C.H. Guenter
Die unsichtbare Küste
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. Es war das Jahr der T...
81 downloads
621 Views
481KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
C.H. Guenter
Die unsichtbare Küste
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. Es war das Jahr der Taifune. Selten hatten tropische Wirbelstürme den pazifischen Raum so heimgesucht wie in den Monaten August und September 1982. Einer von ihnen erwischte den russischen Fischtrawler Hypotew südlich der Hawaii-Inseln. Mit der Urgewalt von Atombomben wühlte er den Ozean auf. Mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 110 Meilen ließ er den Fischdampfer nicht mehr aus seinen Fängen. In der Nacht, als der Taifun mit dem Schiff spielte wie ein Jongleur mit Bällen, fiel an Bord alles aus, was nur kaputtgehen konnte. Erst der Funk, dann das Ruder, am Ende der Hauptdiesel, der den Generator für die Pumpen antrieb. Die haushohen Brecher rissen Rettungsboote und Flöße weg und schlugen Schotten und Bulleyes ein. Ohne Antrieb, ruderlos, unfähig SOS zu funken, gab die Mannschaft den Trawler auf. Einige der Matrosen erinnerten sich daran, daß es einen Gott gab, zu dem man beten konnte. Die Verletzten banden sie in ihren Kojen fest. Die anderen klemmten sich hinein und warteten darauf, daß eine letzte Riesenwelle kam, die den Trawler zum Kentern brachte. Aber wenn es je Schiffe gab, die solche Stürme überstanden, dann waren es U-Boote und Fischdampfer. Nach einer schlimmen Nacht und einem unbeschreiblichen Tag ließ der Taifun sie aus seinen Krallen. So schnell, wie er sie überrascht hatte. 3
Noch dünte der Pazifik auf 20 Grad Nord und 160 Grad West stark, aber die Sonne kam heraus, und bald war die See glatt wie ein Spiegel. Nach einem Schlaf der Erschöpfung Harte die Besatzung der Hypotew ihr Schiff auf. Bald war zu überblicken, daß man ohne Werfthilfe nicht nach Hause kam. Der Chief machte dem Kapitän Meldung: „Den Hauptdiesel“, sagte er, „und vor allem den Funk hat’s erwischt.“ „Schaffen wir es mit eigener Kraft?“ „Nicht bis Wladiwostok, Genosse Kapitän.“ „Bis wohin dann?“ „Mit langsamer Fahrt, solange die Einspritzpumpe mitmacht.“ Der Kapitän starrte auf die Karte. Dann fluchte er. Es gab nur die Hawaii-Inseln in der Nähe. Doch mit den Amerikanern war nicht gut Kirschen essen. Es sei denn, der Orkan hätte sie ebenfalls heimgesucht. Eigene Schmerzen erzeugten Mitgefühl Sie brachten ein Radio in Gang und erfuhren aus den Nachrichten, daß der Orkan die Hawaii-Insel Oahu gestreift hatte. „Kurs Oahu“, entschied der russische Trawlerkapitän. „Pearl Harbor.“ „Das ist ein Kriegshafen der US-Flotte, Genosse Kapitän.“ „Gerade richtig.“ „Wenn die unsere Antennen sehen.“ Der Kapitän schaute nach oben zu den Masten, wo vor dem Sturm ein wahres Spinnennetz von Drähten gespannt gewesen war. „Ich sehe keine Antennen“, sagte er. „Wir nehmen Kurs drei-fünf-zwo Grad.“
4
Der amerikanische Hafenkapitän wies dem havarierten Trawler ein Becken zu, das weitab von den Liegeplätzen der Pazifik-Flotte lag. Die Besatzung durfte das Sperrgebiet nicht verlassen. Ein Marineexperte kam an Bord und stellte die Schäden fest. Wenig später erstattete er beim Abwehroffizier des Flottenstützpunktes Meldung. „Natürlich ein Spionageschiff, Sir.“ „Wir mußten es hereinlassen. Es war in Seenot.“ „Das ist es noch, wenn keine Hilfe kommt. Der Kapitän will mit der sibirischen Staatsreederei telefonieren, daß sie einen Kurier mit Ersatzteilen schicken, mit Einspritzdüsen und Teilen für den Sender.“ Der Abwehroffizier bewegte den Bürstenkopf steif im Kragen seiner weißen Uniformjacke und spielte mit dem Bleistift. „Können wir das verweigern?“ „Nicht, wenn wir ihn bald loswerden wollen, Sir. Vielleicht funktioniert noch sein Radar und seine Abhörvorrichtung, mit denen sie in unser Funktelefonnetz eindringen.“ „Legt mal eine gerichtete Störfrequenz auf Becken acht.“ „Wollte ich soeben vorschlagen, Sir.“ „Und dann soll der Kapitän meinetwegen telefonieren. Wir holen ihn mit dem Wagen ab, bringen ihn zur Post und lassen ihn nicht aus den Augen.“ „Das wird gut sein, Sir“, sagte der Werftingenieur. „Das sind doch alles ausgebildete Agenten.“ Drei Tage später kam ein sowjetischer Schiffsingenieur mit der Japan-Airlines und viel Gepäck in Honolulu an. Als er in Oahu von der Fähre ging, wurde er verhört. „Name?“ „Titow, Serge Titow.“ „Sie kommen aus Wladiwostok via Tokio. Woher ha5
ben Sie das Visum?“ „Direkt aus Moskau. Eine Notlage, Gentlemen.“ „Das wissen wir“, erwiderten die amerikanischen Agentenjäger und durchsuchten das Gepäck. Es enthielt hauptsächlich Ersatzteile für Dieselmotoren, aber auch für Schiffsfunk. Nichts jedoch, womit sich defekte Abhöranlagen wieder in Gang bringen ließen. Trotzdem wurden die Ersatzteile geröntgt. In einem der Meßinstrumente entdeckten die Amerikaner eine mit Chips, Dioden und Transistoren bestückte Printplatte. „Die versuchte er reinzuschmuggeln“, meldete der Fahnder dem Abwehroffizier beim Admiralstab. „Was machen wir mit ihm?“ „Laßt ihn durch“, entschied der Major. „Er soll keinen Verdacht schöpfen. Den kriegen wir schon, den Knaben.“ Der sowjetische Schiffsingenieur Serge Titow durfte daraufhin die Insel Oahu betreten. Er wurde mit einem als Taxi getarnten Chevrolet des Marinegeheimdienstes zu seinem Hotel, dann zum Liegeplatz des Trawlers gebracht. Man gewährte ihm für die Reparatur eine Frist von achtundvierzig Stunden.
Als die CIA-Zentrale aus Washington nach Hawaii meldete, wer dieser Titow wirklich war, schlug die Abwehr zu. Sie baute für den russischen Experten eine sogenannte Honigfalle. – Sie war elegant und hübsch, etwa zweiundzwanzig Jahre alt und Tänzerin Sie saß abends, als der Russe auf einen Drink kam, an der Hotelbar. So kamen sie ins Gespräch. Dabei ließ die Hawaiianerin allerlei durchblicken. Daß ihr der blonde 6
Russe gefalle und daß sie für ein kleines Geschenk bereit sei, die Nacht mit ihm zu verbringen. „Ich habe nichts gegen Nutten“, der Russe sprach flüssiges Englisch, „besonders dann nicht, wenn sie so hübsch sind wie du. Aber in diesem Hotel geht es nicht.“ Der Russe war geschult und nahm an, daß die Abwehr ihn ebenso überwachte, wie jeder westliche Experte in Moskau überwacht wurde. „Fahren wir zu mir“, schlug sie vor. Sie hatte ein älteres Mustang-Cabrio. Mit dem rollte sie gemächlich über die Insel. Sie plapperte munter darauf los. Angeblich bewohnte sie mit einer Freundin ein kleines Haus am Nordstrand. Bevor sie abbogen, schlug sie vor, noch eine Flasche Whisky und ein paar Chickensandwiches zu kaufen. Sie parkte vor einem Restaurant. Sie gingen hinein, tranken erst einen Kaffee, dann einen Bourbon. Die Musikbox spielte. Sie tanzten. Zufällig stürmte eine Gruppe Sailors in die Bar. Einer von ihnen war betrunken. Er betatschte die Hawaiianerin. Serge Titow wollte keinen Streit, als aber der Matrose grob wurde, das Mädchen in eine Nische zog und dort über den Tisch legte, vergaß er das oberste Gesetz, sich im Ausland nicht provozieren zu lassen. Er packte den Sailor am Kragen, landete einen Fausthieb an seinem Kinn und setzte die Handkante hinterher. Der Matrose kam auf die Beine und hatte ein Messer in der Hand. Damit ging er auf den Russen los. Doch der trat ihm mit dem Fuß in den Leib. Der Amerikaner fluchte, ging vor Schmerz auf die Zehen, taumelte, drehte sich keuchend und fiel zu Boden. Dort blieb er liegen. Unter seinem Leib breitete sich eine Blutlache aus. 7
„Verdammt, er hat ihn erstochen“, fluchte einer der Matrosen. Sie riefen die MP. Titow konnte erklären, was er wollte, sie waren gegen ihn. Jeder in der Bar behauptete, der Russe hätte angegriffen, und das Messer stamme von ihm. Titow bemerkte zu spät, daß er in der Falle saß. Als er fliehen wollte, stand die Militärpolizei vor der Tür. Sie legten ihm Handschellen an und setzten ihn in den Einsatzwagen. Über Funk holten sie den Notarzt. Die Weißkittel fuhren bald wieder weg. „Die nehmen keine Toten mit“, sagte der MP Sergeant Sie brachten den Russen zur Stützpunkt-Kripo. Dort nahmen sie seine Fingerabdrücke, seine Aussage zu Protokoll und seinen Protest entgegen. Er verlangte, mit dem Konsul in Honolulu telefonieren zu dürfen. Doch dann rief der Polizist, der Titows Tascheninhalt untersuchte: „Ha, was’n das?“ Mit spitzen Fingern zog er aus Titows Geldbörse etwas Weißes, Rechteckiges. Es handelte sich um zusammengefaltetes Papier, nicht größer als zwei Briefmarken. Sie öffneten das Briefchen und fanden darin weißes Pulver. Sie schmeckten es ab. „Heroin“, sagte einer, und der Kripo-Captain bedauerte: „Das ändert die Sachlage. Mord und Rauschgiftbesitz, das kostet Sie lebenslänglich, Titow.“ „Ich will meinen Konsul sprechen“, forderte der Russe. „Mord und Rauschgift, Mann“, klärte der Captain ihn auf. „Da kann auch der Konsul nichts mehr für Sie tun.“ Sie führten ihn ab und sperrten ihn in eine Zelle. 8
Am Morgen brachten sie Titow zur Spionageabwehr. Seine Personalien wurden erneut aufgenommen. Dann begannen sie mit dem Verhör. Doch er war nicht einzuschüchtern. „Das war eine hundsgemeine Falle“, behauptete er. Sie lachten nur. „Warum gingen Sie hinein, Titow, wenn Sie es so genau wissen? Hat man Sie zu Hause nicht etwa gewarnt und bezüglich Ihres Verhaltens im Ausland geschult?“ „Es war reine Provokation. Der Matrose ist nicht mal verletzt.“ „Und das Heroin?“ „Hat man mir untergeschoben.“ „Es ist hochreine Moskauer Ware.“ „Alles Lüge“, schrie der Russe empört. „Genauso wie der Dieselschaden an Ihrem Trawler“, entgegnete der US-Major ruhig. „Er wurde von dem Dampfermaschinisten manipuliert.“ „Eine unverschämte Behauptung“, entgegnete der Russe wütend. „Ebenso wie Ihre Behauptung, Sie wären Maschineningenieur.“ „Ich bin Ingenieur“, beharrte Titow. „Nein, Sie sind Geheimkurier für Radarersatzteile.“ Der Major steckte sich eine Zigarette an und nahm einen Schluck Kaffee. „Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Totschlag vor Zeugen plus Heroinbesitz. Sie sind dreißig Jahre alt, Titow. Bis Sie wieder die Luft der Freiheit atmen, sind Sie ein alter Mann.“ „Ich fordere einen Prozeß!“ schrie der Russe außer sich. „Den kriegen Sie. Und wie wir den Prozeß gegen die 9
UdSSR propagandistisch auswerten, das können Sie sich vorstellen. Das hängen wir an die höchste Glocke. Russischer Trawler sucht Schutz vor Taifun in USHafen. Zum Dank spioniert er Flottenstützpunkt aus.“ Jetzt lenkte der Russe ein. Entweder aus Taktik oder aus Angst. „Habe ich gar keine Chance?“ fragte e r kleinlaut. „Nur durch ein volles Geständnis“, rieten sie ihm. Titow wurde nicht gefoltert, nicht streng verhört und bekam gutes Essen. Aber sie klopften ihn trotzdem mürbe. Ohne sein Geständnis wollten sie den Trawler an die Kette legen, hieß es. Also sagte er alles und unterschrieb, was sie verlangten. Aber eines war klar: Zu Hause in der Sowjetunion konnte er sich nicht mehr blicken lassen. Während Titow ohne Hoffnung in seiner Zelle saß, kam eines Morgens der Chef der Marineabwehr zu ihm und unterbreitete ihm einen Vorschlag. „Titow“, sagte er und deutete auf einen Aktenkoffer. „Alles, was geschah, ist protokolliert, fotografiert und mit Zeugenaussagen versehen. Aber nicht ein Wort davon ging bis zur Stunde an den Staatsanwalt. So kann es auch bleiben. Vorausgesetzt, Sie arbeiten für uns.“ Der Russe sah einen Silberstreifen am Horizont. „Was…“, setzte er an, „… was verlangen Sie von mir, Major?“ „Zunächst wenig“, erklärte der Amerikaner. „Wir bringen Ihnen einige Techniken bei, dann schicken wir Sie in Ihre Heimat zurück und sagen, Sie wären krank gewesen. Grippe, hochgradig fiebrig oder Gelbsuchtverdacht. Der Russe schüttelte den Kopf und konnte es nicht fassen. „Und dann?“ „Dann nichts“, sagte der Major. „Sie leben weiter wie 10
bisher, gehen Ihrer Arbeit nach und warten ab.“ „Bis zu dem Tag, an dem Sie mich brauchen“, fügte der Russe hinzu. „So ist es.“ „Und wann wird das sein?“ „Keine Ahnung. In einem Jahr, in fünf Jahren, in zehn.“ „Nennt man das nicht Maulwurf oder einen schlafenden Spion?“ „Es gibt viele Bezeichnungen dafiir“, antwortete der Major. „Sind Sie dabei, Titow? Ja oder nein?“ „Und wenn ich zu Hause abspringe oder mich dem KGB anvertraue?“ Der Abwehroffizier lächelte nur. „Das würden wir bald erfahren und Gegenmaßnahmen ergreifen. Sie haben doch Verwandte in Kanada.“ Der Russe schluckte. Sichtbar bewegte sich sein Adamsapfel. „Sie wissen offenbar alles.“ „Gibt es da nicht ein Mädchen, Ihre Kusine Sonja?“ „Die Tochter des Sohnes des Bruders meines Großvaters. Er ist in den Zwanzigern ausgewandert.“ „Sie lernten das Mädchen kennen, als es Moskau besuchte.“ „Ja, wir lieben uns“, äußerte Titow. „Sie möchten sie gern heiraten, aber sie will nicht in Rußland leben. Und Sie können nicht legal Ihr Land verlassen.“ „So ist es“, gestand Titow. „Vielleicht finden wir eine Lösung“, lockte der Amerikaner ihn. „Was halten Sie davon?“ „Ich muß nachdenken“, erwiderte der Russe. „Nachdenken. Bitte!“ „Sie haben zwei Tage Zeit“, entschied der Abwehroffizier. 11
Achtundvierzig Stunden später war der sowjetische Schiffsingenieur Serge Titow Spion des amerikanischen Geheimdienstes CIA. Er wurde von einem russischsprechenden Agentenlehrer unterrichtet, in seine Rolle eingewiesen, mit Codes und Kontaktwegen vertraut gemacht Man suchte einen Decknamen für ihn und entschied sich für Harbor, Hafen, den Ort, wo er ihnen in die Hände gefallen war. Sie versicherten ihm, daß er nur der Ostabteilung als Maulwurf bekannt sei, daß man strengste Geheimhaltung wahren werde und daß man monatlich einen Dollarbetrag auf ein Konto überweisen werde, das man für ihn einrichtete. Wieder drei Tage später setzten sie ihn, versehen mit einer Krankengeschichte, in den Jet nach Tokio. Sie hatten ihm ein Medikament gespritzt, das ihm ein Aussehen gab, so gelb, als wäre er gerade noch an einer Hepatitis vorbeigekommen.
Erst vier Jahre später wurde der schlafende Agent Serge Titow – er arbeitete längst wieder in Moskau – vom amerikanischen Geheimdienst geweckt. Sie aktivierten ihn mit dem Befehl, in das sowjetische Raketenabwehrsystem einzudringen. – Am liebsten war ihnen, wenn es ihm gelang, sich als Radarexperte ausbilden zu lassen. Wie die CIA erfahren hatte, planten die Russen einen Ring riesiger Radarstationen zur Früherkennung von Interkontinentalraketen und Weltraumbomben. 2. Wirklich heiße Neuigkeiten waren so selten wie die 12
Perle in der Auster. Trotzdem versahen die Männer in den BNDAbhöranlagen von Neustadt an der Ostsee bis zum Bayerischen Wald Dienst nach Vorschrift. – Acht Stunden Schicht, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Freizeit. Die riesigen Betonpfähle und Gittertürme, die die Horchantennen trugen, ragten wie drohende Zeigefinger Richtung Sonnenaufgang. An diesem Tag ging die Sonne über dem 1079 Meter hohen Schwarzriegel nicht auf. Tiefe Wolken hingen über den Höhen. Nebel verhüllten die Täler. Nasse Schwaden wallten um die Wohnbaracken und Radardome der einsamen Station. In den Kontrollräumen saßen die Techniker in bequemen Sesseln, Kopfhörer auf, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Nirgendwo in der Bundesrepublik wurde pro Kopf mehr Kaffee getrunken und an Zigaretten ko nsumiert als hier. Die Klimaanlage wurde kaum mit dem Qualm fertig. Einer der Techniker fing plötzlich an zu feixen. Der Kollege neben ihm fragte: „Was gibt’s?“ „Ein Taxifahrer in Prag wurde eben von seiner Funkzentrale angerufen. Er soll nach Hause kommen, seine Frau bringt den Hüftgürtel nicht alleine runter.“ „Hüftgürtel, was ist das?“ „Ich glaube, so eine Art Gummischlauch, der Bauch und Hintern in Form bringt. Und was gibt’s bei dir?“ „Das Fernsehprogramm in Kiew ödet wie immer an.“ Auch die Techniker, die den Sprechfunkverkehr von Zivil- und Militärluftfahrt im Ostblock abhorchten, stellten heute nichts Besonderes fest. Nur eine Passagiermaschine, die von Wolgograd nach Moskau unterwegs war, bat wegen Triebwerkausfalls um Landege13
nehmigung in Woronesch. Einer sagte: „Bei mir unterhalten sich gerade zwei Nutten am Telefon über die Preise. Die eine in Leningrad, die andere in Nowgorod. Wieviel Rubel für was angemessen sind.“ „Und was ist angemessen?“ „Zwanzig Rubel für einmal einfach mit, dreißig ohne, vierzig französisch.“ Am Zentralpult, vor dem der Schichtleiter saß, glühte eine rote Lampe auf. Jemand rief ihn in den Nebenraum. Er war durch eine schalldichte Tür vom Hauptkontrollraum getrennt und nur halb so groß. Die Meß-, Empfangs- und Aufzeichnungsgeräte bedeckten die Wände bis zur Decke. Ein einziger Spezialist bediente all diese SuperTechnik. Seine Arbeit war selbst beim Geheimdienst noch einmal streng geheim. „Was gibt es?“ Der Ingenieur korrigierte laufend die Feineinstellung dessen, was er hörte, und betätigte eine Stoppuhr. „Da ist er wieder.“ „Herald?“ Der Ingenieur nickte und betätigte per Schalterdruck das Aufzeichnungsgerät. „Er sendet.“ „Digital wie immer. Eine geballte Ladung.“ Die beiden Ingenieure verständigten sich nahezu wortlos. Der Schichtleiter studierte die Karte, auf der alle militärischen Satelliten von Ost und West verzeichnet waren. Herald, der neueste Himmelsspäher der Amerikaner, stand hoch im Weltraum, etwa auf 55 Grad Nord. Die Erde drehte sich unter ihm vorbei. Wenn um Mitternacht Sibirien durchwanderte, war es acht Stunden später Nordamerika. Dann riefen die Amerikaner die Daten 14
ab, und Herald legte los. Er funkte alles, was er gesehen hatte, binnen weniger Minuten zur Erde. „Das eben war der Telemetrie-Funk von Baikonur zur Kosmos-Station“, sagte der Mann am Display. „Jetzt kommen die Fotos.“ Der Satellit zerlegte die Bilder seiner Videokameras in Punkte und funkte sie in verfeinerter Fernsehtechnik zur Erde. „Aufzeichnung läuft.“ „Wie sind Sie da reingekommen?“ fragte der Schichtleiter. „Kunst ist Kunst“, erklärte der jüngere Ingenieur. „Monatelang haben wir versucht, den Satelliten-Code zu knacken. Ohne die Hilfe der Dechiffrierstelle in Bad Godesberg wäre es uns nicht geglückt.“ „Und bei mehr Zusammenarbeit von Seiten der Amerikaner wäre es nicht nötig gewesen.“ Jeder, der im BND damit befaßt war, wußte, daß die Amerikaner den Deutschen keine allzu heißen Informationen überließen. Angeblich aus Sorge vor Ostagenten im westdeutschen Apparat. „Der Dienst muß alles wissen“, betonte der Schichtleiter, „egal wie.“ Sie verfolgten den Zeiger der Stoppuhr. Auf die Sekunde genau beendete der Satellit die Übertragung. „Er hat alles abgelassen“, kommentierte der Mann am Display. „Schlußcode.“ Erst stellten sie eine Kopie des Videobandes her, dann legten sie es in den Player ein. Die Bilder waren unscharf. Sie hatten Störungen, wanderten, kippten, blieben endlich grießelnd stehen. „Aus dieser Höhe immerhin beachtlich“, staunte der Schichtleiter, Sie erkannten eine graugrüne Fläche, darin winzige Rechtecke. Es sah so aus, als hätte man auf einem Ve15
loursteppich, der Falten schlug, Streichholzschachteln verteilt und senkrecht von der Zimmerdecke herab fotografiert. „Die Schachteln bewegen sich.“ „Und hinterlassen eine Doppelspur wie zwei Käfer, oder irre ich mich?“ „Mit unseren Geräten ist das nicht zu erfassen.“ „Auch nicht unsere Aufgabe“, entschied der Schichtleiter. „Wir ziehen noch eine Kopie, Je ein Band geht per Kurier zum Camp nach Pullach und nach Bad Godesberg.“ „Dann haben sie es nicht vor morgen.“ „So wichtig wird es nicht sein.“ „Und wenn es doch wichtig ist?“ gab der junge Ingenieur zu bedenken. Der Schichtleiter wollte nicht dazu beitragen, daß man dem BND vorwarf, noch andere Dinge als den Einmarsch der Russen in der CSSR, die AfghanistanInvasion oder die Machtübernahme von General Jaruselski in Polen verschlafen zu haben. „Schön, gib es auf die Leitung.“ Seit kurzem verbanden Glasfaserkabel die Abhörstationen mit den Großcomputern des BND und der Hardthöhe. Immerhin war eine Situation denkbar, in der es darauf ankam, daß die Bundeswehr eine halbe Stunde früher Bescheid wußte, falls es einmal ernst wurde.
Auf den bundesdeutschen Autobahnen sah es nicht besser aus als in den Mittelgebirgen. Zwischen Flensburg und Berchtesgaden wurde immer wieder vor Nebelfeldern gewarnt. Doch so, als gäbe es kein Morgen, stürzten die Autofahrer sich in die graue Watte. Kaum einer ging vom Gas. Dem BND-Agenten Robert Urban, gern ein flotter Fahrer, wurde das Tempo, mit dem diese 16
Wahnsinnigen überholten, zu kriminell. Er lebte gefährlich, aber er war kein Kamikazepilot. Als diffuses rosa Licht eine Raststelle anzeigte, tastete er sich zur Ausfahrt und hielt vor dem Restaurant. Auf Wagenlänge war eben noch die Biermarke zu lesen. Er steckte die Zigaretten ein und wollte sein BMWCoupe verlassen, als das Autotelefon summte. Er hob ab, nannte seinen Code aber erst, als der Anrufer seine Identität preisgegeben hatte. „Hier ist der Dilettantenverein von Zet-ef-Ce.“ Im Klartext bedeutete das Zentrale für das Chiffrierwesen in Bad Godesberg. Urban erkannte jetzt die Stimme des Obertechnikers. „Hallo, alter Schlapphut-Mohikaner!“ „War schwer, dich zu finden, Dynamit.“ „Ja, das neue C-Netz ist schon wieder überlastet. Besonders um diese Stunde.“ Sie schimpften über die Unzulänglichkeiten des deutschen Autotelefonnetzes. Auf diesem Gebiet war die Republik noch Entwicklungsland. „Kommen wir zur Sache, bevor das Netz wieder mal zusammenbricht“, schlug der Ingenieur vor. „Ich schalte auf Zerhacker.“ Auch Urban betätigte den Gerätezusatz, der Mithören verhinderte. „Wo bist du jetzt, Dynamit?“ „Südlich von Koblenz.“ „Kannst du rasch vorbeikommen?“ „Wenn es wichtig ist.“ „Nicht lebens-, aber vielleicht Staats-…“ „Neuer Ärger mit den Verbündeten?“ „Diese verfluchten Amis“, machte der Mann in Godesberg seinem Ärger Luft. „Erst kriegen die Briten was ab, dann die Kanadier, dann die Australier, dann kommt noch lange nichts, dann kommen wir.“ 17
„Vorher“, erwähnte Urban, „sind noch die Chinesen dran.“ Sie hatten festgestellt, daß sogar die kommunistische Volksrepublik China mitunter bessere Aufklärungsware erhielt als die Bundesrepublik. „Nun, seitdem die Amerikaner aus Persien rausgefeuert wurden, stehen ihre wichtigsten Horchposten in Richtung Moskau auf rotchinesischem Boden“, ergänzte Urban. „Was kann ich für euch machen, Freunde?“ „Eine Bildanalyse.“ „Nacktfotos?“ „Ein nacktes Steppengebiet in Sibirien. Mit langsam herumkrabbelnden Wanzen, die wir uns nicht erklären können.“ „Nennt sie einfach Ungeziefer.“ „Besser, der Experte für alles schaut sich das an.“ „Erhofft euch nicht zuviel“, meinte Urban. „Kommt das Foto von Herald?“ „Er funkte es vor wenigen Stunden aus dem Orbit zum Pentagon. Wann kannst du hier sein? Ich will deine Meinung hören, ehe wir es an die große Alarmglocke hängen.“ „Kaffee in zehn Minuten“, rechnete Urban, „dann bis zur nächsten Ausfahrt, wenden und zurück. Im Nebel zwei Stunden.“ Der Schlapphut-Mohikaner erklärte, er werde auf jeden Fall im Amt auf ihn warten. Urban ließ sich die Fotos zeigen. Sie waren aufgeblasen und vergrößert bis zur Körnung. Dann schaute er den Film an. „Die Landschaft hat Steppencharakter.“ „Muß irgendwo in Zentralsibirien sein.“ „Halten die Wanzen Sprechkontakt auf UKW?“ 18
„Nicht festzustellen.“ Urban zweifelte daran. „Ihr überwacht drüben die Telefone, den militärischen Funkverkehr, die Verkehrsnetze, die Abstrahlung von Atomkraftwerken, ihr wißt sogar, wann der Sohn eines Funktionärs Koks in die Nase zieht…“ „Die Entfernung ist einfach zu groß.“ Urban zählte weiter auf: „Ihr verfolgt den Zusammenbau von SS-zweiundzwanzig-Raketen hinter dem Ural, die Stapelläufe von Flugzeugträgern, ihr hört mit, wenn Gorbatschow hustet.“ Der Mohikaner bat Urban darum, sie nicht mit der amerikanischen NSA zu verwechseln. Das Amt für nationale Sicherheit der USA mit seinem Milliardenetat war angeblich in der Lage, sogar das Miauen einer Katze in einem getauchten russischen U-Boot mitzuhören. „Also, wofür hältst du diese rechteckigen Kriechtiere?“ Urban steckte sich eine Goldmundstück-MC an und schien sich für die technischen Spielereien nicht weiter zu interessieren. „Es gibt nur eine Erklärung.“ „Und die lautet?“ Urban versuchte seinen Geburtsfehler, das angeborene Grinsen, zu verringern. Er wollte, daß man seine Äußerung ernst nahm. „Te-achtundachtzig“, sagte er. „Mit Transeuropa-Express hat das aber nichts zu tun“, fragte der Direktor in Godesberg, „oder?“ „Nur im Kriegsfall“, befürchtete Urban. „Dann wü rden uns nämlich die fünfzigtausend Panzer des Warschauer Paktes sehr rasch im Transeuropa-ExpressTempo überrollen. Und das erst recht mit dem neuen Te-achtundachtzig.“ 19
„Ein Panzer also.“ „Zweifellos. Die zwei Spuren, die er hinterläßt, stammen von den Kettenlaufwerken.“ Der Technik-Chef von Godesberg schüttelte den Indianerkopf. „Du bist ein total abgebrühter Hund, Dynamit.“ „Warum? Weil ich nicht vor Staunen niederknie?“ „Etwas in dieser Richtung habe ich erwartet.“ Urban winkte ab. „Der Te-achtundachtzig ist uns bekannt und mithin nichts Neues.“ „Für die Amerikaner wohl schon.“ „Hätten sie uns doch gefragt.“ Der ZfC-Chef, der von Agentenarbeit nur wenig mehr wußte als jeder andere deutsche Bürger, fragte: „Woher habt ihr das? Es gibt keine deutschen Satelliten.“ „Aber traditionell ein erstklassiges Agentennetz im Osten. Auch wenn es keiner wahrhaben will.“ „Der Kanzler ist damit nicht mehr zufrieden“, bemerkte der andere, der wirklich aussah wie ein Mohikaner. „Politiker sind das nie. Das gehört zu ihrem Geschäft.“ „Sie fragen sich, wozu die Hunderte von Millionen Mark für den BND nötig sind, wenn sie uns weniger einbringen, als die Schweizer Regierung in Bern weiß.“ „Wir haben eben keinen Spion neben dem russischen Staatschef sitzen wie die Amerikaner.“ „Das dürfte ein Gerücht sein.“ „Aber das ist der Punkt“, betonte Urban. „Entweder präzise Topinformationen oder gar nichts. Der Rest steht in der Bild-Zeitung.“ Der ZfC-Chef kam wieder auf den Panzer zurück. „Was ist neu an dem Ding? Was kann er, was der 20
Leopard nicht kann?“ Urban sagte, was er wußte. „Er stellt eine Wende im Panzerbau dar. Der Antrieb erfolgt nicht durch einen Vielstoffmotor, sondern durch eine dreimal so starke Verbrennungsturbine. Das Ding hat keinen Turm mehr, sondern ist nur zwei Meter hoch. Die verkleinerte Zielfläche steigert die Überlebenschance. Die Besatzung liegt im Panzer. Nur die 135Millimeter-Kanone ragt aus der Wanne und ist im Vollkreis schwenkbar. Eine Superkanone. Sie verfeuert Granaten und auch Raketen.“ „Schätze, im Te -achtundachtzig geht es ein bißchen eng zu“, bemerkte der Chef der Dechiffrierer. „Das Magazin schwenkt mit“, erklärte Urban, ,4ie Ladung erfolgt automatisch, das Visieren ebenfalls. Der Kommandant beobachtet das Gefechtsfeld durch ein Periskop, das mit einem Zielerfassungsgerät gekoppelt ist.“ „Noch mehr solche Schweinereien?“ fragte der Mohikaner. „Aber klar. Zu dem neuartigen Karussell-Magazin kommt Munition mit Hartkern aus angereichertem Uran. Der Te-achtundachtzig hat außerdem eine Laserkanone, die Hubschrauber und Panzerabwehrraketen blendet.“ „Aber eine uralte Acht-Komma-acht-Flak, bedient von guten Kanonieren, könnte ihm den Garaus machen.“ Urban schüttelte den Kopf. „Leider nein, die Zeiten sind vorbei. Das war einmal. Der Te-achtundachtzig besitzt Halterungen für eine sogenannte reaktive Panzerung. Das sind mit Sprengstoff gefüllte Stahlmanschetten, die bei einem Treffer nach außen explodieren und sogar Hohlladungsgeschosse unwirksam machen.“ 21
,,Diese Russen. Nicht zu glauben.“ „Bei den Panzern und bei der Feldartillerie waren die Russen schon immer Spitze.“ „Nun, einmal sind sie vorn, dann die NATO.“ „Den Leopard-zwei und den amerikanischen Abrams“, schätzte Urban, „die kannst du vergessen, wenn der Te-achtundachtzig erst vom Band rollt.“ „Rollt er denn schon?“ „Man spricht von einer Produktionsplanung, die bei zweihundertachtzig Einheiten pro Monat liegt.“ Der Mohikaner pfiff leise vor sich hin. „Und woher weißt du das, Oberst?“ „Von Fachleuten“, gestand Urban, „Die alles Stückchen für Stückchen zusammentrugen und zusammensetzten und das Ergebnis analysierten. Dazu braucht man keinen Satelliten.“ „Aber die Amerikaner glauben uns nicht.“ „Sie fragen uns nicht einmal.“ „Nur weil wir mal danebenlagen, wer der nächste KGB-Chef wird.“ „Weil sie die Größten sind“, ergänzte Urban. „Vergiß das nie, mein Roter Bruder.“ Der ZfC-Chef in Godesberg wirkte ein wenig ratlos. Da hatte man endlich etwas, hatte für Volk und Vaterland etwas Verbotenes getan, nämlich den neuesten militärischen US-Satelliten angezapft, und keiner legte Wert darauf, weil sie angeblich alles bereits kannten. „Nicht nachlassen“, riet Urban ihm. „Morgen schon kann eine heiße Info durchkommen.“ „Was ist heiß, wenn dich so etwas kalt läßt?“ „Zum Beispiel“, äußerte Urban todernst, „Forschungen über die Marschgeschwindigkeit der Sibirischen Landschildkröte. Oder über den Energieverbrauch der Ukrainischen Schmeißfliege im Rückenflug rückwärts.“ „Idiot“, sagte der Mohikaner. „Willst du diesen 22
Schwachsinn mit unseren Bildern über den Te achtundachtzig vergleichen?“ Urbans Zustimmung wäre das erste wahre Wort des heutigen Tages gewesen. Aber es hätte den Technikern jede Motivation geraubt. Also sagte er: „Nein. Was ihr da fandet, ist echt scharf.“ Gegen Abend stieg er in seinen 633 CSi und fuhr nach Süden. Satte sechshundert Kilometer bis München. Inzwischen hatte der Nebel sich aufgelöst. Statt dessen regnete es jetzt. 3. Im zweitgrößten Geheimdienst der Welt, der amerikanischen CIA, breitete sich Unzufriedenheit aus. Angeblich hatte der Präsident geäußert, daß das, was der Geheimdienst als sensationelle Neuigkeit ins Weiße Hatis lieferte, doch wohl zum Lachen sei. „Das wird ihm vergehen“, sagte der CIA-Direktor, „wenn wir ihm den neuen Russenpanzer definieren.“ „Nur können wir das nicht“, befürchtete der Pentagon-General. „Die Industrie ist dabei, die ersten Studien für den Abrams-Nachfolger zu erstellen. Dazu brauchen sie Einzelheiten über den Te -achtundachtzig. Es ist doch wie bei den Automobilherstellern. Die richten sich beim Entwurf neuer Typen nach denen der Konkurrenz.“ „Wir haben nichts“, erklärte der Pentagon-General verzweifelt. „Wer aus Baumwipfelhöhe wimmelnde Haufen beobachtet, kann über die Waldameise noch verdammt wenig aussagen.“ „Warum fragen wir die Deutschen nicht?“ „Um unser Unwissen einzugestehen? No, Director.“ „Sie sind die erfahrensten Panzerbauer der NATO.“ „Und sie möchten uns immerzu ihren Leopard ve r23
kaufen. Wenn sie unser Interesse am Te -achtundachtzig erfahren, schließen sie daraus auf eine Neukonstruktion bei Chrysler und bedienen uns – vorsichtig ausgedrückt – mit falschen Informationen. Natürlich mit solchen, die uns zeigen, wo wir im Kampfwagenbau stehen, nämlich im Zweiten Weltkrieg.“ Der CIA-Direktor atmete erleichtert auf. „Ich dachte schon, Sie stufen uns zurück bis zu den altgriechischen Kampfwagen des Königs Agamemnon.“ Der Pentagon-General ließ sich dadurch nicht aus seiner Sauertöpfigkeit locken. „Es ist, wie ich sage. Wir brauchen Informationen über den Te-achtundachtzig. Nicht von den Deutschen, sondern von Ort und Stelle. Die Dinger stauben Tag und Nacht durch die Sibirische Steppe. Es muß verdammt eine Möglichkeit geben, sie nicht nur von oben zu betrachten. Wer ist hier eigentlich der Mister Geheimdienst, Sie oder ich?“ Der CIA-Direktor war auch nicht die ganze CIA, fühlte sich aber verantwortlich. „Okay, General. Und Ihre Forderung im einzelnen?“ Der Pentagon-Mann zählte auf: „Fotos des Te-achtundachtzig im Stand, während der Fahrt und beim Schießen. Daraus läßt sich analysieren, wie stark er motorisiert ist. Hat er Dieselmotor oder Turbine, wie hoch ist sein Gewi cht? Aus dem Gewicht schließt man auf die Panzerung. Wie tritt er an, also wie beschleunigt er? Wie breit ist die Spur, die Bodenfreiheit? Daraus läßt sich beantworten, wie er welche Hindernisse nehmen kann. Kann er waten oder tauchen? Wird beim Angriff mit dem ganzen Fahrzeug gezielt oder konventionell mit der Kanone und, und, und…“ „Die ganze Latte also.“ „Wenn Sie wollen, dreißig Seiten lang, eng beschriftet“, drängte der General. „Wir brauchen das umgehend. 24
Nein, jetzt sofort. Sonst wird der Vorsprung der Ostblockarmee zu groß. Vergessen Sie nicht, der Te achtundachtzig fährt bereits, während unser Abramszwei noch nicht einmal auf dem Papier steht.“ Das Gespräch dauerte an. Es ging dabei recht heftig zu. Am Ende war der CIA-Direktor mehr überredet als motiviert. „Sie kriegen die Unterlagen. Ich weiß nicht wie, aber Sie kriegen sie“, versprach er. „Wann?“ „Bald“ „Und wie beschaffen Sie sich das Material? Haben Sie einen Topagenten in Sibirien sitzen?“ „Wenn nein, dann schicken wir ein Kommando los.“ Der General schaute demonstrativ auf die Uhr, als wollte er sagen: Sie haben bis morgen Zeit. Da man ihn in West Point zum Generalstabsoffizier ausgebildet hatte, wußte er aber, was machbar war und was nicht. „Also dann bis in zwei Wochen.“ „Einen Monat müssen Sie uns schon lassen, General.“ „Maximal“, räumte der General ein. „Alleräußerst.“ Leider hatte der General ausgezeichnete Verbindungen zum Präsidenten. Er gehörte dem Beraterstab des Weißen Hauses an. Der Stern des CIA-Chefs hingegen war am sinken. Deshalb mußte er Erfolg haben. Er berief für 17.00 Uhr eine Sitzung mit seinen Abteilungsleitern ein. Dabei erfuhr er etwas, das alles andere zweitrangig erscheinen ließ.
Joe P. Costas war ein Mann wie der Mount Everest. Von den Fersen bis zum Scheitel maß er sechseinhalb Fuß. Trotz der Entfernung von den Füßen zum. Gehirn 25
wußte er, auf welchem Boden er stand. Er war und blieb ein Agent der Mittelklasse. Zwar hatte er im Alter von fünfundvierzig Jahren ein hohes Maß an Erfahrungen gesammelt, vor allem beim Einsatz östlich des Eisernen Vorhangs, aber er hatte auch den Gipfel seiner Laufbahn erreicht. Weiter kam er nicht. Für den Schreibtischposten eines Abteilungsleiters fehlte ihm einfach die Eignung. Er war der beste Kumpel, der zuverlässigste Kundschafter, aber kein Manager. Das wußte Costas, als er zur CIA-Zentrale nach Langley fuhr und Zimmer 588, das Büro seines Vorgesetzten, im fünften Stock, Seitenflügel links, betrat Außerdem hatte er eine gewisse Vorahnung. Entweder sie hatten noch einen Job für ihn, dann war es wohl einer der letzten und einfachsten, oder sie schlugen ihm einen Posten in der Registratur vor. Den konnte er natürlich nicht annehmen. Wenn es hoch kam, setzten sie ihn als Agentenausbilder ein. Dazu wäre er vielleicht bereit gewesen. Am liebs ten war ihm das Gnadenbrot, die Pensionierung, mit Abfindung und fairer Rente. Dann kaufte er sich die kleine Ranch in den Bergen von Virginia. Mit dreitausend Dollar im Monat ließ es sich dort fein leben. Er war ja nicht anspruchsvoll. Außerdem hatte er Erspartes. Joe P. Costas war also guten Mutes, als er hineinging und sich hinsetzte. „Hallo, Sir“, sagte er. „Wie geht es?“ fragte Sam Creech, das Krötengesicht. Er hatte Warzen, weit auseinanderstehende Augen und ein breites Maul. „Schlecht“, sagte Costas. „Kaum Lachse heuer in den Bächen. Die Füchse haben die Tollwut, die Bäume tragen zuwenig Obst zum Brennen, mein Wagen braucht einen neuen Motor, und die Haare fallen mir 26
auch aus.“ „Na, fabelhaft“, sagte der Sektionsleiter Ost. „Da können Sie ja eine Aufmunterung gebrauchen.“ „Da sage ich nie nein, Sir.“ Lauernd strich die häßliche Harvard-Kröte um den alten Haudegen herum. „Wie steht es mit der Gesundheit, Costas?“ „Hatte Grippe, jedes Jahr wieder. Sonst alles wie neu, Sir.“ „Sie beherrschen doch slawische Sprachen.“ „Ein wenig, Sir.“ „Sie sind unser erfahrenster Mann jenseits des Eisernen Vorhangs.“ „Südostasien und Indochina inklusive.“ „Sie sprechen auch Russisch?“ Costas hatte längst gemerkt, daß der Chef ihn nicht nur körperlich einkreiste. Er rückte auch seinem Anliegen immer näher. „Leidlich, Sir.“ „Sie sind rotblond.“ „Mein Bart kommt dunkel, Sir. In einer Woche bin ich nicht mehr zu erkennen.“ „Ich stelle mir vor, Sie sehen aus wie ein Kirgise, nur daß die Säbelbeine vom Reiten haben.“ „Ich auch, Sir.“ Der Abteilungsleiter nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. „Was hindert uns dann daran, Sie auf Reisen zu schicken?“ „Nichts. War schon lange nicht mehr in Moskau“, ließ Costas seinem siebten Sinn freien Lauf. Der Ostchef hob erstaunt das Kinn. „Wer hat Ihnen das gesteckt, Costas?“ „Instinkt, Sir.“ „Dann hat Ihnen der Instinkt etwas Falsches eingeflü27
stert. Es geht noch ein Stück hinter Moskau. Südöstlich davon. Paartausend Kilometer.“ „Kirgisensteppe etwa?“ „Das war leicht zu erraten.“ „Dort testen die Russen ihre Allrad- und Kettenfahrzeuge.“ Der Abteilungschef lehnte sich bis zur Sessellehne und mit der Lehne noch weiter zurück. „Das ist der Punkt.“ Costas hatte einiges gehört. Wenn es einen Mann in der CIA gab, der hundert Freunde hatte, dann er. „Den neuen Panzer“, sagte er, „testen sie auch.“ Plötzlich fühlte Greech sich nicht mehr als Mister Allwissend. Allerdings hatte er etwas auf Lager, womit der Agent nicht rechnen konnte. Doch zunächst ließ er Costas bei seiner Meinung. „Ein Kommandounternehmen“, bestätigte Greech. „Stellen Sie es zusammen, machen Sie die Planung.“ Costas ging davon aus, daß es sich um eine Dreiergruppe handeln würde. In der Regel bestanden Kommandos aus drei Mann, dem König, dem Springer und dem Bauern. Der König führte, der Springer räumte die Hindernisse weg, der Bauer erledigte die Technik. „Drei Mann?“ fragte er also. Das Konzept stand offenbar schon fest, denn der OstChef äußerte präzise Wünsche: „Sie als Commander, dann Lewman – er kommt aus der Touristik, ein erstklassiger Rußlandkenner und Fighter.“ Lewman, genannt der Eskimo, würde ihn sofort zum Bruder Großer Bär ernennen. Es gab keinen besseren auf dem Kriegspfad. Er konnte mit dem Messer umgehen wie mit jeder anderen Waffe und war einmal Florida-Meister in Karate gewesen. Der Ostchef, der das alles wußte, nannte nun den Na28
men des dritten Mannes. „Major Eckstein.“ Costas dachte nach. „Nie gehört, Sir. Einer aus der Firma?“ „Ehemaliger deutscher Panzermajor, arbeitet jetzt als Berater und Lobbyist eines Herstellers für Glattrohrkanonen. Er ist uns einen Dienst schuldig.“ Die Bemerkung, der deutsche Exmajor sei der CIA einen Dienst schuldig, bedeutete, daß sie ihn irgendwann einmal für eine geheime Information bezahlt hatten, daß sie ihn noch auf der Gehaltsliste führten und daß er mithin unter Druck zu setzen war. „Weiß er schon von seinem Glück?“ fragte Costas. „Wir stehen mit beiden in Verbindung.“ Nun ging es um Einzelheiten. Costas schlug vor, die Einreise von einem neutralen Land aus vorzunehmen, und zwar als offiziell beantragte Studienfahrt. „Oder als Jäger“, bemerkte der Ostchef. „Es gibt da Luxusarrangements mit Abschußgenehmigungen für wer weiß was. Für Tundrawölfe, Bären oder Hirsche. Wir wünschen, daß Sie sich in Paris treffen. Dort haben wir eine Vertrauensperson, die sämtliche Vorbereitungen trifft. Deckname Pearl. Alles Weitere erfahren Sie draußen im Büro.“ „Wann soll es losgehen?“ fragte Costas. Ein Lächeln zuckte um das Krötenmaul des Ostchefs. Das mißfiel dem Altagenten. „Dem Pentagon wäre es am liebsten, Sie wären schon an Ort und Stelle. Es geht nicht darum, wann Sie fahren, sondern wann Sie zurück sind. Sie haben maximal zwanzig Tage.“ ,,Kann knapp werden, Sir.“ „Nicht für einen Mann wie Sie.“ Daß man ein toller Bursche sei, das behaupteten sie 29
immer, wenn sie vollen Einsatz erwarteten. Es war wie ein Tritt in den Hintern. Costas verzichtete auf eine Zigarette, denn Greech gehörte der neuen Nichtraucher- und Nichttrinkergeneration an. – Vermutlich vögelt er auch ziemlich schlecht, dachte Costas. Bevor er ging, faßte er den Auftrag noch einmal zusammen; „Es geht also um den Te -achtundachtzig.“ Nun ließ der Ostchef die letzte Katze aus dem Sack. „Nicht nur, mein lieber Costas“, sagte er, „nicht nur.“ In den nächsten zwei Tagen telefonierte Costas viel herum und legte mit Flugzeug und Automobil mehrere tausend Meilen zurück. Lewman, der Eskimo, wie sie ihn wegen seiner Schlitzaugen nannten, lebte in einem Nest auf den Keys. Dort betrieb er ein Bodybuilding-Center. Er war aber nicht erreichbar. Es hieß, er sei zum Fischen in den Golf hinausgefahren. Das bedeutete, daß man ihn in seinem Laden nicht brauchte. Also lief der Laden schlecht Mit Hilfe der Coast-Guard gelang es, Lewmans Boot ausfindig zu machen. Er holte in aller Ruhe den letzten Marlin an Bord, nahm dann Gegenkurs und steuerte Key West an. Dort traf er mit Costas zusammen. Weil er immer in Geldnöten steckte, wurden sie rasch einig. Lewman nahm die zwanzigtausend Dollar Anzahlung, kippte ein Glas weißen Rum und sagte, indem er sich die Lippen abwischte: „Wollte schon lange mal wieder Blini essen. Nicht was hier in den russischen Restaurants angeboten wird, sondern die echten mit Kaviar und saurer Sahne.“ 30
Costas schwang sich zu dem alten Scherz auf: „Geht in Ordnung, Mann. Am Roten Platz dann um halb vier.“ Sie besprachen die Einzelheiten. „Treffpunkt Paris“, erklärte Costas. „Ausrüstung wird gestellt.“ „Rate zu warmen Unterhosen“, schlug Lewman vor. „Um diese Zeit wird es frisch in der Kirgisensteppe.“ „Und warme Jacken“, fügte Costas hinzu. „Laß das meine Sorge sein. Also dann, bis dann! Sei pünktlich, Schlitzauge.“ Lewman bekam eine Adresse und eine Telefonnummer in Paris. Zum Abschied hoben sie noch einen. Lewman bestand darauf, daß es diesmal Wodka war. – Zur Einstimmung, wie er es nannte. Weniger glatt ging es mit dem dritten Mann, den die Zentrale vorgeschrieben hatte. Erst bekam Costas ihn nicht an den Draht. Als er ihn hatte, machte der Deutsche Zicken. Er war ganz und gar unscharf auf Mütterchen Rußland. „Als Panzerexperte bin ich dort Persona ingrata. Ich kriege auch gar kein Visum.“ „Das besorgen wir“, versicherte Costas. „Die stellen mir drüben ein Bein, versuchen irgendeinen Trick, um mich aus dem Verkehr zu ziehen.“ „Sie reisen ja nicht als Major Eckstein“, erwähnte Costas. „Außerdem soll ich Sie an etwas erinnern, das, wie ich hörte, vor sieben oder acht Jahren stattfand.“ Der Deutsche fluchte ausgiebig. „Man sagte mir zu, es würde in den Akten gestrichen und die Akte werde im Papierwolf zerrissen.“ „Offenbar erinnert sich einer“, deutete Costas an. „Die Dollarüberweisungen nehmen Sie ja auch entgegen. Und es gibt ein Extrahonorar.“ Er hatte einige Mühe. Schließlich sagte der Deutsche 31
seufzend: „Überredet.“ Dies aber in einem Ton, als hätte ihn eine Keule am Hinterkopf erwischt. Er erfuhr, was nötig war. „Den Rest in Paris“, beschied Costas ihm. „Übermorgen siebzehn Uhr.“ „Ortszeit?“ „Natürlich nicht New Yorker Zeit, Mann.“ Eckstein bekam die Adresse. Wie man ihm versicherte, brauchte er nicht einmal die Zahnbürste mitzubringen. Alles sei bestens organisiert. Doch der Exmajor versuchte seinen Unmut loszuwe rden. „Wenn es so organisiert ist, wie die Invasion 1944 in der Normandie, dann gnade uns Gott.“ „Besser“, versprach Costas. „Man lernt aus seinen Fehlern.“ Jetzt, da er hoffte, die Typen unter einen Hut gebracht zu haben, gönnte Costas sich eine Pause. So lange wie man brauchte, um ein Wasserglas voll Whisky zu leeren und eine Havanna zu rauchen. 4. Der BND-Agent Robert Urban war beunruhigt. – Am Morgen hatte er Blut im Stuhl gehabt. Er dachte schon an das Schlimmste, an Darmkrebs. Da fiel ihm ein, daß er am Vorabend Balkanspieß mit fürchterlich viel rotem Paprika und Tomaten gegessen hatte. Dazu Rote-Bete-Salat, vorher Tomatensuppe und als Dessert Blaubeerensorbet. – Ein frühes Ende war also nicht zu befürchten. Er nahm einen Bourbon, weil der am Vormittag sehr schädlich war, rauchte eine Goldmundstück-MC und 32
freute sich seines Lebens. Dazu legte er noch eine Platte mit südamerikanischen Rhythmen auf. Aber das Schicksal, daß er nichts ungetrübt genießen durfte, teilte er mit so gut wie fast allen Erdenbewo hnern. Das Telefon ging. Erst ignorierte er es. Doch es gab keine Ruhe. Schließlich hob er ab. „Hier ist die Meßstelle für Luftverschmutzung des Freistaates Bayern“, meldete er sich. Stille im Draht. Pause. Dann ein rauher Baß. „Ich kenne Sie doch, Urban. Wohl einer Ihrer Scherze, he?“ „Die Zusammensetzung der Luft heute morgen acht Uhr ist wie folgt“, fuhr Urban, blechern wie ein To nband, fort, „Kohlendioxyd…“ „Zehn Prozent“, sagte der Anrufer. „Bitte, Urban, sparen Sie sich ihre Sprüche. Es geht um Höheres.“ „Gemessen auf dem Olympiaturm ergeben sich folgende Schadstoffe…“ „Mein Name ist Eckstein“, stellte der Anrufer sich vor. „Ich war mal Kompaniechef bei der vierten Panzerbrigade.“ Urban, ausgestattet mit dem Gehirn eines Elefanten, erinnerte sich. „Haben wir nicht den Leo eins damals in Grafenwöhr zusammen probegefahren?“ „Richtig.“ „Schon zehn Jahre her.“ „Eher noch länger. Später sind wir uns bei der Erprobungsstelle der Bundeswehr in Koblenz über den Weg gelaufen.“ „Das war auch schon im Mittelalter.“ „Ich habe meinen Abschied, genommen, als ich keine Chance mehr sah, Oberst zu werden, im Gegensatz zu Ihnen.“ 33
„Bloß kein Neid“, sagte Urban. „Ich bin nur Ehrenoberst. Oder nennt man das Frühstücksoberst?“ Das war so einer seiner Scherze, mit denen er sich gegen unliebsame Anrufe zu wappnen pflegte. Aber Eckstein kam sofort zur Sache. „Ich muß Ihnen eine Meldung machen, Urban.“ „Mir?“ „Dem Geheimdienst“, präzisierte Eckstein. „Und weil ich in diesem Dreitausend-Mann-Verein nur Sie persönlich kenne, dachte ich…“ „Schießen Sie los!“ Urban setzte sich bequem hin. Es würde wohl eine längere Unterhaltung werden. „Die Amerikaner, genauer die CIA, haben mich angeheuert. Für zwanzigtausend Dollar cash on the table.“ Urban kombinierte quer durch die Fakten. Eckstein war Panzerexperte. Zwanzigtausend Dollar waren nicht gerade ein Haufen Geld. Da konnte man auch nein sagen. Oder es handelte sich um eine kinderleichte Sache. Eckstein hatte aber anscheinend nicht nein gesagt. Und wenn es eine leichte Sache gewesen wäre, hätte er Urban nicht angerufen. Also hatten die Amis Druck ausgeübt. „Ich nehme meinen Jahresurlaub“, fuhr der Exmajor fort. „Das Ganze soll etwa zwei Wochen dauern. Eine Studienreise mit J agdausflug in die UdSSR.“ Bei Urban lief ein neues Programm durch. Die Amerikaner heuerten also einen deutschen Panzerfachmann für einen Ausflug in die UdSSR an. Dann ging es um den T-88, weil sie aus den Satellitenfotos nicht schlau wurden, andererseits aber beunruhigt waren. „In die Kirgisensteppe“, bemerkte Urban, „wo die Te achtundachtzig Prototypen herumbolzen.“ „Demnach“, setzte der Major neu an, „wissen Sie mehr als ich.“ 34
„Das ist mein Job“, erwiderte Urban, „Es geht Ihnen doch nicht ums Honorar, Major Eckstein.“ Der Anrufer druckste herum. „Da war mal eine Sache, sie ist schon verjährt. Ich war der CIA zu Diensten.“ „Uninteressant“, äußerte Urban. „Aber warum konsultiert man uns nicht? Man heuert einen unserer besten Panzerleute an, statt daß man uns fragt. Wir kennen den Te-achtundachtzig in und auswendig, fast aufs Haar genau, und verfügen über hervorragende Rekonstruktionszeichnungen.“ „Sie kennen doch die Amerikaner und ihre Vorsicht. Trau nie den Augen eines anderen, nur deinen eigenen, lautet ihr Grundsatz.“ „Gefällt mir nicht“, betonte Urban, „denn auf der anderen Seite sind sie risikoscheu. Ihre Devise lautet: Lieber die Germans an die Front als selbst an die Front, wenn es sich um Rußland handelt. – Sehen Sie zu, Eckstein, daß Sie sich keine blutige Nase holen.“ „Ich wollte es nur gemeldet haben.“ Eckstein fühlte sich jetzt offenbar entlastet. „Ich fliege in einer Stunde nach Paris. Von dort geht es in der Gruppe über Finnland nach Moskau.“ Urban hatte noch eine Frage. „Das Ganze ist, wenn ich recht verstehe, als Pauschalreise getarnt. Hat das Touristikbüro einen Namen?“ „Pearl, glaube ich.“ „Nur Pearl? Ist das alles?“ „Soll ich Sie informieren, wenn ich mehr weiß?“ „Rufen Sie mich aus Paris an, falls Sie dazu kommen“, bat Urban.
Nach Urbans Referat saß der BND-Vizepräsident nachdenklich hinter seinem Palisanderholz-Schreibtisch. 35
„Daß die CIA“, begann er langsam und bedächtig zu sprechen, „also daß die Amerikaner einen Kommandotrupp in die Kirgisische Steppe jagen, nur um diesen Te achtundachtzig von der Seite zu sehen… das halte ich für unwahrscheinlich.“ „Darin sind wir völlig d’accord“, bemerkte Urban. „Es soll lediglich den Anschein haben. Deshalb nehmen sie auch einen Panzerexperten mit. Mir schwant, als wäre das alles nur…“ „Nur?“ forderte der Vize ihn zum Weiterkombinieren auf. „Die Wegwerfpackung“, drückte Urban es aus. „Mit welchem Inhalt?“ Das konnte Urban unter Einsatz aller Phantasie selbst andeutungsweise nicht bestimmen. „Da wir zu keinem vernünftigen Ergebnis kommen“, erklärte der wie ein britischer Gentleman gestylte zweite Mann des BND, „der Dienst aber…“ „Also nachfassen“, verstand Urban ihn richtig. „Der Dienst aber“, wiederholte der Vize, „immer alles wissen muß, bleibt nichts anderes übrig, als uns kundig zu machen.“ Während Urban noch überlegte, wo er ansetzen sollte, wurde ein Anruf aus Paris für ihn durchgestellt Er nahm ab, sprach längere Zeit, legte auf und konnte dem Vizepräsidenten eine Ergänzung liefern. „Das war Eckstein. Sie haben ihre Ausrüstung empfangen. Jetzt warten sie in Orly auf den Abflug der Aeroflot-Maschine nach Helsinki.“ „Ausrüsttmg?“ „Alle die gleichen Klamotten“, übermittelte Urban. „Jagdausrüstung, Unterwäsche, Hemden, Hosen, Stiefel, Pullover, Jacken und Campingzeug italienischen Ursprungs.“ „Die Amerikaner sind clever. Ich bin sicher, an der 36
Ausrüstung ist kein Faden mit der Aufschrift made in USA. Erwähnte Eckstein etwas von Gewehren?“ „Die kriegen sie in Rußland. Die Einfuhr von Waffen in die UdSSR ist streng untersagt. Aber sie führen Kompaß, Ferngläser und Kameras mit Auch ein besonderes Regenzelt aus Klarplastik und eine Campingflasche für Kochgas. Eckstein meint, es könne auch anderen Zwecken dienen. Eines der Jagdgläser sei möglicherweise mit einem Restlichtverstärker gekoppelt.“ „Der Bursche hat die Augen überall“, staunte der Vize. „Pearl ist übrigens kein Reisebüro, sondern ein Madchen.“ Urban schilderte sie, wie Eckstein sie beschrieben hatte. Mittelgroß, dunkelhaarig, hübsches slawisches Gesicht. Sie spricht Französisch und Englisch, beides mit kanadischem Einschlag. Vermutlich eine CIAAgentin“ „Ob wir die im Computer haben?“ fragte der Vizepräsident. „Wenn nicht sie, dann vielleicht Harbor“, ergänzte Urban. „Ein Mann namens Harbor – auch eine Deckbezeichnung, versteht sich – soll in der Steppe ihr Scout sein.“ „Harbor und Pearl“, wiederholte der Vizepräsident. Im selben Moment funkte es bei Urban. Er schnippte mit den Fingern. „Ich hab’s. Pearl Harbor.“ „Perlenhafen.“ „Pearl Harbor, Flottenstützpunkt der Amerikaner auf Hawaii. Ob das einen Sinn ergibt?“ „Muß ja wohl. Sonst wäre der Zufall zu groß. Bin sicher, zwischen Pearl und Harbor gibt es Zusammenhänge.“ Urban glaubte, daß er genug Fakten hatte, um den 37
Computer durch das Archiv rasen zu lassen. Sie hatten schon aus kleineren Rosinen Saft gepreßt Das Suchprogramm des BND-Computers nach Pearl Harbor lief noch – so etwas konnte Tage dauern –, als Urban unter seiner Post eine Ansichtskarte aus OstBerlin fand. Wie immer las er zuerst den Absender, die Unterschrift, den Poststempel und dann erst den Text. Der Stempel war vom Vortag. Eine schnelle Beförderung also. – Absender gab es keinen, nur eine Unterschrift, mühsam zu entziffern zwar, aber sie lautete Igor K. Urban kannte nur einen Igor K.: den KGB-General Igor Krischnin. – Vielleicht wäre er Urbans bester Freund gewesen, wenn nicht der halbe Kosmos zwischen ihnen gelegen hätte. Gemeinsam mit Igor hatte er mehr als einmal Weltfeuerwehr gespielt. Dieser Igor K. schrieb ihm also eine Karte in deutscher Sprache, aber mit kyrillischen Buchstaben. – Mein Freund – Du gehst einen gefährlichen Weg. Kehr um. Sei einmal weniger neugierig. An der Kreuzung stehen die Jäger. Ich kann sie nicht hindern, Dich zu töten. Kehr um. Jetzt. – Dein alter Igor K. Nett von dir, dachte Urban. Aber er hatte gar nicht vor, sich auf gefährliche Wege zu begeben. Egal was aus dem Jagdkommando der CIA wurde, er würde sich ihm nicht anschließen. Sinnigerweise zeigte die Karte vorn ein langes, vielstöckiges, graues Gebäude. Die Zentrale des Staatssicherheitsdienstes der DDR in Berlin-Karlshorst. Urban steckte die Karte ein. Im Verlauf der nächsten Stunden wurde sie immer schwerer. Bald hing sie in seiner Tasche wie Blei. Spätabends – in Washington war es jetzt 17.00 Uhr – eine gute Zeit, um die richtigen Leute zu erreichen, rief 38
Urban bei CIA-Headquarters in Langley an. Er ließ sich den Abteilungschef für den ComeconBereich geben. Es war ein gewisser Sam Greech oder Quietsch. Sie kannten sich von der letzten Nato-Tagung in Oslo. Anfangs war der Amerikaner freundlich. „Hallo Bob, wie geht’s, wie steht’s?“ Urban mochte diesen Schleimer nicht und faßte sich kurz. „Die Russen haben von Ihrer Operation Wind bekommen.“ „Welche Operation?“ Der Amerikaner stellte sich beschränkt. Urban wurde deutlich. „Kirgisensteppe. Te -achtundachtzig.“ Sofort reagierte der Amerikaner aggressiv. „Dann wissen die Russen das von euch.“ „Wenn Sie mit euch den BND meinen“, konterte Urban, „dann betrachten Sie dieses Gespräch als nicht stattgefunden und lassen Sie Ihre Leute auflaufen.“ Nun lenkte der Amerikaner ein. „Wie können die Russen wissen, was top-secret und bestenfalls drei Leuten bekannt ist?“ „Es ist Ihr Reifen, der die Luft nicht hält“, spottete Urban. „Ich habe Sie gewarnt. Damit bin ich aus der Pflicht.“ „Gewarnt“, tat der Amerikaner entrüstet. Sie nahmen von Verbündeten keine Warnungen an. „Ich gab die Warnung der Russen weiter, wenn Ihnen das besser gefällt.“ „Was für eine Warnung?“ hakte Greech oder Quietsch nach. „Hören Sie zu“, setzte Urban nach einem Seufzer an, „falls Sie nicht taub sind. Wir sind es jedenfalls nicht. Uns interessiert, wozu unsere Staatsbürger und Exoffi39
ziere von der CIA manipuliert werden. Das ist legitim.“ „Ostspionage ist auch legitim, oder? Und jedes Mittel muß recht sein.“ „Der Te-achtundachtzig ist doch schon ein alter Hut, mein Lieber.“ „Überlassen Sie die Beurteilung der Qualität von Kopfbedeckungen bitte uns“, entgegnete der Amerikaner. „Sonst noch etwas?“ „Es war überhaupt nichts“, sagte Urban, „nicht das mindeste. Wenn man davon absieht, daß die Russen uns rieten, möglichst keinen Finger in der Sache zu rühren. Woraus wir schließen, daß sie schon auf Ihre Leute warten.“ Der Amerikaner lenkte erneut ein. „Die Operation ist nicht mehr aufzuhalten. Sie sind bereits unterwegs. Es gibt keine vereinbarten Kontakte. Wir konnten ihnen keinen Agentensender mitgeben.“ „Ihre Sache, Mister Quietsch.“ „Und wenn sie nicht gestorben sind“, bemerkte der Amerikaner, „dann kehren sie in zehn Tagen unbeschädigt zurück.“ Urban gewann immer mehr den Eindruck, daß es um etwas anderes ging und daß die CIA die drei Männer notfalls opfern würde. „Wenn sie noch nicht gestorben sind“, ergänzte Urban, „dann kann es nicht mehr lange dauern.“ Er goß sich Bourbon ein, hörte Musik, legte sich hin und schlief ein. Es war sehr spät, als das Telefon ihn weckte. Der Techniker von der EDV-Abteilung in Pullach war am Apparat. „Wir haben da etwas“, meldete er. „Ich höre“, sagte Urban. Computer waren zwar dumm, aber doch fleißig. 40
5. Ihre Anreise in die Kirgisensteppe war mit den üblichen kleinen Pannen verlaufen. Von Moskau waren sie nach Gorki weitergeflogen, von da nach Ufa, nach Omsk und weiter südlich nach Frunse. Sie besichtigten auch Alma-Ata. – Damit war das Studienprogramm abgeschlossen. Am Ende blieben nur noch die Teilnehmer aus Paris übrig, die den Jagdausflug gebucht hatten. Sie hockten in einem überladenen, verbeulten Transporthubschrauber, zusammengepfercht mit Soldaten und Arbeitern. „Den haben sie schon im Krieg in Afghanistan aus dem Verkehr gezogen“, sagte Costas. „Woher sonst die Beulen.“ „Und die mühsam geflickten Einschüsse“, ergänzte Eckstein. Der Hubschrauber war so klapprig, daß kaum die Türen richtig schlössen. Die Fenster waren ohne Glas und der Pilot offenbar lebensmüde. Nach dem Abheben nahm er Kurs Nordwest. Eine Höllenfahrt begann. – Mit Höchstgeschwindigkeit tanzte er in zirka dreißig Metern Höhe über die Steppe, über deren Hügel und Täler. Dabei zog er eine Staubfahne hinter sich her. Das karge Buschwerk duckte sich erschreckt zu Boden. Er jagte eine Herde Pferde und Kamele. Die Tiere galoppierten auseinander, und das Lachen des Piloten dröhnte durch die Aluminiumröhre des Laderaumes. ,,Der muß besoffen sein“, vermutete Eckstein. „Mehr. Der ist vollgekifft bis Oberkante Augenbraue.“ 41
„Ich kannte mal einen Kirgisen“, gab Lewman, der Eskimo, von sich, „der sagte immer: Wir asiatischen Russen arbeiten langsam oder wir werden wahnsinnig.“ „Der Pilot ist eher von der schnellen Truppe“, wandte Eckstein ein. „Weil er bereits wahnsinnig ist“, ergänzte Costas. Dieser furchtlose Bursche mit der Bärennatur war schweißnaß und klemmte sich mühsam fest. Sie waren den Turnübungen des Piloten ausgeliefert, als säßen sie in einer Achterbahngondel. „Wenn wir je ankommen“, versprach Lewman, „dann trete ich dem Piloten in den Arsch.“ „Du wirst ihm ein Trinkgeld geben“, stellte Costas Mär, „und danke schön sagen. Okay?“ Sie landeten einigermaßen heil am Rande ihres Jagdgebietes. Man hatte ihnen versprochen, der Jeep, die Waffen und der Scout stünden selbstverständlich bereit. Nun warteten sie in der Kälte des frühen Abends, und keiner war zu sehen. „Dieses Rußland“, seufzte Eckstein, „ist innerlich total verfault.“ Der Kommandoführer grinste kopfschüttelnd. „Nicht nur Rußland. Die ganze Welt, mein Lieber.“ Es dämmerte schon, als ein kleiner Mann in einem wattierten Anzug von der Baracke herüberlatschte. Erst einmal bedauerte er, daß der UZO-Jeep defekt sei. Man habe nur noch den alten Lada-Pick-up. Auf der Pritsche lagen zwei rostige Gewehre, die abgezählte Munition und eine Kiste mit Flaschenbier. – Das nannten sie volle Verpflegung und Ausrüstung. Immerhin sei der Tank voll, erklärte der windige Kirgise. Ins Fahrerhaus paßten drei Mann. Als der Kirgise sich hinter das Lenkrad klemmen wollte und einem der Jäger 42
zumutete, die Fahrt auf der offenen Pritsche mitzumachen, packte Costas ihn am Kragen. „Hör mir mal genau zu, Genosse! Wir haben für diesen Luxus-Jagdausflug zweitausend Dollar extra pro Nase bezahlt. Entweder du schwingst dich nach oben, oder du rennst hinterher, Capito?“ Der Begleiter verstand kein Wort, aber er wußte, was gemeint war. Er stieg hinten auf. Eckstein fuhr, denn er galt als ihr Experte für Fortbewegungsmittel jeder Art. Costas war mit dem Vorgefundenen gar nicht so unzufrieden. „Dieser kirgisische Kretin“, sagte er, „ist der letzte Idiot, den sie für diesen Job auftreiben konnten. Paßt mir hundertprozentig, der Bursche. Was können wir uns Besseres wünschen als einen total bescheuerten Aufpasser.“ Sie fuhren los. Immer der vorgezeichneten Route nach. Der Kleinlaster hatte weder Stoßdämpfer noch Bremsen und mehrfach gebrochene Blattfedern. Das machte ihn knochenhart. Sie rollten auf einen Fluß zu, der irgendwo in den Syr-Darja mündete. Aber der Fluß war hundert Werst entfernt. – Die Nacht hingegen war nahe. Costas hatte die Karte vor sich und leuchtete sie ab. „Im Osten muß jetzt das Sperrgebiet beginnen.“ „Wenn es dunkel ist, kampieren wir.“ „So nahe am Panzerübungsgelände?“ „Je näher, desto besser.“ „Und dieser Kirgisentschink da hinten?“ „Wir lassen uns was einfallen“, sagte Lewman, „in Richtung Schnaps mit Schlaftabletten.“ Eigentlich brauchten sie jetzt Licht. Aber welchen Schalter Eckstein auch betätigte, die Lampen blieben schwarz. 43
In der Nacht trug der Wind seltsame Geräusche herüber. Ein helles Singen, untermalt von Kettengeklirr. „Panzerketten“, definierte Eckstein es. „So laut?“ „Testketten. Nur im Einsatz verwendet man die gummigedämpften“ „Ein Singen wie bei Jets.“ „Die Dieselmotoren-Ära ist vorbei. Die neuen Kerosin-Turbinen pfeifen eben.“ Sie peilten mit dem Horchgerät Richtung und Entfernung. „Zwanzig Meilen“, errechnete Lewman, „null-sechssieben Grad.“ „Wir müssen näher heran.“ „Morgen nacht“, entschied ihr Commander, „werden wir es kriegen.“ Es wurde Tag. Sie machten Frühstück. Es gab gerösteten Speck, Trockenei, mit Kondensmilch verflüssigt, und Dauerbrot. Ihr Scout haute rein, als wäre er am Verhungern. Doch als sie die Route ändern wollten, sagte er: „Steppenwölfe dort.“ Und deutete nach Westen. „Keine Steppenwölfe“, entschied Lewman, dem man am ehesten zutraute, für Wolfsspuren eine Nase zu haben. Nun kam der kleine Kirgise völlig unerwartet in Fahrt. Er deutete mit zwei Fingern auf nicht vorhandene Schulterstücke und schrie in mühsamem Englisch: „Ich der Kommissar! Wölfe dort! Ich besser wissen.“ „Heute“, entschied Costas, „machen wir ihn schon am Mittag besoffen.“ Eckstein meinte, es gebe ein anderes Mittel, um ihn freundlich zu stimmen. 44
Sie trugen alle die gleichen Jagdjacken. Olivgrün, daunenwattiert, hüftlang, mit Leder an Schultern und Ellbogen besetzt, mit Patronenschlaufen und hundert Taschen. Der Kirgise war scharf auf so eine Jacke. „Kommissar“, sagte Lewman auf russisch, „du bekommst eine von diesen Jacken am Ende der Jagd. Aber wir suchen Wölfe selbst. Okay?“ Der Kirgise grinste aus allen Zahnlücken. „Okay, suchen Wölfe selbst.“ „Er ist ein falscher Hund“, befand Eckstein, „glaubt mir.“ „Wir sind auch falsche Hunde“, tat Costas die Warnung ab. „Aber dieser Bursche ist hinterhältig.“ „Gut, wenn man es weiß“, meinte Lewman. Unterwegs täuschte Eckstein eine Motorpanne vor und zerlegte Vergaser und Verteiler. Lewman bereitete das Mittagessen. Er briet Corned beef und in Wasser aufgeschwemmte Kartoffelschnitzel in der Pfanne über dem Esbitwürfel. Der Kirgise fragte: „Warum du nicht nehmen Gas aus Flasche?“ „Gas aus Flasche ist für Lampe“, erklärte Costas. „Zum Anlocken nachts von Wölfe. Okay?“ Sie gaben ihm Bier mit Wodka und eine Tablette. Bald schlief er ein. „Das hält zehn Stunden“, schätzte Lewman. Sie legten den Kirgisen auf die Pritsche. Seine Haut war gelbgrau, sein Gesicht flach wie ein Fladenbrot. Dann fuhren sie weiter Richtung Osten, hinein ins Sperrgebiet, das durch nichts anderes als eine imaginäre Linie abgegrenzt war. Alle zehn Kilometer kam ein Warnschild. Sie kümmerten sich nicht darum. Als es dunkel wurde, hatten sie sich dem Panzertestgelände bis auf wenige Meilen genähert, Eine Hügelket45
te trennte sie von der brettebenen Senke, die bis zum Horizont reichte, deckte sie zugleich aber auch. Kaum waren die Sterne zu sehen, erscholl wieder das Singen der Panzertriebwerke und das Klirren der Ketten. Jetzt erfuhr Eckstein auch, was es mit dem Regenzelt aus Klarsichtfolie und mit dem Gasbehälter auf sich hatte. Das Zelt war ein Ballon, die Stahlflasche enthielt so viel Gas, um den Ballon zu füllen und zum Schweben zu bringen. Sie hängten die Nachtsichtkamera an den Ballon und warteten noch die Stunde der Windstille ab, ehe sie ihn an der Nylonleine hochließen. „Heute die Fotos, morgen treffen wir Harbor“, sagte der Commander. „Wer ist Harbor?“ Costas grinste. „Er kommt aus der Steppe und verschwindet wieder in der Steppe. Harbor will nur eines. Meine Jacke.“ „Und du frierst dir den Arsch ab“, sagte Lewman. „Ich kriege seine Jacke dafür. Danach ist unser Jagdausflug beendet.“ „Ohne einen Wolf vor dem Visier?“ „Was kümmern uns Wölfe“, deutete Costas an, „Wö lfe haben kein Hirschgeweih, und kein Geweih ziert auch keinen Kamin.“ Der Ballon wurde hochgelassen. Die Kamera machte automatisch 140-Grad-Aufnahmen mit einem Superweitwinkelobjektiv. Gegen Mitternacht holten sie den Ballon herunter, vergruben ihn im Sand, nahmen den Film aus der Kamera und versteckten ihn in einem Geheimfach ihrer Packtaschen. Müde krochen sie in die Schlafsäcke. In der Ferne vernahmen sie das Heulen von Wölfen. Eckstein schlief trotzdem tief und fest. Es ging ja bald 46
nach Hause. Die Sache schien glatt zu verlaufen. Er war nahe daran, die perfekte Organisation der CIA zu bewundern. „Entweder“, sagte der Commander, „treibt Harbor zu Pferde eine Herde Schafe aus dem Sommerquartier auf tiefergelegene Weiden, oder er führt eine Heukarawane. Sie ernten die Steppe ab und bringen das Heu auf zwe irädrigen Karren zu den Winterlagern.“ Obwohl sie sich präzise an Zeit und Geographie hielten und mehrmals die Linie kreuzten, wo Harbor auf sie treffen sollte, fanden sie ihn nicht „Sind wir am Ende doch falsch?“ sagte Eckstein sich. Lewman starrte unentwegt in die Richtung, aus der Harbor auftauchen mußte. „Wozu will er deine Jacke?“ fragte er den Commander. „Keine Ahnung“, antwortete Costas. „Was ist mit der Jacke?“ „Eine Jacke ist wie die andere“, bemerkte Eckstein. „Auf den Jackentausch kommt es an“, sagte Costas. „Er ist viel wichtiger als alles andere.“ Aber sie trafen Harbor nicht. Sie suchten mit den Gläsern die Steppe ab, doch es war nichts zu sehen. „Er hat sich längst eine andere Jacke besorgt“, bemerkte Lewman höhnisch. Costas, der seinen Auftrag durchführen wollte, gab einen Tag zu und dann noch einmal vierundzwanzig Stunden. Der Kirgise wurde ziemlich unruhig. Sie stopften ihn mit Essen und Wodka voll. Vergebens. Harbor blieb unsichtbar. „Sie müssen ihn geschnappt haben“, befürchtete Costas. „Ist er einer von uns?“ „Anzunehmen.“ 47
„Dann nichts wie weg“, riet Lewman. Der Commander entschied, daß sie den Ausflug auch ohne Jagdbeute beendeten. Er machte es dem Kirgisen klar. Der war heilfroh. Sie leerten die letzten zwei Benzinkanister in den Tank des Kleinlasters und fuhren nach Tschimkemet zurück. Etwa zwanzig Werst vor der Stadt gerieten sie in eine Polizeisperre. Sie wurden angehalten und kontrolliert. Ihre Pässe, die Visa und die Permits des sowjetischen Reisebüro Inturist waren in Ordnung. Auch ihr Scout bestätigte, daß die Genossen Franzosen sich nur zu Jagdzwecken in der Steppe aufgehalten hätten. Leider sei ihnen kein Stück Wild vor die Flinten gekommen. Die Polizisten der Kirgisischen Sowjetrepublik hätten die Gruppe durchgehen lassen, wenn nicht ein Armeeoffizier aufgetaucht wäre. Er schien eine Spur zu verfolgen. „Sie haben das Ihnen zugewiesene Jagdgebiet verlassen“, behauptete er ziemlich scharf. „Wie kämen wir dazu“, tat Lewman entrüstet. „Sie sind Spione, Messieurs“, erklärte der Offizier gradeheraus. „Das“, Lewman lachte, „müssen Sie erst mal bewe isen, Hauptmann.“ „Kein Problem“, entgegnete der Offizier. „Wir haben Luftaufnahmen. Tut mir leid, Messieurs, Sie sind verhaftet.“ „Dann möchte ich meinen Botschafter in Moskau sprechen“, verlangte Costas forsch. Der Offizier lächelte verbindlich. „Monsieur“, sagte er. „Moskau ist dreitausendfünfhundert Kilometer von hier entfernt, und die Leitungen sind meistens gestört.“ „Verdammt“, fluchte Costas leise. „Das ist eine Falle. 48
Ich will verdammt sein, wenn hier nicht Verrat im Spiel ist.“ „Harbor?“ fragte Lewman flüsternd. Sie wurden mit Handschellen gefesselt. Ihre Proteste nahm der Offizier nicht zur Kenntnis. „Ach, übrigens, Messieurs“, meinte er noch und grinste dabei wie ein Sieger im Marathonlauf. „Ihren Kontaktmann, den Sie in der Steppe treffen wollten, haben wir auch gefangen. Jetzt möchten wir nur noch wissen, warum Sie mit ihm verabredet waren. Ich nehme an, Sie werden uns das bald erzählen.“ „Nicht einmal, wenn ich es wüßte“, knurrte Costas. Sie hockten im Straßengraben. Es war kalt. Die Feuchtigkeit in ihren Nasen wurde klebrig. „Wenn sie uns verhören“, sagte Eckstein, „müssen sie vorher unser Gehirn mit der Lötlampe auftauen.“ 6. In Paris stellte Bob Urban seinen BMW ins Parkhaus und nahm ein Taxi. Es ging auf 14.00 Uhr. Die Sonne schien. „Noch einmal um den Block?“ fragte der Fahrer, nachdem er Urban von der Rue Truchet in die Rue Caroline, von dort um die Ecke in die Rue Darcet und wieder in die Rue Batignolles gebracht hatte. „Ja, noch einmal rum“, bat Urban. Das dauerte einige Minuten. Die Straßen waren dicht beparkt, bei Gegenverkehr kam es zu Stauungen. Urban schaute auf die Uhr. Entweder sie ist jetzt zu Hause, rechnete er, oder sie kommt jeden Augenblick. Um diese Zeit endeten die Vorlesungen in der Sorbonne. Er besaß kein Foto von ihr, aber mit Ecksteins Beschreibung sollte sie zu erkennen sein. Der Computer 49
hatte auch noch einiges beigesteuert. Sie hieß Sonja Titow und hatte einen kanadischen Paß. Ihre Großeltern waren vor dem Krieg aus Rußland ausgewandert. Der Deckname Pearl war entstanden, als man ihrem Cousin Serge Titow den Decknamen Harbor zuteilte. Titow, von Beruf Schiffbauingenieur, war vor Jahren in Hawaii von den Amerikanern umgedreht worden. Damals war er zu seiner Cousine Sonja, die ihn in Moskau besucht hatte, in Liebe entflammt gewesen. Die CIA wußte davon, machte sich in Montreal an die kaum Achtzehnjährige heran und heuerte sie ebenfalls als Agentin an. Man dachte, die beiden gäben ein gutes Gespann ab. Was offenbar auch der Fall war. Sie arbeiteten für die CIA. Serge Titow nach wie vor in Rußland, speziell in Leningrad, und Sonja in Paris. Die Liebe der beiden hatte allerdings darunter gelitten. Soweit ihre Ermittlungen in groben Zügen. Inzwischen war eine Entwicklung eingetreten, die Urban zwang, in die Sache einzusteigen, auch gegen den Rat guter Freunde. Das Taxi kam wieder von der Place de Clichy herunter und bog nach rechts ab. „Noch einmal herum, Monsieur?“ fragte der Fahrer. Ihm war es egal. Er würde das auch tagelang machen, solange seine Taxameteruhr lief. Die Bank am Rande des kleinen Parks gegenüber dem Haus war jetzt leer. Urban zahlte, stieg aus und nahm Beobachtungsposition ein. Der Rauch seiner MC stieg in die Kastanien. Er wartete. Während er sich überlegte, welche Art des Vorgehens die bessere war, sah er einen weißen 2 CV daherschaukeln. Die Ente wurde durch die Toreinfahrt in den Hinterhof gekurvt. Das Mädchen am Lenkrad trug um die 50
Bubikopffrisur ein Stirnband, war aber gewiß Pearl. Urban rauchte die Zigarette zu Ende, trat sie in den Kies, ging hinüber und hinauf. Gleichzeitig mit der Studentin kam er im Dachgeschoß an. Sie musterte ihn unauffällig, aber mit flinken Augen. „Hier oben wohne nur ich“, sagte sie. „Ich weiß.“ „Kennen wir uns?“ „Sie sind Mademoiselle Titow.“ Sie sperrte auf, ging hinein, setzte die Mappe und die Einkaufstüte ab. „Ich kaufe nichts an der Haustür, Monsieur.“ „Ich muß Sie trotzdem sprechen.“ „Und ich empfange nur angemeldete Besucher.“ Er lächelte verlegen. Und während sie schon die Tür schloß, sagte er: „Ich soll Sie grüßen, Pearl.“ „Grüßen, von wem?“ „Von Harbor.“ Das Licht war nicht sonderlich gut, aber sie reagierte deutlich. Erst erschrak sie, dann zögerte sie. Offenbar war ein persönlicher Besuch ungewöhnlich. „Kommen Sie rein“, entschied sie schließlich. Die Dachwohnung hätte auch einem Maler als Atelier zugesagt. In der schrägen Wand war ein großes Nordfenster. Neben dem Fenster führte eine Tür auf einen winzigen Balkon mit Blumen. Der Blick reichte über die Dächer bis hinauf zum Montmartre. Weniger schön fand Urban, daß die Studentin einen Revolver in der Hand hatte. Wie sie die Waffe führte, das verriet Schulung. „Sie kommen nicht aus Washington“, zischte sie. Urban behielt die Hände unten. Er wäre sich sonst 51
komisch vorgekommen. Langsam setzte er sich auf den Hocker und griff in die Tasche. Sie hob den Lauf ihres Revolvers bis auf die Höhe seiner Augen. „Keine Bewegung!“ Ungerührt nahm er das Foto aus der Tasche. Er drehte es um und zeigte es ihr. Ihre Pupillen vergrößerten sich, wie stets beim Erkennen der Wahrheit. Wütend warf sie die Waffe auf das Bett. „Eh bien. Fassen Sie sich kurz.“ „Das ist Major Eckstein aus Koblenz. Er war vor kurzem hier.“ Sonja Titow nickte. „Sie brachten ihn mit zwei anderen Männern zusammen oder waren der gemeinsame Treffpunkt. Sie organisierten das Reiseprogramm. Es führte die drei in die UdSSR und dort in die Kirgisensteppe.“ „Sie wissen mehr als ich“, stellte sie fest. „Warum sind Sie dann hier?“ „Eckstein ist mein Freund.“ Um ihren ernsten Mund zuckte ein Lächeln. „Sie sehen nicht aus wie einer, der sich aus Sorge um den Freund bis nach Paris begibt.“ „Wie sehe ich dann aus, Gnädigste?“ „Wie ein Agent. Aber nicht wie ein Amerikaner.“ „Es gibt noch andere Geheimdienste innerhalb der Nato.“ „Ich würde Sie für… na, sagen wir mal… für einen Deutschen halten.“ Sie goß aus einer Chablis-Flasche Wein in ein Glas und lehnte sich trinkend gegen die Wand. Mittagslicht fiel auf sie. Urban sah jeden Fussel an ihrem Rock und jede Kontur ihres Gesichts. Es war herzförmig, stupsnasig, mandeläugig und dunkelhaarig umrahmt. Der Mund 52
war kirschförmig, sehr rot und sehr rund. Eine hübsche Person, wenn man den Typ mochte. Klein, sehr schlank, geradezu niedlich. Im Gegensatz zu den Jeans-T-Shirt-Turnschuh-Mädchen an den Universitäten war sie beinahe elegant gekleidet. Der enge Rock, die Bluse, alles war gut geschnitten und die Schuhe von britischer Wandersmannqualität. Die CIA zahlte offenbar anständig. Sie brauchte gewiß nicht mit zweitausend Francs im Monat auszukommen. „Stört Sie das“, fragte er, „wenn ich Deutscher bin?“ „Noch weniger würde mich stören, wenn Sie sich dazu entscheiden könnten, geradeheraus zu sprechen, ohne Trick und Heuchelei.“ Ihr Französisch war so perfekt, daß sie auch aus komplizierten Sätzen wieder herausfand. Sie beherrschte die Sprache also. Trotzdem verfiel sie jetzt in kanadisches Amerikanisch. „Oder ist das zuviel verlangt?“ „Nicht, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht“, erwiderte er. „Fragen Sie! Los, fragen Sie!“ „Wann fuhren die drei ab?“ „Vor einer Woche ungefähr. Mit der Aeroflot über Helsinki, Leningrad nach Moskau.“ „Können Sie mir die anderen Reisebegleiter beschreiben?“ Sie tat es. Urban nahm sich vor, sie anhand der Beschreibungen vom Computer heraussuchen zu lassen. Den einen glaubte er zu kennen. Es mußte sich um Joe Costas handeln. „Ihr Cousin Serge Titow, genannt Harbor, lebt in Leningrad?“ „Schon lange in Moskau.“ 53
„In Moskau gibt es keine Werften“, bemerkte Urban. „Er ist doch Schiffsingenieur.“ Sie leerte das Glas und goß sofort nach. „Er war nie Schiffsingenieur. Immer nur Elektroniker.“ „Reparierte er in Hawaii nicht den havarierten Trawler?“ „Nur die Radar- und Funkanlage.“ Indem Urban weiterfragte, vervollständigte das Bild sich Punkt für Punkt. Doch aus ihren Antworten ergaben sich stets neue Fragen, „Harbor trifft die drei in Südrußland.“ ,,Das ist vorgesehen.“ „Es geht um den Te -achtundachtzig.“ „Ich hörte davon.“ „Das paßt nicht zusammen“, äußerte Urban. „In Hawaii gab Harbor sich als Schiffsingenieur aus und war Funkspezialist. In der Kirgisischen Sowjetrepublik arbeitet er als Panzerexperte, was nicht sein Fachgebiet ist. Wie reimt sich das?“ „Man hat mich nicht eingeweiht“, gestand sie. „Im Grunde bin ich nur eine kleine Agentin mit Rußlandkenntnissen, die man für dies und jenes einsetzt. Sie sollten sich mit Eckstein in Verbindung setzen.“ Urban überging diese Feststellung. „Sie studieren Politologie, Sonja?“ „Nein, Informatik“, verbesserte sie ihn. „Nur Informatik hat Zukunft. In wenigen Jahren wird die Welt total mit Computern und Rechnern vernetzt sein.“ „Sie studieren in Paris, obwohl es für Informatik in den USA bessere Universitäten gibt.“ „Wir leben im französisch sprechenden Kanada. Paris lag also nahe.“ „Wollen Sie hierbleiben?“ „Kommt darauf an, wo man mir einen Job anbietet.“ 54
„Oder wo die CIA Sie hinhaben will“, ergänzte Urban. „Ich liebe Kanada“, sagte sie, „die Wälder, die Flüsse, die Seen, die Jagd, den Fischfang, die Einsamkeit, die Natur.“ „Wer tut das nicht?“ „In Rußland“, erzählte sie, „waren meine Vorfahren Bauern und Jäger. Das steckt einem im Blut. Auch in Kanada fingen sie als Bauern und kleine Handwerker an. Erst mein Vater zog in die Stadt. Er war Lehrer.“ „In Montreal?“ „Nein, in Quebec. Ich sterbe, wenn ich nicht wenigstens einmal im Jahr da droben in den Wäldern sein kann, in unserem Haus in unseren Bergen.“ Sie schwärmte auf mädchenhaft romantische Weise von dem Leben in der freien Wildnis. Vorsichtig kam Urban wieder zur Sache. „Wann werden die drei zurückerwartet?“ „Demnächst“, schätzte sie, und äußerte abermals ihr Staunen darüber, daß er ausgerechnet sie aufsuchte. „Ich habe Ihren Namen von Eckstein“, erwähnte Urban. „Außerdem hat unser Archiv einiges über Harbor ausgeworfen.“ „Das ist kein echter Grund“, entgegnete sie. „Stimmt“, räumte er ein. „Aber wie wir aus östlicher Quelle hörten, ist das Kommando in eine Falle gegangen. Man hat alle drei verhaftet und wie üblich ve rschwinden lassen.“ Einen Moment wirkte sie bestürzt. Doch sie faßte sich schnell und antwortete cool: „Das übliche Risiko.“ „Nun“, machte Urban weiter, „wir befassen uns damit, weil Major Eckstein einer unserer bedeutendsten Panzerexperten ist. Für Sie hingegen sind diese Männer Fremde.“ 55
Offenbar war sie anderer Meinung. „Was ist mit Serge?“ fragte sie besorgt. „Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde Ihr Vetter Serge Titow ebenfalls gefaßt. Ein Elektronikingenieur aus Moskau, der sich Tausende von Kilometern weiter südlich in der kirgisischen Steppe aufhält, gibt zu Mutmaßungen Anlaß.“ „Mein Gott“, flüsterte sie. „Entweder“, kombinierte Urban, „hat die Gruppe einen entscheidenden Fehler begangen, oder man hatte Ihren Vetter schon seit Jahren unter Verdacht und Beobachtung.“ Sie goß noch einmal Wein ins Glas, trank hastig und ging erregt auf und ab. „Was kann ich tun?“ „Wenig.“ „Sie kamen doch nur, um mich zu beunruhigen.“ „Ich kam, um mehr zu erfahren. Auch wir machen uns Sorgen und überlegen, wie wir Eckstein helfen können.“ „Serge.“ Sie hatte Tränen in den Augen. „Serge. Ich ahnte es. Das konnte auf die Dauer nicht gutgehen.“ „Sie lieben ihn?“ fragte Urban. Sonja Titow starrte die Tapete an. „Nein, das ist vorbei. Wir sind gute Freunde. Wie Bruder und Schwester. Auch wenn wi r uns nur selten sehen. Mal irgendwo im Ostblock, in Finnland oder am Schwarzen Meer.“ „Halten Sie Kontakt mit Washington?“ „Washington hält nur Kontakt mit mir.“ Über das Ungewisse Schicksal des Kommandounternehmens wußte sie offenbar noch nichts. Urbans Nachricht hatte sie aber deutlich erschüttert. „Ich lade Sie zum Essen ein“, schlug er vor, „Damit Sie auf andere Gedanken kommen.“ Sie lehnte ab. 56
„Merci, non. Sie gehören zu den Männern, die ein Abendessen im Bett ausgingen lassen. Danke, nein.“ „Sie sind nicht die Traumfrau, Sonja, die ich unbedingt haben muß.“ Das wiederum gefiel ihr auch nicht. Mit einem Campari-Bitter-Ausdruck entgegnete sie: „Aber Sie“, gestand sie, „sind möglicherweise der Typ Mann, bei dem ich schwach werde. Schenken Sie mir eine vo n Ihren Goldmundstückzigaretten und dann… dann gehen Sie bitte rasch.“ Er reichte ihr sogar Feuer. Über die Flamme hinweg musterten ihn ihre haselnußbraunen Augen. Ein faszinierender Blick, der Stromkreise in Funktion setzte, ohne einen Schalter zu betätigen. Rischgewaschene und klargespülte Sauberkeit ging von ihr aus. Ein reiner Duft von Blüten, den man nicht zu zerstören wagte. Nur ein Schmetterling schien sich so einer Blume nähern zu dürfen. Erfahrungsgemäß waren das die Sinnlichsten. Sie würde gewiß mitkommen, wenn er seine Einladung wiederholte. Er unterließ es. Warum eigentlich? Er stand nicht unter Zeitdruck. Ein Abend in Paris mit einer Frau war drin. Es muß nicht jede sein, dachte er. Möglicherweise hatte sein zu Vorahnungen fähiger Instinkt eine Sperre eingelegt. „Leben Sie wohl, Sonja!“ „Für wie lange?“ fragte sie zu seiner Überraschung. An der Tür drehte er sich um. „Für immer, natürlich.“ Völlig unbewegt war ihr Gesicht besonders ausdrucksvoll. „Bis heute abend kriege ich vielleicht Appetit.“ Kopfschüttelnd bezweifelte er das Angebot. 57
„Auf das ganze Diner?“ „Warum nicht?“ „Lieben Sie exquisit zu speisen oder bürgerlich?“ „Holen Sie mich um zwanzig Uhr ab.“ „Ich bin pünktlich“, versprach er. Während er hinunterging und zur Place Clichy schlenderte, versuchte er dahinterzukommen, was sie veranlaßt hatte, ihren Entschluß zu ändern. Dann winkte er einem freien Taxi. Urban hatte keinen Abendanzug dabei. Aber in dunkelblauer Hose, dem zweireihigen Glenchecksakko, unifarbenem Hemd und ungemusterter Krawatte kam er sich passend gekleidet vor. Heutzutage saßen sie schon in Jeans, Pullover und Turnschuhen im Parkett der Pariser Oper. Der Portier des George V hatte einen Tisch bestellt. „Clichy“, rief Urban dem Fahrer zu und stieg hinten ein. Da saß schon einer. „He, gibt es in Paris jetzt Sammeltaxis?“ staunte er. Der Fremde legte den Zeigefinger vor den Mund und drückte Urban etwas Steifes, Rohrförmiges an den Hüftknochen. Dazu machte er Druck und bohrte, als wollte er einen Dübel setzen. „Bis zur Trommel ist es Spaß“, witzelte Urban, als würde er das Ganze nicht ernst nehmen. „Wer nicht hören will.“ „Auf wen oder was, bitte?“ Der Taxifahrer, ein Algerier, war offenbar von dem Fremden geschmiert. Er fuhr rasant los. „Der Tisch im Le Trouble ist abbestellt“, sagte der Fremde. Er sprach Französisch mit so hartem Akzent, daß Ur58
ban sofort wußte, woher er kam. „Was berechtigt Sie dazu, mon ami?“ „Ihr Verhalten, Mister Dynamit“, erklärte der Fremde. „Sie sind Russe.“ „Richtig. Vom KGB. Und Sie sind BND-Agent. Warum sollen wir uns maskieren wie im Karneval?“ Urban, der den Wind wehen fühlte, sagte: „Was haben Sie mir zu bestellen?“ „Letzter Gruß vom General: Halten Sie sich raus, oder der nächste Mann, der die Makarow gegen Sie richtet, drückt ab.“ Urban fiel die Berliner Postkarte ein. Sie beobachteten ihn also und hatten die Sache perfekt im Griff. Schon von Anfang an. Den Amerikanern war diesmal wirklich alles in die Hose gegangen. „Bedaure, ich habe eine Verabredung“, entgegnete Urban. „Die Dame wurde unterrichtet, daß Sie verhindert sind, Oberst.“ „Ihr denkt auch an alles.“ „Die Dame hat Paris bereits verlassen.“ Von dem Fremden sah Urban nur das Profil. Es war, als hätte man einem Schweinekopf menschliche Züge verpaßt. „Ihr denkt wirklich an alles.“ „An noch viel mehr“, erklärte der Fremde. „Es gibt keinen Grund für Sie, Mister Dynamit, noch länger in Paris zu verweilen. Der General sorgt sich um seine Freunde. Er möchte, daß Sie überleben.“ Das Taxi fuhr nicht sehr weit. Nur bis zu der Parkgarage, wo Urban seinen BMW abgestellt hatte. Neben dem stahlblauen Coupe hielt das Taxi. „Ihre Hotelrechnung ist bezahlt“, versicherte der Fremde. Urban stieg aus, sperrte sein Fahrzeug auf und fand 59
die Reisetasche auf dem Rücksitz. Wann, so fragte er sich, hat der KGB-Mann das alles erledigt? Vermutlich als er in der Hotelbar des George V saß, um einen Drink zu nehmen. Sie hatten sich erstaunlich verbessert. Was sie hier boten, war internationales Format. Urban zog den Burberrys aus, faltete ihn umständlich zusammen, stieg ein und ließ an. Der Russe stand dabei und benutzte die Makarow als eine Art Dirigentenstab. „Ich weiß“, sagte er, „daß Sie jede Art von Manipulation hassen, Oberst Urban, In diesem Falle handelt es sich jedoch um die rührende Fürsorge eines unserer Generäle für einen Freund. Bitte akzeptieren Sie das. Ich folge Ihnen über den Ring bis zur Ostautobahn und dort mindestens noch dreißig Kilometer.“ Urban verstärkte sein angeborenes Grinsen. „Ich hänge Sie ab, wie es mir paßt.“ „Aber Sie sind ein kluger Mann.“ Ich schon, dachte Urban, aber was, zum Teufel, hast du für Gründe mich zu gängeln wie ein hilfloses Baby? – Wenn er jemals zweifelte, daß es um den neuen T-88Panzer ging, dann jetzt. Am besten, man ließ sich auf das Spielchen ein. „Los, fahren wir! „ rief er. Sie bildeten eine Zweierkolonne. Noch auf der Autobahn nach Metz sah Urban das Taxi hinter sich. Mit seinem halberblindeten linken Scheinwerfer war es nicht zu verwechseln. Erst an der Autoroute-Ausfahrt Meaux bog der Geleitschutz ab. 7. Die Abteilung Osteuropa des amerikanischen Geheimdienstes geriet in den Zustand der Panik. 60
Aus dem sowjetischen Netz eintreffende Nachrichten ließen das Schlimmste befürchten. Nicht nur das Ko mmandounternehmen T-88 war aufgeflogen, auch der Agent Harbor war angeblich enttarnt und gefaßt wo rden. „Eine Katastrophe“, meldete Sam Creech dem CIADirektor. „Ich war schon immer“, erklärte dieser, „gegen Operationen mit dreifachem Boden. Ein Trick ist okay, Trick zwei kann Trick eins noch verstärken. Wenn man Glück hat. – Aber drei Tricks sind meist einer zuviel. Was können wir tun, Greech?“ „Derzeit wenig, Sir.“ „Was berichte ich dem Pentagon?“ „Mal abwarten, Sir.“ „Durch Aussitzen wird nichts besser.“ „Wir erwarten noch gewisse Informationen, ob man auch Harbor hat und wohin man die Männer brachte.“ „Und was referiere ich dem Präsidenten?“ fragte der CIA-Chef ratlos. „Der Film ist noch nicht zu Ende, Sir“, bemerkte der Abteilungsleiter, auf die Herkunft des Präsidenten anspielend. „Nach dem Drehbuch wurde er jedenfalls abgekurbelt.“ „Nur wir kennen das Drehbuch, Sir.“ „Immerhin war der Schluß anders gedacht“, wandte der Direktor ein. Fast täglich wurde seine Sorgenglatze größer. „Oft werden Filme so gestaltet, daß der Schluß offen bleibt, Sir.“ „Nur bei B-Pictures, bei Billigproduktionen.“ „Oder man dreht mehrere Versionen und nimmt die eindrucksvollste.“ „Bleiben Sie mir weg mit diesem Hollywoodgefasel“, 61
bat der CIA-Chef händeringend. „Was soll das?“ „Noch“, meinte Sam Greech, „ist nichts bestätigt. Vielleicht gelingt es uns, die Katastrophe abzuwenden.“ „Es ist ein Erdbebenfilm“, entgegnete der Direktor. „Solche Streifen enden stets im Chaos.“ „Sir“, setzte der Sektionschef Ost an. „Sir, wir sollten die Masken lüften und die Verbündeten einweihen.“ „Was für eine Blamage“, stöhnte der CIA-Direktor. „O mein Gott!“ „Kann ich also den BND informieren?“ „Meinetwegen, wenn Sie sich etwas davon versprechen. Haben Sie ein Konzept?“ „Das wird gerade erarbeitet, Sir.“ Der CIA-Boß, der zuviel auf den Schultern trug, war froh für jedes Pfund, das man ihm abnahm. „Einverstanden. Verständigen Sie Pullach. Schenken Sie ihnen reinen Wein ein. Aber nicht den ganz reinen, nicht den von Kanaan, meine ich. Appellieren Sie an ihre Solidarität. Haben Sie mich verstanden, Greech?“ „Ich hoffe, Sir.“ „Wenn wir uns schon entblößen, dann bestenfalls bis auf die Unterwäsche und nicht bis zum nackten Hintern. Ist auch das klar?“ „Völlig, Sir.“ „Sie haben das eingefädelt, Greech, nun fädeln Sie es wieder aus.“ „Oder in die nächste Nadel, Sir.“ „Halten Sie mich auf dem laufenden“, verlangte der CIA-Chef und entließ Greech mit einer müden Geste. Er hoffte, daß er seinem Mitarbeiter den nötigen Zunder gegeben hatte. Dann überlegte er, wie es möglich sei, die Expertenrunde im Weißen Haus vom Thema T-88 abzulenken.
62
Sam Creech rief im Pullacher Camp an, konnte Urban aber nicht erreichen. Also setzte er sich in die nächste Transatlantikmaschine und flog nach München. Erstens, um für eine Weile abzutauchen, zweitens, um Aktivität vorzutäuschen. Sie trafen sich auf einen Drink im Cafe Extrablatt. Urban hatte dieses Lokal vorgeschlagen. Es war immer bumsvoll, und man fiel nicht auf. „Hatte hier im Army-Headquarters zu tun“, begann der Amerikaner schon mit einer Lüge, „und dachte mir, schaust dir den Dynamit-Bob mal wieder an, ob das Grauauge noch glänzt oder ob seine Bräune schon von Aidspickeln durchseucht ist.“ „Zufrieden?“ Urban fuhr sich mit gespreizten Fingern kammartig durch die braune Tolle. „Es geht.“ „Danke! Hätte mich stark beunruhigt, wenn ich Ihnen mißfallen hätte, wie beim letztenmal.“ „Sie hatten uns ganz schön aufs Kreuz gelegt in der hinteren Türkei.“ „Da hatten Sie auch nichts zu suchen, Mister Quietsch.“ „Wir gucken unter alle Röcke, wie es uns paßt.“ „Wie die Atomforscher“, witzelte Urban. „Immer auf der Suche nach spaltbarem Material.“ Er wollte das Gespräch locker gestalten. Mit Leuten, die nicht die Wahrheit sagten, konnte man kaum anders umgehen. Greech machte es erneut mit Anschleichen und fand eine Öse zum Einhaken. „Gesund sehen Sie schon aus, Colonel, wenn auch ein wenig mühsam. Sorgen, Dynamit-Bob?“ 63
„Ich?“ tat Urban erstaunt. „Man hört so einiges. Vermißt ihr nicht einen von euren Panzerexperten?“ Genaugenommen schlug diese Bemerkung des Amerikaners dem Faß den Boden aus. Urban nahm den runden Faßboden und schleuderte ihn wie einen Diskus zu Mister Quietsch zurück. „Major Eckstein. Ja, richtig. Er geriet offenbar in schlechte Gesellschaft, düste mit zwei Amerikanern in einem Jagdausflug nach Kirgisien. Der eine Amerikaner ist stark wie ein Bär und heißt Joe Costas, der andere sieht aus wie ein schlitzäugiger Eskimo. Ein gewisser Lewman. Beide stehen in CIA-Diensten. Da sie nach Osten reisten, nehme ich an, daß sie es im Auftrag taten. Im Auftrag der Ostabteilung von Langley, deren Leiter Sie sind, Sie heuchlerischer Bastard.“ „Scheiße“, formulierte Greech zum erstenmal realistisch. „Ja, ein Haufen Scheiße sind Sie.“ „Die Panne, meinte ich.“ „Eure Panne, nicht die unsere.“ „Eckstein ist dabei.“ Urban winkte abfällig, „Den schreiben wir ebenso eiskalt ab wie Sie Ihre Leute vermutlich von vornherein. War doch eine reine Müllbeseitigungsaktion. Oder?“ So viel bitteren Kommentar hatte der Amerikaner offenbar nicht erwartet. „Sie kennen doch das Geschäft, Colonel.“ „Leider. Alles ist durch und durch verkommen bis obenrauf und untenrunter“, bemerkte Urban. „Lassen Sie es uns professionell angehen.“ „Meinetwegen. Aber dann legen Sie professionell die Karten auf den Tisch. Dir seid doch die abgefeimtesten Spieler, seitdem Poker erfunden wurde.“ 64
Der Amerikaner bestellte noch einen Bourbon. „Bourbon mit Bourbon“, rief er, „und noch einen drauf!“ „Die Konstruktionszeichnungen des Te -achtundachtzig liegen bei uns in der Schublade“, fuhr Urban fort. „Das wußten Sie. Darum geht es gar nicht.“ Noch immer hielt der Amerikaner sich bedeckt. Er gab lediglich zu, daß man den Verdacht habe, das Kommando Costas könne in eine Falle gerannt sein. ,,Dann haben sie Harbor auch“, bemerkte Urban. „Er sollte sie führen.“ „Oder ihnen das übergeben, was man an einem Panzer von außen nicht sieht. Einzelheiten über die Zielfindungs- und Schießelektronik“ „Stimmt.“ Nach Urbans Geschmack ging der Amerikaner viel zu rasch darauf ein, als daß er es ihm geglaubt hätte. „Vier Mann“, sagte der Amerikaner. „Tüchtige, loyale, mutige, tapfere Männer.“ „Und bescheuert“, ergänzte Urban. „Sich auf so etwas einzulassen. Diese Ruck-zuck-Operation über zehntausend Kilometer bis Zentralasien, Mann, das kann doch nur… total muß das doch…“ „Habt ihr Funkkontakt?“ „Nein“, gestand der Amerikaner. „Woraus schließen Sie dann, daß es schiefging?“ „Sie müßten sich längst in Moskau bei der Botschaft gemeldet haben und auf dem Rückflug sein. Statt dessen kam eine verstümmelte Meldung via Frunse-KiewWarschau-Paris… übrigens, woher weiß der BND davon?“ „Wir kennen ein paar Leute auf der anderen Seite des Wolgaufers“, spielte Urban es herunter. Greech beugte sich vor. Seine Stimme wurde leise. „Urban, ihr habt das beste Netz im Osten und eine 65
Masse Möglichkeiten. Was könnt ihr für uns und für unsere Leute tun?“ „Nichts“, erwiderte Urban. „Für eine Laienspielschar opfern wir nicht die Tarnung unseres Apparates drüben.“ „Bitte bedenken Sie, was davon abhängt.“ „Alles bedacht. No, Sir.“ „Letztes Wort?“ „Ich bin nicht der Präsident. Aber ich weiß, wie er denkt.“ „Tragen Sie es ihm trotzdem vor, Colonel.“ „Nein, weil er mich sonst für unzurechnungsfähig erklärt.“ „Dann muß das auf Direktoren-Ebene gemacht werden.“ „Von mir aus.“ „Oder auf Ministerebene.“ „Warum nicht auf Präsidenten-Kanzler-Ebene“, höhnte Urban. Der Amerikaner redete auf Urban ein, solange wie er brauchte, um so viele Drinks zu kippen, wie in eine Flasche Bourbon hineinpaßten. Dann gab er auf. „Ich rufe Sie noch mal an, Bob.“ „Es sind Ihre dreißig Pfennig“, sagte Urban.
Der CIA-Direktor kam beim BND-Präsidenten nicht weiter. Auf Ministerebene hatten sie keinen Erfolg, und der US-Präsident versuchte es beim deutschen Bundeskanzler gar nicht erst. Vermutlich war er nicht eingeweiht. Aber Greech meldete sich noch einmal bei Urban und unterbreitete einen Vorschlag, dem Urban entnahm, daß sie wirklich bis zum äußersten gingen „Wie ich aus Washington höre“, sagte der Amerika66
ner, „läuft nichts.“ „Es gibt Dinge, die sind uns heilig.“ „Wie war’s mit Loyalität?“ bemerkte der Amerikaner spitzfindig. „Auch die ist uns heilig.“ „Aber offenbar nicht heilig genug.“ „Nicht wir haben diesen Heiligentyp exkommuniziert“, sagte Urban. „Die Hilfestellung, die Sie fordern, steht weder im NATO-Truppenvertrag noch im Besatzungsstatut.“ Der Amerikaner wußte, daß er auf Granit biß, konnte sich aber, von Natur aus, Bosheiten nicht ve rkneifen. Doch jetzt lenkte er ein. „Mal ganz offen und ehrlich.“ „Lieber nicht“, bat Urban. „Ich würde an Ihnen irre, Mister Quietsch.“ „Wir sind bereit“, erklärte Greech, „vier von uns gefaßte und verurteilte KGB-Spione nach Wahl Moskaus gegen die Personen Costas, Lewman, Eckstein und Harbor auszutauschen.“ Das war mehr, als Urban erwartet hatte. Und weil es so viel mehr war, wurde sein Verdacht, daß es gar nicht um den T-88 ging, noch mit Eisenbeton untermauert. „Feiner Zug von Ihnen“, bemerkte Urban spöttisch. „Es kostete eine Menge Gespräche, Konferenzen, Begründungen und Überredungskunst.“ Und Erpressungen, ergänzte Urban insgeheim. „In Ordnung“, sagte er. „Durchaus lobenswert. Aber Kopftausch Spion gegen Spion ist eure Sache. Was sollen wir dabei tun?“ Greech überraschte Urban mit einer Neuigkeit. „Seit Monaten schon stockt der Kopftausch. Offenbar glauben die Russen, unsere Leute in ihrem Gewahrsam wären mehr wert als ihre Leute in unseren Bundesgefängnissen.“ 67
„Es wird daran liegen“, meinte Urban, „daß Sie den Russen nicht offenlegen, wen Sie haben. Das ist doch teilweise vom Feinsten.“ „Die Russen kriegen eine neue Liste.“ „Wozu, wenn sie gar nicht tauschen wollen?“ „Offiziell geht da zwar nichts“, bedauerte der Amerikaner. „Aber vielleicht hintenherum, auf den Pfaden der Ameisen, auf der mittleren Ebene. Und da dachten wir, Colonel Urban mit seinen vorzüglichen Kontakten, Freundschaften, Kumpaneien in Richtung Sonnenaufgang sei ein guter Unterhändler.“ Urban erinnerte sich, daß er immer wieder, und das ging schon zehn Jahre so, wegen seiner Kontakte zum Osten angefeindet worden war. Die Amerikaner hatten ihn deswegen bei den Verbündeten angeschwärzt und als unsicheren Kantonisten hingestellt. Als eine Art Leitwolf, der mit den Wölfen anderer Rudel harmonierte. Als einen Mafioso, der keinem anderen Paten etwas zuleide tat, es sei denn, es brach Krieg aus. „Ich kenne ein paar Leute von der Internationale der Atom-Krieg-Löschkommandos“, räumte Urban ein. „Bis hin zur KGB-Spitze.“ „Bis zur Kreml-Spitze“, betonte Urban. „Was uns jedoch nicht hindert, uns Messer in den Leib zu stoßen. Allerdings von vorne und nicht von hinten.“ „General Krischnin“, erwähnte der Amerikaner. Natürlich wußten sie davon, daß Urban, General Krischnin, General Jo Hartmann vom Stasi und noch ein paar andere sich zusammentaten, wenn die Schweinereien zum Himmel stanken. Urban fühlte sich durch dieses Gespräch ziemlich angeekelt, trotzdem blieb er kooperativ. „Geben Sie mir die aktuellen Namen der sowjetischen Agenten.“ „Rufen Sie erst Krischnin an.“ 68
„Ich rufe ihn an, er macht mit, und ihr überlegt es euch anders. April, April. No, Sir.“ „Dann“, erklärte der Amerikaner, „dürfen Sie mir die Freundschaft kündigen, Colonel Urban.“ Ein Angebot, über das Urban nicht einmal nachdachte. Freundschaft mit dieser Mißgeburt hatte nie bestanden. Andererseits, das mußte man Greech zugestehen, tat auch er nur seine Pflicht. Dort, Amerika über alles – hier, Deutschland über alles. Das war die Krux. Urban setzte sich also auf die Fährte des Russengenerals. Aber Krischnin war schwerer zu finden als der Knoten im Haar einer Strähne einer langmähnigen Kosakenstute.
Die Nachttemperatur in der Kirgisischen Steppe sank unter Null. Sie hockten gefesselt im Straßengraben und froren. „Auf was warten die?“ fragte Lewman. Ein Soldat schlug mit dem MPi-Kolben nach ihm. Lewman duckte sich weg. So erwischte der Kirgise nur seinen Nacken. Dazu schrie er etwas. Costas verstand kein Wort. „Das war nicht Russisch.“ „Auf mongolisch bedeutet es Schnauze halten.“ Nun preßte der Soldat die Waffe gegen Costas’ Schädel. Ein Offizier kam herüber. Nach heftigem Wortwechsel brachte einer etwas, das aussah wie eine weiße Rolle Klopapier. Es handelte sich um ein Kunststoffklebeband. Davon wickelte er drei Lagen um Kinn und Lippen der Gefangenen. Sie konnten gerade noch atmen. Das hat man davon, dachte Eckstein. Die Russen setzten ein Benzinfeuer in Brand, standen 69
herum, wärmten sich die Finger und trampelten in ihren Filzstiefeln. Trotzdem war ihnen kalt. Sie schlürften heißen Tee. Die Gefangenen bekamen nichts. Gegen Mitternacht ratterte ein Armee-Dreiachser den Berg herauf. Nach dem Kastenaufbau zu schließen ein Funk- oder Kommandeurswagen. Der Fahrer stieß rückwärts bis ans Lagerfeuer heran. Die Doppeltür schwang. Die Gefangenen wurden herübergetrieben und mußten zusteigen. Der Wagen war leer. Es gab keine Seitenbänke. Der. Blechboden war schmutzig, als hätten sie Kohlrüben befördert. Im Flackern des Benzinfeuers sah Eckstein, daß hinten im Wagen schon einer kauerte, ebenso gefesselt und bandagiert wie sie. Vermutlich war das Harbor, der Mann, den sie treffen sollten. Sofort fiel Eckstein Harbors Kleidung auf. Er trug die gleiche italienische Jägerjacke wie sie. Außen olivgrünes Nylon mit Lederbesatz, vielen Taschen und Patronenschleifen. Wie kam der Russe zu dem Parka? – Hatte Costas nicht etwas von einem Tausch erwähnt? War nicht diese Jacke damit gemeint? – Es gab alles keinen rechten Sinn. Eckstein hatte, während er nachdachte, für Sekunden gezögert. Ein Tritt ins Kreuz katapultierte ihn geradezu in den Wagen hinein. Am Boden liegend, richtete er sich auf, so daß er mit dem Rücken an der Wand Halt fand. Die Türflügel schlugen zu. Sie hockten im Finstern. Der Fahrer ließ den Diesel an. Die Fahrt begann. Der Starrachser nahm Bodenwellen und Schlaglöcher wie ein Springbock. Ohne Rücksicht auf seine Fuhre. Als hätte er Feldsteine geladen. Sie drückten ihre Schultern aneinander, um nicht wie 70
Gummibälle hin und her geschleudert zu werden. Eckstein stieß mit Costas zusammen. Costas lachte, und Eckstein bemerkte, daß trotz des Knebels eine Ve rständigung möglich war, wenn man die Köpfe aneinanderbrachte. Als der Wagen nach Stunden endlich auf Asphaltstraßen ruhig dahinfuhr, versuchte Ecksteines. „Der vierte Mann, ist das Harbor?“ „Schätze ja.“ „Trägt unsere Jacke.“ „Hab’s gesehen.“ „Komisch, he?“ „Warum?“ „Alles verdammt komisch.“ „Aber logisch.“ „Sprich mit ihm.“ „Will es versuchen.“ Im Dunkeln robbte Costas nach vorn. Ob er mit Harbor Kontakt aufnahm, erfuhr Eckstein nie mehr. Es dauerte nicht lange, dann hielt der Wagen. Er fuhr an, hielt erneut, fuhr weiter. Vermutlich passierte er Sperren. Bald rollte er von Asphalt auf Gras und stoppte endgültig. Der Fahrer stellte den Motor ab. Die Tür ging auf. Der Morgen dämmerte. Ein Flugzeug mit Rauhreif auf den Tragflächen stand da. Sie mußten umsteigen. Der Weitertransport erfolgte unter strenger Bewachung. Sie mußten einige Male zwischenlanden. Dann wurde die zweimotorige Kuriermaschine aufgetankt. Einmal glaubte Eckstein, dem Gespräch zwischen ihrem Begleitoffizier und dem Piloten das Wort Moskau zu entnehmen.
Man trennte sie endgültig. Jeder bekam eine eigene 71
Zelle. Die Verhöre im Moskauer Lefortowo -Gefängnis begannen mit totaler Körper- und Kleiderkontrolle. Erst mußte Eckstein seine Taschen entleeren und jeden einzelnen Gegenstand im Packsack erklären. Dann kam der Befehl, sich auszuziehen. Der Jagdanzug wurde bis in die letzte Faser überprüft. Nackt wie er war begleitete ihn eine Eskorte in die Medizinische Abteilung. Die übliche Prozedur lief an. Röntgenaufnahmen von Eingeweiden und Zähnen. Sie suchten nach Containern im Darmtrakt oder in einem hohlen Zahn. Anschließend untersuchten sie alle Körperöffnungen mit Spezialsonden bis tief hinein in Magen, Darm und Blase. Eine forsche ältere Funktionärin in einem weißen Mantel rasierte Eckstein überall, wo Haare wuchsen. Das Haar kam in Plastikbeutel und ins Labor. Sie suchten jeden Quadratzentimeter Haut auf Mikropunkte ab. Sommersprossen, Muttermale, kleine Wunden nahmen sie besonders genau unter die Lupe. Dann mußte Eckstein duschen. Er wurde, weil es Vorschrift war, mit DDT-Pulver entlaust und kam wieder in die Zelle. Dort saß er völlig nackt ungefähr vierundzwanzig Stunden. Ab und zu brachte ein Soldat Tee, Brot und Wurst. Seine Notdurft mußte Eckstein in eine Schüssel entrichten. Die Schüssel wurde abgeholt. Wahrscheinlich filterten sie sogar seine Exkremente. Nach Art der Mahlzeiten schloß er auf die Tageszeit. Es war nach der Suppe, als die Tür aufging und ein nach Lysol stinkendes Stoffbündel hereinflog. Unterwäsche, Hemd und Socken waren gewaschen. Von Hose und Jacke hatten sie das Futter aufgetrennt und wieder grob vernäht. Die Heizung wurde nur für wenige Stunden ange72
stellt. Eckstein hatte sich erkältet und fror. Er zog alles über, was er hatte, auch die Jägerjacke. Dabei bemerkte er, daß sie ihm zu weit und zu lang war. Sie paßte einem Zweimetermann von hundert Kilogramm Gewicht. Kein Zweifel, es war Costas’ Jacke. Man hatte sie vertauscht. Zufall oder Absicht? – Hier mußte man ständig auf der Hut sein. Noch bevor das Licht ausging, untersuchte Eckstein den Jägerparka. Er war wie sein eigener, nur einige Nummern größer. Die Taschen waren leer, selbst die Fusseln hatte man herausgebürstet. Teile der Wattierung fehlten. Auch hie und da ein Stück Futter. Das Futter aus Wollpopeline hatte Pepitamuster, es konnte auch ein Salz- und Pfeffermuster sein oder Hahnentritt. Eckstein wußte es nicht genau. Es erinnerte ihn an Bäckerhosen. Wenn man lange genug draufstarrte, zerfloß es einem vor den Augen. Dann schienen die hellen und dunklen Punkte zu tanzen, zu schillern, ihre Position zu verändern. Übermüdet wie er war, mit ständigen Kopfschmerzen, verursacht von den Drogen, die sie einem in den Tee mischten, schien es ihm, als würde das Futter an manchen Stellen Buchstaben, Zahlen oder Gruppen von Zeichen ergeben. Vermutlich halluzinierte er. – Denn, betrachtete man kleine Abschnitte des Futtermusters, handelte es sich bestenfalls um Striche, Kreise, mal ein Minus-, mal ein Pluszeichen. Wie eben Modemacher Stoffe zeichneten. Das Licht ging aus. Eckstein fand keinen Schlaf. Die Nacht war endlos. Irgendwann, so dachte er, fangen die Verhöre an. Das alles ist nur das Vorspiel.
Sie hatten ihre Verhörmethoden im Vergleich zu Stalins Zeiten verfeinert. Aber hinzugelernt hatten sie wenig. 73
Es gab immer zwei, die das Verhör führten. Den Bösen und den Guten. Der Böse machte Eckstein fertig. Er nannte ihn ein verbrecherisches Subjekt und drohte mit lebenslangem Straflager. Der Gute ließ Hoffnung keimen, vorausgesetzt, man zeigte sich kooperativ. Major Eckstein gehörte weder der CIA an, noch hatte er einen Eid geschworen, und gab alles preis, was er wußte. Aber sie mißtrauten seiner Aussagebereitschaft und behaupteten, er wisse mehr und verschweige Wichtiges. Immer wieder fing alles von vorne an. „Name?“ „Eckstein, Lothar.“ „Letzter Rang?“ „Major außer Diensten.“ „Letzte Bundeswehreinheit?“ „Panzertruppe.“ „Dienststellung?“ „Bataillonskommandeur.“ „Jetziger Arbeitgeber?“ „Mehrere. Mannesmann, MTU, Krauss-Maffei.“ „Sie sind als Propagandist tätig?“ „Lobby nennt man das bei uns.“ „Also Stimmungsmacher für Rüstungsprojekte.“ Eckstein hob die Schultern. „Das ist Ihre Version.“ „Sie arbeiten auch für die Bundeswehr-Erprobungsanstalt.“ „Nur als Fachberater.“ „In dieser Funktion hat Sie unser Te -achtundachtzig natürlich brennend interessiert“, stellte der Russe klar. „Richtig. Auch wenn uns die Spezifikation einigermaßen bekannt ist. Für Panzerexperten ist die nächste Kampfwagengeneration stets nur eine Frage der Hochrechnung.“ 74
Der Russe gab sich nicht zufrieden. Er hatte schon xmal danach gefragt und fragte wieder: „Warum haben Sie sich diesem Kommandounternehmen angeschlossen, Major?“ „Man bat mich darum.“ „Niemand geht ohne Grund durchs Feuer.“ „Nennen Sie es Neugier.“ „Es brachte auch Geld, Major Eckstein.“ „Aber klar. Eine fünfstellige Dollarsumme ist nicht zu verachten.“ „Wußten Ihre Vorgesetzten davon?“ „Welche?“ „Bei der Bundeswehr, in der Industrie.“ „Ich nahm dafür meinen Jahresurlaub.“ „Und ein tödliches Risiko auf sich.“ Eckstein mußte lächeln. „In einem gewissen Alter will man sich beweisen. Man sucht Abenteuer, Herausforderungen. Man fühlt sich aufgewertet, wenn man gebraucht wird, als Fachmann, als Experte.“ Der Russe glaubte ihm kein Wort. Den Begriff Midlife-crisis kannte man in der UdSSR offenbar noch nicht. „Nein, es gibt andere Gründe. Nennen Sie uns diese Gründe, Major Eckstein.“ Dazu war Eckstein nicht in der Lage. Er sprach die Wahrheit, und die war den Küssen zu einfach. Sie beendeten das Verhör abrupt. Am Abend ging es wieder von vorne los mit härteren Fragen und Drohungen. „Sagen Sie uns die Wahrheit, Major Eckstein. Warum halten Sie für die Amerikaner den Kopf hin? Lebenslänglich Sibirien ist schlimmer als der Tod.“ „Ich war offen zu Ihnen. Es gibt keine Hintergründe.“ „Daran zweifeln wir.“ „Es tut mir leid.“ 75
„Uns auch.“ „Soll ich Sie belügen?“ ,,Das bekäme Ihnen schlecht.“ Da sie nichts Neues von ihm erfuhren, weil er nicht mehr zu sagen hatte, versuchten sie, ihn mürbe zu klopfen. Es war am Morgen des dritten Tages in Moskau. Über dem Innenhof des Lefortowo -Gefängnisses hing ein grauer Himmel. Die Drogen, die sie ihm im Tee verabreichten, erzeugten Angstgefühle, die sich bis zur Panik steigerten. Ecksteins Hände zitterten. Er hielt die rechte mit der linken fest. Aber das Beben setzte sich über die ganze Körpermuskulatur bis tief hinein in die Psyche fort. Und dann noch der Schock dieser Demonstration. Im Hof erschollen Kommandos. Eckstein vernahm die Marschtritte gestiefelter Soldaten. Der Verhöroffizier stieß ihn vom Hocker ans Fenster. Im Nieselregen wurde ein Mann zur Ostmauer des Gefängnisses eskortiert. Die Mauer zeigte Spuren von Gewehrkugeln und dunkle Flecken, wahrscheinlich von Blut Der Delinquent trug die gleiche Jägerjacke wie Eckstein. Jetzt nahm man ihm die Jacke weg. Nur in Hemd und Hose wurde er an einen Pfahl gebunden. Ein Offizier legte ihm die schwarze Augenbinde an. Nun kamen die Soldaten ins Bild. Neun Mann in Dreierreihen. Sie trugen Maschinenpistolen umgehängt. Der Verhöroffizier sagte zu Eckstein: „Wofür halten Sie das?“ „Für eine Erschießung.“ Der Hauptmann reichte ihm sein Fernglas. „Sehen Sie sich den Delinquenten an.“ 76
Eckstein stellte das Glas scharf. „Kennen Sie ihn?“ „Das ist Harbor.“ „Harbor.“ Der Hauptmann lachte tief im Hals. „Er heißt Serge Titow, ist Elektronikingenieur und ein Ve rräter.“ „Ich sah ihn nur einmal, während des Transportes. Ich sprach nie ein Wort mit ihm.“ „Sowjetische Staatsbürger“, erklärte der Hauptmann, „die des Hochverrats schuldig sind, werden liquidiert.“ Demnach hatten sie Titow, alias Harbor, bereits ve rhört. Er hatte ausgesagt und gestanden. Das Peloton nahm Aufstellung. Kommandos hallten. Die Soldaten bildeten eine Linie. Erneute Kommandos. Sie rissen die MPis von den Schultern. – Letztes Kommando: „Anlegen! Feuer!“ Die Kalaschnikows bellten los. Sekundenlang. Mindestens hundert Kugeln durchschlugen den Körper des Spions Harbor. Er zuckte mehrmals, als stünde er unter Strom. Auf seinem Hemd, auf der Hose, am Kopf trat Blut aus den Einschußwunden. Der Verhöroffizier bugsierte Eckstein auf seinen Hocker zurück und schaltete die grelle Lampe ein. „Dasselbe steht Ihnen bevor“, drohte er. „Besser als in einem Gulag zu verfaulen.“ „Aber Sie haben eine Chance.“ „Keine“, erwiderte Eckstein, „denn was Sie von mir erwarten, kann ich nicht liefern. Ich müßte lügen.“ „Gelogen haben Sie bis jetzt, Major Eckstein“, beharrte der Russe. „Was wissen Sie von Harbor? Warum wollten Sie ihn treffen? Was sollte ihm übergeben werden?“ Eckstein sah keine Veranlassung, auch nur das Geringste zu verschweigen. 77
„Ich glaube“, sagte er, „irgend etwas, das in einem der Jagdparkas steckte.“ „Nichts war darin versteckt. Sie verkohlen uns, Eckstein.“ „Hängen Sie mich an den Lügendetektor“, schlug Eckstein vor. Der Russe grinste infam. „Wir werden etwas ganz anderes mit Ihnen veranstalten, Major“, sagte er. „Uns führen Sie nicht auf den Leim. Wir werden etwas mit Ihnen machen, wovon Sie keine Ahnung haben. Hören, Sehen und Denken wird Ihnen vergehen. Sie werden nicht mehr wissen, wer Sie sind und wer Sie einst waren. Aber wir werden es aus Ihnen herauspressen.“ Eckstein hatte seit Jahren nicht mehr gebetet. Jetzt erinnerte er sich an Gott und fing an, ihn um Hilfe anzurufen. 9. Eine Bar dieser Art gab es im Westen nicht mehr. Draußen stand ein livrierter Portier. Drinnen schlug einem parfümierte Wanne entgegen. Überall roter Plüsch, Säulen, Spiegel, Separees, eine drehbare, beleuchtete Tanzfläche. Wie in alten Zeiten in der JockeyBar. Nur daß das Ganze in der DDR lag. Genauer in Ost-Berlin. Der BND-Agent Code 18, Robert Urban, versehen mit exzellent gefälschten Papieren – wie er hoffte – betrat den Club am Dienstag, wenige Minuten nach 23.00 Uhr. Die Garderobenfrau trug Schwarz mit gestärkter Schürze und Häubchen. Die Kapelle spielte eine langsame Swing-Nummer aus den Dreißigern. … so wird’s nie wieder sein… 78
Urban trat an die Bar. Sie mixten Cocktails in allen Farben, aber vorwiegend die bekannten Giftkompositionen aus Anno Tobak. Manhattans, Martinis, Flips und Nikolaschkas. Als Zugeständnis an die befreundete Insel in der Karibik gab es Cuba Libre. Im Spiegelregal standen überwiegend Wodkas, Weinbrände und Rumsorten. Urban setzte sich auf einen Hocker. „Was darf es sein?“ fragte der Barkeeper. „Martini“, bat Urban. „Trocken?“ „Feucht, wenn es geht.“ Der Witz war sicher schon zehntausendmal gefallen. Trotzdem lachte der Keeper höflich. Er gab Gin in den Mixbecher. Deutschen Gin. Dann Wermut, auch deutschen. Ein wenig zuviel davon. Dann Eis, ebenfalls deutsches. Vermutlich gewonnen aus der Ostberliner Trinkwasserleitung. Urban schaute ihm zu, und der Mixer sagte, während er das Zeug schüttelte: „Wir frieren die Eiswürfel aus Thüringer Mineralbrunnen. Deshalb sehen sie so weiß aus. Kommt von der eingeschlossenen Kohlensäure.“ „Fürchtete schon, es sei Gletschereis.“ „Davon sind wir wieder abgekommen.“ Der Mixer grinste. „Alles durchseucht von Eisbärenpisse.“ Die Kapelle, immerhin dudelten vierzehn Mann, spielte jetzt Durch dich wird diese Welt erst schön… Ein uralter Ufa-Heesters-Schlager. Urban fühlte sich wie von einer Raumkapsel um fünfzig Jahre in die Vergangenheit zurückgeschleudert. Auch die Mädchen auf der drehbaren, von unten beleuchteten Tanzfläche stammten aus dem Jahr 1936. – Träumte er, oder was? Sie trugen seidene Kleider mit Fransen und Strümpfe mit Nähten. An den Oberschen79
keln zeichneten sich die Strapse ab. Und das Haar, alles Bubiköpfe in Schwarz, Rot und Gold. Knallrote Mü nder, dazu schwarzumrandete Augen. Verflucht, wo bist du gelandet? Im Kino? No, Sir, in der DDR Der Martini war zwar kalt, pappte aber auf der Zunge. „Zu feucht?“ fragte der Keeper anzüglich. Urban nahm das Glas und rutschte vom Hocker. Hinten hatte er eine freie Nische erspäht. „Wenn einer nach Charly fragt“, sagte er, „Charly sitzt bei der Säule.“ „Charly, der Lächler?“ fragte der Barmixer. Dieser Bursche hatte flinke Augen. Er hatte Urbans immerwährendes Grinsen richtig gedeutet. Aber es war nicht der Ausdruck von Arroganz oder Herablassung, es war angeboren. „Charly, der Charly“, sagte Urban. Es war heiß, und alles war pure Nostalgie, nur nicht die Düfte, die rochen ein bißchen nach volkseigener Parfümfabrik. Kaum saß Urban, und die Kapelle spielte wieder, da hörte sie mit einem Mißton des Trompeters schon wi eder auf. Es klang, als würde man mit der Nadel über eine alte Grammophonplatte kratzen. Urban sah einen Kellner nach hinten hinauswetzen. Einer im schwarzen Ledermantel rannte ihm nach. An der Bar standen Stasi-Typen, ebenfalls in Ledermänteln und Schlapphüten, die Hände tief in den Taschen. – Als würde Hans Albers gleich das Lokal ausräumen. Das darf nicht wahr sein, dachte Urban. So ist es damals zugegangen, als die Gestapo Razzien veranstaltete. Die Geheimpolizisten pöbelten die Gäste an und ließen sich Ausweise zeigen. Einer kippte einen Sektkühler um. Wie im Schwarzweißkriminalfilm. 80
Und plötzlich stand einer vor Urban. – Ein Kindergesicht, blaß wie der Pfadfinder aus einem Hitlerjugendfähnlein. Er schnarrte etwas auf sächsisch und wurde dann wütend, weil es keine Reaktion auslöste: „Stehen Sie gefälligst auf, wenn ich mit Ihnen rede.“ „Jawohl, Herr Feldwebel.“ Urban blieb wie angewurzelt sitzen. Dem Burschen mißfielen wohl seine Nizzabräune und sein englisches Sakko. Man sah es den Klamotten eben an, ob sie aus der Saville Row stammten oder von der Stange in einem Kaufhaus. Der Geheimpolizist schnippte mit dem Finger. „Wird’s bald!“ Urban mißachtete es. Der Geheimpolizist schnippte wieder. „Danke, ich habe selbst Feuer.“ Urban steckte sich eine frische Zigarette an. Der Stasi-Mann nahm die Schachtel und buchstabierte: „Monte Christo.“ „Übersetzt: Berg Jesu.“ „Und Goldmundstück. Aus dem Westen, he?“ „Hübsch degeneriert und pervers, finden Sie nicht?“ „Geschmuggelt, wie? Zeigen Sie Ihren Ausweis.“ Urban holte einen amerikanischen Paß heraus. Gegen Amerikaner waren sie noch immer freundlicher als gegen Bürger der Bundesrepublik. Die hielten sie für Spione oder Saboteure gegen die sozialistischen Errungenschaften der DDR.“ „Los, mitkommen!“ Urban machte ein Gesicht, als forderte man einen Juden auf, Himmler zu trauen. „Ich bleibe hier. Es gibt keine Handhabe gegen mich.“ „Angenommen, wir finden Rauschgift bei Ihnen. Alle Amerikaner konsumieren Marihuana.“ 81
„Dann müßten Sie es mir vorher zustecken. Pornos führe ich auch nicht bei mir, ebensowenig Maschinenpistolen.“ Der Geheimpolizist winkte einem Kollegen. Der war ziemlich gut durchwachsen. Urban fürchtete, wenn er sich mit dem anlegte, ginge die Einrichtung der JockeyBar in die Brüche, dann mehrere Knochen, und am Ende hatten sie ihn doch. „Das ist eine Festnahme“, erklärte der Bulle lautstark. „Warum?“ „Schnauze, Genosse. Mitkommen.“ Urban schaute sich um. Zum Teufel, was war los? Beklemmende Stille im Saal. Wo blieb der Mann, mit dem er verabredet war? – Hatte man die Bar nur seinetwegen kontrolliert? – Dann war es eine Falle. Treffen wir uns wie immer an der Zonengrenze, hatte er vorgeschlagen. – Keine Zeit, hatte die Antwort gelautet. Jetzt wußte Urban, warum. – Aber noch wollte er nicht daran glauben. Sie nahmen ihn mit und bezahlten sogar seine Rechnung, Draußen hatte schon einer seinen Burberrys über dem Arm. Sie bugsierten ihn in einen nagelneuen, großen Volvo und nahmen ihn dort in die Mitte. Mit ihrem Barrasgestank paßten sie zu dem luxuriösen Schwedenautomobil wie ein Lumpensammler zu einem Porsche. „Karlshorst!“ rief der neben dem Fahrer. Es ging durch das nächtliche Ostberlin. In Karlshorst residierten das Ministerium für Staatssicherheit und die Russen.
„Weiche Knie“, feixte der General mit verschwörerischem Grinsen. „Nur die Hosen voll“, antwortete Urban erleichtert. 82
„Du mußt das verstehen, Urbanski. Ich konnte in dem Laden nicht aufkreuzen. Spitzel sitzen überall von hier bis zum Ochotskischen Meer. Und zur Maskerade hatte ich keine Lust.“ Sie saßen in einem noch größeren Volvo der DDRSonderausführung für Spitzenfunktionäre. Man hatte die Karosse verlängert und konnte hinten die Beine ausstrecken. General Krischnins Kopf wirkte im Halbdunkel als hätte man ihn aus zehn Pfund Teer modelliert. Er hatte eine rauhe Wodkastimme und ein rauhes Gemüt. Aber er war Realist wie viele Russen in hohen Stellungen. Kein Träumer und stets mißtrauisch wie ein Frosch gegenüber Störchen. Nachdem sie sich nach Art alter Hunde beschnuppert hatten, sagte Krischnin: „Lange nicht gesehen, Bruder.“ „Fast ein Jahr. Wie geht es drüben, Igor?“ „Perestroika ist Scheiße. Damit kommt er nicht durch. Und Glasnost ist, als würdest du versuchen, mit einem Ofenrohr als Feldstecher den Nebel zu durchdringen. Im Fernglas wird Nebel nur noch dicker. Du siehst vielleicht einzelne Schwaden, aber nicht, was hinter dem Nebel liegt. Glasnost, Perestroika, Väterchen, Mütterchen… Nimm einer Horde Sträflinge die Ketten ab, und sie schlagen dir die Galeere kurz und klein.“ „Du siehst zu schwarz“, sagte Urban. „Ich“, entgegnete der Russe, „bin General. Nicht bei der reitenden Gebirgsmarine, sondern beim Geheimdienst. Ich bin in gewisser Weise kompetent. Ich habe den Durchblick. Wir rasen mit einem Auto ohne Bremsen und Lenkung auf einer arschglatten Straße mit Tempo hundert. Und vor uns taucht eine Kurve auf.“ „Einem guten Fahrer fällt immer etwas ein.“ „Du kannst nur abspringen“, sagte der General verbit83
tert. „Los, zeig mir die Liste.“ Urban zupfte sie aus der MC-Packung. Krischnin überflog die Namen der in den USA einsitzenden sowj etischen Spione. Er tat das so rasch, als käme es auf das Angebot gar nicht an und die Entscheidung stehe längst fest. „Verdammt! Alles nur Gummibärchen“, fluchte er. „Oberst Lissovs ki ist dabei und Mara Perkinew.“ „Sie sind, im Dutzend gebündelt, nicht einen Mann aus dem Te-achtundachtzig-Kommando wert.“ „Warum mußte ich dann rüberkommen?“ „Wollte dich wieder mal sehen, Urbanski Robertowitsch, dir ein paar Ratschläge verpassen in bezug auf Weiber und Alkohol. Oder gibt es Wichtigeres im Leben?“ „Nicht, daß ich wüßte“, erwiderte Urban trocken. Krischnin holte eine Zigarette aus dem Barfach im Volvo, kniff den Pappfilter ein und wurde jetzt deutlich. „Will dir was sagen, Urbanski. Wir tun das niemals.“ „Charakter zeigen“, bemerkte Urban, „in unserem Job? Wo gibt’s denn so was?“ „Hinter diesem CIA-Kommandounternehmen steckt doch mehr als ein paar Fotos von einem Panzerwagen.“ „Was weiß man schon?“ „Eben! Wir möchten es erfahren und kriegen es nicht raus. Ehe wir es nicht wissen, läuft mit Kopftausch gar nichts.“ „Versuch’s trotzdem.“ Der General schien nachzudenken. Wenn er sprach, bewegte sich die lange Zigarette an dem weißen Filterröhrchen zwischen seinen Lippen. „Laß mich mal telefonieren.“ „Was hindert dich daran?“ „Du“, sagte Krischnin. Urban stieg aus, marschierte ein Stück die Allee hin84
unter und wechselte von der Straße auf den Parkweg. Das Gelände fiel zum Wasser ab. See, Kanal oder Fluß, er wußte es nicht. Hinter sich sah Urban den Schatten des Ledermantelträgers mit dem Fähnleinführergesicht. Er blieb stehen. Kalter Wind blies von Norden. Immer mehr kam er sich vor wie am falschen Ort.
Nach zehn Minuten etwa blinkte der Fahrer des Vo lvo. Urban stieg wieder ein. Der General wirkte verärgert. „Warum hast du dich nicht rausgehalten, wie ich dir riet? Zweimal sogar. Oder sollte ich dir die Kniescheibe zerdeppern, damit du endlich kapierst?“ „Ich halte mich nicht nur raus, ich bin raus. Betrachte mich als Unterhändler mit der weißen Fahne.“ „Hol die Fahne ein“, sagte Krischnin in seinem eckigen Englisch. „Sie haben abgelehnt.“ „Es war einen Versuch wert.“ „Außerdem“, fuhr Krischnin fort, „hat der eine Amerikaner sich in der Zelle erhängt, und der andere wurde niedergeschossen, als er den Wärter überfiel. Für ihn besteht wenig Hoffnung.“ „Und unser Mann, Major Eckstein?“ Krischnin gab Urban den Zettel mit der amerikanischen Spionenliste zurück. „Dafür bezahlen wir nicht mit einem Schnurrbarthaar von Oberst Lissowsky.“ Urban zerknüllte den Zettel und schob ihn in die Tasche. „Ich habe die drei nicht nach Asien geschickt. Der BND, die Bundesrepublik hat nichts damit zu tun. Setzt mich am Checkpoint ab.“ Krischnin klopfte gegen die Trennscheibe. Der Fahrer 85
rollte an. Nun ließ Krischnin, der alte Halunke, doch noch die Katze aus dem Sack. „Aber an Danvos wären wir interessiert.“ „Danvos?“ Urban begann sich zu erinnern. „Er ist weder Russe noch KGB-Mann.“ „Aber ein Terrorist. Danvos verübte einen Anschlag auf unser neues Flugzeugturbinenwerk und entkam auch noch. Bei euch bat er um Asyl und nennt sich einen politisch Verfolgten. – Danvos gegen Eckstein. Mein äußerstes Angebot.“ „Da muß auch ich erst mal telefonieren“, sagte Urban. „Offiziell läuft da nichts.“ „Offiziell läuft überhaupt gar nichts“, betonte Krischnin. „Aber wir können etwas arrangieren. Du holst dir Eckstein, und wir holen uns Danvos.“ „Wie stellst du dir das vor?“ „Meine Phantasie gaukelt mir eine Art Befreiung aus einem Gefangenentransport vor, ohne daß von den Bewachern scharf geschossen wird. Oder so ähnlich. Laß uns darüber nachdenken, Robertowitsch.“ „Nachdenken, nachdenken“, brauste Urban auf. „Ich komme mir schon vor wie ein Computer auf drei Beinen.“ Der Russe wischte über sein Teergesicht. Die Pranke kratzte an den Bartstoppeln herum. Dazu klang seine Stimme so sanft wie immer, wenn er gefährlich wurde. „Entweder so oder so.“ „Du meinst so und nicht anders.“ „Meinetwegen auch anders. Hauptsache aber so.“ Sie näherten sich der Brücke. Sie war taghell beleuchtet. Überall Wachtürme, spanische Reiter, Betonklötze, damit keiner mit dem Auto in den Westen durchbrach. Krischnin brachte Urban an den Vopos vorbei bis zur Brückenmitte. Dort stieg Urban aus. Er hatte nur noch 86
dreißig Meter bis zu den Amerikanern. „Es war wieder absolut sinnlos“, sagte er. „Aber das nächste Mal sind wir wieder dabei“, höhnte der KGB-General. Krischnin grüßte militärisch. Der Volvo wendete. Urban sah seine Rücklichter verschwinden. Der amerikanische Sergeant warf nur einen kurzen Blick in seinen Paß. Der Schlagbaum war offen. „Können Sie mir ein Taxi rufen“, bat Urban. 10. In der Ostabteilung der CIA hing die Flagge auf halbmast Was sie an Nachrichten einfingen und zusammensetzten, Mang immer hoffnungsloser. „Harbor soll im Lefortowo -Gefängnis in Moskau erschossen worden sein“, übermittelte ein Dechiffrierer dem Ostchef. „Von wem kam die Meldung?“ „Bruchstückhaft, Sir. Sie gehen nur für Sekunden auf Sendung.“ „Von wem?“ fragte der Ostchef noch einmal. „Code Orloff. Netz zwei, schätze ich.“ „Nun mal nicht geschätzt, sondern eindeutig, bitte.“ „Dazu bin ich nicht in der Lage, Sir.“ Sam Creech hatte es längst aufgegeben, Ungeduld zu zeigen. Er reagierte nur noch schlicht ergeben. „Was noch?“ „Soll noch den einen oder anderen Ausfall gegeben haben, Sir.“ „Den einen oder anderen Ausfall. Dann sind es nur noch zwei. Den Deutschen abgerechnet nur noch einer. Es sei denn, sie hätten Eckstein liquidiert.“ „Was unwahrscheinlich ist“, bemerkte Greechs Assi87
stent, der einen Teil der Unterhaltung mitgehört hatte. „Eckstein ist zu nichts verpflichtet. Der packt doch aus. Er sagt alles, was er weiß, um seine Haut zu retten. Bei Costas ist das anders.“ „Bei Lewman auch. Der Eskimo ist ein zäher Bursche.“ „Es geht ihnen darum, herauszufinden, was hinter allem steckt. Die Te -achtundachtzig-Fotos halten sie nur für einen Vorwand.“ Gegen Abend kam eine neue Meldung herein. „Netz drei meldet, es habe ein Abtransport stattgefunden.“ „Wie viele Leute?“ „Mindestens einer, Sir.“ „Wohin?“ „Zum Flugplatz. Man flüstert, es gehe Richtung Ungarn.“ Sam Creech strich sich über die Augen, als würde er einen Alptraum wegwischen. „Ungarn? Was bedeutet das nun wieder?“ „Budapest. Csardas, Pußta, Gräfin Mariza“, bemerkte der Assistent auf der Flucht in den Zynismus. Der Ostchef schickte den Dechiffrierer hinaus und führte eine Art Selbstgespräch: „Wenn Harbor tot ist, dann können wir die Operation als gescheitert betrachten.“ „Aber das Geheimmaterial, Sir.“ „Ja, dieses verdammte brisante Material. Wer hat es?“ „Die Russen fanden es offenbar nicht.“ „Das einzige, was man bei diesem Kommandounternehmen als professionell bezeichnen kann, ist die Tarnung des Geheimmaterials. Harbor ist tot. Das Material könnte von der Gegenseite benutzt werden. Es ist Gift in fremden Händen wie Plutonium in der Trinkwasserve rsorgung von New York.“ 88
„Man muß es vernichten“, riet der Assistent, „ehe sie es finden.“ „Und gegen uns benutzen.“ „Aber wer hat den Ball, Sir?“ „Eins, zwei, drei“, ergänzte der Ostchef den Reim. „Jetzt brauche ich dringend eine guten Rat.“ Der Assistent fühlte sich dazu aufgefordert. Doch er hob beide Hände und sagte: „Mir zu teuer, Sir.“ Der Mann von Sam Creech in Paris sprach mit Pearl. „Was ist mit Harbor?“ lautete ihre erste Frage. Der Kontaktmann hatte Order, nichts von Harbors Liquidation verlauten zu lassen, aber er war ein schlechter Schauspieler. „Was soll mit ihm sein?“ „Ist er tot?“ „Wie kommen Sie darauf, Pearl? Gefangene Agenten legt man nicht um. Man benutzt sie als Tauschobjekte.“ „Sie belügen mich“, schrie sie. „Ich fühle es.“ „Telepathie gibt es nicht“, erklärte der Mann von der US-Botschaft. Mehr fiel ihm gerade nicht ein. „Was, verdammt“, fluchte sie den Tränen nahe, „will man schon wieder von mir?“ „Die Operation ging total daneben, Pearl.“ „Scheint mir auch so.“ „Aber“, setzte der Emissär an, „vielleicht ist noch etwas zu retten.“ „Harbor ist tot. Was gibt es da noch zu retten? Sie machen mir Spaß, mon ami.“ „Im Headquarters hörte man, daß die Gefangenen nach Ungarn verbracht wurden.“ „Ungarn?“ zweifelte sie. „Spinne ich oder was?“ „Ungarn“, beharrte der Mann der CIA in der Bot89
schaft von Paris. „Was sollen sie dort?“ „Keine Ahnung, Pearl.“ „Und wozu erzählen Sie mir das?“ Vorsichtig, wie man ihm geraten hatte, tastete der Emissär sich an das Thema heran. „Neben der Te-achtundachtzig-Sache sollte der Kommandoführer auch bestimmtes Material an Harbor übergeben. Deshalb der Treff in der Steppe.“ „Wahnsinn war das, von Anfang an.“ „Es ist nun mal geschehen, Pearl.“ „Und weiter?“ drängte sie. „Das Material ist das brisanteste seit der Wasserstoffbombenformel. Es muß beseitigt werden.“ „Was habe ich damit zu tun?“ „Sie sollen es vernichten.“ Pearl bekam enge Augen und erblaßte deutlich. „Seid ihr jetzt total verrückt geworden?“ Der Kontaktmann versuchte sie zu beruhigen. Er legte die Hand auf die ihre. Sie entzog ihm die Rechte angewidert. „Hören Sie mich an, Pearl“, fuhr er fort. „Sie sollen sich nach Budapest begeben und nachforschen. Vielleicht machen Sie etwas ausfindig. Dann muß das Material zerstört werden. Koste es, was es wolle.“ „Von welchem Material sprechen Sie eigentlich?“ Darüber konnte sie der Kontaktmann auch nicht aufklären, „Es existieren“, er sagte, was er wußte, „vier Jägerparkas. In einem davon ist das Material versteckt.“ „Dann hat es der KGB längst gefunden.“ „Oder nicht. Die Tarnung soll äußerst perfekt sein.“ „Gibt keine perfekte Mimikry.“ „Sam Creech meint, in diesem Fall schon. Er vertraut darauf.“ 90
„Wo ist was in den Jacken?“ „In einem gefütterten Nylonparka ist manches zu ve rstecken.“ „Im Futter, in der Watte, in den Daunen, in den Nähten, in den Knöpfen, den Reißverschlüssen – wo, zum Teufel?“ „Holen Sie, wenn irgend möglich, die Jacken zurück.“ Sie überlegte lange, ehe sie sich äußerte. „Ihr seid ungeheuer scharf drauf. Erst hat man sich überschlagen, um sie Harbor zu bringen, jetzt ist man noch schärfer darauf, sie aus dem Verkehr zu ziehen.“ „Ich bin befugt“, erklärte der Kontaktmann, „Ihnen zehntausend Dollar anzubieten, Pearl.“ „Lachhaft.“ „Im Erfolgsfall das Doppelte.“ „Ich pfeif drauf“, entgegnete sie. „Wenn ich es mache, dann nur, wenn Harbor noch dabei ist. Nur für ihn tue ich es.“ „Dann kann ich es also nach Langley melden.“ Sie nickte zögernd. „Ich brauche dazu bessere Informationen als nur Blabla, erzeugt aus heißen Auspuffabgasen.“ „Kriegen Sie“, versprach der Kontaktmann. „Wann?“ „Notfalls unterwegs. Wann fahren Sie los?“ „Erst mal Richtung Wien“, sagte sie. „Und jetzt befreien Sie mich von Ihrer Gegenwart, mon ami. Sie stinken zu sehr.“ „Ich bade täglich“, erwiderte der Amerikaner entrüstet, „und esse nie Knoblauch.“ „Ihr stinkt alle“, äußerte Pearl, „von innen heraus.“ Damit verließ sie die Parkbank im Jardin du Luxembourg und ging mit schnellen kurzen Schritten davon.
91
11. Der Exmajor Eckstein wußte zwar, daß man ihn nach Budapest gebracht hatte, aber nicht, was er hier sollte. Noch viel weniger begriff er, als man ihm sein Essen brachte. Es war Gulasch mit Nudeln auf einem Blechteller. Doch unter dem Teller lugte die Ecke eines weißen Papiers hervor. Keine Serviette, sondern ein Kassiber, eine Nachricht, wie man sie Gefangenen zuschmuggelte. Auf dem Zettel stand eine Zeile in Druckbuchstaben mit deutschem Text. Spring ins Schilf. Richtung Mondlicht. – Sofort vernichten. Das war alles. Er versuchte zu kombinieren. Mondlicht bedeutete Nacht. Schilf gab es an Flüssen, an Seen, in Sümpfen. – Was hatten sie mit ihm vor? Wer war der Informant? – Er wußte mehr, gehörte also zur Klasse der Funktionäre. – Aber aus welcher Klasse? – Aus Politik, Armee oder Wirtschaft? Sofort vernichten hatte noch auf dem Zettel gestanden. Eckstein zerriß ihn und spülte die Fetzen durch die Kloschüssel. Am späten Nachmittag holten der Gefängniswärter und ein Offizier ihn aus der Zelle. Ohne Zweifel war dieser Offizier kein Ungar, sondern Russe. Also gehörte er der Besatzungstruppe an. Demnach hatten die Russen ihn noch immer in ihrer Ko mmandogewalt. Der Major duftete nach dem beliebten Maiglöckchenparfüm und trug eine elegant geschnittene Uniform. 92
Als der Wärter dem Gefangenen Handschellen anlegen wollte, hielt ihn der Russe mit einer deutlichen Handbewegung davon ab. Sie passierten scheppernde Gitterschleusen. Ihre Schritte hallten auf dem Betonfußboden der langen Gänge. Mit einem Ruck blieb der Russe stehen. „Hat man Ihnen etwas abgenommen?“ fragte er in recht ordentlichem Deutsch. „Nichts von dem, was man mir in Moskau zurückgab.“ Der Russe nickte zufrieden. Im Hof stand mit laufendem Motor eine WolgaLimousine im matten Braungrün der Armee. An der Seite führte sie den roten fünfzackigen Stern. Der Offizier und Eckstein nahmen hinten Platz. Vorn saßen der Fahrer und ein Begleiter. „Ein Fluchtversuch jetzt bringt nichts“, erklärte der Offizier. „Die Tür ist versperrt, und Sie kämen nicht weit.“ Er hatte das Wort jetzt betont. War es später anders? Eckstein dachte wieder an den Zettel. „Darf ich etwas fragen?“ wandte Eckstein sich an den Offizier. „Sie dürfen.“ „Geht es nach Norden?“ „Nein, nach Westen.“ „Über die Erzsebet-Brücke, über die Donau?“ Dem Russen war klar, daß der Deutsche das Ziel der Fahrt wissen wollte. Doch er nannte es nicht gleich. „Richtung Sopron“, sagte der Russe später. Privat war Eckstein einige Male in Budapest gewesen. Wenn man über Wien nach Ungarn fuhr, kam man über Sopron, früher Ödenburg. Es lag in der Nähe des Neusiedler Sees, diesem merkwürdigen, kaum einen Meter tiefen Bittersalzgewässer voll Schlamm am Boden und 93
viel Schilf an den Ufern. Spring ins Schilf hatte auf dem Kassiber gestanden. „Der Mond geht bald auf“, bemerkte Eckstein. Der Russe steckte sich eine Zigarette an. „Ich sehe ihn zwar nicht, aber wir haben in der Tat Vollmond heute.“ Er blickte Eckstein um einen Herzschlag länger als gewöhnlich an. Er zupfte an der Bügelfalte seiner Breeches, rauchte, und nach einer Weile fragte er: „Sie sind Panzerexperte, Major?“ „Ich führte ein Bataillon.“ „Leopard?“ „Ja, Leopard-zwo.“ „Ich bin ebenfalls Panzermann. Mir gefällt das Leben eines Berufsoffiziers. Ich würde es niemals aufgeben.“ „Ich mag Panzer“, gestand Eckstein, „aber das Soldatenleben nicht sonderlich.“ Wieder rollten mehrere Kilometer Straße unter den Rädern der Limousine durch, bis der Russe fortfuhr: „Sie sind in der Panzertechnik auf der Höhe, Major Eckstein?“ „Denke schon.“ „Auch bei Radpanzern und Halbkettenfahrzeugen?“ „Ich gehöre einigen Ausschüssen für industrielle Vo rentwicklung an. Man fragt mich um Rat, hört gern meine Meinung.“ „Auch als Testfahrer?“ „Auch dieses.“ In Ecksteins Kopf verwirrten sich die Mutmaßungen, was die Russen wohl vorhatten, zu einem Knäuel. Er versuchte, es zu entwirren, und stellte sich immer wi eder die Frage, wer hier welche Art von Regie führte. Sie kamen durch Kapuvár und Nagycenk und bogen bald von der Überlandstraße auf eine Nebenstraße ab, die aber breiter und besser ausgebaut war. 94
Im Licht der Scheinwerfer erkannte Eckstein die typischen Spuren von schweren Fahrzeugen, die aus dem Gelände kamen. Sowohl Abdrücke von Panzerwagenketten wie von Reifen mit Stollenprofil. Die Luft roch auffallend nach Binnensee. Links tauchte ein Drahtzaun auf, ab und zu unterbrochen von Wachtürmen. Durch ein Tor mit Doppelschlagbaum gelangten sie ins Sperrgebiet. Die Straße führte vorbei an Kasernen, Hangars und Werkstätten abwärts zum See, dort am Ufer entlang zu einem riesigen Parkplatz, den Tiefstrahler beleuchteten. Auf dem Parkplatz herrschte emsiger Betrieb. Lastwagen standen da, Zugmaschinen, Tieflader und jede Menge von Panzerfahrzeugen. Nie hatte Eckstein eine solche Ansammlung modernsten sowjetischen Kriegsgerätes gesehen. Er machte die Kurven von T-76 aus, von Schützenpanzerwagen, von Panzerfahrgestellen mit Mörsern, Werfern und Flakwaffen. Eine Plane versteckte etwas Flaches, Kantiges. – Vielleicht ein T-88Prototyp. Dicht am See, wo es auf einer Rampe hineinging, waren in einer Reihe Radpanzer und Halftracks aufgefahren. Sie unterschieden sich von den NatoHalbkettenfahrzeugen mit nur einer lenkbaren Vorderachse durch eine Doppelachse. Die Ketten hinten waren mit Gummischaufeln bestückt. Die hochgezogenen Auspuffrohre und der erhöhte Turm sagten Eckstein genug. Mit diesen Fahrzeugen wurden Unterwassertests durchgeführt. Er verbarg seine Überraschung. „Unnötig, Ihnen viel zu erklären“, schätzte der Russe. „So ist es.“ „Wir führen hier Schlammtests an Panzern durch. Die Bedingungen sind ideal. Unsere sibirischen Sümpfe haben entweder ab fünfzig Zentimeter Permafrost oder 95
sie sind so grundlos, daß wir reihenweise Fahrzeuge verlieren. Es gibt keinen Kran der Welt, der einen Te achtundsiebzig herauszieht, wenn er tiefer als bis zum Turm im Mud steckt. Hier kann man das ganze Jahr über testen. Vielleicht mal zwei Wochen nicht, wenn der See zufriert. Das kommt aber selten vor.“ Das war eine lange Rede. Der Wagen hielt. Der Russe gab die Türverriegelung auf Ecksteins Seite frei. „Und was habe ich hier zu tun? Manöverbeobachter spielen?“ „Nicht nur“, sagte der Russe. „Sie sollen mitfahren und sogar selbst fahren. Wir lege n größten Wert auf Ihr Urteil. Oder auf Ihre Verbesserungsvorschläge.“ Sie betraten eine geheizte Baracke. Es gab Tee und belegte Brote. Der Offizier sprach mit anderen Offizieren. Die me isten von ihnen trugen Overalls. Vermutlich waren sie Ingenieure oder Panzerkommandeure. Niemand kümmerte sich um Eckstein. Draußen liefen die Panzermotoren warm. Später kam Ecksteins Begleitoffizier noch einmal. „Es geht los“, sagte er, „Sie begleiten erst den Halftrack. Es geht in den See hinaus, ein paar Kilometer weit bis dicht zu der Linie, wo die Grenze nach Österreich den See teilt. Dann machen Sie kehrt. Worauf es ankommt, erzählt Ihnen einer unserer Ingenieure. Mein Auftrag ist hiermit beendet. Leben Sie wohl, Major Eckstein.“ Der Russe salutierte lässig und bestieg wieder seinen Dienstwagen.
Ein Vierrad-Halftrack ohne Turm, halboffen, stand im kalten weißen Licht. Der Diesel blies schwarzen Qualm 96
aus dem Endrohr. Ein Offizier tauchte auf. Er sprach Englisch und instruierte Eckstein. Dann kletterten sie hinauf und stiegen ein. Der Halftrack fuhr die Rampe hinunter und klatschte in die Schlammbrühe. Das Wasser des Sees spritzte hoch auf. Die Fortbewegung war ein Mittelding zwischen Waten im Schlamm und Schwimmen. Der Fahrer blieb in einem der hohen Gänge, was auf die Motorstärke schließen ließ. – Turbodiesel, schätzte Eckstein, mindestens 600 PS. Oben auf der Wanne war ein Scheinwerfer montiert. Der flammte jetzt auf. Der Fahrer lenkte das Gerät durch eine Schilfgürtelzunge, um den Test zu erschweren. – Der Mond stand rund hinter dem Schilf. Eckstein hatte als Major auch Einzelausbildung an der Akademie der Bundeswehr genossen. Dort lehrte man Strategie und Taktik. – Für irgendeine taktische Maßnahme war es zu früh. Von drei Bedingungen stimmten nur zwei. - Es gab das Schilf und den Mond, aber die Grenze war noch weit entfernt. Hier würden sie ihn schnell kriegen. Er verschob also seinen Absprang. Der Wagen drehte seine Runde hinaus auf den See, an der mit Bojen gekennzeichneten Grenze entlang. Immer wieder tauchten kahle Inselrücken aus dem schwarzen Wasser auf. Bald machten sie kehrt und erreichten gegen 23.00 Uhr wieder das Testgelände. „Ihre Meinung?“ fragte der Testingenieur. „Beachtlich“, sagte Eckstein. Er war beeindruckt. Das Ding hatte eine Menge hervorragender Eigenschaften. Es bewegte sich im Sumpf wie auf der Straße und war manövrierbar wie ein Panzer. Aber, dachte Eckstein, sie karren dich nicht durch die Gegend, um dir Rüstungsgeheimnisse zu verraten. 97
Die nächste Fahrt mit einem Zwölfrad-Modell führte zu weit westlich zwischen den flachen Inseln hindurch. Die dritte Fahrt war rasch beendet, denn der Motor bekam Wasser und fiel aus. Das Testfahrzeug mußte von einem Bergungspanzer abgeschleppt werden. Dann dauerte es endlos. Es ging schon auf Mitternacht. Der Mond sank immer tiefer ins Gewölk. Der Eckstein zugeordnete Ingenieur brachte ihm einen Becher Tee. Wegen der Kälte hatte man ihn mit Wodka aufgepeppt. „Noch zwei Fahrten, wenn wir die Wagen klarbekommen. Der Einbau der Meßgeräte nimmt einige Zeit in Anspruch.“ „Warum machen Sie es bei Nacht?“ fragte Eckstein. „Die Österreicher haben Ferngläser.“ „Sie sind neutral.“ „Aber nirgendwo auf der Welt gibt es eine Stadt mit mehr Agenten als Wien.“ „Und Berlin.“ „Wien liegt näher.“ Lautsprecheraufrufe dröhnten. Die Motoren eines Panzers wurden angelassen. Eckstein kletterte hinauf. Der Panzer war komplett, bis auf Turm und Kanone. Statt dessen hatte man den Wagen mit Betongewichten beschwert. Sie standen im offenen Rund. Der Panzer rasselte los, hinein in die dicke Brühe. Sie spritzte meterhoch. Der Fahrer schaltete herunter, die Ketten wühlten. Der Panzer nahm Kurs Seemitte. De mnach auf die Grenze zu. „Wollen Sie mal fahren?“ fragte der Ingenieur. „Gern, warum nicht?“ „Jetzt gleich?“ Vom Fahrersitz in der Tiefe hatte Eckstein keine Chance. 98
„Im Schilfgürtel“, sagte Eckstein. Sie passierten die Inseln. Der Panzer schwenkte in das Schilfgebiet ab, nahm aber nicht jene Schneise, wo das Schilfrohr schon von anderen Fahrzeugen geknickt worden war, sondern eine unversehrte Stelle. – In der Ferne glaubte Eckstein licht zu sehen. Das müßte Apetlon sein – Österreich also – die Freiheit Ein Ruck. Der Motor starb ab. Der Fahrer ließ an, aber der 60-Tonnen-Koloß hatte sich festgefahren. Sie schwenkten den Scheinwerfer zur linken Seite. Alle waren sie mit dem Kettenlaufwerk beschäftigt. Der Motor nagelte laut. In diesem Moment, da niemand auf ihn achtete, hechtete Eckstein ins Schilf. Er kam flach auf. Die scharfen Blätter zerschnitten ihm Gesicht und Hände. Atem holen, hoch und weiter. Es ging verteufelt schwer. Der Schlick saugte seine Stiefel fest. Er kam ungefähr sechzig Schritte weit, ehe sie seine Flucht bemerkten. – Die Russen schwenkten den Scheinwerfer herum. – Eckstein hastete weiter. Sie riefen etwas hinter ihm her. Dann schössen sie. Die Kugeln sirrten und fetzten um ihn herum. Er fühlte einen Schlag am Schulterblatt. Nun warf er sich hin, vorsichtig, damit sich das Schilf nicht bog. Sie schössen auf jede Bewegung im Röhricht. Der Scheinwerfer blieb in der Richtung stehen, wo Eckstein lag. Er kroch, robbte, durch Wasser, durch Dreck und faules Schilf. Bald hörte er sie kommen. Als sie schon sehr nahe waren, fiel noch ein einzelner Schuß. Ganz in seiner Nähe. Der Schuß traf Glas. Das Scheinwerferlicht ging aus. Eckstein hörte die Russen fluchen. Sie teilten sich und suchten ihn mit Taschenlampen. Er arbeitete sich weiter 99
nach Osten. Es kostete all seine Kraft. Er ermüdete. Doch es wurde flacher, der Grund ein wenig fester. Schließlich kam er an eine Stelle, wo man das Schilf abgeerntet hatte. Der Mond stand jetzt tief in den Wolken. Ecksteins Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Er sah etwas. Es richtete sich auf. – Ein Mann. Er hockte in einem halbversenkten Faß, wie es Entenjäger als Ansitz benutzen. „Eckstein!“ rief er halblaut. „Eckstein!“ „Hier.“ Eckstein stürzte und versank beinah im Sumpf. Der andere war im Nu bei ihm, drehte ihn um, packte ihn unter den Schultern und zog ihn aufs Trockene. „Wer sind Sie?“ „Später“, sagte der Mann, der auf Eckstein gewartet hatte. Bald darauf saß Eckstein in einem MercedesGeländewagen. Seine Wunde war gereinigt und ve rsorgt. Der Major hatte seinen Retter erkannt. „Sie, Oberst Urban?“ „Im Handschuhfach sind Whisky, Zigaretten, Schokolade.“ „Danke, ich muß erst mal alles in die Reihe bringen.“ Urban fuhr mit Allradantrieb durch die vom Regen matschigen Uferwiesen zu einem Wäldchen und zur Straße. Der nächste Ort war wirklich Apetlon. Reste Ungarns im Burgenland mit hohen Ziehbrunnen wie in der Pußta. „Wohin?“ fragte Eckstein. „Erst mal nach Wien.“ „Das war kein Zufall.“ „Nein. Man ließ Sie entkommen.“ „Und schoß scharf hinter mir her?“ „Nun, die unteren Dienstgrade pflegt man in höhere 100
Strategien nicht einzuweihen.“ „Wer hat das arrangiert?“ „Wir nahmen nur einen Kopftausch vor“, erklärte Urban. „Das heißt, wir ließen zu, daß die Russen, vielmehr der KGB, einen Terroristen aus einem unserer Gefangenentransporte herausholte. So wäscht eine Hand die andere.“ „Hände“, bemerkte Eckstein, „wäscht man nur, wenn sie schmutzig sind. Wenn hier jemand Dreck an den Händen hat, dann bin ich es. Niemand war verpflichtet, mich herauszuhauen.“ „Dann bewerten Sie es um so höher, Major.“ Sie fuhren durch die Nacht, kamen nach Neusiedl und bald auf die belebte Hauptstraße nach Brück. „Verstehe ich nicht“, sagte Eckstein immer wieder. „Ich versteht einfach nicht.“ „Es ging uns nicht um die CIA-Agenten. Zumal wir erfuhren, daß alle tot sind. Also blieben nur Sie übrig. Es war eingefädelt, und wir zogen es durch.“ „Ich sah nur, wie sie diesen Harbor erschossen“, erklärte Eckstein. „Woher wissen Sie, daß es Harbor war?“ „Er trug eine unserer Jacken.“ „Sie trugen alle die gleichen Jacken?“ Eckstein betätigte den Reißverschluß. „Das da ist die Jacke von Commander Costas.“ „Verwechselt?“ Eckstein nickte und brach einen Riegel von der Schokoladentafel. „Das mag noch Zufall gewesen sein“, sagte er. „Aber daß die Russen es nicht entdeckten, das wundert mich.“ „In der Jacke?“ „Sie haben sie zerlegt und wieder zusammengesetzt.“ „Fanden Sie denn etwas?“ Eckstein war nicht sicher. 101
„Ich ging davon aus, und es gibt Hinweise dafür, daß Commander Costas seine Jacke Harbor übergeben sollte. Es kam nicht dazu. Aber mit der Jacke sollte eine Botschaft weitergeleitet werden. Vielleicht ist sie im Futter versteckt.“ Urban hatte das Gefühl, daß dies wieder ein Schritt in Richtung auf die Wahrheit sein könnte. „Lassen Sie das Futter mal sehen.“ Eckstein öffnete die Jacke. Es war ein ganz normales Futter, kleingemustert, Dunkelbraun auf Hellbeige. Urban prüfte den Stoff zwischen den Fingern. „Eingewebt oder gedruckt?“ „Eher gedruckt.“ „Das Muster mißfällt Ihnen?“ „Unter einem bestimmten Blickwinkel, bei schrägem Licht, erscheinen Zahlen, Ziffern und Buchstaben.“ „Ergeben sie einen Sinn?“ „Für mich nicht erkennbar.“ „Hatte Ihre Jacke das gleiche Futter?“ „Das gleiche wohl, nicht dasselbe. Ich bin kein Experte, aber ich glaube, man wollte Harbor etwas übermitteln. Wozu sonst der Treff mit Harbor in der Steppe?“ Urban schaute auf die Uhr. „In einer Stunde sind wir in einer Wohnung in der Wiener Altstadt. Major Eckstein, wenn Sie recht haben und es wirklich etwas gibt, würde das viel erklären.“ „Und einen Teil meiner Schuld abzahlen“, ergänzte der Ex-Major. „Ich schenke Ihnen die Jacke.“ „Danke“, sagte Urban. „Ich wollte schon immer etwas so Elegantes.“
In der Wohnung in der kopfsteingepflasterten Gaslaternengasse stellte Eckstein sich unter die Dusche. Urban reinigte derweil den italienischen Jagdparka 102
und schnitt sorgfältig das Futter heraus. Mit viel Phantasie konnte auch er das System im Muster erkennen. Während das Futter auf der Heizung trocknete, telefonierte er. Als Eckstein in einem zu kurzen Leihbademantel herüberkam, war Urban schon im Aufbruch. „Muß noch einmal weg.“ Eckstein sah, daß das Parkafutter separiert war. „Hat der BND hier ein Labor?“ „Nein, aber ich kenne einen Mann, bei dem versuche ich etwas. Ich stelle eine Fotokopie des Musters her, und die Kopie faxe ich nach Pullach.“ „Warum bringen Sie nicht das Original hin, Oberst?“ „Wir wären frühestens heute abend dort. Ein bewährtes Geheimdienstprinzip lautet: Informationen so schnell wie möglich weiterleiten, sie nie eine Minute länger als nötig bei sich behalten.“ „Die Geheimdienstleute sind alles Verrückte.“ „Vielleicht muß man verrückt sein, um die Tätigkeit der unglücklichsten und verzweifeltsten Gestalt altgriechischer Stories nachzuahmen.“ „Sie meinen Sisyphos, dem der zum Berg gewälzte Stein immer wieder ins Tal rollt.“ „Neben Sisyphos gibt es noch ein paar andere“, bemerkte Urban. Er blieb knapp eine Stunde weg. Als er wiederkam, hatte er Zivilklamotten für Eckstein dabei. Hose, Hemd, Pullover und einen Trenchcoat. „Das Telefax ist raus“, sagte er und versteckte das inzwischen trockene Jackenfutter in der Wohnung. Beweismaterial galt es sorgfältig zu sichern. „Wo kann man hier pennen?“ fragte Eckstein. „Im Frühzug nach München“, schlug Urban vor. „Was? Jetzt sofort?“ „Ich rufe ein Taxi.“ 103
„Ist das nicht übertrieben? Ich schlafe im Stehen ein. Ich bin total fertig, Oberst.“ Urban packte ihn bei der Schulter und sprach einige passende Worte. „Hören Sie zu, Major Eckstein. Wir befinden uns hier in einem neutralen Land. Wenn die Österreicher Wind von der Affäre bekommen, ist die Hölle los. Also müssen Sie so schnell wie möglich verduften. Ich will Sie nicht stehen lassen wie einen Schokoladenweihnachtsmann auf der Herdplatte, aber Sie sind hier ein Risiko. Also ab in die Heimat!“ „Ohne Papiere?“ „Steckt alles im Mantel. Paß, Geld, Fahrkarte.“ Urban rief ein Taxi. „Es ist in drei Minuten da“, sagte er. Eckstein reichte Urban stumm die Hand und ging. Vom Fenster aus sah Urban ihn das Haus verlassen, einsteigen und wegfahren. Das erleichterte ihn halbwegs. Ganz zufrieden würde er erst in vier Stunden sein, wenn der Schnellzug bei Salzburg die Grenze überquerte. Er saß da und hatte Kopfhämmern. Es war von der Sorte, die man mit nichts wegbekam. Nicht mit Bourbon, nicht mit einem Guß kalten Wassers, nicht mit Koffein, nicht mit ruhig daliegen. Er faßte in die äußere, obere Sakkotasche. Im Plastikstreifen steckten noch zwei weiße Lollies unter der Folie. Er lutschte eine der Erfindungen des Herrn Tomapyrin. Seine Perlen schmeckten bitter. Aber süße Medizin hatte noch nie geholfen. Man müßte, dachte er, diese Großapotheker mal fragen, ob sie schon von Erdbeer- oder Himbeergeschmack gehört haben oder doch wenigstens von einem Duft nach Tabak mit Rum, damit Kinder nicht davon naschten. – Egal, das Ding half. Aber dann ging sein Telefon. Und was er hörte, gab 104
ihm das Gefühl, als würde er nach einer Beinamputation über die Zugspitze hetzen. 12. Hübsch war sie. Aber gewiß auch bodenlos schlecht Legen wir unsere Pfunde zusammen, dachte Urban und ließ Sonja Titow, genannt Pearl, herein. – Wenn sie noch eine gute Begründung für ihren Besuch hatte, dann sollte es ihm recht sein. Er half ihr aus dem nerzgefütterten Popelinemantel. „Such dir eine Platz. Einen Drink?“ „Wodka.“ „Mit?“ „Mit ohne.“ Sie saß da, Beine hoch übereinandergeschlagen, dunkle Strümpfe, Rock über dem Knie, Kettchen um die linke Fessel, hochhackiger, krokolederner Pumps. Sie legte Wert darauf, sich zu schmücken. Die Perlen an der goldenen Halskette nahm sie spielerisch zwischen die Zähne, die einem HollywoodDentisten als Vorlage hätten dienen können. „Was zu knabbern?“ fragte Urban. ,,Danke, davon habe ich genug.“ „Wer schickt dich? Die CIA?“ „Sam Creech, dieser bescheuerte Kanake.“ In diesem Punkt waren sie einer Meinung. Jetzt noch eine Übereinstimmung, dachte Urban, und ich fange an, sie zu mögen. „Und dein Auftrag?“ Sie antwortete ohne Zögern. „Irgendwie brachten sie heraus, daß Eckstein die Flucht ergriff.“ Urban rechnete. „Moment mal, das ist… kaum acht Stunden her.“ „Sie wußten es vorher. Sie hören doch die Flöhe husten.“ 105
„Sie konnten es sich ausrechnen“, räumte Urban ein. „Nur Eckstein blieb übrig, und ich fuhr nach Wien. Trotzdem müssen sie über exzellente Quellen verfügen.“ Sie bewegte die Schultern, als wolle sie ihre Muskeln lockern. „Dich quält ja nur, daß sie besser sein könnten als der BND.“ Er überhörte das. Nutzlose Diskussionen führten nicht weiter. „Eckstein ist unterwegs nach München“, erklärte er nicht ohne Genugtuung. „Es geht nicht um ihn“, bemerkte sie abfällig. „Um was dann?“ Sie sagte es so ahnungslos wie ein Kind, das zu Kirschen Wasser getrunken hatte und die Wirkung nicht kannte. „Um seine Jacke.“ „Augenblick bitte. Um wessen Jacke?“ „Frag mich nicht, was es damit auf sich hat“, bat sie. „Sie wollen die Jacke zurück. Vielleicht ist darin etwas enthalten.“ „Es gab vier davon.“ „Eine trug mein Vetter“, zählte sie auf. „Er ist tot. Er sollte die Jacke von Costas übernehmen. Costas, heißt es, sei ebenfalls draufgegangen. Ebenso Lewman.“ „Wurden sie etwa in ihren Jacken beerdigt?“ Sie agierte verzweifelt mit den Händen. „Sie sagen einem nie etwas. Oder immer nur das, was man unbedingt wissen muß. Bring uns die Jacke von Eckstein, hieß es, oder vernichte sie. Vielleicht ist in allen Jacken etwas.“ Urban fand das alles höchst erstaunlich. „Eckstein hat in der Tat die Jacke von Costas.“ „Na bitte.“ 106
„Na bitte was?“ „Dann hatte Greech also recht.“ „Aber woher, zum Teufel, bezieht er seine Informationen?“ Sie stand auf, schaute auf die Uhr, ging zum Kamin und wärmte die Hände am Heizstrahler. „Lädst du mich zum Frühstück ein?“ fragte sie. „Gern. Frühstück ist ja kein Dinner.“ „Frühstück kann dieselben Konsequenzen nach sich ziehen wie ein Abendessen. Manche mögen es morgens sogar besonders gern.“ Er kam wohl nicht darumherum. Aber schon wechselte sie wieder das Thema. „Wo ist die Jägerjacke?“ Urban ging ins Bad, holte sie und warf sie ihr zu. Pearl fing sie auf, tastete sie ab und begann sie zu untersuchen. „Da fehlt ja etwas.“ „Nur das Futter.“ „Wo ist es?“ „Frag den Iwan.“ „Merde!“ Sie benutzte den französischen Ausdruck für Mist. Egal, ob es konsistenter Mist oder flüssiger war. Enttäuscht und nachdenklich ging sie durch die Zimmer, so als suche sie etwas. Dann hatte sie offenbar einen Entschluß gefaßt. Sie blieb stehen und legte die Hand an die Gürtelschließe ihres Rockes. „Gehn wir vorher frühstücken oder nachher?“ „Ich habe auch was im Kühlschrank.“ Sie schleuderte die Schuhe weg, öffnete die Bluse, den Reißverschluß, Sie glitt mit den Bewegungen einer sich häutenden Kobra aus dem Rock, und sie trug keine liebemordenden Strumpfhosen, sondern Strümpfe mit 107
Strapsen. Damit hatte er, offen und ehrlich, beinahe gerechnet. Die schwarzen Strapse und der schwarze Spitzenslip machten ihn ungeheuer an. „Vorher, okay?“ „Okay, vorher“, sagte er.
Sie war wie eine feuchtgewordene Atombombe, die ihre gewaltige Sprengkraft auf mehrere Verpuffungen ve rteilte, mit ziemlich ermüdendem Fallout. – Woher das kam, wußte der Teufel. Sie brachte alles mit, was zu einer leidenschaftlichen Begegnung gehörte. Den Körper mit der richtigen Topographie, mit Buchten, Hügeln, Senken und Schluchten. Alles war wie vom Erfinder des Himmels und der Erden ausgedacht. Und dumm war sie auch nicht. Womöglich dachte sie an etwas anderes. Vielleicht lag es auch an Urban. Sie lösten sich voneinander, lagen da, starrten zum Barockstuck an der hohen Decke. „War nicht berauschend, wie?“ fragte Pearl. „Gefühlsmäßig nicht.“ „In der körperlichen Liebe gibt es nur ein Kriterium. Das Gefühl. – Woran lag es?“ „Du gefällst mir ja, Madame.“ „Du mir auch, Urban.“ „Daran kann es also nicht liegen.“ „Und alles hat prima funktioniert. Von den Abmessungen her passen wir zusammen wie Nuß und Schale. Wir sind beide nicht ohne… na ja, ohne, du weißt schon, Feuer und so, Sinnlichkeit, Wollust.“ „Weiß der Teufel“, sagte er. „Ich hatte auch nicht das Gefühl, mit meinem Onkel im Bett zu liegen.“ 108
„Immerhin schon etwas“, räumte er ein. „Wie war ich? Wie würdest du es klassifizieren?“ Urban zögerte und steckte sich eine MC an. Sie wollte es unbedingt wissen. „Nicht besser als eine Nutte vom laufenden Meter“, sagte er. Daraufhin holte Pearl aus und wollte zuschlagen. Er fing ihren Arm ab. Wütend verließ sie das Bett. Aber sie kehrte zurück, bückte sich und zog zwischen Laken und Matratze etwas heraus. „He, was’n das?“ rief sie erstaunt. Sie hatte das Jackenfutter gefunden. Er tat unschuldig. „Nimm es.“ „Du hast mich belogen“, zischte sie, „von Anfang an, von vorn bis hinten.“ „Also was mein Gefühl betrifft“, sagte er, „das war echt.“ „Warum hast du das Futter versteckt?“ Er rauchte und schielte sie an. „Es ist brisant, Madame.“ ,,Das weiß ich.“ „Warum fragst du dann? Sollte ich es offen herumliegen lassen?“ „Es gehört uns“, beharrte sie. „Wer ist uns?“ „Das weißt du.“ „Na schön“, sagte er. „Nimm den Fetzen, und geh dann. Oder laß es, und bleib hier.“ Sie steckte das Futter zurück, wo es gelegen hatte, und blieb. Sie kroch zu ihm unter das Laken. Die zweite Runde war in Ordnung. Die zweite Aufführung war immer besser als die Premiere. Es war nicht mehr vom laufenden Band, sondern höchst individuell. Sie zeigte 109
sich erfinderisch. Das machte auch ihn kreativ. Danach wirkte sie entspannt. Offenbar dachte sie nicht mehr über das nach, was sie beim erstenmal abgelenkt hatte. Doch dann verließ sie ihn unvermittelt. Sie duschte, kam angezogen zurück und nahm das Jackenfutter an sich. „Ich gehe“, entschied sie. Er winkte lässig. „Wohin du willst.“ „Wiedersehen in der Hölle.“ Er konnte nur lachen. „Nicht mal dort.“ „Wir kommen doch alle in die Hölle.“ „In die Hölle“, sagte Bob Urban, „kommt heute ke iner mehr. Seit Vietnam und Angola ist die Hölle geschlossen, denn sie schreckt keinen mehr.“ Sie schlug die Wohnungstür hinter sich zu. Ihre Absätze stöckelten die Treppe hinunter. Urban stand auf und trat ans Fenster. Pearl hatte unten einen Kleinwagen geparkt, einen Kleinstwagen, einen Polo mit Steilheck. Sie sperrte auf, stieg ein und fuhr weg, Richtung Ring. Urban ließ den Vorhang fallen. Da sah er einen Wagen. Er löste sich weiter unten aus der Reihe parkender Fahrzeuge. Ein älterer, schwarzer Mercedes mit ve rschmutzten Kennzeichen. Es handelte sich um weiße Schrift auf schwarzem Grund. Es konnte also auch ein Italiener sein. Im Wagen saßen zwei Männer mit Hüten. Kein Zwe ifel, Pearl wurde verfolgt. – Er würde gelegentlich die CIA verständigen müssen. Aber vorher rief er in Pullach an.
110
13. Die studierten Informatiker von der kryptologischen Abteilung des BND hatten die Zeichen auf dem Jackenfutter enträtselt. „Nicht analysiert, nur enträtselt“, erklärten sie Urban. Worin die Einschränkung bestand, erfuhr er dann lang und breit. „Es handelt sich um ein Computerprogramm“, führte der Chef-Systemanalytiker aus, „in der Computersprache C wie Cäsar.“ „Die ist nicht für Anfänger“, bemerkte Urban. „Zunächst kommt eine Reihe von Paßwörtern, die den Zugang zu fremden Computern und Rechensystemen öffnen.“ „Dem Eindringling?“ fragte Urban, um Klarheit zu gewinnen. „Ungefähr einige hundert Paßwörter.“ „Schön, damit kann er über Datenfernleitungen in fremde Computer eindringen. Und was dann?“ Der Assistent des Computerchefs sagte: „Er kann Material und Daten abrufen. Er kann aber auch Verwirrung stiften, indem er Daten löscht oder die Maschinen sich zu Tode rennen läßt.“ „Nennt man solche computerzerstörenden Programme nicht Viren?“ „Oder Dämonen. In unserer Sprache.“ Als promovierter Elektroingenieur hatte Urban sich auch mit Datenverarbeitung und Computern befaßt. Er war einigermaßen auf der Höhe, aber weit davon entfernt, Experte zu sein. Er wußte, wie man mit so einem Computer umging, wie man ihn einschaltete, bediente, wie man dies und jenes abfragte und wie man Pro111
gramme schrieb. Aber nicht viel mehr. Es war auch nicht sein Job. Er hatte auch gehört, daß es Programme gab, die sich in einem fremden System wie Krebs ausbreiteten, Programme, die gegen jede Sicherung die Rechner lahmten und die Speicher leerten, indem sie sich selbst auffraßen. Computerkannibalismus. „Damit könnte man wo eindringen?“ wollte er wissen. „Da es sich um ein amerikanisches System handelt, wohl vorwiegend in die Computer der Forschungsinstitute, des Verteidigungsministeriums Pentagon, der Atom-Entwicklungszentren, der Luftwaffenbasen, der Radar-Stationen, der Marine, der U-Boot-Waffe, der Computer im Weißen Haus, im State Department und, und, und. Bist du erst mal drin, gibt es keine Grenzen.“ „Der Zerstörung.“ „Mit diesem exquisiten Programm zweifellos.“ Urban war von dieser Sachlage zwar nicht erschüttert, aber doch einigermaßen geschockt. Trotzdem versuchte er auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. „So ein Programm kann nicht jeder schreiben, oder?“ „Nur ein Genie. Eine Reihe von Genies natürlich erst recht. Und vor allem können es Geheimdienstexperten. Die Dienste wie CIA oder NSA bestehen nur aus solchen Leuten.“ „Das Programm wurde demnach in den USA geschrieben.“ „Zweifellos.“ „Man wollte es in die UdSSR schmuggeln.“ Die Experten blickten sich kurz an und stimmten in ihrer Auffassung überein. „Gott sei Dank!“ „Gott sei Dank insofern, als der Angriff offenbar gegen die vernetzten Computersysteme der Sowjetunion geplant war.“ 112
„Ein Angriff, der binnen kürzester Zeit – dazu reicht schon ein Wochenende – einfach alle Computer des Landes infiltrieren, verseuchen und unbrauchbar machen kann. Ein unvorstellbarer Schaden für Rüstung, Forschung und Abwehr.“ Die beiden zeigten zumindest verdutzte Gesichter, als sie die Tragweite darlegten. Es sprudelte regelrecht aus ihnen heraus. „Es sind nur Nullen und Einsen, Plus - oder Minuszeichen, aber tödliche Infektionen für jede Art von künstlicher elektronischer Intelligenz.“ „Der Witz daran ist, die fremden Computer zu öffnen.“ „Die Viren sind maßgeschneidert. Sind sie mal drin, flitzen sie von Rechner zu Rechner, klonen sich, ve rvielfältigen sich endlos, hüpfen ding-dang-dong mit Lichtgeschwindigkeit in alle Maschinen, Schaden in Milliardenhöhe – Rubel.“ „Oder Dollar. Wo man das Verfahren eben anwe ndet“, ergänzte Urban. „Ja, oder auch Dollar.“ „Gibt es Schutz dagegen?“ wollte Urban wissen. Sie lächelten nur mitleidig. „Man behauptet es. Es gibt aber keinen Schutz. Man behauptet es nur zur eigenen Beruhigung. Sonst könnte man als Verantwortlicher nicht mehr schlafen. Aber eines Tages kommt gewiß der Superknacker und macht alle Computer fertig. Mit irgendeinem Wahnsinnsprogramm. Das ist dann der Tag Null.“ „Heute, da nichts mehr ohne Computer geht. Du kannst nicht mal einen Lutscher kaufen, ohne daß ein Computer damit zu tun hätte.“ Urban faßte zusammen. „Jedes System, das Datenübermittlung ermöglicht, kann also auch das Virusprogramm übertragen.“ 113
„Richtig. Vorausgesetzt, man hat Paßwort, Kennbyte und Viruskern.“ Urban lehnte sich gegen die Wand und schob die Hände in die Hosentaschen. „Niederschmetternd, Gentlemen.“ „Kommt darauf an, wer dieses Programm in die Hände kriegt, es lesen und benutzen kann.“ „Danke“, sagte Urban. „Noch Fragen?“ „Bin froh“, gestand Urban, „wenn ich nur die Hälfte verstanden habe.“ Gegen Abend rief Urban in Washington an. Sam Creech war nicht im CIA-Hauptquartier, sondern zur NSA nach Fort Mead in Maryland geflogen. Die National Security Agency verantwortete in den USA von Amts wegen die Sicherheit der Computersysteme. „Wann kommt er zurück?“ fragte Urban. „Schwer zu sagen, Sir.“ Urban kannte die Prestigekämpfe, die stets zwischen NSA und CIA ausgetragen wurden. Es ging um Zuständigkeiten, um Geld, Einfluß und Macht. Sie mochten sich so gern wie rivalisierende Banden. Als dritter Konkurrent kam noch das FBI hinzu. Wenn also ein CIA-Direktor sich zu einem NSADirektor begab, dann war eine giftige Suppe am Kochen. „Er soll mich anrufen.“ „Kann ich etwas ausrichten, Sir?“ fragte Greechs Assistent. Urban überlegte. Warum sollte er sich die Sache nicht vom Hals schaffen? Dann war er endlich und endgültig raus. „Ja, bestellen Sie ihm meine Grüße“, sagte er, „und 114
meine Gratulation. Nun bekommt er ja, was er vermißt.“ „Sie meinen was, Sir?“ „Das Parkafutter, bedruckt mit diesen elektronischen Schweinereien. Gott möge verhindern, daß sie je in die Hände von Leuten geraten, die damit umgehen können. Was immer Sie damit vorhatten, den Plan soll der Te ufel holen.“ Offenbar verstand der Assistent kein Wort, versprach aber, alles übermitteln zu wollen. „Sie haben diesen Sprengstoff mittlerweile ja wohl in Händen.“ „Das ist mir nicht bekannt, Sir.“ „Ich dachte, Sie seien Greechs rechte Hand.“ „Er weiht mich nicht in alles ein, Sir.“ „Schon jemals den Namen Pearl gehört?“ „Sie meinen unsere Mitarbeiterin in Paris?“ Wenigstens das gab er zu. „Ist sie wohlbehalten in Washington eingetroffen?“ erkundigte Urban sich. „Ich habe sie nicht gesehen, Sir.“ „Aber sie ist da.“ „Davon ist mir nichts bekannt, Sir.“ „Woher auch? Sam Creech weiht Sie ja nicht in alles ein. Na dann, schönen Gruß von mir.“ „Wird erledigt, Colonel.“ Urban legte auf. Plötzlich ballte sich seine Rechte zur Faust. Er hatte es ihr nicht befohlen. Es war ein Muskelreflex. Sie blieb geballt wie die Faust eines Boxers, und er hatte Mühe, sie zu öffnen. Ganz ruhig bleiben. Bloß keine Emotionen hochkommen lassen. – Aber eines war klar. Das Spiel bestand zur Hälfte aus falschen Karten. Es ging nicht nur um den T-88. Aber um was ging es? – Das KolumbusProblem nannte man das. Man schwamm auf dem Meer 115
und wartete darauf, daß die Küste auftauchte. Aber statt der Küste kamen Nebel und schwere See. Sturm ve rwehte und trieb einen hierhin und dorthin. Man verlor die Orientierung. Ab und zu riß der Himmel auf. Man sah einen Stern, nahm Peilung und kannte für kurze Zeit den Ort, an dem man sich befand. Aber die Küste kam nicht. Sie blieb unsichtbar. Aus Erfahrung wußte Urban, daß keine Küste für ewig unsichtbar blieb. Einmal tauchte sie auf. Fragte sich nur, ob der Mann auf dem Schiff dann noch in der Lage war, sie zu erkennen und an Land zu gehen. 14. Sie reisten getrennt nach Kanada ein. Mit französischem Paß flog Pearl von Paris nach Montreal. Harbor startete in Amsterdam mit der KLM und landete in Ottawa. Vom Airport aus fuhr er mit dem Taxi in die City und verließ es in der Rue Richelieu. Dort betrat er das Postamt, holte einen Brief unter Kennwort Herzblatt ab, öffnete ihn und nahm eine Plastikkarte heraus. Vorn Postamt hatte er nur wenige hundert Meter zur Parkgarage. Sein Gepäck belastete ihn wenig. Es bestand aus einer Reisetasche mit dem Nötigsten. Am Parkhausschalter legte er die Plastikkarte vor. Die Angestellte schob sie in den Kassenschlitz und las die Gebühr ab. „Macht sechzig Dollar, Monsieur.“ „Was? So viel?“ ,,Der Wagen steht seit zehn Tagen hier.“ Harbor bezahlte, bekam eine runde Blechscheibe, mit der das Auto durch die Sperre kam, und wollte gehen. Doch dann drehte er sich noch einmal um „Welches Stockwerk war das doch wieder?“ 116
„Neuntes, Monsieur.“ Er sagte ,merci’, denn sie sprachen hier alle Französisch. Mit dem Lift fuhr er hinauf und überflog die Kennzeichentafeln der Wagen. Es war ein grüner Chevrolet BigBlazer, der geländegängige mit Allradantrieb. Harbor strich um den Blazer herum und schaute durch die Fenster nach innen. Der Stauraum hinter den Sitzen war vollgepackt und mit einem Plaid abgedeckt. Darunter befanden sich Ausrüstung, Lebensmittel und Waffen. Man wußte nie, was einem in der Wildnis begegnete. Harbor tastete die Kotflügelunterseiten ab und die vordere Stoßstange. Rechts fand er nichts, links auch nichts. Dann endlich. Es war am Nummernschild befestigt. In einer Folie steckten ein flacher Magnet und zwei Autoschlüssel. Er sperrte auf, rückte sich den Sitz passend und ließ an. Der Vergaser war wohl halb leer. Der Motor kam erst beim zweiten Versuch. Doch dann bullerte der Achtzylinder los. Harbor ließ ihn eine halbe Minute laufen. Nun drückte er den Automatikhebel am Lenkrad auf D. Der typische Wandlerdruck setzte ein. Der schwere Blazer drängte nach vorn. Gefühlvoll einschlagend, mit dem Fuß auf der Bremse, rangierte Harbor ihn aus der Parklücke über die schmalen Rampen abwärts zur Sperre. Er steckte die Blechscheibe in den Schlitz. Der Schlagbaum ging hoch. Er war draußen. Harbor kannte sich in Ottawa nicht aus. Aber die Beschilderung war gut. Mühelos fand er den Zubringer zur Schnellstraße nach Montreal. Zweihundert Kilometer oder drei Stunden. Er hatte Zeit. Jetzt kam es auf Minuten nicht mehr an.
117
In einem Bistro an der Straße Nr. 66, die von Montreal quer durch die Wildnis der Provinz Quebec führte, durch die endlose Wald-, Berg- und Seenlandschaft in die Einsamkeit der Jäger, Trapper und Fallensteller, traf er seine Cousine Pearl. Sie stand an der Bar, vor sich ein Pastrami-Sandwich und eine Tasse Kaffee. Er trat auf sie zu und umarmte sie brüderlich. „Du wartest schon lange, Darling?“ „Nein, nicht allzulange.“ „Bei dir alles klar?“ „Und bei dir?“ Er hielt den Daumen nach oben. „Wollen wir los?“ „Gern, bin gleich fertig.“ „Muß noch nachtanken. Bis gleich, Pearl.“ Sie waren vorsichtig. Sie nannten sich nicht Serge und Sonja, sondern bei den Namen, die ihnen die CIA verpaßt hatte. Harbor tankte und füllte alle Kanister. Als er bezahlte, sah er Pearl kommen. Sie war zweckmäßig und trotzdem elegant gekleidet. Gutgeschnittene helle Jeans steckten in gelben Boxkalfstiefeln. Der Pullover saß stramm. Die Lederjacke hatte sie umgehängt, die Reisetasche am Griff. Sie warf sie nach hinten in den Blazer und stieg ein. Harbor fuhr los. „Es fängt also an“, sagte sie. „Es läuft bereits.“ „Stimmt. Eigentlich begann es in Wien.“ „Für mich schon in Moskau.“ „Du giltst für tot, Harby.“ „Platzpatronen.“ Er lachte. „Sie haben keine Ah118
nung.“ Ganz sicher schien Pearl nicht zu sein. „Dieser Oberst Urban ist ein schlauer Bursche.“ Harbor winkte ab. „Die Germans halten sich raus. Ist nicht ihr Bier.“ „Aber Greech wartet auf mich.“ Er nahm ihre Hand. Das beruhigte sie, noch ehe er die Erklärung lieferte. „Man spielt Greech eine Information zu, daß sie dich geschnappt haben.“ „Wer?“ „KGB.“ „Normale Menschen drehen dabei völlig durch“, sagte sie. „Wir sind keine normalen Menschen.“ Pearl wußte, was sie zu tun hatte und wie es weiterging. Aber nur für die nächsten Tage und Wochen. Also fragte sie: „Und wenn alles vorbei ist?“ „Können wir uns natürlich nicht mehr überall blicken lassen“, befürchtete er. „Ich liebe aber Paris.“ „Wir verändern uns, lassen einige Zeit verstreichen, Gras darüber wachsen.“ „Danach brauchen sie uns nicht mehr. Danach sind wir Abfall. Sie treten uns in den Hintern.“ „Erst trete ich ihnen in den Hintern“, prahlte Harbor. Das mochte sie an ihm. Er war immer obenauf. „Okay“, sagte sie. „Du trittst sie in den Hintern, und ich helfe dir dabei.“ Sie hielten sich an das Tempolimit und brauch ten gut einen halben Tag, bis sie die siebenhundert Meilen hinter sich gebracht hatten. Sie tankten ein letztes Mal. Als es schon so einsam war, daß ihnen nur noch selten Fahrzeuge entgegenkamen, bogen sie in die Wildnis ab. 119
Durch diese Urzeitwälder kam man nur mit Allradantrieb und Stollenreifen. Sie hatten noch vierzig Meilen bis zu dem Blockhaus am See, das Pearls Großvater einst gehört hatte samt tausend Hektar Land ringsherum. Das Blockhaus verfügte über eine eigene Stromversorgung. Es hatte hohe Antennen, aber auch Telefonanschluß. Darüber hinaus gab es Funktelefon und Funkfernschreiber. Bei diesen Geräten handelte es sich allerdings um schwarze, unregistrierte Anschlüsse. Sie trugen die Ausrüstung ins Haus, die Lebensmittel und alles, was man für einen längeren Aufenthalt brauchte. Harbor warf den Dieselgenerator an, Pearl machte Feuer im Kamin. Sie waren perfekt aufeinander eingespielt. Pearl bereitete das Abendessen. Harbor tarnte den Blazer mit einer Plane und prüfte die Zündsätze, mit denen sich das Haus notfalls in die Luft jagen ließ. Dann ging er in den Keller. Hinter einer von einem Regal getarnten eisernen Tür lag der Raum, auf den es ankam. An seiner Längswand waren sechs Computereinheiten der Typen Sun OS-3 und Sun OS-4 aufgebaut. Auf der anderen Seite ein Supercomputer vom Typ IBM 309-600 E. Harbor nahm auf dem verchromten Rollsessel mit der schwarzen Lederpolsterung Platz – Hauptschalter ein. Er prüfte die Stromspannung und regulierte sie ein wenig herunter. Dann betätigte er die Einschalttaste. Erst gab er sich dem Computer gegenüber mit seinem Kürzel S-T-H (Serge Titow Harbor) zu erkennen. Der Computer akzeptierte ihn als den rechtmäßigen Benutzer. Eines der Bildschirmquadrate von 60 cm diagonal wurde hell. Damit kündigte es seine Betriebsbereitschaft 120
an. Harbor legte die Reinschrift der Computerbefehle aus dem Jackenfutter neben das Terminal und begann mit der schwierigen Prozedur. An diesem Abend blieb S-T-H nur eine halbe Stunde logged-on, wie es in der Fachsprache hieß, oder in den Computer eingeklinkt. Dann summte das Haustelefon. Pearl rief ihn zum Essen. Es gab eine kräftige Suppe, Steak mit Pilzen, Fruchtsalat aus der Dose. Dann Kaffee. „Alles in Funktion?“ fragte sie. „Sprengsatz, Relais, Fußschalter, alles.“ „Ich meine die Geräte.“ „Bis jetzt“, sagte er, „bestens.“ Sie hörte die Einschränkung. „Und morgen, übermorgen und später?“ „Wenn sie uns finden, fliegen eine halbe Million Do llar an Elektronik in den Wald.“ „Niemand sucht und findet uns.“ „Du kennst mich.“ Er steckte sich eine Zigarette an. „Ich bin immer vorsichtig. Nie zu früh frohlocken. Den Vogel, der morgens laut zwitschert, holt abends die Katze.“ „Hier“, sagte sie, „gibt es nur Füchse und Lachse. Im Wald vielleicht ein paar Bären. Das ist alles.“ „Die Welt“, bemerkte Harbor ins Feuer starrend, „ist voll des Bösen.“ „Und wo stehen wir?“ wollte sie wissen. „Keine Ahnung“, erwiderte er. „Es ist wie vor einem Spiegel. Wo links ist, ist rechts, und wo rechts ist, ist links.“ Sie saßen da, tranken und hörten ein wenig Radio. Bald gingen sie zu Bett Vor ihnen lag nicht nur ein langer Tag. 121
15. „Wir im NATO-Verbund“, sagte der Ostchef der CIA, Sam Creech, „wir sind doch wie kommunizierende Röhrchen. Ob wir uns mögen oder nicht. Die eine Seite ist drin, die andere ist raus.“ „Ja, ich bin raus“, antwo rtete Urban. „Und wir stecken um so tiefer drin.“ Urban versuchte, mit seiner Frage den Punkt zu treffen. „Wie geht es Pearl?“ „Sie ist spurlos verschwunden.“ „Ihr habt sie gesucht?“ „Wir suchen sie noch. Wie war das in Wien?“ „Sie fahr weg. Mit Begleitschutz allerdings.“ Urban beschrieb den Mercedes, der Pearl gefolgt war. „Nicht unsere Leute“, versicherte Greech. „Wer dann?“ stellte Urban in den Raum. Aber im Grunde fand er es nicht so wichtig. „In Wien weiß doch jede Seite von der anderen Seite alles. Binnen weniger Stunden.“ Sam Greech fragte jetzt gezielt: „Hatte Pearl es bei sich?“ „Wenn Sie das Futter von Ecksteins Parka meinen, das mit den darauf versteckten Computerprogrammen, dann hatte sie es allerdings bei sich.“ „Was reden Sie da von Computerprogrammen?“ tat der Amerikaner künstlich erstaunt. Er war der geborene Heuchler und konnte wohl nicht anders. „Erstens“, sagte Urban, „sieht das sogar ein Blinder. Mich wundert nur, daß die Russen in Moskau nicht dahinterkamen. Zweitens habe ich das Stoffmuster kopiert und begutachten lassen. Es handelt sich vermutlich um ein Virusprogramm, eines, das die Computer von 122
innen heraus zerstört und unbrauchbar macht.“ Nun konnte Greech nicht mehr anders. Er mußte Flagge zeigen. „Okay, das ist zutreffend. Wir sind froh, daß die Russen es übersahen. Und weil die Chance bestand, die Eins-zu-Drei-Chance, daß Eckstein es hatte, sollte Pearl es zurückholen.“ „Oder zerstören.“ „Oder das.“ In Urban keimte schon wieder ein neuer Verdacht. „Ist es nicht so, daß es sich von Anfang an in Ecksteins Jacke befand?“ Darauf gab Sam Greech keine Antwort. „Uns hier fällt jedenfalls ein mittleres Gebirge vom Herzen, daß die Russen es nicht in die Hände bekamen.“ „Was hattet ihr damit vor?“ „Jetzt, nachdem die Operation scheiterte, kann ich das Geheimnis ja lüften“, antwortete Greech. „Harbor hat sich zum Computerfachmann ausbilden lassen. Er arbeitet in der technischen Zentrale, die die sowjetische Luftraumabwehr steuert. Von den Raketenbatterien um Moskau, dem Rechenzentrum der Weltraumbahnhöfe bis zu den neuen riesigen Radaranlagen in Krasnojarsk.“ Vor dem phasengesteuerten Tausend-Sender-Radar in Krasnojarsk hatten die Amerikaner ungeheuren Respekt. Dort konnte jede Interkontinentalrakete schon beim Start erfaßt werden, selbst alle Aktivitäten im Weltraum. Es war das neueste Superradar. – Aber es war von Computern abhängig wie der Mensch von seinem Gehirn. Und die sollte Harbor offenbar zerstören. „Das hätte“, verstand Urban, „ihre ganze Abwehrbereitschaft paralysiert.“ „Die Russen könnten sich unmöglich so schnell neue Computer beschaffen. Sie brauchten ja schon zehn Jah123
re, um sich die alten weitweit zusammenzustehlen. Ihre eigene Produktion entspricht der unseren aus dem Jahre siebzig. Deshalb ja auch das Embargo für westliche Mikroelektronik.“ Urban schien es, als sei Sam Greech erleichtert. Das hielt er jedoch für voreilig und unangebracht. Und er sagte es ihm auch deutlich. „Ein Superhacker sollte mit eurem Virusprogramm alle sowjetischen Computer dem Kannibalismus ausliefern.“ „Ja, sie sollten sich selbst auffressen.“ „Dann müßt ihr Pearl schnellstens finden.“ „Wir tun, was wir können.“ „Tut mehr. Angenommen, die Russen sind hinter ihr her, jagen ihr das Programm ab und drehen den Spieß um, indem sie eure eigenen Computer damit infizieren.“ Greech lachte kehlig. Aber es klang unecht. „Wir kriegen die Dame schon. Vielleicht fühlt sie sich verfolgt und hat sich verkrochen.“ „Oder sie ist schlauer als ihr alle.“ „Wie meinen Sie das, Dynamit?“ Man sah Sam Greech regelrecht durch den Draht lauern Urban formulierte seine Frage anders. „Seid ihr euch dieser Frau völlig sicher?“ „Pearl und Harbor sind seit einer Reihe von Jahren unsere Top-Agenten. Sie zeigten sich immer loyal und zuverlässig. Das wurde ständig überprüft.“ „Wenn man sie aber in Moskau umdrehte und ihnen half, bei euch zuverlässig und tüchtig zu erscheinen?“ „Sie meinen als Doppelagenten?“ „Im Dienst des KGB und nur pro forma für die CIA tätig.“ „Ausgeschlossen“, entgegnete Sam Greech. „In diesem Job mögen alle irgendwie anfällig sein. Aber die 124
beiden sind nicht wahnsinnig.“ Urban fühlte sich von diesem Mann nur aufgehalten. Er wollte das Gespräch beenden und nannte Greech einige weitere Verdachtsmomente. „Ich bekam von Seiten des KGB eine Warnung, mich aus der Sache herauszuhalten. Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem ich noch gar nicht eingestiegen war. Wie erfuhr Moskau so früh davon? – Ein paar Tage später in Paris, nachdem ich Pearl aufgesucht hatte, saß ein Mann in meinem Taxi. Er übermittelte mir, unterstützt von einer Makarow, die letzte Warnung seines Chefs und sorgte dafür, daß ich Paris verließ wie einer, den man abschiebt. – Woher wußte dieser Agent, daß ich in Paris bei Pearl bin, wenn er es nicht von Pearl selbst wußte? Und woher konnte Pearl so sicher sein, daß das Computerprogramm in Ecksteins Jackenfutter war? – Okay, man hat sie beauftragt, es zu suchen, aber sie arbeitete verdammt zielstrebig. – Vielleicht deshalb, weil der KGB in Moskau es nicht entdeckt hatte und man zu spät erfuhr, womit das Futter gespickt war. – Und woher wußte Pearl, daß Eckstein am Neusiedler See fliehen konnte?“ „Sie sind für mich einer von diesen verdammt Wahnsinnigen“, fluchte Sam Creech. „Sie auch, Greech, wenn Sie diese Argumente in den Wind schlagen, Bruderherz. Und vergessen Sie eines nicht: Die Leute im Mercedes, die Pearl von unserer Wohnung in Wien folgten, waren möglicherweise ein KGB-Begleitschutzkommando. Damit der Lady bloß nichts zustößt.“ „Mein Gott“, stöhnte der Amerikaner. „Die Vorstellung, sie könnten das Virusprogramm in unsere Rechner einspeichern, mein Gott! Eine Welt würde hier zusammenbrechen.“ Urban kam wieder zum Ausgangspunkt des Ge125
sprächs zurück. „Wie gesagt, ich würde Pearl suchen.“ „Wo denn, zum Teufel?“ „Überall dort, von wo aus man in eure Datenfernübertragungsnetze eindringen kann.“ „Unfaßbar.“ „Das ist die Küste“, erwähnte Urban. Doch Sam Creech verstand ihn nicht. „Welche Küste?“ „Die unsichtbare. Doch jetzt taucht sie am Horizont auf.“ Mit einem letzten Aufbegehren schrie Sam Greech: „Dann wäre Harbor ja Pearls Partner!“ „Er ist es.“ „Aber er wurde doch erschossen.“ „Wenn die Russen einen liquidieren“, bemerkte Urban, „insbesondere vor den Augen von Spionen, dann ist der noch lange nicht tot.“ Das war auch für den Mann der CIA zuviel. Er begann zu jammern. „Urban, helfen Sie uns, diesen Stall auszumisten, wenn Sie können.“ Urban legte auf. Er mochte nicht, und er konnte nicht Aber im Laufe des Abends überkam ihn die fürchterliche Gewißheit, daß es auch die NATO beeinträchtigte, wenn es dem Pearl-Harbor-Team gelang, die amerikanischen Computer zu zerstören. - Und noch etwas fiel ihm ein. Pearl hatte es einmal beiläufig erwähnt. Urban rief einen Kollegen beim kanadischen Geheimdienst an. 16. Der Kanadier war früher Eishockeyspieler gewesen und sah noch immer so aus. Er hatte ein kaputtes Nasenbein, 126
Narben an Kinn und Stirn und ein Kreuz so breit als trüge er Torwartpolster. Was seine Vorarbeit betraf, sparte Urban nicht mit Anerkennung. „Es war leicht“, sagte Jackson, „mit diesen Hinwe isen.“ „Ihr fandet das Refugium?“ „Der Einwanderer Leonid Titow hat es gekauft, als er nach zehn Jahren schwerer Arbeit seine ersten Dollars übrig hatte. Damals war das Land da oben noch billig. Man bekam einen See und tausend Acres Wald ringsum für weniger, als heute ein Auto kostet.“ „Er muß ein leidenschaftlicher Jäger, Fischer und Naturfreund gewesen sein“, ve rmutete Urban. „Nichts davon“, erklärte Jackson vom kanadischen Secret Service. „Das war damals die Tendenz bei Einwanderern. Sie hatten Angst, bei der nächsten Weltwirtschaftskrise wieder rausgeworfen zu werden. Sie kauften deshalb Land. Als Grundeigentümer fühlten sie sich sicher. Titow vererbte das Stück Land an seinen Sohn. Der baute die Hütte aus und vererbte sie seiner Tochter.“ „An Leonid Titows Enkelin Sonja Titow.“ „Diesem Bastardweib.“ „Nennen wir sie besser Wanderer zwischen zwei Welten.“ „Wie kamst du auf dieses Blockhaus?“ wollte der Kanadier wissen. „Hast du was mit ihr? Wollte sie mit dir in die Wälder fliehen?“ „Sie erwähnte einmal beiläufig die Hütte da oben. Es war nur so eine Idee von mir. Der Stein eines Hausbaukastens.“ „Gut gemauert“, sagte der Kanadier. „Wir brauchten nur die Grundbücher zu überprüfen.“ „In allen Distrikten.“ 127
„Wir nahmen uns zunächst die Distrikte im Umkreis von fünfhundert Meilen um Montreal vor.“ Sie saßen im überheizten Büroraum Jacksons und tranken Kaffee. Draußen ging der Regen in Schnee über. Der Kanadier trat an die Wandkarte. Mit dem Zeigefinger fuhr er von Montreal den Highway entlang, nahm eine Abzweigung, die bald in schmale Landstraßen überging. Dann machte sein Finger einen Sprung und deutete auf eine Kreuzung am Ufer eines der tausend Seen. „Hier.“ „Bist du sicher, Jackson?“ „Es ist die Katasternummer, und es muß dort sein. Wir sahen Rauch im Kamin aufsteigen.“ „En Flugzeug oder ein Hubschrauber?“ „Wir sind Profis“, erklärte der Major. „Wir schickten einen einmotorigen Aufklärer des WaldbrandBekämpfungsdienstes los. Auf dem See stellte er den Motor ab und segelte im Gleitflug über das Haus. Aus dem Kamin stieg Rauch. Es dürfte sich um die am besten mit Antennen bestückte Hütte in der ganzen Provinz handeln. Der Pilot entdeckte Spuren im Schnee und etwas unter Planen mit den Abmessungen eines Geländewagens.“ „Das reicht.“ Der Kanadier fragte nicht, was Urban vorhatte. „Ich muß so schnell wie möglich hin, bevor Titow Unheil anrichtet. Anders als mit körperlichem Einsatz kann man diese Bande nicht stoppen.“ „Wohl kaum. Sie haben eine eigene Stromversorgung, Funktelefon, Funkfernschreiber und Funk-Telefax.“ „Damit kann er sich überall drauf schalten.“ Der Kanadier massierte seine buschige Braue. Die Narbe darin war rot und juckte wohl bei Wetterwechsel. 128
„Und du glaubst, Dynamit…?“ „Ich bin sicher.“ „Okay, dann los! Du kriegst einen Wagen von uns, fährst immer Richtung Westen und dann geradeaus. Eine Waffe findest du im Handschuhfach. Außerdem…“ „Außerdem was?“ fragte Urban, eine unangenehme Einschränkung befürchtend. „Keine Sorge, ich folge dir zwar, aber mit Abstand und in Deckung. Könnte ja sein, daß die Bande schneller ist als du.“ „Im Schießen vielleicht, aber nicht im Wegducken.“ „Trotzdem.“ „Außerdem“, sagte Urban, „gehört der Tod nun mal zum Leben.“ Nach sechs Stunden Fahrt ging es nicht mehr stur nach Westen und immer geradeaus. Urban bewegte den Bronco im zweiten Gang und Allradantrieb über Baumwurzeln und durch Buschwerk. Der Himmel riß auf. Urban hielt an und verglich seine Route mit der Karte. Sie war als dünne geschlängelte Linie eingezeichnet. Eine Art Waldpfad. Er rollte aber schon eine Weile quer durch die Landschaft, also war er vom Weg abgekommen. Er stieg aus, bestimmte mit dem Marschkompaß die Richtung und fuhr weiter. Es ging steil in eine sumpfige Schlucht hinab. Er hatte Mühe, aus dem Loch herauszukommen. Endlich bekam er wieder festen Boden unter die Räder. Später hörte er einen Bach rauschen. Der Bach half ihm. Er mündete in den See. Also näherte er sich ihm, durchquerte ihn an einer nabentiefen Furt und befand 129
sich plötzlich auf dem Weg, der zum Haus der Titows führte. Aber dann lag da unvermittelt ein Baum. Eine Tanne, gesund, mit dichtbenadelten Zweigen, fiel nicht von selbst um. Urban blieb im Wagen, ging in den Kriechgang und versuchte, die Tanne mit der Stoßstange wegzuschieben. Er setzte vorsichtig an. Der Wipfel ließ sich bewegen. Brutal trat Urban auf die Bremse. In Kniehöhe zog sich etwas langes Dünnes durch die Blätter und Zweige. Etwas Grünes. Aber um drahtähnliche Gewächse zu erzeugen, hatte die Natur einfach zuviel Phantasie. Diesen Draht hatte man gespannt. Urban versuchte, ihn zu verfolgen. Wahrscheinlich endete er bei den Bäumen links und war der Auslöser für eine Mine oder eine geballte Ladung Handgranaten. Hätte ihn auch gewundert, wenn die Titows sich nicht gesichert hätten. Vorsichtig rollte er zurück, um sich von der Sperre zu lösen und um sie herumzufahren. Aber der Stoßfänger hatte sich verheddert. Urban versuchte es vorwärts und rückwärts. Es ging nicht anders, er mußte raus. Kaum hatte er die Stoßstange vom Geäst befreit, knackte etwas seitlich von ihm und lachte wie eine Hyäne. „Ganz ruhig, Kumpel. Keine Bewegung!“ Urban schielte nach hinten. Der Mann sah aus wie ein kanadischer Holzfäller. Er trug eine karierte Jacke und eine Pelzmütze, hatte aber ein typisches Russengesicht mit Sattelnase und eine Mac-10-Maschinenpistole über dem Arm. „Hier geht’s nicht weiter, Mann. Wir fällen Bäume und sprengen ‘nen Felsüberhang. Dreh um. Mach, daß du weiterkommst, und laß dich hier nicht wieder blikken.“ 130
„Waldarbeiter“, bemerkte Urban ironisch, „mit Maschinenpistole. Na schön.“ Er tat so, als wollte er einsteigen. Dabei trat er mit der rechten Schuhkante lockeres Erdreich weg und spritzte eine Ladung davon dem Waldarbeiter ins Gesicht. Der schoß sofort. – Aber Urban hatte sich hingewo rfen, war wie eine Spindel unter seinen Ford Bronco gerollt und lag schweratmend da. Er sah die Stiefel des Mannes. Stiefel mit weitem Schaft am oberen Ende. Russenstiefel. Kanadier trugen andere. Der Waldarbeiter schien nicht sicher zu sein, ob er getroffen hatte oder nicht. Er kam näher, blieb stehen, ging um den Bronco herum und sah Urban liegen. Mit einem Kampfschrei sprang er ihm ins Kreuz und preßte die Mac-10 gegen Urbans Schläfe. Aber sie war aus irgendeinem Grund nicht nachgespannt. Also riß er am Spannhebel. In dieser Sekunde federte Urban hoch und packte den Mann an der Gurgel. Der war völlig überrascht und drückte dem Gegner die Mac-10 unters Kinn. „Du oder ich, Mann.“ „Ich oder du.“ „Dann eben wir beide.“ Urban hatte ihn an der Kehle, er brauchte nur zuzudrücken. Aber dann würde der andere abziehen. Ergebnis: zwei Tote. Sie blickten sich in die Augen, ein paar Herzschläge lang. Urban überlegte, ob er ihm ein Angebot machen sollte, Finger vom Abzug gegen Daumen von der Kehle. Aber Agenten waren mißtrauisch. – Die Pupillen des Russen veränderten sich. Sie wurden eng. So wie bei einem, der die Absicht hatte zu töten. Der Druck der Mac verstärkte sich. Urban drückte 131
ebenfalls stärker zu. Der Gegner keuchte einen Fluch heraus. Und mit einemmal lockerte sich der Druck seiner Waffe. Der Gegner bekam einen verglasten Blick, sein Schädel kippte nach hinten weg. Erst jetzt registrierte Urban den Knall. Er hatte den Abschuß gehört, der Russe nicht mehr. Er war außer Betrieb. Urban beugte sich über ihn. Von diesem Mann ging keine Gefahr mehr aus. Urban richtete sich auf, stand da und schaute sich um. Erst als er sich eine MC ansteckte, sah er Jackson vom kanadischen Geheimdienst aus dem Grün treten. „Schätze, das war unumgänglich!“ rief Jackson. „Man dankt“, sagte Urban. „Dafür erledigst du den Rest der Arbeit, Dynamit.“ Sie durchschnitten den Draht, räumten die Tanne weg, und Urban fuhr die paar Meilen bis zum See. Als der See blaugrün durch die Douglastannen schimmerte, ließ Urban den Bronco zurück. Jetzt lag er im Gestrüpp am Rande der Lichtung, eine Pfeilschußweite vom Haus entfernt. Er ließ sich Zeit und betrachtete erst einmal alles im Zeissglas. Das Haus war mehrmals erweitert und vergrößert worden. Man sah es an der unterschiedlichen Struktur des Feldsteinfundamentes. Die Antennen und den Antennenmast hatte man wohl erst vor kurzem installiert. Das Aluminium war noch nicht stumpf oxydiert. Urban schätzte, daß die Anlage vielleicht ein Jahr stand. Die von den Antennen wegführenden Leitungen liefen nicht durch das Dach, sondern seitlich am Haus herunter. Sie mündeten im Keller. Also waren dort auch die Maschinen untergebracht. 132
Dort beschloß Urban anzusetzen. Er wartete, bis Wolken die Sonne bedeckten. Es wurde sofort ziemlich dunkel zwischen den hohen Bäumen. Nach wie vor rührte sich im Haus und um das Haus herum nichts. Er wollte schon losgehen, da öffnete sich die Küchentür. Eine Person in kanadischer Jacke, die Hose in die Stiefel gesteckt, kam heraus. Es war Pearl. Sie trug Motorsäge und Beil über der Schulter. Damit marschierte sie zum Holzlagerplatz. Sorgsam legte sie sich einen Stamm zurecht und riß die Motorsäge an. Als sich die Kette kreischend ins Holz fraß, rannte Urban los. Aber sie mußte ihn bemerkt haben. Sie riß die Säge hoch. Er boxte Pearl mit der Schulter nieder. Dabei flog die Säge weg. Sie stürzte. Urban lag auf Pearl. Sie atmete schwer. Ihr Blick ve rriet mehr Staunen als Haß. „So sieht man sich wieder“, sagte er. „Es wird die Hölle sein“, antwortete Pearl. „Gibt Schlimmeres auf Erden als das.“ „Geh lieber fort.“ „Nicht, ehe ich den Titow-Clan ausgeräuchert habe.“ „Geh fort, schnell und weit weg.“ Er zog ihren Gürtel aus der Hose, band ihre Hände damit zusammen, riß Gras und Moos aus, stopfte es ihr in den Mund und knotete ein Taschentuch darüber. Dann startete er die Kettensäge wieder und hängte sie mit dem Griff an einen der Stämme. Das Geräusch wü rde seinen Angriff tarnen. Als er ging, hörte er Pearl stöhnen. „Tu’s nicht.“ Ich muß.“ „Es bringt dich um.“ „Oder ihn.“ Und er fügte noch hinzu: „Oder uns alle.“ Das Haus betrat er durch die Küche, schlich durch die 133
Wohnhalle und fand die Treppe nach unten. Im Keller folgte er den Kabeln. Sie mündeten neben einer Stahltür im Mauerwerk. Auf die Tür war dn Blitz gemalt – Zugang verboten, wenn die rote Lampe brennt – Sie brannte. Urban kümmerte sich wenig darum. Die Tür war nicht versperrt. Urban trat den Türflügel gegen die Innenwand, stand breitbeinig da und fing die zurückfedernde Tür mit der Schulter auf. „Ihre Tätigkeit, Harbor, für den Komitet Gossudarstvennoje Bezapostni ist hiermit beendet!“ rief er.
Der klimatisierte Kellerraum wirkte wie mit modernster Elektronik tapeziert. Ringsum hellgelbe und mattgrüne Kästen mit Lüftungsschlitzen, Anzeigegeräte, Kontrolllampen, OS-3- und OS-4-Maschinen, Terminals, Rechner, Drucker, Modems. Auf der anderen Seite ein sündhaft teurer IBM 309600 E. Und zwischen diesem Instrumentarium, auf einem fahrbaren Sessel saß ein Mann. Das mußte Harbor sein. Er trug einen Kurzhaarschnitt wie fast alle technischen Experten, Drahtgestellbrille, Pullover, Jeans, Turnschuhe. Er wirkte lässig, aber konzentriert. – Und er arbeitete seelenruhig weiter. Offenbar übertrug er ein fertiges Programm in seine Maschinen. – Noch speicherte er ein, hatte also das alles Zerstörende noch nicht endgültig auf die Reise geschickt. „Mann, Harbor“, sagte Urban kopfschüttelnd. „Wozu der Eifer? Es ist aus. Sie sind erkannt. Die Hütte ist umstellt. Störsender werden dazwischenfunken. Geben Sie auf, Mann!“ 134
Jetzt schien Harbor ihn wahrzunehmen. Aber er hatte einen Ausdruck im Gesicht, wie Gottvater am sechsten Tag, als er mit der Erschaffung der Erde fast fertig war und sich seinen Erfolg nicht me hr nehmen lassen wollte. „Ach, gehen Sie doch“, antwortete Harbor. „Sie stören meine Konzentration.“ Urban hielt nicht lange Reden, warum und weshalb. Er setzte zum Sprung an, packte Harbor am Kragen und riß ihn aus dem Sessel. Harbor wollte noch einen Notschalter drücken, aber Urban schlug ihm auf die Finger, daß die Knorpel krachten. Harbor war nicht schwer. Urban zog ihn von den Maschinen weg in die Mitte des Raumes. Irgendein Kabel hatte sich um Harbors Fuß geschlungen. Es spannte sich. Dabei machte es klick-klack. Zu spät erkannte Urban, daß es eine Selbstvernichtungsanlage war, mit der Harbor sich verbunden hatte. Im selben Moment erschien ein Schatten auf der Treppe. Pearl hatte sich befreit. Sie stürzte sich herunter und warf sich auf Urban, um ihn umzubringen oder nicht. Jedenfalls mußte er sich beider Gegner erwehren. Er versetzte Harbor einen Handkantenschlag in den Nacken. Das machte ihn für einen Moment ungefährlich. Dann bändigte er das Mädchen. Pearl schrie: „Die Spreng…“ Urban begriff blitzschnell. Er packte Pearl, zerrte sie mit sich hinauf. Sie hielt sich an ihm fest, so als suche sie bei ihm Schutz. „Hundert Kilo.“ Sie stürzten, rafften sich auf, hasteten durch die Halle zur Küche. „TNT!“ schrie sie. Urban sah schon die Küchentür. 135
„Nur dreißig Sekunden.“ Die sind längst um, durchfuhr es ihn. Mit einem Hechtsprung stürzte er sich hinaus in die rettende Natur. Pearl folgte ihm auf seiner Flucht. Aber ihr Start wurde schon von der Explosion beschleunigt. Das waren nicht hundert Kilo TNT, das war eine halbe Tonne. Brutal verlängerte der Luftdruck Urbans Flugbahn. Er spürte einen Hieb im Kreuz wie von einem überdime nsionalen Baseballschläger. Danach spürte er nur noch wenig, vom Aufprall so gut wie gar nichts. Als er wieder zu sich kam, regneten die Trümmer des Hauses herunter wie ein Wolkenbruch aus Brettern und Steinen. Neben ihm landete ein Ballen aus Menschenfleisch. Es war Pearl. Sie schrie einmal auf, und dann kam nichts mehr. Als Stille eingekehrt war, tastete Urban seine Extremitäten ab. Die Zehen ließen sich bewegen, das Kniegelenk, die Arme, der Kopf. Das Genick schmerzte, aber er sah darüber hinweg. Benommen saß er da, atmete tief durch und starrte auf den rauchenden Trümmerhaufen, der vor kurzem noch etwas enthalten hatte, das in der Lage war, die NATO über den Rand einer Katastrophe zu katapultieren. Er steckte sich eine MC an und schaute dann nach Pearl. Nach der Explosion blieb von Harbor nichts übrig für eine Beerdigung. Gott der Allmächtige hatte die Rechnung beglichen. Auch er mochte Geschöpfe nicht, die ein verwerfliches Spiel trieben. 136
Mit dem Tod von Pearl ließ er sich jedoch Zeit. Sie lebte noch, als Urban sich um sie kümmerte. Offenbar hatte sie kaum Schmerzen, Aber das Leben verließ sie. Es rann ihr weg wie das Wasser eines Baches, das nicht aufzuhalten war. „Ich habe dich gemocht“, las er von ihren Lippen. „Für einen kurzen Augenblick“, schränkte er ein. „Fast wäre es für immer gewesen.“ „Das ist zu lange“, sagte er. „Leuten wie uns steht das einfach nicht zu“, flüsterte sie. „ Nicht zu.“ Sie atmete noch einmal tief, schloß die Augen und legte den Kopf zur Seite, so als wollte sie schlafen. Aber es war mehr als Schlaf. Sie hatte die ewige Ruhe gefunden. Wenig später erschien Jackson. Er rief über Sprechfunk einen Lastwagen der kanadischen Armee. Sie warfen Pearls Leiche hinten auf die Pritsche und fuhren wieder weg. ENDE
137