Patrick Brogan
Die Unruhe der
Welt
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Patrick Brogan
Die Unruhe der
Welt
Die Enzyklopädie der Krisen und Konflikte unserer Zeit scanned by AnyBody corrected by Yfffi Die Unruhe der Welt bietet einen globalen kritischen Überblick, der überhaupt erst ein Verständnis der Tagesnachrichten ermöglicht. Das Buch zeigt, daß in der heutigen Welt ein Krieg nirgendwo jemandem nützt oder Gewinn bringt. ISBN: 3-552-04219-9
Original: World Conflicts
Aus dem Englischen von Reinhard Deutsch
1990, Paul Zsolnay Verlag Wien œ Darmstadt
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Klappentext Seit dem Ende des Kalten Krieges treten die ‡kleinen—, die regionalen und scheinbar begrenzten Konflikte mehr denn je ins Blickfeld der Öffentlichkeit. In den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg hat es nicht einen Tag gegeben, an dem auf der Welt Friede geherrscht hätte. In rund hundert Kriegen sind mindestens fünfzehn Millionen Menschen ums Leben gekommen, die Folgeerscheinungen wie Flucht, Hunger, Seuchen haben genausoviele Opfer gefordert. Millionen und Abermillionen irren als Flüchtlinge umher. Diese Kriege œ Länder gegen Länder, Völker gegen Völker, Stämme gegen Stämme, Mächtige gegen Ohnmächtige œ haben darüber hinaus ungeheure ökonomische und ökologische Schäden angerichtet. Staatswirtschaften sind zusammengebrochen, der Drogenhandel ist zu einer weltweiten Bedrohung geworden, die Welt stand und steht immer wieder unvermittelt vor Konflikten mit unabsehbaren Folgen. Die meisten dieser Auseinandersetzungen finden keine wirkliche Lösung, sondern schwelen unter der Oberfläche scheinbarer Befriedung weiter mit der Möglichkeit, jederzeit wieder auszubrechen.
Der Autor
Patrick Brogan ist der führende Auslandskorrespondent des Londoner Observer. Die Unruhe der Welt ist das Ergebnis jahrelanger Forschung. Der britische Journalist Patrick Brogan analysiert in dieser umfassenden Enzyklopädie die Krisen und Konflikte der Welt von heute. Seine Erkenntnisse sind verblüffend: Die Welt leidet immer noch unter den Auswirkungen des Kolonialismus. Die willkürlich gezogenen Grenzen, längs und quer durch alle traditionellen Zusammenhänge, sind die Frontlinien vieler immer wieder aufflackernder Konflikte. So erscheint manche politische Lösung am grünen Tisch als hoffnungslos.
Inhalt VORWORT.................................................................................................. 6
VORBEMERKUNG ................................................................................... 23
AFRIKA ..................................................................................................... 26
ANGOLA................................................................................................ 27
ÄTHIOPIEN ........................................................................................... 45
BURUNDIE UND RWANDA. ................................................................. 65
LIBYEN .................................................................................................. 72
MAROKKO ............................................................................................ 84
MOSAMBIK ........................................................................................... 98
NAMIBIA .............................................................................................. 112
SOMALIA............................................................................................. 126
SUDAN ................................................................................................ 136
SÜDAFRIKA ........................................................................................ 148
TSCHAD .............................................................................................. 190
UGANDA ............................................................................................. 203
ASIEN...................................................................................................... 214
AFGHANISTAN ................................................................................... 215
BANGLADESCH ................................................................................. 236
BIRMA ................................................................................................. 242
CHINA.................................................................................................. 260
INDIEN................................................................................................. 282
INDONESIEN ...................................................................................... 310
KAMBODSCHA ................................................................................... 323
KOREA ................................................................................................ 348
MALAYSIA........................................................................................... 359
PAKISTAN ........................................................................................... 364
PHILIPPINEN ...................................................................................... 375
SRI LANKA .......................................................................................... 397
VIETNAM............................................................................................. 412
NAHER UND MITTLERER OSTEN ........................................................ 423
IRAK .................................................................................................... 424
IRAN .................................................................................................... 450
ISRAEL ................................................................................................ 468
JEMEN................................................................................................. 515
DIE KURDEN....................................................................................... 521
LIBANON ............................................................................................. 534
SAUDIARABIEN .................................................................................. 564
SYRIEN ............................................................................................... 572
EUROPA ................................................................................................. 587
DIE VERÄNDERUNGEN IN OSTEUROPA ........................................ 588
SOWJETUNION .................................................................................. 592
DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK ..................................... 618
POLEN................................................................................................. 624
TSCHECHOSLOWAKEI œ CSFR........................................................ 636
BALKAN............................................................................................... 644
BULGARIEN ........................................................................................ 650
JUGOSLAWIEN .................................................................................. 654
RUMÄNIEN.......................................................................................... 661
UNGARN ............................................................................................. 671
CHRONOLOGIE DES KOMMUNISMUS ............................................ 680
NORDIRLAND ..................................................................................... 686
ZYPERN .............................................................................................. 717
LATEINAMERIKA ................................................................................... 726
ARGENTINIEN UND DIE FALKLANDINSELN ................................... 727
MITTELAMERIKA................................................................................ 742
EL SALVADOR.................................................................................... 747
GUATEMALA....................................................................................... 768
NLCARAGUA ...................................................................................... 787
PANAM‰.............................................................................................. 827
PERU................................................................................................... 836
DER DROGENKRIEG ......................................................................... 847
SÜDPAZIFIK ........................................................................................... 871
FIDSCHI UND NEUKALEDONIEN ..................................................... 872
DIE AUSEINANDERSETZUNG UM DIE KERNENERGIE ................. 882
TERRORISMUS...................................................................................... 884
TERRORISMUS HEUTE..................................................................... 885
DIE EUROTERRORISTEN ................................................................. 899
NATIONALISTISCHER TERRORISMUS............................................ 925
ARABISCHER TERRORISMUS.......................................................... 937
JAPANISCHER TERROR ................................................................... 976
AUSSICHTSLOSE HOFFNUNGEN.................................................... 981
CHRONIK DES TERRORISMUS ........................................................ 992
ANHANG ...............................................................................................1009
KRIEGE SEIT 1945 ...........................................................................1010
STAATSSTREICHE UND REVOLUTIONEN SEIT 1945..................1016
ATTENTATE SEIT 1946....................................................................1026
LITERATUR.......................................................................................1038
REGISTER ........................................................................................1059
VORWORT
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es in der Welt niemals Frieden gegeben. Die Paktsysteme in Ost und West sicherten in Europa bis zum Auseinanderbrechen des Ostblocks im Jahre 1989 eine gewisse Ruhe, überall anders aber ging das Morden weiter. Gewaltige Kriege haben Asien und Afrika erschüttert, überall in den übrigen Teilen der Welt kam es zu kleineren Auseinandersetzungen. Manche sind eingeschlafen, andere aber sind zu riesenhaften Feuersbrünsten angewachsen. Rund vierzig Länder dieser Welt hängen im Würgegriff von Krieg, Bürgerkrieg, ausländischer Intervention, Terrorismus oder unausrottbarem Banditentum. In einer ganzen Reihe von Staaten kann der mühsam errungene Friede jeden Moment wieder zusammenbrechen. Die blutigsten der jüngsten Konflikte waren der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak und die sowjetische Intervention in Afghanistan. Der eine dauerte acht, die andere neun Jahre, beide endeten aber ohne wirkliche Entscheidung. Nach vagen Schätzungen sind im Iranisch-Irakischen Krieg rund 450.000 Menschen ums Leben gekommen, weit mehr als in sämtlichen anderen Kriegen im Nahen Osten. Der erbitterte Haß zwischen den beiden Ländern hält an. In Afghanistan sind an Kriegsfolgen, Hunger und Krankheit zwischen 400.000 und 1.000.000 Menschen gestorben. Krieg, Seuchen und Hunger fordern im Sudan, in Äthiopien, Somalia und Mosambik jedes Jahr Hunderttausende Menschenleben. Diese sechs Konflikte der Gegenwart haben mehr als 17 Millionen Menschen entwurzelt, von denen mehr als 7 Millionen ins Ausland geflüchtet sind. Auf der anderen Seite des Spektrums der Unruheherde rangiert der œ relativ ‡geringen— Blutzoll fordernde œ Terrorismus in Gebieten wie Nordirland oder dem spanischen Baskenland, hervorgerufen durch die separatistischen Forderungen von Minderheiten. In diesen so schwer nachvollziehbaren und von Generation zu Generation weitervererbten Problemen scheint derzeit keine Lösung in Aussicht. Andere Konflikte schließen den ‡bewaffneten Waffenstillstand— zwischen Israel und seinen Nachbarn ebenso mit ein wie die unabänderlichen -6-
Stammeskriege in Afrika, die Revolten der Landbevölkerung in Mittelamerika und die kommunistische Rebellion auf den Philippinen. Seit 1945 haben rund 80 Kriege stattgefunden, denen zwischen 15 und 30 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Millionen und Abermillionen haben ihre Heimat verloren. In der Welt von heute gibt es wahrscheinlich so viele Flüchtlinge wie in den Völkerwanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ende 1989 schätzte das amerikanische Flüchtlingskomitee die Zahl der Flüchtlinge im Ausland auf etwa 15,2 Millionen, die der Entwurzelten im eigenen Land auf 15 bis 20 Millionen. Die größten Kriege seit 1945 waren der Bürgerkrieg in China, der 1949 zu Ende ging, der Korea-Krieg (1950-1953), die IndochinaKriege (von 1946 ohne Unterbrechung bis heute), der algerische Bürgerkrieg (1954-1962), die Kriege gegen die portugiesische Kolonialherrschaft (1961-1975), der Krieg der Armee von Guatemala gegen die Bauern des Landes, die Bürgerkriege in Kolumbien, Nigeria, Uganda, Mosambik, Angola, Sudan, Afghanistan und Libanon, die Kriege zwischen Indien und Pakistan, Israels fünf Kriege gegen seine Nachbarn und der Iranisch-Irakische Krieg. Seit den mörderischen vierziger Jahren ist die Welt in jedem Jahrzehnt gewalttätiger geworden. In Afrika hat nur der Biafra-Krieg mehr Opfer gefordert als die Bürgerkriege der achtziger Jahre. Die Anhäufung von Waffen im Nahen Osten und in Afrika sowie die Verschärfung der Stammesauseinandersetzungen wie der ideologisch bedingten Gewalt haben Uganda und den Libanon zerstört und eine Reihe von Ländern an den Rand des Zerfalls gebracht œ zum Beispiel Angola, Äthiopien, Mosambik, Somalia und Sudan in Afrika, Afghanistan, Birma, Kambodscha und Sri Lanka in Asien. Die Gefährdung Indiens und der Sowjetunion zeichnet sich allmählich ab. Die Aussichten sind nicht überall gleich düster. Zwischen dem Iran und dem Irak kam es 1988 zu einem Waffenstillstand, der bis jetzt eingehalten wird. 1989 endete der Krieg in Namibia, und es gab erste Verhandlungen über Abkommen in West-Sahara und Eritrea. 1988 -7-
erklärten die ausländischen Mächte ihren Abzug aus Angola, Afghanistan und Kambodscha und überließen die Einwohner dieser Länder ihrem eigenen Schicksal respektive der Fortsetzung ihrer Bürgerkriege. 1989 kam es zum plötzlichen Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen in Polen, Ungarn, der DDR, der Tschechoslowakei und in Rumänien. Die Regime in Jugoslawien, Bulgarien und vielleicht sogar der Sowjetunion schienen den selben Weg zu gehen. Im Februar 1990 verzichtete die Kommunistische Partei der Sowjetunion auf das Machtmonopol œ die revolutionärste Veränderung in einer an Außergewöhnlichem reichen Zeit. Die Öffnung der Berliner Mauer markierte das Ende des Kalten Krieges: Der Warschauer Pakt zerfiel, und es erscheint derzeit so gut wie ausgeschlossen, daß ein neuer Weltkrieg von europäischem Boden ausgehen könnte. Zur gleichen Zeit verkündete der südafrikanische Staatspräsident die Legalisierung des African National Congress und anderer Organisationen der Schwarzen und die Begnadigung Nelson Mandelas. Wenn schon keine Revolution, die mit den Ereignissen in Europa vergleichbar ist, so bedeutete diese Entscheidung doch zumindest einen Kurswechsel und eröffnete die Aussicht auf eine friedliche Lösung dieses so schwierigen Problems. Anderseits führte das Ende der alten Ordnung in Europa sofort zur Wiederbelebung der alten Auseinandersetzungen auf dem Balkan, in Transkaukasien und Zentral-Asien. Die Rückkehr der Roten Khmer nach Phnom Penh schien ebenso möglich wie der Ausbruch eines Bürgerkrieges in Somalia und das Wiederaufflammen der Stammesmassaker in Burundi. Die Regierung der Philippinen überstand im Dezember 1989 mit Mühe einen Staatsstreich, und die Lage der Regierungen von Kolumbien, Peru und El Salvador wurde immer prekärer. Birma steht nach einer Reihe von Aufständen am Rand der Anarchie, Pakistan und Indien steuern in der KaschmirFrage einmal mehr auf Konfrontationskurs, und der Bürgerkrieg im Sudan wuchs sich aus zu einer der größten Katastrophen der jüngeren Geschichte. Die Menschheit verarbeitet immer noch den Untergang des politischen Systems, das in großen Teilen der Welt den Frieden vor 1945 bewahrt hat œ diese trügerische Ruhe, von Weltmächten mit dem Bajonett erzwungen, sollte die Unterdrückung der Menschen mit -8-
gelber, schwarzer und brauner Hautfarbe durch den weißen Mann legitimieren. Aber die Welt außerhalb Europas ist tatsächlich ein viel weniger friedlicher Platz geworden als zu der Zeit, da Afrika, der Orient, Indien, Zentral-Asien und Südost-Asien von fünf oder sechs europäischen Hauptstädten aus regiert wurden wie auch Südamerika bis 1821. Der Untergang der Weltreiche war unvermeidbar. Es bedurfte nur einer dünnen Bevölkerungsschicht in jeder Kolonie, die sich fragte, warum sie von Ausländern regiert werden sollte, und durch den Ausbau des Bildungswesens gab es diese Oberschicht bald überall. Die Reiche waren mit Gewalt zusammengefügt worden: Die Briten eroberten Indien mit der Muskete und Afrika mit dem GatlingGewehr. Sobald moderne Waffen in die Hände der Einheimischen gelangten, die jeder Garnison der Kolonialtruppen zahlenmäßig weit überlegen waren, veränderte sich das Gleichgewicht der Kräfte, und es war vorbei mit den Imperien. Die Sowjetunion mußte in Afghanistan und jetzt noch einmal in Transkaukasien die Feststellung machen, daß für das Mutterland des Sozialismus die selben Regeln gelten wie für die von Marx und Lenin so heftig angegriffenen kapitalistischen Systeme. Sobald es für die Stämme im Nahen Osten, in Afrika und Indien kein Geheimnis mehr war, daß die Macht aus den Gewehrläufen kommt œ ganz zu schweigen von den europäischen Terroristen œ, griffen die selben zerstörerischen Kräfte, die die Kolonialreiche zu Fall gebracht hatten, auf die neu entstandenen Staaten der Dritten Welt über. Indien, Nigeria und Libanon œ das sind weniger Nationen als vielmehr geopolitische Begriffe. Die Sikhs und die Ibo, genauso wie die Volksgruppen und Sekten im Libanon, betrachten sich als Nationen, und sie haben um ihre Unabhängigkeit gekämpft oder tun dies weiterhin. Und wenn sie besiegt sind, kommen sie wieder, wie das Beispiel der Sikhs lehrt. Die meisten Konflikte in der heutigen Welt bestehen zwischen Völkern und Rassen. Nur wenige herrschen zwischen Nationen und Ideologien. Dieses Muster kann sich ändern: Iran und Irak haben demonstriert, daß nationale Animositäten plötzlich zu einem richtigen Krieg auflodern können; und das Elend der Dritten Welt kann in der kommenden Generation durchaus zu einer Wiederbelebung der -9-
ideologisch begründeten Konflikte führen. Die geringen Aussichten auf Frieden in der Welt von heute sind hauptsächlich auf die erbitterten Streitigkeiten zwischen den Völkern im Nahen Osten, in ganz Afrika, in Indien, der Sowjetunion, Südost-Asien und auf dem Balkan zurückzuführen. Es gab seit 1945 nur wenige umfassende nationale Kriege. Die meisten Opfer haben die Kriege in Korea, Vietnam und der zwischen Iran und Irak gefordert. Europa, dereinst der kriegerischste aller Kontinente, fehlt auf dieser Liste augenfällig. Über dem Kontinent lastet die Erinnerung an die drei Jahrzehnte der Menschenschlächterei, von 1914 bis 1945. Die Trauer über die Opfer des Ersten Weltkriegs hält immer noch an, und in der Sowjetunion wird man täglich an die Verluste des Großen Vaterländischen Krieges erinnert. Aber in den vergangenen dreißig Jahren haben Vietnam, Kambodscha, Uganda, Nigeria, Mosambik und ein halbes Dutzend anderer Länder in Relation zumindest genauso, wenn nicht noch mehr gelitten. Kriege zwischen Nationen werden zumeist durch Gebietsstreitigkeiten verursacht, durch ideologische Rivalität, nackte Eroberungslust oder bisweilen auch durch diplomatische Unfähigkeit. Seit 1945 sind aus all diesen Gründen Kriege ausgebrochen, und die Möglichkeit weiterer schwebt über großen Teilen des Globus. Die Tatsache, daß im Moment so wenige zwischenstaatliche Kriege unmittelbar auszubrechen drohen, bedeutet nicht, daß die Menschheit ihr Verhalten geändert hat. In den vergangenen zwanzig Jahren gab es einige Territorial kriege, darunter den Falkland-Krieg zwischen Großbritannien und Argentinien, den Ogaden-Krieg zwischen Äthiopien und Somalia und den Krieg zwischen Iran und Irak, der durch den Streit ausgelöst wurde, ob die Grenze zwischen diesen beiden Ländern in der Mitte eines Flusses liege oder am Ostufer. Viele andere territoriale Fragen sind ungelöst, darunter die latenten Konflikte auf dem Balkan, die von 1945 bis 1989 durch die ‡Pax Sowjetica— unterdrückt wurden. Die meisten afrikanischen Länder sind ebenso wie viele asiatische anfällig für Forderungen von Irredentisten. China hat zum Beispiel einen lang zurückreichenden Grenzstreit mit der Sowjetunion, und nahezu jedes Land in Südamerika erhebt gegenüber zumindest einem Nachbarstaat Gebietsforderungen. Der Überfall des Irak auf Kuwait hat große -10-
Probleme ausgelöst. Die Zahl der Kriege aus ideologischen Gründen hat in den letzten Jahren stark abgenommen. Die USA sind aus ideologischen Gründen in den Vietnam-Krieg gezogen, und die Sowjetunion hat in Afghanistan interveniert, um einem schwachen kommunistischen Regime den Rücken zu stärken. Beide haben ihre eigene Stärke ebenso überschätzt wie die Bedeutung der Auseinandersetzung. Anderseits waren beide Weltmächte œ ungeachtet wiederkehrender Ankündigungen, den Kommunismus ‡zurückzudrängen— beziehungsweise den Westen zu ‡begraben— œ, im Einsatz ihrer gewaltigen militärischen Macht extrem vorsichtig. Es war auffällig, daß Präsident Reagan eben doch niemals Marineinfanteristen nach Nicaragua geschickt hat. Seine Grenada-Invasion von 1983 und Präsident Bush' Panama-Invasion 1989 waren die Ausnahmen von der Regel, kaum mehr als Polizeiaktionen, kurz, billig und populär. Der marxistische revolutionäre Eifer hat siebzig Jahre nach der bolschewistischen Revolution weltweit Terrain verloren, hauptsächlich wegen des offenkundigen Scheiterns des Modells in der Sowjetunion, ihren Satellitenstaaten und Nacheiferern. Es ist wahrscheinlich, daß, vereinfacht gesagt, in Zukunft weniger Massaker an Unschuldigen im Namen dieses fernen Utopia stattfinden werden als bisher. Die postkolonialen Kriege in Afrika, die oft als ‡Volksrevolutionen— bezeichnet wurden, haben sich allesamt in nackte Machtkämpfe verwandelt. Ideologische Kriege im altmodischen Sinne gehen noch in El Salvador und auf den Philippinen weiter; und der ‡Leuchtende Pfad— in Peru hat, wie die Roten Khmer in Kambodscha, eindringlich bewiesen, daß zumindest an einigen Orten der ideologische Irrsinn all seine Zerstörungskraft austoben kann. Eroberungskriege sind seit Hitler aus der Mode gekommen, aber sie finden nach wie vor statt. Der irakische Präsident Saddam Hussein dachte, daß er die arabischsprachigen und ölreichen Provinzen des Iran erobern könnte œ der erwähnte Streit um die Grenze im Fluß war hauptsächlich ein Vorwand. Die arabischen Staaten haben dreimal geglaubt, sie könnten Israel erobern. Sie haben sich geirrt. Diplomatische Unfähigkeit bleibt eine der größten Gefahren für den Frieden in der Welt. Die Überforderung einer Handvoll Männer in -11-
Berlin, Wien, Sankt Petersburg, London und Paris brachte der Welt den Horror des Ersten Weltkriegs und aller darauf folgenden Katastrophen. Das hätte sich in den Tagen von Molotow und Dulles leicht wiederholen können, wenn nicht die Angst vor einer atomaren Auseinandersetzung die Menschheit vor den Aggressionen und der Dummheit der Regierenden bewahrt hätte. In den Tagen der KubaKrise 1962 stand die Welt am Rand des Abgrunds. Der FalklandKrieg war das Ergebnis diplomatischer Fehleinschätzungen in London und Buenos Aires, und der Sechstagekrieg von 1967 das Resultat von Nassers Irrwitz. Er glaubte ernsthaft, Israel ohne Gegenwehr demütigen zu können. Es gab zwischen 1945 und 1975 viele ‡nationale Befreiungskriege— oder Kolonialkriege. Indochina und Algerien waren die blutigsten, aber in Afrika und Asien haben noch zahlreiche andere stattgefunden. Nun gibt es kaum noch Kolonien und nur mehr zwei Kolonialkriege: jener der Eritreer gegen Äthiopien und der Kampf der POLISARIO gegen Marokko um die Unabhängigkeit der West-Sahara. In beiden kam es 1989 zu einem Defacto-Waffenstillstand. Die sowjetische Intervention in Afghanistan war ebensowenig ein Kolonialkrieg wie das Engagement der Amerikaner in Vietnam, sondern es waren zwei der längsten und blutigsten modernen ideologischen Konflikte. Die Zahl der Bürgerkriege hat seit dem Ende der Kolonialzeit stark zugenommen, nachdem sich die Staatswesen entlang ideologischen, sektiererischen oder ethnischen Linien selbst in Stücke reißen. Der erste und blutigste Bürgerkrieg nach 1945 war der in China, in dem Millionen Menschen getötet wurden. Der Sieg der Kommunisten war eine der großen Katastrophen der Geschichte, er hat unsägliches Leid und den Tod weiterer Millionen Menschen verursacht. Seit dem Ende der siebziger Jahre begann China sich allmählich zu erholen, nachdem die Viererbande besiegt worden war, die das Land mit einem letzten Aufbäumen des ideologischen Wahnsinns terrorisiert hat. Es war Deng Xiaoping vorbehalten, 1989 wieder den Schatten des Todes über China zu werfen. In manchen Ländern ist der Bürgerkrieg unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung ausgebrochen, nachdem sich die Kampflust der Völker von den Kolonialmächten ab- und den inneren Auseinandersetzungen zugewandt hatte. Überall sind Ströme von Blut -12-
geflossen, von Guatemala bis Biafra, vom Libanon bis Kambodscha, und es gibt kein Anzeichen, daß das irgendwann aufhören wird. Der Terrorismus bleibt ein Hauptproblem, vor allem des Westens. Manche Terroraktionen haben die Geschichte verändert œ die Ermordung von Julius Cäsar ebenso wie die von Abraham Lincoln und Erzherzog Franz Ferdinand. Dennoch haben die meisten Terroristen ihre Ziele nicht erreicht. Die israelische Politik hat sich nicht verändert, ungeachtet aller mörderischen Anschläge. Die Briten bleiben auch nach zwanzig Jahren IRA-Terror in Nordirland. Das Baskenland bleibt ein Teil von Spanien, und auch die Regierungssysteme von Frankreich, Italien und der BRD wurden durch die Terroraktionen nicht in ihren Grundfesten erschüttert. Die ‡bedeutendste Leistung— der Terroristen war ihr Beitrag zur Zerstörung des Libanon, aber in diesem Fall wurde der Terrorismus zu einem Instrument des Bürgerkrieges umfunktioniert. Keiner dieser Konflikte kann ohne Kenntnisse der historischen Hintergründe verstanden werden. In manchen Fällen ist dieser Hintergrund bereits der Konflikt: Die Ursprünge der stammeskriegsartigen Auseinandersetzungen in Belfast können bis zu den Ereignissen von 1689 zurückverfolgt werden, vielleicht sogar noch weiter. Argentinien ist 1982 in den Krieg gegen Großbritannien gezogen, um eine unbedeutende Begebenheit von 1833 zu rächen. Griechen und Türken, Türken und Armenier sind seit mehr als 900 Jahren verfeindet, ähnlich wie Vietnamesen und Kambodschaner. Der extremste Fall des historischen Bewußtseins ist die Wiedererrichtung des Staates Israel. Es gibt nur wenige Fälle einer bewußten Abkehr von historischen Feindbildern. In den fünfziger Jahren beschlossen Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland, aus eigenem Antrieb und ohne äußeren Zwang, ihren jahrhundertealten Streit zu beenden, der innerhalb von 70 Jahren zu drei Kriegen geführt hatte. Diese Entscheidung, deren Ursachen ganz prosaisch in der Errichtung der Montanunion 1951 liegen, ist eine der bedeutendsten Leistungen der Nachkriegsdiplomatie. Als Präsident Sadat mit Israel den Frieden von Camp David schloß, war das ein bedeutendes Ereignis, weil solche Taten so selten sind. Die Regierung von Nigeria unter General Gowon versuchte eine Politik der Wiederannäherung nach dem Ende des -13-
Biafra-Krieges. Es gab keine Verfolgung der Besiegten, keine Wiedergutmachungszahlungen und keine Orden für die Soldaten der siegreichen Armee. Aber Gowons Beispiel fand kaum Nachahmung, und Sadat wurde ermordet. Latente Konflikte können aus allen möglichen Gründen wieder hochflammen. In einigen Ländern, wie Zypern beispielsweise, herrscht ein unsicherer Waffenstillstand. In anderen œ z. B. Uganda, das sich im Augenblick gerade einer Phase der Ruhe zwischen den Staatsstreichen erfreut œ garantieren 20 Jahre Verfolgung, Massaker, Bürgerkrieg und blutige Staatsstreiche zukünftige Auseinandersetzungen. Die Regierungen eines Dutzends Länder, darunter Birma, Somalia, Elfenbeinküste, Guatemala, Haiti und Peru, können jeden Augenblick zusammenbrechen, während einige seit langem herrschende Diktaturen wie China, Libyen, Syrien und Albanien ihnen vielleicht irgendwann folgen werden. In anderen Ländern, wie etwa Saudi-Arabien, herrschte viele Jahre hindurch Friede, aber allmählich gibt es Anzeichen von Unruhe. Wieder andere, wie Indien, wo die regelmäßigen ethnischen Auseinandersetzungen zunehmen, befinden sich wohl im ersten Stadium der Erschütterung. Am bedeutendsten von allen ist die Sowjetunion, wo die einzelnen Republiken die Unabhängigkeit verlangen, und in einem runden halben Dutzend ist es bereits zu schweren Nationalitätenkonflikten gekommen. Eine weitere Gefährdung des Friedens in der Welt beruht auf dem Gegensatz zwischen schwerbewaffneten und kriegslüsternen Ländern der Dritten Welt. Indien hat nukleare Waffen œ wie wahrscheinlich auch Pakistan œ, und beide sind auf der Jagd nach Langstreckenträgerwaffen. Der Konflikt um Kaschmir zeigt, wie gefährlich diese Konfrontation bleibt. Jeder Nahost-Krieg war aufgrund der anwachsenden und verbesserten Arsenale verlustreicher als der vorangegangene. Israel und die Araber verfügen nun über Langstrecken-Boden-Boden-Raketen, und ein weiterer IsraelischArabischer Krieg ist durchaus möglich. Der Irak hat aus dem Krieg mit dem Iran nichts gelernt, und sein Einsatz von Giftgas in diesem Konflikt mag durchaus Nachahmung finden. Die vom Irak ausgelöste Golfkrise zeigt auch die Konsequenz im scheinbar irrationalen Handeln. Libyen und der Tschad, Äthiopien und Somalia sind so -14-
verstrickt, daß der Kampf bei der ersten Gelegenheit wieder ausbrechen kann. Wie ein roter Faden zieht sich durch eine Reihe dieser Konflikte der Einfluß von außen. Die Sowjetunion hat im Namen der Befreiung und des Sozialismus vierzig Jahre hindurch Mord und Zerstörung in den Ländern der Dritten Welt gesät. Junge Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner gingen zu Tausenden nach Moskau und studierten dort Dialektik und die Kalaschnikow. Die massivsten ausländischen Interventionen gab es in den Kriegen in Korea, Vietnam und Afghanistan. Nur der erste hat zu einer Art Ergebnis geführt, und beide Seiten reklamierten den Sieg für sich. Das westliche Bündnis, angeführt von den USA, rettete Süd-Korea, und China sicherte den Bestand Nord-Koreas. In Wahrheit wollten beide Seiten Korea unter ihrer Patronanz wiedervereinigen, und beide sind gescheitert. Das Korea-Problem, das durch die Einmischung von außen entstanden ist, haben sie zukünftigen Generationen zur Lösung überlassen. Wenn sie keine Armeen entsenden, schicken ausländische Mächte ‡Berater—, oder sie bewaffnen ihre Schützlinge. Die Sowjetunion hat große Mengen Waffen nach Angola (1975) und Äthiopien (1977) hineingepumpt und kubanische Expeditionskorps finanziert, um die neuen Regierungen vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Während kubanische Truppen und sowjetische Berater die angolanische Regierung und Armee in Schwung hielten, taten die Südafrikaner mit ihrer Unterstützung der Unita dasselbe auf der anderen Seite. Südafrika hat die RENAMO-Rebellen in Mosambik unterstützt, während Tansania der FRELIMO im Kampf gegen die portugiesische Herrschaft beistand. Oberst Moammar Gaddafi von Libyen hat seine Soldaten nach Uganda und in den Tschad geschickt, und er liefert Waffen und Geld an eine ganze Zahl von Widerstands- und Terrorbewegungen. Die USA haben sich œ mit Waffen, Geld und Beratern œ in ein Dutzend Konflikte eingemischt. Die Entscheidung der Sowjetunion, sich aus den Positionen, die sie über Jahrzehnte hinweg mühsam aufgebaut hatte, zurückzuziehen, führte 1988/89 zu einer revolutionären Veränderung. Zuerst räumte die sowjetische Armee Afghanistan. Dann wurde den Kubanern der -15-
Abzug aus Angola und den Vietnamesen der Rückzug aus Kambodscha befohlen. Dem folgte ein genereller Rückzug aus Osteuropa, der sehr schnell beinahe zur Flucht wurde. Es ist durchaus möglich, daß die Sowjets bald auch Äthiopien, Süd-Jemen und andere von ihnen abhängig gewordene Staaten aufgeben œ und vielleicht sogar Teile der UdSSR. Fidel Castro mußte zur Kenntnis nehmen, daß die Sowjetunion nicht länger in der Lage ist, Hilfszahlungen in Höhe von 5 bis 7 Milliarden Dollar pro Jahr zu leisten. Diese Veränderung ist zumindest so bedeutsam wie die Auflösung des Empire, die 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens begann. Auch andere Staaten haben ihre Einmischung im Ausland 1988 und 1989 reduziert. Südafrika hat seine Truppen aus Angola zurückgezogen und der Unabhängigkeit Namibias zugestimmt, und die USA hatten ihre Plane, die sandinistische Regierung von Nicaragua zu stürzen, aufgegeben. Aber trotzdem waren die USA in El Salvador tief verstrickt, und Südafrika hat offensichtlich die Absicht, seine dominierende Position im südlichen Afrika weiter zu behaupten. Weitaus die meisten der Millionen Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen gestorben sind, wurden nicht durch Bomben, Panzer oder Kampfflugzeuge getötet. Sie fanden den Tod durch Gewehre, Pistolen und Granaten. China, Nord-Korea, Brasilien, Mexiko und Indien haben große Waffenindustrien aufgebaut, und sie alle betreiben intensiven Export. Die Verbreitung leichter Schußwaffen bedeutet, daß es relativ einfach und billig ist, einen Aufstand oder Krieg anzuzetteln. Es gibt überall Gewehre, und die Zahl der Toten, Kämpfer und Zivilisten, ist erschreckend. Auch die USA und ihre westlichen Alliierten unterstützen Aufständische mit Waffen und Ausbildung, wenn auch nicht mit der gleichen Kaltschnäuzigkeit wie die UdSSR. In Afghanistan und Angola haben Boden-Luft-Raketen wie ‡Stinger—, ‡Redeye— oder die britische ‡Blowpipe—, die nur ein oder zwei Mann zu ihrer Bedienung brauchen, das Gesicht des Krieges verändert. Selbst wenn alle ausländischen Einmischungen mit einem Schlag beendet und die Schwertfabriken in aller Welt in Produktionsstätten für Pflugscharen umgewandelt würden, das Kämpfen würde weitergehen. Die Guerillas auf den Philippinen und der ‡Leuchtende -16-
Pfad— in Peru haben von Beginn an ohne ausländische Unterstützung gekämpft. Auch wenn Rajiv Gandhi davon faselt, so ist der Kampf der Sikhs in Indien dennoch nicht das Resultat einer pakistanischen Verschwörung. Jonas Savimbi und die Unita in Angola sowie die anonymen Terroristen der RENAMO in Mosambik werden ihre Kriege auch ohne die Südafrikaner fortsetzen. Die Menschenschlachterei in Uganda wurde durch landesinternen Haß ausgelöst, nicht durch ausländische Einmischung. Die menschliche Fähigkeit zu hassen besteht unvermindert fort. Armenier und Aserbeidschaner, die siebzig Jahre lang friedlich miteinander gelebt haben, beginnen nun, einander mit archaischer Grausamkeit abzuschlachten. Als die US-Marine 1988 eine iranische Verkehrsmaschine abschoß und 290 Menschen getötet wurden, waren die Reaktionen in Amerika durchwegs gefühllos. Obwohl unter den Toten mehr als 60 Kinder unter 10 Jahren waren, wurden sie insgesamt als ‡alles Iraner— abgetan, daher Feinde, und die meisten Amerikaner brachten keine Sympathie für sie auf. Haß kann von Ideologie angefacht sein, wie im Falle der Roten Khmer oder des ‡Leuchtenden Pfad— in Peru; von uralten ethnischen oder religiösen Feindschaften, wie im Falle der Hindus und Mohammedaner, die sich 1947 in Indien abschlachteten, oder wie bei den Protestanten und Katholiken in Belfast; von Rassismus, wie im Falle der Amerikaner in den Südstaaten, wo in den sechziger Jahren schwarze Bürgerrechtskämpfer niedergeschlagen und manchmal ermordet wurden oder wie heute bei Armeniern und Aseris; von Stammesrivalitäten, wie bei den Hutsi und Tutu in Burundi und Rwanda; oder auch von verrückter historischer Aufarbeitung, wie im Falle der Armenier, die sich von Amerika oder dem Libanon aus auf den Weg machen und türkische Diplomaten ermorden œ um Ereignisse zu rächen, die mehr als 70 Jahre zurückliegen. Die Vernichtung der Juden war das extreme Beispiel für das Ausmaß, das Haß erreichen kann. Der Holocaust war nicht nur wegen seiner Monstrosität so besonders, sondern vor allem wegen der Kaltblütigkeit, mit der er von Amts wegen geplant und durchgeführt wurde. Es gibt eine Reihe von Beispielen ähnlicher Grausamkeit: 1978 überschritten kambodschanische Soldaten die vietnamesische -17-
Grenze und töteten in den Dörfern viele vietnamesische Kinder. In Rwanda wurden 1959 10.000 Tutsi von den Hutu massakriert. 1972 wurden weitere 2.000 Tutsi in Burundi getötet, und im Gegenzug brachten die regierenden Tutsi 200.000 Hutu um. Die Massaker wurden 1988 fortgesetzt. Heute und an jedem kommenden Tag werden in Mosambik, Sudan und Äthiopien Zivilisten systematisch ermordet, einschließlich Frauen und Kindern. Die kambodschanische Regierung verfolgte zwischen 1975 und 1979 kaltblütig eine Politik, von der sie wußte, daß sie zum Tod Hunderttausender ihres eigenen Volkes führen würde. Und es ist durchaus möglich, daß die Roten Khmer nach Phnom Penh zurückkehren. Die Holocaustdenkmäler, die jüngst in Washington und New York errichtet wurden, sollten neben den Bildern von Treblinka und Auschwitz Photographien der ‡Killing Fields— von Kambodscha enthalten, wo die Vietnamesen Zehntausende Totenschädel fanden, oder von den Flüssen, die aufgestaut waren von den Leichen der Tutsi und Hutu. Auch Erinnerungen an die Bauern aus der Sowjetunion könnten darin aufbewahrt werden, vor allem an die Ukrainer, die 1931-1933 im Zuge von Stalins Landwirtschaftsreformen zu Millionen umgebracht wurden oder verhungerten. Ganze Bibliotheken sind über das strategische Gleichgewicht zwischen Ost und West geschrieben worden, und in den USA, in Europa wie in der UdSSR beschäftigt sich eine ganze Industrie ausschließlich mit der Analyse dieses Fragenkomplexes. Glücklicherweise waren die politischen Führer auf beiden Seiten zu klug, auf ihre militärischen Berater zu hören oder den wilden Spekulationen ihrer Denkfabriken wirklich Glauben zu schenken. Wenn sie einmal doch genau hinhörten, schlitterte die Welt an den Rand des Desasters. 1962 war das besonders kraß, als Nikita Chruschtschow dem kartographischen Selbstbetrug zum Opfer fiel, der das Schicksal der Menschheit in diesem Jahrhundert so sehr beeinflußt hat. Die Amerikaner hatten versucht, fehlgeleitet von der irrealen Welt der Kartenzeichner, die Sowjetunion und ihre Verbündeten einzukreisen. Das Konzept war chancenlos. Die UdSSR und China sind viel zu groß, um effektiv eingekreist werden zu können. Es war auch sinnlos œ welchen Zweck sollte diese Einkreisung denn erfüllen? Aber für einen Augenblick fiel -18-
Chruschtschow selbst dieser Fehleinschätzung zum Opfer und schickte Raketen nach Kuba, um dieser angeblichen Umzingelung zu entkommen. Für eine Nation von Schachspielern war das ein erstaunlich dummer Zug. Die Sowjets hatten offensichtlich den Gegenzug nicht bedacht. Die Raketen in Kuba veränderten das wahre Gleichgewicht der Macht nicht œ aber sie provozierten die USA so sehr, daß der Atomkrieg als reale Möglichkeit erschien. Und dieser hätte damals wohl nur die UdSSR zerstört, nicht auch die USA. Die Fehlinterpretation der Landkarten hält an. Als die sowjetischen Truppen in Afghanistan einmarschierten, verbreiteten Washingtoner Falken die These, die Rote Armee suche offensichtlich den Zugang zum Persischen Golf, als ob eine 1600-Kilometer-Gewalttour durch den Himalaya irgendeinen Sinn gehabt hätte für einen Staat, der bereits die Gebirgspässe in den Iran vom Norden her kontrolliert. Landkarten wurden veröffentlicht, auf denen aggressive rote Pfeile quer durch Afrika gezogen waren und Europa einkreisten. In den achtziger Jahren wurde die Theorie verbreitet, daß die Sandinistas, sollte man sie nicht aus Nicaragua vertreiben, nächstes Jahr in Texas einmarschieren würden. Auf der Landkarte sieht alles so einfach und nah aus. Die tatsächlichen Geschehnisse sind beinahe das Gegenteil der drohenden Pfeile auf der Landkarte. Die Sowjetunion hat sich in den siebziger Jahren heftig übernommen, als sie in Vietnam, Kambodscha, Afghanistan, Süd-Jemen, Angola, Äthiopien, Mosambik und Nicaragua von ihr abhängige Regierungen an die Macht brachte. Das US-Außenministerium schätzt die sowjetischen Aufwendungen auf etwa 500 Millionen Dollar pro Jahr œ allein in Nicaragua. Neben den gewaltigen Kosten für den Afghanistan-Krieg, den Kosten der Unterstützung für Kuba und jeweils 1-2 Milliarden Dollar für Angola, Äthiopien und Vietnam, hat die UdSSR jährlich rund 20-30 Milliarden Dollar außerhalb Europas bezahlt. Die Kosten für die Garnisonen in Osteuropa mögen etwa doppelt so hoch sein, und die Waffenindustrie ebenso wie die Rote Armee verschlingen weitere riesige Summen. Soweit sich das beurteilen läßt, zieht das sowjetische Volk aus all diesen Ausgaben keinen wie immer gearteten Nutzen. Im Gegenteil. Der Zwang, diesen beeindruckenden Beweis sowjetischer Größe aufrechtzuerhalten, führte eben dazu, daß die -19-
sowjetischen Bürger für tägliche Gebrauchsgüter, die den Menschen im Westen selbstverständlich sind, Schlange stehen mußten. Das Land mit dem weltweit größten Baumbestand hat nicht genug Toilettenpapier für seine Bevölkerung, und den sowjetischen Bürgern werden nach wie vor selbstverständliche Dinge vorenthalten, die ein System mit höherer wirtschaftlicher Effizienz und geringerem imperialistischem Anspruch längst hätte zur Verfügung steilen können. Delegierte zum Moskauer Parteitag im Juni 1988 haben mit Verbitterung festgestellt, daß das Leben in Süd-Korea und Taiwan besser ist als im Mutterland des Sozialismus. Die Funktion als Vorhut der Weltrevolution während der letzten siebzig Jahre bedeutete im Inneren eine politische Unterdrückung, die nicht in alle Ewigkeit aufrechterhalten werden konnte. So wie in anderen europäischen Weltreichen kam der Moment, da die sowjetischen Bürger plötzlich realisierten, daß sie sich nicht länger mit einer unfähigen und tyrannischen Regierung abfinden mußten, und die Regierung entdeckte, daß sie nicht länger die Kraft und die Macht hatte, ihren Willen durchzusetzen. In der Langzeitperspektive der Geschichte ist der Zusammenbruch der Sowjetunion wohl unvermeidlich, aber unter den Gründen dafür œ wenn es tatsächlich dazu kommen sollte œ, sind sicherlich die sowjetischen ‡Siege— der siebziger Jahre zu nennen, die die amerikanischen Hardliner so aufgeregt haben. Wie schon das Britische Empire hat das sowjetische Weltreich nun eine viel zu große Ausdehnung erreicht, um von der heimischen Wirtschaft aufrechterhalten werden zu können, und daher muß jetzt der Rückzug beginnen. Der Rückzug der sowjetischen Macht, und vielleicht die Auflösung der Sowjetunion selbst, wird in der Welt zu großer Instabilität führen und dem Westen hohe Kosten aufbürden. Die Sowjetunion hat erkannt, daß die Kosten der Hegemonie untragbar sind, und überträgt sie den USA und West-Europa. Wenn sich die Sowjetunion aus Mosambik und Angola, Afghanistan und Nicaragua, Äthiopien und Kuba zurückzieht, werden die Amerikaner von ihren Verbündeten plötzlich erhebliche Rechnungen präsentiert bekommen. Die Unita, die Contras, die Mujaheddin und welche Regierung auch immer in Maputo œ sie alle werden nach amerikanischer Hilfe rufen, um mit dem Chaos, das sie erben, fertig zu werden. Es kostet viel mehr, ein -20-
Imperium von innen zu verteidigen als es von außen zu untergraben, und viel mehr, ein zerstörtes Land wieder zu Wohlstand und Stabilität zurückzuführen als es zu ruinieren. Angola und Mosambik, Äthiopien und Indochina spielen in den wahren Interessen von West-Europa und den USA nur eine Nebenrolle. Europa ist der Schauplatz der wichtigsten Konsequenzen des sowjetischen Rückzuges. Der ganze Kontinent muß mit den politischen Problemen der neuerdings unabhängigen Nationen im Osten fertigwerden, allem voran mit der deutschen Wiedervereinigung. In weniger als einem Jahr wurde eine vage, weit entfernte Möglichkeit zur Gewißheit, zur wichtigsten Frage in Europa. Man kann sich kaum eine bessere Gelegenheit dafür vorstellen, und auch jede weitere Verzögerung hätte die Wiedervereinigung nicht leichter gemacht. Natürlich werden Deutschlands Nachbarn dieses Ereignis nicht eben begrüßen, aber 45 Jahre nach dem Ende des Krieges haben diese Nachbarn, die beiden Super-Mächte und außenstehende querulierende Beobachter wie die britische Premierministerin Thatcher in der Sache nichts mehr mitzureden. Sie konnten nur noch zustimmen und sich über die Tatsache freuen, daß die DDR-Bürger ihr Selbstbestimmungsrecht auf diese Weise wahrgenommen haben, während die West-Deutschen den Lohn der Demokratie einfordern. Als sich Anfang 1990 die SED auflöste, wurde es offensichtlich, daß die Russen zuletzt doch ihrer Paranoia, diesem Erbe Stalins, entronnen waren, zumindest im Fall der DDR. Im Atomzeitalter gibt es keine Möglichkeit, daß ein wiedervereinigtes Deutschland Europa und die Welt gefährden könnte wie einst das Dritte Reich. Rußland wird in irgendeiner Form weiterbestehen und immer stärker als Deutschland sein. Aber es ist alles eine Frage der Sichtweise: Die Sowjetunion hat mehr als vier Jahrzehnte über ein revanchistisches Deutschland phantasiert, auch als sie selbst längst zur Supermacht aufgestiegen war. Aber dann bewiesen Gorbatschow und Glasnost, daß das Volk der Sowjetunion weiser ist, als die Propaganda hatte wahrhaben wollen: Vom Westen droht keine Gefahr, und das Volk der Sowjetunion wußte es. Die Frage war in dem Augenblick erledigt, als ein Rotarmist die Hammer-und-Sichel-Fahne auf dem Brandenburger Tor aufpflanzte. -21-
Im Juli 1989 nahm Gorbatschow in einer Rede vor dem Europarat offiziell Abschied von der Breschnjew-Doktrin. Er sagte: ‡Jede Einmischung in innere Angelegenheiten und jeder Versuch, die Souveränität von Staaten œ Freunden, Verbündeten oder anderen œ einzuschränken, ist unzulässig.— Er schloß ‡die Möglichkeit von Gewaltanwendung oder ihrer Androhung œ Bündnis gegen Bündnis, innerhalb eines Bündnisses oder sonstwo ...— aus, und Osteuropa verstand die Botschaft. Sechs Wochen später übernahm die ‡Solidarität— die polnischen Regierungsgeschäfte, und in den folgenden vier Monaten wurden weitere fünf kommunistische Regierungen hinweggefegt, ohne daß die Sowjetunion sich eingemischt hätte. Die Sowjetunion hat zwar ihre osteuropäischen Satelliten kampflos in die Freiheit entlassen, aber das bedeutet noch nicht, daß der Kommunismus in der UdSSR ebenso leicht aufgeben wird. Gorbatschow und seine Reformer versuchen, einen geordneten Rückzug anzutreten. Paradoxerweise macht ihr Erfolg den Ausbruch einer Reihe von Bürgerkriegen wahrscheinlich. Wenn die Regierung in Moskau zusammenbricht, wie schon 1917, werden die äußeren Republiken ihre Unabhängigkeit erklären, und nichts wird sie aufhalten können. Wenn aber die Zentralregierung überlebt, auch falls es eine nichtkommunistische Regierung sein sollte, wird sie vielleicht um den Erhalt des von den Zaren geerbten Reiches kämpfen. Russische Nationalisten könnten sehr wohl fordern, daß den Unabhängigkeitsbestrebungen in Litauen oder Aserbeidschan Einhalt geboten wird, da es andernfalls unweigerlich zur Abspaltung der Ukraine käme. Gorbatschow ist vielleicht der Kerenskij einer neuen Revolution, aber diesmal befehligt die Regierung ein enormes militärisches Potential, schwer bewaffnete und disziplinierte Soldaten, anders als die Heerhaufen von 1917, ganz zu schweigen vom Atomwaffenarsenal. Der Niedergang eines Weltreiches ist immer gefährlich und führt selten zu dem ruhigen Aufschwung, den die Feinde des Reiches vorhersagen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß sich der Zerfall des größten aller Imperien des 20. Jahrhunderts friedlich vollziehen wird. Patrick Brogan -22-
VORBEMERKUNG
QUELLEN Quellen und weiterführende Werke sind am Ende zu einem Literaturverzeichnis zusammengefaßt. Drei Publikationsreihen waren für dieses Buch besonders nützlich. Erstens die Country Studies der American University in Washington D. C., die für das Pentagon erstellt werden. Jeder Band enthält eine ausführliche Bibliographie. Zweitens die Berichte von Amnesty International über Menschenrechtsverletzungen und drittens die Berichte der Minority Rigths Group. Ich habe reichen Gebrauch von Korrespondentenberichten gemacht: The New York Times, The Washington Post, The New Yorker, The Times, Guardian, Observer und Independent und zahlreiche andere Publikationen waren die Quellen. Die Bevölkerungs- und Bruttonationalproduktszahlen (BSP) basieren hauptsächlich auf den Angaben der Weltbank. In Ländern wie Kambodscha und Afghanistan sind die BSP-Zahlen das Ergebnis von Schätzungen. Die Veränderungen des Dollarkurses mögen zu differierenden Zahlen führen, aber insgesamt ergeben sie ein anschauliches Bild der Einkommensverhältnisse. Die Flüchtlingsstatistiken stammen vom US Committee for Refugees. Diese Kommission legt einen sehr strengen Maßstab an den Flüchtlingsstatus an, der auf der Notwendigkeit von Schutz und Hilfe beruht. Daher schließen diese Zahlen all jene Geflohenen nicht ein, die sich in ihren Aufnahmeländer bereits integriert haben, wie die indochinesischen und kubanischen Flüchtlinge in den USA. Zahlen, die mit einem Stern gekennzeichnet sind (*), werden von den Aufnahmeländern in Frage gestellt, meistens aus politischen Gründen. ANHANG 1 listet die Kriege seit 1945 auf, dazu die geschätzten Opferzahlen. Die Grundlage dieser Schätzungen wird dort erläutert. ANHANG II faßt die Staatsstreiche, ANHANG III die Attentate im selben Zeitraum zusammen. Ich habe die Kriege analysiert, die die Welt von heute in Unruhe halten, also auch eine Zahl von Kriegen und Rebellionen, die zwar der Vergangenheit angehören, deren Auswirkungen aber noch immer das -23-
Geschehen beeinflussen. So habe ich zum Beispiel den Algerienkrieg nicht beschrieben œ er ist aus und vorbei und nur mehr Teil der algerischen und französischen Geschichte. Der Korea-Krieg hingegen findet hier Beachtung, da die Probleme, die er hinterlassen hat, ungelöst sind. Einige Kapitel behandeln Länder, von denen zu befürchten ist, daß sie in naher Zukunft von ernsthaften Krisen erschüttert werden. Den Themen ‡Drogenkrieg— und ‡Terrorismus— sind eigene Kapitel gewidmet. Alle Namen, Daten und Fakten sind mit größter Sorgfalt zusammengetragen, aber ich bin dem aufmerksamen Leser für jede Korrektur meiner Irrtümer dankbar. NAMEN Bei einer großen Zahl von Ländern, Städten und geographischen Begriffen haben sich im Lauf des 20. Jahrhunderts die Namen geändert, öfters mehr als einmal. Dahinter steckt meistens eine politische Ursache: aus Rußland wurde die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, eine Veränderung von besonderer politischer Bedeutung. Saigon wurde Ho Tschi Minh Stadt, St. Petersburg zunächst Petrograd und dann Leningrad. In ganz Afrika veränderten sich die Namen aus der Kolonialzeit: Leopoldville wurde Kinshasa, Lourenco Marques wurde Maputo und so weiter. Manchmal gibt es auch linguistische Ursachen: So änderten die Chinesen, um endlich ein einheitliches Transkriptionssystem ihrer Schrift in westliche Sprachen zu erreichen, die verbreitete Transkriptionsweise 1975 durch einen Erlaß. In diesem neuen PinyinSystem wurde Mao Tsetung in Mao Zedong umgeschrieben, aus Peking wurde Beijing. In der Weit von heute symbolisiert der Gebrauch des Namens oft eine politische Einstellung. Zwischen 1975 und 1978 nannte die Regierung von Kambodscha das Land ‡Demokratisches Kampuchea—. Wer diesen Namen heute noch verwendet, signalisiert zumindest eine stillschweigende Form der weiteren Anerkennung des Pol PotRegimes. Die Türken auf Zypern nennen ihren Teil der Insel ‡Republik Nord-Kibris—. Was die Briten Nordirland nennen, heißt bei den Protestanten Ulster und bei den katholischen Iren ‡Six Counties—. -24-
Seit Jahrzehnten sprechen Araber nicht von Israel, sondern vom ‡besetzten Palästina—. Bei der Darstellung historischer Ereignisse ist es notwendig, die dem jeweiligen Zeitraum entsprechenden Begriffe zu benützen, um Anachronismen und Verwirrung zu vermeiden, gerade dann, wenn die Namensgebung politisch bedeutsam ist. Das heutige Simbabwe war bis 1965 Süd-Rhodesien, von 1965 bis 1980 Rhodesien, und ganz kurze Zeit Simbabwe-Rhodesien. Die Zentralafrikanische Republik war einige Jahre das Kaiserreich Zentralafrika, und aus Ciudad Domingo wurde Ciudad Trujillo. So bedeutet beispielsweise die Verwendung dieser Namen in diesem Buch, daß sich der Text auf die Regierungszeiten von Kaiser Bokassa I. und Generalissimo Rafael Leonidas Trujillo bezieht.
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AFRIKA
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ANGOLA
Geographie: Fläche: 1.246.700 km2, das ist mehr als Spanien, Portugal, Frankreich und die Benelux-Staaten zusammen. Die kleine Exklave Cabinda nördlich des Zaire (Kongo) liefert den Großteil des angolanischen Erdöls. Bevölkerung: 8,9 Millionen, davon 2 Millionen Ovimbundu in Zentralund Süd-Angola, 1,5 Millionen Kimbundu im Nordwesten des Landes um die Hauptstadt Luanda und 700.000 Bakongo im Norden. Die meisten Bakongo leben in Zaire und Kongo. BSP: 772 $/Einw. Rohstoffe u. a.: Erdöl, Diamanten, Kaffee, Eisenerz, Holz, Sisal, Mais. Flüchtlinge: In Angola: 74.000 aus Namibia, 12.300 aus Zaire, 9.400 aus Südafrika. Im Ausland: 310.000 in Zaire, 94.000 in Sambia. Parteien: œ MPLA ‡Movimento Populär de Libertacâo de Angola— (Nationale Befreiungsfront für Angola). Die marxistische Partei findet ihre Hauptunterstützung im Kimbundu-Stamm im nördlichen ZentralAngola. Gegründet 1956. Die MPLA gewann den Bürgerkrieg von 1975/76 und stellt derzeit die Regierung. Sie wird von der UdSSR und Kuba unterstützt. œ FNLA ‡Frente Nacional de Libertacâo de Angola— (Nationale Befreiungsfront für Angola). Gegründet 1960 von Holden Roberto. 1961 spaltete sie sich wegen Stammesstreitigkeiten. Der große Teil stützt sich auf den Stamm der Bakongo in Nord-Angola und Zaire. Wird von Zaire unterstützt. œ Unita ‡Uniao Nacional para a Independencia Total de Angola— (Nationale Union zur vollständigen Unabhängigkeit Angolas). 1966 von Jonas Savimbi als Abspaltung der FNLA gegründet. Sie stützt sich auf den Stamm der Ovimbundu, den größten in Angola, der hauptsächlich in Zentral- und Süd-Angola lebt. Seit seiner Niederlage von 1975/76 führt Savimbi den Bürgerkrieg von seiner Stammesheimat aus weiter, unterstützt von den USA und Südafrika. Verluste: Im Kolonialkrieg 1961-1975 starben rund 90.000 Menschen, im Bürgerkrieg und im Kampf gegen Ausländer 1975/76 waren es -27-
rund 50.000, seit 1976 mehr als 150.000 Tote. Alle diese Angaben beruhen auf vagen Schätzungen. Angola ging, wie Mosambik, aus dem 15 Jahre dauernden revolutionären Kampf gegen den portugiesischen Kolonialismus (1961-1975) direkt in einen Bürger- und Stammeskrieg über, der seither andauert. Die MPLA-Regierung, unterstützt durch 30.000 55.000 kubanische Soldaten und massive Lieferungen der UdSSR, kämpfte gegen die Unita von Jonas Savimbi, der wiederum von Südafrika und den USA unterstützt wird. Unter dem Vorbehalt eines Waffenstillstandsabkommens, von Angola, Kuba und Südafrika im August 1988 grundsätzlich beschlossen und im Dezember unterzeichnet, zog Südafrika seine Truppen aus Angola ab, und Kuba sicherte zu, seine Soldaten etappenweise bis Juli 1991 zurückzuholen. In der Zwischenzeit gibt es zwar einen Defacto-Waffenstillstand zwischen Kuba und der Unita, nicht aber zwischen Unita und MPLA. Dieses Abkommen hat, zumindest derzeit, den Konflikt zwischen Kuba und Südafrika beendet, aber die meisten übrigen Fragen bleiben dennoch offen. So wie in Mosambik haben die Massenauswanderung der portugiesischen Siedler, der Krieg und die marxistisch orientierte unfähige Regierung die Wirtschaft des Landes ruiniert œ mit Ausnahme der Ölindustrie. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich hat das Regime von seiner Anlehnung an die Sowjetunion wenig profitiert. Angola bekam nur minimale Wirtschaftshilfe, und die Erlöse der Erdölfelder mußten für die Bezahlung der kubanischen Söldner und der sowjetischen Waffen aufgewendet werden. (Damit verschlingt der Krieg rund 70 % des Staatshaushaltes.) Wenn sich die Kubaner tatsächlich zurückziehen, wird die Regierung möglicherweise völlig zusammenbrechen. In den achtziger Jahren wurde Angola zum Exerzierplatz der ideologischen Auseinandersetzung zwischen der UdSSR und den USA. Eigentlich hat keines der beiden Länder wirkliches Interesse an Angola, weder wirtschaftlich noch strategisch oder politisch. Wenn Kuba sich zurückzieht, dann deshalb, weil die UdSSR die Lust an diesem Abenteuer verloren hat. Die Sowjetunion hat Milliarden in die MPLA hineingepumpt, weit mehr als die USA in die Unita, aber der Gewinn für sie ist gleich Null. -28-
GESCHICHTE Die Kolonisierung Angolas durch die Portugiesen begann 1575. Damals errichteten sie eine Festung an der Küste, aus der später Luanda hervorging. Die Portugiesen regierten das Land vier Jahrhunderte lang mit einer Mischung aus Unfähigkeit und Grausamkeit. Ehe die britische Kriegsmarine den Sklavenhandel unterband, hatte Portugal rund 3 Millionen Sklaven von Angola nach Brasilien verschleppt. Portugal hat seine afrikanischen Kolonien bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts völlig vernachlässigt. Als dann das übrige Afrika auf die Unabhängigkeit zusteuerte, erhöhte Portugal seine Investitionen in Angola und Mosambik œ mit der Hoffnung, durch die Verpflanzung portugiesischer Bauern nach Afrika ein neues Brasilien zu schaffen. Ungefähr 300.000 Portugiesen wurden in Afrika angesiedelt. Wie in allen anderen Teilen Afrikas entwickelten sich auch in Angola Unabhängigkeitsbewegungen, angeführt von Angehörigen der dünnen Schicht gebildeter Afrikaner. 1956 wurde die MPLA gegründet, 1960 die FNLA. Der Krieg gegen Portugal erschien 1961 erstmals realistisch, da die FNLA nach der 1960 errungenen Unabhängigkeit des Belgisch-Kongo (Zaire) dort Stützpunkte fand. Ihre Mitglieder kamen hauptsächlich aus dem Stamm der Bakongo, der auch in Zaire die Mehrheit bildet. Der Aufstand begann im März 1961. Ungefähr 700 Weiße wurden getötet, davon waren viele Siedler, die auf ihren Farmen massakriert wurden. Die portugiesische Armee und die Siedlermilizen der Weißen warfen den Aufstand innerhalb von sechs Monaten mit großer Brutalität nieder. Dabei kamen rund 20.000 schwarze Angolaner ums Leben. Die Ereignisse von 1961 waren für die portugiesische Regierung unter Antonio Salazar ein Schock, und sie führten zu einer Reihe von Reformen. Es stand allerdings nicht zur Diskussion, ob Portugal sich, wie andere europäische Länder, aus seinen Kolonien zurückziehen würde. 1963 brach der Guerillakrieg in Portugiesisch-Guinea aus, 1964 in Mosambik. Die FNLA wurde von der kongolesischen Regierung und der CIA -29-
unterstützt. Ihr Anführer Holden Roberto war allerdings kein durchschlagskräftiger Mann œ unter anderem schätzte er die Annehmlichkeiten des Lebens in Leopoldville zu sehr. Einer seiner Stellvertreter, Jonas Savimbi, löste sich 1966 von der FNLA und bildete die Unita, die sich auf den Stamm der Ovimbundu stützt, Unita-Kämpfer drangen allmählich in Ost-Zentral-Angola ein. Die andere Rebellengruppe, die marxistische MPLA, wurde 1956 von exilierten angolanischen Intellektuellen gegründet. Ihr Führer Dr. Agostinho Neto war Arzt und Dichter, und sein wichtigster Beitrag war, 1965 Che Guevara zu treffen und die Unterstützung der Kubaner für eine marxistische Revolution in Angola zu gewinnen. Aber obwohl die Kubaner zahlreiche MPLA-Guerillas ausbildeten, blieb sie eine ineffiziente und erfolglose Kampftruppe. Sie hatte ihre Stützpunkte in Zaire, schaffte aber den Durchbruch zu den BakongoGebieten im Norden und dem Stamm der Kimbundu nicht. Diese Gebiete wurden von starken portugiesischen Kräften unter Kontrolle gehalten. 1966 versuchte die MPLA von Sambia aus eine Offensive, die völlig fehlschlug. Die portugiesische Armee fand in ihrem heftig geführten Kampf gegen die Aufständischen die Unterstützung von Südafrika und der Regierung Ian Smith‘ in Rhodesien. Portugal gewann den Krieg in Angola: Die drei untereinander verfeindeten und unorganisierten Guerillaorganisationen waren keine ernstzunehmende Gefahr. Aber in Guinea verlief der Krieg anders, und 1974 wurde er in Mosambik zu einer unerträglichen Belastung der portugiesischen Wirtschaft. Die jüngeren Armeeoffiziere erkannten, daß der Kolonialkrieg nicht gewonnen werden konnte, und am 25. April 1974 übernahmen junge Offiziere in der unblutigen ‡Nelkenrevolution— die Macht in Lissabon. Sie kündeten an, alle portugiesischen Kolonien umgehend in die Unabhängigkeit zu entlassen. In Angola kamen die Rebellen aus dem Busch und steckten ihre Grenzen für die Zukunft ab. Die Portugiesen versuchten, eine Koalitionsregierung der drei Revolutionsparteien zu bilden. Roberto, Neto und Savimbi wurden nach Portugal gebracht und unterzeichneten am 15. Januar 1975 das Alvor-Abkommen. Darin wurde festgehalten, daß die drei eine Koalitonsregierung bilden würden; für den Oktober -30-
wurden Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung angesetzt. Die Unabhängigkeit sollte am Waffenstillstandstag, dem 11. November 1975 beginnen, 400 Jahre nach der ersten Ankunft der Portugiesen in Angola und genau 10 Jahre nach dem Tag, an dem Ian Smith die Unabhängigkeit Rhodesiens ausgerufen hatte. Die drei stimmten überein, ihre militärischen Positionen nicht zu verändern, und jeder Partner sollte für eine neue nationale Armee 8.000 Soldaten beistellen. Die neue Regierung trat am 31. Januar 1975 ihr Amt an, und schon am nächsten Tag brachen zwischen der MPLA und der FNLA Kämpfe aus. Keine der drei Gruppen zeigte die ernsthafte Absicht, mit den anderen zu kooperieren. Holden Roberto hatte seine Armee mit Hilfe von Präsident Mobutu aus Zaire aufgebaut und im Sommer davor die Unterstützung der Chinesen erlangt, während er zur gleichen Zeit seine früheren Kontakte zu den Amerikanern pflegte. Anfang 1975 kommandierte er ungefähr 15.000 Mann. Die MPLA, die zur Zeit der Revolution in Portugal nur rund 3.000 Männer hatte, suchte Hilfe bei ihren Freunden in Kuba. Die UdSSR witterte die Chance, Amerikaner und Chinesen zugleich in die Bredouille zu bringen und begann sofort mit Waffenlieferungen. Die MPLA wurde auch von einer Gruppe Katanga-Gendarmen unterstützt; diese waren nach dem gescheiterten Kampf um die Unabhängigkeit der kongolesischen Provinz Katanga und dem Sturz von Moise Tschombe vertrieben worden und haßten den Staat Zaire und seinen Präsidenten. Savimbi fand zwar in der Bevölkerung die meiste Unterstützung, da sein Stamm der größte in Angola war, aber seine Streitmacht war mit ungefähr 1.000 Mann die kleinste. Er wurde von Sambia und Tansania unterstützt; zunächst brachte er aber die übrigen portugiesischen Siedler auf seine Seite, später auch die USA und Südafrika. Der Bürgerkrieg breitete sich rasch aus. Bald entsandte Kuba 250 Berater, die in Angola Ausbildungslager für die MPLA errichteten. Diese Partei hatte den großen Vorteil, daß ihre Hauptunterstützung vom Stamm der Kimbundu kam, die Luanda und dessen Hinterland beherrschten. Im Juli 1975 vertrieb die MPLA die FNLA und die Unita aus Luanda, und die Koalitionsregierung brach zusammen. Ungefähr 20.000 Menschen starben in diesen Kämpfen. Innerhalb von sechs Monaten flüchteten die verbliebenen 300.000 portugiesischen -31-
Siedler, und Angola versank in der völligen Anarchie. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die USA nicht ernsthaft in den Konflikt verwickelt, und Kuba und die Sowjetunion hatten zwar die MPLA unterstützt, aber keine weitergehenden Interessen gezeigt. Nach den JuliEreignissen allerdings stiegen beide Seiten in den Ring. Die USA hatten eben in Vietnam das Ende eines zwanzigjährigen Engagements erlebt. Außenminister Henry Kissinger behauptete, daß die Etablierung einer kommunistischen Regierung in Angola als eine weitere Niederlage der Vereinigten Staaten betrachtet werden könnte und versuchte alles, das zu verhindern. Die CIA begann œ über Sambia und Zaire œ umfangreiche Waffenlieferungen an die Unita und die FNLA. Die UdSSR reagierte mit Schiffsladungen voller Waffen an die MPLA, was durch die Küstenlage Luandas wesentlich erleichtert wurde. Am Unabhängigkeitstag startete die FNLA von Norden und Osten einen Angriff auf die MPLA. Die Unita, unterstützt von südafrikanischen gepanzerten Einheiten, griff von Süden an und kam bis Novo Redondo, 186 Kilometer südlich von Luanda. Zusätzlich unternahm Mobutu aus Zaire einen œ erfolglosen œ Angriff auf Cabinda. Die FNLA- und Unita-Einheiten wurden von einer gemischten Truppe von MPLA und kubanischen Soldaten unter sowjetischem Kommando besiegt. Als sie auf Luanda vorrückten, flog Kuba 15.000 Soldaten ein, und die Sowjetunion lieferte gewaltige Mengen Waffen, darunter auch schwere Artillerie und Mehrfachraketenwerfer, die ‡Stalin-Orgeln—. Die amerikanische Unterstützung hielt sich durchaus in Grenzen (der US-Kongreß zeigte wenig Neigung, so kurz nach dem Vietnamfiasko wieder in einen Krieg verwickelt zu werden), und Südafrika wollte sich nicht mit der Sowjetunion anlegen. Der südafrikanische Verteidigungsminister P. W. Botha verkündete, daß ihn die amerikanische Doppelzüngigkeit um den Sieg gebracht habe, und schwor Rache. Später wurde er Staatspräsident von Südafrika, ehe er 1989 zurücktrat. Die angreifenden Armeen wurden zurückgeschlagen. Die letzte Stellung der FLNA fiel am 11. Februar 1976, und am selben Tag nahm die MPLA auch Huambo ein, die ‡Hauptstadt— von Savimbi in -32-
der Mitte des Landes. Die Südafrikaner zogen sich eilig zurück. Die MPLA schien einen vollständigen Triumph zu feiern. Im Verlauf dieses Debakels ließ der Kommandant einer Gruppe weißer Söldner der auf Zypern geborene britische Soldat Costas Georgiou, der unter dem Namen Oberst Callan kämpfte œ 14 seiner Männer wegen Feigheit vor dem Feind exekutieren. Er wurde später gefangengenommen und zusammen mit einem Amerikaner und zwei britischen Söldnern hingerichtet. Auch Söldner aus Belgien, Portugal und Frankreich, darunter Oberst Bob Denard, nahmen an den Kämpfen teil; aber auch sie konnten den Verlauf der Ereignisse nicht ändern. DER GUERILLAKRIEG SEIT 1976 Während die FNLA zerfiel, trat Jonas Savimbi mit seinen UnitaEinheiten den geordneten Rückzug in den Busch an, um den Kampf fortzusetzen. Im Dezember 1975 verabschiedete der US-Kongreß ein Gesetz, das dem Präsidenten jede geheime Unterstützung der Unita untersagte, und Savimbis frühere Alliierte in Sambia und Tansania ließen ihn im Stich und anerkannten die MPLA-Regierung in Luanda. So wandte er sich an die weißen Regierungen in Rhodesien und Südafrika um Hilfe. Diese Verbindung brachte ihm einige Probleme ein, stärkte aber seine militärische Schlagkraft. Er errichtete einen dauerhaften Stützpunkt in Jamba, im äußersten Südosten von Angola, nahe der Grenze zu Namibia. Unter dem Schutz der südafrikanischen Luftwaffe wurde Jamba zu einer ausgedehnten Lagerstadt, mit Spitälern, Fabriken und großen Ausbildungseinrichtungen, alles sorgfältig getarnt. Savimbis Streitkräfte sind mittlerweile auf nahezu 30.000 reguläre Soldaten angewachsen, dazu kommen 35.000 Guerillakämpfer. Selbst ohne die Unterstützung von Südafrika (und später den USA) beherrscht die Unita einen genügend großen Teil des Landes, um daraus ihre Einnahmen zu sichern; nicht zuletzt kontrolliert sie einige von Angolas Diamantminen. Savimbi setzte die Taktik fort, die sich im Kampf gegen die Portugiesen bewährt hatte. Er schickte kleine Gruppen von Guerillas los, um Regierungsstützpunkte zu überfallen, -33-
Kommunikationsverbindungen zu unterbrechen, isolierte Regierungstruppeneinheiten anzugreifen und Sabotageanschläge auf wirtschaftlich bedeutende Einrichtungen zu verüben. Am Anfang kochte dieser Krieg auf kleiner Flamme œ die MPLA war vollauf beschäftigt, sich in Luanda einzurichten, und die Kubaner bildeten eine Armee aus, während Savimbi im Busch seine Streitmacht aufstellte. Als schließlich seine militärischen Operationen umfangreicher wurden und auch die Regierung sich zum Kampf bereit fühlte, entwickelte der Krieg bald eine regelrechte Struktur. Jedes Jahr in der Dürreperiode griffen angolanische Truppen Jamba an, und regelmäßig wurden sie von Unita und Südafrikanern zurückgeschlagen. Zur selben Zeit weitete die Unita ihre Aktionen in Zentral-Angola beträchtlich aus; in der Heimat des Ovimbundu-Stammes fand sie sicheren Rückhalt. In dieser Region ist die Benguela-Eisenbahn von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Sie führt von den Kupferminen in Zaire nach Benguela an der angolanischen Küste. Während einer Offensive im Januar 1988 verkündete die Unita, daß nunmehr die Eisenbahnlinie in voller Länge unter ihrer Kontrolle stünde, von den Bergen hinter Benguela bis zur Grenze von Zaire œ allerdings ohne die größeren Städte. Wenn es der Unita gelänge, diese Gebietsgewinne zu konsolidieren, würde sie den Großteil des Landes kontrollieren, und die MPLA bliebe auf ein Gebiet längs der Küste und im Norden zurückgedrängt. Auf der Landkarte ergäbe das ein eindrucksvolles Bild, aber die Unita war noch nicht für einen Stellungskrieg gerüstet, mit schweren Waffen gegen die MPLA, ganz zu schweigen von den Kubanern. Würde sie Städte erobern und zu halten versuchen, müßten sie gegen die Gegenangriffe der Regierungstruppen verteidigt werden, und dann hätte die weit besser ausgerüstete Regierungsarmee die militärischen Vorteile auf ihrer Seite. Von dem Zeitpunkt in den späten siebziger Jahren, da die Unita erstmals eine ernsthafte Bedrohung für die Regierung darstellte, bis in das Jahr 1988, war die militärische Situation ein ziemliches Patt. Die MPLA konnte, mit der Unterstützung der Kubaner, eine Offensive nach der anderen gegen Jamba unternehmen, die Stadt aber nicht erobern. Noch weniger konnte sie die Unita-Kämpfer im endlosen Busch des östlichen und zentralen Angola ausrotten. Auf der anderen -34-
Seite mochten Savimbi und seine Verbündeten ihre Kontrolle über weite Landesteile ausdehnen, aber ohne Luanda einzunehmen, konnten sie den Krieg niemals gewinnen, und das war so lange nicht möglich, als die UdSSR die MPLA unterstützte. AUSLÄNDISCHE INTERVENTION Kuba unterstützte Angola mit Ausbildern logistisch und technisch œ einschließlich 9.000 Lehrern, Ärzten und anderen Spezialisten. Bis zu den Kämpfen zu Beginn des Jahres 1988 beteiligten sich die kubanischen Truppen aber normalerweise nicht an den Kämpfen. Dennoch galt der Dienst in Angola als hart und wurde zunehmend unbeliebt. Das war Castros Beitrag zur sowjetischen Außenpolitik. Obwohl die Angolaner verpflichtet waren, für die kubanische Söldnertruppe zu bezahlen œ in US-Dollar aus den Erdölerlösen œ war der Feldzug für Castro kein Geschäft. Ein kubanischer Überläufer, General Rafael del Pino, der im Mai 1987 in die USA flüchtete, behauptete, daß die Kubaner in Angola 10.000 Männer verloren hätten, darunter einige tausend Gefallene. Er sagte, daß der Krieg in Kuba äußerst unpopulär sei und daß nur Fidel Castro und sein Bruder Raul an den Sieg glaubten. Die Sowjets verstrickten sich in Angola ebenso wie im übrigen Afrika ohne vorherige Berechnung der Kosten und des Nutzens der Unternehmung. Die Kosten stellten sich bald als enorm heraus œ der Vorteil als Null. Seit 25 Jahren führte Südafrika einen Kleinkrieg gegen die SWAPO (‡South-West Africa People‘s Organization—), die um die Unabhängigkeit von Namibia kämpfte, und gleichzeitig bekämpfte Südafrika den ANC (‡African National Congress—), die bedeutendste Guerillagruppe in Südafrika. Die SWAPO hatte ihre Basis in Lobango in Süd-Angola, und der ANC konnte sich auf rund 9.000 Südafrikaner stützen, die nach Angola geflüchtet waren. Südafrika hat im südlichen Angola eine Sicherheitszone errichtet, die es mit Hilfe der Unita kontrolliert. In diesem Gebiet liegt ein riesiges Wasserkraftwerk, das noch in der portugiesischen Ära errichtet worden ist, und außerdem möchte Südafrika entlang der Grenze eine kampffreie Zone einrichten. -35-
Südafrika sorgte auch mit Flugzeugen und Artillerie für die notwendige Unterstützung, um die wiederholten angolanischen Angriffe gegen Jamba zurückzuschlagen, und im November 1987 stattete Präsident Botha einen offiziellen und vielbeachteten Besuch bei Savimbi ab. Die USA begannen ihre Unterstützung der Unita bald nach Präsident Reagans Amtsantritt im Januar 1981. Die Regierung setzte die Aufhebung des Kongreßbeschlusses von 1975 durch. Es war eine problematische Entscheidung. Südafrika hatte bereits 1978 der Unabhängigkeit Namibias zugestimmt, und die letzten Details wurden im Januar 1981 auf einer Konferenz in Genf festgelegt. Aber im November 1980 hatte Reagan die Präsidentenwahlen gewonnen, zum Teil sicherlich aufgrund seiner Versprechungen, die kommunistischen Eroberungen der vorangegangenen fünf Jahre zurückzuholen. Südafrika ließ das Abkommen über Namibia wie eine heiße Kartoffel fallen œ das Resultat: weitere leidvolle acht Jahre Krieg für Namibia und Angola. Die amerikanische Unterstützung der Unita lief nach anfänglichem Zögern bald voll an. Savimbi wurde bei einem Besuch in Washington im Januar 1986 wie ein Held empfangen. Am 30. Januar empfing er die ‡höchsten Weihen— œ ein formeller Besuch bei Präsident Reagan im Weißen Haus. Die Unita erhielt jährlich Waffenlieferungen im Wert von 15 Millionen Dollar, darunter ‡Stinger—-Boden-LuftRaketen und TOW-Panzerabwehrraketen. Wie in Afghanistan und Nicaragua rief diese bescheidene Investition der Amerikaner eine gewaltige sowjetische Reaktion hervor: Mitte der achtziger Jahre pumpten die Sowjets jährlich mehr als eine Milliarde Dollar in Angola hinein, um die kubanischen und angolanischen Truppen kampffähig zu erhalten. Für die USA bedeutete die Unterstützung Savimbis ein höchst preiswertes Instrument, Druck auf die Sowjetunion auszuüben œ eine Umkehrung der Situation in Vietnam. Aber nicht alle Amerikaner sind mit dieser Politik einverstanden. Savimbi kam im Juni 1988 wieder in die Vereinigten Staaten, als der Präsidentschaftswahlkampf auf seinem Höhepunkt war. Am 27. Juni besuchte er wieder Präsident Reagan, aber seine Hauptanliegen mußte er den Demokraten vortragen. Und zu seiner großen Bestürzung wurde er von Jesse Jackson, dem schwarzen Spitzenpolitiker der -36-
Demokraten, offen als Werkzeug der Südafrikaner angegriffen. Obwohl die USA die angolanische Regierung niemals anerkannt haben, sind sie der Haupthandelspartner des Landes. Die amerikanischen Ölkonzerne Chevron (Gulf) und Texaco machen glänzende Geschäfte œ im Schutz kubanischer Soldaten œ, und Angola hatte 1986 gegenüber den USA einen Exportüberschuß von 642 Millionen Dollar, mit denen das Land Waffen und Industrieanlagen erwarb. Das ist eine der Merkwürdigkeiten der Welt von heute. Südafrikanische Kommandotruppen griffen im Mai 1985 die Chevron-Anlagen in Cabinda an, wurden aber von den Kubanern zurückgeschlagen; dabei wurden zwei Südafrikaner getötet und einer gefangengenommen. Die UNO versuchte immer wieder zu vermitteln, um die Unabhängigkeit für Namibia und gleichzeitig den Rückzug der Kubaner aus Angola durchzusetzen. Jahrelang verliefen alle Konferenzen ohne Erfolg. Der amerikanische Unterstaatssekretär für Afrika im Kabinett Reagan, ehester Crocker, machte sich das Friedensabkommen im südlichen Afrika zur persönlichen Aufgabe. Seine Anstrengungen blieben erfolglos œ bis zum späten Frühjahr 1988. DER DURCHBRUCH 1987 begann die MPLA eine neue Offensive gegen Mavinga, eine Schlüsselstellung in der Verteidigung von Savimbis Hauptstadt Jamba. Daraufhin entsandte Südafrika zum ersten Mal seit 1975 große Truppenkontingente und Artillerieeinheiten in den Norden zur Unterstützung der Unita. Die angolanische Armee wurde im September in einer gewaltigen Schlacht am Lumba-Fluß besiegt, und dann traten Savimbis Truppen zum Gegenangriff auf die MPLA und die Kubaner in ihrem letzten Stützpunkt im Südosten, Cuito Cuanavale, an. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde die Unita ihre Gegner überhaupt aus dem südlichen Angola hinausdrängen. Savimbi belagerte Cuito Cuanavale einige Monate lang und konnte dabei auf die Unterstützung, südafrikanischer Langstreckengeschütze zählen. Er behauptete zwar, die Stadt eingenommen zu haben, aber die Angolaner und ihre kubanischen Verbündeten brachten Verstärkungen -37-
heran und hielten die Stellung. Castro sandte zusätzlich 12.000 Mann; im März 1988 wurde die Belagerung beendet, die Südafrikaner zogen ihre Truppen wieder aus Angola ab und ließen nur ein kleines Kontingent zur Kontrolle der ‡Sicherheitszone— längs der Grenze zurück. Die kubanischen Truppen rückten bis an die Grenze zu Namibia vor, und zum ersten Mal kam es zu ernsthaften Gefechten zwischen Kubanern und Südafrikanern im Grenzgebiet. Am 27. Juni 1988 fielen 12 südafrikanische Soldaten im Kampf gegen angolanische und kubanische Einheiten. Die Kubaner errichteten große Militär- und Luftstützpunkte im südlichen Angola œ gegenüber den südafrikanischen Basen in Namibia œ, und ein regulärer Krieg zwischen den beiden Armeen schien durchaus im Bereich des Möglichen. Die Verluste, die Kuba und Südafrika in diesen Gefechten erlitten, und die Aussicht auf weitere und heftige Kämpfe trugen wesentlich zum Entschluß bei, im August einen Waffenstillstand zu unterzeichnen. Die Entscheidung, die kubanischen Truppen zurückzuziehen, wurde allerdings nicht in Kuba gefaßt, sondern in Moskau. Die Sowjetunion, die zu dieser Zeit etwa 1.000 Militärberater in Angola stehen hatte, zog ihre eigenen Truppen aus Afghanistan zurück und drängte ihre vietnamesischen Verbündeten, Kambodscha zu räumen. Offensichtlich fiel da die Entscheidung, auch das verlustreiche Unternehmen in Angola zu beenden. Michail Gorbatschow hatte die Kernfrage gestellt: Welchen Sinn hatte es für die Sowjetunion, jährlich mehr als eine Milliarde Dollar in ein ewiges Patt im südlichen Afrika hineinzustecken? Die sowjetische Führung fand die Antwort im Frühjahr 1988, nach der plötzlichen Eskalation der Kämpfe in Angola. Auf dem Gipfeltreffen zwischen Reagan und Gorbatschow, im Dezember 1987 in Washington, war der sowjetische Generalsekretär gefragt worden, ob der Rückzug aus Afghanistan bedeuten würde, daß Angola als nächstes dran sei. Er bestand darauf, daß zwischen diesen beiden Vorgängen keine Verbindung bestünde œ außer dem Zufall, daß beider Länder Name mit A beginnt. Diese Aussage war einfach nicht wahr. Die Sowjets waren in Afghanistan viel tiefer verstrickt, moralisch und faktisch, und wenn sie sich aus Kabul zurückziehen konnten, dann erst recht -38-
aus Luanda. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidung offensichtlich noch nicht getroffen. Anfang Juni 1988 flog Reagan nach New York, zum vierten Gipfeltreffen mit Gorbatschow. In einem Statement, das im Schlußcommuniqué unauffällig untergebracht war, vereinbarten sie, daß beide Seiten Anstrengungen unternehmen würden, in der Angola-Frage zu einer Lösung zu gelangen œ als Stichtag wurde der 29. September genannt, der zehnte Jahrestag der Resolution 435 des Weltsicherheitsrates, in der Südafrika aufgefordert wurde, Namibia freizugeben. In der Zwischenzeit hatten die diplomatischen Bemühungen, den Krieg zu beenden, Fortschritte gemacht. Nach einem Treffen in London im Mai kamen Vertreter von Angola, Kuba, Südafrika und der USA in Kairo zusammen, in New York und zuletzt in Genf. In New York wurde am 12. Juni ein Rahmenabkommen erzielt, das den Rückzug Kubas aus Angola und Südafrikas aus Namibia vorsah. Am 26. Juli verkündete Fidel Castro, daß die kubanischen Truppen schrittweise und vollständig abgezogen würden. Das Abkommen wurde am 5. August in Genf unterzeichnet und drei Tage später von den Regierungen von Südafrika, Kuba und Angola ratifiziert. Darin wurde ein Zeitplan für die Beendigung der Kriege in Angola und Namibia erstellt: œ Unverzüglich sollte ein Waffenstillstand zwischen kubanischen und südafrikanischen Truppen in Kraft treten und Südafrika seine in Angola verbliebenen 600 Soldaten bis Ende August abziehen. œ Weitere Verhandlungen sollten über die übrigen offenen Fragen stattfinden, darunter der exakte Zeitplan für den kubanischen Rückzug, die zukünftige Unterstützung der USA und Südafrikas für die Unita sowie die sowjetische und kubanische Unterstützung der MPLA, die angolanische Unterstützung des ANC, und die Finanzierung der aufzustellenden UNO-Friedenstruppen. œ Der UNO-Plan für die Unabhängigkeit Nambias sollte am 1. November in Kraft treten. Diese Entwicklung sollte zu Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung in Namibia bis zum 1. Juni 1989 führen. Diese Versammlung sollte eine Verfassung entwerfen und das Datum für die Unabhängigkeit festlegen. œ Die Kubaner sollten sich aus Angola zurückziehen, aber Südafrika -39-
forderte, daß der Rückzug vor der Unabhängigkeitserklärung Namibias abgeschlossen sein müßte. Hiefür einen akzeptablen Kompromiß zu finden, dauerte weitere vier Monate. œ Südafrika sollte seine 50.000 Soldaten aus Namibia abziehen und nur 1.500 Mann in zwei südlichen Stützpunkten behalten. UNOTruppen in Stärke von 7.500 Mann sollten nach Namibia entsandt werden, um den Frieden zu sichern. Das Scheitern dieses ambitionierten Planes hätte niemanden überrascht. Der Schwachpunkt daran war nicht der zeitliche Ablauf; sollten sich wirklich die Kubaner aus Angola und die Südafrikaner aus Namibia zurückziehen, spielen die Details keine Rolle mehr. Die Hauptfrage war die nach der Ernsthaftigkeit dieser Absichten und bis zu welchem Ausmaß die beiden Länder in Zukunft die Unita und die angolanische Regierung unterstützen würden. Die verschiedenen Termine hatten keine Zauberkraft, und der 1. November als Stichtag wurde bald fallengelassen. Zunächst galt es vordringlich, den kubanischen Rückzug aus den vorgeschobenen Positionen längs der Grenzen durchzusetzen und zu gewährleisten, daß Südafrika nach dem kubanischen Rückzug nicht erneut in Angola einmarschieren würde. Diese Punkte wurden im Prinzip am 15. November in Genf beschlossen und von den drei Regierungen angenommen. Ungeachtet ihrer Zustimmung hat die MPLA eigentlich kein wirkliches Interesse am kubanischen Abzug, da sie befürchten muß, daß dann die Unita den Krieg gewinnen könnte. Aber die Sowjetunion und Kuba werden wohl den Wünschen der MPLA nicht mehr Gehör schenken als die Sowjets den Forderungen der afghanischen Regierung, oder Nixon und Kissinger den Bitten der südvietnamesischen Regierung 1972. Angola verweigerte direkte Verhandlungen mit der Unita, so wie die südvietnamesische Regierung Verhandlungen mit dem Vietcong abgelehnt hatte. Die Ernsthaftigkeit der Versprechungen Südafrikas, sich aus Namibia zurückzuziehen, wurde zur Zeit des Angola-Abkommens und in den folgenden Monaten angezweifelt, aber die Entkolonialisierung Namibias verlief friedlich. Die Wahlen in Namibia im November 1989 gewann die SWAPO, und am 21. März 1990 wurde das Land tatsächlich unabhängig. Es war offensichtlich, daß Südafrika alle -40-
Anstrengungen unternahm, in Namibia eine beherrschende Position zu behalten œ und ebenso, die ‡Frontstaaten— in wirtschaftliche Abhängigkeit zu bringen. Die politischen Veränderungen in Südafrika, die Präsident de Klerk bewirkte œ die Legalisierung des ANC und die Freilassung Nelson Mandelas œ haben auf diese Pläne aber wohl keinen unmittelbaren Einfluß. Nach der Unterzeichnung des Abkommens von Genf sah die offizielle Haltung der USA so aus, daß sie weiterhin das Recht beanspruchten, die Unita zu unterstützen, und zwar so lange, wie die UdSSR und Kuba die MPLA mit Waffen beliefern würden. Obwohl die USA wie auch die UdSSR wiederholt die Regierung in Luanda aufforderten, mit der Unita in Verhandlungen zu treten, lehnte diese immer wieder ab. Daraus ergab sich die Perspektive, daß der Bürgerkrieg nach der Namibia-Lösung und nach dem Abzug der Kubaner weitergehen würde. Auf Savimbi würden ohne das Hinterland Namibia ernsthafte logistische Probleme zukommen, aber seine Verbindung mit Präsident Mobutu von Zaire ist stabil, und die Hilfslieferungen würden dann wohl aus dem Osten kommen statt aus dem Süden. Eine stillschweigende Vereinbarung des Waffenstillstandes vom August zwischen Südafrika und Kuba sah vor, daß auch zwischen Kuba und der Unita Waffenruhe herrschen sollte. Die Kubaner stellten ihre Angriffe auf Jamba ein, und die Unita-Truppen ließen die Kubaner in Frieden. Die letzten Details wurden im November bei einem Treffen in Brazzaville vereinbart, aber das Abkommen wurde zu diesem Zeitpunkt nicht unterzeichnet. In Pretoria gab es in letzter Minute eine Verzögerung, und weitere Verhandlungen waren notwendig, ehe der Vertrag endlich, am 13. Dezember 1988, in Brazzaville unterzeichnet werden konnte. Am 22. Dezember wurde er formell in einer Zeremonie vor den Vereinten Nationen bekräftigt. Dieses Abkommen sah vor, daß der Stufenplan, der zur Unabhängigkeit von Namibia hinführen sollte, am 1. April 1989 beginnen würde. In den folgenden vier Monaten zogen 3.000 kubanische Soldaten aus Angola ab, und die übrigen kubanischen Einheiten wurden in das Gebiet jenseits des 15. Breitengrades zurückgezogen, etwa 300 Kilometer nördlich der Grenze. Zum Zeitpunkt der Wahlen in Namibia am 1. November hatten die Kubaner bereits 50 % ihrer Truppen aus Angola abgezogen und die übrigen -41-
nördlich des 13. Breitengrades zurückverlegt, ungefähr auf die Linie der Benguela-Eisenbahn. Bis zum 1. April 1990 sollte ein weiterer Abbau stattfinden und bis zum 1. August 1990 auch dieses letzte Drittel der kubanischen Armee auf etwa 13.000 Mann reduziert werden. Schließlich sollte dieses letzte Kontingent bis zum Juli 1991 das Land verlassen. ANGOLA HEUTE Die angolanische Währung (1 Kwanza = 100 Lwei) ist wertlos, aber aufgrund des Ertrages der Erdölförderung œ 1985 etwa 2,5 Milliarden Dollar œ gilt die Nationalökonomie des Landes von der Weltbank und anderen Organisationen als lebensfähig. Daher ist Angola einer der wenigen bankrotten Staaten, der noch kreditwürdig ist. Unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung 1975 und der Flucht der 300.000 portugiesischen Siedler kollektivierte die Regierung die Landwirtschaft und verstaatlichte die Industrie œ mit Ausnahme der Ölindustrie. Die Ergebnisse waren katastrophal. Landwirtschaft und Industrie brachen zusammen, und Angola muß Lebensmittel aus Europa und den USA einführen, damit nicht die Hälfte seiner Bevölkerung verhungert. Einst gab es in Luanda eine elegante Strandpromenade, nach dem Vorbild der Copacabana in Rio de Janeiro oder der Promenade des Anglais in Nizza, jetzt ist sie verödet, die Hotels, Geschäfte und Büros sind verlassen und aufgegeben. Die MPLA folgte den Ratschlägen sowjetischer Berater, die von Afrika keine Ahnung hatten, und versuchte ein System einzuführen, das schon in Europa nicht funktioniert hat. 1988 gestand die Sowjetunion offen ein, daß das ökonomische Modell, das sie ihren afrikanischen Schützlingen aufgedrängt hatte, mit deren tatsächlichen Bedürfnissen nichts zu tun hatte. Anatolij Adamishin, Vizeaußenminister für afrikanische Angelegenheiten, der die sowjetische Delegation bei den Verhandlungen mit den USA und Südafrika über die Zukunft von Angola und Namibia leitete, wurde bei einer Pressekonferenz gefragt, ob er meine, daß die SWAPO dem sozialistischen Modell folgen solle. ‡Persönlich glaube ich nicht, daß der Sozialismus in diesem Teil der Welt errichtet werden kann—, antwortete er. ‡Sicherlich gibt es in der Sowjetunion wenige Leute, -42-
die ihnen raten würden, eine sozialistische Gesellschaftsordnung unter den speziellen afrikanischen Bedingungen aufzubauen.— Mehr als 20 Jahre hatte die UdSSR den ‡wissenschaftlichen Sozialismus— als die Lösung aller afrikanischen Probleme angepriesen, und in Moskau wurde sogar die Patrice-Lumumba-Universität errichtet, eine Kaderschmiede, um die zukünftigen Apparatschiks des kommunistischen Afrika auszubilden. Tausende Afrikaner haben ihr Leben dem Sieg einer kommunistischen Revolution in Afrika geopfert, und Hunderttausende sind in den Kämpfen dafür und dagegen getötet worden oder auf Grund des Scheiterns der Revolution an Hunger oder Krankheiten gestorben, jetzt haben die Sowjets den Marxismus auf die Müllhalde der Geschichte geworfen. Die Zukunft für die Marxisten der Dritten Weit sieht plötzlich gar nicht mehr gut aus. Die Wechselkurse in Angola sind ebenso unrealistisch wie die Preiskontrolle hoffnungslos, so daß die wenigen ausländischen Firmen, die noch im Land geblieben sind, ihre afrikanischen Angestellten mit Konsumgütern bezahlen. Ein amerikanischer Journalist hat herausgefunden, daß die beliebteste ‡Währung— derzeit eine Kiste Bier ist. Gegen zwei Kisten Bier kann man genügend Kwanza eintauschen, um damit einen Flug nach Rio oder Lissabon zu bezahlen. Lebensstandard, Lebenserwartung, Kindersterblichkeitsraten, medizinische Versorgung und öffentliche Sicherheit waren vielleicht noch nie so trostlos wie jetzt, seit dem Verbot des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert. Nach Angaben der UNICEF leiden 45 % der angolanischen Kinder an Unterernährung, und der Pro-KopfJahresaufwand für medizinische Versorgung ist von $ 10.30 im Jahre 1981 auf $ 0.90 im Jahr 1987 gefallen. Der International Index of Human Suffering, den das ‡Population Crisis Committee— in Washington erstellt, reiht Angola in der Liste der Katastrophenländer auf Platz zwei; nur Mosambik ist noch schlechter dran. Das Versagen des Marxismus ist so offenkundig, daß die Regierung 1987 einen Kurswechsel vornahm und versuchte, den Privatsektor wiederzubeleben. Staatliche Geschäfte, Farmen, Dienstleistungsfirmen usw. wurden verkauft. Zusätzlich kündigte die Regierung etwa einen Monat im voraus an, daß der Kwanza um 100 -43-
% abgewertet werden würde œ mit anderen Worten, sie gab zu, daß der Kwanza völlig wertlos ist und durch eine neue Währung ersetzt werden müßte. Diese radikalen Maßnahmen wurden von internationalen Organisationen und der EG begrüßt, die jetzt wieder ihre Hilfsmaßnahmen für Angola aufnehmen. Die Sicherheitssituation ist beinahe so schlecht wie in Mosambik. Von den rund 7.000 Kilometern befestigter Straße, die die Portugiesen hinterließen, sind ungefähr noch 640 Kilometer sicher. Ausländische Botschaften raten ihren Mitarbeitern, nicht weiter als 40 Kilometer im Umkreis von Luanda zu fahren, nachdem im September 1987 drei schwedische Hilfsorganisationsangehörige 50 Kilometer außerhalb von Luanda von Unita-Guerillas entführt wurden. Einer der drei wurde getötet. Auch die Küstenstraße ist nicht sicher, und derzeit soll man nur in Konvois unter Bedeckung oder mit dem Flugzeug reisen. Die von der Regierung kontrollierten Gebiete sind wie Inseln in einem feindlichen Meer œ wie Kambodscha in den letzten Tagen von Lon Nol. Nach dem Abzug der Kubaner drängt sich diese Parallele noch mehr auf. Die Disziplin der angolanischen Soldaten wird immer mehr zum Problem, wie es in Uganda war, und immer mehr von ihnen gehen zu den Banditen über. Am 24. Juli kamen in Zaire eine Reihe afrikanischer Staatsoberhäupter zu einem Gipfeltreffen zusammen. Dabei trafen Präsident dos Santos und Jonas Savimbi zum ersten Mal seit 1975 zusammen, und sie einigten sich auf einen Waffenstillstand. Allerdings wurden dazu keine Einzelheiten veröffentlicht, und bald wurde das Abkommen überhaupt fallengelassen. Dos Santos behauptete, daß Savimbi zugestimmt hätte, das Land zu verlassen, während Savimbi versicherte, dos Santos hätte zugesichert, die Unita an der Regierungsmacht zu beteiligen. Der Krieg ging weiter. Im Januar 1990 startete die Regierung eine neue Offensive gegen Savimbis Stützpunkte im Südosten. Weitere Verhandlungen zwischen den beiden Streitparteien wurden in Kinshasa zwar vereinbart, aber die einzige Grundlage für Hoffnung war, daß die auswärtigen Mächte, Kuba, die Sowjetunion und Südafrika alle entschlossen schienen, sich aus der verfahrenen Situation in Angola zurückzuziehen. -44-
ÄTHIOPIEN
Geographie: Fläche 1,221.900 km×, ungefähr so viel wie Spanien, Portugal und Frankreich zusammen. Bevölkerung: 43,4 Millionen Einwohner. Davon sind 9 Millionen Amharen, 15 Millionen Oromo, 4 Millionen Somali, 5 Millionen Tigre. In Äthiopien werden mehr als 70 Sprachen und 200 Dialekte gesprochen. BSP: 120 $/Einw. Flüchtlinge: Im Landesinneren: 750.000 bis 1,5 Millionen Äthiopier*; 330.000 aus dem Sudan. Ins Ausland: 430.000* in Somalia; 660.000 im Sudan; 2.200 in Kenia. Im Sommer 1988 strömten 205.000 Flüchtlinge aus Somalia über die Grenze nach Äthiopien. Verluste: Zwischen 1972 und 1988 sind in den Kämpfen der Revolution, in den vier Sezessionskriegen und den Hungersnöten mindestens 2 Millionen Menschen ums Leben gekommen; 300.000 bis 350.000 starben in den Kämpfen in Eritrea. Mitte der siebziger Jahre sah sich die Republik Äthiopien mit vier ausgewachsenen Revolten konfrontiert œ in Eritrea und Tigray, im Ogaden und unter den Oromo in Zentral- und Süd-Äthiopien. Darüber hinaus gab es noch einen kleineren Aufstand unter den Afar im Nordosten. Aber die Regierung überlebte, vor allem dank der massiven Unterstützung durch die Sowjetunion und Kuba. Es gelang der Regierung, eine Invasion aus Somalia abzuwehren und die Aufstände einzugrenzen. Sie gehen aber weiter œ im Ogaden und in den Oromo-Provinzen zwar als kleinere Guerillakämpfe, aber der Guerillakrieg in Tigray und der Krieg um Eritrea bluten Äthiopien aus. Das Regime überstand auch die Hungersnot von 1984, die eine Konsequenz der Dürreperioden der frühen achtziger Jahre war, obwohl eine Million Menschen starben. 1988 gab es erneut eine Hungersnot, nachdem Ostafrika 1987/88 abermals von einer Dürrekatastrophe heimgesucht worden war. Zur selben Zeit erlitt Äthiopien im Eritrea-Krieg empfindliche Niederlagen, und 1989 -45-
rückten die Tigray-Rebellen vor, um die Hauptstadt von der Verbindung zum Meer abzuschneiden. Die UdSSR unterstützt Äthiopien zwar weiterhin militärisch, aber unter Gorbatschow ist ihre Begeisterung für afrikanische Abenteuer weit weniger enthusiastisch als unter seinen Vorgängern. Äthiopien ist wohl einer der Staaten der Welt mit den geringsten Überlebenschancen. GESCHICHTE Äthiopien ist ein gebirgiges Land, mit Hochebenen und unzugänglichen Tälern. Bis in die fünfziger Jahre wurde es Abessinien genannt. Die Amharen, der herrschende Stamm, traten im 4. Jahrhundert zum Christentum über, und seither gehören sie zur Koptischen Kirche, die auch in Ägypten noch weiterbesteht. Die islamische Eroberung des 7. Jahrhunderts schnitt Äthiopien von der Welt der Christenheit ab, und im Mittelalter verbreiteten sich in Europa Legenden über das wundersame Königreich des Priesters Johannes, irgendwo am Ende der Welt. Die Wirklichkeit war weniger großartig. Äthiopien war arm und abgelegen, und seine Herrscher kämpften beständig gegen andere Stämme. Ihr Herrschaftsbereich erreichte manchmal ungefähr die heutige Ausdehnung Äthiopiens, manchmal wurde er auf das Kernland der Amharen in den Bergen zurückgedrängt. Forschungsreisende des 19. Jahrhunderts entdeckten ein Land von extremer Armut und Rückständigkeit, dessen paranoide Herrscher aus Furcht vor einer Revolte ihre Söhne einsperrten. Unter den Entdeckern war der französische Dichter Rimbaud, der von 1882 bis 1891 Somalia, den Ogaden und Abessinien bereiste. Er lebte in Harar, verkaufte Gewehre an Kaiser Menelik (der ihn nie bezahlte) und starb an einer Infektionskrankheit, die er sich dort geholt hatte. Aufgrund seiner Unzugänglichkeit ließen die europäischen Mächte Abessinien bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frieden. 1868 unternahmen die Briten aus Indien, empört über die Mißhandlungen britischer Bürger in Abessinien, eine Strafexpedition gegen Kaiser Theodoros II. Der Feldzug wurde von Lord Napier geführt, der ihn wie zuvor ein ähnliches Unternehmen in Afghanistan anlegte. Er lud seine Kanonen auf Elefanten, errichtete unterwegs Brücken und -46-
Straßen, marschierte direkt ins Zentrum des Kaiserreichs und belagerte Theodoros‘ letzte Festung. Der Kaiser zog den Selbstmord der Niederlage vor. Nachdem ihre Ehre wiederhergestellt war, zogen sich die Briten an die Küste zurück und segelten davon. Um die Nachfolge des Kaisers zu kämpfen überließen sie den Abessiniern. Auf längere Sicht war der Sieger Menelik II., König von Shoa (1844-1913), der sich selbst 1889 zum Kaiser krönte, nachdem sein Vorgänger Yohannes IV. in einer Schlacht im Sudan gefallen war. Menelik verdoppelte die Größe des Reiches, indem er im Süden und Südwesten fruchtbare Provinzen und im Südosten die Wüste Ogaden, die von nomadischen Somali bewohnt wurde, eroberte. Um diese Zeit hatten die Italiener Eritrea gegründet, und Franzosen, Briten und Italiener hatten sich an der Küste bis zum Kap der guten Hoffnung niedergelassen. Abessinien war der Zugang zum Meer abgeschnitten. Die Italiener versuchten 1895, in einem Anfall imperialen Größenwahns, Abessinien zu erobern. Im Februar 1897 wurden sie in der Schlacht von Adua gründlich besiegt œ die einzige entscheidende Niederlage, die europäische Truppen im Kampf um afrikanische Kolonien je erlitten haben. Der siegreiche Menelik unterzeichnete verschiedene Abkommen mit seinen europäischen Nachbarn, und für die nächsten 37 Jahre blieb Abessinien von kolonialen Ansprüchen verschont. Menelik starb 1913, und nach einer Zeit des Chaos und der internationalen Einmischung folgte ihm sein Cousin Ras Lej Tafari Makonnen, der sich 1916 selbst zum Kronprinz und tatsächlichen Herrscher des Landes ernannte. 1930 krönte er sich selbst zum Kaiser und nannte sich hinfort Hailé Selassié I. Einer der Titel von Hailé Selassié war ‡Löwe von Juda—, denn er betrachtete sich als Abkömmling von König Salomon und der Königin von Saba. 1934 erklärten die Italiener unter Mussolini einen Grenzzwischenfall zum Kriegsgrund und überfielen Abessinien abermals. Diesmal hatten sie Bomben und Giftgas, um die Abessinier zu besiegen, und sie besetzten Addis Abeba im Mai 1936. Dann errichteten sie Italienisch-Ostafrika, das aus Eritrea, Abessinien und Somalia bestand. Hailé Selassié erhob vor der Vollversammlung des Völkerbundes in Genf Klage, daß die Mitgliedsstaaten duldeten, daß -47-
ein Mitglied das andere überfallen und besetzt hatte. Die Briten und Franzosen aber, die immer noch hofften, Mussolini als Verbündeten gegen Hitler zu gewinnen, erkannten 1938 die Annexion an. Zwei Jahre später sollte sich ihre Perfidie rächen œ Mussolini verbündete sich mit Hitler, fiel Frankreich in den Rücken und besetzte BritischSomaliland. Mussolini sollte sich seines Raubes nicht lange erfreuen. Die Briten eroberten Italienisch-Ostafrika in einem sechsmonatigen Feldzug und nahmen dabei 200.000 Italiener gefangen. Nach dem Krieg, getrieben von ihrem Schuldgefühl, Hailé Selassié verraten zu haben und auch beeinflußt durch die Tatsache, daß die USA nun seine Verbündeten waren, übergaben sie ihm 1952 Eritrea und auch den Ogaden, der für kurze Zeit mit dem Rest von Somalia vereinigt worden war. Später wurde Äthiopien die Verwaltung Eritreas von der UNO als Treuhandmandat übertragen. John Foster Dulles, der neue amerikanische Außenminister, stellte fest: ‡Im Sinne der Gerechtigkeit müßten die Bewohner Eritreas befragt werden ... Aber die strategischen Interessen der USA lassen es notwendig erscheinen, daß das Land mit unserem Verbündeten Äthiopien vereinigt wird.— Äthiopien hatte sich mit starken Truppenkontingenten am KoreaKrieg beteiligt und den USA Stützpunkte eingeräumt, vor allem die Fernmeldebasis Kagnew in den Bergen bei Asmara. 1962 annektierte Hailé Selassié Eritrea. Endlich hatte Äthiopien das Meer erreicht. Alle folgenden Probleme und Konflikte, einschließlich der Revolution von 1974 und dem Sturz des Herrschers, resultierten aus diesem Erfolg. DIE REVOLUTION Hailé Selassiés Kaiserreich war im 20. Jahrhundert ein Relikt. Die einzigen Exportgüter des Landes waren Kaffee und Ölsaat, nicht annähernd genug, um die Wirtschaft eines großen und zu entwickelnden Landes zu tragen. Die soziale Ordnung œ wenn schon nicht die Monarchie œ hätte überleben und sich selbst erneuern können, wenn nicht die Regierung so korrupt und unfähig gewesen wäre. Als der Kaiser alterte, verlor er zunehmend die Kontrolle über seine Familienmitglieder und Beamten, die sich mehr um ihren -48-
eigenen Vorteil kümmerten als um die Verwaltung des Landes. Einige wenige Reformen wurden angeordnet, aber die meisten bestanden nur auf dem Papier. Äthiopien war wie Persien unter Schah Reza Pahlewi, nur viel ärmer. Es hatte kein Öl und nur eine ganz dünne gebildete Oberschicht. Hailé Selassié wurde senil, aber er weigerte sich, einen geeigneten Fürsten oder Beamten mit den Regierungsgeschäften zu betrauen. Einer seiner Söhne wurde bei einem Autounfall getötet, ein anderer erlitt einen Schlaganfall und ging in die Schweiz. Hailé Selassié, der im Juli 1892 geboren worden war, ernannte niemals einen Nachfolger, Der Funke, der die Revolution auslöste, war die Dürre von 1972/73 und die darauffolgende Hungersnot, die in den Provinzen Wollo und Tigray mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete. Die Regierung traf keine Maßnahmen zu ihrer Rettung und leugnete, daß überhaupt ein Problem bestünde. Tatsächlich wurden zur gleichen Zeit die Getreideexporte aus Provinzen, die nicht von der Dürre betroffen waren, verdoppelt. Die Wahrheit über dieses Desaster wurde im Ausland nur durch einen BBC-Bericht von Jonathan Dimbley bekannt. Im Januar 1974 erschütterte eine Serie von Meutereien die Armee. Die Rebellen in Eritrea hatten Siege errungen und die Armee gezwungen, sich in ihre wenigen übriggebliebenen Stützpunkte zurückzuziehen, und die jüngeren Offiziere waren durch die Unfähigkeit ihrer Vorgesetzten demoralisiert und verunsichert. Die Regierung hatte keine Autorität mehr und gab allen Forderungen der Meuterer nach. Im März gab es einen Generalstreik, und zu Beginn des Frühjahrs nahmen die Meuterer die höheren Offiziere gefangen. Im Juni gründeten sie den Derg, ein Koordinationskomitee mit höchstens 126 Mitgliedern, die alle Armee-Einheiten repräsentierten. In einem schleichenden Staatsstreich übernahm der Derg im ganzen Land die Macht. Der Vorsitzende des Koordinationsausschusses war Major Mengistu Haile Mariam, damals 30 Jahre alt. Er wurde gewählt, da er weder Amhare noch Eritreer ist, sondern aus dem Stamm der Oromo kommt. Hailé Selassié, nun ein zweiundachtzigjähriger kindischer Greis, verlor den Rest seiner Autorität an den Derg, der alle seine Minister festnehmen ließ. Dann strahlte der Derg die BBC-Dokumentation über -49-
die Hungersnot im äthiopischen Fernsehen aus, um der Bevölkerung die Unfähigkeit des Kaisers vor Augen zu führen. Am 12. September 1974 wurde Hailé Selassié abgesetzt, in einem Volkswagen aus seinem Palast gebracht und eingesperrt. Er starb œ vielleicht wurde er auch ermordet œ am 12. August 1975. DAS NEUE ÄTHIOPIEN Das neue Regime ähnelte in vielen Punkten dem alten. Seine Maßnahmen waren undurchschaubar, diktatorisch, brutal und von Unfähigkeit geprägt. Im November 1974 forderte der Armeechef, der de facto die Macht übernommen hatte, General Aman Michael Andorn, ein Eritreer, daß der Eritrea-Krieg beendet und das Land in die Unabhängigkeit entlassen werden sollte. Die anderen führenden Funktionäre des Derg, allen voran der mittlerweile zum Oberstleutnant beförderte Mengistu, wiesen diesen Vorschlag ab, und Aman wurde kurzerhand erschossen. Zwei Tage später, am 23. November, befahl Mengistu die Hinrichtung von 59 Menschen (nach manchen Quellen 82). Dieses Massaker wurde als Abrechnung mit dem alten Regime und Niederschlagung einer Gegenrevolution ausgegeben œ und so wurde auch Amans Ermordung gerechtfertigt. Die meisten der Erschossenen waren die Minister, Prinzen, Generäle und andere Würdenträger, die seit der Revolution eingesperrt worden waren, darunter ein Enkel von Hailé Selassié. Im Mai 1988 begnadigte der Derg sieben überlebende Prinzessinnen, darunter die neunundsiebzigjährige Tochter des Kaisers und die Witwe des ermordeten Enkels. Drei andere blieben eingekerkert. Neuer Vorsitzender des Derg (oder PMAC, ‡Provisorial Military Administrative Council—) wurde Brigadegeneral Teferi Banti. Im Juli 1976, nach weiteren Rückschlägen in Eritrea, gab es im Derg einen neuen Versuch, den Kurs zu wechseln und mit den Eritreern zu verhandeln, aber Mengistu reagierte einmal mehr darauf mit Gewalt und ließ die ‡Dissidenten— erschießen. Im September 1976 stimmten überlebende Mitglieder des Derg dafür, Mengistu seiner Machtfülle zu entkleiden. Unglücklicherweise setzten sie ihn nicht fest, und am 2. Februar 1977 gab es in einer Derg-Versammlung eine Schießerei, bei -50-
der alle seine Gegner ums Leben kamen, einschließlich General Teferi Banti. Zu Beginn der Revolution wurden mehrere politische Parteien gegründet, darunter die ‡Äthiopische Revolutionäre Volkspartei— (EPRP). Der Derg bildete seine eigene Partei, die ‡Arbeiterpartei— (SEDED), zwei Jahre später. Nach dem Coup vom Februar begann Mengistu den ‡Roten Terror— gegen seine Gegner, und städtische Milizkommanden machten Jagd auf EPRP-Mitglieder. Im Zusammenhang damit wurden in Addis Abeba rund 5.000 Jugendliche œ zwischen 12 und 25 œ getötet. Eine andere Revolutionspartei, die ‡Gesamtäthiopische Sozialistische Bewegung— bekannt unter ihrer amharischen Abkürzung MEISON œ versuchte 1977 einen Staatsstreich, verlor, und die Mitglieder wurden von Mengistus Sicherheitspolizei ermordet. Der Terror erreichte einen Höhepunkt im Dezember 1977 und im Januar 1978 danach waren die EPRP und MEISON ausgelöscht. Unmittelbar nachdem der schleichende Staatsstreich erfolgreich abgeschlossen worden war, hatte sich Äthiopien zum marxistischen Staat erklärt, die Industrie verstaatlicht und die Landwirtschaft nach bolschewistischem Modell kollektiviert. Die USA konnten ihre Satellitenstation entbehren, und die Regierung Carter, neu im Amt, verärgert über die Menschenrechtsverletzungen der Äthiopier, stellte die Waffenlieferungen im Februar 1977 ein. Mengistu flog im Mai 1977 nach Moskau und unterzeichnete Freundschaftsverträge mit der UdSSR und anderen kommunistischen Ländern. Die Hauptsorge der Regierung war ihr Überleben. Die ‡Eritreische Volksbefreiungsfront— (EPLF), die die Unterstützung des Sudan und Saudi-Arabiens genoß, obwohl sie sich selbst als marxistisch deklarierte, hatte eine höchst schlagkräftige Guerillaorganisation aufgebaut und ihre Kontrolle über die gesamte Provinz ausgedehnt, außer zwei oder drei größeren Städten. Zwischen 1977 und 1979 verlor die Zentralregierung ein Drittel ihrer Eritrea-Armee und mußte zugleich eine Invasion von Somalia abwehren, das den Ogaden erobern wollte. (Siehe ÄTHIOPIEN, ERITREA und SOMALIA). Zur gleichen Zeit wurde die ‡Volksbefreiungsarmee von Tigray— (TPLF) gegründet, die sehr schnell die Kontrolle über die Provinz -51-
übernahm. Tigray liegt im Norden von Äthiopien, zwischen der Hochebene und Eritrea am Roten Meer. Da alle Straßen nach Eritrea das Gebiet von Tigray queren, war das ein böser Verlust. Im Gegensatz zu Eritrea will Tigray allerdings nicht unbedingt aus dem äthiopischen Staatsverband ausscheiden œ die Tigre waren seit Jahrhunderten Teil des äthiopischen Kaiserreichs und sind nicht auf die Abspaltung aus. Der vierte Aufstand war allerdings wieder eine Sezession, Die ungefähr 15 Millionen Oromo, rund ein Drittel der Bevölkerung Äthiopiens, fordern œ vertreten durch die ‡Oromische Befreiungsfront— (OLF) œ einen unabhängigen Staat. Darin lag für die Regierung die größte Sprengkraft, Die weit größere äthiopische Bevölkerung kann theoretisch Eritrea und den Ogaden unbegrenzt lang besetzen, und selbst wenn ein Regierungswechsel in Addis Abeba zu einer politischen Veränderung führen würde, könnte das Land ihren Verlust überleben. Eritrea und der Ogaden haben keine Bodenschätze und tragen nichts zur Stärkung Äthiopiens bei. Aber die Oromo-Provinzen sind die reichsten des Landes. Ihre Abspaltung würde Äthiopien auf das armselige Hochplateau reduzieren, von dem aus die Amharen im 19. Jahrhundert ihren Aufstieg begonnen haben. Äthiopien hätte all diese Probleme ohne die unerschöpflichen Materiallieferungen der Sowjetunion und ohne kubanische Truppen niemals überstanden. Am Höhepunkt des Krieges mit Somalia, im Herbst 1977, standen 17.000 kubanische Soldaten im Einsatz, und die UdSSR schafften über eine Luftbrücke riesige Materialmengen nach Addis Abeba. Dadurch konnte Äthiopien diese Zeit überstehen, Somalia zurückschlagen und einen Großteil von Eritrea zurückerobern.
ERITREA Die Menschen in Eritrea haben während der letzten fünfzehn Jahre ununterbrochen den Krieg erlebt, und bereits davor gab es zehn Jahre lang einen begrenzten Guerillakrieg. Die ‡Eritreische Volksbefreiungsfront— hat sich zu einer schlagkräftigen Armee entwickelt, mit ungefähr 35.000 regulären Soldaten (darunter viele -52-
Frauen), die von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Sie hat die ständige Kontrolle über ungefähr ein Drittel des Landes errungen, im Nordwesten, geschützt durch eine ca. 350 Kilometer lange befestigte Grenze, die die äthiopische Armee bislang nicht überschreiten konnte. In dieser geschützten Zone hat die EPLF Fabriken, Schulen, Spitäler und Waffenwerkstätten errichtet, all das zum Schutz vor der äthiopischen Luftwaffe tief in die Berge eingegraben. Eritrea hat eine Fläche von ungefähr 120.000 km2 und rund 4 Millionen Einwohner. Die Hälfte davon sind Christen, die meisten anderen Moslems. Die Christen besiedeln die Berge im Westen und sprechen Tigrinya; diese Sprache wird auch in Tigray gesprochen und ist mit der Staatssprache Amharisch verwandt. Die Moslems sprechen Arabisch und verschiedene andere Sprachen und leben an der Küste des Roten Meeres. Eritrea ist keineswegs homogener als Äthiopien selbst, und sein Nationalismus ist hauptsächlich das Ergebnis der italienischen Okkupation und des Widerstandes gegen die Zentralregierung in Addis Abeba. Die EPLF kontrolliert den Großteil des Landes, während die Herrschaft der Äthiopier auf einige Städte beschränkt ist; aber bei der Großoffensive im März/April 1988 eroberte die EPLF etliche Städte im Westen und Süden. In dieser Provinz sind derzeit ungefähr 120.000 Soldaten stationiert. Verlustziffern sind unmöglich zu verifizieren. Colin Legum schätzte 1983, daß bis zu 250.000 Menschen in den Kämpfen seit 1974 getötet worden seien, und seit 1983 waren es wohl weitere 50.000 bis 100.000. Die 660.000 Flüchtlinge im Sudan sind hauptsächlich Eritreer und Tigre, und wenn man die Flüchtlinge innerhalb des Landes und die vom Derg Deportierten zusammenzählt, erscheint es durchaus möglich, daß die Hälfte der eritreischen Bevölkerung aus ihrer Heimat vertrieben worden ist. DER KRIEG Die Rebellion begann 1961, noch bevor Hailé Selassié Eritrea formell annektierte. In diesem Jahr wurde die ‡Befreiungsfront für Eritrea— (ELF) gegründet, und sie begann im September mit dem Guerillakampf. Das war eine hauptsächlich Arabisch sprechende -53-
Moslem-Organisation, ihre militanten Kämpfer rekrutierten sich aus der gebildeten Schicht in Asmara und Massawa und aus denen, die in Saudi-Arabien oder Kairo studiert hatten. Von Anfang an wurde die ELF von den radikalen arabischen Regierungen unterstützt. Daher teilte sie auch das wechselnde Glück der Nasseriten und der irakischen und syrischen Baath-Parteien und wurde immer wieder gespalten und neuorganisiert. 1970 wurde eine rivalisierende Organisation gegründet, die EPLF, deren Mitglieder hauptsächlich Tigrinya sprechende Christen aus dem Hochland sind. Ihr Führer ist Isaias Aferworki. Sowohl die EPLF wie die ELF bekannten sich zu einer marxistischen Philosophie, und bald begannen sie sich auch gegenseitig zu bekämpfen. Zwischen 1970 und 1975 wurden mehr als 3.000 Eritreer in diesem ‡Krieg im Krieg— getötet, den schließlich die EPLF für sich entschied. Verschiedene Anstrengungen in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern , die Guerilla-Organisationen zu verschmelzen, scheiterten, zum Teil an der Frage der Beziehungen zur arabischen Welt, zum Teil wegen des Vorschlages, den die UdSSR unterstützte, daß die Eritreer über eine Föderationslösung mit Äthiopien verhandeln sollten. In den frühen Jahren dieser Rebellion, vor der äthiopischen Revolution, bewaffnete die UdSSR die Rebeilen und entsandte kubanische Berater als Teil ihrer Anstrengungen, die Regierung von Hailé Selassié zu destabilisieren. Die USA und Israel, das die Araber von den südlichen Ufern des Roten Meeres fernhalten wollte, unterstützten Hailé Selassié. Aus den gleichen realpolitischen Gründen unterstützt Israel auch weiterhin die äthiopische Regierung. Nach der Revolution von 1974 konnten die Eritreer einen kurzen Augenblick lang hoffen, daß die neue Regierung ihnen die Selbstbestimmung zugestehen würde. Diese Periode endete mit der Ermordung des Staatschefs General Aman Michael Andorn, der Eritreer war. Eritreische Armee- und Polizeieinheiten liefen in Massen zu den Rebellen über, und eritreische Guerillas sickerten in die Provinzhauptstadt Asmara ein und eroberten sie beinahe. Erst nach schwersten Kämpfen mit äthiopischen Armee-Einheiten wurden sie besiegt. Die Entscheidung des Derg, die eritreische Unabhängigkeitsbewegung zu unterdrücken, und seine brutalen Methoden förderten die Rekrutierungskampagnen der EPLF. Zu -54-
Beginn des Jahres 1975 hatte sie 6.000 Guerillakämpfer, aber zwei Jahre später waren es bereits mehr als 40.000. Mengistus Waffe Nummer 1 war der Hunger. Die Dürre hielt an, und der Derg nützte sie skrupellos gegen die Eritreer. Aber das allgemeine Chaos in Äthiopien war so groß, daß die Rebellen den Großteil Eritreas erobern konnten, äthiopische Einheiten in Asmara und in den beiden Hafenstädten Assab und Massawa belagerten und praktisch den ganzen Rest der Provinz kontrollierten. Im Mai 1976 rekrutierte der Derg in letzter Not 40.000 Bauern und schickte sie gegen die Stellungen der Eritreer. Es war ein reines Blutbad. 1977 schien der Sieg für die Eritreer zum Greifen nahe: Äthiopien konnte Asmara und Massawa kaum noch halten; die Somalis waren auf dem Sprung, in den Ogaden einzufallen, und das Regime in Addis Abeba schien am Rande des Zusammenbruchs zu stehen. Die Sowjetunion sah sich mit einer unerfreulichen Entscheidung konfrontiert. Sie hatte mehrere Jahre lang sowohl Somalia als auch Eritrea unterstützt, und nach dem plötzlichen Schwenk der äthiopischen Regierung zum Marxismus fand die UdSSR eine Föderation der drei Nationen höchst wünschenswert, eine Art Sowjetunion am Hörn von Afrika. Auch Aden, jenseits der Straße von Bab el Mandeb, hätte hinzukommen können. Aber keiner der Beteiligten zeigte das mindeste Interesse an diesen sowjetischen Wunschvorstellungen. Eritrea wollte die Freiheit, Somalia wollte den Ogaden, und das marxistische Äthiopien wollte all die Eroberungen der Kaiser behalten. Daher wechselte die UdSSR die Seiten. Schlagartig stoppte sie ihre Hilfslieferungen für Eritrea und Somalia. Stattdessen stellte sie sich mit neuem Schwung hinter Mengistu. Die sowjetische Kriegsmarine beschoß EPLF-Belagerungsstellungen vor Massawa, und gegen Ende 1978 hatte Äthiopien den Großteil seines eingebüßten Gebietes zurückgewonnen. Die Zentralregierung schaffte das mit eigenen Truppen, nur mit der Materialhilfe der Russen und Kubaner. Fidel Castro, der Hailé Selassié jahrelang verbal angegriffen und das unabänderliche Recht der Eritreer auf Selbstbestimmung eingefordert hatte, weigerte sich, kubanische Soldaten zur Unterstützung der Äthiopier in den Norden -55-
zu schicken. Die 14.000 Kubaner, die im Ogaden-Krieg gekämpft hatten, wurden aus Eritrea herausgehalten. Aber die UdSSR hatte so viel Waffen geliefert, daß die Äthiopier nach ihrem Sieg über Somalia den Belagerungsring um Massawa im Juli 1978 durchbrechen und in der Folge den Großteil Eritreas bis November erobern konnten. Die EPLF zog sich in den Norden zurück, ließ ihre Stellungen im Rest des Landes in Stich und bereitete sich auf den langen Marsch vor. 1981 flammte der Konflikt zwischen EPLF und ELF wieder auf, der mit dem Untergang der ELF endete. Zwischen 1973 und 1988 hat die äthiopische Armee acht Großoffensiven gegen die Eritreer unternommen. Jede wurde zurückgeschlagen. Nachdem sie ihre Stellungen wieder zurückgewonnen und ihre Truppen neu organisiert hatte, befahl die Regierung im Februar 1982 das Unternehmen ‡Roter Stern— mit 140.000 Soldaten. Die äthiopischen Verluste waren sehr hoch œ Robert Kaplan berichtet von 40.000 Toten und Verwundeten, und trotz aller Unterstützung durch Kubaner und Sowjets konnten die Äthiopier die Festung der EPLF im Norden nicht einnehmen. Spätere Offensiven hatten keinen größeren Erfolg. Im Winter 1987/88 griff die EPLF die äthiopische Armee mehrere Male an, fügte ihr schwere Verluste zu und stieß durch die äthiopischen Linien. Im Verlauf einer Frontinspektion ließ Mengistu eine Reihe Offiziere verhaften und den kommandierenden General, Brigadegeneral Taiku Taye, im Angesicht seiner Soldaten erschießen œ um den Mut der anderen zu stärken. Die Auswirkungen auf die Kampfmoral der Soldaten waren verheerend. Am 17. März startete die EPLF eine Generaloffensive. In mehreren Schlachten bei denen sie nach eigenen Angaben 18.000 Äthiopier getötet und mehr als 6.000 gefangengenommen sowie eine komplette gepanzerte Brigade zerstört haben will eroberte sie mehrere Städte, vor allem Af Abet: in dieser Garnisonstadt befand sich das zentrale äthiopische Militärdepot im Norden. Die EPLF erbeutete auch riesige Mengen Munition sowie 50 sowjetische Panzer. Unter den Gefangenen waren der Oberste Politkommissar der Äthiopischen Armee und drei sowjetische Offiziere zwei Oberste und ein Leutnant (ein vierter war getötet worden). Die EPLF behauptet, derzeit 16.000 -56-
äthiopische Kriegsgefangene festzuhalten (1982 wurden 3.000 dem Sudan übergeben). Es war der größte EPLF-Sieg in nahezu einem Jahrzehnt. Zur gleichen Zeit machten die Tigray-Rebellen große Fortschritte. Die Äthiopier griffen im Mai wieder an und wurden wieder zurückgeschlagen. Ein Elite-Luftlandekommando wurde ausgelöscht, der Kommandant getötet. Mengistu rief in ganz Äthiopien Freiwillige zum Kampf im Norden auf und forderte, daß jeder Äthiopier ‡freiwillig— einen Monatslohn oder eine Monatsrente als Kriegsbeitrag an die Regierung abliefern sollte. Nach der Unterzeichnung eines Vertrages mit Somalia, um die diplomatischen Beziehungen wieder herzustellen, begann er, auf dem Luftweg Soldaten vom Ogaden, wo Äthiopien seit dem Ende des Ogaden-Krieges ständig 150.000 Soldaten stationiert hatte, in den Norden zu bringen. Mit Ausnahme von Af Abet hielt die EPLF die eroberten Städte nicht besetzt. Das wäre nur eine Einladung an die äthiopische Luftwaffe zum Bombardement gewesen. Statt dessen kehrte sie in ihre nördlichen Befestigungen zurück und verstärkte ihre Kontrolle der Landgebiete. Im Spätsommer 1988 standen die Äthiopier mit dem Rücken zur Wand. Ihre demoralisierte Armee hatte zwar Keren, nordwestlich von Asmara, mühsam gehalten, aber die EPLF hatte die Stadt einfach umgangen. Die letzte Verteidigungslinie der Äthiopier lief von Asmara in den Bergen hinunter nach Massawa am Roten Meer. Die Regierung hat einen Landstreifen längs der Küste nördlich von Massawa zur ‡Feuerfrei—-Zone erklärt œ das heißt, daß alles, was sich darin bewegt, aus der Luft angegriffen wird. Nachdem diese Gegend für die eritreischen Nomaden ein wichtiges Weideland ist, läßt sich klar die Absicht der Regierung erkennen, sie durch Hunger zur Unterwerfung zu zwingen. Eine ähnliche Politik verfolgt die Regierung im Gebiet zwischen Massawa und Keren. Die Regierungssoldaten haben diesen Teil des Landes systematisch zerstört, und eritreische Hilfsorganisationen schätzen, daß zwischen März und August 1988 350.000 bis 500.000 Menschen ihre Häuser verlassen haben. Die Äthiopier unternehmen nichts, um ihnen zu helfen, im Gegenteil: sie sind schuld an ihrer Not. -57-
Der Krieg ist jetzt mit der Flucht vor dem Hunger untrennbar verknüpft. Während der Hungersnot 1984/85, bei der in Äthiopien eine Million Menschen starb, verbot Mengistu seinen eigenen Behörden ebenso wie ausländischen Hilfsorganisationen jede Tätigkeit in Eritrea. Die EPLF transportierte Hilfsgüter vom Sudan ins Land und brachte 100.000 Menschen in Lager an der Grenze, wo sie ernährt werden konnten. Während dieser schrecklichen Jahre rettete Israel, mit Unterstützung der USA und des Sudan, 10.000 äthiopische Juden, Falaschen, aus Tigray und Condar œ und vor Hunger und Untergang. Als die Hungersnot 1988 wiederkehrte, waren in Äthiopien mehr als 7 Millionen Menschen betroffen, 3,5 Millionen in Tigray und Eritrea. Die Regierung hilft nur den Menschen in den von ihr kontrollierten Gebieten und versucht, alle Hilfslieferungen in EPLF-Gebiete zu verhindern. Aber auch die EPLF benützt Lebensmittel als Waffe. Sie sichert sich die Unterstützung der hungernden eritreischen Bauern, indem sie ihnen zu essen gibt, aber dessen ungeachtet haben im Oktober 1987 EPLF-Guerillas vor Asmara einen Regierungslebensmittelkonvoi in die Luft gejagt. 23 Lastwagen der UNO mit genügend amerikanischem Weizen, um 45.000 Menschen einen Monat lang zu ernähren, wurden dabei zerstört. Die USA und internationale Organisationen protestierten vehement, und die EPLF versprach, in Zukunft Lebensmitteltransporte zu verschonen. Trotzdem wurden in den darauffolgenden Monaten 106 Lebensmittel-LKW zerstört, darunter viele von Live Aid gespendete, der Hilfsorganisation, die der irische Popsänger Bob Geldof auf die Beine gestellt hatte. Im März 1988 zerstörten die Tigray-Rebellen zwei der drei von der Regierung betriebenen Lebensmittelverteilungszentren in der Provinz; als sie in Wukro das dritte eroberten, wurde es sofort von der äthiopischen Luftwaffe bombardiert. Zur gleichen Zeit versuchte die Zentralregierung, 1,5 Millionen Bauern aus Tigray und Eritrea im südlichen Äthiopien wieder anzusiedeln. Offiziell, um ihr Leben zu retten, aber sicher auch, um sie von den Guerillas fernzuhalten. Im April 1988 wies Mengistu alle ausländischen Helfer aus den nördlichen Provinzen aus, dabei berief er sich auf Sicherheitsgründe und behauptete, daß die äthiopischen Hilfsorganisationen durchaus in -58-
der Lage seien, mit der Krise fertig zu werden. Die westlichen Regierungen waren anderer Meinung, und drängten ihn, die Wiederaufnahme der internationalen Hilfe zuzulassen. Mengistu erklärte eine 10 Kilometer breite Zone längs der Grenze zum Sudan zum Kriegsgebiet und kündigte an, daß jedes Fahrzeug darin bombardiert werden würde. Später schwächte er seine Maßnahmen ab und erklärte, daß die Ausweisung der Ausländer sich nicht auf die Vertreter der Vereinten Nationen bezöge. Während der Hungersnot von 1984 hatten die USA die Lieferung von Nahrungsmitteln direkt an die EPLF durch den Sudan zugelassen, und im Sommer 1988 kündete das Außenministerium an, wieder so vorzugehen, ungeachtet der Gefahr äthiopischer Luftangriffe. Die EPLF war ursprünglich eine rein marxistische Organisation. Nachdem die UdSSR ihre Hilfslieferungen für Äthiopien ausgeweitet hat und Sudan und Saudi-Arabien die Eritreer unterstützt haben, ist ihre Haltung weniger dogmatisch geworden. Und außerdem war auch das Scheitern des Marxismus in anderen Teilen Afrikas eine eindrucksvolle Warnung. Das Hauptmerkmal der EPLF ist jetzt ihre Unabhängigkeit: Sie wurde verschiedene Male vom Sudan, den arabischen Staaten und der Sowjetunion unterstützt und dann wieder angegriffen, und sie hat gelernt, keinem Verbündeten wirklich zu trauen. Der einzige unerschütterliche Partner ist Somalia. Die USA haben die EPLF nicht unterstützt, teils wegen ihrer marxistischen Haltung, teils weil sie mit der Unterstützung der Rebellen in Nicaragua, Angola und Afghanistan vollauf beschäftigt waren. Diese ungewöhnliche Zurückhaltung hat allerdings nicht geholfen, den Schaden zu begrenzen. Die EPLF erhält alle notwendigen Waffen von anderer Seite, vor allem aus der Kriegsbeute von der äthiopischen Armee. Ende 1988 hielt die äthiopische Armee mit Mühe die Kontrolle über die wichtigen Städte in Eritrea aufrecht. Im März 1989 wurde die Position der Armee durch den Verlust von Tigray gefährlich geschwächt, und die wichtigste Straßenverbindung von Addis Abeba nach Asmara wurde unterbrochen. Mit Mühe konnte ein Waffenstillstand erreicht werden, und im September begann in Atlanta im US-Staat Georgia die erste Runde der Friedenverhandlungen. Jimmy Carters Zentrum für Konfliktlösung übernahm die -59-
Schirmherrschaft. Carters Anstrengungen wurden von der Sowjetunion heftig unterstützt, da die UdSSR die Chance sah, ihren Aufwand für Äthiopien verringern zu können. Die letzten kubanischen Soldaten zogen im September 1989 aus Äthiopien ab, und die UdSSR drohte, ihren Pakt mit Äthiopien 1991 auslaufen zu lassen. Die Verhandlungen hatten keinen wirklichen Erfolg. Beide Seiten verschlossen sich dem Kompromiß: Die EPLF wollte Unabhängigkeit, Äthiopien den Erhalt des Status Quo. Ende des Jahres ließ die EPLF wissen, daß sie den Waffenstillstand beenden würde, sollten die Äthiopier ihre Politik nicht unverzüglich ändern. In den ersten Tagen des neuen Jahres griffen die Eritreer die verbliebenen äthiopischen Stellungen in Eritrea auf breiter Front an. Am 10. Februar stießen die Rebellen auf Massawa vor. Sie nahmen die Stadt nach schweren Kämpfen ein und warfen die Äthiopier auf die der Küste vorgelagerten Inseln zurück, wo sie von der sowjetischen Marine geschützt wurden. Der Hafen wurde geschlossen und Tausende Tonnen Hilfsgüter im Gefecht und durch äthiopische Luftangriffe zerstört. Nach diesem Sieg belagerte die EPLF Keren und Asmara im Landesinneren.
TIGRAY Die Provinz Tigray im nördlichen Teil von Äthiopien hat eine Bevölkerung von rund 5 Millionen Menschen, davon sind 70 Prozent Christen, der Rest Moslems. Die Tigre waren die Hauptgegner der Amhara von Shoa im Süden, mit denen sie eng verwandt sind. Kaiser Theodoros II. und sein Nachfolger Yohannes IV. waren Tigre, und Tigray akzeptierte nur zögernd die Herrschaft des Königs von Shoa, Menelik, als der sich 1889 zum Kaiser krönte. Als Menelik mit seiner Armee von 100.000 Bauern durch Tigray marschierte, den Italienern zur Schlacht von Adowa entgegen, lebten sie aus dem Land; daraus resultierte eine siebenjährige Hungersnot. Die Tigre rebellierten 1943 gegen Hailé Selassié und wurden mit Hilfe der Engländer niedergeworfen, die die Hauptstadt Makalle bombardierten. In der Hungersnot von 1972/73 starben in Tigray und der Nachbarprovinz Wollo mehr als 200.000 Tigre. Die Unfähigkeit und -60-
Trägheit der kaiserlichen Regierung während dieser Katastrophe löste die Revolution von 1974 aus. Im Februar 1975 bildeten oppositionelle Kräfte in Tigray die ‡Volksbefreiungsarmee von Tigray— (TPLF) und begannen einen Guerillakrieg gegen Äthiopien. Ihr Programm war marxistisch geprägt, sie deklarierte sich als ‡antiimperialistisch, antizionistisch, antifeudal, gegen jede Form der nationalen Unterdrückung, und antifaschistisch—. Als ihr Ziel nannte sie die nationale Selbstbestimmung, was nicht unbedingt die Abspaltung von der Zentralregierung bedeutet. In Opposition zur TPLF stand eine konservative Partei, die ‡Äthiopische Demokratische Union—, und von 1976 bis 1978 herrschte zwischen den beiden Fraktionen ein blutiger Bürgerkrieg, der mit dem umfassenden Sieg der TPLF endete. Zur gleichen Zeit besiegte die TPLF die ‡Äthiopische Volksrevolutions Partei— (EPRP), eine radikalkommunistische Partei, die ebenfalls den Derg in Addis Abeba bekämpfte. In diesen Kriegen zwischen den Parteien wurden viele tausend Menschen getötet. In den ersten Jahren nach der Revolution war der Derg durch den Krieg gegen Somalia in Anspruch genommen. Im Sommer 1978 vereinigten die siegreiche TPLF und die eritreische EPLF ihre Kräfte und schlugen eine Regierungsoffensive zurück, in der die beiden Provinzen wieder unter die zentrale Kontrolle gebracht werden sollten. 1979 eroberte die TPLF einige Städte in Tigray und schnitt die Verbindungsstraße von Addis Abeba nach Eritrea ab. Mit Unterstützung der UdSSR und Kubas holten die Äthiopier die Städte zurück, aber das Land haben sie nicht mehr unter Kontrolle bekommen; außerhalb der Städte herrscht hauptsächlich die TPLF. In einer Großoffensive 1981 verwüsteten die Äthiopier Zentral-Tigray, vertrieben die Bauern von ihren Farmen und brannten die Ernte nieder, um sie durch Hunger zu unterwerfen. Das Land wurde verwüstet, Tausende Menschen wurden getötet oder verhungerten, aber es gelang den Äthiopiern nicht, das westliche Tigray zurückzuerobern. Als Mengistus Offensive zusammenbrach, eroberte die TPLF die Gebiete, aus denen sich die Armee zurückziehen mußte, -61-
wieder zurück. Das gleiche geschah während der nächsten äthiopischen Offensive 1983: die Armeen marschierten von Addis Abeba los, verwüsteten das Land, zogen sich dann aber wieder zurück. 1984 verhungerte eine Million Äthiopier. Die Provinz Tigray wurde schwer betroffen, und ohne die internationalen Hilfsmaßnahmen hätte kaum jemand überlebt. Der Krieg raste weiter durch Tigray. Die TPLF kontrollierte den Großteil des Landes, während der Derg größere Städte hielt und seine Anstrengungen auf den Krieg gegen Eritrea konzentrierte. Tigray war für Addis Abeba immer nur ein Nebenschauplatz. Die TPLF setzte ihr sozialistisches Programm in die Tat um und führte Landverteilungen in den von ihr kontrollierten Gebieten durch, um das Überleben der Bauern im Krieg zu sichern. Als 1987 in Nordwesten Äthiopiens wieder eine Hungersnot ausbrach, flammte der Krieg mit Massakern, Hinterhalten und ständigen Kämpfen um Nahrungsmittelverteilungsstellen wieder auf. Aus dem Sudan kamen Nahrungsmittel für die Bauern in die Gebiete unter TPLF-Kontrolle, aber alle Versuche der äthiopischen Regierung, Hilfsmaßnahmen durchzuführen und ihre Kontrolle auszudehnen, sind fehlgeschlagen. Im Frühjahr 1988, während die EPLF die äthiopische Armee in einer Schlacht im nördlichen Eritrea besiegte, startete die TPLF eine eigene Offensive. Sie eroberte mehrere Städte, darunter Aksum, die alte Hauptstadt von Äthiopien, und belagerte Makalle. Im März 1989 nahm sie Makalle ein und vertrieb die Äthiopier aus der gesamten Provinz. Diese Erfolge der TPLF griffen auf die westliche Provinz Gondar mit einem Massaker an den Angehörigen der TutsiMinderheit. Zwischen 1.000 und 4.000 Tutsi wurden getötet, dann kam die Armee œ hauptsächlich Tutsi œ und nahm blutige Rache an den Hutu. Insgesamt wurden mehr als 20.000 Menschen getötet, und etwa 50.000 Flüchtlinge strömten über die Grenze nach Rwanda. Viele von ihnen waren verwundet. Europäische Ärzte in grenznahen Spitälern berichteten von zahlreichen Frauen und Kindern mit schweren Rückenverletzungen. In manchen Dörfern waren alle Bewohner gezwungen worden, sich auf den Bauch zu legen, dann hatten die Soldaten mit Bajonetten auf sie eingestochen. Nur wenige -62-
waren entkommen. Ende 1988 allerdings waren bis auf rund 1.500 alle Flüchtlinge zurückgekehrt. Die Tutsi haben Rwanda vier Jahrhunderte lang beherrscht (außer während eines rund 60 Jahre währenden Kolonialzwischenspiels, als das Land Urundi hieß). Ursprünglich kamen sie aus dem Norden, vielleicht aus Äthiopien. Sie sind auffallend groß und haben nach europäischen Begriffen ein klassisches Profil. Als Minderheit haben sie ihre Herrschaft über die ethnische Mehrheit in Burundi, die Hutu, auf die einzig mögliche Weise aufrechterhalten: mit Gewalt. Die zwei Stämme sprechen jetzt dieselbe Sprache, und es gibt wieder Heiraten zwischen ihnen, aber trotzdem bleibt ihre Trennung besonders streng. Die später eingewanderten Tutsi bilden eine kleine Minderheit, knapp ein Sechstel der Bevölkerung. Es gibt in ganz Afrika nur noch einen anderen Staat mit einem ähnlichen Regierungssystem: Südafrika. Früher herrschten die Tutsi auch im benachbarten Rwanda (in der Kolonialzeit Rwanda), aber in einer Folge von Aufständen 1959-1962 überwand die Hutu-Mehrheit von Rwanda die Tutsi-Monarchie und Herrschaft. Während dieser Ereignisse wurden ca. 20.000 Tutsi ermordet, und 100.000 flohen nach Burundi. 1972, im schlimmsten nachkolonialen Völkermord in Afrika, wurden in Burundi ca. 100.000 Hutu von den Tutsi ermordet. 1988 brachen die Auseinandersetzungen erneut aus. GESCHICHTE Von 1899 bis zur Eroberung durch die Briten 1916 war RwandaUrundi Teil von Deutsch-Ostafrika. Es war eine abgelegene und vergessene Provinz. Die Deutschen, die sich auf die Entwicklung von mehr Erfolg versprechenden Gebieten wie Tanganjika konzentrierten, setzten sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest und waren nicht lange genug an der Macht, um das Land wirklich zu prägen. In den Verhandlungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Gebiet Belgien zugeschlagen, einerseits als Kriegsentschädigung, anderseits wegen der Nachbarschaft zu Belgisch-Kongo. Die Friedensverhandler hatten wieder einmal die Landkarte falsch gelesen. Rwanda-Urundi war von Leopoldville noch weiter entfernt als von Dares-Salaam, und natürlich wurde die Bevölkerung nicht -63-
befragt. Eine Vereinigung mit Tanganjika wäre weit sinnvoller gewesen. Belgien erhielt ein Völkerbundmandat (und später eines der UNO) zur Verwaltung von Rwanda-Urundi, und die Hutu und Tutsi mußten sich nach wenigen Jahren deutscher Verwaltungssprache nun mit Flämisch und Französisch zurechtfinden. Rwanda und Urundi wurden zwar als eine einzige Kolonie verwaltet, aber trotzdem in ihrer getrennten Struktur belassen, da sie seit Generationen unabhängige
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BURUNDIE UND RWANDA. BURUNDI Geographie: Fläche 27.834 km2. Bevölkerung: 4,8 Millionen. Bei der Unabhängigkeit im Jahr 1962 waren 83 % der Bevölkerung Bantu, vor allem Hutu, 16 % Watussi (Tutsi) und 1 % Twa (Pygmäen). Seither gab es keine Volkserhebung. BSP: 250 $/Einw. RWANDA Geographie: Fläche 26.338 km2. Bevölkerung: 6,2 Millionen. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit waren ungefähr 10 % Tutsi, 1 % Twa und der Rest Hutu. BSP: 290 $/Einw. Flüchtlinge: Vor den Ereignissen im August 1988: Aus Burundi 20.600 nach Rwanda, 156.000 nach Tansania, 9.600 nach Zaire. Aus Rwanda: 65.800 nach Burundi, 11.000 nach Zaire, 118.000 nach Uganda, 21.000 nach Tansania, 2.000 nach Kenya. Verluste: Zwischen 1959 und 1962 wurden in Rwanda 20.000 Tutsi ermordet; 1972 waren es 100.000 Hutu in Burundi; 1988 starben in Burundi 1.000 bis 4.000 Tutsi und bis zu 20.000 Hutu. Im August 1988 begannen die Hutu im Norden von Burundi ohne geringste Warnung mit einem Massaker an den Angehörigen der Tutsi-Minderheit. Zwischen 1.000 und 4.000 Tutsi wurden getötet, dann kam die Armee - hauptsächlich Tutsi - und nahm blutige Rache an den Hutu. Insgesamt wurden mehr als 20.000 Menschen getötet, und etwa 50.000 Flüchtlinge strömten über die Grenze nach Rwanda. Viele von ihnen waren verwundet. Europäische Ärzte in grenznahen Spitälern berichteten von zahlreichen Frauen und Kindern mit schweren Rückenverletzungen. In manchen Dörfern waren alle Bewohner gezwungen worden, sich auf den Bauch zu legen, dann hatten die Soldaten mit Bajonetten auf sie eingestochen. Nur wenige waren entkommen. Ende 1988 allerdings waren bis auf rund 1.500 alle Flüchtlinge zurückgekehrt. Die Tutsi haben Rwanda vier Jahrhunderte lang beherrscht (außer -65-
während eines rund 60 Jahre währenden Kolonialzwischenspiels, als das Land Urundi hieß). Ursprünglich kamen sie aus dem Norden, vielleicht aus Äthiopien. Sie sind auffallend groß und haben nach europäischen Begriffen ein klassisches Profil. Als Minderheit haben sie ihre Herrschaft über die ethnische Mehrheit in Burundi, die Hutu, auf die einzig mögliche Weise aufrechterhalten: mit Gewalt. Die zwei Stämme sprechen jetzt dieselbe Sprache, und es gibt wieder Heiraten zwischen ihnen, aber trotzdem bleibt ihre Trennung besonders streng. Die später eingewanderten Tutsi bilden eine kleine Minderheit, knapp ein Sechstel der Bevölkerung. Es gibt in ganz Afrika nur noch einen anderen Staat mit einem ähnlichen Regierungssystem: Südafrika. Früher herrschten die Tutsi auch ¡m benachbarten Rwanda (in der Kolonialzeit Ruanda), aber in einer Folge von Aufständen 1959-1962 überwand die Hutu-Mehrheit von Rwanda die Tutsi-Monarchie und Herrschaft. Während dieser Ereignisse wurden ca. 20.000 Tutsi ermordet, und 100.000 flohen nach Burundi. 1972, im schlimmsten nachkolonialen Völkermord in Afrika, wurden in Burundi ca. 100.000 Hutu von den Tutsi ermordet. 1988 brachen die Auseinandersetzungen erneut aus. GESCHICHTE Von 1899 bis zur Eroberung durch die Briten 1916 war RuandaUrundi Teil von Deutsch-Ostafrika. Es war eine abgelegene und vergessene Provinz. Die Deutschen, die sich auf die Entwicklung von mehr Erfolg versprechenden Gebieten wie Tanga-njika konzentrierten, setzten sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest und waren nicht lange genug an der Macht, um das Land wirklich zu prägen. In den Verhandlungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Gebiet Belgien zugeschlagen, einerseits als Kriegsentschädigung, anderseits wegen der Nachbarschaft zu Belgisch-Kongo. Die Friedensverhandler hatten wieder einmal die Landkarte falsch gelesen. Ruanda-Urundi war von Leopoldville noch weiter entfernt als von Dar-es-Salaam, und natürlich wurde die Bevölkerung nicht befragt. Eine Vereinigung mit Tanganjika wäre weit sinnvoller gewesen. Belgien erhielt ein Völkerbundmandat (und später eines der UNO) zur Verwaltung von Ruanda-Urundi, und die Hutu und Tutsi -66-
mußten sich nach wenigen Jahren deutscher Verwaltungssprache nun mit Flämisch und Französisch zurechtfinden. Ruanda und Urundi wurden zwar als eine einzige Kolonie verwaltet, aber trotzdem in ihrer getrennten Struktur belassen, da sie seit Generationen unabhängige Königreiche gewesen waren. Sie wurden nicht so vereinigt, wie etwa die Briten die Königreiche in Uganda verschmolzen hatten. Die Belgier hatten den Plan, in beiden Ländern Regierungen unter Vorherrschaft der Hutu zu errichten, aber die Geschichte nahm einen anderen Lauf. Als in Rwanda 1959 der Tutsi-König starb, erhoben sich die Hutu gegen seinen Nachfolger. Überall im Land gab es Massaker, und die Leichen Hunderter Tutsi wurden in den Fluß geworfen und trieben in den Tanganjika-See. (Die Regierung von Rwanda bestreitet diese Zahlen.) Derzeit leben ca. 400.000 Flüchtlinge aus Rwanda in den Nachbarstaaten. Unter diesen Umständen traten die Belgier, die bereits den Kongo überhastet aufgegeben hatten, so geordnet wie möglich den Rückzug an. 1961 wurde das Land unabhängig, mit einer Hutu-Regierung unter Präsident Gregoire Kayibanda. Die Tutsi gelangten in Burundi unter dem Mwami (König) Mwambutsa IV. wieder an die Macht. Sein ältester Sohn, Prinz Rwagasore, wurde im Oktober 1961, während der Vorbereitungen zur Unabhängigkeit, ermordet; Mwami Mwambutsa übte bereits in den letzten Monaten der belgischen Herrschaft die absolute Macht aus, und dabei blieb es auch nach der Unabhängigkeitserklärung 1962. Im Mai 1965 errangen die Hutu bei den Parlamentswahlen zwar einen überwältigenden Sieg, aber der Mwami verweigerte die Anerkennung der Wahlergebnisse und ernannte einen Tutsi zum Premierminister. Der erste Hutu-Aufstand im Oktober 1965 kostete zwischen 2.500 und 3.000 Hutu das Leben, darunter mehr als 100 hochrangige Beamte und Offiziere. Der Mwami verließ das Land, und sein zweiter Sohn, Charles Ndizeye, bestieg den Thron im September 1966 als Ntare V. Im November wurde er von seinem eigenen Premierminister, Hauptmann Michel Micombero, gestürzt. Dieser übernahm die Präsidentschaft. Im September 1969 deckte Micombero eine Hutu-Verschwörung auf und ließ mehr als 20 prominente Hutu exekutieren, darunter einen -67-
amtierenden und zwei frühere Minister; andere wurden eingesperrt. Im Juli 1971 flog eine Tutsi-Verschwörung auf, und Micombero ließ eine Reihe prominenter Tutsi hinrichten. Am 29. April 1972 begann ein Aufstand der Hutu in der Hauptstadt Bujumbura und in den südlichen Teilen des Landes. Die rund 10.000 Rebellen wurden von einer kleinen Truppe Exil-Hutu ebenso unterstützt wie von einigen der überlebenden Söldner von Pierre Mulele, der im Bürgerkrieg im Kongo eine gewisse Rolle gespielt hatte. Die Regierung von Burundi behauptete, daß 50.000 Tutsi getötet worden seien, aber die Gesamtzahl der Opfer betrug wohl eher 2.000, davon die meisten Hutu. Die Invasoren, die die Radiostation von Bujumbura angriffen, konnten leicht zurückgeschlagen werden. Präsident Mobutu von Zaire entsandte ein kleines Truppenkontingent in die Hauptstadt, so daß die Armee von Burundi sich auf das Massaker an den Hutu konzentrieren konnte. Eines der ersten Opfer war der frühere Mwami, Ntare V. Er befand sich im März 1972 auf einer Geschäftsreise in Uganda, und Micombero forderte Idi Amin auf, den Ex-König, unter Zusicherung freien Geleites, nach Bujumbura auszuliefern: ‡Wie Sie glaube ich an Gott ... Eure Exzellenz können versichert sein, daß Mr. Charles Ndizeye, sobald er in mein Land zurückkehrt, als ein normaler Staatsbürger behandelt wird und daß sein Leben und seine Sicherheit garantiert sind.— Ntare wurde dann kurzerhand in Micomberos Präsidentenflugzeug geschleppt und gegen seinen Willen nach Bujumbura geflogen. Kurz nach dem Ausbruch der Revolte am 29. April wurde er ermordet. Am 30. April verhängte die Regierung ein Ausgangsverbot von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Soldaten und Angehörige der Tutsi-Jugendbewegung schwärmten aus und töteten alle Hutu, die lesen und schreiben konnten, alle Politiker, Lehrer, Geschäftsleute und Zehntausende Bauern. An der Universität von Bujumbura wurde ein Drittel der Studenten ermordet, und in der Mittelschule der Hauptstadt 300 von 700 Schülern, dazu 60 % des protestantischen Klerus œ alles Hutu. Es war ein gründlicher Versuch, jeden Hutu auszurotten, der sich irgendwann an die Spitze einer Oppositionsbewegung gegen die Tutsi hätte stellen können. Es gibt keine genaue Schätzung der Todesopfer, aber 100.000 gelten als gesichertes Minimum. Reginald -68-
Kay schreibt, daß nach vorsichtigen Schätzungen einschließlich der Toten des kurzen Hutu-Aufstands zwischen 80.000 und 100.000 Opfer anzunehmen sind. Aber er führt aus, daß ‡seriöse Quellen 150.000, also 5 % der Bevölkerung, für durchaus möglich halten.— Ungefähr 150.000 Hutu flüchteten ins Ausland. Es gab keine Proteste. Weder von der OAU, der UNO oder von westlichen Staaten, die (Kay) ‡auf Grund ihres schlechten Gewissens an einer tiefverwurzelten Scheu leiden, die Regierungen der Nationen in der Dritten Welt zu kritisieren—. DAS MODERNE BURUNDI Burundi hat sich von diesen schrecklichen Ereignissen niemals erholt. Micombero wurde 1976 in einem Staatsstreich durch seinen Cousin, Oberst Jean-Baptiste Bagaza, ersetzt. Die beiden Männer hatten miteinander in der Präsidentenloge einem Fußballspiel zugesehen, und nebenbei eröffnete Bagaza seinem Verwandten, daß die vielen Soldaten rund um das Stadion zu ihm übergelaufen seien, und nun sei er, Bagaza, Präsident. Micombero wurde in ein Flugzeug gesetzt und ins Exil geschickt. Bagaza war während der Massaker von 1972 außer Landes gewesen und daher frei von persönlicher Schuld, aber er setzte die Politik der gnadenlosen Unterdrückung der Hutu fort. 1987 stellten die Hutu 4 Minister in der Regierung (von 20), einen von 15 Provinzgouverneuren, 7 Hutu saßen in der Nationalversammlung und 2 im 65köpfigen Zentralkomitee der Regierungspartei. Sehr wenige Hutu-Kinder gehen in höhere Schulen, und nur ein Drittel der Studenten sind Hutu. Nachdem die Hutu überwiegend Katholiken sind, erstreckt sich die Unterdrückung mittlerweile auch auf die Kirche. Ausländische Missionare und Priester wurden ausgewiesen, darunter auch der Bischof von Bururui, der 50 Jahre in Burundi gewirkt hatte; kirchliche Schulen wurden geschlossen, und kirchlicher Landbesitz wurde enteignet. Die Regierung war eine ungeliebte Diktatur, ohne Freunde im Ausland, und die Wirtschaft des Landes verfiel. Die Haupteinnahmequelle des Landes war der Export von Kaffee, der hauptsächlich von HutuBauern in den nördlichen Provinzen gepflanzt wird. Große Teile der Ernte werden allerdings über die Grenze nach Rwanda geschmuggelt. Die einzige Unterstützung aus dem Ausland kam von Frankreich, das -69-
alle französischsprachigen Länder unterstützt œ obwohl Französisch als Unterrichtssprache in den Schulen verboten worden war. Im September 1987 fegte ein unblutiger Militärputsch die Regierung hinweg, und ein neuer Präsident, Major Pierre Buyoya, übernahm das Amt. Er war während der Massaker von 1972 in Brüssel gewesen und weniger paranoid als Bagaza. Er begann, die Beziehungen zwischen Tutsi und Hutu wiederherzustellen. Er begnadigte alle politischen Gefangenen, gab der Kirche ihren Besitz zurück, stellte einige Tutsi unter Korruptionsanklage und forderte seine Tutsi-Stammesgenossen auf, den Hutu die gleichen politischen Rechte zuzubilligen. Im relativ entwickelten Norden reagierten die Hutu zwar auf Buyoyas Versprechungen, aber die lokale Tutsi-Verwaltung tat das nicht. In dem Gebiet wurden Gerüchte über bevorstehende Auseinandersetzungen verbreitet. Eine Quelle berichtet, daß der TutsiBürgermeister von Marangara, einer Stadt im Norden, den Hutu in seinem Ort am 28. Juni 1988 zurief: ‡Ihr schleift eure Messer, aber unsere sind bereits geschärft, und sie schneiden besser als eure!— Dann marschierten Regierungstruppen, hauptsächlich Tutsi, in den Norden ein œ zu Manövern und zum Kampf gegen den Kaffeeschmuggel. Die Hutu dachten, die Soldaten kämen, um sie zu ermorden, und manche begannen mit Sabotageakten gegen Brücken, oder sie blockierten Straßen mit umgestürzten Lastwagen, um die Armeefahrzeuge zu behindern. Am 14. August wurde die kleine Tutsi-Bevölkerung von Marangara von Panik ergriffen. Sie flohen in den Norden, in das Dorf Ntega, wo viele in einer Kirche Zuflucht suchten. In den folgenden Tagen wurden 2.000 bis 3.000 Tutsi von den Hutu getötet, darunter auch die Menschen in der Kirche. Die Armee tauchte am 18. August auf und nahm unverzüglich Rache. Die Schätzungen von etwa 20.000 Toten stammen von Entwicklungshelfern und Ärzten in einem grenznahen Spital in Rwanda. An manchen Tagen kamen bis zu 5.000 Flüchtlinge über die Grenze, Ende August hatten rund 50.000 Menschen das rettende Rwanda erreicht. Journalisten, die das Land bereisten, berichteten, daß einst dicht besiedelte Gebiete des Nordens menschenleer waren. Einen Monat zuvor hatten 150.000 Menschen friedlich in ihren Bergdörfern gelebt. Nun war alles vorbei. Die Menschen hatten sich im Busch versteckt, waren geflohen oder tot. -70-
Die Regierung verkündete, daß der Aufruhr von Hutu aus dem Exil in Rwanda und Zaire gelenkt worden sei, und sie spielte die Massaker herunter, so wie ihre Vorgänger es 1972 getan hatten. Im Oktober führte Präsident Buyoya das Amt des Premierministers ein, und er ernannte dazu Adrien Sibomana, einen Hutu. Die Zahl der HutuKabinettsmitglieder, zwischenzeitlich auf 7 erhöht, wurde jetzt auf 11 erweitert. Die Regierungsmaßnahmen sicherten dem Norden vorläufigen Frieden, und die meisten Flüchtlinge kehrten zurück. Die Macht verbleibt aber bei den Tutsi, und beide Stämme leben in Angst vor einer Wiederkehr der Auseinandersetzungen.
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LIBYEN
Geographie: Fläche 1,759.540 km× œ das ist ungefähr die Größe von Westeuropa. Das Land besteht praktisch nur aus Wüste. Bevölkerung: 4,2 Millionen Einwohner. BSP: 7.170 $/Einw. Rohstoffe: Libyen hat geschätzte 21,2 Millionen Barrel Erdölreserven. Bis zur Entdeckung des Erdöls war dieser öde Wüstenstrich eines der ärmsten Länder des Nahen Ostens. In der zweiten Hälfte der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre œ bis zum drastischen Rückgang des Ölpreises œ hatte Libyen eines der höchsten Pro-KopfEinkommen der Welt, und mit einem jährlichen Pro-KopfEinkommen von mehr als 7.000 $ ist das Land auch heute noch reich. GESCHICHTE An der Küste findet man überall die Überreste versunkener Zivilisationen, stumme Mahnmale der Vergänglichkeit von Wohlstand und Ruhm. In der Hauptstadt Tripolis im Westen des Landes gibt es einen kleinen Friedhof, wo einige der US-Marineinfanteristen begraben liegen, die 1804 auf der Jagd nach Piraten die Küste stürmten. Die Wüstenschlachten des Zweiten Weltkriegs haben zahlreiche unübersehbare Spuren hinterlassen: Italiener, Deutsche und Briten kämpften kreuz und quer durch das Land, besonders in der östlichen Provinz, der Cyrenaika, bevor Rommel 1943 endgültig besiegt wurde. Libyen war der letzte nordafrikanische Besitz des Osmanischen Reiches, bis es 1911 von Italien besetzt wurde. Die Italiener schlugen wilde Schlachten gegen die libyschen Stämme; schließlich trieben sie die hartnäckigsten in die Wüste und ließen sie verhungern. Mussolini, der von der Wiedererrichtung des Römischen Weltreichs träumte, vollendete die Eroberung, ließ römische Städte aus dem Wüstensand ausgraben, Bewässerungssysteme wiederherstellen und mitten zwischen Tripolis und Bengasi einen riesigen Triumphbogen errichten œ größer als der von Napoleon. Mussolini siedelte auch 300.000 -72-
italienische Bauern (‡Agrarkolonisten—) in Libyen an, und die Städte waren einige Jahre lang nicht weniger italienisch als Palermo oder Neapel. Mit dem Krieg verloren die Italiener auch ihr afrikanisches Imperium. Die Briten besetzten Libyen bis 1951, dann setzten sie als König Amir Sajd Mohammed Idris ein, den Führer der ‡Islamischen Bewegung— des Senussi-Stammes, der in den zwanziger Jahren den Widerstand gegen die Italiener angeführt hatte. Mussolini hatte Libyens wahren Reichtum übersehen: Das Erdöl wurde erst 1958 entdeckt und wurde sehr schnell Grundlage einer riesigen Industrie. Die britische Präsenz in Libyen wurde rasch abgebaut, aber die USA behielten bei Tripolis den großen Luftwaffenstützpunkt Wheelus Field, hauptsächlich für Trainingszwecke. Mit dem Anwachsen des libyschen Reichtums wie der Zahl der gutausgebildeten jungen Libyer wurde die konservative arabische Monarchie zu einem Anachronismus, um so mehr, als das Land an Nassers Ägypten und Boumediennes Algerien grenzte. Es ist erstaunlich, daß sich König Idris überhaupt so lange halten konnte. Er überstand sogar die Aufstände, die nach der Niederlage Ägyptens im Sechstagekrieg ausbrachen. Eine Anzahl libyscher Juden wurde ermordet, und die etwa 4.500 Überlebenden flüchteten aus dem Land. Idris wurde schließlich am 1. September 1969 abgesetzt, während er auf Staatsbesuch in Athen war, und eine Gruppe junger Offiziere übernahm die Macht œ ihr Anführer war Oberst Muammar al Gaddafi. Das neue Regime riß den italienischen Triumphbogen nieder, schloß Wheelus Field und kündigte Libyens Bündnisse mit dem Westen auf. Die Italiener wurden enteignet und des Landes verwiesen. Gaddafis erster großer Coup war die Verstaatlichung der ausländischen Ölfirmen und die Forderung nach einem marktgerechten Ölpreis. Dieses Beispiel wurde von anderen arabischen Staaten und dem Iran 1973, nach dem Yom Kippur-Krieg, mit Begeisterung nachgeahmt, und Libyen war plötzlich unvorstellbar reich. Der Preis des libyschen Erdöls war von 2,23 $ im Jahr 1961 auf 2,71 $ im Jahr 1971 gestiegen. Im Juli 1971 zog Gaddafi den Preis auf 3,42 $ an und im April 1973 auf 4,00 $ pro Barrel. Nach dem Yom -73-
Kippur-Krieg, als Saudi-Arabien die Ausfuhr einschränkte, hob Libyen den Preis für sein Öl auf 16.00 $ am 1. Januar 1974 und schließlich auf 21.00 $ im Mai an. Nach der Revolution im Iran stieg der Preis schließlich im Januar 1980 noch einmal auf 34.00 $ und erreichte mit 41,00 $ im Jahre 1981 seinen höchsten Punkt. Mit dem Preis steigerte Libyen auch die Förderung. So konnte das Land seine Einkünfte aus dem Erdöl von 3 Millionen Dollar im Jahr 1961 auf 1,7 Milliarden 1969, 2,2 Milliarden 1973, 8 Milliarden 1978 und 22 Milliarden 1980 steigern. LIBYEN UNTER GADDAFI Gaddafi betrachtet sich selbst als den Erben Nassers, mußte aber in seinem Ehrgeiz ständig Rückschläge einstecken. Seine ausländischen Abenteuer waren samt und sonders erfolglos, und obwohl andere arabische Führer stets bereit waren, sein Geld zu nehmen, sind sie nicht bereit, ihn ernst zu nehmen. Gaddafi hat mehrmals Fusionsverträge mit Ägypten, Syrien, Tunesien, Tschad, Marokko und (den bislang letzten) Sudan unterschrieben, und mit den meisten dieser Länder auch Verträge über ewige Freundschaft. Keiner dieser Verträge hat lange gehalten. König Hassan hat die Union mit Marokko im August 1986 aufgekündigt. 1987 hat Gaddafi Niger umworben, eine verarmte Nation südwestlich der Sahara. 1977 hat Gaddafi einen kleinen Grenzkrieg mit Ägypten provoziert. Später fiel er in Tunesien ein, das sich schon weit schlechter selbst verteidigen konnte, und die Franzosen mußten Kriegsschiffe entsenden, um ihn zur Besinnung zu bringen. Libysche Truppen sind im Tschad einmarschiert, wo sie besiegt wurden, und die Truppen, die er zur Unterstützung von Idi Amin nach Uganda schickte, wurden ebenfalls geschlagen (siehe TSCHAD und UGANDA). Und er hat sich wiederholt in die Aufstände und Bürgerkriege im Sudan eingemischt. Libyen war zwar eine Zeitlang mit der Sowjetunion verbündet, hat sich aber stets geweigert, der UdSSR Marine- oder Luftwaffenstützpunkte einzuräumen. Gaddafis Träume von militärischem Ruhm haben ihn dazu gebracht, Milliarden Dollar für sowjetische Waffen auszugeben, weit mehr als seine Armeen -74-
tatsächlich verbrauchen können œ und die Sowjets ließen sich von ihm in baren Dollars bezahlen. Sein einziger enger Verbündeter war Malta, das die libysche Großzügigkeit bereitwillig akzeptierte, seine tiefe Feindschaft gegenüber dem Westen verkündete und trotzdem westlich orientiert bleibt. Gaddafi hat auch seine ewige Bewunderung für Khomeinis Iran verkündet, obwohl er, als gläubiger Sunnit, den schiitischen Glauben als Ketzerei betrachtet. Gaddafi hält sich für einen politischen Theoretiker von höchster Bedeutung, und um das zu untermauern, schrieb er ein ‡Grünes Buch—, das sich an Mao Tsetungs ‡Rotem Buch— anlehnt. Grün ist die Farbe des Islam, und Gaddafis Theorien sind der Versuch, Islam und Marxismus zu verschmelzen. Er hat in Libyen ein strikt islamisches Rechtssystem eingeführt, einschließlich des Alkoholverbotes. 1973, mitten in den Vereinigungsverhandlungen mit Ägypten, mobilisierte er das Volk für einen ‡Arabischen Vereinigungsmarsch— auf Ägypten, um Druck auf Sadat auszuüben. Die Libyer waren von dieser Idee begeistert und fuhren zu Tausenden mit Privatautos, Lastwagen und Landrovern an die ägyptische Grenze. Die Ägypter waren wohl vorbereitet und empfingen sie mit großen Mengen Alkohol, den sie den Libyern gegen harte Devisen verkauften. Gaddafi brach diesen Invasionsversuch ab, und die Libyer gingen fröhlich wieder nach Hause. Einmal hat er eine internationale Konferenz einberufen, um die Theorien des ‡Grünen Buches— und die Probleme der Welt zu diskutieren. Einer der ersten Punkte der Tagesordnung war der dringende Plan, die Große Moschee von Granada dem Islam wiederzugewinnen, die unglückseligerweise seit 1492 von den Spaniern ‡besetzt— ist. Der libysche Sozialismus ist ein glatter Fehlschlag. Gaddafi hat das private Unternehmertum und den privaten Grundbesitz abgeschafft und die traditionellen arabischen Märkte durch staatliche Warenhäuser ersetzt, in denen man oft genug die notwendigsten Grundnahrungsmittel nicht finden kann. Nachdem auch der private Obst- und Gemüseanbau verboten ist, gibt es nur dann frische Früchte, wenn sie aus Europa importiert werden. Diese Mängel sind das Resultat von Unfähigkeit und Doktrinen, nicht von Armut. Allerdings wurden auch die gigantischen Pläne zur Errichtung neuer Städte in der -75-
Wüste und eines Hafens wie eines Industriezentrums bei Misratah an der Syrte nach dem Sinken des Erdölpreises entweder fallengelassen oder zumindest verschoben. TERRORISMUS Gaddafi wäre eine ziemlich uninteressante exzentrische Randfigur der Weltpolitik, hätte er nicht den Terrorismus zu einem Mittel seiner Politik gemacht. Er hat die Ermordung libyscher Exilpolitiker im Nahen Osten, in Europa und in den USA befohlen. Als ein libanesischer Würdenträger, der Schuten-Führer Imam Musa Sadr, 1978 Libyen einen Besuch abstattete, wurde er in krasser Verletzung des arabischen Gastrechts ermordet, und Gaddafi hat auch sprengstoffbeladene LKW nach Ägypten geschickt, um die USBotschaft in die Luft zu jagen, und er hat amerikanische Terroristen, angeführt vom Ex-CIA-Agenten Edwin Wilson, angeheuert, Libyer in diesem Gewerbe zu unterrichten. Er unterstützt die IRA und verschiedene arabische Terrororganisationen und hat Staatsstreiche in Ägypten, Sudan, Tschad und Tunesien unterstützt. Die Regierungen der drei letztgenannten Staaten mußten von ihren westlichen Alliierten gerettet werden. 1973, während der kurzlebigen Union mit Ägypten, charterte eine Gruppe amerikanischer Juden die Queen Elizabeth II für eine Mittelmeerkreuzfahrt und um Israel zur 25-Jahr-Feier seiner Unabhängigkeit zu besuchen. Gaddafi erteilte den Befehl, daß ein UBoot der libyschen Kriegsmarine, auf dem ägyptische Offiziere Dienst taten, den Luxusdampfer versenken sollte. Der Kapitän lief allerdings in Alexandria ein und erstattete Präsident Sadat Bericht. Nach dem Scheitern dieser Union verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Ägypten und Libyen. 1977 schickte Gaddafi eine Gruppe Saboteure nach Ägypten. Etliche wurden am 12. Juli verhaftet. Eine Woche später gab es ein Grenzscharmützel, bei dem nach ägyptischen Angaben 20 libysche gepanzerte Fahrzeuge zerstört und ihre Besatzungen getötet wurden. Sadat entschied, daß es an der Zeit sei, Gaddafi eine Lehre zu erteilen, und eine ägyptische Panzereinheit griff den libyschen Stützpunkt Masaad an, 8 Kilometer jenseits der Grenze. Dabei wurden 40 libysche Panzer zerstört und 42 -76-
Libyer gefangen. Ägyptische Jagdflugzeuge schossen zwei libysche Maschinen ab. Am nächsten Tag flog die ägyptische Luftwaffe einen regelrechten Angriff auf den wichtigen libyschen Flugplatz El Adem bei Tobruk; dabei sollen drei sowjetische Berater getötet worden sein. Sadat gab die Schuld an dem Angriff ‡diesem höchst merkwürdigen Menschen— Gaddafi und meinte, ‡gestern und heute haben unsere Streitkräfte ihm eine Lektion erteilt, die er nicht vergessen wird.— Bei weiteren ägyptischen Luftangriffen am 23. und 24. Juli wurden viele libysche Flugzeuge zerstört, während die Ägypter nur zwei Maschinen einbüßten. Libyen mobilisierte 30.000 Reservisten, und Ägypten verlegte eine gepanzerte Division an die Grenze. Am 24. Juli rief Sadat dann aber einen einseitigen Waffenstillstand aus. Nach seinen Problemen mit Ägypten ‡vereinigte— Gaddafi sein Land mit Tunesien. Diese Union brach 1978 auseinander, und am 27. Januar 1980 unternahm ein Kommandotrupp von rund 50 Libyern und Exiltunesiern einen Angriff auf Gafsa im südlichen Tunesien. Die Attacke war gut vorbereitet und gut durchgeführt. Die Soldaten kamen von Algerien über die Grenze und griffen die Polizei Station, ein Armeelager und eine Milizkaserne an, wobei 41 Menschen, vorwiegend Soldaten, ums Leben kamen. Dann zogen sie sich nach Libyen zurück. Die Franzosen schickten für den Fall weiterer libyscher Feindseligkeiten ein Marinedetachement nach Tunis, worauf am 4. Februar libyscher Mob die französische Botschaft in Tripolis und das Konsulat in Bengasi niederbrannte. Danach kam es zu keinem weiteren Angriff mehr, vielleicht auch dank der französischen Präsenz. Libyens Reaktion folgte einem Muster. Wann immer Libyen Probleme mit einem anderen Staat hat, tritt der Mob auf den Plan und brennt die jeweilige Botschaft in Tripolis nieder œ die britische und die US-Botschaft gingen in Flammen auf, ehe die beiden Länder ihre diplomatischen Beziehungen mit Libyen abbrachen. Gaddafi hat seine eigene Botschaften für verschiedene Zwecke mißbraucht. Die in London wurde in einen Stützpunkt für Terroristen umgewandelt, und als am 17. April 1984 eine Gruppe Exil-Libyer gegen Gaddafi und die öffentliche Hinrichtung zweier Studenten am Galgen in Tripolis demonstrierte, eröffnete ein Mann aus der Botschaft heraus das Feuer, tötete eine englische Polizistin und verwundete 11 Menschen. -77-
Im Juli 1984 wurden im Roten Meer Seeminen gefunden. Sie beschädigten mehrere Schiffe und mußten mit großem Aufwand von einer internationalen Minensuchflotte geräumt werden, der amerikanische, britische, sowjetische und französische Marineeinheiten angehörten. Unmittelbar vor dem Auftauchen der ersten Mine hatte ein libysches Schiff das Rote Meer passiert, und es erscheint mehr als wahrscheinlich, daß die Verminungsaktion von Gaddafi ausging und gegen Ägypten gerichtet war. Gaddafi war der Ansicht, dank der geographischen und politischen Gegebenheiten ein gesichertes Leben zu führen, in Wahrheit ist Libyen eines der strategisch verwundbarsten Länder der Welt, die Städte und Ölanlagen sind an der rund 2.400 Kilometer langen Küste aufgefädelt, und seine Armee und Luftwaffe sind außerstande, das alles zu verteidigen. Die anderen Staaten, die unter schwerem Verdacht stehen, den Terrorismus zu unterstützen œ Syrien und Iran œ sind geographisch und militärisch weit besser geschützt, wie die USA herausgefunden haben. Darüber hinaus würde keiner von Gaddafis gekauften Alliierten einen Finger zu seiner Unterstützung rühren. 1981 verkündete die Regierung Reagan in einem etwas komischen Anfall von Panik, daß Gaddafi Terrorkommandos aussenden wolle, um amerikanische Politiker zu ermorden. Sandgefüllte Lastwagen wurden hastig rund um das Weiße Haus und das Capitol postiert und später durch massive Betonsperren ersetzt, um diese Gebäude gegen eingebildete Bombenattentäter zu schützen. Es gab niemals wirkliche Beweise dafür, daß Gaddafi solche Mordkommandos losgeschickt hatte, obwohl er derartiges in Tunesien und Ägypten eindeutig getan hatte. Er unterstützte auch Abu Nidal, den skrupellosesten der palästinensischen Terroristen. Im Mai 1981 behaupteten die Vereinigten Staaten, die libysche Botschaft in Washington sei ein Terroristenstützpunkt, und schlossen sie. Später entsandte Präsident Reagan die Sechste Flotte als Warnung für Gaddafi dreimal in die Syrte. Am 9. August 1981 schossen Jagdflugzeuge von einem US-Flugzeugträger zwei libysche Maschinen ab, die sie erfolglos mit Luft-Luft-Raketen angegriffen hatten. Es gab im Februar 1983 einen weiteren Zwischenfall zwischen amerikanischen und libyschen Kampfflugzeugen im Golf, und die USA entstandten AWAC-Flugzeuge nach Ägypten, zur -78-
Früherkennung aller etwaigen Angriffe des Oberst Gaddafi auf den Nachbarn. Im März 1986 schickten die Amerikaner eine gewaltige Flotte mit drei Flugzeugträgem in den Golf. Gaddafi proklamierte eine ‡Todeslinie— im Golf, den er als libysches Territorium beansprucht, und schickte mit erstaunlicher Hartnäckigkeit kleinere Marineeinheiten zum Angriff auf die amerikanische Flotte. Die Amerikaner zerstörten zumindest zwei libysche Schiffe und eine libysche SAM-Raketenstellung an der Syrte, nachdem die Libyer sechs SAM auf sie abgefeuert hatten. Offiziell wurden dabei 72 Libyer getötet. Am 5. April 1986 explodierte in einer West-Berliner Bar, die hauptsächlich von amerikanischen Soldaten besucht wurde, eine Bombe. Sie tötete einen Amerikaner und eine Türkin. Die Amerikaner gaben bekannt, daß sie Beweise hätten, daß dieser Angriff in Libyen geplant worden sei œ Beweismaterial, das aus abgehörten Funksprüchen zwischen Tripolis und der libyschen Botschaft in OstBerlin bestand, die als Angriffsbefehl auf die amerikanische Bar gedeutet wurden und danach als Glückwünsche zur Durchführung. Später stellte sich heraus, daß dieser Anschlag von libanesischen Terroristen durchgeführt worden war, die möglicherweise von Syrien gesteuert wurden. Am 14. April befahl Präsident Reagan den Angriff auf Libyen. Aus niemals geklärten Gründen wurde die Sechste Flotte als ungeeignet für diesen Angriff eingeschätzt. (Wenn eine komplette Trägergruppe einen Gegner wie Libyen nicht angreifen können soll, welchen Stellenwert soll sie dann in einem richtigen Krieg gegen einen richtigen Feind haben?) Die Flugzeuge des Trägerverbandes wurden mit F-111 verstärkt, die in Großbritannien stationiert waren. Frankreich und Spanien, beide NATO-Partnerstaaten, verweigerten die Überfluggenehmigung, und daher mußten sie 4.500 Kilometer über Atlantik und Mittelmeer zurücklegen, ehe sie am Zielort ankamen. Während der ganzen Aktion, die 14 Stunden dauerte, mußten sie mehrmals in der Luft betankt werden. Die Angriffe zerstörten eine Reihe libyscher Militäranlagen in und um Tripolis und Bengasi, eine F-111 und die zweiköpfige Besatzung -79-
gingen verloren. Eines der ausgewählten Ziele war Oberst Gaddafis persönliches Hauptquartier im Stützpunkt El Azziziya in Tripolis. Dabei wurden große Schäden angerichtet, und unter den Toten war eine kleine Tochter Gaddafis; zwei andere seiner Kinder wurden verwundet. Sein eigenes Zelt allerdings, das mitten in dem Lager aufgeschlagen war, blieb verschont. Das Pentagon bestritt, Gaddafi persönlich nach dem Leben getrachtet zu haben, ein Dementi, das nicht allzu ernst genommen werden sollte. Bei dem Angriff wurde auch die französische Botschaft zerstört, Diplomatenhäuser Rumäniens, Österreichs, der Schweiz und Japans wurden beschädigt œ sehr zum Erstaunen des Pentagons, das von der Zielsicherheit seiner ‡intelligenten Bomben— überzeugt war und zunächst auch französische Meldungen über diese Schäden bestritt. Später stellte sich heraus, daß fünf der achtzehn F-111 -Bomber und zwei der 15 A-6, die diesen Angriff flogen, ihre Bomben gar nicht abgeworfen hatten, nachdem all die hochentwickelte Elektronik versagt hatte und sie über ihre Ziele im unklaren waren. Innerhalb weniger Wochen nach dem Luftangriff hatten die Libyer die Radaranlagen und die SAM-Stellungen ersetzt. Militärisch bewies dieser Angriff, daß die US-Luftwaffe zwar durchaus in der Lage ist, ein Ziel anzugreifen, das weit von ihren Stützpunkten entfernt ist, daß aber die Präzision lange nicht so groß ist, wie immer behauptet worden war. Niemand, der die Behauptungen verschiedener Luftwaffen im Zweiten Weltkrieg und in Vietnam kennt, war darüber im mindesten erstaunt. Politisch war der Angriff für die USA ein Erfolg. Oberst Gaddafi wurde offensichtlich durch sein knappes Entkommen ernsthaft erschüttert und spielte in den folgenden 18 Monaten in der Weltpolitik nur eine geringe Rolle. Libyen feuerte zwei Raketen auf den amerikanischen Küstenwache-Stützpunkt auf der Insel Lampedusa vor Sizilien ab, die nicht trafen; ein amerikanischer Techniker in der USBotschaft in Khartum wurde angeschossen und schwer verletzt; und Gaddafis libanesische Verbündete beantworteten den Angriff auf Libyen mit der Ermordung dreier Geiseln , die sie festhielten, zwei Briten und ein Amerikaner. Mrs. Thatchers Popularität überstand auch die Kritik der Labour Party, die britischen Luftwaffen Stützpunkte zur Verfügung gestellt zu haben, und die Verstimmung der Amerikaner -80-
über Frankreichs Nicht-Hilfe-Leistung wurde von den Feiern des 100. Geburtstages der Freiheitsstatue überdeckt. Am 4. Januar 1989 kamen zwei libysche MIC einer Fliegerpatrouille der 6. US-Flotte zu nahe und wurden abgeschossen. Der Zwischenfall fiel zeitlich mit einer internationalen Debatte über einen amerikanischen Bericht zusammen, daß Libyen eine Fabrik errichte, die zur Herstellung von Giftgas tauglich sei. Einige Tage schien eine weitere ernsthafte Auseinandersetzung zwischen den USA und Libyen möglich, aber diesmal entschlossen sich beide Seiten zur Mäßigung als der klügsten Entscheidung. Es war zwei Wochen vor dem Präsidentenwechsel in den Vereinigten Staaten, und offensichtlich wollte Gaddafi abwarten, wie Präsident Bush reagieren würde. Die Libyer öffneten später die Fabrik einer internationalen Inspektion, die weder Beweise noch eine tatsächliche Entlastung erbrachte. Die Libyer scheinen die Produktion fortgesetzt zu haben, aber im März 1990 kam es zu einem spektakulären Großbrand, der die Fabrik zerstörte. Der amerikanische Verteidigungsminister gab grinsend eine Erklärung ab, daß die USA mit diesem Feuer nichts zu tun hätten. Im April hieß es dann, der Brand sei vielleicht nur ein Bluff der Libyer gewesen. LIBYEN HEUTE Es gab verschiedene Versuche, Oberst Gaddafi zu ermorden, und zumindest einen Staatsstreichversuch am 8. Mai 1984: Ein Kommandotrupp versuchte, das Lager El Azziziya zu stürmen, wurde aber entdeckt. Die Angreifer suchten in einem Gebäude in Tripolis Zuflucht, wo sie alle getötet oder gefangen wurden. Die wiederholten Versuche Gaddafis, sich in die Politik der Nachbarstaaten einzumischen, und gewiß auch die demütigende Niederlage im Tschad-Krieg 1987 haben in der Armee offensichtlich Widerstand erzeugt. Vielleicht wird Gaddafi eines Tages das Schicksal so vieler anderer arabischer Potentaten erleiden, obwohl man in Betracht ziehen muß, daß Ägypten und die anderen nordafrikanischen Staaten eigentlich keine Tradition darin haben, ihre politischen Auseinandersetzungen durch Staatsstreiche oder Attentate zu lösen. Libyen ist nicht Libanon, Syrien oder Irak. -81-
Derzeit muß man wohl annehmen, daß Gaddafi seine Stärke wiedererlangen und seine Freude an der Einmischung im Ausland wieder finden wird. Bereits 1987 nahm er die umfangreichen Waffenlieferungen an die IRA wieder auf. Am 30. Oktober brachte die französische Kriegsmarine vor der britischen Küste den Frachter Eksund auf, der 150 Tonnen Waffen für die irischen Terroristen geladen hatte, darunter 20 SAM-7, zehn 12,77-mmMaschinengewehre, Panzerabwehrraketen und 1.000 Kalaschnikows AK-47. Der US-Angriff scheint Gaddafis bizarre Persönlichkeit nicht beeinflußt zu haben. Bei einem arabischen Gipfeltreffen in Algerien im Juni 1988 trug er ständig einen weißen Handschuh, wie der Popsänger Michael Jackson, so daß er seine Hand niemals durch den Kontakt mit dem marokkanischen König Hassan beflecken mußte, der zuvor den israelischen Premierminister Schimon Peres zu Gesprächen über die Nahost-Situation getroffen hatte. Der libysche Führer zog auch stets eine Kapuze über den Kopf, wenn König Hussein von Jordanien sprach und blies König Fahd von Saudi-Arabien, der neben ihm saß, Zigarrenrauch ins Gesicht. Bei einem früheren Gipfeltreffen in Addis Abeba war es Gaddafi gelungen, die konservativen arabischen Führer zu brüskieren, indem er ständig mit einer Leibwache von wohlgeformten Soldatinnen herumlief, die ihn offensichtlich vor den männlichen Bodyguards der traditionelleren Herrscher beschützen sollten. Im Laufe des Jahres 1988 versuchte Gaddafi, die Beziehungen zu manchen seiner Widersacher zu verbessern. Er öffnete die Grenze zu Tunesien wieder und nahm den Waffenstillstand im Golfkrieg zum Anlaß, seine Grenzzäune zum Irak auszubessern. Er stellte die diplomatischen Beziehungen zum Tschad wieder her, und im August 1989 stimmte er der Suche nach einer friedlichen Lösung der restlichen offenen Fragen zu œ ebenso wie dem Vorschlag, die Entscheidung über den Aouzou-Streifen dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu übertragen. Er versuchte auch, die Kontakte mit den Staaten Europas neu zu knüpfen. Im November schickte er seinen Stellvertreter Major Abdul Salaam Jalloud nach Rom, um dort das durch den Raketenangriff auf Lampedusa gestörte Verhältnis zu bereinigen œ in der Hoffnung, daß dann nach Italien -82-
auch der Rest von Europa wieder normale Handelsbeziehungen mit Libyen aufnehmen würde. Vielleicht plante er auch zu versuchen, sein Verhältnis zu Großbritannien und den USA zu verbessern. Allerdings zeigten beide Länder daran kein Interesse.
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MAROKKO
Geographie: Fläche 446.550 km2 (einschließlich West-Sahara 710.850 km2). Bevölkerung: 25,4 Millionen Einwohner. BSP: 590 $/Einw. Flüchtlinge: Rund 165.000 aus der West-Sahara und dem südlichen Marokko in Algerien. Verluste: Seit 1975 waren es ungefähr 10.000 Tote. Von 1975 bis 1988 führte Marokko ununterbrochen Krieg um die Herrschaft über die West-Sahara (das frühere Spanisch-Sahara), ein Gebiet an der Atlantikküste im Süden von Marokko. Marokko hatte nach dem Rückzug der Spanier die Herrschaft übernommen, in eklatanter Verletzung von UNO-Resolutionen und unter völliger Mißachtung des Willens der Einwohner. Nach der marokkanischen Besetzung floh ein Großteil der Bevölkerung nach Algerien, und ihre politische Organisation, die ‡Frente POLISARIO—, stellte eine Armee auf, um die Eindringlinge zu bekämpfen. Die POLISARIO wurde in diesem Kampf von Algerien unterstützt. Bald kam es zu einem dauernden Patt zwischen den Kontrahenten: Die Marokkaner hielten die Städte und die Gewinnungsanlagen für die Rohstoffvorkommen des Landes; die Kämpfer der POLISARIO beherrschten die Wüste. 1988 entzog Algerien plötzlich der POLISARIO seine Unterstützung und nahm wieder diplomatische Beziehungen mit Marokko auf. Die UNO rief einen Waffenstillstand aus, dem ein Referendum über die Zukunft der West-Sahara folgen sollte; diese Volksabstimmung sollte organisiert und überwacht werden von einer 2.000 Mann starken UN-Friedenstruppe. Dieser Friedensplan von Perez de Cuellar wurde von beiden Seiten im August prinzipiell angenommen. GESCHICHTE Die Ebene von Marokko an der Küste des Mittelmeeres wie des Atlantiks sind seit der Antike besiedelt. Marokko war eine Römische -84-
Provinz. Im Inneren des Landes war das anders. Das Atlas-Gebirge und die Wüste Sahara wurden von den Sultanen in Marrakesch oder Fes nur zeitweilig beherrscht, und die befestigten Städte waren fortwährend von Stammeskriegern bedroht, die aus der Wüste oder von den Bergen herab kamen. Im 17. Jahrhundert eroberte die Alawiten-Dynastie aus der südlichen Wüste Marokko und dehnte ihre Herrschaft bis nach Timbuktu am Niger und auf das Gebiet des heutigen Mauretanien aus. Dieses Reich ging bald unter, und die Alawiten wurden auf die Atlantikküste von Marokko und in die größeren Städte zurückgedrängt, aber die heutigen Alawiten-Sultane œ jetzt Könige œ haben die Eroberungen ihrer Vorfahren immer wieder zur Grundlage ihrer Ansprüche auf die Herrschaft über die gesamte West-Sahara gemacht. Über die Jahrhunderte hinweg hatten die marokkanischen Herrscher fortwährend den Übergriffen von Europäern oder Osmanen zu widerstehen. 1415 besetzten die Portugiesen Ceuta, die südliche der beiden Säulen des Herkules, die den Eingang zum Mittelmeer bilden (die nördliche ist Gibraltar). Spanien übernahm Ceuta 1578 und beherrscht es seither. Weiter östlich liegt Melilla, ein anderes ‡Presidio—, seit 1496 ebenfalls unter spanischer Herrschaft. Marokko hat seine Unabhängigkeit bis ins späte 19. Jahrhundert bewahrt. Zu dieser Zeit hatte Frankreich Algerien bereits kolonialisiert, und Frankreich, Spanien, Großbritannien und Deutschland streckten die Hand nach Marokko aus. Frankreich und Großbritannien kamen überein, Deutschland auszuschließen, und Marokko wurde zwischen Spanien und Frankreich aufgeteilt. Spanten stieg bei diesen Verhandlungen schlecht aus, sein Besitz bestand nur aus drei kleinen Gebieten. Ein schmaler Streifen entlang der Nordküste, der vom Rif-Gebirge beherrscht wird, mit dem Hauptort Tetuan; eine kleine Enklave an der Atlantikküste, Ifni, auf dem Boden einer kurzlebigen spanischen Kolonie des 16. Jahrhunderts, und Rio de Oro, ein Wüstenstreifen in Süd-Marokko, der an die bereits existierende spanische Kolonie Spanisch-Sahara angrenzte. Tanger im äußersten Nordwesten wurde zur internationalen Zone erklärt und genoß ein halbes Jahrhundert den Ruf der Schmuggelhauptstadt der Welt. -85-
In den frühen zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann im RifGebirge unter Mohammed Abd al-Krim der Aufstand, und Spanien mußte eine halbe Million Soldaten einsetzen, um ihn niederzuschlagen. Der spanische Militärputsch von 1936 ging vom Befehlshaber der Truppen in Marokko aus, General Francisco Franco. Während des Bürgerkrieges setzte Franco marokkanische Eingeborenen-Truppen in Spanien ein œ der einzige erwähnenswerte Beitrag des marokkanischen Kolonialreiches für das spanische Mutterland. Frankreich zog die Grenzen zwischen Algerien und Marokko œ sehr zum Vorteil Algeriens, das ein Teil Frankreichs blieb, während Marokko nur als Protektorat eingestuft wurde. Frankreich eroberte auch die Sahara und legte die Grenzen zwischen Spanisch-Westafrika und Mauretanien fest, das ein Teil von Französisch-Westafrika war. Nachdem die spanische Kolonie Rio de Oro nur aus der heruntergekommenen Küstensiedlung Villa Cisneros bestand, mußte Frankreich etwaigen spanischen Eroberungsgelüsten auch kein besonderes Augenmerk schenken und überließ die Sahara großzügigerweise sich selbst. 1926 zählte ein Reisender in Villa Cisneros 20 Häuser und 28 Zelte. Die Bevölkerung bestand aus 150 Eingeborenen und 35 Soldaten, dazu ein Gouverneur im Hauptmannsrang, ein Leutnant, ein Arzt, ein Polizist, ein Kaplan und ein Repräsentant der Trans-AtlanticSchiffahrtsgesellschaft. Im Wettrennen um Afrika hatte Spanien den letzten Platz belegt. Die Wüste war reicher, als irgend jemand vermutet hätte. Unter französischer Anleitung wurde in Algerien Öl und Eisenerz (in Tindouf) gefördert, und in Mauretanien wurde Eisen in Zouerate gefunden. Schließlich entdeckte man in Spanisch-Sahara die enormen Phosphatlager von Bou-Craa. Marokko hatte großes Verlangen nach all diesen Reichtümern, ungeachtet der Tatsache, daß es bereits die größten Phosphatlager der Welt besaß. Eine Quelle des Reichtums der West-Sahara ist seit Jahrhunderten bekannt: Vor der Küste liegen einige der reichsten Fischgründe der Welt, mit einer Fangkapazität von 2 Millionen Tonnen pro Jahr. Während der Herrschaft der Spanier war dieses Fanggebiet -86-
ausschließlich Fischereiflotten aus Europa und von den Kanarischen Inseln vorbehalten. DIE ZEIT NACH DER ENTKOLONISIALIERUNG Nach den Zweiten Weltkrieg sah sich Frankreich im Nordafrikanischen Reich mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Im November 1954 nahm die ‡Algerische Nationale Befreiungsfront— (FLN) den Kampf auf, und in Marokko bildete sich im Atlas-Gebirge und in der südlichen Wüste eine antifranzösische und antiroyalistische Befreiungsarmee und begann mit Kampfhandlungen gegen französische Stellungen. Die Franzosen ersetzten im August 1953 den Sultan von Marokko, Mohammed V., durch einen willfährigeren Monarchen. Aber das Land wurde rasch unregierbar, und im Oktober 1955 wurde der Marionettensultan wieder abgesetzt, und Mohammed kehrte am 6. November auf seinen Thron zurück. Aufstände in Marokko und Tunesien waren unerwünschte Ablenkungen von dem für die Franzosen wesentlichen Problem œ dem Algerienkrieg œ, und 1956 entließ Frankreich Marokko und Tunesien in die Unabhängigkeit. Spanien sah sich gezwungen, dem französischen Beispiel zu folgen und gab seinen Kolonialbesitz in Marokko auf. Mit Ausnahme der ‡presidios— in Ceuta und Melilla verließen die Spanier unverzüglich den Norden und stimmten auch zu, daß der Süden von Marokko übernommen würde, sobald es dazu in der Lage sei. Die Befreiungsarmee dehnte ihre Angriffe auf Ifni, Spanisch-Südmarokko und Spanisch-Sahara aus, quer über die völlig künstliche internationale Grenze. Die spanische Armee gab alle Stellungen innerhalb dieser Gebiete auf und blieb nur in Ifni, einem 20 Kilometer-Streifen rund um die Stadt Sich Ifni, die 24.000 Einwohner hatte. Das neue Königreich Marokko war zunächst nicht in der Lage, im Süden staatliche Autorität auszuüben, wo die Befreiungsarmee für die Königliche Regierung zumindest eine solche Bedrohung darstellte wie für Spanien und Frankreich. Sie griff auch weiterhin französische Stellungen in Algerien und Mauretanien an, und im Februar 1957 beschloß Frankreich die ‡Operation Hurrikan—, um die -87-
Befreiungsarmee in ihren Lagern in Mauretanien und Spanisch-Sahara zu zerstören. Die Aktion war ein voller Erfolg. 1958, als die marokkanische Armee stark genug war, die Spanier zu ersetzen, zogen diese aus Südmarokko ab. 1968 gab Spanien seine zentralafrikanischen Kolonien Rio Muni und die Insel Fernando Poo auf (daraus entstand Äquatorialguinea), und 1969 trat es Ifni an Marokko ab. Schon früher hatte Marokko Tanger beansprucht und 1960 wieder in Besitz genommen. Aber Spanien behielt SpanischSahara und begann mit der Ausbeutung der Phosphatlager, die 1945 entdeckt worden waren. Als Frankreich 1960 Mauretanien die Unabhängigkeit gab, erhob der neue Staatspräsident Mokhtar Ould Daddah Anspruch auf Spanisch-Sahara. Marokko begann eine enorme diplomatische Kampagne, um seine eigenen Ansprüche auf dieses Gebiet zu sichern œ das Süd-Marokko genannt wurde œ, und dehnte diesen Anspruch gleich auf ganz Mauretanien aus. Es versuchte, Mauretaniens Beitritt zur UNO zu verhindern und später den zur OAU, und verweigerte dem Staat bis 1969 die Anerkennung. Die Arabische Liga unterstützte Marokko, aber die anderen ehemaligen französischen Kolonien standen auf der Seite Mauretaniens. Marokko war auch mit Algerien, das 1962 die Unabhängigkeit erlangte, in einen Konflikt verstrickt. Marokko erhob Anspruch auf einen erheblichen Teil von West-Algerien; in diesem Gebiet um Tindouf liegen einige der reichsten Eisenerzvorkommen der Welt. König Hassan war darüberhinaus besorgt, daß das nasseritische radikale algerische Regime eine Bedrohung für die marokkanische Monarchie darstellen könnte. Er schickte Truppen los, um algerische Armeestützpunkte an der Grenze zu besetzen, unmittelbar nachdem die Franzosen abgezogen waren, aber die Algerier warfen sie wieder hinaus. Im September 1963 versuchte Hassan es noch einmal und sandte marokkanische Truppen in das umstrittene Gebiet. Der marokkanische Vorstoß wurde erst wenige Kilometer vor Tindouf zum Stehen gebracht. Nach Intervention der OAU wurde entlang der Grenze eine entmilitarisierte Zone eingerichtet. Später akzeptierte auch Marokko die Grenzziehung der Franzosen, aber die Beziehungen blieben kühl. -88-
In den sechziger Jahren wurden im Bergbau in Mauretanien und in Spanisch-Sahara große Investitionen getätigt. In Mauretanien wurden die Minen von Zouerate œ an der Grenze zu Spanisch-Sahara œ ausgebaut, und eine 650 Kilometer lange Eisenbahnstrecke wurde für den Erztransport an die Küste errichtet. Sie verläuft Richtung Süden, dann nach Westen, parallel zur Grenze. Die Phosphatvorkommen in Bou-Craa in Spanisch-Sahara wurden von einem staatseigenen Unternehmen abgebaut, das ein 100 Kilometer langes Förderband errichtete, um das Erz zu einem neu gebauten Hafen an der Küste zu transportieren. Die ersten Schiffsladungen gingen 1972 hinaus, und das Unternehmen plante, ab 1980 ein Jahresexportaufkommen von 10 Millionen Tonnen zu ereichen. DIE ENTSTEHUNG DER FRENTE POLISARIO Marokkos Anspruch auf Spanisch-Sahara kam bis 1974 nie zum Ruhen. Dann wurde von jungen Saharaui eine antikoloniale Bewegung gegründet. Sie waren an marokkanischen Schulen und Universitäten ausgebildet und mit der revolutionären Gesinnung radikaler Araber geimpft worden. 1972 gründeten sie die ‡Frente POLISARIO—, die ‡Frente Populár para la Liberation de Saguia elHamra y Rio de Oro—. (Der Sagui el-Hamra ist ein Fluß, nach dem der nördliche Teil von Spanisch-Sahara benannt ist; Rio de Oro ist der südliche Teil.) Die POLISARIO startete ihren Guerillakrieg 1973 œ mit Hilfe kleinerer Waffenlieferungen aus Libyen œ, und im Oktober 1974 sabotierte sie das Bou-Craa-Förderband. Franco war bereits senil. Er hatte den Sturz des faschistischen Regimes in Portugal im April und den Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialreiches miterlebt. Er und Spanien entschieden, daß es ihren Interessen am dienlichsten sein würde, Spanisch-Sahara die Unabhängigkeit zu geben, in Nachahmung des neokolonialen Beispieles, das Frankreich in Westafrika gegeben hatte. Spanien erwartete, daß ein unabhängiges Spanisch-Sahara weiterhin spanische Investitionen schützen und seiner Führerschaft folgen würde, so wie die früheren französischen Kolonien sich an Frankreich orientierten. So kündigte Spanien für den August 1974 ein Referendum über die Zukunft von Spanisch-Sahara an. -89-
Diese Ankündigung ließ König Hassan handeln. Er brauchte dringend einen Erfolg; schließlich hatte er mit knapper Not zwei Militärputsche 1971 und 1972 überlebt. Beim ersten hatten rebellische Soldaten ein Gartenfest des Königs angegriffen und die Gäste massakriert. Der König hatte sich in einem Pavillon versteckt und mitangehört, wie Soldaten beklagten, daß diese Schurken den König getötet hätten. Er schlüpfte hinaus, gab sich zu erkennen und brachte die verwirrten Soldaten dazu, ihre Vorgesetzten zu verhaften. Und am 16. August 1972 hatten zwei Jagdflugzeuge der marokkanischen Luftwaffe versucht, König Hassans Maschine abzuschießen. Hinter diesem Putschversuch stand der Innenminister, General Mohammed Oufkir. Sie verfehlten ihr Ziel. Oufkir wurde gestattet, sich selbst zu erschießen. KÖNIG HASSANS GRÜNER MARSCH Der König mißtraute weiterhin dem Militär und der Opposition. Er appellierte an ihren Chauvinismus und forderte sie auf, sich gemeinsam hinter seinen Anspruch auf Spanisch-Sahara zu stellen. Dabei versuchte er Zeit zu gewinnen, indem er den Streit vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag brachte. Er bedrängte Spanien, das angekündigte Referendum zu verschieben und später vielleicht abzusagen. Und er suchte militärische und politische Unterstützung bei seinen zwei Hauptverbündeten, den USA und Frankreich. Diesen beiden Staaten war die Stabilität Marokkos wichtiger als alles andere. Nachdem König Hassan sein ganzes Prestige in den Kampf um Spanisch-Sahara eingebracht hatte, fürchteten sie, daß eine Niederlage ihn den Thron kosten würde. Außerdem lehnten der USAußenminister Henry Kissinger und der französische Staatspräsident Valery Giscard d‘Estaing die POLISARIO wegen ihrer Linkslastigkeit grundsätzlich ab. Spanien, immer noch unter einer faschistischen Regierung, kam zu einem gegensätzlichen Schluß. Es wollte seine Investitionen vor den Marokkanern schützen und fand nach geheimen Verhandlungen heraus, daß es ganz gut mit einer POLISARIO-Regierung zurecht kommen würde. Zugleich warf Algerien sein ganzes Gewicht für die -90-
Befreiungsfront in die Waagschale. Die Vereinten Nationen entsandten eine Ermittlungskommission in die Wüste, um die Wünsche der Bewohner zu erforschen; überall stieß sie auf Demonstrationen zu Gunsten der POLISARIO. Im Sommer 1975 zog Marokko 20.000 Soldaten an der Grenze zusammen. Schließlich verkündete die UNO-Kommission am 15. Oktober das Ergebnis ihrer Untersuchungen: ‡Die Mehrheit der Bevölkerung von Spanisch-Sahara wünscht offensichtlich die Unabhängigkeit.— Das Land hatte sich eindeutig für die POLISARIO entschieden. Am nächsten Tag verkündete der Internationale Gerichtshof, daß ‡kein Band nationaler Souveränität zwischen dem Territorium der West-Sahara und dem Königreich Marokko oder Mauretanien bestünde—. König Hassan reagierte auf diese beiden Niederlagen mit einem sensationellen Beispiel der ‡großen Lüge—. Er verkündete einfach, daß der Gerichtshof zu Gunsten Marokkos entschieden hätte. Dann rief er 320.000 Freiwillige auf, in einem ‡Grünen Marsch— über die Grenze die West-Sahara wieder in Besitz zu nehmen. Die Marokkaner reagierten auf diesen Aufruf mit großer Begeisterung, und am 21. Oktober hatten sich bereits 524.000 Menschen in Zeltlagern an der Grenze versammelt. Auf dem Höhepunkt der Krise, am 17. Oktober 1975, brach Franco während einer Kabinettssitzung zusammen. Er lag offensichtlich im Sterben, und die Regierung in Madrid war viel mehr mit der Planung eines reibungslosen Übergangs beschäftigt als mit dem Schicksal von Spanisch-Sahara. Die USA und Frankreich unterstützten Hassan, und Spanien brach seine Vereinbarungen mit der POLISARIO. Am 21. Oktober nahmen die Spanier Verhandlungen mit Marokko auf, und sieben Tage danach begannen sie mit dem Abzug aus dem Territorium. Alle Zivilisten wurden evakuiert. Der spanische Friedhof in Villa Cisneros wurde aufgelöst, und 1.000 Leichen wurden auf die Kanarischen Inseln gebracht; die Tiere aus dem Zoo von Ai-Ayoun wurden nach Spanien geschickt. Spanische Militäreinheiten wurden von den Außenposten abgezogen und durch POLISARIO-Soldaten oder marokkanische Truppen ersetzt, die bald gegeneinander um die -91-
Herrschaft kämpften. Schließlich begann am 6. November 1975 tatsächlich der ‡Grüne Marsch—. Rund 200.000 Menschen überschritten an mehreren Stellen die Grenze, drangen 10 Kilometer tief in das Gebiet ein und hielten an. Am 8. November kapitulierte Spanien und stimmte zu, seinen Teil der Sahara an Marokko und Mauretanien abzutreten. Im Gegenzug garantierten die beiden afrikanischen Regierungen die Wahrung der spanischen wirtschaftlichen Interessen. Die Marschierer wurden nach Hause geschickt. Am 12. November wurden die Verhandlungen mit Spanien wieder aufgenommen, und am 14. November wurde ein Abkommen zwischen Spanien, Marokko und Mauretanien erreicht, demzufolge Spanien sich bis Ende Februar 1976 zurückziehen und die Verwaltung der Kolonie an Mauretanien und Marokko übergeben würde œ ohne allerdings den Souveränitätsanspruch aufzugeben. Franco starb am 20. November. Die Marokkaner erreichten AlAyoun am 11. Dezember, und Mitte Januar hatte Spanien die Evakuierung abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits rund 40.000 Saharauis ihr Heim verlassen. DER KRIEG König Hassan und Präsident Ould Dadah hatten offensichtlich gewonnen. Allerdings hatte Marokko bei dieser Teilung alle Vorteile in die Hand bekommen, also die ertragreichen Gebiete von SpanischSahara, während Mauretanien sich mit der Tiris al-Charbia begnügen sollte, wertloser Wüste im Süden des Gebietes, und Villa Cisneros, nunmehr umbenannt in Dachla. Aber Marokko und Mauretanien hatten die POLISARIO unterschätzt und die Interessen Algeriens vernachlässigt. Präsident Boumedienne hatte Ould Dadah gewarnt, daß er die POLISARIO unterstützen würde. Die Bewohner von Spanisch-Sahara flohen vor den Marokkanern. Mehr als die Hälfte der Wüstenbewohner waren bald Flüchtlinge in Algerien, wo sie rund um Tindouf angesiedelt wurden, mit dessen Bevölkerung sie eng verwandt sind. Die POLISARIO steigerte ihre Guerillatätigkeit und konzentrierte sich dabei auf Mauretanien als den schwächeren Gegner. Die Streitkräfte der POLISARIO, die ‡Saharauische -92-
Volksbefreiungsarmee— (SPLA), führte verwegene Angriffe über Hunderte Kilometer Wüste hinweg durch, wie die Stammeskrieger der Antike oder die ‡Wüstenfüchse— im Zweiten Weltkrieg. Die SPLA griff auch Nouakchott an, die mauretanische Hauptstadt, 1.500 Kilometer quer durch die Wüste. Der Gründer und Generalsekretär der POLISARIO Al-Ouali Mustapha Sayed wurde beim ersten dieser Kommandounternehmen im Juni 1976 getötet. Ihm folgte Mohammed Abdel Aziz, der auch heute noch Generalsekretär der POLISARIO ist. Die SPLA rekrutierte bald alle kampffähigen Saharaui-Flüchtlinge œ insgesamt 20.000 œ, die von den Algeriern bewaffnet und ausgebildet wurden. Sie griffen die Eisenbergwerke in Zouerate an und beinahe jeden Monat die Eisenbahnlinie an die Küste. Im Mai 1977 besetzten sie Zouerate. Der Erzabbau kam bald zum Erliegen, und die Nationalwirtschaft Mauretaniens, ohnehin durch die Auswirkungen der großen Trockenheit in der Sahel schwer in Mitleidenschaft gezogen, drohte zusammenzubrechen. Marokko sandte Truppen zur Unterstützung, die Dachla besetzten, um es vor SPLA-Angriffen zu schützen, und die Franzosen schickten wieder einmal ihre Luftwaffe los. Französische ‡Jaguar—-Jagdbomber griffen mit großer Wirkung SPLA-Marschkolonnen an, und sie zwangen die Rebellen, sich in kleinere Gruppen aufzuteilen und nur bei Nacht zu marschieren. Die Situation Mauretaniens verschlechterte sich trotzdem fortwährend, und am 9. Juli 1978 stürzte die Armee Ould Dadah in einem unblutigen Putsch. Die POLISARIO verkündete am nächsten Tag einen Waffenstillstand. Die neue Militärregierung wollte den Krieg beenden, konnte das aber aus Furcht vor den Marokkanern nicht tun. Dieses Zögern hielt an, bis die POLISARIO den Waffenstillstand nach einem Jahr, am 12. Juli 1979, brach. Wieder einmal legte sie die Erzeisenbahn lahm. Am 5. August verzichtete die mauretanische Regierung auf Tiris al-Charbia und unterzeichnete einen Friedensvertrag mit der POLISARIO. Marokko verstärkte seine Garnisonen in dem Gebiet, einschließlich Dachla, und verkündete am 14. August die Annexion von Tiris al-Gharbia. DER KAMPF DER POLISARIO GEGEN MAROKKO -93-
Während der ersten zwei, drei Jahre nach dem Staatsstreich in Mauretanien nahm der Krieg für Marokko einen üblen Verlauf. Die SPLA errang eine Reihe wichtiger Siege durch Überraschungsangriffe auf abgelegene Garnisonen. Im August 1979 überrannte sie einen Stützpunkt im südlichen Marokko und eroberte eine gewaltige Menge Kriegsmaterial, darunter siebenunddreißig T-54-Panzer. Bald wurden die SPLA-Einheiten von Algerien mit modernen Waffen ausgerüstet. Sie bekamen Raketen, sogar Stalin-Orgeln auf Lastwagen, und griffen an, wo sie wollten. Die marokkanische Armee erlitt solche Verluste, daß 80 Prozent des umstrittenen Gebietes aufgegeben wurden. 1980 hatte Marokko einen Verteidigungsring um das ‡nützliche Dreieck— der West-Sahara errichtet, darunter auch AlAyoun, die Phosphatminen von Bou Craa und einen kurzen Küstenstreifen einschließlich des neuen Hafens von Al-Ayoun Playa. Eine Enklave umschloß auch Dachla im Süden. Die Verteidigungsanlagen bestanden aus Sandwällen, waren zwei oder drei Meter hoch und ungefähr 1.600 Kilometer lang, geschützt von Minenfeldern und Stacheldrahtverhauen, mit elektronischen Horchanlagen und ständigen Patrouillen, um Eindringversuche abzuwehren. Ungefähr 150.000 marokkanische Soldaten verteidigten diesen Wall. Dahinter wurden 1982 die Phosphatminen und das Förderband wieder in Betrieb genommen. Alles andere wurde der SPLA überlassen. Die größte Stärke der POLISARIO war und ist die Unterstützung, die sie bei den Wüstenbewohnern der West-Sahara findet. Zerstreut wie die Kurden in Vorder-Asien lebten die Saharauis in allen vier Staaten der Region, während sie sich selbst als eine einheitliche Nation betrachten. Als der Krieg begann, hatte die Mehrheit ihre nomadische Existenz aufgegeben, aber an ihrer Tradition hielten sie fest, und sie nannten sich selbst ‡Söhne der Wolken—. Bald lebten mehr als 100.000 Flüchtlinge im Gebiet um Tindouf, die aus Marokko ebenso wie aus der West-Sahara kamen, beträchtlich mehr als die übriggebliebene Bevölkerung von Marokkos ‡nützlichem Dreieck—. Die Flüchtlinge wurden durch Marokkaner ersetzt, die für ihre Übersiedlung in den Süden von der Regierung großzügig belohnt wurden und in den Phosphatminen Arbeit fanden. Die POLISARIO war auch von der ständigen algerischen Unterstützung abhängig. -94-
Algerien war zu stark, daß Marokko es hätte angreifen können, und so hatte die POLISARIO einen sicheren Rückhalt jenseits der Grenze. Algerien, dessen Nationalwirtschaft zweieinhalb mal so groß ist wie die Marokkos, ist auch reich genug, die Guerillas zu bewaffnen und ihren Familien Nahrung und Erziehung zu bieten. Zuletzt genoß die POLISARIO auch weitgehende diplomatische Unterstützung. Am 27. Februar 1976 rief sie die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus und begann eine umfassende diplomatische Offensive gegen Marokko. Bald erkannte die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der OAU die DARS an und stimmte dafür, ihr einen Sitz in der Organisation einzuräumen. König Hassan versuchte 1981, in der OAU nicht an Terrain zu verlieren und versprach ein Referendum. Es fand niemals statt. Im Februar nahm die DARS ihren Sitz bei einem OAU-Gipfeltreffen ein, aber daraufhin zogen 34 Mitglieder im Protest aus, und das Treffen war beendet. Es ist Marokko gelungen, seine diplomatische Stellung in der OAU und in der UNO mit der Unterstützung einer außergewöhnlichen Allianz von arabischen und westlichen Mächten beizubehalten. Mit der selbstverständlichen Ausnahme von Algerien standen die meisten arabischen Länder aus einem Geist arabischer Solidarität auf der Seite Marokkos. 1984 wechselte Libyen, das bis dahin heftig gegen Marokko eingetreten war, plötzlich die Seite, und Oberst Gaddafi und König Hassan unterzeichneten einen Vertrag zur Vereinigung der beiden Länder. In Libyen herrschte zu dieser Zeit eine Phase der antialgerischen Einstellung. Zwei Jahre später, nachdem Gaddafi wieder einmal seine Haltung geändert hatte, kündigte Hassan den Vertrag auf. Die Unterhaltskosten der mehr als 100.000 Soldaten in der WestSahara wie auch die Kosten der Errichtung und zur Aufrechterhaltung des Walles sind weit höher als die Einnahmen Marokkos aus dem Phosphatabbau- In den frühen achtziger Jahren war Marokko einer der relativ meistverschuldeten Staaten der Welt geworden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) verknüpfte mit der Gewährung weiterer Kredite an Marokko einschneidende Bedingungen, die die Regierung zwangen, die Nahrungsmittelsubvention zu kürzen. Im Juni 1981 gab es daher in Casablanca heftige Ausschreitungen, bei denen mehr als 600 Menschen getötet wurden, und weitere Kämpfe zu -95-
Beginn 1984 in Marrakesch. Großzügige US-Hilfe hat Marokko geholfen, diese Situation zu überstehen, aber es zahlt nach wie vor einen hohen Preis für die West-Sahara. Es gibt immer wieder Gerüchte von Unruhen in der Armee, und im Januar 1983 starb der ranghöchste Offizier, General Ahmed Dlimi, unter mysteriösen Umständen. Die offizielle Todesursache war ein Autounfall. DIPLOMATIE Im Mai 1988 nahmen Marokko und Algerien wieder diplomatische Beziehungen auf, die sie 12 Jahre zuvor abgebrochen hatten, als Marokko zum ersten Mal die West-Sahara annektiert hatte. Der algerische Staatspräsident Chadli Ben Jedid wollte die Anwesenheit von König Hassan bei einem arabischen Gipfeltreffen in Algier im Juni 1988 sicherstellen. Bei diesem Treffen trug Oberst Gaddafi ständig einen weißen Handschuh, um seine Hand nicht an König Hassan œ und anderen œ zu ‡verunreinigen—. Obwohl Hassan einmal mehr versprach, ein Referendum in der West-Sahara abzuhalten, bedeutete das Abkommen zwischen Marokko und Algerien einen schweren Schlag für die POLISARIO und ließ zumindest eine drastische Kürzung der algerischen Unterstützung erwarten. Und selbst wenn König Hassan zu diesem Zeitpunkt ein Referendum abgehalten hätte, wäre die Korrektheit der Durchführung wohl zu bezweifeln gewesen. Jetzt leben mehr Marokkaner als Saharauis in der West-Sahara, und Hassan sagte nichts über die Wiederansiedlung der Flüchtlinge. Aber immerhin blieb Marokko unter weiterem ständigen Druck seiner westlichen Verbündeten, diesen Konflikt zu lösen. Das Patt in diesem Krieg hatte Jahre gedauert. Die SNLA war nicht in der Lage, den Sandsack-Wall zu überwinden, aber Marokko konnte in seiner Anspannung nicht nachlassen, konnte niemals seine Truppenansammlungen verkleinern œ auch wenn die Soldaten die Hitze und Langeweile, einen gigantischen Sandwall in der ungastlichen Wüste zu bewachen, verabscheuten. Beide Seiten waren kriegsmüde, aber es blieb offen, ob eine der beiden Seiten bereit sein würde, die für den Frieden notwendigen Kompromisse einzugehen. Im August 1988 schlug UNO-Generalsekretär Javier Perez de -96-
Cuellar einen sofortigen Waffenstillstand zwischen Marokko und der SNLA vor, gefolgt von einer Volksabstimmung in der West-Sahara. Dabei blieb eine ganze Reihe von Verfahrensschwierigkeiten ungelöst, vor allem die grundsätzliche Frage œ Unabhängigkeit für die West-Sahara oder Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zu Marokko œ, die nur gelöst werden könnte, wenn eine der beiden Seiten den Kampf aufgäbe. Aber es deutete nichts darauf hin, daß einer von beiden dazu bereit wäre. Die Verfahrensfragen umfaßten die Forderung der POLISARIO, daß die marokkanischen Truppen vor dem Plebiszit aus der WestSahara abgezogen werden müßten, und die weitere Forderung nach Direktverhandlungen mit Marokko. Die UNO schlug vor. eine 2.000 Mann-Truppe zu entsenden, um die Ruhe in dem Gebiet während der Volksabstimmung zu bewahren. Die marokkanische Armee sollte in ihren Lagern und die SNLA jenseits des Sandwalles bleiben. Am 27. Dezember 1988 verkündete König Hassan, daß er Gespräche mit der POLISARIO aufnehmen würde œ ein Signal, daß er seine Weigerung, die POLISARIO anzuerkennen, nach 13 Jahren aufgab. Im Januar 1989 traf eine Delegation der POLISARIO unter Führung des Ministerpräsidenten der DARS, Mahfoud Ali Beiba, in Marrakesch mit Hassan zusammen. Der UNO-Vermittlungsvorschlag beruhte auf der Hoffnung, daß Marokko und die POLISARIO einer Form der begrenzten Autonomie der West-Sahara zustimmen würden, einer Zwischenstufe zwischen voller Unabhängigkeit und Eingliederung in Marokko. Die Flüchtlinge in Tindouf und die marokkanischen Zuwanderer hinter dem Sandwall warteten fatalistisch auf den Ausgang dieser Verhandlungen.
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MOSAMBIK Geographie: 799.380 km2 Bevölkerung: 14,1 Millionen BSP: 95 $/Einw. Flüchtlinge: Im Landesinneren sind es mehr als 3,5 Millionen. Mehr als 1.137.000 sind ins Ausland geflohen. Im Sommer 1988 lebten in Malawi rund 640.000 mosambische Flüchtlinge, und jeden Monat kamen 10.000 bis 20.000 weitere. In Tansania sind es rund 72.000, 180-000 in Süd-Afrika, 171.000 in Simbabwe, 30.000 in Sambia und 64.000 in Swasiland. Verluste: Krieg und Hungersnot haben seit 1975 mehr als 400.000 Menschenleben gefordert. Die Kindersterblichkeit ist mit 35 % die höchste der Welt. Der International Index of Human Suffering, herausgegeben vom ‡Population Crisis Committee— in Washington, bezeichnet Mosambik als die unglücklichste Nation der Welt œ ein trauriger Wettstreit, in dem Angola, Afghanistan und der Tschad seine schärfsten Konkurrenten sind. Die schrecklichen Zustände in Äthiopien, im Libanon oder in Uganda œ Völkermord, Hungersnot, Bürgerkrieg und Terrorismus œ sind in der Welt besser bekannt, aber sie werden von der Situation in Mosambik in den Schatten gestellt. Mosambik liegt in den letzten Zügen des staatlichen Zerfalls. Die Regierung hat offiziell die größeren Städte unter Kontrolle, aber sie kann keine der Leistungen bieten, die man von einer Regierung erwarten kann. Die Hauptstadt Maputo hieß früher Lourenco Marques, ein schäbiges, heruntergekommenes Zentrum unwichtiger internationaler Intrigen. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie von Malcolm Muggeridge ‡entdeckt— und für eine Weile zum Las Vegas des Indischen Ozeans œ zumindest dem Anschein nach. Vor allem Südafrikaner wollten sich von den puritanischen Zwängen der Apartheid im Rassengemisch von Lourenco Marques erholen. Seit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1975 ist Lourenco Marques eine Geisterstadt. Die Trinkwasser- und Stromversorgung ist unregelmäßig, ungenügend und unvorhersehbar. Krankenhäuser -98-
können oft nur einem Teil ihrer Patienten die notwendige Behandlung und Pflege angedeihen lassen, und die schwer bewaffneten Geleitkonvois bieten maximal im Umkreis von 50 Kilometer außerhalb der Stadt Schutz. 1987 wandte sich die Regierung von Mosambik in ihrer Verzweiflung von der strikten marxistischen Ideologie ab und ließ das freie Unternehmertum mit Einschränkungen wieder zu. Der Internationale Währungsfonds und westliche Staaten boten zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit Wirtschaftshilfe, und in manchen Geschäften Maputos gab es plötzlich wieder Lebensmittel und Kleidung. Allerdings hat nur die kleine zahlungskräftige herrschende Schicht Zugang zu diesen Dingen, die Klasse der Nutznießer der Revolution, für den Rest der Bevölkerung bleiben die Hotels verschlossen und die Läden versperrt, und die Bevölkerung versucht mit Tauschhandel zu überleben. Mosambische Bauern können nur 6 Prozent des Getreides erwirtschaften, das notwendig wäre, um die Stadtbevölkerung zu ernähren œ inklusive 2 Millionen Flüchtlinge. Seit 1981 sind laut Angaben des Erziehungsministeriums 2.518 Schulen zerstört worden œ das sind zwei Drittel aller Ausbildungsstätten des Landes, aber wahrscheinlich sind es in Wahrheit noch mehr. Rund 600 Landspitäler und medizinische Stationen wurden zerstört oder aufgegeben. Plantagen, Bergwerke und Fabrikanlagen wurden verwüstet. Eisenbahnlinien, Brücken, Überlandstromleitungen und die gesamte Infrastruktur des Landes wurden beschädigt oder völlig zerstört. Das Pro-Kopf-Einkommen ist zwischen 1986 und 1988 von 210 $ auf 95 $ gefallen. Mosambik war bereits bitterarm, als es von Portugal unabhängig wurde. Nun hat es jeden wirtschaftlichen Fortschritt der letzten hundert Jahre eingebüßt. Ausländische Hilfsorganisationen unternehmen verzweifelte Anstrengungen, rund 6,5 Millionen Bewohner Mosambiks am Leben zu erhalten œ etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Gesamtbevölkerung, je nach Auslegung der unzuverlässigen Volkszählungsdaten. Anfang 1988 lebten 3,2 Millionen Menschen ausschließlich von internationaler Hilfe, weitere 3,3 Millionen zumindest zum Teil. Aber der Zusammenbruch der Sicherheit im Landesinneren läßt kaum Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation. Mosambik steht vor -99-
weiteren Hungerkatastrophen, ähnlich der von Äthiopien 1984. GESCHICHTE Portugal errichtete im frühen 16. Jahrhundert Stützpunkte an der ostafrikanischen Küste. Lourenco Marques und Beira überdauerten den Verlust des portugiesischen Kolonialreiches in Asien, und als die europäischen Mächte Ende des 19. Jahrhunderts Afrika aufteilten, wurde Portugal ein Gebiet zugestanden, das ungefähr so groß ist, daß es sich auf einer Landkarte von Europa von Stockholm bis Rom erstrecken würde. Die Portugiesen vernachlässigten ihre Kolonie die meiste Zeit völlig. Es gab zwar keine offizielle Rassendiskriminierung œ anders als bei den Briten oder Franzosen œ, aber 1975 hatten in ganz Mosambik nur 4.500 schwarze Einwohner gesetzlichen Anspruch auf die portugiesische Staatsbürgerschaft. In diesem Jahr gab es etwa 30.000 Mischlinge und in den Städten etwa 250.000 Menschen mit einem Mindestmaß an Schulbildung. Nach dem Zweiten Weltkrieg träumte die Regierung Salazar von einem neuen Brasilien in Ost-Afrika und förderte die massenweise Ansiedlung portugiesischer Bauern. 1955 kamen 50.000 Siedler aus Europa, in den folgenden 20 Jahren weitere 200.000. Das geplante Herzstück der wirtschaftlichen Entwicklung sollte das größte Wasserkraftwerk Afrikas sein, an einem riesigen Staudamm am Sambesi bei Cabora Bassa, nahe der Grenze zu Nyasaland, dem heutigen Malawi. Als weitere Grundlagen des Reichtums der Kolonie waren die Eisenbahnverbindung von Beira nach Salisbury in SüdRhodesien (jetzt Harare/Simbabwe) und der Handel mit Südafrika geplant. Mosambiks Häfen waren damals die Umschlagplätze für rhodesische und südafrikanische Ausfuhren. Es war alles Chimäre. Die Annahme, Portugal könne bei einer Bevölkerung von rund 8 Millionen eine Million Bauern nach Afrika schicken, war pure Phantasterei, ebenso wie der Traum vom Überleben des portugiesischen Kolonialreichs. Ende der fünfziger Jahre erhob sich ein Sturm der Veränderung in Afrika, als Briten, Franzosen und Belgier von ihren Kolonialimperien Abschied nahmen. In allen portugiesischen Kolonien entstanden -100-
Widerstandsbewegungen. Die ‡Frente de Libertacao de Mosambique— (FRELIMO, Front zur Befreiung Mosambiks) wurde 1962 gegründet und begann ihren Guerillakampf 1964. Von ihren Stützpunkten in Tansania griff sie Armeestationen, Konvois und andere Wirtschaftsziele an. Ihre Hauptunterstützung fand sie im Stamm der Makua im Norden des Landes, aber im Rest des Landes konnte sie etliche Jahre keinen Zugewinn erzielen. Die meisten Soldaten der portugiesischen Armee waren Afrikaner, und die Armee baute mit großem Erfolg befestigte Dörfer, um loyale Afrikaner gegen die Guerillas zu schützen. Bis 1972 beherrschten die Portugiesen das Land tatsächlich, und in diesem Jahr gelang es der Armee sogar, in der Operation ‡Gordischer Knoten— die FRELIMO über die tansanische Grenze zurückzudrängen. Portugal wurde in seinem Kampf in Angola und Mosambik von Südafrika und der weißen Regierung in Süd-Rhodesien unterstützt, die 1965 die Unabhängigkeit des Landes ausgerufen hatte. Aber nach dem ‡Gordischen Knoten— wendete sich das Blatt. Die FRELIMO eröffnete eine zweite Front, schickte ihre Einheiten durch Sambia, Malawi und das unwegsame Grenzland zwischen Rhodesien und Mosambik und griff die Provinz Tete an. In diesem wirtschaftlichen Schlüsselgebiet näherte sich der Cabora Bassa-Staudamm seiner Vollendung, dort brachte die Beira-Eisenbahnlinie rhodesische Exportgüter ans Meer, und dort wurde die Mehrzahl der portugiesischen Einwanderer angesiedelt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Portugiesen den Krieg in Angola gewonnen und die zersprengten und zerschlagenen Widerstandskämpfer an die Grenzen oder in die Nachbarstaaten getrieben. Anders stand es in Portugiesisch-Guinea (jetzt GuineaBissau), wo die Guerillas den Großteil des Landes unter Kontrolle hatten und die portugiesischen Garnisonen auf dem Luftweg versorgt werden mußten. Nun nahm der Krieg in Mosambik an Heftigkeit zu, Portugal verlor zusehends die Kontrolle über das Land. Mit Unterstützung von Tansania und Sambia beherrschte die FRELIMO den Norden des Landes, und die portugiesische Armee zog sich aus den Provinzen an der Grenze zurück. Aber immer noch kontrollierte sie den Süden, wo es keine FRELIMO-Einheiten gab und hielt œ mit rhodesischer Hilfe œ Tete und den Beira-Korridor. Militärisch wurden -101-
die Portugiesen nicht besiegt, kaum anders als die Franzosen in Algerien oder die Amerikaner in Vietnam. Der Hauptfaktor für den plötzlichen Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialreiches war der Widerstand innerhalb der portugiesischen Armee, der die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung in Portugal widerspiegelte. Die im Mutterland rekrutierten Bauern hatten zum Überseereich keine Beziehung, und sie waren nicht gewillt, für ein neues Brasilien am Indischen Ozean zu leiden oder zu sterben. Portugal unterhielt in Afrika eine Kolonialarmee von 140.000 Mann, in Relation siebenmal so viele Soldaten wie die USA nach Vietnam schickten, und 40 Prozent des Staatshaushaltes flossen in den Kolonialkrieg. 1974 erkannte das portugiesische Heer, daß das Kolonialreich nicht zu halten sein würde, und Offiziere der Kolonialarmee stürzten im April die Regierung in Lissabon. Innerhalb eines Jahres überließen sie die Kolonien Portugiesisch-Guinea, Angola und Mosambik ihrem eigenen Schicksal. Mosambik wurde am 25. Juni 1975 unabhängig. Die portugiesischen Kolonialisten flüchteten œ 200.000 mit einem Schlag und 40.000 in den folgenden Jahren. Sie hinterließen ein völlig verarmtes Land. Als die FRELIMO in den Süden auf Lourengo Marques zumarschierte, gab es keine Techniker, um die notwendigsten öffentlichen Aufgaben durchzuführen, keine Lehrer, keine Handwerker. Die Plantagen, Bergwerke, Fabriken und Kraftwerke waren alle verlassen. Der große Staudamm war vollendet und nutzlos: Es gab keinen einzigen Mann, der die Generatoren hätte bedienen können. DAS UNABHÄNGIGE MOSAMBIK Die FRELIMO, wie die MPLA in Angola, wandte sich um Hilfe an die Sowjetunion. Die UdSSR bot geringe Unterstützung und Waffen für die neue Armee, aber es war bei weitem nicht genug. Die Sowjetunion war kaum imstande, Angola und Äthiopien am Leben zu erhalten, und obwohl sie Mosambik durchaus in ihr Lager ziehen wollte, war sie nicht in der Lage oder vielleicht auch nicht willens, genügend Unterstützung zu bieten, um die Wirtschaft des Landes zu konsolidieren. -102-
Die FRELIMO, voller Dankbarkeit für das Wenige, folgte dem schlechten Beispiel anderer afrikanischer Staaten wie Tansania oder Sambia und erklärte sich zur marxistisch-sozialistischen Volksrepublik. Sie verstaatlichte die bankrotten und heruntergekommenen portugiesischen Unternehmen und Industrien und kollektivierte die Landwirtschaft nach bestem sowjetischem Muster. Daraufhin sank die Industrie- und Agrarproduktion um 50 Prozent. Die Schwierigkeiten des Landes wurden durch die Dürreperioden der späten siebziger Jahre verschärft. Statt sich als Massenbewegung zu etablieren, blieb die FRELIMO eine kleine, straff organisierte Kaderpartei, die vor allem in den Stämmen des Nordens verankert war. Sie bezeichnete sich selbst als ‡Partei des Bündnisses der Vorhut der Arbeiter und Bauern, in deutlicher Anlehnung an Lenins Bolschewiki. Präsident Samora Machel versuchte, eine marxistische Diktatur zu errichten, einschließlich Umerziehungslager für unwillige Stadtbewohner. Am Höhepunkt der Kampagne sollen in diesen Lagern 10.000 Gefangene geschmachtet haben œ die ideale Rekrutierungsbasis für die RENAMO. Die UdSSR bildete die mosambischen Streitkräfte aus; Mitte der achtziger Jahre waren etwa 600 sowjetische und ostdeutsche sowie rund 1.000 kubanische Berater im Land stationiert. Mosambische Piloten wurden in der UdSSR und der DDR ausgebildet. Die UdSSR schickte gewaltige Mengen Waffen, einschließlich Kampfpanzer und Düsenjäger, beides ziemlich sinnlos in einem Guerillakrieg. Aber darum ging es der UdSSR wohl gar nicht; sie bildete die mosambische Armee zum späteren konventionellen Krieg gegen Südafrika aus. DER BEGINN DES KRIEGES Zugleich mit der Unabhängigkeit des Landes erklärte die FRELIMO-Regierung auch ihre Feindschaft mit Südafrika und Rhodesien, schnitt die rhodesische Eisenbahnlinie nach Beira ab und gestattete den rhodesischen Widerstandsbewegungen die Errichtung von Stützpunkten in Grenznähe. Rhodesien beantwortete diese Aktionen mit der Unterstützung des Kampfes gegen die FRELIMO, den weiße portugiesische Siedler und schwarze Ex-Soldaten der -103-
portugiesischen Armee führten, vor allem solche, die nicht dem Makua-Stamm angehörten. Die ‡Resistencia Nacional Mocambiquana— (RENAMO, Mosambische Nationale Widerstandsbewegung) wurde 1976 vom rhodesischen Geheimdienst gegründet. Ihre Aufgabe war, die mosambische Armee zu attackieren und die ‡Zimbabwe African National Union— (ZANU) auszuspionieren, deren Streitkräfte, die ‡Zimbabwe African National Liberation Army— (ZANLA), nach der Unabhängigkeit Mosambiks von Tansania nach Mosambik übergetreten waren und von dort rhodesisches Gebiet angriffen. Unter den Portugiesen, die die RENAMO gründeten, waren Jörge Jardim, ein Geschäftsmann; Orlando Christina, ein früherer Geheimpolizist; und Domingos Arouca, ein Plantagenbesitzer. Auch ehemalige FRELIMO-Kärnpfer schlossen sich an, darunter Andre Matzangaissa und Alfonso Dhlakama, die später die wichtigsten Führer der RENAMO wurden. Die mosambische Regierung behauptete, daß die beiden wegen Diebstahls aus der mosambischen Armee ausgestoßen worden seien. Die RENAMO errichtete Stützpunkte in Rhodesien und jenseits der Grenze in Mosambik, und Rhodesien baute ihr einen Radiosender. In dieser Anfangsphase ihrer Operationen war die RENAMO nicht sonderlich erfolgreich. Im Oktober 1979 gelang der mosambischen Armee ein Angriff auf die wichtigste RENAMO-Basis innerhalb des Landes, im Naturschutzpark Gorongosa. Dabei starb Matzangaissa. Daraufhin brach ein blutiger Streit über das Kommando der RENAMO aus, der zuletzt von Dhlakama gewonnen wurde. Sein Stellvertreter wurde Leutnant Adriano Bomba, ein früherer Pilot der mosambischen Luftwaffe. Die RENAMO unterhält ein internationales Büro. Ihr erster Generalsekretär Orlando Christina wurde vor seinem Haus in Pretoria 1983 ermordet. Ihm folgte Evo Fernandes, der seinen Sitz in Lissabon hatte und im April 1988 entführt und getötet wurde. Simbabwe wurde im April 1980 unabhängig, und die RENAMO mußte ihre Stützpunkte nach Südafrika verlegen. Der Afrikanische Nationalkongreß (ANC) begann Guerillaoperationen gegen Südafrika von Stützpunkten in Mosambik, worauf Südafrika seine Unterstützung -104-
der RENAMO wesentlich erhöhte. Diese griff tief bis in mosambisches Gebiet an, die Kommandotruppen wurden oft von südafrikanischen Flugzeugen, Hubschraubern oder Schiffen transportiert, und die mosambische Armee war nicht in der Lage, diesen Angriffen wirkungsvoll zu begegnen. Dann errichtete die RENAMO Stützpunkte in Mosambik und Malawi. Die Regierung von Malawi leugnet entschieden, der RENAMO Unterstützung angeboten zu haben, aber diese Äußerungen werden von anderen afrikanischen Staaten nicht sonderlich ernstgenommen. Als Präsident Samora Moises Machel bei einem Flugzeugabsturz in Südafrika getötet wurde, fanden die Südafrikaner in den Trümmern der Maschine Aufzeichnungen über ein Treffen afrikanischer Führer, von dem er eben kam, wo Angriffe auf Malawi wegen der Unterstützung der RENAMO diskutiert worden waren. Nach übereinstimmenden Berichten hat diese Unterstützung jetzt aber geendet. Vom ersten Tag seiner Unabhängigkeit an hatte Mosambik seine Unterstützung für den ANC erklärt, der seit den sechziger Jahren den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika führt. Als Antwort auf diese Steigerung seiner Unterstützung für die RENAMO verhängten die Südafrikaner wirtschaftliche Sanktionen über Mosambik, schränkten die Zahl der mosambischen Bergleute von 100.000 auf 40.000 ein und stoppten die Direktzahlungen in Gold an Mosambik. Diese Maßnahmen bedeuteten für Mosambik einen jährlichen Verlust von 2,5 Milliarden Dollar. Südafrikanische Sicherheitskräfte trugen den Krieg nach Mosambik, indem sie das ANC-Büro in Maputo überfielen. Die Stadt liegt nahe an der Grenze und ist verwundbar. Bei der ersten dieser Aktionen töteten südafrikanische Ranger in mosambischen Uniformen 11 Mitglieder des ANC, ehe sie mit Hubschraubern herausgeflogen wurden. Es gab weitere Bombenangriffe auf ANC-Stellungen, die die Mosambier nicht verhindern konnten, und im Dezember 1982 zerstörte ein anderer Kommandotrupp die Ölvorratstanks in Beira. 1982 wurde Ruth First, eine südafrikanische Kommunistin und die Ehefrau des ANC-Kommandanten Joe Slovo, in Maputo durch eine Briefbombe getötet.
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DER BÜRGERKRIEG 1984 hatte die RENAMO mindestens 12.000 Guerillas unter Waffen, und bis 1988 war diese Zahl auf 15.000-20.000 angestiegen, während die mosambische Armee von 40.000 auf 30.000 zusammengeschmolzen war, unterstützt durch die gleiche Anzahl Soldaten aus Tansania und Simbabwe. Die RENAMO wurde für das Land so bedrohlich, daß Präsident Machel am 16. März 1984 in Nkomati an der Grenze zwischen den beiden Ländern ein Abkommen mit dem südafrikanischen Ministerpräsident P. W. Botha unterzeichnete. Das NkomatiAbkommen hielt fest, daß Mosambik alle Unterstützungen für den ANC und Südafrika die Unterstützung der RENAMO beenden würde. Mosambik schloß prompt die ANC-Büros und durchsuchte die Flüchtlingslager nach Waffenlagern. Es war ein großer Sieg für Südafrika; jetzt gestattete keiner der Frontstaaten œ außer Angola œ dem ANC weiterhin, von seinem Territorium anzugreifen. Für Mosambik allerdings hat sich die Lage verschlechtert. Man nimmt an, daß Südafrika ungeachtet des Vertrages die RENAMO weiterhin unterstützt. Im März 1988 gab der RENAMO-Überläufer Paulo Oliveira, der frühere Vertreter der Organisation in Europa, eine detaillierte Beschreibung der Verbindungen zwischen RENAMO und Südafrika. Er beschrieb RENAMO-Stützpunkte in Südafrika, vor allem den in Phalaborwa im nördlichen Transvaal, und berichtete, wie die südafrikanische Armee die RENAMO-Kämpfer ausbildete und unterstützte. RENAMO-Kommandos und bewaffnete Banditen, hauptsächlich Deserteure der FRELIMO, beherrschen nun den Großteil des Landes. Ihre Taktik besteht aus schnellen Hit-and-Run-Angriffen auf wirtschaftliche Ziele, vor allem Eisenbahnen, Pipelines und Stromleitungen. Sie verfolgen eine Politik der verbrannten Erde, brennen die Ernte nieder, zerstören Lebensmittellager, entwurzeln Dorfbewohner und jagen sie in Flüchtlingslager. Sie überfallen Lastwagen auf der Landstraße und stecken staatliche Farmen und Dörfer in Brand. Sie zerstören Spitäler, Regierungsgebäude, Schulen und Fabriken, als ob sie in Feindesland den totalen Krieg führen würden. Es gibt etliche gut dokumentierte Falle von Massakern. In der -106-
ersten Zeit überfielen sie Entwicklungshilfeprojekte und entführten europäische Fachleute. Jetzt gibt es kaum noch Entwicklungshilfeprojekte. Üblicherweise kommen sie zu Fuß, aber sie benützen modernste Funkgeräte, die von den Südafrikanern zur Verfügung gestellt werden. (Zumindest bis 1984 und wahrscheinlich auch noch später unterstützte sie die südafrikanische Luftwaffe mit Zielaufklärung und Verfolgung der mosambischen Truppenbewegungen.) Wenn die Armee zurückschlägt und die RENAMO aus einem Bezirk hinausdrängt, ziehen sich die Guerillas in den nächsten zurück und führen ihren Zerstörungsfeldzug weiter. Es hat sie wenig Mühe gekostet, ständige Stützpunkte zu errichten und Gebiete für ‡befreit— zu erklären, so wie die UNITA den Südosten Angolas ‡befreit— hat. Das Hauptziel der RENAMO-Angriffe sind die Eisenbahnlinien und die Überlandleitungen vom Cabora Bassa-Kraftwerk. 12.000 simbabwesche Elitesoldaten, von Briten ausgebildet, halten den BeiraKorridor frei, die Eisenbahnlinie, die Simbabwe mit der Küste verbindet. Andere Kontingente tansanischer und sambischer Truppen, unterstützt von einer kleinen britischen Einheit, sind weniger erfolgreich, die Eisenbahnlinie in den Norden freizuhalten, die von Malawi nach Nacala führt. Die RENAMO bedroht jetzt auch die Verbindung von Simbabwe nach Maputo. Andere ausländische Einheiten bewachen die Hunderte Kilometer langen Überlandleitungen, die durch ein Gebiet führen, das von der RENAMO kontrolliert wird. Zwischen 1984 und 1988 wurden mindestens 100.000 Menschen getötet, weitere 300.000 starben an Hunger. Und die Zahlen steigen schnell. Das Ziel der RENAMO scheint zu sein, Mosambik in die bitterste Armut zu treiben und die Regierung in die völlige Hilflosigkeit. Im August 1988 lebten in Malawi mehr als 640.000 Flüchtlinge aus Mosambik, und jeden Tag überschritten Hunderte die Grenze: Im Mai und Juni 1988 kamen 130.000 Flüchtlinge herüber. Mehr als 1,4 Millionen mosambische Flüchtlinge lebten in den Nachbarstaaten, und 3,5 Millionen waren innerhalb des Landes auf der Flucht, drängten in überfüllte Flüchtlingslager und in die Städte. Die RENAMO beabsichtigt, Maputo völlig vom Rest des Landes -107-
abzuschneiden, und dieser Plan kann durchaus aufgehen. Maputo liegt im äußersten Süden des Landes, und die Hauptstützpunkte der FRELIMO sind im Norden bei den Makua. Dies ist die Umkehrung der Verhältnisse in Angola, wo die Stärke der MPLA-Regierung im Mbundu-Stamm des Nordens und der Hauptstadt Luanda begründet liegt. Die RENAMO zielt auf den Zusammenbruch der Regierung ab und will dann die Macht übernehmen. So ähnlich liefen die Ereignisse im Tschad 1982 und in Uganda 1986 ab. Allerdings ist es eine Sache, Maputo von der Außenwelt abzuschneiden, eine andere, die Stadt einzunehmen. Die FRELIMOArmee mag außerstande sein, die RENAMO zu besiegen und das Land von Banditen zu säubern, aber sie kann die Hauptstadt so lange verteidigen, wie ausländische Mächte sie unterstützen. Diese Unterstützung kommt über das Meer. Im Juli 1988 wurden vier amerikanische Journalisten zu einem Gespräch mit Alfonso Dhlakama, dem RENAMO-Führer, zu einem Stützpunkt tief in Mosambik gebracht. John Battersby von der New York Times schrieb: Eine Atmosphäre des Surrealen beherrscht den verborgenen Rebellenstützpunkt. Ausdrucke hereinkommender Botschaften von Truppenkommandeuren kamen aus einem neuen Laptop-Computer, der an ein mobiles Funkgerät angeschlossen ist. Traditionelle Tänzerinnen unterhielten Rebellen-Beamte auf einer kleinen Lichtung, und die schrillen Töne eines Frauenchors erklangen zwischen den majestätischen Panga-Panga-Bäumen. Dhlakama versicherte seinen Besuchern, daß all die Schauergeschichten von Massakern und Verbrechen Lügen seien und daß ‡wir einen Krieg führen, um den Feind zu demoralisieren und sein Ansehen zu schädigen—. Über seine Taktik sagte er, ‡unser Ziel ist nicht, den Krieg militärisch zu gewinnen, sondern die FRELIMORegierung dazu zu bringen, unsere Bedingungen anzunehmen. Die westlichen Länder träumen, wenn sie glauben, daß die FRELIMO ihre kommunistische Ideologie ändern wird.— Die RENAMO behauptet, daß sie alle ihre Waffen von der mosambischen Armee erobert hat, und daß sie keine direkte Unterstützung von Südafrika erhält. Sie gibt zu, Hilfe von -108-
verschiedenen amerikanischen Gruppen zu bekommen, von reichen Geschäftsleuten und Baptistenmissionaren (die Reise der Journalisten war von einer amerikanischen Gruppe namens ‡Freedom Inc.— finanziert worden) und ähnlichen Leuten in Europa und Südafrika. DIE GEGENWÄRTIGE SITUATION Am 19. Oktober 1986 starb Samora Machel beim Absturz seiner Maschine auf dem Flug von Lusaka nach Maputo. Das Flugzeug stürzte in Südafrika ab, und viele Afrikaner hielten Sabotage oder einen Abschuß durch die Südafrikanische Luftwaffe für die Ursache. Eine internationale Untersuchungskommission kam allerdings zu der Erkenntnis, daß der Absturz auf einen Irrtum des sowjetischen Piloten zurückzuführen war, möglicherweise in Verbindung mit mangelhafter Wartung der Maschine durch das sowjetische Personal. Der Nachfolger Machels als Präsident wurde Generalmajor Joaquim Alberto Chissano. Die Sowjetunion hat aus ihren riesigen Investitionen in Mosambik bisher keinen politischen, kommerziellen oder ökonomischen Gewinn irgendwelcher Art gezogen. Sie setzt ihre Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe zwar fort, aber die FRELIMO nähert sich behutsam dem Westen an. Bereits 1980 begann Machel mit der Abwendung von der ‡Ultralinken— und ließ schrittweise wieder privates Unternehmertum zu. Es scheint immer wahrscheinlicher, daß die Sowjetunion sich überhaupt aus ihren afrikanischen Abenteuern zurückzieht, die nichts als gewaltige Kosten verursachen und die Beziehungen zum Westen empfindlich stören. Die Regierung Reagan widerstand dem Druck rechtsgerichteter Lobbyisten der Republikanischen Partei und verweigerte strikt jede Unterstützung der RENAMO. Diese amerikanischen Kreise argumentieren, daß die FRELIMO sich als marxistisch bezeichnet und von der UdSSR unterstützt wird, daß daher die USA die RENAMO fördern müßten, die sich zur freien Wirtschaft bekennt. Im Jahr 1987 blockierten republikanische Senatoren œ geführt von Senator Jesse Helms, aber durchaus unterstützt von gemäßigteren, darunter Senator Robert Dole, dem Oppositionsführer die Ernennung eines neuen Botschafters in Maputo, um dadurch Unterstützung für die RENAMO -109-
zu erzwingen. Schließlich gelang es Präsident Reagan, die Ernennung durchzubekommen. Die neue Botschafterin, Melissa Wells, macht kein Hehl aus ihrer Ablehnung der RENAMO. Im April 1988 veröffentlichte das US-Außenministerium einen Bericht, demzufolge die RENAMO mehr als 100.000 Zivilisten ermordet hat. Die FRELIMO versucht, ihre Beziehungen zum Westen zu verbessern, und sucht verzweifelt nach Hilfe, um das Volk vor dem Hungertod zu bewahren. Washington hat humanitäre Hilfe fürs erste zugesagt, weitere Unterstützung aber von der Abkehr Mosambiks vom Marxismus abhängig gemacht. Nachdem der Marxismus in Mosambik so hoffnungslos versagt hat œ und in ganz Afrika der Sozialismus an Glanz verliert œ scheint es durchaus möglich, daß die Amerikaner mit dieser Forderung Erfolg haben werden. Am 12. September 1988 hat der südafrikanische Staatspräsident P. W. Botha Mosambik einen Staatsbesuch abgestattet, seinen ersten überhaupt in einem afrikanischen Staat mit Ausnahme eines Besuches in Swasiland. Er traf Präsident Chissano beim Cabora BassaStaudamm. Südafrika hatte der Wiedererrichtung der 900 Kilometer langen Überlandleitung zugestimmt, die von dem Kraftwerk nach Südafrika verläuft und 1982 von der RENAMO zerstört worden war. Auch südafrikanische Truppen werden sie gegen die RENAMO verteidigen. Das Wasserkraftwerk könnte genug Strom für ganz Mosambik und 10 Prozent des südafrikanischen Bedarfs erzeugen, aber nur, wenn es vor Anschlägen geschützt ist. Botha nützte die Gelegenheit, die RENAMO zu drängen, ein Amnestieangebot der mosambischen Regierung zu nützen. ‡Wir sind für Zusammenarbeit und gute Beziehungen zwischen Nachbarn—, sagte er. Chissano war ähnlich bereitwillig. Nicht nur begrüßte er Botha, sondern er zog auch die Anschuldigung zurück, daß Südafrika für Machels Tod verantwortlich sei, und stellte mehrmals auch in der Öffentlichkeit fest, daß er nach dauerhafter Zusammenarbeit mit Südafrika strebe. Im August 1989 traf der RENAMO-Führer Alfonso Dhlakama in Nairobi mit Kirchenführern aus Mosambik zusammen, ein erster Schritt hin zu Friedensverhandlungen. Diese Gespräche wurden von den Präsidenten Daniel arap Moi und Robert Mugabe von Kenja und -110-
Simbabwe unterstützt. Dhlakama forderte Wahlen und eine Koalitionsregierung mit RENAMO-Ministern und bestand darauf, daß die FRELIMO sich vom Sozialismus abwenden, eine Marktwirtschaft wiedererrichten und die Stellung der Stammeshäuptlinge respektieren müsse. Zu diesem Zeitpunkt hatte die FRELIMO-Regierung bereits die meisten marxistischen Grundsätze über Bord geworfen und offensichtlich begriffen, daß sie, wie die Regierung von Angola und wohl auch Äthiopien, nicht länger auf sowjetische Unterstützung zählen könne. Die Verhandlungen von Nairobi ergaben noch keinen wirklichen Durchbruch, aber sie waren das erste Anzeichen von Hoffnung für Mosambik seit vielen Jahren. Wie in Angola, Äthiopien, Nicaragua, Vietnam, Kambodscha und Laos bieten die Sowjets Mosambik zwar militärische Ausrüstung, aber völlig ungenügende wirtschaftliche Hilfe. Aue diese genannten Länder verarmen zusehends. Mosambik scheint dazu bereit, aus diesem sowjetischen Satellitenstatus auszuscheiden, zurück in die Arme von Südafrika, das es ja schon vor der portugiesischen Kolonialperiode beherrschte. Sollte das geschehen, und sollten Angola, Äthiopien, Kambodscha und all die anderen diesem Beispiel folgen, würde es das sowjetische Ansehen ebenso verbessern wie die budgetäre Situation. Den USA würde dieser Wandel eine enorme politische und moralische Verpflichtung zu einem riesigen Hilfsprogramm aufbürden. Wie die Sowjets entdecken mußten, sind Hegemonien teuer.
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NAMIBIA
Geographie: 823.168 km2. Es liegt in Südwest-Afrika, im Süden grenzt es an Südafrika, im Osten an Botswana, im Norden an Angola, Ein schmaler Ausläufer im Nordosten, der Caprivi-Streifen, gibt dem Land eine gemeinsame Grenze mit Sambia und einen Berührungspunkt mit Simbabwe. Bevölkerung: 1,16 Millionen. 50 Prozent der Bevölkerung sind Ovambos, 10 % Kavangos, etwa 100.000 Weiße. BSP: 1.020 $/Einw. Diese Zahl gibt allerdings keinen Hinweis auf die große Ungleichheit zwischen weißen und schwarzen Einkommen. Auf die 7 % der weißen Einwohner entfällt ein Anteil am BSP von 50 %, rund 9.000 $ pro Kopf. Auf die schwarze Bevölkerung entfällt ein Pro-Kopf-Anteil von 229 Rand im prosperierenden Süden und 61 Rand im rückständigen Norden. Diese Zahlen stammen zwar aus dem Jahr 1965, dürften aber zumindest in der Relation noch annähernd stimmen. Verluste: Die Kämpfe der SWAPO um die Unabhängigkeit haben zwischen 1966 und 1989 zu 20.000 bis 25.000 Toten geführt. Parteien und andere Organisationen: SWAPO ‡South-West Africa People‘s Organization— gegründet 1960, die politische Organisation der schwarzen Opposition. Hauptsächlich Ovambo. PLAN ‡People‘s Liberation Army of Namibia—: der militärische Flügel der SWAPO. SWANU ‡South-West Africa National Union—: gegründet 1959, hauptsächlich Herero. Zerfällt in eine Pro-SWAPO- und eine AntiSWAPO-Fraktion. DTA ‡Democratic Turnhalle Alliance—: gegründet 1978. Allianz der ethnischen Parteien, die nicht der SWAPO angehören, und der Stammesführer, die bei der Turnhallen-Konferenz dabei waren, einschließlich der weißen ‡Republican Party— unter Dirk Mudge. MPC ‡Multi-Party Conference— gegründet 1983, eine Allianz von DTA, SWANU und anderen demokratischen Nicht-SWAPOOrganisationen. -112-
‡National Party of South West Africa—: die konservative Afrikaaner-Partei. siehe auch ANGOLA, SÜDAFRIKA. Namibia war die letzte weiße Kolonie in Afrika. Einst als Südwestafrika eine deutsche Kolonie, wurde es von Südafrika und Großbritannien 1915 erobert und Südafrika vom Völkerbund als Mandat überantwortet. Die Vereinten Nationen entzogen Südafrika dieses Mandat 1947, aber bis 1990 weigerten sich die Südafrikaner, das Land zu verlassen. Als aber die Kubaner dem Abzug aus Angola zugestimmt hatten, machten der internationale Druck und die Probleme im eigenen Land einen weiteren Verbleib unmöglich. Die ‡South-West Africa People‘s Organization— (SWAPO) begann 1966 mit ihrem Aufstand. Er dauerte 22 Jahre, einer der längsten Kriege im Afrika des 20. Jahrhunderts. Es war ein ununterbrochener Kleinkrieg, der im Schatten des weit blutigeren Bürgerkrieges in Angola stattfand. Nach dem Waffenstillstand von 1988 kehrten die SWAPO-Führer aus dem angolanischen Exil zurück. Bei den Wahlen im November gewann die SWAPO die Mehrheit, und Namibia machte sich bereit für die Unabhängigkeit am 21. März 1990. DAS LAND UND DAS VOLK Namibia besteht hauptsächlich aus Wüste. Der Name kommt von der Wüste Namib, die sich längs der Küste über das ganze Land erstreckt. Hinter der Namib liegt ein Savannengürtel, und dahinter die Wüste Kalahari. Namibia ist reich an Bodenschätzen œ darunter die größten Diamantenvorkommen der Welt, Uran, Beryll, Lithium, Wolfram, Kupfer und Vanadium œ und es ist das bedeutendste nichtkommunistische Ursprungsland einiger dieser seltenen und strategisch wichtigen Rohstoffe. Der enorme Gewinn, den Südafrika aus deren Abbau gezogen hat, ist einer der beiden Hauptgründe für sein langes Festhalten an Namibia gegen den einstimmigen Beschluß der UNO; der andere war der Wunsch, die Guerillaoperationen soweit wie möglich vom weißen Herzland entfernt zu halten. Bis zum letzten Jahr des Krieges in Angola, in den Südafrika eingetreten war, um seine Stellung in Namibia zu stärken, blieb Namibia eine höchst profitable Kolonie. Dann stiegen die Kosten auf eine Milliarde Dollar -113-
im Jahr, und Südafrika suchte einen diplomatischen Ausweg aus dem Dilemma. Der bedeutendste afrikanische Stamm in Namibia sind die Ovambos im Norden, nach der Schätzung von 1986 rund 587.000 Menschen. Die Kavanos, ein verwandtes Bantuvolk, zählen rund 110.000 Menschen. Die übrigen Stämme sind viel kleiner, am bekanntesten sind wohl die Hereros (ca. 89.000), die von den Deutschen im Laufe eines der brutalsten Kolonialkriege zu Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe ausgerottet wurden. Jetzt, da es viel zu spät ist, müssen die Südafrikaner es bereuen, daß es ihnen nicht vor 70 Jahren eingefallen ist, die willkürliche nördliche Grenze zu korrigieren, die den Ovambostamm halbiert, und Ovamboland an Portugal abzutreten: ein Streifen von 160 Kilometer Breite weniger hätte die schwarze Bevölkerung Namibias halbiert und Südafrika den Besitz des Restes garantiert. GESCHICHTE Bei der Teilung Afrikas unter den europäischen Mächten wurde Südwestafrika dem Deutschen Reich zugestanden, da die Briten keinen Wert darauf legten. Die Grenzen hatten keinen Bezug zu Stammesgebieten oder der Topographie: Sie wurden von Kartographen in Berlin gezogen, die niemals in Afrika waren und fast nichts über die Gegend wußten. Reichskanzler Leo von Caprivi forderte Zugang zum Sambesi, und daher wurde der Caprivi-Streifen dem deutschen Territorium hinzugefügt- An seiner Spitze stoßen fünf afrikanische Staaten aneinander. Der deutsche Gouverneur, der die Verfolgung der Namas, einem Hottentotten-Volk, und der Hereros begann, die mit dem Tod der Hälfte der Hereros und drei Viertel der Namas endete, war Heinrich Göring. Sein Sohn Hermann sollte seine ‡Leistung— im Völkermord noch übertreffen. Den Briten blieb der einzige Hafen der Region, Walfischbaj, den sie bereits vor der Aufteilung des Kontinents in Besitz genommen hatten. Während des Ersten Weltkriegs war er der Ausgangspunkt für ihre erfolgreiche Invasion und Okkupation der Kolonie. 1920 deklarierte der Völkerbund Südwestafrika zum Treuhandgebiet und folgte damit einem der Vorschläge Präsident -114-
Wilsons bei den Verhandlungen von Versailles. Südafrika wurde mit dem Mandat betraut. Weder war es eine südafrikanische Kolonie, noch hatte Südafrika das Recht zur Annexion. Mit diesem Mandat, Teil der Charta des Völkerbunds, wurde das Prinzip fortgesetzt, daß ‡das Wohlergehen und die Entwicklung solcher Völker eine heilige Aufgabe der Zivilisation bilden—. Die Vereinten Nationen, Nachfolger des Völkerbundes, forderten 1947 von Südafrika das Mandat zurück œ Südafrika ignorierte diesen Akt. Am 27. Oktober 1966 entzog die UNO-Generalversammlung in einer Resolution der Republik Südafrika formell das Mandat; 1969 erklärte der Sicherheitsrat die Okkupation Namibias als illegal und forderte den unverzüglichen Abzug aller Südafrikaner. Im Dezember 1974 beschloß er, daß Namibia Ende Mai 1975 unabhängig werden sollte, schließlich, im September 1978, wurde Südafrika in der Resolution 435 befohlen, dem Gebiet die Unabhängigkeit zu geben und einen detaillierten Plan für diesen Prozeß zu erstellen. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat diese Entscheidungen der UNO für gesetzmäßig erklärt und als bindend für Südafrika. Südafrika hat sich bis 1990 geweigert, sie zu befolgen. DIE URSPRÜNGE DES KRIEGES Die Apartheidsgesetze wurden in Namibia niemals so streng beachtet wie in Südafrika, aber trotzdem hatten schwarze Namibier keine politischen Rechte und ihre sozialen und wirtschaftlichen Freiheiten waren stark eingeschränkt. Der größte Teil des Landes war im Besitz von Weißen, die die enormen Bodenschätze zu ihren Gunsten ausbeuteten. Als die meisten Länder Schwarzafrikas in den sechziger Jahren die Unabhängigkeit gewannen, ereichte die Befreiungsbewegung bald auch Namibia. Die SWAPO wurde 1964 gegründet, eine politische Bewegung, die der marxistischen Revolution verschrieben war. Ihr Führer Sam Nujoma und die meisten anderen Mitglieder waren Ovambos, aber zu Beginn gab es auch einige radikale Weiße darunter. Peter Fraenkel und Roger Murray hielten in ihrem Minority Rights Group Report über Namibia fest, daß ‡die SWAPO von anderen Stämmen unterstützt wird, während die südafrikanischen Behörden -115-
meinen, daß 95 Prozent der SWAPO-Mitglieder aus dem OvamboStamm kommen—. (Nach dem alten Prinzip ‡teile und herrsche— versuchten die Südafrikaner alles, die anderen Stämme gegen die Ovambos auszuspielen.) 1967 klagte Südafrika 37 Namibier wegen terroristischer Beihilfe an. Einer von ihnen war Herman Toivo ja Toivo, einer der Gründer der SWAPO. Er wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt und auf die Robben-Insel deportiert. Nach seiner Freilassung im Jahr 1989 schloß er sich Nujoma an, der nach Angola geflohen war. Der zentrale Faktor der Situation in Namibia war der Bürgerkrieg in Angola, Als Portugal 1975 seine afrikanischen Kolonien aufgab, eroberte die marxistische MPLA, die ihre Hauptunterstützung in den Stämmen des Nordens Angolas findet, die Hauptstadt Luanda. Die Sowjets pumpten Waffen und Wirtschaftshilfe hinein, und die MPLARegierung schlug die Angriffe ihrer Widersacher zurück. Ihr Hauptgegner war die UNITA, geführt von Jonas Savimbi, die ihre Basis im Stamm der Ovimbundu in Süd- und Ost-Angola hatte. Die MPLA hat die UNITA niemals besiegt und der Bürgerkrieg ist weitergegangen. Südafrika unterstützte die UNITA, die Sowjetunion und Kuba die MPLA. (Ausführlich siehe ANGOLA). Die SWAPO wurde von den meisten schwarzafrikanischen Staaten anerkannt und galt vor der UNO als der gesetzmäßige Vertreter Namibias. Sie hat eine vage marxistische Ideologie, so wie andere Befreiungsbewegungen auch, und bleibt der MPLA-Regierung in Angola eng verbunden, die ausdrücklich kommunistisch ist und deren Überleben von der UdSSR und Kuba abhängt. Bis zu dem Waffenstillstand vom August 1988 wurden mehr SWAPO-Soldaten für den Kampf gegen die UNITA eingesetzt als für Aktionen in Namibia. Die Grenze zwischen Angola und Namibia ist militärisch bedeutungslos: Der Krieg zwischen UNITA und Südafrika auf der einen Seite und Angola, Kuba und der SWAPO auf der anderen Seite hat sich hauptsächlich in Angola abgespielt, aber immerhin hat es die SWAPO geschafft, Guerillas in Namibia einsickern zu lassen. Und als die kubanischen Truppen sich südwärts an die angolanische Grenze zurückzogen, gab es im namibischen Grenzbereich Gefechte. Wegen der häufigen südafrikanischen Angriffe auf Angola und da -116-
die UNITA den Großteil des südlichen Angola beherrscht, hatte die SWAPO ihr Hauptquartier nach Lubango verlegt, 290 Kilometer nördlich der Grenze. Das schwächte ihre Effizienz als militärische Macht. Sam Nujoma, der Führer der SWAPO, lebte in Luanda, der Hauptstadt von Angola, so weit wie möglich vom Schlachtfeld und außer Reichweite der südafrikanischen Kommandotruppen. DER KRIEG Die SWAPO gründete die ‡People‘s Liberation Army of Namibia— (PLAN) und begann mit dem bewaffneten Aufstand. Nachdem Angola noch portugiesische Kolonie war und Süd-Rhodesien eine weiße Regierung hatte, waren die Kommunikationsverbindungen der SWAPO zu sympathisierenden schwarzen Regierungen zu lang, einen ernsthaften Guerillakrieg gegen die südafrikanischen Streitkräfte in Namibia zu führen. Daher konzentrierte sie sich in den Anfangsjahren auf politische Arbeit unter den Ovambos und einige kleinere Terroranschläge. Nach dem Abzug der Portugiesen aus Angola 1975 konnte die SWAPO einen richtigen Guerillakrieg aufziehen. Ihre Streitkräfte wuchsen schnell. Die Südafrikaner schätzen, daß 1978 die SWAPO in Angola 18.000 Männer unter den Waffen hatte und circa 800 Guerillas in Namibia einsetzen konnte. In diesem Jahr begann Pretoria mit der Politik, über die Grenzen hinweg SWAPO-Stützpunkte in Angola anzugreifen. Als bei einem Raketenangriff der SWAPO aus dem Caprivi-Streifen jenseits der Grenze zu Sambia 10 südafrikanische Soldaten ums Leben kamen, fielen die südafrikanischen Truppen in Sambia ein, erreichten die Vororte von Lusaka und richteten große Schäden an. Von da ab verdächtigten die Südafrikaner Sambia, die SWAPO zu unterstützen. In einer Reihe von Angriffen zerschlug Südafrika SWAPOStützpunkte in Angola und trieb die SWAPO rund 320 Kilometer zurück. Durch diese Angriffe geriet die südafrikanische Armee in den Kampf mit regulären angolanischen Truppen. Die erste Schlacht zwischen ihnen fand 1981 statt, und Südafrika meldete, zwei angolanische Brigaden vernichtet und zwei sowjetische Generäle mit ihren Ehefrauen getötet zu haben. -117-
Rund 10.600 SWAPO-Guerillas sind seit 1966 getötet worden œ nach südafrikanischen Angaben œ, darüber hinaus eine unbekannte Zahl Zivilisten, in Namibia wie in Angola. Wenn diese Schätzung der Verluste der Guerillas annähernd stimmt, dann haben sicherlich mehr als 20.000 Menschen das Leben verloren, als offiziell zugegeben wird. Die südafrikanischen Sicherheitskräfte veröffentlichen ihre eigenen Verlustziffern nicht, aber es werden 600 bis 800 sein, die meisten von ihnen Schwarze. Bis zur plötzlichen Eskalation der Kämpfe 1987/88 haben die Südafrikaner rund 60 Mann pro Jahr verloren. 1980 hatte die SWAPO (nach südafrikanischen Angaben) eine Armee von rund 16.000 Mann. 1988 war diese Zahl auf 8.700 zusammengeschmolzen, von denen sich nicht mehr als 800 in Grenznähe aufhielten. Die Südafrikaner hatten 10.000 bis 12.000 Mann der ‡Southwest African Territorial Force— in Nord-Namibia stationiert, davon 80 Prozent Schwarze. (Gegen Jahresende 1987 kam es in einem der schwarzen Regimenter zu einer Meuterei, aber sie wurde rasch unterdrückt.) Es gab Polizeisondereinheiten œ die Koevoet, aus Ortsansässigen rekrutiert und von schlechtem Ruf œ und eine Miliz, zusammen etwa 30.000 Mann, genug, um mit örtlichen Angriffen der SWAPO von jenseits der Grenze fertigzuwerden, aber einem kubanischen Angriff hätten sie nicht standgehalten. Die südafrikanische Armee führte im Ovamboland die übliche AntiGuerilla-Taktik der Wehrdörfer ein, in denen die Ovambo-Bauern leben mußten. Dahinter stand die Idee, den Kontakt zwischen Guerillas und den Einheimischen zu verhindern. Es war eine effiziente Methode, aber sie vertrieb Leute, die keine Lust hatten, in diesen Siedlungen quasi hinter Schloß und Riegel zu leben. 1990 lebten mehr als 75.000 Flüchtlinge, hauptsächlich Ovambos, in Angola. Im Jahr 1987 geriet eine Einheit der südafrikanischen Armee in Angola in einen Hinterhalt. In dem Feuergefecht töteten die Südafrikaner mindestens 190 Soldaten, die meisten Angolaner. Am 1. November meldete die südafrikanische Armee, daß sie in einem Präventivschlag gegen einen SWAPO-Stützpunkt in Angola mehr als 150 Guerillas getötet habe. 11 Südafrikaner kamen dabei ums Leben. Ihre Rasse wurde zwar nicht verlautbart, aber wahrscheinlich waren die meisten von ihnen schwarz. -118-
Der langwierige Bürgerkrieg in Angola erreichte im Jahre 1987 eine Krise. Mit südafrikanischer Unterstützung brachte die UNITA der MPLA-Armee, die ihren Hauptstützpunkt im Südosten angegriffen hatte, eine schwere Niederlage bei. Bei einem Gegenangriff belagerte die UNITA den Hauptstützpunkt der Regierung in diesem Landesteil, Cuito Cuanavale. Südafrika sandte zur Unterstützung dieser Belagerung Artillerieeinheiten, und daraus ergab sich ein heftiges Artilleriegefecht zwischen Kuba und Südafrika. Die Kubaner führten rasch Verstärkungen heran und nahmen zum ersten Mal seit vielen Jahren direkt am Kampf teil. Im Frühjahr 1988 wurde die Belagerung abgebrochen, die Kubaner entsandten weitere 10.000 Soldaten mit schweren Waffen und verlegten zum ersten Mal große Armeeeinheiten an die Grenze. Plötzlich entstand die ernsthafte Möglichkeit der direkten Auseinandersetzung zwischen kubanischen und südafrikanischen Verbänden. Am 19. Februar 1988 tötete eine SWAPO-Bombe in einer Bank in Oshakati, einer kleinen Stadt im Ovamboland, 21 Menschen, hauptsächlich Ovambos, die ihre Lohnschecks einlösten œ der ernsteste Terroranschlag seit Jahren. Am nächsten Tag griff die südafrikanische Luftwaffe SWAPO-Stützpunkte in Angola bei Lubango an, dem größten angolanischen Militärstützpunkt im Süden des Landes, während Kampfhubschrauber Einsätze gegen SWAPOStützpunkte in Grenznähe flogen. Im August wendete sich das Blatt. Auf der angolanischen Seite der Grenze gab es eine massive kubanische Truppenpräsenz, und es kam zu regelmäßigen Guerillaangriffen auf südafrikanische Stützpunkte und Einrichtungen in Namibia. Die Südafrikaner verzichteten auf ihre gewohnten Gegenschläge, aus Angst, eine richtige Schlacht mit den Kubanern zu provozieren, die eine hervorragend ausgerüstete Armee in Angola unterhielten. DIPLOMATISCHE MANÖVER Südafrika hatte verschiedene Pläne für die Zukunft Namibias erstellt. Der erste wurde unter dem Namen Odendaal Report bekannt, vorgelegt von einer Kommission, die die Situation in den sechziger Jahren untersuchte. Er empfahl die Aufteilung des Landes in -119-
‡Bantustans— und weiße Gebiete, nach südafrikanischem Vorbild. Im Dezember 1974, als der UN-Sicherheitsrat bestimmte, daß Namibia bis zum 30. Mai 1975 die Unabhängigkeit erhalten müsse, reagierte Südafrika, indem es die ‡Turnhallenallianz— einsetzte, um die Zukunft zu diskutieren. Sie eröffnete ihre Verhandlungen am 1. September, benannt nach einer früheren deutschen Turnhalle in Windhuk, der Hauptstadt Namibias, wo die Versammlungen abgehalten wurden. Die SWAPO war zu dieser Konferenz nicht eingeladen. Während die Parteien fast zwei Jahre lang über mögliche Wege zur Unabhängigkeit diskutierten, errichtete die Regierung Vorster weiterhin eine Zahl Hornelands, die noch weniger unabhängig waren als die südafrikanischen Bantustans. Die ersten wurden für Ost-Caprivier, die Buschmänner und die Namas errichtet. Im Juni 1977 verwarf Vorster den ‡Turnhallen—-Vorschlag von einer interimistischen Regierung und setzte einen südafrikanischen Generaladministrator ein. Schrittweise wurden die verschiedenen Regierungsfunktionen von Pretoria auf den Generaladministrator in Windhuk übertragen. Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung für Namibia wurden im Dezember 1978 abgehalten, allerdings unter sehr speziellen Zulassungsbedingungen. Die SWAPO, die ‡Namibia National Front— (NNF) und die ‡Nambia People‘s Liberation Front— (NPLF) nahmen daran nicht teil. Aus diesen Wahlen ging die ‡Demokratische Turnhallenallianz— (DTA) unter ihrem Führer Dirk Mudge als Sieger hervor, dem Chef der weißen Republikanischen Partei. Ein faktisch mit exekutiven Rechten ausgestatteter Ministerrat unter Mudge wurde eingesetzt, allerdings unter der Oberhoheit des Generaladministrators. Mudge hatte keine Verfügungsgewalt in Fragen der Verteidigung, Sicherheit oder Außenpolitik, und der Generaladministrator hatte das absolute Vetorecht über alle Beschlüsse dieser Regierung. Es gab eine weiße Nationalversammlung, ebenso Nationalversammlungen zweiter Klasse, die fünf der elf ethnischen Gruppen in Namibia repräsentierten. Im November 1980 wurden Wahlen für diese Versammlungen abgehalten, aber die meisten namibischen Parteien boykottierten sie. Die DTA gewann drei davon, wurde aber in der Versammlung der Weißen von den Nationalisten besiegt. Mudge resignierte im Januar 1983, und der Generaladministrator löste die -120-
Nationalversammlung auf. In den achtziger Jahren wurde entsprechend der UNO-Forderung eine Kontaktgruppe der westlichen Staaten gebildet, einschließlich der USA und Großbritanniens, die Druck auf Südafrika ausüben sollte, Namibia die Unabhängigkeit zu geben. Die USA übernahmen in diesen Verhandlungen die Führungsrolle in der Person von Cheston Cracker, Unterstaatssekretär für Afrika, und bald kristallisierte sich die Junktimierung des Abzugs der Kubaner aus Angola mit der Freiheit für Namibia heraus. Angola zeigte seine Bereitschaft, in diese Forderung nach einer gewissen Übergangszeit einzuwilligen, und auch Südafrika bekundete sein Einverständnis zur namibischen Unabhängigkeit œ allerdings erst nach dem vollständigen Abzug der kubanischen Truppen. Beide Seiten spielten nicht mit offenen Karten; Die MPLA befürchtete, einen kubanischen Truppenabzug nicht zu überleben, und Südafrika hatte in Wahrheit gar keine Lust, Namibia in die Unabhängigkeit zu entlassen. Die Situation schien hoffnungslos festgefahren. Im April 1985 wurde eine weitere Konferenz in Namibia abgehalten, und sie brachte die Einsetzung einer verfassunggebenden Versammlung, die zu einer neuen Verfassung hinführen sollte. Der Generaladministrator ernannte eine achtköpfige Interimsregierung unter dem schwarzen Vorsitzenden Andrew Matjila. Dirk Mudge wurde Finanzminister, und die Interimsregierung verbrachte drei Jahre mit der Suche nach einer generellen Zustimmung zu einer neuen Verfassung. Der grundlegende Streit zwischen dem Generaladministrator und der Übergangsregierung war die Frage, ob Wahlen auf ethnischer Basis oder nach allgemeinem Stimmrecht abgehalten werden sollten. Der Gedanke des allgemeinen Stimmrechts lief den südafrikanischen Vorstellungen grundsätzlich zuwider œ wie auch die gemischtrassige Zusammensetzung der namibischen Übergangsregierung. Die Rassengesetze und auch die politischen Gesetze waren in Namibia weit weniger rigoros als die Notstandsmaßnahmen, die in Südafrika nach den Unruhen von 1986 eingeführt worden waren. So blieb die SWAPO eine legale Partei, und die Presse erfreute sich einer weit größeren Freiheit als in Südafrika. im April 1988 kündete Präsident Botha an, daß Südafrika wieder mehr -121-
direkte Kontrolle über Namibia ausüben würde. Die Kompetenzen des Generaladministrators wurden stark ausgeweitet, und er bekam die Autorität, die Presse zu zensurieren und Notstandsbestimmungen zu erlassen, die im Prinzip die gleichen waren wie in Südafrika. Das Hauptziel der Pressezensur war The Namibian, eine Wochenzeitung, die regelmäßig die Regierung angriff. Im Juni 1988, als schwarze Gewerkschaftsführer einen Generalstreik ausriefen, nützte die Regierung die Gelegenheit, die Chefredakteurin des Namibian zu verhaften, Gwen Lister. Sie wurde beschuldigt, einen Artikel veröffentlicht zu haben, in dem sie unterstellte, daß die südafrikanische Notstandsgesetzgebung auf Namibia ausgedehnt würde. DER WAFFENSTILLSTAND 1988 beschleunigten sich plötzlich die Verhandlungen zwischen Südafrika, Angola und Kuba unter der Ägide der USA. Dabei spielte eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle. Auf der kommunistischen Seite war der Hauptgrund unzweifelhaft sowjetischer Druck. Die UdSSR hat zumindest eine Milliarde Dollar im Jahr ausgegeben, um die MPLA zu unterstützen, und kein Ende war in Sicht. Die Sowjetunion hatte überhaupt keinen Vorteil von diesem andauernden Krieg, und die neue Regierung in Moskau ging dazu über, Kosten und Nutzen ausländischer Verwicklungen aufzurechnen. Die USA steckten jährlich 15 Millionen Dollar in die UNITA. Offensichtlich kamen die USA bei diesem Geschäft besser weg. Auf der anderen Seite waren die südafrikanischen Ausgaben stark angestiegen ein Ergebnis der verschärften Kämpfe in Angola. Noch wichtiger war, daß auch die internationale Isolation des Landes zunahm. 1987 hatte der US-Kongreß Sanktionen gegen Südafrika beschlossen, die über Präsident Reagans Veto hinweg als Gesetz verabschiedet wurden, und im August 1988 kamen weiter verschärfte Sanktionen zur Abstimmung. Der Rückzug aus Namibia würde diesen Druck sicher abschwächen, und Südafrika konnte hoffen, die Bedingungen der Unabhängigkeit zu beeinflussen, die südafrikanischen Wirtschaftsinteressen zu wahren und später sogar auszubauen. Ein unabhängiges Namibia würde unauflöslich -122-
wirtschaftlich mit Südafrika verbunden sein. Außerdem wollte Südafrika Walfischbaj behalten, die niemals gesetzlich Namibia eingegliedert worden war. Die Briten, deren Kolonie die Bucht gewesen war, hatten sie 1920 an Südafrika abgetreten. Walfischbaj ist der einzige Hafen im Land, und der weitere Besitz würde Südafrika die Kontrolle jedes Zuganges auch eines unabhängigen Namibia zur Außenwelt einräumen. Das Abkommen wurde schließlich angenommen und am 8. August 1988 in Genf verkündet. Es führte zu einem unmittelbaren Waffenstillstand zwischen Kuba, Angola und der SWAPO auf der einen und Südafrika auf der anderen Seite. Südafrika sicherte zu, alle seine Soldaten aus Angola bis zum 1. November zurückzuziehen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 600 und 2.000 Mann. Der nächste Schritt, die Festsetzung des Unabhängigkeitsdatums für Namibia, wurde von dem Zustandekommen eines Zeitplanes für den kubanischen Abzug aus Angola abhängig gemacht. Weitere Verhandlungen zwischen Südafrika, Kuba und Angola, initiiert von den USA, gipfelten am 15. November in einem Übereinkommen über den kubanischen Abzug. Einige Details blieben noch offen, aber das war der Durchbruch. Am 13. Dezember wurde das Abkommen in Brazzaville bestätigt, und am 22. Dezember gab es bei den Vereinten Nationen die formelle Vertragsunterzeichnung. Das Abkommen sollte am 1. April 1989 in Kraft treten: Zu diesem Datum würde der Unabhängigkeitsprozeß für Namibia beginnen, und Kuba würde ab diesem Tag seine Truppen aus Angola abziehen. 3.000 Kubaner sollten das Land sofort verlassen, und die kubanischen Streitkräfte an der Grenze sollten am 11. August auf den 15. Breitengrad zurückgezogen werden; am 1. November schließlich wurden sie auf den 13. Breitengrad zurückgenommen. Südafrika stimmte dem Truppenabzug aus Namibia ab 1. April zu, nur 1.500 Mann sollten in zwei Garnisonen in Grootfontein und Otjiwarango zurückbleiben, zwischen Windhuk und der angolanischen Grenze. Die UNO entsandte eine Friedensstreitmacht, um die Wahlen am 1. November zu überwachen. Die volle Unabhängigkeit sollte Namibia ein Jahr später erlangen. Unmittelbar nachdem das Genfer Abkommen unterzeichnet war, -123-
nahmen die Parteien in Namibia ihre Tätigkeit wieder auf. Die SWAPO und andere Oppositionsparteien blieben voll tiefer Skepsis über die südafrikanischen Absichten, sie nahmen an, daß Südafrika sich irgendwie aus seinen Verpflichtungen herauswinden oder zumindest sicherstellen würde, daß die SWAPO an der Macht nicht teilhaben würde. Die USA und die UdSSR lehnten beide den Kostenvoranschlag für die geplante UNO-Truppe in Namibia ab, so daß aus den ursprünglich geplanten 7.500 Mann nur 360 wurden und die Zahl der Wahlbeobachter zur Überwachung der Stimmenauszählung auf 800 reduziert wurde. Südafrika sorgte während dieser schrittweisen Veränderung weiter für die Sicherheit. Die SWAPO-Flüchtlinge wurden von der UNO nach Angola zurückgeflogen. Sie wurden mit Freudenfesten empfangen, unter den unfreundlichen Blicken der Südafrikaner. SWAPO-Führer wiederholten mehrfach ihre Absicht, den Besitz oder die Rechte weißer Namibier nicht antasten zu wollen, und die Positionskämpfe um die Teilhabe an der neuen Regierung gingen so richtig los. SWAPO-Guerillas lehnten das UNO-Angebot ab, in Lagern nahe der Grenze zusammengezogen zu werden, da diese Lager von den Südafrikanern kontrolliert wurden, und die Zukunft der südafrikanischgeführten paramilitärischen Streitkräfte, der Koevoet, war Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Die SWAPO und ihre Anhänger fürchteten, daß die Koevoet unter einem anderen Namen weiterbestehen und als südafrikanische Ersatzarmee in Namibia fungieren würde. Die Südafrikaner erlaubten dem UN-Kommissar, in Windhuk zu amtieren und das Land trat in eine schwierige Periode mit drei wetteifernden Obrigkeiten, in Vorbereitung auf die Wahlen und danach auf eine eventuelle Machtübergabe. Südafrika hatte offensichtlich ernsthaft die Absicht, sich an den vereinbarten Abzugsplan zu halten und vielleicht sogar früher die Macht zu übergeben, falls das möglich wäre. Die Wahlen fanden zwischen dem 7. und dem 11. November 1989 statt, und 97 Prozent derer, die sich zuvor als Wahlberechtigte hatten registrieren lassen, gaben ihre Stimme ab. Die SWAPO gewann mit 57 % der Stimmen 41 von 72 Parlamentssitzen, die DTA, die natürlich zur Ovambo-dominierten -124-
SWAPO in Opposition stand, bekam 28 % und 21 Sitze, und zwei neue Parteien teilten sich den Rest. Es war klar, daß die SWAPO die Regierung bilden und Nujoma der gewählte Präsident des unabhängigen Namibia sein würde. In der Interimsverfassung war aber eine parlamentarische Zwei-DrittelMehrheit vorgesehen, um die neue Verfassung anzunehmen, und die Oppositionsparteien bestanden auf dem Einbau jedes möglichen demokratischen Sicherungsinstrumentes, einschließlich eines strikten Menschenrechtekatalogs und eines Artikels, daß die Verfassung in Zukunft nur mit parlamentarischer Zwei-Drittel-Mehrheit abgeändert werden dürfe. Die SWAPO mag die Mehrheitspartei sein, aber ihrer Macht sind Grenzen gezogen. Das Land erlangte seine formelle Unabhängigkeit am 21. März 1990. Die Auseinandersetzung um Walfischbaj blieb ungelöst und wurde Teil der umfassenden Frage nach den Beziehungen zu Südafrika. Namibia ist ein unabhängiges Land, aber seine gesamte Wirtschaft liegt in der Hand von südafrikanischen oder weißen namibischen Firmen, und alle Verkehrsverbindungen zur Außenwelt verlaufen durch Südafrika. Entweder es wird daraus ein neues Bantustan, wie die Ciskei oder die Transkei, oder ein halb unabhängiger Staat wie Botswana oder Lesotho. Der Unterschied ist die Geschichte seines Widerstandes und die Präsenz von 100.000 Weißen, von denen die meisten einer schwarzen Regierung ablehnend gegenüberstehen. Am bedeutsamsten ist, daß Namibia als Modell für die Zukunft von Südafrika selbst dienen kann. Das Schicksal der Reformen von Präsident de Klerk und die Zukunft von 27 Millionen Südafrikanern kann von den Ereignissen in den dünn besiedelten Wüsten von Namibia wesentlich beeinflußt werden.
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SOMALIA
Geographie: 637.657 km2, aber die Grenzen sind umstritten. Das Land liegt am Horn von Afrika. Es beherrscht den Eingang zum Roten Meer und den nordwestlichen Abschnitt des Indischen Ozeans. Bevölkerung: 5,6 Millionen. BSP: 280 $/Einw. Flüchtlinge: 600.000 im Landesinneren, 430.000 Flüchtlinge aus Äthiopien. 400.000 somalische Flüchtlinge kamen im Sommer 1988 aus Äthiopien. Somalia ist ein armes Wüstenland am Horn von Afrika. 1977/78 kämpfte und verlor es einen Krieg gegen Äthiopien um den Ogaden (ein von Somal bewohntes Stück Äthiopiens). Seine Ansprüche auf dieses Gebiet und ähnliche Ansprüche auf Teile Kenias und Dschibutis ruhen derzeit, können aber jederzeit wieder belebt werden. Somalia war mit der UdSSR verbündet, solange die USA den äthiopischen Kaiser Hailé Selassié unterstützten, wechselte aber die Seiten, als Äthiopien den marxistischen Weg einschlug und ins Lager der Sowjetunion einschwenkte. Im Mai 1988 gab es im nördlichen Somalia einen Aufstand gegen die Regierung, und jetzt leben rund 400.000 somalische Flüchtlinge in Äthiopien. Die Vereinigten Staaten setzten ihre Hilfe für das Land wegen der fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen aus. Das Regime von Präsident Siad Barre steht ziemlich weit oben in der Liste der Regierungen, die jeden Augenblick gestürzt werden könnten. GESCHICHTE Die Stämme des wilden Landes am Horn von Afrika weideten ihre Herden und fochten ihre Stammeskriege bis tief ins 19. Jahrhundert ungestört von äußeren Einflüssen aus. Araber errichteten Handelsstationen an den Küsten und gingen im Hinterland auf Sklavenfang, aber sie begründeten niemals ein Herrschaftssystem. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts dehnte Ägypten seine Macht an der nördlichen Küste aus, zog sich aber zur Zeit des Mahdi -126-
Aufstandes, im Sudan 1881, zurück. Die Briten, besorgt über die Sicherheit ihrer Kolonie Aden auf der anderen Seite des Roten Meeres, folgten der üblichen imperialistischen Praktik, in leere Räume vorzustoßen, und errichteten in den Gebieten, die Ägypten geräumt hatte, ein Protektorat. 1883 errichtete Frankreich, verärgert über die britische Präsenz in Aden, eine kleine Kolonie am Roten Meer, eine Bunkerstation in Dschibuti, In der Zwischenzeit hatten die Italiener Eritrea annektiert, ein nicht von Somal bewohntes Gebiet in Norden von Dschibuti, und übernahmen schrittweise die Ostküste am Hörn, die dem Indischen Ozean zugewandte Seite, das spätere ItalienischSomaliland. Das waren übliche europäische Manöver in der Zerstückelung Afrikas. Durch Abessinien allerdings war die Situation am Horn anders als im übrigen Afrika. (Siehe ÄTHIOPIEN). Kaiser Menelik II. verdoppelte die Größe seines Reiches in den siebziger und achtziger Jahren, indem er den abessinischen Einfluß in Gebiete im Ogaden ausdehnte, die von Somal bewohnt waren. Dieses große Wüstengebiet, das sich bis zum Südosten des abessinischen Kernlandes erstreckt, war von Nomaden bewohnt. So kam es unausweichlich zum Konflikt mit europäischen Mächten. 1896 kam es in Eritrea zum Krieg mit Italien, und die Italiener wurden in der Schlacht von Adowa empfindlich geschlagen. Danach unterzeichneten Italien, Frankreich und das Britische Reich Verträge mit Menelik, in denen die Grenzen ihrer Kolonien vorwiegend zu Abessiniens Vorteil festgelegt wurden. Damit lebte das Volk der Somal unter fünf verschiedenen fremden Regierungen: In Französisch-, Britisch- und Italienisch-Somaliland, in Abessinien und auch in der britischen Kolonie Kenia, in deren nördlichem Grenzdistrikt (NFD) eine große Somai-Gruppe lebte. 1899 führte der Imam Mohammed ibn Abdullah Hassan einige Wüstenstämme zum Aufstand gegen die Briten, aber das war ebenso sehr ein Bürgerkrieg wie ein Antikolonialkrieg. Mohammed Abdullah wollte wie viele islamische Reformer vor und nach ihm die Städte von den Ungläubigen reinigen. Nur eine Minderheit der Somal folgte ihm. Der Rest unterstützte die Briten. Diese nannten ihn verächtlich ‡verrückten Mullah", schafften es aber mit vier Strafexpeditionen zwischen 1901 und 1910 nicht, ihn niederzuwerfen. Die Briten -127-
überließen das Landesinnere von Britisch-Somalia dem Mullah, und Mohammed Abdullah kämpfte einen erbitterten Krieg, um die Stämme zu unterwerfen. Ungefähr ein Drittel der männlichen Somal dürfte in diesen Kämpfen ums Leben gekommen sein. Nach dem Ersten Weltkrieg erlangten die Briten wieder die Kontrolle und besiegten schließlich Mohammed Abdullah; die Hälfte von Kenias NFD traten sie an Italien ab. In den dreißiger Jahren wollte Mussolini das armselige italienische Territorium ausweiten und schob die Grenzen von Italienisch-Somaliland in den Ogaden in Abessinien vor. Im November 1934 kam es zu einem Scharmützel bei den Brunnen von Wal Wal, tief im abessinischen Gebiet, und Mussolini nützte diesen Zwischenfall als Casus Belli. Im Oktober 1935 begann von Eritrea und Somalia die Invasion in Abessinien, und die Italiener eroberten Addis Abeba im April 1936. Abessinien wurde 4 annektiert und Teil von Italienisch-Ostafrika. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs befreiten die Briten Abessinien und eroberten Italienisch-Somaliland und Eritrea. 1948 planten sie Britisch- und Italienisch-Somaliland zu vereinigen, wurden daran aber von den USA gehindert, die zum Beschützer von Abessinien, jetzt wieder in Äthiopien umbenannt, geworden waren, und auch von der UdSSR, die die Interessen Italiens verteidigte, da sie auf eine kommunistische Machtübernahme in Rom hoffte. Großbritannien gab den Forderungen seiner Alliierten nach. Der Ogaden wurde an Äthiopien zurückgegeben, zusammen mit einem Stück von Britisch-Somaliland, genannt Haud. Italien wurden zehn Jahre zugestanden, Italienisch-Somaliland wieder rückbenannt in Somalia œ auf die Unabhängigkeit für 1960 vorzubereiten. Großbritannien entschied, das NFD bei Kenia zu belassen. Die Franzosen blieben in Dschibuti. Somalia wurde tatsächlich am 1. Juli 1960 unabhängig œ eine Union zwischen (Italienisch-) Somalia und Britisch-Somaliland. Abgesehen von den Stammes- und Sippenrivalitäten der Eingeborenen ist es eine homogene Nation, anders als die meisten Länder in Afrika. Aber trotzdem steht nun die Hälfte des Gebiets, das von den Somaliern beherrscht wird, und ungefähr ein Drittel des Volkes unter fremder Herrschaft, und das unabhängige Somalia hat seither immer wieder -128-
seine irredentistischen Forderungen an die Nachbarstaaten gerichtet. DAS UNABHÄNGIGE SOMALIA Somalia trat in die Eigenstaatlichkeit als demokratisches Mehrparteienland, aber bald verkam das Regime wie in vielen anderen afrikanischen Ländern in Korruption und Unfähigkeit. 1969 wurde der Staatspräsident Shermarke von einem entlassenen Polizisten ermordet, und eine Woche später nützte die von der Sowjetunion ausgebildete und bewaffnete Armee die Gelegenheit zur Machtergreifung. Die Armeeführer setzten eine Revolutionsregierung ein, verkündeten eine neue marxistische Politik und gingen energisch an die Probleme heran, die sie geerbt hatten. Ihre Verbindung mit der Sowjetunion beruhte mehr auf der engen Verbindung zwischen Äthiopien und den USA als auf einer ernsthaften ideologischen Zuwendung. Als Äthiopien sich nach dem Sturz Hailé Selassiés 1974 dem Kommunismus zuwandte und sich mitten im Krieg gegen Somalia mit der UdSSR verbündete, wechselte Somalia funk die Seite und wurde ein überzeugtes prowestliches Land. DIE SOMALIA-FRAGE Irredentismus ist für moderne afrikanische Staaten ein tabuisiertes Thema, da praktisch alle Forderungen gegenüber ihren Nachbarn erheben könnten. Daher findet Somalia nur wenig Unterstützung für seine Ansprüche an Äthiopien, Kenia und Dschibuti. Bereits vor der Unabhängigkeit begannen somalische Stammesmitglieder in der NFD mit der Agitation für den Anschluß an ihre Stammesgenossen im Norden, und bald entwickelte sich daraus ein weitgreifender Guerillakrieg. Die Kenianer nannten die Guerillas ‡Shiftas—, Banditen, die Vorstöße durch die Wüste und vereinzelte Angriffe auf keniatische Polizisten unternahmen. Als Kenia 1963 unabhängig wurde, nahmen die Kämpfe sofort zu. Der Krieg endete 1964 mit der Erklärung Somalias, keinen Anspruch mehr auf den NFD zu erheben. Kenia schenkt diesen Behauptungen keinen Glauben und unterstützte daher Äthiopien während des Krieges von 1977/78, -129-
aus Furcht, daß Somalia im Falle eines Sieges seine Armeen nach Süden wenden würde. 1980 gab es ein Aufflammen der Guerillatätigkeit im NFD (jetzt die nordöstliche Provinz von Kenia), und die Shiftas bildeten eine NFD-Befreiungsfront. Somalia bestreitet, diese Bewegung zu unterstützen. Dschibuti wurde 1977 nach einer Volksabstimmung, die von Frankreich organisiert wurde, unabhängig, und Somalia anerkannte seinen neuen Nachbarn. Ungefähr die Hälfte der rund 320.000 Einwohner des Staates sind Somal, die hauptsächlich in der Hauptstadt Dschibuti leben. Zur Zeit der Unabhängigwerdung Dschibutis war Somalia tief in seinen Krieg mit Äthiopien verstrickt und außerstande, zur gleichen Zeit die Konfrontation mit Frankreich zu suchen. Mit der Niederlage im Äthiopienkrieg begann eine Phase des Rückzugs und des Wartens, aber Dschibuti bleibt verständlicherweise nervös über Somalias Ambitionen und ist weiter abhängig von seinem Bündnis mit Äthiopien, das seine Unabhängigkeit garantiert. DER OGADEN-KRIEG Die Somal im Ogaden begannen in den frühen sechziger Jahren mit kleineren Guerillaaktionen, und 1961 und 1964 gab es kurze Grenzkriege zwischen Somalia und Äthiopien, die Äthiopien mühelos gewann. Danach hörte Somalia auf, Äthiopien herauszufordern, bis die Revolution von 1974 die Zentralregierung in Addis Abeba massiv schwächte. Der somalische Präsident Mohammed Siad Barre forderte vom neuen Regime das Selbstbestimmungsrecht im Ogaden. Als das 1975 abgelehnt wurde, begann er, die ‡Westsomalische Befreiungsfront— (WSLF) aktiv zu unterstützen. Die WSLF wurde mit Ausrüstung sowjetischer Fabrikation und ‡Freiwilligen— aus der regulären Armee Somalias massiv aufgerüstet, und sie überrannte bald den Großteil des Ogaden. Im Sommer 1977 schnitten die Somalier die Eisenbahn von Dschibuti nach Addis Abeba ab, die Hauptlandverbindung nach Äthiopien. Die Eisenbahnlinie verläuft nördlich eines Gebirgszugs, der sich von Zentraläthiopien östlich zum Meer erstreckt. Im Juli, als ihm die Zeit reif schien, befahl Siad Barre auf breiter Front die Invasion Äthiopiens, und seine Armeen stießen -130-
gleichzeitig nördlich des Gebirges, Richtung Dire Dawa, und südlich auf Harar vor, den äthiopischen Stützpunkt im Osten. Die beiden Städte bilden das Tor durch das Gebirge, und ihr Fall hätte Äthiopien im Süden und Osten komplett abgeschnitten. Die Somalier, die 50.000 Soldaten in den Kampf warfen, wurden bei Dire Dawa zurückgeschlagen; das ist ebenso ein bedeutender Luftwaffenstützpunkt wie eine Schlüsselstadt an der Eisenbahn. Südlich der Berge eroberten sie hingegen nach einer großen Panzerschlacht Jijiga. Der Ort ist weniger als 100 Kilometer von Harar entfernt, und sie drohten, energisch auf die Stadt vorzustoßen. Äthiopien war noch schwer gezeichnet von den Auswirkungen der militärischen Niederlage, der Revolution und der Aufstände in Eritrea und anderen Provinzen, und Mitte September kontrollierten die Somalier 90 Prozent des Ogaden. Und doch hatte Siad Barre sich überschätzt. Er benötigte unbedingt neue Waffen und Munition, um die Offensive fortzusetzen, und wandte sich mit dringenden Hilferufen an seinen Verbündeten, die UdSSR. Die Sowjets sahen sich mit einem Dilemma konfrontiert. Ihr Langzeit-Verbündeter Somalia lag im Krieg mit ihrem neuen Verbündeten in Addis Abeba, der die Amerikaner aus ihren Stützpunkten ausgewiesen und sich Moskau zugewandt hatte. Die Sowjets mußten sich entscheiden, und sie entschlossen sich für den größeren und reicheren Alliierten. Sie stellten alle militärischen Lieferungen für Somalia ein, riefen ihre 4.000 Berater zurück und sandten sie geradewegs nach Äthiopien, zusammen mit gewaltigen Mengen Waffen. Im November kündigte Somalia sein Abkommen mit der UdSSR auf und wies alle übrigen Sowjetbürger im Land aus. Seit der Schließung der Dschibuti-Eisenbahn und der Blockade der Straße von Massawa nach Assab durch eritreische Guerillas brachten die Sowjets Waffen und Ausrüstung für die Äthiopier auf dem Luftweg direkt nach Addis Abeba. Sie stellten neue äthiopische gepanzerte Divisionen auf und stützten sie durch 17.000 kubanische Soldaten ab. Die Somalier verstärkten den Druck auf Harar und dann auf Dire Dawa bis Januar, aber sie konnten keine der beiden Städte einnehmen. Dann flogen die Sowjets eine komplette schwere Division der -131-
Äthiopier über die Berge und setzten sie hinter dem somalischen Belagerungsring um Harar ab œ eine höchst eindrucksvolle Demonstration der Leistungsfähigkeit der sowjetischen Luftwaffe. Die Somalier saßen in der Falle. Im Februar 1978 traten die Äthiopier und Kubaner zur Gegenoffensive an und fügten den Somaliern eine schwere Niederlage zu. Siad Barre kündigte am 9. März den Rückzug aller somalischen Truppen aus dem Ogaden an. DIE NACHWIRKUNGEN Die Somalier verloren 8.000 Mann, 75 Prozent ihrer Panzer und die Hälfte ihrer Kampfflugzeuge. Aber die WSLF setzte den Guerillakampf fort, und entgegen Siads Ankündigung wurde sie dabei von der somalischen Armee weiter unterstützt. Während der nächsten zwei Jahre kontrollierten die Aufständischen das Land außerhalb der Städte, während die Äthiopier durch den Krieg in Eritrea blockiert waren. Aber 1980 gewannen die Äthiopier die Oberhand und besiegten abermals die Somalier, die schließlich ihre letzten Truppen aus dem Ogaden zurückzogen. Wahrend der Kämpfe flüchteten 650.000 Somalier aus dem Ogaden nach Somalia, wo sie in Lagern untergebracht wurden. Das Land wandte sich an die Vereinten Nationen um Hilfe. DIE GEGENWÄRTIGE SITUATION Die äthiopische Armee, größer und besser ausgerüstet als die Somalias, hat etwa 320,000 Soldaten, bei einer Einwohnerzahl von rund 44 Millionen gegenüber 5,6 Millionen Somalias. Zusätzlich hat einerseits die Sowjetunion Äthiopien mit allem beliefert, was das Land an militärischer Unterstützung braucht, während anderseits die Budgetbeschneidungen in Washington jede größere amerikanische Hilfe für Somalia verhindert haben. So warten und hoffen die Somalier. Die äthiopische Regierung bleibt sehr gefährdet. Ihre Unfähigkeit und der doktrinäre Marxismus sowie die destabilisierende Wirkung der ständigen Unruhe in Eritrea und anderen Provinzen lassen die Vermutung zu, daß sich das Regime in Addis Abeba nicht ewig halten wird. Weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung gehört anderen Stämmen an als die vorherrschenden -132-
Amharen und spricht eine andere Sprache als die Staatssprache Amharisch. Diese Stämme haben wiederholte Aufstände unternommen. Der einzige Gewinn der Sowjetunion für ihr Engagement ist wahrscheinlich das Vergnügen, die Amerikaner ersetzt zu haben, und daher werden sie vielleicht ihre Unterstützung irgendwann einstellen. Somalias ökonomische und politische Situation hat sich im Verlauf der achtziger Jahre ständig verschlechtert, als Barre immer tyrannischer und unberechenbarer wurde. Die Wirtschaftspolitik seiner Regierung hat anscheinend keine positiven Auswirkungen für die Bevölkerung, und die amerikanischen Hilfsprogramme haben nicht ausgereicht, die Not des Landes zu beseitigen. Die USA benützten den früheren sowjetischen und ursprünglich britischen Marinestützpunkt Berbera, spielten aber sonst im Leben des Landes keine große Rolle. Ausländische Besucher wurden abgeschreckt, und Journalisten erhielten grundsätzlich keine Einreisegenehmigung. Somalia sah sich einer höchst unerfreulichen Zukunft gegenüber, als ein unaufhörlich verarmendes Dritte-Welt-Land mit sehr wenig Rohstoffen, ständig bedroht von der Dürre und von Flüchtlingen aus Äthiopien. Obwohl Somalia ethnisch eine homogene Bevölkerungsstruktur aufweist, betrachten die Sippen einander mit Mißtrauen und haben der Zentralregierung gegenüber die gleichen Vorbehalte wie in der Kolonialzeit. Die Menghistu-Regierung erkannte 1982 die Vorteile, die Stämme gegeneinander auszuspielen, und gründete die ‡Somalische Nationalbewegung— (SNM), die sich auf die Issas im ehemaligen Britisch-Somaliland stützt. Siad und die meisten Mitglieder seiner Regierung sind Marhanen. Siad Barre ist mittlerweile 80 Jahre alt und steht vor dem Ende seiner langen Präsidentschaft. Amnesty International berichtete im Juni 1988, daß die Regierung echte und vermutete Oppositionelle seit 1981 foltern läßt und daß widerrechtliche Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen von Zivilisten, die der Kollaboration mit der SNM verdächtigt werden, ständig vorkommen. Im April 1988 willigte die äthiopische Regierung œ nach schweren Verlusten in Eritrea und Tigray œ ein, die diplomatischen Beziehungen -133-
mit Somalia wieder aufzunehmen, ohne zuvor einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, der die Grenzen festschreibt. Dadurch konnte sie Truppen aus dem Ogaden abziehen und nach Eritrea verlegen. Siad Barre hat möglicherweise kalkuliert, daß, sollten sich die Äthiopier im Norden erholen, die Somalier zumindest einen Defacto-Frieden hätten, ohne nominell ihre Ansprüche auf den Ogaden aufgeben zu müssen. Die WSLF setzte allerdings ihren Kleinkrieg im Ogaden fort, und sollte Äthiopien in Eritrea verlieren und auseinanderfallen, ist Somalia in den Startlöchern, die Offensive wieder aufzunehmen. Einer der Punkte des Abkommens zwischen Äthiopien und Somalia besagte, daß die SNM-Mitglieder im Exil nach Hause zurückkehren dürften. Sie brachten große Mengen moderner, von Äthiopien gelieferter Waffen mit, und am 26. Mai 1988 griffen sie die Regierungsgarnisonen im Norden an und besiegten zwei schwache somalische Divisionen. Dann griffen sie Hargeisa und Burao an, die zwei Hauptorte des nördlichen Landesinneren. Sie eroberten Burao, aber es gelang der Regierung, Hargeisa zu halten und Burao später zurückzuerobern. Gerüchte aus Somalia meldeten Massenhinrichtungen von Issas in Hargeisa und die BeinaheEroberung von Berbera durch die SNM. Nach manchen Quellen wurden bei den Kämpfen im Mai und Juni 10.000 Menschen getötet; der Bürgerkrieg sei mit großer Grausamkeit weitergeführt worden. Hargeisa und Burao sollen Geisterstädte sein, die von ihren Bewohnern aufgegeben wurden. Zu Beginn des Juni wurden 167 Mitarbeiter ausländischer Hilfsorganisationen auf dem Luftweg evakuiert, und im Kampfgebiet wurden keine weiteren Ausländer geduldet. Täglich kamen 4.000 bis 5.000 Flüchtlinge über die äthiopische Grenze, und Mitte August waren 300.000 in Äthiopien, die meisten in Lagern nahe Jijiga, aber zumindest 100.000 in abgelegenen Teilen des Ogaden. Bis zum Ende des Jahres stieg die Zahl auf 400.000. Die Wirren griffen bald auf den Süden des Landes über. Im Verlauf des Jahres 1989 wurden Meutereien in verschiedenen Armeeeinheiten und Kämpfe zwischen Angehörigen rivalisierender Clans gemeldet. Im September 1989 berichtete das US-Außenministerium, daß die somalische Armee bei Angriffen auf SNM-Stellungen im Norden mindestens 5.000 Zivilisten getötet hatte. Die USA stellten aus Protest -134-
gegen die Menschenrechtsverletzungen der Regierung ihre
Hilfszahlungen an Somalia (55 Millionen Dollar jährlich) 1988 ein,
und dann kam auf das schwergeprüfte Land eine neuerliche Dürre zu.
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SUDAN
Geographie: 2,505.813 km× œ ungefähr die halbe Fläche von Europa. Bevölkerung: 25 Millionen. 14 Millionen im Norden sind Moslems und sprechen Arabisch; 8 Millionen im Süden sind Animisten oder Christen, gehören einer Vielzahl Stämmen an und sprechen viele verschiedene Sprachen BSP: 320 $/Einw. Flüchtlinge: 2 Millionen Flüchtlinge im Land: 667.000 aus Äthiopien, 90.000 aus Uganda, 25.000 aus dem Tschad, 5.000 aus Zaire. 1988 lebten in Äthiopien 330.000 Flüchtlinge aus dem Sudan; jeden Monat gehen 8.000 bis 10.000 über die Grenze. Verluste: Im 1. Bürgerkrieg (1963-1972): ungefähr 400.000 Tote; im 2. Bürgerkrieg (seit 1983): bis jetzt sind mindestens 400.000 Menschen umgekommen, davon 250.000 an der Hungersnot im Jahre 1988. GESCHICHTE Der Sudan ist ein unermeßlich weites Land, das von der großen Verwerfungslinie, die quer durch Afrika lauft, geteilt wird. Zwei Drittel der Bevölkerung leben im Norden, von ihrer Religion her sind sie Moslems und von ihrem kulturellen Selbstverständnis Araber. Sie orientieren sich nach Norden, nach Ägypten, und nach Osten, gen Mekka. Ihr Land ist trocken, heiß, zum Teil Wüste, und sie haben eine schriftliche Überlieferung bis zurück in die Antike. Der Südsudan ist heidnisch oder christlich. Es ist ein grünes, fruchtbares Land, größer als beispielsweise Texas, ein Bestandteil des schwarzen, äquatorialen Afrika, und seine Bevölkerung blickt nach Zentral- und Ostafrika. Die zwei so verschiedenen Teile des Landes sind heute zu einem Staat vereinigt, da zum Ende des 19. Jahrhunderts die Franzosen den Rückzug antraten und den Briten das Gebiet überließen, das damals als der östliche Sudan bezeichnet wurde. Es war eine jener Episoden, die die Hochblüte des europäischen -136-
Imperialismus kennzeichnete. Weder Frankreich noch Großbritannien konnte mit dieser endlosen Weite von Wüste und Sümpfen irgend etwas Vernünftiges anfangen œ und schon gar nicht ein moralisches Recht anmelden, das Land zu annektieren œ, aber jeder der beiden Kontrahenten fühlte sich dazu aufgerufen, es zu besitzen, da der andere es haben wollte. Der Sudan wurde 1819 von den Ägyptern erobert, die ihn von Khartum aus beherrschten und den Sklavenhandel im Süden weiterhin zuließen. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts war Ägypten seinerseits selbst beherrscht und kontrolliert von Großbritannien. Der britische General Charles Cordon wurde der ägyptischen Armee beigegeben, um den Sklavenhandel zu unterdrücken œ eine Aufgabe, der er sich mit großem Eifer unterzog. Da revoltierten die Sudanesen. Sie folgten einem religiösen Führer, Mohammed Ahmed, der sich selbst als ‡Mahdi— ausrief. Der militärische Führer der Sekte, Abdullah ibn Mohammed, erklärte sich zum Kalifen, dem Herrscher des Sudan. Seine Armee, von den Briten als ‡Derwische— gefürchtet, warf die Eindringlinge hinaus, und 1883 entschieden die Briten, daß es für die Ägypter besser wäre, sich völlig zurückzuziehen. Im Januar 1884 wurde Cordon entsandt, um den Rückzug zu leiten, aber sobald er Khartum erreicht hatte, weigerte er sich, den Rückzug tatsächlich durchzuführen. Er wurde ab dem 15. März 1884 belagert und hielt die Stadt zehn Monate gegen eine gewaltige Übermacht. Im Dezember schickten die Briten schließlich eine Entsatzarmee nilaufwärts, aber sie erreichte die Vororte von Khartum erst am 27. Januar 1885 œ zwei Tage, nachdem Gordon und seine Männer überwältigt worden waren. Er selbst wurde auf den Stufen seines Palastes getötet und zu einer legendären Figur des Empire. 1898 entsandten die Briten eine große Streitmacht nilaufwärts, um Gordon zu rächen und den Sudan zu erobern œ und um die Franzosen zu ärgern. Letzteres war der Hauptgrund. Am 2. September wurden die Sudanesen in der Schlacht von Omdurman besiegt œ die letzte Schlacht, die durch einen Kavallerieangriff entschieden wurde, Leutnant Winston Churchill von den 21. Lancers machte die Schlacht und auch den Angriff mit œ später schrieb er darüber ein hervorragendes Buch. Ein Jahr später wurde der Kalif getötet. -137-
Nach der Schlacht bei Omdurman segelte General Kitchener, der Kommandeur der britischen Truppen, den Weißen Nil stromaufwärts bis nach Faschoda, tief im Süden. Eine französische Expedition, die auf einem Wüstenmarsch die Weite Afrikas durchquert hatte, richtete sich dort eben ein. Kitchener erreichte mit seiner mächtigen Armee Faschoda am 19. September. Das französische Expeditionskorps, angeführt von Major Jean-Baptiste Marchand, bestand aus nur acht französischen Offizieren und 120 afrikanischen Soldaten. Sie hatten für den Weg nach Faschoda zwei Jahre gebraucht, und nun wurde ihnen höflich, aber unmißverständlich mitgeteilt, daß sie nach Hause gehen könnten. Die daraus resultierende Krise hätte beinahe zu einem Krieg zwischen den beiden Ländern geführt, doch schließlich mußten die Franzosen nachgeben. Auf Seite 2 seiner Memoiren listet General de Gaulle die Niederlagen auf, die ihn dazu bewogen haben, sein Leben der Glorie Frankreichs zu weihen: Nummer eins auf dieser Liste ist die Faschoda-Krise. Er bekam seine Revanche 65 Jahre danach, als er sein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur EWG einlegte. Die Briten errichteten eine neue Herrschaft und nannten das Land den ‡Anglo-Ägyptischen Sudan—, aber es bestand niemals ein Zweifel, wer in dieser Partnerschaft den Ton angab. Während der nächsten fünfzig Jahre gelang eine vernünftige wirtschaftliche Entwicklung, vor allem durch die Einführung von Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen. Der Norden des Landes wurde in arabischer Amtssprache von Khartum aus regiert, der Süden, ziemlich abgesondert, in englischer Amtssprache von Iuba aus. DIE UNABHÄNGIGKEIT 1953, als die Briten zögernd ihren Rückzug aus dem Nahen Osten antraten, veranlaßten sie auch die Ägypter, den Sudan zu verlassen. Die letzten britischen Kolonialbeamten verließen das Land 1954; formell wurde es 1956 unabhängig, aber da hatten die Katastrophen schon begonnen. Im Juli 1955 hatte ein Streit über Arbeitsbedingungen in der südlich gelegenen Stadt Nzara zu Aufständen geführt, die von Polizeikräften niedergeschlagen wurden œ dabei starben 20 Menschen. Im August meuterte das südliche Armeekorps und kontrollierte bald mit Ausnahme von Juba die Äquatorialprovinzen. Juba wurde von loyalen Truppen des Nordens -138-
gehalten. Hunderte Geschäftsleute und Beamte aus dem Norden starben, ehe Ruhe und Ordnung wiederhergestellt und die Meuterer besiegt werden konnten. 1958 wurde die von den Briten eingesetzte Zivilregierung durch einen Militärputsch weggefegt. General Ibrahim Abboud ernannte sich zum Präsidenten und unterdrückte sofort jede Opposition, besonders im Süden. Er setzte Arabisch als alleinige Staatssprache durch, erklärte den Freitag statt des Sonntags zum arbeitsfreien Tag, auch im Süden, verwies christliche Missionare 1962 des Landes und jagte Politiker aus dem Süden ins Exil. DER ERSTE BÜRGERKRIEG 1963 bildeten einige Exilanten die Widerstandsbewegung ‡Anya Nya— (in einer der südlichen Sprachen heißt das Giftschlange). Die Bewegung gewann die Unterstützung der Dinka-Stämme; ihre Waffen bezog sie von Rebellen im Kongo, von Äthiopien (das damit die Unterstützung ausgleichen wollte, die der Sudan den äthiopischen Aufständischen geboten hatte) und von Israel, das grundsätzlich jede Gruppe unterstützte, die unter den Arabern Zwietracht säen mochte. Bald wurde aus der Auseinandersetzung ein erbarmungsloser Kampf zwischen Arabern und Afrikanern, wie die alten Sklavenkriege. Es wurden grundsätzlich keine Gefangenen gemacht, und 400.000 Tote gelten als wahrscheinlich. Natürlich waren die meisten von ihnen Zivilisten. Die Anya Nya kontrollierte bald die meisten Provinzen des Südens; sie besetzte immer wieder kleine Städte und belagerte Regierungsgarnisonen. In diesem ungleichen Krieg hatten die Truppen des Nordens Zugang zu allen Waffen, die sie brauchten, waren besser ausgebildet als die Kämpfer des Südens und hatten auch die kriegerischen Traditionen des Mahdi geerbt. Aber in einem so riesigen Land war es unmöglich, jedes Dorf und jeden Wald unter Kontrolle zu halten. Keine der beiden Seiten konnte diesen Krieg gewinnen. Am 25. Mai 1969 gab es neuerlich einen unblutigen Staatsstreich. Abboud wurde abgesetzt und durch Oberst Dschafar Numeiri ersetzt. Dieser wurde im Laufe seiner folgenden langen Amtszeit einer der bemerkenswertesten afrikanischen Staatsführer. Er wanderte gerne am -139-
frühen Morgen durch die Märkte von Khartum, hörte den Arbeitern zu und ermunterte sie zur Arbeit. Er war ein enger Verbündeter Ägyptens, vor allem Anwar as-Sadats, und begrüßte dessen Friedensverhandlungen mit Israel. Er war auch ein unversöhnlicher Gegner des libyschen Staatschefs Gaddafi, der immer wieder Verschwörungen gegen ihn unterstützte und einmal sogar ein Kampfflugzeug losschickte, um Khartum zu bombardieren. Gaddafi hatte ein Auge auf die nordwestliche Provinz des Sudan geworfen, auf Nord-Dafur, das er als Operationsbasis gegen den Tschad (siehe TSCHAD) haben wollte. Numeiri beschloß, den Krieg im Süden zu beenden. 1972 lud er die Rebellenführer des Südens zu einer Konferenz nach Khartum ein. Dabei machte er ihnen verschiedene Zugeständnisse. Die drei südlichen Provinzen wurden zu einer verschmolzen, mit einem Regionalparlament in Juba, das beinahe völlige Autonomie haben sollte. Die Zentralregierung behielt sich nur die Belange der Verteidigungs- und Außenpolitik vor, in allen anderen Bereichen sollte der Süden seine eigenen Wege gehen. Den Rebellen wurde eine Generalamnestie zugesichert, und die Anya Nya-Soldaten wurden in die reguläre sudanesische Armee übernommen. Es war eine der staatsmännisch klügsten und erfolgreichsten Aktionen, die je in Afrika stattgefunden haben, nur noch vergleichbar mit der vollständigen Wiederherstellung des Friedens in Nigeria nach dem Biafra-Krieg. Unglücklicherweise hielt diese Vereinbarung nicht stand. Politische und ökonomische Entwicklungen in Khartum in Verbindung mit der Verrottung der Regierung Numeiri erweckten im Süden den Aufstand wieder zum Leben. In den Jahren nach dem Ende des Bürgerkriegs gab es in Khartum immer wieder Putschversuche, die meist von Libyen oder anderen Staaten unterstützt wurden. 1975 wurde ein Putschversuch von mit libyschem Geld bezahlten Söldnern mit großer Härte abgewehrt: Numeiri ließ 98 Männer hinrichten. Sein hauptsächlicher politischer Gegner, Sadiq al-Mahdi œ ein Urgroßenkel des Mahdi, dessen Name er alle Ehre machte, und einmal unter Numeiri Ministerpräsident œ stand 1975 und 1976 an der Spitze von zwei Staatsstreichen und wurde des Landes verwiesen. Jahre später wurde er amnestiert und kehrte zurück; er lebte friedlich in Khartum und spielte gelegentlich -140-
mit Numeiri Tennis. So großartig auch Numeiris Befriedungsaktion des Südens war, so vollständig versagte seine Regierung in allen anderen Belangen. Vor allem mit der Wirtschaft ging es ständig bergab. Zur Zeit seiner Unabhängigkeit war der Sudan ein relativ prosperierendes Land mit einer hinreichenden Zahl gebildeter Menschen, um das Land vernünftig regieren zu können, und hatte ein enormes Potential. Er war einer der weltführenden Baumwollproduzenten und konnte seinen Bedarf an Getreide und Zucker selbst decken. Das war nun alles vorbei. Der Sudan leidet unter allen Übeln des postkolonialen Afrika, verstärkt durch die Größe des Landes und den Gegensatz zwischen Nord und Süd. Die Regierung hält die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse so niedrig, daß kein Bauer Gewinn aus dem Ertrag seiner Ernte zieht. Die Subventionen der Regierung sind an den Bedürfnissen der Stadtbewohner ausgerichtet, während die Menschen auf dem Land verhungern. Die Baumwollindustrie ist zusammengebrochen, und der Sudan muß jetzt Zucker importieren. Mit den Jahren wurde Numeiri immer selbstherrlicher. Er entwickelte sich auch zu einem ausgeprägten islamischen Fundamentalisten, der die Sharia, die Gesetzgebung auf der Grundlage des Korans, im Land einführte. Ehebrecher wurden zu Tode gesteinigt, Dieben wurde die Hand amputiert, und die Prohibition gegen Alkohol erstreckte sich sogar auf medizinischen Alkohol in den Spitälern. Im Januar 1985 wurde Mahmoud Mohammed Taha, ein Führer einer laizistischen Partei, der ‡Republikanischen Bruderschaft—, in Khartum öffentlich gehängt, da er die Weisheit von Numeiris religiösem Fanatismus kritisiert hatte. Numeiris Autorität schwand im Süden, der auf der Einhaltung der Autonomiezugeständnisse von 1972 beharrte, und bald kam es zu Kämpfen zwischen Stammeskriegern und Truppen des Nordens. Die Dürrekatastrophe, die ganz Ostafrika und die Sahel œ das Gebiet südlich der Sahara œ betraf, hatte im Sudan besonders verhängnisvolle Auswirkungen. Millionen verhungernder Menschen flohen in überfüllte Flüchtlingslager, und protestierten, daß die Zentralregierung nichts zu ihrer Rettung unternahm. -141-
1983 flammte der Bürgerkrieg wieder voll auf. Eine neue Organisation œ die ‡Volksarmee zur Befreiung des Sudan— (SPLA) œ wurde gegründet, angeführt von Oberst John Garang, einem in Amerika ausgebildeten christlichen Dinka. Die SPLA begann Angriffe auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, und im Februar 1985 verließen die meisten ausländischen Helfer den Südsudan. Die USA pumpten Hunderte Millionen Hilfsgelder in den Sudan, um sich seiner Loyalität zu versichern œ die Wirtschaftshilfe betrug 67 Millionen Dollar im Jahr 1988, und 1989 waren es rund 77,4 Millionen Dollar. Das war genug Geld, um die Regierung zu retten, aber nicht genug für die Verhungernden. Zu Beginn des Jahres 1985 stellten die USA, Großbritannien, die BRD und Saudi-Arabien ihre Hilfsprogramme ein und wollten sie erst dann wieder aufnehmen, wenn Numeiri umfangreiche Reformpläne vorlegte. Der Internationale Währungsfonds stellte harte Bedingungen für seine Unterstützung, allen voran die, daß die Lebensmittelsubvention eingestellt würde. Ohne die Wiederbelebung der Landwirtschaft hatte die Wirtschaft des Landes keine Chance auf Besserung. Numeiri stimmte zu und stoppte die Nahrungsmittelsubventionen im März 1985. Dann ging er auf eine Auslandsreise, deren Höhepunkt ein Besuch bei Präsident Reagan in Washington am 1. April war. Die Amerikaner sicherten ihm 67 Millionen Dollar Hilfszahlung zu. Aber es war zu spät. Während Numeiris Abwesenheit gab es Aufstände gegen die Brotpreiserhöhung, einen Generalstreik und Massendemonstrationen gegen die Regierung. Numeiri setzte seine Reise fort. Am 6. April verkündete das Armeekommando seine Absetzung. DER NEUE SUDAN Die neue Regierung führte die Nahrungsmittelsubventionen wieder ein. Die Nationalwirtschaft des Sudan steuert weiter den Kurs in die Katastrophe, wird von ausländischer Hilfe am Leben erhalten, ist aber dem Zusammenbruch geweiht. Die Regierung wagt nicht, Wirtschaftsreformen einzuführen, aus Furcht, Numeiris Schicksal zu teilen. Die Armee rief im April 1986 Wahlen aus, ein Jahr nach dem -142-
Staatsstreich, und übergab die Macht an Sadiq al-Mahdi, dessen Umma-Partei die meisten Sitze im Parlament gewann. Er blieb drei Jahre als Ministerpräsident einer Reihe instabiler Koalitionsregierungen im Amt. Die neue Regierung lockerte als erstes die strengen Gesetze Numeiris. Mahdi hatte es nicht notwendig, seinen religiösen Fundamentalismus irgend jemandem durch Maßnahmen zu beweisen, sein Name war Zeugnis genug. Vielmehr bestärkte er Presse und rivalisierende politische Parteien in ihrer Eigenständigkeit. Eine kurze Zeit lang war der Sudan zusammen mit Botswana von allen afrikanischen Staaten einer wirklichen Demokratie am nächsten. Unmittelbar nach dem Krieg nahm der Sudan die diplomatischen Beziehungen mit Äthiopien und Libyen wieder auf und akzeptierte großzügige libysche Unterstützungen. Diese Hilfe hatte ihren Preis: Gaddafi mischte sich immer wieder hemmungslos in die sudanesischen Angelegenheiten ein. Nach einem Grenzzwischenfall, bei dem libysche Truppen sudanesische Grenzsoldaten angriffen, gab es in Khartum Demonstrationen gegen Libyen. Der Sudan ist nicht gewillt, Gaddafis Marionette zu werden. Die Beziehungen zu den USA und Ägypten waren weniger herzlich als zu Numeris Zeiten. 1986 wurde ein Funker der amerikanischen Botschaft angeschossen und ernsthaft verwundet œ offensichtlich als Racheaktion für den amerikanischen Bombenangriff auf Libyen. Die USA evakuierten prompt 200 Angehörige ihres Botschaftspersonals, aber bis Mai 1988 gab es keine weiteren Zwischenfälle. Dann griffen Araber mit libanesischen Pässen ein Hotel und einen Klub in Khartum an und töteten sieben Menschen. Der Angriff richtete sich offensichtlich gegen Ausländer: Die Toten waren eine britische Familie œ die Eltern und ein drei- sowie ein einjähriges Kind œ, ein zweiunddreißigjähriger Schullehrer und zwei Sudanesen. Die Täter wurden verhaftet. Später stellte sich heraus, daß sie von Abu Nidal gedungen worden waren. DER KRIEG Der Krieg ging weiter. Es gab verschiedene Anläufe zu Verhandlungen zwischen der Regierung und der SPLA, aber ohne -143-
Erfolg. Im Juli 1986 traf Mahdi in Addis Abeba mit Garang zusammen, brach die Gespräche aber im folgenden Monat ab, nachdem die SPLA eine Verkehrsmaschine abgeschossen hatte. Im Dezember 1987 wurde in London eine weitere Verhandlungsrunde geführt, aber ebenfalls ohne Ergebnis. Garangs Streitmacht œ angeblich zwischen 20.000 und 30.000 Mann œ drang bis zu 200 Kilometer auf Khartum vor und bedrohte die Stromversorgung der Hauptstadt ernsthaft, die auf dem Roseires-Staudamm am Blauen Nil im Südosten beruht. Die Regierung verkündete lauthals Erfolge im Kampf gegen die SPLA: Im Dezember 1987 beispielsweise reklamierte die Armee einen großen Sieg für sich, bei dem mehr als 3.000 Rebellen getötet worden sein sollen. Im folgenden April allerdings griff die SPLA Juba an. Garang konnte seinen Rückhalt in seinem eigenen Dinka-Stamm beständig ausweiten. 1987 gelang es ihm, die Führer des NuerStammes auf seine Seite zu bringen. Ihre Organisation heißt ‡Anya Nya II— und gilt als Erbe der Bewegung, die den Bürgerkrieg von 1963-1972 geführt hat. In den folgenden Monaten gewann Garang auch die Unterstützung der anderen Stämme des Südens, und mit ihrer Hilfe eroberte er im Januar 1988 erstmals eine größere Stadt, Kapoeta im fernen Südwesten, nahe an der Grenze zu Uganda. Die sudanesische Armee bleibt im großen und ganzen im Norden oder zumindest in der Sicherheit der Garnisonsstädte, und sie schickt arabische Milizen in den Kampf gegen die SPLA. Diese Milizen rekrutieren sich aus nördlichen Araberstämmen, deren Vorfahren vor einem Jahrhundert in den Süden auf Sklavenfang gegangen sind. Der Unterschied ist, daß sie jetzt bei ihren Angriffen auf Dinka- und Nuerdörfer mit automatischen Gewehren und Granatwerfern ausgerüstet sind und mit Lastwagen kommen: die männlichen Dorfbewohner werden getötet, die Frauen weggeschleppt. Nach den Angaben der sudanesischen Regierung standen im Sommer 1988 eine Million Menschen am Rande des Hungertodes. Mehr als 300.000 Sudanesen sind über die Grenze nach Äthiopien gegangen œ von allen Ländern der Welt kann ihnen ausgerechnet dieses am wenigsten helfen. Sie überleben ausschließlich dank der Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen. -144-
Wenn es im Sudan und Äthiopien keine Kriege gäbe, könnte der Kampf gegen den Hunger gewonnen werden. Aber so sind die Hilfsorganisationen oft hilflos. Im August 1986 schoß die SPLA mit einer sowjetischen SAM-7 eine Passagiermaschine der Sudan Airways ab; dabei starben 60 Menschen. Daraufhin stellte das Rote Kreuz seine Versorgungsflüge nach Juba ein. Für die Flüchtlinge war das eine Katastrophe. Die Landstraßen sind in so schlechtem Zustand, das Eisenbahnnetz ist so heruntergekommen, daß es durch den Krieg und den Zusammenbruch der Infrastruktur keine Möglichkeit gibt, Hilfsgüter auf dem Landweg zu transportieren. Es regnete zwar im Juli 1988 im Hochland von Äthiopien œ der Nil überschwemmte das Land bis Khartum œ, aber die Nachwirkungen der Trockenheit halten an, und 1989 kam es in Ostafrika erneut zu einer großen Dürre. Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht. Die Sudanesen flüchten vor der Dürre und vor dem Krieg. Die wenigen Tausend, die in die äthiopischen Lager durchkommen, schaffen es nur mit allerletzter Kraft, ‡viele können kaum noch stehen, sie sind wandelnde Skelette—, sagte ein für Flüchtlinge zuständiger Beamter im Juli 1988. ‡Sie lassen sich wirklich mit den Bildern aus den deutschen Konzentrationslagern vergleichen—, meinte ein anderer. ‡Sie sind mindestens so schlecht dran wie die Menschen in Äthiopien nach der Hungersnot 1984/85.— Ende 1988 war die Situation im Sudan schlimmer als sie es 1984/85 in Äthiopien gewesen war. Die USA hielten sich mit ihrer Kritik an der Regierung Mahdi zurück, aus Angst, ihn Gaddafi in die Arme zu treiben. Amerikanische Hilfeexperten waren mit ihrer Kritik weniger zurückhaltend und beschuldigten die Regierung, im Süden des Landes eine Politik des Völkermords durchzuführen. Journalisten übermittelten schauerliche Geschichten und Bilder vom Hungertod. Sie fanden heraus, daß die Regierung in die von der MPLA belagerten Städte zwar Lebensmittel für ihre Soldaten einfliegen ließ, nicht aber für die Zivilbevölkerung. Die Zurückhaltung der Amerikaner brachte, wie immer in solchen Fällen, gar nichts. Die sudanesische Regierung wollte sich an Gaddafi anlehnen, und bald war das Land einer seiner engsten Verbündeten. 1988 schwenkte Mahdi um und begann mit der Einführung der islamischen Gesetzgebung. Im Mai nahm er die Islamische Front in -145-
die Regierungskoalition auf. Ihr Oberhaupt ist Hassan al-Turabi, der bereits unter Numeiri an der Spitze der ähnlichen Initiativen gestanden war. Mahdi ging einen schwierigen Weg zwischen dem islamischen Extremismus und der Notwendigkeit, den Krieg zu Ende zu bringen, und ausländische Beobachter konnten nicht recht feststellen, was seine wirklichen Absichten waren. Im November wurde in Addis Abeba in Verhandlungen zwischen Regierung und SPLA ein Waffenstillstand ausgehandelt, unter der Bedingung, daß die Einführung der Scharia verschoben würde. Gleichzeitig besuchte Mahdi Libyen und unterzeichnete einen Unionsvertrag zwischen den beiden Ländern. Das Abkommen mit Libyen war in der sudanesischen Armee höchst unpopulär, und die Verhandlungen mit Garang verliefen im Sand. Mahdi verweigerte die Aufhebung der Scharia, der unumgänglichen Notwendigkeit zur Wiedervereinigung mit dem Süden. Die Wirtschaft verschlechterte sich weiterhin, und der Krieg ging ebenso weiter wie die Hungersnot im Süden. Die Armee verkündete mehrmals, daß sie nicht unbegrenzt zuschauen könne, wie das Land auseinanderfalle, und am 30. Juni 1989 übernahm sie in einem unblutigen Staatsstreich die Macht. Der Coup wurde in Ägypten (das auch der Organisation verdächtigt wurde) ebenso begrüßt wie in den USA und in Großbritannien. Zu diesem Zeitpunkt hatten rund zwei Millionen Sudanesen ihre Heimat verlassen, und wohl ebensoviele waren am Verhungern. Nach Berichten der amerikanischen Regierung sind im Südsudan im Februar 1989 zwischen 100.000 und 250.000 Menschen verhungert, ‡nachdem Angehörige der bewaffneten Mächte auf beiden Seiten Lebensmittellieferungen für von der Gegenseite kontrollierte Gebiete entweder verhindert oder durch mangelnde Kooperation vereitelt haben—. Es ist eine der großen Katastrophen eines katastrophenreichen Jahrzehnts, und es besteht nur wenig Hoffnung, daß die Militärregierung in der Beendigung dieser Auseinandersetzung erfolgreicher ist als die Zivilisten es waren. Das neue Staatsoberhaupt, General Omar Hassan al-Bashir, förderte die Scharia noch energischer als Mahdi und schickte arabische Milizen in den Süden, um die Bevölkerung zu terrorisieren. Es gab mehrfach Berichte von Massakern. Im November 1989 verbot die Regierung ausländischen Hilfsorganisationen Lebensmittel- und -146-
Medikamentenlieferungen in den Süden, da sie ihnen unterstellte, die Rebellen zu unterstützen. Der frühere US-Präsident Jimmy Carter brachte eine Reihe von Treffen zwischen Regierungsrepräsentanten und der SPLA zustande, aber diese Friedensanstrengungen brachen im Dezember 1989 erneut zusammen. Nach amerikanischer Gesetzgebung ist jede Hilfeleistung für Länder, in denen die demokratisch gewählte Regierung weggeputscht wurde, verboten. Der Sudan blickt in eine hoffnungslose Zukunft.
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SÜDAFRIKA
Geographie: Fläche 1,119.566 km2, etwa fünfmal so groß wie Großbritannien. Bevölkerung: 26,7 Millionen. Schwarze: 18,200.00, Weiße: 4,800.00, Mischlinge: 2,800,00, Asiaten: 880.001 Bei der schwarzen Bevölkerungszahl sind die 4,5 Millionen Einwohner der vier nominell unabhängigen Bantustans und der anderen sechs Homelands mitgezählt. Die schwarze Bevölkerung nimmt jährlich um 2,7 Prozent zu, die Mischlinge um 2 %, die Asiaten um 2,4 % und die Weißen um 1,7%. Rohstoffe: Südafrika hat die weltgrößten Reserven an Gold, Chrom, Platin, Vanadium und Mangan sowie große Vorkommen anderer Mineralien wie Diamanten, Asbest und Antimon. Es produziert jährlich 670 Tonnen Gold œ das ist der halbe Weltbedarf. BSP: 1.800 $/Einw. Am 2. Februar 1990 hob der Präsident der Republik Südafrika, F. W. de Klerk, das Verbot des ‡African National Congress— auf und versprach die Begnadigung des ANC-Führers Nelson Mandela. Mandela wurde schließlich am 11. Februar freigelassen. De Klerk nahm in den folgenden Monaten Verhandlungen mit dem ANC über die Zukunft des Landes auf. Das war der Höhepunkt eines radikalen politischen Veränderungsprozesses, den de Klerks Vorgänger P. W. Botha zehn Jahre zuvor eingeleitet hatte, und der Beginn einer neuen Ära in Südafrika. De Klerk hatte sich entschlossen, mit der schwarzen Mehrheit des Landes in den Dialog zu treten. Ihre Hauptforderung hatte er nicht erfüllt, nämlich das allgemeine Stimmrecht in einem vereinigten Land. Er war bereit, die Apartheid abzubauen, dieses System der Rassentrennung, das die Nationalpartei nach 1948 eingeführt hatte, und die Uhr um vierzig Jahre zurückzustellen. Aber die Weißen blieben an der Macht, und die Schwarzen forderten sie weiter für sich. Südafrika spielte zwanzig Jahre lang in der zeitgenössischen Dämonenlehre eine spezielle Rolle. Ihm war die Aufgabe zugewiesen worden, all die vergangenen Übel des Kolonialismus und des -148-
schrankenlosen Kapitalismus sowie all die behaupteten Fehler der früher herrschenden konservativen Gesellschaftssysteme des Westens zu repräsentieren. Südafrika war das Reizwort, das die Dritte Welt, Minderheiten in den USA und Europa und die Linke grundsätzlich vereinen konnte. Da es so unbeliebt war, hatte es nur wenige Verteidiger. Anti-Apartheid-Koalitionen konnten auf Universitäten, im amerikanischen Kongreß oder auf der Straße mühelos gebildet werden, und Universitätsverwaltungen oder dem US-Präsidenten oder der Regierung konnten Niederlagen beigebracht werden, die auf einer anderen Ebene nicht zu erzielen waren, Diese Siege mochten zwar keine Auswirkungen auf die Situation in Südafrika selbst gehabt haben, aber sie konnten die Kräfteverteilung an der Universität oder in Washington verändern. Der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Bayard Rustin beschrieb einmal einen Besuch auf dem Universitätsgelände der Universität von Iowa in Des Meines. Es war am Höhepunkt der Stimmungsmache für das Embargo. Der ganze Campus war im Aufruhr, alle forderten, daß die Universität sich von allen Aktien jener Firmen trennen sollte, die mit Südafrika Geschäfte machten. Die Universität kapitulierte, es war ein großer Sieg für die Anti-Apartheid-Koalition. Wenige Monate später kam Rustin wieder nach Des Moines œ für einen Vortrag über soziale Probleme in südafrikanischen Townships. Der Hörsaal blieb praktisch leer. 69 Menschen starben 1960 beim Massaker von Sharpeville, 575 kamen 1976 in Soweto ums Leben, und ungefähr 4.500 waren es bei Unruhen in den Jahren 1985 bis 1989 œ insgesamt also rund 5.000 bis 6.000 in 30 Jahren. Die Südafrikaner weisen immer wieder darauf hin, daß die Todesraten in anderen afrikanischen Ländern weit höher sind: Hunderttausende wurden in den Bürgerkriegen in Nigeria, Äthiopien und Sudan getötet; 100.000 Hutu wurden 1972 in Burundi massakriert. Ein Lehrbuch für britische Studenten, Modern Africa von Basil Davidson, widmet dem Sharpeville-Massaker (69 Tote) weit mehr Raum als dem Biafra-Krieg (1 bis 2 Millionen Tote) und erwähnt die Hutu-Massaker von 1972 kaum. (Er beschreibt den Biafra-Krieg so: ‡Ein grausamer Bürgerkrieg brach aus, der Rest von Nigeria stand vereint gegen den Stamm der Ibo und ihre Führer. Mit zusätzlicher Unterstützung der Nicht-Ibo-Völker der Region konnte -149-
die Regierung von Nigeria diesen Krieg 1970 gewinnen und einen großzügigen und gerechten Frieden erzielen.— Über Burundi schrieb er: ‡In Burundi gelang es der Tutsi-Minderheit um einen hohen Preis, an der Macht zu bleiben. Ein Hutu-Aufstand im Jahr 1972 traf auf den erbitterten Widerstand der Tutsi. Tausende starben.—) Im August 1988 schlachteten die Tutsi in Burundi abermals 20.000 Hutu ab, nachdem die Hutu 2.000 Tutsi umgebracht hatten. Die Welt nahm davon kaum Notiz. Die Vereinigten Staaten setzten ihr Hilfsprogramm fort. Es gab keine Demonstrationen vor der burundischen Botschaft in Washington, kein Kongreßabgeordneter ließ sich wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt einsperren. Es ist verständlich, daß weiße Südafrikaner mit diesem doppelten Maß nicht einverstanden sind. Sie haben offensichtlich recht œ und offensichtlich hat niemand die mindeste Sympathie für sie. Sie tragen das Gewicht ihrer Geschichte, die auch die lange und schmachvolle Geschichte der Ausbeutung Afrikas und des afrikanischen Kontinents ist. Noch wichtiger ist, daß weiße Amerikaner und Europäer sich mitschuldig an den Missetaten weißer Südafrikaner fühlen und dafür Wiedergutmachung leisten wollen symbolisch, versteht sich. Sie haben kein Schuldgefühl, wenn schwarze Afrikaner einander töten. Aber Südafrikaner sollten die Pointe daran begreifen œ beruht nicht schließlich ihr gesamtes Regierungssystem auf der Lehre rassischer Solidarität? GESCHICHTE Die erste europäische Kolonie in Südafrika wurde von der Holländischen Ostindien-Kompagnie 1652 in Kapstadt errichtet. Es war eine unbedeutende Proviantstation auf der Strecke nach Indien; bei günstigem Wind segelten die Flotten am Kap vorbei, ohne vor Anker zu gehen. 150 Jahre war die Kolonie klein und abgeschieden, vergessen von der holländischen Regierung, mühsam fristete sie ihr Dasein am Rand eines wüsten und unerforschten Kontinents. Als die Briten sie während der Napoleonischen Kriege besetzten, protestierten die Holländer kaum œ sie waren zu sehr mit der Rückgewinnung ihrer Kolonie in Java beschäftigt. Sieht man von einem Schub Hugenottenflüchtlinge ab, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts den Verfolgungen durch Ludwig XIV. -150-
entkommen wollten, gab es kaum Einwanderer. In ihrer Abgeschiedenheit bewahrten und verfestigten die Siedler ihren calvinistischen Glauben. Sie waren intolerante Fundamentalisten, die vom 17. bis zum 19. Jahrhundert keine sozialen oder theologischen Alternativen kennenlernten; bei einigen wenigen hat sich dieses verhärtete Weltbild unverändert und ohne jeden Zweifel daran bis tief ins 20. Jahrhundert erhalten. Sie bewahrten auch ihre Sprache: Sie heißt jetzt zwar Afrikaans, aber heutige Niederländer oder Flamen verstehen sie mühelos. Sie nannten sich selbst Afrikaaner, so wie die Engländer in Nordamerika sich Amerikaner nannten. Sie waren nicht länger Europäer, sondern genau so Afrikaner wie die Bantu-Stämme, die ungefähr zur gleichen Zeit in Südafrika einwanderten. Afrikaaner und Bantu (worin Zuluund Xhosa-Stämme eingeschlossen sind) kamen beide mit den bereits ansässigen Stämmen, die von den Afrikaanern Hottentotten und Buschmänner genannt wurden, in blutigen Konflikt. Im 19. Jahrhundert wurde die Geschichte Südafrikas geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen Engländern und Afrikaanern, zwischen Weißen und Schwarzen, und zwischen Schwarzen und Schwarzen. Am Anfang des Jahrhunderts errichtete der Zulukönig Shaka, einer der mörderischsten Tyrannen der Geschichte und einer der herausragendsten Eroberer, ein Reich auf dem Gebiet des heutigen Natal und Transvaal. In 12 Jahren hat er rund eine Million Menschen getötet, ehe er selbst ermordet wurde œ eine afrikanische Leistung, die neben Dschinghis Khan und Tamerlan bestehen kann. Die Zulus verdrängten das Volk der Xhosa, die wiederum mit der kleinen weißen Kolonie am Kap aneinandergerieten. Die Rivalität zwischen Zulus und Xhosa bildet nach wie vor einen Schlüssel zu den gegenwärtigen Problemen Südafrikas. Die Briten vergrößerten die Kolonie, um sie vor den Xhosa zu schützen, und versuchten die Afrikaaner zu unterwandern, indem sie die Ansiedlung englischer Auswanderer förderten. Sie waren nicht besonders erfolgreich: Die Afrikaaner blieben in der Mehrheit und widersetzten sich der Anglisierung der Kolonie. Bis heute erzählt man sich unter den Buren Horrorgeschichten von den Greueltaten, die sich vor 160 Jahren abgespielt haben sollen œ zum Teil reine Erfindung. 1834 schafften die Briten im gesamten Empire die Sklaverei ab, und -151-
die Afrikaaner, die eingeborene Schwarze zu Sklaven gemacht und andere aus Westafrika und Indien ins Land gebracht hatten, waren empört. Sklaven waren Besitz, und es war göttliches Gesetz, daß der schwarze Mann dem weißen dient. Die entschlossensten Afrikaaner brachen zum ‡Großen Treck— auf. Sie verließen ihre Farmen in der Kap-Provinz und marschierten durch die endlose Weite, bis zu den Flüssen Oranje und Vaal. Das Land, durch das sie zogen, war durch die Massaker Shakas entvölkert. Dieser Treck ist in kleinerem Maßstab mit der ‡Go West— Aufbruchsstimmung der Amerikaner vergleichbar, aber es waren weit weniger Menschen, und die Entfernungen waren geringer. In der ersten Welle, in den dreißiger Jahren, gingen ungefähr 5.000 Menschen los, und sie legten einige hundert Kilometer zurück, verglichen mit den fast 2.500 Kilometern der amerikanischen Pioniere. Allerdings war der Treck mühevoller als der Oregon-Trail, das Land weit weniger gastlich, und die Zulus waren unvergleichlich gefährlicher als die Sioux. Zum Glück für die Buren hatten die Zulus keine Feuerwaffen, aber trotzdem gelang es den Eingeborenen unter Shakas Nachfolger, dem Zulukönig Dingaan, 700 Buren zu töten. Am 16. Dezember 1838 geriet der Treck in große Gefahr, und es kam zur Schlacht am Blood River. Eine Gruppe Siedler stellte angesichts einer gewaltigen Zuluübermacht ihre Ochsengespanne zur Wagenburg im Kreis zusammen und widerstand dem Angriff. Die Zulus stürzten sich einen ganzen Tag lang mit Todesverachtung in das Feuer der Vorderlader. 3.000 von ihnen blieben liegen, bei den Buren wurden 3 verwundet. Die Trecker errichteten in Natal eine neue Kolonie. Als die Briten auch diese annektierten, gründeten die Siedler zwei kleine Burenrepubliken, den Oranje-Freistaat und die Südafrikanische Republik (Transvaal). Die Briten dehnten mittlerweile die KapKolonie nach Osten aus und vergrößerten Natal bis hinter die Hauptstadt Durban. Diese vier Gebiete wuchsen langsam: Es gab wenige Einwanderer, keine Industrie und ständige Auseinandersetzungen mit den schwarzen Afrikanern. 1857 wurden in Kimberley Diamanten gefunden und 1887 in Witwatersrand Gold. Die Diamantfelder lagen nördlich der Kap-Kolonie und grenzten westlich an den Oranje-Freistaat, und die Briten annektierten sie prompt. Der -152-
Rand, mitten in Transvaal, stellte sich als die größte Goldmine der Welt heraus, und so wie zuvor bereits San Francisco, entwickelte sich die Goldsuchersiedlung Johannesburg rasch zu einer bedeutenden Stadt. Zehn Jahre zuvor hatten die Briten Transvaal annektiert, waren dann allerdings gezwungen, seine Unabhängigkeit nach den Gefechten, die als der erste Burenkrieg in die Geschichte eingingen, wiederherzustellen. In London gab es eine unaufhörliche Diskussion zwischen denen, die das Empire vergrößern wollten und denen, die es bereits für genügend groß hielten. Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich überall auf der Welt die Imperialisten durch, und es war für sie klar, daß die Burenrepubliken und ihre Goldfelder œ Britisch-Afrika einverleibt werden mußten. Cecil Rhodes, ein Abenteurer und Finanzmann, der die Kontrolle über die Diamantfelder erlangt hatte, hatte bereits nördlich der Burenrepubliken britische Kolonien errichtet, die er in aller Bescheidenheit Rhodesia nannte. Sein vorrangiger Plan war, die weitere Wanderung der Buren nordwärts abzuschneiden, und er hatte damit Erfolg. Südafrikas Nordgrenze verläuft heute noch so wie damals, als Cecil Rhodes sie festlegte, ‡am großen, graugrünen, schmutzigen Fluß Limpopo, dicht bestanden mit Fieberbäumen—. Das war keine kartographische Phantasterei, sondern der pure Größenwahn œ Rhodes hatte auch Pläne, die Vereinigten Staaten wieder ins Empire heimzuholen und später das Deutsche Reich einzuverleiben. Die Regierung von Königin Victoria ließ sich selbst in ihren kühnsten Träumen nicht auf diese Spinnereien ein, gestattete aber Rhodes und seinen Vertretern, in Südafrika eine Expansionspolitik zu betreiben. Die Zulus waren kein Problem mehr: 1879 massakrierten sie zwar zunächst bei Isandhlwana eine britische Armee, dann allerdings wurden sie unter Kontrolle gebracht. 1896 versuchte Rhodes, mit der Unterstützung des Kolonialministers Joseph Chamberlain, unter der großen nichtholländischen Einwohnerschaft in Johannesburg einen Aufruhr zu erzeugen. Dieser ‡Jameson Raid— war ein totales Fiasko. Drei Jahre später behaupteten die Buren œ möglicherweise zu Recht œ, daß die Briten ihre Republiken annektieren wollten und griffen an. Sie fielen am 11. Oktober 1899 in Natal und im Norden der Kap-Kolonie ein œ Frühling in Südafrika œ -153-
und belagerten Ladysbury an der Straße nach Durban, und Kimberley und Mafeking im Norden der Provinz. Rhodes wurde in Kimberley eingeschlossen, entkam mit Glanz und Gloria, starb aber 1902. Nachdem die Briten in den ersten Monaten demütigende Rückschläge erlitten, brachten sie 200.000 Mann Verstärkung nach Südafrika. Kimberley wurde im Februar 1900 entsetzt, Ladysmith Ende März œ dabei ritt Winston Churchill mit der ersten Schwadron ein œ, Mafeking am 17. Mai. Als die Nachrichten davon London erreichten, wurden öffentliche Freudenfeste gefeiert. Der Kommandeur von Mafeking, Robert Baden-Powell, kam als Volksheld nach Hause und gründete die Pfadfinder. Der Oranje-Freistaat wurde am 28. Mai annektiert, Johannesburg am 30. Mai erobert, eine Woche danach Pretoria œ wieder einmal mit Churchill an der Spitze, der sechs Monate zuvor einige Wochen in Kriegsgefangenschaft gewesen, dann aber entkommen war. Die Annexion von Transvaal wurde am 25. Oktober verkündet. Die Briten dachten, der Krieg sei zu Ende. Die Buren dachten anders und kämpften bis zum 31. Mai 1902 weiter. Sie bildeten ‡Kommandos— und begannen einen wirksamen Guerillakrieg gegen die Besatzer. Die Kommandos stießen tief in die Kap-Provinz und nach Natal vor, und ihre Generäle œ Botha, Hertzog, Smuts und De Wet œ erwiesen sich als glänzende Soldaten. Die Briten versuchten ihrer Herr zu werden, indem sie die Bevölkerung der Siedlungen in Konzentrationslager zusammentrieb. Zwischen 18.000 und 28.000 burische Zivilisten starben in diesen Lagern an Seuchen, ehe geeignete Maßnahmen ergriffen wurden. Wahrscheinlich wären ohne das Wirken einer höchst bemerkenswerten Engländerin noch viel mehr umgekommen. Emily Hobhouse besuchte die Lager und schickte Beschreibungen ihrer Erlebnisse nach Hause. In einem Brief schrieb sie von ‡krasser männlicher Ignoranz, Stupidität, Hilflosigkeit— œ was einen Sturm der Entrüstung auslöste. In einer Unterhausdebatte beschuldigte der liberale Politiker Lloyd George die Regierung, Krieg gegen Frauen und Kinder zu führen und stellte fest: ‡Es wird nie vergessen werden, daß auf solche Weise die britische Herrschaft begann, und daß sie mit dieser Methode gefestigt wurde.— So ist es. Mehr als achtzig Jahre später wirft man den Briten noch immer die Erfindung der Konzentrationslager vor. -154-
Die Buren waren von den Briten zwar niedergeworfen worden, aber es war der verlustreichste Krieg für die Briten seit den Tagen Napoleons: 5.774 britische Soldaten waren gefallen, 16.168 starben an Verletzungen oder Krankheiten. In der Relation sind das die doppelten Verluste der Amerikaner in Vietnam. Ähnlich wie die Vietnamesen hatten die Buren weit höhere Verluste: ungefähr 7.000 im Kampf Gefallene, zwischen 18.000 und 28.000 tote Zivilisten, und ihre Farmen waren zerstört. Weiters starben rund 20.000 schwarze Afrikaner. 1910 wurde die Südafrikanische Union gegründet, eine Föderation der zwei Burenstaaten und der beiden britischen Territorien. Die Föderation wurde zum Zusammenschluß der vier Staaten erklärt und in London ratifiziert. Sie war ein selbstverwaltetes Dominion, wie Kanada und Australien, und noch Generationen später rühmten sich die Briten der Großzügigkeit, mit der sie die besiegten Feinde behandelt hatten. Churchill war damals Unterstaatssekretär für die Kolonien und spielte in dieser Angelegenheit eine große Rolle. Er brachte Edward VII. dazu, den Cullinan-Diamanten anzunehmen, der ihm von Botha, nun Ministerpräsident von Transvaal, als Symbol der Loyalität der neuen Kolonie überreicht wurde. In den letzten 20 Jahren hat man von dieser britischen Großzügigkeit weniger gehört. Die Union wurde zuerst von einer Koalition zwischen Briten und pro-britischen Buren regiert, von denen Botha und Smuts die prominentesten waren. Smuts wurde später Feldmarschall und spielte in beiden Weltkriegen eine bedeutende Rolle. 1948 gelang der ‡Nasionalen Party— (NP) der konservativen Buren, die sich niemals mit den Briten abgefunden hatten, ein überraschender Wahlsieg. Seither hat die NP die Macht nicht mehr abgegeben. DIE ANDEREN SÜDAFRIKANER In den frühen Jahren der holländischen Ansiedlung am Kap, als es wesentlich mehr weiße Männer als weiße Frauen gab, nahmen sich diese düsteren Calvinisten eingeborene Frauen als Geliebte. Ihre Kinder waren weder weiß noch schwarz, und ihre Abkömmlinge sind heute die rund 3 Millionen ‡Mischlinge— Südafrikas. Sie blieben in -155-
der Kap-Provinz und sprechen Afrikaans. Von Anfang an ließen sich die weißen Siedler in Südafrika auf Kosten der Schwarzen nieder. Zuerst die Hottentotten und dann die Bantu (ein Begriff, der die meisten schwarzen Stämme im südlichen Afrika umfaßt) œ sie wurden während der Expansion der Kolonie von Kapstadt aus dem Weg gedrängt. Die weißen Farmer nahmen Sklaven und später Farmarbeiter aus den Bantustämmen, die auf den weißen Farmen in ihren eigenen Kraals lebten, aber die große Mehrheit der schwarzen Bevölkerung blieb in den Heimländern der Stämme, die allmählich von den Weißen aufgesogen wurden. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, in dem Glauben, daß die Afrikaner den regulären Arbeitsbedingungen auf den Farmen nicht gewachsen sein würden, brachten die Briten Inder zur Arbeit in Natal ins Land, und auch ihre 800.000 Abkömmlinge sind noch dort. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kam ein indischer Rechtsanwalt, um für ihre Rechte einzutreten œ sein Name war Mohandras K. Gandhi. Die Entdeckung der Diamantminen und der Goldfelder veränderte alles. Sofort wurden Tausende Arbeiter gebraucht, für die Grabungen, um Häuser zu bauen, Straßen und Eisenbahnlinien zu errichten, und weiße Geschäftsleute entdeckten schnell, daß die Bantus genausogut mit harter Arbeit zurechtkamen wie sonst jemand. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde in Südafrika ein Eisenbahnnetz errichtet, das sich im Norden bis Salisbury in SüdRhodesien und im Osten bis Lourengo Marques in PortugiesischOstafrika erstreckte. So war zur Zeit der Gründung der Union bereits die nötige Infrastruktur vorhanden, bezahlt mit Gold und errichtet mit Schwarzer Arbeit. Dieses Muster hat sich seither nicht verändert. Die Zufuhr billiger schwarzer Arbeitskraft war unerschöpflich, und damit haben die weißen Südafrikaner einen modernen Staat aufgebaut, den einzigen in Afrika. Bis zur Panik der achtziger Jahre genossen sie den höchsten Lebensstandard in der Welt (außer vielleicht dem in einigen Ölstaaten), erworben auf den Rücken schwarzer Afrikaner. Es war ein extremes Beispiel der westlichen Gesellschaftsordnung, das genau zur Marxschen Beschreibung der Arbeitsteilung paßte, allerdings mit -156-
einer Ausnahme: Die Klassenschranke war durch die Rasse definiert. Niemand konnte sie jemals überwinden. Amerikanische oder britische Arbeiter werden vielleicht von Kapitalisten ausgebeutet, aber zumindest theoretisch können sie ihren Verhältnissen entkommen. Ihre Stimmen können die Regierung verändern und gesetzliche und gesetzgeberische Erleichterungen wirtschaftlicher Unterdrückung herbeiführen. Schwarze Südafrikaner waren für immer jeder Hoffnung auf eine Veränderung ihrer persönlichen Situation beraubt. Sie waren Holzhauer und Wasserträger von der Wiege bis zum Grab œ und wenn sie sich je aufgelehnt und ihren weißen Herren den Gehorsam aufgekündigt hätten, wären sie durch die hungrigen Massen aus dem Norden ersetzt worden. Die Weißen stellen immer fest, daß der Lebensstandard der Schwarzen in Südafrika höher ist als sonstwo in Schwarzafrika, daß den schwarzen Südafrikanern ein besseres Bildungswesen offensteht als ihren Vettern im Norden und daß sie in einem weit besseren Gesundheitswesen leben. Das ist alles wahr œ aber schwarze Südafrikaner vergleichen ihre Situation nicht mit zurückgebliebenen und verarmten Völkern im fernen Norden, sondern mit den reichen und bequemen Siedlungen der Weißen in ihrem eigenen Land, Menschen, deren Komfort auf der Arbeit der Schwarzen beruht. Und auch in absoluten Zahlen sind die schwarzen Südafrikaner arm: eine Untersuchung der Carnegie Corporation fand 1984 heraus, daß ein Drittel aller Kinder der südafrikanischen Schwarzen infolge von Unterernährung im Wachstum zurückgeblieben ist, und in manchen Landdistrikten ist nahezu die Hälfte der Kinder an Tuberkulose erkrankt. Alles in allem gibt es in kaum einem Staat der Welt eine derart ungerechte Aufteilung des nationalen Wohlstandes wie in Südafrika. APARTHEID Das Wort wird im Englischen ‡aparthate" ausgesprochen, also ‡trennen und hassen—. Die Nationalpartei-Regierung, die 1948 an die Macht kam, begründete ein System der völligen Rassentrennung, unter der Herrschaft einer Reihe harter und fanatisch rassistischer -157-
Ministerpräsidenten. Englischstämmige Südafrikaner haben die Buren seither wegen dieser Trennungspolitik angegriffen, aber man muß feststellen, daß die Rassentrennung weit auf die kolonialen Anfänge Südafrikas zurückgeht. Und 30 Jahre lang nach dem Sieg der Nationalisten verliehen englischstämmige Südafrikaner ihrem Kummer über die Auswüchse der Apartheid immer wieder Ausdruck und versicherten ihren Freunden im Ausland, sie selbst seien keine Rassisten, das seien bloß die Buren œ aber sie unternahmen nichts dagegen. Sie akzeptierten die Apartheid und all die Vorteile für sie selbst ohne Protest und behandelten die Buren mit der üblichen Herablassung. Die Verfassungsurkunde der Südafrikanischen Union von 1909 war von einer britischen Regierung der Liberalen ratifiziert worden. Darin wurde das Stimmrecht der Mischlinge in der Kap-Provinz festgeschrieben. Sie hatten zwar das aktive, aber nicht das passive Wahlrecht ins Abgeordnetenhaus. Durch ein Wahlrecht, das an den Besitz gebunden ist, gelang es sogar einigen Schwarzen, das Stimmrecht zu bekommen. Aber die Urkunde war für das kommende rassistische Unrecht nur eine lächerliche Schranke, und die Briten unternahmen nichts weiter, um die Interessen der Millionen Menschen zu schützen, die sie der Herrschaft der Weißen auslieferten. 1931 verzichtete das Parlament in London im Westminster-Statut auf das Recht der Gesetzgebung für die weißen Dominien œ ein Recht, das für die älteren Dominien de facto bereits im 19. Jahrhundert aufgegeben worden war œ und schrieb auch ihre Selbständigkeit in der Wahrnehmung ihrer militärischen und außenpolitischen Interessen fest. Südafrika nützte die Gelegenheit, alle die Schwarzen, die das Stimmrecht erlangt hatten, wieder aus den Wählerlisten zu streichen. Zukünftig würden sie, bei getrennter Auszählung, weiße Abgeordnete wählen. 1951 entzog die Nationalisten-Regierung auch den Mischlingen das Stimmrecht und wies ihnen statt dessen vier weiße Repräsentanten zu, die auf einer eigenen Liste gewählt wurden. (Es war diese Verletzung der Verfassung von 1909, die die Gründung der Schwarze Schärpe-Bewegung provozierte œ Schwarz als Farbe der Trauer um die Verfassung. Mitglieder der Organisation unterstützen schwarze, ‡coloured— und asiatische Südafrikaner im Umgang mit den Apartheidsgesetzen.) Die Schwarzen in der Kap-Provinz, die schon -158-
das Recht gehabt hatten, drei weiße Abgeordnete zu wählen, verloren 1954 auch dieses Recht, und schließlich verloren 1969 auch die Mischlinge ihre letzten vier Repräsentanten im Parlament. Nach der Apartheidstheorie besteht Südafrika aus zehn getrennten schwarzen Nationen, einer weißen, einer indischen und einer der Mischlinge. Die zehn schwarzen und die eine weiße Nation haben jede ihr eigenes Land œ das weiße Südafrika umfaßte natürlich mehr als 80 Prozent des gesamten Staatsgebietes, einschließlich aller guten Anbaugebiete, der Bergwerke und der Städte. Denjenigen Schwarzen, die zufällig in weißen Gebieten lebten, wurde gestattet, weiter dort zu bleiben, aber sie waren nur geduldet, ohne Rechtsansprüche. In der Praxis waren sie eher Gastarbeiter, wie die Algerier in Frankreich oder die Türken in der Bundesrepublik. Aufgrund der Paßgesetze mußten sie Pässe tragen, um die weißen Gebiete zur Arbeit betreten zu dürfen, und solange sie dort waren, wurden sie streng von den Weißen abgegrenzt. 1953 wurde schließlich der ‡Reservation of Separate Amenities Act— erlassen, und durch diese Rassentrennungsgesetze mußten die Schwarzen in getrennten Läden einkaufen, an getrennten Stranden baden, in getrennte Kinos gehen, sogar in Autokinos wurden sie separiert. Weiße Taxilenker nahmen keine schwarzen Passagiere auf und umgekehrt. Die Parkbänke waren getrennt, und in Amtsgebäuden gab es getrennte Lifte für Weiße und Schwarze. Auch der öffentliche Verkehr wurde getrennt. In einem Extremfall ging das sogar so weit, daß in Johannesburg eine komplette U-Bahn-Linie errichtet wurde, um die Schwarzen zu ihren Arbeitsplätzen und wieder zurück zu ihren Behausungen in Townships zu bringen. Eine riesige Bürokratie wurde errichtet, um das System aufrechtzuerhalten, und eine der wesentlichsten Sorgen war, festzulegen, wer ist weiß und wer nicht. Der ‡Population Registration Act— von 1950 legte fest: ‡Ein Weißer ist ein Mensch, der in seinem Erscheinungsbild eindeutig ein Weißer ist oder als solcher anerkannt wird, das schließt nicht alle jene ein, die in ihrem Erscheinungsbild eindeutig weiß sind, aber als Mischlinge anerkannt sind.— Die Einhaltung dieses Gesetzes wurde zum Ursprung unendlich vieler Leiden. Die Menschen wurden verpflichtet, ihre rassische Herkunft zu beweisen, und manchmal wurden Mitglieder derselben Familie als Angehörige verschiedener Rassen eingestuft. Mischehen wurden 1949 -159-
für illegal erklärt, und sexuelle Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen ab 1950 als Verbrechen bestraft. Der Staat brauchte nicht noch mehr Mischlinge. Schwarze, Inder und Mischlinge durften im weißen Südafrika weder Land besitzen noch pachten, nach den Bestimmungen des ‡Group Areas Act— von 1950 und des ‡Resettlement of Natives Act— von 1954. Die Kapmischlinge, die seit 300 Jahren rund um Kapstadt gelebt hatten, wurden aus den weißen Nachbarschaften abgesiedelt: 70.000 von ihnen wurden aus dem Distrikt 6, wo sie seit Generationen gelebt hatten, hinausgeworfen. Der Distrikt blieb vierzig Jahre lang leer. Aus Angst vor späterer Rache mochte sich dort niemand niederlassen, bis de Klerk das Gebiet 1989 zur freien Zone erklärte. Für die Behandlung der Schwarzen entwickelten die Bergwerke das ‡ideale— System. Junge Männer aus den Homelands (siehe dort) oder aus schwarzafrikanischen Staaten des Nordens wurden in Schlafsiedlungen für ein oder zwei Jahre untergebracht, und dann wurden sie nach Hause geschickt. Sie waren quasi Durchreisende, und natürlich kümmerten sich weder die Bergwerksunternehmen noch der Staat um Pensionen oder Unterstützungen für ihre Familien. Die Löhne der schwarzen Arbeiter blieben Jahrzehnte gleich. Der Führer des liberalen Südafrika, Harry Oppenheimer, Vorsitzender der AngloAmerican Corporation, wachte über dieses System skrupelloser Ausbeutung, das in den zivilisierten Staaten der Welt ohne Parallele ist. Obwohl die Regierung ihr Bestes tat, konnte ein solches System in den Städten nie eingeführt werden. Der Bedarf an Arbeitskräften war einfach zu groß. Johannesburg könnte ohne Hunderttausende schwarze Arbeiter nicht funktionieren œ nicht so sehr die Hausangestellten, obwohl das ein riesiges Gewerbe ist, sondern vielmehr die Heerscharen unausgebildeter und angelernter Arbeiter, die eine moderne Gesellschaft braucht. Die Regierung mußte ihnen das Bleiben gestatten und ihre Townships anerkennen, ungeachtet der Tatsache, daß sie theoretisch zeitlich begrenzt sind und ihre Einwohner Bürger der Homelands waren. Die größte Township im Südwesten von Johannesburg bekam den afrikanisch klingenden Namen Soweto. Soweto hat jetzt über 1 Million Einwohner, vielleicht schon 2 Millionen. Niemand weiß -160-
Genaueres, da viele der Einwohner dort illegal leben. Soweto ist möglicherweise größer als Johannesburg, vielleicht also die größte Stadt Südafrikas. Die Schwarzen, die in Johannesburg selbst lebten, wurden systematisch hinausgedrängt. Aus Sophiatown wurden 60.000 vertrieben und in Townships gesteckt. Auf dem Gebiet wurde eine neue weiße Siedlung errichtet und einfühlsamerweise ‡Triumph— genannt. Die Schätzungen, wieviele Menschen zwischen 1960 und 1970 umgesiedelt wurden, schwanken zwischen 600.000 und 3,5 Millionen. Die Diskrepanz rührt daher, daß die meisten Schwarzen und Mischlinge, die aus ‡weißen— Gebieten abgesiedelt wurden, vorher ‡illegal— waren und daher offiziell nicht existierten. Die Regierung errichtete seit 1963 zehn den Stämmen zugeordnete Homelands, einfach ‡Bantustans— genannt. Sie umfassen 13,7 Prozent der Landesfläche. Vier von ihnen bestehen aus einem in sich geschlossenen Gebiet, die anderen sind zersplittert. So besteht beispielsweise Kwa-Zulu aus acht nicht zusammenhängenden Teilen. Vier der zehn Homelands wurden für unabhängig erklärt (allerdings ist kein einziges von irgendeinem anderen Staat der Welt anerkannt als Südafrika und den anderen drei Homelands). Transkei wurde 1976 gegründet, Bophuthatswana 1977, Venda 1979, Ciskei 1981. Die anderen sechs genießen innere Autonomie, haben aber die ‡Ehre— der Unabhängigkeit abgelehnt. Drei unabhängige Staaten im südlichen Afrika haben starke Merkmale von Homelands. Sie waren früher britische Protektoratsgebiete, die niemals an Südafrika abgetreten wurden. Lesotho (früher Basutoland) ist völlig von südafrikanischem Territorium umgeben; das Königreich Swasiland liegt zwischen Südafrika und Mosambik; und schließlich Botswana (früher Betschuanaland) im Nordwesten. Botswana ist die einzige Demokratie in Afrika und das eigenständigste der drei ehemaligen Protektorate. Das Land hat beachtliche Bodenschätze und ist ökonomisch nicht völlig abhängig von Südafrika œ im Gegensatz zu den beiden anderen Staaten und allen zehn Homelands. Südafrika hätte Namibia gern zu einem weiteren Bantustan gemacht. Die vier ‡unabhängigen— Bantustans sind Parodien wirklicher Staaten. Die Transkei, ein Xhosa-Land, ist so korrupt und tyrannisch wie irgendeine andere afrikanische Diktatur. 1987 gab es dort zwei -161-
Armeeputsche. Transkei hat bereits einmal einen richtigen Krieg gegen ein anderes Bantustan geführt, gegen die Ciskei. Eine Gruppe weißer Söldner von der Transkei wurde nach Ciskei geschickt, um in ein Gefängnis einzudringen und den Bruder des Präsidenten der Ciskei herauszuholen. Im Februar 1988 griff die südafrikanische Armee in Bophuthatswana ein und verhinderte einen Militärputsch. Im März 1990 kam es in der Ciskei zu einem Militärputsch, in Bophuthatswana zu blutigen Massenprotesten, und auch in Venda war die Lage angespannt. Vieles deutet daraufhin, daß die Bewohner der Homelands die völlige Integration in ein einheitliches Südafrika fordern. Eine der Exklaven von Bophuthatswana, rund 100 Kilometer nördlich von Johannesburg, ist zu großem Wohlstand gelangt. Dort wurde Sun City errichtet, eine Art südafrikanisches Las Vegas in bequemer Reichweite der weißen Großstadt, frei von allen calvinistischen Beschränkungen, die in Südafrika gelten. DIE AFRIKAANER Das übliche Bild der Afrikaaner in der Welt wird beherrscht von den lautstarken Nazi-Gruppierungen, deren Milizen braune Hemden tragen und schwarzrote Flaggen schwenken, deren Emblem dem Hakenkreuz sehr ähnlich sieht. Aber die Wahrheit ist viel komplizierter. Die Mehrheit der Afrikaaner mag nach liberalem amerikanischem und europäischem Verständnis tatsächlich Rassisten sein, aber es gibt nicht mehr einen soliden, burischen Monolith. Präsident Pieter W. Botha hat den Rückzug von den meisten Prinzipien der Apartheid eingeleitet œ dafür wurde er auch von den Extremisten in seiner eigenen Partei scharf angegriffen œ, und viele der Reformer Südafrikas sind Afrikaaner. Sie haben früher einmal die Bezeichnung Buren angenommen, weil sie genau das waren œ Bauern. Sie waren calvinistische Bauern der reaktionärsten Art: Paul Kruger, ihr so wichtiger Führer im 19. Jahrhundert, behauptete, davon überzeugt zu sein, daß die Erde eine Scheibe sei. Vielleicht war dies aber auch nur ein Scherz, um die Briten zu ärgern. Heute sind die Buren genauso gut ausgebildet und weltoffen wie die englischsprachigen Südafrikaner und in -162-
Managementetagen und Universitäten genauso vertreten. Es gibt eine lebendige Afrikaaner-Literatur, und die Regierung kann nicht mehr länger der uneingeschränkten Unterstützung der Buren-Zeitungen sicher sein. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Ein halbes Jahrhundert nach dem Burenkrieg tobte zwischen den Afrikaanern eine erbitterte Auseinandersetzung, zwischen denjenigen, die mit den Briten zusammenarbeiten wollten und Krone und Commonwealth akzeptierten, und denen, die die burische Unabhängigkeit forderten. In beiden Weltkriegen traten extremistische Buren auf die Seite der Deutschen, allerdings nicht wegen des Rassismus, sondern nach dem Grundsatz ‡der Feind meiner Feinde ist mein Freund—. Der spätere Ministerpräsident John Vorster war während des Zweiten Weltkriegs wegen seiner Pro-Nazi-Aktivitäten interniert. Die ‡liberalen— Afrikaaner, angeführt von Botha und Smuts, die das Land von 1910 bis 1948 lenkten (unter Einschluß der ‡nationalistischen— Oppositionspartei unter J. B. M. Hertzog), stimmten in einem Punkt immer mit den Extremisten überein: Südafrika war ein Land des weißen Mannes. In ihren Auseinandersetzungen ging es um die Frage der Beziehungen zu den Briten und darum, wie weit die Schwarzen an der Wirtschaft teilhaben dürften. Als die neue Nationale Partei unter D. F. Malan die Wahlen von 1948 gewann, zeigte sie sich auch bald nachgiebig im Umgang mit den Briten. Die englischsprachigen Südafrikaner waren ein wesentlicher Anteil des weißen Südafrika, und englischsprachige Großstädte beherrschten das Land. Darüber hinaus hätte eine ausgesprochen Britenfeindliche Politik, auch wenn sie von den Überlebenden der Burenkriege und ihren Nachfahren gerne gesehen worden wäre, amerikanische und britische Investoren abgeschreckt, deren freundliche Haltung für das Land lebenswichtig war. Das Problem löste sich von selbst. Die englischsprachigen Südafrikaner akzeptierten die neuen Bestimmungen ohne weiteres, aber der Commonwealth machte bald klar, daß er Südafrika nicht länger tolerieren konnte. Das Jahr dieser Krise war 1960, das Jahr der Unabhängigkeit des Kongo und seiner Katastrophen. Am 2. Februar beschloß der britische Premierminister Harold -163-
Macmillan eine Reise durch Afrika mit einem Besuch in Pretoria, wo er eine bemerkenswerte Rede vor dem Parlament hielt. Er stellte fest, daß ein ‡Wind der Veränderung— über den Kontinent brause; alle Kolonien nördlich von Südafrika würden bald unabhängige Staaten werden, und auch auf dieses Land kämen schwere Zeiten zu. Die Ansprache wurde übel aufgenommen. Die Südafrikaner lieben keine Belehrungen von Ausländern, und schon gar nicht, wenn die Ausländer ihnen unbequeme Wahrheiten sagen. Schließlich wurden am 20. März 1960 69 Schwarze beim Massaker von Sharpeville getötet (siehe dort). Die Wirtschaft brach kurzfristig zusammen, und zum ersten Mal erlebte Südafrika die ernsten Konsequenzen ausländischer Beurteilung: Es fühlte sich belagert. Im Oktober nützte die Regierung von Hendrik Verwoerd die Gelegenheit zu einem Referendum über die zukünftige Staatsform. Diejenigen, die eine Fortführung der Monarchie unter Elizabeth II. wünschten, verloren um rund 70.000 Stimmen gegenüber den Befürwortern einer Republik œ das bei einer Gesamtstimmenzahl von 1,63 Millionen. Im März 1961 besuchte Verwoerd seine letzte CommonwealthPremierministerkonferenz in London. Der Commonwealth war nicht mehr länger ein Club des weißen Mannes, und Verwoerd wünschte für Südafrika lieber den Austritt als den Hinauswurf. Nach Maian (1948-1954) und J. C. Strijom (1954-1958) war Verwoerd der dritte Premierminister der Nationalpartei. Er war der extremste Rassist unter ihnen. Während des 2. Weltkriegs war er ein glühender Unterstützer der Nazis gewesen, und danach hatte er sich heftig gegen die jüdische Einwanderung in Südafrika gewehrt (derzeit leben in Südafrika etwa 120.000 Juden, obwohl etliche bereits Zuflucht in London, Israel und New York gesucht haben). Er war Minister für Eingeborenenfragen zu der Zeit, da verschiedene Apartheidsgesetze verabschiedet wurden. Als er nach dem Austritt aus dem Commonwealth aus London zurückkam, wurde er von den Afrikaanern wie ein Volksheld empfangen. Die Niederlage der Buren von 1902 war damit gerächt. Es ist allerdings erstaunlich, daß er auch unter den englischsprachigen Südafrikanern breite Unterstützung fand. Bei den Parlamentswahlen von 1966 gewann seine Partei 126 von 166 Sitzen. Kurz danach wurde er von einem geistesgestörten Parlamentsboten auf den Stufen der Volksvertretung ermordet. -164-
Ihm folgte Balthazar Johannes (John) Vorster, der die Politik der Aussöhnung mit den Briten fortsetzte. Das führte zur ersten Spaltung der Partei. Die beiden Fraktionen wurden bekannt als die ‡verligtes— (Vernünftigen) und die ‡verkramptes— (Engstirnigen). Der Postminister Albert Hertzog, Sohn des Burengenerales, der bis 1976 die Einführung des Fernsehens in Südafrika verhinderte, das er für dekadent und subversiv hielt, warf nun dem englischsprachigen Teil der Bevölkerung zu großen Liberalismus vor. Er gründete die ‡Hertsigte Nasional Party— (Wiederbegründete Nationalpartei, HNP), die aber keinen Wahlerfolg schaffte. Bei den Wahlen von 1977 errang Vorster 134 Mandate. 1976, zur Zeit der Aufstände in Soweto, war Vorster Ministerpräsident, und er machte die ersten zaghaften Schritte weg von der Apartheid. Er drängte auch Ian Smith von Rhodesien zu einer Lösung, da er der festen Ansicht war, daß die weißen Rhodesier am Schluß unterliegen müßten, und eröffnete den Dialog mit verschiedenen schwarzen Staaten, vor allem Malawi und Zaire. Vorsters Karriere nahm 1978 ein abruptes Ende: Es kam zu einem Skandal, in dem es unter anderem um Geheimdienstmittel ging, und Vorster folgte Pieter Willem Botha. DER WIND DER VERÄNDERUNG Bis tief in die fünfziger Jahre konnten die weißen Südafrikaner ihre inneren Angelegenheiten ohne große Kritik und Einmischung von außen und ohne nennenswerte und durchsetzungsfähige schwarze Opposition behandeln. Während der Friedensverhandlungen in Paris 1919 verabsäumte Smuts, Wilson und Lloyd George zu drängen, ihm die Annexion von Deutsch-Südwestafrika zu gestatten (siehe NAMIBIA) und mußte sich mit einem Treuhandmandat des Völkerbunds begnügen. Er versäumte auch, von Großbritannien die Abtretung der drei Hochkommissariatsgebiete Basutoland, Betschuanaland und Swasiland an Südafrika zu fordern und die weißen Siedler in Süd-Rhodesien zum Eintritt in die Südafrikanische Union zu drängen, aber sonst war Südafrikas Diplomatie immer erfolgreich. Es war eines der sieben Länder, die Deutschland 1939 den Krieg erklärten, ohne angegriffen zu sein, und war Gründungsmitglied -165-
der Vereinten Nationen. Ab 1960 fegte der Wind der Veränderung über Afrika. BritischWestafrika œ einschließlich Nigeria œ wurde von den Briten seit den fünfziger Jahren auf die Unabhängigkeit vorbereitet. Nach der Machtübernahme de Gaulles in Frankreich 1958 wurde allen französischen Besitzungen in Afrika œ außer Algerien und Dschibuti œ eine Regierung und bald darauf die volle Unabhängigkeit gegeben. 1960, während Nigeria unabhängig wurde, brachten die Aufstände in Belgisch-Kongo die Belgier zum abrupten Rückzug aus den Kolonien Kongo und Rwanda-Urundi (siehe BURUNDI und RWANDA). Die Briten erkannten, daß ihre Kolonien in Ost- und Zentralafrika unvermeidlich weit schneller diesen Bewegungen folgen würden als ursprünglich angenommen. Dieser rasche Rückzug der europäischen Mächte hatte zwei Gründe: Einerseits drängten die Afrikaner darauf, anderseits hatten die Europäer sich vom imperialistischen Denken gelöst. Die große Mehrheit der britischen und französischen Bevölkerung wollte kein Imperium mehr. Es gab natürlich wie immer einige hartnäckige Verfechter, aber die grundsätzlichen Entscheidungen zum Rückzug aus Afrika wurden von den konservativen Regierungen in Großbritannien und von General de Gaulle in Frankreich getroffen. Auch in Europa wehte der Wind der Veränderung. Die Portugiesen widerstanden bis 1975. und die 220.000 weißen Siedler in Süd-Rhodesien überraschten die Welt 1965, indem sie ihre Unabhängigkeit ausriefen und sich zu ihrem unbeugsamen Glauben an die weiße Vorherrschaft bekannten, Ian Smith wählte den Waffenstillstandstag, den 11. November, für seine einseitige Erklärung der Unabhängigkeit. Dadurch wollte er die Welt daran erinnern, daß Rhodesier in beiden Weltkriegen für die Sache der Freiheit gefochten hatten (Smith selber war als Jagdflieger der britischen Luftwaffe schwer verwundet worden). Er zitierte auch ausgiebig aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, ließ allerdings sorgfältig den Absatz aus, in dem dort die Gleichheit aller Menschen verkündet wird. Großbritannien organisierte eine Blockade Rhodesiens, verhängte Sanktionen und schickte sogar die Kriegsmarine los, um den -166-
Indischen Ozean zu patrouillieren und dafür zu sorgen, daß kein Öl für Rhodesien in die Hafenstadt Beira in Mosambik gelangte. Die Rhodesier, unterstützt von Südafrika, widersetzten sich all diesen Maßnahmen erfolgreich. So lange Pretoria die Lieferung von Erdöl und anderen Versorgungsgütern zuließ, konnte Rhodesien Sanktionen überstehen. Es gab in Rhodesien zwei Guerillabewegungen: die ‡Zimbabwe African National Union— (ZANU), getragen vom Shona-Stamm im Norden und Osten des Landes, geführt von Robert Mugabe; und die ‡Zimbabwe African People‘s Union— (ZAPU), angeführt von Joshua Nkomo, die sich hauptsächlich aus den Matabele im Südwesten des Landes rekrutierte. Sie bauten unbeirrbar ihre Streitkräfte auf, ausgerüstet und unterstützt von Tansania und Sambia, die wiederum von der Sowjetunion und China Hilfe erhielten. Die Rhodesier setzten sich zur Wehr, aber nach Mosambiks Unabhängigkeit, die den Guerillas den Kampf im Osten Rhodesiens ermöglichte, wurde es offensichtlich, daß sie auf verlorenem Posten standen. Südafrika befürwortete eine Einigung, die 1980 in London erzielt wurde, und aus Rhodesien wurde Simbabwe. Seither haben schwarze Afrikaner prophezeit und weiße Südafrikaner gefürchtet, daß die Geschichte des Falles von Rhodesien sich als das Vorbild für Südafrika herausstellen würde. DER ‡AFRICAN NATIONAL CONGRESS— Alle diese Ereignisse in der Außenwelt fanden in Südafrika ernsthaften Widerhall, aber die wahre Herausforderung der weißen Vorherrschaft kam aus dem Land selbst. Es war dasselbe Phänomen wie überall in Afrika: Die Afrikaner hatten den Kolonialismus niemals gerne akzeptiert, und sobald sie erkannten, daß er nicht die naturgegebene Ordnung der Dinge war œ oder nicht mehr länger œ forderten sie sein Ende. Da war Südafrika bereits zu einer wichtigen Industriemacht geworden, der wirtschaftliche Motor für alle Staaten des südlichen Afrika. Während des Zweiten Weltkrieges zogen Hunderttausende Afrikaner in die Städte, wo sie in der riesigen Kriegsindustrie Arbeit fanden, und noch mehr strömten während der folgenden Jahre der -167-
Prosperität dorthin. Südafrika war eines der wenigen glücklichen Länder, die nicht nur als Sieger, sondern auch als Gewinner aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen, wie die USA und Kanada. Sein Wohlstand beruhte auf der Arbeit schwarzer ungelernter und wenig ausgebildeter Arbeitskräfte, aber als moderne Industrienation brauchte das Und qualifizierte Arbeiter. Nun erntete es die Früchte der seit vielen Jahren für die Schwarzen gegründeten Schulen und Colleges. Im Vergleich mit den Schulen für die Weißen waren sie immer noch armselig und rückständig und unzureichend für die Herausforderungen der Zeit, aber im Vergleich zu dem Bildungssystem der Staaten nördlich Südafrikas waren sie weit überlegen. Südafrika war für intelligente und ehrgeizige Studenten aus anderen afrikanischen Ländern das wahre Mekka. So war 1920 ein ehrgeiziger Junge aus Nyasaland, Hastings Banda, nach Südafrika gegangen, um sich eine Ausbildung zu verschaffen. Später wurde er Präsident von Malawi. Die selben Schulen brachten die zukünftigen Führer des schwarzen Südafrika hervor. Von Anfang an waren dort jene, die sich gegen die weiße Vorherrschaft aufgelehnt und ihre Rechte gefordert hatten, und als in den fünfziger Jahren Verwoerd die Apartheid zu einem ausgeklügelten System der Unterdrückung ausbaute, bildete sich unter den Schwarzen die erste ernstzunehmende Oppositionsbewegung. Der ‡African National Congress— (ANC) war 1912 gegründet worden und fünfzig Jahre der führende Vertreter des schwarzen Fortschritts. In den fünfziger Jahren war sein Vorsitzender Häuptling Albert Luthuli, der die afrikanische Forderung nach friedlichem Wechsel auf christlicher Grundlage verkörperte. In seiner Autobiographie schrieb er: ‡Gottes Wille, heilig und unfehlbar, geschehe in Südafrika, dem geliebten Land, dessen Kinder wir alle sind.— Luthuli erhielt 1960 den Friedensnobelpreis, eine Auszeichnung, die genau zu jenem Zeitpunkt die Aufmerksamkeit der Weit auf Südafrika lenkte, als die Katastrophe im Kongo die Gefahren der Situation aufzeigte. Luthuli wurde von der Regierung ‡gebannt—, das bedeutete, daß er vom politischen Leben ausgeschlossen war und in einem abgelegenen Teil des Landes leben mußte, wo er auch starb. Da ging der ANC -168-
bereits den Weg der Militarisierung. 1955 hatte Luthuli einem Treffen präsidiert, das die FreiheitsCharta erlassen hatte. Ein anderer ANC-Führer, der daran wesentlich beteiligt war, war Nelson Mandela (geboren 1918), ein Angehöriger der Xhosa, der sich zusammen mit Oliver Tambo, dem langjährigen Vorsitzende des ANC im Exil, als Rechtsanwalt niedergelassen hatte. Mandela war dem ANC 1944 beigetreten. Er gründete seine Jugendbewegung und organisierte die ersten großen Demonstrationen 1952, was ihm drei Jahre ‡Bannung" einbrachte. Die Präambel der Freiheits-Charta hielt fest: - Wir, das Volk von Südafrika, verkünden unserem Land und der Welt: - daß Südafrika allen Menschen gehört, die darin leben, Schwarzen und Weißen, und keine Regierung kann die Herrschaft für sich beanspruchen, wenn sie nicht auf dem Willen des Volkes beruht; - daß unser Volk seiner Geburtsrechte beraubt ist, auf Land, Freiheit und Friede, durch eine Regierungsform, die auf Ungerechtigkeit und Ungleichheit beruht; - daß unser Land niemals frei und wohlhabend sein wird, bis alle unsere Völker in Brüderlichkeit leben und sich gleicher Rechte und Möglichkeiten erfreuen; - daß nur ein demokratischer Staat, begründet auf dem Willen des Volkes, allen Menschen ihr Geburtsrecht zusichern kann, ohne Unterscheidung von Hautfarbe, Rasse, Geschlecht oder Religion. 1956 wurden Mandela und 155 andere ANC-Mitglieder des Landesverrats angeklagt. Sie wurden freigesprochen; Mandela ging mit anderen in den Untergrund und gründete den militärischen Flügel des ANC, ‡Umkonto we Sizwe—, ‡Speer der Nation—. Sein Ziel war die Sabotage von Regierungseinrichtungen œ Mandela lehnte alle Angriffe auf Zivilisten ab. 1957 wurde er verhaftet und wegen Aufrufes zum Streik zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Am 8. April 1960 wurden der ANC und der Pan-African Congress als Folge des Sharpeville-Massakers und der anschließenden Unruhen verboten. Bis Februar 1990 blieb er eine illegale Organisation. Im Juni 1963 stürmte die Polizei ein geheimes ANC-Hauptquartier in Rivona, -169-
einer Vorstadt von Johannesburg, wo sie Beweismaterial fand, daß der ‡Speer der Nation— eine Welle von Sabotageakten plante. Mandela wurde abermals angeklagt, zusammen mit acht anderen œ fünf Schwarzen, zwei Weißen und einem Inder. Bis auf einen wurden alle schuldig gesprochen und zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Mandela war bis 1982 auf der Robbeninsel vor Kapstadt interniert, dann wurde er ins Pollsmoor-Gefängnis auf dem Festland überstellt. Im August 1988 verlegte man ihn nach einer schweren Tuberkuloseerkrankung in ein Spital in einem Vorort von Kapstadt, bis er im Februar 1990 freigelassen wurde. Luthuli und Mandela forderten unermüdlich die Zusammenarbeit von Schwarz und Weiß. In der Politik der Schwarzen gab es aber auch eine andere Richtung: 1959 spalteten sich radikale Mitglieder vom ANC ab und gründeten den ‡Pan African Congress— (PAC). Der PAC mißtraute allen Weißen und dachte, daß der Befreiungskampf ein ‡afrikanischer— Kampf sein müßte. Der PAC geriet später unter den Einfluß von Stephen Bikos ‡Black Consciousness—-Bewegung (‡Schwarzes Bewußtsein—), die stark von den Black Panthers in den USA geprägt war. Biko gelang es, die schwarzen Intellektuellen anzusprechen œ Lehrer, Journalisten, Publizisten œ, aber er konnte nie den ANC als den gewählten Repräsentanten der schwarzen Völker ersetzen. Biko starb 1977 in Polizeigefangenschaft. SHARPEVILLE UND DANACH Das Massaker von Sharpeville, bei dem 69 Schwarze von Sicherheitskräften erschossen wurden, ereignete sich am 21. März 1960. Es hatte eine Reihe von schwarzen Demonstrationen gegen die Paßgesetze gegeben. Eine große Menschenmenge (organisiert vom PAC) versammelte sich vor einer Polizei Station in Sharpeville, einer Township außerhalb von Vereeniging, rund 65 Kilometer südlich von Johannesburg. Im Inneren des Gebäudes waren etwa 150 Polizeibeamte. Die Demonstranten verhöhnten sie, warfen Steine und gerieten außer Kontrolle der Führung. Einer der Polizisten fiel in Panik und eröffnete das Feuer. Andere folgten seinem Beispiel. Es war kein kaltblütig geplantes Massaker, aber in der öffentlichen Meinung der Welt wie auch in Südafrika machte das kaum einen -170-
Unterschied. Es wurde als eine Kriegserklärung betrachtet. Die Panik, die unter den Weißen Südafrikas ausbrach, bedrohte die Wirtschaft ernsthaft. Die Immobilienpreise fielen; viele Menschen wanderten aus; es gab eine Massenflucht des Kapitals aus dem Land, die nur durch rigorose staatliche Devisenkontrollen gestoppt werden konnte. Der Wind der Veränderung war zu einem Hurrikan geworden. Aber allmählich beruhigte sich die Situation, und Südafrika trat in eine Periode des Wirtschaftswachstums, seine städtische ‡Erste-WeltWirtschaft— wuchs um 6 Prozent Pro Jahr. Die weiße Einwanderung nahm zu, in den siebziger Jahren weiter verstärkt durch Rhodesier, die zuerst dem Krieg und danach der schwarzen Regierung in Simbabwe entflohen. Aus diesen Spätankömmlingen rekrutieren sich heute die schärfsten Rassisten. Südafrikas ‡Dritter-Welt-Wirtschaft—, im Gegensatz dazu schwarz und ländlich, ging es bei weitem nicht so gut, aber der Gegensatz wurde durch die generelle Prosperität verschleiert. Das beruhte vor allem auf der nicht nachlassenden Nachfrage nach südafrikanischen Bodenschätzen. Als Präsident Nixon 1971 für die USA œ und damit auch für den Rest der Weit œ den Goldstandard abschaffte, schoß der Goldpreis von 35 $ pro Unze, einem Preis, der seit 1933 unverändert geblieben war, auf einen von der Inflation abhängigen Preis von 400 bis 800 Dollar pro Unze. Südafrika war der führende Goldproduzent und machte sogar noch mehr Gewinn als die Ölstaaten, da der Wert seines Hauptexportartikels um das fünfzehnbis zwanzigfache stieg. Seine Ökonomie wuchs schneller als die irgendeines anderen Staates der Welt œ außer Japan. Das Wirtschaftswachstum war für Südafrika allerdings ein zweischneidiges Schwert. Der Boom erzeugte eine nicht mehr endende Nachfrage nach Arbeitskräften, und die Schwarzen strömten in die Townships. Verwoerds Regierung unternahm ernsthafte Anstrengungen, sie fernzuhalten, aber jedesmal wenn eine Wellblechsiedlung bei Kapstadt niedergewalzt wurde, schoß einige Kilometer weiter die nächste aus dem Boden, und wenn die Behörden ihre Aufmerksamkeit dieser neuen Siedlung zuwandten, kehrten die Schwarzen in die erste zurück. Die schwarze Bevölkerung wuchs rasch an, jedes Jahr kamen Hunderttausende neue junge Arbeitsuchende ins Land. Die schwarze -171-
Bevölkerung Südafrikas (einschließlich Mischlinge und Asiaten) betrug 1952 7,5 Millionen, 1972 bereits 15 Millionen, und seit damals hat sie sich ungefähr verdoppelt. Soweto, ursprünglich für 50.000 Menschen angelegt, hatte bald zehnmal so viel Einwohner. Es ist jetzt so groß wie Johannesburg, wenn nicht größer, und andere schwarze Townships wachsen schnell. Das ganze System der Apartheid wurde von den realen Zahlen und von den Bedürfnissen der Industrie überrollt. Nur in den Goldminen blieben die alten Regeln in Kraft, da die Masse der Arbeiter aus dem Ausland kam und nach dem Ablauf ihrer Ein- oder Zweijahresverträge problemlos nach Hause geschickt werden konnte. Ais die Portugiesen 1975 und 1976 ihre afrikanischen Kolonien aufgaben, geriet Südafrika unter wachsenden Druck. Im angolanischen Bürgerkrieg erlitt Südafrika eine demütigende Niederlage, und es mußte sich mit dem Gedanken an den Fall Rhodesiens anfreunden. Und dann kamen die Aufstände in Soweto. SOWETO Vorster, von allen Seiten belagert, versuchte die Schwarzen zu besänftigen, indem er einen der radikalsten ‡verkrampte—-Führer, Andries Treurnicht, zum Minister für Bantu-Angelegenheiten ernannte (das Ressort wurde später umbenannt in ‡Zusammenarbeit und Entwicklung—), und er betraute ihn mit dem BantuBildungswesen. Zwei Jahre zuvor war ein Gesetz erlassen worden, daß in schwarzen Grundschulen Naturwissenschaften und praktische Gegenstände in englischer Sprache und Mathematik und sozialkundliche Fächer in Afrikaans unterrichtet werden sollten. Dieses Gesetz war höchst unpopulär: Die Schwarzen betrachteten Afrikaans als die Sprache der Unterdrückung, und außerdem gab es nicht genügend Lehrer, die in dieser Sprache unterrichten konnten. Treurnicht bestand auf der Einhaltung der Bestimmungen, ungeachtet zahlreicher Warnungen von verschiedenen Seiten, auch seiner eigenen Beamten. Seine Antwort auf die Verweigerung des Unterrichts in Afrikaans war, daß die schwarzen Kinder in die Homelands ausgewiesen werden konnten. Nachdem die Weißen für die Erziehung der Schwarzen bezahlten, sei es ihr Recht, über die Lehrinhalte und -172-
die Unterrichtssprache zu entscheiden. Es gab in vielen Schulen Protestversammlungen, und am 16. Juni 1976 kam es zu einer großen Demonstration schwarzer Schulkinder in Soweto. Die Demonstranten waren aggressiv und bewarfen Polizeibeamte mit Steinen. Am Vormittag standen 5.000 bis 6.000 Demonstranten 48 Polizisten gegenüber œ davon 40 Schwarze. Der kommandierende Polizeioberst befahl den Demonstranten auseinanderzugehen solche Menschenansammlungen waren gesetzwidrig. Die Menge antwortete mit Steinwürfen. Die Polizisten wurden eingekreist und schwebten sicherlich in Gefahr. Es kam zu einer Schießerei, zwei Schüler wurden getötet und 11 verwundet. Daraufhin brach in ganz Soweto der Aufruhr los. Am 16. Juni starben in Soweto 15 Menschen, weitere 247 zwischen dem darauffolgenden Tag und Ende Februar 1978, bis sich die Unruhen endlich legten. Es gab Aufstände in ganz Südafrika, außer in Durban, wo die Zulus Ruhe bewahrten. Insgesamt starben 495 Schwarze, 75 Mischlinge, 5 Weiße und ein Inder. Zwei Jahre später wurde Vorster als Premierminister von P. W. Botha abgelöst, der den vorsichtigen Reformprozeß fortsetzte. DIE REFORM Es gibt eine Menge weißer Südafrikaner, die Botha gerne des Landesverrats anklagen würden. Treurnicht fiel 1982 von der Nationalpartei ab und gründete die Konservative Partei, jetzt die größte Oppositionspartei in der Gesetzgebenden Versammlung. Eine noch extremere Partei, die ‡Afrikaner Weerstandsbeweging—, angeführt von Eugene Terre‘ Blanche, ist eine eindeutige Nazi-Partei. Ihre Anhänger sind erst eine kleine Minderheit unter den Buren, aber sie haben möglicherweise mehr Sympathisanten als die Meinungsumfragen ausweisen. Die Unruhen, die 1985 begannen, hatten den üblichen Effekt, einige Leute in den Extremismus zu treiben, während andere œ einschließlich der Regierung œ der Meinung sind, daß die Aufstände die Notwendigkeit der Reformen bewiesen. Bothas Reformen kamen 1987 zu einem Stillstand, nachdem die Auseinandersetzungen zeitweilig unterdrückt wurden, aber die Diskussion ging weiter. -173-
Der Qualm brennender Gebäude, das Tränengas, der Anblick der Soldaten in gepanzerten Fahrzeugen, die in den Townships patrouillieren, verstellten das Bild der Ausmaße der Reformen Bothas, zumindest für die meisten Ausländer. Es ist sinnvoll, diese Reformen festzuhalten: - Abschaffung aller Beschränkungen der SchwärzenGewerkschaften (1981). - Völlige Integration aller Sportler (1982). - Gleiche Einkommenssteuergesetze (1984). - Zulassung aller Nicht-Weißen zu den staatlichen Universitäten (1984). Diese Reform ist nicht vollständig: Die Zulassung beruht auf einer Quotenregelung. - Die Einführung gemischtrassiger Geschäftsbezirke in zuvor NurWeißen-Gebieten (1984). Es existieren weiter erhebliche Bestimmungen Nichtweißer Geschäfte. - Die Aufhebung der Gesetze, die Mischehen und Geschlechtsverkehr zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen verbieten (1985). - Das Niederlassungsrecht für ‡illegale— Schwarze, die seit ihrer Geburt oder mehr als zehn Jahre in ‡weißen— Gebieten gelebt oder gearbeitet haben (1985). Die Aufhebung des Verbotes gemischter politischer Parteien (1985). - Abschaffung aller Rassenbestimmungen beim Alkoholverkauf (1986). - Abschaffung der Kapitaleinfuhr-Kontrollgesetze (1986). - Abschaffung der Paßgesetze (1986). - Wiederherstellung der vollen südafrikanischen Bürgerrechte für Bürger der vier ‡unabhängigen— Hornelands (1986). - Ende aller Zwangsansiedlungen (1986). - Aufhebung der Gesetze gegen ‡schwarzen— Grunderwerb in Townships (1986). Diese Gesetze hatten nur eine 99-Jahres-Pacht zugelassen. - Entschärfung der Gesetze zur Kontrolle ‡nichtweißer— Ansiedlung -174-
in ‡weißen— Gebieten (1986). - Aufhebung der Rassentrennungsgesetze in Hotels und Restaurants. Kinos und Theater können die Bestimmungen auf Ansuchen aufheben. (1986). - Aufhebung der Einschränkungen des Zutritts der Schwarzen zu ‡weißen— Erholungsgebieten, wie Meeresstränden (1986). - Teilweise Aufhebung der Rassentrennung im öffentlichen Verkehr. Mit diesen Reformen fielen die meisten Apartheidsgesetze, und damit auch einige Säulen des weißen Herrschaftsgebäudes: die Aufhebung der Paßgesetze, das Ende der Behandlung der TownshipEinwohner als Ausländer, das Ende der Rücksiedelung, die Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben hatte, die Aufhebung des Verbotes gemischter Ehen und Beziehungen œ alles fundamentale Dinge. An den Universitäten studieren Schwarze, und es gibt jetzt mehr als 1,5 Millionen schwarze Gewerkschaftsmitglieder. Im Juni 1988 allerdings, unter dem Druck weißer Konservativer, trat Botha von einigen dieser Reformen wieder zurück. Eine andere wichtige Reform war die Errichtung gewählter Lokalbehörden zur Verwaltung der Townships œ Schwarze, Mischlinge und Inder. Diese Behörden waren eines der Hauptziele der Aufständischen 1985/86, wurden seither aber wiedererrichtet œ viele von ihnen nahmen gegenüber der Regierung eine Politik unversöhnlicher Feindseligkeit ein. VERFASSUNGSREFORMEN Die Unruhen 1985/86 wurden durch eine der einschneidendsten Maßnahmen Bothas ausgelöst: Durch eine Verfassungsänderung wurde Mischlingen und Indern eine Beteiligung an der Macht eingeräumt, nicht allerdings den Schwarzen. Die Reformen wurden 1984 verkündet. Das rein weiße Parlament wurde aufgelöst, statt dessen wurden drei Körperschaften eingeführt: die weiße Abgeordnetenkammer (House of Assembly) mit 178 Mitgliedern, davon werden 166 direkt von der weißen Bevölkerung gewählt; die Repräsentantenkammer (House of Representatives) œ von ihren 85 -175-
Mitgliedern werden 80 von den Mischlingen direkt gewählt; und die Delegiertenkammer (House of Delegates), von deren 45 Mitgliedern die indische Bevölkerung 40 direkt wählt, jede der drei Kammern sollte ausschließlich für die ‡eigenen— Angelegenheiten ihrer Wähler verantwortlich sein œ eine umstrittene Formulierung, die aber Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen einbezieht. Jede Kammer wählt einen Ministerrat, um diese Angelegenheiten zu überwachen. ‡Gemeinsame— Angelegenheiten Verteidigung, außenpolitische Beziehungen und Sicherheitsbelange œ werden von gemeinsamen Komitees der drei Kammern wahrgenommen. Dank der Verhältniszahl 4:2:1 werden die Weißen in diesem System immer die Mehrheit haben. Darüber hinaus wurde für den Staatspräsidenten mit der Funktion des ‡Executive State President— ein neues Amt geschaffen. Der Präsident wird von den drei Kammern gewählt - das bedeutet, daß er von den Weißen gewählt wird. Botha übernahm dieses Amt, das aufgrund der Tatsache, weit weniger der gesetzgebenden Kontrolle unterworfen zu sein, bedeutend mehr Macht verleiht als das Amt des Premierministers nach der alten Verfassung. Unter anderem definiert der Präsident, was ‡eigene— und was ‡allgemeine— Angelegenheiten sind und bestimmt dadurch effektiv, welche Macht die drei Kammern haben. Kein Beschluß wird ohne seine Zustimmung Gesetz, und die Kammern der Mischlinge und Asiaten sind nicht wirklich unabhängig. Neu eingerichtet wurde auch der sechzigköpfige Präsidialrat œ ebenfalls nach dem Schlüssel 4:2:1 œ , ein Gremium zur Schlichtung aller Streitigkeiten, die von keiner anderen Stelle gelöst werden können. Theoretisch sollten die drei Kammern ihre Entscheidungen im Konsens finden, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Die neue Verfassung wurde am 2. November 1983 œ nur für Weiße œ zur Abstimmung gebracht. Die konservativen Buren waren ebenso heftig dagegen wie die Liberalen und die große Mehrheit der Mischlinge und Asiaten, deren Situation die Reform eigentlich hätte verbessern sollen. Die Konservativen lehnten grundsätzlich jedes Entgegenkommen ab, und die Liberalen wandten sich gegen die Fortsetzung der Unterjochung der Menschen nichteuropäischer Abstammung. Die Inder wiederum wehrten sich verbissen gegen das -176-
neue Verfassungsmodell, da sie fürchteten, daß es den Indern in Südafrika auf Dauer großen Schaden zufügen würde, Seite an Seite mit den Weißen gegen die Schwarzen zu stehen. Die Regierung bestand darauf, daß die Verfassung einerseits die weiße Vormacht bewahren, anderseits Reformen einleiten sollte. Das Votum ergab schließlich 65,95 Prozent Pro-Stimmen und 35,53 Prozent Contra. 0,52 Prozent der Stimmen waren ungültig. Die Regierung schlug für die Mischlinge und Asiaten keine Abstimmung vor, da sie wußte, daß solch ein Vorschlag abgelehnt würde. So wurde die Auseinandersetzung bei den folgenden Parlamentswahlen ausgetragen. Die Regierung wandte jedes mögliche Druckmittel an, die Leute zur Wahl zu bewegen, während die Führer der Mischlinge, Asiaten und liberalen Weißen zum Boykott aufriefen. Es gab keine Einheitsfront. Die Labour Party, die führende politische Partei der Mischlinge unter der Führung von Reverend Allan Hendrickse, nahm Botha beim Wort. Hendrickse war kein leichtes Opfer für die Regierung œ seine Kirche war aufgrund des Group Area Acts zerstört worden, da sie (seit fünfzig Jahren) in einem Bezirk gestanden hatte, der für die Weißen bestimmt war, und er war für seine Opposition gegen die Apartheid, die er sein ganzes Leben lang vertreten hatte, auch ins Gefängnis geworfen worden. Aber diesmal war er der Meinung, daß die Regierung den richtigen Kurs einschlug. Seine Entscheidung führte zu wilden Auseinandersetzungen mit anderen Mischlings-Führern, von denen der prominenteste Allan Boesak war, der Präsident der ‡World Alliance of Reformed Churches". Dieser vertrat die Auffassung, daß die Mischlinge sich dem Kampf der Schwarzen anschließen und daher das allgemeine Wahlrecht für ganz Südafrika fordern müßten. Die Mischlinge wählten am 22. August 1984, die Inder eine Woche später. Am wirksamsten war der Boykottaufruf in der Kap-Provinz, wo die große Mehrheit der Mischlinge lebt. Insgesamt gingen 31,7 Prozent der wahlberechtigten Mischlinge und 21 Prozent der Inder zur Wahl, genug für Botha, um sich als Sieger zu fühlen. Die Opposition wies darauf hin, daß nur zwei Drittel der Mischlinge und Inder eingetragen waren, so daß die Beteiligung in Wahrheit weniger als 20 Prozent betragen habe. Hendrickse wurde Führer der Delegierten der Mischlinge. -177-
DIE AUFSTÄNDE In den frühen achtziger Jahren waren die Unruhen in den Townships immer mehr angewachsen, und die landesweite Debatte über die Parlamentswahlen beschleunigte diesen Prozeß noch mehr. 1983 fanden an schwarzen Schulen wiederholt Demonstrationen gegen die ungleichen Möglichkeiten statt. Im Februar 1984 gab es den ersten Toten: Als Polizeikräfte eine Schülerdemonstration in einer Schule in der Township Atteridgeville bei Pretoria auflösten, geriet in dem Getümmel eine fünfzehnjährige Schülerin unter die Räder eines Polizei-Land Rovers und starb. In den folgenden Monaten wurden die Kämpfe zwischen Polizisten und Schülern immer häufiger und heftiger. Die Schüler hatten wesentlichen Anteil an der BoykottKampagne für die Mischlings-Wahlen, und als sie doch für August angesetzt worden waren, gab es eine richtige Einschüchterungskampagne, um die Menschen von der Wahlteilnahme abzuhalten. Am 3. September 1984 kam es in Sharpeville zu einem zwölfstündigen Aufstand. Dabei starben vierzehn Menschen, darunter einige Schwarze, die von Aufständischen der Kollaboration mit der Regierung beschuldigt und verbrannt wurden. Geschäfte indischer Besitzer wurden geplündert, ihre Häuser angezündet. Am nächsten Tag gingen die Unruhen weiter und breiteten sich im ganzen Land aus. Es war ein langer, heißer Sommer, und bald mußte Militär eingesetzt werden, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Als die Regierung am 20. Juli 1985 den Ausnahmezustand verhängte, waren bereits mehr als 600 Menschen ums Leben gekommen. Der Ausnahmezustand wurde Ende des Jahres wieder aufgehoben, im Juni 1986 aber erneut verhängt und in den Jahren 1987, 1988 und 1989 verlängert. Zwischen September 1985 und Ende 1986, als die Unruhen endlich abflauten, wurden insgesamt 2.291 Menschen getötet. Die Hälfte von ihnen waren schwarze ‡Kollaborateure—, die von anderen Schwarzen getötet wurden. ‡Necklacing— wurde zu einer beliebten Methode: dieses Halsband war ein benzingefüllter Autoreifen, der dem Opfer umgelegt und angezündet wurde. Winnie Mandela, die Frau des ANC-Führers, distanzierte sich aufs schärfste -178-
von dieser Barbarei. DIE SCHWARZE OPPOSITION Die Zulu sind mit 7 Millionen Angehörigen der größte Stamm in Südafrika, und wie auch immer die Zukunft des Landes aussehen mag œ die Zulu werden sicherlich eine wichtige Rolle spielen. Es gibt zwei Zulu-Fraktionen: Die Inkatha, die traditionelle Partei unter Häuptling Mangosuthu Gatsha Buthelezi, Chefminister von KwaZulu, dem ZuluHomeland; und den Natal-Flügel der ‡United Democratic Front—. Die landesweite UDF wurde von Reverend Allan Boesak gegründet, in Natal ist sie aber hauptsächlich eine oppositionelle Zulu-Organisation, die sich auf die Städte stützt. Buthelezi hat einen Plan für die Zukunft von Natal erstellt, demzufolge die politische Kontrolle auf die Schwarzen (das heißt, auf ihn) übergehen, den Weißen aber ein Vetorecht in Belangen wie Eigentumsrecht, Erziehung und Sprache bleiben sollte. Viele Weiße sehen diese Vorschläge als einen möglichen Weg aus der verfahrenen Situation des Landes an. Die UDF beschuldigt Buthelezi, sich der Regierung anzubiedern. Sie lehnt alle besonderen Bedingungen für die Weißen ab und fordert unverzüglich die Herrschaft der Mehrheit. In diesem Streit zwischen Inkatha und UDF geht es weniger um die Beziehungen zu den Weißen, als vielmehr um den direkten Machtkampf zwischen den Zulus. Hunderte Menschen œ im November und Dezember 1987 waren es mehr als 200 wurden in bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in den Townships um Durban und Pietermaritzburg getötet, und da die UDF mit dem ANC eng verbündet ist, sind diese Kämpfe für das ganze Land von Bedeutung. 1987 und 1988 schien die Inkatha den Kampf zu verlieren, vor allem da sie als Unterstützer der weißen Regierung galt. Aber es gelang Buthelezi, einiges an Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen, indem er sich weigerte, an den von Präsident Botha einberufenen Verfassungsverhandlungen teilzunehmen, solange Mandela und andere ANC-Führer ausgeschlossen seien. Die Opposition zum Apartheidsystem hat viele Erscheinungsformen. Die 1983 von Alla Boesak gegründete UDF ist eine Allianz von über 400 Organisationen mit insgesamt mehr als 2,5 -179-
Millionen Menschen. Ihr Ziel war der Kampf gegen die von Botha angekündigten Verfassungsreformen, aber später proklamierte sie ‡die Vision eines vereinten, demokratischen Südafrika, begründet auf dem Willen des Volkes—. Ihr Programm war der ‡vereinte Kampf gegen die Übel der Apartheid, gegen wirtschaftliche und alle anderen Formen der Ausbeutung—. Der UDF gehören nicht nur schwarze, sondern auch viele weiße Organisationen an, nicht aber Buthelezis Inkatha und die ‡Föderative Fortschrittspartei— (PFP), die kleine liberale Oppositionspartei vor allem der englischsprachigen Weißen, die beide in den Augen der UDF an der undemokratischen Entwicklung der Verfassung partizipiert hatten. Der Konflikt zwischen UDF und Inkatha führte zu Auseinandersetzungen, die 1990 œ vor allem in Natal œ Hunderte Menschenleben forderten und sich als ein ernstes Verhandlungshindernis erwiesen. Eine andere Oppositionsgruppe ist das ‡Nationale Forum—, das Überlebende von Steven Bikos ‡Black Consciousness Movement— gegründet haben. Der einflußreichste Teil ist die ‡Azanian People‘s Organization— (AZAPO), eine militante sozialistische Partei, die den Ausschluß aller Weißen vom politischen Leben im zukünftigen ‡Azania— fordert œ diesen Namen haben sie für das neue Südafrika vorgesehen. Ein anderes Zentrum des Widerstands sind die Kirchen. Die wichtigste ist die Anglikanische Kirche, deren Oberhaupt derzeit Erzbischof Desmond Tutu ist, der neben Mandela œ nach der Zuerkennung des Friedensnobelpreises 1984 der wichtigste Sprecher des schwarzen Südafrika wurde. Vier Jahre später, im März 1988, gründete er ein Komitee zur Verteidigung der Demokratie, das von der Regierung sofort verboten wurde. Tutu wurde durch seine internationale Bekanntheit und seine kirchliche Würde vor den Verfolgungen geschützt, denen die anderen Oppositionsführer ausgesetzt sind. Im Februar 1988 wurden die AZAPO, das ‡Nationale Forum— und die UDF nach den Bestimmungen des Ausnahmezustands verboten. Das Dekret untersagte ihnen und 14 anderen Oppositionsgruppen jede weitere Tätigkeit. Der ‡Congress of South African Trade Unions— (COSATU), die Dachorganisation der schwarzen Gewerkschaften wurde nicht verboten, aber ihre Aktivitäten wurden wesentlich -180-
eingeschränkt: Es war ihr untersagt, irgendwelche Sanktionen zu unterstützen oder zur Begnadigung Inhaftierter aufzurufen. Seit die schwarzen Gewerkschaften 1981 zugelassen wurden, sind sie rasch zu führenden Institutionen des Landes geworden und haben mindestens 1,5 Millionen Mitglieder. Sie agieren mit unterschiedlichem Erfolg. Im September 1987 wurde ein Minenarbeiterstreik mit den ‡alten Methoden— gebrochen: Gewalt und importierte Streikbrecher. Führende südafrikanische Geschäftsleute, die lange Zeit das Ende der Apartheid gefordert hatten, fanden sich plötzlich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der von ihnen geforderten Politik konfrontiert. Die Schwarzen waren nicht mehr länger bereit, Hungerlöhne zu akzeptieren und forderten auch andere Rechte. Diesen Forderungen nachzugeben würde den Ertrag der Minen und anderer Industriezweige erheblich senken, den Lebensstandard der Weißen beeinträchtigen, die Inflation anheizen und zweifellos zu weiteren Forderungen der Schwarzen führen. So vergaßen die Minenbesitzer ihren kapitalistischen Liberalismus und verhielten sich wie die hartnäckigsten Buren. Sie zerschlugen die Minenarbeitergewerkschaft, aber ohne Resultat: Die südafrikanische Wirtschaft kann nicht schnell genug wachsen, um den Forderungen der schnell zunehmenden schwarzen Bevölkerung gerecht zu werden, sogar bei gleichbleibender Einkommenssituation, ohne das Ende der wirtschaftlichen Apartheid. Aber wenn das so wäre, würde die Wirtschaft kurzfristig Schaden erleiden, und die Langzeitaussichten der Eigentümer und Manager œ alles Weiße wären düster. Die parlamentarische Opposition in der ersten Abgeordnetenkammer war erfolglos (die PFP verlor 1988 sogar die Mehrheit in der Stadtverwaltung von Johannesburg). Die Delegiertenkammer trug einen kleinen Sieg davon; sie setzte durch, daß Botha die Verschärfung des Group Areas Act zurücknahm. Er kam offensichtlich zur Überzeugung, daß die Stimmengewinne, die er bei den Konservativen dadurch gemacht hätte, die Schwierigkeiten, die auf ihn zugekommen wären, nicht wert wären. Nach den Wahlen von 1989 änderte sich alles. Obwohl nach Ende 1986 die Unruhen eigentlich abgeflaut waren, wurde der Ausnahmezustand im Juni 1988 und im Juni 1989 verlängert. 1988 verlautbarte die Regierung, daß seit September 1984 -181-
insgesamt 4.012 Menschen getötet worden seien: 1.848 Schwarze waren von anderen Schwarzen in internen Auseinandersetzungen getötet worden (vor allem in Natal, siehe oben); 1.113 Schwarze wurden von Sicherheitskräften, 623 von unbekannten Tätern getötet. 187 Polizeibeamte œ davon die meisten Schwarze œ kamen ums Leben; 163 Mitglieder von ANC und PAC starben im Kampf, und 78 Zivilisten fielen terroristischen Aktivitäten zum Opfer. D Die Verlängerung des Ausnahmezustandes bot der Regierung die Handhabe zur strikten Kontrolle von Presse und Fernsehen. In den Townships war der Besitz von Kameras verboten, damit kein Filmmaterial über die Zustände die Außenwelt erreichen sollte. DER GUERILLAKRIEG Die stärkste Opposition in Südafrika bleibt der ANC. Die Verhaftung Mandelas und anderer Führungsmitglieder in den frühen sechziger Jahren war für die Bewegung ein schwerer Schlag, aber nach den Aufständen in Soweto fand der ANC wieder zu seiner alten Stärke. Jedes Verbot einer gemäßigten schwarzen Oppositionsgruppe trieb dem ANC einen neuen Schwung Rekruten in die Arme. Er ist in allen Townships des Landes aktiv, und die Popularität von Nelson Mandela, auch während seiner Haftjahre, war ein deutliches Zeichen seines Einflusses. 1980 begann die erste erfolgreiche Bombenattentatsserie des ANC mit gleichzeitigen Angriffen auf drei von Südafrikas wichtigsten wirtschaftlichen Einrichtungen: Die Fabriken, in denen Öl aus Kohle gewonnen wird. Im Dezember 1982 töteten südafrikanische Einheiten 42 ANC-Mitglieder in Maseru in Lesotho. Im Mai 1984 wurden bei der Explosion einer Autobombe vor dem Verteidigungsministerium in Pretoria 19 Menschen getötet und mehr als 200 verletzt, darunter viele schwarze Zivilisten. Dieser Zwischenfall führte zu einer heftigen Auseinandersetzung im ANC: Die Anhänger von Albert Luthuli lehnten Gewalt gegen Zivilisten vehement ab, während die Militanten Gewalt als legitime militärische Taktik befürworteten. Diese Differenz spiegelt die politische Spaltung des ANC wider. Die Bewegung zerfällt einerseits in geeichte Kommunisten, die sich blind Moskau unterordnen, anderseits in pragmatische und gemäßigte Gruppen. -182-
Damals war das Hauptquartier des ANC in der sambischen Hauptstadt Lusaka, aber die Mitglieder lebten unter der ständigen Drohung südafrikanischer Anschläge, auch wenn Tausende Kilometer dazwischen lagen. Südafrikanische Kommandotruppen griffen die ANC-Büros in Maputo in Mosambik, in Gaborone in Botswana und in Maseru an. Im März 1988 wurde der ANC-Vertreter in Paris ermordet, und im April verletzte eine Autobombe ein prominentes weißes ANC-Mitglied in Maputo. Nach den Aufständen von 1984/86 nahmen die Bombenanschläge stark zu. In ganz Südafrika kamen zahlreiche Menschen ums Leben, und bei vielen Attentaten war die Absicht erkennbar, die Zivilbevölkerung in den Kampf hineinzuziehen. Im August 1988 verkündete der fünfunddreißigköpfige Exekutivausschuß, daß es ‡gegen unsere Politik sei, solche Ziele auszuwählen, bei denen Zivilisten zu Schaden kommen. Unsere Moral als Revolutionäre verpflichtet uns, die menschlichen Gebote der Kriegführung zu beachten.— Der Ausschuß bekannte sich zur Verantwortung an einer Reihe von zivilen Toten und setzte den Kommandeur des militärischen Flügels ab. Diese Gedanken mögen eine ernstgemeinte Willensbekundung gewesen sein, aber auf die Ereignisse hatten sie wenig Einfluß. Die Terroristen setzten ihr blutiges Handwerk fort: Im Juni kamen bei einem Dutzend Bombenanschläge 13 Menschen ums Leben; in den ersten sechs Monaten des Jahres gab es mehr als 90 Attentate. Am 2. Juli explodierte eine Autobombe vor einem Fußballstadion in Johannesburg, wobei zwei Menschen starben, und in den Wochen vor den Lokalwahlen im Oktober gab es eine Attentatsserie, darunter am 24. Oktober eine weitere Autobombe in einer Minenarbeitersiedlung bei Johannesburg, die wieder zwei Menschen tötete. Nach Angaben der Regierung gab es zwischen 1980 und Juni 1988 mehr als 900 Bombenanschläge und andere Terrorakte. Im August 1988 verkündete Südafrika die Annahme des Waffenstillstandes in Angola und die Fortsetzung des Unabhängigkeitsprozesses für Namibia œ unter der Bedingung, daß Kuba seine Truppen aus Angola binnen kurzer Zeit abziehen würde. Die Regierung war offensichtlich zur Erkenntnis gelangt, daß sie sich die Kosten des Konflikts nicht länger leisten konnte: 1 Milliarde -183-
Dollar pro Jahr Verteidigungsbudget und unkalkulierbare politische Konflikte. Einige Wochen später waren die Südafrikaner aus Angola draußen und ließen Jonas Savimbi in der weiteren Auseinandersetzung mit den Kubanern und der angolanischen Regierung allein œ zumindest dem Anschein nach. Ohne Zweifel wurde er auf dem Umweg über Zaire heimlich weiter versorgt. Im Dezember kam es schließlich zu einem endgültigen Abkommen (siehe ANGOLA), und Namibia wurde im März 1990 unabhängig (siehe NAMIBIA). Das Abkommen folgte dem Nichtangriffs-Pakt mit Mosambik, den Botha im März 1983 abgeschlossen hatte. Dieses Abkommen verpflichtete Mosambik, den ANC auszuweisen, und Südafrika, die Unterstützung der RENAMO in Mosambik einzustellen (siehe MOSAMBIK). Im September 1988 besuchte Botha Präsident Mobutu in dessen Heimatdorf in Zaire, und er wurde mit allem Pomp eines Staatsoberhauptes empfangen. Danach besuchte er Präsident Houphouet-Boigny in Cóte d‘lvoire. Einmal mehr übersprang Südafrika die Frontstaaten und etablierte wirtschaftliche und politische Beziehungen mit dem übrigen Afrika. Die Erfolge Südafrikas in diesen Bemühungen sind hauptsächlich wirtschaftlich begründet. Die Frontstaaten, ungeachtet ihrer Verachtung der Apartheid, sind für ihr eigenes wirtschaftliches Überleben von der südafrikanischen Infrastruktur abhängig, ebenso wie von Südafrikas Nahrungsmittelexporten, um ihre Bevölkerungen vor dem Hungertod zu bewahren. Simbabwe, Sambia, Malawi, Mosambik, Zaire und Tansania sind auf diese Weise von Südafrika allesamt extrem abhängig. Und nach dem Rückzug der Kubaner und Sowjets wird auch Angola zu einem solchen südafrikanischen Satelliten werden, ob nun Savimbi den Bürgerkrieg gewinnt oder nicht. Die konservative Partei gewann im Oktober bei einigen Lokalwahlen die Mehrheit und setzte unverzüglich die zuvor abgeschafften Apartheidsbestimmungen wieder in Kraft. Die Ablehnung, die ihr dafür entgegenschlug, ermöglichte der Regierung einen verblüffenden Aufschwung, und sie konnte sich als die neue starke Partei der Mitte präsentieren. Präsident Botha und seine Regierung lehnten die Rückkehr zur Apartheid strikt ab. Außenminister Roloef F. Botha sagte über Boksburg, die größte Stadt, -184-
in der die Uhren zurückgedreht wurden, daß ‡die Konservative Partei sehr genau weiß, daß sie dadurch die Sicherheit der Weißen gefährdet. Sie trägt dadurch zur Polarisierung der Gesellschaft bei; sie schädigt die weißen Geschäftsinteressen und die Wirtschaft des Landes.— Mehrere Sportorganisationen, allen voran die südafrikanische CricketUnion, riefen zum Boykott von Boksburg auf; Schwarze, Inder und Mischlinge organisierten einen Boykott der Geschäfte der Stadt, so daß die Eigentümer protestierten, sie würden durch den Fanatismus der Konservativen Partei ruiniert. Botha erlitt im Februar einen Schlaganfall und wurde von Frederick W. de Klerk abgelöst œ zunächst als Führer der Nationalen Partei, im August dann auch im Amt des Präsidenten. Eine der letzten Amtshandlungen Bothas war die Einladung Mandelas zum Tee, und de Klerks erste Amtshandlung war ein Besuch bei Kenneth Kaunda in Sambia. Am 7. September 1989 wurden Parlamentswahlen abgehalten. Die Nationalisten gewannen 47 Prozent der weißen Stimmen und verloren 30 ihrer 123 Sitze in der Abgeordnetenkammer. Die Konservativen legten von 22 auf 39 Sitze zu. Die ‡Resistance Movement— brach nach einem ziemlich lächerlichen Sex-Skandal um Eugene Terre‘ Blanche zusammen, während die neue ‡Demokratische Partei—, die an die Steile verschiedener liberaler Gruppen mit insgesamt 21 Mandaten getreten war, nunmehr auf 33 Sitze kam. De Klerk hatte sich im Wahlkampf auf ein verschwommenes Reformkonzept gestützt, verweigerte aber zunächst weiterhin die Anerkennung des ANC. Er verwies darauf, daß eine große Mehrheit der Weißen für eine Veränderung des Systems sei. Aber die ‡Demokratische Partei— gewann nur 20 Prozent der Stimmen, ein Stimmenzuwachs von 5 Prozent gegenüber 1981, während die Konservativen um 30 Prozent zulegten. Die Mitte-Links-Mehrheit ist zwar eindeutig, aber nicht überwältigend. Bei den Wahlen für die Inder- und Mischlinge-Kammern kam es zu erheblichen Veränderungen; mehr als 20 Schwarze und Inder wurden bei den anschließenden Protestdemonstrationen getötet. Es schien vielen, daß de Klerk und die Nationalisten eine letzte Chance hätten, zu einer friedlichen Einigung mit den Schwarzen zu kommen. Am 29. Oktober durfte der ANC in Soweto eine gewaltige Demonstration veranstalten, um den heimkehrenden Sisulu und seine -185-
Kameraden zu begrüßen. Zwei Wochen später verkündete de Klerk, daß der ‡Separate Amenities Act— aufgehoben würde. Dieses Gesetz hatte die Schwarzen von Parks und Stranden ausgeschlossen. Am 24. November wurden vier Distrikte des Landes, darunter der frühere Distrikt Sechs in Kapstadt œ jetzt Zonnenbloom œ für die Menschen aller Rassen geöffnet. Diese Ereignisse fielen mit den Berichten darüber zusammen, daß es in der Polizei Todeskommandos gegeben habe, die Oppositionelle ermordet hätten, in Südafrika und im Ausland. Die Berichte erstaunten niemanden, aber diesmal setzte die Regierung eine Untersuchungskommission ein. In einem bedeutsamen Akt eröffnete de Klerk Verhandlungen mit Mandela mit dem Ziel der Wiederzulassung des ANC und der Freilassung Mandelas. Diese Entwicklung geschah unter den Augen der Öffentlichkeit. De Klerk traf mit Mandela selbst zusammen und hob das Besuchsverbot praktisch völlig auf. Zu diesem Zeitpunkt war Mandela bereits in einem Bungalow auf dem Gebiet einer Gefängnisfarm bei Kapstadt untergebracht. Ein Brief von ihm an de Klerk wurde publiziert. Darin legte er seine Ansichten über die Zukunft Südafrikas dar, und die Voraussetzungen, unter denen der ANC mit der Regierung verhandeln würde. Es hatte lange keine Gesprächsbasis mit dem ANC gegeben, da die Regierung darauf bestanden hatte, daß der ANC aller Gewalt abschwören müsse, bevor er wieder zugelassen werden könnte, während der ANC die Meinung vertrat, daß er nur deshalb zur Gewalt gegriffen habe, da die Regierung sich jedem Fortschritt versperrt habe. In seinem Brief an de Klerk zeigte Mandela auf, daß dieses Problem lösbar sei. ‡Die Position des ANC in dieser Frage ist sehr einfach. Die Organisation hat kein grundsätzliches Interesse an Gewalt. Sie lehnt im Prinzip jede Aktion ab, die zu Tod, Zerstörung von Eigentum und Unglück der Menschen führt, aber wir betrachten den bewaffneten Kampf als eine legitime Form der Selbstverteidigung gegen ein moralisch verwerfliches Regierungssystem, das nicht einmal friedliche Protestformen zulassen möchte ... Von den ersten Tagen seines Bestehens an hat der ANC unermüdlich nach friedlichen Lösungen gesucht ... Das weiße Südafrika muß akzeptieren, daß der ANC den bewaffneten Kampf nicht unterbrechen, geschweige denn einstellen wird, bis die -186-
Regierung ... direkten Verhandlungen zustimmte, und zwar mit den anerkannten Führern der Schwarzen.— Mandela und andere gemäßigte schwarze Führer legten eine Reihe von Vorbedingungen für die Eröffnung formeller Verhandlungen mit der Regierung vor, und er machte sie auch zur Vorbedingung, daß er seine eigene Freilassung annehmen würde: der Bann auf den ANC und andere Organisationen müßte aufgehoben werden; alle noch inhaftierten politischen Häftlinge müßten freigelassen werden; und die Todesstrafe müßte abgeschafft werden. Offensichtlich akzeptierte der Präsident das darin enthaltene Angebot, und Sisulu und andere ANC-Führer, die kurz zuvor freigelassen worden waren, durften nach Lusaka fliegen, um mit ihren Kampfgefährten im Exil zusammenzutreffen. Sie trafen Freunde und Verwandte, die sie ein Vierteljahrhundert nicht gesehen hatten. Der ANC hielt im Januar in Lusaka eine Konferenz ab, bei der die alte Garde wieder den Vorsitz übernahm. Die Partei stimmte Verhandlungen mit der Regierung zu, wenn Mandelas Bedingungen erfüllt würden. Zur selben Zeit beugte sich Joe Slovo, der Führer der Südafrikanischen Kommunistischen Partei, einer Organisation, die durch die Jahrzehnte ihren orthodoxen Stalinismus bewahrt hatte, den Veränderungen in Europa und hielt die Einführung einer pluralistischen Demokratie für erstrebenswert. In seiner Eröffnungsrede im Parlament akzeptierte Präsident de Klerk am 2. Februar 1990 praktisch alle Forderungen Mandelas. Das dramatischste Zugeständnis war die Aufhebung des Verbotes des ANC, des PAC, der Kommunistischen Partei und verschiedener Organisationen. Die Restriktionen, die über 33 weitere Organisationen verhängt worden waren und ihnen jeden politischen Aktionsradius genommen hatten, wurden ebenfalls aufgehoben. Darunter waren der ‡South African National Students Congress—, das ‡National Education Crisis Committee—, die UDF, der ‡Congress of South African Trade Unions— œ und auch eine rechtsradikale Afrikaaner-Organisation. De Klerk hob auch die Auflagen auf, die Sisulu und den anderen bei ihrer Freilassung gemacht worden waren. Alle politischen Gefangenen, die nicht wegen Mord, Terrorismus oder Brandstiftung unter Anklage standen, sollten unverzüglich freigelassen werden. Der ANC stellte dazu fest, daß in der südafrikanischen Gesetzgebung der -187-
Begriff des Terrorismus so weit gefaßt sei, daß dieses Angebot weniger großzügig war als es schien. Der Ausnahmezustand wurde zwar nicht aufgehoben, aber die meisten seiner Bestimmungen wurden abgeschwächt oder außer Kraft gesetzt. Die Einschränkungen der Pressefreiheit wurden aufgehoben œ aber die Sache hatte einen Haken: Filmaufnahmen von Unruhen blieben weiterhin verboten. Untersuchungshaft ohne Verhör wurde auf sechs Monate begrenzt, und alle Untersuchungshäftlinge sollten das Recht auf einen Anwalt und einen Arzt ihres Vertrauens haben. De Klerk sagte auch, daß die Todesstrafe künftig nur noch in besonders schweren Fällen angewendet werden sollte. Alle Hinrichtungen wurden vorläufig ausgesetzt. Zur Frage der Gewalt sagte de Klerk: ‡Die heutigen Ankündigungen betreffen direkt all das, was schwarze Führer œ auch Mr. Mandela œ seit Jahren als die Begründung ihrer Gewaltanwendung genannt haben. Der Vorwurf war, daß die Regierung keine Verhandlungen mit ihnen wollte und daß ihnen durch die Einschränkung ihrer Organisationen das Recht auf normale politische Aktivität genommen war ... Die uneingeschränkte Aufhebung dieses Verbotes ... gibt jedermann die Möglichkeit zur freien politischen Entfaltung. Daher gibt es in Zukunft auch keine Rechtfertigung mehr für Gewalt.— De Klerk berichtete dem Parlament, daß die Wahlen von 1989 Südafrika unwiderruflich auf den Weg drastischer Veränderungen gebracht hätten. Nun war es Zeit für Verhandlungen. Eine Woche später, am 11. Februar, wurde Nelson Mandela nach 27 Jahren Haft freigelassen. Er wurde in Kapstadt und Soweto mit riesigem Jubel empfangen, und die meisten Südafrikaner begrüßten diesen Schritt. Weiße Hardliner beschimpften de Klerk, aber ihre Vorwürfe gingen in der allgemeinen Zustimmung unter. Während Mandela mit westlichen Politikern zusammentraf und gemeinsam mit de Klerk nach Lösungen auf dem Verhandlungsweg suchte, brachen zwischen den schwarzen Organisationen und Stämmen immer heftigere Kämpfe aus. Mandela faßte 1989 in seinem Brief an de Klerk den Stand der Verhandlungen zusammen: ‡Zwei politische Hauptpunkte gibt es bei einem Treffen zwischen uns zu klären. Erstens die Forderung nach -188-
einer Herrschaft der Mehrheit in einem vereinigten Staatswesen, zweitens die Furcht der weißen Südafrikaner vor dieser Forderung und das Beharren der Weißen auf strukturellen Garantien, daß Mehrheitsherrschaft niemals die Herrschaft der schwarzen Mehrheit über die weiße Minderheit bedeuten möge. Es wird für die Regierung und für den ANC die größte Herausforderung sein, diese beiden Positionen übereinzubringen.— Die Veränderung Südafrikas œ ein langer und schwieriger Weg, den die Menschen noch vor sich haben.
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TSCHAD Geographie: Fläche 1,284.000 km2 Bevölkerung: 5,7 Millionen BSP: 78$/Einw. (1984) Flüchtlinge: 150.000 bis 300.000 Flüchtlinge sind im Landesinneren unterwegs, 40.000 im Ausland, davon 25.000 im Sudan. Verluste: Rund 50.000 Tschader und Libyer fielen den Bürgerkriegen und ausländischen Interventionen seit 1965 zum Opfer. Dem Tschad bleibt keiner der Flüche Afrikas erspart. Das Land ist völlig verarmt. Die immer wieder auftauchenden Gerüchte von Ölund Uranvorkommen haben sich niemals bestätigt. Das letzte ermittelte Pro-Kopf-Jahreseinkommen betrug 78 Dollar. Kaum zwei oder drei andere Länder der Erde sind so heruntergewirtschaftet, und wie viele andere afrikanische Länder ist der Tschad von Haß zerstört: Haß zwischen dem arabisch/moslemischen Norden und dem Süden, der dem Christentum und Naturreligionen anhängt. Die nördlichen Stämme sind untereinander tief verfeindet und haben schon in präkolonialer Zeit um die Vorherrschaft gekämpft œ und auch im Süden gab es unter den Führern des bedeutendsten Stammes, der Sara, immer wieder rücksichtslose Machtkämpfe. 1979 hat sich die Zentralregierung praktisch aufgelöst und mußte durch eine wechselnde Abfolge afrikanischer ‡Friedensstreitkräfte— ersetzt werden. Die frühere Kolonialmacht Frankreich ist der Regierung viermal zu Hilfe gekommen; Libyen ist zweimal einmarschiert und hat 1980/81 die Hauptstadt ein Jahr lang besetzt. Auch die USA haben zweimal eingegriffen. Über all die politischen Auflösungserscheinungen hinaus hat der Tschad, der zum großen Teil aus Wüste besteht, schrecklich unter den Dürrekatastrophen der siebziger Jahre gelitten, die sich 1984 und 1988 wiederholt haben. GESCHICHTE -190-
Die Existenz des Tschad beruht einzig auf der Tatsache, daß Frankreich Tripolitanien und die Cyrenaica im 19. Jahrhundert nicht in Besitz genommen hat (aus diesen beiden Gebieten setzt sich nun Libyen zusammen). Die Franzosen annektierten zwar den Rest des nördlichen und einen Großteil von West- und Zentralafrika, aber die Italiener nahmen Besitz von Libyen und erhoben später Anspruch auf Fezzan, die Wüste im Süden von Libyen. Damals beherrschte Frankreich den westlichen Sudan und die Sahel-Zone vom Atlantik bis zum britisch-ägyptischen Sudan im Osten. Franzosen und Italiener zogen einige Linien auf der Landkarte, um ihre Einflußsphären in der Sahara abzustecken, und im späteren Verlauf wurde das wilde Tibesti, einer der ungastlichsten Flecken der Erde, bevölkert von schwarzen Moslem-Nomaden, durch Schiedsspruch zu Französisch-ÄquatorialAfrika (AEF) geschlagen. In ihrer Geschichte verbindet nur eines die beiden Regionen: Die Nomaden sind Jahrhunderte lang in den Süden auf Sklavenfang eingebrochen und haben ihre unglücklichen Opfer quer durch die Wüste auf die Sklavenmärkte von Tripolis getrieben. Spät, erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, eroberten die Franzosen endgültig Tibesti, und als sie Französisch-ÄquatorialAfrika 1960 verließen, teilten sie es in vier verschiedene Länder auf. Die Nomaden fanden sich mit den südlichen Stämmen, von denen sie nur wenig wußten, in einen Topf geworfen. Die Sara, die zum Teil das Christentum angenommen hatten, waren der dominierende Stamm in diesem neuen Staat. Sie hatten den Sklavenhandel nicht vergessen und waren gegenüber dem islamischen Norden von tiefem Mißtrauen erfüllt. Die nördlichen Provinzen œ Borku, Ennedi und Tibesti (BET) œ wurden bis 1965 von Frankreich verwaltet; dann fühlte sich die tschadische Regierung stark genug, selbst die Macht zu übernehmen. Der neue Präsident Francois Tombalbaye, ein selbstherrlicher, unfähiger und korrupter Mann, schickte seine Stammesgenossen in den Norden, die BET zu beherrschen. Prompt erhoben sich die nördlichen Stämme zum Aufruhr. Tombalbaye versuchte ihn niederzuschlagen; das Ergebnis war, daß ein Teil des ToubouStammes unter dem traditionellen Häuptling, dem Derde, Zuflucht in Libyen suchte. -191-
DER ERSTE BÜRGERKRIEG Bald geriet der Aufstand außer Kontrolle, und 1968 mußte sich Tombalbaye um Hilfe an Frankreich wenden. Die Fremdenlegion kehrte also in die Hauptstadt Fort Larny zurück und schlug die Rebellen in die Flucht. Die Franzosen verlangten von Tombalbaye Reformen, darunter die Wiedererrichtung der Rechte der Moslemführer und die Aufnahme von Moslem-Ministern in die Regierung. Die meisten französischen Einheiten wurden 1971 wieder abgezogen. Aber die Unruhen gingen weiter, und Tombalbaye reagierte, indem er animistische Bräuche unter den Sara wiederbelebte. Er erhob den Yondo-Kult œ der mühselige und unangenehme Initiationsrituale vorsieht œ zur Staatsreligion. Tombalbaye verfolgte christliche Sara, die den neuen Glauben verweigerten, setzte aber auch die blutige Verfolgung der Moslems fort. 1975 stürzte ihn die Armee, deren Führung hauptsächlich aus Sara-Angehörigen bestand, wobei er ums Leben kam. Der Norden war allerdings bereits im offenen Aufruhr, und Tombalbayes Nachfolger, General Felix Malloum, war nicht mehr in der Lage, ihn niederzuwerfen. Eine lose Koalition von Rebellen und Exilgruppen œ die ‡Front pour la Liberation du Tchad— (FROLINAT) œ verfügte über zwei Armeen: die ‡Forces Armee du Nord— (FAN) und die Erste Befreiungsarmee im Osten. 1976 spaltete sich die FAN zwischen zwei Führern des Toubou-Stammes: Goukouni Oueddai, der Sohn des Derde von Tibesti, der nach Libyen geflüchtet war; und Hissene Habre. Diese Spaltung war hauptsächlich das Ergebnis des Aufeinandertreffens persönlicher Ambitionen; der Konflikt brach offen aus, als Libyen einen tschadischen Gebietsstreifen besetzte, den Aouzou. Goukouni stimmte der Annexion zu, Habre war dagegen. In den darauffolgenden Jahren hat die Auseinandersetzung der beiden das Land nahezu zerstört. Goukouni war ein traditioneller Toubou-Führer, ein ungebildeter Kämpfer, dessen Interessen niemals über die seines Stammes hinausreichten. Habre, der in Frankreich studiert hatte, war zu weltweiter Bekanntheit gelangt, als er im April 1974 die französische -192-
Anthropologin Franchise Claustre entführt hatte. Er hatte sie beinahe drei Jahre im Tibesti gefangen gehalten und von Frankreich für ihre Freilassung Waffen gefordert. Der Fall wurde in Frankreich zur Staatsaffäre, wie später auch andere Geiseldramen, und beschäftigte die Regierung von Valery Giscard d‘Estaing erheblich. Ein französischer Offizier wurde während der Verhandlungen von Habres Männern ermordet, und als Claustres Ehemann sie im August 1975 besuchen wollte, wurde er ebenfalls festgehalten. Im folgenden Monat entsandte d‘Estaing einen anderen Unterhändler. Frankreich bot vier Millionen Franc und Ausrüstung im Wert von 6 Millionen. Als die Franzosen im Tibesti Funkausrüstung abwarfen, um die Verhandlungen zu erleichtern, wurden sie von General Malloum beschuldigt, die Rebellen zu bewaffnen, und er forderte, daß die letzten französischen Soldaten aus dem Süden abgezogen werden müßten. Sie gingen über die Grenze ins Zentralafrikanische Kaiserreich, so daß sie notfalls jederzeit in den Tschad zurückkehren konnten œ und auch, um Kaiser Bokassa von seinem Thron zu verjagen, was dann 1979 tatsächlich geschah. Die Claustres wurden am 30. Jänner 1977 auf Grund einer Intervention von Oberst Gaddafi freigelassen. Im selben Jahr, in der ersten Runde der Auseinandersetzung zwischen Goukouni und Habre, wurde Habre besiegt und aus der BET hinausgedrängt. Mit einigen Getreuen suchte er Zuflucht im Osten des Landes. Goukouni wandte sich um Hilfe gegen Malloum nach Libyen; bald kontrollierte er den Großteil der BET, und im März 1978 eroberte er den Hauptort, FayaLargeau. Als nächstes sandte er seine Truppen in den Süden und verbündete sich dabei mit den Männern von ‡Vulkan—, einer anderen von Libyen unterstützten Rebellengruppe, die von Osten angriff. In dieser Notlage rief Malloum um französische Hilfe, und zum zweiten Mal trat Frankreich als Retter auf den Plan. 1.500 Soldaten wurden zur Verteidigung der Hauptstadt N‘Djamena eingeflogen, und die Luftwaffe zerschlug die ‡Vulkan—-Truppen. Habre hatte in der Zwischenzeit mit Unterstützung des Sudan eine machtvolle Armee aufgestellt, und nun forderte Malloum ihn auf, in die Regierung einzutreten. Habre wurde Ministerpräsident in einem Kabinett der Nationalen Einheit (GUNT), aber die Regierung brach im Februar 1979 -193-
zusammen. Heftige Kämpfe zwischen den Anhängern von Habre und Malloum zerstörten nicht nur N‘Djamena, sondern uferten bald in eine Reihe von Massakern aus, in denen Soldaten aus dem Süden die Moslems in der Hauptstadt abschlachteten. Habres Truppen vertrieben Malloum und seine Armee in den Süden, wo sie die Massaker an den Moslems fortsetzten. Goukounis Truppen marschierten in N‘Djamena ein und begannen, die Sara systematisch zu töten. Im Verlauf dieser Ereignisse starben zwischen 10.000 und 20.000 Menschen. DAS ERSTE INTERREGNUM Nun hatte der Tschad keine Regierung mehr. Nigeria entsandte für kurze Zeit eine Armee nach N‘Djamena, um die Ordnung wiederherzustellen, und dann griffen unter der Schirmherrschaft der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) œ Truppen aus mehreren afrikanischen Ländern ein. Im November 1979 wurde nach einer Reihe internationaler Bemühungen eine neue Regierung gebildet, mit Goukouni als Präsident, Habre als Verteidigungsminister und dem neuen Führer der Sara, Oberstleutnant Widal Kamougue, als Vizepräsident. Alle drei hielten ihre Privatarmeen in N‘Djamena aufrecht, und bald verbündeten sich Goukouni und Kamougue gegen Habre. Im März 1980 fiel die Regierung wieder auseinander. Im April zog Frankreich seine letzten 1.100 Soldaten ab, und unmittelbar darauf flammten die Kämpfe zwischen den rivalisierenden Machthabern wieder auf. In dieser Zeit organisierte der Ex-CIA-Agent Edwin Wilson Banden von europäischen und amerikanischen Söldnern, die mit libyschen Flugzeugen Materiallieferungen für Goukounis Streitkräfte durchführten. Habre wurde zwar aus der Regierung verjagt, aber seine Soldaten blieben in N‘Djamena. Das ganze Jahr über gab es sporadische Kämpfe, und im Dezember brach der Bürgerkrieg wieder mit voller Wucht los. Goukouni rief Libyen zu Hilfe, und Gaddafi schickte Panzer, Flugzeuge und Soldaten nach N‘Djamena. Habre wurde geschlagen und suchte Zuflucht im südlichen Nachbarland Kamerun. Im Jänner 1981 verkündete Gaddafi eine Union zwischen Libyen und dem Tschad. -194-
DIE LIBYSCHE INTERVENTION Es ist üblich, den libyschen Imperialismus und Gaddafis Größenwahn anzugreifen, aber im Falle des Tschad sprechen auch einige Argumente für ihn. Da ist erstens der Streit um den AouzouStreifen im Nordwesten des Tschad: die Grenzen dieses Gebietes wurden 1935 erstmals festgelegt. Zu diesem Zeitpunkt war Frankreich relativ schwach und Italien relativ stark. Frankreich umwarb Italien als einen potentiellen Verbündeten gegen Hitler, und die Grenze wurde zu Gunsten Italiens festgelegt œ allerdings vom französischen Parlament nie ratifiziert. Dann wurde Mussolini vertrieben, zuerst aus Libyen, danach aus Rom. Als General de Gaulle in Paris die Macht ergriff, wurde eine neue Grenze gezogen, die Aouzou in Französisch-Afrika einverleibte; diese Übereinkunft wurde von den Briten anerkannt, die damals Libyen verwalteten. Oberst Gaddafi sieht nun keinen Grund, warum eine Grenzziehung zwischen Briten und Franzosen größere Gültigkeit haben soll als eine solche zwischen Franzosen und Italienern. Die Bewohner des umstrittenen Territoriums wurden selbstverständlich zu keinem Zeitpunkt befragt. Gaddafi behauptete, daß das Tibesti weit mehr mit dem Fezzan gemeinsam hat als mit Äquatorial-Afrika, und es ist durchaus möglich, daß die Stammesangehörigen, würden sie aufgefordert, zwischen der Staatszugehörigkeit zum islamischen und arabischen Libyen mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 7.500 US-Dollar und der des Tschad zu wählen œ mit einer christlich-anamistischen, nichtarabischen Mehrheit und einem Jahres-Kopf-Einkommen von 78 Dollar œ, sich für Libyen entschieden. Diese Ansicht hat sich auch Goukouni zu eigen gemacht, der die BEI von 1965 bis 1988 beherrscht hat. Wie auch immer, Gaddafi begnügte sich nicht mit der BEI. Er wollte den ganzen Tschad. Habre hingegen wäre lieber Präsident eines ausgepowerten Tschad geworden als Provinzführer in einem reichen Libyen. Goukouni wollte offensichtlich beides, die ökonomischen Vorteile der Verbindung mit Libyen und die Privilegien des Präsidentenamtes. Die Einwohner des Südens, nun angeführt von Oberst Kamougue, -195-
stellten sich gegen den Handel mit Libyen, und Habre suchte Unterstützung im Sudan, in Ägypten und sogar in den USA. Gaddafi fand sich in einer schwierigen Position, die OAU beschuldigte ihn offen des Imperialismus. Statt sich allerdings einfach mit Unverfrorenheit zu behaupten, wie König Hassan von Marokko im Konflikt um das frühere Spanisch-Sahara, zog sich Gaddafi im Oktober 1981 abrupt aus dem Tschad zurück. Prompt flammte der Bürgerkrieg wieder auf. DER ZWEITE BÜRGERKRIEG Habre hatte seine Armee mit der Unterstützung von Gaddafis zahlreichen Feinden wieder aufgestellt, vor allem mit der des Sudan. Er überschritt die Grenze zu Beginn des Jahres 1982 und besetzte bald den Osten und einen Großteil des Nordens des Landes. Am 6. Juni marschierten seine Truppen in N‘Djamena ein, und nun mußte Goukouni über die Grenze nach Kamerun flüchten. Habre rief sich zum Präsidenten aus und setzte die Eroberung des Südens fort. Er besiegte Kamougue und besetzte dessen Hauptquartier in Moundou. Kamougue flüchtete aus dem Land, und im Oktober bildete er zusammen mit Goukouni in Libyen eine Exilregierung. DER DRITTE BÜRGERKRIEG Der Tschad genoß eine ungewöhnliche Erfahrung œ beinahe ein Jahr lang herrschte Friede. Im Juni 1983 erhoben sich die Stämme im Norden unter Goukounis Befehl, und sie besetzten Faya-Largeau am 24. Juni und die östliche Stadt Abeche am 6. Juli. Habre eroberte die beiden Städte Ende Juli zurück œ und dann griff Libyen abermals ein. Habre wurde in Faya-Largeau belagert und rief einmal mehr um Hilfe. Erstmals wurden die USA in diesen Konflikt verwickelt; sie schickten zwei AWAC-Flugzeuge und 8 F-15 in den Tschad, um die libyschen Luftaktivitäten zu kontrollieren, außerdem militärisches Gerät im Wert von 10 Millionen Dollar. Frankreich entsandte zum dritten Mal Truppen und Flugzeuge nach N‘Djamena. Sie retteten Habre œ mit einer Rot-Kreuz-Maschine œ aus Faya, knapp bevor Goukouni und die Libyer die Stadt am 11. August zurückeroberten. Die Franzosen schickten auch Truppen zur -196-
Verteidigung von Abeche und zogen am 16. Breitengrad eine ‡Rote Linie— quer durch ) den Tschad, womit sie das Land effektiv teilten. Habre hatte den Süden völlig unter Kontrolle, und Goukouni hielt den Norden mit libyscher Hilfe (obwohl Gaddafi libysche Truppenpräsenz im Tschad immer wieder abstritt). Dieses Patt dauerte ein Jahr. In N‘Djamena waren mehr als 3.000 französische Soldaten und ein Geschwader ‡Jaguar—-Jagdbomber stationiert, in Faya-Largeau lagen libysche Einheiten. 1984 scheiterte ein Versuch der OAU, in Addis Abeba Friedensverhandlungen einzuleiten. Jede der Streitparteien bestand darauf, die Flagge des Tschad zu führen. Die Dürrekatastrophe zwang die Nomaden in die Städte, und sie konnten nur durch eine internationale Hilfsaktion gerettet werden. In der Zwischenzeit fanden geheime Verhandlungen zwischen Libyen und Frankreich statt, und am 17. September 1984 verkündete Gaddafi, daß die beiden Regierungen übereingekommen seien, ihre Streitkräfte binnen zwei Monaten zurückzuziehen. Am 10. November 1984 erklärten beide Länder den Abzug für abgeschlossen (obwohl Libyen doch immer abgestritten hatte, überhaupt Truppen auf tschadischem Boden zu haben), aber das amerikanische Außenministerium stellte fest, daß noch rund 5.500 libysche Soldaten im Tschad seien. Am 16. November traf Präsident Mitterand auf Kreta mit Gaddafi zusammen œ der griechische Ministerpräsident Papandreou trat als Vermittler auf œ, und er akzeptierte Gaddafis wiederholte Beteuerungen, daß alle libyschen Soldaten abgezogen worden seien. Am nächsten Tag, wieder in Paris, mußte Mitterand mit großer Empörung feststellen, daß Gaddafi ihn belogen hatte. Amerikanische Satelliten-Aufnahmen bewiesen das eindeutig. Aber die französische Regierung lehnte es ab, abermals Truppen nach N‘Djamena zu entsenden. Danach erfreute sich der Tschad einer beispiellosen Zeit des Friedens. In N‘Djamena begannen die Wiederaufbauarbeiten, und ernsthafte Anstrengungen wurden unternommen, die Wirtschaft des Landes wiederzubeleben. Während dieser Zeit rüsteten Frankreich und die USA Habres Streitkräfte wieder auf, während die Libyer Straßen und Flugfelder in Süd-Libyen und im nördlichen Tschad errichteten œ -197-
beide Seiten bereiteten sich auf den nächsten Durchgang im Bürgerkrieg vor. DER VIERTE BÜRGERKRIEG Er begann im Februar 1986, als Goukouni und libysche Truppen die ‡Rote Linie— überschritten. Die Franzosen schickten ihre ‡Jaguar— los und schlugen die Angreifer zurück. Nach allerlei Drohungen und Manövern wurde der ‡Status quo ante" wiederhergestellt, im Oktober ereignete sich dann eine der bemerkenswerten Episoden dieses nicht enden wollenden Krieges. Goukouni Oueddai hatte offensichtlich genug von der Abhängigkeit von Libyen, und er versuchte, seinen Frieden mit Habre zu machen. Am 30. Oktober wurde er in Tripolis angeschossen, ‡als er sich seiner Verhaftung widersetzte—. Der Toubou von Tibesti, seit 20 Jahren sein Anhänger, wechselte prompt die Seite und forderte Habre auf, ihm zu Hilfe zu kommen. Auf ein solches Signal hatte dieser nur gewartet, und unverzüglich schickte er seine Einheiten in den Norden. Auch der Luftkrieg zwischen Frankreich und Libyen flammte erneut auf. Am 11. Dezember überquerten libysche Kampfflugzeuge die ‡Rote Linie— und griffen N‘Djamena an, und am 7. Jänner 1987 zerstörten französische Maschinen einen libyschen Flugplatz im nördlichen Tschad œ fünf Tage nach dem Angriff Hissen Habres. Es war ein bemerkenswerter Feldzug. Habre rüstete seine Soldaten mit allradgetriebenen Toyotas aus, einer Weiterentwicklung des Weltkriegsjeeps; jeder war mit einem schweren Maschinengewehr oder einer Panzerabwehrkanone bestückt. Die Stammeskrieger ritten auf ihren Lastwagen so tollkühn wie die Kavallerie des Kalifen und griffen die libyschen Einheiten aus allen Richtungen an. Sie wurden durch Kämpfer aus der Region verstärkt, die loyal zu Goukouni standen und ihre von Libyen gelieferten Waffen mitbrachten, als sie die Seiten wechselten. Am 2. Januar nahmen Habres Einheiten Fada, einen strategisch wichtigen Kreuzungspunkt der Wüstenstraßen. Unter ihrer Beute waren Dutzende sowjetische T-55-Panzer und 6 italienische Fliegerabwehrgeschütze. Am 19. März rückte eine libysche gepanzerte Einheit von Wadi Doum, einem Luftstützpunkt im nördlichen Tschad, aus, um Fada zurückzuerobern. Die Einheit -198-
geriet in einen Hinterhalt und wurde aufgerieben. Eine zweite Einheit, die von Faya-Largeau zum Entsatz losgeschickt wurde, erlitt das gleiche Schicksal. Habres Männer behaupteten, in dieser Schlacht 800 Libyer getötet zu haben. Dann marschierten sie weiter und eroberten Wadi Doum am 21. März, sechs Tage später Faya-Largeau. Frankreich und die USA lieferten für diesen Vormarsch die notwendigen Waffen, und die Franzosen gewährten darüber hinaus beträchtliche logistische Unterstützung, indem sie Ausrüstung und Waffen von Depots in N‘Djamena an die Front in den Norden transportierten. Die Tschader töteten in Fada 1.200 Libyer; zu deren völliger Überraschung griffen sie in ihren Toyotas über die Sanddünen an. Die Beute war gewaltig und umfaßte Tupolew-Jagdbomber, MIG-21, Hubschrauber, 3 komplette Batterien der neuesten SAM-13, modernste sowjetische Radargeräte und mehr als 100 Panzerfahrzeuge. Der geschätzte Wert dieser Waffen betrug zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Dollar. Ende März behauptete der Tschad, 3.603 Libyer getötet und 1.165 gefangengenommen zu haben œ bei 35 eigenen Toten. Viele der getöteten und gefangenen Libyer entpuppten sich als Söldner. Einige waren Sudanesen, die keine klare Vorstellung hatten, wo sie eigentlich waren, und rund 1.700 waren Angehörige der libanesischen DrusenMilizen, die von ihrem Führer Walid Dschumblat um monatlich 500 bis 2.300 Dollar pro Kopf ‡verliehen— wurden. Für den Fall ihres Todes war ihren Familien eine Versicherungssumme von 50.000 Dollar zugesichert worden. Habres Streitkräfte unternahmen große Anstrengungen, die Libyer auch aus dem Rest des Landes zu drängen. Im Juni besuchte er die USA und traf mit Präsident Reagan zusammen. Dabei wurden ihm Lieferungen im Wert von 32 Millionen Dollar zugesichert, einschließlich ‡Stinger—-Boden-Luft-Raketen. Im Austausch durften die Amerikaner sowjetisches Beute-Kriegsgerät erwerben, für das sich das Pentagon besonders interessierte. Im August vertrieben Habres Truppen die Libyer aus dem AouzouStreifen, aber dieser Sieg war nicht von Dauer. Die Franzosen verweigerten die Luftunterstützung, und die Schlacht war zu weit weg von Habres Stützpunkten. Am 28. August holten sich die Libyer den Aouzou-Streifen zurück und flogen erstmals ausländische Journalisten -199-
in die Wüste, um ihren Sieg zu demonstrieren. Habre rächte sich für diese Niederlage, indem er eine Kommando-Einheit 100 Kilometer tief in libysches Gebiet schickte und Matanas-Sarra zerstörte, den wichtigsten Luftwaffenstützpunkt in dieser Region. Die Tschader behaupteten, 1.700 Libyer getötet und 312 Gefangene gemacht zu haben (darunter ein Mann aus der DDR und zwei Jugoslawen), bei 65 eigenen Verlusten. Die OAU erreichte einen Waffenstillstand, der am 11. September 1987 in Kraft trat. Nach amerikanischen Schätzungen hat Gaddafi ein Zehntel seiner Armee eingebüßt, etwa 7.500 Tote und zerstörtes bzw. verlorenes Material im Wert von 1,5 Milliarden Dollar zu verbuchen. DER WAFFENSTILLSTAND Beide Seiten bereiten sich auf den nächsten Krieg vor. Libyen baut Luftwaffenstützpunkte im Aouzou-Streifen, während der Tschad die Verbindungen in den Norden ausbaut und seine Armee wieder auffrischt. Die USA haben ‡Stinger—-Raketen geliefert, Frankreich hält seine Unterstützung von jährlich 70 Millionen Dollar aufrecht. In Abeche bleibt ein kleines Kontingent stationiert, um Angriffen aus dem Osten vorzubeugen, und in N‘Djamena liegt weiterhin eine Staffel ‡Jaguar—. Frankreich hat auch mehrere Versuche unternommen, Tschad und Libyen zu bewegen, die Lösung des Streites über den Aouzou-Streifen einem internationalen Schiedsgericht zu überlassen. Habres alter Freund Numeiri im Sudan wurde durch einen Staatsstreich im April 1985 abgesetzt, und der Sudan steht jetzt in diesem Konflikt auf der Seite Libyens. Gaddafi umwirbt auch mit Erfolg die Regierung von Niger; das Ergebnis dieser Entwicklung waren einige kleinere Guerilla-Angriffe auf den Tschad, die von sudanesischem und nigerischem Gebiet ausgegangen sind. Am 8. März 1988 wurde ein libyscher Angriff auf einen tschadischen Stützpunkt an der Grenze zum Sudan zurückgeschlagen, dabei starben 20 Angreifer, zehn wurden gefangengenommen. Die Angreifer waren Mitglieder der ‡Islamischen Legion—, eine Söldnertruppe, die Gaddafi in Westafrika rekrutiert, hauptsächlich in Benin, Mali und Nigeria. Aber in der libyschen Armee dienen noch mehrere Söldner aus -200-
anderen arabischen Ländern. Nach dem Grenzscharmützel fand eine große antilibysche Demonstration in Khartum statt, ein deutliches Zeichen für die Unpopularität der neuen Verbindung mit Libyen. Goukouni ging nach Algier und setzte die Verhandlungen mit Habre fort. Da sie ohne Erfolg geendet haben, ist es durchaus möglich, daß die Toubou abermals die Seite wechseln. Das diplomatische Geplänkel zwischen dem Tschad und Libyen geht weiter. Im Mai 1988 verweigerte Gaddafi die Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Gründung der OAU in Addis Abeba, wo andere Staatsoberhäupter planten, ihn zu einem Friedensschluß mit Hissene Habre zu zwingen. Zur Eröffnung der Konferenz am 25. Mai verkündete Gaddafi überraschend, daß der Krieg vorbei sei œ ‡als ein Geschenk für Afrika—. Er sagte allerdings nichts über einen Verzicht auf den Aouzou-Streifen. Im Laufe des Jahres 1988 versuchte Gaddafi mit einer Reihe seiner früheren Gegner in der arabischen Welt und in Afrika zu einem besseren Verhältnis zu kommen. Im Oktober nahmen der Tschad und Libyen wieder diplomatische Beziehungen auf. Habre behandelt Libyen allerdings mit großer Vorsicht. Er drängte Frankreich, das seine Präsenz gerne beenden würde, seine Garnisonen und den Luftwaffenstützpunkt in N‘Djamena aufrechtzuerhalten. Er ließ auch die rund 2.000 libyschen Kriegsgefangenen von 1987 nicht frei, sondern bestand auf seiner Forderung, daß Libyen seine Ansprüche auf den Aouzou-Streifen aufgeben müsse, bevor er die Gefangenen freilassen und dem Abzug der Franzosen zustimmen würde. Gaddafi blieb so unberechenbar wie eh und je. Immerhin hatte er durch den Tschad-Krieg und die Konfrontation mit den USA die Schattenseiten der internationalen Isolation kennengelernt und versuchte nun, sie zu beenden. Habre traut ihm immer noch nicht, und selbst wenn Libyen seine Forderung auf den Aouzou-Streifen fallenlassen sollte, wird er immer das Schlimmste erwarten. Es scheint durchaus möglich, daß der Konflikt fortgesetzt wird œ zumindest so lange Hissene Habre im Tschad herrscht und Muammar Gaddafi in Libyen. Den Libyern geben ihre enormen Erdölvorkommen einen entscheidenden Vorteil: Es ist egal, wieviel von ihrer militärischen Ausrüstung sie auch einbüßen mögen, sie können neue kaufen. Sie können auch Straßen bauen, Flugplätze errichten und Waffen- und Ausrüstungsdepots im Grenzgebiet -201-
anlegen. Das bedeutet, daß sie im etwaigen nächsten Krieg mit kurzen Nachschubverbindungen kämpfen könnten, während die ohnedies zahlenmäßig unterlegenen tschadischen Truppen eine Wüstenstrecke von 1.600 Kilometer überwinden müßten. Ein anderer libyscher ‡Vorteil— wurde im Frühjahr 1989 bekannt. Amerikanische Quellen berichteten, daß Gaddafi eine Fabrik errichte, in der Giftgas erzeugt werden könnte. Es ist nicht schwer zu erraten, welcher von Libyens Nachbarn das potentielle erste Opfer wäre. Im März 1990 brannte diese Anlage angeblich aus. Der Tschad hat hauptsächlich moralische Vorteile. Die Libyer haben kein Verlangen, für den Aouzou-Streifen zu kämpfen und zu sterben, daher muß Gaddafi Söldner anwerben œ die auch nicht unbedingt für Gaddafi und für den Aouzou-Streifen sterben wollen. Habres Wüstenkämpfer haben 1987 ihre Schlagkraft eindrucksvoll demonstriert. Im Aouzou-Streifen wurden sie nur wegen ihrer Erschöpfung und der fehlenden Fliegerabwehr geschlagen. Da die USA sie nun mit ‡Stinger—-Raketen ausgerüstet haben, ist wohl auch diese Achillesferse beseitigt. 1989 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen Libyen und dem Tschad wiederaufgenommen œ Gaddafi verkündete seine Absicht, alle Streitigkeiten mit ausländischen Staaten friedlich beizulegen, und er stimmte dem Vorschlag zu, den Aouzou-Streit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vorzulegen. Der Tschad reagierte auf diese plötzliche Mäßigung Gaddafis mit großer Vorsicht.
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UGANDA Geographie: 236.036 km2, so groß wie Großbritannien. Bevölkerung: 16,1 Millionen (nach eigenen Angaben 15,1 Millionen). BSP: 230$/Einw. (1986). Flüchtlinge: 250.000 innerhalb Ugandas, 96.000 ugandische Flüchtlinge im Ausland. Nach Uganda sind rund 124.000 Menschen geflohen, davon 118.000 aus Rwanda. Verluste: 1966 starben ca. 2.000 Menschen, als Obote die Buganda unterdrückte. Während der Präsidentschaft Idi Armins starben 250.000 bis 350.000 Menschen. Der Krieg gegen Tansania 1978-1979 forderte 4.000 Menschenleben. Zwischen 1979 und 1986, als Yoweri Museveni an die Macht kam, starben weitere 100.000 bis 300.000. Nach einem US-Außenministerium-Bericht wurden seit damals bis zu 10.000 Menschen getötet. Uganda genießt das seltene Privileg, von einem einzigen Mann zerstört worden zu sein: Feldmarschall Präsident auf Lebenszeit Dr. Idi Amin Dada VC. Die anderen Länder in der Welt haben am meisten unter Kriegen von außen oder innen gelitten, unter Hungersnöten, Massakern, Pogromen und Korruption, sind normalerweise das Opfer von Ideologien, ethnischen Rivalitäten, äußerer Einmischung und den Ambitionen und der Habgier vieler Menschen. Obwohl schon Idi Amins Vorgänger Milton Obote versuchte, eine Diktatur zu errichten und der Wirtschaft und Struktur des Landes erheblichen Schaden zufügte, so war doch der vollständige Ruin, der darauf erfolgte, das Werk von Idi Amin. In der Zeit seiner Präsidentschaft zwischen 1971 und 1979 wurden 250.000 bis 350.000 Ugander getötet. Die 80.000 Menschen zählende asiatische Bevölkerungsgruppe wurde vollständig aus dem Land vertrieben; die Wirtschaft wurde völlig zerstört und die Gesellschaftsordnung so gründlich zerschlagen, daß sie sich davon nicht mehr erholt hat. Nach der Vertreibung Amins durch tansanische Truppen verfiel das Land in einen Zustand des andauernden Bürgerkrieges und wüsten -203-
Banditentums. Schätzungen über die Zahl der Todesopfer reichen von 100.000 bis 300.000. Aus diesem blutigen Chaos ging 1986 eine neue Regierung unter dem Guerillaführer Yoweri Museveni hervor. Zwar wurde im Land noch weiter gekämpft, doch schließlich ergab sich im Sommer 1988 auch die letzte Guerillaorganisation. Es ist jetzt noch zu früh, um zu beurteilen, ob es Museveni gelingen wird, die Nation wieder aufzubauen. Sechzehn Jahre der Zerstörung haben ihm kaum ein Fundament gelassen. GESCHICHTE Im 19. Jahrhundert bestand Uganda aus einer Reihe Stammeskönigtümer, von denen Buganda im Süden das bedeutendste war. Britische Entdecker auf der Suche nach den Quellen des Nil kamen in der Mitte des Jahrhunderts nach Uganda, und bei der Aufteilung Afrikas in den achtziger Jahren steckten die Briten ihre Claims mit Kenia, Uganda und dem Sudan ab. Schließlich wurde Uganda 1894 ein Protektorat. Die gesamte Periode von der britischen Besitzergreifung in Kenia bis zur Unabhängigkeit für Kenia, Uganda und Tanganijka war kürzer als das Leben eines Mannes: Jomo Kenyatta wurde 1889 geboren, vor der Ankunft der Briten, und noch ein Jahrzehnt nach ihrem Abzug war er Präsident des unabhängigen Kenia, bis zu seinem Tod im Jahr 1978. Die Verfassung, die die Briten bei ihrem Abzug 1963 in Uganda hinterließen, sah das repräsentative Amt eines Staatspräsidenten und den faktisch regierenden Ministerpräsidenten vor. Der erste Präsident war der Kabaka (König) von Buganda, der erste Premierminister Milton Obote aus dem Stamm der Langi. Die erste Krise der neuen Nation war eine Armeemeuterei im Januar 1964 nach vorangegangenen Meutereien in den Armeen von Kenia und Tansania. Sie wurden allesamt von britischen Truppen niedergeschlagen. 1966 setzte Obote den Kabaka ab; Oberstleutnant Arnin wurde mit der Besetzung Kampalas betraut. Dabei wurden rund 2.000 Baganda getötet. Obote benötigte die Unterstützung der Armee, um Präsident zu werden, dann aber entglitt ihm die Kontrolle. Während einer Auslandsreise Obotes gelang Amin œ nun Generalmajor œ ein -204-
Staatsstreich, und am 21. Januar 1971 rief er sich zum Präsidenten aus. DIE JAHRE UNTER AMIN Amin stammt aus dem kleinen Stamm der Kakwa, die im äußersten Osten des Landes an der Grenze zum Sudan siedeln. Er wurde in die britische Ostafrika-Armee rekrutiert und war Schwergewichtsboxmeister der King‘s East African Rifles œ ein großer, eindrucksvoller Mann, ein glänzender Ausbilder. Die Briten erkannten einige seiner Fähigkeiten und beförderten ihn zum Offizier, aber viele Jahre lang unterschätzten sie œ ebenso wie Milton Obote œ den Machthunger und die Skrupellosigkeit des riesigen, genialen Soldaten. Arnin begriff von Anfang an, daß die Macht aus den Läufen der Gewehre kommt, und er beschloß, diese Gewehre zu beherrschen. Sein Loyalitätsbegriff war stammesbezogen: Er rekrutierte seine Stammeskameraden für die Armee, ebenso wie auch Männer aus Stämmen der anderen westlichen Nil-Provinzen und aus angrenzenden Bezirken des Sudan und Zaires. Als er sich zum Präsidenten machte, festigte er seine Macht, indem er sich der Soldaten entledigte, die anderen Stämmen angehörten, insbesonders Langi und Acholi. Er tat dies auf höchst effiziente Weise: er ließ sie umbringen. Im Juli 1971 waren 5.000 Mann tot, ungefähr die halbe Armee. Der Rest wurde später getötet. Die neue Armee bestand zu 40 Prozent aus Moslems œ in einem Land, in dem ungefähr 5 Prozent der Einwohner dem Islam angehörten. Die Hälfte der 25.000 Soldaten kam aus dem Sudan, ein Viertel aus Zaire, die übrigen waren Ugander aus dem westlichen Nilland. 1972 vertrieb Arnin völlig überraschend alle Asiaten, die in Uganda lebten. Sie waren zumeist Inder und hatten die britische Staatsbürgerschaft erhalten, als Uganda unabhängig geworden war. Kenia folgte Ugandas Beispiel, wenn auch weit weniger brutal, und Großbritannien nahm widerstrebend die meisten der Vertriebenen auf. Die Auswirkungen auf die ugandische Wirtschaft waren katastrophal. Amin erlaubte seinen Soldaten die Plünderung asiatischen Eigentumes und belohnte seine Anhänger mit den Steilen -205-
und Verträgen, die die Asiaten hinterlassen hatten. Nur wenige von ihnen waren in der Lage, die Geschäfte der Asiaten zu übernehmen, und so mußte Uganda größtenteils ohne sie auskommen. Mittlerweile hatte Amin enge Beziehungen zu Muammar Gaddafi in Libyen aufgenommen, der seinen antiimperialistischen moslemischen Gesinnungsgenossen mit Waffen ausrüstete, seine Spezialtruppen ausbildete und ihm die Ausrüstung für seinen Terrorapparat verschaffte. Amin errichtete mit der Unterstützung des Briten Bob Astles das ‡Staatliche Untersuchungsbüro— (SRB), das ausgeklügelte Operationen gegen alle oppositionellen Gruppen durchführte. Das Büro folterte und ermordete Tausende. Der amerikanische Terrorist Frank Terpil lieferte dem SRB die notwendige Ausrüstung. 1977 schätzte Amnesty International, daß rund 300.000 Menschen dem Aminschen Terror zum Opfer gefallen seien œ dabei hatte er noch zwei Jahre der Schreckensherrschaft vor sich. Im Juni 1975 wurde ein britischer Lehrer in Uganda, Denis Hills, wegen Hochverrat angeklagt und zum Tod verurteilt œ er hatte Idi Amin in einem unveröffentlichten Manuskript als ‡Dorftyrann— bezeichnet. Die britische Regierung schickte Generalleutnant Sir Charles Blair, den Kommandeur der King‘s East African Rifles zur Dienstzeit Idi Amins und Major Iain Grahame, Amins früheren Bataillonskommandanten als Fürsprecher für Hills nach Uganda. Amin verschob die Hinrichtung, und am 20. Juli flog der britische Außenminister James Callaghan nach Kampala und holte Hills ab. Amin verkündete: ‡Das beweist wohl, daß ich nicht verrückt bin, wie britische Zeitungen sagten.— Der Feldmarschall meinte, daß er mit diesem Zwischenfall über die Briten gesiegt habe und verlieh sich das britische Victoria Cross. Am 27. Juni 1976 entführten palästinensische und westdeutsche Terroristen eine Air France-Maschine von Tel Aviv via Athen nach Paris und landeten auf dem Flugplatz von Entebbe in Uganda. Die Deutschen œ ein Mann und eine Frau œ waren Mitglieder der ‡BaaderMeinhof-Bande—, die beiden Araber Mitglieder der ‡Volksfront für die Befreiung Palästinas—. An Bord der Maschine waren 256 Passagiere und 12 Mann Besatzung. Kurz nach der Landung in Entebbe wurden die nichtisraelischen und nichtjüdischen Passagiere -206-
freigelassen und nach Frankreich zurückgeschickt. Der Flugkapitän blieb mit 89 israelischen Passagieren und einer älteren britischen Jüdin, Dora Bloch, zurück. Amin begrüßte die Flugzeugentführer herzlich und erlaubte ihnen, die Maschine zu verlassen und ihre Gefangenen in einen Flugplatzhangar zu bringen. Während die Hijacker mit Israel, Frankreich und Großbritannien verhandelten, bewachten ugandische Soldaten die Gefangenen. Anderen Terroristen wurde erlaubt, sich den Flugzeugentführern anzuschließen. Es war ganz klar, daß Uganda die Terroristen unterstützte. Die Israelis befreiten die Geiseln in der Nacht des 4. Juli mit der Unterstützung anderer Länder œ vor allem mit Hilfe Kenias, das den drei Einsatzmaschinen erlaubte, auf dem Rückflug in Nairobi zu landen und aufzutanken. Die vier Flugzeugentführer, neun weitere Terroristen, 35 ugandische Soldaten und ein Israeli wurden bei dieser israelischen Aktion getötet. Nebenbei zerstörten die israelischen Soldaten in Entebbe 11 MIG der ugandischen Luftwaffe, die auf dem Flugplatz abgestellt waren. Es war eine der kühnsten, wagemutigsten und erfolgreichsten Militäraktionen der Gegenwart, Die erkrankte Dora Bloch war nach Kampala ins Spital gebracht worden, so daß sie als einzige Geisel zurückgelassen werden mußte. Idi Amin schickte Soldaten ins Spital, und sie ermordeten sie in ihrem Bett. Amin ließ jeden töten, der als Oppositioneller gelten konnte und noch nicht ins Ausland entkommen war œ das bedeutete für den Großteil der besser gebildeten und der kaufmännischen Schichten den Tod. Er tötete den Oberrichter und den Armeegeneralstabschef gemeinsam. Eine Lieblingsmordtechnik von ihm bestand darin, eine Reihe von Männern aneinanderzuketten. Dann bekam der zweite einen Prügel in die Hand gedrückt und mußte den ersten erschlagen. Dann bekam der dritte in der Reihe den Knüppel und mußte den zweiten erschlagen. Und so fort. Der letzte wurde erschossen. Die Produktionswirtschaft fiel zwischen 1971 und 1978 um 50 Prozent ab, und die Tee-, Kaffee-, Baumwolle- und Zuckerplantagen haben bis heute noch nicht den alten Stand erreicht. Amin richtete einen ‡Pendelverkehr— zwischen Entebbe und dem Flughafen Stansted bei London ein; so wurde Kaffee exportiert, und kostspielige Autos, Alkohol, Kameras und andere Luxusgüter wurden importiert œ für ihn und sein Gefolge, und für die Soldaten, die auf diese Weise dem -207-
Mangel und auch der Hungersnot entgingen, mit denen die übrigen Ugander zu kämpfen hatten. Amins Beziehungen zu den Nachbarstaaten waren durchwegs schlecht. Milton Obote hatte in Tansania Zuflucht gefunden und versucht, einen Guerillakrieg gegen Amin aufzuziehen, aber er hatte nur wenig Erfolg. Amin haßte Julius Nyerere, den Staatspräsidenten von Tansania, und einmal schlug er einen Boxkampf zur Klärung ihrer Streitigkeiten vor, mit Muhammad Ali als Schiedsrichter, und er bot an, daß er mit einem hinter dem Rücken festgebundenen Arm kämpfen würde. Die Herausforderung wurde ignoriert. Am 16. Februar 1977 wurde der anglikanische Erzbischof von Uganda, Janane Luwum, auf Amins Befehl ermordet. Im Mai 1978 ließ Amin einen prominenten früheren keniatischen Minister, Bruce McKenzie, durch eine Bombe in seinem Flugzeug ermorden. 1974 tötete er seine eigene Frau. Im Laufe des Jahres 1977 gab es in Amins engstem Kreis eine Säuberungswelle, die in der Ermordung des Verteidigungsministers gipfelte. Frank Terpil behauptete später, daß der Kopf des Mannes Idi Amin während eines offiziellen Abendessens auf einem Tablett präsentiert wurde. DER KRIEG GEGEN TANSANIA Ungeachtet aller Anstrengungen Idi Amins herrschte in der Armee Unruhe œ vielleicht fürchteten viele Offiziere, daß sie als nächste an der Reihe sein könnten. Im September 1978 befahl Idi Amin die Invasion Tansanias œ möglicherweise um sie abzulenken, vielleicht aus blindem Irrsinn. Er erhob Anspruch auf ein kleines Gebiet im äußersten Nordwesten von Tansania, westlich des Victoria-Sees, den Kagera-Bogen. Uganda provozierte mehrere Grenzzwischenfälle, und am 30. September schickte Amin seine Armee über die Grenze zum Angriff. Die ugandischen Soldaten kamen ungefähr 30 Kilometer weit und töteten rund 1.500 Zivilisten. Tansania war auf diesen Krieg völlig unvorbereitet. Nur eine Brigade der tansanischen Armee war einsatzbereit, aber sie mußte über 2.400 Kilometer auf der Straße und mit der Eisenbahn an die Front verlegt werden. Abgesehen von diesem kläglichen Beginn, -208-
gelang es den Tansaniern binnen vier Monaten, ihre Armee auf eine Stärke von 75.000 Mann zu bringen, sie gut auszubilden und auszurüsten und zum Gegenangriff anzutreten œ dieser endete mit der Besetzung Ugandas. Die Tatsache, daß die Ugander keine besondere Kampfesfreude zeigten, sollte die tansanische Leistung nicht schmälern. Die einzige ernsthafte Panne passierte ihnen, als tansanische Fliegerabwehrbatterien versehentlich drei eigene MIGs abschossen. Kagera wurde im November befreit. Am 21. Januar 1979 überschritten die Tansanier die ugandische Grenze und rückten auf Kampala vor. Ihr Hauptproblem war die Logistik, aber wenigstens das Nachschubproblem konnten sie durch die riesigen Mengen an Waffen und Material lösen, die sie von den Ugandern eroberten œ alles, von Lastwagen bis Panzern. Im Januar und Februar schossen sie 19 ugandische Flugzeuge ab, und danach gab die ugandische Luftwaffe den Kampf auf. Die Tansanier wurden bei ihrem Einmarsch von einer kleinen Einheit der Anhänger Obotes unterstützt, angeführt von Titus Okello, und von einer unabhängigen Guerillaorganisation unter Yoweri Museveni. Oberst Gaddafi schickte 2.000 libysche Soldaten œ hauptsächlich Angehörige der Miliz, nicht der regulären Armee œ zur Rettung Amins, und sie kämpften zusammen mit einer kleinen Gruppe PLOTerroristen, die in Uganda ausgebildet wurden. Im März traten die Libyer in der einzigen wirklichen Schlacht dieses Krieges zum Gegenangriff auf die Tansanier an. Von den 1.000 beteiligten Libyern wurden 200 getötet, einer geriet in Gefangenschaft. Die tansanischen Schulungsoffiziere hatten den Soldaten erzählt, daß die Araber nach Afrika zurückkämen, um den Sklavenhandel wieder aufzunehmen. Bei der Einnahme Entebbes wurden weitere 300 Libyer getötet. Am 7. April 1979 fiel Entebbe, am 10. April Kampala. Kampalas Einwohner und tansanische Soldaten plünderten gemeinsam die Stadt. Jedes Geschäft, jedes Büro, jedes leere Haus œ und auch solche, die von ihren Bewohnern nicht verteidigt werden konnten œ wurden zerstört. (Die Tansanier hatten große Schwierigkeiten, für die Angelobungszeremonie der neuen Regierung am 13. April 12 Stühle -209-
aufzutreiben.) Als sie schließlich das Haus des Sicherheitsdienstes durchsuchten, fanden sie den Keller vollgestopft mit Leichen und die Büros angeräumt mit teuerster elektronischer Ausrüstung und endlosen Geständnissen über oppositionelle Aktivitäten, viele von verblüffender Genauigkeit. Ugandische Exilanten hatten die ‡Uganda National Liberation Front— (UNLF) gegründet, und stimmten der Ernennung von Yusufu Lule zum Staatspräsidenten zu. Der angesehene Universitätslehrer schien für alle Stämme und Parteien gleichermaßen akzeptabel. Er kam im Gefolge der tansanischen Truppen nach Kampala und trat sein Amt an. Aber er übte niemals irgendeine Autorität aus: Denn es gab keine. Die Regierung war ein Phantom. Lule ernannte einige Minister ohne Rücksprache mit der UNLF. Er wurde am 19. Juni 1979 wieder abgesetzt und durch Godfrey Binaisa abgelöst; Yoweri Moseveni wurde Verteidigungsminister. Der neue Präsident war so machtlos wie der alte. Mittlerweile gewannen die Tansanier die vollständige Kontrolle über das Land. Sie gingen mit großer Vorsicht vor, da sie fürchteten, daß Amin irgendwo eine letzte Festung errichtet haben könnte, so etwa in seinem Heimatort, aber in Wahrheit hatte er das Land verlassen, als die tansanischen Truppen Kamapala erreicht hatten. Er suchte Zuflucht in Saudi-Arabien. In diesem Krieg wurden ungefähr 4.000 Menschen getötet: 373 tansanische Soldaten, 150 ugandische Guerillas an der Seite der Tansanier; 600 Libyer; 1.000 Soldaten Idi Amins; 1.500 tansanische Zivilisten, die von ugandischen Soldaten massakriert wurden; und rund 500 ugandische Zivilisten. DIE ZEIT NACH AMIN Unmittelbar nach dem Ende des Krieges herrschte der Terror. Amins Armee wurde zwar aufgelöst, aber die Soldaten behielten ihre Waffen und schlossen sich zu Banden zusammen. Den Guerillatruppen gelang es nicht, eine neue Staatsordnung zu begründen œ daher gab es gar keine. Amins Soldaten unternahmen von ihren Stützpunkten im Sudan und in Zaire Vorstöße über die Grenze und töteten wahllos Zivilisten und jeden unbewaffneten Soldaten, den -210-
sie finden konnten. Schließlich begann der Kampf der Sieger gegeneinander: Binaisa wurde von der Armee am 12. Mai 1980 abgesetzt. Bei den Wahlen im folgenden Dezember kam es zu offenem Betrug. Dessenungeachtet rief sich Milton Obote zum Sieger aus und wurde zum Präsidenten ernannt. Der wichtigste Guerillaführer, Yoweri Moseveni, zog sich mit seinen Männern in den Busch zurück, wo er die ‡National Resistence Army— (NRA) gründete und einen Bürgerkrieg begann. Die ugandische Armee unter Führung des alten Generals Titus Okello konnte weder Moseveni abwehren noch die Amin-Banditen in Griff bekommen. Tansania zog seine letzten Soldaten im Juni 1981 aus Uganda ab, da Nyerere sich für unzuständig erklärte, in Nachbarländern für die innere Ordnung zu sorgen. Obote klammerte sich an die Macht und verbrachte seine Zeit damit, Rache an seinen zahlreichen Feinden zu nehmen und seine Herrschaft œ gestützt auf seinen Stamm œ wiederzuerrichten. Uganda stürzte in die totale Anarchie. Mosevenis NRA dehnte ihre Kontrolle über den größten Teil des Südens und des Westens des Landes aus und führte einen erbarmungslosen Krieg gegen Okellos Truppen nördlich von Kampala. 1985 gab es Studentenunruhen, die Obote mit großer Brutalität niederschlug. Schließlich brachte der Konflikt zwischen den Angehörigen von Obotes Langi-Stamm und den Acholi das Faß zum Überlaufen. Obote wurde am 27. Juli 1985 von Okello abgesetzt und floh wieder nach Tansania. Okellos Armee zerfiel sofort, so wie Amins Armee sechs Jahre zuvor. Seine Soldaten schlugen sich in den Busch, nahmen ihre Waffen mit œ und schon begann eine Neuauflage des Banditentums und des Bürgerkriegs. Nach sechs Monaten fruchtloser Verhandlungen zwischen Okello und Moseveni brach die Regierung zusammen. Moseveni rief eine Regierung der nationalen Einheit aus und sich selbst am 29. Januar 1986 zum Präsidenten. Moseveni gelang es, im südlichen Teil des Landes so etwas wie Ordnung zu schaffen, aber der Norden und der Westen wurden den Banditen überlassen, die sich nunmehr als ‡Uganda People‘s Democratic Army— (UPDA) bezeichneten und rund 40.000 Mann stark waren. Zwischen dem Sturz von Idi Amin und Mosevenis Sieg -211-
wurden wiederum mindestens 100.000 Menschen getötet, nach manchen Schätzungen sogar bis zu 600.000. Eine neue Figur trug das ihre zum allgemeinen Chaos bei œ Alice Lakwena, die Prophetin und Führerin der Sekte ‡Heilig-GeistBewegung", die vom Acholi-Stamm im nördlichen Uganda unterstützt wurde. 1985 sagte sie der Regierung den Kampf an. Lakwena versprach ihren Gefolgsleuten Unbesiegbarkeit, aber im August 1987 starben 400 Heilig-Geist-Krieger im Kampf gegen Regierungssoldaten. Zum Ende des Jahres war Lakwenas Bewegung zerschlagen, ihre Armee œ am Höhepunkt ihrer Macht rund 7.000 Männer œ auf 500 geschrumpft. Sie suchte Zuflucht in Kenia und verbrachte drei Monate im Gefängnis, wurde dann aber begnadigt. Die Beziehungen zwischen Uganda und seinen Nachbarn sind weiterhin schwierig. Im Dezember 1987 wurden mindestens 15 Menschen bei Zwischenfällen an der Grenze zu Kenia getötet, und die Grenze wurde für einige Tage gesperrt. Im Frühjahr 1988 marschierten Mosevenis Truppen wieder in Norduganda ein, und 8.000 UPDA-Soldaten ergaben sich und wurden amnestiert. Andere UPDA-Führer verweigerten die Anerkennung des Waffenstillstandes und setzten den Kampf fort, vor allem im Osten des Landes. Die Regierung setzte eine Kommission zur Untersuchung der Greueltaten der Vergangenheit ein, die öffentliche Hearings in Kampala abhielt. Die Dinge, die ans Licht kamen, waren mindestens so schrecklich wie alles, was in Pol Pots Kambodscha oder in Zaire unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung geschehen war. Regierungsbeauftragte sammelten die Knochen Zehntausender Menschen ein, die ermordet und deren Leichen auf den Feldern liegengelassen worden waren. In Kampala und allmählich auch im ganzen Land herrschte wieder normales Leben. Aber Ugandas Politik bleibt ein äußerst zerbrechliches Gebilde, da sie in extremer Weise unter zwei der afrikanischen Flüche leidet: Korruption und Stammesdenken. Beamte, die all die Kriege, Massaker, Säuberungen und Revolutionen überlebt haben, haben jeden Respekt vor dem Allgemeinwohl verloren, und sie stehlen alles, was sie in die Hände bekommen. Die Stammeszwistigkeiten, die von -212-
Obote und Amin aufgerührt wurden und zu den schlimmsten Massakern führten, wurden noch nicht beigelegt. Moseveni hat vielleicht eine Schlacht gewonnen, aber den Frieden zu erringen, wird noch weit schwieriger sein.
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ASIEN
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AFGHANISTAN
Geographie: Fläche 647.497 km2, doppelt so groß wie Italien. Die Hälfte des Landes liegt auf einer Höhe von mehr als 2.000 Meter; ein Fünftel ist Wüste. Das Hindukusch-Gebirge, ein Ausläufer des Himalaya, erstreckt sich rund 1.000 Kilometer von Ost nach West und teilt das Land. Diese Berge sind im Durchschnitt 4.500 Meter hoch, die Pamir-Kette gehört mit mehr als 100 Gipfeln zwischen 6.500 und 8.000 Meter zu den höchsten Gebirgen der Welt. Bevölkerung: Die aktuellen Schätzungen reichen von acht bis neunzehn Millionen. 1979 wurde die Bevölkerung mit 13 Millionen gezählt, 1989 auf 16,6 Millionen hochgerechnet. Die größten Stämme: Paschtunen 6:500.000, Tadschiken 3,500.000, Usbeken 1.000.000, Hesoren 870.000, Aimaken 800.000, Farsiwanen 600.000, Balutschen 100.000. Darüber hinaus gibt es ein Dutzend kleinerer Stämme. Die Tadschiken und Usbeken sind mit den größeren Völkern in den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion verwandt, die Paschtunen sind gleichmäßig auf Afghanistan und Pakistan verteilt, die Balutschen siedeln ebenfalls in Pakistan und im Iran. Von den vielen Sprachen sind Paschtu und der persische Dialekte Dari die wichtigsten. BSP: 260 $/Einw. Flüchtlinge: Ende 1988 zählte das US-Flüchtlingskomitee 7,6 Millionen afghanische Flüchtlinge, davon 2 Millionen im Landesinneren, 2,35 Millionen im Iran, 3,272.000 in Pakistan und 5.200 in Indien. Verluste: Die UdSSR beklagte 15.000 Tote, mehr als 300 Mann waren vermißt, es gab mehr als 35.000 Verwundete. Die Schätzungen über die afghanischen Verluste gehen weit auseinander; von 100.000 bis 1 Million. Die US-Regierung glaubt an die letzte Zahl, die jedoch zu hoch gegriffen sein dürfte, selbst wenn man die Opfer von Hungersnot und Seuchen in Afghanistan oder in den Flüchtlingslagern miteinbezieht. Bereits vor dem Krieg starb jedes fünfte afghanische Kind vor seinem 5. Geburtstag. -215-
Afghanistan hatte das Unglück, zum Höhepunkt des sowjetischen Expansionismus zu werden. Es war das letzte Land, in dem eine kleine Gruppe von Revolutionären mit sowjetischer Hilfe die Regierung stürzte und einen kommunistischen Staat etablierte, und es war das letzte Land, auf das die sowjetische Führung die ‡Breschnjew-Doktrin— anwendete. Dieser zufolge übernahm für ein Land, das sich einmal für den Kommunismus als Staatsform entschlossen hatte, das ‡Mutterland des Sozialismus— die Garantie, daß es für immer kommunistisch bleiben würde (siehe OSTEUROPA, TSCHECHOSLOWAKEI). Die Afghanen werden als jenes Volk in die Geschichte eingehen, das als erstes eine sowjetische Okkupationsarmee besiegt und aus dem Land geworfen hat. Der kommunistische Staatsstreich ereignete sich im April 1978, und bald darauf folgte eine generelle Erhebung gegen die neue Regierung. Es wurde bald ersichtlich, daß sich diese ohne sowjetische Hilfe nicht halten könnte, so investierten die Sowjets achtzehn Monate lang Waffen, Geld und Berater in Afghanistan, aber trotzdem drohte die Regierung zu unterliegen. Schlimmer noch, die afghanischen Kommunisten zerfielen in zwei Fraktionen, die einander einen mörderischen Kampf lieferten. Schließlich fielen die Sowjets im Dezember 1979 in Afghanistan ein, installierten in Kabul eine Marionettenregierung und nahmen den Krieg gegen die Rebellen auf. Sie waren nie in der Lage, das Land außerhalb der Städte zu beherrschen und den Aufstand niederzuschlagen. Eine Reihe greiser Sowjetführer wurde mit der Tatsache konfrontiert, daß sie sich auf einen hoffnungslosen Krieg eingelassen hatten, der daheim äußerst unpopulär war und international verheerende Auswirkungen auf ihr Image hatte. 1988 durchschlug Michail Gorbatschow den gordischen Knoten, indem er ganz einfach die sowjetischen Truppen heimholte. Der letzte sowjetische Soldat überquerte die Grenze von Afghanistan in die UdSSR am 15. Februar 1989. Das Land blieb in einem Zustand der Verwüstung zurück und war auch mit dem Problem der Rücksiedelung von mehr als 5 Millionen Flüchtlingen konfrontiert œ die Häuser der meisten waren zerstört. Afghanistan wird vielleicht wie der Libanon die Schrecken des Bürgerkrieges auch weiterhin durchmachen, und es ist auch nicht -216-
absehbar, ob ausländische Mächte, allen voran die UdSSR, die Afghanen tatsächlich in diesem Bürgerkrieg alleinlassen werden. GESCHICHTE Wie viele andere Staaten der Welt ist Afghanistan eine völlig unnatürliche Schöpfung. Es ist ein geographischer Begriff, ein Gebiet auf der Landkarte mit oktroyierten Grenzen, bewohnt von Völkern, die sich zeit ihrer Geschichte bekriegt haben. Der größte Stamm in Afghanistan sind die Paschtunen, die mehr als ein Drittel der afghanischen Bevölkerung ausmachen. Aber die Hälfte des Volkes der Paschtunen lebt in Pakistan, und kein Mitglied des Stammes, in keinem der beiden Länder, akzeptiert die Grenze. Für Bergbewohner bedeuten hohe Berge keine Barriere: Das sind sie nur in der Vorstellung von Flachlandbewohnern. Und der Oxus-Fluß, der die Grenze zwischen Afghanistan und der Sowjetunion bildet, bedeutet nicht mehr als eine Grenze, die seit der Ankunft der Russen vor 100 Jahren Verwandte auf beiden Ufern trennt. Das Gebiet des heutigen Afghanistan war durch viele Jahre Teil größerer Reiche. Diese Reiche umfaßten auch Teile Zentralasiens, die jetzt sowjetische Republiken sind, teilweise oder gänzlich zum Iran gehören, und den Pundschab, der heute großteils pakistanisches Staatsgebiet ist. In der Antike war Afghanistan Teil des Persischen Reiches. Dann wurde es von Alexander dem Großen erobert, und später eroberten seine Stämme ganz Persien und Mesopotamien wie auch den Pundschab. Die Mongolen marschierten durch, später Tamerlan, der lahme Schafhirte aus Samarkand, der alles zwischen Delhi und Anatolien eroberte und den türkischen Sultan in einen Käfig steckte. Im 16. Jahrhundert eroberte Babur der Tiger, ein Nachkomme von Dschingis Khan und Tamerlan, Nordindien und errichtete das Reich der Mogulen in Delhi. Er wählte Kabul für seine Grabstätte aus, und einer seiner Nachkommen errichtete in Agra den Tadsch Mahal, als Grabmal für seine Gemahlin. Im 18. und 19. Jahrhundert eroberten die Briten zwar Indien, aber sie unternahmen niemals ernsthafte Anstrengungen, ihr Herrschaftsgebiet jenseits des Khyber-Passes auszudehnen. Sie besetzten Afghanistan dreimal, 1838, 1878 und 1919. Der erste Krieg -217-
endete mit einer der großen Katastrophen der Geschichte des britischen Empire: Das Expeditionskorps wurde während des Rückzugs aus Kabul ausgelöscht, und der König, den die Briten in Kabul eingesetzt hatten, wurde ermordet. 1878, als sie das Land neuerlich besetzten, mußten sie abermals feststellen, daß sie es nicht halten konnten und zogen sich œ diesmal allerdings mit Erfolg œ zurück. Der dritte Feldzug war kurz und unbedeutend. Es war einer der vielen Fehler der sowjetischen Führer, daß sie die Geschichte Afghanistans niemals sorgfältig studiert haben. Die Briten wiesen dem Land die Rolle eines Pufferstaates zwischen Indien und Rußland zu, und die Russen akzeptierten diesen Gedanken. Die Grenzen wurden gezogen, um zwei Weltreiche voneinander zu trennen, auch wenn das bedeutete, im Osten einen Landstreifen hinzuzufügen, durch den Afghanistan heute œ durch einige der höchsten Berge der Welt œ an China grenzt. Einer Dynastie, die in Kabul südlich des Hindukusch im 18. Jahrhundert ein Königreich errichtet hatte, wurde eine Gebietsausdehnung im Norden zugestanden, bis zum Oxus-Fluß. Ihre Mitglieder wurden die Herrscher des neuen Königreichs. Nach der Russischen Revolution 1917 setzte die Sowjet-Regierung die Politik der Zaren fort œ und mischte sich nicht ein. So blieb Afghanistan in britischer Abhängigkeit und unterhielt gute Beziehungen zur Sowjetunion, bis die Briten Indien aufgaben. Die Schwierigkeiten begannen 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens. Britisch-Indien wurde aufgeteilt, und Pakistan übernahm die alte britische Grenzziehung. Die afghanische Regierung, die bei der Aufteilung des Pundschab nicht befragt worden war, richtete umgehend Gebietsforderungen an Pakistan. Sie forderte, daß der nordwestlichen Grenzprovinz das Recht auf Selbstbestimmung eingeräumt werden müßte œ von der sich Afghanistan die Annexion erwartete. Pakistan verweigerte aber die Behandlung dieser Grenzfrage, und daraus ergab sich ein anhaltender Konflikt zwischen den beiden Ländern. Afghanistan wandte sich um Hilfe an seinen Nachbarn im Norden. Die Vereinigten Staaten waren bereits mit Pakistan verbündet und unterstützten daher seinen Anspruch auf Paschtunistan, und folgerichtig waren die Sowjets bereit, auf die Seite Afghanistans zu treten. -218-
Sie wurden die hauptsächlichen Unterstützer Afghanistans, und das schloß auch militärische Hilfe ein. Die Vereinigten Staaten trugen zwar wesentlich zur Errichtung des Straßennetzes bei, mit dem Afghanistan überhaupt erst erschlossen wurde, aber die herausragendste Ingenieurs-Leistung lieferten die Sowjets: Sie errichteten eine Straße durch den Hindukusch einschließlich des 1.600 Meter langen Salang-Tunnels in 3.000 Meter Höhe, die Kabul mit der sowjetischen Grenze verbindet. Eine Gruppe radikaler Intellektueller gründete am 1. Januar 1965 die ‡Volksdemokratische Partei Afghanistans— (PDPA). Die Hauptführer waren Nur Mohammed Taraki und Babrak Karmal. Vier Jahre später spaltete sich die Partei: Taraki führte die ‡Khalq— (Die Massen), Babrak die ‡Parcham— (Das Banner); beides waren ursprünglich die Namen von Zeitungen, die die beiden Männer herausgegeben haben. Die Khalquis waren Leninisten, die eine kleine militante Kaderpartei als Vorhut des Proletariats errichten wollten, die so rasch wie möglich an die Macht kommen und den Kommunismus im ganzen Land zum Sieg führen sollte. Parcham vertrat die Meinung, daß das Land noch nicht reif für den Kommunismus sei und versuchte, einen gemäßigten Weg einzuschlagen. Für diese Spaltung gab es noch einen anderen Grund. Die KhalqMitglieder waren großteils die Söhne paschtusprachiger Bauern und Nomaden. Die Mitglieder und Führer der Parcham kamen zumeist aus den Städten und sprachen Dari, einen persischen Dialekt. Tarakis Vater war Hirte, Babraks Vater General. Taraki war einige Jahre Presseattache an der Botschaft in Washington. Nurul Amin, der radikalste der Khalq-Führer, hatte in den stürmischen sechziger Jahren an der New Yorker Columbia University studiert. Ungeachtet ihrer leninistischen Ausrichtung befand auch die Sowjetunion Afghanistan noch nicht reif für den Kommunismus œ zunächst einmal gab es gar kein Proletariat. So unterstützte die UdSSR die Parcham. Aber unglücklicherweise war die Khalq besser geführt und erfolgreicher, insbesonders rekrutierte sie mehr Gefolgsleute in der Armee. Von 1953 bis 1963 war der Chef der afghanischen Regierung Sardar Mohammad -219-
Daud Khan, Cousin und Schwager von König Zahir Shah. Er war ein erbitterter Gegner Pakistans in der Causa Paschtunistan und baute die Beziehungen zur UdSSR aus; außerdem unterstützte er vorsichtige Bemühungen zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes. 1963 entließ der König Daud und übernahm selbst die Regierungsgeschäfte. Seine Regierungszeit war unbedeutend. Er war genauso autoritär wie Daud, aber weniger tüchtig. Bei einer Hungersnot im Jahr 1972 starben 100.000 Menschen, und als im Jahr darauf Zahir Shah außer Landes war, unternahm Daud einen Staatsstreich und rief die Republik aus. Das tat er mit der Unterstützung der Parcham-Fraktion der PDPA, wahrscheinlich auch mit Billigung der UdSSR. Doch plötzlich befreite er sich während dieser zweiten Regierungsperiode aus der absoluten Abhängigkeit der UdSSR und verbesserte die Beziehungen des Landes zu Pakistan œ dies auf Drängen des Schah von Persien, der gerne die Führungsrolle in einer Allianz dieser drei Länder übernommen hätte. Die Wiederannäherung an Pakistan war nicht einfach. Sowohl Präsident Bhutto als auch Präsident Zia unterstützten die Paschtun-Guerillas, die Daud bekämpften, und Zia bekundete starke Sympathien für die Moslemextremisten unter ihnen, die Daud wegen seiner Reformmaßnahmen als gefährlichen Kommunisten betrachteten. Mitte der siebziger Jahre versuchte Daud, die Parchami zu säubern, aber da hatte die PDPA bereits festen Fuß in der Armee gefaßt. Im April 1978 ließ Daud nach einer PDPA-Demonstration in Kabul die führenden Linken einsperren. Am 27. April unternahmen ihre Verbündeten in der Armee einen Staatsstreich. Der Präsident wurde bei der Verteidigung seines Palastes getötet, und die meisten seiner Familienangehörigen wurden ermordet. Die PDPA-Führer wurden aus dem Gefängnis befreit und übernahmen die Regierung. Der Khalq-Führer Taraki wurde Präsident, und sein engster Vertrauter Nurul Amin stieg rasch zum mächtigsten Mann in der Regierung auf. Im Juli wurden zehn führende Männer der Parcham-Fraktion, einschließlich Babrak Karmal, als Botschafter ins Ausland geschickt. Babrak Karmal wurde Botschafter in Prag. Im August wurden die übrigen Parcham-Führer verhaftet, einige wurden gefoltert und getötet, und die Botschafter -220-
wurden nach Hause gerufen. Klugerweise verweigerten sie die Heimkehr und fuhren nach Moskau. Taraki und Amin wollten nun den Kommunismus in Afghanistan mit allen Mitteln durchsetzen. Sie reformierten den Landbesitz, die Stellung der Frau und die Zinsengesetze. Der erste ihrer Erlasse begann zwar mit den rituellen Worten ‡Im Namen Gottes des Allmächtigen—, aber diese Formel wurde bald fallengelassen. Die ersten Zeichen von Unruhe wurden bereits im Mai 1978 sichtbar, einen Monat nach der Revolution, und die ersten richtigen Unruhen brachen im September im Osten des Landes aus und griffen bald auf das ganze Land über. Am 12. März 1979 erklärte eine der Widerstandsgruppen, die ‡Nationale Befreiungsfront—, den Heiligen Krieg gegen die gottlose Regierung in Kabul. Die Sowjets versuchten, auf die Khalq einzuwirken, der Opposition Zugeständnisse zu machen und mit traditionellen Führern zusammenzuarbeiten. So hatten sie nach der Revolution ihre Kontrolle über zentralasiatische Länder erreicht, und sie hielten das für die einzige Methode, fanatische und rückständige moslemische Bauern zum Kommunismus zu bekehren. Taraki und Amin fuhren im Dezember 1978 nach Moskau, um einen Vertrag über Freundschaft, gute nachbarschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zu unterzeichnen, der auch eine Klausel über militärischen Beistand enthielt. Gemäß dieser Klausel brachten die Sowjets ein Jahr später Amin um. Der Einfluß Amins in der Regierung nahm stetig zu. Und er versuchte, die Revolution voranzubringen. Dabei erwachte sein Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion, und er wünschte eine vorsichtige Wiederannäherung an die USA, um den sowjetischen Einfluß auszugleichen. Er führte verschiedene Verhandlungen mit dem amerikanischen Botschafter Adolph Dubs, aber Dubs wurde am 14. Februar 1979 entführt. Die Entführer waren offensichtlich maoistische Extremisten; sie hielten ihn gefangen und forderten die Freilassung einer Reihe inhaftierter Gesinnungsgenossen. Aber statt mit ihnen zu verhandeln, stürmten Sicherheitskräfte das Hotelzimmer, in dem Dubs gefangen war, und er kam dabei ums Leben. Die Regierung gab gegenüber den USA weder den Ausdruck ihres -221-
Beileids noch eine Erklärung dieses Zwischenfalles ab. Damit erlosch das Interesse der USA an Afghanistan. Außerdem hatten die Amerikaner zu dieser Zeit durch die Ereignisse im Iran andere Sorgen œ der Schah war einen Monat zuvor aus dem Land geflohen. Im März 1979 wurden bei einem schiitischen Aufstand (unter dem Einfluß der Revolution im Iran) in Herat, der Hauptstadt von Westafghanistan, mehr als 100 Sowjetbürger getötet, von denen einige zuvor schrecklich gefoltert worden waren. Obwohl es den Regierungstruppen gelang, die Stadt zurückzuerobern œ wobei 3.000 bis 5.000 Menschen starben œ, schlitterte das Land immer rascher in die Anarchie. Die Sowjets verstärkten im Lauf der nächsten Monate ihre Präsenz, übernahmen die Sicherheitsaufgaben in den Städten und verwalteten viele Regierungsbereiche. Im Juli stationierten sie nördlich von Kabul ihre erste Kampfeinheit in Afghanistan. Sie suchten auch nach Wegen, Amin zu ersetzen, und überzeugten Taraki, daß Amin ihm gefährlich werden könnte. Taraki war nach und nach von der Macht ausgeschlossen worden und verbrachte die meiste Zeit im Alkoholrausch. Am 14. September 1979 versuchte er, seinen Ministerpräsidenten zu ermorden. Er lud Amin zu einer Besprechung ein, und seine Wachen schossen auf ihn, als er die Stufen zum Präsidentenpalast hinaufstieg. Amin ließ sich die Stufen hinunterrollen und entkam. Er rief Panzer zu Hilfe und nahm Taraki fest. Zwei Tage später verkündete die Regierung, daß Taraki ‡aus Gesundheitsgründen— von allen Ämtern zurückgetreten sei. Am 10. Oktober veröffentlichte die Kabul Times in einem kurzen Artikel die Mitteilung, daß ‡Taraki gestern morgen an einer ernsten Krankheit gestorben sei, an der er einige Zeit gelitten habe—. Ein gutinformierter Beobachter meinte, die ernste Krankheit sei ‡Sauerstoffmangel gewesen, hervorgerufen durch Finger um den Hals und Kissen auf Nase und Mund, behandelt von drei Palastgardisten—. Amin rief sich zum Präsidenten aus. Er hatte jedoch nur sehr kleine Teile der Regierung unter Kontrolle, und die Regierung wiederum nur sehr kleine Teile des Landes. General Ivan Pavlovsky, der sowjetische Offizier, der den Einmarsch in der CSSR 1968 organisiert hatte, verbrachte den August und September in Afghanistan. Amin spürte, daß sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. Er versuchte, die Pakistankarte auszuspielen, und sprach von Wiederannäherung an -222-
Pakistan und die USA. Als jedoch Zia zögerte, den reuigen Sohn willkommen zu heißen, schwenkte er komplett um und kündigte an, daß er antipakistanische und Anti-Khomeini-Guerillas bewaffnen würde. Am 26. Dezember 1979 scheiterte ein Versuch der Sowjets, Amin zu entführen: Sie versetzten seine Mahlzeit mit Drogen und wollten ihn festnehmen. Am 27. Dezember besetzten sowjetische Truppen Militärstützpunkte, Radiostationen und Regierungsgebäude in Kabul und anderen Städten. Sie wollten Amin verhaften, aber wie Daud wollte auch er sich nicht ergeben. Und wie Daud (oder wie Salvador Allende in Chile) wurde er entweder erschossen oder beging Selbstmord. Babrak Karmal, der 18 Monate unter sowjetischer Aufsicht im Exil gelebt hatte, wurde als Ministerpräsident zurückgebracht œ so wie andere Kommunisten im Gepäck der Roten Armee in Osteuropa 1945 zurückgebracht worden waren. Die Sowjets wollten eine neue Regierung einsetzen, mit einer neuen Politik, und sie wollten dem Land auch eine Form von innerem Frieden wiedergeben. Aber es ging alles schief. DIE SOWJETISCHE OKKUPATION 1979-1989 Als die Sowjets 1988 ihren Rückzug aus Afghanistan vorbereiteten, gab die Regierung Gorbatschow zu, daß die Entscheidung, Afghanistan 1979 zu besetzen, von einem halben Dutzend Funktionäre getroffen worden war, spontan, vielleicht waren sie sogar alle betrunken. Durch ein freundliches Geschick sind alle diese Funktionäre bereits tot. Das ist die Art Schadensbegrenzung, die alle Regierungen versuchen. Aber es kann nicht stimmen. Die Invasion mußte von langer Hand geplant werden, und die UdSSR war zuvor achtzehn Monate lang mit weit geöffneten Augen in das Afghanistanabenteuer gestolpert. Das war nicht das Ergebnis einer kleinen Verschwörung gewesen, sondern vielmehr die durchgeplante Aktion einer Regierung. Warum? Eine Erklärung œ die Lieblingserklärung der amerikanischen Hardliner und all derer, die keine Landkarten lesen können œ kann mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden. Die -223-
Invasion Afghanistans hatte nichts mit sowjetischen Ambitionen auf den Persischen Golf zu tun. Sollten sie einmal beabsichtigen, die Straße von Hormuz zu schließen, müßten sie zuerst den Iran niederwerfen und besetzen und selbst das täten sie wohl eher direkt, nicht auf dem Umweg über den Hindukusch, Die Besetzung Afghanistans als ersten Schritt zur Invasion Irans wäre mit einem Einfall der USA in Kanada auf dem Umweg über Alaska vergleichbar. Die sowjetische Invasion in Afghanistan war sinnlos, aber nicht so unsinnig. Es können auch nicht Pläne zur Eroberung Pakistans dahinterstecken; solch ein Unternehmen würde gewaltige Konflikte mit Indien heraufbeschwören, ohne irgendeinen greifbaren Vorteil. Die Sowjets haben in Aden bereits einen strategisch günstigen Marinestützpunkt im Indischen Ozean. Eine andere Interpretation ist, daß die Sowjets die Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus auf ihre zentralasiatischen Republiken vom Iran auf dem Weg über Afghanistan fürchteten. Aber sie waren bereits vor dem Sturz des Schahs in Afghanistan tief verstrickt. Die Furcht vor den Fundamentalisten mag sie bewogen haben, in Afghanistan zu bleiben œ aber die sowjetische Intervention hat den afghanischen Fundamentalismus wesentlich gestärkt und darüber hinaus jede Hoffnung der Sowjets zerstört, im Iran die frühere Verbündetenrolle der USA zu übernehmen. Vielleicht ist die einfachste Erklärung die beste. Die Sowjets wurden in Afghanistan ebenso verstrickt wie die Amerikaner in Vietnam, ohne klare Vorausplanung der Konsequenzen dieser Aktion, und sie unterschätzten die Feindschaft, die ihnen entgegengebracht wurde, ganz enorm. 1979 schien ihnen die eigene Position in Afghanistan zusammen mit der Regierung zusammenzubrechen. Ohne ihre Intervention wäre Amin gestürzt, und Afghanistan wäre entweder in Anarchie gefallen oder ein sowjetfeindliches Land geworden. Beides hätte die Niederlage einer Politik bedeutet, die in ihrer Struktur auf Lenin und die Zaren zurückgeht. Zuletzt war es für Leonid Breschnjew und seine vergreiste Mannschaft sicherlich eine furchtbare Vorstellung, die erste sowjetische Führung zu sein, die ein Land ‡verlor—, das den -224-
sozialistischen Weg eingeschlagen hatte. Aber der kommunistische Staatsstreich war das Werk einiger Offiziere und Intellektueller und repräsentierte nur den Willen einer winzigen Minderheit. Afghanistan hatte eine kommunistische Regierung, und Breschnjew unternahm alles, daß sie nicht gestürzt wurde. Er mag es für eine Parallele zu den Ereignissen in Ungarn 1956 oder Prag 1968 gehalten haben; beide Male hatte die Regierung die Kontrolle verloren, aber die Rote Armee hatte die Situation gerettet. Nach einigen Monaten des Aufruhrs war in beiden Ländern Ruhe eingekehrt, und die Weltöffentlichkeit hatte sich mit den Ereignissen abgefunden. Vielleicht erwartete die Sowjetunion das gleiche in Afghanistan. Ein überwältigender Einsatz sowjetischer Macht würde die Opposition zum Verstummen bringen, und später sollten wirtschaftliche Unterstützung, moderate Politik und das Verstreichen der Zeit die Afghanen an ihre neue Regierung gewöhnen. Es war eine große Fehleinschätzung. DIE SOWJETS UND DIE MUDJAHEDDIN Babrak Karmal sandte am 27. Dezember 1979 im Radio ein Ersuchen um sowjetische Hilfe œ von einer Sendestation auf sowjetischem Staatsgebiet. Seine ‡Gäste— haben seither immer darauf beharrt, daß sie von der Regierung Afghanistans um die Intervention ‡gebeten— wurden. Das ist eine der unverfrorensten Geschichtslügen der Moderne. Babrak war eine hundertprozentige Marionette, der niemals ein Wort sagte oder eine Weisung erließ, die nicht von seinen sowjetischen Herren vorbereitet gewesen wäre. Er war so willfährig und daher so unbeliebt, daß die Sowjets ihn zuletzt am 4. Mai 1986 durch Mohammed Najib ersetzten, einen früheren Polizeichef, den sie für fähiger und vorzeigbarer hielten. Es war ein Irrtum. Najib fand in der Öffentlichkeit nicht mehr Zustimmung als Babrak. So änderte er zum Beispiel œ als Ministerpräsident eines tiefreligiösen Landes! œ seinen ursprünglichen Narnen Najibullah, ‡Edler Mann Gottes—, da er ihm zu religiös erschien. (Er machte diese Änderung wieder rückgängig, als er Staatspräsident wurde.) Die Sowjets fanden bald heraus, daß sie Afghanistan direkt beherrschen mußten. Nach all den Morden, Hinrichtungen und -225-
Massakern der vorangegangenen Jahre gab es einfach nicht mehr genug afghanische Kommunisten, um alle Stellen zu besetzen und die Khalq und Parcham setzten ihren Kampf mit der ganzen Wildheit einer Stammesvendetta fort. Als die Invasion begann, erhob sich das ganze Land gegen die Regierung. Die 2 Rote Armee hielt Kabul, aber die Rebellen, die Mudjaheddin (‡Heilige Krieger—), hielten Kandahar und Herat, die zweit- und drittgrößte Stadt des Landes. Die Sowjets mußten sie mit Bombern und Panzern zurückdrängen, und, wie ein Beobachter feststellte, ‡kämpften sich in Kandahar brutal von Haus zu Haus, wie im 2. Weltkrieg—. Die afghanische Armee brach als tatsächlich kämpfende Truppe zusammen, von 1979 bis 1981 sank der Mannschaftsstand von 90.000 bis 100.000 Männern auf rund 30.000. Manche Einheiten liefen geschlossen und mit ihren Waffen über, und die übrigen Soldaten, die entweder eingeschüchtert oder gekauft wurden, werter zu kämpfen, waren ohne militärischen Wert. Sowjetische Truppen konnten jede Stadt oder jedes Dorf oder jedes Tal einnehmen, aber sie konnten sie nicht halten, ohne gewaltige Verstärkungen nach Afghanistan zu bringen. Zu keiner Zeit waren mehr als 120.000 sowjetische Soldaten in Afghanistan (verglichen mit rund 550.000 Amerikanern auf dem Höhepunkt des VietnamKrieges), und das war bei weitem nicht genug. Vielleicht fürchteten sie zu hohe Verluste. Vielleicht konnte die sowjetische Armee einfach auch nicht genug Soldaten nach Afghanistan abstellen. Sie litt schwer unter den Folgen der sinkenden Geburtenraten und den enormen Ansprüchen, die die Besetzung Osteuropas und die Sicherung der Grenzen an sie stellte. Da sie keine Million Männer entbehren konnte, begnügte sie sich lieber mit dem Minimum œ gerade genug, um die großen Städte zu halten und die Verkehrsverbindungen zu sichern. Im restlichen Gebiet ihres neuen Lehens vertrauten sie auf ihre Luftwaffe. Rebellengebiete wurden gnadenlos bombardiert. Minen wurden über das ganze Land verstreut, viele von ihnen angeblich als Spielzeug getarnt, damit sie von Kindern aufgesammelt würden. (In Flüchtlingslagern gibt es tatsächlich eine große Zahl von Kindern, die mindestens einen Arm -226-
oder ein Bein verloren haben.) Die Sowjets schickten auch Panzerkolonnen in die Täler und zerstörten die Dörfer, die Bewässerungsanlagen, Landstraßen und Brücken. Es war eine Politik der verbrannten Erde, ihre Politik war, eine Leere zu schaffen und sie Frieden zu nennen. Sie waren im Irrtum. Sie trieben mehr als drei Millionen Flüchtlinge nach Pakistan und zwei Millionen in den Iran, aber sobald die Männer ihre Familien in Sicherheit gebracht hatten, kehrten sie zurück in den Kampf. Sie lernten den Umgang mit modernen Waffen, und mehr noch, sie lernten moderne Taktik œ vor allem die Notwendigkeit der Unterordnung und Zusammenarbeit mit anderen Afghanen. Sie überfielen sowjetische Konvois, in einem Land, das für Hinterhalte wie geschaffen ist. Sie griffen abgelegene Flugplätze und Militärstützpunkte an. Sie sickerten nach Kabul ein und überfielen die sowjetische Botschaft, das PDPA-Hauptquartier , das sowjetische Militärkommando. Der afghanische Provinzgouverneur von Kandahar lebte und arbeitete in einem sowjetischen Stützpunkt. Die Mudjaheddin schickten sogar Stoßtrupps über den Oxus in die UdSSR. Die Sowjets waren niemals in der Lage, die hohen Berge im Zentrum des Landes zu erobern œ das Hazarajat-Gebirge, das ungefähr ein Viertel der gesamten Landesfläche umschließt. In diesen Gebirgszügen gibt es Hunderte Paßübergänge nach Pakistan. Die Sowjets versuchten, die wichtigen von ihnen zu blockieren, indem sie starke Garnisonsfestungen in den Tälern auf dem Weg dorthin errichteten. Die Mudjaheddin belagerten die Garnisonen. In ihrer letzten Offensive, Weihnachten 1987, unternahmen die Sowjets einen gewaltigen Vorstoß zur Rettung eines belagerten Forts in Khost, etwa 160 Kilometer südlich von Kabul. Ein schwer gepanzerter Konvoi kämpfte sich den Weg in die Stadt frei und brachte Nachschub. Dann kämpften sich die sowjetischen Soldaten wieder zurück und überließen die Stadt der weiteren Belagerung. Bei der Betrachtung mancher Berichte über Greueltaten und Verlustzahlen ist sicherlich eine gewisse Skepsis angebracht. So veröffentlichte die amerikanische Regierung einmal die Meldung, daß die Sowjets Giftgas verwenden würden, wofür es aber niemals einen -227-
Beweis gab œ eine ähnliche Behauptung wurde auch über die Vietnamesen in Laos aufgestellt, auch damals ohne Beweis. Und auch die häufigen Berichte über vermintes Spielzeug, das überall im Land verstreut worden sein soll, sind vorsichtig einzuschätzen. Im afghanischen Widerstand haben sich sieben politische Parteien herausgebildet. - ‡Hizbilslami— (Islamische Partei), geführt von Yunis Khalis. Die meisten Angehörigen sind Paschtunen aus Jalalabad. - ‡Hizbilslami— (Islamische Partei), geführt von Gulbuddin Hekmatyar; Louis Dupree von der American University bezeichnet ihn als pragmatisch, opportunistisch, revolutionär. Seine Anhänger sind hauptsächlich Paschtunen. (Diese beiden gleichnamigen Parteien sind nicht zu verwechseln.) - ‡Jamiat Islami— (Islamische Gesellschaft), geführt von Burnahuddin Rabani; sie kämpft für eine Islamisierung des Landes, ihre Anhänger sind vorwiegend œ aber nicht nur œ Nicht-Paschtunen, überall im ganzen Land. - ‡Itehad-Mslam-Baray Azadi Afghanistan— (Islamische Allianz zur Befreiung Afghanistans), geführt von dem Traditionalisten Abdul Rasul Sayyaf. - ‡Islami Melli Mahaz— (Nationale Islamische Front), geführt von Pir Sayyid Ahmad Gailani, einem gemäßigten, modernistischen Monarchisten. Ihr gehören hauptsächlich Paschtunen im Süden und Osten des Landes an. - ‡Jabahaiyi-Nijat Melli— (Nationale Befreiungsfront), geführt von Sigbratullah Mojadidi, einem traditionalistischen Monarchisten. Sie hat vor allem im Süden und Osten rund um Kandahar Bedeutung. - ‡Harakatilnqelabilslami— (Islamische Revolutionäre Bewegung), geführt von Maulawi Mohammad Mohammadi, einem gemäßigten Revolutionär. Sie ist im Südwesten und Westen am stärksten. Im Mai 1985 trafen Vertreter der sieben Gruppen in Peshawar in Pakistan zusammen und gründeten die ‡Isiamiltehad-Afghanistan Mudjaheddin—, die Islamische Vereinigung Afghanischer Krieger, die bekannt wurde als ‡Die Einheit—. Aber die Parteien verschmolzen nicht. Die Präsidentschaft der Einheit wechselte zwischen den sieben -228-
Führern nach dem Rotationsprinzip in dreimonatigem Abstand. Sie trafen zusammen, um eine gemeinsame Vorgangsweise zu beraten, wie es unter den afghanischen Stämmen üblich ist. Im Iran wurde eine Dachallianz aus vier schiitischen afghanischen Widerstandsbewegungen gebildet. Sie kontrollierten vor allem die Mitte des Landes und hatten wenig Kontakt mit den Sieben von Peshawar. Die Rebellenarmeen der Einheit behaupteten, 150.000 Soldaten im Kampf zu kommandieren, mit etwa noch einmal so viel in Reserve. In Afghanistan sind viele Kommandeure aus dem Mannschaftsstand aufgestiegen. Einer von ihnen war Ahmad Shah Massoud, der die Rebellen im Pandschir-Tal in Nordostafghanistan kommandierte. Er war ein glänzender, erfolgreicher Kommandeur, und da sein Operationsgebiet relativ leicht zugänglich war, wurde er in der Welt bekannter als die meisten anderen Widerstandsführer. Jedes Jahr unternahmen die Sowjets mit bis zu 20.000 Soldaten Offensiven gegen ihn. Sie besetzten das Tal, es gelang ihnen aber nicht, Massoud und seine Männer in die Berge zu verfolgen, von wo sie zurückkamen, sobald die Sowjets wieder abzogen. Dieses Spiel wiederholte sich während des ganzen Krieges œ allerdings mußten in jeder neuen Runde mehr sowjetische Soldaten eingesetzt werden, da Massouds Truppe wuchs und immer besser bewaffnet und ausgebildet war. Andere Widerstandsführer waren Abdul Haq in Kabul, Ismail Khan in Herat, Mullah Maleng in Kandahar und Jallaluddin Haqqani in Paktia. Sie sind entweder Mitglieder der Hizbilslami von Yunis Khalis oder der Jamiat Islami. Nach Einschätzung von Louis Dupree sind diese beiden Gruppen die wichtigsten und mächtigsten, dank ihrer Verwurzelung im Land, im Gegensatz zur Gruppe Hekmatyars und den Monarchisten, die in Peshawar prominent sind, im Inneren des Landes aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Afghanistanexperten beurteilen die Stärke der verschiedenen Widerstandsgruppen unterschiedlich. Dupree denkt, daß die Gruppen des Landesinneren ihre Konflikte untereinander begraben und nach der Niederlage der afghanischen Regierung zu einer Koalitionsregierung finden könnten. Nach weniger optimistischen Einschätzungen könnten die Animositäten der sieben Gruppen -229-
untereinander und ihre Zersplitterung nach Stammes-, Sprach- und Ideologiekriterien zu einem folgenden blutigen Bürgerkrieg führen. Das wäre dann nicht Vietnam, mit einer einzigen, zielstrebigen Revolutionspartei. In Afghanistan verbindet die verschiedenen Rebellengruppen nur ein einziger Wunsch: die Besatzer und ihre Marionetten zu vertreiben. Andere Pessimisten halten es für möglich, daß die Partei von Hekmatyar siegreich aus dieser Auseinandersetzung herausgeht, die den USA genauso feindlich gegenüber steht wie der UdSSR und die Afghanistan in eine Islamische Republik umwandeln und alle Oppositionellen abschlachten würde. Dann blieben natürlich noch die Streitkräfte der Kommunistischen Partei übrig, schwer bewaffnet, von sowjetischen Beratern gut ausgebildet, mehr als 100.000 Mann. Angeblich wurden den Parteikadern Pässe ausgestellt, um im Falle des Zusammenbruches der Regierung in die Sowjetunion entkommen zu können. Von Anfang an spielten die USA beim Aufbau des Widerstands eine bedeutende Rolle. Zuerst schickte die Regierung Carter Waffen an die Mudjaheddin; unter Reagan wurde der Umfang der Lieferungen ständig erhöht. Mitte der achtziger Jahre wurde schließlich auch jeder Anschein einer verdeckten Operation fallen gelassen. Die USA investierten in die Widerstandskämpfer rund 3 Milliarden Dollar und Saudi-Arabien, China und andere Länder steuerten insgesamt auch noch eine Milliarde Dollar bei. Ab 1986 rüsteten die USA die Mudjaheddin mit amerikanischen ‡Stinger—- und britischen ‡Blowpipe—-Luftabwehrraketen aus, und im Sommer 1987 verloren die Sowjets œ nach Schätzungen œ aufgrund dieser Waffen im Schnitt täglich einen Hubschrauber oder ein Flugzeug. Daher mußten sie ihre Tiefflugangriffe auf afghanische Dörfer aufgeben und konnten sie nur noch aus großer Höhe bombardieren, was bedeutete, daß sie ihre Konvois auf den Landstraßen nicht mehr so wirksam abschirmen konnten. Vor allem die ‡Stinger— stellte sich als tödliche Waffe heraus. Einige der Mudjaheddin verkauften ihre ‡Stinger— an den Iran œ zum Einsatz gegen den Irak oder auch gegen die USA. Eine Auswirkung des Krieges war das Scheitern der Bemühungen -230-
um das Ende des Opiumanbaues in Afghanistan und Pakistan. Der US-Drogenbureau-Bericht 1988 hält fest, daß Afghanistan derzeit zwischen 400 und 800 Tonnen Opium pro Jahr herstellt, nach Birma die höchste Produktionszahl. Vielleicht ist das zu niedrig geschätzt; aus verschiedenen Gründen sind Schätzungen derzeit schwierig. Über den Khyber-Paß wird ein umfangreicher Opiumhandel abgewickelt, und die Afghanen, ganz gleich, welche Seite sie unterstützen, sind Nutznießer dieses gewaltigen Schmuggelmarktes. Die Auswirkungen auf Pakistan waren zweifach: einerseits stieg das Volkseinkommen rasch an, anderseits wurde die Bevölkerung ebenso wie die Regierung korrumpiert, und Sucht und Kriminalität sind angestiegen. DIPLOMATIE Die Invasion Afghanistans bescherte der Sowjetunion ein Desaster, jahrelang war in den Vereinten Nationen jede Resolution der UdSSR, in der der Westen angegriffen wurde, mit großer Mehrheit beschlossen worden. Aber nach dieser Invasion verabschiedete die UNO jedes Jahr Resolutionen œ mit wachsender Mehrheit œ, in denen nicht nur die Okkupation verurteilt, sondern auch die UdSSR namentlich genannt und zum Rückzug ihrer Truppen aufgefordert wurde. Fidel Castro unterstützt die Sowjets zwar in der Öffentlichkeit, privat meinte er aber, daß sein eigener Einfluß in der Welt dadurch ruiniert werde. Er hatte gehofft, 1983 auf der Konferenz von Neu-Delhi zum Vorsitzenden der Blockfreienbewegung gewählt zu werden, aber statt dessen mußte er herbe Kritik wegen seiner Unterstützung der sowjetischen Politik einstecken. Das einzige blockfreie Land, das sich mit der Kritik an der UdSSR zurückhielt, war Indien sein Konflikt mit Pakistan war wichtiger als alle anderen Überlegungen. Die Invasion zerstörte auch das Klima der Entspannung mit den USA. Der SALT-II-Vertrag, sieben Jahre lang mühsam ausgehandelt und am 18. Juni 1979 unterzeichnet, wurde deswegen dem US-Senat niemals zur Ratifizierung vorgelegt. Die UdSSR hatte atomare Mittelstreckenraketen SS-20 in Osteuropa aufgestellt, und die NATO hatte beschlossen, im Gegenzug amerikanische Raketen in Westeuropa zu stationieren. Es steht wohl außer Zweifel, daß das Einverständnis der europäischen Staaten, unberührt von einer -231-
gewaltigen diplomatischen Kampagne der Sowjetunion, durch die Ereignisse in Afghanistan bestärkt wurde. Jimmy Carter betrachtete die Invasion törichterweise als persönliche Beleidigung und sagte die Teilnahme der Amerikaner an den Olympischen Spielen 1980 in Moskau ab. Am 23. Januar 1980 proklamierte er die ‡Carter-Doktrin—, gemäß der ‡jeder Versuch einer auswärtigen Macht, die Kontrolle am Persischen Golf zu erlangen, als ein Angriff auf die lebenswichtigen Interessen der Vereinigten Staaten 6 betrachtet wird, und solch ein Versuch wird mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zurückgewiesen werden, einschließlich militärischer Gewalt—. Dann wurde mit der ‡Rapid Deployment Force— die schnelle Eingreiftruppe gegründet, die mit Afghanistan ebensowenig zu tun hatte wie die sowjetische Invasion mit dem Persischen Golf. Carter setzte diese Überreaktion, da die Afghanistaninvasion unmittelbar nach der Besetzung der USBotschaft in Teheran erfolgte, und er wollte schlagkräftig und entscheidungsfreudig erscheinen, auch wenn er nichts tat, um den Afghanen zu helfen oder die Iraner einzuschüchtern. Während der nächsten neun Jahre pendelte die amerikanische Politik zwischen ‡Laßt die Sowjets bluten!— und der Suche nach einer Lösung des Afghanistanproblemes. Die Hardliner gewannen, und um einen Preis von 600 Millionen Dollar pro Jahr unterstützten die USA die Widerstandskämpfer so lange, bis die Sowjets den Abzug beschlossen. Dieses Ergebnis wiederum löste bei den Falken in Washington großes Erstaunen aus, die so fest überzeugt waren, daß die Sowjetunion, per definitionem, eine expansionistische Politik betreiben müsse, daß sie es schon fast unmöglich gefunden hatten, Gorbatschow und Glasnost zu akzeptieren. Die Konsequenz dieser amerikanischen Politik und des plötzlichen Rückzugs der UdSSR war, daß Afghanistan danach der völligen Anarchie überlassen blieb, ein Libanon Zentralasiens, eine Verlockung für alle Nachbarstaaten œ Iran, Pakistan, und abermals die UdSSR sich einzumischen. Sowohl unter Carter wie unter Reagan versuchten die USA, ihr eigenes Engagement so unauffällig wie möglich zu halten. Das war nicht ganz einfach, bei Waffenlieferungen im Wert von 600 Millionen Dollar, aber im großen und ganzen doch erfolgreich. Der Zweck war, den Sowjets nicht die Möglichkeit zu geben, den Krieg in einen Ost -232-
West-Konflikt oder einen antikolonialistischen Kampf umzudeuten, mit den Amerikanern als den Bösewichten. Die Sowjets taten zwar ihr Bestes, um das Image zu verändern, aber es gelang den Amerikanern, daß die Welt den Kampf um Afghanistan als einen Nord-Süd-Konflikt ansah, mit der Sowjetunion als dem imperialistischen Aggressor. Im Juni 1982 versuchte die UNO, in Genf Gespräche zwischen der afghanischen und der pakistanischen Regierung einzuleiten, unter der Führung des Stellvertretenden Generalsekretärs Diego Cordovez, einem Rechtsanwalt aus Ecuador. Diese Verhandlungen wurden ‡nachbarschaftliche Gespräche— genannt, da Pakistan die Regierung in Kabul weder anerkennen noch mit ihr verhandeln wollte. Die beiden Delegationen trafen nie zusammen. Sechs nutzlose Jahre reiste Cordovez. zwischen den Regierungsbüros hin und her und versuchte zu vermitteln. Es gelang ihm nicht, irgendein Abkommen herbeizuführen. Die wahren Gegner waren die Sowjetunion und der afghanische Widerstand, und eine Veränderung der Situation in Afghanistan war ohne einen Kurswechsel in Moskau nicht möglich. Dieser geschah dann im Frühjahr 1988 œ oder wurde zumindest zu dieser Zeit vollzogen. Seit längerem hatten sich die Anzeichen gemehrt, daß die Sowjets den Krieg leid waren. Eine Auswirkung von Glasnost war, daß die sowjetischen Zeitungen wahrheitsgetreu über den Krieg berichteten, und auch über die Zahl der Verluste und Verwundeten sowie über die triste Situation der AfghanistanHeimkehrer. Bald wurde es für Ausländer in Moskau deutlich spürbar, daß der Krieg sehr unpopulär war. Nach einer letzten Auseinandersetzung mit Washington, wann oder ob die beiden Seiten die Waffenlieferungen für ihre jeweiligen Schützlinge stoppen würden, verkündete Gorbatschow am 7. April 1988 den Abzug der sowjetischen Truppen. Er wählte dafür einen ungewöhnlichen Anlaß, nämlich den Besuch einer Kolchose bei Taschkent. Er hatte eben Präsident Nadjibullah in dieser Stadt getroffen, ihn von seiner Entscheidung informiert und zu Stillschweigen verpflichtet œ so wie Henry Kissinger es mit Süd-Vietnam beim Pariser Abkommen von 1973 gemacht hatte. Die Fernsehkameras übertrugen Gorbatschows Gespräch mit Bauern auf dem Feld, und nebenbei teilte er ihnen mit, daß der Abzug im nächsten Monat beginnen sollte. Das Abkommen wurde von Pakistan und Kabul am 14. April in -233-
Genf unterzeichnet. Der sowjetische Außenminister Edward Schewardnadse und der amerikanische Außenminister George Shultz unterschrieben als Garanten. Es war nicht ganz klar, was das eigentlich alles bedeutete, und in dem Text gab es eine Menge unklarer Stellen. Die Sowjets sagten, daß sie ihren Rückzug am 15. Mai beginnen und neun Monate danach abschließen würden, aber es war offensichtlich, daß sie danach noch weiter präsent sein wollten und daß der Krieg weitergehen würde. Die USA und die UdSSR kamen überein, daß keiner seinen Verbündeten mit Waffen beliefern sollte, so lange der andere sich auch an das Abkommen hielt. Am 10. April 1988 explodierte ein gewaltiges Mudjaheddin-Waffen- und Munitionsdepot in Rawalpindi, wobei einige hundert Menschen ums Leben kamen. Das Ausmaß der Explosion unterstrich eindringlich den Umfang der Waffenlieferungen der Amerikaner und anderer Staaten an die Mudjaheddin. Ob sich die USA und die UdSSR nun an den Lieferungsstop hielten oder nicht, es war klar, daß beide afghanischen Seiten genügend gerüstet waren, um diesen Bürgerkrieg unverändert fortzuführen. Der sowjetische Abzug begann fahrplangemäß. Die westlichen Medien waren eingeladen, dabeizusein, wie die Truppen Kabul verließen und wie sie bei ihrer Ankunft am Oxus begrüßt wurden œ ‡mit Ansprachen, Blumen und der Freude ihrer Angehörigen—. Das sowjetische Fernsehen übertrug diese bewegenden Szenen, eine weitere Demonstration von Glasnost und der Verbesserung der PRTechnik unter Gorbatschow. Das Genfer Abkommen sah vor, daß die Sowjets die Hälfte ihrer 120.000 Soldaten bis zum 15. August und den Rest bis zum 15. Februar 1989 abgezogen haben sollten. Die Wahrscheinlichkeit, daß Najibullah ihren Abzug nicht lange überstehen würde, beeinträchtigte ihr Vorhaben nicht. Der Abzug wurde reibungslos und erfolgreich abgewickelt. Der letzte sowjetische Soldat, Generalleutnant Boris Gromov, schritt am Mittag des 15. Februar über die Freundschaftsbrücke, seinem vierzehnjährigen Sohn entgegen, der Blumen in Händen hielt. Gromov, der letzte sowjetische Kommandeur in Afghanistan, warf keinen Blick zurück. Er bestritt, daß seine Truppen besiegt worden seien und hielt daran fest, daß sie ihre ‡internationalen Verpflichtungen— erfüllt hätten. 15.000 sowjetische -234-
Soldaten waren gefallen. Schon vor dem Abzug der letzten sowjetischen Einheiten richteten die Mudjaheddin einen Großangriff gegen Jalalabad, die wichtigste Stadt an der Straße von Kabul nach Osten zum Khyber-Paß. Die Belagerung dauerte mehrere Monate, und schließlich begannen die Mudjaheddin, sich untereinander zu bekämpfen. Gulbuddin Hekmatyars Islamische Partei wollte die anderen Gruppen und auch die Widerstandsbewegungen im Landesinneren beherrschen. Die Regierung Najibullah überstand ihr erstes Jahr ohne größere Niederlage, sehr zum Erstaunen der Mudjaheddin und der sie unterstützenden Amerikaner und Pakistaner. Die UdSSR lieferte weiterhin Waffen und Munition und gab dem Land die lebensnotwendige Wirtschaftshilfe, und die Amerikaner setzten die Unterstützung der Rebellen mit Einschränkungen fort. Die verschiedenen Rebellenorganisationen schafften es nicht, zu gemeinsamen Operationen gegen die Regierung zusammenzufinden, und immer wieder brachen zwischen ihnen Kämpfe aus. Auf lange Sicht hat Najibullah keine guten Überlebenschancen. Die UdSSR wird ihn noch eine Weile unterstützen, aber irgendwann wird das zu Ende sein, und der Widerstand zeigt kaum Anzeichen, den Kampf einstellen zu wollen. Verschiedene Versuche, die Streitparteien an den Verhandlungstisch zu bringen, sind gescheitert. Das Genfer Abkommen sieht vor, daß der frühere UNOFlüchtlingshochkommissar Saddrudin Aga Khan die Repatriierung der geschätzten sieben Millionen Flüchtlinge überwachen sollte. Das wird eine langwierige und teure Aufgabe. Nach Angaben eines Widerstandsführers sind 60 Prozent der Häuser in Afghanistan zerstört, und 60 Prozent des kultivierten Anbaugebietes sind unbrauchbar, da Kanäle und Bewässerungssysteme verkommen oder zerstört worden sind. Wenn die Flüchtlinge alle zurückkommen, wird es ein Massensterben geben.
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BANGLADESCH Geographie: Fläche 143.998 km2. Bevölkerung: 112 Millionen, sie nimmt jedes fahr um etwa 2,5 Prozent zu (rund 700 Einw./km×) BSP: 160$/Einw. Flüchtlinge: 50.000 in Indien. GESCHICHTE Die Unabhängigkeit von Bangladesch ist das Ergebnis des Zerfalls von Pakistan im Bürgerkrieg von 1971 (siehe PAKISTAN). Das Land war ein einziges Chaos œ die geschlagene pakistanische Armee, die übriggebliebenen Anhänger eines vereinigten Pakistan, die indische Armee und die Guerillaarmee von Bangladesch (die Mukti Fauji), alle kämpften im dichtestbevölkerten Land der Welt, Bangladesch ist ein Kind der Gewalt und ist diese Gewalt bis zum heutigen Tag nicht mehr losgeworden. Die zu Pakistan loyalste Bevölkerungsgruppe im späteren Bangladesch waren die Bihari, urdusprachige moslemische Flüchtlinge aus der indischen Provinz Bihar, die 1947 nach OstPakistan geflüchtet waren, um den Massakern der Teilung des Landes zu entkommen. 1946 wurden 30.000 moslemische Bihari von Hindus getötet, 1947 waren es noch mehr. In den Schrecken der Teilung von Britisch-Indien in Indien und Pakistan flohen 1,3 Millionen Moslems von Indien nach Ost-Pakistan, davon eine Million Bihari. Umgekehrt flüchteten 3,3 Millionen Hindus aus Ost-Bengalen nach Indien. Die Bihari konnten sich unter den Bengalen niemals assimilieren, und als Mohammed Ali Jinnah, der Gründer Pakistans, Urdu zur Staatssprache des westlichen wie des östlichen Landesteiles erklärte œ gegen die vehemente Opposition der Bengalen œ, waren die Bihari in Ost-Pakistan plötzlich begünstigt, und sie übernahmen die Regierungs- und Beamtenstellen, in denen Urdukenntnisse notwendig waren. Als die Spannung zwischen den beiden Gruppen im Land 1970/71 den Höhepunkt erreichte, wurden die Bihari im Osten die -236-
logischen Opfer der bengalischen Verfolgung, und in Dhaka (damals Dacca) und anderen Städten wurden Hunderte getötet. Als Präsident Yahja Khan im März 1971 das Kriegsrecht über OstPakistan verhängte, den Führer der Awami-Liga Scheich Mujibur Rahman einsperrte und die Liga zur verbotenen Organisation erklärte, schlugen sich die Bihari auf die Seite der pakistanischen Zentralregierung. Sie rächten sich an ihren bengalischen Unterdrückern, indem sie die Anstrengungen der pakistanischen Armee zur Unterdrückung des bengalischen Nationalismus nach Kräften unterstützten. Nach offiziellen Angaben Bangladeschs wurden von März bis Dezember 1971 3 Millionen Menschen ermordet. Die wahre Zahl beträgt wohl zwischen 300.000 und 500.000 Opfern. Die Massaker gingen bis Ende 1971 weiter, und nach der Niederlage der Pakistani wurden viele Bihari ermordet. Besonders grauenhaft war der 18. Dezember, als ein bengalischer Terrorist biharische Gefangene im Fußballstadion von Dacca vor zahlreichen johlenden Zuschauern tötete. Ein britisches Fernsehteam war dabei und hat dieses Ereignis aufgezeichnet. Auch in den folgenden Monaten starben noch viele Bihari, aber es waren bei weitem nicht so viele, wie man von ähnlichen Anlässen auf dem Subkontinent zu erwarten gewohnt war. Heute lebt in den Slums von Dhaka eine Minderheit von einigen hunderttausend Bihari, in Armut und unterdrückt. Ihnen hilft niemand, weder Bangladesch, noch Pakistan, noch Indien. DAS UNABHÄNGIGE BANGLADESCH Der unumstrittene Führer des neuen Staates war Scheich Mujibur, der Führer der Awami-Liga, der Ministerpräsident wurde. Er mag ein guter Oppositionsführer gewesen sein, aber er war ein schlechter Staatsmann. Er enttäuschte viele von denen, die den Kampf um die Unabhängigkeit geführt hatten, und er regierte das Land in autoritärem, patriarchalischem Stil, ungeachtet aller Naturkatastrophen, Hungersnöte und des immer rascheren Zerfalls. Im Dezember 1974 rief er den Staatsnotstand aus. Im Januar 1975 hob er die Verfassung auf, ernannte sich zum Präsidenten und verbot -237-
jede Opposition. Am 15. August wurden Mujibur und einige seiner Familienangehörigen von einer Gruppe von Armeemajoren ermordet. Sie riefen den bisherigen Minister Khondakar Musthaque Ahmad zum Staatspräsidenten aus und verhafteten die engsten Vertrauten Mujiburs. Andere hohe Armeeoffiziere distanzierten sich von dieser Entwicklung, und am 3. November putschte Brigadier Khalid Musharaf. Die Majore flohen nach Libyen, aber Musharaf verhaftete den Stabschef, General Zia Rahman. Er verzichtete darauf, sich selbst zum Präsidenten auszurufen, sondern setzte den Richter A. S. M. Sayem in das Amt ein. Die eingekerkerten Minister Mujiburs wurden ermordet. Am 6. November unternahmen Überlebende von Mujiburs privater Leibwache einen weiteren Putsch, und Musharaf wurde getötet. Sayem blieb Präsident, aber die wahre Macht ging auf General Zia über. Zia hatte im Unabhängigkeitskrieg eine bedeutende Rolle gespielt, und er brachte nun die Probleme der inneren Sicherheit des Landes ebenso rasch unter Kontrolle wie er Militär und Regierung reformierte. Er wurde der populärste und erfolgreichste Bengalenführer seit der Unabhängigkeit und im April 1977 auch Präsident. Das politische Leben des Landes stabilisierte sich, und im Februar 1979 wurden Wahlen abgehalten, bei denen Zias neu gebildete ‡Nationalistische Partei— gewann. Das Land war hinter Zia geeint, aber in der Armee gab es oppositionelle Kräfte. Nach verschiedenen fehlgeschlagenen Anschlägen und Meutereien wurde er am 30. Mai 1981 beim Putschversuch des Armeekommandeurs von Chittagong ermordet. Der Aufstand wurde vom Generalstabschef General Hussain Mohammad Ershad niedergeschlagen, und der Putschgeneral, seine Familie und viele andere wurden getötet. Ershad wurde zunächst Staatschef und Oberster Kriegsrechtsverwalter, im Dezember 1983 dann auch Staatspräsident. Ihm fehlt das Charisma Zias, und seine Regierung macht kaum Fortschritte bei der Lösung der gewaltigen wirtschaftlichen Probleme des Landes. Bei den Wahlen am 3. März 1988 gewann Ershads Partei überlegen die Mehrheit, aber da die Wahlen von den -238-
Oppositionsparteien boykottiert wurden œ einschließlich der AwamiLiga, jetzt angeführt von Mujiburs Tochter, und Zias Nationalistischer Partei, angeführt von seiner Witwe, Begum Khaleda Zia œ, brachten sie keine Lösung. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen vor der Wahl wurden Hunderte Menschen getötet. DIE PROBLEME DER POLITIK UND DEMOGRAPHIE Das grundlegende politische Problem in Bangladesch ist die fehlende politische Legitimation der Regierung. Seit der Unabhängigkeitserklärung 1971 gab es vier Staatsstreiche, und drei Staatschefs wurden ermordet. General Ershads größte Leistung ist sein eigenes Überleben, und das ist nicht genug, um einem der ärmsten Länder der Welt Hoffnung zu bieten. Aber das wahre Problem Bangladeschs ist demographischer Natur. Es ist das dichtestbesiedelte Land der Erde, sieht man von den Stadtstaaten Singapur und Hong Kong ab. Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit 160 Dollar halb so groß wie das Haitis, und nachdem die Bevölkerungszahl unaufhörlich ansteigt, wird es weiterhin sinken. Bangladesch ist sehr fruchtbar, bewässert von Ganges und Brahmaputra, zwei der größten Flüsse der Welt, der Boden besteht aus dem Schlamm, der aus den Ebenen Tibets und des nördlichen Indiens heruntergeschwemmt wurde. Aber das schreckliche Dilemma bleibt ungelöst: in guten Erntejahren kann das Land sich selbst kaum ernähren. Bleibt der Monsun aus, gibt es unvorstellbare Hungersnöte. Ein Großteil des Landes liegt auf oder nur geringfügig über dem Meeresniveau. Eine Begleiterscheinung der Entwaldung des Himalayagebirges sind immer häufigere Springfluten, die Bangladesch in weiten Landstrichen verwüsten. 1988 haben zahlreiche Überschwemmungen riesige Verheerungen angerichtet. Sollte durch den Treibhauseffekt der Meeresspiegel ansteigen, wird Bangladesch unbewohnbar werden. DIE CHITTAGONG HILL TRACTS In Ost-Bangladesch beginnen die ersten Ketten der birmanischen Berge. Die 600.000 Stammesangehörigen dieser Region, Buddhisten -239-
tibetanischer Herkunft, begannen 1976 einen Guerillakrieg, der bislang rund 1.500 Tote gefordert hat. Sie beschuldigen die Regierung, die Ansiedlung moslemischer Bengali zu unterstützen œ mittlerweile leben rund 300.000 Bengali in diesen Bergen. Ähnliche Aufstände in indischen Provinzen weiter im Norden und Osten haben die gleiche Ursache. Unter den Briten wurden die Chittagong Hill Tracts getrennt vom Rest Indiens verwaltet, und es gab strenge Gesetze gegen die Ansiedelung Stammesfremder. Der ‡Government of India Act— von 1935 definierte die Tracts als ‡völlig separates Gebiet—, aus der Herrschaft von Bengal und Assam ausgeklammert. Die gleichen Bestimmungen galten für Gebirgsbezirke, die jetzt auf indischem und pakistanischem Staatsgebiet liegen. In den Tracts leben dreizehn große Stämme, davon sind ungefähr die Hälfte Chakmas. Die Chakmas sind auch der Hauptstamm im angrenzenden indischen Bundesstaat Tripura. Der gesetzliche Schutz der Stämme wurde bereits von der Regierung Pakistans stark vermindert und schließlich, nach der Unabhängigkeit von Bangladesch 1971, völlig beseitigt. Theoretisch hat jeder Bürger von Bangladesch das Recht, sich überall im Land niederzulassen. Als Resultat dieser Liberalisierung gehen diese Stämme den Weg der nordamerikanischen Indianer. 1951 waren 9 Prozent der Tracts-Bevölkerung NichtStammesangehörige, 1974 schon 11 Prozent, und 1980 stellten sie bereits ein Drittel der Bevölkerung. Zweifellos wächst der Anteil ständig weiter. Die Regierung unterstützt die Ansiedelung moslemischer Bengalen aktiv. Da die Bevölkerung von Bangladesch jährlich um 2 bis 3 Millionen anwächst, machen einige hunderttausend Bengalen keinen großen Unterschied mehr, aber der Strom verzweifelter Menschen in die Region wird anhalten. 1972 gründeten Stammesführer der Berge als Antwort auf den Druck aus dem Flachland die ‡Chittagong Hill Tracts People‘s Solidarity Association— (JSS). Die Shanti Bariini, der militärische Flügel der JSS, begann Mitte der siebziger Jahre mit Angriffen auf Armeeposten und Überfällen auf Bengalendörfer. Hunderte Menschen wurden dabei getötet. General Ershad bot den Shanti Bahini 1983 eine -240-
Amnestie an, und angeblich haben sich 3.000 Mann ergeben. Aber die Regierung hat ihre Ansiedlungspolitik nicht verändert, und 1985 nahmen die Shanti Bahini-Angriffe stark zu. Seither haben die Auseinandersetzungen kein Ende genommen. Im April 1988 wurden 49 Bengalensiedler in Bergdörfern ermordet, am 21. Mai weitere drei. Die Regierung hat starke Truppeneinheiten zur Niederschlagung dieses Aufstands entsandt, und gemäß einem Amnesty InternationalBericht gehen sie mit großer Grausamkeit vor. Bei einer Pressekonferenz in Dhaka im April 1980 schilderte eine Gruppe Ortspolitiker ein Massaker, das bengalische Soldaten an 200 Dorfbewohnern angerichtet hatten. Amnesty International hat Beweise für verschiedene Massaker, die zum Teil die Folge von Stammesangriffen auf Siedler waren. Am 31. Mai 1984 ermordeten Shanti Bahini-Terroristen mehr als 100 bengalische Siedler, woraufhin die Regierungssoldaten mehrere hundert Stammesangehörige in den Nachbardörfern umbrachten. Rund 50.000 Flüchtlinge aus den Tracts leben in Lagern im indischen Tripura; allein 1987 sind 20.115 über die Grenze geflohen. Amnesty International hat festgestellt: ‡Nach unseren Informationen werden Dorfbewohner, die von Soldaten und Milizen fürs Verhör ausgewählt werden, systematisch gefoltert. Die Gefangenen werden meistens in zwei bis drei Meter tiefe Löcher oder Gräben gesperrt ... gewöhnlich in Gruppen von 15 oder 20 auf einmal ... ehemalige Gefangene nennen als die häufigsten Foltermethoden: Schläge mit Stöcken und Gewehrkolben auf alle Körperteile, sehr heißes Wasser in Mund und Nase; Aufhängen an den Füßen, oft auch an einem Baum ... Langes Aufhängen an den Schultern und dann starke Schläge auf die Füße ...—
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BIRMA
Name: Nach dem Staatsstreich von 1988 hat die Militärregierung den Namen des Landes in ‡Union von Myanma— geändert und viele Städte umbenannt (so wurde aus Rangun Yangon). Dahinter steht der Gedanke, allen nationalen und rassischen Gruppen gerecht zu werden, nicht nur der birmanischen Mehrheit. Geographie: Fläche 676.552 km2, so groß wie Frankreich, Belgien, die Niederlande und Dänemark zusammen. Birma wird durch mehrere Gebirgsketten gegliedert, die vom Himalaya im Norden in die Bucht von Bengal und an die Grenze zu Thailand verlaufen. Durch die zentrale Ebene fließt der Irrawaddy, in dessen Delta in den Tagen vor dem Zweiten Weltkrieg das größte Reisanbaugebiet der Welt lag. Bevölkerung: 37,8 Millionen. Alle Bewohner von Birma gelten als Birmanen. Im Land werden mehr als 100 Sprachen gesprochen. Die letzte richtige Volkszählung hat 1931 stattgefunden, aber die folgende Aufstellung gibt die ungefähre Aufteilung der Stämme und Völker wieder. Birmanen: 25,400.000 Shan: 4,180.000 Karen: 3,500.000 Arakan: 2,280.000 Inder: 750.000 Mon: 700.000 Wa: 500.000 Kachin: 500.000 Chin: 500.000 Naga: 100.000 Religion: 85 Prozent der Bevölkerung sind Buddhisten. Viele Karen, Kachin und Chin sind von amerikanischen BaptistenMissionaren zum Christentum bekehrt worden. Rohstoffe: Birma ist reich an Bodenschätzen und anderen Produkten und im Vergleich mit anderen asiatischen Staaten dünnbesiedelt. 75 Prozent des Weltbedarfes an Teakholz kommen aus Birma, außerdem Erdöl, Mineralien, vor allem Wolfram, Rubine und Jade. Vor allem aber ist Birma der weltgrößte Opiumproduzent. BSP: 200 $/Einw. Flüchtlinge: Nach Birma: 1.000 Flüchtlinge aus Bangladesch, 800 aus China. Von Birma: 20.000 nach Thailand. Aufständische: Die Birma-Studie der American University aus dem Jahr 1983 verzeichnet 28 Rebellengruppen, deren Kampfstärke von -242-
8.000-15.000 (Kommunistische Partei) und 5.000-8.000 (Karen National Union) bis zu Splittergruppen wie der ‡Kayah New Land Revolution Council— (50 Kämpfer) und der ‡Karenni People‘s United Liberation Front— (70) reichen. Insgesamt sollen es zwischen 27.000 und 44.000 Mann sein. Abgesehen von den Kommunisten, die ein klares politisches Programm haben, gilt der Kampf der meisten Gruppen der eigenen Autonomie und bei einigen auch der Vorherrschaft im Opiumgeschäft. Im Sommer 1988 zerbrach die Militärregierung von Birma unter dem Druck der Bürgerproteste. Seit 1962 war Birma eine sozialistische Militärdiktatur unter General Ne Win gewesen, und das Land war völlig abgewirtschaft. Es war eines der abgeschlossensten Länder der Welt, nur vergleichbar mit Nordkorea und Albanien. Birma war auch eines der ärmsten Länder, hauptsächlich dank dem ‡Birmanischen Weg zum Sozialismus—. 1987 reihte die UNO Birma in die Gruppe der zehn am wenigsten entwickelten Länder der Welt ein. Die Unfähigkeit der Regierung löste den Aufstand aus, der unter den Studenten begann und bald auf das gesamte Land übergriff, Ne Win trat im Juli zurück, und das Land schlitterte rasch in die Anarchie. Massendemonstrationen in den Straßen von Yangun (früher Rangun) und anderen Städten fegten die bestehende Ordnung hinweg, und für eine Weile schien es, als würde Birma dem Beispiel der Philippinen und Südkoreas folgen und durch den Volksaufstand eine demokratische Regierung erlangen. Aber es gab, anders als etwa mit Corazon Aquino auf den Philippinen, keinen charismatischen Führer, der die Opposition vereinigt hätte, und es gab auch keine Vereinigten Staaten, die den Demokratisierungsprozeß unterstützt hätten. Die Armee stabilisierte sich. Am 18. September 1988 übernahm sie wieder die Gewalt und damit die staatliche Autorität, die sie seit 1962 innehatte. Das neue Regime, oder besser, das alte Regime mit einigen neuen Führern, unterdrückte die Opposition, brach den Generalstreik und jagte die revolutionären Studenten in den Untergrund. Birmas wirtschaftliche Krise setzte sich fort, und die Regierung rüstete sich für den nächsten Aufstand. Alle diese Ereignisse passierten in Rangun, Mandalay und anderen Städten im Landesinneren von Birma. In den äußeren Provinzen gibt es seit 1947 einen ununterbrochenen Kampf gegen die -243-
Zentralregierung. Der Aufstand der Karen ist vielleicht der längste Krieg dieses Jahrhunderts. 1984 startete die Regierung eine brutale Offensive gegen die Karen und andere aufständische Stämme, aber es gelang ihr nicht, sie zu besiegen. Aber diese Stammeserhebungen würden niemals hinreichen, um die Regierung zu stürzen. Dazu müßte sich schon das ganze Volk der Birmanen erheben. GESCHICHTE Im 19. Jahrhundert wurde Birma, wie so viele Länder der Welt, vom Britischen Empire annektiert. Zunächst nahm die East India Company im Krieg von 1824-1826 die Küstenprovinzen in Besitz; dann wurde das südliche Birma 1852 annektiert, der Rest des Landes 1885. Der letzte König, Thibaw, ging nach Indien ins Exil, und Birma wurde bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts als eine Provinz von Britisch-Indien regiert. Es war eine prosperierende Kolonie, dank seiner Reispflanzungen, Erdölvorkommen, Teakbaumbestände und anderer Reichtümer. Das Flußdelta des Irrawaddy mit dem Hauptort Rangun wurde rasch zu einem bedeutenden Reisanbaugebiet entwickelt. Der Wohlstand konzentrierte sich im Gebiet des Flußtales und des Deltas, und auch die staatlichen Strukturen wurden vor allem dort entwickelt. Das Gebirgsland wurde immer gesondert behandelt, einerseits zum Schutz der Stammesangehörigen, anderseits auch aufgrund der klassischen Teile-und-herrsche-Politik. Während die Briten in Indien politische Einrichtungen und ein umfassendes Erziehungswesen aufbauten, die später zur Errichtung eines unabhängigen und vereinigten Staates beitrugen, begnügten sie sich in Birma die meiste Zeit mit Verwaltungs- und Polizeiaufgaben. (George Orwell, der eigentlich Eric Blair hieß, war Polizeibeamter in Birma.) 1937 trennten die Briten Birma von Indien ab und begannen mit dem Aufbau einer staatlichen Ordnung. Das war zum Teil eine Reaktion auf die nationalistische Agitation, die unter den birmanischen Studenten begonnen und einen Höhepunkt erreicht hatte, als Ölarbeiter im Jahr 1938 zur Unterstützung der Studenten auf Rangun marschierten. Während des Japanisch-Chinesischen Krieges wurden Hilfsgüter für China über die Berge auf der Birma-Straße nach Yenan geschickt. -244-
1942 besetzten die Japaner Birma, um diese Verbindung zu unterbrechen. 30 birmanische Nationalisten, angeführt vom prominentesten der früheren Studentenführer, Thakin Aung San, damals 27, waren 1940 zur militärischen Ausbildung nach Japan gegangen. Unter diesen ‡30 Kameraden— waren einige Männer, die später Führer des unabhängigen Birma wurden, darunter Thakin Shu Maung, der später den Namen Ne Win annahm (‡Hell wie die Sonne—). ‡Thakin— ist ein Ehrenname, der ‡Herr— bedeutet, ein Titel, der den Briten vorbehalten war, wie ‡Sahib— in Indien. Die ‡30 Kameraden— nahmen ihn an, um die birmanische Unabhängigkeit zu untermauern. Aung San bildete eine mit den Japanern verbündete birmanische Armee, und während der japanischen Invasion führte Ne Win einen Sabotagetrupp gegen Rangun. Die Japaner wollten Birma als Sprungbrett für die Invasion Indiens benützen und bauten die Birma-Siam-Bahn über den Drei-PagodenPaß. Im August 1943 riefen sie die Unabhängigkeit Birmas aus; Aung San wurde Verteidigungsminister, Thakin Nu Außenminister. Sie gründeten eine birmanische Armee, in der Ne Win Brigadegeneral wurde. Aber die Japaner machten sich die Birmanen durch ihre Arroganz und Brutalität bald zu Feinden, und nachdem 1944 die Invasion Indiens scheiterte, gründete Aung San die ‡Antifaschistische Volksbefreiungsliga— und stellte sich auf die Seite der Briten, als sie in Birma einmarschierten. Am 27. März 1945 griffen Aung Sans Soldaten unter dem Oberbefehl von Lord Mountbatten die Japaner von hinten an und unterstützten damit wesentlich den britischen Vormarsch. Insgesamt war der Feldzug in Birma für die Briten lang und schwierig. Der Krieg ruinierte die industriellen Grundlagen Birmas œ die Ölindustrie, die Eisenbahnstrecken und das rollende Material wurden ebenso zerstört wie die meisten Einrichtungen für die bedeutsame Flußschiffahrt. Nach einer Phase des Zögerns entschieden die Briten, daß Birma zur selben Zeit wie Indien die Unabhängigkeit bekommen sollte. Im Februar 1947 wurde eine Konferenz der Vertreter der wichtigsten Stämme und Volksgruppen abgehalten, und die Birmanische Union wurde begründet. Das Hauptverdienst daran gebührt wohl Aung San, dem fähigsten und charismatischsten -245-
birmanischen Führer. Im Juli 1947 wurden er und sieben seiner Minister von einem Rivalen ermordet, und die Führung fiel an Nu, der seinem Namen den Ehrentitel U (Onkel) hinzusetzte. Am 17. Oktober 1947 unterzeichnete er in London den Unabhängigkeitsvertrag Birmas. Der Tag der Unabhängigkeitserklärung war dann œ nach dem Ratschlag buddhistischer Astrologen œ der 4. Januar 1948. DAS UNABHÄNGIGE BIRMA U Nu war nicht der Mann, um mit den Stammeserhebungen fertigzuwerden, die unverzüglich ausbrachen und Birma seither nicht mehr aus ihrem Griff gelassen haben. Die Wirtschaft lag in Trümmern. Der Lebensstandard erreichte erst 1975 wieder den Stand von 1940, und seither ist er wieder abgesunken. Von Anfang an waren die Probleme des Landes verknüpft mit der Einführung des Sozialismus, und nach dem Staatsstreich von 1962 verschärfte sich die Lage erheblich. Die Briten hatten Birma ebenso sorgfältig verwaltet wie die anderen indischen Staaten. Die Gebiete der Bergstämme, ungefähr die Hälfte des Landes, hatten als ‡klassifizierte— Gebieten gegolten und waren gesondert verwaltet worden, so wie die zuerst eroberten Küstenprovinzen. Der Staat Kayah, an der Grenze zu Thailand, war überhaupt nie erobert worden. Wie die Sikhs oder die Pathanen in Indien, so wurden die Bergstämme von den Briten als ‡kriegerische Rassen— eingestuft, im Gegensatz zu den als friedlich eingeschätzten Birmanen, und so wurden die Karen im Südosten und die Kachin im Nordosten in die britische Armee rekrutiert. Diese Teilung wurde noch verschärft, da die Karen zum Christentum übertraten und während des Krieges, als die Birmanen zunächst auf Seiten der Japaner kämpften, unbeirrt loyal zu den Briten standen. Nach der Unabhängigkeit diese so verschiedenen Völker in einer vernünftigen Staatsunion zusammenzufassen, überstieg die Möglichkeiten der Birmanen. Am Tag der Unabhängigkeit waren die Rote-Fahne-Kommunisten bereits im Aufruhr, und in der Küstenprovinz Arakan herrschte schon ein Aufstand moslemischer Separatisten. Die Weiße-FahneKommunisten revoltierten am 27. März 1948. Die Differenzen -246-
zwischen den beiden Fraktionen waren das Resultat der einander behindernden Ambitionen ihrer Führer. Dann unternahm ein Teil der Nationalarmee, die Aung San gegründet hatte, eine Revolte, und zwei der fünf Bataillone der regulären Armee meuterten. Zuletzt begann im Januar 1949 eine Rebellion unter den Karen im Südosten, und die Karen-Regimenter der Armee meuterten. U Nu entließ den Armeechef, einen Karen, und ersetzte ihn durch Ne Win, der die birmanische Armee bis 1988 kommandierte. Birma stand am Rand des Zerfalls. Am 13. März 1948 eroberten Kachin-Rebellen Mandalay, und Rangun wurde nur durch die Loyalität anderer Regimenter, die aus verschiedenen Stämmen zusammengesetzt waren, und die Uneinigkeit der unterschiedlichen Rebellengruppen gerettet. Die Regierung konnte schrittweise die Herrschaft über das Irrawaddy-Tal wiedererlangen und am 24. April Mandalay zurückerobern. Als die Kommunisten 1948 den Chinesischen Bürgerkrieg gewannen, entkam eine geschlagene Kuomintang-Armee in der Stärke von 12.000 Mann nach Birma und besetzte einen Teil des ShanStaates an der Ostgrenze. Diese ‡Chinesischen Irregulären Streitkräfte— (CIF) besiegten die birmanischen Truppen, die gegen sie aufgeboten wurden, und erweiterten rasch ihren Herrschaftsbereich. Die CIF wurde von Taiwan ebenso unterstützt wie von den USA, die davon träumten, sie gegen China einzusetzen. Die CIF und aufständische Stämme in Südost-Birma bildeten ein ‡Warlord—-System und kontrollierten das Goldene Dreieck in Birma, dem nördlichen Laos, Kambodscha und Thailand. Daraus wurde bald das weltgrößte Opiumanbaugebiet, und 1953 waren mehr als 80 Prozent der birmanischen Streitkräfte im Kampf gegen die CIF gebunden. Die CIF beherrscht heute noch dieses Gebiet, wenn sie auch viel von ihrer Macht verloren hat. Nachdem sich das Land von den Gefahren der Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit erholt hatte, ging es mit ihm ständig bergab; die Wirtschaft entwickelte sich ungeachtet mancher hoffnungsvoller sozialistischer Modelle nur negativ, und die politischen Probleme wurden immer größer. Im November 1958 folgte œ mit Einverständnis U Nus œ der erste Militärputsch, und die Armee unter Ne Win wollte -247-
die Probleme des Landes losen. Dabei hatte sie zunächst erstaunlichen Erfolg. Im Februar 1960 wurden Wahlen abgehalten, die U Nu gewann , und die Armee zog sich in die Kasernen zurück. U Nu erklärte den Buddhismus zur Staatsreligion, was die Animisten sowie die christlichen Karen und Kachin aufbrachte. Auch die Shan gingen in Opposition: Das Gründungsabkommen der Birmanischen Union von 1947 hatte ihnen das Recht zur Abspaltung zugestanden, und nun wollten sie es auch wahrnehmen. Dann kündigte U Nu die Verstaatlichung des Importgeschäftes an; davon war aber ein Teil in der Hand eines Konsortiums, das der Armee gehörte. Am 2. März 1962 ergriff Ne Win die Macht. DIE MILITÄRDIKTATUR U Nu, seine Minister und Shan-Führer, die eben in Rangun über die Zukunft ihres Volkes verhandelt hatten, wurden alle eingesperrt. Dann verkündeten Ne Win und seine Offizierskollegen ihre Vision von der Zukunft des Landes. Die Hauptgrundsätze waren: Ausländerfeindlichkeit œ die sich gleichermaßen auf Großbritannien, China, die USA, die Sowjetunion und Birmas unmittelbare Nachbarstaaten erstreckte; buddhistische Theologie mit ihrem Abscheu vor Glücksspiel und Protz und ihrer Hingabe an die heilige Armut; und ein altmodisches Autoritätsverständnis. Ne Win selber war ein Frauenheld, Glücksspieler und Golfer. Gut beratene Außenminister entsandten golfspielende Botschafter nach Rangun, die ihre Angelegenheiten mit dem Regierungschef auf dem Golfplatz erledigen konnten. Er hatte auch ein Haus in Wimbledon in London, wo er mehrere Monate jährlich zubrachte, und da er feststellen mußte, daß auch seine Kinder Opfer des völlig unzureichenden birmanischen Schulwesens wurden, schickte er sie in England zur Schule. Ein Jahr nach dem Staatsstreich gaben die Briten König Thibaws Kronjuwelen an Ne Win zurück, in der Hoffnung, ihn dadurch für sich einzunehmen. Diese Geste hatte aber keine positiven Auswirkungen. Das Regime veröffentlichte in drei Dokumenten die Grundsätze des ‡Birmanischen Weges zum Sozialismus—. Das Schlüsseldokument -248-
hieß ‡Das System der Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt œ Die Philospohie der Birmanischen Sozialistischen Programmpartei.— Darin wurden Buddhismus und Sozialismus zu einem Brei birmanischer Prägung gemischt. Das Ergebnis dieser Doktrin ist die Zerstörung der birmanischen Wirtschaft: ausländische Firmen, vor allem die British Imperial Chemical Industries (IG) und die Burmah Oil Company wurden aus dem Land geworfen; die Verstaatlichung der Banken und aller großen Industrien wurde 1963 abgeschlossen; und mehr als 200.000 Inder und Pakistani wurden vertrieben. Das Regime verweigerte jedem Einwohner mit ausländischer Abstammung die Staatsbürgerschaft. 1978 begann die Registrierungsaktion der Einwohner der westlichen Grenzgebiete, wo Abkömmlinge bengalischer Einwanderer eine Moslemminderheit bilden. Rund 200.000 Moslems flüchteten nach Bangladesch. Die meisten kehrten wieder zurück, aber bis zum Ende des Regimes blieb ihre Lage ungewiß. 1969 unternahm U Nu, der aus dem Gefängnis in Rangun entlassen worden war, von Thailand aus einen Invasions- und Aufstandsversuch. Er scheiterte. Obwohl es weniger brutal war als Kambodscha unter den Roten Khmer und weniger korrupt als Indonesien, war das Ne Win-Regime zu großer Gewalt fähig, wenn es um die eigene Existenz ging. Das stellte es unter Beweis, als vier Monate nach dem Staatsstreich von 1962 eine Studentendemonstration in Rangun brutal niedergeschlagen wurde. Ausländische Nachrichtenagenturen wurden verboten, die Presse wurde verstaatlicht, und Birma schloß sich von der Welt ab. Durch das Zusammentreffen verschiedener Umstände wurde der Birmane U Thant nach dem tödlichen Flugzeugabsturz des UNOGeneralsekretärs Dag Hammarskjöld 1961 Geschäftsführender Generalsekretär, und 1962, im Jahr des Staatsstreichs, wurde er zum Generalsekretär gewählt. DIE REBELLIONEN Die verschiedenen Erhebungen gingen weiter. Dabei sind drei Kategorien zu unterscheiden: erstens, die Birmanische Kommunistische Partei; sie ist eine Klasse für sich, da sie die Regierung stürzen und selbst die Macht übernehmen möchte; -249-
zweitens, ethnische Gruppen, deren Ziel die Bewahrung ihrer Stammesautonomie ist; drittens, die Warlords, deren Hauptinteresse der Opiumhandel ist. Zu manchen Zeiten wurden rund 40 Prozent des Landes von Aufständischen kontrolliert, allerdings nur geographisch; der Bevölkerungsanteil ist viel geringer. Die ‡Birmanische Kommunistische Partei— (BCP), unterstützt von China, hat ihre Hauptstützpunkte in Shan, einem Gebiet, das sich einige hundert Meilen längs der chinesischen Grenze erstreckt, im Norden des Gebietes, das die CIF halten. Abgesehen von den überzeugten Kommunisten œ das Zentrum der Röte-Fahne- und der Weiße-Fahne-Kommunisten, die 1948 in die Berge gingen œ kommt die hauptsächliche Unterstützung der BCP von einer losen Koalition von Minderheiten, die die Shans und andere ethnische Aufständischengruppen vertreten. Die BCP kündigte die Errichtung einer Volksrepublik an, um die arbeitenden Klassen des Landes zu repräsentieren, und beschuldigte absurderweise Ne Win der Komplizenschaft mit ausländischen Imperialisten. 1968 versuchte der BCP-Führer Thakin Than Tun nach maoistischem Vorbild eine ‡Kulturrevolution— unter seinen Gefolgsleuten zu beginnen, stieß dabei aber auf wenig Gegenliebe und wurde ermordet. Das Problem der BCP ist, daß die meisten ihrer Mitglieder ethnischen Minderheiten angehören und die Partei daher wenig Anziehungskraft auf die Birmanen ausübt, während die Parteiführer, die vor allem in Peking leben, Birmanen sind, denen ihre eigenen Landsleute erst recht mißtrauen. Ein weiteres Problem ist, daß die BCP die fruchtbarsten Opiumfelder im Goldenen Dreieck unter Kontrolle hat. Eine Zeitlang versuchte sie zwar, die Produktion einzuschränken, dann erlag sie aber der Versuchung der hohen Gewinne, und bald erreichte die Produktion wieder ihr früheres Niveau. Die Karen-Rebellen kontrollieren die 1.000 Kilometer Dschungel und Gebirge längs der Grenze zu Thailand im Südosten Birmas. Andere Rebellengruppen beherrschen die Grenzen im Norden, Chin und Naga-Rebellen hingegen das Gebirge, das Birma von Indien trennt. Die beiden letzteren Gruppen arbeiten mit ihren Stammesgenossen jenseits der Grenze zusammen, die sich gegen die indische Regierung auflehnen. 1976 bildeten neun ethnische Gruppen -250-
œ zu denen bald eine zehnte hinzukam œ die ‡Nationale Demokratische Front— (NDF), eine Allianz, die von Rangun die Autonomie fordert. Unter den ursprünglichen neun war die ‡Karen National Union—, die seit 1949 in verschiedenen Formen rebelliert. Ihre Armee ist die ‡Karen Nationale Befreiungsarmee— (KNLA), ungefähr 5.000 Mann stark. Militärische Operationen und die örtliche Verwaltung werden durch den Schmuggel von Edelsteinen und Teakholz nach Thailand finanziert. Die Karen behaupten, daß sie mit dem Drogengeschäft nichts zu tun hätten; das verstieße gegen ihren baptistischen Glauben. Ihre Alliierten weiter nördlich haben weniger Skrupel. Die anderen Mitglieder der NDF sind die Katschin, Shan, Wa, Mon, Arakan sowie die kleineren Stämme Karenni, Paluang, Lahu und PaO. Zusammen stellen sie œ nach eigenen Angaben œ etwa 35.000 Krieger. Das mag Anfang der achtziger Jahre gestimmt haben, jetzt ist das wohl eine starke Übertreibung. 1984 begann die birmanische Armee eine neue Offensive gegen die KNLA und eroberte zwei Karen-Stützpunkte. In weiteren Angriffen gelang es der Armee, ungefähr 20.000 Menschen aus ihren Heimstätten in Lager an der thailändischen Grenze zu treiben. Die KNLA kämpft in der traditionellen Guerillataktik, mit Hinterhalten auf Armeepatrouillen und Überfällen auf abgelegene Armeeposten. Sie hat auch Bomben in Dörfern und Städten gelegt. Die Regierung behauptet, daß die KNLA für den Anschlag auf einen Zug bei Rangun am 9. Januar 1988 verantwortlich war, bei dem neun Menschen getötet und 38 verwundet wurden. Seit 1986 wurde die Armeeoffensive auf kommunistische und Katschin-Freischärler im Nordosten und Mon-Rebellen im Süden Birmas ausgeweitet. Die stärkste der NDF-Armeen ist wahrscheinlich die ‡Katschin Unabhängigkeitsarmee— (KIA), der militärische Arm der ‡Katschin Unabhängigkeits Organisation— (KIO). Bei einem Großangriff überrannte die birmanische Armee 1987 die Hauptquartiere beider Organisationen, aber nach eigenen Angaben haben sie heute noch immer 4.000 bis 8.000 Soldaten und beherrschen die Hälfte des Staates Katschin. Laut einem Amnesty International-Report vom Mai 1988, der auf -251-
Interviews mit 70 Karen-Flüchtlingen in Lagern an der thailändischen Grenze beruhte, hat die Zivilbevölkerung in den Rebellengebieten durch Gegenangriffe der Regierungstruppen schwere Verluste erlitten. Die Bewohner wurden in ‡strategische Dörfer— zusammengetrieben, oftmals von ihren Feldern ferngehalten, und etliche wurden kurzerhand erschossen. Amnesty hat Beweise für mehr als 200 illegale Exekutionen und vermutet, daß es weit mehr sind. Der Bericht hält auch zahlreiche Fälle von Folter fest: ‡Zahllose Dorfbewohner werden gezwungen, als Träger oder Führer für die Armee zu arbeiten. Viele sind dabei gestorben. Gefangene Dörfler werden auf Gewaltmärsche getrieben, bis sie entweder an Krankheiten oder Erschöpfung sterben, oder sie werden getötet, da sie nicht genug arbeiten, oder sie fliegen in Minenfeldern in die Luft, wo sie den Soldaten vorangehen müssen. Ein KarenBauer, jetzt ein Flüchtling, war mit einem Freund unterwegs, um Reis zu kaufen. Da liefen sie einer Armeepatrouille in die Hände. Sie wurden beschuldigt, mit den Rebellen Kontakt zu haben und gezwungen, als Lastträger für die Armee zu arbeiten. Sein Freund starb nach grausamen Schlägen. ,Als ich den Bauern das letzte Mal sah, lag er neben dem Weg und keuchte. Er konnte weder gehen noch aufstehen. Die Soldaten nahmen die Last von seinen Schultern und ließen ihn liegen. Wir konnten ihm nicht helfen. Wir konnten ihn nur anschauen, ihm im Vorbeigehen einen Blick zuwerfen.— Der AI-Bericht dokumentiert 60 solcher Berichte von Beispielen offensichtlich planmäßiger schwerer Menschenrechtsverletzung. Die Völker der abgelegenen Gebirge und Dschungel des östlichen und südöstlichen Birma und der anschließenden Gebiete von Laos und Thailand waren nahezu 50 Jahre von der Welt abgeschlossen. Die Armeen Birmas und Thailands unternehmen gelegentlich Angriffe gegen die Warlords, Schmuggler, Kommunisten oder ethnischen Aufständischen, aber sie haben die Gebiete niemals unter ihre Kontrolle gekommen. Durch den Opiumhandel ist das Gebiet aber von großem Interesse für die Außenwelt. Mehr als die Hälfte des Heroins der Welt kommt aus dem Goldenen Dreieck, und dieser Anteil wächst im gleichen Maße, wie in der Türkei die Antirauschgiftprogramme Früchte tragen. Trotz der amerikanischen Unterstützung ist die birmanische Regierung nicht in der Lage, die Stammesgebiete zu -252-
kontrollieren. Ne Win gewann die Hilfe der USA durch das Versprechen der rigorosen Drogenbekämpfung. Die Amerikaner lieferten Hubschrauber, Flugzeuge und Sprühchemikalien, und 1988 kündete die Regierung an, eine Opiumanbaufläche von 20.234 Hektar zu vernichten. Die Rebellen behaupten aber, daß die US-Lieferungen zum Kampf gegen sie eingesetzt werden und daß Einheiten der regulären birmanischen Armee in den Opiumhandel verstrickt sind. Nach Angaben des US-Außenministeriums ist Birma der weltgrößte Opiumproduzent: 1987 waren es zwischen 925 und 1.230 Tonnen gegenüber 700 bis 1.100 Tonnen 1986. 1988 produzierte Birma mehr als 1.200 Tonnen Rohopium, Laos 100 bis 200 Tonnen und Thailand immer noch 27 Tonnen. Daraus wurden insgesamt rund 140 Tonnen Heroin gewonnen. Die Geschichte eines der Opium-Warlords mag als Illustration für die Problematik des Goldenen Dreiecks stehen. Khun Sa (oder Chang Chifu) war halb Chinese, halb Schan, Führer der ‡Vereinigten Schan Armee— (SUA), nach außen nationalistische Freischärler, in Wahrheit ein bewaffnetes Opiumkartell. Khun Sa war mit der GIF verbündet, zerstritt sich aber in den sechziger Jahren mit ihnen und wurde von der birmanischen Regierung zum Milizführer in seinem Heimatdistrikt Loimaw gemacht. Er baute das Drogengeschäft aus, errichtete seine eigene Opiumraffinerie jenseits der Grenze in Thailand und etablierte sich ab 1964 selbst als Drogenschmuggler und unabhängiger Warlord. 1967 verhängte die GIF ein Embargo über den SUA-Opiumhandel, und Khun Sa kämpfte im selben Jahr einen Opiumkrieg gegen seine früheren Verbündeten. Ein SUA-Opiumtransport wurde in den Bergen von Laos von der laotischen Armee gestellt (die damals mit den USSpecial Forces und der CIA gegen die vietnamesischen Kommunisten verbündet war). Die Birmanen nahmen Khun Sa gefangen. Durch den Verlust ihres Anführers verlor die SUA bis 1973 an Bedeutung, aber dann entführte Khun Sas Bruder zwei sowjetische Ärzte, die in einem von der Sowjetunion erbauten Spital arbeiteten. Sie wurden gegen Khun Sa ausgetauscht, der unter Hausarrest gestellt wurde. Zwei Jahre später bestach er seine Wächter, entkam und übernahm wieder das Kommando über die SUA. -253-
1957 besiegte die birmanische Armee die CIF und brach ihre Herrschaft über den Opiumhandel in den Schan-Bergen. Khun Sa und die SUA füllten dieses Vakuum und beherrschten bald den Handel im ganzen Goldenen Dreieck. Die SUA, 1.400 bis 8.000 Mann stark, produzierte nicht nur ihr eigenes Opium, sondern kaufte auch weiches von anderen Widerstandsgruppen, einschließlich der Kommunistischen Partei. Die SUA brachte das Opium zu chinesischen Syndikaten in Thailand und schmuggelte auch Gold, Juwelen und Jade aus dem Land. Dieses einträgliche Geschäft wurde 1981 zerstört. Die thailändische Armee sandte eine Patrouille in das Territorium der SUA, die prompt besiegt wurde. Sie mußte von einer weit größeren Einheit herausgehauen werden, und die Thais zerstörten in regelrechten Offensiven 1982 und 1983 die Stützpunkte der SUA in Thailand. Aber die Niederlage von Khun Sa hatte keine Auswirkungen, und schon gar nicht war sie eine Niederlage des Opiumhandels. Khun Sas Abstieg machte nur den Weg für andere Warlords frei. DER AUFSTAND Wie andere Diktatoren vor ihm wollte auch Ne Win seine Macht verschleiern. Er gab 1972 den Armeeoberbefehl ab und trat 1981 vom Präsidentenamt zurück œ aus Gesundheitsgründen. Aber wie Mao Tsetung und Stalin behielt er die Schlüsselposition des Parteiführers. Eine Reihe von anderen Generälen oder ehemaligen Generälen bekleideten die Ämter des Präsidenten, Ministerpräsidenten oder Verteidigungsministers, aber in Wahrheit gab Ne Win die Herrschaft niemals ab. Im September 1987 trat die Regierung aus ihrer Abgeschlossenheit heraus. Überfallsartig wurde eine Währungsreform durchgeführt, die jedermann im Land seiner Ersparnisse beraubte. Alle Banknoten im Nominale von mindestens 25 Kyat wurden für wertlos erklärt. Der offizielle Wechselkurs betrug zu diesem Zeitpunkt 6 Kyat = 1 USDollar, der Schwarzmarktkurs war 1:40. Ne Win sagte, daß sich die Aktion gegen die Schwarzhändler richte œ die tatsächlich die einzigen waren, die die Wirtschaft in Schwung hielten œ und gestand die Notwendigkeit von Reformen ein. Im März 1988 begannen in Rangun -254-
die ersten Studentendemonstrationen; der unmittelbare Anlaß war ein Tumult in einem Teehaus, bei dem ein Student getötet wurde. Andere Studenten organisierten daraufhin einen Protestmarsch nach Rangun, und Armee und Polizei zerschlugen die Demonstration mit großer Gewalt, töteten etliche Studenten (nach manchen Schätzungen bis zu 200), und verhafteten 3.000. Drei Monate später brachen weitere Demonstrationen aus. Nach Tagen ununterbrochener Unruhen schloß die Regierung am 21. Juni die Universitäten und verhängte eine nächtliche Ausgangssperre über die Hauptstadt und andere Städte. Radio Birma berichtete: ‡Fünf Polizisten wurden getötet und sechsundzwanzig schwer verletzt, als der entfesselte Mob mit Schwertern, Stöcken und Schleudern angriff. Auch einer der Demonstranten wurde getötet, einige andere wurden verwundet.— Die Zahl der Toten war in Wahrheit viel höher, wie die Regierung später zugeben mußte. Nach Berichten von Diplomaten haben die Soldaten unter Befehl von General Sein Lwin mehr als 1.000 Demonstranten getötet; in einem Fall wurden 40 Menschen in einem Bus erstickt. Diese Ereignisse ließen im ganzen Land die Opposition gegen die Regierung auflodern. Aung Gyi, ein ehemaliger General, der am Putsch von 1962 beteiligt gewesen war, sich aber später von seinen früheren Gefährten abgewandt hatte, richtete eine Reihe offener Briefe an Ne Win, in denen er feststellte: ‡Das Land ist politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich völlig abgewirtschaftet. Die schlimmste Verrottung ist aber die moralische.— Ne Win, nun siebenundsiebzig Jahre alt, gab bei einer Parteikonferenz am 23. Juli seinen Rücktritt bekannt. ‡Da ich indirekt verantwortlich bin für die Ereignisse von März und Juni, und angesichts meines Alters, trete ich sowohl vom Amt des Parteivorsitzenden zurück als auch aus der Partei aus—, sagte er. ‡Das Blutvergießen im März und Juni zeigte das mangelnde Vertrauen in die Regierung. Um herauszufinden, ob hinter diesen Demonstrationen die Mehrheit oder eine Minderheit steht, muß eine Volksabstimmung stattfinden, so daß die Menschen sich zwischen dem bestehenden Einparteiensystem und einem Mehrparteiensystem entscheiden können.— Er warnte das Land auch vor weiteren Ausschreitungen: ‡Wenn die Armee schießt, trifft sie auch.— -255-
Eine Reihe von Ne Wins älteren Gefährten trat mit ihm zurück, aber die Partei war auf den Machtverzicht noch nicht eingerichtet. Die Parteikonferenz lehnte seinen Vorschlag einer Volksabstimmung ab, und Sein Lwin, der die Sicherheitspolizei seit 1962 kommandiert und die März-Demonstrationen niedergeschlagen hatte, wurde zum Parteivorsitzenden und Präsidenten ernannt. Unverzüglich ließ er Aung Gyi und andere prominente Dissidenten verhaften, aber die Demonstrationen gingen weiter. Am 3. August verhängte er das Standrecht über Rangun. Massendemonstrationen folgten œ in Rangun, Mandalay, Pegu und anderen Städten. Soldaten schossen in die Menge, und jeden Tag starben viele Menschen. Mönche, Studenten, Arbeiter, Angehörige der Mittelschicht œ alle strömten hinaus auf die Straßen und stellten sich den Truppen entgegen. Es war wie eine Neuauflage der Ereignisse in Manila 1986. Am 10. August drangen Soldaten auf der Suche nach verwundeten Demonstranten in ein Spital in Rangun ein und erschossen Ärzte und Krankenschwestern, die Patienten beschützen wollten. Am Tag darauf setzte die Armee Panzer gegen die Demonstranten in den Hauptpagoden der Stadt ein, und überall in der Stadt wurden Barrikaden errichtet. Die Armee kämpfte wilde Gefechte gegen 100.000 und mehr Demonstranten in Rangun. Am 12. August trat Sein Lwin zurück. Die Regierung gab zu, daß seit seinem Amtsantritt 100 Demonstranten getötet worden seien, aber in Wahrheit waren es mindestens 1.000, nach Angaben der Studenten sogar bis zu 3.000. Als die Regierung sich auflöste, griffen die Menschenmassen Parteibüros und Regierungsgebäude an und brannten sie ebenso nieder wie die Häuser prominenter Politiker. Am 19. August ernannte die Partei U Maung Maung zum Präsidenten. Er war Staatsanwalt, einer der Autoren des ‡Sozialistischen Parteiprogrammes— und des ‡Birmanischen Weges zum Sozialismus" und ein enger Vertrauter von Ne Win. Am 23. August gab es in Rangun weitere gewaltige Demonstrationen, in denen die neue Regierung abgelehnt und die Demokratie gefordert wurde. Am nächsten Tag hob Maung Maung das Kriegsrecht in Rangun wieder auf, ließ 1.700 politische Gefangene frei (auch Aung Gyi) und kündete eine außerordentliche Parteikonferenz für den September an, auf der das Ende des Einparteiensystems diskutiert -256-
werden sollte. Die Minister und Generäle hatten nun nur mehr einige Regierungsgebäude in Rangun unter ihrer Kontrolle, ihr Parteihauptquartier und die großen Armeelager. Die Menschenmengen hatten den Rest in ihrer Gewalt, und das völlige Chaos schien möglich. Da betrat der zweiundachtzigjährige U Nu wieder die politische Bühne. Ne Win hatte ihn 1980 aus dem Exil in Thailand zurückgeholt, und er war in ein Kloster eingetreten. Nun versuchte er, ein Oppositionskomitee zu bilden. Aung Gyi unterstützte seine Forderungen, aber viele mißtrauten ihm wegen seiner engen Verbindung mit Ne Win im Jahr 1962. Aung San Suu Kyi, die dreiundvierzigjährige Tochter von Aung San, dem 1947 ermordeten Unabhängigkeitsführer, kehrte aus England zurück, wo ihr Mann in Oxford unterrichtete, und rief zur Einheit auf. Ein Enkel des verstorbenen UNO-Generalsekretärs U Thant schloß sich diesem Appell an. DER STAATSSTREICH Am 18. September übernahm die Armee in einem sorgfältig vorbereiteten Putsch die Macht. Der Generalstabschef, General Saw Maung, überschwemmte Rangun mit Soldaten und zerschlug die Demonstrationen. In einer Radioansprache an die Nation sagte er: ‡Um die zerstörerischen Kräfte von unserem Land abzuwenden und um die Interessen des Volkes zu wahren, haben die Verteidigungskräfte alle Macht im Staat übernommen.— Viele Birmanen nahmen an, daß Ne Win, der sich seit seinem Rücktritt im Juli völlig zurückgezogen hatte, immer noch die wahre Macht ausübte. In den ersten Tagen des neuen Regimes wurden Hunderte Demonstranten getötet. Die Regierung gab in den ersten beiden Tagen zunächst 60 Opfer zu, erhöhte aber später diese Zahl selbst auf 425. Ausländische Diplomaten glauben, daß bis zum Ende des Widerstands im Oktober mehr als 1.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Der Generalstreik brach am 3. Oktober zusammen. Die studentischen Rebellen verließen zu Tausenden die Städte und Universitäten und gingen in die Berge, um sich den aufständischen Stämmen -257-
anzuschließen und den Guerillakrieg zu erlernen. In den ersten Wochen sollen es mehr als 5.000 gewesen sein, denen in den nächsten Monaten noch viele folgten. Die Opposition schloß sich zur ‡Liga für Demokratie— zusammen und wählte am 27. September Aung Gyi zu ihrem Vorsitzenden. Der frühere Verteidigungsminister U Tin Oo wurde sein Stellvertreter, Aung San Suu Kyi Generalsekretärin. Die Regierung kündete ihre Verhandlungsbereitschaft mit der Opposition an, aber die Liga zögerte, diese Einladung anzunehmen, da sie fürchtete, die Unterstützung des Volkes zu verlieren. Aber die Partei wurde eingetragen œ falls es doch zu richtigen Wahlen kommen sollte. Der Wirtschaft des Landes nützte der Staatsstreich nichts. Die USA, Japan, die BRD und andere Länder stellten ihre Hilfszahlungen ein œ Entwicklungshilfe hatte 35 Prozent des Staatshaushaltes ausgemacht. Nun mußten alle Devisenreserven aufgewendet werden, um Reis für die hungernde Bevölkerung zu kaufen. In einem Versuch, die Demonstranten zu besänftigen, löste die Regierung die ‡Birmanische Sozialistische Programm-Partei— auf und beschlagnahmte ihren Besitz. Führende Mitglieder gründeten dann die ‡Nationale Vereinigungspartei—, offensichtlich dieselbe Clique, die das Land 26 Jahre lang so schlecht regiert hatte. Aber die Opposition konnte unbehelligt arbeiten, eine eingeschränkte Pressefreiheit wurde eingeführt, und im Februar 1989 wurden für den Mai 1990 Parlamentswahlen angekündigt. Die Versprechen wurden nicht eingehalten. Statt dessen wurde eine rigorose Militärdiktatur errichtet. Aung San Suu Kyi hielt im ganzen Land Versammlungen ab, so lange sie nicht verboten wurden, zu denen jeweils mehr als 10.000 Menschen kamen. Für den 19. Juli, einen nationalen Feiertag zum Andenken an die Ermordung ihres Vaters, hatte sie in Rangun zu einer Massenversammlung aufgerufen. Die Regierung nützte die Gelegenheit, um die Opposition zu zerschlagen. Die Stadt war voll von Soldaten, und jeder Offizier hatte die Ermächtigung, jeden Verdächtigen festzunehmen und auf der Stelle zu drei Jahren Zwangsarbeit, lebenslanger Haft oder sofortiger Hinrichtung zu verurteilen. Aung San Suu Kyi sagte die Versammlung ab. Am nächsten Tag wurden sie und U Tin Oo unter Hausarrest -258-
gestellt. Tausende andere Parteimitglieder wurden verhaftet (um in den Gefängnissen für die politischen Gefangenen Platz zu schaffen, wurden 18.000 gewöhnliche Häftlinge freigelassen). Aung San Suu Kyi begann einen Hungerstreik, den sie später abbrach. Die Armee startete eine neue Offensive gegen die Karen und andere Aufständische; sie meldete als großen Erfolg, daß sie die Karen über die Grenze nach Thailand getrieben habe. Von Kachin wurde berichtet, daß politische Gefangene aneinandergebunden als Lastträger verwendet wurden, die solange marschieren mußten, bis sie fielen und starben. Die neue Regierung benannte das Land in ‡Myanmar— um, und auch eine Reihe von Städten bekam andere Narnen. Rangun wurde Yangon. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum Ausländer ihre Sprachgewohnheiten den Launen eines birmanischen Diktators unterwerfen sollten, und nur wenige übernahmen diese Änderung. Birmas einzige Handelsverbindung mit der Außenwelt war nun der Opiumschmuggel sowie der Handel mit Hartholz und Edelsteinen. Seit dem Staatsreich ist der Opiumexport stark angestiegen. Birma ist mittlerweile ein seriöser Anwärter auf den letzten Platz in der Liste der ärmsten Länder der Welt, Angesichts der Schätze des Landes und der Bildung und Fähigkeiten der Bevölkerung wahrlich eine beachtliche Leistung! Die Regierung kündete die langversprochenen Wahlen für den Mai 1990 an. Zur Vorbereitung wurde U Tin Oo zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, Aung San Suu Kyi wurde das passive Wahlrecht aberkannt. Wie U Nu blieb sie unter Hausarrest. Die Wahlen, die aller Skepsis zum Trotz stattfanden, brachten ein unerwartetes Ergebnis. Die Bevölkerung ließ sich von den massiven Drohungen wie von der umfassenden Propaganda nicht einschüchtern. Die Regierung unternahm zwar noch Versuche, das Wahlergebnis zu verfälschen, schließlich mußte sie aber den Erdrutschsieg der Opposition eingestehen. Aung San Suu Kyi blieb zunächst aber von der Macht ausgesperrt œ das Wahlergebnis wurde zwar akzeptiert, aber ignoriert. Eine neue Explosion ist nur eine Frage der Zeit. Sogar in Birma ist man über die Geschehnisse in Osteuropa informiert.
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CHINA
Geographie: Fläche 9.560.980 km2, der drittgrößte Staat der Welt. Bevölkerung: 1.069,628.000 Einwohner. 80 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Land œ aber das bedeutet immer noch eine städtische Bevölkerung von 220 Millionen, die doppelte Bevölkerungszahl von Japan. BSP: 300 $/Einw. Flüchtlinge: 100.000 Tibeter in Indien; 350.000 aus Vietnam, von denen die meisten ethnisch Chinesen sind. Seit der Revolution von 1949 war China in einen großen Krieg verwickelt, den Korea-Krieg. Es gab auch bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion, Indien, Vietnam und mit Taiwan; China hat Tibet erobert und in diesem Land auch Aufstände niedergeschlagen. Keines der diesen Konflikten zugrundeliegenden Probleme wurde wirklich gelöst, und sie können jederzeit wieder aufflammen. In Lhasa kam es 1987, 1988 und auch danach immer wieder zu Unruhen, und 1988 gab es ein Scharmützel mit Vietnam auf den umstrittenen Spratly-Inseln. Ein Grenzstreit zwischen so großen, mächtigen und aggressiven Staaten wie China und der UdSSR könnte eine echte Gefahr für den Weltfrieden darstellen, aber im Moment sind die internen Probleme beider Länder derart groß, daß ein ernsthafter Konflikt unwahrscheinlich erscheint. Die größten Bedrohungen Chinas liegen in ihm selbst. Als Deng Xiaoping am 4. Juni 1989 Panzer auf den Tienanmen-Platz schickte, wurde damit die Krise keineswegs beendet. Sie wurde nur hinausgezögert und wesentlich verschärft. Alle Reformen Dengs konnten die Frage nach der politischen Legitimität nicht lösen, die seit 1911 ein Kernproblem darstellt; und genausowenig die gleich wichtige Frage, wie ein so riesiges und uneinheitliches Land an die moderne Welt herangeführt werden kann. Besteht immer noch die Wahl zwischen orthodoxem Kommunismus, begleitet von wirtschaftlichem Stillstand und immer wiederkehrenden politischen Unruhen einerseits und politischem Pluralismus anderseits, begleitet von wirtschaftlichem Fortschritt? -260-
Diese Fragen sind von großer Bedeutung für den Rest der Welt. Wenn Chinas Wirtschaft weiterhin so wächst wie in den achtziger Jahren (9,4 Prozent im Jahr 19871, wird sie die Sowjetunion zu Anfang des 21. Jahrhunderts überholen, und dann bald auch Japan und Westeuropa. China hat zehnmal so viele Bewohner wie Japan, und das Land hat weit größere Rohstoffvorkommen. Wenn die Chinesen irgendwann dem Beispiel folgen, das Japan seit 1945 bietet, und ihre Wirtschaft tatsächlich entwickeln, wird es um die Mitte des kommenden Jahrhunderts die Weit beherrschen. Ohne die kommunistische Revolution wäre es vielleicht schon in diesem Jahrhundert so weit gewesen. Sollte allerdings das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens das chinesische Wirtschaftswachstum ernsthaft beeinträchtigen und das Land in heftige Auseinandersetzungen über die Gedanken des Großen Vorsitzenden zurückfallen, würde China für ausländische Abenteuer wieder anfälliger werden, für den Kampf gegen Taiwan, die UdSSR oder Vietnam. GESCHICHTE Kein Land der Welt hat eine vergleichbare Geschichte. Nur Ägypten ist als Nation älter, und nur Japan hat eine annähernd gleiche staatliche Kontinuität. Chinas Größe und Bevölkerungszahl und die ununterbrochene Fortführung der chinesischen Zivilisation über die Jahrtausende sind einzigartig. Das chinesische Reich ist immer wieder zerfallen, aber es wurde immer wieder neu errichtet. Die Tragödie des modernen China ist, daß œ anders als in Japan œ die Herrscher des 19. Jahrhunderts die Anpassung an die neuen Zeiten verweigerten und bis ans Ende des Kaiserreichs dem Einfluß der ‡Barbaren— widerstanden. Chinas letzte Dynastie, die Qing, waren ursprünglich Mandschuren, die das Land im 17. Jahrhundert erobert hatten. In ihrer Dekadenz, beherrscht von der bösartigen Kaiserinwitwe Tzu Chin, hatte die Dynastie der Auflösung Chinas durch Korruption und höfischen Fraktionsstreit nichts entgegenzusetzen. Die Qing wurden schließlich von der Revolution 1911 hinweggefegt. Hinter dieser Revolution standen westlich orientierte, aber strikt chinesisch denkende Intellektuelle unter -261-
Führung von Sun Yatsen. Für eine Weile schien es, daß China dem Beispiel Japans folgen und die Modernisierung unter Beibehaltung seines nationalen Charakters nachholen würde. Westliche Staaten, vor allem die USA, waren an diesen Anstrengungen wesentlich beteiligt. Portugal, Rußland, Deutschland, Großbritannien und die USA hatten extraterritoriale Gebiete in China errungen, und der privilegierte Status der Ausländer in Shanghai war ein ständiger Pfahl im Fleisch der chinesischen Empfindlichkeit. Aber diese Zugeständnisse waren der Modernisierung des Landes zuträglich, und bis 1937 versuchte keine ausländische Macht, China zu erobern. Es war einfach zu groß. Die Nationale Regierung erlangte niemals die völlige Kontrolle über das gesamte Land. Es gab Putsche und kurze Bürgerkriege, und verschiedene Teile des riesigen Landes waren in der Hand von Warlords. 1928 beherrschte Tschiang Kaischek, der Führer der Kuomintang-Partei, den Großteil des Landes. Er hätte es vielleicht zu einem modernen Staat machen können, aber die Weltwirtschaftskrise traf China hart. 1931 besetzte Japan die Mandschurei, wo der Großteil der modernen chinesischen Industrie lag, und 1937 begann es mit der Eroberung des ganzen Landes. Der Krieg war so brutal wie die Invasion der Deutschen in der Sowjetunion. Nach der Eroberung der Hauptstadt Nanking verwüsteten die japanischen Truppen die Stadt, zerstörten die öffentlichen Gebäude und massakrierten œ nach schwankenden Schätzungen œ zwischen 40.000 und 200.000 Menschen. Es war die erste der großen Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs. Die Menschenverluste Chinas im Krieg gegen Japan waren enorm, wahrscheinlich mehr als 20 Millionen. Japan besetzte das östliche Drittel des Landes, konnte China aber niemals besiegen. Sie scheiterten aus denselben Gründen wie Hitler in der Sowjetunion: Das Land war zu groß, der Widerstand weit heftiger, als Tokio erwartet hatte, und die Hilfe des Westens spielte eine wesentliche Rolle. In der amerikanischen Geschichtsschreibung gibt es die Tendenz, den Anteil der Sowjetunion an der Niederwerfung Hitlers ebenso herunterzuspielen wie den Anteil Chinas an der Niederlage Japans. -262-
Beide waren ganz wesentlich. Mit einem anderen Problem fand sich Tschiang von Anfang an konfrontiert, und zuletzt unterlag er ihm: die Kommunistische Partei Chinas. Sie war eine originär chinesische Schöpfung, zunächst angeführt von Studenten, die in Europa studiert Lind den Marxismus in den berauschenden Tagen nach der Oktoberrevolution übernommen hatten, und wie andere Kommunistische Parteien empfing die KPCh ihre Weisungen aus Moskau. Aber die Bolschewisten, außer Trotzki und seinen Gefolgsleuten, beschäftigten sich mehr mit der Durchsetzung des Kommunismus im eigenen Land als mit der Verbreitung der Weltrevolution. So blieben sie sogar mit Tschiang Kaischek und der Kuomintang verbündet, auch nachdem Tschiang die Kommunisten im April 1927 in Shanghai niederschlug, wobei mindestens 10.000 umgebracht wurden. Dem folgte ein langwieriger Führungsstreit in der KP. Mao Tsetung und seine Anhänger, die die Revolution unter den Bauern verbreiten wollten, behielten die Oberhand. Stalin predigte den chinesischen Kommunisten bis zuletzt Anpassung und legte damit die Saat für den tiefen Zwist zwischen den beiden Ländern, die in den sechziger Jahren zum offenen Konflikt führte. Die Partei ging aus den Städten auf das Land, um sich neu zu organisieren. Dort wurde sie immer wieder von den KuomintangTruppen bedrängt, und sie floh nach Süd-China, wo sie in ständiger Gefahr war, zerschlagen zu werden. 1934 führte Mao seine Soldaten im ‡Langen Marsch— œ mehr als 10.000 Kilometer œ in den abgelegenen Nordwesten des Landes. 190.000 Menschen begannen diesen Marsch, davon 100.000 Soldaten, aber in Shensi kamen nur noch 20.000 an. Tschiang hielt die Kommunisten für besiegt und wandte sich von ihnen ab, dem japanischen Feind entgegen. Die chinesische KP schloß sich dieser Abwehr der Japaner an, nahm aber unmittelbar nach Kriegsende den revolutionären Kampf wieder auf. Trotz großer amerikanischer Unterstützung unterlagen die Kuomintang, und am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao auf dem Tienanmen-Platz in Peking die Volksrepublik China. Tschiang zog sich nach Taiwan (Formosa) zurück, einer Insel(gruppe), die zwischen 1895 und 1945 von den Japanern besetzt gewesen war. -263-
CHINA UNTER MAO Als Mao 1976 starb, hatte seine Regierung einige Verdienste erworben. Sie hatte das Land geeint und mit dem Unwesen der Warlords und Banditen aufgeräumt. Sie hatte zum ersten Mal in Jahrhunderten das nationale Ansehen wiederhergestellt: Ein Jahr nach der erfolgreichen Revolution war China in den Korea-Krieg eingetreten und hatte den Amerikanern einen Waffenstillstand abgetrotzt, zu einer Zeit, als die USA auf dem Höhepunkt ihrer Macht waren. Mao hatte die sowjetischen Versuche abgewehrt, aus China einen weiteren Satellitenstaat zu machen und China als einen der führenden Sprecher der Dritten Welt etabliert. In einem langen und zähen Duell mit Washington gelang es Peking, daß die Amerikaner die Volksrepublik als die einzige legitime Regierung Chinas akzeptierten. Die chinesische Außenpolitik war œ außer in Korea (siehe KOREA) œ ein Erfolg. Die Innenpolitik war eine Katastrophe. Mao verordnete dem Land eine extreme kommunistische Ideologie, die nicht nur privaten Besitz und private Landwirtschaft abschaffte, sondern auch die Dörfer, die das Herz der chinesischen Gesellschaft waren, und die traditionelle Familie. Rund eine Million Landbesitzer wurden hingerichtet, und die chinesischen Bauern wurden in Kommunen getrieben, die den israelischen Kibbuzim ähnelten. Allerdings mit zwei großen Unterschieden: Der Kibbuz ist eine gänzlich demokratische und freiwillige Einrichtung. In den Kommunen ist alles, vom Anbauplan bis zum Lesestoff der Menschen von der Partei bestimmt. Der Kibbuz ist klein und handhabbar. Die Kommunen waren riesig. Das offensichtliche Scheitern seiner Politik verleitete Mao zu extremen Maßnahmen. 1957 begann er mit einer ‡Kampagne der Selbstkritik— und forderte ‡Laßt hundert Blumen blühen, laßt hundert Denkrichtungen wetteifern—, in der Hoffnung, die Partei zu radikalisieren. Die Chinesen nahmen ihn beim Wort und forderten Demokratie, Privateigentum und das Ende der kommunistischen Mißwirtschaft. Die Kampagne wurde hastig abgebrochen, und diejenigen, die dem Vorsitzenden Mao geglaubt hatten und ihre -264-
Stimmen zur Kritik erhoben hatten, wurden erschossen oder eingesperrt. 1958 verkündete er den ‡Großen Sprung—, ein Programm verstärkter wirtschaftlicher Entwicklung œ in dem Glauben, China könne in fünf Jahren das gelingen, was in der Sowjetunion vierzig Jahre gebraucht hatte. Der ‡Große Sprung— war eine Katastrophe und warf die chinesische Wirtschaft um eine Generation zurück. DIE KULTURREVOLUTION Die Genossen Maos schränkten allmählich seine Macht ein, und in den frühen sechziger Jahren strebten sie Wirtschaftsreformen an. 1966 schlug Mao mit der ‡Großen Proletarischen Kulturrevolution— zurück, einer der bemerkenswertesten Episoden der modernen Geschichte. Sie wurde im Juli 1966 völlig unerwartet ausgerufen, als Mao œ damals bereits 73 Jahre alt œ aus seiner Zurückgezogenheit auftauchte und den Jangtse-Fluß durchschwamm. Dieses Ereignis fand große Beachtung und sollte demonstrieren, daß Maos revolutionärer Eifer und Stärke ungebrochen waren. Es kam zu einer großangelegten Säuberungsaktion in der Regierung, vergleichbar mit Stalins Säuberungen in den dreißiger Jahren, bei der Maos älteste Waffengefährten wegen Verrates angeklagt wurden. Er forderte die Studenten auf, sich auf jeder Ebene gegen die Regierung zu erheben œ von Schulen bis zu den Zentralautoritäten in Peking œ und die Monster und Dämonen anzugreifen. Sein Slogan war ‡Bombardiert das Hauptquartier!— Im August befahl er die Aufstellung ‡Roter Garden— der Studenten, die gegen die Spitzen der Gesellschaft anstürmen und die ‡führenden Kapitalisten— angreifen sollten. Damit waren hohe Parteifunktionäre gemeint, die ihm widersprachen. Am 18. August sprach Mao auf dem Tienanmen-Platz vor einer Million Rotgardisten. Andere Kundgebungen folgten, der Höhepunkt war eine Veranstaltung im November vor 2,5 Millionen begeisterter Revolutionäre. Die Rotgardisten stürmten durch das Land, sangen ‡Der Große Steuermann— oder ‡ Der Osten ist rot— und schwenkten kleine rote Bücher mit Maos Gedanken. Ihr Lieblingsgedanke war: ‡Eine Revolution ist nicht wie eine Abendeinladung, oder wie ein Essay zu schreiben oder ein Bild zu malen oder ein Kissen zu sticken. -265-
Sie kann nicht so vornehm, so liebenswürdig und gemütlich sein, so gemäßigt, freundlich, ritterlich, maßvoll und hochherzig. Eine Revolution ist ein Aufstand, ein Akt der Gewalt, bei dem eine Klasse die andere über den Haufen wirft.— Sie attackierten die ‡Vier Alten— œ die alte Denkweise, die alte Kultur, die alten Sitten, die alten Gewohnheiten. Das bedeutete die Zerstörung eines Gutteils der chinesischen Geschichte und der angehäuften Kunstschätze. Rotgardisten zerstörten in Tibet 3.000 Klöster und Tempel, die in fünf Jahrhunderten errichtet worden waren. Universitäten wurden für Jahre geschlossen, Parteiführer wurden getötet oder ins Exil gejagt, Anarchie wurde das Schlagwort. Im Juni 1967 übernahmen die Rotgardisten die Herrschaft über Shanghai, die größte Stadt des Landes, und Mao drängte die Rotgardisten in allen anderen Städten, diesem Beispiel zu folgen. Das Vorbild war die Pariser Commune von 1871. Parteiführer wurden vor Kampfversammlungen der Rotgardisten getrieben, um ihre früheren Verbrechen zu bekennen; sie bekamen Narrenkappen aufgesetzt und Plakate um den Hals gehängt, auf denen ihre Vergehen festgehalten waren. Manchmal wurden sie in diesem Aufzug auch auf offenen Lastwagen durch Peking geführt. Dann wurde Mao aber selbst die Gewalt unheimlich, die er entfesselt hatte, und er regte die Bildung von gemischten Komitees an, aus Rotgardisten, Parteikadern und Armeeangehörigen. Diese Komitees wurden überall eingerichtet. Sie ersetzten die Parteikomitees und wurden von der Armee dominiert. Zu Beginn des Jahres 1967 ebbte die Flut der Revolution zunächst ab, aber bald kehrte sie wieder, stärker denn je. Liu Shaotschi, Staatspräsident von China, stellvertretender KP-Vorsitzender und Maos schärfster Rivale, wurde als amerikanischer Spion denunziert. Seine Frau wurde vor eine Kampfversammlung gezerrt, in ein Seidenkleid und hochhackige Schuhe gesteckt und mit einer Halskette aus Tischtennisbällen ‡geschmückt—. Liu starb 1969 im Gefängnis. Die große Proletarische Kulturrevolution erreichte ihren Höhepunkt im Sommer 1967; das Land schlitterte immer schneller in die Anarchie, die Fraktionen kämpften untereinander, und die Rotgardisten wurden von Mao und seinen Gefolgsleuten pausenlos angeheizt. Als zuletzt 72 Armeeeinheiten aufeinander schossen, -266-
erkannte sogar Mao, daß die Unruhen weit genug getrieben waren und begann, die Roten Garden zurückzupfeifen. Es dauerte mehrere Jahre, bis das Land wieder zur Vernunft fand. Offiziell dauerte die Kulturrevolution vom Frühjahr 1966 bis zum Frühjahr 1969, aber es gab noch Jahre danach immer wieder politische Unruhen und sporadische Aufstände. Im Gefolge der Kulturrevolution starben nach westlichen Schätzungen rund 400.000 Menschen (China gibt etwa 35.000 zu), und von 1966 bis zu Maos Tod im Jahre 1976 blieb die Regierung gelähmt und hilflos. Ende September 1971 kam es zu einem höchst merkwürdigen Ereignis: die angebliche Verschwörung und Flucht von Lin Biao. Lin war Verteidigungsminister und offiziell zum ‡Engen Kampfgenossen und Nachfolger Maos— erklärt worden. Neben Mao war er einer der Hauptbetreiber der Kulturrevolution gewesen, und auch danach war er einer der führenden Männer im Staat. Plötzlich wurde bekanntgegeben, daß er einen Staatsstreich und die Ermordung von Mao geplant hätte. In dem Putschplan seien der Einsatz von Panzerabwehrwaffen, explodierende Öltanks und die Bombardierung von Maos Wohnsitz vorgesehen gewesen. Als die Verschwörung aufgedeckt wurde œ so die offiziellen Angaben œ, sei Lin mit seiner Frau, seinem Sohn und mehreren anderen, darunter fünf Politbüromitgliedern, zum Flugplatz geflüchtet und mit Lins persönlicher ‡Trident—-Verkehrsmaschine Richtung Sowjetunion entkommen. Dabei sei dem Flugzeug über der Mongolei das Benzin ausgegangen, und beim Absturz seien alle Menschen an Bord getötet worden. Die Verwirrung war derart groß, daß die jährliche Revolutionsfeier am 1. Oktober abgesagt werden mußte. Das einzige, was an dieser Geschichte mit Sicherheit festgestellt werden kann, ist ein Flugzeugabsturz in der Mongolei. Sogar jetzt, fast fünfzehn Jahre nach Maos Tod, gibt es keine klaren Erkenntnisse, worum es in dieser Auseinandersetzung zwischen Mao und Lin gegangen ist, und die Einzelheiten der Verschwörung blieben sämtlich unbestätigt. Dem Sturz von Lin Biao folgte eine weitreichende Säuberungsaktion in Armee und Partei. -267-
DIE LETZTEN TAGE MAOS UND DIE VIERERBANDE In den frühen siebziger Jahre gelang es Tschou Enlai, dem langjährigen Stellvertreter Maos und wesentlichsten ‡gemäßigten— Politiker des Landes, einige der exilierten ‡Rechtsabweichler— wieder in wichtige Positionen zu bringen. Der bedeutendste von ihnen war Deng Xiaoping. In den fünfziger und sechziger Jahren war er als Generalsekretär der KPCh einer jener Handvoll Männer gewesen, die China regiert hatten. Während der Kulturrevolution hatte er festgestellt: ‡Es spielt keine Rolle, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt.— Dieser Satz wurde zu Recht als eine Schmähung Maos begriffen. Er wurde zu einem Hauptanklagepunkt gegen ihn, wie auch zu einem Kampfruf seiner Anhänger. Nach seiner Absetzung 1966 war er nur knapp mit dem Leben davongekommen und hatte die Jahre bis zu seinem Wiederaufstieg in einer Armeekantine verbracht. Die Wiederkehr der ‡Rechten— war ein schwieriger und schrittweiser Prozeß - Deng wurde im August 1973 wieder ins Zentralkomitee berufen œ und wurde von den Radikalen heftig bekämpft, bisweilen auch von Mao selbst. Zur gleichen Zeit fädelte Tschou den Umbau der Allianzen ein, festigte Chinas feindselige Haltung gegenüber der Sowjetunion und begrüßte im Februar 1972 Präsident Nixon in Peking. Mit Mao wurde Nixon beim Teetrinken photographiert. Aber die Radikalen waren noch nicht besiegt. 1974 begannen sie eine ‡Kritisiert Konfuzius—-Kampagne, in der die Verdienste des legendären Denkers endlos und leidenschaftlich diskutiert wurden. Mit Konfuzius meinten die Radikalen Tschou Enlai. Dann begannen sie eine Aktion, in der Shth Huang Ti hochgelobt wurde, der erste Chin-Kaiser, der China geeint und die Chinesische Mauer errichtet hatte œ und die Werke Konfuzius‘ verbrannt. Er wird allgemein als grausamer Tyrann angesehen, aber die Radikalen priesen ihn und seine Taten; damit meinten sie Mao und griffen Tschou und seinen Schützling Deng an. Die westliche Musik, vor allem Beethoven, wurde als imperialistisch und dekadent und eine weitere Erscheinungsform von ‡Monstern und Dämonen— abgelehnt. Aber 1975 war Deng wieder in alle seine Ämter zurückgekehrt und kümmerte sich mit großem Erfolg um die Führung des Landes. -268-
Der Tod von Mao und Tschou nahte, und der Kampf um die Nachfolge brach los. Tschou starb im Januar 1976, und die extreme Linke trat zum letzten verzweifelten Kampf um die Macht an. Der vergreiste Mao wurde von seiner Frau und deren engsten Vertrauten manipuliert, die später als ‡Viererbande" bekannt wurden. Am 4. April ereignete sich der ‡Tienanmen-Zwischenfall—. Die Behörden hatten eine Menge Gedenkkränze für Tschou wegräumen lassen, die an einem Denkmal auf dem Platz niedergelegt worden waren, und eine große Protestdemonstration wuchs sich zu einem handfesten Aufruhr aus, in dessen Verlauf Parteigebäude niedergebrannt wurden. Deng wurde die Schuld an dem Zwischenfall zugeschrieben, und er wurde erneut entlassen, aber Freunde in der Armee brachten ihn sicher aus Peking hinaus. In ganz China gab es riesige Volksdemonstrationen zu seiner Unterstützung: Deng galt als der legitime Nachfolger Tschou En-Lais und als die einzige Hoffnung vor einer Neuauflage der Kulturrevolution. Im Juli 1976 tötete ein Erdbeben 800.000 Menschen in Tientsin, und die Unfähigkeit der Regierung wurde schlagartig sichtbar œ es gab wochenlang keine Hilfsaktionen. ‡Der Himmel selbst flammt Fürstentod herab— œ wie andere Katastrophen in Chinas langer Geschichte wurde auch diese als böses Omen gedeutet œ Mao hatte die Unterstützung des Himmels verloren, durch dessen Gnade die Kaiser einst geherrscht hatten, und ein Wechsel der Dynastie würde folgen. Mao starb am 9. September 1976. Einen Monat später wurde die Viererbande in einem Staatsstreich verhaftet, der von Angehörigen der Armee, Sicherheitspolizei und Regierung organisiert worden war, um den Rückfall des Landes in die Anarchie der Kulturrevolution zu verhindern. Seit 1945 hat kein anderes Land vergleichbarer Bedeutung so dramatische und schwierige Zeiten durchgemacht. Innerhalb eines Jahres hatte Deng seine Macht über die Regierung gefestigt, und dann setzten die wirtschaftlichen Reformen ein, die das Angesicht Chinas dramatisch veränderten. Die Volkskommunen wurden aufgelöst, und der Kommunismus wurde in der Landwirtschaft abgeschafft œ auch wenn die Marktwirtschaft noch nicht völlig wiederhergestellt ist. Selbstverwaltung von Betrieben, sogar privater Firmenbesitz und eine Warenbörse wurden in den Städten wieder zugelassen. -269-
Die Veränderungen der Wirtschaft nach 1976 waren revolutionär, aber die Kontrolle der KP wurde keineswegs gelockert. Während Gorbatschow das sowjetische politische Geschehen allen politischen Strömungen öffnete, in Wirtschaftsdingen aber höchst vorsichtig ist, wählte Deng den umgekehrten Weg. Jeder von beiden hat mittlerweile entdecken müssen, daß das eine ohne das andere nicht funktioniert. Die Explosion kam ganz plötzlich. Hu Yaobang, der führende Reformer der Regierung, war nach einem früheren Ausbruch prodemokratischer Demonstrationen in Peking 1987 aus der Führung entfernt worden. Er starb am 15. April 1989, und am nächsten Tag gab es eine kleine Trauerkundgebung auf dem Tienanmen-Platz. Alles lief ab wie 1976, bei den Trauerfeiern für Tschou. Die Studenten marschierten auf den Platz, und bald demonstrierten Hunderttausende Menschen für Reformen, das Ende der Korruption und mehr Demokratie. Die Studenten besetzten den Platz sechs Wochen lang und zogen bald den Großteil der Bevölkerung auf ihre Seite. Die Studenten in anderen Städten folgten ihrem Beispiel. Sie fanden Unterstützung bei Zhao Ziyang, dem Generalsekretär der Partei, und bald kam es zu wütenden Auseinandersetzungen zwischen Zhao und seinen Anhängern und den Hardlinern, an deren Spitze der nun vierundachtzigjährige Deng und der Ministerpräsident Li Peng standen. Deng erklärte vor dem Politbüro: ‡Wir sollten weder Blutvergießen noch den Druck der internationalen öffentlichen Meinung scheuen ... Wir haben drei Millionen Soldaten.— Die Studenten begannen mit einem Hungerstreik und richteten Petitionen an die Regierung. Zhao verhandelte mit ihnen, um den Hungerstreik zu beenden, und Li Peng kam widerwillig der Aufforderung zu einer Fernsehdiskussion mit den Studentenführern nach. Das Kriegsrecht wurde verhängt, aber die Bürger von Peking beschützten die Studenten. Anfang Juni errichteten sie auf dem Platz eine Kopie der New Yorker Freiheitsstatue als ‡Statue der Demokratie—. In den Morgenstunden des 4. Juni schickte Deng Soldaten und Panzer auf den Platz. Es gab schwere Kämpfe, und Tausende Menschen wurden getötet œ zwischen 2.000 und 5.000 Toten schwanken die Schätzungen. Die Menschenmenge tötete auch viele Soldaten und steckte ihre Fahrzeuge in Brand. -270-
Es war für Deng genauso ein Desaster wie für die Studenten. Er hatte die alte Garde zur Unterstützung seines harten Kurses gerufen, und nun forderte sie das Ende aller Reformen. Es ist ein paradoxer Widerspruch, aber die Reformer hofften auf Dengs Überleben. Außenhandel und Tourismus kamen zu einem Stillstand. In Hongkong, das 1997 an China fallen soll, brach eine Panik aus. In den folgenden Monaten wurden alle Wirtschaftsreformen Dengs in Frage gestellt. Die Preisreformen wurden rückgängig gemacht, zwei Millionen private Firmen wurden geschlossen, und China kehrte zur Zentralen Wirtschaftsplanung zurück. Unterricht in marxistischer Lehre wurde nach der Wiedereröffnung der Schulen und Universitäten zum Pflichtfach. Am 9. September erklärte Deng seinen Rücktritt von seinem letzten Regierungsamt, Vorsitzender der Zentralen Militärkommission, und ihm folgte der neue Generalsekretär der KP, Jiang Zemin. Das hatte nichts zu bedeuten. Im Dezember wurde im Fernsehen gezeigt, wie Deng vor einer amerikanischen Delegation unter Präsident Bush‘ Nationalem Sicherheitsberater General Brent Scowcroft hofhielt. Bush wurde weitweit kritisiert, so bald nach dem Tienanmen-Massaker wieder mit der chinesischen Regierung Kontakt zu pflegen. Im Januar 1990 wurde der Ausnahmezustand aufgehoben, aber die Unterdrückung aller oppositionellen Regungen ging weiter. Die chinesischen Führer waren fest entschlossen, daß sich bei ihnen die Ereignisse in Osteuropa nicht wiederholen würden. Ähnlich hatte Ceausescu sich gegen die Flut gestemmt. Es scheint nicht sehr wahrscheinlich, daß es in China lange ruhig bleiben wird œ viel eher kommt auf das Land erneut eine turbulente Periode zu. TIBET Tibet erstreckt sich über 1,9 Millionen Quadratkilometer auf dem Dach der Welt. Es hat nur wenige Rohstoffvorkommen, und bis zur chinesischen Besetzung in den fünfziger Jahren führten seine zwei bis drei Millionen Einwohner ein friedliches Dasein als Schafhirten, Bauern, Kleinhändler und Mönche. Die Hauptstadt Lhasa hatte ungefähr 30.000 Einwohner, aber andere tibetische Städte sind noch kleiner, nach mitteleuropäischen Begriffen eigentlich Dörfer, und die -271-
meisten dienten den Klöstern. Darin lebten ungefähr 10 Prozent der Bevölkerung, die unter der Herrschaft des Dalai Lama ‡dem Weg— folgten. Tibet war die einzige reine Theokratie der Weit. Der Dalai Lama ist die Reinkarnation eines der Stadien Buddhas. Seine Autorität ist in Tibet absolut, wie der Ajatollah Khomeini im Iran œ allerdings mit dem Unterschied, daß der Buddhismus eine pazifistische Religion ist. Nach dem Tod des jeweiligen Dalai Lama wird das Land von Suchtrupps durchkämmt, die das Baby aufspüren, das die neue Inkarnation ist. Der gegenwärtige Dalai Lama ist der vierzehnte in dieser Abfolge, und obwohl er schon 1959 aus Tibet nach Indien geflüchtet ist, besteht kein Zweifel an der völligen Hingabe aller Tibeter an ihn. China hat im Lauf der Jahrhunderte mehrere Male die Herrschaft über Tibet beansprucht und diese Forderung gelegentlich verstärkt. Aber das Land war immer so arm und abgelegen, daß das Reich des Himmels sich nicht besonders darum gekümmert hat. Im 20. Jahrhundert gab es ständigen Streit zwischen Lhasa und den einander ablösenden Regierungen in Peking sowie auch Grenzkriege zwischen Tibetern und chinesischen Warlords. Peking gab seinen Anspruch auf Tibet niemals auf und überlegte von Zeit zu Zeit, ihn durch die Entsendung von Truppen zu untermauern. Es wurde davon aber immer wieder durch internationalen Einspruch abgehalten, vor allem durch starke britische Unterstützung Tibets. 1933 starb der 13. Dalai Lama, und vier Jahre später marschierten die Japaner in China ein. Tibet blieb während des Krieges unbehelligt, obwohl die Amerikaner den Nachschub für Tschiang Kaischek über den Himalaya flogen, eine besonders gefährliche Strecke. 1949 zog Mao in Peking ein. China wurde unter einer starken und aggressiven Regierung vereint, und eine ihrer ersten Taten war die ‡Vereinigung— des nationalen Territoriums: Am 7. Oktober 1950 besetzte eine chinesische Armee Lhasa. Zunächst änderte die chinesische Regierung in Tibet wenig. Der 14. Dalai Lama, damals 16 Jahre alt, wurde in seinem Palast belassen, die Klöster blieben ungestört, und die tibetische Regierung amtierte weiterhin. Aber die Chinesen errichteten Straßen ins Innere des -272-
Landes, bauten ihre Garnisonen an strategisch günstigen Punkten und siedelten die ersten von einigen hunderttausend chinesischen Bauern an. Die tibetischen Bauern begannen mit ihrem Widerstand, und 1955 entstand in den abgelegeneren Landesteilen eine Guerillabewegung, die von den Kampas im Osten angeführt wurde. 1958 gelang es den Kampas, in einer Schlacht eine ganze chinesische Garnison von 3.000 Mann auszulöschen. 1959 tobte im Land bereits ein regelrechter Guerillakrieg, der 200.000 chinesische Soldaten band. Die Chinesen konnten eine solche Situation nicht lange hinnehmen. Der Schlüssel zur Herrschaft über das Land war der Dalai Lama. Die Chinesen baten ihn, nach Peking zu kommen. Er lehnte ab. Am 9. März 1959 lud ihn der Kommandierende chinesische General in Lhasa ein, an einer Vorführung in der chinesischen Kaserne teilzunehmen œ allerdings ohne sein übliches Gefolge von Ministern und Wachen. Die Tibeter werteten dies als Versuch, den Dalai Lama als Geisel zu nehmen, und rund um den Sommerpalast versammelte sich zu seinem Schutz eine 30.000köpfige Menschenmenge. Die Chinesen feuerten Granaten in die Palasthöfe und verlegten Truppen nach Lhasa, und da entschloß sich der Dalai Lama zur Flucht. Zu Pferd kam er mit achtzig Gefolgsleuten am 30. März nach Indien. Als die Meldung von der Flucht Lhasa erreichte, lösten die Chinesen die Menschenansammlungen mit großer Brutalität auf. Rund 3.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Im ganzen Land brachen Kämpfe aus; der Dalai Lama meint, daß rund 65.000 Tibeter getötet wurden. Mehr als 60.000 Tibeter flohen nach Nepal und Indien. China löste nun die übriggebliebenen Institutionen des unabhängigen Tibet auf und errichtete ein kommunistisches Regime. Die Klöster wurden geschlossen und die Mönche vertrieben. Chinesische Sprache, chinesisches Recht und chinesische Sitten wurden Tibet übergestülpt. Tibetische Guerillas setzten den Kampf fort, aber sie hatten keine Unterstützung von außen, und gegen die gewaltige Übermacht waren sie ohne Chance. 1966 griff die Kulturrevolution auch auf Tibet über. Rotgardisten erlangten die Kontrolle über das Land und versuchten, alle Spuren von ‡Feudalismus und Aberglauben— auszurotten. Es war einer der -273-
schlimmsten Vandalenakte des 20. Jahrhunderts, vergleichbar mit Ereignissen rund um den Rückzug der deutschen Wehrmacht aus Osteuropa. So wie die Deutschen den Zarenpalast bei Leningrad gesprengt und Warschau in Schutt und Asche gelegt hatten, so zerstörten die Rotgardisten mehr als 3.000 Klöster und Tempel in Tibet. Heilige Bücher, Statuen und Kultgegenstände wurden zerstört, gestohlen oder nach China geschickt. Chinesische Offiziere, die sich diesen Verwüstungen entgegenstellten, darunter auch der Kommandierende General Chang Kuohua, wurden von den Rotgardisten verhaftet. Da griff die Armee ein, rettete Chang und versuchte, die Ordnung wiederherzustellen, aber der staatliche Terrorismus gegen die Tibeter, von denen viele ermordet wurden und viele gegen die Chinesen kämpften, hielt bis 1970 an. Chris Müllen, der für die Minority Rigths Group schreibt, entdeckte, daß die Zerstörung der tibetischen Kultur, der Schreine, Klöster und Kunstgegenstände keineswegs spontan, sondern sorgfältig geplant war: ‡Zuerst kamen Experten und markierten die wertvollen Steine, die daraufhin entfernt wurden. Dann kamen Metallexperten und kennzeichneten die Edelmetalle für den Abtransport. Dann wurden die Gebäude gesprengt. Das Holz wurde zum Gebrauch der Ortsgemeinde weggeschleppt, und die Steine wurden zur allgemeinen Verwendung liegengelassen.— Noch deprimierender war die Feststellung, daß ‡die meisten Zerstörungen von jungen Tibetern ausgeübt wurden. Die Chinesen blieben bewußt im Hintergrund. Kein Zweifel, daß die jungen Tibeter von den Chinesen aufgehetzt waren; ohne Zweifel bereuen heute viele, was sie damals getan haben, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß die tatsächliche Zerstörung von Tibets kulturellem Erbe von Tibetern ausgeführt wurde.— Es ist ein durchaus vergleichbares Phänomen, daß zehn Jahre später junge Kambodschaner von den Roten Khmer abgerichtet wurden, ihre Landsleute zu töten. 1974, nachdem der Sturm abgeflaut war, amnestierten die Chinesen alle inhaftierten Tibeter und begannen mit der Reparatur der Verwüstungen. 1980 reiste der Generalsekretär der KPCh, Hu -274-
Yaobang, nach Lhasa und bedauerte öffentlich die Ausschreitungen zwischen 1959 und 1974, für die er die Viererbande verantwortlich machte. (Später fiel er selbst einer Säuberungsaktion zum Opfer). Einige Klöster wurden restauriert und einige wenige sogar wieder geöffnet. Zum erstenmal seit einer Generation durften Ausländer Lhasa bereisen. Sie fanden die Tibeter unter schlechten Lebensbedingungen und harter chinesischer Kontrolle, und zwischen den beiden Völkern herrscht tiefe Feindschaft. Die Ergebnisse der neuen Politik waren vorhersehbar. Die Tibeter konnten durch freundliche Gesten nicht davon überzeugt werden, wie sinnvoll es wäre, sich China völlig zu ergeben œ nicht nach solcher Unterdrückung. Sie erhoben wieder die Forderung nach Unabhängigkeit. Im September und Oktober 1987 gab es in Lhasa Aufstände œ angeführt von Mönchen, die durch Lhasa zogen und Vorwürfe gegen China erhoben. Ungefähr ein Dutzend Menschen wurde getötet. Im März 1988 gab es noch ernstere Zwischenfälle. Am 5. März wurde zumindest einer, vielleicht auch drei chinesische Polizisten bei einem Aufruhr während einer religiösen Feier getötet. Unmittelbar nachher wurden im Jokhang-Kloster 30 Mönche ermordet, berichtete der Observer, und während der darauffolgenden Tage waren es weitere 20 Menschen. Und wieder wurden Fremde aus Tibet ausgesperrt. Im April besuchte der ehemalige britische Labour-Minister Lord Ennals Tibet und berichtete, daß 2.000 Tibeter bei diesen Demonstrationen verhaftet und daß viele gefoltert worden seien. In Peking erklärte der Pantschen Lama, ein hoher geistlicher Würdenträger, der die Chinesen seit ihrer Invasion unterstützt hatte, daß fünf Menschen getötet worden seien, darunter ein Polizist, und 200 während der März-Unruhen verhaftet worden seien. Er sagte auch, daß der Dalai Lama nach Tibet zurückkehren dürfe, wenn er seine Forderung nach der Unabhängigkeit Tibets aufgäbe. Allerdings würde China darauf bestehen, daß der Dalai Lama in Peking lebte. (Der Pantschen Lama starb im Januar 1989.) Die Menschenrechtsgruppe ‡Asia Watch— berichtete im Juli 1988, daß einige hundert Tibeter immer noch inhaftiert seien und daß ‡kaum Zweifel bestünde, daß Folter in Polizeihaft und Gefängnissen in Tibet üblich sei, ebenso wie der Gebrauch des Rinderstachelstocks.— -275-
Die Unruhen waren für die chinesische Regierung eine große Überraschung, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering, daß sie Tibet aufgeben wird. China ist kein Vielvölkerstaat, wie die Sowjetunion, Indien, Äthiopien oder Nigeria, der unter separatistischem Druck zerfallen könnte. An den Rändern des chinesischen Reiches leben viele kleine Nationalitäten, aber die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sind Chinesen, und sie werden die Minderheiten immer beherrschen können. 1989 bekam der Dalai Lama den Friedensnobelpreis zuerkannt, eine Geste, die von der chinesischen Regierung als Beleidigung aufgefaßt wurde. Nach dem Tienanmen-Massaker im Juni erstreckte sich die landesweite brutale Niederschlagung jeder Opposition auch auf Tibet, wo jede Protestäußerung sofort mit großer Gewalt unterdrückt wurde. So leben der Dalai Lama und ungefähr 80.000 tibetische Flüchtlinge in Indien und Nepal und versuchen, die tibetische Kultur über die chinesische Unterdrückung hinweg zu bewahren. Sie schöpfen Kraft aus ihrem Studium des ‡Wüges— und hoffen, daß eine neue Umdrehung des Lebensrades, das sie einst aus ihrer Heimat vertrieben hat, sie eines Tages wieder dorthin zurückführen wird. TAIWAN Die Volksrepublik China (mit der Hauptstadt Peking) und die Republik China (gestützt auf Taiwan) bestehen beide auf der Einheit und Unteilbarkeit Chinas. Sie beanspruchen beide für sich, das Land zu repräsentieren, aber seit 1978 haben die USA die Volksrepublik anerkannt. Vielleicht werden sie eines Tages vereinigt sein, aber derzeit gibt es dafür kein Anzeichen. Im Gegenteil, Taiwan entfernt sich immer mehr vom Festland. Es hat einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufstieg hinter sich und ist jetzt einer der vier ‡kleinen Drachen— Asiens œ zusammen mit Singapur, Südkorea und Hongkong œ, die in Japans Fußstapfen treten. Seine einheimische Bevölkerung ist zwar chinesischen Ursprungs, fühlt aber zu Peking nicht mehr Loyalität als beispielsweise die Chinesen in Singapur. Die ältere Generation œ die 1949 vom Festland herübergekommen ist œ zieht sich allmählich zurück oder stirbt, und so wird die Bevölkerung immer weniger chinesisch und immer mehr -276-
taiwanesisch. Nach 38 Jahren wurde im Juli 1987 das Kriegsrecht aufgehoben. Und nach dem Tod des Sohnes und Nachfolgers von Tschiang Kaischek, Tschiang Tschingkuo, am 13. Januar 1988, folgte ihm mit Lee Tenghui ein Taiwanese. So ist das Problem in Taiwan auch anders gelagert als etwa in Korea, das eine Nation bleibt, die in zwei ideologische Lager geteilt ist. Die Chinesen haben keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, Taiwan zurückzuerobern, aber in den fünfziger Jahren gab es einen regelrechten Feldzug gegen zwei von Taiwan kontrollierte Inseln, Quemoy und Matsu vor der chinesischen Küste. Diese unglückseligen Vorposten waren von 1958 bis 1960 das Ziel heftigen Artilleriebeschusses. Diese Episode ist eigentlich nur deshalb interessant, weil sie im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 1960 eine Rolle spielte. Vizepräsident Nixon und Senator Kennedy debattierten ernsthaft, ob die Vereinigten Staaten zur Verteidigung von Quemoy und Matsu in den Krieg ziehen sollten. Falls Mao jemals ernsthaft über die Eroberung nachgedacht haben sollte, so haben ihn seine Mitregierenden oder sowjetischer Druck davon abgebracht. Die Chinesen beschränkten sich auf symbolische Angriffe und feuerten Granaten auf die Inseln ab, die Propagandaflugblätter enthielten statt Sprengstoff. Sie montierten Lautsprecheranlagen und schütteten die nationalchinesischen Garnisonen mit bombastischen Reden zu, was die Taiwanesen mit gleicher Münze heimzahlten. Es war ein völlig sinnloser ‡Kampf—, aber er dauerte Jahre. Heute hegt China offiziell nur freundliche Gefühle gegenüber Taiwan, weigert sich allerdings ausdrücklich, auf den Anspruch zur gewaltsamen Rückeroberung der verlorenen Provinz zu verzichten. Es hofft, daß Taiwan freiwillig zum Mutterland zurückkehren wird. Eine vergebliche Hoffnung œ es sei denn, China sagt sich vom Kommunismus los. DER CHINESISCH-SOWJETISCHE KONFLIKT UND DER GRENZKRIEG VON 1969 Die Grenzzwischenfälle zwischen der Sowjetunion und China waren für sich betrachtet nicht besonders ernsthaft. Einige Dutzend -277-
Soldaten starben im Kampf um eine Insel im Fluß Ussuri, der die zwei Länder nördlich von Wladiwostok trennt. Das Gebiet war uninteressant, anders der symbolische Wert. China behauptet, daß große Gebiete der Sowjetunion, vor allem am Pazifik, einschließlich Wladiwostok, von Rußland in einem Moment der Schwäche Chinas zu Ende des 19. Jahrhunderts gestohlen wurden. Die Diebstähle seien in einseitigen Verträgen, die das zaristische Rußland der Manchu-Dynastie diktiert habe, ‡legalisiert— worden, Es gab viele solcher einseitigen Verträge. Deutschland, die USA, Großbritannien und Portugal preßten sie China ab. Deutschland verlor seine Besitzungen in China nach 1918, die Amerikaner zogen sich nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, und die kommunistische Besetzung Shanghais machte den ausländischen Zonen dort ein Ende. Die letzten Vertragshäfen, Hongkong und Macao, werden 1997 bzw. 1999 an China zurückfallen. Aber Rußland, jetzt die Sowjetunion, wird Wladiwostok, das südliche Sibirien und die von China geforderten Gebiete in Asien sicher nicht abtreten. Der Streit um die Insel im Ussuri war daher von tieferer Bedeutung. Abgesehen von der Territorialfrage, geht der Disput zurück bis zu dem, was Mao als Stalins Verrat bezeichnete und auf den sowjetischen Expansionsdrang. Es gab auch doktrinäre Auseinandersetzungen: Mao nannte die USA einen Papiertiger und erklärte, keine Angst vor Atomwaffen zu haben. Während der fünfziger Jahre wurde der anwachsende Zwist zwischen den beiden kommunistischen Ländern geheimgehalten, und auch nachdem er allgemein sichtbar wurde, blieben die Hardliner in Washington skeptisch: Das alles sei nur ein Plan, die Welt zu erobern, und die beiden Länder stünden in Wahrheit unter der Vorherrschaft Moskaus. Viele Amerikaner haben soviel Rhetorik in die Theorie einer weltweiten, vom Kreml gelenkten Verschwörung investiert, daß es ihnen unmöglich ist, sich mit der Realität abzufinden. Dieselben Leute weigern sich heute, an Gorbatschows Reformen zu glauben. 1958 stellten die Sowjets schlagartig ihre Unterstützung des chinesischen Atomprogrammes ein. 1959 besuchte Nikita Chruschtschow zu Maos tiefem Mißfallen die Vereinigten Staaten. Als der Sowjetführer zur Feier des 10. Jahrestages der -278-
Kommunistischen Revolution am 1. Oktober 1959 nach Peking kam, wurde er mit heftigen Angriffen in den Parteizeitungen begrüßt. In der chinesischen Eigenart waren sie gegen einen von Maos chinesischen Rivalen gerichtet. 1960 begann Mao eine heftige Pressekampagne gegen Jugoslawien; einmal mehr war Chruschtschow das wahre Ziel. Im Juli antwortete Chruschtschow mit der Rückholung aller sowjetischen Berater aus China. Sie brachten ihre Blaupausen mit und ließen überall unfertige Projekte im Stich. Einige Jahre war China ernsthaft isoliert. Während der sechziger Jahre standen die Chinesen sowohl zur UdSSR wie auch zu den USA in scharfer Opposition. Zu Ende des Jahrzehnts kamen sie zur Schlußfolgerung, daß, ungeachtet der Verwicklung in Vietnam, die Gefahr aus dem Norden mehr zu fürchten sei. Der Doktrinenstreit ging weiter, Mao beschuldigte Chruschtschow und seine Nachfolger des ‡Revisionismus— und meinte damit die Abwendung von den wahren marxistischen Prinzipien. Die Chinesen begannen intensiv, in der Dritten Welt nach Freunden und Alliierten zu suchen, und sie boten sich als wahrhaft revolutionäre Alternative zur UdSSR an. Am 2. März 1969 besetzten 300 chinesische Soldaten die Insel Damansky œ von den Chinesen Chenpao genannt œ im Ussuri, der nordöstlichen Grenze zwischen China und der UdSSR. Die Insel hat keinen strategischen oder wirtschaftlichen Wert; sie ist klein und unbewohnt, und an dieser Stelle fließt der Ussuri durch versumpftes, unzugängliches, beinahe menschenleeres Land. Die eindringenden Chinesen überfielen eine kleine sowjetische Patrouille, töteten 23 und verwundeten 14 Männer. Die Sowjets schickten Verstärkungen, die wiederum überfallen wurden. Dann zogen sich die Kontrahenten von der Insel zurück. Die Sowjets protestierten wütend und in aller Öffentlichkeit. Die Chinesen beschuldigten sie wiederholter Grenzverletzungen œ im Sommer hatten sie eine Liste von 429 solcher Zwischenfälle. Vor der sowjetischen Botschaft in Peking fanden gewaltige antisowjetische Demonstrationen statt, noch größere gab es vor der chinesischen Botschaft in Moskau. Am 15. März wurde auf Damansky/Chenpao wieder gekämpft, aber diesmal mit Panzern, Artillerie und größeren Verlusten. Im April und -279-
Mai kam es längs der Grenze am Amur, nördlich des Ussuri, aber auch weiter westlich an der chinesischsowjetischen Grenze in Zentralasien zu weiteren Zusammenstößen. (Henry Kissinger kam zu der Schlußfolgerung, die Sowjets müßten die Angreifer gewesen sein, da die zentralasiatischen Auseinandersetzungen nur wenige Kilometer von einer sowjetischen Bahnstation stattfanden, aber einige hundert Kilometer vom nächsten chinesischen Stützpunkt.) Die Sowjets stellten öffentliche Überlegungen über die Notwendigkeit eines Präventivschlages gegen chinesische Atomanlagen an und fühlten bei der Regierung Nixon über die etwaige Reaktion auf einen solchen Angriff vor. Kissinger und Nixon hielten die Zeit für eine Annäherung an China gekommen, und Tschou Enlai war offensichtlich zu derselben Überzeugung gelangt. 1970 war es bereits klar, daß die USA sich aus Vietnam zurückziehen wollten, wodurch die Hauptquelle des Konfliktes zwischen den beiden Ländern beseitigt würde. Die Umkehrung der Allianz wurde nach einer geheimen Pekingreise Kissingers im Jahre 1971 schließlich durch den Chinabesuch Nixons im Februar 1972 besiegelt. Das ‡Shanghai Kommunique—, ein Dokument, das von Nixon und Tschou unterschrieben ist, legte den zukünftigen gemeinsamen Kurs fest. Die Amerikaner überließen bald darauf Taiwan seinem Schicksal, obwohl sie die vollen diplomatischen Beziehungen mit Peking erst 1978 aufnahmen. Die neue Allianz war ein wichtiger Bestandteil der Außenpolitik beider Länder. Sie wurde auch während der stürmischen Ereignisse in Maos letzten Lebensmonaten nicht gefährdet und von Deng Xiaoping erneuert, als er 1979 die USA besuchte und Präsident Carter von dem bevorstehenden Angriff Chinas auf Vietnam informierte. Richard Nixon betrachtet die ‡China-Politik— als die größte Leistung seiner Präsidentschaft. Sie war auch die größte Schlappe für die sowjetische Politik. China blieb in unverrückbarer Gegnerschaft zur Sowjetunion, bis Michail Gorbatschow 1988 eine Wiederannäherung begann, und hat auch ein Arsenal an Atomraketen aufgebaut, die Moskau erreichen können. Umgekehrt war die Sowjetunion gezwungen, nahezu die halbe Rote Armee an der 6.400 Kilometer langen Grenze zu China zu stationieren, wodurch sie ihre sonstigen Positionen in der Welt geschwächt hat. Ein hoher Preis für -280-
eine unbewohnte Insel. Michail Gorbatschow hat in seinem Bemühen, die Fehler seiner Vorgänger zu korrigieren, Verhandlungen mit China vorgeschlagen, in denen der Grenzkonflikt und andere offene Fragen ausgeräumt werden sollten. China bestand darauf, daß die Sowjetunion zuerst Vietnam dazu zwingen müßte, Kambodscha zu verlassen œ was bis zum September 1989 geschah œ und selbst seine Stützpunkte in Vietnam räumen und seine Truppen von der Grenze zurückziehen müßte. Gorbatschow kommt diesen Forderungen allmählich nach, mindestens ebensosehr aus internen Gründen wie aus dem Verlangen nach Entspannung mit Peking, und am 16. Mai 1989 besuchte er Peking zum ersten chinesischsowjetischen Gipfeltreffen seit 1959. Das Treffen mag tatsächlich die Spannungen zwischen den beiden Ländern gemildert haben, aber es war überschattet von Demonstrationen für die Demokratie. Da die Demonstranten den Tienanmen-Platz besetzten, mußte Gorbatschow auf Schleichwegen zum Treffen mit den chinesischen Führern gebracht werden, und er fand sie derart beschäftigt mit ihren Schwierigkeiten, daß sie die Bedeutung seines Besuches kaum zu würdigen wußten. Dabei war die Botschaft klar: beide Seiten wollten eine Verständigung, die UdSSR aus wirtschaftlichen, China aus politischen Gründen. Es war eine Ironie des Schicksals, daß die beiden Mächte gerade dann das Kriegsbeil begruben, als ihre beiderseitigen internen Probleme die ideologischen Fragen, die jene lange Entfremdung ausgelöst hatten, überdeckten.
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INDIEN
Geographie: Fläche 3,287.590 km2, so groß wie West- und Mitteleuropa. Die Republik Indien besteht aus 25 Bundesstaaten und 7 ‡Union Territories—. Die Hälfte der Staaten hat mehr Einwohner als Großbritannien, Frankreich oder die Bundesrepublik. Bevölkerung: 1989 waren es rund 833 Millionen, die jährliche Zuwachsrate liegt bei 16 Millionen. 83 Prozent der Bevölkerung sind Hindus, rund 90 Millionen (11,4 %) Moslems, 2,4 % Christen, 2 Prozent Sikhs; außerdem gibt es kleine jüdische und buddhistische Gemeinden. Von den 50 großen regionalen Sprachen Indiens sind 16 von der Verfassung als offiziell anerkannt. Hindi und Englisch sind Staats- bzw. ‡assoziierte— Sprache. Darüber hinaus gibt es Hunderte andere Sprachen und Dialekte. BSP: 290 $/Einw. Flüchtlinge: 6.000 Inder, 100.000 Tibeter, 125.000 Tamilen aus Sri Lanka, 50.000 Bangladescher, 5.600 Afghanen und 1.100 Iraner sind in Indien als Flüchtlinge registriert. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1947 hat Indien drei Kriege gegen Pakistan geführt (den letzten 1971) und einen Grenzkrieg gegen China. In vielen Teilen des Landes kam es immer wieder zu heftigen bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen, vor allem in Assam an der nordöstlichen Grenze. Der in jüngerer Zeit ernsthafteste Konflikt ist der Aufstand der Sikhs, der 1984 zum Angriff auf den Goldenen Tempel in Amritsar führte, ein Ereignis, dem die Ermordung der Ministerpräsidentin Indira Gandhi durch Mitglieder ihrer SikhLeibwache folgte. Der Tempel wurde im Mai 1988 ein zweites Mal belagert und von der Armee eingenommen. 1974 wurde Indien als sechstes Land Mitglied des ‡AtomwaffenKlubs—, und Pakistan ist mittlerweile wohl auch so weit. Zwischen den beiden Ländern besteht eine derartige Feindseligkeit, daß ein neuer Krieg jederzeit möglich erscheint, der allerdings keineswegs ein Atomkrieg sein muß. Indien ist die vorherrschende Macht in einer Region mit einer Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen. Obwohl es als politischer Alliierter der Sowjetunion gilt, -282-
ist es doch œ wie China œ eines der wesentlichen unabhängigen Machtzentren der Welt. Das Land ist zu groß, um von einem anderen beherrscht zu werden. Vielmehr ist es weit wahrscheinlicher, daß Indien unerträglichen Druck auf seine Nachbarstaaten ausübt. In Sri Lanka waren jahrelang bis zu 60.000 indische Soldaten stationiert, und die Regierung dieses Landes war gezwungen, einen indischen Plan zur Beseitigung der internen Probleme zu akzeptieren. (Siehe SRI LANKA). Die einzigen wirklichen Bedrohungen für Indien kommen aus dem Land selbst. Kann ein Land, das eine so große Bevölkerung hat, solche sozialen Unterschiede und solche Armut, als nationale Einheit bestehen? Die Last der ständig anwachsenden Bevölkerung macht jeden wirtschaftlichen Fortschritt zunichte und erzeugt unlösbare Probleme. Indien hat bis jetzt überlebt, da es eine Demokratie ist, die den widerstreitenden Meinungen Platz einräumt (die Bundesstaaten stehen oft in scharfer Opposition zu Neu-Delhi). Mit einer kurzen Unterbrechung war die Herrschaft ein Erbhof der Nehru-Dynastie: Sie hat von 1947 bis zur Wahlniederlage Rajiv Gandhis im November 1989 geherrscht; jetzt ist eine Koalition früherer Oppositionskräfte an der Macht, die sich mit den gewaltigen geerbten Problemen herumschlagen muß. GESCHICHTE Indien kann nicht als ein Nationalstaat betrachtet werden œ wie Großbritannien, Mexiko oder China. Am besten läßt es sich mit Europa vergleichen: eine geographische Begriffseinheit mit vielen Völkern und Sprachen, die durch eine gemeinsame Geschichte und Zivilisation verbunden sind. Die indische Geschichte reicht 5.000 Jahre zurück. In einer langen Abfolge von Jahren kamen Einwanderer und Eroberer über die Berge vom Westen und von Zentralasien, errichteten Reiche und hinterließen Städte und Denkmäler. Im 17. Jahrhundert kamen die Briten und andere Europäer über das Meer und gründeten Handelsstationen. Im 18. Jahrhundert machten sie sich an die Eroberung Indiens, und im 19. Jahrhundert beherrschten sie den ganzen Subkontinent vom Himalaya bis Ceylon: ein Teil der Erde, der niemals zuvor vereinigt gewesen -283-
war. Diese Einheit überdauerte das Ende der britischen Herrschaft nicht. Die Briten gaben Indien seine Unabhängigkeit um Mitternacht des 14. August 1947. Es war eine der größten Fehlentscheidungen in der Geschichte des britischen Imperialismus, Indien in zwei Staaten aufzuteilen: einen islamischen (Pakistan) und einen theoretisch säkularisierten, aber de facto Hindu-Staat. In den Anfängen der Unabhängigkeitsbewegung kämpften Moslems und Hindus gemeinsam gegen die Briten, unter der geistigen Führung von Mahatma Gandhi. Es ist möglich, daß Indien ein geeintes Land geblieben wäre, hätte es seine Unabhängigkeit bereits in den dreißiger Jahren erhalten. Aber eine starke imperialistisch orientierte Strömung in der Konservativen Partei, die die überwältigende Mehrheit im Londoner Unterhaus hatte, stellte sicher, daß die schwachen Regierungen dieser Jahre einen solchen Schritt nicht wagten. Der wichtigste Führer dieser konservativen Fraktion war Winston Churchill. Seine späteren Leistungen sollten nicht die Sicht auf seinen Beitrag zu einer Katastrophe verstellen, die zumindest eine halbe Million Menschen das Leben gekostet hat. Als ein wunderliches Resultat der islamischen Missionierung im Mittelalter zerfielen die Gebiete der moslemischen Mehrheit in Indien in zwei getrennte Teile: den Pandschab, das Land der fünf Ströme im Westen, und Ost-Bengalen im Osten. So wurde Pakistan als zweigeteilter Staat geschaffen, geteilt durch ein riesiges Stück Indiens. Die anderen Teile von Britisch-Indien œ Birma und Ceylon (Sri Lanka) œ errangen gesondert die Unabhängigkeit. Die Teilung war eine der blutigsten Episoden des Jahrhunderts: 12 Millionen Menschen verließen ihre Heimat, und Hunderttausende Menschen wurden bei gegenseitigen Massakern getötet. Die Schätzungen reichen von 500.000 bis zu wahrscheinlich 800.000 oder gar einer Million. Eisenbahnzüge mit Flüchtlingen wurden auf offener Strecke angehalten, und jeder an Bord œ mit Ausnahme des Lokomotivführers wurde getötet. Es gelang Mahatma Gandhi durch Gebet, Fasten und Einsatz seines riesigen Einflusses, in Delhi die Ordnung wiederherzustellen. Aber am 30. Januar 1948 wurde er von einem fanatischen Hindu erschossen. -284-
Die Briten hatten halb Indien direkt regiert; im Rest des Landes waren eingeborene Fürsten auf ihrem Thron belassen worden, deren Staaten durch ‡Residenten— (Ratgeber des Fürsten) gelenkt wurden. 1947 mußten sich die Fürsten für Indien oder Pakistan entscheiden. Die meisten von ihnen folgten ein letztes Mal dem Rat ihrer Ratgeber und ordneten sich unter. Der mächtigste von ihnen, der Nizam von Hyderabad, ein moslemischer Fürst im hinduistischen Südindien, weigerte sich. Die neue Regierung setzte die Armee in Marsch, und das war das Ende des Traums vom unabhängigen Hyderabad. DER ERSTE INDISCH-PAKISTANISCHE KRIEG Der größte Fürstenstaat war Kaschmir im entfernten Norden. Die Bevölkerung ist mehrheitlich moslemisch, aber es gibt eine große Hinduminderheit in Dschammu. Die Mitglieder der Familie Nehru waren Brahmanen aus Kaschmir, und der Maharadscha von Kaschmir war ein Hinduabkömmling eines Verbündeten der Briten in einem ihrer Kriege im 19. Jahrhundert, der von den Kolonialherren mit dem Thron belohnt worden war. Auch der Maharadscha hoffte 1947 auf Unabhängigkeit, aber die pakistanische Regierung sandte moslemische Stammeskämpfer nach Kaschmir zur Eroberung des Landes, und daher unterzeichnete der Maharadscha einen Anschlußvertrag an Indien. Darauf folgte der erste Krieg zwischen Indien und Pakistan. Militärisch gesehen war es kein besonders großer Krieg. Indische und pakistanische Truppen marschierten auf und lieferten sich einige Scharmützel, bevor es im Januar 1949 zu einem Waffenstillstand kam. Indien kontrollierte zu diesem Zeitpunkt den Großteil von Kaschmir. Aber beide Länder weigerten sich, den Status Quo anzuerkennen. Nach wie vor erhebt jedes Anspruch auf das ganze Gebiet. DER KRIEG GEGEN CHINA Der Grenzkrieg zwischen China und Indien von 1962 war ein Fiasko, das Indiens Rolle als der moralpredigende, friedliebende Führer der Dritten Welt abrupt beendete. Es gelang Indien, einige Reste seiner diplomatischen Reputation nach der demütigenden -285-
Niederlage seiner Armee zu retten, hauptsächlich dank des unbeeinträchtigten Ansehens des Landes als Friedensapostel und wegen Chinas Ruf als rücksichtloser Egoist. Tatsächlich war aber Indien der Aggressor, China der Angegriffene, und nachdem sie Indien geschlagen hatten, handelten die Chinesen mit erstaunlicher diplomatischer Zurückhaltung. Die völlige militärische Beherrschung der Region erlaubte den Briten eine Grenzziehung im Norden Indiens, wo sie ihnen am günstigsten schien. Ab 1883 kartographierte Captain Henry McMahon von der Indischen Armee die Grenze und legte ihren Verlauf fest. Daher wurde diese Grenze auch als die McMahon-Linie bekannt, so wie die Grenze zwischen den amerikanischen Bundesstaaten Maryland und Pennsylvania nach zwei frühen britischen Kartographen, Charles Mason und Jeremiah Dixon, benannt ist. Es gab Probleme mit der Demarkation, hauptsächlich deshalb, da China die McMahon-Linie niemals anerkannt hat. Zu der Zeit war das ein akademischer Streit, da China noch nicht Tibet beherrschte und Großbritannien viel mächtiger war. Aber diese Situation veränderte sich nach dem Abzug der Briten und der Machtergreifung der chinesischen Kommunisten 1949 sowie der Besetzung Tibets 1950 (siehe CHINA). Hätten die Briten noch in Indien geherrscht, hätten sie die Grenzfrage zweifellos zügig geklärt, so wie den Streit über die Grenze zwischen Kanada und den USA. Die umstrittenen Gebiete waren den Kampf nicht wert, aber Indien, wie viele andere junge Staaten, betrachtete seine Grenzen als heilig, wie abgelegen und unzugänglich sie auch sein mochten. Ein weiteres Problem ergab sich am westlichen Ende der Grenzlinie, wo sie durch eines der wildesten und höchstgelegenen Gebiete der Erde verläuft, mit Pässen in der Höhe von mehr als 5.000 Meter im Hochland von Pamir; dort war sie niemals genau abgesteckt worden. Und auch weiter östlich gab es Streit über den genauen Grenzverlauf. Die Kernpunkte der folgenden Auseinandersetzung waren, daß es vor der Zeit der Briten keine genauen Grenzen gegeben hatte. Die Macht jedes Staates reichte nur so weit, wie seine Armeen marschieren konnten. Die britischen Soldaten stießen in den Bergen so weit vor, wie die Zivilisation reichte, was bedeutete, daß sie über den -286-
Fuß der Gebirgsketten nicht hinauskamen. McMahon, ein sorgfältiger, europäisch denkender Kartograph, zog seine Linien über die Bergrücken. China verweigerte die Anerkennung dieser britischen Gebietserweiterung, um die sich die Briten auch nie kümmerten, und bestand darauf, daß die Grenze weiter unten verliefe. Das unabhängige Indien forderte alles. Es sicherte sich auch die Herrschaft über eine eindeutige tibetische Enklave, Tawong, südlich der Grenze, im Osten. China protestierte nicht, und die Sache wäre wohl niemals entschieden worden, hätte China nicht eine Ecke des westlichen Endes der Grenze gefordert, um eine Straße nach Tibet zu errichten. Diese Provinz heißt Aksai Chin und ist Teil des tibetischen Hochplateaus. Sie ist größtenteils unbewohnt. Indien weigerte sich kategorisch und war nicht einmal zu Verhandlungen darüber bereit. Ministerpräsident Jawaharlal Nehru hatte Briten, Amerikanern und anderen endlose Predigten über die Verrücktheit gehalten, in internationalen Problemen Gewalt einzusetzen, und ständig Verhandlungen als die wahre Lösungsmethode aller Probleme empfohlen. Nun erwies er sich als genauso unzugänglich und demagogisch, wie die meisten korrupten westlichen Politiker. Es ist nicht klar, ob er überempfindlich oder einfach schwach war, aber es ist eindeutig, daß seine Regierung einen Sturm des Chauvinismus entfachte. Die Öffentlichkeit und das Parlament forderten, daß die Chinesen aus Indien hinausgejagt werden müßten, und Nehru sicherte das auch zu. Um seine Ernsthaftigkeit unter Beweis zu stellen, startete er eine Kampagne gegen Coa, und im Dezember 1961 durfte die indische Armee diese Kolonie sowie Damao und Diu, zwei weitere winzige portugiesische Enklaven, erobern. Dann verlegte die indische Armee alle verfügbaren Einheiten an die chinesische Grenze und begann mit der Umsetzung der neuen aggressiven Politik Indiens. Unglücklicherweise hatte Nehru zugelassen, daß sich der Zustand der Armee seit der Unabhängigkeit immer mehr verschlechtert hatte. Sie hatte zwar ihre Tradition hochgehalten, aber die Ausrüstung war veraltet, und sie war völlig unfähig, einen Gebirgskrieg zu führen. Die speichelleckerischen Offiziere, die Nehru in die höchsten Ränge befördert hatte, verschwiegen ihm diese Fakten oder unterließen es zumindest, ihn von der Ernsthaftigkeit ihrer Bedenken zu überzeugen. -287-
Die Armee sollte Patrouillen in die umstrittenen Gebiete entsenden und Stützpunkte errichten. Das war mit riesigen Schwierigkeiten verbunden: Es gab keine Straßen, und jedes einzelne Teil mußte über den Himalaya getragen werden. Die Chinesen hatten zu ihrer Hochebene wettersichere Straßen errichtet und keine solchen Probleme. Es gab gelegentlich unbedeutende Zwischenfälle zwischen chinesischen und indischen Streiftrupps. Die Chinesen protestierten regelmäßig und forderten ebenso regelmäßig formelle Verhandlungen über die Grenze. Tschou En-Lai, damals chinesischer Ministerpräsident, reiste im April 1962 nach Delhi, um die Inder zu einer friedlichen Lösung der Angelegenheit zu bewegen. Dieses Gipfeltreffen war ein kompletter Fehlschlag. Im Juni 1962 bekamen die indischen Streitkräfte Befehl, über die Grenze, die Indien in Aksai Chin beansprucht hatte, nach Westen vorzustoßen. Dazu hätten sie als erstes die chinesische Straße erobern müssen, aber die indischen Stoßtrupps hatten in dem schwierigen Gelände keine Chance auf Erfolg. Im Chip Chap-Tal kam es zu den ersten größeren Gefechten zwischen indischen und chinesischen Einheiten. Im Anschluß daran nahmen die Chinesen rund 30 indische Stützpunkte in diesem Gebiet ein. Zur gleichen Zeit hatte die indische Armee Befehl, Stützpunkte im östlichen Abschnitt der McMahon-Linie zu errichten. An einem Punkt hatten östlich der Grenze zu Bhutan, einem indischen Protektorat im Himalaya, indische Stoßtrupps die McMahon-Linie überschritten und besetzten einen Bergrücken, den McMahon auf seiner Landkarte übersehen hatte. Die Chinesen protestierten, aber ohne Erfolg. Im Juli gab es weitere ernsthafte Zusammenstöße zwischen chinesischen und indischen Patrouillen im Chip Chap-Tal. Im September schickten die Chinesen Patrouillen in die unmittelbare Reichweite der am weitesten vorgeschobenen indischen Stellungen. Indien verstand das als Invasion, und die Regierung gab Befehl, die Chinesen vom indischen Territorium zu vertreiben. Am 9. Oktober griffen die Inder von diesen vordersten Stellungen aus an. Sie wußten, daß ihre Lage hoffnungslos war, sie waren im Verhältnis 1:5 unterlegen, die Chinesen waren weit besser ausgerüstet und hielten die hochgelegenen Teile, von wo sie die Inder im Tal niederhalten konnten. Die Chinesen trieben sie zurück und töteten sieben indische -288-
Soldaten. Am 20. Oktober griffen sie erneut an, überrannten die indischen Stellungen im Osten und warfen gleichzeitig die Inder aus Aksai Chin. Obwohl die Auseinandersetzung ursprünglich um die Westgrenze und die chinesische Straße gegangen war, waren die Kämpfe im Osten weit ernster geworden. Die Chinesen standen vor dem Durchbruch nach Assam. Es gab eine weitere Pause in diesem Krieg, und indische Soldaten, die in 5.000 Meter Höhe einen strategisch wichtigen Paß bewachten, konnten hören, wie unter ihnen die Chinesen eine Straße errichteten, um Lastwagen und Geschütze heranzuführen. In einem letzten Anfall von Wahnsinn befahl die Regierung Nehru erneut den Angriff. Dieser Angriff am 15. November war ein Fiasko. Am nächsten Tag nahmen die Chinesen ihre Vorteile wahr und griffen an. Die indischen Verteidigungsstellungen brachen zusammen, die Armee floh. Zwei Tage später war nichts mehr zwischen den Chinesen und dem flachen Land. Nehru bereitete sich auf den Verlust Assams vor. An diesem Punkt verkündete China am 21. November 1962 einen einseitigen Waffenstillstand und Rückzug. Es zog seine Einheiten 20 Kilometer hinter die McMahon-Linie zurück, ebenso die Truppen im Westen hinter die ursprüngliche Grenze. Alle eroberten Waffen und Ausrüstungen wurden sorgfältig gereinigt, poliert und den Indern gegen Empfangsbestätigung zurückgegeben. Indien nahm seine verlorenen Gebiete wieder in Besitz, beendete aber seine Aggressionspolitik. Es hatte 1.383 Tote, 1.696 Vermißte und 3.105 Kriegsgefangene zu beklagen, von denen 26 in der Gefangenschaft starben. Die chinesischen Verluste waren ungefähr halb so groß. Ungeachtet der chinesischen Großmut weigerte sich Indien (ähnlich wie Argentinien nach dem Falkland-Krieg), die Niederlage anzuerkennen, und beansprucht bis heute diese Bergwüsten als indischen Besitz. Es gab keine Verhandlungen mit China, obwohl das Angebot der Anerkennung der McMahon-Linie im Gegenzug zur Anerkennung von Chinas Anspruch auf Aksai Chin nach wie vor aufrecht ist. Das Debakel führte zu einem Wechsel der indischen Prioritäten. Indien wurde ein enger Verbündeter der Sowjetunion (obwohl die -289-
UdSSR während dieses Krieges China unterstützt hatte, die USA hingegen Indien), und erhöhte sein Verteidigungsbudget. So war es für die Kriege gegen Pakistan 1965 und 1971 besser gerüstet. Indien hörte auch auf, den Rest der Welt über die Vorzüge der Nichteinmischung und des Pazifismus zu belehren. Nehru erholte sich nicht mehr von diesem Schock. Im Januar 1964 erlitt er einen Schlaganfall, und er starb am 27. Mai. 1967, 1969 und zuletzt 1987 kam es zu weiteren Grenzkonflikten zwischen China und Indien. Im September, nach einer Phase zunehmender Spannungen zwischen den Regierungen (China versank gerade im Chaos der Kulturrevolution), nahm China indische Stellungen an der Grenze zu Sikkim am Natu La-Paß unter Beschuß. Dabei wurden zehn indische Soldaten getötet. China beschuldigte Indien der wiederholten Grenzverletzung und der Ermordung von 25 chinesischen Soldaten. Die Episode hatte keine weiteren Nachwirkungen. Im April 1969 verschärfte sich die Lage an der Grenze wieder einmal œ bis hin ins Lächerliche: so legte China einmal geharnischten diplomatischen Protest ein, als der Wind ein Stück Linoleum aufwirbelte und von indischem Gebiet über die Grenze trug. Daraus ergab sich weiter östlich ein Zwischenfall, am Lipu Lekh-Pass, westlich von Nepal. Die Chinesen beschossen eine indische Patrouille, aber auch dieser Zwischenfall hatte keine Konsequenzen. Im Mai und Juni 1987 kam es im Sumdoreng-Tal in Arunachal Pradesh, der indischen Provinz im äußersten Osten des Himalaya, zu einer ernsthaften Krise. Die Chinesen warfen den Indern vor, auf chinesischem Territorium einen vorgeschobenen Posten zu errichten, und Indien beschuldigte China, daß seine Soldaten über die Grenze nach Indien einsickerten. Beide Seiten zogen an der Grenze Zehntausende Soldaten zusammen, ehe der Streit auf diplomatischem Weg geschlichtet wurde. DER ZWEITE KRIEG GEGEN PAKISTAN 1965 führte ein lächerlicher Streit mit Pakistan œ es ging um die Wasserrechte im Sumpfgebiet des Rann von Katsch an der Westküste œ zu einem Grenzkrieg, der sich auf Kaschmir ausweitete. -290-
Nach ernsthaften Kämpfen im Rann im April, kam es im Juni durch britische Vermittlung zu einem Waffenstillstand. Doch Pakistan ließ Guerillas nach Kaschmir einsickern, um einen Aufstand in Kaschmir anzuzetteln und besetzte einige Stellungen. Indien schlug im August zurück und wies einen Angriff im Chamb-Sektor des südwestlichen Kaschmir ab. Am 6. September überschritten indische Truppen zum Gegenangriff die pakistanische Grenze im Pundschab und besetzten Pakistan zwischen Lahore und Sialkot. Die Inder stießen etliche Kilometer vor, besiegten die entgegengeworfenen pakistanischen Truppen, akzeptierten aber am 23. September einen Waffenstillstand, den der UNO-Generalsekretär U Thant vermittelt hatte. In diesen Kämpfen starben insgesamt rund 20.000 Menschen, die meisten von ihnen waren Zivilisten. Nach intensiven Vermittlungsversuchen der UdSSR trafen der pakistanische Präsident Ayub Khan und der neue indische Ministerpräsident Lal Bahadur Shastri im Januar 1966 in Taschkent zusammen und unterzeichneten einen Waffenstillstandsvertrag. Diese friedensstiftende Tat muß wirklich gerühmt werden œ eine Rolle, die die UdSSR nicht oft gespielt hat. Unmittelbar nach der Vertragsunterzeichnung erlitt Shastri einen Herzanfall und starb. Ihm folgte Nehrus Tochter, Indira Gandhi. (Zum dritten Indisch-Pakistanischen Krieg 1971 siehe PAKISTAN). AUSEINANDERSETZUNGEN IM LANDESINNEREN An den nordöstlichen Grenzen Indiens gab es ständige Guerillakämpfe von separatistischen Gruppen; das Gebiet wurde durch die Gründung Ost-Pakistans (des späteren Bangladesch) praktisch vom übrigen Indien abgeschnitten. Eine Reihe von Staaten der Bergstämme wurden von bengalischen Flüchtlingen, Hindus und Moslems, gestürmt, die versuchten, der Armut und Überbevölkerung ihrer Heimatprovinzen ebenso zu entkommen wie den unsicheren Verhältnissen. In der Zwischenzeit hat Neu-Delhi versucht, seine Herrschaft über die Stämme in den Bergen wiederzugewinnen, die verbittert gegen ihren Anschluß an Indien von 1947 kämpften. Die Ungleichheit der Kräfte im Kampf zwischen Indien und den Stämmen ist so groß, daß Indien nicht verlieren kann. Aber die -291-
ständige Alarmbereitschaft Tausender Soldaten in den Bergen bedeutet für das indische Militärbudget eine große Belastung. Rajiv Gandhi setzte sich nach seinem Regierungsantritt 1984 die Beendigung dieser Auseinandersetzungen zum Ziel. Zum Teil ist ihm die Verständigung mit den Mizo-, Tripura- und Curkha-Rebellen gelungen. Die Auseinandersetzungen in Nagaland, Manipur und mit den Bodo gehen weiter. NAGALAND Die älteste dieser Revolten herrscht in Nagaland, einem abgelegenen, unzugänglichen Land in den Bergen zwischen Assam und Birma. 1944 griffen die Japaner Indien durch Nagaland und Manipur an, auf dem direkten Weg in den Süden, und sie wurden in Kohima und Imphal zum Halten gebracht. Die Briten eroberten das Nagaland im 19. Jahrhundert, aber nur unter großen Schwierigkeiten. Den Naga wurde weitreichende Autonomie gewährt, und sie wurden umfassend gegen das Eindringen der Völker aus der Ebene geschützt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Baptistenmissionare aus den Vereinigten Staaten und bekehrten die meisten Naga zum Christentum. Die Naga kämpften tapfer auf Seite der Briten im 2. Weltkrieg und forderten einen eigenen Staat, als die indische Unabhängigkeit sich abzeichnete. Am 14. August 1947 proklamierte die Naga-Nationalversammlung (NNC) unter Z. A. Phizo das unabhängige Nagaland. Indien verweigerte aber die Anerkennung. Während der nächsten zehn Jahre gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Nagaland und Neu-Delhi: Die Naga forderten immer wieder die Unabhängigkeit, und Indien verweigerte immer wieder jede Diskussion darüber. Ab 1955 wurde Gewalt in den Nagabergen Bestandteil des politischen Lebens. Die indische Regierung erklärte einen Teil des Nagalandes zum ‡Land im Aufruhr— und versuchte, den Naga-Separatismus zu unterdrücken. Im Januar 1956 wurde die ganze Region zu ‡aufständischem Gebiet— erklärt, und im März desselben Jahres rief der NNC eine Bundesregierung mit einer Verfassung und einer Armee aus und nahm den Kampf um die Unabhängigkeit auf. -292-
In den folgenden zwei Jahren setzte Indien Tausende Soldaten ein, um Nagaland unter Kontrolle zu bekommen. Nach Regierungsangaben wurden 1.400 Naga und 162 indische Soldaten getötet. Es gibt zahlreiche Berichte von Massakern und Folter durch Regierungstruppen. Allmählich gewannen die Inder die Oberhand. 1963 kam Delhi zur Einsicht, daß die Naga ein Sonderfall seien, und Nagaland wurde zu einem eigenen Staat in der Indischen Union. Es war bei weitem der kleinste, mit einer Bevölkerung von rund 350.000 (heute sind es 700.000). Später wurden noch mehrere ebenso kleine Staaten im Gebirgsland gebildet. Diese Entscheidung spaltete die Naga zwischen jenen, die die indische Oberherrschaft über einen eigenen Staat als das Maximum des Erreichbaren akzeptierten, und denen, die weiter für die volle Unabhängigkeit kämpften. Zwischen 1964 und 1966 herrschte Waffenstillstand, und am 11. November 1975 akzeptierte schließlich eine Gruppe führender Naga-Untergrundkämpfer die Niederlage und unterzeichnete einen Waffenstillstandsvertrag in Shillong im Nachbarstaat Meghalaya. Nach 20 Jahren des Kampfes kehrte in Nagaland relativer Friede ein, aber Phizo in seinem Londoner Exil und eine Gruppe kommunistischer Naga unter J. J. Muivah wollten den Kampf fortsetzen. Muivah hatte 1966 bei China Hilfe gesucht, und jetzt errichtete er sein Hauptquartier jenseits der Grenze in Birma, wo verwandte Stämme ebenfalls um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Muivah und seine Gefolgsleute haben einen ‡Nationalen Sozialistischen Rat von Nagaland— errichtet und verfügen angeblich über 2.000 Soldaten. Wahrscheinlich werden sie weiterhin von China unterstützt. Sie sind mehr eine Irritation als eine Bedrohung der indischen Regierung, aber die Armee muß immer noch in diesem Grenzgebiet präsent sein, und bei Überwachungspatrouillen kommt es immer wieder zu Verlusten. MANIPUR UND MJZORAM Diese beiden Staaten, früher verwaltungsmäßig ein Teil von Assam, waren mehr als fünfundzwanzig Jahre lang Schauplatz sezessionistischer Erhebungen. 1961 wurde die ‡Mizo National Front— gegründet, vor allem als Reaktion auf die Gleichgültigkeit der -293-
indischen Zentralregierung bei einer Hungersnot. Im Februar 1966 gelang es der MNF, für ein paar Tage das ganze Gebiet in Aufruhr zu versetzen, aber die indische Armee gewann rasch wieder die Kontrolle und demonstrierte ihre Macht durch Umsiedlung der Dorfbewohner und Neuanlage von Wehrdörfern. Die Reaktion der Regierung verlief so ähnlich wie in Nagaland: Heftige militärische Unterdrückung, gefolgt von der Schaffung eines ‡Unionsgebietes— Mizoram. Zur selben Zeit wurden die anderen Bergdistrikte von Assam abgetrennt und die Staaten Tripura, Meghalaya und Manipur errichtet. Die Mizo-Revolte ging bis zum 25. Juni 1986 weiter. Dann unterzeichnete Rajiv Gandhi ein Abkommen mit den Rebellenführern, in dem viele ihrer Forderungen erfüllt wurden œ im Gegenzug erkannten sie die Indische Union an. Mizoram wurde zum eigenen Bundesstaat erklärt, und der MNF-Führer Laldenga wurde Ministerpräsident. Im Februar 1987 wurden Wahlen abgehalten: Die MNF erreichte die Mehrheit im Parlament und besiegte Gandhis Kongreßpartei. Die jahrelangen Aufstände haben rund 1.500 Menschen das Leben gekostet. In Manipur gibt es weiterhin zwei Rebellengruppen, die ‡Volksbefreiungsarmee— und die ‡Revolutionäre Armee von Kuneipak—. Beide haben ideologische Verbindungen mit China, aber sie beziehen ihre Stärke aus der örtlichen Opposition gegen das ständige Anwachsen der Bengaleneinwanderung. Wie andere Stammesangehörige an der Nordostgrenze fürchten sie, von Millionen verzweifelter Bengalen überrannt zu werden. TRIPURA Tripura ist eine indische Enklave, rund 10.000 Quadratkilometer groß, die auf drei Seiten von Bangladesch umgeben ist. Seine südliche Grenze stößt an die Chittagong Hill Tracts, wo Angehörige derselben Stämme wie die Tripuren gegen die Regierung von Bangladesch revoltieren (siehe BANGLADESCH), und seine Berge sind mit dichtem Dschungel bedeckt. 1980 startete eine neue Gruppe, die ‡Tripura Freiwilligenarmee— (TVF) unter Führung von Bijoy Kumar Hrangkhawl den Kampf um die Unabhängigkeit. Sie fand teilweise -294-
Widerstand bei einer marxistischen Partei, die die Lokalwahlen in Tripura durch die Stimmen bengalischer Einwanderer gewonnen hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Stammesangehörigen in ihrem eigenen Heimatland bereits in der Minderheit. Die erste Welle HinduEinwanderer war bei der Unabhängigkeit und in den frühen Jahren von Ost-Pakistan ins Land geflohen. Weitere 100.000 waren seit der Gründung von Bangladesch im Jahr 1971 herübergekommen. Die TVF begann diesen Krieg mit einem Massaker an 1.000 bengalischen Siedlern. In den folgenden Kämpfen starben weitere 1.000 Menschen. Die TVF hatte nur rund 400 Kämpfer, aber Tausende Sympathisanten, die sie notfalls zu Hilfe rufen konnte. Im Februar 1988 verlor die marxistische Partei in Tripura eine Wahl, und Hrangkhawl entschloß sich zum Friedensschluß mit der Bundesregierung. Nach dreimonatigen geheimen Verhandlungen stimmten die Rebellen am 12. August zu, ihre Waffen niederzulegen und den Kampf zu beenden. Im Gegenzug versicherte die Regierung, den Zuzug aus Bangladesch zu stoppen, Stammesprivilegien wiederherzustellen und die Befugnisse der lokalen Behörden in der autonomen Stammesregion auszuweiten. Der Streit ist jedoch nicht beendet. Hrangkhawl fordert, daß auch die 100.000 seit 1971 eingewanderten Bengalen ausgewiesen werden sollten. Das ist nicht möglich, und die tiefe Feindschaft zwischen den beiden Völkern wird anhalten. DIE GURKHAS Der Bundesstaat West-Bengalen ist zwischen den Himalaya und Bangladesch eingezwängt und hat mehr Einwohner als die anderen nordöstlichen Distrikte. Die ungefähr 19 Millionen Menschen leben hauptsächlich im Brahmaputra-Tal, darunter die Gurkhas um Darjeeling im Westen, und weiter östlich noch eine große Zahl anderer Völker. Die Opposition gegenüber der Zentralregierung war unter den Gurkhas am stärksten. Sie sind mit den Nepalesen verwandt, die immer noch als Elitetruppe der britischen Armee dienen. Jahrelang herrschte hier ein ständiger Kleinkrieg. Es gab eine ständige Einwanderung von Bengalen, sowohl Hindus als auch Moslems. Die ersten fremdenfeindlichen Ausschreitungen -295-
ereigneten sich 1979, und seit damals gab es immer wieder Aufruhr und gelegentlich auch Massaker. 1983 wurden während einer Wahlkampagne, die Indira Gandhi dem Staat aufzwang, 3.000 Menschen getötet, davon 600 Frauen und Kinder in dem Moslemdorf Nellie. Die Männer waren alle auf Kriegszug. Die Unruhen gingen bis zum Juli 1988 weiter, allen Anstrengungen der Inder, das Land zu befrieden, zum Trotz. Im Februar 1988 griff die ‡Gurkha National Liberation Front— eine Polizeipatrouille an und verlor dabei sechs Männer, und im April wurden ein Lehrer und ein Journalist bei zwei Zwischenfällen getötet. Sie wurden enthauptet, und ihre Köpfe wurden in Plastiksäcken an öffentlichen Plätzen deponiert. Bei diesen Unruhen starben insgesamt rund 300 Menschen. Die Gurkhas erhoben sich zwar niemals zu einem richtigen Aufstand, wie im Nagaland oder in Mizoram, aber trotzdem starben immerhin rund 5.000 Menschen. Wenn sie das je täten, wäre es für die Regierung äußerst schwierig, die Situation in Griff zu bekommen. Die indische Regierung stellt für diese Region hohe Entwicklungsgelder zur Verfügung, um die Menschen von den Vorteilen der Zugehörigkeit zur Indischen Union zu überzeugen. Aber das grundlegende Problem, der Konflikt zwischen Bergbewohnern und den Einwanderern aus dem Flachland, wird weiter bestehen. Zuletzt erwies sich die Regierungspolitik der Befriedung als erfolgreich, als der Gurkhaführer Subhas Ghising am 25. Juli 1988 ein Friedensabkommen unterzeichnete. Die wichtigste Klausel dieses Vertrages war das Zugeständnis einer autonomen Gurkha-Region rund um Darjeeling, die Hauptstadt der Gurkhas mit rund 1,4 Millionen Einwohnern. Die Volksversammlung hat das Entscheidungsrecht über Belange wie Erziehung, Gesundheitswesen, Finanzen und Verkehr, aber die Region bleibt Bestandteil des Staates West-Bengalen. DIE NAXALITEN 1969 loste sich eine Gruppe revolutionärer Kommunisten von der Kommunistischen Partei, gründete eine marxistischleninistische KP und versuchte, die Bauern zum revolutionären Kampf zu bewegen. Sie konzentrierte sich auf den Distrikt um Naxalbari in West-Bengalen, -296-
und wurde bekannt als die ‡Naxaliten—. Sie ermordeten Beamte und griffen Polizeistationen an. Die Regierung verhängte den Notstand und tötete oder verhaftete die meisten Terroristen. Bei diesen Auseinandersetzungen starben Hunderte Menschen. Anfang der siebziger Jahre schienen die Naxaliten restlos besiegt zu sein, zum Teil auch deshalb, da eine kommunistische Regierung in West-Bengalen gewählt worden war, die viele der Forderungen der Bauern erfüllte. Aber die NaxalitenAktivitäten sind wieder aufgelebt. Die typische Handschrift ihrer Terroranschläge wurde aus vielen Teilen des Landes berichtet, von Kerala und Tamil Nadu im Süden bis Assam im Nordosten und Bihar und Andhra Pradesh im nördlichen Zentralindien. In Andhra Pradesh haben die Naxaliten seit 1984 mehr als 200 Menschen getötet, darunter 35 Polizeibeamte, und seither steigen die Todeszahlen: Im August 1987 wurden zehn Polizisten in einem Hinterhalt ermordet. Man schätzt, daß es ungefähr 5.000 Naxaliten gibt, davon rund 500 Terroristen, die sich ‡Volkskrieg— nennen. Im Dezember 1987 entführte der ‡Volkskrieg— eine Gruppe hoher Beamter und gab sie erst im Austausch gegen gefangene Naxaliten frei. In Bihar kommt es immer wieder zu Gefechten zwischen Naxalitenbanden und den Privatarmeen örtlicher Großgrundbesitzer, und in Punjab haben sie sich mit den sezessionistischen Sikhs verbündet. DIE BODO Die Bodo sind ein weiterer Bergstamm im östlichen Assam, am Nordufer des Brahmaputra, der seinen eigenen Staat will. Es gibt ungefähr 2 Millionen Bodo, und in diesem Konflikt sind seit 1986 zwischen 200 und 500 Menschen ums Leben gekommen. Die ‡AliBodo Student‘s Union—, angeführt von Upendranath Brahma, ist darüber empört, daß sie ihre Sprache in Assam oder Hindu schreiben müssen. Sie selbst bevorzugen das lateinische Alphabet und fordern dieselben Zugeständnisse, wie sie bereits anderen Stämmen gemacht worden sind. Im August 1989 wurde ein Vertrag unterzeichnet, und zwischen der Regierung von Assam und der ABSU begannen Verhandlungen. Aber die radikalen Bodo führten den Kampf weiter. -297-
Zwei Wochen nach der Vertragsunterzeichnung waren bereits wieder mehr als 70 Tote zu verzeichnen. Die Regierung von Assam, die von Oppositionsparteien œ gegenüber den Stärkeverhältnissen in NeuDelhi œ geführt wurde, beschuldigte die Zentralregierung der Drahtzieherei hinter diesen Unruhen, um Assam zu destabilisieren. Nach dem Regierungswechsel in Neu-Delhi sollte es hier zu einer Entspannung kommen. DIE SIKHS Der Aufstand der Sikhs ist bei weitem der gefährlichste, den Indien seit der Unabhängigkeitserklärung erlebt hat, und stellt für die Zentralregierung eine ernsthafte Bedrohung dar. In Indien leben rund 15 Millionen Sikhs, die meisten von ihnen im Bundesstaat Punjab, wo sie die Mehrheit stellen. Sie hängen einer Religion an, die im Punjab im 15. Jahrhundert gegründet und von einer Abfolge von zehn Gurus entwickelt wurde. Sie ist eine Verschmelzung von Hinduismus und Islam: sie ist monotheistisch, wie der Islam, und lehnt das hinduistische Kastensystem vehement ab; aber sie anerkennt die Reinkarnation und den Fatalismus der Hindus. Die heilige Stadt der Sikhs ist Amritsar, wo sie ihren Goldenen Tempel errichtet haben. (‡Amritsar— bedeutet ‡Becken voll Nektar— und bezieht sich auf das heilige Becken, das den Tempel umgibt.) Der letzte der zehn Gurus befahl seinen männlichen Gefolgsleuten, sich niemals zu rasieren oder ihr Haar zu schneiden, immer einen Dolch zu tragen und den Namen Singh (Löwe) zu führen. Frauen, die bei den Sikhs weit mehr Unabhängigkeit genießen als bei den Hindus, tragen den Namen Kaur (Prinzessin). Im frühen 19. Jahrhundert eroberten die Sikhs unter Maharajah Ranjit Singh den Punjab. Seine Hauptstadt war Lahore, und in seinem Turban trug er den Kohi-Noor-Diamanten, der ein bedeutender Besitz der Moguln gewesen war. Ranjit Singh starb 1839, seine Nachfolger kämpften gegen- statt miteinander, und innerhalb eines Jahrzehnts hatten die Briten den Punjab erobert. Die Briten fingen einen fliehenden Fürsten und fanden in seinem Turban den Kohi-Noor. Der Diamant wurde nach London geschickt und in Queen Victorias Kronschatz einverleibt. -298-
Die Briten schätzten die militärischen Fähigkeiten der Sikhs hoch ein und rekrutierten sie in großer Zahl in ihre Armee. Während des Sepoy-Aufstandes, zehn Jahre nach dem letzten Sikh-Krieg, blieben die Sikh-Regimenter den Briten treu und beteiligten sich an der Rückeroberung von Nordindien, und im Ersten Weltkrieg kämpften 100.000 Sikhs an der Seite der Briten. Am 13. April 1919 befahl ein britischer General seinen Soldaten, in eine Menschenansammlung auf dem Jailianwala Bagh zu schießen, ein Marktplatz in Amritsar. Es war eine nicht genehmigte Demonstration gegen die Briten und die Tempelbehörden, die sie unterstützten. Die Soldaten töteten 379 Menschen und verwundeten 1.200. Die Sikh-Tempelbehörden begrüßten das Massaker; diese Haltung führte zum verstärkten Ruf nach Reformen, die eine Mehrheit der Sikhs zur Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung brachten. Die Reformer gründeten den ‡Akali Dal—, der sich später zu der politischen Partei entwickelte, die heute das Herz der Auseinandersetzung zwischen Neu-Delhi und den Sikhs ist. Zum Zeitpunkt der Teilung waren die Sikhs über den Punjab zersprengt. Sie forderten ihre Unabhängigkeit, wurden aber übergangen. Als der Punjab aufgeteilt wurde, blieben 40 Prozent der Sikhs in Pakistan und wurden Opfer der schlimmsten Massaker. Im Gegenzug brachten die Sikhs Moslems im Osten um und vertrieben sie nach Pakistan. Als der Blutrausch verebbte, siedelten die meisten Sikhs im indischen Teil des Punjab um Amritsar. Sie bedauerten zutiefst den Verlust von Lahore, der Hauptstadt Ranjit Singhs knapp jenseits der Grenze. In den nächsten 35 Jahren kamen die Sikhs zu neuer Blüte. Ihre Farmen wurden die ertragreichsten in Indien, dank ihrem eigenen Fleiß und Intellekt und den Bewässerungsprojekten der Regierung. Die Städtebewohner paßten sich an die moderne Industrie und den Handel an. Aber die Prosperität barg Gefahren: SikhFundamentalisten fürchteten, daß ihre Religion vom Hinduismus wieder aufgesogen würde. Zuerst predigten sie die strikte Befolgung der Regeln aus den Heiligen Büchern, aber ab den frühen achtziger Jahren forderten einige ernsthaft die eigene Sikh-Nation, die sie Khalistan nannten, das ‡Land der Reinen—. Führer dieser Separatistenbewegung war Sant Jarmil Singh Bhindranwale (wobei -299-
Sant für ‡heiliger Mann— steht). Bhindranwale glaubte daran, daß es das Recht der Sikhs sei, ihre Feinde zu töten, und er führte eine militante Bewegung, die sich offen zum Terrorismus bekannte. Die Unruhen begannen 1981, als die Akali Dal eine Liste von 45 Forderungen an die Zentralregierung vorlegte, die bis auf die volle Unabhängigkeit den Sikhs sämtliche Herrschaftsrechte über den Punjab eingeräumt hätte. Die Regierung Indira Gandhis wies dieses Programm zurück. Im September 1981 wurde ein hinduistischer Zeitungsherausgeber das erste Attentatsopfer. Im September 1982 erklärte eine Sikh-Konferenz Indien den Heiligen Krieg, und damit begann eine Reihe immer ernster werdender Zwischenfälle. Sikh-Terroristen, die sich auf Bhindranwale beriefen, verletzten und töteten Regierungsbeamte oder Hindus, die sie aus Sikhgebieten verdrängen wollten. Im April 1983 wurde ein hoher Polizeioffizier œ selbst ein Sikh œ ermordet, als er nach seiner Andacht den Goldenen Tempel verließ. Die Regierung unternahm nichts. Polizeibeamte, die militante Sikhs verhafteten, wurden mitsamt ihren Familienangehörigen ermordet. Die Regierung schwankte zwischen Einlenken und Harte und verlor dadurch die möglichen Vorteile jeder der beiden Möglichkeiten. Indira Gandhi erlaubte Bhindranwale, das Zentrum von Amritsar in eine Festung zu verwandeln, eine ‡verbotene Zone—, die von seinen militanten Gefolgsleuten beherrscht wurde. Sie errichteten im Komplex des Goldenen Tempels ein gewaltiges Waffenlager. Ein pensionierter General, der Sikh Sahbeg Singh, leitete die Anlage von Befestigungen und Verteidigungsstellungen im Tempelbezirk. Der Tempel wurde zum Stützpunkt von Terroristen; nicht alle waren religiöse Fanatiker: etliche Naxaliten schlossen sich Bhindranwale an. Im Oktober 1983 wurde im Punjab der Notstand ausgerufen, nachdem eine Busladung Hindus massakriert worden war. Teile des Landes wurden als ‡aufrührerisch— erklärt, und die Armee wurde entsandt, um die Ordnung wiederherzustellen. Zwei Wochen später kamen 219 Menschen ums Leben, als im Punjab ein Zug zum Entgleisen gebracht wurde. Es gab Unruhen in Chandigarh, der Hauptstadt des Staates, die zugleich Hauptstadt des Nachbarstaates Haryana ist œ eine Forderung der Sikhs war die volle Kontrolle über -300-
Chandigarh. Bei Anti-Sikh-Demonstrationen in Haryana wurden Sikhs ermordet. Der Terrorismus nahm zu, und die Polizei war dagegen machtlos. Bhindranwale befahl den Mord an einer Reihe Politikern, Polizisten und Journalisten. Die Regierung schien außerstande, sie zu verteidigen, und Anfang 1984 drohte sie die Herrschaft über den Staat völlig zu verlieren. Im März und April gab es im Punjab mehr als 80 politische Morde. In dieser bedrängten Lage kam es zu Verhandlungen zwischen der Regierung und Führern des Akali Dal. Indira Gandhi war bereit, auf die meisten Sikh-Forderungen einzugehen, auch auf die, ihnen die Herrschaft über Chandigarh zu übertragen, aber Bhindranwale verweigerte jeden Kompromiß. Die Morde gingen weiter, und die Sikhs kündeten an, daß sie jeden Getreidetransport über die Grenzen des Punjab verhindern würden. Es gab keinen Zweifel, daß diese Drohung ernst gemeint war, und das hätte zu einer Katastrophe geführt: Der Punjab ist die Kornkammer von Nordindien. Nach der Zahlung der Regierung hatten Bhindranwales Terroristen zu diesem Zeitpunkt 169 Hindus und 39 Sikhs ermordet. Andere waren bei Straßenkämpfen und durch Terroranschläge provozierten Geschehnissen getötet worden, so kam es zu einer Zahl von 410 Toten, ungerechnet die Opfer des Eisenbahnattentates. Die Zahl der Morde stieg immer weiter an: In den letzten vierundzwanzig Stunden vor der schließlichen Entscheidung Indira Gandhis wurden 23 Menschen getötet. Am 2. Juni 1984 gab sie der Armee den Befehl zur gewaltsamen Besetzung des Goldenen Tempels. Unmittelbar vor Beginn dieser Aktion, als eine letzte Demonstration der Unfähigkeit der Regierung und der Komplizenschaft von Polizeibeamten und Extremisten, konnten 200 junge Sikhs, Kriminelle und Naxaliten entkommen. Die Operation ‡Blauer Stern— begann am 3. Juni, einem der geheiligten Tage des Sikh-Kalenders, und der Tempel war ebenso mit Gläubigen wie mit Bhindranwales Kämpfern überfüllt. Der ganze Punjab wurde lahmgelegt. Aller Straßen- und Schienenverkehr wurde gestoppt, die Grenze zu Pakistan geschlossen und die Presse ausgesperrt. Die Behörden befürchteten als Reaktion -301-
auf den Angriff auf den Tempel einen allgemeinen Aufstand der SikhDorfbewohner. Zwei Tage lang belagerte die Armee den Tempel und versuchte, Bhindranwale zur Aufgabe zu zwingen. Er aber zog das Märtyrertum vor. Am Abend des 5. Juni rollten Panzer in Stellung, um den Tempel zu stürmen. Unmittelbar im Westen des Goldenen Tempels, ebenfalls von dem Heiligen Becken umgeben, steht der Akal Takht, ein anderes geheiligtes Gebäude, wo Bhindranwale sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Zuerst griff die Armee einige davorliegende Gebäude an, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Akal Takht zu. Sie versuchten, Kommandotruppen hineinzuschicken, die wurden aber durch das heftige Feuer der Geschützstellungen von General Sahbeg Singh zurückgeworfen. So schossen sich die Armeepanzer ihren Weg in das Innere des Tempels frei. Das Gebäude wurde schwer beschädigt. Bhindranwale, Sahbeg Singh und ihre wichtigsten Kampfgefährten starben alle, Märtyrer für ihre Sache. Insgesamt wurden nach offizieller Zählung 493 Sikhs, Kämpfer und Zivilisten, und 83 Soldaten getötet. Die Opfer unter den rund 1.600 Zivilisten, die bei Ausbruch der Kämpfe im Tempelbezirk waren, blieben ungezählt, und es ist durchaus möglich, daß die tatsächliche Zahl der Opfer weit höher ist. Der Goldene Tempel wurde nicht wesentlich beschädigt, aber der Akal Takht wurde zerstört, ebenso wie die Bibliothek des Tempels. Auf der Suche nach Terroristen hatte die Armee noch 37 andere SikhTempel angegriffen. Der Angriff auf den Goldenen Tempel führte zu Meutereien der Sikh-Truppen und zu Unruhen im gesamten Punjab. Indira Gandhi versuchte, Pakistan die Schuld an den Ereignissen zuzuschieben und sprach von ‡ausländischer Einmischung— œ in Wahrheit gibt es für eine Verstrickung Pakistans in diese Ereignisse überhaupt keine Beweise. Gandhi und ihre Gefolgsleute ließen sich von der eigenen Rhetorik mitreißen und versuchten, auch die CIA und Großbritannien für die Auswirkungen ihrer eigenen Unfähigkeit verantwortlich zu machen. Am 31. Oktober 1984 wurde Indira Gandhi auf dem Weg zu einem -302-
Fernsehinterview mit dem britischen Autor Peter Ustinov erschossen. Die beiden Mörder waren Sikhs aus ihrer eigenen Leibwache in NeuDelhi. Sie ergaben sich widerstandslos und wurden von der Polizei abgeführt. Einer von ihnen wurde auf der Polizeistation getötet, der andere übel zugerichtet. Sofort brachen Unruhen aus, angestachelt von Mitgliedern der herrschenden Kongreßpartei Indira Gandhis. Aus den Slums von Delhi wurden Hindus mit Autobussen herangebracht und in Wohngebieten der Sikh losgelassen. Nach Regierungsangaben wurden dabei 2.717 Menschen getötet, die meisten Sikhs, davon 2.150 in Delhi. Polizei und Armee schauten an diesem Tag bei den Massakern nicht hin. 100.000 Sikhs flüchteten aus Delhi, die Hälfte in den Punjab, die anderen in Flüchtlingslager, die von der Regierung in der Nähe der Hauptstadt errichtet wurden. Erst als Indira Gandhis Sohn Rajiv als Premierminister vereidigt wurde, kam die Situation wieder unter Kontrolle. Rajiv Gandhi besuchte ein verwüstetes Sikh-Gebiet und befahl der Armee, die Ordnung wiederherzustellen. (Der Sikh, der den Mord an Indira Gandhi gestanden hatte, wurde im Januar 1989 hingerichtet, gemeinsam mit einem anderen Sikh, dem Verschwörung mit den beiden Mördern vorgeworfen wurde.) Der Tod Bhindranwales bedeutete nicht das Ende des Terrorismus im Punjab. Zunächst sank die Mordrate im zweiten Halbjahr 1984 und im Frühjahr 1985, dann stieg sie wieder steil an. Am 23. Juni 1985 starben 329 Menschen beim Absturz einer Maschine der Air India südlich von Irland. Es war ein Flug von Toronto nach London, und die Untersuchungskommission nahm eine Bombenexplosion als Absturzursache an. Einige Stunden später explodierte auf dem Flugplatz von Tokio ein Sprengsatz in einem Koffer, wobei zwei Gepäckabfertiger starben. Der Koffer war mit einer anderen Maschine aus Kanada gekommen, die Verspätung hatte. Wäre der Koffer pünktlich angekommen, wäre er mit einer Air India-Maschine von Tokio nach Indien weitergeflogen und mitten in der Luft explodiert. Es besteht kaum ein Zweifel, daß die Urheber dieser Anschläge Sikhs waren, 1985 starben im Punjab 65 Menschen; 1986 waren es 609, 1987 schließlich 1566. Im Jahre 1988 gab es 2.000 Opfer. Von den Toten zwischen 1985 und 1987 waren 1.819 Opfer von Anschlägen und 421 Terroristen, die von Armee und Polizei getötet wurden. -303-
Allein in den ersten vier Monaten 1988 waren es mehr als 900 Menschen. Im März wurden 225 Menschen ermordet, davon 10 bei einer Sikh-Hochzeitsfeier. Für diesen Anschlag übernahm die ‡Khalistan Commando Force— die Verantwortung, eine von vier SikhTerrororganisationen. Am 3. März griffen Terroristen ein Hindu-Fest an und schossen mit Maschinengewehren in die Menge, wobei 34 Menschen getötet wurden. Am 31. März starben 33 Menschen, darunter 18 Mitglieder eines Hindu-Arbeitstrupps, die aus ihren Hütten getrieben, in einem Hof aufgestellt und massakriert wurden. Die Terroristen suchten abermals im Goldenen Tempel Zuflucht, und abermals schienen die Regierung und gemäßigte Sikh-Führer außerstande, sie unter Kontrolle zu bekommen. Auch die Naxaliten sollen den Kampf wieder aufgenommen haben: eine Reihe der Ermordeten waren Mitglieder der zugelassenen Kommunistischen Partei, die den Terror der Naxaliten verurteilt hatten. Am 9. Mai fiel eine Sikh-Bande im Nachbarstaat Haryana ein und griff eine Hindu-Hochzeitsfeier an; dabei starben 13 Menschen. Am selben Tag schickte die Regierung wieder Soldaten nach Amritsar und belagerte abermals den Goldenen Tempel. Am ersten Tag der Belagerung wurden fünf Menschen getötet. Aber diesmal stürmten die Soldaten den Tempel nicht, sondern schnitten die Wasser- und Stromversorgung ab und warteten auf die Kapitulation der Terroristen. Es gab ständig gezieltes Gewehrfeuer von Minaretts herunter. Armeescharfschützen postierten sich auf Gebäuden mit Blick über den Tempelbezirk und töteten eine Reihe Terroristen. Außerhalb von Amritsar setzten Terroristen die Morde fort: Mehr als 190 Menschen wurden während der ersten Woche der Belagerung getötet, und die Regierung mußte Verstärkungen in den Punjab schicken. Mehr als 800 Menschen, zumeist zivile Betende, verließen den Tempel am ersten Tag der Belagerung, und am 15. Mai ergaben sich 146 Sikhs. Drei Tage später gab der letzte Sikh im Tempel auf. Die Soldaten fanden im Inneren des Tempels noch 16 Tote, Opfer der Extremisten. In den Kellern wurden weitere Leichen ausgegraben, insgesamt waren es 41 Männer, Frauen und Kinder, davon waren viele gefoltert worden. Innerhalb der darauffolgenden fünf Tage töteten die SikhTerroristen weitere 245 Menschen im Punjab, die meisten von ihnen waren Hindus, die zur Feldarbeit ins Land geholt worden waren. Es -304-
gab einen Massenexodus dieser Arbeiter, was auf die Einnahmen der Sikh-Landbesitzer, die sie beschäftigt hatten, verheerende Folgen hatte. Nach den rund 2.000 Toten des Jahres 1988 gab es 1989 durchschnittlich 200 Tote pro Monat. Die Regierung wollte eine Gesprächsbasis mit den Sikhs herstellen und ließ einige ihrer Führer, die am 4. März verhaftet worden waren, frei. Einer von ihnen war Jasbir Singh Rode, der unverzüglich als Oberpriester im Goldenen Tempel eingesetzt wurde. Er erhob weiterhin die meisten Forderungen, allerdings nicht die radikalste, die Schaffung des unabhängigen Khalistan. Ende Mai wurden alle fünf Priester des Tempels, einschließlich Rode, von dem regierenden SikhKomitee entlassen, da sie der Nähe zum Terrorismus verdächtigt wurden. Die meisten Sikhs haben bislang die Extremisten nicht unterstützt, und daher ist ein Großteil der Terroraktionen gegen andere Sikhs gerichtet, um sie durch Angst in die Unterstützung von Khalistan zu treiben. Die Regierung in Neu-Delhi, zuerst unter Indira, dann auch unter Rajiv Gandhi, wurde weder mit dem politischen noch mit dem Sicherheitsproblem fertig. Die im November 1989 neugewählte Regierung hat das heiße Eisen angepackt. Der Premierminister, Vishwanath Pratap Singh, selbst kein Sikh, hat einen Sikh zum Chefadministrator von Neu-Delhi ernannt und ernsthafte Anstrengungen unternommen, das Vertrauen der Sikhs im Punjab zu gewinnen. Er versprach den Sikhs, die nach der Erstürmung des Goldenen Tempels aus der Armee desertiert waren, Arbeitsplätze im Dienst der Regierung, und weiters die Verfahren der Inhaftierten neu zu bewerten. Es war ein Versuch, die Schubkraft der Neuwahl zur Lösung des geerbten Problemes zu nützen. Wenn er scheitert, wird die Regierung einmal mehr vor der Wahl stehen, entweder die Armee in den Punjab zu schicken, mit dem Risiko der Feindschaft der Sikhs und der Stärkung der Separatisten, oder durch Schwäche die Entstehung Khalistans zu fördern. Die Sikh-Extremisten waren Nutznießer des Afghanistan-Krieges. In Pakistan gibt es so viele Waffen auf dem Markt, daß sie ohne Schwierigkeiten an alle gewünschten Waffen herankommen. Die Regierung Indiens macht Pakistan dafür verantwortlich. Vielleicht nimmt Pakistan es tatsächlich nicht so genau mit der Überwachung -305-
der Grenze, aber die Lage ist so schwierig geworden, daß sie auch ernste Auswirkungen auf das indischpakistanische Verhältnis haben könnte. Weitere Probleme im Land: Die Spannungen zwischen Moslems und Hindus: Im Oktober 1989 sind mehr als 1.000 Menschen bei Kämpfen zwischen den beiden Gruppen in Bihar in Ostindien getötet worden. Die Auseinandersetzungen wurden durch einen Streit um die Babri Masjid Moschee in Ayodhya ausgelöst. Das Gebäude wurde von einem mohammedanischen Radscha im 16. Jahrhundert auf dem Gelände eines Hindu-Heiligtumes errichtet, das angeblich der Geburtsort von Rama sein soll. Der Tempel steht am Ufer des Ghaghara östlich von Delhi. Hindu-Fundamentalisten fordern den Abriß der Moschee und die Wiedererrichtung des Rama-Tempels. Ihre politische Partei, die ‡Bharatiya Janata Party— (BJP) schlug aus dieser Affäre im Wahlkampf von 1989 großes Kapital und unterstützte eine militante Gruppe, die ‡Vishwa Hindu Parashad—, die den Marsch auf die Moschee organisierte. In den Oktober-Kämpfen wurden mehr als 150 Dörfer zerstört und 35.000 Moslems in Flüchtlingslager getrieben. Kaschmir: Der alte Streit um Kaschmir flammte 1988 erneut auf. Eine Reihe militanter Moslem-Gruppen, die für die Unabhängigkeit oder die Abtretung Kaschmirs an Pakistan eintraten, wandten sich der Gewalt zu. Ihre Waffen bekamen sie aus Pakistan oder Afghanistan. Im August begann die ‡Jammu and Kashmir Liberation Front— mit Bombenanschlägen auf öffentliche Gebäude, zwang Firmen zur Schließung und terrorisierte Hindus. Im Dezember 1989 entführten sie die einundzwanzigjährige Tochter des neuen Bundesinnenministers, Mufti Mohammed Sayeed, ein Moslem aus Kaschmir. Das Mädchen wurde unverletzt freigelassen. Im Januar 1990 kam es in Srinagar, der Hauptstadt des Staates, zu ernsthaften Auseinandersetzungen, bei denen 12 Menschen getötet wurden. Schließlich setzte die Bundesregierung Truppen ein, um den Frieden wiederherzustellen. Dabei starben am 25. Januar vier Angehörige der Luftwaffe. Regierungskreise behaupten, daß die Nationalisten die Ausrufung der -306-
Unabhängigkeit planten, daran aber durch eine völlige Ausgangssperre in Singapur gehindert wurden. Ende Januar betrug die offizielle Zahl der Opfer mehr als 70 Tote. Dann wurde Pakistan mit hineingezogen. Am 5. Februar sammelte sich auf der pakistanischen Seite der Grenze eine große Menschenmenge an und versuchte, hinüber zu stürmen. Mehr als 200 Männer durchbrachen den Polizeikordon. Die indische Polizei erschoß zwei und verletzte zwölf. Am nächsten Tag wurde in Pakistan aus Protest dagegen der Generalstreik ausgerufen. Beide Regierungen beteuerten, daß sie nicht beabsichtigen würden, einen vierten Krieg in dieser Sache zu führen. Schließlich hatte es in den vergangenen Jahren immer wieder Bemühungen um eine Verbesserung des Verhältnisses gegeben. Die Bundesregierung versuchte, die Initiative wieder an sich zu ziehen. So löste sie am 19. Februar 1990 das Parlament von Kaschmir auf und versprach freie Neuwahlen. Der neue Gouverneur Jagmohan begann mit einer Reform der korrupten und schwerfälligen Verwaltung. Aber seine Maßnahmen bewirkten vorläufig nichts: Am 23. Februar gingen in Srinagar nach offiziellen Angaben 400.000 Menschen auf die Straße, die halbe Bevölkerung der Stadt. Sie forderten abermals Unabhängigkeit oder den Anschluß an Pakistan. Als es am 1. März zu einer ähnlich machtvollen Demonstration kam, schossen indische Soldaten in die Menge. 32 Menschen starben, viele wurden verletzt. In den sechs Wochen waren mehr als 120 Menschen umgekommen, darunter einige Hindu-Regierungsbeamte, die von Kaschmir-Terroristen ermordet worden waren. Das KaschmirProblem bedeutet möglicherweise für die indische Zentralregierung die größte Bedrohung. Bis zum Sommer 1990 kam es immer wieder zu Zwischenfällen mit Hunderten Toten, aber offensichtlich wollte keiner der Kontrahenten die Verantwortung für einen neuen Krieg übernehmen. Ladakh: Diese Provinz im Hochland des Himalaya war seit der Unabhängigkeit Indiens Teil von Kaschmir und wurde genauso zwischen Indien und Pakistan aufgeteilt. Die meisten seiner Bewohner sind Buddhisten, die jetzt die Abtrennung von Kaschmir fordern. Sie sind zu gleichen Teilen für die Moslems und Hindus. Die Unruhen begannen im Juli 1989 mit einem Streit im Basar von Leh, einer -307-
vorwiegend buddhistischen Stadt in fast 4.000 Meter Höhe. Am 27. August schoß Polizei aus Kaschmir in eine buddhistische Demonstration und tötete drei Menschen. Sri Lanka (siehe SRI LANKA): Im Juli 1987 stimmte Rajiv Gandhi der Entsendung indischer Truppen in den nördlichen Teil von Sri Lanka zu, die den Waffenstillstand und das Friedensabkommen überwachen sollten, die zwischen der Regierung von Sri Lanka und den rebellischen Tamilen ausgehandelt worden waren. Es sollte eine kurze und reibungslose Aktion werden, aber als die Kämpfe zwischen Sinhalesen und Tamilen wiederaufflammten, nahm die Regierung im Oktober Jaffna unter Belagerung. Dabei verlor sie 500 Soldaten, und es gab ständig Verluste. Auf dem Höhepunkt der Krise waren rund 60.000 indische Soldaten in Sri Lanka stationiert, sie waren so beliebt wie die Briten in Nordirland. Im April 1990 mußten die Inder die Erfolglosigkeit ihrer Intervention eingestehen, und der letzte Soldat wurde abgezogen. Ob das der letzte Vorstoß indischer Truppen über die Landesgrenzen hinweg bleibt, wird sich erst herausstellen. DIE MALEDIVEN Am 3. November 1988 überfiel eine Bande tamilischer Söldner von Sri Lanka die Malediven und versuchte einen Staatsstreich. Sie waren von einem früheren Präsidenten des Inselstaates angeheuert worden, der 1980 abgesetzt worden war und nun auf eine Rückkehr hoffte. Indien schickte sofort Truppen in die Hauptstadt Male und setzte die Regierung wieder ein. Die Söldner flüchteten mit dem Schiff, mit dem sie gekommen waren und wurden später von der indischen Kriegsmarine aufgebracht. Insgesamt wurden bei diesem Umsturzversuch 12 Menschen getötet. Die Malediven sind eine Inselkette im Indischen Ozean, südwestlich von Indien. Wie die Seychellen weiter westlich, waren sie früher ein britisches Protektorat, und obwohl die Republik Malediven ein unabhängiges Land ist, behält Indien seinen dominierenden Status. Nach Sri Lanka war das schon die zweite nachbarliche Intervention innerhalb von zwei Jahren. Andere Nachbarstaaten waren besorgt, daß Indien imperiale Gelüste entwickeln und die ganze Region überwachen wollen könnte. Eine Region, in der Indien das bei weitem mächtigste Land ist. -308-
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INDONESIEN
Geographie: 1.919.433 km2. Rund 13.600 Inseln erstrecken sich über eine Entfernung von mehr als 5.600 Kilometern œ eine größere Ausdehnung als der Nordatlantik. Bevölkerung: 187.726.000 (Berechnung von 1989). Die dichtestbevölkerte Insel ist Java mit mehr als 100 Millionen Einwohnern. Es gibt 10 große und mehr als 300 kleinere ethnische Gruppen, die mehr als 200 verschiedene Sprachen sprechen, weiters eine reiche und ziemlich ungeliebte chinesische Minderheit (rund 4 Millionen). Die Staatssprache ist Bahasa Indonesia, eine Weiterentwicklung des Hochmalaiischen. 90 % der Indonesier sind Moslems, aber zumeist ist die Zugehörigkeit zum Islam nur nominell. Unter der kleinen Minderheit gläubiger Moslems gibt es eine noch kleinere Gruppe fanatischer Fundamentalisten, die eine Islamische Republik errichten wollen. Die Insel Bali ist mehrheitlich von Hindus bewohnt, und auf Ambon in den Süd-Molukken herrscht der Calvinismus. Der Wappenspruch des Landes ist ‡Einheit in der Vielfalt—. Ausfuhrgüter: Erdöl, Erdgas, Mineralien, Harthölzer und andere tropische Produkte; Fisch. BSP: 490 $/Einw. Flüchtlinge: nach Indonesien: 2.490 Vietnamesen; aus Indonesien: 9.500 aus Ost-Timor nach Papua-Neuguinea. Verluste: Bei den Massakern von 1965 kamen zwischen 400.000 und 1.000.000 Menschen ums Leben. In Ost-Timor wurden seit 1975 mindestens 100.000 Menschen getötet. In der Weltbevölkerungszahl liegt Indonesien an der fünften Stelle. Es hat umfangreiche Rohstoffvorkommen, und obwohl sich das Land nicht so schnell entwickelt wie Südkorea oder Taiwan, bewegt es sich eindeutig in derselben Richtung. Wenn nicht politische oder wirtschaftliche Katastrophen hereinbrechen, wird Indonesien in einer Generation den Stand Japans von vor zwanzig Jahren erreichen. Die Welt wird Indonesien ernst nehmen müssen. -310-
DIE GESCHICHTE Die ersten Europäer, die Indonesien im frühen 16. Jahrhundert erreichten, waren Spanier und Portugiesen, und sie begründeten eine Zivilisation mit vielen verschiedenen Grundlagen. Ursprünglich war Indonesien hinduistisch, dann nahm es den Buddhismus an, und durch Jahrhunderte existierten die beiden Religionen in der besonderen Form des Hindujavanismus friedlich nebeneinander. Einer der größten buddhistischen Tempel der Welt wurde in Borobudur errichtet, wenige Kilometer entfernt von Prambanan, einem riesigen religiösen Hindu-Zentrum. Im Mittelalter brachten arabische Händler den Islam auf die Inseln, der die hinduistisch-buddhistischen Traditionen überdeckte. Dennoch sind sie niemals verlorengegangen œ vielleicht dank der Ankunft der Europäer. Der Handel zwischen den sogenannten ‡Gewürzinseln— und Europa war enorm lukrativ, und die europäischen Mächte kämpften über ein Jahrhundert um die Vorherrschaft über die Inseln. Mitte des 17. Jahrhunderts hatten die Holländer alle Konkurrenten außer den Portugiesen vertrieben. Portugal behielt eine kleine Kolonie auf Timor, östlich von Java, und die Spanier blieben auf den Philippinen. Bis um 1800 waren die Inseln œ mit staatlicher Protektion œ im Besitz der ‡Vereinigten Ostindischen Handelskompanie—, danach übernahm der Staat die allmählich um weitere Inseln vergrößerte Kolonie Niederländisch-Indien. Der Mittelpunkt dieses Kolonialreiches war Java, wo die Holländer die Hauptstadt Batavia (heute Jakarta) errichteten, als ein fernöstliches Amsterdam. Sie unternahmen keine Anstrengungen, die Einwohner zu missionieren. Auf Ambon, dem Zentrum des Gewürznelkenanbaues, wurden die Bewohner zunächst von den Portugiesen zum Katholizismus bekehrt und später von den Holländern zur Übernahme des Calvinismus bewegen. Die Holländer befaßten sich fast ausschließlich mit dem Handel und kümmerten sich um die Verwaltung des Hinterlandes wie der entfernter gelegenen Inseln nur so weit, als es zur Sicherung des Handels und zur Fernhaltung aller Rivalen notwendig war. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Archipel völlig willkürlich aufgeteilt: die Briten bekamen Malaya und Nord-Borneo, die Holländer das Gebiet des heutigen Indonesien und die Spanier die -311-
Philippinen. Holländer, Briten und Deutsche teilten Neuguinea unter sich auf. Im 20. Jahrhundert kam unvermeidlich der Nationalismus über das Land. Die erste Kommunistische Partei Asiens, die PKI, wurde 1920 in Batavia gegründet, und 1927 gründete Ahmed Sukamo die Nationalistische Partei. Im späteren Unabhängigkeitskampf gegen die Holländer wurde sie zur herrschenden Kraft. Die Japaner marschierten 1942 in Indonesien ein, und Sukamo und sein wichtigster Gefolgsmann Mohammed Hatta arbeiteten mit den neuen Herren zusammen œ um die Sache der Unabhängigkeit zu fördern, wie sie sagten. Sukamo blieb bei der eingeschlagenen Linie der Kollaboration, auch als die Japaner Indonesien 1943 annektierten, während Burma und die Philippinen für unabhängig erklärt wurden, und er akzeptierte auch ohne Einwände, daß die Japaner die Bevölkerung zur Zwangsarbeit heranzogen. Die japanische Besatzung forderte mehrere hunderttausend Tote. Als die Amerikaner 1944 näher kamen, änderten die Japaner ihre Politik und hofften, Indonesien durch das Versprechen der Unabhängigkeit als Verbündeten zu gewinnen. Der neue Staat sollte Portugiesisch-Timor, Malaya, Singapur und Britisch-Borneo umfassen (obwohl Sukamo nur Niederländisch-Indien gefordert hatte). Am 17. August 1945 wurde schließlich ein unabhängiges Indonesien unter der Präsidentschaft von Sukamo ausgerufen œ zwei Tage nach der Kapitulation Japans. Es gelang Sukamo, sich fest in den Sattel zu setzen, ehe die Holländer zurückkamen, und er stellte mit den zurückgebliebenen Waffen der Japaner eine Armee auf die Beine. Als erster der Alliierten erreichten die Briten Indonesien, und im Oktober 1945 kam es bei Surabaya in Ost-Java zu einer richtigen Schlacht zwischen britischen und indonesischen Einheiten. Die Holländer anerkannten Sukamos Republik, allerdings nur in Java. Sie stellten die Herrschaft über das übrige Niederländisch-Indien wieder her, errichteten eine ‡Niederländische Union— und drängten die Republik schrittweise zurück, bis sie im Januar 1948 auf Zentral-Java beschränkt war. Dann versuchten linke Armeeangehörige in Madiun auf Java einen Putsch gegen Sukamo. Die Kommunistische Partei unterstützte sie und wurde dafür von General Abdul Haris Nasution, -312-
einem der wichtigsten Kommandeure Sukamos, brutal unterdrückt. Im Dezember 1948 eroberten die Holländer die letzten Stützpunkte der Republik bei Jakarta; Sukamo und Hatta wurden gefangengenommen und nach Sumatra verbannt. Das war allerdings das letzte Aufbäumen des niederländischen Kolonialismus. Die Holländer hatten keine Verbündeten. Die Briten hatten Indien aufgegeben, und die USA drohten mit der Sperre der Marshall-PlanGelder, wenn die Holländer Indonesien nicht in die Unabhängigkeit entließen. Vor allem aber war es ihnen gar nicht mehr möglich, ein Land von derartiger Ausdehnung und Bevölkerung unter Kontrolle zu behalten. Die Staatshoheit wurde am 17. Dezember 1949 übertragen; West-Neuguinea behielten die Holländer vorläufig œ sehr zu ihrem späteren Kummer. Die neue Regierung schlug etliche Revolten nieder und bekam allmählich die Inseln in den Griff. Die calvinistische Molukkeninsel Ambon rief ihre Unabhängigkeit aus und mußte von den Indonesiern erobert werden. Im April 1950 wurden 12.000 ambonesische Soldaten und ihre Familien in die Niederlande evakuiert (siehe TERRORISMUS). Mitte der fünfziger Jahre war die Regierung schwach und zersplittert. Es gab verschiedene Putschversuche. Die extremistische Islamische Bewegung ‡Darul Islam— kämpfte gegen die Zentralregierung in Java, und eine Gruppe abtrünniger Armeeoffiziere zettelte auf Sumatra eine Rebellion an. Die Rebellen in Sumatra und Celebes konnten die CIA überzeugen, daß Sukamo antiwestlich eingestellt sei und wurden daher mit geheimen Waffenlieferungen unterstützt. Dessen ungeachtet verkündete Präsident Eisenhower, ‡Unsere Politik ist eine der sorgfältigen Neutralität, eines korrekten Verhaltens, und wir bevorzugen keine Seite, wo es nicht unsere Angelegenheit ist.— Und sein Außenminister John Foster Dulles erklärte vor einem Kongreßausschuß im März 1958: ‡Wir mischen uns in die inneren Angelegenheiten dieses Landes nicht ein.— Beide haben gelogen. Die CIA versorgte nicht nur die Rebellen mit Waffen, sondern bombardierte auch Regierungsstützpunkte. Bei einem der Angriffe wurde versehentlich ein Spital getroffen, und am 18. Mai 1958 mußte -313-
eine B-26 auf Ambon in von der Regierung kontrolliertem Gebiet notlanden. Der Pilot, ein Amerikaner namens Allan Pope, wurde gefangengenommen. Das Flugzeug hatte keine Fracht an Bord, aber kurz vor dem Absturz waren Fallschirme gesichtet worden. Sie wurden gefunden œ mitsamt den daranhängenden Kisten mit Springfield-Gewehren; auf den Kisten stand ‡Interarms—, der Name einer bedeutenden amerikanischen Waffenfirma mit guten Verbindungen zur CIA. Ihr Besitzer Sam Cummings leugnete jede Verwicklung in diese Angelegenheit, aber die Herkunft der Waffen war unwesentlich. Was zählte war, daß die CIA auf frischer Tat ertappt worden war. Nach diesem Zwischenfall vertraute Sukamo niemals wieder den Amerikanern. Sukamo verkündete eine neue politische Philosophie œ die ‡gelenkte Demokratie—, im Gegensatz zur parlamentarischen œ, und seine beiden Hauptverbündeten waren der Generalstabschef General Nasution und die PKI. Im März 1957 verhängte er den Ausnahmezustand, und 1959 begann er seine Kampagne gegen die niederländische Herrschaft über West-Neuguinea. Er bezeichnete das Gebiet als Irian Jaya (West-Jaya). Die Holländer bereiteten WestNeuguinea auf die Unabhängigkeit vor und wiesen Sukamos Forderungen zurück. Er verstaatlichte den gewaltigen niederländischen Besitz œ eine Maßnahme, die Indonesien an den Rand des Bankrotts führte. Die Armee mußte die Verwaltung der verstaatlichten Firmen übernehmen und wurde dadurch auch in der Wirtschaft des Landes zu einem bedeutenden Faktor. 1960 schickte Sukamo ‡Freiwillige— nach West-Neuguinea. Einmal mehr mußten die Holländer entdecken, daß sie keine Verbündeten hatten, und 1963 ging ‡West Irian— an Indonesien über. Die Wirtschaft des Landes war in einem üblen Zustand. Sukamo erfand neuerlich eine politische Philosophie œ ‡Nasakom— (Nationalismus, Religion und Kommunismus) œ und vertrieb 119.000 Chinesen aus dem Land. Aber auch diese Maßnahmen halfen nichts. 1960 traten die Briten ihre beiden Kolonien in Borneo œ Sarawak und Sabah œ an Malaya ab, sie sollten einen Teil des neuen Staatenbundes von Malaysia bilden. Sukamo rief den Mob auf die Straße. Britischer Besitz wurde verstaatlicht, und Sukamo kündigte an, daß Indonesien ‡Malaysia roh runterschlucken würde—. Die -314-
indonesische Armee begann mit bewaffneten Einfallen in MalaysischBorneo und über die Straits nach Malaya selbst. Die Briten entsandten Armeeeinheiten zum Schutz Malaysias; die Niederlage der indonesischen Angreifer fügte Sukamo einen erheblichen Prestigeverlust zu. Um diese Scharte auszuwetzen, ließ Sukamo die Britische Botschaft und die Häuser vieler Briten und Amerikaner anzünden. (Siehe MALAYSIA). DER STAATSSTREICH VON 1965 Sukamo kündete an, daß 1965 ‡ein Jahr des gefährlichen Lebens werden würde—. Die PKI war nunmehr die vorherrschende politische Kraft in Java. Am frühen Morgen des 1. Oktober putschte eine Gruppe jüngerer Offiziere unter Führung von Oberstleutnant Untung, einem der Kommandeure der Präsidentengarde, gegen das Armeekommando. Es ist möglich, daß Sukamo und die PKI in diese Pläne eingeweiht waren. Sechs hohe Generäle wurden ermordet und im ‡Krokodilloch— auf dem Luftwaffenstützpunkt Halim bei Jakarta in eine Zisterne geworfen. Unter den Toten war General Ahmed Yani, der Generalstabschef. Verteidigungsminister Nasution entkam durch einen Hinterausgang, aber seine fünfjährige Tochter wurde getötet. Die Rebellen besetzten den Radiosender und verkündeten den Staatsstreich. Sie sagten, daß die Generäle ein Komplott gegen Sukamo geschmiedet hätten. Sie riefen eine neue Regierung aus, angeführt von der ‡Bewegung des 30. September—. Sukamo fuhr nach Halim, eine Entscheidung, die er nie begründen konnte. Der Kommandeur der Reserve-Armee, General Suharto, war nicht auf der Todesliste gestanden. Aber die Verschwörer lebten nicht mehr lange genug, um dieses Versäumnis zu bedauern. Er stellte fest, daß die meisten Truppenteile nicht in den Staatsstreich verwickelt waren und loyal bleiben würden. Er zog blitzartig Truppen zusammen, und mit einer Panzerdivision an der Spitze überrollte er buchstäblich die Rebellen. In weniger als vierundzwanzig Stunden war der Putsch vorbei. In Jakarta und ganz Java kam es zu gewalttätigen antikommunistischen Demonstrationen, und der Mob und die Armee töteten einträchtig jeden Kommunisten, den sie finden konnten. Die -315-
meisten PKI-Führer waren unter den Toten. Die Partei hatte drei Millionen Mitglieder, und die Armee jagte systematisch alle Funktionäre und erschoß sie. Viele der Toten waren Dorfbewohner, die mit der PKI nichts zu tun hatten, sondern Opfer lokaler Zwistigkeiten wurden. Die große Zahl der Toten in den Flüssen wurde zu einem ernsthaften Gesundheitsproblem. In einem Bezirk in WestJava wurden Verdächtige guillotiniert, und ihre Köpfe wurden zur Abschreckung in den Dörfern zur Schau gestellt. Viele Chinesen, nach manchen Angaben bis zu 20.000, waren unter den Toten, und der Mob griff die Chinesische Botschaft an. Die endgültige Zahl der Toten bleibt umstritten. Offizielle Regierungsangaben sprechen von 80.000 Opfern. Moslemführer, deren Leute die meisten Morde begingen, geben 500.000 Tote zu, und andere sprechen von bis zu einer Million. Etliche frühere PKIFunktionäre sind noch immer inhaftiert, und von Zeit zu Zeit werden einige aus dem Gefängnis geholt und hingerichtet. So starben 1986 neun von ihnen, und ein früheres Mitglied des Politbüros, das seit 1968 inhaftiert war, wurde im November 1987 hingerichtet. Suharto übernahm die Kontrolle über die Regierung und verringerte schrittweise den Einfluß Sukamos. Das war ein mühseliger und subtiler Vorgang, typisch javanesisch: Sukamo war durch Jahrzehnte der bedeutendste Politiker des Landes und offensichtlich von wohlwollenden Geistern begünstigt gewesen. Nun, da sich die guten Geister von ihm abgewandt hatten, mußte er allmählich ausgeschaltet werden. Am Ende dieser schrittweisen Entwicklung wurde er im März 1968 auf legale Weise abgesetzt. Er starb 1970. DIE HERRSCHAFT SUHARTOS Suharto veränderte die Allianzen Indonesiens. Er brach die diplomatischen Beziehungen zu China ab œ die erst 1989 wieder aufgenommen wurden œ und wurde ein enger Verbündeter der USA. Sukamos unausgegorener Sozialismus wurde fallengelassen, eine Gruppe in Amerika ausgebildeter Ökonomen (die ‡Berkeley-Mafia—) übernahm die Führung der Wirtschaft des Landes und steuerte sie aus dem Desaster heraus. Suharto herrscht jetzt seit mehr als 20 Jahren über Indonesien, und -316-
1988 wurde er für weitere fünf Jahre wiedergewählt. Er hat seine Diktatur in eine Philosophie der ‡Neuen Ordnung— verpackt, die Unterwerfung und Gehorsam gegenüber der Autorität verlangt. Es gibt ein gewisses Maß an Opposition, mehr als in China oder Singapur, aber nicht viel. Oppositionsparteien dürfen bei Wahlen rund 30 Prozent der Stimmen gewinnen œ bei Wahlen zu einem Parlament ohne Bedeutung. Indonesien erfreut sich wirtschaftlichen Wachstums und einer Stabilität, der Lebensstandard ist enorm angestiegen, und das Land ernährt sich selbst. Zwischen 1965 und 1985 stieg das ProKopf-Einkommen um jährlich 4,2 Prozent. Aber die latente Unzufriedenheit über die anwachsende Kluft zwischen der dünnen, reichen, herrschenden Schicht und der breiten Masse der Armen in den Städten hält an. 1975 brach der staatliche Ölkonzern Pertamina in einem riesigen Skandal zusammen: In Singapur wurde ein Erbstreit gerichtlich behandelt. Es ging um die Erbschaft eines Pertamina-Beamten, der offiziell nur 600 Dollar im Monat verdient, aber Grundbesitz im Wert von 32 Millionen Dollar hinterlassen hatte. Die Habgier von Suhartos eigenen Kindern ist eine Quelle ständiger Kritik: Sie werden gemeinsam TOSHIBA genannt, nach den Anfangsbuchstaben ihrer Namen, oder ‡das Familienunternehmen—. Die Beschuldigungen der Korruption gelten allerdings niemals Suharto selbst, dem man nur vorwirft, mit seiner Frau und seinen Kindern zu nachsichtig zu sein. Die Parallele zu den Philippinen ist offenkundig. Es gibt auch eine Parallele zum Iran œ nicht nur bezüglich der Korruption der Schahfamilie, sondern auch wegen des Sturzes des Regimes durch eine Islamische Revolution. Der islamische Fundamentalismus stellt für Indonesien eine große Bedrohung dar. 1981 entführten fanatische Moslems eine indonesische Verkehrsmaschine, und im September 1984 gab es ernste islamische Unruhen in Jakarta, bei denen Soldaten in die Demonstranten schossen. Die Regierung meldete neun Tote, die moslemischen Organisationen gaben 400-600 Tote an. Amnesty International berichtete von mindestens 30, wahrscheinlich aber mehr Opfern. Der Unterschied zum Iran oder den Philippinen besteht darin, daß es keinen Ajatollah und keine Corazo Aquin an der Spitze der Opposition gibt. Die Mittelschicht bleibt ruhig, und bislang hat es -317-
eigentlich nur kleinere Studentenunruhen gegeben, nicht vergleichbar mit denen in Südkorea oder auf den Philippinen. Aber immerhin im November 1987 wurden in Ujung Padang zumindest 10 Studenten getötet œ bei einem Aufruhr, der als Studentenprotest gegen ein Gesetz zur Tragepflicht des Motorradhelmes begonnen hatte. Indonesien steht seit vielen Jahren auf der kurzen Liste der Länder, deren Regierungen zum Sturz reif erscheinen. Andere auf dieser Liste œ Iran, Südkorea, die Philippinen, Burma œ haben alle Krisen überstanden. Aber auch die raffinierteste Diktatur kann nicht für immer Bestand haben. Suharto regiert Indonesien seit 1965. Er wurde 1921 geboren. Indonesien wird wohl auf der Liste bald ganz oben stehen. OST-TIMOR Die Portugiesen behielten ihre Kolonie in Ost-Timor (und eine kleine Enklave an der Nordküste von West-Timor) bis nach der Revolution in Portugal im April 1974. Es war eine kleine, vernachlässigte und verarmte Kolonie mit einer Fläche von rund 19.000 km2. Ungefähr ein Drittel der Einwohner waren Katholiken. Joseph Conrad beschrieb die Hauptstadt Dili als einen ‡höchst pestträchtigen Ort—. Im 2. Weltkrieg wurde die Kolonie von den Japanern besetzt, dabei brachten sie rund 40.000 Menschen um oder ließen sie verhungern. Nach der Portugiesischen Revolution gab die neue linke Regierung in Lissabon alle Kolonien (außer Macao auf dem chinesischen Festland) auf. In Ost-Timor wurden drei politische Parteien gegründet: die ‡Frente Revolucionara de Timor Leste Independente— (FRETILIN), die für die sofortige Unabhängigkeit eintrat; die ‡Uniao Democratica Timorense— (UDT), die eine weitere Zugehörigkeit zu Portugal mit dem Endziel der Unabhängigkeit anstrebten, und die ‡Associacáo Populär Democratica Timorense— (APODETI), die den Anschluß an Indonesien wollte. APODETI hatte ungefähr 5 % der Bevölkerung auf ihrer Seite, die beiden anderen teilten sich den Rest ziemlich gleich auf, Portugal behielt die nominelle Herrschaft, war aber in Wahrheit viel zu sehr mit seinen eigenen politischen Problemen und den Krisen in Angola und Mosambik beschäftigt, um -318-
sich mit dem Schicksal von Ost-Timor auseinanderzusetzen. So wie in Angola favorisierte die portugiesische Regierung die am weitesten links stehende der neuen Parteien œ in diesem Fall die FRETILIN, die schnell zur beherrschenden Macht in Ost-Timor wurde. Am 10. August 1975 versuchte die UDT einen Putsch. Es kam zu einem kurzen Bürgerkrieg zwischen ihr und der APODETI auf der einen und der FRETILIN auf der anderen Seite, den die FRETILIN gewann. Dabei starben 1.500 Menschen, Portugal zog sich endgültig zurück. Die zivilen Behörden übersiedelten auf eine Insel vor der Küste von Dili, und die FRETILIN übernahm die Kontrolle. Am 28. November rief die FRETILIN die Demokratische Republik von Timor aus. Indonesien entsandte ‡Freiwillige—, die am 7. Dezember Dili besetzten, und dann trat die indonesische Armee zur Eroberung des Landes an. Im Frühjahr darauf waren 30.000 indonesische Soldaten in Timor stationiert. Die Indonesier setzten eine Marionettenregierung ein, die im Mai 1977 den Anschluß an Indonesien forderte. Am 17. Juli wurde Ost-Timor zur 27. Provinz Indonesiens erklärt. Die indonesischen Truppen begannen unmittelbar nach ihrer Ankunft mit einem Massaker an den Timoresen œ in Dili wurden in den ersten paar Tagen wahrscheinlich 2.000 Zivilisten getötet. Die FRETILIN hatte während der vergangenen 18 Monate eine Armee gegründet, die Ost-Timor kontrolliert hatte. Die Portugiesen hatten sie bei ihrem Abzug ausgerüstet. Bald entwickelte sich ein regelrechter Krieg zwischen diesen Truppen und den indonesischen Regierungssoldaten. Die indonesische Luftwaffe bombardierte hemmungslos Dörfer, und die Armee setzte gegen die FRETILIN und ihre zivilen Helfer schwere Artillerie ein. Tausende Menschen, die als FRETILIN-Sympathisanten verdächtigt wurden, wurden eingesperrt, gefoltert und ermordet. Timoreische Bauern wurden in Arbeitssiedlungen geschickt, um dort leichter bewacht werden zu können. Die traditionelle dörfliche Lebensform der Timoresen wurde zerstört. Zwischen und 20 und 30 Prozent der Bevölkerung sind œ je nach Schätzung getötet worden, verhungert oder Krankheiten ais Kriegsfolge zum Opfer gefallen. Eine vorsichtige Schätzung lautet auf rund 100.000 Tote bei einer Bevölkerungszahl von 650.000 im Jahr 1975. -319-
Die FRETILIN-Armee wehrte sich verzweifelt, aber Ende 1978 war sie weitgehend zerstört. Ihr Führer Nicolau Lobato wurde am 31. Dezember 1978 getötet, und die Überlebenden flüchteten in die Berge. 1981 trieb die indonesische Armee alle timoreischen Männer zwischen 15 und 55, derer sie habhaft werden konnte, als lebenden Schutzwall vor sich her und griff die FRETILlN-Stellungen an. Nach dieser ‡Operation Sicherheit— gab es einen kurzen Waffenstillstand, dem eine neuerliche großangelegte Angriffsoperation folgte. Amnesty International berichtet zahlreiche Fälle von Folter, ungesetzlichen Hinrichtungen, Massakern und Mißhandlungen von Zivilisten. Internationale Hilfsorganisationen, die 1979 den Zutritt zu Ost-Timor erlangten, fanden sich mit einer riesigen Hungersnot konfrontiert, und eine Zeitlang galt Ost-Timor als ein neues Biafra. Das Land war zugrunde gerichtet, die Bevölkerung großteils zwangsumgesiedelt, und die Kaffeeplantagen, die alles überstanden hatten, wurden von der indonesischen Armee übernommen. OstTimor ist vom Rest der Welt fast völlig abgeschnitten, seine Bewohner dürfen die Inseln nicht verlassen, und abgesehen von ein paar Journalisten sind Besucher aus Indonesien oder aus anderen Ländern nicht zugelassen. Natürlich gibt es auch keinerlei politische Freiheiten, keine Bürgerrechte, keine Presse. Die FRETILIN existiert weiter und führt einen zähen Kleinkrieg gegen die Regierung. 1988 teilte der indonesische Kommandeur mit, daß jährlich weniger als 100 indonesische Soldaten durch Guerillas getötet würden œ er vergaß allerdings, die Zahl der timoreischen Opfer mitzuteilen. Er stellte auch fest, daß die Guerillatätigkeit sich mittlerweile auf die Berge im Osten und Südosten des Landes beschränkte und aus Hinterhalten für Regierungstransporte und Überfällen auf Siedlungen bestünde. Die Regierung schätzt die Zahl der FRETILIN-Kämpfer auf 500 bis 1.000. Die FRETILIN spricht von 3.000 und von 165 getöteten indonesischen Soldaten im Jahre 1987. Angeblich sind rund 20.000 indonesische Soldaten in Ost-Timor stationiert. Die Welt hat zugesehen. Im September 1974 machte Australien, verkörpert durch den Labour-Premierminister Gough Whitlam, Suharto das Zugeständnis, daß es für Ost-Timor wohl das Beste wäre, -320-
ein Teil von Indonesien zu werden. 1975 wurde Australien von einer Verfassungskrise erschüttert, was die Indonesier zur Invasion OstTimors ermutigt haben dürfte. Der amerikanische Präsident Gerald Ford und sein Außenminister Henry Kissinger besuchten Jakarta am 5. und 6. Dezember 1975, einen Tag vor der Invasion, und unternahmen nichts, um Suharto zurückzuhalten. Und auch danach wurde keine Kritik geäußert. Die Weltmächte, Ost und West, haben auch die Nachrichten von den Massakern ignoriert. Indonesien hat zu viele Einwohner, ist zu reich und hat zu viel Einfluß in der Dritten Welt, daß die USA, China oder die UdSSR eine Verstimmung riskieren würden. Indien sah darin eine Parallele zu Goa, einem anderen Relikt der portugiesischen Kolonialherrlichkeit, das Indien ohne nennenswerten Widerstand der Goaner annektiert hatte, und unterstützte Indonesien. Das bedeutet, daß die vier bevölkerungsreichsten Länder der Welt den fünften Staat bei einem kleinen Völkermord unterstützt haben. Die UNO verurteilte die Annexion 1976 und hat diese Verurteilung bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt, allerdings gab es jedesmal weniger Stimmen gegen die indonesische Regierung. Die UdSSR hat immer gegen Indonesien gestimmt, aber dafür liegen die Ursachen anderswo. In den vergangenen Jahren hat Indonesien um die Loyalität der timoreischen Bevölkerung geworben und gewaltige Investitionen in Ost-Timor unternommen, so daß das Pro-Kopf-Einkommen so hoch ist wie in keiner anderen Provinz außer Jakarta. Lebensstandard, Gesundheits- und Erziehungswesen und vieles mehr sind rapid angestiegen, aber die politische Knebelung ist so fest wie zuvor. Doch vielleicht siegt das Zuckerbrot über die Peitsche. Im November 1988 hat die Washingtoner Menschenrechtsgruppe ‡Asia Watch— einen Bericht über Indonesien und Ost-Timor herausgebracht, in dem die Situation als verbessert dargestellt wird. 1988 sind in Ost-Timor mehr als 100 politische Gefangene freigelassen worden, und die Zahl der Verschwundenen ist wesentlich zurückgegangen. Der Bericht stellt fest, daß ‡die schlimmsten Ausschreitungen der Besatzung aufgehört haben, aber die Timoresen müssen täglich Verletzungen ihrer fundamentalen Rechte hinnehmen.— -321-
IRIAN JAYA Das frühere Niederländisch-Neuguinea ist jetzt eines der rückständigsten Gebiete der Welt. Die Stämme, von denen etliche noch in der Steinzeit leben, sprechen mehr als 800 Sprachen. Kannibalismus und Kopfjagd sind in voller Blüte. 1975 wurde eine Gruppe von 13 zum Christentum Bekehrten von ihren Stammesgenossen getötet und aufgegessen, als der europäische Missionar verreist war. Indonesien annektierte Irian Jaya im Jahr 1963 und kümmerte sich dabei kaum um die Wünsche der Einwohner. In den letzten Jahren kam es zu Guerillakämpfen œ eine Reaktion auf die Umsiedlung von Javanern in die unberührten Urwälder der äußeren Inseln, einschließlich derer von Irian Jaya. 1963 wurde die ‡Free Papua Movement— (OPM) gegründet, die sich aus den höhergebildeten Schichten rekrutierte und auf den traditionellen Stammeszwistigkeiten beruhte. Der Einfluß der OPM reicht in gewissem Ausmaß über die Grenzen auf andere Stämme in Papua-Neuguinea, einem unabhängigen Staat, der die östliche Hälfte der riesigen Insel umfaßt. Die OPM behauptete, Tausende indonesische Soldaten und Zivilisten getötet zu haben, aber dafür gibt es keine Beweise. Der OPM-Führer Jacob Prai wurde 1979 in Papua-Neuguinea verhaftet und nach Schweden abgeschoben. Die Irian Jaya-Guerillas haben keine Chance, den Kampf zu gewinnen, genausowenig wie die FRETILIN: dazu sind die Volksgruppen im Verhältnis zur Bevölkerung von Indonesien einfach zu klein. Aber Neuguinea ist so groß und wild und ein so schwieriges Gelände, daß es auch für Indonesien unmöglich sein mag, den Kampf zu gewinnen.
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KAMBODSCHA
Geographie: Fläche 181.305 km2. Kambodscha und Kampuchea gelten als offizielle Schreibweise. Bevölkerung: 1975 waren es rund 8,6 Millionen, nach einer Zahlung von 1981 6,6 Millionen, derzeit geschätzte 7,5 Millionen. BSP: unterschiedliche Angaben zwischen 80 und 155 $/Einw. Flüchtlinge: 314.450 in anderen Ländern. Verluste: Von 1970 bis 1975 fielen zwischen 700.000 und 1:100.000 Kambodschaner dem Bürgerkrieg und dem Krieg der Amerikaner gegen Nord-Vietnam zum Opfer. Von 1975 bis 1979 töteten die Roten Khmer zwischen 1 und 2 Millionen, Die vietnamesische Invasion ab Dezember 1978 und der Rückzug der Roten Khmer kosteten rund 100.000 Menschen das Leben. Die Vietnamesen beziffern ihre Verluste während der Okkupation (1978 1988) mit 25.000 Mann. Zwischen 50.000 und 100-000 Menschen starben als Resultat des Guerillakrieges seit 1979. Zwischen 1975 und 1978 erlitt Kambodscha ein Schicksal, einzigartig, desaströs und tragisch, so schlimm wie kein anderes Land der Welt seit 1945. Die kommunistische Regierung (die Roten Khmer), die einen langwierigen Bürgerkrieg gewonnen hatte, setzte sich zum Ziel, die Schichten der Intellektuellen, Unternehmer, Beamten und Landbesitzer auszuradieren und die Städte von ihren Einwohnern zu entvölkern. Man nimmt an, daß rund 25 Prozent der Bevölkerung, etwa 2 Millionen Menschen, in diesen dreieinhalb Jahren ermordet wurden oder verhungerten. In diesem Jahrhundert haben nur die europäischen Juden und die Armenier in der Türkei ein vergleichbares Schicksal erlitten, und nur in der Sowjetunion unter Stalin verübte eine Regierung einen solchen Genozid an ihrem eigenen Volk. GESCHICHTE Vor tausend Jahren war Kambodscha ein reiches und mächtiges Königreich, das sich bis tief nach Siam (das heutige Thailand) und in -323-
das heutige südliche Vietnam hinein erstreckte. Seine Könige errichteten eine gewaltige Tempelstadt in Angkor Wat, ein wahres Weltwunder, und ihre Macht beruhte auf einem ausgeklügelten und ausgedehnten Bewässerungssystem, das von Sklaven errichtet wurde. Das Reich verfiel im 14. Jahrhundert, und 1431 eroberten die Siamesen Angkor Wat. Kambodscha kam herab zu einem kleinen und ohnmächtigen Königreich, eingezwängt zwischen Siam und dem Kaiserreich von Annam (Vietnam), die beide im Lauf der Jahrhunderte den Großteil Kambodschas annektierten. Das ist eine der großen Teilungen einer Nation in der Welt: Vietnam ist das Produkt der chinesischen konfuzianischen Zivilisation. Siam, Kambodscha und Laos leiten ihre Kulturen vom buddhistischen Indien ab. Die Franzosen erretteten das Land vor der völligen Auflösung. Sie eroberten Vietnam in der Mitte des 19. Jahrhunderts und errichteten 1864 ein Protektorat über Kambodscha. Sie zwangen Siam, die annektierten Provinzen zurückzugeben und machten aus Phnom Penh eine freundliche französische Provinzstadt in den Tropen. Sie ließen dem König von Kambodscha zwar seinen Thron, wie auch dem König von Laos und dem Kaiser von Annam, er wurde aber völlig entmachtet, und die Dynastien wechselten in dem Jahrhundert zweimal. Die Franzosen gruben die Tempel- und Palastanlagen von Angkor Wat aus und restaurierten sie, und sie bildeten in Paris eine kleine Oberschicht aus, während sie sonst nicht in die Lebensweise der Kambodschaner eingriffen. Es war ein friedliches Land, in dem man angenehm lebte, offensichtlich unberührt von den Spannungen und Konflikten des 20. Jahrhunderts. Im Landesinneren von Kambodscha gibt es einen Binnensee, den Tonle Sap, der in einen gleichnamigen Fluß entwässert, der bei Phnom Penh in den Mekong mündet. Jedes Jahr, wenn die Fluten des Monsunregens vom fernen Himalaya in den Mekong strömen, wird das Wasser des Tonle Sap-Flusses hinaufgedrückt, fließt zurück in den See und überschwemmt das umliegende Land. Jedes Jahr wurden der König und sein Gefolge auf den See hinausgerudert, um dieser Naturerscheinung zu huldigen. Sie streuten Blumen ins Wasser und sahen ihnen zu, wie sie stromabwärts schwammen, innehielten, wieder stromaufwärts getragen wurden und so die Umkehr der Strömung anzeigten, die eine reiche Ernte -324-
versprach. Kambodscha überstand den Zweiten Weltkrieg ebenso unbeschadet wie den Krieg der Franzosen in Indochina, der auf der Genfer Friedenskonferenz 1954 mit der Teilung Vietnams endete. Kambodscha wurde 1953 als unabhängig erklärt, und König Norodom Sihanouk, der 1941 als neunzehnjährige Marionette auf den Thron gesetzt worden war, begann nun ernsthaft zu regieren. Der 1922 geborene Sihanouk bleibt eine der Schlüsselfiguren in Kambodscha. William Shawcross beschrieb das so: ‡Norodom Sihanouk herrschte von 1941 bis 1970 als feudaler König über Kambodscha, Staatschef, Fürst, Ministerpräsident, Haupt der politischen Bewegung, Jazzband-Leader, Zeitschriftenherausgeber, Filmregisseur und Glückspielkonzessionär, und er vereinte in seiner Herrschaft die nicht zusammenpassenden Grundsätze des Buddhismus, des Sozialismus und der Demokratie.— 1955, in Vorbereitung der auf der Konferenz von Genf beschlossenen Wahlen, dankte Sihanouk zugunsten seines Vaters ab, ernannte sich selbst zum Bürgerlichen und gründete eine Partei, die die Wahlen gewann. Er ist zweifellos einer der buntesten Thronerben, und obwohl er der Königswürde 1955 entsagte, herrschte er bis zu seinem Sturz 1970 als absoluter Monarch. Ein gewiefter Diplomat, intelligent, charmant, mit klaren Vorstellungen über die Gefahren, die seinem Land drohen, war er auch korrupt, autokratisch und innenpolitisch kurzsichtig. Er verfeindete sich mit den gebildeten Schichten, von denen viele sich auf die Seite der Opposition schlugen oder in den Dschungel zu den Roten Khmer flohen, und er gängelte seine Minister und die Armee. Die Landbevölkerung war ihm treu ergeben und ist es auch heute noch. Kambodscha hätte sich auf ähnliche Weise wie Thailand oder Malaysia zu einem modernen Staat entwickeln können, wäre es nicht in den Vietnam-Krieg hineingezogen worden. Dieser furchtbare Krieg griff über die Grenzen nach Laos und Kambodscha über. Die kambodschanische Grenze verläuft 65 Kilometer von Saigon, und die Berge und der dichte Dschungel auf der kambodschanischen Seite boten den Vietcong und den einsickernden Nordvietnamesen eine ideale Zuflucht. Prinz Sihanouks Regierung hatte keine Chance, diese -325-
Verletzung der kambodschanischen Neutralität zu verhindern. Vietnam war 1954 wirtschaftlich und sozial weit höher entwickelt als Kambodscha. Es hatte 30 Millionen Einwohner, von denen 18 Millionen im Norden lebten, 12 Millionen im Süden. In Kambodscha lebten 6 Millionen Menschen. Zu dieser demographischen Ungleichheit trat die grenzenlose militärische Unterstützung NordVietnams durch Chinesen und Sowjets sowie Süd-Vietnams durch die USA. Kambodscha hätte sich gegen eine dieser Mächte nur dann verteidigen können, wenn es sich der anderen voll und ganz in die Arme geworfen hätte. Sihanouk wollte natürlich auf der Seite der Gewinner stehen, und das bedeutete in den frühen sechziger Jahren, zunächst gut mit Hanoi auszukommen, und später, den verstärkten Forderungen der USA und Süd-Vietnams zu genügen. 1963, als Sihanouk noch fest im Sattel saß, verließ eine kleine Gruppe von Kommunisten unter der Führung von Pol Pot (damals noch Saloth Sar), Heng Sary und anderen Phnom Penh und begann im nördlichen Dschungel des Landes einen Aufstand, aber viele Jahre bedeuteten sie keine Bedrohung für die Regierung. Eine andere Gruppe linksorientierter Kräfte œ von denen einige, wie Khieu Samphan, Mitglieder der Regierung Sihanouks gewesen waren œ, schloß sich ihnen 1967 an. Pol Pot wurde 1928 als Sohn eines Bauern in Kompong Thom geboren. Er besuchte zunächst eine technische Schule in Phnom Penh und ging 1949 nach Paris, um Radioelektronik zu studieren. Wie andere junge Kambodschaner, die in Paris studierten, geriet er in den Einfluß der französischen Kommunistischen Partei, die ultrastalinistisch orthodox war. Nach seiner Rückkehr nach Phnom Penh arbeitete er als Journalist und als Geschichte- und Geographielehrer an einer Privatschule. Er machte sich in linken politischen Zirkeln einen Namen, trat der illegalen Kommunistischen Partei bei und arbeitete sich bis zum Stellvertretenden Generalsekretär der Partei hoch. Khieu Samphan wurde 1931 als Sohn eines untergeordneten Beamten geboren. Er wurde während des Kriegs der Militärische Kommandeur der Roten Khmer und später Staatsoberhaupt. Auch er ging 1954 zum Studium nach Frankreich. 1959 schrieb er seine -326-
Dissertation an der Universität von Paris über ‡Kambodschas wirtschaftliche und industrielle Entwicklung.— Sie wurde später die Grundlage der Roten Khmer-Wirtschaftspolitik. Darin stellte er fest, daß sich Kambodscha nur auf der Grundlage einer prosperierenden Landwirtschaft entwickeln könne, daß aber die herrschende Klasse der Landbesitzer dies unmöglich mache; daß die Städte Parasiten seien und daß die bestehenden internationalen Beziehungen Kambodschas dieser Entwicklung im Wege stünden. Er kam zu der Schlußfolgerung, daß die Lösung des Problemes wäre, die Stadtbevölkerung auf das Land umzusiedeln und zur Arbeit zu zwingen und die Landwirtschaft zu kollektivieren. Khieu Samphan arbeitete nach seiner Rückkehr nach Phnom Penh als Journalist, und anders als Pol Pot stand er bis 1967 auf der Seite der Regierung, bis er vor der drohenden Verhaftung zu Pol Pot floh. Er erlangte zunächst keinen Zugang zu dem inneren Kreis, der bereits 1963 in die Berge gegangen war, aber anders als andere, die sich zu diesem Zeitpunkt den Roten Khmer anschlossen, kam er mit dem Leben davon. Als Kambodscha erstmals in den Vietnam-Krieg verwickelt wurde, geschah dies in den Östlichen Bergen und in der Verborgenheit des Dschungels. Als der kommunistische Aufstand in Süd-Vietnam anwuchs, kamen Nachschub und Kämpfer über den Ho-Chi-MinhPfad von Nord-Vietnam. Der Pfad war ein verzweigtes Netzwerk von Wegen durch Gebirge und Dschungel, ein Großteil davon verlief in Kambodscha. Es war ein langer und mühsamer Weg, um moderne Waffen darüber zu transportieren, und bald suchte der Vietcong nach anderen Möglichkeiten. In den fünfziger Jahren hatten die Chinesen für Kambodscha einen Hafen am Golf von Siam errichtet, der Sihanoukville genannt wurde (später dann Kompong Som), und die Amerikaner hatten ihn mit der ‡Freundschaftsstraße— mit Phnom Penh verbunden. 1965 brach Prinz Sihanouk die diplomatischen Beziehungen zu den USA ab, nachdem Präsident Johnson die Landung der US-Marineinfanterie in Da Nang befohlen hatte. 1966 forderte der chinesische Ministerpräsident Tschou Enlai von Sihanouk das Einverständnis zur Landung von Hilfsgütern für den Vietcong in Sihanoukville und den Weitertransport über die ‡Freundschaftsstraße.— -327-
Sihanouk willigte ein. Wenn er sich geweigert hätte, hätten die vietnamesischen Kommunisten ihre direkte Kontrolle über das östliche Kambodscha ausgeweitet und ihren Transport hinter den Linien von Pol Pots kommunistischen Aufständischen abgewickelt, denen Sihanouk den Namen ‡Khmer Rouge— gegeben hatte. 1969 gab es noch nicht mehr als 4.000 aktive Rote Khmer-Guerillas in Kambodscha. Nachdem Sihanouk 1963 die amerikanische Militärhilfe zurückgewiesen hatte, hatte er nun nichts, um den schwer bewaffneten Vietcong entgegenzutreten. Seine Armee war 30.000 Mann stark, von denen höchstens 11.000 relativ einsatzbereit waren, und ihre Ausrüstung war veraltet und ungenügend. Sihanouk dachte, daß er keine Wahl hätte. Er gestattete den Vietcong die Benützung Sihanoukvilles, und schnell wurde daraus ihr Hauptnachschubweg. Seine Entscheidung führte unausweichlich zur amerikanischen Intervention in Kambodscha. Daraus resultierte ebenso unausweichlich der Sturz Sihanouks im Jahre 1970 und der Sieg Pol Pots im Jahr 1975 mit den nachfolgenden Horrorgeschehnissen. In einem Verzweiflungsversuch, seine Unterstützungspolitik für den Vietcong auszubalancieren, wandte Sihanouk sich wieder den Amerikanern zu. Am 18. März 1969 flog die amerikanische Luftwaffe in der ‡Operation Breakfast— einen massiven Bombenangriff gegen das vermutete kommunistische Hauptquartier im Landesinneren Kambodschas. Der Angriff brachte keineswegs die gewünschten Resultate, und die US-Luftwaffe begann mit einer andauernden und geheimen Luftoffensive (‡Operation Menü—) gegen die ‡Heiligtümer— œ angenommene kommunistische Stützpunkte in Kambodscha. Sihanouk war über diese Angriffe informiert, protestierte aber nicht. Am 8. Juni stimmte er der Wiedereröffnung der amerikanischen Botschaft in Phnom Penh zu. Dennoch mißtrauten die Amerikaner Sihanouk, vor allem Präsident Nixon und Außenminister Henry Kissinger, der niemals versuchte, seine Unterstützung zu gewinnen oder seine Popularität und seine Fähigkeiten als Barriere gegen die Vietnamesen einzusetzen. Erst als es viel zu spät war, begriff man in Washington die Tiefen des kambodschanisch-vietnamesischen Konfliktes. Die Amerikaner waren völlig blockiert von ihrer Domino-Theorie, der die Annahme einer -328-
weltweiten kommunistischen Verschwörung zugrunde lag. Außerdem war Kambodscha nur ein Nebenschauplatz. Die wirkliche Aufmerksamkeit galt Vietnam. Am 18. März 1970 übernahm der Ministerpräsident General Lon Nol während einer Reise Sihanouks nach Moskau die Macht. Es war ein verworrener und unorganisierter Staatsstreich, der in der Hauptsache wegen eines Streites Sihanouks mit seiner Regierung über die kambodschanische Verwicklung in den Vietnam-Krieg erfolgte. Die USA begrüßten den Regierungswechsel. Am 30. April 1970 fielen amerikanische und südvietnamesische Truppen in Kambodscha ein, um ‡die Heiligtümer— auszuräumen. Am 4. Mai wurden vier Studenten bei Protestdemonstrationen in der Kent State University in Ohio von Nationalgardisten getötet. Als sich die amerikanisch-vietnamesischen Streitkräfte Ende Juni zurückzogen, hatten sie sehr wenig erreicht. Nach der Invasion errichtete Sihanouk zusammen mit den Roten Khmer eine Exilregierung in Peking, und Lon Nol rief die Republik aus. Der Vietcong und die Chinesen boten den Roten Khmer nun jede Unterstützung an, und ihre Offensive gegen die Lon Nol-Regierung griff rasch auf das ganze Land über. Dabei wurden der Name und der Mythos von Prinz Sihanouk bei den Bauern gezielt eingesetzt, um die Position der Roten Khmer zu verbessern. 1972 war Kambodscha beinahe ebensosehr im Krieg versunken wie Vietnam selbst. Mehr als 3 Millionen Bauern waren in die Städte geflüchtet, und nordvietnamesische Truppen besetzten den Großteil des östlichen Kambodscha, während die Roten Khmer den Norden kontrollierten. Beide wurden von den Amerikanern gleichermaßen anhaltend bombardiert. Am 27. Januar 1973 unterzeichneten in Paris die USA und die drei Kriegsparteien in Vietnam ein Friedensabkommen. Eine der Klauseln schrieb das Ende der ausländischen Intervention in Kambodscha fest. Die Amerikaner zogen sich bald mit allen ihren verbliebenen Truppen aus Vietnam zurück, bombardierten aber bis August weiter die Stellungen der Roten Khmer in Kambodscha, bis Präsident Nixon dem Druck des Kongresses nachgab und das Bombardement einstellte. Insgesamt hatte die US-Luftwaffe 539.129 Tonnen Bomben auf -329-
Kambodscha abgeworfen, davon allein in den letzten sechs Monaten 257.465 Tonnen, um einen Preis von insgesamt 7 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: während des gesamten Zweiten Weitkrieges wurden œ nicht gerechnet die Atombomben œ 160.000 Tonnen Bomben auf Japan abgeworfen. Dieses Maß an Vernichtungskraft zerstörte das Land und trieb die Hälfte der Bevölkerung als Flüchtlinge in die Städte, aber die Roten Khmer wurden nicht abgewehrt œ wenn es sie vielleicht auch von der Eroberung Phnom Penhs bereits 1973 abgehalten hatte. Im Gegenteil, die Bombenangriffe schürten ihren Fanatismus und den Haß gegen die Amerikaner und ihre ‡Marionetten—. Der Krieg in Vietnam ging weiter, obwohl er seine Natur änderte, während sich die Kommunisten auf ihre letzte Offensive vorbereiteten, und in Kambodscha nahm er an Intensität zu. Die Roten Khmer hatten nun 50.000 Soldaten und waren von den Pariser Verträgen nicht betroffen, obwohl sie ihr Mißtrauen gegen Vietnam verstärkten. Die Roten Khmer fanden, daß Hanoi, wie Washington, Kambodscha hauptsächlich als Nebenschauplatz betrachtete. Lon Nols Armee war zu korrupt und unfähig, ohne amerikanische Hilfe die Roten Khmer aufzuhalten. Die Schlußoffensive begann am Neujahrstag 1975 und dauerte so lange wie die kommunistische Schlußoffensive in Vietnam. Lon Nol flüchtete am 1. April aus dem Land, der amerikanische Botschafter und sein Stab wurden am 12. April per Hubschrauber aus Phnom Penh evakuiert, und die Roten Khmer stürmten die Stadt am 17. April. Am 30. April fiel Saigon in die Hand der Kommunisten. DIE VOLKSREPUBLIK KAMPUCHEA Die Roten Khmer begannen ihre Herrschaft damit, daß sie die gesamte Bevölkerung von Phnom Penh œ 2,5 Millionen Menschen œ hinaus trieben auf das Land. Die meisten waren Flüchtlinge vor dem Krieg und den amerikanischen Bombenangriffen, deren Dörfer zerstört worden waren und die keine Zuflucht hatten. Aus den Spitälern wurden Patienten auf Tragbahren aus der Stadt gekarrt, neben ihnen liefen verzweifelte Krankenschwestern her, die in dem sinnlosen Bemühen, Leben zu retten, die Infusionsflaschen in die -330-
Höhe hielten. Europäer, die in die französische Botschaft geflüchtet waren und ihre Evakuierung erwarteten, mußten voll Schrecken dem andauernden Rattern der Maschinengewehre zuhören, als die Sieger ihre Gegner umbrachten. Alle Beamten der besiegten Regierung, die nicht flüchteten, wurden ebenso ohne Zögern hingerichtet wie sämtliche gefangenen Offiziere. Die Chans, ein Gebirgsstamm, der im Mittelalter den Islam angenommen hatte, wurden wegen ihrer Religion abgeschlachtet œ rund 60.000 von ihnen, die Mehrheit des Volkes, wurden ermordet. Drei Jahre und acht Monate lang war Kambodscha ein Land ohne Städte, ohne Währung. Religion, Familie, aller Besitz waren abgeschafft. Die Roten Khmer sprengten die Nationalbank und verstreuten die Währungsbestände in den Straßen. In dem Versuch, die Wirtschaftstheorie, die Khieu Samphan als Student aufgestellt hatte, umzusetzen, trachtete die Regierung, alle Spuren von Industrie und städtischer Gesellschaft auszutilgen, die sie als vom Westen korrumpiert betrachtete. Die Absicht war, eine bäuerliche kommunistische Gesellschaft und dann darauf eine neue Ordnung zu errichten. Kambodscha fiel zurück ins finsterste Mittelalter, mit einer kleinen regierenden Schicht über einer Nation von Sklaven. Im Kambodscha des Jahres 1975 war als ‡Intellektueller— jeder definiert, der eine Brille trug, eine Fremdsprache beherrschte, Universitäts- oder Mittelschulzeugnisse oder eine abgeschlossene Berufsausbildung hatte. Als ‡Entrepreneurs— galten Ladenbesitzer und freischaffende Künstler ebenso wie jeder, der in irgendeiner Firma eine Führungsposition einnahm. ‡Herrschende und verwaltende Klassen— schlossen jeden ein, der irgendwann ein Regierungsamt bekleidet hatte oder in den Streitkräften oder der Polizei der besiegten Regierung gedient hatte. Alle, die in den Städten gelebt hatten, einschließlich der Flüchtlinge vom Land, wurden als ‡neue Menschen— definiert œ eine Klasse, die die Roten Khmer ausradieren wollten. ‡Grundbesitzer— waren alle jene, die mehr als die kleinstmögliche Einheit Land besaßen oder sich der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft widersetzten. Die ganze Familie aller dieser Menschen wurde gleichermaßen schuldig befunden, und sie wurden alle umgebracht oder durch Sklavenarbeit getötet. Alte Menschen und ‡neue Menschen— wurden gemeinsam den -331-
Notwendigkeiten des ‡fortschrittlichen Sozialismus— unterworfen. Ein weiterer Horror war die Zahl der sehr jungen Knaben in den Armeen und Exekutionskommandos der Roten Khmer. Zehn- und Zwölfjährige wurden darin unterwiesen, ihre Gefangenen zu Tode zu prügeln oder ihnen den Bauch aufzuschlitzen um Munition zu sparen œ, Männer und Frauen abzuschlachten, Alte und Junge. Die Roten Khmer brachten ihre Opfer nicht zu Hunderten im Gas um oder schossen sie in großen Gruppen mit Maschinengewehren nieder, wie es die Deutschen getan hatten. Jeder ermordete Kambodschaner war ein individuelles Mordopfer. Der Film ‡Killing Fields—, der auf Augenzeugenberichten beruht, zeigt eine Exekutionsmethode: ein Mann, dessen Hände verdächtig weich waren, also möglicherweise ein Intellektueller, wurde von den Wächtern aus dem angeketteten Arbeitstrupp herausgeholt. Dann stülpte ihm eine Frau einen Plastiksack über den Kopf und zog ihn um seinen Hals zusammen, so daß er erstickte. 1969 hatte es 4.000 Rote Khmer gegeben; die Zehntausende, die an den Massentötungen teilnahmen, waren alle zwischen 1970 und 1978 rekrutiert worden. Als die Vietnamesen Phnom Penh im Januar 1979 besetzten, fanden sie eine frühere Schule, nun Tuol Sleng genannt, die das Zentralkomitee der Partei als Polizeizentrale benützt hatte. Es war ein Folterzentrum und Hinrichtungsort für höhere Funktionäre, und 20.000 Menschen waren dort ermordet worden. Diese Einrichtung wurde von einem Mann namens Kong Kech Eav geleitet, der den Namen Duch benützte. Von den Grausamkeiten gab es genaue Aufzeichnungen, einschließlich der genauen täglichen Opferstatistiken und Photos der Gefangenen vom Tag ihrer Ankunft und dem Moment ihres Todes. Weniger wichtige Kambodschaner wurden auf die Todesfelder hinausgeführt und abgeschlachtet. Die Schädel wurden in Reihen aufgestellt, die Knochen in Haufen aufgeschlichtet. Der Bericht von Amnesty International über Kambodscha zitiert aus den Unterlagen zu einem Schulungstreffen der Tuol Sleng-Leute: ‡Der Feind wird nicht leicht Geständnisse ablegen. Wenn wir politischen Druck ausüben, gestehen die Gefangenen nur sehr wenig. Daher können sie der Folter nicht entkommen. Der einzige Unterschied ist nur, ob viel oder wenig Folter angewendet wird. Die -332-
Folter ist eine notwendige Maßnahme ... Sie ist notwendig, um jede Frage von Zögern oder Halbherzigkeit zu unterbinden, nicht zu foltern zu wagen, was es völlig unmöglich machen würde, auf unsere Fragen von den Feinden Antworten zu bekommen. Das würde unsere Arbeit nur behindern und verzögern.— Der AI-Report setzt fort: ‡Die Foltermethoden waren unter anderem Prügel, Auspeitschungen, Elektroschocks, gewaltsame Fütterung mit Exkrementen, nahezu Ersticken und Ertränken.— Tuol Sleng (auch bekannt als S21) war ein asiatisches Dachau œ mit zwei Unterschieden: weit weniger seiner Insassen überlebten (es sind nur sieben Überlebende bekannt), und wenn die SS ihre Gefangenen gefoltert hatte, geschah es für medizinische Experimente oder um andere Gefangene einzuschüchtern. Folter war kein integraler Bestandteil des deutschen Lagersystems. In der ‡Volksdemokratie Kampuchea— war es notwendig, daß die wichtigeren Gefangenen und alle Parteimitglieder unter der Folter ihre Irrtümer gestanden und einsahen, bevor sie getötet wurden. Tuol Sleng war die Verwirklichung von George Orwells ‡Ministerium für Liebe—. Die herrschende Gruppe in Kambodscha zwischen 1975 und 1978 war eine ‡Sechserbande—. Pol Pot wurde Ministerpräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Die anderen waren Außenminister Ieng Sary, der Verteidigungsminister Son Sen, die beiden Schwestern Khieu Ponnary und Khieu Thirith œ die eine leitete die Vereinigung der demokratischen Frauen von Kampuchea, die andere war Sozialministerin; Ponnary war mit Pol Pot verheiratet, Thirith mit Ieng Sary. Das sechste Mitglied war die Frau von Son Sen, Yun Yat, die Erziehungsministerin. Nach dem Sieg der Roten Khmer kehrte Prinz Sihanouk als nominelles Staatsoberhaupt nach Phnom Penh zurück. Die meiste Zeit stand er unter Hausarrest, aber gelegentlich durfte er ins Ausland fahren, um das Loblied der Roten Khmer zu singen. So trägt Sihanouk durchaus ein Maß an Mitschuld an dem Schrecken, der über sein Land kam. Wie andere Revolutionen begann auch die Kambodschanische Revolution bald ihre Kinder zu fressen. Nachdem sie ihre Feinde aus dem Alten System vernichtet hatten, begannen Pol Pot und die Angka -333-
œ die Organisation der Roten Khmer, die die Regierung des Landes bildete œ mit der systematischen Ermordung jedes, der irgendeine Verbindung mit den Vietnamesen hatte. Das schloß die Hälfte der kambodschanischen Kommunisten mit ein und ungefähr vierzig Prozent derer, die die Roten Khmer 1975 zum Sieg getragen hatten. Die Dokumente, die in Tuol Sleng gefunden wurden, beinhalten detaillierte Mitschriften ihrer Verhöre. Im Sommer 1978 gipfelten die Säuberungsaktionen in einer Serie von Massakern in Ost-Kambodscha, jenem Landesteil, der die meisten Verbindungen mit den Vietnamesen hatte. Führende Parteifunktionäre wurden in kleinen Gruppen nach Phnom Penh befohlen, und man hörte nie wieder von ihnen. Dann schickte Pol Pot die Armee los, um Parteibüros im Osten zu umzingeln. So Phim, der Kommandeur von Ost-Kambodscha und Mitglied des fünfköpfigen Politbüros der Kommunistischen Partei, erschoß sich selbst. Rund 3.000 Rote Khmer und ungefähr 30.000 Zivilisten flüchteten in den Dschungel und begannen einen Widerstandskampf, während die Bauern die Kämpfe zwischen ihren Sklaventreibern nützten, um die Gemeinschaftsküchen und andere Symbole des Regimes zu stürmen. Pol Pot besiegte bald die Opposition und brachte jeden um, den er finden konnte. In drei Monaten wurden ungefähr 100.000 Menschen getötet, und ein Drittel der überlebenden Bevölkerung wurde ins westliche Kambodscha getrieben. Pol Pot griff seine Feinde als ‡Khmer Körper mit vietnamesischen Seelen— an. Seine Wut ging über die Grenzen hinaus, und er befahl seinen Truppen Vorstöße auf vietnamesisches Gebiet, wo sie Tausende Bauern töteten. Das waren nicht die ersten Grenzkonflikte. Im September 1977 hatten Kambodschaner vietnamesische Grenzdörfer angegriffen und Hunderte Einwohner getötet. Im Oktober und Dezember 1977 hatte Vietnam mit richtigen Militäraktionen zurückgeschlagen. Das alles schreckte Pol Pot nicht ab. Im Dezember 1977 brach er einfach die diplomatischen Beziehungen zu Hanoi ab. Aber nach den neuerlichen Angriffen im Spätsommer 1978 beschloß Hanoi, daß die Roten Khmer nicht länger zu tolerieren seien und stellte eine Guerillaarmee von oppositionellen Kambodschanern auf, einschließlich der überlebenden Führer der Ostprovinz, die in den Dschungel geflüchtet waren. Viele von ihnen hatten auf beiden Seiten -334-
der Grenze an Massakern an Vietnamesen teilgenommen, aber Hanoi kümmerte sich nicht um ihre Vergangenheit. Einer von ihnen war Heng Samrin, der gerettet worden war, als die Vietnamesen im September 1978 eine Panzerkolonne nach Kambodscha geschickt hatten. Wenn die Kambodschaner irgendwelchen politischen Grips besessen hätten oder wenn Pol Pot weniger ideologiebesessen gewesen wäre, dann hätte das Land zweifellos China gegen Vietnam ausspielen und seine Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit behalten können. Aber Pol Pot proklamierte, daß jeder Kambodschaner dreißig Vietnamesen töten könne und müsse. So würde Kambodscha zwar zwei Millionen Menschen verlieren, aber die 50 Millionen Vietnamesen wären ausgerottet und Kambodscha könnte die verlorenen Gebiete im Osten œ einschließlich Saigon œ wieder zurückholen. Am 24. Dezember 1978 marschierte Vietnam in Kambodscha ein und eroberte am 7. Januar Phnom Penh. Ende Januar hatten die Vietnamesen den Großteil des Landes besetzt (siehe VIETNAM!) Das Pol Pot-Regime konnte nicht einmal einen so kläglichen Widerstand leisten wie die Regierung Lon Nol im Jahr 1975. Die Ursache war zum Teil sicher die mangelnde militärische Ausrüstung, zum Großteil aber wohl, daß die Bevölkerung das Regime haßte. Die Roten Khmer nahmen auf ihrem Rückzug einige hunderttausend Bauern mit, um in den Bergen unter ihrer Kontrolle Enklaven zu errichten. Solange diese Phantomregierung währte, hörte sie nicht auf, ihre Phantasien von ‡fortgeschrittenem Sozialismus— mit Terror durchzusetzen. Noch einmal starben Tausende, vielleicht 100.000 Menschen, und die Überlebenden wurden nur durch eine internationale Hilfsaktion 1979 vor dem Hungertod gerettet. Ende des Jahres stürmten die Vietnamesen diese letzten Widerstandsnester, und die Roten Khmer zogen sich in Lager an der Grenze zu Thailand zurück. KAMBODSCHA DIE VIETNAMESISCHE BESATZUNG Vietnam setzte in Phnom Penh sofort eine Quisling-Regierung unter -335-
Heng Samrin ein. Sie wurde nur von der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten sowie von Indien anerkannt, und es ist Vietnam nicht gelungen, den Guerillawiderstand zu brechen. Die Roten Khmer sind die wichtigste Gruppierung in der Widerstandsbewegung; andere Armeen stehen Sihanouk und anderen nichtkommunistischen Gruppierungen nahe. China unterstützt die Roten Khmer, während der Westen und Thailand den nichtkommunistischen Widerstandsgruppen an der thailändischen Grenze nur geringe und unzulängliche Unterstützung bieten. Neun Jahre lang, bis zur vietnamesischen Ankündigung der Absicht zum Rückzug im Mai 1988 schien das Patt absolut. Aber alles war besser als die Regierung Pol Pot. 1984/85 unternahmen die Vietnamesen einen massiven Angriff entlang der Grenze, um all die Flüchtlingslager und militärischen Stützpunkte der Roten Khmer sowie Son Sanns KPNLF (siehe unten) auszuheben. Die Offensive erreichte ihr Ziel, zerstörte aber nicht die Roten Khmer. Die Flüchtlinge gingen einfach über die Grenze nach Thailand, und die Roten Khmer-Einheiten teilten sich in Guerillabanden auf, die weiterhin die Vietnamesen und die kambodschanischen Regierungstruppen bekämpften. Sie wurden auf dem sogenannten ‡Deng Xiaoping-Pfad— von China bewaffnet und versorgt, der von China durch die Dschungel des nördlichen Thailand verläuft. Ihre Strategie war, den Abzug der Vietnamesen auszusitzen und dann an die Macht zurückzukehren. Als Vietnam seinen geplanten Rückzug ankündete, schienen sie ihrem Ziel einen großen Schritt nähergekommen zu sein. Nachdem sie die Stellungen an der thailändischen Grenze zerstört hatten, begannen die Vietnamesen, die Grenze mit einem Zaun und Minenfeldern zu befestigen. Sie fanden sich unversehens selbst in der Rolle der Amerikaner in Vietnam, indem sie versuchten, eine schwache und entmutigte lokale Regierung am Leben zu erhalten und gleichzeitig die anstürmenden Guerillas aus dem Land draußen zu halten. Vieles über die Untaten des Pol Pot-Regimes war in den vergangenen drei Jahren bekannt geworden. Nicht alle Berichte fanden Glauben, vor allem bei denen, die lautstark das amerikanische Engagement in Vietnam verurteilt hatten. Aber nach der vietnamesischen Besetzung des Landes war es nicht mehr möglich, an -336-
diesen Berichten zu zweifeln. Ausländische Regierungen und Journalisten wurden ebenso wie die UNO eingeladen, sich selbst an Ort und Stelle zu überzeugen. Es war unwiderlegbar. Das internationale Entsetzen über die Roten Khmer löste nicht das Problem, wie Kambodscha zu regieren sei. Westliche Staaten, die mit den Sowjets im Zweiten Weltkrieg verbündet gewesen waren, hatten der Errichtung fremder Regierungen in Osteuropa zugestimmt. Diesen Fehler wollten sie in Kambodscha nicht noch einmal begehen, wie schrecklich auch immer das gestürzte Regime gewesen sein mochte. Die kambodschanische Regierung, die von den Vietnamesen eingesetzt ist, hat nicht mehr Legitimität als die von der Sowjetunion 1979 in Afghanistan eingesetzte (oder als die Regierungen in den osteuropäischen Staaten bis zum Umbruch von 1989). China und die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten anerkannten die von Prinz Sihanouk geführte Koalition als die legitime Regierung von Kambodscha und stellten sicher, daß sie Kambodschas Platz bei den Vereinten Nationen einnahm. Diese Länder bemühen sich, andauernd zu beteuern, daß sie die Roten Khmer nicht anerkennen und sind immer wieder erstaunt, daß der prominente Rote Khmer Khieu Samphan die Koalition international vertritt und regelmäßig in den Westen reist. DlE ZWEI KOALITIONEN Derzeit gibt es zwei Allianzen, die direkt in Kambodscha verwickelt sind. Auf der einen Seite sind das die Vietnamesen und die Regierung, die sie in Phnom Penh eingesetzt haben, die ‡Sozialistische Volksrepublik Kampuchea—, die am 1. Mai 1989 in ‡Staat Kampuchea— umbenannt wurde. Ihnen gegenüber steht die lose Oppositionseruppierung ‡Widerstandsbündnis Demokratisches Kampuchea—, das aus Roten Khmer, der Partei Prinz Sihanouks und der nichtkommunistischen ‡Nationalen Befreiungsfront— (KPNLF) unter Son Sann besteht. China, die Sowjetunion, die USA und Thailand bleiben im Hintergrund, aber sie spielen wichtige Rollen. DIE SOZIALISTISCHE VOLKSREPUBLIK KAMPUCHEA -337-
Die Regierung in Phnom Penh wird geführt von Heng Samrin, dem Vorsitzenden der provietnamesischen ‡Revolutionären Volkspartei Kampucheas—, und Ministerpräsident Hun Sen. Beide sind frühere Rote Khmer, die während der Säuberungsaktion unter allen vietnamfreundlichen Kambodschanern wüteten. In einer amerikanischen Bürgerrechtsstudie von 1985 wird beschrieben, wie auch heute die Folter offiziell zugelassen ist, ebenso wie unmenschliche Behandlung und die Mißachtung der bürgerlichen Freiheiten in Kambodscha. Amnesty International belegte 1987 das Prinzip politischer Gewalttaten, ungesetzlicher Hinrichtungen und Folterung durch die Regierungsbehörden. Die Volksrepublik paßt daher gut in das Muster anderer kommunistischer Staaten, ist aber unbedingt der Regierung Pol Pot vorzuziehen. Die Regierung behauptet, das ganze Land unter Kontrolle zu haben, aber es gibt regelmäßig Guerillaüberfälle auf Regierungskonvois, und in den abgelegeneren Teilen des Landes ist es wohl nicht weit her mit der Macht der Regierung, besonders im Westen und Norden. Die Regierungsarmee ist mit rund 30.000 Mann nicht groß genug, die Armeen der Opposition ohne die Hilfe der Vietnamesen zu besiegen. Kambodscha ist so verzweifelt arm wie Vietnam. Eine katastrophale Hungersnot unmittelbar nach dem vietnamesischen Sieg von 1979 wurde durch eine internationale Hilfsaktion noch einmal abgewendet. Eigentlich ist das Land reich und fruchtbar und auch nicht überbevölkert, so daß Kambodscha zumindest seinen Reisbedarf selbst decken könnte, da nun wieder halbwegs sichere Verhältnisse Einzug gehalten haben. Aber die Wirtschaft vegetiert am Rand des Existenzminimums, und die wenigen Ausländer, denen der Zutritt zu Phnom Penh gestattet worden ist, berichten über die Unterernährung der Bevölkerung, vor allem der Kinder. Sie berichten auch, daß die Stadt allmählich wieder mit Menschen besiedelt wird, aber das Leben erscheint gedrückt und freudlos. Die Lebenserwartung beträgt 45 Jahre und die Kindersterblichkeit 21,6 Prozent (In Vietnam sind es 60 Jahre und 9,8 Prozent). Das Durchschnittseinkommen beträgt 2 Dollar im Monat. DIE KOALITIONSREGIERUNG DES DEMOKRATISCHEN -338-
KAMPUCHEA Die Roten Khmer: Nach ihrer Niederlage von 1979 haben die Roten Khmer erkannt, daß sie internationale Unterstützung brauchen und ihre Bewegung reorganisiert. Pol Pot trat vom Amt des Ministerpräsidenten zurück, Khieu Samphan wurde sein Nachfolger. Zunächst errichteten sie eine fiktive Vereinigungsfront: die ‡Patriotische und Demokratische Nationale Einheitsfront der Großen Nationalen Union von Kampuchea—. Im Juni 1982 wurde diese Organisation wieder aufgelöst, als die Roten Khmer in eine Koalition mit Prinz Sihanouk und Son Sann eintraten. Wie auch immer die Organisation heißt, Pol Pot blieb Sekretär des Zentralkomitees der (antivietnamesischen) Kommunistischen Partei und Oberbefehlshaber der Armee der Roten Khmer œ der Nationalarmee des Demokratischen Kampuchea. Er und seine engsten Vertrauten sind nach wie vor in Kambodscha oder in China und führen den Widerstand. Die Rote-Khmer-Armee ist mehr als 40.000 Mann stark, die größte in Kambodscha, und sie hat Flüchtlingslager an der Grenze unter ihrer Kontrolle, in denen mehr als 70.000 Menschen leben. ‡Die Nationale Befreiungsfront— (KPNLF): Diese antikommunistische Organisation wurde von Son Sann gegründet, der mehrere Male unter Prinz Sihanouk Ministerpräsident des Landes gewesen war. Es ist der Versuch, alle Kambodschaner zu vereinen, die nicht entweder der vietnamesischen Marionettenregierung ergeben sind oder den Roten Khmer, und sie genießt die Unterstützung der thailändischen Regierung und des Westens, obwohl diese Unterstützung mehr moralischen als militärischen Wert hat. Die KPNLF kontrolliert die meisten Flüchtlingslager in Thailand, und in ihrem Namen operieren in Kambodscha Guerillaeinheiten, die aber weder die Regierung in Phnom Penh gefährden können noch eine direkte Auseinandersetzung mit den Roten Khmer überleben würden. Im Bericht des Juristenkomitees für Menschenrechte wurde festgestellt, daß, obwohl die KPNLF die Menschenrechte zu achten bemüht ist, und ‡ungeachtet wiederholter Anstrengungen der KPNLFFührer, unter ihren Soldaten die Disziplin zu verbessern und in den KPNLF-Grenzsiedlungen gesetzliche Zustände einzuführen, sich oft -339-
eine Situation von Gesetzlosigkeit ergibt—. In den schlimmsten Phasen wurden Zivilisten und Soldaten geschlagen, unter grausamen Bedingungen eingesperrt und manchmal von Militär- oder Verwaltungsangehörigen getötet. ‡Die Nationale Vereinigte Front für ein Unabhängiges, Neutrales, Friedliches und auf Zusammenarbeit bedachtes Kambodscha— (FUNCINPEC): Diese Organisation mit dem pompösen Namen besteht aus Prinz Sihanouk und seinem Gefolge. Ihr unterstehen einige kleine Lager an der thailändischen Grenze, und sie behauptet, ebenfalls eine Guerillaarmee in Kambodscha zu unterhalten, aber in Wahrheit ist die einzige Stärke der Front die Person von Sihanouk. Im Ausland genießt er weiterhin ein gewisses Ansehen, und nach dem Abzug der Vietnamesen aus Kambodscha wird er wohl wieder einen erstaunlichen Einfluß in Phnom Penh ausüben. Er ist das nominelle Oberhaupt der Dreiparteien-Koalition. Im Dezember 1987 und Januar 1988 führte er mit der Regierung der Volksrepublik Kampuchea in Paris Verhandlungen, die aber zu keinen Ergebnissen führten. Im Mai 1987 und erneut im Januar 1988 kündete Sihanouk seinen Rücktritt von der Leitung der Koalition an, beim ersten Mai wegen Angriffen der Roten Khmer auf seine Anhänger, beim zweiten Mal wegen Auseinandersetzungen mit der KPNLF. Beide Male wurde er nicht ernst genommen. DIE AUSLÄNDISCHEN MÄCHTE Kambodscha bleibt ein Nebenschauplatz. Die Hauptsorgen Vietnams sind die eigenen abgewirtschafteten Verhältnisse und seine Beziehung zu China. Das kommunistische Vietnam besetzte Kambodscha aus demselben Grund wie seine Vorgänger in Saigon œ um den Zugang zu Saigon freizuhalten und sich den ZweifrontenKrieg zu ersparen. Nach ihrem Grenzkrieg von 1979 bleiben die Beziehungen zwischen Vietnam und China aufs äußerste gespannt. Die Vietnamesen fürchten ihren riesigen Nachbarn im Norden, und die Chinesen fürchten die Einkreisung. Chinas Hauptsorge ist die Bedrohung durch die Sowjetunion, und es betrachtet Vietnam als einen von der UdSSR abhängigen Staat. Daher unterstützte China Pol Pot, solange er an der Macht war, und unterstützt ihn heute noch. -340-
Die Sowjets benützen umgekehrt ihre Position in Vietnam, wo sie gern gesehen sind, als Druckmittel gegen Vietnam. Ohne sowjetische Unterstützung konnte Vietnam seine Armeen in Kambodscha nicht erhalten œ und der Wechsel des politischen Kurses in Moskau wirkte sich auch auf Vietnam aus. Es ist bestimmt kein Zufall, daß die Entscheidungen zum Rückzug der Sowjets aus Afghanistan, der Vietnamesen aus Kambodscha und Kubas aus Angola innerhalb von sechs Monaten gefallen sind. Thailand unterstützt aus Angst vor Vietnam die Guerillas aller Provenienz. Es kann keinen so mächtigen und kriegserfahrenen Nachbarstaat brauchen. Thailand beherbergt 75.580 Flüchtlinge aus Laos, 293.210 aus Kambodscha und 15.170 aus Vietnam (Zahlen von 1988, siehe unten GRENZKRIEG THAILAND-LAOS). Wie die Vereinigten Staaten hat Thailand entdeckt, daß der Fall der indochinesischen Domino-Steine seine Sicherheit nicht beeinträchtigt. Es wäre froh, wenn die Sowjetunion den Hafen Cam Ranh Bay räumen würde, aber in den Augen der USA hat das keine Eile. Das Trauma des Vietnam-Krieges ist nicht vergessen, und das amerikanische Volk hat kein Interesse an einer nochmaligen Verwicklung in Indochina. Als die Philippinen mit der Schließung der US-Stützpunkte drohten, falls die Amerikaner die Pachtzahlungen nicht wesentlich erhöhen sollten, nahm das die Regierung Reagan gelassen hin. Sobald sich die Sowjets aus Vietnam zurückziehen, gibt es keinen vernünftigen Grund mehr für eine derart große amerikanische Präsenz auf den Philippinen. Es ist schon bemerkenswert, daß es keinem der an diesem Spiel der mächtigen Beteiligten um Ideologie oder Moral geht. DIE ZUKUNFT Der Schlüssel zu Kambodschas Zukunft liegt in Moskau und Peking. Michail Gorbatschow möchte die Beziehungen der Sowjetunion zu China verbessern, und die Chinesen bestehen darauf, daß die Sowjetunion ihr Bündnis mit Vietnam aufgeben und Vietnam seine Besetzung von Kambodscha beenden muß. Im Frühjahr 1988 gab es die ersten Anzeichen einer möglichen Vereinbarung. Zu diesem Zeitpunkt waren œ nach einem Höhepunkt -341-
von 180.000 Mann während der Offensive von 1984/85 œ zwischen 125.000 und 140.000 vietnamesische Soldaten in Kambodscha stationiert. Am 25. Mai kündete Vietnam den Rückzug von 50.000 Soldaten bis Jahresende und den des Restes im Laufe des Jahres 1990 an, ein Termin, der später auf September 1989 vorverlegt wurde. Ende Juni 1988 zog Vietnam sein Militärkommando aus Kambodscha ab und unterstellte die verbleibenden Truppen dem kambodschanischen Oberbefehl. Bei einer Pressekonferenz in Saigon bezifferte ein vietnamesischer General die eigenen Verluste während des Kriegs in Kambodscha: 30.000 Vietnamesen waren 1977/78 bei den Angriffen der Roten Khmer über die Grenzen hinweg gestorben, 25.000 weitere im Lauf der vietnamesischen Invasion und der neun Besatzungsjahre. Viele davon waren der Malaria und den zurückgelassenen Minen der Roten Khmer zum Opfer gefallen. Die Vietnamesen teilten auch den Abzug von 25.000 Soldaten aus Laos mit. Nach neunjähriger Anstrengung mußte Vietnam zuletzt sein Scheitern eingestehen. Es besteht nur wenig Zweifel, daß diese Entscheidung das Ergebnis der eigenen wirtschaftlichen Katastrophe war œ es bestand tatsächlich die Gefahr einer Hungersnot! œ und des Drucks von der Sowjetunion. Wenn es den Sowjets möglich war, aus Afghanistan abzuziehen, dann konnten sie auch Vietnam zum Rückzug aus Kambodscha bringen, einer Besetzung, die sie politisch zumindest gleich viel kostete, ohne irgendeinen erkennbaren Vorteil zu bringen. Die UdSSR unterstützte Vietnam damals mit zwei Milliarden Dollar jährlich, davon floß die Hälfte in die Besatzungskosten in Kambodscha, der Rest ging zum Großteil in die vietnamesischen Verteidigungsanstrengungen gegen China. Gorbatschow war klar, daß kluge Verhandlungstaktik hier gewaltige Einsparungen möglich machen würde. Die vietnamesische Entscheidung zum Abzug aus Kambodscha erzeugte unverzüglich heftige diplomatische Aktivitäten. Verschiedene Konsequenzen schienen möglich: Eine Koalitionsregierung unter Sihanouk, in der einige oder alle der unterschiedlichen Fraktionen vertreten sein würden; ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges; oder eine Rückkehr der Roten Khmer. Auch eine Abfolge aller drei Varianten nacheinander schien möglich. -342-
Ausländische Beobachter hielten es für möglich, daß Kambodscha zu einem fernöstlichen Libanon werden könnte, aufgeteilt in einander befehdende Zonen; oder ein Birma mit einer schwachen Zentralregierung und verschiedenen Guerillaorganisationen, die die Grenzgebiete kontrollieren; oder eine Art Philippinen, mit einer Zentralregierung, die einen starken und aggressiven Guerillagegner bekämpfen muß. Bei dem Modell á la Libanon würde Vietnam die Rolle Syriens zufallen, und Ostkambodscha, die reichste Provinz des Landes, wo sechzig Prozent der Bevölkerung leben, würde das BekaaTal darstellen. Es ist allerdings nicht wahrscheinlich, daß die verschiedenen Guerillagruppen untereinander zu einer Übereinkunft kommen, und es scheint ziemlich sicher, daß Kambodscha solange keinen Frieden finden wird, bis die Gefahr der Wiederkehr der Roten Khmer beseitigt ist. Während der vietnamesischen Besetzung bestanden die nichtkommunistischen südostasiatischen Staaten, die im ASEAN-Pakt zusammengeschlossen sind, auf einem Abzug der Vietnamesen als erstem Schritt. Nun ist ihre Verhandlungsvoraussetzung Wirklichkeit geworden. Ihre erste Reaktion war die Wiederbelebung einer Idee, die seit Jahren herumgeisterte: die Kambodschaner sollten zu einer ‡Cocktail-Party— eingeladen werden. Keine formalen Verhandlungen, einfach eine Party. Sihanouk wählte diesen Augenblick einmal mehr, um als Haupt einer Koalitionsregierung zurückzutreten. Er griff die Roten Khmer an und sagte, daß jeder, der glaube, sie hätten sich grundlegend geändert, ‡entweder naiv sei oder ein Idiot—. Er ließ sich von seinem Sohn, Prinz Norodom Ranariddh, auf dieser ‡Cocktail-Party— vertreten, die unter der Bezeichnung Jakarta-Treffen am 25. Juli 1988 in Bogor in Indonesien stattfand. Sihanouk besuchte Jakarta zur selben Zeit als ‡persönlicher Gast— von Präsident Suharto. Die anderen Delegierten bei diesem Treffen waren der vietnamesische Außenminister Nguyen Co Thach, der Repräsentant der Regierung in Phnom Penh, Ministerpräsident Hun Sen, Kieu Sarnphan für die Roten Khmer und Son Sann für die KPNLF. Dazu kamen die Delegierten von Laos und der ASEAN-Staaten. Das Treffen war kein Erfolg. Die Gespräche dauerten vier Tage, und es kam dabei nichts heraus. Keine der kambodschanischen Fraktionen rückte von ihrem Standpunkt ab (obwohl Sihanouk sie am dritten Tag zu sich beorderte -343-
und sie über die Notwendigkeit der nationalen Einheit belehrte). Ein chinesischer Plan sah eine Koalitionsregierung vor, geleitet von Sihanouk, an der jede der vier wesentlichen Parteien teilnehmen sollte (Sihanouks FUNCINPEC, Son Sanns KPNLF, die Regierung in Phnom Penh und die Roten Khmer). Jede Partei sollte gegen jeden von den anderen für die Regierung Nominierten ein Vetorecht haben, die Truppen sollten auf dem Ist-Stand eingefroren werden und unter internationaler Kontrolle sollten Wahlen stattfinden. Dieser Plan wurde natürlich abgelehnt, da er Pol Pot ungeachtet aller Formalitäten die stärkste Armee zugesichert hätte. Die Chinesen ließen auch die Überlegung durchsickern, Pol Pot und seine Leute nach Peking in ein komfortables Exil einzuladen. Nachdem darüber in westlichen Zeitungen berichtet wurde, leugnete Peking diesen Plan œ aber von allen Vorschlägen, um Kambodscha vor der Rückkehr der Roten Khmer zu bewahren, hätte dieser den meisten Erfolg versprochen. China und die Sowjetunion kamen auch überein, direkte Gespräche über die Zukunft Kambodschas zu führen, und im Februar 1989 luden die Chinesen Gorbatschow zum ersten chinesisch-sowjetischen Gipfeltreffen seit 1959 nach Peking ein. Die anderen kambodschanischen Fraktionen versuchten in ihrer verfahrenen Situation weiterzukommen. Im November 1988 besuchte der kambodschanische Regierungschef Hun Sen Prinz Sihanouk in Paris, um vielleicht zu einer gemeinsamen Front gegen die Roten Khmer zu kommen. Er versicherte, daß die Vietnamesen ihre Zusage eines Abzuges aus Kambodscha einhalten würden, versprach freie Wahlen und eine Koalitionsregierung œ unter Ausschluß der Roten Khmer. Sihanouk war weit weniger zuversichtlich. Er spürte, daß nur China die Macht hatte, die Roten Khmer von der Macht fernzuhalten, und daher lehnte er es ab, es sich mit den Chinesen durch die Bildung einer Koalition mit der vietnamesischen Marionettenregierung in Phnom Penh zu verderben. Die Roten Khmer bereiteten sich in ihren Lagern an der thailändischen Grenze darauf vor, unmittelbar nach dem vietnamesischen Abzug in Kambodscha einzumarschieren. Sie mobilisierten die Flüchtlinge und zwangen alle körperlich geeigneten jungen Männer und Frauen, Munition und Ausrüstung in Verstecke -344-
auf kambodschanischem Gebiet zu tragen, und sie verlegten die Lager über die Grenze. Die Vietnamesen beschossen die Lager und trieben die Flüchtlinge zurück. Das konnte aber nur eine zeitweilige Maßnahme sein. Seit die Roten Khmer aus ihren letzten Stützpunkten in Kambodscha verdrängt worden sind, haben sie ihre Armee mit chinesischer Hilfe und thailändischem Einverständnis wieder aufgebaut. Angeblich haben sie jetzt genug Waffen und Material, um zwei Jahre Krieg durchzuhalten. Im Dezember 1988 kündeten die Vietnamesen an, ihren Truppenabzug auf September 1989 vorzuverlegen, falls bis dahin eine diplomatische Lösung gefunden würde. Die offenen Fragen sollten in einer Reihe von Konferenzen gelöst werden, aber die Hauptgegner œ die Regierung in Phnom Penh und die Roten Khmer zeigten keine Bereitschaft zum Kompromiß. Einmal mehr hing alles von Peking und Moskau ab. Am 5. April 1989 ging Vietnam von seiner Forderung ab, daß vor seinem Abzug die ausländische Hilfe für die Opposition eingestellt werden müßte und versprach den Abzug seiner letzten Einheiten für den 26. September 1989. In Paris wurde eine Konferenz abgehalten, um noch einmal zu versuchen, ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges zu verhindern. Daran nahmen abermals die vier kambodschanischen Parteien, Vietnam, China, die ASEAN-Staaten teil, die Außenminister von Frankreich und Indonesien führten den Vorsitz. Am 30. August endete die Konferenz im Streit, der über die Rolle der UNO als Überwacher eines Waffenstillstandes und der Wahlen und vor allem der Bildung einer erhofften Interimsregierung ausgebrochen war. Die kambodschanische Regierung, angeführt von Hun Sen, weigerte sich, den Roten Khmer eine Beteiligung zuzugestehen, und die Roten Khmer und ihre chinesischen Beschützer mit Prinz Sihanouk im Kielwasser weigerten sich wiederum, irgendeine Lösung ohne ihre Beteiligung zu akzeptieren. Es schien nur zu offensichtlich, daß ein neuer Bürgerkrieg im neuen Jahr ausbrechen würde. Das beste, was für Kambodscha möglich schien, war eine Wiederholung der Ereignisse von Afghanistan, wo die von den Sowjets eingesetzte Regierung deren Abzug zwar überlebt hat, aber wo es außerhalb der Städte zu furchtbaren Kämpfen gekommen ist. Aber alles ist besser als eine Rückkehr der Roten Khmer. -345-
Nach dem Abzug der Vietnamesen, vielleicht auch beeinflußt von den Ereignissen in China und Europa, nahm Hun Sen viele frühere Funktionäre der Sihanouk- und Lon Nol-Regime in die Regierung hinein, und er baute schrittweise den Einfluß der Regierung in der Wirtschaft des Landes ab. Kambodscha hatte zwischen 1975 und 1989 niemals zu einem so strikt kommunistischen Wirtschaftssystem gefunden wie etwa Polen oder China. Dort hatte der Staat systematisch alle wirtschaftlichen Aktivitäten an sich gezogen. In Kambodscha verwüsteten die Roten Khmer das Land, und ihre Nachfolger mußten die Gesellschaftsordnung von Grund auf erneuern. Es war für Hun Sen viel leichter, wieder eine Marktwirtschaft zu errichten, nach zwanzig Jahren revolutionärem Chaos, als für Polen, einen bürokratischen kommunistischen Staat umzubauen. Ende 1989 waren 70 Prozent der Wirtschaft wieder in Privatbesitz, und Hun Sen kündete für 1990 oder 1991 freie Wahlen an, überwacht von den USA oder der UNO. Im Januar 1990 nahmen die ständigen Mitglieder des UNOSicherheitsrates die Diskussion über die Zukunft Kambodschas wieder auf, und sie stimmten überein, daß die UNO in dieser Zukunft eine Rolle spielen sollte. Die USA unter Präsident Bush ordneten weiterhin die Sorge um das Wohlergehen Kambodschas ihren eigenen guten Beziehungen zu China unter. Sie unterstützten Prinz Sihanouk, ungeachtet seiner wachsenden Exzentritzität und der offensichtlichen Tatsache, daß seine Partei in der Guerillabewegung keine wirkliche Rolle mehr spielte. Die UdSSR und China, einst die rivalisierenden Führer aller politischen Entwicklungen in Indochina, waren nun mit ihren internen Angelegenheiten dermaßen beschäftigt, daß sie sich nicht ernsthaft mit der Lösung der Kambodschafrage beschäftigen konnten. Die Roten Khmer begannen ihre Trockenperiode-Offensive, und obwohl die Regierung darauf bestand, selbst mit ihren Feinden fertig zu werden, blickten die Kambodschaner voll Sorge auf die Möglichkeit, daß ihr schlimmster Alptraum, die Wiederkehr von Pol Pot, Realität werden könnte. Im Sommer 1990 änderte die US-Regierung ihre Haltung und entzog Sihanouk die Unterstützung. Die Regierung in Phnom Penh erschien ihr mit einem Mai doch als möglicher Verhandlungspartner. -346-
DER GRENZKRIEG ZWISCHEN THAILAND UND LAOS 1987/88 Im November 1987 entstand aus einem Grenzstreit zwischen Thailand und Laos ein kurzer Krieg. Dabei ging es um einen Gebirgsstreifen von 43 km2 im Norden; bei einem Grenzabkommen zwischen Frankreich und Siam im Jahre 1907 war der genaue Verlauf ungeklärt geblieben. Aber anscheinend ging es bei diesem Streit um mehr als eine unmarkierte Grenze. Diese abgelegenen Berge sind das Zentrum des Opiumhandels im Goldenen Dreieck, und sie liegen auf dem Weg, über den China seine Verbündeten im kambodschanischen Bürgerkrieg versorgt hat und über den antikommunistische vietnamesische Guerillas nach Vietnam einsickern. Zuletzt hat sich zwischen den beiden Ländern ein heftiger Streit über die Flüchtlingsfrage entwickelt. Angehörige des Hmong-Stammes in Laos haben versucht, nach Thailand zu entkommen, und die thailändische Armee wollte sie daran hindern œ mit unterschiedlichem Erfolg. Wie bereits festgestellt, gibt es 75.000 Flüchtlinge aus Laos in Thailand. Als am 17. Februar 1988 die Kämpfe beendet wurden, hatten die Thailänder zwischen 70 und 100 Mann verloren, die Laoten ungefähr 200. Laos und Thailand hatten beide Truppen in das umstrittene Gebiet verlegt, laotische Artillerie hatte thailändische Dörfer beschossen, die thailändische Luftwaffe hatte laotische Stellungen bombardiert. Nach dem vietnamesischen Truppenabzug aus Laos œ mit 20.000 Mann die Hälfte seiner Garnison œ könnte sich aber auch dieser Konflikt vorderhand entspannen.
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KOREA
Geographie: NORD-KOREA: 120.538 km2. SÜD-KOREA: 98.454 km2. Bevölkerung: NORD-KOREA: 20,8 Millionen. SÜD-KOREA: 42 Millionen. BSP: NORD-KOREA: 1.170 $/Einw. SÜD-KOREA: 2.370 $/Einw. Seit dem Korea-Krieg (von 1950 bis 1953) haben sich die beiden koreanischen Staaten ständig und mit wachsender Geschwindigkeit auseinanderentwickelt, die Wirtschaft Süd-Koreas wächst mit atemberaubendem Tempo, während die des Nordens stagniert. Im Dezember 1987 gab es in Süd-Korea Präsidentenwahlen, aus denen zum ersten Mal seit Jahrzehnten ein demokratisch gewählter Präsident hervorging, Roh Tae Woo. Im folgenden April bestand Süd-Korea einen weiteren demokratischen Reifetest: Präsident Rohs Partei wurde bei Parlamentswahlen geschlagen, und der Präsident muß jetzt mit einem Parlament zusammenarbeiten, in dem die Opposition die Mehrheit hat. In Nord-Korea herrscht seit vierzig Jahren Kim Il Sung. Er hat einen außergewöhnlichen Personenkult entwickelt und alles vorbereitet, daß die Macht auf seinen Sohn übergehen kann, um so die einzige kommunistische Dynastie der Welt zu begründen. Die Grenze zwischen den beiden Koreas ist eine der gefährlichsten der Welt. Nord-Korea ist ein feindseliges Land im permanenten Kriegszustand: Im Oktober 1983 ermordeten nordkoreanische Kommandosoldaten siebzehn Mitglieder einer südkoreanischen Regierungsdelegation in Rangun. Und im November 1987 schmuggelten zwei nordkoreanische Terroristen in Abu Dhabi eine Bombe in eine Maschine der südkoreanischen Fluglinie KAL. Bei der Explosion über dem Indischen Ozean kamen alle 115 Menschen an Bord ums Leben. GESCHICHTE Korea entwickelte im Lauf der Jahrhunderte seine nationale -348-
Identität im Zuge ständiger Kriege gegen China und Japan, die auch beide immer wieder in das Land einfielen. 1907 errichtete das durch den Sieg im Krieg gegen Rußland gestärkte Japan ein Protektorat über Korea und annektierte es schließlich 1910. Am 8. August 1945 erklärte die Sowjetunion Japan den Krieg und marschierte in der Mandschurei und in Korea ein œ zwei Tage nach dem Abwurf der Atombombe Über Hiroshima und eine Woche vor der japanischen Kapitulation. Die USA hatten lange genug Druck auf Stalin ausgeübt, in den Krieg gegen Japan einzutreten und mußten nun die Konsequenzen tragen. Truman hatte kein Interesse daran, daß die Sowjets in Korea Fuß fassen würden, jenseits der Meeresstraße zu Japan, und er schlug vor, daß die Halbinsel vorläufig entlang dem 38. Breitengrad aufgeteilt werden sollte, halbwegs in der Mitte des Landes. Stalin, der sich eine Auseinandersetzung mit den USA im Fernen Osten nicht leisten konnte, stimmte unverzüglich zu, und Korea, das eben dem japanischen Kolonialismus entronnen war, fand sich plötzlich zwischen den beiden Supermächten aufgeteilt. Die Sowjets begannen unverzüglich mit der Errichtung eines kommunistischen Staates im Norden. Es muß gesagt werden, daß Nord-Korea, die Demokratische Volksrepublik, aus eigener Kraft überlebt hat. Die letzten sowjetischen Truppen wurden 1949 abgezogen. Die Amerikaner waren hauptsächlich mit Japan beschäftigt und vernachlässigten ihren Teil Koreas. Diplomatische Bemühungen um die Wiedervereinigung des Landes waren fruchtlos. Beide Seiten verweigerten jede Übereinkunft. Stalin wollte nur ein geeintes kommunistisches Korea akzeptieren, Truman nur ein demokratisches. Nord-Korea baute eine Armee von 200.000 Mann auf und wollte das Land mit Gewalt wiedervereinen. Ob Stalin den Angriff befahl oder nicht, ist heute eine überflüssige Diskussion. Damals wurde es als ein weiterer Schritt des sowjetischen Traumes von der Eroberung der Welt angesehen. Der amerikanische Außenminister Dean Acheson erklärte in einer Rede vor dem National Press Club in Washington am 12. Januar 1950, daß ‡der amerikanische Verteidigungsgürtel von den Aleuten nach Japan und von dort zu den Ryukyu-Inseln (einschließlich Okinawa) -349-
verlaufe—. Korea erwähnte er nicht. Später warfen ihm seine Gegner vor, daß diese Nichterwähnung von Nord-Korea als Einladung zum Angriff verstanden worden sei. Diese Behauptung war ein Teil des McCarthy-Rufmordes an der Truman-Regierung œ was Acheson als den ‡Angriff der Primitiven— bezeichnete. Trotzdem können die ‡Primitiven— hierin recht behalten haben. Die sowjetische Diplomatie, ganz zu schweigen von der Diplomatie Nord-Koreas, war immer schlicht strukturiert, und es ist zumindest möglich, daß Achesons Versäumnis in Verbindung mit ihrer Unkenntnis der USA œ sie in diesen katastrophalen Irrtum hineintrieb. Die Invasion begann am 6. Juni 1950. Anfang August hatte NordKorea mit Ausnahme eines Restes im Südosten ganz Süd-Korea besetzt. Amerikanische Einheiten in Korea wurden besiegt, und den aus Japan eingeflogenen Verstärkungen erging es kaum besser. Allerdings muß zu ihrer Verteidigung gesagt werden, daß dies in die Zeit der Umstrukturierung fiel, als die amerikanischen Truppen im Fernen Osten abgebaut und verdünnt wurden, um die Verstärkung der US-Streitkräfte in Europa zu ermöglichen. Selbst auf dem Höhepunkt des Korea-Krieges wurden die besten Einheiten aus den USA nach Europa geschickt. Korea war ein Nebenschauplatz. Am Tag nach dem Angriff betraute Präsident Truman General Douglas MacArthur mit der Verteidigung von Süd-Korea. Der General ließ seine Position als Prokonsul in Japan fahren, schickte genügend Truppen nach Korea, um den letzten Gebietsrest zu halten, befahl der Luftwaffe, die nordkoreanischen Nachschublinien zu bombardieren und bereitete den Gegenangriff vor. Zu diesem Zeitpunkt boykottierte die Sowjetunion die UNO, und so konnte die Vollversammlung ohne Veto Nord-Korea als Aggressor verurteilen und die USA mit der Bildung einer UNO-Truppe betrauen, um Süd-Korea zu verteidigen. Die Hauptmasse dieser UNO-Truppe stellte aber immer die US-Armee. Am 15. September landete MacArthur mit seinen Truppen an der Westküste Koreas in Inchon, nahe von Seoul. Obwohl die nordkoreanischen Truppen bereits erschöpft waren und ihre Niederlage, sobald die USA einmal in den Kampf eingetreten waren, klar schien, muß die Landung in Inchon als eine der -350-
bemerkenswertesten militärischen Leistungen des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Die Aktion wurde in drei Monaten geplant und glänzend durchgeführt, und in wenigen Wochen befreite MacArthur Süd-Korea zur Gänze und wandte sich gegen Norden. Vielleicht, wenn er unauffälliger gehandelt hätte; vielleicht, wenn er nicht darüber gesprochen hätte; vielleicht, wenn Washington die kommunistische Regierung Chinas anerkannt hätte (was es seit 1949 verweigert hatte) und sie zu Verhandlungen über die Korea-Frage eingeladen hätte œ vielleicht hätten die Chinesen einer Niederlage Nord-Koreas und der Wiedervereinigung des Landes nichts entgegengestellt. Aber MacArthur verlegte seine Armeen an die chinesische Grenze, verkündete seine Absicht, Korea wiederzuvereinen und drohte, seinen Angriff über den Yalu-Fluß hinweg durch China hindurch zu führen. Die Chinesen schickten zahlreichen Warnungen nach Washington, daß sie dem auf keinen Fall zustimmen würden. Die Warnungen wurden ignoriert, und im Oktober überquerte die Chinesische Volksbefreiungsarmee den Yalu. Die UNO-Truppen œ hauptsächlich Amerikaner, aber auch Briten, Kanadier, Türken und Einheiten aus zahlreichen anderen Ländern œ wurden davon völlig überrascht und rasch zurückgedrängt. Die Chinesen und Nord-Koreaner eroberten Seoul. Nur unter größten Anstrengungen konnte MacArthur mitten im Winter eine Verteidigungslinie quer über die Halbinsel aufbauen. Im folgenden Jahr gelang es dem UNO-Kommando allmählich, mit überwältigender technischer Überlegenheit und dank kluger Ausnutzung des Geländes, die Chinesen auf die ursprüngliche Frontlinie zurückzuwerfen. Präsident Truman hatte am 11. April 1951 MacArthur wegen Insubordination des Kommandos enthoben, und General Matthew Ridgeway führte nun den Oberbefehl. Die Amerikaner gruben sich ein und wehrten eine ‡Menschenwelle nach der anderen— ab. Am 27. Juli 1953 wurde schließlich ein Waffenstillstand unterzeichnet. Nach den Angaben des UNO-Kommandos waren Im Korea-Krieg folgende Verluste zu verzeichnen: USA: 37.904 Tote (einschließlich 12.939 Vermißter und für tot Erklärter); 101.368 Verwundete. Andere UNO-Mitgliedstaaten: 4.521 Tote, darunter 537 Briten und -351-
312 Kanadier. Süd-Korea: 103.248 Tote; 159.727 Verwundete. Das US-Oberkommando schätzte, daß Nord-Korea 316.579 und China 422.612 Tote zu verzeichnen hatten. Rund 2 Millionen Zivilisten, im Norden und im Süden, wurden getötet oder verletzt. Während die Verlustangaben der UNO-Streitkräfte genau sind, sind die für Nord-Korea und China mit äußerster Vorsicht zu bewerten. Zum einen ist ihre Präzision offensichtlich merkwürdig: Für China werden 401.401 Tote und 21.211 Vermißte angegeben œ Zahlen, die einfach zu schön sind, um stimmen zu können, und offensichtlich zu genau, um genau zu sein. Offensichtlich sind sie das Ergebnis irgendwelcher statistischen Berechnungen. Außerdem, wie die Erfahrung in Vietnam fünfzehn Jahre später gelehrt hat, neigen die Amerikaner grundsätzlich dazu, die Opferzählung hinaufzuschrauben, I. F. Stone stellte fest, daß das Oberkommando tägliche chinesische Verluste in Höhe einer vollen Division verlautbarte œ eine Verlustrate, dreimal so hoch wie die der deutschen Armee vor Verdun. Aber auch wenn man die Opferangaben radikal herunterrechnet und auch für die Verluste der Zivilbevölkerung andere Schätzungen heranzieht, ergibt sich für die drei Jahre des Korea-Krieges eine Gesamtopferzahl zwischen 1 und 1,5 Millionen. DAS NACHKRIEGS-KOREA Das Land wurde im Norden wie im Süden erheblich zerstört. Es wurde auf die Verhältnisse in Deutschland im Jahr 1945 reduziert, seine Städte lagen in Trümmern, die Industrien waren zerstört. Beide Teile des Landes machten sich an die schmerzliche Aufgabe des Wiederaufbaues, kompliziert durch den gegenseitigen Haß. Die chinesischen Truppen zogen sich 1958 zurück, aber die Amerikaner blieben. Süd-Korea ist, ungeachtet Achesons Bemerkung, sehr wohl ein Bestandteil des amerikanischen Verteidigungsgürtels. Gemeinsam mit Hong Kong, Taiwan und Singapur ist Süd-Korea jetzt einer der vier ‡kleinen Drachen— œ ostasiatische Länder, die auf den Spuren Japans im industriellen Wachstum wandeln. Seine Bevölkerung ist doppelt so groß wie die des Nordens, sein -352-
Bruttonationalprodukt viermal so groß und wächst ständig weiter. Der Vergleich mit Deutschland drängt sich auf. Aber es gibt Unterschiede: Die DDR überlebte nur so lange, wie die UdSSR das Regime stützte. Als diese Rückenstärkung abnahm, brach der Staat zusammen. NordKorea hingegen ist auch alleine überlebensfähig. Außerdem hat die DDR niemals den Westen gefährdet, während Nord-Korea ständig mit Krieg droht. Nord-Korea wendet 22,2 % seines Bruttonationalproduktes für Verteidigungszwecke auf, Süd-Korea 5,5 %. In Relation zur Bevölkerung ist die nordkoreanische Armee dreimal so groß wie die südkoreanische (in absoluten Zahlen: NordKorea 784.000, Süd-Korea 600.000 Soldaten). Sicher ist auch das mit eine Ursache für das wirtschaftliche Davonziehen Süd-Koreas. Nord-Korea unter Kim Il Sung ist ein merkwürdiges Land: ein kleineres Land, das sich dem Ziel geweiht hat, in ein größeres einzumarschieren und es zu besiegen œ in eines, dessen Verteidigung von den USA garantiert wird. Eine vernünftige Regierung würde ihren Militärhaushalt radikal kürzen und sich auf die wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren. Die Tatsache, daß eine Regierung durch Jahrzehnte eine völlig sinnlose Politik einschlagen, Süd-Korea durch Akte offenen Terrorismus provozieren und auch ernsthaft über einen zweiten Korea-Krieg nachdenken kann, ist ein weiterer Beweis der Macht des Irrationalen im menschlichen Dasein. Am 18. Januar 1968 überquerten 31 nordkoreanische Kommandosoldaten die Demilitarisierte Zone zwischen den beiden Ländern. Sie waren als südkoreanische Soldaten und Zivilisten verkleidet, und ihr Ziel war Seoul, um Präsident Park Chung Hee zu ermorden. Sie erreichten die Hauptstadt am 21. Januar, wurden aber von Polizeieinheiten aufgehalten. In dem folgenden Schußwechsel starben fünf der Nordkoreaner, ein südkoreanischer Polizist und fünf Zivilisten. Einige der Kommandosoldaten starben später bei einem Feuergefecht mit amerikanischen Soldaten, als sie versuchten, über die Demilitarisierte Zone zurückzukommen. Der Anführer der Aktion wurde gefangengenommen und gab zu, daß ihr Ziel der Präsident gewesen sei. Park überlebte einen anderen Anschlag im August 1974, bei dem seine Frau ums Leben kam, schließlich wurde er aber bei einem privaten Abendempfang von seinem eigenen Polizeichef ermordet. -353-
Im Oktober 1983 stattete Präsident Chun Doo Hwan von Süd-Korea Birma einen Staatsbesuch ab. Am 9. Oktober war er auf dem Weg zum Märtyrerdenkmal in Rangun, das an Thakin Aung San erinnert, den Gründer des unabhängigen Birma, der 1947 ermordet wurde. Chuns Auto blieb im Verkehr stecken, er kam zu spät. Wenige Augenblicke vor seiner Ankunft zerstörte eine Bombe das Denkmal, tötete 21 Menschen und verletzte weitere 46. Unter den Opfern waren der koreanische Außenminister Lee Bum Suk, der Wirtschaftsplanungsminister und Stellvertretende Ministerpräsident Suh Suk Joon und der Minister für Handel und Industrie Kim Dong Whie. Die anderen waren Ratgeber des Präsidenten, Journalisten und Sicherheitsbeamte. Unmittelbar vor der Explosion war der südkoreanische Botschafter in einem großen Auto eingetroffen, und ein Trompeter hatte begonnen, den Zapfenstreich zu blasen. Möglicherweise hatten die Terroristen aus der Entfernung geglaubt, der Präsident sei eingetroffen und die Zeremonie hätte begonnen und daher die Bombe per Funk gezündet. Drei Bomben waren in den Raum im Denkmal eingeschmuggelt worden. Aber nur eine explodierte. Zwei Tage später verhaftete die Polizei den ersten Verdächtigen, der versuchte, sich mit einer Handgranate selbst in die Luft zu sprengen. Am selben Tag meldeten Dorfbewohner zwei verdächtige Fremde, und als Polizeibeamte sie verhören wollten, versuchten sie ebenfalls, mit Handgranaten Selbstmord zu begehen. Eine Granate explodierte, und drei Polizisten starben. Die beiden verwundeten Männer wurden als Nordkoreaner identifiziert, und sie gestanden ein Mordkomplott gegen Präsident Chun. 1986, sechs Tage vor der Eröffnung der Asien-Spiele in Seoul, explodierte eine Bombe im Flughafen von Seoul und tötete fünf Menschen. Seoul beschuldigte Nord-Korea der Drahtzieherschaft. Am 29. November 1987 explodierte eine Linienmaschine der Korean Airlines 12 auf dem Flug von Europa nach Korea über dem Indischen Ozean, und alle 115 Insassen kamen dabei ums Leben. Beim letzten Zwischenstop in Abu Dhabi hatten zwei Passagiere die Maschine verlassen. Sie wurden von Sicherheitskräften aufgegriffen, und beide schluckten sofort Zyankali. Der siebzigjährige Kim Sung Il starb, die sechsundzwanzigjährige Kim Hyon Hui überlebte. -354-
Sie wurde an Süd-Korea ausgeliefert und legte ein Geständnis ab. Sie waren beide nordkoreanische Geheimdienstagenten, und ihre Einsatzbefehle waren von Kim Chong Il, dem Sohn von Präsident Kim Il Sung, persönlich unterschrieben worden. Die Frau hatte sich als Japanerin ausgegeben, und die beiden hatten eine Flasche mit explosiver Flüssigkeit und einen Sprengsatz in einem Radio in der Gepäckablage des Flugzeugs zurückgelassen. Sie sagte, daß dieser Anschlag Süd-Korea während des Präsidentschaftswahlkampfes destabilisieren und die internationale Nervosität vor den kommenden Olympischen Spielen steigern hätte sollen. Auf einer Pressekonferenz im Januar 1988 erklärte sie, daß sie seither ihre Einstellung zu SüdKorea geändert habe, seit sie südkoreanisches Fernsehen gesehen habe und von ihren Bewachern durch Seoul geführt worden sei. Manchmal reagierte Süd-Korea zu sehr auf die Drohungen aus dem Norden. 1986, als Süd-Korea mitten in den Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen von 1988 steckte, begann Nord-Korea mit der Errichtung eines großen Staudammes am Pukhan, einem Fluß, der die Demilitarisierte Zone durchquert und auf seinem Weg zum Meer durch Seoul fließt. Süd-Korea beschuldigte den Norden, daß mit Hilfe dieses Staudammes eine riesige Wassermenge gestaut und dann mit einem Schlag freigesetzt werden sollte. Dadurch würde Seoul von einer riesigen Flutwelle überschwemmt, und zwei Millionen Menschen einschließlich der Besucher und Sportler aus aller Welt würden sterben. Die Südkoreaner reagierten ziemlich hysterisch und errichteten in Windeseile um einen Preis von 250 Millionen Dollar einen ‡Friedensdamm—, um die gefürchtete Flut abzuhalten. Nachdem dieser Damm in Rekordzeit fertiggestellt war, mußten die Südkoreaner feststellen, daß der nordkoreanische Damm kaum weitergekommen war und offensichtlich noch Jahre bis zu seiner Vollendung vergehen würden. Im Mai 1988 begann eine Reihe antiamerikanischer Demonstrationen der südkoreanischen Studenten. Sie machten die USA für die Teilung des Landes verantwortlich, was absurd ist, aber auch für die Unterstützung einer Abfolge undemokratischer Regierungen in Süd-Korea, was der Wahrheit schon näher kommt. Insbesonders wagten die Studenten die USA der Verantwortung für das Kwangju-Massaker an, bei dem im Mai 1980 südkoreanische -355-
Truppen, die theoretisch unter US-Oberbefehl standen, Hunderte Demonstranten getötet hatten. Nun forderten die Studenten den sofortigen Abzug der 40.000 amerikanischen Soldaten und die unverzügliche Wiedervereinigung des Landes. Sie kündeten einen Marsch in den Norden an, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Präsident Roh befahl der Polizei, sie aufzuhalten, gab aber zu, daß Süd-Korea in seiner Ablehnung des Nordens vielleicht zu radikal sei. Er kündete die Aufnahme direkter Gespräche an, und in Panmunjom, einem Dorf in der Demilitarisierten Zone, fanden drei Gesprächsrunden statt. Die Treffen waren kein Erfolg. Der Süden bot dem Norden an, eine gemeinsame Mannschaft zu den Olympischen Spielen zu entsenden, was der Norden nur dann annehmen wollte, wenn Nord-Korea auch als Gastgeber mitwirken würde. Süd-Korea lehnte diese Forderung ab. Der andere unlösbare Punkt des Zwistes war die amerikanische Stationierung in Süd-Korea. Ungeachtet aller Studentenproteste war Roh nicht gewillt, die Amerikaner zum Abzug aufzufordern. So wurden die Gespräche ergebnislos abgebrochen. Zweifellos gibt es in Korea eine große Fremdenfeindlichkeit. Die USA üben Druck auf Süd-Korea aus, seinen heimischen Markt für amerikanische Exporte zu öffnen, um ihr riesiges Handelsdefizit zu verringern. Das wird von vielen Koreanern als Bedrohung empfunden, die den erstaunlichen wirtschaftlichen Aufstieg ihres Landes auf harter Arbeit und dem Exporterfolg nach Amerika aufgebaut haben. Und sie hegen den Verdacht, daß die Amerikaner sie gerne in ihre frühere Abhängigkeit zurückführen wollen. Die Ablehnung früherer USPolitik ist auch durchaus berechtigt: Die USA haben tatsächlich eine Reihe Militärdiktatoren unterstützt und immer akzeptiert, daß der Demokratisierungsprozeß wegen der Bedrohung durch den Norden hintangestellt wurde. Darüberhinaus ist die Allpräsenz der Amerikaner erdrückend œ so gibt es mitten in Seoul einen riesigen USMilitärstützpunkt, und konservative Koreaner treffen sich hier in ihrer Ablehnung der Amerikaner mit den Radikalen. Offensichtlich hat die extreme Linke œ Kommunisten maoistischer Ausprägung viele Anhänger. Die Mehrheit der Koreaner hat natürlich kein Verlangen danach, von Kim Il Sung beherrscht zu werden, und vielleicht werden die koreanischen Radikalen einen ähnlichen Weg -356-
gehen wie die Radikalen Japans in den fünfziger und sechziger Jahren, die auch die USA für alle ihre Mißstände œ eingebildet oder tatsächlich œ verantwortlich machten. Es gab in Japan einen so starken Antiamerikanismus, daß Präsident Eisenhower 1960 einen Staatsbesuch in letzter Minute absagen mußte. Aber diese früheren Radikalen sind jetzt alle höhere Angestellte in der ‡Firma Japan—, und vielleicht werden ihre koreanischen Nachahmer auch diesem Beispiel folgen. Es ist aber auch möglich, daß sie dem maoistischen Glauben treu bleiben werden, wie die Radikalen auf den Philippinen, die Anfang der siebziger Jahre gegen die USA demonstrierten und dann die NPA gründeten (siehe PHILIPPINEN). Der Unterschied ist, daß die Philippinen dann unter die Alleinherrschaft Marcos‘ gerieten, während Süd-Korea sich gerade eben aus einer langanhaltenden Militärdiktatur gelöst hatte. Die Demonstrationen und der bizarre Wunsch nach einem vereinigten kommunistischen Korea sind ein Test für die koreanische Demokratie. Wenn die Regierung mit dieser Herausforderung zurechtkommt, mit den Molotowcocktails gegen Polizisten und Morden mit Keulen und Eisenstangen, ohne mit übertriebener Gewalt zu antworten, wird Süd-Korea überleben. Bei den vielen Demonstrationen 1986 und 1987, die zu freien Präsidentschaftswahlen im Dezember 1987 und Parlamentswahlen im April 1988 geführt haben, gab es zahlreiche gewalttätige Zusammenstöße zwischen Sicherheitspolizei und Demonstranten. Aber die Polizei hat immer Disziplin bewahrt, und es scheint, daß sie von dem Grundsatz geleitet wurde, daß auch die Demonstranten Koreaner seien, ihre Kinder und die Zukunft des Landes, und daher wurde niemals scharfe Munition eingesetzt. (Der Gegensatz zwischen dieser Politik und den Methoden der Israelis gegen die palästinensische Intifada ist erstaunlich.) Die verbesserten Beziehungen zwischen China, der UdSSR und den USA haben Nord-Korea ebenso isoliert wie Vietnam. Es ist nicht anzunehmen, daß vor dem Tod oder Sturz Kim Il Sungs ein nennenswerter diplomatischer Fortschritt zu verzeichnen sein wird, und in der Zwischenzeit bleibt die Gefahr eines Zusammenstoßes zwischen Nord-Korea und Süd-Korea bestehen. Die Olympischen Spiele in Seoul 1988 waren ein großer Erfolg. Es gab aus Furcht vor nordkoreanischen Anschlägen strengste -357-
Sicherheitskontrollen, aber keine Zwischenfälle. (China und die UdSSR, die beide an den Spielen teilnahmen, hatten zugesagt, ihren Einfluß auf Nord-Korea entsprechend geltend zu machen.) Die Spiele boten vielen Süd-Koreanern die Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit mit den USA zu demonstrieren. Der grinsende Chauvinismus der amerikanischen TV-Reportagen, in denen Korea und die koreanischen Leistungen bei den Spielen ständig herablassend behandelt wurden, fand in der südkoreanischen Berichterstattung ebenso breiten Raum wie mehrere Zwischenfälle, bei denen sich amerikanische Sportler schlecht benahmen. Umgekehrt waren die Amerikaner über die ständigen antiamerikanischen Demonstrationen, denen sie begegneten, verärgert. Die Koreaner hatten ernstere Sorgen. Der Übergang zur Demokratie war langwierig und schmerzhaft. Eine Parlamentsuntersuchung über die Untaten früherer Militärregierungen deckte ein Geflecht von Korruptionismus auf, das auch den früheren Präsidenten Chun miteinbezog, und legte den Schluß nahe, daß das Kwangju-Massaker ein Resultat verfehlter Regierungspolitik gewesen war. Angehörige der Familie Chuns wurden verhaftet und unter Korruptionsanklage gestellt. Eine Reihe von gewalttätigen Demonstrationen der Studenten und anderer Radikaler zwangen Präsident Roh Tae Woo, sich von seinem Freund und Gönner abzuwenden, und er bestand darauf, daß Chun in einer Fernsehansprache die Nation um Vergebung bat. Dann zog sich Chun in ein Kloster auf dem Land zurück. Die Demonstrationen gingen trotzdem weiter.
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MALAYSIA
Geographie: 330.434 km2. Malaysia umfaßt die Halbinsel (West )Malaysia (131.587 km2) und Ost-Malaysia (Nordborneo) mit den Bundesstaaten Sabah und Sarawak. Bevölkerung: 16,1 Millionen, davon leben 2,5 Millionen in Borneo, der Rest in Malaysia: Ungefähr 7 Millionen sind Malaien, 4 Millionen Chinesen, 1,3 Millionen Inder œ hauptsächlich Tamilen. Der Rest sind eingeborene Stämme in Borneo. Rohstoffe: Zinn, Gummi, tropische Produkte; die Leichtindustrie entwickelt sich rasch. BSP: 1.859$/Einw. Flüchtlinge: 90.000 von den Philippinen, 8.220 aus Vietnam. Die Kommunistische Partei von Malaya, die seit 1948 gegen die Regierung gekämpft hatte, stellte schließlich im Dezember 1989 den Kampf ein. Die 1.200 Guerillas, die noch im Dschungel des Grenzgebietes zu Thailand kämpften, erklärten sich bereit, die Waffen niederzulegen und ins normale Leben zurückzukehren, während die Regierung eine umfassende Amnestie erließ. Die Auseinandersetzung mit Indonesien (siehe INDONESIEN) ist längst vergessen, und die beiden Länder sind jetzt im ASEAN-Pakt Verbündete. 1969 gab es größere antichinesische Ausschreitungen in Kuala Lumpur, bei denen Hunderte Menschen getötet wurden, aber seit damals haben die vorherrschend malaiische Regierung und die chinesischen und indischen Volksgruppen zusammengearbeitet, um soziale Ungleichheiten und Rassenkonflikte abzubauen. In diesen Bemühungen war Malaysia offensichtlich weit erfolgreicher als beispielsweise Sri Lanka. Im Moment ist Malaysia ein Bollwerk der Stabilität und des friedlichen Zusammenlebens der Volksgruppen in einer gefährlichen Welt. Malaysia spielt in einer Reihe aktueller Konflikte eine besondere Rolle. Die kommunistischen Umsturzversuche zwischen 1948 und 1960 wurden vehement zurückgeschlagen œ ein Erfolg, den die Amerikaner mit ihrer Intervention in Vietnam vergeblich nachzuahmen versuchten. Unglücklicherweise steht die malaysische -359-
Erfahrung weltweit einzigartig da. GESCHICHTE Die malaysische Halbinsel kam im 19. Jahrhundert im Zuge der Eroberung des indischen Subkontinents unter britische Verwaltung, vor allem dank der Unternehmungslust des britischen Abenteurers Stamford Raffles. Er begründete 1819 in Singapur ein Handelsimperium, das sich rasch auf die Strait Settlements ausdehnte und zum größten Handelsplatz in Südostasien wurde. Zum Schutz Singapurs weiteten die Briten ihren Einfluß auf die Halbinsel aus. Ein anderer Abenteurer, Sir James Brooke, räumte mit den Piraten von Saráwak an der Nordwest-Küste von Borneo auf und ließ sich als der ‡Weiße Radscha von Saráwak— nieder. Am 10. Dezember 1941 erlitt die britische Marine ein Debakel, schlimmer als Pearl Harbor: Die Japaner versenkten das Schlachtschiff Prince of Wales und den Kreuzer Repulse vor Singapur. Singapur fiel am 15. Februar 1942. Die meisten der zahlreichen britischen und australischen Kriegsgefangenen starben in den Lagern. Die Japaner hetzten die Malaien gegen die Chinesen auf, Tausende Chinesen wurden hingerichtet. Der Widerstandskampf begann zuerst unter den Chinesen, in Malaya und Singapur angeführt von der Kommunistischen Partei, und er wurde grausam unterdrückt. Nach dem Krieg, und nicht zuletzt als eine Auswirkung der demütigenden Niederlage der Briten durch die Japaner, fanden die meisten asiatischen Einwohner des Britischen Empire, daß dessen Tage gezählt seien. Den Briten blieb gar nichts anderes übrig, als ihnen recht zu geben. Der letzte Brooke, der als Weißer Radscha von Saráwak herrschte, wurde 1946 von der Regierung in London enteignet, und Malaya wurde 1957 als ‡Federation of Malaya— unabhängig. 1963 wurden Singapur und die Territorien in Borneo, die noch britische Kolonien oder Protektorate waren, zu dem Bundesstaat zusammengeschlossen, der das heutige Malaysia darstellt. Singapur trat 1965 aus dieser Föderation wieder aus; das Sultanat Brunei, das über reiche Erdölvorkommen verfügt, verweigerte den vorgesehenen Beitritt, verfolgte seinen eigenen Kurs und wurde 1984 unabhängig. -360-
DER NOTSTAND Der Notstand Malayas begann im Juni 1948. Kommunistische Terroristen griffen Regierungsstationen an und überfielen Polizei- und Militärpatrouillen in den Gummiplantagen und Zinngruben-Gebieten. Die ersten drei Opfer waren europäische Plantagenverwalter. Die Aufständischen wollten nach klassischer Guerillastrategie die Wirtschaft untergraben, indem sie Pflanzer und ihre Verwalter töteten, Gummibäume zerstörten und lebenswichtige Anlagen in den Plantagen und Minen sprengten oder niederbrannten. Besonders gerne überfielen sie auch malaysische Beamte. Die meisten Terroristen (CT) der ‡Malayan Communist Party— (MCP) œ sie selbst bezeichneten sich als ‡Min Yuen— œ waren Chinesen, und ihr Kampf war auch ein Produkt des Hasses, den die Japaner gesät hatten. Am erfolgreichsten waren die CT 1949-1951, als es ihnen als ‡Höhepunkt— ihres Treibens gelang, den britischen Hochkommissar Sir Henry Gurney am 6. Oktober 1951 in einem Hinterhalt zu ermorden. Während dieses Notstands wurde jeder zehnte Plantagenbesitzer umgebracht. Die Briten antworteten, indem sie die chinesischen Plantagen- und Minenarbeiter in ‡neue Dörfer— zusammentrieben. Rund 300.000 Arme lebten rund um die Plantagen, und sie waren nach Maos Theorien ‡das Meer—, in dem ‡der Fisch— CT schwimmen konnte. Bis 1952 hatten die Briten diese Siedler in 400 neuen Dörfern zusammengepfercht, die unter strenger Regierungskontrolle standen. Diese Maßnahme bot viele Vorteile, z. B. im Gesundheits- und Hygienewesen, war für die betroffenen Menschen aber auch von großer Härte. Nach der Aufhebung des Notstandes blieben die Dörfer erhalten: Die chinesischen Einwanderer und ihre Kinder hatten zum Teil Hypotheken auf ihre Häuser aufgenommen, und sie waren ein anerkannter Teil der malaysischen Gesellschaft geworden. Als Maßnahme im Kampf gegen die CT wurde jeder Einwohner mit einem Personalausweis ausgestattet. Das gab den Chinesen ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit und trug wesentlich zum Gedeihen des unabhängigen Malaysia bei. Die Politik, die CT von ihrer Unterstützung im Volk und œ noch wichtiger œ von ihren Nachschublinien abzuschneiden, war -361-
erfolgreich. Daran orientierte sich das Modell der ‡strategischen Dörfer—-Politik, die später von den Amerikanern in Vietnam erfolglos nachgeahmt wurde. Darüberhinaus bildeten die Briten ihre Soldaten in den Techniken des Guerillakampfes aus. Kleine Fußpatrouillen durchkämmten den Dschungel und überfielen die CT. Für einen Kampfkontakt mit den CT mußten rund 1.000 Stunden Dschungelstreife aufgewendet werden.. Die Briten stellten sich als die besseren Dschungelkämpfer heraus, und außerdem brachten sie von Borneo eingeborene DayakSpurenleser mit. Sie teilten das Land, das sich topographisch sehr dafür eignet, in Bezirke ein und suchten sie systematisch ab. Sobald ein Bezirk als ‡weiß— deklariert wurde, verlegten die Briten ihre Einheiten und Flugzeuge in den nächsten. So arbeiteten sie sich systematisch von Süden nach Norden durch. Zur Zeit der Unabhängigkeit waren die überlebenden rund 500 CT über die Grenze nach Thailand verjagt. Als Sukamo zehn Jahre später indonesische Guerillas nach Sarawak schickte, bewiesen die Briten, daß sie an Kampfkraft nichts eingebüßt hatten. Die Indonesier wurden mit denselben Methoden besiegt wie die malaysischen Kommunisten. Der grundlegende Unterschied zwischen den Erfahrungen der Briten in Malaysia und denen der Amerikaner in Vietnam (oder denen der philippinischen Regierung heute) ist der, daß der malaysische Aufstand auf eine kleine Minderheit innerhalb einer bestimmten Volksgruppe begrenzt war. Die Mehrzahl der Chinesen unterstützte die CT nicht und wurde durch die neuen Dörfer von ihnen abgesondert, während die malaiische Bevölkerungsmehrheit die Kommunisten aktiv bekämpfte. In Vietnam war eine solche Unterscheidung ebensowenig möglich wie auf den Philippinen. Und die zweite Säule der britischen Strategie, Fußpatrouillen in den Dschungel zu schicken und mit den Guerillas Katz und Maus zu spielen, wurde in Vietnam nicht wirklich ausprobiert. Auf dem Höhepunkt des Notstandes waren œ einschließlich dem Malaysier-Regiment œ 40.000 reguläre Soldaten in Malaysia stationiert, dazu kamen 70.000 Reservisten, hauptsächlich Malaien, -362-
und bis zu 250.000 Milizmänner, die ihre eigenen Dörfer und Gemeinden verteidigten. Die CT waren zu Beginn des Notstands 4.000-5.000 Guerillas stark, in den frühen fünfziger Jahren hatten sie vielleicht 8.000 Mann. Rund 13.000 mutmaßliche Terroristen wurden getötet, die Briten und Malaysier verloren insgesamt 525 Männer.
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PAKISTAN Geographie: Fläche 796.095 km×. Bevölkerung: Rund 110 Millionen Einwohner. Die größten ethnischen Gruppen sind: Pandschabi (65 %), Sindhi (13 %), Beludschi (2,5 %), Paschtu (11 %). 70 Prozent der Bevölkerung sind sunnitische Moslems, 30 % Schiiten, viele davon Ismailiten. Die Staatssprache ist Urdu, aber Englisch ist weit verbreitet. BSP: 350 $/Einw. Flüchtlinge: 3,5 Millionen Afghanen. Am 17. August 1988 wurde der Herrscher von Pakistan, General Mohammed Zia ul-Haq, bei einem Flugzeugabsturz getötet. Drei Monate später, am 16. November, wurden allgemeine Wahlen abgehalten. Es war eine korrekte Wahl, und die ‡Pakistanische Volkspartei— (PPP) unter der Führung von Benazir Bhutto gewann 92 der 215 Sitze in der Nationalversammlung. Sie wurde am 2. Dezember Ministerpräsidentin die erste Frau an der Spitze der Regierung eines islamischen Landes, und mit 35 Jahren jüngster Regierungschef der Welt. Auch sie mußte sich mit den sozialen und wirtschaftlichen Problemen herumschlagen, die bisher jede pakistanische Regierung zum Scheitern gebracht haben, bis sie im August 1990 gestürzt wurde. Als Zia starb, steckte Pakistan mitten in einer tiefen politischen Krise. Sein Tod rief eine ihrer Ursachen wieder ins Bewußtsein: die blutige Fehde zwischen ihm und der Opposition, seit er 1977 Zulfikar Ali Bhutto gestürzt und 1979 aufgehängt hatte. Unter dieser Oberfläche brodelt der Gegensatz zwischen den verschiedenen Regionen Pakistans und zwischen der Armee und den Zivilisten. Seit Pakistan als unabhängiger Staat aus dem Desaster der Aufteilung von Britisch-Indien 1947 hervorgegangen ist, ist es von einer Krise in die nächste getaumelt. Es hat drei Kriege gegen Indien geführt und alle drei verloren (siehe INDIEN). Der dritte, 1971, war der Unabhängigkeitskrieg Ostpakistans, der mit der Staatsgründung von Bangladesch endete (siehe BANGLADESCH). Es gab zwei Militärputsche, der zweite brachte 1977 Zia an die Macht. Es gab starke Oppositionsbewegungen in den Provinzen Baluchistan und -364-
Sind, und in allen Teilen des Landes kam es immer wieder zu Unruhen. Zuletzt haben Flüchtlinge aus Afghanistan in Karachi für Unruhe gesorgt. Das prägende Merkmai der pakistanischen Außenpolitik, seine Feindschaft gegen Indien, führte zu einer engen Allianz mit China, das 1962 einen Grenzkrieg gegen Indien führte. Als ein Symbol dieser Allianz gibt es eine wettersichere Straße von Sinkiang in Westchina über den Himalaya ins nördliche Pakistan. Pakistan übernahm von den Briten ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber der UdSSR. Es betrachtet Afghanistan als einen Pufferstaat, und als die Sowjets 1979 dort einmarschierten, unterstützte Pakistan natürlich die Widerstandskämpfer. Ebenso erschien es natürlich, daß Indien enge Beziehungen zur Sowjetunion entwickelte, getreu dem Grundsatz, ‡der Feind meiner Feinde ist mein Freund—. Indien ist der einzige unabhängige Staat von Bedeutung, der den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan nicht heftig verurteilt hat. Aus ähnlichen Überlegungen haben die USA Pakistan von Anfang an unterstützt und die amerikanischindischen Beziehungen waren immer kühl; dabei blieb auch unberücksichtigt, daß Indien eine Demokratie ist, während Pakistan fast immer eine Militärdiktatur war. Es gab nur eine kurze Phase der amerikanischen Annäherung an Indien: das war unter Präsident John F. Kennedy, als John Kenneth Galbraith Botschafter in Neu-Delhi war. Nach dem Krieg von 1965 stellten die USA ihre Waffenlieferungen an beide Länder ein œ eine Maßnahme, die aber Pakistan viel härter traf, da Indien weiterhin von der Sowjetunion versorgt wurde. Während des Krieges von 1971 ordnete Präsident Nixon die Bevorzugung Pakistans an, und sein Nationaler Sicherheitsberater Henry Kissinger beeilte sich, dem nachzukommen. Der Washingtoner Kolumnist Jack Andersen erfuhr von dieser Weisung und veröffentlichte sie. Die Bevorzugung nützte Pakistan nichts. Nixons Nachfolger folgten dem eingeschlagenen Weg, auch nachdem pakistanischer Mob im November 1979 die US-Botschaft in Islamabad stürmte und zwei Beamte tötete, ohne daß die Behörden versucht hätten, sie zu schützen. Die Waffenverkäufe an Pakistan wurden unter Carter wieder aufgenommen, und während des Afghanistankrieges wurde Pakistan einer der größten Empfänger -365-
amerikanischer Wirtschaftshilfe. Es gibt allerdings im amerikanischen Kongreß starken Druck, diese Hilfe einzuschränken, einerseits wegen Pakistans Atombauprogramm, anderseits wegen der Heroinherstellung in den Grenzdistrikten œ nahezu ein Drittel der Weltproduktion. GESCHICHTE Auf dem langen Weg zur indischen Unabhängigkeit gab es zwei große politische Lager: die Kongreßpartei, geführt von Nehru, Patel und Gandhi; und die Moslemische Liga, angeführt von Mohammed Ali Dschinnah (bekannt als Quaidi-Azam) und Liaquat Ali Khan. Die Kongreßpartei wollte ein vereinigtes Indien; die Liga trat für einen eigenen moslemischen Staat ein, bestehend aus Nordost-Indien und Ost-Bengalen. Der Nachteil dieser Regelung war œ abgesehen von der tief wurzelnden Feindschaft zwischen den beiden Staaten œ, daß dadurch eine große Zahl Moslems, jetzt rund 90 Millionen, als Minderheit in Indien verblieb und daß zwischen den beiden Teilen des pakistanischen Territoriums rund 1.600 Kilometer indischen Staatsgebietes lagen. Die Unabhängigkeit von 1947 wurde von ausgedehnten Völkerwanderungen und von gewaltigem Blutvergießen begleitet: 12 Millionen wurden aus ihrer Heimat vertrieben œ in Indien und in Pakistan œ, und ungefähr 800.000 Menschen wurden getötet. Aus verschiedenen Gründen, die immer noch heftig diskutiert werden, ist es in Pakistan nicht gelungen, so wie in Indien eine dauerhafte demokratische Regierungsform zu erreichen. Dschinnah starb 1948, und Liaquat Ali wurde 1951 ermordet. Die folgenden schwachen und machtlosen Regierungen sahen sich konfrontiert mit dem Aufruhr der Baluchen und der Paschtunen, vor allem aber mit unüberbrückbaren Differenzen zwischen den beiden Landesteilen. Der fundamentale Konflikt herrschte zwischen den Bengalen, der weitaus größten der ethnischen Gruppen, die bald auch die absolute Mehrheit der Bevölkerung stellte, und den Punjabi. Diese umfaßten 60 Prozent der Bevölkerung von West-Pakistan und dominierten diese Region. Jede Gruppe beanspruchte die Führung der Nation für sich. Unter diesem Druck zerbrach die Zivilregierung, und am 7. Oktober 1958 setzte der Präsident, General Iskander Mirza, die Verfassung außer Kraft und verhängte den Ausnahmezustand. Er ernannte General -366-
Ayub Khan zum Kriegsrechtverwalter. Am 28. Oktober schickte Ayub Khan Mirza ins Exil nach London und übernahm die ganze Macht. Ayub versuchte die wirtschaftliche Stabilisierung nach amerikanischen Vorschlägen und hatte damit einigen Erfolg. Aber auch er scheiterte an der Lösung der grundlegenden Probleme des Landes, und 1965 begann er einen Krieg gegen Indien, den er verlor. 1968 zelebrierte er seine zehnjährige Herrschaft mit pompösen Feiern und provozierte die Pakistani damit derart, daß im ganzen Land der Aufruhr losbrach. Ayub mußte im März 1969 zurücktreten und wurde von einem anderen General, Yahya Khan, abgelöst. Die politischen Parteien wurden wiederbelebt, und für den November 1970 wurden Wahlen angesetzt. DER KRIEG VON 1971 UND DIE UNABHÄNGIGKEIT VON BANGLADESCH Die wichtigsten Parteien im Land waren die Awami-Liga in Ostpakistan unter Führung von Scheich Mujibur Rahman und die Pakistanische Volkspartei (PPP) von Zulfikar Ali Bhutto, der unter Ayub Khan Außenminister gewesen war. Die PPP war in Sind und im Punjab verankert; sie fand keine Unterstützung in der nordwestlichen Grenzprovinz Paschtunistan oder in Baluchistan. Die Wahlen mußten allerdings verschoben werden, da im November 1970 ein Zyklon Ostpakistan verwüstete und 250.000 Menschenleben forderte. Als sie im Dezember schließlich doch stattfanden, gewann die Awami-Liga 160 der 162 Sitze in Ostpakistan, und die PPP errang 81 der 138 für den Westteil vorgesehenen Mandate. Damit hatte Mujibur die absolute Mehrheit, und er bestand darauf, möglichst schnell die Regierung zu bilden. Er beabsichtigte, die Wahlankündigungen seiner Partei wahrzumachen, was bedeutete, die Zentralregierung in Islamabad mit Ausnahme der Außen- und Verteidigungspolitik zu entmachten. Yahya und Bhutto weigerten sich, dem zuzustimmen. Daraus ergab sich ein völliges Patt, und am 25. März 1971 verhängte Yahya den Ausnahmezustand über Ostpakistan, löste die Awami-Liga auf und ließ ihre Führer, einschließlich Mujibur, unter der Anschuldigung des -367-
Verrates verhaften. In Ostpakistan waren 40.000 Soldaten der Regierungsarmee stationiert, die rasch auf 75.000 Mann verstärkt wurden. Sie unterdrückten die 75 Millionen Bengalen mit grausamer Gewalt, und bis zum Ende des Jahres hatten sie rund 300.000 Menschen getötet. (Bangladesch behauptet jetzt, es seien 3 Millionen Tote gewesen œ eine klare Übertreibung). Am 14. April 1971 riefen Mujiburs überlebende Gefährten in einem Dorf nahe der indischen Grenze ein unabhängiges Bangladesch aus, aber als die pakistanische Armee vorrückte, gingen sie klugerweise über die Grenze nach Kalkutta. Indien bot Bangladesch jede Unterstützung. Es bildete bengalische Guerillakämpfer aus œ die Mukti Bahini. Eine ihrer ersten ‡Taten— war die Ermordung des Gouverneurs von Ostpakistan, Abdel Monen Khan. Bald wuchs die Widerstandsarmee auf 100.000 Mann an, angeführt von bengalischen Offizieren, die aus der pakistanischen Armee desertiert waren. Ein Flüchtlingsstrom von Bengalen ergoß sich über die Grenze nach Indien. Am Ende waren es mehr als 10 Millionen. Nixon unterstützte die Regierung in Islamabad, obwohl es klar war, daß die Einheit des Landes nicht wiederhergestellt werden konnte. Kissinger benützte die Regierung Yahya als seinen supergeheimen Kanal nach China, und im Juli, während der Presse mitgeteilt wurde, daß er krank sei, flog er von Islamabad nach Peking. Die propakistanische Politik der USA erzeugte in Indien heftigen Widerstand, und so kam es im August zu einem Zwanzig-JahresVertrag über Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Indira Gandhi reiste durch die Hauptstädte des Westens und Moskau, um allen klarzumachen, daß Indien zum Eingreifen gezwungen sein würde, wenn Pakistan nicht seinen Krieg im Ostteil des Landes beendete. Indien untersagte pakistanischen Flugzeugen, indisches Staatsgebiet zu überfliegen, so daß die Maschinen die lange Route über Sri Lanka nehmen mußten. Die Massaker wurden immer häufiger, und der Guerillakampf nahm an Ernsthaftigkeit zu. Die Guerilleros kündeten für November eine Generaloffensive an, und am 2. November überschritten indische Truppen an mehreren Stellen die Grenze zu Ostpakistan und stießen auf Dacca vor. Später stritt Indien die Invasion ab und stellte sie als -368-
Antwort auf einen pakistanischen Angriff dar. Yahya rief den nationalen Notstand aus und begann in seiner Verzweiflung die Vorbereitungen für einen Krieg gegen Indien an allen Fronten. Am 3. Dezember versuchte die pakistanische Luftwaffe, die Taktik der Israelis aus dem Sechs-Tage-Krieg zu kopieren und die indische Luftwaffe auf dem Boden zu zerstören. Der Versuch mißlang. 1967 hatten die Israelis Ägypten völlig überrascht und den Krieg in einem dreißigminütigen Luftkampf gewonnen. 1971 griffen die Pakistani die falschen Flugplätze an, und wenn sie die richtigen fanden, verfehlten sie die Flugzeuge; im Gegenzug wurden ihre Maschinen von den Indern angegriffen und zerstört. Am 4. Dezember schickte Indien ganz offen seine Armee nach Ostpakistan und besiegte die pakistanischen Truppen in fünf Angriffskeilen. Die Pakistani ergaben sich am 16. Dezember. Zur gleichen Zeit hatten indische Truppen bereits die Grenze zu Westpakistan überschritten. Kissingers Abneigung gegen Indien ist bemerkenswert. Er behauptet, es habe die reale Gefahr bestanden, daß Indien œ mit Unterstützung der Sowjetunion œ auch Westpakistan angegriffen hätte, um Kaschmir zu annektieren. Er behauptet ferner, daß es das Verdienst der amerikanischen Diplomatie gewesen sei, Druck auf Moskau ausgeübt zu haben, Indien in diesem Vorhaben zu entmutigen. Wie auch immer, am 17. Dezember verkündete Indira Gandhi einen einseitigen Waffenstillstand. Yahya Khans Militärregierung brach zusammen. Er trat am 20. Dezember zurück, und Ali Bhutto übernahm die Macht. Es war ein ähnlicher Ablauf wie bei den griechischen Obristen nach Zypern und bei der argentinischen Junta nach dem Falklandkrieg. Während seiner viereinhalb Jahre dauernden Regierungszeit war Bhutto zwar erfolgreich in der Wiederherstellung des nationalen Selbstvertrauens und der Schaffung eines Einheitsgefühls, aber er rief bei der Armee und großen Bevölkerungsteilen heftigen Widerstand hervor. Die PPP gewann die Wahlen vom März 1977, was Unruhen und Protestaktionen in den Provinzen auslöste, die von der Opposition beherrscht wurden. Am 5. Juli 1977 putschte die Armee, und der Stabschef Zia ul-Haq rief sich zum Präsidenten aus. Am 4. August -369-
1979 ließ Zia schließlich Ali Bhutto, ungerührt von weltweiten Regierungsprotesten, unter der Anklage eines Mordkomplottes gegen einen politischen Rivalen hängen. Als Zia starb, stellten die Flüchtlinge aus Afghanistan und Iran für Pakistan ein ernsthaftes Problem dar. Mehr als 3,5 Millionen Afghanen leben in Pakistan, die meisten davon in Flüchtlingslagern in den nordwestlichen Grenzprovinzen, aber auch viele im Land verstreut. Dazu kommen rund 20.000 persische Flüchtlinge, die hauptsächlich in Karachi leben. Zwischen den afghanischen Fraktionen gibt es ständige Spannungen œ Schiiten und Sunniten, Gefolgsleute des Ajatollah und seine Gegner eine Situation, die vor allem in Karachi noch durch den Konflikt zwischen Biharsi, Flüchtlingen aus Ost-Indien und anderen Pakistani verschärft wird. Hunderte Menschen sind bei Attentaten, Bombenanschlägen und Unruhen getötet und verwundet worden. 1987 starben mehr als 200 bei Bombenexplosionen; allein am 14. Juli 1987 kamen bei Autobombenattentaten in Karachi 72 Menschen ums Leben, und Hunderte wurden verletzt. Die pakistanische Regierung hofft, daß die afghanischen Flüchtlinge in den nächsten Jahren zurückkehren werden, aber deswegen werden die Probleme Pakistans nicht sofort kleiner werden. Ein weiteres Problem ist auch, daß Indien das Nachbarland beschuldigt, die aufständischen Sikhs im Punjab zu bewaffnen. Pakistan steht an der Schwelle zur Herstellung seiner ersten Atomwaffen. (Indien hat seine entsprechenden Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt.) 1987 wurde aufgedeckt, daß pakistanische Geschäftsleute in verschiedenen Staaten, einschließlich der USA und Kanada, die einzelnen Bestandteile gekauft haben, die zur Errichtung der Anlagen benötigt werden, um Plutonium aus nuklearem Brennmaterial zu gewinnen. Dieser Plan ging offensichtlich direkt von der Regierung aus. Im Mai 1988 veröffentlichte die New York Times einen aus US-Regierungsquellen stammenden Bericht, daß Pakistan mit Erfolg eine Boden-Boden-Rakete getestet habe, die einen atomaren Sprengkopf nach Delhi oder Bombay tragen könnte. Indien hatte eine ähnliche Rakete im Februar erprobt. Im Dezember 1985 hob Zia das Kriegsrecht auf, das er 1977 -370-
verhängt hatte. Das politische Leben blühte wieder auf, und Benazir Bhutto, die Tochter des getöteten Ministerpräsidenten, betrat als Führerin der PPP die politische Arena. Es gab eine Nationalversammlung, einen Ministerpräsidenten, eine Regierung und eine Verfassung, aber in Wahrheit war alles Schwindel. Zia blieb der absolute Herrscher, der Diktator des Landes. Am 29. Mai 1988 löste er ohne Befragen der Regierung das Parlament auf œ die von ihm eingesetzte Zivilregierung hatte Zeichen von Unabhängigkeit erkennen lassen. Er entließ den Ministerpräsidenten Mohammed Khan Junejo, den Führer der Moslemischen Liga, und setzte Wahlen für November 1988 an. Diese Meldung wurde allgemein mit großer Skepsis aufgenommen; Benazir Bhutto war nicht die einzige, die massiven Wahlschwindel erwartete. Am 17. August 1988 wurde Präsident Zia getötet, als seine Luftwaffen-C-130 kurz nach dem Start abstürzte. Zia hatte einen Stützpunkt inspiziert, und an Bord waren mehrere hohe Offiziere und der amerikanische Botschafter Arnold Raphel. Einer der Toten war der Generalstabschef Akhtar Abdul Rahman, der die ausgedehnten Operationen zur Versorgung des afghanischen Widerstandes mit Waffen geleitet hatte. Zia war ein vehementer Unterstützer dieses Widerstands, und seine Gefolgsleute halten es für möglich, daß der afghanische Geheimdienst an diesem Flugzeugabsturz schuld ist. Die Untersuchungskommission konnte aber keine Anzeichen von Sabotage feststellen, und es bleibt offen, ob das Flugzeug von einer Rakete getroffen worden oder in der Luft explodiert ist. Die neue Regierung versprach, die Wahlen wie angekündigt im November abzuhalten, und der Interimspräsident Ghulam Ishaq Khan und der neue Generalstabschef Mirza Aslam Beg hielten dieses Versprechen ein. Die Wahlen waren seit 1972 das erste echte Lebenszeichen der Demokratie in Pakistan, und es gab einen heißen Kampf zwischen verschiedenen Parteien. Benazir Bhutto gelang es, die PPP über das Kernland Sind ihres Vaters hinaus durchzusetzen, aber sie benötigte (mit 92 von 237 Parlamentssitzen die relativ stärkste Partei) immer noch die Unterstützung anderer Parteien für eine regierungsfähige Mehrheit. Sie brauchte auch die Unterstützung der Armee. So versprach sie, die Privilegien und die Machtfülle der Armee nicht anzutasten und die afghanischen Rebellen weiterhin zu -371-
unterstützen. Anders als Corazon Aquino auf den Philippinen wurde Benazir Bhutto nicht von einer Volksbewegung gegen ein verhaßtes Regime zum Sieg getragen. Im Gegenteil, Zia war sehr populär; mehr als eine halbe Million Menschen nahm an seinem Begräbnis teil. Und Aquino kontrollierte das Militär. Das tat Bhutto nicht. Sie mochte Ministerpräsidentin sein, aber die wahre Macht im Land übte weiterhin die Armee aus, und ihr Kommandeur, General Beg. Bhuttos eigene Partei ist in sich tief zerstritten, und die Oppositionsparteien, vor allem im Punjab, hätten sie jederzeit stürzen können. Nach dem Tod Zias war das Land genauso zersplittert wie 11 Jahre zuvor, als er die Macht übernommen hatte. Die Beziehungen mit Indien waren kaum verbessert, und die Wirtschaft war stark von amerikanischen Zahlungen abhängig, aber auch von den Überweisungen der pakistanischen Arbeiter am Persischen Golf. Bhutto mußte sich auch mit den Auswirkungen des Krieges in Afghanistan herumschlagen, vor allem mit den 3,5 Millionen Flüchtlingen, und auch mit dem enormen Potential an Waffen, das überall im Land verstreut ist. Am 6. August 1990 löste Staatspräsident Ghulam Ishaq Khan das Parlament auf. Er entließ die Regierung Bhutto und ordnete die Ausschreibung von Neuwahlen an. Gleichzeitig wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Ishaq Khan warf der Ministerpräsidentin ‡Machtmißbrauch und Korruption— vor. Bhutto bezeichnete die Maßnahmen der Präsidenten als ‡illegal und verfassungswidrig— und meinte, der Staatspräsident: sei vom Militär zu diesem Schritt gezwungen worden. Ishaq Khan ernannte den konservativen Oppositionsführer Ghulam Mustafa Jatoi zum geschäftsführenden Ministerpräsidenten und kündete für den 24. Oktober Neuwahlen an. Abgesehen von den ständigen innenpolitischen Problemen war Pakistan in eine ernste Krise geschlittert. Die Drohung des Kriegsgegners Indien, um den Kaschmir-Konflikt in einer neuen Runde fortzusetzen, bot zwar ein nationales Ventil, aber die Lage im Land verschaffe sich, im ersten Halbjahr 1990 waren Hunderte Menschen ums Leben gekommen œ bei Massendemonstrationen, bei -372-
Scharmützeln, bei Volksgruppen.
Überfällen
und
Kämpfen
zwischen
den
BALUCHISTAN Baluchistan ist die größte pakistanische Provinz, aber da sie hauptsächlich aus Bergen und Wüste besteht, hat sie die wenigsten Einwohner. Es gibt ungefähr 6 Millionen Baluchen; die vier Millionen in Pakistan besiedeln das Gebiet westlich des unteren Industales; der Rest lebt in einem größeren Teil des südlichen Afghanistan und im südöstlichen Iran. Sie haben lange um einen eigenen Staat gekämpft. Ihre Aufteilung auf drei Staaten, in denen sie überall mit Mißtrauen betrachtet und verfolgt werden, ist eine historische Panne, eine weitere Auswirkung des gedankenlosen imperialistischen Expansionismus der Briten im 19. Jahrhundert. 1973 wurde aus den ständigen Stammeskämpfen und den Widerstandsaktionen gegen die Regierung ein regelrechter Aufstand. Am Höhepunkt der Auseinandersetzungen kämpften 55.000 Stammesangehörige in den Guerillaarmeen. Ali Bhutto setzte 70.000 Soldaten zu ihrer Niederwerfung ein. Der Schah von Persien fürchtete, daß die Unruhen auf die Baluchen in seinem Land übergreifen könnten und stellte 25 Kampfhubschrauber mit Besatzungen ab. Die Hubschrauber waren die gleichen wie in Vietnam, und genauso zerstörten sie auch die Dörfer der Baluchen œ genauso wie die Sowjets in Afghanistan. Die pakistanische Luftwaffe bombardierte Dörfer und vermutete Guerillastützpunkte, während Afghanistan zum Schutz der Stämme mit Krieg drohte. Aber es war eine leere Drohung: Afghanistan hatte mit seinen eigenen Problemen genug zu tun. Ende 1974 waren die Rebellen in ihre Bergstellungen zurückgetrieben worden, und dort bleiben sie auch. 1976 wurden zwei Armeedivisionen gegen sie losgeschickt, und hin und wieder finden Strafexpeditionen in die Berge statt. Die geschätzten Verluste auf beiden Seiten betragen etwa 3.000 Menschen. PASCHTUNISTAN Der Widerstandskampf in der nordwestlichen Grenzprovinz war nie -373-
so ernsthaft wie in Baluchistan, aber das Gefahrenpotential ist weit größer. Die Paschtunen (oder Paschtu) sind weit mehr œ 11 Millionen Menschen gegen 4 Millionen pakistanische Baluchen. Sie sind mit der modernen Kriegführung besser vertraut, und der Krieg in Afghanistan hat die Durchschlagskraft des Guerillakampfes in diesem abgeschlossenen und schwierigen Bergland erwiesen; außerdem sind dadurch enorme Mengen an Waffen ins Land gekommen. Die Paschtunen sind zwischen Pakistan und Afghanistan aufgeteilt, und viele Jahre lang forderte die Regierung in Kabul regelmäßig die Abtretung von Paschtunistan. Von den 3,5 Millionen afghanischen Flüchtlingen in Pakistan sind die meisten Paschtunen. Mitte der achtziger Jahre versuchte die Zentralregierung in Islamabad, ihre Herrschaft über die Grenzprovinzen zu verstärken, da das Anwachsen des Opiumhandels die Beziehung zu den USA ernsthaft belastete. Im März 1986 schickte die Regierung eine kleine Streitmacht œ angeblich 8 Bataillone stark œ, um einen Stammesführer in der Gegend des Khyber-Passes zu befrieden. Es war sinnlos. Der Opiumhandel blühte weiter, und der Schmuggel über den Khyberpaß erreichte ein staunenswertes Ausmaß: Güter aus Osteuropa und der Sowjetunion œ vom Eiskasten bis zum Kaviar œ wurden in Grenzstädten offen gehandelt, so wie auch jede erdenkliche Schußwaffe. Das wurde alles mit amerikanischem Geld finanziert, das die Mudjaheddins hereinbrachten, durch internationale Hilfsorganisationen, die mit den Flüchtlingen zusammenarbeiteten, und durch die riesigen Profite aus dem Opiumhandel. Zia träumte von einer sauberen Islamischen Republik Pakistan œ statt dessen herrschte er über eine uneindämmbare Flut der Korruption.
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PHILIPPINEN
Geographie: Der Archipel erstreckt sich über rund 1.600 Kilometer in nordsüdlicher Richtung. Die 7.103 Inseln umschließen eine Fläche von rund 300.000 km2. Bevölkerung: 56 Millionen Einwohner mit acht Hauptsprachen: die Staatssprache Filipino (von Tagalog abgeleitet und aus nationalistischen Gründen umbenannt); Englisch und Spanisch sind ebenfalls Amtssprachen. Filipino ist Muttersprache von ungefähr 30 % und wird von rund 55 % der Bevölkerung gesprochen. 85 % der Einwohner sind Katholiken, 5 % Protestanten, 5 % Moslems, der Rest hängt Naturreligionen an. BSP: 570 $/Einw. Flüchtlinge: Ins Ausland: 90.000 (hauptsächlich Moslems) nach Malaysia. Ins Land: 8.800 aus Vietnam, 2.920 aus Laos, 230 aus Kambodscha. Nach zwanzigjähriger Amtszeit wurde Präsident Marcos am 26. Februar 1986 von der Macht verjagt. Seine Nachfolgerin wurde Corazon Aquino, die Witwe von Benigno Aquino, des 1983 ermordeten Oppositionellen. Präsidentin Aquino muß sich mit unglaublichen wirtschaftlichen Problemen herumschlagen. Auf Mindanao, der wichtigsten Insel im Süden der Philippinen, herrscht seit vielen Jahren ein Aufstand moslemischer Extremisten, und von der Insel Luzon im Norden geht eine kommunistische Revolte aus. Über dem Land hängt das Damoklesschwert eines Militärputsches. Seit ihrem Amtsantritt hat es bereits mehrere gescheiterte Umsturzversuche gegeben, und die Macht der kommunistischen ‡Neuen Volksarmee— (NPA) hat weiter zugenommen. Aquino und ihre Gefolgsleute, die im Namen der Freiheit Panzer und Maschinengewehre besiegt haben, mußten die deprimierende Feststellung machen, daß Marcos nicht die Wurzel der Probleme des Landes war, sondern ein Symptom für das System. GESCHICHTE Vor der Landung der Spanier im Jahr 1521 hatten die Philippinen -375-
keine nationale Geschichte. Es war anders als in Java oder Vietnam, wo schon tausend Jahre vor der europäischen Kolonialisierung blühende Staatswesen bestanden hatten, Länder, deren Völker heute die Kolonialzeit als Zwischenspiel in einer langen Geschichte betrachten können. In der Geschichte der Philippinen gibt es vor der Landung von Ferdinand Magellan auf Cebu, einer Insel im Zentrum des Archipels, kein nennenswertes Ereignis, und dieses Bewußtsein einer Nation auf der Suche nach einer eigenen Identität ist ein wesentliches Element der modernen Geschichte des Landes. 380 Jahre lang waren die Philippinen der abgelegenste Teil des Spanischen Weltreichs. Manila war eine Handelsstation, wo Silber aus Potosi in Südamerika gegen Seide aus China getauscht wurde. Zweimal jährlich überquerte die mit Schätzen angefüllte Acapulco-Galleone den Pazifik in beiden Richtungen. Bis 1821 wurden die Philippinen von Mexiko aus regiert, und während dieser ereignislosen Jahrhunderte war das einzige Außergewöhnliche eine kurze Besetzung von Manila durch die Briten, im Verlauf des Siebenjährigen Krieges, von 1762-1766. Die spanische Herrschaft in Manila hatte auf die übrigen Inseln wenig Einfluß. Nur fünf Prozent der heutigen Bevölkerung sprechen Spanisch. Der bedeutendste Beitrag Spaniens war religiöser Natur: 85 % der Bevölkerung sind katholisch. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts büßte Spanien allmählich die Macht über die Reste seines Kolonialreiches ein. Auf Kuba herrschte der Aufstand, und auf den Philippinen begann eine nationale Erhebung. Die spanischen Behörden versuchten sie zu unterdrücken, indem sie die intellektuelle Leitfigur des Landes, Jose Rizal, erschossen und den militärischen Führer der Rebellen, Emilio Aguinaldo, korrumpierten, aber das Ende der spanischen Herrschaft zeichnete sich bereits ab. Am 15. Februar 1898 explodierte im Hafen von Havanna das amerikanische Schlachtschiff USS Maine. Möglicherweise war es auch ein Unglücksfall, jedenfalls machten die Amerikaner daraus einen Casus Belli und erklärten Spanien den Krieg. Im Mai zerstörte Admiral Dewey ein spanisches Geschwader auf den Philippinen. Am 1. Juli stürmte Theodore Roosevelt in Kuba den San Juan Hill, die kubanische Festung Santiago ergab sich am 17. Juli, und am 4. August landeten amerikanische Truppen in Manila. Am 10. Dezember wurde -376-
in Paris ein Friedensvertrag unterzeichnet. Kuba wurde ein unabhängiges amerikanisches Protektorat, und Spanien mußte Puerto Rico, die Philippinen und Guam an die USA abtreten. Das war das Ende der großen Welteroberung, die Ferdinand und Isabella 1492 begonnen hatten, und die USA erwarben auf diese Weise ihre ersten Übersee-Kolonien. Es war ein offener Akt imperialistischer Gewalt, nichts anders als die Eroberungen der Europäer während der letzten Jahrhunderte. Das war allerdings nicht Amerikas erster Kolonialkrieg: 50 Jahre zuvor schon hatten die USA einen großen Teil Mexikos kurzerhand annektiert. Der Militärgouverneur von Manila war General Arthur MacArthur, ein Held des Amerikanischen Bürgerkriegs und der Vater von Douglas MacArthur. Die Karriere des Sohnes illustriert eindrucksvoll das beschleunigte Tempo der modernen Geschichte. Er wurde an der ‡Western—-Grenze Amerikas geboren, wo sein Vater Siedler gegen die Indianer beschützte und hatte als Kind noch in Forts gelebt, die von Indianern mit Pfeil und Bogen angegriffen wurden. Später war er Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte im Pazifik, als die ersten Atombomben auf Japan abgeworfen wurden. Die Philippinen bekämpften die neue Besetzung. Arthur MacArthur brauchte zwei Jahre und 150.000 Soldaten, um den Aufstand niederzuschlagen. Agutnaldo verschwand aus der Geschichte (obwohl er lange genug lebte, um die Besetzung durch die Japaner und die Unabhängigkeit der Philippinen zu erleben), und sein Stellvertreter Manuel Quezon wurde zur beherrschenden politischen Figur des Landes. Der US-Präsident McKinley hatte proklamiert: ‡Wir werden die Einwohner der Philippinen erziehen, entwickeln und christianisieren und mit der Hilfe Gottes das Beste für sie tun, was wir können.— Die Amerikaner beschränkten sich darauf, den Philippinern Englisch beizubringen und einen modernen Staat nach amerikanischem Muster zu errichten, mit Exekutive und Legislative, mit Aktienmarkt und Baseball, mit umfassender Schulbildung und Religionsfreiheit. Es gab eine ständige Debatte zwischen den Demokraten Wilsons und den Republikanern Tafts über den Zeitpunkt der Unabhängigkeit der -377-
Philippinen: Taft, der in frühen Jahren Präsident der USZivilverwaltung auf den Philippinen gewesen war, sprach von den Philippinern als von ‡unseren kleinen braunen Brüdern—, und er war der Meinung, sie sollten in alle Ewigkeit von der amerikanischen Weisheit geführt werden. Die Angehörigen der Elite der Philippinen œ die ‡ilustrados— œ paßten sich leicht ans amerikanische System an. Ihre Privilegien und ihr Landbesitz blieben gewahrt, und sie gelangten unter amerikanischer Anleitung zu vermehrtem Reichtum. Die Diskussion über die Unabhängigkeit wurde unter der Regierung von Franklin D. Roosevelt beendet, der einen Commonwealth der Philippinen begründete œ praktisch eine philippinische Selbstverwaltung unter amerikanischer Aufsicht, der zehn Jahre später die volle Unabhängigkeit folgen sollte. Dieser Commonwealth wurde 1935 errichtet, und Quezon wurde zum Präsidenten gewählt. Er engagierte den pensionierten General Douglas MacArthur für den Aufbau und das Oberkommando einer philippinischen Armee. Die Japaner griffen die Philippinen am 7. Dezember 1941 an, zehn Stunden nach Pearl Harbor. MacArthur, der nunmehr neben dem Kommando über die philippinische Armee das Oberkommando über alle amerikanischen Streitkräfte im Fernen Osten innehatte, erklärte Manila zur Offenen Stadt und zog sich auf die Festungsanlagen der Halbinsel Bataan und der Insel Corregidor in der Bucht von Manila zurück. Die Japaner besetzten Manila am 2. Januar 1942, aber die Festungen ergaben sich erst nach fünfmonatiger Belagerung. Präsident Quezon hatte das Land bereits verlassen, und MacArthur wurde der Rückzug nach Australien befohlen. Er schwor, zurückzukehren. Die ‡ilustrados—, denen es unter den Amerikanern so gut gegangen war, fanden, daß es sich mit den Japanern gleichermaßen gut auskommen ließ, und kollaborierten offen. Die Japaner setzten eine Quisüng-Regierung ein, deren Präsident Jose Laurel wurde. Er gehörte einer prominenten Ilustrado-Familie an, und sein Sohn wurde Aquinos Vizepräsident. Die Mehrzahl der Philippiner haßte die Japaner und bekämpfte sie. Die Kluft zwischen der Elite des Landes und den Bauern, weiterhin das soziale Hauptproblem des Landes, wurde dadurch erheblich -378-
vertieft. Den meisten Philippinern erschienen die Angehörigen der Oberschicht als Landesverräter. Im ganzen Land herrschte Guerillakrieg gegen die Japaner, der einzige in Südost-Asien. Auf den Philippinen konnten sich die Japaner nicht als Befreier darstellen, wie sie es in Indonesien, Malaya, Indochina und Burma taten. Sie waren Invasoren und Besatzer. Die Philippinen verloren in diesem Krieg eine Million Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten. Die Kämpfe dauerten bis zum letzten Tag des Krieges an. Insgesamt kämpften 260.000 Männer in den Guerilla-Einheiten, darunter auch Ferdinand Marcos. Die schlagkräftigste Guerillagruppe war die ‡Hukbalahap— (Antijapanische Volksarmee, Huk), in Zentral-Luzon. Sie wurde vom Kommunisten Luis Taruc geführt und beherrschte am Ende des Krieges den Großteil der Insel. Die Huk organisierten eine Landreform und setzten im Land Bauernsowjets ein, während sie die Japaner bekämpften. Am 20. Oktober 1944 landete MacArthur auf Leyte, einer Insel im Zentrum des Archipels, und kämpfte sich bis Ende Januar 1945 nach Manila durch. Die japanische Marine grub sich in Manila ein und zerstörte den Großteil der Stadt œ sie wurde so schwer beschädigt wie vergleichsweise Berlin, Warschau oder Budapest. Die Japaner ermordeten 100.000 philippinische Zivilisten, wahllos verstümmelten und töteten sie Kinder und Erwachsene. Das komplette Geschäftsviertel und 80 % der südlichen Wohnviertel, dazu 75 % der Fabriken wurden zerstört. 1945 lag die Pro-Kopf-Produktionsquote tiefer als 1899, und das Bruttonationalprodukt war auf 39 % des Standes von 1937 gefallen œ als die Philippinen noch unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gelitten hatten. DIE UNABHÄNGIGEN PHILIPPINEN Am 4. Juli 1946 wurden die Philippinen unabhängig. Es war eine neue Art der Unabhängigkeit, die später als Neo-Kolonialismus bezeichnet wurde. Die Vereinigten Staaten kontrollierten die Wirtschaft der Philippinen so vollständig wie die Bananenrepubliken in Zentralamerika. Im Kongreß wurde ein Paritätsabkommen beschlossen, das den US-Firmen gleiche Rechte wie den -379-
einheimischen Firmen garantieren sollte, um die Wirtschaft des Landes zu entwickeln. Die amerikanischen Stützpunkte sollten für 99 Jahre gepachtet werden, und die USA sollten den Wechselkurs des Peso steuern. Der Kongreß bot Ausgleichszahlungen für die Kriegszerstörungen an, aber nur unter der Bedingung, daß die philippinische Regierung das Stützpunktabkommen und das Paritätsgesetz akzeptieren würde. Die Philippiner waren natürlich gegen diese Einschränkungen ihrer Souveränität, die seither auch laufend abgebaut worden sind. Sie verstanden auch nicht, daß Japan und Deutschland, zwei frühere Feinde, weit großzügigere Wiederaufbauhilfe als die Philippinen erhielten, die loyal an der Seite der USA gekämpft hatten. Darüber hinaus spaltete die Frage der Kollaborateure die philippinische Gesellschaft. MacArthur ordnete an, daß Manuel Roxas, ein alter Freund, der in der Kollaborationsregierung Vizepräsident gewesen war, unschuldig sei. Bei den Wahlen von 1946 besiegte Roxas Präsident Sergio Osmena, der Quezon nach dessen Tod 1944 nachgefolgt war und die Kriegszeit in Washington zugebracht hatte. 1948 begnadigte Roxas alle Kollaborateure (ein einziger wurde vor Gericht gestellt). 1947 begann der Aufstand der Huk. Es war zum Teil ein typischer Bauernaufstand, zum Teil eine kommunistische Revolte. Der Verteidigungsminister Ramon Magsaysay schlug ihn nieder; 1950 nahm er die Huk-Führer gefangen und zerschlug ihre Einheiten. Ein kleiner Rest überlebte in den Bergen von Luzon, übte allerdings nur mehr eine Art Banditenunwesen aus. Viele ehemalige Huks wurden in Mindanao angesiedelt, was zwar ihre Probleme löste, aber dafür die Moslems aufbrachte, die dort lebten und nun fürchteten, von den Christen aus dem Norden übervölkert zu werden. Die Vorkriegsoligarchie erlangte wieder die volle Kontrolle über das Land. Die Regierung funktionierte nach dem Patronanzprinzip, einer Art institutionalisierter Korruption. Die Oligarchen wurden reicher, aber die rasch anwachsende Bevölkerung, von der Millionen nach Manila zogen, versank in tiefe Armut. Die riesigen Waffenmengen, die aus dem Krieg übriggeblieben waren, trugen zur Verschärfung der sozialen Konflikte bei, und Manila wurde eine Stadt mit einer der welthöchsten Kriminalitätsraten. -380-
1965 wurde Marcos zum Präsidenten gewählt. Er präsentierte sich als Kriegsheld, der mit der Korruption der bisherigen Regierung aufräumen würde. Tatsächlich war seine Amtsführung unanfechtbar, bis er 1969 beschloß, als erster philippinischer Präsident wiedergewählt zu werden. Das gelang ihm auch œ durch Beamtenbestechung und Ströme von Geld, die in die Provinzen flossen. Die politische Gewalt nahm während Marcos‘ offizieller zwei Amtsperioden stark zu. Der Konflikt zwischen der Polizei und den Studenten wurde zu einem der Katalysatoren, die zum Ausbruch der kommunistischen Rebellion beitrugen (siehe unten NPA). Im Oktober 1970 wurden Handgranaten in eine Parteiversammlung der oppositionellen Liberalen geworfen, die zehn Menschen töteten, und im November 1971 starben bei einem Anschlag auf eine Wahlversammlung mehr als 200 Menschen. Am 22. September wurde (nach unterschiedlichen Aussagen) auf das Auto des Verteidigungsministers Juan Ponce Enrile eine Bombe geworfen (oder eine Salve abgefeuert). Marcos nützte diesen Zwischenfall, um das Kriegsrecht zu verhängen. Der Minister war zu der Zeit nicht im Auto gesessen, und Jahre später gestand er ein, was man bereits damals vermutet hatte œ daß das Attentat fingiert worden war, damit Marcos die demokratische Regierung ausschalten konnte. Auch etliche andere ‡Bombenanschläge— gelten als sein Werk. Das Dekret, in dem das Kriegsrecht verhängt wurde œ die Proklamation 1081 œ war bereits am 17. September unterschrieben worden. Marcos löste den Kongreß auf und suspendierte die Habeas CorpusAkte ebenso wie die Pressefreiheit. Er ließ Oppositionsführer verhaften, darunter auch Senator Benigno Aquino, verbot alle Oppositionszeitungen und privaten Radiostationen und errichtete binnen weniger Tage eine regelrechte Diktatur. Er beschrieb sein neues Regime als ‡konstitutionellen Autoritarismus—. Er hob auch die Verfassung auf, in der ein Artikel die Begrenzung der Präsidentschaft auf zwei Wahlperioden vorsah. Viele Philippiner begrüßten den Staatsstreich. Sie waren die politische Gewalt leid, und Marcos überzeugte sie, daß er ihnen Wohlstand und ein ruhiges Leben bieten würde. Er betrog sie. Seine vierzehnjährige Herrschaft war ein Desaster für die Philippinen. Die Demokratie, die das Land von den USA bekommen hatte, war nicht -381-
stark genug gewesen, den Staatsstreich zu verhindern, und da die USA Marcos beinahe bis zu seinem Sturz unterstützten, wurde deren Beliebtheit in den Philippinen erheblich angekratzt. Im Juni 1981 veranstaltete Marcos eine Scheinwahl und verfälschte die Ergebnisse zu seinen Gunsten. Der damalige Vizepräsident der USA, George Bush, der die USA bei der Amtseinführung Marcos‘ vertrat, sagte: ‡Wir bewundern Ihr Festhalten an demokratischen Grundsätzen und an demokratischen Entwicklungen.— Es war ein ziemlich unglücklicher Satz. Die Korruption erreichte ein erstaunliches Ausmaß. Jedermann folgte dem Beispiel von Marcos und seiner Frau Imelda und stahl. Imelda war Gouverneur von Groß-Manila, und ihre Unterschrift mußte unter jedem Regierungsauftrag stehen. Dafür nahm sie einen festen Prozentsatz. Regierungsunternehmen ließen bei amerikanischen Banken gewaltige Kontoüberziehungen auflaufen, so daß die leitenden Beamten sich hübsche Provisionen abzweigen konnten. Als Marcos nach der Revolution schließlich entkam, hinterließ er dem Land eine riesige Schuldenlast, die wohl niemals zurückgezahlt werden kann. Die Regierung Aquino behauptete auch, daß er einige Milliarden Dollar gestohlen und in New York sowie in Banken in der Schweiz und in der Karibik untergebracht haben soll. Der führende Oppositionelle vor dem Staatsstreich war Senator Benigno Aquino, der offensichtlich die Nachfolge Marcos‘ im Präsidentenamt anstrebte. Er wurde während des Staatsstreiches verhaftet, gefoltert, vor Gericht gestellt und zum Tod verurteilt. Das Urteil wurde ausgesetzt, und 1980 gestattete Marcos ihm unter dem Druck der Regierung Carter die Ausreise ins Exil. Im Sommer 1983 entschloß er sich, zurückzukehren und Marcos direkt herauszufordern. Seine Familie und seine Freunde versuchten, ihn davon abzuhalten, aber es war vergeblich. Am 27. August kam er mit einer Linienmaschine aus Tokio. Freunde und Reporter begleiteten ihn, von denen einer die Ereignisse im Inneren des Flugzeugs filmte und auch danach durchs Fenster einige Aufnahmen machte. Im selben Moment, in dem das Flugzeug am Flughafen von Manila ausrollte, stürmten Sicherheitsbeamte hinein und verhafteten Aquino. Er wurde aus der Tür gedrängt und über eine Gangway hinuntergestoßen, die direkt auf die Rollbahn führte. Schüsse fielen, -382-
und Aquino wurde getötet. Die Polizei behauptete, der Mörder sei ein kommunistischer Revolvermann namens Ronaldo Galman gewesen, der unmittelbar darauf selbst von Polizisten erschossen wurde. Niemand glaubte diese abenteuerliche Geschichte, und später gaben Zeugen, einschließlich einiger der Sicherheitsleute zu, daß Aquino in den Hinterkopf geschossen wurde, als er die Stufen auf die Rollbahn hinunterging. Galman war aus einem Polizeiauto herausgeworfen worden, ob tot oder lebendig, ist nicht besonders wichtig; unmittelbar danach wurden in seinen Körper Kugeln gejagt, um die Lügengeschichte zu untermauern. Der Mord war von General Fabian Ver angeordnet worden, einem der loyalsten Henker Marcos‘. Die wirklich interessante Frage war, ob Marcos diesen Mord selbst angeordnet oder stillschweigend gutgeheißen hatte. Der Mord brachte die Philippinen zum Kochen. Hunderttausende Menschen, die vielleicht mit dem Regime nicht einverstanden waren, sich aber niemals zur Opposition zusammengeschlossen hätten, gingen nun auf die Straße. Aquinos Begräbnis wurde zum Anlaß der größten Massendemonstration in der Geschichte der Philippinen. Millionen Menschen aus allen Schichten des Landes, vom Bauern bis zum Banker, formierten sich zu Protestmärschen. Die amerikanische Regierung wurde alarmiert, und die katholische Kirche, die sich bislang soweit wie möglich von jeder organisierten, offenen Opposition ferngehalten hatte, forderte jetzt den Rücktritt Marcos‘. Jaime Kardinal Sin, katholisches Oberhaupt der Philippinen, stellte sich an die Spitze der Bewegung. Marcos war schwer nierenkrank, klammerte sich aber trotzdem mit allen Mitteln an die Macht. Der Schriftsteller William Chapman denkt, daß er sich tatsächlich hätte halten können, wenn er nicht plötzlich beschlossen hätte, für den 7. Februar 1986 Präsidentenwahlen auszurufen, um seine Position zu stärken. Die Wahl wurde ein Fehlschlag. Zum Erstaunen aller gelang es der Opposition, sich im letzten Augenblick zusammenzuschließen und sich auf Corazon Aquino und Salvador Laurel als Kandidaten für das Präsidenten- und Vizepräsidentenamt zu einigen. Das Gelingen dieser Aktion ist vor allem Kardinal Sin zuzuschreiben. Der US-Senator Richard Lugar, damals Vorsitzender des Senatskomitees für auswärtige Beziehungen, der an der Spitze einer Gruppe von -383-
Wahlbeobachtern stand, kommentierte die Geschehnisse: ‡Es spielen sich erstaunliche Dinge ab. Die Wahlauszählung wird so gehandhabt, wie Präsident Marcos es braucht.— Marcos verkündete, daß er die Wahl mit 13 Millionen Stimmen bei 11 Millionen Gegenstimmen gewonnen hätte, aber der Betrug war offensichtlich. In einer Provinz verkündete ein übereifriger Marcos-Anhänger gar ein hundertprozentiges Votum für Marcos und keine Stimme für Aquino. Nach den Wahlen verkündete auch Frau Aquino ihren Sieg und erhob Anspruch auf das Präsidentenamt. Manche hatten eine feine Witterung für die neue Windrichtung, Verteidigungsminister Enrile und Generalstabschef Fidel Ramos wechselten in ihr Lager, und ihre Gefolgsleute kontrollierten das Armeekommando. Als Marcos die nächstgelegenen Militäreinheiten zur Niederschlagung der Meuterei aufrief und gepanzerte Einheiten in die Stadt einzogen, stellten sich ihnen Hunderttausende unbewaffnete Bürger in den Weg und brachten sie zum Stehen. Präsident Reagan schickte einen Sonderbevollmächtigten, Philip Habib, um Marcos zum Aufgeben zu überreden. Der verzweifelte philippinische Präsident rief seinen alten Freund Senator Paul Laxalt an, der ein Vertrauter von Reagan war. Laxalt war eben im Weißen Haus, als ihn dieser Anruf erreichte, und auch er riet Marcos, das Feld zu räumen. Die Amerikaner hatten sich von ihm abgewandt. Das Regime brach wie ein Kartenhaus zusammen. Marcos versuchte, sich über das Fernsehen an die Nation zu wenden und sich von der Nationalversammlung im Amt bestätigen zu lassen, aber Armee und Polizei ließen ihn im Stich. Am 25. Februar schickte das US-Militärkommando vom Luftwaffen Stützpunkt Clark ein Hubschraubergeschwader los, um Marcos, seine Frau Imelda, General Ver und die engsten Vertrauten des Präsidenten in Sicherheit zu bringen. Sie verbrachten die Nacht in Clark Air Base und wurden dann nach Hawaii geflogen, wo US-Zollbeamte Schmuck, Gold und Banknoten im Wert von mehreren Millionen Dollar beschlagnahmten, die sie mit sich führten. Imelda hatte alle ihre Schuhe zurückgelassen, und als erstes ging sie auf dem Militärstützpunkt, wo sie zunächst untergebracht wurden, einkaufen. Das Ehepaar Marcos fand aber keine Ruhe. Staats- und Bundesbeamte, die philippinische Regierung und Behörden in der -384-
Schweiz und in anderen Ländern, wo Marcos sein Vermögen versteckt hatte, machten sich an die Aufdeckung seiner Verbrechen. Besonders intensiv waren die Nachforschungen in New York, wo er Gebäude im Wert von Hunderten Millionen Dollar erworben hatte; die wahren Eigentumsverhältnisse waren verschleiert worden: angeblich waren sie auf den saudiarabischen Finanzmann Adnan Kashoggi überschrieben worden. Wegen dieser vermuteten Gesetzesverstöße wurden Ferdinand und Imelda Marcos in New York angeklagt, und im November 1988 mußte Imelda Marcos bei der formellen Anklageeröffnung anwesend sein. Marcos starb am 28. September 1989. Der Prozeß gegen Imelda Marcos begann schließlich im März 1990, endete aber mit einem Freispruch. DIE MOROS Die Moslems auf den Philippinen wurden von den Spaniern Moros genannt, eine Folge des jahrhundertelangen Kampfes zwischen den Spaniern und den Mauren. Sie sind rassisch und sprachlich von den christlichen Philippinern nicht zu unterscheiden, aber sie haben eine andere Kultur und Geschichte. Die Moros leben hauptsächlich auf den südlichen Inseln, auf Mindanao und im Sulu-Archipel. Sie haben die spanische Herrschaft niemals akzeptiert, und die Spanier waren niemals stark genug, sie tatsächlich zu unterwerfen. In Wahrheit gab es bis zur Errichtung britischer Protektorate in Nord-Borneo in der Mitte des 19. Jahrhunderts (siehe MALAYSIA) keine klaren Gebietsabgrenzungen der Inseln, die von den Holländern, Briten und Spaniern beansprucht wurden. Nach 1960 erst erhoben die Philippinen Anspruch auf Britisch-Nord-Borneo, nunmehr Sabah, und schlossen sich dem indonesischen Widerstand gegen die Einverleibung dieses Gebietes in den Bundesstaat Malaysia an. Während der amerikanischen Periode wurden Mindanao und Sulu mit Gewalt unter die Kontrolle Manilas gebracht. Die Amerikaner ermutigten landlose Bauern von Luzon, sich auf den dünn besiedelten südlichen Inseln niederzulassen, ein Kurs, den die philippinische Regierung später weiterverfolgte. Jetzt gibt es auf Mindanao mehr Christen als Moslems. Daher rührt die Hauptsorge der Moros, in einer christlichen Mehrheit unterzugehen. 1968 gründete eine Gruppe -385-
Moros die ‡Moro-Befreiungsfront— (MNLF). Ihr Vorbild war der indonesische und malaysische Nationalismus, und in den siebziger Jahren sahen sie sich in den arabischen Staaten, von Libyen bis Saudiarabien, nach moralischer und finanzieller Unterstützung um. Nach der Verhängung des Kriegsrechts versuchte Marcos die moslemischen Aktivitäten zu unterdrücken, indem er die Moros entwaffnete. Daraufhin begann der Aufstand der MNLF. Bis 1974 kämpften bereits zwischen 50.000 und 60.000 Guerillas (nach Regierungsangaben), und auf dem Weg über Malaysia wurden sie aus Libyen mit Waffen versorgt. Darüber hinaus schwebte über den Philippinen ständig die Drohung eines arabischen Erdölboykotts. 1977 band der Guerillakrieg in Mindanao zwei Drittel der Kampftruppen der Armee. Marcos gelang es, in den Moro-Gebieten eine gewisse stabile Kontrolle wiederherzustellen, aber er konnte den Aufstand niemals beenden. 1977 wurde in Tripolis zwischen der Regierung in Manila und MNLF-Funktionären ein Abkommen unterzeichnet, und Marcos garantierte den Moros ein Maß an Autonomie sowie Vertretung in der Regierung. Danach tauchten viele der früheren MNLF-Führer wieder aus dem Dschungel auf und nahmen entsprechende Positionen ein. Eine Hardliner-Fraktion, aus dem Exil gesteuert von Nur Misauri, forderte weiterhin die volle Unabhängigkeit für Mindanao, Sulu, Basilan und Palawan, insgesamt rund ein Drittel des Staatsgebietes. Misauri behauptet, daß seit 1972 mehr als 100.000 Moros getötet worden seien; nach anderen Schätzungen ist es ungefähr die Hälfte. Nach der Revolution von 1986 erreichte Präsidentin Aquino ein Abkommen mit der MNLF, und Nur Misauri kehrte zurück. Die neue Verfassung, die 1987 ausgearbeitet worden war, sah für die MoroProvinzen regionale Autonomie vor. Am 19. November 1989 wurde in den betroffenen Gebieten dieser Plan durch eine Volksabstimmung angenommen. Der Widerstand der Moros hat sich nun in drei Gruppen aufgeteilt: die ursprüngliche MNLF, deren Ausgangspunkt die Sulu-Inseln waren, und die ‡Islamische Moro-Befreiungsfront— (MILF) auf Mindanao, von denen jede rund 20.000 Mitglieder für sich reklamiert. Und dann gibt es noch die ‡Reformierte— MNLF. Die Regierung hat -386-
für Mindanao ein großes Wirtschaftsentwicklungsmodell geplant und durch das Angebot von Geld und Macht die Spaltung der Widerstandsbewegungen zumindest gefördert. Im Januar 1988 kam es zu einem heftigen Streit zwischen MNLF und MILF, der in einer Schießerei mit mindestens 20 Toten mündete und 7.000 friedliche Einwohner aus ihren Häusern vertrieb. DIE ‡NEW PEOPLE‘S ARMY— Die Kommunistische Partei (CPP) wurde am 26. Dezember 1968 von einer Gruppe von 11 radikalen Studenten gegründet, die den Ideen Mao Tsetungs anhingen und sich von der offiziellen moskauorientierten KP enttäuscht abgewandt hatten. Sie waren von den radikalen Studentenbewegungen in Europa und den USA sowie von der chinesischen Kulturrevolution inspiriert und beabsichtigten die Aufstellung einer Guerillaarmee außerhalb der Städte, die schließlich nach Maos Beispiel die Städte umzingeln und die Macht ergreifen sollte. Im März 1969 gründeten sie mit einem Arsenal von zwanzig Gewehren und einigen Handfeuerwaffen die ‡New People‘s Army— (NPA). Seit damals hat sich dieses versprengte Häufchen zu einer beachtenswerten militärischen und politischen Macht entwickelt. Ihre Stärke basiert auf der Allianz von ländlicher Unzufriedenheit und Nationalismus, untermauert und geführt durch marxistische Theorie. Allmählich greift sie auf die Städte über und gewinnt in den Slums eine neue Basis. Aus dieser Kombination sind auch die Revolutionen in China und Vietnam entstanden. Die Partei ist die treibende Kraft hinter der ‡National Democratic Front—, die 1973 als Sammelbecken für alle linken Oppositionsgruppen gegründet wurde. Ihr ursprünglicher Führer und Theoretiker war Jose Ma Sison, der unter dem Decknamen Amando Guerrero schrieb. Er wurde 1977 eingesperrt, aber die Revolution ging auch ohne ihn weiter. Präsidentin Aquino amnestierte ihn 1986; diese Geste war ein Versuch, die NPA dazu zu bewegen, die Waffen niederzulegen und am demokratischen Entwicklungsprozeß teilzuhaben. Sison und seine Freunde entwickelten ihre politischen Theorien in den sechziger Jahren. Das Marcos-Regime wurde immer -387-
bedrückender, und die radikalen Studenten wurden vom VietnamKrieg und der alles überschattenden amerikanischen Präsenz auf den Philippinen stark geprägt. Die Demonstrationen gegen die amerikanischen Stützpunkte begannen 1965, und sie nahmen an Heftigkeit derart zu, daß Marcos sie 1972 als Vorwand für die Verhängung des Kriegsrechtes benützen konnte. Sison und seine Genossen studierten Maos ‡Kleines Rotes Buch— und gingen hinaus aufs Land, um die Bauern zu bekehren. Am Anfang hatten sie keinen Erfolg. Sison rekrutierte einen letzten Überlebenden der Huk-Revolte, Commander Dante, den er zum militärischen Führer der NPA machte. Die ersten Unternehmungen waren ein Fiasko. Kleine NPA-Gruppen wurden ständig von der Polizei gejagt, und es gelang ihnen nicht, die geplanten Stützpunkte zu errichten. Die Polizei erbeutete ihre kompletten Archive und veröffentlichte sie. Schließlich zog sich die NPA in abgelegene Gegenden von Luzon zurück, wo man sie in Ruhe ließ. Dante wurde zur gleichen Zeit wie Sison gefangen, aber zu diesem Zeitpunkt hatte die NPA bereits ihre eigenen Anführer hervorgebracht, die den Kampf fortführen konnten. Einer der ersten Erfolge der NPA war ihre Beschützerrolle über den Kaiinga-Stamm in den Cordillera-Bergen im nördlichen Luzon. 1974 plante die Regierung, vier Staudämme und ein riesiges Wasserkraftwerk am Chico zu errichten; dafür hätte ein großes Tal überflutet werden und Tausende Bauern hätten ihre Häuser verlassen müssen. Die NPA wählte den Weg der gezielten Ermordung von Beamten und Ingenieuren, und bald wurde der Plan fallengelassen. Sison schrieb eine Analyse der Fehler der Huks: Rectify Errors and Rebuilt the Party. Er gab zu, daß der größte Fehler der Guerillas in den vierziger Jahren das Ziel einer Staatsstreich-Politik gewesen war. Sie hatten versucht, eine Armee aufzubauen und auf Manila zu marschieren œ und waren besiegt worden. Ihr zweiter Fehler war gewesen, die politische Natur des Guerillakampfes zu unterschätzen: Die Guerilla mußte die Unterstützung der Bauern gewinnen, ehe irgendeine militärische Aktion beginnen konnte. Drittens stellte Sison fest, daß es falsch war, sämtliche Anstrengungen auf Luzon zu konzentrieren, statt sie über das ganze Land zu verteilen. Dieses Dokument wurde zum Handbuch der NPA, und die Guerillas -388-
bereiteten sich auf einen langen Krieg vor. Sie versuchten zunächst, das Vertrauen der Arbeiter in den Zuckerrohrplantagen zu gewinnen, ebenso wie das besitzloser Landarbeiter und kleiner Bauern, bevor sie an militärische Aktionen herangingen. Sie schickten Funktionäre in jeden Winkel des Landes, so daß die philippinische Armee sich wie ein dünner Schleier über das Land hätte ausbreiten müssen, um sie zu erwischen. Während der siebziger Jahre verkündete Marcos immer wieder dramatische Siege über die NPA. Philippiner und Amerikaner lernten, diese Ankündigungen richtig einzuschätzen, die offensichtlich frei erfunden waren, und auch anzunehmen, daß die NPA gar keine richtige Bedrohung darstellte. In der Zwischenzeit folgte die NPA Sisons Instruktionen und baute ihren Einfluß ständig aus. Mitte der achtziger Jahre hatte sie bereits 20.000 Guerillas und 12.000 moderne Waffen, die Partei hatte 30.000 Mitglieder und konnte sich auf eine ‡Massenbasis— von einer Million Menschen stützen. Das war das ‡Wasser—, in dem der kommunistische ‡Fisch— unerkannt schwimmen konnte. Die NPA operierte in 60 der 73 philippinischen Provinzen und reklamierte für sich gehörigen Einfluß in 25 Prozent der ‡Barangays—, dieser besonderen Gruppe von rund 100 Familien-Clans, die das Fundament der philippinischen Gesellschaft bilden. Darüberhinaus hatte sich die NPA als eine wesentliche Kraft in den Slums verschiedener Städte etabliert, einschließlich Davao im südöstlichen Mindanao und Bacolod auf der Insel Negros im Zentrum des Archipels. Die NPA hatte sich wie die sizilianische Mafia zu einer alternativen Ordnungs- und Regierungsgewalt entwickelt. Die Armee und Polizei der Philippinen sind korrupt, ineffizient und brutal. Die Polizei kümmert sich nicht darum, was in den Barrios und abgelegenen Dörfern vor sich geht, und die NPA bietet ihre Dienste an, um ungerechte Landbesitzer, kleine Gauner und untreue Ehemänner zur Räson zu bringen. Ihre Politik der gezielten Ermordung ist höchst populär, und die Partei behauptet, daß die Bauern bereitwillig kleine Beträge abführen œ teilweise Beitrag zum politischen Kampf, teilweise Schutzgeld. Das Marcos-Regime hat sich, einem AI-Bericht von 1988 zufolge, in seinem Kampf gegen die NPA grausamer und systematischer -389-
Foltermethoden bedient. Der Bericht stellt fest: ‡Als Marcos abtrat, gab es ein festgefügtes System von regelmäßiger Menschenrechtsverletzung.— Schon unter dem Kriegsrecht (1972 1981) waren die hauptsächlichen Gesetzesverletzungen willkürliche Verhaftungen, illegale Haft und Folter, aber nachdem es von Marcos aufgehoben wurde, stieg die Zahl der ‡Verschwundenen— œ Menschen, die von den Sicherheitskräften ermordet wurden œ dramatisch an. Amnesty International: ‡Unter den Opfern waren Politiker, Anwälte, Priester, Kirchenaktivisten, Journalisten und Studenten, die alle verdächtigt wurden, an subversiven Aktionen teilzunehmen oder sie zu unterstützen.— Die Morde wurden oft von Verbrecherbanden mit Billigung der Regierung ausgeführt. Viele von ihnen waren von Großgrundbesitzern oder Religionsführern engagiert und hatten Namen wie ‡Lord of the Sacred Heart— œ besser bekannt als ‡Chop-Chop—, da sie ihre Opfer mit der Machete zu verstümmeln pflegten œ, ‡Rock Christ—, ‡The Red Ones— und ‡The Four Ks— (für die Pilipino-Wörter für Sünde, Erlösung, Leben und Besitz). Der Sturz des Marcos-Regimes bedeutete für die NPA keine reine Freude. Es hätte eine Parallele zum Sturz der Regierung Nhu 1963 in Süd-Vietnam sein können, dem eine Reihe von Staatsstreichen und ein starkes Anwachsen des kommunistischen Einflusses gefolgt waren. Aber die neue Präsidentin Corazon Aquino ist sehr populär, und obwohl viele ihrer Anhänger von ihren Aktivitäten und ihrem Scheitern an der unmittelbaren Lösung der Probleme des Landes enttäuscht sind, bleibt sie eine legitime und populäre Führerin des Staates, anders als die lächerlichen und korrupten Generäle, die Vietnam nach Nhu regiert haben. Die Kommunisten haben während der Revolution einen großen taktischen Schnitzer begangen. Sie schlugen die drängenden Angebote der Gemäßigten und Linken nach einer gemeinsamen Oppositionsfront ab und blieben am Weg zurück, so daß sie keinen Anspruch auf ein Stück des Ruhmes haben, zum Sturz Marcos‘ beigetragen zu haben. Im Gegenteil, die Regierung Aquino konnte im Gegensatz zu Marcos mit Recht behaupten, das Volk zu vertreten und daß die Kommunisten gegen die Demokratie kämpfen. -390-
Am 27. Februar 1986, unmittelbar nach der Machtübernahme, befahl Präsidentin 8 Aquino die Freilassung aller politischen Gefangenen, einschließlich Sisons und anderer NPA-Führer. Die Regierung ratifizierte die UNO-Konvention gegen Folter, hob die Marcos-Gesetze über die Inhaftierung politischer Gefangener auf und setzte die Bürgerrechte wieder in Kraft. Dann trat sie in Verhandlungen mit der NPA ein, und im Dezember 1986 wurde ein sechzigtägiger Waffenstillstand vereinbart. Die Kommunisten feierten ihre Freiheit, Fernsehinterviews zu geben und Journalisten in die ‡befreiten Gebiete— einzuladen. Als aber Regierungssoldaten am 27. Januar 1987 das Feuer auf eine Landarbeiterdemonstration in Manila eröffneten und 12 Menschen töteten, brach die NPA die Gespräche ab. Der Waffenstillstand war zu Ende und machte schweren Kämpfen Platz. In den folgenden zwei Monaten wurden mehr als 400 Menschen getötet. Seit damals steht es nicht besonders gut um die Sache der NPA. Die öffentliche Meinung ist mittlerweile vehement gegen den kommunistischen Terrorismus eingestellt. Ein Startversuch der Stadtguerilla in Manila wurde zu einem Fehlschlag. Die NPA schickte 1.200 bewaffnete Männer in die Stadt, die mehr als 100 Polizisten und Beamte töteten. Die Öffentlichkeit war empört, und die Manila-NPABrigade verkündete im Dezember 1987, daß keine weiteren Polizisten mehr getötet werden sollten und daß sie ihre ‡Ziele— sorgfältiger wählen würde. Linksparteien, besonders die von Sison gegründete ‡Partido ng Bayan—, gingen bei den Kongreßwahlen im Mai 1987 und bei Kommunalwahlen im Januar 1988 kläglich ein. Mehr als 100 Menschen wurden anläßlich der Kommunalwahlen bei politischen Gewalttaten getötet. Ein weiteres Problem für die NPA war die Entdeckung von Massengräbern in Mindanao mit Hunderten Toten œ alles Leute, die die NPA wegen ‡Verrates— hingerichtet hatte. Eine lokale Miliz œ die ‡Alsa Masa— (Massen, erhebt euch) œ griff NPA-Stellungen in Agdao an, einem Slumbezirk von Davao, wo sie starken Rückhalt hatte, und vertrieb sie. Die Regierung bewaffnet jetzt örtliche Bürgerwehren, um die Dörfer gegen die NPA zu verteidigen, und viele der Verbrechen, die man früher den Marcos-Schlägertrupps -391-
zuschrieb, werden jetzt den Aquino-Vigilanten angelastet. Amnesty International prangerte an, daß die Menschenrechtsverletzungen 1987 und 1988 markant angestiegen sind, und die Regierung Aquino begann, das Marcos-Regime diesbezüglich einzuholen. 1988 stellte Amnesty fest ‡daß es fundierte Beweise gebe, daß die Bemühungen der Regierung Aquino zum Schutz der Menschenrechte und der Einrichtung eines funktionierenden Überwachungssystems zu großen Verbesserungen geführt habe ... Aber zur Zeit der dritten AI-Inspektion im Juli 1987 hatte die politische Gewalt stark zugenommen, und die Regierung schien zunehmend unwillig oder unfähig, ihre Sicherheitskräfte dazu zu bringen, die Bürgerrechte zu respektieren, die sie ein Jahr vorher so energisch vorangetrieben hatte, vor allem sobald Angehörige der Polizei und Streitkräfte Ziel der NPA-Mordkommandos waren.— Die Armee hält sich wieder an das seit Marcos bewährte Rezept der Rache. Amnesty halt eine Reihe besonderer Fälle fest: - Im Februar 1987 wurden 17 Dorfbewohner, darunter sechs Kinder, von Soldaten umgebracht, nachdem bei einem NPA-Angriff ein Armeeleutnant getötet worden war. - Im April starben bei einem NPA-Angriff auf eine Kaserne 17 Soldaten; eine Militärpatrouille tötete 13 Bewohner eines nahen Dorfes. - Im selben Monat wurde ein fünfundzwanzigjähriger Bauer, der von Soldaten verschleppt worden war, tot aufgefunden, stranguliert mit seinem eigenen Hemd. Seine Hände waren zusammengebunden, ein Auge war ausgeschlagen, die Fingernägel waren herausgerissen, und er hatte Stichwunden in der Brust und Achselhöhle. Der Armee ist die Regierung Aquino in ihrer Behandlung der Kommunisten zu nachgiebig, und sie meint, ihr seien die Hände durch die Bemühungen der Regierung um den Schutz der Menschenrechte gebunden. In Wahrheit wurde während Aquinos Regierung noch kein einziger Armeeangehöriger wegen Verletzung der Menschenrechte angeklagt. Vielmehr ist die Zahl der ‡Verschwundenen— wieder steil angestiegen, seit der militärische Geheimdienst Verdächtige ohne Haftbefehl und ohne Rechtfertigung einsperrt. Die Menschenrechtsgruppe ‡Finden—, die es sich schon unter Marcos zur -392-
Aufgabe gemacht hat, das Schicksal Verschwundener zu klären, hat weiterhin viel zu tun. In den ersten 21 Monaten nach dem Amtsantritt Aquinos erstellte ‡Finden— eine Liste von Hunderten Verschwundenen, von denen 212 Fälle unaufgeklärt blieben. Ein Führer der Gruppe meinte bitter: ‡Von vielen müssen wir annehmen, daß sie bereits erlöst sind.— Und ‡erlöst— bedeutet im heutigen philippinischen Verständnis getötet. Im März 1988 verhaftete die Polizei fünf kommunistische Spitzenfunktionäre in Manila, darunter Romulo Kintanar, den Kommandanten der NPA, und Rafael Baylosis, den Generalsekretär der Partei. Ein ganzer Haufen belastender Dokumente wurde gefunden, auch Protokolle von Politbürositzungen, alles fein säuberlich auf Computerdisketten œ es handelt sich schließlich um eine moderne Revolution. Die gefundenen Dokumente zeigen, daß es innerhalb der Partei eine heftige Auseinandersetzung über den einzuschlagenden Kurs gibt. Die Festnahmen wurden von der Polizei als ein schwerer Schlag für die NPA bezeichnet: Kintanar gilt als der Organisator der Mordwelle in Manila. Er entkam aber am 12. November. Er und die anderen NPA-Führer waren in einem Militärlager inhaftiert œ und sie waren alle zu einer Party eingeladen. Kintanar und seine Frau wurden von Komplizen mit Autos erwartet und einfach aus dem Stützpunkt in die Freiheit hinausgefahren. Die NPA hat sich auf einen langen Kampf eingerichtet und kann durch den Verlust einiger Führer nicht besiegt werden. Ein Geheimbericht der philippinischen Armee, der im Mai 1988 erstellt und unter der Hand an Marcos‘ Verteidigungsminister, den korrupten und lasterhaften Juan Ponce Enrile, weitergegeben wurde, zeigte, daß die NPA in den ersten drei Monaten in 6 von 67 Auseinandersetzungen mit Regierungstruppen siegreich geblieben war. Die Armee der Philippinen muß dringend reformiert werden und ihre Taktik ändern œ als erstes muß ihr klargemacht werden, daß es ihre Aufgabe ist, das Volk der Philippinen zu schützen, nicht zu terrorisieren. Ein erster Schritt in dieser Richtung war sicherlich die Entlassung Enriles am 23. November 1986, der im letzten Moment von seinem Herrn und Meister zu Aquino übergelaufen war. Dafür hat jetzt General Fidel Ramos, Kommandeur der philippinischen Gendarmerie vor der Revolution, als Folter und ungesetzliche -393-
Hinrichtungen von Verdächtigen Routine geworden waren, Enriles Platz eingenommen. DIE REGIERUNG AQUINO Im Juni 1988 verabschiedete die Regierung Aquino endlich die lange angekündigten Gesetze zur Landreform. Sie wurden aber sofort von Linken und Gemäßigten als unzureichend kritisiert. In den Versuchen, die Vorherrschaft der Großgrundbesitzer zu brechen, gibt es viele Schlupflöcher, einschließlich einem Passus, daß das Gesetz für bestimmte Körperschaften keine Geltung habe. Diese Klausel betraf eindeutig auch die Hacienda Lusita, die Zuckerplantage im Besitz der Familie Aquinos. Das grundlegende Problem, in den Philippinen wie in Lateinamerika, daß zuwenig Land für die anwachsende Bevölkerung vorhanden ist. Selbst wenn alles Land umverteilt würde, blieben immer noch Hunderttausende Familien ohne Land, und die aufgeteilten Grundstücke wären viel zu klein, um ihre Eigentümer zu ernähren. Kurz gesagt, die größte Gefahr für die Regierung Aquino droht von Seiten der Armee. Es gab viele Umsturzversuche, die beiden gewalttätigsten im August 1987 und im Dezember 1989. Pessimisten sind der Ansicht, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis ein Staatsstreich Erfolg hat. Es gab zwei Putschversuche 1986 und drei im Jahr 1987, von denen der dritte am 28. August 1987 von Oberst Gregorio ‡Gringo— Honassan geführt wurde. Die aufständischen Truppen griffen den Präsidentenpalast und den regierungseigenen Fernsehsender Channel 4 an, aber sie wurden zurückgeschlagen. Dann besetzten sie einige private Fernsehsender und den Stützpunkt Camp Aguinaldo. Der Polizeichef von Cebu City, der zweitgrößten Stadt des Landes, schloß sich der Rebellion an und verhaftete die örtlichen Militärkommandeure. General Ramos stellte sich an die Spitze loyaler Truppen und griff Camp Aguinaldo mit Panzern, Artillerie und Weltkriegs-Bombern an. Es war offenkundig, daß dabei mehr Lärm als echter Kampf stattfand: Keine Seite wollte große Verluste verursachen. Beinahe wäre Aquinos Sohn getötet worden. Als er beim Palast ankam, wurde er von den Rebellen aufgehalten, die seine drei -394-
Leibwächter ermordeten. Es gelang ihm aber, sich zu retten, indem er um sein Leben flehte. Der Putsch scheiterte; er hatte 53 Menschenleben gekostet. Honassan entkam, wurde aber am 9. Dezember festgenommen. Er wurde auf einem Kanonenboot der Kriegsmarine im Hafen von Manila eingesperrt und erwartete seinen Prozeß, es gelang ihm aber, seine Wächter zu bestechen und am 2. April 1988 mit 14 Anhängern in zwei Schlauchbooten zu entfliehen. Er schloß sich der Opposition an. Der sechste und ernsthafteste Putschversuch begann am 1. Dezember 1989 um ein Uhr früh. Ohne das Eingreifen der Amerikaner hätte er möglicherweise Erfolg gehabt. Aufständische Truppen, darunter auch die Eliteeinheit der Scout Rangers, griffen den Malacanang-Palast an und stürmten Regierungsgebäude und Militärstützpunkte in ganz Manila, einschließlich dem Hauptquartier und dem Regierungsfernsehsender. Sie wurden vom Regierungspalast zurückgedrängt, drohten aber, ihn von den Luftwaffenstützpunkten Vilamor und Sangley Point aus zu bombardieren. Aquino richtete einen verzweifelten Hilferuf an die Amerikaner. Präsident Bush war auf dem Weg nach Malta zum Gipfeltreffen mit Gorbatschow. Nach einer Telefonkonferenz zwischen Manila, Washington und der Luftwaffen in Maschine des Präsidenten erging der Einsatzbefehl an die US-Luftwaffe auf den Philippinen. F-4-Jagdbomber von Clark Field überflogen beide Rebellenflugplätze und machten klar, daß jede startende Maschine sofort abgeschossen würde. Aquino hatte Bush zwar aufgefordert, die Rebellen zu bombardieren, aber er begrenzte den amerikanischen Einsatz auf die Niederhaltung der Rebellenkampfflugzeuge. Diesmal führten die Aufständischen den Kampf mit großem Einsatz. Bei jedem Vorstoß der Regierungstruppen zogen sie sich zurück. Nach jeder Siegesmeldung von Regierungsseite griffen sie erneut an. Sie besetzten mehrere Hotels und drei besonders günstig gelegene Wohnblocks in Manilas bester Gegend, Ziele, die die Regierungstruppen weder bombardieren noch mit Geschützen beschießen konnten. Sie achteten darauf, daß weder Zivilisten noch Hotelgäste zu Schaden kamen, und ihre Anführer gaben regelmäßige Pressekonferenzen. -395-
Im Gegensatz dazu war die Kampfführung der Armee und der Regierung unentschlossen und schlecht. Wie in den vorangegangenen Umsturzversuchen legten Rebellen- und Armeesoldaten großen Wert darauf, einander nicht zu verletzen. Es wurde gewaltig viel geschossen, aber es gab nur wenige Verluste. Endlich, nach einer Woche sinnlosen Kampfes, beschlossen die Scouts und andere Rebelleneinheiten, in ihre Kasernen zurückzukehren. Aquino verkündete, daß sie diesmal die Verschwörer bestrafen würde, einschließlich ihres eigenen Vizepräsidenten Salvador Laurel und des früheren Verteidigungsministers Juan Ponce Enrile. Am 5. Juni 1990 schlug der Oberste Gerichtshof das Verfahren gegen Enrile und 22 weitere Angeklagte nieder. Auch die Anklage ‡Rebellion in Verbindung mit Mord— wurde vom Gericht für nichtig erklärt. Das Urteil beruhte auf einem Präzedenzfall aus dem Jahre 1956. Damals hatte ein philippinisches Gericht entschieden, daß Tötungen während eines bewaffneten Aufstandes anders zu bewerten seien als Verbrechen aus anderen Motiven. Die Episode schwächte Aquino ernsthaft. Laut Umfragen war ihre Popularität bereits vor dem Putschversuch auf 45 % gesunken, und ihr unentschlossenes Handeln mag viele ihrer Anhänger überzeugt haben, daß sie zu schwach ist, das Land zu regieren. Ihre Amtszeit läuft 1993 aus, und die Wetten, ob sie wirklich die volle Periode durchstehen wird, stehen gegen sie.
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SRI LANKA
Geographie: 65.610 km2. Als Ceylon 1972 seine Bindung an die Britische Krone löste, wurde das Land in Sri Lanka umbenannt. Auf Singhalesisch bedeutet das ‡strahlendleuchtendes Land—. Bevölkerung: 16,1 Millionen Einwohner, davon 74 % buddhistische Singhalesen, 12,6 % hinduistische Ceylon-(Jaffna-)Tamilen und 5,5 % Indien-Tamilen, der Rest sind Christen und ‡Moors—, die Nachkommen arabischer Händler, die vor allem Tamilisch sprechen. Die Staatssprache ist Sinhala (Singhalesisch). BSP: 400 $/Einw. Flüchtlinge: 100.000 im Landesinneren, 125.000 in Indien. Verluste: Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen aus dem Jahre 1988 wurden bei Terror- und Gegenterroranschlägen zwischen 12.000 und 16.000 Menschen getötet. Die offiziellen Angaben lauten auf 7.000 Opfer. Ende 1989 waren es wahrscheinlich insgesamt bereits 25.000 Tote. Die indische Armee hatte bis zu ihrem Abzug im März 1990 1.155 Soldaten verloren. Sri Lanka war das Paradies. Es gibt kein schöneres Land auf der Welt, und seine Einwohner und alle Besucher sind sich darüber einig, daß das Leben nirgendwo angenehmer war. Im Mittelalter hatte es Invasionen aus Indien gegeben und Kriege zwischen singhalesischen und tamiläschen Fürstentümern. Aber das war vor langer Zeit. Die Portugiesen errichteten im 16. Jahrhundert Handeisstationen. Sie wurden zuerst von den Holländern, dann von den Briten abgelöst. Der Kolonialismus schien dem Land zu nützen. Im ganzen 19. Jahrhundert sicherte die Pax Britannica Frieden und Wohlstand, und 1948, errang das Land kurz nach Indien, ohne Kämpfe seine Unabhängigkeit. Die Briten führten ein modernes Regierungssystem und die englische Amtssprache ein œ aber die Trennung blieb bestehen, die herrschenden Schichten waren Singhalesen, die Beamten und Lehrer waren Tamilen. Rund drei Viertel der Bevölkerung sind buddhistische Singhalesen, etwa 18 Prozent Tamilen hinduistischen Glaubens. Mit den übrigen Christen und Moslems haben sie mehr als zwanzig Jahre nach der -397-
Unabhängigkeit friedlich zusammengelebt. Das Land war eine starke Demokratie: Wenn die Regierungen Wahlen verloren ging die Macht auf die Opposition über. Die Wirtschaft hatte ein solides Fundament im Export von Tee, Edelholz und anderen tropischen Produkten sowie im Tourismus. Nichts sprach gegen die Entwicklung zu einem modernen Industriestaat. Es sollte nicht sein. Statt dessen wurde Ceylon, das 1972 seinen Namen in Sri Lanka abänderte, eine Fallstudie der Auswirkungen nationaler Zwietracht. Singhalesischer Chauvinismus und die Demagogie singhalesischer Politiker, der unausgegorene Marxismus einander ablösender Regierungen und nationalistische und rassistische Phantasien unter arbeitslosen und gut ausgebildeten jugendlichen Tamilen führten zu Rassenspannungen, Morden und schließlich zu einem ausgewachsenen Terrorismus und Bürgerkrieg. Sri Lanka war typisch für die Dritte-Welt-Staaten, die nach dem Zerfall der europäischen Kolonialreiche zurückblieben. Die Bevölkerung besteht aus ethnischen Gruppen, deren Loyalität ausschließlich der Volksgruppe gilt, nicht dem Staat. Sri Lanka hatte gegenüber den meisten anderen Ländern zwei Vorteile: durch die Insellage waren die Grenzen unstreitig, und die eine Ethnie umfaßte den Großteil der Bevölkerung. Aber 32 Kilometer von der nördlichen Spitze der Insel entfernt liegt Indien, und der südlichste Staat der Indischen Union ist Tamil Nadu, dessen 56 Millionen Menschen mit den Tamilen Sri Lankas eng verwandt sind. Es ist eine mit Zypern vergleichbare Situation, wo rund 18 % der Bevölkerung der Minderheit angehören. Die Tamilen in Sri Lanka konnten stets auf die Unterstützung der Staatsregierung in Madras zählen, so wie die Zypern-Türken der Unterstützung Ankaras gewiß sind. Und die Singhalesen, wie die Griechen in Zypern oder die Iren, obwohl sie auf ihrer Insel in der Mehrheit sind, sahen sich als die Opfer einer übermächtigen Nachbarschaft. Sie betrachteten die Tamilen nicht als eine Minderheit, die es zu schützen und zufriedenzustellen gilt, sondern als eine Bedrohung des nationalen Überlebens. Der Konflikt entwickelte seine Eigendynamik. Sobald er als Gefahr betrachtet wurde, brach der tamilische Nationalismus in helle Flammen aus und bedroht jetzt tatsächlich die Existenz des -398-
Staates. GESCHICHTE Während der Kolonialzeit unterband die britische Verwaltung zwar die christliche missionarische Tätigkeit bei den Singhalesen, ließ sie aber bei den Tamilen zu. So wurden Missionsschulen in Nordceylon errichtet, wo es eine Tamilen-Mehrheit gibt. Anderthalb Jahrhunderte europäischen Bildungswesens brachten eine gut ausgebildete Schicht Tamilen hervor, die die meisten unteren Ränge in Regierung und Verwaltung besetzten und die meisten Bildungsberufe wie Rechtsanwälte und Ärzte ergriffen. Die singhalesischen Besitzer der großen Teeplantagen studierten in Großbritannien. Nach der Unabhängigkeit beklagten die Singhalesen die Vorherrschaft der Tamilen in diesen Berufen (eine ähnliche Erscheinung wie in vielen anderen früheren Kolonien) und mit der Verbesserung des singhalesischen Bildungswesens verloren die Tamilen ihre Positionen, was wiederum unter ihnen zur Unzufriedenheit führte. 1956 wurde Solomon West Ridgeway Bandaranaike zum Ministerpräsidenten gewählt. Er entstammte einer der bedeutendsten Singhalesen-Familen, war in England erzogen und ein skrupelloser Demagoge, der seine Macht dadurch festigte, daß er bei seinen Landsleuten den Haß gegen die Tamilen schürte. Er erhob Singhalesisch zur Staatssprache und schlug tamilische Protestdemonstrationen brutal nieder. Er führte eine Quotenregelung für die Tamilen in der Verwaltung, in den freien Berufen und an den Universitäten ein und verstaatlichte einen Großteil der Wirtschaft. 1956 bekleideten die Tamilen knapp die Hälfte der Beamtenstellen. 1980 war ihr Anteil auf 11 Prozent gefallen. Bandaranaike versprach dem Land eine goldene marxistische Zukunft, reformierte die Wirtschaft hin zum Sozialismus und steuerte das Land auf Bankrottkurs. Er wurde im September 1959 ermordet; seine Nachfolge trat seine Witwe an, Sirimavo Bandaranaike, weltweit die erste Frau an der Spitze einer demokratischen Regierung. Sie behielt den Kurs ihres Mannes bei, trieb das Land in den steten Niedergang und heizte die -399-
Diskriminierung der Tamilen an. Die Arbeitslosigkeit wurde für junge Singhalesen und Tamilen gleichermaßen ein Problem, und in jeder der beiden Gruppen begannen Extremisten Gewalt zu predigen. Sie schoben die Schuld an ihren sozialen und wirtschaftlichen Problemen auf die jeweils andere Gruppe. In den sechziger und siebziger Jahren nahm die Zahl der gewalttätigen Zwischenfälle zwischen den beiden Gruppen zu. 1971 begann die revolutionäre singhalesische Organisation ‡Janatha Vimukthi Peramuna— (Volksbefreiungsfront, JVP) einen Aufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. Nach Angaben der Regierung starben dabei 1.000 Menschen, nach Angaben der JVP hatten die Streitkräfte 10.000 Tote auf dem Gewissen. Die JVP war in den späten sechziger Jahren von Rohana Wijeweera (geboren 1945) gegründet worden. Der Medizinstudent hatte die Patrice-Lumumba-Universität in Moskau besucht. Die Partei blieb nach dem Umsturzversuch von 1971 im Untergrund, wurde aber 1977 legalisiert. Wijeweera kandidierte 1982 für das Präsidentenamt, aber nach den Unruhen in Colombo von 1983 wurde die Partei abermals verboten, und Wijeweera ging wieder in den Untergrund. Er nützte den Konflikt mit den Tamilen für die Entwicklung eines ultrasinghalesischen Programmes und versprach Tod und Vernichtung allen Tamilen und allen Singhalesen, die sich ihm in den Weg stellten œ angefangen bei Präsident Jayewardene. EIN STAAT IN SCHWIERIGKEITEN Die Unfähigkeit der Regierung löste schließlich eine Krise aus. Bei den Wahlen von 1977 wurde Bandaranaike geschlagen. Ihr folgte ein Mann aus dem singhalesischen Adel, der bereits siebzigjährige Junius Richard Jayewardene. Er baute die Verfassung um und machte sich nach französischem Vorbild selbst zum Staatspräsident (mit einem Ministerpräsidenten), und nachdem er 1982 wiedergewählt wurde, verschob er die Parlamentswahlen auf unbestimmte Zeit. Er versuchte, die Wirtschaftspolitik seiner Vorgängerin zu korrigieren und die Spannungen zwischen Singhalesen und Tamilen abzubauen, aber er scheiterte. Vielleicht war es dazu auch bereits zu spät. Ein grundlegender Fehler war wohl auch, daß er die Krise als einen Fall -400-
von Terrorismus betrachtete, der mit Polizeimitteln gelöst werden könnte, und nicht als eine Frage der innenpolitischen Beziehungen, die eine politische Lösung brauchten. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Tamilen in Tamil Nadu um Hilfe angesucht. Die komplizierten Verhältnisse der indischen Innenpolitik führten dazu, daß Ministerpräsidentin Indira Gandhi der Regierung in Madras gestattete, die Tamilen in Sri Lanka zu unterstützen. Tamilische Terroristen wurden in Tamil Naud ausgebildet, Waffen und Munition wurden über die Meerenge geschmuggelt, und die Marine von Sri Lanka hatte keine Möglichkeit, diese Aktionen zu unterbinden. Extremistische Tamilen, angestachelt durch Schauergeschichten von singhalesischen Grausamkeiten, sprachen von ‡Tamil Eelam—, einem unabhängigen Tamilen-Staat im Norden und Osten von Sri Lanka. Die wichtigste Stadt des Nordens ist Jaffna (138.000 Einwohner), auf einer Halbinsel, die auf Indien zeigt, das größte einer Reihe von Fischerdörfern und kleinen Städtchen, die das Zentrum des tamilischen Kampfes sind. Velupillai Prabakaran, der Sohn eines Fischers, wurde 1954 in einem dieser Dörfer geboren. Mit vier Jahren mußte er zusehen, wie ein Onkel im Lauf der Unruhen nach der Einführung des Singhalesischen als Staatssprache bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Er ist jetzt der Kommandant der gewalttätigsten Terroristenorganisation, der ‡Befreiungstiger von Tamil Eelam— (LTTE). Prabakaran betrachtet sich als den perfekten Terroristen: er ist stolz auf seine Fähigkeiten als Scharfschütze und führt viele Anschläge selbst aus. Sein großes Vorbild ist eindeutig Fidel Castro, aber er ist weder gebildet noch marxistisch geschult. Zur Entspannung sieht er sich angeblich am liebsten Clint Eastwood-Filme an. Die ‡Tiger— begannen mit Raub und Mordanschlägen. 1975 erschoß Prabakaran zusammen mit zwei Genossen den Bürgermeister von Jaffna, ein Tamile, den sie als Verräter betrachteten. Dann begannen die ‡Tiger— eine Mordserie unter den Tamilen im Dienste der Zentralregierung. Im Juli 1983 führte Prabakaran einen Kommandoangriff auf einen Armeeposten in Jaffna, bei dem 13 singhalesische Soldaten ums -401-
Leben kamen. Bei darauffolgenden Unruhen der Singhalesen in Colombo und anderen Städten sind nach offiziellen Angaben rund 140 Menschen œ davon die meisten Tamilen œ ums Leben gekommen. Wahrscheinlich (It. M. A. Weaver, siehe LITERATURVERZEICHNIS) waren es 1.000, und die Schadenssumme betrug allein in Colombo 300 Millionen Dollar. 100.000 Tamilen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Die Unruhen wurden von der JVP entfesselt und angeführt, die sich nun aus der Vergessenheit wieder zurückgemeldet hat und für die Regierung beinahe schon eine solche Gefahr darstellt wie die ‡Tiger—. Ihr sollen rund 2.000 Kämpfer angehören. Die Kämpfe von 1983 gaben den ‡Tigern— großen Auftrieb: Tausende junger Tamilen flohen in den Dschungel und wurden zu Guerillas ausgebildet. Obendrein wurden tamilische Abgeordnete aus dem Parlament verjagt. Die gewalttätigen Zwischenfälle nahmen laufend zu. Am 14. Mai 1985 griffen die ‡Tiger— einen heiligen buddhistischen Schrein bei Anuradhapura an. Mehr als 150 Singhalesen wurden getötet, und der Tempel wurde ebenso schwer beschädigt wie der heilige Bo-Baum, der aus einem Schößling jenes Baumes gezogen war, unter dem Buddha seine Erleuchtung erfahren hatte. Die ‡Tiger— errangen die Kontrolle über Jaffna und den Großteil der nördlichen Provinz, vertrieben die Singhalesen und schlossen die Armee- und Polizeieinheiten in ihren Kasernen ein. Die Sicherheitssituation im gesamten Land verschlechterte sich zunehmend. Die Armee von Sri Lanka, die nahezu vierzig Jahre hauptsächlich protokollarische Aufgaben erfüllt hatte, war auf den Kampf gegen die von indischen Offizieren in Tamil Nadu gut ausgebildeten ‡Tiger— überhaupt nicht vorbereitet. Die Soldaten waren undiszipliniert und unausgebildet; sie massakrierten Hunderte tamilische Zivilisten. Die Berichte über Fälle von Folter, Massakern und ungesetzlichen Hinrichtungen häuften sich. Amnesty International hat eine lange Liste von Tamilen, die von Sicherheitskräften eingesperrt wurden und seither spurlos verschwunden sind. Erst als ein Veteran des Zweiten Weltkriegs, General Cyril Ranatunge, aus dem Ruhestand geholt wurde und die Ausbildung der -402-
neuen Rekruten übernahm, kam Disziplin in das Heer, die Armee konnte erstmals ihre Aufgaben erfüllen, und die Massaker von Armeeangehörigen hörten auf. Die Armee wurde, so wie die anderen Sicherheitskräfte, verdoppelt, von 25.000 auf 50.000 Mann. Der Verteidigungshaushalt stieg um 1.700 Prozent, auf 500 Millionen Dollar pro Jahr. 1987 kam es zur wirklichen Krise. Am 17. April, dem Karfreitag, überfielen die ‡Tiger— mitten im Land eine Autobuskolonne. Von den Insassen wurden 128 unbewaffnete Singhalesen, Kinder, Frauen, Männer, von den Tamilen und Moslems abgesondert und ermordet. am 21. April tötete eine Bombe im Busbahnhof in Colombo 113 Menschen. Die Zentralregierung beschloß, die Kontrolle über die Jaffna-Halbinsel zurückzuerobern. Am 26. Mai trat die Armee zur Generaloffensive an. Nach zwei Wochen hatte sie die äußeren Distrikte der Nord-Provinz eingenommen, gewaltige Zerstörungen angerichtet und 132 Guerillas sowie 300 Zivilisten getötet, bei 62 eigenen Verlusten. Vor der Offensive bombardierte die Luftwaffe die Provinz und zerstörte reihenweise Dörfer. Dann griff Indien ein. Am 3. Juni 1987 genehmigte Ministerpräsident Rajiv Gandhi, daß eine Fischerbootflotille ‡humanitäre— Hilfsgüter an die belagerten Tamilen in Jaffna lieferte. Die Boote wurden von der srilankischen Marine zurückgeschickt. Am nächsten Tag gab Gandhi Weisung an die indische Luftwaffe, die Lieferungen per Fallschirm abzuwerfen. Die abgeworfenen Hilfsgüter umfaßten nur rund 25 Tonnen, aber die symbolische Bedeutung war enorm. Bei einer Intervention Indiens hätte die Regierung in Colombo keine Chance auf einen Sieg gehabt. Gandhi hatte verschiedene Überlegungen. Die Unterstützung des tamilischen Separatismus war allerdings nicht darunter. Das hätte das schlimmstmögliche Beispiel für andere Teile der Indischen Union geboten, wie zum Beispiel den Punjab oder den Nordosten des Landes. Er wollte hingegen die politische Unterstützung der Tamil Nadu-Regierung abschwächen. (Dabei unterlief ihm ein Irrtum: Nach einem Tumult im Januar 1988 im Staatsparlament löste Gandhi die Regierung in Madras ab, dafür erlitt seine Kongreßpartei bei den -403-
Wahlen im Januar 1989 eine vernichtende Niederlage.) Gandhi wollte auch die Vorherrschaft Indiens über das Nachbarland verstärken. Er lehnte Sri Lankas prowestliche Politik ab, und noch mehr verdroß ihn die Tatsache, daß Jayewardene bei China, Pakistan, Südafrika und Israel zur Ausbildung seiner Truppen ebenso Hilfe gesucht hatte wie bei britischen Söldnern. Und nicht zuletzt hatte er ein Auge auf den strategischen Hafen Trincomalee an der Ostküste Sri Lankas geworfen, einer der besten Naturhäfen der Welt, vergleichbar mit New York, San Francisco oder Sydney. Die Armee von Sri Lanka stellte ihre Offensive ein, und es begannen Verhandlungen zwischen der Regierung und Indien, das wiederum die Tamilen-Parteien hinzuzog, einschließlich der ‡Tiger— und anderer terroristischer Gruppen œ insgesamt sind es fünf, Jayawardene hatte bereits im vorangegangenen Dezember der nördlichen Tamilenprovinz ein Autonomiestatut angeboten, und jetzt weitete er dieses Angebot auf die Ostprovinz aus, die zwischen Singhalesen und Tamilen umstritten ist. Trincomalee ist Hauptort und Schmuckstück der Provinz. Die beiden Provinzen sollten von einer Regierung unter Tamilenführung mit umfangreichen Kompetenzen verwaltet werden. Für Ende 1988 war eine Volksabstimmung in der Ostprovinz über diesen Plan vorgesehen. Tamilisch und Englisch sollten gleichberechtigte Staatssprachen neben Singhalesisch werden. Im Gegenzug sollten die tamilischen Terroristen den Kampf einstellen. Indien sollte den Waffenstillstand überwachen. Alle Tamilenführer nahmen diesen Vorschlag an, außer Prabakaran, der in Neu-Delhi unter Hausarrest gestellt wurde. Militante Singhalesen, aufgehetzt von der JVP, demonstrierten am 28. Juli in Colombo gegen dieses Abkommen. Bei den Ausschreitungen wurden 70 Menschen getötet. Am nächsten Tag flog Gandhi zur Vertragsunterzeichnung nach Colombo. Dabei wurde er von einem singhalesischen Soldaten der Ehrenkompanie angegriffen. Eine bange Woche lang lehnten die ‡Tiger— den Waffenstillstand ab. Schließlich kehrte Prabakaran aus Neu-Delhi zurück und befahl seinen Soldaten, die Waffen niederzulegen. Bei einer Großveranstaltung in Jaffna sagte er: ‡Wir haben keine andere Wahl, als den Plan der indischen Regierung zu akzeptieren. Wenn wir das nicht tun, stehen wir vor dem Kampf gegen die indische Armee. Das -404-
wollen wir nicht. Indien ist ein mächtiges Land, und wir wären außerstande, es aufzuhalten.— Tonnen von Waffen wurden ausgeliefert, wahrscheinlich rund ein Fünftel des Arsenals der ‡Tiger—. Acht Monate später stellte sich heraus, daß die indische Regierung den ‡Tigern— viel Geld für ihre Kooperation bezahlt hatte. Es gab einen kurzen Moment der Hoffnung. Ungeachtet all der Morde und spurlos Verschwundenen, ungeachtet des tiefen Hasses zwischen Tamilen und Singhalesen und der Verbitterung jener Tamilen, deren Dörfer zerstört worden waren, bot das Abkommen eine gute Ausgangslage für eine dauerhafte Lösung. Gandhi schickte die ersten Einheiten der insgesamt 60.000 Besatzungssoldaten zur Überwachung in die Nordprovinz. Aber das bedeutete nur eine Pause des Terrorismus. Die ‡Tiger— brachten weiterhin Mitglieder rivalisierender Terrorbanden um, innerhalb von sechs Wochen waren es rund 150 Tote. Die Inder blieben untätig. Prabakaran übernahm in der provisorischen Ratsversammlung für die Nord- und Ostprovinzen die Macht. Die JVP setzte ihren Kampf gegen das Übereinkommen fort. Am 18. August wurden zwei Granaten in einen Versammlungsraum im Parlament geworfen, und danach wurde der Saal mit automatischen Waffen beschossen. Zwei Politiker starben, beinahe hätte es auch Präsident Jayewardene erwischt. Im April 1908 gab die Polizei die Verhaftung des Täters bekannt, es war ein Mann vom Reinigungspersonal, Mitglied der JVP. Der Waffenstillstand hielt weniger als zwei Monate. Am 3. Oktober 1987 brachte die Marine von Sri Lanka vor Jaffna einen Trawler auf. An Bord waren 17 ‡Tiger—, darunter drei von Prabakarans engsten Mitarbeitern; einer davon wurde verdächtigt, der Bombenattentäter von der Busstation in Colombo zu sein. Sie hatten versucht, eine große Menge Waffen aus Indien ins Land zu schmuggeln. Die Behörden bestanden darauf, sie nach Colombo zu bringen. Als sie auf dem Flugplatz die Maschine zum Flug in den Süden besteigen sollten, schluckten sie alle zugleich Zyankali. Die ‡Tiger— tragen ständig Zyankalikapseln am Körper und schwören, lieber Selbstmord zu begehen als in Gefangenschaft zu geraten. Dreizehn der siebzehn Tamilen starben. -405-
Die ‡Tiger— erklärten das Friedensabkommen für ungültig. Sofort kam es zu einer Reihe von Terroranschlägen im Osten von Sri Lanka; die ‡Tiger— töteten 8 singhalesische Soldaten, die sie in ihrer Gewalt hatten. Mindestens 188 Menschen kamen ums Leben, und Jaffna war wieder einmal unter der Kontrolle der ‡Tiger—. Das war eine ernsthafte Herausforderung für Gandhi, der den Frieden um jeden Preis sichern wollte. Er gab seiner Armee den Befehl, Jaffna zu erobern. Die Inder belagerten Jaffna und nahmen es schließlich ein. Sie bedeckten sich dabei nicht mit Ruhm. Die ‡Tiger— in Jaffna hielten sich 17 Tage lang gegen die übermächtige indische Armee, die ihr Arsenal an sowjetischen Raketen, Kampfhubschraubern und Artillerie gegen sie einsetzte. Die Inder verloren nach offiziellen Angaben 460 Mann und konnten die ‡Tiger— weder besiegen noch gefangennehmen œ die meisten entkamen mit all ihren Waffen. Zwischen 300 und 400 ‡Tiger— und rund 1.000 Zivilisten kamen ums Leben. Es gibt unterschiedliche Schätzungen über die Zahl der von den Tamilen getöteten Inder und der von den Indern getöteten Tamilen. Ein Jahr nach Beginn ihres Einsatzes meldete die indische Armee 530 eigene Tote und 2.000 auf der Gegenseite. Offizielle srilankische Angaben (nicht unbedingt genauer) lauteten auf 1.000 tote indische Soldaten und etwa 1.000 Verwundete. Ungeachtet der 50.000-60.000 indischen Soldaten im Land hielt der tamilische Terror an. Bei einem Anschlag am 27. Dezember 1987 starben 25 Menschen, weitere 10 wurden getötet, als die ‡Tiger— am Neujahrstag ein singhalesisches Dorf 42 Kilometer südlich von Trincomalee überfielen, die Dorfbewohner an die Wand stellten und auf sie schossen. In demselben Dorf hatten die ‡Tiger— bereits im Mai zuvor 23 Menschen getötet. Das war Teil der ‡Tiger—-Strategie. Sie wollten die singhalesischen Dorfbewohner aus der östlichen Provinz vertreiben, die sie wie den Norden für sich beanspruchen, und ihre Methode dazu ist der Mord. Im Frühjahr 1988 war bereits die gesamte singhalesische Bevölkerung von Trincomalee geflüchtet. 1988 wurde ebenso blutig wie 1987. Am 23. Februar erschossen die ‡Tiger— vier indische Soldaten in einem Hinterhalt, darauf töteten die -406-
indischen Truppen 20 Tamilen. Am nächsten Tag bot Präsident Jayewardene in einer Rede vor dem Parlament den ‡Tigern— und der JVP, die seit den Vereinbarungen von 1987 mehr als 200 Regierungsbeamte, Polizisten und regierungstreue Bürger getötet hatten, erneut eine Amnestie an. Am 2. März brachten ‡Tiger— in Armeeuniformen sechs Erwachsene und neun Kinder in Colombo um. Drei Tage später explodierte bei Trincomalee eine Mine unter einem Lastwagen und tötete 19 Menschen, davon sechs Frauen und zwei Kinder. Die meisten Opfer waren Singhalesen. Im März und April gab es eine Reihe weiterer Anschläge auf Busse, unter anderem wurde im April südlich von Trincomalee ein Bus in die Luft gejagt œ die 26 Opfer waren Singhalesen, die vom Markt kamen. Bei einem weiteren Anschlag starben sechs Menschen, und bei Überfällen auf ihre Dörfer in der Ostprovinz kamen 40 Moslems um. Während im Norden die Inder die ‡Tiger— bekämpfen, kämpft im Süden die Armee von Sri Lanka gegen die JVP. Mehr als 10.000 srilankische Soldaten stehen im Einsatz gegen die geschätzten 2.000 JVP-Terroristen. In fünf Jahren wurden zwischen 7.000 und 16.000 Menschen getötet, und mehr als eine halbe Million mußten ihre Häuser verlassen. Die Mordrate nahm stark zu, und die Auswirkungen für die Wirtschaft waren katastrophal. Der Fremdenverkehr war erledigt. Die Provinzen im Norden und Osten waren Schlachtfelder, und viele Teeplantagen im Hochland im nördlichen Zentral-Sri Lanka wurden aus Angst vor den Terroristen aufgegeben. Am 10. Mai 1988 unterzeichneten die Regierung und die JVP ein Waffenstillstandsabkommen. Die JVP sicherte zu, den Kampf einzustellen, und die Regierung erklärte sich bereit, die Organisation als gesetzmäßig anzuerkennen und die eingesperrten Mitglieder zu amnestieren, außer denen, die unter Mordanklage standen. Aber das Abkommen wurde niemals eingehalten, und die JVP unternahm große gewalttätige Anstrengungen, um die Provinzwahlen am 2. Juni zu beeinträchtigen œ Bombenanschläge auf Regierungsgebäude und Überfälle auf Polizeistationen waren auf der Tagesordnung. Indien war in die Kämpfe hineingezogen worden, und die indische Armee, die eigentlich den Frieden hätte bringen sollen, wird jetzt von -407-
zwei Seiten angegriffen. Im Sommer 1988 hatte die indische Armee im nördlichen und östlichen Sri Lanka eine Art Ordnung wiederherstellen können œ durch schwerbewaffnete Patrouillen im Landesinneren und auf den Hauptstraßen, aber die ‡Tiger— blieben außerhalb der Städte aktiv und wären offensichtlich zu allen Aktionen in der Lage, wann immer sie wollen. Im Juni 1988 kündete Indien den Abzug von 3.000 bis 5.000 Mann aus Sri Lanka an. Es war eine symbolische Geste. Gandhi sagte, daß das Hauptkontingent seiner Truppen bis nach Parlamentswahlen in den umkämpften Provinzen und bis zu einem gesicherten Waffenstillstand auf der Insel bleiben würde. Für einen solchen Frieden aber gab es keinerlei Anzeichen. Jayewardene bot den Tamilen alle Zugeständnisse an, die zwanzig Jahre zuvor vielleicht den Ausbruch der Kämpfe verhindert hätten, aber die ‡Tiger— wurden dadurch nicht befriedet. Sie hatten Blut getrunken, und es war unwahrscheinlich, daß sie den Kampf einstellen würden. Die 60.000 indischen Soldaten in Sri Lanka wurden mit einer hoffnungslosen Situation konfrontiert, und es bestand wenig Aussicht auf eine Änderung dieser Situation. Die Unternehmungen der JVP nahmen im Laufe des Jahres 1988 an Gewalt zu. Am 10. September verkündete das indische Oberkommando œ in Jayewardenes Namen œ die formelle Entscheidung, die nördliche und die östliche Provinz zu vereinen. Das war ein weiteres Zeichen des Abhängigkeitsverhältnisses, in das Sri Lanka zu Indien geraten war und führte zum Ausbruch erneuter JVPAusschreilungen. Colombo wurde für einen Tag lahmgelegt, als die JVP auf Plakaten die geplante Zusammenlegung der Provinzen kritisierte und zum Generalstreik aufrief. Am 15. September kündete Jayewardene Präsidentenwahlen für den Dezember an œ und auch, daß er nicht kandidieren würde. Damals war er bereits 82 Jahre alt, und es war Zeit für den Rückzug aus der Politik. Außerdem wurden Parlamentswahlen für die neugebildete nordöstliche Provinz für November angekündigt, und während dieses Wahlkampfes verstärkten ‡Tiger— und JVP abermals ihre terroristischen Aktivitäten. Es hatte auch den Anschein, als würden die beiden Organisationen nunmehr zusammenarbeiten. Unter vielen -408-
Anschlägen war der am 10. Oktober besonders blutig, bei dem die ‡Tiger— 47 singhalesische Dorfbewohner umbrachten. Jayewardene versuchte einmal mehr, die JVP zu bewegen, von ihrem zerstörerischen Kurs abzulassen und zu den Präsidentenwahlen beizutragen. Er scheiterte, und die JVP unternahm mit ihren üblichen Methoden, Mord und Einschüchterung, alles, die Wahlen zu behindern. Bei Massendemonstrationen der JVP in Colombo und anderen südlichen Städten am 10. November wurden mindestens 10 Menschen von Soldaten getötet. Es kam in singhalesischen Distrikten zu einer Reihe von Streiks, auch im Fremdenverkehrswesen, und die Regierung forderte alle Touristen auf, das Land zu verlassen. Die JVP tötete täglich 25 bis 50 Menschen. Singhalesische Bezirke standen unter Armeeverwaltung; Schulen und Universitäten wurden geschlossen, und Dienstleistungen wie Müllabfuhr oder Elektrizitätsversorgung brachen zusammen. Die Provinzparlamentswahlen im November fanden statt œ allen Anstrengungen der ‡Tiger— zum Trotz. Ganz nebenbei kämpften etliche ‡Tiger— als Söldner für einen Exilpolitiker, der auf den Malediven einen Putschversuch unternahm. Indische Truppen schlugen den Putsch nieder (siehe INDIEN). Rund 55 Prozent der Wahlberechtigten nahmen am 19. Dezember an den Präsidentenwahlen teil, weit weniger als sonst bei Wahlen in Sri Lanka, aber durchaus viel angesichts der Gewaltaktionen und Einschüchterungsversuche von Tamilen und Singhalesen. Der Kandidat von Jayewardenes regierender ‡Vereinigter Nationalpartei—, Ministerpräsident Ranasinghe Premadasa, gewann knapp vor Sirimavo Bandaranaike, die ein politisches Comeback anstrebte. Prompt bezichtigte sie ihn des Wahlbetruges. Die letzte Amtshandlung von Jayewardene war die Auflösung des Parlaments und die Festsetzung neuer Wahlen für den Februar 1989. Am 2. Januar 1989 wurde Premadasa vereidigt. Der neue Präsident hatte bei der Lösung der Probleme des Landes nicht mehr Erfolg als sein Vorgänger. Er hob den Ausnahmezustand auf, aber es war nur eine Geste. Der JVP-Terror ging weiter, Fremdenhaß und marxistische Ideologie waren zu einem tödlichen Gemisch geworden. Die ‡Tiger— kämpften weiter gegen die Inder, die -409-
Regierung und andere Tamilen-Parteien, und die Spannungen zwischen den Regierungen von Indien und Sri Lanka nahmen zu. Präsident Premadasa forderte ultimativ den Abzug aller indischen Truppen bis zum 29. Juli 1989, dem zweiten Jahrestag ihres Einmarsches. Die Inder setzten sich darüber hinweg. Die indische Armee wurde beschuldigt, tamilische Dorfbewohner massakriert zu haben œ Sri Lanka ähnelt mehr und mehr dem Libanon. Premadasa hob den Ausnahmezustand auf, und einmal mehr begann der fast hoffnungslose Versuch, mit den verschiedenen Terrorgruppen zu Friedensverhandlungen zu kommen œ ohne Erfolg. Im Lauf des Jahres gab es mehr Morde denn je. Vor den Parlamentswahlen im Februar 1989, bei denen Premadasas UNP gewann, wurden mehr als 1.000 Menschen getötet. Am 20. Juni wurde abermals der Ausnahmezustand verhängt. Die Armee führte nun uneingeschränkten Krieg gegen die JVP, was nach eigenen Angaben mehr als 7.500 Menschenleben forderte. Im Sommer gab es täglich 30 bis 40 Tote. Die Armee jagte und tötete mit Erfolg die Führer der JVP. Am 12. November wurde Wijeweera erwischt und œ nach offiziellen Angaben œ bei einem Fluchtversuch erschossen. Es ist auffällig, daß eine ganze Reihe JVP-Funktionäre bei Fluchtversuchen erschossen wurde. Am 26. Dezember wurde der letzte Überlebende des JVP-Politbüros, Saman Piyarsiri Fernando, gefangen, und er starb sogleich, ‡als die Polizeieskorte aus einem Haus heraus beschossen wurde", berichtete der Außenminister. Im Norden hielt ein stillschweigender Waffenstillstand zwischen Regierungstruppen und den ‡Tigern— an, aber die ‡Tiger— eroberten allmählich das Gebiet zurück, das sie seit 1987 an die indische Armee verloren hatten. Die neue indische Regierung stimmte dem Abzug ihrer Truppen aus Sri Lanka bis Ende März 1990 zu und begann mit der laufenden Evakuierung der Tamilen-Gebiete. Jaffna sollte zuletzt geräumt werden. Sobald die Inder draußen waren, griffen die ‡Tiger— andere Tamilen-Organisationen an, einschließlich der ‡Tamilen Nationalarmee— und der ‡Eelam Peoples Revolutionary Liberation Front—, die beide von der indischen Regierung gestützt waren, und der ‡Volksbefreiungsorganisation von Tamil Eelam—. Bei einem typischen Zwischenfall am 27. Dezember 1989 überfielen die ‡Tiger— zwei Lastwagen mit Mitgliedern der EPRLF und töteten 28 von ihnen. Die -410-
letzten indischen Soldaten wurden am 24. März 1990 aus Trincomalee und Jaffna abgezogen. Auf dem Höhepunkt der Intervention waren 125.000 auf Sri Lanka stationiert gewesen. Indien meldete den Verlust von insgesamt 1.155 Mann. Im Nordosten von Sri Lanka hatten nunmehr die ‡Tiger—, da die srilankische Regierung keine Versuche unternahm, das Vakuum nach dem Abzug der Inder sogleich durch Polizei- oder Armeekräfte zu ersetzen. Das Land wurde faktisch zwischen Tamilen und Singhalesen aufgeteilt; in jedem Sektor herrscht Bürgerkrieg, und die Erneuerung der großen Konflikte scheint leicht möglich. In der Zwischenzeit haben die Moslems auf Sri Lanka, mehr als 1.250.000 Menschen, von denen die meisten in der tamilenbeherrschten Ostprovinz leben, begonnen, sich zu bewaffnen, um sich gegen die ‡Tiger— zu verteidigen. Im Juli 1990 begann die srilankische Armee mit einer neuen Offensive gegen die Tamilen im nördlichen Distrikt Kilinochchi, und in Teilen des Landes wurde abermals der Ausnahmezustand verhängt.
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VIETNAM Geographie: 329.556 km×. Bevölkerung: 66,7 Millionen Flüchtlinge: Aus dem Land: ungefähr eine Million seit 1975; rund 46.000 leben als anerkannte Flüchtlinge in verschiedenen Ländern. Ins Land: 21.000 aus Kambodscha. BSP: ca. 100 $/Einw. Am 30. April 1975 siegte das kommunistische Vietnam im größten aller nationalen Befreiungskriege und in der kompliziertesten aller kommunistischen Revolutionen. In der Nacht des 29. April wurden der US-Botschafter und sein Stab mit Hubschraubern aus der Botschaft ausgeflogen. Die letzten Marineinfanteristen verließen Saigon in den frühen Morgenstunden des 30., wenige Stunden bevor nordvietnamesische Panzer in die Stadt einrollten. Um einen Preis von 2,5 Millionen Menschenleben hatten Ho Chi Minh und seine Nachfolger die Unabhängigkeit und nationale Einigkeit errungen. Sie hätten sie fünfundzwanzig Jahre zuvor von den Franzosen umsonst haben können, wenn sie auf ihre Revolution verzichtet hätten. Fünfzehn Jahre nach diesem Tag im Jahr 1975 hat sich der Triumph in Asche verwandelt, und die Revolution steht am Rand des Zusammenbruchs. Vietnam befindet sich im dauernden Konflikt mit China, als Besatzungsmacht von Kambodscha war es chancenlos, und die vietnamesische Wirtschaft liegt in Trümmern. Vietnams einziger Verbündeter, die Sowjetunion, zeigt klare Ermüdungserscheinungen, und die einzige Hoffnung Vietnams auf ein Überleben ist die, sich nach der Evakuierung Kambodschas mit dem Westen zu arrangieren. Im Frühjahr 1988 gab es die ersten Anzeichen von Wirtschaftsreformen, die von der seit 1954 strikt verfolgten Politik abwichen, und zum Ende des Jahres wurde vereinbart, bis September 1989 alle vietnamesischen Soldaten aus Kambodscha abzuziehen. Vietnam kann seine Bevölkerung kaum ernähren, und 1988 richtete es an die USA mehrere direkte Ersuchen um Lebensmittelhilfe. Die jährliche Inflation erreicht bis zu 1.000 Prozent, und der -412-
Lebensstandard fällt ständig. Das durchschnittliche Einkommen wird derzeit auf etwa 100 Dollar pro Jahr geschätzt. Zum Vergleich: Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, erreicht derzeit ein Bruttojahreseinkommen pro Kopf von 330 Dollar. Tausende Vietnamesen flüchteten über Land und in Booten œ nach Hong Kong, Malaysia und Thailand. Sie werden regelmäßig von thailändischen Piraten angegriffen, die die Männer ermorden und die Frauen vergewaltigen. Seit der siegreichen Revolution von 1975 haben mehr als eine Million Flüchtlinge das Land verlassen. GESCHICHTE Rund dreißig Jahre lang beruhte die amerikanische Politik in Ostund Südost-Asien auf der ‡Domino-Theorie—. Washington ging von einer weltweiten kommunistischen Verschwörung aus, die von einem Land auf das andere übergreifen würde. Nach China würde Vietnam fallen, danach Kambodscha und dann Thailand, Malaysia und so weiter. Jedes Land, das dem Westen verloren ginge, würde dem vereinten kommunistischen Weltreich hinzutreten. Dieses Komplott sollte vom Kreml gesteuert werden, den Ronald Reagan später als das ‡Reich des Bösen— bezeichnete. Aber die Ereignisse der siebziger Jahre machten deutlich, daß Nationalismus und ethnischer Haß weit stärkere Kräfte waren als Ideologie. Sobald der amerikanische Druck aufgehört hatte, begannen die ‡Dominosteine— sofort mit dem Kampf untereinander. Sowjets und Chinesen bekämpften einander ebenso wie Chinesen und Vietnamesen und Vietnamesen und Kambodschaner. Kambodscha betrachtete China als einen Verbündeten gegen Vietnam, so wie Vietnam die Sowjetunion als Alliierten gegen China einschätzte. China verbündete sich mit den USA gegen die Sowjetunion, und so fanden sich die USA als stiller Teilhaber in einer antivietnamesischen und daher auch antisowjetischen Allianz, die sogar die Roten Khmer einschloß œ insgesamt eines der besten Beispiele für die Machtpolitik der Gegenwart. Im nachhinein kann man leicht klüger sein. Zur Zeit ihrer Geltung schien die Domino-Theorie höchst plausibel, und alles deutet darauf hin, daß auch die Chinesen und Vietnamesen daran geglaubt haben. China unterstützte die vietnamesischen Kommunisten während all -413-
ihrer Kriege: Das begann, als Maos Armeen 1949 Süd-China besetzten und Ho Chi Minh gesicherte Stützpunkte zum Angriff auf Tonking zur Verfügung stellten. Der chinesischsowjetische Streit der sechziger und siebziger Jahre stellte Nord-Vietnam allerdings vor ernste Probleme. China verlangte von Hanoi, in diesem Streit seine Partei zu ergreifen, und ging zur gleichen Zeit mit dem Erzfeind der Vietnamesen, den USA, eine Defacto-Allianz ein. Im Februar 1972, auf dem Höhepunkt des amerikanischen Bombenkrieges gegen NordVietnam, empfing Mao Präsident Nixon in Peking. Hanoi brauchte beide, China und die UdSSR. China behauptet, Vietnam über all die Jahre hinweg 20 Milliarden Dollar Hilfsgelder zur Verfügung gestellt zu haben, eine riesige Summe für ein armes Land, und von der UdSSR wurden die vietnamesischen Kommunisten immer mit Kriegsmaterial versorgt. Die Vietnamesen wiesen allerdings von Anfang an die chinesische Bevormundung zurück. Zwischen dem ‡Reich des Himmels— und seinem zeitweiligen Vasallen, dem Kaiserreich von Annam, bestand eine tausendjährige Abneigung, und die vielen Jahre des französischen Kolonialismus, der Revolution und der Kriege in Indochina konnten an dieser durchaus gegenseitigen Ablehnung nichts ändern. Unmittelbar nach dem Sieg Nord-Vietnams im Jahre 1975 verschlechterten sich die Beziehungen ernsthaft. China fürchtete offensichtlich weiterhin die Sowjetunion und ihren vermuteten Plan der Einkreisung Chinas durch die Ausdehnung ihrer Hegemonie auf Vietnam. Es war eine selbsterfüllende Prophezeiung. Vietnam gestattete den Sowjets die Errichtung eines dauernden Stützpunktes in Cam Ranh Bay, bis China 1979 Vietnam angriff. Danach stieg die sowjetische Unterstützung Vietnams dramatisch an. Chinas Furcht vor der Sowjetunion war nicht nur paranoid œ und selbst Paranoide können tatsächlich Feinde haben. 1969 hatte es zwischen den beiden Ländern ernsthafte Grenzzwischenfälle gegeben (siehe CHINA) und noch ernster zu nehmende sowjetische Drohungen. Aber die Furcht vor der Einkreisung war völlig verrückt. China ist zu groß, um, von welcher Allianz auch immer, eingekreist, beherrscht oder erobert zu werden œ aber verrückt oder nicht, die Chinesen fürchteten sich davor. -414-
Der kommunistische Sieg in Vietnam ermöglichte das Wiederaufleben der auch schon tausend Jahre alten Feindschaft mit Kambodscha (siehe KAMBODSCHA). Pol Pot war der extremste ideologische Fanatiker in der Welt, aber er war auch ein kambodschanischer Nationalist, der die Vietnamesen, die seit Jahrhunderten ein Drittel des Territoriums seines Landes besetzt hatten, haßte. Saigon war ursprünglich ein kambodschanisches Dorf gewesen, und das ganze Mekong-Delta ein Teil Kambodschas. Die Roten Khmer provozierten ihre erste Auseinandersetzung mit Vietnam am 4. Mai 1975, kaum zwei Wochen nachdem sie Phnom Penh eingenommen hatten. Sie besetzten zwei Inseln im Golf von Siam, die die Franzosen an Vietnam übertragen hatten, und töteten mehrere hundert Einwohner, alles Vietnamesen. Ein Überlebender, der einige Monate nach dem Massaker auf die Inseln zurückkehrte, fand sie von Skeletten übersät. Der US-Frachter Mayaguez geriet am 12. Mai mitten in die Auseinandersetzung und wurde von den Kambodschanern aufgebracht. Präsident Ford befahl einen massiven Bombenangriff gegen kambodschanische Küstenstellungen. Es war der letzte amerikanische Luftangriff im Vietnamkrieg. Tausende Kambodschaner wurden getötet, 41 US-Marineinfanteristen und andere Angehörige der Streitkräfte kamen ums Leben, und die angerichteten Schäden waren gewaltig. Zur Rettung der 40 Besatzungsmitglieder der Mayaguez trug die ganze Aktion aber nichts bei, da sie bereits freigelassen worden waren. Die Vietnamesen eroberten die Inseln zurück und rieben die kambodschanischen Einheiten auf. Pol Pot blieb keine andere Wahl, er mußte sich entschuldigen und bezeichnete die Besetzung der Inseln als übereifrige Aktion eines lokalen Kommandeurs. In Wahrheit war es der unverhohlene Versuch gewesen, das Gebiet einzukassieren, ehe noch die neue vietnamesische Regierung ihre Ansprüche erheben konnte. Es war ein Fehlschlag, aber ein Anzeichen bevorstehender Entwicklungen. Die Roten Khmer waren natürlich die ideologischen Schüler von Mao Tsetung, und sie priesen ununterbrochen die Fortschritte der Kulturrevolution. Als aber die Viererbande im Oktober 1976 verhaftet -415-
wurde und eine neue pragmatische Regierung in Peking ans Ruder kam, stimmten die Roten Khmer unverzüglich zu. Obwohl Deng Xiaoping sein Leben und seine Karriere lang gegen den Extremismus in China gekämpft hatte, schützte er weiterhin Pol Pot und die Roten Khmer. Ihre Prinzipien waren ihm zwar zuwider, aber noch größer war seine Abneigung gegenüber Vietnam und der Sowjetunion. DER KRIEG UM KAMBODSCHA In den Kämpfen mit Vietnam waren die Roten Khmer immer die Aggressoren. Zuerst massakrierten sie Vietnamesen in Kambodscha, dann überschritten sie die Grenze und schlachteten vietnamesische Dorfbewohner ab. Im Dezember 1978 marschierten die Vietnamesen in Kambodscha ein, und bald besetzten sie das ganze Land (siehe KAMBODSCHA). Als sich die Beziehungen zwischen Vietnam und Kambodscha verschlechterten, stellten die Chinesen im Sommer 1978 alle technischen und wirtschaftlichen Hilfsprogramme für Vietnam ein. Im Gegenzug wies Vietnam die meisten der in Vietnam lebenden Chinesen aus; im selben Jahr flüchteten mehr als 150.000 von ihnen auf dem Landweg nach China, rund 250.000 versuchten die Flucht in kleinen Booten über das offene Meer. 30.000 bis 40.000 von ihnen kamen auf dem Meer um. Die trostlose Saga dieser ‡Boat People— war einer der Schrecken der achtziger Jahre. Die vietnamesische Besetzung Kambodschas bedeutete für China den schlimmsten diplomatischen Rückschlag seit dem Einmarsch General MacArthurs in Nord-Korea 1950. Diesmal war allerdings das chinesische Staatsgebiet nicht bedroht, und Peking machte Pol Pot klar, daß er im Guerillakrieg auf sich allein gestellt bleiben würde. DER KRIEG ZWISCHEN CHINA UND VIETNAM Die Chinesen waren nicht bereit, diesen Schlag gegen ihr Prestige hinzunehmen. Sie beschlossen, Vietnam eine Lektion zu erteilen. Am 17. Februar 1979 befahl Deng Xiaoping den Einmarsch, und an 20 Stellen überschritten insgesamt 75.000 Soldaten die Grenze. Bald waren 250.000 chinesische Soldaten in die Kämpfe verwickelt. Deng -416-
dachte möglicherweise, die Erfolge von 1962 wiederholen zu können, als China Indien eine eindeutige Lektion über militärische Realitäten erteilt hatte. Diesmal kam es allerdings anders. Die chinesische Volksbefreiungsarmee war zwar die größte der Welt, hatte aber seit dem Korea-Krieg keine wirkliche Kampferfahrung mehr gesammelt und war durch die politischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre geschwächt. Ihre Bewaffnung war veraltet und unzureichend. Die Vietnamesen waren im Gegensatz dazu seit 1946 ununterbrochen im Kampf gestanden und verfügten über modernste sowjetische Waffen, ganz zu schweigen von der milliardenschweren Ausrüstung, die sie von den Amerikanern 1975 erbeutet hatten. Der Krieg dauerte 16 Tage. Durch die reine Stärke ihrer Truppen konnten die Chinesen die Grenzposten überrennen und fünf Provinzhauptstädte erobern. Durch eine Ironie der Geschichte war die bedeutendste davon Lang Son, wo die Viet Minh im Indochina-Krieg den Franzosen 1950 aus ihren neuen Angriffsbasen im kommunistischen China heraus die erste bedeutende Niederlage zugefügt hatten. Diesmal eroberten die Chinesen Lang Son, und sie machten es wie die vier anderen Hauptstädte dem Erdboden gleich. Diese fünf Städte waren die letzten französischen Kolonialstädte gewesen, die den Vietnamkrieg unversehrt überstanden hatten, da die Amerikaner sie, um jede Provokation der grenznahen Chinesen zu vermeiden, bei ihren Bombenangriffen ausgespart hatten. Es gelang den Chinesen nicht, die Vietnamesen zu besiegen, und nach schweren Verlusten erklärte sich Deng einfach zum Sieger und rief seine Truppen zurück. Nach chinesischen Angaben waren rund 20.000 Menschen getötet worden, auf beide Seiten ungefähr gleich verteilt. Ausnahmsweise waren die Opfer hauptsächlich Soldaten. Das war für die Chinesen eine schwere Niederlage, und darüber hinaus war das Ziel der Invasion nicht erreicht worden, nämlich die Vietnamesen zum Abzug aus Kambodscha zu veranlassen. Die Vietnamesen verlegten keine einzige Division aus Kambodscha in den Norden. Aber auf lange Sicht war der Krieg zu kostspielig für Vietnam: einerseits wurden mehrere Provinzen verwüstet œ die sich -417-
bis heute nicht erholt haben œ, anderseits war es auch notwendig, an der Nordgrenze Befestigungsanlagen zu errichten und starke Truppenverbände in ständiger Alarmbereitschaft zu halten. Während der darauffolgenden zehn Jahre gab es immer wieder Gefechte zwischen vietnamesischen und chinesischen Einheiten, in die manchmal Tausende Soldaten verwickelt waren. Beide Seiten beschossen die Stellungen des Gegners, monatelang feuerten die Chinesen täglich 10.000 Granaten ab, und als sie 1988 auf 7.000 pro Tag heruntergingen, wurde das als Anzeichen einer Entspannung bewertet. Der Krieg illustrierte eindrücklich die katastrophalen Konsequenzen von Mao Tsetungs und Lin Biaos Glauben an die Unbesiegbarkeit von Guerillaarmeen. Es gelang Deng, die Schuld an dieser Niederlage Mao und der Viererbande zuzuschieben, und er benützte die Gelegenheit, die Armee von Maoisten zu säubern. Die Niederlage im Ausland stärkte Dengs Position in China. DER STREIT UM DIE SPRATLY-INSELN Der erste Konflikt zwischen Vietnam und China in diesem Jahrhundert fand bereits vor dem Sieg Nord-Vietnams über Saigon statt. Dabei ging es um zwei Inselketten im Südchinesischen Meer, die von Vietnam und China gleichermaßen beansprucht werden. Das sind die Paracel-Inseln, vor der Küste von Vietnam, und die Spratlys, weiter im Süden. Der chinesische Anspruch ist ziemlich absurd (die Spratlys liegen näher an Borneo als an China), und die Inseln, winzige Korallenatolle, sind ohne jeden strategischen oder wirtschaftlichen Wert, außer im Meeresgebiet rundherum würde Erdöl gefunden. Taiwan, die Philippinen und Malaysia erheben ebenfalls Ansprüche auf die Spratlys, haben aber niemals ernsthafte Anstrengungen unternommen, sie auch durchzusetzen. Das Thieu-Regime in Saigon begann 1972, international Ölbohrkonzessionen im Gebiet der Inseln anzubieten. Prompt besetzte China die Amphitriten-Kette in den Paracelen. Daraufhin schickte Süd-Vietnam ein kleines Marinedetachement in einen anderen Teil, die Crescent-Inseln und auf die Spratlys. 1974 kündete Nord-Vietnam seinerseits an, Bohrrechte im Südchinesischen Meer zu verkaufen. Die -418-
Chinesen reagierten mit der Besetzung der Crescent-Inseln, und sie verjagten auch die Südvietnamesen. Während der Dauer des Krieges unternahm Nord-Vietnam nichts gegen die chinesischen Forderungen, aber am 1. April 1975, als die kommunistischen Armeen Saigon bereits einschlossen, besetzten nordvietnamesische Marineeinheiten die Spratlys. China protestierte sofort. Seither schwelt dieser Konflikt, und gelegentlich kommt es zu wechselseitigen Machtdemonstrationen. Im Januar 1988 kreuzte eine chinesische Streitmacht vor den Spratlys auf, und am 14. März versenkten chinesische Marineeinheiten ein vietnamesisches Kanonenboot. Vietnam meldete 3 Tote und 74 Vermißte, entsandte Marineverstärkungen auf die Inseln und warnte China vor einer angekündigten ozeanographischen Expedition. China wiederum kritisierte die vietnamesischen Marineverstärkungen. Am Ende zog sich Vietnam zurück und überließ China das Feld. Niemand weiß, ob es im Südchinesischen Meer Erdöl gibt, und falls ja, ob es gewonnen werden kann. Kein Erdölkonzern nimmt das Risiko von Forschungen in einer zwischen zwei so kriegslüsternen Nachbarn umstrittenen Zone auf sich. Bei diesem Streit geht es natürlich nicht wirklich um Öl oder um abgelegene Koralleninseln. Der wahre Grund ist eine tiefsitzende nationale Rivalität, angeheizt durch die Furcht der Chinesen vor der Sowjetunion, und der unmittelbare Anlaß ihrer Feindseligkeit ist Kambodscha. Daß Vietnam 1988 de facto der Annexion der Spratlys durch China zustimmte, war eines der ersten Anzeichen einer grundsätzlichen Änderung der Politik gegenüber seinen Nachbarn. VIETNAM HEUTE 1988 stand Vietnam vor einer Hungersnot. In den Jahren zuvor hatte es eine Reihe von Mißernten gegeben, und dieses Problem wurde durch das überdurchschnittliche Bevölkerungswachstum und die katastrophalen Auswirkungen der kommunistischen Politik auf die Produktivität der Landwirtschaft noch verstärkt. 1981 wandte sich die Regierung von den strikten kommunistischen Prinzipien ab und erlaubte den Bauern, den Überschuß über dem abzuliefernden Ernteertrag hinaus privat zu verkaufen. Daraufhin stieg die Produktion -419-
in fünf Jahren von 13 Millionen Tonnen auf 18 Millionen Tonnen an, aber das ist bei weitern nicht genug, einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von 2,6 % zu begegnen. Im April 1988 wandte sich die vietnamesische Regierung zum erstenmal an die USA. Das State Department gab zu verstehen, daß die USA an der Unterstützung Vietnams so lange kein Interesse haben würden, als Vietnam Kambodscha besetzte. Die US-Sanktionen, die 1979 nach der vietnamesischen Besetzung Kambodschas verhängt worden waren, blieben weiter in Kraft. Im Mai wandte sich die vietnamesische Regierung mit dem Eingeständnis, daß 3 Millionen Menschen vor dem Hungertod stünden, an die Weltöffentlichkeit. Die europäischen Staaten schickten 10.000 Tonnen Reis, die UdSSR 60.000 Tonnen. 1987 war die Ernte um 1,5 Millionen Tonnen unter den Erwartungen geblieben, und 1988 war sie nicht besser. Im Juni 1988 wurde in der Nationalversammlung verkündet, daß die Reisproduktion pro Kopf von 581 Pfund (1982) auf 506 Pfund (1987) gesunken sei. Vietnam stand vor einer Katastrophe. Auch der Finanzhaushalt war ein Problem. In den ersten Monaten des Jahres 1988 erreichte die Inflation eine Rate von monatlich 60 %. Im März führte die Zentralbank neue Banknoten mit einem Nominale von 1.000, 2.000 und 3.000 Dong ein, und die Inflationsrate stieg weiter. 1987 warf die Regierung weitere Prinzipien über Bord und erließ ein Gesetz über ausländische Investitionstätigkeit. Es galt zwar als das liberalste im gesamten kommunistischen Machtbereich, bewirkte aber keine Investitionen. Indochina ist noch immer ein zu unsicherer Boden für ausländisches Kapital. Ho-Chi-Minh-Stadt, das frühere Saigon, leidet unter unzureichender Wasser- und Stromversorgung. Nordwestlich der Stadt wurde im März 1988 mit sowjetischer Hilfe ein Wasserkraftwerk eröffnet, das sogleich wieder geschlossen werden mußte. Es war so schlecht konstruiert, daß die Turbinen beim Anstarten zerbarsten, und auch der Damm war nicht sicher. Bereits im Mai 1988 berichteten lokale Zeitungen zwar, daß die Reparaturarbeiten abgeschlossen seien, aber die Berichte klangen wenig überzeugt. Vietnam hatte keine anderen Verbündeten als die Sowjetunion und seine eigenen Marionettenstaaten Laos und Kambodscha. Als Rajiv -420-
Gandhi im April 1988 Hanoi besuchte, schlug er Vietnam jede Unterstützung in seiner Auseinandersetzung mit China über die Spratlys ab, obwohl Indien im allgemeinen grundsätzlich ein Freund der Gegner Chinas ist und die Alliierten der UdSSR unterstützt. Im Mai 1988 kündete Vietnam den Abzug seines halben Kontingents aus Kambodscha œ 50.000 Mann œ bis Jahresende und den Abzug des Restes bis 1990 an. Es versuchte, die Rückzugsbedingungen mit einem politischen Abkommen zu verknüpfen, aber als alle Verhandlungen zwischen der Regierung in Phnom Penh und den verschiedenen Oppositionsparteien scheiterten, überlegten es sich die Vietnamesen anders: Der letzte vietnamesische Besatzungssoldat wurde im September 1989 aus Kambodscha abgezogen. Zur gleichen Zeit reduzierte Vietnam seine Truppen in Laos von 45.000 auf 20.000 Mann. Es schien, daß Vietnam sich gleichermaßen dem Druck der UdSSR wie den Notwendigkeiten beugte. Vierzehn Jahre nach seinem großen Sieg war es an die Grenzen seiner Unabhängigkeit gestoßen. Vietnam versuchte, seine Beziehungen zu China und den USA zu verbessern, mußte aber feststellen, daß beide Staaten den völligen Abzug aus Kambodscha abwarten würden. Vietnam verminderte den Druck auf seine chinesische Minderheit und gestand ein, daß es einiges von Dengs Reformen übernehmen müßte. Es versuchte auch, die amerikanischen Forderungen nach Rückstellung der Überreste der gefallenen US-Soldaten zu erfüllen. Armut und Verzweiflung trieben einmal mehr Tausende Vietnamesen zur Flucht. Eine neue Welle von ‡Boat People— fuhr aufs Meer hinaus, egal, welches Schicksal sie erwarten würde. Sie mußten bald feststellen, daß die Welt sie weit weniger bereitwillig empfing als 1975. Viele von ihnen erreichten Hong Kong, eine Stadt, die von Flüchtlingen erbaut ist, und sie wurden in Lagern auf abgelegenen und lebensfeindlichen Inseln zusammengepfercht, weit weg von den hellen Lichtern und den Jobs der großen Stadt. Ende 1989 entschied die britische Regierung, die mehr als 57.000 vietnamesischen Flüchtlinge in Hong Kong nach Hause zu schicken. Manche konnten zum Verlassen Hong Kongs überredet werden, die anderen sollten gewaltsam außer Landes gebracht werden. In der Nacht zum 12. Dezember 1989 wurde eine erste Gruppe von 51 Vietnamesen -421-
ausgeflogen. Dieses Ereignis löste weltweite Empörung aus. Die USA, die Flüchtlinge aus Haiti in Lagern einsperren und nach Hause zurückschicken, protestierten am lautesten. Die Schwierigkeiten der Regierung Thatcher wurden durch das unglückliche Zusammentreffen verstärkt, daß sie zur gleichen Zeit beschloß, britische Pässe an 50.000 Bürger von Hong Kong und ihre Familien auszustellen. Vietnam, das zunächst mit den Briten übereingekommen war, die Flüchtlinge zurückzunehmen, änderte seine Meinung. Die Regierung verlautbarte, nur freiwillige Heimkehrer wieder aufzunehmen. In der Zwischenzeit gestattete sie immerhin einer Gruppe von früheren Beamten der Regierung von Süd-Vietnam, Armeeoffizieren und Kindern amerikanischer Soldaten, in die USA auszureisen. Von dieser Genehmigung sind einige tausend Menschen betroffen. Vietnam bleibt ein Paradoxon: Es ist eines der ärmsten Länder der Welt, mit einer der größten und mächtigsten Armeen; 1975 waren nur die Armeen der USA, der UdSSR und Chinas größer. Es hatte die Macht, Kambodscha in einem Monat zu überrennen und unbeschränkt besetzt zu halten œ aber es konnte die Roten Khmer nicht besiegen, da sie von China unterstützt wurden. Kambodscha gilt als ‡das Vietnam Vietnams—, und der Vergleich trifft zu œ mit einem Unterschied. Die USA konnten sich den Vietnam-Krieg ‡wirtschaftlich leisten—; für Vietnam war der Krieg gegen Kambodscha zu teuer, auch wenn die UdSSR die Rechnungen bezahlte. Vietnam und Kambodscha sind die extremen Beispiele für den Preis der Revolution. Es läßt sich darüber diskutieren, ob Ho Chi Minh und seine Genossen 1946 den Kampf auch dann begonnen hätten, hätten sie im voraus den Preis von 5 Millionen Toten gewußt. Außer Streit steht, daß sie und ihre Nachfolger letztlich gescheitert sind. Sie haben Indochina unter kommunistische Vorherrschaft gebracht, aber sie haben es ruiniert. Es war niemals Teil ihres Traumes, daß sie vierzig Jahre nach dem Beginn ihres Kampfes und fünfzehn Jahre nach ihrem Sieg als Bettler vor die USA und China hintreten müßten, um ihre Völker vor dem Verhungern zu bewahren.
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NAHER UND MITTLERER OSTEN
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IRAK Geographie: 438.317 km2. Bevölkerung: 16,5 Millionen. Rund 50 % sind Schiiten, 25 % sunnitische Araber, 20 % sunnitische Kurden, 5 % Christen. 75 % sprechen Arabisch, die anderen sprechen Kurdisch, Türkisch oder Persisch. Bodenschätze: Die Erdölreserven werden offiziell mit 44,5 Milliarden Barrel angegeben, sind aber wahrscheinlich weit höher. Der Irak ist der weltgrößte Dattelexporteur. BSP: 1.808 $/Einw. (im Jahre 1980 waren es noch 3.020 Dollar). Flüchtlinge: im Landesinneren: 20.000 bis 50.000 Iraker, 75.000 Iraner. Ins Ausland: 404.000. Der Krieg zwischen Iran und Irak, der von September 1980 bis zum Waffenstillstand im August 1988 dauerte, war der blutigste seit dem Vietnam-Krieg. Es war bei weitem der aufwendigste konventionelle Krieg seit dem Korea-Krieg, mit dem Einsatz regulärer Armeen in sorgfältig geplanten Schlachten. Es war von Anfang bis Ende ein Krieg zwischen zwei Nationen, anders als andere Konflikte. Bald wurde daraus auch ein Krieg zwischen Völkern, die Araber bekämpften die Perser, wie sie das zumindest seit dem siebenten Jahrhundert getan haben, seit dem ersten Jahrhundert der Spaltung der gläubigen Moslems in Schiiten und Sunniten. Ajatollah Khomeini verkündete den Heiligen Krieg und rief alle Schiiten zum Kampf gegen die häretischen Sunniten auf. Bald mußte er erkennen, daß die irakischen Schiiten, die im Land die Mehrheit bilden, zunächst einmal Araber sind: Sie unterstützten ihre Sunniten-Regierung im Kampf gegen die persischen Invasoren. Der Krieg endete, als der Iran um Frieden bat (siehe IRAN). Das Regime konnte nicht länger die Menschen und Waffen aufbringen, um das Vaterland zu verteidigen, ganz zu schweigen, den Durchbruch durch die irakischen Linien zu schaffen. Der Irak akzeptierte den Waffenstillstand längs der internationalen Grenze. Aus diesem Krieg resultierte keine territoriale Veränderung, obwohl die -424-
Auseinandersetzung um den Grenzverlauf im Schatt el-Arab ungelöst geblieben ist. Der Irak beanspruchte für sich den Sieg, hatte aber seine Kriegsziele ebenfalls nicht erreicht: Die Besetzung von Khusistan, der arabischsprachigen Provinz in der Ebene von Mesopotamien und den Sturz der Revolutionsregierung in Teheran. Es gibt keine zuverlässigen Zahlenangaben über die Menschenverluste in diesem Krieg. Der Iran hat wahrscheinlich zwischen 400.000 und 600.000 Tote zu verzeichnen, der Irak zwischen 100.000 und 150.000. DIE GESCHICHTE Der Irak ist wie viele anderen Staaten der modernen Welt eine durch und durch künstliche Schöpfung, ein Resultat der Grenzziehung von Franzosen und Briten, als sie Vorder-Asien nach 1918 aufteilten. Das Land wird von uralten Auseinandersetzungen beherrscht. 539 v. Chr. eroberte der Perserkönig Kyros der Große Babylon und schlug König Belsazar. Der Schah von Persien feierte den zweitausendfünfhundertsten Jahrestag der Gründung der persischen Monarchie im Jahre 1971 œ mindestens zehn Jahre zu spät. Die Araber feiern einen anderen Jahrestag: die Perser herrschten über Mesopotamien 1.100 Jahre lang, eine Herrschaft, die nur von Alexander dem Großen und den Diadochen unterbrochen wurde, aber im Jahr 637 nach Christus siegten die Araber in der Schlacht von alQadisiya über die Perser, eines der einschneidendsten Ereignisse der Geschichte. Während der meisten der folgenden 1.300 Jahre war Mesopotamien mit Syrien verbunden (das damals auch die Gebiete des heutigen Libanon, Israels und Jordaniens umfaßte). Der Staat wurde zunächst von Damaskus regiert, später, bis zum 16. Jahrhundert, von Bagdad, und einen Teil dieser Zeit erstreckte er sich über den heutigen Iran und Zentralasien. Unter dem Kalifat der Abbasiden (750-1258) war Bagdad eines der größten geistigen Zentren der westlichen Welt. Es wurde vom Enkel Dschingis Khans, Hulegu Khan, 1258 zerstört. Er ließ aus den Schädeln der Gelehrten, Theologen, Dichter und Beamten von Bagdad eine Pyramide errichten und die Bibliotheken in den Tigris werfen. Die Tinte färbte das Wasser des Flusses schwarz. Es war eine der großen Katastrophen der -425-
Geschichte. Das finstere Mittelalter im Mittleren Osten währte drei Jahrhunderte, erschüttert von den Eroberungen Tamerlans, der 1401 Bagdad einnahm. Im 16. Jahrhundert wurde Mesopotamien zum Schlachtfeld zwischen den persischen Safawiden und den Ottomanen in Konstantinopel: Das Osmanische Reich beherrschte Bagdad von 1534 bis 1918, mit gelegentlichen blutigen Zwischenspielen der Safawiden, die immer wieder versuchten, Mesopotamien zu erobern und die heiligen Stätten der Schuten zu erobern. Die Schlachten des Altertums zwischen Arabern und Persern, vom siebenten bis zum zwölften Jahrhundert, haften in beiden Ländern durchaus lebendig im Gedächtnis und spielten in ihrer Kriegspropaganda eine wesentliche Rolle. Genauso war es mit den Streitigkeiten zwischen sunnitischen und schiitischen Moslems, die ebenfalls im 7. Jahrhundert in Mesopotamien ihren Ursprung nahmen. Zunächst ging es um die Nachfolge in dem Reich, das Mohammed und die ersten Kalifen errichtet hatten œ die Kontrahenten waren die sunnitischen Umaiyaden und Mohammeds Schwiegersohn Ali und sein Enkel Hussein. Hussein wurde 680 in der Schlacht von Karbala geschlagen und getötet, und er liegt in Najaf begraben; beide Städte sind heute die heiligsten Orte der Schiiten. Najaf hat die größten Friedhöfe der Welt: Hunderttausende, vielleicht Millionen Schiiten sind hierhergebracht und begraben worden. Die iranische Bevölkerung ist zu 80 Prozent schiitisch, und selbst im Irak stellen die Schiiten die Mehrheit, auch wenn das Land immer von Sunniten beherrscht wurde. Die Geschichte des Irak seit 1918 ist ähnlich wie die von Syrien und dem Libanon, gekennzeichnet durch das pausenlose Ringen des Staates um die Bildung einer Nation aus verschiedenen Völkern, Sprachen, Religionen und Traditionen, die innerhalb seiner Grenzen bestehen. Die Briten zogen die heute noch gültigen Grenzen des Irak und Jordaniens, und sie setzten in Bagdad und Amman Könige aus der Haschemiten-Dynastie ein. Die Familie, die aus Arabien kommt, hat in Jordanien überlebt, ein Wüstenkönigreich, in Mesopotamien aber hat sie niemals Fuß fassen können. In dieser ältesten städtischen Kultur der Welt wurde die königliche Familie immer als Kreaturen der Briten und Amerikaner verachtet. -426-
Am 14. Juli 1958 stieß ein Armeeputsch die Monarchie vom Thron, als der Einfluß des ägyptischen Präsidenten Nasser in der arabischen Welt auf dem Höhepunkt war. Die Nasseriten kämpften in Syrien, im Libanon und in Jordanien ebenso um die Macht wie im Irak. Die königliche Regierung mißtraute der Armee und gab den Soldaten niemals scharfe Munition. Dann wurden zwei Bataillone zur Unterstützung König Husseins gegen einen möglichen Umsturzversuch an die jordanische Grenze abkommandiert und mit scharfer Munition ausgerüstet. Sie standen unter dem Befehl von Brigadier Abd al-Karim Kassem und Oberst Abd al-Salam Arif. Der Regierung war verborgen geblieben, daß Kassem der Vorsitzende und Arif ein führendes Mitglied der geheimen ‡Freie Offiziere— Bewegung waren, die seit Jahren einen Staatsstreich geplant hatte. Statt nach Westen abzumarschieren, fielen sie in den frühen Morgenstunden in Bagdad ein und eroberten das Verteidigungsministerium und andere Schlüsselpositionen in der Stadt. Arif schlug sein Hauptquartier in der Rundfunkanstalt auf und befehligte den Angriff auf den Königspalast. Nach einer mehrstündigen planlosen Belagerung kapitulierte Kronprinz Abdul Illah. Die Angehörigen des Königshauses mußten sich im Innenhof versammeln: König Feisal II., sein Onkel der Kronprinz, mehrere Frauen, darunter die Schwester des Königs und Abdul Illahs Mutter sowie einige Diener, insgesamt 25 Menschen. Sie wurden an die Wand gestellt und erschossen, Der Ministerpräsident Nuri es-Said war aus seinem Haus geflüchtet und hatte sich in Bagdad versteckt. Er wurde am nächsten Tag gefangen, als er, verkleidet als Frau, zu entkommen versuchte, und wurde vom Mob gelyncht. Sein Körper und der des Kronprinzen wurden hinter Land Rover gebunden und durch die Straßen von Bagdad geschleift. Viele Beamte des alten Regimes erlitten das gleiche Schicksal, dies wurde zur beliebtesten Hinrichtungsmethode der Revolution. Etliche der Opfer, die zuvor bei Schießereien verletzt worden waren, wurden aus ihren Spitalsbetten herausgeholt, um diesen Tod zu erleiden. Die britische Botschaft wurde gestürmt. Für eine Weile waren Touristen aus dem Westen aus Bagdad ausgesperrt, und wer dieses Verbot mißachtete, mußte mit dem Schlimmsten rechnen. -427-
DER AUFSTIEG DER BAATH-PARTEI Nach diesem Staatsstreich wurde Abd al-Karim Kassem Staatspräsident. Nach zwei Monaten hatte er Arif, der mit der BaathPartei und den Nasseriten sympathisierte, entmachtet. Arif wurde zum Tod verurteilt, 1962 aber begnadigt. Kassem stützte sich in seiner Abwehr der Baath-Partei auf die Hilfe der Kommunistischen Partei; er war ein unfähiger, exzentrischer und fremdenfeindlicher Staatsführer. Die Gefahr, in der er war, begriff er spätestens 1959, als er mit knapper Not einem Anschlag entrann. Der Führer des Mordkommandos, der verwundet entkam, war Saddam Hussein. Im Norden revoltierten die Kurden (siehe DIE KURDEN), und 1961 versuchte Kassem Kuwait zu annektieren. Großbritannien, das damals noch mit Kuwait verbündet war und die Golfscheichtümer regierte, entsandte Truppen, um Kuwait gegen diesen Angriff zu schützen. Kassem zog sich zurück. Die einzigen Verluste waren einige englische Soldaten, die einen Hitzschlag erlitten. Sie waren an einen der heißesten Plätze der Welt gekommen, ausgerüstet für den Sommer in England. Am 8. Februar 1963 kam es zu einem neuerlichen Armeeputsch, den Arif zusammen mit Oberst Ahmad Hasan al-Bakr, einem Führer der Baath, geplant hatte. Die Operation war schwieriger und aufwendiger als 1958, aber sie endete mit dem gleichen Resultat. Die Verschwörer besetzten die Schlüsselstellungen der Stadt und belagerten das Verteidigungsministerium. Als Kassems kommunistische Gefolgsleute zu seiner Unterstützung auf die Straßen eilten, wurden sie von den Soldaten niedergemäht. Es gab Hunderte Tote. Kassem hielt sich den ganzen Tag im Ministerium, am Abend entkam er mit einigen Getreuen. In den frühen Morgenstunden wurde er verhaftet und in die Rundfunkstation gebracht, die abermals den Aufständischen als Hauptquartier diente. Nach einem Schreiduell mit Arif wurde Kassem gemeinsam mit drei überlebenden Adjutanten in einem Fernsehstudio erschossen. Später wurden Bilder von diesen Ereignissen ausgestrahlt. Al-Bakr wurde Ministerpräsident, und Arif wurde mit dem Amt des Präsidenten abgespeist. Die neue Baath-Regierung wandte sich dem -428-
systematischen Mord an den Mitgliedern der Kommunistischen Partei zu, die zum Großteil Schiiten waren. Die Regierung selbst war tief gespalten in Nasseriten, geführt von Arif, und die prosyrische Fraktion unter Al-Bakr. Arif löste das Problem kurzerhand mit einem Staatsstreich am 18. November 1963. Er verbot die Baath-Partei und säuberte die Regierung von allen ihren Mitgliedern. Dann ebnete er den Weg für eine Union zwischen Syrien und dem Irak, blies sie aber im letzten Moment wieder ab (die Syrer hatten ohnedies nicht viel davon gehalten) und entledigte sich statt dessen lieber seiner früheren nasseritischen Mitstreiter. Es gab mehrere Umsturzversuche von Nasseriten und BaathParteigängern. Im April 1966 starb Arif bei einem Hubschrauberabsturz, wahrscheinlich ein Unfall, und ihm folgte sein Bruder General Abd el-Rahman Arif. Er versuchte, das Land aus der wirtschaftlichen Krise, in die es von seinem Vorgänger hineingeführt worden war, herauszuholen und die Kurdenfrage zu lösen, aber die Zugeständnisse, die er den Kurden zu machen bereit war, stießen bei den irakischen Nationalisten auf scharfe Kritik, ebenso wie bei der Baath-Partei. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 steuerte er den Regierungskurs scharf nach links und suchte die Verständigung mit den irakischen Kommunisten und anderen Gruppen. Am 17. Juli 1968 gelang der Baath und einer Allianz von Konservativen und Gemäßigten ein Staatsstreich. Zum ersten Mal wurde dabei niemand getötet. Arif wurde ins Exil geschickt, al-Bakr wurde Staatspräsident und bildete eine neue Regierung der nationalen Einheit. Baath-Offiziere übernahmen rasch das Kommando über die Armee, und am 30. Juli warfen sie bei einem weiteren Staatsstreich die restlichen Nicht-Baath-Minister aus der Regierung. Die meisten führenden Mitglieder der neuen Regierung stammten aus Tigris, einer Stadt nördlich von Bagdad. Viele von ihnen waren miteinander eng verwandt, einschließlich al-Bakr und Hussein. Sie unterstrichen diese Tatsache noch dadurch, daß sie alle den Beinamen al-Tikriti annahmen. Nicht alle Tigriten blieben aber Mitglied des inneren Führungszirkels. 1971 schickte Saddam Hussein General Hardan alTikriti ins Exil, und später ließ er ihn in Kuwait ermorden. Die Baath hat sich in ihrer Macht seit 1968 durch eine Politik rücksichtslosen Terrors und der Ermordung ihrer Gegner, ob -429-
Kommunisten, Nasseriten, Pro-Syrer, islamischer Fundamentalisten oder Dissidenten der eigenen Partei, gefestigt. Am 27. Januar 1969 wurden neun Juden und fünf andere Irakis unter dem Verdacht der Spionage für Israel in Bagdad öffentlich gehenkt. Seither unternehmen die Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinde im Irak jede Anstrengung zur Auswanderung. Der erste Umsturzversuch geschah schon zwei Monate nach der Machtübernahme des neuen Regimes, aber er blieb ebenso erfolglos wie die vielen danach. Im Juli 1973 starb bei einem davon der Verteidigungsminister General Hammad Shibab (al-Tikriti). Ungeachtet seiner Brutalität und seiner Verankerung durch die Geheimpolizei kann sich das Baath-Regime auch einige anerkennenswerte Leistungen gutschreiben. Sein pures Überleben während des langen Krieges gegen den Iran zeigte, daß es im Volk hinreichend Unterstützung fand, aber der Haupterfolg liegt im Bereich der Wirtschaft. Der Irak spielte eine führende Rolle bei der ersten OPEC-Preissteigerung 1973/74. Die großen Gewinne im Ölgeschäft wurden vernünftig eingesetzt, und das Land machte bis zum Krieg von 1980 rasche Fortschritte. Die Außenpolitik der Baath war unversöhnlich und egoistisch. Der Irak bekannte sich zu seiner unerschütterlichen Feindschaft gegen Israel, unterstützte den palästinensischen Terrorismus, kaufte Waffen von der Sowjetunion; er schloß mit ihr im April 1972 einen Freundschaftspakt ab und griff die USA bei jeder möglichen Gelegenheit an. Aber der Irak war niemals ein ergebener Satellit der Sowjetunion, und wann immer es sich als günstig herausstellte, die Unterstützung des Westens zu suchen, wechselte Saddam Hussein ohne jedes Schamgefühl die Seite. Die Geschichte des Irak ist weiterhin ein bitterer und blutiger Wettstreit zwischen Kräften in der irakischen Gesellschaft: Die BaathPartei (siehe SYRIEN), die säkularistisch und sozialistisch ist und von sunnitischen Arabern aus Tigris geführt wird; die schiitische Bevölkerungsmehrheit; die Kommunistische Partei, deren Mitglieder meistens Schiiten sind; verschiedene andere linke und nasseritische Gruppen; die Kurden; und die Armee. Saddam Hussein al-Tikriti, der derzeitige Präsident aus der Baath-Partei, hat versucht, den Krieg gegen den Iran als Mittel einzusetzen, die Einheit des Landes gegen die Perser zu erreichen und so seine Spaltungen zu Überwinden. Aber -430-
nachdem er seit seiner Machtergreifung potentielle Gegenspieler in Armee und Partei liquidiert, Kommunisten und religiöse Schiiten massakriert, den obersten Religionsführer der irakischen Schiiten ermordet und Giftgas gegen Kurdendörfer eingesetzt hat, wird er wohl damit keinen Erfolg haben. Jahrzehntelang gab es einen offenen Grenzstreit zwischen dem Irak und dem Iran über den Schatt el-Arab; das ist der Zusammenfluß von Euphrat und Tigris und markiert die südliche Grenze zwischen den beiden Ländern. Der Iran pochte auf den Grenzverlauf in der Mitte des Flußes, während der Irak die endgültige Anerkennung der Grenze auf dem Ostufer forderte, wie sie seit 1937 bestand. Darüber hinaus hatte der Iran von 1961 bis 1975 den aufständischen Kurden im Norden des Irak jede Unterstützung geboten. Der Krieg zehrte an den irakischen Rohstoffreserven, und schließlich anerkannte der Irak 1975 den Anspruch des Iran auf den Schatt, im Gegenzug zur Einstellung der Unterstützung der Kurden. Das Abkommen wurde auf dem OPEC-Gipfeltreffen in Algier im März verkündet, und im Juni wurde in Bagdad ein Vertrag unterzeichnet. Ungeachtet des großen Nutzens, den die Iraker daraus zogen, betrachteten sie diese Entscheidung als nationale Demütigung und warteten auf die Gelegenheit, ihre Ansprüche auf die Wasserstraße wieder aufleben zu lassen. Die Spannungen zwischen den Sunniten und den Schiiten und zwischen der säkularen BaathPartei und militanten Moslems wurden durch die Revolution im Iran angeheizt. Khomeini hatte seit 1965 in Najaf im irakischen Exil gelebt. Dort hatte er eng mit einem irakischen Ajatollah zusammengearbeitet, Baqir al-Sadr, der für die Errichtung einer Islamischen Republik im Irak eintrat. Das Abkommen mit dem Iran über den Schatt el-Arab und die Kurden sah auch vor, daß es beiden Seiten verboten sein sollte, Oppositionsgruppen gegenüber der anderen zu unterstützen. Im September 1978 beriefen sich die Iraner darauf und forderten vom Irak die Ausweisung Khomeinis, der prompt nach Paris geschickt wurde. Das stellte sich als Verhängnis für die Perser heraus: Er fand Paris als Operationsbasis gegen den Schah weit besser geeignet, und die Ausweisung verstärkte seinen Haß gegen den Irak. Unmittelbar nach der iranischen Revolution im Februar 1979 begann das neue Regime in Teheran, die irakischen Schiiten zur -431-
Revolte anzustacheln. Die Schuten bilden die Mehrheit im Irak, und daher bedeutete das eine ernsthafte Gefahr für die Regierung. Eine schiitischislamische Partei, die ‡Dawa—, unter iranischem Einfluß, plante eine Verschwörung gegen die Regierung und hatte mit einer Terrorkampagne begonnen. Saddam Hussein, damals Vizepräsident und der starke Mann der Regierung, stellte den Ajatollah al-Sadr in Najaf unter Hausarrest. Anschließende gewalttätige Ausschreitungen in Schiitenvierteln von Bagdad wurden mit großer Brutalität niedergeschlagen. Am 16. Juli 1979 überzeugte Hussein Präsident Hassan al-Bakr von der Notwendigkeit seines Rücktritts und übernahm selbst das Amt des Präsidenten. Von da ab konsolidierte er in kurzer Zeit seine Position. Am 28. Juli meldete Radio Bagdad, daß ‡eine verräterische und gemeine Verschwörung, geplant von Abtrünnigen der Partei und Revolution aufgedeckt worden sei—. Fünf führende Mitglieder des Baath-Kommandorates und sechzehn weitere höhere Mitglieder wurden in Anwesenheit von Saddam Hussein und anderen führenden Parteifunktionären hingerichtet. Die Radiomeldung beschuldigte die fünf auch des Kontakts mit einer ausländischen Macht (also Syrien); in einem Bericht wurde festgestellt, daß vier von ihnen Schiiten gewesen seien. Im April 1980 ließ Hussein nach einem Mordversuch an einem seiner engsten Mitarbeiter den Ajatollah al-Sadr und seine Schwester kurzerhand aufhängen. Damit zeigte er die brutalen Seiten des wahren Tyrannen. Die Unterdrückung der Schiiten wurde verstärkt, 15.000 bis 20.000 von ihnen wurden in den Iran vertrieben, Hunderte hingerichtet. 1980 war Saddam Hussein im Irak fest im Sattel. Der Erdölerlös war von 1,8 Milliarden Dollar im Jahre 1973 auf 26,1 Milliarden im Jahr 1980 angestiegen, und zu Beginn 1981 stieg der Preis auf 35 Dollar pro Faß, fünfmal so viel wie 1973. Der Irak war nicht der einzige Staat, der dachte, diese goldenen Zeiten würden ewig währen. In den 18 Monaten nach der Flucht des Schah im Januar 1979 war der Iran an den Rand des Zerfalls geschlittert. Die Armee hatte praktisch alle ihre höheren Offiziere eingebüßt und schien außerstande, die Kurden und Aserbeidschaner unter Kontrolle zu halten. Das Institut für Strategische Studien in London schätzte, daß in dieser Phase der Revolution 60 Prozent der Soldaten im Iran -432-
desertierten. Zwischen den Linken und Gemäßigten und den islamischen Fundamentalisten herrscht in Teheran ein erbitterter Machtkampf. Das Verhalten des Iran, vor allem die Erstürmung der US-Botschaft und die Geiselnahme hatten das Land in der Staatengemeinschaft isoliert, und durch den Bruch mit den USA hatten die Iraner ihren Hauptwaffenlieferanten verloren. Der Schah hatte ganze Flotten moderner Flugzeuge gekauft, aber durch den Ersatzteilmangel und die schlechte Wartung waren die meisten nicht mehr einsatzbereit. Der Irak behauptete, ‡im Iran herrsche an jeder Straßenecke eine andere Regierung—. Die iranische Politik der grundsätzlichen Militanz erstreckte sich auch auf die Beziehungen mit dem Irak. Anstatt mit den Nachbarn zu einer Einigung zu kommen, während sie mit ihren inneren Problemen fertig würden, wurde der schiitische Fundamentalismus im Irak weiter angefacht. Saddam Hussein, neu ins Präsidentenamt eingesetzt, protestierte erbittert. Zur selben Zeit schien ihm der Zeitpunkt günstig, den irakischen Anspruch auf den ganzen Schatt el-Arab wieder hervorzuholen. Natürlich kann eigentlich keiner dieser Punkte als Casus Belli genügen. Der wahre Grund für die Aggression des Irak war unzweifelhaft der Wunsch, aus den Schwierigkeiten des Iran Kapital zu schlagen, ihm eine demütigende Niederlage zuzufügen und Khomeini zu besiegen, ja vielleicht sogar zu stürzen. Möglicherweise hoffte Hussein auch, Khusistan zu annektieren, die iranische Provinz in der Ebene, wo die größten Erdölvorkommen liegen. Die Bevölkerung Khusistans besteht hauptsächlich aus Arabern, und vielleicht glaubte Hussein auch, daß sie froh sein würden, vom iranischen Joch befreit zu werden. DER IRANISCH-IRAKISCHE KRIEG Am 17. September 1980 kündigte Hussein den Vertrag von 1975 auf, und fünf Tage später traten seine Truppen zur Generaloffensive an. Die Iraker drangen tief in den Iran ein. Der größte Hafen des Iran, Koramschar, fiel Ende Oktober. Ahwaz, die Provinzhauptstadt von Khusistan, und Abadan, die größte Ölstadt des Landes, waren bedroht. Obwohl es zunächst schien, als würde der Irak leicht gewinnen, wurde es bald offensichtlich, daß die irakischen Armeen schlecht -433-
geführt wurden und nur wenig Angriffsgeist hatten und daß der Irak die militärischen Möglichkeiten des Iran erheblich unterschätzt hatte. Die irakische Offensive blieb Ende 1980 stecken, als es den Iranern gelang, in Koramschar erneut Fuß zu fassen und Abadan gegen heftigen irakischen Beschuß zu halten. Die irakischen Truppen wurden kurz vor Ahwaz zum Stehen gebracht. Im Frühling und Sommer 1981 gingen die Iraner zum Gegenangriff über, und sie konnten die Iraker von Abadan zurückdrängen. Die Begründungen Husseins für die frühen Niederlagen waren bemerkenswert. Die Autorin Christine Moss Helms berichtet, daß er sagte, die irakischen Nachschublinien wären ursprünglich zu lang, die irakischen Streitkräfte aufgesplittert und die Reservisten zu unerfahren gewesen, die Iraner hätten besser gekämpft, ihre Heimat verteidigt, den besseren Geheimdienst und die bessere Geländekenntnis gehabt. Außerdem hätte der Iran einen Vorteil gehabt, da die Iraker auf Panzertruppen gesetzt, die Iraner aber unsportlicherweise in der Nacht angegriffen hätten, wenn die Panzer manövrierunfähig waren. In den meisten Ländern würde ein General, der für so viele Fehleinschätzungen verantwortlich ist, auf der Stelle entlassen werden. In vielen Ländern würde man ihn erschießen. Aber der Irak ist eine Ein-Parteien-Diktatur, und Saddam Hussein hat all das überlebt. Man darf nicht vergessen, daß die Baath eine Zivilistenpartei ist, von deren Führungsgarnitur nur Hussein über militärische Erfahrung verfügt œ auch wenn er nur Leutnant war, als er 1959 die Armee verließ und sich der Revolutionspolitik zuwandte. Der Irak ist mit der Sowjetunion von 1941 vergleichbar, und militärische Überlegungen sind stets den politischen untergeordnet, einschließlich der Notwendigkeit der absoluten Kontrolle der Partei über die Armee. Während all das passierte, geschah am 7. Juni 1981 einer der dramatischsten Zwischenfälle der jüngeren irakischen Geschichte. Die israelische Luftwaffe bombardierte den Osirak-Atomreaktor, den die Franzosen bei Bagdad errichtet hatten. Acht israelische F-16 waren aufgestiegen, jede mit zwei 2.000-Pfund-Bomben, sechs F-15 sorgten für den Geleitschutz. Sie flogen hoch über Jordanien und dann in Baumwipfelhöhe unter dem irakischen Radar nach Bagdad. Kein Flugzeug ging verloren. Weder das irakische noch das saudische Radar, noch die amerikanischen AWAC-Maschinen, die den -434-
saudischen Luftraum überwachen, sahen sie beim An- oder Abflug. (Die Amerikaner behaupteten später etwas lahm, daß sie in die andere Richtung geschaut hätten). Ein französischer Techniker und einige Iraker wurden getötet. Die israelische Regierung unter Menachem Begin behauptete, daß der Irak auf dem besten Weg gewesen sei, Atomwaffen herzustellen. Die französischen Techniker und die Iraker leugneten das. Der Krieg ging weiter. Bis zum Frühjahr 1988 gab der Iran die Initiative nicht mehr aus der Hand. Am 24. Mai gelang es den Iranern, in einer Generaloffensive die Iraker aus Koramschar hinaus- und auf ihre Grenzen zurückzuwerfen. In einer Reihe weiterer Angriffe überquerten die Iraner die Grenze in Kurdistan und drangen durch die Wüste in Richtung Tigris vor, und im Februar 1984 eroberten sie die Insel Majnun im südlichen Irak. Dieses Landstück war Marschland und von einem Araberstamm bewohnt worden, der sich von allen anderen unterschieden hatte. Aber Land und Leute waren dem Ölgeschäft geopfert worden, die Sümpfe trockengelegt und die Ölbohrtürme errichtet worden. Die Eroberung dieses Gebietes war für den Iran ein bedeutender Sieg. Beide Seiten versuchten, unter schweren Verlusten, Einheiten durch diese Sümpfe vorzuschicken. Die Iraker setzten gegen die iranischen Soldaten Giftgas ein, sowohl das Senfgas, das bereits im Ersten Weltkrieg verwendet worden war, als auch Nervengas. Seit 1918 war nur ein einziges Mal Giftgas eingesetzt worden: 1935, beim Angriff Mussolinis auf Abessinien (siehe ÄTHIOPIEN). Iranische Soldaten mit Gasvergiftungen wurden zur medizinischen Behandlung nach Europa gebracht. 1986 überquerten iranische Einheiten die Sümpfe an der Mündung des Schalt el-Arab und besetzten die Halbinsel Fao. Im Jahr darauf stürmten sie gegen die zweitgrößte irakische Stadt, Basra, und beinahe hätten sie den Durchbruch durch die Verteidigungslinie geschafft. Die meisten Einwohner flüchteten: Viele Monate lag die Stadt in Reichweite der iranischen Geschütze, die sie gnadenlos beschossen. Die Iraker hatten mittlerweile aber ebenfalls dazugelernt und konnten die Iraner vor Basra zum Stehen bringen, wenn auch um den Preis der Schwächung der Nordfront. Jedes Jahr begannen neue iranische Offensiven, und jedes Jahr hielt -435-
der Irak die Stellungen. Die Iraner erlitten immense Verluste, schickten fanatische Revolutionswächter gegen irakische Bunker. Im schiitischen Glauben hat das Märtyrertum eine große Bedeutung, und Hunderttausende Iraner opferten sich freiwillig auf. Die Revolutionswächter gingen in Wellen aus Menschenleibern vor, die die Iraker um jeden Preis zurückdrängen und eine Bresche schlagen wollten für die reguläre iranische Armee. Die Iraker konnten sie erst stoppen, nachdem sie richtige Schützengrabenstellungen angelegt hatten. Und trotzdem bestand immer die Möglichkeit eines iranischen Durchbruchs œ wie bei der Eroberung der Halbinsel Fao im Jahre 1986. Diese Kämpfe waren enorm verlustreich, die Schätzungen schwanken: Der Iran verlor von 1980 bis 1988 zwischen 400.000 und 600.000 Mann, der Irak etwa 150.000 Tote, 500.000 Verletzte und 70.000 Gefangene. Bei den Angriffen auf Basra im Januar 1987 verlor der Iran 25.000 bis 30.000 Tote, der Irak 5.000 bis 10.000. Der Iran konnte sich dieses Mißverhältnis leisten: seine Bevölkerung beträgt 45 Millionen, die des Irak 15 Millionen. DER TANKERKRIEG Ab Ende 1980, nachdem die Südfront stabilisiert war, konnte der Iran alle irakischen Ölexporte auf der Route durch den Schatt el-Arab unterbinden. Im April 1982, als sich das Kriegsglück gegen den Irak wandte, schloß Syrien die irakische Pipeline zum Mittelmeer, und eine Weile schien es, als würde der Irak wirtschaftlich abgewürgt, ehe der Krieg zu einer militärischen Entscheidung käme. Die anderen arabischen Staaten retteten ihn. Der Irak mag zwar eine der unbeliebtesten Regierungen der gesamten Region haben, und hatte sich gegenüber den Monarchien in Jordanien, den Golfstaaten und in Saudi-Arabien immer feindselig gebärdet, aber diesen Ländern schien der persische Fundamentalismus weit bedrohlicher, und so konnten es sich die konservativen arabischen Länder gar nicht leisten, den Irak untergehen zu lassen. König Hussein von Jordanien öffnete den Hafen Akaba den irakischen Importen œ vor allem Waffen œ, und in großer Eile wurden Pipelines quer durch die Wüste zum Roten Meer und durch die Türkei zum Mittelmeer errichtet. Eine Weile gingen die -436-
irakischen Exporte sogar durch Kuwait. Außerdem unterstützten die konservativen Araber den Irak direkt mit jährlichen Dollarsummen in Milliardenhöhe œ insgesamt waren es während der acht Kriegsjahre 60 Milliarden Dollar. Der Tankerkrieg begann 1984. Der Irak griff iranische Tanker und die größte iranische Ölladestation auf der Insel Kharg an, die in bequemer Reichweite der irakischen Luftwaffen Stützpunkte lag. Der Iran schlug zurück, indem er Tanker unter der Flagge Kuwaits und anderer Golfstaaten angriff, und da diese Staaten den Irak unterstützten, waren dies legitime Angriffsziele. Es gelang allerdings keinem der beiden Kontrahenten, die Exporte des anderen ernsthaft zu schädigen. Der Ölpreis, der ab 1982 wieder rapid fiel, wurde durch den Tankerkrieg niemals ernsthaft beeinflußt. Der Iran verlagerte einfach seine wichtigen Öldepots auf die Insel Larak in der Straße von Hormuz. Kleinere Tanker brachten das Öl von Kharg und anderen Ölfeldern nach Larak, wo es in Supertanker umgeladen wurde. 1987 richtete Kuwait ein Hilfsersuchen an die USA, die kuwaitischen Tanker zu schützen. Elf kuwaitische Tanker wurden umgeflaggt und fuhren unter dem Sternenbanner, und die amerikanische Kriegsmarine patrouillierte im Golf, um sie zu schützen. Am 17. Mai feuerte eine irakische Super-Etendard zwei ‡Exocet—-Raketen auf eine amerikanische Fregatte ab. Die Iraker hatten die USS Stark offensichtlich versehentlich für ein iranisches Kriegsschiff gehalten. Die Abwehrsysteme der Stark funktionierten nicht, sie wurde erheblich beschädigt, und 37 amerikanische Matrosen fanden den Tod. Die Regierung Reagan akzeptierte die Entschuldigungen des Irak. Von da ab herrschte auf den amerikanischen Schiffen ständig höchste Alarmstufe, und zwischen den amerikanischen Flotteneinheiten, amerikanischen und saudischen AWAC-Flugzeugen und dem Irak wurde eine enge Zusammenarbeit vereinbart, um ähnliche Zwischenfälle zu vermeiden. Der Iran beschuldigte die Amerikaner der Unterstützung des Irak, und offenkundig war an diesem Vorwurf etwas dran. Als ein amerikanisches Kriegsschiff am 3. Juli 1988 eine iranische Verkehrsmaschine abschoß (siehe IRAN), war dieses Mißgeschick zum erheblichen Teil auf die Angst der Schiffsoffiziere vor einer Wiederholung des Stark-Zwischenfalles zurückzuführen. -437-
Iran antwortete mit der Verminung des Golfes, und mehrere Schiffe erlitten Minentreffer. Am 14. April 1988 wurde die amerikanische Fregatte USS Samuel B. Roberts durch eine iranische Mine schwer beschädigt. Als Gegenschlag versenkte die US-Marine sechs iranische Kriegsschiffe und Patrouillenboote und zerstörte zwei iranische Ölbohrplattformen. DER LUFTKRIEG Eine andere Erscheinung des iranischirakischen Krieges war der Einsatz von Bombern und Raketen gegen Städte. 1984 begann der Irak mit Luftangriffen auf iranische Städte; im Februar wurde Dizful angegriffen, später auch Teheran und andere Stadtgebiete. Diese Angriffe erreichten niemals die Intensität früherer Kriege des 20. Jahrhunderts œ keine der beiden Seiten hatte dafür genug Bomber œ, aber im Verlauf der Auseinandersetzungen stieg die Zahl der Zivilopfer beträchtlich. 1987 richtete der Irak Raketen gegen iranische Städte. Es waren SCUD-Raketen sowjetischer Bauart, die derart umgebaut wurden, daß sie das Hauptziel Teheran erreichen konnten. 4 Millionen Teheraner, die Hälfte der Bevölkerung, soll aufs Land geflüchtet sein. Andere Städte wurden ebenfalls getroffen, wenn auch nicht so schwer, darunter Isfahan, Schiraz und Kermanschah. Isfahan ist eine der schönsten Städte der Welt, vergleichbar mit Venedig, und die Möglichkeit, daß die Denkmäler dieser Stadt beschädigt werden könnten, bedeutet die gefährlichste Drohung für das kulturelle Erbe der Welt seit 1945. Daraufhin nahm der Iran Bagdad unter Raketenbeschuß. DER IRAKISCHE SIEG In ihrer militärischen Bedeutung waren der Tanker- und der Luftkrieg nur Nebenschauplätze. Was zählte, war der Krieg auf dem Boden. Im Frühjahr 1988 griff der Iran in seiner letzten Offensive Kurdistan an. Seine Armeen stießen vor, bis in Sichtweite des großen Stausees von Darbandi Khan und der Wasserkraftwerke von Dukan, die Bagdad mit Strom versorgen. Der Iran nahm mehr als 4.000 irakische Soldaten gefangen, darunter einen Divisionskommandeur, -438-
und eroberte rund 640 km2 irakischen Gebietes. Der Verlust des Staudamms hätte für den Irak einen schweren Schlag bedeutet. Die Iraner hatten sich allmählich durch die Berge bis Kirkuk vorgearbeitet, und wenn sie den Durchbruch in die Ebene geschafft hätten, hätten sie vielleicht den Krieg gewonnen. Um sie zum Stehen zu bringen, setzte der Irak Giftgas ein. Im März 1988 wurde das irakische Kurdendorf Halabjah, zu diesem Zeitpunkt iranisch besetzt, vom Gas getroffen. Die Leichen von mehr als hundert Dorfbewohnern œ Frauen, Kinder und alte Männer œ wurden westlichen Reportern vorgeführt, die für diese ‡Besichtigung— aus Teheran hingebracht wurden. Der Iran meldete mehr als 2.000 Tote, und eine UNO-Kommission bestätigte den Giftgas-Einsatz. Ohne Rücksicht auf die Gefahr des iranischen Vorstoßes in Kurdistan schickten die Iraker keine Verstärkungen. Sie waren überzeugt, die Front halten zu können. Außerdem brauchten sie die Einheiten im Süden: Am 17. April starteten sie eine überraschende Offensive gegen die Halbinsel Fao und trieben die Iraner in dreitägigen schweren Kämpfen über den Schatt el-Arab zurück. Die Befreiung Faos nach zweijähriger Besetzung war der größte Sieg des Irak und die entscheidende Schlacht des Krieges. In den folgenden Monaten, in einer anderen Offensive, holten die Iraker das Gebiet um Basra zurück, damit hatten sie praktisch das gesamte Territorium zurückerobert, das sie im Verlauf des Krieges verloren hatten. Berichte von der Front von Fao wie von Basra zeigten auf, daß der iranische Widerstand überraschend schwach war. Die persische Armee, die so tapfer und schwungvoll gekämpft hatte, brach mit einem Schlag zusammen und floh vor den Arabern. Im Juni griff der Irak an der Mittelfront an und eroberte das Majnun-Ölgebiet zurück, das der Iran 1984 eingenommen hatte, und mit einigen kleineren Vorstößen wurden die letzten paar Quadratkilometer von der iranischen Besetzung befreit. Im selben Monat griff Massoud Rajavis exiliranische ‡Nationale Befreiungsarmee— (NLA) über die Grenze in Kurdistan an. Die NLA, die von khomeinifeindlichen Mudschahedin gebildet wurde, hatte angeblich 15.000 Soldaten, ausgerüstet vom Irak œ nicht genug, in diesem Krieg das Gleichgewicht zu verändern, aber durchaus ausreichend, im Falle eines Zusammenbruchs des Revolutionsregimes -439-
im Iran eine Rolle zu spielen. In ihrer Sommeroffensive nahmen sie die iranische Stadt Mehran ein und hielten sie einige Tage, ehe sie sich wieder hinter die Front zurückzogen. Dieses Ereignis war im Rahmen einer Reihe kleinerer Offensiven in Kurdistan zu sehen, mit denen die Iraner vom Dukan-Damm ferngehalten werden sollten. Es gab mehrere Gründe für die irakischen Siege von 1988. Der erste war die Kriegsmüdigkeit des Iran, und vielleicht auch der Verlust des revolutionären Enthusiasmus. Ein zweiter Grund war, daß der Irak ungeachtet aller Anstrengungen der USA, Waffenlieferungen an beide Kontrahenten zu unterbinden, sich stets ausreichend mit Waffen und Gerät versorgen konnte. Nach dem Scheitern der ersten Offensive 1980 verbesserte der Irak seine Beziehungen zu Saudi-Arabien, Kuwait und Jordanien und baute seine guten Beziehungen zur Türkei aus. Er blieb auf Distanz zur Sowjetunion und unternahm alle Anstrengungen, sich als berechenbarer, moderner Staat zu präsentieren, der einen fanatischen Aggressor in Teheran bekämpfte. Mit dieser Politik erwarb er, wenn schon keine Waffen, so doch die Sympathien von Washington, und zuletzt wurden auch die seit 1967 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen. Und verbesserte Beziehungen zu den Amerikanern ermöglichten Geschäfte mit den europäischen Waffenhändlern, namentlich den Franzosen. Die konservativen Araber lieferten das Geld, die Europäer die Waffen, aber letztlich wurde der Krieg durch die Ausdauer der irakischen Soldaten gewonnen. In der Zwischenzeit mußte der Iran, durch seinen eigenen Fanatismus isoliert, feststellen, daß es ihm unmöglich war, weiterhin seine Armeen auszurüsten. Der Irak hatte auch einen geographischen Vorteil auf seiner Seite. Die Schlachtfelder waren allesamt in der Reichweite der irakischen Luftwaffe, die Hauptstraßen des Landes führten zu ihnen hin, und so konnte der Irak seine Truppenverbände leicht und schnell verschieben, während der Iran Truppen und Nachschub von der Hochebene herunterbringen mußte, über Gebirge und gewundene und schwierige Straßen, Auf dem Boden kämpften die Iraker von 1981 bis 1988 einen Verteidigungskrieg und ließen es zu, daß die Iraner eine Reihe von Offensiven starteten und sich darin erschöpften œ auf ähnliche Weise, wie die Deutschen 1914 und 1918 ihre Kräfte gespart und den -440-
alliierten Armeen fruchtlose Siege an der Westfront zugestanden hatten, um in einem letzten gewaltigen Vorstoß auf Paris vorzumarschieren. Die irakischen Armeen hielten die Front, was während der iranischen Großoffensive auf Basra 1986/87 besonders schwierig war, und das Baath-Regime hatte genügend Kraft und Unterstützung in der Bevölkerung, daß auch die Heimatfront standhielt. Das ist wohl die erstaunlichste seiner Leistungen: 1980 hätte kaum jemand geglaubt, daß Saddam Hussein sieben Jahre Stillstand überstehen könnte. DER WAFFENSTILLSTAND Diese irakischen Siege gaben dem Iran den Rest. Am 18. Juli 1988 verkündete die Regierung in Teheran, daß sie den von der UNO vorgeschlagenen Waffenstillstand annehmen würde. Der Ajatollah teilte persönlich sein Einverständnis mit dieser Entscheidung mit, und am 8. August trafen die Außenminister der beiden Kontrahenten den UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar in New York; sie kamen überein, daß der Waffenstillstand am 20. August in Kraft treten sollte. Eine UNO-Friedensstreitmacht wurde eilig zusammengestellt und in den Golf entsandt. Es gab noch kleinere Gefechte, in deren Verlauf die Iraker die iranischen Truppen aus Kurdistan hinauswarfen und demonstrierten, daß sie jederzeit in iranisches Territorium eindringen könnten, zumindest an der Mittelfront. Nach dem Waffenstillstand wandte Saddam Hussein seine Aufmerksamkeit den kurdischen Rebellen im Norden zu und stellte rasch wieder die Macht der Zentralregierung im gesamten irakischen Kurdistan her. Der Krieg war vorbei. (Die diplomatische Vorgeschichte des Waffenstillstandes wird im Kapitel IRAN ausführlich behandelt, die Rückeroberung von Kurdistan im Kapitel DIE KURDEN). NACH DEM KRIEG Der Irak hatte den Krieg 1980 begonnen, um die völlige Herrschaft über den Schatt el-Arab wiederzuerlangen, um den Iran an der weiteren Aufhetzung der irakischen Schuten zum Aufstand zu hindern -441-
und um den Ajatollah Khomeini zu demütigen und möglichst auch zu stürzen. Hussein mag auch Khusistan im Auge gehabt haben. Der Irak war eindeutig der Aggressor. Acht Jahre später waren nur wenige dieser Ziele erreicht worden, und doch hat der Irak einen großen Sieg gefeiert. Der Preis war aber enorm hoch. Der Irak hat mindestens 150.000 Tote zu beklagen, schuldet den anderen arabischen Staaten rund 60 Milliarden Dollar, Basra und andere Städte sind schwer beschädigt, und dem Land bleibt die unversöhnliche Feindschaft des weit größeren und reicheren Nachbarstaates Iran erhalten. Der Krieg führte auch zu einer Militarisierung der irakischen Gesellschaft, und es war nicht immer sicher, ob die Baath-Partei die Loyalität der Armee haben würde. Bei den Siegesparaden und Feiern im August 1988 badete das Regime euphorisch im Triumph. Vielleicht werden die Rechnungen erst später präsentiert. Der Krieg war vorbei, nicht aber die Auseinandersetzung. Iranische und irakische Delegationen trafen sich in Genf unter dem Schirm der UNO, um das Waffenstillstandsabkommen in einen Friedensvertrag umzuwandeln. Alles sprach dafür, daß die Verhandlungen lang und zäh sein würden. Von Anfang an forderten beide Seiten die volle Herrschaft über die Wasserstraße im Schatt el-Arab, und der Iran bestand darauf, daß der Irak als Aggressor verurteilt würde. Das Regime sah sich aber noch vielen anderen ungelösten Aufgaben gegenüber. Erstens waren da immer noch die Kurden, die unablässig versuchten, aus den Schwierigkeiten des Irak Kapital zu schlagen und deren Führer sich ständig mit den Persern gegen die Araber verbündeten. Das wurde ihnen nicht verziehen. In der letzten Augustwoche, während des Eröffnungstreffens der Genfer Konferenz, begann der Irak in Kurdistan mit einer neuen Offensive, um eine der bedeutendsten Widerstandsbewegungen auszumerzen. Und einmal mehr setzte der Irak Giftgas ein (siehe DIE KURDEN). Dann folgte der Streit mit Syrien. Die schlachterprobten irakischen Armeen waren nun frei, um die Frage über den Euphratdamm neu aufzurollen (siehe SYRIEN) und die Allianz Syriens mit dem Iran zur Debatte zu stellen. Und dann war da Israel: Seit 1948 war der Irak ein lautstarker, wenn auch ineffizienter Feind Israels. Jetzt kann das Land seine Armeen ungehindert einsetzen, und schließlich hat der Irak noch eine Rechnung wegen der Zerstörung seines Atomreaktors offen. -442-
IRAK Zuletzt stellt sich die Frage nach den zukünftigen Beziehungen des Irak mit den konservativen arabischen Staaten im Süden, mit dem Westen und mit der UdSSR. Vor dem Krieg waren die Beziehungen des Irak zu Saudi-Arabien und Kuwait auf einem absoluten Tiefpunkt, er war zutiefst verfeindet mit den USA und Verbündeter der Sowjetunion. Während des Krieges geriet das Land in die Abhängigkeit vom arabischen Erdölgeld und in bestimmtem Ausmaß auch von Waffenlieferungen aus dem Westen. Die UdSSR stahl sich diplomatisch vom Platz, sorgte aber weiterhin für die Instandhaltung der gewaltigen Mengen an iranischen Beutewaffen. Im Sommer 1990 fiel der Irak in Kuwait ein und löste eine Weltkrise aus œ die erste nach dem Ende des Kalten Krieges. CHRONOLOGIE DES KRIEGES ZWISCHEN IRAN UND IRAK 1980 17. September: Saddam Hussein kündigt den Vertrag mit dem Iran über den Schalt el-Arab auf und fordert die ganze Wasserstraße für den Irak. Der Iran weist diese Forderung zurück. 22. September: Der Irak bombardiert Teheran und marschiert im Iran ein. Er besetzt Khoramschar und erreicht das Weichbild von Abadan, ehe die Offensive zum Stehen kommt. Ende des Jahres bricht die irakische Offensive zusammen. 1981 Mai: Die erste Gegenoffensive des Iran wirft den Irak von Abadan zurück. Die Iraner überschreiten im mittleren und nördlichen Frontabschnitt die Grenze. 1982 29. März: Saddam Hussein schlägt den beiderseitigen Rückzug auf die Grenzen und einen Waffenstillstand vor. Der Iran lehnt diesen Vorschlag ab. 24. Mai: Der Iran erobert Khoramschar zurück. -443-
1984 22. Februar: Der Iran greift an der Mittelfront an und erobert die Insel Majnun. 27. März: Der Irak beginnt den Tankerkrieg im Persischen Golf mit Raketenangriffen auf iranische Öltanker. Der Iran kontert mit Angriffen auf saudische und kuwaitische Tanker. November: Der Irak nimmt wieder diplomatische Beziehungen zu den USA auf. 1985 11. März: Iranische Truppen überschreiten den Tigris und greifen Basra an, werden aber abgeschlagen. Der Städtekrieg beginnt mit Raketenangriffen auf Teheran und Bagdad. 1986 9. Februar: In einem Nachtangriff überqueren iranische Einheiten den Schatt el-Arab p und besetzen die Halbinsel Fao. 25. Februar: Der Iran erobert Chwarta im irakischen Kurdistan. 12. August: Der Irak bombardiert die iranische Ölraffinerie auf der Insel Sirri im Persischen Golf. 24. Dezember: Der Iran beginnt mit einer großen Offensive gegen Basra und wird nach mehrwöchigem Kampf zurückgeschlagen. 1987 23. April: Kuwait sucht Hilfe im Tankerkrieg. Die USA erklären sich bereit, kuwaitische Schiffe in amerikanische umzuflaggen und zu schützen. 17. Mai: Ein irakisches Kampfflugzeug greift die USS Stark an, dabei sterben 37 Matrosen. 20. Juli: Der UNO-Sicherheitsrat ruft in einer Resolution zum Waffenstillstand auf. 22. Juli: Die US-Marine eskortiert den ersten Tankergeleitzug unter US-Flagge durch den Golf. 1988 16. März: Die Iraner erstürmen Halabjah in Kurdistan. Bei einer irakischen Gegenoffensive wird Giftgas eingesetzt, 2.000 Zivilisten sterben. 18. April: Die US-Marine zerstört zwei iranische Erdölplattformen -444-
und versenkt sechs iranische Marineeinheiten als Antwort auf den Minentreffer auf USS Samuel B. Roberts. Der Irak erobert Fao zurück. 26. Juni: Der Irak holt die Insel Majnun zurück. 3. Juli: USS Vincennes schießt eine iranische Verkehrsmaschine ab, dabei sterben 290 Passagiere und Besatzungsmitglieder. 11. Juli: Der Irak erobert Halabjah und andere kurdische Gebiete zurück. 18. Juli: Der Iran verkündet die Annahme des sofortigen Waffenstillstandes. 30. August: Der Irak beginnt mit einer neuen Offensive gegen die Kurden. 1990 Im März 1990 lieferte Saddam Hussein der Welt eine Demonstration seiner Macht und Grausamkeit œ vielleicht auch seiner Unsicherheit. Er befahl die Hinrichtung eines iranischen Journalisten. Farzad Bazoft arbeitete für den britischen Observer und hatte versucht, Informationen über eine große Explosion zu sammeln, die sich im August 1989 in einer Munitionsfabrik südlich von Bagdad ereignet haben sollte. Er war auf Einladung der irakischen Regierung ins Land gekommen. Er wurde verhaftet, wegen Spionage angeklagt, sechs Monate in Isolationshaft gehalten und schließlich am 10. März von einem ‡geheimen Revolutionstribunal— zum Tod verurteilt. Am 15. März wurde er gehenkt. Die Hinrichtung Bazofts belastete die Beziehungen des Landes zum Westen ernsthaft. Die Briten protestierten, und das Baath-Regime stellte unverzüglich große antibritische Demonstrationen in Bagdad und anderen Städten auf die Beine. Offensichtlich war der unglückselige Bazoft zum Opfer eines Machtkampfes geworden, ähnlich wie die amerikanischen Geiseln in Teheran 1979 und wie Salman Rushdie im Iran. In allen drei Fällen wogen die inneren Notwendigkeiten schwerer als die außenpolitischen Verwicklungen mit wichtigen Handelspartnern. Vielleicht befand es Hussein für notwendig, die nationalistische Trommel zu schlagen. Achtzehn Monate nach dem Ende des Krieges IRAK waren immer noch -445-
100.000 irakische Kriegsgefangene unter elenden Bedingungen im Iran gefangen, die Lebensbedingungen im Land hatten sich seit dem Kriegsende nicht verbessert, und die Gewaltherrschaft des HusseinClans lastete schwer auf dem Irak. Wenige Wochen später wurde der Waffenkonstrukteur Gerald Bull von unbekannten Männern erschossen. Bull galt als genialer Geschütz- und Raketenerfinder, der sich in den Dienst Saddam Husseins gestellt hatte und ihm Geschütze mit enormer Reichweite konstruiert hatte. Auf dem Londoner Flugplatz Heathrow wurde eine Schmuggelladung von Zündern entdeckt, die zum Bau von Atombomben dienen. Auch eine Lieferung von scheinbar harmlosen Stahlröhren wurde enttarnt, die insgesamt für Bulls Geschütze die Spezialläufe gebildet hätten. Hussein rüstete sein Land auf œ nicht ohne die massive Unterstützung europäischer Waffenfirmen. KRISE AM GOLF Im Juli 1990 erhob der Irak gegenüber Kuwait ständig Forderungen, die immer drängender wurden œ es ging um Öl und um Territorialrechte. Daraus entwickelte sich mit einem Schlag eine Krise, die möglicherweise das gesamte politische Gefüge nicht nur dieses Raumes verändern wird. 1. August: In der saudiarabischen Stadt Dschidda scheitern die Verhandlungen zur Beilegung des Konfliktes zwischen den beiden Staaten. Die Grenzen zwischen Irak und Kuwait werden geschlossen. 2. August: Um 02.00 Uhr Ortszeit überschreiten irakische Truppen die kuwaitische Grenze und besetzen innerhalb weniger Stunden die Hauptstadt Kuwait-City und große Teile des Öl-Emirats. Dem kuwaitischen Emir, Scheich Dschabir al-Ahmed as-Sabah, gelingt die Flucht nach Saudi-Arabien. Der UNO-Sicherheitsrat verurteilt den Überfall und fordert den sofortigen Abzug der Invasoren. Bush ordnet die sofortige Einfrierung der irakischen und kuwaitischen Vermögenswerte an. 3. August: Irakische Verbände stoßen bis nahe an die saudische Grenze vor. Auch der Außenministerrat der Arabischen Liga verurteilt -446-
den irakischen Überfall und fordert den sofortigen Rückzug. Die Außenminister der USA und der UdSSR geben in Moskau eine gemeinsame Erklärung ab, in der die Aggression verurteilt, die Durchsetzung der Resolution des Sicherheitsrates und der Abzug der Invasoren verlangt wird. Das Wirtschaftsembargo der USA gegen den Irak tritt in Kraft. 4. August: Bagdad setzt eine ‡Freie Provisorische Regierung Kuwaits— ein. Die EC beschließt die Verhängung eines Ölboykotts gegen die beiden Länder sowie ein Waffenembargo gegen Irak. Die 19. Außenministertagung der Organisation der Islamischen Konferenz verurteilt in Kairo die irakische Aggression. 5. August: Saddam Hussein ordnet die Aufstellung von 11 neuen Armeedivisionen an. 6. August: Die UNO verhängt œ bei Stimmenthaltung des Jemen und Kubas œ weltweite Wirtschaftssanktionen gegen den Irak. 7. August: Die EG verhängt ein generelles Handelsembargo. Die durch die Türkei führenden Pipelines werden abgestellt. Bush gibt den Befehl zur Truppenentsendung nach Saudi-Arabien, um das Königreich vor einem eventuellen irakischen Angriff zu schützen. 8. August: Irak gibt die Annexion Kuwaits bekannt, die Verschmelzung wird als ‡vollständig und unumstößlich— bezeichnet. 9. August: Der Irak läßt nur noch Diplomaten aus- und einreisen. Hunderte Ausländer werden aus Kuwait nach Bagdad gebracht und in Hotels als Geiseln festgehalten. 10. August: Saddam Hussein ruft die Araber zum Aufstand ‡gegen ausländische Einmischung im Golf— auf. Die NATO-Außenminister begrüßen die US-Reaktion. Die Arabische Liga beschließt auf einem Krisengipfel in Kairo mit knapper Mehrheit, dem Ersuchen Riads zu folgen und eine arabische Streitmacht nach Saudi-Arabien und in andere Golf-Staaten zu entsenden. 12. August: Saddam Hussein verknüpft in einer Erklärung den Abzug seiner Truppen aus Kuwait mit der Freigabe der besetzten Gebiete durch Israel. Ferner sollen unter der Aufsicht des Sicherheitsrates stehende arabische Streitkräfte die amerikanischen und anderen westlichen Truppen in Saudi-Arabien ersetzen. Die USA -447-
lehnen diese Vorschläge kategorisch ab. 13. August: am Flottenaufmarsch beteiligen sich nun schon Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Australien. Später stoßen immer mehr Einheiten auch anderer Länder dazu. 14. August: Der irakische Botschafter in Paris erklärt, sein Land mache das Schicksal der in Kuwait und Irak festgehaltenen Ausländer vom Verhalten ihrer Regierungen abhängig. 15. August: Saddam Hussein kündet den Abzug der irakischen Truppen aus den iranischen Gebieten an, die der Irak seit dem Ende des iranischirakischen Krieges besetzt hat. Die Kriegsgefangenen werden unverzüglich repatriiert. 16. August: Bush trifft den jordanischen König Hussein. Hussein gibt der Forderung Washingtons nach der Schließung seines Hafens Aqaba für den Irak vorläufig nicht nach. 17. August: Die US-Marine stoppt erstmals irakische Handelsschiffe. 18. August: Bagdad warnt vor den Auswirkungen des Handelsembargos auf die festgehaltenen Ausländer. Dutzende werden als ‡lebende Schutzschilde— zu strategisch wichtigen Zielen gebracht. Großbritannien gibt seinen Kriegsschiffen im Golf Schießerlaubnis. 19. August: Der Sicherheitsrat berät erneut über eine militärische Kooperation. 20. August: Irak verlegt die aus Iran abgezogenen Divisionen in den Süden, wo an der Grenze zu Saudi-Arabien bereits 160.000 irakische Soldaten stehen. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate lassen die Stationierung amerikanischer und arabischer Truppen auf ihrem Territorium zu. In den folgenden Tagen zieht sich der Ring um den Irak immer enger. Zusätzlich wird eine Luftblockade verhängt, der Aufmarsch internationaler Streitkräfte unter Beteiligung immer mehr Länder geht weiter. Saddam Hussein beantwortet dies mit der Erklärung Kuwaits zur 19. irakischen Provinz und dem Aufruf zur Befreiung Jerusalems. Kuwaitis werden systematisch umgesiedelt, Iraker in das Land gebracht. In den Flüchtlingslagern in Jordanien und Saudi-Arabien wird die -448-
Situation immer dramatischer. Die Repatriierung der Zehn- und Hunderttausenden Gastarbeiter aus Dritte-Welt-Staaten geht nur schleppend vor sich, die klimatischen Bedingungen machen den unzureichend versorgten Menschen ebenso zu schaffen wie der Zusammenbruch der Nahrungsmittel- und Medikamentenlieferungen.
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IRAN Geographie: 1.648.000 km2. Bevölkerung: 45 Millionen. 45 % sprechen Persisch, 23 % verwandte iranische Umgangssprachen (bes. der Kurden, Luren und Belutschen) 26 % Turksprachen (Aserbeidschanisch, Aseri, Arabisch). Bodenschätze: Erdölreserven von 48,5 Milliarden Barrel, Mineralienvorkommen, Erdgas. Hauptexportgüter sind Pistazien, Teppiche, Kaviar u. a. Flüchtlinge: Im Landesinneren: 1 Million Iraner, 2,6 Millionen Afghanen, 400.000 Iraker. Ins Ausland: 800.000 in der Türkei. Verluste: Für den iranischirakischen Krieg gibt es keine verläßlichen Angaben. Die zuverlässigsten Schätzungen betragen zwischen 400.000 und 600.000 toten Iranern und 100.000 bis 150.000 toten Irakern. Am 20. Juli 1988 akzeptierte der Ajatollah Khomeini zögernd den UNO-Vorschlag eines Waffenstillstands im Golfkrieg. Er sagte: ‡Diesen Vorschlag anzunehmen ist für mich tödlicher als Gift. Aber ich ergebe mich in Gottes Willen. Ich leere diesen Kelch zur Erfüllung von Gottes Willen.— Wie auch immer die militärische Situation oder die langfristigen Aussichten für den Iran sein mögen, der Ajatollah hat klar eingestanden, daß er eine vernichtende Niederlage erlitten hat: ‡Heute hat Khomeini seine Brust allen Pfeilen des Vorwurfs des Mißgeschicks und der verhängnisvollen Ereignisse dargeboten, und im Angesicht all der Geschütze und Geschosse des Feindes zählt er wie alle dem Martyrium Ergebenen die Tage, sein Martyrium erfüllen zu können.— Als der Waffenstillstand am 20. August in Kraft trat, stellte sich für die Vereinten Nationen und für die kriegführenden Staaten das Problem, den Krieg zu einem Ende zu bringen und die tieferen Ursachen zu beseitigen. Der Schlüssel zu beidem war die Zukunft der Islamischen Revolution im Iran. GESCHICHTE Persien ist einer der ältesten Staaten der Erde, seine durchgehende Geschichte erstreckt sich zurück bis zu Kyros dem Großen, dessen -450-
Laufbahn als Eroberer 549 v. Chr. begann. Schah Reza Mohammed Pahlevi feierte 1971 den behaupteten zweitausendfünfhundertsten Jahrestag der Gründung mit einer Feier in Persepolis die den Iran 100 Millionen Dollar kostete. Seine Rechenkunst war ebenso fehlerhaft wie sein politisches Urteil. In den Jahrhunderten nach Kyros wurde das Persische Reich stets wieder erobert aber ebenso regelmäßig kam es wieder empor. Es war immer ein Reich, in dem ein Volk die anderen beherrschte. Die Perser selbst waren immer in der Minderheit und mußten daher ihre Regierung den Bedürfnissen ihrer Untertanen anpassen Der zeitgenössische Nationalismus hat jetzt die Kurden, Aserbeidschaner, Araber, Belutschen und Turkomanen infiziert, die die Mehrheit der Bevölkerung im Iran stellen und auch in Zukunft die Herrschaft der Perser in Frage stellen werden. Von der Zeit Kyros‘ bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde das Land Persien genannt, bis Schah Reza in einem Anfall von faschistischer Begeisterung den Namen in ‡Iran— änderte. Er wollte damit dokumentieren, daß die Perser die wahren Arier seien, ein noch reineres Volk als die von ihm so bewunderten Nationalsozialisten Die Wurzeln der Iranischen Revolution reichen zurück in die Anfänge der modernen Monarchie und der Politik von Reza Khan Pahlevi, des Generals der sich 1925 zum Schah ausrief. Er war ein harter, klardenkender Reformer, der sich am Vorbild von Kemal Atatürk in der Türkei orientierte. Aber wo Atatürks Reformen an Grenzen stießen, ging Reza Schah weiter. Die Türkei war nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches für Reformen reif œ Persien war es nicht. Aber noch wichtiger: Atatürk betrieb seine Reformen konsequent zwanzig Jahre lang, und er hinterließ fähige Reformer und die Struktur eines modernen Staates. Reza Schah begründete eine Dynastie. Als er 1941 von den Briten wegen seiner achsenmächtefreundlichen Politik vertrieben wurde, hing der Fortbestand all seiner Errungenschaften von den Fähigkeiten seines Erben ab. Dieser Erbe war sein Sohn Mohammed Reza, der zweite und letzte Schah der Pahleyi-Dynastie, dem die Durchschlagskraft und die Fähigkeiten seines Vaters vollständig fehlten. Rezas Reformen waren auf heftigen Widerstand der Ulama der Priesterschaft gestoßen, aber -451-
anders als Heinrich VIII. oder Atatürk versäumte er sie unter Kontrolle zu bringen. Er hatte sie angegriffen und beherrscht, aber niemals besiegt. Auch sein Sohn schaffte es nicht, sie zu beherrschen, im Gegenteil er erwarb sich ihre unversöhnliche Feindschaft. Die säkulare Nationale Front, angeführt von Mohammed Mossadegh, hatte einen kurzfristigen Erfolg, indem sie Mohammed Schah von seinem Thron vertrieb Er wurde von der Armee wieder eingesetzt, mit Hilfe der CIA, eine Episode die beiden Institutionen klarmachte, wie einflußreich sie in diesem Land waren. Die Ereignisse von 1953 wiederholten sich ein Vierteljahrhundert später und holten die Amerikaner ein. Rujhollah Khomeini, der 1902 geboren wurde, entwickelte seine politischen Ideen in Opposition zu Reza Schah. Bereits in den dreißiger Jahren war er ein prominenter Theologe, Koranexeget und Führer der Priesterschaft in Chom, dem theologischen Zentrum Persiens. Die Niederlage der Nationalen Front im August 1953 rückte die klerikale Ulama ins Zentrum des Widerstandes. Khomeinis Einfluß in der Ulama nahm ständig zu. 1962 kämpfte er gegen ein Gesetz, das den Frauen und Nicht-Moslems bei lokalen Wahlen das Wahlrecht geben sollte. Er bezeichnete diesen Gesetzesentwurf als einen ‡Angriff auf den Koran und den Islam—. Der Schah gab nach œ was sein Vater niemals getan hätte œ, und im Juni 1963 richtete Khomeini einen neuerlichen wilden Angriff gegen die Regierung. Es kam zu Demonstrationen, die vom Regime schonungslos niedergeschlagen wurden. Fallschirmjäger griffen Khomeinis Seminar in Ghom an und nahmen ihn fest. Daraufhin kam es zu weiteren Ausschreitungen in Teheran und Ghom, die abermals grausam unterdrückt wurden. Einige Studenten wurden vom Dach des Seminars geworfen, andere wurden in einem Teich ertränkt. Insgesamt wurden zumindest 200 Menschen getötet. Nach der Revolution wurde der General, der diese Aktion geleitet hatte, als einer der ersten erschossen. Khomeini wurde im August 1964 begnadigt, und der Schah versuchte, die Unruhen durch Wahlen einzudämmen. Khomeini rief zum Boykott auf und wurde abermals eingesperrt. Er wurde im Frühjahr darauf wieder freigelassen, aber dann erließ die Regierung -452-
eine andere unpopuläre Maßnahme: ein Gesetz, das allen Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte im Iran diplomatischen Status verlieh. Das Gesetz war so unpopulär, daß der Schah sogar Probleme hatte, es in seinem Jasager-Parlament durchzubringen. Khomeini prangerte es als Beleidigung des iranischen Nationalismus an, ‡ein Dokument zur Versklavung des Iran ... ein Eingeständnis, daß der Iran eine amerikanische Kolonie sei.— Diesmal wurde er in die Türkei abgeschoben. 1965 ging er in die den Schiiten heilige Stadt Najaf im Irak. Aus dieser geschützten Position heraus setzte er seine Angriffe gegen den Schah und seine Regierung fort. Seine Rolle in den Ereignissen von 1962 bis 1964 sicherte ihm eine große Gefolgschaft unter den Studenten in Ghom, von denen viele später die geistlichen Führer der Revolution wurden. DAS ANCIEN REGIME Der Zusammenbruch der Monarchie im Juni 1979 war ebenso überraschend wie unvermeidlich. Überraschend, weil der Schah ohne wirkliche Opposition 25 Jahre lang geherrscht hatte, eine 400.000 Mann-Armee und eine große und schlagkräftige Polizeitruppe befehligte, darüber hinaus eine skrupellose und schlagkräftige Geheimpolizei, die SAVAK. Die enormen Gewinne der iranischen Erdölindustrie sollten dem Land ein ständiges Wirtschaftswachstum bescheren und dadurch der Regierung auch die Loyalität der Bevölkerung sichern. Die Revolution war aber unvermeidlich œ dank der Tyrannei, Korruption und wirtschaftlichen wie politischen Unfähigkeit der Regierung. Der Schah hatte nur geringe Fähigkeiten, und seine Politik machte eine Gruppe nach der anderen zu erbitterten Feinden: die Bauern, die Kleriker, die städtische Mittelschicht, die Industriellen, die Studenten. Als die Opposition sich ab 1977 zum Kampf formierte, führten die aufgestaute Feindseligkeit und Wut im Land zu einem unkontrollierbaren Ausbruch. Der Schah hatte keine Idee, um dieser plötzlichen Wendung der Ereignisse zu begegnen. Im Gegenteil, er versprach Reformen und gab Armee und Polizei den Befehl, die Opposition zu zerschlagen. -453-
Im Januar 1978 gingen die Seminaristen von Ghom zu einer ProKhomeini-Demonstration auf die Straße. Die Polizei eröffnete das Feuer und tötete etliche von ihnen. Die Trauerzeit im Iran dauert 40 Tage. Vierzig Tage nach den Morden von Ghom gab es weitere Demonstrationen und weitere Tote. Das Muster wiederholte sich. Die Protestwelle überschwemmte das Land. Im September, während der Festlichkeiten, die das Ende des Ramadan begleiten, gab es in Teheran mehrere große Demonstrationen. Der Schah verhängte das Kriegsrecht, und Hunderte starben, als die Polizei am 8. September in die Menschenmenge auf dem Jaleh-Platz schoß. Das Massaker wurde als ‡Schwarzer Freitag— bekannt, und der Platz und das MärtyrerDenkmal darauf wurden zum bevorzugten Ort revolutionärer Demonstrationen, eine iranische Place de la Bastille. Die Reaktion des Schahs war zögernd und halbherzig. Er machte Zugeständnisse, löste seine Ministerpräsidenten ab, ließ den Kommandeur der SAVAK verhaften und befahl der Armee, die Ordnung wiederherzustellen. Er hoffte, daß Washington ihm Anweisungen geben würde, was er tun solle, und wurde von den widersprüchlichen Signalen aus der Carter-Administration verwirrt. Einerseits riet ihm der US-Außenminister Cyrus Vance zu Verhandlungen mit der Opposition. Andrerseits verlangte der Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski von ihm, die Opposition mit aller notwendigen Gewalt zu zerschlagen. Im Oktober 1978 wurde Khomeini auf das Drängen des Schahs hin aus dem Irak ausgewiesen. Er ging in einen Vorort von Paris, nach Neuphlele-Cháteau. Es war ein entscheidendes Ereignis. Zwischen Frankreich und Iran bestanden hervorragende Telephon- und Telexverbindungen, und Khomeinis Botschaften wurden jeden Tag nach Teheran gesendet und im ganzen Land verbreitet. Revolutionäre Propaganda wurde per Fernschreiber und Photokopie weitergegeben. Khomeini war nun der Sprecher der Revolution, und alle Oppositionskräfte im Iran sammelten sich um ihn. Die Gemäßigten dachten, sie könnten ihn benützen. Sie sollten sich irren. Der Schah schwankte weiterhin zwischen Härte und Nachgiebigkeit, aber es war zu spät. Keiner der beiden Wege konnte ihn noch retten. Er suchte das Gespräch mit Vertretern der Opposition, die entweder den Dialog verweigerten oder von ihm forderten, das -454-
Land zu verlassen. Er ernannte einen Oppositionspolitiker, Shapour Bakhtiar, zum Ministerpräsidenten, der das Amt unter der Bedingung übernahm, daß der Schah unverzüglich das Land verlasse. Der Schah ging am 16. Januar 1979 ins Exil. Die Generäle und Leibwächter, die ihn verabschiedeten, weinten. Bakhtiar und andere Politiker wahrten gerade noch die Formen der Höflichkeit. Der Ministerpräsident erließ eine Reihe wichtiger Maßnahmen: Er löste die SAVAK auf, erklärte die Pressefreiheit und kündete eine Reihe grundlegender demokratischer Reformen an. Es war alles umsonst. Am 31. Januar flog Khomeini nach Teheran œ wie Lenin nach Finnland fuhr œ, und am 11. Februar rief er die Islamische Republik aus. DIE REVOLUTION In diesem Jahrhundert hat es in der Welt viele gewaltsame Regierungswechsel gegeben: In den letzten vierzig Jahren sind die Monarchien von Ägypten, Irak und Libyen durch Armeeputsche hinweggefegt worden; Griechenland, Türkei, Spanien und Portugal haben zwischen militärischen und zivilen Regierungen geschwankt; in Frankreich hat es seit 1940 drei Wechsel der Regierungsform gegeben. Aber in all diesen Fällen haben die lebensnotwendigen Instrumente des Staates den Wechsel überstanden, sowie auch bei allen Staatsstreichen in Lateinamerika, mit der Ausnahme von Kuba. Was im Iran geschah, war aber kein gewöhnlicher Staatsstreich. Es war eine Revolution. Die Polizei, die Justiz, die gesamte Struktur staatlicher Autorität brach zusammen, und das Vakuum wurde von militanten Geistlichen und Studenten gefüllt. Die Verfassung, die Gesetze, das Erziehungssystem, die Wirtschaft œ alles wurde über den Haufen geworfen. Der Wechsel war so katastrophal wie die Russische oder die Chinesische Revolution, das Ende der Monarchie in Äthiopien oder der Untergang der portugiesischen Kolonialregierungen in Afrika. Noch gravierender ist, daß der Iran ein relativ moderner, entwickelter Staat war, nicht ein rückständiges Land wie Äthiopien, und auch keine verheerenden Kriege hinter sich hatte wie Rußland oder China. Und trotzdem fiel das Land binnen 18 Monaten von einer Diktatur des 20. Jahrhunderts zurück in eine -455-
mittelalterliche Theokratie. Die iranische Außenpolitik änderte sich sofort. Die israelische Botschaft in Teheran wurde in aller Eile aufgegeben. Amerikanische Techniker, die Horchposten zur Überwachung der sowjetischen Raketentestgelände im nordöstlichen Iran bedienten, wurden hastig aus dem Land gebracht und ließen den Großteil ihrer Ausrüstung zurück. Am 14. Februar wurde die US-Botschaft angegriffen, und das US-Konsulat in Täbris im Westen des Landes œ einem bedeutenden Vorposten und Schauplatz wichtiger Begegnungen œ wurde vom Mob gestürmt. Fünf Tage nach der Machtübernahme Khomeinis wurden die ersten hohen Offiziere der Armee des Schah hingerichtet. Bald ging der revolutionäre Terror los: Zwischen Februar 1979 und Januar 1980 wurden zumindest 582 Menschen exekutiert, in den folgenden 18 Monaten waren es 906 Tote. Nach den Morden des Sommers 1981 (siehe unten), als die Revolution eindeutig auf der Kippe stand, kam es im ganzen Land zu Massenhinrichtungen. Die Opposition im Untergrund stellte eine Liste zusammen, die zwischen Juni 1981 und September 1983 7.746 Hingerichtete umfaßte. Der Historiker Shaul Bakhash schätzt, daß insgesamt 10.000 Menschen zwischen 1979 und 1983 exekutiert worden sind. Die Tötungen gingen während des Krieges gegen den Irak weiter, und nach dem Waffenstillstand 1988 wurden mindestens 3.000 Gefangene aus dem Kerker geholt und erschossen. So entledigte sich das Regime überlebender Monarchisten wie Linker gleichermaßen. Wie bei anderen Revolutionen gab es einen ständigen Konflikt zwischen den gemäßigten Führern und den Extremisten, und die Extremisten gewannen immer. Das besondere am Iran war, daß die Extremisten keine Linken waren, sondern fundamentalistische Moslems. Mehdi Barzagan, der erste Ministerpräsident, den Khomeini ernannte, hielt sich neun Monate (Bakhtiar hatte klugerweise das Land verlassen). Er versuchte, die Staatsmaschinerie am Laufen zu halten und Beziehungen zu den USA herzustellen. Das war allerdings ziemlich unmöglich: Der frühere Schah, der seit seiner Exilierung eine Wanderschaft von Marokko nach Panama auf die Bahamas hinter sich -456-
gebracht hatte, erhielt am 2. Oktober 1979 die Einreiseerlaubnis in die USA, um sich medizinischen Untersuchungen zu unterziehen. (Später stellte sich heraus, daß er an inoperablem Krebs litt). Das führte zu einem Aufschrei im Iran, und die USA wurden als Werkzeug der Konterrevolution bezeichnet. Am 1. November traf Barzagan in Algier mit Brzezinski zusammen, am 4. wurde die amerikanische Botschaft in Teheran besetzt œ wobei 55 Geiseln genommen wurden œ , und am 6. trat Barzagan zurück. Abol-Hasan Bani-Sadr wurde im Januar 1980 unter einer neuen Verfassung Präsident. Er war in Paris ein enger Vertrauter Khomeinis gewesen, war aber weniger extrem als seine islamischen Kollegen, die er als ‡eine Handvoll faschistischer Mullahs— bezeichnete. Er hoffte, die Revolution unter Kontrolle zu bekommen, scheiterte aber völlig und mußte zuletzt flüchten, um sein Leben zu retten. Seine Autorität als Staatspräsident wurde unterminiert von den Führern des Wächterrates, von den Revolutionsgarden, von den Revolutionskomitees und von den Studenten, die die amerikanischen Geiseln festhielten œ und über allem von Khomeini selbst, der für Mäßigung so wenig Zeit hatte wie Mao Tsetung. Die Revolution nahm ihren Lauf, und die Geiseln wurden eine wichtige Waffe der Extremisten. Durch nahezu kriminellen Leichtsinn waren ihnen auch die Akten der US-Botschaft in die Hände gefallen. Der letzte Botschafter beim Schah, William Sullivan, hatte Ende 1978, als das Regime zusammenbrach, die Akten nach Washington bringen lassen und nur die wichtigsten Unterlagen in Teheran behalten. Als die Botschaft am 14. Februar 1979 zum ersten Mal angegriffen wurde, jagte man diese Dokumente auch prompt durch den Reißwolf. Als Sullivan aber das Land verließ, wurden die meisten Akten wieder zurückgebracht und nach der Stürmung der Botschaft von den Iranern unversehrt aufgefunden. Viele iranische Politiker wurden verhaftet œ und zum Teil auch hingerichtet œ, da sich den Akten entnehmen ließ, daß sie mit den Amerikanern vor der Revolution zusammengearbeitet hatten. Linke Gruppen im Iran und die geistlichen Extremisten benützten die Geiselaffäre als Mittel, die Gemäßigten und die USA zu diskreditieren. Khomeini stellte mehrere unmöglich zu erfüllende -457-
Bedingungen für ihre Freilassung, und Bani-Sadr versuchte, zwischen der Unnachgiebigkeit der Extremisten œ und Khomeinis œ und der amerikanischen Forderung nach Freilassung der Geiseln zu manövrieren. Am 24. April unternahmen die Amerikaner einen schlecht organisierten Befreiungsversuch, der kläglich scheiterte und acht Menschenleben forderte. Die Extremisten nützten die Gelegenheit, der Welt die amerikanische Perfidie vor Augen zu führen und außerdem zu demonstrieren, daß im Iran noch viele Verräter am Werk seien. Es gab eine Säuberungsaktion unter den Kommandeuren der Streitkräfte, und zwei angebliche Putschpläne wurden aufgedeckt. Mehr als 100 Offiziere wurden exekutiert. Bani-Sadr wurde zunehmend zur Seite gedrängt, und zwischen den Linken und den islamischen Extremisten kam es zu offenen Feindseligkeiten. Im modernen Iran bedeutete das, daß bei Ausschreitungen und willkürlichen Hinrichtungen Hunderte Menschen getötet wurden, als die Mullahs, von Khomeini ermutigt, ihre Angriffe auf die Linken steigerten. Zugleich revoltierten die nationalen Minderheiten im Iran. Die wichtigsten waren die Kurden im Westen (siehe DIE KURDEN) und die Aserbeidschaner im Nordwesten, aber es gab auch heftige Unruhen unter den Belutschen im Osten und anderen Stämmen längs der sowjetischen Grenze. Das Land schien auseinanderzubrechen. Als der Irak am 22. September 1980 zu Land und in der Luft angriff (siehe IRAK), verdankte die Revolution ihr Überleben dem Schah. Er hatte so gewaltige Mengen an militärischer Ausrüstung zusammengekauft und so viele Soldaten ausgebildet, daß die iranische Armee dem ersten irakischen Ansturm standhalten konnte. Wie in der Sowjetunion 1941 mußte die Regierung in aller Eile Hunderte Armee- und Luftwaffenoffiziere aus dem Gefängnis holen, um das Vaterland zu retten. Die Krise machte die Armee wieder zu einem Machtfaktor im Land, führte aber auch zu einer Erstarkung der Revolutionswächter. Sie erlitten zunächst schreckliche Verluste an der Front, aber im Verlauf des Krieges wurden sie zu einer schlagkräftigen Kampftruppe umgeformt, eine Art SS, die früher oder später mit der Armee in -458-
Konflikt geraten muß. Der Krieg gegen den Irak beschleunigte die Lösung der Geiselaffäre. Präsident Carter hatte alle iranischen Konten in den USA und in amerikanischen Banken im Ausland beschlagnahmt. Der Iran brauchte das Geld für den Krieg, und außerdem war jetzt Saddam Hussein vom Irak der Feind. Gegen Ende 1980 gelangten die Verhandlungen über einen Austausch der Geiseln gegen die Freigabe der Konten zum Abschluß, wobei die algerische Regierung als tatkräftiger Vermittler auftrat. Die Geiseln wurden schließlich am 21. Januar 1981 freigelassen, just als Ronald Reagan in Washington das Präsidentenamt übernahm. Bani-Sadr versuchte in dieser Situation seine Autorität wiederzugewinnen, scheiterte aber damit, und die politischen Kämpfe wurden heftiger. Seine Anhänger wurden von Mitgliedern klerikaler Parteien angegriffen, manchmal auch getötet. Dann entmachtete ihn der Ministerpräsident Mohammed Ali Rajai völlig, und Ende März 1981 ließ auch Khomeini ihn im Stich. Er wurde im Juni als Oberkommandeur der Armee abgesetzt und mußte sich verstecken. Die Linken unternahmen einen letzten Versuch, an die Macht zu gelangen. Die Mudschahedin œ bei weitem die größte Organisation, eine nationalistische, sozialistische Gruppe, die an den ‡revolutionären Terror— glaubte œ bildeten eine lose Allianz mit Kommunisten und kurdischen Sozialisten und schickten ihre Gefolgsleute in die Straßen zum Kampf gegen die Revolutionswächter. Bei den mehrtägigen Kämpfen starben einige hundert Menschen. Am 21. Juni wurde von den Mullahs Anklage gegen Bani-Sadr erhoben œ eine schallende Niederlage für die Gemäßigten und die Linken. Am 29. Juli flohen Bani-Sadr und der Mudschahedin-Führer Massoud Rajavi aus dem Land. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Mudschahedin eine Terrorkampagne in Teheran begonnen. am 28. Juni zerstörte eine Autobombe das Hauptquartier der Regierungspartei, der ‡Islamischen Republikanischen Partei—, tötete vier Minister und mehr als 30 weitere Beamte, vor allem aber den Generalsekretär der Partei, Mohammed Beheshti, möglicherweise der wichtigste Mann in der Regierung nach Khomeini selbst. Am 30. August starb der neue Präsident Mohammed -459-
Ali Rajai, der als Ministerpräsident Bani-Sadr verfolgt hatte, durch eine Bombe. Bei anderen Bombenanschlägen starben der neue Ministerpräsident und der Polizeichef, sowie eine Woche später der Generalstaatsanwalt. Die Mordanschläge gingen in Wellen durch das Land, Hunderte Beamte fielen ihnen zum Opfer. Im September gingen die Mudschahedin abermals auf die Straßen, in der Hoffnung, das Regime genauso zu Fall zu bringen wie einige Jahre zuvor den Schah. Die Straßenschlachten gipfelten am 27. September nach tagelangen Kämpfen in einer erbitterten Schlacht zwischen Mudschahedin und Revolutionswächtern. Die Wächter siegten. Die Regierung reagierte mit aller Gewalt und exekutierte Tausende angebliche Feinde. Die meisten der Erschossenen kamen von links, aber die Gefängnisse wurden auch gleichzeitig von gefangenen Schahtreuen und anderen Oppositionellen gesäubert. Der Ajatollah Shariatmadari, der geistige Führer der Aserbeidschaner in Täbris, wurde abgesetzt. Es waren die gefährlichsten Augenblicke für die Revolution. Das Regime machte keinen Unterschied zwischen Alter und Geschlecht. Zwölfjährige Knaben wurden erschossen, weil sie an Demonstrationen teilgenommen hatten. Mehr als die Hälfte der Hingerichteten waren Studenten. Die meisten Oppositionsgruppen wurden ausradiert, zurück blieben nur die Kurden in ihren Bergen und die Mudschahedin, die zahlreich und erfahren genug waren, um zu überleben. Für den Augenblick zumindest hatte die Islamische Republik ihre Feinde besiegt. 1986 gab die französische Regierung dem starken iranischen Druck nach und wies Massoud Rajavi aus Paris aus. Er ging nach Bagdad und kündete an, weiterhin eine Guerillaarmee gegen das Regime zu führen. Er scheint bisher keinen sichtbaren Erfolg erzielt zu haben, obwohl er mit seinen Truppen in den letzten Tagen des Krieges im Iran einfiel und kurze Zeit eine Grenzstadt besetzte. DIE DÄMMERUNG DES AJATOLLAH Ajatollah Khomeini blieb der unangefochtene Führer des Iran, aber aufgrund seines Alters (geboren 1902) kam es zu dem -460-
unvermeidlichen Kampf um die Nachfolge. Die Ereignisse in China haben gezeigt, wie schwierig es ist, unter solchen Umständen eine Vorhersage zu treffen. Ein führender Geistlicher mag Khomeinis Amt erben, aber nicht seine Autorität. Das endgültige Ergebnis wird davon abhängen, wie das Kräfteverhältnis zwischen Armee, Revolutionswächtern und der Islamischen Republikanischen Partei aussehen wird. Die Politik in Teheran war vom Krieg gegen den Irak beherrscht. Am Anfang brachte der Enthusiasmus der Revolutionswächter Erfolge. Die erste irakische Offensive wurde bei Abadan und Ahwaz zum Stehen gebracht, und die erste iranische Gegenoffensive 1981 trieb die Iraker zurück auf ihre eigenen Grenzen. Die Iraner gewannen zwei bedeutende Ölfelder am Mittelabschnitt der Front. Und im Februar 1986 überquerten sie den Schatt el-Arab und besetzten die Halbinsel Fao. Der Großangriff auf Basra im Dezember 1986 war ein Fehlschlag. Nachdem die Stadt wochenlang unter Artilleriebeschuß gelegen war, stürmten die Revolutionswächter über die deckungslose Ebene gegen die irakischen Stellungen wie einst die Engländer an der Somme oder die Franzosen vor Verdun œ und sie erlitten das gleiche Schicksal. In der modernen Kriegsführung ist die organisierte Verteidigung allemal dem Angriff überlegen, ganz gleich, mit welchem Fanatismus er durchgeführt wird. Es gab ununterbrochen Demonstrationen in Teheran und anderen Städten, in denen Hunderttausende junger Männer sich dem Märtyrertum weihten, aber ebenso ununterbrochen gab es Begräbnisse, wenn die Iraner ihre gefallenen Söhne begruben. Der Märtyrereifer der Nation war an seine Grenzen gekommen: Sieben Jahre waren genug. Die Revolutionswächter hatten wie Maos Rotgardisten 20 Jahre zuvor geglaubt, sie könnten mit ihrem Enthusiasmus und ihrer Hingabe alles erreichen. Hatte nicht der Ajatollah jedem Gefallenen das Paradies versprochen? Aber die Ereignisse hatten gezeigt, daß diese Aussicht nicht mehr genügte, daß mit religiösem Märtyrertum allein keine Kriege mehr zu gewinnen sind. Aber schlimmer noch, nicht alle Moslems der Welt unterstützten den Kurs des Ajatollah. Sogar die Schiiten im Irak zogen die blutige Tyrannei des sunnitischen Saddam Hussein dem schiitischen Paradies Khomeinis vor. Hussein war Araber, Khomeini Perser, und 13 -461-
Jahrhunderte Feindschaft lassen sich nicht durch eine Freitagspredigt wegwischen. Die einzigen, die sich dem Ajatollah wirklich verschworen, waren die führungslosen Schiiten im Libanon, und selbst von denen folgten nicht alle dem Ruf zum Heiligen Krieg. Die iranische Wirtschaft stand vor dem Zusammenbruch. Krieg und Revolution hatten ihren Tribut gefordert. Nur die Kriegsindustrie überlebte, und der Lebensstandard fiel dramatisch. Es gab nicht mehr genug Rekruten für die Revolutionsgarden; die iranische Kriegsmaschine konnte die riesigen Armeen, die in den frühen Tagen singend in den Kampf gezogen waren, nicht mehr auf die Beine stellen. Der gewaltige Waffenvorrat aus den Zeiten des Schah war aufgebraucht. Der große Vorteil des Iran gegenüber dem Irak œ die vierfache Bevölkerungszahl œ war nutzlos, wenn es keine Gewehre für die Soldaten gab. Das Land schlitterte unaufhaltsam in den Bankrott. Der Koran verbietet Zinsgeschäfte, und Khomeini interpretierte dieses strenge Gesetz so, daß der Iran nicht gegen zukünftige Erdölerträge Geld aufnehmen dürfe, um die Kriegskosten zu bezahlen. Der Iran bezahlte bar, und als die Reserven erschöpft waren, mußten die Erdöleinkünfte herhalten. Diese Erlöse sanken aber von 20 Milliarden Dollar im Jahre 1982 auf 5 Milliarden 1988. Bei einem OPEC-Treffen im Juni 1988 blockierte Saudi-Arabien, das die diplomatischen Beziehungen zum Iran zwei Monate zuvor abgebrochen hatte, einen verzweifelten Vorschlag der Iraner, die Erdölförderung zu drosseln und dadurch den Preis wieder anzuheben. 1988 waren die iranischen Importe für nichtmilitärische Zwecke, einschließlich so notwendiger Güter wie Ersatzteilen für die Ölförderung, auf ein Minimum zusammengeschrumpft, um wenigstens den Waffeneinkauf zu ermöglichen, aber es gab einfach nicht mehr genug Geld, um all die von der Armee dringend benötigten Waffen zu kaufen. Der Krieg war bis ins Hinterland vorgedrungen. Das ständige Bombardement von Teheran und anderen Städten mit irakischen Raketen hatte einen Großteil der Bevölkerung aufs Land hinausgetrieben. Die Angriffe erreichten niemals ein solches Ausmaß wie die deutschen V-2-Angriffe gegen London, ganz zu schweigen von den Bombenangriffen des 2. Weltkriegs, aber sie drückten sicherlich schwer auf die Moral der Iraner. -462-
Zum erstenmal seit Jahren gab es wieder öffentliche Opposition. Khomeinis erster Ministerpräsident Mehdi Bazargan schrieb im Mai 1988 einen offenen Brief an den Ajatollah, in dem er die Kriegspolitik für falsch erklärte: ‡Seit 1986 haben Sie nicht aufgehört, den Sieg zu verkünden, und jetzt rufen Sie die Bevölkerung zum Durchhalten bis zum Sieg auf. Ist das nicht ein Eingeständnis des Scheiterns Ihrer Politik?— In dem Brief wurde festgestellt, daß die irakische Wirtschaft überlebte, während der Iran am Rand des Bankrotts stünde. 1988 traten die iranischen Truppen nicht zu einer abermaligen Generaloffensive an, sondern stießen durch die irakischen Verteidigungslinien im Zagrosgebirge. Sie nahmen zwei irakische Divisionen und ihren Kommandeur gefangen. Die Front verlief nun in Sichtweite des Staudammes, der den Hauptanteil der Wasserversorgung Bagdads sichert, aber es waren noch 160 Kilometer Gebirge, bevor die Iraner in die Ebene durchbrechen hätten können. Es war ihr letzter Erfolg, und er wurde durch den Verlust der Halbinsel Fao am 17. April und weitere Gebietsverluste bei Basra am 25. Mai mehr als zunichtegemacht. In diesen beiden Schlachten eroberte der Irak beinahe das gesamte Gebiet im Süden zurück, das er im Lauf des Krieges verloren hatte. Am 26. Juni eroberte er auch die Insel Majnun zurück, und am 11. Juli wurden die Iraner aus Kurdistan hinausgetrieben. Diese irakischen Siege wurden schnell und leicht errungen. Die Iraner leisteten kaum Widerstand. Sie waren offensichtlich erschöpft. Ende Mai verkündete Khomeini seinen Rücktritt vom Oberbefehl der Streitkräfte. Zu seinem Nachfolger ernannte er Ali Rafsanjani. Dieser bekam den Auftrag, die Streitkräfte, die Revolutionswächter, die Sicherheitskräfte und freiwillige Milizen zusammenzufassen. Welche Bedeutung diese Ernennung auch immer für die späteren Nachfolgekämpfe hatte, sie zeigte auf jeden Fall ein großes Problem auf, dem sich der Iran gegenüber sah: Der Konflikt zwischen den Streitkräften und den Revolutionsgarden. Kurz gesagt, dadurch wurde den Profis die Kontrolle über die Kriegsmaschine eingeräumt. Hojatolislam Ali Akbar Hashemi Rafsanjani, Sprecher der Mullahs, war jener iranische Würdenträger, mit dem die Regierung Reagan 1985 und 1986 verhandelte, um die Freilassung der amerikanischen Geiseln im Libanon zu erreichen œ eine Affäre, die später als -463-
‡irangate— bekannt wurde. Die amerikanische Überlegung war, daß Rafsanjani ein potentieller Nachfolger Khomeinis sei und daß frühzeitige Kontakte mit ihm auf Dauer den amerikanischen Interessen nützen würden. Seine Gunst könnte durch Waffenlieferungen an den Iran gewonnen werden, und im Gegenzug sollte er die Freilassung der Geiseln durchsetzen. Die geheimen Gespräche dauerten mehrere Monate und schlossen auch einen Besuch von Rafsanjanis Sohn in Washington ein, der von Oliver North, einem Angehörigen des Stabes des Nationalen Sicherheitsrates, durch das Weiße Haus geführt wurde. North wurde später in dem Iran-Contra-Skandal zur amerikanischen Zentralfigur. Es gab mehrere Waffenlieferungen, einschließlich Panzerabwehr- und Luftabwehr-Raketen, und zwei amerikanische Geiseln im Libanon wurden tatsächlich freigelassen. Es ist niemals klar geworden, ob Rafsanjani die amerikanischen Vorleistungen angenommen hat œ die angestrebten Beziehungen blieben unverändert schlecht. Rafsanjani ist ein Mann von großer Anpassungsfähigkeit, anders als viele seiner Rivalen, die unbeugsame Fanatiker sind; seine persönliche Absicht war, den Nachfolgekampf langfristig zu gewinnen, was nicht unbedingt sofort nach Khomeinis Tod funktionieren muß. Das Oberkommando der Streitkräfte würde ihm entweder die Waffen in die Hand geben, die er für den Sieg brauchte, oder ihn zum unrettbaren Sündenbock für den verlorenen Krieg machen. Die Tatsache, daß der Ajatollah die Verantwortung für den Waffenstillstand auf sich nahm, bot Rafsanjani einigen Schutz. Nur die Zeit wird erweisen, ob er auch tatsächlich ausreicht. DIPLOMATIE Während des ganzen Krieges versuchten die UNO und die arabischen Länder immer wieder, zwischen den beiden Kriegsparteien zu vermitteln. Algerien unternahm bereits ganz früh Anstrengungen, stellte diese aber abrupt ein, als der Irak am 3. Mai 1982 ein Flugzeug abschoß, in dem der algerische Außenminister Mohammed Ben Yahia mit 12 Kabinettskollegen saß. Sie waren auf dem Flug nach Teheran, und die Algerier vermuteten, daß der Abschuß kein unglücklicher Zufall war. Dieser Zwischenfall folgte auf Saddam Husseins erste -464-
Anstrengungen, aus der selbstgestellten Falle zu entkommen: Im März 1982 hatte er angeboten, die irakischen Streitkräfte auf die ursprüngliche zwischenstaatliche Grenze zurückzuziehen. Der Iran hatte diesen Plan abgelehnt. Er würde sein Territorium aus eigener Kraft zurückerobern, und der Iran forderte, daß Hussein abgesetzt werden, der Irak formal zum Angreifer erklärt und zur Leistung von Wiedergutmachungszahlungen verpflichtet werden müßte. In dieser Haltung verharrten beide Seiten während der nächsten sechs Jahre. Der Weltsicherheitsrat verabschiedete am 20. Juli 1987 die Resolution 598. Darin rief er zum unmittelbaren Waffenstillstand auf, schlug die Einsetzung einer internationalen Kommission zur Klärung der Kriegsschuldfrage vor und legte Sanktionsmaßnahmen fest, die in Kraft treten sollten, falls einer der beiden Kriegführenden das Abkommen verletzen würde. Während des darauffolgenden Jahres versuchten die USA, die anderen Sicherheitsratmitglieder dazu zu bringen, Sanktionen zu verhängen, kamen damit aber nicht recht weiter. Es war ausschließlich die Serie der Niederlagen des Iran, die im Frühjahr 1988 zum vorläufigen Ende des Krieges führte. Kurz bevor der Iran den Waffenstillstand akzeptierte, schoß am 3. Juli das amerikanische Kriegsschiff USS Vincennes einen Airbus der iranischen Zivilluftfahrtgesellschaft ab, und alle 290 Menschen an Bord starben. Dieser Abschuß war ein schlagender Beweis für die Fehlerträchtigkeit moderner Technologie. Die Vincennes war mit dem modernsten und ausgeklügeltsten Luftabwehrsystem der Welt ausgerüstet dem ‡Aegis—-System œ, aber sein Erfolg beruht darauf, daß jeder Matrose so präzis und ruhig arbeitet wie ein Computer. Einer der Waffenoffiziere interpretierte die Meldungen falsch und hielt den Airbus für eine angreifende F-15. Am 18. Juli 1988 verkündete Rafsanjani, daß der Iran die Resolution 598 annehme. Zwei Tage später wurde Khomeinis Rede über den Rundfunk ausgestrahlt. Sie war voll der alten, wilden Schmähungen seiner Feinde: ‡Wir haben wiederholt in unserer auswärtigen und internationalen islamischen Politik gezeigt, daß wir die Absicht hatten und haben, den Einfluß des Islam in der Welt zu verbreiten und die Herrschaft der die Welt Verschlingenden zu mindern. Nun behaupten die Knechte der -465-
Vereinigten Staaten, diese Politik sei expansionistisch und von dem Wunsch getrieben, ein großes Reich zu errichten. Wir fürchten das nicht, sondern heißen es willkommen ... Wir müssen die Klauen und Zähne der Supermächte zerschlagen, vor allem der USA. Und wir müssen eine der beiden Alternativen wählen œ Sieg oder Märtyrertum, und wir betrachten beides als Sieg.— Er setzte mit Drohungen gegen Saudi-Arabien und Kuwait fort: ‡Ihr alle werdet mitschuldig an den Abenteuern und Verbrechen der Vereinigten Staaten. Wir haben noch nicht mit jenem Kampf begonnen, der die gesamte Region mit Blut und Feuer überziehen und alles verändern würde.— Er gab freimütig zu, daß der Krieg verloren war: ‡Die Annahme dieser Resolution war wahrhaftig eine sehr bittere und tragische Sache für jeden, besonders für mich. Bis vor wenigen Tagen glaubte ich an die Methoden der Verteidigung und die Standpunkte, die wir im Krieg vertreten haben ... Aber im Zuge der Ereignisse und Faktoren, über die ich im Moment nicht weiter nachdenken möchte, aber mit Gottes Hilfe in der Zukunft Klarheit erlangen werde und angesichts der Meinungen all der hochrangigen politischen und militärischen Experten des Landes, in deren Kompetenz, Sympathie und Ernsthaftigkeit ich volles Vertrauen setze, stimmte ich der Annahme der Resolution und des Waffenstillstandes zu.— Die Iraner verlagerten ihre Tätigkeit an den Verhandlungstisch, was lange und erbitterte Auseinandersetzungen mit den Irakern über ein Friedensabkommen versprach. Beide Seiten verlangten die Herrschaft über den Schatt el-Arab. Iran hatte seine Anstrengungen zum Sturz von Saddam Hussein eingestellt, verweigerte aber die Rücknahme irgendeiner der anderen Forderungen. Der Iran sah sich nach dem Krieg gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Problemen gegenüber, und es war offensichtlich, daß er ohne Hilfe von außen keine Hoffnung haben konnte, die Erdölindustrie, ganz zu schweigen von allen anderen Industriezweigen, wieder in Schwung zu bringen. Die Regierung unternahm vorsichtige Schritte, um die Beziehungen zum Rest der Welt zu normalisieren, aber am 14. Februar 1989 verhängte Khomeini über den in Pakistan geborenen -466-
Schriftsteller Salman Rushdie wegen Blasphemie und Gotteslästerung das Todesurteil. Dieser plötzliche Ausbruch fundamentalistischer Unnachgiebigkeit brachte jeden diplomatischen Fortschritt zum Stillstand. Khomeini starb am 3. Juni 1989, aber sein Gedankengut beherrschte weiter den Iran. Seine Nachfolger hoben das Todesurteil über Rushdie nicht auf. Rafsanjani wurde zum Staatspräsidenten gewählt und legte das Amt des Parlamentspräsidenten nieder. Er entfernte die militantesten Fundamentalisten aus der Regierung, ließ aber keine Anzeichen einer Wiederannäherung an den Westen erkennen. Er unternahm auch nichts zur Freilassung der Geiseln in Beirut. Der Iran bleibt ein Außenseiter der Staatengemeinschaft, der über seiner Revolution brütet. In einem Versuch, sich angesichts der internationalen Reaktion auf den Überfall auf Kuwait den Rücken freizumachen, bot Saddam Hussein am 15. August 1990 dem Iran unvermittelt die Friedenshand. Die irakischen Truppen räumten das gesamte Gebiet, das sie nach acht Kriegsjahren erobert hatten œ wodurch Divisionen frei wurden œ, und unmittelbar darauf begann die Repatriierung der Kriegsgefangenen. Trotz dieser Geste war der Iran zunächst nicht bereit, auf die Seite von Bagdad zu treten.
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ISRAEL Geographie: 20:770 km2. Besetzte Gebiete: 7.115 km×. Bevölkerung: 4,2 Millionen israelische Bürger: 3,5 Millionen (82,9 %) Juden; 550.000 (13,5 %) Moslems; 86.000 (2,3 %) Christen; 53.000 (1,3 %) Drusen. Seit 1967 hat es keine Volkszählung unter den Arabern der besetzten Gebiete gegeben. 1988 wurden folgende Zahlen geschätzt: Westbank 790.000; Gaza-Streifen 540.000; Ost-Jerusalem 130.000. Auf den Golan-Höhen leben 12.000 Drusen. 1987 lebten rund 51.000 Israelis in der Westbank, 2.000 im Gaza-Streifen, 6.700 auf den Golan-Höhen. Flüchtlinge: 385.630 Menschen in der Westbank und 459.070 im Gaza-Streifen sind von der UNRWA (1988) als Flüchtlinge anerkannt. Verluste: Am 40. Jahrestag der Unabhängigkeit Israels, dem 20. April 1988, wurde die Zahl der in den verschiedenen Kriegen und Auseinandersetzungen getöteten Israelis mit insgesamt 16.450 angegeben. Ende 1989. drei Jahre nach dem Beginn der Intifada, sind 530 Araber durch Sicherheitskräfte, 150 Palästinenser durch andere Araber und 39 Israelis durch Araber getötet worden. Während seiner gesamten frühgeschichtlichen Zeit als eine jüdische Kolonie in Palästina und während der ersten 20 Jahre seiner Unabhängigkeit sah sich Israel als einen David im Angesicht eines unbesiegbaren arabischen Goliath, der auf seine Vernichtung aus war. Die Wende kam im Juni 1967, als David die vereinigten Armeen von Ägypten, Jordanien und Syrien besiegte und die Altstadt von Jerusalem ebenso eroberte wie die Höhen von Samaria und Judäa. Seit damals war Israel die beherrschende Militärmacht im Nahen Osten, und all die internationale Sympathie, die dem eingekreisten David entgegengebracht worden war, ging langsam zurück und wurde zunehmend auf die unterdrückten Palästinenser übertragen. Als Israel 1982 im Libanon einmarschierte und Beirut bombardierte, blieben nur die USA sein unbeirrbarer Freund, einerseits wegen der Größe der jüdischen Gemeinde in Amerika, anderseits wegen der sowjetischen Unterstützung der Araber, die im Bewußtsein der amerikanischen -468-
Öffentlichkeit mit den Mächten des Bösen verknüpft wurden. Arabische Terroristen richteten ihre Angriffe auch gegen Amerikaner und festigten dadurch natürlich die amerikanischisraelische Allianz noch mehr. Als sich der ägyptische Präsident Anwar Sadat zum Frieden mit Israel entschloß, spielten die USA die notwendige Rolle des Vermittlers. Zehn Jahre danach haben wechselnde amerikanische Regierungen versucht, andere arabische Regierungen dazu zu bewegen, diesem Beispiel zu folgen œ ohne Erfolg. Die Araber bestehen darauf, daß das ohne die Miteinbeziehung der Palästinenser unmöglich und daß der wahre Repräsentant der Palästinenser die PLO sei. Schließlich beugte sich Yassir Arafat, der Vorsitzende der PLO, 1988 der Realität. Hatte er jahrzehntelang das Existenzrecht Israels geleugnet und geschworen, die Juden ins Meer zu treiben, so stimmte er nun zu, daß zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer zwei Staaten bestehen sollten, Israel und Palästina, und daß man sich diesem Ziel in offenen Verhandlungen mit Israel nähern müsse. Die USA zögerten, aber sie akzeptierten diese politische Veränderung. Israel hatte nunmehr seinen letzten diplomatischen Rückhalt verloren und stand alleine gegen die Welt. GESCHICHTE Nicht viele Nationen haben eine Geburtsurkunde. Die des Staates Israel war ein Brief, den der britische Außenminister Sir Arthur Balfour am 2. November 1917 an Lord Rothschild richtete: Verehrter Lord Rothschild, Ich bin sehr erfreut, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgenden Erklärungen der Sympathie mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen übermitteln zu können, die dem Kabinett vorgelegt und von ihm gebilligt worden sind: Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen sollte, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen -469-
Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung zur Kenntnis der Zionistischen Weltorganisation bringen würden. Ihr ergebener Arthur Balfour Man muß beachten, daß diese Balfour-Deklaration, der sich auch bald die französische Regierung anschloß, den Juden nicht Palästina als nationale Heimstätte versprach, sondern eine Heimat in Palästina. Genausowenig legte sie Grenzen Palästinas fest. Siebzig Jahre später ist es ebenso unmöglich wie nutzlos, darüber zu diskutieren, ob Balfour und die anderen Politiker unaufrichtig waren. Auf jeden Fall ist es klar, daß die britische Regierung innerhalb weniger Jahre bemerkt hatte, daß die beiden Versprechen in der Deklaration nicht gleichermaßen eingehalten werden konnten. Es war nicht möglich, Juden und Palästinenser zufriedenzustellen. Einen Monat, nachdem diese Deklaration geschrieben worden war, besetzten britische Truppen unter Lord Allenby Palästina. Nach dem Krieg teilten Briten und Franzosen die Levante auf, die Briten bekamen den Irak und Palästina als Völkerbundmandate, die Franzosen nahmen Syrien. Obwohl die USA dem Völkerbund nicht angehörten, wurde diese Vereinbarung vom Kongreß ratifiziert. Aufgrund dieser Abwesenheit der USA kontrollierten Briten und Franzosen den Völkerbund, und sie konnten daher auch die Bestimmungen ihrer Mandate nach Belieben festsetzen. Diese Bestimmungen sollten gewährleisten, daß die Schutzmächte ihre Mandate im Interesse der jeweiligen Einwohner handhabten. Die Balfour-Deklaration wurde dem britischen Mandatsstatut für Palästina einverleibt, die Schaffung einer ‡nationalen Heimstätte für die Juden— wurde zu einer internationalen Verpflichtung. Briten und Franzosen legten die nördliche Grenze von Palästina fest, nun die Grenze zwischen Israel und dem Libanon, und die Briten übergaben Ostpalästina, als Transjordanien, dem Emir Abdullah ibn Hussein (siehe SYRIEN). Die Wünsche der Araber in diesen Gebieten wurden nicht beachtet, obwohl Präsident Wilson eine Untersuchungskommission in die Levante schickte, die zu der Erkenntnis gelangte, daß die Araber unter keiner wie immer gearteten -470-
fremden Regierung stehen wollten. Aber sollte eine solche Lösung unvermeidlich sein, würden sie ein amerikanisches Mandat einem britischen vorziehen, und das britische immer noch einem französischen. Am 1. Juli 1920 trat Sir Herbert Samuel, ein prominenter englischer (und jüdischer) Politiker sein Amt als Hochkommissar in Palästina an. Am Sabbath nach dem Tischah b‘Ab, dem Tag des Gedenkens an die Zerstörung des Tempels, besuchte Samuel den Gottesdienst in der Großen Synagoge in Jerusalem und las aus dem Buch Jesaja: ‡Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und verkündet der Stadt, daß ihr Frondienst zu Ende geht, daß ihre Schuld beglichen ist.— Er war der erste unbestritten jüdische Gouverneur von Jerusalem, seit der Zerstörung des Tempels durch Titus im Jahre 70 n. Chr. Dieser verheißungsvolle Anfang löste sich bald in einem erbitterten Konflikt zwischen der britischen Mandatsmacht und den Juden in Palästina auf, und gegen Ende der Mandatszeit unternahmen die Briten den Versuch, Israel den Atem abzuschnüren. Von Anfang an waren die britischen Beziehungen zu den Arabern schlecht. Das Problem wurde 1921 durch eine Fehleinschätzung Samuels verschärft, deren Folgen lange nachwirkten. Samuel betrieb die Wahl von Hadsch Amin al-Husseini zum Großmufti von Jerusalem, in der Hoffnung, dadurch das Verhältnis zu den radikalen Arabern zu entspannen. Aber Husseini entpuppte sich als ein fanatischer Gegner der Briten und der Zionisten. Er bekämpfte jeden Kompromiß mit ihnen und trieb die Palästinenser zu Terroraktionen an. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte er in Berlin, wo er von Hitler als Verbündeter hofiert wurde. PALÄSTINA In den letzten Jahren der osmanischen Herrschaft war Palästina eine abgelegene und uninteressante Randprovinz eines verfallenden Reiches. Jerusalem hatte im 19. Jahrhundert eine jüdische Bevölkerungsmehrheit, aber im Rest des Landes waren die Juden eindeutig in der Minderzahl. Zionistische Behauptungen, daß Palästina unbevölkert gewesen sei, oder daß die arabischen Einwohner über die Landesgrenzen hinweg nomadisiert wären, ohne sich -471-
anzusiedeln, sind ziemlichlächerlich. Die ersten zionistischen Siedler ließen sich an der Küstenebene nieder, und die erste jüdische landwirtschaftliche Ansiedlung, Petach Tikvah, wurde 1878 östlich des heutigen Tel Aviv gegründet. Bis 1914 wurden noch weitere Siedlungen errichtet, aber die jüdische Gemeinde war niemals sehr groß. Die ernstzunehmende Einwanderung begann erst mit dem Mandat. Zur Zeit der Balfour-Deklaration, 1917, bestand die Bevölkerung von Palästina, also dem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer, aus schätzungsweise 610.000 Arabern (Moslems und Christen} und 50.000 Juden. Aufgrund der türkischen Verfolgung war die jüdische Gemeinde während des Ersten Weltkriegs um ein Drittel zurückgegangen, aber viele von denen, die geflüchtet waren, kehrten nach der britischen Eroberung Palästinas wieder zurück, und ihnen folgte eine Welle jüdischer Einwanderer. Unter den Neuankömmlingen war auch David Ben Gurion, ein Einwanderer aus Rußland, der von den Türken wegen sozialistischer Agitation ausgewiesen worden war. 1922 gab es bereits 84.000 Juden und 668.000 Araber. Die Juden kauften Land von den Arabern, oftmals von Großgrundbesitzern im Ausland; davon waren große Teile völlig wertlos. 1922 verfügte die Jewish Agency über 60.120 Hektar Land, bis 1939 war dieser Besitz auf 155.140 Hektar angewachsen. Die Juden legten die Sümpfe trocken und bewässerten die Wüste. Sie errichteten Kibbuzim, um das Land zu bebauen und zu besiedeln. Innerhalb einer Generation hatte sich das jüdische Land, rund die Hälfte des bewohnbaren Palästina, bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Die Wüste blühte, Wälder wurden auf den Hügeln gepflanzt, und die Juden errichteten eine eigene Stadt an der Küste: Tel Aviv. Dreißig Jahre nach seiner Gründung, 1909, hatten Menschen aus Polen und Rußland sich das Leben einer mediterranen Hafenstadt geschaffen, wie Alexandria oder Tunis, Piräus, Marseille oder Genua. In diesen ersten unendlich wichtigen schöpferischen Jahren legten die Juden die Fundamente eines modernen Staates. 1919 wurde ein zentralisiertes hebräisches Schulsystem eingeführt, und im Jahr darauf erklärte Samuel Hebräisch neben Arabisch und Englisch zur -472-
offiziellen Amtssprache. Im selben Jahr wurden eine gewählte jüdische Nationalversammlung und die ‡Histadrut— (Allgemeine Arbeitergewerkschaft) gegründet. 1921 wurde ein Oberrabbinat errichtet, 1924 das Technologische Institut in Haifa und 1925 die Jüdische Universität in Jerusalem eröffnet. 1920 wurde die Haganah begründet, der militärische Arm der Jewish Agency, um jüdische Siedler gegen herumstreifende Banditen zu beschützen. Aus diesen Anfängen entstanden ein Vierteljahrhundert später in direkter Linie die sozialen Organisationen, die politischen Parteien, die Knesset, das Erziehungssystem und die Armee des unabhängigen Israel. In den frühen zwanziger Jahren war die Einwanderung nach Palästina zu einem gewaltigen Strom geworden, der dann allerdings wieder zu einem Rinnsal wurde. Es kam sogar zu einer erstaunlichen jüdischen Auswanderungsbewegung. Palästina war noch eine ‡nationale Heimstätte—, kein Refugium. Die Sowjetunion hatte den Auswanderungswilligen den Weg versperrt, die russischen Juden sollten mit allen anderen sowjetischen Bürgern die Vorzüge des Bolschewismus genießen. Aber obwohl sogar die USA die freie Einwanderung gestoppt hatten, gab es keinen Ansturm auf die Alternative Palästina. Polen wechselte zwischen Ausbrüchen des Antisemitismus und Liberalisierungsphasen, aber Frankreich hatte sich von den letzten Ausläufern der antisemitischen Dreyfus-Affäre erholt, und die Weimarer Republik hatte die letzten Beschränkungen der deutschen Juden beiseitegefegt. Es war die Phase der letzten Hochblüte des europäischen Judentums. Man darf auch nicht vergessen, daß unter den Juden die Zionisten nur eine Sekte waren, und beileibe nicht die wichtigste. Viele betrachteten die ‡nationale Heimstätte— nur als ein interessantes Experiment. Dieser Rückgang der Einwandererzahlen war auch darauf zurückzuführen, daß das Leben der Immigranten hart war. Es gab ständig Schwierigkeiten mit den britischen Behörden und mit dem Druck der zionistischen Bewegung von auswärts. Ende der zwanziger Jahre erlitt auch Palästina eine ernsthafte Wirtschaftskrise, und die Abneigung der Araber gegenüber der jüdischen Einwanderung flammte wieder auf. Lokale Unruhen wurden zur täglichen Erscheinung, und es kam regelmäßig zu Angriffen auf jüdische Siedlungen. Nach einem -473-
heftigen Gewaltausbruch seitens der Araber, bei dem es in Hebron zu einem Massaker an sechzig Juden kam, ging die erste einer Reihe britischer Kommissionen nach Palästina. Bei ihrer Rückkehr traf sie wie auch ihre Nachfolger œ die Feststellung, daß die freie jüdische Einwanderung mit den Rechten der palästinensischen Araber unvereinbar sei. Zu dieser Zeit war das ein akademisches Problem, da die jüdische Einwanderung stark zurückgegangen war. Aber von den insgesamt 4.075 Einwanderern im Jahre 1931 stieg die Zahl im Jahr 1932 auf 9.553, und dann kam die große Flut: 1933 kamen 30.327 Juden nach Palästina; 1934 waren es 42.359 und 1935 schließlich 61.854. Die Briten sahen sich mit dem Resultat ihrer Versprechungen konfrontiert. 1936 kam es zu einem arabischen Aufstand, bei dem 80 Juden, 28 Briten und 197 Araber getötet wurden. Die Briten versuchten nun, ihr Dilemma mit strikten Begrenzungen der jüdischen Einwanderung zu lösen œ genau zu dem Zeitpunkt, da sich die größte Katastrophe in der neueren Geschichte des Judentums anbahnte. DER HOLOCAUST Am 30. Januar 1933 kam Hitler an die Macht. Eine der Wurzeln des Erfolges der NSDAP war der offene Antisemitismus, und vom ersten Tag des Dritten Reichs an lastete die Hand des Staates schwer auf den Juden. Sie wurden vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, vom Unterricht und von den freien Berufen, und ihre wirtschaftliche Tätigkeit wurde durch einschneidende Maßnahmen behindert. Die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935, die den Juden das Bürgerrecht nahmen, verschlimmerten die Bedingungen jüdischer Existenz in Deutschland noch einmal. Noch ging die planmäßige Verfolgung nicht weiter. Ab 1933 gerieten viele deutsche Juden in Panik und flüchteten; viele von ihnen ließen ihren gesamten Besitz zurück, da es ihnen nicht gestattet war, mehr als eine lächerliche Summe mitzunehmen. Später stellte sich dann ihre Panik und Flucht als lebensrettend heraus, und alle, die in Geduld abgewartet hatten, waren dem Untergang preisgegeben. Die Verfolgung der Juden wuchs an, als Hitler seine Herrschaft in Deutschland festigte und die wirtschaftliche und militärische Macht -474-
des Reiches ausbaute. Nach dem ‡Anschluß—, der Annexion Österreichs am 12. März 1938, waren die österreichischen Juden brutalen Akten und Demütigungen ausgeliefert, die ein Vorgeschmack des Kommenden waren. Adolf Eichmann, ein RSHA-Offizier österreichischer Abstammung, wurde nach Wien geschickt, um die Vertreibung von sovielen österreichischen Juden wie möglich, die Beschlagnahme ihres Besitzes und ihren völligen Ausschluß aus der österreichischen Gesellschaftsordnung durchzuführen und zu überwachen. Dann ordnete Hitler die Ausweisung aller ausländischen Juden aus dem Deutschen Reich an. Am 7. November 1938 wurde in der deutschen Botschaft in Paris ein Diplomat erschossen. Der Täter war ein siebzehnjähriger Jude, dessen polnischstämmige Familie seit 1914 in Deutschland gelebt hatte und nun ausgewiesen worden war. Die deutsche Regierung nahm, von Goebbels organisiert, mit einem landesweiten Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November Rache an den Juden œ ‡Reichskristallnacht— hieß das in der Diktion der Nationalsozialisten, da Myriaden von Fensterscheiben dabei zu Bruch gingen. Synagogen, Häuser und Geschäfte wurden niedergebrannt, mehr als 100 Juden wurden ermordet, und Tausende wurden in Konzentrationslagern in ‡Schutzhaft— genommen. Sie mußten sich freikaufen. Von diesem Moment an versuchten die Juden in Österreich und Deutschland verzweifelt zu entkommen, ebenso die in den benachbarten Ländern wie der Tschechoslowakei und Polen, die augenscheinlich die nächsten auf der Liste waren. Nach dem arabischen Aufstand von 1936 schickten die Briten eine andere Kommission unter Führung von Lord Peel nach Palästina. Dr. Chaim Weizmann hielt ein bewegendes Plädoyer für die Juden, die in Europa in der Falle saßen: ‡In diesem Teil der Welt sind sechs Millionen Menschen dazu verdammt, an einem Ort zu leben, wo sie nicht gewollt werden, und für die die Welt in Orte geteilt ist, an denen sie nicht leben können, und in Orte, die sie nicht betreten dürfen.— Peel zog einmal mehr die Schlußfolgerung, daß die zionistischen und die arabischen Bedürfnisse unvereinbar seien und kam, erstmals, zur naheliegenden Erkenntnis: Palästina sollte in einen jüdischen und einen arabischen Staat geteilt werden, letzterer mit Transjordanien zu einer Föderation zusammengeschlossen. Auf Drängen Chaim -475-
Weizmanns nahmen die Juden den Vorschlag an, obwohl das ihnen zugedachte Gebiet sehr klein war. Die Araber lehnten diesen Vorschlag ab, eine Entscheidung, die sie seither noch oft bereut haben werden: Ihnen wurde mehrmals ein eigener Staat angeboten, aber nach jedem Sieg Israels war das zur Debatte stehende Territorium kleiner. Das letzte Angebot kam vom US-Außenminister George Shultz im Jahr 1988; aber die Palästinenser und Jordanien wiesen es zurück, und die israelische Regierung fand Formalgründe, es ebenfalls abzulehnen. Die arabische Erhebung dauerte von 1936 bis 1939, bis die Briten sie schließlich niederschlugen, und während dieser Zeit wurde die Haganah zum Schutz der jüdischen Siedlungen ausgebaut. Seltsamerweise unterstützten die britischen Behörden in Palästina die Juden zu einer Zeit, da die britische Regierung mit ihrer Appeasement-Politik den Deutschen nachgab, ebenso wie sie die Araber bevorzugte. Orde Wingate, ein schottischer Offizier und leidenschaftlicher Zionist, organisierte Nachtpatrouillen, um die Haifa-Pipeline zu verteidigen, und viele der späteren Armeeführer Israels begannen ihre Karriere in diesen Kämpfen an seiner Seite. Zum erstenmal seit Jahrhunderten kämpften Juden, um sich zu verteidigen. Es war eine Erfahrung von entscheidender Bedeutung. Im Sommer 1938 lud Präsident Roosevelt zu einer internationalen Konferenz nach Evian in den Französischen Alpen, um das Problem der jüdischen Flüchtlinge zu diskutieren. Delegierte aus 31 Nationen setzten sich zusammen, um die Bitten der Vertreter all der Juden aus Mittel- und Osteuropa anzuhören und ihnen danach zu erklären, warum sie unglücklicherweise nichts für sie unternehmen könnten. Die Briten bestanden hartnäckig darauf, daß ein Limit für die Einwanderung in Palästina erreicht sei. Nach Evian stimmten die USA der jährlichen Aufnahme von 30.000 jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland zu, und Großbritannien übernahm ein gleiches Kontingent. Von den 685.000 Juden in Deutschland und Österreich emigrierten zwischen 1933 und 1940 rund 426.000. Die 100.000, die in die USA gelangten, waren ebenso gerettet wie die 65.000 nach Großbritannien Geflohenen und die 140.000, die Palästina erreichten. Aber viele gingen nach Frankreich, Polen oder, wie die Familie der Anne Frank, in die Niederlande, wo die Gestapo sie später erwischte. Für die Juden Osteuropas gab es -476-
keine Rettung. Die Briten beriefen im März 1939 eine arabischjüdische Konferenz ein. Sie fand im Londoner St. James‘ Palace statt, und sie war ein völliger Fehlschlag. Die Araber, und vor allem die Palästina-Araber, stellten derart extreme Forderungen, daß sie niemals angenommen werden konnten. Sie weigerten sich auch, mit der zionistischen Delegation zusammenzutreffen, und so wurde den Zionisten wenigstens die Unannehmlichkeit erspart, die Vorschläge der Briten zurückzuweisen. am ergebnislosen Schlußtag der Konferenz marschierte Hitler in Prag ein. Der Fall der Tschechoslowakei war das direkte Ergebnis der britischen Appeasementpolitik. Nach der Zerstörung der Tschechoslowakei gab Großbritannien eine Garantie für Polen ab und bereitete sich auf den Krieg vor. Den Deutschen gegenüber war das Appeasement vorbei. Aber die Briten machten die Rechnung auf, daß die luden im Kampf gegen Hitler auf jeden Fall auf ihrer Seite stehen würden, da sie gar keine andere Wahl hätten. Und in jedem Fall waren die Araber weit wichtiger für die Kriegswirtschaft, und so entschied sich die britische Regierung, die Araber zu beschwichtigen, indem sie die Juden verriet. Das ‡infame Weißbuch— erschien am 17. Mai 1939. Darin wurde festgehalten, daß Palästina nicht geteilt würde, daß es seine Unabhängigkeit 1949 erlangen sollte und daß Araber und Juden die folgende Dekade mit der Vorbereitung dieses Ereignisses verbringen sollten. Die jüdische Einwanderung sollte strikt begrenzt werden. In dem Jahr, in dem Hitler die Hand auf 3 Millionen polnische Juden legte, sollte 35.000 Juden die Einwanderung nach Palästina erlaubt werden. In jedem der vier darauf folgenden Jahre würde weiteren 10.000 Juden die Einwanderung gestattet, und während der übrigen fünf Jahre des Mandates sollte es ohne die Einwilligung der Araber überhaupt keine jüdische Immigration mehr geben. Dieses Dokument wird von den Juden heute als Teil des generellen Betruges an ihnen seitens der Demokratien betrachtet. Es ist wichtig zu bedenken, daß die Deutschen mit dem systematischen Judenmord nicht vor dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 begannen. Die Wannsee-Konferenz, auf der die deutsche Regierung formell -477-
beschloß, alle Juden in Europa zu ermorden, fand im Januar 1942 statt. Die britischen und amerikanischen Beamten, die den jüdischen Flüchtlingen die Einreise verwehrten, betrachteten sie als Auswanderer aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen, nicht als Menschen, die um ihr Leben liefen. Zwischen 1933 und 1941, als die deutschen Armeen einen Großteil Europas besetzt hielten, schienen die Juden in keiner schlimmeren Situation als der Rest der Bevölkerung von Polen, Jugoslawien, Griechenland, Frankreich, der Niederlande und der Sowjetunion. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wurden mehr als 25 Millionen Zivilisten aller Nationalitäten, Rassen, Ethnien und Religionen getötet. Auf den Vorwurf ‡Was taten die Alliierten, um die Juden zu retten?— ist die Antwort, daß im September 1939, zwei Jahre vor Beginn des Holocaust, Britannien, Frankreich und die britischen Dominien Deutschland den Krieg erklärten, die einzigen Länder also, die das taten, ehe sie selbst angegriffen worden waren. Im Jahr 1941 wurden die USA (im Dezember) und die Sowjetunion (im Juni) angegriffen und in den Krieg hineingezogen. Die Alliierten bekämpften Hitler bis zum Tod und zerstörten seine Herrschaft. Es waren die Soldaten der Roten Armee, die Auschwitz befreiten, die Briten, die Bergen-Belsen befreiten, die Amerikaner, die Dachau befreiten. Man kann den Alliierten nicht vorwerfen, daß sie nichts für die Juden unternommen hätten: Immerhin besiegten sie Hitler. Der Vorwurf muß vielmehr dahin lauten, daß sie den Holocaust nicht vorhersahen und für die Juden, die ihm entkommen wollten, vorsorgten, und daß sie nach dem Beginn des Mordens nichts zur Rettung der wenigen Tausend unternahmen, die irgendwie aus Hitlers Europa herausgekommen wären. Die Briten blieben bei der Politik des Weißbuches und beschränkten die jüdische Einwanderung in Palästina auf ein Minimum. Wenn Flüchtlingsschiffe das östliche Mittelmeer erreichten, wurden sie aufgebracht und nach Haifa geschleppt, und die meisten Flüchtlinge wurden nach Mauritius oder Zypern weitergeschickt. Der Zwischenfall, der heute noch am lebendigsten im israelischen Bewußtsein steht, besiegelte das Schicksal einer Gruppe rumänischer Flüchtlinge. Es war ihnen gelungen, den alten Viehtransporter Struma -478-
zu chartern und Ende 1941 in die Türkei zu entkommen. Sie hofften, auf dem Landweg weiter nach Palästina geschickt zu werden (die Deutschen kontrollierten die Ägäis), aber die Briten verweigerten ihre Zustimmung. Auch die Türken ließen sie nicht landen. Die Struma sank am 24. Februar 1942 vor Istanbul. 767 Menschen kamen ums Leben. Im Jahr 1942 erfuhr die Außenwelt vom Holocaust. Es war ein beispielloses Verbrechen. Anders als andere Zahlenangaben in diesem Buch ist die Zahl der dabei Ermordeten genau erfaßt. Die Zahl der jüdischen Einwohner in all den Ländern, die Hitler besetzte, ist bekannt. Die Zahl derer, die entkamen und überlebten, ebenfalls, und die üblichen demoskopischen Methoden lassen sich auf die Berechnung der natürlichen Todesfälle und Geburten während dieser sechs Jahre anwenden. Insgesamt wurden 5.820.000 Juden ermordet. Die Deutschen schätzten, daß rund 10 Millionen Juden in Europa lebten, und sie wollten alle töten. Am Ende hatten sie mehr als ein Drittel der Juden der Welt ermordet. Hätten sie die UdSSR besiegt, so hätten sie ihr Werk in Europa vollendet. Und wenn Rommel die Briten in El Alamein besiegt hatte, wäre der Nahe Osten den Deutschen in die Hand gefallen, einschließlich Palästina, und der Holocaust wäre auf die Juden dort und die sephardischen Juden in Nordafrika ausgedehnt worden. Die Deutschen waren in ihrer Systematik völlig verrückt. In Holland wurden alte, bettlägerige Juden auf Tragbahren in Züge gebracht und quer durch Europa geschickt, um in den Todeslagern in Ostpolen umgebracht zu werden. Während die Rote Armee die Deutschen aus dem Osten zurückdrängte, und auch nach dem Durchbruch der westlichen Alliierten durch die Siegfried-Linie im Westen, requirierte die Gestapo immer noch Züge, um Juden nach Auschwitz zu bringen. Jüdische Facharbeiter, die für die Wehrmacht Munition herstellten, wurden in den Tod geschickt. Der Holocaust ist das zentrale Ereignis in der Geschichte des Staates Israel. Die Araber argumentieren nicht zu Unrecht, daß die Welt die Palästinenser dazu bestimmt hat, für die Verbrechen der Deutschen zu bezahlen. Es wäre besser, sie würden die moralische Anstrengung unternehmen, die Auswirkungen der Erinnerung an -479-
Auschwitz und Majdanek zu begreifen. Der Satz ‡Niemals wieder!— ist kein Schlagwort, er ist ein Programm. So hätte sicherlich Nasser 1967 davon profitiert, wenn er diesen zentralen Punkt besser begriffen hätte. DAS ENDE DES MANDATES David Ben Gurion stellte die jüdische Haltung zum Weißbuch klar: ‡Wir werden gemeinsam mit England gegen Hitler kämpfen, als gäbe es kein Weißbuch, und wir werden das Weißbuch bekämpfen, als gäbe es keinen Krieg.— Praktisch alle Juden in Palästina folgten seiner Führung, mit der einzigen Ausnahme einer winzigen Gruppe von Fanatikern unter Führung von Avraham Stern, dessen Haß gegen die Briten ihn zu einer antibritischen Allianz mit Hitler trieb. Obwohl der Holocaust noch nicht eingesetzt hatte, war es doch eine reichlich groteske Verbindung. Das ist nur deshalb heute noch der Erwähnung wert, da die ‡Stern-Bande—, wie sie die Briten nannten oder die ‡Lehi—, die ‡Kämpfer für die Freiheit Israels—, wie sie auf Hebräisch bekannt wurden œ, während des Krieges britische Soldaten angriffen und eine Anzahl Beamter ermordeten; schließlich ermordeten sie 1948 den UNO-Hochkommissar Graf Bernadotte. Eines der Bandenmitglieder war Itzak Sharnir, später Führer der Likud-Partei und israelischer Ministerpräsident. Viele palästinensische Juden dienten in der britischen Armee, und im Verlauf des Krieges stellten die Briten eine jüdische Brigade auf, die in Italien zum Einsatz kam. In Palästina selbst wurde die Haganah von den Briten ausgerüstet und ausgebildet, und die EliteKommandoeinheiten, die Palmach, wurden im ganzen Nahen Osten für Kommandoaktionen eingesetzt. Die Stern-Bande griff weiterhin die Briten an, sogar als Rommels Armeen vor den Toren Kairos standen. Stern selbst wurde 1942 bei einem Schußwechsel in Tel Aviv getötet. Im Oktober 1944 ermordeten die Überlebenden der Bande Lord Moyne, den britischen Gouverneur für den Nahen Osten in Kairo. Ben Gurion und die Haganah arbeiteten mit den Briten zusammen, um die Terroristen in Palästina aufzureiben, und Ben Gurion nützte die Gelegenheit, um mit den Revisionisten zu einem Übereinkommen zu gelangen. So kam es zum Kompromiß zwischen -480-
der rechten Opposition, der ‡Herut—, geführt von Menachem Begin, deren militärischer Arm der Irgun Zvai Leumi (Etzel) war. Der politische Kampf zwischen den beiden Fraktionen hält bis zum heutigen Tage an. Nach dem Krieg setzten die Briten die Politik des Weißbuchs von 1939 fort. Die jüdische Einwanderung war theoretisch scharf begrenzt: Die Hunderttausenden Überlebenden in Auffanglagern überall in Europa sollten dort bleiben. Die Araber in Palästina sollten unterstützt, und ein ‡binationaler Staat—, dominiert von den Arabern, sollte errichtet werden. Tatsächlich gelang es zwischen 1944 und 1948 ungefähr 200-000 Menschen, nach Palästina einzuwandern. Die Briten brachten die Juden durch ihre Politik des Einwanderungsverbotes gegen sich auf, während sie in Wahrheit nichts dagegen unternahmen und so die Araber verärgerten. Es war eine außergewöhnliche Zeit. Dieselbe Regierung, die Indien im Jahre 1947 in die Unabhängigkeit entließ, setzte ihr imperialistisches Spiel im Nahen Osten fort, als hätte sich gar nichts verändert. Die Briten bestehen heute darauf, daß sie ihr Empire großzügig aufgegeben haben, anders als die Franzosen, die um den Erhalt ihres Kolonialreiches gekämpft haben. Das ist nicht wahr. Die Briten mußten aus Indien hinausgedrängt werden, und an Teile des Nahen und Mittleren Ostens klammerten sie sich noch mehr als 20 Jahre nach dem Krieg. Eine Mischung aus Gewalt und politischem Druck mußte angewendet werden, um ihren Griff vom Irak, von Ägypten, Palästina und Aden zu lösen. Ben Gurion wandte sich mit der Bitte um Unterstützung an die Amerikaner. Er forderte, daß 100.000 Flüchtlingen die Einwanderung nach Palästina gestattet werden müßte, und Präsident Truman schloß sich dieser Forderung an. Es gab in Palästina einen Unabhängigkeitskrieg, in dem Haganah und Irgun die Briten bekämpften, aber verglichen mit anderen solchen Kriegen war er relativ harmlos. Ben Gurion rechnete damit, daß die britische Öffentlichkeit, erschöpft vom Zweiten Weltkrieg und verstört von den Bildern aus den europäischen Konzentrationslagern (vor allem Bergen-Belsen), die Situation nicht mehr lange akzeptieren würde. Der dramatischste Zwischenfall in diesem Konflikt geschah am 22. -481-
Juli 1946, als das King David-Hotel in Jerusalem, das als britisches Militärhauptquartier diente, in die Luft flog. Bei der Explosion wurden 25 Briten getötet, 40 Araber und 17 Juden. Es war die Rache für einen britischen Großeinsatz im Juni und war von Begin nach einem Mißverständnis zwischen der Haganah und dem Irgun angeordnet worden. Ben Gurion und die Haganah-Kommandeure verurteilten diesen Angriff œ obwohl ihre eigene Verstrickung weit größer war, als sie zugaben. Am 29. Juli henkten die Briten drei Irgun-Terroristen, und am nächsten Tag befahl Begin, zwei schon früher gefangengenommene britische Unteroffiziere aufzuhängen. Ihre Leichen wurden vermint und an einem Hügel so aufgehängt, daß die Briten sie entdecken mußten. Diese Aktion schadete der israelischen Sache ebenso wie die Morde an Moyne und Bernadotte und später das Deir YassinMassaker, und sie wurden immer wieder in Erinnerung gerufen, wenn Begin, Shamir oder ihre Apologeten den arabischen Terrorismus verurteilt haben. Allerdings waren die meisten Israelis vom jüdischen Terror abgestoßen und versuchten niemals, ihn zu rechtfertigen. Das bleibt ein grundlegender Unterschied zwischen den meisten Israelis und den meisten Palästinensern. Ben Gurions Einschätzung war richtig. Die Briten hielten den Kampf nicht durch, und am 18. Februar 1947 verkündete der Außenminister Ernest Bevin, daß sie das Mandat aufgeben würden. Im Mai setzte die UNO eine Sonderkommission zur Klärung der Palästinafrage ein. Sie empfahl die Aufteilung des Landes in zwei Staaten. Graf Bernadotte, ein schwedischer Diplomat, der eine beachtenswerte Rolle bei der Errettung europäischer Juden während der letzten Kriegsmonate gespielt hatte, wurde zum UNOHochkommissar für Palästina ernannt. Nach seiner Ermordung folgte ihm der schwarze Amerikaner Ralph Bunche. Die UNOGeneralversammlung nahm den Teilungsplan am 27. November an. Wieder einmal akzeptierten ihn die Juden, obwohl die vorgesehenen Grenzen nicht zu verteidigen waren, und einmal mehr lehnten ihn die Araber von A bis Z ab. Die Briten verlautbarten, daß sie Palästina am 15. Mai 1948 verlassen würden, ob die UNO nun bereit sein würde, das Gebiet zu verwalten oder nicht. -482-
DER ERSTE ARABISCH-ISRAELISCHE KRIEG Die Palästinenser bereiteten sich auf den Krieg vor, und sie waren sich der Unterstützung der Armeen der angrenzenden arabischen Staaten sicher. Die bedeutendste davon war die Arabische Legion, die Armee des Emir Abdullah von Transjordanien (später Jordanien). Ihr Kommandeur, Generalleutnant Sir John Glubb, war wie viele seiner Offiziere Brite, und die arabischen Offiziere waren von ihnen ausgebildet worden. Die Kriege zwischen Arabern und Israelis haben das alte Sprichwort nachdrücklich bestätigt, daß es keine schlechten Soldaten gibt, sondern nur schlechte Offiziere. Die arabischen Armeen (außer der Arabischen Legion) kämpften schlecht, weil sie schlecht geführt wurden, und die israelische Armee schlug sich hervorragend, da sie hervorragend geführt wurde. 1973 mußten die Israelis feststellen, daß die ägyptischen und syrischen Soldaten unter guter Führung durchaus ernst zu nehmende Gegner waren. 1948 wurden nicht nur die arabischen Armeen schlecht geführt, sondern die arabischen Staaten waren korrupt, unfähig, und ununterbrochen mit ihrem Streit untereinander beschäftigt. Es gab keine Koordination zwischen den angreifenden Armeen, und die kläglichen israelischen Einheiten konnten sich und ihre noch kläglichere Ausrüstung unbehindert zwischen den Fronten durchmanövrieren. Der Kampf begann noch vor dem Abzug der Briten, und die Briten erwiesen sich als eindeutig parteiisch zugunsten der Palästinenser. Der beschämendste Zwischenfall geschah am 13. April 1948, als ein jüdischer Konvoi versuchte, Mount Scopus zu entsetzen, nahe im Osten von Jerusalem, wo die Hebräische Universität und das Hadassah-Spital belagert wurden. Der Transport geriet in einen arabischen Hinterhalt. Die meisten der rund 80 Menschen im Konvoi waren Ärzte und Krankenschwestern, aber es waren auch Soldaten dabei und Munitionslastwagen. Die britischen Vorposten griffen trotz der flehentlichen Appelle jüdischer Stellen nicht ein. Der gesamte Konvoi wurde ausgelöscht. Noch weit dramatischer war ein Zwischenfall einige Tage zuvor gewesen. Am 9. April hatte eine Irgun-Einheit Feindberührung in dem -483-
arabischen Dorf Deir Yassin, westlich von Jerusalem, und sie massakrierten rund 250 Araber, die meisten von ihnen Zivilisten. Begin war theoretisch dafür verantwortlich, da er den Irgun kommandierte. Aber er war nur der politische Kopf, ein Feigenblatt an Respektabilität für die Terroristen. Er selbst war niemals ein Kämpfer, noch war er in Terroranschläge verwickelt (anders als Shamir). Die Nachricht von dem Massaker breitete sich in Windeseile im ganzen Land aus und bewog viele Araber zur Flucht. Seither gibt es eine ununterbrochene Debatte über die Verantwortlichen für das Flüchtlingsproblem. Die Israelis argumentieren, daß die Araber den Zivilisten befahlen, zu ihrer eigenen Sicherheit die Schlachtzone zu verlassen, und die Araber beschuldigen die Israelis einer Politik des Massenterrors. In den BBC-Mitschnitten aus dieser Zeit von allen Sendungen, die in arabischen Hauptstädten ausgestrahlt wurden, findet sich kein Anzeichen offizieller arabischer Aufforderungen an die Zivilbevölkerung zur Flucht. Im Gegenteil: Die Menschen wurden gedrängt, in ihren Dörfern zu bleiben. Natürlich werden an manchen Orten arabische Kommandanten Zivilisten gedrängt haben, aus dem Kampfgebiet zu verschwinden. Anderseits gab es keine israelische Politik der Vertreibung der Araber, obwohl es unzweifelhaft vorkam, daß lokale Behörden genau das taten. Eher typisch war die Situation in Haifa, wo die jüdischen Behörden die Araber zum Bleiben aufforderten aber sie gingen trotzdem. Ein Deir Yassin war genug. Die Araber flüchteten. Aber Zivilisten versuchen immer zu entkommen: In der neueren Geschichte Europas sind verzweifelte Marschkolonnen von Flüchtlingen vor der einen oder anderen Invasionsarmee ein vertrautes Bild. 1967 flüchteten Zehntausende Araber von der Westbank instinktiv vor den Israelis, wie schon 1948, obwohl es diesmal keine Massaker gab. Als sie entdeckten, daß keine Gefahr bestand, gingen sie wieder nach Hause. Am Ende des Krieges, 1949, waren 800.000 Araber auf der Flucht. Sie und ihre Nachkommen bilden das Herzstück des heutigen arabischisraelischen Problems. Als die Briten sich auf die Häfen zurückzogen, kämpften Juden und Araber um die Vorherrschaft über die aufgegebenen Gebiete. Die Juden versuchten alle ihre Siedlungen zu verteidigen, aber nach einer blutigen Niederlage bei Etzion, südlich von Jerusalem, akzeptierten -484-
sie, daß einige Orte aufgegeben werden mußten. (Es ist bemerkenswert, wie wenige für immer verlorengingen.) Der letzte britische Kommandeur verließ Haifa am 15. Mai. Am Tag zuvor hatte Ben Gurion in Tel Aviv den unabhängigen Staat Israel ausgerufen. Die Armeen von Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten griffen Israel zur Unterstützung der Arabischen Legion an. Der Krieg dauerte bis zum 7. Januar 1949 und endete mit zwei Waffenstillstandsabkommen. Israel hatte über die Palästinenser, Libanesen und Syrer einen gewaltigen Sieg errungen. Das nördliche Palästina war zur Gänze erobert, und zum Ende des Krieges beherrschten die israelischen Truppen den Großteil des südlichen Libanon. An der Mittelfront gab es zwischen Israel und der Arabischen Legion ein Patt. Die Legion eroberte Latrun, eine beherrschende Stellung an der Straße Tel Aviv-Jerusalem und hielt sie gegen wiederholte israelische Angriffe. Sie besetzte die Altstadt von Jerusalem einschließlich der wichtigsten heiligen Stätten, vertrieb die Juden aus dem jüdischen Viertel und belagerte das jüdische WestJerusalem. Die Belagerung wurde gebrochen, indem die Israelis eine ‡Burmastraße— durch die Hügel errichteten, um Latrun zu umgehen. Nach dem Krieg ließen sie die Wracks der Panzer und Truppentransporter, die im ‡Jerusalem-Korridor— während der Kämpfe zerstört worden waren, zum Gedenken an diesen Kampf liegen. Die Jordanier behielten die höher gelegenen Teile von Palästina œ Samaria und Judäa œ ebenso wie die Altstadt von Jerusalem. Diese Gebiete wurden als die ‡Westbank— bekannt. Im Süden wehrten die Israelis die Ägypter erfolgreich ab und trieben sie aus dem Land, mit Ausnahme des Gaza-Streifens. Nur die Drohung der Briten hielt sie davon ab, auch diesen letzten Teil zu erobern: Als israelische Einheiten in den Sinai einfielen und auf El Arish im Norden vorrückten und dadurch die Ägypter im Gaza einzukesseln drohten, informierten die Briten Israel, daß sie aufgrund ihrer Verträge mit Ägypten intervenieren würden, sollten sich die Israelis nicht unverzüglich zurückziehen. Dieser höheren Gewalt beugten sich die Israelis. Die Royal Air Force patrouillierte über dem Sinai, um sich von dem israelischen Rückzug zu überzeugen, und die israelische Luftwaffe schoß fünf britische Spitfires ab. Sieben Jahre später brach Ägypten seinen Vertrag mit Großbritannien, und -485-
abermals ein Jahr später, 1956, marschierten Briten und Israelis gemeinsam in Ägypten ein. Während der israelischen Offensive gegen die Ägypter im Oktober 1948 wurde eine ägyptische Brigade mit ungefähr 4.000 Mann bei Faluja abgeschnitten, einer kleinen Stadt im Nordwesten des Gaza. Die Brigade blieb eingeschlossen, bis der endgültige Waffenstillstand mit Ägypten am 24. Februar 1949 auf Rhodos unterzeichnet wurde. Sie verteidigte sich tapfer, und bei ihrem Abzug erwiesen ihnen die Israelis alle militärischen Ehren. Unter ihnen war Major Gamal Abdel Nasser, der später meinte, daß ihm die Idee, eine Gruppe ‡Freier Offiziere— zu bilden, um das Regime zu stürzen, dem er die Niederlage anlastete, erstmals während dieser viermonatigen Belagerung gekommen sei. Die Waffenstillstandsverhandlungen fanden unter UNO-Aufsicht statt. Das Abkommen mit dem Libanon, aufgrund dessen Israel seine Einheiten aus diesem Land zurückzog, wurde am 23. März unterzeichnet. Der Waffenstillstand mit Jordanien wurde am 3. April unterzeichnet, jener mit Syrien am 20, Juli. In der Zwischenzeit, zwischen dem 6. und dem 10. März, hatten die Israelis eine kleine Einheit durch die Wüste Negev geschickt, um das Dörfchen UmRashrash am Golf von Akaba zu besetzen. Sie benannten es um in Eilat. Der erste Krieg gegen die Araber war für Israel der verlustreichste: Mehr als 6,000 Israelis wurden getötet, davon über 4.000 Soldaten. Es war auch der gefährlichste und schwierigste Krieg. Die Siege in den Jahren 1956 und 1967 waren dramatischer, aber der Unabhängigkeitskrieg war der Überlebenskrieg, in dem Israels nackte Existenz in Frage gestellt war. ISRAEL UND DIE ARABER Die arabischen Staaten, die 1949 mit Israel Waffenstillstandsabkommen abgeschlossen hatten, weigerten sich, seine Existenz anzuerkennen. Sie sprachen vom ‡besetzten Palästina—, versprachen den Flüchtlingen, daß sie bald im Triumph heimkehren würden und bereiteten sich auf den nächsten Krieg vor. Die arabische Israel-Politik bestand aus Bombast, durchsetzt mit Bomben. Die -486-
Hauptleidtragenden waren die Flüchtlinge, im Gaza-Streifen, in der Westbank und im Libanon. Sie führten das Leben von Obdachlosen, lebten wie amerikanische Indianer in Reservaten; Unterstützung fanden sie ausschließlich beim UNO-Hilfswerk UNRRA. Die Einwohner des Gaza durften das Gebiet nicht verlassen, das allmählich zu einem riesigen Konzentrationslager wurde. Und auch anderswo waren die Flüchtlinge kaum besser dran. Der Niederlage der Araber im Jahr 1948 folgte eine Reihe von Umsturzversuchen. Der ägyptische Ministerpräsident wurde am 12. Dezember 1948 ermordet. Der erste Staatsstreich gelang in Syrien am 30. März 1949, und König Farouk von Ägypten wurde von den Freien Offizieren am 26. Juli 1952 gestürzt. Abdullah hatte die Westbank für sein Emirat Transjordanien annektiert, machte sich selbst zum König und gab dem Land den Namen Jordanien. Zunächst anerkannten nur Großbritannien und Pakistan diese Annexion. Er verhandelte insgeheim mit Israel über Grenzveränderungen und hatte ein Abkommen vorbereitet, das zu einem Friedensvertrag geführt hätte, aber am 20. Juli 1951 wurde er vor der EI-Aksa-Moschee in Jerusalem erschossen. Sein sechzehnjähriger Enkel Hussein, der den Mord miterlebt hatte, wurde ein Jahr später der Thronerbe, nachdem sein Vater für geisteskrank erklärt worden war. Die arabischen Führer waren nunmehr Gefangene ihrer eigenen Rhetorik. Sie hatten geschworen, Israel zu zerstören, und wenn sie einen anderen Weg einschlugen, riskierten sie, ermordet zu werden. Nasser war die treibende Kraft hinter der neuen ägyptischen Regierung, und rasch machte er sich selbst zum Präsidenten. Er entwickelte ein Talent für Demagogik und benahm sich bald wie der späte Mussolini, indem er die Menschenmassen mit gewaltigen Anfeuerungen und Träumen von nationaler Größe aufpeitschte. Er versprach, alle Araber zu vereinen, wie die Kalifen der Antike, aber es stellte sich heraus, daß in seiner Phantasie das Kalifat ein nasseritisches Reich war, das von Kairo aus regiert werden sollte. Sein erster Erfolg war die Vertreibung der Briten, die achtzig Jahre nach ihrer Okkupation Ägyptens immer noch Truppen am Suez-Kanal stationiert hatten. Zehn Jahre nach dem Krieg hatten sie dort -487-
eigentlich gar keinen Sinn mehr, und so zogen sich die Briten im Sommer 1956 unwillig zurück. Dann steuerte Nasser die erste Terrorwelle gegen Israel. Er bildete palästinensische Feddayin aus und bewaffnete sie; sie sollten über die Grenze gehen und israelische Ziele vom Gaza-Streifen her und aus Jordanien angreifen. Allmählich schlug Israel zurück. Nassers sozialistische Parolen und seine antiimperialistischen Ansprachen ärgerten die Briten und Amerikaner. Im Herbst 1955 kaufte er riesige Waffenmengen von der Tschechoslowakei. Das war der erste Vorstoß des sowjetischen Einflußbereichs in den Nahen Osten und beunruhigte London und Washington noch mehr. Nasser gab der FLN in Algerien jede denkbare Unterstützung in ihrem Kampf gegen die französische Regierung, und so gesellte sich Frankreich zur Liste seiner Gegner. Nach innen war die Errichtung des AssuanStaudammes sein großes Ziel. Die USA hatten ihm angeboten, dieses Projekt zu finanzieren, zogen dieses Angebot aber nach dem Waffengeschäft mit der CSSR wieder zurück. Daraufhin verstaatlichte Nasser den Suez-Kanal. DER SUEZKRIEG 1956 hatte sich Israel zu einem funktionierenden modernen Staat entwickelt. Es hatte mehr als 800.000 Einwanderer aufgenommen, die Hälfte davon aus arabischen Ländern. Aus der Haganah war die ‡Zahal— geworden, ein modernes und hoch effizientes Bürgerheer. Die Terroranschläge von jenseits der Grenze wurden allmählich untragbar. Die arabischen Staaten, die in Rhodos der Aufnahme von Verhandlungen über ein endgültiges Friedensabkommen zugestimmt hatten, hatten nichts derlei getan, und nun plante Nasser offensichtlich die Korrektur des Kriegsausganges von 1948 und die Rückeroberung von Palästina. Im Sommer 1956 begannen geheime Verhandlungen zwischen Israel und Frankreich über einen gemeinsamen Angriff auf Ägypten. Die Briten schlossen sich diesen Vorbereitungen später an. Sie planten den Sturz Nassers. Israel wollte die Feddayin-Stützpunkte im Gaza ausräumen und hoffte, daß eine weitere Niederlage Ägypten an den Verhandlungstisch bringen würde. Das Ziel Frankreichs war das Ende -488-
der ägyptischen Unterstützung der FLN. Die Gründe der Briten, an dieser Verschwörung teilzunehmen, sind nicht so leicht zu erklären. Der Premierminister Sir Anthony Eden und der Außenminister Selwyn Lloyd waren der Meinung, auf die Verstaatlichung des SuezKanales nicht zu reagieren, wäre eine ähnliche Schwäche wie die Appeasement-Politik von 1938, die den Weg zum Zweiten Weltkrieg gebahnt hatte. Die langfristigen britischen Interessen im Nahen Osten wurden dabei nicht ins Kalkül gezogen: Frieden, die Sowjets draußen zu halten und die Erdölversorgung zu sichern. Der Suezkrieg brachte genau die entgegengesetzten Resultate. Am 29. Oktober 1956 überschritten die israelischen Truppen die Grenze. Fallschirmjäger eroberten den Mitla-Paß im westlichen Sinai, und am 1. November war der gesamte östliche und mittlere Sinai in israelischer Hand. Ein weiterer Angriff bei Rafah, dem südlichen Ende des Gaza-Streifens, schnitt die dortigen ägyptischen Truppen von ihren Linien ab, und am 2. November standen die Israelis am Suez-Kanal. Schließlich nahmen Kommandotruppen am 4. November noch Sharm El-Sheikh an der südlichen Spitze der Halbinsel. Es war ein überwältigender Sieg. Die Ägypter verloren fast alle ihre Panzer und ihr schweres Gerät. Die Briten und Franzosen waren vom Tempo des israelischen Sieges überrascht sie hatten mit einer gemächlicheren Invasion gerechnet. Am 31. Oktober hatten die beiden Regierungen ein Ultimatum gestellt, daß Israel und Ägypten sich vom Kanal zurückziehen sollten. Israel hatte dies sofort befolgt, Ägypten verständlicherweise abgelehnt. Daraufhin hatten die Briten die ägyptischen Flugplätze bombardiert und die ägyptische Luftwaffe zerstört. Eine Invasionsflotte war am 1. November von Malta ausgelaufen, nachdem der Krieg praktisch schon wieder beendet war. Britische Fallschirmjäger landeten am 5. November in der Kanalzone, und am 6. landeten schließlich britische und französische Truppen in Port Said. Diese Ereignisse wurden als Suez-Krise bekannt, aber in Wahrheit erreichten die Briten niemals die Stadt Suez am Südende des Kanals. Die britische und französische Operationsschwäche machte es möglich, daß der internationale Widerstand gewaltige Ausmaße erreichte. Präsident Eisenhower drohte mit wirtschaftlichen -489-
Repressalien, und die UdSSR bot Syrien und Ägypten die Entsendung von Truppenkontingenten an. Das war ein Bluff. Zur selben Zeit hatte die UdSSR alle Hände voll zu tun, um den ungarischen Aufstand niederzuschlagen. Das Pfund Sterling fiel, und die britischen Truppen waren noch kaum gelandet, als schon der Befehl zur Feuereinstellung kam. Die ganze Affäre endete mit einem demütigenden Fiasko. Am 6. November um 24.00 Uhr trat der Waffenstillstand in Kraft, Briten und Franzosen zogen sich bald ganz aus Ägypten zurück und überließen die Israelis sich selbst. Die Israelis gaben schließlich dem starken amerikanischen Druck nach und räumten den Gaza-Streifen im März 1957. In der kurzen Zeit der Besetzung war es aber zu zwei besonders schweren Zwischenfalten gekommen. Am 3. November, unmittelbar nach den Kämpfen, drehten israelische Soldaten durch und töteten in Khan Younis 275 Zivilisten. Und am 12. November töteten sie 111 Palästinenser in einem Flüchtlingslager in Rafah. Eine UNO-Friedenstruppe wurde in den Sinai geschickt, um Ägypter und Israelis auseinanderzuhalten. Einer ihrer Posten war in Sharrn el-Sheikh, und so konnte Israel wenigstens Eilat entwickeln und Schiffe durch die Straße von Tiran ins Rote Meer schicken. Präsident Eisenhower garantierte, daß die Straße offen gehalten würde, komme, was da wolle. DER SECHSTAGEKRIEG Der nächste Krieg zwischen den Arabern und Israel brach völlig unerwartet und plötzlich im Frühjahr 1967 aus. Er wurde von Syrien provoziert, wo die Baath-Partei gerade die Macht übernommen hatte und ihren revolutionären und antizionistischen Eifer demonstrieren mußte. Die syrische Artillerie konnte von ihren Stellungen auf den GolanHöhen israelische Dörfer in Galiläa beschießen, und das tat sie auch. Zur gleichen Zeit hatte die ‡Palästinensische Befreiungsarmee—, der militärische Flügel der PLO, mit Aktionen über die Grenze von Jordanien und Syrien aus begonnen. Zur selben Zeit planten Syrien, Jordanien und der Libanon, die Hauptzuflüsse des Jordans abzuleiten, um so Israel zwei Drittel seiner Wasserversorgung zu berauben. Die Israelis erklärten, daß sie die Ableitung des Wassers als -490-
Kriegserklärung auffassen würden, ebenso wie die Schließung der Straße von Tiran oder die Stationierung nichtjordanischer arabischer Einheiten auf der Westbank. Am 7. April 1967, nach einem weiteren syrischen Artillerieangriff auf israelische Dörfer, stiegen israelische Kampfmaschinen auf, um die Geschützstellungen anzugreifen. Die syrische Luftwaffe sollte sie verteidigen und verlor dabei sechs MIG im Kampf gegen die israelischen Mysteres. Syrien fürchtete einen israelischen Präventivschlag und wandte sich um Hilfe an Ägypten. Die UdSSR informierte Ägypten, daß Israel 11 Brigaden an der Nordgrenze zusammengezogen hätte œ eine Meldung, die völlig aus der Luft gegriffen war. Nasser war auf einem Tiefpunkt. Seine Armee war in einen hoffnungslosen Krieg im Nord-Jemen verstrickt (siehe JEMEN); sein Einfluß in Jordanien, Syrien und Irak war nicht mehr vorhanden; und seine Beziehungen zu Saudi-Arabien waren von tiefer Feindschaft geprägt. Seine Träume vom Pan-Arabismus waren zerstoben. So nützte er die Gelegenheit, eine politische Offensive gegen Israel zu beginnen. Die Frage, ob er damit auch den Krieg wollte, ist nicht geklärt. Mit Sicherheit war er nicht gerüstet, als der dann tatsächlich ausbrach œ was einmal mehr gegen ihn spricht. Seine Apologeten behaupten, daß seine Rhetorik Bluff war, daß er keine Absicht hatte zu kämpfen œ aber wer ein großes Land regiert, darf sich nicht wundern, wenn man seine Ankündigungen ernst nimmt. Er schloß die Straße von Tiran, bildete zusammen mit Syrien und Jordanien ein Oberkommando der Streitkräfte, machte die Armee mobil, verlegte Truppen in den Sinai und kündigte an, daß der letzte Krieg zur Auslöschung der Juden unmittelbar bevorstünde. Seit 1945 hat es wenige Situationen gegeben, in der Militäraktionen gerechtfertigt waren. Der Sechstagekrieg war eine davon. Im Mai nahmen die Spannungen rasch zu. Am 17. Mai forderte Nasser den Rückzug der UNO-Truppen aus dem Sinai, und der Generalsekretär Thant kam dieser Aufforderung unverzüglich nach, zum Erstaunen und der Empörung Israels und vieler anderer UNOMitgliedstaaten. Am 20. Mai entsandte Nasser sieben Divisionen in den Sinai. Die Touristen verließen Israel, außer einigen Hartnäckigen, die die Schlacht miterleben wollten; sie wurden zum Bau von -491-
Panzergräben herangezogen. Anstelle der Touristen kamen bald Schwärme ausländischer Journalisten, die sich für den bevorstehenden Kampf die besten Plätze sichern wollten. Am 2. Mai erklärte Nasser die Meeresenge für geschlossen. Israel forderte von den USA die Einlösung von Eisenhowers Versprechen von 1956. Das Außenministerium wollte davon nie gehört haben. Hastige Nachforschungen brachten in der Bibliothek des Präsidenten in Abilene in Kansas eine Kopie des Briefes zum Vorschein, aber den Israelis wurde mitgeteilt, daß die Gültigkeit dieses Versprechen mit dem Ablauf von Eisenhowers Amtszeit erloschen sei. Die Israelis mußten zu ihrer Enttäuschung das Phänomen der Nicht-Kontinuität der amerikanischen Regierung kennenlernen: Nur ein Vertrag, der vom US-Senat ratifiziert wird, ist auch für spätere Regierungen bindend. Präsident Johnson und die britische Regierung versuchten zu vermitteln, um einen Weg zu finden, der das freie Durchfahrtsrecht für die Straße von Tiran garantierte, aber sie gaben sich keine allzu große Mühe. Die Verhandlungen dauerten einige Wochen œ und da Israel die Wasserstraße nur selten benützte, schien es keine Eile zu geben. Am 26. Mai erklärte Nasser in einer Rede in Kairo, daß die Zeit für die Zerstörung Israels reif sei. Ganz Arabien wurde mobilisiert: Israel sah sich umringt von 250.000 feindlichen Soldaten. Israel konnte nicht warten. Es hatte seine Streitkräfte mobilgemacht œ, praktisch alle wehrfähigen Männer des Landes œ ein Zustand, den das Land nicht lange durchhalten konnte. Dann ließ Frankreich, bis dahin Israels zuverlässigster Verbündeter, den jüdischen Staat plötzlich im Stich. General de Gaulle teilte Israel mit, daß es einen Kompromiß mit Ägypten suchen sollte. Der israelische Premierminister Levi Eschkol bildete ein Kabinett der nationalen Einheit, nahm erstmals Menachern Begin in die Regierung auf und ernannte Moshe Dayan, der 1956 Generalstabschef gewesen war, zum Verteidigungsminister. Auf der arabischen Seite beugte sich König Hussein dem überwältigenden Druck. Um seinen Thron und vielleicht auch sein Leben zu retten, gab er der allgemeinen Hysterie nach und machte seinen Frieden mit Nasser. Die jordanische Armee wurde dem Befehl -492-
eines ägyptischen Generales unterstellt. Nasser hatte sich zur Vernichtung Israels entschlossen. Hätte es die Schließung der Meeresstraße akzeptiert, wäre das ein großer Sieg für ihn gewesen. Sollte Israel sich dagegen auflehnen, würde die gewaltige arabische Übermacht diesen Versuch zurückschlagen und dann Israel zerstören. Bei seinen Überlegungen unterlief ihm aber ein Denkfehler: Er übersah, daß die israelische Regierung in Tel Aviv die gleichen Erkenntnisse haben könnte. Den Israelis gelang ein großangelegtes Täuschungsmanöver. An dem Wochenende, das mit Freitag, dem 2. Juni begann, demobilisierten sie einen Teil der Streitkräfte und setzten für die übrigen Truppen die Alarmstufe herab. Die Strande waren voll mit Badelustigen. Dayan sagte auf einer Pressekonferenz, daß er für die nächsten Wochen und sogar Monate keine besonderen Geschehnisse erwartete. Die Krise schien beigelegt. Der britische Botschafter informierte die Regierung, daß es nicht zum Krieg kommen würde, und die ersten Journalisten fuhren am Montag wieder nach Hause. Ais ihr Flugzeug friedlich das blaue Mittelmeer überflog, teilte ihnen der Pilot mit, daß soeben der Krieg ausgebrochen sei. Die formale Entscheidung zum Kampf wurde in der wöchentlichen Kabinettssitzung am Sonntag, dem 4. Juni getroffen. Soldaten und Luftwaffenangehörige wurden von den Stranden zurückgeholt, und die Armee ging in Stellung. Am nächsten Morgen, um 7.45 Uhr, griff die israelische Luftwaffe die Ägypter an. Die Maschinen überquerten im Tiefflug das Mittelmeer, zu tief für das ägyptische Radar. (Die britischen Radarstationen auf Zypern entdeckten sie, und sie berichteten als erste vom Ausbruch dieses Krieges nach London.) Dann drehten sie ins Landesinnere ab und griffen Ägypten von Westen her an œ aus der ‡falschen— Richtung. Die ägyptischen Piloten hatten einen traditionellen Angriff in der Dämmerung erwartet, aus der aufgehenden Sonne heraus, und hatten jeden Morgen startbereit in ihren Flugzeugen gesessen. Nachdem der Angriff wieder nicht gekommen war, gingen sie frühstücken. So erwischten die Israelis die ägyptische Luftwaffe komplett auf dem Boden, ohne Gegenwehr, und sie vernichteten sie. In 500 Einsätzen zerstörten die Israelis 309 der 340 einsatzbereiten -493-
ägyptischen Maschinen, darunter alle 30 Langstreckenbomber. Die Ägypter setzten prompt die Meldung in die Welt, daß sie 400 israelische Flugzeuge abgeschossen hätten. Die Syrer und Jordanier schenkten dieser Meldung Glauben und griffen Israel an. Am selben Abend hatte die jordanische Luftwaffe aufgehört zu existieren, Syrien hatte zwei Drittel seiner Flugzeuge eingebüßt, und ein irakisches Geschwader war auf seinem jordanischen Flugplatz zerstört worden. Insgesamt vernichteten die Israelis 393 arabische Maschinen auf dem Boden und 58 in der Luft, bei einem eigenen Verlust von 26 Flugzeugen. Dann griff die israelische Armee die Ägypter an. Später behauptete Israel, daß die Ägypter zuerst angegriffen und die ‡Israelis sich ihnen zum Kampf gestellt hätten—. Die Israelis stießen wieder durch die ägyptische Linie bei Rafah durch, schnitten den Gaza-Streifen ab, griffen die Ägypter im Sinai an, dann marschierten sie weiter zur Küste im Norden und westlich über die Halbinsel. Sie hatten die komplette Luftherrschaft und nützten sie mit verheerenden Auswirkungen. Unvergeßlich bleibt der Eindruck des Bildes einer mehr als 30 Kilometer langen Marschkolonne ägyptischer Fahrzeuge, die versucht hatten, in westlicher Richtung zu entkommen. Alle Fahrzeuge waren zerstört liegengeblieben. Die Israelis hatten zuerst die Panzer an der Spitze zerstört, dann die am Schluß, und dann hatten sie gemächlich jedes Fahrzeug zerschossen. Innerhalb von vier Tagen erreichten sie den Suez-Kanal. Die Ägypter hatten nach israelischer Zählung 15.000 Mann verloren, 10.000 nach eigener. Da die Israelis die Leichen begruben, ist ihre Angabe glaubhaft. Israel hatte 5.000 Soldaten gefangen und ein riesiges Arsenal an Fahrzeugen und Waffen erobert. Nasser gab zu, daß Ägypten 80 Prozent der schweren Waffen eingebüßt hatte. Der Krieg fand weltweit leidenschaftliches Interesse. Von überallher kamen die Juden zur Unterstützung Israels, und die Weltpresse strömte ins Land. Die britischen Reporter über dem Mittelmeer drehten um und flogen mit anderen zusammen nach Zypern. Beim Ausbruch des Krieges wurde König Hussein über die UNO mitgeteilt, daß sein Land nur im Falle einer Provokation angegriffen -494-
würde. Die Israelis erwarteten jordanische Luftangriffe und vielleicht kleinere Attacken am Boden, und sie waren bereit, sie zu ignorieren. Aber der ägyptische General Riadh, der die jordanische Armee befehligte, blies zur Generaloffensive. König Hussein, der möglicherweise von den ägyptischen Lügen in die Irre geführt war und glaubte, daß ein großer arabischer Sieg bevorstünde, gab seine Zustimmung. Die Jordanier beschossen Tel Aviv und West-Jerusalem, und seine Truppen marschierten vor und bedrohten die Straße von Tel Aviv nach Jerusalem. Am ersten Tag hielten die Israelis die Jordanier auf Distanz. Am zweiten Tag umzingelten sie Ost-Jerusalem und überrannten die jordanischen Stellungen an den Nord- und Süd-Flanken der Westbank. Am dritten Tag, Mittwoch, dem 7. Juni, vollendeten sie die Besetzung der gesamten Westbank, eroberten Hebron, Nablus und Ramallah und besetzten die Altstadt von Jerusalem. Zum erstenmal seit 1948 verrichteten Juden ihre Gebete an der Klagemauer, und der Oberrabbiner blies im Triumph das Schofar. Am Donnerstag wurde im Sinai aufgeräumt. Die Israelis kehrten nach Sharm El-Sheikh zurück. Die Regierung diskutierte, ob die Sache abgerundet werden und mit Syrien abgerechnet werden sollte, das Galiläa beschossen, sonst aber nicht in den Krieg eingegriffen hatte. Der UNO-Sicherheitsrat tagte, und die Sowjetunion versuchte, einen Waffenstillstand zu erreichen, ehe alle ihre Verbündeten zerstört waren. Die Israelis fanden aber, daß Syrien den Kampf begonnen hatte und dafür auch bezahlen sollte. Überdies wollten sie das nördliche Israel gegen künftige Angriffe absichern. So stürmte die israelische Armee am Freitag, dem 9. Juni die Klippen über dem See Tiberias. In zweitägigen Kämpfen eroberte sie die Golan-Höhen, Kuneitra und eine große Menge syrischer Waffen. Als die Straße nach Damaskus offen vor den Israelis lag, nahmen die Syrer den Waffenstillstand an. Israel verlor im Sechstagekrieg 705 Männer, die arabischen Länder 20.000 bis 25.000. DER ABNÜTZUNGSKRIEG Der Zeitraum zwischen den Kriegen von 1967 und 1973 war von Gewalt geprägt. Präsident Nasser führte gegen die israelischen -495-
Stellungen am Ostufer des Suez-Kanals einen Zermürbungskrieg, der auf der Annahme beruhte, daß einerseits die Israelis Menschenverluste scheuten und anderseits die ägyptische Artillerie überlegen sei. Die Israelis schützten sich mit einer Linie von gewaltigen Festungsanlagen längs des Kanales, um ihre Garnisonen unterzubringen; sie wurde nach dem Generalstabschef ‡Bar-Lev-Wall— genannt. Es war das größte Bauwerk in der israelischen Geschichte. Israel beantwortete die ständigen ägyptischen Angriffe mit Luftwaffeneinsätzen gegen Ziele in ganz Ägypten. Außerdem sprengten israelische Kommandotruppen Stromleitungen in der Nähe des Assuan-Staudammes; sie eroberten eine komplette Radarstation im Golf von Suez und schleppten sie im Triumph nach Hause. Bei einem anderen Kommandoangriff steckten sie die Raffinerien in Suez in Brand. Es war ein spektakuläres Feuer, das tagelang tobte. Als die Israelis dann auch noch militärische Anlagen bei Kairo angriffen, rief Nasser die Sowjetunion zu Hilfe. Die Sowjets errichteten großzügige provisorische Luftabwehrstellungen auf der Westseite des Kanales. Sie schickten auch ihre modernsten SAM-3-Boden-Luft-Raketen nach Ägypten, dazu auch sowjetische Bedienungsmannschaften, und sowjetische Piloten flogen Einsätze in Ägypten. Plötzlich hatte der Krieg zwischen Israel und Ägypten eine gefährliche Dimension erreicht. Am 8. August 1970 wurde ein Waffenstillstand abgeschlossen, und die Ägypter und ihre sowjetischen Verbündeten begannen unverzüglich, ihre Verteidigungsstellungen vorwärts zu verlegen, so daß ein ägyptischer Angriff über den Suez-Kanal vor der israelischen Luftwaffe geschützt sein würde. Die Israelis hingegen nützten den Waffenstillstand, um die Bar-Lev-Linie zu verstärken, ungeachtet aller Warnungen, daß es sich um eine neue Maginot-Linie handeln könnte. Nasser starb plötzlich am 28. September 1970, und sein Nachfolger, Anwar as Sadat, verschob den Plan für einen unmittelbaren Angriff über den Kanal. Sadat erwies sich als ein geduldigerer und vorsichtigerer Politiker als Nasser, daher auch als ein weit gefährlicherer Gegner für Israel. DER YOM-KIPPUR-KRIEG -496-
Präsident Sadat ließ seine Armeen erst am 6. Oktober 1973 losschlagen, am Yom-Kippur. dem Trauertag. Er hatte einen großen Überraschungseffekt. Wiederholt hatte er einen unmittelbar bevorstehenden Angriff angekündigt œ und nichts war geschehen. Die Israelis nahmen also an, daß hinter seinen Ankündigungen nichts steckte. Die Armeen von Ägypten und Syrien hatten bereits mehrmals Manöver im Grenzgebiet abgehalten, ohne daß etwas passiert war. Als sie das im September 1973 wieder taten, maß dem niemand Bedeutung bei. Die syrischen Truppenbewegungen wurden auf die Nervosität zurückgeführt, die einem großen Luftgefecht gefolgt war, bei dem die israelische Luftwaffe am 13. September 13 syrische Maschinen abgeschossen hatte. Sogar das abrupte Auslaufen von sowjetischen Schiffen, die im Hafen von Alexandria geankert hatten und die Evakuierung der sowjetischen Familienangehörigen aus Ägypten und Syrien am 5. Oktober alarmierte weder die Israelis noch die Amerikaner. Am schlimmsten war, daß die Israelis ihren Feind unterschätzten. Das Oberkommando teilte nicht die weitverbreitete Herablassung gegenüber den Arabern, aber die Israelis waren sich ihrer Sache zu sicher. Henry Kissinger stellte fest, daß die OktoberÜberraschung der Gipfel einer falschen politischen Analyse auf seiten der Opfer war. Die Israelis waren sicher, daß sie jeden Krieg gewinnen würden, glaubten, daß Ägypten und Syrien begriffen haben mußten, daß Israels Sieg feststünde, und nahmen daher an, daß die Araber nicht angreifen würden. Aber Sadat wollte einen politischen, keinen militärischen Erfolg. Er war zu dem Schluß gekommen, daß die Ägypter den Sinai nur zurückgewinnen und den seit 1967 geschlossenen Suez-Kanal nur dann wiedereröffnen konnten, wenn sie mit den Israelis verhandelten. Aber er wollte diese Verhandlungen als Gleichgestellter führen, nicht als Unterlegener. Seit dem Sechstagekrieg hatte Israel buchstäblich auf den Telephonanruf gewartet, mit dem die Araber den Frieden anboten. Aber nach einer Niederlage konnte kein Araber ein solches Angebot machen. Als König Abdullah das getan hatte, war er dafür umgebracht worden. (Nach seinem großen politischen Sieg im YomKippur-Krieg machte Sadat diesen ‡Anruf— und wurde erschossen. Es war ein deprimierendes Erlebnis für die anderen arabischen -497-
Staatsmänner.) Sadats Krieg ging knapp aus. Israel gewann die Kämpfe auf dem Boden und hätte ohne den Einspruch Amerikas die ägyptische Armee zerstört œ und Sadat selbst. Sadat hatte die sowjetische Zusicherung, im Falle einer drohenden Niederlage einzugreifen, aber im letzten Moment überlegten es sich die Sowjets angesichts der amerikanischen Unterstützung für Israel anders. Die Amerikaner bestanden darauf, daß Israel sich zurückhielt. Es hätte den totalen Sieg erringen können œ aber was hätte das gebracht? Der bemerkenswerteste Unterschied zwischen 1973 und den vorangegangenen Kriegen war, daß die Ägypter und Syrer gut, tapfer und zäh kämpften. Sie liefen nicht davon wie 1956 und 1967. Es war der erste wirklich moderne Krieg œ mit vollem Einsatz von Raketen und elektronischer Ausrüstung œ, und nur bei der Schlacht im Kursker Bogen, 1943 in der Sowjetunion, waren mehr Panzer eingesetzt worden. Die wichtigsten Befestigungen der Bar-Lev-Linie am östlichen Ufer des Kanals bestanden aus hohen Sanddünen. Als sie angriffen, schlugen die Ägypter durch diese künstlichen Sandwälle mit Wasserkanonen Breschen. Die Kanalüberquerung war relativ einfach, und bald hatten die Ägypter zwei große Armeen auf dem Ostufer. Die sofortigen israelischen Gegenangriffe wurden unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Zur selben Zeit griff Syrien über die Golan-Höhen an. Das war für Israel die größere Bedrohung. Syrische Panzer erreichten beinahe die Steilhänge über Galiläa, ehe sie durch heroischen Einsatz der zahlenmäßig weit unterlegenen Israelis gestoppt werden konnten. Syrien hatte mit 1.400 Panzern angegriffen und verlor im Laufe des Krieges 1.150 davon. im Gegenangriff gelang es den Israelis, die Syrer auf Damaskus zurück zu werfen, aber dann wurden sie durch einen Flankenangriff von zwei gepanzerten irakischen Divisionen und einer jordanischen gepanzerten Brigade gestoppt. Die Irakis kämpften nicht gut, nicht annähernd so wie die Ägypter und Syrer, aber ihre Anwesenheit brachte die Israelis von ihrer Absicht ab, bis auf Artillerieschußweite nach Damaskus vorzustoßen. Nachdem sich, an der Südfront, die Ägypter am Ostufer des Kanals -498-
eingegraben hatten, traten sie am 14. Oktober zum Angriff auf die israelischen Stellungen an. 2.000 Panzer kämpften in dieser Schlacht, und die Israelis schlugen den Angriff zurück. Der Krieg dauerte nun schon länger als Israel oder irgendwer erwartet hätte. Die Sowjets hatten mit einer Luftbrücke für die Ägypter und Syrer begonnen, und am 9. Oktober wandte sich Israel mit der Bitte um Hilfe an die USA. Die Munition wurde knapp, und 49 Flugzeuge und 500 Panzer waren verloren gegangen; viele davon allerdings durch schlechte Instandhaltung. Am 13. Oktober ordnete Präsident Nixon eine uneingeschränkte Versorgungsluftbrücke an, um mit Flugzeugen und Panzern aus amerikanischen Depots die israelischen Verluste zu ersetzen. Die Amerikaner schickten 20 Transportflugzeuge mit 2.000 Tonnen pro Tag weit mehr als die Sowjets schafften. Die Israelis griffen durch eine Lücke in der ägyptischen Front an und gingen am 16. Oktober über den Kanal. 24 Stunden begriffen die ägyptischen Kommandeure vor Ort nicht, was geschah. Es war eine waghalsige Operation. Vor allem dauerte es noch Tage, bis der Nachschub gewährleistet war. Als die Israelis nach Süden drehten, um die ägyptische 3. Armee einzuschließen, ging plötzlich alles sehr rasch. Die Araber baten um Waffenstillstand, und der USAußenminister Henry Kissinger flog am 20. Oktober nach Moskau, um die Bedingungen auszuhandeln. Die UNO-Sicherheitsrats-Resolution 338, die am 22. Oktober kurz nach Mitternacht erging, ordnete einen Waffenstillstand an, bei dem alle Armeen am Ort stehenbleiben sollten; Verhandlungen für einen dauerhaften Frieden sollten folgen. Die Israelis hatten aber die Umzingelung der 3. Armee noch nicht abgeschlossen. Sie verletzten den Waffenstillstand und erreichten am 24. Oktober Suez, die Stadt am südlichsten Punkt des Westufers des Kanals. Die 45.000 Mann und 250 Panzer der 3. Armee waren nun am Ostufer und in Suez eingeschlossen. Israel wollte sie vernichten und konnte nur durch äußersten amerikanischen Druck davon abgehalten werden. Sadat forderte eine gemeinsame sowjetischamerikanische Überwachung der Waffenstillstandslinie, und als Nixon die Idee sofort ablehnte, lud er die Sowjets ein, allein eine Truppe zu entsenden. Die -499-
UdSSR hatte sieben Divisionen in Alarm versetzt und informierte die Regierung in Washington am 23., daß sie dem ägyptischen Vorschlag folgen würde. Das hätte Krieg zwischen Israel und der UdSSR bedeutet. Kissinger teilte Sadat bedauernd mit, daß, sollte es wirklich dazu kommen, die USA gegen die Sowjetunion kämpfen würde, und zwar auf ägyptischem Boden. Um Mitternacht wurden die amerikanischen Streitkräfte weltweit in Alarmstufe III versetzt. (Die amerikanischen Streitkräfte haben fünf Grade von ‡Defence Condition—: DefCon V bedeutet Frieden, DefCon 1 uneingeschränkten Krieg.) Die Sowjets gaben nach. Israel ebenfalls. Die Ägypter durften die eingekesselte 3. Armee mit Verbandszeug und Medikamenten, Nahrung und Wasser versorgen, und beim Kilometerstein 101 auf der Straße zwischen Kairo und Suez begannen die Entflechtungsverhandlungen. Es gab eine Phase intensiver Verhandlungen, bei denen sich Henry Kissinger besonders auszeichnete. Dabei kam am 17. Januar 1974 ein Entflechtungsabkommen zwischen Israel und Ägypten zustande, und am 31. Mai eines zwischen Israel und Syrien. Die Israelis zogen sich von Suez bis auf die Hügelkette am Ostufer zurück, und Ägypten konnte den Kanal wiedereröffnen und die Schiffe freigeben, die seit dem 5. Juni 1967 in der Falle gesessen waren. Israel stimmte auch einem Rückzug auf den Golan-Höhen bis hinter die Grenze von 1967 zu, und die Syrer nahmen Kuneitra wieder in Besitz. An beiden Fronten wurden demilitarisierte Zonen eingerichtet. ISRAEL UND DIE ARABER Der Yom-Kippur-Krieg demonstrierte, daß Israel nicht unbesiegbar war, und er richtete den Stolz der Araber wieder auf. Allerdings führte er nicht unmittelbar zum Frieden. Es gab ein vier Jahre lang dauerndes Hin und Her, während dessen es trotz aller Anstrengungen von Kissinger und anderen Vermittlern nicht weiterging. Am 11. November 1978 durchbrach Sadat diesen Nebelvorhang und lud sich nach Jerusalem ein. Menachem Begin begrüßte den Vorschlag. Der Weltöffentlichkeit wurde dieses Ereignis drei Tage später in einem amerikanischen Fernsehinterview mit Walter Cronkite angekündigt. Sadat kam am 19. November nach Jerusalem. Es war einer der -500-
bewegendsten Momente der Geschichte, und die Welt war via Fernsehen live dabei, als Sadat an der Gangway seines Flugzeugs von Begin begrüßt wurde. Wenige Minuten begrüßte Sadat Golda Meir und beugte sich über ihre Hand. Am selben Tag besuchte er die ElAksa-Moschee, die Grabeskirche und die Yad VashemGedächtnisstätte für die Opfer des Holocaust. Am 20. legte er einen Kranz an einem israelischen Kriegerdenkmal nieder und sprach vor der Knesset. ‡Wenn Sie mit uns leben wollen, in diesem Teil der Welt—, sagte er, ‡in tiefem Ernst möchte ich Ihnen sagen, daß wir Sie unter uns in Sicherheit und Frieden willkommen heißen wollen. Aber ohne die Palästinenser kann es keinen Frieden geben—, und die Ansiedlung ‡müßte auf Recht beruhen und nicht auf der Besetzung des Landes anderer ... Sie müssen ein für allemal von dem Traum der Eroberung Abschied nehmen und auch von dem Glauben, daß Gewalt das beste Mittel ist, mit den Arabern zu leben.— Israel hatte auf diesen Anruf gewartet, denn die Verhandlungen von Angesicht zu Angesicht mit einem arabischen Führer bedeuteten die Anerkennung des Staates. Sadats Geste war die Antwort auf ihre Gebete, oder schien es zu sein. Die folgenden Verhandlungen waren schwierig und verzögerten sich, und es bedufte der persönlichen Intervention des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter. Begin und Sadat trafen Carter am 6. September 1978 in Camp David und unterzeichneten am 17. im Weißen Haus ein Rahmenabkommen. Trotzdem waren noch weitere Verhandlungen notwendig, und auch Carter selbst war zur Reise-Diplomatie genötigt, bevor schließlich ein Friedensabkommen unterzeichnet wurde œ am 27. März 1979 auf dem Rasen vor dem Weißen Haus. Gemäß dem Abkommen zog sich Israel schrittweise aus der Halbinsel Sinai zurück. Begin versuchte, eine israelische Siedlung nördlich der Grenze zu erhalten, der Versuch schlug aber fehl. Die Auseinandersetzung über den exakten Grenzverlauf westlich von Eilat, wo die Israelis das Ferienzentrum Taba errichtet hatten, dauerte mehr als zehn Jahre (Im November 1988 wurde dieser Streit schließlich von einem Schiedsgericht zugunsten Ägyptens entschieden). Der Krieg im Libanon bedeutete für dieses Friedensabkommen eine große Belastung, aber der Friede mit Israel war in Ägypten sehr populär, auch wenn es die Israelis selbst nicht -501-
waren. Sadat bezahlte für diesen Vertrag mit seinem Leben: 1981 wurde er von Soldaten der ägyptischen Armee ermordet, die ihn des Verrates an Ägypten und am Islam für schuldig befunden hatten. Sein Nachfolger Hosni Mubarak schaffte es, nicht in ähnlicher Weise angeschuldigt zu werden, obwohl er Sadats Friedenspolitik mit Israel fortsetzte und sich eng an die USA anschloß. Solange er und ähnlich denkende Politiker in Kairo an der Macht bleiben, stehen die Chancen für die Erhaltung des Friedens gut. DIE INTIFADA Das Abkommen von Camp David sah vor, daß Verhandlungen zu einem Autonomiestatut für die Palästinenser in den besetzten Gebieten führen sollten. Diese Verhandlungen fanden niemals statt. Zehn Jahre lang spielte diese Nichterfüllung auch keine Rolle. Israel hatte einen Friedensvertrag mit Ägypten, einen defacto-Frieden mit Jordanien und eine gesicherte Grenze mit Syrien. Es versuchte, die letzte Grenze, die zum Libanon, durch militärische Maßnahmen zu sichern, und hatte damit auch einen gewissen Erfolg (siehe LIBANON). Die PLO kann immer noch gelegentliche Angriffe in Israel unternehmen, und es kommt immer noch zu Terroranschlägen gegen Israelis im Ausland, aber das sind im Grunde nur Nadelstiche. Im militärischen Sinn lebt Israel jetzt in größerer Sicherheit als je zuvor. Am 9. Dezember 1987 zeigte die erste einer nicht mehr abreißenden Serie von Demonstrationen der Palästinenser œ im Gaza-Streifen und in der Westbank œ, wie trügerisch diese Sicherheit war. Am Tag zuvor hatte ein israelischer Militärtransporter im Gaza-Streifen vier Menschen getötet. Knaben und junge Männer warfen Steine auf israelische Patrouillen. Die Israelis schossen zurück, setzten scharfe Munition ein und töteten einige der Angreifer. Es kam am 21. Dezember im Gaza-Streifen und in der Westbank zum Generalstreik, der sich auf die meisten der in Israel lebenden Araber ausweitete. Das palästinensische Wort für Aufstand ist ‡Intifada—. Ein Untergrundkomitee wurde gebildet, das ihn leiten sollte. Bis zum ersten Jahrestag der Intifada, im Dezember 1988, hatte die israelische Armee bei dem Versuch, sie zu unterdrücken, 366 Palästinenser getötet und mehr als 20.000 verletzt. Im gleichen Zeitraum wurden 11 -502-
Israelis getötet, einschließlich einer Frau und ihrer drei Kinder, die ums Leben gekommen worden waren, als ein Autobus am 30. Oktober bei Jerusalem mit Molotow-Cocktails angegriffen wurde, zwei Tage vor den israelischen Parlamentswahlen. Mehr als 5.000 junge Männer waren eingesperrt und in Lager gesteckt worden, darunter auch Zeltlager in der Negev. Im Jahre 1988 wurden 36 Palästinenser des Landes verwiesen. Die israelischen Behörden traten dafür ein, den Aufstand mit allen möglichen Mitteln zu unterdrücken. Der Verteidigungsminister Yitzak Rabin befahl den Soldaten, jeden Aufrührer, den sie fangen konnten, zu verprügeln, ihm die Arme und Finger zu brechen. Als die Aufständischen im Sommer 1988 zu Molotow-Cocktails griffen und es in Israel wie in den besetzten Gebieten zu Brandstiftungen kam, ermächtigte Rabin die Soldaten, auf jeden zu schießen, der mit einer Brandbombe in der Hand angetroffen würde. Häuser von Palästinensern wurden in die Luft gesprengt und ihre Olivenbäume wurden umgehauen. Andere Maßnahmen, um die Intifada in Griff zu bekommen, waren weniger drakonisch. Unterstützungslieferungen aus dem Ausland wurden abgefangen, Bauernmärkte im Jordantal wurden geschlossen, an Straßenkreuzungen wurden Betonsperren errichtet. Die Aufständischen bestanden darauf, daß palästinensische Polizeibeamte, Bürgermeister und andere Beamte zurücktreten sollten. Wer zögerte, wurde mit dem Tod bedroht, und einige offensichtliche ‡Kollaborateure— wurden ermordet. Zum Entsetzen Israels griffen die Unruhen auch auf die Araber in Israel über. Die jüdischen Siedler in der Westbank nahmen bisweilen die Dinge selbst in die Hand. So kam es zu einem schrecklichen Zwischenfall: Eine Gruppe israelischer Kinder machte einen Ausflug und ging dabei durch die Felder bei einem arabischen Dorf. Ein Mann auf einem Feld schrie ihnen etwas zu, und einer der beiden Wächter der Kindergruppe verlor die Nerven und erschoß den Mann. Andere Dorfbewohner begleiteten die Gruppe ins Dorf, derselbe Wächter geriet in Panik, schoß abermals und tötete einen Araber und eines der israelischen Kinder. Ganz Israel schrie nach Rache, und in dem Dorf wurden mehrere Häuser in die Luft gesprengt, ehe man herausfand, daß das Mädchen tatsächlich von dem Wächter erschossen worden war œ einem psychopathischen israelischen Siedler. -503-
Der Aufstand schwankte hin und her, flammte auf und ließ wieder nach. Aber das Grundproblem blieb bestehen: Nach zwanzigjährigem Stillhalten hatten die Palästinenser in den besetzten Gebieten begonnen, sich gegen ihre Lebensbedingungen aufzulehnen. Am 9. Dezember 1988, dem ersten Intifada-Jahrestag, unternahmen die Israelis einen massiven Vorstoß auf das Hauptquartier von Ahmed Jibrils ‡Volksfront für die Befreiung Palästinas— (siehe ARABISCHER TERRORISMUS) bei Beirut. Jibrils Lager wurde zerstört, und zwanzig Männer seines Kommandos wurden getötet. Israel beabsichtigte mit dieser Aktion den Beweis, daß es durch die Intifada nicht geschwächt werden könne. DAS DILEMMA Im Gaza-Streifen leben jetzt rund 540.000 Palästinenser, in der Westbank 790.000, in Ost-Jerusalem 130.000, 650.000 im ursprünglichen Israel. Das bedeutet, daß von der Gesamtbevölkerung Israels, 5,6 Millionen, rund ein Drittel bereits Palästinenser sind. Meron Benvenisti vom Westbank Data Project hielt dieses Verhältnis noch 1983 für aushaltbar, da die niedrigere jüdische Geburtenrate durch die jüdische Einwanderung ausgeglichen würde. Aber die jüdische Einwanderungsquote ist seither gesunken. Nicht der Anteil der Palästinenser an der Bevölkerungszahl ist das Problem, sondern die absolute Zahl. Der Gaza-Streifen ist mittlerweile eine der dichtest besiedelten Regionen der Erde. Zu den 385.000 Bewohnern im Jahre 1967 sind ungefähr 155.000 hinzugekommen, alle jung, fremd und feindselig. Zionistische Irredentisten, angeführt von Itzak Shamir, verweigern die Aufgabe irgendeines Gebietes. Shamir stimmte auch gegen den Friedensvertrag mit Ägypten, da er mit einer Gebietsabtretung verbunden war. Eine israelische Minderheit tritt für die Aufgabe des Gaza und der Westbank ein, aber selbst wenn sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückzöge, mit oder ohne Jerusalem, bliebe das Problem bestehen. Es bleibt das gleiche Problem wie seit der BalfourDeklaration im Jahre 1917: Wie kann die jüdische nationale Heimstätte in einem Land mit einer riesigen und feindseligen arabischen Bevölkerung existieren? -504-
Die Lösung eines selbständigen und unabhängigen PalästinenserStaates ist eine Illusion œ nicht wegen des Widerstandes der konservativen Likud-Partei oder wegen der wahrscheinlichen Dominanz der PLO in einem solchen Staat, sondern wegen der hoffnungslosen Vermischung von Juden und Arabern im gesamten Bereich von Palästina/Israel. Das wirtschaftliche Leben ist so verflochten, daß sie nicht auseinandergezählt werden können. Sie sind wie siamesische Zwillinge, die eine Leber und einen Magen teilen: Dazu bestimmt, miteinander zu leben, welche Form politischer Organisation auch immer kommen mag. Selbst wenn 51.000 jüdische Siedler in der Westbank repatriiert werden könnten, was nicht möglich ist, ist doch die wirtschaftliche Integration nicht mehr rückgängig zu machen. Die kaum 2.000 Juden im Gaza-Streifen könnten wohl rückgesiedelt werden, aber die Palästinenser sind ohne Israel nicht überlebensfähig. Dort finden sie Arbeit, dort liegt ihre wirtschaftliche Zukunft. Ein palästinensischer Staat bliebe wirtschaftlich ein Teil Israels. Seine Unabhängigkeit wäre eine Fiktion. Was bleibt den Israelis also übrig? Die jüdischen Falken sagen, daß Israel das gesamte Territorium unter Kontrolle halten muß œ einerseits ist es das Gelobte Land, anderseits aus Gründen der nationalen Sicherheit. Einige Extremisten treten für die Ausweisung aller Palästinenser ein, aber das könnte nur funktionieren, wenn andere Länder sie aufzunehmen bereit wären, und das ist nicht der Fall. Die Tauben der israelischen Politik teilen die Meinung der amerikanischen und mancher europäischer Regierungen, daß Palästina nochmals geteilt werden sollte. Die arabischen Tauben fordern die Bildung eines palästinensischen Staates als Vorbedingung des Friedens. Die meisten Flüchtlinge im Gaza-Streifen und der Westbank und auch in den Lagern im Libanon fordern ihr Land zurück, die Rückgabe ihrer Häuser in Jaffa und Haifa und die Wiedererrichtung ihrer Dörfer in Galiläa. Und mehr, alle Palästinenser in der Diaspora müssen zurückkehren dürfen, wenn sie es möchten, alle zwei Millionen. Und die Juden? Die müssen zurückgehen, woher sie gekommen sind. Sie fordern das, ungeachtet der Tatsache, daß sie ihr Land bereits vor mehr als vierzig Jahren verloren haben und daß die meisten der Flüchtlinge bereits im Exil geboren sind; ungeachtet dessen, daß die meisten der heutigen Israelis bereits in Israel geboren sind; ungeachtet -505-
dessen, daß zehn Millionen Flüchtlinge in anderen Ländern eine neue Existenz gegründet und die Hoffnung auf Rückkehr aufgegeben haben. Selbst wenn ein Palästinenserstaat gegründet werden sollte, würden die meisten aus der Diaspora nicht zurückkehren wollen. Es mag sein, daß mit einem eigenen Palästinenserstaat der Haß der Palästinenser verschwinden würde und sie Israel genauso anerkennen würden wie es Anwar Sadat getan hat. Wohlmeinende Ausländer sagen, daß Israel keine Wahl bleibt, es das Risiko genauso akzeptieren muß wie damals das Risiko, den Sinai wieder aufzugeben. Es scheint aber, daß Israel dazu nicht bereit ist. Mit der Absicht, Israel zu bestärken, das Entflechtungsabkommen von 1974 zu befolgen, versprach Kissinger, daß die USA niemals mit der PLO verhandeln würden, solange diese nicht bestimmte strenge Bedingungen erfüllte. 14 Jahre lang war dieses Versprechen ein Mühlstein um den Hals nachfolgender amerikanischer Außenminister und Präsidenten. Der Weg zum Frieden führt über die Verhandlung mit dem Feind, und die Amerikaner haben auch mit Mao Tsetung und dem Ajatollah Khomeini verhandelt, und Ronald Reagan fuhr selbst nach Moskau, um mit dem ‡Reich des Bösen— seinen Frieden zu machen. Aber aufgrund Kissingers Zusagen konnten sie nicht mit Arafat verhandeln œ und die jüdischen Wähler in Amerika achteten genau darauf, daß diese Zusage bei jeder Wahl erneuert wurde. Die Israelis, die einst gefordert hatten, daß ihre Feinde mit ihnen verhandelten, verweigern jetzt selbst die Verhandlungen. Für viele von ihnen ist das natürlich reine Taktik. Sie möchten gar keinen Frieden mit den Palästinensern, da sie ihnen weder Land noch politische Autorität zugestehen wollen. Im Gegenteil, sie bestehen auf dem fortgesetzten Recht der Juden, mehr Land von den Arabern zu erobern, um neue Siedlungen zu errichten. Andere Israelis, wahrscheinlich die Mehrheit, hassen schlichtweg Yassir Arafat, der für sie den Terrorismus schlechthin symbolisiert, auch wenn er vor der UNO-Generalversammlung bombastische Reden schwingt œ mit einem Revolver im Gürtel. Arafats Männer haben zahlreiche Israelis auf dem Gewissen. PLO-Soldaten unter dem Kommando Arafats haben israelische Soldaten angegriffen und -506-
getötet, und obwohl es sich dabei strenggenommen nicht um Terroranschläge handelt (siehe TERRORISMUS), macht das für die Israelis keinen Unterschied. Die Grundbedingung, die Kissinger für die Aufnahme von Verhandlungen mit der PLO forderte, war die formale Anerkennung des israelischen Existenzrechtes, niedergelegt in den UNOResolutionen 242 und 338. Später wurde als weitere Vorbedingung der Verzicht der PLO auf Terrorismus hinzugefügt. Vierzehn Jahre lang verweigerten Arafat und seine Genossen in der Öffentlichkeit die Anerkennung dieser Bedingungen, auch wenn sie inoffiziell Besuchern immer wieder mitteilten, daß sie dem Weiterbestehen Israels zustimmen würden. Zuletzt, im Dezember 1988, nach einer großen diplomatischen Leistung von König Hussein, gab Arafat nach und sprach die Formeln tatsächlich aus. Es war für Israel einer der schlimmsten Schocks seiner Geschichte, daß die USA daraufhin tatsächlich bereit waren, mit ihm in Dialog zu treten. Allmählich wird Israel in eine Rolle ähnlich der Südafrikas gedrängt. Der Hauptunterschied ist der, daß die Schwarzen in Südafrika die gewaltige Mehrheit bilden, während die Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten nur knapp ein Drittel der Bevölkerung stellen. Der andere Unterschied ist der, daß Südafrika ‡Bantustans— errichtet hat, die Homelands, quasi unabhängige Staaten, die aber in Wahrheit von Südafrika völlig abhängig sind. Israel verweigert die Errichtung eines palästinensischen Bantustan auf der Westbank und im Gaza-Streifen. Die Parallelen liegen darin, daß die Siedler œ Juden oder weiße Südafrikaner œ sich aller demokratischen Rechte erfreuen, während sie den ursprünglichen Einwohnern verwehrt bleiben. Araber und Schwarze können aufgrund der Notstandsgesetze aus ihrer Heimat verbannt werden, und ihr Besitz kann der herrschenden Rasse übergeben werden. Von 1948 bis 1968 wurden in Israel mehr als 100.000 Hektar arabisches Land von der israelischen Regierung für jüdische Siedler konfisziert. Die Palästinenser sind Opfer ständiger Einschränkungen und polizeilicher Aufsicht, und ihr wirtschaftlicher Status ist, verglichen mit dem der Siedler, weit schlechter œ ebenfalls eine Parallele zu Südafrika. Die Intifada beweist, daß die jungen Palästinenser sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden wollen. Sie hat auch bewiesen, daß Israel den -507-
Palästinensern nicht dieselben Rechte zubilligt wie den Juden: Sie werden als Feinde behandelt. Kein zivilisiertes Land schießt auf seine Bürger, wenn sie mit Steinen auf Polizisten werfen. Die Israelis haben gar keine ernsthaften Bemühungen unternommen, die Aufstände anders unter Kontrolle zu bringen. Sie schicken schwer bewaffnete Soldaten gegen steinewerfende Halbwüchsige und ignorieren die Erfahrungen der Südkoreaner, Japaner, der Briten in Nord-Irland und der Franzosen, die alle Spezialpolizeitruppen für Aufstände aufgestellt haben. Japanische Demonstranten sind weit gefährlicher als Palästinenser sie sind mehr und disziplinierter, aber die japanische Polizei schießt nicht auf sie. Die Briten zahlen heute noch den Preis dafür, daß sie 1972 Fallschirmjäger nach Londonderry geschickt haben, und Süd-Korea mußte seine Bürger für die Opfer von Kwangju (siehe KOREA) um Verzeihung bitten. Die Israelis werden jahrelang für den grundlegenden Irrtum, so viele Aufständische zu toten, bezahlen. ISRAEL UND SEINE NACHBARN Das Jahr 1973 war für die Araber voll Glanz und Gloria. Für einen kurzen Zeitraum waren sie im Kampf gegen Israel vereint, ihre Armeen erwiesen sich als brauchbar, sie setzten mit Erfolg die ‡Erdölwaffe— ein (siehe SAUDI-ARABIEN), und die PLO etablierte sich als die anerkannte Vertreterin des ‡Besetzten Palästina—. Seit damals war es aber nie mehr so. Syrien und der Irak standen am Rand des Krieges gegeneinander, so wie Ägypten und Libyen, und so wie Libyen mit praktisch allen seinen Nachbarn. Sadat schloß mit Israel seinen Separatfrieden, womit der mächtigste arabische Staat aus der dauernden Konfrontation ausscherte, und seither haben die Extremisten auf verlorenem Posten gegen Ägypten angekämpft. Die Erdölwaffe, die in den siebziger und frühen achtziger Jahren den Ölstaaten gewaltigen Reichtum einbrachte, ist aufgrund der angestiegenen Produktionszahlen und geänderten Verbrauchspolitik des Westens stumpf geworden. Die Palästinenser wurden von Israel im Libanon besiegt und bekämpfen sich vor allem untereinander. Die USA kümmerten sich nach dem Abzug der Marineinfanteristen aus Beirut im Frühjahr 1984 kaum noch um den Nahen Osten. Die -508-
Regierung Reagan konzentrierte sich auf Mittelamerika und ihre Beziehungen zur UdSSR, obwohl George Shultz noch im Sommer 1988 eine letzte fruchtlose Anstrengung unternahm, zu einem Friedensabkommen zu gelangen. Er schlug eine internationale Konferenz vor, unter Führung der USA und der UdSSR, um Israel, Jordanien und die Palästinenser an einen Tisch zu bekommen. Die Lösung sollte, wieder einmal, eine Föderation zwischen den besetzten Gebieten und Jordanien sein. Aber nach einigen Besuchen im Nahen Osten zog sich Shultz enttäuscht zurück. Keiner der Kontrahenten war bereit, auf seine Vorschläge einzugehen. Dieses andauernde Patt durchbrach schließlich König Hussein. Am 31. Juli 1988 gab er offiziell seinen Anspruch auf die Westbank auf. Sein Großvater, König Abdullah, hatte das Gebiet 1949 annektiert, und Hussein hatte es im Sechstagekrieg von 1967 verloren. Seit damals hatte Jordanien die Westbank als Teil des Königreiches Jordanien beansprucht und auch die Gehälter der Beamten œ vor allem der Lehrer œ weiter bezahlt und Pässe an die Bewohner ausgestellt. Diese Entscheidung bedeutete, daß nun hier kein anderer Herausforderer den Israelis mehr gegenüber stand als die Palästinenser selbst. Gemäßigte arabische Staaten, Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien und überraschenderweise der Irak nützten ihren Einfluß auf die PLO, damit sie ihre Position mäßige. Die UdSSR geseilte sich diskret hinzu; die neue Regierung unter Michail Gorbatschow signalisierte, wieder in die Nahost-Diplomatie zurückkehren zu wollen, in einer weniger kläglichen Position als in der Vergangenheit. Seit 1967 waren alle Verhandlungsfortschritte an der Weigerung der PLO, Israel anzuerkennen, gescheitert. Am 15. November 1988 proklamierte der Palästinensische Nationalrat (PNC) auf einem Treffen in Algier einen unabhängigen Palästinenserstaat. Mehr als vierzig Jahre nach der UNO-Resolution 181, die Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat aufteilte, nahmen die Palästinenser diese Entscheidung zur Kenntnis. Der PNC akzeptierte insbesonders die umstrittenen UNO-Sicherheitsrats-Resolutionen 242 und 338, die das Recht jedes Staates in der Region festschreiben, innerhalb gesicherter und anerkannter Grenzen zu leben. Das bedeutete die Anerkennung Israels, aber auch bei dieser Gelegenheit -509-
konnte weder Arafat noch einer der anderen Delegierten sich dazu überwinden, diese Worte auch auszusprechen. Die Bedeutung dieser Entscheidung wurde obendrein durch die mehrdeutigen Äußerungen über den Terrorismus abgeschwächt. Der Rat bestand auf dem Recht der Palästinenser, ‡der israelischen Besatzung Widerstand zu leisten— und lehnte zwar ‡alle Formen des Terrorismus ab—, berief sich aber ‡auf die Übereinstimmung mit UNO-Resolutionen—. In manchen Resolutionen wurden ‡Befreiungskämpfe— abgesegnet. Der PNC gab seine formelle Zustimmung zu Verhandlungen mit Israel im Rahmen einer internationalen Friedenskonferenz und schlug vor, daß der unabhängige Palästinenserstaat eine Konföderation mit Jordanien anstreben sollte. Die extremistischen Palästinenser waren in Algier nicht vertreten, und andere, angeführt von George Habash, konnten nur unter Schwierigkeiten dazu gebracht werden, die Resolutionen anzunehmen. Habash beeinträchtigte auch in Zukunft das Gesprächsklima, indem er darauf bestand, daß die PLO weiterhin ganz Palästina fordere. Zwei Wochen zuvor, am 1. November, hatten die Parlamentswahlen in Israel mit hoffnungsloser Zersplitterung der Knesset geendet. Die Mehrheit der Wähler hatte die Forderung der Arbeitspartei nach Verhandlungen mit den Arabern (nicht der PLO) abgelehnt, ebenso aber auch den Extremismus der Likud und ihrer Verbündeten. Den Ausschlag gaben die religiösen Parteien, die völlig andere Ziele verfolgten: Sie wollten ein Gesetz über die Rückkehr, das die Konversion ausschließlich zum ultraorthodoxen Judentum ermöglichen sollte. Für die Mehrheit der amerikanischen Juden, die reformierten oder orthodoxen Richtungen angehören, bedeutete dieser Vorschlag, daß ihr eigenes Judentum von der Regierung Israels abgeleugnet würde. Die Allianz zwischen Israel und dem amerikanischen Judentum, eine der Grundlagen der Sicherheit des Staates, war erschüttert. Die Konferenz von Algier platzte mitten in die erste Runde der Auseinandersetzung über die Bildung einer neuen israelischen Regierung, und wenn sie auch über religiöse Dogmen stritten, waren sich die beiden Seiten in Israel doch über die Ablehnung der PLO einig. Shamir sagte, die einzige Handlung der PLO, die seinen Beifall finden würde, wäre ihre Selbstauflösung. -510-
Arafat hielt vor der UNO-Generalversammlung in Genf am 13. Dezember eine weitere Rede. (Die Versammlung mußte von New York in die Schweiz verlegt werden, da Arafat keine Einreisegenehmigung in die USA erhalten hatte.) Einmal mehr fanden die Amerikaner seine Zugeständnisse ungenügend. Ein Sprecher des Außenministeriums stellte fest, daß sich nichts geändert habe, daß Arafat weiterhin die eindeutige Distanzierung vom Terror ablehne, ebenso wie die ausdrückliche Anerkennung Israels. Es schien, daß die Bemühungen Shultz‘ keinen Fortschritt im Nahen Osten gebracht hätten. Aber im Hintergrund gingen die intensiven Verhandlungen weite? Die Schweden spielten eine Schlüsselrolle als Vermittler; sie drängten Arafat, den letzten Schritt zu tun, und drängten die Amerikaner, seine Aussagen als hinreichend anzuerkennen. In gleicher Weise argumentierten auch die gemäßigten Araber, die Europäer und der türkische Ministerpräsident Turgut Özal, der sich zu der Zeit in Washington aufhielt. Am folgenden Tag gab Arafat in Genf eine Pressekonferenz, seine vierte oder fünfte ‡Erläuterung— der Resolution von Algier. Er stellte fest, daß er die UNO-Resolutionen 181, 242 und 338 anerkenne. Er sagte weiter: ‡Ich wiederhole für das Protokoll, daß wir ganz und gar allen Formen des Terrorismus abschwören, das schließt den Terror von Einzelpersonen, Gruppen oder Staaten ein.— Es war genug. Am selben Abend teilte Shultz mit, daß die USA bereit seien, den Dialog mit der PLO zu eröffnen. Es war ein dramatischer, theatralischer Streich, ohne Zweifel die bedeutendste diplomatische Entwicklung im Nahen Osten seit Jahren, und der dramatische Abschluß eines Jahres, das an bemerkenswerten Ereignissen reich war. Israel war dadurch so isoliert wie nie zuvor. Die Amerikaner versicherten, daß sie Israels Sicherheit weiterhin unterstützen würden, hatten aber ihre diplomatische Position grundlegend verändert. Itzak Shamir machte sich daher an die Ausarbeitung eines eigenen Friedensplanes. Im April 1989 schlug er ‡freie, demokratische Wahlen— in den besetzten Gebieten vor, um örtliche palästinensische Gesprächspartner zu finden, mit denen Israel dann über die ‡vorläufige Autonomie— für -511-
die Palästinenser verhandeln könnte, und später über eine endgültige Lösung. Der Vorschlag wurde von den Palästinensern mit Mißtrauen betrachtet, da er die PLO ausschaltete. Aber er wurde nicht strikt abgelehnt, und Präsident Mubarak vermittelte mit der Unterstützung der USA zwischen Israel und der PLO, um einen akzeptablen Modus für die Durchführung solcher Wahlen zu finden. Shamir traf im rechten Flügel seiner eigenen Partei auf heftigen Widerstand. Er wurde beschuldigt, Israel an seine Feinde zu verkaufen. Die Opposition wurde von Ariel Sharon angeführt, und bei einem Parteitag am 5. Juli 1989 setzte er sich mit der Forderung nach Zusätzen zum Shamir-Plan durch. Es gab vier neue Bedingungen: - Vor Wahlen muß die Intifada beendet werden. - Die Palästinenser in Jerusalem können weder für Ämter kandidieren, noch haben sie das Wahlrecht. - Die Errichtung jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten wird weitergehen. - Kein Gebiet kann unter ‡ausländische Souveränität— geraten, und kein Palästinenserstaat kann jemals errichtet werden. Die PLO und ihre Verbündeten wiesen die Vorbedingungen zurück (was zweifellos Sharons Absicht gewesen war), und der Friedensplan machte keine weiteren Fortschritte. Der neue US-Außenminister James Baker teilte mit, er hätte Besseres zu tun, als gegen israelische Halsstarrigkeit anzukämpfen. Ereignisse im In- und Ausland beeinflußten weiterhin die IsraelFrage. Die Krise in der UdSSR, das Ende aller Auswanderungsbeschränkungen und die Angst vor einer Wiederbelebung des russischen Antisemitismus führten zu einem plötzlichen Anstieg der jüdischen Emigration nach Israel. Die USA billigten sowjetischen Juden keinen Flüchtlingsstatus mehr zu. Israel war über diese Veränderung erfreut, auch wenn die Aussicht auf die Aufnahme einer halben Million Flüchtlinge eine beträchtliche Herausforderung darstellt. Ende 1989 schlugen erstmals hohe amerikanische Beamte vor, die Hilfszahlungen für Israel zugunsten bedürftigerer Staaten einzuschränken. Das Ende des Kalten Krieges schwächte die Notwendigkeit der Unterstützung Israels ab. -512-
Die Intifada ging weiter. Drei Jahre nach ihrem Ausbruch, Ende 1989, hatte sie 530 Araber und 39 Israelis, davon 8 Soldaten, das Leben gekostet. Die Palästinenser hatten 150 Menschen wegen des Verdachtes der Kollaboration mit Israel ermordet, davon 135 allein im Jahr 1989. Der schlimmste Zwischenfall geschah am 6. Juli, als ein Palästinenser aus dem Gaza-Streifen während einer Busfahrt in den Bergen von Judäa sich mit dem Ruf ‡Gott ist groß!— auf den Fahrer stürzte, ihm das Lenkrad entriß und den Bus in den Abgrund lenkte. Dabei starben fünfzehn Menschen. Am 28. Juli entführten die israelischen Streitkräfte einen libanesischen schiitischen Mullah, Scheich Abdul Karim Obeid, aus Jibchit, einem Dorf im Süd-Libanon. Er wurde beschuldigt, führendes Mitglied der Hisbollah zu sein und bei der Entführung von Oberst William Higgins im Februar 1988 beteiligt gewesen zu sein. Der amerikanische Offizier war als UNO-Beobachter im Libanon gewesen. Die Hisbollah forderte Obeids Freilassung, andernfalls würde Higgins hingerichtet werden. Als die Israelis darauf nicht reagierten, übermittelte die Hisbollah am 31, Juli ein Videoband, auf dem die Erhängung Higgins‘ festgehalten war. Amerikaner und Israelis stellten fest, daß Higgins wahrscheinlich bereits Monate zuvor ermordet worden war, aber der Zwischenfall warf einen weiteren Schatten auf die amerikanischisraelischen Beziehungen. Israel bot an, Obeid und 100 andere schiitische Gefangene im Austausch für drei israelische Soldaten, die im Libanon gefangen worden waren, und die überlebenden 15 westlichen Geiseln freizugeben. Das Angebot wurde ignoriert. Am 3. Februar 1990 wurden neun israelische Touristen bei einem Angriff auf einen Bus bei Kairo getötet. Dieser Zwischenfall rief deutlich ins Gedächtnis, daß ungeachtet aller friedlichen Bekenntnisse der PLO die Terroristen schonungslos weitermachen. Der Überfall des Irak auf Kuwait hat die innenpolitische Situation Israels, die in den Monaten zuvor von mehrfachen Versuchen geprägt war, die Intifada in Griff zu bekommen und eine regierungsfähige Mehrheit zu erlangen, stark verändert. Die Palästinenser jubelten Saddam Hussein zu, der die Existenz Israels unmittelbar bedrohte. Das warf den Dialog mit den Palästinensern um Jahre zurück. Das Land bereitete sich auf einen Angriff vor. -513-
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JEMEN NORD-JEMEN (ARABISCHE REPUBLIK) Geographie: 195.000 km2 Bevölkerung: 9,2 Millionen BSP: 550 $/Einw. Flüchtlinge: Seit 1986 rund 61.000 aus dem Süd-Jemen. SÜD-JEMEN (DEMOKRATISCHE VOLKSREPUBLIK) Geographie: 290.000 km2 Bevölkerung: 2,3 Millionen BSP: 480 $/Einw. Die Grenzen beider Staaten sind ungenügend bestimmt, daher sind die Flächenangaben Annäherungswerte. GESCHICHTE Der Jemen war die Heimat der Königin von Saba. Die Römer nannten das Land ‡Arabia Felix—, glückliches Arabien, ein frühes Beispiel einer euphemistischen Einschätzung. Süd-Jemen besteht aus nackter Wüste. Auch ein großer Teil des Nord-Jemen ist nichts anderes, aber immerhin besteht dieser Teil des Landes hauptsächlich aus Bergen und erfreut sich eines relativ milden Klimas. Im Altertum wurden im Jemen die hoch geschätzten Myrrhe und Weihrauch erzeugt. In diesem Gebiet lösten einander wechselnde Monarchien ab, jede beherrschte andere Kombinationen dieser Wüsten und Berge, die von einer Vielfalt unabhängiger Stämme bewohnt wurden. Eine Weile herrschten die Türken, und 1934 erlitt König Abdul Aziz (Ibn Saud) bei dem Versuch, Nord-Jemen zu erobern, eine Niederlage. Bis in die sechziger Jahre blieb das ganze Land œ Nord wie Süd œ mit Ausnahme von Aden unberührt von der Außenwelt. Diesen Hafen am äußersten Südzipfel der arabischen Halbinsel hatten die Briten 1839 annektiert und ihrer Kette von Marinestützpunkten eingefügt, die sich zum Schutz Indiens um den Indischen Ozean schlang. Nach der -515-
Eröffnung des Suez-Kanales wurde Aden eine wichtige Kohlestation auf der Route nach Indien. Die Imams, die den Jemen regierten, saßen in Saana und waren sowohl geistliche wie weltliche Führer. Sie waren streng autoritär, konservativ und widersetzten sich allen Modernisierungsbestrebungen. Wie die Zaren in Rußland stützten sie ihre Autorität mit Mordanschlägen. Ihr Absolutismus wurde aber durch die Notwendigkeit, die Loyalität der Stämme zu erhalten, gemildert. Die Tradition der Mordkommandos hat aber den Sturz der Imams überdauert. Die Briten hatten zwischen Nord-Jemen und Süd-Jemen eine völlig künstliche Trennlinie gezogen, um die Kontrolle über das Hinterland Adens zu gewährleisten. Sie nannten den Süden ‡Protektorat Aden— und schlossen Verträge mit den verschiedenen Scheichs, die das Land regierten. Aus imperialistischer Gewohnheit behielt Britannien Aden nach dem Verlust Indiens 1947 weiter, baute sogar die Docks aus und errichtete eine Ölraffinerie. Der jemenitische Imam Yahya wurde bei einem versuchten Staatsstreich, den sein Sohn Ahmed niederschlagen konnte, ermordet. Der neue Imam ließ gewisse Modernisierungen zu, und er teilte die Feindseligkeit der arabischen Welt gegenüber den Briten während des Suez-Krieges 1956. In einer der zahlreichen in Arabien so beliebten Staatsfusionen schloß er 1958 den Jemen mit Nassers Vereinigter Arabischer Republik (Ägypten und Syrien) zusammen. Der Staatenbund wurde Union der Arabischen Staaten genannt und hatte keinen anderen Zweck, als Briten und Saudis zu verblüffen. Er wurde im Dezember 1961 wieder aufgelöst. Der Imam erwies sich als ebenso autoritär und rückständig wie seine Vorgänger. Der Verlust des Suez-Kanales 1956 veränderte die britische Politik nicht sehr, obwohl der wachsende arabische Radikalismus, der durch den wachsenden Bedarf an Arbeitskräften in den Hafen getragen wurde, es unglaublich schwierig machte, Aden zu halten. Aber der Stützpunkt war immer noch notwendig als Operationsbasis für den Golf, dessen Anliegerstaaten damals noch britisches Protektorat waren. In der Zwischenzeit hatten einige Soldaten aus dem NordJemen in Ägypten revolutionäre Taktiken erlernt und sich gegen den -516-
Imam verschworen. Am 19. September 1962, auf der Höhe des Einflusses und des Größenwahnes von Präsident Nasser in Ägypten, starb der alte Imam Ahmad. Am 26. September organisierten die Ägypter einen Staatsstreich in Saana und flogen unverzüglich Soldaten ein, um die neue Regierung zu schützen. Es war genau die gleiche Taktik, die die UdSSR 17 Jahre später in Afghanistan anwandte, mit dem gleichen Ergebnis. Die Stämme verweigerten die Anerkennung der neuen Regierung. Ahmads Erbe, der eine Woche lang in Saana geherrscht hatte, stellte sich an ihre Spitze und griff die Ägypter an. Die Royalisten wurden von den Saudis und den Briten unterstützt, und die Ägypter wurden mit ihnen nicht fertig. Nassers Luftwaffe versuchte Guerillastützpunkte in Saudi-Arabien zu bombardieren, und die beiden Länder bewegten sich am Rand des Krieges, bis Präsident Kennedy eindeutig feststellte, daß die USA Saudi-Arabien unterstützen würden. Die Stellung der Briten in Aden wurde unhaltbar. Das Kolonialamt errichtete eine Südarabische Föderation, die von konservativen Scheichs aus dem Hinterland dominiert werden sollte œ in der Hoffnung, eine probritische Regierung zu hinterlassen. Aber die Radikalen besiegten sie mit Leichtigkeit. 1967, nach Ägyptens demütigender Niederlage im Sechstagekrieg, gab Nasser seine Versuche, Nord-Jemen zu erobern, ebenso auf wie die Briten den SüdJemen. Die Ägypter zogen im Oktober ab, die Briten im November. UNABHÄNGIGKEIT Die beiden Jemen begannen die neue Ära mit einer Serie von Staatsstreichen und Mordanschlägen, die seither nicht mehr aufgehört haben. Das Regime, das die Ägypter im Süd-Jemen hinterlassen hatten, war innerhalb eines Monats gestürzt. Der Bürgerkrieg ging bis 1970 weiter, bis es den Saudis gelang, eine Übereinkunft zwischen den beiden Staaten herbeizuführen. Die neue Regierung betrachtete Saudi-Arabien als ihren natürlichen Verbündeten. Der Süd-Jemen wurde umbenannt in ‡Demokratische Volksrepublik Jemen— und verbündete sich mit der UdSSR. Aden war durch den -517-
Abzug der Briten und die Schließung des Suez-Kanales pleite. Die UdSSR sprang in die Bresche. Im Gegenzug für Hafenrechte bewaffnete sie die Süd-Jemeniten und bot eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit. Süd-Jemen ist seither ein merkwürdiger kommunistischer Staat geworden, ein arabisches Kuba. Seine Form des Kommunismus ist aber durch den unauslöschlichen Konservatismus der Stämme modifiziert, die ständig in irgendeiner Form der Revolte oder geplanten Revolte gegen Aden leben. Süd-Jemen ist zum Beispiel der einzige kommunistische Staat der Welt mit einer Staatsreligion, dem Islam. Außerdem ist der Süd-Jemen abhängig von den Überweisungen von 100.000 seiner Bürger im Ausland, von denen die meisten in Saudi-Arabien und in den Golfstaaten arbeiten, wo sie mit den Überzeugungen dieser erklärt antikommunistischen Länder in Berührung kommen. Da die Auslandsjemeniten darauf bestehen, daß ihr Geld ihren Familien zugute kommt, muß die Regierung ein gewisses Maß an unkommunistischem Unternehmertum zulassen. Beide Jemen haben sich durch die Zahl und Blutrünstigkeit ihrer Regierungswechsel hervorgetan. Ungeachtet der Tatsache, daß sie beide ihren Wunsch nach Vereinigung verkündet haben, kam es zu zahllosen Grenzgefechten und 1979 zu einem richtigen Krieg. 1977 wurde ein Präsident des Nord-Jemen ermordet, vielleicht sogar, weil er eine Reise nach Aden plante. Am 24. Juni 1978 wurde in Saana ein persönlicher Bote von Präsident Salim Rubai Ali (Süd-Jemen) in das Büro von Präsident Ahmad al-Chashmi (Nord-Jemen) vorgelassen. In der Aktentasche des Boten war eine Bombe. Ihre Explosion tötete beide Männer. Zwei Tage danach wurde Rubai Ali selbst bei einem Staatsstreich in Aden ermordet. Und seit damals gab es noch mehr Staatsstreiche und Attentate in beiden Ländern. Während der siebziger Jahre wurde der Süd-Jemen von einem Triumvirat regiert, das aus Nasser el-Hassani, Abdel Fatah Ismail und Salim Rubai Ali bestand œ alle Veteranen aus dem Kampf gegen die Briten, die nach Staatsstreichen 1969 und 1971 in diese Ämter gelangt waren. Nach Rubais Tod 1978 waren es nur noch zwei. Ismail wurde zunächst Präsident, 1980 aber von seinem Partner gestürzt. Er entkam nach Moskau, wo er sich fünf Jahre lang den Ruf eines dogmatischen Kommunisten aufbaute. Hassani, nunmehr Präsident, wurde als geringfügig gemäßigter eingeschätzt, und Mitte -518-
der achtziger Jahre entwickelte er behutsam etwas weniger kühle Beziehungen zu den westlichen und den konservativen arabischen Ländern. Ismail versöhnte sich zeitweilig mit Hassani, kehrte im Herbst 1985 zurück und nahm seinen Platz im Politbüro wieder ein. Zusammen mit Hassani und dem Vizepräsidenten Ali Ahmed Antar bildete er erneut ein Triumvirat. Dieses neue Arrangement war aber nicht nach Hassanis Geschmack. Er berief für den 13. Januar 1986 ein Treffen des Politbüros ein, nahm aber selbst daran nicht teil, sondern setzte sich heimlich zu seinem Stamm in die Berge ab. Um seine Kollegen zu täuschen, ließ er allerdings seinen Mercedes zurück, und als sie alle im Sitzungssaal Platz genommen hatten, eröffneten seine Leibwächter das Feuer aus Maschinenpistolen. Antar starb sofort, ebenso der Verteidigungsminister Sälen Muslih Quassem, Ismail erlag später seinen Verletzungen. Deren Leibwächter stürmten in den Raum, und bei dem folgenden Schußwechsel starben mehr als 20 Menschen. Einige wenige Mitglieder des Politbüros, denen es gelungen war, durchs Fenster zu entkommen, versammelten unverzüglich ihre Gefolgsleute. Es kam in Aden zu zehntägigen erbitterten Kämpfen. Die UdSSR wurde davon völlig überrascht. Ihre Diplomaten und Militärberater flüchteten auf einen sowjetischen Frachter, der im Hafen lag. Europäer und Amerikaner wurden auf der Yacht der englischen Königin Britannia evakuiert, die eben das Rote Meer herabfuhr, um die Königin in Neuseeland aufzunehmen. Die Britannia brachte die Flüchtlinge nach Dschibuti an der gegenüberliegenden afrikanischen Küste. Nach Augenzeugenberichten stürmten schwer bewaffnete Stammeskrieger die Stadt. Während der Kämpfe spaltete sich die Armee wohl eher längs der Stammeslinien, weniger ideologisch. Die Marine unterstützte Hassani, und die Kriegsschiffe beschossen Panzer der Opposition. Aber Präsident Hassani verlor und flüchtete nach Äthiopien. Seine Soldaten demolierten im Laufe ihres Abzuges die sowjetische Botschaft. Der Ministerpräsident war zu seinem Glück außer Landes. Er wartete das Ende der Kämpfe ab, dann kam er zurück, um das Präsidentenamt zu übernehmen. Die Regierung berichtete später, daß 4.230 Mitglieder der herrschenden Partei bei den Kämpfen getötet worden seien, und es ist -519-
wahrscheinlich, daß es insgesamt 13.000 Tote gab. Mehr als 60.000 Flüchtlinge retteten sich in den Nord-Jemen. Aden ist für die Sowjetunion ein wichtiger Hafen. Diese Flottenbasis im Indischen Ozean ermöglicht der UdSSR, im NahostKonflikt weiterhin eine Rolle zu spielen. Die Position der Sowjets ist offensichtlich ziemlich prekär, und es ist durchaus möglich, daß sie beim nächsten Stammeskrieg überhaupt aus dem Land gejagt werden. Die Briten setzten in den sechziger Jahren Truppen ein, um Aden zu halten, mußten aber dennoch einem Massenaufstand weichen. Als 1986 der Bürgerkrieg ausbrach, sind die Sowjets einfach geflüchtet. Sie hatten keine Soldaten, um in die Geschehnisse einzugreifen, und nach ihren Afghanistanerfahrungen haben sie wohl wenig Lust auf ein neues Abenteuer, ihre Stellung hängt letztlich vom Kräfteverhältnis der Stämme und auch des im Politbüros ab, und das kann sich von einem Tag zum anderen ändern. DIE WIEDERVEREINIGUNG Ende Mai 1990 überraschte der Jemen die Welt mit der Ankündigung des sofortigen Zusammenschlusses. Die neue ‡Republik Jemen— steht unter der Hoheit von Sanaa, wo die Bevölkerung den neuen jemenitischen Einheitsstaat mit großer Freude quittierte œ wie auch die Einwohner des bisherigen Süd-Jemen. Für den Irak bedeutet diese Veränderung eine Stärkung in der Region. 1988 hatten sich Nord-Jemen, Irak, Ägypten und Jordanien im ‡Arabischen Kooperationsrat— zusammengeschlossen. Mit der Einbeziehung Süd-Jemens reicht Bagdads Einfluß nun bis an die Südspitze Arabiens. Die eigentliche Einigung der beiden Jemen steht aber noch bevor. Der Widerstand der Fundamentalisten ist beträchtlich; sie fürchten die säkularen Einflüsse des Südens. Und die Saudis schüren den Widerstand der Bergstämme. So traten die Führer der beiden Staaten wohl die Flucht nach vorne an.
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DIE KURDEN
Die Kurden sind ein uraltes Volk, aufgeteilt auf den Irak, den Iran, Syrien, die Türkei, den Libanon und die Sowjetunion. Sie waren niemals eine Nation, und in der modernen Geschichte waren sie niemals unter einer Regierung vereint. Die Grenze zwischen Persien und dem Osmanischen Reich verlief mitten durch das Territorium der Kurden, eine Linie, die sie immer noch teilt. Sie haben jetzt den Nationalismus erlernt, zur selben Zeit und in derselben Schule wie die Türken, die Perser und die Araber, und sie haben eine Reihe erfolgloser Kämpfe gegen die Regierungen in Ankara, Teheran und Bagdad ausgefochten. Über die Gesamtzahl der Kurden kann nur die krudeste Schätzung angestellt werden. 20 Millionen sagen die einen, sicherlich eine Übertreibung. David McDowall, Verfasser des Berichts der ‡Minority Rights Group", stellte 1980 folgende Schätzung auf: Land
Bevölkerung (Mio.)
Kurden (Mio.)
%
Türkei Irak Iran Syrien Libanon UdSSR
44,5 13,5 37,7 92
8,455 3 105 3,701 0,734 0,060 0,265 16,320
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In Westeuropa halten sich geschätzte 350.000 Kurden als Gastarbeiter auf. Die Kurden leben auf einem Gebiet von ungefähr 640.000 km2. Sie sind alle Moslems, mindestens 80 Prozent davon Sunniten, der Rest Schiiten. Sie behaupten, von den antiken Medern abzustammen, einem der dem Persischen Reich zugrundeliegenden Königreiche. Die Meder lebten mit Sicherheit auf dem Gebiet des heutigen Kurdistan. Kurdisch ist mit dem Persischen verwandt. Die zahlreichen Dialekte -521-
sind oft so sehr von einander unterschieden, wie es viele italienische Dialekte im 19. Jahrhundert waren oder wie in Frankreich vor der Revolution. Der berühmteste aller Kurden war Saladin, der allerdings außerhalb von Kurdistan geboren wurde, in Tikrit im Irak, dem Geburtsort von Saddam Hussein. Saladin machte sich selbst zum Herrscher über Ägypten und befreite Jerusalem von den Kreuzfahrern. Er hatte kein Interesse an Kurdistan. Die Situation der Kurden ist ein Musterbeispiel für die Schwierigkeit, die Idee eines Nationalstaates mit den Gegebenheiten der Welt übereinzubringen. Eine einheitliche Nation innerhalb der Grenzen eines Staatsgebietes ist die Ausnahme von der Regel, sogar in Europa. Die Kurden sind nicht vereint, aber auch die Araber oder die Türken sind das nicht. Das Unglück der Kurden ist, daß sie nicht nur von einander getrennt sind, sondern daß sie auch von den beherrschenden Rassen in den Ländern, in denen sie leben, unterdrückt werden. Die Kurden im Osmanischen Reich waren stets loyale Bürger, die sich in den osmanischen Armeen Ruhm erwarben. Während des Ersten Weltkriegs eröffneten die Russen im Kaukasus eine Front gegen die Türkei. Drei Kriegsjahre lang wurde die armenische Bevölkerungsgruppe in der Osttürkei in einer Reihe von Pogromen zerstört, an denen die Kurden mit Begeisterung teilnahmen, (siehe TERRORISMUS: AUSSICHTSLOSE HOFFNUNGEN). Eine andere kleine Gemeinde, die christlichen Assyrer, wurden ebenfalls aus ihrer Heimat vertrieben; die Überlebenden siedelten sich nach dem Krieg in Irakisch-Kurdistan an und wurden später beim ersten Kurdenaufstand regelrecht abgeschlachtet. 1920 erwog der Völkerbund, besser, die Briten, die Gründung unabhängiger Staaten für die Kurden und Armenier. Die osmanische Rumpf-Regierung in Konstantinopel unterschrieb den Vertrag von Sevres, in dem unter anderem die Bildung eines Staates Kurdistan festgehalten wurde. Dann pflanzte Kemal Pascha (Atatürk) das Banner des türkischen Nationalismus auf, und zusammen mit seinen Anhängern stellte er die türkische Unabhängigkeit wieder her, ebenso den Grenzverlauf. Viele Kurden schlossen sich ihm an, die die Türken den Armeniern oder den Griechen vorzogen. Der Vertrag von Sevres wurde stillschweigend fallengelassen, und an seine Stelle trat 1923 der Vertrag von -522-
Lausanne, in dem die Kurden nicht erwähnt wurden. Sie waren loyal zum Sultan gestanden, und plötzlich fanden sie sich unter einer laizistischen Regierung wieder, die darauf bestand, daß sie keine Kurden seien, sondern Türken, und unter britischer und arabischer Herrschaft von Teheran. Bald begannen die ersten kurdischen Revolten, und in irgendeiner Form haben sie seither nicht geendet. Ein besonderes Merkmal ist die Grausamkeit, mit der sich die kurdischen Stämme untereinander bekämpfen, mit mindestens gleicher Wildheit wie sie gegen die Regierungen der Türkei, des Irak und des Iran ankämpfen. DIE KURDEN IM IRAK Als der Irak 1943 von den Briten besetzt wurde und in eine Fraktion auf Seite der Achsenmächte und eine auf der Seite der Alliierten zerfiel, rief der Mullah Mustafa Barzani, der der erbliche geistliche und weltliche Führer seines Stammes war, rund um seine Heimatstadt Barzan eine autonome Region aus, die sich zwei Jahre lang hielt. 1945 wollte die Regierung in Bagdad die zentrale Macht wieder herstellen, und Barzani führte den Kampf gegen sie an. Er wurde besiegt und ging 1946 nach Mahabad im nordwestlichen Iran, wo Kurden unter der Patronanz der Sowjetunion eine kurdische Republik gegründet hatten. Als die iranische Regierung Mahabad zurückeroberte, floh Barzani in die Sowjetunion, wo er bis zur Revolution im Irak 1958 lebte. Der irakische Regimechef General Abd al-Karim Kassem versprach den Kurden zunächst Autonomie, aber als Barzani begann, seine Autorität im Norden des Landes, in Kurdistan, wieder aufzubauen, erklärte ihm die Regierung den Krieg. Die erste Phase dieses Krieges dauerte von 1961 bis 1970, und sie nahm den Verlauf vieler solcher Aufstände: Nachdem sie sich von ihren anfänglichen Rückschlägen erholt hatte, bekam die Regierung die größeren Städte unter Kontrolle und besetzte gelegentlich die größten Täler, konnte aber an die Stellungen der Kurden in den Bergen nie herankommen. Daher belegte die irakische Luftwaffe kurdische Dörfer mit schwerem Bombardement, konnte aber den kurdischen Widerstandswillen nicht brechen. Barzanis Armee œ die Pesh Merga (die, die aufrecht sterben) -523-
œ zählte 50.000 bis 60.000 Mann, und auf dem Höhepunkt ihres Erfolges kontrollierten die kurdischen Rebellen alle Gebirge im Nordost-Irak, und ihre Guerillakommandos kamen bis in die Vororte von Mosul, Arbil und Kirkuk, die wichtigsten Städte des irakischen Kurdistan. Die Kurden wurden wechselnd vom Iran, der UdSSR, Israel und den USA unterstützt. Tausende Menschen wurden getötet, hauptsächlich Zivilisten œ nach einer Schätzung waren es zwischen 1961 und 1970 100.000, bei 9.000 toten Soldaten. Die Hälfte dieser Zahl ist wahrscheinlicher. Im März 1970 bot die irakische Regierung den Kurden erneut die Autonomie an, und es kam zu einem Waffenstillstand. Aber die beiden Seiten konnten über die Details dieses geplanten Abkommens keine Einigung erzielen. Die Hauptstreitpunkte waren Barzanis Forderung, daß er die Pesh Merga unter seinem Kommando behalten würde und daß Kurdistan Kirkuk einschließen sollte, die Provinz, in der 70 Prozent des irakischen Erdöls gewonnen werden. Die Regierung in Bagdad machte ihr letztes Angebot œ Autonomie ohne Kirkuk œ am vierten Jahrestag des März-Manifestes, und als Barzani ablehnte, trat sie wieder zum Angriff an. Als die irakische Armee in Kurdistan eindrang, machte Barzani den Fehler, von der bewährten Guerillataktik abzugehen und einen klassischen Krieg gegen die Iraker zu versuchen. Er befehligte die 40.000 Pesh Merga-Männer und 60.000 Milizionäre, und er überschätzte seine Stärke. Die Kurden wurden geschlagen und bis zum Jahresende in die abgelegensten Winkel ihrer Berge gejagt, bis zur türkischen und iranischen Grenze. Die Pesh Merga hielten zunächst durch und konnten sich, dank der offenen Unterstützung durch die Iraner mit schwerer Artillerie und der verdeckten Hilfe durch die CIA, gegen 100.000 Irakische Soldaten eine Weile halten. Die Baath-Regierung war gerade in ihrer ultralinken Phase, eng verbündet mit der Sowjetunion und in bitterer Feindschaft mit dem Westen. Iran und Irak waren wie üblich verfeindet, und zwischen den beiden Ländern gab es ernsthafte Grenzstreitigkeiten. 1975 wechselten der Schah von Persien und der US-Außenminister urplötzlich den politischen Kurs. Sie ließen die Kurden fallen und -524-
strebten eine Übereinkunft mit der Regierung in Bagdad an. Die iranische und die irakische Regierung unterzeichneten bei einem OPEC-Gipfeltreffen in Algier am 6. März 1975 ein Abkommen, in dem sie ihren Streit beilegten. Die stille amerikanische und die offizielle iranische Militärhilfe für die Kurden wurde sofort eingestellt. Die Grenzen waren geschlossen, die Kurden ihrem Schicksal überlassen. Mustafa Barzani und Zehntausende seiner Anhänger flüchteten in den Iran (Barzani starb 1979 in den USA), und die Iraker feierten ihren Sieg auf die übliche Weise, indem sie möglichst viele der Rebellen umbrachten. Der kurze Krieg kostete 7.000 irakische Soldaten und 2.000 Kurden das Leben, jeweils nach eigenen Angaben. Wahrscheinlich waren es insgesamt aber 20.000, und 600.000 Menschen flüchteten. Der Stern von Barzanis ‡Kurdischer Demokratischer Partei— (KDP) sank, und andere Kurdenführer trugen den Kampf weiter. Der bedeutendste von ihnen war Jalal Talabani von der ‡Patriotischen Union von Kurdistan— (PUK). Talabani war seit den fünfziger Jahren in Opposition zu Barzani gestanden. Sein Stamm lebte in Suleimaniya im südlichen Kurdistan, eine Region, die städtischer entwickelt ist als Barzan im Norden. Nach dem Debakel von 1975 flüchtete Talabani mit 4.000 bewaffneten Anhängern nach Syrien. Er bekam einen syrischen Reisepaß von Präsident Assad, und seine kleine Armee wurde an der irakischen Grenze postiert, um sie gegen die Baathisten aus Bagdad zu bewachen. Zu der Zeit waren die Beziehungen zwischen Syrien und dem Irak ziemlich angespannt. 1975 wäre es beinahe zum Krieg gekommen. Im Zuge der syrischirakischen Annäherung während des Krieges gegen den Iran ließen die Syrer aber dann auch Talabani fallen. Die PUK vereinigte sich mit zwei anderen marxistischen Kurdengruppen, und 1978 soll sie so noch einige Schlachten mit der KDP und dem Rest der Pesh Merga ausgefochten haben. 1984 boten die Iraker Talabani ein weiteres Maß an Autonomie an, wenn er im Gegenzug den Kampf gegen die Anhänger Barzanis und die KDP fortführen würde. Aber zwei Jahre später kam es, eingefädelt von den Iranern, zu einem Übereinkommen zwischen Talabani und Mustafa Barzanis Sohn Massoud und zu einer Allianz zwischen PUK und KDP. Dann begannen kurdische Guerillas irakische Stellungen in -525-
Südkurdistan ebenso wie im Norden des Landes anzugreifen. Als der Iran am 18. Juli 1988 um Frieden bat, wandten die Iraker ihre Aufmerksamkeit unverzüglich den Kurden zu. Saddam Husseins Truppen preschten durch Irakisch-Kurdistan, und innerhalb eines Monats trieben sie die kurdischen Streitkräfte über die Grenze in die Türkei und in den Iran. Der Irak wurde beschuldigt, wieder Giftgas eingesetzt zu haben. Die türkische Regierung mußte 60.000 Flüchtlinge unterbringen und baute rasch Zeltlager auf. Es war aber nur eine zeitweilige Maßnahme: Zelte sind keine geeignete Unterbringung für Zivilisten im türkischen Winter. Sechs Wochen später gelang es den Türken, 30.000 Flüchtlinge in den Iran weiterzuschicken (nach Meinung von Massoud Barzanis Partei mehr als 30.000). Sie konnten nicht in ihre irakische Heimat zurückkehren, weil ihre Heimat nicht mehr existierte: Die irakische Armee hatte ihre Dörfer systematisch zerstört. Die Regierung sagte, diese Zerstörung sei im Interesse der Dorfbewohner, da sie in modernen Städten besser dran seien œ Siedlungen, die alle notwendigen Infrastrukturen haben würden œ und die für sie am Fuß der Berge errichtet werden sollten. Anderswo hätte man sie strategische Dörfer genannt. Die irakischen Behörden behaupten, daß nach einem Amnestieangebot Saddam Husseins am 6. September 1988 20.000 Kurden aus dem Iran zurückgekehrt seien. DIE KURDEN UND DER KRIEG Eine der Hauptfronten im Krieg zwischen Iran und Irak verlief in Irakisch-Kurdistan. Die Topographie begünstigte die Iraker: Eine Reihe hoher Bergketten, die Zagros, verläuft parallel zur Grenze. Eine dieser Bergketten erfolgreich überquert zu haben, bedeutete für die iranischen Angreifer, sich zu überlegen, wie sie die nächste schaffen wollten. Aber jedes Jahr kämpften die Iraner sich weiter voran, und im März 1988 standen sie in Sichtweite des Stausees und des Dammes von Darbandi Khan, von wo eine Reihe von Bergpässen in die Ebene hinunterführt. Das war ihr tiefster Vorstoß ins Feindesland. Während der acht Kriegsjahre kam es auf beiden Seiten der Grenze zu einer Reihe ständig wechselnder Allianzen. Die Iraner rekrutierten viele Kurden für den Kampf gegen den Irak, ungeachtet ihres Verrates -526-
von 1975, und ungeachtet der rücksichtslosen Unterdrückung der iranischen Kurden von 1979 bis 1983. Zu Beginn 1984 hatte die Armee praktisch alle im Iran lebenden Kurden fest im Griff œ bis es soweit war, waren geschätzte 27.500 Kurden getötet worden. Zur selben Zeit kämpften auf der Seite der Iraker viele Kurden gegen den Iran œ und immer kämpften Kurden auf beiden Seiten der Grenze gegeneinander. Die Stämme folgten ihren Anführern, und dabei wurden uralte Streitigkeiten und Blutrachen mit neuer Nahrung versorgt. Die traditionalistische KDP, die nun von Söhnen des Mullah Mustafa geführt wurde, unterstützte die Regierung in Teheran gegen die KDPI, während Bagdad linksgerichteten Kurden im Kampf gegen Teheran zur Seite stand. Die Kurden im Irak hatten mehr Erfolg als die iranischen Kurden, als sie versuchten, ein Maß an Kontrolle über Teile ihres Gebietes zu erlangen, allerdings nur, so lange der Krieg gegen den Iran dauerte. So besetzten zum Beispiel im September 1987 kurdische Guerillas kurz Kanimasi, eine irakische Kurdensiedlung nahe der türkischen Grenze. Kurdische Banden, die durch das irakische Kurdistan streiften, ermordeten Regierungsbeamte und überfielen Militärkonvois. Daraufhin zerstörten die Regierungstruppen kurdische Dörfer, zwangen die Bevölkerung in leicht zu kontrollierende Täler, trieben sie aus den alten, labyrinthartigen Städten Kirkuk und Arbil und verlegten massenhaft Soldaten in die Provinz. Nach Aussage von Rebellenführern haben die irakischen Truppen 1987 und 1988 mehr als 1.000 Dörfer zerstört. Mit dem Abkommen von 1986 zwischen Talabani und der BarzaniFraktion setzten die Kurden wieder einmal auf das falsche Pferd. Sie nahmen an, daß der Iran den Krieg gewinnen würde und hofften, wenigstens auf der irakischen Seite der Grenze ein autonomes Kurdistan errichten zu können. Aber die Kurden blieben geteilt: mit dem wechselnden Kriegsglück konnten die Iraker große Banden linksradikaler Kurden über die Grenze schicken, die zeitweise iranische Kurdensiedlungen besetzten. Im März 1988, während der letzten iranischen Frühjahrsoffensive, setzte die irakische Luftwaffe gegen die kurdische Stadt Halabjah, die die Iraner erobert hatten, Giftgas ein œ sowohl Zyanid als auch Senfgas. Die Iraner behaupteten, daß 2.000 Menschen dabei -527-
umkamen, und westlichen Journalisten wurden mindestens 100 Tote vorgeführt, allesamt Zivilisten. Im April berichtete der Iran über eine Reihe weiterer Giftgasangriffe des Irak auf Kurdendörfer. DIE KURDEN IM IRAN Wie ihre Verwandten im Irak und in der Türkei versuchten die Kurden im Iran nach dem Ersten Weltkrieg einen unabhängigen Staat zu gründen, aber sie wurden von General Reza Khan unterdrückt, der sich selbst 1925 zum Schah machte (siehe IRAN). Im Zweiten Weltkrieg besetzten die Briten den Großteil des Iran. Die Sowjetunion kontrollierte einen kleinen Teil im Norden, und die Aserbeidschaner errichteten mit sowjetischer Hilfe im Januar 1946 in Täbris eine eigene Republik. Zur gleichen Zeit nützte ein Kurdenstamm die Gunst der Stunde und rief die Republik Mahabad aus, aber die Kurden in den anderen Provinzen versäumten diese Gelegenheit, sich um eine eigene Fahne zu sammeln. Mustafa Barzani, der aus seiner Stellung im Irak vertrieben worden war, unterhielt eine Weile eine Armee zur Verteidigung von Mahabad, aber als sich die Sowjets aus dem Iran zurückzogen, eroberten die Iraner sowohl Täbris als auch Mahabad im Dezember 1946 zurück, Barzani flüchtete daraufhin in die UdSSR. Die iranischen Kurden lebten während der Regierung von Schah Mohammed, der seinem Vater 1941 nachgefolgt war, weitgehend unbehelligt. Als Barzani 1958 in den Irak zurückkehrte und später den Kurdenaufstand anstachelte, wurde er vom Schah aus Haß gegen Bagdad unterstützt, und er nützte seinen Einfluß, daß die iranischen Kurden loyal zum Pfauenthron standen. Das ging sogar so weit, daß er iranische Rebellen, die seine Leute aufgriffen, festnehmen und hinrichten ließ. Das Baath-Regime in Bagdad versuchte, in der ‡Iranischen Kurdischen Demokratischen Partei— (KDPI) Anti-SchahGefühle zu wecken. Diese linksgerichtete Partei, die während der kurzlebigen Republik von Mahabad gegründet worden war, stand ideologisch den Baath viel näher als Barzani. Aber Barzanis Einfluß im Grenzland war so stark, daß die KDPI nicht gegen ihn oder gegen die Iraner kämpfte. Nach dem Sturz der iranischen Monarchie im Jahre 1979 ergriffen die Kurden die Gelegenheit, ihre Autonomie zu etablieren. Sie -528-
errichteten ihre Kontrolle über die Provinzen und bemächtigten sich der riesigen Waffenlager, die der Schah in Kasernen und Arsenalen nahe der Grenze zum Irak aufgehäuft hatte. Der Konflikt zwischen der KDPI und traditionalistischen Stammesführern ging weiter. Die meisten Kurden sind Sunniten, aber im südlichen Kurdistan gab es eine starke schiitische Gemeinde, die Khomeini unterstützte. Die KDPI schloß sich der Opposition gegen Khomeini an und nahm an den Kämpfen in Teheran und anderen Orten teil. Eine Zeit lang verlor die Revolutionsregierung die Kontrolle über die kurdischen Provinzen, und in den umstrittenen Gebieten gab es wahre Massaker an Persern und Kurden. Aber die iranischen Kurden blieben ohne Unterstützung von außen, und Khomeini schickte seine Armee nach Kurdistan. Ihr folgten Revolutionsgerichte, die jeden oppositionellen Kurden hinrichteten, den sie finden konnten. Die Kurden gingen in die Berge und entfesselten einen Guerillakrieg. Es gab Ansätze zu Verhandlungen, die sich aber zerschlugen. Dann marschierten im September 1980 die irakischen Truppen im Iran ein. DIE KURDEN IN SYRIEN Die Kurden in Syrien sind weniger zahlreich und weniger militant als ihre Verwandten im Irak. Die meisten von ihnen leben im Nordosten, längs der Grenzen zur Türkei und zum Irak, aber es gibt auch in anderen Landesteilen Kurdenzentren, von denen einige Relikte der kurdischen Militärkolonien des Mittelalters sind. Den Kurden wurde im 14. Jahrhundert die Kreuzfahrerburg Krak des Chevaliers zur Bewachung des Landes übergeben. Als die Franzosen 1920 zurückkehrten, warfen sie die Kurden aus der Burg hinaus und nahmen sie wieder in Besitz. Die Franzosen gingen 1945 erneut. Die Kurden blieben. Nach der Fusion von Syrien und Ägypten wurde eine Politik der arabischen Ansiedlung in Kurdistan eingeführt und bis 1976 verfolgt. Unter dem Vorwand der Landreform wurde das Land der Stämme beschlagnahmt und an Beduinen aus der Wüste verteilt. Die kurdische Sprache wird in den Schulen nicht mehr unterrichtet, und alle Äußerungen des kurdischen Kulturlebens werden rigoros unterdrückt. -529-
Ein Grund für die schlechte Behandlung der Kurden in Syrien war der, daß die Franzosen den Separatismus unter den zahlreichen Minderheiten in Syrien sehr förderten und die Kurden in der Armee bevorzugt befördert wurden. Die ersten drei Staatsstreiche im unabhängigen Syrien, alle noch 1949, wurden von kurdischen Generälen angeführt. Schlimmer noch, Kurden dominierten die Syrische Kommunistische Partei, die eine Rivalin der Baath-Partei war (die jetzt von einer anderen Minderheit, den Alawiten, beherrscht wird). Kurdische Kommunisten spielen jetzt eine wesentliche Rolle in der Terrorismusszene des Libanon, wohin mehr als 50.000 Kurden vor der Verfolgung und wirtschaftlichen Trostlosigkeit in Syrien geflüchtet sind. Aber ein großer Teil der syrischen Kurden hat das Regime akzeptiert und dient in der Armee. Die Syrer haben auch eine marxistische Partei œ die Kurdische Arbeiterpartei œ gefördert, die mit Guerilla- und Terrorismusmethoden in der Türkei kämpft. Ihr Führer, Abdullah Ocalan, lebt in Damaskus. DIE KURDEN IN DER TÜRKEI Die meisten Kurden leben in der Türkei œ rund 8 bis 10 Millionen Menschen. Während die Kurden im Irak, Iran und in Syrien mit instabilen Regierungen konfrontiert sind (im Falle des Irak und Syriens Militärdiktaturen der Minderheiten), bilden die Kurden in der Türkei selbst eine Minderheit von ungefähr 19 Prozent in einer sonst homogenen Nation mit einer Bevölkerung von mehr als 50 Millionen, einer stabilen Regierung und der festen Absicht, die nationale Integrität zu erhalten. Darüber hinaus zeichnen sich die türkischen Kurden wie ihre Verwandten in Irak und Iran durch die unstillbare Neigung aus, sich untereinander zu bekämpfen. Die Kurden waren zumeist loyale Untertanen des Sultans, aber weit weniger loyal gegenüber dem laizistischen Staat von Atatürk. 1925 stachelten die Derwische die Kurden zur Revolte an, und sie forderten die Wiedererrichtung des Kalifats. Atatürk schlug den Aufstand mit allen Mitteln nieder. Hunderte Dörfer gingen in Flammen auf, und zwischen 40.000 und 250.000 Menschen wurden getötet. Die Anführer der Revolte wurden hingerichtet, und Atatürk nützte die -530-
Gelegenheit, einige seiner bedeutenden Reformen durchzubringen: Die Unterdrückung des Ordens der Derwische und das Verbot des Fez‘, jenes sichtbaren Zeichens der türkischen Hinwendung zum Islam. Die Türken unterdrückten das Volk der Kurden auf die denkbar einfachste Weise œ sie leugneten seine Existenz. Die Kurden gelten in der Türkei als ‡Bergtürken—, der Schulunterricht findet in Türkisch statt, und sie müssen die westlichen Gebräuche der modernen Türkei übernehmen. (1979 wurde ein ehemaliger Minister zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt, da er öffentlich gesagt hatte: ‡In der Türkei gibt es Kurden. Auch ich bin ein Kurde.—) Aber der Begriff der ‡Bergtürken— ist eine Fiktion. Die Sprachen sind völlig unterschiedlich, und die Geschichte der Kurden reicht weit zurück, mindestens 1.000 Jahre vor der Ankunft der ersten Turkstämme aus Zentral-Asien. Seit vielen Jahren herrscht aus mehreren Gründen in den kurdischen Provinzen der Türkei ständige Unruhe: Die Gründe dafür sind die antikurdische Politik der Zentralregierung; die politische Unruhe, die die Türkei in den siebziger Jahren erfaßt hatte und schließlich zum Armeeputsch von 1980 führte, und der Krieg in Iranisch- und Irakisch-Kurdistan. Die türkischen Ostprovinzen sind Jahrzehnte unter Kriegsrecht gestanden, angeblich um die Grenze vor sowjetischen Angriffen zu schützen, de facto aber um die Kurden im Griff zu behalten. 1965 wurde eine ‡Kurdische Demokratische Partei der Türkei— (KDPT) gegründet, eine traditionalistische, separatistische Organisation mit Verbindungen zum Mullah Mustafa Barzani im Irak. Die ‡Türkische Arbeiterpartei— (TAP), eine doktrinäre sozialistische Partei, unterstützte die Kurden und hatte viele kurdische Mitglieder. Sie wurde daher von der Regierung verfolgt. 1967 kam es zu Massendemonstrationen in den kurdischen Provinzen gegen die Unterdrückung der kurdischen Kultur und politischen Aktivitäten, und 1969 gründeten militante Mitglieder der TAP die ‡Organisation der Revolutionären Jugend— (DDKO), um einen Guerillakrieg gegen die Regierung zu führen. Zehntausende Kurden wurden aus den östlichen Provinzen -531-
deportiert œ sie mußten entweder in die Städte ziehen oder sich in Zentralanatolien ansiedeln. Allerdings wurden viele Kurden dadurch radikalisiert und gingen zu den ultralinken türkischen Parteien, die in den siebziger Jahren mit Terroraktionen gegen die Regierung kämpften. Viele kehrten auch in ihre Dörfer zurück und verbreiteten unter ihren Landsleuten, die von selbst vielleicht gar nicht darauf gekommen wären, Ideen von Nationalismus, Sozialismus und bewaffnetem Widerstand. Die Aufstände im Osten waren ein Grund für den unblutigen Armeeputsch im März 1971, bei dem die Armee die Politiker zwang, die Macht an eine Technokratenregierung zu übertragen, und das neue Regime beauftragte, die Probleme des Landes zu lösen. Dann versuchte die Armee, in den Ostprovinzen jeden kurdischen Nationalismus zu ersticken, aber sie hatte dabei wenig Erfolg. In den späten Siebzigern drohte die Türkei in dem Bürgerkrieg zwischen rechts und links zu zerreißen; in den Kurdenprovinzen herrschte der offene Aufstand, in den Städten forderte der Terrorismus zwischen 1978 und 1980 mehr als 5.000 Tote. Unter den zahlreichen kurdischen Parteien und Gruppen war die ‡Kurdische Arbeiterpartei— (PKK, auch Apocus) besonders aktiv. Sie bekämpft sowohl den türkischen Staat wie auch die traditionalistischen Kurdenführer. Nach dem Putsch vom September 1980 wurden die Kurden mit allen Mitteln unterdrückt. Wahrend des Golfkrieges nahmen die Unruhen weiter zu. Im Mai 1983 unternahm die türkische Armee eine großangelegte Operation über die irakische Grenze, um kurdische Guerillastellungen auszuheben. Zwischen 1984 und 1988 starben nach offiziellen Angaben 185 türkische Soldaten, 480 kurdische Zivilisten und mehr als 3200 Guerillas. Am 1. April 1988 töteten die Regierungstruppen œ bei drei eigenen Verlusten, darunter einem abgeschossenen Hubschrauberpiloten œ in einer Schlacht an der syrischen Grenze 20 Kurden. Nach einem Guerillaangriff auf ein Dorf (mit neun Toten) hatten die Truppen die Guerillas in einer Höhle aufgestöbert und angegriffen. Im Mai massakrierten die Terroristen 25 türkische Dorfbewohner bei zwei Überfällen an der syrischen Grenze. Einige Tage zuvor hängten sie einen Dorflehrer auf, den sie als Spitzel verdächtigten. -532-
Die Regierung berichtete, daß die Mörder Mitglieder der PKK seien, die ihr Hauptquartier in Damaskus hat und nur mit der Unterstützung des Assad-Regimes über die Grenze hinweg angreifen kann. Bisher hat die Türkei auf diese Provokation keine drastischen Schritte unternommen, aber wenn die Guerillas ihre Aktivitäten ausweiten, könnte es zu Vergeltungsmaßnahmen kommen. Aber immerhin ist die Türkei ein NATO-Staat, und Syrien wird von der UdSSR unterstützt, so daß hier eine heikle Situation entstehen kann. Die türkische Regierung kämpft einerseits gnadenlos gegen die Rebellen, hat aber auf der anderen Seite ein großangelegtes wirtschaftliches Entwicklungsprogramm für die kurdischen Provinzen erstellt, das hauptsächlich aus Projekten für Bewässerung und Wasserkraft besteht. Der Kabba-Staudamm, der größte in der Türkei, ist fertiggestellt, und der noch größere Atatürk-Stauddamm ist in Planung. Sollte er im Jahr 2000 fertiggestellt sein, sollten die damit verknüpften Bewässerungs- und Industrieprojekte für mindestens 3 Millionen Menschen Arbeit schaffen, darunter viele Kurden.
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LIBANON
Geographie: Fläche 10.400 km2. Das Land besteht aus einem schmalen Küstenstreifen entlang dem Mittelmeer, der rund 200 Kilometer lang ist, und den beiden Gebirgsketten Libanon und AntiLibanon; dazwischen liegt das enge Bekaa-Tal, eine Ebene. Der Libanon ist nirgends breiter als rund 100 Kilometer. Bevölkerung: Ungefähr 4 Millionen Einwohner œ seit 1932 hat es keine landesweite Zählung gegeben. Die Hauptstadt Beirut hatte 1975 eine Bevölkerung von mehr als 1 Million, die zweitgrößte Stadt, Tripoli, rund 600.000 Einwohner. Konfessionelle Verteilung: Maronitische Christen: 900.000 Orthodoxe Christen: 250.000 Griechische Katholiken: 150.000 Armenier: 175.000 Palästinens. Christen: 30.000 Andere Christen: 50.000 Schiiten: 1,100.000 Sunniten: 750.000 Drusen: 200.000 Palästinens. Sunniten: 300.000 Andere (incl. Kurden): 100.000 Sunniten und Schiiten sind die beiden islamischen Hauptsekten œ 90 % der Moslems weltweit sind Sunniten, die Schiiten sind außer im Iran und im Irak überall in der Minderheit. Sunniten und Schiiten halten sich gegenseitig für Ketzer. Beide betrachten die Drusen als eine häretische islamische Sekte. Die maronitischen Christen sind das Resultat eines Schismas aus dem 4.-7. Jahrhundert, als sie mit der Amtskirche brachen, da sie die göttliche Natur Christi nicht anerkannten. Seit dem 16. Jahrhundert bilden sie eine mit Rom unierte Ost-Kirche, die aber ihren eigenen Ritus und Kanon bewahrt. Die militärischen Formationen im Libanon: - Libanesische Armee: 20.000, vorwiegend Maroniten. - Forces Libanaises (ehem. Phalangisten; Maroniten): 6.000 Reguläre und 10.000 Milizionäre. - Progressive Socialist Party (Drusen, Kurden): 5.000. - Amal-Miliz (Schiiten): 10.000. - Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO): 6.000 bei steigender Tendenz. -534-
- Hisbollah (‡Gottespartei": pro-Khomeini-Schiiten): Zahl unbekannt. - Südlibanesische Streitkräfte (SLA; pro-israelisch): 1.500. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Milizgruppen von abgespalteten Maroniten, syrischen Christen, prosyrischen und antisyrischen Sunniten, PLORebellen, Anti-Amal-Schiiten und verschiedenen lokalen Gruppierungen. Ausländische Truppen: Syrische Armee: 20.000-30.000 Israel: geheim Vereinte Nationen: 7.500 Mann des UNIFIL-Kontingents an der Südgrenze. Flüchtlinge: 400.000-800.000 im Landesinneren, davon rund 290.000 palästinensische Flüchtlinge. Verluste: 1988 schätzte die libanesische Regierung, daß seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 1975 rund 176.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Ich gegen meinen Bruder. Ich und mein Bruder gegen meinen Vetter. Ich, mein Bruder und mein Vetter gegen den Fremden. (Arabisches Sprichwort) Ein Skorpion bat eine Ratte, ihn über den Jordan zu tragen. ‡Wie soll ich wissen, daß du mich nicht stechen wirst—, fragte die Ratte. ‡Wenn ich dich steche—, antwortete der Skorpion, ‡würde ich ertrinken.— So nahm die Ratte den Skorpion auf den Rücken und begann über den Fluß zu schwimmen. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, stach der Skorpion die Ratte. Die sterbende Ratte rief: ‡Warum hast du dasgetan?— Der Skorpion war bereits halb ertrunken, sagte aber noch: ‡Das ist der Mittlere Osten.— (Israelische Anekdote) Vor 1975 wies der Libanon nur wenige der Merkmale einer wirklichen Nation auf, aber wenigstens bewahrten die zahllosen Parteien untereinander ein gewisses Maß an Toleranz. Dieses Gleichgewicht ist restlos zerstört worden. Es gibt keinen Libanon. Als Präsident Amin Gemayels Amtszeit im September 1988 zu Ende ging, gab es keinen Nachfolger: die Parteien konnten sich auf keinen Kandidaten einigen, so errichteten Christen und Moslems getrennte Regierungen œ die nichts zu regieren hatten. Auch ein neuer Präsident -535-
wird nichts regieren. Der Libanon ist nicht einmal mehr länger eine geographische Einheit, die Syrer haben sich dauerhaft im Norden und Osten niedergelassen, die Israelis im Süden. Beirut, einst die weltoffenste und lebendigste Stadt im Mittleren Osten, ist eine Geisterstadt. Das Stadtzentrum ist zerstört, das Wirtschafts-, Bankenund soziale Leben ist ruiniert. Der größte Wirtschaftszweig des Libanon ist mittlerweile der Haschischexport, und das Land überlebt nur dank der Zuwendungen Hunderttausender Emigranten. Der Libanon ist das Extrembeispiel eines Landes, das sich selbst in Stücke reißt. GESCHICHTE Außer zur Zeit der Kreuzfahrer war der Libanon stets ein Teil von Syrien. Die maronitischen Christen und die Drusen, die in dem wilden und schwer zugänglichen Libanongebirge lebten, konnten sich ein gewisses Maß an Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich bewahren und errangen sich ein Recht auf Selbstregierung. Sie feierten sie, indem sie 1860 einen Bürgerkrieg führten, der zur Intervention ausländischer Mächte, vor allem Frankreichs, führte. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt Frankreich das Völkerbundmandat über Syrien, und 1920 wurde der Libanon geschaffen. Die Siedlungen der Maroniten und Drusen im Libanongebirge wurden durch Hinzufügung des Küstenstreifens vergrößert, dazu kamen die Hafenstädte Tripoli, Beirut und Sidon, die Bekaa-Ebene und die Hänge des Anti-Libanon im Osten. Der neue Staat hatte eine kleine christliche Mehrheit. Die Syrer haben die eigenständige Identität des Libanon niemals anerkannt, sondern das Land als Teil von Groß-Syrien betrachtet (von dem sie bisweilen auch sagen, daß es Jordanien und Palästina umfassen sollte). Viele libanesische Moslems und nichtmaronitische Christen teilten diese Ansicht und wehrten sich gegen ihre gewaltsame Eingliederung in einen maronitisch dominierten Staat. Die Briten zwangen Frankreich, Libanon und Syrien 1943 ihre Unabhängigkeit zu geben. Zu Anfang einigten sich Moslems und Christen im Libanon auf eine Zusammenarbeit. In einer inoffiziellen Vereinbarung, die später als der ‡Nationale Pakt— bekannt wurde, -536-
hielten sie fest, daß der Einfluß des Staates auf ein Minimum beschränkt sein sollte und daß die verschiedenen religiösen Gruppen ihre Angelegenheiten weitgehend nach eigenem Gutdünken regeln, daß an der Spitze der Regierung ein maronitischer Staatspräsident und ein sunnitischer Ministerpräsident stehen sollten. Als Parlamentspräsident war ein Schute vorgesehen. Im Parlament wurde ein Verhältnis von jeweils sechs Christen zu fünf Moslems festgelegt. In diesem System gab es eine grundlegende Schwachstelle. Es schrie geradezu nach Nationalismus. Die Menschen betrachteten sich als Maroniten oder Drusen, Sunniten oder Schiiten, niemals aber als Libanesen, Andere Staaten des Mittleren Ostens, die aus den Trümmern des Osmanischen Reiches geschaffen wurden, versuchten, sich in Nationen zu verwandeln. Der Libanon tat das niemals. Die Vereinbarungen, die auf der Religion basierten, und das Verhältnis der Parlamentssitze entsprachen dem Zahlenverhältnis der Bevölkerungsgruppen zu dieser Zeit, in den folgenden Jahrzehnten veränderte es sich allerdings radikal. Die Schiiten, die ärmste und am meisten unterdrückte Gruppe, überholten die Sunniten und Maroniten. 1975 hatten die Moslems die klare Mehrheit, und es war eindeutig, daß sie nicht für alle Zeiten die starke Position des maronitischen Präsidentenamtes hinnehmen würden. Das Land wurde von einer wechselnden Allianz von Oberschichtangehörigen geführt: Grundbesitzer aus den Bergen oder reiche Kaufleute aus den Städten. Einige der herrschenden Clans gehen zurück auf die osmanischen Zeiten, darunter die Familien Joumblat (Drusen), Franjieh (Maroniten) und Karamis (Sunniten). Andere erlangten während der Mandatszeit Bedeutung, einschließlich der Chamoun und Gemayel (beide Maroniten). Pierre Gemayel besuchte 1936 Berlin und war von der Effizienz der Nazis so beeindruckt, daß er eine quasifaschistische Partei gründete, die Phalange, die bald ihre eigene Miliz aufstellte. Der Libanon entwickelte sich zum Tor des Westens zur arabischen Welt. Das Land war das Handels- und Finanzzentrum des Mittleren Ostens, Stützpunkt der westlichen Nachrichtenorganisationen und Schauplatz zahlreicher Geheimdienstoperationen. Generationen von Journalisten, Diplomaten, Lehrern und Spionen lernten Arabisch an -537-
der American University in Beirut oder an der Schule des britischen Außenministeriums auf den Hügeln über der Stadt. Die Libanesen, und vor allem die Maroniten, knüpften enge Beziehungen mit Frankreich wie mit Großbritannien und den USA. Araber aus SaudiArabien und den Golfstaaten kamen auf der Suche nach westlichem Lebensstil nach Beirut. Die Prosperität der fünfziger und sechziger Jahre hatte keinerlei Auswirkungen auf die Unterschicht der Schiiten und Palästinenser, die vom politischen Prozeß ausgeschlossen waren. Der Libanon war auch korrupt, was all jene aufbrachte, die von der Korruption nicht profitieren konnten. Das Land hatte nur wenig Industrie, um den Unterschichten Arbeit zu bieten; die Häfen und Straßen waren veraltet und vernachlässigt. Und die Trennung zwischen der Führungsschicht und der arbeitenden Bevölkerung wuchs. Während sich die Elite nach Westen orientierte, blickte die moslemische Mehrheit mit wachsenden Hoffnungen auf die radikalen arabischen Regierungen, Ägypten in den fünfziger und sechziger, die PLO oder der Irak in den siebziger und achtziger Jahren, und viele setzten ihre Hoffnungen auch auf den Iran unter Khomeini. DER ERSTE BÜRGERKRIEG UND DIE ZEIT DANACH 1958 explodierte dieser angestaute Druck in einem kurzen Bürgerkrieg. Im Februar verkündeten Ägypten und Syrien ihre Union, und Präsident Nasser predigte panarabischen Nationalismus und rief überall im arabischen Raum zur Revolution auf. Im Juli wurde die Haschemiten-Dynastie im Irak gestürzt, König Hussein in Jordanien bedroht, und im Libanon kam es zu ernsthaften Auseinandersetzungen, als Präsident Camille Chamoun ankündigte, für eine zweite Präsidentschaftsperiode kandidieren zu wollen. Er bat um Hilfe; Präsident Eisenhower schickte die US-Marineinfanterie in den Libanon, und die Briten entsandten für kurze Zeit Soldaten nach Jordanien. Zwanzig Jahre später blickten die Menschen voll nostalgischer Sehnsucht auf diese Episode zurück. Die Schießereien wurden zu Mittag pünktlich unterbrochen, und telephonisch wurden örtliche Waffenstillstände vereinbart, damit die Menschen in Ruhe einkaufen -538-
konnten. Angeblich wurden die Marines, als sie an den Strand stürmten, von bewundernden Badeschönheiten beobachtet und von begeisterten Eiscremeverkäufern begrüßt. Der Streit wurde beigelegt, oder zumindest überdeckt, indem Chamoun zurücktrat und die Marines nach Hause gingen. Danach entwickelte sich der Libanon aber immer mehr zum Schlachtfeld für Ausländer, vor allem für Palästinenser und Israelis. Israel war während seines Unabhängigkeitskrieges im Jahre 1948 zum ersten Mal im Libanon einmarschiert und hatte das Land ein Jahr lang bis zum Litani-Fluß besetzt gehalten. Nach diesem Krieg waren rund 100.000 Palästinenser in den Libanon gekommen. Die meisten von ihnen und ihre Nachkommen leben immer noch in Lagern südlich von Beirut, um Tyrus und Sidon im Süden, Tripoli im Norden und bei Baalbek im Bekaa-Tal. Der Libanon konnte sich aus den Kriegen von 1956, 1967 und 1973 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn heraushalten und profitierte von der Instabilität der übrigen Mittelost-Staaten. In Israel erzählte man sich den Witz, daß zwar niemand wüßte, welches arabische Land als erstes Frieden mit Israel schließen würde, aber jeder wüßte das zweite: der Libanon. Die Dinge nahmen einen anderen Verlauf. Weder die militanten Araber noch Israel respektierten die Neutralität des Libanon. am 26. Dezember 1968 griffen arabische Terroristen eine El Al-Maschine auf dem Flughafen von Athen an, wobei zwei Menschen getötet wurden. Israel führte zwei Tage später einen Gegenschlag mit einem Luftangriff auf den Flughafen von Beirut. Dabei wurden 13 geparkte Maschinen der Middle East Airlines in die Luft gesprengt. Nach dem Sechs-TageKrieg von 1967 kamen noch mehr Palästinenser in den Libanon, und zwei Jahre später zwang Nasser die libanesische Regierung, der PLO im Süd-Libanon freie Hand zu lassen. Die PLO begann mit ihren Angriffen über die Grenze nach Israel œ und die Israelis schlugen zurück. Als König Hussein im ‡Schwarzen September— die Palästinenser aus Jordanien vertrieb, verlegte die PLO ihre Kampfeinheiten und die Hauptquartiere nach Beirut, und bewaffnete Palästinensereinheiten übernahmen die Kontrolle über die Lager. Damals waren dann auch schon die Schiiten des Süd-Libanon und der Slums von Beirut unter der Führung des Imam Musa Sadr -539-
radikalisiert. Sie lehnten die maronitische und sunnitische Staatsführung ab und verbündeten sich mit den Palästinensern gegen die Regierung. Sie waren auch Feinde Israels, zum Teil auch wegen der zunehmenden blutigen israelischen Einfalle in den Süd-Libanon. Musa Sadr gründete seine eigene Armee œ die Amal-Miliz œ und spielte im Bürgerkrieg von 1975 eine bedeutende Rolle. 1978 verschwand er in Libyen, möglicherweise von Gaddafi ermordet. Die Maroniten waren in drei Clans gespalten. Chamouns Macht beruhte auf den städtischen Zentren von Beirut und Damour an der Küste südlich von Beirut. Die Gemayels kontrollierten Dschunie an der Küste nördlich von Beirut und im Gebirgsland dahinter, und Suleiman Franjieh, der von 1970-1976 Staatspräsident gewesen war, kontrollierte das maronitische Herziand an den Nordhängen des Mount Libanon. Bei einer Schießerei in einer Kirche zwischen Anhängern von Präsident Charnoun und dem Franjieh-Clan im Jahr 1957 hatte es mehr als 20 Tote gegeben. 1975 waren die Gemayels der mächtigste Clan geworden, da sie durch ihre Partei, die Phalange, die stärkste Miliz kommandierten, die Kataib. DER ZWEITE BÜRGERKRIEG Der Bürgerkrieg wurde am 13. April 1975 durch das Massaker ausgelöst, das die Kataib an rund 25 Palästinensern verübte, die mit einem Bus durch das christliche Dorf Zgharta fuhren, nahe Tripoli im Nord-Libanon. Die Phalange hatte zu der Zeit eine neue Kirche eingeweiht und betrachtete das plötzliche Auftauchen einer Busladung voller Palästinenser als eine unerträgliche Provokation œ so wurden sie eben erschossen. Die PLO rächte sich an harmlosen Christen, und die Blutrache nahm ihren Lauf. In den ersten zehn Septembertagen wurden im Norden mehr als 100 Menschen getötet. Die Kämpfe weiteten sich allmählich aus und wurden immer gewalttätiger, bis all die verschiedenen Fraktionen der libanesischen Gesellschaft verstrickt waren. Zum Ende des Jahres war der Bürgerkrieg zu einem Konflikt zwischen Moslems und Maroniten geworden, und die Maroniten behielten die Oberhand. Am 7. Mai brach die Regierung zusammen. Präsident Suleiman -540-
Franjieh ernannte eine Militärregierung, die bereits wenige Tage später zerfiel, und am 28. Mai ernannte er Rashid Karami zum Ministerpräsidenten. Die erste amerikanische Geisel, Oberst Ernest Morgan, wurde am 29. Juni gekidnappt, am 12. Juli aber unverletzt freigelassen. Bis zum Herbst tobte in Beirut ein richtiggehender Bürgerkrieg, und zum ersten Mal versuchte Syrien sich einzumischen. im Dezember verlief die Front zwischen Moslems und Maroniten mitten durch das Zentrum von Beirut, die großen Hotels längs des Strandes waren die strategischen Ziele beider Seiten. Inzwischen hatten die Christen mit der Belagerung der Palästinenser-Lager begonnen, vor allem Tal al-Zaatar in Ost-Beirut, und Moslem- und Drusen-Armeen, verstärkt durch die PLO, belagerten die beiden christlichen Städte Zahle, im Bekaa-Tal, und Damour, südlich von Beirut, das Zentrum von Camille Chamouns Macht. Die Einmischung der PLO wendete das Blatt gegen die Maroniten. Am 21. Januar 1976 wurde Damour überrannt, seine Einwohner wurden getötet oder vertrieben. Christliche Siedlungen im Norden rund um Tripoli, in den südlichen Bergen und im Bekaa-Tal wurden angegriffen und zerstört. Im Februar begannen die Moslems, aus der libanesischen Armee zu desertieren, und im März spaltete sich die Armee in christliche und moslemische Einheiten. Die Moslems bezeichneten sich als ‡Libanesische Arabische Armee— und schlossen sich der PLO, den Drusen und verschiedenen Moslem-Milizen an, die gemeinsam in das christliche Kernland vordrangen. Am 21. März eroberten die Moslems das Holiday Inn, die Schlüsselstellung für Beirut. Danach waren die Christen in den östlichen Teil der Stadt zurückgedrängt. In ihrer Verzweiflung riefen die Maroniten-Führer die Syrer zu Hilfe. Syrien fürchtete Anarchie, linke Revolution und israelische Intervention an seinen Grenzen, und so stimmte Präsident Assad zu und wandte sich gegen seine früheren Verbündeten, die PLO, Drusen und linksgerichteten Sunniten-Milizen. Die syrische Armee überschritt mit starken Einheiten im April die Grenze und griff ab dem 1. Juni in vollem Umfang in die Kämpfe ein. Sie deckte einen Gegenangriff der Christen auf Palästinenser-Stellungen, vor allem Tal al-Zaatar auf der christlichen Seite von Beirut. Michael Aoun, der jetzige nominelle Maronitenführer, machte sich damals als -541-
Befehlshaber dieser Offensive erstmals einen Narnen. Das Lager fiel am 13. August. Die syrische Armee bewegte sich auf die südliche Grenze zu, blieb aber an der ‡Roten Linie— stehen, die die Israelis 8 Kilometer vor der Grenze festgelegt hatten. Im November wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Die libanesische Regierung schätzte, daß seit dem Ausbruch der Kämpfe im April 1975 rund 35.000 Menschen getötet worden waren. Im Mai 1976, unter äußerstem syrischem Druck, stimmten die libanesischen Politiker der Wahl eines neuen Präsidenten zu. Elias Sarkis übernahm am 23. September das Amt. Die brutale Unterdrückung der PLO ging weiter. Am 27. September besetzten vier PLO-Terroristen als Protestaktion ein Hotel in Damaskus und nahmen 90 Geiseln. Vier Geiseln und ein Terrorist starben, als die syrische Armee das Gebäude stürmte: die drei überlebenden Terroristen wurden am nächsten Tag öffentlich gehenkt. Am 1. Oktober griff ein anderer Palästinensertrupp die syrische Botschaft in Rom an. Sie nannten sich ‡Schwarzer Juni—, nach dem Zeitpunkt der syrischen Intervention im Libanon. Am 2. Februar 1977 wurde der Drusen-Führer Kemal Joumblat, einer der Hauptgegner der Maroniten, ermordet, möglicherweise von den Syrern. Sein Sohn Walid nahm unverzüglich seinen Platz ein. Die Christen und Syrer überwarfen sich bald, hauptsächlich aufgrund der Beziehungen der Christen zu den Israelis. Nun bewaffneten und bildeten die Israelis die christlichen Milizen und unabhängigen Armeeeinheiten im südlichen Libanon aus, und diese Streitkräfte griffen die dortigen PLO-Stellungen an. Die Syrer begannen mit der Beschießung des christlichen Ost-Beirut. Assad legte seinen Konflikt mit Arafat bei, und angesichts dieser neuen feindlichen Allianz wandten sich die Christen Israel zu. DIE ERSTE ISRAELISCHE INVASION Im März 1978 marschierte Israel im Libanon ein. Offiziell war das der Gegenschlag für einen PLO-Überfall auf israelisches Gebiet, bei dem 32 Menschen getötet worden waren. Ein großes palästinensisches Kontingent war an der Küste nördlich von Tel Aviv gelandet und hatte -542-
einen Autobus voller Zivilisten in seine Gewalt gebracht, von denen die meisten bei einer Armeestraßensperre getötet wurden. In Wahrheit hatte sich Israel bereits längere Zeit auf diese Invasion vorbereitet und nahm diesen Zwischenfall einfach als Anlaß. Die Armee besetzte das Land bis zum Litani; ihr Ziel war die Zerschlagung der PLO: mehr als 2.000 Menschen wurden getötet, mehr als 250.000 aus ihren Häusern vertrieben. Nach einigen Monaten bestand Präsident Carter auf dem Rückzug Israels auf seine eigenen Grenzen, und eine UNO-Truppe (UNIFIL) wurde zur Überwachung der Grenze eingesetzt. Aber da hatte Israel bereits seine eigene christliche libanesische Armee aufgestellt, angeführt von Major Saad Haddad, an der Grenze, die die UNIFIL nach Norden drängte. In den Augen der Israelis war die Invasion kein Erfolg gewesen œ vor allem, weil sie auf weitgehende Kritik stieß und weil es der PLO gelungen war, nach Norden zu entkommen, und auch weil es den Israelis nicht gelungen war, die PLO-Hauptstützpunkte in Beirut zu treffen. Der Verteidigungsminister Ariel Sharon war fest entschlossen, solche Pannen beim nächsten Mal zu vermeiden. An diesem Punkt begannen die Maroniten, sich untereinander zu bekämpfen. Der Sohn von Pierre Gemayel, Bashir, plante, das Gebiet der Franjieh im Norden zu überrennen; der erste Schlag war die Ermordung von Tony, dem Sohn des früheren Präsidenten, am 13. Juni. Dabei starben auch dessen Frau und Tochter und dreißig weitere Menschen, Seit damals sind die Clans der Franjiehs und Gemayels unversöhnlich verfeindet. Es ist durchaus möglich, daß Franjieh bei der Ermordung von Bashir Gemayel im Jahr 1982 mit im Spiel war. Die Franjiehs haben sich mit Syrien verbündet, während die Gemayels die Israelis zu Hilfe riefen. Die letzteren unterdrückten 1979 auch die Chamoun-Milizen und gliederten sie der Kataib ein, die jetzt wieder in Forces Libanaises rückbenannt wurde. Israel begann eine Politik der ‡Präventivschläge— gegen angenommene Palästinenser-Ziele im Libanon; dabei wurde das Land ebenso heftig bombardiert wie einst Kambodscha von den USA. Aber die PLO hatte mobile Raketenwerfer, die auf Lastwagen montiert waren, mit einer Reichweite von 24 Kilometern, und im Juli 1981 richtete sie einen Raketenangriff gegen den Norden Israels. Als Gegenschlag bombardierten die Israelis Beirut und töteten dabei 120 -543-
Menschen. Drei Tage später griff wiederum die PLO mit Raketen massiv verschiedene Ziele im nördlichen Israel an. Danach erreichte der amerikanische Unterhändler Philip Habib einen Waffenstillstand, und die Raketenangriffe wurden eingestellt. Bis zum Frühjahr 1981 stellten die Syrer eine große Zahl sowjetischer Raketenbatterien im Ost-Libanon auf, um ihre Armeen gegen israelische Luftangriffe zu schützen. Es war ein perverser Gedankengang, aber die Israelis nahmen das als Provokation und bestanden auf ihrem Recht auf die uneingeschränkte Luftherrschaft über den Libanon und zu bombardieren, was sie wollten. Ohne eine große diplomatische Leistung der Amerikaner hätte es zu diesem Zeitpunkt sehr leicht zu einem neuen Krieg zwischen Israel und Syrien kommen können. Sharon war von der Idee besessen, daß der einzige Weg zur dauerhaften Sicherung Israels darin bestünde, die PLO aus dem Libanon zu verjagen und dort eine israelfreundliche Regierung einzusetzen. Israel war seit langem eine Allianz mit den Forces Libanaises von Bashir Gemayel eingegangen und lieferte ihnen die meisten Waffen. Nun plante Sharon einen Sommerfeldzug. Er informierte den US-Außenminister Alexander Haig, der keinen Widerspruch äußerte. ‡OPERATION FRIEDE IN GALILÄA— Die nächste israelische Invasion œ genannt ‡Operation Friede in Galiläa— œ begann am 6. Juni 1982. Israel nahm diesmal die Ermordung seines Botschafters in London (siehe ARABISCHER TERRORISMUS) zum Vorwand. Die israelische Regierung verkündete, daß sie eine demilitarisierte Zone wünsche, die nördlich der Grenze vierundzwanzig Kilometer tief ins Land hineinreichen sollte, um Israel vor weiteren Raketenangriffen zu schützen (von denen es allerdings seit dem Waffenstillstand keine mehr gegeben hatte). Sharon hatte andere Vorstellungen, und er ließ seine Armeen nach Beirut vorstoßen und belagerte die Stadt. In der ersten Phase des Krieges wurden mindestens 10.000 Menschen, darunter viele Zivilisten getötet. Die Israelis eroberten nach heftigen Kämpfen mit -544-
der syrischen Armee das südliche Bekaa-Tal und brachten der syrischen Luftwaffe eine demütigende Niederlage bei: zwischen dem 8. und dem 10. Juni schossen die Israelis 61 syrische MIC ab, verloren aber selbst nur eine Maschine; außerdem zerstörten sie 17 von Syriens 19 SAM-Stellungen. Am 11. Juni kündigte Israel einen Waffenstillstand mit Syrien an; die Syrer akzeptierten sofort. In der Zwischenzeit stießen israelische Truppen endgültig nach Beirut vor. Am 22. Juni besetzten die Israelis die Straße von Beirut nach Damaskus und schnitten damit 10.000 syrische Soldaten in Beirut von der Verbindung mit Syrien ab (darunter waren auch Spezialeinheiten unter dem Kommando von Rifaat Assad, dem Bruder von Präsident Assad). Die PLO war zwar eher den Kampf im offenen Land gewöhnt, leistete aber in Beirut heftigen Widerstand. Die Israelis hatten keine Erfahrung im Häuserkampf, und ihre ersten Angriffe wurden zurückgeschlagen. (Sie hofften, daß die christlichen Milizen ihnen die Arbeit abnehmen würden, aber Bashir Gemayel wies diese Ehre zurück.) Die israelische Luftwaffe richtete in West-Beirut riesige Schäden an: die Angriffe, die von Fernsehteams aus dem sicheren Ost-Beirut rund um die Welt gesendet wurden, provozierten Vergleiche mit den Angriffen der deutschen Luftwaffe auf Rotterdam und London, oder mit den Angriffen der US-Luftwaffe auf Hanoi. Am 19. August handelten die USA endlich ein Abkommen zwischen Israel, den arabischen Ländern und der PLO aus, und die PLO zog sich aus Beirut zurück rund 6.000 Kämpfer auf der Straße nach Damaskus, und weitere 8.000, darunter das komplette Oberkommando, auf dem Seeweg œ unter dem Schutz amerikanischer, französischer und anderer westeuropäischer Einheiten. Die Amerikaner hatten vorgeschlagen, in Beirut zu bleiben, und Israel hatte versprochen, nicht nach West-Beirut vorzudringen. Als der Abzug der PLO abgeschlossen war, zogen sich die Amerikaner und die Westeuropäer unverzüglich zurück, während Israel sofort in WestBeirut einmarschierte und rund um die Flüchtlingslager Stellungen errichtete. Am 23. August wurde Bashir Gemayel vom Parlament zum Präsidenten des Libanon gewählt. Er versprach, das Land zu einen und Frieden mit Syrien und seinen maronitischen und schiitischen Feinden -545-
zu machen œ und er weigerte sich, einen Friedensvertrag mit Israel zu unterschreiben. Am 14. September wurde er durch eine Bombenexplosion in der Phalange-Zentrale ermordet, 26 weitere Parteifunktionäre kamen ums Leben. Der Mörder war Mitglied einer linksorientierten syrischchristlichen Partei, die mehrfach mit der PLO und den Drusen verbündet gewesen war. Vielleicht handelte er auch auf syrische Veranlassung und mit der Komplizenschaft von Suleiman Franjieh. Am folgenden Tag besetzte Israel West-Beirut. Dann drangen auf die Veranlassung Israels die Forces Libanaises in die PLOFlüchtlingslager Sabra und Shatila ein, um PLO-Terroristen zu jagen. Sie massakrierten zwischen 700 und 2.000 Menschen. Die internationale Meinung verurteilte in einem einhelligen Aufschrei Israel, obwohl keine Israelis direkt an der Aktion beteiligt waren. DIE AMERIKANISCHE INTERVENTION Die Amerikaner und ihre Verbündeten entsandten unverzüglich Soldaten zum Schutz der Flüchtlingslager. Die 5.800 Mann starke multinationale Truppe (MNF) bestand aus US-Marines und französischen, britischen und italienischen Kontingenten. Zunächst wurde die MNF wie andere Okkupationsarmeen willkommen geheißen, da sie Ruhe nach West- und Süd-Beirut brachte. Die Schiiten und Palästinenser wandten sich aber bald gegen sie, da sie annahmen, daß die MNF die vorwiegend christliche Libanesische Armee stützen sollte. Die Israelis blieben in Beirut und hofften auf den Abschluß eines dauerhaften Friedensvertrages œ aber vergebens. Die PLO sickerte zurück in die Lager, und bald begannen schiitische Milizen mit dem Angriff auf israelische Stellungen. Das israelische Hauptquartier in Tyrus wurde am 11. November 1982 durch eine Autobombe zerstört, dabei starben 90 Menschen. Am 5. November 1983 wurde es von einem Selbstmordfahrer abermals in die Luft gejagt, diesmal gab es 28 Todesopfer. Am 23. April 1983 wurde bei einem Selbstmordautobombenanschlag auf die amerikanische Botschaft das Gebäude zerstört, 16 Amerikaner (darunter der CIA-Experte für den -546-
Mittleren Osten) und 33 andere Menschen fanden den Tod. Am 17. Mai 1983 gelang es Außenminister George Shultz, ein ‡Rückzugsabkommen— zu erreichen, das von Amin Gemayel (Bashirs Bruder, der am 23. September 1982 das Präsidentenamt übernommen hatte) und den Israelis unterzeichnet war. Es legte den totalen Rückzug aller ausländischen Streitkräfte aus dem Libanon fest, ein grundsätzliches allgemeines Abkommen und einen Friedensvertrag zwischen Libanon und Israel. Aber Syrien und die meisten der anderen libanesischen Parteien weigerten sich, diesen Pakt zu unterzeichnen. In der Zwischenzeit hatte Israel West-Beirut der libanesischen Armee übergeben, die mit der Suche nach mutmaßlichen palästinensischen und schiitischen Terroristen begann. Gleichzeitig übernahmen die Maroniten unter dem Schutz der Israelis die Kontrolle über die von Drusen bewohnte Zentralprovinz Dschuf, im Gebirge südöstlich von Beirut. Im Juli 1983 schlugen die Drusen und Schiiten zurück und jagten die Armee aus West-Beirut hinaus. Nach der Aushandlung eines Waffenstillstands kehrte die Armee wieder in die Stadt zurück. Dann beschloß die israelische Regierung den Rückzug aus Beirut. Großer Widerstand im Ausland wie in Israel selbst und die fortgesetzten Guerillaangriffe auf die Stellungen führten zu diesem Schritt, Am 17. August ging die israelische Armee auf Stellungen am Awali zurück, einem Fluß unmittelbar nördlich von Sidon, 32 Kilometer südlich von Beirut. Ende August räumte sie unerwartet den Dschuf und überließ die libanesischen Regierungstruppen ihrem Schicksal. Daraufhin traten sofort drusische und schiitische AmalMilizen zum Angriff an und errangen einen großen Sieg. Die Regierungstruppen wurden aus dem Dschuf hinausgedrängt, und 75.000 Christen verließen ihre Heimat. Die USA versuchten einzugreifen: Die schweren Geschütze des Schlachtschiffs New Jersey, das hart vor der Küste lag, beschossen drusische Siedlungen. Das einzige Resultat war, daß es nun offenkundig war, daß die USA in den inneren Kämpfen des Libanon nicht länger neutral waren. Amerikanische Marineinfanteristen und andere europäische Truppenkontingente blieben weiter in West-Beirut stationiert, obwohl -547-
es für ihre Anwesenheit eigentlich keinen Grund mehr gab. Am 24. Oktober schaffte ein Kamikaze-Fahrer den Durchbruch zur Kaserne der US-Marineinfanterie in der Nähe des Flughafens. Die Explosion kostete 241 Marines das Leben. Gleichzeitig raste ein anderer Lastwagen mit Sprengstoff in die französische Kaserne und tötete 58 Menschen. Die Drusen steigerten den Beschuß der amerikanischen und französischen Stellungen rund um den Flughafen. Am 17. November kam es zu einem Gegenschlag, bei dem französische MystereKampfflugzeuge mutmaßliche Terroristenstellungen im Bekaa-Tal angriffen. Die Amerikaner wollten Angriffen zuvorkommen: Mit der Begründung, daß die Syrer unbewaffnete amerikanische Aufklärungsflugzeuge beschossen hätten, stiegen am 4. Dezember 28 amerikanische Jagdbomber von Flugzeugträgern im Mittelmeer auf und griffen syrische Luftabwehrstellungen im Libanon an. Zwei Maschinen gingen verloren: Eine A-7 Corsair, deren Pilot über dem Gebiet der Christen abspringen konnte, und eine A-6E, deren Pilot, Lieutenant Robert Goodman, von den Syrern gefangengenommen wurde. Die anderen Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Am selben Tag starben 8 Marines bei einem Granatenvolltreffer in ihrem Bunker. Der amerikanische Politiker Reverend Jesse Jackson reiste nach Damaskus, und es gelang ihm, von Präsident Assad die Freilassung von Lt. Goodman am 3. Januar 1984 zu erwirken. Die beherrschende libanesische militärische Kraft war nun die Amal-Miliz unter Führung von Nabih Berri. Die Milizionäre besetzten im Februar 1984 West-Beirut, und als die Israelis sich in Richtung Süden zurückzogen, drängte die Amal nach und übernahm ihre Stellungen. Der libanesischen Armee verblieb nur noch das maronitische Kernland, Ost-Beirut und eine winzige Enklave rund um den Präsidentenpalast. Das internationale Truppenkontingent war nunmehr isoliert und höchst gefährdet und hatte keine wirkliche Funktion mehr. Nachdem Präsident Reagan mehrmals wiederholt hatte, die Marines würden unter allen Umständen im Libanon bleiben, verkündete er plötzlich am 2. Februar, daß sie ‡auf die Schiffe— zurückverlegt würden. Die europäischen Staaten folgten prompt dem amerikanischen Vorbild. Die Franzosen ließen zunächst noch eine kleine Einheit zur -548-
Beobachtung der Lage zurück, die dann nach wiederholten Angriffen im April 1986 ebenfalls abgezogen wurde. Am 20. September 1984 wurde die amerikanische Botschaft in Beirut zum zweiten Mal durch eine Autobombe in die Luft gejagt. Nachdem das ursprüngliche Gebäude in der Nähe des Strandes von West-Beirut im April 1983 zerstört worden war, hatten die Amerikaner die Botschaft in ein gemietetes Gebäude in der vermeintlichen Sicherheit von Ost-Beirut verlegt. Die Sicherheit sollte von christlichen Milizionären unter amerikanischer Aufsicht gewährleistet werden. Der zweite Angriff wurde nach dem Muster des erfolgreichen ersten durchgeführt, genauso wie auch der Angriff auf die Kaserne der Marines. Ein Auto wurde mit mehreren hundert Kilogramm Sprengstoff vollgepackt und mit hoher Geschwindigkeit durch die Kontrollpunkte gesteuert. Das Ziel des Kamikaze-Fahrers war die Tiefgarage des Gebäudes. Hätte er das geschafft, wäre das Gebäude völlig zerstört worden und niemand hätte überlebt. Durch einen glücklichen Zufall besuchte zu diesem Zeitpunkt der britische Botschafter im Libanon, Donald Miers, seinen amerikanischen Kollegen Reginald Bartholomew. Miers' Leibwächter stand vor der Botschaft und begriff, was geschah. Es gelang ihm, den Fahrer zu erschießen, bevor das Sprengstoffauto die Einfahrt zur Garage erreichte. Das Auto prallte gegen eine Mauer und explodierte. Mehr als 20 Menschen wurden getötet, die beiden Botschafter erlitten nur leichte Verletzungen. DER NEUE WAFFENSTILLSTAND Der Hauptnutznießer von Israels ständigem Rückzug war Syrien. Die syrischen Einheiten marschierten im Zentral-Libanon ein. Seit langem war die Zerschlagung der militärischen Macht der PLO ein Ziel der Syrer gewesen, und die Israelis hatten ihnen darin gute Vorarbeit geleistet. Nun wollten sie selbst diese Entwicklung abschließen. Oppositionelle in der PLO beschuldigten Yassir Arafat der Unfähigkeit und Schwäche, weil er Beirut verloren und Verhandlungen mit König Hussein von Jordanien und dem ägyptischen Präsidenten Mubarak aufgenommen hatte, die beide einen -549-
amerikanischen Friedensplan unterstützten, der allerdings die Anerkennung Israels beinhaltete. Die Gegner Arafats griffen seine Anhänger in PLO-Lagern in Baalbek im Bekaa-Tal an, aber die Loyalisten sammelten sich wieder in zwei Lagern bei Tripoli im NordLibanon. Im Oktober 1983 belagerten die Syrer und ihre palästinensischen Schützlinge zusammen mit Franjiehs christlichen Truppen die Palästinenserlager und Tripoli, das unter Kontrolle der fundamentalistischen sunnitischen al Tahwid-Sekte stand. Nach heftigen Kämpfen und schweren Verlusten der Zivilbevölkerung besetzte Syrien die Lager, verzichtete aber aus politischreligiösen Gründen auf die Erstürmung von Tripoli. Arafat, der sich in der Stadt aufhielt, durfte zusammen mit seinen Soldaten die Stadt verlassen und erklärte diese Niederlage wieder einmal zu einem Sieg. Er verlegte sein Hauptquartier nach Tunis. FRIEDENSBEMÜHUNGEN Im Herbst 1983 kam es auf Betreiben Syriens in Genf zu einem Zusammentreffen der libanesischen Führer, bei dem die Streitigkeiten im Libanon geklärt werden sollten. Präsident Gemayel machte viele Zugeständnisse und stimmte sogar zu, daß die Moslems im Parlament gleich viele Sitze wie die Christen haben sollten. Dem stimmten allerdings die Phalangisten nicht zu. Die Forces Libanaises, die früher sein Bruder befehligt hatte, eroberten von der libanesischen Armee Ost-Beirut. Ein weiteres Treffen, im März 1984 in Lausanne, scheiterte an der Weigerung von Suleiman Franjieh, die Forderung der Maroniten auf das Amt des Staatspräsidenten aufzugeben. In West-Beirut kam es zu Kämpfen zwischen der mit der PLO verbündeten Sunniten-Miliz Murabitun und den Drusen. In der schiitischen Gemeinde kam es zu einer tiefen Spaltung. Fundamentalisten unter syrischem Schutz forderten Berns AmalMilizen heraus, und der Einfluß der Fundamentalisten im südlichen Libanon nahm stark zu. Die gleichen radikalen Gruppen, die ihre jungen Märtyrer auf Selbstmordkommandos gegen westliche und israelische Stellungen schickten, wandten sich nun gegen die Führer der großen Moslemgruppierungen. Im Februar 1985 zog sich Israel aus der sunnitisch beherrschten -550-
Stadt Sidon zurück, und es kam sofort zu Abrechnungsaktionen mit angenommenen Kollaborateuren. Am 12. März lehnten die Forces Libanaises unter Samir Geagea Präsident Gemayels Führungsanspruch ab und griffen Sidon an. Im April griff eine Koalition von syrisch unterstützten Drusen, Sunniten, Palästinensern und schiitischen Streitkräften praktisch alle Moslems im Libanon œ die Forces Libanaises an und besiegten sie. Die christliche Bevölkerung in den Bergen hinter Sidon, rund 75.000 Menschen, wurde nach Norden getrieben. DER LIBANON HEUTE Am 8. März 1985 explodierte eine Autobombe vor einem Gebäude in West-Beirut, das von der Hisbollah kontrolliert wurde, einer extremistischen, proiranischen Sekte. Der Anschlag war gegen den Führer der Hisbollah gerichtet, Scheich Mohammed Hussein Fadlallah, der als der führende Kopf der islamischen JihadTerrorgruppe gilt, die für die meisten Entführungen von Europäern und Amerikanern verantwortlich gemacht wird. Bei der Explosion starben 80 Menschen, 256 wurden verwundet. Fadlallah entkam: Er war durch die Zudringlichkeit einer Anhängerin aufgehalten worden. Später wurde in Washington berichtet, daß der Direktor der CIA, William Casey, Saudi-Arabien aufgefordert hatte, eine maronitische Terrorgruppe, die Fadlallah ermorden sollte, zu unterstützen. Autobomben waren zur üblichen Waffe aller Parteien im Kampf zwischen den libanesischen Fraktionen geworden und verursachten mehr Todesopfer als die Geschütze. Die Angriffe auf die restlichen israelischen Truppen nahmen laufend zu, bald gab es bis zu vier am Tag, und die Verluste stiegen ebenso an. Die Okkupation wurde zu einer wachsenden finanziellen Belastung, und im Juni 1985 schlossen die Israelis ihren Rückzug ab. Sie nahmen Tausende gefangene Palästinenser und Libanesen mit, hinterließen aber eine 1.500-Mann starke ‡South Lebanon Army— (SLA), die zuerst von Saad Haddad und nach dessen Tod im Jahr 1984 vom ehemaligen General Antoine Lahad kommandiert wurde. Sie kontrolliert einen Streifen entlang der Grenze und ein schmales Gebiet, das nördlich nach Dschessin verläuft, in den Bergen über -551-
Sidon. Israel benützt die SLA-Zone immer wieder als Einfallpforte für Aktionen, darunter einen Angriff auf 25 Dörfer im Februar 1986, nachdem zwei israelische Soldaten gefangengenommen und verschleppt worden waren. Bei dieser Aktion starben 15 Menschen. Im Sommer 1985, nach der Schlappe im Süden, wurde Geagea als Kommandeur der Forces Libanaises durch Elie Hobeiqa ersetzt. Dieser hatte die Einheiten kommandiert, die 1982 die Massaker in Shatila und Sabra begangen hatten. Am 9. September fuhr er nach Damaskus und machte seinen Frieden mit den Syrern; am 28. Dezember unterzeichneten er, Berri und Joumblat ein Abkommen über eine neue Verfassung. Dieser kurze Moment von Hoffnung dauerte zwei Wochen. Am 15. Januar 1986 putschte Geagea, der nun mit Gemayel verbündet war, in den Forces Libanaises und stürzte Hobeiqa. Auch die Sunniten waren mit dem Abkommen von Damaskus unzufrieden, das dadurch endgültig zusammenbrach. In Beirut flammten die Kämpfe zwischen christlichen und moslemischen Milizen wieder auf, als Hobeiqa mit der Zustimmung Syriens versuchte, den Sender der Voice of Lebanon anzugreifen. Auch zwischen Ceageas Forces Libanaises und der libanesischen Armee, die unter Mühe von den Amerikanern wieder aufgestellt worden war, brachen Kampfe aus. Darauf zerfiel sie einmal mehr. Amal hatte die Palästinenser in ihren Lagern in Süd-Beirut seit dem Frühjahr 1985 belagert. Im Dezember 1986 waren bereits sechzig Prozent vom Lager Shatila durch den Granatenbeschuß zerstört, aber die Palästinenser leisteten weiter Widerstand. Die PLO-Einheiten, die 1982 nach Tunis verbannt worden waren, kehrten nun in den Libanon zurück, unterstützt durch die Hisbollah und die Drusen. PLO-Artilierie in den von den Drusen kontrollierten Bergen beschoß AinalStellungen in West-Beirut. Im Dezember unternahm die Amal, mit Unterstützung schiitischer Einheiten der libanesischen Armee einen Großangriff gegen das Lager, mit Panzern und Raketenwerfern. Es gelang ihr aber nicht, das Lager zu erobern. Am 5. Juli 1986 kehrten die Syrer zum ersten Mal seit 1982 nach Beirut zurück und stellten die Ordnung in West-Beirut wieder her. Syrische Soldaten rissen die Barrikaden nieder, die die ‡Grüne Linie— bildeten, die das christliche vom moslemischen Beirut trennten. -552-
Im Februar 1987 versuchten sie einmal mehr, die Kämpfe zu stoppen, und diesmal griffen sie die Hisbollah-Milizen in Süd-Beirut an. In vier Tagen befreiten sie den Stadtteil von den bewaffneten Straßenbanden, wobei bei der Eroberung eines Hisbollah-Stützpunktes 23 Milizionäre ums Leben kamen. Sie räumten allerdings weder die Camps noch befreiten sie die westlichen Geiseln. Im April rückten sie auf die zwei Palästinenserlager Shatila und Burj el Brajneh vor, die die Amal-Miliz seit 1985 belagert hatte, aber sie griffen nicht ein. Am 20. Januar 1988 gab die Amal ihre Belagerung der Palästinenserlager auf nach Aussage des Amal-Führers Nabih Berri ein Akt der Solidarität mit den palästinensischen Aufständischen in Gaza und auf der West-Bank. Die Belagerung hatte zumindest 2.500 Menschenleben gefordert. Amal hatte nun wieder die Hände frei, seinen Kampf gegen die Hisbollah wieder aufzunehmen. Die Kämpfe brachen in Nabatiye im Süd-Libanon im April aus. Zunächst hatte die Amal die Oberhand und besetzte eine Reihe Schiitendörfer, die von der Hisbollah kontrolliert worden waren; dann griffen sie auch die iranischen Revolutionsgarden an, die ebenfalls in diesem Raum operierten. Im Mai trug Israel das seine bei, indem es im Süd-Libanon einmarschierte und eine Reihe von Hisbollahstützpunkten ausräumte, von denen der wichtigste das Dorf Maydun war: Bei diesen Kämpfen fielen 40 Hisbollah-Männer und drei israelische Soldaten. Schließlich griffen die Kämpfe auf Beirut über. Beide Seiten setzten in den Slums schwere Artillerie und Granatwerfer ein, Hunderte Menschen starben. In viertägigen Kämpfen besiegte die Hsbollah die Amal und gewann die Herrschaft über die Küstenstraße nach dem Flughafen. Am 14. Mai intervenierten die Syrer, um die Amal vor weiteren Niederlagen zu bewahren, und verlegten mit aller Vorsicht Truppen in die Slums. Die Vorsicht war notwendig: Am 26. Mai überfielen zwölf Bewaffnete ein Auto, in dem vier syrische Generäle saßen, die höchsten Offiziere im Libanon. Sie konnten aber dem Anschlag entkommen. am 28. Mai zog sich die Hisbollah nach zähen Verhandlungen aus den eroberten Stellungen zurück und gestattete den Syrern, mit 7.000 Mann und 50 Panzern einzurücken. Die libanesische Polizei schätzt die Zahl der Opfer in diesem Mai der Kämpfe zwischen den schiitischen Fraktionen, zwischen den PLO-Gruppen in den Lagern und der Autobomben, der -553-
weiterhin beliebtesten Terrorwaffe im Libanon, auf etwa 660. TERRORISMUS In allen Kämpfen seit 1975 spielt der reine Terrorismus eine Rolle. Die Massaker von Shatila und Sabra waren nichts Neues. Die Moslems hatten Hunderte Christen in der blühenden christlichen Stadt Damour, südlich von Beirut, massakriert. Ihr Ziel war offenkundig gewesen, das Gebiet von Christen zu ‡säubern—, und sie hatten Erfolg. Im selben Monat massakrierten christliche Milizionäre Palästinenser in einem Flüchtlingslager in Karantina in Nord-Beirut, in einem christlichen Gebiet, das wiederum sie ‡säubern— wollten. Die Drusen, die PLO, die Sunniten-Milizen, die Syrer, die Israelis sie alle wollten ihre Ziele durchsetzen, indem sie ihre Feinde abschlachteten. Mord ist eine beliebte politische Waffe im Mittleren Osten, besonders im Libanon. Der Drusenführer Kemal Joumblat wurde im Februar 1977 ermordet. Im Juni 1978 ließ Bashir Gemayel Tony Franjieh ermorden, ehe er selbst im September 1982 ermordet wurde. Ministerpräsident Rashid Karami fiel einer Bombe zum Opfer, die am 1. Juni 1987 in seinen Hubschrauber gelegt wurde, und im Februar 1988 wurde im Flugzeug von Präsident Amin Gemayel eben noch rechtzeitig eine Bombe entdeckt. Auch ausländische Mörder spielen eine Rolle. Präsident Assad wurde in mehreren Mordkomplotten der Beteiligung bezichtigt, und Oberst Gaddafi befahl möglicherweise die Ermordung des Schiitenführers Musa Sadr, der im August 1978 in Libyen verschwand. In diesem Zusammenhang betrachtet ist auch die Ermordung und Entführung von Europäern und Amerikanern keine außergewöhnliche Taktik. Die islamische Jihad forderte offen das Ende jedes westlichen Einflusses im Libanon. Manchmal œ wie bei der Entführung der TWA-Maschine 1985, bei der das Flugzeug nach Beirut und die Passagiere in schiitische Stellungen gebracht wurden œ erhoben die Terroristen politische Forderungen, (siehe ARABISCHER TERRORISMUS). Damals wollten sie gefangene PLO-Männer in Israel freipressen. Als die USA im April 1986 Libyen bombardierten, antworteten libanesische Terroristen mit der Ermordung zweier britischer und einer amerikanischen Geisel, da ein Teil der -554-
amerikanischen Flugzeuge von Stützpunkten in Großbritannien aufgestiegen war. Grundsätzlich verurteilten Israel, Amerika und europäische Staaten jede Verhandlung mit den Terroristen, aber im konkreten Fall waren sie doch fast immer dazu bereit. 1985/86 verhandelte die USRegierung heimlich mit den Iranern über die Freilassung der amerikanischen Geiseln im Libanon. Zwei wurden freigelassen, offensichtlich als Ergebnis einer amerikanischen Waffenlieferung nach Teheran. Die Israelis tauschten mit der PLO Gefangene aus, die BRD und Frankreich bezahlten für die Freilassung ihrer Staatsbürger. Westliche Regierungen warnten ihre Bürger, in den Libanon zu reisen. Einige ließen sich davon nicht beirren und bezahlten dafür mit ihrer Freiheit. 1988 bekräftigte eine Welle von Entführungen diese Gefahr. Unter den Entführten war ein US-Marineinfanterist, Oberstleutnant William Higgins, der im UNO-Kontingent im Libanon diente und am 17. Februar verschwand. Einige Tage zuvor war der Franzose Jacques Merin, wahrscheinlich die Nummer 2 der LibanonAbteilung im französischen Geheimdienst, in Ost-Beirut unmittelbar nach einem Treffen mit libanesischen Beamten entführt worden. Er war möglicherweise in die Verhandlungen zur Freilassung französischer Geiseln im Libanon verwickelt œ die im Mai tatsächlich freigelassen wurden. Die Spannungen zwischen Maroniten und Moslems und innerhalb der Maroniten-Gemeinde selbst, die am Anfang des Bürgerkrieges gestanden waren, hielten an. Präsident Gemayels Amtszeit lief im September aus, und obwohl das Amt ohne tatsächliche Macht ist, war der Kampf um die Nachfolge (die keine Wahl genannt werden kann) heftig. Die Syrer unterstützten zunächst Suleiman Franjieh. Er war aber für den Gemayel-Clan nicht akzeptabel, und als im August das Abgeordnetenhaus zur Wahl eines neuen Präsidenten zusammentrat, stellten die christlichen Milizen auf die einfachste Weise sicher, daß es zu keiner Wahl kommen würde œ sie verhinderten, daß überhaupt genügend Abgeordnete eintreffen konnten, um ein Quorum zu bilden. In der Folge unterstützte Syrien einen anderen Kandidaten, Mikhail Daher, aber auch er war für die maronitischen Extremisten inakzeptabel. So wurde das Amt mit dem Auslaufen der Amtszeit -555-
Gemayels vakant. Als seine letzte Amtshandlung ernannte Gemayel den General Michel Aoun zum Ministerpräsidenten. Er war der maronitische Kommandeur der großteils maronitischen Libanesischen Armee, einer Organisation, die im Bürgerkrieg eine bescheidene und ruhmlose Rolle gespielt hatte, aber mit amerikanischer Hilfe zu einer einigermaßen schlagkräftigen Truppe geformt worden war. Aoun bildete eine Allianz mit Geagea, der weiterhin die stärkste christliche Miliz befehligte. Ihre erklärte Absicht war die Vertreibung der Syrer aus dem Libanon und danach die Abrechnung mit den rivalisierenden Milizen. Als im Februar 1989 zwischen den beiden Armeen Kämpfe aufflammten, brach diese Allianz wieder auseinander. Moslems aller Richtungen, die Drusen und die maronitischen Anhänger von Suleiman Franjieh betrachteten Aouns neue Regierung als illegal und unterstützten weiterhin die Regierung von Selim Hoss, einem Sunniten, der nach der Ermordung von Rashid Karami zum amtsführenden Ministerpräsidenten ernannt worden war, aber nicht formal gewählt werden konnte, da das Abgeordnetenhaus niemals mehr zusammengetreten war. Aoun bot moslemischen Milizionären Kabinettssitze an. Diese lehnten allerdings die Zusammenarbeit ab. Hoss wiederum bildete eine Regierung ohne Maroniten. Diese Spaltung war von großer Bedeutung, steuerte den Libanon an den Rand der dauerhaften Teilung, hatte aber wenig praktische Auswirkungen. Es gab jahrelang keine wirkliche nationale Regierung, und die örtliche Verwaltung lag großteils in den Händen lokaler Warlords. Die einzige Konsequenz dieser Situation betraf die libanesischen Diplomaten, die nun nicht nur einem, sondern gleich zwei machtlosen Außenministern unterstanden. Sie lösten das Dilemma, indem sie beide ignorierten. Sie nahmen an, daß früher oder später ein Präsident gewählt werden würde, aufgrund irgendeiner gesichtwahrenden Formel, der aber so vollkommen machtlos sein würde wie Gemayel es gewesen war. In der Zwischenzeit hatte mangels einer libanesischen Außenpolitik die diplomatische Verwirrung auch keine weiteren Auswirkungen. Im Frühjahr 1989 griff Aoun die Syrier in ihren Stellungen in und um West-Beirut an. Er forderte den vollständigen syrischen Abzug -556-
und hoffte offensichtlich, daß er die internationale Meinung zur Unterstützung seiner Forderungen gewinnen könnte. In der Folge erlitt Beirut die schlimmsten Zerstörungen in der Geschichte seines langen Martyriums. Die Weltöffentlichkeit tat das gleiche wie üblich, also nichts. Aouns einzige Unterstützung kam aus Israel und dem Irak, ein seltsames Bündnis, das auf ihrer gemeinsamen Ablehnung Syriens basierte. Das genügte, um das christliche Kernland gegen den ersten Ansturm der moslemischen Armeen verteidigen zu können, war aber nicht annähernd genug, die Syrer zu besiegen. Aouns Artillerie beschoß West-Beirut, und die Syrer, Drusen und libanesischen Moslems beschossen Ost-Beirut. Die meisten Einwohner der Stadt flüchteten, wer blieb, suchte Zuflucht in Kellern und Luftschutzbunkern. Durch diesen Artilleriebeschuß wurde die Stadt systematisch zerstört œ sie ähnelt jetzt Berlin 1945. Im September drohte Aoun mit dem Einsatz ‡christlichen Terrors— gegen die Amerikaner, wegen ihrer Weigerung, ihn zu unterstützen. Daraufhin evakuierten die Amerikaner ihre Botschaft aus Beirut. Samir Ceagea, der die 6.000 regulären Milizionäre der Forces Libanaises kommandierte, die im Bürgerkrieg zwischen Aoun und dem Rest des Libanon nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, verkündete nun, daß er die Regierung Hrawis anerkenne. Daraufhin sagte sich Aoun sofort von ihm los und forderte die Auflösung der Forces Libanaises. Am 30. Januar 1990 traten seine Soldaten zum Angriff gegen Ceagea an, und die christliche Enklave im Norden von Beirut wurde zum Schlachtfeld. Der maronitische Patriarch des Libanon, Nasrallah Butros Safir, klagte, ‡Gott sei den Christen im Libanon gnädig!— Der Krieg ging weiter. Es gibt heute praktisch keinen libanesischen Staat, keine Regierung, keine gemeinsame Bürgerschaft oder ein Gefühl von nationaler Solidarität zwischen den Parteien. Es gibt keinen Libanon mehr, nur noch Ruinen. CHRONOLOGIE DES BÜRGERKRIEGS IM LIBANON 1975 13. April: Die christliche Kataib-Miliz massakriert 25 Palästinenser in Zagharta im Nord-Libanon. Die Moslems töten aus Rache mehrere Christen, und bis Ende des -557-
Jahres steigert sich der Konflikt zum Bürgerkrieg. Die PLO unterstützt die Moslems. Christliche Einheiten greifen PLO-Lager und Moslems an. 7. Mai: Die Regierung bricht zusammen. Am 28. Mai wird Rashid Karami zum Ministerpräsidenten ernannt. 21. September: Syrien entsendet eine hochrangige Vermittlungsdelegation. Der Versuch scheitert. 8. Dezember: Großangriff der Moslems im Stadtgebiet von Beirut. Schwere Kämpfe um die Strandhotels. Die Maroniten belagern Tal alZaatar, ein Palästinenser-Lager in Ost-Beirut. 1976 21. Januar: Die Drusenarmee erobert Damour, eine christliche Stadt südlich von Beirut, und vertreibt die Einwohner. März: Die libanesische Armee zerfällt in Christen- und MaronitenEinheiten. 1. Juni: Syrien kommt den Maroniten zu Hilfe. Syrische Truppen besetzen einen großen Teil des Süd-Libanon und die Bekaa-Ebene und trennen die Streitparteien in Beirut. Zu diesem Zeitpunkt sind rund 35.000 Menschen ums Leben gekommen. 23. September: Elias Sarkis wird Staatspräsident. 1977 2. Februar: Der Drusenführer Kemal Joumblat wird ermordet. Syrien wendet sich gegen die Maroniten und beginnt mit der Beschießung Ost-Beiruts. Die Maroniten bitten Israel um Hilfe. September: Israelische Truppen stoßen zur Unterstützung der Christen-Einheiten tief in den Süd-Libanon vor. 1978 12. März: Bei einem PLO-Überfall auf israelisches Gebiet sterben 32 Menschen. 15. März: Israel besetzt den Süd-Libanon bis zum Litani-Fluß. 2.000 Menschen sterben, 250.000 verlieren ihre Heimat. 11. April: Beginn des israelischen Rückzugs. 13. Juni: Auf Befehl von Bashir Gemayel wird Tony Franjieh ermordet. -558-
1980 März: Syrien zieht seine Truppen aus Beirut ab. Regelmäßige israelische Luftangriffe und Einfalle in den Süd-Libanon. April: Weitere Kämpfe zwischen Christen und Syrern. Syrien verlegt SAM-7-Batterien in die Bekaa-Ebene und den ZentralLibanon. Juli: Die PLO greift Israel mit Raketen an. Israel bombardiert im Gegenschlag Beirut. Drei Tage später treffen PLO-Raketen eine Reihe von Zielen im nördlichen Israel. Der Sonderbotschafter von Präsident Reagan, Philip Habib, arrangiert einen Waffenstillstand. 1982 3. Juni: Die Abu Nidal-Bande versucht, den israelischen Botschafter in London zu ermorden. 6. Juni: Israel beginnt die ‡Operation Friede in Galiläa—. Die israelische Armee rückt auf Beirut vor und belagert die Stadt. Israel besiegt die syrische Armee im Bekaa-Tal; die israelische Luftwaffe schießt 61 syrische MIC ab und zerstört 17 der 19 syrischen SAM-7 Stellungen. 11. Juni: Israel verkündet einen Waffenstillstand mit Syrien. 22. Juni: Israel nimmt die Straße von Beirut nach Damaskus ein und vervollständigt damit den Belagerungsring um West-Beirut. 19. August: Die USA erreichen ein Abkommen zwischen Israel, Syrien und der PLO, so daß die PLO-Kämpfer unter dem Schutz der Amerikaner, Franzosen und anderer europäischer Kontingente aus Beirut abziehen können. 23. August: Bashir Gemayel wird zum Staatspräsidenten des Libanon gewählt. 14. September: Gemayel wird ermordet. 15. September: Israel besetzt den Rest von West-Beirut. Die libanesische Armee dringt in die Palästinenserlager Shatila und Sabra ein und bringt zwischen 700 und 2.000 Menschen um. Die westlichen Staaten und die USA entsenden abermals Truppen zum Schutz der Lager. 23. September: Arnin Gemayel wird als Präsident vereidigt. -559-
11. November: Bei einem Bombenanschlag wird das israelische Militärhauptquartier in Tyrus zerstört, 90 Menschen sterben. 1983 23. April: Bei einem Kamikaze-Bombenangriff auf die amerikanische Botschaft in West-Beirut sterben 49 Menschen. 17. Mai: US-Außenminister George Shultz erreicht für Amin Gemayel und die Israelis ein ‡Rückzugsabkommen—, das die de factoAnerkennung Israels beinhaltet. Das Abkommen wird von anderen libanesischen Formationen und den Syrern abgelehnt. Juni: Israel zieht sich aus dem Schuf-Gebiet vor Beirut und aus Beirut selbst zurück. Juli: Drusen und Schiiten vertreiben die Maroniten aus West-Beirut. 17. August: Israel zieht sich bis zum Awali-Fluß zurück, 32 Kilometer südlich von Beirut. Drusen und Schiiten besetzen den Schuf und vertreiben 75.000 maronitische Dorfbewohner. Das USSchlachtschiff New Jersey beschießt in einem sinnlosen Versuch, die Maroniten zu unterstützen, Drusensiedlungen. Oktober: PLO-‡Rebellen—, unterstützt von Syrien, greifen Arafats übrige Stützpunkte im Libanon-Gebirge, im Bekaa-Tal und bei Tripoli an. Arafat flüchtet wieder über das Meer. 23. Oktober: Autobombenanschläge töten 241 USMarineinfanteristen und 58 französische Soldaten in ihren Kasernen. 1. November: Auf syrisches Drängen kommt es zu einem Treffen der libanesischen Fraktionen in Genf zu Friedensverhandlungen. Das Treffen scheitert. 5. November: Ein zweiter Kamikaze-Autobombenanschlag auf das israelische Hauptquartier in Tyrus fordert 25 Opfer. 17. November: Die französische Luftwaffe bombardiert mutmaßliche Terroristen-Stützpunkte im Bekaa-Tal. 4. Dezember: 28 amerikanische Kampfflugzeuge greifen syrische Luftabwehrstellungen an. Zwei Flugzeuge gehen verloren, ein Pilot gerät in Gefangenschaft. Acht Marines sterben bei einem Granatenvolltreffer in ihren Bunker. 1984 -560-
Februar: Amal-Milizen besetzen West-Beirut. 2. Februar: Präsident Reagan kündet den Rückzug der US-Marines ‡auf die Schiffe— an. 12. März: Ein weiteres Friedenstreffen, in Lausanne, scheitert. 20. September: Ein weiterer Kamikaze-Autobombenanschlag auf die neue US-Botschaft in Ost-Beirut fordert 20 Opfer. 1985 Februar: Israel zieht sich aus Sidon zurück. 8. März: Eine Autobombe explodiert vor dem HisbollahHauptquartier in West-Beirut und tötet 80 Menschen. 12. März: Maroniten unter Samir Ceagea greifen SunnitenStellungen rund um Sidon an. Im April werden Geagea Truppen besiegt, 75.000 Christen werden aus ihren Heimstätten in und um Sidon vertrieben. Mai: Amal belagert die Palästinenserlager in Beirut. Diese Belagerung dauert rund drei Jahre. Juni: Israel zieht sich aus dem Süd-Libanon zurück œ mit Ausnahme eines kleinen Gebiets an der Grenze. 9. September: Ceageas Nachfolger als Kommandeur der maronitischen Streitkräfte, Elle Hobeiga, fährt nach Damaskus und unterzeichnet ein Friedensabkommen mit Präsident Assad. Am 28. Dezember unterzeichnet er auch ein Abkommen mit Walid Joumblat (für die Drusen) und Nabih Berri (für die Schiiten). 1986 15. Januar: Ceagea und Gemayel setzen Hobeiga als Kommandeur der Maroniten-Truppen ab und widerrufen sein Friedensabkommen. Zwischen den beiden Maroniten-Fraktionen kommt es in Beirut zu schweren Kämpfen. 5. Juli: Die Syrer kehren nach Beirut zurück und versuchen, die Ordnung wiederherzustellen. Dezember: Die Amal startet einen Großangriff auf die Palästinenserlager. Sie werden schwer beschädigt, halten aber stand. 1987 20. Januar: Der persönliche Berater des Erzbischofs von -561-
Canterbury, Terry Waite, wird entführt und als Geisel genommen. Februar: Die Syrer dringen in Süd-Beirut ein und greifen HisbollahStellungen an. 1 Juni: Ministerpräsident Rashid Karami wird ermordet. 1988 Januar: Amal beendet die Belagerung der Lager œ offensichtlich ein Zeichen der Unterstützung des Palästinenser-Aufstandes gegen die Israelis. 17. Februar: Der amerikanische Oberst William Higgins, Mitglied der UNO-Truppe, wird entführt. April: Zwischen Amal und Hisbollah brechen erneut Kämpfe aus. Israel interveniert im Mai und greift Dörfer an, die von der Hisbollah kontrolliert werden. Die Hisboliah besiegt mit Unterstützung der PLO die Amal in Süd-Beirut, Syrien greift abermals ein und entsendet Truppen, um die beiden Parteien auseinanderzubringen. 18. August: Es gelingt dem Parlament nicht, einen neuen Präsidenten zu wählen. 22. September: Die Amtszeit von Amin Gemayel läuft aus. Gemayel benennt als seinen Nachfolger General Michel Aoun, einen Maroniten und früheren Befehlshaber der libanesischen Armee. Aoun bietet den Führern der Schiiten, Sunniten und Drusen Regierungsämter an. Der Sunnit Selim Hossi, amtsführender Ministerpräsident, macht klar, daß er im Amt bleiben wird. Daraufhin wird der Libanon förmlich geteilt. 18. Oktober: Bei einer Versammlung des Parlaments gelingt es nicht, einen neuen Parlamentspräsidenten zu wählen. Dezember: Wieder schwere Kämpfe zwischen Amal und Hisbollah. 1989 Februar: Ausbruch von Kämpfen zwischen Aouns libanesischer Armee und Geageas Forces Libanaises. 8. März: Aoun blockiert die Häfen der Moslem-Milizen. Die Moslems blockieren die christliche Enklave und beginnen ein sechsmonatiges Artillerieduell um Beirut, das die Stadt nahezu zerstört. -562-
März: Aoun erklärt Syrien den Krieg. 16. Mai: Scheich Hassan Khaled, religiöser Führer der Sunniten, wird durch eine Autobombe getötet. 28. Juli: Die Israelis entführen den Hisbollah-Führer im SüdLibanon, Scheich Abdul Karim Obeid, in der Hoffnung, ihn gegen drei im Libanon gefangene israelische Soldaten auszutauschen. 31. Juli: Die Hisbollah verbreitet ein Video, das den gehenkten Higgins zeigt. 23. September: Ein Waffenstillstand zwischen Aouns Maroniten und den Moslems wird arrangiert. 24. Oktober: Parlamentsabgeordnete treffen in Taif in SaudiArabien unter dem Schutz der Arabischen Liga zusammen. Sie stimmen einer Verfassungsänderung zu, die die Macht der Christen reduzieren soll. Aoun lehnt dies ab. 5. November: Das Parlament tritt zusammen und wählt Rene Moawad zum Präsidenten. 24. November: Moawad wird ermordet. 22. Dezember: Zwischen Amal und Hisbollah brechen im SüdLibanon Kämpfe aus. 1990 Am 8. Januar kommt es zu einem Waffenstillstand. 30. Januar: Bürgerkrieg im christlichen Libanon. Aoun greift Samir Ceageas Forces Libanaises an. Sechs Wochen später kommt es zu einem brüchigen Waffenstillstand. Die Kämpfe haben Hunderte Menschenleben gekostet. Im Verlauf der Sommermonate werden die meisten westlichen Geiseln freigelassen œ zum Teil nach erheblichen Zahlungen an die Geiselnehmer, zum Teil aus politischer Opportunität.
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SAUDIARABIEN
Geographie: Fläche 2:149.690 km× œ so groß wie Westeuropa. Das ganze Land besteht aus Wüste, mit Ausnahme der Berge hinter Mekka und im Südwesten. Bevölkerung: 12 Millionen. Rohstoffe: Saudi-Arabien hat die weltgrößten Ölvorkommen, offiziell 169 Milliarden Barrel, aber es sind gewiß mehr. 1982 betrug der Gewinn aus dem Erdöl 99 Milliarden Dollar, 1988 waren es 22 Milliarden. BSP: 6.930 $/Einw. Saudi-Arabien ist die persönliche Schöpfung von Abdul Aziz ibn Abdul Rahman (1886-1953). In einer Folge von Feldzügen eroberte er mit seinen Stämmen die Halbinsel, auf Kamelen und in Fußmärschen, unter der grünen Fahne des Islam. Es ist ein Reich wie das von Alexander dem Großen, Dschingis Khan oder Tamerlan, erobert durch einen genialen Anführer. Es ist das letzte seiner Art. Abdui Aziz war auch unter dem Namen Ibn Saud bekannt, ein Ehrentitel, der bedeutet ‡Oberhaupt der Familie Saud—. Die Saud sind eine Familie, kein Stamm, und Saudi-Arabien ist der einzige Staat der Welt, der nach einer Familie benannt ist. Bis jetzt hat Saudi-Arabien den Tod seines Gründers überlebt, da die al-Saud sich zu einer Körperschaft zusammengeschlossen haben, deren herrschendes Prinzip es ist, nach außen geschlossen aufzutreten und die Interessen der Familie über ihre eigenen zu stellen. Der enorme Reichtum des Landes ermöglicht es auch der Regierung, die meisten Oppositionellen zu kaufen. Eine so große und verzweigte Familie ist weit stärker als andere Dynastien. Das Haus Saud hat ungefähr 4.000 Mitglieder. König Abdul Aziz hatte 42 Söhne und 20 Töchter, und seine Brüder, Cousins und seine eigenen Söhne sind ähnlich fruchtbar. Wenn der König von Saudi-Arabien versagt, kann er ersetzt werden. Vier Söhne von Abdul Aziz sind ihm schon auf dem Thron nachgefolgt, und sie haben noch eine ganze Menge befähigter Brüder. -564-
Der jüngste wurde 1947 geboren. Die Gefahr droht mehr von außen: Von denen, die von der Regierungsmacht ausgeschlossen sind, da sie nicht dem Haus Saud angehören; von wiederbelebten Sekten, denen das Königshaus zu weltlich orientiert ist; von den Streitkräften, die unter amerikanischer Aufsicht aufgebaut wurden, um das Königreich vor dem Iran zu schützen; von habgierigen arabischen Staaten; oder von einer Kombination aus mehreren dieser Bedrohungen. Fundamentalistische Fanatiker stürmten 1979 die Große Moschee in Mekka und konnten nur durch den Einsatz der Armee besiegt werden. Der Krieg zwischen Irak und Iran bedeutete für Saudi-Arabien und die Golf-Emirate eine beständige Bedrohung, und durch das Ende des Krieges hat wiederum der irakische Präsident Saddam Hussein enorm an Macht gewonnen. Ein anderes Problem bedeutet für die Saudis der beständige amerikanische Druck, an der Lösung des Konfliktes zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten aktiv teilzuhaben. Der enorme Reichtum des Landes stellt ebenso wie einen Schutz auch eine Gefahr dar: Rundherum gibt es viele bevölkerungsreiche und militärisch starke Staaten, die versucht sein könnten, eine Umverteilung der Reichtümer Arabiens durchzudrücken. GESCHICHTE Die Familie al-Saud hatte bereits zu verschiedenen Zeiten in früheren Jahrhunderten ein großes, aber armes Wüstenkönigreich beherrscht. Arabien war zwischendurch auch vereint gewesen, aber niemals für lange Zeit. Kein Stamm war je mächtig genug, eine dauerhafte Herrschaft über die anderen zu errichten, und kein Eindringling von außen hatte die unendlichen Wüsten überquert. Die Türken herrschten in Mekka und Medina, aber in der Wüste hatten sie nichts zu sagen. Im Jahre 1891, als Abdul Aziz siebzehn Jahre alt war, wurde die Familie aus ihrem angestammten Land und ihrer Hauptstadt Rijad vertrieben. Bis ins Jahr 1902 fristete die Familie ihr Dasein von der Barmherzigkeit benachbarter Stämme. Dann führte Abdul Aziz den Angriff an, mit dem sie Rijad zurückeroberte, und von da an eroberte er in einer Reihe von Wüstenfeldzügen den Großteil der arabischen Halbinsel. Kuwait und die anderen Golf-Emirate entgingen der -565-
Okkupation nur durch ihren britischen Protektoratsstatus. Nach dem Ersten Weltkrieg trat er zur Eroberung von Transjordanien, Syrien und Irak an œ in den Fußstapfen der ersten Kalifen œ, wurde aber von den Briten gestoppt. Ohne diese Intervention wäre es vielleicht zu einem einheitlichen gewaltigen und reichen Königtum auf der gesamten Halbinsel gekommen, beherrscht von einem Kalifen aus dem Hause Saud. Ob es allerdings von langer Dauer gewesen wäre, steht auf einem anderen Blatt. Abdul Aziz schloß seine Eroberungen 1924 mit den heiligen Städten Mekka und Medina ab, die er Scharif Hussein abnahm, dessen Familie nach Jordanien und in den Irak ging. 1934 gab es einen letzten Expansionsversuch im Jemen, aber die Eroberungsarmee wurde besiegt. Saudi-Arabien war im Zweiten Weltkrieg Verbündeter der Alliierten, und am 12. Februar 1945 besuchte König Abdul Aziz Präsident Franklin D. Roosevelt an Bord der USS Quincy, die im Großen Salzsee, einem Teil des Suez-Kanales, vor Anker lag. Er kam mit vielen Gefolgsleuten und genügend Schafen, um sie alle zu ernähren, und zum großen Erstaunen der amerikanischen Seeleute kampierten sie alle auf dem Oberdeck. Diese beiden bemerkenswerten Staatsmänner haben damals eine Allianz besiegelt, die trotz vieler Mißverständnisse und Unstimmigkeiten bis heute gehalten hat. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg hatte ein amerikanischer Ölmann T. E. Lawrence, den legendären Lawrence von Arabien, in Oxford besucht und gefragt, ob es sich auszahlen würde, in Arabien nach Erdöl zu suchen. Lawrence erklärte entschieden, daß es hier kein Öl zu finden gäbe, und der Amerikaner ging zufrieden wieder nach Hause. Bohrung Nr. 7, die erste große arabische Ölquelle, sprudelte erstmals am 20. März 1938. Es war eine Bohrstelle der Standard Oil Company of California (Socal). Der Zweite Weltkrieg unterbrach die weitere Exploitation, und erst in den fünfziger Jahren wurde SaudiArabien zu einem bedeutenden Ölproduzenten, und noch einmal zwei Jahrzehnte vergingen, ehe das Land nach der UdSSR zum weltweit zweitgrößten produzierenden und dem bei weitem größten erdölexportierenden Land wurde. Saudi-Arabien hat die größten -566-
Ölreserven, offiziell 169 Milliarden Barrel, aber gewiß noch viel mehr œ verglichen mit 66 Milliarden in Kuwait, 67 Milliarden in der UdSSR und 26 Milliarden in den USA. DAS MODERNE ARABIEN Saudi-Arabiens Reputation der unerschütterlichen Stabilität erlitt am 20. November 1979 einen heftigen Stoß. An diesem Tag erstürmte eine Gruppe von 200 fanatischen Wüstenbewohnern die Große Moschee in Mekka. Sie waren Anhänger eines wortgewaltigen Predigers, Juhayman ibn Muhammed ibn Saif, der davon überzeugt war, daß sein Schwager der Mahdi sei, ein geistiger Führer, der einmal im Jahrhundert erscheint. Die Rebellen prangerten die Verweichlichung des Königshauses an und riefen alle Araber zum Sturz auf. Sie konnten sich bis zum 4. Dezember gegen die saudische Armee halten. Die Moschee wurde bei den Kämpfen nur geringfügig beschädigt, da die Saudis geschickter vorgingen als etwa fünf Jahre später die indische Armee bei der Erstürmung des Goldenen Tempels in Amritsar. Die Rebellen wurden aus den Gebäuden vertrieben, die den großen Hof umgeben, in dem die Kaaba steht, jenes Steingebilde, das das größte Heiligtum des Islam ist. Sie suchten mit ihren Familien und Geiseln Zuflucht in den Kellern. Von dort wurden sie in zähem Kampf herausgeholt, und sie wehrten sich bis zum letzten Blutstropfen. Der Mahdi und 116 andere Rebellen wurden getötet, ebenso 127 Soldaten und ein Dutzend Zivilisten. Juhayman wurde gefangen und am 9. Januar 1980 mit 62 anderen Überlebenden hingerichtet. Die Besetzung der Moschee versetzte die Regierung in Panik. Alle Kommunikationsverbindungen wurden gekappt. Man fürchtete einen Staatsstreich oder eine Invasion. In der islamischen Welt verbreiteten sich durch das Chaos die wildesten Gerüchte. Der Iran und Libyen beschuldigten die USA der Drahtzieherei, und im pakistanischen Islamabad zündete der Mob die amerikanische Botschaft an. Dabei kamen zwei amerikanische Soldaten ums Leben; die pakistanische Armee sah tatenlos zu. Auch in den östlichen Provinzen des Königreiches, den Ölgebieten, kam es zu Aufständen. Saudi-Arabien hat eine überwiegend -567-
sunnitische Moslembevölkerung, aber im Osten gibt es eine schiitische Minderheit von ungefähr 200.000 Menschen, und der Erfolg der Revolution des Ajatollah Khomeini stachelte sie ebenfalls an. Die Schiiten fühlten sich vernachlässigt und als Bürger zweiter Klasse behandelt. Aber diese Unruhen wurden sofort unterdrückt. DIE HADSCH-UNRUHEN Eine der Pflichten des gläubigen Moslem ist es, einmal im Leben nach Mekka zu pilgern, um an der Kaaba zu beten. Diese Pilgerfahrt, die Hadsch, folgt bestimmten Riten und Daten. 1987 waren Juli und August die Hadsch-Monate. Diesen Pilgerstrom zu organisieren ist eine gewaltige Aufgabe, und die Saudis widmen ihr einen beachtlichen Teil ihres Budgets. Jedes Jahr kommen zwei Millionen Menschen, und 1987 waren darunter auch 155.000 Iraner. Das bedeutete ein großes Problem, da Khomeini wiederholt die wahren Gläubigen aufgerufen hatte, die Familie der Sauds, die er als Ketzer bezeichnete, zu stürzen. Seine Wut hatte aber mehr politische als theologische Gründe: Saudi-Arabien hatte den Irak im Golfkrieg unterstützt. Am 31. Juli führten Unruhen in Mekka nach saudischen Angaben zum Tod von 402 Menschen: 275 Iraner, 85 Polizeibeamte und 42 Pilger aus verschiedenen anderen Ländern. Weitere 649, darunter 303 Iraner, wurden schwer verletzt. Die Saudis sagten, daß die Iraner den Aufstand entfacht hätten, indem sie auf die Große Moschee zumarschiert seien und dabei Khomeini-Bilder geschwenkt und antisaudische Slogans gerufen hätten. Dies hatte die Saudis empört. Eine Demonstration auf diesem geheiligten Boden war undenkbar. Die Polizei hätte zunächst große Geduld bewiesen und die Demonstranten gewaltlos von der Moschee abzudrängen versucht. Die Demonstranten hätten auf sie eingeschlagen und gestochen, und als die Polizisten Salven in die Luft geschossen hätten, seien sie in Panik geflohen. Die meisten Opfer wurden zu Tode getrampelt. Andere Schilderungen sind komplizierter. Zunächst einmal hat es in der langen Geschichte der Hadsch immer wieder Demonstrationen gegeben. Mehr noch, die Iraner hatten zuvor mit den saudischen Behörden über die Genehmigung verhandelt, mit Bildern des -568-
Ajatollah aufzumarschieren. Sie behaupteten, sie hätten vor der Auflösung der Wallfahrergruppe nur eine gemeinsame Gebetsfeier abhalten wollen, seien Opfer eines unprovozierten Angriffes geworden und die Polizisten hätten in die Menge hineingeschossen œ eine Anschuldigung, die von den Saudis kategorisch zurückgewiesen wurde. Was immer der unmittelbare Anlaß gewesen sein mag, die Kämpfe waren eindeutig das Resultat der Feindschaft zwischen den beiden Regierungen, und wie auch immer die Ereignisse wirklich abgelaufen sein mögen, fest steht, daß die Unruhen von den Iranern provoziert wurden. Es gab Massendemonstrationen in Teheran, die Botschaften von Kuwait und Saudi-Arabien wurden gestürmt, und vier saudische Diplomaten wurden gefangengenommen und mißhandelt. Danach rief der Ajatollah zum Heiligen Krieg gegen Saudi-Arabien auf. Das hatte zwar keine unmittelbaren Auswirkungen, aber die Saudis erwarteten die nächste Hadsch mit Bangen. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wurden ständig schlechter. Im Jahr nach diesen Ausschreitungen griffen iranische Schnellboote immer wieder Schiffe im Golf an, darunter auch Tanker unter saudischer Flagge. Im März 1988 teilte König Fahd mit, daß Saudi-Arabien Langstrecken-Boden-Boden-Raketen von China gekauft habe und sie gegen den Iran einsetzen würde, sollten die Angriffe fortgesetzt werden. Im selben Monat verhängte SaudiArabien zum ersten Mal Beschränkungen für die Pilgerzahl, die zur Hadsch zugelassen sein würden œ 1.000 Pilger für jede Million Moslems eines Landes, so daß die iranische Quote 45.000 betrug. Der Iran wies unverzüglich jede Beschränkung zurück, und im April verkündete Khomeini, daß der Iran 150.000 Pilger losschicken würde. ‡Sie werden ihre Pflicht erfüllen und die Befreiung von den Ungläubigen, den USA und Israel fordern. Es wäre unmöglich für sie, auf die Hadsch zu gehen und nicht gegen diese weltweite Unterdrückung zu demonstrieren. Denn die Forderung der Befreiung von den Ungläubigen ist eine der politischen Forderungen der Hadsch. Ohne diese ist die Hadsch keine Hadsch.— Im selben Monat noch, nachdem iranische Saboteure eine -569-
petrochemische Anlage in Jubail in der saudischen Ölprovinz in Brand gesteckt hatten und nach einem iranischen Angriff auf einen saudischen Tanker, brach Saudi-Arabien die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab. Im April lehnte Saudi-Arabien bei einem OPEC-Treffen einen vom Iran unterstützten Vorschlag ab, die Ölproduktion zu drosseln und den Ölpreis zu erhöhen. Am 15. Juni verkündete der Iran, daß in diesem Jahr keine Iraner auf die Hadsch gehen würden. ‡Entweder es gehen 150.000 Iraner oder keiner—, meinte ein Sprecher. Es schien ein Sieg der Saudis zu sein. In Wahrheit verlor der Iran eben den Golfkrieg, und die Regierung trat schrittweise der schmerzlichen Entscheidung näher, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Es schien offensichtlich nicht der richtige Zeitpunkt für weitere Auseinandersetzungen mit SaudiArabien. Zur selben Zeit, da die Saudis über die Iraner die Oberhand behielten, demonstrierten sie ihre Unabhängigkeit gegenüber den USA, indem sie die Abberufung des US-Botschafters Hume Horam forderten. Er wurde nicht zur persona non grata erklärt, das wäre ein Affront gewesen. Statt dessen wurde das amerikanische Außenministerium informiert, daß er keinen Zugang mehr zu höheren saudischen Regierungskreisen haben würde. Der offizielle Grund der saudischen Entrüstung war, daß Horam eine offizielle amerikanische Protestnote wegen des Kaufes der chinesischen Raketen überbracht hatte. Ein wahrer Grund schien zu sein, daß Horam im Gegensatz zu den meisten amerikanischen Diplomaten fließend Arabisch spricht und großes Interesse an der saudischen Innenpolitik zeigte. Am wichtigsten war wohl der Protest der Saudi, daß die USA, vor allem auf Druck des Kongresses, darauf bestehen, daß ihre Beziehungen zu den arabischen Staaten von deren Haltung zu Israel bestimmt sind. Jedesmal wenn die Saudis versuchen, amerikanische Waffen zu kaufen, wird der Handel entweder verweigert oder vom Kongreß mit unerfüllbaren Bedingungen verknüpft, aus Angst, daß die Waffen gegen Israel eingesetzt werden könnten. Im Verlauf dieses Sommers bestellten die Saudis in Großbritannien eine derartige Waffenmenge (einschließlich Flugzeugen und Raketen), daß Großbritannien ihr größter Waffenlieferant wurde. Diese Entscheidung kostete die amerikanische Rüstungsindustrie 30 -570-
Milliarden Dollar. Ein saudischer Diplomat bemerkte, daß seine Landsleute der ständigen Beleidigungen müde seien. Wenig später ging ein großer Waffenexport für Kuwait ohne Probleme durch den Kongreß. Die Lehre der Saudis hatte gewirkt. Im Zuge der Golfkrise im Sommer 1990 änderte sich diese Politik der USA, Die kuwaitischen Waffenlager waren zum Teil den Irakern in die Hände gefallen; die USA vereinbarten mit Saudi-Arabien die schnelle Lieferung umfangreicher Rüstungsmengen œ Flugzeuge, Panzer, Artillerie, Elektronik. (Golfkrise Sommer 1990 siehe IRAK.)
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SYRIEN Geographie: 185.180 km2.
Bevölkerung: 12,2 Millionen in folgender Verteilung:
Religion % der Bevölkerung Sprache Moslem Sunniten 57,4 Arabisch Sunniten 8,5 Kurdisch Sunniten 3,0 Türkisch (Sunniten total 68,9) Schiiten 1,0 Arabisch Alawiten 11,7 Arabisch Ismailiten 1,0 Arabisch Drusen 3,0 Arabisch (Moslem total 85,6) Christen Orthodoxe 4,7 Arabisch Armenier 4,0 Armenisch andere Christen 5,4 Juden, Yaziden u. a. 0,3 Arabisch BSP: 1.570$/Einw. Flüchtlinge: 259.850 Palästinenser und 4.000 Iraner GESCHICHTE Wie die meisten anderen Staaten des Mittleren Ostens entstand Syrien nach dem Ersten Weltkrieg als ein Produkt des Zerfalls des Osmanischen Reiches. Syrien war, außer für einen kurzen Moment der Glorie der Omajjaden im 7. und 8. Jahrhundert, immer Provinz eines größeren Reiches gewesen. Syrien wurde von den Türken vom 16. Jahrhundert mit -572-
gelegentlichen Unterbrechungen bis 1918 beherrscht, einschließlich der Eroberungen durch Napoleon und Mohammed Ali, den Herrscher Ägyptens im 19. Jahrhundert. Das Gebiet der heutigen Staaten Irak, Syrien, Libanon, Jordanien und Israel war damals in verschiedene Verwaltungsdistrikte aufgeteilt, aber sie bildeten alle einen integralen und ungeteilten Bereich des Osmanischen Reiches. Das bedeutet keineswegs, daß die Bevölkerung dieses Gebietes ein einheitliches nationales Bewußtsein hatte. Als der Völkerbund das Mandat über Syrien an Frankreich übergab, war das einzig Verbindende zwischen seinen Einwohnern ein System willkürlicher Linien auf der Landkarte, die von den Franzosen gezogen worden waren. Aber immerhin waren 85 Prozent der Einwohner Moslems der einen oder anderen Richtung, und 90 Prozent der Bevölkerung sprachen Arabisch. Auf dieser Grundlage haben einander ablösende Regierungen versucht, eine Nation zu bilden. 1919 hatte Großbritannien, damals die herrschende Macht im Nahen Osten, den Irak von Syrien getrennt und das südliche Syrien vom Rest der Provinz, zum einen um eine Pufferzone für den Norden des Suezkanales zu schaffen, zum andern um das Versprechen von 1917 einzulösen, den Juden eine nationale Heimstatt zu geben. Das neue Gebiet wurde Palästina genannt, ein biblischer Name, der für diesen Zweck wiederbelebt wurde. Die Briten hatten beabsichtigt, Emir Feisal, den Sohn des Haschemitenkönigs Hussein von Hedschas, Scherif von Mekka, zum König von Syrien zu machen, und Feisals Bruder Abdullah sollte König des Irak werden. Feisal, der mit der Unterstützung von T. E. Lawrence (Lawrence von Arabien) den Aufstand gegen die Türken angeführt hatte, setzte sich selbst 1918 in Damaskus als König ein. Aber die Franzosen waren in diese Vereinbarungen nicht miteinbezogen worden, und als sie im Juli 1920 das Mandat und die Macht in Damaskus übernahmen, warfen sie Feisal hinaus. Er beklagte sich bei den Briten, die ihn zur Entschädigung 1921 zum König des Irak machten. (Die Haschemitendynastie herrschte bis 1958 im Irak, bis Feisals Enkel, König Feisal II., bei einem Militärputsch getötet wurde. Siehe IRAK.) Emir Abdullah ging leer aus, so machte er sich von Mekka aus an die Rückeroberung Syriens und die Vertreibung der Franzosen. Unter -573-
wohlwollender Duldung der Briten kam er im März 1921 bis Amman. Dort entschloß er sich, vorläufig stehenzubleiben œ die Franzosen erwiesen sich als erstaunlich stark. Er würde in Amman bleiben, in einem Gebiet, das Transjordanien genannt wurde. Die Briten stimmten diesem Coup zu, und ihr neues Protektorat Palästina wurde zweigeteilt. Als die Briten ihr Mandat 1948 aufgaben, erklärte Abdullah Israel den Krieg und beanspruchte die Herrschaft über Jerusalem und die Westbank. Er annektierte beide Gebiete und proklamierte das Königreich Jordanien. 1951 wurde er in Jerusalem ermordet. Die Franzosen hingegen teilten Syrien weiter auf, um den Libanon zu schaffen. 1939 forderte (und erhielt) die Türkei Iskanderun und Antiochia im Nordwesten. Nach dem Zweiten Weltkrieg mußte Frankreich Syrien und den Libanon in die Unabhängigkeit entlassen. Es war kein sanfter Zwang: 1941 entsandten die Briten eine Armee nach Damaskus, um es der Vichy-Regierung abzunehmen. (Moshe Dayan verlor als Soldat der britischen Palästina-Armee im Kampf gegen die Franzosen bei einem Gefecht im südlichen Libanon ein Auge.) Im Mai 1945 schlugen die Franzosen unter Artillerieeinsatz einen Aufstand in Damaskus nieder. Die britische Regierung drohte mit der Besetzung Syriens, wenn die Franzosen sich nicht zurückzögen, was sie schließlich taten. Die gegenwärtigen Grenzen von Syrien bestehen seit 1967, seit das Land die Golan-Höhen als Ergebnis des Sechstagekrieges an Israel verlor (siehe ISRAEL). Diese geschichtliche Entwicklung ihres Landes, über das immer ausländische Mächte entschieden, ohne sich um die Wünsche der Bevölkerung zu kümmern (mit Ausnahme der Christen im Libanon) hat die Syrer fremdenfeindlich und mißtrauisch gemacht. De jure haben sie die selbständige Existenz des Libanon niemals anerkannt, wenn sie auch die Realität akzeptiert haben. Und von Zeit zu Zeit haben sie ihre Forderung auf das ‡südliche Syrien— wiederholt œ Israel, Jordanien und Alexandretta. DIE BAATH Die Baath-(Auferstehungs) Partei wurde 1940 in Damaskus von -574-
Michel Aflaq und Salah al-Din al-Bitar gegründet. Aflaq war Christ, und von Anbeginn zog die Partei die arabischen Minderheiten an, da sie ihren Pan-Arabismus auf Sprache, Geschichte und Volkszugehörigkeit begründete, nicht aber auf dem Islam. Aflaqs Ziel war ‡Einheit, Freiheit und Sozialismus—. Die Baath stand in heftiger Opposition zu den Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien; diese Haltung verwandelte sich in späteren Jahren in Anti-Amerikanismus und Feindschaft gegen Israel. Die Partei erklärte die Gründungen aller arabischen Staaten seit 1918 für illegal. Sie wollte das arabische Nationalbewußtsein wiederbeleben und alle Araber in einem Staat vereinen œ vom Atlantik bis zum Persischen Golf, von Marrakesch bis Mekka. Die Baath ist in Regionalkommandos unterteilt, je eines für jeden arabischen Staat. Die Baath-Parteien in Syrien und im Irak gelangten zwar an die Macht, aber auch sie schafften keine Vereinigung. Auch in so künstlichen Staatsgebilden erwies sich die Zugkraft des Nationalismus als stärker als die Ideologie. Nach dem Abzug der Franzosen wurde Syrien von einer Reihe kurzlebiger autoritärer Regierungen beherrscht, die einander durch Staatsstreiche ablösten. Zwischen 1949 und 1970 gab es fünfzehn gescheiterte oder gelungene Putschversuche. 1950 ging die Baath in Syrien in den Untergrund und spielte eine bedeutende Rolle im Widerstand gegen die Regierung. Rasch erlangten die Baathisten in den Reihen der Armeeoffiziere großen Einfluß, vor allem unter den Alawiten, einer Moslemsekte, die hauptsächlich in der Provinz Latakia am Mittelmeer verbreitet ist. 1958 stand die Regierung am Rand des Zusammenbruchs, und die Baath setzte sich an die Spitze der Vereinigungsbewegung mit Ägypten zur Vereinigten Arabischen Republik (VAR). Die Baath betrachtete dies als den ersten Schritt zur Vereinigung aller Araber, aber der ägyptische Präsident Nasser sah die Dinge anders. Er setzte die Unterdrückung der Partei in Syrien fort und legte damit den Keim der Feindschaft zwischen den beiden Ländern, die bis heute anhält. Nasser schickte seinen Vizepräsidenten General Abdul Hamim Amir als Vizekönig nach Damaskus. Amir machte sich und die Ägypter sehr unbeliebt, indem er rücksichtslos alle syrischen -575-
Unabhängigkeitsbestrebungen unterdrückte. Dieser General, Nassers loyalster Anhänger, wurde nach der Niederlage von 1967 zum Sündenbock erklärt und beging schließlich Selbstmord. Am 28. September 1961 beendete ein Armeeputsch in Syrien abrupt die Union mit Ägypten. Die ägyptischen Beamten wurden nach Hause geschickt, und zwischen Kairo und Damaskus brach die Eiszeit aus. 1967 fanden sie nur für die kurze Spanne des Sechstagekrieges zusammen. Dem Auseinanderfall der VAR folgte für Syrien eine Periode großer Instabilität. Zunächst schlug das Pendel zur konservativen Doktrin zurück, und die sozialistischen Maßnahmen Nassers wurden rückgängig gemacht. Nach Wahlen kam es am 28. März 1962 zu einem Militärputsch. Vier Jahre lang gab es andauernd Umstürze, Gegenputsche und Regierungswechsel. Die Baath hatte sich formell im Mai 1962 wiedergegründet, und Salah al-Din al-Bitar, ein Führer des bürgerlichen Flügels der Partei, wurde im März 1963 zum erstenmal Ministerpräsident. Er mußte dauernd gegen die Nasseriten ankämpfen, die mehrere Putschversuche, Aufstände und Attentate unternahmen, und zwischen den Baath-Fraktionen kam es zu ständigen Machtkämpfen. Im Juli 1963 flog ein großangelegter nasseritischer Umsturzversuch auf, die Anführer wurden hingerichtet, und General Amin el-Hafiz wurde Militärdiktator. Die beiden stärksten Fraktionen der Partei waren die ‡Zivilisten—, deren Führer trotz dieses Namens Hafiz war, ein General, der für die Vereinigung mit dem Irak und Ägypten eintrat, und der ‡Militär— Flügel, der als regionalistisch, also strikt nationalistisch galt. Am 23. Februar 1966 kam es zum blutigsten Staatstreich: Die Militärs stürzten die Zivilisten und nahmen den General und die beiden Parteigründer Michel Aflaq und Bitar gefangen. Bitar und seine Frau wurden 1980 in London ermordet, Aflaq starb 1989 in Bagdad. Unter dem neuen Regime wurde die Macht zwischen den beiden Generälen Amin el-Hafiz und Salah al-Jadid aufgeteilt, Jadid war zwar der ranghöhere der beiden, aber Amin war Verteidigungsminister. Auf Jadids Drängen verbündete sich die Regierung mit der Syrischen Kommunistischen Partei und betrieb eine -576-
umfassende Säuberung aller anderen Parteien und Meinungsabweichler in der Baath. Mit verschiedenen provokanten Gesten gegenüber Israel unterstrich die Regierung ihre panarabische Haltung, was wesentlich zu den Spannungen beitrug, die schließlich im Sechstagekrieg von 1967 mündeten. Syriens demütigende Niederlage unterhöhlte ernsthaft die Positionen so radikaler Politiker wie Nasser oder Jadid und ermöglichte Assad, seinen Einfluß in Syrien auszuweiten. Aber Jadid behielt die Kontrolle über die Partei, und er bevorzugte auch weiterhin extreme Schritte in der Außenpolitik. Im September 1970, als König Hussein die PLO in Jordanien zerschlug, schickte Jadid eine Panzerbrigade zu ihrer Rettung. Die USA verlegten die 6. Flotte in das Mittelmeer, und Israel machte seine Truppen auf den Golan-Höhen mobil. Die jordanische Luftwaffe und Armee griffen die syrischen Panzer an und trieben sie über die Grenze zurück. Assad, der die syrische Luftwaffe kommandierte, verweigerte den Panzereinheiten die Luftunterstützung. Aber auch nach diesem Fiasko blieb Jadid an der Macht, und am 12. November wurde Assad von einem Parteikongreß gemaßregelt. Er schlug allerdings am nächsten Tag zurück und ließ Jadid und seine Anhänger festsetzen. In guter alter Tradition kam es dann in der Partei zu einer umfassenden Säuberungsaktion und zum Verbot der Kommunistischen Partei. Seit damals übt Assad in Syrien die völlige Machtkontrolle aus. SYRIEN UNTER ASSAD Die Baath kam in Syrien und im Irak zur gleichen Zeit durch Staatsstreiche an die Macht, zu Beginn des Jahres 1963. In Bagdad wurde sie im November wieder entmachtet, und als sich die irakische Fraktion erholt hatte, waren die Führer der beiden Baath bis aufs Messer verfeindet. Seither besteht dieser tiefe Haß, der so weit geht, daß Syrien während des Golfkrieges mit dem Iran verbündet war. Einer der Unterschiede zwischen den beiden Parteien ist, daß in der syrischen Baath seit 1966 die Militärs das Sagen haben, während die irakische Baath eine Partei unter ziviler Führung geblieben ist. Das Hauptproblem ist aber ein persönliches: Sollten die beiden Länder -577-
jemals verschmolzen werden, müßte einer der beiden Führer sich dem anderen unterstellen. Da der Irak mehr Geld und mehr Einwohner hat, wäre wohl Syrien der Verlierer œ und sträubt sich daher gegen dieses Modell. Die Kerngruppe der revolutionären Offiziere war von den Alawiten dominiert. Im Laufe der Zeit und seiner eigenen Machtausweitung hat Assad weitere Mitglieder dieser Sekte in der gesamten Partei Struktur in Schlüsselstellungen hineingebracht, ebenso wie in die Regierung und in die Armee. Darüberhinaus begründete er zusätzliche militärische Formationen œ die ‡Spezialtruppen—, die von zwei seiner Schwager kommandiert werden, und die ‡Verteidigungskompanien— unter dem Kommando seines Bruders Rifaat el-Assad. Diesen Truppen gehören hauptsächlich Alawiten an, und sie werden ständig ausgebaut œ eine Landesstudie der American University schätzte ihre Stärke bereits 1978 auf 20.000 bis 34.000 Mann; und sie genießen jeden militärischen Luxus. Diese Truppen erinnern stark an die SS: sie stehen loyal zur Partei, ihrem Führer und ihren Kommandeuren, nicht aber zum Staat. Dazu kommt noch das Band der Stammeszugehörigkeit. Sie sind auch ebenso brutal, wie sich 1982 bei der Niederschlagung der Revolte in Hama gezeigt hat. 1984 hat sich allerdings auch ihre Schwäche geoffenbart, nämlich die Rivalität unter ihren Kommandeuren. Sobald Assad seine Gegner ausgeschaltet hatte, war die BaathRegierung in Syrien wie im Irak nichts anderes als eine Militärdiktatur mit der Ideologie einer skrupellosen Tyrannei. Assad hält sich wie Saddam Hussein an der Macht, indem er Gegner ermorden und Rebellionen mit gewaltiger Übermacht niederschlagen läßt und seine Mordkommandos auch ins Ausland hinter denen herjagt, die entkommen sind. Die Baath erinnert stark an die Partei in George Orwells ‡1984—: ‡Der Zweck der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht.— Amnesty International berichtete 1987, daß ‡die Folter für Tausende politische Gefangene in Syrien eine alltägliche Erfahrung sei—. Und weiter: ‡Ehemalige Gefängnisinsassen haben brutale Foltermethoden beschrieben, ähnlich wie über die Foltermethoden der syrischen Streitkräfte berichtet wurde. Der Schwarze Sklave ist eine kunstvolle Erfindung, bei der das Opfer aufgespannt wird, und dann -578-
dringt ein erhitzter Spieß in den After ein. Die Waschmaschine ist eine hohle drehbare Trommel, ähnlich einer gewöhnlichen Waschmaschine; die Arme des Opfers werden hineingesteckt, dann wird die Trommel gedreht, bis die Arme brechen. Auf den Syrischen Stuhl wird das Opfer mit Händen und Füßen gebunden. Dann wird die Rückenlehne nach hinten gedreht, so daß die Wirbelsäule zu brechen droht. Währenddessen schneiden die an den Stuhlbeinen angebrachten Klingen in die Knöchel des Opfers ... Im Libanon verwendet man dieses Folterinstrument unter dem Namen Beichtstuhl.— Die syrische Regierung hat seit mehr als 20 Jahren den Mord als politische Waffe eingesetzt. Am 29. August 1960, lang noch vor der Machtübernahme Assads, wurde der jordanische Ministerpräsident Hazza al-Majali von einer Bombe in seinem Büro zerrissen. Sie explodierte zu einem Zeitpunkt, da eigentlich König Hussein von Jordanien bei ihm angesagt war. Jordanien machte mobil, und beinahe wäre es zwischen den beiden Ländern zum Krieg gekommen. Aber es gab noch weitere von Syrien angestiftete Attentate auf Hussein. 1980 ließ Assad einen der Gründer des modernen Syrien, Salah al-Din alBitar im Exil ermorden œ so wie Stalin es mit Trotzki getan hatte. Im Oktober 1986 brach Großbritannien die diplomatischen Beziehungen zu Syrien ab, als sich herausstellte, daß Syrien tief verstrickt war in einen Bombenanschlag auf eine El Al-Maschine, die in London starten sollte. Ein jordanischer Terrorist, mit einem syrischen Paß und im Auftrag des syrischen Geheimdienstes unterwegs, hatte sich an ein irisches Mädchen herangemacht, sie geschwängert und mit einer Bombe im Koffer in ein Flugzeug nach Israel setzen wollen. Die israelischen Sicherheitskräfte fanden zwar rechtzeitig die Bombe im Gepäck, aber der Terrorist hatte sich schnurstracks vom Flugplatz in die syrische Botschaft begeben. Wenige Diktaturen in der Welt sind so widerwärtig wie die syrische. Aber immerhin œ wie die Takriti-Clique im Irak stützt sich die Alawiten-Bande in Syrien nur auf eine kleine Minderheit der Bevölkerung, und beide Regierungen haben extreme wirtschaftliche und militärische Schwierigkeiten. Es ist nicht anzunehmen, daß sie für immer überleben werden.
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DIE MOSLEM-BRUDERSCHAFT Islamischer fundamentalistischer Fanatismus ist nicht auf den Iran beschränkt. Er bedeutet eine konstante Bedrohung für den Irak und Syrien, ebenso, wenn auch in geringerem Ausmaß, für Ägypten, wo die Moslem-Bruderschaft ihre Wurzeln hat. Ihr Ziel war der Widerstand gegen fremde Herrschaft (vor allem der Briten) über arabische Länder und gegen die westlich orientierten Säkularisierungspläne mancher arabischer Regierungen. Die Bruderschaft wurde 1929 von dem Ägypter Hasan al-Banna gegründet und wuchs während der dreißiger und vierziger Jahre zu einer Massenbewegung an. Sie setzte sich an die Spitze der Opposition gegen das Nachkriegsregime von König Faruk, bis sie schließlich Ende 1948 (nach der ersten ägyptischen Niederlage gegen Israel in einem Krieg, in dem die Bruderschaft auch keine glorreiche Rolle gespielt hatte) verboten wurde. Am 28. Dezember erschoß ein junger Moslem-Bruder den Ministerpräsidenten Nokrashy Pascha, und am 12. Februar 1949 wurde Banna von der ägyptischen Polizei ermordet. Nasser drängte die Bruderschaft nach der ägyptischen Revolution von 1952 in den Untergrund. Ihre überlebenden Führer gingen ins Ausland und bauten die Organisation in Jordanien, Syrien und unter den über die arabischen Länder verstreuten Palästinensern auf. Unter den palästinensischen Rekruten waren Yassir Arafat, der später die ‡Al Fatah— (Bewegung für die Befreiung Palästinas) gründete, die größte Partei innerhalb der ‡Palästinensischen Befreiungsorganisation— (PLO), und sein Stellvertreter und militärischer Kommandeur Khalid Wazir, den ein israelisches Kommando 1988 tötete. Die Bruderschaft, der sich in den fünfziger Jahren viele Syrer zuwandten, wurde dort nach der Vereinigung mit Ägypten weiterhin unterdrückt und bis zum Ende der VAR 1961 nicht wieder legalisiert. Die Baath-Partei, und besonders die Alawiten, hatten gar kein Interesse, daß eine fundamentalistische sunnitische Gruppe ihren Einfluß in Syrien ausweiten sollte. Die ersten Demonstrationen sunnitischer Unzufriedenheit gab es 1964 in Hama. Die Regierung schickte die Armee los und ließ die Sultan-Moschee mit Granaten -580-
beschießen, wobei Dutzende Menschen starben. 1967 und 1973 gab es ernstzunehmende Demonstrationen gegen den laizistischen Kurs der Regierung. 1967 wurden die Unruhen durch einen Artikel provoziert, der in einer Armeezeitschrift den Islam kritisiert hatte, und 1973 flammten sie erneut auf, als in der neuen Verfassung der Islam nicht als Staatsreligion eingesetzt wurde, was offensichtlich die Möglichkeit zuließ, daß ein Nicht-Moslem Staatsoberhaupt werden könnte. Obwohl das ein wesentliches Bekenntnis der Baath-Politik war, gab Assad hastig nach. Die Verfassung wurde dahingehend abgeändert, daß der Präsident ein Moslem sein muß œ allerdings betrachten die meisten Sunniten die Alawiten nicht als gute Moslems. Zwischen 1973 und 1979 wurde eine ganze Reihe alawitischer Beamter und sowjetischer Berater ermordet, aber das Regime konzentrierte sich vor allem auf die Bekämpfung linksgerichteter Baathisten und übersah die Bedeutung dieser Angriffe. Am 16. Juni 1979 rief Hauptmann Ibrahim al-Yussuf in der Artillerieschule von Aleppo alle Kadetten zusammen. Er war Sunnit und politischer Offizier der Baath. Die sunnitischen Kadetten mußten den Raum verlassen, dann eröffneten seine Komplizen das Feuer mit automatischen Waffen. Alle übrigen Kadetten, sämtlich Alawiten, starben je nach Angaben waren es zwischen 32 und 60. Extremistische Sunniten im ganzen Land jauchzten, daß die Ketzer getötet worden seien, und das Massaker entflammte all den durch Jahre von Assad unterdrückten Haß. Drei Jahre lang herrschte in Syrien beinahe Bürgerkrieg. Die Rebellen, die sich als Erben der Moslem-Bruderschaft betrachteten, ermordeten alawitische Beamte, Offiziere und sowjetische Zivil- und Militärberater. Bei zahlreichen Autobombenanschlägen in Damaskus und anderen Städten starben Hunderte Menschen. Bis 1980 hatte es 300 bis 400 politische Morde gegeben, und die beiden wichtigsten nördlichen Städte, Aleppo und Hama, waren in der Hand der Bruderschaft. Im März 1980 kam es im ganzen Land zu einem Generalstreik zur Unterstützung der Bruderschaft und ihrer Forderungen nach einer Islamischen Republik. Es schien, als würde Syrien den iranischen Weg gehen. Präsident Assad entschloß sich zur äußersten Gewalt, um die -581-
Revolte niederzuschlagen. Am 6. April, dem Ostersonntag, riegelte die Armee Hama und Aleppo ab. Die ‡Spezialtruppen— stürmten die Städte, arretierten Tausende Einwohner und erschossen jeden, der der Zugehörigkeit zur Bruderschaft verdächtig war. Bis Jahresende wurden zumindest 1.000 Menschen exekutiert. Der Terrorismus ging weiter. Im April 1981, nach einem Anschlag auf Assad, wurden in Hama rund 300 Männer öffentlich hingerichtet. Aber auch das half nichts. Im selben Jahr wurden 150 weitere Beamte ermordet. Im Februar 1982 gewann die Bruderschaft wieder die Kontrolle über Hama. Assad schickte seinen Bruder Rifaat mit Geschützen und Panzern auf Strafexpedition. Zwischen 2.000 (nach offiziellen Angaben) und 20.000 Menschen wurden getötet, und ein Drittel der Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht. Diese extremen Maßnahmen stellten so etwas wie Ruhe und Ordnung wieder her, doch gingen die Anschläge und Bombenexplosionen trotzdem weiter. 1986 wurden in Syrien mehr Menschen durch Terroristen getötet als bei den weltweites Aufsehen erregenden Anschlägen in Paris, Istanbul und am Flughafen von Karatschi allein im März starben 150 Syrer durch Terrorbomben. Die grundlegenden Spannungen bleiben so ungelöst und gefährlich wie immer. Das gefährlichste für die Regierung ist die wachsende Kluft zwischen der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit und den Alawiten. Auch wenn Alawiten-Offiziere in der Armee die Schlüsselpositionen besetzen und trotz der alawitischen Sondereinheiten, die als Prätorianergarde dienen, kann eine Minderheit von 12 bis 15 Prozent auf Dauer das Land nicht zu dominieren hoffen. Jener sunnitische Offizier, der das Massaker in Aleppo veranstaltet hatte, war bei der Beförderung zugunsten eines Alawiten übergangen worden und hatte sich gerächt. Die Moslem-Bruderschaft ist abermals in den Untergrund gegangen. Seit der Ermordung Bannas im Jahr 1949 hatte sie keinen prominenten Führer, aber seine Lehren werden zweifellos von einer großen Zahl Syrer anerkannt. Diese Doktrinen wirken auch in Ägypten weiter, wo periodische Revolten von Fundamentalisten die Regierung ins Schleudern gebracht haben. Die Aktion der Fundamentalisten, die sicherlich das meiste Aufsehen erregt hat, war die Ermordung von Präsident Sadat im Oktober 1981. -582-
DAS MODERNE SYRIEN Im November 1983 erlitt Assad einen Herzinfarkt und verschwand für einige Monate aus dem Blickfeld. Es kam zu einer kurzen und in aller Öffentlichkeit geführten Auseinandersetzung zwischen Rifaat Assad, dem Bruder des Präsidenten, General Ali Haider, dem Kommandeur der ‡Spezialtruppen—, und General Shafiq Fayyad, dem Kommandeur der 3. Panzer-Division. Es war ein Kampf um die Nachfolge und zugleich ein Familienstreit: Haider und Fayyad sind beide mit Assad verschwägert, und beide sind Alawiten. Im März 1984 schickte Rifaat seine Panzer nach Damaskus, wo sie auf die Einheiten Haiders und Fayyads stießen. Assad löste diese Krise vom Krankenbett aus, indem er Rifaat ins Exil verbannte. Der Präsident erholte sich und übernahm wieder die Regierungsgeschäfte, aber durch diese Geschehnisse wurden die Nachfolgeprobleme deutlich sichtbar gemacht. In Rifaats Abwesenheit wurden die ‡Verteidigungskompanien— angeblich aufgelöst. Am 11. September wurde der Verteidigungsminister Mustafa Tlas in ausländischen Zeitungen zitiert, daß Rifaat lebenslang verbannt sei. Rifaat antwortete am nächsten Tag aus Genf mit der Feststellung, daß Tlas‘ Statement eine Fälschung sei und daß er am 26. November nach Damaskus zurückkehren würde. Nach AI-Angaben sind Haiders ‡Spezialtruppen— seit 1985 im Libanon stationiert und verantwortlich für die Folter, Mißhandlungen und den Tod unschuldiger Zivilisten. Neben seinen internen Problemen ist Syrien mit einer Reihe außenpolitischer Probleme konfrontiert. Am ernstesten ist wohl die Libanon-Frage (Siehe LIBANON). Syrien hat in diesem unglückseligen Land eingegriffen, um zu einer Friedenslösung beizutragen, aber ohne Erfolg. Seine Schwierigkeiten wurden im Frühjahr 1988 deutlich, als zwischen den beiden schiitischen Fraktionen der Kampf ausbrach, der von Syrien unterstützten Amal und der vom Iran gehaltenen Hisbollah. Die Hisbollah gewann den Kampf, und durch eine Reihe diplomatischer Verhandlungen gelangte Syrien wenigstens zu einem Waffenstillstand. Syrien hatte den -583-
Ausschluß aus der arabischen Staatenfamilie riskiert, indem es sich mit dem Iran gegen ein anderes arabisches Land, den Irak, verbündet hatte, und nun hetzte derselbe Iran seine Gefolgsleute im Hinterhof Syriens auf. Die große Gefahr im Libanon war, daß Syrien in diesen unlösbaren Konflikt hineingezogen würde, wie zuvor Israel und die USA. Assads offensichtliches Zögern, gegen die Hisbollah vorzugehen, zeigt, daß er wußte, wie unpopulär ein solches Engagement sein würde. Auch Syriens anhaltende Feindschaft mit dem Irak kann sich zu einem ernsthaften Problem auswachsen, nun, nachdem der Golfkrieg beendet ist. Der Irak versuchte während des Krieges Syrien zu ignorieren. Einen Zweifronten-Krieg konnte er sich nicht leisten. Aber da Saddam Husseins Regime diesen Krieg überstanden hat, kann er seine volle Aufmerksamkeit nun dem verwandten Baath-Regime in Damaskus zuwenden, das ihm in den finstersten Augenblicken in den Rücken gefallen ist. Schon vor dem Krieg, 1975, waren die Beziehungen der beiden Länder so gespannt gewesen, daß beide Regierungen ihre Armeen längs der Grenzen mobilisiert hatten. Bei diesem Streit war es um Wasser gegangen: Syrien hatte mit sowjetischer Hilfe einen großen Euphrat-Staudamm errichtet, und der Irak hatte befürchtet, daß Syrien ihm die Wasserzufuhr abschneiden würde. Es war hauptsächlich der Intervention Saudi-Arabiens zu verdanken, daß dieser Streit beigelegt werden konnte. Die wahre Ursache aber war der persönliche und politische Konflikt zwischen Assad und Hussein um die Führungsrolle in der BaathPartei. Assad hat großes Geschick in der Wahl seiner Verbündeten und Abschreckung seiner Feinde bewiesen, aber mittlerweile hat er von letzteren eine erstaunliche Liste zusammenbekommen. Unter ihnen ist natürlich auch Israel, aber seit dem Krieg von 1973 war Syrien immer sorgfältig darauf bedacht, seinen mächtigsten Gegner nicht zu provozieren. Der Grad der unversöhnlichen antizionistischen Rhetorik aus Damaskus hat sich nicht gemildert, aber es war bemerkenswert, daß Syrien bei der israelischen Invasion im Libanon 1982 nicht eingriff. Die Israelis ließen die Syrer aus Beirut (einschließlich Rifaat el-Assad) unbehelligt abziehen, und die -584-
Syrer gingen so weit wie möglich jeder Auseinandersetzung aus dem Weg. Zu Beginn des Konfliktes hatten die Israelis unter einem Vorwand einen Präventivschlag durchgeführt, im Bekaa-Tal syrische Luftabwehrbatterien angegriffen und einen Großteil der syrischen Luftwaffe abgeschossen. Die Erinnerung an diese Episode saß den Syrern wohl auch tief genug in den Knochen, um vorsichtig zu sein. Die syrische Wirtschaft steckt in großen Schwierigkeiten. Die Verteidigungsausgaben verschlingen einen Großteil des Staatsbudgets (nach manchen Berichten rund 50 Prozent), und andere Quellen fließen wie überall in der Dritten Welt in absurde Projekte, wie das Beispiel des Euphrat-Staudammes zeigt. Die Sowjets können Waffen für die Streitkräfte liefern, aber sie sind nicht in der Lage, den Entwicklungsländern auf dem Weg aus der Armut mit Rat und Hilfe zur Seite zu stehen. Im Gegenteil, die Regierung Gorbatschow hat begonnen, ihre Hilfsprogramme mit rigiden Kriterien zu bemessen und ist nicht mehr so großzügig wie frühere sowjetische Regierungen. Syrien hat praktisch nichts zu exportieren und keine Devisenreserven für Importe. Es war mehr als 20 Jahre von der UdSSR abhängig und hat wenig dafür zu bieten. Obwohl Syrien nicht in solch katastrophaler Verfassung ist wie Äthiopien oder Vietnam, ist seine Abhängigkeit beinahe genauso groß. Assad hat alle anderen potentiellen Verbündeten so gründlich abgeschreckt, daß er sich nirgends hinwenden kann. Gorbatschow wird Syrien nicht fallenlassen. Es bleibt die Pforte der UdSSR zum Nahen Osten. Auf längere Sicht aber wird er feststellen, welche Gefahren es in sich bergen mag, mit einem so unbeliebten Regime eng verbündet zu sein. Sollte Assad das Schicksal des Schah teilen, könnte der sowjetische Einfluß in Syrien ebenso zunichte werden wie der Einfluß der USA im Iran. Eine der wenigen Karten, die Assad gegen den Westen ausspielen kann, ist das Schicksal der westlichen Geiseln in Beirut. Es wurde allgemein angenommen obwohl er nicht in der Lage ist, tatsächlich ihre Freigabe zu garantieren œ, daß ohne seine Hilfe gar nichts möglich wäre. Im Mai 1988 gelang es Frankreich, die Freilassung der letzten drei französischen Geiseln im Libanon durch Verhandlungen zu erreichen œ allerdings mit dem Iran, nicht mit Syrien. -585-
Die USA haben bisher gezögert, Assad zu hart anzufassen, aus Furcht um das Leben der amerikanischen Geiseln im Libanon, und wohl auch in der Hoffnung, daß es früher oder später gelingen könnte, die Syrer nach ägyptischem Vorbild dazu zu bewegen, die Sowjets aus dem Land zu werfen und in Friedensverhandlungen mit Israel einzutreten. In unermüdlichen Verhandlungen ist es Henry Kissinger nach dem Krieg von 1973 gelungen, Assad zum Abschluß eines permanenten Waffenstillstands im Gegenzug für einen Gebietsstreifen auf den Golan-Höhen zu bewegen, einschließlich der Regionalhauptstadt Kuneitra. Das war allerdings das letzte Mal, daß Syrien sich als flexibel erwiesen hat. (Siehe auch DIE KURDEN). Im Sommer 1990 kam es durch den irakischen Angriff auf Kuwait zu einer erstaunlichen Annäherung zwischen den USA und Syrien. Syrien unterstützte die Sanktionen gegen den Irak und sah darin wohl auch die Möglichkeit, den irakischen Druck von sich abzuwenden.
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EUROPA
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DIE VERÄNDERUNGEN IN OSTEUROPA 1989 war für Europa ein Jahr der Wunder. Als es begann, saßen die kommunistischen Parteien und Regierungen in den sechs osteuropäischen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes ebenso wie in Jugoslawien und Albanien fest im Sattel, wie seit vierzig Jahren. Als das Jahr zu Ende ging, hatte Polen eine nichtkommunistische Regierung, die den kommunistischen Staat abbaute, in Ungarn und Bulgarien bestritt die Partei hoffnungslose Rückzugsgefechte, und in der DDR, der Tschechoslowakei und in Rumänien war sie weggefegt worden. Zwei der sechs Teilrepubliken der jugoslawischen Konföderation, Kroatien und Slowenien, hatten die Durchführung freier Wahlen beschlossen, und die Zentralregierung in Belgrad bewegte sich in dieselbe Richtung. Jenseits der Grenze standen die drei baltischen Republiken unmittelbar davor, sich vom Kommunismus zu verabschieden und ihre Unabhängigkeit auszurufen. Nur Albanien und die Sowjetunion selbst stellten sich noch gegen die Flut. Die herausragendsten Bilder dieses außergewöhnlichen Jahres waren die von den Freudentänzen der Menschenmassen auf der Berliner Mauer und die der verkrümmten Leichen von Nicolae Ceausescu und seiner Frau Elena, die am Weihnachtstag erschossen wurden. Das eine symbolisierte die friedliche Revolution. Das andere erinnerte an Europas gewalttätige und grausame Vergangenheit. Das erste steht gleichberechtigt neben den Bildern von der Befreiung Paris‘ im Jahr 1944. Das andere gehört neben das Bild von Mussolini und seiner Freundin, die auf der Flucht an einer Tankstelle erwischt, erschossen und aufgehängt wurden. Der Zusammenbruch der DDR rückte die Wiedervereinigung Deutschlands in das Blickfeld der europäischen Politik. Während die Politiker noch überlegten, machten sich die deutschen Bürger, ganz zu schweigen von den deutschen Geschäftsleuten, unverzüglich an den Abbau der Barrieren zwischen den beiden Staaten. Es war ein unwiderruflicher Prozeß. Ende 1989 waren freie Wahlen in der DDR, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien und Slowenien angekündigt. Niemand bezweifelte, daß diese Wahlen -588-
einen ähnlichen Verlauf nehmen würden wie die vom Juni 1989 in Polen, wo die Kommunisten in nur teilweise freien Wahlen vernichtend geschlagen wurden. Sie gewannen kein einziges Mandat. Die Revolutionen von 1989 waren das Ergebnis der bewußten Entscheidung der Sowjetunion, nicht länger die unpopulären Regierungen in den Staaten Osteuropas zu stützen und gegen alle Opposition zu halten. Es war die gänzliche Abkehr von einer Politik, die die UdSSR seit der Eroberung Ost- und Mitteleuropas im Jahre 1945 eingeschlagen hatte. Im Zeichen dieser Politik hatte die Rote Armee 1953 in Ost-Berlin ebenso wie in Budapest 1956 die Ordnung wiederhergestellt, den Prager Frühling 1968 niedergeschlagen und Jaruzelski im Jahr 1981 die notwendige Rückendeckung bei seinem Schlag gegen die ‡Solidarität— gegeben. Im Dezember 1988 nahm Michail Gorbatschow in einer Rede vor den Vereinten Nationen offiziell Abschied von der BreschnjewDoktrin, die dem selbstverliehenen Recht der Sowjetunion, sozialistischen Bruderstaaten gegen Volksaufstände zur Hilfe zu eilen, eine gesetzliche Grundlage gegeben hatte. Im Laufe des Jahres 1989 signalisierte er seinen Verbündeten, daß sie reformieren müßten œ oder untergehen. Man vermutete seinen Einfluß hinter dem Abgang von Erich Honecker in der DDR, Todor Schiwkoff in Bulgarien, Milos Jakes in der Tschechoslowakei und vielleicht sogar Nicolae Ceausescu in Rumänien. Als die Bürger der DDR zu Hunderttausenden auf die Straße gingen und mit dem Sturz der Regierung drohten, blieben die sowjetischen Truppen in der DDR in ihren Kasernen. Als Ceausescu erschossen wurde, sandte Gorbatschow eine Glückwunschbotschaft an seinen Nachfolger. Von 1945 bis 1989 hatten Europa und die Sowjetunion mit den Auswirkungen einer grundlegenden Fehleinschätzung Stalins gelebt. Seine Handlungen waren von dem Wunsch bestimmt gewesen, daß die UdSSR niemals mehr von deutschem Boden aus angegriffen werden dürfe. 1918 hatten die Deutschen die Ukraine besetzt und 1942 Stalingrad erreicht. Stalin hielt die Errichtung eines Clacis von verbündeten Staaten, vom Baltischen bis zum Adriatischen Meer, für die beste Sicherheitsgarantie. Sein Irrtum war nicht ohne Ironie: Er vergaß, jene Veränderung im -589-
Gleichgewicht der Kräfte einzuberechnen, von der er selbst am meisten profitiert hatte. Die Nachkriegs-Sowjetunion war so überwältigend mächtig, daß keine vorstellbare Kombination europäischer Staaten sie hätte gefährden können. Nur die USA waren der UdSSR überlegen, aber dazwischen lagen Ozeane, und die Amerikaner hätten niemals einen Angriff zu Lande in Betracht gezogen. Rußland brauchte keine Pufferstaaten. Im Gegenteil, in 45 Jahren Geschichte waren die von Stalin in Ostdeutschland, Polen, der Tschechoslowakei und den übrigen Ländern eingerichteten Satelliten für die Sowjetunion immer eine Last. Aufgrund der Unterdrückung dieser Staaten verwandelten sich die USA von einem Alliierten in einen Gegner. Nach dem kommunistischen Staatsstreich in der Tschechoslowakei wurde die NATO gegründet. Zum anderen war die offenkundige sowjetische Tyrannei das stärkste Argument, daß der Kommunismus in keinem westeuropäischen Land eine Chance hatte, an die Macht zu kommen. Die UdSSR mußte das Gewicht von 100 Millionen haßerfüllter Menschen in verarmten Ländern tragen, deren Unterdrückung und Verteidigung eine ständige Belastung der sowjetischen Wirtschaft bedeutete. Die Satellitenstaaten kosteten die UdSSR mehr als sie je brachten œ und in strategischer Hinsicht war ihr Wert gleich Null. Stalin hatte sich von den Imperativen der russischen Geschichte leiten lassen, die Jahrhunderte zurückreichten œ im selben Augenblick, da die Atombombe und der Zusammenbruch Europas seine Überlegungen überholt sein ließen. Die Menschen in den osteuropäischen Ländern, mit der teilweisen Ausnahme der Bulgaren, verabscheuen die Russen. Die Zaren unterdrückten im 18. Jahrhundert den polnischen Staat und beherrschten Polen bis 1917. Die neue Sowjetunion versuchte Polen 1920 zu erobern. 1939 besetzte Stalin, als Verbündeter Hitlers, das östliche Polen. Der KGB ermordete 15.000 Offiziere der polnischen Armee. Die Rote Armee befreite Polen zwar von den Nazis, aber sie kam als Eroberer œ und als die Deutschen Warschau 1944 zerstörten, sahen die Russen vom anderen Ufer zu, ohne einzugreifen. 1944 kamen die Sowjets als Eroberer nach Ungarn œ wo sie schon 1848 einen nationalen Aufstand niedergeschlagen hatten. Das gleiche taten sie 1956. Die Sowjets unterdrückten 1968 den Prager Frühling und halten mit Bessarabien immer noch ein großes rumänisches Gebiet -590-
besetzt. Vor diesem historischen Hintergrund ist es nicht allzu überraschend, daß der aufgedrängte sowjetische Kommunismus in Osteuropa immer zutiefst unbeliebt war. Die Regime in der DDR, in Polen, der Tschechoslowakei und in Ungarn überlebten unmittelbar, in Rumänien und Bulgarien indirekt dank der Unterstützung der Roten Armee. Stalin errichtete einen riesigen Kerker für die osteuropäischen Völker, als eine überflüssige Barriere gegen westliche Angriffe, und das Gefängnis hielt 36 Jahre über seinen Tod hinaus stand. Dann endlich beugte sich Gorbatschow der Logik dieser Situation, als er verzweifelt versuchte, die Spannungen mit dem Westen abzubauen, um die zusammenbrechende Wirtschaft seines Landes zu retten. Er realisierte, daß es keine dauerhafte Entspannung mit dem Westen geben würde, solange die Rote Armee in Mitteleuropa stand, um feindselige und ausgeblutete Satelliten niederzuhalten. Zweifellos erwartete Gorbatschow, daß es ihm möglich sein würde, zuerst die Sowjetarmee nach Hause zu führen und daß sich die osteuropäischen Länder dann allmählich reformieren würden, nach dem Beispiel, das er in der UdSSR zu geben versucht. In Wahrheit brachen die Regime zusammen, sobald es klar war, daß diese sowjetische Rückendeckung nicht mehr bestand, und Gorbatschow mußte dazu gute Miene machen. Der erste Dominostein war Polen, wo das Regime zu einer teilweise freien Wahl antrat und verlor œ und das Ergebnis respektierte. Dann rehabilitierten die Ungarn Imre Nagy und versprachen freie Wahlen für 1990. Die anderen Dominosteine fielen im November und Dezember auf spektakuläre Weise. Ende 1989 hatte der Warschauer Pakt als Militärallianz zu bestehen aufgehört. Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen forderten die UdSSR zum unverzüglichen Abzug ihrer Truppen auf. Nunmehr sehen sich Ost und West sogar mit der kuriosen Situation konfrontiert, daß auf dem Boden des wiedervereinigten Deutschland, einem NATO-Mitglied, noch einige Zeit sowjetische Truppen stationiert sein werden. Truppenabzüge müssen weit länger vorbereitet werden als die Revolutionen des Volkes.
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SOWJETUNION Geographie: Fläche 22,274.900 km2. Bevölkerung: 283:100.000. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ist eine Föderation von 15 Unionsrepubliken, 20 Autonomen Republiken, 8 Autonomen Regionen und 10 Autonomen Bezirken. Insgesamt gibt es 104 anerkannte Nationalitäten. Allein in der Russischen Republik, bei weitem die größte des Landes, gibt es 16 Autonome Republiken, fünf Autonome Regionen und 10 Autonome Bezirke für nichtrussische Nationalitäten. Die Unionsrepubliken sind auch in Nationale Gebiete und Kreise untergliedert, von denen besonders die Autonome Region Nagornij Karabach in Aserbeidschan hervorzuheben ist. Europa: Russische Soz. Föd. Sowjetrepublik: 17:075.400 km2, 144,1 Millionen Einwohner. Ukrainische SSR: 603.700 km2, 51 Millionen. Bjelorussische SSR: 207.600 km2, 10 Millionen. Moldauische SSR: 33.700 km×, 4,1 Millionen. Baltikum: Estnische SSR: 45.100 km2, 1,5 Millionen. Lettische SSR: 63.700 km2, 2,6 Millionen. Litauische SSR: 65.200 km2, 3,6 Millionen. Transkaukasien: Armenische SSR: 29.800 km2, 3,4 Millionen. Aserbeidschanische SSR: 86.600 km2, 6,7 Millionen. Grusinische (Georgische) SSR : 69.700 km2, 5,2 Millionen. Zentralasien: Kasachische SSR: 2,715.000 km2, 16 Millionen. Kirgisische SSR: 198.500 km2, 4,1 Millionen. Tadschikische SSR: 143.100 km2, 4,7 Millionen. Turkmenische SSR: 488.100 km2, 3,3 Millionen. Usbekische SSR: 449.600 km2, 18,5 Millionen. Flüchtlinge: Seit dem Beginn der nationalen Konflikte im Jahr 1988 sind ungefähr eine halbe Million Armenier und Aseris aus ihrer Heimat geflüchtet. -592-
Die Krise der Sowjetunion in den neunziger Jahren ist neben der Golf-Region das bedeutendste aller Konfliktpotentiale in der Welt. Sie hat bereits große Veränderungen in Europa, Afrika, Indochina und Mittelamerika bewirkt und das Gleichgewicht der Kräfte im Nahen Osten erheblich beeinflußt. Das Ende der ‡roten Gefahr— bedeutet eine völlig andere Welt. Die dramatischsten Veränderungen haben sich bislang in Osteuropa ereignet, wo innerhalb von fünf Monaten des Jahres 1989 sechs kommunistische Regierungen zusammengebrochen sind. Diese Revolutionen waren allesamt eine direkte Konsequenz der Ereignisse in Moskau. Die Sowjets hatten nicht mehr länger das Verlangen, noch weniger den Willen, 100 Millionen Europäern ein gescheitertes sozialistisches System aufzuzwingen. Die nächste Frage war, ob die Kommunistische Partei der Sowjetunion, die KPdSU, noch die Absicht hatte, ihr System daheim aufrechtzuerhalten. Es wurde offensichtlich, daß die Partei den Forderungen nach Reformen nachkommen mußte, um nicht wie die anderen Kommunistischen Parteien in Osteuropa weggefegt zu werden. Im Februar schlug Michail Gorbatschow in einer Sitzung des Zentralkomitees vor, daß die Partei ihren Führungsanspruch in der Sowjetunion aufgeben sollte, und damit die leninistische Formel, unter der alle anderen politischen Parteien unterdrückt oder den Kommunisten angeschlossen worden waren. Der Vorschlag wurde nach einer langen und heftigen Debatte angenommen. Von all den dramatischen Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 war dies das bemerkenswerteste. Die Bolschewisten bereiteten sich auf den Machtverzicht vor. Nun, da die Partei Lenins zerfällt, ist es die Frage, wie weit die Regierung und die Sowjetunion überhaupt überleben werden: Gorbatschows Drahtseilnummer kann nicht ewig gutgehen, und die Union beginnt bereits zu zerbrechen. In Litauen fand die Loslösungsbewegung mit der Ausrufung der Unabhängigkeit am 11. März 1990 ihren Höhepunkt, Estland und Lettland folgten im April und Mai dem litauischen Beispiel. Aserbeidschan war in wildem Aufruhr, Moldawien kann jederzeit explodieren, Armenien und Georgien anerkennen widerstrebend noch die Moskauer Herrschaft, aus Zentralasien und der Ukraine kamen ernstzunehmende Signale von Unzufriedenheit œ mehr als die Hälfte der Unionsrepubliken hatte -593-
bis zum Sommer 1990 ihre Unabhängigkeit ausgerufen und die Gesetze ihrer eigenen Parlamente über die der UdSSR gestellt. Zuletzt wurde sogar die stärkste Kraft von allen, der russische Nationalismus, wiederbelebt, mit all seinen traditionellen Begleiterscheinungen wie Chauvinismus, antiwestlicher Einstellung, Autoritätshörigkeit und Antisemitismus œ und der Ausrufung der Eigenständigkeit durch den neugewählten Präsidenten der RSFR, Boris Jelzin. Die KPdSU war diskreditiert: Die Menschen glaubten nicht mehr länger an das soziale und politische Modell, das sie siebzig Jahre lang gepredigt hatte. Das kommunistische Modell hatte aufgehört zu funktionieren. Die Wirtschaft hatte sich in den letzten zehn Jahren wenig entwickelt, und bei dieser Organisationsform war kaum Hoffnung auf eine Verbesserung dieser Situation. Die einzige Rechtfertigung eines totalitären Systems ist es, auf diese Weise ein Ziel zu erreichen, was anders nicht möglich wäre. Der Kommunismus versprach den Wohlstand, jedermann nach seinen Bedürfnissen. Nach siebzig Jahren Leninismus sind Brot und Kartoffeln in weiten Teilen des Landes rationiert, und jetzt fordert die Bevölkerung der Sowjetunion beides, Brot und Freiheit. Der wichtigste Grund für das Scheitern des Bolschewismus war die fehlende Legitimation der Partei. Die Kommunisten waren 1917 mit Gewalt an die Macht gekommen und hatten sich seit damals mit aller Gewalt daran geklammert. Die sowjetische Bevölkerung hatte einer kommunistischen Regierung niemals in freien Wahlen zugestimmt. 1990 kamen die Menschen darauf, daß sie sich ihrer entledigen konnten. Die Osteuropäer zwangen im Jahr 1989 ihre Kommunistischen Parteien zur Aufgabe des Führungsanspruchs. 1990 war die KPdSU an der Reihe. Die UdSSR ist nicht der Libanon oder Sri Lanka, Länder, deren Schwierigkeiten nur sie selbst betreffen. Sie ist die zweitstärkste Nation der Welt, und ihre Auflösung hätte weltweite Auswirkungen. Sie wird sicher nicht friedlich im Dunkel der Geschichte verschwinden: der Kampf in Aserbeidschan zum Beispiel hat bereits auf den Iran übergegriffen und könnte leicht auch die Türkei erfassen œ und sobald die Gefahr bestand, daß die ‡Aserische Volksfront— die Macht in Aserbeidschan übernehmen könnte, schickte Gorbatschow die Panzer los. Der plötzliche Zusammenbruch der KPdSU würde -594-
auch positive Auswirkungen haben: Auch wenn der Bankrott des kommunistischen Experiments die Revolutionen in der Dritten Welt nicht beenden wird, würde er doch deren Heftigkeit vermindern. Es gäbe keine ‡Freiheitskämpfer— mehr, die in Moskau bezahlt und ausgebildet würden. Aber ein Bürgerkrieg in der UdSSR würde alle anderen Schrecken der vergangenen 45 Jahre in den Schatten stellen. Die ersten Anzeichen von Streitigkeiten unter den 104 Nationalitäten der Union trafen mit der schnellen Entwicklung der Glasnost zusammen, Gorbatschows Politik der Öffnung. Sowjetische Bürger entdeckten plötzlich nicht nur die Verbrechen Stalins, sondern auch die katastrophale Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Bedingungen. Es wurde zunehmend offenkundig, daß die Sowjetunion nicht in der Lage war, die von ihr verursachten Schäden zu reparieren, und Glasnost stellte sicher, daß jeder über jede Tatsache Bescheid wissen konnte. Zur selben Zeit war Gorbatschow auf dem vollen Rückzug aus der ‡Vorwärts—-Politik der Breschnjew-Ära. Er hat Afghanistan und Angola ihrem Schicksal überlassen, das gleiche kann Kuba, Vietnam und Äthiopien blühen. Alle diese Vorposten des proletarischen Internationalismus kosten die sowjetischen Steuerzahler irrwitzige Summen, und sie hatten davon überhaupt nichts. 1989 wurde die Sowjetunion schlagartig mit den Auswirkungen der fünfundvierzig Jahre währenden Unterdrückung der Völker Osteuropas konfrontiert: Sie hatte die Wahl, die kommunistischen Bruderparteien im Stich zu lassen oder die Rote Armee wieder in Warschau, Budapest, Ost-Berlin und Prag einmarschieren zu lassen. Gorbatschow und seine Genossen entschieden sich gegen die Fortsetzung der Politik ihrer Vorgänger, die seit 1945 so kostspielig gewesen war. Drei Wochen nach der Hinrichtung von Nicolae Ceausescu, 11 Monate nach dem Abzug aus Afghanistan, zeigten der Bürgerkrieg in Transkaukasien und der Aufstand in Aserbeidschan, daß selbst wenn sie ein Eingreifen gewollt hätte, der Sowjetunion dazu wohl die notwendigen Mittel gefehlt hätten. Sie brauchte die Soldaten daheim œ die Hauptsorge Gorbatschows war nunmehr die Erhaltung der Union. Die schweigende Masse der sowjetischen Bürger erwacht langsam aus ihrer Apathie. 1989 breiteten sich die Unruhen von Moskau in jeden Winkel des Landes aus, besonders während der -595-
Parlamentswahlen im Frühjahr, als die Parteikandidaten scharenweise besiegt wurden. Die komplette Parteiführung in Leningrad und der Bürgermeister von Moskau verloren, während der Renegat Boris Jelzin in der Hauptstadt gegen einen offiziellen Kandidaten 89 Prozent der Stimmen gewann. In diesem Sommer brauste eine Streikwelle durch die Bergwerksindustrie. So hatte auch die Solidarnosc in Polen zehn Jahre zuvor begonnen. Die wirtschaftlichen Bedingungen waren unter Gorbatschow ständig schlechter geworden, und er wurde dafür verantwortlich gemacht. Dann entstanden überall im Land rivalisierende politische Parteien, ehe der Kreml sie überhaupt zugelassen hatte. Demonstranten stürmten örtliche Regierungsgebäude und verlangten den Rücktritt von Parteifunktionären œ und die Funktionäre traten zurück. Am 4. Februar 1990, einen Tag bevor das Zentralkomitee den Verzicht auf den Führungsanspruch beschloß, demonstrierten 200.000 Menschen in Moskau gegen die Partei. Ihr stärkster Slogan war ‡Denkt an Rumänien!— DAS NATIONALITÄTENPROBLEM ‡Wir sollten uns gründlich mit der Nationalitätenpolitik auseinandersetzen. Sie ist eine der grundlegenden lebenswichtigen Fragen unserer Gesellschaft.— (Michail Gorbatschow am 18. Februar 1988) Die Sowjetunion ist nicht der einzige föderativ aufgebaute Staat mit mehreren Nationalitäten. Indien hat eine größere und noch weiter aufgesplitterte Bevölkerung, und viele afrikanische Länder, zum Beispiel Nigeria, müssen mit einer gleichen oder höheren Zahl rivalisierender Stämme zurechtkommen. Aber da die Sowjetunion das Erbe des Zarenreiches angetreten hat, ist die Situation hier eine andere. Die kleineren Nationen wurden alle von den Zaren besiegt und dem Reich einverleibt. Die Russen stellen mit 52 Prozent immer noch die Mehrheit, und allen leninistischen Lehren über den Internationalismus zum Trotz fühlen sich die nichtrussischen Sowjetbürger in gewissem Maße als Opfer des ‡großrussischen Expansionismus—. 1989 waren von den 23 Politbüro-Mitgliedern 19 Russen, 2 -596-
Ukrainer und ein Weißrusse. Nur ein Mitglied, der Außenminister Eduard Schewardnadse, war kein Slawe. Er ist Georgier. Kein Mitglied stammte aus Zentralasien, und keines war Armenier oder Aserbeidschaner. Manche Völker fühlen sich durch diese Konstellation weniger bedrückt als andere. Die Weißrussen und die Ukrainer sind eindeutig ‡gleicher— als die Usbeken und Kirgisen, und manche Völker, vielleicht auch die Armenier, erwarten von den Russen Schutz vor ihren stärkeren Nachbarn. Die Vorstellung einer großen Föderation verschiedener, aber gleichrangiger Nationen ist schön gedacht. Die Westeuropäer, die es leid sind, einander zu bekämpfen, bauen langsam eine solche Föderation auf, und Indien kämpft um den Fortbestand seines föderativen Modells. Die Alternative wurde 1947 bei der Unabhängigkeitserklärung aufs Schauerlichste demonstriert, als Ströme von Blut das Land teilten, und sie wurde durch den Aufstand der Sikhs wiederbelebt. Die Bürgerkriege in Nigeria, Libanon, Sudan und Äthiopien haben gezeigt, wohin die Überspitzung der nationalen Unabhängigkeit führen kann, und die Kriege der Europäer haben den Kontinent jahrhundertelang verwüstet. Das Problem mit der UdSSR ist, daß die Bolschewisten die 100 oder mehr von ihnen unterdrückten ethnischen Gruppen zu einer Leidensgemeinschaft zusammengeschmiedet haben. Kommunistischer und russischer Imperialismus waren in Zentralasien, Transkaukasien und im Baltikum gleiche Flüche, und als die Ukraine in den frühen dreißiger Jahren die Kollektivierung durchmachte, wurde Stalin vom Wunsch, den ukrainischen Nationalismus zu unterdrücken, mindestens ebenso sehr geleitet wie von der Absicht, den Kommunismus auf die Landwirtschaft auszudehnen. Russische Soldaten umzingelten ukrainische Dörfer und forderten die Auslieferung alles gelagerten Getreides und Fleisches œ dann zogen sie wieder ab und überließen die Dorfbewohner dem Hungertod. Als das 1917 begonnene Experiment nun zu Ende ging, versuchte Michail Gorbatschow seine Probleme zu lösen, indem er den Zugriff lockerte, den die Partei 70 Jahre auf jeder gesellschaftlichen Ebene ausgeübt hatte. Dazu dienten ihm Perestroika und Glasnost. Die -597-
Perestroika war bis jetzt ein Fehlschlag, und Glasnost hat die nichtrussischen Nationalitäten ermutigt, die Unabhängigkeit zu verlangen und einander zu bekämpfen. Es gibt drei klar zu unterscheidende Gebiete der nichtrussischen Bevölkerung in der Sowjetunion: das Baltikum, Transkaukasien und Zentralasien. Obendrein hat keine der 15 Republiken eine homogene Bevölkerungsstruktur. In allen leben nationale Minderheiten. Die Kasachen zum Beispiel fordern ein Gebiet südlich des Aral-Sees, das jetzt Teil von Usbekistan und Turkmenistan ist. Zwischen den Tadschiken und Usbeken herrscht seit langem ein Gebietsstreit. In Georgien leben zwei unzufriedene nichtgeorgische Minderheiten, und eine dritte, die türkischstämmigen Meschketen, die von Stalin nach Usbekistan deportiert wurden, wollen massenweise zurück in die Türkei. Die 180.000 Moslems in Moldawien wollen ihre eigene Republik. Im abgelegenen Nordwesten wollen die Karelier die Wiedervereinigung mit Finnland, die Moldawier mit Rumänien und verschiedene mongolische Stämme mit der Mongolei. In Kasachstan leben mehr als hundert ethnische Gruppen, und zwischen ihnen herrschen Dutzende Gebietsstreitigkeiten. Im Januar 1990 sah sich Gorbatschow mit zwei nationalistisch bedingten Krisen gleichzeitig konfrontiert: die friedliche Forderung der Litauer nach Unabhängigkeit und der Ausbruch des Bürgerkrieges zwischen Aserbeidschanern und Armeniern, der rasch zu einem aserischen Unabhängigkeitskrieg wurde. ARMENIEN UND ASERBEIDSCHAN Im Februar 1988 begann eine Serie großer Demonstrationen in Armenien. Zwei Jahre lang hatten die Armenier gefordert, daß Nagornij-Karabach, ein Teil des angrenzenden Aserbeidschans, an Armenien übertragen werden sollte. Diese Forderung wurde in Moskau ignoriert, bis durch die Lockerung der Kontrolle der KPdSU die Situation eskalierte. Hunderttausende Menschen strömten auf die Straße. Seit den frühen Tagen der Sowjetunion hatte es nichts Vergleichbares gegeben. Der Streit zwischen Armeniern und Aseris reicht tausend Jahre zurück, in die Zeiten, als die türkischen Stämme von Zentralasien in -598-
die Region einfielen. Die 6,7 Millionen Aserbeidschaner in der Sowjetunion stammen wie die 5 Millionen im Iran und die Türken in der Türkei von ihnen ab. In der Folge eroberten sie den ganzen Nahen Osten, Anatolien und Südosteuropa. Die Armenier und Georgier bewahrten ihre Sprachen, Religion und Traditionen in einem eng begrenzten Gebiet, umgeben von einem türkischen, islamischen Meer. Als die Zaren im frühen 19. Jahrhundert nach Transkaukasien kamen, begrüßten die beiden christlichen Völker sie als Befreier. Die verschiedenen türkischsprachigen Stämme und Völker haben sehr verschiedene historische Entwicklungen genommen. Die Aseris sind Schiiten, während die Türken und ihre Vettern in Zentralasien Sunniten sind. So haben die Aseris wie die Perser niemals den türkischen Sultan als Kalifen anerkannt. Türkische Nationalisten haben oft über ein pantürkisches Reich phantasiert, ein Alptraum für Russen und Perser, ganz zu schweigen von den Armeniern. Während des Ersten Weltkriegs kam es zwischen Türken und Russen an der Grenze zu schrecklichen Kämpfen. Die Hauptopfer waren die Armenier. In den Wirren nach der Russischen Revolution und während des Bürgerkriegs entstanden Armenien, Georgien und Aserbeidschan als unabhängige Staaten, und es gab einen kurzlebigen Versuch der Türken, vom Bosporus bis Samarkand ein türkisches Reich zu errichten. In den Verträgen von 1923 erreichte die Türkei eine geringfügige Gebietserweiterung. Die neue Sowjetunion legte die Grenzen ihrer Republiken fest, und Aserbeidschan konnte NagornijKarabach annektieren, eine armenische Enklave, die zur Gänze von aserbeidschanischem Gebiet umschlossen ist. Das war Teil der Politik der Bolschewisten, um die nichtrussischen Gebiete zu befrieden, die sie vom Zar geerbt hatten. Stalin unterdrückte die nationalen Bewegungen in Transkaukasien mit aller Macht. Bis in die fünfziger Jahre konnten sich Georgier und Armenier nur mit dem Gedanken trösten, daß sie zwar von den Russen beherrscht wurden, daß aber Georgier und Armenier die Sowjetunion beherrschten: Stalin und der KGB-Chef Berija waren Georgier, und Mikoyan, der langjährige Wirtschaftsminister und spätere Präsident der UdSSR, war Armenier. Die Aserbeidschaner hatten einen anderen Trost: die größten Ölfelder der Sowjetunion und ihre Erdölindustrie liegen in Baku, der Hauptstadt von Aserbeidschan am Kaspischen -599-
Meer. Als in Nagornij-Karabach 1988 die Unruhen begannen, lebten in dieser Region 126.000 Armenier und 37.000 Aseris. Die meisten Aseris haben nun das Land verlassen. Nagornij-Karabach ist eine Autonome Republik der Aserbeidschanischen Republik; seine Völker wurden offensichtlich durch die Korruption und Unfähigkeit der Regionalbehörden zum Protest getrieben, und obendrein durch ein gewisses Maß an nationalistischem Haß. Die ersten Demonstrationen begannen am 13. Februar 1988 in der Hauptstadt Stepanakert. Zwei Aseris wurden getötet, ein Umstand, der damals kaum Beachtung fand. Eine Woche später griffen die Demonstrationen auf die armenische Hauptstadt Eriwan über. Bald kamen täglich Hunderttausende in beiden Städten zusammen. Die Demonstranten protestierten gegen die lange kommunistische Tyrannei ebenso wie gegen die Aseris. Die Behörden von NagornijKarabach waren außerstande, die Demonstranten unter Kontrolle zu halten und schlossen sich ihnen lieber an. Am 20. Februar forderte das Parlament von Nagornij-Karabach offiziell die Eingliederung in Armenien. 110 stimmten für die Sezession, 17 dagegen, bei 13 Enthaltungen. Dieses Resultat spiegelt genau die ethnische Verteilung wider, die Stimmenthaltungen waren wahrscheinlich die altgedienten kommunistischen Funktionäre. Der Erste Sekretär der KP wurde abgesetzt und durch einen Mann ersetzt, der für die Sezession gestimmt hatte. Moskau wurde von dieser Entwicklung überrascht. ‡Ich muß zugeben, daß das Zentralkomitee der KPdSU durch diese Wendung der Ereignisse überrascht wurde—, sagte Michail Gorbatschow. ‡Mit ernsten Konsequenzen ist zu rechnen.— Das ZK wies die Forderung von Nagornij-Karabach sofort zurück, aber Gorbatschow beeilte sich, zu versprechen, die Angelegenheit in aller Ausführlichkeit zu prüfen, in der Hoffnung, dadurch die Lage zu beruhigen. Die Armenier waren einverstanden, ihre Proteste für einen Monat auszusetzen. Westlichen Journalisten wurde die Einreise nach Armenien verwehrt, aber aus Eriwan herausgeschmuggelte Videobänder zeigten riesige Volksmengen, die vor dem Opernhaus friedlich demonstrierten. Die Organisatoren der Demonstrationen sorgten für -600-
Ordnung und wählten ein Nagornij-Karabach-Komitee, das sie gegenüber der Regierung vertreten sollte. Ebenso wie den Ansprachen ihrer eigenen Vertreter hörten die Demonstranten auch den Reden von Regierungs- und Parteifunktionären zu. Bemerkenswert war, daß die Demonstrationen zunächst nicht antisowjetisch oder antirussisch waren. Die Situation spitzte sich zu, als am 27. Februar in Sumgait, einer Aseri-Stadt im Norden von Baku, antiarmenische Ausschreitungen begannen. Sie wurden offensichtlich durch den unterdrückten Bericht entzündet, daß zwei Aseris bei der Demonstration am 13. Februar in Nagornij-Karabach getötet worden waren, und durch die Ankunft von mehr als 5.000 aserbeidschanischen Flüchtlingen aus Kafan in Armenien. Die Flüchtlinge verstärkten den Funken, der die Explosion auslöste (das gleiche, was ein Jahr später in Baku passierte). Das sowjetische Radio beschrieb die Ereignisse in Surngait als ein Pogrom, das erste von vielen, und gab zu, daß 32 Menschen (26 Armenier und 6 Aseris) getötet und 197 schwer verletzt wurden. Es gab in Sumgait eine Minderheit von 15.000 bis 20.000 Armeniern (bei einer Einwohnerzahl von 223.000), und während der Unruhen wurden sie von den Aseriflüchtlingen durch die Straßen gehetzt und geschlagen, manche wurden umgebracht. Ein Überlebender berichtete der armenischen Gemeinde in Moskau, daß der Mob eine Entbindungsklinik gestürmt habe und daß eine schwangere Frau getötet worden sei, ihr Bauch aufgeschnitten und das Baby erstochen. Inoffizielle Berichte in Moskau meldeten mehr als 300 Tote. Ob die Berichte nun wahr waren oder übertrieben, es war schockierend und aufschlußreich, daß die Armenier den Aseris solche Greueltaten durchaus zutrauen. Zur Wiederherstellung der Ordnung wurden Truppen eingesetzt. Dabei kamen acht Soldaten ums Leben. Das war das erste Mal seit sechzig Jahren, daß die sowjetische Regierung offiziell zugegeben hatte, daß Rotarmisten zur Niederschlagung ziviler Unruhen eingesetzt worden waren (in Wahrheit war das oft passiert). Die Armenier in Sumgait wurden in Kasernen und provisorische Flüchtlingslager gebracht, um sie vor den Aserbeidschanern zu schützen, und zwei Wochen lang galt eine nächtliche Ausgangssperre. Der Bürgermeister von Sumgait und andere Funktionäre wurden nach -601-
den Unruhen abgesetzt. Am 23. März wies das Präsidium des Obersten Sowjet die Behandlung der Grenzziehungsfrage zurück. In einer Verlautbarung wurden alle Versuche, die Grenzen durch Straßendemonstrationen zu verändern, scharf verurteilt und inoffizielle Demonstrationen verboten. Ein Grund für diese harte Haltung war zweifellos die Reaktion der Aseris auf die armenische Forderung. Die Armenier waren nicht antisowjetisch eingestellt, aber die Aserbeidschaner zeigten klare Anzeichen einer oppositionellen Haltung. Wie zur Beruhigung verkündete Moskau auch ein 664-Millionen-DollarSonderprogramm zur wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung von Nagornij-Karabach. Die Regierung überschwemmte Eriwan mit Soldaten, und eine für den 25. März geplante Massendemonstration wurde abgesagt. Im Mai gab es in Eriwan und Baku weitere Unruhen. In Baku wurden sie durch Berichte von einem Aufstand in der armenischen Stadt Ararat provoziert, während die Demonstrationen in Eriwan durch Berichte von den ersten Prozessen gegen die Verantwortlichen für die Morde von Sumgait ausgelöst wurden. Die Mörder wurden zu Gefängnisstrafen zwischen 3 und 15 Jahren verurteilt, was den Armeniern als zu milde erschien. Am 19. Mai demonstrierten 200.000 Armenier in Eriwan, und es gab Berichte von Streiks und Demonstrationen in Nagornij-Karabach. Die Zentralregierung reagierte, indem sie in beiden Republiken die Parteisekretäre am 21. Mai absetzte. Dies wurde von Sonderbeauftragten des Moskauer Politbüros durchgeführt. Jegor Ligatschow, damals zweiter Mann in der sowjetischen Regierung nach Gorbatschow, fuhr nach Baku und versprach, daß der Status von Nagornij-Karabach nicht verändert werden würde. Diese Stellungnahme führte prompt zu weiteren Streiks und Demonstrationen in Armenien und der umstrittenen Region. Der neue Parteiführer in Armenien wandte sich an die Demonstranten und versprach, daß das Republikparlament eine Resolution überlegen würde, in der die Abtretung Nagornij-Karabachs gefordert werden und daß Moskau erwägen würde, der Region als -602-
möglichen Kompromiß einen besonderen Autonomiestatus zuzugestehen, von Armenien wie von Aserbeidschan unabhängig. Von diesem Vorschlag hörte man später nichts mehr, und Mitte Juni forderte die armenische gesetzgebende Versammlung formal die Annexion des umstrittenen Gebietes, während die aserbeidschanische Volksversammlung es strikt ablehnte, überhaupt darüber zu diskutieren. Gemäß der sowjetischen Verfassung können die Grenzen einer Sowjetrepublik nicht ohne ihre Zustimmung geändert werden. Der Streit erreichte im Juli einen Höhepunkt: Am 6. Juli wurde der Flughafen von Eriwan durch eine Demonstration von 10.000 Menschen lahmgelegt. Ein Demonstrant wurde getötet, und es gab viele Verletzte, als 3.000 Soldaten die Menge auseinandertrieben. Dann beschloß die Regionalversammlung in Nagornij-Karabach einfach die Abspaltung von Aserbeidschan. Das Präsidium des sowjetischen Parlaments trat am 18. Juli zusammen, um die Angelegenheit zu erörtern, und die Debatte wurde im Fernsehen übertragen. Gorbatschow nannte die Armenier, die den Streit begonnen hatten, Feinde der Perestroika. Armeniens Forderung nach einer Statusveränderung wurde glatt abgelehnt. Es gab in Eriwan weitere große Demonstrationen, und die sowjetische Polizei begann mit der Verhaftung von armenischen Dissidenten (vor allem Mitgliedern des Nagornij-Karabach-Komitees). Einer von ihnen wurde des Landes verwiesen. An der Oberfläche kehrte im Kaukasus wieder Friede ein. Er hielt zwei Monate. Führer der beiden Republiken und der umstrittenen Region trafen in Stepanakert zusammen, wo sie sich einigten, den Streit zu beenden und die Entscheidung des Obersten Sowjet vom 18. Juli zu akzeptieren und gemeinsam an der Verbesserung der Beziehungen zu arbeiten. Die guten Absichten brachten nichts. Am 12. September brachen in Nagornij-Karabach neue Demonstrationen aus, die sofort auf Armenien übergriffen. Die Armenier protestierten, daß erneut Aseris nach Nagornij-Karabach eingedrungen seien. Die Regierung bestand darauf, daß das nicht wahr sei und daß die Anzeichen von Aktivität in Wahrheit die ersten Früchte der Entscheidung der Zentralregierung seien, die lokale Wirtschaft zu beleben. Diesmal versuchte die Regierung, der Ausbreitung der Unruhen -603-
zuvorzukommen und schickte noch mehr Soldaten nach Eriwan und Nagornij-Karabach. Einen Monat lang konnten sie tatsächlich den Frieden sichern und es kam nur zu Massendemonstrationen in ganz Armenien. Aber am 22. November begannen die wirklichen Probleme. An diesem Tag kam es in verschiedenen Städten in Aserbeidschan zu Unruhen, auch in Baku und Kirovabad, den beiden größten. Truppen wurden in Marsch gesetzt, um die Ordnung wiederherzustellen, und bei dem Versuch, das Armenierviertel in Kirovabad zu schützen, starben drei Soldaten. Die Armenier demonstrierten weiter, und am 25. November starben in Eriwan zwei Menschen. Die Regierung verhängte eine Ausgangssperre über die Stadt, und dann brach in Aserbeidschan und Armenien ein Pogrom aus. In beiden Republiken wurden Zehntausende aus ihren Häusern vertrieben. 475.000 Armenier lebten in Aserbeidschan und eine kleinere Zahl Aseris in Armenien. Bald kam es zwischen den beiden Ländern zu einer Massenbewegung, und die Flüchtlinge mußten in Zeltstädten untergebracht werden. Nach offiziellen Angaben starben in der letzten Novemberwoche 28 Menschen. 40.000 Armenier waren aus Aserbeidschan und 30.000 Aseris aus Armenien geflüchtet. Mitte Dezember waren es bereits mehr als 100.000 Flüchtlinge. Ein Jahr später eine halbe Million. Die sowjetische Armee patrouillierte in den größeren Städten, wo es besonders viele Flüchtlinge gab, konnte aber die abgelegeneren Gemeinden nicht schützen. Aus der Krise wurde eine Katastrophe, als das Erdbeben am 7. Dezember Transkaukasien verwüstete. Nach dieser Naturgewalt vergaßen die Armenier für kurze Zeit ihre irredentistischen Forderungen. Am 12. Januar 1989 setzte der Kreml die Regierung von NagornijKarabach ab und unterstellte die Region der direkten Verwaltung von Moskau, um so die Situation zu beruhigen. 1989 kam es in beiden Republiken zu spontanen Gewaltausbrüchen. Die Aserbeidschaner blockierten die Eisenbahnverbindung nach Armenien, und die Zentralregierung mußte den Zügen durch Einsatz von Truppen den Weg freimachen. Im März 1989 wurde in Aserbeidschan von intellektuellen und Reformkommunisten eine Volksfront nach dem Vorbild der baltischen Republiken gegründet. Zunächst ignorierte die -604-
Regierung in Moskau ihre Existenz, aber bald begann sie aktive Nationalisten anzuziehen: Ende 1989 war sie bereits die herrschende politische Bewegung in der Republik. Im September rief die Front zu einem wochenlangen Generalstreik auf, um ihre Macht zu demonstrieren und verhängte eine Straßen- und Eisenbahnblockade über Armenien; die Hauptstrecken von Armenien in den Norden verlaufen über aserbeidschanisches Gebiet. Die Blockade war sofort wirksam, und die Behörden mußten der Front eine Reihe von wesentlichen Zugeständnissen machen, einschließlich der Anerkennung ihrer politischen Bedeutung. Am 28. November 1989 übertrug der Kreml die Verwaltung von Nagornij-Karabach wieder an Aserbeidschan, ein Zeichen der Schwäche, das die Armenier verstörte, ohne die Aseris zu beruhigen. In Armenien gab es Protestversammlungen, und das Parlament stimmte wieder für die Annexion von Nagornij-Karabach. Im Gegenzug hielten die Aserbeidschaner die Eisenbahnblockade aufrecht. Im Januar 1990 bekam der Streit eine neue Dimension. Die Volksfront hielt in Baku einen Kongreß ab, auf dem darüber diskutiert wurde, ob sie sich zum Aufstand gegen die UdSSR erheben sollte. Sie organisierte ein eigenes ‡Nationales Verteidigungskomitee—. Die Macht entglitt der KP, so wie in ganz Osteuropa. Diesmal flog der zündende Funke in Nakitschewan, einer autonomen Republik in Aserbeidschan, die vom Rest des Landes abgetrennt ist, eingezwängt zwischen Armenien und Iran. Sie hat eine Bevölkerung von 270.000 gläubigen Schiiten, die mit ihren Vettern im Iran mehr gemeinsam hat als mit den kosmopolitischen Aseris von Baku. Khomeinis fundamentalistische Revolution im Iran hat sie beeinflußt. Sie begannen, die Grenze niederzureißen. Innerhalb weniger Tage waren Hunderte Kilometer Grenzzaun demoliert, und die Aseris auf beiden Seiten bewegten sich frei hin und her. Mitte des Monats erklärte Nakitschewan seine Unabhängigkeit œ der erste Teil der Sowjetunion, der das tat. Die Aseris vertrieben die lokalen und staatlichen Behörden (zwei Wochen später baute die Rote Armee den Zaun wieder auf.) Das Ereignis wurde überschattet von einem neuen armenierfeindlichen Pogrom, das am 13. Januar in Baku ausbrach. Aserischer Mob, hauptsächlich Flüchtlinge aus Armenien, Bauern aus den Bergen, die bis zu einem Jahr in Lagern gelebt hatten, jagten die -605-
verbliebenen Armenier und töteten mindestens 25. In Moskau wurden Horrorgeschichten von Gewalt und Mord verbreitet. Die aserbeidschanische Regierung brach zusammen. Die Volksfront trat an ihre Stelle, und bald herrschte in ganz Aserbeidschan die offene Revolte gegen die Sowjetunion. Am 15. Januar verhängte die Regierung den Notstand und verlegte auf dem Luftweg Truppen in die Region. Truppenbewegungen, vor allem in Baku, wurden durch Blockaden behindert, die Aserbeidschaner errichtet hatten, und Aserbeidschaner verfügten über Armeefahrzeuge, Gewehre, Granatwerfer, Panzer und Hubschrauber, die sie gegen Armenier einsetzten œ und gegen Rotarmisten. Am 20. Januar befahl Gorbatschow der Armee, einzugreifen, mit allen Mitteln die Ordnung wiederherzustellen und die Armenier zu retten. General Jasow gab zu, der wahre Grund für diese Intervention sei gewesen, daß die Aserbeidschanische Kommunistische Partei œ und mit ihr Moskau œ die Kontrolle über die Republik verloren hatte. Der nächste Schritt würde die Abspaltung sein. Jasow machte in ganz Rußland die Reservisten mobil, vor allem da er Truppeneinheiten mit Nicht-Russen nicht trauen konnte. Gegen diese Mobilmachung gab es breiten Widerstand, und sie wurde widerrufen. Die Straßensperren in Baku wurden mit Panzern durchbrochen, und in der ersten Nacht kamen nach offiziellen Angaben 69 Zivilisten und 14 Soldaten ums Leben. Gegen Ende der Woche waren es bereits 125 Tote, darunter fünf Frauen und 3 Kinder. Gorbatschows schlimmster Alptraum wurde wahr. Die Aserbeidschanische Volksversammlung forderte den sofortigen Rückzug der sowjetischen Truppen und drohte andernfalls mit der Abspaltung. Inzwischen hatten die Armenier anti aserbeidschanische Pogrome begonnen, und längs der Grenze zwischen den beiden Republiken brachen Kämpfe aus, die von der Roten Armee zu stoppen versucht wurden. Erschrocken mußten die Sowjetbürger im Rest des Landes zur Kenntnis nehmen, daß ein neuer Afghanistankrieg möglich schien œ allerdings innerhalb der eigenen Grenzen. Die Ruhe wurde bald wiederhergestellt, nicht aber die Autorität der lokalen Regierung. Volksfrontführer wurden verhaftet, obwohl die sowjetischen Behörden versuchten, zwischen ‡Radikalen— und ‡Gemäßigten— zu unterscheiden œ also zwischen denen, die -606-
Aserbeidschan von der Sowjetunion abspalten wollten, und denen, die hauptsächlich den Kommunismus stürzen wollten. Wie andere Besatzungsarmeen vor ihnen bereits feststellen mußten, gestaltete sich die Jagd nach den Gemäßigten höchst schwierig. Gorbatschows Beauftragte versuchten mit der Volksfront zu verhandeln, aber da intervenierten die drei baltischen Republiken. Die Volksfronten in Litauen, Lettland und Estland luden Repräsentanten der Armenier und der Aserbeidschanischen Volksfront in die lettische Hauptstadt Riga ein, um dort über ihre Probleme zu diskutieren. Anfang Februar kamen die Delegierten an. Es war eine Demonstration ihres Mißtrauens gegenüber Moskau und ein Beweis für die wachsende Ernsthaftigkeit und den Wagemut der nationalen Bewegungen aus diesen beiden extrem Randlagen der Sowjetunion. Am 3. Februar kamen die beiden Seiten zu einem Übereinkommen und vereinbarten einen Austausch der Geiseln. Sie einigten sich auch auf die Gründung eines gemeinsamen Komitees, um kommende Probleme zu diskutieren. Ihre Auseinandersetzung konnten sie nicht beilegen: Sie hatten nicht einmal über das Hauptproblem NagornijKarabach diskutiert, und der Waffenstillstand hielt nicht lang. Aber das wichtigste Signal dieses Treffens war die Tatsache, daß es in Riga stattfand und ohne Konsultation Moskaus. In fünf der fünfzehn Sowjetrepubliken hatten Volksfronten die Regierung übernommen. Eine ähnlich rasche Entwicklung bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Autorität können in anderen Landesteilen ebenfalls erwartet werden, wie zum Beispiel in Georgien und Moldawien, und sie werden sich rasend schnell nach Moskau selbst ausbreiten. GEORGIEN Aus Furcht vor den Aseris zögern die Armenier, von Moskau die Unabhängigkeit zu verlangen. Die Georgier haben keine solchen Hemmungen. Sie folgen dem litauischen Vorbild und wollen die Unabhängigkeit. Am 25. Februar 1989 demonstrierten in der Hauptstadt Tiflis 15.000 Menschen gegen die Union. Am 25. Februar 1921 hatte die Sowjetunion Georgien annektiert. In der 5,2 Millionen starken Einwohnerschaft der Grusinischen Sowjetrepublik, wie Georgien heißt, gibt es mehrere moslemische Minderheiten, von -607-
denen manche mit den Aseris verwandt sind. In den späten achtziger Jahren begannen die beiden größten dieser Gruppen, die ossetischen Türken und die Abchasen, ihren Kampf um die Unabhängigkeit von Georgien. Wie in Nagornij-Karabach und Zentralasien geht dieser Streit zwischen Ethnien Jahrhunderte zurück, auf Auseinandersetzungen, die von der UdSSR unterdrückt, aber nicht gelöst worden sind. Die Osseten leben im Osten Georgiens. Bei den Unruhen im November 1989 wurden zwanzig Angehörige dieses Volkes verletzt. Die Abchasen haben im Nordosten des Landes, am Schwarzen Meer, eine Autonome Region, aber die Mehrheit der Bevölkerung ist georgischer Herkunft. Am 18. März kam es zu großen AbchasenDemonstrationen gegen die Georgier. In den folgenden Monaten demonstrierten die Georgier in Tiflis gegen die Abchasen œ und gegen die Russen. Ungefähr hundert Menschen traten auf den Stufen der Kathedrale in einen Hungerstreik. Am 9. April wurde die Armee zur Beendigung der Demonstrationen eingesetzt. Die Soldaten griffen die Hungerstreikenden mit Reizgas an und schlugen mit Spaten auf sie ein. Zwanzig Zivilisten wurden getötet, hundertzwanzig mußten ins Krankenhaus gebracht werden. Das sowjetische Parlament diskutierte über dieses Massaker und bildete eine Untersuchungskommission, um die Verantwortlichen festzustellen und zu bestrafen. Die Kommission stellte fest, daß das eingesetzte Gas Tränengas gewesen sei, kein Giftgas œ aber der Effekt war derselbe. Es war tödlich. Die Parteifunktionäre, die den Armeeeinsatz befohlen hatten, traten am 14. April zurück, aber dadurch wurden die Georgier nicht zufriedengestellt. Am 26. Mai 1989 demonstrierten 500.000 in Tiflis. Sie forderten die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. DIE BALTISCHEN STAATEN Estland, Lettland und Litauen, die drei kleinen Staaten am Ostgestade des Baltischen Meeres, wurden im 18. Jahrhundert dem Russischen Reich einverleibt. Nach der Russischen Revolution wurden sie wie Finnland unabhängig, und die neue UdSSR anerkannte im Februar 1920 ihre Unabhängigkeit. 1940 annektierte sie Stalin -608-
abermals, gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-StalinPakt vom August 1939. Zehntausende Menschen wurden schonungslos nach Sibirien deportiert œ allein von den zwei Millionen Letten dürften mehr als 320.000 verschleppt worden sein. Die Länder des Westens haben diese Annexion niemals anerkannt. Als Glasnost begann, wurde die nationalistische Agitation in den drei Staaten sehr bald zur antisowjetischen Demonstration. Im Frühjahr 1988, als sich die UdSSR auf Gorbatschows Sonderparteitag vorbereitete, entstanden in den drei Republiken politische Organisationen, die einen Grad von Unabhängigkeit von Moskau forderten, der nur einen Schritt vor der Sezession haltmachte. Sie verlangten das Recht auf selbständige Gestaltung der Wirtschaft, forderten eigene Vertreter bei den Vereinten Nationen (wie die Ukraine und Bjelorußland) und diskutierten ganz offen die Möglichkeit, bei den Wahlen eigene Kandidaten aufzustellen. Die Führung der KP wurde in allen drei Staaten von dieser Entwicklung überrollt. Anders als Armenien fürchten die drei Republiken, von Rußland geschluckt zu werden. In Transkaukasien besteht diese Gefahr nicht, aber in den baltischen Staaten leben starke russische Minderheiten. Aus dem gleichen Geist lebt der walisische, bretonische und baskische Nationalismus in Europa. Der russische Bevölkerungsanteil in Litauen beträgt 20 Prozent. In Lettland sind nur 54 % der Bevölkerung Letten œ 33 % sind Russen, und der Rest kann sich wohl auch leichter mit den Russen identifizieren als mit den Letten. In Estland sind 35 % der Bevölkerung nichtestnischer Herkunft. Die Fahnen der drei Nationen, die seit 1940 verboten waren, tauchten 1988 mit offizieller Billigung wieder auf. Die Regierungen unternahmen große Anstrengungen, um mit den Kirchen in Verhandlungen einzutreten, insbesondere in Litauen, wo die katholische Kirche sehr stark ist. Die Kathedrale von Vilnius, die unter Stalin zu einem Museum gemacht worden war, wurde wieder zur Kirche geweiht. Estland schloß sich diesem Weg 1988 an und bildete die Estnische Volksfront, die einer Oppositionspartei so nahe kam wie nichts sonst in der Sowjetunion seit den Tagen unmittelbar nach der Revolution. Der Parteichef wurde am 16. Juni durch Vaino Väljas ersetzt, der dreißig Jahre zuvor mit Michail Gorbatschow auf -609-
der Komsomol-Schule ein Zimmer geteilt hatte. Die Herzen der Esten flogen ihm zu, als er seine ersten Ansprachen im Zentralkomitee auf Estnisch statt auf Russisch hielt. Die Zentralregierung ließ all diese Zeichen des wiederbelebten Nationalismus zu; die Massendemonstrationen in den drei Republiken verliefen friedlich, aber zu diesem Zeitpunkt wurden auch offen Forderungen nach voller Unabhängigkeit erhoben. In jedem der Länder demonstrierte das Volk am Jahrestag der Eingliederung in die Sowjetunion im Juni 1940. Am 24. Februar demonstrierten 20.000 bis 30.000 Menschen in Tallinn, der Hauptstadt von Estland, um den Unabhängigkeitstag zu feiern œ damit meinten sie jenen Tag, an dem Estland im Jahr 1920 seine Unabhängigkeit gewonnen hatte. Im November schlug Gorbatschow bei einer Sitzung des Obersten Sowjet in Moskau eine Reihe von Verfassungsänderungen vor. Die Reformen wurden bereits zuvor heftig diskutiert, und das estnische Parlament lehnte sie auf noch nie dagewesene Weise einmütig ab. Die Esten stemmten sich gegen die geplante Reform, die dem sowjetischen Staatspräsidenten mehr Macht zugestehen und anderseits die Macht der Unionsrepubliken verringern sollte. Die estnischen Einwände wurden in Moskau überstimmt, aber danach verkündeten die Esten noch einmal, daß es ihnen freistünde, sowjetische Gesetze anzunehmen oder abzulehnen. Am 7. Dezember erhob der Oberste Sowjet Estlands Estnisch zur Staatssprache. Die russischen Minderheiten riefen zum Proteststreik auf, und Gorbatschow und das Politbüro waren wütend, aber die Unabhängigkeitsbewegung gewann laufend an Kraft. Am 23. August 1989 wurde von Tallinn in Estland bis Vilnius in Litauen von etwa 2 Millionen Menschen eine 600 Kilometer lange Menschenkette gebildet, um so an den 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes zu erinnern. Gorbatschow hoffte, daß die drei Republiken die Wirtschaftsreform anführen, Erfolg haben und dadurch die Vorteile der Perestroika demonstrieren würden. Zu seinem Pech waren die Bürger der drei Länder zwar begeistert von der Möglichkeit, ihre wirtschaftliche Selbständigkeit zu erlangen, nutzten aber die Gelegenheit, zuerst die politische Unabhängigkeit zu fordern. Am 1. Januar 1990 wurden die -610-
baltischen Republiken wirtschaftlich in hohem Ausmaß unabhängig. Das umfaßte die Kontrolle über Budget, Industrie, Handel, Transportwesen, Bodenschätze usw. Ihre Regierungen sahen sich mit den Schwierigkeiten konfrontiert, politische Agitation in praktische Reformen umzuwandeln. Im Herbst 1989 übernahm Litauen von Estland die Führungsrolle. Die litauische Oppositionsbewegung ‡Sajudis— bereitete sich darauf vor, bei den Lokalwahlen 1990 eigene Kandidaten aufzustellen, und es war abzusehen, daß sie im litauischen Parlament (dem Obersten Sowjet) eine große Mehrheit gewinnen würde. Am 7. Dezember strich das litauische Parlament den Artikel VI aus der Verfassung, der die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei gesichert hatte. Damit war Litauen die erste Sowjetrepublik, die sich vom kommunistischen Modell verabschiedete. Drei Tage später gewannen bei Lokalwahlen in Estland die Nationalisten 80 %, in Lettland waren es 60 % der Stimmen. Die litauische KP unternahm einen Verzweiflungsversuch, um ihre Existenz zu retten, und spaltete sich am 20. Dezember von der KPdSU ab. Dieser sezessionistische Beschluß wurde von Moskau vehement zurückgewiesen, und eine Parteidelegation unter Gorbatschow selbst sollte die Litauer die Entscheidung rückgängig machen lassen. Der Konflikt eskalierte sehr schnell. Sajudis erklärte die volle Unabhängigkeit zu ihrem Ziel: Die Annexion von 1940 sei illegal gewesen und daher sei Litauen nicht verpflichtet, mit Moskau über seine Pläne zu beraten. Die sowjetische Verfassung sieht übrigens vor, daß jede Republik grundsätzlich das Recht zum Austritt aus der Union hat. Gorbatschow kam am 11. Januar an. Er reiste durch Litauen, diskutierte mit Parteimitgliedern, Intellektuellen und Menschenmassen auf der Straße. Wo immer er hinkam, wurde er höflich empfangen. Man hörte ihm aufmerksam zu und erklärte ihm mit Nachdruck, daß Litauen die volle Unabhängigkeit wünsche. Er mußte sich mit dem Versprechen begnügen, eine neue Gesetzesvorlage zu prüfen, nach welchen Richtlinien Republiken sich von der Union selbständig machen dürften, und zum ersten Mal gab er zu, daß die ‡führende Rolle— der KPdSU vielleicht nicht zu halten wäre. Als er nach Moskau zurückkehrte, sah er sich mit der Explosion in Aserbeidschan konfrontiert. -611-
Die Wahlen in Litauen am 24. Februar und am 10. März 1990 gewann Sajudis mit großer Mehrheit. Am Sonntag, dem 11. März, stellte der neugewählte Litauische Oberste Sowjet einstimmig fest, daß Litauen nun unabhängig sei. Das war ein klarer Konfrontationskurs zu Moskau, das diese Unabhängigkeitserklärung am 15. März für nichtig erklärte. Am 18. März wurde in Estland und Lettland gewählt, und große Mehrheiten stimmten für die Unabhängigkeit. Allerdings bedeuteten die starken russischen Minderheiten in beiden Republiken, daß es nicht leicht sein würde, die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für die Ausrufung der Unabhängigkeit zu bekommen. Die lettische Hauptstadt Riga mit einer russischen Bevölkerungsmehrheit stimmte gegen die Unabhängigkeit. Estland versuchte diese Schwierigkeiten zu umgehen, indem es zwei Wochen zuvor einen getrennten Kongreß gewählt hatte, der das Stimmrecht in dieser Frage auf jene beschränkte, die entweder selbst vor der Annexion durch die Sowjetunion estnische Bürger gewesen waren oder von solchen abstammten. Dieser Kongreß stimmte für die Unabhängigkeit. Die Regierung in Moskau sprach dem Beschluß jede Rechtsgültigkeit ab. In Litauen gibt es eine starke polnische Minderheit. 1920 annektierte Polen die Hauptstadt Vilnius, die es Wilno nannte, sowie den Süden von Litauen, und beanspruchte beide Gebiete als polnischen Besitz. Stalin annektierte 1939 den Ostteil Polens und machte Vilnius nach der Annexion von 1940 wieder zur Hauptstadt Litauens. Im Zuge der Veränderungen gewann Litauen auch das Memel-Gebiet von Deutschland hinzu (jetzt Kiaipeda), aber kein Territorium von Ostpreußen. Dieses Gebiet wurde zwischen Polen und Rußland aufgeteilt. Wenn Litauen die Sowjetunion verläßt, wird rund um Kaliningrad (Königsberg) eine kleine russische Enklave zurückbleiben, umgeben von Polen und Litauen. Das ist schon jetzt eines der wirtschaftlich am schlechtesten entwickelten und meist vernachlässigten Gebiete der Sowjetunion. Vielleicht wird die Sowjetunion einen Russischen Korridor fordern. Im Laufe des April und Mai 1990 verschärfte sich die Situation in Litauen dramatisch. Das Land lehnte die wiederholten Forderungen Gorbatschows nach Widerruf der Unabhängigkeitserklärung ab. Die litauische Regierung forderte die Wehrpflichtigen auf, nicht in der -612-
Roten Armee zu dienen und wollte eigene Grenzübergänge zu Polen eröffnen. Die Eigenstaatlichkeit nahm umfassende Formen an, auch Einschüchterungsversuche Moskaus konnten die Litauer nicht umstimmen. Russische Armeeeinheiten marschierten in Litauen ein, Fallschirmjäger besetzten Gebäude und durchsuchten sogar Spitäler, um die litauischen ‡Deserteure— zu finden. Schließlich versuchte Moskau, Vilnius mit wirtschaftlichen Maßnahmen in die Knie zu zwingen und verhängte eine Erdöl- und Erdgasliefersperre. Die litauische Ministerpräsidentin versuchte im Ausland Ausgleichslieferungen zu erlangen. Der Westen stellte sich nur halbherzig hinter die Forderungen Litauens œ aus Sorge, die Stellung Gorbatschows in der Sowjetunion nachhaltig zu schwächen und damit den gesamten Reformprozeß der kommunistisch regierten Staaten in Frage zu stellen. Doch die baltischen Staaten blieben unbeirrt bei ihrer Forderung nach Unabhängigkeit. Im Mai schlug Moskau auch gegenüber Lettland aggressive Töne an und forderte das Land auf, seine Unabhängigkeitserklärung zurückzunehmen. Die Zentralregierung mußte im Lauf des Sommers dann doch einlenken, die Balten mußten zurückstecken. Die Probleme wurden keineswegs gelöst, sondern zunächst aufgeschoben œ zu komplex sind die offenen Fragen. MOLDAWIEN Die Moldauische Republik im Südwesten der UdSSR wird von Rumänen bewohnt, die sich sprachlich und historisch nicht von ihren Verwandten jenseits der Grenze unterscheiden. Wie die drei baltischen Republiken war auch dieses Gebiet Teil des zaristischen Reiches, und wie diese gewann es nach der Revolution seine Unabhängigkeit. Bald danach wurde es aus eigenem Willen mit dem Königreich Rumänien vereint. 1940 annektierte Stalin auch Moldawien (siehe RUMÄNIEN). Anders als in den baltischen Staaten ist das Ziel Moldawiens nicht die Unabhängigkeit, sondern die Wiedervereinigung mit Rumänien, in den Tagen von Ceausescu war das reine Theorie œ kein Moldawier hätte freiwillig das Leben unter Gorbatschow gegen jenes unter Ceausescu eingetauscht. 1988 und 1989 gab es in Moldawien -613-
Demonstrationen für eine größere Unabhängigkeit von Moskau. 1988 forderte eine Volksbewegung die Aufwertung der ‡moldauischen—, d. h. der rumänischen Sprache gegenüber der russischen zur Staatssprache und die Einführung der lateinischen Schrift statt Kyrillisch. Am 22. Januar 1989 kam es in der Hauptstadt Kischinjow zu einer Massendemonstration zur Unterstützung dieser Forderungen, die am 31. August 1989 vom Obersten Sowjet der Moldauischen Republik erfüllt wurden. Wie in den baltischen Republiken beeilten sich die Parteiführer, sich den Nationalisten anzuschließen. Den Sprachforderungen wurde nachgegeben œ darauf begann die russische Minderheit mit Proteststreiks. Im November 1989 kam es am Jahrestag der Oktoberrevolution in Kischinjow zu ernsthaften Ausschreitungen. Die Moldawier gedachten dieses Ereignisses keineswegs mit Dankbarkeit. Einen Monat später wurde Ceausescu gestürzt, und die Moldawier konnten zumindest ihre Verwandten in Rumänien ungehindert besuchen. Sie entdeckten ein Volk, das unter weit schlechteren Bedingungen lebte als sie selbst, mit einer gleichermaßen ungewissen Zukunft. Zu Beginn des neuen Jahrzehnts hatte Gorbatschow dringendere Sorgen als Moldawien, aber es schien ganz klar, daß auch Moldawien unter dem Titel der Rechtswidrigkeit der Annexion von 1940 bald seine völlige Unabhängigkeit fordern würde. Sollte es Rumänien gelingen, demokratische und wirtschaftliche Fortschritte zu machen, wird Moldawien wohl Wert darauf legen, sich diesem Staat anzuschließen. Es könnte sogar seine Forderung auf die Bukowina und auf jene Teile Bessarabiens wiederbeleben, die Stalin einst der Ukraine zugeschlagen hat. ANDERE NATIONALITÄTENKONFLIKTE Als Katharina die Große die südliche Ukraine und die Krim von der Türkei eroberte, blieb eine große türkischstämmige Bevölkerungsgruppe zurück, die Krimtataren. Als die Deutschen ins Land einfielen, kollaborierten viele mit ihnen. Als die Deutschen wieder abzogen, rächte sich Stalin und deportierte die gesamte Bevölkerungsgruppe nach Zentralasien. Im Dezember 1987 -614-
garantierte die Regierung in Moskau den überlebenden Krimtataren das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat. In zahlenmäßig kleinen Demonstrationen forderten die Krimtataren in Moskau, daß die KrimTatarei als eine Sowjetrepublik wiedererrichtet werden sollte œ eine Forderung, die von der Regierung abgelehnt wurde, da dieses Gebiet heute von Ukrainern bewohnt wird. Zur ersten wütenden regierungsfeindlichen Demonstration in Zentralasien kam es im Dezember 1986 in Alma-Ata, der Hauptstadt von Kasachstan. Die Demonstranten protestierten gegen Gorbatschows Entscheidung, den örtlichen Parteisekretär zu entlassen und einen Russen an seine Stelle zu setzen. Dinmukahmed Kunajev war Kasache und Mitglied des Politbüros. Aber vor allem war er durch und durch korrupt: Reformer in Moskau hatten ein ganzes Korruptionsnetz in Zentralasien aufgedeckt, das die sowjetische Presse als Mafia bezeichnete; Milliarden Rubel waren in dunkle Kanäle geflossen. Aber für die Kasachen war Kunajev einer der ihren, und sie wehrten sich erbittert gegen seine Absetzung. Auch die fortgesetzte Einwanderung von Russen in Kasachstan war Gegenstand wilder Proteste. Hier war der Schauplatz von Chruschtschows unglückseligem ‡unberührtem Land—-Projekt in den fünfziger und sechziger Jahren, das mit einem Schlag alle landwirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion lösen sollte. Es scheiterte, aber Hunderttausende Russen wurden ins Land gebracht, und jetzt bilden sie in Kasachstan eine dünne Bevölkerungsmehrheit. Im Juni 1989 starben bei weiteren Unruhen vier Menschen. Im selben Monat kam es in Usbekistan zu ernsthaften Ausschreitungen. Es war wieder ein alter Nationalitätenstreit: Die Usbeken protestierten gegen die Anwesenheit der 160.000 Meschketen, einem Turk-Volk aus Georgien, das von Stalin 1944 nach Usbekistan deportiert worden war. Usbeken machten Jagd auf Meschketen und töteten 90 von ihnen. Auch zehn Usbeken kamen ums Leben. Die Behörden zogen die Meschketen zusammen und brachten sie in Flüchtlingslager, 15.000 von ihnen wurden durch Sondereinheiten über eine Luftbrücke evakuiert. Jetzt fordern die Meschketen die Rückkehr nach Georgien oder das Recht zur Auswanderung in die Türkei. -615-
DIE UKRAINE Die größte Bedrohung für die Zukunft der Sowjetunion ist der Nationalismus in der Ukraine. Die UdSSR kann ohne Litauen oder Moldawien weiterbestehen. Ohne die Ukraine kann sie nicht überleben. Die ersten Anzeichen des Nationalismus im Jahr 1989, eine Bewegung namens ‡Rukh—, die für die Vertiefung der Perestroika eintrat, löste in Moskau große Sorge aus. Die große Russifizierung der östlichen Ukraine war zwar ein beruhigender Faktor, und die Dissidenten traten zunächst in den westlichen Gebieten auf, die 1945 Polen weggenommen worden waren. ‡Rukh— ist eine intellektuelle Bewegung, die rasch großen Zulauf gewinnen konnte. In der westlichen Ukraine sammelt sich die Opposition um die katholische Kirche, die von Stalin unterdrückt wurde, da sie polnisch dominiert war. Viele Polen wurden nach Polen deportiert, und ihr Hauptort Lemberg wurde in Lwow umbenannt. Die Kirche hat jedoch überlebt und taucht jetzt nach vierzig Jahren der Verfolgung wieder auf. Sie fordert, daß ihre Rechte und ihr Besitz wiederhergestellt werden. Einmal mehr sieht sich Gorbatschow vor einem Dilemma, das er Stalin verdankt: Die Ukrainische Orthodoxe Kirche, die in den vierziger Jahren die Kirchen der Unierten Ukrainischen Katholischen Kirche übernommen hat, verweigert die Rückgabe. Gorbatschow muß sich mit der einen oder der anderen Gruppe verfeinden œ und in beiden Fällen schürt er den ukrainischen Nationalismus. Gorbatschow mag hoffen, daß sich die Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern so ähnlich entwickeln wie die zwischen Kastiliern und Katalonen in Spanien, die eine vergleichbare Geschichte haben. Der Unterschied ist allerdings, daß Francos Verbrechen an Katalonien nichts waren im Vergleich zu der von Stalin herbeigeführten Hungersnot in der Ukraine, die fünf Millionen Tote gefordert hat. Warum sollten die Ukrainer der Kommunistischen Partei jemals vergeben?
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DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK Geographie: Fläche 108.333 km×. Bevölkerung: 16,661.423 (Ende 1987). BSP: 11.118 $/Einw. Das Herzstück des Kalten Krieges war die Teilung Deutschlands, und sein Symbol war die Berliner Mauer. So war der 9. November 1989, der Tag, an dem die Mauer fiel, mehr als eine Befreiung der Berliner œ er war das Signal einer der großen Revolutionen der Geschichte. Seit 1945 war West-Berlin immer im Zentrum des Streites über die Zukunft Europas gestanden, zunächst als eine isolierte Enklave, belagert vom Stalinismus, die nur durch die Unterstützung des Westens und den eigenen Mut überlebte, später als westlicher Brückenkopf im Ostblock, eine permanente Herausforderung für das kommunistische Europa. Mehrere der Schlüsselereignisse der europäischen Nachkriegsgeschichte liefen in Berlin ab: Die Blockade, der Aufstand von 1953, die Errichtung der Mauer und die Konfrontation von amerikanischen und sowjetischen Truppen im Jahr 1961, und zuletzt die Öffnung der Mauer. Der Aufstand von 1953 war im Rückblick das bedeutendste Ereignis. Es war die spontane Zurückweisung des Kommunismus, eine Probe für die Befreiung 36 Jahre später. Stalin starb am 5. März 1953. Der Kampf um die Nachfolge begann unverzüglich, und die osteuropäischen Regierungen waren in diesem Spiel die Bauern. Einige mächtige Männer in Moskau, darunter Beria und Malenkow, überlegten, ihren Konflikt mit dem Westen in einer einzigen großen Geste zu bereinigen und die DDR aufzugeben. Die Möglichkeit, daß eine grundsätzliche Einigung bereits 1953 hätte erreicht werden können, hat seither die Historiker unablässig beschäftigt. Churchill, damals in seiner letzten Amtsperiode als britischer Premierminister, traf Eisenhower, der im Januar sein Amt als US-Präsident angetreten hatte, und schlug einen gemeinsamen Vorstoß Richtung Moskau vor. Er dachte, daß die Gelegenheit der sowjetischen Uneinigkeit genützt werden sollte. Eisenhower schmetterte diesen Vorschlag ab. Der Mann, der sich schließlich im -618-
Moskauer Nachfolgekampf durchsetzte, Nikita Chruschtschow, erwies sich als überzeugter Verfechter der Erhaltung der sowjetischen Hegemonie in Osteuropa. Später wurde die Überlegung, die DDR ‡aufzugeben—, zu einem der Hauptanklagepunkte gegen Malenkow. Von allen europäischen Staaten war die DDR wohl derjenige, der den Kommunismus am meisten begrüßte. In Berlin gab es eine große Tradition des radikalen Sozialismus: Hitler hatte die Stadt aus diesem Grund immer gehaßt. Eine Gruppe deutscher Kommunisten, die die Säuberungen der dreißiger Jahre überlebt hatten, waren in Ost-Berlin an die Macht gekommen und hatten 1949 ihre ‡Demokratische Republik— errichtet. Sie trieben die Industrialisierung so weit wie möglich voran, wetteiferten mit den Anstrengungen der Sowjetunion unter Stalin, und im Frühjahr 1953 verkündeten sie eine zehnprozentige Anhebung der ‡Norm— der Arbeiter. Das bedeutete, daß jeder Arbeiter im Jahr eine um 10 Prozent höhere Norm erfüllen sollte, allerdings bei gleichbleibendem Lohn. Diese Maßnahme war besonders unpopulär. Am 16. Juni kam es zu spontanen Arbeitsniederlegungen auf einer Baustelle in Ost-Berlin. Der Streik breitete sich innerhalb von Stunden in der ganzen russischen Zone aus. Am selben Abend strahlten die Radiosender in der amerikanischen Zone von Berlin einen Aufruf zum Generalstreik aus, und am nächsten Tag stand das ganze Land still. Die Regierung wurde in Massenversammlungen der Arbeiter schwer angegriffen, ebenso wie das Regime und der Kommunismus selbst, zum blanken Entsetzen von Parteifunktionären, die ihr Leben der Sache der Arbeiter geweiht hatten und sich nun selbst als Zielscheibe sahen. Ungeachtet seiner internen Auseinandersetzungen über ein grundsätzliches Abkommen, hatte das sowjetische Politbüro keine Lust, daß die Deutschen sich ihre Unabhängigkeit einfach nahmen. Starke Kampfeinheiten wurden in die größeren Städte verlegt, vor allem nach Berlin, und schlugen die Unruhen nieder. Die Bürger von West-Berlin mußten hilflos durch das Brandenburger Tor mitansehen, wie sowjetische Panzer und Schützenpanzer die letzten demonstrierenden Arbeiter und Studenten niederschossen. Die Partei und der Staat brachen nicht zusammen, wie drei Jahre später in Ungarn. Es gab auch gar keine Zeit für die Volkswut, den -619-
Staat zu verändern: Die Sowjets handelten zu schnell. Aber ohne die sowjetische Intervention hätte die DDR zweifellos nicht überlebt. Die Auseinandersetzungen waren weit heftiger als drei Jahre später in Budapest. Nach offiziellen Angaben wurden 21 Menschen getötet, nach inoffiziellen Schätzungen waren es mehrere hundert. Die nächste Krise der DDR war im August 1961, als die Berliner Mauer errichtet wurde, um die Bürger des Landes an der Flucht zu hindern. Es gab einen Moment extremer Spannung, amerikanische und sowjetische Panzer standen einander am Checkpoint Charlie gegenüber, aber der Westen war nicht bereit, zur Rettung Ostdeutschlands einen Krieg zu führen, und es sickerte auch durch, daß Chruschtschow, all seinem martialischen Gehabe zum Trotz, nicht vorhatte, West-Berlin zu annektieren, sondern die DDR zu schützen. Danach blieb es eine Generation lang ruhig in der DDR. Die Wirtschaft des Landes funktionierte besser als die der anderen kommunistischen Nachbarstaaten, obwohl sie an der selben grundlegenden Schwäche litt, und in den späteren achtziger Jahren fiel sie gegenüber der BRD krass ab. Gorbatschows Reformen in der Sowjetunion und die noch dramatischeren Veränderungen in Polen und Ungarn stellten die DDR-Führung vor ein untragbares Dilemma. Würde sie sich zu Reformen entschließen und die Türen der DDR zum Westen öffnen, würde sie zusammenbrechen. Ihr Dasein beruhte auf der Existenz als einem sozialistischen deutschen Staat. Ohne Sozialismus mußte es zur Wiedervereinigung mit West-Deutschland kommen. Die einzige Alternative zur Reform war eine neuerliche stalinistische Unterdrückungswelle, die zum Aufstand geführt hätte. Es gab keine starke, organisierte Opposition wie die ‡Solidarität— in Polen. Viele der zahlreichen Dissidenten waren im Neuen Forum organisiert, das in Kirchen zusammentraf, um die Reform zu diskutieren. Seine Mitglieder waren hauptsächlich Grüne, Reformkommunisten und Sozialisten. Das Fehlen eines deutschen Lech Walesa oder Vaclav Havel bedeutete nicht, daß die Ostdeutschen mit ihrer Regierung in höherem Maß zufrieden waren als die Polen oder Tschechoslowaken. Im Gegenteil, der ständige Niedergang der Wirtschaft im Vergleich zur Bundesrepublik, der klaustrophobische Effekt des Westreiseverbotes, die Fortsetzung der Greisenherrschaft in der -620-
Regierung, die sich beharrlich weigerte, Gorbatschows Rufen nach Reform zu folgen, erzeugten eine ständig wachsende Frustration und Verzweiflung. Im Laufe des Sommers 1989 fuhren Zehntausende DDR-Bürger auf Urlaub nach Ungarn, wo sie die Freuden einer relativ offenen Gesellschaft entdeckten œ und blieben. Als Ungarn seine Grenzen als offen erklärte, versuchten viele von ihnen, ohne die notwendigen Papiere nach Österreich zu kommen, und vielen gelang es. Tausende strömten aus der DDR herbei, und Tausende andere stürmten die BRD-Botschaften in Prag, Warschau und Budapest und forderten Ausreisevisa. Am 13. September 1989 öffnete Ungarn seine Grenzen für jeden DDR-Bürger, der nach Österreich ausreisen wollte. In wenigen Wochen gingen 50.000. Dann folgten Massendemonstrationen gegen das Regime in Ost-Berlin, Leipzig und Dresden, und es wurde offensichtlich, daß das Regime die Kontrolle verlor. Die Regierung stimmte zu, daß all die Zehntausenden DDR-Bürger, die in ausländischen Botschaften in Prag und Warschau saßen und auf Campingplätzen in Ungarn untergebracht waren, in den Westen ausreisen dürften. Die Züge fuhren durch die DDR, und die Regierung setzte die Armee ein, um andere Einwohner zu hindern, auf die Züge aufzuspringen. Sie wollte den Anschein von Ruhe erwecken, um den 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober zu feiern. Gorbatschow besuchte die Feiern und wurde in den Straßen vom Volk bejubelt, das Kundgebungen für Honecker verweigerte. Die Demonstrationen gingen weiter, und einige Parteiführer stießen unheilvolle Drohungen aus, daß sie dem Beispiel der Chinesen auf dem Platz des Himmlischen Friedens folgen würden, jeden Montag gab es gewaltige Demonstrationen in Leipzig, stets gefolgt von Treffen und Gottesdiensten in den Kirchen der Stadt. Am 9. Oktober, zwei Tage nach der Triumphparade in Berlin, befahl Honecker der Polizei, die wöchentliche Demonstration in Leipzig mit allen Mitteln aufzulösen, einschließlich Schußwaffengebrauch. Mehrere Funktionäre haben für sich das Verdienst in Anspruch genommen, diesen Befehl widerrufen zu haben, aber es ist am wahrscheinlichsten, daß Armee und Polizei sich selbst geweigert haben, auf ihre Landsleute zu schießen. Diese Demonstration war dann die größte, -621-
Hunderttausende Menschen zogen durch das Stadtzentrum. Auch in anderen Städten, in Dresden und Ost-Berlin gab es gewaltige Demonstrationen., Am 18. Oktober trat Honecker zurück und wurde durch Egon Krenz ersetzt. Die Demonstranten, die das Regime auf dem Rückzug sahen, verschärften ihren Druck und forderten freie Wahlen, ein Ende der kommunistischen Diktatur und vor allem Reisefreiheit. Am 4. November demonstrierte eine halbe Million OstBerliner gegen das Regime. Die Macht war nun auf der Straße, und die Partei mußte nachgeben. am 7. November trat die Regierung zurück. Am 8. November verkündete Krenz den Rücktritt des kompletten Politbüros und die Bildung einer neuen Staatsführung. Am nächsten Tag, dem 9. November, in den Abendstunden, verkündete der Propagandachef der Partei, Günter Schabowski, im Verlauf einer Pressekonferenz, beinahe beiläufig, das Ende der Reisebeschränkungen und den Fall der Mauer. Um Mitternacht strömten Zehntausende, dann Hunderttausende Ost-Berliner durch die Mauer, um West-Berlin zu besuchen, zum ersten Mal seit 28 Jahren. Der Zerfall der Partei ging weiter. Im Parlament wurde eine Kommission eingesetzt, um Details über den sybaritischen Lebensstil von Honecker und anderen Parteiführern zu erfahren. Ein SEDParteikongreß wurde einberufen, auf dem ein neuer Generalsekretär gewählt wurde, Gregor Gysi, und eine neue Regierung, angeführt vom Oberbürgermeister von Dresden, Hans Modrow. Im Volk entstand eine starke Bewegung für die Wiedervereinigung œ sehr zum Entsetzen vieler oppositioneller Intellektueller, die der materialistischen Haltung der BRD mißtrauten. Die neuen kommunistischen Führer versuchten ihre Autorität wiederherzustellen und die Bildung neuer Parteien zu behindern, in der Hoffnung, daß sie die Partei und die DDR noch retten könnten. Aber auch Anfang 1990 verließen noch täglich rund 1.000 Bürger das Land. 1989 sind mehr als 350.000 Deutsche aus der DDR in die Bundesrepublik gegangen, dazu kamen noch 250.000 Deutschstämmige aus Polen und 87.000 aus der Sowjetunion. Die Auswanderungsrate stieg 1990 weiter an. Die Defacto-Wiedervereinigung des Landes beschleunigte diesen Prozeß. Oppositionsgruppen, die Verhandlungen mit der Regierung aufgenommen hatten, drohten, die Straßendemonstrationen fortzusetzen, wenn sich die Regierung nicht selbst schneller -622-
liberalisierte. Im Januar 1990 setzten sie durch, daß Modrow einen Plan zum Umbau des Staatssicherheitsdienstes fallen lassen mußte, der der Kommunistischen Partei weiterhin eine Machtstellung eingeräumt hätte. Die Wirtschaft des Landes zerfiel schneller, als irgend jemand erwartet hatte, und das einzige Heil lag im Westen. Nur Verrat oder Gewalt konnte die DDR weiter bestehen lassen, und es war völlig klar, daß das Volk keines von beiden mehr dulden würde. Die Einwohner der DDR erlebten am 18. März 1990 zum ersten Mal seit 1932 freie Wahlen. Bundesdeutsche Politiker und Parteien mischten sich in den Wahlkampf kräftig ein, als ob die DDR bereits Teil der BRD wäre. Die CDU und ihre Verbündeten bekamen 48 Prozent der Stimmen, die Freien Demokraten 5 und die Sozialdemokraten 22 Prozent. Die frühere SED, die sich nun PDS nannte, bekam mit 16,33 % weit mehr als die meisten erwartet hatten, aber gegenüber den 99 Prozent, die sie von früheren Wahlen gewohnt war, ein mageres Resultat. In diesen Zahlen sind jene Hunderttausende nicht Inbegriffen, die bereits für die Wiedervereinigung gestimmt hatten œ mit den Füßen, indem sie in den Westen gegangen waren. Der CDU-Parteivorsitzende Lothar de Maiziere wurde schließlich an der Spitze einer breiten Koalition der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident des Landes. Am 1. Juli 1990 trat die Währungsreform in Kraft, die DM war damit auch auf dem Gebiet der DDR die gültige Währung. Am 3. Oktober 1990 beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte Deutschlands. Die wiedererrichteten Länder wachsen mit den Bundesländern der BRD zu einem gemeinsamen Ganzen zusammen, Berlin ist endgültig wieder eine Stadt. Bei den Bundestagswahlen im Dezember 1990 wird auch in der dann ‡ehemaligen DDR— gewählt. Es wird Jahre dauern, bis die Probleme, die durch den Zusammenbruch und das schließliche Verschwinden entstehen, gelöst sind. Zeit genug für das übrige Europa, sich an die neue Realität zu gewöhnen.
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POLEN Geographie: 312.677 km2. Bevölkerung: 37,664.000. BSP: 2.070 $/Einw. Nach dem großen Sieg von 1945 zögerte Stalin, welchen Kurs er künftig in Osteuropa einschlagen sollte. Er beabsichtigte wohl nicht, Polen und den anderen Ländern unverzüglich den Kommunismus aufzuzwingen œ dafür waren sie noch nicht reif. Sicher ist, daß Stalin unter keinen Umständen jemals die Kontrolle über jene Länder aufgegeben hätte, die die Rote Armee erobert hatte. Nach dem Prinzip, daß ein geteiltes Haus nicht stehen kann, mußten sie früher oder später dem Kommunismus in den Schoß fallen. Bei einem berühmten Treffen mit Winston Churchill in Moskau im Oktober 1944 vereinbarten die beiden, daß dieses Gebiet eine sowjetische Einflußsphäre werden sollte. Es führte in der Sowjetunion zu großer Verstimmung, daß Churchill sich 1946 in der historischen Rede in Fulton in Missouri von diesem Abkommen lossagte und den Kalten Krieg erklärte, und daß die USA sich 1947 vom Abkommen von Jalta distanzierten und die Frage der polnischen Grenzziehung neu aufwarfen. Die ersten Regierungen, die von Stalin in Osteuropa 1945 genehmigt wurden, waren Koalitionsregierungen: Die Kommunisten lagen mit den meisten wichtigen Parteien im Wettstreit, beherrschten sie aber noch nicht. Nachdem der Westen die Kriegsallianz beendete, änderte Stalin seine Politik schlagartig, und jede Opposition gegenüber dem Kommunismus wurde unterdrückt. Gemäßigte Kommunistenführer wie Gomulka in Polen und Nagy in Ungarn wurden abgesetzt, und an ihre Stelle traten Stalinisten. 1948 sank die lange Nacht der Tyrannei über Osteuropa nieder. Das stalinistische Experiment scheiterte 1956. Arbeiter und Bauern hatten zunächst die Verstaatlichungen der Industrie und die Landverteilung begrüßt. So hatte zum Beispiel in Ungarn Imre Nagy seine Popularität durch die Verteilung des Landbesitzes der Esterhazys und der Kirche gefestigt. Nach 1948 wurde die -624-
Landwirtschaft aber nach sowjetischem Vorbild kollektiviert, und die Arbeiter wurden zu völlig verrückten Zielen der Industrialisierung angetrieben. Ihr Lebensstandard sackte ab, es gab niemals genug zu essen, und die Bauern wurden in die Städte getrieben, um dort herauszufinden, daß es für sie keine Lebensgrundlage gab. Im Juni 1956 streikten die Arbeiter einer Maschinenfabrik in Posen in Polen gegen die Arbeitsbedingungen und Nahrungsmittelkürzungen. Sie forderten höhere Löhne. Bald gab es Unruhen, und es kam zum Sturm auf ein Gefängnis. Die Regierung setzte Panzer in Marsch, und mindestens 80 Menschen starben. Überall im Land wurde die Autorität der Partei erschüttert, und jene Funktionäre, die die Zeichen an der Wand richtig deuteten, versuchten eilig, ihre Politik zu ändern. Aber es war zu spät. Wladyslaw Gomulka war zwischen 1945 und 1948 Ministerpräsident gewesen, und die Menschen hatten ihn als gemäßigten und verständnisvollen Staatsmann in Erinnerung. Er war aus seinem Amt geworfen und eingesperrt worden, aber, eine neuartige Errungenschaft, die auch bei allen nachfolgenden Krisen galt: Er wurde nicht umgebracht, sondern vielmehr in Reserve gehalten. Als die Situation sich nach den Unruhen von Posen weiter verschärfte, fürchteten Gomulkas Anhänger eine weitere Explosion. Sie gründeten in den Fabriken eine oppositionelle kommunistische Partei und forderten die Regierung in Warschau heraus. Nach weiteren Unruhen brach die Regierung im Oktober zusammen und übergab die Macht an Gomulka. Am 19. Oktober kam es zu einem jener melodramatischen Momente, wie sie in der polnischen Geschichte immer wiederkehren. Das Zentralkomitee der KP beriet über die Krise, als Nikita Chruschtschow und das sowjetische Politbüro unerwartet landeten, um sie zu unterstützen. Die Rote Armee stand vor den Toren Warschaus, aus allen Richtungen strömten die sowjetischen Einheiten ins Land, und die polnische Armee und Miliz machten sich zum Kampf bereit. Gomulka bezwang Chruschtschow. Die polnische KP, anders als die ungarische eine Woche später, stand geschlossen hinter ihm. Gomulka beharrte darauf, daß die Polen über ihre Zukunft selbst -625-
entscheiden können müßten, aber er gab Chruschtschow zwei Garantien: Polen würde ein loyaler Verbündeter der Sowjetunion bleiben und seine kommunistische Staatsform beibehalten. Am Morgen des 20. Oktober, nach einer Nacht der Auseinandersetzung, akzeptierte Chruschtschow diese Garantieerklärungen. Die Rote Armee kehrte in ihre Kasernen zurück, die Sowjets versprachen, sich in Zukunft nicht in polnische Angelegenheiten einzumischen, und Chruschtschow kehrte nach Moskau zurück. Dieser spektakuläre Sieg der Polen wurde als ‡Der Oktober— gefeiert. Der ungarische Aufstand am 23. Oktober war eine direkte Folge davon, aber auf längere Sicht löste er kein Problem. Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde eingestellt und die gewaltsame Industrialisierung verlangsamt, aber der grundsätzliche Widerspruch blieb bestehen. Gomulkas Erklärungen hatten ihn sogar noch gefestigt. Die Wurzel der Unruhen war, daß die Polen den sowjetischen Kommunismus abgelehnt hatten, und Gomulka konnte einfach nicht zugleich seine Garantie gegenüber Chruschtschow und sein Versprechen an seine Mitbürger halten œ Wohlstand und Unabhängigkeit. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß Gomulka 1968 völlig abgewirtschaftet hatte und daß Polen ständig zurückfiel, auch im Vergleich mit seinen drei kommunistischen Nachbarländern Ungarn, Tschechoslowakei und DDR. Einer der Punkte des Abkommens von 1956 war die Restauration der Freiheiten der Katholischen Kirche gewesen. Ihr Primas, Kardinal Wyszynski, wurde der Sprecher der Opposition. In den sechziger Jahren nahm die Partei ihre Angriffe gegen die Kirche wieder auf. Die Parteifunktionäre ahnten die kommende Krise und spalteten sich in konkurrierende Fraktionen. Die Anti-Gomulka-Fraktion schlug die nationalistische Trommel, belebte die verbotenen Erinnerungen an den nichtkommunistischen Widerstand gegen die Deutschen wieder œ und ebenso die Tradition des osteuropäischen Antisemitismus. Es war die unwürdigste Episode in der modernen polnischen Geschichte, eine Welle des von Staats wegen unterstützten Antisemitismus. Die Deutschen hatten 3 Millionen polnische Juden ermordet, und die meisten der 250.000 Überlebenden waren nach dem Krieg nach Israel ausgewandert. Die übrigen waren in jeder Weise loyale Polen, viele von ihnen auch loyale Kommunisten. Nun wurden sie aus dem Land -626-
gejagt. 1968 war das Jahr des Prager Frühlings. Gomulka lehnte ihn ab und unterstützte Breschnjew bei dessen Niederschlagung aus ganzem Herzen. Die Polen waren von sich überzeugt und hielten wenig von den Tschechoslowaken. Und überhaupt, sagten sie, was hatte die Tschechoslowakei schließlich 1956 für Polen getan? Der Journalist Neal Ascherson zitiert einen polnischen Kommentar: ‡1945 haben sie die russischen Panzer mit roten Fahnen begrüßt, und 1956 haben sie uns nicht geholfen. Jetzt müssen sie selbst sehen, wie sie damit fertig werden.— Im Dezember 1970 feierte Gomulka seinen größten diplomatischen Triumph. Der westdeutsche Bundeskanzler Willy Brandt reiste nach Warschau, um den Vertrag zur Anerkennung der Westgrenze Polens zu unterzeichnen. Deutschland gab damit seine Forderungen auf Danzig (Gdansk), Stettin (Szczecin) und Breslau (Wroclaw), Ostpreußen und Schlesien auf. Vor dem Mahnmal im Warschauer Ghetto kniete Brandt nieder. Am Samstag, dem 12. Dezember, kündigte die Regierung hohe Preissteigerungen für Nahrung und andere Gebrauchsgüter an. Am folgenden Montag versammelten sich die Arbeiter der Lenin-Werft in Gdansk zu einer Protestkundgebung. Am nächsten Tag streikten die Werftarbeiter in Gdynia, und in Gdansk gab es die ersten richtigen Unruhen, bei denen Menschen getötet und Parteibüros niedergebrannt wurden. Die Unruhen breiteten sich an der ganzen Ostseeküste aus, und Gomulka befahl, sie um jeden Preis niederzuschlagen. Soldaten schossen auf Arbeiter, und zum Ende der Woche war die ganze Region im hellen Aufruhr. Bei einer eilig einberufenen Sitzung des Politbüros am 20, Dezember wurde Gomulka gegen seine wilden Proteste einfach abgesetzt. An seine Stelle trat der KP-Chef von Schlesien, Edward Gierek. Er hielt beruhigende Reden und Radioansprachen, rief die Arbeiter zur Beendigung der Streiks auf und schickte die Soldaten zurück in die Kasernen. Nach Weihnachten gab es weitere Ausschreitungen, und einmal mehr verlor die Regierung die Kontrolle über die Lage. Gierek und andere hohe Funktionäre reisten am 24. Januar 1971 nach Szczecin und fuhren mit einem Taxi in die Werft. Sie diskutierten neun Stunden -627-
lang mit den Arbeitern, und am Ende konnten sie sie davon überzeugen, den Streik zu beenden. Am nächsten Tag wiederholte sich dieses bemerkenswerte Gespräch in Gdansk. Nach einem weiteren Streik in Lodz wurden die Preiserhöhungen einen Monat später rückgängig gemacht. Von Dezember 1970 bis Februar 1971 hatten die polnischen Arbeiter einen aufsehenerregenden Sieg errungen œ nicht die liberalen kommunistischen Intellektuellen, die Gomulka 1956 unterstützt hatten, sondern die polnische Arbeiterklasse. Als das neue Regime seine Versprechungen genausowenig einhielt wie die Regierung Gomulka 1956-1970, wurden die Arbeiter von jeder Form kommunistischer Regierung völlig desillusioniert. 1976 kündete die Regierung abermals Lebensmittelpreiserhöhungen an. Fleisch ging um 70 Prozent hinauf, Zucker um 100 Prozent, Butter und Käse um 30 Prozent. Eine Streikwelle brauste durchs Land, und in Radom wurde die Parteizentrale niedergebrannt. Die Preiserhöhungen wurden ‡zur weiteren Diskussion— zurückgezogen. Das war nicht nur eine politische Demütigung für die Regierung, sondern auch ein wirtschaftliches Desaster. Zu dieser Zeit waren Lebensmittel in den Geschäften bereits zu siebzig Prozent subventioniert. Gegen Ende der Krise von 1976 wurden Arbeiter, die bei den Streiks eine prominente Rolle gespielt hatten, entlassen œ darunter auch Lech Walesa, ein Elektriker aus der Lenin-Werft in Gdansk. Eine Gruppe Warschauer Intellektuelle unter Führung von Jacek Kuron und Adam Michnik gründete ein ‡Komitee zur Verteidigung der Rechte der Arbeiter— (KOR). Am 16. Oktober 1978 kam es in Polen zu einem großen Machtumschwung: An diesem Tag wurde Karol Wojtyla, der Kardinal von Krakow, zum Papst gewählt. Die Kirche war immer die mächtigste Institution in Polen gewesen, auch wenn sie diese Position zeitweilig der Roten Armee hatte abtreten müssen. Nun erhielt sie mit einem Schlag eine enorme Stärkung: Einer aus ihrer Mitte war nun der Stellvertreter Christi auf Erden. Johannes Paul II. verkörperte mit einem Mal die polnische Nation. Im August 1980 versuchte die Regierung abermals, Lebensmittelpreissteigerungen um 100 Prozent vorzunehmen. In -628-
verschiedenen Teilen des Landes kam es zu sporadischen Streiks œ und dann versuchte die Führung der Lenin-Werft in Danzig, Anna Walentynowicz wegen Agitation zu entlassen. Ihre Kameraden riefen um Verstärkung, die Tore der Werft wurden geschlossen œ und Lech Walesa, der 1976 entlassen worden war, kehrte zurück und stellte sich an die Spitze des Streikkomitees. Die Streiks breiteten sich in der gesamten baltischen Region aus und griffen bald auf die übrigen Teile des Landes über, einschließlich der Bergbaubezirke in Schlesien und Warschau. In erbitterten Verhandlungen mit den Danziger Streikenden mußte ihnen die Regierung zuletzt das Recht zur Bildung Freier Gewerkschaften zugestehen. Die gesamte Regierung Gierek wurde abgelöst. Gierek selbst hatte am 6. September einen Herzanfall erlitten und ersparte sich so die Demütigung des Hinauswurfs. Im ganzen Land bildeten sich Freie Gewerkschaften. Sie hatten den Sammelnamen ‡Solidarnosc—, nach einer Arbeiterzeitung in Gdansk. 18 Monate lang war Polen im Aufbruch. Die ‡Solidarität— entwickelte sich bald von einer Gewerkschaft zu einer politischen Bewegung, die ständig die Grenzen ihrer Macht erprobte. Die Regierung zog sich schrittweise zurück, ließ die Liberalisierung der Medien zu und gestattete sogar die Gründung einer Bauern ‡Solidarität—. Das war ein bedeutendes Zugeständnis, da dies der Wiederzulassung der Vorkriegs-Bauern-Partei sehr nahe kam. Die UdSSR beobachtete diese Entwicklungen mit großem Ärger. Im November 1980 und noch einmal im März 1981 drohte sie mit direkter Intervention. An der Grenze wurden Truppenverbände zusammengezogen, und andere kommunistische Staaten bereiteten sich bereits darauf vor, sich ihnen anzuschließen. Polen war wieder œ wie 1939 œ von einer Invasion aus Ost und West bedroht. Der neue Parteiführer war Stanislaus Kania, ein gemäßigter und vorsichtiger Funktionär, der versuchte, die Partei zusammenzuhalten und gleichzeitig den drängendsten Forderungen der ‡Solidarität— nachzukommen. Auf dem Parteitag im Juli 1981 wurden viele der alten Garde kaltgestellt. Die Partei hatte neue und radikale Mitglieder, aber es war zu spät. General Wojciech Jaruzelski hatte 1980 als Verteidigungsminister große Popularität erworben, da er den Truppeneinsatz gegen die Streikenden verweigert hatte. Im Februar 1981 war er Ministerpräsident geworden und hatte den Kampf gegen -629-
die wirtschaftliche Krise aufgenommen, während Kania sich mit der ‡Solidarität— herumschlug. Kanias Autorität schmolz zusammen, und am 18. Oktober trat er die Führung der Partei an Jaruzelski ab. Spätere Ereignisse zeigten, daß zu diesem Zeitpunkt die Planung für den Staatsstreich schon weit fortgeschritten war. Im Dezember kam es zum Machtkampf zwischen Regierung und ‡Solidarität—, und am Sonntag, dem 13. Dezember 1981, verhängte Jaruzelski den ‡Kriegszustand— (das polnische Äquivalent zum ‡Ausnahmezustand—) und verbot die ‡Solidarität—. Führer der ‡Solidarität— und des KOR wurden inhaftiert, und die Bürgerrechte wurden aufgehoben. Auch Gierek wurde wie viele andere frühere Regierungsmitglieder festgenommen. Die Arbeiter leisteten nach Kräften Widerstand. Sie besetzten ihre Fabriken, Werften und Bergwerke. ‡Solidarität—-Führer weigerten sich, mit der Regierung zu verhandeln. Die Kirche kritisierte die Verhängung des Kriegsrechts scharf. Eine Anzahl Arbeiter kam ums Leben (nach offiziellen Angaben waren es sieben, nach Meinung der ‡Solidarität— weit mehr). Der Widerstand wurde allmählich zerschlagen, und Polen fiel zurück in die Apathie. Der geschichtliche Zyklus begann erneut. 1945, 1948, 1956 und 1970 hatten neue Regierungen mit mehr oder weniger Optimismus die Macht im Land übernommen und versucht, seine Probleme zu lösen. Sie waren alle gescheitert. 1956, 1970 und 1980 waren die Regime im Angesicht der Volksunruhen einfach zusammengebrochen (es scheint in der polnischen Nachkriegsgeschichte einen groben Zehn-Jahres-Zyklus zu geben). Jaruzelski verstand sehr genau, daß er, falls er die Probleme, über die seine Vorgänger gestürzt waren, nicht lösen können würde, ihr Schicksal teilen würde. ‡Solidarität— überlebte als eine Art illegaler Exil-Regierung œ verfolgt, aber jeden Augenblick bereit, sich aus der Asche zu erheben. In Polen gibt es vier Machtzentren: Die Kirche, deren enormer Einfluß sich bei jedem Papstbesuch des Landes aufs neue bestätigt; die Arbeiter, deren gewählte Vertreter die Führer der ‡Solidarität— sind; die Rote Armee; und die Regierung. Der grundlegende Unterschied zwischen Polen 1980, der Tschechoslowakei 1968 und der UdSSR 1988 ist der, daß in Polen die Reformbewegung aus der Arbeiterschaft heraus entstanden ist, die die Intellektuellen einlud, sich ihr -630-
anzuschließen. In der Tschechoslowakei und in der Sowjetunion unter Gorbatschow ergriffen die Radikalen in der Partei das Ruder und appellierten an die Arbeiter, sich ihnen anzuschließen. Und in Polen haben die Arbeiter noch zusätzlich die Macht der Kirche hinter sich. Die Regierung Jaruzelski blieb an der Macht, da sie von der Sowjetunion unterstützt wurde und da viele Polen annahmen, wie 1956 und 1981, daß ungeachtet aller etwaigen Entwicklungen in Afghanistan, auf dem Balkan oder in Afrika die UdSSR Polen nicht aus ihrem Machtbereich entkommen lassen würde. Im Oktober 1984 wäre es beinahe so weit gewesen. Damals entführten und ermordeten Angehörige der Geheimpolizei Pater Jerzy Popieluszko, einen beliebten Pfarrer, der immer wieder für die ‡Solidarität— eingetreten war. Die Wut der Bevölkerung war grenzenlos, und eine Weile war das Grabmal des Priesters Schauplatz riesiger täglicher Demonstrationen. Die Regierung ließ die am Tod des Paters Schuldigen verhaften und vor Gericht stellen. Sie wurden verurteilt, aber allgemein herrschte die Überzeugung, daß sie auf Befehl hoher Vorgesetzter gehandelt hatten. Polen war ein extremes Beispiel für das Scheitern der kommunistischen Wirtschaftstheorien, es herrschte eine ähnliche Situation wie in weiten Teilen Afrikas. Die Lebensmittelpreise waren hoch subventioniert, um die Arbeiter in den Städten still zu halten. Das bedeutete, daß die Bauern für ihre Produkte nicht genug Geld bekamen, um ihre Höfe modernisieren zu können (ob in Privatbesitz wie in Polen oder kollektiviert wie in der UdSSR), und so verkam die Landwirtschaft. Stadtbewohner standen vor der Frage, was sie von garantiert niedrigen Preisen hatten, wenn es in Wahrheit nichts zu kaufen gab. Die einzige Lösung dieser Landwirtschaftskrise œ ob in Polen, Afrika oder sonstwo œ war die Wiederherstellung der Marktwirtschaft und freie Preisgestaltung. In Polen wurde jeder derartige Versuch, wie im Sudan, in Marokko und einem Dutzend anderer Länder, mit Aufruhr beantwortet, und nach der Verhängung des Kriegsrechtes ging es mit der polnischen Wirtschaft ständig bergab. In einer Volksabstimmung im Frühjahr befragte die Regierung die Wähler zu Reformen, und ihre Vorschläge wurden glattweg abgelehnt und daher fallen gelassen. Im Mai kam es zu weiteren Streiks, die mit Mühe -631-
beendet werden konnten, und im August begannen wieder die Unruhen in den Industriebezirken. Sie brachen in den schlesischen Bergwerken aus und griffen schnell auf Gdansk über. Bei beiden Gelegenheiten wurde die Forderung nach Wiederzulassung der ‡Solidarität— erhoben. Die Regierung konnte nicht länger ihren politischen Kurs beibehalten und schon gar nicht ihn gegen den Widerstand des Landes durchsetzen. Alles was sie konnte, war die Arbeiter für den Moment mundtot zu machen. Es herrschte völlige Lähmung œ ein sicherer Weg in die Katastrophe. Jaruzelski erkannte die Gefahr sehr genau. Während der AugustStreiks berief er eine Vollversammlung des Zentralkomitees ein, auf der die Fehler der Partei offen diskutiert wurden. Jaruzelski gestand sein eigenes Scheitern ein und rief zu einem ‡beherzten Kurswechsel— der Regierung auf. Es war ein außergewöhnliches Eingeständnis von Jaruzelski, der sechseinhalb Jahre zuvor mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet worden war, um die langjährigen Probleme Polens zu lösen. Er sagte dem Plenum œ in einer Rede, die von den Medien übertragen wurde œ, die Lösung der Probleme Polens ‡erfordere den Mut, mit alten Vorurteilen und Barrieren aufzuräumen, den Mut, neue und ungewohnte Meinungen zuzulassen, vor allem aber wirksame.— Er lud Lech Walesa und andere Führer der ‡Solidarität— zu Treffen mit der Regierung am ‡Runden Tisch— ein, um mögliche Reformen zu diskutieren. Die Regierung hatte Bankrott gemacht, und sie wußte es. Sie forderte die ‡Solidarität— auf, ihr aus dieser selbstverschuldeten Krise herauszuhelfen. Walesa willigte ein und brachte die Streikenden dazu, an die Arbeit zurückzukehren. Nach langwierigen Auseinandersetzungen begannen die Verhandlungen am Runden Tisch zwischen der Regierung und der ‡Solidarität— im Februar 1989 und dauerten bis zum April. Die Regierung mußte der Opposition in einem Punkt nach dem ändern Zugeständnisse machen, einschließlich der ersten teilweise freien Wahlen in Osteuropa seit vier Jahrzehnten, mit dem Versprechen, 1994 völlig freie Wahlen abzuhalten. Die ‡Solidarität— wurde legalisiert. So wurde Polen zum ersten osteuropäischen Land, das sich vom Grundsatz der ‡gesellschaftlich führenden Rolle der Kommunistischen Partei— verabschiedete œ eine der tragenden Säulen -632-
des kommunistischen Systems. Die Wahlen fanden im Juni statt. Die Mandate für den Senat waren alle frei zu wählen, ebenso 161 von 460 Sitzen im Sejm, dem polnischen Unterhaus. Die Kommunistische Partei reservierte sich 173 Mandate, 126 waren für die Bauern- und Demokratischen Blockparteien der KP reserviert. Beim ersten Wahldurchgang am 4. Juni kam es zu einem Erdrutschsieg der ‡Solidarität—. Die Partei errang 99 Senatssitze œ den hundertsten holte sich ein Millionär, der als Unabhängiger kandidiert hatte. Die ‡Solidarität— gewann alle frei wählbaren Sejm-Mandate und schlug dabei viele Unabhängige einschließlich solcher Kandidaten, die von der katholischen Hierarchie nominiert worden waren. Die Kommunisten erlitten eine vernichtende Niederlage. Viele ihrer Kandidaten verfehlten auch in für sie reservierten Wahlkreisen ihre Mandate, da die Mehrheit der Wähler ihren Namen vom Wahlzettel strich und ein Kandidat die Mehrheit der Stimmen für seine Wahl brauchte. Am 18. Juni kam es zu einem zweiten Durchgang œ und viele KP-Abgeordnete wurden nur dadurch gewählt, daß die ‡Solidarität— ihren Anhängern diesen Schritt nahelegte. Lech Walesa kandidierte nicht. Er entschloß sich, die ‡Solidarität— von außerhalb des Parlamentes zu führen œ vielleicht erwartete er auch schon damals den Ruf ins Präsidentenamt. Das neue Parlament wählte Jaruzelski zum Staatspräsidenten, allerdings erkannten die Bauernpartei und die Demokraten die Zeichen der Zeit und fielen von den Kommunisten ab. Jaruzelski hatte nur mehr eine Mehrheit von sieben Mandaten. Er ernannte den Innenminister Czeslaw Kiszczak zum Ministerpräsidenten. Die kleineren Parteien traten aus der Regierung aus, und es wurde klar, daß Kiszczak im Sejm keine Abstimmung gewinnen konnte. Die Wirtschaft brach zusammen. Walesa verbreitete die Idee, daß die ‡Solidarität— die Macht übernehmen könnte, und Kiszczak erlitt eine Abstimmungsniederlage. Jaruzelski beugte sich dem Unvermeidlichen. Die ‡Solidarität— benannte drei ihrer Mitglieder, die für das Amt des Ministerpräsidenten in Frage kämen, und er wählte Tadeusz Mazowiecki, den Herausgeber einer ‡Solidarität—-Zeitschrift. am 24. August wurde er vom Parlament bestätigt, und sein Kabinett wurde am 12. September vorgestellt. Es war die erste nichtkommunistische Regierung in Osteuropa seit 1948: Polen war der -633-
erste Dominostein, der fiel, und die Sowjetunion ließ es geschehen. Die Kommunisten behielten das Innenund das Verteidigungsministerium ebenso wie das Präsidentenamt und damit, so glaubten sie, doch die Gewalt im Staat. Auch einige weniger bedeutende Ministerien fielen ihnen zu, die anderen gingen an die ‡Solidarität— und ihre neuen Verbündeten. Skeptiker befürchteten, daß die KP, deren Mitglieder in Warschau und den örtlichen Behörden im ganzen Land die Bürokratien beherrschten, die neue Regierung ersticken könnten. Sie irrten. Der Zerfall der Partei schritt rasch voran, und die Ereignisse in den anderen Ländern Osteuropas trugen das Ihre dazu bei. Mazowieckis Regierung demontierte systematisch den kommunistischen Staat und traf dabei auf wenig Widerstand seitens der kommunistischen Beamten, denen sie auch anbot, auf ihre Seite zu treten und im Amt zu bleiben. Die Regierung proklamierte, ‡man kann einen Graben nicht mit zwei Sprüngen überwinden—, und verordnete dem Land ein Reformmaßnahmenpaket, das auf die völlige Abwendung vom Kommunismus abzielte. Am 1. Januar 1990 wurden alle Preiskontrollen (außer über Mieten) aufgehoben, alle Einschränkungen des Privatbesitzes beendet, die Firmen im Staatsbesitz wurden zum Verkauf ausgeschrieben, und die ersten Schritte zur Konvertierbarmachung der Währung fanden statt. Polen war kein kommunistischer Staat mehr (auch wenn es nominell noch Mitglied des Warschauer Paktes blieb). Westeuropa, die USA und der Internationale Währungsfonds stellten umfangreiche Kredite zur Verfügung, um Polen über diese schwierigen Tage zu helfen. Die Preise stiegen stark an, es wurde klar, daß viele Firmen bankrott machen und Hunderttausende Menschen ihre Arbeit verlieren würden. Das polnische Volk akzeptierte diese Belastungen, die weit größer waren als jene, die unter einer kommunistischen Regierung mit Streik beantwortet worden waren. Diese Reformen wurden schließlich von einer demokratischen Regierung verordnet. Die meisten Polen wünschten sich ein Ende des Kommunismus und waren bereit, dafür den Preis zu bezahlen. Ihre Loyalität zur ‡Solidarität—, die sich bereits in verschiedene wetteifernde Gruppen aufspaltete, wurde bei verschiedenen Lokalwahlen 1990 unter Beweis gestellt. Insgesamt waren die Aussichten gut. Das sozialistische Experiment -634-
hatte Polen fünfundvierzig Jahre gekostet, aber nun war das Land auf dem gleichen Weg, den die westeuropäischen Staaten nach 1945 mit Erfolg eingeschlagen hatten. Polen hofft, wie die anderen osteuropäischen Länder, der Europäischen Gemeinschaft in den neunziger Jahren beizutreten. Wenn die Polen die gegenwärtige Krise überstehen, liegt eine lichte Zukunft vor ihnen.
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TSCHECHOSLOWAKEI œ CSFR Geographie: Fläche 127.869 km2, davon 49.014 km2 Slowakei. Bevölkerung: 15.570.000, davon 4.991.168 in der Slowakei. BSP: 7.604 $/Einw. Nach Polen, Ungarn, Bulgarien und der DDR war die Tschechoslowakei der fünfte Dominostein des Kommunismus, der 1989 fiel. Einundzwanzig Jahre und drei Monate nach dem Einmarsch sowjetischer Panzer sahen die Russen tatenlos zu, als ein Generalstreik und Massendemonstrationen das Regime wegfegten. Nach kurzem Zögern stellten sich Armee und Polizei auf die Seite der Demonstranten. Vaclav Havel, der erst im Sommer aus dem Gefängnis entlassen worden war, wurde im Dezember zum Präsidenten gewählt, und Alexander Dubcek, der auf dem Höhepunkt der Demonstrationen mit dem Bus von seinem Exil in Bratislava auf den Wenzelsplatz gekommen war, wurde Parlamentspräsident. Es war der vierte Akt des Dramas in Mittel- und Osteuropa. Der erste Akt war die Eroberung durch die Russen im Jahre 1945 und die folgende Durchsetzung des Kommunismus. Der zweite war der Aufstand der Polen und Ungarn im Jahre 1956, die einen wurden von Gomulka betrogen, die anderen von der Roten Armee besiegt. Der dritte war der Prager Frühling im Jahr 1968, der mit einer sowjetischen Invasion endete. Die Polen ärgern sich, daß es sie neun Jahre kostete, von 1980 bis 1989, die Kommunistische Partei niederzuringen, während es in der DDR neun Wochen und in der Tschechoslowakei neun Tage dauerte. Das war ein besserer Witz als der von 1956. Damals sagte man, daß sich all die Nationen Osteuropas untypisch benähmen: die Russen wie Deutsche, die Ungarn wie Polen, die Polen wie Tschechen und die Tschechen wie Schweine. Damit ist gemeint, daß die Ungarn Steine auf russische Panzer warfen und damit genauso töricht waren wie die polnische Kavallerie, die gegen Hitlers Panzer 1939 mit Lanzen angeritten war; die Polen, die mit Bluff die Russen von der Okkupation Warschaus abhielten, zeigten die gleiche Biegsamkeit, die Prag während des Krieges vor der Zerstörung gerettet hatte; während -636-
die Tschechen sich unter Antonin Novotnys Führung sklavisch der UdSSR unterordneten. DER PRAGER FRÜHLING Im Jahre 1968 entwickelten sich die Dinge anders. Wie in Ungarn 12 Jahre zuvor, verkam das Regime von oben herab, aber die KP der CSSR fand alternative Führer, die die Kontrolle übernahmen und eine Reihe tiefgreifender Reformen einleiteten. Im Januar 1968 setzte die Parteikonferenz Novotny als Generalsekretär ab und wählte den Reformer Alexander Dubcek, einen Slowaken. Im Frühjahr wurde Novotny auch als Präsident abgelöst und durch Ludvik Swoboda ersetzt, einen populären General. Dann begann der ‡Prager Frühling—. Dubcek proklamierte den ‡Sozialismus mit menschlichem Antlitz—. Das bedeutete das Ende der Zensur, die Wiederherstellung der demokratischen Rechte für alle Nicht-Kommunisten und die Abkehr von dem starren stalinistischen Wirtschaftssystem. Das Problem der Reformer war, daß die Arbeiter jedes Vertrauen in die Partei verloren hatten und sich ungeachtet aller Anstrengungen der Parteiintellektuellen solange nicht hinter den Parteireformern sammelten, bis es zu spät war. Wahlen für den 14. Parteitag wurden abgehalten, und es war klar, daß die alte Garde komplett abgelöst werden würde. Das war für Leonid Breschnjew, den damaligen sowjetischen Führer, nicht akzeptabel. Am 20. August 1968 marschierte die Sowjetunion in der Tschechoslowakei ein. Bei dieser Gelegenheit benahmen sich auch die Polen, Ungarn und Ostdeutschen schweinisch. Sie schlossen sich der Invasion an. Sowjetische Einheiten besetzten den Flugplatz, und drei Panzerkolonnen rollten nach Prag hinein. Eine besetzte die Parteizentrale, eine das Büro des Ministerpräsidenten, die dritte die Residenz des Staatspräsidenten. Als die Russen eintrafen, tagte eben das Politbüro. Die Sitzungsteilnehmer, einschließlich Dubcek, mußten sich auf den Boden legen œ einer von ihnen sagte später: ‡Alles was wir von unseren Verbündeten sahen, waren ihre Stiefel.— Die Parteiführer wurden zum Flugplatz gebracht und in eine sowjetische Maschine verladen. Durch das Fenster sahen sie, wie vier Männer eine Leiche zum Flugzeug brachten und dachten, sie wären als nächste -637-
dran œ bis die ‡Leiche— zu strampeln begann. Es war Oldrich Cernik, der Ministerpräsident, der im Regierungsgebäude gefangengenommen worden war und sich weigerte zu gehen. (Eine alte kommunistische Tradition, die auf die Zarenzeit zurückgeht. Als Trotzki von Stalin verhaftet und ausgewiesen wurde, bestand er darauf, daß die Geheimpolizisten ihn trugen.) Die Gefangenen wurden 60 Stunden in Polen festgehalten und durften sich nicht waschen, rasieren oder ihre Kleider wechseln. Dann wurden sie nach Moskau geflogen. Sie nahmen an, daß sie erschossen würden, aber statt dessen wurden sie geradewegs in den Kreml gebracht und in einen großen Raum geführt. Dort mußten sie warten. Dann kam Breschnjew herein, gefolgt vom sowjetischen Politbüro, und sagte: ‡Wie schön, Sie zu sehen, meine Herren.— Präsident Swoboda, dessen Verbleib im Amt die Russen wünschten, war getrennt von den anderen nach Moskau gebracht worden. Er weigerte sich, ohne Dubcek und die anderen mit den Russen zu sprechen œ wahrscheinlich rettete diese Weigerung ihnen das Leben. Die Gefangenen wurden gezwungen, ein ‡Moskauer Protokoll— zu unterzeichnen, das die Invasion legalisierte. Dann wurden sie nach Prag zurückgeschickt. In den folgenden Monaten verloren sie alle ihre Posten und wurden durch Kollaborateure ersetzt. Die sowjetische Rechtfertigung für die Intervention war die Breschnjew-Doktrin, die vorsah, daß kommunistische Bruderstaaten einem bedrohten kommunistischen System zu Hilfe eilen können. Die Doktrin wurde im Westen heftig abgelehnt, obwohl der seine eigene Version dieser Doktrin entwickelt und angewendet hatte zum Betspiel in Griechenland 1944 und 1946, 1965 in der Dominikanischen Republik, drei Jahre vor dem Ende des Prager Frühlings. 1989 hat Präsident Bush in Panama abermals darauf zurückgegriffen. Breschnjew erläuterte seine Doktrin einen Monat nach der Invasion in der CSSR: ‡Die Schwächung eines Gliedes des sozialistischen Systems in der Welt betrifft direkt alle anderen sozialistischen Länder, die nicht tatenlos zusehen können, wenn das passiert. Mit ihrem Gerede über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen haben die antisozialistischen Elemente in der CSSR ihre Forderung nach der sogenannten Neutralität und dem Austritt der CSSR aus dem Warschauer Pakt getarnt. Aber die Vortäuschung einer -638-
Selbstbestimmung dieser Art, oder mit anderen Worten, das Herausbrechen der CSSR aus der sozialistischen Gemeinschaft, wäre in Konflikt mit den vitalen Interessen der Tschechoslowakei gekommen und den Interessen der übrigen sozialistischen Staaten genau entgegengesetzt gewesen. Eine solche Selbstbestimmung, als deren Resultat NATO-Truppen bis an die Grenzen der Sowjetunion vorrücken könnten, während die Gemeinschaft der sozialistischen Staaten Europas verraten und eingekreist worden wäre, hätte in Wahrheit die lebenswichtigen Interessen der Völker dieser Länder beeinträchtigt und wäre in einem fundamentalen Konflikt mit dem Recht dieser Völker auf sozialistische Selbstbestimmung gestanden.— Zwei Tage nach der Invasion trafen sich die gewählten Parteitagsdelegierten insgeheim in einer Prager Fabrik. Tschechische Arbeiter hatten einen Generalstreik ausgerufen und versucht, die Errungenschaften des Prager Frühlings zu verteidigen. Es war hoffnungslos. Dubcek und seine Kollegen wurden bis zum Sommer als Tarnung nach außen in ihren Ämtern belassen, aber die Macht hatte die alte Garde wieder an sich gerissen. Die Arbeiterräte wurden verboten und verfolgt. 1969 wurde Dubcek durch Gustav Husak ersetzt, den slowakischen KP-Führer. Dubcek hatte mehr Glück als Imre Nagy. Er wurde nicht erschossen. Nach einem Zwischenspiel als Botschafter in der Türkei gab man ihm einen untergeordneten Posten als Forstarbeiter in der Slowakei. Die Regierung feierte den 20. Jahrestag der Invasion mit heftigen Angriffen auf ihn. Im November 1988 durfte er zum ersten Mal seit vielen Jahren das Land verlassen, um ein Ehrendoktorat der Universität in Bologna entgegenzunehmen. Er gab mehrere Zeitungsinterviews und hielt bei der Verleihungszeremonie eine Rede, in der er die Politik des Prager Frühlings nachdrücklich verteidigte und verschlüsselt alle Entwicklungen seit damals angriff. DIE VERLORENEN JAHRE Dubcek und die anderen Führer des Prager Frühlings spielten in der Dissidentenbewegung zwischen 1968 und 1989 kaum eine Rolle. Sie wurden zu genau überwacht. Die Fackel wurde von Intellektuellen außerhalb der Partei weitergetragen, die gegen die -639-
Menschenrechtsverletzungen des Regimes protestierten. Ihr Manifest, auf das sie sich beriefen, war die Schlußakte von Helsinki œ die 1975 von jedem europäischen Staat unterzeichnet worden war œ, die die demokratischen Rechte insgesamt garantierte. Die prominentesten Künstler, Schriftsteller, Journalisten und Filmemacher der Tschechoslowakei waren allesamt Dissidenten. Sie wurden ständig schikaniert, inhaftiert, aus ihren Ämtern geworfen und zu untergeordneten Tätigkeiten gezwungen. 1977 veröffentlichte eine Gruppe von ihnen eine Grundsatzerklärung, die sie Charta 7 nannten. Sie war zum Großteil das Werk von Vaclav Havel, einem Dramatiker, der sich weigerte, das Land zu verlassen und für sein Dissidententum insgesamt fünf Jahre im Gefängnis zubrachte. Bis 1989 waren Havel und seine Mitstreiter mit ihrem Protest ziemlich allein. Die große Masse der Tschechen und Slowaken war apathisch und eingeschüchtert. Nach 1968 war die Regierung der CSSR völlig abhängig von der UdSSR, der sie in allen Belangen bedingungslos gehorchte; sie unterdrückte die Dissidenten und sang bei jeder Gelegenheit das Loblied auf das Mutterland des Kommunismus. Die tschechoslowakische Wirtschaft war besser entwickelt als die Polens oder Ungarns. Nach der DDR war sie das florierendste Ostblockland. Aber sie litt unter großen Umweltverschmutzungsproblemen, und ihre Industrie, einst auf dem gleichen Standard wie die Österreichs oder Deutschlands, fiel stetig zurück. Wie Ungarn und die UdSSR selbst, verwandelte sich die Wirtschaft der CSSR allmählich in die eines Dritte-Welt-Landes. Ende 1987 trat Husak als Generalsekretär der KPC zurück, blieb aber Staatspräsident. Ihm folgte Milos Jakes. Es war für das Regime eine große Überraschung, als Gorbatschow bei einem Besuch in Prag im Frühjahr 1988 von der Menge in den Straßen gefeiert wurde. Sein Sprecher wurde nach dem Unterschied zwischen dem Prager Frühling und Gorbatschows Glasnost gefragt und meinte: ‡Zwanzig Jahre!—. Die Regierung beabsichtigte nicht, die Zügel zu lockern. Im Oktober 1988 wurde Ministerpräsident Lubomir Strougal zum Rücktritt gezwungen. Er war der führende Verfechter von Wirtschaftsreformen gewesen, und obwohl er niemals vorgeschlagen hatte, soweit zu gehen wie Ungarn, wurden seine Vorschläge vom -640-
Politbüro abgelehnt. Er wurde durch Ladislav Adamec ersetzt, der sich später selbst als Reformer bezeichnete. Kleine Demonstrationen in Prag zum Gedenken an den Prager Frühling wurden von der Polizei mit großer Gewalt unterdrückt. Am 28. Oktober, dem 70. Jahrestag der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei von der österreichisch ungarischen Monarchie, gab es eine große Demonstration in der Hauptstadt. Die Charta 77 hatte dazu aufgerufen. 1989 beobachteten die Tschechoslowaken mit Erstaunen, wie Polen die Kommunistische Partei hinauswählte, Ungarn Imre Nagy rehabilitierte, sich auf freie Wahlen vorbereitete und im September seine Grenzen öffnete, so daß die DDR-Flüchtlinge unbehindert nach Österreich einreisen konnten. Diese Ereignisse führten zu einer Reihe ständig anwachsender Demonstrationen in der DDR und Anfang November zum Zusammenbruch der DDR-Regierung und der Öffnung der Berliner Mauer. Während all dieser Ereignisse blieb es in der CSSR ruhig. Am 20. August hatte die Regierung das Heft noch fest in der Hand, und die Apathie des Volkes war so groß, daß Havel und die anderen Führer der Charta 77 Studenten von Demonstrationen am Jahrestag der Invasion abrieten und selbst die Stadt verließen, um nicht wieder eingesperrt zu werden. Es gab eine kleine Demonstration, Studenten entzündeten Kerzen am Fuß des König-Wenzel-Denkmales, doch die Polizei trieb sie rasch auseinander. Am 17. November demonstrierten 25.000 Studenten in Prag, angestachelt durch die Geschehnisse in der DDR. Die Demonstration wurde von der Polizei unter großem Gewalteinsatz zerschlagen. Viele Demonstranten wurden verprügelt und verhaftet. Gerüchte gingen um, daß einer, Martin Smid, von der Polizei getötet worden sei. Drei Tage später waren es 200.000 Demonstranten, aller Altersgruppen und Schichten, die den Rücktritt der Regierung forderten. Am 21. November war es eine halbe Million. Die Regierung geriet in Panik. Sie produzierte zwei Martin Smids, beide gesund und munter, und konnte belegen, daß niemand getötet worden war. Aber die Menge war nicht mehr zu besänftigen. Die Partei konnte nicht mehr länger auf Polizei und Armee bauen, um die Demonstrationen zu unterdrücken, und jeden Tag wuchsen die Menschenmassen auf dem Wenzelsplatz. Havel und andere Dissidenten, die ihr Hauptquartier im Laterna-Magica-Theater -641-
aufgeschlagen hatten, lenkten die Massen von einem Balkon mit Blick auf den Platz. Sie bildeten ein Komitee der Oppositionsgruppen, das sie nach dem Vorbild des Neuen Forums der DDR ‡Bürgerforum— nannten. Am 24. traf Dubcek mit dem Bus aus Bratislava ein und trat zu Havel auf den Balkon. Er sprach zu 500.000 Menschen und forderte den unverzüglichen Rücktritt der Regierung. Es geschah noch am selben Abend: zuerst trat Milos Jakes zurück, dann das ganze Politbüro, zuletzt die Regierung. Der kommunistische Staat schmolz weg œ aber nicht so, wie Marx und Lenin es gedacht hatten. Das Bürgerforum rief am 27. November zu einem landesweiten zweistündigen Generalstreik auf, um klarzustellen, bei wem jetzt die Macht lag, und die gesamte CSSR stand still. Außerdem gab es wieder riesige Demonstrationen gegen die Regierung. Der Reformkommunist Karel Urbanek wurde zum neuen Generalsekretär ernannt. Ministerpräsident Adamec versprach die Bildung einer neuen Koalitionsregierung, aber als er Anfang Dezember seine Ministerliste bekanntgab, allesamt Kommunisten oder Nahestehende, lehnte das Bürgerforum sie sofort ab und drohte mit neuem Streik. Die Regierung trat am 7. Dezember zurück, und ein neuer Ministerpräsident, Marian Calfa, ein untergeordneter Funktionär aus der Slowakei, trat mit dem Bürgerforum in Verhandlungen über die Bildung einer wirklichen Koalitionsregierung. Ihre Mitglieder wurden am 10. Dezember bekanntgegeben. Von den 21 Ministern waren nur 10 Kommunisten, darunter etliche Reformer, die für das Bürgerforum akzeptabel waren. Ein führendes Mitglied der Charta 77, Jiri Dienstbier, wurde Außenminister, und ein anderer, Jan Carnogursky, eben aus dem Gefängnis entlassen, wurde Stellvertretender Ministerpräsident. Der Finanzminister Vaclav Klaus war ein bekannter Radikaler, und obwohl die Kommunisten den Posten des Ministerpräsidenten und die Ministerien für Verteidigung, Handel und Wirtschaftsplanung behielten, legte das polnische Beispiel nahe, daß sie bald völlig entmachtet sein würden. Das Innenministerium wurde völlig umorganisiert: Die Polizei wurde einem Ministerkomitee einschließlich der Angehörigen des Bürgerforums unterstellt. Die letzte Forderung des Forums war der Rücktritt von Präsident Gustav Husak. Er vereidigte die neue Regierung am 10. Dezember und trat unmittelbar danach zurück. -642-
Das Parlament trat zusammen, um die repressiven Gesetze abzuschaffen, strich den Führungsanspruch der Partei aus der Verfassung, entzog früheren Regierungsmitgliedern das Mandat und nahm eine Reihe prominenter Oppositioneller auf, von denen Alexander Dubcek der namhafteste war. Da Ministerpräsident Calfa Slowake war, mußte der Präsident gemäß einer Vereinbarung der Nationalitäten Tscheche sein. Dubcek ist Slowake und war daher unwählbar. So wählte ihn die Volksvertretung zum Parlamentspräsidenten œ und Vaclav Havel zum Staatspräsidenten. Die Tschechoslowakei hatte den Kommunismus überwunden, und die früheren Dissidenten waren jetzt in einer Position, in der sie sicherstellen konnten, daß die Umwandlung schnell und tiefgreifend vor sich gehen würde. Für das Frühjahr 1990 wurden freie Wahlen angekündigt. In seiner Amtsantrittsrede ging Havel auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes ein und rief zur nationalen Einheit auf. Die neue Regierung forderte den Abzug der sowjetischen Truppen bis Ende 1990 und kündete an, daß die CSSR den COMECON verlassen werde, sollte dieser nicht unverzüglich Reformen einleiten. Im Januar 1990 beschleunigte sich der Verfallsprozeß des Kommunismus erneut: Calfa und zwei der anderen kommunistischen Minister traten aus der Partei aus. Die CSSR war, wie Polen, aber anders als die übrigen osteuropäischen Länder, nun tatsächlich ein nichtkommunistisches Land. Die neue Regierung verkündete nun ihre Absicht, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten. Das wäre ein passender fünfter Akt für das Drama, das 1945 begonnen hat.
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BALKAN
In der DDR, Polen und der CSFR war die entscheidende Frage jene nach ihrem Verhältnis zur Sowjetunion. Durch die friedliche Loslösung aus dem kommunistischen Herrschaftsbereich ergab sich alles übrige beinahe von selbst. Auf dem Balkan ist die Situation viel komplizierter. Zwischen den sechs Ländern (und der Türkei) bestehen ungelöste Fragen, die weit älter sind als der Marxismus. Der Anlaß für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Gemahlin am 28. Juni 1914 in Sarajewo. Sie wurden während der Fahrt im offenen Wagen von einem serbischen Terroristen erschossen. Sarajewo war die Hauptstadt von Bosnien, einer Provinz, die Österreich-Ungarn 1908 von der Türkei annektiert hatte. Serbien hatte seit fünfzig Jahren auf das Gebiet Anspruch erhoben, und Österreich hegte den berechtigten Verdacht, daß die serbische Regierung in den Anschlag verstrickt war. Serbien bedeutete für die österreichische Herrschaft über die slawischen Länder Kroatien, Slowenien und Bosnien eine Gefahr, und Wien wollte den Vorwand nützen, um Belgrad völlig zu unterwerfen. In den folgenden Auseinandersetzungen wurden vier Reiche zerstört, Lenin und Trotzki bescherten Rußland den Kommunismus, und der Boden für einen zweiten und weit größeren Krieg, zwanzig Jahre danach, wurde bereitet. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns im Jahr 1918 wurde zwischen Rußland und Deutschland eine Fülle neuer Staaten geschaffen, die sofort mit Streitigkeiten untereinander begannen. Von Estland bis Griechenland war œ mit Ausnahme der Tschechoslowakei œ jedes Land mehr oder weniger faschistisch. Nach 1945 wurden sie alle œ mit Ausnahme Griechenlands œ vom Kommunismus verschlungen, und der Lärm ihrer Auseinandersetzungen wich der Friedhofsstille der Gulags. Mit der Wende der Ereignisse im Jahr 1989 begannen die Todeszuckungen des sowjetischen Imperiums. Es war immer klar, daß die Feindseligkeiten zwischen den Völkern des Balkans durch das Sowjetimperium nur unterdrückt, nicht aber gelöst worden waren. Einige davon, etwa in Siebenbürgen, Jugoslawien und Bulgarien, sind -644-
schon wieder aufgetaucht, und auf das Wiedererscheinen der anderen werden wir wohl nicht allzulang warten müssen. Zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1945 tobte auf dem Balkan eine lange Abfolge von Kriegen. Der Grund war immer der gleiche: der wachsende Nationalismus der verschiedenen Völker der Region und die Unmöglichkeit, allseits akzeptierte Grenzen zwischen ihnen zu errichten. Für diesen Zustand wurde der Begriff der ‡Balkanisierung— geprägt. 1919 unternahmen die Siegermächte große Anstrengungen, die Grenzen auf dem Balkan ein für allemal festzulegen. Harold Nicolson berichtete, wie er in Paris das Hotelzimmer von Woodrow Wilson betrat und diesen und Lloyd George auf allen vieren antraf. George Clemenceau saß im Lehnstuhl und schaute ihnen spöttisch zu, wie sie Landkarten vom Balkan herumschoben. Im Friedensvertrag von Trianon, quasi ein Anhang zu Versailles, wurden diese Grenzen fixiert. Mit zwei Ausnahmen wurden sie 1945 bestätigt: Teile von Rumänien und der Tschechoslowakei kamen an die Sowjetunion, und die Grenze zwischen Italien und Jugoslawien wurde zugunsten Jugoslawiens korrigiert. Die irredentistischen Forderungen wurden nicht vergessen. Nachdem sich nun der sowjetische Griff gelöst hat, beschäftigt sich Ungarn wieder mit dem Schicksal der ungarischen Minderheit in Rumänien. Die jugoslawische Föderation hält kaum noch zusammen und ist zum Teil auch durch eine große und ungeduldige albanische Minderheit im Süden bedroht. Bulgarien hat durch Jahre seine türkische Minderheit verfolgt und hat bestimmt seine Ansprüche auf Teile des südlichen Jugoslawien wie die Dobrudscha in SüdRumänien nicht vergessen. Die Rumänen, die irredentistische Forderungen von Bulgarien und Ungarn fürchten, blicken verlangend über die Grenze ins sowjetische Moldawien (siehe SOWJETUNION). DER STREIT UM SIEBENBÜRGEN 1867 wurde im Staatssystem der Habsburgermonarchie das Königreich Ungarn durch ein kompliziertes Vertragswerk, den Ausgleich, den österreichischen Ländern verfassungsrechtlich gleichgestellt. Der österreichische Kaiser war auch König von Ungarn, und die Ungarn herrschten über Teile des heutigen Jugoslawien und -645-
rund die Hälfte des heutigen rumänischen und tschechoslowakischen Gebietes, die sie allesamt im Zusammenbruch von 1918 verloren. Die Sieger begrenzten Ungarn auf seine ursprünglichen Grenzen, durch die Grenzziehung blieben aber drei Millionen Menschen außerhalb ihres Gebietes œ in der Tschechoslowakei, Jugoslawien und vor allem in Zentral-Rumänien. Das ist Siebenbürgen, das Ungarn wie Rumänen als die Wiege ihrer Nation betrachten, Mehr als tausend Jahre lang lebten hier Magyaren, Rumänen und Deutsche, kleinere Gruppen von Juden, Sinti und Roma, gemeinsam, aber jeder für sich. Viele Dörfer und Städte haben drei Namen, in jeder Sprache einen. Während der Ceausescu-Jahre in Rumänien war die Zahl der Ungarn in Siebenbürgen heiß umstritten: die Ungarn sprachen von 2,5 Millionen, Rumänien von höchstens 1,7 Millionen. In Rumänien leben derzeit noch rund 250.000 Deutsche, die einzige große deutsche Gemeinde in Osteuropa, die 1945 nicht vertrieben wurde; in Ost-Rumänien, außerhalb von Siebenbürgen, leben weitere Hunderttausende Ungarn, allein in Bukarest sind es rund 200.000. Die größten ungarischen Gemeinden liegen in Zentral- und OstSiebenbürgen, von Ungarn durch einen breiten Streifen vorwiegend rumänisch besiedelten Landes getrennt. Diese Gebiete könnten nicht an Ungarn rückgeführt werden, ohne daß wiederum eine große Zahl Rumänen zu Ungarn käme, wodurch der gegenwärtige Irredentismus umgedreht und erneut eine unlösbare Grenzsituation geschaffen würde. Die Schmiede der Friedensverträge von 1919 entschieden, daß es die bessere Lösung sei, die Siebenbürger Ungarn bei Rumänien zu lassen und ihnen jedes mögliche politische und bürgerliche Recht zu garantieren. Außerdem waren die Ungarn eines jener Völker gewesen, die den Krieg begonnen und verloren hatten. In den dreißiger Jahren trat Ungarn der Achse bei und war solange ein treuer Verbündeter Hitlers, bis dessen Niederlage klar war und die Russen bereits an der Donau standen. Als Deutschland 1938/39 die Tschechoslowakei aufteilte, forderte Ungarn ein großes Stück für sich. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt, der unter anderem Stalin einen Anspruch auf Bessarabien, einen Teil Rumäniens, einräumte, beanspruchte Ungarn Siebenbürgen. Rumänien hatte dieser Forderung nichts entgegenzusetzen. Die Ungarn bekamen nicht alles zurück, was -646-
sie 1918 eingebüßt hatten, sondern vor allem das nördliche Siebenbürgen. Sie unterdrückten die Rumänen, die dort lebten, während die Rumänen den Ungarn im übrigen Rumänien das Leben schwer machten. Beide Länder waren Verbündete des Deutschen Reiches, unter dessen Druck sie Frieden halten mußten, aber beide bereiteten sich auf den Kampf gegeneinander vor, sobald der Krieg beendet sein würde. Ungarn annektierte 1941 auch einen Teil Jugoslawiens. Obwohl Ceausescu seine ungarischen Untertanen unterdrückte und obwohl die gegenwärtige ungarische Regierung ein Sonderfall balkanischer Mäßigung ist, sollte das Sündenregister der Ungarn an rücksichtsloser Aggression und Unterdrückung ihrer Nachbarn nicht vergessen werden. Die Nachbarn erinnern sich daran. Nach der Befreiung der Balkanländer errichteten die Sowjets die Vorkriegsgrenzen neu œ mit kleinen Abweichungen zu ihrem eigenen Nutzen œ und erklärten, daß der leninistische Internationalismus die Nationalitätenfragen lösen würde. Sie meinten, daß in Zukunft die marxistische Theorie von der Herrschaft der Klasse über die Nation alle Probleme lösen würde. Ein weiterer absurder Fehler der marxistischen Theorie. Seit 1945 erlitten die Ungarn in Rumänien ständige und wachsende Verfolgung. Präsident Nicolae Ceausescu stellte dazu fest: ‡Unsere Partei und unser Staat haben die Pflicht, alles daran zu wenden, daß jeder einzelne unserer Bürger mit jenen Bedingungen übereinstimmt, unter denen der Staat und die Nationalitäten sich vollenden können und zur selben Zeit es möglich machen, daß die nationalen Unterschiede abgebaut und unter dem Kommunismus schrittweise zum Verschwinden gebracht werden.— Die Ungarn in Rumänien widerstanden allen Versuchen, sie zum Verschwinden zu bringen. Die meisten der Hunderten ungarischen Schulen wurden geschlossen oder mit rumänischen Schulen verschmolzen; zuletzt blieben nur noch acht übrig. Die Direktoren waren alle Rumänen. Die ungarische Universität in Klausenburg/Cluj wurde mit einer rumänischen Universität zusammengelegt. Die wenigen übriggebliebenen Zeitungen und Zeitschriften in ungarischer Sprache waren drastisch zensuriert, hatten nur wenige Seiten und keinen Wert. Zeitungen aus Budapest waren in Siebenbürgen verboten, ausländische Touristen mußten in regierungseigenen Hotels -647-
absteigen. Das bedeutete, daß Ungarn aus Ungarn in Siebenbürgen nicht bei ihren Verwandten wohnen durften. In seinen letzten Monaten plante Ceausescu für das Ungarnproblem eine Art Endlösung. Anfang 1988 kündigte er an, daß von den 13.000 Dörfern in Rumänien 8.000 ausgelöscht und durch ‡agroindustrielle— Zentren ersetzt werden sollten. Die zum Untergang bestimmten waren vorwiegend ungarisch besiedelt, und bis in die letzten Tage seines Regimes wurde dieser Plan durchgeführt. Ungarn mußten, um Arbeitsplätze zu bekommen, rumänische Vornamen annehmen, und alle ungarischen Städte und Dörfer in Siebenbürgen bekamen rumänische Namen. So wurde aus Temesvar Timisoara. Am 27. Juni 1988 marschierten Zehntausende Ungarn vor die rumänische Botschaft in Budapest und protestierten gegen Ceausescus Politik. Es war im kommunistischen Osteuropa ein beispielloses Ereignis. Die ungarischen Kommunisten spielten die nationalistische Karte aus, als sie daheim an Glaubwürdigkeit verloren œ aber nur gegen Rumänien. Ungarische Flüchtlinge aus Rumänien wurden in Ungarn willkommen geheißen, und Budapest protestierte regelmäßig vehement gegen die rumänische Verfolgung der ungarischen Minderheit. Die ungarische Regierung behauptete aber weiter hartnäckig, daß sie keine Ansprüche auf Siebenbürgen erheben würde (geschweige denn auf jugoslawisches oder tschechoslowakisches Gebiet) œ ein Lippenbekenntnis im Rahmen des sozialistischen Internationalismus. Das neue Regime in Bukarest stellte zunächst alle antiungarischen Maßnahmen ein, ehe im Frühjahr 1990 wieder unverhohlener Terror gegen die Ungarn in Siebenbürgen ausgeübt wurde. Die Rumänische Revolution von Weihnachten 1989 wurde in Ungarn mit großem Jubel begrüßt, aber es wird noch ein langer und mühevoller Weg sein, bis sich die beiden Länder zu funktionierenden Demokratien entwickelt haben werden, und die Regierung Iliescu bediente sich bereits sehr bald der alten nationalistischen Ressentiments. Das weite Land des südlichen Jugoslawien und des nördlichen Griechenland, Mazedonien, ist ein anderes Spannungsgebiet. Die Griechen bezeichnen jeden, der innerhalb ihrer Grenzen lebt, als Griechen, während die Jugoslawen beanspruchen, daß das -648-
jugoslawische Mazedonien, eine der Gründungsrepubliken der Föderation, hauptsächlich von Slawen bewohnt wird, deren Sprache und Kultur sich in den Norden orientieren, nach Belgrad, nicht in den Osten nach Sofia. Historisch gesehen haben die Bulgaren recht mit ihrer Behauptung, daß die Mazedonier œ alle in Jugoslawien und die meisten in Griechenland œ Bulgarisch sprechen und daß sie alle zu Bulgarien kommen sollten, was nicht notwendigerweise die Konsequenz ist. Nicht alle Menschen, die Französisch sprechen, betrachten sich als Franzosen. Die Griechen erheben mittlerweile Forderungen auf das südliche Albanien, das sie Nord-Epiros nennen, und die Albaner beanspruchen den Kosovo in Jugoslawien. Vielleicht werden durch das Ende des sowjetischen Drucks alle diese Streitigkeiten begraben und vergessen, und Osteuropa kann seine Unabhängigkeit bewahren und sich nach dem Westen orientieren. Blickt man aber auf die Ereignisse in Jugoslawien, ganz zu schweigen von Transkaukasien, sind die Chancen dafür wohl nicht allzu groß. ALBANIEN Auch an Albanien gingen die Veränderungen des Ostblocks nicht spurlos vorüber. Die Regierung versprach allmähliche Reformen, kündete die Aufnahme verschieden abgestufter Beziehungen zu Staaten und internationalen Organisationen an œ von der EG bis zur KSZE. Im Sommer 1990 wurde die neue Mäßigung der albanischen Regierung auf die Probe gestellt, als Tausende in Tirana auf den Boden ausländischer Botschaften flüchteten und die Ausreisegenehmigung forderten. Es fielen Schüsse, es gab Tote und Verletzte, aber schließlich gab die Regierung nach. Tirana scheint bereit, sich wirtschaftlich wie politisch allmählich zu Öffnen.
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BULGARIEN Geographie: Fläche 110.912 km2. Bevölkerung: 8.959.000 Einwohner, davon ca. 10 % ‡moslemische— Bulgaren, d. h. türkische Minderheit. BSP: 5.898 $/Einw. Von allen dramatischen Veränderungen des Jahres 1989 war der Umsturz in Bulgarien das ruhigste und unerwartetste Ereignis. Am Tag nach der Öffnung der Berliner Mauer, während die Aufmerksamkeit der Welt auf die Wiedervereinigung der Deutschen gerichtet war, trat das Politbüro der Bulgarischen KP zusammen und setzte Todor Schiwkoff, den Generalsekretär seit 35 Jahren, einfach ab. Glasnost hatte Bulgarien erreicht. Falls die Partei allerdings geglaubt hatte, durch eine Säuberungsaktion an der Spitze die Macht im Land behalten zu können, wurde sie bald eines Besseren belehrt. Die Bulgaren folgten dem Beispiel ihrer früheren Genossen im Norden mit wachsender Begeisterung und forderten in einer Serie von Massendemonstrationen die gleichen Zugeständnisse, wie sie die Ostdeutschen, Polen und Tschechen durchgesetzt hatten. Im Januar 1990 hob das Parlament den Führungsanspruch der KP auf und stimmte der Abhaltung freier Wahlen im Sommer 1990 zu. Die Geschichte Bulgariens im 20. Jahrhundert ist ähnlich turbulent wie die der übrigen Balkan Staaten. Die Bulgaren waren der Meinung, daß ihnen die Großen Mächte nach den verschiedenen Kriegen des 19. Jahrhunderts und nach den beiden Balkan-Kriegen 1912 und 1913 ungerechtfertigterweise Teile ihres Gebietes abgenommen hätten. So traten sie 1914 an die Seite der Mittelmächte und annektierten die Dobrudscha von Rumänien, West-Mazedonien von Serbien und OstThrakien von Griechenland. 1918 wurden sie zur Rückgabe aller dieser Gebiete gezwungen. 1940 versuchten es die Bulgaren noch einmal. Einmal mehr verbündeten sie sich mit den Deutschen, einmal mehr besetzten sie die Gebiete der Nachbarn und einmal mehr wurden sie besiegt. 1944 schied Bulgarien aus dem Bündnis mit Deutschland aus und begrüßte die Russen als Befreier. Der König wurde abgesetzt und eine -650-
kommunistische Regierung installiert. Von allen sowjetischen Satelliten war Bulgarien der stabilste. Es war besser regiert als Rumänien im Norden, und seine traditionelle Allianz mit den Russen hielt an. Die Sowjetunion hatte auch keine Veranlassung, auf bulgarischem Boden Truppen zu stationieren. Als in Moskau Gorbatschow seine Reformen durchführte, überlegte auch der bulgarische Staatschef Todor Schiwkoff, seit 1954 an der Spitze des Landes, ähnliche Reformen, deren Einführung er im Juli 1987 für den kommenden Parteitag ankündigte. Allerdings zog er den Vorschlag im letzten Moment wieder zurück. Es war Schiwkoffs letzte Chance. Auch Bulgarien konnte sich dem Strom der allgemeinen Veränderung nicht entziehen. Am 26. Oktober 1989 versuchten Mitglieder der ‡Öko-Glasnost—, der einzigen organisierten Dissidentenbewegung in Bulgarien, in Sofia Unterschriften gegen die Umweltverschmutzung und gegen die Politik der Regierung überhaupt zu sammeln. Die Polizei trieb sie auseinander. Am 3. November kam es gleichzeitig mit einer internationalen Ökologen-Konferenz in Sofia zu einer Demonstration von rund 9.000 Öko-Glasnost-Anhängern, der ersten öffentlichen Protestaktion gegen das Regime seit Jahrzehnten. Sie wurde gewaltsam aufgelöst, möglicherweise auf Anordnung von Schiwkoff œ ein Ereignis, das die Minister, die die ausländischen Ökologen nach Sofia eingeladen hatten, schwer verärgerte. Einer von ihnen war der Außenminister Petar Mladenoff. Dieses Ereignis löste den Umsturz aus, wenn auch weniger dramatisch als die Demonstrationen in Leipzig, Prag und Timisoara, die zu den Revolutionen in diesen Ländern geführt hatten. Mladenoff und andere Reformer lasen die Schrift an der Wand, und am 10. November 1989, einen Tag nach der Öffnung der Berliner Mauer, aber noch vor dem Zusammenbruch der Regierungen in Prag und Bukarest, begann die Bulgarische KP, sich selbst zu reformieren. Schiwkoff wurde sofort aus seinen Ämtern als Staatspräsident und KP-Generalsekretär entlassen und durch Mladenoff ersetzt, und die Bulgaren suchten ihre eigene Version von Perestroika und Glasnost zu finden. Es war die friedlichste aller Reformbewegungen. Die Partei warf die alte Garde hinaus, und Schiwkoff selbst wurde bald unter Korruptionsanklage gestellt. Die Opposition bildete sich rasch und -651-
forderte die Abschaffung der ‡führenden gesellschaftlichen Rolle— der KP und freie Wahlen im Jahr 1990. Die Parteireformer leisteten Widerstand, aber nur gemäßigt. Schließlich war es nicht die CSSR unter Milos Jakes, ganz zu schweigen von Rumänien unter Ceausescu. Sie wollten ihr eigenes Tempo einschlagen oder zumindest Gorbatschows Tempo folgen, aber nicht schneller sein. Der Druck auf die Kommunisten ging jedoch weiter, und die KP konnte nicht lange Widerstand leisten. Im Januar 1990 stimmte sie dem Verzicht auf den Führungsanspruch zu, versprach freie Wahlen für 1990 und eröffnete das Gespräch mit der Opposition am Runden Tisch. Ungeachtet aller Wanderungen der Bevölkerungsgruppen im 20. Jahrhundert gibt es in Bulgarien immer noch eine starke türkische Minderheit, einige hunderttausend Menschen, vielleicht bis zu 1,5 Millionen. Genauere Angaben sind unmöglich. In Bulgarien unter Schiwkoff wurde die Existenz von Türken überhaupt geleugnet, und 1983 mußten zur Untermauerung dieser Behauptung alle Bürger bulgarische Namen annehmen. Die Maßnahme wurde durch verschiedene Strafandrohungen unterstützt. Das stand im glatten Widerspruch zur kommunistischen Doktrin, ganz zu schweigen von der UNO-Menschenrechtserklärung und der Schlußakte von Helsinki, aber für den Balkan war es nichts Ungewöhnliches. Im Sommer 1989 flüchteten rund 320.000 bulgarische Türken aus dem Land und ließen sich in der Türkei nieder, wo sie zwar grundsätzlich willkommen geheißen wurden, aber auf große Schwierigkeiten stießen, Unterkunft und Arbeit zu finden. Ungefähr 50.000 der Flüchtlinge kehrten zurück, als sie festgestellt hatten, daß die wirtschaftlichen Probleme der Türkei schlimmer waren als die Unterdrückung in Bulgarien. Die Türkenfeindlichkeit mußte vom Schiwkoff-Regime nicht künstlich geschaffen werden, und sie überstand auch den Regierungswechsel. Bei einer der ersten großen Oppositionsversammlungen in Sofia nach Schiwkoffs Sturz hielt eine Reihe Dissidenten Ansprachen, und einer forderte die Widerrufung aller antitürkischen Gesetze. Er wurde von der Menge niedergeschrieen und als Verräter bezeichnet. Die neue Regierung hob alle Beschränkungen der Religionsfreiheit der Türken auf und gab ihnen das Recht auf ihre eigenen Namen wieder. Zu Beginn des neuen Jahres kam es im ganzen Land zu antitürkischen Demonstrationen, bei -652-
denen die Massen die neue Regierung angriffen. Es war ein erstaunliches Zeichen der Langlebigkeit alter Streitigkeiten. Die Bulgaren hatten die langen Jahrhunderte der türkischen Herrschaft und die Grausamkeiten seit 1878 weder vergessen noch vergeben. Die Wahlen im Juni 1990, nach einem komplizierten und für die demokratieungeübten Bulgaren schwer durchschaubaren Verfahren, brachten ein überraschendes Ergebnis: Die Kommunisten, die sich nunmehr als Sozialisten bezeichneten, verloren zwar in Sofia, gewannen aber auf dem Land und damit insgesamt eine knappe Mehrheit. Die Regierung leitete eine Vielzahl von Reformen ein, sah sich aber mit nicht enden wollenden Demonstrationen der Opposition konfrontiert. Mehrmals erzwangen Studenten mit der Drohung, sich selbst zu verbrennen, politische Zugeständnisse.
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JUGOSLAWIEN Geographie: Fläche 255.804 km2. Bevölkerung: 23,270.000 Einwohner. Jugoslawien ist eine Volksrepublik auf bundesstaatlicher Grundlage. Bosnien und Herzegowina: 4,1 Millionen Einwohner, die Mehrheit Serben, der Rest Kroaten; 51.126 km2. Kroatien: 4,6 Millionen; 56.537 km2. Mazedonien: 1,9 Millionen; 25.713 km2. Montenegro: 584.310; 13.812 km×. Serbien: 9,3 Millionen; 88.360 km2. Slowenien: 1,8 Millionen; 20.251 km2. Die beiden autonomen Provinzen Kosovo (vor allem von Albanern bewohnt) und Vojvodina (mit einer großen ungarischen Minderheit) zählen zu Serbien. Insgesamt sind 42 % der Bevölkerung Serben. Serbisch und Kroatisch sind Staatssprachen, Slowenisch und Mazedonisch auch Staatssprachen der Teilrepubliken. 41,5 % der Bevölkerung sind serbisch-orthodoxe Christen, 31,8 % Katholiken und 12,3 % Moslems. BSP: 2.480 $/Einw. Die jugoslawische und die albanische kommunistische Partei, anders als die anderen in Europa, gewannen ihre Revolutionen ohne die Hilfe der Roten Armee. 1948 brach Tito mit Stalin und wurde zur lebenden Legende. Die Sowjets dehnten ihre Vorherrschaft nicht auf Betgrad aus. Das war mit ein Grund, daß das kommunistische Regime dort so lange überlebte. Der andere Grund war die Konsequenz der Aufsplitterung des Landes. In Jugoslawien gibt es sechs Republiken, die sich alle eines großen Maßes an Autonomie erfreuen. Wo Stalin eine eiserne Gewaltherrschaft über die hundert Völker der Sowjetunion errichtete, die auf der Vorherrschaft der Russen beruhte, sicherte Tito seinen Staat durch einen komplizierten Balanceakt zwischen den vier großen -654-
Nationalitäten (Serben, Kroaten, Mazedoniern und Slowenen) und den kleineren Minderheiten. Er selbst war Kroate, was dazu beitrug, diese Republik in der Föderation zu halten. Es war keine Demokratie, aber die persönlichen Freiheiten wurden in Jugoslawien mehr als in irgendeinem anderen osteuropäischen Land gewahrt œ bis zu den Umstürzen von 1989. Die Rechte und Privilegien der Minderheitengebiete, durch die Grenzziehungen von 1919 von ihren Landsleuten abgeschnitten, sind verfassungsrechtlich geschützt. Dieser theoretisch bestens geregelte Status wird im Kosovo am härtesten auf den Prüfstand gestellt. Der Kosovo ist eine autonome Provinz von Serbien, die im Süden und Westen an Albanien angrenzt. Es ist die ärmste Region Jugoslawiens. Neunzig Prozent der Bevölkerung sprechen Albanisch, und die meisten von ihnen sind Moslems. Es gibt mehr als eine Million von ihnen, sie werden auch Skipetaren genannt. Vor einer Generation gab es im Kosovo genauso viele Serben wie Albaner, aber die Mehrzahl der Serben hat das Land verlassen, um am größeren Wohlstand des Nordens teilzuhaben. Sie behaupten allerdings, durch albanischen Terrorismus vertrieben worden zu sein. 1981 kam es im Kosovo zu Pogromen gegen die serbische Minderheit; nach offiziellen Angaben wurden 50 Serben getötet. Es gab auch die am Balkan üblichen Meldungen von schrecklichen Grausamkeiten seitens der Albaner. Die ganze Situation ähnelt sehr stark der in Nagornij-Karabach, in der Sowjetrepublik Aserbeidschan, einer Region, die hauptsächlich von Armeniern bewohnt ist und die von beiden Republiken beansprucht wird. Niemand, der bei klarem Verstand ist, kann sich einen Anschluß an Albanien wünschen, solange es von seiner abgekapselten Diktatur beherrscht wird. Die Kosovo-Albaner haben im letzten Jahrzehnt von Belgrad die Unabhängigkeit verlangt und die Forderung erhoben, daß sie wie Slowenien eine unabhängige neue Republik in der jugoslawischen Föderation gründen wollen. Sobald der albanische Präsident Alia den Weg Ceaucescus gehen sollte, werden ihre Forderungen zweifellos an Nachdruck zunehmen und vielleicht in die Sezession von Jugoslawien und die Vereinigung mit Albanien münden. In diesem Fall wäre die Parallele dazu aber eher die Moldauische Republik. Die Serben lehnen diese Idee kategorisch ab. -655-
Nach ihrer Meinung ist der Kosovo seit jeher Teil von Serbien gewesen (die Türken schlugen die Serben dort 1389 in der berühmten Schlacht auf dem Amselfeld). Sie nehmen die gleiche Haltung ein wie die Aserbeidschaner gegenüber Nagornij-Karabach, mit den selben gewalttätigen Konsequenzen. 1989 schickte Serbien starke Truppeneinheiten in den Kosovo um die Ordnung aufrechtzuerhalten und die lokale Regierung zu unterstützen, die von der serbischen Regierung in Belgrad ernannt worden war. Aber es gibt auch noch andere nationale Gegensätze. Die Serben haben nicht vergessen, daß sich die Kroaten und Slowenen im Zweiten Weltkrieg den Deutschen angeschlossen haben. Die faschistische kroatische Regierung, die Hitler eingesetzt hatte, war fanatisch katholisch. Sie verfolgte orthodoxe Serben und unterstützte die Gestapo beim Abtransport der Juden nach Auschwitz. Es existieren Filme, auf denen zu sehen ist, wie Ansammlungen von Serben vor die Wahl zwischen katholischer Taufe oder dem Tod gestellt werden. Die Filme enden mit der Massenhinrichtung durch Maschinengewehrfeuer. Insgesamt hat die kroatische Regierung rund 700.000 Menschen auf dem Gewissen, ein Sechstel der Bevölkerung. Einer der Hauptverantwortlichen, der Polizeiminister Andre) Artukovic, lebte dreißig Jahre lang unbehelligt in Kalifornien und entzog sich allen Bemühungen, ihn wegen seiner Kriegsverbrechen zu belangen, ehe er Mitte der achtziger Jahre an Jugoslawien ausgeliefert wurde. Die Kroaten lehnen ebenso wie die Slowenen die Dominanz Belgrads ab. Manche Abneigungen gehen zurück auf die österreichischungarische Periode und weiter noch: Im Norden sind die Menschen katholisch, verwenden das lateinische Alphabet und orientieren sich nach Westen und Norden. Im Süden sind die Menschen orthodox, benützen das kyrillische Alphabet, und ihre traditionelle Kultur ist mit dem Osten verbunden. Im Kosovo beten sie selbstverständlich nach Mekka. Jugoslawien wäre gerne eine kommunistische Schweiz auf dem Balkan, mit den vielen Nationalitäten, die friedlich zusammenleben. So ist es nicht. Sein Überleben bis jetzt war ein Wunder und zum Großteil von 1948 bis in die jüngste Zeit auf die tiefe Feindschaft zur UdSSR zurückzuführen. Wie sehr Slowenen und Mazedonier auch -656-
Belgrad ablehnen mochten, sie zogen es immer noch Moskau bei weitem vor. Jetzt ist diese Drohung erloschen, und sie sind frei, untereinander zu streiten. Sie nützen diese Veränderung der Situation nach Leibeskräften aus. Jugoslawiens wirtschaftliche Situation hat sich im Lauf der achtziger Jahre ständig verschlechtert. Die Kollektivregierung, die nach Titos Tod im Jahre 1980 eingesetzt wurde, mit einer Präsidentschaft im Rotationsprinzip, hatte einfach nicht die Autorität, mit den wesentlichen wirtschaftlichen und politischen Problemen zurechtzukommen. 1988 wurden die Anzeichen der Auflösung offensichtlich. Die Serben erhoben die Forderung, daß ihre Überzahl und ihre historische Rolle als führende Nation im Staat anerkannt würden. Der serbische Parteiführer Slobodan Milosevic stellte sich an die Spitze einer nationalistischen serbischen Bewegung und errang einen Grad an Popularität wie kein anderer Führer Jugoslawiens seit Tito. Daraus ergab sich natürlich, daß man ihm in den anderen Provinzen tiefes Mißtrauen entgegenbrachte. Milosevic forderte, daß die autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina Serbien eingegliedert werden sollten und daß Serbiens Rolle in der Föderation gestärkt werden sollte. Das Politbüro stimmte gegen ihn und für die Aufrechterhaltung des lockeren Systems, wie es seit Titos Tod bestand. Der serbische Führer wollte diese Entscheidung nicht akzeptieren, und im November gelang es ihm, den Rücktritt der Parteiführung im Kosovo zu erzwingen, die er beschuldigte, die ‡Verfolgung— der serbischen Minderheit im Kosovo zuzulassen. Am 19. November rief er die Einwohner Belgrads zu einer gewaltigen Demonstration auf die Straße, gegen die albanischen Grausamkeiten im Kosovo. Rund eine Million Menschen folgten diesem Ruf. Am 11. Januar 1989 begann eine weitere Serie von Demonstrationen in Montenegro, angestachelt von den Gefolgsleuten Milosevic. Sie betrieben die Resignation der gesamten Regierung und Parteiführung. Milosevic hatte nun den Kosovo unter Kontrolle, ebenso die Vojvodina und Montenegro, wie auch Serbien selbst. In der Zwischenzeit demonstrierten die Albaner wiederum in Pristina und forderten die Wiedereinsetzung der entlassenen Funktionäre. Jugoslawiens Wirtschaftskrise verschärfte sich zusehends, wie im Rest von Osteuropa. Die Inflation erreichte Ende 1988 eine Jahresrate -657-
von 250 Prozent, ein Jahr später waren es 10.000 Prozent. Die ‡Selbstverwaltung— der Industrieunternehmen, die Tito eingeführt hatte, eine seiner zahlreichen Abweichungen vom klassischen Stalinismus, hatte sich als Debakel herausgestellt. Viele dieser Unternehmen sind bankrott, können aber nicht geschlossen werden. Die sechs Republiken liegen im Wettstreit gegeneinander: Serbien begann 1989 einen Wirtschaftsboykott gegen Slowenien. Alle Republiken betrachten sich als gleichermaßen voneinander wirtschaftlich unabhängig und als das Opfer der Machenschaften der anderen. Es gibt zwischen ihnen weit weniger Zusammenarbeit als zwischen unzusammenhängenden unabhängigen Staaten, ganz zu schweigen von den 12 Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Im Herbst 1988 schlug die Bundesregierung unter Führung des Nationalökonomen Branko Mikulic in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds strikte Reformmaßnahmen vor. Die Reformen wurden vom Parlament abgelehnt, das dem Budget seine Zustimmung verweigerte, und die Regierung trat am 30. Dezember zurück. Dieser in der westlichen Politik normale Vorgang ereignete sich zum ersten Mal in einem kommunistischen Land. Jugoslawiens Probleme wurden dadurch nicht gelöst. Im März 1989 wurde eine neue Regierung unter Ante Markovic gewählt. Der frühere Bankdirektor und Ministerpräsident von Kroatien schlug noch schärfere Reformmaßnahmen vor. Er nützte die verfassungsbedingte Schwäche der Regierung zu seinem Vorteil und überzeugte das Parlament œ zu diesem Zeitpunkt noch von den Parteispitzen beherrscht œ, ihm in dieser Krisensituation Sondervollmachten zuzugestehen. Umgehend verband er den jugoslawischen Dinar mit der D-Mark und machte ihn ab 1. Januar 1990 zu einer voll konvertierbaren Währung. Gleichzeitig gestattete er den uneingeschränkten ausländischen Besitz jugoslawischer Firmen. Auch seine weiteren ökonomischen Reformmaßnahmen waren dazu angetan, das Land und die Partei auf den politischen Reformkurs des übrigen Osteuropa zu bringen. Derzeit ist er der einzige Politiker, der im ganzen Land Ansehen genießt, und der einzige mögliche Herausforderer von Milosevic. Der Konflikt zwischen den Republiken nahm an Schärfe zu. Im -658-
Dezember 1989 stimmten die Kommunistischen Parteien von Kroatien und Slowenien für freie Wahlen im Jahr 1990 und verzichteten auf ihren Führungsanspruch. Sie hatten die Ereignisse im übrigen Osteuropa beobachtet (ihr Parteitag fand genau während der Rumänischen Revolution statt) und kamen zu dem Schluß, daß ihr Heil nur in der Übernahme einer Marktwirtschaft läge œ und dem Bestreben, der EG beizutreten. Diese Wahlen fanden im April 1990 statt und endeten mit Niederlagen der Kommunisten. Das Kosovo-Problem verschärfte sich ständig; schließlich kam es im Januar 1990 zu einer richtiggehenden Rebellion. Kosovo ist die ärmste Region Jugoslawiens und litt unter der Wirtschaftskrise des Landes am meisten œ wie auch unter der schweren Hand von Slobodan Milosevic. 1989 starben bei Unruhen in dieser Provinz mehr als 20 Menschen, die meisten von ihnen Albaner, und in den letzten Januartagen 1990 waren es weitere 20. Am 20. Januar scheiterte ein nationaler Parteikongreß, als die slowenischen Delegierten auszogen und eine hoffnungslos gespaltene KP hinterließen. Die Slowenen hatten mit Unterstützung der Kroaten gefordert, daß die Verfassung abgeändert werden sollte, um Pressefreiheit und andere Menschenrechte zu garantieren œ vor allem aber, daß die Partei selbst sich vom Kommunismus lossagen sollte. Sie wurden von den einhelligen Stimmen der Serben und Montenegriner überstimmt. Die beiden anderen Republiken, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina, unterstützten die Reformer, schreckten aber vor diesem extremen Schritt zurück. Der Parteitag stimmte allerdings für den Verzicht der KP auf den Führungsanspruch. Die Partei zerfiel, was Ministerpräsident Ante Markovic nur wenig aufregte. ‡Jugoslawien wird mit und ohne die Kommunistische Partei bestehen—, sagte er. Im Lauf des Sommers 1990 schien diese optimistische Prognose nicht mehr gesichert. Das serbische Parlament hob das Autonomiestatut des Kosovo auf. Mehrfach waren Szenen und Situationen entstanden, die das Land an den Rand des Zerfalls wie auch des Bürgerkriegs gebracht hatten. Nicht nur im Kosovo, wo es zu Kämpfen zwischen Serben und Albanern kam, sondern zum Beispiel -659-
auch in Slowenien, wo die Zentralregierung durch Truppenbewegungen und Tiefflieger über Ljubljana die Bevölkerung, die das Ende des Kommunismus bis hin zur Unabhängigkeit Sloweniens forderte, einzuschüchtern versuchte.
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RUMÄNIEN Geographie: Fläche 237.500 km2. Bevölkerung: 23,177.000 Einwohner. BSP: 1.666$/Einw. Die Rumänische Revolution von Weihnachten 1989 war in diesem dramatischen Jahr in Osteuropa das dramatischste Ereignis. Ceausescu führte das bedrückendste kommunistische Regime, vielleicht mit Ausnahme von Albanien, und sein Sturz war das blutigste Geschehen in Europa seit 1945. Die Regierung versuchte die Demonstranten einzuschüchtern, indem sie auf sie schießen ließ, und ihr Schicksal machte deutlich, was sich in den anderen kommunistischen Staaten abgespielt hätte, wenn ihre Regierungen ähnlich brutal und ähnlich verzweifelt gewesen wären. Nach der ersten gewalttätigen Phase der Revolution überlebte das Komitee zur Nationalen Rettung dank der Unterstützung der Massen, wie auch die Regierungen der DDR und Bulgariens. Rumänien tauschte die Tyrannei gegen eine Wirtschaftskrise und die Möglichkeit der Anarchie. Abgesehen von den Griechen sind die Rumänen die älteste Nation auf dem Balkan. Sie wurden von den Römern kolonisiert und lernten Latein. Rumänisch ist eine romanische Sprache, durchsetzt mit slawischen und türkischen Wörtern. Als die Ungarn Dakien eroberten und die Slawen die ganze Halbinsel überfluteten, überlebten die Rumänen, und als sie sich zuletzt im 19. Jahrhundert von der türkischen Herrschaft freimachten, orientierten sie sich nach Westen, während die Bulgaren und Serben auf Rußland blickten. In Siebenbürgen sind Ungarn und Rumänen untrennbar vermischt, und Rumänien hat auch mit seinen anderen Nachbarn Grenzstreitigkeiten. Nördlich der Donau liegt Bessarabien, jetzt die Moldauische SSR, früher ein rumänisches Fürstentum. Im 18. Jahrhundert entwanden es die Zaren den Türken. Nach dem Krimkrieg wurde das südliche Bessarabien Rumänien, im Berliner Vertrag von 1878 aber wiederum Rußland zugesprochen. Als das Zarenreich 1917 zusammenbrach, beanspruchte Rumänien die verlorene Provinz. Im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 wurde der Anspruch der Sowjetunion auf -661-
Moldawien festgeschrieben, ebenso wie die Annexion der Bukowina, einem Gebiet in Nord-Rumänien, das niemals Teil Rußlands gewesen war. Im Juni 1940, unmittelbar nach der Niederlage Frankreichs und dem Rückzug der britischen Truppen vom Kontinent, informierte der sowjetische Außenminister Molotow die Rumänen über ihr Schicksal. Mit einem dicken Bleistift zeichnete er den neuen Grenzverlauf auf einer Landkarte ein und bezog dabei sorglos auch Teile Moldawiens mit ein, die niemals in russischem Besitz gewesen waren. Die Sowjets bestanden auf der Einhaltung der Molotow-Linie. Als Hitler ein Jahr später die Sowjetunion angriff, schlossen sich ihm die Rumänen an. Sie nahmen ihre verlorenen Gebiete wieder in Besitz, und Hitler gestattete ihnen auch die Angliederung von Odessa mitsamt dessen Hinterland, das sie ‡Transnistria— nannten. Es war ein kurzlebiges Reich. Die Sowjetunion holte sich Moldawien und die Bukowina wieder zurück und rundete das Gebiet mit einem Stück der Slowakei ab. In den Balkankriegen von 1912 und 1913 und in beiden Weltkriegen stritten Rumänien und Bulgarien um die südliche Dobrudscha, ein Gebiet im Donaudelta. Jetzt ist es wieder Teil Rumäniens. Stalin hat zwar das nordöstliche Rumänien amputiert, ihm aber im Süden und Westen wieder Gebiet hinzugefügt. Die rumänische Regierung, die von Stalin eingesetzt wurde, wurde nach der Machtübernahme von Nicolae Ceausescu im Jahr 1965 das korrupteste und unfähigste Regime aller europäischen kommunistischen Staaten. Er herrschte mit Hilfe seiner Frau Elena, ihrer Kinder, seiner Brüder und anderer Verwandter. Es gab einen grotesken Personenkult, der nur von Nord-Korea übertroffen wurde. Ceausescu liebte pompöse Titel, wie ‡Großes Licht der Karpaten—. Zu seinem 70. Geburtstag verkündete die Partei: ‡Das gesamte rumänische Volk, zusammengeschweißt durch die revolutionäre Hingabe, sein äußerstes zur Stärkung der Unabhängigkeit und Souveränität des sozialistischen Heimatlandes, zu seiner fortwährenden vielfältigen Entwicklung, zu seiner glänzenden Stellung in der Welt zu tun, zollt in diesen Tagen seine tiefe Verehrung mit dem Ausdruck tiefer Dankbarkeit dem Genossen Nicolae Ceausescu, Generalsekretär der Partei, Präsident der Republik œ dem geliebtesten Sohn des Volkes, dem herausragenden -662-
revolutionären Kämpfer, Held unter den Helden der Nation, Architekt des modernen sozialistischen Rumänien, einer Gesellschaft, die auf einer höheren historischen Stufe des neuen Systems die Ideale der Vorkämpfer erfüllt, dem Gründer der neuen Bestimmung der Rumänen von nationaler Freiheit und Würde, dem herausragenden Staatsmann der heutigen Welt, der, indem er den höchsten Zielen des Landes unermüdlich und selbstgenügsam dient, das Land unwiderruflich auf den Weg des fruchtbarsten Fortschritts geführt hat; durch sein revolutionäres Denken und Handeln, mit seinem unübertroffenen Beitrag zur schöpferischen Bereicherung der weltrevolutionären Theorie und Praxis, durch seine riesenhafte Arbeit im Dienste des Friedens, der internationalen Verständigung und Zusammenarbeit, zur Verteidigung der Völker und der geheiligten Rechte der Nation auf freies und würdevolles Dasein zur Errichtung einer gerechteren und besseren Welt, hob er das Ansehen des Landes auf eine bisher unerreichte Höhe. Zu diesem Anlaß der großen nationalen Feierstunde zollt unser gesamtes Volk seinen tiefsten Respekt und seine Wertschätzung der Akademikerin Elena Ceausescu, DSc, einem leuchtenden Beispiel einer Revolutionärin und Politikerin, einer gefeierten Wissenschaftlerin von Weltrang, die unschätzbare Beiträge zu jenen Aktivitäten gibt, die der Ausarbeitung und Umsetzung jener Pläne und Programme gewidmet sind, die den sozioökonomischen Fortschritt des Landes fördern sollen, zur Entwicklung der Wissenschaften, Erziehung und Kultur in unserer Heimat, die sich auch unermüdlich aufopfert für die Ideale von Frieden, Zusammenarbeit und Freundschaft unter den Völkern der Welt.— Rumänien war die Erfüllung von Orwells Vision einer kommunistischen Diktatur in 1984. Eine grauenhafte Tyrannei, wo die Menschen in der Kälte verhungerten und jeder Schritt von der Gedankenpolizei überwacht wurde. Es war untersagt, mit Ausländern zu sprechen; alle Schreibmaschinen und Personal-Computer waren polizeilich registriert; Abtreibung und Empfängnisverhütung waren verboten; jede Frau sollte fünf Kinder gebären und mußte sich alle drei Monate einer gynäkologischen Untersuchung unterziehen. Ceausescu wollte die Bevölkerung bis zum Jahr 2000 auf 30 Millionen anheben. In Rumänien herrschten die wirtschaftlichen -663-
Zustände des Europa der unmittelbaren Nachkriegsjahre, alles war rationiert. Es gab nicht genug Energie, um im Winter die Gebäude zu beheizen, oder sie in der Nacht vernünftig zu beleuchten. Es durfte nur vier Stunden am Tag geheizt werden, und in keinem Raum durfte es mehr als eine 60-Watt-Glühbirne geben. Die Einhaltung aller dieser Gebote wurde von der Securitate überwacht, der grausamsten Geheimpolizei in Europa seit der Gestapo und dem NKWD. Anders als Stalin und Mao war Ceausescu auch persönlich korrupt. Er häufte riesige Summen an und herrschte wie ein Dritte-WeltDespot, mit einem Hofstaat, Palästen und allen verrückten Spielzeugen eines Mannes, der plötzlich Milliardär geworden ist. Er beschloß, sich in Bukarest zu verewigen, indem er eine große Zahl bedeutender Gebäude aus dem 19. Jahrhundert abreißen ließ, um Platz für neue Prachtstraßen zu gewinnen, vor allem für den ‡Sieg des Sozialismus—-Boulevard. Dieser führte zu einem Palast, den er für sich selbst im Zentrum von Bukarest errichten ließ. Dieses Monumentalgebäude hieß das ‡Haus der Republik—, ist 100 Meter hoch und kostete Millionen Dollar. Das einzig Vergleichbare in der modernen europäischen Geschichte waren die größenwahnsinnigen Pläne für Berlin, die Albert Speer im Auftrag Hitlers entwarf œ einschließlich einer gigantischen Prunkstraße und einem riesenhaften Palast. Die meisten Gebäude Speers wurden niemals begonnen, aber Ceausescu regierte mehr als doppelt so lang als Hitler, und zur Zeit der Revolution war sein Palast beinahe vollendet. Die neue Regierung muß sich jetzt überlegen, was sie damit machen wird. Insgesamt sollte ein Drittel der Stadt für die Projekte abgerissen werden œ und der Großteil der Zerstörung war vor der Revolution bereits vollendet. Zwischen 1981 und 1989 entkamen mehr als 50.000 Flüchtlinge aus Rumänien nach Ungarn. Die meisten waren ungarischer Herkunft, aber auch etliche Rumänen flüchteten vor den wirtschaftlichen Zuständen, die Ceausescus Politik bewirkte. Die Grenze zwischen Ungarn und Rumänien erinnerte an den Eisernen Vorhang vor dreißig Jahren: verzweifelte Menschen versuchten, den Schrecken ihrer Heimat zu entkommen und die vergleichsweise Freiheit Ungarns zu erreichen. Zum ersten Mal in der Geschichte des europäischen Kommunismus versuchten Menschen in ein kommunistisches Land hineinzukommen œ und sie wurden willkommen geheißen. -664-
Es gab immer wieder Proteste gegen Ceausescu (im November 1987 kam es in Brasov/Kronstadt zu Aufständen) und vereinzelte Demonstrationen gegen die Dorfzerstörungspolitik und Umsiedlung der Landbevölkerung in ‡agroindustrielle— Zentren. Im März 1989 schickte eine Gruppe von sechs früheren hochrangigen rumänischen KP-Politikern einen Protestbrief an Ceausescu und veröffentlichte ihn im Ausland. Sie beschuldigten ihn der Verletzung der Menschenrechte œ einschließlich der in der Schlußakte von Helsinki garantierten, die er persönlich unterzeichnet hatte œ, des Bruches der verfassungsmäßig garantierten Rechte der Bevölkerung, der Mißwirtschaft und der Feindseligkeit gegenüber Rumäniens Verbündeten. Zu den Unterzeichnern gehörten der vierundneunzigjährige Constantin Pirvulescu, einer der Begründer der Kommunistischen Partei, der siebenundsiebzigjährige Gheorge Apostol, früheres Politbüromitglied, Silviu Brucan, früher Botschafter in den USA, und Corneliu Manescu, ein ehemaliger Außenminister und Präsident der UNGeneralversammlung. Sie wurden alle unter Hausarrest gestellt. Brucans Sohn wurde verhaftet und der Spionage angeklagt. Am 22. Dezember rief Manescu im Fernsehen die Revolution aus und forderte die Armee auf, sie zu schützen. Er und Brucan wurden in das Komitee zur Nationalen Rettung aufgenommen. Die Rumänen erfuhren allen Anstrengungen der Securitate zum Trotz von den Entwicklungen im Ausland. Das rumänische Fernsehen, das pro Tag nur zwei Stunden Programm ausstrahlte, konzentrierte seine Berichterstattung auf die Verdienste des Großen Führers der Nation, und die Presse und das Radio standen voll im Dienste des Regimes. Aber die Menschen hörten die Sendungen der Voice of America und der BBC œ aber auch aus den Sendungen des ungarischen, jugoslawischen, bulgarischen und sogar sowjetischen Radios erfuhren sie, was im übrigen Osteuropa vor sich ging. Am 24. November 1989, während eben die kommunistischen Regierungen in der DDR, der Tschechoslowakei und in Bulgarien zusammenbrachen, hielt Ceausescu den XIV. Parteikongreß ab, dessen Zweck ausschließlich darin bestand, ihn, seine Frau, seinen Sohn, seine Brüder und alle anderen Verwandten zu preisen œ und wieder einmal den unverrückbar korrekten Kurs der Partei zu bekräftigen. Die ausländischen kommunistischen Parteien ignorierten -665-
diesen Parteitag weitgehend. Mitte Dezember 1989 wollte die Securitate den protestantischen ungarischen Pastor Laszlo Tökes in Timisoara verhaften. Die Stadt, auf Ungarisch Temesvar, ist die Hauptstadt des Banat, einer Region, die bis 1918 zu Ungarn gehörte und immer noch große ungarische und serbische Siedlungen hat. Als am 14. Dezember die Polizisten kamen, bildeten die Angehörigen seiner Pfarre und die Nachbarn eine Menschenkette um das Haus von Tökes, um die Securitate an seiner Verhaftung zu hindern. Aus diesen Unruhen wurde rasch ein tagelanger Aufstand. Die Partei in Temesvar versuchte die Demonstrationen aufzulösen. Am Sonntag, dem 17. Dezember, versammelte Ceausescu die Parteifunktionäre im ganzen Land am geschlossenen Fernsehsystem, bezeichnete die Aufständischen in Timisoara als ‡Banditen— und befahl Armee und Polizei die Niederschlagung der Demonstrationen durch gezielte tödliche Schüsse. In Timisoara wurden seine Befehle ausgeführt. Am selben Nachmittag gab es große Demonstrationen gegen das Regime, bei denen Polizisten und Soldaten in die Menge feuerten. Eine Gruppe Soldaten, die sich weigerten, auf die Demonstranten zu schießen, soll selbst von Securitate-Männern erschossen worden sein. Tökes wurde verhaftet. Über die tatsächliche Zahl der Toten bei den Massakern von Timisoara herrschte große Verwirrung. Die Demonstranten brachten die Zahl 4.700 in Umlauf, die von ausländischen Radiostationen aufgegriffen wurde. In Wahrheit waren es wahrscheinlich einige hundert. Die Demonstrationen und Morde gingen weiter, einige Tage lang kam es zu gnadenlosen Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und Soldaten und der Polizei. Ceausescu fuhr nach dem Mordbefehl zu einem dreitägigen Staatsbesuch in den Iran, wo er bei Treffen mit iranischen Politikern gefilmt wurde. Er kam am Mittwoch zurück, als sich die Armee eben aus Timisoara zurückzog. Offensichtlich hatten die Soldaten genug. Ceausescu wandte sich in einer Fernsehansprache an die Nation: er beschuldigte Banditen, Faschisten, ausländische Agenten und Provokateure in Timisoara zu agieren und befahl der Armee die Wiedereroberung der Stadt. Wen die Götter zerstören wollen, den schlagen sie zuvor mit -666-
Irrsinn: Am Donnerstag, dem 21. Dezember ließ Ceausescu in Bukarest eine Massenveranstaltung organisieren, um seine Macht und Popularität zu demonstrieren. Sie wurde live übertragen, und so sah man auch, wie Ceausescu von seinem Balkon herab gegen Banditen und Faschisten tobte, neben ihm mit steinernem Gesicht seine Frau. Dann kam einer der großen Momente des Fernsehzeitalters. In den hinteren Reihen der Menschenmassen begannen Studenten mit BuhRufen, und die ganze Menge schloß sich ihnen an, in Sprechchören riefen sie ‡Ceausescu, Mörder!". Der Präsident unterbrach seine Rede, blickte erstaunt, unentschlossen, gestikulierte mit den Armen, um die Proteste zu stoppen. Techniker schalteten zunächst den Ton ab, dann auch die Bilder, während Zehntausende Rumänen ihre Wut hinausschrieen. Die Securitate versuchte, die Protestierer zu verhaften, und begann zu schießen; in dieser Nacht wurden Hunderte Menschen getötet. Der 22. Dezember wurde zum rumänischen 14. Juli. Der Verteidigungsminister General Vasile Milea weigerte sich, seinen Truppen Feuerbefehl auf die Menge zu erteilen, und beging Selbstmord. Die Nachricht davon verbreitete sich am 22. Dezember. Es wurde allgemein angenommen, daß Milea auf Ceausescus Befehl erschossen worden sei, und dieses Ereignis brachte die Armee dazu, sich auf die Seite der Demonstranten zu stellen. Die Ermordung Mileas war einer der Anklagepunkte gegen Ceausescu in seinem Prozeß. Der Diktator blieb dabei, daß Milea ein Verräter gewesen sei, der ‡seine Truppen nicht dazu drängte, ihre patriotische Pflicht zu tun—. Einen Monat später wurden die Details von Mileas Selbstmord im Prozeß gegen Ceausescus engste Mitarbeiter bekannt. Am Morgen des 22. Dezember, einem Freitag, strömten große Menschenmassen im Stadtzentrum von Bukarest zusammen. Die Armee weigerte sich einzugreifen, und die Polizei zögerte, als die Menge knapp vor Mittag das Gebäude des Zentralkomitees stürmte. Es war ein spontaner Aufstand. Ceausescu und seine Frau entkamen mit dem Hubschrauber vom Dach des Hauses. Sie hatten weder einen Plan noch einen Zielort, und der Hubschrauber brachte sie nach Tirgoviste, 100 Kilometer von Bukarest, wo sie gefangengenommen und in einen Armeestützpunkt gebracht wurden. Am Abend trat die Securitate zum Gegenangriff auf die Armee und die Demonstranten an; in Bukarest und anderen Städten kam es zu schweren Kämpfen. -667-
Drei Tage lang tobte der Bürgerkrieg, und der Ausgang war ungewiß. Die Securitate war weit besser ausgerüstet und ausgebildet als die Armee. Gerüchte verbreiteten sich von einem Netz von Tunnelanlagen, unterirdischen Waffenlagern und Stützpunkten unterhalb Bukarests. Andere Gerüchte meldeten den Tod Zehntausender Menschen und daß Ceausescu eine Sondereinheit arabischer Terroristen innerhalb der Securitate aufgestellt habe. Am Tag des Sturzes Ceausescus rief sich ein Komitee von Dissidenten, früheren Funktionären und Anführern der demonstrierenden Studenten als neue Regierung aus, als ‡Rat zur Nationalen Rettung—. Am Montag, dem Weihnachtsfeiertag, schlug der Rat dem alten Regime den Kopf ab: Er befahl den Prozeß und die Hinrichtung der beiden Ceausescus. Der Prozeß, der später im Fernsehen gezeigt wurde, war die Travestie eines ordentlichen Gerichtsverfahrens. Es wurden keine Beweise für die Schuld Ceausescus oder seiner Frau vorgelegt, noch gab es eine ordnungsgemäße Anklage. Der Prozeß dauerte zwei Stunden, dann wurden die Ceausescus hinausgeführt und erschossen. Der Film, vor allem eine Großaufnahme von der Leiche Ceausescus in einer Blutlache, wurde im Fernsehen immer wieder gezeigt, und innerhalb weniger Tage gab die Securitate den Kampf auf. Die Regierung gab zunächst eine Zahl von mindestens 60.000 Toten im Verlauf der Revolution bekannt. Die wahre Zahl war weder leicht noch schnell festzustellen. Drei Wochen später wurden die Angaben auf 10.000 korrigiert, aber möglicherweise waren es auch weniger als 5.000. Das neue Regime erließ eine Reihe von Dekreten, in denen Ceausescus bedrückende Gesetze aufgehoben wurden, schaffte die Todesstrafe ab, stoppte den Export landwirtschaftlicher Produkte, um wieder Nahrungsmittel in die Läden zu bekommen, und hob die Einschränkungen des Stromverbrauches auf. Der Verbrauch stieg sofort um vierzig Prozent. Ein anderes Gerücht lautete, der Nationale Rettungsrat habe sich bereits sechs Monate zuvor heimlich gebildet und den Sturz Ceausescus betrieben. Manche meinten, daß der Führer des Rates, Ion Iliescu, der in den fünfziger Jahren mit Michail Gorbatschow in Moskau studiert hatte, mit den Sowjets in Kontakt gewesen sei. Die neue Führung bildete sich tatsächlich mit erstaunlicher -668-
Geschwindigkeit, und die Sowjetunion anerkannte das neue Regime unverzüglich. Der Rat wurde von ehemaligen Kommunisten dominiert, und am 7. Januar gab es in Bukarest die erste Studentendemonstration gegen die Zusammensetzung und die Politik des Rates. Am 12. Januar setzte der Rat einen nationalen Trauertag für die Toten der Revolution an. In Bukarest wurde daraus eine wilde Demonstration gegen den Rat, vor allem wegen der fragwürdigen Vergangenheit vieler seiner Mitglieder: die führenden Männer waren alle frühere Kommunisten und ehemalige Genossen von Ceausescu. Unter dem Druck der Straße verkündeten drei Ratsmitglieder sofort, daß die Kommunistische Partei verboten sei und kündeten eine Volksabstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe für frühere Funktionäre an. Am nächsten Tag widerrief der Rat diese Ankündigung und setzte statt dessen eine gemeinsame Volksabstimmung über das Verbot der KP und über die Todesstrafe an. Eine Woche später wurden beide Referenden abgesagt. Die neue Regierung hatte offensichtlich einen schwierigen Start. Der Rat war nicht nur unentschlossen und fürchtete die Demonstranten, er hatte vor allem keine Legitimation. Bei allen anderen Veränderungen in Osteuropa, von Polen bis Bulgarien, traten die alten Führer zurück und übergaben die Macht an die neuen. In Rumänien gab es eine Revolution. Alle staatlichen Einrichtungen wurden aufgelöst, und die einzige Institution, die in dem Vakuum intakt blieb, war die Armee. Das Land blickte in der Wiederherstellung der demokratischen Strukturen einer schwierigen Zukunft entgegen, schließlich hatten die letzten freien Wahlen 1928 stattgefunden, und es begann, seine Wirtschaft nach den Verwüstungen der Ceausescu-Jahre wiederaufzubauen. Die Probleme zwischen Rumänen und Ungarn bilden eine ständigen Unruheherd, und obwohl Rumänien wohl nicht die Sowjetunion provozieren und Gebietsforderungen auf Moldawien erheben wird, könnte eine solche Krise sehr wohl von den Moldawiern selbst hervorgerufen werden. Es ist durchaus möglich, daß in Rumänien der Faschismus wiederbelebt wird. Im Frühjahr 1990 geriet die neue Regierung in erheblichen Mißkredit. Die Wiederbelebung der alten Strukturen ließ sich nicht leugnen, viele Vertreter der alten herrschenden Schicht rückten wieder -669-
in führende Positionen ein. Auch die Securitate bestand de facto weiter. Viele wandten sich enttäuscht von der Regierung ab und forderten die ‡wahre— Revolution. Das Regime Iliescu zerschlug Demonstrationen mit großer Gewalt und verfolgte Oppositionelle. Schließlich wurden sogar Tausende Bergarbeiter zu ‡spontanen— Kundgebungen nach Bukarest gebracht, die mit Knüppeln und Brechstangen Jagd auf Studenten und andere Rufer nach Demokratie machten. Unter günstigsten Umständen wird es mehrere Jahre dauern, vielleicht ein Jahrzehnt oder mehr, um in Rumänien eine funktionierende Demokratie und die Marktwirtschaft zu etablieren. Am ehesten winkt dem Land eine Verbesserung der Situation œ wie bei Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn œ durch die Europäische Gemeinschaft, zunächst in Form von Wirtschaftshilfe, einen europäischen Marshallplan, später durch Mitgliedschaft. Warum sollte Rumänien nicht dem Vorbild Spaniens folgen, einem anderen romanischen Land ohne echte demokratische Erfahrung, das sich von der Tyrannei befreit, und zu einer freien Nation des Westens wurde?
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UNGARN Geographie: Fläche 93.033 km2 Bevölkerung: 10.610.000. BSP: 2.020 $/Einw. Das Schlüsselereignis in Osteuropa in den Jahren zwischen 1945 und 1989 war der Aufstand in Ungarn im Oktober 1956 und seine Niederschlagung durch die Rote Armee. Als sowjetische Panzer Regierungsgebäude beschossen, wurden im Radio die letzten Hilferufe in den Westen geschickt. Das einzige, was der Westen tat, war, daß er seine Türen den 200.000 Flüchtlingen öffnete, die über die Grenze nach Österreich strömten. Vierunddreißig Jahre lang duldeten die Menschen in den osteuropäischen Staaten œ Ungarn, Ostdeutsche, Polen, Tschechen und Slowaken œ die Demütigung der ausländischen Besatzung und unfähiger, verhaßter Regierungen, aus Angst, ein gleiches Schicksal zu erleiden. Im Lauf der Jahre gestattete die Sowjetunion, in der Hoffnung, dadurch eine Wiederholung dieser Krise zu vermeiden, mit einem gelockerten Ökonomischen Modell zu experimentieren. Der strikte Stalinismus, der in ganz Osteuropa eingeführt worden war, wurde gemildert, und die Regierung gewann ein bestimmtes Maß an Akzeptanz und sogar Popularität. Aber auch das war eine Illusion. Die Reformen griffen nicht. In den achtziger Jahren war die ungarische Wirtschaft in eine tiefgehende Krise geschlittert, und nachdem sie mehrere Jahre versucht hatte, sich selbst zu reformieren, beschloß die Kommunistische Partei schließlich, die Macht abzugeben. Sie hatte verstanden, daß sie sich dem Unvermeidlichen entweder beugen mußte oder untergehen würde. Auf Rettung durch die Sowjetunion konnte sie kein zweites Mal zählen. DER VOLKSAUFSTAND IN BUDAPEST VON 1956 1956 steckte die ungarische Wirtschaft in Schwierigkeiten, und die Partei war der Spaltung nahe. Auf der einen Seite standen die Stalinisten unter der Führung des Generalsekretärs der Partei, Mätyäs Räkosi, eine der abscheulichsten Figuren in der Geschichte -671-
Osteuropas. Sein engster Verschworener war Ernö Gero. Die Gegenseite wurde von Imre Nagy angeführt, der zwischen 1945 und 1948 der erste kommunistische Ministerpräsident Ungarns gewesen war. Er hatte die Umverteilung des Landes zugunsten der Bauern überwacht. Als ab 1948 der Stalinismus in Osteuropa Einzug hielt, war er aus Partei und Regierung entfernt worden und daher auch nicht in die späteren ‡Säuberungsaktionen— verwickelt gewesen. Nach dem Tod Stalins kam er 1953 auf Anordnung des Moskauer Politbüros wieder an die Macht œ ein Versuch, die Wirtschaftslage wieder in Griff zu bekommen. Es ist überliefert, daß ausgerechnet Molotow Räkosi sagte: ‡Werden Sie irgendwann begreifen, daß Sie nicht ewig mit sowjetischen Bajonetten regieren können?— Nagy setzte verschiedene Reformen durch, wurde aber nach 18 Monaten im März 1955 wieder abgesetzt œ ein Opfer der Intrigen Räkosis in Moskau. Die Krise wuchs unaufhaltsam, und im Juni 1956, nach den Aufständen in Posen und dem Umsturz in der polnischen KP, wurde Räkosi als Erster Sekretär abgesetzt, in die UdSSR ins Exil geschickt und durch Gero ersetzt. Der ungarische Aufstand entwickelte sich erstaunlich rasch. Der zündende Funke waren die Nachrichten vom ‡Polnischen Oktober". Ermutigt durch den Erfolg der polnischen Demonstranten, die Gomulka an die Macht zurückgebracht hatten, hielten Studenten und Intellektuelle am Abend des 22. Oktober 1956 in den Schulen und Universitäten von Budapest Massenversammlungen ab. In einer Reihe von Resolutionen forderten sie Veränderungen in der personellen Zusammensetzung wie in der Politik der Regierung. Am folgenden Tag kam es zu Massendemonstrationen, und am Abend des 24. Oktober war die Regierung zusammengebrochen; die Reste der KP kontrollierten nur noch ein paar Gebäude in Budapest. Das riesige Stalin-Denkmal im Stadtzentrum wurde von seinem Sockel heruntergerissen. Es war ein nationaler Aufstand: Vom 23. Oktober an war sein Symbol die ungarische Fahne mit einem Loch im Mittelstreifen, wo Hammer und Sichel herausgeschnitten wurden (im Dezember 1989 folgten die Rumänen dem ungarischen Vorbild). Die Revolutionäre forderten die Wiedereinführung des 15. März als Nationalfeiertag, zum Gedenken an die Revolution von 1848, statt des Gedenktages -672-
zum Sieg des Kommunismus durch die Rote Armee im Jahre 1944. Die Hauptforderung galt aber dem Abzug aller sowjetischen Truppen aus Ungarn. Imre Nagy wurde wieder Ministerpräsident. Ernö Gero stimmte seiner Rückkehr an die Macht zögernd zu. Er legte ihm jeden möglichen Stein in den Weg und stellte dadurch sicher, daß die Partei gelähmt war. Gero, der von Anfang an Räkosis Gefolgsmann gewesen war, war gleichermaßen verhaßt. Bis zum 25. Oktober klammerte er sich an sein Amt, dann wurde er von einem sowjetischen Panzer aus Budapest gerettet œ der Dichter Tibor Meray stellte fest, daß er ‡vierzig Jahre seines Lebens dem Kommunismus geweiht hatte, nun aber saß er in seinem Panzer und trug nichts mit sich als den Haß des Volkes, einen Magen, der von Geschwüren zerfressen wurde und Augen, die blind waren von Überanstrengung.— Gero wurde durch Jänos Kädär ersetzt, einen ehemaligen Minister, den das Räkosi-Regime eingesperrt und gefoltert hatte. Zuvor als Innenminister hatte er Läszlo Rajk verhört, das prominenteste Opfer der Säuberungsprozesse von 1949 und selbst ein gnadenloser Henker der angeblichen Feinde des Volkes. Nagy wurde von der Woge der Revolution mitgerissen. Ihm fehlten die Flexibilität und Klarheit Gomulkas, und er verabsäumte, die Herrschaft über die Revolution an sich zu reißen und das bis zum Ende durchzuhalten. Er mußte sich gegen die übriggebliebenen Stalinisten wehren und mit den Russen verhandeln, während er ständig von Arbeiter- und StudentenDelegationen bedrängt wurde. In der ersten Panik am Abend des 23. Oktober rief Gero die Russen zu Hilfe, und am 24. kam es zu heftigen Kämpfen. Bei einer Schießerei vor dem Parlament wurden 70 Menschen getötet. Sie war von den Beamten der Geheimpolizei AVH begonnen worden. Viele von ihnen wurden später gelyncht. In den beiden folgenden Tagen kam es überall in Budapest zu sporadischen Kämpfen zwischen Studenten und sowjetischen Truppen, bei denen Studenten mit Molotow-Cocktails gegen die sowjetischen Panzer vorgingen. Die Regierungsgewalt war mittlerweile im ganzen Land völlig zusammengebrochen. In verschiedenen Bezirken der Hauptstadt und in vielen Provinzstädten wurden örtliche Komitees gegründet. Die Russen waren unsicher und griffen zunächst nicht ein, um die -673-
Ordnung wiederherzustellen. Am 28. zogen sie sich aus Budapest zurück, und Nagy und die Ungarn feierten einen großen Sieg. In einem einzigen enthusiastischen Ansturm war der Kommunismus gestürzt worden. Die ungarische Armee weigerte sich, gegen die Demonstranten vorzugehen. Die Polizei löste sich auf, und die Beamten der AVH versteckten sich. Nagy bildete eine Koalitionsregierung mit anderen politischen Parteien und begann, eine neue Verwaltung aufzubauen. Aber die Ungarn waren erfüllt vom Überschwang der Revolution. Sie forderten den Abzug aller sowjetischen Truppen bis zum 1. Januar, den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und die Neutralitätserklärung. Die sowjetische Führung zögerte einige Tage, welchen Kurs sie einschlagen sollte. Zwei führende Mitglieder des Politbüros, Anastas Mikojan und Michail Suslow, waren in Budapest und verhandelten mit Nagy. Sie versprachen den Abzug der sowjetischen Truppen und die Entscheidungsfreiheit für Ungarn über seine Zukunft. am 1. November entschlossen sich Chruschtschow und das Politbüro zum Eingreifen. Ihre Entscheidung war unzweifelhaft vom Zusammentreffen mehrerer Faktoren bestimmt. Es war eine Woche vor der amerikanischen Präsidentenwahl, und am 29. Oktober war Israel in Ägypten einmarschiert. Die Franzosen und Briten stellten Ägypten ein Ultimatum und landeten am 5. November. Der Westen war also völlig abgelenkt, und die Sowjets kalkulierten, daß sie in Ungarn freie Hand haben würden. Große Truppenkontingente wurden über die Grenze verlegt und auf allen Luftstützpunkten und an wichtigeren Kommunikationszentren im Land stationiert. Budapest war umzingelt. Nagy wurde über diese Entwicklung informiert und forderte eine Erklärung vom sowjetischen Botschafter, Jurij Andropow. Nagy bestand darauf, ein loyaler Kommunist zu sein und ein Freund der Sowjetunion. Er hatte jahrelang in Moskau gelebt und war mit allen Kremlführern gut bekannt, und er konnte nicht glauben, daß sie den Sturz der Budapester Regierung anordnen würden. Hatten nicht Mikojan und Suslow ihm am Tag zuvor noch feierlich versichert, daß die Sowjetunion die neue Regierung anerkannt habe, ihre Truppen abziehen und die Entscheidung zum Austritt aus dem Warschauer Pakt respektieren würde? -674-
Aber die Meldungen aus dem Landesinneren waren in wachsendem Maße beunruhigend. Am 1. November kam es zu einer Reihe weiterer Treffen zwischen Nagy und Andropow, aber der Botschafter verweigerte jede Stellungnahme zu den sowjetischen Truppenbewegungen. Das Politbüro der ungarischen KP, einschließlich Kädär und Ferenc Munnich, die zwei Tage später zu den Sowjets überliefen, stimmte für den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt. Sie informierten Andropow über diese Entscheidung œ Kädär sagte ihm: ‡Was mit mir geschieht, ist nicht wichtig, aber ich bin bereit, als Ungar, zu kämpfen, wenn es notwendig ist. Wenn eure Panzer nach Budapest kommen, werde ich auf die Straße gehen und mit bloßen Händen gegen euch kämpfen!— Die Regierung ratifizierte den Beschluß und verkündete ihn der Bevölkerung. Ungarn war jetzt neutral, wie Österreich. Dann spielte Nagy seinen letzten Trumpf aus: Er forderte, daß die Westmächte Ungarns Neutralität garantieren sollten, wie diejenige Österreichs, um mit Nachdruck festzulegen, daß Ungarn niemals einer antisowjetischen Allianz beitreten würde. Die Verhandlungen mit der UdSSR über den Abzug ihrer Truppen sollten unverzüglich aufgenommen werden, und im Verteidigungsministerium fand ein erstes Treffen mit einer sowjetischen Militärdelegation statt. Die Russen forderten, daß ihre Kriegerdenkmäler in Ehren gehalten werden sollten, und die Ungarn stimmten sofort zu. Ein weiteres Treffen sollte im sowjetischen Hauptquartier außerhalb Budapests stattfinden, am Abend des 3. November, einem Samstag. Einen letzten Herbsttag lang dachten die Ungarn, sie hätten gewonnen. Nagy, der sich keinen Illusionen hingab, vergrößerte sein Kabinett und nahm Minister aus anderen politischen Parteien auf, die auf wunderbare Weise nach zehn Jahren der Unterdrückung wieder existierten. Radio Free Europe feierte den Sieg und drängte Ungarn, die letzten Kommunisten aus der Regierung zu entfernen. Am Samstagabend führte Oberst Pal Maleter, der Verteidigungsminister, eine ungarische Offiziersdelegation ins sowjetische Hauptquartier. Eine Stunde lang gab es friedliche Gespräche, dann stürmte General Iwan Serow in das Zimmer, der Chef des KGB, und verhaftete sie. -675-
In den frühen Morgenstunden des 4. November 1956 rollten die sowjetischen Panzer nach Budapest hinein. Um 5.20 Uhr sprach Nagy im Radio zur Nation: ‡Hier spricht Imre Nagy, der Präsident des Ministerrates der Volksrepublik Ungarn. In der Morgendämmerung haben sowjetische Streitkräfte die Hauptstadt angegriffen œ mit der offenkundigen Absicht, die gesetzmäßige ungarische demokratische Regierung zu stürzen. Unsere Soldaten kämpfen. Die Regierung ist im Amt. Ich möchte dies dem Volk unseres Landes und der ganzen Welt deutlich machen.— Eine Stunde später sprach der Dramatiker Gyula Häy eine letzte Radiobotschaft: ‡Hier spricht der ungarische Schriftstellerverband zu allen Schriftstellern, Wissenschaftlern, Schriftstellerverbänden, Akademien und wissenschaftlichen Organisationen in der ganzen Welt. Wir bitten alle Intellektuellen in allen Ländern um Hilfe. Unsere Zeit verrinnt. Sie kennen alle die Tatsachen. Es ist nicht notwendig, sie zu wiederholen. Helft Ungarn! Helft den Schriftstellern, Wissenschaftlern, Arbeitern, Bauern und allen ungarischen Intellektuellen! Helft! Helft! Helft!" Um sechs Uhr erfuhr Nagy, daß Kädär und Munnich eine neue prosowjetische Regierung gebildet hatten. Die sowjetischen Soldaten waren jetzt im Stadtzentrum. Nagy suchte Zuflucht in der jugoslawischen Botschaft. Die ungarischen Streitkräfte leisteten keinen organisierten Widerstand, aber die Arbeiter in den Fabriken und Bezirken führten tagelang einen wütenden, tapferen Kampf. Sie wurden überwältigt, wie ihre Freunde überall anders im Land. Es kam zu einem Generalstreik in ganz Ungarn, der gewaltsam gebrochen wurde. Das letzte Streikkomitee löste sich im Januar 1957 auf. Nagy wurde am 22. November durch falsche Sicherheitsgarantien aus dieser Zufluchtsstätte herausgelockt und festgenommen. Achtzehn Monate später wurde er zusammen mit Maleter und anderen führenden Regierungsmitgliedern hingerichtet. DIE JAHRE UNTER KÄDÄR Nachdem sie die Ruhe in Budapest wiederhergestellt hatten, übergaben die Sowjets die Macht an die neue Regierung unter Jänos Kädär. Es dauerte mehrere Jahre, bis er die Kommunistische Partei -676-
tatsächlich wiederbeleben und eine normal funktionierende Verwaltung errichten konnte. Nachdem das erreicht war, wandte er sich den Problernen zu, die die Revolution hinterlassen hatte. Die grundsätzliche Frage konnte er nicht anrühren œ die Beziehungen zur UdSSR œ, aber er schaffte die stalinistische Wirtschaftspolitik der Räkosi-Periode ab und etablierte jene Wirtschaftsform, die Chruschtschow als ‡Gulaschkommunismus— bezeichnete. Die Sowjets gaben ihm freie Hand: Sie hatten kein Bedürfnis, den Stalinismus wiedereinzuführen, solange Ungarn loyal zu Moskau stand. Ungarn prosperierte, in osteuropäischen Kategorien, und im Laufe der Jahre wurde den Ungarn ein Maß an Freiheit zugestanden, das andere Osteuropäer nicht hatten. Sie konnten ins Ausland fahren, Dissidenten wurden zwar schikaniert, aber nicht verfolgt, und es gab kaum eine Zensur ausländischer Publikationen. Ungarn beansprucht für sich, Michail Gorbatschow zur Politik der Glasnost angeregt zu haben. Gewiß, die Ungarn haben sich bereits lange Zeit der Freiheiten erfreut, die Gorbatschow jetzt in der UdSSR eingeführt hat. Aber es gab für ihre Freiheiten Grenzen, und der relativ liberale Wirtschaftskurs, der seit den sechziger Jahren eingeschlagen worden war, konnte Ungarn nicht auf das westliche Wohlstandsniveau bringen. Da sie den Westen frei bereisen und westliche Bücher und Zeitungen lesen konnten, merkten die Ungarn selbst, wie rasch sie zurückfielen. Sie probierten ständig die Grenzen ihrer Freiheit aus. Der Kernpunkt ist, daß Kädärs Reformen nicht weit genug gingen. Mitte der achtziger Jahre versank die Wirtschaft in der Depression, mit einer großen Last an Auslandsschulden und ohne Möglichkeit, sie zurückzuzahlen œ und ohne Kredit konnte das Land die begonnene Modernisierung nicht fortsetzen. Im Mai 1988 kam es auf einer Parteikonferenz der KP zum Untergang der alten Führung. Kädär wurde auf das Amt des Parteipräsidenten abgeschoben und durch Käroly Grösz ersetzt. Er war ein Reformer und bildete ein ReformerKabinett œ aber nach einem Jahr überrollten auch ihn die Ereignisse, und er teilte Kädärs Schicksal des Vergessenseins. Im November wurde ein neuer Ministerpräsident ernannt, der vierzig Jahre alte Nationalökonom Miklös Nemeth, der in Harvard -677-
studiert hatte. Er bestand darauf, daß Reformen unvermeidlich seien und die Legalisierung von Oppositionsparteien und Gewerkschaften ebenso einschließen müßten wie freie Wahlen unter einer neuen Verfassung, die 1990 eingeführt werden sollte. Er und seine Genossen erwarteten einen durchgreifenden Reformprozeß, wie Gorbatschows Perestroika in der UdSSR. Statt dessen verwalteten sie nur noch den rapiden Zerfallsprozeß der Kommunistischen Partei. Die Partei spaltete sich in den Flügel der gemäßigten Reformer, angeführt von Grösz, und die Radikalreformer, unter Führung von Imre Pozsgay, Nemeth und Reszo Nyers. Die symbolische Schlüsselfrage war, ob der Aufstand von 1956 nun eine Konterrevolution gewesen sei oder ein echter Volksaufstand. Am 8. Mai 1989 feierten die Radikalen einen Sieg: Kädär trat zurück. An seiner Stelle wurde Nyers Partei (Ehren-)präsident. Die Partei gab ihre Zustimmung, daß die Überreste der Leichname von Nagy und seinen Freunden aus ihren namenlosen Gräbern hervorgeholt und würdig bestattet werden sollten. Die Lenin-Statue vor dem Parlamentsgebäude, die an Stelle des 1956 von den Aufständischen zerstörten Stalin-Denkmals errichtet worden war, wurde œ ‡zur Reparatur— œ vor dem Begräbnis stillschweigend entfernt. Am 16. Juni gingen Hunderttausende Ungarn auf die Straße, um Nagy bei seinem feierlichen offiziellen Begräbnis die letzte Ehre zu erweisen. Es war die erste große Demonstration der Volksmacht in Osteuropa im Jahr 1989, die in den folgenden Monaten fünf Regierungen stürzte. Die KP-Führung mußte hilflos miterleben, wie ihr die Macht entglitt. Sie blieb zwar im Amt, war aber an den Rand gedrängt. Ihre einzige Überlebenschance war, sich den Reformern anzuschließen. Nemeth, Pozsgay und Nyers machten sich daran, Ungarn auf die Rückkehr zu einem kombinierten Wirtschaftssystem vorzubereiten, ohne Preiskontrollen, mit der Wiedererrichtung des Privateigentums und einer Aktienbörse. Sie erklärten die Pressefreiheit und verschiedene andere Freiheiten und überlegten freie Wahlen œ obwohl sie nicht so weit gingen, sich vorzustellen, daß sie abgewählt werden könnten. In der ersten Hälfte 1989 entdeckten sie, wie die Regierung von Polen, daß halbe Maßnahmen nicht genug waren. Die Wiederherstellung mancher Freiheiten zog unweigerlich andere nach sich. -678-
Im Oktober übernahmen die Radikalen auf einem weiteren Parteikongreß die Macht. Nun hatten sie ebenso das Beispiel Polen vor Augen, wo ein Nichtkommunist Ministerpräsident geworden war, wie die wachsenden Anzeichen der Auflösung der DDR. Grösz wurde am 11. Oktober einfach abgesetzt und durch Poszgay ersetzt. Dann löste sich die Partei selbst auf, gründete sich neu als Sozialistische Partei und übertrug all ihre Macht auf den Staat. Später wurde der Name des Landes von ‡Volksrepublik— auf ‡Republik— Ungarn geändert. Die Parteimiliz wurde abgeschafft, die ‡führende Rolle der Partei— wurde abgeschafft, das Wahlgesetz wurde geändert, um freie Wahlen zu ermöglichen, und Oppositionsführer wurden nach polnischem Modell zu Gesprächen an den runden Tisch eingeladen, um das Land bis zu den Wahlen zu regieren, die fürs Frühjahr 1990 versprochen wurden. Der 23. Oktober, Jahrestag des Aufstandes von 1956, wurde Staatsfeiertag. Ein Präsident wurde vorgeschlagen, und Poszgay bot sich als Kandidat an. Die Wahl sollte unverzüglich abgehalten werden, aber die Opposition bestand darauf, daß die Präsidentenwahl erst nach den Parlamentswahlen stattfinden sollte. Die Frage wurde zum Gegenstand einer Volksabstimmung gemacht, der ersten völlig freien Abstimmung in Osteuropa seit über vierzig Jahren. Nur 54 % der Wähler stimmten ab œ, und sie lehnten die vorgeschlagene Präsidentenwahl ab. Die Regierung konnte nicht mehr als 25 % der Wähler für ihren Vorschlag gewinnen. Die Wahlen im Frühjahr 1990 brachten einen überzeugenden Sieg der neugegründeten Parteien und eine deutliche Niederlage der alten Politiker. Zum interimistischen Staatspräsidenten wurde schließlich vom neugewählten Parlament der Dichter Ärpad Göncz gewählt. Ungarn forderte wie die Tschechoslowakei die UdSSR zum Rückzug ihrer Truppen von ungarischem Staatsgebiet auf, versprach aber, vorläufig im Warschauer Pakt zu bleiben. Das Land strebt auch den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft an.
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CHRONOLOGIE DES KOMMUNISMUS 1989 11. Januar: Montenegro, Jugoslawien: Regierung und Parteiführung treten nach Massendemonstrationen zurück, die vom Führer der Serben, Slobodan Milosevic gesteuert werden. 15. Januar: Prag: 5.000 Demonstranten gedenken auf dem Wenzelsplatz des Selbstmordes von Jan Palach im Jahr 1969. Vaclav Havel und andere Dissidenten werden verhaftet. Havel wird am 9. Februar zu 9 Monaten Haft verurteilt. 6. Februar: Warschau: Erstes Treffen am ‡Runden Tisch— zwischen Regierung und ‡Solidarität—. 11. Februar: Die ungarische Regierung genehmigt die Bildung unabhängiger Parteien. 15. Februar: Die letzten sowjetischen Soldaten verlassen Afghanistan. 13. März: Berichte werden veröffentlicht, daß sechs zurückgetretene Funktionäre einen Protestbrief an Ceausescu geschrieben haben sollen. 26. März: Teilweise freie Wahlen in der Sowjetunion bringen viele Dissidenten in das neue Parlament, viele führende Parteifunktionäre werden besiegt. 1. April: Beginn des Rückzugs der kubanischen Truppen aus Angola. 7. April: Warschau: Abkommen zur Legalisierung der ‡Solidarität— und zur Abhaltung teilweise freier Wahlen. 16. April: Erste Pro-Demokratie-Demonstrationen beim Begräbnis von Hu Yaobang. 2. Mai: Ungarn beginnt mit dem Abbau der Grenzzäune. 8. Mai: Janos Kädar tritt gezwungenermaßen als Parteipräsident zurück. 17. Mai: Prag: Havel wird vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. 4. Juni: Peking: Deng Xiaoping schickt Panzer auf den TiananmenPlatz, um die Demonstrationen zu zerschlagen. Bei den Wahlen in -680-
Polen gibt es einen antikommunistischen Erdrutschsieg. 16. Juni: Budapest: In einer großen antikommunistischen Kundgebung wird Imre Nagy feierlich neu bestattet. An der Spitze des Zuges stehen der Ministerpräsident Miklös Nemeth und andere Reformkommunisten. 6. Juli: Straßburg: In einer Rede vor dem Europarat nimmt Gorbatschow Abschied von der Breschnjew-Doktrin: ‡Jede Einmischung in innere Angelegenheiten und jeder Versuch, die Souveränität eines Staates œ eines Freundes, Alliierten oder eines anderen œ zu beeinträchtigen, ist unzulässig.— Er erläuterte das mit ‡jeder Möglichkeit der Anwendung oder Androhung von Gewalt œ Bündnis gegen Bündnis, innerhalb der Bündnisse, überall ...— 20. August: Prag: Kleine Demonstrationen zum Jahrestag der Invasion von 1968 werden von der Polizei aufgelöst. Havel hatte von diesen Demonstrationen abgeraten. 24. August: Warschau: Tadeusz Mazowiecki, ein führender ‡Solidarität—-Funktionär, wird zum Ministerpräsidenten ernannt. ??. September: Abzug der letzten kubanischen Einheiten aus Angola. 10. September: Ungarn öffnet seine Grenze nach Österreich für ausreisewillige DDR-Bürger. Innerhalb der nächsten vier Tage verlassen 13.000 DDR-Bürger auf diese Weise das Land. 19. September: Budapest: Regierung und Opposition einigen sich auf freie Wahlen im Frühjahr 1990. 26. September: Die letzten vietnamesischen Einheiten ziehen aus Kambodscha ab. 30. September: Weitere 30.000 DDR-Bürger verlassen auf dem Weg über Ungarn und die Tschechoslowakei ihre Heimat. 7. Oktober: DDR: die SED feiert den 40. Jahrestag der Staatsgründung. Regimefeindliche Demonstrationen in Berlin, Leipzig und Dresden werden von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Ab nun kommt es jeden Montag in Leipzig zu Massendemonstrationen. Budapest: Die ungarische KP löst sich selbst auf, spaltet sich und nennt sich ab sofort Sozialistische Partei. 9. Oktober: DDR: Die Polizei in Leipzig hat Schießbefehl auf die -681-
70.000 Demonstranten. Der Befehl wird in letzter Stunde widerrufen. 18. Oktober: Ost-Berlin: Erich Honecker tritt zurück. Am 7. November tritt die Regierung, am 8. November das Politbüro zurück. 9. November: Die neue kommunistische Regierung unter Egon Krenz erklärt die Grenzen für offen. 10. November: Sofia: der langjährige KP-Chef Todor Schiwkoff tritt zurück. 17. November: Prag: eine Anti-Regierungsdemonstration wird von der Polizei gewaltsam aufgelöst. 18. November: Sofia: Die erste große Demonstration für freie Wahlen. 19. November: Prag: Zehntausende Tschechen demonstrieren gegen die Brutalität der Polizei, Oppositionsgruppen bilden das Bürgerforum. 20. November: Prag: 200.000 Menschen demonstrieren auf dem Wenzelsplatz. Die Demonstrationen gehen täglich weiter, jede größer als die vorherige. 24. November: Alexander Dubcek kehrt nach Prag zurück und spricht zur Menge. Milos Jakes und die übrigen Mitglieder des Politbüros treten zurück. Bukarest: Der rumänische Parteitag wird eröffnet und bekräftigt seinen Glauben an die Richtigkeit der Politik Ceaucescus. 27. November: Die rumänische KP bestätigt Ceausescu für weitere fünf Jahre in seinen Ämtern. Tschechoslowakei: Das Bürgerforum ruft zu einem zweistündigen Generalstreik zur Stärkung der Demokratie auf. 28. November: Die tschechoslowakische Regierung schafft den Führungsanspruch der KP ab. Dezember: Ulan Bator: Die mongolische Demokratische Union bildet sich und veranstaltet erste Demonstrationen zur Forderung nach Demokratie in der Mongolei. 1. Dezember: Die DDR-Volkskammer schafft die führende Rolle der SED ab. 3. Dezember: Egon Krenz, das Politbüro und das Zentralkomitee -682-
treten zurück. 7. Dezember: Die Regierung der Tschechoslowakei tritt zurück. 10. Dezember: Tschechoslowakei: Bildung einer neuen Regierung mit nichtkommunistischer Mehrheit. Präsident Gustav Husäk tritt zurück. 14. Dezember: Rumänien: Erste Demonstrationen gegen Ceausescu in Timisoara. 17. Dezember: Bukarest: Ceausescu befiehlt Armee und Polizei die Niederschlagung der Demonstrationen. Massaker in Timisoara. 1. Dezember: Kroatien: Das Parlament verabschiedet ein Gesetz zur Zulassung freier Wahlen im Frühjahr 1990. 20. Dezember: Die Kommunistische Partei Litauens erklärt sich als unabhängig von der KPdSU. 21. Dezember: Bukarest: Ceausescu wird bei einer Massenversammlung zur Stärkung seiner Herrschaft von Demonstranten niedergeschrien. 22. Dezember: Demonstranten stürmen Regierungsgebäude. Die Armee geht zu ihnen über, Ceausescu entkommt mit seiner Frau mit dem Hubschrauber. Im Laufe des Tages werden sie verhaftet. 24. Dezember: Die Slowenische KP kündigt für 1990 freie Wahlen an. 25. Dezember: Bukarest: die Nationale Rettungsfront macht Ceausescu den Prozeß, nach Verhängung des Todesurteils wird er sogleich erschossen. 28. Dezember: Alexander Dubcek wird zum Parlamentspräsidenten gewählt. 29. Dezember: Vaclav Havel wird zum Staatspräsidenten gewählt. 1990 1. Januar: Polen führt grundlegende Wirtschaftsreformen ein, beendet die Preiskontrollen und Subventionen; die Währung wird teilweise konvertibel. 13. Januar: Ausbruch nationalistischer Konflikte in Aserbeidschan. 15. Januar: Bulgarien schafft die führende Rolle— der Partei ab und verspricht freie Wahlen für 1990. -683-
22. Januar: Belgrad: Der Parteitag der jugoslawischen KP stimmt für die Abschaffung der ‡führenden Rolle— und spaltet sich. 28. Januar: Warschau: Die KP Polens löst sich selbst auf und spaltet sich. 29. Januar: Erich Honecker, der frühere DDR-Führer, und Todor Schiwkoff, der frühere Führer Bulgariens, werden verhaftet. 30. Januar: Gorbatschow akzeptiert die Unausweichlichkeit der deutschen Wiedervereinigung. 1. Februar: Die bulgarische Regierung tritt zurück und wird durch Reformkommunisten ersetzt. 3. Februar: Bukarest: Eine Koalitionsregierung tritt an die Stelle der Nationalen Rettungsfront. 4. Februar: 100.000 Menschen demonstrieren in Moskau gegen die Kommunistische Partei. 7. Februar: Moskau: Die KPdSU verzichtet auf ihre ‡führende Rolle.— 24. Februar: Bei Wahlen in Litauen werden die Kommunisten besiegt. 25. Februar: Nicaragua: Die Sandinistas verlieren bei freien Wahlen. 18. März: Erste freie Wahlen auf dem Gebiet der DDR seit 1932. Die Koalition unter Führung der CDU gewinnt die Mehrheit. Lettland und Estland: Bei Wahlen gewinnen die Unabhängigkeitsparteien die Mehrheit. UdSSR: Der zweite Wahldurchgang bei Lokalwahlen bringt der Opposition viele Abgeordnete, auch in Moskau und Leningrad. 23. April: Mit der Amtsübergabe endet in Nicaragua die sandinistische Ära. 29. Mai: Boris Jelzin wird Präsident der Russischen Föderation. 10. Juni: Im Gegensatz zu den anderen ehemaligen OstblockStaaten gewinnen in Bulgarien die Kommunisten, nun als ‡Sozialistische Partei—, die absolute Mehrheit. In der CSFR feiert das Bürgerforum bei den Parlamentswahlen einen unerwarteten Triumph. 12. Juni: Die Russische Föderation erklärt sich zum souveränen -684-
Staat. 29. Juni: Bei den ersten freien Wahlen in der Mongolei seit der Unabhängigkeit 1921 siegt die regierende Revolutionäre Volkspartei. 3. August: Der Oppositionsführer Schelju Schelev wird bulgarischer Staatspräsident. 6. August: Levon Ter-Petrossjan, der frühere Vorsitzende des ‡Karabach-Komitees—, wird vom Obersten Sowjet in Eriwan zum Präsidenten gewählt.
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NORDIRLAND
Geographie: Fläche 14.147 km2. Nordirland umfaßt die sechs nordöstlichen Grafschaften Irlands: Antrim, Armagh, Down, Fermanagh, Londonderry und Tyrone. Die Katholiken nennen das Land auch gerne ‡die sechs Grafschaften—, Protestanten hingegen ‡Ulster—, obwohl die alte Provinz Ulster drei andere Grafschaften umschloß œ Cavan, Donegal und Monaghan, die heute Teil der Republik Irland (Eire) sind. Bevölkerung: 1.537.000 Einwohner. Davon sind 950.000 Protestanten, 600.000 Katholiken. Die Hauptstadt ist Belfast mit 420.000 Einwohnern, davon 100.000 Katholiken und 320.000 Protestanten (Eire hat eine Bevölkerung von 3,2 Millionen, von denen ungefähr 100.000 Protestanten sind, der Rest Katholiken, auf einem Gebiet von 70.282 km2). Verfassungsstatus: Nordirland ist Teil des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland (United Kingdom). Es hat den selben Status wie Schottland und Wales und entsendet siebzehn Abgeordnete ins Unterhaus; seine Interessen gegenüber der Gesamtbevölkerung werden von einem Minister für Nordirland vertreten, der dem Parlament untersteht. Örtliche Belange werden auf Grafschafts- und Magistratsebene von gewählten Vertretern wahrgenommen. Der Kampf gegen den Terrorismus hat zu verschiedenen Einschränkungen der Bürgerrechte geführt, darunter auch der der Redefreiheit und der Geschworenengerichte. Der Europäische Gerichtshof in Den Haag hat ein Gesetz, daß Verdächtige ohne Anklage sieben Tage lang in Haft gehalten werden dürfen, für ungesetzlich erklärt. Wirtschaft: Im 19. Jahrhundert erfreute sich Nordirland relativen Wohlstands, vor allem dank der Textilindustrie (besonders Leinen) und der Werften in Belfast: Harland & Wolff waren einmal die größten Schiffsbauer der Welt, von denen auch die Titanic stammte. Seit dem Ersten Weltkrieg ist der Schiffsbau zurückgegangen, und die noch übrigen Werften überleben nur dank Subventionen. Die -686-
Leinenindustrie ist praktisch verschwunden. Regierungsbemühungen zur Förderung neuer Industrien und Investitionen hatten bislang kaum Erfolg, was wesentlich mit dem IRA-Terrorismus zusammenhängt. Dank der Preispolitik der EG geht es der Landwirtschaft relativ gut. Die Arbeitslosenrate liegt mit 18,6 % höher als der britische Durchschnitt mit 10,2 % und erreicht in manchen Gegenden bis zu 40 %. in der katholischen Bevölkerungsgruppe ist sie doppelt so hoch als bei den Protestanten. Bewaffnete Verbände: Ende 1988 standen 10.600 reguläre britische Soldaten in Nordirland, dazu 6.200 Männer des Ulster Defence Regiment und 8.200 haupt- sowie 4.600 teilberufliche Mitglieder der Royal Ulster Constabulary œ insgesamt 29.600 Angehörige von Sicherheitskräften. Die Provisorische IRA hat rund 300 ‡Profi—Terroristen und bis zu 1.500 ‡Reservisten—. Verluste: Von 1969 bis Ende 1989 starben in Nordirland 2.773 Menschen an Auswirkungen der IRA-Terrorkampagne. In Großbritannien waren es 104, in Eire und anderen europäischen Ländern mehr als 100 Opfer, insgesamt also rund 3.000. Davon waren: 31 % Mitglieder der Sicherheitskräfte 14 % Angehörige paramilitärischer Verbände 55 % Zivilisten. Von den Zivilisten waren 69 % katholisch, 31 % protestantisch. 44 % wurden von der Provisorischen IRA getötet, 18 % von anderen republikanischen Gruppen, 27 % durch loyalistischen Terror, 10 % von der britischen Armee, 2 % von der RUC, 0,28 % von der UDR. 1988 wurden in Nordirland 93 Menschen getötet. Davon waren 5 Polizeibeamte, 21 Soldaten, 11 Mitglieder der UDR und 56 Zivilisten. Ungefähr 20 ‡Zivilisten— waren IRA-Mitglieder. In den Niederlanden wurden drei Luftwaffenangehörige ermordet, in Belgien ein Soldat, ein weiterer in London. Drei IRA-Terroristen wurden in Gibraltar getötet. 1989 starben in Nordirland 62 Menschen, 10 in Großbritannien (alle bei einem Bombenanschlag auf die Kaserne in Deal) und fünf an verschiedenen Orten. -687-
Im Vergleich dazu: In Washington D. C, das mit 620.000 Einwohnern weniger als die Hälfte von Nordirland hat, wurden 1988 375 Menschen ermordet. Die Dinge fallen entzwei, das Zentrum kann sie nicht halten, die schiere Anarchie ergießt sich über die Welt, ergießt sich wie die blutige Flut, und überall ertränkt sie die Reinheit der Unschuld. Die Besten verlieren jedes Schuldbewußtsein, während die Schlimmsten Erfüllt sind von leidenschaftlichem Schmerz. (W. B. Yeats, ‡The Second Coming—) Die Banditen sterben nicht für die Leute: die Leute sterben für die Banditen. (Sean O‘Casey) GESCHICHTE Am 24. April 1916, dem Ostermontag, stand Patrick Pearse auf den Stufen der Hauptpost in der Sackville Street in Dublin und rief die Irische Republik aus: ‡Irische Männer und Frauen: Im Namen Gottes und der Generationen von Toten, von denen wir die alte Tradition eines Landes geerbt haben, ruft Irland durch uns seine Kinder unter die Fahne und zum Streik für seine Freiheit.— Es war der erste nationalistische Aufstand des 20. Jahrhunderts, und er wurde von der britischen Armee mit aller Macht niedergeschlagen. Sechs Jahre später, nach einem Kleinkrieg, der auf beiden Seiten von zahllosen Grausamkeiten geprägt war, errang der Großteil Irlands seine Unabhängigkeit. Die protestantische Mehrheit der Six Counties bestand darauf, weiterhin zu Großbritannien zu gehören. Die Provisorische Irische Republikanische Armee und andere Terrororganisationen kämpfen immer noch für die Vereinigung von Nordirland mit der Republik Irland. Ihr Ziel wird zwar von der großen Mehrheit der katholischen Bevölkerungsgruppe, den Nationalisten, unterstützt, aber die meisten lehnen ihre terroristischen Methoden vehement ab. Die Unionisten, die protestantische Mehrheit, wollen Teil des United Kingdom bleiben und unterstützen die Maßnahmen, die von der britischen Regierung gegen den Terror getroffen werden. Derzeit stehen mehr als 10.000 britische Soldaten in Nordirland (Mitte -688-
der siebziger Jahre waren es mehr als 25.000), und mehr als doppelt so viele Polizisten aus Nordirland bekämpfen mit ihnen zusammen den Terror. Der Kampf der IRA-Terroristen ist der längste und gewalttätigste in Europa. Seit dem August 1969 sind ihm mehr als 2.700 Menschen zum Opfer gefallen, und weitere 25.000 wurden schwer verletzt. Ein Ende zeichnet sich nicht ab. Obwohl nun weniger Gewalt herrscht als vor zehn Jahren, sterben doch jeden Monat im Durchschnitt sieben, acht Menschen. 1988 wurden 93 Menschen getötet, genauso viele wie 1987. ‡Die Iren schicken wir zur Hölle oder nach Connacht— (Oliver Cromwell). Die Briten eroberten Irland erstmals im 12. Jahrhundert. Sie zwangen dem Land ihre Gesetze auf, teilweise auch ihre Sprache, aber die Mehrheit der Iren akzeptierte die gewaltsame Vereinigung mit England niemals wirklich. Der Widerstand bekam eine religiöse Dimension, die er bis heute beibehalten hat, als Großbritannien, nicht aber Irland, im 16. Jahrhundert die protestantische Reformation annahm. Seither haben die Protestanten in Irland immer die Union unterstützt, während die Katholiken sie ablehnen. Ende des 16. Jahrhunderts beschlagnahmte Königin Elizabeth I. nach einer Revolte in Ulster das gesamte Land. Sie und ihr Nachfolger James I. übergaben die Ländereien protestantischen Siedlern aus England und Schottland, eine Kolonialisierung, die zeitlich mit denen von Virginia und Massachusetts in Amerika zusammenfiel. Seit damals hatte Nordirland immer eine protestantische Mehrheit. Die Präsenz der Protestanten reicht noch weiter zurück. Carrickfergus war bereits zu Zeiten von Henry VIII. eine protestantische Stadt. Katholiken und Protestanten standen einander immer gegenüber, manchmal friedlich, manchmal gewaltsam, mehr als 400 Jahre lang. In Nordirland herrscht Bürgerkrieg, kein Kolonialkrieg. Das katholische Irland erinnert sich immer noch an die Revolten der Jahre um 1640, die von Cromwell mit unvergeßlicher Brutalität niedergeschlagen wurden. Vieles der protestantischen Mythologie geht auf die Ereignisse dieser Jahre zurück, ebenso wie auf den zweiten irischen Bürgerkrieg des späten 17. Jahrhunderts. Es liegt 300 -689-
Jahre zurück. Nachdem König James II. 1688 aus England vertrieben wurde, erhoben sich die Iren zu seiner Verteidigung. Zweier Ereignisse in diesem Krieg wird auch heute noch jährlich gedacht: der Belagerung der Stadt Londonderry durch die Katholiken (die von den protestantischen ‡Prentice Boys— verteidigt wurde) im August 1689; und der Schlacht an der Boyne, am 12. Juli 1690, wo der protestantische König William III. seinen Schwiegervater, den katholischen König James, besiegte. Die Protestanten feiern diese Jahrestage mit großen Paraden. Eines ihrer Lieblingslieder dabei lautet so: Wir waten bis zu den Knien in Papistenblut, Das Schlachten ist unser Genuß, König William schlug die Papistenbrut, In der Schlacht am Boyen-Fluß. Als 1801 eine weitere Rebellion ausbrach, wurde das (protestantische) irische Parlament in Dublin aufgehoben, und die politische Vereinigung der beiden Königreiche wurde eingeleitet. Irische katholische Männer gewannen 1829 das Stimmrecht, dann kam es zur größten Katastrophe in der irischen Geschichte: der Hungersnot der Jahre nach 1840, der ‡Kartoffelhungersnot—. Hunderttausende Menschen starben, wer nur irgendwie konnte, wanderte aus nach Großbritannien, Nordamerika und Australien. Die Bevölkerungszahl betrug vor der Hungersnot 8 Millionen, ein Stand, den sie seither nie wieder erreicht hat. Die Abkömmlinge der Auswanderer, vor allem die in den USA, haben sich ihre Religion und ihr irisches Bewußtsein über die Generationen hinweg bewahrt. John F. Kennedy war zum Beispiel Amerikaner in vierter Generation œ seine Urgroßeltern waren in dieser Zeit ausgewandert œ, aber er kultivierte sein Irischtum. Einer seiner Neffen besuchte Belfast 140 Jahre nachdem seine Ururgroßeltern ausgewandert waren und reklamierte für sich das Recht, sich als Ire aktiv in der Politik zu betätigen. DER OSTERAUFSTAND UND DER UNABHÄNGIGKEITSKRIEG Dafür sollen die Wildgänse mit jeder Flut den grauen Flügel ausgebreitet haben; dafür soll all das Blut vergossen worden sein, -690-
dafür ist Edward Fitzgerald gestorben und Robert Emmet und Wolfe Tone, dafür all das Leid der Tapferen? Das romantische Irland, es ist tot und vergangen, es liegt mit O‘Leary im Grab. (W. B. Yeats, ‡September 1913—) Die Iren waren im 19. Jahrhundert im britischen Parlament durchaus angemessen vertreten, forderten aber in der zweiten Hälfte ununterbrochen die Home Rule, eine Teilautonomie. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erreichte die Diskussion ihren Höhepunkt, da die Liberalen im Unterhaus diese Forderung unterstützten, während die Konservativen erbittert dagegen kämpften. Zum ersten Mal tauchte der Vorschlag einer Teilung auf, und es gab eine lange Debatte, ob die Grafschaften Fermanagh und Tyrone, die gleichermaßen von Katholiken wie Protestanten bewohnt werden, der vorgesehenen protestantischen Enklave zugerechnet werden sollten. Als aber der Krieg ausbrach, wurde die Klärung dieser Diskussion vertagt. Irische Extremisten, die seit Jahren unter der Führung einer Geheimgesellschaft, der Irischen Republikanischen Bruderschaft, einen neuerlichen Aufstand vorbereitet hatten, sahen nun die Zeit zum Losschlagen gekommen, und sie organisierten den Osteraufstand von 1916. Die Niederwerfung forderte 1.350 Menschenleben, und einige Anführer wurden erschossen, aber die Republikaner gewannen in der Bevölkerung weite Unterstützung. Bei den Wahlen von 1918 gewann ihr politischer Flügel, der ‡Sinn Fein— (‡Wir allein—), die meisten der katholischen Wahlkreise und eine knappe Mehrheit der katholischen Wähler. Die gewählten Abgeordneten zogen aus dem Londoner Unterhaus aus und gründeten den ersten Dail, ein irisches Parlament in Dublin; Eamon de Valera wurde Präsident der Republik. Sie gründeten auch die ursprüngliche Irische Republikanische Armee. Unter dem Kommando von Michael Collins führte sie von 1919 bis 1920 gegen die Briten einen Guerillakrieg. 1920 teilten die Briten Irland und konstituierten gesetzgebende Versammlungen mit eingeschränkter Macht: In Dublin für die 26 Grafschaften, die der heutigen Republik Irland (Eire) entsprechen, und in Stormont, bei Belfast, für die sechs protestantischen Grafschaften im Nordosten. Die -691-
IRA kämpfte weiter für eine unabhängige, vereinigte Republik, und schließlich bot die britische Regierung dem Land unter zwei Bedingungen den Status eines Dominions an (wie Kanada): die irische Regierung sollte die Ausrufung der Republik rückgängig machen, George V. als König von Irland anerkennen und zustimmen, daß die sechs Grafschaften das Recht hätten, in der Union mit Großbritannien zu verbleiben. Am 6. Dezember 1921 wurde auf dieser Grundlage in London ein Vertrag unterzeichnet. DIE DEBATTE ÜBER DIE TEILUNG Unter den Extremisten in der IRA gab es heftigen Widerstand gegen diesen Vertrag. De Valera voran, sprachen sie vom Verrat an der Republik. Sie verloren die Wahlen zum Dail, weigerten sich aber, diese Niederlage auch anzuerkennen. Als 1922 der unabhängige Freistaat Irland ausgerufen wurde, kämpften œ und verloren œ sie einen unglaublichen Bürgerkrieg (1922-23), in dem ungefähr 4.000 Iren getötet oder hingerichtet wurden, mehr als die Briten zwischen 1916 und 1921 getötet hatten. Die heutige Mythologie der Katholiken gibt vor, daß es bei der Diskussion im Dail und bei diesem Bürgerkrieg um die Teilung ging. Tatsache ist, daß die Frage der Teilung zu dieser Zeit an Bedeutung bereits verlor. Beide Seiten waren sich ziemlich einig, daß die Notwendigkeit, in einem vereinten Irland zu existieren, das Dasein als ein eigener Bestandteil von Großbritannien überwiegen würde. De Valera und die anderen Extremisten argumentierten, die Republik aufzugeben hieße die irische Unabhängigkeit aufzugeben, und sie waren auch bereit, ihre früheren Kameraden zu töten, um die Revision der Entscheidung zu erzwingen. Sie hatten alle nicht recht. Irland erlangte rasch die volle Unabhängigkeit, war im Zweiten Weltkrieg neutral und wurde schließlich 1949 zur Republik ausgerufen, ohne daß sich die Briten weiter eingemischt hätten. Und die protestantische Mehrheit im Norden stand fest zur Union. Mit ihrem semiautonomen Parlament in Stormont regierten sie die katholische Minderheit mit schwerer Hand. Die Minorität wurde mit Betrug und miesen Tricks vieler ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte beraubt. Die -692-
ironische Konsequenz der irischen Unabhängigkeit war ein steiles Absinken des Status der nordirischen Katholiken. Die Teilung, die 1920 nicht viel mehr als ein Strich auf der Landkarte war, hat sich in eine regelrechte Grenze verwandelt, seit die beiden irischen Staaten ihre eigene Entwicklung genommen haben. Der Süden wollte seine Unabhängigkeit von Großbritannien begründen, aber das bedeutete die gleichzeitige Abgrenzung vom Norden des Landes. Heute sind Scheidung, Empfängnisverhütung und Abtreibung in Nordirland legal, im Süden aber verboten. Das britische Wohlfahrtssystem und das Erziehungswesen sind weit großzügiger als in Irland, und sie erstrecken sich natürlich auch auf Nordirland. Daher ist auch der Lebensstandard dort weit höher als in der Republik, und es gibt nur sehr wenig Handelsverkehr über die Grenze. Die Frage der Teilung ist im irischen Bewußtsein allmählich in den Hintergrund getreten. Die Protestanten des Nordens dachten natürlich, daß die Sache ein für alle Mal geregelt sei. Die Nationalisten des Nordens aber, die über dem Unrecht brüteten, das ihnen angetan worden war, vergaßen nicht. In einer Rede nach dem Ersten Weltkrieg, bei der er an die Vorkriegsdebatten über den Grenzverlauf erinnerte, stellte Winston Churchill über die Empfindlichkeit der irischen Auseinandersetzungen fest: ‡Wenn die Sintflut zurückgeht und das Wasser sinkt, sehen wir die Grenzpfähle von Fermanagh und Tyrone wieder einmal auftauchen. Dieser anhaltende Streit ist eines der wenigen Dinge, die den Wirbelsturm unverändert überstanden haben, der die Welt durchrast hat.— Fünfundsiebzig Jahre später hält dieser Streit immer noch an. NACH DER TEILUNG In den späten zwanziger Jahren gaben Valera und seine Anhänger ihre gewalttätige Opposition gegenüber dem Staat auf und akzeptierten die monarchische britische Verfassung und die demokratische Politik. Das bedeutete praktisch die Anerkennung der Teilung. Die politische Partei, ‡Fianna Fäil— (Krieger von Irland), wurde die größte im Freistaat und stellte viele Jahre hindurch die Regierung der Republik. Die ursprüngliche Pro-Vertrags-Partei, ‡Fine Gael— (Die irische Rasse), bildete die Opposition. Ironischerweise war -693-
es eine Fine Gael-Regierung, die 1948 während einer der kurzen Oppositionsphasen von de Valera die Republik ausrief. Eine dissidente Splittergruppe der IRA setzte eine Terrorkampagne gegen die Regierung in Dublin und gegen die Teilung fort. Als de Valera Premierminister wurde, ließ er sie einsperren. 1938 kam es in England und Nordirland zu Bombenanschlägen, und 1956 gab es einen erneuten Ausbruch der Gewalt, doch beide Eruptionen endeten nach kurzer Zeit. 1968 folgten die Katholiken dem Beispiel der Bürgerrechtsbewegungen in den USA und begannen mit Demonstrationszügen für ihre politischen und sozialen Rechte. So hatte zum Beispiel die Stadt Londonderry œ die von den Katholiken nur Derry genannt wird œ eine katholische Mehrheit, aber der Stadtrat wurde manipuliert, um den Protestanten ununterbrochen die Macht zu erhalten. Die Bürgerrechtsbewegung hatte große Erfolge und wurde von allen Katholiken des Landes ebenso unterstützt wie von der damaligen Labour-Regierung in London unter Harold Wilson. DIE UNRUHEN Viele sprechen über eine Lösung der politischen Probleme von Ulster, aber nur wenige nennen das Problem beim Namen. Der Grund ist sehr einfach. Das Problem ist, daß es keine Lösung gibt. (Der britische Politologe Richard Rose) Im Juli 1969 wurde eine friedliche Bürgerrechtsdemonstration in Londonderry von der protestantischen paramilitärischen Polizei (den B-Specials) mit großer Gewalt aufgelöst. Im ganzen Land griffen Protestanten die Katholiken an, und die lokale Miliz und Polizei sah entweder zu oder machte mit. Im August 1969 schickte die britische Regierung die Armee, um für Ordnung zu sorgen. Die Katholiken waren darüber froh, da sie dadurch vor der Gewalt der Protestanten geschützt wurden. Nach einer Phase der Unentschlossenheit beschloß die Londoner Regierung, die Mißachtung der Bürgerechte in Nordirland zu korrigieren, stieß aber auf heftigen Widerstand von Stormont. So löste die konservative Regierung unter Edward Heath 1972 Parlament und Regierung von Nordirland auf. Seither steht die Provinz unter Direktverwaltung von -694-
London œ mit Ausnahme eines kurzen Zeitraumes, als 1974 der vergebliche Versuch unternommen wurde, eine nordirische Volksversammlung einzuberufen. Die Ereignisse von 1969 belebten die Reste der alten IRA neu. Die Anwerbung neuer Mitglieder erwies sich als einfach: Es gab genug Erinnerungen an 50 Jahre Unterdrückung. Als der Kreislauf von Terrorismus und Repression in Schwung kam, vergrößerte sich die IRA schnell. Die weltweite Wirtschaftskrise der siebziger Jahre traf Nordirland besonders schwer. Die wichtigsten Industriezweige, Schiffbau und Textilerzeugung, brachen zusammen. Die enorme Arbeitslosigkeit in der ganzen Provinz bietet das ideale Feld für die Rekrutierung neuer Kämpfer. Nach den Unruhen von Londonderry im August 1969 richteten die Katholiken ‡No Go—-Cebiete in den katholischen Bezirken dieser Stadt und in Belfast ein. Sie errichteten Barrikaden und hinderten Polizei und Armee am Zutritt. Hinter diesen Barrikaden wurde die IRA aufgebaut. DER ‡BLUTIGE SONNTAG— Sobald der Name Irland fällt, scheinen sich die Engländer von gesundem Menschenverstand, normaler Vernunft und Denkweise zu verabschieden, und sie handeln mit der Barbarei des Tyrannen und mit der Blindwütigkeit eines Idioten. (Sydney Smith) Die Terroristen begannen britische Soldaten und irische Polizisten zu erschießen und in protestantischen Dörfern wie auch in Belfast Bomben zu werfen. Die Lage wurde immer unsicherer: 1969 wurden 15 Menschen getötet, 1970 waren es 25, im Jahr 1971 bereits 173. Die britische Regierung schickte massenhaft Soldaten in die Provinz, darunter auch Fallschirmjäger und schottische Regimenter, die sich rasch einen üblen Ruf erwarben. 1971 drang die Armee in die ‡No Go—-Gebiete ein und riß die Barrikaden nieder. Am 9. August verkündete die Regierung eine neue Politik: mutmaßliche IRAMänner konnten ohne Verfahren interniert werden. In umfassenden militärischen Operationen wurden Hunderte Menschen verhaftet, vor allem im Falls Road-Viertel von Belfast und in der ‡Bogside— in Londonderry. Die Briten benahmen sich wie eine Besatzungsarmee, -695-
dabei war es doch angeblich eine britische Provinz, und dadurch kam es zur völligen Entfremdung der katholischen Bevölkerungsgruppe. Ihren Höhepunkt erreichte die Eskalation, als am 30. Januar 1972, dem ‡Blutigen Sonntag—, Fallschirmjäger in eine katholische Demonstration in Londonderry hineinschossen und 13 Menschen töteten. Zwei Wochen später setzten Demonstranten die britische Botschaft in Dublin in Brand, ein prachtvolles Gebäude aus dem 18. Jahrhundert. Die Polizei griff nicht ein. Auch in einem Jahrhundert voller sinnloser politischer Gesten erscheint es als eine absurde Vorstellung, daß die Iren die Briten beleidigen oder sich gar an ihnen rächen wollten, indem sie eines ihrer eigenen wertvollsten Baudenkmäler niederbrannten. In dieser Zeit wurde auch ein ernsthafter Versuch unternommen, zwischen der britischen Regierung und der IRA eine Verhandlungslösung herbeizuführen. Es gab einen Waffenstillstand und geheime Gespräche, aber sie führten zu gar nichts. Großbritannien erhöhte die Zahl der Soldaten in der Provinz, löste die ‡B-Specials— auf und versuchte, das ungerechte politische System neu zu gestalten. Der Magistrat von Londonderry hat nunmehr eine katholische Mehrheit, und der Name der Stadt wurde offiziell in Derry geändert. 1973 rief Edward Heath zu einer Konferenz nach Sunningdale in England, wo er ein System von Machtteilung zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland vorschlug. 1974 wurde eine Volksvertretung gewählt und ein Machtaufteilungsausschuß eingesetzt. Die Protestanten riefen dagegen zum Generalstreik auf, und Versammlung wie Ausschuß brachen zusammen. DIE TERRORISTEN-KAMPAGNE Die Grausamkeiten gingen weiter. Das schlimmste Jahr war 1972: 474 Tote in Nordirland. Davon wurden 255 von der IRA getötet, 103 von protestantischen Terroristen, 74 von Sicherheitskräften, und in 42 Fällen blieb die Täterschaft ungeklärt (in den meisten Fällen muß man sie wohl der IRA zurechnen). Im selben Jahr griff die Terrorwelle auch über die Irische See hinweg nach England über: In zwei Pubs in Birmingham töteten Bomben 19 Menschen und verwundeten 180. Protestantische Terroristen waren ebenso fleißig: Im Dezember 1971 -696-
tötete eine Bombe in einem katholischen Pub in Londonderry 15 Menschen, und im Mai 1974 forderte eine Autobombe in Dublin 22 Menschenleben. 1978 starben bei einem Bombenanschlag auf das Cafe ‡Le Mon— in Belfast 12 Menschen, 23 wurden verletzt. 1979 wurde der achtundsiebzigjährige Lord Louis Mountbatten, ein prominenter Staatsmann und Verwandter der Königin, zusammen mit drei anderen in Irland ermordet œ einer Frau, die älter war als er selbst, und zwei Jungen. Am selben Tag flog durch eine Bombe in der Straße bei Warrenpoint an der Grenze ein Armeelastwagen in die Luft. 18 Soldaten kamen ums Leben. Eine andere Bombe beschädigte die Westminster Hall, eines der bedeutendsten öffentlichen Gebäude in London, das aus dem 11. Jahrhundert stammt. 1981 trat eine Gruppe von IRA-Gefangenen in Hungerstreik. Sie forderten die Anerkennung als ‡politische Gefangene—. Zehn von ihnen starben, darunter auch Bobby Sands, der in Haft zum Unterhausabgeordneten gewählt worden war. Im selben Jahr gab es weitere Bombenattentate in London. Ein Sprengkörper war im Regent‘s Park versteckt, ein anderer explodierte in Chelsea, als ein Militärbus vorbeifuhr, und ein dritter während einer Parade der Königlichen Garde im Hyde Park. Zu Weihnachten 1983 starben bei einem Anschlag in der Nähe des Kaufhauses Harrods fünf Menschen, mehr als 80 wurden verletzt. 1984 entkam Margaret Thatcher beim Parteitag der Konservativen im Grand Hotel in Brighton nur um Haaresbreite dem Tod. Kurz danach wurde in einem Touristenhotel in London noch rechtzeitig eine andere Bombe entdeckt. In Großbritannien sind insgesamt mehr als 100 Menschen durch Terroranschläge ums Leben gekommen, in der Republik Irland waren es mehr als 60, darunter auch der britische Botschafter. Auch der britische Botschafter in den Niederlanden wurde ermordet, ebenso wie drei Luftwaffenangehörige. Verschiedene andere geplante Anschläge wurden noch rechtzeitig vereitelt. Die Anschläge in Birmingham und London, der Mord an Mountbatten und der Anschlag in Brighton waren die spektakulärsten Ereignisse und riefen die meiste Wut hervor, aber der Kampf der IRA hat sich hauptsächlich auf Nordirland konzentriert. Dort kam es zu -697-
zahlreichen Morden an Richtern, Polizisten, Soldaten und Beamten. Oft erschossen die IRA-Killer ihre Opfer vor den Augen ihrer Familien, einmal sogar auf den Stufen der St. Patricks-Kathedrale in Armagh. Ein Soldat wurde in seiner Freizeit im Haus seiner Eltern in Derry erschossen, und einmal schossen IRA-Männer in einen protestantischen Sonntagsgottesdienst hinein. Es gab auch viele Angriffe auf Polizei- und Armeekasernen, und South Armagh, das schon immer eine katholische Mehrheit hatte, wurde von Protestanten gänzlich freigemacht. Es ist jetzt ein Hauptschauplatz für die Kämpfe zwischen IRA und Polizei. Diese Terrorakte provozierten protestantische Racheaktionen, und eine wesentliche Aufgabe der britischen Ordnungskräfte ist es, katholische und protestantische paramilitärische Truppen davon abzuhalten, sich gegenseitig abzuschlachten. Protestantische Terrororganisationen œ die ‡Ulster Volunteer Force— und die ‡Ulster Defence Association— œ haben eine Reihe prominenter Nationalisten ermordet, und sie versuchten auch, Bernadette Devlin (jetzt McAliskey) und ihren Ehemann umzubringen. Sie war eine Führerin der Bürgerrechtsbewegung von 1969 gewesen und später Parlamentsabgeordnete. Die protestantischen Terroristen haben Hunderte Katholiken ermordet, meistens willkürlich, und auch viele, die sie für IRA-Männer hielten. Sie haben Autobomben benützt und genauso blindwütig wie die IRA Anschläge auf Pubs und Amtsgebäude verübt, wenn auch in geringerer Zahl. Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben, und ein Ergebnis davon ist eine mittlerweile fast vollständige Trennung der katholischen und der protestantischen Wohngebiete in Nordirland. Der Einsatz der Waffen der IRA wurde immer ausgeklügelter. Die Bombe in Brighton zum Beispiel war bereits einen Monat vor der Ankunft der Torries versteckt worden. Manche IRA-Experten lernten ihr Handwerk in der britischen Armee. Andere wurden in Libyen ausgebildet. Protestantische Terroristen sind fast immer ehemalige Soldaten. DIE NEUE IRA Seit 1969 hat sich die IRA grundlegend verändert. Die alte Garde -698-
wurde weitgehend abgelöst und durch jüngere und härtere Männer ersetzt. Die ersten der neuen Generation waren eine Gruppe von Marxisten, die mehr am internationalen Kommunismus als am Kampf gegen die Briten interessiert waren. Die Bewegung spaltete sich, und eine Dissidentengruppe, die sich bald als die große Mehrheit herausstellte, bildete die Provisorische IRA, kurz die Provos, deren Ziel es ist, die Briten mit Gewalt aus Nordirland zu verjagen. Der politische Flügel der IRA, Sinn Fein, spaltete sich ebenfalls in einen offiziellen und einen provisorischen Sinn Fein. Die offiziellen, politisch wie militärisch, verloren rasch die meisten Anhänger, obwohl es sogar zu gelegentlichen Kämpfen und Gewaltausbrüchen zwischen den Fraktionen kam, die Tote und Verstümmelte forderten. Abgesehen von der Erschießung ist die in Nordirland von allen Terrorgruppen am häufigsten verwendete Form der ‡Bestrafung— das ‡kneecapping—: Dem Opfer wird die Kniescheibe entweder zerschossen oder mit einer Bohrmaschine zerstört. Die Spitäler in Belfast sind weltweit führend in der Wiederherstellung verletzter Kniegelenke. Die IRA hat auch das Kahlscheren und Teeren und Federn von Frauen, die mit dem ‡Feind fraternisieren—, wieder entdeckt. Eine andere dissidente IRA-Fraktion, die ‡Irish National Liberation Army— (INLA), schlug eine Politik der extremen Gewalt und des marxistischen Dogmas ein. Sie war verantwortlich für die meisten aufsehenerregenden Mordanschläge, einschließlich dem Bombenattentat, bei dem der Unterhausabgeordnete Airey Neave in der Parlamentstiefgarage 1979 starb. Die INLA wurde aber durch verschiedene Polizeiaktionen und die Kämpfe gegen die Provos 1986/87 erheblich geschwächt. DAS PROGRAMM DER PROVOS Das ursprüngliche Ziel der IRA war die Verhinderung der britischen Unterstützung für die Protestanten in Nordirland. Sie glaubten, daß nach einem Abzug der britischen Soldaten die Protestanten sich mit der Situation abfinden und der Wiedervereinigung zustimmen würden. Auch heute noch glauben die offiziellen IRA-Leute daran. Aber mehr als 20 Jahre Terror haben die -699-
protestantische Überzeugung verstärkt, nichts mit der Republik zu tun haben zu wollen, und es gibt keinen Zweifel daran, daß ein Rückzug der Briten einen Bürgerkrieg nach sich ziehen würde œ den die Protestanten gewännen. Sie sind doppelt so viele wie die Katholiken und würden Polizei und Miliz beherrschen (die IRA hat immer angekündigt und versucht, die katholischen Angehörigen dieser Einheiten zu töten). Sollte die IRA ihr Ziel, den vollständigen Abzug der Briten, erreichen, wäre die Errichtung einer protestantischen Republik Nordirland und in weiterer Folge die Vertreibung Hunderttausender Menschen aus ihren Heimen in Belfast, Derry und den Grenzgebieten die Folge. Am Ende gäbe es in Nordirland keine Katholiken mehr. Das ist der Alptraum der Regierung in Dublin. Würde die IRA in den Süden abgedrängt, würde sie ihre Wut wohl auf die Republik Irland konzentrieren. Die Provos-Führer haben sich in den letzten zehn Jahren einer marxistischen revolutionären Politik zugewendet, ähnlich wie die verhaßte IRA. Sie treten für eine vereinigte sozialistische Irische Republik ein, und Lenin und Gaddafi bedeuten ihnen ebensoviel wie die alten Helden der IRA, Patrick Pearse und de Valera. Ihr Traum von einem kommunistischen Irland ist allerdings noch weiter von der Realität entfernt als der Sieg in einem Bürgerkrieg gegen die Protestanten, oder der Versuch, die Protestanten auf friedlichem Weg dazu zu bringen, die Regierung in Dublin zu akzeptieren. IRA-Männer aller Gruppierungen verachten die Regierung der Republik, die sie als aufgedrängtes Quisling-Regime betrachten, das die Teilung akzeptiert. Die Iren in der Republik erwidern diese Gefühle in ähnlicher Weise: Sie verabscheuen den IRA-Terrorismus, und obwohl sie der Idee der Wiedervereinigung verbal anhängen, tun sie nichts dafür. Der Provisorische Sinn Fein gewann bei den Wahlen in Irland 1987 weniger als drei Prozent der Stimmen. Im Norden schlägt sich die Partei besser. Sie stellte einen der 17 nordirischen Unterhausabgeordneten, wurde aber mühelos überholt von der katholisch dominierten Sozialdemokratischen Labour-Party (SDLP), die mehr als 25 Prozent der Stimmen erringen konnte. Sinn Feins Abgeordneter, der sich weigert, seinen Sitz in Westminster einzunehmen, ist Gerry Adams, der als früherer Stabschef der Provos gilt. -700-
Die IRA soll über 200-300 jederzeit einsatzbereite Männer und Frauen verfügen. Das ist durchaus genug, da auch bei den größten Aktionen nicht mehr als 12 zum Einsatz kommen. Sie könnte wahrscheinlich mühelos mehr rekrutieren, aber die IRA ist keine Guerillaarmee. Sie ist eine Terrororganisation, und die Größe spielt keine Rolle; mehr Mitglieder könnten sogar gefährlich sein. DIE FINANZIERUNG DER TERRORISTEN Die Provos beziehen ihre finanzielle Unterstützung einerseits von der nationalistisch gesinnten Bevölkerung in Nordirland, aus Banküberfällen auf beiden Seiten der Grenze (vor allem Postämter sind besonders verwundbare Ziele), aus Schmuggel und ausländischer Unterstützung. Die Totaleinnahme der Provos wird mit ungefähr 5 Millionen Pfund angenommen, davon ein gutes Drittel aus den USA, obwohl die amerikanischen Gelder mit der Zunahme der Gewalt eher zurückgehen. IRA-Angehörige und ihre Familien beziehen meistens Arbeitslosenunterstützung von der britischen Regierung. 1970 gab es in der Republik 11 bewaffnete Raubüberfälle, 1981 waren es bereits 306, aber seit damals sind die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt worden und die Überfälle zurückgegangen. Schmuggel ist wahrscheinlich immer noch die profitabelste Geldquelle. Die Unterschiede zwischen irischer, britischer und EGLandwirtschaftspolitik, die Steuerunterschiede (in Irland sind die Steuern weit höher als in Großbritannien), die Wechselkursdifferenzen zwischen irischer und britischer Währung œ all das bietet für Schmuggler genügend Gelegenheiten zum Gewinn. An manchen Stellen verläuft die irischirische Grenze mitten durch die Dörfer, in einem bekannten Fall sogar mitten durch das Haus eines ausgewiesenen Republikaners, so daß Schmuggeln relativ einfach ist. Der geplante Abbau aller Grenzen zwischen den EC-Staaten wird diese Profitquelle allerdings versiegen lassen. Die irische Regierung schätzte 1983, daß die Gesamtkosten der ersten vierzehn Jahre der Unruhen sich auf etwa 11.064.000.000 Pfund beliefen und jährlich weitere 1.322.000.000 erforderten. Bis Ende 1990 waren also nach damaliger Schätzung etwa 21 Milliarden Pfund vorzusehen. Die britischen Subventionen für Nordirland -701-
betrugen 1988/89 etwa 2 Milliarden Pfund, nicht eingerechnet die Stationierungskosten der Armee. Diese finanzielle Belastung wurde vor allem von den Regierungen Großbritanniens und Irlands getragen, aber die Einbußen im Bereich der Wirtschaft, vor allem im Fremdenverkehr, fielen natürlich direkt auf die Einwohner von Nordirland zurück œ ebenso wie die psychologischen Kosten der über 50.000 Fälle von Mord, Bombenanschlägen oder Brandstiftung seit 1969. DIE VERBINDUNG MIT AMERIKA Irischer als die Iren, katholischer als der Papst. (Altes irisches Sprichwort) Das ‡Irish Norther Aid Committee— (Noraid) sammelt bei den Amerikanern irischer Abstammung Unterstützungsgelder für die IRA: zum Teil geht das über direkte Ansprache, oder Spendenaufrufe in irischen Zeitungen in den USA oder Sammlungen in Bars und auf irischen Festen. Es gibt immer wieder Auseinandersetzungen, wieviel von diesen Geldern tatsächlich Nordirland erreicht, und seit der Unterzeichnung des Angloirischen Vertrages 1985 ist diese Einnahmequelle auch stark zurückgegangen. Seit Beginn der Unruhen haben die amerikanischen Regierungen die britische Politik unterstützt. Zunächst herrschte eine völlige Fehleinschätzung der Situation dort (so nannte Senator Edward Kennedy Nordirland das ‡Vietnam Großbritanniens—), aber als die IRA ihre Aktivitäten ausdehnte und immer mehr Menschen starben, nahm die Unterstützung der IRA ab. Es war auch ein wichtiger Schritt, daß vier der prominentesten irischstämmigen Amerikaner œ Senator Kennedey von Massachusetts, Senator Daniel Patrick Moynihan von New York, Thomas P. (‡Tip—) O‘Neill, Sprecher des Repräsentantenhauses bis 1986, und Hugh Carey, Gouverneur von New York bis 1982 œ an jedem St. Patricks Day den Terror scharf verurteilten. Der prominenteste Iro-Amerikaner, Ronald Reagan, stand unerschütterlich auf der Seite der Briten, und nach dem Angloirischen Vertrag verabschiedete der Kongreß 1985 ein Hilfsmaßnahmenpaket für Nordirland. Es gibt in Washington massive Pro-IRA-Lobbies, die versuchen, die -702-
Politik der Amerikaner zu ändern und für einen Boykott von Nordirland eintreten. Die amerikanischen Anhänger und Förderer der IRA hatten seit je einen überproportionalen Einfluß (die meisten IroAmerikaner lehnen den Terror genauso ab wie die meisten Iren). Die IRA kann auf die moralische Unterstützung solcher Frontorganisationen wie Noraid bauen, und in New York, Boston und anderen Zentren iroamerikanischen Einflusses gibt es immer wieder Demonstrationen für die IRA. Es gibt aber auch eine Reihe amerikanischer Politiker, die nicht aus Irland stammen, aber trotzdem für die IRA eintreten. Einer von ihnen war Mario Biaggi, viele Jahre lang Kongreßabgeordneter für die Bronx, ehe er 1988 wegen Korruption vor Gericht gestellt wurde. Iro-Amerikaner sind auch eine wesentliche Quelle des Waffennachschubs. In den USA kann man so leicht und billig Schußwaffen erwerben, daß die einzige Schwierigkeit darin besteht, sie nach Irland einzuschmuggeln. Mehrfach wurden ganze Bootsladungen aufgebracht, und an den unglaublichsten Plätzen wurden Waffen gefunden, so zum Beispiel in der Küche des Luxusdampfers Queen Elizabeth II. Eine weitere Quelle für Geld und Waffen war Libyen. Eine Bootsladung Waffen aus Libyen wurde 1974 vor der Westküste von Irland abgefangen, 1986 flog in der Republik ein großes Waffenversteck auf. 1988 brachte die französische Kriegsmarine ein Schiff unter panamaischer Flagge auf. Die Eksund war mit 150 Tonnen Waffen für die IRA von Libyen unterwegs. Darunter waren Boden-Luft-Raketen, Kalaschnikows und große Mengen Sprengstoff. SCHRITTE ZU EINER POLITISCHEN LÖSUNG Die Iren sind ein faires Volk. Sie sprechen übereinander niemals gut. (Samuel Johnson) Am 15. November 1985 unterzeichneten Margaret Thatcher für die britische Regierung und Garrett FitzGerald von der Fine Gael für die irische Regierung einen Angloirischen Vertrag. Darin wurde die Machtaufteilung zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland festgeschrieben, und die Republik Irland erhielt damit Parteienstellung -703-
in allen Nordirland-Fragen. Gemeinsame Angloirische Komitees sollten regelmäßig zusammentreten, um die Politik zu diskutieren und zu gemeinsamen Beschlüssen zu kommen; die Punkte erstreckten sich von Sicherheitsfragen bis zu Maßnahmen zur Beendigung der Diskriminierung in Nordirland. Sinn des Abkommens war, langfristig zu den Wurzeln der katholischen Feindseligkeit vorzudringen und die Diskriminierungen in so vielen Bereichen des Lebens zu beenden. Die Nationalisten und die Republik begrüßten das Abkommen. Charles Haughey, Führer der Fianna Fall, lehnte das Abkommen ursprünglich ab, besann sich aber eines Besseren, als er erkannte, wie populär es war. Das britische Verständnis von Sicherheitspolitik, vor allem die Stalker-Affäre und die Morde von Gibraltar (siehe unten), haben den Vertrag schwer belastet. Die großen Hoffnungen, die bei Vertragsunterzeichnung darein gesetzt worden waren, sind verflogen, aber die britischen, irischen und nationalistischen Parteien œ also praktisch alle außer IRA und Unionisten œ halten sich weiter an den Vertrag, weil es einfach nichts anderes gibt, geschweige denn etwas Besseres. Die IRA lehnt ihn ab, da er ihre grundsätzliche Forderung nach Wiedervereinigung nicht berücksichtigt. Die IRA verliert derzeit vielleicht unter den Nationalisten des Nordens an Unterstützung, vor allem wenn die Wirtschaft sich erholen und die Arbeitslosenrate absinken sollte, aber es braucht eben nur sehr wenig Aktivisten, um den Terrorkampf fortzusetzen. BRITISCHE POLITIK Der anglo-irische Vertrag war seit 1973 der erste Versuch einer britischen Regierung, das Irland-Problem zu lösen. Den Briten wäre nichts lieber als ein harmonisches Zusammenleben der irischen Protestanten und Katholiken in einer vereinigten Republik, aber sie wissen, daß es dafür aufgrund der protestantischen Unbeugsamkeit keine reelle Chance gibt. Vierzig Jahre lang hat das britische Recht sichergestellt, daß keine Veränderung des Status Nordirlands ohne die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung stattfinden kann, und dieses Abkommen bleibt aufrecht, da es nichts anderes bedeutet als die Anerkennung der protestantischen Stärke. -704-
Nachdem sie keine Chance haben, die Haltung der protestantischen Mehrheit zu ändern, beruht die Hoffnung der Briten darauf, daß der Vertrag die katholische Minderheit allmählich dazu bringen möge, ihren Verbleib im United Kingdom anzuerkennen, indem er alle ihre berechtigten Beschwerden aufgreift, vor allem jene über die Diskriminierung im Arbeitsbereich und über die Polizeipraktiken. Die Briten haben auch die Illusion aufgegeben, die IRA jemals besiegen zu können. Das Maximum des Möglichen ist, daß die Provos allmählich an Unterstützung verlieren, und daß die Kriegsmüdigkeit zu einem Defacto-Waffenstillstand führen mag. Es gibt allerdings für eine solche Entwicklung keine Anzeichen. 1988 verstärkte die britische Regierung die Bemühungen um eine Gesetzgebung gegen die Diskriminierung. Entsprechende Gesetze und ein Emanzipationsausschuß machten sich auf dem Papier sehr gut aus, bewirkten in der Praxis aber relativ wenig, und die Diskriminierung ging weiter. Das trug sicherlich bei zur hohen Arbeitslosenrate. Fabriken mit einer Belegschaft von neunzig oder mehr Prozent Protestanten haben seit zehn Jahren keine neuen Leute mehr eingestellt und sind so zu protestantischen Hochburgen geworden. Die neuen Gesetze stärken zwar die ‡Fair Employment Commission—, vor allem, da sie mit den Bestimmungen der ‡McBride-Erklärung— korrespondieren, die von einer anderen IRA-Frontorganisation in den USA ausgegeben und von einer Reihe amerikanischer Politiker aufgegriffen wurden. Sie legen strenge Regeln für die NichtDiskriminierung als Vorbedingungen für amerikanische Investitionen auf und werden durch eine stattliche Zahl staatlicher Pensionsinvestmentfonds gespeist. Die britische Gesetzgebung führt erstmals das Konzept einer ‡Unterstützungsaktion— durch: Firmen, die in der Vergangenheit eine bestimmte Arbeitnehmergruppe diskriminiert haben (also Katholiken), können nun verpflichtet werden, bei Neueinstellungen Angehörige dieser Gruppen zu bevorzugen. Diese Vorschriften werden von einem eigenen Kontrollausschuß überprüft, und auf ihre Mißachtung stehen hohe Strafen. DIE JÜNGSTEN KATASTROPHEN -705-
Wie so oft bei der Terroristenbekämpfung sehen sich die britischen Streit- und Polizeikräfte einem Dilemma gegenüber: unter dem Befehl, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen und den Terrorismus möglichst wirksam zu bekämpfen, setzen sie manchmal Maßnahmen, die den Bemühungen der Regierung, langfristig die Katholiken zu gewinnen, zuwiderlaufen. Die britische Armee ist nicht die SS, und die Polizei ist nicht die Gestapo, aber ihre Vorgangsweise ist manchmal brutal, vor allem war sie es in den frühen Tagen des Kampfes. Amnesty International und die Europäische Menschenrechtskommission haben viele Fälle von Folter dokumentiert, und manche britische Maßnahmen, besonders die Internierung und die Hinnahme des Hungertodes von Bobby Sands und seiner Gefährten, waren erstaunlich stupid und kontraproduktiv. Daraus resultiert, daß die meisten Katholiken den Terror und die Morde verabscheuen, aber eben auch die Armee, Polizei und damit alles Britische. In Nordirland kann alles immer noch schlimmer kommen. Am 8. Mai 1987 bekam die Polizei einen Hinweis und lockte ein IRAKommando beim Überfall auf eine Polizeistation in Loughgall, südwestlich von Belfast, in einen Hinterhalt. Acht IRA-Männer wurden getötet, darunter drei hohe Offiziere. Am Gedenksonntag, dem 8. November 1987, hatte die Stadtverwaltung in Enniskillen in der Grafschaft Fermanagh im Westen von Nordirland das Kriegerdenkmal wie jedes Jahr geschmückt, um so des Waffenstillstands und der Toten beider Weltkriege zu gedenken. Ein fester Teil dieser Zeremonie ist eine Schweigeminute um 11 Uhr, zur Stunde des Waffenstillstands im Jahr 1918. Um 10.45 Uhr explodierte eine Terroristen bombe in einem Veranstaltungszentrum neben dem Denkmal, tötete 11 Menschen und verwundete 55. Die IRA sagte später, daß die Bombe gegen die militärische Ehrenwache gerichtet gewesen sei, aber es gab gar keinen solchen Posten. Alle Toten und Verletzten waren Zivilisten, darunter viele Kinder. Es war das größte Unglück in der Zivilbevölkerung, seit eine Bombe in einem Pub 1982 siebzehn Menschen getötet hatte. Die IRA entschuldigte sich für die Toten. Die Morde von Enniskillen stießen auf allgemeine Abscheu, dadurch ging im irischen Dail ein Gesetzesantrag über die Auslieferung an die Briten ohne großen Widerstand durch. -706-
1988 war ein schlechtes Jahr. Im Februar erschoß ein britischer Soldat einen IRA-Mann an der Grenze, als der zu einer Sportveranstaltung gehen wollte. Die Armee erklärte den Zwischenfall zu einem Unglücksfall. Am 6. März 1988 erschossen britische Agenten in Gibraltar drei unbewaffnete IRA-Terroristen, eine Frau und zwei Männer. Es war das flagranteste Beispiel ungesetzlicher Hinrichtung in Großbritanniens Krieg gegen die IRA. Die drei Terroristen hatten eine Wiederholung des Massakers von Enniskillen geplant. Sie hatten ein Auto mit Sprengstoff beladen und in unmittelbarer Nähe eines Paradeplatzes in Gibraltar parken wollen, wo die Kapelle des Royal Anglian Regiments zwei Tage später ein Konzert geben sollte. Als sie erschossen wurden, hatten sie eben mit einem neutralen Wagen einen für ihren Plan günstigen Parkplatz reserviert. Das Bombenauto, das noch in Spanien geblieben war, hätte ein oder zwei Stunden vor der Explosion gegen das andere ausgetauscht werden sollen. Es stellte sich heraus, daß die drei tagelang von Angehörigen des britischen und des spanischen Geheimdienstes beschattet worden waren. Es hatte niemals die Gefahr bestanden, daß ihre Bombe explodieren würde, auch wenn die Behörden später darauf bestanden, daß sie vermutet hätten, die Terroristen hätten bereits eine Bombe in Gibraltar gelegt. Die drei waren zu Fuß auf dem Weg aus Gibraltar hinaus, ais neben ihnen ein Polizeiauto stehen blieb. Mehrere Männer sprangen heraus und eröffneten das Feuer. Die Schützen entpuppten sich als Angehörige der Special Air Services (SAS). Eine offizielle Version des Hergangs wurde sofort angeboten. Die drei Terroristen hätten ‡verdächtige Handbewegungen— gemacht, so daß die SAS-Männer geglaubt hätten, daß sie Pistolen ziehen oder eine Fernzündung drücken würden. Bald wurden Augenzeugen gefunden, die diese Schilderung des Hergangs in Frage stellten. Zumindest einer der beiden Männer, der in den Rücken geschossen worden war, wurde erst erschossen, als er bereits auf dem Boden lag. Ein Zeuge sagte aus: ‡Der Mann auf dem Boden lag auf dem Rücken. Der Mann, der über ihm stand, hatte einen Fuß auf seiner Brust. Dann richtete er seine Pistole auf ihn und schoß zwei- oder dreimal aus kürzester Entfernung.— jeder, der die offizielle Version anzweifelte, wurde beschuldigt, die Untersuchungskommission beeinflussen zu -707-
wollen, die in Gibraltar tagen sollte œ eine Untersuchung, die monatelang aufgeschoben wurde. Der britische Außenminister und die Premierministerin, ganz zu schweigen von anderen, weniger prominenten Politikern, bestanden wiederholt auf der Unantastbarkeit der Kommission. Sie versuchten, das britische Fernsehen davon abzuhalten, einen Bericht über die Morde auszustrahlen, einschließlich Interviews mit Augenzeugen. Als Amnesty International die offizielle Stellungnahme bezweifelte, sagte Margaret Thatcher vor dem Unterhaus: ‡Ich hoffe, Amnesty International kümmert sich auch um die mehr als 2.000 Menschen, die seit 1969 von der IRA umgebracht worden sind.— Die Leichen der drei Terroristen wurden nach Belfast gebracht. Bei ihrem Begräbnis am 16. März schoß ein protestantischer Terrorist um sich und warf Handgranaten in die Menge. Dabei starben drei Menschen, mehr als 50 wurden verletzt. Der Mann wurde von Trauergästen gefaßt, nachdem ihm die Munition und Granaten ausgegangen waren, und der Polizei übergeben. Drei Tage später wurden die Opfer der Friedhofsschießerei zu Grabe getragen. Zwei junge britische Soldaten in Zivil verfuhren sich und gerieten mitten in den Begräbniszug. Sie wurden aus ihrem Auto herausgerissen und gelyncht. Bei beiden Zwischenfällen liefen Fernsehkameras mit, und die Aufzeichnung der Lynchaktion wurde später zur Identifikation und Überführung der Täter benützt. Durch diese Ereignisse erreichten die Beziehungen zwischen Briten und Iren einen Tiefpunkt. Das Ergebnis der ‡Stalker-Affäre— hatte nichts zu ihrer Verbesserung beigetragen. John Stalker, ein britischer Polizeibeamter aus Manchester, war 1984 nach Nordirland geschickt worden, um drei Zwischenfälle aus dem Jahr 1982 zu untersuchen. Damals hatte die Polizei sechs Menschen angeschossen, von denen fünf starben. Die meisten der Toten waren IRA-Terroristen gewesen, und es lag die Vermutung nahe, daß sie ebenfalls ‡außergesetzlichen Hinrichtungen— zum Opfer gefallen waren. Stalker war ein guter Polizist, und er führte seine Untersuchungen sorgfältig durch. Kurz bevor er sie abschließen konnte, wurde er von dem Fall abgezogen. Am 25. Januar 1988 informierte der britische Generalstaatsanwalt das Unterhaus, daß es zwar massive Verdachtsmomente gegen Angehörige der Ulster-Polizei gebe, er aber dennoch nicht Anklage -708-
gegen sie erheben würde. Es geschieht nicht oft, daß hohe Beamte zugeben, an einer Verschleierungsaktion beteiligt zu sein und dann auch noch weitermachen. Stalker veröffentlichte seine Untersuchungsergebnisse. Er hatte keine Beweise für gezielte Todesschüsse gefunden, wohl aber festgestellt, daß in den achtziger Jahren bei den Sicherheitskräften die Neigung bestanden hatte, Verdächtige lieber ohne Warnung zu erschießen statt sie festzunehmen. Später bekleidete er ein hohes Amt in der britischen Regierung. Es hatte lange Proteste gegen die Verurteilung mehrerer Verdächtiger wegen der Bombenanschläge von Birmingham 1974 gegeben. Im März 1988 bestätigte ein Berufungsgericht die Schuldsprüche, die auf den Geständnissen der Angeklagten beruhten, die sie später widerrufen hatten. Es schien den meisten Iren, als ob die Briten jeden Respekt vor dem Gesetz verloren hätten. Das war nicht der Fall. Der Gibraltar-Ausschuß war verzögert worden, aber nicht unterdrückt. Im September 1988 fand er statt. Die Kommission kam zu der Entscheidung, daß die Erschießungen gerechtfertigt gewesen waren, da die Soldaten ‡Grund zur Annahme gehabt hätten—, daß ihr eigenes oder das Leben anderer in Gefahr gewesen sei. Die Jury akzeptierte die Behauptung, daß die SASMänner geglaubt hatten, daß die drei Terroristen bewaffnet gewesen wären und daß sie eine Bombe in Gibraltar gelegt hätten, die mit einer Funkfernzündung ausgestattet wäre, so daß sie noch eine Explosion hätten auslösen können. Die SAS-Männer, die hinter Wandschirmen aussagten, um ihre Anonymität zu bewahren, gaben ab, daß die Terroristen auf Anruf nicht stehengeblieben wären und nach Waffen oder einem Fernzünder gegriffen hätten. Die IRA setzte ihr Treiben fort. Am 29. Februar 1988 flogen zwei Terroristen mit ihrer eigenen Bombe beim Zusammenbau in die Luft. Am 2. Mai wurden in den Niederlanden drei britische Luftwaffenangehörige durch Autobomben getötet. Am 16. Mai feuerten protestantische Terroristen in eine katholische Bar und töteten drei Männer. Am 15. Juni starben sechs britische Soldaten durch eine Bombe in ihrem Auto in Lisburn, südlich von Belfast. Am 1. August detonierte eine IRA-Bombe in einem Armeepostamt in London und zerriß einen Soldaten. Am 20. August tötete eine Bombe -709-
acht Soldaten, die mit dem Bus vom Flughafen Belfast zu ihrer Kaserne fahren wollten. Offensichtlich hatte die IRA einen Hinweis über Abfahrtszeit und Route des Busses bekommen. Zehn Tage später erschossen Sicherheitskräfte drei IRA-Männer. Die IRA teilte mit, daß sie mit einem Auftrag unterwegs gewesen seien, aber die Briten gaben keine Details bekannt. Am 31. August wurden zwei Zivilisten in Derry getötet, als sie eine Bombe anfaßten, die für die Polizei bestimmt war. Die IRA drückte ihre Entschuldigung dafür aus, ‡daß diese Operation so tragisch schiefgegangen sei—. Nachdem sie die Gibraltar-Untersuchung hinter sich gebracht hatte, steuerte die britische Regierung auf eine andere Kontroverse zu. Im Oktober verbot sie alle Radio- und Fernsehauftritte von Mitgliedern der IRA, Sinn Fein und anderer protestantischer Terrororganisationen und hob das alte Recht der Angeklagten auf, ohne Nachteil für sich selbst vor Gericht die Aussage zu verweigern. Am 29. November stellte der Europäische Gerichtshof in Straßburg fest, daß die Bedingungen des ‡Prevention of Terrorism Act— gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstießen. Gemäß dem ‡Act— sollte ein Verdächtiger sieben Tage lang ohne Verfahren festgehalten werden können. Eine Woche später entschied die britische Regierung, daß sie nicht an diesen Schiedsspruch gebunden sei. Der ‡Act— würde in dieser Form weiter gelten. Die Rechtfertigung für das Verbot von Rundfunkinterviews mit Mitgliedern von IRA und ‡Loyalisten—-Terrorgruppen und ihren Frontorganisationen war die Hoffnung, ihnen mit dem Publizitätsverbot quasi die Luft abzuschnüren. Bezüglich des Rechts, sich der Aussage zu entschlagen, ordnete die Regierung an, daß in Zukunft Gerichten gestattet sein würde, ‡auf die Tatsache, daß ein befragter Angeklagter schweige, jedes Gewicht zu legen, das sie wünsche—. Die neue Bestimmung sollte auf ganz Großbritannien ausgedehnt werden. Viele Menschen betrachteten diese Maßnahmen als ernsthafte Einschränkungen der bürgerlichen Rechte. So sind auch beide strittige Punkte in der ‡Bill of rights— in der amerikanischen Verfassung abgedeckt. Das Recht auf Rede ist im ersten, das Recht auf Schweigen im fünften Punkt garantiert. Die Entscheidung, den Spruch des Europäischen Gerichtshofes zu ignorieren, schadete der Regierung. Großbritannien war immerhin -710-
eine der Signatarmächte der Europäischen Menschenrechtskonvention. Es mußte nun damit argumentieren, daß die Gefährlichkeit der Terroristenbedrohung in Nordirland die Aufhebung mancher Bestimmungen notwendig mache. Zu der Entscheidung mag ein Streit beigetragen haben, der sich im November und Dezember zwischen Großbritannien und Belgien und Irland entwickelte. Die belgische Polizei verhaftete auf britisches Ersuchen hin einen irischen Expriester, Patrick Ryan, den die Briten des IRATerrorismus beschuldigten; er sollte die IRA-Kommandos, die auf dem Festland britische Armee-Angehörige ermordet hatten, mit Sprengstoff beliefert haben. Ein belgisches Gericht verweigerte seine Auslieferung an Großbritannien mit der Begründung, daß der Auslieferungsantrag unvollständig sei, und er wurde nach Dublin abgeschoben, ehe der Antrag noch vervollständigt werden konnte. Der irische Generalstaatsanwalt wiederum verweigerte die Auslieferung an Großbritannien mit der Begründung, daß die britische Regierung und die Zeitungen bereits im voraus so viele eindeutige Erklärungen abgegeben hätten, daß Ryan kein faires Gerichtsverfahren finden würde. Gleichzeitig verlängerte die britische Regierung die Gefängnisstrafen für terroristische Handlungen, indem sie die Begnadigungsmöglichkeit von der Hälfte der Strafzeit auf ein Drittel verkürzte. Sie schlug auch vor, das Wahlrecht um einen Zusatz zu erweitern, daß alle Kandidaten bei Lokalwahlen Erklärungen unterzeichnen sollten, daß sie nach einer eventuellen Wahl weder den Terrorismus noch verbotene Organisationen unterstützen würden. Es schien allerdings unwahrscheinlich, daß durch solche Maßnahmen der Terror bekämpft werden könnte. Im Oktober 1989 gab es einen weiteren Schlag für das Ansehen des britischen Rechtswesens, als eine spezielle Untersuchungskommission des Appellationsgerichtes das Urteil im Fall der ‡Vier von Guildford— aufhob. Diese drei Männer und eine Frau waren 1975 schuldig gesprochen worden, 1974 eine Serie von Bomben gelegt und sieben Menschen getötet zu haben. Eine der Bomben hatte in einem Pub in Guildford vier Menschenleben gefordert. 1977 hatte ein IRAKommando, das wegen anderer Anschläge vor Gericht stand, seine Schuld an diesen Attentaten eingestanden, aber das Geständnis war -711-
ignoriert worden. Bei der Untersuchung von 1989 stellte der Staatsanwalt fest, ‡es wäre nicht im Interesse der Krone, die Schuldsprüche erneut zu untersuchen—. Das Gericht befand, daß die Polizei die Beweise verfälscht hatte. Die vier planten, die Regierung wegen Fehlurteils zu belangen. Schließlich kamen die vier frei. Die ganze Situation warf erneut ein schiefes Licht auf die Schuldsprüche für sechs Iren, die für das Attentat 1974 auf ein Pub in Birmingham verurteilt worden waren. Der Terror ging weiter. am 22. September 1989 starben durch eine Bombe in der Royal Marines School of Music 9 Musiker, 2 wurden verletzt. Es war bereits das fünfte Mal, daß die IRA eine Militärkapelle angriff. Sie bieten ein ungeschütztes Ziel. Die Aussichten auf einen Waffenstillstand, ganz zu schweigen von einer Annäherung der beiden Volksgruppen, waren weiter weg denn je, ebenso wie für eine der beiden Gruppen die Hoffnung, den Krieg zu ‡gewinnen—. Zur Hölle mit der Zukunft, lang lebe die Vergangenheit. Gott in seiner Gnade soll sich um Belfast kümmern. (Zeitgenössisches Sprichwort) EINE CHRONIK 1969 Juli: B-Specials lösen Bürgerrechtsmärsche in Londonderry auf. August: Die ersten britischen Soldaten werden nach Nordirland geschickt. 1970 Juni: Die Armee verhängt eine vierundzwanzigstündige Ausgangssperre über das Belfaster Stadtviertel Falls Road. 9. August: Einführung der Internierung ohne Verfahren. 1971 4. Dezember: Protestantische Terroristen töten 15 Katholiken mit einer Bombe in einer Bar in Londonderry. 1972 30. Januar: Britische Fallschirmjäger töten am ‡Blutigen Sonntag— -712-
13 katholische Demonstranten in Londonderry. 22. Februar: Eine IRA-Bombe in einer Bar in Aldershot in England tötet sieben britische Soldaten. März: Das Parlament von Stormont wird aufgelöst. Großbritannien verhängt die direkte Herrschaft über Nordirland. 1973 11. November: Unionisten, SDLP und Allianz gründen eine gemeinsame Exekutive. 6.-9. Dezember: Bei einer Konferenz in Sunningdale in England zwischen den Regierungen von Großbritannien und Irland sowie den drei Parteien kommt es zur Übereinkunft über einen ‡Council of Ireland—. 1974 Mai: Der protestantische Ulster Worker‘s Council ruft zum Streik gegen die Vereinbarungen von Sunningdale auf. 17. Mai: Autobomben in Dublin, die von protestantischen Terroristen gelegt werden, fordern 22 Menschenleben. 21. November: IRA-Bomben in zwei Pubs in Birmingham töten 21 Menschen. 1976 4. Januar: Fünf Katholiken werden in der Grafschaft Armagh ermordet. 5. Januar: 10 protestantische Arbeiter in ihrem Bus werden als Racheaktion ermordet. 21. Juli: Der britische Botschafter in Dublin wird durch eine Bombe getötet. 1978 17. Februar: IRA-Bomben im Cafe ‡Le Mon— in Belfast töten 12 Menschen. 1979 22. März: Der britische Botschafter in den Niederlanden wird ermordet. 30. März: Der Unterhausabgeordnete Airey Neave wird durch eine -713-
Autobombe in der Parlamentsgarage getötet. 27. August: Eine Bombe tötet 18 britische Soldaten in Warrenpoint in Nordirland. Lord Louis Mountbatten und drei andere werden auf seinem Boot vor Sligo in Irland getötet. 1980 Oktober: Der erste Hungerstreik gefangener IRA-Mitglieder; er wird am 18. Dezember abgebrochen. 1981 1. März: Bobby Sands beginnt seinen Hungerstreik. Er stirbt am 5. April. 9 weitere IRA-Mitglieder hungern sich zu Tode. 1982 2. Juli: 11 britische Soldaten sterben bei zwei Bombenanschlägen in London. 6. Dezember: Die Irish National Liberation Army wirft eine Bombe in einer Diskothek in Ballykelly; 11 Soldaten und 6 Zivilisten kommen ums Leben. 1983 17. Dezember: Eine Autobombe vor dem Kaufhaus Harrods in London tötet 5 Menschen und verwundet mehr als achtzig. 1984 12. Oktober: Die IRA verübt einen Bombenanschlag auf den Parteitag der Konservativen im Grand Hotel in Brighton. 4 Tote, Margaret Thatcher entgeht nur knapp. 1985 28. Februar: Bei einem Granatwerferangriff auf eine Polizeikaserne in Newry sterben 9 Polizisten in der Kantine. 15. November: Margaret Thatcher und Carrett FitzGerald unterzeichnen den Angloirischen Vertrag. 1987 März: Bei Schießereien zwischen rivalisierenden republikanischen Terroristengruppen sterben 12 Menschen. 25. April: Der oberste Richter von Ulster, Maurice Gibson, und seine Frau werden durch eine Bombe getötet. -714-
8. Mai: Drei hohe IRA-Offiziere und fünf weitere Terroristen sterben in einem Hinterhalt bei Loughall. 8. November: 11 Zivilisten sterben bei einer WaffenstillstandstagsFeier in Enniskillen. 1988 6. März: Britische SAS-Männer erschießen 3 IRA-Terroristen in Gibraltar. 16. März: Ein britischer Terrorist tötet beim Begräbnis der Toten von Gibraltar 3 Menschen. 19. März: Der Begräbniszug für die Toten des 16. März lyncht zwei britische Soldaten. 2. Mai: 3 Royal Air Force-Angehörige sterben durch eine Bombe in Holland. 15. Juni: 6 britische Soldaten sterben bei einem Sportfest durch eine Autobombe. 1. August: Bei einem Bombenanschlag auf eine Armeekaserne in London stirbt ein Soldat. 20. August: 8 Soldaten sterben auf der Fahrt vom Flughafen Belfast zu ihrer Kaserne durch eine Bombe. 30. August: Sicherheitskräfte töten drei IRA-Männer. 31. August: Zwei mutmaßliche IRA-Angehörige mit Sprengstoff werden festgenommen, als sie die Grenzen zwischen der BRD und den Niederlanden überqueren. In Londonderry stirbt ein älteres Ehepaar an einer getarnten IRA-Bombe. 12. September: Bomben zerstören das Haus des höchsten Beamten in Nordirland. Eine Autobombe verletzt 12 Menschen. 24. November: Eine IRA-Bombe tötet einen siebenundsechzigjährigen Katholiken und seine elfjährige Enkelin; acht weitere Zivilisten werden verwundet. Die IRA drückt ihr Bedauern aus œ wie schon nach dem 31. August und nach dem 8. November 1987. 1989 26. September: Bei einem Bombenanschlag auf die Königliche Musikschule der Marine in Deal, Südostengland, sterben 11 -715-
Menschen, 22 werden verletzt. 1990 20. Februar; Zwei Soldaten werden verletzt, als eine Autobombe in der Nähe eines Rekrutierungsbüros in der mittelenglischen Stadt Leicester explodiert. 14. Mai: Anschlag auf das Ausbildungszentrum der britischen Armee in der Londoner Vorstadt Eltham. Sieben Verletzte. 16. Mai: Bei einem Bombenattentat in Wembley kommt ein Soldat ums Leben. 1. Juni: Ein Soldat wird auf einer Eisenbahnstation in Lichfield erschossen. 9. Juni: Bei einer Explosion in einem Militärgebäude im Londoner Bankenviertel werden 17 Menschen verletzt. 12. Juni: Eine Explosion verwüstet den Landsitz von Lord McAlpine, einem Vertrauten von Margaret Thatcher. 21. Juni: In einem Luftwaffenstützpunkt nördlich von London explodiert eine Rucksackbombe. 25. Juni: Ein Bombenanschlag auf den Carlton-Club, ein Treffpunkt konservativer Politiker, fordert vier Schwerletzte. 30. Juli: Eine Bombe tötet den konservativen Unterhausabgeordneten Ian Cow.
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ZYPERN
Geographie: 9.251 km2. Die Insel ist geteilt in die (griechische) Republik Zypern mit ungefähr 60 % und die (türkische) Republik Nordzypern mit ungefähr 40 % der Fläche. Weiters gibt es noch zwei britische Enklaven, Stützpunkte mit insgesamt 256 km2. Bevölkerung: 672.000. 80 % Griechen, 18 % Türken. Es gibt rund 180.000 griechische und 20.000 türkische Flüchtlinge, und die Türkei hat 50.000 Siedler in den Norden geschickt. Im Norden sind rund 30.000 türkische Soldaten stationiert, und die ‡Green Line— zwischen den beiden Volksgruppen wird von rund 2.000 UNO-Soldaten bewacht. BSP: 4.360 $/Einw. Allerdings gibt es ein starkes Gefälle zuungunsten des Nordens. Zypern ist ein latenter Krisenherd. Die Türken haben das Land 1974 gewaltsam geteilt und unterhalten nach wie vor eine 30.000-MannStreitmacht, damit das auch so bleibt. Zypern ist die Quelle ständiger großer Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei œ immerhin NATO-Partnerstaaten! œ und daher auch die Ursache einer ernsthaften Schwäche der Allianz im östlichen Mittelmeer. Zypern ist theoretisch ein unabhängiger Staat, und es ist Mitglied der Vereinten Nationen. Die Bevölkerungsmehrheit (ungefähr 500.000 Menschen) betrachtet sich als Griechen von der Nationalität, durch ein ungerechtes Schicksal vom Mutterland abgetrennt. Die türkische Minderheit betrachtet sich als Türken, die in Zypern leben. Ihre Loyalität gehört Ankara. Seit 1983 gibt es auf Zypern eine türkische Regierung, die ihren Herrschaftsbereich ‡Türkische Republik von Nordzypern— nennt. Dieses Staatsgebilde wird allerdings ausschließlich von der Türkei anerkannt. Das Elend Zyperns ist das Erbe von neun Jahrhunderten Krieg zwischen Griechen und Türken, und darüber hinaus noch die direkte Konsequenz des britischen Kolonialismus und der Politik der konservativen britischen Regierungen der fünfziger Jahre. Präsident Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger tragen direkte Mitverantwortung für die Krise von 1974, die in der Teilung des -717-
Landes und dieser ausweglos scheinenden Situation gipfelte. GESCHICHTE Zypern, Geburtsort der Aphrodite, war historisches Griechenland œ auch wenn es immer wieder von Ausländern erobert wurde, darunter Richard Löwenherz oder die Venezianer. Bis die Türken kamen. Sie eroberten die Insel im Jahre 1570 und siedelten sich allmählich an, bis sie in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen Bevölkerungsanteil von 18 % erreicht hatten. Sie lebten mit der griechischen Mehrheit gut zusammen, zunächst als Herrscher und dann, nachdem die Türkei Zypern 1878 an das Britische Empire abgetreten hatte, als Gleichberechtigte. Der damalige britische Premierminister Lord Beaconsfield (Benjamin Disraeli) forderte Zypern als Preis für die Vermittlung des Friedens zwischen dem Osmanischen und dem Russischen Reich. Bei seiner Ankunft in London stellte er fest: ‡Ich bringe einen ehrenhaften Frieden mit œ und Zypern.— Nach einem Blick auf eine schlechte Landkarte mag er geglaubt haben, Zypern wäre ein weiterer nützlicher Marinestützpunkt auf der Route nach Indien, wie Gibraltar, Malta und der Suez-Kanal. In Wahrheit hat es keinen vernünftigen Hafen, und das Empire hatte eigentlich gar keinen Nutzen davon. Zypern sollte nach dem Ersten Weltkrieg den Griechen übergeben werden, aber Britannien gab damals seine Kolonien noch nicht freiwillig auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich die Behauptung konstruieren, daß Griechenland noch zu instabil wäre und unter kommunistischen Einfluß geraten könnte und daß Zypern vor dieser Gefahr bewahrt werden sollte. Aber in den fünfziger Jahren war der Bürgerkrieg in Griechenland vorbei, und die griechischen Zyprioten forderten ihr Selbstbestimmungsrecht. Nach ihrem Wunsch hätte das die ‡Enosis— bedeutet, die Union mit Griechenland. In einem unverzeihlichen Akt britischer Stupidität verkündete die konservative Regierung, daß sie Zypern ‡niemals— aufgeben würde œ eine Kolonie, um die zu kämpfen es keinen einzigen Grund gab. Die griechischen Zyprioten flüchteten sich in den Terrorismus. Die Terrororganisation EOKA wurde von Oberst George Grivas angeführt, einem rechtsextremen pensionierten Offizier der -718-
griechischen Armee, der unter dem Namen Dighenis kämpfte. Der politische Führer der griechischen Zyprioten war Michael Christodoros Mouskos, der den Namen Makarios III. annahm, als er Erzbischof und Primas der Orthodoxen Kirche auf der Insel wurde. Es gelang der britischen Armee nicht, die EOKA zu besiegen, und auch nicht, Grivas zu fangen. Was sie konnte, war, Makarios auf die Seychellen zu verbannen. Der Ausnahmezustand in Zypern war ein ständiger Störfaktor der britischen Innenpolitik. Es war das letzte Hurra des britischen Imperialismus, und als die Labour-Abgeordnete Barbara Castle sagte, daß britische Soldaten ihre Gefangenen gefoltert hätten, wurde sie von Konservativen derart wütend attackiert, daß sie sich schließlich entschuldigen mußte. Aber trotzdem hatte sie recht gehabt. Crivas führte einen sorgfältig geplanten Krieg aus Sabotage und Mord. Es war kein Guerillakrieg: Dafür eignete sich das Gelände nicht. 1956 hatten die Briten 40.000 Soldaten und Polizeibeamte auf der Insel stationiert, und alle waren auf der Jagd nach Crivas. Von ihnen starben 105 Soldaten und 51 Polizisten, davon die meisten bei Unfällen œ so kamen bei einem Waldbrand 21 Soldaten um, exakt 20 Prozent der Verluste. Die Einheit mit den schwersten Verlusten war das Royal Norfolk Regiment, das 18 Mann verlor, die meisten von ihnen junge Wehrpflichtige. Davon starben fünf in diesem Waldbrand, und nur zwei durch die EOKA. Insgesamt starben 238 Zivilisten, davon 203 griechische Zyprioten, die meisten von ihnen EOKA-Kämpfer. Beim ersten ernsthaften Gefecht zwischen Griechen und Türken im Jahr 1958 wurden 115 Menschen getötet. 1959 gestand Großbritannien seine Niederlage ein, verweigerte den Zyprioten aber nach wie vor das Recht auf Selbstbestimmung. Zu dieser Zeit spielten die Türken bereits eine aktive Rolle in der Planung der Zukunft Zyperns, und sie bestanden darauf, daß die Enosis niemals stattfinden dürfe, da sie einen griechischen Stützpunkt 80 Kilometer vor ihrer südlichen Küste als eine tödliche Gefahr betrachten würden. Dieses Argument war und ist lächerlich. Die Türkei ist um vieles stärker als Griechenland. Zypern bedeutet für die Türkei keine größere Bedrohung als Kuba für die USA. Aber die -719-
Türken glauben an diese Gefahr aus dem Süden. Wie Disraeli lassen sie sich von schlechten Landkarten und Alpträumen der Einkreisung in die Irre führen. Um ihre Haltung zu unterstreichen, rief die türkische Regierung unter Adnan Menderes 1955 zu einem antigriechischen Pogrom in Istanbul auf. Mehr als 2.000 Menschen wurden getötet, die überlebenden Griechen aus der Stadt verjagt. Damit endete ein Zusammenleben, das seit Byzanz bestanden hatte, und es war das Ende einer Gemeinde, die auf die Gründung der Stadt im 4. Jahrhundert zurückging. Im September 1961 wurde Menderes für seine Verbrechen gehenkt. Es gab keinen Grund für die Briten, den türkischen Wünschen 1959 entgegenzukommen, aber natürlich haßten sie Makarios und die Griechen, da sie von ihnen besiegt worden waren. Griechenland war im Zweiten Weltkrieg ein Alliierter gewesen, während die Türkei neutral geblieben war, aber in den fünfziger Jahren war die Türkei plötzlich das wichtigere NATO-Mitglied und genoß daher in seiner Auseinandersetzung mit Griechenland die Unterstützung Großbritanniens und der USA. Die Briten deckten das Täuschungsmanöver der Türken nicht auf. Statt dessen bereiteten sie auf Konferenzen in London und Zürich, 1959 und 1960, alles für ein unabhängiges Zypern vor, mit einem griechischen Präsidenten Makarios und einem türkischen Vizepräsidenten Rauf Denktas,. Der Türkei wurde ein Stationierungsrecht für ein kleines Truppenkontingent eingeräumt, Zypern wurde der Anschluß an Griechenland verboten. Das einzige andere Land der Welt, dessen Souveränität ähnlich umschrieben ist, ist Österreich. Die Briten behielten zwei Luftwaffen Stützpunkte an der Südküste, und Großbritannien und die Türkei wurden zu Schutzmächten dieses Abkommens erklärt. DAS UNABHÄNGIGE ZYPERN Dieser Zustand war unhaltbar und führte 1963 zum Zusammenbruch. Frühere EOKA-Terroristen überfielen türkische Dörfer und nahmen Geiseln. Die türkischen Truppen auf der Insel riegelten die Straße von Nikosia nach Kyrenia an der Nordküste ab, -720-
und die Türkei drohte mit der Invasion. Am Weihnachtstag entsandten die Briten auf Aufforderung Makarios' Truppen auf die Insel, um den Frieden zu retten. Sie waren offensichtlich erfolglos. Die Griechen setzten ihre Verfolgung der Türken fort und vertrieben sie aus ihren Häusern. Diplomatische Mittel sollten helfen. Die Briten gewannen die UNO, eine Truppe nach Zypern zu schicken œ UNFICYP œ, um die ‡grüne Linie— zwischen den beiden Gegnern in Nikosia zu sichern. Präsident Johnson entsandte den früheren Außenminister Dean Acheson, um zwischen Türken und Griechen zu vermitteln. Acheson schlug einen Plan vor, den zehn Jahre früher alle begrüßt hätten: Zypern sollte mit Griechenland vereinigt werden; die Türkei sollte souveräne Stützpunkte auf der Insel behalten; die türkische Volksgruppe sollte zwei autonome Kantone erhalten; jeder Türke, der auswandern wolle, sollte entschädigt werden; Griechenland sollte an die Türkei die kleine Insel Kastellorizon vor der Küste von Anatoläen abtreten. Der Acheson-Plan wurde von allen Seiten abgelehnt. Crivas kehrte auf die Insel zurück, fachte die Gewalt gegen die Türken neu an und gründete eine paramilitärische Truppe, die EOKA B. Im April 1967 gab es in Griechenland einen Militärputsch. Im September organisierte Grivas einen Angriff auf ein türkisches Dorf, bei dem 27 Türken und 2 Griechen getötet wurden. Die Türkei informierte ihre Verbündeten, daß sie eine Invasion plane, und wurde nur durch das heftige Dazwischentreten von Präsident Johnson zurückgehalten, der einen anderen Vermittler losschickte: Cyrus Vance, früherer Unterstaatssekretär für die Luftwaffe und späterer Außenminister. Johnson drohte, im Falle einer Invasion für den Ausschluß der Türkei aus der NATO zu sorgen, und bestand darauf, daß die Griechen Truppen von der Insel abzögen. Daraufhin wurden ungefähr 10.000 Mann zurückgeholt. Bis 1974 hielt dieser wackelige Friede. Die türkischen Zyprioten kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, und Erzbischof Makarios blieb nominell Präsident der ganzen Insel. Die nächste Krise wurde von den EOKA-Terroristen ausgelöst, deren Sympathie für die Junta offensichtlich wurde. Sie handelten nach Anweisungen aus Athen. -721-
Nixon und Kissinger mochten Makarios nicht. Sie beschuldigten ihn der Sympathie mit den Linken, und sie kamen mit der Junta in Athen gut zurecht, die ihnen berechenbarer schien als die griechischen politischen Parteien. Die Junta ermächtigte die EOKA, die nun œ nach dem Tod Grivas‘ am 27. Januar œ von einem Gangster namens Nikos Sampson geführt wurde, Makarios zu ermorden. Nachdem verschiedene Attentate fehlschlugen, führte Sampson am 15. Juli 1974 einen Staatsstreich durch. Makarios wurde von den Briten gerettet. Kissinger weigerte sich, den Putsch zu verurteilen und äußerte offene Befriedigung über den Sturz von Makarios. Zu seiner Verteidigung muß man allerdings festhalten, daß seine Aufmerksamkeit abgelenkt war. Zur selben Zeit hatte die WatergateAffäre in den Vereinigten Staaten ihren Höhepunkt erreicht. Die Türkei erzählte der ganzen Welt, daß sie die Enosis nicht dulden würde, und als die USA ihren Einfluß nicht nützten, um den Putsch rückgängig zu machen oder die Türkei zurückzudrängen, befahl der türkische Premierminister Bulent Ecevit die Invasion. Türkische Streitkräfte, einschließlich Fallschirmjägern, landeten am 20. Juli und errichteten in großer Eile Brückenköpfe an der Nordküste und in einer Landezone bei Nikosia. Das Oberhaupt der Junta in Athen, General Dimitrios Ioannides, befahl den Angriff auf die Türkei. Die Streitkräfte verweigerten den Befehl, verhafteten Ioannides, riefen das Ende der Junta aus und gaben am 23. Juli die Macht an die Zivilisten zurück. Es war eine Abfolge von Ereignissen, die sich die argentinische Junta vor dem Falkland-Krieg von 1982 näher hätte ansehen sollen. Die Briten beriefen eine Konferenz nach Genf ein, um die ZypernKrise zu lösen. Sie war ein kompletter Fehlschlag. Kissinger weigerte sich, irgendwelchen Druck auf die Türkei auszuüben, und die Türken weigerten sich, die Insel zu räumen. Als die Griechen die türkischen Forderungen nach einer Teilung der Insel zurückwiesen, traten die Türken am 13. August zu einer zweiten Invasion an und teilten die Insel selbst auf. Dabei vertrieben sie die Griechen aus einer Fläche von rund 40 % des Landes. Die Türken aus der griechischen Zone flüchteten in den Norden, die Griechen aus dem Norden flohen in den Süden. Ungefähr 200.000 Menschen verloren ihr Heim, davon 180.000 Griechen. Seit damals hat sich an dieser Teilung nichts -722-
geändert. DER STATUS QUO Entgegen allen Erwartungen hat die griechische Zone seit 1974 einen Aufschwung genommen. Makarios starb 1977, aber seine unmittelbaren Nachfolger fühlten seine Politik weiter. Der Erfolg der Griechen wurde durch den Zusammenbruch des Libanon begünstigt. Zypern wurde der entscheidende Horchposten für den Nahen Osten. Die türkische Zone hingegen hat stagniert. Die Politik der Türkei und ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme verbieten die Form von Unterstützung, die Nordzypern zum Aufbau einer lebensfähigen Wirtschaft brauchte. Die Beziehungen zwischen den beiden Volksgruppen sind so schlecht wie eh und je. Es gibt immer wieder Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der UNO, aber sie haben zu keinerlei Fortschritt geführt. Die Türkei lehnt jeden Gedanken an die Wiedervereinigung der Insel strikt ab, ganz zu schweigen von Enosis. Die einzige Macht, die sie dazu bringen könnte, ihren Sinn zu wandeln, die USA, hält sich aus denselben Gründen, aus denen sie der Invasion zusah, heraus. Viele Jahre lang lehnte sie die griechische Regierung ab, da sie von dem Sozialisten Andreas Papandreou geführt wurde, und sie legte immer weit mehr Gewicht auf gute Beziehungen zur Türkei. Die USA haben zwar 1974 ein Waffenembargo über die Türkei verhängt, da von Amerika gelieferte Waffen vertragswidrig eingesetzt wurden, aber sie haben es 1978 wieder aufgehoben. Die Briten sind mit ihrer Rolle als Garanten der Unabhängigkeit am Ende. Aber wenigstens haben sie zuletzt einen sinnvollen Nutzen für Zypern gefunden œ als Horchposten. Am 5. Juni 1967 haben britische Radarstationen auf den Bergen über Akrotiri und Larnaka die israelische Luftwaffe beobachtet, wie sie weit hinaus übers Mittelmeer flog und dann aus dem Westen nach Ägypten eindrang. Die selben Stützpunkte bieten den amerikanischen Geheimdiensten hervorragende Möglichkeiten zur Beobachtung des Nahen Ostens, elektronisch wie mit Aufklärungsflugzeugen. Die Lage Zyperns hat auch ihre Nachteile. Die PLO und der israelische Geheimdienst Mossad kämpfen dort ihre geheimen und -723-
verzweifelten Schlachten, und es gab auf beiden Seiten viele Morde. Im März 1978 töteten in Nikosia zwei PLO-Terroristen Youssef elSebai, den Herausgeber der Al-Ahram, ein enger Freund von Anwar Sadat. Dann nahmen sie 30 Geiseln und verbarrikadierten sich in einem Hotel. Nach Verhandlungen mit den zypriotischen Behörden wurde ihnen gestattet, 15 Geiseln mit auf den Flughafen von Larnaka zu nehmen und eine Maschine der Cyprus Airways zu besteigen, die sie zu einem Ziel ihrer Wahl bringen sollte. Aber kein Staat des Nahen Ostens erteilte dem Flugzeug eine Landegenehmigung, und so kehrte die Maschine nach Larnaka zurück. In der Zwischenzeit waren 54 ägyptische Kommandosoldaten ohne Wissen der zypriotischen Regierung am Flugplatz gelandet und stürmten am 19. März die Maschine. Die zypriotische Nationalgarde hielt sie für PLO-Kämpfer und mähte sie nieder. 15 Ägypter starben. Der Anführer der Flugzeugentführer, Samir Kadar, wurde 1982 nach Syrien abgeschoben. Er galt als einer der wichtigsten Männer in der Terrororganisation von Abu Nidal und wurde im Juli 1988 in Griechenland getötet, als sein Auto, voll mit Sprengstoff, explodierte. Es gab auch mehrere Terroranschläge gegen Zivilisten: Im September 1985 stürmten drei Terroristen œ zwei Araber, ein Brite œ eine israelische Jacht und ermordeten die vier Menschen an Bord. Im Februar 1988 charterte die PLO eine Fähre, die 130 Palästinenser aufnehmen und nach Haifa bringen sollte, die von den Israelis ausgewiesen worden waren. Vor Limassol wurde das Schiff durch eine Haftmine beschädigt, möglicherweise angebracht von israelischen Agenten, im selben Monat explodierte eine große Bombe in einem Auto in der Nähe der israelischen Botschaft. Dabei kamen drei Menschen einschließlich des Lenkers des Autos um. Die Bombe war zu früh losgegangen. Zypern wies 66 Ausländer aus, die meisten von ihnen Araber unter Terrorismus- oder Sympathisantenverdacht. Im Februar 1988 kam ein neuer Präsident in Griechisch-Zypern an die Macht. George Vassiliou versprach eine ‡Friedensoffensive—, um den Streit beizulegen. Im ersten Wahlgang war Makarios‘ Nachfolger, Präsident Spyros Kyprianou, nur an dritter Stelle gelandet. Die Wähler waren offensichtlich des ewigen Streits müde geworden. Aber der Schlüssel zur Veränderung der Situation liegt in Ankara. -724-
Die Türkei hat ein Beitrittsansuchen zur Europäischen Gemeinschaft gestellt, aber der Zypern-Konflikt ist eine unüberwindliche Barriere. Die Frage ist, ob den Türken klargemacht werden kann, daß der EG-Beitritt für sie wichtiger ist als die Aufrechterhaltung der Republik Nordzypern. Der türkische Premierminister Turgut Özal besuchte Griechenland im Juni 1988 zu offiziellen Gesprächen mit Papandreou. Die Begegnung brachte nichts, wurde aber trotzdem als Erfolg betrachtet, da sie seit vielen Jahren das erste Zusammentreffen war. Bei seiner Rückkehr in die Türkei entging Özal knapp dem Attentat eines Ultranationalen. UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuellar hat einmal mehr den Versuch unternommen, griechische und türkische Zyprioten an einen Tisch zu bringen. Am 24. August gab er in Genf ein Mittagessen für Präsident Vassiliou und Rauf Denktas, und er bekam ihre Zustimmung zur Eröffnung von Verhandlungen, mit dem Ziel, den Konflikt bis zum Sommer 1989 zu lösen. Er stieß sehr schnell an die Grenzen der Kompromißbereitschaft. Vassiliou und Denktas, trafen im September in Nikosia zusammen, und noch einmal im November 1988 vor der UNO in New York, und die Gespräche blieben stecken. Die Griechen schlugen die Wiedervereinigung von Zypern auf Grundlage der drei Freiheiten vor: alle Zyprioten sollten das Recht haben, überall auf der Insel zu leben, überall Grundbesitz zu erwerben und sich überall frei zu bewegen. Denktas, schlug vor, daß diese Freiheiten für 18 Jahre aufgehoben und dann strengen Einschränkungen unterworfen werden sollten. Vassiliou verweigerte diesem Vorschlag sofort seine Zustimmung, und obwohl die beiden übereinkamen, einander wieder zu treffen, war es ganz klar, daß Denktas, von der Republik Nordzypern erst dann abgehen wird, wenn es Ankara befiehlt. Aber dieser Tag ist noch nicht gekommen.
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LATEINAMERIKA
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ARGENTINIEN UND DIE FALKLANDINSELN Geographie: 2:766.889 km2. Bevölkerung: 31,030.000 Einw. BSP: 2.350 $/Einw. Viele Länder der Welt sind schlechter regiert worden als Argentinien zwischen 1945 und 1982, Nationen, die sich mit extremer Armut, Rückständigkeit, Feinden und erbitterten Stammeskämpfen konfrontiert sahen. Argentinien litt unter keiner dieser Lasten. Es ist ein großes Land, reich an Naturschätzen, mit einer gebildeten und homogenen Bevölkerung und ohne ausländische Feinde. 1945 hatte es nach den USA die zweitgrößten Goldreserven, und eigentlich hätte daraus ein zweites Kanada werden können. Statt dessen hatte es vierzig Jahre lang eine Reihe von unfähigen Diktatoren, die sich mit unfähigen Militärregierungen abwechselten. Mitte der siebziger Jahre gipfelten die Probleme Argentiniens in einer kommunistischen Kampagne gegen den Staat. Dieser Widerstand wurde mit großer Brutalität unterdrückt, unter dem Verdacht des Terrorismus ermordete die Militärregierung mehr als 10.000 Zivilisten. Als die Militärs 1982 endlich von der Macht vertrieben wurden, hinterließen sie ein zerrissenes und verarmtes Land, mit einer schwer verschuldeten Dritte-Welt-Nationalwirtschaft œ und obendrein hatte das Land in einem sinnlosen Krieg eine demütigende Niederlage erfahren. GESCHICHTE Die Probleme Argentiniens reichen zurück in die Tage des Diktators Juan Peron, der im Februar 1946 die Präsidentschaftswahlen mit einem demagogischen Wahlkampf gewann, dem die Militärs nichts entgegenzusetzen hatten. Er war der Mussolini Südamerikas, aber noch unfähiger als der italienische Faschistenführer es gewesen war. Wie Mussolini verstaatlichte er die Banken und ausländischen Firmen, unterstellte sich die Universitäten und anerkannte die UdSSR. Er hielt vom Balkon der Casa Rosada, des Präsidentenpalastes in Buenos Aires, flammende Reden, in denen er den Chauvinismus -727-
seiner Landsleute anheizte, indem er Großbritannien und die USA schmähte und auf jede Forderung des städtischen Proletariats einging. Diese ‡descamisados—, die ‡Hemdlosen—, waren die Grundlage seiner Macht. Er versprach ihnen billigen Wohnraum, Schulbildung, medizinische Versorgung, Kleidung, Brot und Spiele œ und so lange die Goldreserven und die ausländischen Firmen, die er verstaatlichen konnte, reichten, konnte er diese Versprechungen tatsächlich erfüllen. Als das Brot knapp wurde, wurden die Spiele immer wichtiger. Die Hauptattraktion dabei war seine Frau Eva, Evita, um die Peron einen halbreligiösen Kult entwickelte; er ernannte sie zur ‡geistigen Führerin der Nation—. Als sie im Juli 1952 starb, setzte im ganzen Land eine Orgie an Trauerfeiern ein, die in der modernen Geschichte kein Beispiel kennt. Schließlich setzte die Armee Peron 1955 ab. Er flüchtete auf ein paraguayisches Kanonenboot im Rio de la Plata und verließ das Land am 20. September. Peron hinterließ ein ruiniertes Land, das sich bis heute nicht erholt hat. Er hatte im Militär die Korruption fest etabliert und den Arbeitern vorgegaukelt, daß Wohlstand ein natürliches Recht sei, nicht etwas zu Erarbeitendes, und daß an ihrer zunehmenden Verarmung eine ausländische Verschwörung schuld sein müsse. Nahezu zwanzig Jahre lang ging von Peron in seinem spanischen Exil eine ständige Drohung der Instabilität aus, da er dem Land eine alternative Regierungsform vorgaukelte, eine Rückkehr zu den goldenen Tagen der Juan und Evita-Show. Nach seinem Sturz war der Leichnam Evitas aus dem Land geschmuggelt worden, und er bewahrte ihn in einem privaten Schrein auf, um ihn im Triumph zurückzubringen, sobald das Volk nach ihm riefe. Während dieses Interregnums gaben die Militärs die Regierungsgewalt zweimal an die Zivilisten zurück: einmal im Februar 1958 an Arturo Frondizi, und dann im Juli 1963 an Arturo Ilea. Beide konnten die Probleme des Landes nicht lösen und wurden vom Militär wieder entfernt, Frondizi nach vier, Ilea schon nach drei Jahren. 1973 versuchten die Militärs aus diesem Teufelskreis auszubrechen und erlaubten Peron die Rückkehr. Auf lange Sicht ging ihre Rechnung auf, zumindest bis auf weiteres: das Goldene Zeitalter hielt nicht wieder Einzug, und der Peronismus verlor seinen Glanz. Perons demagogische Kraft war vorbei. Er fand zu keiner -728-
Zusammenarbeit mit der Linken, vielmehr bekämpfte er sie und trieb sie in den Untergrund. Er starb im Juli 1974. Die Extremisten, enttäuscht von Peron und erschöpft von dreißig Jahren faschistischer oder quasifaschistischer Mißwirtschaft, entschieden sich für den Terrorismus, und sie nannten sich die Monteneros. Führende Industrielle und Offiziere, darunter einer jener Generäle, die Peron abgesetzt hatten, wurden ermordet. In den Städten gab es Bombenanschläge und Schießereien, auf dem Land versuchten die Guerillas einen Aufstand zu entzünden, und die Universitäten waren in ständigem Aufruhr. Man muß allerdings auf die Feststellung Wert legen, daß es weit weniger Terroristen gab, als die Militärs behaupteten, und daß sie niemals eine ernsthafte Bedrohung der Republik bedeuteten. Man könnte sie durchaus mit der BaaderMeinhof-Bande vergleichen (siehe EURO-TERRORISMUS). Die Nachfolge Perons trat seine Witwe Isabel an, die er zur Vizepräsidentin ernannt hatte. Sie erwies sich als völlig unfähig und wurde von den Militärs im März 1976 abgesetzt. Die Kommandeure der drei Teilstreitkräfte bildeten daraufhin eine Junta. Sie versuchten, die Terroristen mit der Verhängung des Kriegsrechts zu bekämpfen, begannen den ‡schmutzigen Krieg— und gaben all dem den Schein der Legalität. Terrorismusverdächtige wurden eingesperrt, gefoltert, ermordet. Über ihr Schicksal gab es keine Meldungen. Sie wurden ‡los desaparecidos— genannt, die Verschwundenen. Auf abgelegenen Friedhöfen wurden Massengräber angelegt, und etliche Unglückliche wurden einfach über dem offenen Meer aus dem Flugzeug geworfen. Das Motto der Militärs war: Im Zweifelsfall töten. Es war ein wirksames Motto. Der revolutionäre Terrorismus hörte praktisch auf, aber er wurde durch einen staatlichen Terrorismus ersetzt. Die ‡Nationale Kommission zur Untersuchung des Schicksals der Verschwundenen—, die die Regierung Alfonsin nach dem Rückzug der Militärs einsetzte, legte Akten an und sammelte Zeugenaussagen über die Fälle von 8.960 Menschen, von denen man nach ihrer Festnahme nie wieder gehört hatte. Die Kommission untersuchte nicht jeden einzelnen Fall und gab offiziell zu, daß es noch weit mehr gewesen waren. Wahrscheinlich wurden zwischen 10.000 und 15.000 Menschen in diesem ‡schmutzigen Krieg— getötet. -729-
In dieser Extremsituation begann eine Gruppe mutiger Frauen auf der Plaza de Mayo vor der Casa Rosada zu demonstrieren. Es waren Mütter der Verschwundenen, und ihre wöchentlichen Demonstrationen wurden für die Militärregierung bald zu einer unerträglichen Herausforderung. Ende 1981, Hochsommer in der südlichen Hemisphäre, waren es Tausende dieser Mütter, die jeden Donnerstag demonstrierten, zuerst still und friedlich, bald aber forderten sie lautstark ihre Kinder. Diese Demonstrationen waren nicht die einzige Krise, der sich die Regierung gegenüber sah. Die wirtschaftliche Situation des Landes verschlechterte sich rapid, zum Teil wegen der internationalen Ölkrise, vor allem aber wegen der chronischen Unfähigkeit der argentinischen Regierung. Es kam auch innerhalb der Junta zu Auseinandersetzungen: Im Dezember 1981 wurde General Roberto Viola im Amt des Präsidenten durch General Leopolde Galtieri abgelöst. Um diese Ablöse durchzusetzen, benötigte Galtieri die Unterstützung des Marineoberbefehlshabers, Admiral Jörge Anaya. Anaya hatte schon lange davon geträumt, die Malvinas zu befreien, wie die Falkland-Inseln in Argentinien genannt werden. Caltieri versprach, diesen Angriff 1982 zu führen. Ein dramatischer Sieg hätte alle seine Probleme auf einen Schlag gelöst. DIE FALKLANDS Die Falklands sind eine wüste Inselgruppe im Süd-Atlantik, 640 Kilometer vor der Südspitze von Südamerika. Mit den Dependenzen haben sie eine Größe von 16.253 km2. 1982 lebten dort 1.800 Menschen und 400.000 Schafe. Die Falklands wurden von verschiedenen Entdeckern im 16. und 17. Jahrhundert in Besitz genommen. Der erste war ein britischer Seemann, der sie im Jahr 1690 nach einem Admiralitätsbeamten, Lord Falkland, benannte. Bretonische Seeleute nannten sie später die Malouines, nach St. Malo: aus diesem Namen wurde später Malvinas. Mitte des 18. Jahrhunderts erhoben Frankreich und Britannien gleichermaßen Anspruch auf die Falklands und errichteten kleine militärische Kolonien, obwohl sich beide schwer taten, den Bedarf an -730-
einem solchen Vorposten zu begründen. Frankreich verkaufte seine Ansprüche im Jahr 1766 an Spanien, und eine spanische Flotte wurde von Buenos Aires ausgeschickt, die Briten zu vertreiben. Es gab in Britannien einen kurzen chauvinistischen Ausbruch œ den Samuel Johnson auf bemerkenswerte Weise angriff œ, in dem Politiker Britanniens unabänderliches Besitzrecht an diesen unwirtlichen Inseln behaupteten. Als Britannien mit Krieg drohte, stimmte Spanien zu, die britische Kolonie unangetastet zu lassen und seine eigene Garnison abzuziehen, ohne allerdings den Anspruch auf die Inseln aufzugeben. Damit war der Zwischenfall erledigt. Die Briten zogen sich 1774 von den Falklands zurück, und 50 Jahre lang blieben sie unbesiedelt. Als Argentinien im Jahre 1816 von Spanien unabhängig wurde, erhob es als Erbe der spanischen Besitzungen Anspruch auf die Falklands und gründete 1826 dort eine Kolonie. Die Geschichte gab ihm dafür jedes Recht. Wenn die Briten die Inseln gewollt hätten, dann hätten sie dort eben ständig siedeln oder zumindest eine Garnison unterhalten müssen. Nach Waterloo begannen die Briten ein Jahrhundert des Imperialismus. Statt sich endgültig von ihren lange vergessenen Forderungen zu verabschieden, griffen sie sie erneut auf. Wenn jemand anderer die Falklands haben wollte, hatten sie ja vielleicht doch irgendeinen Wert. Dieser Anspruch wurde dadurch noch komplizierter, daß während des Krieges gegen Napoleon ein Angriff auf Buenos Aires gescheitert war. Den Argentiniern hätten die Briten nicht einmal wertloses Land überlassen. Lord Palmerston, der kriegslüsternste aller britischen Außenminister, stellte fest, daß die Briten niemals den Hoheitsanspruch auf die Falklands aufgegeben hatten und schickte eine kleine Marinestreitmacht los, die 1833 die Argentinier hinauswarf. Diesen Akt von Aggression wollte Argentinien nun im Jahre 1982 rächen. Ohne Zweifel war dieser britische Angriff ein Akt besonderen Hochmuts gewesen, aber es waren immerhin 149 Jahre vergangen, ehe Caltieri nun seine Aufmerksamkeit den Inseln zuwandte. Nach internationalem Recht hatte Argentinien keinen Anspruch. Die Inseln waren seit 1833 durchgehend von den Briten besetzt gewesen. Ein -731-
Handelsunternehmen, die Falklands Islands Company, hatte damals mit der Schafzucht begonnen und Siedler ins Land gebracht; die meisten stammten aus Schottland, und die heutigen Einwohner sind ihre Abkömmlinge. Wahr ist, daß die Falklands Argentinien mit Gewalt abgenommen worden waren. Sollten allerdings alle Territorien, die dereinst mit Gewalt den Besitzer gewechselt haben, ihren früheren Eigentümern oder deren Nachfolgern zurückgegeben werden, dann müßten die USA Texas und Kalifornien an Mexiko übergeben, und Frankreich Elsaß-Lothringen an Deutschland œ was ja auch tatsächlich die Forderung der Deutschen im Jahr 1870 war, mit schrecklichen Folgen für beide Seiten. Wenn die Falklands an Argentinien zurückgegeben werden müßten, weil es sie vor 150 Jahren sechs Jahre lang in seinem Besitz gehabt hat, dann müßte Deutschland die alten deutschen Städte Breslau, Danzig und Königsberg zurückfordern, die Griechen Konstantinopel, und die Königin von England könnte die verlorenen Herzogtümer Normandie, Anjou und Aquitanien zurückverlangen. Der britische Rechtsanspruch beruht allerdings nicht nur auf der Geschichte, sondern vor allem auf der Charta der Vereinten Nationen und auf den allgemein anerkannten Grundsätzen internationalen Rechts, die Ländern, ungeachtet ihrer Größe, das Selbstbestimmungsrecht einräumen. Die Bewohner der Falklands wollten Briten bleiben, und das zählte. Daß Großbritannien im Recht war, bedeutet nicht, daß es weise gehandelt hat. Die Falklands bieten Großbritannien keinen wirtschaftlichen oder strategischen Vorteil. Nur Stammtischstrategen halten sie für wichtig, die sich an Landkarten festhalten und meinen, daß sie für die Kontrolle der Gewässer rund um Kap Hoorn von Bedeutung sein könnten. Premierministerin Margaret Thatcher zog in den Krieg, um das Selbstbestimmungsrecht von 1.800 Menschen zu schützen, ungefähr die Zahl der Einwohner eines größeren Häuserblocks. Mrs. Thatcher würde niemals zugeben, daß in Großbritannien 1.800 Menschen den Kurs der Politik bestimmen. Ihre Karriere beruht auf der Fähigkeit, ihre Landsleute mit unangenehmen Alternativen zu konfrontieren œ Schließungen von Industrievierteln, Zurückdrängung der Gewerkschaften und Reformen des Gesundheitssystems. Im Falle der Falklander war es anscheinend -732-
anders: Sie durften die gesamte britische Lateinamerikapolitik bestimmen œ ein erstaunliches Beispiel vom Schwanz, der mit dem Hund wedelt. Man muß sich auch vor Augen halten, daß die 70.000 bis 100.000 britischen Bürger, die in Argentinien leben, die Sachlage etwas anders sehen als die 1.800 Schafzüchter auf den Falklands. Seit Generationen hat jedes argentinische Schulkind eingetrichtert bekommen, daß die Briten die Malvinas von Argentinien geraubt haben. Man hat ihnen aber nichts von den Schrecken des Krieges erzählt, und schon gar nicht wurde ihnen beigebracht, irredentistische Forderungen sorgfältig zu prüfen. Im Gegenteil, wenn Galtieri nicht gegen Großbritannien in den Krieg gezogen wäre, hätte er sich wohl auf den Krieg gegen Chile um zwei andere wertlose und umstrittene Inseln im Kanal zwischen Patagonien und Tierra del Fuego eingelassen. Auch über diesen Streit wußte jedes argentinische Schulkind alles. Auf der Höhe der Krise 1982 stellte der argentinische Außenminister im US-Fernsehen fest, daß die Malvinas selbstverständlich argentinisches Territorium seien. Er habe schon als Kind Lieder darüber gesungen. Die Forderungen Argentiniens waren kindisch, aber sie wurden leidenschaftlich geglaubt, und die Nation steigerte sich in ein patriotisches Fieber, nicht anders als die europäischen Militaristen in früheren Jahrzehnten. Die britische Regierung, und speziell das Außenministerium, hat die Argentinier sträflicherweise nicht ernst genommen. Der größte Fehler der Junta war, daß sie die mögliche britische Reaktion auf eine Invasion falsch berechnete œ der verheerendste Fall von Ignoranz und Selbstüberschätzung, seit Nasser im Jahre 1967 die Straße von Tiran geschlossen hatte. Die Junta wurde nicht nur von ihrer eigenen Rhetorik mitgerissen, sondern sie war auch besonders dumm. Das beweist auch der Zeitpunkt der Invasion: 2. April 1982. Es war Herbst. Hätten die Generäle zwei Monate länger gewartet, wäre es für einen britischen Gegenangriff zu spät geworden, und die Falklands wären die nächsten sechs Monate ungestört in argentinischer Hand gewesen. Mehr noch, die Briten hatten eben einen ihrer beiden letzten Flugzeugträger an Australien verkauft und bereiteten die Außerdienststellung des anderen ebenso vor wie die einiger anderer Kriegsschiffe, die in der -733-
Kampfgruppe eingesetzt wurden, die schließlich die Inseln zurückeroberte. Hätte Argentinien noch ein Jahr gewartet, hätten die Briten keine Möglichkeit gehabt, die Falklands zurückzuerobern und hätten sich wohl ins Unvermeidliche schicken müssen. DER WEG IN DEN KRIEG Argentinien und Großbritannien hatten gelegentlich Verhandlungen über die Zukunft der Falklands geführt. Das Außenministerium in London war nicht besonders daran interessiert, sich allzusehr für eine so kleine und unwichtige Kolonie zu engagieren, aber wann immer die Frage der Souveränität der Inseln zur Sprache kam, erhob eine kleine einflußreiche Lobby in der Konservativen Partei ein Riesengeschrei. Anders als Spanien, das versuchte, Gibraltar durch die Sperre der Grenzen und Schikanen der Gibraltaer zu bekommen, versuchten die Argentinier viele Jahre lang, die Falklander auf ihre Seite zu ziehen: Es gab eine hochsubventionierte Fluglinie zwischen dem Festland und den Inseln, und umfassende medizinische Versorgung - Argentinien hat hervorragende Ärzte œ wurde ebenso angeboten wie Studienplätze. Argentinische Touristen brachten Geld auf die Falklands und zeigten sich stets von ihrer besten Seite. Aber die Militärregierung war zu ungeduldig, brauchte zu dringend einen Erfolg, um einer so sensiblen Politik die notwendige Zeit zu lassen. Wie Francos Spanien in der Gibraltar-Frage wollte auch sie sich nicht eingestehen, daß ihr Regime so unerfreulich war, daß niemand freiwillig dazu gehören wollte. Ende 1981, Anfang 1982 gab es eine weitere fruchtlose Verhandlungsrunde. Großbritannien weigerte sich abermals, über die Souveränität zu verhandeln. General Caltieri hatte Admiral Anaya versprochen, daß die Malvinas bis Ende 1982 heimkehren würden, vor dem 150. Jahrestag ihrer Okkupation durch die Briten, und so wurden die Invasionspläne hervorgeholt, abgestaubt und auf den neuesten Stand gebracht. Es gab noch eine weitere argentinische Fehleinschätzung. Unter der Regierung Carter war Argentinien wegen der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen scharf kritisiert und wirtschaftlich sanktioniert worden. Das änderte sich mit der Amtsübernahme von -734-
Ronald Reagan. Die Argentinier wurden wieder in Ehren aufgenommen. Sie wurden eingeladen, Spezialisten zur Unterstützung der Anti-Terror-Maßnahmen nach El Salvador zu schicken und die Contras in Nicaragua auszubilden. Galtieri wurde in Washington mit offenen Armen aufgenommen. Die ungeheuerliche Jeanne Kirkpatrick, nun amerikanische UNO-Botschafterin und einer der Lieblinge des Präsidenten, war bekannt für ihre Bewunderung der autoritären südamerikanischen Regime. Galtieri war sicher, daß die USA ihn in der kommenden Auseinandersetzung unterstützen würden. Es war ein folgenschwerer Irrtum. DER AUSBRUCH DES KRIEGES Argentinien brauchte einen Kriegsgrund, fand aber nur einen höchst unbefriedigenden œ einen, der die Invasion zu einem früheren Zeitpunkt notwendig erscheinen ließ, als nach militärischen Überlegungen richtig war. Ein argentinischer Schrotthändler hatte eine verlassene Walfangstation auf South Georgia gekauft und wollte sie abmontieren. South Georgia ist eine kleine Insel im Osten der Falklands, auf die Argentinien ebenfalls Anspruch erhob. Der Demontagetrupp landete Mitte März auf South Georgia, ohne daß er sich vorher mit den britischen Behörden verständigt hätte, die durch eine kleine wissenschaftliche Station in einem anderen Teil der Insel repräsentiert wurden. Der Schrotthändler wurde aufgefordert, entweder die notwendigen Genehmigungen einzuholen oder zu verschwinden, und zwei Dutzend britische Marineinfanteristen von den Falklands sollten dieser Forderung Nachdruck verleihen. Galtieri schickte am 25. März seine Soldaten los, um den Schrotthändler zu schützen, und besetzte South Georgia. Zur gleichen Zeit befahl er die Invasion der Falklands. Die argentinische Kriegsmarine landete in der Morgendämmerung des 2. April Armeesoldaten, die schnell die Hauptstadt Stanley und andere strategische Punkte besetzten. Die Briten wurden völlig überrascht. Das Außenministerium hatte eine Reihe von Warnungen seitens der Botschaft in Buenos Aires ignoriert; man konnte sich einfach nicht vorstellen, daß die Argentinier so verrückt sein würden, britisches Territorium zu -735-
besetzen. Im Weißbuch 1981 hatte der Verteidigungsminister Pläne angekündigt, das letzte britische Kriegsschiff im Süd-Atlantik abzuziehen, das Eispatrouillenschiff HMS Endurance. Im selben Dokument war auch die Reduktion eines Großteils der restlichen Überwasserstreitkräfte angekündigt worden, einschließlich der beiden verbliebenen Flugzeugträger. In Zukunft sollte das Marinebudget vor allem für den Bau von Trident-U-Booten und ihren Lenkwaffen aufgewendet werden. Die Argentinier hatten das Weißbuch gelesen und daraus geschlossen, daß die Briten die Falklands abgeschrieben hatten. Es war ein Irrtum. Großbritannien war wütend über die Invasion. Auch diejenigen, die meinten, daß die Falklands eigentlich aufgegeben werden sollten, fanden es einen unerträglichen Angriff auf die nationale Würde und fragten: ‡Was glauben die eigentlich, wer wir sind?— Britannia mochte ja seit 1945 ziemlich abgewirtschaftet haben, aber sicher nicht so weit, daß es sich von einer lateinamerikanischen Militärregierung herumstoßen ließe. DAS IMPERIUM SCHLÄGT ZURÜCK Die Invasion fand an einem Freitag statt. Am folgenden Dienstag, dem 5. April, lief eine britische Marinekampfgruppe aus, um die Inseln zurückzuerobern œ über eine Distanz von mehr als 13.000 Kilometern œ und die britische Ehre wiederherzustellen. Die Briten waren nicht berühmt für ihr Improvisationsgeschick in Notfällen. Diesmal machten sie ihre Sache glänzend. Da die Kriegsmarine so stark reduziert worden war, mußten Handelsschiffe in Dienst gestellt werden, darunter zwei Kreuzfahrtschiffe, die Canberra und die Queen Elizabeth II. Die Canberra hatte gerade eine Kreuzfahrt beendet und lief am 7. April in Southampton ein. Ihre nächste Kreuzfahrt wurde sofort storniert, ein Hubschrauberlandedeck wurde angebracht, und zwei Tage später fuhr sie mit 2.400 Soldaten an Bord los. Die Queen Elizabeth II wurde später in Dienst gestellt und, wie ihre berühmten Vorgängerinnen Queen Mary und Queen Elizabeth im Zweiten Weltkrieg, zum Truppentransporter umgerüstet. Großbritannien hat als einen Überrest des Imperiums eine Kette von -736-
Inseln behalten, die sich längs durch den Atlantik zieht. Die Kampfgruppe arbeitete sich von Portsmouth über Gibraltar, Ascension und St. Helena nach South Georgia vor, wo die Queen Elizabeth II und andere Transporter Warteposition bezogen. Das logistische Problem im Kampf um die südlicheren Inseln der Falklands war, daß es zwischen ihnen und Ascension, mehr als 6.500 Kilometer entfernt, keine Flugplätze gab. So mußte der Angriff als reine Marineoperation durchgeführt werden, bis die Armeesoldaten an Land gesetzt werden konnten. Zur selben Zeit unternahmen die USA heftige Anstrengungen, den Krieg noch abzuwenden, während die Briten mit Erfolg vor den Vereinten Nationen und in Europa die Weltmeinung gegen Argentinien auf ihre Seite brachten. Präsident Reagan rief Caltieri noch in der Nacht der Invasion an, und drängte ihn, einzulenken, aber es war umsonst. US-Außenminister Alexander Haig eilte zwischen London und Buenos Aires hin und her und versuchte zu vermitteln. Admiral Anaya, der niemals im Krieg gewesen war, sagte ihm: ‡Mein Sohn ist Hubschrauberpilot. Es wird der stolzeste Tag meines Lebens sein, wenn er sein Leben für die Malvinas hingibt.— General Haig, der in Korea und Vietnam gekämpft hatte, antwortete ihm: ‡Wenn Sie erst einmal den Sarg sehen, schaut alles anders aus.— Als der Krieg begann, boten die Amerikaner den Briten jede moralische und praktische Unterstützung, inklusive Geheimdienstauswertungen und Waffen, die aus amerikanischen Depots herbeigeschafft wurden. Die amerikanische Öffentlichkeit war ganz auf Seiten der Briten. 1988 sagte John Lehman, der 1982 USMarinestaatssekretär gewesen war, daß die Briten ohne die amerikanische Unterstützung, vor allem im Aufklärungsbereich, möglicherweise gescheitert wären. Zwischen den beiden Marinekommanden wurde auch die Frage diskutiert, ob die Briten die USS Guam leasen sollten, ein 12.000-Tonnen-Landungsschiff, das auch als kleiner Flugzeugträger für Senkrechtstarter eingesetzt werden kann. Es war dann doch nicht notwendig. Die Kampfgruppe erreichte den Süd-Atlantik am 1. Mai. Zunächst eroberte sie ohne große Mühe South Georgia zurück. Die Rückeroberung der Falklands war schwieriger. -737-
In der Inselgruppe gibt es zwei Hauptinseln, an der Ostküste der östlichen Insel liegt Port Stanley. Die Briten entschlossen sich, auf der anderen Seite der Insel, bei einem Ort namens San Carlos zu landen, und die enge Wasserstraße zwischen den beiden Inseln als Deckung für die Flotte der Handelsschiffe und Landungsfahrzeuge wie für die zu ihrem Schutz abgestellten Marineeinheiten zu benützen. Die Landung fand am 21. Mai statt und stieß auf keine ernsthafte Gegenwehr. Insgesamt erwiesen sich die argentinischen Truppen, hauptsächlich Wehrpflichtige, als ungleichwertiger Gegner. Nur sehr wenige Einheiten zeigten Kampfgeist, und die meisten ergaben sich weit kleineren britischen Einheiten. Auch die argentinische Marine bedeckte sich nicht mit Ruhm: nachdem ein britisches U-Boot den Kreuzer Belgrano versenkt hatte, blieben die argentinischen Schiffe im Hafen. Die Belgrano-Affäre wurde später in Großbritannien Gegenstand einer scharfen Auseinandersetzung, ob die Regierung der Marine den Befehl gegeben hätte, ein Schiff zu versenken, das für die Kampfgruppe keine Bedrohung darstellte und obendrein zum Zeitpunkt der Versenkung bereits Kurs von den Falklands weg genommen hatte. Die Luftwaffe rettete die Ehre der argentinischen Streitkräfte. Ihre Piloten erwiesen sich als tapfer und tüchtig. Sie versenkten eine Reihe britischer Schiffe, mit großen Menschenverlusten. Dabei flogen sie von Stützpunkten, die mehr als 640 Kilometer entfernt waren, an den Grenzen der Reichweite ihrer Maschinen. Die Briten hatten nur eine begrenzte Anzahl von Harner-Senkrechtstartern auf ihren beiden Flugzeugträgern und zur Verteidigung der Schiffe ‡Rapier—- und ‡Blowpipe—-See-Luft-Raketen und waren sehr gefährdet. Eine Reihe Schiffe, darunter die Canberra, steckten in der engen Straße von San Carlos und waren den ständigen Angriffen der argentinischen Luftwaffe ausgesetzt. Vier britische Schiffe, darunter zwei Kriegsschiffe, gingen nach Bombentreffern unter, und der Zerstörer HMS Sheffield und das Frachtschiff Atlantic Conveyor wurden durch französische ‡Exocet—-Luft-See-Raketen versenkt. Viele andere Schiffe wurden, zum Teil schwer, beschädigt. Die britische Armee besteht nur aus Freiwilligen, und sie schlug sich tapfer. Die Royal Navy entsann sich ihrer Tradition, und die Piloten, die von den Flugzeugträgern starteten œ darunter Prinz -738-
Andrew, der zweite Sohn der Königin œ, leisteten Hervorragendes. Nachdem sie die Landung gesichert hatten, mußten die Briten OstFalkland überqueren, um nach Port Stanley zu gelangen. Es dauerte drei Wochen. Sie arbeiteten sich über die Insel vor und belagerten die Stadt, die von den Argentiniern aus Stellungen auf den umliegenden Bergen verteidigt wurde. Die Briten hatten die ganze Zeit über die Kontrolle über die schlecht ausgebildeten argentinischen Wehrpflichtigen, die nicht erwartet hatten, für die Malvinas kämpfen zu müssen. Am 14. Juni 1982 ergaben sich die argentinischen Truppen. Die Briten nahmen 12.978 Argentinier gefangen und beklagten 250 getötete Soldaten, dazu fünf tote Falklander. Die Argentinier verloren 746 Mann, darunter 368 auf der Belgrano. DIE NACHWIRKUNGEN DES KRIEGES Die Gefangenen wurden alle repatriiert. Wenige Tage nach Kriegsende hatte die Junta abgedankt, und in Massendemonstrationen forderte die Bevölkerung in Buenos Aires die Rückkehr zur Demokratie. Es war die gleiche Abfolge der Ereignisse, wie sie die griechische Junta 1974 zu Fall gebracht hatte. Ein pensionierter General, der in das Falkland-Fiasko nicht verwickelt gewesen war, wurde als Staatsoberhaupt eingesetzt, um den Übergang zu überwachen. Aus der folgenden Präsidentenwahl ging der Führer der ‡Radikalen Bürgerunion—, Raul Alfonsin, mit großer Mehrheit als Sieger hervor. Er erhielt den Auftrag, das Militär zu säubern, den ‡schmutzigen Krieg— aufzuklären und die Schuldigen zu bestrafen und obendrein zur Untersuchung des Falkland-Krieges. Alle Generäle und Admiräle, die zwischen 1976 und 1982 Mitglieder der verschiedenen Junten gewesen waren, wurden zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, wie auch viele der Mörder und Folterer in Militäruniform. Argentinien versucht unter großen Mühen, eine Demokratie zu errichten, während das Land mit den wirtschaftlichen Katastrophen fertig werden muß, die die vorangegangenen Regime hinterlassen haben. Die Falkland-Frage bleibt ungelöst. Präsident Alfonsin konnte viel tun, aber er konnte nicht Argentiniens Anspruch auf die Malvinas -739-
aufgeben. Die irredentistische Tradition und all die Kinderlieder waren zu stark. Bücher und Zeitschriften über den Krieg, die seither in Argentinien veröffentlicht wurden, sind erstaunlich verlogen. Niemals steht darin, daß Caltieri objektiv im Unrecht war, sondern nur, daß die Durchführung des Planes mangelhaft gewesen sei. Nach den 250 Toten und dem glorreichen Sieg konnte aber auch Margaret Thatcher die Falklands nicht aufgeben. Die britische Regierung hat Millionen in den Bau eines modernen Flugplatzes in Stanley und den Ankauf der notwendigen Flugzeuge zur schnellen Verstärkung der Falklands investiert. Die Falklander, deren Leben durch eine Garnison, die stärker ist als die ursprüngliche Bevölkerung, grundlegend verändert ist, müssen mit wachsenden Spannungen zurecht kommen. Acht Jahre nach der Kapitulation stimmte Argentinien schließlich der Beendigung des Kriegszustandes zu, und die beiden Länder nahmen wieder diplomatische Beziehungen auf. Die Briten hoben daraufhin die Sperrzone rund um die Inseln auf und boten Verhandlungen über neue Fischereirechte an. Die Frage der Souveränität blieb in Schwebe. Beide Seiten kamen überein, einander über Manöver zu informieren. Im März 1988 veranstalteten die Briten ausgedehnte Manöver auf den Falklands und in der Umgebung, um sich selbst zu versichern, daß sie im Falle einer weiteren Invasion gerüstet wären. Argentinien protestierte heftig gegen diese ‡Provokation—. Das Patt hält an. Wie immer bleibt die Hauptgefahr in Argentinien selbst das Eingreifen der Militärs und ein Wiederaufleben des peronistischen Faschismus. Die Streitkräfte wurden durch ihre Niederlage 1982 sicherlich gedämpft, und die verschiedenen Putschversuche gegen die Regierung Alfonsin wurden von den Armeekommandeuren nicht unterstützt. Aber Alfonsin wagte nicht, die Institution anzutasten: Dieselben Männer, die die Ermordung Tausender befahlen, kommandieren immer noch die argentinische Armee, Marine und Luftwaffe. Ihre Vorgänger haben das Land mit kurzen Unterbrechungen mehr als 50 Jahre lang regiert, und ihre Nachfolger haben sich von dieser Aufgabe noch keineswegs losgesagt. Schlimmer aber ist, daß die Regierung Alfonsin, ungeachtet ihres lobenswerten demokratischen Engagements, sich in der Bewältigung der -740-
wirtschaftlichen Probleme als kaum fähiger erwiesen hat als ihre Vorgänger. Daraus resultiert eine Wiederauferstehung des Peronismus durch Carlos Saul Menem, Gouverneur der Provinz La Rioja, der nun die Leidenschaften und Frustrationen der Masse der Argentinier personifiziert. Im April 1989 wurde er zum Präsidenten gewählt, und Argentinien bejubelte seinen ersten demokratischen Machtwechsel in mehr als einem halben Jahrhundert. Menem versprach, sich der Sisyphusarbeit der Wirtschaftsreform zu widmen. Für den Moment waren die Malvinas vergessen. Im April 1982, vor nur wenigen Jahren, standen Hunderttausende auf der Plaza de Mayo und schrieen ‡Argentina! Argentina!—, als General Galtieri verkündete, daß ‡die Fahne Argentiniens auf den Malvinas weht!—. Die Versuchungen der militärischen und politischen Demagogie sind so stark wie immer, und es ist keineswegs sicher, daß die Argentinier ihre Vorliebe für Männer verloren haben, die in Uniform auf Baikonen stehen und Phrasen dreschen.
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MITTELAMERIKA
Porfirio Diaz, ein revolutionärer Präsident Mexikos im 19. Jahrhundert, traf die berühmte Feststellung: ‡Armes Mexiko, so weit von Gott, so nahe den USA.— Nahezu ein Jahrhundert lang litten die anderen Nationen Mittelamerikas œ Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica, Panama und zum Teil auch Belize (das frühere Britisch-Honduras) œ unter einem doppelten Nachteil: sie waren den USA zu nahe, um vor ihnen sicher zu sein, aber zu weit weg, um verstanden zu werden. Die USA haben sie die längste Zeit über wie Kolonien behandelt, ohne allerdings das Verantwortungsbewußtsein für das Wohlergehen der Einwohner zu entwickeln, wie es die Briten und Franzosen in ihren Kolonialreichen oder auch die Amerikaner selbst auf den Philippinen bewiesen haben. Die USA beherrschten El Salvador, Guatemala, Nicaragua und die anderen in der alten spanischen Weise: Die Verwaltung blieb in den Händen der lokalen Oligarchie, und diese Oligarchie wurde vor der Unzufriedenheit der Bevölkerung geschützt; dafür standen die amerikanischen wirtschaftlichen und politischen Interessen über allem anderen. Als Extremfall wurden Guatemala und Honduras praktisch zu Kolonien der United Fruit Company. In Nicaragua setzten die USA mehrmals mit Hilfe der Marineinfanterie Regierungen nach ihrem Geschmack durch. Das änderte sich allmählich in den siebziger und achtziger Jahren, als Washington sich mit der realpolitischen Situation in Mittelamerika anzufreunden begann. Die Politik der Regierungen Carter und Reagan œ zwischen denen weit mehr Kontinuität besteht, als sie beide wohl zugeben würden œ, begann allmählich zu unterscheiden zwischen den Interessen des Militärs und der Großgrundbesitzer und des Landes insgesamt. In El Salvador, Guatemala und Honduras kamen demokratisch gewählte Präsidenten ins Amt, und die Regierung Reagan unterstützte aktiv Demokratie und Landreform, im Gegensatz zu allen früheren Präsidenten von Teddy Roosevelt bis Gerald Ford. Sie mußte allerdings die Erfahrung machen, daß Veränderungen in Mittelamerika ebenso schwierig sind wie in Indochina. Im 19. und zu einem großen Teil auch noch im 20. Jahrhundert war -742-
Mittelamerika ein Opfer der amerikanischen Politik des Isolationismus. Die Amerikaner wußten wenig über diese Länder und kümmerten sich auch nicht besonders darum. China war ihnen weit näher als Guatemala. Anfang dieses Jahrhunderts wußten sie nicht œ und wollten auch gar nicht wissen œ, daß die Bauern in Guatemala ohne Lohn 150 Tage im Jahr für die United Fruit Company arbeiten mußten œ als ‡Steuerleistung— œ, und in der übrigen Zeit 25 Cents pro Tag bekamen. In den sechziger Jahren herrschten in Mittelamerika Lebens- und Arbeitsbedingungen, die die Amerikaner in Südostasien, Europa oder gar daheim niemals akzeptiert hätten œ wer sie aber anprangerte, wurde sofort als ‡Kommunist— gebrandmarkt. 1983 wurde Henry Kissinger zum Vorsitzenden einer Expertenkommission Präsident Reagans für die Mittelamerika-Politik ernannt. Diese Kommission war von großer Bedeutung, und ihr Bericht ist eine der wesentlichsten Studien der achtziger Jahre. Die Kommission arbeitete alle sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten heraus, denen sich diese Region gegenübersieht und kam zu der Erkenntnis, daß die einzige Chance, den Kommunismus abzuwehren, darin bestand, Reformen zu unterstützen, die diese Länder von Grund auf verändern würden. Sie empfahl, bis Ende des Jahrzehnts mindestens acht Milliarden Dollar an Hilfe zu leisten. Im Vorwort dieses Berichtes fanden sich einige bemerkenswerte Beobachtungen: Für die meisten Menschen in den USA ist Mittelamerika das, was für die Europäer fünf Jahrhunderte die gesamte Neue Welt war: Terra incognita. Wahrscheinlich könnten nur einige besonders Gebildete alle Länder Mittelamerikas und ihre Hauptstädte aufzählen, weit weniger noch wüßten etwas über die sozialen und politischen Hintergründe. Die meisten Mitglieder dieser Kommission hatten zu Beginn dieser Untersuchung aus der heutigen Sicht nur ein äußerst begrenztes Wissen über diese Region, ihre Nöte und ihre Bedeutung. Ein bemerkenswertes Eingeständnis für einen früheren amerikanischen Außenminister. Seit Woodrow Wilson General ‡Black Jack— Pershing auf der Jagd nach Pancho Villa 1916 nach Nord-Mexiko geschickt hatte, hatten die USA sich in Mexiko nicht mehr eingemischt. Seine Regierung setzte Landreformen ebenso durch wie wirtschaftlichen Nationalismus (die amerikanischen Erdölfirmen -743-
wurden enteignet), und es kam auch zu wiederholten antiamerikanischen Maßnahmen. Die USA haben allerdings daran niemals irgendwelchen Schaden genommen. Mexiko hat den Fluch seiner Nähe zu den USA abgeschüttelt (wenn auch nicht die Entfernung zu Gott), da die USA einiges über ihren südlichen Nachbarn begriffen haben. Der Rest von Mittelamerika war nicht so glücklich. Statt dieses halbe Dutzend Länder sich selbst zu überlassen, haben sich die Amerikaner ständig eingemischt. Nicaragua wurde von den USA zwanzig Jahre lang direkt regiert und dann der Somoza-Dynastie übergeben. Obwohl Franklin Roosevelt eine ‡Politik guter Nachbarschaft— verkündete und versprach, die Hände von Lateinamerika zu lassen, stellte sich heraus, daß damit eine wohlwollende Gleichgültigkeit gegenüber der Einsetzung faschistischer und militärischer Diktatoren in der ganzen Region gemeint war. In den fünfziger Jahren wurde die ‡Gute-Nachbar-Politik— aufgegeben. Die Amerikaner mischten sich nun aktiv in Lateinamerika ein, was bedeutete, daß sie rechtsgerichtete Regime aktiv ermunterten und unterstützten. Die CIA steuerte 1954 in Guatemala einen Staatsstreich, und in der Folge unterstützte Washington ein Regime, das mindestens 100.000 Bauern getötet hat (nur die Roten Khmer in Kambodscha und Idi Amin in Uganda haben in diesem Zeitraum mehr Bewohner des eigenen Landes getötet). Die Somozas in Nicaragua œ und in der Karibik Batista in Kuba und Trujillo in der Dominikanischen Republik œ wurden alle von den wechselnden Regierungen in Washington unterstützt. Das Blatt wendete sich erst in den späten Siebzigern. In den achtziger Jahren, während der Regierung Reagan, versuchte Washington, demokratische Mitteparteien in El Salvador, Guatemala und Honduras zu unterstützen, übte Druck auf das Militär aus, die Regierung an die Zivilisten zu übergeben und schirmte diese zivilen Regierungen dann gegen Angriffe von rechts und links ab. Gegen Ende der Reaganschen Amtszeit konnten sich diese Regierungen nur noch mit Mühe halten. In der Zwischenzeit hatte die US-Regierung beinahe alles versucht œ außer der direkten Intervention der Marineinfanterie œ, um das marxistische Regime in Nicaragua zu -744-
stürzen œ mit der absurden Behauptung, es bedrohe die Vereinigten Staaten. Wie düster auch die politischen Aussichten in Lateinamerika sein mögen, so ist es doch wichtig festzustellen, wie sehr sich das politische Denken in Washington geändert hat. Die Bannerträger der Demokraten Woodrow Wilson und Lyndon Johnson zögerten keinen Augenblick, in Mittelamerika und der Karibik Soldaten einzusetzen, um ihre politischen Interessen durchzudrücken. Der ultrakonservative Ronald Reagan setzte nur ein einziges Mai Militär ein, in Grenada. Die amerikanischen Soldaten waren auf der Insel unzweifelhaft höchst willkommen und zogen nach einem Jahr wieder ab. Reagan schickte niemals Truppen nach Nicaragua. Als sein Nachfolger, George Bush, im Dezember 1989 in Panama eine Invasion durchführte, um den Diktator General Manuel Noriega abzusetzen und die Demokratie wiederherzustellen, bestand er darauf, dies bedeute keinesfalls, daß die USA sich wieder als die Polizei Mittelamerikas verstünden. In El Salvador gab es im Dezember 1983 einen Wendepunkt, als der damalige US-Vizepräsident George Bush dem Militärregime persönlich die Botschaft überbrachte, daß die USA auf freien Wahlen und der Beendigung der Menschenrechtsverletzungen bestünden. Im darauffolgenden Frühjahr gab es freie Wahlen, im Juni 1988 wiederholte Reagans Außenminister George Shultz mehrmals mit Nachdruck die amerikanische Forderung nach Menschenrechten und Demokratie und machte den verschiedenen Armeekommandeuren direkt klar, daß die USA keine neuen Militärregierungen unterstützen würden. Bush und Shultz, die im Auftrag Reagans handelten, wandelten in den Fußspuren von Jimmy Carter, den Reagan unablässig wegen seiner ‡Weichheit— in der Durchsetzung der Menschenrechte angegriffen hatte. Auf lange Sicht besteht die Hoffnung für Mittelamerika in der Entwicklung der Gesellschaftssysteme, weg von der alten Teilung zwischen Oligarchie und der Bauernschaft. Damit das so ähnlich wie in Asien stattfindet, müssen die Menschen auch in die Städte gehen, das Erziehungswesen muß erheblich verbessert werden, Gesellschaft und Wirtschaft müssen vielfältiger werden. Dann wird es immer schwieriger für eine militärische oder politische Clique, egal ob von links oder rechts, die Macht an sich zu reißen: Regierungen brauchen -745-
die Unterstützung der Bürger, um zu funktionieren. Eine historische Entwicklung, die für Nicaragua ebenso galt wie für das faschistische El Salvador. Die Alternative zur Demokratie ist das Chaos.
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EL SALVADOR Geographie: Fläche 21.041 km2. Bevölkerung: 5,150.000 Einwohner. BSP: 820 $/Einw. Verluste: Seit 1979 wurden mehr als 70.000 Menschen durch Terror und Bürgerkrieg getötet. Flüchtlinge: Im Land: 450.000 Salvadorianer, 200 Ausländer. Ins Ausland: 15.100 in Honduras, 120.000 in Mexiko, 500 in Guatemala, 7.200 in Nicaragua, 600 in Panama, 2.900 in Belize, 6.200 in Costa Rica. Politische Parteien: œ Christdemokratische Partei (PDC): seit den sechziger Jahren von Jose Napoleon Duarte geführt. Eine traditionelle Reformpartei der Mitte, eng verbunden mit der Kirche. Genießt in der Bevölkerung vor allem bei der Mittelschicht, bei den traditionellen Gewerkschaften und Bauernverbänden Unterstützung. Nachdem sie von 1984-89 die Regierung gestellt hat, droht sie nun œ auch bedingt durch den Tod Quartes œ zu zerfallen. - Demokratische Revolutionäre Front (FDR): eine Koalition dreier Linksparteien, eine klar marxistisch, die anderen nicht: - Nationaldemokratische Union (UDN): die Frontorganisation der KP. Der militärische Zweig ist die FAL, einer der Teile der FMLN. - Nationale Revolutionsbewegung (MNR): eine sozialistische Partei, Mitglied der Sozialistischen Internationale (wie z. B. die Labour Party, die SPD oder die SPÖI. Angeführt von Guillermo Ungo und Eduardo Calles. - Soziale Christliche Volksbewegung (MPSC): sie wurde von dissidenten Christdemokraten aus Protest gegen Quartes Entscheidung gegründet, 1980 in die vom Militär beherrschte Regierung einzutreten. Angeführt von Hector Dada und Ruben Zamora. - Nationale Versöhnungspartei (PCN): bis zum Staatsstreich von 1979 die offizielle Partei der Oligarchie. Seit 1961 war der Präsident vom Militär gewählt worden. - Republikanische Nationale Allianz (ARENA): gegründet 1981. -747-
1989 gewann sie die Kongreß- und auch die Präsidentenwahlen und übernahm die Regierung. Eine der offenkundigsten faschistischen Parteien in Lateinamerika. Ihr Symbol sind Schwert und Kreuz. Sie bezieht einen Großteil ihres Erfolges aus der Starke ihres charismatischen Führers Roberto d‘Aubuisson. Die Partei ist militant antikommunistisch und gegen Landreform, Gewerkschaften und jede Verhandlungen mit den Rebellen. Sie verkündet das ‡Recht des einzelnen auf Erwerb, Besitz und Gebrauch von Eigentum als eine Verwirklichung menschlicher Persönlichkeit— und hat sich so zum Sprachrohr der Oligarchie gemacht. Da sie eine klare Absage an die Kommunisten und unfähige Zentralregierungen anbietet, genießt sie weite Unterstützung in der Bevölkerung. Die Rebellen: Die ersten Guerillabewegungen wurden nach dem Fußball-Krieg von 1969 (siehe unten) gegründet, aber sie traten erst nach dem Sieg der Sandinisten in Nicaragua von 1979 in die politische Öffentlichkeit. Im März 1980 gründeten vier voneinander unabhängig operierende Organisationen unter Schirmherrschaft von Fidel Castro eine gemeinsame Allianz unter dem Namen ‡Farabundo Marti National Liberation Front— (FMLN). Diesen vier schloß sich später die Salvadorianische KP an. Alle fünf sind marxistisch und revolutionär. - Volksbefreiungsarmee (FPL): die extremste Gruppierung der FMLN. 1970 gegründet von Salvador Cayento Carpio, dem früheren Generalsekretär der KP; er formte die FPL und ihre Kampagne am vietnamesischen Vorbild. Am 12. April 1983 beging Carpio in Nicaragua Selbstmord, nachdem einer seiner Leibwächter ein anderes prominentes Parteimitglied ermordet hatte, Comandante Ana Maria (Dr. Melida Anaya Montes). Die FPL ist die größte GuerillaOrganisation und wird nun von Leonel Gonzalez geführt. - Revolutionäre Volksarmee (ERP): gegründet 1971, die Mitglieder kommen vorwiegend aus der Mittelschicht und der christdemokratischen Jugend. Ihre Führer sind Joaquin Villalobos, der wichtigste Theoretiker und Sprecher der FMLN, und Ana Guadalupe Martinez. Der politische Flügel heißt ‡Volksliga des 28. Februar— (LP-28). Eines der Hauptkampfmittel ist der Untergrundsender Radio Venceremos (‡Wir werden siegen—). FPL und ERP sind offen kommunistisch und werden von Shafik Handal beraten, dem -748-
bedeutendsten politischen Kopf der Salvadorianischen KP. - Bewaffnete Macht des Nationalen Widerstandes (FARN): diese Gruppe spaltete sich 1975 im Streit von der ERP ab, ob die Organisation sich auf den bewaffneten Kampf konzentrieren oder eine politische Organisation aufbauen sollte. ERP-Führer beschuldigten den Hauptvertreter der zweiten Gruppe, den Dichter Robert Dalton, ein CIA-Agent zu sein und erschossen ihn. Seine Gefolgsleute trennten sich daraufhin von der ERP und gründeten die FARN. Sie hat sich auf die Entführung von Mitgliedern der ‡14 Familien— spezialisiert. Die Anführer sind Ferman Cienfuegos und Saul Villalta. Im Februar 1988 verkündete die Armee, Cienfuegos getötet zu haben, aber das war offensichtlich falsch. - Zentralamerikanische Revolutionäre Arbeiterpartei (PRTC): gegründet 1976 von Roberto Roca, ist sie die kleinste der Guerillaorganisationen. - Bewaffnete Befreiungskräfte (FAL): der militante Flügel der Salvadorianischen KP. In den frühen achtziger Jahren schien es, als würde El Salvador Nicaragua auf dem kommunistischen Weg folgen. Ein abscheuliches Militärregime wurde 1979 zwar gestürzt, aber die nachfolgenden Junten waren außerstande, die Guerilla zu besiegen oder die rechtsradikalen Todesschwadronen, die unbehindert im ganzen Land vorgingen, in den Griff zu bekommen. Auf dem Höhepunkt der Kämpfe 1981/82 operierten die Guerilleros in den Vororten von San Salvador, und die Todesschwadronen töteten täglich zwanzig, dreißig Menschen und warfen sie auf die Straße. Die USA griffen mit Rat, Geld und Waffen ein, aber der Kongreß verweigerte der Regierung Reagan seine Zustimmung zur Truppenentsendung. In freien Wahlen entschieden sich die Salvadorianer 1984 für den christdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Jose Napoleon Duarte, und eine Weile schien es, als hätte die Politik der Amerikaner Erfolg gehabt: Das demokratische Zentrum, eine Partei, die Herz und Stimme der Mehrheit der Wähler finden konnte, während sie zugleich die faschistischen Tendenzen der Rechten und die kommunistischen Exzesse der Linken vermeiden konnte. -749-
Innerhalb von fünf Jahren brach das Zentrum zusammen. Der politisch gescheiterte und todkranke Duarte schaffte es nicht, seine eigene Partei zu einigen, die dann auch die Parlamentswahlen im März 1988 und die Präsidentschaftswahlen im März 1989 gegen die ARENA verlor. GESCHICHTE Die Wurzeln der Dauerkrise in El Salvador, wie in den meisten Ländern Lateinamerikas, liegen in der hartnäckigen Weigerung der Oberschicht, ihre geerbte wirtschaftliche und politische Macht zu teilen. Ende des 19-Jahrhunderts bildete Kaffee die Grundlage des Salvadorianischen Reichtums. 1931 zog das Land daraus 95,5 Prozent des Exporteinkommens, und sämtliche Plantagen waren im Besitz von vierzehn Familien. Diese Familien waren allmächtig, kontrollierten praktisch das gesamte Leben des Landes, einschließlich des Kaffeehandels, und sie betrachteten jeden Wunsch nach Veränderung als Subversion. Ihre Nachfolger tun das auch heute noch. Die marxistische Linke in El Salvador ist gleichermaßen unnachgiebig. Sie lehnt Wahlen als Schwindel ab und betrachtet es als legitimen politischen Akt, jeden umzubringen, der sich an Wahlen beteiligt œ Kandidaten, Parteifunktionäre, Wähler. Sie beharrt auf der gewaltsamen Revolution und auf ihrem Recht, ihre Doktrinen dem Land mit Gewalt aufzuzwingen. 1932 prallten diese beiden unvereinbaren Dogmen erstmals aufeinander. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren, als die wachsenden Ansprüche der Bauern und der Stadtbewohner die Position der Oligarchen bedrohten, verbündeten sich diese mit der Armee. Die Soldaten bekamen Macht, Privilegien und eine Bezahlung, die sie auf keine andere Weise hätten erlangen können, so daß sie es zu ihrem Hauptzweck machten die wirtschaftliche Herrschaft der Oligarchie über das Land gegen alle Angriffe zu sichern. Als die weltweite Depression 1932 auch El Salvador ernsthaft beeinträchtigte, verständigten sich die kommunistischen Parteiarbeiter in den Städten mit den enttäuschten indianischen Bauern auf den Kaffeeplantagen und planten einen Generalaufstand. Der -750-
kommunistische Führer war Augustin Farabundo Marti. Er und seine Genossen wurden verhaftet, ehe noch die Demonstrationen beginnen konnten, und hingerichtet œ Märtyrer für die salvadorianische Linke. Die Armee ging gegen die Bauern vor œ ein Ereignis, das als Matanza, das Massaker, in die Geschichte eingegangen ist. 10.000 bis 30.000 Menschen wurden abgeschlachtet. Die Armee besetzte Indianerdörfer und erschoß die Männer zwischen 14 und 50. Ihnen wurden die Daumen hinter dem Rücken zusammengebunden, und sie wurden reihenweise hinter den Dorfkirchen erschossen. Der Historiker der Matanza, Thomas Anderson, schrieb: ‡Die Ausrottungsaktion ging so schnell vor sich, daß sie gar nicht rasch genug begraben werden konnten, und über dem westlichen Teil des Landes hing wie eine Wolke der Gestank verfaulenden Fleisches.— Bis in die achtziger Jahre wurde das Land von Militärregierungen beherrscht. In den Nachkriegsjahren gab es eine gewisse industrielle Entwicklung, aber gleichzeitig stieg auch die Zahl der landlosen Bauern stark an. Viele von ihnen wurden Wirtschaftsflüchtlinge. 1965 lebten 350.000 Salvadorianer in Honduras. DER FUSSBALL-KRIEG In den späten sechziger Jahren gab es in Honduras, El Salvadors weit größerem Nachbarn im Norden und Osten, eine Phase sozialer Unruhen und Forderungen an die Militärregierung. Die Militärs schoben die Schuld daran den illegalen salvadorianischen Einwanderern zu, und im Januar 1969 verweigerte Honduras die Erneuerung des 1967 abgeschlossenen bilateralen Einwanderungsvertrages, derben Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Ländern hatte regeln sollen. Im April wurden verschiedene Maßnahmen gegen Einwanderer eingeführt, und bald gingen die Salvadorianer in großer Zahl wieder nach Hause. Als die Spannungen zwischen den beiden Ländern anstiegen, mußten die Fußballteams der beiden Länder in Qualifikationsspielen für die Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko gegeneinander antreten. Als die beiden Teams zum ersten Mal in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa aufeinander trafen, gab es einige Ausschreitungen, aber schon beim nächsten Match in San Salvador kam es zu gewalttätigen -751-
anti-honduranischen Demonstrationen. Die Flagge Honduras‘ wurde geschmäht, und honduranische Fans wurden verprügelt. In Honduras nahm man Rache an Salvadorianern, und mehrere Menschen starben. Zehntausende Salvadorianer flüchteten aus dem Land. Am 27. Juni brach Honduras die diplomatischen Beziehungen ab. El Salvador warf seine Armee an die Grenze, der verbale Krieg eskalierte, und beide Länder ignorierten alle Aufrufe zu Mäßigung seitens der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Am 14. Juli 1969 griff die salvadorianische Luftwaffe honduranische Stützpunkte an, und das Heer startete einen Großangriff. Die Marine El Salvadors griff die honduranischen Inseln im Golf von Fonseca vor der Südküste an. Zunächst schienen die Salvadorianer zu gewinnen, aber dann schlug die wesentlich stärkere Luftwaffe Honduras‘ zurück, zerstörte die salvadorianische Luftwaffe und griff El Salvadors Treibstofflager an. Die Bodenoffensive kam acht Kilometer jenseits der Grenze aus Benzinmangel zum Stehen. Nach viertägigen Kämpfen erreichte die OAS einen de factoWaffenstillstand. Am 18. Juli wurde er formell ausgerufen, und am 29. Juli stimmte El Salvador einem Rückzug vom honduranischen Gebiet mit Anfang August zu. 1981 unterzeichneten die beiden Länder endlich einen Friedensvertrag und erklärten sich bereit, eine Grenzkommission zur Klärung strittiger Fragen 1985 zuzulassen (was allerdings nie stattfand). Wenn auch El Salvador den ‡Fußball-Krieg— gewonnen hatte, so hatte es doch eine empfindliche wirtschaftliche Niederlage erlitten: 60.000 bis 130.000 Auswanderer kehrten zurück, und mit der Möglichkeit künftiger Auswanderung, um dem wachsenden Druck der Bevölkerungsdichte in El Salvador zu entgehen, war es vorbei. DER KONFLIKT In den siebziger Jahren entstanden verschiedene Volksbewegungen, und die Oppositionsparteien entwickelten sich. Der erste gewaltsame Zusammenstoß in dem erst später als solchem erkannten Bürgerkrieg wurde 1975 durch eine Schönheitskonkurrenz ausgelöst: Studenten und Linke protestierten gegen die Absicht der Regierung, 1,5 Millionen Dollar für die Wahl der Miß Universum in San Salvador -752-
auszugeben. Die Nationalgarde schoß in Studentendemonstrationen, etliche Studenten wurden getötet, 24 ‡verschwanden—, die ersten von vielen. Kurz danach begannen die ersten Todesschwadronen der Armee und Polizei ihre Einsätze. Im Oktober 1979 wurde der Militärdiktator General Carlos Humberto Romero von jungen, reformwilligen Offizieren gestürzt. Sie setzten eine Junta ein, der auch Zivilisten angehörten (Cuillerrno Ungo von der MNR war kurzzeitig Mitglied, wie auch Hector Dada und Rüben Zamora von der MPSC), und versprachen Reformen, Demokratie und das Ende der Morde. Sie scheiterten in allen drei Punkten. Die hohen Offiziere hatten zwar nichts gegen den Sturz Romeros einzuwenden und waren auch durchaus für eine Imageverbesserung des Landes, dachten aber nicht im Traum daran, die Macht abzugeben. In den nächsten Jahren wechselte die Zusammensetzung der Junta wiederholt, analog den wechselnden Machtverhältnissen der Fraktionen. Grundsätzlich kam mit jedem Staatsstreich eine noch konservativere Gruppe als zuvor an die Macht. Die USA zogen das Regime der vorhergegangenen Diktatur vor und unterstützten die Regierung, aber sie drängten auf Reformen und Neuwahlen. Die Christdemokratische Partei, die größte Zentrums-Partei des Landes, zerfiel über der Frage, ob sie sich an der Junta beteiligen sollte. Ihr Führer, Jose Napoleon Duarte, trat am 3. März 1980 in die Junta ein und wurde amtsführender Präsident. Drei Wochen danach wurde der Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, während der Meßfeier von einem Killer erschossen. Er war schon oft wegen seiner Anprangerung der militärischen Repressionen im Land bedroht worden, ebenso auch wegen seiner Aufforderung an Präsident Carter, die Lieferungen an die salvadorianische Armee einzustellen. DIE TODESSCHWADRONEN Erstmals tauchten sie 1975 auf, im Gefolge der Demonstrationen wegen der Miß Universum-Wahlen. Sie hatten sich aus der Nationaldemokratischen Organisation (ORDEN) entwickelt, die das Militär 1968 gegründet hatte und mit bis zu 50.000 Mitgliedern als eine zivile Bürgerwehr außerhalb der Städte fungierte. Die -753-
Todesschwadronen gaben sich selbst bizarre Namen: ‡Union der Weißen Krieger—, ‡Die Weiße Hand—, ‡Falange—, ‡Geheime AntiKommunistische Armee— (ESA) und ‡Brigade Maximiliane Hernández Martinez—, nach jenem General, der das Massaker von 1932 kommandiert hatte. Viele Mitglieder der Todesschwadronen gehörten der Armee, der Nationalgarde und den verschiedenen Polizeieinheiten an. Am gefürchtetsten war die Finanzwache. Gut organisiert, mit Bankkonten, Gehältern und Bonussen für gute Arbeit, alles finanziert von den herrschenden Familien. 1980/82 waren die Todesschwadronen für mehr als 800 Tote pro Monat verantwortlich, insgesamt rund 20.000 Menschen. In diesem Zeitraum wurden mehr als 8.000 Gewerkschaftsfunktionäre und -mitglieder getötet oder verletzt. Das prominenteste Opfer der Todesschwadronen war Erzbischof Romero. Im August 1988 veröffentlichte die Washington Post eine Reihe von Artikeln über die Ursprünge der Todesschwadronen, die auf Interviews mit zwei gutinformierten früheren Mitgliedern beruhten. Demzufolge war eine der ersten Schwadronen von einem Dentisten namens Antonio Regalado gegründet worden, der eine Gruppe von zehn Teenagern rekrutierte, als Pfadfindertrupp tarnte und zu Killern ausbildete. Im Mai 1980 plante Regalado zusammen mit Offizieren, unter denen Major Roberto d‘Aubuisson besonders hervortrat, einen Mordanschlag auf ein früheres reformistisches Juntamitglied. Die Verschwörung wurde aufgedeckt, und Regalado flüchtete aus dem Land. Aus Angst, daß seine ‡Pfadfinder— ihn verraten würden, ließ er alle zehn von der Armee ermorden. Das Land schlitterte immer schneller ins Chaos. Eine breite Oppositionsfront aus Oppositionsparteien, religiösen Gruppierungen und Gewerkschaften wurde gegründet œ die Demokratische Revolutionäre Front (FDR) œ, und die Todesschwadronen begannen umgehend, ihre Mitglieder und Führer abzuschlachten. Aber auch andre Opfer gerieten in ihre Visiere: am 2. Dezember 1980 töteten Sicherheitskräfte vier amerikanische Nonnen, die in El Salvador gearbeitet hatten; und am 3. Januar 1981 wurde der Chef des salvadorianischen Landverbesserungsamtes zusammen mit zwei amerikanischen Beratern erschossen, als sie im Sheraton Hotel in San Salvador frühstückten. -754-
Als eine ihrer letzten Maßnahmen strich die Regierung Carter alle Hilfszahlungen für El Salvador. Als aber einen Monat später die Regierung Reagan im Amt war, nahm sie die Zahlungen wieder auf und versuchte die Junta zu bewegen, die Todesschwadronen zu stoppen, das Regierungssystem zu reformieren und freie Wahlen abzuhalten. Im März 1982 gab es Wahlen, die von der ARENA gewonnen wurden, deren Führer Roberto d‘Aubuisson im Verdacht stand, einer der Anführer der Todesschwadronen und sowohl in die Ermordung des Erzbischofs wie auch in die Sheraton-Morde verstrickt zu sein. In seinem Wahlkampf hatte er das Ende der Landreform und die Zerschlagung der Opposition angekündigt œ darin steckte auch ein starkes Element von Anti-Amerikanismus. D‘Aubuisson wurde Präsident der Nationalversammlung, aber unter starkem Druck der Amerikaner wurde Alvaro Magafia, ein konservativer Zivilist und Mitglied einer alten Plantagenbesitzerdynastie, provisorischer Staatspräsident. Duarte verließ die Regierung. Das alte Regime hatte nunmehr sämtliche Positionen zurückerobert, die es 1979 eingebüßt hatte. Die USA ließen nicht locker. Sie unterstützten weiterhin Gemäßigte im Militär wie auch Zentrumspolitiker. Diese Politik ging 1984 auf, als El Salvador seine ersten freien und demokratischen Präsidentschaftswahlen erlebte, die Duarte mit großer Mehrheit gewann. Duarte, der in den Vereinigten Staaten studiert hatte und gut Englisch sprach, war ein PR-Genie. Unter der Diktatur von Romero, zehn Jahre zuvor, hatte man ihn um den Sieg in einer Präsidentschaftswahl betrogen, eingesperrt, gefoltert und ins Exil gejagt. Nun kam er nach Washington, um sich als Führer des demokratischen Zentrums in El Salvador zu präsentieren. Zum ersten Mal in der Geschichte schenkten die USA den Problemen Mittelamerikas echte Aufmerksamkeit. Alle Parteien in Washington versprachen Duarte ihre Unterstützung, er wurde mit mehr Herzlichkeit empfangen als irgendein anderer ausländischer Staatsmann seit Anwar Sadat. Die Amerikaner gaben Duarte alles, wonach er verlangte, mit einer Einschränkung. Der Kongreß schlug -755-
vor, daß nicht mehr als 55 amerikanische Ratgeber dem salvadorianischen Heer beigegeben werden sollten und daß sie nicht persönlich an irgendwelchen Aktionen gegen die Rebellen teilnehmen dürften. Mit anderen Worten œ kein weiteres Vietnam. Die Tragödie von Duarte und vor allem El Salvador war, daß dieses politische Fundament auch trotz der fortgesetzten amerikanischen Unterstützung nicht stark genug war, die Macht der Oligarchie und der konservativen Elemente im Militär zu brechen oder die Rebellen zu besiegen. Die Landreform wurde verwässert, Volkshilfeorganisationen wurden ständig eingeschüchtert, Maßnahmen, die die Bauern weniger anfällig gegenüber den Versprechungen der Rebellen gemacht hätten, wurden blockiert. Der einzige wirkliche Erfolg der Regierung Duarte war, daß die Todesschwadronen ihr Morden einstellten. Aber der Krieg ging weiter. DER KRIEG Im Januar 1981 starteten die Rebellen eine Generaloffensive und hofften, den Triumph der Sandinisten in Nicaragua zwei Jahre zuvor zu wiederholen, ehe Ronald Reagan sein Amt antrat. Es war ein kompletter Fehlschlag. Nach dem Sieg der Armee steigerten sich die Todesschwadronen in eine Mordorgie und töteten blindlings Linke, Studenten, Arbeiterfunktionäre, die eventuell eine neue Guerilla hätten aufbauen können œ oder eine demokratische Links-von-derMitte-Opposition. Die FMLN zog sich aufs Land zurück und konzentrierte sich auf den Ausbau Ihrer Macht unter den Bauern, vor allem in den Grenzprovinzen. Diese Gebiete sind bis heute ihre Operationsbasis. Amerikanische Beobachter haben die deprimierende Feststellung getroffen, daß die meisten Guerilleros sich der FMLN in diesem Zeitraum angeschlossen haben, nach dem Sturz der Diktatur Romero und wahrend sich das Land zu einer Demokratie hinentwickelte œ daß also der Zustrom zu den Rebellengruppen eine direkte Auswirkung des Wütens der Todesschwadronen war. 1983 versuchten die Guerilleros eine zweite Generaloffensive und wurden erneut geschlagen. Zu dieser Zeit hatten die amerikanischen Berater der -756-
Armee neues Selbstvertrauen gegeben und zugleich die Massaker an den Bauern unterbunden. Seit 1980 ist die salvadorianische Armee von 12.000 auf 54.000 Mann vergrößert worden, bezahlt von den Amerikanern und ausgebildet von Amerikanern oder Salvadorianern, die in Amerika ausgebildet wurden. Derzeit soll es rund 4.000 bis 6.000 Guerilleros geben und natürlich eine weit größere Zahl von Sympathisanten. 1988 berichtete die Armee, daß jährlich rund 3.000 Soldaten getötet oder verletzt würden und sprach von etwa 1.000 Verlusten der Guerilleros pro Jahr. Das sind keine großen Zahlen, und wenn es alles wäre, könnte der Krieg unendlich lang weitergehen. Die Guerilleros kontrollieren die abgelegenen Provinzen, und die Armee startet gelegentlich Offensiven gegen sie. Aber bisweilen gelingt es den Rebellen auch, den Krieg näher ins Zentrum des Landes zu tragen. Am 31. März griffen sie das Hauptquartier der 4. Infanterie-Brigade in einer Kaserne in El Paraiso an, rund 60 Kilometer nördlich von San Salvador. Es war ein erstaunlich erfolgreicher Angriff, umso mehr, als die Kaserne von amerikanischen Spezialisten entworfen worden war. Die Rebellen töteten 70 bis 80 Soldaten, darunter einen amerikanischen Berater von den Special Forces; sie selbst verloren 11 Männer. Die Kaserne, einschließlich der nachrichtendienstlichen Einrichtungen, wurde weitgehend zerstört. Späterhin haben sich die Rebellen mehr auf Wirtschaftsziele konzentriert, vor allem die Elektrizitätsversorgung des Landes (wie der ‡Leuchtende Pfad— in Peru). Da die meisten Bauern und die Armen in den Städten keine Stromversorgung haben, sind sie der Meinung, durch diese Taktik vorwiegend den Klassenfeind zu treffen. Genauso rechtfertigen sie auch ihre Angriffe auf die Kaffeeplantagen. Die USA errechneten, daß der Krieg zwischen 1980 und 1988, einschließlich der Schäden durch die Guerilla, rund 2 Milliarden Dollar gekostet hat. Im selben Zeitraum haben die USA dem Land drei Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, aber das meiste davon war direkte Militärhilfe oder wurde für militärische Zwecke verwendet. Der Krieg hat auf die Wirtschaft des Landes eine verheerende Wirkung. Im Mai 1988 war nach einem amerikanischen -757-
Kongreßbericht das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von 1980 bis 1988 um 38 Prozent gesunken. Der Bericht hielt fest, ‡El Salvador nähert sich einer Form der Abhängigkeit von amerikanischer Hilfe wie Süd-Vietnam auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges.— 64 Prozent der amerikanischen Wirtschaftshilfe waren direkt in den Krieg geflossen, statt in die Dinge, die Kissinger in seinem Bericht als notwendig für den Aufbau einer funktionierenden Wirtschaft bezeichnet hatte. Politisch waren die Rebellen weniger erfolgreich. Am 1. Mai 1986 brachten die mit ihnen sympathisierenden Gewerkschaften 40.000 Menschen für eine Demonstration in den Straßen von San Salvador auf die Beine. Durch diesen Erfolg ermutigt, versuchten die Rebellen, das Land in einer großangelegten Aktion zum Stillstand zu bringen, indem sie Busse und Privatautos beschossen. Bei den Kongreßwahlen vom März 1988 unternahmen sie jede erdenkliche Anstrengung, die Menschen von der Wahl abzuhalten: Sie drohten, Kandidaten, Wahlleiter und sogar normale Wähler zu töten œ zur Abschreckung für die anderen. Sie machten mit ihren Drohungen auch ernst, griffen eine Reihe von Wahllokalen an und ermordeten einige erfolgreiche Kandidaten, darunter auch mehrere Bürgermeister; andere Bürgermeister wurden zum Rücktritt gezwungen. Ungeachtet der Drohungen und Morde war dieser Plan der Rebellen ein Fehlschlag. Die Wahlbeteiligung war enorm hoch, und eine Mehrheit wandte sich der rechten ARENA zu, eine klare Absage an die Linke. Es war auch eine Absage an Präsident Duarte und die Christdemokraten, die es nicht geschafft hatten, den Krieg zu beenden oder die Wirtschaft wieder zu beleben. Bei der Wahl zum Bürgermeister von San Salvador wurde Duartes Sohn deutlich besiegt œ ein Amt, das seit 1964 ununterbrochen im Besitz der Christdemokraten gewesen war, seit sein Vater das Amt errungen hatte. Die Rebellen versuchten, ihren Erfolg vom 1. Mai zu wiederholen und riefen ihre Anhänger zu einer Massendemonstration auf. Kaum 3.000 Demonstranten gingen auf die Straße, und als einige von ihnen begannen, Autos anzuzünden und Barrikaden zu errichten, distanzierten sich die Gewerkschaftsführer von ihnen. Dabei hatten die Rebellen auf sie am meisten gezählt. In den nächsten Tagen -758-
starben nach Angaben der Armee bei einer Reihe von Zusammenstößen 29 Rebellen, 18 Soldaten und 12 Zivilisten. Die Rebellen sprachen von 228 getöteten Soldaten, davon allein 100 beim Angriff auf ein Wasserkraftwerk. Dieser Angriff galt als ein Erfolg der Rebellen. Für einige Zeit mußte die Stromversorgung in San Salvador auf vier Stunden pro Tag reduziert werden, um die Reserven nicht zu erschöpfen. Ungeachtet der militärischen Erfolge schien es, daß die FMLN einen Großteil ihrer Unterstützung der Bevölkerung eingebüßt hatte, zumindest in San Salvador. Die Rebellen mußten nun ihren Rückhalt in den Städten neu aufbauen, praktisch von vorne beginnen. Ihre größte Hoffnung war, daß die neue ARENA-Regierung die Todesschwadronen wieder einsetzen und zu ihrer Politik der Massaker zurückkehren würde, dadurch die amerikanische Unterstützung verlieren und den Rebellen die Bauern und Armen des Landes in die Arme treiben würde. Es konnte keinen Zweifel geben, daß die Guerilla-Armeen von Nicaragua und Kuba unterstützt wurden, und indirekt, zumindest bis 1988, wohl auch von der UdSSR. Die UdSSR konnte mit geringen Investitionen die USA zwingen, enorme Summen in die salvadorianische Regierung hineinzustecken. Die Umkehrung der Situation in Afghanistan und Angola. Die Waffen der Rebellen werden über Honduras oder übers Meer ins Land geschmuggelt. Es ist ein Schmalspur-Vietnam, die Berge und Wälder bieten den Schmugglern ideales Terrain. Der mittelamerikanische Friedensplan, den der Präsident von Costa Rica, Oscar Arias Sanchez, ausgearbeitet und im August 1987 vorgelegt hat, sah vor, daß jedes der Länder die Unterstützung für die Rebellen im Nachbarland einstellen sollte. Hätte er sich durchgesetzt, wäre das für die FMLN zwar ein empfindlicher Rückschlag gewesen, aber keineswegs bedrohlich: Mittlerweile stellt sie ihre eigenen Landminen und Sprengstoffe her, und ihre Waffen ergänzt sie laufend durch erbeutete Armeeausrüstung. Die neue salvadorianische Armee, weit größer und von den Amerikanern ausgebildet, ist weniger brutal als ihre Vorgängerin in der Anfangsphase des Krieges, aber es kommt immer noch zu Zwischenfällen von Mord und Folter. Ein Fall im Februar 1988 erregte die besondere Aufmerksamkeit der amerikanischen Presse. -759-
Zwei junge Bauern, Felix Rivera, 25, und der sechzehnjährige Mario Rivera, wurden von Soldaten in einem Dorf im Nordosten des Landes gefangen, gezwungen, barfuß durch ein brennendes Stoppelfeld zu laufen, und danach gefoltert œ Nasen, Ohren und Finger waren abgeschnitten œ, ehe sie getötet wurden. Beobachter fürchteten, daß solche Ereignisse eine Wiederkehr des Massenterrors der frühen achtziger Jahre andeuten könnten. Die Statistik schien ihnen recht zu geben: 1987 gab es 24 Opfer der Todesschwadronen, 1988 waren es bereits weit mehr. Bauern waren nicht die einzigen Opfer. Am Morgen des 11. Mai 1988 wurde der Richter Jorge Serrano Panameho vor seinem Haus erschossen, nachdem er seine vier Kinder zur Schule gebracht hatte. Er hatte die Entscheidung vorbereitet, ob zwei terroristische Gruppen, eine kommunistische und eine eng mit Roberto d‘Aubuisson verbundene, unter die Amnestie des Mittelamerika-Friedensplanes fallen könnten. Er hatte entschieden, daß die Mittelamerikanische Revolutionäre Arbeiterpartei der die Ermordung von 12 Menschen, darunter vier USMarines in einem Straßencafe am 19. Juni 1985 œ unter diese Amnestie fallen sollte, da ihr Verbrechen ein ‡politisches— gewesen sei. (Präsident Duarte stand unter starkem amerikanischem Druck und weigerte sich, die Begnadigung auszusprechen.) Das Urteil über die andere Gruppe betraf einen der wenigen Fälle, bei dem eine größere Zahl Mitglieder einer Todesschwadron verurteilt wurde. Sie hatten einer Kidnapper-Bande angehört, die von Armeeoffizieren geführt wurde, die gleichzeitig Mitglieder einer Todesschwadron waren. 1982/85 hatten sie fünf reiche Salvadorianer entführt und vier Millionen Dollar Lösegeld erpreßt. Neun Männer wurden angeklagt. Drei, darunter ein Oberst und ein entlassener Leutnant, verließen das Land. Drei andere wurden im Polizeigewahrsam ermordet, offenkundig, um sie zum Schweigen zu bringen. Drei andere wurden eingesperrt, um im Gefängnis das Urteil von Richter Serrano zu erwarten. Einer aus diesem Trio, ein weiterer entlassener Leutnant und Schützling von d‘Aubuisson, wurde auch der Ermordung der beiden amerikanischen Landreformberater im Sheraton-Hotel im Jahr 1981 angeklagt. Der Fall war mit Hilfe des FBI und der venezolanischen Polizei gelöst -760-
worden. Richter Serrano hätte in der Woche seines Todes entscheiden sollen, ob die drei unter die Amnestie fallen könnten. Möglicherweise nahm die Todesschwadron an, der Richter würde gegen die Amnestie entscheiden und beschloß daher, die salvadorianische Justiz einzuschüchtern. Das hatte bereits einmal funktioniert: unmittelbar nach Weihnachten 1987 waren drei weitere Männer, die der SheratonMorde angeklagt waren, unter diese Amnestie gefallen, allen amerikanischen Protesten zum Trotz. DIE ZEIT NACH DUARTE Während seiner fünf Jahre im Präsidentenamt gelangen Duarte eine Reihe von Reformen im Bereich des Bankwesens, der Wirtschaft, der Steuern und der Landverteilung. Es gelang ihm hingegen nicht, die Oligarchie ihrer Macht zu entkleiden, geschweige denn, ihren übermächtigen Einfluß auf die Wirtschaft des Landes zu beenden. Zur Zeit des Putsches von 1979 hatten 95 Prozent der Landbesitzer in El Salvador zu wenig Grund, um ihre Familien zu ernähren. Gleichzeitig besaßen die ‡vierzehn Familien— riesige Ländereien. Zu Ende von Duartes Amtszeit hatte sich die Situation nicht wesentlich geändert, aber die Oligarchie haßte ihn und hatte die Macht, ihn zu besiegen. Auf der anderen Seite kostete der rapide wirtschaftliche Verfall des Landes, den die enormen Kriegskosten verursachten, Duarte den größten Teil seiner Popularität im Land. Am meisten wurde ihm angekreidet, daß er es nicht schaffte, den Krieg zu beenden. Als Duarte sein Amt antrat, versprach er Verhandlungen mit den Rebellen. Er rief einen Waffenstillstand aus und traf die Rebellenführer, die eine gemischte Delegation der kommunistischen FMLN und der nichtkommunistischen FDR zu den Verhandlungen schickten. Er bestand darauf, daß sich die Rebellen ergeben und dem demokratischen Prozeß anschließen müßten. Sie weigerten steh, aber 1987 kehrten die gemäßigten politischen FDR-Führer Ungo und Zamora nach siebenjährigem Exil zurück und bereiteten sich auf die Wahlen von 1989 vor. Am 10. September 1985 wurde Duartes Tochter Ines entführt. Nach längeren Verhandlungen wurde sie am 24. Oktober freigelassen, zusammen mit einer Frau, die zugleich mit ihr -761-
gekidnappt worden war, 23 Bürgermeistern und einer Reihe Regierungsbeamter, die Gefangene der FMLN gewesen waren. Im Austausch ließ die Regierung 22 Gefangene frei, darunter die Nummer Zwei der KP und Nidia Diaz, den Führer der Mittelamerikanischen Revolutionären Arbeiterpartei. Zusätzlich wurde 101 verletzten Rebellen gestattet, das Land zur medizinischen Behandlung zu verlassen. Diese Episode trug viel dazu bei, das Vertrauen der Armee und der salvadorianischen Konservativen in Duarte zu erschüttern. Das Scheitern der Regierung Duarte wirft lange Schatten auf die Zukunft El Salvadors. Bei den Parlamentswahlen am 20. März 1988 gewann die ARENA die Mehrheit der Stimmen und 31 der 60 Abgeordnetenmandate, bei 22 Sitzen für die Christdemokraten. Die ultrarechte Nationale Versöhnungspartei bekam sieben Mandate, so daß die mit ihr verbündete ARENA, also d‘Aubuisson und seine Schläger, die absolute Kontrolle über das Parlament hatten. Im Juni 1988 wurde bei dem damals zweiundsechzigjährigen Duarte Magenkrebs diagnostiziert. In Washington wurden ihm zwei Drittel des Magens herausoperiert, und am 1. Juli kehrte er zurück, um daheim zu sterben, obwohl er hoffte, lange genug zu leben, um das Amt an seinen Nachfolger übergeben zu können. Die Christdemokraten waren tief gespalten. Nach einem erbitterten Streit wählten sie Fidel Chavez Mena, der den Parteiapparat beherrschte, zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Die militärische Lage verschlechterte sich im Laufe des Jahres 1988 weiter. Die Rebellen griffen Armeestützpunkte nahe San Salvador und auch in der Hauptstadt selbst an und starteten eine neue Reihe von Mordanschlägen auf gewählte Gemeindepolitiker in Provinzstädten. Am 1. November wurde ein neuer Armeekommandant ernannt. Oberst Rene Emilio Ponce, von amerikanischen Beobachtern als ‡der weit und breit beste, ihre letzte Hoffnung— bezeichnet. Er übernahm eine Armee, die in sechs Jahren von 12.000 auf 54.000 Mann gewachsen war, von den Amerikanern ausgerüstet und trainiert und besser für den Kampf gegen die Rebellen gerüstet war denn je. Derselbe amerikanische Berater sagte über Ponce: ‡Wenn es ihm nicht gelingt, die Armee wieder in Schwung zu bringen, dann kann sie gleich den Kampf aufgeben.— Ponce war damals 41, ein Mitglied des Jahrganges -762-
1966 der salvadorianischen Militärakademie. Er und seine Jahrgangskameraden beherrschen jetzt praktisch das komplette militärische Establishment in El Salvador. Sie neigen alle dazu, die Politiker aus dem Weg zu stoßen, um mit ihrem Krieg weiterzumachen. 1988 gab es einige ermutigende Entwicklungen: das Ende des Kampfes der Contras in Nicaragua, verbunden mit den sowjetischen Anstrengungen, ihr Verhältnis zu den USA zu verbessern. Die Linke war weltweit auf dem Rückzug, und die ausländische Unterstützung der Guerilla ging zurück. Die Armee von El Salvador wird die Rebellen vielleicht nicht besiegen, aber deren Isolation wird auf Dauer den gleichen Effekt haben. Die zukünftige Regierung ist eine Wahl zwischen FDR und ARENA. Viele Amerikaner betrachten dieses Problem von einer strikt ideologischen Basis. Die frühere amerikanische UN-Botschafterin Jeane Kirkpatrick schrieb im Juni 1988, ‡ARENA ist eine legitime politische Partei, die Marktwirtschaft, Privateigentum, Privatinitiative und die Deregulation vertritt œ alles Dinge, auf denen Margaret Thatcher und Ronald Reagan ihre Karrieren begründet haben. Aber das internationale Ansehen der ARENA leidet unter dem schlechten Ruf ihres letzten Präsidentschaftskandidaten Roberto d‘Aubuisson, der lange Zeit mit den verbrecherischen Todesschwadronen in Verbindung gebracht wurde. Der neue ARENA-Führer, Alfredo Cristiani, ist ein prominenter Bürger und führender Geschäftsmann von bestem Ruf.— D‘Aubuisson mag ja nominell die Führung der Partei an den Kaffeefabrikanten Cristiani übergeben haben, aber es besteht kein Zweifel, wer wirklich die ARENA beherrscht. Cristiani gewann die Präsidentschaftswahlen am 19. März mit großer Mehrheit (das FMLN-Kandidatenteam Ungo und Zamora erhielt 3,5 Prozent der Stimmen), und Duarte, der im Frühjahr 1990 starb, übergab ihm am 1. Juni 1989 die Amtswürde. Die Suche der Amerikaner nach einer stabilen Zentrumsregierung in El Salvador war gescheitert, aber zumindest fand immerhin die in dieser Region nicht so häufige Amtsübergabe von einem demokratisch gewählten Präsidenten an den anderen statt. Die Christdemokraten und die FDR -763-
befanden sich im totalen Abstieg, und es war alleinige Sache der ARENA, mit den Guerilleros und den zahllosen wirtschaftlichen Problemen des Landes fertigzuwerden. Christianis erste sechs Amtsmonate brachten zwei unproduktive Treffen zwischen Regierungsvertretern und Abgesandten der FMLN, aber es gab keine Anzeichen, daß eine der beiden Seiten ernsthafte Schritte für ein Friedensabkommen unternehmen würde. Cristianis wichtigster Verbündeter wird vielleicht Michail Gorbatschow sein. Wenn die UdSSR den Zusammenbruch des Kommunismus in Polen und der DDR hinnehmen konnte und auch nichts tat, um den Sandinisten in Nicaragua die Macht zu retten, ist es höchst unwahrscheinlich, daß sie sich für die FMLN besonders einsetzen würde. Vor den Wahlen in Nicaragua im Jahr 1990 entschied die FMLN offensichtlich, daß ihre einzige Siegeshoffnung eine militärische Schlußoffensive sein könnte, nach Art der TetOffensive. Sie würde entweder die Regierung stürzen und den Rebellen sofort den Sieg bringen, oder sie destabilisieren und die Amerikaner zum Abzug veranlassen. am 30. Oktober legte die FMLN eine Bombe im Armeegeneralstabshauptquartier in San Salvador, wobei ein Zivilist starb. Am nächsten Tag tötete eine Bombe in der Kantine einer Gewerkschaftszentrale 10 Menschen. Die FMLN nützte diesen Angriff, offensichtlich das Werk einer rechten Todesschwadron, als Grund zum Abbruch der Friedensgespräche. Am 11. November 1989 starteten die Guerilleros ihre Offensive, ihre größte in diesem Krieg. Sie errangen die Kontrolle über große Teile von San Salvador, vor allem in den Armenvierteln im Norden, und griffen Regierungsstellungen in der ganzen Stadt an. Die Operation wurde später auf die reichen Bezirke der Stadt ausgedehnt. Auch die amerikanische Botschaft wurde angegriffen, wie die Botschaft in Saigon im Jahr 1968. Die Offensive dauerte zwei Wochen und scheiterte in militärischer Hinsicht. Es gab keinen Volksaufstand. Die Armee gab 446 Tote und 1.228 Verwundete zu und behauptete, 2.134 Rebellen getötet zu haben. Die FMLN sagte, von ihren Männern seien 401 getötet worden. Die Armee nahm mehr als 500 Rebellen gefangen. Die Verluste der Zivilbevölkerung haben sich in San Salvador und im übrigen Land in Grenzen gehalten, aber große Teile der Hauptstadt -764-
wurden durch die Kämpfe und die Luftangriffe auf Rebellenstellungen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Bei einem Zwischenfall besetzten die Guerilleros einen Teil des Hotel El Salvador (des ehemaligen Sheraton), während in einem anderen Stockwerk sich schwerbewaffnete amerikanische Green Berets verschanzten. Es wurde ein Abkommen getroffen, so daß die Amerikaner mit den übrigen Hotelgästen das Gebäude verlassen konnten. Aber die USA haben niemals zufriedenstellend erklärt, was die Green Berets eigentlich hier taten œ in El Salvador dürfen sich nur 55 amerikanische Soldaten aufhalten. Nach zweiwöchigen Kämpfen zogen sich die Rebellen in die Berge zurück. Sie waren besiegt, aber nicht vernichtet. Unter den Toten gab es mehrere Reporter und Photographen, darunter auch David Biundy von der Londoner Sunday Correspondent, der am 17. November von einem Scharfschützen getötet wurde. Einen Tag vorher war eine Armeeeinheit in den Sitz der Jesuiten auf dem Campus der Central American University eingedrungen und hatte sechs Priester und zwei Frauen erschossen. Einer der Ermordeten war Pater Ignacio Eliacuria, der Universitätsrektor und einer der führenden Intellektuellen El Salvadors. Obwohl er erklärtermaßen nach links tendierte und ein erbitterter Gegner der ARENA-Wirtschaftspolitik des extremen freien Marktes war, hatte er festgestellt daß Präsident Cristiani Unterstützung verdiene, da er mäßigenden Einfluß auf das Militär und die Oligarchie haben könne. Es gab viele Fälle von Mißhandlung von Kirchenmitarbeitern und ausländischen Sozialarbeitern durch Soldaten, aber das war der schlimmste Auswuchs des Terrors der Todesschwadronen in vielen Jahren. Die Morde riefen in den USA große Empörung hervor, die Cristiani am 6. Januar durch die Mitteilung zu beschwichtigen versuchte, daß die Schuldigen eingesperrt worden seien und vor Gericht gestellt würden. Skeptiker zweifeln, daß die Schuldigen jemals zur Verantwortung gezogen werden: Seit dem Beginn des Bürgerkrieges mußte sich kein Armeeoffizier wegen Verletzung der Menschenrechte verantworten. Am 25. November, während der Offensive, schossen salvadorianische Streitkräfte eine Cessna 310 ab, die Waffen aus Nicaragua transportierte. Drei der Besatzungsmitglieder wurden getötet, der vierte Mann erschoß sich selbst. Es konnte keinen Zweifel -765-
an der Bestimmung des Flugzeuges geben: Unter den gefundenen Waffen waren Boden-Luft-Raketen (24 sowjetische SAM-7 und eine amerikanische ‡Redeye—), und die Nachricht, daß solche Waffen in den Händen der Rebellen sein könnten, machten die salvadorianischen Luftwaffenpiloten recht nervös. Die Armee fand auch noch das Wrack eines anderen Flugzeuges, dessen Ladung offensichtlich ihre Empfänger erreicht hatte. Am 26. November nahm die Polizei eine Amerikanerin fest, Jennifer Casolo, die für eine Organisation arbeitete, die ihren Sitz in Texas hatte und sich ‡Christian Education Settlement— nannte. In ihrem Hinterhof wurde ein verborgenes Waffenlager gefunden, bereit für die Rebellen. Präsident Bush forderte, daß die Sowjetunion ihren Einfluß auf Kuba und Nicaragua nützen müsse, daß alle Lieferungen an die Rebellen gestoppt würden. Cristiani brach die diplomatischen Beziehungen zu Nicaragua ab. Durch die Offensive der FMLN wurde die Lage in El Salvador auf den Stand der frühen achtziger Jahre gebracht. Sie bewies, daß die salvadorianische Armee, ungeachtet insgesamt 4,8 Milliarden Dollar amerikanischer Hilfe seit 1981, die Guerilleros nicht besiegen konnte, Die Offensive zerstörte auch Cristianis gemäßigtes Image: Offensichtlich hatte auch dieser Präsident keine Macht über die Sicherheitskräfte oder die Armee. Zur selben Zeit bewies das Militär seine Unfähigkeit. Zum Teil beruht ihr armseliger Eindruck auch darauf, daß die Armee für das Land zuständig ist, während in den Städten die verschiedenen Sicherheitskräfte operieren œ aber es war offensichtlich, daß nach acht Jahren Guerilla weder die Armee noch die Polizei irgendeine Ahnung vom Straßenkampf hatten. Das Scheitern der Offensive zeigte aber auch die Grenzen der Macht der FMLN, die fehlende Unterstützung in der Bevölkerung und auch die Fehler ihrer Taktik: Obwohl sie behauptete, das Gespräch mit Cristiani zu suchen, eröffnete sie die Offensive mit einem Anschlag auf ihn. Die Rebellen gaben zu, daß eines ihrer Hauptziele gewesen sei, einen Gegenschlag der Rechtsradikalen zu provozieren und dadurch die Regierung in den Augen des US-Kongresses zu diskreditieren. Die FMLN kann auch nicht länger behaupten, daß sie unabhängig ist, sondern sie ist von Kuba und Nicaragua abhängig. Der Beweis, daß die Sandinisten die FMLN bewaffneten, war ein weiterer Schlag gegen den mittelamerikanischen Friedensplan, aber er -766-
verbesserte Cristianis Chancen, daß die amerikanische Unterstützung weiterging, ungeachtet der Wiederbelebung der Todesschwadronen. Nachdem die Sandinisten bei den Wahlen in Nicaragua am 25. Februar 1990 verloren, änderten die salvadorianischen Rebellen ihre Taktik. Sie verkündeten am 14. März, daß sie die Aktionen gegen nichtmilitärische Ziele einstellen würden und kündeten neue Verhandlungen mit der Regierung an. Sie erklärten, daß sie nicht mehr länger Kommunisten oder Marxisten seien. In der Regierung gab es unterschiedliche Meinungen, wie darauf zu reagieren sei. Die Hardliner wiesen alle Vorschläge für Verhandlungen zurück, während Präsident Cristiani die Vorschläge vorsichtig begrüßte. Hardliner in der Regierung und bei den Rebellen bereiteten sich auf eine Fortsetzung der Kämpfe vor, während gemäßigte Führer eine Verhandlungsbasis suchten. Zu Beginn der neunziger Jahre gab es nur wenig Hoffnung auf Frieden in El Salvador. Das Land war immer noch zerrissen zwischen zwei mächtigen, ideologisch bestimmten Armeen, von denen keine zu wirklichen Zugeständnissen gegenüber der anderen bereit war. Allen Anläufen zu Verhandlungen zum Trotz œ ein Land in der Sackgasse.
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GUATEMALA Geographie: 108.889 km2. Bevölkerung: 8,2 Millionen Einwohner, davon mehr als 40 % Ladinos (Mestizen), 45 % Indios, Maya-Quiche, die von den Azteken abstammen. Die Staatssprache ist Spanisch, die Einwohner sprechen 23 Maya-Quiche-Dialekte. BSP: 930 $/Einw. Flüchtlinge: Ins Ausland: 45.500* in Mexiko, 380 in Honduras, 400 in Nicaragua, 1.200 in Belize. Im Land: 500.000 Guatemalteken, 1.600 aus Nicaragua, 500 aus El Salvador. Verluste: Seit 1961 sind rund 100.000 Menschen ums Leben gekommen, davon waren die meisten Zivilisten. Wenn es notwendig ist, das Land in einen Friedhof zu verwandeln, um es zu befrieden, werde ich nicht zögern, das zu tun. (Präsident Carlos Arana Osorio, 1970) Wir töten Menschen, wir schlachten Frauen und Kinder ab. Das Problem ist, daß dort jeder ein Guerillero ist. (Präsident Efrain Rios Montt, 1982) GESCHICHTE Wie die anderen Länder Mittelamerikas gewann Guatemala seine Unabhängigkeit von Spanien im Jahr 1821. Die Oligarchie der Großgrundbesitzer, die bereits unter der Herrschaft der Spanier die Kolonie regiert hatte, setzte dies auch in der Republik fort. Die Angehörigen der herrschenden Schicht und die Bewohner der Städte sprachen Spanisch, die Masse der Bauern, die seit der Eroberung durch die Spanier wie Sklaven behandelt wurden, lebten außerhalb der Städte mit ihren eigenen Sprachen und ihrer eigenen Lebensweise. Am 30. März 1899 wurde die United Fruit Company gegründet. Sie war ein Zusammenschluß der Boston Fruit Company, die Bananen aus der Karibik nach Boston exportierte, und einer mittelamerikanischen Eisenbahngesellschaft, die der Bostoner Unternehmer Minor Keith gegründet hatte, der von Costa Rica bis Guatemala überall die Hände -768-
im Spiel hatte und das Vertrauen aller mittelamerikanischen Diktatoren genoß. 1904 überredete er den Diktator von Guatemala, Manuel Estrada Cabrera, der United Fruit ein neunundneunzigjähriges Pachtrecht auf die Haupteisenbahnlinie des Landes zu geben, die die Hauptstadt Ciudad de Guatemala mit dem einzigen Hafen des Landes in der Karibik verband, Puerto Barrias. Gestützt auf diese gesicherte Transportverbindung erwarb die Firma in kurzer Zeit riesige Gebiete mit Bananenplantagen. 1936 gab ihr der Diktator General Jörge Ubico das 99-Jahre-Pachtrecht an einem weiteren riesigen Landstrich an der Pazifikküste und erneuerte die früheren Privilegien. Die UFC bezahlte in Guatemala wenig oder gar keine Steuern, konnte zollfrei importieren, was sie wollte, und bezahlte ihren Arbeitern 50 Cent pro Tag. Die USA hatten kein Interesse an der Innenpolitik von Guatemala, so lange in dem Land Friede herrschte und die amerikanischen Geschäftsinteressen œ das heißt also, die der United Fruit Company œ nicht beeinträchtigt wurden. Bis zum Zweiten Weltkrieg konnte eine lange Reihe von Diktatoren ungestört ihr Unwesen treiben. Dann führten General Ubicos politische Sympathien für Hitler und Mussolini zu Komplikationen. Im Juli 1944 gingen die Angehörigen der aufstrebenden Mittelschicht, vor allem die Lehrer, auf die Straße und erzwangen in Protestdemonstrationen gegen Ubicos Politik seinen Rücktritt. Er ernannte einen anderen General, Federico Ponce, zu seinem Nachfolger, aber im Oktober putschten zwei jüngere Offiziere, Major Francisco Arana und Hauptmann Jacobo Arbenz Guzman, und zwangen auch Ponce zum Rücktritt. Bei diesem Putsch kamen mehr als hundert Menschen ums Leben. Arana und Arbenz riefen die ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes aus. Der prominente Schriftsteller und Lehrer Dr. Juan Jose Arevalo, der vierzehn Jahre in Mexiko im Exil gelebt hatte, gewann sie mit einer Mehrheit von 85 Prozent. Seine Gefolgsleute mußten ihm das Fahrgeld schicken, ehe er zurückkehren konnte. Arevalo begann mit der Modernisierung Guatemalas und orientierte sich dabei am New Deal von Franklin D. Roosevelt. Er führte ein Sozialsystem nach amerikanischem Vorbild ein und gab den Frauen erstmals in der Geschichte des Landes gleiche Rechte. Seine radikalste Maßnahme war eine tiefgreifende Reform der Arbeitsverfassung auf -769-
der Grundlage des Wagner-Aktes, der Charta der amerikanischen Gewerkschaften. Die United Fruit opponierte heftig gegen diese Politik, ebenso wie viele prominente amerikanische Liberale. Die New Deal-Demokraten Claude Pepper von Florida, Mike Mansfield von Montana und John McCormack von Massachusetts, der spätere Sprecher des Repräsentantenhauses, und der Senator von Michigan, Alexander Wiley, ein gemäßigter Republikaner, griffen Arevalo wegen seiner Politik, die auf amerikanischen Gesetzen basierte, heftig an. Ein schlagendes Beispiel für amerikanische Ignoranz und Korruptheit. Ungeachtet aller Widerstände trieb Arevalo die Sozialreformen voran. 1950 beugte er sich der neuen Verfassung, die für das Präsidentenamt nur eine einmalige sechsjährige Amtszeit vorsah, und trat zurück. Sein Nachfolger wurde Jacobo Arbenz Guzman. Der andere Führer des Staatsstreiches von 1944, Arana, war zum Führer der Konservativen in der Armee geworden. Im Juli 1949 wurde er ermordet, möglicherweise mit Wissen Arbenz‘. Der neue Präsident begann mit einem Agrarreformprogramm, das für die United Fruit Company eine klare Herausforderung bedeutete. Das Unternehmen hatte mittlerweile in Guatemala eine beeindruckende Position erreicht. Seine Investitionen waren 60 Millionen Dollar wert, davon rund 300.000 Hektar Land. Sie beschäftigte 40.000 Menschen, besaß die Telephon- und Telegraphengesellschaften des Landes und den einzigen Hafen am Atlantik, dazu mehr als 1.300 Kilometer Eisenbahnnetz praktisch alles. Die Company bezahlte nicht nur minimale Steuern, sondern bekam für jeden investierten Dollar auch noch 62 Cent zurück. Zwischen 1942 und 1952 war der Wert ihrer Anlagen um 133,8 Prozent gestiegen. Die Company hatte seit den Anfangstagen einigen sozialen Fortschritt zugelassen. Den Arbeitern wurden Unterkunft, Schulen und Gesundheitseinrichtungen zur Verfügung gestellt. Aber die Gewerkschaften waren verboten, und die United Fruit œ in Guatemala bekannt als la frutera œ kämpfte in den vierziger Jahren erbittert gegen die Forderungen der Arbeiter um einen Tagesbasislohn von 1,50 $. Ein ehemaliger United Fruit-Mitarbeiter schrieb in seinen Memoiren in den siebziger Jahren, Guatemala wurde zu Beginn des Jahrhunderts -770-
als Sitz und Hauptland der Company ausgewählt, da ein Großteil des Landes erstklassiges Bananengebiet war und vor allem, da die Regierung Guatemalas in der ganzen Region die schwächste und korrupteste war. Kurz gesagt, das Land bot ein ideales Investitionsklima, und die Profite der Company wuchsen 50 Jahre lang an. Dann passierte eine Panne: Ein Mann namens Jacobo Arbenz wurde Präsident. Im März 1953 verkündete die Regierung Arbenz ihre Landreform. Kultiviertes Land wurde nicht angetastet, unbebautes Land aber wurde enteignet und unter den Bauern verteilt. Die United Fruit war das Hauptopfer dieser Maßnahmen: 83 Prozent ihrer riesigen Besitzungen waren unbebaut œ das Land wurde als Reserve gehalten. Im ersten Schritt verlor die Company 85.000 Hektar, insgesamt waren es 156.500 Hektar. Die Regierung entschädigte sie mit rund 1,50 Dollar pro Hektar œ in Staatsanleihen. Die Company hatte in den dreißiger Jahren für das Land ungefähr halb so viel bezahlt und hatte aus Steuergründen immer erklärt, daß es nicht mehr wert geworden sei. Angesichts der Enteignung forderte die Company rund 35 Dollar pro Hektar, und ein offizieller Protest, in dem auch die Forderung nach Bezahlung des höheren Preises enthalten war, wurde der Regierung vom amerikanischen Botschafter unterbreitet. DER PUTSCH VON 1954 Der Putsch von 1954 ist das Schlüsselereignis in der modernen Geschichte Guatemalas und spielt auch im Verhältnis der anderen lateinamerikanischen Staaten zu den USA nach wie vor eine wichtige Rolle. Der Putsch wurde auf Betreiben der United Fruit Company von der CIA durchgeführt, bald nach einer ähnlichen Operation gegen die Mossadegh-Regierung im Iran, die ganz im Sinne der internationalen Erdölgesellschaften lag. Viele Beobachter, einschließlich wesentlich an diesen beiden Aktionen Beteiligter, haben seit damals festgestellt, daß, auch wenn die Aktionen kurzfristig erfolgreich gewesen sein mochten, sie langfristig katastrophale Auswirkungen auf die beiden Länder, auf die USA und die CIA gehabt haben. Nach diesen beiden Putschen dachte die CIA, sie wäre für solche -771-
Gift-und-Dolch-Komplotte hervorragend geeignet und versuchte, ihre Erfolge in Indonesien, Kuba und œ Jahre später œ in Nicaragua zu wiederholen. Amerika verdankt ein Gutteil seiner Unbeliebtheit in der Dritten Welt der CIA. Guatemala wurde durch den Putsch von 1954 zerstört, ein langer, quälender Verfallsprozeß, der noch nicht beendet ist und als die iranischen Studenten 1979 die US-Botschaft in Teheran stürmten, erklärten sie das als Rache für Mossadegh. Es waren die Tage der Regierung Truman, und die United Fruit wußte, daß sie einige Liberale in ihre Kampagne einspannen mußte, um eine demokratische Regierung in Guatemala zu stürzen und durch eine faschistische Diktatur zu ersetzen. Zu diesem Zweck engagierte die Company einen der besten PR-Männer in den USA, Edward Bernays, und Washingtons führenden Lobbyisten Tommy Corcoran. Corcoran versicherte sich der Dienste des früheren Senators Robert La Follette von Wisconsin, der von Joe McCarthy besiegt worden war und als Amerikas Paradeliberaler galt. La Follette und Mansfield, Pepper und McCormack, Bernays und Corcoran waren alles ausgewiesene Demokraten, die sich ihren Namen mit der Verteidigung der Gewerkschaften und anderer ehrenwerter Anliegen gemacht hatten. Auch Republikaner waren einbezogen. Senator Henry Cabot Lodge von Massachusetts, der eine große Menge United Fruit-Aktien hatte, bezeichnete die guatemaltekische Regierung als antiamerikanisch und möglicherweise sogar kommunistisch; später, nach dem Putsch von 1954, verteidigte er die US-Aktion als UNO-Botschafter vor dem Sicherheitsrat. Als Eisenhower die Wahlen von 1952 gewann, nahm die Company auch noch John Clements als Lobbyisten in ihre Dienste. Er war ein Mitstreiter von McCarthy und Führer des demagogischen Anti-Kommunismus-Kreuzzuges. Bernays wußte über die Macht der Presse Bescheid. Er lud Journalisten nach Guatemala ein, damit sie sich selbst davon überzeugen konnten, wie großzügig und volksfreundlich die Company ihre Geschäfte betrieb, und auch davon, daß alle Gegner der Company offensichtlich Kommunisten seien. Viele amerikanische Zeitungen und Zeitschriften œ angefangen bei der New York Times, dem Christian Science Monitor, Time, Newsweek und US News & World Report œ fielen auf Bernays hinein und erklärten ihren Lesern, daß die -772-
Rote Gefahr bereits Guatemala erreicht habe, Später begrüßten sie allesamt den Putsch. Guatemala hatte niemals eine Chance. Wenn eine der Tragödien Mittelamerikas die Ignoranz der USA ist (die Company sorgte dafür, daß kaum Informationen über andere als La Follette, Lodge, McCormack und den Rest liefen, die allesamt gegen Arbenz waren), wurde das Problem noch durch die Rückständigkeit des Landes verstärkt. Die demokratischen Politiker sprachen kein Englisch, wußten nichts über die Vereinigten Staaten und versuchten auch nicht, sich zu informieren; sie begnügten sich damit, daheim zu bleiben und aus der Entfernung über die Yankees zu schimpfen. Ihre Anstrengungen, die amerikanische öffentliche Meinung zu beeinflussen, waren höchstens pathetisch, das Maximum dessen, was der guatemaltekische Botschafter in Washington tat, war, daß er sich über die guatemalafeindlichen Berichte in den amerikanischen Zeitungen beschwerte. Dreißig Jahre später exerzierte der Präsident von El Salvador, Jose Napoleon Quarte, vor, wie es ging: Er sprach fließend Englisch und besuchte regelmäßig die USA, um die Amerikaner von seinen ernsthaften demokratischen Grundsätzen zu überzeugen (Siehe EL SALVADOR). Die United Fruit Company korrumpierte auch die CIA. Deren Direktor war Bedell Smith, dessen erklärtes Ziel es war, Präsident der United Fruit Company zu werden (nach seinem Ausscheiden aus dem Amt wurde er tatsächlich einer der Direktoren der Firma). Der zweite Mann der CIA war Allan Dulles, der früher in der Anwaltsfirma Sullivan & Cromwell gearbeitet hatte, die die Company juristisch vertrat. Er war auch der Berater der Company in außenpolitischen Fragen. Seniorpartner der Anwaltsfirma war sein Bruder, John Foster Dulles. Die CIA hatte Verständnis für die Position der Company und bereitete einen Putsch zum Sturz der guatemaltekischen Regierung vor. Der Plan bekam den Decknamen ‡Operation Fortune— (Unternehmen Vermögen). Der Außenminister Dean Acheson erfuhr von diesen Vorbereitungen und stoppte sie sofort. Aber seine politischen Tage waren gezählt. Eisenhower gewann die Wahlen von 1952, Allan Dulles wurde CIA-Direktor, John Foster Dulles Außenminister und Bedell Smith sein Steilvertreter. Ein neuer Plan -773-
wurde ausgearbeitet, ‡Operation Success—, und von der neuen Regierung im August 1953 abgesegnet. Die United Fruit engagierte einen früheren guatemaltekischen Oberst, Carlos Castillo Armas. Er lebte in Nicaragua im Exil unter der schützenden Hand von Präsident Anastasio Somoza, und stellte sich ohne Zögern an die Spitze der Revolution. Der Plan war kein Geheimnis: Die CIA warb ungeniert Söldner für die geplante Invasion an. Arbenz bereitete sich auf die Verteidigung seines Landes vor. Aber die Truman-Regierung hatte 1948 wegen seiner linken Neigungen ein Waffenembargo über das Land verhängt (ein weiteres Beispiel für Washingtons Einäugigkeit in Mittelamerika). Der Rest der Welt hatte Mittelamerika immer stillschweigend als amerikanische Einflußsphäre akzeptiert und gar nicht versucht, die USA als Waffenlieferant zu ersetzen. Es war sehr schwierig, aber 1954 fand Arbenz in der CSSR einen Waffenlieferanten. Er kaufte um eine Million Dollar 2.000 Tonnen Waffen œ Gewehre, Munition, Panzerabwehrwaffen und leichte Geschütze. Sie wurden via Polen in baltische Häfen und auf dem schwedischen Frachter Atfhem nach Guatemala gebracht. Das Schiff erreichte am 15. Mai Puerto Barrios, und die Waffen wurden mit der Eisenbahn nach Ciudad de Guatemala gebracht. Die CIA beobachtete diese Entwicklung genau. Am 19. Mai befand Präsident Eisenhower, daß diese Waffenlieferung ‡die Errichtung einer kommunistischen Regierung auf diesem Kontinent— bedeutete. Arbenz— Militärs prüften ihre kostbare Fracht: die Panzerabwehrwaffen waren überflüssig œ es gab in ganz Mittelamerika keine Panzer; viele der Gewehre waren defekt; und die Artillerie œ hauptsächlich deutsche Beutegeschütze aus dem Weltkrieg œ waren zu schwer für Guatemalas Straßen. Die tschechischen Waffen waren für Arbenz völlig nutzlos, als am 18. Juni Castillo Armas seine kleine Armee über die Grenze schickte, um ein Dorf auf der anderen Seite zu besetzen. Sam Cummings hatte ihn ausgerüstet, der am Beginn seiner spektakulären Karriere als Waffenhändler stand, und er verfügte über alles notwendige Material. Er hatte sogar eine kleine Luftwaffe, die ihm die CIA zur Verfügung stellte: drei Weltkriegs-P-47-Jagdbomber, die über Ciudad -774-
de Guatemala kreisten und Flugzettel sowie einige Bomben abwarfen und eine Armeekaserne beschossen. Eine der Maschinen stürzte in Mexiko ab, und die Besatzung entpuppte sich als zwei Amerikaner mit zweifelhaften Dokumenten œ es waren CIA-Männer. Die Regierung Arbenz brach zusammen. Der Präsident hatte die Nerven verloren, und nur wenige Guatemalteken waren bereit, für ihn zu kämpfen. Ein Besucher aus Argentinien, Ernesto ‡Che— Guevara, hatte sich bereit gehalten, aber als Castillo Armas mit einer amerikanischen Maschine nach Ciudad de Guatemala eingeflogen wurde, flüchtete Guevara in eine befreundete Botschaft. Später wurde er nach Mexiko gebracht, wo er mit Fidel Castro zusammentraf. Als Castillo Armas eintraf, hatte Arbenz bereits aufgegeben. Er erhielt in der mexikanischen Botschaft Asyl und durfte später ins Exil gehen. Das bedeutete das Ende der zehnjährigen Demokratie in Guatemala. Der Putsch hatte nur ein Todesopfer gekostet. Sam Cummings kaufte die tschechischen Waffen und schloß einen Vertrag über die Ausrüstung der guatemaltekischen Armee ab. Es war ein gutes Geschäft. DIE NEUE DIKTATUR Die United Fruit Company hatte in Guatemala gewonnen, dann aber verlor sie in Washington. Das Justizministerium leitete ein Anti-TrustVerfahren gegen die Company ein und beschuldigte sie der Monopolisierung der Bananenproduktion in Guatemala. Die Company entschloß sich zum Verkauf. Die Del Monte Corporation, die nicht die gleiche Rücksichtslosigkeit wie die Company an den Tag legte, kaufte die meisten Anteile. Castillo Armas machte alle Reformen des vorangegangenen Jahrzehnts rückgängig, einschließlich der ersten Schritte in Richtung Industrialisierung. Innerhalb von achtzehn Monaten hatte er praktisch alle Bauern von dem Land vertrieben, das sie durch die Landreformen erhalten hatten. Die Hilfszahlungen der USA erreichten bald eine Höhe von 45 Millionen im Jahr. Ein Großteil verschwand in dunklen Kanälen, ein anderer Teil wurde verschwendet, praktisch nichts davon wurde zur Verbesserung des Schicksals der verarmten Bauern aufgewendet, die den großen Teil der Bevölkerung ausmachen. Der -775-
nützlichste amerikanische Beitrag war Geld für den Ausbau des Straßen- wie des Stromleitungsnetzes. Im Juli 1957 wurde Castillo Armas im Präsidentenpalast ermordet. Sein Mörder lag tot daneben, er hatte offensichtlich Selbstmord begangen. (Als 1983 Benigno Aquino in Manila ermordet wurde, blieb ebenfalls sein ‡Mörder— tot am Tatort liegen.) Die wahren Mörder wurden niemals entdeckt. Eilig wurde eine Junta gebildet, die Wahlen ausschrieb, und zur Verblüffung der Junta wurden sie von General Miguel Ydigoras Fuentes gewonnen, einem konservativen Politiker, der die Wahlen von 1950 gegen Arbenz verloren hatte und der die Aufforderung der CIA, als Deckmantel für den Staatsstreich von 1954 herzuhalten, abgelehnt hatte. Die Junta wollte das Resultat annullieren, wurde aber gezwungen, 1958 erneut Wahlen auszuschreiben. Ydigoras gewann abermals, und diesmal durfte er sein Amt antreten. Er wurde von den USA unterstützt, da er ihnen Stützpunktrechte für die geplante Invasion von Kuba einräumte. Als am 13. November 1960 in einigen Armeeeinheiten eine Revolte ausbrach, schickten die USA B-26-Bomber mit Exilkubanern im Cockpit los und bombardierten die Rebellenstützpunkte. Die Rebellion wurde niedergeschlagen, aber zwei junge Leutnants, Marco Aurelio Von Sosa und Luis Turcios Lima, waren von diesem Ereignis so angewidert, daß sie eine eigene Guerilla-Bewegung ins Leben riefen. Das war der Beginn eines langen Krieges, der bis jetzt mehr als 100.000 Menschenleben gekostet hat; ein Ende ist nicht in Sicht. Die beiden Rebellen verschmolzen ihre Streitkräfte mit der illegalen Kommunistischen Partei (PGT). Im Februar 1962 riefen sie den Generalaufstand gegen das Militärregime aus. Nach einem gefallenen Genossen und dem Datum der gescheiterten Armeemeuterei nannten sie ihre Bewegung ‡Alejandro de Leon November 13 Guerilla—. Sie brachen aus den Bergen in die Ebene hervor und griffen Armeestützpunkte an, wurden aber furchtbar zurückgeschlagen. In der Zwischenzeit hatte auch eine zweite revolutionäre Gruppe œ ‡October 20 Front— (nach der Revolution von 1944) unter Führung von Arbenz‘ Verteidigungsminister Carlos Paz Tejada zu den Waffen gerufen. Im März 1962 gab es Studentenunruhen in Giudad de -776-
Guatemala, die zwanzig Menschenleben kosteten. Diese ständigen Unruhen veranlaßten die Regierung Kennedy, ein AntiAufstandsausbildungszentrum in Guatemala zu gründen, dessen Personal sich aus den Green Berets rekrutierte. Die Amerikaner entwickelten auch ein œ,Befriedungs—-Programm und belieferten die guatemaltekischen Streitkräfte mit Flugzeugen und Waffen. Im Sommer 1962 hatte Ydigoras die Studenten und die Guerilleros zerschlagen. Die Überreste der verschiedenen Rebellengruppen schlossen sich erneut zusammen und bildeten die ‡Bewaffneten Rebellen— (FAR). Diese Gruppe kämpfte nie mit Erfolg, führte aber in den nächsten Jahren einen ständigen Kleinkrieg, in der Hoffnung, den Erfolg Fidel Castros in Kuba zu wiederholen. Sie hatte aber nie mehr als 500 Kämpfer, und ihre Aktionen bewirkten grauenhafte Gegenschläge der Armee. Bis zum Ende des Jahrzehnts war sie vollständig aufgerieben. Ydigoras war zutiefst unbeliebt geworden, und die Amerikaner fürchteten, daß ihm zum Kampf gegen den Kommunismus der notwendige Rückhalt in der Bevölkerung fehlen würde. Im Sommer 1963 erschien der frühere Präsident Juan Jose Arevalo Bermejo wieder auf der politischen Bühne und meldete seine Kandidatur für die bevorstehenden Wahlen an. Die Armee entschied, daß Ydigoras gehen müßte und putschte œ nach Rücksprache mit Washington œ am 29. März. Ydigoras wurde durch den Verteidigungsminister Enrique Peralta Azurdia ersetzt. Apologeten von John F. Kennedy leugnen, daß der Präsident diesen Putsch abgesegnet hat. Sie leugnen auch, daß er dem Putsch zugestimmt hat, der im November darauf in Saigon stattfand. Es bleibt eine der Ironien der Geschichte, daß eine offensichtlich idealistische Regierung in Washington, die weltweit die Demokratie durchsetzen, in Indochina die Korruption bekämpfen, Landreformen einführen und andere bewundernswerte Maßnahmen durchsetzen wollte, zur gleichen Zeit Militärdiktaturen in Mittelamerika unterstützt hat. Amerikanische Demokraten, die der Regierung Reagan eine Schwäche für autoritäre Regierungen vorgeworfen haben, sollten sich daran erinnern, daß ihre eigene Regierung 25 Jahre zuvor die Faschisten offen unterstützt hat. -777-
Unter Peralta Azurdia ging Guatemalas Abstieg ins Elend weiter. Seine Soldaten verfolgten die übriggebliebenen Rebeilen mit unermüdlichem Eifer. Sie stürmten ein Geheimtreffen der KP und nahmen 28 Anführer fest, die alle ermordet wurden. Ein früherer guatemaltekischer Kongreßabgeordneter soll in 7.000 Meter Höhe über dem Pazifik aus dem Flugzeug geworfen worden sein. 1966 wurden Wahlen abgehalten. Die antimilitaristischen Fraktionen sammelten sich hinter dem Zentrumspolitiker Mario Mendez Montenegro, aber er fiel einem jener geheimnisvollen Morde zum Opfer, die zu einer Spezialität Guatemalas geworden waren. Der Bruder Mendez‘, Julio Cesar, nahm seine Stelle ein und wurde gewählt. Die Armee versuchte, die Wahlen zu annullieren, mußte aber unter amerikanischem Druck nachgeben. Mendez durfte zwar das Amt, nicht aber die Macht antreten. Er war eine reine Alibifigur. Das Kommando der Anti-Aufstands-Truppen führte Oberst Carlos Arana Osorio. Amerikanische Green Berets trainierten seine Soldaten, und auch mehr als 30.000 guatemaltekische Polizisten wurden von Amerikanern ausgebildet. Die Regierung Johnson gab dem Land Militärhilfe in Höhe von 6 Millionen Dollar und Materiallieferungen im Wert von einer Million. Arana entfesselte einen uneingeschränkten Terrorkrieg gegen die indianischen Bauern. Amnesty International schätzt, daß im folgenden Jahrzehnt zumindest 30.000 Menschen entführt, gefoltert und ermordet wurden. Amerikanische Flugzeuge stiegen von Stützpunkten jenseits der Landesgrenzen auf und warfen Napalmbomben auf mutmaßliche Rebellenstützpunkte. Todesschwadronen beherrschten das Leben in Guatemala. Das Regime bekämpfte nicht nur die Bauern-Guerilleros außerhalb der Städte. Es betrachtete auch Gewerkschaftsfunktionäre, Bauernführer, Studenten, Universitätsprofessoren, Lehrer, liberale Kleriker sowie Zentrums- und Linksparteienpolitiker als seine Feinde. Im Gegenzug ermordeten linke Terroristen Offiziere und Amerikaner, darunter 1965 den Chef der amerikanischen Militärmission, Oberst Harold Hauser und 1968 einen seiner Nachfolger, Oberst John Webber, sowie den US-Botschafter John Gordon Mein. Oberst Arana war in der Bekämpfung ihrer Gegner so erfolgreich, daß die Armee ihn für den geeigneten Präsidenten hielt. Er übernahm -778-
1970 das Amt und übertrug die Taktik aus dem Indianerkrieg nun auf die Städte. In den ersten drei Jahren seiner Präsidentschaft stieg die Zahl der ‡Verschwundenen— stark an. Schätzungen über die Zahl der gefundenen Leichen reichen von 3.500 bis 15.000. Obendrein kamen beim Erdbeben 1976 weitere 25.000 Menschen um. 1974 bewarb sich der dissidente Armeegeneral Efrain Rios Montt gegen den offiziellen Kandidaten um die Präsidentschaft und gewann. Die Armee annullierte prompt die Wahlen und schickte Rios Montt ins Exil, als Botschafter nach Madrid. Der ständigen Unterdrückung zum Trotz wuchs die GuerillaBewegung an. Unter den Indios bildeten sich zwei neue Rebellengruppen. Die erste war die ‡Guerilla-Armee der Armen— (EGA), eine marxistische Organisation mit einem Bild Che Guevaras als ihrem Signet. Die zweite hieß ‡Organisation Volk in Waffen— (ORPA). Beide kämpften vor allem in den Indio-Provinzen. Die ORPA hatte in Ciudad de Guatemala einen geheimen Stützpunkt, der 1981 von argentinischen Anti-Terror-Spezialisten entdeckt wurde. In den späten siebziger Jahren erwuchs die FAR zu neuem Leben, 1981 spaltete sich eine Gruppe ab und nannte sich ‡Keimzelle der Führung der PGT—. 1982 bildeten diese vier Gruppen eine Allianz: die ‡Guatemalische Nationale Revolutionäre Einheit— (URNC). Andere Oppositionsgruppen, die weder kommunistisch noch gewalttätig waren, bildeten sich ebenfalls, trotz des staatlichen Terrors, mit dem sie unterdrückt wurden. Die Kirche, die frühere Diktaturen unterstützt hatte, stellte sich nun auf die Seite der Indios und Arbeiter gegen die Tyrannei. Eine christliche Gruppierung œ das ‡Campesino Vereinigungs-Komitee— (CUC) œ organisierte die Besetzung der spanischen Botschaft in Ciudad de Guatemala am 31. Januar 1980, um die Aufmerksamkeit der Welt auf die Lage der Bauern zu richten. Das Gebäude wurde von Soldaten angezündet, 39 Demonstranten verbrannten bei lebendigem Leib. Kurz danach organisierte die CUC einen zweiwöchigen Streik unter den Zuckerrohr-Schneidern und Baumwollarbeitern und setzte einen 3,25 Dollar-Tageslohn durch. Zu dieser Zeit begriffen die USA allmählich, welche Art von -779-
Regierungen sie in Mittelamerika unterstützten. Präsident Carter stellte alle Hilfszahlungen an Guatemala ein, aber das Militärregime ließ sich dadurch nicht beirren. Im Hochland ging die Guerillaaktivität weiter, und General Romeo Lucas Garcia, der von 1978 bis 1982 Präsident war, versuchte dem mit einer Politik der verbrannten Erde zu begegnen. Der Mißmut der Amerikaner und Lucas Garcias Korruptheit veranlaßten 1982 jüngere Offiziere zu einem Putsch, und schließlich brachten sie General Rios Montt an die Macht. Er stoppte die Todesschwadronen in den Städten und ließ dort auch größere politische Freiheiten zu, aber in den Provinzen erreichte der Krieg gegen die Bauern unter Rios Montt seinen Höhepunkt. Er versuchte eine ‡Bohnen-und-Gewehre—-Politik: loyale Bauern wurden ernährt, illoyale mußten verhungern. Die Armee sagte: ‡Wenn du mit uns bist, geben wir dir zu essen, wenn du gegen uns bist, töten wir dich—. In der grausamsten Phase der Kämpfe wurden loyale Bauern in Ortsmilizen gepreßt, um unter der Führung von Armeeoffizieren Jagd auf Rebellenanhänger zu machen. Das Washingtoner ‡Office on Latin America—, eine unabhängige Menschenrechtsgruppe, schätzte, daß diese Kampagne zur Zerstörung von 440 Dörfern und der Ermordung von 50.000 bis 75.000 Bauern führte. Amnesty International ist mit seinen Angaben zurückhaltender und sagt, daß ‡unter den Regierungen von General Lucas Garcia und General Rios Montt unzählige, Zehntausende starben.— Die niedrigste Zahl, die von der Armee selbst angeboten wird, beläuft sich auf 10.000. Zehntausende flüchteten nach Mexiko. Nach mexikanischen Angaben sind es derzeit rund 45.000. Andere Schätzungen sprechen von über 150.000. 1985 waren mehr als 900.000 Indio-Männer und -Knaben in den Ortsmilizen erfaßt. Das System ermöglichte der Armee zum ersten Mal eine vollständige Kontrolle des Landes. Die Politik der verbrannten Erde, die die Militärregierung ausgerufen hatte, bedeutete genau das. Im Dezember 1982 berichtete Newsweek: ‡Im Westen und Norden des Landes erstrecken sich riesige Gebiete ehemals grünen Farmlandes. Sie sind verbrannt und verlassen. An der mexikanischen Grenze leben Flüchtlinge in überfüllten, schlammigen Lagen und erzählen haarsträubende Geschichten von Soldaten auf Guerillajagd, die Babies köpfen, alte kranke Männer in Flammen -780-
stecken und schwangere Frauen pfählen.— Dieser Krieg von Rios Montt verringerte die Guerillaaktivitäten stark, aber um welchen Preis. Im Oktober 1983 wurde Rios Montt von Armeeoffizieren, die von der Schlächterei genug hatten, abgesetzt. Neben anderen Gründen wandten sie sich gegen den Evangelismus des Präsidenten. Er war Fernsehprediger geworden und rief im Fernsehen regelmäßig die Guatemalteken auf, sich zu Jesus zu bekennen und dadurch gerettet zu werden. Konservative katholische Offiziere und jüngere Männer, die in den USA studiert hatten, wollten diesem Ruf nicht folgen. Die Regierung Reagan hatte den Staatsstreich von 1983 zwar nicht initiiert, ihm aber zugestimmt. Der neue Präsident, General Oscar Mejia Victores, begann mit amerikanischer Hilfe einen neuen Befriedungsplan, genannt ‡Plan zur Unterstützung der Konfliktgebiete— (PAAC). Darin war die Errichtung von Modelldörfern vorgesehen, in denen Nahrung für Arbeit angeboten wurde, Schulbildung, Spanischunterricht und medizinische Versorgung œ der Slogan war ‡Techo, trabajo y tortilla— (Unterkunft, Arbeit und Essen). Die neue Regierung setzte 1983 auch Reformen zur Verbesserung der Demokratie und der Menschenrechte durch, um die Hilfszahlungen von Washington zu sichern. Die Amerikaner unterstützten nun aktiv die demokratischen Entwicklungen in Mittelamerika als Gegenangebot zum Kommunismus. Der KissingerReport, einer der ersten wirklichen Versuche eines amerikanischen Staatsmannes, Mittelamerika zu begreifen, machte die enge Verbindung zwischen Sozialreformen und der Bekämpfung des Kommunismus sichtbar, und Washington übte starken Druck auf die Regierung in Guatemala aus, mit dem Abschlachten der Bauern endlich Schluß zu machen und statt dessen ein aktives Landentwicklungsprogramm durchzuziehen. Die amerikanischen Zahlungen für Guatemala stiegen von 1984 bis 1985 von 20 Millionen Dollar auf 100 Millionen Dollar an, wobei der Großteil dieses Geldes für die Entwicklung des Hochlands zweckgebunden war. Unter Rios Montt und Mejia Victores gab es einen Rückgang der Todesschwadronen-Aktivitäten, aber das war relativ. In ihrem Bericht Bitter and Cruel stellte die parlamentarische Menschenrechtsgruppe 1985 fest, daß seit 1960 100.000 Menschen getötet worden seien, daß -781-
im Jahr 1984 mindestens 100 politische Morde und zehn ‡Verschwindungen— pro Woche stattgefunden hätten. Es gab mehr als 100.000 Waisenkinder und 500.000 Flüchtlinge im Landesinneren. Die Angehörigen der ‡Verschwundenen— fanden sich zu einer ‡Gruppe zur Unterstützung der Opfer— (CAM) zusammen, die sich in den Leichenschauhäusern von Ciudad de Guatemala trafen. Die CAM schätzte, daß im ersten Amtsjahr Mejia Victores‘ mehr als 3.000 Menschen ‡verschwunden— seien und weitere 10.000 Kinder ihrer Eltern beraubt wurden. Mejia nannte die CAM ‡eine Interessengruppe, die zur Unterwanderung manipuliert wurde—, und zwei Wochen später wurden zwei der Anführer der Gruppe ermordet aufgefunden. Einer war ihr Sprecher, Hector Gomez, dem die Mörder als schreckliches Symbol die Zunge herausgerissen hatten. Die vierundzwanzigjährige Sekretärin der Gruppe, die das Militär des Mordes an Gomez beschuldigte, starb vier Tage später zusammen mit ihrem Sohn und ihrem Bruder bei einem ‡Autounfall—. GUATEMALA HEUTE Die Guerilleros waren besiegt. Die Armee gab zu, daß nur mehr rund 1.500 von ihnen aktiv weiterkämpften, bei weitem nicht mehr genug, um eine ernsthafte Bedrohung für die Regierung zu bilden. Aber es war klar, daß sie ohne große Reformen prompt wiederkommen würden. 1984 wurden Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung abgehalten, und Ende 1985 wurde der Christdemokrat Vinicio Cerezo Arevalo zum Präsidenten gewählt. Cerezo hatte mit Glück den Terror der siebziger und achtziger Jahre überlebt. Er hatte seine Familie aus Sicherheitsgründen nach Washington ausgeflogen. Ein Sohn, der zu dieser Zeit schwer krank war, mußte auf einer Tragbahre zum Flugzeug gebracht warden. Eine Krankenschwester ging nebenher und hielt die Infusionsflasche in die Höhe, während Leibwächter mit Maschinenpistolen sie absicherten. Cerezo kannte die Grenzen seiner Macht. Er hatte nicht die gleichen Freiheiten wie Präsident Raul Alfonsin in Argentinien, der die Armee von den Offizieren, die den ‡schmutzigen Krieg— geführt hatten, säubern und sie unter Mordanklage vor Gericht stellen konnte. Cerezo mußte versprechen, daß ‡die Vergangenheit vergessen sein würde—. In -782-
den letzten Tagen der Militärregierung verkündete Mejia Victores eine umfassende Amnestie für ‡alle, die im Zeitraum zwischen dem 23. März 1982 (dem Amtsantritt Rios Montts) und dem 14. Januar 1986 politische und damit zusammenhängende gewöhnliche Verbrechen begangen hatten—. Die Amnestie betraf die Todesschwadronen, aber natürlich nicht die Kommunisten. Die Frage bleibt offen, wieweit das Militär Cerezo die Möglichkeit zur Durchführung der anderen notwendigen Reformen lassen wird. Die Armee hat weiter freie Hand zur Bekämpfung der Guerilla und macht auch weiter wie bisher, einschließlich dem Bombardement angeblicher Guerillastützpunkte. Eine Klausel des MittelamerikaFriedensplanes des Staatspräsidenten Oscar Arias von Costa Rica vom August 1987 sieht vor, daß jedes Land eine Amnestie für politische Anschläge und Guerillaaktivitäten verkündet. Die Armee stellte fest, daß diese Klausel für Guatemala nicht zuträfe. Gespräche der Regierung mit Guerillavertretern im Oktober 1987 in Madrid brachten kein Ergebnis, die Armee akzeptiert nichts anderes als die vollständige Kapitulation. Das Armeekommando unterstützt Cerezo bei seiner Wirtschaftspolitik, und sein Kampf um Steuerreformen, Landverteilung und Bürgerrechte hat Fortschritte gemacht. Es gibt weniger Morde, aber die Todesschwadronen sind aus der strafrechtlichen Verfolgung ausgenommen, und die von der Regierung eingesetzte Menschenrechtskommission ist völlig wirkungslos. Konservative Politiker und Offiziere stehen in scharfer Opposition zu den Maßnahmen Cerezos, und es gab mehrere Putschversuche gegen ihn, den ernsthaftesten im Mai 1988. Wieder wurde er von jungen Offizieren angeführt, aber von Verteidigungsminister General Hector Gramajo Morales niedergeschlagen, der die Anführer festnehmen und wegen Meuterei vor Gericht stellen ließ. Die Regierung klagte acht Zivilisten der Anstiftung zum Aufruhr an, und schloß eine Fernsehstation, die regelmäßig rechtsradikale Propaganda ausstrahlte, bis hin zum offenen Aufruf zur Meuterei. Der Sender durfte sein Programm nur unter der Bedingung wieder aufnehmen, diese staatsgefährdenden Programme nicht mehr auszustrahlen. Cerezo ist der Präsident, aber die wahre Macht liegt weiterhin bei der Armee, wie in Honduras. Cerezo hat die Nicaragua-Politik der -783-
Amerikaner unter Reagan öffentlich kritisiert und war daher in Washington weniger beliebt als andere demokratisch gewählte mittelamerikanische Präsidenten, und er wurde gegen seine militärischen Gegner nur zögernd unterstützt. Im November 1988 berichtete die in New York ansässige Menschenrechtsgruppe ‡America‘s Watch—: ‡Ungeachtet einer nun zweieinhalbjährigen demokratischen Regierung bleibt Guatemala hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen an der traurigen Spitze. In den Städten hat sich die Situation geringfügig gewandelt. Und in den Provinzen herrscht de facto eine Militärdiktatur. Nichts hat sich wirklich verändert.— Andere Beobachter waren ähnlich pessimistisch und gaben zu, daß Cerezo nicht die Macht hat, die Todesschwadronen zu kontrollieren und daß sein Verbleib im Amt von ihrer Duldung abhängt. Der Putschversuch im Mai 1988 zeigte deutlich die Grenzen seiner Macht. Seine Stellung bleibt prekär, die Cerezos haben ihr Haus in Washington behalten; wer weiß, wann sie es wieder brauchen. DER STREIT UM BELIZE Eine der vielen irredentistischen Auseinandersetzungen in Lateinamerika ist der Anspruch Guatemalas auf Belize. Dieses kleine Land (22.962 km2) an der mittelamerikanischen Karibikküste war früher eine britische Kolonie. Die 170.000 Einwohner sind vorwiegend Schwarze und Mulatten, die Englisch sprechen, aber es gibt auch eine wachsende Zahl spanischsprachiger Flüchtlinge aus El Salvador. Im 18. Jahrhundert begannen die Briten auf Jamaika mit der Gewinnung von Edelholz auf dem Festland. Spanien beanspruchte den gesamten Isthmus, spielte aber an der Karibikküste zwischen Mexiko und Panama praktisch keine Rolle. Die Briten anerkannten zeitweise den spanischen Souveränitätsanspruch, fällten aber weiter Bäume, und gegen Ende des Jahrhunderts gab es an der Küste bereits ständige britische Siedlungen. 1840 war das Gebiet, das später Belize hieß, bereits eine reguläre Kolonie, Britisch-Honduras. Andere britische Ansiedlungen weiter unten an der Küste wurden an Honduras und -784-
Nicaragua abgetreten. Guatemala beanspruchte Britisch-Honduras mit der Begründung, daß es das Territorium von Spanien geerbt hätte. Mexiko forderte den nördlichen Teil des Gebietes. 1859 unterschrieb Guatemala einen Vertrag mit Britannien, anerkannte die britische Souveränität und den Grenzverlauf. Eine Fußnote in diesem Vertrag sah vor, daß beide Seiten ihr ‡Bestes tun würden—, um eine Straße durch den Dschungel von Guatemala bis zur Karibikküste in Britisch-Honduras zu errichten. Die Straße wurde niemals gebaut, und daraus konstruiert Guatemala die windige Argumentation, daß der Vertrag von 1859 ungültig sei. Bis 1930 war der Streit vergessen. Dann wurde er vom faschistischen Regime von General Ubico wieder ausgegraben. Die Gebietsforderung wurde von der Regierung Arevalo geerbt, die, ungeachtet aller ihrer Bekenntnisse zur Demokratie, in die Verfassung von 1945 einen Punkt einbaute, der Britisch-Honduras als Teil von Guatemala bezeichnete. Guatemaltekische Faschisten wie Demokraten haben seither diese Forderung gleichermaßen erhoben, wie die Argentinier auf die Falklands. In den sechziger Jahren, als die anderen britischen Karibikkolonien sich zur Selbstverwaltung und Unabhängigkeit hin entwickelten, steigerte Guatemala seine Forderungen auf die ‡23. Provinz—. 1963 wurde an der Grenze zu Britisch-Honduras Militär zusammengezogen, und die Briten entsandten ein kleines Truppenkontingent, um das Land vor einer Invasion zu schützen. Seit damals sind ständig britische Truppen in Belize stationiert. 1965 bot Präsident Johnson seine Vermittlerdienste zur Beilegung des Konfliktes an. Er ernannte einen Unterhändler, Bethuel M. Webster, der entschied, daß Britisch-Honduras an Guatemala fallen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war Guatemala der loyale Alliierte der Amerikaner, so daß die Wünsche der Einwohner Britisch-Honduras‘ nicht zählten. Großbritannien wies diesen Vorschlag zurück. 1972 zog Guatemala abermals Truppen an der Grenze zusammen. Diesmal schickten die Briten den Flugzeugträger Ark Royal und mehrere tausend Soldaten, um einer Invasion vorzubeugen. BritischHonduras bietet den Briten hervorragende Trainingsmöglichkeiten für -785-
den Dschungelkrieg. Als 1975 weitere Drohungen von jenseits der Grenze kamen, stationierten die Briten eine Staffel HarrierJagdbomber im Land. Die Kolonie regierte sich bereits selbst und hatte den Namen Belize angenommen. Hinreichend vorbereitet auf die Unabhängigkeit, warf die Regierung schließlich ihre frühere behutsame Diplomatie über Bord und brachte ihren Fall vor die UNO. Zunächst wurde Belize nur von Großbritannien und dem Commonwealth unterstützt, gewann aber unter den Staaten der Dritten Weit bald weitere Anhänger. Die USA unterstützten weiterhin Guatemala und enthielten sich bei jeder Abstimmung vor der UNO der Stimme. Auch das Bekenntnis Präsident Carters zur Demokratie hatte seine Grenzen. Schließlich beschloß die UNO im Jahr 1980 die Unabhängigkeit Belizes mit 139:0 Stimmen, bei 7 Enthaltungen. Guatemala weigerte sich, mitzustimmen. Diesmal stimmten auch die USA für Belize, das seine Unabhängigkeit endgültig 1981 bekam. Guatemala erklärte sich schließlich zur Anerkennung Belizes bereit, allerdings nur im Gegenzug zur Errichtung der berühmten Straße. Auch dieses Zugeständnis lehnten die Belizianer ab. Es kam zu Unruhen, bei denen vier Menschen starben. Auch in Guatemala kam es zu schweren nationalistischen Ausschreitungen, so daß das Abkommen niemals ratifiziert wurde. Guatemala weigert sich nach wie vor, Belize anzuerkennen, und legt weiterhin sein Veto gegen die Aufnahme Belizes in die OAS und andere Organisationen ein. Die Briten halten eine kleine Garnison im Land aufrecht, um den Schutz Belizes zu gewährleisten.
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NLCARAGUA
Geographie: 130.000 km2 œ 148.000 km2 (Die Angaben differieren). Bevölkerung: 3,4 Millionen Einwohner. BSP: 790 $/Einw. Flüchtlinge: Im Land: 7.200 aus El Salvador, 400 aus Guatemala. Ins Ausland: 29.700 in Costa Rica, 23.060 in Honduras, 1.600 in Guatemala. Verluste: In den Aufständen gegen die Somoza-Diktatur 1978/79 wurden ungefähr 10.000 Menschen getötet. Es gibt keine genauen Zahlen über die Opfer der Contra-Rebellion seit 1983, aber es waren wohl nicht mehr als 10.000. Der lange Konflikt zwischen der Sandinisten-Regierung in Nicaragua und den Regierungen in Washington war eine Metapher für die achtziger Jahre. Die Regierung Reagan war nahezu besessen von der Auseinandersetzung mit dem kleinen und unbedeutenden Land in Mittelamerika. Reagan vermischte Dogma und Realität in einem solchen Ausmaß, daß gegen Ende seiner Amtszeit auch die engsten Berater alle anderen Überlegungen in Diplomatie und Innenpolitik hintanstellten gegenüber der Problematik, ineffiziente Guerilleros, die von Costa Rica und Honduras aus operierten, mit kleinen Waffenmengen zu beliefern. Währenddessen galoppierten Amerikas Wirtschaftsprobleme davon, und der Rest der Welt wandte sich wichtigeren Themen zu. Ungeachtet aller Anstrengungen Reagans mißlang der Versuch, die Sandinisten mit Gewalt zu stürzen, völlig. Ein Jahr nach dem Ende der Reaganschen Amtszeit wurden sie bei Wahlen geschlagen. Sie fielen einerseits dem veränderten internationalen politischen Klima zum Opfer, ein weiterer Dominostein in der Reihe der kommunistischen Regierungen, die 1989/90 gestürzt wurden, anderseits der wirtschaftlichen Katastrophe. Wenigstens hierin hatte die amerikanische Politik Erfolg. Die Handelsund Wirtschaftssanktionen, die zunächst 1980 von Präsident Carter und dann von Reagan über Nicaragua verhängt wurden, ruinierten die nicaraguanische Wirtschaft. Das wurde noch durch die Unfähigkeit -787-
der Sandinisten und ihre verzweifelte Anstrengung, Nicaragua ein sozialistisches Modell überzustülpen, als sich gerade in Europa das Scheitern abzeichnete, weitgehend unterstützt. Am 25. Februar 1990 lehnten die Nicaraguaner in freien Wahlen die Sandinisten wegen ihres wirtschaftlichen Mißerfolgs und wegen der politischen Unterdrückung ab. Sie taten das trotz der amerikanischen Intervention und Unterstützung der Contras, nicht wegen dieser Haltung. In den USA waren die politischen Konsequenzen der Reaganschen Politik und ihres Scheiterns nicht besonders schwer, da die Öffentliche Opposition sicherstellte, daß keine amerikanischen Truppen zum Sturz der Sandinisten entsandt würden. In Nicaragua aber führte Reagans Politik zum Tod von 10.000 Menschen. Es waren hauptsächlich Nicaraguaner, die von anderen Nicaraguanern getötet wurden, aber ihr Tod war eine direkte Folge der Entscheidungen in Washington. GESCHICHTE Nicaragua hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ununterbrochen unter den Folgen amerikanischer Einmischung gelitten, ein Ergebnis seiner eigenen politischen Instabilität. Ein Jahrhundert lang war das Land zwischen zwei politischen Parteien aufgeteilt, den Liberalen und den Konservativen. Die Namen spiegelten keine politischen Programme wider. Sie waren einfache Etiketten für rivalisierende Gruppen von Großgrundbesitzern. Von 1830 an galt Nicaragua als möglicher Ort für einen Kanal quer durch den Isthmus, und die beiden Parteien stritten um die Konzession. 1855 heuerten die Liberalen einen amerikanischen Abenteurer an. William Walker sollte ihnen helfen, ihre Rivalen zu besiegen und eine profitable TransisthmusGesellschaft zu übernehmen, die Cornelius Vanderbilt gegründet hatte. Walker hatte 57 Gesinnungsgenossen mitgebracht, hatte Erfolg und rief sich zum Präsidenten aus, Ein Jahr später wurde er von einer anderen Söldnerbande verjagt, die diesmal Vanderbilt engagiert hatte. Walker unternahm noch zwei weitere Versuche, in Mittelamerika ein privates Königreich zu errichten, wurde aber in Honduras erschossen. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg wandte Vanderbilt seine Aufmerksamkeit der Entwicklung des Eisenbahnwesens zu, und das Kanalprojekt brach zusammen. Als es von den Franzosen wieder -788-
aufgegriffen wurde, wählten diese den Isthmus von Panama aus. Den Franzosen gelang es nicht, ihn zu vollenden, und der Bau wurde von den USA übernommen, die zu diesem Zweck ein eigenes Land schufen: Panama. Seit damals sind die USA der Meinung, daß eine von ihnen abhängige Regierung in Managua notwendig ist, um den Schutz des Kanals zu gewährleisten. Diese Doktrin wurde 1909 erstmals angewandt, als der herrschende (liberale) nicaraguanische Diktator mit europäischen Ländern über die Errichtung eines Konkurrenzkanales verhandelte. Es gab eine (konservative) Rebellion, und die USA schickten die Marines, um deren Erfolg zu gewährleisten. 1912 war bereits eine ernsthaftere Intervention notwendig, um die neue Regierung vor ihren Rivalen zu schützen. Bei dieser Gelegenheit besetzten die Marines das Land und blieben, mit kurzen Unterbrechungen, bis 1933 in Nicaragua. Der Zweck der Intervention war die Sicherung der Stabilität, und kurzfristig hatte sie auch Erfolg. Die USA unterstützten eine Reihe von Präsidenten, von denen einer einen Vertrag unterzeichnete, daß Nicaragua die Errichtung eines weiteren Kanales ohne die Zustimmung der USA nicht ins Auge fassen würde. Mit den Jahren kam es allerdings zu immer stärkeren Protesten gegen die amerikanische Präsenz und die von ihr abhängigen Regierungen. Diese Proteste bedeuteten zumeist die Aufforderung an die Gringos, doch die Seite zu wechseln und sich den ändern anzuschließen. Es ist wichtig, die Bedeutung der amerikanischen Einmischung nicht zu übertreiben. Meistens waren es sehr wenig Soldaten, und sie waren eingesetzt, um Ausländer zu schützen und Konservative und Liberale in ihrem ständigen Bürgerkrieg auseinanderzuhalten. 1925 wurden die Marines abgezogen, und beinahe unmittelbar danach kam es zu einer Revolte der Liberalen gegen die konservative Regierung. Die Amerikaner kehrten 1926 zurück. Präsident Coolidge schickte Henry Stimson als Vermittler, und er konnte die beiden Parteien zum Abschluß einer politischen Vereinbarung bewegen. Man einigte sich auf einen konservativen Präsidenten und einen liberalen Vizepräsidenten œ die Art von Koalition, die wohlmeinende Außenseiter immer wieder einander feindlichen Fraktionen in DritteWelt-Ländern aufzudrängen versuchen. Diese Arrangements waren -789-
selten erfolgreich. Eine kleine Gruppe Liberaler lehnte dieses Abkommen ab und weigerte sich, die Macht mit den Konservativen zu teilen. Sie wurden von einem liberalen Leutnant angeführt, Augusto Cesar Sandino, der sich mit seiner Guerillaarmee von Bauern und Arbeitern in die abgelegenen nördlichen Provinzen zurückzog und amerikanische wie Regierungstruppen abwehrte. Eine Zeitlang war Augustin Farabundo Marti, der Gründer der KP von El Salvador, sein Sekretär. Dann zog er sich von Sandino zurück, der ihm zu wenig marxistisch war. Nach späteren Maßstäben war es kein ernsthafter Krieg, obwohl er aus einem Grund bemerkenswert ist: Die Amerikaner erfanden die Technik, Sandinisten-Lager im Sturzflug zu bombardieren. Die Kämpfe wurden gelegentlich für Verhandlungen zwischen den Amerikanern und Sandino unterbrochen. Die USA bauten die Nationalgarde als eine Zwei-Parteien-Organisation auf œ halb Liberale, halb Konservative œ und überließen den Kampf gegen die Guerilleros immer mehr der Nationalgarde. In den USA war die Intervention in Nicaragua höchst unpopulär; eines Tages beschloß der Kongreß unter demokratischer Mehrheit das Ende der Budgetmittel, und Präsident Hoover stimmte dem Abzug der Marines zu. Bevor sie gingen, organisierten die Amerikaner 1932 Präsidentenwahlen œ die letzten freien Wahlen bis 1984. Es gewann der Kandidat der Liberalen, Juan Batista Saucasa. Am 1. Januar 1933 wurde er angelobt, und am nächsten Tag zogen die Marines ab. Der Kommandeur der Nationalgarde war Anastasio Somoza Garcia, ein Liberaler und früherer Außenminister, der mit dem Präsidenten verwandt war. Sie schlossen Frieden mit Sandino, denn schließlich, waren sie nicht alle Liberale? Sandino flog nach Managua und unterschrieb einen Vertrag mit Saucasa und Somoza, demzufolge seine Truppen die Waffen im Tausch für ein 36.000 Quadratkilometer großes Landstück im Norden niederlegen würden œ immerhin ein Viertel des Landes. Die Bedingungen des Abkommens wurden niemals wirklich erfüllt. Im Februar 1934 war Sandino wieder in Managua zu Gesprächen über verschiedene Probleme und wurde am 21. Februar zu einem offiziellen Abendessen mit Saucasa in den Präsidentenpalast eingeladen. Nach einem scheinbar freundschaftlichen Abend wurde er hinausgeführt und kurzerhand -790-
erschossen. DIE SOMOZAS Somoza begründete die längstlebige aller lateinamerikanischen Diktaturen. Er setzte Saucasa 1936 ab, und die Familie œ in den Personen von Anastasio l, Luis und Anastasio II œ herrschte ohne Unterbrechung bis 1979. Der dritte Somoza-Präsident wurde von Rebellen aus dem Land getrieben, die sich zu Ehren von Augusto Cesar Sandino als Sandinisten bezeichneten. Somoza Garcia hatte einen seltenen Vorteil, der es ihm ermöglichte, das Vertrauen der Amerikaner völlig zu gewinnen œ und daher auch das Kommando über die Nationalgarde: Er hatte an der Pierce School of Business Administration in Philadelphia studiert und sprach fließend Englisch. Bei aller nachbarschaftlichen Nähe haben auch die Amerikaner, die eng mit Lateinamerika zu tun hatten, es selten für nötig befunden, Spanisch zu lernen, und die meisten Lateinamerikaner waren ähnlich uninteressiert an Englisch. Somoza aber sprach nicht nur die Sprache, sondern kannte auch den amerikanischen Lebensstil, und es gelang ihm, die US-Botschaft in Managua und eine Abfolge von US-Regierungen seiner Loyalität in ihrem Bündnis und gegenüber den amerikanischen Prinzipien von Demokratie und freiem Unternehmertum zu überzeugen. Er machte sogar Baseball zum Nationalsport. Mehr als vierzig Jahre lang akzeptierten die USA die Somozas ohne Fragen nach dem Charakter des Regimes. Roosevelt soll gesagt haben: ‡Er ist ein Hurensohn, aber er gehört zu uns.— Somoza achtete auf Kontinuität und schickte seinen Sohn in den USA zur Schule. Anastasio Somoza Debayle (‡Tacho—) war der einzige Kadett in West Point, der als Ausmusterungsgeschenk eine Armee bekam. Somoza Garcia herrschte bis 1956 als Präsident direkt oder durch Marionetten. Dann wurde er ermordet. Ihm folgte sein Sohn Luis, der 1967 starb; diesem wiederum folgte sein zweiter Sohn, ‡Tacho—, der erst 1980, im Exil in Paraguay, ermordet wurde. Eine dritte Generation œ Anastasio III œ hielt sich zur Machtübernahme bereit, als die Revolution von 1979 siegte. Heute lebt er im üppigen Exil in Miami und hofft auf eine Wiederkehr an die Macht. -791-
Die Somozas plünderten Nicaragua so, wie die Pahlevis den Iran plünderten, die Duvaliers Haiti und Marcos die Philippinen. In den fünfziger Jahren gehörte der Familie ein Zehntel des Anbaugebietes des Landes, die einzige Fluggesellschaft, ein Fernsehsender, eine Zeitung, eine Zementfabrik, Zuckerfabriken, Brauereien, Schnapsfabriken und jede Menge anderer profitabler Dinge. Sie waren vorsichtig und investierten einen Großteil ihres Vermögens im Ausland. Die Macht des Regimes basierte auf dem Bündnis mit den Amerikanern, der alt eingesessenen Oligarchie und der Nationalgarde. Nicaragua unterstützte die USA immer bedingungslos. Unmittelbar nach Pearl Harbor erklärte es Deutschland und Japan den Krieg, und es stellte der CIA Stützpunkte für ihre Aktionen gegen Guatemala 1954 und Kuba 1961 zur Verfügung. Die USA konnten stets auf die Stimme Nicaraguas bei der UNO oder der OAS rechnen. An der Heimatfront bewahrten sich die Somozas die Loyalität des liberalen Teiles der Oligarchie, indem sie ihren Mitgliedern wirtschaftliche Begünstigungen zuschanzten, und stets kommandierte ein Mitglied der Familie die Nationalgarde. Nationalgardisten waren gut bezahlt und hatten gegenüber anderen Nicaraguanern zahlreiche Vorteile. Das Volk haßte sie, und dadurch konnten die Somozas sich niemals wirklich in der Bevölkerung beliebt machen. Das Regime wurde aus mehreren Gründen gestürzt, unter anderem wegen der Maßlosigkeit, Gier und Unfähigkeit von Anastasio Somoza Debayle. Am 23. Dezember 1972 verwüstete ein Erdbeben Managua. Howard Hughes, der amerikanische Milliardär, der zurückgezogen in einem Hotel in Managua lebte, suchte eben noch rechtzeitig Zuflucht in der Tiefgarage, ehe das Gebäude zusammenstürzte. Andere waren nicht so glücklich: 5.000 Menschen wurden getötet, 250.000 verloren ihr Heim. Riesige Hilfsgeldsummen flossen nach Nicaragua, von denen die Somozas und ihre Kumpane einen Großteil veruntreuten. Managua blieb ein Trümmerfeld, und bis nach der Revolution von 1979 wurden nur geringe Anstrengungen zum Wiederaufbau unternommen. Dann verhinderten allerdings die Restriktionen der Amerikaner und die Unfähigkeit der Sandinistas die Restaurierung, Managua ist auch heute noch in katastrophalem Zustand. -792-
DIE SANDINISTEN Die ‡Sandinisten Front zur Nationalen Befreiung— (FSLN) wurde 1961 gegründet. Zwei der drei ursprünglichen Führer wurden in der Zeit des Guerillakampfes getötet, der dritte, Tomás Borge, wurde Innenminister. Sie entwickelte sich in den sechziger Jahren nur langsam, führte kleine Operationen außerhalb der Städte durch, die regelmäßig zurückgeschlagen wurden, und versuchte, in den Städten eine politische Basis zu bilden, rief zu Streiks auf, verteilte Flugblätter und Proklamationen. Ihre Effizienz wurde durch die eigenen Richtungskämpfe gelähmt. Es gab drei Fraktionen: die ‡Proletarios—, traditionell leninistisch orientiert, die ihre Unterstützung in der Arbeiterklasse in den Städten suchten; die ‡Guerra Populär Prolongada— (GPP), ebenfalls dogmatisch marxistisch, aber stärker auf dem Land verwurzelt; und die ‡Terceristas—, die ‡Dritte Kraft—, die zwar grundsätzlich so marxistisch wie die anderen war, aber doch auch Nichtkommunisten an sich zog und durch Massenerhebungen unterstützt wurde. Die bekanntesten Führer der ‡Terceristas— waren Daniel und Humberto Ortego Saavedra. Tomás Borge war einer der CPP-Führer, den ‡Proletarios— gehörte Jaime Wheelock Roman an. Im Januar 1979, während der Vorbereitungen zur Schlußoffensive, vereinigten sich die drei Fraktionen unter der Führung eines neunköpfigen Direktoriums, mit jeweils drei ‡Commandantes—. Dieses Politbüro hielt am 20. Juli 1979 Einzug in Managua. Der Guerillakrieg von 1961 bis 1978 verlief in kleinem Maßstab und eigentlich recht erfolglos. Die erste bedeutende militärische Leistung der FSLN war der Sturm auf eine Nachweihnachtsparty am 27. Dezember 1974. Dreizehn Sandinisten, darunter drei Frauen, nahmen eine Reihe prominenter Somozisten als Geiseln, darunter den Schwager des Diktators und einen ehemaligen Außenminister; den amerikanischen Botschafter verfehlten sie um eine halbe Stunde. Als Unterhändler fungierte der Erzbischof (und spätere Kardinal) Miguel Obando y Bravo. Das Regime ließ 14 Sandinisten frei, bezahlte eine Million Dollar Lösegeld, veröffentlichte die langen und flammenden Kommuniques und stellte ein Flugzeug nach Kuba zur Verfügung. Dieser Zwischenfall spaltete die FSLN: die marxistischen Theoretiker um Wheelock bezeichneten die Geiselnahme als bourgeoisen, -793-
demagogischen Fehler. Ungeachtet dieser spektakulären Aktion bedeuteten die Sandinisten keine wirkliche Gefahr für die Regierung. Die wachsende Opposition in der Mittelschicht war weit gefährlicher. Der Führer der Opposition war Pedro Joaquin Chamorro Cardenal, der Verleger der bedeutendsten Zeitung des Landes, La Prensa. Er war Mitglied einer prominenten Konservativen-Familie. Die alte Spaltung des Landes hielt weiter an. 1959 versuchte er, selbst einen Guerillakrieg anzufachen, scheiterte aber damit. Danach ging er in die Politik. Die Opposition war in den Städten erfolgreich, wo es gegenüber Somoza eine große latente Feindschaft gab, aber Mitte der siebziger Jahre gab es keine Anzeichen für einen Sturz des Regimes. Dann wurde Chamorro am 10. Januar 1978 ermordet, und die Opposition flammte auf. Es ist durchaus möglich, daß Somoza in diesen Mord nicht verwickelt war, sondern daß er von einem Betrüger angestiftet wurde, der in der Prensa angegriffen worden war. Es ist auch möglich, daß Somoza, der sich von einem Herzinfarkt erholte, nicht mehr länger die straffe Kontrolle über die jüngeren und radikaleren Mitglieder seiner Familie und der Regierung aufrechterhalten konnte. Aber das ganze Land schob dem Diktator die Schuld in die Schuhe. (Eine Debatte, wie sie auch 1986 in Manila nach der Ermordung Benigno Aquinos geführt wurde). Es gab Aufruhr und einen fortgesetzten Generalstreik in Managua. Neue Oppositionsführer traten in die Öffentlichkeit, darunter Alfonso Robelo und Adolfo Calero Portocarrero, der eine Coca Cola-Abfüllkonzession hatte. Sie wurden führende Mitglieder der Contras, wie auch andere Mitglieder der Familie Chamorros. In mehreren Städten kam es zu den ersten Aufständen gegen das Regime, die von der Nationalgarde mit beispielloser Brutalität niedergeschlagen wurden. 1977 vereinigten sich 12 prominente Bürger in ihrer Opposition zu Somoza und begannen die Zusammenarbeit mit der FSLN. Nun gaben sie ein Manifest heraus, in dem sie Somoza zum Rücktritt aufforderten und Neuwahlen verlangten. Sie bildeten den Kern der nichtmarxistischen Opposition, waren aber aus taktischen Gründen mit der FSLN eng verbündet. Es waren auch mehrere Priester dabei, die mit dem Einverständnis des Erzbischofs in die Politik gingen. Die -794-
Situation in Nicaragua fand nun wachsende internationale Aufmerksamkeit. Aber die Regierung Carter unterstützte die Opposition gegen Somoza nicht aktiv. Das blieb den Regierungen von Venezuela und Costa Rica vorbehalten, die als Demokratien Somoza verabscheuten (obendrein hatten verschiedene Mitglieder der SomozaDynastie subversive Akte gegen Costa Rica organisiert). Und Fidel Castro unterstützte die Sandinisten. Eden Pastora, ein prominenter Guerillero, der zunächst mit den Sandinisten gekämpft, sich dann aber wegen ihres Kommunismus von ihnen abgewandt hatte, unternahm einen theatralischen Coup, um die Guerilla-Bewegung anzufeuern. Mit fünfundzwanzig Sandinisten besetzte er am 22. August 1978 den Nationalpalast, in dem das Parlamentsgebäude und die Regierungszentrale in Managua untergebracht sind, und nahm 1.500 Geiseln. Darunter waren viele Abgeordnete, Somozas Neffe und sein Cousin. Als Reporter ihn aufforderten, seine Identität bekanntzugeben, bezeichnete Pastora sich als ‡Commandante Cero—. Sandinistische Zellen waren strikt anonym, der Kommandant hatte die Ziffer Null, die anderen folgten. Bei dieser Aktion war ‡Commandante Dos—, die dritte in der Kommandofolge, Dora Maria Tellez. Die Besetzung des Palastes dauerte zwei Tage. Somoza ließ 50 Sandinisten aus dem Gefängnis frei (darunter auch Borge), veröffentlichte Pastoras Kommuniques und zahlte 500.000 Dollar Lösegeld œ mehr Geld sei nicht verfügbar, behauptete er. Als die Guerilleros mit ihren restlichen Geiseln zum Flughafen fuhren, um das Land zu verlassen, waren die Straßen voll von Menschen, die ihnen zujubelten. ‡Commandante Cero— war ein Nationalheld. DER AUFSTAND Somozas Situation verschlechterte sich rapid. Die Sandinisten wiederholten ihre Angriffe auf die Provinzstädte, vor allem im Norden. Es gab Streiks, Demonstrationen und oppositionelle Aktivitäten in Managua, und nach langem Zögern freundete sich die Regierung Carter mit der Vorstellung an, daß eine Zentrumsopposition den Diktator ablösen könnte. Venezuela und Costa Rica bauten ihre Unterstützung der Rebellen aus, und die -795-
Kubaner flogen beträchtliche Waffenmengen in FSLN-Stützpunkte in Costa Rica. Die Sandinisten und ihr Verbündeter Pastora bereiteten im Süden eine Generaloffensive vor, sahen sich aber grundsätzlichen geographischen Problemen gegenüber. Im Norden ist das Land offen und leicht zugänglich. Aber von Costa Rica ist der einzige Zugang ein schmaler Landstreifen, weniger als 16 Kilometer breit. (Als Pastora vier Jahre später von den selben Stützpunkten die Sandinisten angriff, sah er sich den gleichen Schwierigkeiten gegenüber.) Die USA hatten die Waffenlieferungen an Somoza eingestellt, aber das Regime konnte noch auf die Unterstützung anderer mittelamerikanischer Diktaturen zählen œ Guatemala, Honduras und El Salvador œ und von Israel. Somozas letzter Rückhalt war die Nationalgarde. Die 10.000 Mann hielten ihre Stützpunkte gegen die Sandinisten. Dabei waren die militärischen Verluste geringfügig œ im gesamten Aufstand wurden einige hundert Gardisten und nicht mehr als 600 Sandinisten getötet œ, aber mindestens 7.000 Zivilisten starben. Viele von ihnen waren Jugendliche, die von den Gardisten getötet wurden. Somozas Hauptschwäche war politischer Natur: Die Geschäftsleute wandten sich von ihm ab und forderten seinen Rücktritt. Das Land war im Aufruhr. Und die Amerikaner verhandelten mit den ‡12—. Im Sommer 1979 lief alles gegen Tacho Somoza. In Costa Rica wurde eine fünfköpfige Junta eingesetzt, die von Nicht-Marxisten beherrscht war. Die verschiedenen Oppositionsgruppen einschließlich der Sandinisten stimmten einem ‡Regierungsplan— zu, der die Garantie demokratischer Freiheiten einschloß. Der Bruch dieses Versprechens ist den Sandinisten stets vorgehalten worden. Schließlich erklärte sich Somoza bereit, zurückzutreten und die Macht einem Nachfolger zu übergeben, der sie dann an die Junta weitergeben sollte. Ein neuer Kommandeur der Nationalgarde sollte sie als Gegengewicht zu den Sandinisten intakt halten. Am 14. Juli 1979 verkündete die Junta die Namen der 12 Mitglieder des vorgesehenen Kabinetts; darunter war ein einziger Sandinist, Tomás Borge, als Innenminister. Somoza trat drei Tage später zurück und verließ mit mehr als 100 Verwandten und Freunden das Land. Am 20. Juli hielten die Sandinisten und die Junta Einzug in Managua und sahen sich dem von Somoza eingesetzten Nachfolger und den übrigen Nationalgardisten gegenüber. Im Monat darauf zerfiel die -796-
Nationalgarde, und die Sandinisten eroberten die Macht, da sie die einzige militärische Gruppe von Bedeutung waren. DIE REVOLUTION In Lateinamerika gab es seit 1821 zahllose gewaltsame Regierungswechsel, aber nur wenige echte Revolutionen. Mit diesem Begriff kann man viele verschiedene Ereignisse beschreiben, aber im Zusammenhang mit Lateinamerika benützt man ihn am besten dort, wo eine regierende Klasse von einer anderen gestürzt wird. Im 20. Jahrhundert gab es Revolutionen in Mexiko (1911), Guatemala (1944), Kuba (1959) und Nicaragua (1979). Die Revolution in Chile (1970-73) ist gescheitert, und Bolivien und Peru erlebten teilweise Revolutionen: die Oligarchie wurde gestürzt, aber das Militär übernahm die Macht. Die mexikanische Revolution versank in bürgerlicher, bürokratischer Korruption, und die Revolution in Guatemala wurde 1954 von der CIA rückgängig gemacht. Das neue Regime in Kuba verwandelte sich rasch in eine reine stalinistische Tyrannei, die sich auf die Sowjetunion stützte. So blieb vorerst nur Nicaragua, wo die Revolution sich erst nach einem Jahrzehnt des Bürgerkriegs und wirtschaftlicher Probleme wieder auflöste. Nordamerika, Westeuropa und einige andere bevorzugte Teile der Welt scheinen die Gefahr oder auch die Rechtfertigung einer Revolution hinter sich gebracht zu haben. Sie haben stabile Systeme wirklicher Demokratie entwickelt, und dank dem herrschenden weiterentwickelten Kapitalismus geht es dem Großteil der Bevölkerung relativ gut. Der Wähler, der in ein System von sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit eingebettet ist, neigt im allgemeinen nicht zur Revolution. Die Gruppen aber, die davon ausgeschlossen sind œ Schwarze in den Ghettos amerikanischer Großstädte, oder ethnische Minderheiten in manchen Gegenden Europas œ sind zahlenmäßig zu klein, um die sozialen Gefüge in Frage zu stellen. In weiten Teilen der Welt ist das anders. In Lateinamerika hat das System der freien Marktwirtschaft, das Amerika und Europa den Wohlstand gebracht hat, es nicht geschafft, die Masse der Menschen aus ihrer Armut herauszuholen. Die Bauern in Lateinamerika sind genauso arm wie zu Beginn des Jahrhunderts, allem von den US -797-
Marines ins Land getragenen Kapitalismus zum Trotz. Der Kommunismus ist in Osteuropa, der UdSSR und China gescheitert, da er eindeutig nicht in der Lage war, den Menschen den Wohlstand zu bringen, wie ihn Marx, Lenin und Mao Tsetung versprochen haben. Aber während der selben Periode hat der Kapitalismus in beinahe ganz Lateinamerika genauso versagt, einem riesigen Kontinent mit jedem denkbaren natürlichen Vorteil. Wenn Polen durch den Sozialismus in tiefer Armut geblieben ist, welches Argument gibt es für Honduras, wo es nie Sozialismus gab, oder Guatemala, wo eine gemäßigte sozialistische Regierung 1954 gestürzt wurde? Die Sandinisten argumentierten, daß die vorangegangenen Regierungen an den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zielen gescheitert waren, für die man letztlich Regierungen braucht. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist festgeschrieben, daß es das Recht eines Volkes ist, seine Regierung abzuwählen oder zu stürzen, wenn sie diese Ziele nicht erreicht. Nicaragua aber litt weiter unter Mißwirtschaft. Seine Revolution rief die tiefe Feindschaft der USA hervor, während sich die Sandinisten, ungeachtet aller revolutionären Absichten, in ihrer Wirtschaftsgebarung als völlig unfähig herausstellten. Gemessen an den Resultaten œ und woran sonst? œ war die Revolution in Nicaragua ein staunenswerter Fehlschlag. Unmittelbar nach ihrem Sieg überzogen die Sandinisten das Land mit einer sozialistischen Revolution. Obwohl ihre ersten Maßnahmen nicht extremer waren als die der sozialistischen Regierungen in Schweden oder die der ersten Regierung Mitterand in Frankreich, war ihr klares Ziel eine kommunistische Gesellschaftsordnung. Zunächst enteigneten sie die riesigen Vermögen der Somozas und ihrer Gefolgsleute, ungefähr ein Viertel des Landes, und der Geschäftswelt, Sie verstaatlichten die Banken und den Außenhandel und übernahmen im Herbst 1979 die Bergwerke und Versicherungen. Die nichtsandinistischen Mitglieder der Regierung protestierten, leisteten aber keinen ernsthaften Widerstand. Vergleicht man den Zusammenbruch der Somoza-Diktatur mit der Russischen Februarrevolution, die den Zaren stürzte, so gab es nichts mit der Oktoberrevolution Vergleichbares. In Nicaragua herrschte ein völliges Machtvakuum œ die Sandinisten füllten es und nannten das -798-
Revolution. Einer nach dem anderen zogen sich die nichtsandinistischen Regierungsmitglieder zurück, darunter auch Violeta Barrios de Chamorro, die Witwe des ermordeten Verlegers. Am ersten Jahrestag des Rücktritts der Somozas war die Regierung komplett in der Hand der Sandinisten. DIE REAKTION DER USA In El Salvador, Guatemala und Honduras unterstützten die wechselnden US-Regierungen die demokratischen Zentrumsparteien in der Hoffnung, daß sie die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in genügendem Ausmaß reformieren würden, um ihre Völker aus dem Elend herauszuführen, statt dem Vorbild der kubanischen Tyrannei zu folgen. Ob sie auf Dauer Erfolg haben, bleibt noch abzuwarten. In Nicaragua war es zu spät. Jeder amerikanische Präsident, von Roosevelt bis Carter, hatte die Somozas unterstützt, und als das Regime in den Zusammenbruch schlitterte, blickte sich Carter verzweifelt nach einer demokratischen Alternative um œ aber es gab keine. Nach der Machtübernahme der Sandinisten machte die Regierung das beste aus der Situation und versuchte, die zugegebenen Eisenhower-Kennedy-Fehler gegenüber der kubanischen Revolution zu vermeiden und mit der neuen Regierung funktionierende Beziehungen herzustellen. Die Sandinisten sahen sich dem ernsten Problem gegenüber, das Land wiederaufzubauen. In 18 Monaten waren ungefähr 10.000 Menschen getötet worden, die Verwüstungen des Erdbebens von 1972 waren niemals wirklich beseitigt worden, und Somoza und seine Freunde hatten auf dem Weg zum Flugplatz noch schnell den Staatsschatz geplündert. Präsident Carter überzeugte den Kongreß, für Nicaragua 125 Millionen Dollar zu bewilligen. Im Juli 1980 zeichneten sich auf dem Republikanischen Parteikongreß die kommenden Entwicklungen bereits ab. Während der Diskussionen über das Parteiprogramm der Republikaner gelang es einer kleinen Gruppe von Hardlinern, einen Absatz hineinzubringen, jede weitere Hilfe für Nicaragua zu stoppen und ‡die Anstrengungen des nicaraguanischen Volkes, eine freie und -799-
unabhängige Regierung zu gewinnen, zu unterstützen—. Keiner der Spitzenleute der Partei, am wenigsten Ronald Reagan, prüfte diesen Einschub, ehe er abgesegnet wurde. Parteiprogramme haben nicht allzu viel zu bedeuten. Reagan hatte keine klare Meinung zu Nicaragua, außer einer grundsätzlichen Ablehnung des Kommunismus und der Überzeugung, daß Carters Politik (wie die Nixons und Fords) zum ‡Verlust— mehrerer Länder an das ‡Reich des Bösen— geführt hatte. Das bedeutete nicht, daß er aktiv Pläne unterstützte, die Sandinisten zu stürzen. Die Hardliner hatten die Republikanische Partei in diese Lage gebracht; und nach Reagans Wahlsieg im November setzten sie die Regierung in der gleichen Richtung weiter unter Druck. Die Sandinisten halfen ihnen dabei. In den Monaten nach ihrem Triumph suchten die Sandinisten-Führer Wirtschaftshilfe von Washington, griffen aber gleichzeitig in einer Reihe von Ansprachen die Amerikaner für ihre vergangenen und gegenwärtigen Missetaten an. Nach Reagans Wahlsieg entschieden die kommunistischen Rebellen in El Salvador, daß sie rasch zu einem eigenen Sieg kommen müßten, bevor der neue Präsident sie aufhalten könnte. Sie begannen eine General offensive, und die Sandinisten lieferten ihnen die notwendigen Waffen. Diese Verbindung wurde bald bekannt, und Carter stellte in einer seiner letzten Amtshandlungen die Zahlungen an Nicaragua ein. Er sandte auch Hilfslieferungen nach El Salvador. Die Offensive der Rebellen in El Salvador war ein kompletter Fehlschlag, sehr zum Ärger der Sandinisten. Als Ronald Reagan am 20. Januar 1981 sein Amt antrat, stand Mittelamerika ganz oben auf der Liste der Probleme. Er hatte General Alexander Haig zum Außenminister gemacht, der über die Region nichts wußte und unbedingt unter Beweis stellen wollte, daß er härter war als jeder andere Ratgeber des Präsidenten. Er würde vielleicht keinen Preis für Machismo gewonnen haben, aber sicherlich einen für Stupidität. Er empfahl die Blockade Kubas, um El Salvador zu retten, aber der Präsident, klüger als Haig, legte dagegen sein Veto ein. Reagans Nationaler Sicherheitsberater war Richard Allen, ein Mann von bedrückender Durchschnittlichkeit, der sich schnell ein Team zusammenstellte, in dem dies nicht weiter auffiel. Reagan hatte in -800-
seinen ersten sechs Regierungsjahren vier Nationale Sicherheitsberater, und es war ganz erstaunlich: jeder davon war noch unfähiger und ignoranter als sein Vorgänger. Der Tiefpunkt war dann mit Admiral Poindexter erreicht, der das Fiasko mit dem Iran-ContraWaffengeschäft organisierte. Das State Department versuchte, zu retten, was zu retten war, und hatte damit Erfolg. Die Politik Carters gegenüber El Salvador, Guatemala und Honduras wurde beibehalten. Aber das hatte seinen Preis: die Rechte, in Washington die ‡Kriegspartei— genannt, forderte wie Shylock ihr Pfund Fleisch. Sie bekam Nicaragua. Die Kriegspartei litt, wie der Autor Roy Gutman es mit sorgfältigem Understatement ausdrückte, ‡unter Mangel an Begabung und Erfahrung in auswärtigen Angelegenheiten im konservativen Flügel der Republikanischen Partei—. Sie bestand auf einer Umbesetzungswelle in der Amerika-Abteilung des Außenamtes und bei den Botschaftern, die Carter ernannt hatte. ‡Ein neues Team sollte zusammengestellt werden, um eine Politik durchzusetzen, aus Leuten, die eines gemeinsam hatten: sie hatten alle keinerlei LateinamerikaErfahrung.— DIE MISKITO-KÜSTE Die Karibikküste Nicaraguas unterscheidet sich in ihrer Bevölkerung und Geschichte von der Pazifikküste. Die Spanier überließen sie sich selbst und errichteten nur einige Garnisonen œ eine davon wurde vom jungen Leutnant Nelson angegriffen. Die MiskitoKüste wurde von britischen Sklaven besiedelt sowie von ehemaligen und entlaufenen Sklaven von den Karibikinseln. Die Schwarzen sind Protestanten, sprechen Englisch und haben ein tiefverwurzeltes Mißtrauen gegen Spanisch sprechende Herrscher aus dem Westen. Die Indios sprechen ihre eigenen Sprachen und sind gegenüber Managua ebenso feindlich eingestellt. Die Briten kolonisierten ähnliche Gebiete weiter nördlich: ein Teil wurde an Honduras abgetreten, und ein anderer Teil wurde später zu Belize, einem unabhängigen englischsprachigen Land. Die Briten unternahmen keinerlei Anstrengung, um eine ständige Herrschaft über die MiskitoKüste zu errichten. -801-
Als die Sandinisten Managua eroberten, weiteten sie ihre Herrschaft mit Brutalität auf die Karibikküste aus. Die Miskitoindios und die Schwarzen leisteten Widerstand. Die ersten Contra-Angriffe fanden im Miskito-Land statt, und die Sandinisten antworteten mit der Umsiedlung Zehntausender Indios in Wehrdörfer, weit weg von der Grenze. Mehr als 20.000 Miskitos flüchteten daraufhin nach Honduras und ließen sich dort nieder. DIE CONTRAS Innerhalb eines Jahres nach der Revolution suchten die Nicaraguaner im Exil œ sowohl diejenigen, die Somoza unterstützt hatten wie diejenigen, die gegen Somoza und die Sandinistas gleichermaßen waren œ nach Hilfe. Ihren ersten Verbündeten fanden sie in Honduras, wo Oberst Custavo Alvarez Martinez, später Chef des Generalstabs und praktisch Herrscher des Landes, sie von Anfang an unterstützte. 1981 meinten die Anti-Sandinisten, daß der neue CIADirektor William Casey ihnen nützlich sein konnte, und bald trieben sie genügend Geld auf, in Honduras die erste Anti-Sandinisten-Armee aufzustellen. Die Regierung von Honduras, oder zumindest Alvarez, plante, die Sandinisten zu einer Invasion Honduras‘ oder Costa Ricas zu provozieren, von der er sich ein amerikanisches Eingreifen in Nicaragua erwartete. (Die Sandinisten nannten sie Contrarevolutionarios, Gegenrevolutionäre. Der Ausdruck, den die Regierung Reagan bevorzugte œ ‡Freiheitskämpfer— œ, hat sich nicht durchgesetzt.) Der neue Unterstaatssekretär für Inneramerikanische Fragen war Thomas Enders, ein vernünftiger Berufsdiplomat, der einen letzten Versuch unternahm, eine rationale Nicaragua-Politik durchzusetzen. Er befand, daß das Hauptinteresse der USA sein müßte, die Ausbreitung weiterer Revolutionen in Mittelamerika zu unterbinden, und der beste Weg dazu sei die Unterstützung demokratischer Regime und Druck auf Nicaragua, die Unterstützung der Rebellen in anderen Ländern einzustellen. Im August 1981 bot er den Sandinisten einen Handel an: Sollten sie aufhören, die Revolution zu predigen, die Waffenlieferungen an die Rebellen in El Salvador und Guatemala einstellen und auf Distanz zu Kuba und der UdSSR bleiben, würden die USA sie in Ruhe lassen. -802-
Die Sandinisten stimmten dem Lieferstop an die salvadorianischen Rebeilen zu (die Schlußoffensive dieser Gruppe hatte sie wohl auch nicht besonders beeindruckt), weigerten sich aber, ihre Außen- und Innenpolitik nach Enders‘ Forderungen zu gestalten. Sie hatten Somoza nicht gestürzt, um sich den amerikanischen Forderungen zu beugen. Später bedauerten sie ihre hohen Prinzipien. Es wäre ein guter Handel gewesen, und hätte er 1981 geklappt, wären beiden Seiten viele Unerfreulichkeiten erspart geblieben. Enders wurde in Washington angeschwärzt, wo die Hardliner sich bereits zur Unterstützung der Contras entschlossen hatten. So wurde er zunächst der Zuständigkeit für Nicaragua enthoben und im Mai 1983 abgezogen und als Botschafter nach Madrid geschickt. Die führenden US-Hardliner waren William Casey; William Clark, Haigs Stellvertreter, der Richard Allen als Nationaler Sicherheitsberater 1981 nachfolgte; Jeane Kirkpatrick, die UNOBotschafterin, die durch ihre ständige Verteidigung rechtsextremer Regime in Lateinamerika berühmt geworden war; Edwin Meese, Stabschef des Präsidenten, und Verteidigungsminister Caspar Weinberger. Es war eine beachtliche Kombination. Ihr erster Erfolg war eine Anweisung des Präsidenten vom November 1981, die die USA verpflichtete, die ‡politischen und paramilitärischen Operationen gegen die kubanische Präsenz und die kubanisch-sandinistisch unterstützte Infrastruktur in Nicaragua und anderen Ländern— zu fördern. Casey nannte drei Ziele: die Sandinisten auf Nicaragua zu beschränken, so daß sie keinen Revolutionsexport mehr betreiben könnten, die Belieferung der salvadorianischen Rebellen mit Waffen zu unterbinden und schließlich die Sandinisten an den Verhandlungstisch zu zwingen. Es war alles sehr vage und fragwürdig. Enders‘ vergebliche Anstrengungen um ein Abkommen waren typisch gewesen: wo immer Außenministeriums-Beamte, einschließlich George Shultz als Außenminister, Verhandlungen mit den Sandinisten einleiteten, wurden sie von den Hardlinern im Weißen Haus hintertrieben. Inzwischen begannen die Contras ihren Kampf. Die Nicaraguanischen Demokratischen Streitkräfte (FDN) wurden am 11. August 1981 in Guatemala aufgestellt, und sie fanden einen militärischen Kommandanten in Oberst Enrique Bermudez Varela, -803-
dem für sie akzeptabelsten Offizier der früheren SomozaNationalgarde. Er war während der Sandinista-Rebellion Botschafter in Washington und daher in die wilden Kämpfe nicht verwickelt gewesen. Aber viele Gegner der Sandinisten weigerten sich, mit früheren Nationalgardisten zusammenzuarbeiten, und die Sandinisten haben lange Zeit das Gerücht unterstützt, daß die Contras die SomozaLeute zurückbringen wollten. Zur Ausbildung der ersten Einheiten wandten sich die Contras um Hilfe an Argentinien, dessen Militärregierung nach Gelegenheit suchte, sich der amerikanischen Regierung angenehm zu machen. Honduras setzte seine Hilfe fort, wie auch die CIA in weit größerem Umfang, als sie je zugab. Ende 1982 hatten die Contras 4.000 Mann in Honduras aufgestellt, und im folgenden Frühjahr waren es bereits 7.000 Kampfer, einschließlich einer Einheit in Costa Rica und einem Kontingent Miskitoindios. In den USA war es ein offenes Geheimnis, daß die Regierung die Contras unterstützte, und schließlich war auch der Kongreß alarmiert. Der Kongreßabgeordnete von Massachusetts, Edward Boland, Vorsitzender des Geheimdienstausschusses, legte den ersten seiner Berichte vor, der im Dezember 1982 behandelt wurde. Darin wurde festgehalten, daß die US-Hilfsgelder von den Contras nur zur Unterbindung des Waffenflusses von Nicaragua nach El Salvador verwendet werden dürften. Ungeachtet der Beredtheit von Präsident Reagan, gab es in den USA immer eine starke öffentliche Meinung gegen eine amerikanische Verwicklung in Nicaragua und nur wenig Unterstützung für die Contras. Das Hauptanliegen war ‡Nie wieder Vietnam!— Die Demokraten im Kongreß waren fest entschlossen, jeden Einsatz amerikanischer Soldaten in Nicaragua zu verhindern, waren allerdings in ihrer Ablehnung der Unterstützung für die Contras weniger konsequent. Mehrere Male akzeptierte der Kongreß Budgetmittel für die Contras, mehrere Maie wurden Gesetze verabschiedet (die Boland-Amendments), die der Regierung jede Verwendung von Geldern für sie verbot. Dieses Hin und Her galt als Begründung für den Iran-Contra-Plan von Oberstleutnant Oliver North und seinen Freunden. Sie meinten, einfach konsequenter zu handeln als der Kongreß. -804-
Im Februar und März 1983 begann Bermudez seine erste Offensive gegen Nicaragua. Seine Soldaten drangen in das Zentrum des Landes ein, griffen Regierungsämter an und verübten Sabotageakte, ehe sie sich nach Honduras zurückzogen. Die Contras hatten nur wenig erreicht, betrachteten es aber nur als Auftakt. Sie sagten, daß sie mit größerer amerikanischer Unterstützung wesentlich mehr erreicht hätten und bezeichneten die Boland-Amendments als Dolchstoß. Die Regierung Reagan stimmte ihnen zu, aber im Juli lehnte der Kongreß zum ersten Mal Reagans Forderung nach Hilfe für die Contras ab. Das Pentagon begann mit einer Reihe großangelegter Militärmanöver in Honduras und vor beiden Küsten Nicaraguas, mit der offenkundigen Absicht, die Sandinisten einzuschüchtern. Präsident Reagan gelang es nicht, eine wirkliche Nicaragua-Politik zu entwickeln, und so erhielten die Contras ständig wechselnde Instruktionen. Im Februar 1983 wurde ihnen befohlen, in Nicaragua einzumarschieren. Drei Monate später wurden sie zurückgepfiffen, und es wurde ihnen mitgeteilt, daß sie ihre Vorgangsweise ändern müßten, damit weiterhin die Unterstützungszahlungen an sie vom Kongreß verabschiedet würden. Dann wurden sie in den Kampf zurückgeschickt, allerdings ohne weitere neue Ausrüstung. Zur gleichen Zeit begann die CIA aus niemals geklärten Gründen eine Reihe von Marineangriffen auf Nicaragua, und im Oktober wurde den Contras der Auftrag erteilt, einen Landstrich von Nicaragua zu befreien und dort eine Regierung auszurufen, die dann von den USA anerkannt werden würde. Dieser Plan wurde besonders von General Alvarez in Honduras und von einigen Eisenfressern in Washington gefördert, darunter auch Oliver North, der sich als einer der wichtigsten ‡Zuerst schießen, dann fragen—-Männer im Nationalen Sicherheitsrat entpuppte. Die Vereinigten Stabschefs lehnten diesen Plan aber ab, ebenso wie die Contras, die genau wußten, daß sie zu solchen Operationen gar nicht in der Lage waren. In der zweiten Jahreshälfte 1983 nahmen die amerikanischen Manöver in Honduras und vor der Küste Nicaraguas zu œ Manöver, an denen auch Flugzeugträger und sogar ein Schlachtschiff und Tausende Soldaten in Honduras beteiligt waren. Der CIA-Chef in Honduras, Duane Clarridge, schickte Schnellboote los, die Schiffe in nicaraguanischen Häfen angriffen, und einmal ließ er sogar den -805-
Flugplatz von Managua bombardieren. Im folgenden Jahr schlug er die Verminung der nicaraguanischen Häfen vor und gewann die Zustimmung der ‡Restricted Interagency Group—, (RIG), einer kleinen Clique von mittleren Beamten, die in Washington die Nicaraguapolitik bearbeiteten. GRENADA Das war, wie sich später herausstellte, der Höhepunkt der ContraOffensive und fiel mit einer klassischen amerikanischen Machtdemonstration zusammen: Die Invasion von Grenada, weit im Osten der Karibik. Reagan hatte wiederholt vor den Gefahren eines kommunistischen Stützpunktes in Grenada gewarnt und es als ein neues Kuba in den Antillen bezeichnet. Als Beweis für die Gefahr diente ihm die Konstruktion eines großen neuen Flughafens, der offensichtlich so konzipiert war, daß er auch als sowjetischer Luftstützpunkt dienen konnte. Am 19. Oktober 1983 wurde die semimarxistische Regierung von Grenada in einem Putsch von einer kleinen Gruppe ambitionierter Soldaten gestürzt; der Ministerpräsident Maurice Bishop wurde getötet. Einige Tage nach dem Putsch, am 23. Oktober, töteten libanesische Terroristen 241 USMarines durch einen Autobombenanschlag in Beirut. Reagan ergriff die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit von der Katastrophe im Libanon abzulenken und gleichzeitig eine Bedrohung in der Nähe aus der Welt zu schaffen: Am 25. Oktober landeten US-Streitkräfte in Grenada. Mehrere benachbarte Karibikstaaten-Regierungen hatten aus unterschiedlichen Gründen die Invasion gefordert: Sie hatten keine Lust, daß in der Karibik südamerikanische oder afrikanische Zustände Einzug hielten, daß Revolvermänner die Macht ergreifen und Ministerpräsidenten erschießen dürften. Die offizielle Begründung der USA für die Invasion war die Gefährdung einer Gruppe amerikanischer Medizinstudenten und die Umwandlung Grenadas in einen sowjetischen Stützpunkt. Das war frei erfunden und ein weiteres Beispiel für die üblen Auswirkungen der Täuschung der Öffentlichkeit. Die Regierung Reagan mußte bei ihrer Version bleiben, auch als die Leitung der Medizinschule bekanntgab, daß die Studenten niemals gefährdet gewesen seien. Auch der Flugplatz stellte sich als völlig ungeeignet für militärische Zwecke heraus. Er war nur -806-
für Touristen gedacht. Und die große Zahl der vermeintlichen kubanischen und osteuropäischen Soldaten auf der Insel waren Bauarbeiter. Der Einsatz in Grenada war ein großer Erfolg. Er verwischte die Erinnerung an Beirut und war in Grenada sehr populär. Die Operation erschreckte Kuba und Nicaragua in hohem Maße. Es war eine eindringliche Machtdemonstration und bewies den Sandinisten, daß bei einer Invasion der USA weder Kuba noch die UdSSR einen Finger zu ihrer Unterstützung rühren würden. Wieder gab es einen kurzen Augenblick, in dem man zu einem Abkommen hätte kommen können. Die Sandinisten hätten alle amerikanischen Vorschläge angenommen, alles außer der Auflösung ihrer eigenen Regierung, im Tausch für einen Friedensvertrag. Daniel Ortega besuchte New York und Washington, um diese Botschaft zu verkünden. Unglücklicherweise war Washington durch den Mittleren Osten abgelenkt. Roy Gutman weist einmal mehr die Schuld dem Außenministerium und nicht den Hardlinern im Weißen Haus zu, das den enormen psychologischen Vorteil der USA durch die GrenadaInvasion nicht erkannte. Bald danach war wieder alles wie immer. DIE VERMINUNG DER HÄFEN Die CIA suchte nach Wegen, Duane Clarridge‘ Vorschlag, die Sandinisten durch die Verminung der Häfen zu stürzen, in die Realität umzusetzen. Das ist aus mehreren Gründen ein lehrreiches Beispiel für Politik, begonnen mit der kompletten Idiotie des Vorschlags. Die CIA befand, daß es nicht ratsam sein würde, zu viele Schiffe zu versenken; Minen würden hingegen einen Menge Lärm, aber nur wenig Schaden verursachen. Man hoffte, daß dadurch der internationale Frachtverkehr für Nicaragua ausfallen würde, auch Nicaraguas Ölversorgung zusammenbräche und die Regierung in die Knie gezwungen würde œ oder zumindest einen Monat lang ernsthaft eingeschränkt. Etwas ähnliches versuchte Oberst Gaddafi im Verlauf dieses Sommers im Roten Meer, um die Ägypter einzuschüchtern (Siehe LIBYEN). Viele Länder griffen ihn wegen dieses ‡Terroraktes— an, aber die USA waren zum Schweigen verurteilt. Das erste Problem war, Minen mit nicht allzu großer -807-
Zerstörungskraft zu benützen œ was die internationalen Waffenhändler anbieten, ist im allgemeinen auf maximale Wirkung ausgerichtet. Schließlich mußte die CIA sie selbst herstellen. Nichtamerikanische CIA-Agenten legten sie im Januar und Februar 1984 in den Häfen Corinto und Puerto Sandino an der Pazifik- und in El Bluff an der Karibikküste. Die nicaraguanische Regierung, deren Agenten das alles beobachteten, deckte die Verminung auf, als sie kaum begonnen hatte, früh im Januar, und die CIA wies die Contras an, die Verantwortung zu übernehmen. Bis zum 25. Februar geschah weiter nichts, dann explodierten die ersten Minen und versenkten in El Bluff zwei kleine Fischerboote. In den folgenden Monaten sanken einige weitere Schiffe, darunter ein sowjetischer Tanker. Insgesamt wurden zehn Schiffe getroffen, mehrere Seeleute wurden verwundet und zwei Nicaraguaner getötet. Etliche Frachtschiffe liefen nicaraguanische Häfen nicht mehr an, so daß Nicaragua seine Exporte auf dem Landweg in costaricanische Häfen transportieren mußte. Insgesamt war aber die internationale Schiffahrt nicht besonders beeindruckt. Die Versicherungsprämien wurden kaum angehoben, und der nicaraguanische Handel ging weiter. Es war zunächst keine große Sache. Das Außenministerium leugnete offiziell, daß die USA damit irgend etwas zu tun hätten, und die ganze Angelegenheit hätte wie irgendein anderes gescheitertes CIA-Projekt in Vergessenheit geraten können, wenn nicht der Kongreß gewesen wäre. Die politische Explosion wurde von Senator Barry Goldwater ausgelöst, Vaterfigur der amerikanischen Konservativen und Vorsitzender des Geheimdienst-Ausschusses. Er entdeckte die Verminungsaktion und berichtete zunächst dem Komitee nicht darüber, sondern schickte an William Casey einen wütenden Brief: Ich bin völlig von den Socken. Bill, so kann man diesen Laden nicht führen. Der Präsident hat uns aufgefordert, seine auswärtige Politik zu unterstützen. Bill, wie sollen wir das tun, wenn wir nicht einmal wissen, was er tut, verdammt noch einmal? Libanon, na schön. Wir haben alle gewußt, daß er Soldaten dorthin geschickt hat. Aber die Häfen in Nicaragua verminen? Das ist ein Bruch internationaler Gesetze. Das ist eine kriegerische Handlung. Bei meinem Leben, ich -808-
habe keine Ahnung, wie wir das erklären sollen. Tatsächlich hatte Casey bei einer Aussage vor dem Ausschuß am 8. März die Verminungsaktion beiläufig erwähnt, kurz nachdem der Einsatz begonnen hatte, aber Goldwater und seine Kollegen hatten nicht aufgepaßt. Andere Senatoren teilten die Wut Goldwaters, und sein Brief wurde der Presse zugespielt. Der Senat verurteilte die Verminungsaktion mit 84 zu 12 Stimmen. Das Repräsentantenhaus schloß sich an. Die Regierung Reagan sah sich plötzlich einer großen politischen Aufregung gegenüber. Am selben Tag, als Goldwater seinen Brief an Casey schrieb, brachte Nicaragua die Angelegenheit vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag und verlangte ein Urteil, daß die Verminung illegal sei und daß die USA die Unterstützung der Contras einstellen müßten. Die USA hatten seit Woodrow Wilson die Anwendung internationalen Rechts in internationalen Konflikten unterstützt, erklärten nun den Internationalen Gerichtshof aber für unzuständig und kündeten an, sein Urteil keinesfalls anzuerkennen. Schließlich verurteilte der Internationale Gerichtshof im Juli 1986 die USA; die Regierung Reagan ignorierte dieses Urteil. Die Verminung hatte noch mehr ernste Auswirkungen. In einem anderen Boland-Amendment hob der Kongreß alle weiteren Zahlungen an die Contras im Mai 1984 auf und beschloß das Ende jedweder amerikanischen Unterstützung für sie im kommenden Oktober. William Casey und Robert McFarlane, nun Nationaler Sicherheitsberater, suchten nach einer Alternative, nach illegalen Unterstützungsmöglichkeiten. McFarlane wandte sich an SaudiArabien, das stets bereit war, den Kommunismus zu bekämpfen und den USA zu helfen. Die Saudis stimmten einer monatlichen Zahlung von einer Million Dollar zu. DIE SANDINISTEN Die Periode von Herbst 1983 bis Frühjahr 1984 war die Hochwassermarke der Contra-Offensive. Bermudez, der in Honduras saß, kämpfte überall im nördlichen und zentralen Nicaragua. Eden Pastora, der mit seinen früheren Kameraden gebrochen hatte, beschuldigte sie, die Revolution zu verraten, griff über die Grenzen -809-
von Costa Rica an und hielt drei Tage lang San Juan del Norte besetzt, ein Fischerdorf an der Karibikküste. Seine Gruppe, die getrennt von den Contras in Honduras operierte, war bekannt als die ARDE (die Demokratische Revolutionäre Allianz). Politischer Führer der ARDE war Alfonso Robelo, ein millionenschwerer Geschäftsmann, der in der Revolution gegen Somoza eine wichtige Rolle gespielt hatte. Die Sandinisten beantworteten all diese Angriffe auf zweifache Weise: Sie kündeten an, die versprochenen Gesetzesreformen und die Präsidentenwahlen innerhalb eines Jahres durchzuführen, und sie ersuchten Kuba und die UdSSR um militärische Hilfe. Die UdSSR schickte Waffen, Munition und vor allem Mi-25 Kampfhubschrauber. Im Herbst 1984 kamen die ersten dieser furchterregenden ‡Gunships— in Nicaragua an und hatten verheerende Auswirkungen auf die Contras, die in großen Gruppen bis zu 500 Mann operierten. In den nächsten Jahren wurde die nicaraguanische Armee ständig vergrößert und mit den neuesten sowjetischen Waffen ausgerüstet œ just zu dem Zeitpunkt, da die Regierung Reagan beschloß, auf die Contras als einzige Karte zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele in Nicaragua zu setzen, wurde durch die Aufrüstung der nicaraguanischen Armee, vor allem durch die Kampfhubschrauber, geklärt, daß die Contras militärisch keine Chance hatten. Am 4. November wurden die Wahlen abgehalten, zwei Tage vor den amerikanischen Wahlen. Monatelang debattierte die nicaraguanische Opposition, ob sie daran überhaupt teilnehmen sollte. Die Regierung Reagan war gespalten. Die Hardliner wollten die Wahlen boykottieren, da sie das Sandinisten-Regime für eine kommunistische Diktatur erachteten und daher automatisch Wahlbetrug annahmen. Die Opposition hatte einen Präsidentschaftskandidaten, Arturo Cruz, der nach der Revolution Botschafter in Washington gewesen war. Aber das Zögern und die Meinungsverschiedenheiten in der Opposition zogen sich so lange hin, bis Cruz den Zeitpunkt, bis zu dem er seine Kandidatur hatte anmelden können, verpaßt hatte. Die Amerikaner bezichtigten die Sandinisten daraufhin des Wahlschwindels. Ausländische Beobachter beurteilten die Wahlen als fair und korrekt. Die Sandinisten gewannen 61 der 96 Sitze in der -810-
Gesetzgebenden Versammlung. Bei den Präsidentschaftswahlen gewann Daniel Ortega 67 Prozent der Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von 75 Prozent, gegen eine schwache Opposition. Im nachhinein gaben Cruz und seine Anhänger zu, einen Fehler gemacht zu haben. Sie hätten möglicherweise bis zu 40 Prozent der Stimmen geholt und so den Grundstein für weitere politische Arbeit legen können. So waren die Wahlen ein Erfolg für die Sandinisten. Aber die Wirtschaft des Landes stand am Rand des Abgrunds. Die Regierung hatte von den Sowjets Wirtschaftshilfe in Höhe von 500 Millionen bis 1 Milliarde Dollar jährlich erbeten. Am 1. Mai 1985 verhängte Reagan ein totales Handelsembargo über Nicaragua und trieb damit die Sandinisten noch weiter in die Arme der Sowjetunion. Nunmehr gab Ronald Reagan den Anschein auf, daß sein Hauptziel wäre, die Sandinisten davon abzuhalten, die Rebellen in El Salvador mit Waffen zu beliefern. Er gab zu, daß er den Sturz der Sandinisten wünschte. Nur wenige Beobachter trauten den Contras den Sturz der Sandinisten tatsächlich zu, und ihre Angriffe und die wachsenden Verluste in der Zivilbevölkerung steigerten den Rückhalt der Regierung in der Bevölkerung und glichen die negative Stimmung wegen der Wirtschaftskrise aus. Reagans Politik war in sich unlogisch und kontraproduktiv œ und sie wurde ausgeführt von einer Gruppe von engstirnigen Eiferern im Nationalen Sicherheitsrat und einigen wenigen politisch denkenden Männern wie Elliott Abrams, der nun die Lateinamerikaabteilung im Außenministerium leitete. Sie verhinderten alle Bemühungen um Verhandlungen, unterliefen die ‡Contadora—-Fortschritte (eine diplomatische Anstrengung der Regierungen von Mexiko, Panama, Venezuela und Kolumbien) und unternahmen gewaltige Anstrengungen, die Contras zu unterstützen. Dabei brachen sie die Gesetze, die ganz klar festlegten, daß die Contras nicht weiter unterstützt werden dürften und zeigten erstaunliche politische Unsensibilität, indem sie Waffen an den Iran verkauften und die Profite daraus für die Contras verwendeten (siehe unten). Es war schlimmer als ein Verbrechen, es war Verrat. Es war ein verblüffender Sieg der Ideologie über die Intelligenz. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Contras 10.000 Mann unter Waffen, 6.000 in Honduras, von denen 5.000 in Nicaragua operierten. Sie -811-
sahen eindrucksvoll aus, aber sie waren niemals eine wirkliche militärische Bedrohung für die Regierung. Sie konzentrierten sich auf Grenzgebiete in einem Radius von etwa 150 Kilometer und hatten auch manche Erfolge: So unterbrachen sie die Kaffeeernte im Hochland und fanden unter den Bauern einige Unterstützung. Dann wendete sich das Blatt. 1985 gewannen die Sandinisten die Oberhand über die Contras. Sie hatten dazu lange gebraucht, da sie zunächst auch gar keine reguläre Armee hatten. Somozas Nationalgarde war zerfallen, und die neue nicaraguanische Armee mußte vom Nullpunkt aufgebaut werden. Die Sandinisten hatten nicht viele erfahrene Guerillakämpfer, aus denen sie eine reguläre Armee hätten bilden können. Das Somoza-Regime war aufgrund eines Volksaufstandes der Massen zusammengebrochen, nicht nach einem langen Guerillakrieg wie die kubanische Revolution œ und vor allem hatten die ‡Commandantes— nun allesamt Schreibtischposten in Managua. In den frühen Tagen des Kampfes gegen die Contras konnten sich die Sandinisten noch auf ihre Überzahl stützen. Sie hatten Tausende Bauern rekrutiert und sie in den Kampf geschickt œ mit funkelnden sowjetischen Gewehren und nur wenig Ahnung, wie sie zu benutzen seien. Die USA hatten die nicaraguanische Armee als die größte und gefährlichste in Mittelamerika bezeichnet, als sie kaum mehr als ein Bauernvolkssturm gewesen war. 1985 hingegen war daraus eine effiziente und gut ausgerüstete Truppe geworden: sie verfügte über Transporthubschrauber, die Mi-25- Kampfhubschrauber und auch genügend Piloten. Die reguläre Sandinistenarmee hatte eine Stärke von 50.000 bis 60.000 Mann, so daß sie den Contras zumindest ebenbürtig war. Roy Gutman hält die alte Faustregel fest, daß Anti-Aufstandskräfte zumindest eine Überlegenheit von 10:1 haben müssen, um eine Rebellion niederwerfen zu können. Die Contras hatten in Nicaragua niemals mehr als 4.000 bis 5.000 Mann, waren also ungefähr 1:16 unterlegen. In Vergleich hatte die angolanische Armee zusammen mit ihren kubanischen Beratern gegenüber der UNITA nur ein Verhältnis von 7:1, die mosambikische Armee nur 4:1 gegenüber der RENAMO und die äthiopische Armee in Eritrea und Tigray kaum ein Verhältnis von 10:1. In El Salvador, wo die Regierungstruppen ungefähr 8:1 -812-
überlegen waren, gelang es ihnen nicht, die Rebellen zu besiegen, aber immerhin zu einem faktischen Patt zu bringen. In Nicaragua war die Überlegenheit der Armee enorm. DIE FRONT IM SÜDEN Im Frühjahr 1984 schickte die CIA monatlich 400.000 Dollar zur Unterstützung von Eden Pastora und der ARDE im Süden. Es war ein merkwürdiges Arrangement, da Pastora wiederholt lautstark darauf beharrte, nichts mit der Masse der Contras, der ‡Nicaraguanischen Demokratischen Streitkräfte— (FDN) zu tun zu haben. Er wies daraufhin, daß Bermudez und seine engsten militärischen Führer frühere Gefolgsleute von Somoza seien, ‡Menschen, die uns 45 Jahre lang gefoltert haben—. Im Mai 1984 forderte die CIA, daß die ARDE mit der FDN verschmelzen solle. Robelo erkannte, daß die ARDE ohne weitere amerikanische Unterstützung chancenlos war und stimmte der Verschmelzung zu. Am 30. Mai 1984 berief Pastora eine Pressekonferenz in sein Hauptquartier nach La Penca im Dschungel von Costa Rica ein und klagte Robelo an. Als er zu sprechen begann, explodierte eine Bombe. Sie verwundete Pastora und tötete vier Menschen, darunter die amerikanische Journalistin Linda Frazer, die im Schlamm verblutete. Die vielen anderen Verwundeten mußten stundenlang auf ihren Abtransport warten. Pastora wurde im einzig verfügbaren Boot eilig weggebracht. Tony Avirgan und Marta Honey, ein JournalistenEhepaar, glauben, daß die Bombe von einem libyschen Anti-GaddafiAgenten gelegt wurde, der sich als dänischer Journalist ausgegeben und im Auftrag der FDN gehandelt hatte. Nach diesem gescheiterten Anschlag wandten sich die meisten Mitglieder der ARDE von Pastora ab und traten in die FDN ein. Danach war Pastora ein ‡Commandante— ohne Armee, und 1986 gab er den Kampf auf. Er zog sich nach Costa Rica zurück und verbrachte seine Zeit mit Angeln. DIE IRAN-CONTRA-AFFÄRE In der Iran-Contra-Affäre gab es viele Verschleierungsversuche, -813-
aber die Kongreß-Hearings 1987 und die vielen veröffentlichten Dokumente haben die wichtigsten Details offensichtlich gemacht. Die treibenden Gestalten in dieser Sache waren William Casey und seine Leute in der CIA und der Stab des Nationalen Sicherheitsrates, einschließlich Oberstleutnant Oliver North. Sie konnten Präsident Reagan überzeugen, daß geheime Waffenverkäufe an den Iran den USA bei der Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehungen zu diesem Land nach dem Tod Khomeinis nützen und vielleicht auch die Freilassung der amerikanischen Geiseln im Libanon erleichtern würden. Außen- und Verteidigungsminister wehrten sich gegen diesen Vorschlag, aber Reagan ignorierte ihren Rat. Die weitere Entwicklung œ daß die Iraner für die Waffen einen überhöhten Preis zahlen sollten und daß dieser Profit für einen streng geheimen ‡Reptilienfonds— benützt werden sollte œ war die Idee von Casey und North. North konnte seinen Vorgesetzten, Admiral Poindexter, den Nachfolger von Robert McFarlane als Nationaler Sicherheitsberater, von der Klugheit dieses Vorschlages überzeugen. Er gewann General Richard Secord für die Organisation des Projektes. Secord war ein Spezialist für Sonderaktionen und unter anderem an dem Rettungsversuch der amerikanischen Geiseln in Teheran beteiligt gewesen. Im diplomatischen Bereich übernahm Elliott Abrams die Lateinamerika-Abteilung im Außenministerium. Er war einer der Superfalken, der in die Regierung kam, ohne irgendwelche eigenen Erfahrungen mit ausländischen Angelegenheiten zu haben aber dafür ausgeprägte rechte Ansichten. Er hielt die Sowjetunion für die Quelle allen Übels in der Welt und jeden Dritte-Welt-Staatsmann links von Torquemada für einen Sowjetknecht. Er wußte alles über Machtpolitik in Washington, aber nichts über die Wirklichkeit in Mittelamerika. So gewannen er und North jede Schlacht in der Hauptstadt, während die Contras auf dem Schlachtfeld alies verloren und darüber hinaus jede politische Unterstützung in Lateinamerika. Der Hauptpunkt der Kritik an Ronald Reagans Umgang mit politischen Angelegenheiten ist immer wieder der, daß er zuließ, daß solche unfähigen Fanatiker wie North und Abrams zu verantwortlichen Positionen aufsteigen konnten. Nachdem der Kongreß das Ende der Contra-Unterstützung im Oktober 1984 angeordnet und sich auch geweigert hatte, diesen -814-
Entschluß rückgängig zu machen, ungeachtet Reagans Wiederwahl, wurde die Situation der Contras allmählich verzweifelt. North heuerte einen britischen Söldner an, David Walker, der mit einem Sabotageauftrag nach Nicaragua geschickt wurde. Seine Männer griffen in Managua eine ‡militärische Einrichtung— am 6. März 1985 mit Sprengstoff an. Sie entpuppte sich als die Gebärstation des größten Militärspitals. Walker kundschaftete auch den Hubschrauberstützpunkt aus und befand ihn als zu gut geschützt gegen Angriffe. Er sollte Piloten für Secords ‡Unternehmen— aufbringen, aber die Männer, die er schickte, erwiesen sich als unfähig. Walker war auch in die größte von North‘ Narreteien verwickelt: einen Rückfall in die Piraterie. Walker sollte das Handelsschiff Monimbo in der Chinesischen See entern und die Besatzung loswerden. Das Schiff brachte Waffen nach Nicaragua, und die Ladung sollte so den Contras zugute kommen. Aus diesem Akt kriminellen Irrsinns wurde allerdings nichts. Jahre später deckte der amerikanische Journalist Frederick Kempe (siehe LITERATUR) auf, daß die Bombenanschläge in Managua, die von Walker ausgeführt worden sein sollten, in Wahrheit das Werk des panamaischen Geheimdienstes waren, der auf Befehl von General Manuel Noriega handelte. Der Diktator wollte damit die CIA ebenso beeindrucken wie Oliver North, um sich die amerikanischen Kritiker wegen seiner Verstrickung in den Drogenhandel vom Hals zu schaffen (siehe PANAMA). Am 1. Juni 1985 rief North die beiden wichtigsten Contra-Führer, Bermudez und Calero, zu einem Treffen in Miami mit Secord zusammen. North entschied, daß Secord das Kommando über die Weiterversorgung der Contras übernehmen und daß die Front im Süden wiederbelebt werden sollte. Er rekrutierte andere Mitglieder aus dem Stab des Nationalen Sicherheitsrates wie auch den neuen amerikanischen Botschafter in Costa Rica, Lewis Tambs, der in Costa Rica einen geheimen Stützpunkt errichtete, ohne daß McFarlane oder Elliott Abrams davon informiert wurden. Die Contras wurden mit der monatlichen Dollar-Million der Saudis am Leben gehalten. Schrittweise baute Secord eine Firma auf, die Waffen und andere Güter aufkaufte und nach Honduras und später nach Costa Rica brachte. Zur selben Zeit kämpften die Sandinisten mit -815-
mehr Druck, und allen Anstrengungen North‘ zum Trotz wurde Bermudez geschlagen und über die Grenze zurückgetrieben. Im Süden wurden die Überreste der ARDE vernichtet. Im Juni 1985 genehmigte der Kongreß 28 Millionen Dollar ‡humanitäre Hilfe— für die Contras, aber bis zum Anfang des folgenden Jahres wurde davon nichts überwiesen. Der honduranische General Alvarez war im März 1984 aus dem Amt gedrängt worden, vor allem wegen seiner Arroganz und seiner diktatorischen Art, zum Teil auch weil er das Land zu sehr den Amerikanern und Contras geöffnet hatte. (Alvarez Martinez wurde am 25. Januar 1989 von der honduranischen Guerillabewegung ‡Volksbefreiungsarmee— (PLF) ermordet.) Der neue honduranische Generalstabschef und Präsident Roberto Suazo Córdova waren weit weniger entgegenkommend und verboten die Unterstützung der Contras. Dieses Verbot galt bis zum Amtsantritt von Suazos Nachfolger, Jose Simon Azcona Hoyo im Januar 1986. Im Juni 1986 überzeugte Reagan endlich das Repräsentantenhaus, für die Contras 100 Millionen freizugeben, von denen 70 Millionen für Waffen vorgesehen waren. Der Senat stimmte im August zu. Der Kongreß war natürlich nicht informiert, daß North, Poindexter und Casey begonnen hatten, an den Iran Waffen zu verkaufen, um die Contras und andere Geheimoperationen zu finanzieren, oder daß der Secord-Lufttransport für die Contras bereits am 1. April begonnen hatte. Die ContraKampagne war in Washington gewonnen worden dank einer gewaltigen PR-Leistung durch den Präsidenten und seine Leute, die ihre Gegner beschuldigten, Lateinamerika den Kommunisten zu überlassen. Ein nicaraguanischer Angriff auf Contra-Stützpunkte in Honduras am 23. März half ihnen dabei. Die Regierung nützte diesen vergleichsweise unbedeutenden Zwischenfall, um für die Contras in Washington enorm die Werbetrommel zu rühren, aber zuerst mußte sie in Honduras ein Problem lösen. Die dortige Regierung hatte ständig geleugnet, daß es im Land überhaupt Contras-Stützpunkte gäbe und weigerte sich daher auch, zuzugeben, daß ein Angriff aus Nicaragua stattgefunden hatte. Zuletzt ging der amerikanische Botschafter in Tegucigalpa, der unter einer schweren Grippe litt, im Schlafrock zu Präsident Azcona und machte ihm klar, daß er die USA -816-
um Hilfe ersuchen mußte. Azcona stimmte zögernd zu. Washington verlegte unverzüglich amerikanische Truppen zur Machtdemonstration in die Nähe der Grenze und machte für Honduras 20 Millionen Dollar Soforthilfe frei. Azcona demonstrierte, wie ernst er die Situation einschätzte, indem er an den Badestrand fuhr; der amerikanische Botschafter ging wieder zu Bett. Diese amerikanische Hilfe und Unterstützung belebte die Aussichten für Bermudez und seine Soldaten wieder, und Ende des Jahres waren sie bereit für eine neue Offensive. Am 5. Oktober 1986 wurde aber eine Secord-Transportmaschine über Nicaragua abgeschossen. Es war eine C-123, die von Honduras gestartet war, um für die Contras, die an der Südfront kämpften, Nachschub abzuwerfen, und sie wurde durch eine SAM-7 heruntergeholt. Die zwei amerikanischen Piloten wurden getötet. Ein dritter Amerikaner, Eugene Hassenfuss, dessen Aufgabe es gewesen wäre, die Fracht über dem Abwurfgebiet aus der Tür zu stoßen, war vorsichtig genug gewesen, einen Fallschirm anzulegen. Er überlebte und wurde gefangengenommen. Amerikanische Politiker von Präsident Reagan abwärts leugneten, irgend etwas mit Hassenfuss zu tun zu haben. Aber die Sandinisten fanden bei ihm und im Wrack eine Reihe inkriminierender Dokumente, einschließlich der Telefonnummer der Secord. Im Lauf des Oktober gewann die Affäre an Brisanz, und Anfang November wurden mehr Neuigkeiten über den Waffenhandel mit dem Iran bekannt. Am 25. November verkündete der Generalstaatsanwalt Edwin Meese, daß die Gewinne aus diesem Geschäft in die Unterstützung der Contras geflossen seien, und die ganze Geschichte flog allmählich auf. Die 100 Millionen, die der Kongreß im Juni freigegeben hatte, waren die letzte militärische Unterstützung für die Contras. (Das Wirtschaftshilfeprogramm wurde endgültig im Februar 1988 eingestellt; seither gibt es nur noch humanitäre Hilfe.) Die Contras versuchten 1987 noch einige verzweifelte Offensiven, richteten noch mehr Schaden an und töteten mehr Menschen als je zuvor, aber die Sandinisten schlugen sie mit den Mi-25-Kampfhubschraubern zurück. Die militärische Option war völlig schiefgegangen. Das Scheitern -817-
war von Anfang an unvermeidlich. Keine Guerilla-Bewegung kann gegen eine gutgerüstete Armee und entschlossene Regierung gewinnen, wenn sie im Land keinen wirklichen Rückhalt hat. Sie kann nicht über die Grenzen hinweg gewinnen. Reagan war manipuliert worden, diesen hoffnungslosen Kampf zu unterstützen, der mit der Aufdeckung der Iran-Contra-Affäre endgültig zusammenbrach. Shultz versuchte noch etwas zu retten, indem er Philip Habib zum Sonderbotschafter für Mittelamerika ernannte. Das war er dann achtzehn Monate lang, bewirkte aber nichts. DIPLOMATIE Es war höchste Zeit, den diplomatischen Kurs zu ändern. Da die Anstrengungen der Regierung Reagan bereits diskreditiert waren und sie jede Option verbraucht hatte, wurde ihr die diplomatische Zuständigkeit aus der Hand genommen. 1987 erlebte Washington das erstaunliche Spektakel, daß die Außenpolitik vom Sprecher des Repräsentantenhauses, Jim Wright, geführt wurde und daß die mittelamerikanischen Präsidenten Washington ignorierten und miteinander verhandelten. Wright wurde im Sommer 1987 mit der Aufgabe betraut, als das Weiße Haus einmal mehr versuchte, den Kongreß von der Notwendigkeit der Unterstützung der Contras zu überzeugen. Er sagte dem Präsidenten, daß die einzige Möglichkeit dazu sei, den Sandinisten einen Friedensplan vorzulegen, den sie auch akzeptieren könnten. Reagan stimmte diesem Vorschlag zu und erwartete wahrscheinlich nicht, daß Wright die Initiative ergreifen würde. Aber zum allgemeinen Erstaunen verhandelte Wright direkt mit den Nicaraguanern und gab am 5. August seinen Plan bekannt. Das Weiße Haus und das Außenministerium unterstützten ihn gegen den Willen der Hardliner. Nicaragua zeigte sich interessiert. Zwei Tage später, am 7. August, trafen die Präsidenten der fünf mittelamerikanischen Republiken zusammen. Sie verkündeten ihren eigenen Friedensplan, den der Präsident von Costa Rica, Oscar Arias Sanchez ausgearbeitet hatte. Dieser Plan sah eine Amnestie, einen Waffenstillstand, Direktverhandlungen zwischen Contras und Sandinisten, ein Ende der antidemokratischen Maßnahmen in -818-
Nicaragua und das Ende aller auswärtigen Einmischungen vor. Die Sandinisten sollten die Unterstützung der Rebellen in El Salvador einstellen, ebenso wie die Amerikaner die Hilfe für die Contras. Wright akzeptierte diesen Plan umgehend, der seinen Vorstellungen weitgehend entsprach. Präsident Reagan war in der Klemme. Konnte er sich überwinden und einem vernünftigen und durchführbar scheinenden Plan zustimmen? Arias erhielt den Nobelpreis, und die Contras akzeptierten zögernd die Vorschläge. Die Hardliner waren verstört. Es gelang ihnen, eine Verhandlungsreise von Philip Habib nach Ciudad de Guatemala zu verhindern, und er trat prompt zurück. Danach bestimmte Mittelamerika sein weiteres Geschick selbst, und die USA wurden zum irritierten Zuschauer degradiert. Am 5. November 1987 verkündete Ortega seine Zustimmung zu indirekten Verhandlungen mit den Contras, bei denen Kardinal Obando y Bravo als Unterhändler fungieren sollte, ein hartnäckiger Opponent der Sandinistas. Auf einem mittelamerikanischen Gipfeltreffen vom 15. bis zum 17. Januar 1988 stimmte Nicaragua auch Direktverhandlungen mit den Contras zu und hob den Ausnahmezustand auf, der seit der Revolution geherrscht hatte. Am 23. März unterschrieben die Sandinisten und die Contras einen sechzigtägigen Waffenstillstand. Als er im Mai auslief, wurde er verlängert. DER FRIEDENSPROZESS Ein Grund für die Bereitschaft Nicaraguas, den Arias-Friedensplan zu akzeptieren, war der Zusammenbruch der Wirtschaft des Landes und die wachsende Opposition gegen die Regierung. Die Hälfte des Budgets floß in den Verteidigungshaushalt. Der Lebensstandard, der schon unter Somoza beklagenswert tief gewesen war, war nach acht Jahren sandinistischer Mißwirtschaft um ein weiteres Drittel gesunken. Zwei Tage pro Woche gab es in Managua kein Wasser. 1987 erreichte die Inflation 1.000 Prozent jährlich; das Land überlebte nur dank der sowjetischen Zahlungen, einschließlich verbilligtem Öl; es gab keine Währungsreserven oder Auslandskredite, und der Handel war auf Tauschgeschäfte reduziert œ niemand akzeptierte mehr die Landeswährung. Im Februar 1988 führte Nicaragua eine neue -819-
Währung ein: Ein neuer Cordoba war 1.000 alte wert. Die Regierung versuchte, Preise und Löhne auf der neuen Grundlage zu stabilisieren, scheiterte aber kläglich, und die Inflation ging weiter. Im folgenden Sommer hatte sie ein Ausmaß von 6.000 Prozent erreicht. Banknoten mit einem Nominale von 50 Cordobas wurden nun mit dem Wert 50.000 überdruckt. Im Juni verkündete die Regierung eine neue Verhandlungsrunde, Lohnerhöhungen und Preiskontrollen. Der Sozialismus scheiterte, so traten die Sandinisten den Rückmarsch zur Marktwirtschaft an œ bestanden aber immer noch darauf, daß der Sozialismus das Endziel sei. Michail Gorbatschow bot ihnen weiteren Grund zur Sorge. Er hatte zugestimmt, Nicaragua zu unterstützen, aber nun waren das bereits Kosten von mindestens 500 Millionen Dollar jährlich, und sie wuchsen weiter an. Nach einigen Schätzungen betrug die sowjetische Hilfe im Jahr 1988 mehr als eine Milliarde Dollar. Die UdSSR zog daraus keinen politischen Vorteil, sieht man von dem Vergnügen ab, die Amerikaner in ihrem eigenen Hinterhof zu stören. Im Herbst 1987 eröffneten die Sowjets Verhandlungen mit Costa Rica, daß sie ihre militärische Rolle in dieser Region aufgeben würden, wenn die Amerikaner die Hilfe für die Contras einstellten. Der Vorschlag war für Elliott Abrams und andere Hardliner ein Horror: sie brauchten die sowjetische Präsenz in Nicaragua, um ihre Unterstützung der Contras zu rechtfertigen. Mit dem Ende des Krieges nahm die Opposition in Nicaragua wesentlich zu. Eine Gruppe von 14 Oppositionsparteien, von Kommunisten bis zu konservativen Wirtschaftsverbänden, bildete die antisandinistische Allianz UNO. Außerdem waren nach der Amnestie des Arias-Planes Contra-Anhänger allmählich aus dem Exil zurückgekehrt. Oppositionszeitungen, vor allem La Prensa, die 1986 verboten worden war, erschienen wieder, und eine katholische Radiostation wurde wieder geöffnet. Zum ersten Mal seit den Anfangstagen der Revolution war das politische Leben in Managua beinahe wieder normal. Die Verhandlungen zwischen der Regierung und den Contras gingen nur sporadisch bis zum Sommer 1988 weiter, aber die Contras begannen zu zerfallen. Die Differenzen zwischen der zivilen Führung, hauptsächlich von der CIA gestützt, und der militärischen Führung -820-
wurden sichtbar, und gleichzeitig meuterten auch innerhalb der Contra-Truppen Fraktionen gegen Oberst Bermudez, beschuldigten ihn der Korruption, Tyrannei und Unfähigkeit. Die Führer der Misquito-Indios, Brooklyn Rivera und Steadman Fagoth, eröffneten ihre eigenen Friedensverhandlungen mit den Sandinisten. Ihr Ziel war ein Abkommen, das allen Indio-Flüchtlingen in Honduras die Rückkehr ermöglichen sollte. Aber die Gespräche scheiterten. Im Juni platzten auch Gespräche über einen dauerhaften Waffenstillstand. Zunächst begannen die Kämpfe zwar noch nicht, und der Waffenstillstand wurde de facto verlängert, aber es kam immer häufiger zu sporadischen Gefechten zwischen Contras und Regierungstruppen. Die Contra-Armeen, die sich nach Honduras zurückgezogen hatten, bereiteten sich auf eine Fortsetzung des Krieges vor. Im Juli wurde die wirtschaftliche Situation wiederum wesentlich schlechter, und die Sandinisten hoben etliche der eben erst wiederhergestellten politischen Freiheiten wieder auf: La Prensa wurde für zwei Wochen verboten; der katholische Sender erhielt Ausstrahlungsverbot bis Mitte August; und am 10. Juli wurde eine Versammlung der Opposition mit Gewalt aufgelöst. Der amerikanische Botschafter Richard Melton und sieben andere amerikanische Diplomaten wurden ausgewiesen, und vier Oppositionsführer wurden zu je sechs Monaten Haft verurteilt. Nach dem offensichtlichen Scheitern der neuen Wirtschaftsmaßnahmen versuchten die Sandinisten, wieder nach links zu gehen und beschlagnahmten Nicaraguas größten Privatbesitz, die Zuckerfabrik in San Antonio. Die Contra-Führung traf wenige Tage später in Santo Domingo zusammen und stellte fest, daß diese Ereignisse bewiesen, daß die Sandinisten in Wahrheit keine Absicht hatten, das politische Leben in Nicaragua zu liberalisieren. Oberst Bermudez wurde zum Oberhaupt der Contras gewählt, was viele Contra-Rebellen resignieren ließ. Der gesamte Friedensprozeß schien zusammenzubrechen. Aber Ortega verkündete, daß der Waffenstillstand bis zum 30. August verlängert werden sollte. Es war offensichtlich die Absicht der Sandinisten, den Waffenstillstand zumindest bis nach der amerikanischen Präsidentenwahl auszudehnen. Gleichzeitig konnten es sich die Contras nicht leisten, für ein Wiederaufflammen der -821-
Kämpfe verantwortlich gemacht zu werden, da sie sonst möglicherweise jede Hoffnung auf weitere Unterstützung durch den Kongreß hätten begraben können. Ortega beschuldigte die USA des Versuches, eine Wiederaufnahme der Kämpfe zu provozieren, und angesichts des Sündenregisters der Regierung Reagan war das kein abwegiger Vorwurf. Im August stimmte der US-Senat für die Freigabe von 27 Millionen Dollar ‡humanitäre Hilfe— für die Contras, um Nahrungsmittel, Kleidung und Medikamente zu kaufen. Alle Anstrengungen der Regierung, für die Contras auch Militärhilfe freizubekommen, schlugen fehl. Beinahe alle Contras und ihre Anhänger waren nach Honduras gegangen, wo sie die weitere Entwicklung abwarteten, niedergeschlagen und besiegt. Ihre Führer forderten die Sandinisten unablässig auf, mit ihnen die Macht zu teilen, und es gab verschiedentlich Bemühungen um eine Wiederaufnahme der Gespräche. Aber es war zunehmend klar, daß die Contras in diesem Spiel keine guten Karten mehr hatten œ wenn sie überhaupt je welche gehabt hatten. Was zählte, war die politische und wirtschaftliche Situation in Nicaragua, wo die Position der Sandinisten ständig schlechter wurde. Sie hatten noch die Waffen, aber das war nicht genug. Sie würden die Macht nicht freiwillig teilen, geschweige denn aufgeben. Sie sagten, daß sie nicht ein Jahrzehnt gegen Somoza gekämpft hatten, um nun die Macht an jene Leute zu übergeben, die sich eine Generation lang mit ihm arrangiert hatten, nur weil eine Weile nicht alles klappte. Aber die Entscheidung darüber lag nicht mehr in ihrer Hand. Der Zusammenbruch der nicaraguanischen Wirtschaft zog die Sandinisten ins Verderben, nicht die Contra-Angriffe über die Grenze. Die Regierung machte dafür die amerikanischen Maßnahmen verantwortlich und den Krieg, der das Land ruinierte hätte, aber ihre eigene Unfähigkeit hatte mindestens ebenso Schuld daran. Zumindest 150.000 Nicaraguaner œ bei einer Bevölkerung von 3,4 Millionen œ lebten in den Vereinigten Staaten, und die Zahlungen, die sie nach Hause schickten, waren lebenswichtig für das Überleben des Landes. Der andere Faktor, der das Land am Leben erhielt, war die sowjetische Hilfe, und die Gefahr war, daß die Sowjetunion sich entscheiden würde, ihre Milliarde Dollar jährlich einzusparen, -822-
entweder als Teil eines Abkommens mit den USA oder einfach als Sparmaßnahme. Das hätte für die Sandinisten das unmittelbare Desaster bedeutet. Die Stürme, die die Regierungen in Osteuropa verwehten, konnten sehr leicht Mittelamerika erreichen. Am 22. Oktober 1988 verwüstete ein Hurrikan die Provinzen im Osten des Landes, eine weitere Katastrophe zusätzlich zu den selbstverschuldeten Verwüstungen. Ungeachtet aller verzweifelten Hilferufe überließ die Welt das Land sich so ziemlich selbst; andere ähnlich arme Länder auf der Welt schienen der Hilfe würdiger zu sein. Die Washington Post zitierte einen europäischen Diplomaten in Managua: ‡Die Welt ist Nicaragua allmählich leid.— Das Regime ließ die Oppositionsführer frei, die im Juli 1988 während einer Protestversammlung festgenommen worden waren, aber diese Geste war nicht genug. Andere Regierungen, darunter auch die Mitunterzeichner des Arias-Planes, trauten Ortiega nicht länger. Die Landeswährung verfiel ins Bodenlose. 1988 erreichte die Inflation 36.000 Prozent. Nach einer Berechnung konnte man um den durchschnittlichen Tageslohn, der 1979, beim Machtantritt der Sandinisten, noch für 30 Eier oder 12 Liter Milch gereicht hatte, 1988 nur noch 2 Eier oder einen Liter Milch kaufen. Nicaragua drohte eine Hungersnot. Im Februar 1989 kündeten die Sandinisten eine Reihe von Wirtschaftsreformen an, die auch eine Abkehr vom Sozialismus bedeuteten. Das private Unternehmertum sollte gefördert werden, und es gab erhebliche Einsparungen in Regierungsprogrammen und öffentlichen Investitionen. Die Regierung versprach, daß keine weiteren Verstaatlichungen mehr stattfinden und die Landverteilung beendet werden sollte. Dann trafen die fünf mittelamerikanischen Präsidenten wieder zusammen, um das Scheitern des Arias-Plans zu erörtern. Sie fanden heraus, daß er zu ambitioniert gewesen sei in seinem Bestreben, alle Probleme und Konflikte der Region auf einen Schlag zu lösen, und beschlossen, sich auf die Nicaragua-Frage zu konzentrieren. Präsident Ortega versprach, in Nicaragua alle politischen und bürgerlichen Rechte wieder herzustellen und stimmte genauer internationaler Überwachung dieser Ankündigung zu. Er versprach die nächsten -823-
Präsidentschaftswahlen für Februar 1990. Wenn die Sandinisten auch ihre Niederlage nicht zugaben, baten sie doch eindeutig um Frieden. Sie konnten für sich beanspruchen, daß sie die Contras und die Regierung Reagan überlebt hatten, mußten aber den erbärmlichen Zustand der Wirtschaft zugeben. Die Opposition in Nicaragua und die neue Regierung Bush waren zunächst höchst skeptisch, und manche Contras versprachen, den Kampf fortzusetzen. Die Präsidenten gestanden sich drei Monate zu, um die Details auszuarbeiten. Sie scheiterten. Im Jahr 1989 zogen sich Verhandlungen zwischen Nicaragua und den anderen lustlos dahin, während die USA von ferne zusahen und die Contras einen ständigen Kleinkrieg im Land weiterführten. am 7. August, bei einem Treffen in Teal Beach in Honduras, unterzeichneten die Präsidenten eine Übereinkunft über einen Zeitplan, nach dem die Contras bis 5. Dezember entwaffnet sein sollten. Die Durchführung war etwas anderes. Am 27. Oktober 1989 gab es ein Treffen der Staatsoberhäupter der westlichen Hemisphäre in Costa Rica, wo auch Präsident Bush anwesend war. Ortega kündete dort an, daß der Waffenstillstand mit den Contras nach 19 Monaten beendet sei. Er wurde von den anderen Präsidenten dafür heftig angegriffen, schob die Schuld daran aber den Contras zu: Friedensgespräche zwischen der Regierung und den Rebellen, die in New York unter der Schirmherrschaft der OAS und UNO stattgefunden hatten, waren gescheitert, und 2.300 Contras hatten den Kampf wieder aufgenommen. Die politischen Führer, die von den Amerikanern unterstützt wurden, sagten sich von ihnen los, aber sie wählten sich neue Anführer unter den erfahrensten Kämpfern. Der bemerkenswerteste war Israel Galeano Cornejo mit dem Tarnnamen ‡Commandante Franklin—. Die Sandinisten kündigten nicht nur den Waffenstillstand mit den Contras auf. Sie ignorierten auch das andere wesentliche Element des Arias-Planes und unterstützten weiter die FMLN in El Salvador. Am 25. November, während der dortigen Guerilla-Offensive, wurde über El Salvador ein Flugzeug aus Nicaragua abgeschossen, beladen mit Boden-Luft-Raketen und anderen Waffen. Daraufhin brach die Regierung Cristiani die diplomatischen Beziehungen mit Nicaragua ab. -824-
In Nicaragua war trotz allem ein gewisser Friede eingekehrt. An der Miskito-Küste waren die meisten Indios, die während der Kämpfe nach Honduras geflüchtet waren, zurückgekehrt und nahmen ihr normales Leben wieder auf. Die Contras griffen noch gelegentlich in kleinerem Umfang an, aber es war kein ernsthafter Guerillakrieg mehr. Die Sandinisten kündeten die Wahlen endgültig für den 25. Februar 1990 an, und die Opposition nominierte Violetta Barrios de Chamorro als Präsidentschaftskandidatin, die Witwe des 1978 ermordeten Zeitungsverlegers. Internationale Beobachter machten sich bereit, die Wahlen in Managua zu überwachen. Im Dezember 1989 besetzten die USA Panama und setzten General Manuel Noriega wegen Korruption und Drogenhandels ab. Eine der Rechtfertigungen dieser Aktion war die Feststellung, daß Noriega im Mai 1989 die Wahlen gestohlen habe. Es war für die Sandinisten ein deutlicher Hinweis auf die möglichen Folgen eines Wahlschwindels. Die amerikanische Öffentlichkeit hätte unter normalen Umständen eine Invasion in Nicaragua sicher nicht akzeptiert, aber wenn die Sandinisten die Wahl gestohlen oder versucht hätten, die Ergebnisse zu verfälschen, hätte das auch anders sein können. Am 25. Februar 1990 fand die Wahl plangemäß statt. Es gab einen lebhaften Wahlkampf, der von einer Schar Ausländer genau verfolgt wurde, darunter auch Delegierte der UNO und der OAU, die alle die Wahl als korrekt bezeichneten. Einer der Beobachter war auch der amerikanische Ex-Präsident Jimmy Carter. Die Sandinistas führten einen professionellen, demokratischen Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild, mit bunten Versammlungen, Kapellen, Ballons und viel öffentlicher Begeisterung. Der Wahlkampf der Opposition war schläfrig, verwirrt und von den Differenzen der 14 Parteien geprägt. Obendrein hatte sich Violetta Chamorro das Knie gebrochen und mußte einen Teil der Kampagne im Spital zubringen. Ortega war von seinem Sieg überzeugt, der Wirtschaftskrise zum Trotz, da die Oppositions-Allianz von den USA finanziert und unterstützt war (obwohl die US-Unterstützung bei weitem nicht alles abdeckte, was die Allianz brauchte). Die Nicaraguaner mögen wie die meisten Völker keine ausländische Einmischung in ihre internen Angelegenheiten. Diesmal stellte sich heraus, daß sie ihre eigene Regierung noch mehr ablehnten. Chamorro gewann 55 Prozent der -825-
Stimmen, Ortega 41 Prozent. Ortega versprach, die Macht am 25. April gemäß der Verfassung ordnungsgemäß zu übergeben œ was er auch tat. Die neue Präsidentin sah sich großen Problemen gegenüber: Die Entwaffnung der Contras stieß auf vielerlei Schwierigkeiten und Verzögerungen. Und sie mußte ihre Regierung auf einem System von Verwaltung, Polizei und Armee aufbauen, das den Sandinisten ergeben ist. Sie fand sich in der gleichen Situation wie die neuen nichtkommunistischen Regierungen in Osteuropa œ mit dem Unterschied, daß sie notfalls in den USA um Hilfe rufen konnte. Es wird für die USA wohl leichter sein, Nicaragua zu relativem Wohlstand zurückzuführen als etwa Polen oder Rumänien.
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PANAM‰ Geographie: 75.650 km2. Bevölkerung: 2,180.000. BSP: 2.330 $/Einw. GESCHICHTE Seit dem frühen 16. Jahrhundert hat Panama die Brückenfunktion zwischen den Ozeanen. Ciudad de Panama war ein wichtiger spanischer Stützpunkt. Silber aus Peru wurde an die Küste gebracht, und die halbjährlichen Acapulco-Calleonen brachten Seide aus China, die von Panama auf Maultierkarawanen über die Landenge nach Colon in der Karibik gebracht und von dort nach Spanien weiterverschifft wurde. 1671 verwüstete und brandschatzte der englische Pirat Henry Morgan Panama. Die neue Stadt wurde dann einige Kilometer neben der alten errichtet, auf einer Halbinsel, wo nun der Kanal den Pazifik erreicht. Die Ruinen der alten Stadt sind eines der eindrucksvollsten Denkmäler der Neuen Welt. Nach dem Zusammenbruch des spanischen Weltreichs gehörte der Isthmus von Panama zu Kolumbien und wurde vom weit entfernten Bogota aus regiert. Er war immer noch der einfachste Weg vom Atlantik in den Pazifik. Die Panamaer waren mit ihrer Abhängigkeit von Kolumbien dauernd unzufrieden. Mehrere Aufstände wurden niedergeschlagen. Im späten 19. Jahrhundert gründete Ferdinand de Lesseps, jener kühne Unternehmer, der den Suez-Kanal geschaffen hatte, in Frankreich eine Aktiengesellschaft zur Errichtung eines Kanales quer durch den Isthmus von Panama. Internationale Verträge wurden unterschrieben, und zwanzig Jahre lang arbeiteten die Franzosen im Dschungel. Sie wurden von Gelbfieber und Malaria, deren Ursachen damals noch nicht bekannt waren, weggerafft, mit ungeahnten technischen Schwierigkeiten konfrontiert, die alles überstiegen, was sie sich hatten träumen lassen, und von Kosten überrascht, die die Kapazität jeder privaten Gesellschaft bei weitem überstiegen. Die Panama-Kanal-Gesellschaft ging 1888 in Konkurs. Zunächst wurde zwar eine neue Gesellschaft gegründet, die die Arbeit -827-
in verringertem Umfang fortführte, aber es wurde bald klar, daß nur eine Regierung den Kanal vollenden würde können œ und dafür kam nur die Regierung der USA in Frage. Anfang des 20. Jahrhunderts beschlossen die Amerikaner unter ihrem enthusiastischen Präsidenten Theodore Roosevelt, den Kanal zu bauen. Nach hitzigen Debatten über den Standort œ auch Nicaragua stand zur Wahl wurde Panama bestimmt, die Anlagen der französischen Firma wurden aufgekauft und Verhandlungen mit Kolumbien aufgenommen. Da sahen die Bürger von Panama ihre Chance und revoltierten am 3. November 1903. Die US-Regierung war im voraus informiert worden, und so lief am selben Tag in Colon ein amerikanisches Kriegsschiff ein und übte auf die Kolumbianer Druck aus. Die neue Republik wurde von Washington sofort anerkannt, und den Kolumbianern, die sich plötzlich des wertvollsten Teiles ihres Landes beraubt sahen, wurde eine Lektion in YankeePerfidie erteilt, die sie nicht vergessen haben. 1921 entschlossen sich die USA zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 25 Millionen Dollar, aber der Groll blieb bestehen. Nach seiner Präsidentschaft brüstete sich Roosevelt: ‡Ich habe den Kanal geholt!— In einer Kabinettssitzung mußte er seine Vorgangsweise verteidigen und fragte dann: ‡Habe ich nun die Vorwürfe geklärt? Habe ich mich gerechtfertigt?— Sein Verteidigungsminister, Elihu Root, antwortete: ‡Das haben Sie sicherlich, Mr. President. Sie haben dargelegt, daß Sie der Verführung beschuldigt werden, aber eingestanden, daß Sie wegen Vergewaltigung schuldig gesprochen werden müssen.— Der Kanal wurde im August 1914 eröffnet. Das Ereignis wurde von den Nachrichten aus Europa überschattet. Es war und ist eine der herausragenden Ingenieursleistungen der Welt. Nach der Entdeckung, daß Gelbfieber und Malaria durch Moskitos übertragen werden, konnte die Todesrate wesentlich vermindert werden. Der US-Kongreß gab das Geld, die US-Armee überwachte die Arbeit, und der PanamaKanal wurde ein Gegenstand des nationalen Stolzes. Der Vertrag zwischen den USA und der neuen Republik Panama war eindeutig zu Gunsten der Amerikaner abgefaßt. Der Franzose Philippe Bunau-Varilla, ein früherer Direktor der bankrotten Panama -828-
Kanal-Gesellschaft, hatte ihn mit dem ausdrücklichen Ziel erstellt, die Unterstützung des US-Kongresses zu gewinnen. Er sah vor, daß die Kanal-Zone ein 16 Kilometer breiter Streifen von Colon bis Panama sein sollte und daß innerhalb der Zone die USA alle ‡Rechte, alle Macht und Autorität— haben sollten, die ‡die USA haben und ausüben würden, wenn sie die Hoheit über dieses Gebiet hätten ... mit dem ausdrücklichen Verzicht der Republik Panama auf die Ausübung ihrer Hoheitsrechte, Macht oder Autorität in der Zone.— Die Zone sollte in alle Ewigkeit von Amerika verwaltet werden. Die Bürger von Panama zogen aus dem Kanal großen Gewinn: 1986, bevor die Probleme mit Noriega begannen, betrug ihr Pro-KopfJahreseinkommen 2.330 Dollar, verglichen mit 1.230 $ in Kolumbien und 1.420 $ in Costa Rica. Die Anwesenheit der Amerikaner war einerseits ein Vorteil, anderseits erdrückte sie alles andere. Die wahre Landeswährung war der US-Dollar, vom offiziellen Bolivar gab es nicht einmal Banknoten. Die Nationalversammlung wurde in Ciudad de Panama am Fuß eines kleinen Hügels errichtet. Die Kanal-Zone begann auf der Spitze dieses Hügels, die Grenze wurde durch eine riesige Fahne an einem hohen Mast signalisiert, die genau über der Nationalversammlung wehte. Das Symbol war unmißverständlich. In der Zone waren mehr als 10.000 amerikanische Soldaten stationiert und große Armee- und Luftwaffe-Stützpunkte angelegt. Die Einwohner der Zone lebten einen amerikanischen Alltag in den Tropen und betrachteten ihr Gebiet als einen Teil der Vereinigten Staaten, der zufällig vom restlichen Staatsgebiet abgeteilt war. Verschiedene Regierungen Panamas versuchten, diesen KanalVertrag abzuändern, da er ungerecht und offenkundig durch Korruption und einen Staatsstreich zustandegekommen war. Die Amerikaner schenkten aber den panamaischen Beschwerden kein Gehör. Es war ihr Kanal, gebaut mit amerikanischer Technologie und amerikanischem Kapital, und er war lebenswichtig für die amerikanische Sicherheit. Diese Haltung änderte sich erst in den sechziger Jahren, als manche Amerikaner begannen, nach der moralischen Seite dieses Neo-Kolonialismus zu fragen und als die Entwicklung der Luftstreitkräfte die militärische Bedeutung des Kanals minderte. Als es 1966 zu ernsthaften antiamerikanischen Demonstrationen kam, eröffnete Präsident Lyndon Johnson offizielle -829-
Verhandlungen über die Änderung des Kanal-Vertrages. Im Oktober 1968 wurde die Zivilregierung von Panama vom Kommandeur der Panama Defence Forces (PDF), General Omar Torrijos, gestürzt. Er erklärte als sein Hauptziel die Revision des Vertrages, worunter er die volle Souveränität Panamas über die KanalZone verstand. Die Verhandlungen dauerten weitere zehn Jahre und wurden 1977 abgeschlossen. Die Ratifikation des neuen Vertrages durch den US-Senat ist eines der Hauptverdienste der Regierung Carter. Die konservativen Republikaner, angeführt von Ronald Reagan, wehrten sich dagegen erbittert. Sie vertraten die Meinung, ‡es gibt keinen Panama-Kanal. Es gibt nur einen amerikanischen Kanal in Panama.— Sie bezeichneten die ‡Weitergabe— des Kanals als Verrat. Es war ein sentimentaler Rückfall in den Imperialismus. Gemäß diesem Vertrag ziehen sich die USA allmählich aus Panama zurück. Als erster Schritt wurde die Zone aufgegeben und Panama die volle Souveränität eingeräumt. Die überschattende Fahne wurde entfernt. Die amerikanischen Stützpunkte blieben bestehen. Allmählich sollen die Amerikaner ihre Soldaten abziehen, die letzten im Jahr 2000. Ein bedeutendes Datum war der 1. Januar 1990, als erstmals ein Panamaer Verwaltungschef des Kanals wurde. MANUEL ANTONIO NORIEGA Torrijos war jahrelang tief verstrickt in den Drogenhandel und ließ zu, daß Panama als Umschlagplatz für Heroin und Marihuana in die USA diente. Er näherte sich auch Fidel Castro an. Torrijos starb 1981 bei einem Flugzeugabsturz. Nach einigem Hin und Her übernahm Oberst Manuel Antonio Noriega, der Chef des Geheimdienstes, im März 1983 die Macht. Seine offizielle Position war Kommandeur der Panama Defence Forces. Es gab einen zivilen Präsidenten, den die PDF eingesetzt hatte und der von ihr abhängig war. Der Präsident, der 1984 in einer manipulierten Wahl gewählt wurde, erwies sich sehr rasch als unerwartet aufsässig und wurde 1985 durch Eric Delvalle abgelöst. Die Beziehungen zwischen Panama und den USA blieben weiterhin freundschaftlich. Panamas Bankwesen hatte das Land zu einer Art lateinamerikanischer Schweiz gemacht, mit noch weniger Einschränkungen des freien Kapitalmarktes als in der Schweiz. Die -830-
anwachsende kolumbianische Drogenindustrie bediente sich des panamaischen Bankensystems als einer perfekten Geldwaschmaschine. De facto war es ein Teil der USA, dessen Banken außerhalb der amerikanischen Kontrolle lagen. Der Gewinn aus dem illegalen Drogengeschäft in den USA konnte über anonyme Konten transferiert werden, ohne daß jemand Fragen stellte. Lange Jahre wollten sich die Amerikaner um diese Tatsachen nicht kümmern. Noriega war für die Regierung Reagan in ihrem Hauptproblem, dem Bürgerkrieg in Nicaragua, viel zu nützlich. Seit seiner Militärakademiezeit stand er im Sold der CIA. Er belieferte den Geheimdienst mit wertvollem Material über seine Freunde in Nicaragua und Kuba. Noriega brüstete sich immer wieder seiner sozialistischen Neigungen, ohne jemals marxistische Theorien in Panama durchzusetzen zu versuchen. Noriegas Verbindungen mit der CIA blieben in den siebziger Jahren noch geheim. Damals war er Chef des panamaischen Geheimdienstes, der CIA-Direktor war George Bush. Sein Nachfolger unter der Regierung Carter, Admiral Stansfield Turner, beendete diese Vereinbarung, aber Reagans CIA-Direktor William Casey holte Noriega 1981 um 185.000 Dollar im Jahr in den Dienst der CIA zurück und erntete dafür einigen Dank, als Noriega zwei Jahre später an die volle Macht gelangte. Man brauchte ihn für den Krieg gegen die Sandinisten, und für Reagan und Casey hatte das damals eine größere Bedeutung als der Drogen-Krieg. Im Dezember 1983 flog Vize-Präsident Bush nach Panama, um diese Angelegenheiten mit Noriega zu besprechen. Casey und Oberstleutnant Oliver North, der im Nationalen Sicherheitsrat für die Unterstützung der Contras in Nicaragua zuständig war, trafen regelmäßig mit ihm zusammen. Auch die Anti-Drogen-Behörden arbeiteten mit Noriega zusammen. Er versorgte die DEA mit nützlichen Informationen über die Aktivitäten des MedellinDrogenkartells. Noriega war nicht zufrieden mit verschwiegenen Millionen. Er bot den Führern des Drogenkartells Asyl in Panama, als sie nach der Ermordung des Justizministers 1984 Kolumbien verlassen mußten. Sie bezahlten für seine Dienste 5 Millionen Dollar. Seine Regierung wurde immer korrupter und brutaler. Alimählich verwandelte er sich in einen mittelamerikanischen Trujillo oder Batista. -831-
Ab 1987 übten die USA Druck auf Noriega aus, daß er entweder seinen Stil verändern oder zurücktreten müßte. Amerikanische Zeitungen veröffentlichten zahlreiche Artikel über seine Verbindungen zu Drogenschmugglern, und Kongreßabgeordnete stellten laut die Frage, wie die Regierung einen Mann als Alliierten akzeptieren könne, der in das Drogengeschäft verstrickt sei. Am 4. Februar 1988 erhob ein Bundesgericht in Miami gegen Noriega Anklage wegen Drogenhandels. Die Regierung Reagan wurde dadurch verunsichert. Es schien, als würde die Unke Hand nicht wissen, was die rechte tat. Es war auch eine offene Frage, ob nach internationalem Recht ein amerikanisches Gericht ausländische Regierende wegen der Verletzung amerikanischer Gesetze anklagen konnte. Es war ein ungewöhnlicher Fall: Kein amerikanisches Gericht hatte jemals Khomeini wegen Kidnapping belangt, oder Gaddafi wegen Terrorismus. Am 25. Februar entließ der nominelle Präsident von Panama, Eric Delvalle, mit der Unterstützung der Amerikaner Noriega als Kommandeur der PDF. Daraufhin setzte Noriega sofort Delvalle als Staatsoberhaupt ab. Die Vereinigten Staaten aber betrachteten weiterhin Delvalle als den rechtmäßigen Präsidenten und verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Panama. Die panamaischen Konten in amerikanischen Banken wurden eingefroren, so daß das Land bald kaum noch importfähig war. Daher begann die Wirtschaft des Landes allmählich zusammenzubrechen, obwohl Noriega stets über genügend Geld verfügte, um seine Soldaten zu bezahlen. Es gab Demonstrationen und Proteste, die von der PDF brutal niedergeschlagen wurden. Im März 1988 kam es zu einem Staatstreichversuch, den Noriega leicht abwehren konnte. Die Amerikaner erwogen allmählich gewaltsame Maßnahmen gegen Noriega. Der Kongreß lehnte es ab, einen Putsch zu unterstützen, falls Noriega dabei ermordet werden sollte. Dann wurde Noriega ein Handel angeboten: Wenn er Panama verließe, würden die Anklagen gegen ihn fallengelassen und er dürfte sein illegal erworbenes Vermögen in Frieden genießen œ am besten in Europa. Im letzten Moment platzte der Handel. Obwohl die ganze Aktion streng geheim abgewickelt worden war, warf sie im Präsidenschaftswahlkampf von 1988 ein schiefes Licht auf George -832-
Bush: Er wurde beschuldigt, mit einem berüchtigten Drogenhändler gehandelt zu haben. Im Mai 1989 fanden in Panama Präsidentenwahlen statt. Zahlreiche Ausländer, an der Spitze der frühere amerikanische Präsident Jimmy Carter, waren als Wahlbeobachter in Panama. Noriegas Kandidat fiel eindeutig durch, und der General annullierte einfach die Wahlen. Es war ein klarer Fall von Wahlbetrug, und Carter informierte die Weltöffentlichkeit. Die Polizei verprügelte Anhänger der Opposition, und es gibt Filmaufnahmen, die zeigen, wie der Vizepräsidentenkandidat der Opposition blutig geschlagen wurde. Am 3. Oktober versuchte eine kleine Gruppe PDF-Offiziere den Sturz Noriegas. Es war ein hoffnungslos stümperhaft angelegter Putsch. Die Verschwörer sperrten Noriega in seinem Hauptquartier ein, ließen es aber zu, daß er seine Leute anrufen und Verstärkung holen konnte. Die Amerikaner wurden erst zu Hilfe gerufen, als es zu spät war. Noriegas Soldaten umstellten das Hauptquartier, und die Verschwörer mußten sich ergeben. Die Anführer wurden hinausgeführt und erschossen. Für Bush bedeutete das einen bösen Zwischenfall. Es schien, als wären die USA außerstande, in einem Land, das sie praktisch beherrschten, Noriega loszuwerden. Die Vorbereitungen für eine Invasion wurden getroffen. Am 15. Dezember 1989 ließ sich Noriega von der Nationalversammlung zum Staatsoberhaupt und ‡Führer des Kampfes um die nationale Befreiung— ausrufen. Die Nationalversammlung beschloß, daß ‡die Republik Panama sich für die Dauer der amerikanischen Aggression im Kriegszustand mit den USA befinde—. Damit waren die wirtschaftlichen Sanktionen gemeint. Am nächsten Tag fuhren vier amerikanische Soldaten nach Dienstschluß mit einem Privatwagen durch Ciudad de Panama. Sie nahmen die falsche Abzweigung und fuhren an der Commandancia vorbei, dem Hauptquartier Noriegas. Dabei wurden sie von panamaischen Wachen gestoppt. Als sie nach einem Wortwechsel weiterfuhren, wurde einer der vier, Marineinfanterieleutnant Robert Paz, erschossen. Am selben Tag wurden auch ein Marineleutnant und seine Frau verhaftet und vier Stunden festgehalten, währenddessen der Offizier mißhandelt und seine Frau mit Vergewaltigung bedroht wurde. Bush erteilte am nächsten Tag den Befehl zur Invasion. Die -833-
Truppen waren alarmiert und griffen in den Morgenstunden des 20. Dezember an. Das Unternehmen lief unter dem Decknamen ‡Gerechte Sache—, 12.000 amerikanische Soldaten und Marineinfanteristen, Fallschirmjäger und Green Berets waren daran beteiligt. Fünf Sonderkommandos griffen spezielle Ziele an: eines die Commandancia, eines die PDF-Kaserne in Rio Hato und die Einheit, die Noriega im Oktober gerettet hatte, ein anderes sicherte das Gefängnis, wo noch Überlebende dieses Putschversuchs und ein CIAAgent saßen. Noriega verschwand, und die Amerikaner setzten eine Million Dollar auf seinen Kopf aus. Einige seiner Einheiten leisteten erbitterten Widerstand, wurden aber durch die überwältigende Feuerkraft der Amerikaner besiegt. Manche ihrer Stellungen wurden durch Bomben völlig zerstört. Mindestens 220 panamaische Zivilisten und 314 Soldaten starben. Die Amerikaner gaben 23 Soldaten und drei Zivilisten als Verluste an. 324 Amerikaner und 124 Panamaer wurden verletzt. Im Frühjahr 1990 wurden die Verluste der Zivilbevölkerung weit höher angegeben. Panamaer nützten die Gelegenheit, alle Geschäfte in der Hauptstadt zu plündern. Von Polizei und Armee war nichts zu sehen, und das Stadtzentrum wurde zerstört. Die Amerikaner hatten Guillermo Endara als Präsident eingesetzt, der die Wahlen im Mai gewonnen hatte. Er wurde eilig auf einen amerikanischen Stützpunkt in Panama gebracht und in den ersten Stunden der Invasion zusammen mit zwei Vizepräsidenten vereidigt. Er sah sich mit der Aufgabe konfrontiert, nicht nur eine ruinierte Wirtschaft wiederaufzubauen, sondern auch einen Staat, der mehr als zwanzig Jahre lang unter Militärdiktaturen gelitten hatte und tief gespalten war. Die vordringliche Aufgabe war die Aufstellung von Polizei- und Armeeeinheiten, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Amerikaner würden sich bald wieder zurückziehen, und er brauchte Soldaten zum Schutz seiner neuen Regierung. Es bestand die Gefahr, daß er sie unter früheren PDFMitgliedern finden würde, die sich nicht leicht an eine Zivilregierung gewöhnen würden. Noriega suchte Zuflucht in der vatikanischen Nuntiatur. Zunächst gab es ein diplomatisches Hickhack, und die Amerikaner versuchten mit allen Mitteln, ihn aus dem Gebäude herauszuholen œ zuletzt -834-
spielten sie mit größter Lautstärke Rockmusik. Auf der Suche nach Waffen drangen amerikanische Soldaten in die Botschaft von Nicaragua ein, und die US-Regierung mußte sich entschuldigen œ mit der lahmen Ausrede, die Soldaten hätten nicht gewußt, daß das Gebäude unter diplomatischer Immunität stand. Am 10. Januar 1990 gab Noriega auf œ einen Tag, nachdem die neue Regierung eine Massendemonstration gegen ihn organisiert hatte; der Mob hätte die Nuntiatur gestürmt und ihn gelyncht, wäre das Gebäude nicht von amerikanischen Soldaten abgeschirmt worden. Er wurde nach Miami ausgeflogen, um dort vor Gericht gestellt zu werden. Die Vereinigten Staaten rechtfertigten die Invasion Panamas mit dem Artikel 51 der UNO-Charta, der das ‡Recht auf Selbstverteidigung—' vorsieht. Sie meinten auch, daß Panama den USA den Krieg erklärt hätte und sich nicht wundern durfte, ernst genommen zu werden. Diese Rechtfertigung wurde in der Organisation Amerikanischer Staaten von praktisch allen lateinamerikanischen Regierungen abgelehnt. Nicaragua, das selbst jahrelang eine solche Invasion erwartet hatte, zeigte besondere Empörung. Die meisten Einwohner Panamas scheinen mit dem Abgang Noriegas zufrieden zu sein. Sie hoffen auf eine Wiederkehr des ursprünglichen Wohlstands ihres Landes und halbwegs geordneter Verhältnisse. Das Verhältnis zu den USA ist durch die später erst bekanntgewordene brutale und gesetzwidrige Vorgangsweise der amerikanischen Streitkräfte bei der Invasion angespannt.
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PERU
Geographie: 1,285.216 km2. Davon sind 60 Prozent Dschungel im Amazonasgebiet, wo 5 Prozent der Bevölkerung leben. Der Rest ist ein schmaler Küstenstreifen und das Hochland der Anden. Bevölkerung: 21 Millionen Einwohner. 50 % sind Weiße oder Mischlinge und sprechen Spanisch; 50 % sind Indios und sprechen Quechua. 6 Millionen leben in Lima. Rohstoffe: Vor allem Silber. Peru ist auch das weltgrößte Anbaugebiet von Coca œ dessen Derivat Kokain ist œ, es produziert mehr als Bolivien und Kolumbien zusammen. BSP: 1.130 $/Einw. Verluste: Seit 1980 sind mindestens 17.000 Menschen getötet worden. Die »Kommunistische Partei von Peru für den Leuchtenden Pfad— von Jose Carlos Mariategui œ oder ‡Sendero Luminoso— œ ist die rätselhafteste und wildeste lateinamerikanische Terrororganisation. Sie ist eine radikale kommunistische Partei, die ihren Namen von einem Satz herleitet, den der Gründer der peruanischen KP, der 1930 starb, gesagt hat. ‡Marxismus-Leninismus wird den leuchtenden Pfad zur Revolution freimachen—. Ihre Helden sind Mao Tsetung und die Viererbande, die chinesischen Extremisten unter Anführung von Maos Witwe, die nach seinem Tod 1976 versucht hatten, die Kulturrevolution fortzusetzen und einen Monat später gestürzt wurden. In ihrem fanatischen Maoismus kommen ihnen vielleicht die Roten Khmer in Kambodscha am nächsten. Am stärksten ist der ‡Leuchtende Pfad— in der Provinz Ayacucho, im südlichen Zentralland Perus in den Anden, aber er hat seine Aktivitäten auf mehr als die Hälfte der 25 Provinzen des Landes ausgedehnt und auch in Lima Bombenanschläge verübt. In den Gebieten unter seiner Kontrolle führt er unter den Bauern ein grausames Regime, so daß diese manchmal verzweifelt um ihr Leben kämpfen. Die Armee hat in den betroffenen Gebieten ebenfalls eine Art Terrorregime aufgezogen, um die Senderistas auszurotten, aber bislang ohne Erfolg. Der Aufstand, der 1980 begonnen hat, ist -836-
mittlerweile zu einem Bürgerkrieg geworden, in dem zumindest 17.000 Menschen getötet worden sind. GESCHICHTE Unter den Inkas war Peru das größte der vorkolumbianischen Reiche, das sich über das Gebiet des heutigen Ecuador, die Anden und die Küstengebiete von Peru und Bolivien, das nördliche Chile und Teile Argentiniens erstreckte. Die Hauptstadt war Cuzco in den Anden. Das Reich wurde 1531 von Francisco Pizarro mit 183 Männern erobert. Er verlegte die Hauptstadt an die Küste nach Lima, und seither bestehen immer Spannungen zwischen den Abkömmlingen der Indios, die Quechua sprechen, und den Spanisch sprechenden Bewohnern der Städte in der Ebene. Peru gewann 1821 seine Unabhängigkeit von Spanien, zusammen mit den anderen Ländern des spanischen Südamerika und Mittelamerikas. Seither wurde es von einer langen Reihe Oligarchien und Militärdiktaturen regiert œ die oft eng verknüpft waren; gelegentlich gab es auch Versuche von Demokratie. Die letzte Militärregierung, die in den siebziger Jahren herrschte, brach die Oligarchie auf, indem sie ihre wirtschaftliche Vormachtstellung angriff. So kontrollierte beispielsweise eine Zuckerfirma, die einer Handvoll Leuten gehörte, ein Anbaugebiet, das großer war als Belgien. 1980 übergab die Militärregierung die Macht an die Zivilisten; sie litt an politischer Auszehrung und stand unter ständigem Druck der Regierung Carter. Fernando Belaunde Terry wurde zum Präsidenten gewählt. Ihm folgte 1985 der damals fünfunddreißigjährige Alan Garcia Perez. Er war der Führer der ‡Alianza Populár Revolucionaria Americana— (APRAI, einer Partei, die seit ihrer Gründung im Jahr 1924 ständig in Opposition gestanden war. Seine früheren Wahlsiege waren stets von den Militärs einkassiert worden. Peru betreibt eine unabhängige Außenpolitik, neigt zum AntiAmerikanismus, weigert sich aber, sowjetischem Einfluß anheimzufallen. Präsident Garcias Beziehungen zu Kuba waren immer kühl. Perus Hauptproblem, abgesehen vom ‡Leuchtenden Pfad—, ist die Wirtschaft. Wie die meisten lateinamerikanischen Staaten hat es -837-
große Probleme, seine Wirtschaft zu modernisieren. Obwohl es von großem Reichtum ist, bleibt Peru ein Dritte-Welt-Land mit ErsteWelt-Ansprüchen. Großteile der Industrie und das Bankensystem sind verstaatlicht, mit allen Ineffektivsten, die solche Maßnahmen begleiten. In Relation sind seine Auslandsschulden so groß wie die Mexikos. In seiner Amtsantrittsrede verkündete Präsident Garcia, daß Peru seine Rückzahlungen auf zehn Prozent seiner Exporteinkünfte beschränken würde. Drei Jahre lang expandierte die Wirtschaft, die Inflation wurde auf 50 Prozent gehalten, und Peru erlitt keinen besonderen Schaden aus seiner Schuldenpolitik. Zu Anfang 1988 aber schoß die Inflation auf 200, dann auf 400 Prozent hinauf, und die Beschleunigung hielt an. Die Sünden der Vergangenheit rächten sich. Peru ist führender Produzent von Coca-Blättern und steht daher im Drogenkrieg an vorderster Front. Daraus zieht es allerdings auch einen Vorteil: Da es mit den USA im Kampf gegen die Drogenkartelle eng zusammenarbeitet, unternehmen die Amerikaner keine Schritte gegen die Schuldenpolitik. Es ist ein schwieriger Balanceakt. Die fundamentale politische Frage ist, ob das zerrüttete politische System des Landes und die katastrophale Wirtschaftssituation einen marxistischen Aufstand überstehen können, oder Druck von den Drogen-Baronen, oder die tiefen sozialen Klüfte zwischen Spaniern und Indios, die bis in die Conquista zurückreichen. DER KRIEG Der Sendero-Aufstand ist zum Teil ein Aufstand der Indio-Bauern gegen eine fremde und gleichgültige Regierung, ähnlich den Konflikten in Mittelamerika, aber die Ideologie ist städtisch, spanisch und marxistisch. Eine Gruppe extremer Marxisten etablierte sich in den sechziger Jahren an der Universität von Ayacucho auf dem Hochplateau der Anden, in einer Region, die abgelegen, arm und vernachlässigt ist. Die Universität war eingerichtet worden, um den Indios Bildung zu vermitteln und Ingenieure, Lehrer und andere auszubilden, die dann wieder in ihre Dörfer zurückkehren und sie aus der Finsternis der Jahrhunderte herausholen sollten eine Art Peace Corps. 1968 hatten die Senderistas die volle Kontrolle über die -838-
Universität und ihre Lehrpläne. Nach dem Streit zwischen China und der Sowjetunion spaltete sich die KP in Peru 1964. In Ayacucho gewann die prochinesische Fraktion, die sich ‡Leuchtender Pfad— nannte, die Oberhand. Sie vertrat eine Politik von maoistischem Extremismus und pries die Kulturrevolution. Die Senderistas verabscheuen die Russen mindestens ebensosehr wie die Amerikaner. Der Führer des ‡Leuchtenden Pfad— war Abimael Guzman Reynoso, bekannt als ‡Gonzalo—. Er wurde 1934 in Mollendo geboren, einer Stadt an der Südküste von Peru, als Sohn einer unverheirateten Mutter und ihres verheirateten Liebhabers. Er studierte Rechtswissenschaften und Philosophie und wurde 1962 Philosophiedozent an der Universität von Ayacucho. Während der Kulturrevolution war er in China. Er wurde der Führer der marxistischen Theoretiker an der Universität, und 1968 beherrschte er sowohl die Ideologiedebatte wie auch die Universität. Eine Weile war er Personaldirektor und konnte so seine Gefolgsleute in jede erdenkliche Position bringen, vom Professor bis zum Hausmeister. Senderistische Professoren lehrten Marxistische Dialektik und die Philosophie von Mao Tsetung und gewannen eine ganze Studentengeneration für ihre Sache. Die jungen machten ihre Prüfungen als Lehrer und als Senderistas und gingen in ihre Dörfer zurück, um dort die Heilslehre zu predigen, ohne sich allzusehr auf den Großen Vorsitzenden Mao und andere chinesische Ideologen zu beziehen, die in den Andendörfern den Bauern recht fremd gewesen wären. So wie Lenin Intellektuelle und Arbeiter als Kader für den Bolschewismus gewann und Mao chinesische Bauern, so benützte Cuzman die Lehrer. Auf diese Weise hat sich der ‡Leuchtende Pfad— in der peruanischen Gesellschaft ausgebreitet. In allen Dörfern der Andenregion gibt es Zellen. Die Senderistas stützen sich auf Tausende ergebener Gefolgsleute für ihre militärischen Operationen und können auf Unterstützung und Schutz rechnen. Mitte der siebziger Jahre, nach Maos Tod, unterstützten sie die Viererbande, und die heutige chinesische Regierung gilt ihnen als konterrevolutionär, wie die sowjetische Regierung. 1986 verübten sie Bombenanschläge auf die sowjetische Botschaft in Lima und auf ein Geschäft für sowjetische -839-
Seeleute in Callao. Die Senderisten genießen im Gegensatz zu den Sandinisten in Nicaragua und den revolutionären Gruppen in El Salvador oder Guatemala auch keine Unterstützung von außen. Anti-Sendero-Kräfte an der Universität von Ayacucho schlugen zurück, und 1978, während eine Militärregierung an der Macht war, gingen die Senderistas in den Untergrund. Ihr Zentrum bleibt um Ayacucho, in Gebieten, die direkt unter Guzmans Einfluß gestanden sind. Seine Anhänger betrachten ihn als das ‡vierte Schwert— der kommunistischen Revolution œ neben Marx, Lenin und Mao, und sein Buch gilt ihnen so viel wie den Chinesen einst die Sprüche des Vorsitzenden Mao. 1984 tauchte eine rivalisierende marxistische Terrororganisation auf, die ‡Tupac Amaru Revolutionsbewegung (MRTA). Der Name stammt von einem Inka-Rebellen gegen die Spanier. Auch uruguayische Terroristen haben ihn benützt, die sich allerdings Tupamaros nannten. Die MRTA soll 200 bis 300 Mitglieder haben, hauptsächlich Studenten. Anders als die Senderistas verstehen sie sich als typische städtische lateinamerikanische revolutionäre Gruppe, die bei Kuba und der UdSSR Unterstützung sucht. Im November 1987 begannen sie eine Landkampagne und eroberten eine Reihe von Dörfern im Amazonas-Dschungel. Die Armee schlug sofort zurück und kämpfte sie nieder. Die Senderistas begannen ihre militärischen Aktivitäten 1980. am 17. Mai, während der ersten freien Wahlen Perus seit Jahren, griff der ‡Leuchtende Pfad— ein Wahllokal in einem Dorf bei Ayacucho an. Dann begannen Angriffe auf Polizeistationen und Dorfhonoratioren, und die Machtübernahme in abgelegenen Dörfern. Die Senderistas folgten dem Rat Maos, das Land zu benützen, um die Städte zu ersticken. Das bedeutet, daß sie Gebiet erobern und halten müssen und damit der Armee Angriffsfläche bieten. Eine große Zahl Polizisten wurde nach Ayacucho geschickt, um sie zu bekämpfen. Die Jahre unter der Militärregierung hatten die Polizei zu einer brutalen und gleichermaßen unfähigen Truppe gemacht. Es gab viele Fälle von Folter, Vergewaltigung, Verstümmelung und Mord, mit dem Resultat, daß sich Hunderte junge Menschen dem ‡Leuchtenden Pfad— anschlossen und in die Berge gingen. -840-
Die Senderistas waren gleichermaßen brutal, und die Dorfbewohner hingen dazwischen. Manche von ihnen wehrten sich und töteten Senderistas, wo sie nur konnten. Im Januar 1983 töteten Indios im abgelegenen Andendorf Huayacho sieben Senderistas, die ins Dorf gekommen waren und sie aufgefordert hatten, sich dem ‡Leuchtenden Pfad— anzuschließen. Später stellte sich heraus, daß unter den Getöteten auch vierzehn- und fünfzehnjährige Schulkinder waren. Eine Gruppe von acht Journalisten machte sich zur Untersuchung der Angelegenheit auf die Reise in das Dorf. Die Indios hielten sie für Senderistas, die ihre Kameraden rächen wollten, und töteten sie ebenfalls. Der Photograph der Gruppe hatte bis fast zu seinem Ende photographiert, und die Filme wurden intakt gefunden. Sie zeigen, wie die Indios die Journalisten überfielen und die ersten ermordeten. Der berühmte peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa war Mitglied der Untersuchungskommission dieses Zwischenfalls, und sein Bericht war einer der ersten über den ‡Leuchtenden Pfad—, der öffentliches Aufsehen erregte. Er sagte, daß der größte Schock für ihn und die anderen Kommissionsmitglieder die Erkenntnis gewesen sei, welch unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen und den Indios herrsche. Das sei keine Frage der Sprache oder des Einkommens, sondern eine Kluft von Jahrhunderten. Die Senderistas waren mangels ausländischer Unterstützung armselig bewaffnet, bis ihr Bündnis mit den Drogen-Terroristen in den späten achtziger Jahren Früchte trug. Ihre Waffen waren zusammengestohlen oder von Polizisten oder Soldaten erbeutet, oder von ihren Anhängern gebracht. Ihre wichtigste Waffe war Dynamit, das leicht verfügbar ist. Sie sprengten Häuser, verübten Bombenanschläge auf militärische und zivile Einrichtungen, und immer wieder gegen die peruanischen Elektrizitätsanlagen; regelmäßig flogen Strommaste in die Luft, und in Lima wurde die Stromversorgung häufig unterbrochen. Sie setzten auch weiterhin ihre seltsamen politischen Prioritäten. Im Dezember 1980 hängten sie an Laternenmasten in Lima Hunde auf, um zu demonstrieren, was sie von den ‡Speichelleckern des Imperialismus— hielten und beklebten die Hauswände mit Plakaten, auf denen sie Deng Hsiaoping schmähten und die Viererbande priesen. -841-
Der Krieg im Land war wild und gnadenlos. Wenn die Senderistas ein Dorf erobern, erschießen sie jeden wichtigeren Einwohner, der ihnen Opposition bieten könnte. Manchmal revoltieren dann die Dorfbewohner und töten soviele Senderistas, wie sie nur können, was auch zu regelrechten Schlachten führt. Die Streitkräfte sind genauso brutal, und es gibt zahllose Berichte von Massakern in den Anden. Die schlimmsten Mörder sind die peruanischen Marinesoldaten. Amnesty International hat genaue Berichte über den ‡schmutzigen Krieg— in Peru. In der ‡Kampfzone— und um Ayacucho wurden Massengräber gefunden, und auch über Massaker, die von Polizisten verübt wurden, gibt es zahlreiche Berichte. In einem Bericht von 1985 listete Amnesty 1.005 Fälle von ‡Verschwundenen— aus den Jahren 1983 und 1984 auf, aber das ist zweifellos nur ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Amnesty stellt fest: In den meisten Fällen der politischen Morde in den Ausnahmezustandsgebieten, die den Regierungskräften angelastet werden, sind die Körper der Opfer nackt, durch Folter entstellt und mit Einschußlöchern im Kopf gefunden worden, oft auch mit verbundenen Augen, mit am Rücken gefesselten Händen. Viele Opfer sind unidentifizierbar. Ihre Kleidung ist zerstört, ihre Gesichtszüge sind verstümmelt, und die Körper werden weit weg vom Tatort abgeladen, wo die Verwandten nur schwer hinkommen. Der Unterschied zwischen Peru und Chile oder Argentinien im ‡schmutzigen Krieg— ist der, daß Peru eine Demokratie ist, keine Diktatur. Daher sind auch Proteste möglich, und die Zeitungen berichten über die Morde. Das mindert den militärischen Terror vielleicht ein wenig, aber nicht viel. In Peru sind die Opfer IndioBauern, keine Spanisch sprechenden Mittelschichtjugendlichen in den Städten. Die argentinischen Mütter der Terroristen aus dem Bürgertum, der Linken und unglückseligen Studenten, die ermordet wurden, sind jeden Donnerstag auf der Plaza de Mayo aufmarschiert. Die Mütter und Witwen der Indio-Bauern, die von peruanischen Soldaten oder Marineinfanteristen getötet werden, haben keine solche Möglichkeit. Die peruanische Situation ähnelt mehr Guatemala in den sechziger und siebziger Jahren, als eine Militärregierung mit dem Ziel -842-
der Unterdrückung linken Widerstands Zehntausende Indio-Bauern abschlachtete, ohne viel internationales Aufsehen. Im Juni 1986 meuterten Sendero-Cefangene in drei Gefängnissen in Lima. Sie hatten lange Zeit im Gefängnis eine Art Autonomie genossen: die Wärter durften ihre Zellen nicht betreten; sie hielten ihre eigene Disziplin aufrecht, mit militärischem Training und politischem Unterricht. Garcia schickte die Marineinfanterie, um El Fronton, ein Gefängnis auf einer Insel vor der Küste, zurückzuerobern. Drei Marines und eine Geisel wurden getötet œ und 135 Gefangene. In einem anderen Gefängnis starben 124 Gefangene, als eine ArmeeAnti-Terror-Einheit das Gebäude stürmte. Ohne Zweifel wurden die meisten Insassen lebend gefangen und dann erschossen. Einige wurden auch weggebracht und zuerst gefoltert. 1984 erschienen die Senderistas erstmals im Huellaga-Tal nördlich von Lima, einem der Hauptanbaugebiete für Coca. Sie widmeten sich drei Jahre lang der politischen Arbeit, befolgten die maoistische Taktik, und 1987, nachdem sie ihre Basis begründet hatten, begannen sie militärische Operationen. Sie kämpften gegen Regierungssoldaten und Drogenhändler. Sie übernahmen kleine Städte und führten ‡revolutionäre Gerechtigkeit— ein. Sie sprengten Brücken und töteten die Reparaturtrupps aus Hinterhalten; und immer mehr wurde der unwegsame Dschungel zu ihrer Heimat. Sendero hat sich in den Dienst der Sache der Coca-Bauern gestellt und schützt sie gegen die Versuche der Regierung, dem Drogengewinn den Kampf anzusagen. Die Senderistas haben sich mit den Drogenhändlern verbündet, was sie in ernsthafte Probleme bringen könnte. Die Senderistas erklären zwar, strikt gegen jeden Kokaingenuß in Peru zu sein, haben aber keinen Einwand gegen den Export von Coca-Paste. Sie sind immer knapp an Geld, und die Erträgnisse des Cocahandels würden ihren Bedarf hinreichend decken. Vielleicht korrumpiert sie dieses Geschäft auch, so wie die Linken in Kolumbien und Birma. jeder Mann hat seinen Preis, und ein Bauer, der für den Kampf um die soziale Gerechtigkeit und die Rache am Klassenfeind angeworben wurde, ist vielleicht nicht teuer. Anfang 1988 gaben die Senderistas erstmals Kommuniques heraus, Diskussionspapiere und ausführliche Anklagen gegen die Regierung. -843-
Die Bewegung behauptete, einen Parteikongreß abgehalten zu haben, und veröffentlichte im Februar einen Bericht. Einige dieser Dokumente legten den Schluß nahe, daß der ‡Leuchtende Pfad— seine Strategie geändert hat. Es ist ja ganz schön, die Städte in China einzukreisen, aber Lima einzukreisen, mit nahezu einem Drittel der Bevölkerung, ist eine andere Sache. Sendero kündete an, seine Operationen nun in die Städte hineinzutragen. Das würde bedeuten, daß er mit der MRTA und anderen marxistischen Organisationen in Konflikt geraten könnten, die den Senderistas ablehnend gegenüberstehen. Im Juni 1988 fing die Sicherheitspolizei den zweiten Mann des ‡Leuchtenden Pfad—, Osman Morote, Guzmans engster Vertrauter und der Stratege der Senderistas. Er wurde in einem Haus zusammen mit vier Genossen und einem Haufen Dokumenten über die Pläne der Bewegung gefaßt. Einen Monat später gab Guzman einer sympathisierenden Tageszeitung in Lima ein ausführliches Interview, um zu zeigen, daß der ‡Leuchtende Pfad— weitermachte. Es war seine erste direkte Wortmeldung in zehn Jahren. Er sagte, daß sich der ‡Leuchtende Pfad— auf den Generalaufstand vorbereitete. ‡Der Krisenzustand, in den das verkommene System der peruanischen Gesellschaft eingetreten ist, zeigt an, daß die kommenden Jahre die Bedingungen beschleunigen und die revolutionäre Situation machtvoll entwickeln werden—, sagte er. ‡Unser Fortschritt im Volkskrieg hat uns an die Entscheidung herangeführt. Konsequenterweise müssen wir uns auf den Aufstand vorbereiten, der die Einnahme der Städte bedeuten wird.— Peru ist kein lateinamerikanischer Libanon. Die Andenprovinzen haben noch lange nicht einen Grad der Anarchie erreicht wie Uganda, und die Senderistas haben bei weitern keine Guerillaarmee aufgebaut, die der Regierung gefährlich werden könnte; man nimmt ihre Zahl mit 4.000 bis 5.000 Kämpfern und etwa doppelt soviel Helfern an (die MRTA hat nur einige hundert Kämpfer). Dessenungeachtet nimmt der Senderisto-Krieg für die Regierung einen schlechten Verlauf: Die Sicherheitskräfte können die Städte nicht gegen den ‡Leuchtenden Pfad— verteidigen, und die Dorfmilizen machen sich ihre eigenen Gesetze. Die Menschenrechtsgruppe American Watch veröffentlichte im -844-
November 1988 einen Bericht, in dem sie die Verletzungen der Menschenrechte durch Armee und Polizei anprangerte, die stark zugenommen haben. Eine Todesschwadron, die sich nach einem ermordeten Politiker ‡Kommando Rodrigo Franco— nennt, hat sich in die Kämpfe eingemischt. Angeblich steht sie in Verbindung mit der regierenden Partei der APRA. Mit der Wirtschaft ging es rapid bergab: Die Inflation ist außer Kontrolle geraten und hat 1988 eine Höhe von 1.722 Prozent erreicht, die Arbeitslosigkeit in den Slums von Lima beträgt 60 Prozent. Mit der Wirtschaft brach auch die Popularität von Präsident Garcia zusammen. Im September 1988 unternahm die Regierung einen verzweifelten Versuch, die Situation in Griff zu bekommen und ordnete eine massive Abwertung der Währung und große Preissteigerungen an œ Benzin stieg um 400 Prozent, im selben Monat betrug die Inflation 114 Prozent. Garcia lehnte Hilfe vom Internationalen Währungsfonds ab, da diese an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, ebenso auch die Wiederaufnahme der Schuldenrückzahlung des Landes. So konnte er auch im Ausland kein Geld mehr borgen. Als seine Amtsperiode sich dem Ende zuneigte, war seine Regierung völlig gelähmt. Der Präsident war zutiefst unbeliebt, und seine Politik hatte das Land ins Desaster geführt. 1989 schoß die Inflation auf 5.548 Prozent hinauf, das Bruttosozialprodukt war in zwei Jahren um 20 Prozent gefallen, und Hunderttausende in den Slums, den ‡barrios—, standen am Rande des Hungers. Die Senderistas halten das obere Huellaga-Tal fest unter Kontrolle, wo die Bauern nun ungestört von peruanischer Polizei oder amerikanischer Drogenbehörde ihr Coca anbauen können. Der ‡Leuchtende Pfad— besteuert die Coca-Exporte, wahrscheinlich bis zu 500 Millionen Dollar pro Jahr, genug, um einen ausgewachsenen Guerillakrieg zu finanzieren. Sie müssen jetzt die reichsten Rebellen der Welt sein. Die Regierung gibt zu, daß zwischen 1980 und Ende 1990 rund 17.000 Menschen getötet worden sind, und wahrscheinlich sind es in Wahrheit noch einige tausend mehr. im November 1989 berichtete Amnesty International, daß mehr als 3.000 -845-
Menschen in Polizeigewahrsam ‡verschwunden— sind und daß eine gleiche Zahl von den Sicherheitskräften offen getötet worden ist. Der ‡Leuchtende Pfad— agiert mittlerweile intensiv in den Provinzen rund um Lima, einschließlich jener, wo die meiste Elektrizität des Landes erzeugt und die Hälfte seiner Bodenschätze abgebaut wird. Im Juli und August 1989 sprengten Sendero-Kommandos weitere 70 Strommaste, insgesamt waren es seit 1980 mehr als 1.000. Die Armee hatte einige Erfolge zu vermelden. Im Februar 1989 fing sie den MRTA-Kommandanten, Victor Polay, und im Juni tötete sie die Nummer Drei des ‡Leuchtenden Pfad—, David Orasco Tiello. Sendero kündete an, die Kommunalwahlen im November zu verhindern, was ihm aber nicht gelang. In Lima wurde ein konservativer Besitzer eines Radiosenders zum Bürgermeister gewählt, mit großer Mehrheit über die linken Kandidaten. am 9. Januar 1990 ermordeten die Senderos einen früheren Verteidigungsminister, General Enrique Lopez Albujar. Der ‡Leuchtende Pfad— bereitete offensichtlich eine Kampagne vor, um die Präsidentschaftswahlen im April 1990 zu stören. Die Wahlen brachten ein überraschendes Ergebnis: Der neue Präsident wurde der japanischstämmige Alberto Fujimori. Er trat sein Amt mit einer Gewaltkur für die marode Wirtschaft des Landes an: Preiskontrollen für Milch, Zucker, Brot und Teigwaren wurden abgeschafft, die Benzinsubvention eingestellt. Damit vollzog er eigentlich das Wahlprogramm, dessentwegen der Dichter Mario Vargas Llosa verloren hatte. Für das von völliger Verarmung erfaßte Land scheint eine Katastrophe unabwendbar: die schlimmste Dürre des Jahrhunderts hat über die Hälfte der Kartoffel- und Maisernte vernichtet, mehr als zwei Millionen Menschen sind vom Verhungern bedroht. Eine Situation, in der es leicht zu einem weiteren Militärputsch kommen kann aber was hätten die Generäle davon, nicht nur die Macht zu haben, sondern auch die Verantwortung?
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DER DROGENKRIEG
Der Jahresbericht des US-Außenministeriums über Drogen gab für das Jahr 1990 folgende Schätzungen über die Coca-Produktion in Südamerika: Land
Produktion in
Bebaute Fläche
Vernichtet
Tonnen 1987 Peru 98.000-121.000 Bolivien 46.000- 67.000 Kolumbien 18.000- 23.000 1988 Peru 97.000-124.000 115.630 Hektar Bolivien 57.445- 76.335 49.976 Kolumbien 19.000- 24.200 27.230 1989 Peru 124.408 120.415 Bolivien 65.998 53.920 Kolumbien 33.487 42.500 Total, einschließlich kleiner Mengen aus Ekuador 1987 162.400-211.400 1988 173.745-227.055 1989 223.583
1.285 ha 1.476 230 1.285 2.504 641
Das Außenministerium schätzte, daß die Weltproduktion an Opium sich zwischen 1986 und 1989 verdoppelte, hauptsächlich aufgrund des starken Anstiegs der Produktion in Birma. Die Weltgesamtgewinnung stieg von 1.595-2.525 Tonnen (1986) auf 4.209 Tonnen im Jahr 1989. Die Marihuanaproduktion Mexikos soll von 5.655 Tonnen (1988) auf unglaubliche 47.590 Tonnen im Jahr 1989 gestiegen sein, wobei das Außenamt selbst seine im allgemeinen höchst genauen Schätzungen in Frage stellte. Die Weltproduktion an Marihuana sei demnach von 9.365 Tonnen (1987) auf 52.846 Tonnen (1989) gestiegen. Über die Produktion in den USA machte das US-Außenministerium keine Angaben. Der südamerikanische Drogenhandel hat in einem Dutzend Ländern -847-
Regierung, Gesellschaft und Rechtswesen korrumpiert. Am meisten davon betroffen sind Kolumbien, wo die Regierung gegen die Drogenbarone einen Kampf auf Leben und Tod führt, Panama und die Bahamas (wo die Regierung mit der Drogenmafia ebenso gemeinsame Sache zu machen scheint wie es Noriega gemacht hat), und die USA. Panamas Verstrickung in den Drogenhandel führte zur Invasion durch die Amerikaner, die, um General Noriega abzusetzen, im Dezember 1989, mit allen daraus resultierenden Zerstörungen, in das Land einfielen. Das unersättliche Verlangen der Amerikaner nach Kokain, Heroin und Marihuana ist eine der stärksten Kräfte des Bösen in der Welt. Sie hat die enorme Korruption der lateinamerikanischen Staaten angeheizt und Hunderttausende Menschen in den schwarzen Ghettos, in den Barrios und in den reichen weißen Vorstädten der USA vergiftet. Das Ausmaß des Problems kann durch Zahlen einfach dargestellt werden: Das US-Finanzministerium schätzt den Gewinn aus dem Drogengeschäft allein in den Vereinigten Staaten auf zwischen 60 und 120 Milliarden Dollar pro Jahr. Bolivien, Peru, Mexiko, Paraguay, Brasilien, Venezuela, Belize, Haiti, Honduras und Nicaragua sind ebenfalls in unterschiedlichem Ausmaß betroffen, und Coca wird jetzt auch in Argentinien angebaut, raffiniert und verkauft. Auf der anderen Seite des Erdballs ist die Opiumproduktion in manchen Ländern stark zurückgegangen, in anderen aber steil angestiegen. Das ‡Goldene Dreieck— in Birma. Thailand und Laos (siehe BIRMA) ist nach wie vor der weltgrößte Lieferant von Heroin. Die Opiumproduktion in Birma ist laut Angaben des USAußenministeriums von 490 Tonnen im Jahr 1985 auf zwischen 900 und 1.200 Tonnen im Jahr 1988 angestiegen, die Produktion in Laos von 100 Tonnen im Jahr 1985 auf 300 bis 400 Tonnen 1989. Thailand selbst produzierte nur 50 Tonnen Opium im Jahr 1989, aber die 2.600 bis 3.000 Tonnen Opium aus dem Goldenen Dreieck, aus denen 260 bis 300 Tonnen Heroin gewonnen werden, gehen durch Thailand. Die amerikanische Regierung hat China um Hilfe bei der Lösung dieses Problems ersucht: Die Chemikalien, die man in Birma benötigt, um Heroin herzustellen, werden aus China importiert. In Afghanistan und Pakistan gab es eine große Ausdehnung der Mohnfelder, obwohl die pakistanische Regierung versucht, diese Ausbreitung einzudämmen. Auch der Iran baut Mohn an, aber der -848-
Bedarf der Verbraucher ist so groß geworden, daß mittlerweile auch der Iran zu den Importländern zählt. Afghanisches und pakistanisches Opium wird über den Iran in den Mittleren Osten transportiert, das erste Stück des Weges in den Westen. Der Libanon ist mittlerweile der weltgrößte Haschischproduzent, mit 700 Tonnen pro Jahr. Es gibt einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Krieg und Drogen. Die Türkei war einst ein Hauptproduzent von Mohn, vernichtet jetzt aber systematisch die Anbauflächen, und Italien, einst der Heroinproduzent Nummer eins, von wo der Stoff nach Amerika ging, führt mit offensichtlichem Erfolg Krieg gegen die Mafia. KOLUMBIEN Geographie: 1,138.907 km2 Fläche. Bevölkerung: 28,961.000 Einwohner. BSP: 1.230 $/Einw. Verluste: Im Bürgerkrieg von 1946-1957 wurden rund 300.000 Menschen getötet. Rebellen: œ ‡Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens— (FARC): Der bewaffnete Flügel der kolumbianischen KP. Die mehreren tausend Angehörigen sind schwer bewaffnet, und einmal hat das Drogenkartell Soldaten daraus rekrutiert. In den vergangenen vier Jahren hat der politische Flügel, die ‡Patriotische Union—, mehr als 300 Mann verloren œ sie wurden von Todesschwadronen der Polizei oder Armee oder von Killern der Drogen-Mafia ermordet. - ‡M-19—: Die kämpferischste Guerillabewegung. Ihren Namen leitet sie vom Wahltag am 19. April 1970 ab diese Wahlen wurden nach Meinung der M-19 verfälscht. Die M-19 wird angeführt von Carlos Pizarro. - ‡Nationale Befreiungsarmee— (ELN): Sie konzentriert ihre Angriffe auf Wirtschaftsziele. - ‡Volksbefreiungsarmee— (EPL): Eine maoistische Gruppe. - ‡Bewegung Jórge Eliecer Gaitan—: Sie trat erstmals im Frühjahr 1988 in Erscheinung, als sie den früheren Gouverneur der Provinz Tolima entführte und ankündete, ihn für seine Nachlässigkeit im Zusammenhang mit dem Tod von 23.000 Menschen beim Ausbruch -849-
des Nevada del Ruiz-Vulkans im Jahr 1985 vor ein Volksgericht zu stellen. - ‡Kommando Quintin Lame—: Die jüngste Terroristengruppe. GESCHICHTE Die zwei dominierenden Faktoren der kolumbianischen Gesellschaft waren bis vor kurzer Zeit Gewalt und das Wissen um eine höchst ineffiziente Demokratie. In den letzten zehn Jahren hat aber die Kokain-Korruption alles andere überschattet. Sieht man von den Ländern ab, die tatsächlich in einen Krieg verwickelt sind, so ist Kolumbien das gewalttätigste Land der Welt: Allein 1986 gab es 14.000 Morde, und die Zahlen sind stark angestiegen, auf bis zu 20.000 im Jahr. Das ist in der Relation mehr als sechsmal so viel wie in den USA œ und dabei sind die USA eine besonders gewalttätige Gesellschaft. In den sechziger Jahren gab es in Kolumbien eine kurze Phase der Militärherrschaft, aber sonst waren es immer zivile demokratische Regierungen, die allesamt nicht in der Lage waren, dem Morden ein Ende zu setzen. Zwischen 1946 und 1957 erreichten die ständigen Kämpfe zwischen den Partisanen der beiden traditionellen politischen Parteien des Landes das Niveau eines Bürgerkriegs. In Kolumbien heißt diese Periode ‡La Violencia—, und rund 300.000 Menschen sollen ihr zum Opfer gefallen sein. Das Schlachten wurde endlich beendet, als die beiden Parteien, die Liberalen und die Konservativen, sich über die Aufteilung der Macht verständigten. Diese Machtteilung zwischen zwei Gruppen der herrschenden Oligarchie ermutigte die kommunistische Opposition, und bald herrschte ein veritabler Guerillakrieg. Er hielt bis 1984 an, bis Präsident Belisario Betancur Cuartas einen Friedensvertrag mit dem FARC unterzeichnete. Die Guerilleros konnten sich ungestört in die abgelegenen Wildnisse des riesigen Landes zurückziehen, und die Regierung versprach die Einführung sozialer Reformen, um das Los der Bauern zu verbessern. Aber Wohlstand braucht eine lange Zeit, bis er in das Land Einzug hält œ außer in jenen Gebieten, wo Coca angebaut wird œ, und der sichtliche Wohlstand der Städte ist auf den Export von Coca und Kaffee zurückzuführen, nicht aber auf die -850-
Regierungspolitik. Der Waffenstillstand wurde niemals von allen Seiten vollständig eingehalten, und die kleineren Guerillagruppen, vor allem die M-19, kümmerten sich bald überhaupt nicht mehr darum. Ende der achtziger Jahre entfaltete sich der Krieg in manchen Teilen des Landes bald wieder in vollem Umfang, vor allem in den wilden Bergen der südlichen Provinz Cagueta und in den Bananenanbaugebieten des Nordens. Dessen ungeachtet blieben seltsamerweise die Regierung und das Rebellenhauptquartier in ständiger Verbindung, es kam zu regelmäßigen Treffen zwischen Ministern und Guerillaführern. Es gab sogar einen ‡heißen Draht— zwischen Bogota und dem FARCStützpunkt in La Uribe, auf einem Berg südlich der Hauptstadt. Beide Seiten begriffen, daß sie keine Chance auf einen militärischen Sieg hatten. Das Land ist zu groß und zu wild, daß eine der beiden Armeen gewinnen könnte. Außerdem hat die Regierung gar nicht genug Männer für die notwendige 1:10 bis 1:15-Überlegenheit gegenüber den Rebellen. Diese sind 8.000 bis 10.000 Mann stark, und das Heer verfügt einfach nicht über 80.000 bis 150.000 Soldaten. Anderseits hat das Land doch eine traditionell demokratische Struktur, so daß die Regierung auch nicht auseinanderbrechen wird, wie Batista in Kuba oder Somoza in Nicaragua. Es gab ein permanentes Unentschieden bis Anfang 1989, als Präsident Barco die Friedensgespräche mit M-19 und FARC wiederaufnahm. Im Februar stimmten der FARC und das Kommando Quintin Lame, eine terroristische Splittergruppe, dem Waffenstillstand zu. Am 26. November verkündeten die Regierung und die M-19 ein Abkommen, unter dem die Guerillas die Waffenniederlegung akzeptierten. Nach Erfüllung einiger Bedingungen kam die M-19 am 10. März 1990 ans Tageslicht und übergab ihre Waffen im Gegenzug für eine Generalamnestie an die Regierung. Ihr Führer, Carlos Pizarro, ergab sich ganz formell Präsident Barco œ dann ging er weg und kandidierte für das Bürgermeisteramt von Bogota. Die einzige große Guerillabewegung, die den Waffenstillstand nicht akzeptierte, war die ELN, die gegen die internationalen Erdölgesellschaften kämpft. Am 16. Juni 1989 richtete ein ELN -851-
Kommando mit einem Bombenanschlag auf ein Erdöl-Terminal Sachschäden in Höhe von sieben Millionen Dollar und mit ernsthaften wirtschaftlichen Auswirkungen an. Der Guerillakampf war zwar ernst, aber überschattet von den Drogenbaronen, die das Land terrorisieren. Kolumbien droht ein ähnlicher Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, wie er in manchen innerstädtischen Bezirken amerikanischer Großstädte stattgefunden hat. Der Grund ist derselbe œ Kokain. Allein 1987 gab es in Medellin 3.000 Morde, die mit Drogen im Zusammenhang standen. In den vergangenen zwei Jahren kam es auch zu einer Reihe von Massakern an Dorfbewohnern. Ostern 1988 schlachteten Bewaffnete 34 Menschen bei einem Fest in einem Dorf in Nordkolumbien ab. Amnesty International hat die kolumbianische Armee der Menschenrechtsverletzung beschuldigt, und bis zum Inkrafttreten des Waffenstillstands mit den Guerilleros haben Todesschwadronen aus ehemaligen Soldaten und Polizisten ohne Einschränkungen gegen die Guerilleros oder mutmaßliche Linke gewütet. Der Zusammenbruch der Legalität, der Kolumbien bereits während der ‡Violencia— erschüttert hat, ist wieder eingetreten. KOKAIN Der kolumbianische Kokainhandel wurde in den siebziger Jahren von einer Gruppe skrupelloser Unternehmer in Medellin, einer Stadt in Zentralkolumbien, nordwestlich von Bogota, aufgebaut. Sie übernahmen die eingesessene Baumwollindustrie und verwandelten sie in einen riesigen Geschäftszweig œ mit der höchsten Rendite aller Industrien der Welt. Nach Angaben der Drogenabteilung des USAußenministeriums produzieren Kolumbien, Bolivien und Peru zusammen rund 183.000 Tonnen Coca-Blätter œ theoretisch ergibt das eine Menge von 360 Tonnen reines Kokain. Das Hauptproblem der Unternehmer ist, mit den riesigen Mengen Blättern zurechtzukommen, jeder Hektar Coca-Sträucher produziert rund eine Tonne Blätter. In diesen drei Ländern sind zusammen rund 183.000 Hektar als Anbaufläche für Coca vorgesehen. Man braucht 200 Kilogramm Blätter für ein Kilo Paste. Die Blätter müssen an Ort und Stelle in Coca-Paste umgewandelt werden: Das reine Volumen, -852-
ganz zu schweigen vom Gewicht, macht einen Transport über größere Strecken praktisch unmöglich. Die Pflanzungen sind in den Tälern verstreut, und es gibt Tausende Sammelpunkte, zu denen die Blätter hingebracht werden. Die Paste wird zu einer der Tausenden winzigen Landepisten befördert, die im Dschungel verborgen sind. Dann wird sie in Laboratorien in Kolumbien geflogen und in die erste KokainBasis umgewandelt œ 2,5 Kilogramm Paste ergeben ein Kilogramm Basis œ und dann weiter in Kokainhydrochlorid œ reines Kokain. Für diese späteren Schritte braucht man ausgebildete Chemiker sowie spezialisierte Ausrüstungen und Hilfsmittel. Die Drogenunternehmer organisieren das alles, und dann wickeln sie die Schmuggeloperationen ab, um das Kokain in die USA zu bringen œ und immer mehr nach Europa. Es wird entweder in Flugzeugen oder Booten versteckt, in unschuldig scheinenden Exporten, oder es wird zu anderen Orten in Mittelamerika oder in der Karibik gebracht, und von dort in die USA weiter befördert. Mittlerweile haben die Drogenunternehmer, wie die Ölproduzenten im Golf, ihr eigenes Verteilungssystem in den USA errichtet. Anders als die OPEC-Staaten gehört ihnen allerdings das Land nicht, von dem ihr Produkt stammt. Es bleibt im Besitz der Bauern und der Großgrundbesitzer in den Anden. Aber sonst kontrollieren sie alles, von den Flugzeugen, die die Paste aus dem Dschungel holen bis zu den Crack-Verkäufern in Manhattan. Crack ist die tödlichste Form von Kokain, und die Zahl der Kokaindelikte ist von 182.000 im Jahr 1986 auf 600.000 im Jahr 1988 angestiegen. 1988 gab es in New York 1.867 Morde im Zusammenhang mit Drogen, ein Anstieg von 10 Prozent in einem Jahr. Die Kokainproduzenten finden die Preiskontrolle ebenso schwierig wie die OPEC. In den späten Siebzigern, als die immense Ausweitung dieses Geschäftes begann, bekamen die peruanischen Bauern 50 Cent für ein Kilo Blätter. Die Preise stiegen enorm: 1982/84 bekamen die Bauern in Bolivien bereits 7 Dollar pro Kilo. Dann galten die Gesetze von Angebot und Nachfrage. Die riesigen Coca-Pflanzungen in Peru und Bolivien erzeugten einen Überschuß, und der Preis verfiel auf 2 Dollar pro Kilo (1986) und schließlich auf 40 Cent im Jahr 1988. Auf der anderen Seite spiegeln sich diese Veränderungen wider. -853-
Wenn ein Kilo Coca-Blätter 50 Cent kostet, ist ein Kilo reines Kokain in Kolumbien (aus 500 Kilo Blättern) 9.750 Dollar wert. In New York hat es einen Sachwert von 70.000, aber einen Handelswert von 560.000 Dollar, grammweise verkauft und auf einen Reinheitsgrad von 12,5 Prozent gestreckt. Aber mittlerweile ist Kokain, allen Anstrengungen von FBI, Polizei und verschiedenen Sondereinheiten zum Trotz, so leicht zu erwerben, daß es auf den Straßen von Miami mit einem Reinheitsgrad von 33 Prozent verkauft wird. Ein Kilo, das 1982 noch bis zu 60.000 Dollar kostete, gibt es jetzt bereits um 9.000 bis 14.000 Dollar. 1983 wurden im Süden Floridas 6 Tonnen Kokain aufgebracht, in Mexiko waren es 2,3 Tonnen. 1985 waren es in Florida bereits 25 Tonnen, 1986 schon mehr als 30 Tonnen. 1987 beschlagnahmte die Bundesdrogenbehörde in den USA 70 Tonnen Kokain von verschiedenem Reinheitsgrad, 700 Kilogramm Heroin und 20.000 Tonnen Marihuana. 1988 betrug die Kokain-Beute mehr als 100 Tonnen. Schätzungen des Wertes dieser riesigen Drogenmengen sind schwierig, weil ein Teil des Kokains noch ungestreckt war, ein Teil hatte einen Reinheitsgrad von 50, ein anderer einen von 12,5 Prozent. Zieht man von der geschätzten Anden-Produktion von 360 Tonnen Schwund, Eigenverbrauch und die beschlagnahmten Mengen ab, bleiben nach einer extrem vorsichtigen Schätzung des FBI immer noch 35 Tonnen pures Kokain, die die USA erreichen. Rechnet man einen Kilopreis von 14.000 Dollar bei einem durchschnittlichen Reinheitsgrad von 33 Prozent, würde sich der Gewinn bei 35 Tonnen auf etwa 1,5 Milliarden Dollar belaufen, für die gesamten 360 Tonnen wären es 15 Milliarden. Seit das Kartell auch die Verteilung und den Wiederverkauf in der Hand hat, sind seine Profite noch weit höher. In einem Bericht im April 1988 kam eine Kommission unter der Leitung des früheren Staatspräsidenten von Costa Rica und des ehemaligen amerikanischen Botschafters Solunowitz, der die neuen PanamaKanal-Verträge ausgehandelt hatte, zu der Schlußfolgerung: ‡Solange die Gewinnspanne zwischen Herstellung und Straßenverkauf 12.000 Prozent beträgt, bleibt der Verlust durch Gegenmaßnahmen wirkungslos.— Das Geschäft hat solche Dimensionen angenommen, daß selbst -854-
große Funde den Zeitungen nur noch kleine Meldungen wert sind. So fand sich die Meldung von der Beschlagnahme von 2 Tonnen Kokain in einer Wohnung in der New York Times vom 22. August 1988 nur noch versteckt im Innenteil. Der Straßenverkaufswert betrug rund 400 Millionen Dollar. Am 30. September 1989 gelang der Polizei von Los Angeles mit der Beschlagnahme von 20 Tonnen die größte je gemachte Beute in einem Wert von rund 2 Milliarden Dollar. Die Polizei fand auch mehr als zehn Millionen Dollar in bar. Die Drogenbekämpfer mußten allerdings feststellen, daß auch dieser Schlag die Preise nicht beeinflußte. Offensichtlich deckt der Nachschub ohne Mühe die Nachfrage. DAS KARTELL Im November 1981 versuchten M-19-Terroristen einen wichtigen Drogenschmuggler zu kidnappen, Carlos Lehder Rivas, nahmen aber stattdessen Marta Ochoa Vasquez mit, eine der Töchter von Don Fabio Ochoa Restrepo, die Schwester von Jórge, einem der wichtigsten Drogenhändler in Kolumbien. Die M-19 forderte eine Million Lösegeld, aber statt zu zahlen, berief die Familie Ochoa ein Treffen in Cali ein, 320 Kilometer südwestlich von Bogota. Alle bedeutenden Drogenproduzenten des Landes kamen, und sie erklärten gemeinsam den Entführern den Krieg. Sie gaben ein Flugblatt heraus, das den Sachverhalt kurz darstellte. Darin bezeichneten sie sich selbst als Mafia und verkündeten, daß sie eine Organisation unter dem Namen ‡Tod den Entführern— gegründet hätten, 2.230 Mann stark, mit einer Kriegskasse von 4,4 Millionen Dollar. Dazu schrieben sie: ‡Entführer werden öffentlich hingerichtet: sie werden entweder an Bäumen öffentlich aufgehängt oder von Erschießungskommandos hingerichtet.— Für Informationen wurden 200.000 Dollar ausgesetzt. Der Krieg war kurz und brutal. Zehn Führer der M-19 wurden gefangen und gefoltert, ihre Sympathisanten wurden terrorisiert; nach drei Monaten gab die M-19 auf. Marta Ochoa wurde unversehrt freigelassen. Nach diesem Erfolg wurden jene Mitglieder der ‡Mafia—, die beschlossen, auch weiterhin zusammenzuarbeiten, als das Medellin -855-
Kartell bekannt. Angeführt wurde es von Mitgliedern der OchoaFamilie, von denen Jórge Luis Ochoa Vasquez der wichtigste ist; weiters Pablo Escobar Caviria und, bis zu seinem Tod im Dezember 1989, Gonzalo Rodriguez Cacha. Rodriguez betrieb den Import von Coca-Paste aus Peru und Bolivien. Escobar, der oberste Anführer des Kartells, überwacht Produktion und Sicherheit. Angeblich hat er ständig 200 Killer unter Vertrag und betreibt zwei Schulen für Mörder, wo die Schüler solche Techniken erlernen wie vom Motorrad aus zu schießen. Die Ochoas kümmern sich ums Exportgeschäft. Die drei sind bekannt unter dem Namen ‡los duenos del cupo— œ die Quotisten œ, die Coca-Paste zur Weiterverarbeitung verteilen. Die Gruppe beliefert auch kleinere Unternehmen mit ihrem Produkt. Die bedeutendste dieser Sub-Gruppen war geführt von Carlos Lehder Rivas, der zu einem der wichtigsten Kokainschmuggler wurde. Das Kartell ist eine lose Verbindung von Drogenproduzenten und Schmugglern, die sich zur Selbstverteidigung zusammengefunden haben, deren Mitglieder zusammenarbeiten, um den Markt aufzuteilen, Rivalen zurückzuschlagen und die Regierung zu korrumpieren. Es ist kein klassisches Kartell, wie es sich im üblichen Sinn zusammenschließt, um Preise hinaufzutreiben œ die OPEC beispielsweise ist ein solches Kartell. Im Gegenteil, der Kokainpreis ist auf den Straßen von Europa und der USA stark gefallen, da die Lieferanten des Kartells die Produktion enorm ausgeweitet haben, und die Schmuggler haben den Markt erfolgreich überschwemmt. Das Medellin-Kartell bezeichnet sich selbst als ‡Firma— oder ‡Mafia—, aber der Name ‡Kartell— hat sich durchgesetzt. Die Macht des Kartells und der Fortschritt seines erfolgreichen Krieges gegen die kolumbianische Regierung lassen sich an der Geschichte des Auslieferungsvertrages ablesen, der 1979 mit den USA geschlossen worden war. Die Führer des Kartells betrachteten dieses Abkomm
Eine Organisation namens ‡Comite de solidarite avec les prisonniers politiques arabes et du Moyenorient— führte Ende 1985 eine Bombenanschlagsserie durch, um die Freiheit dreier Männer in französischen Gefängnissen zu erzwingen: Abdallah, ein zweiter Araber und Varoujan Carabedian, der Armenier, der den Anschlag auf den Schalter der Turkish Airlines in Orly im Jahr 1983 begangen hatte. Diese Kampagne war Terrorismus in Reinkultur: die Bomben wurden in Kaffeehäusern, Geschäften und auf der Straße hinterlassen und waren praktisch ausschließlich gegen zivile Ziele gerichtet. Die ersten Bomben detonierten in zwei großen Kaufhäusern in Paris am 7. Dezember 1985 und verletzten 35 Menschen. Die nächste Bombe ging in einer Einkaufspassage im Hotel Claridge auf den Champs Elysees am 3. Februar 1986 hoch und forderte drei Verletzte. Am nächsten Tag verletzte eine Bombe in der Studentenbuchhandlung Gilbert Jeune auf dem boulevard St Michel vier Menschen, und eine Bombe im Eiffelturm wurde noch rechtzeitig entschärft. Zwei Tage später gab es bei einer Explosion im Forum des Halles, einem Einkaufszentrum in einer Metro-Station, sechs Verletzte. Es ist möglich, daß diese Attentate für die Parlamentswahlen Stimmung machen sollten, die im März stattfanden. Die Sozialisten verloren ihre Mehrheit, und eine konservative Regierung unter Jacques Chirac, dem Bürgermeister von Paris, kam an die Reihe. Seine kurze Regierungszeit war geprägt von Bombenanschlägen. Am 17. März verwundete ein Anschlag auf den Paris-Lyon-Expreß zehn Menschen, und am 20., während Chirac seine Fernsehrede zum Amtsantritt hielt, explodierte eine weitere Bombe in einem Geschäft auf den Champs-Elysees, tötete zwei Menschen und verwundete 28. Einige Tage später ließen die Korsen ihre Bomben im Midi hochgehen, und im Mai schloß sich die Action Directe mit Anschlägen in Paris an, darunter einem auf die Polizeidirektion, der zwei Tote kostete, und dann folgten gezielte Morde. Am 17. August explodierte eine Autobombe in Toulon vorzeitig und tötete die vier arabischen Terroristen in dem Auto. Im September kam es dann zu der schlimmsten Bombenserie, allesamt das Werk arabischer oder iranischer Terroristen. Am 5. September wurde eine Bombe in der Pariser Metro gefunden -959-
und rechtzeitig entschärft. Drei Tage später explodierte eine Bombe im Postamt im Rathaus, wo Chirac immer noch als Bürgermeister saß, tötete einen und verwundete 18 Menschen. Am 12. verletzte eine Bombe in der Cafeteria Casino in dem großen Bürokomplex La Defense 41 Menschen. Am 14. September tötete eine Bombe in der Garage des Restaurant ‡Le Pub— zwei und verwundete zwei weitere Opfer, und am nächsten Tag schließlich explodierte ein Sprengkörper in einem Büro im Polizeipräsidium, wo Führerscheine ausgestellt wurden. Dabei wurde ein Mann getötet, 51 wurden verletzt. Am 17. September wurde vor einem Geschäft in der rue de Rennes eine Bombe aus einem fahrenden Auto geschleudert; sie tötete fünf und verwundete 52 Menschen. Die Polizei hielt den Anschlag für das Werk der Abdallah-Brüder, die unmittelbar danach zum Flugplatz fuhren und das Land verließen. Sie gaben am nächsten Tag im Libanon eine Pressekonferenz und behaupteten, an diesem Tag gar nicht in Paris gewesen zu sein. Zugleich wurde der französische Militärattache in Beirut, Oberst Christian Goutierre, ermordet. Am 30. September und wieder am 10. November legte die Action Directe eine Zahl kleiner Bomben in Paris, und für kurze Zeit schien die Stadt lahmgelegt. Es gab Hunderte Bombenalarme, als nervöse Einwohner verdächtige Pakete in der ganzen Stadt meldeten, und die Straßen waren wie leergefegt, als Polizeieinheiten und Minenräumkommandos von einem Ort zum andern rasten. In der Zwischenzeit versuchte die Regierung eine andere Taktik. Sie folgte der Theorie, daß eine kleine libanesische Bande keine so großangelegte Aktion auf die Beine stellen konnte; hinter diesen Anschlägen mußte also Syrien oder der Iran stecken. Geheime Emissäre fuhren nach Damaskus, und die FARL stellte ihre Anschläge ein œ die Action Directe machte allerdings noch weiter. Abdallah wurde im Februar 1987 vor Gericht gestellt. Er wurde verschiedener Terroranschläge angeklagt, darunter auch des Mordes an Robert Home; der amerikanische Generalkonsul in Straßburg war 1984 getötet worden. Abdallah wurde verurteilt. Der Staatsanwalt schlug eine milde Strafe vor. Es war offensichtlich, daß die Regierung Chirac mit Syrien einen Handel getroffen hatte, daß als Preis für Abdallahs baldige Rückkehr die FARL unter Kontrolle gebracht -960-
würde. Sollte das der Fall gewesen sein, wollten die französische Öffentlichkeit und der Richter davon nichts wissen: Abdallah wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Bombenanschläge hörten auf, ob aus politischen Gründen oder dank der Polizeiarbeit, bleibt aber ungeklärt. Im März 1987 verhaftete die Polizei einen Tunesier, Fouad Ali Saleh, und einen Libanesen, Mohammed Mouhajer, beide naturalisierte Franzosen, und eine Reihe weiterer Libanesen und Tunesier. Einer von ihnen packte aus und enthüllte, daß Saleh insgesamt 15 Bombenanschläge organisiert hatte, bei denen 13 Menschen getötet und 250 verwundet worden waren. Dazu gehörte auch der Anschlag in der rue de Rennes. Der Informant bekam eine Belohnung von rund 180.000 Dollar, sagte noch vor amerikanischen Anti-Terror-Einheiten aus und ging zurück nach Tunesien. Es wurde schnell klar, daß Saleh im Terrorismus-Netzwerk eine wichtige Rolle spielte. Er gehörte zur libanesischen Hisbollah, jener proiranischen Fraktion, die für die schrecklichsten Grausamkeiten in diesem Land verantwortlich ist. Sein Name fand sich auch in dem Adressbuch des TWA-Jet-Entführers, Mohammed Ali Hammadei, der im Januar 1987 in der BRD gefangen wurde. Als Saleh im Januar 1990 vor Gericht kam, wurde er der Führung einer zwanzigköpfigen Terrorbande angeklagt, die unter iranischem Befehl stand. Er wurde separiert von den anderen angeklagt. Die Polizei sagte, daß die Terroristen festgenommen wurden, als sie ihren Sprengstoffvorrat mit einer frischen Lieferung aus dem Libanon auffüllten. Saleh wurde in Tunesien geboren, lebte aber in Frankreich. Nach der Revolution im Iran studierte er in Ghom an der schiitischen theologischen Universität, wo Khomeini ‡daheim— war, und wurde dort zur Schia bekehrt. Die Polizei vertrat die Auffassung, daß die Saleh-Bande mit hohen iranischen Funktionären in Verbindung stünde, vor allem mit dem damaligen Innenminister, der als Drahtzieher zahlreicher Terrorakte rund um die Welt galt. Bei dem Prozeß lehnte Saleh den Gerichtshof ab, beschuldigte Frankreich des Mordes an zwei Millionen Algeriern während des algerischen Unabhängigkeitskrieges (in Wahrheit wurden rund 100.000 Menschen getötet) und schrie, ‡Mein Name ist Tod dem Westen!— und ‡Krieg, Heiliger Krieg!—. -961-
Er sagte dem Richter: ‡Ihr benehmt euch wie große Herren, und das einzige Mittel, um euch zu erschüttern, sind Bomben.— Daraufhin ließ ihn der Richter aus dem Gerichtssaal entfernen. Die iranische Verbindung mit den Bombenanschlägen von 1985/86 wurde im Juli 1987 offenkundig, als die französische Polizei versuchte, den Iraner Wahid Gordji zu verhaften, der als Dolmetscher an der iranischen Botschaft arbeitete. Er flüchtete in das Gebäude, und die Iraner weigerten sich, ihn auszuliefern. Die Franzosen bestanden darauf, daß er keinen diplomatischen Status habe und daher auch keine Immunität, und sie umzingelten die Botschaft und warteten, daß er herauskäme. Daraufhin belagerten die Iraner die französische Botschaft in Teheran und betrachteten die französischen Diplomaten als Geiseln. Die Polizei war sicher, daß die Anschläge von 1985/86 von den Iranern gelenkt worden seien und nahm an, daß Gordij der Kontaktmann zu den libanesischen und tunesischen Terroristen gewesen war, die die Bomben gelegt hatten. Diese Spannung zwischen Paris und Teheran hielt bis Ende November an, ehe die Franzosen nachgaben und Gordij freies Geleit zusicherten. Die Belagerung der beiden Botschaften wurde prompt aufgehoben. Einige Tage später wies Frankreich 14 Anti-Khomeini-Flüchtlinge und drei Türken aus und stimmte der Öffnung eines eingefrorenen Guthabens des Irans zu. Offensichtlich fühlte Frankreich sich als Asylland nunmehr überfordert. Im Gegenzug wurden zwei der fünf französischen Geiseln im Libanon freigelassen. Im folgenden Frühjahr, knapp vor den Präsidentenwahlen, wurde Mohammed Mouhajeer freigelassen, angeblich wegen Beweismangels, und die letzten drei Franzosen im Libanon wurden freigelassen, offensichtlich dank der iranischen Vermittlung. Eine Bedingung, die der Iran an Frankreich gestellt hatte, wurde erst später sichtbar: Frankreich sollte den libanesischen Terroristen Anis Naccache freilassen, der für den Mordversuch am früheren iranischen Ministerpräsidenten Shahpour Bakhtiar im Jahr 1980 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Im September 1989 begann Naccache einen Hungerstreik, um seine Freilassung zu erzwingen. Nach dem Ende des Golf-Krieges im Sommer 1988 versuchte -962-
Frankreich, die ehemals guten Beziehungen zum Iran wiederherzustellen, und die ganze Bombenserie wurde unter den Teppich gekehrt. Es blieben aber etliche Fragen ungeklärt, besonders die Verwicklung der syrischen und iranischen Regierungen in die Ermordung französischer Zivilisten. Im April 1986, auf dem Höhepunkt der Pariser Anschlagsserie, hatte die syrische Botschaft in Ost-Berlin offensichtlich mitgeholfen, den Bombenanschlag auf die Diskothek La Belle zu organisieren, der den amerikanischen Angriff auf Libyen auslöste und zwei Menschen tötete. Einige Tage später, am 17. April, wurde die syrische Botschaft in London überführt, wie sie einen libanesischen Terroristen unterstützte: Er hatte versucht, eine Bombe an Bord einer El Al-Maschine nach Tel Aviv zu bringen, indem er sie seiner schwangeren irischen Freundin übergab, der er eingeredet hatte, er würde sie in Jerusalem treffen und heiraten. Als Sicherheitsleute die Bombe fanden, flüchtete der Terrorist unverzüglich in die syrische Botschaft œ die sich weigerte, ihn auszuliefern. Es scheint offenkundig, daß die syrische Regierung tief in den Terrorismus verwickelt war und Angriffe gegen israelische, amerikanische und französische zivile Ziele unterstützte. Die britische Regierung brach aus Protest daraufhin die diplomatischen Beziehungen zu Syrien ab. Frankreich war das Hauptopfer der Bombenkampagne geworden, die von der Hisbollah, der FARL und der ASALA durchgeführt und von Teheran und Damaskus gestützt wurde. Die Serie ging weiter: Im September 1989 übernahm die Hisbollah die Verantwortung für den Anschlag auf eine französische Verkehrsmaschine, die über der Sahara abstürzte. Dabei kamen 171 Menschen um. Offensichtlich hatte Frankreich sich nicht an die Vereinbarung gehalten, nach der die vier Geiseln im Libanon 1987 freigelassen worden waren, möglicherweise durch Nichterfüllung der Rückzahlungsverpflichtung an den Iran. Im November 1989 zerschlugen die französische und die spanische Polizei eine Terroristengruppe, die Hunderte Kilo Sprengstoff nach Europa geschmuggelt hatte, um damit eine neue Anschlagsserie in Frankreich zu beginnen. Die französische Polizei und das Gericht versuchten, ihre Untersuchungen dieser komplizierten Verschwörung fortzusetzen. Im Libanon herrscht immer noch Anarchie, Iran hat sich vom Terrorismus nicht abgewendet, und -963-
obwohl Syrien auf seinen friedlichen Absichten beharrt, bleibt es wohl auch weiter für Mordaktionen verantwortlich. Vielleicht hat auch die Golfkrise nach der Annexion Kuwaits die Allianzen verändert, aber das letzte Kapitel des arabischen Terrorismus ist sicher noch nicht geschrieben. LIBYEN Die Unterstützung des Terrorismus im Ausland durch die libysche Regierung ist wohl dokumentiert. Oberst Gaddafi stellte einen ganzen Terrorapparat auf die Beine, mit einem Trainingszentrum in Tripolis unter Leitung des amerikanischen Terroristen Edwin Wilson. Aber Wilson widmete sich mindestens ebenso sehr dem Diebstahl von Gaddafis Geld wie dem Terrorismus, und die von ihm ausgebildeten Libyer erwiesen sich als untauglich. Eine Gruppe belud einen Lieferwagen mit einer großen Menge Sprengstoff und fuhr nach Kairo, wo die Ladung gezündet werden sollte. Sie kamen aber nur bis zur Grenze, wo ihre Bombe vorzeitig explodierte und alle tötete. Ein anderer erfolgloser Versuch von Gaddafis Männern war ein Anschlag auf Adul-Hamid Bakoush, einen früheren libyschen Ministerpräsidenten, der in Ägypten lebte. Mehrere Briten und Malteser wurden für die Aufgabe engagiert. Die ägyptischen Sicherheitskräfte täuschten den Mord vor, und Gaddafi gab triumphierend das Gelingen des Anschlages im Radio bekannt. Dann präsentierten die Ägypter Bakoush auf einer Pressekonferenz. Bereits früher hatte Gaddafi ein U-Boot beauftragt, die Queen Elizabeth II zu versenken, die von einer Gruppe amerikanischer und britischer Juden für eine Kreuzfahrt gechartert worden war. Die Offiziere auf dem U-Boot waren nach Libyen abkommandierte Ägypter, die in Alexandria einliefen und den Plan Präsident Sadat meldeten. Gaddafi hat seine Todeskommandos gegen libysche Dissidenten im Ausland losgeschickt, darunter auch einen in Denver in Colorado, der verwundet wurde, und im März 1984 wurde eine Reihe von Bomben an Orten angebracht, die von Exilanten in Großbritannien frequentiert wurden. Der ernsteste Zwischenfall ereignete sich am 10. März, als bei einer Bombenexplosion in einem Nachtklub in London 27 -964-
Menschen verletzt wurden. Am 17. April demonstrierten Libyer in London vor der Botschaft am St James‘s Square gegen die Hinrichtung mehrerer Studenten in Libyen. Ein Mann schoß aus dem Botschaftsfenster heraus, tötete die britische Polizistin Yvonne Fletcher und verwundete mehrere Menschen. Daraufhin brach die britische Regierung die diplomatischen Beziehungen zu Libyen ab. Am 8. Juli fand die Polizei den Leichnam eines libyschen Geschäftsmannes in seiner Londoner Wohnung. Er hätte zu Bombenanschlägen als Zeuge aussagen sollen und wurde möglicherweise vom libyschen Geheimdienst zum Schweigen gebracht. Ein Jahr später wies Großbritannien 22 libysche Studenten aus œ unter der Anklage ‡revolutionärer— Aktivitäten, das heißt Terrorismus. Im April 1986 bombardierten die USA Tripolis als Racheaktion für den Anschlag auf die Berliner Diskothek. Später stellte sich heraus, daß Libyen nicht direkt verstrickt gewesen war, wenn es auch den Anschlag begrüßt hatte. In einem größeren Zusammenhang betrachtet war das Bombardement durch alle die anderen Terrorakte Gaddafis gerechtfertigt. RELIGIÖSER TERRORISMUS Ajatollah Khomeni war nicht der Erfinder des religiösen Terrorismus. Es gibt in der Welt von heute zahlreiche andere Beispiele œ auf dem indischen Subkontinent, in Nordirland, im Libanon und in Syrien. Iran tat sich besonders hervor, aber vor allem deshalb, da dieses Land den religiösen Terrorismus als außenpolitisches Instrument einsetzte. Schiitische Führer, die im Iran oder Irak studiert hatten, spielten eine wichtige Rolle in den Wirren des Libanon und schickten ihre Anhänger in den Märtyrertod. Eine der periodischen Wiederbelebungen des Islam begann in den sechziger Jahren unter den irakischen Schiiten. Sie nahm ihren Ausgang von Najaf, der heiligsten Stadt der Sekte, und wurde von dem Ajatollah Sayyid Mohammed Baqir al-Sadr geführt, der seine Bewegung ‡al-Dawa— nannte (Ruf des Islam). Khomeini, der eine ähnliche, wenn auch offenere politische Sekte im Iran geführt hatte, lebte in Najaf, nachdem er vom Schah exiliert worden war. Ein -965-
anderes prominentes Mitglied des Kreises war der Imam Musa Sadr, der die Amal im Libanon begründete (und 1978 von Gaddafi in Libyen ermordet wurde). Baqir al-Sadr wurde 1980 von Saddam Hussein hingerichtet (siehe IRAK). Nach der Revolution von 1979 fochten im Iran die klerikalen, die marxistischen und die kurdischen Terroristen gegeneinander einen wilden Kampf. Die geistlichen Autoritäten, die ihre Feinde im Landesinneren besiegten, gestatteten sich niemals, eine Handbreit vom Kampf gegen den Großen Satan abzugehen (die USA), gegen das häretische Regime von Saddam Hussein im Irak, Israel und die westlichen Einflüsse, wo immer sie in der moslemischen Welt auftreten mögen. Bald nach der Revolution wurden die ersten Einheiten von Revolutionsgardisten in den Libanon geschickt, wo sie an der Seite der extremistischen lokalen Schiiten kämpften. Im Libanon zerfielen die Gefolgsleute von Musa Sadr nach seinem Verschwinden in eine Gruppe rivalisierender Fraktionen, von denen die Amal-Milizen (geführt von Nahib Berri) und ihr extremster Rivale, die Islamische Amal (geführt von Hussein Mussawi) und die al-Dawa, auch bekannt als Hisbollah (Partei Gottes, geführt von Scheich Mohammed Hussein Fadlallah) die bekanntesten sind. Alle diese Geistlichen hatten in Najef studiert oder wurden zumindest von den Lehren von Baqir al-Sadr und Khomeini stark beeinflußt. Die dissidenten Schiiten-Bewegungen leben im ständigen Krieg mit der Amal und mit den anderen Bürgerkriegsparteien im Libanon (siehe LIBANON). Ihre wesentlichste Errungenschaft war die Einführung der Selbstmordautobombe. junge Fanatiker, Männer und Frauen, glauben, sich das Paradies zu sichern, wenn sie ihr Leben für die Sache des Islam opfern. Viele von ihnen haben das gemacht; sie haben israelische Stellungen ebenso angegriffen wie westliche Botschaften (die US-Botschaft wurde zweimal von Kamikazefahrern zerstört), und ihre spektakulärste Attacke war gegen die Kasernen der US-Marines und der Franzosen gerichtet. Der Islamische Jihad, die Gruppe, die die Verantwortung für diese Angriffe übernommen hat, ebenso wie für die Entführung der meisten Geiseln, besteht aus Mitgliedern sowohl der Amal wie auch der Hisbollah, und für bestimmte Einsätze werden noch ‡Söldner—-Terroristen engagiert. In einem politischen Statement -966-
stellte der Islamische Jihad zwei Tage nach dem Angriff auf die USMarines fest: ‡Wir sind die Soldaten Lottes, und wir sehnen uns nach dem Tod. Die Gewalt bleibt unser einziger Weg. Aber wir sind bereit, den Libanon in ein zweites Vietnam zu verwandeln.— Die meisten dieser Organisationen beschränken ihre Aktionen auf den Libanon, wo es genug Arbeit für sie gibt, aber andere kämpfen auch im Ausland gegen iranische oder syrische Gegner. Das ist die genaue Wiederbelebung der Doktrinen und Taktiken der mittelalterlichen Sekte, die Hassan ibn al-Sabbah 1094 gegründet hat. Von seiner Burg auf dem Alamut, einem abgelegenen Berg in Persien, schickte al-Sabbah seine Gefolgsleute aus, um seine Feinde zu töten, mit der Versicherung, daß sie unmittelbar ins Paradies eingehen würden. Um sie auf ihren Einsatz vorzuzbereiten, erhielten sie Haschisch, wovon sich ihr Name ‡Assassinen— ableitet. Diese Selbstmordkommandos terrorisierten den Mittleren Osten, bis die Mongolen die Burg der Sekte auf dem Alamut zerstörten. Ihre Nachfahren sind die friedliebenden Ismailiten, deren Oberhaupt der Aga Khan ist. 1980 versuchte eines der Killerkommandos Khomeinis, den letzten Ministerpräsidenten des Schah, Shapour Bakhtiar, in seinem Pariser Exil zu töten. Vier Jahre später löteten iranische Mörder drei frühere Mitglieder der Schah-Regierung und verletzten dabei 18 Menschen. Im Monat darauf verübten sie einen Bombenanschlag auf eine Bar in Madrid, die vor allem von amerikanischen Soldaten frequentiert wurde. Bei einer anderen Gelegenheit warfen sie eine Bombe in ein Büro in Madrid, das von British Airways und TWA gemeinsam benützt wurde. Dabei kam ein Mensch ums Leben. Dieser Angriff geschah zugleich mit dem Gerichtsverfahren gegen zwei Libanesen, die des Mordversuchs an einem libyschen Diplomaten aus Rache für den Mord an Vtussa Sadr angeklagt waren. Im Juni 1985 gab es einen Bombenanschlag auf den Flughafen Frankfurt. Am Flughafen von Rom detonierte ein Sprengkörper, ein weiterer konnte vor der irakischen Botschaft in London noch rechtzeitig gefunden werden. Eine Gruppe libanesischer Schuten, die einen Angriff auf die US-Botschaft in Rom planten, wurde verhaftet. Aber ungeachtet all dieser Greueltaten, die Hauptziele dieser religiösen Terroristen Bleiben in der arabischen Welt. Im Dezember -967-
1983 wurde eine Reihe von Angriffen gegen Ziele in Kuwait durchgeführt. Einer davon war eine Selbstmordautobombe, die gegen die amerikanische Botschaft gerichtet war. Die Verantwortung dafür trug die al-Dawa aus dem Libanon, und sie wurde vom Iran gesteuert. Die Verbindung wurde bewiesen und verstärkte den Verdacht, daß der Islamische Jihad im Libanon unter iranischer Führung operiert. Es ist auch klar, daß die Syrer tief verstrickt waren. 17 al-Dawa-Terroristen wurden in Kuwait verhaftet, drei von ihnen zum Tod verurteilt. Die Urteile wurden nicht vollstreckt, aber es wurde auch keiner begnadigt. Das Hinrichtungsschwert blieb über den Köpfen der Verurteilten schweben. Eine syrische Fraktion, die von Damaskus ihre Anweisungen erhält, ist die Syrische Volkspartei (PPS). Ursprünglich war sie eine faschistische Organisation, gegründet in den dreißiger Jahren, die während der sechziger und siebziger Jahre einen langen, grausamen und aussichtslosen Kampf gegen Präsident Assad geführt hatte, bis sie sich abrupt auf seine Seite schlug und seither seinen brutalen Fanatismus für ihre Zwecke ausnützt. Ihre hervorstechende ‡Leistung— war die Ermordung von Bashir Gemayel, dem libanesischen Präsidentschaftskandidaten im September 1982. Im April 1986 buchte ein weibliches Mitglied der PPS/SNRP einen TWA-Flug von Kairo nach Athen und hinterließ unter ihrem Sitz eine Bombe. Diese explodierte nach der Zwischenlandung und tötete vier Menschen. Statt Märtyrer für den Ruhm des Islam zu rekrutieren, fand die PPS/SNRP junge Menschen, die bereit waren, sich im Kampf gegen Israel aufzuopfern. Sie genoß den zweifelhaften Ruf, die erste Frau in der Rolle des Selbstmordattentäters in den Tod zu schicken. Vorher wurde von ihr ein Videoband angefertigt. Gut gekleidet sagte sie einen perfekt einstudierten Text auf: ‡Ich bin ganz entspannt, wenn ich nun diesen Auftrag ausführe, den ich übernommen habe, um meinem Volk zu dienen. Ich gehöre zu der Gruppe, die sich der Selbstaufopferung und dem Märtyrertum geweiht hat, zum Heil meines Landes und des Volkes.— Dann steuerte sie ein Auto voll mit Sprengstoff in einen israelischen Konvoi und tötete sich selbst und zwei israelische Soldaten. Ähnliche Akte von Selbstzerstörung durch eine Reihe junger Leute folgten. Sie alle sprachen ihre letzten Grüße auf Video und fuhren los in den ewigen Ruhm. -968-
Im Oktober 1987 wurden drei Männer, die später als Mitglieder der PPS/SNRP identifiziert wurden, festgenommen, als sie von Kanada in die USA einreisen wollten. Sie wurden der illegalen Einwanderung und des Sprengstoffbesitzes angeklagt: Sie waren offensichtlich in einem Einsatz gewesen, der sich gegen andere Mitglieder der Gruppe hätte richten sollen. 1984 begannen die Schiiten mit Flugzeugentführungen, eine Taktik, von der sich die Palästinenser abgewandt hatten. Zuerst entführte eine Gruppe eine französische Verkehrsmaschine nach Teheran und forderte die Freilassung der Iraner, die wegen des Mordversuchs an Bakhtiar eingesperrt waren. Die französische Regierung schlug den Handel aus, und die Entführer ergaben sich den iranischen Behörden. Im Dezember entführte eine andere Gruppe von Schiiten eine kuwaitische Verkehrsmaschine nach Teheran und forderte die Freilassung von 17 al-Dawa-Gefangenen in Kuwait. Während dieser Entführung ermordeten die Terroristen zwei amerikanische Wirtschaftshilfebeamten, die in der Maschine saßen. Kuwait weigerte sich, diesem Austausch zuzustimmen, und nach sechs Tagen auf dem Rollfeld erstürmte die iranische Polizei die Maschine und befreite die Geiseln. Es gilt als sicher, daß diese ‡Erstürmung— vorgetäuscht war und daß die Entführer im Auftrag des Iran gehandelt hatten. Am 14. Juni 1985 brachten zwei junge Schiiten eine TWAMaschine aus Athen in ihre Gewalt. Es wurde zu einer der spektakulärsten Flugzeugentführungen der letzten Jahre. Die Maschine wurde zuerst nach Beirut dirigiert, dann nach Algier, dann zurück nach Beirut, wo ein amerikanischer Marineangehöriger an Bord getötet und aus dem Flugzeug geworfen wurde. Dann kehrte die Maschine abermals nach Algier zurück. Bei diesem Aufenthalt wurde ein Teil der Geiseln freigelassen, und nun ließ sich die griechische Regierung auf einen Handel mit den Entführern ein. Ein drittes Mitglied des Kommandos hatte keinen Platz mehr für diesen Flug bekommen und war zurückgeblieben, so daß er in Athen nach dem Beginn der Entführung verhaftet wurde. Die griechische Regierung flog ihn nach Algier, um ihn gegen griechische Passagiere darunter der Popsänger Demis Roussos œ auszutauschen. Die Entführer, verstärkt durch ihren Kameraden, ließen alle Griechen frei œ außer Roussos. Dann wurde das Flugzeug zurück nach Beirut gelenkt. -969-
Es gab einen dramatischen Wortwechsel zwischen Pilot und Kontrollturm in Beirut, in dem der Pilot erklärte, daß das Flugzeug ohne sofortige Landeerlaubnis abstürzen würde. Beirut weigerte sich, die Genehmigung zu geben. Schließlich gab der Kontrollturm nach. Nabih Beri von der Amal hatte den Flughafen unter Kontrolle, und seine Soldaten umstellten das Flugzeug. Die Geiseln wurden weggeführt, dreißig von ihnen wurden von der Amal in angebliche Sicherheit nach Beirut gebracht. Die Entführer selbst, Mitglieder der Hisbollah, hielten acht andere Geiseln weiter fest œ Juden und amerikanische Besatzungsmitglieder. Berri unterstützte eine der ursprünglichen Forderungen der Entführer: die Israelis sollten 500 libanesische Schiiten freilassen, die sie beim Rückzug aus dem Libanon mitgenommen hatten, und 200 Palästinenser, die sie im Zuge der Aktion ‡Frieden in Galiläa— gefangengenommen hatten. Israel weigerte sich, wies aber auf seine Ankündigung hin, diese Gefangenen ohnedies im Lauf der folgenden Monate freizulassen. Seit Israel 1.154 Palästinenser und andere Gefangene einige Monate zuvor freigelassen hatten œ im Austausch für drei israelische Soldaten, die von Ahmed Jebrils PFLP-GC festgehalten worden waren œ, war seine starke moralische Position in der Verhandlung mit Terroristen schwächer als gewohnt. Die Geiseln wurden schließlich freigelassen, nachdem die USA allen möglichen Druck auf Präsident Assad ausgeübt hatten, der der Hisbollah androhte, sie von ihren Stützpunkten im Bekaa-Tal abzuschneiden, wenn sie nicht die Geiseln auslieferten. Sie wurden am 30. Juni freigelassen und nach Damaskus gebracht. Im Januar 1987 wurde einer der Entführer, Mohammed Ali Hammedei, in der BRD festgenommen. Sein Verfahren im Mai 1989 war das erste gegen islamische Flugzeugentführer und ging erstaunlich glatt über die Bühne, als er sich schuldig bekannte. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. In den nächsten Jahren waren die Iraner auch in die Bombenanschläge in Paris I985/86 und in die Hadsch-Unruhen in Mekka 1987 und in den folgenden Jahren verwickelt. Es gab weitere Angriffe in Kuwait, von denen der ernsthafteste ein Kamikazeautoattentat auf den Emir war. Es schlug zwar fehl, aber viele Angehörige seiner Leibwache wurden getötet. Schließlich wurde -970-
im April 1988 eine kuwaitische Verkehrsmaschine entführt und nach einer Odyssee durch den Mittleren Osten und einem langen Aufenthalt in Zypern, wo zwei Geiseln getötet und auf die Rollbahn geworfen wurden, landete sie schließlich in Algier. Einmal mehr wurde die Forderung nach Freilassung der al-Dawa-Terroristen erhoben, und einmal mehr weigerte sich Kuwait, nachzugeben. Nach mehrtägigen Verhandlungen ließen die Entführer ihre Geiseln frei und ergaben sich gegen die Zusicherung freien Geleits. Das waren einige der wesentlichsten Zwischenfälle, bei denen Regierungen des Mittleren Ostens Terrorismus im Ausland unterstützten. Die Zahl der Attacken in der Region selbst war weit größer; es kommt laufend zu Mordanschlägen von syrischen, iranischen und irakischen Agenten œ zumeist gegen andere arabische oder iranische Ziele. Die beiden Jemen hatten ebenfalls wiederholt Mordkommandos gegeneinander losgeschickt. Am meisten Aufsehen erregt die Auseinandersetzung zwischen Syrien und dem Irak. In den siebziger Jahren engagierte der Irak Abu Nidal, um Syrien und die PLO anzugreifen; in den achtziger Jahren arbeitete er für Syrien, griff irakische Ziele an und ermordete weitere PLO-Funktionäre. 1980, nach dem Ausbruch des Golfkrieges, stürmten irakische Agenten, verkleidet als iranische Araber, die iranische Botschaft in London. Das Gebäude wurde von britischen Anti-Terror-Einheiten der SAS gestürmt, als die Terroristen begannen, ihre Geiseln zu töten. LUFTTERRORISMUS Die Zerstörung eines Pan Am-Linienfluges von London nach New York am 21. Dezember, bei dem alle 259 Menschen an Bord und 11 Menschen in dem kleinen schottischen Städtchen Lockerbie getötet wurden, zeigte, wie verletzlich die Luftfahrt nach wie vor ist, ungeachtet aller Vorkehrungsmaßnahmen, die im Lauf der Jahre entwickelt wurden. Ahmed Jibrils PFLP-GC galt als hauptverdächtig an diesem Attentat: Als die westdeutsche Polizei im Herbst 1988 eine PFLP-GC-Wohnung in Frankfurt ausgehoben hatte, hatte sie eine Bombenfabrik entdeckt. Eine fertige Bombe war als Radiorecorder getarnt gewesen. Die britische Polizei stellte fest, daß die Pan AmBombe in einem Radiorecorder versteckt gewesen war, der in einem -971-
Koffer wahrscheinlich in Frankfurt eingecheckt worden war. Es war weder die erste noch die tödlichste Bombe in einem Flugzeug, und der Luftterrorismus war kein arabisches Monopol. Das erste registrierte Verbrechen dieser Art hatte rein kriminelle Hintergründe: ein Amerikaner hatte seiner Frau eine Bombe ins Gepäck geschmuggelt, um die Lebensversicherung zu kassieren; und bei der Explosion einer Air India-Maschine 1985 waren 329 Menschen getötet worden. Die Angriffe auf Flugzeuge, entweder durch Entführung, Bomben oder mit Schußwaffen und Raketen, haben die einschneidendsten Veränderungen des Zivillebens der letzen zwanzig Jahre hervorgerufen. Die Zahl der Entführungen in den siebziger Jahren führte zu ausgeklügelten Sicherheitsmaßnahmen auf allen internationalen und auch sonst den meisten Flugplätzen der Welt, und die Gefahr ist dadurch zurückgegangen. Es gibt immer noch Entführungen, wenn die Sicherheitsmaßnahmen versagen oder wenn die Terroristen Komplizen an Bord haben, aber die größte Gefahr ist nunmehr die einer Bombe. Am 2. Februar 1970 explodierte eine in der Swiss Air-Maschine auf dem Flug von Zürich nach Tel Aviv in der Luft, alle 47 Menschen an Bord wurden getötet. George Habasch‘ Volksfront für die Befreiung Palästinas wurde verdächtigt, und wahrscheinlich war es der erste Fall einer ,.Mitgabe—-Bombe. Am 28. Juli 1971 wurde ein Mädchen aus den Niederlanden von den El Al-Sicherheitskräften aufgehalten: Man fand bei ihr einen Koffer mit einer Bombe darin, den sie von ihrem Freund bekommen hatte. Sie sollte ihn nach Israel mitnehmen. Am 1. September wurde eine weitere solche Bombe in London-Heathrow entdeckt. Der nächste Bombenanschlag verlief erfolgreich. Am 9. September 1974 legte die ‡Neue Arabische Jugend für die Befreiung Palästinas— eine Bombe in eine TWA-Maschine von Israel in die USA, mit einem Zwischenstop in Athen. 84 Menschen starben, als das Flugzeug über der Ägäis explodierte. Zwei Jahre später, am 6. Oktober 1976, brachte die exilkubanische Terrorgruppe El Condor eine Bombe an Bord einer Cubana AirwaysDC-8 auf dem Flug von Barbados nach Jamaika auf dem Weg nach -972-
Havanna unter. Alle 73 Menschen an Bord starben, als die Maschine in der Karibik abstürzte. Darunter waren 24 Mitglieder des kubanischen Fechtteams. Der Führer von El Condor, Orlando Bosch, wurde mit zwei anderen Männern gefaßt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Die nicaraguanischen Contras werden für eine Bombenexplosion in einem nicaraguanischen Verkehrsflugzeug im Mexico City am 12. Dezember 1981 verantwortlich gemacht. Sie wurde noch rechtzeitig entdeckt. Am 2. Juli 1982 brachte die guatemalakische ‡Guerillaarmee für die Armen— (EGA) eine Bombean Bord einer Eastern AirlinesMaschine nach Miami. Sie explodierte vorzeitig und tötete einen Gepäckarbeiter auf dem Flughafen von Ciudad de Guatemala. Im folgenden Monat tauchte eine neue Art von Bombe auf; eine kleine Ladung, die in einem Gepäckfach oder unter dem Sitz untergebracht werden konnte. Die erste explodierte in einer Pan Am-Maschine von Tokio nach Hawaii am 11. August. Dabei wurde ein japanischer Jugendlicher getötet. Zwei Wochen später wurde eine ähnliche Bombe von einer Pan Am-Bodenmannschaft in Rio de Janeiro entdeckt. Es gab verschiedene Bombenanschläge im Jahr 1983. Eine Bombe, die für eine irakische Maschine bestimmt war, das Werk armenischer Terroristen, explodierte vorzeitig am Pariser Flughafen Orly, tötete acht Menschen, und eine Bombe in einer Gulf Air-Maschine tötete 122 Menschen œ dieser Massenmord wurde Abu Nidal zugeschrieben. Die Orly-Bombe war Teil des ASALA-Kampfes gegen die Türkei. Abu Jidals Angriff war vielleicht vom Iran bestellt, als Rache für die Unterstützung der Golfstaaten für den Irak während des Golfkrieges, oder von Syrien im Auftrag Irans. Damals stand Abu Nidal im Dienste Syriens. Die anderen Anschläge von 1983 verursachten keine Verluste: In einer pakistanischen Maschine wurde eine Bombe rechtzeitig gefunden, und im Dezember wurden zwei Bomben in Flugzeugen nach Israel und eine in einem Jet von Rom nach New York entdeckt; im Januar 1984 war es eine auf einem Flug von Tel Aviv nach Athen. Am 18. Januar explodierte eine Bombe im Frachtraum einer Air France-Maschine von Pakistan nach Paris, aber das Flugzeug konnte sicher landen. -973-
Der schrecklichste Fall von Luftterrorismus ereignete sich 1985, als eine Air India-Maschine über dem Atlantik zerstört wurde, südlich von Irland; alle 329 Menschen an Bord kamen ums Leben. Es wird allgemein angenommen, daß dieses Attentat von Sikhs verübt wurde. Nach einem Bericht des US-Verteidigungsministeriums wurde es von einer Sikh-Gruppe namens ‡Dashmesh Regiment— organisiert, die von General Ihabeg Singh unter der Führung des Sikh-Terroristenführers Sant Jamail Singh Bhiniranwale (siehe INDIEN) gegründet wurde. Es waren eigentlich zwei Bomben, die beide am 23. Juni 1985 in ein Flugzeug in Toronto eingeladen wurden. Die eine zerstörte den Air India-Jet, die andere wurde an Bord einer anderen Maschine gebracht und nach Tokio geflogen. Der Koffer mit der Bombe wurde nach Indien durchgecheckt und sollte in einen Air India-Flug von Tokio nach Delhi umgeladen werden. Die Maschine hatte Verspätung, und die Bombe explodierte am Flughafen von Tokio und tötete zwei japanische Gepäckarbeiter. Die nächsten Anschläge gab es 1986. Am 2. April explodierte eine Bombe, als ein FWA-Jet von Rom nach Athen zur Landung ansetzte. Der Flug war von Kairo ausgegangen, und eine Bombe war während der ersten Etappe von einer syrischen Christin unter dem Sitz versteckt worden. Sie war in Rom ausgestiegen und direkt nach Hause geflogen, nach Beirut. Die Explosion zerstörte die Seite des Flugzeugs und tötete vier Passagiere. Am 17. April wurde in Heathrow eine junge schwangere Irin aufgehalten, als sie einen Koffer mit einer Bombe an Bord ihres Fluges nach Tel Aviv tragen wollte. Ihr palästinensischer Freund hatte sie ihr mitgegeben. Er wurde in London festgenommen, und die offensichtliche Verstrickung Syriens in diesen Anschlag veranlaßte die britische Regierung, die diplomatischen Beziehungen mit Syrien abzubrechen. Am 27. September 1987 explodierte eine Maschine der Korean Airlines über dem Indischen Ozean, alle 115 Menschen an Bord wurden getötet. Es war ein Anschlag nordkoreanischer Terroristen (siehe KOREA). Nach der Katastrophe von Lockerbie wurden die Sicherheitsmaßnahmen auf allen Flugplätzen verschärft. Am 19. September 1989 zerstörten Terroristen eine französische Maschine in Afrika. Es war ein UTA-Flug von Brazzaville nach Paris über -974-
Ndjamena. Die DC-8 mit 171 Menschen an Bord explodierte hoch über der Sahara und stürzte in Niger ab. Der Islamische Jihad, eine schiitische Terroristengruppe im Libanon, übernahm die Verantwortung. Sie beschuldigten Frankreich, das Geiselbefreiungsabkommen über die französischen Geiseln im Libanon im Jahr nicht erfüllt und die auf französischen Konten eingefrorenen Dollarguthaben des Iran in Milliardenhöhe nicht freigegeben zu haben.
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JAPANISCHER TERROR
Die Japanische Rote Armee (JRA) war in ihrer Gewaltanwendung nahezu pathologisch. 1972 erschreckten ihre irrsinnigen Doktrinen für einen kurzen Moment die Welt: Die Führer der Organisation, die später alle verhaftet wurden, folterten und töteten selbst die Hälfte ihrer Mitglieder. Dann brachten drei Überlebende auf dem israelischen Flughafen Lod 28 Menschen um. Seit damals hat jedes Auftauchen der spanischen Terroristen bei allen Polizeibehörden der Welt die Alarmglocken läuten lassen. In Japan gab es seit den fünfziger Jahren immer wieder eine gewalttätige linke Bewegung unter kommunistischer Führung, die gegen das Bündnis Japans mit den JSA demonstrierte. Ihr größter Erfolg war, daß sie die Absage eines Staatsbesuches von Präsident Eisenhower erzwang und später mehrere Jahre lang die Eröffnung eines neuen Flughafens von Tokio verhinderte. Die Linke konnte auch gewaltige Massendemonstrationen gegen die Polizei auf die Beine stellen; dabei trugen die Demonstranten Sturzhelme und waren mit Knüppeln bewaffnet. Daraufhin rüstete sich auch die japanische Polizei mit Schilden, Helmen und Knüppeln aus, und die beiden ‡Armeen— zogen gegen einander wie ihre mittelalterlichen Vorfahren in die Schlacht. Die Polizei blieb siegreich. Der größte Erfolg der Polizei war, daß sie der Versuchung zur Überreaktion widerstand. Sie setzte ein Beispiel, dem die Südkoreaner (meistens) gefolgt sind, die Israelis offensichtlich nicht. Die japanische Polizei schießt nicht auf Demonstranten die zum größten Teil später auch brav wieder ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen. In den siebziger Jahren aber wandte sich eine Handvoll von ihnen dem Mord zu. Eine Gruppe unter Anführung der Terroristin Hiroka Nagata bezeichnete sich als das ‡Vereinigte Tokio-YokohamaKampfkomitee gegen das japanisch-amerikanische Sicherheitsabkommen—, eine andere war die Japanische Rote Armee. Sie wurde angeführt von Tsureo Mori, einem früheren Universitätsfechtstar. 1970 verschmolzen die beiden Gruppen und bildeten die Vereinigte Rote Armee, die ‡Rengo Sekigun—. Bei ihrem -976-
ersten öffentlichen Auftreten entführten sieben Bandenmitglieder eine japanische Verkehrsmaschine auf einem Inlandsflug und zwangen sie zur Landung in Nordkorea. Die Entführer waren damals noch mit Samuraischwertern bewaffnet, bald aber entwickelten sie andere Kampfarten. Einige von ihnen nahmen im Bekaa-Tal im Libanon in palästinensischen Lagern an der Ausbildung für Terrorismus und Guerillakrieg teil. In den beiden folgenden Jahren verübte die Rote Armee in Japan eine Reihe von Anschlägen und Morden. Ihre Angehörigen waren nicht nur Fanatiker, die gegen das neue Japan kämpften: Im November 1970 versuchte einer der bekanntesten Dichter des Landes, Yukio Mishima, ein Militarist der alten Schule, eine Revolution anzuzetteln, indem er mit einer Gruppe von Anhängern eine Kaserne besetzte und die Soldaten zur Meuterei aufrief. Als sie sich weigerten, beging er rituellen Selbstmord. Mori lebte gleichermaßen jenseits der Realität. 1971 ging er mit mehr als dreißig Mitgliedern der Roten Armee in die Berge nördlich von Tokio, um sie für den Sturz der Regierung zu trainieren. Drei Selbstmordkommandos sollten Regierungsmitglieder und andere prominente Bürger ermorden und dadurch die Revolution entfesseln. Nach einigen Trainingswochen äußerten mehrere Mitglieder der Bande offensichtlich Zweifel an der Weisheit ihrer Führer. Hiroka Nagata, wie Mori 27 Jahre alt, stellte die Zweifler vor ein ‡Volksgericht—. Sie wurden gefoltert, entkleidet, im Freien an Pfosten gebunden, mit Stacheldraht geschlagen und ihrem Schicksal überlassen. Die ‡schuldigen— Frauen wurden zuvor noch kahlgeschoren, ehe sie dem Tod überliefert wurden. Eine war im achten Monat schwanger. Nagata wurde als eine einzigartig reizlose Frau geschildert, die sexuelle Beziehungen zwischen Mitgliedern der Bewegung als ‡unrevolutionär— ablehnte. Am 19. Februar 1972 trafen Polizisten auf eine JRA-Bande, und in der folgenden Schießerei wurden neun ihrer Mitglieder verhaftet. Vier andere, darunter Mori, entkamen und flüchteten in ein Haus in Karuizawa, wo sie den Hausmeister als Geisel nahmen. Mehr als 1.000 Polizeibeamte belagerten das Haus acht Tage lang, bis zum 27. Februar, als sie endlich das Gebäude stürmten. Zwei Polizisten -977-
wurden getötet, die Geisel wurde gerettet, fünf Terroristen, einschließlich Mori und Nagata, wurden gefangen. Wenige Tage später beschrieben einige der Gefangenen die ‡Volksgerichtsprozesse— und führten die Polizei zu dem Ort in den Bergen, wo vierzehn Leichen ausgegraben wurden. Einer der Überlebenden bezeichnete Nagata als ‡geistesgestört und abnormal eifersüchtig—. Drei Monate später, am 30. Mai, buchten drei Angehörige der Roten Armee, die im Libanon ausgebildet worden waren, den Linienflug der Air France von Paris nach Lod bei Tel Aviv. Sie benahmen sich ganz unauffällig, verließen die Maschine mit den anderen Passagieren, nahmen den Bus zum Terminal und holten ihr Gepäck. Dann öffneten sie ihre Reisetaschen, nahmen Handgranaten und Maschinenpistolen heraus und schossen in die umstehende Menge. Sie töteten 26 Menschen und verwundeten 76; die meisten Opfer stammten aus Costa Rica und waren zu einer Pilgerreise ins Heilige Land gekommen. Einer der Terroristen tötete sich selbst mit einer Handgranate, möglicherweise ein Selbstmord, ein zweiter wurden von seinen Kameraden in der Schießerei getötet, und der dritte œ Kozo Okomoto œ wurde gefangengenommen. (Im Mai 1985 wurde er schließlich zusammen mit 1.153 anderen Gefangenen, von denen die meisten Palästinenser waren, gegen drei im Libanon von einer syrisch gestützten Palästinenserorganisation gefangenen israelische Soldaten ausgetauscht. Die JRA konnte hauptsächlich im Exil überleben. Die Polizei schätzt, daß sie jetzt rund 40 Mitglieder hat, die vor allem im Mittleren Osten leben. JRA-Angehörige entführten 1973 eine JALMaschine von Amsterdam nach Tokio. Am 31. Januar 1974 griffen zwei Japaner und zwei Palästinenser eine Shell-Raffinerie in Singapur an. Sie nahmen fünf Geiseln und flüchteten auf ein Boot, von wo sie von der japanischen Regierung die Freilassung mehrerer Genossen verlangten. Die Regierung lehnte das ab. Am 6. Februar besetzten palästinensische Terroristen die japanische Botschaft in Kuwait œ nun gab die Regierung doch nach. Am 27. Juli wurde der JRA-Terrorist Yoshiaka Yamada am Flughafen Orly in Paris erhaftet. Bei ihm wurden 10.000 Dollar in -978-
schlechten Fälschungen gefunden, möglicherweise zur Finanzierung von Entführungen in Europa. Im September besetzten eine Kameraden die französische Botschaft in Den Haag und forderten Yamadas Freilassung. Dieser Angriff war besonders bemerkenswert, da daran der ‡internationale— Terrorist Ilich Ramirez ‡Carlos— beteiligt war, der auch eine Granate in Le Drugstore am boulevard Saint Germain in Paris warf, um die Terroristen der Roten Armee zu unterstützen. Die französische Regierung gab nach, und Yamada wurde freigelassen. 1975 griffen japanische Terroristen die japanische Botschaft in Kuala Lumpur an, und 1977 kaperten sie eine weitere JAL-Maschine, diesmal auf dem Weg nach Jacca. Bei jeder Gelegenheit forderten sie die Freilassung einiger ihrer inhaftierten Genossen, und gewöhnlich kamen sie damit durch. Mit der Entführung von Bangladesch preßten sie sechs Bandenmitglieder frei und bekamen obendrein noch 6 Millionen Dollar Lösegeld. In den letzten Jahren ist die Rote Armee wieder aufgetaucht. Ein Terrorist, den die Polizei für den Organisator des Lod-Massakers hält, wurde festgenommen, als er im Herbst 1987 versuchte, wieder nach Japan einzureisen. Im Mai 1988 wurde in Tokio einer jener Männer verhaftet, die 1970 die JAL-Maschine nach Nordkorea entführt hatten. Fünf weitere Mitglieder der Entführergruppe sollen immer noch in Nordkorea eben. Ein anderes Mitglied der JRA soll die Bombe vor dem USSoldatenklub in Neapel gelegt haben, die am 14. April 1988 fünf Menschen tötete und 17 verwundete. Angestellte einer Autovermietung identifizierten anhand einer Photographie Junzo Okudaira als den Mann, der das Auto gemietet hatte, in dem die Bombe explodiert war. Okudaira war einer jener gewesen, die von der japanischen Regierung nach der Jangladesch-Entführung 1977 freigelassen worden waren. Er hatte mit einigen Genossen offensichtlich eine Weile in Italien verbracht und war 1987 verantwortlich für die Anschläge auf die Botschaften der USA und Großbritanniens während des Gipfeltreffens in Venedig. Die italienische Polizei nimmt an, daß die Rote Armee derzeit für Libyen unterwegs ist. Der Bombenanschlag von Neapel ereignete sich zwei Tage vor dem zweiten Jahrestag des amerikanischen Luftangriffs auf Tripolis, und eine Gruppe, die sich Jihad nannte, übernahm die -979-
Verantwortung für den Anschlag und erklärte ihn als Racheaktion für diesen Angriff auf Libyen. Zwei Tage vor dem Anschlag von Neapel erregte ein anderes Bandenmitglied, Yu Kikumura, die Aufmerksamkeit eines Autobahnpolizisten in New Jersey und wurde festgenommen. In seinem Wagen wurden drei fertige Rohrbomben und genügend Material für einige weitere gefunden. Er hatte einige Zeit friedlich in New York gelebt. Im Februar 1989 wurde er zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt, da ihm die Staatsanwaltschaft nachwies, daß er einen Anschlag auf ein Marinerekrutierungsbüro in Manhattan geplant hatte. Die Rote Armee ist die gewalttätigste der linksradikalen japanischen Fraktionen, aber es gibt noch viele andere. Die ‡Neue Linke—, eine radikale Sammelbewegung aus 23 Gruppen, hat ungefähr 35.000 Anhänger. Ihre extremste Gruppe ist die Chukaku-Ha, die Revolution durch Massenerhebung predigt. Sie hat ungefähr 200 ‡hauptberufliche— Mitglieder. In den vergangenen Jahren hat die Neue Linke immer wieder den Flughafen Narita bei Tokio angegriffen, aber auch den neuen Flughafen Kansat bei Osaka und Eisenbahnstationen im ganzen Land. Sie hat einige erstaunliche Waffen eingesetzt, darunter sogar Flammenwerfer, Raketen und Mörser. Sie hat Geschosse auf den Kaiserpalast in Tokio abgefeuert, als dort im Mai 1986 ein Wirtschaftsgipfel stattfand, aber ihr aufsehenerregendster Angriff gelang ihr gegen die Zentrale der Liberal-Demokratischen Partei im September 1984, als sie einen selbstgebauten Flammenwerfer auf einem Lastwagen einsetzte. Das Gebäude wurde zerstört. Bei ihren Angriffen sind zunächst nur wenige Menschen zu Schaden gekommen, aber im September 1986 wurde ein Eisenbahnergewerkschaftsführer ermordet, und mehrere andere wurden krankenhausreif geschlagen, möglicherweise von der Chukaku-Ha.
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AUSSICHTSLOSE HOFFNUNGEN Die Armenier Im frühen Morgen des 28. April 1988 verließ ein angesehener arabischer Geschäftsmann sein Haus in Paleo Faliro, einem noblen Vorort von Athen. Er wollte zum Flughafen fahren. Er hatte seit drei Jahren in diesem Apartment gewohnt. Seine Nachbarn glaubten, er käme aus Aden und hatten festgestellt, daß er einen unüblichen Rhythmus hatte: Oft arbeitete er die ganze Nacht und verschwand tagsüber. Er lebte sehr zurückgezogen mit seiner Frau, und seine Besucher kamen und gingen unauffällig. An diesem Frühlingsmorgen wollte er eine Frühmaschine nach Belgrad nehmen. Er schaffte es nicht. Zwei maskierte Männer erwarteten ihn auf der Straße und erschossen ihn auf kürzeste Distanz mit einer abgesägten Schrotflinte. Es war das altmodische Ende eines altmodischen Terroristen. Der Mann, der unter dem Namen Abu Mohammed Kassim gelebt hatte, war in Wahrheit Hagop Hagopian (oder Agop Agopian), der neununddreißigjährige Anführer und Hauptattentäter der ‡Armenischen Geheimarmee für die Befreiung Armeniens— (ASALA). Das Ziel der ASALA war die Korrektur eines historischen Unrechts. Durch Mordanschläge wollte sie die Türkei zwingen, einen Großteil ihres östlichen Staatsgebietes an die Armenier abzutreten. Die armenische Bevölkerung dieser Gebiete wurde während des Ersten Weltkriegs, 1915, vertrieben; dabei verloren mindestens 600.000 Menschen ihr Leben. Es war ein großes Verbrechen, und obwohl es mehr als siebzig Jahre her ist, waren Hagopian und seine Freunde entschlossen, es zu rächen. Nach der Befreiung von TürkischArmenien wollten sie es mit Sowjetisch-Armenien vereinen, denn Hagopian war auch Kommunist und arbeitete mit dem KGB zusammen, der diesen Plan unterstützte, um die Türkei zu destabilisieren. Es ist nicht bekannt, wie diese Fanatiker auf den plötzlich aufflammenden Nationalismus unter den Armeniern in der Sowjetunion reagierten. Wie so viele Terroristen der Gegenwart wurde Hagopian im -981-
Libanon geboren, wo es eine große armenische Gemeinde gibt. Zu Beginn des Bürgerkrieges schloß er sich einer der armenischen Milizen an, die zum Schutz der Dörfer aufgestellt wurden, und bald kämpfte er ständig in den wechselnden Allianzen im Libanon mit. Obwohl er vor allem die Türkei bekämpfen wollte, stand er auch treu zur Sache der Palästinenser, wie George Abdallah von der FARL, der auch Christ und Marxist ist. Beide Gruppen waren natürliche Verbündete des palästinensischen christlichen Marxisten George Habash, dem Gründer der PFLP (siehe ARABISCHER TERRORISMUS). Hagopian gründete die ASALA 1975. Als es zu internen Streitigkeiten kam, wurden sie auf die übliche Weise gelöst œ Hinrichtungen, Morde und Autobomben. Hagopian ging aus diesen Auseinandersetzungen als Sieger hervor, aber eine rivalisierende Organisation œ das ‡Kommando Gerechtigkeit für den Völkermord an den Armeniern— œ überlebte und ging seinen eigenen gewalttätigen Weg. Das ‡Kommando— ist so faschistisch wie die ASALA kommunistisch ist. Hagopian und seine Genossen unterschieden sich aber von den arabischen Terroristen. Während er darauf brannte, im Dienst der guten Sache der kommunistischen Revolution, für die Palästinenser und gegen alle ihre Feinde zu kämpfen, war er besessen von dem Unrecht, das man den Armeniern angetan hatte. Er scheint sein halbes Leben im hoffnungslosen, aber gewalttätigen Kampf gegen die Türkei zugebracht zu haben. Innerhalb von zehn Jahren tötete die ASALA 28 türkische Diplomaten auf der ganzen Welt, und in Hunderten Schießereien, Bombenanschlägen und Geiselnahmen kamen weitere 34 Menschen ums Leben. Zuletzt erwischten Hagopians Feinde ihn. Die griechische Polizei hatte keine Ahnung, wer die Täter waren. Vielleicht waren es rivalisierende Armenier, vielleicht waren es bezahlte Killer im Auftrag der Türkei, aber vielleicht hatten auch französische AntiTerror-Einheiten ihre Hand im Spiel. GESCHICHTE In der Sowjetunion leben mehr als 3 Millionen Armenier, die im -982-
Kampf mit Moskau und den benachbarten Aserbeidschanern um die Autonomie stehen (siehe SOWJETUNION). In den USA leben 500.000 bis 600.000 Menschen armenischer Abstammung, 300.000 350.000 in Frankreich, 200.000 im Libanon und 150.000 im Iran. Es gibt viele verstreute Armenier-Gemeinden, auch eine in Jerusalem, wo das Armenierviertel ein großartiges Museum beherbergt, und in Istanbul. In der gesamten Türkei, wo früher einmal 1,7 Millionen Armenier lebten, sind es heute höchstens noch 50.000, davon nur sehr wenige im ursprünglichen Siedlungsgebiet rund um den Van-See und den Berg Ararat. Das Osmanische Reich war zuletzt eine kosmopolitische und dekadente Gesellschaft, in der im allgemeinen die Minderheiten viele Freiheiten genossen. Der Sultan war Türke, aber er hatte griechische, armenische, jüdische und arabische Untertanen, die gut miteinander auskamen. Anderseits unterdrückten die Türken Revolten ihrer Völker mit großer Gewalt, wie zum Beispiel die Massaker an den Bulgaren in den 1870er Jahren ebenso beweisen wie eine erste Serie von Angriffen auf die Armenier 1894-1896, bei denen 200.000 Menschen starben. Der erwachende Nationalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts führte zu einer völligen Veränderung dieses Charakters des Osmanischen Reiches. 1908, später als die Griechen, aber früher als die Araber, griff der Nationalismus endgültig auf die Türken über. Der alte, verrückte und mörderische Sultan Abdulhamid wurde abgesetzt, und die Jungtürken begannen mit dem Aufbau einer türkischen Nation. Bis 1914 erlitten sie demütigende Niederlagen, verloren Libyen an Italien und fast alle Gebiete in Europa (einschließlich Saloniki, Mustapha Kemals Geburtsstadt). Wie das andere zerfallende Reich, Österreich-Ungarn, verbündeten sich die Türken mit dem deutschen Reich œ ein Bündnis, das die Türkei 1914 in den Krieg zwang. Wie in den anderen kriegführenden Staaten benützte man auch in der Türkei den Nationalismus zur Motivation der Soldaten. 1915, als die Russen vom Osten her durch Türkisch-Armenien angriffen und zwei Monate nach der Landung der Briten in Callipoli und der dadurch entstandenen Bedrohung Konstantinopels, wandte sich die Regierung gegen die Armenier, so wie sich Hitler 25 Jahre später gegen die Juden wandte. Am 1. April 1915 wurden die armenischen Führer in Konstantinopel eingekerkert; später wurden sie umgebracht. -983-
Die Armenier im Osten des Landes wurden vertrieben und in einem Marsch durch das wilde Kurdistan nach Syrien, in den Iran und nach Mesopotanien gezwungen. Nach fundierten Schätzungen sind bei diesem Pogrom 600.000 Menschen getötet worden oder gestorben. Nach der Niederlage der Türken im Jahre 1918 gab es eine kurze Anstrengung, Armenien auf seinem historischen Gebiet wiederzubeleben, aber die neue Türkei unter Kemal Atatürk fegte das Staatsgebilde hinweg. Zur selben Zeit vertrieben die Türken die zionischen griechischen Gemeinden, die seit der Zeit des Trojanischen Krieges am östlichen Gestade der Ägäis gelebt hatten. Anatolien wurde türkisch. Der Völkermord an den Armeniern steht seither im Zentrum des armenischen Bewußtseins, wie der Holocaust bei den Juden. Anders als die BRD hat die Türkei niemals irgendeine Schuld anerkannt und auch nicht die mindeste Wiedergutmachung geleistet. Sie leugnet vielmehr, daß dieser Völkermord jemals stattgefunden hat. Die Revolution von Atatürk hat aus der Türkei zwar einen modernen Staat gemacht, der nun auch vor den Pforten der EG steht, aber dennoch gibt es einen starken Chauvinismus und ein großes Zögern, diesen Fehler zuzugeben, selbst siebzig Jahre danach. Man darf auch nicht verschweigen, daß die Armenier 1915 die Russen aktiv unterstützten und daß die Briten unmittelbar vor der türkischen Hauptstadt standen. Und selbst wenn noch so unzählige Armenier von den türkischen Soldaten massakriert worden sind beziehungsweise die türkische Armee verantwortlich ist für den Tod sehr vieler, die sie zu Fuß durchs Gebirge getrieben hat, war das grundsätzliche Ziel der Türkei die Sicherheit des Staates, nicht der Völkermord. Gaskammern hat es nicht gegeben. TERRORISMUS Der moderne armenische Terrorismus schlug zum ersten Mal am 27. Januar 1973 in Los Angeles zu. Ein achtundsiebzigjähriger armenischer Einwanderer, Gourgen Yanikian, der sich darauf berief, daß er die Massaker von 1915 miterlebt und dabei viele Verwandte verloren hatte, ermordete Mehmet Baydar, den türkischen Generalkonsul in Los Angeles, und Bahadir Demir, den Konsul. In -984-
seinem Mordprozeß führte Yanikian an, daß er seine Eltern gerächt habe œ 58 Jahre danach. Drei Monate später explodierten in Paris zwei Bomben, eine im türkischen Konsulat, eine andere im Büro der Turkish Airlines. Dabei wurde niemand verletzt, aber es wurde sichtbar, daß es eine Terrorkampagne gab, die sich gezielt gegen türkische Diplomaten und Einrichtungen richtete. Im Oktober 1973 bekam das türkische Informationsbüro in New York ein Postpaket mit einer Bombe. Dazu bekannte sich ein ‡Kommando Yanikian—. 1974 gab es keine armenischen Terrorakte, aber im Jahr darauf, nachdem sich die ASALA offiziell in Beirut niedergelassen hatte, starteten die armenischen Terroristen im Libanon eine Reihe von Anschlägen gegen Türken und türkische Einrichtungen, im Libanon und im Ausland. Im Oktober griff ein ASALA-Kommando die türkische Botschaft in Wien an und tötete den Botschafter, ebenso den türkischen Botschafter in Paris, zusammen mit seinem Fahrer. Im Libanon gingen die Angriffe auf Türken weiter, ebenso wie die Bombenanschläge in Europa. Im Mai 1977 wurden fünf Menschen, darunter ein Amerikaner, durch eine Bombe getötet, die ein armenischer Terrorist am Flughafen von Istanbul installiert hatte. Im Monat darauf wurde der türkische Botschafter im Vatikan ermordet. 1978 starben bei einem Angriff auf den türkischen Botschafter in Madrid seine Frau und zwei andere. im Oktober 1979 wurde der Sohn des türkischen Botschafters in den Niederlanden ermordet, ebenso starb im Dezember in Paris ein türkischer Fremdenverkehrsfunktionär. In Frankreich, der BRD, der Schweiz, in Großbritannien, Spanien, Belgien und den Niederlanden gab es Dutzende Bombenanschläge. Die meisten von ihnen waren das Werk der ASALA, aber bei manchen übernahmen auch andere armenische Terrorgruppen die Verantwortung œ einschließlich des rechtsradikalen ‡Kommando Gerechtigkeit für den Völkermord an den Armeniern—, auf dessen Konto viele Attentate in den USA gehen. Im Juli 1980 wurden in Athen ein türkischer Diplomat und seine vierzehnjährige Tochter getötet. Im Oktober wurde der Presseattache in Paris angeschossen, und in der Schweiz wurden zwei armenische Terroristen verhaftet, nachdem eine Bombe in ihrem Hotelzimmer -985-
hochgegangen war. Einer der beiden war eine Amerikanerin, Suzy Mahseredjian aus Kalifornien. Danach griffen die Armenier auch Schweizer Ziele an. So wurde im Oktober zum Beispiel das Swiss Centre mitten in London Ziel eines Bombenanschlages. Offensichtlich hatte der mörderische Irrsinn von den Armeniern im Libanon nun auch auf die in den USA übergegriffen. Der Terror breitete sich auch nach Australien aus, wo im Dezember 1980 der türkische Konsul in Sydney ermordet wurde, und sechs Jahre später starb ein Mensch bei einer Autobombenexplosion in Melbourne. 1981 griff ein Kommando die türkische Botschaft in Teheran an; zwei Täter wurden gefangen und hingerichtet. Seither hat es in Teheran eine Reihe von Anschlägen gegeben. 1981 gab es erstmals Attentate in Dänemark, die Angriffe in der Schweiz und in Frankreich gingen weiter. Am 24. September 1981 stürmten vier armenische Terroristen das türkische Konsulat in Paris, verletzten den Konsul und einen Wachebeamten, der später starb. Die Terroristen ergaben sich später und wurden zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilt. Im Oktober verübten die Armenier einen Anschlag auf das Luxuslebensmittelgeschäft Fouquet in Paris. Viele Bombenanschläge in den nächsten Monaten folgten. Im Januar 1982 wurde wieder der türkische Generalkonsul in Los Angeles ermordet, diesmal von zwei Männern auf einem Motorrad, die ihn bei einer roten Verkehrsampel erschossen. Einer der Terroristen wurde gefaßt, ein neunzehnjähriger Einwanderer aus dem Libanon, und zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Honorarkonsul in Boston wurde im Mai ermordet, und im August der Militärattache in Ottawa. Im Dezember setzte die ASALA auch Saudi-Arabien auf die Liste ihrer Feinde, da die Saudis die Türkei unterstützten. Es ist aber auch möglich, daß sie dazu von Syrien aufgefordert wurde oder von einem anderen Feind der Saudis. Zwei Mann auf einem Motorroller warfen eine Bombe gegen die saudische Botschaft in Athen, sie prallte von einem Laternenmast ab und tötete einen Terroristen. Im selben Jahr gab es in Bulgarien und Jugoslawien weitere Angriffe und 1983 eine Attacke auf das British Council in Paris. Am 16. Juni 1983 wurden zwei Menschen getötet, darunter einer der Angreifer, und 21 verletzt, als ein Terrorkommando mit Handgranaten und Pistolen den Basar von Istanbul stürmte. -986-
Im Juli 1983 wurden binnen zwei Wochen 15 Menschen getötet (darunter fünf Terroristen) und mehr als 60 verwundet. Am 14. Juli wurde der türkische Botschafter in Brüssel ermordet. Am 15. explodierte eine Bombe in einem Koffer am Flugschalter der Turkish Airlines am Flughafen Orly, südlich von Paris, tötete acht und verletzte 60 Menschen. Die Todesopfer waren zwei Türken, ein Amerikaner, ein Schwede und vier Franzosen. Der neunzehnjährige Armenier aus Syrien Varoujan Garabedian wurde verhaftet und legte ein Geständnis ab. Die Bombe hätte in der Luft explodieren sollen. Nach diesem Zwischenfall verfolgte die französische Polizei die Armenier schonungslos, und die Terroristen bildeten eine eigene ‡Brigade Orly—, um die Franzosen zu bekämpfen. Am selben Tag wurde in London eine ähnliche Bombe noch rechtzeitig gefunden und konnte entschärft werden. Am 27. Juli wurden in Lissabon fünf Terroristen bei einem Angriff auf die türkische Botschaft getötet, vier von ihnen durch ihren eigenen Sprengstoff. Auch die Frau eines Diplomaten und ein portugiesischer Polizist wurden getötet, mehrere Menschen verletzt. Im März 1985 griffen armenische Terroristen die türkische Botschaft in Ottawa an und töteten einen kanadischen Sicherheitsbeamten. Bevor sie sich ergaben, hielten sie mehrere Geiseln einige Stunden lang in ihrer Gewalt. Zwei Wochen später drohten armenische Terroristen, in der Untergrundbahn von Toronto Bomben zu legen. Das Leben in der Stadt war einige Tage lang stark beeinträchtigt, aber es kam zu keinen Anschlägen. Im November 1985 nahm die französische Polizei in Paris einen armenischen Terroristen aus Amerika fest. Monte Melkonian kam aus Fresno in Kalifornien. Bevor er sich von der ASALA getrennt und seine eigene Splittergruppe gegründet hatte, war er er wichtigste Mann von Hagopian gewesen. Zu dieser Zeit legten Armenier laufend Bomben in Geschäfte, Büros, Busstationen und andere öffentliche Orte in Frankreich, das ihnen nunmehr als ebensolcher Feind galt wie die Türkei. Die Terroristen forderten immer wieder die Freilassung ihrer Gesinnungsgenossen aus französischen Gefängnissen. Die neue Organisation, oder besser der neue Name der alten Organisation war ‡Comite de solidarite avec les prisonniers politiques -987-
arabes et du Moyenorient— (Solidaritätskomitee für politische Gefangene aus Arabien und dem Mittleren Osten). Dabei scheint es sich um eine Allianz zwischen der ASALA und FARL zu handeln (siehe ARABISCHER TERRORISMUS: DIE LIBANESEN), eng verbündet mit dem iranischen und möglicherweise auch dem syrischen Geheimdienst. Die ASALA und ihre Verbündeten legten im Dezember 1985 Bomben in der Galerie Lafayette und im Kaufhaus Printemps, im Februar 1986 vier weitere Bomben an anderen Plätzen in Paris, eine Bombe in einem Zug Paris-Lyon im März, am 20. März eine weitere in einer Einkaufspassage in Paris (durch die 2 Menschen starben), und eine andere im September in der Pariser Metro. Eine Bombe im Pariser Rathaus tötete am 8. September einen Postbeamten. In den nächsten Tagen fielen drei weitere Menschen Anschlägen zum Opfer, und am 17. September tötete eine Bombe in der Rue de Rennes fünf und verwundete 52 Menschen. Im Oktober stieß Hagopian in Beirut weitere Drohungen aus, falls Garabedian nicht freigelassen würde. Er sagte: ‡ASALA hat bereits erklärt, daß jede französische Einrichtung auf der ganzen Welt als militärisches Ziel betrachtet wird. Wir fordern Chirac heraus und versprechen Mitterand, daß es zu Katastrophen kommen wird, sollten sie ihr Versprechen nicht einhalten œ die Freilassung politischer Gefangener.— Das bezog sich möglicherweise auf das widerrufene französische Abkommen über die Begnadigung von Georges Abdallah, dem Anführer der FARL, im Sommer 1986, im Austausch für Gilles Peyrolles, einen Franzosen, der im Libanon als Geisel festgehalten worden war. Peyrolles wurde freigelassen, aber die Franzosen behielten Abdallah hinter Gittern, da sie Beweismaterial entdeckten, daß er einen Amerikaner und einen israelischen Diplomaten ermordet hatte. Die FARL beschuldigte Frankreich des Vertragsbruches und begann mit Unterstützung der ASALA eine Bombenserie. Vielleicht hatte Hagopian erwartet, daß Carabedian zugleich mit Abdallah freigelassen würde. Im Februar 1987 veröffentlichte Hagopian in Beirut ein Kommunique, in dem er die Verantwortung für alle Bombenanschläge der vergangenen Wochen in Paris übernahm. Er fügte hinzu: ‡Frankreich würde gut daran tun, die notwendigen Maßnahmen für -988-
die Freilassung der Armenier ebenso wie der arabischen Patrioten einzuleiten. Eine Periode waffenstillstandsähnlicher Ruhe zwischen uns und der französischen Regierung muß die Öffentlichkeit überzeugt haben, daß wir die Interessen und die Sicherheit der Franzosen und anderer Völker respektieren. Die Welle der Explosionen wird wieder durch die Straßen von Frankreich fegen. Die ganze französische Wirtschaft, der Luftverkehr und die Hafenanlagen werden Ziele von Sabotageakten sein.— Am Ende forderte das Kommunique wieder die Freilassung von Varoujan Carabedian. In den folgenden vierzehn Monaten war von der ASALA nicht mehr viel zu hören, bis zum Tod Hagopians. Es gab sicherlich Verhandlungen zwischen der französischen Regierung und anderen libanesischen Terroristengruppen, um die Freilassung französischer Geiseln im Libanon zu erreichen, aber Garabedian wurde nicht freigelassen. Hagopian war vielleicht die Schlüsselfigur in dem Netzwerk der armenischen Terroristen und sein Tod ein ernsthafter Schlag für sie. Aber er hatte viele Mitkämpfer, und es ist nicht sicher, daß sie den Kampf aufgeben werden. Das wird nur dann geschehen, wenn sie keine Unterstützung mehr finden. Offensichtlich wurde die ASALA in ihrer aktivsten Periode von anderen Organisationen unterstützt: Hunderte Bombenanschläge und eine lange Liste von Mordanschlägen erforderten eindeutig beträchtliche Summen und leichten Zugang zu Sprengstoff und Waffen. 1981 soll die PLO 200 ASALA-Kämpfer ausgebildet haben, und im Jahr darauf nahmen sie an den Kämpfen gegen Israel teil. Hagopian und seine Terroristen mußten den Libanon mit Arafat und der PLO verlassen, und sie sollen zeitweise in Libyen untergetaucht sein. Mitte der achtziger Jahre konnte er in den Libanon zurückkehren, lebte aber offensichtlich weiterhin unbehelligt in Athen. Nach seiner Ermordung enthüllte seine Witwe der Polizei seine wahre Identität. Die Molukker Der hoffnungsloseste aller Träume ist der von der Republik SüdMolukken. In den Niederlanden leben ca. 40.000 Menschen molukkischer Abstammung, Überlebende und Abkömmlinge jener 12.000 Einheimischen, die mit den Holländern flüchteten, als diese -989-
1949 aus Indonesien vertrieben wurden (siehe INDONESIEN). Die meisten von ihnen stammten von der calvinistischen Insel Ambon, einer der Gewürzinseln, und sie hatten auf der Seite der Niederländer gegen Sukamo gekämpft. Sie fanden ihr Exil in den kalten, feuchten Niederlanden nicht nach ihrem Geschmack. Sie konnten sich mit der Lebensart der Niederländer nicht anfreunden und bildeten eine Unterschicht, die in ihren eigenen Ghettos in Amsterdam und anderen Städten lebt, zusammen mit Einwanderern aus einer anderen ehemaligen niederländischen Kolonie, Surinam in Südamerika. Die Alten erzählten den Jungen ihre Geschichten vom verlorenen Paradies, und die Jungen träumen leidenschaftlich von der Rückkehr dorthin. Sie sind sich einig, daß die Niederländer sie zweimal verraten haben. Das erste Mal, indem sie ihre Heimat Sukamo überlassen haben, das zweite Mal, indem sie sie in den Ghettos verfaulen lassen. Die Niederländer beurteilen diese Fragen natürlich ein wenig anders. Am 3. Dezember 1975 kaperte eine Gruppe molukkischer Terroristen einen Zug, Eine andere besetzte das indonesische Konsulat in Amsterdam. Sechs Terroristen verschanzten sich bei Bellen im Norden des Landes im Zug. Dabei wurden zwei Passagiere und der Lokomotivführer getötet, 33 Geiseln wurden drei Wochen lang festgehalten. Die fünf Molukker, die das Konsulat stürmten, hielten 25 Geiseln fest und forderten eine Pressekonferenz im Fernsehen, um der Öffentlichkeit ihre Situation klarzumachen, weiters die Entschuldigung der Regierung für dreißig Jahre schlechter Behandlung und von Indonesien die Errichtung einer unabhängigen Republik in den Molukken. Schließlich konnten sie zur Aufgabe überredet werden. Am 23. Mai 1977 wiederholten andere Molukker die Aktion. Ein siebenköpfiges Kommando stürmte bei Assen einen Zug und nahm fünfzig Geiseln, während sechs andere Terroristen in Bovinsmilde eine Volksschule mit 105 Kindern und sechs Lehrern überfielen. Sie erhoben die selben Forderungen wie ihre Vorgänger, und einmal mehr versuchten die niederländischen Behörden, sie auszusitzen. Die Terroristen in der Schule ließen die Kinder laufen und ergaben sich nach vier Tagen, aber die Belagerung des Zuges dauerte drei Wochen. Schließlich stürmten Marinesoldaten den Zug, wobei sie die Molukker -990-
mit Blendbomben ablenkten und erschreckten. Bei dieser Aktion starben sechs Terroristen und zwei Geiseln.
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CHRONIK DES TERRORISMUS
Diese Aufstellung erfaßt vor allem den ‡internationalen Terrorismus— œ das heißt, Aktionen außerhalb des Landes, gegen das der Anschlag gerichtet ist oder solche, bei denen mehrere Gruppen zusammenarbeiten. Nicht enthalten ist die große Mehrheit der Terroranschläge, die sich nur auf ein Land beschränken wie in Indien, Sri Lanka, Peru, El Salvador, Guatemala etc., die keinen internationalen Zusammenhang haben. Auch die meisten IRAAnschläge in Nordirland sind ausgespart, ebenso wie die der verschiedenen Palästinensergruppen in Israel und der Terrorgruppen im Libanon. Sie werden in diesem Buch andernorts ausführlich behandelt. Ich folge dem Konzept von Dobson und Payne (siehe LITERATUR), die das erste Auftreten von Terroristengruppen erfassen oder die ersten Beispiele von Terroranschlägen wie Flugzeugentführungen. Der Anhang III erfaßt die Attentate seit 1945. 1968 22. Juli: PFLP entführt eine El Al-Maschine nach Algier. 26. Dezember: PFLP greift eine El Al-Maschine in Athen auf dem Flugplatz an. Ein Passagier wird getötet. 28. Dezember: Als Vergeltungsschlag greift Israel den Flugplatz von Beirut an und zerstört 13 Flugzeuge der Middle East Airlines. 1969 2. Februar: Beim Angriff auf eine El Al-Maschine auf dem Flughafen Zürich-Kloten sterben der Co-Pilot und ein Terrorist. 7. Februar: Bombenanschlag auf Marks & Spencer in London. 29. August: Die PFLP entführt erstmals eine nichtisraelische Maschine, einen TWA-Jet auf dem Flug nach Damaskus. 9. September: Die erste Entführung eines Diplomaten: Charles Elbrick, der amerikanische Botschafter in Brasilien, wird entführt und später gegen 15 brasilianische Terroristen ausgetauscht. 12. Dezember: Die ersten drei Bombenanschläge von BaaderMeinhof in Berlin. 1970 -992-
2. Februar: Eine Swissair-Maschine explodiert in der Luft. 47 Menschen werden getötet; möglicherweise ein PFLP-Anschlag. 3. März: 7 Terroristen der Japanischen Roten Armee schwingen Samurai-Schwerter und entführen eine JAL-Maschine nach NordKorea. 31. Juli: Tupamaros entführen in Montevideo zwei Diplomaten. Der Amerikaner Dan Mitrione wird getötet. 6. September: Die PFLP entführt drei Flugzeuge: zwei werden nach Dawson‘s Held in Jordanien dirigiert, eines nach Kairo. Der Versuch, eine El Al-Maschine zu entführen, scheitert. Am 9. September wird eine BOAC-Maschine ebenfalls nach Dawson‘s Field entführt. Der Zwischenfall führt zur Vertreibung der PLO aus Jordanien. 5. Oktober: Der britische Handelsdelegierte in Quebec, James Cross, wird entführt, ebenso wie am 10. Oktober der Quebecer Arbeitsminister Pierre Laporte. Cross wird am 3. Dezember freigelassen, Laporte ermordet. 12. Dezember: Die ETA entführt Eugen Beihl, den Honorarkonsul der BRD in San Sebastian. Nach der Begnadigung von sechs zum Tode Verurteilten in Burgos durch Franco wird er freigelassen. 1971 8. Januar: Tupamaros entführen den britischen Botschafter in Uruguay, Geoffrey Jackson, und sperren ihn acht Monate lang in eine Kiste. Sie fordern die Freilassung von 150 Gefangenen. Die Regierung weigert sich, läßt aber 106 entkommen. Jackson wird daraufhin freigelassen. 14. März: Ein PLO-Kommando jagt in Rotterdam Öltanks in die Luft. 5. Mai: Türkische Terroristen ermorden den israelischen Generalkonsul in Istanbul. 20. Juli: ‡Der Schwarze September— greift das Büro der jordanischen Fluglinie in Rom an. 28. Juli: Ein niederländisches Mädchen bekommt ohne ihr Wissen eine Bombe mit an Bord einer El Al-Maschine; sie wird entdeckt. Am 1. September wird ein ähnlicher Plan in London vereitelt. 28. November: Der ‡Schwarze September— ermordet den -993-
jordanischen Ministerpräsidenten Wasfi Tal in Kairo. 1972 6. Februar: Der ‡Schwarze September— ermordet fünf jordanische Arbeiter in Köln. 18. Februar: Nach einer Schießerei zwischen japanischer Polizei und Japanischer Roter Armee in Karutzawa wird ein Haus belagert. Am 27. Februar stürmen 1.000 Polizisten das Gebäude. Dabei werden zwei getötet, die JRA-Führer werden festgenommen. In den folgenden Tagen werden in Wäldern die Leichen von 14 JRA-Mitgliedern gefunden. 19. Februar: Bei einem IRA-Bombenanschlag auf das Hauptquartier des Fallschirmjäger-Regiments in Aldershot sterben neun Soldaten und Zivilisten. 22. Februar: Die PFLP entführt eine Lufthansa-Maschine nach Aden. Nach einer Zahlung von 5 Millionen Dollar Lösegeld und 1 Million Dollar an Aden wird die Maschine freigegeben. 15. März: Der italienische radikale Verleger und Terrorist Giangiacomo Feltrinelli, Begründer der Roten Brigaden, stirbt bei dem Versuch, einen Strommast in die Luft zu sprengen. 8. Mai: Ein PFLP-Kommando, zwei Männer und zwei Frauen, entführt eine Sabena-Maschine nach Lod in Israel. Israelische Sicherheitskräfte stürmen das Flugzeug und töten die männlichen Terroristen und eine Geisel. 11. Mai: Baader-Meinhof-Bomben töten in einem US-ArmeeStützpunkt in Frankfurt Oberst Paul Bloomquist und verwunden 14 Menschen. 31. Mai: 3 Terroristen der japanischen Roten Armee greifen Touristen in Lod an und töten 28. 2 Terroristen sterben. 8. Juli: In Beirut tötet eine israelische Autobombe einen PFLPFunktionär. 5. September: Das Massaker bei den Olympischen Spielen in München. ‡Schwarzer September—-Kommandos überwältigen israelische Sportler; sie töten 11 Israelis und einen deutschen Polizisten. 4 Terroristen werden getötet, 3 Überlebende durch die Entführung einer Lufthansa-Maschine im Oktober freigepreßt. -994-
9. September: Zum ersten Mal stirbt ein Israeli durch eine Briefbombe, eine Technik, die von Israelis und der IRA später mehrfach angewendet wird. 1973 27. Januar: Armenische Immigranten ermorden den türkischen Generalkonsul in Los Angeles und den Konsul in Santa Barbara. 1. März: Der ‡Schwarze September" besetzt die saudiarabische Botschaft in Khartum. Zwei amerikanische und ein belgischer Diplomat werden ermordet. 28. März: Die irische Kriegsmarine fängt den Frachter Claudia ab, der fünf Tonnen Waffen von Libyen nach Irland bringen soll. 4. April: In Paris explodieren Bomben vor dem türkischen Konsulat und vor dem Büro der Turkish Airlines. 10.April: Bei einem israelischen Kommandoangriff auf PLO-Büros in Beirut sterben 17 Menschen, darunter 3 hohe PLO-Funktionäre. 28. Juni: Der wichtigste PFLP-Terrorist in Europa, Mohammed Boudia, wird in Paris durch eine Autobombe getötet. 1. Juli: In Washington wird der israelische Militärattache Yosef Alon erschossen. 2. Juli: Israelische Agenten halten einen marokkanischen Kellner irrtümlich für einen Führer des ‡Schwarzer September— und erschießen ihn in Lillehammer. Sie werden von der norwegischen Polizei gefaßt und zu Haftstrafen verurteilt. 5. August: Eine neue palästinensische Terrorgruppe, die NAYLP, beschießt mit Maschinengewehren eine TWA-Maschine, die von Tel Aviv kommend in Athen landet. 5 Passagiere werden getötet. 5. September: Die Italiener nehmen einen NAYLP-Trupp fest, der mit SAM-7-Raketen Flugzeuge bei der Landung in Rom abschießen wollte. 28. September: Al-Saiqa, das sind von Syrien unterstützte palästinensische Terroristen, besetzen in Österreich einen Eisenbahnzug mit jüdischen Emigranten aus der UdSSR. Die österreichischen Behörden schließen daraufhin das jüdische Transitlager in Wien. -995-
17. Dezember: Durch einen Feuerbombenangriff von fünf NAYLPTerroristen auf eine Pan Am-Maschine am Flughafen von Rom sterben 32 Menschen. 20. Dezember: Der spanische Ministerpräsident Luis Carrero Blanco wird durch eine ETA-Autobombe in Madrid getötet. 30. Dezember: Carlos versucht Joseph Sieff zu ermorden, den Präsidenten von Marks & Spencer. 1974 31. Januar: 2 JAR-Terroristen und 2 Palästinenser greifen eine Shell-Ölraffinerie in Rotterdam an und nehmen fünf Geiseln. 3. Februar: Eine IRA-Bombe explodiert im Gepäckabteil eines Busses auf der M62 in England, in dem Soldaten mit ihren Familienangehörigen sitzen. Dabei sterben 9 Soldaten, eine Frau und ihre beiden Kinder. 5. Februar: Die Symbionesische Befreiungsarmee (SLA) entführt Patty Hearst. 11. April: Ein PFLP-GC-Kommando sickert nach Israel ein und sucht Zuflucht in einem Apartmenthaus in Qiryat Shemona. 18 Tote, 16 Verwundete. 17. Mai: 6 SLA-Terroristen sterben bei einem Schußwechsel mit der Polizei von Los Angeles. 17. Juli: Eine IRA-Bombe im Tower von London tötet einen und verwundet 41 Menschen. 4. August: Italienische Faschisten legen eine Bombe im Expreßzug Rom-Mailand; 12 Tote, 48 Verletzte. 7. September: Nach einer Zwischenlandung in Athen explodiert die TWA-Maschine von Tel Aviv über der Ägäis. Der dafür verantwortliche Führer der NAYLP, Ahmed al-Ghafour, wird am 12. September von der Al-Fatah exekutiert. 13. September: Die Japanische Rote Armee besetzt die französische Botschaft in Den Haag und fordert die Freilassung des JRAGefangenen in Frankreich. Carlos unternimmt zur Unterstützung einen Bombenanschlag in Le drugstore, dabei sterben 2 Menschen. Die französische Regierung liefert den gefangenen Japaner aus. -996-
5. Oktober: Eine IRA-Bombe in einem Pub in Guildford tötet fünf und verletzt 15 Menschen. 10. November: Baader-Meinhof tötet den deutschen Höchstrichter Günther von Drenkmann. 21. November: Eine IRA-Bombe in Birmingham tötet 21 und verwundet 168 Menschen. 13. Dezember: Carlos greift mit einer Rakete eine El Al-Maschine in Paris Orly an; dabei wird ein jugoslawisches Flugzeug getroffen. 19. Dezember: Die Carlos-Gang kehrt nach Paris-Olly zurück, gerät in ein Feuergefecht mit der Polizei, nimmt Geiseln und entführt ein Flugzeug in den Irak. 24. Dezember: Puertoricanische Terroristen werfen eine Bombe in Frances Tavern in New York, töten vier und verletzen 21 Menschen. 1975 27. Februar: Die Baader-Meinhof-Bande entführt den Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz. Im Austausch für seine Freilassung gibt die Regierung fünf Terroristen frei. 27. Juni: Die Pariser Polizei versucht Carlos zu verhaften. Er tötet zwei Polizisten und einen Informanten, verletzt einen weiteren Polizisten und entkommt. 27. Juli: Die tamilischen ‡Tiger— nehmen in Sri Lanka ihre Terrortätigkeit auf. Als erste Aktion ermorden sie Alfred Durripah, den Bürgermeister von Jaffna. 22. Oktober: Armenische Attentäter greifen die türkische Botschaft in Wien an und töten den Botschafter. Am 24. Oktober werden der türkische Botschafter in Paris und sein Fahrer ermordet. 3. Dezember: Molukkische Terroristen besetzen das indonesische Konsulat in Amsterdam und bei Bellen einen Zug. Vier Menschen werden getötet. Sie ergeben sich nach vier Wochen. 6. Dezember: Belagerung in der Balcombe Street in London: 4 IRA-Terroristen verschanzen sich nach einer wilden Verfolgungsjagd durch London mit ihren Geiseln in einem Apartment. Nach sechs Tagen ergeben sie sich. 21. Dezember: Ein BRD-Terroristen-Palästinenser-Kommando -997-
greift das OPEC-Hauptquartier in Wien an. Drei Sicherheitsbeamte werden getötet, 11 Erdölminister als Geiseln genommen und später in Algier freigelassen. 23. Dezember: Griechische Terroristen von der ‡Gruppe 17. November" erschießen den CIA-Stationschef in Athen, Richard Welch. 1976 8. Mai: Ulrike Meinhof erhängt sich im Gefängnis in Stammheim. 27. Juni: Ein palästinensischdeutsches Terrorkommando entführt eine Air France-Maschine nach Entebbe in Uganda. Israelische Soldaten retten die Geiseln und töten fünf Terroristen. 31. Juli: Die IRA ermordet den britischen Botschafter in Dublin. 21. September: Der ehemalige chilenische Minister Orlando Leteller und sein Sekretär werden in Washington durch eine Autobombe getötet. 6. Oktober: Die kubanische Exil-Organisation ‡El Condor— legt in einer Cubana Airlines-Maschine eine Bombe. Bei der Explosion über der Karibik sterben 73 Menschen. 28. Oktober: Protestantische Terroristen erschießen den IRA-Führer Maire Drumm im Krankenhaus. 1977 4. April: Die RAF erschießt in Karlsruhe den Generalstaatsanwalt Siegfried Buback. 23. Mai: Molukkische Terroristen besetzen eine Schule in Bovinsmilde und einen Zug in Assen in den Niederlanden. Nach 22 Tagen wird der Zug von Marineinfanteristen gestürmt. Dabei werden 2 Geiseln und 6 Terroristen getötet. 29. Mai: Eine Bombe von armenischen Terroristen tötet auf dem Flughafen von Istanbul 5 Menschen. 31. Juli: Die RAF ermordet den Chef der Dresdner Bank, Jürgen Ponto. 5. September: Die RAF entführt Hanns-Martin Schleyer, den Deutschen Industriellenpräsidenten, und tötet dabei vier Sicherheitsbeamte. Er wird in Frankreich gefangengehalten und am -998-
19. Oktober ermordet. 28. September: Die Japanische Rote Armee entführt eine JALMaschine nach Bangladesch. Sie fordert die Freilassung von 6 JRAGenossen und 6 Millionen Dollar Lösegeld. 13. Oktober: Ein PFLP-RAF-Kommando entführt eine LufthansaMaschine, die schließlich in Mogadischu in Somalia landet. Die Männer der GSG-9 stürmen das Flugzeug, drei Terroristen werden getötet. 20. Oktober: Andreas Baader und zwei andere RAF-Anführer begehen in Stammheim Selbstmord. 31. Dezember: Zwei syrische Geheimdienstleute, als Diplomaten getarnt, werden von ihrer eigenen Bombe in London zerrissen. 1978 4. Januar: Abu Nidal-Mörder töten Said Hammami, den PLORepräsentanten in London, der mit liberalen Israelis Kontakt aufgenommen hatte. 18. Februar: Zwei Abu Nidal-Revolvermänner ermorden einen ägyptischen Verleger in Zypern und versuchen, ein zypriotisches Verkehrsflugzeug zu entführen. 16. März: Ägyptische Kommandosoldaten stürmen die Maschine, davon werden fünfzehn von der zypriotischen Nationalgarde getötet. 15. Juni: Der frühere italienische Ministerpräsident Aldo Moro wird in Rom von Angehörigen der ‡Roten Brigaden" entführt. Am 10. Mai wird er ermordet. 31. Juli: Abu Nidal-Mörder töten den PLO-Repräsentanten in Kuwait. 3. August: Al-Fatah-Angehörige stürmen die irakische Botschaft in Paris œ der Grund ist die Unterstützung des Irak für Abu Nidal. Ein französischer Polizist und ein irakischer Diplomat werden getötet. 7. September: Abu Nidal-Mörder töten den PLO-Repräsentanten in Paris. Bulgarische Agenten töten den Radiomann Georgi Markow in seinem Londoner Exil mit einem vergifteten Regenschirm. 1979 22. Januar: Eine Autobombe tötet in Beirut Ali Hassan Salameh, der -999-
das Massaker in München geplant hatte. 22. März: Die IRA tötet den britischen Botschafter in den Niederlanden. 30. März: Eine Autobombe der INLA (einer abgespaltenen IRA Fraktion) tötet den konservativen britischen Abgeordneten Airey Neave in der Parlamentstiefgarage. 25. Juni: Ein RAF-Anschlag auf den NATOOberkommandierenden General Alexander Haig schlägt fehl. 8. August: Earl Mountbatten und drei andere sterben durch einen IRA-Bombenanschlag auf die Jacht Mountbattens vor der irischen Küste. 1960 Januar œ April: In Wales werden 32 Sommerhäuser in Brand gesteckt. 17.-19. Februar: Terroristen erobern die dominikanische Botschaft in Bogota, nehmen 80 Geiseln, einschließlich des US- und 12 anderer Botschafter. Nach einundsechzigtägiger Belagerung werden sie nach Kuba ausgeflogen. 30. April: Die iranische Botschaft in London wird von irakischen Agenten besetzt, die sich als Iraner ausgeben. Die SAS-Einsatztruppe stürmt am 5. Mai das Gebäude. 17. Mai: Der ‡Leuchtende Pfad— in Peru beginnt seine Terrorkampagne mit Angriffen auf Wahllokale. 18. Juli: Iranische Agenten versuchen, den früheren iranischen Ministerpräsidenten Shahpour Bakhtiar in Paris zu ermorden. Dabei werden zwei Menschen getötet. 2. August: Eine Bombe faschistischer Terroristen tötet im Bahnhof von Bologna 84 Menschen und verwundet 186. 26. September: Ein Neo-Nazi legt auf dem Münchner Oktoberfest eine Bombe, die ihn und 12 andere zerreißt und 312 Menschen verletzt. 3. Oktober: Zwei armenische Terroristen werden verletzt, als in ihrem Hotelzimmer in Genf ein Sprengkörper vorzeitig explodiert. Bei einem Bombenanschlag in der Rue Copernic in Paris gibt es vier Tote -1000-
und 12 Verletzte. 17. Dezember: Armenier ermorden den türkischen Generalkonsul in Sydney. 1981 13. Mai: Mordanschlag auf Papst Johannes Paul II 31. August:. Bei einem RAF-Bombenanschlag auf das US Air Force-Hauptquartier in Ramstein gibt es 20 Verletzte. 15. September: Die RAF greift den US-General Frederick Kroesen mit einer Panzerabwehrrakete an, verfehlt aber ihr Ziel. 24. September: Libanesische Armenier besetzen das türkische Konsulat in Paris und töten zwei Menschen. 6. Oktober: Fundamentalistische Terroristen ermorden Präsident Sadat in Kairo. 28. November: Eine Autobombe der Moslem-Bruderschaft tötet in Damaskus 68 Menschen. 17. Dezember: Angehörige der ‡Roten Brigaden— entführen den US-General James Dozier in Verona. Am 28. Januar wird er befreit. 1982 18. Januar: Der US-Militärattache in Paris, Oberstleutnant Charles Ray, wird von der FARL erschossen. 28. Januar: Zwei libanesische Armenier erschießen den türkischen Generalkonsul in Los Angeles. Am 4. Mai wird der Honorarkonsul in Boston erschossen. 16. Februar: Zwei Angehörige der Carlos-Bande werden in Paris verhaftet. Carlos droht Rache an, und am 30. März tötet eine Bombe im Toulouse-Paris-Expreß 6 Menschen und verwundet 15. 3. April: In Paris wird ein israelischer Diplomat von FARLAngehörigen erschossen. 3. Juni: Der israelische Botschafter in London, Schlomo Argov, wird von Abu Nidal-Männern angeschossen. Der Zwischenfall dient als Rechtfertigung für die israelische Invasion im Libanon. 20. Juli: Bei zwei IRA-Bombenanschlägen in London sterben 11 Menschen. 7. August: Zwei Armenier verüben einen Anschlag auf den -1001-
Flughafen von Ankara; neun Menschen sterben. 82 werden verletzt. 3. September: Die Mafia ermordet General dalla Chiesa in Sizilien. 14. September: Der libanesische Präsidentschaftskandidat Bashir Gemayel wird von syrischgelenkten Terroristen ermordet. 4. November: Die ETA tötet General Victor Lago in Madrid. 1983 16. Juni: Bei einem ASALA-Anschlag im Basar von Istanbul sterben 2 Menschen. 15. Juli: Bei einem ASALA-Bombenanschlag auf den Schalter der Turkish Airlines in Orly sterben 7 Menschen. 27. Juli: Fünf armenische Terroristen greifen die türkische Botschaft in Lissabon an. Die Frau eines Diplomaten und ein portugiesischer Wächter sowie alle fünf Terroristen werden getötet. 1. Oktober: Bombenanschläge auf die Handelsmesse in Marseille zerstören den algerischen, den amerikanischen und den sowjetischen Pavillon, töten einen und verletzen 26 Menschen. 9. Oktober: Nordkoreanische Terroristen versuchen den südkoreanischen Präsidenten in Rangun zu töten. Dabei sterben 21 Menschen. 23. Oktober: Selbstmordattentäter greifen amerikanische und französische Kasernen in Beirut an. 241 US-Marines und 58 Franzosen werden getötet. 15. November: Griechische ‡17. November—-Terroristen erschießen in Athen den US-Marineattache George Tsantes. 12. Dezember: Bei Angriffen auf die amerikanische und die französische Botschaften in Kuwait sterben 4 Menschen, 60 werden verwundet. Die al-Dawa-Terroristen werden verhaftet. 17. Dezember: Eine IRA-Bombe vor dem Kaufhaus Harrod‘s in London tötet sechs und verwundet 94 Menschen. 1984 29. Januar: Mehrere ‡Action directe—-Bombenanschläge in Paris. Der libysche Geheimdienst verübt Bombenanschläge auf Exillibyer in Großbritannien. 10. März: Eine Bombe in einem Nachtklub in London verwundet 27 -1002-
Menschen. 17. April: Vor der libyschen Botschaft in London demonstrieren Exil-Libyer gegen Gaddafi. Ein Mann schießt aus der Botschaft und tötet die britische Polizeibeamtin Yvonne Fletcher. 20. Mai: Eine Autobombe vor dem Verteidigungsministerium in Pretoria tötet 19 und verletzt 239 Menschen. Juni: Euro-Terroristen halten in Lissabon eine Geheimkonferenz zur Errichtung einer ‡Politisch-Militärischen Front— ab. 4. Juni: Die indische Armee greift den Goldenen Tempel in Amritsar an. 24. Juni: Belgische CCC-Terroristen erbeuten in einem Steinbruch 800 Kilogramm Sprengstoff. 8. Juli: In London wird jener libysche Agent ermordet aufgefunden, der für die März-Anschläge verantwortlich war möglicherweise ein Opfer anderer libyscher Agenten. 31. Juli: Eine Air France-Maschine wird nach Teheran entführt; dabei gibt es zwei Tote. 20. September: Bei einem Selbstmordbombenanschlag auf die amerikanische Botschaft in Beirut sterben 23 Menschen. 12. Oktober: Die IRA verübt auf den Parteitag der Konservativen im Grand Hotel in Brighton einen Bombenanschlag, bei dem sie zwar die Premierministerin verfehlt, aber fünf Menschen tötet und zahlreiche verwundet. 31. Oktober: Die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi wird von Sikh-Angehörigen ihrer Leibwache ermordet. 3. Dezember: Terroristen der ‡Islamischen Jihad" entführen einen kuwaitischen Jet nach Teheran. Sie töten zwei US-Bürger an Bord und fordern die Freilassung von al-Dawa-Terroristen. Nach sechs Tagen geben sie auf. 1985 25. Januar: Die ‡Action directe— tötet den französischen General Rene Audran. 30. Januar: Die französische Polizei stürmt das ETA-Hauptquartier in Frankreich; mehrere Terroristen werden verhaftet und nach Spanien -1003-
abgeschoben. 1. Februar: Die RAF tötet Ernst Zimmermann, den westdeutschen Rüstungsindustriellen. 10. März: Ein Selbstmordattentäter aus der syrischen Nationalen Widerstandspartei tötet zwei Israelis in einem Militärkonvoi. Der erste nichtislamische Kamikaze-Angriff. 26. März: Türkische Terroristen töten bei einem Bombenanschlag auf einen Zug in Bulgarien 7 Menschen. 21. April Vor der israelischen Küste werden Al-Fatah-Kommandos aufgebracht; 20 Terroristen werden getötet, 8 gefangengenommen. 5. Mai: Israel läßt 1.154 Gefangene frei œ darunter auch den überlebenden JAR-Terroristen vom Massaker in Lod œ im Austausch gegen 3 israelische Gefangene der PFLP-GC. 11. Juni: Schiitische Terroristen unter Fawaz Younis entführen eine jordanische Verkehrsmaschine auf dem Flug von Beirut. Die Geiseln werden freigelassen. Younis wird am 13. September von amerikanischen Agenten auf einer Jacht vor Zypern entführt und in die USA gebracht. 14. Juni: Der Islamische Jihad entführt einen TWA-Jet von Athen. Ein amerikanischer Marineangehöriger unter den Passagieren wird ermordet. 23. Juni: Sikhs verstecken Bomben in Koffern auf einem Air IndiaFlug von Toronto und einem Air Canada-Flug nach Tokio. Der zweite sollte dort in die Air India-Maschine umgeladen werden. Der erste explodiert über der Irischen See und fordert 329 Menschenleben, der zweite explodiert in Tokio auf dem Boden und tötet zwei Menschen. 10. Juli: Französische Agenten versenken das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior im Hafen von Auckland in Neuseeland. Dabei wird ein portugiesischer Photograph an Bord getötet. 8. August:. Eine RAF-Autobombe tötet zwei amerikanische Mechaniker auf dem Luftwaffenstützpunkt in Frankfurt. 25. September: Al-Fatah-Terroristen töten 3 israelische Touristen auf einer Jacht vor Zypern. Israel bombardiert als Vergeltungsschlag am 1. Oktober das PLO-Hauptquartier in Tunis. 30. September: Vier sowjetische Diplomaten werden von -1004-
sunnitischen Terroristen in Beirut entführt, einer getötet. 7. Oktober. Vier Al-Fatah-Piraten bringen den italienischen Luxusdampfer Achille Lauro in ihre Gewalt. Sie töten einen amerikanischen Touristen, ehe sie sich ergeben und von der USMarine festgenommen werden. 6. November: M-19-Terroristen im Solde des Drogenkartells stürmen in Bogota den Justizpalast. Sie töten 11 Richter und ungefähr 100 andere Personen. 23. Dezember: Im Weihnachtseinkaufsgetümmel tötet eine Bombe des ANC in Durban fünf Menschen und verletzt 48. 27. Dezember: Bei Angriffen der Abu Nidal-Bande auf El AlSchalter in Rom und Wien sterben 19 Menschen; mehr als 100 werden verletzt. 1986 6. Februar: Die ETA ermordet in Madrid Admiral Cristobal Colón. 2. April: Bei einer Bombenexplosion in einer TWA-Maschine von Rom nach Athen sterben vier Amerikaner, darunter ein achtzehn Monate altes Baby. Die Tat wird syrischen Terroristen angelastet. 5. April: Eine Bombe in der Diskothek La Belle tötet einen USSoldaten und eine Türkin. Die offensichtlich von Syrien gesteuerte Aktion wird von Deutschen und Libanesen durchgeführt und von Libyen unterstützt. Die USA nehmen das Attentat als Vorwand für den Angriff auf Tripolis am 15. April. Zwei britische und eine amerikanische Geisel im Libanon werden als Racheaktion am 17. April ermordet, möglicherweise von Libyern. 17. April: El Al-Sicherheitsbeamte finden im Gepäck einer schwangeren Irin eine Bombe, von der sie nichts weiß. Ihr palästinensischer Freund hat sie ihr mitgegeben. Er stand im Dienst der Syrer. 19. Juni: Eine ETA-Bombe in einem Supermarkt in Barcelona tötet 21 Menschen. 26. Juni: Der ‡Leuchtende Pfad— bombardiert den Cuzco-Machu Picchu-Zug und tötet 8 Menschen. 5. September: Die Abu Nidal-Bande entführt über Indien eine Pan Am-Maschine nach Karatschi. Da sie einen Angriff vermuten, -1005-
ermorden die Terroristen 20 Passagiere. 6. September: Abu Nidal-Gangster massakrieren in einer Synagoge in Istanbul 21 Menschen und begehen Selbstmord. 17. September: Eine Serie von FARL/ASALA und iranischen Bomben in Paris, die am 7. Dezember 1985 begonnen hatte, findet ihren Höhepunkt mit einem Anschlag in der Rue de Rennes, bei dem fünf Menschen sterben und 52 verwundet werden. 25. Oktober: Eine ETA-Autobombe tötet den Gouverneur von Guipúzcoa, General Rafael Garricho Gil, seine Frau und seinen Sohn. 7. November: Die ‡Action Directe— tötet in Paris den Vorstandsvorsitzenden von Renault. 1987 März bis April: 12 Mitglieder der Irish National Liberation Army werden bei internen Kämpfen getötet. 25. April: Richter Maurice Gibson und seine Frau sterben durch eine Autobombe in Nordirland. 1. Juni: Der libanesische Ministerpräsident Rashid Karami wird ermordet. 22. Juli: Der palästinensische Journalist Ali Naji al-Adhami wird in London angeschossen und stirbt am 29. August. 30. Oktober: Die französische Kriegsmarine bringt vor der Bretagne die Eksund auf, die 150 Tonnen libysche Waffen an die IRA liefern sollte. 8. November: Ein Bombenanschlag auf einen Festzug in Enniskillen in Nordirland fordert 11 Menschenleben und verwundet 60 Personen. 25. November: Bei einem palästinensischen Paragleiter-Angriff auf ein israelisches Militärlager sterben 6 Soldaten. 1988 13. Februar: 3 PLO-Funktionäre werden in Zypern durch eine Autobombe getötet œ sie stammt entweder von israelischen Agenten oder von Abu Nidal-Leuten. 12. April: In New Jersey wird ein japanischer Terrorist verhaftet, der eine Bombenserie in New York geplant hatte. -1006-
14. April: Bei einem Bombenanschlag auf einen US-Marine-Club in Neapel sterben fünf Menschen. Hauptverdächtiger ist ein Mitglied der Japanischen Roten Armee, einer der von der japanischen Regierung nach einer JAL-Maschine-Entführung 1977 Freigelassenen. 16. April: Der italienische Senator Roberto Ruffili wird von Rotbrigadisten ermordet. 17. April: Israelische Agenten töten den PLO-Führer Kjhalid Wazir (Abu Jihad) in Tunis. 12. Mai: 200 Meter vor der israelischen Botschaft in Nikosia explodiert eine Autobombe, wahrscheinlich ein Abu Nidal-Anschlag. 19. Mai: Pro-österreichische Sezessionisten in Südtirol verüben eine Reihe von Bombenanschlägen. 28. Juni: Die ‡17. November—-Bande tötet den US-Marineattache in Griechenland. 11. Juli: 2 Abu Nidal-Kilier, einer möglicherweise Hejab Jeballah (Samir Kaddar), sterben durch eine eigene Autobombe in Athen. Am selben Tag greifen Terroristen das Kreuzfahrtschiff City of Poros an, töten neun und verwunden 90 Menschen. Ihre Waffen stammen aus Libyen. 7. September: Die italienische Polizei verhaftet 21 Rotbrigadisten, die sich selbst ‡Kämpfende Kommunistische Partei" nennen. Sie werden für eine Reihe von Morden verantwortlich gemacht. 9. Dezember: Israel greift in der Nähe von Beirut das PFLPHauptquartier an. Es gibt 20 Tote. 21. Dezember: Die Pan Am-Maschine von London nach New York explodiert über Lockerbie in Schottland. 270 Menschen sterben. 1989 29. März: Scheich Abdullah Ahdai, der Führer der Moslems in Belgien, und ein Assistent werden von Abu Nidal-Leuten ermordet. 10. Mai: Sharon Rogers, die Frau des Kapitäns der USS Vincennes, die 1988 einen iranischen Airbus abgeschossen hat, entrinnt einem Bombenanschlag in San Diego in Kalifornien. 6. Juli: Ein Palästinenser lenkt in Judäa einen Bus mit Israelis in den Abgrund. Dabei sterben 15 Menschen. -1007-
31. Juli: Der Islamische Jihad verbreitet ein Videoband, das die Erhängung des amerikanischen Oberst William Higgins zeigt. 8. September: Die Frau eines britischen Soldaten wird durch eine IRA-Bombe in Deutschland getötet œ in diesem Jahr der achte Angriff auf britische Militärangehörige auf dem Festland. 19. September: Eine UTA-Maschine auf dem Flug von Brazzaville nach Paris explodiert über der Sahara. 171 Menschen sterben. Der Islamische Jihad übernimmt die Verantwortung. 22. September: Eine IRA-Bombe tötet 9 Royal Marine-Angehörige und einen Zivilisten in der Kaserne in Deal; 22 Menschen werden verwundet. 16. November: Eine Todesschwadron der Armee ermordet sechs Jesuiten in San Salvador. 30. November: Die RAF tötet Alfred Herrhausen, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, mit einer ferngezündeten Bombe. 1990 4. Februar: Bei einem Angriff auf einen Touristenbus bei Kairo werden neun Israelis getötet und 15 verwundet. 30. Mai: IRA-‡Nachwuchskräfte— erschießen ‡versehentlich— zwei australische Touristen in Roermond in den Niederlanden. Sie hatten sie mit britischen Militärangehörigen verwechselt. In dem Bekennerschreiben der IRA hieß es: ‡Die IRA bedauert die Tragödie zutiefst.—
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KRIEGE SEIT 1945
Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie umfaßt alle größeren Kriege und Rebellionen seit 1945, viele kleinere Aufstände, die meisten Staatsstreiche und Unruhen sind darin nicht erfaßt, auch wenn viele von ihnen zu Tausenden Toten geführt haben. Die Verlustziffern sind meistens Schätzwerte, nur in Ausnahmefällen z. B. Nordirland œ existieren wirklich genaue Zahlen. Manchmal führt das durch die Addition genauer Angaben und Schätzungen zu merkwürdigen Ergebnissen. Im Falle des Vietnam-Krieges zum Beispiel: Addiert man die genau 58.156 getöteten Amerikaner zu den geschätzten 2.000.000 toten Vietnamesen ergibt sich daraus die Angabe von 2,058.156 Opfern. In manchen Fällen greifen auch hohe Angaben zu kurz. Die Vietnamesen gaben im Juni 1988 ihre Verluste in Kambodscha seit 1978 mit 55.000 Mann an. Nimmt man vorsichtig an, daß die kambodschanischen Verluste doppelt so hoch gewesen sein mögen, bedeutet das für Kambodscha nach dem Horror der Roten Khmer weitere 100.000 Tote. Im allgemeinen gibt es aber die Tendenz zur Übertreibung. Shirley Christian deutete dieses Phänomen in ihrem Buch über die Revolution in Nicaragua: Die Meinung, wieviele Menschen tatsächlich im Lauf der Rebellion getötet worden seien, wurde seit 1979 hin- und hermanipuliert. Angehörige von Hilfsorganisationen schätzten in den letzten Monaten, daß es rund 10.000 gewesen seien. Einige Wochen später begannen die Sandinistas mit der Erhöhung der Zahl. Zuerst sprachen sie von 30.000 Toten, später 35.000, dann 40.000, 50.000, es wurden immer mehr. Andere Organisationen und Regierungen wiederholten diese Angaben und gaben ihnen damit eine gewisse Glaubwürdigkeit. Es gibt allerdings keine Beweise für diese Zahlen. Ein Mann, der an der Südfront eine Art Verluststatistik führte, sprach von mindestens 300 und höchstens 600 toten Sandinistas. Ein hoher Beamter der SomozaRegierung gab die Zahl der getöteten Nationalgardisten mit ‡einige hundert— an ... Schließlich schätzte Ismail Reyes, der Leiter des Roten Kreuzes, die Verluste unter der Zivilbevölkerung auf rund 7.000, -1010-
vielleicht weniger. Insgesamt können es allerdings keineswegs mehr als 10.000 Tote gewesen sein. Ungeachtet der Erkenntnisse von Christian geistert die Zahl von 35.000 bis 50.000 Toten im nicaraguanischen Bürgerkrieg ständig durch Bücher und Zeitungen. Auch die Angaben von einer Million Toten im Iranisch-Irakischen Krieg und einer weiteren Million in Afghanistan, wie sie meistens berichtet werden, sind mit Vorsicht zu betrachten. Iraner, Iraker, die afghanische Regierung und die Mudschaheddin haben keine Verlustangaben veröffentlicht (obwohl sie alle ungeheure Massaker unter ihren Feinden vollbracht haben wollen). Ort 1945 Griechenland Indonesien
Bürgerkrieg bis 1949 Kolonialkrieg bis 1948
160.000 5.000
1946 China Vietnam Kolumbien
Bürgerkrieg bis 1949 Erster Indochina-Krieg bis 1954 Bürgerkrieg bis 1957
2.000.000 600.000 300.000
1947 Israel Madagaskar
Unabhängigkeitskrieg bis 1949 Kolonialaufstand bis 1948
20.000 5.000
Teilung anhaltende Stammesrebellionen kommunistischer Aufstand bis 1960
800.000 40.000 13.000
Philippinen Tibet
Rebellion Korea-Krieg, bis 1953 kommunistische Revolte bis 1960 chinesische Invasion bis 1959
5.000 1.500.000 9000 65000
1952 Kenia
Mau-Mau-Aufstand bis 1956
10.000
1948 Indien Birma Malaya 1950 Indonesien
Art und Zeit des Konfliktes
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Verluste
1953 Indonesien
Revolten bis 1960
30.000
1954 Algerien Kuba
Kolonialrevolte bis 1962 Rebellion unter Castro bis 1959
100.000 5.000
1955 Zypern Kamerun
Kolonialkrieg bis 1960 Kolonialrevolte bis 1960
359 32.000
1956 Ungarn Ägypten
Aufstand Suez-Krieg
10.000 10.000
1959 Rwanda
Tutsi Massaker durch Hutu
20.000
1960 Laos Vietnam Kongo (Zaire)
Zweiter Indochina-Krieg bis 1973 Zweiter Indochina-Krieg bis 1975 Bürgerkriege bis 1965
24.000 2.000.000 100.000
1961 Angola Guatemala Irak
Kolonialkrieg bis 1975 anhaltende Bauernrevolte Kurdenaufstand bis 1970
90.000 100.000 50.000
1962 Nordjemen Indisch-Chinesischer Portugiesisch-Guinea,
Bürgerkrieg bis 1969 Grenzkrieg Kolonialkrieg bis 1975
100.000 4.500 15.000
1963 Sudan
Bürgerkrieg bis 1972
400.000
Unruhen
3.000
Grenzkrieg Kolonialrevolte bis 1975 SWAPO-Revolte bis 1989 anhaltende Bürgerkriege
20.000 30.000 40.000 50.000
1965 Dominikanische Republik, Indisch-Pakistanischer Mosambik Namibia Tschad
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1966 Indonesien Uganda 1967 Nigeria Naher Osten 1968 Israel
Revolte und Strafmaßnahmen Buganda-Massaker
400.000 2.000
Sezessionskrieg von Biafra bis 1970 Sechstagekrieg
1-2.000.000
Abnutzungskrieg gegen Ägypten, bis 1970
3.000
25.000
1969 Salvador und Honduras, SowjetischChinesischer Nordirland Philippinen
‡Fußballkrieg— Grenzkrieg
2.000 1.000
anhaltender IRA-Terrorismus anhaltende NPA-Revolte
2.700 100.000
1970 Jordanien Kambodscha
‡Schwarzer September— Indochina-Krieg bis 1975
2.000 150.000
Bürgerkrieg Indisch-Pakistanischer Krieg linksradikale Revolte Bürgerkrieg und Massaker bis 1979
300.000 11.000 2.000 300.000
Kolonialkriege bis 1980 Hutu-Massaker an Tutsi Tutsi-Massaker an Hutu
12.000 2.000 200.000
1973 Chile Naher Osten Pakistan
‡schmutziger Krieg— Yom-Kippur-Krieg Belutschenrevolte bis 1977
20.000 25.000 9.000
1974 Zypern
Bürgerkrieg, Eingreifen der
5.000
1971 Pakistan Sri Lanka Uganda 1972 Rhodesien (Simbabwe), Burundi
-1013-
Äthiopien Irak, Philippinen 1975 Libanon Kambodscha Indonesien West-Sahara
Türkei anhaltende Bürgerkriege Wiederaufflammen der Kämpfe gegen die Kurden anhaltende Moslemrevolte
2.000.000 20.000 60.000 150.000 1-2.000.000 100.000 10.000
Angola
anhaltender Bürgerkrieg Völkermord bis 1978 anhaltender Krieg auf Ost-Timor anhaltender Krieg gegen Marokko Bürgerkrieg bis 1976
1976 Argentinien Angola
‡schmutziger Krieg— bis 1982 anhaltende UNITA-Rebellion
15.000 150.000
Unruhen und Niederschlagung bis 1979 Ogaden-Krieg bis 1978
5.000
Aufstand gegen Somoza bis 1979 Revolution anhaltender Bürgerkrieg Invasion Vietnams bis 1989, anhaltender Bürgerkrieg Krieg bis 1979
10.000 20.000 450.000 150.000
anhaltender Bürgerkrieg bis zum Waffenstillstand 1988
65.000 450.000
1977 Türkei Somalia und Äthiopien 1978 Nicaragua Iran Afghanistan Kambodscha Tansania und Uganda, 1979 El Salvador Iranisch-Irakischer Krieg, China und Vietnam, Invasion der Chinesen Uganda
50.000
9.000
4.000
20.000 anhaltende Bürgerkriege und Banditentum
1981 -1014-
300.000
Nicaragua Mosambik
anhaltende Contra-Rebellion anhaltender Bürgerkrieg und Hungersnot
10.000 400.000
1982 Syrien zwischen Argentinien und Großbritannien
Revolte der Moslem-Bruderschaft Falkland-Krieg
20.000 1.000
Libanon
israelische Invasion
50.000
anhaltender Aufstand des marxistischen‡Leuchtender Pfad—
17.000
anhaltende Tamilen-Rebellion anhaltender Bürgerkrieg
25.000 400.000
Rebellionen der Sikhs und anderer
18.000
Bürgerkrieg
13.000
anhaltender Bürgerkrieg Hutu-Massaker an Tutsi Tutsi-Massaker an Hutu
15.000 2.000 30.000
anhaltender Bürgerkrieg Kämpfe innerhalb der schwarzen Bevölkerungsgruppe
30.000 1.000
1983 Peru
Sri Lanka Sudan 1984 Indien 1986 Süd-Jemen 1988 Somalia Burundi 1990 Liberien Südafrika
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STAATSSTREICHE UND REVOLUTIONEN
SEIT 1945
In dieser Liste sind nur Staatsstreiche, Revolutionen oder Eroberungen angeführt. In manchen Ländern, wie Bolivien oder Syrien, sind nur die wesentlichen derartigen Ereignisse festgehalten. In Syrien hat es zwischen 1949 und 1970 fünfzehn versuchte und gelungene Staatsstreiche gegeben. In Bolivien kam es 1981 zum 192. Staatsstreich seit der Unabhängigkeit des Landes 1825 œ im Durchschnitt also alle 10 Monate einer! Die angegebenen Daten beziehen sich auf den jeweils entscheidenden Punkt der Ereignisse, auch wenn sie sich über mehrere Tage hinweggezogen haben. 1945 19. Oktober: Venezuela 1946 11. Januar: Haiti 21. Juli: Bolivien 1947 26. Mai: Nicaragua 1948 25. Februar: Tschechoslowakei 3. Juni: Paraguay 23. September: Venezuela 15. Dezember: El Salvador 1949 30. Januar: 5. Februar: Paraguay 1. März: Paraguay 4. August: Syrien 1. September: Syrien 3. Dezember: China -1016-
1951 10. Mai: Syrien 10. Mai: Panama 10. August: Syrien 1952 10. März: Syrien 9. April: Kuba 10. Mai: Bolivien 26. Juli: Haiti 1953 13. Juni: Ägypten 16. August: Kolumbien 19. August: Iran 1954 25. Februar: Konterrevolution im Iran 28. Juni: Syrien 1955 19. September: Guatemala 11. November: Argentinien 1956 21. Oktober: Brasilien 23. Oktober: Honduras 24. November: Ungarn 6. Dezember: Sowjetische Besetzung von Budapest 12. Dezember: Haiti 1957 2. April: Haiti 21. Mai: Haiti 25. Mai: Haiti 14. Juni: Haiti 30. September: San Marino -1017-
11. Oktober: San Marino 1958 23. Januar: Venezuela 13. Mai: Frankreich 14. Juli: Irak 20. Oktober: Thailand 28. Oktober: Birma 17. November: Sudan 1959 1. Januar: Kuba 1960 27. April: Türkei 9. August: Laos 14. September: Kongo (Leopoldville) 13. Dezember: Äthiopien 19. Dezember: Äthiopien, Gegenputsch 1961 25. Januar: El Salvador 28. Januar: Rwanda 16. Mai: Süd-Korea 3. Juli: Süd-Korea 28. September: Syrien 1962 16. Januar: Dominikanische Republik 18. Januar: Dominikanische Republik 2. März: Birma 28. März: Syrien 29. März: Argentinien 5. April: Syrien 18. Juni: Peru 27. September: Jemen -1018-
1963 13. Januar: Togo 8. Februar: Irak 8. März: Syrien 31. März: Guatemala 3. Oktober: Honduras 1. November: Süd-Vietnam 11. November: Irak 1964 12. Januar: Sansibar 30. Januar: Süd-Vietnam 18. Februar: Gabun 19. Februar: Gabun, Gegenputsch mit französischen Truppen 31. April: Brasilien 31. Oktober: Sudan 2. November: Saudi-Arabien 3. November: Bolivien 20. Dezember: Süd-Vietnam 1965 27. Januar: Süd-Vietnam 20. April: Jemen 25. April: Dominikanische Republik 19. Juni: Algerien 5. September: Irak 25. November: Kongo (Leopoldville) 29. November: Dahomey 1966 1. Januar: Zentralafrikanische Republik 4. Januar: Ober-Volta 15. Januar: Nigeria 22. Februar: Uganda -1019-
23. Februar: Syrien 24. Februar: Ghana 29. Juni: Argentinien 8. Juli: Burundi 29. Juli: Nigeria 26. Oktober: Kongo (Kinshasa) 28. November: Burundi 1967 13. Januar: Togo 22. Januar: Indonesien 23. März: Sierra Leone 21. April: Griechenland 5. November: Nord-Jemen 17. Dezember: Dahomey 1968 18. April: Sierra Leone 17. Juli: Irak 1. August: Kongo (Brazzaville) 20. August: Tschechoslowakei 4. September: Kongo (Brazzaville) 3. Oktober: Peru 11. Oktober: Panama 19. Oktober: Mali 13. Dezember: Brasilien 1969 25. Mai: Sudan 22. Juni: Süd-Jemen 1. September: Libyen 26. September: Bolivien 21. Oktober: Somalia 12. Dezember: Dahomey -1020-
1970 30. Januar: Lesotho 18. März: Kambodscha 22. Juni: Ekuador 23. Juli: Oman 6. Oktober: Bolivien 13. November: Syrien 1971 25. Januar: Uganda 23. März: Argentinien 1. August: Süd-Jemen 22. August: Bolivien 17. November: Thailand 16. Dezember: Ost-Pakistan 20. Dezember: West-Pakistan 1972 13. Januar: Ghana 14. Mai: Madagaskar 22. September: Philippinen 17. Oktober: Süd-Korea 26. Oktober: Dahomey 4. Dezember: Honduras 1973 27. Juni: Uruguay 5. Juli: Rwanda 17. Juli: Afghanistan 11. September: Chile 25. November: Griechenland 1974 8. Februar: Ober-Volta 15. April: Niger -1021-
25. April: Portugal 15. Juli: Zypern 23. Juli: Griechenland 12. September: Äthiopien 1975 22. April: Honduras 27. April: Kambodscha 30. April: Süd-Vietnam 30. April: Laos 29. Juli: Nigeria 3. August: Komoren 15. August: Bangladesch 29. August: Peru 3. November: Bangladesch 7. November: Bangladesch 1976 24. März: Argentinien 12. Juni: Uruguay 7. Oktober: China 10. Oktober: Thailand 1. November: Burundi 1977 5. April: Kongo 5. Juni: Seychellen 5. Juli: Pakistan 1978 27. April: Afghanistan 13. Mai: Komoren 26. Juni: Süd-Jemen 7. Juli: Ghana 10. Juli: Mauritius -1022-
21. Juli: Bolivien 6. August: Honduras 1979 16. Januar: Iran 6. Februar: Kongo 12. März: Grenada 11. April: Uganda 4. Juni: Ghana 19. Juni: Uganda 17. Juli: Bolivien 17. Juli: Nicaragua 3. August: Äquatorial-Guinea 16. September: Afghanistan 20. September: Zentralafrikanisches Kaiserreich 16. Oktober: El Salvador 27. Dezember: Afghanistan 1980 24. Februar: Surinam 12. April: Liberia 23. April: Süd-Jemen 12. Mai: Uganda 17. Juli: Bolivien 12. September: Türkei 14. November: Guinea-Bissau 25. November: Ober-Volta 1981 30. Juli: Gambia 5. August: Gambia, Gegenputsch mit Hilfe d. Senegal 4. August: Bolivien 1. September: Zentralafrikanische Republik 31. Dezember: Ghana -1023-
1982 23. März: Guatemala 24. März: Bangladesch 7. Juni: Tschad 7. November: Ober-Volta 8. Dezember: Surinam 1983 4. August: Ober-Volta 8. August: Guatemala 19. Oktober: Grenada 25. Oktober: Grenada 31. Dezember: Nigeria 1984 3. April: 12. Dezember: Guinea Mauretanien 1985 4. April: Sudan 27. Juli: Uganda 27. August: Nigeria 1986 19. Januar: Süd-Jemen 20. Januar: Lesotho 29. Januar: Uganda 7. Februar: Haiti 25. Februar: Philippinen 1987 14. Mai: Fidschi 3. September: Burundi 24. September: Transkei 25. September: Fidschi 16. Oktober: Burkina Faso -1024-
7. November: Tunesien 30. Dezember: Transkei 1988 11. Februar: Bophuthatswana, niedergeschlagen südafrikanischer Truppen 19. Juni: Haiti 17. September: Birma 17. September: Haiti 1989 3. Februar: Paraguay 30. Juni: Sudan 9. November: DDR 24. November: Tschechoslowakei 27. November: Komoren 20. Dezember: Panama 22. Dezember: Rumänien 1990 4. März: Ciskei 10. März: Haiti 4. Juli: Trinidad und Tobago
Sommer: Bürger-(Stammes-)krieg in Liberia
2. August: Kuwait, irakische Invasion
-1025-
mit
Hilfe
ATTENTATE SEIT 1946
Diese Liste der prominenten Attentatsopfer enthält die Namen von Amtsträgern und bedeutenden Persönlichkeiten, die entweder Terroranschlägen von Gruppen wie der IRA, der ETA und den armenischen Terroristen zum Opfer gefallen oder im Verlauf von Staatsstreichen oder Revolutionen getötet worden sind. (Letztere sind durch * markiert.) Hinrichtungen oder Ermordungen von Oppositionellen sind ebenso angeführt œ z. B. Patrice Lumumba œ wie die Tötung prominenter Rebellen œ z. B. Che Guevara œ durch Sicherheitskräfte. Aber auch solche Politiker sind verzeichnet, die im Zuge von Staatsstreichen abgesetzt und später hingerichtet wurden œ z. B. Kassem, Bhutto und Menderes. Ebenso gescheiterte Anschläge von Bedeutung. 1946 21. Juli: Cualberto Villaroel, Staatspräsident von Bolivien* 1947 19. Juli: Aung San, birmesischer Parteiführer, sowie sieben Mitarbeiter 1948 30. Januar: Mahatma Gandhi 19. Februar: Zaidi Imam Yahya ibn-Mohammed ibn-Hamid al-Din, Herrscher des Jemen 10. März: Jan Masaryk, tschechoslowakischer Außenminister, (offizielle Todesursache Selbstmord)* 9. April: Dr. Jörge Gaitan, liberaler Parteiführer in Kolumbien 1. Mai: Christos Lados, griechischer Justizminister George Polk, CBS-Korrespondent in Griechenland, wurde entführt. Die Leiche wurde am 16. Mai gefunden. 17. September: Graf Folke Bernadotte, UNO-Hochkommissar in Palästina 28. Dezember: Mahamoud Fahmy Nokrashy Pascha, Premierminister von Ägypten -1026-
1949 12. Februar: Scheich Hassan al-Bana, Oberhaupt der Moslemischen Bruderschaft, in Kairo 29. April: Die Witwe von Präsident Quezon der Philippinen, ihre Tochter, ihr Schwiegersohn sowie zehn andere 18. Juli: Major Francisco Arana, konservativer Parteiführer in Guatemala 14. August: Husni Zaim, Staatspräsident, und Mohsen al-Barazi, der Premierminister von Syrien* 1950 1. November: Attentatsversuch auf den US-Präsidenten Harry Truman Carlos Delgado Chalbaud, Staatspräsident von Venezuela 13. November: Ali Razmara, Ministerpräsident des Iran 1951 7. März: Riadh es-Salh, früherer Ministerpräsident des Libanon 16. Juli: König Abdullah von Jordanien 20. Juli: General Charles-Marie Chanson und Thai Lap Thanh, Gouverneur von Süd-Vietnam 31. Juli: Sir Henry Gurney, Britischer Hochkommissar in Malaya 6. Oktober: 16. Oktober: Carlos Castillo Armas, Staatspräsident von Guatemala 1953 1. Juli: Liaquat Ali Khan, Ministerpräsident von Pakistan 1955 3. Januar: Prinz Azzedine Bey, Erbe des Bey von Tunis 1956 29. September: Oberst Jose Antonio Rernon, Staatspräsident von Panama 1957 26. Juli: General Anastasio Somoza Garcia, Staatspräsident von Nicaragua 1958 -1027-
16. Juni: Imre Nagy, früherer Ministerpräsident von Ungarn, und General Pal Maleter, hingerichtet nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen (1956)* 14. Juli: König Feisal II. von Irak, Kronprinz Abdul Ilah und andere* 15. Juli: Ministerpräsident General Nurl as-Said des Irak 1959 25. September: Solomon West Ridgway Diaz Bandaranaike, Ministerpräsident von Ceylon 15. Oktober: Stepan Bandera, nationalistischer Exil-Ukrainer, in München 1960 29. August: Hazza al-Majali, Ministerpräsident von Jordanien 12. Oktober: Inejiro Asanuma, Vorsitzender der Japanischen Sozialistischen Partei 1961 12. Februar: Patrice Lumumba, früherer Ministerpräsident des Kongo (Leopoldville) 30. Mai: Generalissimus Rafael Leonidas Trujillo, Staatspräsident der Dominikanischen Republik 8. September: Attentatsversuch auf General de Gaulle 17. September: Adnan Menderes, früherer Ministerpräsident der Türkei, hingerichtet nach dem Staatsstreich von 1960 13. Oktober: Fürst Louis Rwagasone, Ministerpräsident von Burundi 1962 22. August: Attentatsversuch auf General de Gaulle 1963 13. Januar: Sylvanus Olympio, Präsident von Togo* 8. Februar: Abd al-Karim Kassem, Staatspräsident des Irak* 1. April: Quinim Pholsen, Außenminister von Laos 28. Mai: Gregor Lambrakis, griechischer Oppositionsführer -1028-
12. Juni: Medgar Evers, US-Bürgerrechtskämpfer 2. November: Ngo Dinh Diem, Staatspräsident von Süd-Vietnam, und sein Bruder Ngo Dinh Nhu* 22. November: John F. Kennedy, Präsident der USA 24. November: Lee Harvey Oswald, mutmaßlicher Mörder von John F. Kennedy 1964 21. Februar: Attentatsversuch auf den türkischen Staatspräsidenten Ismet Inönü 1965 15. Januar: Pierre Ngendandumowe, Ministerpräsident von Burundi 21. Januar: Hassan Ali Masur, Ministerpräsident des Iran 21. Februar: Malcolm X, Führer der amerikanischen Black MuslimBewegung 24. April: General Humberto Delgardo, portugiesischer Oppositionsführer 1. September: Sir Arthur Charles, Sprecher der Gesetzgebenden Versammlung von Aden 1 Oktober: General Achmad Yani, indonesischer Generalstabchef, und fünf andere Generäle 29. Oktober: Mehdi Ben Barka, marokkanischer Oppositionsführer, in Paris 22. November: Dipa Nusantara Aidit, Führer der indonesischen KP 1966 15. Januar: Hadschi Sir Abubaker Tafawa Balewa, Ministerpräsident von Nigeria; der Sardauna von Sokoto, Ministerpräsident von Nord-Nigeria; Häuptling Akintola, Ministerpräsident von West-Nigeria; Armeeführer General Johnson Aguiyilronsi, Staatsoberhaupt von Nigeria 29. Juli: Dr. Hendrik Verwoerd, Ministerpräsident von Südafrika 6. September: George Lincoln Rockwell, amerikanischer Faschistenführer 1967 -1029-
9. Oktober: Che Guevara, kubanischer Revolutionsführer aus Argentinien, in Bolivien 1968 16. Januar: Oberst John Webber, Leiter der US-Militärmission in Guatemala 4. April: Reverend Martin Luther King 5. Juni: US-Senator Robert F. Kennedy 28. August: John Mein, US-Botschafter in Guatemala 1969 3. Februar: Tom Mboya, keniatischer Wirtschaftsplanungsminister 5. Juli: Abdirashid Ali Shermarke, Staatpräsident von Somalia 15. Oktober: Graf Carl von Spreti, BRD-Botschafter in Guatemala, entführt und ermordet 1970 5. April: Major Robert Perry, US-Militärattache in Jordanien 10. Juni: Pedro Arambuoi, früherer Staatspräsident von Argentinien (entführt am 29. Mai) 16. Juli: Dan Mitrione, US-Diplomat, in Montevideo 31. Juli: General Rene Schneider, Oberkommandierender der chilenischen Armee 22. Oktober: Pierre Laporte, Arbeitsminister, Quebec 11. November: Wasfi Tal, Ministerpräsident von Jordanien, in Kairo 1971 28. November: Abeid Karume, Vizepräsident von Tansania und Oberhaupt von Sansibar 1972 7. April: Ntare V., Ex-König von Burundi 15. Mai: Attentat auf den früheren Gouverneur von Alabama, George Wallace 16. August: Attentatsversuch auf König Hassan von Marokko 1973 -1030-
20. Januar: Dr. Amilcar Cabcal, Rebellenführer in PortugiesischGuinea 2. März: Cleo Noel, US-Botschafter im Sudan; George C. Moore, scheidender US-Geschäftsträger; Guy Eid, belgischer Geschäftsträger 11. September: Salvador Allende, Staatspräsident von Chile* (offiziell Selbstmord) 20. Dezember: Admiral Luis Carrero Blanco, Ministerpräsident von Spanien 1974 15. August: Attentatsversuch auf den südkoreanischen Staatspräsidenten Park Chung Hee; dabei wird seine Frau getötet 19. August: Rodger Davies, US-Botschafter in Zypern 30. September: General Carlos Prats, früherer chilenischer Verteidigungsminister, und seine Frau, in Buenos Aires 10. November: Günter von Drenkmann, Präsident des Berliner Kammergerichtes, wird von Mitgliedern der ‡Bewegung 2. Juni— erschossen 21. November: General Aman Michael Andorn, Staatsoberhaupt von Äthiopien 1975 5. Februar: Oberst Richard Ratsimandrava, Staatspräsident von Madagaskar 25. März: König Feisal ibn Abdul Aziz von Saudi-Arabien 13. April: Ngarta Tombalbaye, Präsident des Tschad* 24. April: Andreas von Mirbach, deutscher Militärattache in Stockholm, und Botschaftsrat Heinz Hillegart werden beim Überfall des ‡Kommandos Holger Meins— auf die deutsche Botschaft in Stockholm getötet 27. Juli: Alfred Durriapah, Bürgermeister von Jaffna 15. August: Scheich Mujibur Rahman, Staatspräsident von Bangladesch* 22. Oktober: Danis Tunanigil, türkischer Botschafter in Österreich 24. Oktober: Ismail Erez, türkischer Botschafter in Frankreich -1031-
7. November: General Khalid Musharaf, Regierungschef von Bangladesch* 27. November: Ross McWhirter, Mitherausgeber des Guiness Book of Records und Vorsitzender der Freedom Association, einer rechtsstehenden britischen Vereinigung 23. Dezember: Richard Welch, GA-Stationschef in Griechenland 1976 3. Februar: General Murtaia Ramat Mohammed, Staatspräsident von Nigeria 6. Juni: Francis Meloy, US-Botschafter im Libanon 21. Juli: Christopher Ewart-Biggs, britischer Botschafter in Dublin, und seine Sekretärin, Judith Cook 21. September: Orlando Letelier, früherer chilenischer Verteidigungsminister, und sein Sekretär, Ronni Moffitt, in Washington 1977 2. Februar: Kemal Dschumblatt, Drusenführer im Libanon; General Teferi Banti, Staatsoberhaupt von Äthiopien 16. Februar: Janane Luwum, anglikanischer Erzbischof von Uganda 18. März: Marien Ngouabi, Staatspräsident des Kongo 23. März: Kardinal Emile Biayende, Kongo 7. April: Siegfried Buback, deutscher Generalbundesanwalt, sein Fahrer und ein Justizbeamter kommen durch ein Attentat des ‡Kommandos Ulrike Meinhof— ums Leben 10. April: Al-Quadi al-Hajri, früherer Ministerpräsident des NordJemen, mit seiner Frau, in London 19. April: Mauricio Borgonovo Pohl, früherer Außenminister von El Salvador 30. Juli: Jürgen Ponto, Vorstandsvorsitzender der Dresdner Bank 5. September: Entführung von Hanns-Martin Schleyer; sein Fahrer und drei Polizeibeamte kommen ums Leben. Die Leiche Schleyers wird am 19. Oktober in Frankreich aufgefunden. 10. Oktober: Ibrahim al-Hamdi, Staatspräsident des Nord-Jemen -1032-
1978 4. Januar: Said Hammami, PLO-Vertreter in London 10. Januar: Pedro Joaquin Chamorro, Herausgeber der La Prensa in Nicaragua 27. April: Mohammed Daoud, Staatspräsident von Afghanistan* 9. Mai: Aldo Moro, früherer Ministerpräsident von Italien (entführt am 16. März) 29. Mai: Ali Soilth, Staatspräsident der Komoren, wurde nach dem Staatsstreich vom 13. Mai erschossen* 13. Juni: Tony Frandschieh, libanesischer Christenführer 24. Juni: Ahmed Hussein al-Ghashmi, Staatspräsident des NordJemen 26. Juni: Salim Rubai Ali, Staatspräsident des Süd-Jemen 10. Juli: General Aboul Razik al-Naif, früherer Ministerpräsident des Irak, in London 31. August: Imam Musa Sadr, libanesischer Schiitenführer, verschwand in Libyen; wahrscheinlich wurde er ermordet. 1979 14. Februar: Adolph Dubs, US-Botschafter in Afghanistan 22. März: Sir Richard Sykes, britischer Botschafter in den Niederlanden 30. März: Airey Neave, konservativer Unterhausabgeordneter für Nordirland 4. April: Zulfikar Ali Bhutto, früherer Staatspräsident von Pakistan, Hinrichtung (nach dem Staatsstreich von 1977) 8. August: Lord Louis Mountbatten sowie drei andere, in Irland 29. September: Francisco Nguema, Staatspräsident von AquatorialGuinea, Hinrichtung nach dem Staatsstreich 8. Oktober: Nur Mohammed Taraki, Staatspräsident von Afghanistan 26. Oktober: General Park Chung Hee, Staatspräsident von SüdKorea 27. Dezember: Hafizullah Amin, Staatspräsident von Afghanistan -1033-
1980 24. März: Erzbischof Oscar Romero von San Salvador 12. April: William Tolbert, Staatspräsident von Liberia 19. Juli: Nihat Erim, früherer Ministerpräsident der Türkei 21. Juli: Salahaldin al-Bitar, früherer Ministerpräsident von Syrien, und seine Frau 15. August: Imam Sayyid Muhammed Baqir al-Sadr, irakischer Schiitenführer, zusammen mit seiner Schwester hingerichtet 17. September: Anastasio Somoza Debayle, früherer Staatspräsident von Nicaragua 1981 21. Januar: Sir Norman Stronge, früherer Abgeordneter für Nordirland 30. März: Attentat auf Präsident Ronald Reagan 11. Mai: Heinz-Herbert Kerry, hessischer Wirtschaftsminister, wird in Frankfurt von Mitgliedern Revolutionärer Zellen erschossen 13. Mai: Attentat auf Papst Johannes Paul II. 24. Mai: Jaime Roidos Aguilera, Staatspräsident von Ekuador 30. Mai: Ziaur Rahman, Staatspräsident von Bangladesch 28. Juni: Mohammed Beheshti, Generalsekretär der iranischen Islamisch-Republikanischen Partei, sowie 74 andere bei einem Bombenanschlag 30. August: Mohammed Rajai, Staatspräsident und Mohammed 4. September: Bahonar, Ministerpräsident des Iran, sowie 13 andere bei einem Bombenanschlag 6. Oktober: Louis Delamare, französischer Botschafter im Libanon 14. November: Anwar as-Sadat, Staatspräsident von Ägypten 18. Dezember: Reverend Robert Radford, Unterhausabgeordneter in Belfast 1982 9. März: Mehmet Shebu, Ministerpräsident von Albanien, wird während einer Regierungssitzung getötet -1034-
14. September: Galip Balkar, türkischer Botschafter in Jugoslawien Bashir Gemayel, gewählter Präsidentschaftskandidat im Libanon 1983 21. August: Benigno Aquino, philippinischer Oppositionsführer 9. Oktober: vier südkoreanische Minister bei einem Bombenanschlag in Rangun, Birma 1984 18. Januar: Malcolm Kerr, Dekan der amerikanischen Universität in Beirut 30. April: Rodrigo Lara Bonilla, kolumbianischer Justizminister 5. Juni: Sant Bhindranwale, Sikh-Terroristenführer, von indischen Soldaten getötet 20. August: Sant Harchand Singh Longowal, gemäßigter SikhFührer 12. Oktober: Attentatsversuch auf die britische Premierministerin Margaret Thatcher (dabei werden vier Menschen getötet) 17. Oktober: Pater Cerzy Popieluszko, oppositioneller polnischer Priester 31. Oktober: Indira Ghandi, Ministerpräsidentin von Indien 27. November: Percy Norris, britischer Vize-Hochkommissar in Indien 1985 12. Januar: Eloi Machoro, Neu-Kaledonischer Separatistenführer 1. Februar: Ernst Zimmermann, Vorstandsvorsitzender der MTU, fällt in Gauting bei München einem RAF-Anschlag zum Opfer. 4. Oktober: William Buckley, CIA-Stationschef in Beirut (entführt am 16. März 1984) 6. November: 11 Richter des kolumbianischen Höchstgerichtes 1986 2. Januar: Ignacio Gonzalez Palacios, Chef der Geheimpolizei von Guatemala 6. Februar: Vize-Admiral Cristobal Colon de Carvajal der spanischen Kriegsmarine -1035-
28. Februar: Olof Palme, Ministerpräsident von Schweden 9. Juli: Karl Heinz Beckurts, Siemens-Vorstandsmitglied, wird zusammen mit seinem Fahrer bei München mit dem Auto in die Luft gesprengt. 7. Oktober: Scheich Sabhi al-Saleh, libanesischer Sunnitenführer 10. Oktober: Gerold von Braunmühl, Leiter der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, wird in Bonn von RAF-Terroristen erschossen. 25. Oktober: General Rafael Garricho Gil, Gouverneur der spanischen Provinz Guipúzcoa, mit Frau und Sohn 1987 20. März: General Licio Giogieri, Direktor der italienischen Weltraumwaffenforschung 25. April: Maurice Gibson, Richter am nordirischen Appellationsgericht, mit seiner Frau 1. Juni: Rashid Karami, Ministerpräsident des Libanon 2. August: Jaime Ferrer, philippinischer Minister 18. August: Attentatsversuch auf Junius Jayawardene, Staatspräsident von Sri Lanka 13. Oktober: Yves Volel, Präsidentschaftskandidat in Haiti 16. Oktober: Thomas Sankara, Staatspräsident von Burkina Faso* 1988 26. Januar: Carlos Mauro Hoyos Jiminez, Generalstaatsanwalt in Kolumbien 16. April: Khalid Wazir (Abu Jihad), PLO-Führer, in Tunis 28. April: Hagop Hagopian, armenischer Terroristenführer, in Athen 18. Juni: Attentatsversuch auf Turgut Özal, Ministerpräsident der Türkei 17. August: Mohammed Zia ul-Haq, Staatspräsident von Pakistan, der US-Botschafter Arnold Raphel und andere bei einem Flugzeugabsturz, möglicherweise Sabotage 20. September: Ein RAF-Attentat auf Hans Tietmeyer, -1036-
Staatssekretär im Bonner Finanzministerium, mißglückt. 1989 25. Januar: General Gustavo Alvarez Martinez, früher der starke Mann in Honduras 4. Mai: Jean-Marie Tjibaou, neu-kaledonischer Separatistenführer 16. Mai: Sheikh Hassan Khaled, libanesischer Sunniten-Führer 13. Juli: Appapillai Amirthalingam, Führer der ‡Tamil United Liberation Front", in Sri Lanka 18. August: Luis Carlos Galan, kolumbianischer Präsidentschaftskandidat 2. November: Rene Moawad, Staatspräsident des Libanon 27. November: Ahmed Abdallah Abderemane, Präsident der Komoren* 30. November: Alfred Herrhausen, Chef der Deutschen Bank, von der RAF ermordet 25. Dezember: Nicolae Ceausescu, Staatspräsident von Rumänien, mit seiner Frau Elena* 1990 13. Februar: General Enrique Lopez Albujar, ehemaliger peruanischer Verteidigungsminister Robert Ouko, keniatischer Außenminister
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REGISTER
SCHLAGWORTVERZEICHNIS DER EINZELNEN KAPITEL ANGOLA (3) Geschichte œ Von der vergessenen portugiesischen Kolonie zur Unabhängigkeit Der Guerillakrieg seit 1976 œ Ausländische Intervention œ Der Durchbruch œ Angola heute ÄTHIOPIEN (16) Geschichte œ Die Jahrzehnte unter Haile Selassie œ Die Revolution œ Das neue Äthiopien œ Eritrea œ Der Krieg œ Tigray œ Oromo œ Äthiopien heute BURUNDI UND RWANDA (30) Geschichte œ Die Hutu und die Tutsi œ Das moderne Burundi LIBYEN (35) Geschichte œ Libyen unter Gaddafi œ Der Erdölreichtum œ Die Vereinigungspläne Die Einmischung in Afrika œ Terrorismus œ Libyen heute MAROKKO (43) Geschichte œ Die Zeit nach der Entkolonialisierung œ Der Kampf um die West-Sahara œ Die Entstehung der Frente POLISARIO œ König Hassans Grüner Marsch œ Der Krieg œ Der Kampf der POLISARIO gegen Marokko œ Diplomatie MOSAMBIK (53) Geschichte œ Das unabhängige Mosambik œ Der Beginn des Krieges œ Der Bürgerkrieg œ Die gegenwärtige Situation NAMIBIA (63) Das Land und das Volk œ Geschichte œ Die Ursprünge des Krieges œ Der Krieg œ Diplomatische Manöver œ Der Waffenstillstand œ Die Unabhängigkeit SOMALIA (73) Geschichte œ Das unabhängige Somalia œ Die Somalia-Frage œ Der Ogaden-Krieg Die Nachwirkungen œ Die gegenwärtige Situation -1059-
SUDAN (80) Geschichte œ Die Unabhängigkeit œ Der erste Bürgerkrieg œ Der neue Sudan œ Der Krieg SÜDAFRIKA (88) Geschichte œ Der Burenkrieg œ Die anderen Südafrikaner œ Apartheid œ Die Afrikaaner œ Bantustans und Homelands œ Der Wind der Veränderung œ Der African National Congress œ Sharpeville und danach œ Soweto œ Die Reform œ Verfassungsreformen -Die Aufstände œ Die schwarze Opposition œ Der Guerillakrieg œ Mandelas Rückkehr TSCHAD (116) Geschichte œ Der erste Bürgerkrieg œ Das erste Interregnum œ Die libysche Intervenion œ Der zweite Bürgerkrieg œ Der dritte Bürgerkrieg œ Der vierte Bürgerkrieg œ Der Waffenstillstand UGANDA (126) Geschichte œ Die Jahre unter Amin œ Der Krieg gegen Tansania œ Die Zeit nach Amin AFGHANISTAN (135) Geschichte œ Die sowjetische Okkupation 1979-1989 œ Die Sowjets und die Mudjaleddin œ Die Widerstandsparteien œ Diplomatie BANGLADESCH (150) Geschichte œ Das unabhängige Bangladesch œ Die Probleme der Politik und Demo^raphie œ Die Chittagong Hill Tracts BIRMA(155) Geschichte œ Das unabhängige Birma œ Die Militärdiktatur œ Die Rebellionen œ Der Aufstand œ Der Staatsstreich CHINA (168) Geschichte œ China unter Mao œ Die Kulturrevolution œ Die letzten Tage Maos und die Viererbande œ Tibet œ Taiwan œ Der chinesischsowjetische Konflikt und der Grenzkrieg von 1969 INDIEN (183) Geschichte œ Der erste indischpakistanische Krieg œ Der Krieg gegen China œ Der zweite Krieg gegen Pakistan œ Auseinandersetzungen im Landesinneren œ Nagaland -Manipur und -1060-
Mizoram œ Tripura œ Die Gurkhas œ Die Naxaliten œ Die Bodo œ Die Sikhs œ Die Spannungen zwischen Moslems und Hindus œ Kaschmir œ Ladakh œ Sri Lanka œ Die Malediven INDONESIEN (202) Geschichte œ Der Staatsstreich von 1965 œ Die Herrschaft Suhartos œ Ost-Timor Irian Jaya KAMBODSCHA (211) Geschichte œ Die Volksrepublik Kampuchea œ Die vietnamesische Besatzung œ Die zwei Koalitionen œ Die Sozialistische Volksrepublik Kampuchea œ Die Koalitionsregierung des Demokratischen Kampuchea œ Die ausländischen Mächte œ Die Zukunft œ Der Grenzkrieg zwischen Thailand und Laos 1987/88 KOREA (228) Geschichte œ Der Krieg œ Das Nachkriegs-Korea MALAYSIA (236) Geschichte œ Der Notstand PAKISTAN (240) Geschichte œ Der Krieg von 1971 und die Unabhängigkeit von Bangladesch Kaschmir œ Baluchistan œ Paschtunistan PHILIPPINEN (248) Geschichte œ Die unabhängigen Philippinen œ Das Regime von Marcos œ Die Moros Die ‡New People‘s Army— œ Die Regierung Aquino SRI LANKA (263) Geschichte œ Ein Staat in Schwierigkeiten VIETNAM (273) Geschichte œ Der Krieg um Kambodscha œ Der Krieg zwischen China und Vietnam Der Streit um die Spratlylnseln œ Vietnam heute IRAK (283) Geschichte œ Der Aufstieg der Baath-Partei œ Der iranischirakische Krieg œ Der Tankerkrieg œ Der Luftkrieg œ Der irakische Sieg œ Der Waffenstillstand œ Nach dem Krieg œ Chronologie des Krieges zwischen Iran und Irak œ Der Überfall auf Kuwait -1061-
IRAN (300) Geschichte œ Das Anden Regime œ Die Revolution œ Die Dämmerung des Ajatollah Diplomatie ISRAEL (313) Geschichte œ Palästina œ Der Holocaust œ Das Ende des Mandates œ Der erste arabischisraelische Krieg œ Israel und die Araber œ Der Suezkrieg œ Der Sechstagekrieg œ Der Abnützungskrieg œ Der YomKippur-Krieg œ Israel und die Araber œ Die Intifada œ Das Dilemma œ Israel und seine Nachbarn JEMEN (345) Geschichte œ Unabhängigkeit DIE KURDEN (350) Die Kurden im Irak œ Die Kurden und der Krieg œ Die Kurden im Iran œ Die Kurden in Syrien œ Die Kurden in der Türkei LIBANON (359) Geschichte œ Der erste Bürgerkrieg und die Zeit danach œ Der zweite Bürgerkrieg -Die erste israelische Invasion œ ‡Operation Friede in Galiläa— œ Die amerikanische Intervention œ Der neue Waffenstillstand œ Friedensbemühungen œ Der Libanon heute Terrorismus œ Chronologie des Bürgerkriegs im Libanon SAUDI-ARABIEN (381) Geschichte œ Das moderne Arabien œ Die Hadsch-Unruhen SYRIEN (387) Beschichte œ Die Baath œ Syrien unter Assad œ Die MoslemBruderschaft œ Das moderne Syrien SOWJETUNION (402) Das Nationalitätenproblem œ Armenien und Aserbeidschan œ Georgien œ Die baltischen Staaten œ Moldawien œ Andere Nationalitätenkonflikte œ Ukraine DDR (420) Die Krisen œ Der Fall der Mauer œ Die Auflösung des Staates POLEN (425) Comulka œ Der Aufstieg der ‡Solidarität" œ Lech Walesa œ Die -1062-
Demokratisierung TSCHECHOSLOWAKEI (433) Der Prager Frühling œ Die verlorenen Jahre œ Präsident Havel BALKAN (439) Der Streit um Siebenbürgen œ Albanien BULGARIEN (444) Der Sturz Schiwkoffs œ Die Kommunisten gewinnen die Wahlen JUGOSLAWIEN (447) Die nationalen Gegensätze nach Tito œ Der Zerfall des Landes RUMÄNIEN (452) Die Zeit unter Ceaugescu œ Die Rumänische Revolution œ Die Zeit danach UNGARN (459) Der Volksaufstand in Budapest von 1956 œ Die Jahre unter Kadar œ Die Demokratie CHRONOLGIE DES KOMMUNISMUS (466) NORDIRLAND (471) Geschichte œ Der Osteraufstand und der Unabhängigkeitskrieg œ Die Debatte über die Teilung œ Nach der Teilung œ Die Unruhen œ Der ‡Blutige Sonntag— œ Die Terroristen-Kampagne œ Die neue IRA œ Das Programm der Provos œ Die Finanzierung der Terroristen œ Die Verbindung mit Amerika œ Schritte zu einer politischen Lösung œ Britische Politik œ Die jüngsten Katastrophen œ Chronik ZYPERN (492) Geschichte œ Terrrorismus œ Das unabhängige Zypern œ Makarios œ Der Status Quo ARGENTINIEN UND DIE FALKLANDS (503) Geschichte œ Die Falklands œ Der Weg in den Krieg œ Der Ausbruch des Krieges Das Imperium schlägt zurück œ Die Nachwirkungen des Krieges EL SALVADOR (516) Parteien und Rebellen œ Geschichte œ Der Konflikt œ Die Todesschwadronen œ Der Krieg œ Die Zeit nach Duarte -1063-
GUATEMALA (531) Geschichte œ Der Putsch von 1954 œ Die neue Diktatur œ Guatemala heute œ Der Streit um Belize NICARAGUA (544) Geschichte œ Die Somozas œ Die Sandinisten œ Der Aufstand œ Die Revolution œ Die Reaktion der USA œ Die Contras œ Grenada œ Die Verminung der Häfen œ Der Wahlsieg der Sandinisten œ Die Front im Süden œ Die Iran-Contra-Affäre œ Diplomatie -Der Friedensprozeß PANAMA (571) Geschichte œ Manuel Antonio Noriega œ Die Invasion der Amerikaner œ Der Sturz Noriegas PERU (578) Geschichte œ Der Krieg œ Die neue Regierung DER DROGENKRIEG (586) Kolumbien œ Geschichte œ Kokain œ Das Kartell œ Der Krake breitet sich aus œ Honduras œ Bolivien œ Peru œ Kuba œ Brasilien FIDSCHI UND NEUKALEDONIEN (605) Fidschi œ Neukaledonien DIE AUSEINANDERSETZUNG UM DIE KERNENERGIE (612) Neuseeland œ Greenpeace TERRORISMUS HEUTE (617) Geschichte œ Definitionen œ Argumentationen œ Überblick DIE EURO-TERRORISTEN (627) Bundesrepublik Deutschland œ Rote Armee Fraktion œ Frankreich œ Action Directe Griechenland œ Italien œ Rote Brigaden œ Spanien und Portugal œ Belgien NATIONALISTISCHER TERRORISMUS (644) Bretagne œ Korsika œ Die Basken œ Südtirol ARABISCHER TERRORISMUS (652) Die Palästinenser œ Carlos œ Abu Nidal œ Ahmed Jibril œ Arafat in Tunis œ Libyen œ Religiöser Terrorismus œ Luftterrorismus JAPANISCHER TERROR (678) -1064-
Japanische Rote Armee AUSSICHTSLOSE HOFFNUNGEN (682) Die Armenier œ Geschichte œ Terrorismus œ Die Molukker CHRONIK DES TERRORISMUS (689) 1968 bis 1990 NAMENSREGISTER (P): Staatsoberhaupt; (MP): Regierungschef; (Land) nach dem Namen: Monarch Abbas, Abul 660ff. Abboud, Ibrahim (P) 82 Abdallah, Georges 666, 682f., 687 Abdul Illah, Kronprinz 285 Abdullah, Emir 388 Abdullah ibn Mohammed 81 Abrams, Elliott 562 Abu Massa 662 Abu Mohammed 659 Abu Nidal 653, 660ff. Acheson, Dean 229, 497, 535 Adamec, Ladislav 436 Adams, Gerry 481 Aferworki, Isaias 22 Aflaq, Michel 389 Ahmad, Imam 346 Ahmad, Khondakar Musthaque (MP) 151 Alfonsin, Raul (P) 51 ff. Ali, Salim Rubai (P) 347 Allen, Richard 553ff. Allenby, Lord 315 Alvarez Martinez, Gustavo 554 Aman Michael Andorn 19 -1065-
Amin, Idi (P) 32, 125ff. Amin, Nurul (P) 139 Amir, Abdul Hamim 390 Andropow, |urij (MP) 461 Angka 218 Antar, Ali Ahmed 348 Aoun, Michel (P) 374ff. Apostol, Gheorge 455 Aquino, Benigno 248, 252ff. Aquino, Corazon (P) 248 Arafat, Yassir (P) 314, 339ff., 370, 653ff. Arana, Francisco 532 Arano Osorio, Carlos 538f. , Arbenz Guzman, Jacobo (P) 532f. Arevalo Bermejo, Juan Jose (P) 532, 537 Argov, Schlomo 653 Arias Sänchez, Oscar (P) 525, 541, 565 Arif, Abd al-Salam (P) 285ff. Arif, Abd el-Rahman (P) 286ff. Armas, Castillo (P) 536 Arouca, Domingos 57 Arrospide, Santiago 649 Aslam Beg, Mirza 245 Assad, Hafez al- (P) 369, 373ff., 394ff., 672f. Assad, Rifaat el- 391 ff Astles, Bob 127 Atatürk, Kemal Pascha (P) 301f., 351, 356ff. Aubron, Joe‘lle 637 d‘Aubuisson, Roberto 522ff. Audran, Rene 637 Aung Gyi 164 Aung San 157 Aung San Suu Kyi 165ff. -1066-
Ayub Khan 242 Azcona Hoyo, Jose Simon (P) 563 Aziz, Mohammed Abdel 249 Azurdia, Peralta (P) 538 Baader, Andreas 627ff. Bagaza, Jean-Baptiste (P) 33 Baker, James 343 Bakhtiar, Shapour (MP) 303, 669 Bakoush, Abdul-Hamid (MP) 670 Bakr, Ahmad Hassan al- (P) 286ff. Bakr, Atef Abu 661 Balfour, Lord Arthur 314 Bani-Sadr, Abol-Hasan (P) 305ff. Banda, Hastings (P) 102 Banna, Hasan al- 392 Bandaranaike, Sirimavo (MP) 265ff., 271 Bandaranaike, Solomon West Ridgeway (MP) 265ff. Banti, Teferi 20 Banzer Suärez, Hugo (P) 599 Barco Vargis, Virgilio (P) 595 Barre, Mohammed Siad (P) 76ff. Bartholomew, Reginald 370 Barzani, Massoud 353 Barzani, Mullah Mustafa 351 ff. Bashir, Omar Hassan al- (P) 87 Baydar, Mehmet 684 Baylosis, Rafael 260 Bazargan, Mehdi (MP) 304, 309 Beaconsfield, Lord (Benjamin Disraeli) 95 Beckurts, Heinz 633 Begin, Menachem (MP) 322, 329 -1067-
Beheshti, Mohammed 306 Beiba, Mahfoud Ali 52 Beihl, Eugen 647 Belaunde Terry, Fernando (P) 579f. Befiaran Ordenana, Jose Miguel 648 Bergareche, Moreno 648 Bermudez Varela, Enrique 555 Bernadotte, Graf Folke 321 Bernays, Edward 534f. Berri, Nabih 370ff., 671ff. Besse, Georges 637 Betancur Cuartas, Belisario (P) 589 Bhindranwale, Sant Jarnail Singh 195ff., 76 Bhutto, Benazir (MP) 244ff. Bhutto, Zulfrkar Ali (MP) 240ff. Biko, Stephen 103 Binaisa, Godfrey (P) 130 Bishop, Maurice (MP) 557 Bitar, Salah al-Din al- (MP) 389ff. Blair, Sir Charles 127 Blandin, Henri 637 Bloch, Dora 128 oesak, Allan 109ff. Boese, Wilfried 659 Boland, Edward 556 Bomba, Adriano 57 Borge Martinez, Tomas 548, 551, 596 Bosch, Orlando 676 Botha, Pieter W. (P) 7, 88ff. Botha, Roioef F. 112 Boudia, Mohammed 657 Bournedienne, Houari (P) 37, 44 -1068-
Brandt, Willy (MP) 427 Braunmühl, Gerald von 633 Breguet, Bruno 659 Breschnjew, Leonid (MP) 142, 427, 434ff. Brooke, Sir James 237 Brzezinski, Zbigniew 303, 305 Brucan, Silviu 455 Buback, Siegfried 631 Bunau-Varilla, Philippe 572 Bunche, Ralph 323 Bush, George (P) 41, 253, 435, 513, 573ff., 617 Buthelezi, Mangosuthu Gatsha 109ff. Buyoya, Pierre (P) 34 Calero Portocarrero, Adolfo 549 Calfa, Marian (MP) 437 Callaghan, James 127 Caprivi, Leo von (MP) 65 Carette, Pierre 643 Carlos 657ff., 680 Carnogursky, Jan 437 Carrero Blanco, Luis (MP) 647 Carter, Jimmy (P) 26, 146, 306, 335, 513ff., 573ff. Carvalho, Otelo Saraiva de 643 Casey, William 371, 554ff. Castillo Armas, Carlos (P) 535 Castle, Barbara 495 Castro, Fidel (P) 9, 601 Castro, Raul 9 Ceausescu, Elena 399, 453ff. Ceausescu, Nicolae (P) 399, 441, 452ff. Cerezo Arevalo, Vlnicio (P) 541f., -1069-
Cernik, Oldrich 434 Chamberlain, Sir Joseph 92 Chamorro Cardenal, Pedro Joaquin 549 Chamorro, Violetta Barrios de (P) 552, 569f. Chamoun, Camille (P) 363 Chang Kuohua 177 Chiesa, Carlo dalla 641 ff. Chirac, Jacques ¤MP‹ 610, 659, 667 Chissano, Joaquim Alberto (P) 60 Christina, Orlando 57 Chruschtschow, Nikita (MP) 180, 426ff. Chun Doo Hwan 232 Churchill, Sir Winston (MP) 81, 420, 425, 477 Clark, Ramsey 620 Clark, William 555 Clarridge, Duane 557 Claustre, Franchise 118 Clements, John 534f. Collins, Michael 475ff. Colon, Cristobal 649 Conti, Lando 642 Corcoran, Thomas 534f. Cordovez, Diego 147 Cristiani, Alfredo (P) 528ff. Crocker, Chester 10 Cruz, Arturo 560 Cuellär, Javier Perez de 43, 294, 499 Cummings, Sam 205, 536 Curcio, Renato 640 Dada, Hector 521 Daddah, Mokhtar Ould (P) 46 -1070-
Daher, Mikhail 374 Dalai Lama (P) 176ff. Daud Khan, Sardar Mohammed (MP) 138 Davison, Ian 664 Dayan. Moshe 329 Deferre, Caston 659 Delvalle, Eric (P) 573 Demir, Bahadir Denard, Bob 7 Deng Xiaoping 168ff., 276 Denktas., Rauf (P) 492, 499 Devlin, Bernadette (McAliskey) 480 Dewey 249 Dianou, Alphonse 610 Dienstbier, Jifi 437 Dhlakama, Alfonso 57 Dole, Robert 61 Dozier, James 632, 641 Duarte, Ines 526 Duarte, Jose Napoleon (P) 516ff. Dubcek, Alexander (MP) 434ff Dubs, Adolphe 140 Duch (= Kong Kech Eav) 217 Dulles, Allan 535 Dulles, John Foster 18, 204, 535 Dutschke, Rudi 627 Ecevit, Bulent 498 Eden, Anthony 327 Eichmann, Adolf 318f. Eisenhower, Dwight D. (P) 327, 329, 363, 420, 534 Ellacuria, Ignacio 529 -1071-
Ernpoli, Antonio da 642 Endara, Guillermo (P) 576 Enders, Thomas 554 Endrigkeit, Christine 634 Ennal, Lord 178 Enrile, Juan Ponce 252ff. Ensslin, Gudrun 627ff. Ershad, Hussain Mohammed (P) 152 Eschkol, Levi (MP) 329 Escobar Gaviria, Pablo 592 d'Estaing, Valery Giscard 47, 609 Estrada Cabrera, Manuel 532 Fadlallah, Scheich Mohammed Hussein 371, 671 Fagoth, Steadman 567 Fahd (Saudi-Arabien) 42 Farabundo Marti, Augustin 546 Farouk (Ägypten) 326 Fayyad, Shafiq 394 Feisal I. (Irak) 388 Feisal II. (Irak) 285 Feltrinelli, Giangiacomo 639 Fernand es, Evo 57 First, Ruth 58 FitzGerald, Garret (MP) 483 Follette, Robert La 534f. Ford, Präsident Gerald 209, 513 Fraenkel, Peter 66 Franco, Francisco (P) 44, 48, 646f. Franjieh, Suleiman (P) 364, 374 Franjieh, Tony 373 Frerot, Maxime 638 -1072-
Frondizi, Arturo (P) 504 Fujimora, Pablo (P) 585 Gaddafi, Muammar al 36ff., 119ff., 373, 158, Arab. Terrorismus Jalan, Luis Carlos 595 Kaiman, Ronaldo 253 Gallien, Leopoldo (P) 505ff. Gandhi, Indira (MP) 183, 243, 266 Gandhi, Mahatma 184f. Gandhi, Rajiv (MP) 190ff., 267, 279 Janilau, Sir Penaia 607 (P) Garabedian, Varoujan 666, 686 Garang, John 84ff. Garcia Meza, Luis, (P) 599 Garcia Perez, Alan (P) 579ff. Gaulle, Charles de (P) 81, 329, 627 Gaviria Trujillo, Cesar (P) 602 Geagea, Samir 371, 374f. Gelli, Ilcio 640 Gemayel, Amin (P) 368, 373 Gemayel, Bashir (P) 366ff. Gemayel, Pierre (P) 366 George, Lloyd (MP) 93, 100 Georgiou, Costas 7 Gero, Ernö (MP) 460 Ghafour, Ahmad al- 656 Ghasmi, Ahmad al- 347 Ghising, Subhyas 193 Gierek, Edward (MP) 427 Glubb, Sir John 323 Goldwater, Barry 558 -1073-
Gomez, Hector 540 Gomulka, Wladyslaw (MP) 426 Goodman, Robert 369 Gorbatschow, Michail (P) 11ff., 136ff., .99, 403ff., 422 Gordon, Charles 81 Göncz, Arpad 465 Gordji, Wahid 668 Göring, Heinrich 65 Goutierre, Christian 667 Graham, Iain 127 Gramajo Morales, Hector (P) 541 Grivas, George 492ff. Gromov, Boris 118 Grosz, Käroly (MP) 463 Guevara, Che 5, 536 Gurion, David ben (MP) 316, 321ff. Gurney, Sir Henry 238 Cutierez Marquez, Alfredo 592 Cuzmän Reynoso, Abimael 580ff. Gysi, Gregor 423 Habasch, Dr. George 653ff. Habib, Philip 254, 366, 565 Habre, Hisseän (P) 118 Haddad, Saad 365 Haddad, Wadi 654ff. Hafiz, Amin el- 390 Hagopian, Hagop 682ff. Haider, Ali 394 Haig, Alexander 366, 510, 553, 631 Haile Selassie I. (Äthiopien) 18ff. Hamami, Mohammed 636ff. -1074-
Hammadei, Mohammed Ali 668 Haq, Abdul 145 Haqqani, Jallaluddin 145 Hassan (Marokko) 42ff. Hassan, Imam Mohammed ibn Abdullah 74 Hassani, Nasser el- 347 Hassenfuss, Eugene 546 Hatta, Mohammed 203 Haughey, Charles 484 Hauser, Harald 538 Hausner, Siegfried 630 Havel, Vaclav (P) 435ff. Hazi, Mansur 634 Häy, Gyula Heath, Edward (MP) 477ff. Hekmatyar, Gulbuddin 148 Helms, Jesse 61 Hendrickse, Allan 107ff. Heng Samrin (MP) 219 Heng Sary 213ff. Herrhausen, Alfred 634 Hertzog, Albert 99 Hertzog, J. B. M. 98f. Higgins, William 343, 373 Hills, Dennis 127 Hindawi, Nezar 634 Hobeiqa, Elie 371 Ho Chi Minh (P) 273ff. Home, Robert 667 Honassan, Gregorio 261f. Honecker, Erich (P) 422 -1075-
Hoover, Herbert (P) 546 Hoss, Selirn 374 Hoyos Jimenez, Carlos Maurp (P) 594 Hrangkhawl, Bijoy Kumar 192 Hughes, Howard 548 Hu Yaobang 175ff. Hulegu Khan 284 Hume, Horam 385 Hun Sen 225 Husäk, Gustav (P) 435ff. Hussein, Emir Abdullah ibn 315, 326, 382 Hussein (Jordanien) 42, 291, 326, 329, 331, 340ff., 654ff. Hussein, Saddam (P) 286ff, 310, 671ff. Husseini, Hadsch Amin al- 315 Idris, Amir Sajd Mohammed (Libyen) 36 Ieng Sary 218ff. Ilea, Arturo (P) 504 Iliescu, Ion (MP) 457f. Ioannides, Dimitrios (MP) 498 Ishaq Khan, Ghulam 245 Ismail, Abdel Fatah 347 Ismail Khan 147 Issa, Abderrahman 661 Jaballah, Hejab 661 Jackson, Jesse 10, 369 Jadid, Salah al- 390 Jakes, Milos (MP) Jalloud, Abdul Salaam 42 Jardim, Jorge 57 Jarnail Singh, Sant 676 Jaruzelski, Wojciech (P) 429ff. -1076-
Jatoi, Chulam Mustafa (MP) 246 Jayewardene, Junius Richard (P) 265ff. Jiang Zernin 175 Jibril, Ahmed 337, 662ff. Jinnah, Mohammed Ali (P) 150 Johnson, Lyndon (P) 329, 497, 543, 627 Joumblat, Kemal 365 Joumblat, Walid 365 Junejo, Mohammed Khan 245 Kädär, Jänos (P) 461 ff. Kamougue, Widal 119 Kania, Stanislaus (MP) 429 Karami, Rashid 364, 373 Karmal, Babrak (P) 138ff. Karry, Heinz Herbert 633 Kashoggi, Adnan 255 Kassem, Abd al-Karim (P) 285ff., 352 Kaupp, Magdalena 659 Kayibanda, Gregoire 32 Keith, Minor 532 Kenyatta, Jomo (P) 126 Kennedy, Edward 483 Kennedy, John F. (P) 346, 537 Khaled, Leila 654 Khan, Liaquat Ali (P) 241 Khieu Ponnary 218 Khieu Samphan 214ff. Khieu Thirith 218 Khomeini, Ajatollah (P) 283, 288, 294, 300ff., 338, 384, 665 Khun Sa 163 Kim Chong II 233 -1077-
Kim Dong Whie 232 Kim Hyon Hui 233 Kim II Sung (P) 231ff Kintanar, Romulo 260 Kirkpatrick, Jeane 508, 555 Kissinger, Henry 47, 181, 215ff., 241, 332ff., 338, 497, 514f. Kiszczak, Czeslaw (MP) 431 Kitchener, Lord Alfred 81 Klaus, Vaclav 437 Klein, Hans-Joachim 658 Klerk, Frederick de (P) 113ff. Klinghoffer, Leon 664 KongKech Eav 217 Krenz, Egon (MP) 423 Kroesen, Frederick 631 Kunajev, Dinmukahmed 417 Kuron, Jacek 428 Kyprianou, Spyros (P) 499 Lahad, Antoine 371 Lafleur, Jacques 611 Lakwena, Alice 131 Lara Bonilla, Rodrigo 593 Laurel, Jose (P) 250 Laurel, Salvador 254 Lawrence, T. E. 383 Laxalt, Paul 254 Lee Bum Suk 232 Lee Tenghui Lehder Rivas, Carlos 592 Lehman, John 510 Ligatschow, Jegor 409 -1078-
Lin Biao 173 Li Peng 175 Lister, Cwen 70 Liu Shaotschi 172 Lloyd, Selwyn 327 Lobato, Nicolau 209 Lodge, Henry Cabot 534 Lon Nol(MP)215ff. Lopez Albujar, Enrique 585 Lorenz, Peter 630 Lucas Carcia, Romeo (P) 539 Lugar, Richard 254 Lule, Yusufe (P) 130 Luthuli, Albert 102 Luwum, Erzbischof ]anane 128 MacArthur, Arthur 249f. MacArthur, Douglas 230ff., 249ff. Machel, Samora 56 Machoro, Eloi 610 Macmillan, Harold (MP) 99f. Mafart, Alain 612 Magana, Alvaro (P) 522 Magsaysay, Ramon 252 Mahdi, Mohammed Ahmed 81 Mahdi, Sadiq al- (MP) 83 Mahler, Horst 627ff. Maizieeáre, Lothar de (MP) 424 Majali, Hazza al- (MP) 392 Makarios III., (= Michael Christodoros Mouskos) (P) 495ff. Malan, D. F. (MP) 98f. Maleter, Pal 462f. -1079-
Maileng, Mullah 145
Malloum, Felix (P) 118ff.
Mandela, Nelson 102ff.
Mandela, Winnie 108
Manescu, Corneliu 455i
Mansfield, Mike 532
Mao Tsetung (MP) 171ff., 274f.
Mara, Sir Kamisese (P) 607
Marchand, Jean-Baptiste 81
Marcos, Ferdinand (P) 248ff., 252ff.
Marcos, Imelda 253ff.
Mariategui, Jose Carlos 578ff.
Markovic, Ante (MP) 450
Marti, Augustin Farabundo 519ff.
Martinez Romero, Eduardo 595
Massoud, Ahmad Shah 145ff.
Matjila, Andrew 69
Matta Ballesteros, Juan Ramön 598
Matzangaissa, Andre 57
Mazowiecki, Tadeusz (MP) 431
McCormack, John 532
McFarlane, Robert 559
McKenzie, Bruce 128
McMahon, Henry 186
Meese, Edwin 555, 564
Mein, John Cordon 538
Meinhof, Ulrike 627ff.
Meir, Colda (MP) 335
Mejia Victores, Oscar (P) 540
Meikonian, Monte 686
Melton, Richard 567
-1080-
Menderes, Adnan 496 Mendez, Julio Cesar (P) 538 Mendez Montenegro, Mario (P) 538 Menelik II. (Äthiopien) 17ff., 74 Menem, Carlos Saul (P) 512 Menghistu Haile Mariam (P) 19ff. Menigon, Nathalie 636 Meray, Tibor 460 Merin, Jacques 373 Michnik, Adam 428 Micombero, Michael (P) 32 Miers, Donald 370 Mikoyan, Anastas (P) 407, 461 Mikulic, Branko (MP) 450 Milea, Vasile 456 Milian Rodriguez, Ramön 595 Milosevic, Slobodan (MP) Mirza, Iskander (P) 242 Misauri, Nur (MP) 256 Mishima. Yukio 679 Mitterand, Francois (P) 121, 610f., 636, 646 Mladenoff, Petar (MP) 445 Mobuto Sese Seko (P) 10ff., 94ff. Modrow, Hans (MP) 423 Mohammed V. (Marokko) Mohnhaupt, Brigitte 632 Moi, Daniel arap (P) 61 Monen Khan, Abdel 243 Monzön, Telesforo 648 Morgan, Ernest 364 Mori, Tsureo 678 -1081-
Moro, Aldo (MP) 640ff.
Morote, Osman 583
Moseveni, Yoweri 130
Mossadegh, Mohammed (MP) 301
Mouhajer, Mohammed 668
Moukharbel, Michael 658
Mountbatten, Lord Louis 479f.
Moyne, Lord 321
Moynihan, DanielPatrick
Mubarak, Hosni (P) 342
Mudge, Dirk 69
Mugabe, Robert (P) 61
Muggeridge, Malcolm 53
Muivah, J. J. 191
Mujibur, Scheich Rahrnan (P) 151, 242
Mulele, Pierre 32
Murad, Mustafa 661
Murray, Roger 66
Museveni, Yoweri (P) 126
Mussawi, Hussein 671
Mussolini, Benito (MP) 18, 36
Mwambutsa IV. (Burundi) 32
Nagata, Hiroka 678
Nagy, Imre (MP) 425, 460ff.
Najib, Mohammed (P) 142ff..
Najjar, Youssef 656
Napier, Lord 17
Nasser, Camal Abdel (P) 325ff., 346
Ndizeye, Charles 32
Nehru, Jawaharlal (MP) 187ff.
O'Neill, Thomas P. 483
-1082-
Nemeth, Miklös (MP) 464f., Neto, Agostinho (P) 5ff. Ne Win (MP) 156 Nixon, Richard (P) 174f., 181, 274, 241, 334, 497, 627 Nokrashy Pascha, Mahamoud Fahmy (MP) 393 Nordeen, William 638 Noriega, Manuel Antonio (P) 573ff. Norodom Ranariddh 225 North, Oliver 309, 556, 574 Ntare V. (Burundi) 32 Numeiri, Dschafar (P) 83, 123 Nyers, Reszo 464 Obando y Bravo, Erzbischof Miguel 548ff. Obeid, Scheich Abdul Karim 343 Obote, Milton(P) 125ff. Ochoa Restrepo, Fabio 592 Ochoa Sanchez, Arnaldo 601 Ochoa Vasquez, Jörge 592 Ochoa Vasquez, Marta 592 Okello, Tltus (P) 131ff. Okomoto, Kozo 679 Okudaira, Junzo 680 Oliveira, Paulo 59 Oppenheimer, Harry 96 Ortego Saavedra, Daniel (P) 548ff. Ortego Saavedra, Humberto 548 Osmena, Sergio (P) 251 Oueddei, Goukouni (P) 118ff. Oufkir, Mohammed 47 Özal, Turgut (MP) 342, 499 Pahlevi, Reza Khan (Iran) 301, 355 -1083-
Pahlevi, Schah Reza Mohammed (Iran) 301 ff. Panamerio, Jörge Serrano 525 Pantschen Lama 178 Papandreou, Andreas (MP) 498 Pastora, Eden 549ff., 559 Pavlovsky, Ivan 140 Paz, Robert 575 Paz Estensoro, Victor (P) 599 Paz Tejada, Carlos 537 Pearse, Patrick 473 Peel, Lord 318 Pepper, Claude 532 Perejo, Enrique 593 Peron, Evita 504 Peron, Juan (P) 503ff. Peron, lsabel (P) 504 Peyrefitte, Alain 637 Peyrolles, Gilles 666, 687 Phizo, Z. A. 190f. Pindling, Sir Lynden (MP) 595 Pino, Rafael del 9 Pirvulescu, Constantin 455 Pisani, Edgard 609 Pizarro, Carlos 589 Pol Pot(MP) 213ff., 275f. Poindexter, John 562ff. Polay, Victor 585 Ponce, Federico (P) 532 Ponce, Rene EmÜio 527f. Ponto, Jürgen 631 Pope, Allan 205 -1084-
Popieluszko, Jerzy 430 Poszgay, Imre (MP) 464 Prabakaran, Veiupillai 266ff. Pratap Singh, Vishwanath 199 Premadasa, Ranasinghe (P) 271ff. Prieur, Dorninique 612 Quadi-Azam 241 Quassem, Saleh Muslih 348 Quezon, Manuel (P) 250ff. Rabin, Yitzak (MP) 336 Rabuka, Sitiveni 607 Raffles, Stamford 237 Rafsanjani, Ali Akbar Hashemi (P) 309 Rahman, Ziaur (P) 151f. Rahman, Akhtar Abdul 245 Rahman, Abdul Aziz ibn Abdul (Ibn Saud) (Saudi-Arabien) 381ff. Rajai, Mohammed Ali (P) 307 Rajavi, Massoud 293, 306f. Räkosi, Mätyäs 460ff. Ramirez Gömez, Jaime 589f. Ramos, Fidel 254 Ranatunge, Cyril 267 Raphel, Arnold 245 Rashid, Mohammed 660f. Raspe, Jan-Carl 628ff. Ray, Charles 641 Reagan, Ronald (P) 10ff., 61, 306, 390, 483, 508f., 544ff. 573ff., 617 Regalado, Antonio 521
Regalado Hernandez, Rigoberto 598
Regalado Lara, Rigoberto 598
-1085-
Renko Sekigun 678 Reyes Enchandia, Alfonso 593 Rhodes, Cecil 92 Riadh 331 Ridgeway, Matthew 230 Rios Montt, Efrain (P) 538 Rivera, Brooklyn 567 Robelo, Alfonso 549, 559 Roberto, Holden 5ff. Rodriguez Gacha, Gonzalo 592, 597 Rodriguez Orejuela, Cilberto 594 Roh Tae Woo (P) 228ff. Romero, Carlos Humberto (P) 521 Romero, Erzbischof Oscar 521 Roosevelt, Franklin D. (P) 319, 382 Roosevelt, Theodore (P) 249, 513. 572 Root, Elihu 572 Rouillon, Jean-Marc 636 Roussos, Demis 673 Roxas, Manuel (P) 251 Ruffilli, Roberto 642 Rushdie, Salman 311 Ryan, Patrick 488 Sadat, Anwar as (P) 38, 332, 335, 499 Sadr, Musa 671 Sadr, Sayyid Mohammed Baqir al- 288, 671 Sahbeg Singh 195 Said, Nuri es- (MP) 285 Saif, Juhayman ibn Muhammed ibn 383 Salameh, Ali Hassan 656 Saleh, Fouad Ali 668 -1086-
Saum, Salim Abu (= Abu Mohammed) 659 Salot Sar(= Pol Pot) 213ff. Sampson, Nikos 497f. Samuel, Sir Herbert 315 Sandino, Augusto Cesar 546ff. Santos, Dos (P) 15 Sarkis, Elias (P) 365 Sartawi, Issam 661 Saucasa, Juan Batista (P) 546 Savimbi, jonas 4ff., 66, 112 Saw Maung 166 Sayed, Al-Quail Mustapha 49 Schabowski, Günther 423 Schewardnadse, Edward 148, 405 Schiwkoff, Todor (MP) 445f. Schleicher, Regis 636 Schleyer, Hanns Martin 631f. Schulz, Adelheid 632 Seal, Barry 596 Sebai, Youssef el- 499 Secord, Richard 562 Sein Lewin 164 Senzani, Giovanni 641 Serow, Iwan 462 Serrano Panarneno, Jörge 525f. Shamir, Itzhak (MP) 321 Sharon, Ariel (MP) 342, 366ff. Shariatmadari, Ajatollah 307 Shastri, Lal Bahadur (MP) 189 Shibab, Hammad 287 Shuitz, George 148, 318, 340, 515, 555 -1087-
Sibornana, Adrien (MP) 34 Sieff, Joseph 657 Sihanouk, Norodom (Kambodscha) 211 ff. Simeoni, Edmund 645 Sin, Jaime Kardinal 254 Sison, Jose Ma 256 Slovo, Joe 58 Smith, Bedell 535 Smith, lan(P) 5ff., 101 Smuts, Jan (MP) 98 Somoza, Anastasio (Tachito) 547 Somoza Debayle, Luis (P) 547 Sornoza Debayle, Anastasio (Tacho) (P) 547ff. Somoza Garcia, Anastasio (P) 546ff. Son Sann 225 Son Sen 218 So Phim 218 Stalin, Josef (MP) 229ff., 407, 425, 414ff., 420, 425ff. Stalker, John 487f. Stern, Avraham 321 Stimson, Henry 546 Strijom, J. C. (MP) 99 Strougal, Lubornir (MP) 436 Suarez Gomez, Roberto 599 Suazo, Cordova, Roberto (P) 563 Suharto (P) 206ff. Suh Suk Joon 232 Sukamo, Ahmed (P) 203 Suslow, Michail 461 Swoboda, Ludvik (P) 434ff. Taha, Mahmoud Mohammed 84 -1088-
Talabani, Jalal 353
Tambs, Lewis 563
Tamerlan 284
Taraki, Nur Mohammed (P) 138
Tarantelli, Enzio 642
Taruc, Luis 251
Taye, Taiku 24
Tellez, Dora Maria 550
Terre' Blanche, Eugene 105ff.
Thach, Nguyen Co 225
Than Tun 161
Thatcher, Margaret (MP) 479ff., 507ff.
Theodoros II. (Äthiopien) 17
Tikriti, Hardan al- 287
Tito, Josip Broz (P) 447ff.
Tjibaou, Jean-Marie 611
Tias, Mustafa 395
Toivo, Herman Toivo ja 66
Tokes, Laszlo 455
Tombalbaye, Francois (P) 117
Torrijos, Omar (P) 573ff.
Treurnicht, Andries 104ff.
Truman, Harry S. (P) 322
Tsantes, George 638
Tschiang Kaischek (P) 169ff., 179ff.
Tschiang Tschingkuo 179
Tschombe, Mo'fse 6
Tschou Enlai(MP) 173ff., 214
Turabi, Hassan al- 87
Turcios Lima, Luis 537f.
Turner, Stansfield 574
-1089-
Tutu, Desmond 109ff. Ubico, Jörge (P) 532 U Maung Maung 165 Ungo, Guillermo 521 U Nu (MP) 158 Upendranath Brahma 193 Urbanek, Karel (MP) 437 Urrutikoetxea Bengoechea, Jose Antonio 649 U Thant 160 UTin Oo 159 Valera, Eamon de (P) 475ff. Valjas, Vajno 414 Vance, Cyrus 303, 497 Vanderbilt, Cornelius 545 Vargas Llosa, Mario 581 Vassiliou, George (P) 499 Verwoerd, Hendrik (MP) 99f. Viola, Roberto (P) 505 Vorster, Balthazar John (MP) 69, 98ff., Walesa, Lech 428ff. Walker, David 563 Walker, William 545 Wazir, Khalid 393 Webber, John 538 Webster, Bethuel M. 543 Weinberger, Caspar 555 Weizman, Chaim (P) 318ff. Welch, Richard 638 Wells, Melissa 61 Wessel, Ulrich 630 Wheelock Roman, Jaime 547 -1090-
Wijeweera, Rohana 265ff. Wiley, Alexander 532 Wilson, Harold (MP) 477 Wilson, Woodrow (P) 100, 440 Wingate, Orde 319 Wojtyla, Karol (= Johannes Paul) 428ff, 625 Wright, James 565 Wysziynski, Kardinal 427 Yahia, Mohammed Ben 310 Yahja Khan (P) 151 Yahya, Irnam 346 Yahya Khan 242 Yamada, Yoshiaka 379 Yani, Ahmed 206 Ydagoras Fuentes, Miguel 536 Yohannes IV. (Äthiopien) 17 Yon Sosa, Marco Aurelio 537f. Yun Yat 218 Yussuf, Ibrahim al- 393 Zahir Shah (Afghanistan) 138ff. Zamora, Rüben 521 Zhao Ziyang 175 Zia, Begum Khaled 152 Zia ul-Haq, Mohammed (P) 240ff. Zimmermann, Ernst 633 (ln diesem Register sind die Anhänge nicht berücksichtigt.) WIDERSTANDS- UND BEFREIUNGSBEWEGUNGEN Action Directe: Euro-Terrorismus Afrikaner Weerstandsbeweging: Südafrika Al-Fatah: Israel, Libanon, Arabischer Terrorismus Al-Saiqa: Arabischer Terrorismus -1091-
ANC, Afrikanischer Nationalkongreß: Südafrika Angka: Kambodscha Antifaschistische Volksbefreiungs-Liga: Birma APRA, American Populär Revolutionary Alliance: Peru Arabische Legion: Israel Arabische Liga: Marokko, Israel ARB, Republikanische Bretonische Armee: Nationalistischer Terrorismus ARDE, Demokratische Revolutionäre Allianz: Nicaragua ARLF, Bewaffnete Revolutionäre Libanesische Fraktion: Libanon ASALA, Armenische Geheimarmee für die Befreiung Armeniens: Euro-Terrorismus, Aussichtslose Hoffnungen AZAPO, Azanische Volksorganisation: Südafrika: Baath: Irak, Syrien Bewegung ‡Alejandro de Leon November 13": Guatemala CCC, Cellules Cummunistes Combatantes: Euro-Terrorismus CIF, Chinese Irregulär Forces: Birma CUC, Campesino Einheitskomitee: Guatemala DDKO, Organisation der Revolutionären Jugend: Die Kurden DTA, Demokratische Turnhallenallianz: Südafrika EGA, Guerillaarmee der Armen: Guatemala ELF, Eritreische Befreiungsfront: Äthiopien EOKA: Zypern EPL, Volksbefreiungsarmee: Kolumbien EPLF, Eritreische Volksbefreiungsfront: Äthiopien EPRP, Äthiopische Volksrevolutionspartei: Äthiopien ERP, Volksrevolutionsarmee: El Salvador ETA, Euzkadi ta Askatasuna: Euro-Terrorismus, Nationalistischer Terrorismus FAL, Bewaffnete Befreiungskräfte: El Salvador FAR, Bewaffnete Rebellenstreitkräfte: Guatemala -1092-
FARC, Revolutionäre Bewaffnete Kräfte Kolumbiens: Kolumbien FARL, Factions armees revolutionares libanaises: Libanon FARN, Bewaffnete Kräfte des Nationalen Widerstands: El Salvador FDN, Nicaraguanische Demokratische Streitkräfte: Nicaragua FDR, Demokratische Revolutionäre Front: El Salvador FLB-ARB, Front de Überation de la Bretagne œ Armee republicaine bretonne: Nationalistischer Terrorismus FLN, Algerische Nationale Befreiungsfront: Marokko FLNC, Front de la liberation de la Corse: Nationalistischer Terrorismus FLNKS, Front de la Liberation Nationale Kanak Socialiste: Fidschi und Neukaledonien FMLN, Farabundo Marti Befreiungsfront: Ei Salvador FNLA, Nationale Befreiungsfront für Angola: Angola FPL, Volksbefreiungskräfte: El Salvador Free Welsh Army: Nationalistischer Terrorismus FRELIMO, Frente Libertacao de Mocambique: Mosambik Front d‘action nouvelle contre l‘independence et l‘autonomie: Nationalistischer Terrorismus Fretilin, Revolutionäre Front für ein unabhängiges Ost-Timor: Indonesien FSLN, Sandinistische Nationale Befreiungsfront: Nicaragua GPP, Cuerra Populär Prolongada: Nicaragua Heiliger-Geist-Bewegung: Uganda Hisboüah: Libanon, Arabischer Terrorismus Independent Front: Fidschi und Neukaledonien INLA, Irish National Liberation Army: Nordirland IRA, Irish Republican Army: Nordirland Irish National Liberation Army: Nordirland Irish Republican Brotherhood: Nordirland Islamische Befreiungsallianz: Afghanistan Islarni Melli Mahaz:: Afghanistan -1093-
Islamiltehad-Afghanistan Mujaheddin: Afghanistan Islamische Front: Sudan Islamischer Jihad: Libanon, Arabischer Terrorismus ]RA, Japanische Rote Armee: Japanischer Terror JSS, Chittagong Hill Tracts People's Solidarity Association: Bangladesch JVP, Janatha Vimukthi Peramuna: Sri Lanka KDP, Kurdische Demokratische Partei: Die Kurden KDPI, Kurdische Demokratische Partei Irans: Die Kurden KDPT, Kurdische Demokratische Partei der Türkei; Die Kurden KIA, Kachrsche Unabhängigkeitsarmee: Birma KIO, Kachische Unabhängigkeitsorganisation: Birma Khalistan Streitkräfte: Indien KMT, Kuonrnintang: Birma, Chinao KNLA, Karen Nationale Befreiungsarmee: Birma KPNLF, Khmer Volksbefreiungsfront M-19: Kolumbien MEISON, Alläthiopische Sozialistische Bewegung: Äthiopien MNF, Mizo Nationale Front: Indien MNLF, Moro Nationale Befretungsfront: Philippinen MOB, Mouvement pour l'organisation de la Bretagne: Nationalistischer Terrorismus MPLA, Movimento Populär de Libertacao: Angola MPSC, Volkssoziale Christliche Bewegung: El Salvador MRTA, Tupac Amaru Revolutionäre Bewegung: Peru NAPAP, Noyaux armes pour l‘autonomie populaire: EuroTerrorismus Nationale Arabische Jugend für die Befreiung Palästinas: Arabischer Terrorismus OPM, Bewegung Freies Papua: Indonesien ORPA, Organisation Volk in Waffen: Guatemala Oromo Befreiungsfront: Äthiopien PCC, Kämpfende Kommunistische Partei: El Salvador -1094-
PDPA, Volksdemokratische Partei Afghanistans: Afghanistan PFLP, Volksfront für die Befreiung Palästinas: Israel, Libanon, Arabischer Terrorismus PGT, Kommunistische Partei: Guatemala PKK, Kurdische Arbeiterpartie: Die Kurden PLA, Palästinensische Befreiungsarmee: Israel PLAN, Volksbefreiungsarmee Namibias PLO, Palästinensische Befreiungsorganisation: Israel, Arabischer Terrorismus, Libanon: POLISARIO, Frente Populär para la Liberation de Saguia el-Hamra y Rio de Oro: Marc PPS, Syrische Volkspartei: Syrien PRTC, Mittelamerikanische Revolutionäre Arbeiterpartei: El Salvador PUK, Patriotische Union Kurdistans: Die Kurden Rachekommando für den Völkermord an den Armeniern: Aussichtslose Hoffnungen RAF, Rote Armee Fraktion: Euro-Terrorismus RPCR, Alliance for Caledonia in the Republic: Fidschi und Neukaledonien RZ, Revolutionäre Zellen: Euro-Terrorismus RZ, Rote Zora: Euro-Terrorismus SEDED, Äthiopische Arbeiterpartei: Äthiopien SLA, Symbionesische Befreiungsarmee: Terrorismus SUA, Vereinigte Shan-Armee: Birma SNM, Somali Nationale Bewegung: Somalia SPLA, Sahaurische Volksbefreiungsarmee: Marokko SWANU, Südwestafrikanische Nationale Union: Namibia SWAPO, Südwestafrikanische Volksorganisation: Namibia TamiÜsche Befreiungstiger: Sri Lanka TPLF, Tigray Volksbefreiungsfront: Äthiopien TVF, Tripura Volunteer Force: Indien -1095-
UDN, Nationale Demokratische Union: El Salvador UDT, Uniao Democratica Timorense: Indonesien Unita: Uniäo Nacional para a Independencia Total de Angola: Angola URNG, Guatemaltekische Nationale Revolutionseinheiten: Guatemala Volksbefreiungsarmee von Manipur: Indien Volksbefreiungsarmee: Namibia Volksbefreiungsfront: Sri Lanka WSLF, Westsomalische Befreiungsfront: Somalia ZANU, Zimbabwean African National Union: Mosambik ZAPU, Zimbabwean African People's Union: Mosambik
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