren, was wir wissen wollen, bringen wir das ohne weiteres fertig. Bei Menschen haben wir eine etwas andere Einstellung.« »Das beruhigt mich«, sagte Jeff mürrisch. »Da ist mir gleich viel wohler.« »Ich versuche durchaus nicht, witzig zu sein«, gab Schiml zurück. »Das ist mein Ernst. Wir sind keine Schlächter. Wir müssen bei unserer Arbeit eine bestimmte Anzahl menschlicher Verluste hinnehmen, ja. Das heißt aber nicht, daß wir ein Menschenleben geringschätzen. Im Gegenteil, wenn man die Verantwortung für etwas Unersetzliches und
Kostbares trägt, tut man alles Menschenmögliche, um es zu schützen.« Er machte eine Pause und sah Jeff an. »Warum, glauben Sie, ist dieses Häusergebirge überhaupt gebaut worden? Nur, damit die Bautrupps zu tun hatten? Wenn wir nicht der Meinung wären, daß es sich lohnt, um Menschenleben zu kämpfen, gäbe es kein Hoffman-Institut für medizinische Forschung. Und auch keine Freiwilligen Versuchspersonen.« Jeff kratzte sich verwirrt am Kopf. So hatte er die Dinge noch nie betrachtet, und Dr. Schimls Worte klangen durchaus überzeugend. »Das leuchtet mir ein«, sagte er. »Aber was bedeutet das für die FVPs? Was tun Sie eigentlich konkret, um sie zu schützen?« »Viel mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist«, erwiderte Schiml. »Zum einen studieren wir jeden Menschen genau, den wir für irgendein Experiment einsetzen. Wir versuchen seine starken und schwachen Seiten, körperlich wie geistig, herauszufinden, bevor wir zulassen, daß er sich entscheidet. Wir wollen wissen, wie er auf dies und das reagiert, wie schnell er sich erholt, wieviel Belastung sein Körper zu ertragen vermag, wie weit seine geistige Widerstandskraft reicht. Wenn wir das alles über einen bestimmten Menschen ermittelt haben, können wir versuchen, ihn in das Forschungsprojekt einzufügen, das ihm die größten Chancen bietet, davonzukommen, und das gleichzeitig eine so wichtige Forschungsfunktion erfüllt, daß das Risiko überhaupt vertretbar ist. Viele Freiwillige erfüllen die Voraussetzungen nicht. Entweder besitzen Sie nicht die Ausdauer, an der Stelle, wo wir sie brauchen, überleben zu können, oder sie haben sie, eignen sich aber gerade nicht für eines unserer Projekte. In beiden Fällen werden sie höflich, aber entschieden abgewiesen oder, falls möglich, rehabilitiert und nur getestet. Wenn man
bedenkt, was für menschliche Wracks sich hier einfinden, ist sogar das ein positives Ergebnis. Wir verwenden nicht einmal jeden zwanzigsten Freiwilligen, bis alle Vorarbeiten abgeschlossen sind.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Glauben Sie mir, niemand hier macht sich einen Spaß daraus, ein Menschenleben zu gefährden. Wir reduzieren das Risiko auf das äußerste.« Sie bogen in einen Nebenflur ein und betraten einen kleinen Büroraum. Schiml bot Jeff einen Stuhl an, setzte sich an den Schreibtisch und griff nach einem kleinen Stapel Datenkarten. Jeff wartete stumm. Schließlich nahm der Arzt den Telefonhörer ab und tippte eine Nummer. »Gabe?« fragte er, als eine Lampe aufblinkte. »Ich habe ihn hier. Komm lieber gleich her.« Er legte auf, lehnte sich zurück und öffnete seufzend seinen Kittel. Jeff, der immer noch mit dem beschäftigt war, was er eben gehört hatte, beobachtete Schiml. Der Arzt hatte so sachlich und offen gewirkt, daß man ihn kaum für einen Lügner halten konnte. Aber irgend etwas stimmte an dem Bild immer noch nicht. »Das hört sich großartig für euch Ärzte und Techniker an«, meinte Jeff schließlich. »Aber worauf läuft das Ganze hinaus? Was nützen diese Experimente? Oh, ich weiß, sie vermehren das Wissen über den menschlichen Geist und dergleichen, aber was helfen sie im Augenblick dem Mann auf der Straße? Was helfen sie, auf die Dauer gesehen, überhaupt jemandem? Es muß doch irrsinnig viel Geld kosten, was Sie da treiben. Wie können Sie staatliche Unterstützung erwarten, wo Washington vor großen finanziellen Schwierigkeiten steht?« Schiml lächelte. »Sie spannen den Wagen vor die Pferde, fürchte ich, wie die meisten Menschen. Finanzielle Unterstützung? Hören Sie zu, mein Freund: Der Staat ruiniert sich, nur um unser
Forschungsprogramm aufrechtzuerhalten. Und warum, glauben Sie wohl, wird dieses viele Geld zur Verfügung gestellt? Weil der Staat weiß, daß es bald überhaupt keine Regierung mehr geben wird, wenn unsere Arbeit nicht bald, sehr bald, zu Ergebnissen führt. Das ist der Grund.« Jeff starrte ihn an. »Ist das Ihr Ernst?« »Absolut.« »Aber warum? Was spielt sich ab?« Der Arzt seufzte. »Wenn ich Ihnen das genau erklären könnte. Wir wissen es selbst nicht. Wir wissen nur, daß seit etwa hundert Jahren etwas im Gange ist – nicht nur in diesem Land, sondern auf der ganzen Welt. Irgend etwas – eine schleichende Krankheit, eine Art Fäulnis – nagt unablässig an den Wurzeln unserer Zivilisation. Wir wissen nicht genau, was es ist, aber es erfaßt Körper und Geist der Menschen in großem Maße. Es muß sich um eine geistige Krankheit handeln. Die statistischen Zahlen, die wir veröffentlichen, geben die tatsächliche Steigerung, die uns bekannt ist, auch nicht annähernd wieder. Wenn wir die Wahrheit bekanntgäben, würden wir eine weltweite Panik auslösen.« Er sah zu Jeff auf, der ihn mit offenem Mund anstarrte. »Die Regierung kennt den Ernst der Lage«, fuhr Schiml fort. »Schon seit langem. Man hat es wachsen sehen, es übt eine Art gräßliche Faszination aus. Man kann nicht glauben, was man sieht, aber den Blick vermag man auch nicht abzuwenden. Nun, wir mußten der Regierung beweisen, daß das wirklich geschieht, immer wieder, bis uns endlich jemand zuhörte und man die Tatsachen einfach nicht länger ignorieren konnte. Jedenfalls sah man es schließlich ein. Man hat auch die anderen Aspekte gesehen: die wirtschaftliche Unsicherheit, die Anstürme auf die Banken, die Börsenstürze, die Herumtreiber auf den Straßen, die Unruhen, die ohne Vorwarnung an Orten
ausbrechen, wo man sie am wenigsten erwartet, die Menschen, die vom Streß, vom Lärm in den Großstädten in Massenpanik versetzt werden. Die Regierung hat das alles durchaus erkannt, aber es bedurfte der Statistiken, ihr zu beweisen, daß eine Gesetzmäßigkeit dahintersteckt und wohin diese Gesetzmäßigkeit führt. Danach mußte nicht mehr um finanzielle Unterstützung gebettelt werden. Was sich hier abspielt, muß erkannt und zum Stillstand gebracht werden.« Schiml stand auf, reckte sich und goß Kaffee aus einem Spender in der Wand ein. »Wir wissen nicht mit Bestimmtheit, was wir bekämpfen, sind aber überzeugt davon, daß die Antwort im menschlichen Verhalten liegt. Wir kämpfen gegen eine schleichende Krankheit, die die Gehirne der Menschen erfaßt, und das heißt, daß wir Menschen – menschliche Gehirne – einsetzen müssen, um sie zu bekämpfen. Deshalb gibt es die Freiwilligen Versuchspersonen, Männer und Frauen, die sich nicht dafür interessieren, was sie tun oder was damit erreicht werden kann. Menschen, die nur eines interessiert: wieviel man ihnen dafür bezahlt, daß ihnen das Gehirn ausgerenkt wird.« Schiml machte eine Pause und fuhr dann zornig fort: »Nun, uns ist es egal, wen wir bekommen, solange unsere Freiwilligen den Anforderungen entsprechen. Wir nehmen Süchtige, verurteilte Mörder, Herumtreiber, gescheiterte aus den Slums – jeden, der kommt. Sie sind hier, um Reichtümer anzusammeln, aber sie leisten trotzdem einen großartigen Beitrag zum Wohl der Menschheit, ob sie es wollen oder nicht. Und wir nehmen sie, weil man sie kaufen kann, und dann beschützen wir sie mit allen Mitteln, damit wir diesen Kampf auf irgendeine Weise gewinnen können. Und jeder kann sich für die Tests qualifizieren, sogar Sie.« Jeffs Hände zitterten, als er seinen Kaffee schlürfte. Die Tür öffnete sich, und ein kleiner Mann kam herein. Er hatte schwarzes Haar, trug dicke Brillengläser und einen weißen
Arztkittel. Jeff rieb seine Brust und spürte die Lochkarte in seinem Hemd. »Also gut«, sagte er heiser. »Wann fangen wir an?«
13
Der Umkleideraum war eng und roch nach Narkotika. Jeff trat zusammen mit Dr. Schiml und dem anderen Arzt ein und begann seine Schuhe auszuziehen. »Das ist Gabriel«, sagte Schiml und zeigte auf seinen kurzsichtigen Kollegen. »Er nimmt zunächst eine gründliche Untersuchung vor. Kommen Sie ins Untersuchungszimmer, sobald Sie ganz ausgezogen sind.« Damit verschwanden die beiden Ärzte durch Schwingtüren in einen Innenraum. Jeff zog schnell Hemd und Hose aus. Er faltete die Lochkarte sorgfältig zusammen und steckte sie unter die Innensohle seines rechten Schuhs. Es war nicht gerade das beste Versteck, aber es mußte genügen. Jedenfalls schien Schiml nichts von der Karte zu wissen, denn während des ganzen Gesprächs hatte er nicht ein einziges Mal auf seine Hemdbrust geblickt. Wenn Schiml wirklich beobachtet hatte, wie Jeff sie einsteckte, mußte er eine übermenschliche Selbstbeherrschung besitzen. Auf die Würfel war Schiml auch nicht zu sprechen gekommen. Merkwürdig, diese Würfel. Zufall? Ausgeschlossen. Jeff zuckte die Achseln, tätschelte seine Schuhe, warf seine Kleider darauf und betrat den Nebenraum. Es war ein großer Saal mit einer Kuppel als Decke. Ein Dutzend Trennwände teilte ihn in Einzelräume auf. Ein Teil sah aus wie ein Klassenzimmer – Schreibtafeln von Wand zu Wand. Ein anderer Raum war mit Turngeräten gefüllt – Barren, Ringe, ein Schwebereck, ein Trampolin. Die Ärzte warteten in einer Ecke, die als Untersuchungsraum eingerichtet war; die Tische waren mit grünem Stoff bezogen, in den Glasschränken an den Wänden lagen grüne Bündel und
Instrumente. Schiml saß auf einer Tischkante und starrte Jeff an, während er seine Pfeife anzündete. Dr. Gabriel winkte Jeff zum Untersuchungstisch. Es war die genaueste, gründlichste Untersuchung, die Jeff je erlebt hatte. Der Arzt prüfte ihn vom Scheitel bis zur Sohle, lauschte, drückte, klopfte, horchte ab, machte Netzhautaufnahmen, hielt die Porenstruktur fest. Nach einer halben Stunde winkte er Jeff zu einem anderen Tisch, kontrollierte mit einem Gummihammer die Reflexe und löste dabei eine beunruhigende Vielzahl von Muskelzuckungen aus. Schließlich wurde der Hammer durch eine kleine Elektrode ersetzt, die der Arzt überall ansetzte, um Reflexe in Jeffs Rücken, Armen und Beinen auszulösen. Dann richtete sich Dr. Gabriel auf, führte Jeff zu einem weichen Sessel und begab sich zu einem kleinen, tragbaren Instrumentenschrank. »Ist das alles?« fragte Jeff. Dr. Schiml lachte. »Diese Untersuchung dient nur dazu, grobe Grundzüge zu erfassen«, sagte er. »Mit den eigentlichen Tests haben wir noch gar nicht angefangen.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund. »Haben Sie Fragen, bevor wir beginnen?« Jeff saß da und kam sich dumm vor. Fragen? Am liebsten hätte er laut herausgelacht. Er war so angespannt, daß er sich kaum ruhig halten konnte; quälende Fragen bedrängten ihn, Mutmaßungen, wilde, absurde Vermutungen darüber, was sie bei den Tests entdecken würden, wie das Ergebnis ausfallen mochte. Angenommen, sie erfuhren die Sache mit den Würfeln? Angenommen, sie kamen dahinter, daß er ein Schwindler war, daß er sich zur Verfolgung seiner privaten Zwecke im Institut aufhielt und gar kein Interesse an ihrer Forschungsarbeit hatte? Wenn er sich zusammennahm, konnte er sie vielleicht weiterhin täuschen, aber was war, wenn man ihm das Bewußtsein raubte, ihm Drogen einspritze? Er suchte
nach einem Weg, die Dinge aufzuhalten, den Ablauf der Untersuchung zu verlangsamen, damit ihm mehr Zeit blieb, seine private Absicht zu verwirklichen, bevor die Karten auf den Tisch gelegt werden mußten. Er wußte aber schon, daß er Verdacht erregt haben mußte. Schiml war kein Dummkopf. Er zumindest mußte begriffen haben, daß nicht alles in Ordnung war. Trotzdem schien er Jeffs Schnitzer bewußt zu übersehen, und nun kam der kritische Augenblick immer näher, an dem er eine Einverständniserklärung unterschreiben und einen Auftrag übernehmen oder den wahren Zweck seines Hierseins preisgeben mußte. Wenn er Conroe überhaupt finden wollte, dann mußte ihm das vor diesem Augenblick gelingen. Jeff starrte Schiml an und schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Fragen.« Der Arzt hob die Schultern. »Gut«, sagte er müde. »Sie werden jetzt einer ganzen Reihe von Tests unterzogen. Wir prüfen körperliche Ausdauer, geistige Regsamkeit, Reaktionszeit, Intelligenz – alles, was für uns je von Interesse sein könnte. Sie können mitarbeiten oder sich wehren – das ist Ihre Sache. Eines müssen Sie begreifen. Alle diese Tests sind subjektiv; sie hängen von den Reaktionen ab, die Sie zeigen, und unterrichten uns über Sie als Person – darüber, wie Sie denken, wie Sie reagieren, wie Sie mit Schwierigkeiten fertigwerden. Diese Faktoren sind von ganz entscheidender Bedeutung, wenn Sie die Versuche überleben wollen.« Er schwieg geraume Zeit. »Es wäre also nur klug, wenn Sie sich an die Wahrheit hielten. Keine Ausschmückung, keine Tricks. Wir können Sie nicht am Fälschen und Schwindeln hindern, wenn Sie darauf bestehen, aber Sie brechen sich damit selbst das Genick. Das wäre alles.« Jeff blinzelte und rutschte unruhig hin und her. Nur keine Sorge, dachte er. Ich werde nicht so lange hier sein, daß das ins Gewicht fallen könnte. Aber die nüchternen Worte wirkten
doch alles andere als beruhigend. Wenn es ihm nur gelänge, den Betrug während der Tests aufrechtzuerhalten, sein Urteilsvermögen zu bewahren, dann könnte er sich wieder auf die Suche machen, solange sie die Ergebnisse auswerteten. Aber wenn sie schnell vorgingen, würde er ernsthaft in die Klemme geraten. Er sah zu, als Dr. Schiml ein Bündel Unterlagen aus dem Schreibtisch zog. Dann folgte ein Trommelfeuer von Fragen: Familiengeschichte, Lebenslauf, Angaben über Leiden in der Familie und persönliche Krankheiten. Die Fragen wurden schnell und sachlich gestellt, und Jeff spürte, wie sich seine Muskeln entspannten, als er sich zurücklehnte und beinahe automatisch antwortete. Dann: »Sind Sie schon einmal hypnotisiert worden?« In Jeffs Gehirn erstarrte etwas. »Nein«, zischte er. Schimls Augen weiteten sich. »Sehr schade. Ein Teil der Untersuchung sollte unter Hypnose erfolgen, um Ihretwillen ebenso wie aus Gründen der Schnelligkeit. Es sei denn, Sie hätten einen bestimmten Einwand.« »Es würde nicht gehen«, log Jeff und suchte hastig nach einer Ausrede. »Man hat es versucht. Wahrscheinlich eine Sperre. Mein Vater hatte sie auch.« Schiml zuckte die Achseln. »Diese Sperren sind gewöhnlich leicht zu überwinden. Ein kleiner Drogenschlaf, und – « »Nein«, sagte Jeff. »Auf die Hypnose müssen wir verzichten.« »Sie erleichtert Ihnen die Tests maßlos«, sagte Schiml beharrlich. »Manche sind sehr anstrengend, andere dauern ohne Hypnose ewig. Selbstverständlich behandeln wir alle Informationen streng vertraulich.« »Nicht zu machen«, sagte Jeff. »Keine Hypnose.«
Schiml hob die Schultern und sah zu Dr. Gabriel hinüber. »Okay, Gabe. Du hast ihn gehört.« Der Arzt nickte. »Sein Begräbnis.« Er rollte ein kleines, glänzendes Instrument mit Knöpfen und Schaltern zu Jeff und nahm einen Kopfhörer vom Haken. »Vielleicht überlegen Sie es sich noch. Inzwischen fangen wir mit ein paar weniger anstrengenden Versuchen an. Das ist eine Hörprobe. Ganz einfach. Sie hören nur zu und achten auf die Signale. Blicken Sie auf das Okular. Es zeichnet die audiovisuellen Korrelationszeiten auf und sagt uns, wie schnell sich, sobald Sie ein Wort hören, die entsprechende Vorstellung bei Ihnen einstellt.« Er schob den Kopfhörer über Jeffs Ohren und legte eine vorgedruckte Liste vor ihn auf den Tisch. Dann begann der Kopfhörer zu sprechen. Es kam eine lange Reihe von Worten, die mit der Zeit immer leiser wurden. Jeff hakte die Punkte auf der Liste schnell ab, vergaß mit der Zeit seine Umgebung, konzentrierte sich ganz auf den Versuch. Die Ärzte zogen sich in die andere Ecke zurück und unterhielten sich flüsternd miteinander, bis er sie nicht mehr hören konnte; er hörte nur das drängende Flüstern im Kopfhörer. Nach einiger Zeit, kaum merklich, schienen die Worte wieder lauter zu werden, aber das erfaßte er nur undeutlich. Er schien irgendwie nicht mehr mitzukommen. Im ersten Augenblick glaubte er, seine Aufmerksamkeit sei abgeirrt, und er lauschte angestrengt, um den Faden wieder aufzunehmen, den Blick starr auf den kühlen, perlgrauen Bildschirm gerichtet, die Hand erhoben, um die Worte abzuhaken. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte die Silben nicht richtig verstehen. Weil es Unsinnssilben waren, Silben ohne Bedeutung. Jeff riß die Augen auf, Argwohn durchzuckte ihn, und seine Hände umklammerten die Sessellehnen, als er aufzustehen begann.
Das Licht explodierte in seinen Augen, blau-weiß stechend in seinem Glanz. Jeff stieß einen unterdrückten Schrei aus. Verzweifelt versuchte er aufzustehen, war aber von dem durchdringenden Strahl geblendet, und etwas hielt seine Arme und Beine fest. Dann spürte er die Kanüle in seinem Arm, und die Unsinnsworte in seinen Ohren ordneten sich zu sinnvollen Sätzen, und eine sanfte, beruhigende Stimme sagte: »Entspannen… entspannen… zurücklehnen und entspannen… entspannen und ausruhen…« Plötzlich stieg Wärme in seinem Körper hoch, und er fühlte, wie seine Muskeln locker wurden, genau, wie die Stimme es befahl. Bald war sein Denken frei von Angst, Sorge und Verdacht, und er atmete ruhig und schlief schließlich mit der friedlichen Ausgeglichenheit eines neugeborenen Kindes. Später begriff er, daß es ohne Hypnose nicht gegangen wäre. Schiml hatte gelogen, jedenfalls in dieser Beziehung. Er wußte, daß der menschliche Körper innerhalb weiter Grenzen in der Lage war zu tun, wozu er sich für fähig hielt. Man konnte es dem Körper aber kaum übelnehmen, wenn die Konvention seit langem entschieden hatte, daß Anstrengung schlecht, daß Anspannung bis zum äußersten ungesund war, daß die, selbst indirekte, Annäherung an die sicheren Grenzen menschlicher Widerstandskraft soviel bedeutete, wie dem Tod mit offenen Armen entgegenzugehen. Daß die Konvention so entschieden hatte, wußten die Forscher im Hoffman-Institut sehr genau. Man wußte aber auch, daß der menschliche Körper unter dem beruhigenden Einfluß der Hypnose zur normalen Grenze der Belastbarkeit und darüber hinaus geführt werden konnte. Notfalls konnte er sogar zum tatsächlichen körperlichen Zusammenbruch geführt werden – ohne Aufregung, ohne Protest, ohne Anzeichen der Angst. Das waren die Bedingungen, die beim Test der Freiwilligen
Versuchspersonen unbedingt geschaffen werden mußten. Obwohl die Hypnose unerläßlich war, sträubten sich die Freiwilligen grundsätzlich dagegen – sei es aus Angst, irgendein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit zu verraten, weil sie den Ärzten oder den Untersuchungen im Institut mißtrauten, sei es einfach aus Halsstarrigkeit. Niemand kannte ihre Motive oder kümmerte sich darum. Später, als Jeff wußte, was geschehen war, vermutete er, daß diejenigen, die der Hypnose bei den Tests am dringendsten bedurften, sie am heftigsten ablehnten. Das spielte allerdings keine Rolle, denn das Hoffman-Institut existierte lange genug, und man hatte viele grundlegende Dinge dazugelernt – zum Beispiel, wie man einen Menschen gegen seinen Willen hypnotisiert.
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Jeff Meyer wäre zornig gewesen, wenn er es gewußt hätte. Vielleicht sogar außer sich vor Wut, denn Jeff hatte Angst – unter anderem. So, wie die Dinge standen, spielte es keine Rolle, was er empfand, weil ihm die ruhige Stimme ins Ohr flüsterte, er brauche keine Angst zu haben, und deshalb hatte er auch keine. Er befand sich in einem entspannten, glücklichen Zustand und spürte, wie sein Körper durch den Raum zum ersten Abschnitt des Untersuchungssaals halb getragen, halb geführt wurde. Selbst jetzt warnte ihn eine innere Stimme und mahnte ihn zur Wachsamkeit, aber Jeff lachte und sank tiefer in seinen friedlichen Schlummer. Dr. Gabriel sprach mit ihm, ruhig und gleichmäßig, erteilte einfache Anweisungen, führte ihn in wenigen Stunden durch eine Testreihe, die sonst lange, anstrengende Tage beansprucht und am Ende, ohne die dämpfende Wirkung der Hypnose, zur geistigen Verkrüppelung geführt hätte. Zuerst wurde er in weichen Flanell gekleidet und in die Turnhalle gebracht. Man befestigte Elektroden an Armen, Beinen und Hals, dann wurde er zum Tretwerk geführt und gebeten, darin zu laufen, bis er zusammenbrach. Er lächelte und gehorchte und rannte, als hetzten ihn die Furien, bis sein Gesicht blutrot wurde und sich seine Muskeln verkrampften. Schließlich brach er zusammen, unfähig, weiterzulaufen. Das passierte nach fünfzehn Minuten Laufen bei äußerster Belastung. Danach kamen fünf Minuten Erholung unter Suggestion: Dein Herz schlägt langsamer, du atmest ruhig und tief… entspannen… entspannen… entspannen. Jemand ergriff
seinen Arm, und es ging von neuem los, diesmal mit dem alten, verläßlichen Harvard-Test, auf den Stuhl springen und wieder hinunter, immer wieder. Das machte er, bis er wieder keuchend am Boden lag, kaum fähig, sich zu bewegen, während Pulsund Atemveränderungen sorgfältig aufgezeichnet wurden. Als nächstes folgte ein flottes Handballspiel; er bekam einen kleinen Hartgummiball und den Auftrag, mit einer in der Ecke stehenden Maschine zu spielen. Die Maschine spielte scharf. Sie spielte auch gemein, drehte den Ball herum und schleuderte ihn mit so unglaublicher Schnelligkeit nach Jeff, daß er gezwungen war, ganz auf das Denken zu verzichten. Als er unwillkürlich nach dem Ball griff, versengte der ihm die Finger; Jeff schleuderte ihn, bekam ihn aber doppelt so schnell zurückgefeuert. Bald bewegte Jeff, sich so automatisch wie eine Maschine, fing, warf, fing und warf, ohne die Schmerzen und das Anschwellen seiner Finger zu beachten, als der Ball sie traf und traf… Danach auf das Trampolin, ein Trampolin wie jedes andere, nur daß dieses… boing!… eigene Energie zu besitzen schien… boing!… ihn jedesmal härter und höher emporwarf… boing!… keine Zeit zum Denken oder Schauen… boing!… brich dir nicht den Hals, Jeff!… boing!… beim nächstenmal brichst du ihn dir… boing!… aufpassen… boing!… aufpassen… boing!… aufpassen… Später, als er zerschlagen und regungslos dalag, flüsterte die sanfte Stimme. Eine kleine Leiter wurde hereingerollt. Er hörte sich die Anweisungen genau an, dann lief er die Leiter hinauf und hinunter, bis er ohnmächtig abstürzte. Er lag schlaff am Boden, während man ihm eine Blutprobe entnahm. Dann saß er da und starrte auf den Boden – entspann dich, Jeff… ruh dich aus… schlaf schön, Jeff… gleich stemmst du dich ein und kämpfst… entspann dich…
Mehrere Menschen waren in der Nähe. Jemand brachte ihm ein dickflüssiges, gezuckertes Getränk, lauwarm und eklig. Er trank es, schüttete einen Teil über sein Hemd. Dann blieb er ruhig sitzen, während man ihm wieder Blut abzapfte. Schließlich durfte er kaltes Wasser trinken und seine Füße anstarren, fünf Minuten lang, ungestört, bevor die nächste Aufgabe begann. Diesmal waren es Lichter in drei langen Säulen, die sich erstreckten, so weit er sehen konnte. Manche blinkten, andere leuchteten unablässig, wieder andere waren dunkel. »Nennen Sie die Säulen eins, zwei, drei«, sagte Dr. Gabriel neben ihm ruhig. »Bezeichnen Sie die Anordnung der Lichter, wie Sie sie jetzt sehen. Sobald das Signal ertönt, bezeichnen Sie jede Veränderung, die Sie in allen drei Säulen erkennen. Schnell, Jeff, so schnell Sie können!« Das Auge ist ein wunderbares Präzisionsinstrument, fähig, eine unglaubliche Vielzahl von Veränderungen und Bewegungen gleichzeitig zu erkennen, empfindlich genug, notfalls jedes Einzelbild eines Films zu unterscheiden, der schnell auf der Leinwand abläuft. Jeffs Finger flogen, sein Bleistift merkte an, von Säule eins zu Säule zwei und weiter zu Säule drei, hin und her, schneller, immer schneller, bis der Test beendet war. Dann weiter zum nächsten. Oberflächenelektroden wurden an jedem seiner zehn Finger und Zehen befestigt; jede Elektrode gehörte zu einer Drucktaste an der Schalttafel vor ihm. »Genau zuhören, Jeff. Ich sage es Ihnen nur einmal: Ihre rechte große Zehe entspricht dem linken Daumen, die zweite Zehe rechts dem rechten Zeigefinger. Wenn Sie einen Stromstoß in einer Zehe spüren, drücken Sie den Knopf für den entsprechenden Finger. Los jetzt, Jeff, so schnell Sie können.«
Stromstoß, Drücken, Stromstoß, Drücken – Jeffs Verstand war still, stumm, ein offener Stromkreis, der Reaktionssignale ohne Widerstand durchließ, mit unglaublicher Geschwindigkeit. Wieder eine Runde bewältigt, und weiter zur nächsten. Dr. Schimls blasses Gesicht tauchte auf. »Alles in Ordnung, Gabe?« »Es läuft gut, sehr gut. Besser kann es gar nicht gehen.« »Keine Schwierigkeiten?« »Nein, keine Schwierigkeiten. Bis jetzt noch nicht.«
15
»Ich brauche Kaffee«, sagte Jeff. »Ich bin ziemlich fertig.« Dr. Gabriel richtete sich auf, brachte Jeff eine Tasse schwarzen Kaffee und lächelte. Jeff bemerkte, daß er schielte und zu weit griff, als er die Tasse nehmen wollte. »Wie fühlen Sie sich, Jeff?« »Gut.« »Noch viel zu tun.« Ein Aufzucken von Angst in Jeffs Gehirn. »Gut. Ich hoffe nur – « »Ja?« » – hoffe, daß wir bald fertig sind. Ich halte nicht mehr lange durch.« »Müde?« »Ja, müde.« »In zwei Stunden haben wir alles auf Lochkarten für Tilly. Alle Faktoren über Sie, die sich bei diesen Tests ergeben, würden einen Forschungsstab fünfhundert Jahre beschäftigen, bevor man sie so integrieren könnte, daß sie verwertbar sind. Bei Tilly dauert es fünf Minuten. Sie macht auch keine Fehler.« »Brave Tilly.« »Und wenn die Resultate vorliegen und Sie eingeteilt sind und Ihre Erklärung unterschreiben, haben Sie Aussicht auf viel Geld.« Wieder die Angst, tiefer diesmal. Sein Kopf schien mit Watte vollgestopft zu sein, Jeff schien nicht mehr klar denken zu können. »Geld«, wiederholte er ein wenig verwirrt. »Ah, ja.«
Nach fünf Minuten Ruhepause kamen weitere Tests und danach noch mehr. Ein Geräusch hören, auf einen Knopf drücken. Ein Bild sehen, abhaken. Test für Test, endlos, Dutzende von Aufzeichnungen, während er immer müder wurde. Körperlich und geistig. Dann in den hellen, schimmernden Raum zurück, auf den grünbezogenen Tisch. »Keine Schmerzen, Jeff, kein Grund zur Sorge. Ist gleich vorbei – « Seine Augen erfaßten die schmale, gefährlich aussehende Trephine, die dem Bohrer eines Zahnarztes glich, er hörte den Motor surren, spürte die Vibration über seiner Stirn und an den Schläfen, aber der Schmerz blieb aus. Dann fühlte er das seltsame Prickeln in Armen und Beinen, als die kleinen Elektroenzephalographkontakte durch die winzigen Bohrlöcher in seinen Schädel eingeführt wurden. Er sah dumpf zu, als die kleinen Lampen an der Schalttafel daneben zu blinken begannen, in nervöser, hektischer Reihenfolge, die Aktivität der einzelnen Gehirnzellen auf superempfindlichen stroboskopischen Film aufzeichneten, der die Daten Tilly automatisch zur Analyse zuleitete. Die Trephinelöcher wurden wieder verschlossen, sein Kopf fest verbunden, und man brachte ihn für weitere fünf Minuten Erholung in einen anderen Raum zurück. Schiml hielt sich dort auf. »Bist du schon bei den Tintenklecksen?« fragte er ungeduldig. »Noch nicht, Rog. Beruhige dich, wir kommen gut voran. Tintenkleckse und Intelligenztests als nächstes.« »Entschuldige. Laß dich nicht drängen. Aber da wird es erst interessant, weißt du.« In Jeffs Gehirn regte sich etwas, trotz der beruhigenden Tauschlingen der Hypnose. Irgend etwas in ihm wehrte sich beim ersten Anblick der seltsamen, farbigen Formen auf den
Karten. Er krümmte sich, als nähere sich eine bösartige Kraft und alle Fluchtwege seien versperrt. »Sehen Sie sich das nur an, Jeff«, sagte Dr. Gabriel leise. »Sagen Sie mir, was Sie sehen.« »Nein! Weg damit!« »Was denn? Nur ruhig, Jeff, das sind nur Tintenkleckse. Entspannen Sie sich, und schauen Sie genau hin.« Jeff war aufgesprungen und wich zurück. »Tun Sie sie weg. Ich will ‘raus hier, ‘raus – « »Jeff!« Die Stimme klang scharf und befehlend. »Setzen Sie sich, Jeff.« Jeff ließ sich auf den Stuhl sinken. Sein Blick glitt hin und her. Der Arzt bewegte die Hand, und Jeff zuckte zurück. Seine Zähne klapperten aufeinander. »Was ist denn, Jeff?« »Ich – ich mag – diese – Karten nicht – « »Aber warum bloß nicht? Das sind doch nur Pappstücke.« Jeff zog die Brauen zusammen und sah die Karten an. Er kratzte sich verwirrt den Kopf. Langsam ließ er sich zurücksinken. Er bemerkte es nicht einmal, als sich die Gurte um Arme und Beine schlossen. »Jetzt sehen Sie sich die Bilder an, Jeff. Sagen Sie mir, was Sie sehen.« Seine Verwirrung wuchs, aber er schaute hin und sprach, langsam, heiser. Einen Hundekopf, einen Gnom, eine große, rote Fledermaus. »Ruhig, Jeff. Kein Grund zur Angst. Entspannen, Mann, entspannen – « Dann kamen die Wortassoziationstests, eine halbe Stunde Wörter und Antworten, während das Gefühl hilfloser Panik in Jeff wuchs. Ein Gefühl schrecklicher Vorahnung ergriff ihn; er wußte, daß etwas Entsetzliches bevorstand, so sicher eine Stunde auf die andere folgte. Plötzlich spürte er die Gurte an
seinen Handgelenken, als der Arzt ihm Wörter zur Assoziation hinwarf, und er begann zu zittern. Dr. Schiml war wieder da, immer noch besorgt, mit glitzernden Augen. »Alles in Ordnung, Gabe?« »Weiß nicht recht, Rog. Mit den Klecksen stimmt etwas nicht. Schau dir das an. Wortassoziation ebenfalls ganz durcheinander. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es ist merkwürdig – « »Laß ihn eine Minute ausruhen und verstärk das Mittel. Wahrscheinlich sträubt sich seine starke Vitalität.« Dr. Gabriel nickte, und wieder stach eine Kanüle in Jeffs Arm. Der Arzt trat an den Schreibtisch und nahm ein kleines Kästchen heraus. Er kippte die Karten in seine Hand. Es waren die Karten, die Dr. Schiml bei dem ersten Gespräch auf seinem Schreibtisch liegen hatte, einfache Karten mit leuchtendroten Symbolen. Dr. Gabriel hielt sie Jeff hin. »Modifizierte Rhine-Karten«, sagte er leise. »Vier verschiedene Zeichen, Jeff. Ein-Quadrat, ein Kreis – « Es war wie ein elektrischer Stromstoß, der gnadenlos durch Jeffs Gehirn schoß, wie ein rotglühender Nagel in seinen Schädel drang. Er sah die Karten, und in seinem Gehirn explodierte etwas wie Napalm. »Mein Gott, halt ihn fest!« Jeff schrie, hellwach, mit vorquellenden Augen. Mit tierischem Gebrüll riß er an den Gurten, fetzte sie aus dem Holz, stürzte in blinder, entsetzter Flucht durch den Raum, prallte mit voller Wucht gegen die Mauer. Er schlug mit dem Gesicht dagegen, hämmerte mit den Fäusten auf die Mauer ein, schrie und schrie. Dann brach er zusammen, mit blutender Nase, das Gesicht aufgeschürft, mit abgerissenen Fingernägeln.
Als er in die barmherzige Bewußtlosigkeit versank, hörte er sich lallen: »Er hat meinen Vater umgebracht… hat ihn umgebracht… ihn umgebracht… ihn umgebracht… ihn umgebracht…«
16
Stunden später regte sich Jeff Meyer. Er versuchte seinen Arm zu bewegen und schrie beinahe vor Schmerzen auf. Seine Brust schien mit jedem Atemzug zu verbrennen. Als er die Augen öffnete, überfiel ihn peinigender Kopfschmerz. Trotzdem bewegte er sich, um zu sehen, wo er war. Er lag in seinem Zimmer. Er erkannte die Möbel, sah das leere Bett an der anderen Wand, Er hob den Kopf, um die Verbände um Kopf und Gesicht zu betasten. Er lauschte. Zuerst war da nur Stille. Dann hörte er das rauhe, gurgelnde Atmen des Mannes nebenan, des Mannes namens Tinker, dessen Schicksal als Freiwillige Versuchsperson noch nicht ganz besiegelt war und der weiteratmete, flach und stockend, die tödliche Stille durchbrechend. Was war geschehen? Jeff setzte sich plötzlich im Halbdunkel auf, ohne die Schmerzen in Brust und Hals zu beachten. Sein Gesicht fühlte sich an, als habe jemand mit einem Hammer darauf herumgeschlagen. Was war geschehen? Warum trug er Verbände? Was war geschehen, das ihn sogar jetzt noch vor Angst beinahe lähmte? Er starrte zu dem anderen Bett hinüber. Natürlich. Er war im Archivraum gewesen, Schiml hatte ihn ertappt und zu den Untersuchungen mit hinuntergenommen. Einfach zunächst, das Gedächtnis klar, und dann ohne Warnung ein gleißendes Licht, Unsinnsworte, ins Ohr geflüstert, eine Kanüle… und dann – nichts. Aber was war mit der Karte, die er gestohlen hatte… mit der Lochkarte über Conroe? Jeff rollte sich aus dem Bett, tastete
fieberhaft nach seinen Schuhen. Er riß die Innensohle heraus und fand die zerknitterte Karte. Erleichtert seufzte er auf. Was auch immer geschehen sein mochte, die Karte hatte man nicht gefunden. Sie wußten nicht, daß er sie hatte. Aber was war gesehenen? Langsam kehrten andere Erinnerungen wieder. Undeutliche, verschwommene Bilder von endlosen, qualvollen Tests. Dr. Gabriel starrte ihn durch dicke Brillengläser an und gab ihm eine Tasse Kaffee, als er um eine Ruhepause bat. Etwas mit Tintenklecksen und… noch etwas anderes. Und dann ein Schrei, als er sich losgerissen hatte und mit der Wucht eines Zehntonners an die Wand geprallt war. Wann? Wie lange war das her? Er starrte auf seine Uhr und traute seinen Augen kaum. 7.00 Uhr morgens. Es war fast 1.00 Uhr nachts gewesen, als man ihn zu Dr. Gabriel gebracht hatte, und die Untersuchungen mußten viele Stunden gedauert haben. Es konnte nicht schon wieder sieben Uhr morgens sein, außer, er hatte einmal rund um die Uhr geschlafen. Er schüttelte die Uhr argwöhnisch, aber sie lief. Was bei Dr. Gabriel geschehen war, hatte ihn so mitgenommen, daß er mindestens vierundzwanzig Stunden, vielleicht sogar länger geschlafen hatte. Und in dieser Zeit… Der entsetzliche Zeitverlust kam ihm plötzlich zum Bewußtsein. Seit er Conroe auf der Treppe gesehen hatte, waren über achtundvierzig Stunden vergangen. Und Conroe hatte so viel Zeit gehabt, sich zu verstecken! Jeff sank stöhnend auf das Bett. Kostbare Zeit verloren, zuviel Zeit. Der Mann war hier, irgendwo, unter den FVPs, aber ihn jetzt zu finden, nach so langer Zeit… wie? Und dazu seine eigene verlorene Zeit, zuviel Zeit. Der Computer namens Tilly würde die Daten ohne Verzögerung auswerten, der nächste Schritt war, daß man ihn für ein Projekt einteilte und ihn zwang, eine Erklärung zu unterschreiben – der Punkt, an dem es keine Umkehr mehr gab.
Hinter allem anderen stand etwas, was er nicht fassen konnte. Irgend etwas ging in seinem Gehirn vor, was er nicht kontrollieren konnte. Warum der entsetzliche Schock während der Untersuchung? Warum hatte er sich losgerissen und war blindlings in eine Wand gerast, als man ihm ein paar harmlose Karten gezeigt hatte? Warum diese unbeherrschbare Welle blinder, unvernünftiger Angst? Und warum hing diese Angst untrennbar mit Paul Conroe zusammen? Denn so war es. Immer schon. Er hatte es vorher nie verstanden, aber jetzt gab es keine Frage mehr. Seine Alpträume, sein besessenes Suchen nach Conroe während der letzten drei Jahre, seine fanatische Entschlossenheit, den Mann wiederzufinden, gleichgültig, was es kostete… alles verband sich mit einer schrecklichen, namenlosen Angst, die er nicht einmal zu begreifen vermochte. Er seufzte. Er brauchte Hilfe und wußte es. Er brauchte sie dringend. Er dachte sehnsüchtig an Barney. Wenn er nur hier wäre. Barney und Em hatten ihm schon einmal geholfen, damals, als er das Krankenhaus verlassen wollte und Hilfe brauchte. Sie waren gekommen und hatten gesagt: »Wir nehmen diesen Jungen. Er ist Waise, er braucht ein Zuhause.« Bei ihnen war er aufgewachsen; Em so sanft, und Barney ein Fels der Verläßlichkeit. Em war an jenem Virus gestorben, gerade als er die Universität verlassen hatte, um Conroe zu jagen, und dann war die lange Nacht gekommen, in der er Barney zu erklären versucht hatte, was geschehen war, warum er einen Mann jagen mußte, den er nicht einmal kannte. Barney hatte es nie begriffen, aber er war auf seiner Seite gewesen, trotz allem, bis Conroe im Institut untergetaucht war. Aber Barney war nicht hier. Es gab keinen Barney, auf den er sich stützen konnte. Hier, in dieser Kloake von Haß und Selbstsucht, brauchte er dringender Hilfe als je zuvor in seinem Leben: Hilfe, um dieses Phantom Angst aufzuspüren, in die
Enge zu treiben, herauszufinden, was es bedeutete. Aber die einzigen, die er jetzt um Hilfe bitten konnte, waren die Menschen um ihn, die Freiwilligen Versuchspersonen selbst. Und er brauchte ihre Hilfe, schon deshalb, um nicht einer von ihnen zu werden.
Jeff döste vor sich hin; er war unfähig, die schreckliche Lethargie zu überwinden. Stunden später erwachte er und lauschte. Etwas hatte sich verändert. Er spürte eine Atmosphäre der Spannung im Zimmer, den Hauch einer Andeutung, daß etwas Entsetzliches geschehen war. Langsam schob er sich auf einen Ellenbogen und schaute sich im Zimmer um. Es war etwas geschehen, kurz bevor er erwacht war. Er lauschte angestrengt in die Totenstille hinein. Dann wußte er, was es war. Die Atemzüge im Nebenzimmer waren verstummt. Er ließ sich mit hämmerndem Herzen zurücksinken. Der Tod war also gekommen. In den Kulissen wartend, hatte der Tod sein Stichwort vernommen und war auf die Bühne getreten, um einen Mann zu holen, der nie das versprochene Vermögen sehen würde. Jeff wußte nicht, wie oder warum, aber er hatte den Tod nah vorbeistreifen gefühlt, und er wußte instinktiv, daß die ganze Station es sehr bald wissen würde, ohne daß ein einziges Wort gesprochen werden mußte. Jeff hatte in den vergangenen drei Jahren nicht oft gebetet, aber jetzt betete er. Für die Seelen der verstorbenen Gläubigen. Und zum erstenmal spürte er eine plötzlich Verbundenheit mit den FVPs, ein tiefes Verstehen, das er mit ihnen teilte. Und eine grenzenlose Angst, die er auch mit ihnen gemeinsam haben mußte.
Er rollte sich unter Schmerzen auf die Seite und starrte lange Minuten in die Dunkelheit, bevor er wieder in unruhigen Schlaf fiel.
Irgendwo im Zimmer redete jemand, ein gedämpftes, murmelndes Auf und Ab. Langsam kämpfte sich Jeff aus seinem wiederkehrenden Alptraum in den stickigen, trüb erleuchteten Raum zurück. Die Stimmen – es waren mehr als eine – murmelten schon geraume Zeit, dessen war er gewiß. Wie lange hatte er geschlafen? Wieviel Zeit hatte er zusätzlich verloren? Die Stimmen lieferten keinen Hinweis. Seltsamerweise war er überzeugt, daß sie verstummen würden, sobald er aufzuwachen schien, und er blieb deshalb regungslos liegen, atmete flach und gleichmäßig, halb lauschend. Es war jedoch schwer, aufzupassen; jeder Muskel schmerzte, und der Eindruck des Alptraums war noch frisch. Diesmal war der Traum sehr deutlich gewesen – scharf umrissene Bilder, die wie mit Scheinwerfern auf einer Bühne angestrahlt wurden. Derselbe Traum natürlich, dasselbe Gesicht, dieselbe entsetzliche, unbezähmbare Angst. Diesmal hatte er von seiner ersten Begegnung mit Conroe, auf den Stufen der Bibliothek, geträumt. Er hatte alles noch einmal durchlebt, Sekunde um Sekunde, genauso, wie es geschehen war. Und als er Conroes Gesicht erblickte, schien die Zeit zu erstarren, und er hatte wieder den furchtbaren, tausendfach verstärkten Schlag gespürt. Wie der Schock und die Panik im Untersuchungssaal! Die Stimmen im Zimmer waren lauter geworden. Langsam wurden Wort- und Satzfetzen verständlich, während Jeff regungslos dalag, die Augen immer noch geschlossen. Eine Stimme gehörte einer Frau. Blackie, die heftig argumentierte.
Und der nasale Tonfall des Franzosen war nicht zu verkennen. Die dritte Stimme kam ihm bekannt vor, ein tiefes Brummen, aber er konnte sie nicht unterbringen. Jeff öffnete die Augen einen Spalt und drehte den Kopf eine Spur zur Seite, um die am Tisch sitzenden Personen sehen zu können. Der dritte war Harpo, der kahlköpfige Riese aus dem Spielsaal. Blackies Stimme klang scharf und flehend, als Echo zum zornigen Protest des Franzosen. Harpos tiefer Baß lieferte die grollende Grundstimme für die halb im Flüsterton geführte Unterhaltung. Plötzlich verstand Jeff ein, zwei Sätze und erstarrte. Schlagartig war er hellwach. »Ich sage, stellen wir fest, wer es ist, und tun wir etwas dagegen«, erklärte Jacques erbost. »Unfälle kommen vor, und eine Leiche kann uns nichts wegnehmen. Wenn wir noch lange hier herumsitzen, wird es zu spät sein.« Sein Gesicht war zorngerötet, als er Harpo anfunkelte. »Paß auf, du Idiot, wir werden ganz ausgeschaltet, wenn wir nichts unternehmen! Begreifst du denn das nicht? Wenn umgestellt wird, haben wir keine Chance mehr! Die streichen uns von der Liste, und wir können ewig warten. Vielleicht zehn Jahre. Ich will aber nicht warten. Der Job, den mir Schiml versprochen hat, bringt zweihunderttausend, und das praktisch ohne Risiko. Ich lasse mich doch nicht einfach von einem Neuen ausstechen, nur weil er Schiml in Aufregung versetzt hat.« »Vielleicht sind das nur Tagträume, Jacques«, meinte Harpo beruhigend. »Vielleicht wird gar nichts geändert. Du hast doch nur Gerüchte gehört.« »Ich habe den Bericht gesehen, sage ich dir! Schiml hat ihn selbst unterschrieben.« Harpo starrte ihn an. »Du meinst, du hast Schimls eigenhändige Unterschrift gesehen?«
»Das versuche ich dir doch die ganze Zeit klarzumachen«, sagte Jacques aufgebracht. »Ich habe die Unterschrift gesehen und den Bericht gelesen. Ich werde von der Auftragsliste gestrichen und ihr auch. Man stellt uns ganz plötzlich kalt, weil einer von der Straße hereingeschneit ist und sie in helle Aufregung versetzt hat.« »Wieder mal ESP, nehme ich an«, brummte Harpo. »Versteht sich. Was sonst bringt Schiml so aus der Fassung?« »Na ja – warum regst du dich auf? Das hat er bald wieder hinter sich, wie jedesmal. Hör zu, Jacques, ungefähr alle zwei Jahre geht Schiml einmal auf Gespensterjagd, aber dabei kommt nie etwas heraus, und dann läuft alles wieder normal. Extrasensuelle Perzeption!« Er schnaubte verächtlich. »Hast du schon einmal jemanden mit übersinnlichen Fähigkeiten gesehen? Na, ich auch nicht. Begreif doch, Schiml führt hier das Kommando, und ESP ist sein Steckenpferd. Er würde seinen linken Arm dafür hergeben, wenn er den Beweis erbringen könnte, daß es ESP in irgendeiner Form wirklich gibt. Er glaubt daran, er möchte es beweisen, und von Zeit zu Zeit unternimmt er immer mal wieder einen Versuch. Damit muß man sich eben abfinden. Warum die Aufregung?« »Weil er diesmal vielleicht die richtige Versuchsperson gefunden hat«, meinte Blackie düster. »Er hat tatsächlich einen konkreten Hinweis. Nach allem, was ich gehört habe, ist der Neue ein Phänomen, wer er auch sein mag. Er erzielt die höchsten Treffer beim Kartenspiel, die man je erlebt hat. Und er kann alles mögliche, zum Beispiel die Tapeten von der Wand rollen, bloß durchs Hinsehen, oder Feuer legen, ohne Zündhölzer zu gebrauchen, oder offene Wunden in zehn Minuten schließen.« »Das sind doch Märchen! Wer glaubt schon, was er hier zu hören bekommt?« Harpo gab sich verächtlich, wirkte aber unsicher. »Wenn wirklich etwas dahinter wäre, etwas
Konkretes, dann würde ich schon zuhören, glaubt mir. Ich will meine Chancen genausowenig verlieren wie ihr, aber ihr habt keine Beweise. Nichts als Schauermärchen. Dagegen kann man doch nichts unternehmen.« Jeff setzte sich langsam auf. »Was für Beweise meinen Sie?« fragte er. Harpo starrte ihn an, als sehe er ein Gespenst. Blackie zuckte zusammen. Nach einem Blick auf die anderen sagte Harpo: »Irgendeinen Beweis.« »Dann sehen Sie sich das an«, sagte Jeff. Er griff nach seinen Schuhen, zog die Lochkarte aus dem Versteck und warf sie auf den Tisch. »Ansehen, aber nicht anrühren«, sagte er. »Die würde ich ungern verlieren.«
Blackie sprang auf, erschrocken und nervös. »Wir wußten nicht, daß Sie wach sind«, sagte sie. »Sie sehen aus, als hätte man Sie durch die Mühle gedreht.« »So kann man es auch ausdrücken.« Blackie nickte. »Die Testreihen sind schlimm. Ich hatte gehofft, daß man Sie vielleicht nicht finden wird, als die Aufseher herkamen, um Sie zu holen. Ich wollte die Leute auf eine falsche Fährte bringen, aber als Sie nicht zurückkamen, dachte ich mir schon, daß man Sie erwischt hat.« Sie gab Jeff eine Tasse Kaffee und deutete auf die Lochkarte. »Haben Sie die wirklich aus dem Archiv geholt, ohne entdeckt zu werden?« »Ja.« Ihre Blicke begegneten sich kurz, und er fing eine Warnung auf, eine stumme, hilflose Bitte. Er nickte kurz. Sie hatte den anderen von ihrem Kampf um die Würfel nichts erzählt. »Ich glaube, daß diese Karte viele Fragen beantwortet.« Harpo sah ihn argwöhnisch an.
»Woher wissen Sie, daß das der Mann ist?« »Weil ich ihm ins Institut gefolgt bin, deshalb.« Jeffs Stimme klang zornig. »Ich wußte nicht, daß er vorher schon hiergewesen war, und von einem Zusammenhang mit ESP ahnte ich überhaupt nichts, aber ich kenne den Mann. Er kam am selben Tag wie ich, weil er vor mir flüchtete.« Er machte eine Pause. »Ich glaube, er hatte Angst davor, ich würde ihn umbringen, wenn ich ihn erwischte.« Harpo starrte zuerst die Karte, dann Jeff an. »Sie meinen, Sie haben eine private Auseinandersetzung mit dem Mann?« »Ja«, sagte Jeff. »Erzählen Sie es ihnen, Blackie. Sagen Sie ihnen, warum ich hier bin.« Blackie berichtete. Sie lauschten fassungslos, und es wurde totenstill. Dann pfiff Harpo durch die Zähne. »Und ich dachte, ich hätte schon alles gehört! Sie sind verrückt, Mann. Sie können einfach nicht bei Trost sein, wenn Sie hierher kommen, nur um mit einem Menschen zu reden.« »Das ist meine Sache«, sagte Jeff. »Aber das Eis, auf dem Sie stehen, ist dünn. Sehr dünn. Wenn man Sie gestern nacht untersucht hat, können Sie jeden Augenblick eingeteilt werden und die Erklärung zur Unterschrift vorgelegt bekommen. Und wenn die mal unterschrieben ist, kommt man hier nicht mehr ‘raus.« »Das weiß ich selbst«, knurrte Jeff. »Begreifen Sie denn nicht, daß für Diskussionen keine Zeit mehr bleibt? Das ist der Mann, den ich suche. Aber auch ihr sucht ihn, den Mann mit der ESP, für den sich Schiml und seine Leute so interessieren! Das steht alles hier auf der Karte!« Harpos Augen verengten sich. »Außer der Karte sonst noch ein Beweis, daß Conroe wirklich der Mann ist, den wir meinen?« Jeff überlegte kurz.
»Nicht direkt ein Beweis, aber immerhin Dinge, die bestimmte Schlußfolgerungen nahelegen. Ich versuche seit drei Jahren, diesen Mann zu fassen. Ich hatte sehr viel Unterstützung und gab viel Geld aus – mein Vater hinterließ mir bei seinem Tod ein kleines Vermögen. Ich arbeitete wochen- und monatelang mit den besten Privatdetektiven zusammen, die es in Nordamerika gibt, und wir konnten den Kerl nie festnageln. Nicht ein einziges Mal. Ein dutzendmal hätten wir ihn beinahe geschnappt. Wir waren ihm ständig auf den Fersen, bis er kaum noch zu Atem kam, aber er ging nie in die Falle.« Harpo sah ihn an. »Na und? Ich komme nicht mit.« »Erscheint Ihnen das nicht etwas eigenartig? Wir kamen immer wieder so nah heran, daß einfach nichts schiefgehen konnte, aber es ging trotzdem schief. Zu oft, als daß es hätte Zufall sein können. Eher ein Plan – irgendein Faktor, der Conroe immer wieder rechtzeitig gewarnt hat, so daß er aus unseren Fallen entwischen konnte. Ein Faktor wie Präkognition zum Beispiel.« Es blieb lange still. Dann sprang Jacques auf. Er gestikulierte aufgeregt. »Er hat recht, es stimmt wirklich«, sagte er. »Das wäre natürlich einer, für den Schiml alles gibt. Für eine solche Chance läßt er ein Dutzend Projekte sausen. Gut, wenn wir schnell genug handeln, können wir dafür sorgen, daß er den Wunderknaben nicht bekommt. Wir sind von der Liste gestrichen, so wie die Dinge jetzt stehen, aber wir sind schnell wieder da, wenn sein Schützling plötzlich irgendwo tot aufgefunden wird.« »Nicht tot!« sagte Jeff scharf. »Ich brauche Zeit, um mit ihm zu reden.«
»Na klar«, sagte Jacques grinsend. »Das verstehen wir. Sie wollen ihn zuerst, damit er auspacken kann. In Ordnung. Wir können ihn sogar zum Sprechen bringen, wenn er ein bißchen widerspenstig sein sollte.« Er lachte bösartig. »Sie können auf uns zählen, aber wenn Sie mit ihm fertig sind, gehört er uns.« »Und wie wollt ihr das machen?« mischte sich Harpo ein. »Nichts leichter als das«, sagte Jacques. »Unser Freund hier will ihn zuerst haben, er kennt ihn am besten. Wir helfen ihm dabei, den Kerl zu suchen, und decken ihn. Einverstanden, Jeff?« »Einverstanden«, sagte Jeff eifrig. »Wenn Sie mir helfen, ihn ausfindig zu machen, gehört er Ihnen, sobald ich mit ihm fertig bin.« Harpo überlegte eine Weile, dann nickte er und füllte die Kaffeetassen. »Okay«, sagte er leise. »Abgemacht. Wie gehen wir vor?«
17
Danach ging alles ganz glatt. Jeff saß vorgebeugt auf dem Bett und hörte mehr zu, als er sprach, während die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung der Stunden vorher zu verschwinden schienen. Er hatte unglaubliches Glück. Diese Leute kannten sich im Institut aus, sie wußten, wie und wo man suchen mußte. Das war die Unterstützung, die er so dringend gebraucht hatte, um Conroe ausfindig zu machen, ihn endlich zu stellen. Während des Gesprächs erklärte ihm eine Stimme in seinem Inneren, daß er ein Narr sei, daß er sich nicht auf das Wort des Franzosen verlassen dürfe; im besten Fall würde er Conroes Todesurteil unterschreiben, wenn er mit diesen Menschen zusammenarbeitete. Aber er verschloß sich gegen diesen Gedanken, weigerte sich, seine Hochstimmung davon beeinflussen zu lassen. Das war Conroes Problem, oder nicht? Conroe hatte schon Chancen genug gehabt, sich zu stellen, ohne bedroht zu sein. Jetzt sollte er sich auch seinen eigenen Kopf zerbrechen. Einen Augenblick lang war Jeff von seiner eigenen Kaltblütigkeit entsetzt – das ist nicht richtig, Jeff, das paßt nicht zu dir… Aber auch über diesen Gedanken setzte er sich hinweg. Harpo drehte nachdenklich die Karte in den Fingern. »Diese Daten müssen etwas zu bedeuten haben. Sie haben ihn doch gejagt! Wußten Sie denn nicht, daß er von Zeit zu Zeit hiergewesen ist?« Jeff schüttelte den Kopf. »Nein. Oh, natürlich kam es vor, daß wir ihn für Tage oder sogar Wochen aus den Augen verloren, aber wir hatten auch nicht den geringsten Hinweis darauf, daß er hier sein könnte.«
»Merkwürdig.« Harpo sah ihn an. »Sehr merkwürdig. Als hätte er es bewußt geheimgehalten. Und Sie ahnten nichts davon, daß er durch bestimmte ESP-Fähigkeiten im Vorteil sein könnte?« Jeff zog die Brauen zusammen. »Keine Spur. Bis ich die Karte fand, habe ich daran nicht einmal gedacht. Rückblickend fielen mir dann Dinge auf, die ich zunächst gar nicht bemerkt hatte.« Harpo nickte. »Ja. So muß es wohl gewesen sein. Aber Schiml scheint über konkrete Beweise zu verfügen. Dieses ESP-Studium läßt sich genau mit den Raumverzerrungs-Raketenmotoren vergleichen, bevor man den Koenig-Antrieb entdeckte. Viele Leute waren davon überzeugt, daß das machbar war, jedesmal, wenn eine neue Idee auftauchte, probierte man es wieder, aber man schaffte es einfach nicht. Dann trat Koenig mit seinen Raumkrümmungsgleichungen auf, stellte Einsteins Lehre auf den Kopf, und von da an war es ein Kinderspiel.« Der Riese wurde ein wenig rot. »Ich war früher Ingenieur für KoenigAntriebsmotoren, bevor ich den Virus erwischte und nicht mehr mittun konnte«, erklärte er. »Aber lassen wir das.« »Es ist wahr«, sagte Jacques, »Schiml muß Bescheid gewußt haben. Und jetzt setzt er uns auf die Straße, nach all der Arbeit, die wir geleistet haben. Wenn hier jemand in die Geheimnisse der ESP eindringt, wird während der nächsten zwanzig Jahre im Institut auf keinem anderen Gebiet mehr geforscht. Und wenn wir in dieses Programm nicht hineinpassen – « Er machte ein finsteres Gesicht und fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. »Der Mann ist hier. Wir wissen, wer er ist. Jetzt brauchen wir Informationen über ihn, von früher und jetzt. Das heißt, daß wir in den Archiven nachsehen müssen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Er sah Jeff an. »Sie wissen, wie die
Computer funktionieren. Sie sind der einzige, der aus ihnen herausholen kann, was wir wissen müssen.« Jeff nickte. »Ich brauche aber einen gewissen Zeitraum, um dort ungestört arbeiten zu können. Bringt ihr es fertig, mich hineinzuschmuggeln, ohne daß ich erwischt werde?« »Kein Problem. Lassen Sie uns eine halbe Stunde Zeit, die Aufseher wegzuschaffen und den Weg freizumachen. Der alte Trick mit dem Feueralarm müßte genügen. In Ordnung, Harpo? Dann kann Jeff direkt hingehen.« »Und ihr verschafft mir eine Stunde?« fragte Jeff. »Fünf Stunden, wenn Sie wollen. Wir sorgen dafür.« Harpo stand auf. »Gehen wir, Jacques. Sie warten eine halbe Stunde, dann kommen Sie ‘runter. Ich stelle den Armbandwecker hier auf dem Tisch ein. Blackie, Sie zeichnen eine Skizze für Jeff, während er wartet.« Der kahlköpfige Riese drehte sich an der Tür noch einmal um. »Und macht euch keine Sorgen, wenn es draußen lebhaft wird. Das ist nicht das erstemal, daß wir die Aufseher durcheinanderbringen.« Er tippte sich kurz an die Stirn und verschwand mit dem Franzosen im Korridor.
»Ich glaube, so könnte es gehen«, sagte Jeff und steckte Blackies Skizze ein. »Möglich, daß wir ihn erwischen. Sobald wir wissen, wo er ist und was sie mit ihm vorhaben – « Er grinste sie an. »Jetzt ist er an der Reihe, Blackie. Früher oder später mußte das kommen.« Das Mädchen beugte sich vor und goß Kaffee ein. Jeff betrachtete ihr Gesicht, als sehe er es zum erstenmal. Irgendwie wirkte es weicher; im trüben Licht schienen die Falten wie durch ein Wunder verschwunden zu sein, und sie wirkte jünger und frischer als früher. Sie hatte geschwiegen,
während die Pläne geschmiedet worden waren, und ihre Augen wirkten beunruhigt, als sie die Kaffeetasse hob. »Auf den Jäger«, sagte sie leise. Jeff nickte. »Danke. Aber nicht mehr für lange.« »Lieber nicht«, meinte sie. »Sie sind nämlich auch an der Reihe.« »Zur Einteilung, meinen Sie?« Er lachte. »Ich weiß. Aber so ist es nun einmal. Ich mache weiter bis zum Schluß, gleichgültig, was passiert.« »Jeff, Sie dürfen keine Erklärung unterschreiben.« Jeff starrte sie an. »Da irren Sie sich«, sagte er leise. »Ich will es nicht, nein. Aber wenn ich es muß, werde ich es tun.« Ihre Augen waren groß und dunkel. »Jeff, hören Sie mir zu! Sie sind hier in höchster Gefahr.« »Das weiß ich.« »Nein, das wissen Sie nicht, nicht richtig.« Sie schüttelte den Kopf, als ihr die Tränen in die Augen traten. »Sie wissen gar nichts von den Freiwilligen Versuchspersonen, Jeff, nichts von den Dingen, die sie tun. Sie glauben, Sie wissen Bescheid, aber das stimmt nicht. Hören Sie, Jeff, denken Sie doch einmal ruhig nach. Sie sind jung, Sie sind intelligent, Sie können Ihr Leben auf andere Art verbringen, Sie haben Wichtigeres zu tun. Begreifen Sie das denn nicht? Dieser Conroe ist es nicht wert, daß Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen, egal, was er Ihnen oder Ihrem Vater angetan hat. Sie rennen mit offenen Augen in eine tödliche Falle! Verschwinden Sie, solange es noch geht!« Jeff schüttelte eigensinnig den Kopf. »Ich kann nicht weg. Ich kann einfach nicht. Niemand bringt es fertig, mich von hier wegzulocken. Ich brauche nur noch etwas Zeit.«
»Aber die haben Sie eben nicht! Gut, gehen Sie heute da hinunter, wenn Sie müssen, versuchen Sie ihn zu finden. Aber wenn es nicht ganz schnell klappt, dann verschwinden Sie! Heute nacht noch. Man kann Sie noch nicht zurückhalten, man hat noch keine juristische Handhabe gegen Sie – noch nicht. Aber wenn Sie unterschrieben haben, ist es zu spät. Dann haben Sie die letzte Chance verpaßt!« Jeff setzte sich auf das Bett und sah sie an. »Was geht Sie das an?« fragte er. »Weshalb liegt Ihnen daran, was ich tue?« Ihre Stimme klang leise, und die Worte kamen so schnell, daß Jeff kaum folgen konnte. »Hören Sie, Jeff, Sie und ich, wir könnten zusammenarbeiten. Gemeinsam hätten wir eine ganz große Chance. Wir könnten hier weggehen, die Stadt verlassen, an die Westküste ziehen. Die Würfel, denken Sie an die Würfel, Mann! Wir könnten abkassieren! Sie gehören nicht hierher und ich gehöre auch nicht hierher.« Irgendwo in der Ferne schrillte eine Alarmglocke. Das Klingeln pflanzte sich durch die Korridore fort. Sie hörten Menschen vorbeilaufen, hörten Rufe, die Pfeife eines Aufsehers. Drei Schienenwagen sausten hintereinander vorbei. Schlagartig wurde es wieder still. Jeff nahm den Aufruhr kaum wahr. Er starrte das Mädchen an. »Blackie, Blackie, überlegen Sie doch. Das Pech, das Ihnen an den Fingern klebt – haben Sie das vergessen? Hier haben Sie nichts zu befürchten, aber was würde draußen passieren? Wir schaffen es vielleicht, mag sein, aber was ist, wenn es nicht klappt? Wenn uns das Pech nun wieder verfolgt?« »Das glaube ich einfach nicht.« Sie schluckte. »Vielleicht klingt es albern, aber es ist nicht nur Egoismus, Jeff. Ich könnte hierbleiben. Ich habe heute nachmittag mit Schiml gesprochen, bevor Harpo und Jacques von dem Neuen
überhaupt wußten. Sie scheiden aus, wenn es ESP-Arbeit gibt, da hat Jacques recht. Aber ich nicht. Schiml möchte, daß ich bleibe, er sagte, sie hätten eine Aufgabe für mich, aber ich will nicht bleiben. Ich will auch nicht, daß Sie bleiben.« Jeff schwieg einen Augenblick. Plötzlich war er sehr müde und unsicher. »Es hat keinen Sinn, Blackie«, sagte er schließlich. »Jetzt noch nicht. Wenn ich Conroe gefunden habe, wenn ich hier fort bin, dann vielleicht. Ich habe über die Geschichte mit den Würfeln noch nicht einmal nachdenken können, es war mir nicht wichtig genug. Ich muß zuerst etwas anderes tun.« »Dann tu es, aber schnell. Du mußt den Mann heute nacht finden. Und dann verschwinde, bevor etwas Entsetzliches passiert.« Der Armbandwecker auf dem Tisch begann zu summen. Jeff griff danach und drückte auf den Knopf. Sie sahen einander an. »Seien Sie unbesorgt«, sagte er leise. »Es passiert schon nichts. Ich mache das schon zu lange, als daß noch etwas passieren könnte.« In ihrem Gesicht war etwas, was er vorher nicht gesehen hatte, eine Tiefe und Ehrlichkeit, die ihn überraschte. »Du störrischer Kerl«, sagte sie. »Du hast keine Ahnung.« Sie berührte seine Wange und küßte ihn, und für einen Augenblick klammerten sie sich aneinander, und er hörte ihre Stimme an seinem Ohr. »Jeff – « Er legte den Finger auf ihre Lippen und löste sich aus ihren Armen. »Sag es nicht, Blackie. Noch nicht.« Sie umarmten sich noch einmal, dann verließ er das Zimmer, ging durch den Korridor, spürte die kühle Luft im Gesicht. Auf der Rolltreppe nach unten begann er zu laufen, bestrebt, nicht eine Sekunde der Zeit zu verlieren, die ihm die anderen verschafften. Er wußte, daß sich die Jagd ihrem Ende näherte.
18
Jacques und Harpo erwarteten ihn am Fuß der Rolltreppe. Jeff nickte ihnen zu und folgte ihnen durch den Korridor zu dem kleinen Schienenwagen. »Alles bereit?« »Ja. Die Aufseher sind alle in Station 12 B beschäftigt, ein Feuer zu löschen. Ich glaube, daß sie etwa zwei Stunden dort zu tun haben.« Jacques zog die Brauen zusammen. »Sie müssen sich aber beeilen. Wenn sie fertig sind, können wir sie vielleicht nicht mehr hinhalten.« Jeff nickte. »Das müßte reichen. Vielleicht haben wir dann andere Dinge, mit denen wir die Aufseher beschäftigen können.« Sie stiegen in den Wagen. Harpo übernahm die Steuerung und ließ das Fahrzeug durch den Korridor schnellen. Es bog plötzlich in einen völlig dunklen Tunnel, kippte nach vorn und raste in Spiralen abwärts. Jeff hielt sich am Handgriff fest und ächzte. »Was ist passiert?« Harpo lachte leise. »Gar nichts. Es geht nur sehr weit hinunter. Vergessen Sie nicht, in den Archiven befinden sich die gesamten Unterlagen seit Bestehen des Instituts. Deshalb liegen sie in einem Kellergewölbe. Sie sind sogar gegen einen direkten Bombentreffer geschützt.« Nach einer Weile richtete sich der Wagen wieder gerade und flitzte in einen beleuchteten Korridor. Jeff schluckte. Seine Trommelfelle knackten. Der Wagen glitt weitere fünf Minuten durch ein Labyrinth von Tunnels und Korridoren, erreichte
schließlich eine Sackgasse, die von einer Stahltür abgeschlossen wurde, und sank auf den Boden. Harpo ging wortlos zum offenen Ende des Flurs und zog den Wagen hinter sich her. Er öffnete die Motorhaube und beugte sich über den Antrieb. Jacques grinste. »Wenn jemand vorbeikommt, wird die Hupe ausgelöst, und Harpo ist nur ein armer Mechaniker, der sie zum Schweigen bringen will.« Der kleine Mann ging mit schnellen Schritten zur Stahltür. »Sie glauben, daß Sie da hineinkommen?« meinte Jeff. »Es wäre nicht das erste Mal, daß ich so eine Tür öffne«, gab Jacques zurück. »Die hier kenne ich in- und auswendig. Vor ein paar Monaten wollten wir hinein, als man ein paar von uns hereinlegen wollte. Ich arbeitete das Kombinationsschema aus. Das kostete mich drei Tage. Die Kombination wird natürlich jeden Monat geändert, aber das Schema ist immer dasselbe.« Er öffnete eine kleine Ledertasche, preßte ein Instrument an das Schloß und nahm einen langen, dünnen Draht in die andere Hand. Jeff hörte ein paarmal gedämpftes Knacken, dann stieß Jacques den Draht hastig irgendwo hinein. Eine Alarmglocke über der Tür gab einen dumpfen, unentschlossenen Laut von sich und verstummte, als sei ihr im letzten Augenblick klargeworden, daß sie doch nicht läuten wollte. Einige Augenblicke später hob Jacques den Kopf und zwinkerte Jeff zu. Die Stahltür ging langsam auf. Es roch feucht und modrig in dem Gewölbe. Drei Wände und die Hälfte der vierten nahmen die Bedienungshebel eines elektronischen Registers ein. Überall standen Tische, Mikrolesegeräte, Aufzeichnungsapparate und andere Maschinen. Im ganzen Raum gab es nichts, was klein gewesen wäre; alles sprach von Größe, von vielen Jahren Arbeit und
Weisheit. Viele Menschenleben waren hier aufgezeichnet und viele, viele Todesfälle. Jeff ging zur Hauptschalttafel, fand die Kodiertastatur und setzte sich davor. Er betrachtete sie genau, als wolle er abschätzen, was ihm dieser Mammutcomputer verraten konnte. Plötzlich hatte er Angst. Ein Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf, ein vertrautes Gesicht, das seine Träume immer wieder heimgesucht hatte. Es war ein hassenswertes, beinahe unmenschliches Gesicht – aber war das alles? Oder steckte mehr dahinter, mehr hinter diesen Alpträumen, als er je vermutet hatte? In ihm regte sich etwas tief Vergrabenes, und seine Hand zitterte, als er sie nach der Schalttafel ausstreckte. Ein Gespenst stand neben ihm, ein Phantom, das ihn auf dem langen, bitteren Weg begleitet hatte. Und jetzt, in diesem Augenblick, das Ende des Weges vor Augen, hatte er Angst. Jeff schüttelte den Kopf und ärgerte sich über sich selbst. Das war jetzt nicht die Zeit, in Panik zu geraten. Das war jetzt kein Alptraum, sondern die Wirklichkeit. Er fütterte die Zeichen für die FVPs ein, Abteilung Forschung. Dann verschlüsselte er Conroes Namen. Mit zitternden Fingern tippte er die Zeichen, drückte auf den Suchknopf und lehnte sich zurück, während er auf die Ausgabe der Karten wartete. Das Gerät surrte und ratterte und stöhnte, und schließlich leuchtete eine Tafel auf: ›Keine Information‹. Jeff riß ungläubig die Augen auf. Dieses Computerarchiv war die letzte Instanz; die Information mußte vorhanden sein. Er verschlüsselte hastig eine Beschreibung, fütterte den Computer damit und wartete wieder. Auch jetzt blieben Informationen aus. Er zog die Karte aus der Tasche, die Karte, die er aus dem Register der FVPs entwendet hatte, und schob sie in den photoelektrischen Sucher. Er betätigte den Hebel für unbegrenzte Abtastung und tippte die Sonderanweisung: ›Alle Personen, die dieser Beschreibung auch nur annähernd
entsprechen. Jede beliebige Information.‹ Wieder lehnte er sich zurück, schwer atmend. Das Summen schien nicht aufhören zu wollen. Dann meldete die Leuchttafel unerbittlich: ›Unbekannt‹. Es war nicht mehr nur merkwürdig, es war einfach unfaßbar. Jeff wiederholte den gesamten Programmierungsvorgang Schritt für Schritt. Er war überzeugt, daß er einen Fehler gemacht hatte. Doch das war nicht der Fall – und trotzdem lieferte der Computer keine Information. So, als habe es einen Paul Conroe nie gegeben. Es fehlte sogar jeder Hinweis auf die Karte im Register der FVPs, hier, wo es vollständige Unterlagen einfach geben mußte. Er stand vor einer Mauer. Es gab keinen Ausweg mehr. Hinter ihm richtete sich Jacques auf und zündete sich eine Zigarette an. »Was ist los, kein Glück?« »Kein Glück«, sagte Jeff. »Wir sind geschlagen, das ist alles.« »Aber es muß doch Angaben über ihn geben.« »Eben nicht!« Jeff schlug mit der Faust auf das Schaltpult. »Keine Spur davon, nicht der winzigste Hinweis auf den Mann. Es muß Informationen geben, aber es gibt sie nicht. Es ist wie bei den anderen Gelegenheiten auch: eine Wand. Und es hat zu viele Wände gegeben. Ich habe es satt, immer wieder vor einer Wand zu stehen.« Er richtete sich auf und ließ die Schultern hangen. »Ich bin zu müde, um noch weitermachen zu können. Es hat keinen Sinn mehr, dieses Spiel weiterzuspielen. Ich verschwinde, solange noch Zeit ist.« Jacques sah ihn erschrocken an. »Vielleicht haben Sie mehr Zeit, als Sie glauben«, sagte er hastig. »Sie können doch jetzt nicht einfach weglaufen. Es dauert vielleicht Wochen, bis Sie eingeteilt werden.« Jeff starrte ihn an.
»Hm. Jedenfalls weiß ich, wie ich das feststellen kann.« Er ging zur Schalttafel, beugte sich über die Tastatur und tippte die Zeichen für J. Meyer ein. »Wenn das wirklich das Zentralarchiv ist, muß ich ja registriert sein, nicht? Alles, was man über mich weiß, muß hier zu finden sein. Was die Tests ergeben haben, was man mit mir anfangen will, und wann es losgehen soll. Dann werden wir jetzt eben mal prüfen, wieviel Zeit ich noch habe.« Er drückte auf den Suchknopf. Das Gerät summte kurze Zeit. Dann fiel etwas ins Fach, noch etwas und noch etwas. Jeff riß die Augen auf, als die Mikrofilme herauskippten. Dann griff er nach der einzelnen weißen Karte, die auf die Filme geflattert war, holte sie mit spitzen Fingern heraus. Sein eigenes Todesurteil vielleicht? Schwer zu sagen, aber es war doch besser, wenn er Bescheid wußte. Er starrte die Karte an und wurde zur Statue. ›J. Meyer‹ hatte er getippt, und das stand auch auf der Karte – aber nicht Jeffrey Meyer. Die Karte trug das Foto eines älteren, grauhaarigen Mannes, und der Name darüber lautete: Jacob Meyer. Das Bild zeigte seinen Vater.
19
In den vergangenen drei Jahren hatte er gelernt, sich über vieles hinwegzusetzen und Dinge hinzunehmen, die er früher für unglaublich gehalten hätte. Aber dies war unfaßbar. Jeff starrte die Karte in seiner Hand an und erwartete, daß sie verschwand, aber sie tat ihm den Gefallen nicht. Sie blieb in seiner Hand, und der Name ›Jacob Meyer‹ verschwand auch nicht. Das Foto zeigte immer noch die Züge seines Vaters. Sein Vater! Jeff tastete nach dem Sessel. Sein Herz hämmerte. Unter Name und Bild stand in Maschinenschrift: ›Geboren 11. August 2030 in Des Moines, Iowa; heiratete am 3. Dezember 2077 Greta Schuler; Ehefrau am 27. November 2082 an Hepatitis gestorben; ein Sohn, Jeffrey, geboren am 16. September 2078.‹ Darunter eine Reihe von Daten: ›Bakkalaureus, Magister und Doktordiplom; außerordentlicher Professor für Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik an der Universität des Ostens, 2079-2084; Eintritt in den Staatsdienst, Amt für statistische Fragen, im Jahr 2085; gestorben am 14. März 2087. Todesursache: geheim, siehe Hinweise.‹ Schließlich, ganz unten, eine lange Reihe von Zeichen für die Mikrofilmunterlagen. Jeff starrte die Ziffern an… Dutzende von Ziffern… In seinem Gehirn schien sich alles zu drehen. Schließlich sah er zu Jacques auf. »Sie können inzwischen gehen«, sagte er. »Ich muß ziemlich viel lesen.« Er griff nach den Mikrofilmspulen und trug sie zum nächsten Lesegerät. Er drückte eine Spule in den Apparat und schaltete ihn ein.
Die erste Spule war lang und enthielt eine Reihe von Zusammenfassungen statistischer Abhandlungen aus der Feder Jacob Meyers, mit Randbemerkungen in dünner Handschrift und mit dem Vermerk: ›R. S.‹ Die Abhandlungen befaßten sich mit einer Vielzahl statistischer Fragen: Bevölkerung, Börsenschwankungen, Raumbedarf, Verkehrsflußstrukturen – mit allem und jedem, wie es den Anschein hatte. Einige hatten offenkundig mit der Technik statistischer Analyse zu tun, andere mit ihrer Anwendung. Die Abhandlungen waren im Gelehrtenjargon geschrieben, wissenschaftlich belegt, präzis und vernünftig, aber die Randbemerkungen schienen zu widersprechen und ständig sowohl die gewählten Beispiele als auch die Schlußfolgerungen zu kritisieren. Jeff las mit finsterer Miene ein paar Abhandlungen durch. Sie stammten aus einer Periode von vier Jahren, als sein Vater an der Universität Statistik gelehrt hatte. Insgesamt waren es mehrere Dutzend Abhandlungen, und jede trug Randnotizen. Jeff konnte mit ihnen nichts anfangen. Seufzend spulte er den Mikrofilm zurück und legte die nächste Spule ein. Sie zeigte anderes: Auszüge aus dem Briefwechsel seines Vaters, Briefe von, an oder über Jeffs Vater. Einer davon erregte Jeffs Aufmerksamkeit: ein Brief, der zwanzig Jahre alt und an das Bundesamt für Statistik gerichtet war, unterzeichnet von Dr. med. Roger Schiml. Jeff überflog ihn, las dann aber doch genauer: › – als Leiter der Forschungsabteilung im Hoffman-Institut für Medizin halte ich es für meine Pflicht, Sie auf diesen unglaublichen Zustand aufmerksam zu machen. Selbstverständlich wird man eine statistische Analyse durchführen müssen, bevor man zu dem Schluß kommen kann, daß in unserem Land eine echte und bedeutsame Steigerung im prozentualen Vorkommen von Geisteskrankheiten zu verzeichnen ist, aber wir sind der Ansicht, daß sehr vieles
dafür spricht. Wir haben Dr. Meyers Arbeit in statistischer Analyse in der Vergangenheit mit großem Interesse verfolgt und würden uns freuen, wenn er im Laufe des nächsten Monats unser Institut besuchen und ein solches Projekt in Angriff nehmen könnte…‹ Immer noch nichts Aufregendes, außer daß klar wurde, warum Jacob Meyer im Hoffman-Institut registriert war. Oder doch nicht? Wenn das ›R. S.‹ der Randbemerkungen Roger Schiml hieß, dann schien dieser praktisch alles abzulehnen, was Jacob Meyer je über statistische Probleme geschrieben hatte. Warum bat er dann einen solchen Mann darum, für das Institut eine statistische Analyse durchzuführen? Jeff zerbrach sich einen Augenblick den Kopf und nahm sich die anderen Briefe vor. Der nächste stammte von einem Unbekannten und war fast ein Jahr später an Dr. Schiml geschrieben worden. Er bezog sich auf ›die beinahe unfaßbaren Ergebnisse der vor einigen Monaten mitgeteilten statistischen Studie‹ sowie auf eine Untersuchung beunruhigender Elemente in dieser Analyse. Den letzten Absatz dieses Briefes las Jeff dreimal: ›Es kann keinen Zweifel geben, daß die von Dr. Meyer verwendeten Daten unwiderlegbar sind. Die von ihm mitgeteilten Ergebnisse folgten natürlich mit mathematischer Logik aus den Daten und hätten daher gültig sein müssen. Als unsere eigenen Untersuchungen jedoch ergaben, daß die Resultate absolut ungültig sind, wußten wir, daß der Ursprung des Fehlers in einem gänzlich unvermuteten störenden oder verzerrenden Faktor liegen mußte. Wir machen Sie sehr ungern darauf aufmerksam, aber wir sind zu der Schlußfolgerung gezwungen, daß auf die eine oder andere Weise Dr. Jacob Meyer selbst der allein störende Faktor in dieser Analyse gewesen ist. Wie das möglich ist, wissen wir nicht, aber eine andere Schlußfolgerung läßt sich nicht ziehen.
Wir bitten deshalb dringend darum, Dr. Meyers frühere Arbeiten ausführlich darauf zu überprüfen, ob solche unrichtigen Ergebnisse bereits früher aufgetreten sind, und wenn ja, wann und inwiefern. Wir empfehlen ferner, damit ohne Verzögerung zu beginnen. In der Zwischenzeit müssen wir alle davon ausgehen, daß Dr. Meyer ein schwerkranker und möglicherweise gefährlicher Mann ist, und entsprechende Maßnahmen ergreifen, um sowohl andere wie auch ihn selbst zu schützen.‹ Auf dem Brief, und wieder unter der Unterschrift, verkündete ein roter Stempelaufdruck: ›Streng geheim‹. Der nächste Brief erschien auf dem Bildschirm. Er trug den Namen eines New Yorker Psychiaters. Jeff las ihn fasziniert und entsetzt. ›Lieber Doktor Schiml, wir haben die uns übersandten Mikrofilmunterlagen gründlich studiert und, wie erbeten, eine psychiatrische Analyse von Dr. Jacob Meyer anhand seiner Arbeiten durchgeführt. Wenngleich eine abschließende Diagnose erst nach einer persönlichen Untersuchung und Befragung des Patienten gestellt werden kann, neigen wir dazu, Ihren Verdacht zu bestätigen. Es gibt kaum Zweifel daran, daß dieser Mann hochgradig labil ist. Was die Möglichkeit angeht, daß seine Geisteskrankheit in irgendeiner Weise mit verschiedenen bemerkenswerten extrasensuellen Erscheinungen zusammenhängt, so können wir uns nicht festlegen. Sie wissen, daß die Schulpsychiatrie vom Vorhandensein echter ESP nie überzeugt war. Allerdings müssen wir darauf hinweisen, daß dieser Mann mit fast absoluter Sicherheit einen regelmäßigen manisch-depressiven Psychosenzyklus durchläuft. Er kann in der Depressionsphase auf gefährliche
Weise bedrückt sein, ja fast zum Selbstmord neigen, und in einer Periode der Hochstimmung sich und andere durchaus gefährden. Eine solche Person ist außerordentlich gefährlich und sollte zweifellos zur Behandlung in eine geschlossene Anstalt überführt werden.‹ Jeff las den Brief ein zweites Mal, zitternd vor Wut. Was für Lügen! Der Gedanke, daß sein Vater geisteskrank gewesen sein sollte, daß er irgendeinen statistischen Bericht gefälscht hatte – es war unmöglich, ein Gespinst von brutalen Lügen. Aber diese Lügen befanden sich hier im Archiv des größten medizinischen Instituts auf der Erde. Lügen über seinen Vater, Lügen, denen Jeff nicht einmal begegnen konnte, weil er sie nicht begriff. Die Tür wurde aufgerissen, und Jacques steckte keuchend den Kopf herein. Er schien gerannt zu sein. »Sie müssen verschwinden«, sagte er. »Irgend etwas stimmt nicht. Ein ganzer Trupp von Aufsehern ist nach unten unterwegs.« Er verschwand plötzlich, und Jeff hörte Harpo rufen: »Los, los! Wir müssen weg!« Jeffs Beine wollten sich kaum bewegen. Er fühlte sich wie betäubt, als er aufstand. Seine Hände waren ungeschickt beim Umgang mit den Mikrofilmspulen, die er in die Taschen stopfte. Was er eben gesehen hatte, ergab keinen Sinn, nicht den geringsten Sinn. Er wußte, daß ein Zusammenhang zwischen diesen alten Briefen über seinen Vater und dem Fehlen jeder Information über Paul Conroe im Archiv bestehen mußte, aber er vermochte das Verbindungsglied nicht zu finden. Er rannte zur Tür hinaus. Harpo und Jacques hielten den Wagen für ihn bereit. Als er hineinsprang, schoß der Wagen durch einen dunklen Tunnel davon und raste in Spiralen nach oben. Gleichzeitig hörte Jeff über und unter sich das Rasseln von Alarmglocken.
Harpo bremste den Wagen scharf ab. »Oh, oh«, sagte er leise. »Sie sind uns auf die Schliche gekommen – das ist ein Großalarm. Wenn wir alles riskieren, kommen wir vielleicht noch in unser Quartier, bevor sie uns schnappen, aber wenn wir aufgehalten werden, denkt jeder nur an sich.« Jacques nickte, und Harpo ließ den Wagen wieder voranschießen. Als sie in einen beleuchteten Korridor einbogen, sah Jeff die Auswirkungen des Alarms: Keine Menschenseele war zu sehen. Irgendwo würde ein Radarschirm den Schienenwagen erfaßt haben, das wußte er. Aber wenn sie ausstiegen und den Wagen allein weiterfahren ließen… Sie fuhren weiter, und die Minuten dehnten sich. Endlich sah er die vertraute Rolltreppe vor sich. Sie sprangen aus dem Wagen, der weiterfuhr und in einem Tunnel verschwand; Augenblicke später hetzten sie den Korridor von Station 17 D entlang. Auch während der Flucht konnte Jeff die Briefe nicht vergessen. Während der ganzen Fahrt hatten ihn quälende Gedanken beschäftigt. Die Dinge begannen sich zu ordnen. Dinge, die er übersehen oder ignoriert oder vergessen hatte, fügten sich aneinander – nicht zu Antworten, sondern zu Fragen. Große Fragen, denen er nicht mehr ausweichen konnte. Wie die Frage nach Paul Conroe zum Beispiel. Es war viel zu einfach, daß Conroe ausgerechnet hierherkommen und dann verschwinden sollte, als habe es ihn nie gegeben. So etwas war nicht möglich, nicht einmal bei Conroe. Auch anderes beschäftigte ihn: Dinge, die Jahre zuvor geschehen waren, Dinge, die aus seiner Erinnerung aufzusteigen schienen, aber sofort wieder verschwanden, wenn er sie zu fassen versuchte. Dinge wie der seltsame Abend hier im Spielsaal… oder die
Episode im Nachtklub mit der Sängerin, die wie Blackie aussah, aber eine andere war. Dinge wie der plötzliche furchtbare Schlag, der ihn im Untersuchungsraum aus der Hypnose gerissen und an die Wand geschleudert hatte. Dinge wie die Briefe, die er im Gewölbe gesehen hatte. Was bedeuteten diese Dinge? Was immer sie bedeuten mochten, Jeff hatte Angst. Als er hinter Harpo von der Rolltreppe sprang, rannte er durch den Korridor zu seinem Zimmer, von plötzlicher, unvernünftiger Angst erfaßt. Er riß die Tür auf, fiel ins Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu, bevor er das Licht anknipste. Jetzt wußte er mit aller Deutlichkeit, daß er hier weg mußte. Nicht später. Jetzt, solange er noch fliehen konnte. Ohne jeden Grund oder Beweis wußte er plötzlich, daß er Paul Conroe hier niemals finden würde, nicht so, wie er es sich gedacht hatte. Er würde Conroe auch in einer Million Jahren nicht finden. Und er wußte sehr genau, warum nicht. Denn in all diesen drei Jahren war es nicht Jeff gewesen, der Conroe jagte, sondern umgekehrt: Conroe jagte Jeff. Nicht er hatte Conroe hierher getrieben; Conroe hatte ihn hierhergelockt. Er war nicht hier, weil Conroe ihm zu entkommen versuchte; er war hier, weil Dr. Schiml Jeff Meyer als freiwillige Versuchsperson haben wollte. Sonst nichts. Jacob Meyers Sohn… Jeff stürzte zum Spind, riß es auf und starrte die leeren Haken an. Das Spind war ausgeräumt, Jeffs Reisetasche fort, seine Schuhe, seine Kleider verschwunden. Er fuhr herum, von panischer Angst getrieben. Die Rolltreppe! Wenn er hinuntergelangte und einen Korridor zu erreichen vermochte, fand er vielleicht einen Schienenwagen. Wenigstens tat er dann etwas und konnte den Weg nach oben, zum Ausgang, suchen. Er schaute durch einen Türspalt hinaus und rannte zur Rolltreppe. Auf halbem Weg prallte ein
Drahtkäfig von der Decke herunter und versperrte ihm den Weg. Jeff blieb wie angewurzelt stehen und starrte das Drahtgitter fassungslos an, dann fuhr er herum und lief zurück. An der nächsten Biegung, vor dem Spielsaal, hatte er einen Nebenflur gesehen, der zu einer Gabelung führte. Wenn er die erreichen würde… Zehn Meter vor ihm sauste ein Gitter herunter, und er sah, daß er in der Falle saß. Er war eingesperrt in einem hundert Meter langen Flur. Er krallte sich am Gitter fest und dachte plötzlich an Blackie. Sie war verschwunden. Wohin? Wo waren eigentlich alle? Konnte das Ganze eine gigantische Falle gewesen sein, unter Mitarbeit von Blackie und Jacques, vielleicht sogar von Harpo? Er kehrte um, riß verzweifelt eine Tür nach der anderen auf, starrte in ein Zimmer nach dem anderen. Alle leer. Es war also doch eine Falle gewesen. Aber er war das Wild, das man jagte, nicht Conroe. Plötzlich ließ seine Angst nach, und er wurde völlig ruhig. Er durchschaute den Plan, als er in ein leeres Zimmer nach dem anderen blickte, und hatte ein seltsames Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Nun gut, es war eine Falle. Niemand außer ihm war hier, und er konnte nicht hinaus. Er erreichte wieder sein eigenes Zimmer, ging hinein, ließ die Tür offen und setzte sich seufzend auf sein Bett. Er brauchte nicht lange zu warten. Kurze Zeit später klirrte ein Gitter, als jemand es aufsperrte, dann näherten sich Schritte. Ein paar Augenblicke danach stand Dr. Schiml in der Tür. Er betrat zusammen mit zwei grauuniformierten Aufsehern den Raum und ließ sich auf das Bett gegenüber sinken. Sein Seufzen war deutlich vernehmbar. Blackie folgte
ihm. Sie mied Jeffs Blick, warf zwei kleine Elfenbeinwürfel in die Luft und fing sie wieder auf. Der Arzt lächelte und zog ein Blatt Papier aus der Tasche, das er langsam auseinanderfaltete. »Etwas Geschäftliches«, sagte er in einem Ton, als wolle er sich dafür entschuldigen. »Es wird Zeit, daß wir zur Sache kommen, finde ich. Sie nicht?« Jeff Meyer sah ihm ins Gesicht. Seine Kehle war ausgetrocknet. Er versuchte zu schlucken und konnte nicht. »Tut mir leid«, krächzte er. »Ich habe es mir anders überlegt.« Dr. Schiml lachte leise und bewegte den Kopf hin und her. »Das glaube ich nicht. Wie ich höre, können Sie gut mit Würfeln umgehen, nicht?« Jeff sprang auf, ballte die Fäuste und starrte Blackie wutentbrannt an. »Du warst es also«, fauchte er. »Du würdest deine eigene Großmutter für einen Sack Salz verkaufen, was? Kommst zu mir mit deinem Gewinsel und flehst mich an, mit dir wegzugehen.« Seine Stimme klang verbittert. »Wieviel haben sie dir bezahlt? Hunderttausend vielleicht? Oder gehört das zu deinen normalen Aufgaben? Bekommst du immer nur tausend oder zweitausend?« Blackie schoß das Blut ins Gesicht. »Nein, das ist nicht wahr. Ich habe nicht – « »Es wird ihnen sowieso nichts nützen, und du bekommst auch nichts dafür. Ich unterschreibe nämlich keine Erklärung, weder jetzt noch später.« Ein Aufseher ergriff Jeffs Arm und stieß ihn auf einen Stuhl. Dr. Schiml lächelte immer noch. Er schlang die Arme um die Knie. »Ich glaube, Sie haben mich immer noch nicht richtig verstanden«, sagte er liebenswürdig. »Blackie dürfen Sie keine
Schuld geben. Sie hat Sie nicht verraten. Sie konnte einfach nicht umhin, ein paar völlig harmlose Fragen zu beantworten.« Er sah Jeff kalt an. »Wir bitten Sie nicht, eine Erklärung zu unterschreiben, Jeff. Wir verlangen es.« »Machen Sie sich nicht lächerlich«, gab Jeff zurück. »Was Sie von mir verlangen, ist mir gleichgültig. Ich unterschreibe für euch hier überhaupt nichts. Glauben Sie, ich bin übergeschnappt?« Er riß ihm das Formular aus der Hand, betrachtete es und riß es in Fetzen. »Da haben Sie Ihre Erklärung. Verbrennen Sie sie, und suchen Sie sich ein anderes Versuchskaninchen.« »Aber wir wollen kein anderes Versuchskaninchen«, sagte Schiml ruhig. »Das ist es ja eben. Wir wollen Sie, Jeff.« Jeff spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. »Hören Sie, ich unterschreibe gar nichts, begreifen Sie das nicht? Ich habe es mir anders überlegt. Die Arbeit hier paßt mir nicht und die Gesellschaft erst recht nicht.« Schiml zuckte die Achseln. »Schade, daß Sie das zerrissen haben«, meinte er und zog ein zweites Blatt heraus. »Das macht aber nichts. Da ist eine Fotokopie der Erklärung, die wir in meinem Untersuchungszimmer liegen haben. Die Sie während der Tests in Hypnose unterschrieben haben.« Er sah die Aufseher an. »Nehmt ihn mit, Jungs.« »Halt!« Jeff war wieder aufgesprungen und starrte die Aufseher wie ein in die Enge getriebenes Tier an. Sein Blick richtete sich auf Schiml. »Hören Sie, Sie irren sich. Ich bin ein Schwindler, ein Betrüger. Können Sie das nicht verstehen? Ich bin nicht hergekommen, um mich freiwillig zu melden. Ich hatte das gar nicht vor, ich wollte nicht einmal so weit gehen. Ich bin hergekommen – « Schiml unterbrach ihn ungeduldig.
»Ja, ja, das weiß ich alles. Sie sind ins Institut gekommen, weil Sie einen Mann verfolgten, einen Mann, den Sie seit Jahren zu fassen versuchen, weil Sie glauben, er habe Ihren Vater umgebracht, und weil Sie unbedingt den Grund erfahren wollen. Richtig?« Schiml sah auf Jeff hinunter. »Nun gut, das ist Ihre Sache. Sie sind hergekommen und haben sich testen lassen, Sie jagten diesen Mann hier im Institut, vor unserer Nase. Glauben Sie, wir wüßten das nicht? Sie haben ihn aber nicht gefunden, und auf einmal wird Ihnen der Boden unter den Füßen zu heiß. Jetzt finden Sie, daß es an der Zeit ist, auszusteigen, ja? Oder irren wir uns in den Einzelheiten?« Jeff fuhr zusammen. »Dieses gemeine Weibsstück – « Schiml schnitt eine Grimasse. »Lassen Sie Blackie in Ruhe, sie hat nicht geplaudert. Blackie ist sogar sehr diskret. Sie hatte mit der ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun, Jeff. Wir wußten von Anfang an über Sie Bescheid, durch eine viel bessere Quelle als Blackie.« Er schaute über die Schulter zu einem der Aufseher. »Holt ihn her«, sagte er knapp. Die Tür zum Nebenzimmer ging auf, und ein Mann trat ein. Er war hochgewachsen, hager, hatte ein schmales Gesicht, hohle Wangen und große, traurige Augen; ein müde aussehender Mann, dessen Schläfen grau waren, ein Mann, der zu Tode erschöpft schien. Schiml sah den Mann an und blickte zur Decke. »Hallo, Paul«, sagte er. »Da ist jemand, der dich gesucht hat.« Jeff starrte den Mann an und schrie – stieß einen tierischen Schrei aus, der durch das Zimmer hallte. Er riß sich von den Aufsehern los und stürzte sich auf Paul Conroe. Dies geschah nicht willentlich, es war eine Explosion des Hasses, die sich die ganze Zeit vorbereitet hatte. Conroe sprang mit einem Schrei zurück, und Schiml zuckte hoch.
»Weg hier, Paul, schnell!« rief er, während die Aufseher sich wieder auf Jeff warfen. Aber Conroe bewegte sich nicht. Er stand da und wand sich, die Hände an den Kopf gepreßt, hilflos, während Jeff ihn anfunkelte. Und dann erhob sich die Kaffeetasse von selbst vom Tisch und flog durch die Luft direkt auf Conroes Kopf zu. Sie verfehlte ihn und zerschellte an der Wand. Die andere Tasse folgte – zerplatzte an der Wand – dann die Kanne – peng! Jeff schrie wieder auf, und der Putz fiel in großen Klumpen von Wänden und Decke. Der Tisch kippte um, ein Stuhl flog durch die Luft. Die Gardinen gingen in Flammen auf, wie von Zauberhand. Einen Augenblick später begann Conroes Kleidung zu glimmen und zu rauchen… Blackie schrie und starrte Jeff voll Entsetzen an. Schimls Stimme erhob sich über den Aufruhr. »Packt ihn! Betäubt ihn, bevor er das Ganze über uns einstürzen läßt!« Wieder schrie Jeff auf, und diesmal brüllte Conroe: »Haltet ihn auf – er reißt mich innerlich auseinander. Bitte, haltet ihn doch auf!« Jemand trat zwischen Jeff und Conroe. Eine Neuralpistole blitzte, und plötzlich versagten Jeffs Muskeln den Dienst. Wie ein kleiner, lenkbarer Blitz traf die Ladung, schmerzlos, beinahe sanft, und Jeff spürte, wie er zu Boden glitt. Sein letzter bewußter Eindruck war Blackie, die wie ein Kind in der Ecke stand, die Hände vors Gesicht schlug und schluchzte.
20
Jeff Meyer erschien alles wie ein Traum. Er lag auf dem langen Tisch, in kühles, grünes Leinen gehüllt, reglos, kaum atmend. Seine Augen waren weit geöffnet; er sah die grelle Lampe an der Decke, hörte Geräusche rings um sich, erkannte Gesichter, aber alles Fühlen war verschwunden. Er schien sich in einer fremden Welt zu befinden, in die noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hatte. Langsam steigerte sich sein Bewußtsein. Er hörte das Rasseln seiner eigenen Atemzüge, die manchmal fast aufhörten, manchmal schneller wurden. Von Zeit zu Zeit spürte er, daß Dr. Schiml neben ihm stehenblieb, einen Augenblick bewegungslos wartete und dann weiterging. Jeff selbst hatte kein Bedürfnis, sich zu bewegen. Er lag da wie eine Leiche, war aber keine Leiche; auf der anderen Seite des Raums sah er auf einer Schalttafel Lämpchen blinken, heller und dunkler werden, der Beweis dafür, daß er lebte, wenn er einen Beweis gebraucht hätte. Jeff war kein Neurophysiologe, aber er begriff, was die Lämpchen bedeuteten. Die Lichter spiegelten nur in einem einfachen Ein-Aus-Schema die Myriaden von Signalen wider, die sein Gehirn in diesem Augenblick aussandte und die durch die mikroskopisch kleinen Elektroden in seinen Gehirnzentren auf das Gerät übertragen wurden. Die dazu erforderliche Mikrochirurgie mußte bereits stattgefunden haben, aber er spürte keine Angst. Die Technik war von den Ärzten des Hoffman-Instituts längst vervollkommnet worden. Schaden richtete man damit nicht mehr an. Aber die Signale zu lesen und auszuwerten war wieder eine andere Sache. Kein Mensch konnte jemals hoffen, das
Flackern der Lichter auf dieser Tafel richtig zu analysieren, nicht einmal in zwanzig Menschenleben, aber ein elektronisches Kameranetz vermochte die Veränderungen in Mikrosekunden aufzufangen, in Millionen kaleidoskopischer Muster. Ein Computer konnte sie in seinen Datenspeichern festhalten – Sequenzen verzerrter Moleküle und zahlloser Stromkreise –, sie analysieren und vergleichen und in das ständig wechselnde Bild auf dem kleinen Bildschirm neben dem Bett integrieren. Die Zeichen auf dem Schirm waren nicht die genauen Spiegelungen der Bilder, die durch Jeffs Gehirn zuckten, viel ging hei der Übertragung verloren, aber es blieb genug. Der ganze elektronische Komplex war ein primitives Instrument, mit dem die Funktion eines so unendlich empfindlichen und vielseitigen Organs wie des menschlichen Gehirns nur sondiert werden konnte, und niemandem war das schmerzlicher bewußt als Roger Schiml; doch Jeff wußte, daß selbst ein so primitives Gerät Schiml zumindest die Möglichkeit gab, die fremdartige Welt des menschlichen Gehirns zu betrachten. Warum hast du dann keine Angst, Jeff? Er wußte auf seine eigene Frage keine Antwort. Auf der anderen Seite des Zimmers konnte er Paul Conroe regungslos sitzen sehen, das Gesicht angespannt, die Wangen eingesunken wie bei einem Toten. Conroe blickte auch auf den Bildschirm, und seine Hände zitterten, als er sich die Pfeife anzündete. »Es ist so gefährlich«, sagte er schließlich zu Schiml. »So unglaublich gefährlich.« Schiml nickte ernst und verstellte den Mikrononius der Gehirnsonde. »Natürlich ist es gefährlich«, bestätigte er, ganz so, als sei Jeff überhaupt nicht da. »Das wird es wohl immer sein. Aber es ist nicht annähernd so gefährlich, wie es vor zwanzig Jahren
gewesen wäre. Damals hätten wir uns nie an eine totale Gehirnsondierung gewagt. Schon die Anbringung der Elektroden wäre vielleicht tödlich gewesen. Aber wir haben in all den Jahren, in denen wir auf diesen Mann warteten, unsere Zeit nicht vergeudet. Wir haben die Technik verbessert und Fehler ausgemerzt. Er wird es überstehen, wenn wir nicht auf etwas völlig Unvorhergesehenes stoßen.« Conroe schüttelte den Kopf. »Ich meinte nicht nur, gefährlich für ihn. Ich meinte, gefährlich für uns. Nicht einmal er begreift, was er mit seinem Gehirn alles kann. Woher sollen wir es wissen?« Er sah Schiml betroffen an. »Das Zimmer da unten – in weiteren fünf Minuten wäre es total zerstört gewesen, wenn du ihn nicht betäubt hättest. Er hätte es in Molekularstaub zerlegt. Selbst jetzt sieht es so aus, als wäre ein Abreißteam an der Arbeit gewesen. Und dabei möchte ich schwören, daß er nicht wußte, was er tat. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt wußte, was sich abspielte. Aber er hat den Raum demoliert. Und das Feuer war echtes Feuer, Roger. Ich weiß es. Ich spürte die Flammen.« Schiml nickte. »Natürlich war es ein echter Brand! Laß Moleküle enorm beschleunigen, und du hast ein Feuer. Wir wußten nicht, daß er das konnte; jetzt wissen wir es. Aber das sind die Dinge, die wir lernen müssen, Paul – was dieser Mann alles tun kann.« Jeff lauschte bewegungslos, hörte die Worte, zunächst verständnislos, dann entsetzt, als er begriff. Das bist du, von dem sie sprechen, Jeff. Du. Du hast Dinge mit Molekülen angestellt… Und du bist es, nicht irgendein anderer, auf den Schiml all die Jahre gewartet hat. Conroe sprach weiter. »Natürlich konnten wir beide das Feuer sehen, aber da war noch etwas Schlimmeres, was dir, glaube ich, völlig entgangen
ist. Du hast den blinden Haß in diesem Raum nicht spüren können. Ich konnte ihn spüren.« Er hob den Kopf. »Roger, wie kann ein Mensch so hassen und es nicht einmal wissen? Gewiß, ich bin bei den Gehirnen, mit denen ich Verbindung aufnahm, schon oft der Wut begegnet, tausendmal, aber noch nie einem solchen Haß.« Conroe seufzte. »Er ist da, in seinem Gehirn, Roger. Als Meyer mich sah, wurde dieser Haß ausgelöst, und der Mann hätte mich beinahe umgebracht. Ich wage mir nicht auszumalen, was geschehen könnte, wenn wir die richtigen Stellen sondieren und dasselbe oder Schlimmeres auslösen. Aber zu wissen, daß die Ursache in seinem Gehirn zu suchen ist, hilft uns nicht. Wir müssen wissen, warum.« Schiml nickte wieder. »Das ist natürlich die entscheidende Frage. Warum haßt er dich so? Sobald wir das wissen, besitzen wir vielleicht die Antwort auf unsere zwanzigjährige Arbeit.« Schiml breitete die Hände aus. »So gefährlich es auch ist, wir müssen es festzustellen versuchen, solange wir noch eine Chance haben. Das weißt du, Paul. Wir können jetzt nicht aufhören, wo wir schon so viel wissen. Wir wissen, daß Jeffs Geisteskrankheit bisher weit weniger aktiv ist als die seines Vaters. Aber wenn wir in seinem Gehirn nicht beide Faktoren lokalisieren können, die Psychose und die extrasensuelle Fähigkeit, haben wir verloren. Es bliebe uns nichts anderes übrig, als alles Weitere der Regierung zu überlassen. Und was das bedeutet, weißt du.« Conroe nickte müde. »Ja, ich weiß. Unruhen, Gemetzel, Hexenjagden, Angst, Panik – alle die falschen Lösungen. Bei dem Irrsinn, der immer mehr um sich greift, wäre allein Panik schon tödlich.« Dr. Schiml hob die Schultern und trat wieder an das Bett. Jeff konnte das Gesicht des Mannes über sich deutlich sehen, die Falten der Anspannung und Erschöpfung. Seltsam, aber jetzt zeigte dieses Gesicht auch Mitgefühl, zum erstenmal.
»Nun, wir werden es bald wissen«, sagte Schiml. »Die Tiefensignale tauchen bereits auf.« Jeff hörte die Worte und spürte ein Prickeln tief in seinem Inneren. Und nun fürchtete er sich plötzlich grenzenlos.
21
Die Nadel bewegte sich, sondierte, reizte, tief, tief im weichen, zerbrechlichen Gewebe… suchte, sondierte, zeichnete auf. Ein Zucken, die Spur eines Schocks, die scharfe Reaktion einer Reihe von Nervenzellen, ein Flackern, ein Bild – Jeff Meyer bewegte sich, seine Lider sanken ein wenig hinab. Ein Backenmuskel begann zu zucken… Er schwebte sanft auf dem Rücken, ruhte auf riesigen, flaumigen, quellenden Wolken. Er wußte nicht, wo er war, noch kümmerte es ihn. Er lag einfach da, drehte sich langsam wie im freien Fall, spürte die weichen Wolken um sich, die ihn hinabpreßten, immer weiter hinab. Seine Augen waren fest geschlossen, so fest, daß kein Lichtstrahl durchdringen konnte. Er wußte im Schweben, daß er sie nicht öffnen durfte, gleichgültig, was auch immer geschah. Aber dann hörte er Laute. Er spürte, wie sich seine Muskeln verkrampften, als er die Arme um seine Brust schlang und sie zusammenpreßte. Dinge flogen durch die Luft um ihn, und sie gaben winzige Laute von sich, Quietschen und Stöhnen. Jeff schauderte, als die Geräusche lauter wurden und sich in Stimmen verwandelten, die ihm ins Ohr flüsterten, ihn auslachten. Er öffnete die Augen weit. Er sah das Zimmer noch, aber darübergeblendet war ein langer, schwarzer, hohler Tunnel, durch den er hinabstürzte. Er überschlug sich im Tunnel, immer wieder. Er strengte sich an, um den Boden zu sehen, aber es gelang nicht. Dann begann das Gelächter. Zuerst ein leises Kichern an seinem Ohr, aber es wurde lauter und lauter, zu Gelächter, zu Kreischen. Irrsinniges Lachen hallte von den
Tunnelwänden, von Sekunde zu Sekunde lauter und höhnischer. Sie lachten ihn aus, wer immer sie sein mochten, und ihr Gelächter wurde zu Kreischen in seinem Ohr. Um dem zu entrinnen, mußte er selbst schreien, die Hände auf die Ohren gepreßt, mußte die Augen wieder fest schließen. Schlagartig verstummte das Gelächter. Alles hörte auf. Er lag angespannt da und lauschte. Nein, nicht alles. Ein paar Geräusche waren vernehmbar, sanft und vertraut. Irgendwo in der Ferne hörte er das Dss-dss-dss einer Zikade. Es klang laut in der Sommernacht. Jeff rollte sich auf die Seite, spürte die frischen Laken unter sich, das weiche Kissen, das Rascheln der leichten Decke. Wo…? Natürlich. Er lag in seinem Zimmer und wartete. Wartete und hoffte. Papa! Plötzlich wußte er, daß sein Vater heimgekommen war. Nicht durch irgendein Geräusch im dunklen Haus, er hatte nicht einmal den Düsenwagen in die Garage fahren hören, auch nicht das Quietschen der Haustür vernommen, aber er wußte, daß sein Vater da war. Er blinzelte in die Dunkelheit, ein wenig ängstlich jetzt, weil Papa da war und er Angst haben durfte. Es war dunkel im Zimmer, und er mochte die Dunkelheit nicht. Er wünschte sich, sein Vater würde heraufkommen und das Licht anmachen. Aber seit Mama tot war, mußte er ein tapferer kleiner Mann sein, hatte Papa gesagt, auch wenn er erst vier war; also fürchtete er sich natürlich nicht, wenn Papa fort war… Er lag da und schauderte. Es gab noch andere Geräusche, vor dem Fenster, im Zimmer. Erschreckende Geräusche. Es war gut und schön, ein tapferer kleiner Mann zu sein, aber Papa begriff das mit der Dunkelheit und den Geräuschen nicht, auch nicht, wie sehr er sich manchmal danach sehnte, daß ihn jemand fest in die Arme nahm und ihm Liebkosungen ins Ohr
flüsterte, wie Mama es getan hatte. Aber Mama war natürlich anders gewesen. Er hatte Mama nie in seinem Kopf spüren können, wie er seinen Vater fühlen konnte… aber Mama hatte das mit der Dunkelheit verstanden. Und dann hörte er den Schritt seines Vaters auf der Treppe, fühlte ihn näher kommen. Er rollte sich auf die andere Seite, lachte in sich hinein, tat so, als schlafe er. Nicht, daß er seinen Vater auch nur einen Augenblick hätte täuschen können, Papa wußte schon, daß er wach war, aber dieses Spiel spielten sie Abend für Abend. Es machte Spaß, so etwas mit Papa zu spielen. Er wartete, bis er die Tür aufgehen hörte und die Schritte sein Bett erreichten. Dann warf er sich herum, stieß die Decke zurück und sprang im Bett hoch wie ein Geist… Hab’ ich dich erschreckt? Danach nahm ihn sein Vater auf die Schultern, lachte und sagte, er sei ein großes, weißes Pferd, das gekommen sei, um Jeff auf einer langen Reise zu tragen. Also machten sie eine weite Reise hinunter ins Arbeitszimmer, zu Milch und Keksen, wie sie es immer taten, wenn Papa heimkam. Jeff wußte, daß sein Vater Milch gar nicht mochte… Es interessierte ihn weit mehr, seinen Sohn mit den merkwürdigen Karten spielen zu sehen, mit den Karten, bei deren Herstellung ihm Jeff vor langer Zeit zugesehen hatte. Mit den Karten gab es ein Spiel: Sein Vater sah sie der Reihe nach an, und Jeff nannte das Zeichen, sobald er es im Gehirn seines Vaters ausmachte… den Kreis, die Spirale, die Acht, den Buchstaben B, den Buchstaben E… es war ein R, nicht wahr Papa? Das kann aber nicht sein, ich habe ein B gesehen… ach, ich weiß schon, du willst mich erwischen! Spielen wir jetzt mit den Murmeln? Oder mit den Würfeln? Nehmen wir die mit den runden Ecken, da ist es einfacher, weißt du. Sein Vater beobachtete ihn, wenn er die Karten ablas, die Nase rümpfte und die Zeichen nannte. Er sah, wie sein Vater
jedes richtige Zeichen anmerkte und jedes falsche auch. Jeff wußte jedesmal, welches an der Reihe war – und er fühlte die Befriedigung und Anerkennung seines Vaters. Dann kamen die Würfel an die Reihe, viel lustiger als die Karten. Die mit den scharfen Kanten, Pappi? Aber da geht es viel schwerer… ach, du willst mir ein neues Spiel zeigen. Zeig es mir. Ich gebe mir ganz große Mühe, daß ich es richtig mache. Und dann, nach dem neuen Spiel, erzählte ihm sein Vater vor dem Einschlafen eine Geschichte, eine von den komischen Geschichten, wobei er alle gewöhnlichen Worte laut sagte, aber die Witze und Späße und privaten Dinge hinzufügte, ohne Worte zu gebrauchen. Es war komisch, keiner von den anderen wie Mary-Ann aus der Nachbarschaft konnte seinen Vater so fühlen wie er. Er machte sich Gedanken darüber. Einmal hatte er Mary-Ann als ganz großes Geheimnis davon erzählt, und sie wollte ihm nicht einmal glauben. Niemand kann seinen Vater hören, ohne daß er spricht, hatte sie gesagt. Aber er wußte besser Bescheid. Gewöhnlich machte es auch Spaß, aber heute abend, nach der Geschichte, als er zu Bett ging, spürte er auch andere Dinge vom Gehirn seines Vaters… Dinge, die ihn ängstigten. Als sein Vater das Licht löschte und gehen wollte, klammerte sich Jeff im Mondschein an ihn. »Papa?« »Ja, mein Sohn.« »Warum – warum hast du heute abend Angst? Du hast vor etwas Angst, das weiß ich.« Sein Vater lachte, sah ihn merkwürdig an und sagte: »Unsinn. Was meinst du mit Angst?« Aber sie war nicht verschwunden. Selbst als sein Vater zum Arbeitszimmer hinunterging, spürte Jeff die Angst. Schlagartig verschwand die Kindheitserinnerung, und die Dinge veränderten sich. Alles veränderte sich. In dem einen
Augenblick war er vier Jahre alt gewesen, lag in seinem Bett, voller Angst, weil auch sein Vater Angst hatte. Im nächsten Augenblick befand er sich in einer bizarren Traumwelt, flog um den Rand eines riesigen, schwarzen Wirbels. Er spürte, wie er in der Dunkelheit herumgerissen, mühelos fortgetragen wurde, aber gleichzeitig schien er sich aus einer bestimmten Entfernung selbst zu beobachten, unfähig zu helfen. Auf irgendeine Weise wußte er, daß er immer noch Jeff Meyer war, daß die empfindlichen Elektroden sein Gehirn erforschten. Er spürte sogar, wie eine Sonde sich einer Erinnerung näherte, zurückwich und erneut näher kam. Er fühlte ein Zucken des Erkennens, einen beinahe mechanischen Schock des Bewußtwerdens und Begreifens der Wahrheit, sobald eine ausgelöste Erinnerung an die Oberfläche stieg, dann war die Sonde verschwunden, in diesem Gebiet fertig, und ging zum nächsten weiter. Der Wirbel wurde zu einem Wassertunnel, der über ihm rauschte, ihn hochwirbelte, hinauf, hinauf, herum, dann mit schwindelnder Schnelligkeit hinab und wieder hinauf, als sitze er in einer großen, wirbelnden Achterbahn, aber immer näher und näher rückend… Wohin? Er wußte es nicht, aber er wußte, daß er dorthin nicht wollte. Er wehrte sich gegen die Sonde, wies sie ab, hielt sie mit aller Kraft fern. Er ballte die Fäuste und kämpfte, biß verzweifelt die Zähne zusammen. Unten, am Ende dieses gigantischen Wirbels, gab es einen Ort, zu dem er nicht wollte, den er nicht zu sehen wünschte. Was immer dort sein mochte, es war angsterregend und häßlich, etwas, was vor langer Zeit aus seinem Denken ausgelöscht worden war. Etwas, was herausgerissen und beseitigt war. Was es auch sein mochte, er durfte es nie mehr sehen, nie wieder. Er spürte, wie er zum Boden hinabgerissen wurde. Eine Erinnerung regte sich, und er schrie. Da unten wartete etwas
auf ihn, etwas so Gräßliches, daß es nicht vorstellbar war. Etwas, was ihn töten konnte, wenn die Sonde es jemals entdeckte… Er wehrte sich heftiger, versuchte aus dem saugenden Wirbel zu entkommen. Die Erinnerung flackerte wieder auf, und diesmal blieb sie. Sein Vater hatte Angst! Der Gedanke traf wie eine schockierende Eröffnung, krampfte seine Muskeln zu schmerzenden Knoten zusammen. Sein Vater hatte Angst, so entsetzliche Angst! Er spürte sie in seinem eigenen Gehirn, eisig, so wie er die Gedanken seines Vaters immer gespürt hatte… Jeff öffnete die Augen und sah grünes Gras unter seinem Kopf. Er lag an einem Bachufer im Schatten. Die Nachmittagssonne stand hoch am Himmel, aber Weiden und Pappeln spendeten ihm kühlen Schatten. Neben ihm plätscherte der Bach leise vor sich hin. Er war ganz allein und döste. Träge sah er zu, wie ein Vogel von Ast zu Ast flatterte. Eine kühle Brise vom Wiesengrund berührte sein Gesicht. Es war ein herrlicher Sommertag, ein Tag, geschaffen für achtjährige Jungen… »Paps!« Das Wort entfuhr ihm unwillkürlich, und er setzte sich kerzengerade auf, erschrocken die Stirn runzelnd, das Haar zerzaust. Irgendeine Stimme in seinem Gehirn, weit entfernt, sagte ihm, daß er in Wirklichkeit nicht acht Jahre alt war, daß das nur eine Erinnerung sei, aber sie war sehr lebendig. Er fühlte sich acht Jahre alt, starrte auf die etwas schmutzigen Hände eines Achtjährigen, auf die an den Knien geflickten Blue jeans eines Achtjährigen. Er spürte auch Angst, aber nicht seine eigene. Sie kam von seinem Vater, unverwechselbar. Etwas war geschehen, und sein Vater hatte Angst, floh mit der Verzweiflung eines gejagten Tiers vor etwas.
Der Junge wartete und legte den Kopf auf die Seite, als nütze das Lauschen. Einen Augenblick später wurden die Dinge schärfer, und er sah mit den Augen seines Vaters, empfand mit dem Gehirn seines Vaters, wie so oft in letzter Zeit, selbst wenn Paps weit fort war. In diesem Augenblick lief er, durch das Gehirn seines Vaters, einen Korridor entlang, floh vor etwas, halb wahnsinnig vor Angst. Er erreichte das Ende des Flurs, schaute über die Schultern und rüttelte verzweifelt an der Tür vor sich. Sie ging nicht auf, und er sank an ihr hinab, schluchzend, mit Tränen der Angst und Verzweiflung in den Augen. Jeff konnte die Tür sehen. Er spürte, wie sein Vater nach Atem rang, hörte den jagenden Pulsschlag in den Schläfen seines Vaters. Er sah den leeren, dunklen Korridor, und dann wurde sein Denken und Fühlen mit den Gedanken seines Vaters fortgerissen, mit den fremden, wilden, verrückten Gedanken, die das Gehirn seines Vaters in letzter Zeit so oft beherrschten… Verwirrte, durcheinanderwirbelnde Alpträume, die Jeff so erschreckten. Aber jetzt waren, weit stärker als je zuvor, seine Gedanken die seines Vaters, als seien ihre beiden Gehirne eins, die engste Verbindung, die ihm je zum Bewußtsein gekommen war. Und dort neben dem Bach preßte Jeff die Hände an die Schläfen, wand sich vor Schmerz und Angst, die sein Vater irgendwo, Meilen entfernt, durchlitt. Sie kommen, schrie sein Gehirn. In der Falle, in der Falle! Was soll ich tun? Er raste den Korridor wieder hinauf, zurück zu dem offenstehenden Aufzug. Es war die einzige Chance. Er rannte hinaus, tastete nach dem Schalter. Er mußte fort, mußte hinunter, irgendwie auf die Straße gelangen. Hier oben saß er in der Falle. Was für ein idiotischer Fehler, sich ausgerechnet in dieses Bürogebäude zu flüchten. Eine ganz klare Falle, wo er doch wußte, daß sie ihn in die Enge trieben! Warum war er nur hierhergekommen, warum? Natürlich wußte er, daß sie ihn
jagten, jeden Tag näherrückten, aber wie konnte er vorhersehen, daß dieser Tag eine Bankpanik bringen würde? Woher hätte er wissen sollen, daß gerade an diesem Tag die Aktien so tief stürzen würden, daß die Jäger ihn als Ursache ausfindig machen und seinen Aufenthalt sofort ermitteln würden? So schlimm war es bisher nie gewesen, wie konnte er das vorhersehen? Und das hatte der endgültige Test sein sollen, um die schreckliche Kraft zu beweisen, die er besaß, eine Kraft, die in unbegreiflicher, unlenkbarer Weise aus seinem Gehirn strömte, mit jedem Tag heftiger, und alles, dem er zu nahe kam, verzerrte, veränderte, zerstörte. Deshalb jagten sie ihn, natürlich. Sie wußten, daß das nicht aus Bösartigkeit geschah. Sie wußten, daß er es nicht steuern oder verhindern konnte. Sie wußten auch, daß ihn kein Gefängnis oder Krankenhaus festzuhalten vermochte, nicht mehr. Und in seinen seltenen klaren Augenblicken begriff er, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als ihn zu beseitigen… Aber jetzt nicht! Bitte, nicht jetzt, wo er der Lösung so nahe war. Hilfloser Zorn erfüllte ihn. Es war nicht gerecht. Er gedachte sich zu wehren. Sie hatten kein Recht, ihn gerade jetzt zu fassen noch ein Tag, eine Woche, und die Lösung war ihm gegeben. In wenigen Tagen würde er diese entsetzliche Kraft bändigen und lenken können. Er wußte, daß er die Lösung finden konnte, er stand schon kurz davor. Und jetzt, ausgerechnet jetzt, saß er in der Falle, und sie würden sein Flehen nicht mehr beachten. Warum, Paps? Warum jagen sie dich? Oh, bitte, komm heim, ich habe solche Angst. Bitte, hab nicht solche Angst, ich muß mich sonst auch fürchten… Die Kabine schwankte, und als sie zwischen den Stockwerken hielt, stürzte er gegen die Tür. Wie ein Wahnsinniger hieb er auf den Knopf, wartete Ewigkeiten, während die Kabine regungslos hängenblieb. Was tun sie? Er
fuhr mit den Fingern an dem Spalt der Lifttür entlang, suchte einen Halt, versuchte die geschlossene Tür aufzureißen. Sie waren ganz nah herangekommen, einige über ihm, andere unter ihm. Da zerbrach etwas in seinem Gehirn, ein letzter Damm gab nach, und er schrie seinen Trotz gegen sie hinaus, schrie seinen Haß, seine Bitterkeit hinaus. Sie hatten ihn in der Falle. Sie würden ihn ohne Gerichtsverhandlung töten, niederschießen wie einen tollwütigen Hund. Er spürte, wie sie zurückzuckten vor dem Strom von Haß, den er ihnen entgegenschleuderte, diesen Jägern, die ihn zur Strecke gebracht hatten. Mit irrsinniger Freude spürte er, wie sie sich krümmten. Sie hatten Angst vor ihm, aber trotzdem waren sie entschlossen, ihn umzubringen. Über sich hörte er ein Geräusch. Er preßte sich an die Rückwand der Liftkabine, kratzte am Metall, um einen Fluchtweg in den Liftschacht zu finden. Einer der Verfolger kam von oben auf die Decke des Aufzugs, ein Mann, der ihn fürchtete, der aber trotzdem entschlossen herabstieg. Von unten drang ein scharrendes Geräusch herauf, Kabel scheuerte gegen Kabel. Sie wollen die Liftkabel durchschneiden! Er sprang zur Decke der Kabine hoch, griff nach der kleinen Notklappe. Beim dritten Sprung bekam er den Ring zu fassen und riß die Klappe auf. Noch ein Sprung, seine Hand hielt sich am Rand der Öffnung fest und er stemmte sich hoch, zwängte seine Schultern hindurch, bis er auf der Kabine stand. Er schaute hinauf. Ein Mann befand sich über ihm im Schacht, sechs Meter hoch, an die Kabel geklammert. In der Hand hielt er eine Schußwaffe. Jacob Meyer sah das Gesicht des Mannes, bleich und hager, verzerrt von der Angst, eine hohe Stirn und etwas hervortretende Augen. Während er noch hinaufschaute, rutschte der Mann ein Stück hinunter. Schüttle ihn ab, Paps! Halt ihn auf, laß nicht zu, daß
er dich umbringt! Jacob Meyer packte die Kabel, schüttelte sie wie einen Obstbaum und sah, wie sich der Mann festhielt, als die Kabel zu vibrieren begannen, bevor er wieder ein Stück tieferrutschte. Halt ihn auf! Das Gesicht des Mannes war näher gekommen, als er sich mit den Kabeln drehte, langsam drehte, die Waffe hob, geduldig zu zielen versuchte. Schau ihn an, Jeff! Denk an dieses Gesicht, vergiß nie dieses Gesicht! Das ist der Mann, der deinen Vater ohne Gerichtsverhandlung hinrichtet! Haß ergoß sich über den Mann. Paps duckte sich an der Schachtwand, zerrte an den Kabeln, versuchte den Mörder vergeblich abzuschütteln. Ich muß ihn aufhalten, er ist so nah. Jetzt dreht er sich, zielt mit der Pistole… Er sah ein letztes Mal das angstverzerrte Gesicht des Mörders und unter dem Gesicht das tödliche, kreisrunde Loch der Pistolenmündung, nur Zentimeter entfernt. Ein sich krümmender Finger, ein entsetzlicher Blitz mitten in die Augen – Papst Die Gedanken schrien durch sein Gehirn, eine letzte, alles versengende Welle der Bitterkeit und des Hasses… und dann erloschen die Gedanken wie eine Kerzenflamme, es wurde dunkel… Paps! Nein! Ich kann dich nicht mehr fühlen… Was haben sie mit dir gemacht? O bitte, Paps, sprich wieder mit mir… sprich mit mir… sprich mit mir…
22
Undeutlich wurde er sich bewußt, daß Dr. Schiml sich über ihn beugte, seinen Puls und seine Herztätigkeit prüfte. Jeff lag ganz still, atmete kaum. Er fühlte sich betäubt, zerschlagen, er wollte Schiml nicht einmal bestätigen, daß er noch lebte. Nach einigen Augenblicken wandte sich der Arzt ab. »Wir können noch nicht weitergehen«, hörte ihn Jeff sagen. »Wir müssen warten. Wir können von Glück sagen, daß er überhaupt noch bei uns ist.« Von der anderen Seite des Raums hörte er die Stimme Paul Conroes, des Mannes an den Liftkabeln. »Zum Teil habe ich es jetzt noch mitbekommen«, sagte er leise. »Sich vorzustellen, daß Jeff mich so gehaßt hat und warum er mich haßte! Ich wußte nichts von dem Alten und seinem Sohn, ich hatte keine Ahnung, daß eine so enge Verbindung bestand. Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich das nie getan.« Es blieb lange Zeit still. »Das war also die unvorstellbare Kraft, die Mutante, die wir so lange aufzuspüren versucht haben«, sagte Schiml schließlich. »Eine der unvorstellbaren Kräfte, ja«, erwiderte Conroe müde. »Nur eine davon. Jeff besitzt wahrscheinlich die ganze Kraft seines Vaters, sie ist in seinem Schädel verborgen. Nur ist sie noch nicht ganz herangereift. Sie ist latent und wartet, bis die Gene voll entwickelt sind. Nicht mehr. Er ist eine lebende Zeitbombe. Und dieselben Kräfte gibt es auch in anderen Menschen – in Hunderten und Tausenden. Irgendwo hat es vor hundertfünfzig Jahren eine Veränderung gegeben,
nur eine kleine Veränderung, bei einem einzigen Mann oder einer einzigen Frau.« Er machte eine Pause, und Jeff konnte ihn Atem holen hören. »Extrasensuelle Fähigkeiten, in beängstigend zunehmendem Maße. Es muß eine echte Mutation gewesen sein, ein Schritt in der Evolution. Aber genetisch war die Mutation mit einem schädigenden Faktor verbunden, mit einem Gen, das Irrsinn verursacht. Noch dazu mit einem dominierenden Gen. Vielleicht ergab sich die Veränderung nur bei einer Person, aber aus eins wurde zwei, aus zwei vier oder sechs oder acht – extrasensuelle Begabung und gengebundener Wahnsinn. Eine furchtbare Kombination, stets miteinander verkettet, gemeinsam wuchernd wie Krebs. Und bis heute zerfrißt sie die Wurzeln unserer Zivilisation.« Jeff öffnete die Augen einen Spaltbreit, sah Conroe aufstehen und ans Fenster treten. »Das beantwortet viele Fragen, Roger«, sagte er. »Wir wußten, daß der alte Jacob Meyer einen Sohn hatte. Wir waren sogar davon überzeugt, daß er früher oder später Fähigkeiten wie sein Vater entwickeln würde, vermutlich auch eine Psychose. Aber das! Keiner von uns hätte sich das auch nur träumen lassen. Vater und Sohn waren praktisch zwei Menschen mit einem Geist, in nahezu vollkommener Verbindung. Der Sohn war nur noch zu jung, daß er nicht begriff, was sich abspielte. Er wußte nur, daß er seinen Vater ›fühlte‹ und sagen konnte, was sein Vater dachte. Tatsächlich war alles, was im Gehirn seines Vaters vorging, alles, auch im Gehirn des Jungen zu finden, zumindest während der Höhepunkte der Geisteskrankheit Jacob Meyers.« »Es gibt also keinen Zweifel daran, daß Jacob Meyer geisteskrank war?« sagte Schiml. »Nicht den geringsten. Er litt an einer Psychose, ganz klar. Deshalb beschäftigten wir uns ja mit ihm. Damals war es meine Behörde – das Amt für Statistik –, die sich mit dem Problem der steigenden Wahnsinnsrate befassen mußte,
nachdem uns das Hoffman-Institut gezwungen hatte, die Wahrheit anzuerkennen. Und glauben Sie mir, es gab niemanden, den wir bei uns weniger brauchen konnten, als einen geisteskranken Statistiker! Und Jacob Meyer war ohne Frage geisteskrank. Sein Zyklus von Depression und Hochstimmung verlief so regelmäßig, daß man beinahe die Uhr danach stellen konnte. Er hatte die Symptome sogar selbst entdeckt, als er noch zur Universität ging, aber natürlich begriff er damals nicht, was sie bedeuteten. Er wußte nur, daß er zu gewissen Zeiten von diesen seltsamen Erscheinungen umgeben zu sein schien, was schnell und regelmäßig geschah, wenn er sich hochgestimmt fühlte. Zu anderen Zeiten schien er ein Gefühl der Depression zu verbreiten. Wenn er in die schwärzesten Tiefen seiner Depression stürzte, löste er tatsächlich bei anderen ganze Ketten von Katastrophen aus – Selbstmorde, Unfälle, unglückliche Entscheidungen, unwiderrufliche leidenschaftliche Ausbrüche – alles mögliche. Ihm selbst passierte das natürlich nicht, nur anderen Leuten, die das Pech hatten, in seiner Nähe zu sein.« Conroe schwieg einen Augenblick. »Nun, das wußten wir damals alles. Was wir nicht ahnten, war, daß der Mann selbst nach der Lösung gesucht hatte, daß er aktiv bemüht war, die Vorgänge unter Kontrolle zu bringen. Wir wußten auch nicht, daß sich der Zustand ungeheuer schnell verschlechterte. Wir dachten, wir hätten Zeit, das Problem zu studieren. Deshalb haben wir Sie eingeschaltet. Und dann entdeckten wir, daß wir zu lange gezögert hatten, daß Jacob Meyer vor unserer Nase zum gefährlichsten Menschen geworden war, den es gab. Da war es bereits zu spät, ihm noch zu helfen. Er mußte ganz einfach beseitigt werden, bevor er die ganze Wirtschaft des Landes ruinierte.«
»Und Sie waren überzeugt, daß der Gebrauch seiner zerstörerischen Kräfte eine direkte Folge der Geisteskrankheit gewesen ist?« Conroe zögerte. »Nicht ganz«, sagte er nachdenklich. »Man kann eigentlich nicht sagen, daß Jacob Meyer seine extrasensuellen Kräfte gebrauchtem Sie waren größtenteils keine Fähigkeiten, die er kontrollieren oder ›gebrauchen‹ konnte. Es waren Kräfte, die spontan wirkten und bestimmte Abläufe auslösten. Wenn er in Hochstimmung oder in einer stärken Depression war, überschlug sich rings um ihn alles. Je schwerer seine Psychose wurde, desto gefährlicher gestalteten sich die Ereignisse, die er hervorrief.« Conroe verstummte. Jeff spürte, wie sein Blick auf ihm ruhte. »Das Entsetzliche dabei war, daß niemand auch nur ahnte, die Geschehnisse könnten mit einem menschlichen Einfluß zusammenhängen. Wie konnte schließlich ein einzelner Mensch einen überwältigenden Einfluß auf den Ablauf eines ganzen Wirtschaftszyklus haben? Natürlich gab es das nicht, falls der Betreffende nicht ein Diktator oder eine andere, überaus mächtige Persönlichkeit war. Jacob Meyer ist weder das eine noch das andere gewesen. Er war ein einfacher bescheidener Statistiker mit sehr seltsamen Ideen, die er nicht einmal selbst verstand, aber beharrlich in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichte. Die Universität behielt ihn als eine Art intellektuellen Sonderling. Ernst nahm ihn jedenfalls niemand. Oder ein anderes Beispiel: Wie konnte ein einziger Mensch, nur weil er in der Nähe war, das Gleichgewicht stören und den Börsenmarkt in eine dreiwöchige Panik stürzen? Meyer hätte es selbst nicht geglaubt, obwohl er ein erstaunliches Vermögen an den Börsenschwankungen verdiente, die er unbewußt selbst herbeiführte!« Wieder machte Conroe eine Pause. »Nein, Jacob Meyers Psychokinese war nicht jene Art Telekinese, die sein Sohn Jeff vor ein paar
Stunden gegen mich verwendet hat. Dem Vater wäre das vermutlich auch gelungen, wenn er mich so gehaßt hätte, aber darauf kommt es nicht an. Wenn Jacob Meyers Gehirn nur physische Dinge beeinflußt hätte – die Verteilung von Spielkarten, das Fallen von Würfeln, die Bewegung von Molekülen –, wäre das Problem einfach gewesen. Wir hätten ihn isolieren, studieren, vielleicht sogar heilen können. Aber so einfach war es nicht.« Es blieb kurze Zeit still, dann sagte Schiml: »Ich habe den Eindruck, daß es euch schwergefallen wäre, eure Beschuldigungen vor Gericht zu beweisen.« »Schwer! Es wäre unmöglich gewesen. Wir wußten es. Die Regierung wußte es. Wir mußten uns über das Gesetz hinwegsetzen. Der Mann mußte beseitigt werden. Denn Jacob Meyers Gehirn beeinflußte die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Allein durch sein Vorhandensein hob Meyer die normalen Gesetzmäßigkeiten auf. Wir beobachteten ihn, Roger. Es war unfaßbar. Wir beobachteten ihn auf der Börse, und wir sahen, wie die Panik begann, als er hereinkam. Wir sahen, wie sich Käufer plötzlich anders entschlossen und zu verkaufen begannen und sich hinterher fragten, warum sie das getan hatten. Wir sahen, was in der Metropolis-Bank an jenem ersten Tag geschah, als wir ihn zu fassen versuchten. Er hatte Angst, ihn beherrschten Furcht und Zorn, und es begann ein Run auf die Bank, so daß das mächtigste Finanzhaus der Welt beinahe hätte schließen müssen! Wir sahen den persönlichen, direkten Einfluß dieses Mannes auf die internationale Diplomatie, auf die Finanzwirtschaft, auf das Glücksspiel in Las Vegas, auf das Denken und Verhalten der Menschen auf der Straße. Es war unfaßbar, Roger.« »Aber Jacob Meyer war doch sicherlich nicht der einzige.« »Es gab andere, gewiß. Wir wissen das heute besser als damals. Es liefen und laufen Tausende herum, die alle extrasensuelle Kräfte in unterschiedlicher Stärke von dieser
Mutation her haben, alle mit der gengebundenen geistigen Erkrankung. Wir haben gesehen, wie sich unsere Zivilisation bemühte, angesichts dieser Tausende überhaupt zu überleben. Jacob Meyer war jedoch das erste Beispiel der totalen Veränderung bei einer Person, das wir fanden. Und seine extrasensuellen Fähigkeiten waren mit seiner Psychose so verkettet, daß keine Aussicht bestand, eine Trennung herbeizuführen. Meyer machte uns wenigstens aufmerksam und führte uns auf die Fährte. Und nach seinem Tod führte die Spur zu seinem Sohn.« »Ja, der Sohn«, sagte Schiml. »Wir haben den Sohn. Wir hätten ihn schon längst hierhaben müssen.« »Natürlich, aber nach dem Tod seines Vaters verschwand er. Wir wußten jahrelang nicht, wo er sich aufhielt. Dann kamen wir dahinter, daß er fast ein Jahr in einer Privatklinik verbracht hatte, ohne ein Wort zu sprechen, ohne sich freiwillig zu bewegen. Man mußte mit ihm Bewegungsübungen machen, ihn künstlich ernähren, einen acht Jahre alten Jungen. Schließlich kam er zu uns, und ein Ehepaar in der Klinik, Em und Barney Trimble, nahmen ihn als Pflegesohn auf. Davon wußten wir aber nichts, bis ihn die Computer ermittelten, als er zu studieren begann. Was noch wichtiger war, wir wußten nicht, warum er untergetaucht war. Jetzt wissen wir, daß wir, als wir seinen Vater töteten, beinahe die letzte Chance vertan hätten. Denn als wir den Vater umbrachten, töteten wir auch den Sohn.« Schiml schnaubte. »Das verstehe ich nicht. Er lebt doch, er liegt da drüben auf dem Tisch. Im übrigen hört er ganz genau zu, falls du das nicht gemerkt haben solltest.« »Ich weiß«, sagte Conroe. »Und natürlich lebt er noch. Aber begreifst du denn nicht, was mit ihm geschehen ist? Er war ein Kind, das in Verbindung mit dem Geist seines Vaters lebte. Er
wußte alles, was sein Vater wußte. Er begriff es nur nicht. Er dachte die Gedanken seines Vaters, sah mit den Augen seines Vaters, weil beide total telepathisch waren. Er spürte die Angst und Verzweiflung und Bitterkeit seines Vaters, als wir ihn schließlich in dem Bürohaus stellten. Sein Körper war an jenem Tag draußen auf dem Land, aber tatsächlich lebte Jeff im Gehirn seines Vaters. Es war ein wahnsinniges Gehirn, ein Gehirn, das dem schreienden Irrsinn verfiel. Als Jacob Meyer wartete, daß ich herunterkam und ihn tötete, war Jeff dabei, umgeben vom Haß seines Vaters. Er sah mein Gesicht durch die Augen seines Vaters, und alles, was er verstehen konnte, war, daß sein Vater ermordet wurde und ich es war, der den Mord beging. Als die Kugel traf, spürte Jeff sie auch. Als sein Vater starb, starb Jeff auch oder ein Teil von ihm, weil Vater und Sohn geistig eins waren und die Hälfte dieser Einheit zerstört worden war.« Conroe machte eine Pause. Man hörte nur Jeffs Atemzüge. Jeff lauschte dumpf und bemühte sich aufzunehmen, was er gehört hatte. »Kein Wunder, daß der Junge verschwand!« fuhr Conroe fort. »Er war niedergeschossen worden. Er war nahezu buchstäblich tot. Vielleicht glaubte er das sogar – ich weiß es nicht. Er muß hervorragende Pflege gehabt haben, wenn er den Schock innerhalb von nur einem Jahr überwinden konnte. Kein Wunder, daß wir keine Spur von ihm fanden. Als er sich erholt hatte, wußte er nämlich nur noch, daß sein Vater gestorben war. Er wußte nicht, wie, er wußte nicht, warum, und er wagte es nie, sich an die Wahrheit zu erinnern, weil die Wahrheit war, daß man ihn umgebracht hatte. Er wagte nur, mein Gesicht zu erkennen, in wiederkehrenden Träumen und Alpträumen.« »Aber du hast ihn gesucht.« »O ja, ich suchte wie ein Verrückter. Ich wußte, daß ich ihn früher oder später finden würde. Aber als ich ihm überraschend
auf den Stufen vor der Universitätsbibliothek begegnete, wurde ich von einer solchen Explosion überwältigt, daß ich nicht einmal sagen konnte, wie er aussah. Es blieb mir nichts anderes übrig, als davonzulaufen. Als er mein Gesicht an diesem Tag sah, verlor er praktisch den Verstand. Er explodierte in Haß und Bitterkeit. Er wußte, daß ich seinen Vater getötet hatte und beschloß, mich zur Strecke zu bringen.« Conroe breitete die Arme aus. »Es erschien mir vernünftig, diese Besessenheit zunächst dazu zu benutzen, ihn eine Weile zu beobachten und ihn dann hierher zu locken. Für mich war das eine Tortur. Er folgte mir mit seinem Gehirn, ohne es auch nur zu wissen. Ich konnte damals nicht begreifen, warum es der alte Jacob Meyer zu sein schien, der mich verfolgte. Ich begriff nämlich nicht, daß Jeff Bestandteil des Geistes seines Vaters gewesen war, als dieser sterben mußte, und Jeff wußte nicht, daß er Verderben aussandte, sobald er in meiner Nähe war.« Conroe lehnte sich erschöpft zurück. »Wir brauchten Jeff um jeden Preis. Wir brauchten ihn hier, für die Tests und für diese Sondierung. Es war eine langwierige, mühsame Aufgabe, ihn herzubringen. Wir wissen noch immer nicht, ob wir nicht ein zu großes Risiko auf uns genommen haben – er konnte weitaus gefährlicher sein als sein Vater. Aber wir haben wenigstens eine Chance. Allein gelassen, wird er wahnsinnig wie sein Vater. Es gibt Hunderte, Tausende, die geisteskrank sind wie er oder es werden. Wenn wir aber einen Weg finden, die Geisteskrankheit von den extrasensuellen Fähigkeiten zu trennen, können wir diese Menschen retten. Es gibt keine Alternative.« »Alternative?« wiederholte Schiml. »Als sie alle umzubringen, jeden einzelnen. Die Mutanten ausfindig zu machen und sie restlos zu beseitigen. Und gleichzeitig den ersten evolutionären Riesenschritt
auszulöschen, den die Menschheit seit dem Beginn der Geschichte getan hat.« Roger Schiml stand langsam auf. Jeff sah ihn auf das Bett zugehen. »Es gibt keinen anderen Ausweg?« fragte er Conroe. »Keinen«, erwiderte Conroe. »Dann hoffe ich, daß Jeff uns gut verstanden hat. Denn es wird allein von ihm abhängen.«
23
»Jeff«, sagte Dr. Schiml. »Jeff Meyer.« Jeff schlug die Augen auf und sah das Gesicht des Arztes über sich. Sie hatten ihn eine Weile schlafen lassen, er wußte nicht, wie lange, aber jetzt war er wieder wach. Wach und wieder in dem Alptraum. Er ächzte. »Jeff. Sie müssen mir einen Augenblick zuhören. Passen Sie auf, Jeff. Sie haben vorhin alles gehört. Sie wissen, daß wir Ihnen zu helfen versuchen. Und wir brauchen Ihre Hilfe.« Jeff nickte kaum merklich. »Sie wissen jetzt Bescheid über Ihren Vater. Sie kennen die Wahrheit, nicht wahr?« »Ja.« »Und Sie wollen uns helfen?« »Ja. Ich muß.« Der Arzt nickte. »Dann müssen Sie uns sagen, was wir tun sollen. Sie haben gute Kräfte hier in Ihrem Gehirn, und Sie besitzen auch schreckliche, vernichtende Kräfte. Wir müssen sie beide finden, feststellen, wo in Ihrem Gehirn sie liegen, wie sie funktionieren. Sie müssen uns das beim Sondieren sagen, wann wir das Gute, wann wir das Schlechte treffen. Begreifen Sie das, Jeff?« Wieder nickte Jeff. Er fühlte sich zu Tode erschöpft. »Machen Sie weiter, Doktor. Bringen wir es hinter uns.« Dr. Schiml griff nach den Sondenreglern, drehte einen Schalter am Mikrononius, drehte noch einmal, starrte auf eine Skala, drehte erneut. Und dann wußte Jeff plötzlich nicht mehr, was der Arzt tat, weil er schlagartig wieder im Wirbel schwebte. Sein letzter
Gedanke war, daß unmöglich war, was sie jetzt unternahmen, und daß es doch – auf irgendeine Weise – gelingen mußte.
Er wirbelte herum, kopfüber, als sei er von einem hohen, gewaltigen Sprungbrett geschnellt worden. Er schwebte hoch, sich überschlagend, höher und immer höher. Jeff wußte, daß sein Körper immer noch auf dem weichen Bett lag, und doch fühlte er, wie seine Füße sich aufbäumten, sein Kopf hinuntersank, während er durch die Dunkelheit stürzte. Und er spürte die winzige, sondierende Nadel, suchend, forschend, reizend… Sirenengeheul traf seine Ohren, ein Kreischen, das kalte Schauer über seinen Rücken jagte und dann zu einem auf- und abschwellenden, beinahe musikalischen Singen wurde. Irgendwoher, aus dem Geräusch, begann eine Stimme in sein Ohr zu flüstern, und er strengte sich an, sie zu verstehen. Er wußte, daß es keine Stimmen außerhalb seines Körpers gab, er war überzeugt davon, und trotzdem hörte er diese Stimme tief in seinem Ohr, zuerst laut, dann leise, dann wieder lauter, auf ihn einflüsternd. Eine drängende Stimme; plötzlich erschien es ihm lebenswichtig, zu hören, was sie sagte. Er lauschte angestrengter, bis die Worte deutlich zu verstehen waren… Und dann stöhnte er auf, während ihn Panik durchströmte. Es waren Unsinnsworte, Laute ohne Sinn. In seinem Gehirn regte sich etwas, eine undeutliche Erinnerung an Unsinnsworte, an einen entsetzlichen Schock… Hatte es einen Schock gegeben? Er konnte sich nicht erinnern. Aber die seltsamen Geräusche schreckten ihn, trieben die Angst in das Mark seiner Knochen. Es waren unheimliche, plappernde Laute, Worte, die einen Sinn brauchten und ihn nicht hatten, Halbworte, die verzerrt, verunstaltet, ohne Inhalt waren.
Vorsichtig öffnete er die Augen und suchte in der Dunkelheit nach den Stimmen. In einiger Entfernung befanden sich zwei formlose Umrisse, groß und geisterhaft in schwarzen Gewändern, Kapuzen über den Köpfen. Sie stützten sich auf ihre Stöcke, steckten die Köpfe zusammen und zischten einander mit solch wilder Ernsthaftigkeit Unsinn zu, daß es auf irgendeine Weise entsetzlich lächerlich wirkte. Jeff kämpfte die aufsteigende Panik nieder und ging auf die beiden Gestalten zu. Dann blieb er plötzlich stehen. Im selben Augenblick, als er sich bewegte, wandten sich ihm die Gestalten ruckartig zu, und ihre Unsinnsworte wurden für einen kurzen Augenblick deutlich: »Bleib fort, Jeff Meyer. Bleib fort.« Er schaute sich zitternd um, versuchte sich zurechtzufinden. Die Kapuzenmänner wandten sich wieder einander zu und plapperten Unsinn. Aber jetzt schienen sie vor einem Bogengang zu stehen und ihn zu bewachen. Langsam, verschlagen, entfernte sich Jeff von ihnen, beobachtete sie heimlich. Als er zurückwich, schien sich die Dunkelheit zu heben, und die Umgebung wurde heller. In seinen Ohren hörte er Singen, fröhliche Stimmen, und Erleichterung und Zufriedenheit hüllten ihn ein wie ein Mantel. Er lächelte, atmete tiefer und rollte sich auf die Seite, um zu schlafen… »Was war das, Jeff? Was haben wir getroffen?« Er schüttelte heftig den Kopf und zog die Brauen zusammen. »Fortbleiben«, murmelte er. »Die alten Männer, sie waren da.« Plötzlich fühlte er sich herumgedreht, bis er wieder vor den Kapuzenmännern stand und ihn seine Beine auf sie zutrugen, ohne seinen Willen, unerbittlich. Wieder nahmen die Unsinnsworte Sinn an, lauter als vorher, noch drohender: »Nicht näher, Jeff Meyer, bleib fort – fort – fort.« »Kann da nicht hingehen«, murmelte er.
»Warum nicht, Jeff?« »Sie lassen mich nicht, ich muß fortbleiben.« »Was bewachen sie, Jeff?« »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, sage ich euch. Ich muß fortbleiben!« Plötzlich zerfiel das Singen in eine gräßliche Kakophonie einander widerstreitender Geräusche, in einen Lärm, der ihn beinahe taub machte. Eine gewaltige Welle überschwemmte ihn wie eine Brandung, hob ihn hoch und schleuderte ihn einen langen, wirbelnden Tunnel entlang. Verzweifelt rang er um sein Gleichgewicht, fand schließlich wieder Boden unter den Füßen, aber dann bewegte sich auch der Boden. Jeff rannte wild dahin, bis er in kurzen Stößen atmete, dann faßte er den Ast eines Baumes, der vorbeifegte, und zog sich hoch, während die Flut unter ihm vorbeirauschte. Der Himmel um ihn bezog sich mit schwarzen Wolken. In der Ferne sah er einen blendendweißen Blitz durch den Himmel zucken, der die düstere, vom Wind zerrissene Landschaft in scharfen Umrissen abzeichnete, während Jeff sich an dem Ast festklammerte. Er hörte Flügelschlagen, als ein riesiger Geier vorbeiflatterte. Dann kam der Regen, ein kalter, peitschender Regen, der seine Kleider durchnäßte, seine Haut, in Strömen in Augen, Ohren und Mund rann. Überall hörte er Stimmen. Wie konnte es hier Stimmen geben? Es gab keine Menschen, aber er hörte die Stimmen, angenehm und musikalisch, rings um sich her. Er konnte niemanden sehen, aber sie fühlen. Fühlen! stöhnte er freudig auf, und berührte mit seinen Gedanken eine Person nach der anderen, Dutzende, und er konnte sie alle so klar, so wunderbar spüren, wie er einst seinen Vater gespürt hatte: ganz scharf und herrlich. Er schrie auf, vor Freude, während ihm Tränen des Glücks über die Wangen liefen, als er die Gedanken der Menschen
umarmte, die er fühlen, aber nicht sehen konnte. Er spürte, wie seine eigenen Gedanken empfangen, umarmt, begriffen wurden. »Genau hier!« schrie er. »Schiml, das ist es, nicht verlieren! Das ist das Zentrum. Ich kontrolliere es. Sie haben es jetzt. Strengen Sie sich an, Schiml, geben Sie sich Mühe!« Er betrachtete den schwarzen, drohenden Himmel über sich, und sein Geist lachte und schrie den Wolken zu, sich zu verziehen. Das Gewölk wirbelte wild durcheinander, zerriß, und die Sonne strahlte auf ihn herunter. Er sprang vom Baum, lief den Hügel hinab, frei, in einer gewaltigen, überwältigenden Art frei, wie er es noch nie empfunden hatte, mit freiem Geist, der sich ohne Hindernis in die Höhe schwingen konnte; nichts mehr stand zwischen ihm und der Welt der anderen. Völliges Verstehen… Er rannte den Hügel hinab, spürte mit jedem Schritt, wie seine Sicherheit wuchs. Er wußte, daß der Kampf gewonnen war, wenn er unten ankam, und er lief noch schneller. Plötzlich tauchten die Kapuzenmänner wie ein entsetzlicher Alptraum direkt vor ihm auf, lange, knochige Finger anklagend auf ihn gerichtet. Er blieb wie angewurzelt stehen vor der übermächtigen Warnung in den Stimmen, die ihn erreichten. Er stand da, schluchzte und starrte die Kapuzenmänner an. Er war erschöpft, geschlagen, weinte bitterlich und hoffnungslos, als sich die dunklen Wolken wieder zusammenzogen. Er war zu spät gekommen, zu spät. »Was bewachen sie, Jeff?« »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Ich komme nicht durch – « »Du mußt, Jeff. Du darfst jetzt nicht aufgeben. Wir haben das extrasensuelle Zentrum, das war es eben, aber irgend etwas blockiert es. Irgend etwas hält dich fern, Jeff. Du mußt sehen, was es ist – «
»Ich kann nicht. Oh, ich kann nicht. Bitte, zwingt mich nicht!« »Du mußt, Jeff.« »Nein!« »Weiter, Jeff – « Er stand auf, sah die Kapuzenmänner an, zusammengekrümmt, zitternd vor Angst. Tief in seinem Gehirn konnte er die Sondiernadel fühlen. Sie bewegte sich langsam, zwang ihn näher, immer näher zu den grimmigen Gestalten. Langsam bewegten sich seine Beine, lähmende Angst ergriff von ihm Besitz. Und die Stimmen zischten ihm drohend ins Ohr: »Bleib weg, bleib fort. Wenn du leben willst, bleib fort – fort – fort…« Er kam näher, immer näher auf die Kapuzenmänner zu, beugte sich vor, um an ihnen vorbei auf das graue, gräßliche Tor zu starren, das sie bewachten, ein Tor, von Schimmel überwachsen, mit verrosteten Scharnieren. Und dann streckte er die Hand aus und riß der ersten Gestalt die Kapuze vom Kopf, starrte das Gesicht an, das sie verborgen hatte. Es war sein eigenes Gesicht. Er wandte sich der anderen Gestalt zu, starrte sie angestrengt an, kämpfte darum, das Gesicht zu erkennen, bevor sich die Züge ganz verwischten. Auch das war sein Gesicht, unverwechselbar. Mit einem Schrei der Wut und Verzweiflung riß er die Kapuzen herunter, zerfetzte sie. Er hatte das Tor selbst bewacht, denn die Gestalten waren nur Skelette mit seinem Gesicht. Er schlug auf sie ein, und sie zersplitterten wie dünnes Glas, fielen in Stücken zu Boden. Er trat durch die Splitter und stemmte die Schulter gegen das Tor, rammte es, bis es aufging. Knarrend in rostigen Scharnieren, öffnete es sich… in einen Ort des Wahnsinns.
Er schrie zweimal, kurz und wild, während er versuchte, die Augen vor dem namenlosen Entsetzen zu bedecken. »Hier!« rief er Schiml zu. »Hier ist es! Sie sind an der richtigen Stelle, das ist es, was ihr sucht. Fort damit, schneidet es heraus, bevor wir es verlieren. Bitte, ich kann es nicht mehr aushalten.« Seine Beine trugen ihn durch das entsetzliche Tor, in den wimmelnden, ekligen, tobenden Wahnsinn, der dahinter lag, und er schrie wieder, als er den grellen Blitz sah, den wilden, unerträglichen Stoß spürte, der ihn zu Boden warf. Dann kam der Schmerz, die Schwärze, dann wieder ein greller Blitz. Er spürte, wie seine Muskeln erschlafften, und er stürzte und blieb hilflos liegen. Wie an dem Tag, als er schon einmal gestorben war, fühlte er, daß sein Geist wie Rauch in der Sonne verwehte.
24
Als er die Augen öffnete, sah er Paul Conroes Gesicht. Er erstarrte einen Augenblick, alle Muskeln verkrampften sich. Dann löste sich die Verkrampfung, er blinzelte und starrte Conroe verwirrt an. Er haßte Conroe nicht mehr. »Es tut mir leid, Jeff«, sagte Conroe. »Ich kann dir nicht sagen, wie leid es mir tut.« In Conroes Augen standen Tränen, und Jeff blickte ihn an und spürte ein seltsames, aufblühendes Gefühl der Verwunderung. Denn Conroe hatte aufgehört zu reden, und doch wußte er, was Conroe zu sagen versuchte. Er schüttelte langsam den Kopf. »Keine Sorge«, sagte er leise. »So etwas kann man nicht sagen. Dafür brauchst du keine Worte.« »Und du fühlst dich gut?« »Ja.« Und dann: »Ich – ich lebe!« Jeff versuchte sich aufzurichten, während ein sengender Schmerz durch sein Rückgrat zuckte. Schiml stand sofort bei ihm und schob ihn sanft auf das Kissen zurück. »Langsam, Sie leben, ja. Und es geht Ihnen gut. Sie sind gesund.« Seine Augen leuchteten. »Sie sind ein ganzer Mensch, Jeff. So, wie Sie sein sollten – zum erstenmal in Ihrem Leben.« Die Worte waren ganz deutlich, und doch wußte Jeff, daß kein einziges Wort wirklich ausgesprochen worden war. »Wie bei meinem Vater«, murmelte er. »Ich habe ihn einfach gefühlt und wußte, was er dachte.« Tränen liefen Schiml über das Gesicht. Er wirkte wie ein unendlich glücklicher kleiner Junge, außer sich vor Freude. Er
hob die Hand und deutete auf das Glas auf dem Tisch neben dem Bett. Er sah Jeff an. »Bewegen Sie es, mein Junge. Sie wissen, daß Sie es können.« Jeff starrte das Glas an. Es regte sich, erhob sich langsam fünf Zentimeter über den Tisch und hing dort in der Luft, schwach schimmernd im trüben Licht. Dann sank es sanft auf die Tischplatte zurück. »Steuern«, sagte Jeff leise. »Ich kann es steuern.« »Die Kraft war vorher an etwas anderes gekettet«, sagte Schiml. »Sie besaßen die extrasensuelle Kraft, ja, aber sie war mit etwas verkettet, was Sie immer gehindert hätte, die Kontrolle darüber zu erlangen. Eine degenerative Geisteskrankheit, unveräußerlicher Bestandteil der extrasensuellen Begabung. Sie sind nicht allein, Jeff – es gibt viele Hunderte wie Sie, mit verschieden starker Begabung. Conroe ist Ihnen ähnlich, aber schwächer. Und er hat seit Jahren nach einem Weg gesucht, die beiden Teile zu trennen. Wie ich. Deshalb sind Sie wirklich eine Freiwillige Versuchsperson. Ohne Ihre Leistung hätten Tausende sterben müssen. Wir wußten, daß es zwei Zentren gab, aber nicht, wie wir sie trennen sollten. Wir brauchten Sie als Führer. Wir mußten das Zentrum des Wahnsinns in Ihrem Gehirn finden und es zerstören, ohne das andere zu treffen, ohne Sie zu vernichten. Darauf haben wir zwanzig Jahre lang gewartet. Jetzt sind Sie frei. Der Wahnsinn ist beseitigt. Und jetzt besitzen wir eine Technik, mit der wir Tausende wie Sie retten können.« Jeff schaute sich verwundert im Zimmer um. Sonnenschein strömte durch das Fenster. Zur Rekonvaleszenz hatte man ihn hoch hinauf in einen der Kliniktürme gebracht. Gegenüber sah er einen zweiten Turm des Hoffman-Institutes, der in der Sonne weiß schimmerte. Jeff atmete tief die frische Luft ein
und wandte sich wieder den beiden Männern an seinem Bett zu. »Dann habt ihr mich also gejagt«, murmelte er. »Seltsam, nicht wahr? Nicht ich habe Conroe gejagt, sondern mein Vater oder der Geist meines Vaters, der immer noch in mir war. Das Gespenst eines kranken Menschen.« Seine Augen verengten sich, und er sah zu Schiml auf. »Dann gab es auch andere, die es wußten. Blackie wußte es. Sie muß als Mädchen im Nachtklub gewesen sein.« »Ja. Viel Schminke, eine kleine Operation, und sie hatte sich so verändert, daß Sie getäuscht wurden. Aber sie wußte gar nichts davon, daß sie dort war. Hypnose kann sehr mächtig sein und jede Erinnerung auslöschen.« Er lächelte Jeff an. »Blackie wird als nächste behandelt. Wir brauchen sie für unsere Arbeit hier dringend, fast genauso dringend wie Sie. Aber Sie haben auch Blackie befreit. Sie wird glücklicher sein als je in ihrem Leben, denn ihr Geist hat allen Menschen in ihrer Nähe nur Unglück gebracht. Sie wird viel glücklicher sein.«
Viel später erwachte er und sah sie ruhig im Zimmer sitzen und in die Abenddämmerung hinaussehen. Als sie bemerkte, daß er wach war, ging sie zu ihm und ergriff seine Hand. »Ich hatte solche Angst, so schreckliche Angst.« »Willst du immer noch weggehen?« fragte er. »O nein – jetzt nicht mehr. Nein, es gibt zuviel zu tun.« Sie starrte ihn verblüfft an. »Willst du es?« Er schwieg einen Augenblick. Du kannst gehen, wenn du willst, hatte Paul Conroe zu ihm gesagt, bevor er das Zimmer verließ. Oder du kannst bleiben; was du möchtest. Wenn du gehst, halten wir dich nicht zurück und nehmen es dir nicht übel. Aber wir brauchen dich wirklich.
Auch andere würden bleiben. Jacques zum Beispiel, spottend, lachend, intrigierend, Jacques, der immer von den großen Reichtümern träumte, die in der Zukunft warteten, ohne zu ahnen, was er wirklich leistete. Und Harpo würde bleiben – und alle die anderen. Einschließlich Blackie. Die arme, hilflose Blackie, schön, bitter, verzweifelt. Für sie würde ein neues Leben beginnen. Und niemand konnte sagen, was für ein Mensch sie in diesem Leben sein würde. Er grinste sie an. »Paß auf«, sagte er. »Vielleicht, wenn alles vorbei ist, wenn sie mit uns fertig sind und die Arbeit wirklich getan ist, vielleicht können wir dann fortgehen. Zur Westküste, irgendwohin. Du und ich und ein Paar Würfel.« Sie lachten darüber und über andere Dinge. So müde er auch war, sie lachten und unterhielten sich und planten bis tief in die Nacht hinein.
ENDE