Damien Broderick
Die träumenden Drachen Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction...
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Damien Broderick
Die träumenden Drachen Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction-Bestseller Band 22 059 © Copyright 1980 by Damien Broderick All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1983 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach
Originaltitel: DREAMING DRAGONS Ins Deutsche übertragen von: Harro Christensen Titelillustration: Tim White Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Elsnerdruck GmbH, Berlin Printed in Western Germany ISBN 3-404-22059-5
Alf Dean, Anthropologe und zur kleinen Gruppe der Ureinwohner Australiens gehörend, forscht nach den Wurzeln seines Volkes. Bei der Untersuchung einer Ausgrabungsstätte stößt er auf eine geheimnisvoll leuchtende Kugel, die sich tief in einer Felsenhöhle befindet. Es handelt sich um das Tor eines Materietransmitters. Der Transmitter selbst steht sechshundert Kilometer entfernt unter dem Felsmassiv des Avers Rock – in der Gruft der träumenden Drachen. DAMIEN BRODERICK wurde für diesen Roman mit dem DITMAR, dem SF-Literaturpreis Australiens, ausgezeichnet. Außerdem erhielt er von der amerikanischen Fachzeitschrift Locus den Preis als „Bester Nachwuchsautor des Jahres“. Mit den Träumenden Drachen liefert Damien Broderick eine Theorie für die Herkunft der Menschheit, die selbst Erich von Däniken in Staunen versetzen muß.
Die melodramatische Phantasie ist vielleicht eine Art und Weise, das Geistige in einer Welt zu erfassen, in der es keinen klaren Begriff des Verehrenswürdigen und keine allgemein akzeptierten gesellschaftlich-moralischen Imperative mehr gibt, einer Welt, in der das Ethische in seiner Ganzheit zu einer Art Deus absconditus geworden ist, den man suchen und postulieren muß, und der durch spiritistische Übungen in die menschliche Existenz hineinzubringen ist… Die melodramatische Ausdrucksweise ist ein Sieg über die Unterdrückung und die Zensur durch das Prinzip der gesellschaftlichen Realität, eine Freisetzung psychischer Energien durch die Artikulierung des Unsagbaren. Man könnte sagen, daß die groteske Suche nach erneutem Kontakt mit dem Göttlichen, dem Übernatürlichen, den okkulten Kräften im Universum in das moralische Selbst führt. Peter Brook
Eins
Am Rande des Wirbelsturms
1. Zentralaustralien
Er haßte die Wüstensonne und setzte sich ihr doch immer wieder aus. Die Genbündel, die im wirren DNA-Spaghetti seiner Zellen steckten, waren das Ergebnis einer fünfzigtausend Jahre dauernden Selektion unter mörderischen Lichtstrahlen, Strahlen, die einem die Haut bis auf die Knochen abschälen konnten. Seit seiner Kindheit hatten diese Gene auf seinem Fleisch eine Haut entstehen lassen, die wie verkohltes Holz aussah. Alf Dean Djanyagirnji schnaubte, und in den Handflächen spürte er das wilde Rütteln des Steuers. Unter seiner ererbten Maske wollte sein durch langen Stadtaufenthalt empfindliches Fleisch zwischen den von den alten Stammesleuten seinem Körper zugefügten wulstigen Striemen wie zum Hohn platzen und Blasen werfen. Sechs Monate Forschungsarbeit und Dozententätigkeit in geschlossenen Räumen hatten ihn so gebleicht, daß man allenfalls von der fahlen Bräune eines sizilianischen Einwanderers oder eines begeisterten Wochenend-Surfers reden konnte. »Bunyips zur Rechten«, deklamierte Alf, um etwas zu sagen, »und Regenbogenschlangen zur Linken.« Das Kind äußerte sich dazu nicht. Dem Bunyip, einer der Gestalten, in denen die Regenbogenschlange auftrat, sagte man eine Vorliebe für Menschenfleisch nach. Hinsichtlich der Hautfarbe war er nicht wählerisch. Weiß oder schwarz, wie es gerade kam. Das war natürlich nur fair. (Sehr irritierend, wenn einem ein solcher Satz durch den Kopf geht, »nur fair«, aber wirklich!) Das
Aussehen des Untiers variierte beliebig; es kam darauf an, wer darüber berichtete. Massig wie ein sich wälzendes Flußpferd oder dürr und krebsartig mit dem Hals eines Emu. Ein fetter rülpsender Seehund oder lang und kräftig wie eine Python. Mit nach hinten stehenden Füßen. Diese Eigenheit hatte Alf immer besonders gut gefallen. Wenn man ihn verfolgte, konnte der Bunyip einen beobachten, ohne seinen scheußlichen Kopf umdrehen zu müssen. Unangenehm spürte er schon den Sonnenbrand an Armen und Schultern, obwohl er sich kaum eine Viertelstunde außerhalb des Wagens aufgehalten hatte, um den löcherigen Kühler des Land Rovers notdürftig zu reparieren. Bunyips bekamen gewiß keinen Sonnenbrand. Und wirst du nicht dennoch, dachte Alf ironisch, am Ende deiner kühnen Suche feststellen müssen, daß das Ziel deiner entsetzlichen Anstrengungen auf geheimnisvolle Weise von Anfang an… du selbst gewesen bist? Jede Wette, Boß. Ich bin der Bunyip. Es lebe die Einsicht. Halb Mensch, halb Dämon und halb ein verdammtes Ungeheuer. Und mehr als halb der reinste Betrüger. Aufsteigende Wut ließ Alfs Hände mit den blassen Nägeln das Steuer fester packen. Vor über einem Jahrhundert hatten die weißen Eindringlinge ihre emporgekommene gesellschaftliche Elite sarkastisch »Bunyip-Aristokraten« genannt. So war es den Europäern gelungen, selbst in der Verspottung ihresgleichen die Wahrheiten des schwarzen Mannes zu verunglimpfen. Für die eingeborenen Stammesleute war das Untier so wirklich gewesen wie das Känguruh mit seinem Beutel, so greifbar wie in der Regenzeit die Wasserlöcher, an denen der mythische Bunyip angeblich sein Wesen trieb, auf seine Weise bestimmt nicht weniger bedrohlich und erschreckend als die heutigen Atomraketen, die auf ihren geheimen, verschlungenen
Gleisen wahrscheinlich von Silo zu Silo krochen, und das in einem Land, in dem zweihundert Jahre vorher die schlimmste Bedrohung in einem weitverbreiteten, gefiederten Stück Aberglauben bestand. Und doch hatte Alfs selbstgewählte Verrätertätigkeit den Zweck, dem Bemühen des weißen Mannes die Krone aufzusetzen, die Schlange in all ihren Erscheinungsformen endgültig aus den Salzseen und den ausgetrockneten Sümpfen zu scheuchen. Keine gefiederten Schlangen mehr, keine Yowies, Dongus, Tuntabah, Bunyips, keine heiligen Wächter. Nur alte gebleichte Knochen. Keine Drachen mehr. Würde es irgend wen interessieren? Kaum. Er war schuldig nur vor den blinden Augen einer erloschenen Geschichte oder den zerfetzten Resten einer als Flickwerk zurückgewonnenen schwarzen Kultur. Dennoch war er, wie der Bunyip selbst, ein Betrüger. Ein unechter Weißer mit sonnenverbrannter Haut, abtrünnig einem Glauben, den er nicht zu Füßen der Älteren hockend gelernt, sondern aus gelehrten Fußnoten und schäbigen Erinnerungen verkommener Säufer zusammengestoppelt hatte. Wie großartig, sich darauf zu spezialisieren, die Idole eines versunkenen Glaubens wegzusprengen. Wie mutig. Alf gab ein brummendes Geräusch von sich. »Scharf nach arglistigen Drachen ausschauen, Maus«, sagte der Anthropologe. Das seltsame Kind saß reglos an seiner Seite und starrte durch die verdreckten Scheiben des Land Rover wie versunken in die schreckliche australische Wüste hinaus. Der Junge strahlte eine Art von unbewußten Schwingungen, eine stumme Erregung aus. Er paßt in diese Gegend, erkannte Alf überrascht. Die Mittagssonne nahm die Einöde in ihre Fäuste und schüttelte sie. Der Horizont tanzte. Direkt vor ihnen ragte ein
Durcheinander von Steinen und Felsbrocken vierzig Meter hoch in die hitzeflimmernde Luft. Wenn man genau hinsah, schienen die Strukturen zu zerfließen. Alf schüttelte seinen juckenden Arm und öffnete und schloß die Hände am Steuer des schlingernden Fahrzeugs. Er zupfte an seinem Unterhemd, das ihm an Brust und Rücken klebte, unter dem sich wie ein feuchtes Relief die Ritualnarben der Burrkan abzeichneten, die seinen Oberkörper zierten. »Mein Gott, diese verdammte Hitze«, stöhnte er. Trotz Klimatisierung war die Luft im Wagen drückend heiß. Die Nadel der Temperaturanzeige stand wieder zitternd auf Rot. Im ramponierten Kühler mit der Dichtungsmasse aus Eiern, die Alf hineingeschlagen hatte, kochte das Wasser. Wieder schaute er den Knaben an, der reglos neben ihm saß. In plötzlicher Verärgerung dachte er, warum erspare ich mir nicht die Mühe? Das Kind ist wie ein unheimliches Radioteleskop, nur auf Botschaften aus fernen Welten eingestellt, und sendet selbst nichts aus als ein leeres Trägersignal. Er bereute diesen Gedanken sofort. Das Kind konnte schließlich nichts dafür. Außerdem stimmte seine Analogie nicht. Etwas regte sich in dem seltsamen Gehirn des Jungen. Vielleicht bewegte er sich in einer inneren Landschaft voller Blumen in leuchtenden Farben, schwebte dort auf Zehenspitzen, wie die weltentrückten autistischen Kinder seiner Sonderschule. In der Tanamiwüste gab es keine Blumen. Zähe, verkrüppelte Salzbüsche und spärlicher Flechtenwuchs auf den Felsen bildeten die einzige Vegetation. Es war verständlich, daß die Weißen sich nicht die Mühe gemacht hatten, diese Gegend gründlich zu erforschen. Hart holperten die breiten Reifen des Land Rover über den steinigen Untergrund. Alf ließ das
Ungetüm auf eine glatte Felsstrecke zurückrollen und schaltete die Zündung aus. Er schloß einen Augenblick die Augen und sank nach vorn auf das Steuer. Er wußte, daß sein Ärger über den Jungen nur der Versuch war, seine eigene zentrale Emotion zu verdrängen. Dort oben in diesem grotesken Haufen alten Gesteins lag das Fossil eines Dinosauriers. Wenn er Glück hatte. Alf Dean spürte ein Beben in seinen Muskeln: Furcht und eine Art Rausch. Du wartest auf mich, Kungmanggur, dachte er. Er war nahe daran, zu abergläubischen Beschwörungen Zuflucht zu nehmen, wie ein Kernphysiker, der bei hoher Spannung ein Proton spaltet und dabei seine Lieblingshypothese beschwört. Du mußt einfach da sein, du Miststück. Den ›Wegbereiter‹ hatte einer seiner widerlichen alten Lehrer das Wesen genannt. Sie hatten im Staub gehockt, und der Mann hatte Symbole gekritzelt, die aus einer Zeit lange vor Sumer stammten. Die Regenbogenschlange, der Fruchtbarkeitsgott. Alf hob seinen dunklen Kopf und starrte in das gleißende Licht. Du Schwein, dachte er und zitterte. Ich werde dich an die Wand nageln. Er stieg aus dem Fahrzeug und reckte die verkrampften Glieder. Von allen Seiten drosch die Hitze auf ihn ein, hell reflektiert von Myriaden von Fragmenten der Felskristalle. Trotz seiner schweren Stiefel brannte die versengte Erde an seinen Füßen. Hastig griff er ins Wageninnere und suchte seinen Buschhut und ein Hemd zum Schutz vor der Sonne. Eine abgewetzte Einöde. In der frühen Kreidezeit, vor hundert Millionen Jahren war diese unbarmherzige Wüste ein einziges riesiges Meer gewesen. Es war kaum zu glauben. Und auch schon lange vorher, im frühen Ordovicium. Vor einer halben Milliarde Jahren, aber das Land ist geblieben, dachte Alf. Seit ewigen Zeiten läßt es sich bleichen und aufreißen. Die Zeit vor dem Träumen.
»Arme schwarze Schweine«, murmelte er. Sein Mund verzog sich bei diesem unbewußten Ausdruck ironischer Objektivität. Seine breite Nase, die aufgeworfenen Lippen und das krause Haar wiesen ihn selbst als reinrassigen australischen Eingeborenen aus. Manchmal glaubte er in den gestochenen Phonemen seiner bourgeoisen Sprechweise Spuren des Dialekts der Buramoingu zu entdecken. Ungesunde Phantasterei. Vergeblich versuchte er, sich der Schmeißfliegen zu erwehren, die ihm vor den Augen herumschwirrten. Verdammt! dachte er, selbst hier gibt es sie. Wieso wird die Wissenschaft mit dieser australischen Plage denn nicht fertig? Zur Hölle mit ökologischen Bedenken, wenn es solche überhaupt gibt. »Dies ist tatsächlich der Arsch des Universums«, sagte er laut. Gleich darauf drehte sich der Junge, der noch im Wagen saß, zu ihm um und lächelte sein schüchternes, gewinnendes Lächeln. Er hört uns, dachte Alf. Dr. Fish hat recht; Maus reagiert. Zwar auf eine Weise, die wir nicht recht begreifen, aber er spürt unsere Liebe und unsere Zuwendung. Auch ohne Fishs herablassendes Gerede über »bessere Möglichkeiten einer Sozialisierung« hätte Alf mit dem Jungen gesprochen. Er öffnete die Tür auf der Beifahrerseite und klopfte ihm auf die Schulter. Maus kletterte von seinem Sitz und betrachtete erstaunt die aufgetürmten Felsen und die überschatteten Eingänge zu den Höhlen. »Höhlen«, sagte er aufgeregt. »Bunyip.« »Jede Wette.« Alf grinste. »Aber heute werden wir wahrscheinlich nicht mehr viel finden. Hilfst du mir mit den Rucksäcken?« Heute. Morgen. Diese Bezeichnungen mußten für das Kind ohne jede Bedeutung sein. Eine seiner Unzulänglichkeiten lag ja, wie Fish betont hatte, gerade in seiner Unfähigkeit, Zeitabläufe zu registrieren und den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung zu erkennen.
Dennoch schien sich der Junge auf die Erforschung der Höhlen wirklich zu freuen. Sorgfältig sah Alf den Inhalt seines Rucksacks durch, prüfte das Verbandszeug und probierte die Taschenlampenbatterien aus. Er schloß den Wagen ab und warf sich den Rucksack über die Schulter. Einen Augenblick blieben sie noch stehen und schauten zu dem Urgestein hinauf. Kaum wahrnehmbar wehte der trockene Wind von der Wüste herüber, und fast hörbar dehnte sich der Fels unter der sengenden Sonne. Und doch war diese nahezu vollständige Stille selbst eine Art Geräusch: ein unablässiges entferntes Summen, das man im Kopf spürte, ohne es mit den Ohren aufzunehmen. Eine so tiefe Einsamkeit hatte Alf Dean noch nie erlebt, auch nicht in den weiten Ebenen des Nordens. Ein seltsames Gefühl überkam ihn; er begriff, warum den Nomaden in dieser Wüste der Ort heilig gewesen war und sie in Furcht versetzt hatte – vielleicht so heilig wie Uluru, der gewaltige Steinmonolith sechshundert Kilometer weiter südlich, der in der von Alf angenommenen weißen Zivilisation Ayers Rock genannt wurde. Dorthin waren die Regen der Kreidezeit zurückgekehrt. Ayers Rock ertrank in Gewitterfluten, die von Zynikern auf militärische Versuchseinrichtungen zurückgeführt wurden, die sich angeblich in der Nähe befanden. Auch dort waren die Schwarzen rücksichtslos aus ihren Kathedralen vertrieben worden. Alf stöhnte auf in mitfühlender, hilfloser Wut. Und doch… das war genau das, was er selbst zu tun beabsichtigte. Das verlassene Bollwerk eines Glaubens niederzureißen, der Zehntausende von Jahren Bestand gehabt hatte und jetzt ohnehin fast tot war. Er würde nicht nur das Geheimnis der Regenbogenschlange aufdecken, sondern auch beweisen, daß es sich dabei nur um einen Aberglauben der Wilden handelte, um eine heilige, auf den versteinerten Knochen eines ausgestorbenen Reptils, eines Dinosauriers aus
dem Zeitalter der Fluten aufgebaute Selbsttäuschung. Aber weder die Quellen göttlicher Macht noch die Impulse, die den Motiven der Menschen zugrunde lagen, waren jemals klar erkennbar. Alf Dean empfand seine Besessenheit so intensiv, daß sich ihm der Magen zusammenzog. Für den Stamm der Ngularrnga, aus dem seine leibliche Mutter zu den rassistischen Missionaren in Darwin entführt worden war, hieß der Fruchtbarkeitsgott Wedarragama. Aber weder die Ngularrnga noch die Murinbata vom Daly River, über die Alf seine Examensarbeit geschrieben hatte, noch irgendein anderer der Hunderte von sprachlich und kulturell verschiedenen Stämmen besaß Riten, mit denen nur die Regenbogenschlange verehrt wurde. Die Erdenmutter leitete ihre Erhabenheit von Kunapipi her, dem mit weltlicher und kosmische Bedeutung behafteten Zyklus der Jahreszeiten, der sechs Monate des Jahres prunkvoll gefeiert wurde. Aber von Wedarragama existierten nur Gesicht und Name, in Stein und Rinde eingegraben und in das Gedächtnis der Menschen… Hier allerdings, in diesem kleinen Teil der Tanamiwüste, hatte es Schlangenriten gegeben. Der Stamm war verschwunden. Zerstört durch Krankheit, Trunksucht und den Verlust seiner Würde, und seine besonderen Riten waren mit ihm untergegangen. Plötzlich setzte Alf sich in Bewegung. Er schlug dem Jungen auf die Schulter. »Komm, Junge, laß uns gehen, bevor wir anfangen, Gespenster zu sehen.« Maus stieß einen kleinen Freudenschrei aus und sprang ihm voran den staubigen Abhang hinauf. Alf sah die Anmut seiner Bewegungen und mußte an die behinderten Kinder im Monash-Zentrum denken, die wie Klammeraffen auf Trampolinen hüpften und dabei völlig innerhalb eines für sie tastbaren Raumes blieben.
Die ersten vier flachen Öffnungen, die sie fanden, brachten sie nicht weiter. Der Staubwind hatte Einbuchtungen geschliffen und der wechselnde Druck die Steine splittern lassen – selbst in dieser beständigsten Gegend eines beständigen Kontinents – aber es gab keine erfolgversprechenden Höhlen. Die Hinweise, die Alf während der Feldforschung und aus Archiven zusammengetragen hatte, ließen eine Reihe von tiefen Höhlen vermuten, die weit in den Felsen hineinführten. Er blieb kurz stehen, um Atem zu schöpfen, und nahm einen bescheidenen Schluck aus dem Wasserbehälter. Der Junge sah ihn durchdringend an. »Müder alter Mann«, sagte er ohne jeden Anflug von Verachtung oder Unverschämtheit. In einer Wolke von Staub und kleinen Steinen rutschte er den Abhang hinunter. Alf ließ auch ihn einen kleinen Schluck trinken. Maus seufzte zufrieden, setzte sich auf einen Felsbrocken und lehnte den Kopf gegen die Knie seines Onkels. Wie normal er aussieht, dachte Alf. Gesund und für sein Alter sogar recht kräftig. Der Schaden lag im Krauskopf des Jungen verborgen: ein unvollständiges Nervensystem, die zur Übertragung nötigen Proteine durcheinander und mißgebildet. Wenn Fish recht hatte. Alf entdeckte ein paar kaum sichtbare Aushöhlungen im Sandstein. »Siehst du diese Markierungen, Maus?« Die Finger des Jungen strichen über die flachen Eindrücke. »Ich bin fast sicher, daß es die Reste eines religiösen Symbols sind. – Sie müssen enorm alt sein. Vielleicht sind wir auf der richtigen Fährte.« Er hatte ähnliche Markierungen in den Höhlen von Ngama und Lukiri gesehen. Es war Sitte, rituelle Symbole so anzubringen, daß sie von Uneingeweihten nicht gesehen werden konnten. Forschend betrachtete er sie. Sie sahen nicht entfernt so aus wie das Motiv der Regenbogenschlange.
Aber sie muß hier oben irgendwo sein, sagte sich Alf. Ihre riesigen Knochen liegen hier unter den Steinen, auch wenn ihre Anhänger in alle Winde zerstreut sind. Sie kletterten weiter. Auf ihrer schweißnassen Haut bildete der Staub eine schmierige Schicht. Maus eilte wieder voraus. Einmal blitzten blaugraue Schuppen auf, und der Junge sprang erschrocken zurück. Es war nur eine Eidechse, die sie von ihrem Nest in die Sonne gescheucht hatten. Weil er vorausgelaufen und schon weiter oben war, fand Maus den Eingang. Die Öffnung der Höhle lag hinter zwei großen Felsplatten verborgen, die hier vor Hunderten oder gar Tausenden von Jahren mit ungeheurer Mühe heraufgeschafft worden sein mußten, um den Zutritt zu verwehren. Im Laufe der Zeit war die eine Platte ein wenig zur Seite gerutscht. Alf sah, wie der Junge durch die schmale Öffnung kroch. »Verdammt noch mal, komm zurück!« Erregt stürzte er zum Eingang und starrte ins Leere. Er nahm die Sonnenbrille ab und schob sie in seine Hemdtasche. Maus stand reglos gleich innerhalb des Eingangs und hielt den Kopf schräg, als ob er lauschte. Vor der Brust hielt er die Taschenlampe umklammert. Alf riß sie ihm weg und schaltete sie an. »Gott weiß, was wir hier finden, Maus.« Der düstere Ort bestand aus einem waagerecht verlaufenden Kegel, der sich zum Inneren hin erweiterte. Wo der schwache Strahl der Lampe auf die Wände traf, erkannte man uralte Malereien in Rot, Weiß und rauchigem Gelb. »Bilder«, sagte Maus mit Entschiedenheit und ging gemessenen Schrittes auf sie zu. Erschrocken und wütend packte Alf ihn an der Schulter und riß ihn herum. »Du wirst dich verdammt nicht von der Stelle rühren!« Der Junge zuckte zusammen. »Du weißt doch, daß ich dich nicht
gern anschreie. Wir beide werden diese hübschen Bilder betrachten, nachdem ich mich hier umgesehen habe.« Es war schwer zu sagen, ob der Junge ihn verstanden hatte, aber er blieb stehen, und als Alf weiterging, bemerkte er wieder dieses unerklärliche Zittern des straffen Knabenkörpers. Vorsichtig prüfte der Anthropologe bei jedem Schritt, ob seine Füße Halt fanden. Er ließ den Strahl der Taschenlampe von der Wand über den Boden zur Decke gleiten, um festzustellen, ob es im Gestein Risse gab, aus denen bei einer unvorsichtigen Bewegung vielleicht Felsbrocken herausbrechen konnten. Er ging wieder zum Eingang zurück, in dessen trübem Licht Staubteilchen tanzten. »Okay, Junge.« Die Wandzeichnungen waren eine Enttäuschung. Alf studierte sie ein paar Minuten lang eingehend und achtete zerstreut darauf, daß Maus sie mit seinen tastenden Fingern nicht beschädigte. Er nahm seine Leica und machte ein paar Blitzlichtaufnahmen. »Pech gehabt«, sagte er. »Höchstens ein paar Jahrhunderte alt. Sie sind anderen neueren Arbeiten sehr ähnlich.« Sie waren zweifellos von ritueller Bedeutung, aber er vermißte jeden Hinweis auf die Regenbogenschlange. »Ich verstehe nicht, warum sie sich die Mühe gemacht haben, den Eingang zu versperren.« Er hüstelte und rieb sich das Kinn. Im schwachen Licht der Taschenlampe betrachtete Maus das Gesicht seines Onkels. Er hob den Arm und zeigte auf den Eingang. »Alt«, sagte er. »Alt.« Seine hohe Stimme hallte von den Wänden wider. »Ja. Alt stimmt schon. Aber dies hier wurde später gemacht. Wir wollen sehen, ob es hier sonst noch etwas gibt.« Langsam schritten sie das zerklüftete Rund der Höhle ab, und der Strahl der Lampe hüpfte vor ihnen her. Die gewölbte Wand wies Risse und senkrecht verlaufende Spalten auf. Maus drückte seine gespreizten Hände gegen den Rötel der
Oberfläche, als erwartete er in seinen Träumen, daß sich eine Geheimtür öffnen werde, um sie in eine reinere und strahlendere Welt aufzunehmen, als sie sie je gekannt hatten. Tut mir leid, mein Junge, dachte Alf. Wir sind noch nicht dazu gekommen, die Tür mit Angeln zu erfinden. Maus stieß einen leisen Schrei aus. »Hat sich bewegt«, sagte er. Sofort war Alf neben ihm. Einer der großen Risse in der Felswand bewegte sich ganz leicht, als der Junge ihn berührte. Alf hielt die Lampe dicht an die senkrechte Bruchlinie. Vorsichtig griff er an die Kante und drückte. Einen winzigen Augenblick lang schien es, als wollte ein großes Portal sich öffnen. Er schalt sich wegen seiner blühenden Phantasie, aber dennoch verstärkte er den Druck seiner Hand. Das ist geradezu lächerlich, sagte er sich. Ich reagiere auf den Vorschlag eines Idioten. Und der oben und unten drehbar eingehängte massive Stein drehte sich in die Dunkelheit, drehte sich schwer und geräuschlos bis er im rechten Winkel zur eigentlichen Wand stand. »Mein Gott!« Der Anthropologe sprang zurück und zerrte das Kind mit sich. Ungläubig starrte er auf die entstandene Öffnung. Eine Tür, dachte er erstaunt! Die Steinplatte war perfekt ausbalanciert. Mit Werkzeugen aus Feuerstein bearbeitet. Der Aufwand an menschlicher Arbeitsleistung, der in diesem verborgenen Eingang steckte, verblüffte ihn. Er leuchtete mit der Taschenlampe in den Felsentunnel hinein. Maus hatte sich neben ihn gehockt, um besser sehen zu können. Anders als der drehbar angebrachte Stein, war der Tunnel offensichtlich eine natürliche Formation. Wie die Höhle war er wahrscheinlich eher durch Abschleifung als durch Ausschwemmung entstanden; er hatte nicht die eigenartigen Kalk- und Karbonatablagerungen, die wie
Eiskristalle wirkenden Stalaktiten jener bemerkenswerten Touristenattraktionen an der entfernten australischen Ostküste. Er stieg sanft an und führte weiter in den Steinhügel hinein, bis sich das Licht der Taschenlampe verlor. Anscheinend hatte es keine Senkung des Gesteins gegeben, und keine Felsen waren herabgestürzt, die den Tunnel blockiert hätten. Die Luft war unangenehm trocken. »Mein Gott«, wiederholte Alf leise. »Ich glaube, wir haben es tatsächlich gefunden.« Einige Meter innerhalb des Eingangs leuchteten Muster auf, die in den Felsen eingeritzt waren. Alf erkannte sie sofort, obwohl sie sich in Einzelheiten von den Diagrammen der Murinbata unterschieden, die ihm am vertrautesten waren. Hier sah er »Röntgenbilder« von schwarzen Jägern, deren Knochen und wichtigste Organe mit konventioneller Abstraktion in die Umrisse ihrer Leiber hineingezeichnet waren. Hier gab es Känguruhs, Goanna-Perentien, Lilienwurz – die unbedeutenderen Traumgebilde, die Totems. Und hier war, in ihrer ganzen dreisten Kühnheit, die Regenbogenschlange selbst, der alte Fruchtbarkeitsgott, der Dieb des Feuers, der Wirbelwindmann, die ausdrucksvollen Augen so groß wie die einer Eule, der Schädel von einem strahlenden Lichtkreis umgeben, prächtig wie der Federkopfschmuck eines Häuptlings der Amerind, die doppelten Konturen des geschmeidigen Leibes mit den nur angedeuteten winzigen Füßen, der gegabelte Schwanz… »Dies ist eine Warnung«, sagte Alf endlich. »Nur für Eingeweihte. Verlaßt diesen Ort. Hier – « – er lachte albern, und die durch die Entdeckung ausgelöste Spannung brach aus ihm hervor – » – sind Drachen! Das Fossil des Dinosauriers liegt weiter oben im Tunnel.« Maus lächelte sanft wie ein Engel und zupfte Alf am Ärmel. »Bunyip sehen.«
Alf war ernüchtert. »Noch nicht, alter Junge. Ich trau der Sache nicht – « Aber Maus war schon an ihm vorbeigesaust und ein paar Meter in den Tunnel hineingerannt. Der Junge blieb plötzlich stehen und wartete geduldig. »Verdammte Scheiße, Maus!« Mit wütend geballten Fäusten folgte Alf ihm in den Tunnel. »Du hast nicht einmal den Verstand einer Maus. Komm sofort zurück!« Als Alf sich ihm mit dem schwankenden Licht der Taschenlampe näherte, schien der Junge plötzlich völlig in der Dunkelheit verschwunden zu sein. Als der Anthropologe sich auf ihn stürzen wollte, machte er einen Satz und rannte auf Zehenspitzen davon. Alf jagte hinterher und brüllte in sinnloser Wut. Der Lichtstrahl tanzte auf und ab wie eine wildgewordene weiße Motte. Ihre Schritte hallten laut. Sauerstoffarme modrige Luft nahm Alf den Atem. Der Junge rannte weiter und stieß gegen rissige Felsvorsprünge. Der Tunnel bog abrupt ab, abgedrängt durch härtere Gesteinsschichten. Alf zog sich eine schmerzhafte Prellung zu und taumelte von der Wand zurück. Die Taschenlampe glitt ihm aus der Hand. Rasend vor Wut hob er sie auf und stolperte weiter. Jetzt sah er Maus, und hart legte sich seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Kann man dich denn keine Sekunde aus den Augen lassen?« Die vom Licht getroffenen blauen Augen des Kindes sah er wie helle, leuchtende Sterne vor sich. »Hast du in der Schule denn überhaupt noch nichts gelernt? Wie – « Und er starrte über die muskulöse Schulter des Jungen hinweg und ließ sein Hemd los. Phosphorglanz erhellte die Dunkelheit. Alfs Kopf dröhnte. Hingerissen und entsetzt zugleich sah er den großen rechteckigen Metallrahmen, der am
versiegelten Ende des Tunnels stand. Weiches violettes Licht pulsierte wie eine lebende Membran innerhalb der blanken Metallstäbe. Undeutlich drangen die Worte des Jungen an sein Ohr. »Hübsch, Alf«, sagte er ohne Groll. Das Violett nahm an Intensität zu, ging in strahlendes Blau über, das sich grün verfärbte, um sich dann in leuchtendes Gelb zu verwandeln. Das konnte es hier gar nicht geben. Sie steckten Hunderte von Metern tief in einem von der Sonne ausgedörrten Hügel in Nordaustralien, einige Dutzend Kilometer von der nächsten menschlichen Ansiedlung und einige hundert von der industriellen Zivilisation entfernt. Dies muß eine Filmkulisse sein, war sein erster Gedanke. Der untere Teil des Dings stand tief im Staub. Es muß alt sein, sagte er sich. Wieder starrte er Maus an, und die Aufregung überwältigte ihn. Er fing an zu lachen, ein gellendes, heulendes, fröhliches Lachen; und der Junge lachte mit, glockenhell und wohlklingend; sie lehnten sich gegeneinander und schlugen sinnlos mit den Fäusten durch die Luft, und Alf lachte immer lauter. Maus hörte auf zu lachen, trat vorsichtig ein Stück zurück und zog Alf am Ärmel, bis sie beide mit ausgestreckten Beinen auf dem kalten Fußboden saßen. Alf lehnte sich gegen die Felswand, wischte sich die tränenden Augen und rang nach Luft. »Es tut mir leid«, sagte Maus. »Ja.« Alf putzte sich geräuschvoll die Nase. »Das kann ich mir vorstellen, du eigensinniges kleines Miststück. Aber sag mir, du großer Forscher – was zum Teufel ist es?« Schweigend starrten sie in das pulsierende goldene Licht. Nach einer Weile sagte Maus: »Bunyip?« »Bunyip stimmt. Mein Gott!« Er stand auf, hielt aber gebührenden Abstand zu dem unmöglichen und ungewöhnlich
schönen Objekt. Eines war klar: wenn irgendein australischer Eingeborenenstamm das Ding gebaut hatte, konnte Alf sein Doktordiplom zerreißen und zusammen mit der gesamten anthropologischen Fakultät von vorn anfangen. Dies ist die Regenbogenschlange, sagte er sich und konnte es doch nicht glauben. Der Ursprung eines Mythos, der so alt war, daß er für die heutige Zeit keine Relevanz hatte, wenn man unter Relevanz die fortgesetzte Übung des Rituals verstand. Zurück zum archaischen Träumen. Zur Quelle und zum Urgrund der Realität. Seine Gedanken schweiften ab. Für ngakumal und ngoiguminggi, ihre Totems und die Orte, an denen sie stehen, benutzen die Stämme das englische Wort »dreaming«, aber das ist eine Anpassung an die Sprache der Eroberer. Niemals verwenden sie den Ausdruck nin, das eigentliche Wort für einen Schlaf, bei dem man Träume hat. Dennoch war die geborgte Elision wunderbar treffend. Schließlich wird die Traumerfahrung von ihnen als Fortsetzung der Realität betrachtet. Wirkende Kraft und gleichzeitig Prophezeiung, dachte er und erinnerte sich an Professor Stanners Abhandlung darüber. Die ontologische Verkörperung des gesamten Universums der Totems. Das Träumen. Dieser sture alte Phänomenologe, dachte er voll Bewunderung. Angst durchbrach wieder die Schranken seiner Abstraktionen. Er wußte, daß die Konstruktion, die er vor sich sah, eine Maschine war. Vermutlich ein Gerät, das Besucher von fremden Sternen dort angebracht hatten. Gott mochte wissen, vor wie vielen Tausenden von Jahren. Das Ding ist homöostatisch, dachte er. Wir müssen es ausgelöst haben, als wir hereinkamen. Aber welchem Zweck dient es? Seine verschwundenen Vettern hatten am doppelt versperrten Eingang Verbotszeichen hinterlassen. Schädel und Knochen auf einer Flasche mit tödlichem Gift.
Geräuschlos kräuselte sich das gleißende Gelb zu hypnotisierendem Moire. Abrupt verwandelte die Farbe sich in blendendes Weiß. Das Licht verschwand. Und sie sahen durch das Gitter hindurch und konnten im Hintergrund Stufen erkennen, die ein wenig unterhalb des Höhlenbodens anfingen und nach oben führten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Alf trat einen Meter näher heran, blieb stehen und schüttelte den Kopf. Er bewegte sich nach rechts, dann nach links. Er ‘ zündete sich eine Zigarette an. »Das ist phantastisch«, murmelte er. »Ein dreidimensionales Schaustück. Ein Hologramm. Man kann direkt in das Bild hineinsehen. Warum, verdammt, zeigt es uns Stufen?« »Zum Steigen«, sagte Maus zuversichtlich. Alf grinste ihn an. Ein leichter Luftzug fuhr dem Jungen ins helle, feine Haar. »Wind.« Der Anthropologe spürte ein Kribbeln auf der Haut seines narbigen Rückens. »Er weht von draußen herein. Den Tunnel hinauf.« Blaue Augen sahen ihn an. Maus schnippte mit den Fingern. »Rauch.« Oh, mein Gott, dachte Alf. Er hat recht. Der Rauch seiner Zigarette wehte durch das Gitter. Nein, sagte er sich. Es ist die optische Wirkung. Das war bei einem Hologramm zu erwarten. Aber er trat langsam bis auf einen Meter an das Gitter heran und schaute zu, wie der Rauch sich träge zwischen den Stäben hindurch verzog. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Er nahm ein Streichholz aus der Schachtel und warf es gegen das Gitter. Das Holz segelte zwischen den Stäben hindurch, fiel auf die dritte Stufe, hüpfte noch einmal hoch und blieb liegen. Alf wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, trat vorsichtig von dem Gerät zurück und hockte sich auf den Boden. »Wir stecken bis zum Hals in dieser Sache, Junge«, sagte er. »Dies ist ein interstellarer Gegenstand. Oder vielleicht
ist es ein Überrest aus einer sehr frühen menschlichen Zivilisation, die so alt ist, daß keine weiteren Spuren zurückgeblieben sind. Nein, das ist Unsinn. Mr. von Däniken wird sich freuen. Kein Wunder daß die Einheimischen vor diesem Ort gewaltigen Schiß haben.« Teleportation, dachte er. Hier spricht Captain Cook, oder hieß er Kook? Kirk? Beamen Sie mich zum Transporterraum hinauf. Aye, aye, Captain. Vielleicht befanden sich die Stufen nicht einmal auf der Erde. Wer A sagt, muß auch B sagen. Aber hier stimmte die Logik schon nicht mehr. Vermutlich war die Luft auf beiden Seiten identisch, obwohl der Druck drüben ein wenig niedriger sein mußte. Dennoch mußte es eine gewisse gegenseitige Durchdringung geben. Und wir würden an Methan ersticken, folgerte er, oder an irgendeinem anderen üblen Gas. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Atmosphäre einer fremden Welt der unseren nicht entsprach, war überwältigend. Dann mußte es sich also um irgendeine andere Gegend auf unserem Planeten handeln. Um welche? Tibet? Warum hat man das noch nicht gefunden? Alf wußte plötzlich, daß er hindurchklettern würde. Die Notwendigkeit, sofort festzustellen, wohin die Stufen führten, stand für ihn außer Frage und ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Er drehte sich zu seinem Schützling um. »Maus, ich möchte, daß du mir ganz genau zuhörst. Du wirst genau das tun, was ich dir sage. Verstanden?« Ernst erwiderte der Junge seinen Blick. Oh, Gott, ist das eine Schande, dachte Alf, aber er sprach weiter. »Du bleibst hier sitzen und rührst dich nicht von der Stelle. Ich gehe nur die Stufen hinauf. Dann komme ich sofort zurück, und wir fahren nach Hause. Die Dreckarbeit im Zusammenhang mit deiner kleinen Entdeckung können die Experten erledigen. Die Forschungsarbeiten werden wir ganz gemütlich zu Hause im Fernsehen verfolgen.
Okay? Ein Schritt, und ich nehme dich nie wieder auf einen Ausflug mit.« Der Junge nickte bereitwillig. Alf ließ die Riemen seines Rucksacks von den Schultern gleiten, gab Maus die Taschenlampe als symbolischen Trost und trat wieder an das Gitter. Ich muß verrückt sein, dachte er. Sein ganzer Körper war schweißbedeckt. Ganz vorsichtig trat er über die im Felsboden verankerte Querstange hinweg und war schon auf der anderen Seite. Er sah nach beiden Seiten und drehte sich um. Er grinste Maus an und begann die Stufen hochzusteigen. Es war, als hätte man ihm eine zerbrochene Flasche mit aller Gewalt in das Brustbein gerammt. Er riß den Mund auf und brüllte vor Entsetzen.
2. Zentralaustralien
Das behinderte Kind sieht, daß sein Onkel durch das Gitter tritt, sich nach allen Seiten umschaut und die Stufen hinaufgeht. Etwas Seltsames geschieht. Das Geräusch seiner Schritte ist plötzlich weg. Der Junge sieht Alfs entsetzten Gesichtsausdruck, sieht, daß er die Arme hochreißt und einen schrecklichen stummen Schrei ausstößt. Die Sonnenbrille fliegt Alf aus der Hemdtasche und fällt mit geräuschlosem Klirren bis auf die unterste Stufe. Der Mann greift sich an die Brust und ins Gesicht und sinkt in die Knie wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat, rollt auf die Seite und die Stufen hinab. Reglos bleibt er unten liegen und atmet keuchend. Lautlos. Der Junge blinzelt, läßt vor Angst die Taschenlampe fallen, zögert und rennt los. Er rutscht über den staubigen Fußboden durch das Gitter und kniet sich neben seinen Onkel. Sobald er die unsichtbare Schranke passiert hat, sind Alfs rauhe, unregelmäßige Atemzüge zu hören. Die Luft ist angenehm und kühl. »Oh, oh, oh«, sagte der Junge. Er versucht, den schweren Körper des Mannes zu bewegen, sich Alfs schlaffen Arm um die Schulter zu legen, um ihn zum Eingang zu zerren. Hinter einem Gitter aus Metallstäben, die in eine riesige, leere Wand aus geflecktem Marmor eingelassen sind, sieht er die Höhle. Taumelnd hebt er Alf an, und sie werden regelrecht gegen den Eingang geschleudert. Mit Nase und Stirn schlägt er dröhnend auf das Nichts auf. Mit einem wilden Ruck wird sein Arm zwischen Alfs Körper und der stahlharten durchlässigen Schranke eingeklemmt.
Maus läßt seinen Onkel wieder auf die unterste Stufe fallen, dreht sich um und drischt mit den Fäusten in elastische Luft. Einen Meter weiter steht der Rucksack im Staub. Das Ende eines Seils ragt aus ihm heraus. Irgend etwas hindert den Jungen daran, es zu erreichen. Er gibt den Versuch auf. Als er sich Alf wieder zuwendet, ist dieser bewußtlos, und Maus hört sein entsetzliches ersticktes Keuchen. Er schluchzt und schüttelt ihn. »Aufwachen. Du böser Junge.« Aber Alf bleibt gekrümmt liegen, und aus seiner schwarzen Haut ist alles Blut gewichen. Maus steht auf. Er kann nicht in die Höhle zurückgehen; aber es gibt auch noch die andere Richtung. Er rennt die Stufen hinauf. Ein riesiger, trübe erleuchteter Raum dehnt sich oben vor ihm aus. Er wirkt wie das Innere eines Kastens von gigantischen Ausmaßen. Der Raum scheint ganz leer zu sein. Nur in der Mitte des gewaltigen Felsbodens ruht eine große weiße Kugel. Nichts regt sich. Hier herrscht absolute Stille. Er schaut sich nach seinem Onkel um. Alf atmet jetzt leichter, aber er liegt reglos und mit verzerrtem Gesicht unten an den Stufen. Von weit hinten in den schattigen Tiefen des Raumes ist ein schwaches schabendes Geräusch zu hören. Auf Zehenspitzen versucht Maus mit den Blicken das Dämmerlicht zu durchdringen. Aber immer noch sieht er nur die weiße Kugel, eine riesige Billardkugel, perfekt und ohne jede Markierung. Mit ihrer Größe verdeckt sie einen Teil der entfernteren Wand. Maus tritt langsam einen Schritt vor, dann noch einen, und geht in den riesigen Raum hinein. Dann geht er rasch auf die Kugel zu. Er öffnet den Mund und singt ein Lied, das er von Dr. Fish gelernt hat. »Ich hatte einen kleinen Frosch – « Der Klang seiner Stimme verliert sich in der gewaltigen Stille.
Plötzlich ist er wie benommen. Er bleibt stehen und faßt sich an den Kopf. Sobald er sich nicht mehr bewegt, ist das Schwindelgefühl weg. Er geht noch einen Schritt, und der Raum fängt an, sich zu drehen. Hinter der hypnotisierenden Masse der Kugel sind leise Stimmen zu hören. Maus zieht sich zurück, legt die Hände an den Mund und schreit so laut er kann in den leeren Raum: »Hilfe! Alf krank!« Das Echo dröhnt durch die Stille. Leicht geduckt wartet der Junge. Er hört Stimmengewirr. Es sind die Stimmen von Männern. In der Ferne das Geräusch eiliger Schritte. Eine tiefe Stimme ruft barsch: »Wer ist da? Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus. Der ganze Bereich liegt im Schußfeld unseres Maschinengewehrs.« »Krank!« schreit Maus zurück und starrt das große weiße Ei an. Er bleibt wo er ist. »Scheiße, das ist ja ein Kind!« ruft jemand erstaunt. Weiter hinten wird erregt durcheinandergeredet, und die erste Stimme brüllt: »Ich weiß, daß es unmöglich ist, Sergeant, aber ich sage Ihnen, es ist ein Kind, und der Junge steht genau in der Todeszone! Heh, Junge«, schreit der Mann, »bleib ganz dicht an der Wand und komm zu uns herüber! Was du auch tust, bleib von der weißen Kugel weg.« Maus rennt in einem Winkel zur glatten, gefleckten Marmorwand des Raumes zurück und bewegt sich in einem Kreisbogen auf die Stimmen zu. Seine Benommenheit ist verflogen; statt dessen spürt er eine Art Summen, ein dumpfes Vibrieren in den Knochen. Er hat das Gefühl gigantischen Kräften ausgeliefert zu sein, die ihn in Fetzen reißen könnten, wenn er eine falsche Bewegung machte. Als er den Punkt erreicht, an dem die Kugel ihm nicht mehr den Blick auf die Männer versperrt, sieht er sie in einer gezackten Öffnung stehen, die man von der anderen Seite in die Wand des Raums
gesprengt hat. Sie stehen ein gutes Stück vom Rand entfernt; keiner eilt herbei, um ihm zu helfen. Er erreicht eine Ecke des Raums, bewältigt seine Breite von hundert Metern im Laufschritt und rennt an der Wand entlang auf den Trümmerhaufen zu, der unten vor der Öffnung liegt. Die Luft stinkt jetzt nach Schmierfett, nach dem Schweiß der Männer und nach Chemikalien. Schwer atmend erreicht Maus die Gesteinstrümmer und schaut zu den drei Männern in grauen Uniformen auf, die er plötzlich hoch oben vor sich sieht. Einer von ihnen hält eine Maschinenpistole auf seine Brust gerichtet. Der Junge zuckt zusammen und reißt ruckartig die Arme hoch. »Um Gottes willen, Korporal!« sagt ein hochgewachsener Mann mit einem Bürstenhaarschnitt und drei Streifen am Ärmel. »Nehmen Sie die Kanone runter. Sie erschrecken den Jungen.« Er dreht sich zu Maus um. »Beruhige dich, mein Sohn, wir tun dir nichts. Du kommst nur ein wenig überraschend.« Der dritte der Männer kichert nervös. Der erste ignoriert ihn und fügt freundlich hinzu: »Wir würden allerdings sehr gern erfahren, wie du hergekommen bist.« Während er spricht, rollt er eine Strickleiter aus und läßt das Ende über den Rand nach unten fallen. »Komm nach oben; wir machen dir eine Tasse Kaffee. Wir haben ein paar Fragen, aber du brauchst keine Angst zu haben.« Der Junge klettert über Brocken zersplitterten Marmors, und Staub fliegt unter seinen Füßen auf, daß er husten muß. Er ergreift die Leiter und klettert behende die restlichen Meter bis an die Öffnung hoch. Der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt hilft ihm in einen breiten Tunnel, der von der Öffnung nach hinten führt. »Alf«, sagte Maus mit Nachdruck. Seine Augen blicken traurig. Plötzlich bricht er in Tränen aus, packt den Mann am Arm und versucht, ihn wieder über den Rand zu ziehen.
»Herrgott«, sagt einer von ihnen, »das ist ein verdammter Dummkopf.« Wütend fährt der Sergeant herum. »Halten Sie den Mund! Er macht sich vor Angst in die Hose. Noch ein Wort von Ihnen, und Sie werden Ihre nächste Freizeit hier unten verbringen.« Er wendet sich wieder Maus zu. »Wer ist Alf?« fragt er eifrig. »Willst du damit sagen, daß dort unten noch jemand ist? Ein Verletzter?« Während die Tränen ihm über die Wangen laufen, nickt der Junge. »Hilfe«, sagt er flehentlich. Der Sergeant sieht ihn verlegen an. »Es tut mir leid, mein Sohn, aber es gibt keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Du bist überhaupt der einzige, der sich je im Umkreis der Kugel aufgehalten hat, ohne innerhalb von dreißig Sekunden zusammenzubrechen. Dieser Ort hat etwas – ein Abwehrfeld nennen die Wissenschaftler es. Du muß mitkommen und uns erzählen, wie du hereingekommen bist. Das wäre die einzige Möglichkeit, Alf zu helfen.« »Sie reden gegen eine Wand«, sagt der Mann mit der Maschinenpistole. »Steinmetz hat recht – der Junge ist ein Trottel. Wir sollten ihn zum Stützpunkt mitnehmen. Hier kriege ich eine Gänsehaut.« Blindlings wirbelt Maus herum und springt an den Rand der künstlichen Öffnung. Der Sergeant stürzt hinterher, um ihn festzuhalten, aber der Junge ist zu schnell. Er läßt sich über den Rand gleiten, hält sich einen Augenblick fest und stürzt dann auf den Haufen von Staub und Trümmern. Ein scharfer Splitter schneidet ihm ins Bein, als er sich abrollt, und er scheuert sich Hände und Knie auf. Er kommt wieder auf die Füße und rutscht den Geröllhaufen hinunter. Auf dem Boden angekommen, schaut er kurz zu dem fluchenden Soldaten hoch.
Dann rennt er wieder durch den Raum. Die Stimme des Mannes mit dem Bürstenhaarschnitt verfolgt ihn. »Komm zurück, du verrückter Kerl! Diesmal wird es dich umbringen!« Wieder hat er einen Schwindelanfall. Er taumelt. Er rennt parallel zur Wand den Weg zurück, auf dem er die Öffnung erreicht hat. Alf liegt noch immer lang ausgestreckt vor der untersten Stufe. Maus wirft sich gegen das Gitter und bearbeitet die unsichtbare Schranke mit blutenden Fäusten. Sie ist hart wie Metall. Er geht zu seinem Onkel zurück, packt ihn unter den Armen und fängt an, ihn die Treppe heraufzuzerren. Der Junge ist physisch gesund und für sein Alter sehr kräftig, aber er muß in Etappen vorgehen. Jeder Schritt erfordert eine neue Energieleistung, und er keucht vor Anstrengung. In Wellen überfällt ihn das Schwindelgefühl. Feurige Strahlen durchbohren sein Gehirn. Alf stöhnt, aber er bewegt sich nicht. Sein Rücken schlägt bei jeder Stufe hart auf die Steine. Sie kommen oben an. Maus bleibt einen Augenblick sitzen. Seine Armmuskeln zittern, und sein Atem geht stoßweise. Die Kugel im Hintergrund zieht unwiderstehlich seine Blicke an. Riesig und einsam ruht sie dort, und in ihr vibriert irgendeine ungeheure, gebändigte Kraft. Gewaltsam reißt er sich von dem Anblick los und betrachtet Alf. Er legt seine abgeschürfte Hand auf das Gesicht des Mannes. Bei der Berührung fängt Alf grauenhaft an zu würgen. Seine Lippen laufen blau an, und er stößt einen entsetzlichen Schrei aus. Aber er wacht nicht auf, und seine Augen bleiben geschlossen. Der Junge zuckt zusammen, taumelt zurück. Nach einer Weile steht er auf, zieht Alf die Stufen hoch und beginnt den langen, beschwerlichen Weg zum Tunnel. Kaskaden von Lichtstrahlen fallen durch sein Gehirn. Er bewegt sich nicht mehr. Er hat keinen Körper mehr; sein Körper ist in Dunkelheit versunken. Berührungen nimmt er
nicht mehr physisch sondern mit seinem Wesen auf. Und er weiß plötzlich, daß er Helen Keller heißt. Schwingungen gehen von ihm aus in eine funkelnde Leere, treffen auf und werden verändert zurückgeworfen. Mit wunderbarer freundlicher Wärme umfängt sie ihn; sie werden eins. Er findet sich nicht zurecht an diesen fremden Orten, und sie nimmt ihn bei der Hand, wie Annie sie bei der Hand genommen hatte, sanft und doch fest. Er erinnert sich verschwommen an die hellen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster auf das Gesicht ihrer Mutter fallen. Er läuft auf Helens unbeholfenen Babybeinen mit ausgestreckten Armen zu ihr, aber das Bild wird weggefegt in der kreischenden Qual ihres Fiebers und ihrer Verlorenheit. In der Abgeschlossenheit ihrer Wirklichkeit, die auf Herzschlag und Hunger reduziert ist, auf das Gewebe, das die Haut berührt, auf in der Luft schwebende Düfte und das Stampfen ihrer Füße, auf den Wind, der ihr kühl über das Gesicht streicht; mit ihr zusammen stürzt er in das tiefe Vergessen gestaltloser Nebel. Er ist das Phantom in einer Nichtweit. Und hier sind die Muster, die ihr in die Hand gezeichnet werden, in unablässiger Wiederholung, die sich ändern und wiederkommen, kleine rauhe Figuren und noch kleinere glatte. Sie spürt die unerbittliche Wiederkehr dieser tanzenden Berührung auf der Haut ihrer Handfläche; gemeinsam mit ihr ist er wütend, wenn das Essen auf sich warten läßt, wenn ihr das verhaßte kalte Metall des Bestecks in die Hand gedrückt wird; er wird traurig und weint darum, daß ihn die Liebe, die er kennt, in seiner völligen Isolation tröstet. Und dann kommt wie ein Donnerschlag das Begreifen, als mit dem Schwall kalten Wassers über das Handgelenk der Funke von der Handfläche zum Gehirn überspringt, und die tanzende Berührung es benennt: »Wasser.« Der Schock hallt durch ihren ganzen Körper. Die wiederholten Bewegungen auf
ihrer Haut bekommen einen Sinn, fügen sich zu einem Bild zusammen, dessen Komponenten scharf getrennt sind, sich aber dennoch zu Ketten wunderbarer Zusammenhänge verbinden: die Namen, die Namen. Maus hockt neben ihr und spürt etwas Kleines, das sich bewegt, greift nach den neuen winzigen Gestalten, für jeden ihrer Finger eins dieser glatten und lebhaften kleinen Wesen. Eine unglaubliche Freude, als die Zusammenhänge hell aufblitzen: Mutter, die alte Hündin, ihr Baby, fünf Babys – und in ihrer Handfläche springt das neue Wort auf: »Hündchen«. Sie drängen sich an die Mutter, und sie spürt, wie die Kleinen an ihren prallen Zitzen saugen; sie sind kleiner als klein. Eifrig und stirnrunzelnd sucht sie den feineren Begriff, den sie braucht, und sie findet ihn: »Sehr klein.« Das Glucksen in ihrer Kehle macht ihr Vergnügen, als sie vor Freude lacht. Die Hündchen sind sehr klein! Maus steht mit Helen in der Nichtweit, die zu Fülle und Ausdruckskraft explodiert ist. Annie ist bei ihnen, die arme Annie mit ihren wunden, schwachen Augen, treu und fürsorglich, streng und doch nachsichtig. Die Erinnerungen, die nicht seine eigenen sind, schießen wie eine Kaskade kalten Wassers in sein entrücktes Gehirn, tragen Samen und schlagen Wurzeln, wo sie können. Er erinnert sich an die Zeit, da er das Schreiben für sich entdeckte, an die erhaben geprägten Buchstaben, aus denen sich die Worte zusammensetzten, an die Punkte in Braille, an den Überschwang seiner Entdeckung der Schrift. Es ist zuviel; sein Gehirn wird mit dieser partiellen Grenzebene nicht fertig, kann die Fülle des Glanzes, dieses völlig andere Leben nicht bewältigen. Und noch mehr kommt als hallendes Echo zurück. Hinter Helen erkennt er viele Seelen, und die Zusammenhänge zerfließen in schrecklicher Verwirrung. Das Bild explodiert nach außen. Helen ist nicht verschwunden, aber er sieht das große Zusammentreffen
allgemeiner, von dieser Menge geteilter Vorstellungen, die unerschöpfliche Quelle, aus der sie trinken. Dort ist das Tor, durch das er nie hat gehen können, obwohl er mit den Fäusten dagegengeschlagen hat. Es öffnet sich, und er schlüpft hindurch; er fühlt sich beschwingt, schwebt in Reichen, wo die Zusammenhänge entstehen. Er erkennt, daß sein Herz langsamer schlägt und das Blut aus seinem Gehirn weicht, während er im Wirbel dieser Kräfte gefangen ist. Alf sinkt sterbend gegen ihn, und ihm kommt jetzt die bittere Erkenntnis, daß er nicht bleiben kann. Er ist nur Gast und muß den Rückweg antreten. Aber das Tor hat sich einmal geöffnet, und wenn es sich schließt, wird es sich nicht ganz schließen. Seine Schwingen tragen ihn nicht mehr; er stürzt herab. Helen ist weg. Aber sie hat ihm ein kinesthetisches Gedächtnis hinterlassen. Seine Finger zucken und beschreiben den jahrhundertealten Dialog: Was ist die Seele? Niemand weiß, was die Seele ist, sagt Annie ihnen, und ihre Augen sind voll Tränen, aber wir wissen, daß sie nicht der Körper ist, sondern der Teil von uns, der denkt und liebt und hofft und, wie die Christen glauben, weiterlebt, wenn der Körper tot ist. Niemand kann die Seele sehen. Sie ist unsichtbar. Aber wenn ich schreibe was meine Seele denkt, wird sie sichtbar, und meine Worte werden ihr Körper sein. Die durch einen Lautsprecher verstärkte Stimme des Sergeanten dröhnte herüber: »Laß den kranken Mann einen Augenblick liegen, mein Sohn, und komm zum Tunnel zurück. Hier steht ein Arzt bereit, und wir haben eine Trage geholt, auf der du ihn herrollen kannst. Der Arzt sagt, daß er unbedingt auf die Trage gelegt werden muß. Wenn er über den Boden geschleift wird, hat er Schwierigkeiten mit dem Atmen, und in
seiner Verfassung ist das sehr schlecht für ihn. Hast du verstanden?« Maus richtet sich auf. »Ja!« schreit er zurück. Er rennt unten an der Wand entlang. Die Soldaten haben eine Trage mit Rädern heruntergelassen. Ein besorgt aussehender Mann in einem weißen Kittel steht bei ihnen; er erinnert Maus an Dr. Fish. Einige uniformierte Offiziere haben sich zu den ursprünglich drei Männern gesellt. Der Junge erreicht den Schutthaufen unter der Öffnung, zieht die Trage die letzten paar Zentimeter herunter und löst die Stricke, an denen sie heruntergelassen wurde. Er wartet, und dann versucht er, das Tor zu finden. Wie das Ei, das Alf in den beschädigten Kühler schlug, das dann im gurgelnden, zischenden Wasser versank und gerann, wie die Flocken von Eiweiß und Dotter, die sich verhärteten und immer fester wurden, bis sie den Riß im Kühler fanden und verstopften, so dringt auch in sein zerstörtes Gehirn etwas ein. »Der Verletzte heißt Alfred Dean«, sagt er deutlich. »Er ist Bruder der Mutter dieser Person Hieronymus Dean oder Maus. Sein Zustand deutet auf ein Emphysem in Verbindung mit einem akuten psychotischen Anfall hin. Er muß sofort geholt werden.« Der Arzt schaut ihn verblüfft an. »Du bist ein tapferer Junge. Dem Bruder deiner – deinem Onkel wird es bald wieder gutgehen, wenn wir uns nur beeilen.« Er wendet sich ab und schluckt trocken. »Hatten Sie nicht behauptet, er sei zurückgeblieben?« fragt er den Sergeanten mit dem Bürstenhaarschnitt ungehalten. Er beißt sich auf die Lippen und schaut ängstlich über die Kante nach unten. »Ich möchte, daß du mir jetzt genau zuhörst, mein Junge. Ich erkläre dir jetzt, wie du ihn am besten auf die Trage hebst.« Alles verschwimmt. Er sieht doppelt, und diese doppelten Bilder verschwinden in der Unendlichkeit. Vor Erschöpfung
zitternd schiebt Maus die leichte Trage zu Alf zurück, spritzt aus einer Spraypackung ein Mittel in die Nase des Anthropologen, legt ihm eine Atemmaske an und rollt ihn bis unter die Öffnung. Dort schnallt er den Mann auf der Tage fest und achtet darauf, daß die breiten elastischen Gurte so liegen, daß sie Brustkorb und Zwerchfell nicht zusätzlich beim mühsamen Atmen behindern. Sorgfältig befestigt er die Stricke an den Enden der Trage. Seine Finger wollen sich vor Anstrengung kaum noch bewegen, und die feinen Manipulationen, die sie in einem solchen Ausmaß nicht gewohnt sind, machen ihm Schwierigkeiten. »Laß dir Zeit«, sagt der Arzt beruhigend. »Er wird schon durchkommen. Das hast du großartig gemacht. In ein paar Minuten seid ihr beide in Sicherheit und werdet behandelt. Kein Grund zur Eile.« Die Worte gleiten über sein wirres Hirn hinweg. Die Soldaten ziehen Alf über den Trümmerschutt nach oben. Der riesige Raum gibt ein hohles metallisches Echo zurück, als die Trage gegen die Wand stößt und an ihr entlangkratzt. Maus nimmt denselben Weg. Seine gefühllosen Finger ergreifen die Sprossen der pendelnden Strickleiter. Er klettert hoch und stemmt sich mit letzter Kraft oben über die Kante. Als er zusammenbricht, fängt der Sergeant ihn auf, hebt ihn auf seine kräftigen Schultern und folgt mit ihm der Trage durch den Tunnel. Müdigkeit umfängt ihn. Alle Bewegungen, die er innen und außen noch wahrnimmt, verlieren sich in einem rauschenden Grau. In diesem Augenblick wird er bewußtlos.
3. Das Gewölbe
Auf einer bestimmten Bewußtseinsebene empfand er Schmerzen und hörte das Geräusch von Stimmen. Eine Zeitlang waren die Schmerzen quälend und wirklich unerträglich gewesen. Alf wußte, daß er sterben würde. Solche entsetzlichen Schmerzen konnte kein Mensch aushalten. Seine zerrissenen Eingeweide, sein zusammengequetschter Schädel, seine gemarterten zerfetzten Glieder löschten alles aus seinem Bewußtsein bis auf ein einziges schreiendes Verlangen nach dem Ende. Und endlich merkte er, daß er nicht körperlich verstümmelt war, daß sein Schmerz eine Art Metapher für ein psychisches Trauma war. Die Schmerzen ließen nach, waren weniger unerträglich, verschwammen zu einem Gefühl, als sei er am ganzen Körper wund und als stäche man ihn mit Messern. Erstickungsanfälle ließen ihn das Gesicht verzerren, und genauso schrecklich waren die Qualen, die ihm das Atmen bereitete, wenn es zwischen den Anfällen möglich war. Eine Stimme sagte: »Cheyne-Stokes-Atmung. Hoffnungsloser Fall, fürchte ich.« Eine andere Stimme sagte wütend: »Holen Sie ihn aus dem Koma zurück. Wir müssen wissen, wie er in das Gewölbe gelangt ist. Der Junge kann es uns nicht sagen – er ist hoffnungslos zurückgeblieben.« »Dann schaffen wir ihn in Gottes Namen nach oben. Wir brauchen elektronisches Gerät – EEG, EKG, ein Atemgerät.« »Sie wissen doch genau, daß wir ihn nicht nach oben schaffen können.« Auf der ersten Bewußtseinsebene, der Schmerzebene, hörte Alf außerdem sein eigenes winselndes Keuchen um Leben.
Durch die besorgten und cholerischen Stimmen hindurch horchte er in seinen verletzten Körper hinein. Er spürte den dumpfen Druck zwischen seinen schwachen, seufzenden Atemzügen. Die Seufzer wurden lauter. Zitternd holte er Luft, und immer noch hatte er das Gefühl, daß Messer ihn durchbohrten. Er war stumm und gelähmt. Er fürchtete zu ersticken, konnte nicht sprechen, sich nicht bewegen, und er war außerstande, das verrostete Schloß an seinem Brustkorb zu sprengen. Und dann konnte er wieder ganz schwach atmen… »Ich habe ihm zweihundertfünfzig Milligramm Aminophyllin intravenös verabfolgt. Das wird die periodische Atmung stabilisieren, General Sawyer, aber er hat keine Chance.« »Major, ich dulde dies defätistische Gerede hier nicht.« »Keine Sorge, Sir, er liegt in einem tiefen Koma. Er kann uns nicht hören.« »Das tut nichts zur Sache. Ich dulde kein negatives Denken. Holen Sie den Kerl ins Bewußtsein zurück.« Auf einer zweiten Ebene kreiste Alf Dean wie ein geladenes Teilchen um eine verwirrende Fülle von Tatsachen, die er nie gelernt hatte, und von Zusammenhängen zwischen ihnen, die er sich niemals hätte vorstellen können. Alf wußte, daß der Militärarzt, der sich über ihn beugte, während er auf dem Rücken lag und sich quälte, ihm die Lösung eines TheophyllinDerivats injiziert hatte, ein Diuretikum der Xanthingruppe. Die pharmakologischen Eigenschaften der Droge zeichneten sich in seinem Bewußtsein ab wie die illuminierte Darstellung der fortlaufenden Züge in einer Schachpartie. Trotz dieser ungeheuren Wissensflut wußte er ganz genau, daß er noch nie in seinem Leben etwas von Aminophyllin gehört hatte. Dieses Paradoxon hätte ihn alarmieren müssen, hätte ihn aus seinem Alptraum zu Bewußtsein und Licht auftauchen lassen müssen, aber nur sein gequältes Atmen gewann an Rhythmus, und das Grauen, das er empfand, mischte sich mit Entzücken.
Denn auf einer dritten Ebene war Alf Dean Djanyagirnji hingerissen von zeitlosem Glanz. Seine Hände und Füße bewegten sich, stampften: er feierte im Ritual das Totem des Träumens. Das Känguruh hüpfte, und sein kräftiger Schwanz peitschte den roten Staub. Der Emu rannte, ein großes, nicht zum Fliegen taugendes Federknäuel auf grausamen Füßen und mit boshaft funkelnden Augen. Das Goanna hüpfte verschreckt in den Schatten und tauchte wieder auf, um die angenehme Wärme zu genießen. Der Feuerhabicht schwang sich hoch in die kühle, bewegte Luft, glimmendes Holz aus dem Lagerfeuer im Schnabel. Der Barramundi ließ im schäumenden kalten Wasser des Flusses seine Schuppen und Flossen aufblitzen und tauchte auf und verschwand wie ein Traum. Alfs periodisch behinderte Atmung war hier in einen größeren Rhythmus eingebettet: Leben, Übergang, Verfall, Hunger und Sättigung. Die beißende Kälte des Regens und seine Feuchte, die aus dem erneuerten Boden wieder aufstieg. Ein Drache namens Sri Ramakrishna sagte zu ihm: Ich bin in meinem Leben oft in der gleichen Verfassung wie du gewesen. Das unendliche glänzende Meer des Bewußtseins, des Geistes. Die Wogen rauschten von allen Seiten heran, so daß ich nach Luft rang und besinnungslos stürzte und in reinem Licht aufgefangen wurde… Die tote Schlange sah ihn freundlich an und streckte die Hände aus. An jeder Hand saßen zwei Daumen. Alf fuhr zusammen, zurückgeschleudert in das Gewirr zahlloser Fakten, das Stampfen schwarzer Füße, den grandiosen Lichtwirbel… Auf diesem Weg durch die hellen Funken endlos aneinandergereihter Realitäten versank Alf in Halluzinationen. Oder waren es Erinnerungen? Träume? Nach der Zeitrechnung des weißen Mannes war es das Jahr 1942. Im frühen Morgendämmern, es war die Zeit der Schildkröteneier, am
Himmel zeigte sich schon ein fahler Schimmer, und das Gras lag kühl unter seinen harten Fußsohlen, schlich er vorsichtig wie ein Jäger auf das seltsame Ding zu, das die Männer jenes anderen Kalenders aus dem Nachthimmel hatten fallen lassen. Aber seine leise Vorsicht war umsonst. Mit dem von ihrer beider Kind schweren Leib brach hinter ihm seine Frau Wanntukgara mit der Anmut eines waidwunden Känguruhs durch das Gesträuch. Sie hatte nicht das Recht, hier zu sein. Eine Spur verfolgen war Männersache. Mit einer brutalen Geste bedeutete er ihr, zu bleiben, wo sie war, ohne daß er sich auch nur umdrehte. Er beobachtete die Vögel und untersuchte den Boden auf Spuren verschreckter, fliehender Tiere. Das seltsame Ding lag nicht weit entfernt vor ihm. Ein Kichern neben seiner Schulter. Stirnrunzelnd wandte er sich um. Wanntukgara, das verblichene Baumwollkleid zerrissen und die aufgedruckten gelben Blumen verdreckt, kniete hinter ihm und grinste ihn an. Diese Frauen hatten keinen Respekt. Dennoch ließ er die Hand sinken, ohne sie zu schlagen. In ihrem dunklen, liebevollen Blick lag kein Spott, nichts, das ihn herabsetzen konnte. Aber der Lärm, den sie machte! Er lächelte zurück. Wer würde hier schon ihre Anwesenheit bemerken? Das Flugzeug, das den seltsamen Gegenstand auf die Missionsstation abgeworfen hatte, war allein gewesen, möglicherweise verirrt. All die grellen, dünnen Lichtstrahlen der weißen Männer waren viele Meilen entfernt um Darwin herum konzentriert. Seit einer Woche hatten die Strahlen, wie er gehört hatte, jede Nacht wie das Netz einer Riesenspinne im Mondlicht am Himmel gehangen. Manchmal schnitten sie den Weg eines eindringenden Flugzeugs, und dann durchbrach ein Hämmern die Stille der Nacht: gelbe Speere verfärbten sich rot und zerfetzten die Sterne. Die Kriege der Weißen waren entsetzlich, roh, ohne Würde und ohne Mut. Als er nach der Beschneidung unter dem Buka-Tabu stand, hatte sein
Großvater zu ihm gesagt: »Puyungarla, die weißen Männer kennen kein Maß und keine Ehre. Sie nehmen sich unsere Frauen und selbst unser geheiligtes Land. Sie töten, ohne die Toten zu zählen. Sei nicht wie sie. Sie werden dich mit Tabak und Alkohol zu verführen suchen und dir mit Gewehren und Peitschen drohen. Aber du bist ein Mann, Puyungarla. Eines Tages wirst du der Vater von Männern sein, wenn dein armes kleines beschnittenes Ding je heilt und sich aufrichtet. Verrate deine Männlichkeit nicht, indem du aus Gier oder Angst dein Erbe aufgibst.« In den Traumbildern seiner Pseudo-Erinnerung lächelte Alf. Es hatte sich aufgerichtet. Sein schönes braunes Weib Wanntukgara hatte sich nachts über seine Schenkel gehockt, während die alten Frauen am Feuer saßen, um ihr durch ihre Nähe Trost zu spenden und schrillen Rat zuzurufen, und sie war wunderbar an ihm herabgeglitten, um seinen kräftigen Speer in sich aufzunehmen, und seine Glut war in sie hineingeflossen, in jene verborgene Tasche ihres Leibes, bereit durch das Walten der Regenbogenschlange, und ihre Samen hatten sich vereinigt und durch den einfließenden Geist des Totem des neuen Kindes belebt… … und jetzt, da sie leichtfüßig ihrem Mann folgte, spürte sie die Bewegungen des Kindes in ihrem Leib. Groß und blutrot erzitterte die Sonne am Horizont. Die Frau folgte Puyungarla in geringem Abstand, und wußte, daß es seinen Stolz verletzte, aber sie wollte bei ihm sein, wenn er das seltsame Ding fand und in Besitz nahm: ein verhextes Ding, das Ei eines Metallvogels, ein Zauberding. Es würde ihnen gewiß Macht und Einfluß unter den weißen Männern verleihen. Alf stöhnte, und das Geräusch mischte sich mit dem heiseren Krächzen seiner Atemzüge. Im Traum war ihm der Übergang von der männlichen zur weiblichen Rolle nicht schwergefallen, aber etwas Entsetzliches sollte sich ereignen, etwas, an das er
sich mit jeder Zelle und jedem Organ seines Körpers erinnerte, etwas – »Sagten Sie etwas, Major?« »Hmm? Nein.« »Dann muß er es gewesen sein – mein Gott, sehen Sie sich sein Gesicht an!« Sie trat vor und starrte auf den gedrungenen, schweren, halb im Boden begrabenen Gegenstand. Ihr Herz klopfte. Das Kind spürte ihre Erregung und strampelte in ihrem Leib. Geh zurück, befahl ihr Mann, aber sie hockte sich in das Gras. Puyungarla bewegte sich mit raschen, vogelähnlichen Schritten auf das seltsame Ding zu. Sein Totem war der Feuervogel. Wie passend, daß er ein vom Himmel gefallenes Wunder in Besitz nahm, das ein Metallvogel aus dem Schnabel verloren hatte. Vorsichtig strich er über die Oberfläche des Gegenstandes. Sie sah, wie er ihn betrachtete, das junge Gesicht hart und entschlossen. Er war schön und stark, und ihr Kind würde gewiß ein Sohn werden, denn das hatten die Frauen vorausgesagt, und nackt und frei würde er als Jäger streifen, wenn die weißen Männer einander getötet hatten, getötet wie es Tiere und wahre Männer niemals tun, getötet, ohne durch das Gesetz gehemmt zu sein, getötet, bis ihre Zahl in gegenseitigem Morden auf nichts zusammengeschrumpft ist. Puyungarla schlang seine sehnigen Arme um die Mitte des Gegenstandes und versuchte, ihn anzuheben. Kaum merklich bewegte er sich im Boden. Er gab ein leises Geräusch von sich, ein Klicken und ein schwaches Echo wie von einer Blechdose, die man in trockenes Gras wirft, und eine riesige Flamme riß ihren Mann mit gewaltigem Donnern hoch in die Luft wie in einem Wirbelsturm und zerschmetterte seinen Körper, und sein hellrotes Blut hing wie ein Nebel am eisklaren Himmel, und Metall kreischte auf Metall, und die Splitter stachen sie wie
große Fliegen und sie schlang schützend die Arme um ihren zerreißenden Leib und um das Kind – »Mein Gott, haben Sie das gesehen? Sein ganzer Körper verkrampft sich. Er hat sich den Glukosetropf aus dem Arm gerissen. Sagten Sie nicht, er liegt in einem tödlichen Koma?« »Scheiße! Er hat sich die Vene aufgerissen. Ich glaube, die endotracheale Stütze wirkt noch. Geben Sie mir – Nein, wir können ihm kein Beruhigungsmittel geben; das würde sein Herz nicht aushalten. Halten Sie seine Beine fest. Wenn dieser Anfall ihn nicht erledigt, könnte er überleben.« Alf stürzte von einem Alptraum in den anderen. Es tut mir leid, sagte der Drache, wir hätten den mnemotechnischen Zugang verschlossen und bewacht halten sollen. Glücklicherweise wirst du dich nicht daran erinnern. Bleib ruhig, mein Sohn, du bist sehr krank. Für das was kommt brauchen wir dich gesund und geistig normal. Das war mein Vater! schrie Alf. Seine Seele war von Entsetzen und Gram erfüllt. Die Verbindung zwischen Körper und Geist war einen Augenblick lang unterbrochen, sonst hätte er geweint. Ja, sagte der Drache namens Puyungarla. Und deine Mutter. Und du, Alf Djanyagirnji. Und du. Es war zuviel für ihn. Alf zuckte vor dem Phantom zurück und zog die Knie bis an das Kinn hoch und drückte sie mit den Armen fest gegen seine Brust. Im gleichen Augenblick erkannte er entsetzt, daß sich in seinem gelähmten Körper kein einziger Muskel bewegt hatte. Krampfhaft fuhren seine Beine wieder nach unten und traten gegen Hindernisse, die er nicht sehen konnte, und es geschah etwas wirklich Entsetzliches. Wie ein Glied, das sich aus einer saugenden, haftenden Masse sich verhärtenden Mörtels zu befreien sucht, löste sich Alf aus seinem eigenen leidenden Fleisch. Er stieg aus seinem Körper auf und schwebte leicht schwankend bis unter die niedrige
Decke. All seine Sinne waren getrübt. Er sah alles verschwommen, und am Rand seines Gesichtsfelds wirbelte ein ganzes Lichtspektrum wie auf einer öligen glatten Fläche. Einige Männer – zwei, drei? – beugten sich über seinen im Koma liegenden Körper und hantierten mit Schläuchen, die sich verzweigten und wieder vereinigten. Die ganze Skala seiner Emotionen war eigenartig gedämpft. Als schwache azurblaue Lichtsphäre hing er über seinem Körper und rang um Klarheit. Das Echo von Stimmen hallte durch den Raum. Er fühlte sich nicht mehr kalt. Aber auf einer Identitätsebene jenseits von Geist und Materie tanzte er den zeitlosen Tanz der Drachen und der Totems, umgeben von Lichtfluten und freundlich begrüßt vom Lied der Drachen um ihn herum. »Verdammt! Arretiert!« rief eine Stimme. »Was?« »Herzstillstand, General. Ich brauche einen – O Gott! Ordonnanz!« Eine weitere Gestalt kam schemenhaft hereingestürzt. »Zehn Kubikzentimeter Epinephrin in einer Herzspritze. Beeilen Sie sich, Mann! Mein Gott, ist das barbarisch. General, wenn ich diesen Mann durchbringe, werde ich ihn sofort nach oben schaffen, und wenn ich ihn auf dem Rücken schleppen muß. Zur Hölle mit Ihren Sicherheitsvorschriften.« Völlig unbeteiligt schwebte Alf über seinem sterbenden Körper und sah die Nadel in die schwarze Haut seiner Brust eindringen. In der Spritze stieg das Blut an. Ganz flüchtig empfand er den Anblick als widerwärtig. Er wandte sich ab, bewegte sich durch die Wand hindurch und stellte fest, daß er auf Maus hinabschaute. Scham ließ ihn zusammenzucken: es war die erste starke Emotion, die er erlebte, seit er seinen Körper verlassen hatte. O
Maus, dachte er. Was tust du da? Du solltest dich doch nicht von der Stelle rühren. Der Junge hob den Kopf und schien Alf, schien die schwach leuchtende Lichtsphäre, in die Alf sich verwandelt hatte, direkt anzusehen. Um den Kopf des Kindes lag grellblaues Licht. Maus lächelte, und seine makellosen Zähne blitzten wie eine Reklame für den Zusatz von Fluor zum Leitungswasser. Hallo, Alf, sagte er, ich finde, du solltest lieber zurückkehren. Mach dir keine Sorgen, mit uns wird alles in Ordnung gehen. Heh, noch etwas – du mußt dafür sorgen, daß sie delFord herbringen. Wen? fragte Alf. Sie werden es schon wissen, sagte Maus. Gelöst aber verwirrt vor Erstaunen schwebte Alf wieder durch die Wand. Sein Körper atmete selbständig, und das Gesicht war von fettigem Schweiß bedeckt. An Wangen und Hals zeigten sich Bartstoppeln. Aus dem verschorften Mund ragte ein Schlauch hervor, der von einem halbelastischen Stöpsel festgehalten wurde. Dieses elende Bündel bin ich nicht, dachte Alf angewidert. Dennoch zog es ihn an, holte ihn zurück, verweigerte ihm das Glück schwerelosen Schwebens. Er sank wie ein Blatt zu dem in Tücher gehüllten Körper hinab. Seine telepathische Unterhaltung mit Maus versank im Unbewußten. In der Dunkelheit spürte er Stöße. Die Stimmen schienen zu weit entfernt, als daß er die Worte hätte verstehen können. Drückend empfand er die Erdenschwerkraft. Ein Jaulen, ein Klappern, ein Rütteln, eine endlose Reise aus der Hölle in – – einen Augenblick bewußter Wahrnehmung zurück: trommelnder Regen, tiefschwarze Wolken am Himmel, das Geräusch rennender Füße. Ein kaltes Plastiklaken streifte sein Gesicht. Es wurde von zwei fluchenden Ordonnanzen über ihn gehalten, um den Regen abzuwehren, während ein dritter
Mann die Trage zog. In der Kälte sträubten sich ihm plötzlich die Haare auf der Haut, er hatte Schmerzen in Kehle und Brust, und tief im Gehirn spürte er ein quälendes und erschreckendes Stechen – Als er aufwachte, waren Scheinwerfer auf sein Gesicht gerichtet. Er hörte das Summen mehrerer Stimmen, die sich in kurzen Sätzen unterhielten. Ihr Gespräch wurde von einem schrillen elektronischen Pfeifen überlagert, das im Rhythmus seines Herzschlags ertönte. Als er die Augen einen Spalt öffnete, hörte er eine andere Stimme aufgeregt etwas rufen. Alf schloß die Lider. Durch roten Nebel zog das Bild noch einmal an ihm vorüber. Er konnte nicht verstehen, was die Männer sagten. Als er angestrengt versuchte, den Sinn ihrer Worte zu begreifen, stellte er fest, daß sie sich in einer ihm nicht vertrauten Sprache unterhielten. Es hörte sich an wie… was? Bühnenrussisch? Nein, bei Gott, es hörte sich wie ganz normales Russisch an, und das war mitten in einer australischen Wüste absolut lächerlich, wo er mit Maus und einigen verdorrten Büschen allein war… Alf lachte leise, und knirschend trafen seine Zähne auf etwas, das man ihm in den Mund gestoßen hatte. Die Anstrengung war zu groß. Er sank in tiefe Bewußtlosigkeit zurück. Als er wieder aufwachte, packte ihn Entsetzen. Klinikgeruch drang ihm in die Nase. Männliche Stimmen redeten und redeten. Alf behielt die Augen geschlossen. Es muß einen Unfall gegeben haben, sagte er sich. Ich bin im Hospital. In Fingern und Zehen spürte er ein Prickeln. Er konnte sich an keinen Unfall erinnern. Mit wachsender Bestürzung stellte er fest, daß er sich an überhaupt nichts erinnern konnte seit er… doch, es hatte einen Unfall gegeben – ein Vorderrad des Ungetüms hatte einen Stein hochgeschleudert, der den Kühler durchschlagen hatte. Fünfzehn Minuten lang hatte er in der sengenden Sonne gestanden und versucht, das verdammte
Ding zu reparieren, und endlich hatte er ein Ei in das kochende Wasser geschlagen. Ein guter alter Notbehelf aus dem Busch. Eiweiß und Dotter sinken nach unten, werden fest und versiegeln das Leck wie neugewachsene Haut. Aber ein solches Mißgeschick bringt einen normalerweise nicht ins Hospital. Seine ganze Kopfhaut schien von Spinnen zu wimmeln. Drähte, dachte er, ich liege auf einer Intensivstation, und man hat mich an den Elektroenzephalographen angeschlossen. Eine der Stimmen sagte: »Theta fällt ab. Ich bekomme stärkeres Beta. Er kommt wieder zu sich.« Jemand mußte ihm gegen den Kehlkopf getreten haben. Er schluckte, und es schmerzte. Mit rauher, krächzender Stimme sagte Alf: »Cooma el ngruwar, ngruwar, el cooma, ilia booka mer ley urrie.« »Er ist bei Besinnung.« Hinter einer Stange, an der oben eine Flasche mit einer hellen Flüssigkeit hing, reckte ein Mann in Weiß den Hals nach ihm. »Was haben Sie gesagt?« Mit einer geübten Bewegung schob der Mann Alfs rechtes Augenlid hoch und richtete den Strahl einer Stablampe auf das Auge. Alf hatte das Gefühl, als dringe ihm der Strahl direkt ins Gehirn. Er blinzelte und riß ruckartig den Kopf zurück. »Ausgezeichnet. Volle Kontraktion der Pupille. Prüfen wir das andere Auge.« »Kehle.« Der Anthropologe versuchte, den Arm zu heben, um die betroffene Stelle zu berühren. Ein intravenöser Schlauch bewegte sich in seiner Halterung. »Ja, Sie werden noch eine Weile krächzen. Wir hatten Ihnen das Atmen abgenommen. Welche Sprache haben Sie eben gesprochen?« Ein anderer Mann lachte heiser. »Arzt, heile dich selbst. Ich hatte keine Ahnung, Irwin, daß Sie so scharf darauf sind, den Geheimagenten zu spielen.«
»Eingeborenenritus«, sagte Alf zu dem ersten Sprecher. »Traditioneller Spruch.« Nachdem sie ihm gegen den Kehlkopf getreten hatten, mußten sie ihm eine Fahrradkette durch den Schlund gezogen haben. Er hatte Mühe, den Satz zu beenden. »Er bedeutet: ›Eins ist alles, alles ist eins, die Seele stirbt nicht.‹« »Aha«, sagte der andere Mann, und seine Stimme klang immer noch verächtlich. »Die Reinkarnation der drei Musketiere.« Eine Tür knallte, und noch mehr Leute betraten den Raum und drängten sich um das Bett. »Halten Sie den Mund, Casey«, sagte einer von ihnen. »Sie hatten strikte Anweisung, nicht mit dem Patienten zu sprechen. Hat er irgend etwas gesagt, Joinville?« »Sehr wenig, Sir.« Der erste Mediziner wiederholte Wort für Wort Alfs Übersetzung. »Im Augenblick kann er noch keine Anstrengungen vertragen. Er ist eben erst zu sich gekommen, und sein Kehlkopf schmerzt wahrscheinlich noch von dem Trachialtubus.« »Das werde ich berücksichtigen, Doktor«, sagte der durchdringende Bariton. »Okay, alter Junge, erzählen Sie Ihre Geschichte. Von Anfang an. Wie sind Sie und der Junge unbemerkt in das Gewölbe gelangt?« Entsetzt stieß Alf sich von dem verschwitzten Laken hoch. »Maus?« rief er. »Oh Gott, ja, ich habe ihn dort gesehen. Ist er – « Verwirrt ließ er sich zurücksinken. »Nein, nein. Nur ein Alptraum. Er ist vorn in der Höhle geblieben.« Wieder verkrampften sich seine Muskeln. »Mein Himmel, wie lange bin ich schon hier? Sie müssen Maus von hier wegbringen.« Er fing an zu weinen. »Der arme kleine Kerl…« »Nur keine Aufregung Mr. Dean.« Ein Anflug von Besorgnis ließ den Bariton weicher klingen. »So heißen Sie doch, nicht wahr? Alfred Dean? Und das Kind heißt…?«
»Maus«, sagte Alf und hatte den salzigen Geschmack seiner Tränen im Mund. Er hatte seine Emotionen nicht mehr in der Gewalt. Er war völlig durcheinander. »Eigentlich heißt er Hieronymus. Seine Mutter hatte keinen Verstand. Das muß erblich sein.« Er schüttelte den Kopf. »Sie haben ihn gefunden? Ist er verletzt?« »Er ist ganz in der Nähe unten in der Halle«, sagte der Mann beruhigend. Er trug eine graue, sorgfältig gebügelte Armeeuniform. Seine Augen waren von überraschend weichem Grün, und an seinen Wangen waren noch schwach die Aknenarben aus seiner Pubertät zu erkennen. Sie beeinflußten sein Aussehen aber nicht ungünstig sondern wirkten eher entwaffnend. »Maus geht es gut, Mr. Dean. Wir hätten nur gern gewußt, wie Sie dort unten hineingekommen sind.« »Doktor«, sagte Alf leicht irritiert. »Ich bin kein Doktor. Ich bin Geheimdienstoffizier der Vereinigten Staaten. Gewiß begreifen Sie jetzt, daß – « »Ihre Qualifikationen interessieren mich einen Dreck, Meister. Ich bin Doktor.« Ohne Rücksicht auf den intravenösen Schlauch hatte Alf sich aufgesetzt und versuchte, sich vom Bett zu erheben. »Wo ist Maus? Ich will ihn sprechen.« Unverzüglich hinderte einer der Ärzte ihn daran und zwang ihn auf das Bett zurück. Ein ungleicher Kampf. »Dr. Dean, beherrschen Sie sich. Sie lagen vor zwei Tagen noch im Koma. Ihr PVC ist – « »Ersparen Sie mir den Hokuspokus; zu dieser Art von Doktoren gehöre ich nicht.« Aber Alf gab nach. »Ich bin Geisterbeschwörer«, murmelte er. »Doktor der Philosophie und Geisterbeschwörer.« Er hatte sich überanstrengt, und das Blut wich ihm aus dem Gehirn. Er versank in grauer Wolle.
Sie wollten ihn nicht mit seinem Neffen sprechen lassen. Waren sie seine Pfleger oder seine Gefängniswärter? Das war ihm völlig schleierhaft. War er noch in Australien? Die Frage war verrückt, aber sie drängte sich auf. Sie sprachen alle mit ausländischem Akzent, aber ihre Akzente stimmten nicht überein. Gegen jede Erwartung waren einige von ihnen Amerikaner, und einige waren… Russen? Jedenfalls Osteuropäer. Sein Krankenzimmer war behelfsmäßig aus Einzelteilen zusammengesetzt, die man auseinandernehmen, in ein Flugzeug verladen und an anderer Stelle wieder zusammensetzen konnte. Es hatte keine Fenster. Es wirkte wie ein Lazarett für eine beschränkte Anzahl von Personen und war zweifellos eine militärische Einrichtung. Drei weitere Betten waren zur Zeit nicht belegt aber sauber bezogen und zur Benutzung bereit. Unter dem künstlichen Licht streckte Alf sich wieder aus, und als es ausgeschaltet wurde, schlief er ein. In der Folgezeit schlief er auch gelegentlich bei eingeschaltetem Licht. Im Schlaf wurde er von beunruhigenden Bildern bedrängt, die sich in nichts auflösten, wenn er nach ihnen griff. Irgendwie wußte er, daß er während des Komas ähnliche bizarre und beängstigende Träume gehabt hatte, aber er konnte sich an ihren Inhalt nicht mehr erinnern. Nur eine quälende Einzelheit stand ihm noch deutlich vor Augen: Wie sein eigener Körper sterbend auf dem Tisch lag, mit Schläuchen in jeder Körperöffnung, und wie er selbst über diesem Sterbenden schwebte, sie beobachtete und redete… Mit wem? Und was? Es war natürlich zu absurd als daß es Sinn hätte, sich darüber Gedanken zu machen. Durch schwere Krankheit entstandene Phantasien konnten ihm in seiner gegenwärtigen Krise kaum helfen. »Wie sind Sie dort hineingekommen, Dr. Dean?« fragten sie ihn immer und immer wieder.
»Wo hinein?« brüllte er verzweifelt. »Ich weiß nicht wo ich bin, und Sie wollen mir nicht sagen, wer Sie sind und wen Sie vertreten. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß, und das genügt Ihnen immer noch nicht. Was soll ich denn jetzt noch tun?« Er zitterte vor Wut. »Und wo, zum Teufel, ist Maus? Ich bestehe darauf, mit ihm zu sprechen!« Es nützte nichts. In kluger Erkenntnis seines physischen Schwächezustands hielten sich die Männer bei ihrem Verhör zwar zurück, aber ihm erzählten sie überhaupt nichts. Das Verfahren war grausam. Eins stand fest: sie glaubten ihm kein Wort. Vielleicht glaubten sie, daß er seinen richtigen Namen genannt hatte. Falls sie seine Identität bei den australischen Behörden, bei seiner Universität, womöglich gar bei seiner Exfrau überprüft hatten, so schien eine Bestätigung seiner Aussagen sie jedenfalls nicht von seiner Glaubwürdigkeit überzeugt zu haben. »Fangen wir noch einmal von vorn an, Dr. Dean. Sie fuhren also in Begleitung Ihres Neffen mit einem Land Rover durch die Tanamiwüste.« Aufgeregt und verärgert zeichnete er ein krauses Diagramm seiner Route. Als sie ihm einige Karten mit großem Maßstab brachten, zeigte er ihnen genau die Stelle, wo er aus dem Ungetüm ausgestiegen war. Ihren Gesichtern war nicht anzusehen, ob sie ihm glaubten oder skeptisch blieben, und so mußte er die professionelle Teilnahmslosigkeit in ihren Mienen als Mißtrauen deuten. Seine Wut stieg. Obwohl er zu den Privilegierten gehörte, hatten ihn die verdammten Weißen sein Leben lang wie durch eine kalte Maske angeschaut und aus ihren Blicken jede Wärme herausgefiltert, die sie anderen bereitwillig entgegenbrachten. Die heutige Version war schlimmer, aber wenigstens war sie ihm von früher vertraut. Die Neuralrezeptoren seiner schwarzen Haut waren darauf
eingestellt und reagierten empfindlich auf derlei Temperaturunterschiede. »Obwohl Sie selbst ein reinblütiger australischer Eingeborener sind, handelt es sich bei Ihrem Neffen um ein zurückgebliebenes weißes Kind.« »Das ist richtig. Es ist eine lange Geschichte, die Sie nichts angeht.« Angestaute Wut schnürte ihm die Kehle zu. »Das zu beurteilen, müssen Sie schon uns überlassen, Dr. Dean.« »Mit welchem Recht, Sie Stinksack? Ich verlange einen Anwalt. Und wie, zum Teufel, heißen Sie denn?« »Namen tun nichts zur Sache. Ich bedaure, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir Ihnen nicht erlauben, sich mit einem Anwalt in Verbindung zu setzen. Die gesamte Station unterliegt strengster militärischer Geheimhaltung.« »Auf wessen Anordnung?« Der Mann seufzte. »Auf Anordnung der australischen Regierung unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen.« »Unfug.« »Gebrauchen Sie doch Ihren Verstand, Mann. Sie sehen doch, daß hier Russen und Amerikaner Seite an Seite arbeiten. Läßt das Sie nicht schon vermuten, daß es sich um eine Angelegenheit von besonderer Bedeutung handelt?« Er hielt inne. »Aber das wissen Sie ohnehin schon alles. Wie hätten Sie sonst in das Gewölbe gelangen können?« Hatte man ihn in eine Irrenanstalt gesteckt? »Ich weiß nicht, was Sie mit Gewölbe meinen. Es ist doch klar, daß Maus und ich in dieser Wüste in irgendein gewaltiges Forschungsprojekt hineingestolpert sind. In den alten Höhlen finden wir plötzlich ein Hologramm. Stammt es von Außerirdischen? Das muß der
Fall sein. Die Zeit der Regenbogenschlange liegt zu weit zurück.« »Und diese Regenbogenschlange haben Sie natürlich gesucht«, sagte der Mann trocken, »und nicht das Gewölbe. Durch reinen Zufall steckten Sie plötzlich mitten in dem am schärfsten bewachten Projekt der Hemisphäre, vielleicht der Welt.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden!« brüllte Alf. Unerträgliche Kopfschmerzen quälten ihn. Sie strahlten von der Stirn in den Nasenrücken aus. »Ja, ich habe die Regenbogenschlange gesucht, wenn Sie es sich so einfach machen wollen. Genau hier habe ich sie gesucht. Mein Gott, ich habe ihnen eine Karte gezeichnet – zweihundertfünfzig Kilometer westlich von Tennant Creek, zweihundertachtzig südöstlich von Wave Hill. Genau an dieser Stelle, Sie Trottel! Außer Sie hätten Maus und mich, während wir bewußtlos waren, in eine Ihrer OmegaStationen geschleppt.« Der Mann vom Geheimdienst sah Alf gleichgültig an. »Wir haben Sie nicht sehr weit transportiert. Eigentlich nur ein wenig in vertikaler Richtung.« Alf schlug sich empört mit der Hand auf das Knie. »Halten Sie mich für einen Narren? Wir befinden uns auf festem Boden. Ich habe schon mal in einem Flugzeug gesessen. Lassen Sie sich von meiner Hautfarbe nicht täuschen. Ich bin kein ignoranter Wilder.« »Dr. Dean«, versicherte der Mann, »wenn ich Sie für einen ignoranten Wilden gehalten hätte, wäre dieses Gespräch nach anderen Regeln geführt worden.« Die Tür flog auf. Der Mann, der eintrat, sprach mit einem deutlich russischen Akzent. »Suchtrupp vier hat das Fahrzeug gefunden, Colonel, Position wie angegeben.« Er reichte dem Geheimdienstmann eine Aktenmappe, grüßte und schloß die Tür.
»Hmm.« Der Amerikaner überflog die Seiten und schaute dabei gelegentlich zu Alf hinüber. »Sehr merkwürdig.« Er stand auf. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Dr. Dean.« Dann verschwand er, und Alf blieb mit offenem Mund zurück. Ein neuer Migräneanfall brach über ihn herein. Heftig schlug er auf den Knopf neben seinem Bett. Fast gleichzeitig erschien schon ein Pfleger. Innerhalb von Minuten war der Anthropologe eingeschlafen. Die Droge, die alle Wut und Verwirrung und selbst Gedanken auslöscht, hatte auch seine Kopfschmerzen hinweggefegt. Die Schmerzen in seiner Kehle waren nicht mehr so schlimm, als er aufwachte, und er hatte Hunger. Er vermißte immer noch seine Uhr, aber durch die geöffnete Tür fiel Licht herein. Wie immer war über dem Summen der Klimaanlage ein entferntes Dröhnen zu hören. Es erinnerte ihn an etwas ganz Alltägliches, aber im erkennenden Teil seines Gehirns war jede Assoziation blockiert. Vertikal hatte der Mann gesagt. Das konnte natürlich auch einige Kilometer nach unten bedeuten. Alfs erste, wilde Spekulation war gewesen, daß es sich bei dem Apparat um ein Gerät zur Teleportation handelte, das den Tunnel in der Tanamiewüste mit irgendeiner anderen Örtlichkeit auf der Erde verband. Also hätte auch er durch das Tor in eine andere Gegend gelangt sein können, vielleicht in den Himalaja. War die Legende von den Yetis vielleicht deshalb entstanden, weil über die Jahrhunderte eine ganze Reihe von tollkühnen, nackten schwarzen Männern wie durch Hexerei dort aufgetaucht waren, um im tobenden Schneesturm zu erfrieren? Aber der Mann hatte auch gesagt, daß die Anweisungen von der australischen Regierung gekommen waren. In Australien gab es wenige Berge, die höher als zwei Kilometer waren. Unsicher stand Alf vom Bett auf und schüttelte den Kopf über seinen eigenen schlechten Geruch. Durch die Tür rief er
nach seinem Frühstück. Das Licht im Flur schien eigenartig zu flackern, als sei es von einem vibrierenden Schleier umgeben. Er hatte kaum das Essen verdaut, als einige Offiziere eintraten. Der Mann, der ihn verhört hatte, war nicht dabei, und er kannte auch keinen der anderen. »Wachwechsel«, sagte Alf mißmutig. Einer von ihnen trug Sterne und sah erschöpft aus. »Ich bin Joe Sutton, Dr. Dean. Wissenschaftlicher Verbindungsoffizier. Ich bedaure die rücksichtslose Behandlung, die wir Ihnen während der letzten Tage angedeihen lassen mußten. Wie fühlen Sie sich?« »Ich bin mißtrauisch, General.« Einige lachten mitfühlend. »Ich will meinen Neffen sprechen.« »Natürlich wollen Sie das. Wir werden in Kürze einen Besuch arrangieren. Machen Sie sich keine Sorgen; er ist in guten Händen.« »Mit einem Schlauch im Hals und einem Tropf am Arm?« In Suttons braungebranntem Gesicht malte sich Entsetzen. »Mein Gott, nein. Hat man Ihnen denn nichts erzählt? Ihm geht es gut. Sie sind derjenige, um den wir uns Sorgen gemacht haben, Alf. Ich darf Sie doch Alf nennen?« »Sie können mich auch Jackie nennen, wenn es Ihnen lieber ist. Aber lassen Sie mich aus diesem verdammten Gefängnis raus.« »Oh.« Der General schien verwirrt. »Ich dachte, Sie hießen – « »Ja, ich heiße Alf, verdammt noch mal! Warum hält man mich hier fest?« »Ganz einfach, Alf, weil Ihnen ein ganz besonderes Ding gelungen ist. Es ist, als seien Sie ohne Überprüfung und ohne jede Vorwarnung mitten in das Manhattan-Projekt hineingeplatzt.« Sutton grinste anerkennend. »Dafür haben wir Ihnen zu danken, obwohl Victor hier sich unserem Dank
möglicherweise nicht anschließt«, fügte er gewollt jovial hinzu. »Seit Ihrer Ankunft im Gewölbe glauben drei seiner besten Physiker statt an Marx nur noch an Wunder.« »Nicht einmal meine drei schlechtesten Physiker«, widersprach der weißhaarige Mann am Fußende des Bettes, »verlieren wegen Marx auch nur eine Minute Schlaf. Und was Wunder anbetrifft, verwechseln Sie mich mit General Sawyer.« Suttons gute Laune war dahin. »General Sawyers religiöse Überzeugungen sind wirklich nicht unsere Sache, Victor.« Der Russe zuckte die Achseln. Zu Alf sagte er: »Guten Morgen, Doktor. Mein Name ist Fedorenko. Sie sind tatsächlich in meine Abteilung eingebrochen wie der Fuchs in den Hühnerstall.« Er ließ den stämmigen Burschen, der neben ihm stand, vortreten. »Und dies ist Captain Hubert Lapp vom Shuttle-Team der NASA. Hugh und ich möchten gern einige Fragen an Sie richten, wenn Sie sich frisch genug fühlen, uns behilflich zu sein.« Kühl sah Alf erst den einen und dann den anderen an. »Ihr namenloser Kollege besitzt schon ein ganzes Tonband mit meinen Antworten. Ich selbst aber habe den Leuten nicht die geringste Information entlocken können. Sollten wir nicht zuerst den Saldo ausgleichen?« Sutton nahm sich ein Glas frischen Orangensaft von dem Tablett neben Alfs Bett. »Gewiß. Wir könnten mit dem Tor beginnen – mit der Vorrichtung, die Sie in der Tanamiwüste gefunden haben. Sie wissen inzwischen wahrscheinlich selbst, daß sie nicht von Menschen gebaut worden sein kann.« Alf spürte, wie im wahrsten Sinne des Wortes ein Ruck durch seinen Körper ging. Intellektuell war er zu dem gleichen Schluß gelangt; emotionell jedoch hatte er diese Erkenntnis geleugnet und sich über seine blühende Phantasie lustig gemacht. Daß ein Mann des Establishments wie Sutton dieser
Hypothese ebenfalls anhing, war allerdings überraschend, vom physikalischen Standpunkt aus sogar erschreckend. Alf ließ sich in die Kissen zurücksinken. »Oh, mein Gott. Und ich bin direkt hineingelaufen. Ich habe Maus allein gelassen und bin einfach hindurchgegangen.« »Ich kann Ihnen versichern, Dr. Dean«, sagte Fedorenko besorgt, »daß dem Jungen nichts passiert ist. Er hat uns sogar geholfen, Sie aus dem Gewölbe herauszuholen. Sie haben alle Ursache, stolz auf ihn zu sein. Und dankbar.« Er schwieg eine Weile und sagte dann: »Wenn es ihm nicht gelungen wäre, Ihnen ärztliche Hilfe zu besorgen, wären Sie jetzt tot.« Jetzt war es wieder da: Fetzen eines Alptraums, Fragmente des Irrsinns. Der schreiende Schmerz, das Brennen in den Lungen, das erstickte Atmen, die Schritte in das seltsame Licht hinauf, der Sturz, der endlose Sturz, die züngelnden Flammen, die zu einem klaren, kalten Bild zusammenfließen, das Einssein mit der Unendlichkeit, Milliarden Stimmen, die in tausend Sprachen miteinander reden, die Drachen – Alf schloß die Augen und lehnte sich auf gegen diese Erinnerungen. So konnte es nicht geschehen sein. Er hatte seinen Körper nicht verlassen… Zitternd fragte er: »Und was ist mit mir passiert?« »Das Gerät hat Sie durch den Raum transportiert«, sagte Fedorenko. »Es hat Sie, ohne daß auch nur eine Sekunde vergangen wäre, sechshundert Kilometer weit an einen Ort getragen, den wir das Gewölbe nennen.« Plötzlich paßten eine Menge Dinge zusammen. Im Zentrum des Musters war ein leerer Fleck, aber der allgemeine Rahmen stimmte. Jetzt wußte Alf Dean, wo er war. Die politischen Gerüchte stimmten. Es gab eine geheime Militärbasis in Zentralaustralien. Er stieß die Luft aus. »Ich verstehe. Sie kennen dieses Gerät also schon seit Jahren.«
»Nur das Gewölbe«, korrigierte ihn Sutton. »Nicht das für Teleportation bestimmte Tor, jedenfalls nicht, bevor Sie und das Kind hindurchgelangten.« »Sind Sie denn in der Höhle gewesen?« »Wir hielten uns an Ihre Anweisungen«, sagte Lapp. Grinsend sprach der Astronaut weiter: »Vielleicht freut es Sie zu erfahren, daß wir Ihren Land Rover mitgebracht haben. Wir haben ihn in eine Schlinge gehängt und mit dem Hubschrauber hergeflogen.« Diese Nachricht war auf absurde Weise erfreulich. Alf lachte laut. »Wunderbar. Ich habe immer darauf geschworen, daß das Biest fliegen kann, wenn man es nur richtig behandelt.« Er trompetete in sein Taschentuch und betrachtete seine Besucher nun mit ein wenig mehr Herzlichkeit. »Vielleicht können Sie Ihre Monteure bitten, sich den Kühler anzusehen. Er hat ein Loch, und das ist voll gekochter Eier.« »Das haben wir schon gemerkt«, sagte Lapp. »Köstlich. Da fällt mir ein, hat jemand Hunger?« »Captain, denken Sie jemals an etwas anderes als an Ihren Bauch?« Sutton schüttelte verzweifelt den Kopf. Alf brannte darauf, Fragen zu stellen. »Warum hat das Ding versucht, mich umzubringen?« »Eine automatische Sperrvorrichtung«, sagte Fedorenko ernst. »Es liebt keine Besucher.« »Aber es hat Maus nicht verletzt?« »Genau. Den Grund dafür kennen wir nicht. Vielleicht hat das Gerät erkannt, daß er keine aktive Bedrohung darstellte.« »Sie wollen also in das Gewölbe eindringen«, sagte Alf, »und das Ding läßt Sie nicht hinein?« »So ist es.« »Und vom Eingang in der Tanamiwüste aus ist es Ihnen gelungen, diese Abschirmung kurzzuschließen.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte der General bedauernd. »Ihre Erfahrungen zeigen, daß die Sperrzone sich ganz bis zum Tor selbst erstreckt. Außerdem ist die Frage akademisch. Das Tor ist tot.« »Was? Wie können Sie dann wissen, daß Maus und ich tatsächlich – « »Einer unserer Tests scheint das Tor außer Funktion gesetzt zu haben«, erklärte ihm Hugh Lapp. Er verneigte sich höhnisch vor Fedorenko. »Der Professor hat es mit seiner Strahlenkanone erschossen.« Der Russe zuckte die Achseln, aber auch er war traurig. »Eine bedauerliche Nebenwirkung unserer Sicherheitsvorkehrungen. Wir konnten uns keinen weiteren Fehler erlauben.« »Moment«, sagte Alf energisch. »Sie weichen mir schon wieder aus. Strahlenkanone?« »Huberts Studentenhumor«, bemerkte Fedorenko ohne Groll. »Sie müssen nämlich wissen, daß das Gewölbe kein elektromagnetisches Feld in seiner Nähe toleriert. Dann entstehen entsetzliche Phänomene. Sie können froh sein, Alf, daß Sie ihre Taschenlampe nicht in die Sperrzone des Gewölbes mitgenommen haben.« »Von der Zone her kam Licht genug. Die Lampe blieb bei Maus.« »Er hat sie wahrscheinlich fallen lassen, als er Ihnen durch das Tor folgte. Wir unterliegen bei unseren Untersuchungen einem gewaltigen Handikap. Wir sind gezwungen, primitive Instrumente und Methoden anzuwenden.« »Ich verstehe.« Alf wurde sarkastisch, um sich von seinen entsetzlichen Erinnerungen und den damit verbundenen Schuldgefühlen abzulenken. »Wie diese veralteten, vorelektronischen Strahlenkanonen.«
Fedorenko ließ den Kopf sinken. »Der Vorteil eines Laserstrahls, Dr. Dean, ist, daß er bei der richtigen Frequenz eine große Reichweite hat. Das Instrument muß nicht in die Nähe der Gefahrenzone gebracht werden. Als wir das von Ihnen aktivierte Tor fanden, sprach es noch auf die Anwesenheit von Menschen an.« Ein Bild blitzte in Alfs Gedanken auf: ein riesiger, kastenähnlicher, von grellweißem Licht erfüllter Raum und in seiner Mitte eine überdimensionale Kugel. Diese PseudoErinnerung verschwand sofort wieder, wie eine Neonleuchte verlischt. »Das Ei der Schlange«, murmelte er. »Wie bitte?« Aber das Bild war weg, verwoben mit den Fetzen eines Alptraums. »Nichts«, sagte Alf. »Ich habe grauenhafte Halluzinationen gehabt. Ich habe gerade – « Lapp sah ihn interessiert an. »Ich möchte Sie darüber befragen, Alf. Wissen Sie noch Einzelheiten?« Das Blut pulsierte unter seiner schwarzen Haut, und sein Gesicht glühte. »Einige. Nichts von Bedeutung. Der Mist, der in jedem Alptraum vorkommt.« Er schaute zu dem russischen Physiker hinüber. »Sie erwähnten Laser.« Lapp nickte fast unmerklich. Sofort setzte der Wissenschaftler seinen Vortrag fort. »Wir wollten feststellen, ob das Tor noch auf das Gewölbe abgestimmt war. Geometrische Zwänge hinderten uns daran, die Stufen zu inspizieren, ohne jemand in die Sperrzone zu schicken, und das gelang uns nicht. Alf, Sie sind der erste Erwachsene, der die Zone verlassen konnte, ohne daß sein Verstand Schaden genommen hätte. Es wäre ebenso sinnlos gewesen, jemanden durch das Tor zu schicken, denn er hätte nicht zurückkommen können, wie wir ja festgestellt hatten. Ich beschloß also, in der Höhle Spiegel aufzustellen, um einen optischen Laserimpuls
gegen die Decke des Gewölbes richten zu können. Dort würde er von der Stelle aus, zu der wir Zugang hatten, sichtbar sein.« »Sie haben also einen Strahl in den Tunnel geschickt? Dann durch das Tor in einem Winkel parallel zu den Stufen?« »Ganz recht.« »Und dieser Laserstrahl hat das Tor ausgeschaltet?« »Das Tor hat sich selbst ausgeschaltet. Das ist meine Vermutung. Glücklicherweise war der Strahl tatsächlich einige Mikrosekunden lang sichtbar. Als er durch das Tor ging, blitzte er gleichzeitig an der Decke auf. Diese Entfernung macht in vierdimensionaler Raumzeit sechshundert Kilometer aus. Hätten wir den Strahl direkt durch den Raum geschickt, hätte eine solche Reise eine fünfhundertstel Sekunde gedauert.« »Das wäre Lichtgeschwindigkeit«, sagte Alf mürrisch. »Richtig. Unsere kalibrierten Instrumente zeigten, daß der Abstand in einer nicht meßbaren Zeit, also sofort bewältigt wurde.« »Sie können Ihren Arsch darauf verwetten, daß Victor sich gefreut hat«, sagte der Astronaut. »Er ist nämlich der amtierende Champion in Schneller-als-Licht-Physik. Der Tachyonen-Zar.« Wieder fügte sich etwas ins Bild. Natürlich. Von Fedorenko hatte er im vergangenen Jahr gehört. Er galt als heißer Favorit für den Nobelpreis. »Leider«, sagte Sutton mit einem verärgerten Blick auf den Russen, »kam uns diese Information teuer zu stehen. Das Tor schaltete sich aus und blieb ausgeschaltet. Wir sind wieder auf Null.« Kein Wunder, daß das Tor die Schwarzen in Angst und Schrecken versetzt hatte, dachte Alf. Es war tödlich. Lebhaft erinnerte er sich an die Warnzeichen an den Tunnelwänden, die alten Verbotszeichen der Eingeborenen. Ein Dutzend
Fragen drängte sich ihm auf. Warum hatten die außerirdischen Ingenieure ihr Ausgangstor am Ende eines natürlichen Tunnels errichtet, der sich mitten in einer der unwirtlichsten Wüsten der Welt durch einen Hügel schlängelte? War ihnen dieser Ort vielleicht durch irgendein geometrisches Gesetz des vierdimensionalen Raums auferlegt worden? Gab es womöglich doch authentische »Kraftzentren«, aus denen sich eine fortgeschrittenere Wissenschaft ein Bild machen könnte? Oder ging er von falschen Voraussetzungen aus? Selbst Berge bewegen sich, werfen sich auf, unterliegen der Erosion, wenn man ihnen nur genügend Zeit läßt. »Haben Sie das Alter des Gewölbes ermittelt?« fragte er ängstlich und ahnungsvoll. »Das des Gewölbes nicht.« Fedorenko schürzte die Lippen. »Aber wir wissen ungefähr, wie alt das Tor ist. Wir haben eine ganze Reihe von Mineralproben entnommen. Radiologische Untersuchungen ergeben für die bearbeiteten Flächen im Tunnel ein Alter von etwa sechzig Millionen Jahren. Ja, Alf, als ich den Bericht las, hatte ich die gleichen Empfindungen wie Sie. Es ist einfach unvorstellbar. Und dabei handelt es sich noch um eine sehr vorsichtige Schätzung.« Alle Gewißheiten, die Alf in seinem Berufsleben erlangt hatte, schienen ins Wanken zu geraten. Mein Gott! dachte er. Dabei hatte ich meine Hypothese über das dort lagernde Fossil eines Rhätosaurus schon für abenteuerlich und kaum glaubhaft gehalten. Und in Wirklichkeit war die Regenbogenschlange eine Maschine. Mein Gott! Eine Maschine, die gebaut wurde, als dieses ausgedörrte Herzland Australiens noch ein heißer, dampfender Sumpf war, in dem die Dinosaurier, die ich suche, in den brackigen Wassern wie gefräßige Tanks ihre Nahrung suchten. Sein Puls hatte sich beschleunigt. Sein Herz hämmerte gegen seinen gequälten Brustkorb und trieb das Blut in schmerzhaften Stößen durch Kehle, Handgelenke und Lenden.
Er schloß die Augen. Einen fürchterlichen Augenblick lang dachte er, daß er wieder im Begriff war, seinen Körper zu verlassen, sich aus seinem armen Fleisch zu lösen, um in einer blauen Lichtsphäre über ihnen allen zu schweben. »Die Tanamihöhle ist vielleicht nicht die einzige«, sagte er verzweifelt, »die durch Tore mit Ihrem Gewölbe verbunden ist. Haben Sie daran schon einmal gedacht?« Lapp lachte. »Hütet euch vor dem Bermudadreieck«, intonierte er mit Grabesstimme. Ernüchtert sagte er dann: »Heh, was ist los mit Ihnen? Vielleicht hat es Ihnen für heute gereicht.« »Es gibt einen Ort, der von den Mischlingen die zerstörte Stadt genannt wird«, sagte Alf. Bei seiner langsamen, verbissenen Sprechweise verlangsamte sich auch sein Puls. »Burruinju. Die Malanugga-nugga lebten früher in der Gegend. Was von ihnen übrigblieb, wurde inzwischen von anderen Stämmen aufgesogen. Es waren blutrünstige Kerle. Sie waren berüchtigt dafür, daß sie die Frauen der Nachbarstämme raubten. Wir waren nicht alle tapfere und edle Wilde.« Er entblößte die Zähne. »Eine schreckliche Gegend; ich bin einmal durchgefahren. Schlimmer als die Tanami und schlimmer als die Simpsonwüste. Nur scharfkantige Felsen, Granit und Steilhänge, und der Wind heult dort wie ein Rudel wilder Tiere. Ich könnte mir denken, daß Sie dort ein weiteres Tor finden.« Er schluckte hart. »Es gibt schriftliche Berichte. Lichter. Unglaublich hell. Überall auf der ganzen verdammten Felsenebene blitzen sie immer wieder auf. Von den Sternen abgesehen, herrscht dort sonst nachts schwärzeste Dunkelheit. Als ausgebildeter Anthropologe mit dem Examen einer Universität der Weißen habe ich das alles natürlich als Aberglauben abgetan.«
»Elektrisches Licht«, sagte Sutton ohne Zögern. »Mineralsuchtrupps.« »Unmöglich«, sagte Alf müde. »Die Berichte datieren zu weit zurück. Und ich habe mit einem Mann gesprochen, der sie gesehen hat. Phillip Waipuldanya. Er fuhr damals einen Krankenwagen und ist ausgebildeter Mechaniker. Außerdem ist er Jäger und in der traditionellen Jagdweise geübt. Einen besseren Beobachter können Sie sich nicht wünschen. Er hat sich vor Angst in die Hose gemacht.« »Es hätte schlimmer kommen können.« Lapp sah Alf aufmerksam an und zog auch dessen Blick auf sich. »Die Angst hätte ihn aus seinem Körper treiben können«, sagte er. Alf spürte, wie sich sein Herz verkrampfte, sekundenlang stockte und dann weiterschlug. »Was?« Er grub die Fingernägel in seine Handflächen. »Was?« Der Astronaut setzte sich auf den Bettrand und berührte leicht seinen Arm. »Ich weiß«, sagte Lapp. »Es ist mir auch passiert.« Ohne es direkt auszusprechen, hatten sie die Kluft überbrückt. Der Gedanke, daß Lapp lügen könnte oder etwas anderes meinte, schien unhaltbar. »Sind Sie denn auch darin gewesen?« »Nicht im Gewölbe. Es war etwas Ähnliches in kleinerem Maßstab. Wir haben in Rußland und in den Staaten Forscherteams damit beauftragt, die Abwehrfelder des Gewölbes zu kopieren. An diesen Arbeiten war ich beteiligt, und ich freue mich wirklich nicht darauf, sie wiederaufzunehmen.« »Es kann nicht geschehen sein.« Wild starrte Alf sein Gegenüber an. »Eine Halluzination.« »Es ist geschehen«, sagte Lapp. »Vielleicht ist es eine Halluzination. Das behauptet auch Harris Lowenthal, unser
psychologischer Chefberater. Ich glaube, ich habe Neuigkeiten für ihn. Es war Wirklichkeit.« »Wir haben unsere Körper verlassen.« »Jedenfalls hat es sich so angefühlt.« »DelFord«, sagte Alf leise. »Was?« »Verdammt, Sie haben es doch gehört«, knurrte der Anthropologe böse. »Wir haben unsere Körper verlassen. Das kann ich nicht glauben.« »Ja«, sagte Lapp. »Und was haben Sie anschließend gesagt?« Alf sah ihn nur an. »Ich habe überhaupt nichts gesagt.« »Sie erwähnten delFord. William delFord? Soll das heißen, daß Sie sich schon mit AKE-Literatur beschäftigt haben? Ein recht seltsamer Zufall.« »Wovon, zum Teufel, reden Sie? Ich kenne keinen delFord. Und was, verdammt, heißt AKE?« Aus der Ecke des Raums ließ sich General Sutton vernehmen. »Außerkörperliche Erfahrung«, fauchte er. »Irgendeine verrückte Randerscheinung. Okkulte PseudoWissenschaft. Captain Lapp, da liegen Sie nicht richtig. Dr. Lowenthal hat diese Halluzinationen ausreichend erklärt.« Lapp blieb beharrlich. »Mich haben seine Erklärungen nicht befriedigt, Joe. Und ich bin im Gluonenfeld gewesen. Ich weiß, was für ein Gefühl das ist. Ich glaube, daß Alf Deans Erlebnis meine Ansichten bestätigt. Und falls delFord immer noch über AKE arbeitet, sollten wir ihn hinzuziehen. Bei Gott, eine bessere Wahl könnten wir nicht treffen. Ich habe seine Huxley-Berichte gelesen. Er ist der einzige aus der ganzen AKE-Gilde, der einem die Sache verständlich machen kann.« »Schlagen Sie im Ernst vor, daß wir uns an Bill delFord wenden? Hugh, Sie schockieren mich. Der Mann ist ein… ein Anarchist!« »Von wem reden wir eigentlich?« fragte Fedorenko.
»Von einem verrückten Westküstler, der der Wissenschaft enorme Impulse hätte geben können«, sagte Sutton in einem Ton, als fühle er sich persönlich beleidigt. »Wir haben kurze Zeit zusammengearbeitet. Er ist von England herübergekommen – äh, in die Staaten meine ich –, und zwar Anfang der sechziger Jahre. Zusammen mit Spezialisten aus dem Verteidigungsministerium hat er sehr gute Arbeit auf dem Gebiet der Psychophysik geleistet.« »Tatsächlich? Als Anarchist?« fragte der Russe mit einem Anflug von Spott. »Das war später. Er geriet unter die Hippies. Vorher hatte er eine Amerikanerin geheiratet und einen Lehrauftrag an der Universität bekommen. Dann verschwand er mit allerhand psychedelischem Unfug im Kopf. Heute leitet er ein Institut in Kalifornien. Ich glaube in Big Sur. Und dort wimmelt es von lauter langhaarigen Typen, die vor der grausamen Welt davonlaufen. Das Ganze macht mich krank.« Erstaunt wandte sich Fedorenko an Alf. »Woher kennen Sie denn delFord?« Gewichtig fügte er hinzu: »Vielleicht die Anthropologie der Hippies?« »Warum fragen mich das alle?« rief Alf wütend. »Ich habe nie im Leben von dem Kerl gehört!« »Aber Sie haben seinen Namen erwähnt.« »Sie sind verrückt. Dies ist ein Irrenhaus.« Mit plötzlicher Entschlossenheit wandte sich Hugh Lapp an Sutton: »Ich werde genau das tun, Joe. Ich denke, delFord könnte diesem Projekt von außen her genau die Impulse geben, die es braucht. Den englischen Touch, der alles in Bewegung hält.« Er konnte bei dem Gedanken ein Stöhnen nicht unterdrücken, aber dann fuhr er in ernstem Ton fort: »Halten Sie es nicht für bemerkenswert, daß Dr. Dean delFords Namen ins Gespräch gebracht hat – und daß sein Kurzzeitgedächtnis in diesem Zusammenhang sofort wieder blockiert war?«
»Durchaus nicht. Sie erwähnten Halluzinationen, während derer er glaubte, sich von seinem Körper gelöst zu haben. Anschließend hat er sich an den Namen einer selbsternannten Autorität auf diesem Gebiet erinnert.« Alf widersprach energisch. »Aber ich habe nie von dem Mann gehört oder gelesen – « »Ich glaube für heute haben wir Dr. Dean genug zugemutet. Ich bin erstaunt, daß die Mediziner uns noch nicht rausgejagt haben.« »Das liegt an Ihrer barbarischen Reputation, General. Die Leute zittern vor Angst.« »Vor mir?« Sutton hob die Brauen. »Vor mir müssen sich nur Scharlatane fürchten.« Er drehte sich zu Alf um. »Meine besten Wünsche für Ihre Genesung, Dr. Dean. Ich fliege heute nacht in die Staaten zurück und werde Sie wahrscheinlich nicht mehr sehen. Sie werden es allerdings ertragen müssen, daß diese beiden hier sich noch eine Weile mit Ihnen beschäftigen.« Er öffnete die Tür. Als auch die anderen gegangen waren, knirschte Alf wütend und hilflos mit den Zähnen. Wenigstens hatte er keine Kopfschmerzen mehr. Er kam sich wie ein Invalide vor und fühlte sich entsetzlich schwach. Die Tür öffnete sich wieder. »Noch eins, Alf«, sagte Hugh Lapp. »Ich wollte es Ihnen schon vorher sagen. Wir werden veranlassen, daß Sie noch heute mit Maus zusammentreffen.« »Danke. Ich verstehe nicht, warum das so lange hinausgezögert wurde.« Der Captain trat in sein Blickfeld. »Der Junge hat sich eigenartig verhalten. Aber kein Grund zur Besorgnis. Er ist ein netter Junge; ich war gelegentlich bei ihm. Es ist tragisch.« »So?« Alf gab sich bewußt unempfindlich. »Zum Glück ist er folgsam«, fügte er hinzu. »Ich kann ihn zu Felduntersuchungen
mitnehmen, ohne daß er wegläuft. Jedenfalls konnte ich es bis vor kurzem.« »Beruhigen Sie sich, alter Junge. Gegen ein Teleportationssystem konnten Sie wirklich keine Vorsichtsmaßnahmen treffen.« »Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen.« Alf wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nach einer Weile sagte er: »Er ist ein guter Junge. Er nimmt an einem von der MonashUniversität entwickelten Programm zur Behebung von Antriebsschwäche teil, aber die Leute meinen, daß es gut für ihn ist, wenn ich ihn gelegentlich auf meine Ausflüge mitnehme.« »Lowenthal hat eine unspezifische Gehirnfunktionsstörung diagnostiziert«, sagte Lapp trocken. »Genauso nannte es Dr. Fish. Wunderbar, nicht wahr? Damit ist das Problem des Jungen exakt beschrieben.« Alf seufzte leise. »Seine Mutter Eleanor war das letzte der eingeborenen Blumenkinder. Weihrauch und Indianerkleider und derlei mystische Effekthaschereien. Alles sehr toll und dazu die gemischten Kommunen. Und LSD. Als sie von irgendeinem unbekannten Langhaarigen geschwängert wurde, schluckte sie schon tausend Mikrogramm täglich. Empfängnisverhütende Pillen hielt die dumme Kuh selbstverständlich für unnatürlich. Die gleichen Mengen LSD nahm sie dann regelmäßig, bis sie nach fünf Monaten endlich merkte, daß es kein Babyspeck war.« »Mein Gott. Da haben wir wieder den guten alten Doktor Leary.« »Durch ihren Blutkreislauf nahm auch Maus die Säure auf. Seit seiner Geburt ist er ständig auf dem Trip. Manchmal völlig durcheinander, total niedergeschlagen oder geistesabwesend – und was es da sonst noch so alles gibt. Sie
glaubte, er würde der neue Messias sein. Meine weiße Schwester.« Die Bettdecke hatte sich verschoben und war herabgeglitten. Der Schwarze betrachtete seine schweißglänzende Brust. Die wulstigen Narben der Schnitte gaben seinem Brustkorb das Aussehen eines barbarischen Schildes. Sie nehmen die Kinder und schlitzen ihre Leiber mit rostigen alten Rasierklingen auf, ging es Alf durch den Kopf. Er war der Welt seiner Gene und der seiner angenommenen Kultur gleichermaßen entfremdet. Natürlich sind die Rasierklingen gegenüber den früher verwendeten glühenden Eisen ein technischer Fortschritt. Dann reiben sie trockenen Sand und Asche in die Wunden, damit die Entzündung nicht zu rasch abklingt und damit hübsch aufgeschwollene Narben entstehen. Solche Vorstellungen von Schönheit und Männlichkeit hat mein Volk, dachte er. Er merkte nicht, daß der Astronaut das Zimmer verließ, und er hörte nicht, wie sich die Tür leise schloß. Er war allein mit seiner Verwirrung und seinem Elend.
Zwei
Der Bauch des Wals
4. Kalifornien
Unten in den weißgefleckten Wellen des Pazifik hing, vom Schaum zerfressen, eine verrostete Autokarosserie in den Felsen wie eine ausgeweidete Schildkröte. Bill delFord lehnte sich mit seinem schon recht beachtlichen Bauch gegen die vorspringende Eschenholzbrüstung des Instituts, und es kam ihm so vor, als fegte der Wind aus dreihundert Metern Tiefe die Spritzer herauf und ihm ins Gesicht. Es hatte aufgehört zu regnen, aber noch peitschte der Sturm die See vor Big Sur. Ich werde auf meine alten Tage immer verschrobener, dachte delFord. Wie eine Bandverzögerung beim Playback ging ihm diese Überlegung immer wieder durch den Kopf. Sie kam ganz unerwartet und schockierte ihn mit ihrer Pseudo-Objektivität. Mein Gott, so alt bin ich nun auch wieder nicht, sagte er sich. Aber es war schon dreißig Jahre her, daß er auf dem Rücksitz eines geliehenen alten Morris Oxford seinem ersten Mädchen den Slip ausgezogen hatte. Bei der Erinnerung daran mußte er lachen. Das hätte ihn fast sein Abschlußexamen in Histologie gekostet. Aber was konnte schon mit diesem feuchten, einladenden Ding konkurrieren? Ganz gewiß nicht die nephritische Tatsache, daß die parietale Schicht der Bowmanschen Kapsel, in die der Glomerulus eingeführt wird, sich im glomerulen Epithel fortsetzt. Er ging auf den zerzausten Rasen und bückte sich ein paarmal kräftig, wobei er mit den Händen seine Sandalen berührte. Das Ganze war von lautem Schnaufen begleitet. Wie immer, versetzte ihn diese kurze Gymnastik in äußerst gute Stimmung. Fast gelang es ihm, sich auf General Suttons Besuch zu freuen.
»Zur Hölle mit dem Pentagon«, brummte er, »und mit seiner gesamten Mannschaft.« Aus dem Rufgerät in seiner Brusttasche ertönte wie im Wechselgesang ein langgezogener Furz. Er kicherte fröhlich und ging durch das feuchte Gras zu dem A-förmig angelegten Gebäude oben am Steilhang zurück. Das Gerät war ein hinterhältiges Geschenk von Benedict, seinem Fünfzehnjährigen. In einem flachen Gehäuse verbarg sich eine Art akustischer Kastenteufel, ein Labyrinth kompakter Unanständigkeit und Lebensfreude, darauf programmiert, anmaßende Würdenträger in peinliche Verlegenheit zu bringen. Zum ersten Mal war es mitten in einem festlichen Kammerkonzert in Monterey in Aktion getreten; eine Matrone von den Töchtern der Amerikanischen Revolution hatte höchst befriedigendes Entsetzen gezeigt, als das Trompeten einer brünstigen Elefantenkuh ertönte, und war ganz entgeistert zurückgefahren, während Bill in schallendes Gelächter ausbrach. Er hatte den unverschämten Bengel natürlich gescholten, aber ihm gefiel das Gerät, und er hatte es behalten. Der Tag hellte sich auf, und die Wassertropfen in einem zwischen den Farnen gewebten Spinnennetz glitzerten wunderschön in der Sonne. Ein großer Behördenwagen parkte vor dem Eingang aus Glas und Kupfer, und der Fahrer war hinter dem Steuer eingeschlafen. Bill delFord kannte diese Typen. Bei dem bloßen Anblick eines Mannes in Uniform würde der Fahrer die Schultern hochreißen und sich zu einem hellwachen Gesichtsausdruck zwingen. Wie wunderbar, dachte Bill, so in ein System von bekannten und vorhersehbaren Zwängen eingebunden zu sein. Wie erbärmlich. Ein goldener Lichtfleck fiel ihm ins Auge. Die Sonne strahlte auf die Bronzetafel über dem Haupteingang. Der eingravierte Text war ihm seit fünf Jahren vertraut, und er widmete ihm keine Aufmerksamkeit; aber der strenge Kritiker in ihm
registrierte diese abgestumpfte Gleichgültigkeit, diese nur an Nützlichkeit orientierte Einstellung. Er blieb stehen, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete die Tafel. Wir sind Schlafwandler, dachte er. Das Zitat stammte von Laura Archera Huxley, der Witwe des visionären Eklektikers: Für den, der keine wissenschaftlichen Kenntnisse hat, ist es leicht, unorthodoxe Methoden zu akzeptieren. Aber für Gelehrte, was immer ihr Fachgebiet sei, ist es sehr schwer, ein Ergebnis zu akzeptieren, das völlig von dem abweicht, was sie nach fahren des Studiums und der Arbeit formuliert haben. Wie wahr. Und so hatte Aldous sich die Verachtung der Ebenbürtigen und den Beifall der Dummköpfe verdient. Und doch empfand delFord die darin enthaltene Ermahnung als erfrischend. Er fragte sich, ob vor einigen Minuten auch Sutton hier stehengeblieben war, um die Tafel zu lesen, und er konnte sich sein leichtes Naserümpfen gut vorstellen. Sie brauchen uns, dachte er, aber sie müssen sich nicht unbedingt darüber freuen. Pfeifend betrat er das Foyer. Erica wies mit dem Kinn zum Anbau hinüber, in dem sich der Empfangsraum befand, und schnitt eine Grimasse. Ohne ein Wort grinste Bill zurück. Ein paar philosophische Gegensätze flankierten die Tür zum Anbau. Rechts hing sein schöner Rothko, klar und durchsichtig. Ein Lichtschleier hing darüber, der sich zu den Rändern hin trübte. Der Blick durchdrang die Fläche bis in die Unendlichkeit. Der Geist sah sich zum Schweben ermutigt. Links hing ein neueres Werk von Mark Boyle: flach und körnig zeigte das Bild narbiges altes Mauerwerk in den verfaulten Docks von Liverpool, wo er seine Jugend verbracht hatte. Ein Geschenk von Anne. Das Gemälde verband zwei Ebenen miteinander, die vertikale Wand aus dunklen, rötlichen Ziegeln und horizontal eine schmale Gasse aus der Zeit vor der
großen Asphaltierung; in jeder Beziehung ein klares Bild von Alltagselend. Die in der Größe vergleichbaren Gemälde standen in scharfem Kontrast zueinander, bis das Herz den Verstand erkennen ließ, daß eins das andere ergänzte. Janine empfing ihn mit einem Steingutbecher voll starkem Kaffee, und er verbrannte sich die Finger daran. Er reichte dem General die Rechte. »Guten Morgen, Gentlemen. Sie sehen außerordentlich gesund aus, Joe. Wie geht es Barbara und den Mädchen?« »Ausgezeichnet, Bill. Im vergangenen Monat kam wieder ein Enkel zur Welt. Und Selma?« »Joe, Sie sollten diesen ganzen militärischen Unfug fahren lassen und hierher an die Küste ziehen. Seit wir hier sind, hat sich Selmas Gesundheitszustand enorm verbessert.« Er schlürfte von seinem Kaffee. »Ich nehme an, Sie haben wieder irgendein gewaltiges Ding auf Lager, das wir für Sie testen sollen.« Der General gönnte Janine einen kurzen Blick. »Bill, ich glaube Sie kennen diese beiden Burschen noch nicht.« Der eine war ein ernster rotblonder Mann in einem dunklen Anzug mit Krawatte. »Lennox Harrington von Cal Tech. Lenny arbeitet schon lange zusammen mit Cline und Rubbia an Weinbergs Vereinheitlichung schwach nuklearer und elektromagnetischer Wechselwirkungen.« Der andere war ein junger Air Force Captain, ein stämmiger, beweglicher Typ, der gewiß mehr Verstand hatte, als man auf den ersten Blick vermuten konnte. »Dr. delFord. Captain Hugh Lapp. Hugh ist Astronaut und wurde auch für das Shuttle-Programm ausgebildet. Fünf Monate lang hat er in Lillys Team die Verformung des Erkenntnisvermögens im Isoliertank studiert.« DelFord führte sie zu einer Gruppe von Ledersesseln. »Natürlich«, sagte er. »Ich erinnere mich, Ihren Namen in einigen Abschlußberichten gelesen zu haben. Sie müssen älter
sein, als Sie aussehen. Wahrscheinlich hat das Soldatenleben doch einige Vorteile. Sie können mich Bill nennen. Wir reden uns hier alle beim Vornamen an. Janine, flitzen Sie raus und sorgen Sie dafür, daß die Jungs sich fertigmachen. Rufen Sie mich dann an.« Sie verschwand und schloß leise die Tür. Harrington wirkte plötzlich viel gelöster, obwohl er immer noch die Muskeln spannte. Wie kann ein Mann nur so verkrampft sein, dachte Bill. Seine Muskelstarre mußte eine ganz spezifische Ursache haben. Es handelte sich nicht nur um eine allgemeine cerebrotonische Blockade. »Wie Sie schon vermuten«, sagte Sutton, »haben wir ein direktes Interesse an ihrer Arbeit über außerkörperliche Erfahrungen. Ich kann Ihnen leider nicht alle Einzelheiten erklären, aber Lennox und eine ganze Anzahl seiner Kollegen haben während der letzten Monate einen seltsamen Effekt untersucht, über den Ihre eigenen Experimente etwas aussagen könnten.« Er beugte sich vor und legte die Hände ineinander. »Ich lasse in diesem Augenblick für Sie einiges Gerät installieren. Hugh wird zu Ihrem Team abkommandiert. Klären Sie diese Angelegenheit für uns, Bill. Das ist im Interesse der nationalen Sicherheit dringend erforderlich.« DelFord sah ihn amüsiert an. »Ich will nicht hoffen, daß Sie verrückt geworden sind, Joe, aber ich darf Sie an den Sicherheitsstatus unseres fröhlichen kleinen Teams erinnern. Alistair Jerison – « » – ist ordentliches Mitglied der trotzkistischen Vereinigung Wissenschaft für die Befreiung des Volkes. Dr. Alice Langer ist Sprecherin der Sappho. Und der Rest von euch ist ein Haufen linksliberaler, verrückter intellektueller Banditen. Ich weiß.« Sutton war wütend, aber er verbarg diese Regung hinter der freundlichen Miene in seinem künstlich gebräunten Gesicht. Aber die Sache machte ihm wirklich kein Vergnügen.
»Sie haben mein Wort, Bill. Die üblichen Kriterien sind außer Kraft gesetzt. J. Edgar rotiert in seinem Plutoniumsarg.« »Scheiße«, sagte delFord. »Sie haben also endlich etwas gefunden, das wichtiger ist als das ›nationale Interessen‹. Ich nehme an, daß die Russen mit von der Partie sind?« »Die Sache, mit der wir zu tun haben«, sagte der Physiker, »läßt das Koppelungsmanöver auf der Umlaufbahn geradezu als Picknick erscheinen.« Ganz kurz zog sich Bills Magen zusammen. Du interessierst dich nicht für außerkörperliche Erfahrungen, dachte er, und wenn die Welt untergeht. Ein leises Summen ertönte. DelFord stand auf und stellte seinen Becher neben die brodelnde Kaffeemaschine. »Okay, Jungs«, sagte er zu den anderen. »Ich werde Sie mit meinem Team bekannt machen. Aber ich möchte Sie warnen – in Ihren Sicherheitsberichten bezeichnen Sie uns vielleicht als Banditen, aber dann glauben Sie es bitte auch. Wir haben unsere eigenen Methoden entwickelt, und Sie sind beim Pentagon wahrscheinlich andere gewohnt.« Er hielt die Tür auf, und Harrington folgte dem General nach draußen. »Oder auch im Gemeinschaftsraum des Cal Tech.« Der Astronaut blieb ein wenig zurück und betrachtete einen freistehenden Basalt, eine aztekische Darstellung des Ehacatl Quetzalcoatl in der Maske des Windgottes. »Sie haben ein interessantes Dekor, Bill.« Er zeigte auf die Wandmalerei mit verschlungenen islamischen geometrischen Motiven, auf die schmale Reihe Mikroprozessoren und auf die fleischigen Zimmerpflanzen. »Ja.« Bill delFord ging neben Lapp den Korridor entlang. »Eigentlich bekamen wir diesen Laden nur aus Versehen, und seitdem pfuschen wir hier herum. Die OPEC ist daran schuld. Da war dieser junge Scheich, Hosein el-Bagir Shah, der in den frühen sechziger Jahren in die Staaten kam, um die Feinheiten der Petrotechnik kennenzulernen und gleichzeitig an der
Harvard Business School fortgeschrittene Spitzfindigkeiten zu studieren. Er war ein frommer Moslem und sehr an der Hippiekultur interessiert. Ich glaube, sein Vater hat in der schlechten alten Zeit noch Aldous gekannt; jedenfalls investierte der Junge ein paar Millionen, die er übrig hatte, in diese Anlage. Er hatte dabei die etwas verworrene Idee, den Sufismus mit hoher Technologie in Einklang zu bringen. Kurz nach der Gründung des Instituts schnellten die Ölpreise hoch, und Hosein wurde wieder vernünftig. Ich höre, es geht ihm ausgezeichnet.« »Und Sie?« »Ich war zur rechten Zeit am rechten Ort. Das Ganze war als gemeinnützige Stiftung vorgesehen, und es fließt immer noch Geld für die Instandhaltung und diverse andere Ausgaben. Das meiste Geld bekommen wir für Forschungsaufträge der NASA und von einigen größeren Stiftungen.« Sie betraten einen mittelgroßen Raum, in dem sich unter weichem gelbem Licht einige Gestalten räkelten. An der einen Wand hingen schwere Vorhänge, die das Tageslicht abhielten. DelFord streckte sich auf einer Matte aus und deutete einladend auf den Fußboden, während seine Besucher erstaunt stehenblieben. Sutton setzte sich rasch und achtete dabei auf seine Bügelfalten. Nach einigem Zögern setzten sich die anderen auf eine große flauschige Matratze. Lapp lehnte sich mit seinen breiten Schultern gegen die Wand. Der Physiker beugte sich vor und zeigte seine behaarten Waden. »Guten Morgen, Leute. Wie Sie wissen, haben diese Gentlemen ein Interesse an unserer Arbeit über AKE bekundet. Ich weiß im Augenblick nicht mehr als Sie, aber wir können mit Sicherheit annehmen, daß der General etwas Heißes auf Lager hat – wie zum Beispiel ein Gerät zur Früherkennung eines aufkeimenden Maoismus anhand der radikalen
Absorptionslinien im aurischen Spektrum.« Aus einer Ecke kam ein Kichern. Rasch stellte delFord die Besucher vor. »Sie brauche ich den Gentlemen wohl nicht vorzustellen. Ich bin sicher, daß unsere Freunde hier manche glückliche Minute mit dem Studium unserer Akten verbracht haben.« Tony Freestone bewegte seine massige Gestalt und stützte sich auf die Ellbogen. »Ist die Sache denn so wichtig?« »Sie ist es.« Sutton unterdrückte seine Gereiztheit. »Ladies and Gentlemen, ich möchte Ihnen gern persönlich und auch im Namen meiner Kollegen sagen, daß wir uns freuen, Sie kennenzulernen. Was Bill so unverblümt zum Ausdruck gebracht hat, stimmt, aber ich hoffe, Sie finden nichts dabei. Es entspricht der normalen Routine, die einer Besprechung dieser Art vorausgeht.« »Natürlich nicht«, sagte Alice Langer. »Ewiger Voyeurismus ist der Preis der Freiheit.« Lennox Harrington knackte hörbar mit den Knöcheln. Er sah Alice scharf an und sagte, ohne die Lippen zu bewegen: »In diesem Augenblick installieren Techniker der Armee in Ihrem psychophysischen Zentrallaboratorium gewisse Geräte. Draußen ist eine Wagenladung Soldaten. Sie haben MaserÜberwachungsgeräte, zwei Unterschallgeneratoren zur Verursachung von Übelkeit und Brechreiz und ein Maschinengewehr. Das Gerät, das die Techniker im Labor installieren, hält eine nukleare Explosion von einer Gigatonne bei Bodennullpunkt aus. Vielleicht begreifen Sie jetzt, daß äußerste Vorsicht geboten ist.« Alle waren still, und Bill delFord wartete darauf, daß Sutton an die Decke gehen würde. Sofort sagte er sich: Sei kein Narr. Sie haben das Ding hergebracht, damit wir es untersuchen. Kann es da nicht gleichgültig sein, wer uns darüber Vortrag hält? Aber er wußte auch, daß Harringtons Ausbruch ein böser Schnitzer gewesen war. Die Anspannung muß enorm gewesen
sein, dachte er. Er atmete tief durch und merkte, daß er zitterte. Die ganze Tragweite der Angelegenheit begann ihm bewußt zu werden. Delwyn Schauble, Spezialistin für Bio-Feedback fing an zu lachen. »Und das erzählen Sie ausgerechnet uns?« fragte sie quiekend. »Wir sind nicht die ersten«, sagte Bill zu ihr. »Die Sowjetunion hat es auch.« Das Geplapper fing an; wie bei Kindern auf dem Spielplatz. »Dann gibt es keine Abschreckung mehr.« »Das Theorem der Nichtweiterverbreitung an N-Länder – « »Möglichkeiten für Reaktorterrorismus – « »Der arme, alte Teller. Da hat er nun die ganzen Jahre – « »Und was, zum Teufel«, drang Alistair Jerisons dröhnende Stimme durch den Lärm, »hat ein antinuklearer Schild mit Astralprojektion zu tun?« »Wir brauchen hier ein wenig mehr Zurückhaltung«, bellte Sutton. Er erntete unfreundliche Blicke, aber es trat Stille ein. »Die Arbeit Ihres Instituts an AKE könnte mit gewissen Nebenprodukten dieses Prozesses in einem kritischen Zusammenhang stehen. Bevor wir uns mit Einzelheiten beschäftigen, muß Dr. Harrington allerdings kurz umreißen, wie das Feld funktioniert. Lennox?« Mißmutig sagte der Physiker: »Ich kann nicht gerade behaupten, daß dieses Forum mir zusagt. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß die sogenannten ›paranormalen‹ Phänomene, mit denen Sie Ihre Zeit verschwenden, nichts als irreführende – « Er schwieg und leckte sich die Lippen. »Allerdings könnten Ihre Arbeiten im Zusammenhang mit Reizentzug und Reizüberflutung zur Lösung unserer dringendsten Probleme beitragen. Haben Sie einen Bildprojektor?« Er wurde an den Computer-Terminal geführt und schrieb rasch eine Reihe von Gleichungen; sie wurden auf
den großen Wandschirm projiziert. Nach dreißig Sekunden unverständlicher nichtvektorieller Analyse unterbrach Bill ihn. »Es tut mir leid, Lennox, aber da kann ich Ihnen nicht folgen. Könnten Sie uns die Annäherungswerte für die wichtigsten Daten nicht im Klartext geben? Meine Mathematikkenntnisse enden bei der Differentialrechnung im zweiten Semester.« Lewis Carrols Wunderland, dachte Bill. Er tut es nur, weil er weiß, daß sich die andern ärgern. Aber das war wahrscheinlich unfair. Lennox Harrington drückte sich zweifellos wesentlich komplizierter aus, wenn er bei den Dummköpfen vom militärischen Geheimdienst Vortrag hielt. Der Mann war einfach das überlegene Verständnis und rasche Parieren seiner Fachkollegen gewohnt. Selbst dieser ungeordnete Haufen vermittelte ausreichend die Atmosphäre eines wissenschaftlichen Symposions, um ihn zu intellektuellen Höhenflügen zu veranlassen. »Ich nehme an, Sie sind alle mit den Grundzügen der Quarkeingrenzungstheorie vertraut«, sagte der Physiker ungeduldig. Er sprach das Wort so aus, daß es sich eher auf Kork als auf Mark reimte. »Die meisten subatomaren Partikel gehören zu der als Hadronen bekannten Klasse. Diese wiederum setzen sich aus sechs verschiedenen Arten von Quarks zusammen, die sich paarweise in drei Generationen einteilen lassen und sich hinsichtlich ihrer Masse und anderer Quantenwerte unterscheiden. Trotz eifriger Bemühungen ist es noch nie gelungen, die Quarkbauteile von Baryonen und Mesonen zu befreien, obwohl man sie zum Beispiel in Protonen jederzeit als Punktquelle beobachten kann. Bis vor kurzem gab es verschiedene konkurrierende Theorien, Politzer und Bjorken führten diese Eingrenzung auf ›infrarote Versklavung‹ zurück. Sie behaupteten, daß die intrahadronischen Bindungskräfte, die als Austauschteilchen, als sogenannte Gluonen, begriffen werden können, dem Gesetz
der Reziprozität nicht unterliegen. Ich selbst habe die Hadronen als fließende Ketten betrachtet, die die Impulse und Energien der Teilchen tragen, während die Quarks an ihren Enden die zusätzlichen Eigenschaften bestimmen.« »Mein Gott«, sagte Freestone, »das ist ja eine Tasche!« Harrington nickte heftig, aber er war verärgert. »Kenneth Johnson vom M.I.T. ist der Ansicht, daß die Quarks buchstäblich in Gluonentaschen gefangengehalten werden. Schickt man Energie hinein, die klassische Methode, Teilchen in ihre Bestandteile aufzuspalten, wird die Tasche lediglich ausgedehnt. Die Energie wird in Masse umgewandelt. Später hat Yoichiro Nambu aufgezeigt, daß Ketten tatsächlich verlängerte Gluonentaschen sind.« »Sie haben eine Tasche ohne Boden konstruiert«, sagte delFord, der Freestones Intuition weitergedacht hatte. »Ganz gleich, wieviel Strahlungsenergie man hineinschickt, es verstärkt nur die Struktur. Wo liegt denn die, äh, die Elastizitätsgrenze?« »Es gibt keine.« Harrington schaltete den Schirm aus und setzte sich vorsichtig hin. »Was Sie sagen stimmt nicht ganz. Es entstehen auch Quarks, die in Taschen von Hadronengröße zurückgehalten werden. An der Grenzebene des Feldes entsteht Helium, das sich genauso schnell auflöst wie es entsteht. Unter anhaltendem nuklearem oder Laserbeschuß entwickelt sich natürlich eine Hülle aus Fusionsplasma, die zerfällt, sobald der Beschuß aufhört.« »Mein Gott«, sagte Berys Marshall. Ihr gütiges Großmuttergesicht wurde ganz blaß. »Ihr Jungs habt euch aber Mühe gegeben.« DelFord schaute zur Decke. Seine Gedanken überschlugen sich. »Über Städten und landwirtschaftlich genutzten Flächen werden Generatoren installiert, die solche Taschen erzeugen«,
sagte er. »Die mit Infrarot arbeitenden normalen Überwachungssatelliten registrieren einen möglichen Start von Interkontinentalraketen. Und schon wird der Schild errichtet. Selbst bei einem blinden Alarm kann nichts passieren… es sei denn, das Taschenfeld verletzt die Leute, die sich darin befinden. Und das tut es natürlich.« Er richtete sich auf und sah Sutton an. »Unter der Gluonenabschirmung geschieht irgend etwas mit den Leuten. Etwas Unerträgliches. Und Sie wollen, daß wir feststellen, um was es sich dabei handelt.« Er lachte ungläubig. »Ein veränderter Bewußtseinszustand. Kein Wunder, daß Sie zu uns gekommen sind, Joe. Wir sind zu ersetzen, und wir sind Experten in der absichtlichen Herbeiführung geistiger Störungen. Eine recht günstige Kombination.« »Das ist nicht wahr«, sagte der Astronaut scharf. »Ihnen wird anheimgestellt, sich freiwillig zu melden, wie ich es getan habe. Die Regierung der Vereinigten Staaten würde niemals – « »Oh, wir werden uns schon freiwillig melden, Hugh«, sagte Delwyn Schauble leise. »Sie wissen, daß wir uns eine solche Chance nicht entgehen lassen können. Völlige Ausschließung der elektromagnetischen Geräusche der Umgebung. Das ist es doch, Dr. Harrington?« »Totale Abriegelung«, sagte er. »Nichts dringt ein, und nichts dringt nach außen – einschließlich Schwerewellen.« »Ein Flug durch den Raum?« »Nein.« Harrington zog unbewußt die Lippen hoch. »Einsteins Äquivalenz wurde inzwischen widerlegt. Unsere geschützten Städte werden nicht durch den Raum davonfliegen; der Trägheits…« »Aber was passiert den Menschen dabei?« fragte Bill den General. Absolute Stille im Raum.
»Bei den vorangegangenen Tierversuchen wurden keinerlei Auswirkungen festgestellt, weder schädliche noch vorteilhafte«, sagte Sutton. »Experimente mit Meeresorganismen wie Ährenfischen, Seewürmern und Austern, die auf die Mondperiodizität reagieren, ergaben eine zeitlich begrenzte Verwirrung im Lebenszyklus. Ausführliche Berichte werden Ihnen zur Verfügung – « »Was passiert den Menschen?« fragte delFord noch einmal. »Angst. Hysterie. Die Wahnvorstellung, sie hätten ihre Körper verlassen. Mystische Trance. In einigen Fällen«, sagte er brutal, und als wolle er es ihnen heimzahlen, »werden sie auch verrückt.« »Ich verstehe.« Bill schloß die Augen und senkte den Kopf auf seine gefalteten Hände. »Außerkörperliche Erfahrungen.« »Ja.« Der General stand auf und reckte die Beine. »Betrachten Sie sich meinetwegen als Versuchskaninchen, wenn Sie wollen, und wenn es Ihrer verdammten paranoiden Einstellung entgegenkommt, aber es ist nun einmal eine Tatsache, daß ihr verrückten Hunde eher Experten für diesen Scheißdreck seid als jeder andere, den wir finden konnten und der nicht gerade hinter Schloß und Riegel sitzt. Ich habe Ihren letzten Bericht gelesen, Bill. Ich habe ihn zweimal sehr sorgfältig gelesen, und ich sage Ihnen, daß ich sehr bestürzt war. Sie alle hier im Raum – mein Gott, ich kenne doch Ihren Werdegang. Sie hätten nützliche Arbeit tun und bedeutende Beiträge leisten können. Aber wie dem auch sei. Meine Vorgesetzten wünschen, daß Sie sich an der Sache versuchen. Irgend jemandem muß es gelingen, die Dinge zu klären.« Jetzt schien er tatsächlich von starken und ein wenig wirren Emotionen gepackt. »Gewiß, Joe«, sagte delFord und hatte zum ersten Mal Mitleid mit dem Mann. Er richtete sich höher auf und sah von einem zum anderen. »Ich habe eine Idee, die ich an euch
ausprobieren möchte, Leute. Romantische gegen klassische Wissenschaft.« »Sehr gut«, sagte Tony sofort. Anne Hawthorne, die britische Psychologin, sah Bill scharf an. Sie rollte sich herum und zog den Sari über ihre braunen Knie. »Ich dachte, wir seien über solche binären, gegensätzlichen Beispiele hinweg, Bill. Selbst Freud wandte das Dreiwegesystem an, und er mußte ständig neue Parameter setzen. Und Lennox hier braucht sechs Quarks für seine Elemente.« Tony Freestone schüttelte seinen kantigen Kopf. »Der Verstand kann sich der Tendenz nicht erwehren, alles paarweise zusammenzufassen. Vielleicht liegt es an der bilateralen Asymmetrie des Gehirns. Wenn man das weiterdenkt, gibt es keinen Grund, die Dimensionen als Endpunkte einer kontinuierlichen Größe zu betrachten. Vielleicht sind sie rechtwinklig.« »Diese Unterscheidung ist nicht neu«, sagte Alice Langer lebhaft. Sie hatte ein enzyklopädisches Wissen und neigte deshalb zur Pedanterie. »Selbst noch im neunzehnten Jahrhundert gab es eine geachtete Tradition ›romantischer‹ Chemie. Charles C. Gillespie hat das erörtert, und zwar im Zusammenhang mit den jakobinischen – « »Es ist nur ein Gedanke, Alice. Ich beanspruche keinen Preis für Originalität. Ich dachte an folgendes: Die Klassik bedeutet immer auch die Herrschaft wohlgeordneter Regeln und Einheiten, das Vorwiegen schöner Allgemeinheiten und einer als Kette verstandenen Kausalität. Die Romantik dagegen ist natürlich die Bestätigung – « Suttons Wut steigerte sich. »Wovon, zum Teufel, reden Sie?« fauchte er. »Das ist ja völlig verrückt.« Er sah auf die Uhr. »Wahrscheinlich sind die Techniker inzwischen mit ihrer
Arbeit fertig. Ich schlage vor, daß wir diesen lustigen Kaffeeklatsch abbrechen und uns an die Arbeit machen.« Zum ersten Mal war Bill wirklich wütend auf den Mann. »Joe, halten Sie den Mund. Wenn Sie hier sind und wir uns mit heuristischer Reziprozität beschäftigen, können Sie Ihren Beitrag leisten oder gehen.« Ehrlich verdutzt sagte Sutton: »Wir haben keine Zeit für Philosophie.« »General, in Bethesda haben wir ähnliche Techniken praktiziert«, sagte Lapp. »Abbau begrifflicher Barrieren. Laterale Untersuchungen – « »Solche Methoden sind taktisch«, erklärte Anne. Sie sah den Astronauten interessiert an. »Unsere ist strategisch.« Die Spannung und die Feindseligkeit wichen. Als hätte es keine Unterbrechung gegeben, sagte Alistair Jerison: »Die romantisch-klassische Zweiteilung entstand aus einem spezifischen dialektischen Zusammenhang. Die Romantik war ein letzter, verzweifelter Versuch unzufriedener Intellektueller, die eingebildeten Freiheiten der Feudalzeit wiederzuerlangen.« »Unsinn«, sagte der Physiker von Cal Tech zur Überraschung aller. »Wenn Sie sich Thomas Kuhns Ansichten zu eigen machen, können Sie die normale wissenschaftliche Forschungsarbeit als den klassischen Beschränkungen unterworfen betrachten. Dann entsteht die Romantik folgerichtig aus dem Zerfall verbrauchter Paradigmen.« »Höfische Liebe«, rief Anne. »Die zum Scheitern verurteilte Suche nach einem Objekt, das von seiner Definition her unerreichbar ist. Aber gilt das nicht für alle Wissenschaft?« Sie sah von einem zum andern. »Unsere Experimente unterliegen heute allerdings keinen Beschränkungen mehr. Es gibt Ungewißheit hinsichtlich der Quanten, kybernetische Zufallsauswahl, Gödels Beweis. Unser höfisches Werben bleibt im wesentlichen unbefriedigt.«
»Okay«, gab Alistair zögernd zu. »Aber auf jeden Fall wird aus geordneten Daten nur dann Wissen im authentischen Sinn, wenn es zum aktiven Kampf um die Befreiung der Menschheit in vernünftige Beziehung gesetzt werden kann.« Sutton stöhnte auf. »Die romantische Ideologie hat Intellektuelle in die Isolierung gezwungen. Die klassische Kultur war repressiv, gewiß, aber sie blieb sozial. Die romantische Rebellion war eher dekadent, als daß sie zur Befreiung beitrug, und zwar weil sie den gesellschaftlichen Zusammenhang leugnete.« Bill delFord hob den Kopf. »Joe, gingen Ihre Probanden einzeln oder in Gruppen unter den Schild?« Die Augen des Generals flackerten nervös. »Einzeln natürlich. Das übliche Verfahren. Es setzt das Risiko für das Personal auf ein Minimum herab. Es verringert die zu berücksichtigenden Variablen – « »Das habe ich mir gedacht. Die gute alte positivistische Labortechnik.« Bill stand auf und öffnete die schalldichte Tür. »Okay, Leute, das war’s für heute morgen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Seine Leute standen auf und verließen den Raum. DelFord nahm Anne Hawthornes sonnengebräunten Arm und hielt sie fest. »Ich möchte gern, daß Hugh, Sie und ich gemeinsam unter das Feld gehen. Machen Sie mit?« »In Ordnung.« Die Frau wirkte leicht nervös, aber sie lächelte, als sie zu dem Astronauten hinübersah, der in der Nähe wartete. »Ich nehme an, das Feld ist groß genug für drei Leute«, sagte Bill zu Harrington. »Gewiß«, sagte der Physiker, der sich über das plötzliche Tempo wunderte. »Es handelt sich um ein vier Meter hohes, abgeflachtes Sphäroid, und der Generator befindet sich an einem der Brennpunkte. Wir wollten vermeiden, daß der jeweilige Proband eine Klaustrophobie entwickelt.«
»Ich entwickele Klaustrophobie«, sagte der General gereizt, »und Sie schrauben den Deckel ständig fester. Wären Sie sehr gekränkt, wenn ich Sie um eine Erklärung bitte?« »Drei sind besser als einer«, sagte delFord. »Bill, das ist keine Arbeitshypothese; das ist ein Schuß ins Blaue. Man sperrt nicht drei Leute mit Gedächtnisschwund zusammen ein, damit sie schneller gesund werden.« »Woher wissen Sie das?« »Ich habe Leute mit Frontneurose umherstolpern sehen.« »Und verpassen die Psychiater denen Einzelhaft?« »Hmm. Ja, wenn sie gewalttätig werden – was oft der Fall ist.« »Das ist keine Therapie; das dient nur der Sicherheit des Personals. Im übrigen ist in Ihren Berichten von Gewalttätigkeit als Nebenwirkung keine Rede. Ich glaube jetzt vielmehr, daß Alistair den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Ihre Untersuchungsmethoden haben den gesellschaftlichen Zusammenhang zerstört, den Ihre Probanden brauchten, um bei gesundem Verstand zu bleiben. Zwischen uns allen besteht eine tiefgreifende Bindung, auch als Organismen. Das Feld trennt diese Bindung, und der einzelne verblutet sozusagen.« Sutton schnaufte verächtlich. »Jung. Lilly. Ich habe mein Pensum gelesen, Bill, und in der ganzen mystischen Trickkiste gibt es keine einzige Definition einer praktischen Anwendung. Nichts, was getestet werden könnte. Nichts, das auf den Tisch zu legen und zu messen wäre.« »Den Test kriegen Sie von uns, Joe. Und wenn ich mich irre«, sagte er mit einem Grinsen, das keinen der Anwesenden überzeugte, »können Sie uns mit einer Schleife verziert in die nächste Klapsmühle schicken.« Auf dem Weg zum Haupteingang, steckte delFord den Kopf ins Büro und sprach kurz mit Janine. Dann traten sie in die kühle Mittagsluft hinaus. Hinter ihnen donnerten die Wellen
gegen den riesigen Steilhang. Sie überquerten den Parkplatz, verließen den Asphalt und erreichten über einen sanften, grasbewachsenen Abhang die obligatorischen geodätischen Kuppeln, die halb verborgen hinter Bäumen und Büschen lagen. Ein Vogel zwitscherte, schwirrte aus dem Blattgewirr davon und stieg zum grauen Himmel auf. Ein großes gepanzertes Fahrzeug stand vor einer der schwarzen Kuppeln und hob sich häßlich von den sechseckigen Solarzellen des Gebäudes ab. Auf seinem Dach rotierte ein Maserspiegel. Sutton winkte einen Soldaten heran und sprach leise mit ihm. Mit einer knappen Handbewegung scheuchte er die anderen zum Eingang. Gegen jede Erwartung hatten die Armeetechniker das Gerät offensichtlich ohne Schwierigkeiten installiert und im Echoraum bereits getestet. Zwischen den eilig aus dem Weg geräumten Instrumenten wirkte das Gluonenfeld wie ein phantastisches Spielzeug. Wie ein großer gewölbter Spiegel, eine seltsame Quecksilberkugel, ruhte es ohne Verzerrung durch den Druck der Schwerkraft unter dem Gewölbe der Fuller-Kuppel. Bill betrachtete die Anlage und war beeindruckt. Er erwartete, daß sie jeden Augenblick aus ihrer labilen Position wegrollte, um in Myriaden von kleineren, hell glänzenden Kugeln auseinanderzufallen. Plötzlich war sie verschwunden, und an ihre Stelle trat eine zusammengeschraubte skelettartige Stahlkonstruktion, ein eiförmiges Drahtgeflecht, mit einem glatten, mattschimmernden Kasten im Brennpunkt. »Es wird durch eine Quarzkristalluhr aktiviert und aufgelöst«, erklärte Lennox Harrington. »Wir können es natürlich nicht von außen steuern, während wir Energie in das Gluonenfeld schicken. Unser Standardtest dauert fünf Minuten. Das können Sie nach Belieben ändern – und von innen das
Programm unterbrechen, wenn die Belastung unerträglich wird.« Sutton mußte Bill von dem Käfig wegzerren, um die gründliche Besprechung abzuhalten, auf die er sich zusammen mit Hugh Lapp und dem Physiker vorbereitet hatte. Die Frau und die vier Männer saßen auf Hockern um einen wackligen Tisch herum und beschäftigten sich eingehend mit den Dokumenten und Berichten über vorangegangene Experimente. Periodisch bewegten sich die Schatten, wenn der Spiegel sich einschaltete und nach fünf Minuten wieder erlosch. Nach neunzig Minuten lehnte Anne sich vom Tisch zurück, reckte sich und sagte: »Ich habe einen Bärenhunger. Wir könnten doch vielleicht ein paar Sandwiches bekommen?« »Nicht zu empfehlen«, sagte Hugh. »Wem sagen Sie das?« Sie verzog das Gesicht. »Aber was Besseres hat dieser Laden nicht zu bieten.« »Ich war nur einmal in dem Ding, und da habe ich gekotzt«, erklärte der Astronaut. Anne nickte. »Sie müssen denselben Lebensmittellieferanten haben.« Seufzend fragte sie delFord: »Das gilt wohl auch für Einläufe?« »Wahrscheinlich. Und zehn Minuten Yoga bevor wir uns die Decke über den Kopf ziehen.« Er sah den Captain an und verzog ironisch die Mundwinkel. »Aufregende Tests machen wir immer nackt, Hugh. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus.« »Ich werde meinen Kummer zu ertragen wissen.« Er bewegte seine muskulösen Schultern und sah Anne nachdenklich an. Sie grinste. Dann nahm sie die Tasche mit dem Klistier und verschwand im Bad. Minuten später hörte man, wie sie sich in aller Ruhe
übergab. Hugh blieb an der Tür zur Herrentoilette stehen und hob die Brauen. »Ist sie wirklich so nervös?« »Nein. Ich werde gleich dasselbe tun. Es ist eine Kombination aus gesundem Menschenverstand und der Reichschen Entspannungstherapie. Sich zu entleeren ist eine Vorsichtsmaßnahme, die unsere eigenen Erfahrungen uns nahelegen. Aber wenn Sie nicht wissen, wie man das macht, würde ich es Ihnen nicht raten – es ist ein wenig anstrengend.« DelFord kam nackt heraus und streifte am Käfig angekommen die Sandalen ab. Während sie sich besprachen, hatten die Techniker drei Geschirre aus Aluminium, Plastik und Schaumstoff im Gerät installiert. Anne hatte mit geschlossenen Augen und tief atmend schon im mittleren Platz genommen. Bill ließ sich neben ihr nieder und drückte ihr die Hand. Sie ist wirklich eine sehr attraktive Frau, dachte er. Wie, zum Teufel, schafft sie es, so braun zu bleiben? Ihr hellbraunes langes Haar hatte sie sorgfältig zu einem Knoten gebunden. Er wußte noch, wie sich dies Haar anfühlte, und einen Augenblick lang war er traurig. Ihre Affäre war kurz und intensiv gewesen. Dann dachte er amüsiert: Heute ist sie scharf auf den braven Captain. Der Mythos der Astronauten. Wie lange mag es wohl dauern, bis sie ihn im Bett hat? Gewiß nicht lange. Hugh ist in der Beziehung bestimmt kein Trottel, oder ich müßte mich sehr irren. Ein wenig unbeholfen in seiner Nacktheit ging Hugh über den Flur. Er trug etwas Metallisches in der Hand. Nachdem er in den Käfig geklettert war und sich hingesetzt hatte, beugte er sich über Anne weg und gab delFord den Gegenstand. »Das Ding habe ich aus Ihrer Hemdtasche genommen. Es hat mich angebellt. Wie ein Pekinese.« »Scheiße, Janine hat einen Anruf für mich. Joe!« schrie er. »Rufen Sie das Hauptgebäude an und sagen Sie meiner Sekretärin, daß wir mitten in einem Test sind? Wenn es Selma
ist, sagen Sie ihr, daß ich mit Bob und Carol im Bett bin.« Er legte das Rufgerät auf den schwarzen Kasten neben seinem Kopf und sagte: »Sind wir so weit?« »Klar.« »Es kann losgehen«, brummte der Astronaut, und seine Stimme klang gepreßt. »Sie haben den Mann gehört«, sagte Bill zu Harrington. Er sah, wie der Physiker eine Reihe von Knöpfen am Zentralgenerator drückte. Eine durchsichtige Hülle schob sich über sie. »Das Feld wird in zwanzig Sekunden aktiviert. Zögern Sie nicht, den Versuch abzubrechen, wenn Sie es nicht mehr aushalten.« Bill delFord existierte nicht mehr. In einem einwärts gekrümmten Bogen blieb ein paar Meter über ihnen das Universum stehen. Flackernd und mit einem schwachen Summen schaltete sich die trübe Innenbeleuchtung ein. Die Instrumente zeigten eine Drehbewegung, Schwerelosigkeit, Beschleunigung an. Ein scharfer Schweißund Uringeruch hing in der Luft. Plötzlich sang ein Chor von männlichen und weiblichen Stimmen blechern und freudig: Hallelujah! Hallelujah! Haleee-luu-uu-jah! Ein Elefant trompetete, und ein Bluthund bellte. Das wütende Heulen einer Feuerwehrsirene erklang. Eine arrogante britische Stimme räusperte sich und sagte: »Da ich es nun einmal nicht gewohnt bin, vor Publikum zu reden.« Das Scharren von Stühlen, als eine Menschenmenge aufstand, eine Symphonie von Registrierkassen, eine schnelle japanische Stimme: »Meine Füße kommen immer näher«, die Wasserspülung einer Toilette und ein feuchter, langgezogener, schlüpfriger Furz. In das ungläubige Schweigen hinein war ein hysterisches, ersticktes Ächzen zu vernehmen.
»Unser Furzer, der du bist im Himmel – « Schauer albernen Gekichers. »Der Furz des Arschartisten.« »Abortrealismus?« Dröhnendes Wiehern wie von besoffenen Deppen. »Red nicht so’n Scheiß.« »Willste mir die Pisse rauslutschen?« »Was für ein Schwachkopf! Die kommt doch von allein gelaufen!« Bill delFord existierte nicht, aber irgendein Schaltschema dachte verzweifelt: Das ist nicht der angemessene Zeitvertreib für einen Philosophen. Wir brauchen – » – Sir Karl Pupser.« »Die offene Gesellschaft und ihre Klistiere.« Ein grelles Gelächter. »Nein. Das ist von Jean-Paul Knatter.« Eine Pause. »Der Existinkialist.« »Sie war die einzige Stallhilfe, und das bei all dem Pferdemist.« »Was für ein Handikack.« »Golf? Das ist nicht athletisch genug. Ich ziehe den SchittPutt vor.« »Die haben doch das K.-o.-Finale nicht geschafft.« »Nein. Das Team wurde rausgepflückt.« Schmerzen in der Brust, im Zwerchfell. »Befrei deinen Geist mit Diarretik.« »Diuretik?« »Scheißologie. Kackomantie. Die Massenbewegung der Zukunft.« »Ein Netz aus Lügen.« »Weg mit der Opposition.« »Unterstützt die Kack-Welt.« »Das klingt nach Fäkismus.«
»Soldaten in Kotstiefeln? Spülen Sie den Staatsrat runter? Errichten sie die Dung-Dynastie? Bist ja närrisch.« Das Kichern kam in krampfartigen, unkontrollierten Wellen. Schließlich beruhigten sie sich, und Körper wanden sich in ihren Geschirren, Hände schlugen gegen schweißschlüpfriges Fleisch und, das Ziel findend, berührten, streichelten. Beine zuckten und spreizten sich. »Lapp mich.« Wieder albernes Gekicher in diesem schwankenden entsetzlichen Nichts, und dann ein lautes, aufdringliches Schlürfgeräusch. Wie eine gewaltige Flut brach das Universum wieder über sie herein, und es war, als wollten ihnen die Köpfe zerplatzen. Bill delFord schrie jämmerlich. Ganz fest hielt er sich dabei die Ohren zu und schlug die Ellbogen gegeneinander. Er fühlte sich emporgetragen; das Leuchten von vielen Seelen, kristallener Glanz, das unerträgliche Durcheinander zahlloser Gespräche; weiße Strahlen umgaben ihn, hoben ihn plötzlich aus seinem Körper heraus, der in der silbrigen Blase unter ihm hing (aber die war schon weg?), zeigten ihn mit schlaffem Mund und sinnlosen Freudentränen unter den Lidern, zeigten, wie er den Arm hob, um die Frau neben sich zu schlagen, die sich umdrehte und einladend die Schenkel spreizte, und sie zeigten ihm den anderen Mann, der in der Schwerelosigkeit versuchte, den Kopf nach unten zu bringen; und all das geschah in einem einzigen Augenblick, es implodierte; entsetzt sank er wieder in seinen Körper zurück; und mit dem Gefühl, etwas verloren zu haben, klammerte er sich an die Sphären endlosen Lichts… Gedemütigt und wie betäubt hob der Astronaut den Kopf und schlug ihn gegen den Drahtrahmen. Anne stöhnte. Sie war tief errötet. Seufzend griff Bill nach oben und nahm das Rufgerät
in die Hand. Mit aller Kraft schleuderte er es zu Boden. Er hatte grauenhafte Magenschmerzen. »Wenn Sie noch Hunger haben«, sagte er, »können wir jetzt essen gehen.« Lapp ignorierte den Spott. Von dem zerstörten Rufgerät richtete er seine Blicke auf delFord, dann auf Anne. »Es tut mir leid«, sagte er. »Seien Sie nicht albern«, erwiderte Anne. Leicht und liebevoll schlug sie gegen seinen Arm und sprang auf den Fußboden. »Hier in Huxley sind wir berühmt dafür, daß wir es hier nicht so genau nehmen.« »Die alte Geschichte«, sagte Bill ausweichend. »Was er meint ist, wir haben uns ein wenig ausgetobt, und das war alles. Aber es war ganz nett.« Sie umarmte Bill freundschaftlich. »Hugh, wie vergleichen sich die subjektiven Auswirkungen mit denen bei Ihren früheren Tests?« Sofort war Lapp wieder völlig sachlich. »Die außerkörperlichen Phänomene waren praktisch die gleichen. Und die schwachsinnigen Wortspiele? Das war völlig neu. Ich bin wirklich erstaunt. Meine Witze sind nicht immer gut, aber Kindergartenhumor hatte ich zuletzt mit vier Jahren. Was, zum Teufel, war das?« Sie achteten nicht auf Harrington, der von einem Bein auf das andere trat und ohne Erfolg versuchte, seine plötzlich irrelevanten technischen Fragen anzubringen. Sutton stand in einiger Entfernung jenseits der Testanlage. Seine offenbare Mißbilligung der Vorgänge hatte ihn isoliert. Bill zitterte und schlüpfte in seine abgetragenen indianischen Sandalen. Die Kuppel war mit Solarenergie beheizt, aber selbst in Kalifornien drang genügend Winterkälte in den Raum. »Nicht Kindergarten Hugh«, sagte er nachdenklich. »Kleine Kinder kennen nicht sehr viele Philosophen beim Namen. Mein Gott. Das ist ja nicht auszuhalten.«
»Ich bin Ihrer Meinung«, sagte Anne. »Das war keine klinische Regression. Ich glaube, das war etwas noch viel Beängstigenderes. Es war, als sei das Gehirn ausgeschaltet gewesen. Nein, das stimmt nicht. Als ob jede bewußte Wahrnehmung blockiert war. Ich hatte das Gefühl, programmiert zu sein. Als ob Daten aus dem Gedächtnis abgerufen und, irgendeiner unterschwelligen kindlichen Routine folgend, nebeneinandergestellt wurden. Und diese Routine wurde durch diesen ordinären Furz aus dem verdammten Rufgerät ausgelöst.« »Ein Computer-Terminal«, überlegte Lapp. »Der ohne wahre Intelligenz mechanisch funktioniert. Jedenfalls ohne reifes Urteilsvermögen.« Er kratzte sich den Kopf, eine seltsam kindliche Geste. »Aber warum sollte eine Abschirmung nach außen die Software des Gehirns durcheinanderbringen… oder die Hardware? Was auch immer.« »Mein Gott, vielleicht hatte ich mit meiner Ahnung recht«, sagte Bill verwundert. »Wir haben Carl Jungs Ansichten bestätigt. Das Gluonenfeld hat uns buchstäblich vom kollektiven Unbewußten abgeschnitten. Es hat uns isoliert. Vom Rest der Menschheit völlig getrennt. Nur wir drei konnten uns noch aneinander festhalten, waren in einer hermetisch abgeschlossenen Blase miteinander verbunden…« Er bemerkte, daß die Techniker um einen guten Platz rangelten. Mit offensichtlicher Begeisterung betrachteten sie Annes nackten Körper. Er schaute an seinem eigenen Bauch entlang, von dem wenig Inspiration ausging. »Ich denke, wir sollten unsere Hosen anziehen«, sagte er leise. »Joe würde verrückt werden, wenn wir ausgerechnet jetzt die Sittenpolizei auf den Hals bekämen.«
5. Kalifornien
Um drei Uhr morgens, zu der Stunde, die von den Männern in langschäftigen Lederstiefeln gern gewählt wird, wenn sie jemand holen wollen, fuhr Bill delFord verschlafen hoch, als hart an die Tür geklopft wurde. Selma atmete nach wie vor ruhig und gleichmäßig. Er lag auf dem Rücken, und das gestaltlose Grauen eines Alptraums verzog sich allmählich. Im Traum tritt eine völlige Erschlaffung derjenigen Muskeln ein, deren Funktion vom Willen gesteuert wird, dachte er verschwommen. Gelegentlich schleicht sich dann ein Gefühl der Lähmung in die Träume. Voll Entsetzen glaubt man, daß man sich nicht bewegen kann, fühlt sich bedroht und erlebt Anfälle von Klaustrophobie. Dieses anfängliche Gefühl kann aber auch die Illusion der Gelöstheit vermitteln, wußte er. Als ob man außerhalb seines irdischen Leibes schwebte… Sein Puls fing an zu rasen, als sich das heftige Klopfen wiederholte. Mein Gott! dachte er. Selma regte sich und murmelte vor sich hin, als er nach der kleinen Digitaluhr neben seinem Bett griff. Sieben Minuten nach drei. Ich bring die Schweine um, dachte er voll Wut. Heiß spürte er das nackte Bein seiner Frau an seinem; über diese Ungleichheit in der nächtlichen Körpertemperatur wunderte er sich immer wieder, und wenn er nachts aufwachte, ärgerte er sich auch manchmal, weil es ihm dann doppelt schwerfiel, wieder einzuschlafen. Er war schon halb aufgestanden, als die Tür sich leise öffnete und sein Sohn Ben hereinschaute. »Für dich, Daddy«, sagte der Junge lakonisch. »Der Mann ließ sich nicht abweisen.«
»Danke, mein Junge«, murmelte Bill. Er warf sich seinen schäbigen alten Morgenrock über, schlurfte aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Ben stand abwartend im Flur. »Geh wieder ins Bett«, sagte delFord. »Ich erzähle es dir morgen früh.« Die Uniform kannte Bill nicht. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen und sah den Störenfried wütend an. »Wissen Sie eigentlich, wie spät – « »Ich bitte um Verzeihung, Dr. delFord«, sagte der Mann, und seine Stimme klang sonor und nicht unangenehm. »General Sutton läßt grüßen. Würden Sie sich bitte so schnell wie möglich anziehen? In Monterey steht ein Hubschrauber, der Sie zur Air Force Base in San Jose bringen wird, wo eine Kuriermaschine der Vereinten Nationen wartet.« DelFords Selbstbeherrschung hing nur noch an einem Faden. »Sagen Sie General Sutton, er kann mich am Arsch – « Ein schwerer Stiefel blockierte die Tür. »Es tut mir leid, Sir, aber meine Anweisungen sind eindeutig. Wir haben keine Zeit für Argumente.« Draußen waren Schritte zu hören, und eine zweite Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf. »Immer mit der Ruhe, Mann. Sie müssen den Doktor nicht unbedingt verärgern.« Der Mann trat in den trüben Schein der Nachtbeleuchtung. Bill erkannte ihn: Bryant Gellner, ein früherer Kollege an der U.C.L.A. mit dem er in den siebziger Jahren zusammengearbeitet hatte. Er trug einen dunklen Anzug und hatte das gewandte Auftreten, das einem Diplomaten bei der UNO ansteht. »Tut mir leid, daß wir Sie wecken mußten, Bill.« Er streckte zur Begrüßung die Hand aus. »Für einen Mann, den man um diese unchristliche Zeit aus dem Schlaf reißt, machen Sie einen guten Eindruck. Ich hing noch am Radiotelefon, sonst hätte ich Ihnen gleich meine Aufwartung gemacht.
Fahrer, warten Sie bitte im Wagen auf uns. Wir halten uns nicht lange auf.« »Bryant, Sie nutzen unsere Bekanntschaft aus«, sagte Bill wenig freundlich. »Ich würde Sie gern zu einem Drink einladen, wenn die Sonne nicht irgendwo über dem Indischen Ozean stünde. Was zum Teufel hat Sutton denn diesmal vor?« »Der General ist zur Zeit in New York, und auch er kriegt keinen Schlaf. Sie sind« – Gellner lächelte – »ihm in der Hinsicht wahrscheinlich sogar vier oder fünf Stunden voraus. Wenn wir nicht an der Tür stehenbleiben müssen, werde ich Ihnen in Ihrem gemütlichen Wohnzimmer alles erklären.« »Ach, Scheiße.« Bill erkannte an der Grenze seines Wahrnehmungsvermögens einen hellen Schimmer, ein unsichtbares Flackern. Deutlich spürte er ein unhörbares Summen. Es wurde lauter, als er an seinem stummen Telefon vorbeiging. In einem plötzlichen Erkenntnisblitz vermutete er, daß es sich um das Summen der elektrischen Geräte und Leitungen im Haus handelte. Irgend etwas reizte sein Nervensystem zu abnorm scharfer Empfindlichkeit. Sein Traum fiel ihm ein. Es war das Gluonenfeld. Die leere Ewigkeit eines unmenschlichen Nichts, die Explosion des Lichts, das Gefühl, sich von seinem Körper zu lösen und davonzuschweben. »Nehmen Sie Platz«, bat er den Diplomaten und zog einen Küchenstuhl heran. »Ich werde Kaffee machen.« »Danke.« Bryant Gellner wurde langsam ungeduldig, aber er war sich darüber klar, daß es am besten war, höflich zu bleiben. »Hoffentlich haben wir Ihre Frau nicht geweckt.« Als er die Milch aus dem Kühlschrank nahm, sah Bill in der Ferne ein violettes Licht wie Meeresleuchten kurz aufblitzen. »Sie hat schon bei Erdbeben geschlafen«, sagte er. »Warum kann die Sache denn nicht warten?«
»Das weiß ich nicht«, sagte der Mann von der UNO. »Aber, um was es sich auch handelt, ich habe das Gefühl, daß auf dem großen Schirm in der Kommandozentrale der Air Force überall Lichter aufblitzen.« Der Nuklearschild, sagte sich Bill. Er schenkte Kaffee ein und war einigermaßen überrascht, daß er so ruhig blieb. Aber er kannte diese Lichterscheinungen seit Jahren und sah auch diesmal keinen Grund, in Schweiß auszubrechen. »Ein Präventivschlag?« »Das will ich gar nicht wissen«, sagte Gellner, aber sein Blick strafte ihn Lügen. »Bei der UNO herrscht eine merkwürdige Unruhe. Alles steht unter Hochspannung, und es geht nicht um den rituellen Abschreckungsrummel. Ich glaube zwar nicht, daß wir den großen Schlag befürchten müssen, aber jemand hat das Kerosin ganz dicht ans Feuer gestellt. Der Vogel, der in San Jose auf Sie wartet, fliegt dreifache Schallgeschwindigkeit. Ich hoffe, daß Ihr Kreislauf in Ordnung ist.« DelFord stand auf. »Brauche ich einen Mantel?« »Am besten wäre ein leichter Anzug.« Der Diplomat lächelte liebenswürdig. »Dort unten ist Sommer.« »Du lieber Himmel.« Bevor er ging, weckte er Selma. »Ein großer silberner Vogel will deinen Willy entführen. Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde. Die verrückten Hunde scheinen es für wichtig zu halten, und das bedeutet, daß ich eine Woche lang mitten in Chile auf dem Arsch sitzen und Däumchen drehen werde. Dann werden sie plötzlich feststellen, daß sie den anderen Bill delFord meinten und mich mit einem Haufen Ansichtskarten, und ohne Erklärung nach Hause schicken. Ich werde dich so schnell wie möglich anrufen.« Er küßte sie, und während er sich über sie beugte, um das Licht auszuschalten, kniff er zärtlich in ihre fetten Hinterbacken. Dann machte er sich
lustlos auf den Weg. Er blieb eine Weile vor Bens Tür stehen. Der Junge war schon wieder eingeschlafen und schnarchte leise. Junge Leute, dachte er und schüttelte den Kopf. Gellner hatte schon vor ihm das Haus verlassen. Bill trat in die kalte Nachtluft hinaus und sah, daß die graue Limousine ein paar Häuser weiter unbeleuchtet parkte. Der Diplomat öffnete eine der hinteren Türen. Eine Scheibe aus Panzerglas trennte den Fahrer von seinen Passagieren. Vermutlich eine Sicherheitsmaßnahme. Als er die Karosserie des Fahrzeugs berührte, trafen seine Finger auf eine leicht seifige Struktur. Er trat zurück und klopfte an das Fenster des Fahrers. »Sie haben einen Kurzschluß von der Batterie aus«, teilte er dem Fahrer mit. »Die Karosserie steht unter Strom.« Der Fahrer sah ihn scharf an und sagte nichts. Achselzuckend stieg Bill zu Gellner in den Wagen. »Das ist ein kompliziertes Überlagerungssignal, Sir«, sagte die Stimme des Soldaten durch ein Gitter in der Trennwand. »Es neutralisiert Wanzen und bringt Maserstrahlen durcheinander, mit denen das Fahrzeug sonst geortet werden könnte.« DelFord sah Gellner an. »Mein Gott«, sagte er, »ist das nicht aufregend?« Der Hubschrauberflug zur Air Force Base trug nichts zur Hebung seiner Stimmung bei. Er haßte diese lärmenden Dinger. Nach dem fast lautlosen Dahingleiten in der Limousine war der vulgäre Hubschrauber in der Stille der Nacht etwas sehr Störendes. Als sie landeten, huschten sie über ganze Reihen ähnlicher Maschinen hinweg, die nur auf die nächste Gelegenheit warteten, den Menschen ihr schmieriges Öl um die Ohren zu spritzen. Ein blau uniformierter Offizier erwartete sie mit finsterer Miene vor einem grauen Betongebäude. Er trug einen
Revolver am Koppel. Gellner reichte ihm einige Dokumente, die der Mann routinemäßig überprüfte. »Guten Morgen, meine Herren. Mr. Gellner, Sie möchten bitte New York anrufen. Gehen Sie bitte gleich durch.« Sie gingen durch einen hell erleuchteten grüngrauen Korridor. Der Ort war mit jeder anderen militärischen Einrichtung, die Bill je gesehen hatte, nahe verwandt; allein der Anblick verursachte bei ihm Übelkeit. Der Diplomat führte sein Gespräch unter einer lichtundurchlässigen und schalldichten Haube. Ein dürrer Zwerg mit einem verdreckten, schiefsitzenden Käppi meldete delFord, daß seine Kuriermaschine aufgetankt und startklar sei. Gellner kam zurück. »Alles in Ordnung. Ich bringe Sie zur Maschine.« In einer kleinen Box im Hintergrund erwartete sie ein knallroter Elektrokarren. Der Zwerg ließ sie einsteigen. Sein Kragen war feucht und hing herab. Trotz des einwandfrei laufenden starken Elektromotors schaffte er es, den Karren zum Schlingern zu bringen. Die fünfhundert Meter bis zu der gewaltigen keilförmigen Düsenmaschine waren ein Erlebnis. Bill mußte grinsen. Obwohl sie über glatten Asphalt fuhren, gelang es dem kleinen Kerl den Eindruck zu vermitteln, daß sie über holperiges Pflaster rumpelten. Unter den Deltaflügeln aus Titan stiegen sie aus, und das rote Fahrzeug wendete im Rückwärtsgang. Wortlos sauste der Zwerg davon, nicht ohne den Karren bocken zu lassen. Sein lautes, verächtliches Rülpsen war durch den kalten Wind nur andeutungsweise zu hören. »Benimmt der sich immer so?« »Soviel ich weiß, ja.« Gellner stand am Fuß der Einstiegsrampe und sah dem kleinen Fahrzeug bewundernd nach. »Es ist seine Art, die Überheblichkeit der Bürokraten und die Eitelkeit der Lieblingssöhne der Nation ein wenig schrumpfen zu lassen. Aber er ist ein lieber alter Kerl. Vor ein
paar Jahren hat er, glaube ich, zwei Saboteure erschossen, als sie versuchten, in der Präsidentenmaschine eine Bombe zu verstecken. Ein paar linksradikale Monteure, wenn man das glauben soll.« Er sah delFord freundlich an und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck. »So ist das also.« Bill grinste ihn an. »Ich werde mich hüten zu desertieren.« Der glatte Rumpf hatte keine Fenster. Im Innern hatten geschickte Techniker einen Konferenztisch aus Mahagoni und Stühle mit gepolsterten Lehnen auf das Deck geschraubt. Hinten waren vor einer Reihe von Fernsehschirmen und einem kleinen Computer-Terminal sechs bequeme verstellbare Sitze angebracht. Zweifellos war hier auch irgendwo eine Bar versteckt. In einem der Sitze saß mit leicht getrübtem Blick aber freundlicher Miene Hugh Lapp, der Astronaut. Sein Kinn zeigte frischen Bartwuchs. Bill sah auf die Uhr. Es war fast fünf Uhr morgens. »Hallo, Captain.« »Seid gegrüßt, weiser Mann.« Der Astronaut zeigte auf den gepolsterten Sitz, der neben ihm stand. »Schnallen Sie sich an. Wir starten in dreißig Sekunden.« Bill sah sich um und riß erstaunt die Augen auf, als sich die Luke schloß und von außen versiegelt wurde. »Nur wir zwei?« Schwer ließ er sich neben Lapp in den Sitz fallen. Auf dem Monitor blinkte ein rotes Warnlicht auf. Das Heulen der Düsen, das, seit er die Maschine bestiegen hatte, stärker geworden war, erreichte jetzt ein kreischendes Crescendo. Ein plötzlicher Druck gegen seinen Körper warf ihn im Sitz zurück. Das Schütteln und Vibrieren hatte aufgehört, und der Druck nahm zu. »Vielleicht macht es Ihnen Spaß, sich dies hier anzusehen«, sagte Lapp reichlich spät und drückte auf einen Knopf. Einer der Bildschirme wurde hell und zeigte das Muster der
Startbahnbeleuchtung, das mit phantastischer Geschwindigkeit senkrecht unter ihnen versank. Irgendwie wirkte das Bild in dieser surrealistischen Umgebung realistischer, als es bei einem direkten Blick durch doppelt verglaste Fenster der Fall gewesen wäre. Vielleicht scheint durch ein Fenster betrachtet nur das real, was wir als selbstverständlich voraussetzen, überlegte Bill. Das Außergewöhnliche erscheint natürlicher, wenn es uns über Instrumente vermittelt wird. Das Fernsehen zeigt uns Kriege und Katastrophen in exotischen Ländern. Es zeigt uns Männer in schwerfälligen Anzügen, die wie Känguruhs auf dem Mond herumhüpfen. Die einzigen aufregenden Dinge, die ich je durch ein Fenster gesehen habe, dachte er amüsiert, waren die dicken Titten meiner großen Schwester, als ich zwölf war. Merkwürdigerweise sagte Lapp in diesem Augenblick: »Es ist nicht dasselbe Bill, nicht wahr? Wir können noch weiter vergrößern« – er drehte an einem Knopf, und die entfernten Lichter verschwammen und dehnten sich dann schwindelerregend aus – »oder auch einen computergesteuerten Infrarotumsetzer verwenden« –, und das Bild leuchtete in einer leicht verfärbten Klarheit auf, und messerscharf hoben sich die Vororte mit ihren Häuserreihen ab – »es ist nicht dasselbe wie mit dem bloßen Auge gesehen. Man hat das Gefühl, als sei alles in einem Studio zusammengesetzt worden.« Zum Glück klang Bills Grunzen neutral genug, so daß es nicht als Widerspruch aufgefaßt wurde, denn sonst hätte der junge Mann gewiß seine Ansicht verteidigt. Dennoch hatte Bill ganz kurz das traurige Gefühl, etwas verloren zu haben, ganz so, als ob sich mit dieser abweichenden Meinung die Kluft zwischen den Generationen bei ihnen vertieft hätte. Komischerweise erinnerte ihn die Situation an die verhaßte Tatsache, daß er in seinen Beziehungen zu Ben keinerlei
gegenseitige Sympathie entdecken konnte. Das wunderbare Gemeinschaftsgefühl, das Vater und Sohn einst verbunden hatte. Er wußte um die Unvermeidbarkeit einer solchen Entwicklung, und er wußte auch, daß andere Empfindungen heranreifen würden, um das frühere unkomplizierte Vertrauen zu ersetzen, aber in Freuds scharfsinnigen Vermutungen lag genug Wahrheit, um die Freundschaftsmythen archaischerer Dynastien ein für allemal zu zerstören. Für einen Augenblick liefen die Fäden seiner Träumerei zu einer fast halluzinatorischen Erinnerung zusammen, und er sah den verlegenen Gesichtsausdruck des Astronauten vor sich, als dieser sich aus Annes brünstiger Umarmung löste. In zwanzigtausend Metern Höhe beendete die Maschine den Steigflug. Diese Daten waren an einer Digitalanzeige abzulesen, die gleichzeitig eine Luftgeschwindigkeit von neunundzwanzighundert angab, was in dieser Höhe etwa Mach 3 bedeutete. Als ein grünes Licht aufblinkte, löste Lapp seinen Sitzgurt. »Bis zu den Turbulenzen in der Nähe des Felsens haben wir gutes Wetter.« »Sie scheinen eine Menge mehr zu wissen als ich«, sagte Bill müde. Meint er den Felsen von Gibraltar? Den haben die Albanier erobert und ins Meer hinausgeschleppt, und nun bedrohen sie nicht nur den Seeverkehr der Freien Welt, sondern auch den zu den kommunistischen Häfen. Die einzige Waffe, gegen die der Antinuklearschild nichts ausrichten kann. Und sie haben es mit den scheußlichsten maoistischen astralen Gedankenprojektionen getan. »Erstreckt sich Ihr Vorauswissen auch auf die genaue Lage der Getränkevorräte? Ich könnte einen Bourbon gebrauchen.« Lapp stand auf, öffnete die Täfelung neben dem Terminal und brachte Bills Bourbon und für sich ein gut zugemessenes Glas Southern Comfort. »Das war ein verrücktes Erlebnis heute morgen. Gestern morgen.«
Bill war überzeugt, daß das sofort eintretende Gefühl der Entspannung auf psychologischer Wirkung beruhte, denn der Alkohol hatte noch keine Zeit gehabt, ins Blut zu gelangen. »Hugh, mir wäre es lieber, wenn wir über unser Reiseziel redeten.« »Gern. Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen. Was Sie erfahren werden, ist in der ganzen Welt weniger als tausend Leuten bekannt. Der Beschluß, diese Einsatzbesprechung zu genehmigen, wurde vom Präsidenten der Vereinigten Staaten und dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ratifiziert.« Lapp war plötzlich nicht mehr der jungenhafte Raumpilot; seine Stimme hatte Befehlston angenommen. »Ich bin ganz Ohr.« »Vor langer Zeit wurde die dritte Mondlandemission zum Hochland von Fra Mauro gestartet. Kommandant der Apollo 13 war Jim Lovell, und Fred Haise sollte die Landefähre übernehmen. Tom Mattingly wurde wegen des Verdachts auf Röteln durch John Swigert ersetzt. Ihm entging eine historische Chance, wenn er es auch noch nicht weiß. Erinnern Sie sich an den Flug?« »Nicht sehr gut. Raumfahrt ist ein ziemlich kostspieliger Unfug, wenn auch die NASA die meisten meiner Vergnügungen finanziert.« Bill schaute auf den Bodenmonitor. Schwach streifte das Licht des anbrechenden Tages die Erde. »Ich wollte Sie natürlich nicht kränken.« »Ich wundere mich sehr, Bill«, sagte der Astronaut mit einiger Schärfe. »Diese engstirnige Reaktion hätte ich von Buchhaltern auf einer Cocktail Party oder Reformköstlern, die an Vitaminmangel leiden, erwartet. Aber ich denke, Sie werden Ihre Ansichten noch ändern. Am 13. April 1970 explodierte in der Versorgungseinheit der Tank Nummer zwei mit flüssigem Sauerstoff. Das
Landeunternehmen mußte abgebrochen werden. Ihre Flugbahn gestattete keine ›Gratisrückkehr‹, und sie mußten sie erheblich korrigieren, um nicht in eine Bahn um die Sonne zu geraten. Die Computer des M.I.T. erstellten sofort das optimale Programm, und Lovell änderte die Flugbahn, damit die Raumkapsel sie um den Mond herum zur Erde zurückbringen konnte. Als sie den Mond umrundeten und keinen Kontakt zum Kontrollzentrum hatten, gerieten ihre Instrumente in helle Aufregung. Sie empfingen Signale aus einem Krater auf der erdabgewandten Seite.« DelFord spürte wie seine Zunge sich vom Whiskey zusammenzog. Er hatte eine abenteuerliche Vermutung. »Intelligente Signale?« fragte er. Aber sofort gewann sein gesunder Verstand die Oberhand. »Eine russische Station. Aber ich dachte, ihre Raumfahrttechnologie – « »Nein, Bill. Auf der Hälfte ihrer Bänder waren die Signale überlagert. Sobald die Raumkapsel aus dem Mondschatten auftauchte, ergriff Lovell vorsichtshalber eine Sicherheitsmaßnahme. Er gab die unbekannten Daten über einen Nachrichtensatelliten auf synchroner Bahn an das Kontrollzentrum weiter. Über Mikrowellen wurde das Signal auf das Vierundsechzig-Meter-Teleskop in Goldstone in Kalifornien gerichtet.« »Glauben Sie wirklich, daß – « »Ja. In den Computern des Verteidigungsministeriums wurden die lunaren Signale analysiert, und sie ließen ohne jeden Zweifel auf eine nichtmenschliche, außerirdische Intelligenz schließen. Die Signale verschlossen sich jeder Deutung, und so blieb es auch während der seitdem vergangenen Jahrzehnte. Die heute beliebteste Hypothese besagt, daß sie so durch Geräusche verzerrt sind, daß wir ihren Sinn nie werden enträtseln können.«
»Wir sind also nicht allein.« DelFord staunte über die plötzlich in ihm aufkommende Freude. Sein Reich war der Innere Raum. Für die Leute, die in ihren Himmelswagen Trost suchten, hatte er nie etwas anderes als Verachtung empfunden. Und doch handelt es sich hier um Intelligenz, sagte er sich. Um einen Intellekt, der anders ist als der menschliche. Den vielleicht ebenso seltsame Leidenschaften bewegen, wie Lilly sie bei Delphinen vermutet. Gespannt lehnte er sich vor. »Sie sagten, das war 1970. Was hat sich denn seitdem ergeben? Kontakte?« Plötzlich klang die ganze Geschichte unecht. »Es hat doch weitere Apollolüge gegeben, Skylab, die Viking-Landungen auf dem Mars zur Zweihundertjahrfeier… Ich möchte doch meinen, daß man das letzte Programm nicht einfach streichen konnte.« Hugh nickte wie ein Lehrer, der einen guten Schüler lobt. »Apollo lief tatsächlich früher aus als ursprünglich geplant. Aber wenn es erhebliche und unerklärliche Abweichungen vom angekündigten Programm gegeben hätte, wären natürlich interessierte Kreise überall in der Welt sofort hellwach geworden. Für den, der über die geeigneten Instrumente verfügt, finden alle Starts erschreckend öffentlich statt. Um die Tatsachen geheimzuhalten, hat es in diesem Fall der umfänglichsten und gründlichsten Sicherheitsvorkehrungen aller Zeiten bedurft.« Bill schenkte sich Whiskey nach. »Sie erwähnten die Sowjetunion.« »Das war nicht zu vermeiden. Beide Nationen haben jetzt so viel Gerät auf einer Mondumlaufbahn, daß ein solches Phänomen nicht lange Monopol der einen oder der anderen bleiben kann. Eine der automatischen Sonden der sowjetischen Luna-Serie hat die Signale einige Monate später aufgefangen. Sie wurde umgeleitet, und ihr gelang in dem Krater eine weiche Landung. Auf dieses Gebiet haben sie sich
spezialisiert, nachdem sie auf die Landung einer bemannten Kapsel verzichtet hatten. Wie auch immer, einem der bedeutendsten russischen Selenologen gelang es anläßlich eines internationalen Kongresses in Baku, Aserbeidschan in der U.D.S.S.R. seinem amerikanischen Kollegen einen Hinweis zu geben. Damals gab es schon Pläne für ein Koppelmanöver zwischen Apollo und Sojus, was die Spannungen abbauen half. Es gab keine Alternative. Wir mußten unsere Daten austauschen und sie gemeinsam geheimhalten.« »Und was wurde aus dem russischen Wissenschaftler?« Hugh lächelte dünn. »Der arme alte Anatoli Kubolajew wäre fast vor einem Erschießungskommando gelandet. Da man sich aber vor vollendete Tatsachen gestellt sah, erhielt er einen strengen Verweis, einen Orden und den Oberbefehl über die sowjetische Seite des Projekts. Inzwischen schickten die U.S. Militärbehörden heimlich eine modifizierte Viking-Sonde in den Krater der Fremden. Ihre Untersuchungsergebnisse ergänzten die der weniger komplizierten aber beweglicheren Luna-Sonde. Sie waren beide auf den Überresten einer Station gelandet, die vor etwa fünfundzwanzig Millionen Jahren dort errichtet worden sein muß.« Ein kalter Schauer ging Bill durch die Knochen. Sein Blick fiel wieder auf den Monitor, der das weite schneebedeckte Terrain, das sie jetzt mit hoher Geschwindigkeit überflogen, als sonnenbeschienene Reliefkarte zeigte. Wir nehmen Kurs auf den Pol, dachte er; beschreiben dabei einen großen Kreis. Wohin würde diese Route sie führen? In den östlichen Teil der Sowjetunion? Bei einigen leichten Kursänderungen vielleicht nach Japan? Aber er trug doch einen Sommeranzug. Australien, sagte er sich plötzlich erstaunt. Der riesige leere Inselkontinent am Rande des Pazifik, ein trockenes, von der Sonne versengtes Land, das so
wenig mit der vereisten Landschaft unter ihnen gemein hatte, wie man sich nur vorstellen konnte. Aber ihm war klar, daß er zu enge Maßstäbe anlegte. Das Land unter ihm und das Land, auf das er tippte, waren alt – weit älter als fünfundzwanzig Millionen Jahre. Die Formationen stammten aus dem Oligozän, wie er meinte. Die Pyrenäen und der Apennin existierten schon, und die Alpen in Europa unterzogen sich noch einer kleinen Schönheitsoperation. Weit im Westen hatte eine Landbrücke Alaska mit Asien verbunden. Oder stimmte seine Geologie nicht mehr und war durch die Theorie von der Plattentektonik ersetzt worden? Er fühlte sich entsetzlich müde. Wie wenig Zeit hatte man doch. Wie konnte man alles wissen, wenn alles sich so schnell so sehr veränderte. Das Land unter ihm und sein Gegenstück am anderen Ende der Welt waren alt – lernten sie, oder waren sie nur der Veränderung unterworfen? Rauh und unwirtlich für Mensch und Tier, war dies Land doch Teil der Erde; es kannte die langen Klimazyklen, und einst wurden seine Felsen unter Eis oder Sonne zu Sand zermahlen, und der Sand verwandelte sich, wenn die Bedingungen es zuließen, in fruchtbaren Boden, und während die Erde sich drehte, empfing der Boden Sonne oder Wasser und brachte in verschwenderischer Fülle Blumen hervor. Kein Gebiet der Erde ist gänzlich ohne Leben; nirgends hat das Land die eisigen Nächte und glutheißen Tage der Meere und Gebirge des Mondes erlebt. Dort unten im tobenden Wintersturm, am äußersten Ende der Welt, war Leben möglich, wenn es sich auch nur unter großen Schwierigkeiten erhalten konnte. Aber die Station der Außerirdischen hatte fünfundzwanzig Millionen Jahre lang der verheerenden Öde des Mondes getrotzt… Der Astronaut wahrte höfliches Schweigen, während Bill langsam in die Wirklichkeit zurückfand. Rasch holte er dann eine Spule Magnetband aus der Jackentasche und legte sie in
das audiovisuelle Kontrollgerät ein. »Ich habe einige Videobänder von der Station der Fremden. Dieses wurde aus einer Reihe von Funkübertragungen der Sonden Viking und Luna zusammengeschnitten. Wenn man bedenkt, daß die Daten von der Oberfläche des Mondes über einen RelaisSatelliten in einer Umlaufbahn um den Mond und über einen zweiten Nachrichtensatelliten zur Erde gefunkt werden mußten, ist die Qualität recht gut.« Auf dem zweiten Schirm leuchtete kurz das Emblem der NASA auf. Es folgte ein Kennzeichen. Dann sah Bill einen Steilhang von ungeheurer Ausdehnung, dessen oberer Rand wie geschmolzenes Metall glänzte. Er atmete tief ein und hatte das Gefühl, in den schwarzen Abgrund zu stürzen, ahnte, wie der düstere Himmel über den Felsen mit der Dunkelheit des inneren Kraters zu einer Leere verschmolz, die seine Seele in sich hineinzuziehen schien… Der Kamerawinkel änderte sich, und auf dem Schirm waren weite Teile des Kraters zu sehen; Bills Spannung löste sich. Lapp hatte seine Reaktion beobachtet. »Es ist furchteinflößend. Das werden Sie wohl zugeben. Diese Aufnahmen stammen von einer Viking, die zu Beginn der Dämmerungsperiode landete. Die Kamera zeigt gleich die Stelle, von der Signale ausgingen. Man kann noch nicht sehr viel erkennen, denn die Kraterwände halten die Sonne ab. Deshalb hat man eine Menge herausgeschnitten… ah, da ist es schon.« Bills Puls ging schneller. Weit unten kam der Boden des Kraters ins Bild. Da keine Atmosphäre das Licht zerstreute, war das Bild unnatürlich scharf. Weil die gewohnten Vergleichsmaßstäbe zur Einschätzung der Tiefe fehlten, glaubte er einen Augenblick an eine optische Täuschung. Dieser Teil des Mondes hatte nicht die graubraune Färbung der anderen Mondformationen, die er bisher im Bild gesehen hatte.
Wenn ein Riese einen ungeheuer großen schwarzen Glasaschenbecher erhitzt hätte, bis das Glas sich verflüssigte, und dann einen gigantischen Würfel aus blauem Stahl hineingeschleudert hätte, so daß das Glas auseinanderspritzte und bei der Abkühlung zu bizarren Strukturen gerann, dann hätte das Ergebnis seiner Arbeit genauso ausgesehen. »Mein Gott, was ist hier passiert? Ist hier ein Raumschiff abgestürzt?« Ein längst vergessenes Bild stand ihm plötzlich vor Augen: die katastrophale Explosion über der Tungusensteppe im Juni 1908, die ein Journalist namens Baxter auf den Absturz eines interstellaren Raumschiffs zurückgeführt hatte. Ein Gegenstück zu dieser alten Ruine? »Nein, es war zweifellos eine Art Station. Wir haben ihr die Code-Bezeichnung ›Selene Alpha‹ gegeben, obwohl wir auf dem Mond bisher keine weiteren Spuren von Fremden gefunden haben. Dieser Trümmerhaufen ist, soweit wir wissen, das Resultat eines Kernwaffenangriffs auf Selene Alpha.« »Kernwaffen?« Endlich paßten die Teile zusammen. Er hätte sich ohrfeigen können. Der riesige Würfel hatte sich verkantet und war beschädigt, aber er war nicht verdampft, obwohl der Krater, in dem er stand, von jenen stellaren Feuern völlig verwüstet worden war. »Er war durch eine Gluonenabschirmung geschützt. Das ist es.« Der Astronaut beugte sich vor und preßte die Hände so fest gegeneinander, daß die Knochen knackten. »Wir waren noch nicht in der Lage, diese Abschirmung nachzubauen. Unsere Theoretiker raufen sich die Haare. Selene Alpha war teilweise durch ein Gluonenabschirmungssystem geschützt, aber die Waffen, mit denen es angegriffen wurde, waren noch fortgeschrittener. Die meisten kritischen Funktionssysteme hielten der Belastung nicht stand und zerschmolzen zu Schlacke. Wir fanden gerade genug Material, um mit unseren Untersuchungen zu beginnen. Die Ausrüstung, die uns für
unsere Experimente zur Verfügung steht, ist so primitiv wie Fermis Atommeiler im Fußballstadion von Chicago. Aber das ist noch nicht alles.« Auf dem Schirm erschienen jetzt die Aufnahmen einer Robotersonde, die auf dem glasartigen Kraterboden gelandet war. Schräg und eine Ecke halb im geschmolzenen Fels versunken kam jetzt Selene Alpha ins Bild. Es war beeindruckend: ein einsamer, zeitloser Tribut an eine uralte Spezies, die die Sterne erobert hatte, bevor die Vorfahren der Menschen die afrikanische Steppe verließen. Und vielleicht, überlegte Bill, war es gleichzeitig ein Grabmal, denn viele Angehörige jener fremden Rasse mußten bei der Kernexplosion umgekommen sein. Oder hatten sie eine Gelegenheit zur Flucht gehabt? Hatte die Abschirmung funktioniert, so wie eine Sicherung bei Überlastung durchbrennt, wenn auch alle übrigen Teile zu Schlacke zerschmelzen? »Wenn der Alpha-Komplex eine Ruine ist, wie wurden dann die Signale gesendet, die von der Mannschaft der Apollo 13 aufgefangen wurden?« »Alpha wurde nicht völlig zerstört. Seine Systeme waren solide konstruiert und hatten keine beweglichen Teile. Offensichtlich erkannten die noch funktionsfähigen Instrumente die Mannschaft der Apollo als lebende Wesen auf einer Umlaufbahn und schalteten sich ein. Wir nehmen an, daß die Signale von den Navigationsinstrumenten der Fremden ausgingen. Ihre Technologie war phantastisch, Bill.« Das stimmt, dachte er – wenn man bedenkt, daß Reste des Systems selbst nach fünfundzwanzig Millionen Jahren und nach einem Atomschlag noch funktionieren. Selbst wenn die Außerirdischen ihre Anlage in einwandfreiem Zustand zurückgelassen hätten, wäre eine solche Langlebigkeit fast unvorstellbar gewesen.
Wieder eine andere Einstellung. Jetzt fuhr die Kamera langsam an der Alpha-Station entlang. Das Bild wackelte und verschwand manchmal ganz, als der schwerfällige Mechanismus versuchte, mit dem glatten Boden fertig zu werden. »Heh!« schrie Bill und kam sich sofort lächerlich vor. An dem dunklen gezackten Riß vorbei bewegte sich das sowjetische Gerät stumpfsinnig weiter. Dann reagierten die Männer im Kontrollzentrum auf der Erde. Sie stoppten den Apparat und steuerten ihn vorsichtig rückwärts. Ein Scheinwerfer leuchtete auf. Der Roboter fuhr in die luftleere, tote, verwüstete Konstruktion hinein. Für Bill delFord blieb die Zeit stehen, als er die langsame, sorgfältige Durchforschung des stark beschädigten Komplexes beobachtete. Er vergaß, daß er in einer über den Pol hinwegrasenden Kuriermaschine der Vereinten Nationen saß; er vergaß, wie merkwürdig, sogar erschreckend es war, daß er das Privileg hatte, diesen streng geheimen Film zu sehen. Von Zeit zu Zeit gab der Astronaut neben ihm seinen leisen Kommentar zu den Bildern und äußerte Vermutungen über irgendeinen geschmolzenen Klumpen oder irgendeine sonderbare Struktur. Bill sagte überhaupt nichts. Er konnte nur staunen. Dann lag eine große, hell schimmernde Karte im Lichtkegel des Scheinwerfers. »Die Erde. Aber die Kontinente – « »Die Erde, wie sie im späten Paläogen aussah. Wie Sie sehen, liegt fast ganz Europa unter Wasser. Die Niederlande, Deutschland und Polen sind überschwemmt. Es gibt eine See Verbindung zwischen Frankreich und Rußland. Die Amerikas hängen noch nicht zusammen, und ihre Küstengebiete liegen ebenfalls noch zum Teil unter Wasser. Australien löst sich erst langsam von der Antarktis. Indien kollidiert mit Asien, und das Himalajamassiv entsteht. Eine bemerkenswerte Karte; aus
dieser Entfernung ist es nicht zu sehen, aber sie ist holographisch und kann, ohne daß Details verlorengehen, so stark vergrößert werden, daß man einzelne Bäume und Tiere erkennen kann. Sie hat uns mehr über die Vorgänger von Ramapithecus und anderen primitiven Hominiden verraten als alle Fossilienfunde der Paläoarchäologie zusammen. Aber das Wichtigste ist natürlich – « » – diese violetten Blitze in Zentralaustralien.« »Ganz recht. Wir nehmen an, daß es sich bei dem so bezeichneten Ort um eine Station handelt, die entweder den Wesen gehörte, die Selene Alpha bauten, oder denen, die es zerstörten.« Bill spürte, daß sein Puls wild schlug, als die Roboterkamera die Karte näher heranholte und sich auf den Lichtpunkt einstellte. Die Strahlen lagen um einen riesigen pyramidenförmigen Haufen von verwittertem Sandstein herum. Ein geformter Berg. »Der Felsen«, sagte er. »Ayers Rock«, erklärte der Astronaut. »Es ist ein mitten aus dem Nichts gewachsener natürlicher Monolith. Der Sand hat ihn seitdem erheblich abgeschliffen. Die Station der Fremden liegt fast dreitausend Meter unter Ayers Rock. Sie verfügt über eine Abschirmung, gegen die unser Gluonenschild nur ein Moskitonetz ist. Wir nennen sie das Gewölbe.« Lapp betrachtete einen Augenblick lang seine Hände, spreizte die Finger und ballte sie zu Fäusten. »Bill, bei dem Versuch, in das Gewölbe zu gelangen, sind bis jetzt sechsunddreißig Männer gestorben. Vor ein paar Wochen kam ein autistischer Junge gesund und munter aus dem Gewölbe heraus – in unseren Tunnel dreitausend Meter unter der Erde – und erzählte uns, daß wir die Sache völlig falsch angehen. Das heißt, ›erzählte‹ ist nicht das richtige Wort. Er kann kaum sprechen. Aber er kann hervorragend schreiben. Wenn er Mitglied einer
Spiritistenvereinigung wäre, würde man das automatisches Schreiben nennen und eine Sammlung veranstalten. Unser einziges Problem ist, Doktor, daß wir nicht die leiseste Ahnung haben, was er uns mitteilen will.«
Drei
Ein Konklave Der Toten
6. Ayers Rock
Die arme Selma, dachte Bill. Tagelang muß sie in diesem kalten Bad liegen, die fürchterlich geschwollene Zehe in den Abfluß geklemmt. Die indirekte Innenbeleuchtung der Kuriermaschine wurde heller, und er lag blinzelnd in seinem zurückgeklappten Sitz. Er wischte sich die kleinen Silberchloridelektroden von der Stirn und sah auf die Uhr. Gott weiß, wie spät es auf diesem Längengrad ist, den wir jetzt entlangrasen, dachte er. Er hatte seinen Chronometer nicht neu gestellt. Mit Hilfe der Schlafinduktionselektroden hatte er etwas über vier Stunden hervorragend geschlafen. Trotz der nach Plastik riechenden, schalen klimatisierten Luft in der Kabine fühlte sich Bill so gut ausgeruht, als hätte er neun Stunden in seinem eigenen Bett gelegen. Auf dem Bodenmonitor entfaltete sich eine rotbraune Symphonie in abstraktem Expressionismus: eine rotgesprenkelte Wüste und die langen abgerundeten Schatten des anbrechenden Sommertages. Bill hatte Hunger. Er zündete sich eine Zigarette an, ging nach vorn und suchte in der versteckten Bar nach Sandwichpaketen. Zu seiner Freude fand er ein paar Tüten Milch und eine Putenkeule. Als er mit seinem Frühstück zurückkam, hatte der automatische Zeitnehmer Hugh Lapp geweckt. »Milch oder Kakao?« Ohne zu zögern griff der Astronaut nach dem braunen Karton. »Und wo ist der Hot Dog?« »Sie sind krank, Lapp, krank. Ist es jetzt morgen oder gestern vormittag?«
»Keine Ahnung, Doktor. Die Erde ist flach. Ich weiß es – ich habe sie von außen gesehen.« Über den Fernsehschirmen blinkte ein gelbes Licht auf. Eine klare Stimme sagte: »Wir nähern uns einer Schlechtwetterfront, Gentlemen. Schnallen Sie sich bitte an und halten Sie sich fest. Wenn wir sie erreichen, geht der Tanz los.« »Danke, Carl«, sagte Lapp. »Wann landen wir?« »In fünf bis zehn Minuten, Sir. Dort unten stürmt es gewaltig. Heute morgen haben wir zuviel Seitenwind. Die letzten tausend Meter gehen wir senkrecht runter.« Der Rumpf erbebte, als die ersten Böen ihn trafen. Sie verloren an Höhe und Geschwindigkeit. Auf dem Sichtschirm verdunkelten riesige Gewitterwolken die rote Erde. »Ich habe dies für eine Wüste gehalten.« »Das Gewölbe«, sagte Lapp. »Es läßt sich nicht gern in den Rücken fallen. Zum Glück reichen die Unterbrechungen im elektromagnetischen Feld nicht bis hier herauf, sonst wären wir schon tot.« Die Düsen heulten auf, als sie zu den Wolken hinabsanken. Bill verschlang sein Sandwich und klammerte sich an den Armstützen fest. Sie stürzten in die schwarze Tiefe. Wenn die Maschine Fenster gehabt hätte, wäre die helle Morgensonne genauso weggewischt worden wie es auf dem Sichtschirm der Fall war. Über diese Tatsache mußte Bill sich erst klarwerden, denn der Schirm hatte jede Überzeugungskraft verloren. Sein dunkles Grau hätte ebensogut eine Fehlfunktion im Schaltkreis anzeigen können. Er wußte, daß er es einfach nicht glauben wollte. Sein Magen verkrampfte sich, und seine Hände fuhren in die Luft. Man versucht, uns umzubringen, dachte er gegen jede Vernunft. Sie stürzten in ein Luftloch. Es dauerte Sekunden. Dann war die Fluglage wieder normal, und sie kämpften gegen
die reine Naturgewalt an, die bei jedem Sturm freigesetzt wird. Nicht sehr überzeugend grinste er den Astronauten an. »Tut mir leid, Bill. Gewöhnlich fahren wir mit schweren Lastwagen durch die Gewitterzone, aber meine Vorgesetzten meinten, daß wir keine Zeit verlieren dürften. Wir mußten Sie möglicht schnell herbringen. Sie können anfangen, sich Sorgen zu machen, wenn wir gelandet sind.« Dann hatten sie die Wolken durchstoßen, und Regen traf auf die Linse der Kamera. Das Land tausend Meter unter ihnen lag in nasser Dunkelheit. Lichter tanzten über das Bild und verschwanden wieder. Hatte er nicht kurz einen drachenförmigen zu einem Keil verformten schwarzen Hügel gesehen, die Ränder seit Ewigkeiten vom Sand geschliffen? »Wir sind jetzt ganz in der Nähe der Landebahn am Felsen«, informierte sie der Pilot. »Für die Landung drehe ich die Düsen um neunzig Grad. Bekommen Sie bitte keinen Schrecken, wenn wir noch ein wenig durchsacken.« Der Düsenlärm war jetzt auf ein Jaulen reduziert, und das Heulen des Sturms war durch alle Schichten des isolierten Rumpfes zu hören. Die Düsen brüllten noch einmal auf, und die Maschine sank in den strahlenden Lichtkreis hinab. Das Gefühl unterschied sich kaum von dem eines schnellen Abstiegs in einem Fahrstuhlschacht. Es gab einen leichten Ruck, ein Kreischen der Düsen, dann Stille. »Es gießt immer noch, Gentlemen«, sagte der unsichtbare Pilot. »Ich habe einen Verbindungsschlauch aus Plastik angefordert. Wenn Sie noch einen Augenblick sitzenbleiben, erreichen wir die Station, ohne uns die Füßchen naß zu machen.« »In Ordnung, Carl«, sagte der Astronaut. »Danke für den glatten Flug.« Der Sichtschirm zeigte zwei völlig durchnäßte Männer vom Bodenpersonal, denen das Wasser von den Regenjacken lief.
Sie schoben das eine Ende eines ausziehbaren Plastikzylinders an die Maschine heran. An seinem anderen Ende erhob sich eine kupferfarbene geodätische Kuppel von der Größe eines Fußballfelds. »Ich wäre mit zwei vernünftigen Regenschirmen zufrieden gewesen«, murrte Bill. »Sie behandeln Leute, die aus solchen Flugzeugen aussteigen, nun einmal wie berühmte Persönlichkeiten.« Bill putzte sich die Nase. Das Geräusch des strömenden Regens überzeugte ihn davon, daß sich mit dem Übergang in die andere Hemisphäre nichts verändert hatte, daß der Winter ihm mit seiner trüben Last von Kälte und verhangenen Himmel vorausgeeilt war. Die Luke öffnete sich. Er folgte dem Astronauten in das den Geruchssinn betäubende Grau der Röhre. Am anderen Ende wurden sie von zwei Militärangehörigen erwartet. »General Wladislaw Logunowitsch Sevastyianow, Colonel Thomas Chandler. Darf ich Sie mit Dr. Bill delFord bekanntmachen. Er ist unser Experte für jeden übernatürlichen Scheißdreck.« Chandler grinste. Er hatte eine frische Gesichtsfarbe und war von mittlerer Statur. Er wirkte schläfrig. »Ihr kurzer Aufenthalt in Kalifornien hat Sie total versaut, Hugh. Willkommen in unserer Irrenanstalt, Bill.« Der Russe schüttelte ihm gelassen die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Doktor. Vielleicht haben Sie Appetit auf ein kleines Frühstück?« Er sprach mit West-Point-Akzent, und Bill hätte fast laut losgelacht. Die Kuppel war riesig. Um sie herum führte ein breiter Korridor mit Abzweigungen, die Zugang zu den verschiedenen Sektionen gestatteten. Sie wurden durch Schilder in russischer und englischer Sprache näher bezeichnet. Offenbar gehörten die vielen Männer, die in Uniformen der Vereinten Nationen
herumliefen, verschiedenen Sicherheitskategorien an. Vor bestimmten Eingängen standen Soldaten mit geöffnetem Pistolenhalfter und kontrollierten die Papiere, bevor sie den Zutritt freigaben. Soweit Bill erkennen konnte, befehligte der russische General die Operationen, die über der Erde durchgeführt wurden. Ein Amerikaner leitete an Ort und Stelle die das Gewölbe betreffenden Untersuchungen. Sein Standort war der gewaltige Tunnel, der über zweitausend Meter weit in die Erde hineinführte. Colonel Chandler war Chef der amerikanischen Mannschaft über der Erde, und zweifellos waren die Russen auch unten vertreten. Protokoll des kalten Krieges, dachte Bill. In Dantes Inferno. Und das konnte noch nicht die ganze Geschichte sein. Alle drei Monate tauschten die Mannschaften die Rollen, und die Wissenschaftler und Militärs, die in den klaustrophobischen Schrecken der Tiefe arbeiten mußten, erhielten häufig Übertageurlaub. Bill fand den ganzen Laden zunehmend widerlich. Unwillkürlich reagierte er auf die Erregung, die in der Luft lag, auf das deutlich spürbare nervöse Vergnügen am Risiko und die mitschwingende Entschlossenheit, sich dem Risiko zu stellen, die jeder Kneipenschläger immer wieder gern empfindet, wenn er an den einzigen großen Tag in seinem trübseligen Leben denkt. Aber Bill hatte immer jede Art von Bevormundung gehaßt, und der Anblick dieser gut geölten militärischen Maschinerie hatte etwas Erstickendes. Er sah sich in ein Objekt sachlicher Beobachtung verwandelt. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß man ihn ohne Bedenken auslöschen würde, wenn irgendein Funktionär auf den Gedanken kam, daß er für die Anlage eine Bedrohung darstellte. Es war das Gegenteil der Ichlosigkeit des Zen. Es war die bösartige Ausübung übermäßiger Macht, um einer
Maschine zu dienen. Die Tatsache, daß das Gewölbe selbst, dieses Relikt eines uralten Wahnsinns, die gleiche gedankenlose Ausrottung bewirken könnte, war damit nicht zu vergleichen. Das Gewölbe war etwas total Fremdes und nicht von menschlicher Motivation gesteuert. Dieselben nichtmenschlichen Eigenschaften bei Menschen anzutreffen, ließ ihn schaudern. Sie warteten vor einer Tür mit der Aufschrift: ZUTRITT VERBOTEN – NUR FÜR AUTORISIERTES PERSONAL. Von der Decke des Korridors nahmen eingelassene Fernsehkameras sie ins Visier. Der Colonel hielt einen Soldaten an, der vorbeiging, und wandte sich an delFord. »Sie fühlen sich nach Ihrem Flug wahrscheinlich nicht ganz frisch. Sie können in Ihrem Quartier duschen, eine Kleinigkeit essen und vielleicht ein wenig Schlaf nachholen.« Bill sah Lapp an. »Ich könnte eine Tasse Kaffee vertragen, aber wenn Sie – « »Keine schlechte Idee, Bill«, sagte der Captain schnell. »Ich muß an einer Besprechung teilnehmen, die ungefähr eine Stunde dauern wird. Machen Sie es sich inzwischen bequem. Sie bekommen das Zimmer neben meinem – ich werde dann schreien, wenn ich zurückkomme. Eins noch.« Er tippte delFord auf die Brust. »Wenn Sie duschen, gehen Sie sparsam mit dem Wasser um. Wir sind hier mitten in der größten Wüste Australiens.« Als der Soldat Bill an der Tür des Zimmers ablieferte, zögerte der Mann und sagte dann: »Äh, Sir, was der Captain über das Duschen gesagt hat – « Bill lächelte den Jungen an. Er schien kaum zwei Jahre älter als Ben zu sein. »Geht schon in Ordnung, mein Sohn. Ich habe es gehört.« »Der Regen – «
»Ich verstehe schon. Mein Freund, der Captain, hat einen verbogenen Humor.« Der Soldat lächelte unsicher. Als Bill geduscht hatte, stand zu seinem Vergnügen ein Tablett mit Schinken, Pfannkuchen, Ahornsirup, einem Glas Orangensaft und einer Kanne Kaffee auf dem Tisch. Ein Soldat hatte sein verschwitztes Hemd und seine Unterwäsche zusammengerollt und frische Sachen bereitgelegt. Das neue Hemd war weiß und hatte die richtige Größe. Jemand mußte vorausgeplant haben. »Sir, der General läßt grüßen und bittet Sie, sich mit diesem Material vertraut zu machen, bevor die Konferenz beginnt.« Der Mann reichte ihm ein versiegeltes Päckchen. »Wenn Sie irgend etwas brauchen, Sir, an der Tür ist ein Summer.« »Gut.« Sobald die Tür sich geschlossen hatte, warf Bill das Päckchen auf das Bett und nahm vor seinem Frühstück Platz. Er verschmähte den Orangensaft (frisch ausgedrückt!) und stopfte sich das Essen ins Gesicht. Rülpsend stieg er aus seinem Handtuch und zog sich an. Er löste das Siegel, schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein, setzte sich auf das Bett und las. Sein Gesicht war noch immer heiß, und die Haut spannte, aber das nervöse Zucken, das er eben noch gehabt hatte, war weg. Das Dokument war aus erstklassigem Papier, und der Inhalt war mit einer schnellen Textverarbeitungsmaschine gedruckt. Es war solide gebunden und mit der Aufschrift LAGEBERICHT gestempelt. Der Bericht enthielt eine Unmenge von scheußlichen Formeln. Bill hörte auf zu blättern und fing vorn an zu lesen. Er überflog die historische Zusammenfassung, die Hugh Lapp geschrieben hatte, aber er vergaß seinen Kaffee, als er zu den Einzelheiten über Ayers Rock kam.
Die Ereignisse nach der Entdeckung und Erforschung von Selene Alpha hatten mit einer Tragödie geendet. Vor einem Jahr und etwas über fünf Kilometer von der Stelle entfernt, an der er jetzt saß, hatte die Suche nach der fremden Station auf der Erde eine völlig unerwartete Katastrophe ausgelöst. Die Karte auf dem Mond hatte gezeigt, daß die Fremden von Selene Alpha am Ayers Rock sehr interessiert waren. Dabei war der Felsen selbst nichts weiter als ein Monolith aus hartem Sandstein, der sich fast senkrecht dreihundertachtundvierzig Meter aus einer praktisch unfruchtbaren Wüstenebene erhob, die sich über hundertfünfzig Kilometer weit erstreckte. Er war wenig mehr als ein riesiger Hügel, aber seine Größe machte stutzig: er hatte einen Umfang von fast neun Kilometern. Das Hologramm aus dem Oligozän zeigte ihn als verwitterte Pyramide. Es war klar, daß er schon viele Millionen Jahre existierte, als Alpha gebaut wurde. Hatte man ihn künstlich in diese Form gebracht? Diese Vermutung schien verrückt, aber sie führte zu Hypothesen, die man überprüfen konnte. Vielleicht gab es innerhalb des Felsens eine Station der Außerirdischen, wie die Gräber der Pharaonen, die man in von Menschen aufgetürmten Pyramiden gefunden hatte. Röntgenstrahlen waren nicht stark genug, die massiven äußeren Schichten zu durchdringen. Statt dessen bediente sich das Team natürlicher Strahlung: kosmischer Strahlen, die gleichmäßig aus dem Raum einfallen, solare Neutrinos, wie man sie in riesigen Tanks mit industriellen Tetrachloräthylen entdecken kann. Solche Techniken waren ziemlich neu und boten große praktische Schwierigkeiten, aber am Ende stand eine wichtige Tatsache fest: Ayers Rock war aus massivem Stein. Und doch hatten die Fremden diesen Ort deutlich markiert. Wenn man hier eine Bodenstation annahm, mußte sie unter dem Felsen liegen. Die Forschungsteams nahmen konzentrierte
Sondierungen der tiefer liegenden Schichten vor. Als das Echo der Sonden aus zweitausendfünfhundert Metern Tiefe zurückkam, starben die einundzwanzig Männer in der Instrumentenstation bei einer einzigen Explosion. Ihre Geräte schmolzen zusammen mit dem Wüstensand. Die ferngemessenen Daten zeigten im Augenblick der Explosion allerdings Resultate. Bei zwei Komma acht Kilometern gab es eine Diskontinuität der Masse. Das Gewölbe. Und damit endete die Tragödie keineswegs. Vorsichtig wurde schweres Gerät herangeführt, um einen Zugangstunnel zu bohren. Zehn weitere Männer starben, und das war die Bestätigung dafür, daß das Gewölbe eine starke elektromagnetische Aktivität in seiner unmittelbaren Nähe nicht zuließ. Eine Menge Spekulationen zur Erklärung dieses Effekts wurden vorgetragen. Die meisten fand Bill, wie sie in dem Lagebericht beschrieben wurden, völlig unverständlich. Die beste Chance schien in Lennox Harringtons Forschungsergebnissen zu liegen. Im Universum entstehen die meisten Phänomene, vielleicht alle, durch irgendwelche stets gleichmäßig verlaufenden Wechselwirkungen. Aber diese Gleichmäßigkeit war nicht sichtbar; sie unterlag zudem »spontanen Unterbrechungen« und äußerte sich in radikal veränderlichen Formen. Das Gewölbe. Das Gewölbe hob die Gleichmäßigkeit auf und trennte zwei Kräfte voneinander: den Elektromagnetismus und die schwache nukleare Energie, die der Radioaktivität zugrunde liegt. »Das ist nicht auszuhalten«, sagte Bill laut, legte den Bericht aus der Hand und suchte die Toilette auf. Einen Augenblick lang betrachtete er den Summer und überlegte, ob er wohl jemanden überreden könnte, ihm einen Drink zu bringen. Aber das war unwahrscheinlich. Der Kaffee war nur noch lauwarm,
aber er füllte trotzdem seine Tasse. Seufzend nahm er den Bericht wieder auf. Indem er so tat, als gebe es die Gleichungen gar nicht, gelang es ihm, ein wenig Sinn in das Ganze zu bringen. Das Gewölbe konnte erstaunliche Dinge tun – aber nur bei Anwesenheit elektromagnetischer Felder, wenn Aufladungen oder Entladungen stattfanden. Die Felder erfuhren dann eine »meßbare Veränderung«. Vielleicht funktioniert es wie Laserstrahlen, dachte er, und die Energie kommt vom Gewölbe. Die elektromagnetischen Kräfte glaubten plötzlich, sie seien schwache nukleare Energien und vervielfachten sich. Nukleare Protonen verwandelten sich in Neutronen und gaben Positronen und Neutrinos ab. Die Neutronen machten es umgekehrt. Die BetaPartikel, plus und minus, trafen rasch aufeinander und wurden vernichtet, wobei harte Gammastrahlung entstand. Die Neutrinos und die Antineutrinos schossen mit Lichtgeschwindigkeit davon. In einem kurzen roten Blitz fielen Fleisch und Metall, Glas und Plastik radioaktiv geschmolzen in sich zusammen. Es war erschreckend. Wie immer das Gewölbe es auch fertigbrachte, es war ein Mörder – aber nur wenn man es mit elektromagnetischen Feldern beleidigte oder sich in seine unmittelbare Verteidigungszone vorwagte. Das letztere schien nicht immer tödlich zu sein. Das Kind und sein Onkel waren unverletzt durchgekommen. Andere Eindringlinge in die Zone waren lallend wieder herausgekommen und offenbar verrückt geworden. Drei Leute waren nur leicht benommen, als sie die Zone wieder verließen, aber als man sie ein zweites Mal hineinschickte, waren sie auf der Stelle tot. Das ergab keinen Sinn, aber es sah so aus, als ob es gewisse Regeln gab.
Jemand klopfte an Bills Tür. Der Astronaut betrat das kleine Zimmer. Er war in Begleitung eines drahtigen Schwarzen. Anscheinend war der Mann ebenfalls Zivilist. »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat.« Hugh sah die Frühstücksreste auf dem Tablett. »Gut, daß Sie schon gegessen haben; es könnte eine lange Sitzung werden.« »Wann kann ich den Jungen sehen?« »Vielleicht gegen Abend. Er kritzelt schon wieder. Es ist fast, als hätten wir ihn aufgezogen. Oder er hat gehört, daß die Maschine gekommen ist. Bill, dies ist Alf Dean, der Mann, der in das Gewölbe teleportiert wurde.« »Hallo.« Bill betrachtete den Australier interessiert. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß er in das Team aufgenommen worden war. Nach seinen grauenhaften Erfahrungen hätte Bill eher angenommen, daß man ihn zwecks medizinischer und psychiatrischer Behandlung ausgeflogen hätte. »Sagen Sie, Alf, sind Ihnen irgendwelche ungewöhnlichen Sinneseindrücke aufgefallen, seit man Sie aus dem Gewölbe herausholte?« »Ich hatte einige Tage lang ziemlich wilde Halluzinationen, wenn Sie das meinen. Man sagt mir, ich sei sehr krank gewesen.« In sich zusammengesunken, wie er da im Türrahmen stand, sah Alf Dean immer noch krank aus. »Schon richtig. Aber genauer: Als Sie wieder auf den Füßen waren, ist Ihnen da irgend etwas Besonderes aufgefallen, wenn Sie sich in der Nähe von elektrischen Geräten aufhielten?« Der Anthropologe sah ihn mißtrauisch an. »Ja, eine Zeitlang, Lichtblitze, eine Art, hmm, sichtbares Summen. Ein paar Tage lang fürchtete ich, es sei Epilepsie. Woher wissen Sie das alles?« »Dasselbe ist mir passiert, als ich aus dem Gluonenfeld herauskam. Hugh?«
Der Astronaut schüttelte den Kopf. »Glauben Sie mir, ich hätte laut geschrien.« Bill klemmte sich den Lagebericht unter den Arm. »Wir dürfen den General nicht warten lassen. Sonst streichen sie uns den Urlaub.« Der Konferenzraum war lang und öde und mit hellen skandinavischen Möbeln ausgestattet. Ein halbes Dutzend Männer hockten an einem Tisch. Vor ihnen lagen Besprechungsunterlagen, Notizblöcke, Filzstifte und ein paar programmierbare Rechner von Texas Instruments. In der Mitte stand ein Krug mit Orangensaft. In einer Ecke standen ein Computer-Terminal, ein Reißwolf und ein Vierfarbkopierer von Xerox. Als sie eintraten erhob Sevastyianow sich aus seinem Sessel. »Gentlemen, ich habe das Vergnügen, Sie mit Dr. Bill delFord bekanntzumachen, zu dessen Fachgebiet veränderte Bewußtseinszustände gehören.« Zurückhaltendes Begrüßungsgemurmel. Der russische General wartete bis die drei Männer Platz genommen hatten und zeigte von einem Anwesenden auf den nächsten, wobei er den jeweiligen Namen nannte. Ein paar von ihnen kannte Bill, aber einer elektrisierte ihn. Ein graubärtiger Zivilist musterte die Neuankömmlinge mit wachen und intelligenten Augen und rückte sich dabei die Brille zurecht. Victor Fedorenko, dachte Bill beeindruckt. Ein Mann, in dem jeder den nächsten Nobelpreisträger für Physik vermutete, nachdem er in erstaunlichen Experimenten die Existenz der Tachyonenstrahlung nachgewiesen hatte. Von seiner vielfach veröffentlichten Kritik am Rassismus in der Sowjetunion ganz abgesehen. Sie müssen ihn dringend gebraucht haben, dachte Bill. »Lassen Sie uns die Sitzung heute morgen mit einem Rückblick auf den Gruppenversuch unter dem Gluonenschild beginnen. Dr. delFord, Sie haben das Wort.«
Bill hielt sich an die Tatsachen und faßte sich kurz. Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem Geheimnis des Gewölbes und der Erfahrung, die er mit Anne und Hugh geteilt hatte, blieb er zurückhaltend. Vermutlich sah man in dem vom Cal Tech dargestellten Feld eine verkleinerte Version der ursprünglichen Abwehreinrichtung des Gewölbes. Sein Bericht animierte die vor ihm sitzenden Männer. »Hört sich an wie das Zeug, das wir von den Jungs kennen, die mit Kurzschluß aus dem Gewölbe herauskamen«, sagte einer von ihnen. »Außer daß sie in dem Zustand blieben. Bill, Sie scheinen dies mit Ihren früheren Forschungsarbeiten in Relation zu setzen. Können Sie sich zu diesem Punkt ausführlicher äußern?« DelFord sah den General an. »Ich weiß nicht, ob dies der richtige Augenblick – « »Nur weiter, Doktor. Ich glaube, bevor Mr. Lapp vorschlug, daß wir Sie um Ihre Stellungnahme bitten, hat keiner von uns jemals etwas über außerkörperliche Erfahrungen gehört. Ich persönlich muß zugeben, daß ich immer noch höchst skeptisch bin.« Der Astronaut zwinkerte Bill zu. Du Halunke, dachte Bill nicht ohne Herzlichkeit. »Okay, das nehme ich Ihnen nicht übel. Das Studium der AKE ist nicht neu, aber es wurde von Verrückten vereinnahmt. Ich erhielt vor einigen Jahren einen Schub in die korrekte Richtung, als einigen von uns das Vermögen eines Bergmanns namens James Kidd zur Verfügung gestellt wurde. Der Mann hatte seine Hinterlassenschaft für die Erforschung des Lebens nach dem Tode bestimmt.« Vom unteren Ende des Tisches war ein Schnauben zu hören. »Ich kann nichts dafür, alter Junge. Ich bin Agnostiker. Tatsache ist aber, daß verdammt viele Leute berichtet haben, sie hätten physisch ihren Körper verlassen und seien nur mit
ihrer Seele bekleidet in der Nachbarschaft herumgeschwebt. Unsere Experimente mit Reizentzug und Reizüberflutung brachten uns dazu, die jeweiligen Einzelheiten zueinander in Beziehung zu setzen. Wir stellten bemerkenswerte Übereinstimmungen aus erstaunlich verschiedenen Quellen fest.« »Sergejews bioplasmische Körperhypnose«, sagte eine Stimme mit stark russischem Akzent. »Das wurde schon vor langer Zeit bewiesen.« »Falsch«, sagte Bill. »Strahlungsfeldphotographie gehört nicht in diesen Zusammenhang. Die sogenannte ›Aura‹ ist das Resultat eines außen mit Hilfe von hoher Spannung hergestellten Feldes.« »Entladung der Korona«, sagte Lapp. »Die Luftmoleküle werden ionisiert und vermischen sich mit der ganzen organischen Scheiße. Ich dachte«, fügte er mit spöttischem Stirnrunzeln hinzu, »ihr kommunistischen Atheisten Wäret schon längst darauf gekommen.« Bill unterbrach sie beide, bevor ein Streit ausbrechen konnte. »Lassen Sie uns noch ein wenig bei der AKE verweilen. Mein Institut ist vorläufig zu dem Schluß gelangt, daß einige Fälle ›astraler Projektion‹, wie man es früher nannte, authentisch sind. Wir haben Leute veranlaßt, entfernte Gegenden im Detail zu identifizieren, während sie diese Projektion erlebten. Und die wesentlichen Symptome stimmen überein. Wir erhalten eine Abnahme im Alpha-Rhythmus und ein Absinken der elektrischen Aktivität in der Hinterhaupts- oder visuellen Hirnrinde. Die größere Abnahme verzeichnen wir in der rechten Hemisphäre, wo offenbar die meisten Daten über außersinnliche Wahrnehmung anfallen.« »Verdammt, das paßt tatsächlich zusammen. Anhand der EEG-Ausdrucke stellten wir bei den Männern aus dem Gewölbe den gleichen Zustand fest.«
»Bei Maus ist es genauso«, sagte Alf Dean. »Wenn er in Trance ist, stellen sie auch bei seinem EEG einen drastischen Abfall fest.« Bill lehnte sich zurück und nahm ein Glas Orangensaft. Mein Gott, ich muß den Jungen in die Finger kriegen, sagte er sich. Ein Ingenieur gab einen dröhnenden Bericht über den Entwicklungsstand einer neuen Schutzbekleidung, die seine Gruppe gerade testete, und zwar zu dem höheren Zweck, einen Mann in das Gewölbe zu schicken und wieder herauszuholen, ohne sein Gehirn aufzuweichen. Da er nicht sehr aufmerksam zuhörte, fielen ihm ein Summen und das Aufblitzen eines Lichts auf. Ein Aufnahmegerät, dachte er. Die Abwesenheit einer Sekretärin hatte er schon registriert, aber heutzutage gingen die Bänder natürlich aus Sicherheitsgründen direkt in ein Textverarbeitungsgerät. Er schaute den Tisch entlang. Der Psychologe Lowenthal, dieser widerliche Kerl, wandte sich ab. Das Schwein hält mich für verrückt, dachte Bill wütend. Mein Gott, die alten Ägypter wußten mehr über außerkörperliche Erfahrungen als dieser Skinner mit seinen Ratten. Ich hätte gern gewußt, was die Eingeborenen davon halten. Sie haben ja schon lange genug hier gelebt. »Scheiße«, sagte er und sank auf seinem Stuhl zusammen. Fedorenko hatte angefangen zu reden. Sofort unterbrach der Physiker seinen Vortrag. »Was sagten Sie, Dr. delFord?« »Verzeihung, ich war ganz in Gedanken.« Ich lasse mich nicht aushorchen, du Arschloch. Außerdem würde seine Frage in dieser hartgesottenen Gesellschaft lächerlich wirken. Sie waren nichtlogische Anregungen nicht gewohnt, die eine zu neuen Erkenntnissen führende Zusammenarbeit einleiten könnten. »Sprechen Sie ruhig. Wir dürfen uns nicht von den Regeln einer formalen Debatte leiten lassen.« Anders als der General sprach Fedorenko eine leicht holprige Version von
Oxford/Cambridge-Englisch. Sie erinnerte Bill eher an Annes Aussprache als an seinen eigenen Liverpooler Hafendialekt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der russische Physiker als sehr junger Mann in England an Radarsystemen gearbeitet. Sevastyianow hatte ihm also zugenickt. Zur Hölle damit. Er beugte sich zu Alf Dean hinüber. »Können die Eingeborenen irgend etwas über den Felsen sagen?« Es war lächerlich. Der Oligopithecus Savagei könnte vor fünfundzwanzig Megajahren hier schon existiert haben, aber alle mündlich überlieferten Beobachtungen wären in der Zwischenzeit natürlich erheblich entstellt wiedergegeben worden. Fedorenko war anscheinend anderer Ansicht. Er sah Dean nachdenklich an und nickte bedächtig. Der Schwarze, der sich von seinem Erlebnis noch lange nicht ganz erholt hatte, schien froh zu sein, daß Fedorenko den Ball aufnahm. »Das ist eine sehr gute Frage, Doktor. Diese Möglichkeit haben wir am Anfang überhaupt nicht in unsere Überlegungen einbezogen. Der Mensch hat diesen Kontinent frühestens vor etwa fünfzigtausend Jahren erreicht. Lange vorher war Selene Alpha schon eine radioaktive Ruine. Vor Dr. Deans unorthodoxem Auftauchen im Gewölbe hatten wir uns nicht die Mühe gemacht, einen mit der örtlichen Ethnographie vertrauten Anthropologen zu konsultieren. Wir haben natürlich vorläufige Analysen von Spezialisten für Exokulturen aus unseren jeweiligen Raumfahrtprogrammen.« Ohne es zu merken, hatte der Physiker einen Rechner vom Tisch genommen und fuhr mit den Fingern wahllos über die Tasten. »Ayers Rock ist das traditionelle Wohngebiet des Stammes der Pitjandjara. Als wir mit unseren Untersuchungen anfingen, erhielt das Team glücklicherweise die Genehmigung der australischen Regierung, die Eingeborenen außerhalb dieses Gebietes anzusiedeln – «
»Was nicht leicht war«, unterbrach Chandler. »Den Leuten blutete das Herz, und sie schrien Konzentrationslagern als wir die Schwarzen umsiedelten.« Der Colonel sah Dean freundlich an. Es war klar, daß die beiden das Thema schon miteinander diskutiert hatten. Es war jedoch Fedorenko, der wütend die Stirn runzelte. »Ich habe das Wort ›glücklicherweise‹ nur deshalb benutzt, weil durch dieses geringere Übel ein möglicherweise viel schlimmeres verhindert wurde.« Ein Schatten legte sich über den Raum. Bill empfand nicht die geringste Sympathie für den Mann. Zweifellos hatten einige der Anwesenden Kollegen unter den Toten, unter den zerstörten Körpern in der geschmolzenen Wüste. Obwohl man sie gebührend betrauert hatte, blieb ein dumpfer Schmerz wegen der Sinnlosigkeit ihres Todes. Aber diese Männer in ihren Militäruniformen und die Zivilisten, die ihnen dienten, hatten vielleicht den Tod von vielen Tausenden von Menschen verursacht. Mit einer Aufwallung von Erbitterung, die ihn selbst überraschte, dachte Bill: Der Gluonenschild könnte von dieser Sorte Männer dazu benutzt werden, Millionen von Menschen zu ermorden. Diesmal waren die Männer auf der Suche nach Spuren von Wesen aus fernen Welten gestorben, also bei einem achtbaren Unternehmen. Aber es war offenbar nicht möglich, sie ganz schlicht und einfach zu betrauern. Chandler schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück. »Ja, Dr. Fedorenko, diese Männer sind tot, und vielleicht wären noch mehr gestorben, wenn wir nicht unseren Verstand gebraucht hätten. Verdammt, ich habe meine Jungs mit aufgerissenen Bäuchen aus Danang herauskommen sehen, und ihre Eingeweide hingen in der Sonne.« »Danke, Colonel«, sagte der riesige russische General trocken. »Es ist nicht nötig, daß Sie stehen.«
Chandler setzte sich. »Bei allem Respekt, Sir. Ich muß betonen, daß wir uns auf unbekanntem Terrain bewegen. Der Unfall bei den Grabungen hat uns nicht daran gehindert, das Gewölbe zu erreichen. Wir müssen hinein. Das dort verborgene Wissen wird unsere Technologie um hundert Jahre oder mehr voranbringen.« Der General hob seine gewaltige Hand. »Ich glaube, wir haben alle eine gemeinsame Motivation. Dr. delFord, Ihre Vermutungen im Zusammenhang mit Eingeborenenlegenden sind von höchster Inspiration. Auch Dr. Dean hat schon daran gedacht.« Der Australier richtete sich in seinem Sitz auf. »Was den Stamm der Pitjandjara anbetrifft, bin ich kein Experte. Aber ich habe während der letzten paar Tage alle Unterlagen einfliegen lassen, und es paßt zusammen. Wie Victor schon erwähnte, wurden sie zu ihrem eigenen Schutz umgesiedelt. Das ist in sich eine Tragödie, da sie erst während der letzten Dekade allmählich wieder von den Missionsstationen zurückgekommen sind. Sie haben ihre Stammesgebiete direkt am Ayers Rock, und ich glaube, daß ihre Stammesheiligen uns eine Menge über das Gewölbe erzählen könnten. Die meisten ihrer Mythen sind auf dieses Gebiet begrenzt – bis auf eine, die man auch bei Tausende von Kilometern entfernt lebenden Stämmen gefunden hat, die eine völlig andere Sprache sprechen.« »Die Regenbogenschlange«, sagte Bill und nickte. »Hugh hat mir erzählt, daß sie Fossilien suchten, als Sie das Tor fanden. Aber ist nicht das Tor selbst die Quelle dieser Mythen?« »Das war mein erster Gedanke, aber das geht noch lange nicht weit genug. Lassen Sie mich erklären. Wie die meisten australischen Eingeborenen glauben auch die Pitjandjara, daß während der Zeiten des tjukurapa – der Erschaffung der Welt – eine Anzahl von kosmischen Wesen verschiedene gewaltige
und mutige Taten vollbrachten, die dem Universum seine Gesetze und seine gegenwärtige Gestalt gaben. Als das Träumen auf geheimnisvolle Weise endete, erschienen, wo diese Taten vollbracht worden waren, überall Hügel, Wasserläufe, Felsen und so weiter. Ayers Rock selbst ist ein riesiger Katalog dieser mythischen Wesen und ihrer Taten.« »Sie glauben, daß es sich um Außerirdische handelt?« »Ganz gewiß nicht.« Der Anthropologe schien beleidigt. »In der Hauptsache handelt es sich um das übliche kosmogonische Material, um eine animistische Version der Gestalttheorie Platos. Die Wesen, derer man in den Mythen gedenkt, sind die großen Totems: die Eidechsenmänner Kanju und Linga, die Bachstelzenfrau Tjinderi-tjinderiba, die Mala-Hare-Känguruhs, Kulpunya, der Geisterhund. Diese alle beziehen ihre liturgische Bedeutung aus der täglichen Suche nach Nahrung, Obdach und Sicherheit. Die Legenden jeder vergleichbaren vortechnologischen Gesellschaft haben entsprechende Inhalte. Aber es gibt ein Wesen, das sich von den anderen Gestalten des tjukurapa grundlegend unterscheidet – die Regenbogenschlange, die bei den Pitjandjara Wanambi heißt.« »Jung würde sie wahrscheinlich im kollektiven Unbewußtsein ansiedeln«, sagte Bill. »Wenn ich mal so sagen darf, erinnert mich das Ganze an andere phallische Potenzsymbole – Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange auf dem Pyramidentempel in Teotihuacan, die Midgardschlange, den ägyptischen Buto und die Große Schlange der Hethiter, die mit dem Wettergott kämpfte. Gewiß sind alle diese Gestalten verbreitete Primärvorstellungen, die aus einem veränderten Bewußtseinszustand entstehen.« »Sie haben die berühmteste nicht erwähnt«, sagte Fedorenko leise. »Satan – die Schlange, die uns versuchte, damit wir uns durch Wissen ruinieren.«
»Verdammte Scheiße«, sagte Lowenthal angewidert. »Warum kommen Sie nicht raus mit der Sprache und erzählen uns gleich, daß es Dinge gibt, die der Mensch nicht wissen darf?« Der russische Physiker lächelte traurig. »Harris, Pawlow hätte Sie wie einen Sohn geliebt. Wußten Sie, daß er seine Studenten mit Geldbußen belegte, wenn sie ein mentalistisches Wort äußerten? Bill, Dr. Lowenthal ist unser Chefpsychologe. Er hat eine geringe Meinung von unserer Arbeitshypothese. Wenn Sie es amüsant finden, zu erleben, wie ein exzellenter Verstand ptolemäische Epizyklen um eine sterile Weltschau webt, dann bitten Sie Harris um eine Erklärung für die automatischen Niederschriften, die der junge Maus Dean produziert.« »Gentlemen, ich muß darauf bestehen, daß Sie die Form wahren«, knurrte der General. »Solche persönlichen Angriffe sind unpassend.« »Ich behaupte ja nicht, daß die Schlange ein Archetyp oder ein Freudsches Symbol ist«, sagte Bill rasch. »Ich wollte nur auf die geographische und historische Allgegenwart dieser Vorstellung hinweisen. Alf, wollen Sie jetzt die Wanambi mit diesen mehr allgemeinen Gegebenheiten oder dem Gewölbe selbst in Beziehung bringen? Wenn das der Fall ist, möchte ich mich lieber auf Harris’ Seite schlagen.« »Wie anders wollen Sie es sonst betrachten? Hören Sie zu, ich bin Strukturalist und Funktionalist. Ich habe einmal eine Abhandlung geschrieben, von der Castaneda sich heute noch nicht erholt hat, und ich beharre auf meinem Standpunkt. Ich bin kein Okkultismus-Fan.« Dean bekam Atembeschwerden, und er schwieg eine Weile. Seine Pupillen schienen sich zusammengezogen zu haben. »Bill, ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben, aber ich glaube, die Zauberer der Pitjandjara waren auf irgend etwas
aus dem Gewölbe eingestimmt. Sie verstanden es nicht und mußten es in Begriffen aus ihrer Weltschau als Jäger und Sammler ausdrücken. Es ist in ihre Legenden eingebaut.« Lowenthal war deutlich aus der Diskussion ausgeschieden. Jelisejew lachte vor Vergnügen. Er war der sowjetische Armeeingenieur, dessen Team den Tunnel zum Gewölbe entworfen und gebaut hatte. »Trotz der Skepsis unseres Kollegen; ich habe aus der Wissenschaftsstadt in Nowosibirsk Geschichten gehört, über die ich gestaunt habe. Vielleicht habe ich die Behauptungen der Kirlianer zu schnell akzeptiert. Aber die Psychologie hat tatsächlich Wirkungen erzielt, denen wir Ingenieure nichts entgegenzusetzen haben. Deshalb beleidigen sie uns, indem sie sich Zauberer nennen. Wir müssen aufpassen und lernen. Spott ist kein Ersatz für vorurteilsfreies Studium.« »Vor zwei Wochen«, sagte Alf Dean, »hätte ich eine solche Möglichkeit nicht einmal in Erwägung gezogen. Seitdem habe ich erlebt, was dieser gottverdammte Ort alles aus einem Kind herausquetschen kann, das einen gravierenden Hirnschaden hat.« »Mein Gott! Dies ganze Projekt fällt ins Mittelalter zurück.« Der Psychologe fuhr herum und nickte Bill zu, ohne ihn anzusehen. »Diesen Mystiker aus der geistesgestörten Randzone einzufliegen geschah gegen meine ausdrückliche Empfeh…« Der Ton des Generals kündete Unheil. »Dr. Lowenthal, Sie werden sich einer minimalen Höflichkeit befleißigen.« »Es ist ein radikaler Unterschied«, sagte der Mann wütend, »ob jemand vorurteilslos ist oder ob er ein Loch im Kopf hat. Okay, kleine grüne Männer in fliegenden Untertassen haben vor fünfundzwanzig Millionen Jahren auf dem Mond ein Haus gebaut. Das wissen wir. Großartig. Es gibt absolut keinen Grund, aus diesen dürftigen Prämissen den Wahnsinnsschluß
zu ziehen, daß sie gesund und munter sind und unter dem großen Felsen lauern, um uns zu verschlingen.« Bills Lider zuckten. »Uns zu verschlingen?« fragte er. Im Raum war es absolut still. »Nun, die Wanambi ist nicht gerade das freundlichste Biest der Welt«, gab Alf Dean zu. »Wenn man den Pitjandjara glaubt, ist die unter dem Ayers Rock besonders bösartig. Sie lebte angeblich in einer Höhle unter dem Uluru-Wasserloch oben in der Tjukiki-Schlucht. Wenn jemand aus dem Loch trank oder dort ein Feuer anzündete, war die Wanambi ein wenig verärgert.« »Die Rückkehr der Unterdrückten«, sagte Bill schwach. Der Anthropologe nahm ihn ernst und schüttelte den Kopf. »Freud würde Schwierigkeiten haben, wenn er erklären wollte, warum das Gewölbe direkt unter dem UluruWasserloch liegt… dreitausend Meter unter der Erde.« »Wenn die Stammesältesten das Wetter draußen jetzt sehen könnten«, sagte Lowenthal verächtlich, »würden sie zweifellos auch das auf die üble Laune der Wanambi zurückführen.« Fedorenko sprang sofort darauf an: »Und in gewissem Sinne hätten sie recht. Der abrupte Wetterumschwung wurde allein durch unsere Eingriffe verursacht. Aber ich könnte mir vorstellen, daß sie feiner unterscheiden können. Trotz allem, was Sie über die menschliche Aura gesagt haben, Bill, stimmt eine Tatsache Sie nicht besonders nachdenklich? Wenn die Wanambi wütend ist, so heißt es, erscheint sie als Regenbogen, bevor sie den Eindringling tötet.« Ungläubig sagte Bill: »Sie halten die Wanambi also für ein außerirdisches Wesen, das nach diesen vielen Millionen Jahren noch lebt? Und Sie glauben, daß die Sonden… ihn geweckt haben?« »Vielleicht ist er die ganze Zeit wach gewesen.«
»Wir dürfen kein Risiko eingehen«, sagte Chandler. »Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß es sich bei der Wanambi um ein lebendes Wesen von den Sternen handelt. Und wenn das stimmt, haben wir dieses Wesen gestört, und es wird wahrscheinlich nicht sehr freundlich darauf reagieren.« »Um Himmels Willen«, rief Lowenthal wütend. »Colonel, Ihre Kommunisten schlafen im Nebenzimmer. Jetzt brauchen Sie unter dem Bett wenigstens ein Ungeheuer.« Er spreizte die Finger. »Erstens: Gewisse Elemente der Station Selene Alpha funktionieren nach fünfundzwanzig Millionen Jahren auf dem Mond immer noch. Zweitens: Das Gewölbe ist mindestens ebensolange völlig versiegelt, und das in weit besserem Zustand. Drittens: Seine gegenwärtige Aktivität weist deutlich darauf hin, daß es sich um nichts weiter als eine automatische Verteidigungsanlage handelt. Viertens: Das Tor hat tödliche Wirkung, strahlt schöne Farben aus wie ein Regenbogen, und in seiner Nähe sind überall Warnzeichen der Eingeborenen angebracht. Fünftens: Der Junge, an dem Sie Ihre absurden Hypothesen festmachen, ist klinisch gesehen zurückgeblieben und schwachsinnig, und zweifellos kotzt er Informationsbrocken aus, die er über die Jahre angesammelt und eidetisch gespeichert hat. Sechstens: Die Lösung liegt in diesem verdammten Gewölbe, und wenn wir mit dem Arsch hochkommen und eine Abschirmung entwickeln, unter deren Schutz wir es betreten können, werden wir diese ganze Scheiße dahin spülen, wohin sie gehört.« »Warum sollten Sie das Gewölbe nicht betreten können?« fragte Bill freundlich. »Bisher weiß ich nur, daß es elektromagnetische Felder zerstört. Gewiß ist die Energie eines menschlichen EM-Feldes nicht stark genug, die Sache auszulösen, oder Sie hätten niemals Ihren Tunnel graben können.«
»Es ist ein böser Ort«, sagte Alf Dean. Auf seiner Stirn standen plötzlich Schweißperlen. »Wenn Maus mich nicht herausgeholt hätte, wäre ich tot.« Fedorenko sagte: »Das Gewölbe verursacht… etwas… bei den Männern, die hineingehen. Es schädigt ihren Körper und zerstört ihr Gehirn. Alf ist bisher der einzige, der sich wieder erholt hat, nachdem er tief in die Zone eingedrungen war. In den Randbezirken ist das nicht unmöglich, aber ganz in der Nähe des Gewölbes werden die Leute unwiderruflich verrückt. Nicht alle sterben. Und sie weisen keine äußeren Verletzungen auf.« Er suchte nach Worten, aber ihm fielen keine ein. »Die Wanambi hat sie ausgelaugt?« »Oder vielleicht unterliegen Raum und Zeit an diesem Ort anderen Gesetzen. Oder vielleicht haben sie das Ding an sich gesehen, der Wahrnehmungskategorien, mit denen wir es befrachten, entkleidet. Kameras funktionieren dort unten nicht. Das Gewölbe beeinträchtigt die chemischen Reaktionen in den Filmemulsionen.« . Bill schaute von einem Mann zum anderen. Schweigend und mit unbewegten Gesichtern hielten sie seinen Blicken stand. Angst wühlte in seinen Eingeweiden. Er versuchte, es sich selbst gegenüber zu leugnen. Wie betäubt mühte er sich, Gegenargumente zu finden. »Harris hat recht. Nichts kann so lange leben.« »Vielleicht ist die Regenbogenschlange ein intelligenter Computer«, sagte Jelisejew ruhig, »den die Kraftfelder des Gewölbes bis heute in perfektem Zustand erhalten haben.« »Wir wissen nicht genau, ob auf Selene Alpha alle gestorben sind«, sagte der Astronaut. »Sie könnten sich in die Sicherheit des Scheintods geflüchtet haben. Die NASA beschäftigt sich damit. Wir wissen, daß sie von den Sternen stammen – künstlicher Schlaf muß als fast sicher vorausgesetzt werden. Glauben Sie mir, Bill, es ist durchaus denkbar, daß einer oder
mehrere der Fremden im Gewölbe das Bewußtsein wiedererlangt haben und ganz einfach Kraft und Informationen sammeln, bevor sie sich dazu entschließen wieder aufzutauchen.« »Um die Welt zu erobern?« fragte Bill ironisch. Aber ihm stand das scheußliche Bild einer riesigen, auf einem Thron zusammengerollten Schlange vor Augen, eine Kindheitsvorstellung, die Menschenfleisch verschlingt und deren rote Augen intelligent und grauenhaft in der Dunkelheit leuchten. »Oder uns aus Unwissenheit und Elend zu erlösen«, sagte General Sevastyianow gewichtig. »Dialektisch betrachtet, und das haben Ihre Gruselgeschichtenschreiber nie begriffen, steht fest, daß die Angehörigen einer Spezies um so großzügiger und humaner sind, je höher diese Art und ihre materielle Kultur entwickelt ist. Und wir müssen annehmen, daß Wesen von den Sternen einen sehr hohen Entwicklungsstand aufweisen.« »Mit Nuklearwaffen«, murmelte Lowenthal zynisch, »und Gulag-Galaxien.« »Vielleicht haben sich die Aggressoren inzwischen selbst zerstört.« Ein Band schien sich immer enger um Bills Stirn zu spannen, ein weißer Dunstschleier bewegte sich in langsamen Wellen durch sein Gesichtsfeld. Ich soll dort hineingehen, sagte er sich. Ich werde es nicht tun. Sie müssen verrückt sein. Mit allem falschen Elan, den er aufbringen konnte, lehnte er sich über den Tisch und sagte: »Dann ist also der Vierzehnjährige der einzige Schlüssel, den Sie bisher gefunden haben. Gibt es irgendwelche überprüfbaren Anhaltspunkte, wieso der Junge gegen das Feld immun ist?« Major Northcote, der leitende Arzt, sagte: »Keine, die uns weiterbringen. Wir haben das Kind nach allen Regeln der Kunst getestet. Er ist völlig verwirrt, aber das war er schon
vorher. Zwei Tatsachen sind bekannt. Funktional war er fast total apathisch. Jetzt aber plappert er wie ein Tonband, das man in der Kongreßbibliothek aufgenommen hat. Und seine Anwesenheit in der Zone scheint seinen Onkel irgendwie vor einer permanenten Psychose bewahrt zu haben.« »Davon abgesehen«, fügte Hugh hinzu, »läßt eine semantische Analyse seiner mündlichen und schriftlichen Berichte vermuten, daß er zu einer Verbindung zwischen der hypothetischen Intelligenz im Gewölbe zu uns geworden ist.« »Sophisterei eines Anfängers«, sagte Löwenthal. Er öffnete seine Mappe und zog einige Bogen blaßgrünes Papier heraus. »Wenn Sie sich an unserem geistigen Leitfaden erbauen wollen, delFord, tun Sie gut daran, diese Kopien zu studieren. Dies ist sein erstes Interview mit Northcote: ›Wie sehr auch Faktoren aus dem technologischen Umfeld Determinanten des Verhaltens sind, so werden doch die Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt und Technologie von ihren Vorstellungen und Ansichten über sich selbst und ihre Mitmenschen, ja, über das gesamte Universum bestimmt. Myrna? Hallo, ist das – Hier scheint eine Querverbindung. Darin scheint kaum ein Vorteil zu liegen, denn die wesentliche Aufgabe der Theorie, die sich hier aufbaut, ist nicht, abstrakte Gesetzmäßigkeiten zu kodifizieren – dies ist die Hölle, und ich stecke darin – und nicht, über die Fälle hinweg zu verallgemeinern, sondern innerhalb der Fälle zu verallgemeinern.‹« Wie vom Donner gerührt sagte Bill: »Und das halten Sie nicht für wichtig, Harris? Ein aphasischer Vierzehnjähriger – « »Das meiste«, sagte der Psychologe wegwerfend, »ist direkt aus Clifford Geertz: Die Deutung der Kulturen zitiert. Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, ist der Vormund des Kindes Anthropologe. Fahren wir fort: ›Wenn man die Schizophrenie als ein Phänomen der Wechselwirkungen innerhalb der
jeweiligen Familie betrachtet, werden die Umstände verständlich. Unvernünftige Versuche, diese Befürchtung in ein System von Regeln umzusetzen, wie Laing sie in jüngster Zeit unternommen hat, ergeben nur die Nachahmung der von ihm als unzureichend verworfenen Methode der Problemannäherung.‹ Diese Stelle konnten wir bisher nicht finden, aber es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Bruchstücke einer von ihm aufgeschnappten Unterhaltung. Hört sich das für Sie an wie eine Mitteilung Außerirdischer, Dr. delFord?« Bill hatte seine eigene grüne Kopie gefunden, und seine Augen glitten erstaunt die sauber gedruckten Zeilen entlang. Er schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Er redet von Einfühlungsvermögen«, sagte er leise. »Mein Gott.« Er las einen Kommentar unter der kursiv gesetzten Überschrift: Die beiden folgenden Absätze wurden Nigel Calders Das Spiel des Lebens, 1973, p. 130 entnommen: Es ist allerdings zuwenig darüber bekannt, warum bestimmte Arten oder Gruppen von Arten aussterben. Neue Arten mögen in mancher Hinsicht bei den vorherrschenden Umweltbedingungen »besser« geeignet sein, aber Spekulationen über die genetische Verschlechterung der sterbenden Art gehen ins Leere. So hieß es, daß sich bei Tieren, die lange in einer stabilen Umwelt leben, die Auswahl an verfügbaren alternativen Genen in ihren Populationen vermindert, wodurch sie jede Fähigkeit der Evolution bei veränderten Bedingungen verlieren. Das stimmt einfach nicht. Tiere, die in Tiefen von mehr als tausend Metern auf dem Meeresgrund leben, erleben eine genauso beständige Umwelt wie jedes Landtier, aber dennoch besitzen sie die gleiche genetische Variabilität wie Tiere, die auf dem Land in flachem Wasser leben.
Aufgeregt entnahm er seiner Mappe ein dickes rosa Bündel. Hier lautete die Überschrift: Unredigierte Kopie. Das Material wurde in großer Eile mit dem Bleistift geschrieben. 14. Dezember: Das Leben der Gesellschaft und das Leben der Individuen als Organismen entsteht aus Erbgut und Umwelt durch die Mechanismen der genetischen Bestimmung und der ökologischen Anpassung [zwei Zeilen unleserlich] Gene spezifizieren die Möglichkeiten des Individuums innerhalb des hemmenden selektiven Einflusses der physischen Umwelt soziale Innovation und eine der Mutation ähnliche Auswahl können die durch die herrschende Ordnung gesetzten Regeln durchbrechen so ist der soziale Phänotyp unter dem Einfluß des individuellen Genotyps mutierbar und der individuelle Phänotyp wird durch den sich ändernden sozialen Genotyp bestimmt, während der Einfluß der Mutation von Kontrollmechanismen gesteuert wird Insekten sind phylogenetisch stabiler als Säugetiere sie haben die Fähigkeit polymorpher und polytypischer Veränderung die selbst Element des sozialen Genotyps ist und ihrerseits in verschiedenem Ausmaß mutierbar ist Vektor der vorherrschenden Immunitätsebene mutagen wirkende Kräfte in der Umwelt lassen bei kritischen Bedingungen den schlecht angepaßten sozialen Genotyp zugunsten der jetzt lebensfähigen niederen Art ausscheiden und die Lebensfähigkeit der Mutagene und das soziale immune Abwehrsystem verhindern die klonale Beeinträchtigung der Immunität gegen Krankheiten das wird erreicht indem neue mit überlebten Ideen konfrontiert werden.
Mein Gott, dachte er. Dies ist kein Kraftakt des Gedächtnisses. Fedorenko hat recht. Das Kind übermittelt uns etwas. Woher?
Nicht von irgendwelchen Fremden im Gewölbe. Vielleicht von den anderen, die an diesem Projekt mitarbeiten? Das kollektive Unbewußte? Und der Junge erzählt uns etwas, etwas das er genau wußte. Außerkörperliche Erfahrung, dachte Bill. Dieser erhebende Augenblick kosmischen Bewußtseins, das Licht, die schreckliche Trennung von den körperlichen Beschränkungen. Irgendwie wurde das durch das Gluonenfeld ausgelöst. Und irgendwie bewirkt die Verteidigungszone des Gewölbes einen noch radikaleren Bruch. Und treibt die Männer in den Wahnsinn. Wenn, überlegte er, der Eindringling nicht schon verrückt ist. Ohne Grenzen und ohne Beschränkungen des Ich. Wie der autistische Junge Hieronymus Dean, dachte er voller Furcht. Sewastyianow klopfte auf den Tisch, um die Anwesenden zur Ordnung zu rufen. »Gentlemen, ich denke, die übrigen Punkte der Tagesordnung haben bis nach dem Essen Zeit. Ich danke Ihnen.« Er winkte delFord zu sich. »Ich möchte gern, daß Sie sich jetzt den Jungen ansehen, Doktor«, sagte er so leise, daß die anderen, die gerade den Raum verließen, es nicht hören konnten. »Ich finde es erfrischend, wie Sie das Problem angehen, delFord. Um ehrlich zu sein, Ihr Kollege Dr. Lowenthal kotzt mich an.« Bill mußte laut lachen. Das hatte er gewußt, aber er hätte nicht gedacht, daß der Mann es aussprechen würde. Wenn Bill eine Uniform getragen hätte, wäre das wohl auch nicht geschehen. Oder doch? Zivilisten waren für diese Leute jedenfalls der letzte Dreck. »Das freut mich, General.« Hugh erwartete ihn an der Tür.
Irgendwo unter der Kuppel arbeitete der seltsame Junge wie Joseph Smith: er übersetzte die goldenen Tafeln durch das Prisma seines defekten Verstandes. Bill delFord freute sich. Er war sehr gespannt auf die weitere Entwicklung.
7. Ayers Rock
Obwohl er Speisesaal genannt wurde, war der Raum mit Sicherheit die Offiziersmesse. Auf dem Betonfußboden lag ein weicher Teppich. Gemaserte Holztäfelung vermittelte den Hungrigen die Illusion, daß sie nicht unter einer vorfabrizierten, in einer Sand wüste verankerten Kuppel saßen. Auf den Tischen lagen makellose weiße Leinendecken; in den Weingläsern spiegelten sich Lichtstrahlen. Bill setzte sich mit Hugh und Alf an einen Tisch, und ein unaufdringlicher Bursche, der sein Gewerbe zu verstehen schien, nahm ihre Bestellungen entgegen. Eine spürbare Trennlinie lag zwischen Russen und Amerikanern, außer an einem lauten Tisch, wo genausooft Taschenrechner wie Gläser geschwungen wurden. Mit dröhnender Stimme wurden Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, freundlich aber auch leidenschaftlich und obszön, und dazwischen war ein Durcheinander von Simultanübersetzungen zu hören. »Die Ingenieure«, erklärte Lapp. »Eine primitive Spezies ohne das geringste Nationalgefühl.« Er prüfte die Speisekarte und bestellte Suppe, Schnitzel und einen komplizierten Nachtisch, der aus einer Mangofrucht und einem Oberbau in Gestalt einer klebrigen Verzierung bestand. Alf Dean schüttelte sich und entschied sich für einen Salat mit Hühnerfleisch. Bill wählte dasselbe. »Wein?« »Zum Lunch?« Der Australier sah ihn entsetzt an. »Bringen Sie uns Carlton Draught«, bat er den Ober und hatte damit auch die anderen überzeugt.
Das kalte, bittere Bier verursachte Bill Zahnschmerzen. Alf ergriff sein Glas mit einer geschickten Handbewegung und leerte es auf einen Zug, aber seinen Salat betrachtete er mit Mißvergnügen. »Dieser Laden hat mir jeden Appetit genommen. Noch vor einigen Monaten hätte ich zwei Astronauten unter den Tisch gegessen.« »Ein Mädchen, das ich kenne, hat das auch gemacht«, sagte Hugh und schob die Suppenschüssel zur Seite. »Mitten beim Essen ging sie plötzlich auf die Knie und – « »Sie sind ein oraler Abweichler«, sagte Bill. »Wie in aller Welt haben Sie mit einem solchen Psychogramm eine auch nur einigermaßen günstige Beurteilung bekommen?« »Vielleicht habe ich in dem Punkt versagt«, gab Hugh zurück, »aber mein Problem wurde gelöst.« Bill verschluckte sich und nahm sein Glas zur Hand. »Ich habe schon schlechteres getrunken«, befand er. »Was ist das? Känguruhpisse?« »Das war das ursprüngliche Rezept«, sagte Alf und lächelte gequält. »Unglücklicherweise hat ein pensionierter Gentleman aus Kentucky inzwischen das letzte Tier für seine Imbißkette aufgekauft.« »Ich habe mich schon immer gefragt, warum sie das Schnellimbiß nennen. Alf, ich nehme an, Sie stehen auf keinem besonders guten Fuß mit einem gewissen Colonel aus der Heimat der Tapferen.« »Chandler hat eine Abneigung gegen hochmütige Eingeborene.« »Der Häßliche Amerikaner? Tut mir leid, Alf. So einen gibt es bei jedem Haufen.« »Aber hier haben sie sich auf so was spezialisiert«, sagte Hugh. »Warten Sie bis Sie Sawyer kennenlernen.« »Der Kerl, der unten das Kommando hat?« »Ja. Ein guter alter Junge. Mit Panzerfaust und Bibel.«
Die Salatsoße war ausgezeichnet und das Geflügel frisch. Alf stocherte immer noch in seiner Portion herum. »Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran, die Polizei des ganzen Universums zu spielen«, sagte Bill. »Und wenn es um ein internationales Projekt dieser Größenordnung geht, werden sie kaum Tauben schicken.« »Ich verstehe ja, daß eine gewisse Dynamik erforderlich ist«, sagte Alf, »aber wenn ich an Chandlers Einstellung denke, tut mir der Arsch weh. Verdammt noch mal! Mein Volk lebte schon hier, als Chandlers Vorfahren noch die Neanderthaler beklauten. Ich wüßte nicht, daß auch nur einer von uns einen Treueeid auf das Sternenbanner geschworen hätte.« »Es wird dauernd behauptet, daß Australien ein neues Land ist«, sagte Hugh. »Ich selbst bin Amerikaner der ersten Generation. Wenn der Wind hinter dem Boot nicht so scharf gewesen wäre, hätten sie mich als einen aus Atlantis registrieren müssen.« Er winkte nach seinem Nachtisch. Der kam sofort, und der Astronaut fiel darüber her, während Bill sein letztes Stück Gurke mit Joghurt auf die Gabel nahm. »Gibt es eigentlich für Astronauten keine Gewichtsbeschränkung?« »Die letzten drei Wochen vor dem Start leben wir Diät.« »Sie erinnern mich sehr an meinen Sohn, Lapp. Er frißt wie ein Schwein und hat ein freches Maul. Haben Sie Kinder, Alf?« »Nein.« Alf hatte die zweite Flasche geöffnet und schenkte sich daraus sein drittes Bier ein, wobei er sorgfältig Größe und Pichte der Schaumkrone überwachte. »Verheiratet?« »Vor zwei Jahren geschieden.« Bill schwieg einen Augenblick. »War es schlimm?« fragte er dann.
»Ich habe sie zum Teufel gejagt. Sie redete zuviel.« Grimmig sah der Anthropologe Hugh an, aber der Astronaut gab den Blick arglos zurück. Er hat seine dummen Bemerkungen unter Kontrolle, registrierte Bill mit Befriedigung. »Karen fiel ständig Leuten, die sie kaum kannte, dadurch auf die Nerven, daß sie ihre ganze Lebensgeschichte erfahren wollte.« Wie selbstverständlich kam Hugh aus seinem Sitz hoch und beugte sich über den Tisch. »Ich muß gehen, Leute. Ich werde mich erkundigen, wie es Maus geht, und den Leuten sagen, daß Sie ihn bald besuchen. Nein, nein, trinken Sie in Ruhe Ihr Bier aus, Bill. Sie werden sich schon nicht verirren. Alf kennt den Weg.« Die Ingenieure waren schon gegangen, und einige Russen nahmen Platz und brüllten nach der Speisekarte. Es waren keine Armeeangehörigen. Sie brüllten aus alter Gewohnheit, wußte Bill. Wenn sie zu Hause in Rußland nicht laut schreien, dauert es den ganzen Tag. »Ich bin nicht neugierig, Alf, aber mein Hauptinteresse gilt Maus. Ich muß soviel wie möglich über seinen Hintergrund erfahren, und sein Hintergrund sind wahrscheinlich Sie.« »Ja.« Dean strich sich mit der Hand über das Gesicht. »Entschuldigung. Fragen Sie ruhig. Geht es um medizinische Dinge?« »Das kann ich aus den Akten erfahren. Um es direkt zu sagen, ich frage mich, wieso der Onkel eines blonden europäischen Jungen ein schwarzer Eingeborener ist. Maus ist doch der Sohn Ihrer Schwester, nicht wahr?« »Eleanor ist meine Stiefschwester. Ich wurde ein paar Monate nach meiner Geburt von Iaian Dean adoptiert.« »Aha. Von der Genetik her schien es auch recht unwahrscheinlich. Sind solche Adoptionen üblich?« »Ganz und gar nicht«, knurrte Dean. »In diesem rassistischen Scheißhaufen ist es die Regel, daß schwarze
Stammesangehörige von Mischlingen getrennt und beide Gruppen möglichst von der Öffentlichkeit ferngehalten werden, damit die Anwesenheit dieser widerlichen Wesen nicht Frauen und Kinder in Angst versetzt. Aufgrund bestehender Gesetze wurden die Schwarzen von den Behörden in Reservaten und Lagern angesiedelt, und zwar ›zu ihrer eigenen Sicherheit‹. Hier spielen natürlich berechtigte Interessen eine Rolle. Wir waren ökonomisch wertlos, also versuchte man, uns auszurotten. Hier gab es keine Baumwollplantagen, Doktor. Die afrikanischen Sklaven in Amerika wurden wenigstens ebensogut untergebracht und ernährt wie das übrige Vieh. Wir durften natürlich nicht wählen, aber dafür fütterte man uns mit dieser sanften Demutsscheiße über den gütigen Jesus. Ich war schon fast erwachsen, als durch Volksentscheid beschlossen wurde, uns beim nationalen Zensus mitzuzählen.« Das Bier verwandelte Deans Wut in Geschwätzigkeit. »Erwachsene Männer und Frauen wurden zu Mündeln des Staates. Wenn sie heiraten wollten, brauchten sie eine Genehmigung. Ich weiß, daß ich damit nicht Ihre Frage beantworte, Bill, aber das ist der Hintergrund. Mischlinge – ›die Gelben‹ – wuchsen manchmal bei Weißen auf, ob aus Gewissensgründen oder aus Freundlichkeit. Viele wurden ihren Müttern weggenommen und im Süden in Waisenhäuser gesteckt, und manchmal wurden sie von Weißen adoptiert. Schließlich hatten wir halbwegs menschliche Gene. Und für diese wenigen gab es einen Hoffnungsschimmer. Aber nicht für mein Volk.« Bill beobachtete das dunkle Gesicht des Mannes, seine Leidenschaft und seine Kraft. »Ich nehme an, Sie sind ein reinblütiger Eingeborener.« »Ich bin ein besonderer Fall. Iaian Dean war ein junger Armeearzt, der während des Krieges nach Darwin versetzt
wurde. Seine Frau hielt mich für das reizendste Ding, das sie je gesehen hatte. Sie mußten mich meiner Mutter praktisch aus dem Leib schneiden.« Bill staunte über diesen logischen Salto. Aber der Mann sollte seine Geschichte ruhig auf seine Art erzählen. Nach einer längeren Pause fuhr Alf fort: »Wissen Sie, später ging ich wieder zurück. Ich wollte meine Eltern fragen, warum sie mich fortgegeben hatten. Sie hatten es gar nicht getan, die armen Schweine. Eine japanische Bombe hatte meinen Vater in Stücke gerissen und meine Mutter so grauenhaft verletzt, daß sie drei Tage später starb. Eine verdammte japanische Bombe in einem Krieg, der uns nichts anging. Für uns sind sie alle Weiß, delFord. Er hieß Puyungarla. Vom Stamm der Ngularrnga. Die meisten sind inzwischen verschwunden – nur ein paar dreckige alte Männer und Frauen leben noch in den Randgebieten der Stadt, ernähren sich von Abfall und saufen sich blind.« Seine Stimme wurde leiser. »Wanntukgara. Sie war schön. Eine wunderschöne schwarze Frau.« Deans Hand löste sich von dem Glas mit dem perlenden Getränk. Die Teller waren schon vom Tisch genommen worden. Bill bestellte für beide Kaffee. »Bedauern Sie diese Adoption?« »Ich bin undankbar, nicht wahr? Hier sitze ich, das höchstqualifizierte Baumkänguruh im ganzen Land. Die anderen haben Glück, wenn sie die Oberschule schaffen. Der großartige Alf Dean aber lehrt Anthropologie von der hohen papierenen Warte eines Doktors der Philosophie.« Baumkänguruh. Ein abscheuliches Wort. Bill hatte das Wort seit seiner Ankunft in Australien schon mehrere Male gehört. Ein schwarzer Mensch ist kein Mensch, sondern ein Baumkänguruh. Er empfand tiefes Mitgefühl für Dean. Verglichen mit dem Leben dieses Mannes, wenn es auch oberflächlich gesehen glücklich und erfolgreich verlaufen war,
hatte sein eigener Aufstieg aus den Docks von Liverpool nach den Regeln von Gentlemen stattgefunden. »Die Deans hatten dann später ein eigenes Kind?« fragte er Alf. »Ja. Wiederauflebende Fruchtbarkeit. Sie war ein spätes Kind. Und natürlich mochte sie mich nicht. Die Liberalität der Eltern schlug bei ihr ins Gegenteil um. Als sie noch klein war, fand sie es recht interessant, einen schwarzen Bruder zu haben. Als sie heranwuchs, war ich Konkurrenz. Was mir schon durch meine Geburt zugefallen war, mußte sie sich durch eigene Anstrengungen mühsam erwerben. So geriet sie schon früh an Drogen und konnte sich nie davon freimachen. Maus war ein Betriebsunfall.« Maus konnte warten. Bill lenkte das Gespräch auf Alfs eigene Geschichte zurück. »Sie suchten also Ihre leiblichen Eltern und unterzogen sich den Mannbarkeitsriten? Ich habe die vernarbten Male auf Ihrer Brust bemerkt.« »Die Deans wollten es mir nicht sagen. Aber die Ngularrnga wußten, wer ich war. Sie erklärten mir, zu welcher Hautfarbe ich gehörte, nannten mir meine Totems und gaben mir eine Liste meiner potentiellen Bräute. Es war ein Jammer; es gab nur zwei, beide über Vierzig. Eine hatte Syphilis. Ich glaube, sie waren erleichtert, als ich ihnen sagte, daß ich schon verheiratet sei. Aber ich blieb sechs Monate. Aß Hundefutter aus Dosen und trank Muskateller aus Plastikflaschen. Dann initiierten sie mich. Ich war schon in der Entbindungsanstalt beschnitten worden. Statt dessen versahen sie mich mit diesen hübschen Dekorationen. Sie sehen den Mann des Schweigens vor sich, Bill. Alf Djanyagirnji. Was ich von der Jagd verstehe, ist nicht der Rede wert, aber ich habe den Lorrkun und den Yabudurawa getanzt.« Er schaute weg. »Sie hassen die Toten. Im Lorrkun verscheuchen wir sie durch Gesang, bitten sie, von
dem ›Anderen Ort‹ nicht wieder zurückzukehren. Cooma el ngruwar…« Vorsichtig sagte Bill: »Aber Sie haben sich Ihnen nicht angeschlossen. Ein schwarzer Amerikaner in Ihrer Situation wäre vielleicht zu den Schwarzen Panthern gegangen, ein Führer der Bürgerrechtsbewegung geworden – « Alf verhielt sich, als hätte er es nicht gehört. »Verdammt, der Kaffee hier ist gut, das muß man ihnen lassen. Ich kann keinen Schnaps mehr vertragen. Das Scheißding da unten hat meinen ganzen Stoffwechsel versaut.« »Geben Sie mir Ihr Handgelenk. Hmm, ein bißchen langsam. Ihre Pupillen sind stärker kontrahiert, als sie sein sollten. Ruhen Sie sich ein wenig aus.« »Moment mal. Mir fehlt nichts. Ich kann Sie hier doch nicht allein herumlaufen lassen. Dies ist ein verdammter Irrgarten.« Hatte Alf das Gefühl, Maus gegenüber versagt zu haben? »Hugh wird mich schon finden, kommen Sie, ich bringe Sie auf Ihr Zimmer.« »Die Familiensaga der Deans ist noch nicht zu Ende. Ich werde Ihnen den Hitzetod meiner Ehe ersparen. Meistens war ich in entlegenen Landstrichen, wo ich Feldforschung trieb, und meine nette weiße Frau Karen wollte kein Kind. Sie hielt einen ständig abwesenden Vater für eine schlechte Voraussetzung, wenn es darum ging, ein Kind aufzuziehen. Wir waren drei Jahre verheiratet, als meine schwachsinnige Schwester Eleanor schwanger wurde und das Gehirn des Babys durch massive Einnahme von Drogen zerstörte. Seitdem war sie öfter in der Klapsmühle als draußen. Während der ersten paar Jahre sorgte meine Mutter für das Kind, aber es wurde ihr zuviel, und zwei oder drei Tage in der Woche nahmen wir ihn dann zu uns. Als ich die Dozentur erhielt, erfuhr ich von einem Spezialprogramm für hirngeschädigte Kinder in der Neuropsychiatrie. Wir holten Maus endgültig zu
uns, und Karen trug natürlich die Hauptverantwortung für das Kind.« Ein Zittern lief durch Alfs Körper. »Ich habe nie begriffen, wie verhaßt ihr das alles war. Sie hat ihre Wut allerdings nie an dem Jungen ausgelassen. Schließlich gab sie auf, und ich hatte Maus auf dem Hals. Scheiße.« Er sah auf und schüttelte wild den Kopf. »Aber das meinte ich gar nicht. Ich hänge an dem Kind. Wirklich. Und jetzt steckt er mit Drähten im Kopf in einem Glaskäfig. Mein Gott.« »Stimmt«, sagte Bill kurz. »Zeigen Sie mir Ihr Zimmer. Sie brauchen den Schlaf dringender als ich die Informationen.« Er half Alf auf die Füße und führte den kranken Mann den Hauptkorridor entlang, der um die Kuppel herumlief. »Wie ist Ihre Zimmernummer?« »Siebenundvierzig im Nordquadranten. Ich schlafe bei Maus. Halten Sie sich rechts. Hier hängt irgendwo ein zweisprachiges Schild.« Ein Gefreiter mit Bürstenhaarschnitt blieb stehen und taxierte sie. Bill sagte: »Gefreiter, schicken Sie einen Arzt in Dr. Deans Quartier. Und wenn Sie ihn finden können, bitten Sie Captain Lapp, uns dort aufzusuchen.« »Yes, Sir. Brauchen Sie Hilfe?« »Ich schaffe es schon.« Die Türen in den Seitengängen waren sorgfältig numeriert. Schwer atmend öffnete Bill die Tür mit der Nummer N-47 und ließ Alf auf das nächste Bett gleiten. Sofort erschien ein Leutnant mit den Abzeichen eines Armeearztes, und gleich nach ihm betrat Hugh den Raum. »Tut mir leid, Bill. Ich hätte Sie warnen müssen. Hin und wieder haut es ihn um. Man hat mir gesagt, daß es offenbar nicht organisch bedingt ist. Ich habe den Verdacht, daß zwischen Maus und ihm eine Resonanz besteht. Halten Sie uns auf dem laufenden, Leutnant; wir sind im Käfig.«
Rasch gingen sie durch das Labyrinth. Unablässig trommelte der Regen, ein graues Geräusch von der hohen Kuppel. Durch das Klappern ihrer Stiefel auf dem Betonboden hörte Bill Hughs leise Stimme: »Der Kleine kritzelt wie Dumas der Ältere, wenn er einen Schreibanfall hatte.« Er kramte in seiner Brusttasche. »Tragen Sie dies lieber, sonst hören wir jedes Signalhorn im ganzen Gebäude.« Eine große, in Plastik eingeschweißte Kennkarte trug Bills Photo, Daumenabdrücke und Sicherheitseinstufung. Er heftete sie sich an die Brust. »Maus arbeitet in einem abgeschirmten Raum«, erklärte Hugh. »Fragen Sie mich nicht warum; die Physiker halten das für eine narrensichere Vorsichtsmaßnahme.« »Er steckt also mit Drähten im Kopf in einem Glaskäfig«, zitierte Bill. »Nicht ganz. Es ist ein dreiwändiger Faradayscher Käfig. Kupfer mit akustischen Polystyrolschaum durchschossen, und die NASA hat einen Anschluß für Fernmessung. Man erhält eine Dämpfung von hundertfünfzig Dezibel auf Radiofrequenzen zwischen fünfzehntausend und etwa einer Milliarde Perioden. Magnetfelder werden bei fünfzehn Kilohertz um ungefähr siebzig Dezibel abgeschwächt, obwohl bei sechzig Perioden ein Abfall eintritt. Es hat ein Heidengeld gekostet, das Ding zu installieren, und der Junge fühlt sich nicht im geringsten gestört.« »Versuchen Sie es doch mit einem Gluonenfeld.« »Nein. Das ist zu riskant. Er ist von internationaler Bedeutung.« Ein bewaffneter Posten prüfte Bills Ausweis sehr genau. Bei Hugh verfuhr er genauso. »Sind Sie nicht eben erst herausgekommen?« »Die übliche Routineüberprüfung, Bill. Das Kind könnte sich im dritten Weltkrieg als die Superwaffe herausstellen.«
»Oh, das ist ja nicht auszuhalten.« Sie betraten einen trübe beleuchteten, mit Instrumenten vollgestopften Raum. Auf Bildschirmen tanzten weiße und blaue Impulse, und kleine Kontrollampen schalteten sich ein und aus wie Festbeleuchtung. Zwei TV-Schirme zeigten einen halbwüchsigen Jungen mit einem Medusenhaupt von feinen Drähten. Sein Gesicht konnte man nicht sehen, aber seine Haltung war entspannt, fast reglos. Die schnellen mechanischen Bewegungen, mit denen seine Hand unablässig über eine fest angebrachte, beleuchtete flache Tafel fuhr, schienen mit ihm selbst nichts zu tun zu haben. Neben ihm saß ein diensttuender Wärter gelangweilt in einem bequemen Sessel. Über seinem Kopf hing ein Mikrophon, und ganz schwach hörte man seinen gleichmäßigen Atem. »Es ist sinnlos hineinzugehen; alles kann von diesem Raum aus abgerufen werden. Der große Computer steht wärmeisoliert mitten unter der Kuppel, aber die textverarbeitenden peripheren Geräte hier liefern uns die meisten wichtigen Daten. Kopien dieser Informationen gehen an die Archive im amerikanischen und im sowjetischen Sektor, aber die Schnüffler haben keine Entscheidungsbefugnis.« »Ich habe mir eigentlich vorgestellt, daß er einen stumpfen Bleistift benutzt hat.« »Das hat er auch zuerst getan, bevor wir diesen kleinen Trick inszenierten. Man kann Maus nicht dazu überreden, mit einer Tastatur zu arbeiten, was die Sache erschwert, aber für ein Kind mit einem halben Gehirn macht er es recht gut.« Auf einem Sichtschirm im Beobachtungsraum erschien Zeile für Zeile das Gekritzel des Jungen, und auf einem daneben angebrachten Schirm wurde es in leserlicher Computerschrift wiedergegeben. Bill sah, daß es kyrillische Buchstaben waren, und zuckte zusammen. Auf einem dritten Schirm liefen die
Zeilen der Übersetzung ins Englische von unten nach oben durch. Einer der Techniker stöhnte. »Mein Gott!« sagte Bill. »Das Kind beherrscht slawische Sprachen. Hat man seine politische Vergangenheit überprüft?« »Vor drei Tagen hat er uns ein Gedicht auf Urdu geliefert. Das hat den Computer einigermaßen in Verlegenheit gebracht. Diesen Dummkopf Lowenthal hat das allerdings nicht gestört. Er führt es immer noch auf Gedächtnistricks zurück.« »Der Computer erstellt die Übersetzung?« »Richtig. Sehen Sie die Tafel, auf die er schreibt? Sie ist äußerst druckempfindlich und digitalisiert sein Gekritzel. Dann gibt sie eine brauchbare Kopie an die Sichtschirme. Anschließend treten die Übersetzungsprogramme in Aktion und werfen vorläufige Fassungen auf englisch oder russisch aus. Wenn es ihnen über den Kopf wächst, signalisieren sie, daß menschliche Hilfe nötig ist. Und das geschieht überraschend selten – diese Programme sind wirklich gut. Die Sowjets lecken sich die Finger nach unserer Hardware. Wenn sie unsere Software sehen, fangen sie an zu weinen.« Bill hatte die biomedizinische Instrumentation gefunden und stieß leise Entzückensschreie aus. Ein Zwölfkanal-EEG machte seine Aufzeichnungen in schöner Harmonie mit der elektrischen Aktivität im Gehirn des Jungen; rechtsseitig waren die Impulse flach und schnell und ohne Unregelmäßigkeiten; links waren sie in gleicher Weise desynchronisiert und kaum aktiver. Auf einem Histogramm unter den einzelnen Kanälen war eine Fouriersche Wellenanalyse abzulesen, die das Fehlen der alphoiden Wellen bestätigte. Aber die Pseudo-Betawellen erkannte Bill sofort. Sie waren auch bei seiner Untersuchung des psychisch kranken Ingo Swann aufgetreten. Maus war nicht wach, aber er träumte ebenfalls nicht, aber es fehlten
auch die Theta- und Deltawellen von hoher Spannung, die für ein Koma oder traumlosen Schlaf bezeichnend sind. »Er ist aus seinem Körper herausgetreten«, sagte Bill und grinste befriedigt. Die automatischen Sensoren registrierten eine völlige Normalität der wichtigen Körperfunktionen: Puls gleichbleibend siebzig; basaler Hautwiderstand an linker Handfläche und linkem Unterarm wie erwartet; Atmung der leichten Anstrengung beim automatischen Schreiben entsprechend; keine G.-S.-R.-Anomalie. Ganz gewiß war dies nicht das Profil eines autistischen Jungen unter starker Belastung. »Captain«, sagte einer der Computer-Techniker aus dem Schatten. »Ich denke, Sie sollten sich dies hier einmal ansehen.« Der andere Techniker schaute kurz auf. Bill schielte auf seine Rangabzeichen. Ein Russe. Der Mann betätigte einen Schalter und drückte rasch ein paar Knöpfe. Blaue Computerschrift lief nach wie vor auf dem Schirm nach oben. »Scheiße. Ich brauche eine richtige Kopie.« Hugh Lapp lehnte sich auf die Schulter des amerikanischen Soldaten und ergriff das gefaltete Stück Papier, als es aus dem xerographischen Drucker glitt. Ein Summer ertönte. »Wir haben eine Unterbrechung der Übersetzung«, sagte der amerikanische Techniker. Er warf einen kurzen Blick auf den Schirm. »Sieht wie idiomatisches Material aus.« »Hier, lassen Sie mich an den Apparat.« Der Mann stand auf, und Lapp schob sich in seinen Profilsitz. Er starrte einen Augenblick wie gebannt auf den Schirm. Dann setzte er ein Identifikationszeichen und hämmerte auf die Eingabetastatur. Der Mann am anderen Terminal rief ebenfalls eine Kopie ab und stand vom Stuhl auf. Ohne aufzuschauen brüllte der Astronaut auf russisch einen Befehl. Unentschlossen zögerte der Techniker und hielt das gefaltete Papier ängstlich fest. Dann versuchte er, sich an Bill vorbeizudrängen, der wie
gelähmt dastand und Schlimmes ahnte. Hugh sprang auf und stellte sich vor den. Ausgang. Er sagte etwas in kaltem und bestimmtem Ton. Der Techniker zuckte die Achseln und ging an seinen Platz zurück. Hugh setzte sich wieder und führte seine Arbeit zu Ende. Der Drucker verstummte und stieß das letzte Papier aus. »Verdammt.« Auf den Fernsehmonitoren sah Bill, daß der autistische Junge sich zurücklehnte. Er ließ die rechte Hand sinken. Der Soldat im Käfig sah auf und murmelte etwas. Alle Sichtschirme hatten sich ausgeschaltet. Ende der Übertragung. »Was ist das?« »Die Zeit der Krise.« Über der Konsole leuchtete eine rote Warnlampe auf und blinkte alle zwei Sekunden. Der Astronaut nahm ein schmales Plastikrechteck aus der Tasche. Er schob es in einen Schlitz neben der Tastatur des Terminals. Einer der Schirme schaltete sich wieder ein. Hugh nahm den Hörer eines Telefons auf, das in einer Nische verborgen war. »Lapp. Ist der Maser alarmbereit? Aufpassen.« Vier Finger fuhren herab, und die Tasten waren blockiert. »Sie sind vom C. I. A. Sie hinterlistiges Schwein«, sagte Bill. Lapp hielt den Atem an. »Das würde ich Ihnen gerade auf die Nase binden. Bill, machen Sie, daß Sie wegkommen.« »Ich denke nicht daran. Das Kind ist der Grund, weshalb ich hier bin. Jetzt können Sie doch nicht plötzlich das Maul halten.« »Tut mir leid, alter Junge. Wie Ihr Freund Lowenthal schon sagte, es gibt Dinge, die der Mensch nicht wissen darf.« Eine hohe freundliche Stimme sagte: »Hubert Charles Lapp, Captain, U. S. A. F.« Sie kam aus dem Lautsprecher eines der Monitoren im abgeschirmten Käfig. »Tätigkeitsbereich zweite Kategorie, aktiv, Nationaler Sicherheitsrat, Fort Mead.
Betrachten Sie das Dokument als unklassifiziert. Matthäus, Kapitel achtzehn, Vers drei: ›Wenn ihr euch nicht bekehret und werdet wie die kleinen Kinder, werdet ihr nicht das Himmelreich erlangen.‹ Für Dr. Bill delFord ist es ratsam den Auszug aus Kukushkins Journal zu lesen.« Maus drehte sich um und lächelte äußerst unschuldig in die Linse. »Zu Ihrer Information. Der Computer-Techniker Dimitri Dimitrowitsch Jorawsky repräsentiert die Glawnoe Razwedywaternoe Uprawlenie.« Alles schwieg. Fast gleichzeitig summten drei Telefone, und ein chiffrierter Text erschien auf Lapps Schirm. Der wütende Gesichtsausdruck des Astronauten machte einem prächtigen Grinsen Platz. Er gab Bill die gedruckte Kopie und deutete dem Russen gegenüber eine Verbeugung an. »Was, zum Teufel, Bill. Wir machen weiter. Lesen Sie und freuen Sie sich. Heute ist der Abend vor dem Weltuntergang, und der Junge will, daß Sie auf dem laufenden bleiben. Aber versuchen Sie nicht, es für viele Rubel an das Geheimdienstdirektorium zu verkaufen; ich fürchte, unser Freund Jorawsky hat auf dem Markt einen Vorteil.« Plötzlich hätte Bill delFord am liebsten nichts mehr damit zu tun gehabt. Unruhig betrachtete er das Blatt mit der ComputerÜbersetzung. »Sie müssen die schlechte Wiedergabe am Ende des Textes entschuldigen«, sagte Hugh. »Das Original machte dem Computer Schwierigkeiten, aber ich denke, ich habe das Wesentliche verstanden.« Er zeigte Jorawsky die Zähne, der reglos und starr auf seinem Stuhl saß. »Na, Kleiner, heute haben wir euch wohl beim Mogeln erwischt. Wieviel 17-Tg-M habt ihr denn schon bei euch unten versteckt? Oder geht es um Subtileres?«
In ausgezeichnetem Englisch sagte der Russe: »Captain Lapp, ich schlage eine Besprechung zwischen unseren befehlshabenden Offizieren vor.« Bill hörte nicht mehr zu. Die erste Seite enthielt den russischen Text, den Maus mit der Hand geschrieben hatte: hart und eckig; eine Erwachsenenschrift. Ihr folgte die korrigierte Computer-Übersetzung. Seine Aufregung legte sich. Begierig verschlang er die Mitteilung aus dem Gewölbe.
8. Der Ekratkoye-Komplex 12. November
Nun, da Schwester Kuenzli mir endlich Papier und Bleistift gebracht hat, weiß ich nicht, was ich schreiben soll. Es scheint, als sei meine verbissene Gewohnheit, die täglichen Ereignisse niederzuschreiben, nicht mehr lediglich ein simples zwanghaftes Ritual. (Daß es überhaupt zwanghaft werden konnte, ist eine erstaunliche Entdeckung, wenn man bedenkt, daß ich mich vor zehn Jahren mit Gewalt dazu zwingen mußte, die Tagebucheintragungen vorzunehmen. Die Entdeckung, daß diese Gewohnheit unverzichtbar geworden ist, hat mich doch ein wenig schockiert – als sei ich auch in dieser Hinsicht nicht mehr als ein Zusatzgerät meiner lichtblitzenden Laborinstrumente.) Zum ersten Mal bin ich heute ein wenig amüsiert, wenn auch nur über ein kleines Paradoxon. Am Anfang wollte ich schreiben – und das wird durch diese Worte selbst schon wieder aufgehoben, auch wenn sie ihrerseits durch die endlose Trivialität meines Themas negiert werden –, daß das Ritual, dem ich folge, wenn ich mein prachtvoll in Leder gebundenes Journal auf dem neuesten Stand halte, so stereotyp geworden ist, daß ich ohne es nicht schreiben könnte. Schwester Kuenzli brachte mir das projekteigene Papier für meine Notizen, als meine ständig wiederholten Beschwerden die professionelle Hartnäckigkeit, mit der sie mir Ruhe verordnete, endlich aufgeweicht hatten. Trotz dieses kleinen Erfolgs blieb ich frustriert und fühlte mich betrogen. Ich saß in meinem Bett, betrachtete den Stapel jungfräuliches Papier und
spielte dabei nervös mit meinem Schreibgerät und mit ausgeklügelten aber falschen Vermutungen. Gut. Wenigstens dieser Fall scheint geklärt. Vielleicht (hallelujah!) bin ich doch mehr als eine Maschine. Um aufrichtig zu sein, ich glaube, als ich anfing, mein Journal zu schreiben, tat ich es in der Hoffnung, diese bourgeoise Angst abzubauen. Nach vierzehn Jahren in den Neonhallen von Nowosibirsk ist meine menschliche Komponente geschrumpft, trotz der modischen Banalitäten, die ich von mir geben konnte und in denen ich die kreative Identität von Wissenschaft und Kunst behauptete. Ich mußte wenigstens mir selbst endlich wieder mit menschlicher Wahrheit begegnen. Soviel zu den literarischen Gepflogenheiten der wissenschaftlichen Kreatur. Offen gesagt gestatte ich mir die krassesten Ablenkungsmanöver. Ich glaube, daß ich sterbe. Warum sonst hätten sie mich so überstürzt hierhergebracht? (Ich bin nicht in der Lage, den Ort zu nennen; Schwester Kuenzli weicht geschickt jeder Antwort auf diese Frage aus. »In Kürze werden die Ärzte kommen, um Sie zu untersuchen, Akademiker Kukuschkin.«) So ein verdammtes Hospital habe ich noch nie gesehen. Ein Hospital mit bequemen Betten? Das gehört vielleicht zu den kleinen Vorteilen, die man hat, wenn man an der geheimsten Operation seit dem Sputnik-Projekt mitarbeitet. (Wenn ich diese Notizen schreibe, verstoße ich vielleicht schon gegen die Sicherheitsvorschriften. Aber nein: das medizinische Personal muß mindestens der gleichen Sicherheitskategorie angehören wie jeder andere, der an diesem Projekt mitarbeitet. Die Wachen, die mich herbrachten, waren direkt von der Ägis beauftragt – ich glaube, daß ein paar von ihnen in diesem Augenblick vor meinem Zimmer Dienst
tun. Hätten sie mir etwa Papier und Bleistift gestattet, wenn sie sich um die Sicherheit Sorgen machten? Nein.) Meine Befürchtungen sind zweifellos unbegründet. Abgesehen von den heftigen Brechanfällen nach der heutigen Antistrahlungsspritze gibt es bei mir keinen Hinweis auf irgendeine Krankheit. Mein vorherrschendes Gefühl ist Langeweile. Sie ist mein Hauptproblem und wahrscheinlich auch die Erklärung dafür, daß es mir heute so schwerfällt, mit meinen Aufzeichnungen zu beginnen. Es gibt nichts, worüber ich schreiben könnte, außer das Undenkbare – und ich werde meiner Überempfindlichkeit nicht weitere Nahrung geben, indem ich damit anfange. Der ganze verfluchte Ort, hoffentlich mit Ausnahme von Schwester Kuenzli, ist, kurz gesagt, unerträglich langweilig.
Später Man hat mir eine Armbanduhr zur Verfügung gestellt. Meine eigene bleibt zusammen mit meiner Kleidung und einigen persönlichen Sachen unter Verschluß. Wahrscheinlich wird man sie vernichten, um eine Weiterverbreitung des Virus zu verhindern. Es ist jetzt zwei Uhr siebzehn nachts. Ich kann mir noch soviel Mühe geben, aber ich kann nicht einschlafen. Die Ärzte haben Visite gemacht. Es waren zwei. Der magere Zinowiew, asketisch wie Gandhi, der mich gestern, als mir übel wurde, rasch in das Lazarett schaffen ließ und später einen Krankenwagen anforderte, der mich hierherbrachte. Schon im Freizeitraum war mir seine finstere Miene aufgefallen. Den anderen, einen kleinen behaarten Mann von freundlichem Auftreten, kannte ich nicht.
»Guten Abend, Ilja Davidowitsch«, sagte er und bot mir die Hand. »Ich heiße Sipjagin. Dr. Zinowiew kennen Sie ja schon.« Ich nickte. »Darf ich mir die Frage erlauben, warum man mich hierhergebracht hat?« Sipjagin lachte fröhlich und trat einen Schritt zurück, als Josif Zinowiew seine schwarze Tasche auf dem Teakholztisch neben meinem Bett abstellte und seine diagnostischen Geräte auspackte. »Natürlich«, sagte er. »Ich muß sagen, daß Ihre Verlegung in den Ekratkoye-Komplex uns einige Probleme beschert hat.« »Da bin ich also«, sagte ich und war kein bißchen schlauer. Zinowiew sah mich scharf an, warf einen Blick auf den kleineren Mann und setzte sein Stethoskop an meinen Brustkorb. »Tief durchatmen«, befahl er. »Ich wußte nicht, daß Sie die Anlagen kennen, die nicht zur Ägis gehören.« »Nein«, sagte ich schnell zwischen zwei Atemzügen. »Ich meinte, daß ich die Bezeichnung des Hospitals nicht kannte. Jetzt kenne ich sie.« Er brachte mich langsam auf die Palme. »Es ist angenehm zu wissen, daß ein Ort einen Namen hat, auch wenn es nur Buchstaben aus dem Alphabet sind, die nichts aussagen.« Sipjagin kam mir zur Hilfe. »Ich kann mir Ihre Gefühle vorstellen.« Er setzte sich auf die Bettkante und zog einen zusammengefalteten Bogen aus der Kitteltasche. »Hier, ich habe Ihnen einen Plan der Anlage mitgebracht. Wir erwarten, daß Sie einige Tage bei uns bleiben. Sie genießen hier jede Freiheit, solange Sie dieses Gebäude nicht verlassen.« Durch ein Tobiskop betrachtete Zinowiew die Akupunktureinstiche in meinem Gesicht. Er trug ein Zeichen auf seiner Tabelle ein und nahm mir mit einer kurzen Injektionsnadel am Daumen Blut ab. Sipjagin betrachtete mich
vom Fußende meines Bettes her immer noch mit freundlichem Interesse. Meine Verwirrung verwandelte sich in Wut. »Hören Sie bitte zu«, sagte ich, »was hat das eigentlich alles zu bedeuten? Ich gebe zu, daß mir heute morgen unwohl war, aber jetzt fühle ich mich ausgezeichnet. Warum werde ich wie ein Invalide behandelt?« »Nein, nein!« rief Sipjagin aus. »Das ist ein völlig falscher Eindruck. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß Sie ernsthaft krank sind, aber« – er grinste verstohlen und zielte direkt auf meine Eitelkeit – »Sie sind nun einmal ein sehr wichtiges Mitglied der Ägis-Mannschaft, Akademiker Kukuschkin, und wir können es uns nicht leisten, auch nur das geringste Risiko einzugehen.« Ich schäme mich, es zuzugeben, aber seine List hatte bei mir Erfolg. Mein Gesicht wurde heiß, und ich errötete aus einer Mischung von Stolz und konfuser Verärgerung. »Nun ja, aber –« »Wir haben Grund anzunehmen«, sagte Sipjagin, der plötzlich lebhaft wurde, »daß gewisse Lebensmittel, die in dieser Woche an die Küchen Tse und Che geliefert wurden, Verunreinigungen enthalten. Ein Skandal. Kurz gesagt, Doktor, Sie leiden wahrscheinlich an einer leichten Lebensmittelvergiftung.« »Sabotage?« Das erschien unmöglich. Außerdem arbeiteten die Imperialisten ebenfalls an dem Gluonenschild. Schließlich war die ursprüngliche Entdeckung der Station Selene Alpha ihren Astronauten zu verdanken. Josif Zinowiew lachte mißmutig. »Sie sind sehr mißtrauisch, Akademiker Kukuschkin. Nein, die Sicherheit der Ägis wird davon nicht berührt. Die Unreinheiten beruhen auf Materialermüdung im Kühlsystem. Sehr unangenehm, aber keine Maschine ist vollkommen. Das ist wie bei den Menschen.«
»Was den Ernst der Erkrankung betrifft«, fügte Sipjagin hinzu, »so ist die Ausstattung dieses Hospitals mehr als ausreichend. Sie können sich beruhigen, Kukuschkin. Es dürfte ein wenig unbequem für Sie werden, aber in ein paar Tagen können wir Sie wieder entlassen.« Er nickte freundlich und trat in den Korridor hinaus. Zinowiew blieb noch einen Augenblick, als ob er gemerkt hatte, daß mir die Auskunft durchaus nicht genügte. Er konnte allerdings wenig hinzufügen. »Zusammen mit Ihrem Abendessen werden Sie einige Tabletten bekommen. Nehmen Sie sie bitte vor dem Schlafengehen. Wenn Sie irgend etwas brauchen, drücken Sie auf den Knopf neben Ihrem Bett.« Ich nickte mechanisch und sah seine schmale Gestalt im Korridor verschwinden. Nach dem Essen ging es mir wieder sehr schlecht. Eigenartigerweise fühlte ich mich nicht so elend und kraftlos, wie es sonst bei Übelkeit der Fall ist. Als ich gegen Mitternacht immer noch nicht schlafen konnte, machte ich von meiner Freiheit Gebrauch und erforschte die Umgebung. Entgegen meiner Vorahnung standen keine Wachen vor meiner Tür. Der Korridor war weiß und steril und gab ein dumpfes Echo zurück. Eine andere Schwester nickte mir aus ihrer Kabine zu. Ich fand einen Aufenthaltsraum mit Fernsehen und einem Druck von Max Ernst, eine blaugekachelte Toilette und ein Bad. Am hinteren Ende des Korridors befand sich ein versiegelter Eingang mit drei Türen aus dickem Glas in je drei Metern Abstand. Wenn meine Schrift zittrig wird, ist daran außer einer leichten Erschöpfung auch meine Wut schuld. Halten die Leute mich für einen kompletten Narren? Ein normales Krankenhaus braucht keine dreitürige sterile Luftschleuse. Ohne Frage ist der Ekratkoye-Komplex ein Forschungszentrum für bakteriologische Waffen.
Lebensmittelvergiftung, mein akademischer Arsch! Kann es noch einen Zweifel daran geben, daß ich das zufällige Opfer eines experimentellen, aus DNA neukombinierten häßlichen Virus bin?
13. November Heute morgen fühlte ich mich ganz eigenartig. Ich wurde von schrecklichen Träumen geweckt und konnte nicht wieder einschlafen. Mindestens fünf Stunden lang habe ich mich unruhig hin und her geworfen, bis Anna mir ein leichtes Frühstück brachte. Es waren nicht eigentlich Alpträume sondern fragmentarische Stücke meiner Vergangenheit – meine angsterfüllte Jugend unter Stalin, meine langweiligen Universitätsjahre, meine qualvolle Ehe. Dies alles hatte ich für vergessen gehalten, für in jedem Sinne begraben, aber jetzt waren die Erinnerungen wiedergekommen, um mich im Schlaf zu verfolgen. Aber da ist noch etwas anderes – nicht Schmerz; ich bin nicht mehr krank; mein Magen hat sich erholt, und ich habe Hunger. Aber eine vage Un… Ich komme nicht auf das Wort; ich meinte eine Ruhelosigkeit, aber ich habe minutenlang an meinem Bleistift gekaut, um das Wort zu finden, eine Un… – eine Un… – eine Unruhe – natürlich! Mein Gott, das Wort wollte mir einfach nicht einfallen, und ich habe mir darüber den Kopf zerbrochen wie ein alter Mann, der nicht mehr weiß, was er sagen wollte. Verdammt, was ist los mit mir? Ich bin schweißüberströmt, und das alles wegen eines austauschbaren flüchtigen Wortes. Schon wieder! Ich mußte innehalten und grübeln, um auf das Wort flüchtig zu kommen. Irgend etwas in mir ist krank;
irgend etwas schmerzt; ich weiß nicht, was es ist, aber, o mein Gott.
Später Voll Entsetzen muß ich verzeichnen, daß Anna mich weinend antraf. Sie reagierte völlig vernünftig, gab mir zwei große weiße Tabletten und stellte mir einen Milchbecher mit Ei ans Bett. Nach einigen Minuten trank ich davon und fühlte mich gleich zehnmal so gut. Als ich klingelte, war sie so nett, mir noch einen zu bringen, den ich langsam trank, während ich mich mit ihr über sie unterhielt. Ich wollte es schon notieren, bevor mich dieser traurige Anfall überkam. Ich hatte meinen kleinen Triumph. Ich habe den Vornamen der jungen Dame herausbekommen, und jetzt nennt sie mich Ilja Davidowitsch, und zur Hölle mit dem ›Doktor‹ und dem › Akademiker‹. (Ich hatte Anna vorher Unrecht getan, als ich sie als Schwester bezeichnete. Sie ist natürlich Universitätsabsolventin und hat sich, wie es scheint, in Biochemie und, ausgerechnet, Psychiatrie qualifiziert. Mein rotes tränenüberströmtes Gesicht!) Und außerdem ist sie hübsch, mit dicken roten Backen und einem lustigen Lachen.
Später Ich habe versucht, Stanislaw Lems neuen Roman zu lesen, den Zinowiew zusammen mit einer Auswahl meiner anderen Bücher für mich aus dem Ägis-Komplex geholt hat. Ich habe
aber wenig Spaß daran. Ich habe auch versucht, mich dadurch zu zerstreuen, daß ich mich mit Gleichungen unseres Modells für vereinheitlichte Wechselwirkung beschäftigte. Ich bin mir sicher, daß da noch ein Fehler steckt, aber ich habe Mühe, mich darauf zu konzentrieren. Nach dem Essen kamen die Ärzte… nun, eigentlich schon während des Essens, aber Sipjagin plauderte angenehm, während ich meinen Nachtisch verzehrte. Es war kaum eine Mahlzeit, wie man sie gewöhnlich einem Mann vorsetzt, der an Lebensmittelvergiftung leidet – einige Scheiben Schweinebraten, ein ausgezeichneter Salat und sogar ein Glas herber Wein, um den Gaumen zu erfrischen. Mein dunkler Verdacht vom vergangenen Abend schien absurd. Dennoch kommentierte ich Sipjagin gegenüber das Festmahl. »Kein Grund, Sie auszuhungern, Kukuschkin.« Er lächelte. »Ihnen gesundes Protein zu verabfolgen, ist ohnehin die beste Methode, Ihr System zu reinigen.« Ich warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. »Sind Sie ganz sicher, was diese Vergiftung anbetrifft? Könnte es nicht vielleicht irgendein Bazillus sein?« Zinowiew räusperte sich, ein widerliches Geräusch. Ich fange an, den Mann zu verabscheuen. »Die Diagnose können Sie getrost uns überlassen, Akademiker.« »Seien Sie doch nicht so streng mit dem armen Kerl, Josif«, sagte Sipjagin. Er nahm eine nachdenkliche Pose ein. »Es war schon immer meine Theorie, daß Intellektuelle an etwas kranken, was man sokratische Phobie nennen könnte. Sie erinnern sich zu gut an den Schierlingsbecher.« Zinowiew knurrte und zerrte seine Instrumente hervor; ich lachte laut. Es war kein besonders guter Witz, aber er verringerte meine Besorgnis. Ich löffelte den Rest meines Nachtischs und ließ mir ihre Behandlung gefallen.
Seit sie weg sind beschleicht mich wieder die Angst. Es ist völlig unglaublich, daß sich in einem Hospital dieser Art, selbst wenn es dem größten militärischen Projekt aller Zeiten dient, eine so ausgeklügelte Isolierstation für Virusinfektionen befinden sollte. Vielleicht sind die anderen Betten alle belegt?
Später Es ist langsam fünf Uhr geworden. Ich fühle mich auf eine Weise immer elender, die nichts mit meinem körperlichen Befinden zu tun hat. Was immer ich damit meine. Ich meine wenigstens dies: Seit meiner Kindheit habe ich nie so gut ausgesehen wie jetzt. Der müde alte Gentleman hat sich heute doch tatsächlich eine ganze Zeit lang im Spiegel betrachtet, sich den struppigen Bart gestutzt und die Haare gekämmt. Ich habe sogar die schicke Höhensonne ausprobiert, die ich im Badezimmer fand, und meine Haut juckt von einem leichten Sonnenbrand. Läßt sich das alles mit Anna Kuenzlis frisch gebügelter hübscher Uniform, mit ihren geschwungenen Lippen und dem strahlenden Blau ihrer Augen erklären? Kein Zweifel, kein Zweifel. So. Tatsache ist, daß Schwester Anna mich nur allzu selten besucht. Gewiß, sie hat noch andere Pflichten, obwohl sie sich die Zeit genommen hat, mir von ihrer früheren Tätigkeit in einem riesigen Krankenhaus in Leningrad zu erzählen. Wie wir alle, kennt auch Anna die Langeweile und die Einsamkeit hier in unserer streng überwachten, mit automatischen Schutzeinrichtungen versehenen Anlage, aber ihre offensichtliche Lebenslust (die französische Wendung, die das besser wiedergibt, fällt mir verdammt nicht ein) hilft ihr darüber hinweg. Sie ist, wie es scheint, nicht verheiratet.
Mein eigentliches Problem ist, daß ich mich entsetzlich schlecht fühle, und ich habe auch entsetzliche Angst. Heute nachmittag habe ich einen kleinen Rundgang gemacht. Ich hatte dabei den von der Station gelieferten schreiend roten Pyjama an, der leicht nach Desinfektionsmitteln roch, und meine Füße steckten in lächerlichen flauschigen Pantoffeln. Wo der Korridor abbog, entdeckte ich eine schwarze Metallwand. Ich schlug mit den Knöcheln dagegen, klopfte ein oder zweimal hart und hörte ein hohles, metallisches Geräusch. Es muß eine Tür sein – noch einen Ausgang gibt es nicht –, aber sie ist massiv. Kurz gesagt, ich bin in einem luxuriösen Gefängnis, in dem nicht nur Viren sondern auch Menschen eingesperrt werden. Was würde geschehen, wenn ich die erste Glastür in der Luftschleuse zertrümmerte? Würde sich an ihrer Stelle dann ebenfalls eine Metallwand dazwischenschieben? Ich wäre nicht überrascht. Der Plan, den Sipjagin mir dagelassen hatte, zeigt das alles nicht. Er zeigt nur die groben Umrisse des EkratkoyeKomplexes und ein schwer durchschaubares Numerierungssystem. Die Nummern sind nutzlos, wenn man den Schlüssel nicht kennt, den der Arzt sorgfältig von dem Plan abgerissen hatte. Die L-förmige Sektion, in der ich mich aufhalte, trägt allerdings handschriftliche Anmerkungen. Bisher war die einzige Funktion des Plans, mich zu der geschickt verborgenen Bar im Aufenthaltsraum zu führen. Ich nahm den Wodka in mein Schlafzimmer mit, aber meine Selbstbeherrschung hindert mich daran, mich total zu besaufen. Dies ist ein sehr komisches Hospital. Es ist dreizehn Minuten nach neun Uhr abends. Ich habe ein sonderbares Gefühl im Kopf. Anna beugte sich über mich, und ihre Titten wölbten sich unter ihrem weißen Kittel, und ich wollte nach ihnen greifen und sie drücken, aber
ich wagte es nicht. Sie ist wirklich sexy. Ich stöhnte, als fühlte ich mich nicht wohl, und so hatte ich Zeit hinzuschauen, aber ich sah nicht viel, denn sie bewegte sich zu schnell. Stehen Sie jetzt auf, Ilja Davidowitsch, sagte sie und half mir ins Bett. Ob sie wohl meine Erektion gesehen hat? Machen wir uns nichts vor, warum sollte sie sehen wie geil ich bin, und Gott weiß, daß es mir leid tut. Das Ding stand einfach heraus, und das wollte ich gar nicht, und ich habe es so schnell wie möglich wieder versteckt, und warum SOLLTE sie interessiert sein, wo sie doch mit all den hohen Beamten vom Komitet Gosudarstwennoi Bezopasnosti bumsen kann, und mit den Generälen und mit den albernen kleinen Kerlen wie Dr. Sipjagin zum Beispiel. Nein, machen wir uns nichts vor. Oh, mein Gott, es ist wirklich ein seltsames Gefühl, daß ich all dieses Zeug auch noch AUFSCHREIBE. Ich muß verrückt sein, irgend jemand wird es sehen, und dann stecke ich bis an die Ohren in der Scheiße. Oh, Mann. Aber ich habe zehn verdammte Jahre lang immer alles aufgeschrieben. Ich habe ein komisches klingelndes Summen in den Ohren und kann sehen, wie die Worte vor mir auf- und abspringen, sie fließen in Kritzeln über die Seite, ich schiebe die Seite weg, was, zum Teufel, ich greife mir eine neue, es ist, als ob man das jungfräuliche weiße Papier vergewaltigt, mein Gott, wie albern, Schwester Kuenzli ist bestimmt keine Jungfrau, mit solchen Titten, oh, Jesus, vergib mir, oh, Jesus, es ist, als ob mir das Gehirn in Flocken aus dem Kopf quillt und sich auf die Ohren ergießt wie Schuppen.
14. November Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß es wirklich nicht.
Gewohnheit, die Gewohnheit soll mich leiten. Gut. Es ist acht Uhr, vielleicht eine Minute nach. Vormittags, am Morgen des Tages, nach dem Frühstück und der stummen Visite der Ärzte. Sie haben nur gemurmelt, oder ist mein Gehör beeinträchtigt? Weiter, Professor Kukuschkin, vertraue es dem Papier an: Ich glaube nicht mehr, daß ich sterbe. Ich glaube, ich werde verrückt. »Pah, Ilja«, sagte die hübsche, knackige Schwester Kuenzli, als sie mich weinen sieht, und ich ohne jeden Gedanken an Sex ihren Arm festhalte und ihr von meinen Ängsten erzähle und vor ihr schluchze und anfange zu toben und die Teller auf den Teppich schleudere, daß ihr Inhalt sich darüber ergießt. »Es ist nur ein Fieber, Ilja Davidowitsch«, sagt Schwester Anna und hockt sich hin und bringt das Durcheinander rasch wieder in Ordnung. Sie zeigt ihre Mißbilligung, indem sie das Gesicht abwendet, zeigt ihre Angst (Oder täusche ich mich in meinem Wahn? Und wenn es Angst ist… sie hat jeden Grund, mich zu fürchten.), indem sie die Muskeln anspannt, während sie die Milch auflöffelt. »Die Ärzte werden sich um Sie kümmern«, erklärt sie streng, aber gelassen. »Es ist nur das Gift, das Sie noch im Leib haben.« Und warum hat man mir dann nicht den Magen ausgepumpt? Und wozu überhaupt diese phantastische Anlage? Ich bin vielleicht kein besonders populärer Mann, aber der alte Georgi Piatnitsky spielt mit mir Schach, und Lew Kamenew streitet mit mir über die Quarktheorie. Aber warum haben diese Leute sich keine Genehmigung geholt, damit sie mich besuchen und den Kranken trösten können? Zu viele Fragen, die sich nicht schlüssig beantworten lassen – oh, es gibt auf jede dieser Fragen Entgegnungen, die oberflächlich plausibel sind; mir
fallen selbst einige ein; aber wenn man sie zusammenfaßt, ergeben sie immer noch kein Bild, das der Sache gerecht wird. Da gibt es den Gedanken, wenn ich ganz rigoros sein will – welche Qual war es, dieses Wort zu finden – dieses so verdammt einfache Wort –, den Gedanken, den ich schon vorher hatte: Ich leide an einer ekelerregenden Krankheit, veranlaßt von diesen militärischen Genies mit ihren pervertierten Gedanken, von denen ich gehofft hatte, daß wir sie arbeitslos machen können; irgendein Virusdreck, der in meinem Gehirn steckt. Aber wie? Ist es möglich, daß so etwas ihrer Fürsorge entrinnen und, vom kalten Steppenwind getragen, von Ekratkoye- zum Tse-Komplex gelangen kann, um auf meine Haut zu kriechen und an meinem Gehirn zu saugen? Mein Gott, das sind die Phantasien eines Wahnsinnigen. Wozu hat man Isolierstationen, wenn nicht, um solches Unheil zu verhindern? Und warum bin ich das einzige Opfer? Die anderen Zimmer hier sind leer, auf vier Betten liegt nur die kahle Matratze, und eins ist frisch bezogen. Diese erschreckenden Worte. Sie bringen die trostlose Benommenheit in mein Gehirn, in meine geschändete Seele, und lassen meinen Verstand ausfließen wie Blut, das im Sand versickert. Und immer noch ist es da, das dröhnende Summen in meinem Kopf, die Finger, die an meinen Erinnerungen zerren und sie in Fetzen reißen, und ich fühle es fressen und nagen. Oh, Gott, laß es aufhören. Wenn du existierst, laß diesen entsetzlichen Sog in meinem Kopf aufhören. Ich muß mich auf die Tatsachen konzentrieren. Ich verliere die Worte, verliere mich selbst. Ich nehme Bücher vom Tisch, blättere in ihnen – die Worte sind bedeutungslos. Ich sehe Zahlen, Symbole und Gleichungen, die ich selbst auf die Vorsatzblätter geschrieben habe, und ich weiß nicht, was sie bedeuten!
Die Tatsachen: mein Name ist Ilja Davidowitsch Kukuschkin, Doktor der Naturwissenschaften und Doktor der Philosophie. Ich gehöre einem internationalen Team an, das gemeinsam eine Theorie der Sub-Quark-Parastatik entwickelt. Mit meinen Kollegen und Assistenten habe ich mir über uralte Mondtrümmer den Kopf zerbrochen und daraus einen antinuklearen Schild konstruiert. Der Schild ist eine abgeplattete, sphärische, parastatische Gluonentasche. Mit einer solchen Abschirmung wären die beiden größten Industrienationen der Welt absolut sicher vor einem Atomschlag. Wir haben uns gegenseitig neutralisiert. Diese Tatsache ängstigt mich nicht gerade. Wie weit ist meine Krankheit fortgeschritten? Der Anfall von gestern abend war keine vorübergehende Verwirrung. Alle Einzelheiten, alle Gleichungen, alle den Schild betreffenden technischen Daten sind unwiederbringlich verloren, weggewischt wie mit einem nassen Schwamm. Mein ganzes Verständnis der Physik und der Mathematik ist ausgelöscht, die köstlichen Feinheiten, an denen ich meine Freude hatte, die musikalischen Strukturen und Formen Weberns und Schönbergs, alles ist weg. Mein Gott, ich lese Stanislaw Lems Roman, und die Worte sind nicht einmal mehr Worte – kann ich nicht mehr polnisch lesen? Ja. Und auch Französisch schwindet aus meiner Erinnerung, und Deutsch und Englisch – wie auf einer Windschutzscheibe verschmiertes Eis trübt sich mein Verstand und erstarrt in Dunkelheit. Pfui über diese albernen alten Bücher. [Hier hatte Hugh notiert: Die folgenden Auslassungen und Schreibfehler entsprechen der Gebrochenheit des russischen Textes.] Es wahr wierklich lankweilig, auf das Essen zu warten, und die Schwester sahgte, Versuchen Sie es doch mit fernsehen. Das tat ich auch, und da wahren fiele Flaschen Liköhr im
Schrank. Schwester K. gab mihr auch ein paar Kuchen, aber im fernsehen gab es nur was für die Schuhle. Es is wol richtig, das ich dies aufschreibe, denn das habe ich auch forher imer getahn, aber ich kan die schwehren Worte nich verstehn. Ich weiß nich aber ich füle mich ziehmlich traurig und nidergeschlahgen, das is das wort das meine Fräundin Ana sahgte. Richtig raurig und nidergeschlahgen weil es schön were wenn ich schreiben könnte wie vrüher. Meistens size ich blos hier und weine weil mein Koppf wetut und mein Koppf is wie ein loch. Meine Hende sint ser gros und klohbig und sie haben schwartze hare was ich ganicht wußte, ich glaube Schwester Ana is wierklich meine Mutter aber als ich es ihr erzehlte ging sie ganz schnei weg. Und ich glaube sie wahr traurig oder so. Das is alles was ich heute schreiben kan. Ilja Davidowitsch. Ilja Davidowitsch. I. D. Kukuschkin. So wierd mein Nähme geschriben. Ferde und Kühe und fögel und fehdern und Hüte und Köppfe und gesiechter und nahsen und munt und lipen und oren und loliis ilja davidowitsch
16. November Sie haben mir heute morgen das Antigen gegeben. Diese Schweine, diese Schweine, diese verkommenen Schweine.
dreckigen,
19. November Boris Sipjagin erlaubte mir heute, mich eine Stunde in der Sonne aufzuhalten. Nicht im Freien, das braucht nicht erwähnt zu werden – es besteht immer noch Ansteckungsgefahr. Dennoch, eine Stunde des Nachdenkens unter dem Glasdach der Veranda der Isolierstation war eine Erholung. Während der letzten paar Tage empfinde ich nicht mehr den Zwang, mein Journal auf dem laufenden zu halten. Vielleicht verständlich; der Anblick meiner aufgezeichneten Qualen, während der 17-Tg-M-Stamm meine Kräfte zerstört, nimmt mir für immer den Wunsch, mich zu erinnern. Es bleibt aber eine grausame und blutige Notwendigkeit, die meinen Widerwillen überwindet. Ich darf nicht schwach werden. Ich muß diese Scheußlichkeiten niederschreiben.
Vor drei Tagen lag ich sabbernd und am Daumen lutschend zusammengekrümmt auf dem Fußboden, als Zinowiew die Nadel aus meinem Arm zog. Sipjagin hockte aufmerksam daneben. Er bot mir ein Stück Naschwerk an, das wie ein Regenbogen aussah, und sagte in singendem Ton: »Es tut doch gar nicht weh, nicht wahr, Ilja Davidowitsch? Guter Junge, guter kleiner Bursche. Nun schön ruhig, und nicht weinen, wir haben auch einen schönen Lolly für dich, Ilja. Schön ruhig, so ist’s recht.« Darin liegt die abscheuliche Unmenschlichkeit: die Intensität dieser gräßlichen Erinnerungen. Ich konnte tun, was ich wollte, und ich habe es stundenlang versucht, ich kann sie nicht auslöschen. Meine Erniedrigung hat sich tief in meine Seele gebrannt. Aber ich habe nicht mehr den Wunsch es zu vergessen. Die Obszönität, die sie mir angetan haben, muß aufgezeichnet werden, solange die Narbe noch frisch ist. Ich weiß noch, wie mir der Speichel von den Lippen tropfte. Gierig griff meine Hand nach der Süßigkeit, und ich schob sie mir in den Mund. Zinowiew winkte ein paar kräftige Wärter herbei und trat zurück, als sie mich in das große Kinderbett legten. Verstehen Sie das alles? Es war, als hätte ich mich aus meinem Körper zurückgezogen, als hinge ich von ihm entfernt, in der ganzen Klarheit meines deutlichsten Wahrnehmungsvermögens an die Schande meiner Demütigung gefesselt. Ich konnte nicht einmal vor Wut schreien. Ich räkelte mich in dümmlicher Zufriedenheit und lutschte und lutschte. Vage hörte mein Körper gedämpfte Geräusche. Ganz klar wußte ich in meiner entsetzlichen Losgelöstheit, daß Sipjagin diese Geräusche verursachte, als er die großen Buchstaben aus Polyäthylen wegräumte, die er am Vortag gebracht hatte. Als sie gegangen waren, krabbelte ich in meinem Bett herum und stieß lallende Babylaute aus und fing erst wieder an zu weinen, als ich mich wieder naß gemacht hatte.
Stunden später hatte ich mich erholt. Um sechs Uhr abends war ich wieder im vollen Besitz all meiner Fähigkeiten; nur meine Selbstachtung hatte ich eingebüßt. Ich zweifle, ob ich sie je wieder zurückgewinne, zurückgewinnen kann. Kurz nach sechs erschienen die beiden Experimentierer mit zwei Wärtern und halfen mir ins Badezimmer. Als ich mich gesäubert und einen sauberen Pyjama angezogen hatte, äußerten sie sich in bedauerndem Ton. »Sie ahnen ja gar nicht, wie leid uns das alles tut, Dr. Kukuschkin«, sagte Sipjagin mit äußerst besorgter Miene. Ich sagte nichts und drehte mein versteinertes Gesicht zur Wand. Josif Zinowiew brummte: »Es ist nur fair, daß wir Ihnen wahrheitsgetreu berichten. Verstehen Sie aber bitte, daß alles, was Sie jetzt hören werden, strengster Geheimhaltung unterliegt.« »Das wird der Akademiker schon verstehen«, sagte Sipjagin sanft. Sanft. »Wissen Sie, alter Junge, Sie sind das Opfer eines entsetzlichen Unfalls. Im Ekratkoye-Komplex haben wir uns einige recht fortgeschrittene Tricks im Zusammenhang mit der Rückentwicklung bei Menschen einfallen lassen. Während einer gewissen Phase war Dr. Pianitsky betroffen, und irgendwie ist es Ihnen gelungen, sich von ihm ein paar Bazillen einzufangen. Wirklich eine scheußliche Angelegenheit, und wir werden alle mit Schimpf und Schande gefeuert, wenn jemand davon erfährt.« Ich drehte mich um und sah ihn haßerfüllt an und dachte an die entlang des Amur und des Ussuri zusammengezogenen Truppen. »Sie sind sich also einig, nicht wahr? Sie und die Imperialisten. Sobald die Ägis-Schirme installiert sind, können Sie die Volksrepublik China mit Interkontinentalraketen voller Viren bepflastern und Ihre Divisionen langsam einmarschieren lassen, die dann jedem fröhlich lallenden Schwachsinnigen die Kehle durchschneiden.«
Scheinheilig gab sich Sipjagin gekränkt. »Sie haben in letzter Zeit unter hoher Belastung gestanden, alter Junge, aber was sie sagen, kommt einer Verunglimpfung des Vaterlandes ziemlich nahe. Dieser 17-Tg-M-Stamm ist ein recht ekelhaftes Zeug, und es ist ein Jammer, daß Sie es sich eingefangen haben, aber Sie müssen andererseits verstehen, daß wir mit den Entwicklungen des Feindes Schritt halten müssen, für den Fall, daß es zum Schlimmsten kommt.« Mit den Blicken führten sie einen lebhaften Dialog. Sipjagin stand auf und tätschelte meinen Arm. Als sie gegangen waren, brachte Anna mir Essen. Ich rührte es nicht an. Unfall, daß ich nicht lache. Solche Fehler unterlaufen diesen Leichenschändern nicht. Man hat es mir injiziert, als ich die Antistrahlungsspritzen bekam. Die Schweine wußten genau, was sie taten. Sie müssen es anwenden. So funktionieren ihre paranoiden Gehirne. Jetzt, da sie gegen einen nuklearen Vergeltungsschlag potentiell gefeit sind, müssen sie ganz einfach die ersten sein. Ich frage mich, ob es ihre Absicht ist, die Amerikaner gleichzeitig zu erledigen. Ich bezweifle nicht, daß diese Dummköpfe tatsächlich glauben, sie könnten einfach einmarschieren, die Schlüsselpositionen besetzen, ihre Antigene anwenden und sich zu einem unblutigen Sieg gratulieren. Eine Handvoll Fanatiker könnte es gelüsten, den Feind völlig zu vernichten, aber die Masse wird 17-Tg-M als ein Mittel zur endgültigen Verwirklichung eines ruhmreichen und humanen Klassenkampfes betrachten. Diese Narren. Ohne Frage kenne ich die unvermeidliche Reaktion ihrer Opfer. Sie werden jeden einzelnen ihrer besiegten Feinde abschlachten müssen. Sie werden gezwungen sein, an der Hälfte der Menschheit Völkermord zu begehen.
Wie ist es möglich, daß sie den wilden Haß, die mörderische rachsüchtige Wut nicht erkennen, die ich für sie empfinde? Den Ekel über mich selbst, die Erniedrigung all dessen, was einen Mann zum Menschen macht. Wissen sie, was für ein Gefühl es ist, wenn alle Würde und jede Selbstachtung unerbittlich in einem abgetötet werden, bis man sich wie ein Schwachsinniger in seiner eigenen stinkenden Scheiße windet? Was würden sie wohl mit denen tun, die ihnen das angetan hätten? Und doch bin ich gewiß nicht ihr erstes Versuchskaninchen. Sie müssen 17-Tg-M schon an Verbrechern ausprobiert haben, an Soldaten und Technikern, Bürokraten und Hausfrauen. Jetzt sind die Genies an der Reihe. Kann man sich vorstellen, daß ihnen die Konsequenzen dieser dreckigen Angelegenheit klarwerden, bevor ihre eigenen Zwänge – und der Schild, die Abschirmung, die ich bauen half, Gott sei mir gnädig – sie dazu zwingen, dieses Mittel ernsthaft einzusetzen? Nein. Sie kennen keine Hemmungen. Der Gedanke an die Konsequenzen hat Stalins Hände nicht von den Kulaken abgehalten noch Hitlers von den Juden oder Trumans und Attlees von Hiroshima. Das wird sie nicht stoppen. Ich höre Schritte, die sich nähern. Ich bin schon ein toter Mann, aber zuerst werde ich noch töten.
9. Ayers Rock
Am Ende seines Todestraumes hörte Alf ein Klopfen an seiner Tür und wußte, daß er schlief. Das Leben, sagte der Drache namens Kukuschkin, wäre viel leichter, wenn dein Gehirn ein Telefon wäre. Das Reptil rang verzweifelt die Hände mit den zwei Daumen. Du wirst dich an dies alles nicht mehr erinnern, verdammt. Voller Angst sagte Alf zu dem toten Drachen: Das werde ich doch. Wie könnte ich es vergessen? Er wälzte sich in seinem Bett auf die andere Seite. Seine Gehirnströme flossen schneller und verloren an Spannung. Beim nächsten Klopfen wachte er auf, und sein Pyjama klebte ihm am Körper. »Sir, der General wünscht, daß Sie ihn im Konferenzraum aufsuchen.« »Ja. Okay.« Nach seiner Uhr war es später Nachmittag. Das Bett von Maus war natürlich leer. Der Gestank seines Entsetzens erfüllte den Raum; er mußte wieder geträumt haben. Aber von dem Alptraum war nichts geblieben. »Ich werde rasch duschen und komme dann sofort.« »So schnell Sie können, Sir.« Alf zog sein durchgeschwitztes Pyjamaoberteil aus. »Der General wünscht sicherlich nicht, daß ich so vor ihm erscheine.« »Ich werde ihm sagen, daß Sie unterwegs sind.« Durch das Zischen des Wassers aus der Dusche hörte er das unablässige Trommeln dieses unmöglichen Regens, der großen Flut, die das Gewölbe über den Felsen schüttete. Woher kam all das verdammte Wasser? Fedorenko glaubte, daß ein Teleportationssystem im Spiel sei, ein primitiveres und weniger anspruchsvolles als das für den Transport von so
komplizierten organischen Strukturen wie lebenden Menschen konstruierte Gitter. Oder lebenden Drachen. Scheiße, woher war das gekommen? Er zuckte unter dem heißen Wasser zusammen. Der Regen war reines, destilliertes Wasser; er kam also nicht direkt aus dem Meer, und es war auch kein Grundwasser. Es konnte auch kein endloser Kreislauf sein – wenn es so einfach gewesen wäre, hätte die Gravitationsbeschleunigung jeden Tropfen in eine Bleikugel verwandelt, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegte. Im Korridor holte ihn wieder ein Echo seines unterdrückten Alptraums ein. Aufmerksam standen Wachsoldaten paarweise oder in Gruppen herum, und in jeder Gruppe waren genauso viele Amerikaner wie Sowjets. Sie schienen sich gegenseitig nicht recht zu trauen. An der Tür prüfte ein Posten seine Papiere und ließ ihn dann eintreten. Sewastyianow wies auf den einzigen noch leeren Stuhl. Wenigstens zwanzig Männer hatten sich im Raum versammelt. Alf suchte Bill delFords Blick; der Mann saß angespannt da und beugte seinen stämmigen Körper über den Konferenztisch. Alfs Befürchtungen konzentrierten sich jetzt auf einen Punkt. »Mein Gott, ist Maus etwas zugestoßen?« »Dem Jungen geht es gut«, sagte Sewastyianow knapp. »Bitte nehmen Sie Platz, Dr. Dean.« Vor jedem lag eine versiegelte Mappe mit grell aufgedruckten Sicherheitsvorschriften auf dem Tisch. Keine war bis jetzt geöffnet worden. Die Gelassenheit, mit der Sewastyianow jeden der Anwesenden aufmerksam ansah, paßte nicht zu der Spannung, die im Raum lag. Mit hartem Gesichtsausdruck saß Chandler zur Rechten des Generals. Er war in seinem Element. »Gentlemen«, sagte der Russe endlich, »ich muß Ihnen mitteilen, daß gewisse Ereignisse heute nachmittag fast einen Atomkrieg zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten
Staaten ausgelöst hätten. Zum Glück besteht diese Gefahr jetzt nicht mehr.« In einer nichtmilitärischen Versammlung dieser Größenordnung hätte eine solche Mitteilung einen Tumult ausgelöst. Hier aber wurde kein Wort gesprochen. Alf spürte, daß sich der Alptraum über ihn senkte und sein Gedächtnis sich ihm einen Spalt öffnete. »Das auslösende Moment«, hörte er die tiefe Stimme des Generals sagen, »war eine Mitteilung aus dem Gewölbe. Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß es von intelligenten Wesen kontrolliert wird. Und es hat etwas getan, was man nur als seinen ersten offenkundig feindseligen Akt deuten kann.« Wie ein Schauspieler ließ der Russe eine Pause eintreten, um ihnen Zeit zu lassen. »Sie werden bemerken, daß ich die Todesfälle und Verletzungen, die wir gehabt haben, in diesem Zusammenhang nicht berücksichtige. Es handelte sich dabei um passive Reaktionen, einem Stolperdraht vergleichbar, durch den eine vorher aufgestellte Falle ausgelöst wird. Heute nachmittag aber hat das Gewölbe über den Jungen versucht, einen größeren Konflikt zwischen unseren beiden Nationen zu provozieren.« Der Raum war zurückgewichen. Alf hielt sich an der Tischkante fest, und die versiegelte Mappe glitt ihm aus den Fingern und fiel ihm auf den Schoß. »Der Drache«, platzte er heraus. »Der Drache Kukuschkin.« Bill delFords Gesicht hing wie ein roter Mond über ihm. Mein Gott, jetzt hat es ihn wieder erwischt. »General, könnten wir die Besprechung verschieben bis – « »Ich sehe das Problem. Tun Sie das Nötige, Doktor.« DelFord beruhigte ihn und schenkte aus dem Krug auf dem Tisch ein Glas voll. Alf trank den Orangensaft und kam sich albern vor. »Es tut mir leid. Dieses verdammte Ding – « »Okay, alter Junge. Sind Sie in der Lage, uns zu berichten?«
»Es ist alles in Ordnung.« Es war unglaublich. Mit knapper Not war ein Atomkrieg verhindert worden, und er brach zusammen, weil er schlecht geträumt hatte. »Alf, Sie haben eben einen Namen erwähnt. Woher kennen Sie den?« Der Anthropologe kniff die Augen zu. »Kukuschkin? Ich weiß es nicht. Hören Sie, das ist doch absurd.« »Er war ein Kollege von Dr. Fedorenko. Hat Victor den Namen Ihnen gegenüber erwähnt?« »Ich glaube nicht. Verdammt noch mal, wenn Sie es schon wissen müssen, ich hatte einen Alptraum bevor der General mich holen ließ. Wollen Sie sich diesen Unsinn wirklich anhören?« »Aber ja. Was glauben Sie denn, womit sich Maus den ganzen Tag in seinem Käfig beschäftigt? Er träumt Alpträume, die aus dem Gewölbe kommen, mein Junge.« »Nun ja, das meiste ist weg. Ich glaube, ich habe immer wieder den gleichen Alptraum seit – seit ich aus dem Gewölbe kam.« Er krümmte sich. »Ich erinnere mich nur an einen Drachen, der Kukuschkin hieß. Eigentlich hätte es wohl ein Bär sein müssen.« Vom anderen Ende des Tisches mischte sich Lowenthal ein. »General, ist dieses psychoanalytische Pokerspiel wirklich notwendig? Ich würde – « »Halten Sie den Mund«, sagte delFord und wandte sich wieder Alf zu. »Sonst nichts? Hat der Drache versucht, Ihnen etwas mitzuteilen? Vielleicht eine Nachricht über Maus oder etwas für uns andere?« Alf legte die Mappe auf den Tisch zurück. Sie war feucht von seinen Handflächen. Alle Anwesenden hatten sich ihm zugewandt. Einige legten sehr nachdenklich die Stirn in Falten. »Darüber hat er ja gerade geklagt – über die Tatsache, daß wir so leicht vergessen.« Er spürte ein Kribbeln an der Kopfhaut.
»Noch etwas. Ich überlasse es Ihnen, sich über die Symbolik klarzuwerden. Der Drache war tot.« Bill schlug ihm auf die Schulter. »Nun, General, ich denke, das reicht. Es versucht, sich mit uns in Verbindung zu setzen.« »Danke, meine Herren.« Der Russe wartete, bis alle schwiegen. »Wir werden die Diskussion über Dr. Deans bemerkenswertes Erlebnis noch zurückstellen. Ich bitte Sie, jetzt Ihre Mappen zu öffnen.« Alf starrte dumpf auf seine Mappe. Überall raschelte es. Er riß sie auf. Sie enthielt ein einziges vom Computer geschriebenes Dokument mit der Überschrift: VOR SEINEM TODE GEMACHTE AUFZEICHNUNGEN VON ILJA DAVIDOWITSCH KUKUSCHKIN, 19. NOVEMBER. Der russische Name drang in ihn ein wie ein Dorn. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus. »In der Tat, Dr. Dean«, sagte Sewastyianow, »dieses Material wurde auf Veranlassung der Intelligenz im Gewölbe vor drei Stunden von Ihrem Neffen geschrieben. Ich bitte diejenigen, die den Auszug noch nicht gelesen haben, es jetzt zu tun.« Verwirrt und bestürzt zwang Alf sich dazu, diese schrecklichen anklagenden Worte zu lesen. Hinter Kukuschkins steifer Diktion sah er das höhnische, kluge Gesicht des Drachens aus seinem Alptraum. Die Regenbogenschlange, dachte er. Er schüttelte den Kopf, blätterte die Seiten um und nahm die Worte des Toten auf einer entlegenen Bewußtseinsebene automatisch auf. Dinosaurier und Träume. Viren. Das Jüngste Gericht in einer Laborampulle. Die Stimme des Drachen war im Lande zu hören. Mit einer gewaltigen Anstrengung drängte er das alberne Lachen in seinem Kopf zurück. Sewastyianow wartete stoisch, bis auch der letzte Mann seine Mappe geschlossen hatte. Er legte die Hände auf den Tisch. »Das Material, das Sie eben gelesen haben, ist absolut geheim,
genau wie alles andere, das Sie im Zusammenhang mit Verteidigungsangelegenheiten hier erfahren werden. Alle Teilnehmer an dieser Diskussion, Zivilisten wie Militärpersonal, stehen unter Kriegsrecht. Jeder Geheimnisbruch, jetzt oder in Zukunft, zieht die sofortige Exekution ohne Gerichtsverhandlung nach sich.« Wieder ließ er die Worte einsickern. Sein Blick ruhte auf Bill delFord und glitt dann zu Alf hinüber. »Für diese Station besteht Alarmstufe Gelb. Taktische Nuklearwaffen wurden in der Region um Ayers Rock zusammengezogen, ergänzt durch die strategische Feuerkraft seegestützter, zielprogrammierter atomarer Waffen im Indischen Ozean. Innerhalb der Station wurden die Sicherheitsbestimmungen teilweise gelockert, um dem Einsatzstab einen möglichst raschen Zugang zur interdisziplinären Bewertung der Situation zu verschaffen.« Während er sprach, hatte der Adjutant des Generals den Raum betreten und reichte ihm eine Notiz. Sewastyianow überflog sie und murmelte etwas vor sich hin. Der Adjutant ging wieder. Im Raum hatte eine undefinierbare Veränderung stattgefunden. Alf konzentrierte sich und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Etwas – etwas fehlte. »Gentlemen«, sagte der Russe, »heute ist ein Tag der Überraschungen. Es hat aufgehört zu regnen.« Diesmal gab es kein gelassenes Schweigen. Ingenieure und Techniker brachen in wildes Debattieren aus. Der unmelodische Singsang der Wissenschaftler befaßte sich mit einer weiteren entscheidenden Information, die in ihren Hypothesen nicht abgedeckt war. Schließlich klopfte Sewastyianow laut auf den Tisch. »Sicherlich ein weiteres bedeutsames Zusammentreffen von Umständen«, sagte er. »Aber wir wollen uns für den Augenblick auf Kukuschkins Tagebuch beschränken. Ich habe von höchster Stelle die Genehmigung, Ihnen zu sagen, daß der Auszug selbst echt ist.
Er wurde nach Kukuschkins vorzeitigem Tod in Sicherheit gebracht.« Er überhörte den sehr hörbar gezischten Fluch Victor Fedorenkos. »Die hysterische Meditation des Akademikers wird indessen kategorisch zurückgewiesen. Der E.-coli-Stamm mit der Bezeichnung 17-Tg-M, der eine Neukombination von DNA darstellt, bildet nicht Teil des Waffenarsenals der Sowjetunion und war dafür zu keiner Zeit vorgesehen. Wie Colonel Sipjagin Kukuschkin klarzumachen versuchte, wurde es lediglich für experimentelle Studien entwickelt.« Der Russe sah Hugh Lapp an. »Aufgrund der Satellitenübertragung des Dokuments an die Geheimdienste unserer beiden Nationen durch verdeckte Agenten in dieser Station wurde eine rapide Eskalation bis zur höchsten Alarmstufe ausgelöst.« Seine Stimme wurde noch tiefer. »Obwohl diese ungesetzliche Weitergabe von Informationen einen groben Affront gegen das gemeinsame Kommando dieser Station bedeutet, hat man mich angewiesen, keine Bestrafung zu erzwingen. Die Betroffenen mögen sich außerordentlich glücklich schätzen.« Alf bemerkte, daß der Astronaut aufmerksam und ohne jede Regung zuhörte. War er einer der »verdeckten Agenten«, von denen Sewastyianow sprach? Wenn das zutraf, legte der Mann eine bemerkenswerte Selbstbeherrschung an den Tag. »Ich wiederhole, die unmittelbare Kriegsgefahr wurde abgewendet. Da das Gewölbe selbst die Primärquelle dieser Indiskretion war, dürfen wir den Schluß ziehen, daß die Absicht bestand, einen globalen Holocaust auszulösen.« »General«, rief Bill wütend. »Ich muß protestieren. Das ist gewiß eine mögliche Beurteilung der Krise, aber kaum – « Der Russe sah ihn finster an. »Dr. delFord, ich war noch nicht fertig. Ich habe mehr als genügend Rücksicht auf Ihren
zivilen Status genommen. Bitte unterbrechen Sie mich nicht noch einmal.« DelFord zögerte. »Verzeihung«, sagte er dann. Sein Gesicht war zornrot. »Nun gut. Nach vorherrschender militärischer Einschätzung ist das Gewölbe für den nuklearen Alarm von heute nachmittag verantwortlich. Dagegen halten die Verhaltensspezialisten, die das Kukuschkin-Dokument bereits geprüft haben, statt dessen dieses für den Schlüssel zum Gewölbe. Diese beiden Auffassungen liegen sehr weit auseinander. In Anbetracht der jüngsten Phänomene neige ich persönlich zu der letzteren Position. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf das Zitat aus der Schrift richten, das der Junge übermittelt hat und das vermutlich als verbale Coda gedacht war. Major Northcote.« Der Arzt stand auf. »Ich habe heute nachmittag über Nachrichtensatelliten mit den Doktoren Sipjagin und Zinowiew gesprochen. Es ist ihr wohlüberlegtes Urteil, daß der 17-Tg-M-Stamm zeitlich befristet eine ähnliche kortikale Spaltung bewirkt wie die, unter der Hieronymus Dean leidet. Daher die Panik. Escherichia coli ist eine Bakterie, die wir alle im Darmtrakt haben. Eine gezüchtete Variante, die in ihrem Zytoplasma verkindlichende Gene trägt, würde sich wie in einer Kettenreaktion vermehren, wenn sie freigelassen wird. Ich betone deshalb, daß die sowjetischen Biochemiker Wert auf die Feststellung legen, daß es sich bei 17-Tg-M um einen toten Stamm handelt. Er ist nur im Labor lebensfähig. Wenn er durch Zufall entkäme, würde er zugrunde gehen. Das für unsere Zwecke Interessante ist allerdings die Fähigkeit des 17-Tg-M, ein kleines endorphines Peptid zu erzeugen, das sogenannte Arg-Enkephalin. Endorphine sind morphiumähnliche Substanzen, die auf natürliche Weise im menschlichen Körper erzeugt werden. Dieses ist in der Natur noch nicht nachgewiesen, wenn auch die Wahrscheinlichkeit
groß ist, daß es bei einigen Formen schwerwiegender geistiger Entwicklungsverzögerungen und bei Verhaltensdefekten eine Rolle spielt. Wahrscheinlich setzt es sich in einem Maße an den kortikalen Neuronenrezeptoren fest, daß deren Funktion massiv beeinträchtigt wird.« Northcote ging seine Notizen durch. »Ich will Sie mit der biochemischen Struktur nicht langweilen. Glücklicherweise haben die Sowjets das Plasma als unabhängiges Präparat schon aus dem 17-Tg-M herausisoliert. Dieses hat nur geringe Einwirkung auf die Hypophyse, wenn nicht eine Stimulierung durch weitere Enzyme hinzutritt, wodurch die ArgEnkephalin-Produktion enorm beschleunigt wird. Ein entsprechendes Präparat wird gerade eingeflogen.« Abrupt setzte er sich wieder. »Sie haben eine Frage, Doktor Fedorenko?« »Ja. Wollte der Major damit sagen, daß Sie diese Substanz bei den Männern anwenden wollen, die in das Gewölbe gehen?« »Diese Möglichkeit müssen wir prüfen.« »Das ist empörend. Hat man aus dem Elend meines Kollegen Kukuschkin denn überhaupt nichts gelernt?« Komarow, der Elektronik-Experte, sagte: »Bevor Victors Ethik uns in ihren Sumpf zieht, möchte ich über die Fortschritte meines eigenen Teams berichten. Der Null-Anzug ist fertig. Ich bin zuversichtlich, daß er uns den Zugang zum Gewölbe ermöglichen wird, ohne daß wir uns auf die besonderen, geheimnisvollen Kräfte unseres jungen australischen Freundes verlassen müssen.« »Gott sei Dank für diese Stimme der Vernunft«, sagte Lowenthal. Jetzt wurde aufgeregt debattiert. Sewastyianow ließ die Leute gewähren. Zu diesem Zweck hatte er schließlich die Konferenz einberufen und sie in die dunkelsten Geheimnisse der Welt
eingeweiht. Alf betrachtete seine Hände und lauschte in die Stille nach dem Regen. Im Konferenzsaal war sein Trommeln fast nicht zu hören gewesen, und jetzt betäubte sein Schweigen ihn mit Bildern von Bedeutung. Haut, deren Bräune schon verblaßte. Haare wie jedes andere Tier. Der Drache war mit feinen Daunenfedern bedeckt gewesen. Fingernägel. Er hatte wieder daran gekaut. Unter der Haut die Blutgefäße. Im Blutstrom Hormone: Protein-Boten, getrieben von den nukleotiden Boten seiner DNA. Strom und Zeit. Die Knochen unter den Adern, heilige Knochen. Bill stritt mit Fedorenko und behauptete, das Gewölbe lege nahe, daß sie die Droge aus ihrem mutierten Bakterium benutzten. Wie konnte einer aus diesem Fleischgewebe heraussteigen, wenn das alles war? Der Amerikaner hatte versprochen, Alf die Daten aus seinen AKEStudien zu zeigen, sobald die Bücher aus den Staaten eingeflogen waren. Sobald das Arg-Enkephalin aus dem Labor irgendeines Schurken im tiefsten Sibirien eingeflogen wurde. Über eins schien man sich in der Diskussion einig zu werden: sie würden den Null-Anzug nicht verwenden, bevor die Droge zur Verfügung stand. Beide Eier in einem Korb. Nur so konnte man ein Omelett machen. Ob die Drachen brütig wurden und ihre Eier ausbrüteten? Bill berührte seine Schulter. »Kommen Sie, alter Junge, wir gehen.«
10. Ayers Rock
Unter dem weiten, klaren Himmel lag der Felsen Uluru, ein orangeroter Leviathan, durch eine gewaltige Katastrophe in diesen endlosen Sumpf getragen, mit aufgerissenen Flanken, von Stechfliegen umschwirrt. Es kostete Alf einige Mühe, das Bild mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen: Finkenschwärme stiegen gegen den Fallwind in die Luft empor, gegen die von dieser massiven Steinanomalie verursachten Abwärtsströmungen. Er fuhr Maus durch das Haar und legte plötzlich schützend den Arm um die Schultern des Jungen. Das Orakel des Gewölbes hat uns an den Rand des Unheils gebracht, dachte er, aber durch eine einzige symbolische Einflußnahme hat es uns wieder zurückgeleitet. Das Ungetüm schaukelte mit Captain Hugh Lapp am Steuer durch den roten Schlamm und das saftige, frisch aufsprießende Gras. Beim Autofahren hatte Alf noch nie Übelkeit verspürt; er erkannte nicht den Grund für sein aufkommendes Unwohlsein. Es hat mir geschadet, redete er sich ein. Irgendetwas hat mein Kleinhirn für immer geschädigt. Fast den ganzen Tag habe ich Schwindelgefühle, und wenn ich mich schlafen lege, wache ich mit Alpträumen auf und glaube, in die Unendlichkeit zu stürzen. Es war schwierig, sich das Gewölbe nicht als unversöhnliche verderbenbringende Kraft vorzustellen. Und doch hatte es in dem Augenblick, da sie Kukuschkins explosive Tagebuchaufzeichnungen lasen, seinen Regenbogen in den Himmel geschickt, sein äußeres Verteidigungssystem ausgeschaltet und die schwarzen Wolken vertrieben, die sonst fast das ganze Jahr über dem Felsen hingen. Wenigstens die
Farmer in den östlichen Staaten werden dankbar sein, dachte Alf. Sie werden Gott danken für das Ende der Trockenheit. Vielleicht sollten sie ihren Dank lieber an den Teufel richten. »Er ist groß«, sagte Lapp. »Er ist gewaltig«, sagte Bill delFord, der hinten im Land Rover auf der anderen Seite neben Maus saß. »Dieser verdammte Felsbrocken ist fast so groß wie das Empire State Building und größer als das Chrysler Building. Man könnte eine ganze Stadt von Wolkenkratzern hineinpacken.« Dieser törichte Vergleich ärgerte Alf. Wieviel feiner waren die Metaphern der schwarzen Männer, die in die Höhlen des Uluru gingen, um ihre Götter zu verehren. Aus diesem Blickwinkel, von Norden her, waren die meisten gezackten Grate und Felsvorsprünge nicht zu sehen, aber selbst von hier konnte man das letzte Lager von Linga erkennen, dem Eidechsenmann, die abgeschliffenen Steine, auf denen die Mala-Frauen die Speisen bereiteten. Die tief in den Stein geschnittenen Wasserlöcher, die selbst die Jahrtausende überstanden hatten, da die jährliche Niederschlagsmenge wenig mehr als hundert Millimeter betrug, dienten nicht nur den körperlichen Bedürfnissen; sie waren das MuitjildaWasser, das Blut des sterbenden Kunia, und die Wasserflecken in dem uralten Fels waren das am Ende des Träumens versteinerte Blut des sterbenden Liru. Die Flechten waren einst der Rauch gewesen, der schrecklich aus dem Lager der schlafenden Eidechse aufstieg. Die Rinnen, die sich in die zerfurchte Kuppe des Uluru eingegraben hatten, waren die Spuren der fliehenden Malas. Nichts hier war nur irdisch; jedem Stein und jeder Spalte hatten die Männer und Frauen in ihren tiefsten Emotionen besondere Werte zugemessen. Alf erkannte, daß seine Gereiztheit ebensosehr auf ein Gefühl der Angst und der Unsicherheit zurückzuführen war wie auf irgendeinen berechtigten aber abstrakten Groll. Er nahm seinen
Arm von Maus’ Schulter und wandte sich den Aufzeichnungen zu, die auf seinem Schoß lagen. Bei all seinem Interesse für Mythen betrachtete er die Annahme einer außerkörperlichen Erfahrung immer noch mit tiefem Mißtrauen. Aber welcher andere Begriff erklärte auch nur annähernd die fürchterliche Verlagerung der Realität, die er erlebt hatte, als das Tor ihn auf der Parabel irgendeiner unverständlichen Gleichung in den Vorhof der Hölle schleuderte? Eine schlaflose Nacht hatte er damit verbracht, das absurde Gebräu eines Mannes namens Robert A. Monroe zu lesen; als er jetzt delFords Artikel las, stellte er überrascht fest, daß der Engländer seine eigene ungläubige Verachtung teilte. Das Rütteln des Fahrzeugs machte ihn schwindelig. Alf seufzte und legte die Aufzeichnungen beiseite. Ringsum spiegelte sich das klare Blau des wolkenlosen Himmels in den glänzenden Wasserflächen zwischen den glatten, fleischigen Wüstenpflanzen, den Gräsern und den knorrigen Wurzeln der Mulga-Büsche. Die Räder rutschten und drehten durch, bevor sie in dem ungewöhnlich tiefen Schlamm wieder griffen, aber Alf wußte, daß der endlose Spiegel in wenigen Wochen, vielleicht nur Tagen wieder verschwunden sein würde, vom trockenen Boden unerbittlich aufgesogen. Dann würde die wahre Pracht erblühen. Die Wüste würde sich verwandeln, nicht in die düsteren Phantasien animistischer Nomaden sondern in die explosive Biochemie einer jetzt noch schlafenden Ökologie. Schon hing trotz der vorausgegangenen wilden Regenfälle der betäubende Duft der goldenen Kassia in der Luft. Üppig geschwollene Emu-Büsche öffneten träge ihre flammenden Bernsteinblüten; zinnoberrot, karmesin und heliotropfarben leuchtete es auf – alle rosigen vaginalen Andeutungen einer verheißenden Fruchtbarkeit. Die Morgensonne fiel schräg durch die Büsche und fing sich in den Nadeln der
Wüsteneichen. Die Bäume waren gebogen und verkrüppelt: harte, knorrige Pflanzen, Bonsai im Extrem. Und über allen lebenden Kreaturen, den silbergrauen Akazien, den weißen Zypressen, den roten Känguruhs, die plötzlich in der Ferne elegant dahersprangen, ragte das furchteinflößende Maß ihrer Vergänglichkeit hoch in den Himmel: Uluru, rot wie Granit und in der Sonne glühend wie ein Ziegel frisch aus dem Brennofen. Victor Fedorenko, der links auf dem Vordersitz saß, schüttelte langsam den Kopf. »Es ist überwältigend. Ich habe Klettertouren im Himalajamassiv mitgemacht, wo man vor Schnee den Himmel nicht sieht und fürchtet, daß sich die Erde neigt, aber dies ist – unvergleichlich.« In einem Winkel von achtzig Grad stieg der gewaltige Felsen aus der Erde empor und lag jetzt in den Strahlen der Sonne. »Und dies sind nur die Überreste einer über tausend Meter hohen Pyramide.« »Großes Siegel«, sagte Maus verträumt. Alf lachte. »Er sieht eher wie ein Walfisch aus.« »Ja, ganz wie ein Walfisch«, stimmte Bill ihm zu. Dann rief er erschrocken: »Mein Gott, das Große Siegel.« Er zog seine Geldscheintasche hervor und entnahm ihr eine Dollarnote. »Vielleicht ist das Gewölbe ein Ort der Erleuchteten«, sagte er schwach. Maus war von der Dollarnote begeistert. Er riß sie an sich, hielt sie dicht vor sein rechtes Auge und rieb sie gegen seine Stirn. »Annuit Coeptis«, sagte er deutlich. »Novus Ordo Saeculorum.« Fedorenko drehte sich nach hinten um und sah den Jungen nachdenklich an. »Er ist mit unserem Unternehmen einverstanden«, übersetzte er. »›Eine neue Ordnung der Zeitalter‹. Es ist eine Einladung von der Intelligenz im Gewölbe.«
»Bei Gott, es ist mehr als das«, sagte Bill. »Nach all dem mystischen Unsinn, den man uns über das Große Siegel vorgeschwatzt hat, kennen wir endlich das Original.« Lapp ließ das Ungetüm auf den schimmernden Asphalt des verlassenen Start- und Landestreifens für Touristen rollen. Der neue Kurs verlief parallel zur Nordseite des großen Felsens, und sie hatten die Morgensonne im Rücken. Bei der klaren Luft sahen sie in dreißig Kilometern Entfernung hinter dem nordwestlichen Rand die Monolithen des Mount Olga. »Dies ist die Rückseite des Großen Siegels der Vereinigten Staaten«, erklärte Bill Alf und zeigte ihm die abgeschnittene Pyramide links auf dem Geldschein mit dem darüber schwebenden Strahlenden Dreieck mit dem furchtlos geöffneten Auge. »Der Entwurf ist zweihundert Jahre alt und wird Franklin, Adams und besonders Thomas Jefferson zugeschrieben. Es ist mir nie aufgefallen, aber das verdammte Ding ist keine Pyramide – es ist ein schmaler Keil. Es ist ein Schnitt durch eine Pyramide. Und sehen Sie sich den Neigungswinkel an: er muß fünfundsechzig, siebzig Grad betragen. Aber bei den ägyptischen Pyramiden war eine Neigung von zweiundfünfzig Grad üblich.« Er zeigte auf die Furchen, die den Felsen überzogen. »Dieser entspricht eher Jeffersons Entwurf.« »Sie sind verrückt«, sagte Alf leise. »Gosse, der erste Weiße, der hier war, erreichte den Felsen erst 1872. Glauben Sie, daß Jefferson im Schlaf von Sternenreisen träumte?« »Machen Sie mir keinen Vorwurf«, sagte Bill mit einiger Schärfe. »Die Idee hatte der Junge.« Selbst aus dieser Entfernung konnte man das Heulen des Windes hören, der über die tiefen aus dem Fels gewachsenen Höhlen hinwegstrich. Das Fahrzeug verließ holpernd die Rollbahn und nahm Kurs auf die Straße, die um Uluru herumführte. Das gute alte Ungetüm, dachte Alf liebevoll. Er
war sehr erleichtert gewesen, als eine Gruppe von Projektingenieuren den Wagen von seinem einsamen Standplatz in der Nähe der Tanamihöhle geholt und eingeflogen hatte. Licht umspielte den roten Felsen; Wasser ergoß sich in Kaskaden aus den frischen Lachen in die Tiefe. Vor ihnen lehnte eine riesige Steinplatte gegen den Felsen und warf ihren Schatten über die zarten Farben der aufsprießenden Wüstenvegetation. Zwischen beiden sah man einen Streifen des fahlen Himmels. Die Platte war siebzig Meter hoch und ein Zehntel so dick. »Der Felsen häutet sich«, war der Kommentar des Astronauten. »Genau das tut er«, sagte Fedorenko. »Der ganze Felsen besteht aus feldspatreichem Sandstein und mehreren Ringen aus Konglomeraten, die durch Kieselerde als Bindemittel zusammengehalten werden. Seit Millionen von Jahren arbeitet die Oberfläche unter täglichen Temperaturschwankungen von fünfundzwanzig Grad Celsius oder mehr, so daß ständig dünne Platten abbrechen und durch den vom Wind herangetragenen Sand zerrieben werden. Diese Abschieferung hat im Westen und Südosten besonders ausgeprägt stattgefunden; diese Platte ist alles, was von einem Mantel übriggeblieben ist, der einst den ganzen Felsen umgab. Da der Felsen so homogen und massiv ist, schleift diese Verwitterung ihn ziemlich gleichmäßig ab.« Lapp fand die für Touristen gebaute Straße und beschleunigte. »Die Mutter möchte ich gern mal besteigen«, sagte er und tat so, als hätte er vom Rücksitz delFords amüsiertes Lachen nicht gehört. »Leider hat der General den Felsen gesperrt. Vielleicht glaubt er, daß die Wanambi immer noch kitzlig ist.« Dennoch hielt er mit dem Land Rover an der Westseite, wo ein mit einem Kettengeländer gesicherter Pfad in Kurven zu einer tausend Meter langen natürlichen Rampe
hinaufführte. Hoch am Felsen hoben sich einige verkrüppelte Akazien gegen den hellen Himmel ab und reckten wie flehend ihre knorrigen Arme aus dem mageren Boden zwischen den engen Spalten empor. Alf zitterte trotz der Hitze, die aus der dampfenden Erde feuchte Schwaden aufsteigen ließ. Wieder schlug er delFords Artikel auf, während der Autor aus dem Fahrzeug stieg und geräuschvoll in eine schlammige Pfütze urinierte. Eine Tür knallte. Hugh und der Russe marschierten langsam durch die rotbespritzten Büsche auf den dreißig Grad steilen Berghang zu. Alf fragte den Jungen: »Möchtest du mit ihnen gehen und dir den Felsen ansehen?« Maus verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und blieb auf seinem Platz. Bill stieg wieder ein, nahm einen Öllappen und wischte seine modischen Reitstiefel ab. »Fühlen Sie sich jetzt besser, Alf?« »Alles in Ordnung. Veröffentlichen viel im Journal für Biblische Buchführung?« »Ah, die Monroe-Debatte.« Bill lachte fröhlich. »Ist Ihnen vielleicht Das Wurmläufer-Magazin bekannt?« »Ich habe davon gehört. Wissenschaftlicher Humbug und ähnliches.« »Und seriöse Artikel, manchmal zu neu oder zu exzentrisch für die gängige Fachpresse. Mein Freund Björn Bangsund fand, daß das Studium veränderter Bewußtseinszustände zu langweilig wurde und daß nur noch die müden alten Schlagworte nachgebetet wurden, die zur Lähmung der akademischen Psychologie geführt hatten. Darum gründete er den Campus von Ard-Knox in Oslo, eine imaginäre Universität mit Disziplinen wie theologisches Ingenieurwesen. Ich bin Ehrenmitglied des Vorstands mit einem höheren akademischen Grad in biblischer Buchführung. Professor Bangsund hält die jährlichen programmatischen Reden. Seine Antrittsrede war
eine scharfsinnige Analyse darüber, was es einem Mann wohl nütze, wenn er die ganze Welt gewönne und nehme doch Schaden an seiner Seele.« Alf lächelte und hatte den leisen Verdacht, daß er auf den Arm genommen wurde. Die beiden Männer waren umgekehrt. Der Schlamm hatte sie abgeschreckt. »Bill, warum geben Sie sich mit solcher Scheiße ab?« »Astrale Projektion? Weil es sich dabei um eine Hypothese handelt, die uns hilft, die seltsamen Daten aus unseren AffektExperimenten zu ordnen.« »Aber Monroe – « Bill gab den nassen Lappen an den fluchenden Astronauten weiter. »Was er sagt hört sich verrückt an – aber es kommt den Berichten über die Fieberphantasien der Unglücklichen, die vor Ihnen im Gewölbe waren, sehr nahe.« »Ja«, sagte Alf verärgert, »aber ich dachte, Ihr Aufsatz zielte darauf, die Glaubwürdigkeit dieser Berichte zu bestreiten.« »Worüber wird hier diskutiert?« fragte der Russe. Bill gab ihm kurz einige Informationen über den Autor von Reisen außerhalb des Körpers. Das Buch war 1972 erschienen; sein Autor war ein Geschäftsmann in mittleren Jahren, mit dem sich Professor Charles Tart zwischen September 1965 und August 1966 gelegentlich beschäftigt hatte. Er war Präsident zweier Gesellschaften auf dem Medien- und Elektroniksektor und hatte 1971 in Virginia ein »Institut für Seelenforschung« eröffnet. Monroe behauptete, 1958 die Existenz eines durchsichtigen »Zweiten Körpers« entdeckt zu haben. Nach seinem Buch hatte ihn, als er auf der Couch schlief, aus dem Nordhimmel ein Strahl getroffen. Dieser schüttelte ihn wild und ließ seinen ganzen Körper vibrieren. Monate später traten diese Vibrationen ein zweites Mal auf, und dabei bewegte er unabsichtlich seinen »Astral«-Arm aus seinem Fleisch heraus. Medizinische und psychiatrische Untersuchungen ergaben
keinen pathologischen Befund. Unter großer Vorsicht lernte er es, diesen Zustand selbst herbeizuführen und unter Kontrolle zu bringen. Dabei verließ er vollständig seinen Körper. »John Lilly hat Monroes Erlebnis in einem Aufsatz als denkbar bezeichnet. Tart hat sich dahingehend geäußert, daß – « Maus richtete sich auf und sagte mit seiner hohen Stimme: »Die Versuchung ist groß, Robert Monroe als Verrückten abzutun. Ich schlage vor, daß Sie darauf verzichten. Aber ich bin auch nicht der Ansicht, daß Sie alles, was er sagt, für die absolute Wahrheit halten sollten. Er ist ein guter Berichterstatter, und ich habe großen Respekt vor ihm, aber er ist nur ein Mann, zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kulturkreis aufgewachsen.« Der Junge strahlte sie an. »Verdammt«, sagte Bill. »Das hätte er nicht sagen sollen. Sie werden ihn fortschaffen, weil er vom Teufel besessen ist.« »Was waren denn Monroes Behauptungen?« fragte Fedorenko. »Ich habe von solchen Fällen in der Sowjetunion gehört.« »Oh, die üblichen okkulten Rezepte«, sagte Bill. »Den Körper in Nordsüdrichtung legen und dann entspannen. Er hat lediglich versucht, der Sache einen statistischen Unterbau zu geben. Dadurch hat er, nimmt man ihn ernst, mit einigen traditionellen Vorstellungen aufgeräumt. Es hing nicht von körperlicher Schwäche ab. Es gab keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen außerkörperlichen Erfahrungen und Planetenkonstellationen. Aber er stellte fest, daß dieser zweite Körper elektromagnetischen Einflüssen unterliegt. 1960 verließ er seinen Körper in einem Faradayschen Käfig von fünfzig Kilovolt. Er schien sich in einer elastischen Tasche verfangen zu haben, die er nicht durchdringen konnte. Ein
anderes Mal passierte ihm das Ganze sogar mitten auf der Straße.« »Es hört sich genauso an wie das, was unter dem Gluonenschirm geschah«, sagte Hugh. »Das war erst der Anfang«, warnte Bill. »Die meisten seiner Ausflüge enden in einem Kosmos, den er ›Ort Zwei‹ nennt. Himmel und Hölle sind, wie Sie mit Interesse vernehmen werden, nur Vororte. Der ›Ort‹ jedoch ist die Verkörperung des Urprozesses. Die unserer Welt am nächsten liegende Region von Ort Zwei ist von drei üblen Gruppen bevölkert – den aus ihren Körpern herausgetretenen Wahnsinnigen, den emotional zurückgebliebenen Toten, die es nicht ertragen, sich loszureißen, und einem Heer von unangenehmen Kobolden, die Eingeborene jenes Reiches sind. Schlimmer Trip für einen Novizen.« Er nahm die Aufzeichnungen und suchte eine Stelle. »Dies wird Ihnen gefallen. Einmal hat er Gott gesehen. Es gibt heraldische Trompetenstöße und alle – auch Durchreisende wie Monroe – reagieren mit einem raschen Reflex. ›Alle Lebewesen legen sich hin – mein Eindruck ist, daß sie sich auf den Rücken legen, den Körper hochwölben und den Bauch entblößen (nicht die Genitalien). Sie drehen den Kopf zur Seite, damit sie Ihn nicht sehen, wenn Er vorbeigeht. Der Zweck scheint zu sein, eine lebende Straße zu bilden, über die Er hinwegschreiten kann… Als er vorbeigeht, erklingt dröhnende Musik, und das Gefühl strahlender, unwiderstehlicher, lebender Kraft und äußerster Macht entsteht und schwingt sich hoch auf, bis es sich in der Ferne verliert‹.« Diesmal war Maus stumm geblieben, nicht aber der Astronaut. Mit einem pfeifenden Laut versuchte er seine Heiterkeit zu verbergen, solange Bill noch las, aber dann brach er in brüllendes Gelächter aus. »Nicht die Genitalien«, sagte er endlich. »Nicht die Genitalien.«
»In Ort zwei ist durchaus nicht alles so transzendent«, sagte Bill von oben herab. »Zu Lapps Beruhigung muß ich erwähnen, daß eine Art Sex dort häufig praktiziert wird, etwa wie wir uns die Hände schütteln, oder wie wir, wenn wir Astronauten sind, Sex häufig praktizieren.« Hugh fing wieder an zu glucksen, und Alf war völlig entwaffnet, als Maus begeistert applaudierte und dabei so laut in die Hände klatschte, daß es sich wie Pistolenschüsse anhörte. »Das bedeutet eine totale gegenseitige Durchdringung«, fügte Bill heroisch hinzu, »der Astralkörper. Es bewirkt ein köstliches Prickeln, das mit dem bei bloßer genitaler Betätigung überhaupt nicht zu vergleichen ist, Sie primitives Schwein.« »Natürlich«, johlte Hugh. »Genitalien. Da sei Gott vor.« »So spannend diese Enthüllungen auch sind«, sagte Bill, »Monroes Entdeckungen erschöpfen sich in ihnen noch lange nicht. Ende 1958 fand er ein Loch, das zu einem parallelen physikalischen Universum führte, ›Ort drei‹. Die Bewohner dieser Welt sind menschliche Wesen, aber sie haben eine andere Geschichte als wir und eine andere Kultur. Sie bedienen sich keiner elektromagnetischen Technologie, kennen keine Verbrennungsmotoren und verwenden kein Öl. Statt dessen machen sie von der Dampfkraft Gebrauch und, möglicherweise, von der Kernenergie.« »Die Doppelgängerwelt«, sagte Fedorenko ganz ernsthaft. Ihm hatte die ungezügelte Heiterkeit der beiden überhaupt nicht gefallen. »Genau«, sagte delFord. »Zu Monroes angenehmer Überraschung konnte er die Persönlichkeit seines Double übernehmen, indem er ganz einfach in den Körper des Unglücklichen schlüpfte. So hat er das ziemlich trübselige Leben des Doppelgängers über Jahre beobachten können, einschließlich einer Ehe mit einer geschiedenen Frau mit zwei Kindern, die später zerbrach.«
Der Astronaut grinste. »Wie, zum Teufel, kann die NASA ein Forschungsprogramm finanzieren, das sich mit diesem idiotischen Unfug befaßt?« »Sie lehnen zu schnell alles ab«, sagte Fedorenko streng. »Müssen wir nicht den Quellen nachgehen? Sie sagen, dieser Mann wurde laborgetestet?« »Richtig. Tart ließ ihn einige entfernte, beliebige Objekte identifizieren. Andere AKE-Fälle hatten diese Aufgabe gelöst, aber Monroe scheiterte. Er erklärte, daß das System des raschen Übergangs schwerwiegenden Fehllenkungen unterliegt, da der Astralreisende bei der geringsten Ablenkung an die falsche Adresse gelangt.« »Aber Sie wissen doch, daß die ganze Sache Scheiße ist«, sagte Alf gereizt. »Ihr halber Aufsatz befaßt sich mit unwiderlegbaren Details, die Monroe ausgelassen hat.« »Ganz recht«, sagte Bill zufrieden. Er lehnte sich mit angezogenen Knien zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Durch einen glücklichen Zufall sind wir in der Lage, diesen wunderschönen Bericht mit der Version eines Andrija Puharitsch zu vergleichen, die zehn Jahre früher in Jenseits der Telepathie veröffentlicht wurde. Der gute Doktor zitiert die Tagebuchaufzeichnungen eines ›Bob Rame‹, der im New Yorker Mediengeschäft ein bekannter Mann…« »Ist das der Puharitsch, der sich mit Uri Geller dem Metallverbieger beschäftigt hat?« fragte Fedorenko mißtrauisch. »Der ist es. Ein netter Kerl dieser Andrija, aber leichtgläubig. Hier ist also ›Rames‹ Geschichte.« Er blätterte in seinem Artikel. »›In einem Schreibtischfach war mit Klebstoff ein Stück Furnier einzukleben. Als ich über den Klebstoff strich, hatte ich plötzlich ein Gefühl der Benommenheit, und eine Zeitlang erinnerte ich mich an nichts.‹ Es war ein angenehmes
Gefühl«, sagte Bill, »das ›Rame‹,sich wiederholt verschaffte, wenn sich dazu Gelegenheit bot.« »Ein Rauschmittel?« fragte Fedorenko entsetzt. Er war bereit gewesen es zu glauben, wie Alf unangenehm berührt feststellte. »Darauf können Sie Gift nehmen. Weiter: ›Eines Nachts, als ich nicht einschlafen konnte, ging ich gegen zwei Uhr morgens in den Raum, in dem ich gearbeitet hatte, nahm eine Dose mit Klebstoff und ging nach unten. Dort setzte ich mich hin und roch ab und zu daran… Dann, als ich die Dose betrachtete, hatte ich plötzlich das Gefühl, als ob ein Strahl oder irgendeine Energie in niedrigem Winkel einfiel und auf meinen Oberkörper traf…‹« Lapp drehte den Zündschlüssel. »Im Äthyläther liegt die Wahrheit«, sagte er. »Und nichts davon stand in Monroes Buch?« fragte der Russe. »Kein Wort«, sagte Alf. »Dabei sollte das für diesen Fall doch nicht ganz ohne Interesse sein.« »Und diese Inhalationen reichten aus, die außerkörperliche Erfahrung auszulösen?« »Keineswegs«, sagte Bill. Das Fahrzeug glitt jetzt an der südwestlichen Rundung des Felsens entlang. Im Schatten mehrerer hochaufragender Vorsprünge wucherte das Grün aus den windgeschützten Teichen. »›Rame‹ fing also an, verschiedene Radiosender des Geistes einzustellen – « »›Die Leute redeten«, zitierte Maus, und seine helle Stimme übertönte das Brummen des Motors, »hauptsächlich über Jazz, Fremdsprachen, verrückte Musik und oberflächlichen Klatsch.‹« »Scheiße! Das ist entnervend«, sagte Hugh und schaute über die Schulter nach hinten. »Weiß er das durch Telepathie von uns, oder hat er den Artikel auswendig gelernt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Bill. »Ich glaube, es kommt aus dem Gewölbe, aber verlangen Sie nicht von mir, daß ich es begründe.« Der Junge beobachtete entzückt den Wanderfalken, der sich in den Aufwinden emporschwang. »Auf jeden Fall sah sich ›Rame‹ nach weiterer nächtlicher Beschäftigung mit dem Klebstoff plötzlich einen Meter über dem Bett schweben. Ich war ziemlich wütend auf Tart, weil er zugelassen hatte, daß die Klebstoffschnüffelei in Monroes Buch unerwähnt blieb, und schickte Bangsund den Artikel – er blieb sozusagen in der Familie. Dann trat Lilly auf den Plan und machte sich für die Monroeschen Behauptungen stark, und zwar unter Hinweis auf seine eigenen ›Gottessimulierungen‹. Man kam dann allgemein zu der Ansicht, daß man aus Monroes zur Veröffentlichung bestimmtem Buch tunlichst die Passagen herauslassen solle, die von seinen außerkörperlichen Erfahrungen mittels Klebstoff handelten.« »Sie weichen aus, Bill«, sagte Alf wütend. »Basieren Ihre Forschungsarbeiten auch sonst auf den Halluzinationen eines Klebstoffschnüfflers?« »Sie kapieren einfach nicht«, sagte delFord ruhig. »Victor hat recht – Sie sind zu vorschnell mit Ihrem Urteil. Die Klebstoffdünste waren ein Tor, weiter nichts, wie auch LSD, Yoga, Bio-Feedback und Meditation den Zugang zu echter außerkörperlicher Erfahrung eröffnen. Mich störte es nur, daß man die Einzelheiten weggelassen hatte. Aber Monroe und seinesgleichen führen zahlreiche Fälle von im Astralzustand paranormal erlangten wirklichen Informationen an. Ich glaube, seine Phantasien haben symbolischen Charakter, genau wie Ihr Drachentraum, und wir müssen nur die Bedeutung dieser Symbolik ermitteln. Jetzt, da ich von dem Gewölbe weiß, vermute ich dahinter etwas Kritischeres, etwas Apokalyptisches.«
Ohne Veranlassung und ohne Vorrede sagte Maus: »›Ich hatte den festen Eindruck, daß ich dieser Intelligenz schon immer in unauflösbarer Loyalität verbunden war und daß ich auf der Erde eine Arbeit zu verrichten hatte. Diese Arbeit mochte mir nicht immer gefallen, aber ich war dazu bestimmt, sie zu tun. Der Eindruck war, daß ich eine Art »Pumpstation« bediente und daß es eine schmutzige und gewöhnliche Arbeit war. Aber es war meine Arbeit, und sie blieb an mir hängen‹.« Der Astronaut trat so hart auf die Bremse, daß das Ungetüm schleuderte und über die Straße rutschte. Er stellte den Motor ab und starrte den Jungen an. »Was, zum Teufel, will es uns mitteilen?« fragte er, und seine Stimme klang hysterisch. Zum ersten Mal erkannte Alf, unter welcher Spannung dieser Mann stand und wie groß seine Angst war. Sie wollen ihn in das Gewölbe schicken, vermutete er. Bei dieser plötzlichen Erkenntnis brach er in Schweiß aus. Er spürte, wie er das Bewußtsein verlor. Aber er hörte Bill delFord in beruhigendem Ton sagen: »Er hat nur wieder Monroe zitiert, Hugh. Vielleicht läuft dieser Prozeß zufällig ab, so wie man in einem Buch blättert und den Finger auf irgendeine Stelle legt.« »Für mich hört sich das anders an.« Plötzlich sah Alf durch die Stimmen hindurch einen strahlend erleuchteten Tunnel mit wabenförmigen Kacheln. Von sehr weit her hörte er Bill sagen: »Die Rohre waren rostig und völlig zugewachsen. Sie waren für den Zweck konstruiert worden, irgendwelche Energievorräte an eine extraterrestrische Zivilisation zu leiten. Was in Hubbards Wissenschaftslehre und in Lillys Simulierungen immer wieder auftaucht, ist Symbolismus, wenn auch Lilly seelenlosen Computern den Vorzug gab.« Ein Mann in einem hellglänzenden weißen Anzug ging durch den Tunnel zu einer großen Öffnung. »Laut Monroe raubt ein Konsortium seit Äonen auf der Erde dieses wertvolle Material, wobei es zwischen ihnen heftige Konkurrenzstreitigkeiten
gibt.« Andere Männer standen mit Instrumenten hinter ihm. Der Mann im Anzug schwang sich schwerfällig über den Rand der Öffnung und begann den Abstieg. »Sie haben uns versprochen, daß es einen Aufschub geben wird«, rief Alf voller Angst. »Nur weil das äußere Verteidigungssystem ausgeschaltet ist, bedeutet das doch nicht…« Jemand sagte: »Hubbards mystische Idee des Theta. Nach dem physischen Tod werden sie gezwungen ›Pflanzenstationen‹ aufzusuchen, wo ihnen Ziele und Traumata eingepflanzt werden. Dazu werden lähmende Elektroschocks verwendet.« Vorsichtig bewegte sich der Mann auf der unteren Ebene auf etwas Riesiges zu, das Alf um keinen Preis sehen wollte. Nein, nein, nein, schrie er lautlos. Sein Körper sank auf dem Sitz zusammen. Maus war ein Wirbel prismatischer Energie, in den er hineinstürzte. Ein zynisches Lachen war zu hören. »Ich wäre nicht überrascht, wenn ich erführe, daß einige unglückliche Thetaner von ruchlosen Einpflanzern gewaltsam in die Pumpstationen geschleppt werden.« Der Mann taumelte und schlug sich mit den behandschuhten Fäusten gegen den Kopf. »Er schläft, laßt ihn sich ausruhen. Gott, sind die Farben schön.« Die Furchen im Stein, korallenrot und orangefarben, ergossen sich wie steinerne Wasserfälle in die Erde. »Die anderen Felsen sind fast horizontal geschichtet. Ayers Rock liegt direkt zwischen Mount Olga und Mount Connor und ist sicherlich Teil derselben Formation, aber irgend etwas scheint die äußere Kruste genommen und im rechten Winkel aufgetürmt zu haben. Könnten die Ingenieure aus dem Gewölbe…« Der Mann torkelte weiter und zerrte an seiner Schutzkleidung. Er schleuderte sie in alle Richtungen. Seine Haare brannten. Alf war wie gelähmt. Der Mann mußte geschrien haben, als seine Haut Blasen warf und dann an Gesicht und Händen verbrannte, geröstet wie ein Schweinebraten. Gräßlich und explosiv entleerte sich Alfs
Magen. Es quoll auf den Sitz und lief Maus am Bein herunter. Maus strich ihm sanft über das Haar und klagte leise. Der Mann stürzte und wand sich auf dem Boden. Zuletzt wurde seine lange Unterwäsche von der Hitze seines brennenden Körpers in Brand gesetzt. »Mein Gott, helft dem armen Kerl aus dem Wagen.« Dichter, öliger Qualm stieg auf, aber er verbarg nicht die schwarz verbrannte, zerfallende Leiche, denn die Zugluft aus dem Gewölbe fegte ihn in Wirbeln hoch und zerstreute ihn, als die Leiche zu glühender Asche wurde. Alf stieß einen langgezogenen schrillen Schrei aus. Er schrie und schrie. Wie abwesend registrierte er das ‘Knacken des CB-Senders und sah, wie Hugh das Mikrophon zurücklegte und sich zu ihm in den Schatten des Wagens setzte. In seinem Gesicht standen Entsetzen und Wut. »Diese verdammten Hurensöhne«, sagte er. »Sie konnten nicht auf die Droge warten. Sie haben noch einen Mann hineingeschickt.« »Er ist verbrannt«, sagte Alf und weinte. »Er ist total verbrannt.«
Vier
Vor Eden
11. In der Tiefe der Zeit
Aus der glänzenden Höhle zwischen den Kristallen stürzte mit zerfetztem Gefieder Riona rhal Nesh hervor und kreischte wie eine Wahnsinnige. Die schrillen Alarmsirenen an der Peripherie wurden ausgelöst, als sie in ihrem wilden Sturm auf das geschützte Gebiet die Grenze durchbrach. Das Gebrüll und die entsetzten Flüche der Pongiden-Wachen verstärkten den Tumult, bis sie sie als Person erkannten. Mit Verspätung stellte einer von ihnen die Sirenen ab. In der plötzlichen Stille klang ihr Geschrei noch grauenhafter. Abrupt schien Riona zu merken, daß sie in Sicherheit war. Sie lief langsamer; dann stolperte sie. Ihre Schreie gingen in herzzerreißendes Schluchzen über. Von scharfen Kristallen verletzt hockte sie auf dem Deck und weinte. Anokersh huj Lers sprang aus der Expreßkapsel, durch die der Kontrollraum mit der Peripherie verbunden war, warf einen Blick auf die jetzt unbeweglich dastehenden Wachen und eilte dann zu der am Boden liegenden Frau. Seine Krallen hallten im Rhythmus seines hämmernden Pulses auf dem Metall des Decks. Riona war fünf »Tage« fortgewesen. Anokersh konnte es noch kaum fassen, daß sie in Sicherheit war. Es war das allererste Mal, daß einer von ihnen aus dem tumorartigen Untergeordneten Kern zurückgekommen war. Ein junger Arzt beugte sich schon über sie und bestrich das aufgerissene Fleisch unter ihren Federn mit einer Enzymsalbe. Hinter ihm machte sich ein Diener nervös an einem fahrbaren Diagnosegerät zu schaffen. Der Arzt richtete sich zitternd auf. »Nun?«
Die Muskeln spannten sich über seinen Maulknochen. »Ich glaube, es ist nur der Schock, Sir.« Ein Beruhigungsmittel nahm der Frau die Angst. Ihr Schluchzen wurde leiser und verstummte endlich. Anokersh nahm sie auf seine Arme und trug sie zu der Blase, in der die Wachen saßen. Steif und formell und mit Mühe seinen eigenen Schock überspielend, ging der Wachoffizier ihnen voran in die Blase hinein. Er half dem Arzt eine Schaumstofftrage ausrollen, und sie legten Riona darauf. Sanft löste der Offizier ihre Hände, die sie um seinen Oberarm geklammert hatte, und mit Bestürzung und Widerwillen sah er die Verstümmelung, die sie erlitten hatte: Der Finger ihrer rechten Hand fehlte. Die Wunde wirkte, als hätte ein Chirurg sie abgetrennt. Die Daumen waren noch da, und mit unbewußter Intensität hatte sie sie über den Stumpf gelegt. »Wie ist die Lage?« wollte Anokersh wissen, ohne sich umzudrehen. »Wir haben dieses Viertel der Peripherie voll unter Kontrolle, Sir«, meldete der Offizier. »Ich habe Verstärkungen von Gamma und Delta angefordert. Jetzt kommt hier nichts mehr durch.« Seine schmalen, dunklen Lippen gaben die Schneidezähne frei. »Irgendwelche Anzeichen einer Verfolgung, Wache?« »Keine, Sir. Die Luft ist rein.« Der Arzt brachte eine weitere Ampulle von dem Beruhigungsmittel. Als es durch die feine Düse zischend in Rionas pulsierende Halsarterie strömte, wurde ihr Atem langsamer, und sie lag ganz entspannt da. Der Direktor hob sie an, und sie lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. »Alles in Ordnung, Technikerin«, murmelte er. »Du bist in Sicherheit. Es ist alles vorbei.« Der Schatten des Wachoffiziers lag über ihren dunklen Augen. »Das ist im Augenblick alles,
Offizier«, sagte Anokersh. »Schicken Sie T’kosh huj Nesh herein, sobald er kommt. Oh – und lassen Sie Diitchar rhal Lers durch, wenn sie nach oben kommt.« Der Offizier zeigte durch eine Geste an, daß er verstanden hatte, und trat in das harte, grelle Licht der Kristalle an der Peripherie hinaus. »Kersh?« Das dünne, verletzte Gesicht schaute zu ihm auf. »Bin ich wirklich zu Hause, Anokersh?« Er fuhr ihr durch die weichen goldbraunen Halsdaunen. »Du bist zu Hause«, sagte er. »Es sollte mich wundern, wenn es nicht die ganze Mission schon weiß. Lärm genug hast du bei deiner Ankunft veranstaltet.« »Das Temperament der Techniker.« Ihr mattes Lächeln wirkte gespenstisch. Er spürte, wie sich ihm wieder der Magen zusammenzog. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gingen der Kern und die Wilden, die dort hausten, langsam an den Lebensnerv. In der Ferne hörte man das Jaulen der Expreßkapsel, und eine Stimme fragte energisch: »Wo ist sie?« Ein Diener murmelte eine Antwort. T’kosh betrat die Blase. Die Federn an seinen Gliedern und an seinem Körper hatten sich aufgerichtet. Seine Pupillen waren geweitet. »Mein Liebling!« Er sank neben der Trage auf die Knie und nahm Riona in die Arme, ohne sich um den Direktor zu kümmern. Anokersh trat zur Seite. Er war sich der Wut bewußt, die erneut in ihm aufstieg. Er überließ das Paar sich selbst und versiegelte die Blase hinter sich. Wie Regenbogen strahlte gebrochenes Licht aus der Kristallmasse. Der Wachoffizier unterbrach sein Grübeln mit einem knappen Lagebericht. Lichtflecken tanzten über das Deck. Der junge Arzt ging zögernd zu den beiden hinüber. »Direktor, es wäre das beste, die Frau sofort ins Schiffslazarett zu bringen.« »In Ordnung«, stimmte Anokersh zu. Sie gingen zur Blase zurück. T’kosh saß auf der schwankenden Trage neben seiner
Frau und hatte fest die Arme um sie gelegt. Seine Aggressivität, die er vorher so atavistisch vorgeführt hatte, schien geringer geworden zu sein, aber immer noch liefen unkontrollierte Wellen durch sein Gefieder. »Kersh«, sagte er sofort, »wir müssen handeln. Wir haben zuviel Geduld gehabt.« Die knochigen Flächen im Gesicht des Künstlers waren starr. »Wir müssen vollzählig in den Kern eindringen.« Wie immer empfand Anokersh Übelkeit in der Kehle. Riona stieß einen spitzen Schrei aus, und ihre Lippen zuckten. »Bruder«, sagte Anokersh, »du weißt, daß es nicht möglich ist.« T’kosh stand auf. »Dann müssen wir es möglich machen.« »Still, Liebster«, flüsterte Riona ängstlich durch den trübenden Nebel, mit dem die Wirkung der Drogen sie umgab. »Der Direktor tut sein Möglichstes, die Kristallmasse in Schranken zu halten. Du kannst nicht erwarten – « »Erwarten? Ich verlange!« Erschrocken sah der Arzt T’kosh von der Seite an. »Die Situation ist unerträglich. Ich verlange Sicherheit. Für die Mission, für die Kinder in den Stillzellen, für die Frauen.« Seine Augen durchbohrten Anokersh wie Feuerblitze. Und vom Eingang her eine Stimme: »Ah, Riona, meine Liebe.« Die erschöpfte Frau lächelte. Für einen Augenblick wich die Wut aus T’koshs hochrotem Gesicht. Der Direktor ging hinüber und ergriff die Hand seiner Frau. In der Tür bot die Herrin Diitchar rhal Lers gegen den grellen Glanz der Bogen an der Peripherie einen erhabenen Anblick. Die dunklen Augen in ihrem perfekten Gesicht waren schattenverhangen, aber jetzt blitzten sie auf. Sie hatte T’koshs Ausbruch nicht miterlebt, aber ihre Daumen legten sich auf
Anokersh in dem gleichen Bemühen, das Undenkbare auszudrücken. Wie eine Jägerin, wie eine Mutter eilte sie zu der verletzten Frau. Als sie zitternd zurücktrat, standen ihre goldenen Rückenfedern aufrecht; ihr Schwanz peitschte den Boden. »Was hat man dir angetan?« jammerte sie und hielt die verstümmelte Hand. Ihr heftiger Ton verwirrte Anokersh. Er winkte den Arzt heran. »Wir werden später mit Riona sprechen. Vorläufig braucht sie Ruhe, damit sie wieder zu Kräften kommt. Wir müssen erfahren, was sie uns über die wilden Pongiden berichten kann. Und dann«, knurrte er mit der Entschlossenheit, die schon während er sprach in sich zusammenfiel, »werden wir etwas unternehmen.« Ein durchdringendes Heulen setzte ein Ausrufungszeichen. Es hallte in den Knochen oberhalb seiner Höröffnungen wider, wo die Kommunikationsschaltkreise eingeprägt waren. Das Geräusch elektrisierte ihn. »Jemand ist durchgebrochen!« rief eine Stimme. Das Jaulen im Empfänger verstummte, und an seiner Stelle hörte man die aufgeregte Stimme der Kontrollwache. »Direktor, kommen Sie sofort zur Kontrolle zurück. Ein Wilder befindet sich in der zivilisierten Sektion des Schiffes!« Anokersh huj Lers sprintete schon über das Metalldeck. Er erreichte den Deck-zu-Deck-Transporter, glitt in die gepolsterte Kapsel und aktivierte das Feld. Aus einem Augenwinkel sah er, daß seine Frau ihm folgte. Die Kapsel beschleunigte, daß ihm alles Blut aus dem Gesicht wich. Fast im gleichen Augenblick ertönte ein Signal, und die Kapsel sprang auf. Er stürzte in den Kontrollraum, erkannte an einem zweiten Signal, daß auch Diitchars Transporter angekommen war, und rannte an die Computer-Schirme, um sich zu informieren.
»Es ist auf dem dritten Deck«, entschlüsselte Diitchar die Daten. Sie stand neben ihm und schaltete die Sichtschirme von einem Kommunikationskanal auf den anderen. »Drittes Deck Studiensektor«, bestätigte die Stimme in ihren Ohren. An jeder Seite überprüften Offiziere in rasender Eile alle Systeme. Höchstwahrscheinlich würde der Eindringling versuchen, in den Mannschaftsstationen so viel lebenswichtiges Gerät wie möglich zu zerstören. Zum Glück schien er nicht zu wissen, wo sich diese lebenswichtigen Einheiten befanden. Dennoch, sagte sich der Direktor, der Wilde kann gewaltigen Schaden anrichten, wenn man ihn nicht sofort stoppt. Die Schirme vor Diitchar flimmerten und zischten. »Es benutzt eine Art Mechanismus, der die Elektronik blockiert«, erklärte die Stimme. »Deshalb haben wir ihn im Moment des Eindringens nicht geortet. Wahrscheinlich nicht solide konstruiert – der Mechanismus versagt schon.« »Kein Mechanismus«, widersprach eine andere Stimme. »Wahrscheinlich benutzt dieser Wilde eine von den Nerven bewirkte Form der Strahlungskontrolle. Wir stellen jetzt eine teilweise Verschlechterung fest. Das Wesen steht unter Streß und verliert seine Feineinstellung.« »Immer noch auf Deck drei. Alles andere ist jetzt abgeriegelt, Sir.« »Gut.« Anokersh fuhr zu der goldbraunen Frau herum, die neben ihm stand. »Deshalb haben sie also Riona gehen lassen. Mit ihr zusammen konnte dieser unbemerkt eindringen.« Diitchar nickte. »Sie müssen diesen Wilden für ziemlich wichtig halten.« »Wo er sich jetzt befindet, ist er auch wichtig. Seit der Kern uns aus den Stillzellen geholt hat, ist er der erste wilde Affenähnliche, der hier eindringen konnte.« Er öffnete seinen Mantel, und Diitchar folgte ihm. Ein wenig ungläubig fand er
sich vor dem stets verschlossenen Waffenarsenal wieder. Auf seinen verschlüsselten Befehl öffnete dieser sich. Er ergriff einen Energiestrahler, schob eine Ladezelle hinein und überprüfte das Gerät. »Kersh, was willst du tun?« »Wir werden das Wesen nicht… verletzen, Liebling. Ich werde es hierherschleifen, bevor es sich in die Kristallmasse zurückzieht.« Er rannte zu der Röhre, durch die man zu Deck drei gelangte. Die Leute schrien etwas, als er vorbeirannte; er schrie lauter. Selbst auf einem Missionsschiff widerspricht man dem Direktor in einer Gefahrensituation nicht. Das Feld der Kapsel detonierte. Die Röhre warf ihn auf Deck drei wieder aus. Die Angehörigen einer Behelfsmiliz, unterstützt von Affenähnlichen, die hier dienten, hockten überall herum, hatten jeden Winkel im Visier und bewachten besonders gefährdete Einrichtungen. Ein Signal ertönte, und mit einem Energiestrahler in der Hand stand Diitchar wieder neben ihm. Anokersh grinste sie in einem Anfall wilder Freude an. Sie streiften umher und suchten den unverschämten Eindringling. Informationen wurden von ihren kombinierten Sende- und Empfangsgeräten aufgefangen. Sie sagten ihnen nichts. Der Affenähnliche war von den Schirmen verschwunden. Dann: »Energieabfall im Kinderorientierungszentrum.« Sie fingen an zu laufen. Sie erreichten eine Ecke; zwei Leichen lagen zusammengekrümmt im Korridor, und ihre verkohlten Federn stanken. Gemeinsam warfen sie sich hin und rutschten über das Deck. Feuriges Weiß blitzte auf. Die Luft roch verbrannt. Kaskaden goldener Funken entfalteten sich wie mörderische Blumen. »Zentrale«, murmelte Anokersh und drückte sich flach auf das Deck. »Geben Sie mir einen Privatkanal zu Diitchar rhal
Lers.« Sie lag neben ihm und atmete tief und lautlos. Er hätte ihr direkt etwas zuflüstern können, aber er mußte mit ihr in Verbindung bleiben für den Fall, daß sie sich trennten. »Kontrolle, schalten Sie die Ventilatoren in dieser Sektion aus und unterbrechen Sie die magnetischen Verriegelungen an den Versorgungsluken.« Es war ein verzweifeltes Mittel, aber glücklicherweise konnte der wilde Pongide kaum auf diesen Gedanken kommen. Seit Hunderttausenden von Jahren war seiner Art jeder Zugang zu den elektronisch betätigten Luken verwehrt. Natürlich von den Möglichkeiten abgesehen, die sie sich selbst geschaffen hatten… »Ventilatoren und Verriegelungen ausgeschaltet, Sir.« »Dii, kriech zurück und geh durch den Schacht«, murmelte Anokersh, ohne sie anzusehen. Gespannt beobachtete er die weißglühende Fontäne, die aus dem Klassenzimmer emporschoß. »Ja.« Es war unheimlich, sie neben sich und gleichzeitig auf Band zu hören. Ein leises Gleiten, und sie war weg. Vor ihm glühte die alte Wand des Korridors und floß träge zu einem Teich geschmolzener Schlacke zusammen. Als sie noch neu und hell war, hätte die Wand dem Beschuß mit einem TeraLaser widerstanden. Aber Jahrtausende unaufhörlicher Quantenveränderungen hatten die gewaltige Molekularstruktur des metallischen Glases geschwächt. Plötzlich war die Abwehrwand aus heißen Funken tot. »Energiequelle geortet und ausgeschaltet«, sagte der Kontrollmonitor. Gut, dachte Anokersh und kam wieder auf die Füße. Das wirft den Pongiden auf seine eigenen Mittel zurück. Vorsichtig arbeitete er sich zu der Ecke vor und schnitt eine Grimasse, als die Hitze des Metalls ihm die Federn versengte.
»Ich bin am Ventilatorenschacht über dem Klassenzimmer, Kersh.« Aus ihrer Stimme war nacktes Entsetzen herauszuhören. »Er – es sucht ein Energiekabel.« »Laß dich fallen«, sagte Anokersh und bemühte sich, in der Dunkelheit den Eingang zu finden. Er war schon jahrelang nicht hier oben gewesen. Das Licht war ausgegangen, als vom Kontrollraum aus die Hauptenergieversorgung für diesen Sektor ausgeschaltet wurde. »Lenke es ab; ich bin fast da.« Vorn und zu seiner Rechten gab es ein dumpfes Geräusch. Er sah den Türrahmen und stürzte sich mit der auf ein Viertel ihrer Energie eingestellten Waffe in den Raum. Es kommt nicht in Frage, beruhigte er seine sich regenden Hemmungen, daß ich den Wilden töte. Leuchtstreifen zur Markierung der Lichtschalter gaben nur ein äußerst schwaches Licht. Anokersh hörte einen Schrei und strengte seine Augen an, um die Dunkelheit zu durchdringen. Am hinteren Ende des Raums blitzte Diitchars Energiestrahler auf. Der dunkelrote Energiestrahl fuhr gezackt die Decke entlang und verlosch. In diesem Augenblick erkannte er, daß seine Frau sich einer dunklen Gestalt zu erwehren suchte. Der Direktor hob seine eigene Waffe und feuerte über ihre Köpfe. Die rote Glut brannte ein Bild in seine Netzhäute, es war das flüchtige Bild Diitchars, die über eine Lernmaschine stolperte, als der Pongide sie mit seiner gewaltigen fünffingrigen Faust schlug. Sie stürzte krachend zu Boden. Dann war alles still. Anokersh nutzte die Verwirrung aus, wenn ihm auch vor Wut und Schmerz fast das Herz stehenblieb. Er glitt von der Tür weg und kauerte sich gegen die Wand. Man wußte nicht, wie gut der Wilde in der Dunkelheit sehen konnte, und er wollte sich nicht vor der schwachen Glut der geschmolzenen Wand draußen abheben. Er fuhr sich mit der Zunge über den Gaumen, fand den Schalter für seinen Sender und stellte ihn
ab. Man wußte auch nicht, wie empfindlich das Wesen auf Strahlung reagierte. Hinten in der Dunkelheit des Raumes rieb sich Fleisch an Metall. Es hat Diitchars Waffe gefunden, vermutete Anokersh. Leise näherte er sich der Geräuschquelle und vermied dabei die Leuchtstreifen. Aufgeregt überlegte er, ob er seine Waffe auf volle Energie einstellen sollte. Kalt und schwer lag sie in seiner Hand. Der Gedanke an den Tod war unaussprechlich ekelhaft. Er beließ es bei einem Viertel der verfügbaren Energie. Das reichte aus, den Gegner zu lähmen. »HEUTE KINDER«, dröhnte eine freundliche Stimme, »WOLLEN WIR ÜBER DAS SCHIFF REDEN, IN DEM WIR LEBEN!« Das Herz des Direktors verkrampfte sich, und in einem Angstreflex richteten sich seine Federn auf. Dann wußte er, was geschehen war, und sein Puls schlug wieder normal. Bei der Suche nach Diitchars Waffe hatte der Pongide versehentlich eine der Lernmaschinen aktiviert. Offensichtlich war das Gerät an einen anderen Stromkreis angeschlossen. Sehr nützlich, fand Anokersh, dem nach seinen vergeblichen Bemühungen, die Dunkelheit zu durchdringen, die Augen schmerzten. Die Stimme wird meine Geräusche überdecken. Ich kann mich schneller und sorgloser bewegen. Das galt auch für den Wilden, aber er nahm an, daß die Kreatur mit diesem Teil der Seele nicht vertraut war. Anokersh huj Lers aber war in dem Schiff aufgewachsen. »WIR LEBEN«, brüllte die aufgezeichnete Stimme, »IN EINEM GROSSEN METALLENEN EI, DAS VOR VIELEN JAHREN VON ERWACHSENEN GEBAUT WURDE. ES IST NATÜRLICH KEIN RICHTIGES EI, ABER ES HAT DIE GLEICHE FORM, UND IN MANCHER HINSICHT IST UNSER HEIM EIN RICHTIGES EI. ES SCHÜTZT UNS VOR DER ZEIT, GENAUSO WIE DAS EI EINES REPTILS DAS WINZIGE JUNGE SCHÜTZT, DAS IN IHM HOCKT.«
Der Raum stank eigenartig unangenehm, es war der Gestank einer fremden Biochemie. Es war erschreckend, sich daran zu erinnern, wie weit sich diese Wilden von der affenähnlichen Sklavenrasse entfernt hatten. Mindestens eine halbe Million Jahre, dachte Anokersh. Die Zahl entzog sich intuitiver Bewertung. Sie bedeutete nichts und doch alles. Ob wohl mein Schweiß für die Wilden ebenso stinkt? fragte er sich. »DAS EI HEISST DIE SEELE«, informierte ihn der Lehrer so laut er konnte. »KANN JEMAND MIR SAGEN WARUM?« Ein Augenblick der Stille folgte, während die idiotischen Schaltkreise auf eine Antwort warteten, die im vokalen Frequenzbereich lag, auf den sie abgestimmt waren. Anokersh lauschte mit flatternden Nerven auf ein Geräusch, das ihm die Position des Pongiden verraten könnte. »NIEMAND WEISS ES?« schimpfte der Roboter-Lehrer freundlich. Ein weiterer Schrecken hatte seine kalte Hand auf den Direktor gelegt. Wenn der Wilde Zeit fand, sich aus der Stromquelle der Maschine mit Energie zu versorgen, wäre Anokersh von einer noch entsetzlicheren Waffe als seiner eigenen bedroht. Offensichtlich stellte der wilde Pongide selbst ein unweigerlich tödliches Waffensystem dar. »NUN, KINDER, UNSER GROSSES SCHIFF HEISST DIE SEELE, DAMIT WIR STETS UNSERER HEILIGEN MISSION GEDENKEN. DENN WIR ALLE BEFINDEN UNS AUF EINER GEWALTIGEN REISE, MEINE KLEINEN, EINER GEWEIHTEN REISE, UND WIR BRINGEN UNSEREN VORFAHREN, DIE WIR VEREHREN, DAS LICHT UND DIE FREUDE DER ERKENNTNIS. EINES TAGES WERDET IHR ES BESSER BEGREIFEN – « Anokersh hörte die alten, vertrauten Worte und strengte sich an, gegen diese Worte und durch sie hindurch Geräusche wahrzunehmen, die der Wilde vielleicht verursachte.
Vorsichtig bewegte er sich quer durch den großen Raum, um Diitchars bewußtlosen Körper zu finden. Wenigstens ihr durfte nichts mehr geschehen, wenn er es verhindern konnte. Er streckte die Hand aus und traf auf etwas Weiches. Er stieß die Mündung seiner Waffe hinein. Keine Bewegung. Er wußte, daß er den leblosen Körper seiner Frau vor sich hatte und sank in sich zusammen. Ein gelber Blitz zuckte durch die Dunkelheit. Er verfehlte sie und brannte eine Spur auf die Konsole der Lernmaschine. Anokersh schrie innerlich laut auf. Es ist dem Wesen gelungen, die Waffe zu entsichern! »… VERSCHIEDENE GENERATIONEN VON LEUTEN.« Die programmierte Stimme hüpfte wie verrückt. Anokersh fror. Er brachte es nicht fertig, die Einstellung seiner Waffe zu verändern. »IN DER RAUMZEIT FLIESSEN GEWALTIGE ENERGIEN«, brüllte der Lehrer. Der Ton klang jetzt anders; gemessener und akademischer. Er richtete seine ohrenbetäubenden Banalitäten offenbar an eine etwas ältere Zuhörerschaft. »UNSERE GENETISCHE HELIX VERTRÄGT DIE TURBULENTE STRAHLUNG AUS DEM STERNENRAUM, DER WIR BEI UNSERER BESCHLEUNIGUNG IM PARAREALEN BIS REALEN ZEITVERHÄLTNIS STÄNDIG AUSGESETZT SIND, NICHT OHNE DEN NACHHALTIGSTEN SCHUTZ DURCH ABGESTUFTE VEREINHEITLICHTE FELDER. DESHALB SEID IHR UND EURE PONGIDEN ASSISTENTEN AUS IN DEN STILLZELLEN AUFBEWAHRTEN EMBRYOS HERANGEWACHSEN. WEGEN DER SCHÄDLICHEN AUSWIRKUNGEN SOLCHER FELDER AUF STARK DIFFERENZIERTE ORGANISMEN KANN DIESER SCHUTZ NICHT AUF DAS GESAMTE SCHIFF AUSGEDEHNT WERDEN. ICH
VERWEISE IN DIESEM ZUSAMMENHANG AUF DIE M.H.-D.-BÄNDER IN – « Die Stimme brüllte weiter, und die epische Wucht, mit der sie das Ohr traf, war ein Hohn auf ihre trockene Distanziertheit. Wie hat die abscheuliche Kreatur mich durch den ganzen Lärm hören können? fragte sich Anokersh. Er strich mit der Hand über Diitchars Maul und spürte ihren Atem auf der Haut. Ganz leise atmete er erleichtert auf. Dann wandte er sich ab und kroch von ihr fort. Er wartete auf den nächsten dieser phantastisch heißen Blitze. Er merkte, daß der Wilde verzweifelt an der Seitenverkleidung einer zweiten Lernmaschine zerrte, um sich externe Energie zu verschaffen. Plötzlich war absolut kein Geräusch mehr zu hören. Die Stille dröhnte ihm in den Ohren. Jemand im Kontrollraum hatte sich an die Energiezufuhr für die Lerngeräte erinnert. Anokersh stellte seine Waffe auf Höchstweite ein und zielte in die Luft. Ein breiter roter Streifen fuhr an der Decke entlang. Schatten tanzten. Einer von ihnen war der des Wilden. Ein zischender Strahl schoß auf ihn und ging über seinen Kopf hinweg, als er sich zu Boden warf. Er schaltete auf Lähmungsintensität, stürmte vorwärts und feuerte auf die plumpe Gestalt. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er genau gezielt. Mit noch immer eingeschaltetem Strahl richtete der Pongide sich drohend vor ihm auf und stürzte in katatonischen Zuckungen polternd auf das Deck. Anokersh sprang hinzu, entriß ihm Diitchars Waffe und neutralisierte sie. Rasch hockte er sich auf den Boden und setzte den in seinen Gaumen eingebauten Stromkreis in Gang. Hinter ihm kam Diitchar stöhnend zu sich. »Okay, Kontrolle«, sagte er, »ich habe ihn. Schalten Sie das Licht wieder an.« Der Pongide war dicht behaart und hatte ein abgeplattetes Gesicht. Der Schock hatte ihn betäubt. Zwei Affenähnliche
steckten vorsichtig ihre Köpfe hinter der langsam abkühlenden gezackten Kante des Durchgangs zum Korridor hervor. Der Direktor erkannte sie: Faulpelz, ein älterer, grauhaariger Mann, und Apfel, eine aufgeweckte junge Frau. Er winkte sie heran, und sie schleiften die bewußtlose Kreatur auf eine Bahre. Der junge Arzt, der Riona behandelt hatte – hieß er nicht Jik huj Lod? überlegte Anokersh verwirrt – ging sofort zu Diitchar hinüber und gab ihr eine schmerzlindernde Injektion. Weitere Hilfe lehnte sie ab. Anokersh sah sich den Schaden im Korridor an. Er war erheblich, aber nicht kritisch. Gemeinsam folgten sie den Dienern zur Versorgungsröhre, durch die man in das Schiffslazarett gelangte. »Glaubst du, daß es möglich ist, sich mit ihm zu verständigen, Kersh?« Unruhig betrachtete er die schlafende Gestalt auf der schwankenden Trage. Dichte Borsten von einem dunkleren Braun als Bronze wuchsen aus seiner lederartigen Haut. Die Innenflächen seiner entspannt geöffneten Hände waren nackt. Wie die affenähnlichen Diener hatte die Kreatur fünf Finger, deren einer den anderen gegenübergestellt werden konnte. Sein Gesicht ähnelte erschreckend den Gesichtern seiner zahmen Vettern, aber der Schädel wölbte sich drohend über stark hervortretenden Stirnwülsten, und die breiten Nüstern zuckten über einem schlaffen Mund voll speichelglänzender Mahlzähne. Anokersh war leicht unwohl. Die Schädelkapazität des Wilden mochte größer sein als seine eigene – aber stand sie auch in Resonanz mit irgendeinem Element des beschädigten Untergeordneten Kerns? Seine Gedanken schraken vor dieser lästerlichen Möglichkeit zurück. Dieses Wesen war in sich isoliert wie seine ganze Familie. Und es war nicht nach einem ausgeklügelten System ausgebildet worden, wie man es seit ihrer Geburt mit den Dienern gemacht hatte.
»Verständigen, Diitchar?« Sie traten zur Seite, als Apfel und Faulpelz die Trage in ein chirurgisches Modul schoben. In dem engen Schiffslazarett war der Moschusgestank der Kreatur eine noch größere Belästigung als vorher. »Ich kann nicht glauben, daß es mehr als ein Tier ist, Herrin. Es wird von Instinkten beherrscht.« Die Diener schnallten es auf der Trage fest; Anokersh hob den Kopf und nickte, als der Chefarzt hereinkam und seine enthaarten Arme ausstreckte. »Nun, Stezna, es scheint, als hätte sich die ganze Aufregung gelohnt. Ich wußte, daß Sie schon immer gern einen dieser Burschen aus der Nähe betrachtet hätten.« »Direktor, Herrin.« Stezna do Nen verbeugte sich in höflicher Routine und wirkte besorgt. »Erlauben Sie mir, Ihnen beiden zu gratulieren. Ich nehme jedoch an, daß Sie begreifen«, sagte er scharf, »welche Schwierigkeiten dadurch entstehen. In gewissem Sinne ist dies ein Augenblick, den wir so lange wie möglich zu vermeiden und aufzuschieben versucht haben.« Er prüfte kurz die Stoffwechselwerte, und seine nackten Arme bewegten sich schnell über der Tastatur hin und her, um einen geeigneten pharmazeutischen Cocktail zu bereiten. Anokersh sagte nichts. Stezna zuckte die Achseln, hielt die Injektordüse an den dicken, kurzen Hals der Kreatur und löste seine gelähmten Nerven. Das Wesen riß seine strahlendblauen Augen auf und schaute sich im Modul um. Es sah Anokersh an und durchbohrte ihn mit wütender Intelligenz. Es kann nicht sein, dachte der Direktor ängstlich. Es darf nicht sein. Mit einem gräßlichen Schrei zerrte der Wilde plötzlich an seinen Fesseln. Es war phantastisch, aber eines der schaumstoffgepolsterten Stahlbänder schien knirschend nachzugeben. Der Pongide ließ seine mächtige Brust schwellen, um einen erneuten Versuch zu unternehmen. Mit vorwurfsvoller Miene, aber gelassen, leitete
der Chefarzt an seiner Konsole eine Anästhesie ein. Der Pongide sank zurück, und seine Augen trübten sich. Er öffnete seinen großen Mund. »Ihr Narren«, sagte der Wilde mit einem barbarischen Akzent, »versteht ihr denn nicht, daß ihr verdammt seid?« Anokersh erstarrte vor Schreck und sah die Kreatur erneut in Bewußtlosigkeit versinken.
12. In der Tiefe der Zeit
Mitten im Leid des Dahinscheidens, im echten Kummer der Verwandten der Toten und im traditionellen Wehklagen der übrigen stand Anokersh huj Lers irgendwie außerhalb seiner zentralen Rolle. Das Bild des bewußtlosen Wilden stand vor ihm und erfüllte ihn mit tiefer Sorge. In der purpurnen Schwermut der Großen Versammlung der Toten schweiften seine Blicke automatisch von den Trauernden zu den riesigen Packeisschollen, die jenseits der Wetterabschirmung im kalten schwarzen Wasser trieben, und zu den roten Streifen, die eine verborgene Wintersonne auf den dunklen Himmel malte. Es ist alles Illusion, dachte er. Aber es war eine freundliche Täuschung, sogar eine notwendige. In diesem Augenblick des Übergangs genau zu wissen, daß der unendliche Himmel eine Wölbung aus altem Metall war und die aufgewühlte eisige See ein Metalldeck, mußte fast unerträglich sein. Aber es war nicht die holographische Illusion, die den Direktor beunruhigte, sondern ein tiefsitzendes Schmerzgefühl, das er nicht benennen konnte. Der eingepferchte Wilde war dafür der Anlaß; soviel wußte er. Darüber hinaus war er sich nur des allgemeinen Entsetzens bewußt, das von der krebsgeschwulstartigen Kristallmasse in ihm ausgelöst wurde, von dem Untergeordneten Kern, der jetzt für alle ein Symbol nicht nur der Furcht sondern auch des Friedens und der Hoffnung war. Anokersh zitterte und hüllte sich in der Dämmerung fester in seine Priesterrobe. Eine neue Note mischte sich in das Wehklagen. Der schwebende Katafalk erschien, feierlich und glänzend,
flankiert von vier männlichen Verwandten. Unter dem vorgetäuschten Purpurhimmel waren die toten Männer von den lebenden kaum zu unterscheiden, außer daß sie so entsetzlich stumm waren. Die Bahre bewegte sich durch die schluchzende Menge nach vorn und blieb auf dem vermeintlichen Eis zu Anokershs Füßen stehen. Diitchar, die schweigend neben ihm stand, berührte seinen Arm; er drehte sich zu ihr um und nahm das lange zeremonielle Messer entgegen. Licht strich über seine gerillte und ziselierte Klinge. Wieder beschlich ihn wegen des wilden eine böse Vorahnung. Wütend hob er das Messer und zeigte es der Versammlung. Ich bin in erster Linie Priester und nicht Direktor sagte er sich. Oder war dieser Unterschied bedeutungslos? Er war Kommandant der Seele. War insofern seine geistliche Rolle mit seiner weltlichen nicht eng verbunden? Er konnte die irren, unmöglichen Worte des Wilden nicht einfach abtun: Narren, ihr seid verdammt. »Leute«, sagte er laut und war über die Festigkeit seiner Stimme überrascht, »wir sind zum Ort der Geburt und der Wiedergeburt gekommen.« »Wir sind versammelt«, sangen die vielen Stimmen, obwohl einige immer noch schluchzten, »um den Obergang unserer Freunde festlich zu begehen.« »Der Ort des Entstehens und der Ort der Ruhe sind eins.« »Wo die Kinder gemacht werden«, murmelten die Leute, die sich unter dem Einfluß des Rituals langsam beruhigten, »versammeln sich die aus ihren Körpern Geschiedenen in ihrer Weisheit.« »Wo Samen und Ova der Bewußtheit verschmelzen, wird Fleisch gezeugt. Wo das Fleisch vergeht, wird die Bewußtheit der Toten in das Ewige Leben hineingeboren.«
»Das Fleisch geht ein in das Fleisch«, sagten die Leute im Zwielicht der nächtlichen Stunde, »und der Geist geht ein in den Geist.« »Unser Kummer ist gut und richtig«, sagte Anokersh ihnen, »denn unsere Freunde sind von uns gegangen. Aber sie gehen nur, um auf uns zu warten. Ihr Geist ist nicht umgekommen, und auch ihr Fleisch wird nicht verderben. Laßt uns Freude in unserem Gram finden, denn so wie wir ihre toten Gebeine verehren, so werden sie uns trösten und unser Leben beschützen.« Priester von geringerem Rang nahmen den Wechselgesang auf, als Anokersh vortrat. Diitchar trug die goldene Schale und setzte sie vorsichtig ab. Die Verwandten der Toten trugen die Leichen, deren arme versengte Federn in der trüben Luft davonflogen, voll Ehrerbietung vor das Messer und das Gefäß. Die Klinge blitzte und öffnete die Hälse. Rubinrot schoß das Blut, dessen Gerinnen man nach dem Tode durch eine Heparin-Injektion verhindert hatte, in die tiefe Schale und dampfte in der kühlen Luft. Anokersh spürte, daß sein Puls sich beschleunigte, als er das spritzende Trankopfer sah. Sein Mund füllte sich mit Speichel, und sein Magen zog sich, wie immer, in einer beginnenden Übelkeit zusammen. Urplötzlich kam ihm die Erkenntnis, daß dieses Gefühl jener Benommenheit und Schwäche ähnlich war, die ihn, die sie alle überkam, wenn irgendein Versuch gemacht wurde, sich mit dem Problem der wilden Pongiden zu befassen. Über seinen Augen setzten bohrende Kopfschmerzen ein. Seine Erkenntnis verlor sich in Gegenströmungen, in wirbelnden Strudeln, die verdunsteten – Er zwang sich dazu, seine Aufmerksamkeit wieder den Leichen zuzuwenden, die vor ihm lagen. Ihres Blutes ledig wurden sie wieder auf den rostfreien Stahl der Katafalke gehoben. Klagende alte Gesänge schlossen die Totenfeier ab.
Wie unpassend ist das alles, dachte er, so weit vom Ort der Geburt und der Wiedergeburt entfernt. Eine erbärmliche Fälschung. In diesem Augenblick fühlte er sich unendlich verlassen. Wir sind Werkzeuge für einen großen Zweck, schalt er sich. Wir haben nicht das Recht, uns zu beklagen. Bald würden die Toten sprechen und seine Zweifel zerstreuen. Einen Augenblick lang sah er den umwölkten Blick der Fürbitterin in ihrem wallenden Mantel und schon halb wahnsinnig von den heiligen Drogen. Rasch trat er unter die Menge, die sich zu den Bahren drängte. Es war eine Schande, ein Bruch mit der Tradition, daß nicht die gesamte Mannschaft anwesend war, aber die Notwendigkeiten ihrer mißlichen Lage hatten das ausgeschlossen. An der Peripherie mußten die Wachoffiziere auf ihren Posten bleiben und die langsamen Pongidenwachen beaufsichtigen. Andere mußten den Kontrollraum besetzen, damit die Wilden keine Gelegenheit hatten, noch mehr Unheil anzurichten. »Leute von der Mission«, sagte er, »wir wollen jetzt unseren Brüdern huldigen, die von uns gegangen sind, als sie die Unverletzlichkeit der Seele verteidigten. Für Ghine do Lod und Thali huj Salder war der Tod mehr als nur ein Übergang; für sie bedeutete er Ruhm. Wir erweisen ihnen jetzt die letzte Ehre, und während wir im Gedenken an sie essen und trinken, werden wir uns daran erinnern, daß sie furchtlos einem schrecklicheren Feind entgegentraten als den stummen Kräften der Natur – « Er mußte würgen, und wortlos ließ er sich von Stezna do Nen die schwere chirurgische Lanzette reichen. Er spürte ein Surren an seinen Daumen, als er die schnell vibrierende Klinge aktivierte. Er stand neben Ghine do Lods Leiche und mußte plötzlich an Rionas brutal verstümmelte Hände mit den abgetrennten Fingern denken. War das eine Parodie dieses heiligen Ritus? Zitternd verscheuchte er den Gedanken und wandte sich der
Leiche zu. Mit dem ersten Einschnitt öffnete er den Leib von den Leisten bis zum Hals. Stezna und Jik huj Lod – Verwandte des Toten, wie Anokersh flüchtig registrierte – standen in ihre zeremoniellen Roben gekleidet an jeder Seite des Katafalks; sie streckten die Hände aus und zogen die aufgeschnittene Haut vom Fleisch, so daß das subkutane Fett zum Vorschein kam, das unter dem geröteten Himmel gelblich schimmerte. Er führte zwei weitere Schnitte vom Hals über den Brustkorb zu den Armen, um das Fleisch an der schuppigen Bauchunterseite freizulegen. Die nächsten Schnitte verliefen von den Lenden bis zu den krallenbewehrten Füßen. Während seine Opferdiener die verbrannte Haut entfernten, die stellenweise durch den Energiestrahl des Wilden zusammengeschrumpft und verhärtet war, zog Anokersh das Chirurgenmesser geschickt durch Sehnen und Knorpel und durchtrennte die Muskeln zu den mörderischen Krallen. Er legte die abgetrennten Füße in ein silbernes Gefäß, das seine Frau ihm gebracht hatte, und tat wenig später auch die schlafenden blutleeren Hände dazu. Im kalten Wind sickerte das Plasma aus dem rohen Fleisch und fühlte sich an seinen vorsichtig tastenden Händen klebrig an. Jik und Stezna, denen die chirurgische Technik vertraut war, rollten die Haut rasch bis an das Maul der Leiche hoch. Auf Steznas gemurmelten Hinweis schnitt Anokersh die Kopfhaut ein; sie ließ sich leicht abziehen und wurde sorgfältig zusammengefaltet und auf die zerteilten Glieder gelegt. Der Chefarzt reichte Anokersh eine elektrische Säge. Ein schmerzerfülltes Aufstöhnen lief durch die Versammlung, als der Direktor den Schädel trepanierte. Ein Gestank von verbrannten Knochen hing in der Luft. Anokersh ließ die Daumen in die Schädelhöhle gleiten und zog das kleine doppellappige Gehirn heraus; es löste sich mit einem feuchten, saugenden Geräusch und rutschte in das bereitgehaltene Gefäß.
Streifen des Muskelgewebes hingen an der vibrierenden Klinge, als er sich wieder über den Leib beugte und die Bauchdecke aufschlitzte. Er schob das Muskelfleisch zur Seite und entnahm nacheinander alle inneren Organe, die schweren, verschlungenen Eingeweide, die Nieren, die Leber, das Herz und den rosa Schwamm der Lungen. Besonders vorsichtig löste er die Gallenblase, damit sie nicht riß und ihre bittere, grüne Flüssigkeit verlor. Ausgeweidet war die Leiche fast nicht wiederzuerkennen. Gesang erhob sich aus vielen Kehlen. Anokersh führte die Arbeit zu Ende, ließ sich von Stezna die blanken Spezialinstrumente reichen und legte eines nach dem anderen blutbeschmiert wieder weg. Er schlachtete den Kadaver völlig aus und löste in langen Streifen und Scheiben das Fleisch von den zertrennten Knochen. Das Rückenmark, die Rippen und den Beckengürtel überließ er den Experten. Das Skelett mußte, wenn irgend möglich, unversehrt erhalten bleiben. Endlich richtete er sich auf. Die sterblichen Überreste Ghine do Lods lagen um ihn herum, das rohe Fleisch in sakralen Gefäßen aufgehäuft. Ein Altardiener brachte ihm Duftwasser; er wusch sich die Hände und zitterte von der Anstrengung, die er hinter sich hatte. Dann wandte er sich Thali huj Salders Leiche zu. Er bebte vor Erschöpfung, als er endlich das heiße Messer weglegte und wieder seine schmerzenden Hände eintauchte. Bei der bevorstehenden Vollendung des Rituals würden die zerteilten Toten reden; von jenem Gipfel der Erleuchtung würden sie sich äußern, den die Lebenden ohne Hilfe nie erreichen mögen. Sein Seufzen, halb Hauch erschöpften Schmerzes, halb freudige Erwartung des Mysteriums, brach sich immer wieder an dieser Spannung, wie die Indigo-Wellen des überirdischen eisigen Panoramas. Anokersh hob die Arme und sang:
»An diesem Ort der Liebe und des Schreckens wollen wir uns verlieren. Da wir doch alle eine Sprache sprechen, Und jeder eine Silbe ist der Großen Äußerung. Den Eltern bringen wir die neuen Toten dar, Auf daß sie eingehen in die ewigen Wonnen.«
Nur undeutlich hörte Anokersh, hallend und in vielfältiger Überlagerung, den Chor der Stimmen, die in seinen beschwörenden Gesang einfielen; eine Stimme, nicht seine, nicht Diitchars, nicht die der verstümmelten Riona, keine der Stimmen dieser starken Persönlichkeiten, erreichte ihn aus der Dämmerung: »Als ein Volk, aus dem keiner mehr an seinem einsamen, vergänglichen Ich haftet, erbitten wir den Segen und die Weisheit jener, die sich aus der Menge gelöst und uns in die Glückseligkeit vorausgegangen sind.« Und eine einzelne Stimme, seine, erhob sich und schien von keinem bestimmten Ort und nicht aus einer einzelnen Kehle zu kommen, als er sich zu den goldenen Schüsseln und den silbernen Gefäßen niederbeugte und die rohen Fleischbrocken, das saftige Fleisch ihrer Brüder, verteilte: »Laßt uns von unseren Freunden Ghine und Thali essen und trinken, damit, während sich ihre Zellen mit den unseren mischen, der alte Bund des Friedens erneuert werde, daß wir weder in heißem Zorn noch aus kalter Berechnung töten werden und daß die Weisheit des körperlosen Geistes sich in unserer Mitte verkünde.« Hungrig und mit einer Würde, die über Gier und Ekel erhaben war, zerriß Anokersh die warmen Fleischstreifen mit den Reißzähnen eines Fleischfressers und tauchte immer wieder seine Schnauze in das salzige Blut. Mit enormem Takt
zog er sich dann von dem Bankett zurück, leckte sich die letzten Blutspuren von den Lippen und wartete auf den Segen der Fürbitterin. Die Drogen bewirkten, daß sie undeutlich sprach, und ihre Stimme bebte. Von der Pseudo-Seele, die sich im Untergeordneten Kern darstellte, sprach sie zu diesem Einen Volk. »Auf seinem Weg kehrt das Leben in den Nebel zurück und eilt der ewigen Ruhe zu: die Existenz der Welt der Dinge und der Menschen bestätigt endlich, daß ihre Existenz nicht nötig ist.« Sie würgte, und Speichel trat ihr auf die Lippen. »Und wieder wird sich Wissen mit anderen beschäftigen, Weisheit aber kennt sich selbst, und ein Muskel beherrscht die anderen; Ehrgeiz irrt blind umher, und Zufriedenheit mag niemals borgen müssen, und die Lebenskraft klammert sich an das Mark und läßt den Tod zurück. Im Universum gibt es keinen Tod, denn weil es kein unendliches Selbst hat, bleibt es unendlich. Klarheit hat sich im Himmel offenbart und Reinheit im Geist. Die Bewußtheit stirbt keinen Tod.« Die Fürbitterin sank in sich zusammen; sie ließ die Federn hängen, und ihr Schwanz zuckte in Krämpfen. Die starken Hände ihrer Verwandten packten sie unter den Achselhöhlen und hielten sie aufrecht. Der Direktor schaute in ihre verschleierten Augen und fragte leise durch sie hindurch: »Sprechen wir mit Thali huj Salder, mit Ghine do Lod? Sagt uns, Freunde, war euer Hinscheiden der Beginn einer guten Reise? Lebt ihr in Glückseligkeit?« Sie rollte mit den Augen und stammelte einzelne Silben. Anokersh fühlte sich kalt, so kalt wie es der künstliche Wind nicht hätte bewirken können. Die Toten nahmen seine körperliche Angst auf und gaben ihr durch die klappernden Kiefer der Fürbitterin laut Ausdruck:
»E e e es war sehr k k k kalt hier. Die schlimmste Z Z Zeit des Jahres für eine R R Reise.« Thalis Witwe kreischte laut. Das durfte nicht sein. Alle Toten ruhten in Glückseligkeit, wiegten sich im Frieden des Untergeordneten Kerns und warteten darauf, sich mit der Rasse auszusöhnen, wenn diese Mission ihr Ziel erreicht hatte, wenn in Vollendung dieses Epos von Millionen Jahren der schützende Gluonenschild herabgelassen werden könnte, um den Seelenkern dem andrängenden Strom allumfassender Bewußtheit zu öffnen. Aber der Untergeordnete Kern war krank, wußte Anokersh entsetzt, so wie er es schon immer gewußt und immer geleugnet hatte; ihr vorübergehender Zufluchtsort, ihre größere Verbreitung, ihr Leben selbst waren aufs äußerste bedroht. Er legte die Hände auf den zerbrechlichen Körper der Fürbitterin und schüttelte sie. »Erzähl uns von der Glückseligkeit«, verlangte er verzweifelt. »Sprich zu uns vom Übergang.« Sie warf den Kopf zurück und heulte wie ein hirnloser Pongidensklave. »Wir rennen ins Orientierungszentrum für die Kinder«, schrie sie gellend. »Ja, wir hören es vor uns. Oh, ihr Eltern aller, es brennt mit hellem Feuerschein. Es hat ein Energiekabel in der Hand. Aus der Wand gerissen. Die Funken fliegen in Kaskaden. Hitze springt auf von seiner Berührung. Wir stehen in Flammen. Wir brennen, wir brennen. Es wendet sich ab. Der Rumpf schmilzt. Wir sind tot. Oh, Thali, ich kann mich nicht bewegen. Ich habe keine Schmerzen, Ghine. Schaffen wir den Übergang? Ich wußte nicht, daß es so kalt sein würde. Was ist das für ein Summen? Ich kann dich nicht hören, Thali. Alles ist so kalt und dunkel. Dieses entsetzliche Summen, diese kreischende Säge. Essen sie uns schon? Aber ich bin nicht tot. Ich bin nicht tot!«
Anokersh war entsetzt. Die Toten waren verloren, in ihren Todesqualen gefangen. Noch nie zuvor war er Zeuge gewesen, wenn jemand nach seinem Tod etwas mitteilte, der brutal und unter Schmerzen gestorben war und ohne den Trost und die Gesänge seiner Freunde. Diejenigen, die im Krebsgeschwür der Kernzone verschwunden und nicht zurückgekehrt waren, hatten sich dem Zugriff der Fürbitterin entzogen; er hatte geglaubt, sie seien noch nicht hinübergegangen. Jetzt sah er eine andere, erschreckendere Möglichkeit. Waren sie in dieser Qual untergegangen, in einem Kreis sinnlosen Ekels gefangen? Aber die Alten, die Eltern aller wirkten im Untergeordneten Kern. Gewiß hätten sie den Sterbenden geholfen und sie getröstet. Schweigen senkte sich herab. Stezna do Nen schaute vom Diagnosegerät auf, an das die Fürbitterin angeschlossen war. Er sah Anokersh finster an, aber er sagte nichts. Als die Frau weitersprach, war das Harte und Schrille aus ihrer Stimme gewichen, und sie redete mit einer fast hölzernen Ruhe. »Wir bewegen uns im Geburtskanal. Das Licht ist tief rot. Wir schweben. Unsere Kontraktionen treffen nur auf geringen Widerstand. Ah! Die Leichen liegen unter uns, vor uns. Ach, ihre Federn sind in traurigem Zustand. Zentrale, geben Sie mir einen direkten Kanal zu Diitchar rhal Lers. Wie seltsam, er ist undicht. Dii, du mußt zum Schacht zurückgehen und hindurchsteigen. Wir verlassen den Schacht. Hier ist goldenes Licht. Ah! Ah! Seid ihr die Eltern? Wie schön, wie warm. Dieses Licht! Es fließt, es weht, es ist ein Wind, ein feiner Blutgeschmack. Wir sind heimgekehrt.« Anokershs Entsetzen schwand langsam. Mit angelehntem Kopf und wiegendem Körper hing die von Drogen betäubte Frau in den Armen ihrer Verwandten. Die Morgenröte stieg am Himmel auf. Diitchar nahm seine Hand und drückte sie fest.
Plötzlich riß die halb schlafende Frau den Kopf hoch und sah ihm direkt in die Augen. »Verwirrung ist eingetreten. Wir dürfen nicht ruhen. Anokersh huj Lers, die Mission ist in Gefahr. Ich höre fremde Stimmen reden. Wir müssen aufmerksam sein. Wissen wird sich mit anderen beschäftigen. Auf der Grenzebene. Etwas frißt daran. Unsere Zungen müssen schweigen. Einer hat euch gesagt, ihr seid verdammt. Die Stimmen müssen zum Schweigen gebracht werden. Sorgt dafür.« Dann verlor ihr Blick jede Kraft, und sie sank völlig in sich zusammen. Sofort war Stezna mit einer Injektionsdüse an ihrer Seite. In der Zeremonie lagen nur noch wenig Freude und Harmonie. Das Vertrauen war geschwunden. Mit verkrampfter Würde stand Anokersh sie bis zum Ende durch – die Abschiedsgrüße an die Dahingeschiedenen, in Formeln, die schlecht für diese ruhelosen, bedrohten Wesen paßten, die Erinnerung daran, daß die Mission noch lebte. Er sprach von der Gabe, die sie brachten, und die ihrem kollektiven Zugriff verschlossen war, und endlich beendeten sie das sakrale Mahl, indem sie sich die letzten Fetzen von Ghines und Thalis Knochen teilten und die traurigen bleichen Reste dem kalten Mausoleum überließen – aber ein Gefühl der Panik nagte in ihm, warf ihn zur Unzeit in die Isoliertheit seines Ichs zurück und nahm seinen Worten die Güte. »Herrin«, drängte er Diitchar, als die Menge sich verlief, »wir müssen sofort zu dem Wilden hinuntergehen.« »Ich weiß.« Endlich wagte er, sich die Wahrheit einzugestehen. »Die wilden Affenähnlichen haben in der Kristallmasse mehr als eine Freistatt gefunden. Sie sind in die Resonanz eingebrochen. Die Computer haben sich geirrt.« Seine Stimme bebte bei dieser Blasphemie: »Die Seelen einer anderen Art sind in den Untergeordneten Kern eingedrungen.«
Seine Gattin wandte ihm ihr goldenes Haupt zu. »Das weiß ich, seit die Kreatur das erste Mal sprach. Sie besitzen Intelligenz. Sie haben sich entwickelt.« »Zuerst müssen wir erfahren, was Riona zu berichten hat.« T’kosh huj Nesh, der Künstler, hatte seine Frau nach Beendigung der Zeremonie sofort in den Genesungsraum gebracht. Die anfängliche Erschöpfung und die Anstrengung hatten sie soweit gebracht, daß sie nur unzusammenhängend reden konnte. Sie ruhte sich auf einer Liege unter der lindernden Wirkung der Solarleuchten aus. Als sie befragt wurde, konnte sie sich an wenig erinnern. Sie zitterte und stand dauernd kurz vor einem hysterischen Anfall. Nur Fragmente ihrer entsetzlichen Erlebnisse waren geblieben, und vor diesen schrak sie zurück: verschwommene endlose Perioden vagen Schreckens; starre Bilder buckliger aufgedunsener Ungeheuer, deren Vorfahren einst pongide Sklaven gewesen waren – Bilder, die eher auf einen Alptraum schließen ließen als auf die Wahrheit, denn der Selektionsdruck, der die Pongiden geformt hatte, die sie kannten, mußte enorm gewesen sein, die ständige Gefahr, von den scharfen Kanten des schimmernden Kristallkerns zerfetzt zu werden. Und bei all den Qualen dieser schrecklichen Zeit gab es andere Leute, die sich in diesen Prismendschungel eingeschlichen hatten. Geistig normale oder Verrückte? Riona konnte sich nicht daran erinnern. Sie war selbst der Grenze zu nahe… Stezna do Nen weckte die Kreatur für sie. Anokersh beugte sich dicht über das platte Gesicht, als der Induktionsstrom den zerebralen Rhythmus des Wesens vom Tiefpunkt des Komas zu raschem, wachem Bewußtsein anregte. Ein zweites Mal war er schockiert, als sich die blauen Augen öffneten und mit ihrer Intelligenz tief in seine Seele drangen. Der Pongide wandte sich angewidert ab.
»Nimm deinen ranzigen Atem weg. Ich rieche das Blut deiner Art, und das macht mich krank.« Anokersh hob den Arm und schlug die Kreatur in wilder Wut. Der Schlag hörte sich unerträglich laut an, und vor Schmerz schloß er die Daumen. Der Direktor duckte sich vor seiner eigenen Gewalttat. Blut schoß aus den Nüstern des Wilden, und in dieser Beleuchtung sah es heller aus als das Blut, das Anokersh den Leichen seiner Brüder abgezapft hatte. »Du wirst nur reden wenn du gefragt wirst, Tier.« Seine Wut kam wieder hoch, und eine grobe nie gekannte Lust fuhr ihm heiß vom Leib in die Lenden. Der Wilde knurrte. Seine Zähne waren eckig und flach. An seinem Kopf sträubten sich die Borsten. Er sagte nichts. schaumstoffgepolsterter Stahl ließ ihm kaum Raum zum Atmen. Höhnisch und voll Verachtung sagte Diitchar: »Tier, hast du einen Namen?« »Wenn ich ein Tier wäre«, erwiderte das Wesen mit gleicher Verachtung, »hätte ich einen Namen wie Kräusel oder Schmatzer oder Trott. Haltet ihr mich für einen eurer stummen, traurigen Affen? Mein Name gehört mir und ist für euch ohne Bedeutung. Ihr werdet mich schon nicht mit einer Schlange verwechseln.« Trotz seiner barbarisch undeutlichen Aussprache war das Biest zu verstehen. Unglaublicher, mit Neugier gemischter Ekel erfüllte Anokersh. »Wir wollen großzügig sein«, sagte er. »Wir werden dir einen Namen geben, der deinem Status entspricht. Gefangener« – sein Ton wurde scharf – »Warum bist du hier eingedrungen?« Seine Nase blutete nicht mehr; geronnene Klumpen hingen in den Barthaaren des Gefangenen über seiner breiten Oberlippe. »Ich bin nur der erste«, sagte er mit erstickter Stimme. »Bald werden die Stämme bereit sein, mir zu folgen. Wir werden die
Schlangen unter unseren Füßen zertreten. Wir werden euch Eindringlinge dorthin zurückjagen, woher ihr gekommen seid, zu den dunklen Orten außerhalb dieser Welt.« Redensarten, dachte Anokersh. Die Rhythmen des Rituals, der Wut, die sich in Banalität verkehrt und dennoch an Emotionen gebunden bleibt. Das fast komische Mißverständnis, das in diesem Ausbruch des Pongiden zutage trat, erschreckte ihn genauso wie die Absurdität, daß ein isoliertes empfindendes Wesen überhaupt verständliche Worte äußern konnte. Diitchar teilte sein Erstaunen und vergaß ihren Hochmut. »Wir, Eindringlinge? Bist du vollkommen ignorant? Es gibt keine Welt jenseits der Kraftfelder und des Metalls dieses Rumpfes. Dieses Schiff, diese Insel, wurde von unseren Vorfahren gebaut, von dem lebendigen Volk – ja, selbst die Kristallmasse, die ihr anmaßendes Ungeziefer verseucht.« Ihre Wut flammte wieder auf. »Wir sind zu lange großzügig gewesen. Anokersh, der Gestank dieser Kreatur beleidigt mich.« »Dann geh«, sagte er kurz. In seinem Kopf drehte sich alles; und wieder quälten ihn grauenhafte Kopfschmerzen. Beleidigt und überrascht sah seine Gattin ihn an. Zweimal klatschte ihr Schwanz gegen ihre Beine; sie drehte sich um und stolzierte hinaus. Der Direktor merkte es kaum. Kurz befahl er Stezna: »Schläfern Sie es wieder ein und lassen Sie uns allein.« »Ohne Wärter?« Sein Kopf fuhr hoch. »Kann es mir etwas tun, wenn es betäubt ist? Tun Sie, was ich Ihnen sage.« »Du fürchtest die Wahrheit«, sagte der Gefangene, und mitten im Wort sank er ins Koma zurück. Allein und voll Schmerz blieb Anokersh vor der bronzefarbenen Gestalt sitzen und grübelte.
Er wußte, daß die Seele eine halbe Million Jahre lang ohne Mannschaft durch die Dunkelheit gerast war. In dieser erbarmungslosen Zeit hatte das Quantenflackern der elektronischen Computer ihren Kurs gelenkt, und sie hatte unter dem Kommando der träumenden Toten im Untergeordneten Kern gestanden. In der Aufeinanderfolge sanfter Generationen hatte sie die Sklaven-Embryos ausgebrütet und die Kreaturen ernährt und ausgebildet und ihre wenig ausgeprägte Beweglichkeit dazu benutzt, das verlassene Schiff instand zu halten. Und während der ganzen Zeit beschleunigte das Schiff, wurde von den Energien gespaltener Quarks vorwärts getrieben und stürzte sich in die erschreckenden Vektoren der Para-Realität. – Und die Supernova war aufgeflammt in der grausamen Qual eines Augenblicks, in einer Entfernung von nur zehn Lichtjahren, und das ganze rasende Feuer der Galaxis entzündete sich, und seine Halbwertzeit wurde durch die jedes Verhältnis sprengende Bahn des Schiffs zu einem wilden brüllenden Impuls alles durchdringender Strahlung komprimiert… Die äußere Gluonenabschirmung wurde durchlässig. Der Untergeordnete Kern wurde von härtester Strahlung aus dem Sternenraum getroffen. Hätte sich eine Mannschaft auf den Decks der Seele befunden, wäre sie im Augenblick dieser Überlastung umgekommen. Hätten sie überlebt, was unmöglich gewesen wäre, und hätten ihre Lenden – gegen den Plan der Mission – ihre Fruchtbarkeit behalten, hätten sie nichts Lebensfähiges hervorbringen können. Aber der Samen der Leute war in Sicherheit, er war unter jenem zentralen und höchst wertvollen Siegel verschlossen, das auch den Seelenkern selbst schützte. Es war die Sklavenrasse, die Mutationen erleiden mußte, die über Hunderte von Generationen unter Krebsbefall und Mißbildungen stöhnte,
und die sich von der Überwachung durch die beschädigten Computer und von dem gedankenlosen Eifer der neu entstandenen intakten Sklavenstämme zurückzog; ja, sich in das grauenhafte Herz der beschädigten Kristallmasse zurückzog. Und dort hatte ihre Evolution stattgefunden. Anokersh wimmerte. Die Bestie vor ihm auf der Trage, angebunden und passiv, war das Geschöpf einer implodierten unsäglichen Ökologie von Zehntausenden von Generationen. Es trug das traurige Erbe einer Intelligenz – einer Intelligenz! – die sich in totaler Abgeschlossenheit entwickelt hatte. Er stand neben dem Wesen, und seine Nüstern zuckten vor dessen Moschusgeruch zurück. Mit seinen weichen Handflächen drückte er auf den groben, sich rhythmisch bewegenden Brustkorb. Das Fell der Kreatur war warm. Selbst im Koma durchdrangen das Pulsieren in diesem gewölbten Schädel und die chemischen Reaktionen die Stille dieses Ruheplatzes. Anokersh fror; ihn schauderte; er zog die Krallen seiner Daumen an der Brust des Tieres entlang. Er wußte endlich, was ohne jeden Aufschub getan werden mußte.
13. In der Tiefe der Zeit
Mit majestätischem Gefieder trat Anokersh huj Lers wie ein Prinz in den Glanz der von Lichtbogen erhellten Kristallmasse. Er trug keine Strahlenpistole; man wollte nicht riskieren, eine so durchschlagende Waffe in die Hände der Wilden fallen zu lassen. Die Waffen, die er und Diitchar benutzt hatten, um den Eindringling zu bezwingen waren zurückgegeben und im Arsenal eingeschlossen worden. Die eine Hand des Direktors umklammerte ein elektrisches Messer, ein modifiziertes Schlachterinstrument aus den Proteinschlachthöfen. Hinter ihm überschritten zwölf starke Männer die Peripherie, und ihre Krallen schlugen auf das nackte Metall. Alle Lichter erloschen für einen Augenblick und flammten dann wieder auf. Der Alarm war neu eingestellt worden. Sie rückten auf das Territorium der Wilden vor. T’kosh huj Nesh trat vorsichtig neben Anokersh, und sein Messer war wie die Verlängerung der Hand des Künstlers. »Kersh, wie konnten die Computer es so außer Kontrolle geraten lassen? Wir hätten schon vor Tausenden von Jahren besser aufpassen müssen.« Rasch gingen sie in den Tunnel hinein. Die Metallwände waren eine intellektuelle Abstraktion hinter den scharfkantigen Vorsprüngen, den stehenden Tropfsteinen, den violetten Sternen und der Korona des vereisten Untergeordneten Kerns. Sie achteten auf jeden Schritt, um den mörderischen Kristalldornen auszuweichen. Als sie tiefer in den Kern eindrangen, hingen die gefährlichen Eiszapfen dichter, und sie erblickten ein Spektrum von Juwelen, das die Augen völlig verwirrte. Einer der Männer stolperte und verletzte sich den
Fuß. Als er fiel, floß Blut aus hundert kleinen Wunden über seine Federn. Sein Gefährte fing ihn auf, als er schrie, und hielt ihn auf einem Fuß schwankend fest. Jik huj Lod bückte sich und strich Salbe auf das verletzte Glied. Dann sprühte er eine Schutzschicht darüber. Der Mann hinkte weiter und hob sein Messer gegen etwas Böses, auf das keiner von ihnen wirklich vorbereitet war. Warum nicht? fragte sich Anokersh. Weil die Computer beschädigt worden waren, weil das ganze Aufgebot an vorausgeplanten Szenarien die Möglichkeit einer biologischen Revolution bei den Sklaven nicht einbezogen hatte? Weil der Reliquienschrein des Untergeordneten Kerns, die gesammelte Weisheit von drei Millionen Jahren aus gleichbleibender Statik, grausam in wucherndes Wachstum abgeglitten ist? Weil die Mannschaft dieser Generation, nach verkrüppelten Programmen eine halbe Million Jahre zu spät herangewachsen, sich selbstgefällig und bequem hinter der Peripherie von ihrem falschen Vertrauen in die Wissenschaft ihrer Art und dem verfehlten Glauben an ihre Mission hat leiten lassen? Aber Anokersh wußte, daß hier kaum die Antworten auf T’koshs Fragen zu finden waren. Ein Kribbeln auf seiner Haut sagte ihm, daß die Wilden sie beobachteten und nur auf ihren Vorteil warteten. Seine Gedanken verschwammen. Wir sind keine würdigen Erben der Alten, der Eltern aller, sagte er sich voll Bitterkeit. Wir sind so unvollkommen wie die Wilden. Er blieb abrupt stehen. Das Licht teilte sich an einer Stelle, wo früher eine Einbuchtung des Kerns gewesen war. Der Mann hinter ihm stolperte über seine Hacken und fluchte. Anokersh fuhr herum. In fieberhafter Erregung riß er das Messer hoch. »Hört zu«, sagte er nachdrücklich. »Was suchen wir hier überhaupt? Wir haben eine verschwommene Vorstellung von Vergeltung. Das reicht aber nicht.«
»Wir können die armen Schweine, die sie hier gefangenhalten, herausholen«, sagte T’kosh wütend. »Der Untergeordnete Kern muß repariert werden«, sagte einer der Männer von der Ingenieurszunft. »Wir müssen die Tiere stoppen, bevor sie – « »Wir haben nur zwei Möglichkeiten!« rief Anokersh rauh. »Versteht ihr mich? Entweder einigen wir uns mit den Wilden und akzeptieren sie ohne Einschränkungen – oder wir töten sie bis auf den letzten Mann.« Sein Blut raste, und um ihn herum aufgeregtes Geschwätz. Der Direktor packte T’kosh huj Nesh an den Schultern. »Du weißt genau, daß wir ihnen nicht erlauben dürfen, im Kern zu bleiben!« schrie er ihm ins Gesicht. Eine primitive Angst ließ den Künstler die Zähne fletschen. »Kersh, dies sind die heiligen Gefilde unserer – « »Können wir die Wilden ausrotten?« brüllte er erbarmungslos. »Wie kannst du vom Töten reden?« fragte er voll Abscheu und riß sich los. »Bist du zum wilden Tier geworden, Anokersh? Hast du jeden Anstand verloren – « Der Direktor stand schwankend unter den Lichtkatarakten, und sein Kopf glühte. Er faßte Instinkt und Logik zusammen. »Brüder, die Wilden sind in die kollektive Seele unseres Volkes eingedrungen. Sie haben sich an der Peripherie unseres Bewußtseins, unserer Existenz, unseres alten Erbes niedergelassen. Es ist genauso unmöglich, den vorsätzlichen Tod eines wilden Pongiden zu planen, wie daran zu denken, einen unserer eigenen Brüder oder eine unserer Schwestern zu ermorden.« Er sah, daß weiter hinten einer der Männer zusammengebrochen war, und hörte ihn würgen. Sein eigener Körper verkrampfte sich schmerzhaft. Er sagte das Entsetzliche, das gesagt werden mußte: »Brüder, wir müssen die Wilden vernichten.«
»Anokersh«, sagte T’kosh mit schrecklicher Eindringlichkeit. »Schweig.« Der Künstler wandte sich an die anderen. »Er hat recht. Vergeltung ist Wahnsinn. Wir müssen umkehren.« In diesem Augenblick fielen die Wilden mit barbarischem Geheul über sie her. »Seht ihr?« rief der Direktor. »Sie lassen sich durch nichts zurückhalten.« Er sah die grobe Metallkeule, die unerbittlich wie die Schwerkraft auf seinen Kopf niedersauste. Der Schlag traf ihn am Hinterkopf. Als er versuchte, die schmerzende Stelle mit der Hand zu erreichen, merkte er, daß er gefesselt war. Im trüben Licht erkannte er, daß der größte Teil der Kristallmasse vom Rumpf abgehackt worden war. Die Schmerzen waren unerträglich. In diesem Sektor war schon vor langer Zeit fast die gesamte Energie abgeschnitten worden, und nur für die sich selbst regulierenden Systeme gab es noch einige stromführende Kabel – sie verliefen in der Nähe des Rumpfes und dienten der notdürftigen Versorgung des Untergeordneten Kerns. Er erkannte aber sofort, daß zuwenig Elektrizität zur Verfügung stand, als daß die Wilden sie für Beleuchtung oder Heizung hätten verschwenden können. Es war unglaublich, aber ihre verrückten Vorfahren hatten es irgendwie fertiggebracht, hier eine behelfsmäßige Ökologie entstehen zu lassen. An jeder Seite standen primitive, offene, von ultravioletten Lampen bestrahlte Behälter, in die aus Schläuchen Chemikalien tropften. Vegetation rankte sich aus diesen einfachen, mit Nährlösungen gefüllten Bottichen hoch und war schon reich in Saat geschossen. Der wilde Eindringling hatte stumpfe Pflanzenfresserzähne, fiel ihm ein. Nein, dachte er und begriff plötzlich, sie haben keine Hemmungen. Bei seinem eigenen Volk hatten sich in sechzig Millionen Jahren die Hemmungen der Pflanzenfresser herausgebildet. Aber diese Kreaturen würden vielleicht nicht einmal davor
zurückschrecken, Angehörige der eigenen Art zu töten. Sie besaßen wahrscheinlich keine genetischen Anlagen, die das Töten von Intelligenz verhinderten. »Steh auf«, befahl eine undeutliche Stimme. Der Moschusgeruch der Wilden und ein Gestank von saurem Schweiß drang ihm in die Nase. Mit Mühe stand er auf und sah ein fleckiges Gesicht vor sich. Der Pongide ohrfeigte ihn; Schmerz raste durch seinen Kopf. Benommen stolperte Anokersh über eine vertrocknete Ranke aus einem der Nahrungsfässer, und brutal wurde er vorwärts gestoßen. Sie waren Zehntausende von Generationen isoliert gewesen, dachte er. Dennoch sprechen sie unsere Sprache. Stehen sie in einer so tiefen Resonanz mit dem Kern? Oder haben sie die Sprache ihrer Gefangenen übernommen? Sie erreichten einen besser beleuchteten freien Raum. Vielleicht hatte die äußere Abschirmung hier das Wachsen der Kristallmasse behindert, denn hinter Gitterwerk war das undurchdringliche Metall des Rumpfes zu sehen. Der Direktor sah Szenen wie aus einem Alptraum vor sich. Sie haben Intelligenz entwickelt, dachte er und fuhr zurück, aber ihr Fleisch ist zerstört. Groteske Gestalten bewegten sich in der Dämmerung. Zu seinen Füßen spuckte ein unbekanntes Kind ihn an. Ein anderes saß da und kratzte sich die weißen Schuppen, die seinen Körper bedeckten. Schlechte Ernährung, erkannte er. Von der Nahrung hervorgerufene Krebsgeschwüre. Unsere Anwesenheit in der Seele hat sie zur Verzweiflung getrieben. Bevor die Maschinen diese zweite Generation von Leuten hervorbrachten, dachte er, müssen die Wilden Raubzüge gegen die Vorratslager unternommen haben. Jetzt, da die Sklaven bei uns in strenger Disziplin gehalten werden, sind sie an ihrem Zufluchtsort völlig eingepfercht. Kein Wunder, sagte er sich, daß sie uns hassen.
Eine alte Kreatur stieß mit einem Metallstreifen nach ihm. Ihre Zähne waren verfault. Anokersh wandte sich ab. Ihm wurde übel. Plötzlich wußte er ganz genau, was er zu tun hatte. Er schaltete seinen Sender ein und stellte eine direkte Verbindung zum Zentralcomputer her. Der Wilde, der ihn bewachte, sah ihn mißtrauisch an, wurde sich aber nicht klar über das, was hier vorging; er stieß Anokersh mitten in den Raum. Anokersh schaltete die Maschine auf absolute Priorität und gab ihr Schritt für Schritt in präziser mathematischer Sprache seine Instruktionen. Dann schaltete er das System auf Warten und ließ sich mit seiner Gattin verbinden. »Diitchar, sie halten uns in der Nähe des Rumpfsektors zweiundsiebzig fest. Kannst du uns finden?« »Den Eltern sei Dank!« rief sie. Dann sagte sie: »Kersh, die Sensoren zeigen auf dem Schirm einundsiebzig an.« Sie waren stumm, seit man die geschädigten Pongiden vor Tausenden von Jahren hier eingeschlossen hatte. Weitere Männer von der Strafexpedition wurden in den Raum geschleppt. T’kosh taumelte gegen ihn, und, gefesselt wie er war, wäre Anokersh fast gestürzt. Den Vorfahren sei Dank, dachte er, daß ich Diitchar nicht erlaubt habe, uns zu begleiten. Diitchar hatte, wie sie berichtete, eine Versorgungsroute ausfindig gemacht und im Computer gespeichert, auf der man den Raum erreichen konnte, in dem sie sich jetzt befanden. Halblaut befahl er dem Computer, die magnetischen Verriegelungen an den Eingängen zu lösen, die seit der Isolierung der Defekten versiegelt gewesen waren. Die Bestien trieben sie zu einem unregelmäßigen Halbkreis zusammen, trennten sie und zwangen sie, sich auf das mit Matten ausgelegte Deck zu knien. Man hörte Stöhnen und raschelnde Geräusche; seltsamerweise sprach niemand. Eine
Art Lähmung der Willenskraft hinderte sie alle daran. T’kosh huj Nesh entblößte die Fangzähne. Blut quoll ihm aus dem Mund. Seit Riona verschwunden und zurückgekehrt war, hatte der Haß wie Säure in ihm gefressen. Er spannte die Muskeln unter seinem Federkleid. Aber seine Fesseln hielten und schnitten nur tiefer in sein Fleisch. »Tu das nicht, Bruder«, ermahnte Anokersh ihn. Voll Haß und Verachtung starrte der Künstler ihn an. »T’kosh, wir werden… ihre nächsten Schritte abwarten.« T’koshs Gesicht war wutverzerrt und sah aus wie eine finstere Ikone. »Du hast dein Kommando verwirkt«, sagte er. Mehrere Wilde bewegten sich mit geballten Fäusten auf sie zu. »Du wolltest nicht umkehren, und jetzt verlangst du – « »Schweig!« Klappernd schlug T’kosh die Zähne aufeinander. Seine Augen weiteten sich. Aus der gespenstischen Versammlung deformierter Wilder stieg Stimmengewirr auf. Anokersh drehte sich um. Am Ende des Raumes stand eine Pongidenfrau, und Blitze kristallenen Lichts gingen von ihrem dunklen, schwangeren Leib aus. An ihrer Schulter lehnte, ihrer Federn beraubt, die erste Person, die sie seit ihrem Eindringen in das Allerheiligste der Wilden zu Gesicht bekamen. Anokersh mußte sich den Namen aus dem Herzen reißen: »Chalzin! Bei den Gebeinen unserer Vorfahren, was hat man dir angetan, Chalzin huj Tighe?« Er war als Kind im Untergeordneten Kern verschwunden, der erste von ihnen, der verlorenging. Er war nicht älter als sie alle, aber seine verwüsteten Züge, hager, verhungert und eingefallen, waren eine greisenhafte Maske. Seine gerupfte Haut war von Pusteln bedeckt. »Demütigt euch!« schrie Chalzin huj Tighe in einem gespenstischen, närrischen Befehlston. »Bedeckt eure Häupter, ihr Schlangen!«
Anokersh fror. Entsetzt starrte er die Wilde an. Er dachte an seine albernen, fröhlichen pongiden Diener, die lebhafte Apfel, den alten Faulpelz, den lüsternen Schreihals und noch ein paar Dutzend fette Kreaturen, die er seit seiner Kindheit kannte und die ihm auf ihre ungeschickte Art zu Diensten waren. Es war ein makabrer Vergleich. Die Haut der Frau war stumpf wie das Fell einer Leiche. Sie bewegte sich auf sie zu, und Anokersh sah die sechs winzigen Brüste in ihrem dürren Brustkorb. Wilde Pongiden drängten sich um sie und stießen Schreie aus, als sie die Arme hob. Unter ihren Achselhöhlen ragten zwei weitere Brustwarzen aus dem struppigen Fell hervor. »Chalzin«, schrie er, »sorge dafür, daß man uns freiläßt! Wo sind deine Gefährten? Leben noch mehr von euch?« Der Mann lallte unverständlich und fing an in wilder Raserei zu tanzen und herumzuspringen. Die Erregung stieg, und die Wilden stöhnten und schwankten. »Kersh«, sagte ihm eine ruhige, angenehme Stimme ins Ohr, »warte ein paar Minuten.« Er spürte, daß seine Knie einknickten. »Grauenhaft«, flüsterte er seiner Gattin zu. »Schrecklich, schrecklich.« »Wir haben eine kleine Schwierigkeit«, sagte Diitchar. »Bei einigen der Versorgungsröhren sind die Versiegelungen zugeschweißt. Sobald wir durchkommen können, lassen wir es euch wissen.« Abrupt hörte Chalzin huj Tighe auf herumzutollen. Ein paar muskelbepackte Wilde schleiften etwas Schweres herein. Sie schoben es vor die schwangere Frau und traten einige Schritte zurück. Es war ein roh gegossenes, an einigen Stellen angerostetes hüfthohes Stahlei. Anokersh schossen die Tränen in die Augen. Es war ein aus grobem unpoliertem Metall gefertigtes, entstelltes Abbild der Seele.
Die Ungeheuer drängten näher heran, und ihr Gestank fuhr ihm in die Kehle. Ihre grunzenden Gesänge hallten durch den Raum. Mit einem unartikulierten Wutschrei stürzte T’kosh huj Nesh vorwärts. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit sprang einer der Bewacher hinter ihm her, und seine stumpfen Zähne glänzten von Speichel. Er ließ seine Keule krachend auf den Kopf des Künstlers niedersausen. T’kosh brach zusammen. Chalzin hüpfte zu der bewußtlosen Gestalt hinüber, gestikulierte in irrer Freude und schleifte T’kosh langsam bis vor den Altar. »Glück und Ende der Reise«, kicherte er. An jeder Hand war ihm ein Finger amputiert worden. Die Pongiden, die das Metallei gebracht hatten, packten T’kosh unter den Armen und schleppten ihn durch das Gestrüpp von toten Ranken; Chalzin eilte voraus und wischte vorsichtig das Blut ab, das aus der Kopfhaut des Künstlers quoll. Sie hoben T’kosh auf den Altar. Seine Glieder baumelten von der rauhen, gewölbten Fläche herab. Mit aufgerissenem Mund, die Kehle ungeschützt, hing auch sein Kopf nach unten. Voll Entsetzen beobachtete Anokersh die Szene. Ich muß warten, sagte er sich. Ich muß warten. Mit majestätischer Würde stieg die groteske Frau auf die bewußtlose Gestalt, schlang ihre spindeldürren Beine um T’koshs Schultern und beugte ihr Gesicht zu seinen Lenden herab. Sie wog seine ungeschützten Genitalien in den Händen. Freudengeschrei erhob sich unter den Wilden. Bei diesem Anblick durchlief es Anokersh eiskalt. Wir haben immer abgewartet, dachte er. Und wir sind immer zu spät gekommen. Warum handeln wir nie? Die Muttergöttin senkte ihre weit aufklaffenden Kiefer. Er ist steril, schrie der Direktor stumm und absurd. Sein Samen ist unfruchtbar. Er kann euch in eurem Verlangen nach Freiheit und Leben nicht helfen.
Eine zischende Implosion erschütterte die Luft. »Wir sind durch!« rief ihm Diitchars Stimme ins Ohr. Gefiederte Gestalten sprangen vom Dach und landeten mit dumpfem Aufschlag auf dem Deck. »Ich werde eine Leuchtkugel zünden.« Die Zeit blieb stehen. »Hinlegen!« schrie Anokersh den anderen zu und warf sich auf das Deck. Als er seine Schnauze in die vertrocknete Vegetation grub, sah er, daß die Wilde wütend den Kopf hob. Licht flammte auf, ein gewaltiges Anbranden blendender Strahlung. Selbst mit geschlossenen Augen empfand er das grelle Rot sehr schmerzhaft. Die Pongiden kreischten vor Qual und stoben in blinder Verzweiflung auseinander. Anokersh spürte Hände an seinen Fesseln und hörte das scharfe Surren der elektrischen Klinge. Dann stand er da und hielt seine Gattin im Arm. Sie hatte ihre Schweißmaske über die Stirn hochgeschoben. Flammen zischten, als die getrockneten Ranken aus den Wasserkulturen verbrannten. Er stürzte vom Rand des Universums. Sofort wurden die Implantate unter seinen Krallen magnetisiert. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als seine strampelnden Füße wieder auf das Deck klatschten. Er schluckte schwer. Die Schaltkreise der Feuerkontrolle hatten die Schwerkraft in diesem Sektor aufgehoben. Die durch die Lichtblitze entstandenen Flammen qualmten und verloschen. Die geblendeten Wilden schwebten heulend durch die Luft. Sie waren Opfer eines für sie unvorstellbaren Systems. Sie hatten den erotischen Luxus des Schlafens bei NullSchwerkraft nie kennengelernt, und Schwerelosigkeit versetzte sie in Angst und Schrecken. »Kersh, ich habe dir eine Strahlenpistole mitgebracht.« Diitchar drückte sie ihm in die Hand und würgte vor Ekel. Die
Luft stank nach dem Erbrochenen der Wilden. »Stezna hat den Druckanzug.« Er aktivierte seine Verbindung mit dem Kontrollraum. »Die Schwerkraft bleibt abgeschaltet«, befahl er dem Programm. T’kosh huj Nesh war immer noch bewußtlos. Er schwebte fast senkrecht über dem Metallei, an dessen rauher Oberfläche seine Krallen magnetisch festgehalten wurden. Seine verrenkten Knöchel waren angeschwollen. Er blutete in der Leistengegend. Stezna war bei ihm und injizierte ihm ein schmerzlinderndes Mittel. Dann schaffte er ihn außer Reichweite der schwangeren Frau, die über ihm schwebte und laut schrie. Sie brauchen nicht zu sterben, sagte Anokersh sich verzweifelt und legte den Druckanzug an. Vage gingen ihm Diagramme und Gleichungen durch den Kopf. Zwischen Zeit und Para-Zeit würden sie die Grenzebene durchrasen und ihre Trägheit an die äußere Abschirmung abgeben. Er konnte es nicht glauben. »Zurück zum Eingangsschacht!« brüllte er. »Wenn ihr alle den zivilisierten Sektor erreicht habt, sofort versiegeln! Beeilt euch!« Noch nicht genug des Schreckens. Was würde mit dem Untergeordneten Kern geschehen? Es war wie ein Hammerschlag ins Gehirn… Diitchar schloß den Helm über seinem Maul und stellte den Druck ein. »Anzeigegeräte des lebenserhaltenden Systems?« Ihre Stimme kam immer noch über seinen eingebauten Empfänger. »Alle aktiv!« bellte er. »Beeilung!« Sie legte ihm die Hände auf die Brust. »Wir haben drei Vermißte gefunden«, sagte sie leise. »Ihr Verstand ist… geschädigt.«
»Wir werden Zeit haben, sie zu heilen«, sagte er. Das Entsetzliche seiner Pflicht ließ ihn schaudern. Er wandte sich ab. Als der Eingang versiegelt war, stellte er seine Waffe auf Lähmungsintensität ein und arbeitete sich durch das Chaos. Es war ein Akt der Barmherzigkeit. Das Feuer ging rasch wieder aus, und von den Tanks hingen die verkohlten Blätter der primitiven Wasserkultur. Die Stiele sahen wie verbrannte Knochen aus. Schlaffe Gestalten schwebten um ihn herum, Erwachsene und Kinder. Es sind intelligente Wesen, sagte er sich. Sie gehören nicht zum Lebenden Volk, aber sie haben unser Bewußtsein. Dieses Wissen war unerträglich. Schweigend blieb er stehen und sah was seine Hände angerichtet hatten. »Alle sind durch«, berichtete Diitchar, und er begriff ihre Worte nicht gleich. »Kersh«, sagte sie mit einem Anflug von Panik. »Wir sind alle im Schiff. Hinter der Peripherie sind alle Sektoren verriegelt und versiegelt. Hörst du mich?« »Ja«, sagte er. »Blockiere diese Leitung. Niemand darf mithören.« »Ja, Liebling.« Er befahl dem Computer, sein Programm zu wiederholen, und die Maschine reagierte sofort. Sein Blut war wie flüssiges Blei. Er dachte an Ghine do Lod und Thali huj Salder in ihrer zweifelhaften Glückseligkeit. Mit klammen Daumen suchte er die Sicherheitsleine des Anzugs. Er band sich möglichst weit vom Notausgang des Rumpfes an einem Stützpfeiler fest. Er schloß die Augen. Durch die dicke Haut des Druckanzugs hörte er schwach den Entsetzensschrei eines jungen Wilden, der aus der Lähmung aufgewacht war. Er brüllte den Befehl zur Aktivierung der Systeme.
Um ihn herum heulte der Wind. Er hatte noch nie einen Wind erlebt. Dumpfe, schwere Schläge. Geräusche, als würden Pflanzen von ihren Wurzeln gerissen. Mit dem Krachen und Klirren berstenden Glases lösten sich Segmente der Kristallmasse, der Untergeordnete Kern, die Erinnerungen seines Volkes, von der Wand und wurden im pfeifenden Luftstrom emporgetragen. Der Wind fuhr heulend in die weite, klagende Leere der Para-Zeit hinein. Sein Druckanzug knarrte, als er sich dem Vakuum anpaßte, und sein Visier beschlug. Die Doppeltüren öffneten sich weit, und im grauen Opalschimmer sah er die Jahrhunderte an sich vorüberziehen. In der leeren Sektion fiel grelles Licht auf blutbeschmierte Wände. Ich habe sie nicht getötet, sagte er sich. Sie sind über ganze Epochen verlorener Zeit zerstreut. Er mußte sich übergeben und besudelte die Innenseite des Visiers. Anokersh huj Lers gab Befehl, die Ausgänge zu verriegeln und zu versiegeln. Er kroch in das Innere des Missionsschiffs hinein. Im Schiffslazarett war der letzte Wilde, mit dem er noch fertig werden mußte. Die Herrin Diitchar rhal Lers erwartete ihn unter dem Belüftungsschacht und brachte ihm ihre Liebe und Vergebung dar. Er brachte es nicht über sich, ihre Hand zu nehmen.
Fünf
Ein Ort der Drachen
14. Das Gewölbe
Bill delFord löste seinen Sicherheitsgurt und stieg unsicher aus der Plastikgondel, die sie mittels eines Flaschenzuges von der Oberfläche nach unten gebracht hatte. Das riesige Kabel summte einen Orgelton; weit hinter ihnen lief der Antriebsmotor leer, und sie waren noch fünfhundert Meter von der Gefahrenzone des Gewölbes entfernt. Ein Luftzug fuhr ihm durch das dünne Haar und nahm ihm den Schweiß und die Hitze aus dem Gesicht. Hugh Lapp sprang athletisch aus dem lächerlichen Gefährt, das so sehr an ein Karnevalsspielzeug erinnerte, und gemeinsam folgten sie dem in Grau gekleideten Korporal die letzten hundert Meter des steilen Tunnels hinab. »R&D hat Ihre Schutzanzüge schon vorausgeschickt, Gentlemen«, sagte der Korporal. Seine Stimme hallte, und der Tunnel warf ein vielfältiges Echo zurück. »Sie werden sich an diesem Kontrollpunkt umziehen.« Bill versuchte, bestätigend zu lächeln, obwohl er wußte, daß sie alle jeden Augenblick in einer fettigen Wolke von Kolloiden explodieren konnten. Schon protestierten Schenkel und Leib gereizt gegen den ungewöhnlichen Abhang zu ihren Füßen. Ein dumpfes Rollen war zu hören; er drehte sich um. Der Wagen wurde zu der Plattform zurückgefahren, die einen Kilometer hinter ihnen undeutlich zu sehen war. »Ich hätte darauf bestehen sollen, Selma und den Jungen anzurufen«, sagte Bill. Der Astronaut sah ihn verlegen an. »Verdammter Mist«, sagte er, »aber das war aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Wie fühlen Sie sich sonst, Bill?«
»Genau wie Sie, denke ich. Schlapp. Beschissen sogar. Aber ich habe keine Schmerzen.« Er wollte lachen, hatte sich aber sofort wieder im Griff. Diese komischen Kerle, dachte er. Als sie um eine Biegung herum die Plattform erreichten, traten sie in das grelle, harte Licht der Gasleuchten. Mehrere Soldaten in den neutralen grauen Projekt-Uniformen schauten von ihren Postierungen mit dumpfem Mißtrauen zu ihnen herüber. Gelangweilte Techniker beschäftigten sich mit ihren behelfsmäßigen Instrumenten und verständigten sich untereinander im Flüsterton. Der Korporal führte sie zu einem kastenähnlichen Büro aus Plastik, klopfte an und ließ sie eintreten. General Joseph Ahearn Sawyer war ein kleiner, robuster Texaner. »Guten morgen, Gentlemen. Sie sind übermäßig pünktlich, sonst hätte ich Sie abgeholt.« Er schüttelte ihnen kräftig die Hände und ließ sie in geschwungenen Polystyrolstühlen Platz nehmen. Er bot ihnen Kaffee aus dem Perkolator an, der neben seinem unaufgeräumten Schreibtisch brodelte. »Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen, Dr. delFord. Sie wollen also in die Geschichte eingehen?« »Dann kann ich wenigstens mein Frühstück bezahlen«, sagte Bill. Keine fünfhundert Meter von diesem lächerlichen Büro entfernt lag das monströse Ding, das Lapp und er herausfordern wollten. Er hatte das Gefühl, daß der Tod sich schon auf seine Fährte gesetzt hatte. Schluß mit dieser Scheiße, wies er sich streng zurecht. Die Angst wird mich hellwach halten, aber sie darf nicht pathologisch werden. »Wir sind alle nervös, wenn wir auf den Einsatz warten«, sagte der General. DelFord sah weg. »Ersparen Sie mir das«, stöhnte er. Aber Sawyer ließ nicht locker: »Glauben Sie mir, ich hätte mir fast in meine neue Uniformhose geschissen, als ich das erste Mal – Aber ich will Sie nicht mit meinen
Heldentaten langweilen. Sie sollten jetzt die Jungs kennenlernen. Sie warten im Personalraum.« In Bills Kopf wirbelten Enzyme. Fast schien ihm, als hörte er sie. Er mußte lachen. Bei dem verdammten Zeug durfte eigentlich erst eine Kettenreaktion eintreten, wenn es katalytisch beeinflußt wurde, dachte er ein wenig verärgert. Das Wunder des Zeitalters. Das Geheimnis ewiger Jugend. Aber er hatte Bedenken bei dem inoffiziellen Namen, den die Biochemiker für das winzige Peptid gewählt hatten, das durch das 17-Tg-M-Analogon langsam aus den Beta-LipotropinProteinen in seiner Hypophyse hergestellt wurde. Asinin, überlegte er und lachte vor Vergnügen. Wenn Heroin die Droge der Heroen ist, fragte er sich, wer würde dann sein Verlangen nach einer Droge für Esel zugeben? Natürlich fanden die nüchternen Seelen der Todesmaschine an diesem Spitznamen nichts Amüsantes; sie bestanden darauf, das Pentapeptid ausschließlich Arg-Enkephalin zu nennen. In Gedanken sah Bill die Aminosäuren in einer Kette vor seinen Augen tanzen, ein Rondo der Moleküle: Tyrosin-GlyzinGlyzin-Phenylalalin-Arginin. Religion, dachte er lächelnd, ist in der Tat Opium für das Volk. Denn was sonst ist Enkephalin in seinen gesunden, makrobiotischen, DDT-freien, endogenen Varianten als Gottes eigener Schmerztöter? Sie hätten es Mystizin nennen sollen. »Hugh, Hugh, mein alter Kumpel auf der Umlaufbahn«, sagte er und schlug dem Astronauten auf die Schulter. »Ich. Habe. Wirklich. Keine Schmerzen.« »Sie verrückter Rauschgiftsüchtiger«, sagte Lapp und führte ihn zu einer Couch. »Sie sind nicht besoffen von dem Zeug; es handelt sich um vorzeitige Senilität. Legen Sie sich einen Augenblick hin. Ich hole Ihnen eine Cola.« »Um Gottes willen«, sagte Bill beschwörend, »keine künstlichen Stimulanzien. Wir müssen reinen Herzens sein.«
Als er sich hingelegt hatte und zweieinhalb Kilometer Felsen und Sand über sich sah, wurde ihm klarer im Kopf. Er hatte ein verzweifeltes Verlangen nach einer Zigarette. Statt dessen riß er einen Streifen Kaugummi auf. Eine der unlogischen Nebenwirkungen des tödlichen Feldes im Gewölbe war, daß die Nikotinsüchtigen, die am Projekt mitarbeiteten, sich auf Kaugummi umgestellt hatten. Die Instrumente, die hier unten benutzt wurden, funktionierten nicht elektronisch, sondern auf der Basis komplizierter chemischer Reaktionen – deshalb hatten die Raucher ihre Zigaretten oben lassen müssen. Man fürchtete chemische Explosionen. Als er sich im behelfsmäßigen Personalraum umsah, war er äußerst beunruhigt darüber, daß das nächste elektronische Gerät einige Kilometer weit entfernt war. Die Nachrichtenverbindung mit der Oberfläche wurde hauptsächlich durch eine auf einen Strahltisch montierte, unhandliche hydraulische Vorrichtung bewirkt, deren dickes Kabel durch die Decke in den Felsen führte. Die Eingabe und die Aufnahme erfolgten mittels einer zu diesem Zweck umgerüsteten mechanischen Schreibmaschine. Es gab hier nichts, was ein Ingenieur aus dem vorelektronischen neunzehnten Jahrhundert nicht auch hätte zusammenbasteln können… vorausgesetzt, ihm hätte das nötige synthetische Material zur Verfügung gestanden und er hätte eine Werkstatt gehabt, die Teile mit einer Genauigkeit hätte herstellen können, von der man damals noch nicht einmal träumte. Und dieser verzweifelte erfinderische Scharfsinn war nur durch eines bedingt: durch das erschreckende, zerstörerische Feld des Gewölbes. Es handelte sich dabei nicht um einen Gluonenschild. Seine Auswirkungen waren feiner und selektiver. Er hatte erlebt, daß sich seine Parameter, als es aufhörte zu regnen, geändert hatten. Das war mit Sicherheit die aktive Entscheidung einer Intelligenz. Die zentrale Wirkung
aber blieb in Kraft. Das Gewölbe duldete noch immer keine fremde elektromagnetische Aktivität, deren Größenordnung die bioenergetischen Prozesse im menschlichen Körper überstieg. Bill richtete sich auf. Sein Herz raste wieder. Innerhalb von Minuten würden er und Hugh hinuntergehen, um das Gewölbe mit seinem eigenen Schlüssel zu knacken. Vielleicht. Mit größerer Wahrscheinlichkeit würde das Gewölbe sie knacken. Er dachte an die Filme mit dem brennenden Mann. Der Astronaut setzte sich zu ihm auf die Couch. Ärzte machten sich an ihnen zu schaffen. »Ich würde mich besser fühlen, wenn sie Anne eingeflogen hätten«, sagte Bill. Unsinn, dachte er. Es gibt keine sexuellen Monopole, genausowenig wie magnetische Aufladungen isoliert existieren. Die Drei Musketiere vor dem Kraftfeldungeheuer. Allerdings hatte es im Institut schon einmal funktioniert. »Eine Frau hier unten schafft zu viele Risiken«, sagte Hugh. »Darin gebe ich den Leuten recht.« Er hielt den Arm hin und erhielt eine subkutane Injektion in den Trizeps. Es war eine Enzymlösung, die die Asininproduktion in seiner Hypophyse gewaltig anregen würde. Bill blickte finster, als er seinen eigenen Arm hinhielt. »Wie klein Sie sich machen, Hugh. Sie verleumden die halbe Menschheit.« Er zuckte zusammen. »Anne Hawthorne hätte Ihre Eier als Strumpfhalter benutzt, wenn Sie wüßte, daß Sie mit diesen Schweinen einer Meinung sind.« Harris Lowenthal beugte sich über sie. »Zeit, in die Anzüge zu steigen, Jungs.« Der Psychologe sprach lebhaft, und sein Ton hatte etwas Beruhigendes. Der scharfe Zynismus aus der ersten Besprechung war völlig verschwunden. »Dann gehen wir mit Ihnen zum Dreihundertmeterpunkt hinunter.« »Ja«, sagte Bill. Lowenthal sah ihn prüfend an, und Bill versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Trotz
der schwülen Luft war sein Gesicht ganz kalt. Er folgte Lapp zu der Bank, wo der russische Elektronikexperte Komarow mit den Schutzanzügen auf sie wartete. Eine Tatsache hatte sich Bill in ihrer ganzen Brutalität eingeprägt. Man konnte nicht zweimal in das Gewölbe eindringen. Das Gewölbe ließ nur ein einziges Eintreten zu, und den Eintritt bezahlte man mit seinem Verstand. Beim zweiten Mal war man eine Leiche. »Wiederholen Sie die Verfahrensweise«, verlangte der Psychologe. »Wir haben eine Stunde Zeit«, sagte Bill müde. Durch sein Gehirn schoben sich Watteflocken. »Alle fünfzehn Minuten ertönt ein Glockensignal. Die letzten zehn Minuten werden durch eine Reihe von codierten Huptönen abgezählt.« Dieser Code war durch Narko-Hypnose in sein Unterbewußtsein eingebrannt. Auf diese Glockensignale würde er reagieren, und wenn er drei Tage lang in der Hölle begraben wäre. Er schnitt eine Grimasse. »Nun, General, ich denke, damit wäre die Überprüfung erledigt«, sagte Lowenthal und stand von der Bank auf. »Gut, gut.« Der General streckte die Hand aus. »Dr. delFord, Captain Lapp, dies ist ein historischer Augenblick. Sobald Komarow Sie in Ihren Anzügen verstaut hat, werden wir Sie auf einem Spaziergang zur Grenzzone begleiten.« Die Spezialisten kamen scharenweise herbei. Mein Gott, ich wünschte, Anne käme mit uns, dachte er wieder. Sein Puls beschleunigte sich. Er wurde praktisch bewußtlos. In einem unbequemen, mit Schaumstoff ausgekleideten Anzug ging er bis an das Ende der Plattform. Sein Bewußtsein verengte sich und funktionierte wie ein integrierter Schaltkreis. In das schwere Material des Anzugs waren in einem wirren Muster fünfzehn Millionen einzelne Metallfäden eingewebt. Er war leichter als ein Panzerhemd, aber nicht sehr viel elastischer,
und er war, wie der Raumanzug eines Astronauten, ganz genau nach seinen Maßen gearbeitet. Fedorenjko glaubte, daß er das vom menschlichen Nervensystem und der Muskulatur erzeugte schwache elektrische Feld völlig neutralisieren würde. Die Drähte waren in LI900-Fasern eingesponnen, ein von Lockheed entwickeltes Quarz mit so hoher Wärmeleitung, daß man den Anzug, wenn er aus einem eintausenddreihundert Grad Celsius heißen Ofen genommen wurde, sofort mit der nackten Haut berühren konnte. Der hinter ihnen liegende Tunnel war von Glasleuchten erhellt. Synthetische Gerüche mischten sich mit denen von Maschinenöl und menschlichem Schweiß. Durch den Tunnel strömte Hitze herauf, die von irgendeiner unbekannten Quelle im Gewölbe ausgestrahlt wurde. Er wußte, daß ungefähr drei Kilometer über ihnen wolkenloser Himmel war und die sengende Wüstensonne Dampfwolken aus der vollgesogenen Erde aufsteigen ließ. »Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte Sawyer heiter. Bills Haut juckte, und er konnte sich nicht kratzen. Im Gesicht des Astronauten sah er ein leeres, albernes Grinsen. »Das wissenschaftliche Personal wird alle Hände voll zu tun haben, wenn Sie hineingehen. Die Leute haben sich immer noch nicht daran gewöhnt, daß ihnen keine Elektronik zur Verfügung steht.« Ein schrilles Glockensignal ertönte. »Okay, Gentlemen, das wär’s. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Wir sehen uns dann zum Essen.« Bill schüttelte ihm wieder die Hand, ohne durch den metalldurchwirkten Handschuh auch nur das geringste zu fühlen. Flankiert von einigen Soldaten legten er und Hugh das letzte Stück Weg zum Gewölbe zurück. Der Helm aus feinem Geflecht, den er trug, brach das Gaslicht wie ein Prisma. Sein rechter Trizeps schmerzte. Seine
Lungen brannten von der heißen Luft, die aus dem Tunnel heraufzog. Diese letzte Strecke war mit hydraulischen Geräten von Hand ausgeschaltet worden. Die hinter ihnen liegenden abschüssigen Tunnelkilometer waren so konstruiert, daß der Tunnel im Falle einer durch Selbstzerstörung des Gewölbes entstehenden Detonation zusammenfallen mußte und so für Strahlung oder giftige Gase undurchlässig war. Diese Strecke war mit besonders geformten Hohlladungen aus den Felsschichten herausgesprengt worden. Er lächelte. Der Jargon der Ingenieure und ihr technisches Konzept waren ihm während der Vorbereitungen immer wieder durch den Kopf gegangen. Plötzlich fand er seine eigene Technologie ganz erfrischend. Mit halluzinatorischer Klarheit hatte er ein Bild vor Augen; er saß in der Schulbibliothek über ein Lexikon gebeugt und studierte eine Abbildung darin mit großer Aufmerksamkeit. Sie zeigte das Gehirn als Geschäftsbetrieb in einer Kleinstadt, die Telefonistinnen mit zu Knoten gebundenen Haaren, den Manager für Sprache, der über seiner Rede vor der Handelskammer brütete, den Manager für Reflexhandlungen, der im Kleinhirn wütend vor seinen Buchhaltern stand, den Sitzungssaal im Großhirn, die Luftschläuche, die von der Nase in den mit Kohlensäure gesättigten Raum führten… Die Schläuche im Tunnel waren mit Fasern aus einer Borverbindung beschichtet, die in einem Epoxidmantel zu mikroskopisch feinen tetraedrischen Mustern verwoben waren. Die Bindemittel waren weich und formbar geblieben, bis ein Katalysator hinzugefügt wurde; sofort verhärtete sich dann das Epoxid. Die Bor-Epoxid-Substanzen, die hoher Belastung standhalten mußten, waren unglaublich leicht und dennoch wesentlich härter als Stahl. In seinem Gehirn bewirkte ein Enzym einen umgekehrten Prozeß. Die Gedankenmuster von
Dekaden schmolzen wie Eis im Frühling. Mein Gott, sagte er sich, die Buchhalter laufen Amok. Sie zerreißen die Akten. Sie haben angefangen zu saufen. Wo sind ihre Kragen? Ist das eine Piratenflagge, mit der sie den Manager erdrosseln? »Wir sind an der Grenzzone«, sagte einer der Soldaten und unterbrach seine Abstraktionen. Der Mann schickte ein Lichtsignal den Tunnel hinauf. Eine Glocke lärmte. Die Zeit lief. »Wir werden hier auf Sie warten«, sagte der Sergeant leise und mit ruhiger Stimme. »Spätestens beim ersten Hupsignal müssen Sie sich auf den Rückweg machen.« »Kapiert«, sagte Hugh. »Bis später, alter Junge.« Sie überquerten die heiße Grenzebene und stiegen über eine Leiter unbeholfen in die Zone hinab. Das Gewölbe war eine mattweiße Sphäre auf einer völlig ebenen Fläche. Bill hatte Hologramme der Höhle und ihrer Sphäre studiert; jetzt lag das Ding selbst vor ihm, von den Gaslampen jenseits der Barriere hell beleuchtet. Sein Atem pfiff durch das Drahtgitter seines Schutzhelms. Das Geräusch seiner Schritte wurde von den Wänden zurückgeworfen. Er hatte ein unangenehmes Gefühl im Magen, ein Gefühl, daß man ihn verraten hatte. Völlig nichtssagend lag die Kugel vor ihnen. Gedanken an seinen bevorstehenden Untergang zogen Bill durch den Kopf. Er sah den Astronauten an, der langsam neben ihm daherschritt. Er versuchte, den Tod aus seinen unablässig kreisenden Gedanken fernzuhalten, aber es gelang ihm nicht. Es hatte siebenunddreißig Männer umgebracht. Diejenigen, die nicht gestorben waren, lagen in diesem Augenblick mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt und angeschnallt in ihren Hospitalbetten, damit sie nicht aufwachten und schrien und schrien…
Bill blieb stehen. »Scheiße«, sagte er. Er streifte den linken Handschuh ab. »Hugh, ziehen Sie Ihren rechten Handschuh aus.« Erschrocken packte ihn der Astronaut am Arm. »Bill, ziehen Sie ihn wieder an, Sie verrückter Kerl. Zebrowski ist verbrannt, als – « In einem Anfall des Entsetzens, den keiner von ihnen begriff, rangen sie miteinander. Irgendwie löste sich der rechte Handschuh des Astronauten. Bill schleuderte ihn über die glatte Fläche. Er ergriff Hughs Hand und hielt sie fest. Seine Hand war schweißnaß, und mit einem Anflug von Scham empfand er bei der Berührung jugendliche Lust. Plötzlich ließ der Widerstand des Astronauten nach. Seine Finger schlossen sich um Bills. Er beugte sich vor. Seine Stirn glänzte vor Schweiß, und er lachte schallend. »DelFord«, ächzte er, »so können wir nicht länger miteinander umgehen.« Hand in Hand warteten sie, bis sie wieder zu Atem kamen. Zwischen ihnen war ein Urkontakt entstanden. Tröstliche und energiespendende Ströme flossen zwischen ihnen hin und her. Aristoteles und Alistair Jerison hätten ihre Freude daran gehabt, dachte Bill träumerisch. Vielleicht auch Alice Langer. Hand in Hand, wie Kinder auf einem fremden Spielplatz, bewegten sie sich weiter auf das Gewölbe zu. Die Hitze von der unsichtbaren Schranke her war nicht mehr zu spüren. Durch ein Gitter unter Bills Schulterblättern strich kühlende Luft über seine Haut. Dennoch lief ihm der Schweiß am Körper herab. Seine Gedanken waren nur noch wirre Fetzen. Er erwartete einen Angriff aus dem Gewölbe. Nichts geschah. Vorsichtig und genau nach Anweisung blieben sie nach fünfzig Metern stehen. Vor sich auf dem Boden sahen sie einen dunklen Fleck. Ein Brandfleck, dachte er. Hugh zog heftig an seiner Hand.
Langsam gingen sie um die schwere Kugel herum und kamen ihr immer näher. Und schreiend stürzten sie ins Nichts. – der Sturz nahm kein Ende. Mit angewinkelten Beinen, die Arme vor der Brust verschränkt und die Augen vor Übelkeit und Schock geschlossen, stürzten sie Hand in Hand in bodenlose Tiefen. Ich stürze nicht, schrie Bill sich wütend an. Wohin soll man hier auch stürzen? Der Sturz in die Hölle verlangsamte sich nicht. In einem Winkel seines Verstandes wußte er, daß er festen Boden unter den Stiefeln hatte. Das Schwindelgefühl setzte seinen Ohren, seinen Eingeweiden und Muskeln gewaltig zu. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie stürzten nicht. Die Anspannung war unerträglich. Der Astronaut schrie etwas und riß ihn am Arm. Er tat das einzig Unmögliche: Zusammen mit Hugh warf er sich vorwärts, direkt in den endlosen Abgrund hinein, den es nach allen Regeln der Vernunft nicht geben konnte. Der Felsboden war wieder fest. Die Illusion war so abrupt abgeschnitten wie ein Sturm, wenn man die Tür ins Schloß wirft. Bill rappelte sich auf und lehnte sich an Hughs Schulter. Durch das schwere Material des Anzugs hindurch rieb er die Prellung am Knie. Ich kann es schaffen, dachte irgend etwas in ihm. Sein Körper erholte sich vom Schock der Höhenangst und absolvierte dabei automatisch eine Serie modifizierter YogaÜbungen, die Bill bei den NASA-Ärzten gelernt hatte. Die Glocke ertönte, ein Zeichen, daß die ersten fünfzehn Minuten in der Zone vergangen waren. Sie bewegten sich weiter auf das Gewölbe zu. Schon von außen wirkte es drohend und schien wie ein riesiger Felsbrocken über ihnen zu hängen, der jeden Augenblick herabstürzen konnte.
Die Perspektive verzerrte sich in einem Delirium des Schreckens. Bill spürte, wie sein Körper schmolz und sich dehnte, zu einer abstoßenden Karikatur wurde, und wie seine Arme zu verdorrten Stümpfen schrumpften. Er empfand den Schmerz der Amputation, und seine Beine schienen anzuschwellen. Hughs Gesicht war eine zuckende Fratze, und seine Augen quollen aus den verkrusteten Höhlen. Aus Bills trockener Mundhöhle, der die Zunge fehlte, ragten nadelscharfe Fangzähne hervor. Verzweifelt wollte er das Gesicht verbergen, aber seine Hände hingen als rohe Gewebeklumpen an seinen Schultern… Und er mußte fast hysterisch lachen. Hier saß er mit seiner Schwester Anthea vor dem großen alten Radio und schnitt ihr fürchterliche Fratzen; und hier saß auch seine Großmutter, die ihn wie immer dümmlich verwarnte. »Ich hoffe nur«, schrie er aus seinem verzerrten Mund in das Gewölbe hinein, »daß der Wind sich jetzt nicht dreht!« Das Echo seiner Stimme hallte durch den Raum. Wieder ergriff er Hughs Hand und schüttelte sie lachend. Sie schlugen die Arme durch, als ob sie Soldaten spielten, und marschierten um das Gewölbe herum. Billy fiel ein mißtönendes Lied ein. »Die Vegetarier, mein Kind«, sang er. Er nahm den Helm ab. Elegant nahm auch Hugh seinen ab und schleuderte ihn von sich. »Gesetzestreu und fleißig sind«, sang Hugh das Lied weiter und grinste. Bill schlug mit der Hand den Takt. »Wenn sie nicht ihre Pflicht tun wollen, wird niemand ihnen Beifall zollen.« Klingelte es? Fing die Schule an? Hugh hüpfte voran und tat so, als hörte er nichts. »Beim Essen schließen sie den Mund«, sagte er.
»Und die Diät hält sie gesund.« Wo hatte er dieses Lied gelernt? Hugh stemmte die Arme in die Hüften und sagte rasch: »Sie kaufen Obst nur im Reformhaus – vom Apfel essen sie das Kernhaus.« Bill krümmte sich vor Lachen. Er zog den ungefügen Schutzanzug aus und hatte Mühe, sich der aus einem Stück geformten Stiefel zu entledigen. »Beim Spiel«, sagte er, »sie Knickerbocker tragen.« Lapp schnaufte. »Sie schnarchen nachts voll Wohlbehagen.« und grinsend fügte er hinzu: »Und nie sich zu den Huren wagen.« Bill sah den Captain höhnisch an. »Und wie, zum Teufel, kommen wir hinein?« fragte er plötzlich ungeduldig. »Es muß doch ein ›Sesam, öffne dich‹ geben.« Schock fuhr ihm in die Eingeweide. Geräuschlos, ohne daß sich etwas regte, war eine Öffnung da: eine dunkle Leere, gefährlich wie ein Schlangennest. Eine Stimme, angenehm wie das Murmeln eines Baches und einsam wie das Mundharmonikaspiel eines Landstreichers bei Sonnenuntergang, sang in ihm: IHR SEID GEKOMMEN! Er konnte sich nicht bewegen… … und doch bewegte er sich, Schritt für Schritt bewegte er sich auf die Pforte zur Verdammnis zu. Sein Verstand lallte eine Warnung und konnte sie doch nicht beachten. WARUM FÜRCHTEST DU DICH? rief die wunderschöne Stimme verzweifelt. ICH HABE LANGE AUF DEIN KOMMEN GEWARTET. SEHR, SEHR LANGE… Verwesungsgestank drang ihm in die Nase. Die Schlange! Der Gestank dieses uralten Feindes war so ekelhaft, daß eine Evolution von Millionen Jahren ihn nicht aus seinen Genen getilgt hatte. Ein Zwang ging von dem Gewölbe aus, der seine
Glieder und Nerven beherrschte, ihn gegen seinen kreischenden Widerstand in die Sphäre hineinzog. »Mein Gott«, sagte der Astronaut voll Ehrfurcht, »es ist ein Computer. Ein wunderbarer Computer.« Bill hörte ihn kaum. Die Schlange hatte ihn gerufen. So weit war noch niemand vorgedrungen, wußte er. Sie waren alle gestorben oder vom Wahnsinn gepackt worden, bevor sie das Gewölbe erreichten. DEINE GEDANKEN SIND SCHÖN, sang die Stimme aus der Urzeit. DU HAST DIE FESSELN ABGESTREIFT. Speichel lief ihm über das Kinn. Lichtstreifen – indigoblau, türkis, scharlachrot, flammendheiß und hell wie die Sonne – tanzten um ihn herum. Bill schritt in das Herz des Gewölbes hinein. »Eine Geometrie des Lichts«, sagte der Astronaut. »Die Maschine zeigt uns Gleichungen.« In Bill schwoll der Wunsch, in Anbetung zu versinken. Er stolperte in die Lichtspiralen hinein. Seine Mutter stand vor ihm. Sie war von ätherischer Schönheit. Er konnte sich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht den Speichel herunterschlucken, der ihm aus den Mundwinkeln troff. Er konnte nicht einmal die Hände ringen. Lichtschlangen wogten um ihn herum und ließen die Gestalt in der Dunkelheit versinken. Für einen winzigen Augenblick brach sich das gleißende Licht. Schaudernd stand er am Abgrund der Vernichtung. Ein leises Klingen, das wütende Läuten einer Glocke ließ seinen Verstand gefrieren. Bill versuchte, sich umzudrehen und auf das vereinbarte Signal zu reagieren, und als er das tat, sah er die Schlange. Wanambi! kreischte er. – sie ringelte sich nicht auf dem Boden, sondern hatte sich hoch aufgerichtet, und über dem Labyrinth ihrer Windungen
hielt sie den Kopf erhoben, die Augen waren Edelsteine und der Hals leuchtendes, grünes Gold. Sie war wunderschön – ACH! rief die Schlange. DU DARFST MICH NICHT ZURÜCKWEISEN! Und in einem Augenblick völligen Begreifens sah sich Billy in seine Kindheit zurückversetzt. Er war neun Jahre alt. Der Wind trieb die Herbstblätter durch den alten Garten, und goldbraun und rot hoben sie sich gegen Mutters Kleid ab, als sie weinend dastand, und die Stimme seines Vaters war böse und voller Anklage. Billy verstand nicht, was vor sich ging; er rannte zu seiner Mutter, und sie stieß ihn von sich und befahl ihm zu verschwinden, und sein Vater brüllte ihn an und schickte ihn ins Haus zu seiner großen Schwester, die schon das Essen bereitete. Und er fühlte sich schrecklich einsam, als er ins Haus lief und in heiße Tränen ausbrach, und er weinte stundenlang, und noch nach Wochen kamen ihm immer wieder die Tränen, nachdem man ihm gesagt hatte, daß sie fortgegangen war und nie wieder nach Hause kommen würde!!!! Er haßte sie! Er wünschte ihr den Tod. Wie sehr hoffte er, daß ein Lastwagen sie überfahren würde, damit sie sterben mußte, und kein Arzt durfte in der Nähe sein. Er hoffte – Und wieder weinte er vor Kummer und Scham, denn er wollte gar nicht, daß ihr etwas zustieß, er wollte nicht, daß sie starb. Aber warum war sie mit diesem Mann fortgegangen und hatte ihn bei seinem langweiligen Vater zurückgelassen, der nie Zeit für ihn hatte? Denn er hatte sie lieb, Billy hatte sie lieb und wünschte sich nichts sehnlicher, als seinen müden Kopf an ihre Brust zu lehnen, während sie ihm über das windzerzauste Haar strich. Wie gern wäre er zu ihr gerannt, um ihr etwas zu zeigen – einen Frosch, einen Schmetterling, eine Eidechse – die er am Teich gefunden hatte, oder um ihr etwas Neues zu
erzählen, das er in der Schule gelernt hatte, und jetzt war sie weg, und er hatte sie nie wiedergesehen… … obwohl er sie natürlich getroffen hatte, nachdem sein Vater wieder geheiratet hatte. Er hatte Janet geheiratet, damit Billy und Anthea wieder eine Mutter hatten, und damit eine Hausherrin da war, wenn Daddys Arbeit ihn zwang, durch das Land zu reisen. Und da hatte sie ihm noch versprochen, daß sie ihn immer liebhaben würde… … und jetzt war sie hier und rief ihn, als er sich von ihr abwandte: BLEIB, BILLY. WARUM STÖSST DU MICH ZURÜCK? DU DARFST MICH JETZT NICHT VERLASSEN! Wieder füllten sich seine Augen mit Tränen, und blind griff er nach ihren Armen, nach dem Duft ihres Haars, ihrem angenehmen Geruch, versuchte, sie zu umarmen, und Leidenschaft stieg in ihm auf wie eine schäumende Woge, und er griff nach ihren weichen Brüsten, wollte Fleisch in ihrem Fleisch sein – Er wollte sie nicht in ihrer Nacktheit sehen. Er spürte einen scharfen Schmerz, als er sich tief in die Zunge biß. Ekelhafter Gestank erfüllte die Luft. Er hatte einen salzigen Blutgeschmack im Mund. Mit schmerzenden Muskeln lag er ihr zu Füßen und wartete sehnsüchtig auf das Glockensignal. Ihre Musik quälte ihn. Er weinte vor Wut, und dann hörte er die Glocke. Er rannte an dem Astronauten vorbei. Der harte Klang verhallte. Der Eingang war in der Dunkelheit verschwunden. Sie wartete im Gewölbe mit ihrer ganzen Macht und Tücke, und Bill wußte endgültig, daß er ihr nicht entrinnen konnte. Seine Lippen waren gefühllos. »Wer bist du?« MENSCHENWESEN, MUSST DU DAS FRAGEN? Zorn und Tadel lagen in der wunderschönen Stimme. HAT DEINE ART SO SCHNELL IHRE GÖTTER VERGESSEN?
Aus dem Zentrum des Gewölbes brachen Wellen über ihn herein und überfluteten seine Gefühle. Schlaf lähmte seinen Willen und umgab ihn mit seinem warmen, schattigen Netz. Er verließ seinen Körper und schwebte zu jenem Ort des Friedens hinauf. Wo war Hugh? Tief unten sah er den Astronauten stehen. Triumphierend stand er in einem psychischen Raum, den er sich selbst ersonnen hatte. GELIEBTES MENSCHENWESEN, DU MUSST DEINE FURCHT ABLEGEN. ICH BIN ISIS, ASTARTE, SARASVARTI, CERES, DIE MUTTER DEINES VOLKES. KOMM IN MEINE ARME UND LASS DICH NÄHREN, MEIN KIND, MEINE LIEBE. Wieder – schon so schnell? dachte er – erklang die Glocke. Seine geschundenen Muskeln spannten sich. Er entzog sich ihrem Zauber, war frei. Eine Erkenntnis flammte in ihm auf, so umfassend und doch so klar, daß er nicht begreifen konnte, warum sie ihm nicht von Anfang an gekommen war. Dies ist kein Gewölbe, dachte er. Ein Gewölbe ist ein Aufbewahrungsort für etwas unschätzbar Wertvolles. Dies ist ein Kerker. Und natürlich war dieses furchteinflößende fremde Wesen die Gefangene, seit Äonen gebunden und gefesselt durch Kräfte, die menschliches Vorstellungsvermögen überstiegen. Die Abwehrmechanismen jenseits des Gefängnisses, die schrecklichen Verzerrungen der Wirklichkeit, die Maschinen zerstörten und Menschen töteten, waren nur Begleiterscheinungen. Der ursprüngliche Zweck des Gewölbes war ein anderer. Entsetzen mischte sich in seine Schuldgefühle. Es braucht uns, sagte er sich, um seine Fesseln zu verlieren. Um sich zu befreien.
Er hörte Hugh fröhlich lachen. Der Astronaut beruhte seinen Arm. »Wir sind weit gekommen, Bill. Es hat uns so viel zu bieten!« Bill riß sich angewidert los, aber Lapp umklammerte seinen Arm. Über ihm schimmerte ein Lichtschleier. Bill delFord schaute in einen Spiegel und sah sein eigenes aschfahles Gesicht. Hinter ihm flackerten gewaltige Lichtblitze, die äußeren und sichtbaren Zeichen des wunderbaren Computers, in dessen Programmen Hughs Bewußtsein schwebte. In wilder Panik dachte Bill-Hugh: Dies ist nicht die Wirklichkeit. Der verrückte Kerl hat Halluzinationen. Er tanzte auf den Tasten eines kosmischen Terminals. Galaxien kreisten, und zu jeder hatte er beliebigen Zugang. Hundert Milliarden Sterne von Byte-Größe… wir können es simulieren, bot der Computer an. Er stieß eine Flut von Diagrammen aus. Bill kam es vor wie kosmische Pornographie. Parallele Lenden, dachte er und lachte hilflos. Sie mußten sich in der Unendlichkeit treffen. War es der Computer, oder war es die Schlange, die jetzt gebieterisch sagte: Das Leben ist keine Serie von symmetrisch an beiden Seiten angebrachten Lampen. Das Leben ist ein Licht, das uns vom Anfang bis zum Ende aller Dinge umschwebt. Dies ist Poppers Welt Drei, dachte er. Das Universum der Predigten. Die ontologische Realität, in der geistige Objekte existieren. Das entsetzliche Wehklagen der Hupsignale durchschnitt die Luft, bis selbst die Wände des Gewölbes zu beben schienen. Bedingte Reflexe wollten darauf reagieren, aber Hugh-Bill konnte sich nicht bewegen. Ein schwacher Glanz erfüllte die Sphäre. Aus den Augenwinkeln sah er die Umrisse eines Teleportationsgitters aufleuchten, bis seine Querstangen wie poliertes Messing schimmerten. Darin ein herrliches Farbenspiel: violett, blau, grün, gelb. Goldene Strahlen gingen
in klares Weiß über. Was jenseits des Gitters lag, war so seltsam, daß er es nicht begreifen konnte. Dort standen Maschinen, von denen ein Leuchten ausging, und Dinge, die zu fremd waren, als daß er sie hätte benennen können. Die Stimme des fremden Wesens sprach in scharfem Befehlston. Es war die Stimme seiner Mutter. Dies alles geschieht nicht wirklich, sagte sich Bill wieder. Es ist aus einem Märchenbuch für Kinder. Es ist eine Jungsche Projektion von Archetypen. In seinem Kopf entstand ein Schrei der Wut. Durch die Lichtexplosionen vor seinen Augen sah Bill, daß ein Zentaur die Sphäre betrat. Leicht und majestätisch schritt er über die unterste Querstange hinweg, und seine Hufe klangen melodisch auf dem Metallboden. Eine Welle charismatischer Kraft ging von dem Wesen aus. Der Anblick ließ Bill in Verwunderung erstarren. Symbole, nur Symbole. DAS TRÄUMEN IST ZU ENDE, ULURU, sagte der Zentaur. DIE SCHLACHT IM HIMMEL IST VORÜBER. Wild flackernd blitzten Lichter auf wie Neonreklame, eine elektrische Täuschung. Durch sie hindurch richtete sich die Schlange hoch auf und stieß wieder nach unten, und ihre goldenen Federn kräuselten sich im Winterwind. Graziös schritt der Zentaur durch das Gitter zurück und berührte einige Knöpfe an den Maschinen. Eine Kuppel von absolutem Schwarz senkte sich über das widerliche Ding, das im Zentrum der Sphäre kauerte. Das Gewölbe wurde von unerträglichen Schwingungen erschüttert. Die Kuppel hob sich, schwarz wie lackiertes Ebenholz, und verschwand schwerelos durch das Gitter. Der Zentaur verhielt und schaute auf die Menschenwesen herab. Bill empfand nicht die geringste Angst; er bewunderte die Stärke und Güte, mit der der Zentaur ihn ansah. Als dieser die riesigen Hände ausstreckte, nahm Bill sie erstaunt. Sein
Griff war fest, und Bill spürte die väterliche Liebe, die von der Kreatur ausging. EURE TODESFURCHT SELBST BESEITIGT DIESE FURCHT, sagte der Zentaur mit der Stimme seines Vaters. Aber sein Vater war tot. WARUM DANN DIES VERBOT? WARUM SOLLT IHR NUR EHRFURCHT ZEIGEN, DIE IHR AN IHN GLAUBT? UND WARUM HÄLT ER EUCH KLEIN UND GERING? ER WEISS, DASS AN DEM TAGE, DA IHR DAVON ESST, DIE JETZT NOCH TRÜBEN AUGEN, DIE NUR KLAR ERSCHEINEN, WEIT SICH ÖFFNEN, UND IHR WERDET SEIN WIE GÖTTER, DIE WIE SIE DAS GUTE UND DAS BÖSE KENNEN. Es ist die Wanambi, dachte Bill erstaunt. Dies ist die Wanambi. Zu einem Gott verklärt, der Miltons Worte äußert. Er schaute zu dem Astronauten hinüber. Reflektiertes Licht huschte über Hughs Gesicht und spiegelte sich in seinen Augen. DASS IHR WIE GÖTTER SEIN WERDET, IST NUR ANGEMESSEN, sagte der Computer. WENN IHR STERBT, WERDET IHR DAS MENSCHLICHE ABLEGEN UND GÖTTLICH WERDEN. SO IST DER TOD NUR WÜNSCHENSWERT UND NICHT BEDROHLICH, DENN KANN ER SCHLIMMERES BRINGEN? UND WAS SIND GÖTTER, DASS DER MENSCH NICHT WERDEN KANN WIE SIE? Er begriff, daß der Zentaur ihm die Vorteile des Todes erklärte. Aber man gibt so viel auf, dachte er voll Bitterkeit. Wie eine Lichtwolke hing Bill über seinem erschöpften Körper. Hugh Lapp hatte wie er seinen Körper verlassen, und dieser Körper lag in der Dunkelheit neben ihm. Sie waren allein, wie sie von Anfang an allein gewesen waren. Es war nicht nötig gewesen, der Sphäre des Gewölbes zu entkommen,
denn sie waren nie in ihr gewesen. Es gab keinen Zentauren, keine Schlange, keinen wunderbaren fremden Computer; es hatte sie nie gegeben. Der gewaltige Bogen des Gewölbes ragte wie ein Felshang empor und ließ den Tunnel und die Gasbeleuchtung im Schatten versinken. Wir glaubten, wir seien im Gewölbe, sagte sich Bill und dachte mit einiger Belustigung an die Metaphern, die er aus seinem eigenen Unterbewußtsein gezogen hatte. In Wirklichkeit war das Gewölbe in uns. Jetzt endlich waren die kindischen Symbole dieser Halluzination verschwunden. Er fing sich wieder. Das ist nicht fair, alter Junge. Wie immer wollte der Intellekt das als unbedeutend abtun, was viel tiefer und fester verwurzelt war als der Intellekt. Das Gewölbe hatte sich in seinem Bewußtsein in bedeutungsschweren und großartigen Symbolen dargestellt, wenn er in ihm auch gekämpft hatte wie eine Forelle, wenn sie die Stromschnellen zu überwinden sucht. Jetzt aber ließ er sein Bewußtsein ganz leicht über die Oberfläche jener symbolischen Kommunikation hinwegstreichen, um ihren Gehalt zu erfassen, ohne seine eigene beschränkte Interpretation allzu brutal geltend zu machen. Eine phallische Schlange? Aber die Schlange war auch die Nährmutter gewesen, verführerisch und schön. Wenn die Wesenhaftigkeit des Gewölbes Miltons Worte aus dem Verlorenen Paradies entlehnt hatte, wenn sie Adams Versuchung durch den Satan entlehnt hatte, wollte sie mit dieser Anspielung nicht nur etwas Einfaches mitteilen. Denn auch der Zentaur hatte zu ihnen gesprochen, war eingeschritten, um Bill und Hugh allegorisch vor der archetypischen bösen Mutter zu beschützen, die jedes Kind aus Alpträumen und Märchen kennt und fürchtet. Die gottlose Hexe ist tot… Und doch war der Zentaur (und Kindheitserinnerungen steigen in Bill auf, und er erinnerte sich daran, wie er am
winterlichen Feuer in einer dicken, blau eingebundenen Homerausgabe las und dabei die Katze streichelte, die sich schnurrend streckte) ebensosehr ein altes, mächtiges Symbol für die Bestie im Menschen, für die Verschmelzung animalischer Kraft mit hohem Intellekt. Warum hatte er dann den Zentauren als seinen Beschützer gewählt? Bill grübelte, aber er begriff nicht. Im Geiste zuckte er die Achseln… und plötzlich kam ihm von der im Gewölbe waltenden Intelligenz die Erkenntnis. Chiron, erinnerte sie ihn, war ein Zentaur, und von den nach Kräutern duftenden Händen Chirons waren die Geheimnisse der Medizin vor Urzeiten in den Besitz der Menschheit gelangt. Jäger und Prophet, war Chiron doch vor allem die Quelle der Heilkunst gewesen, Lehrer des Vaters der Medizin, Lehrer des Äskulap selbst. Kein Wunder, dachte Bill und freute sich an seiner Eitelkeit und seiner Sentimentalität, daß das Bewußtsein des Gewölbes dieses verlorene Bild in seiner Seele gefunden hatte, damit es Gestalt werde, um die erschreckende Mehrdeutigkeit seiner eigenen komplexen Realität zu mildern. Bill erkannte, daß er jetzt über die nötigen Parabeln hinaus jeden Zwang zur Dialektik enthoben war. Von seinem Körper gelöst, der Larve seines Fleisches fast ledig, schwebte er hoch oben, und sein Verständnis der menschlichen Situation erweiterte sich schlagartig. Unter sich ausgebreitet sah er die ganze Welt mit ihren vielen Millionen unterernährter Kinder, ihren Hospitälern und Blumengärten, ihren Giften und ihren Weizenfeldern, die golden unter der Sonne heranreiften, die unter Beton verborgenen Raketen, die sich wie gefährliche Haie bewegten, ihre wissenschaftlichen Errungenschaften und deren Pervertierungen. Er sah die Wunderwerke der Kunst, die Berührung einer zärtlichen Hand und die brutale
Vergewaltigung, den fröhlichen, hysterischen Mord, den ungeheuren Mangel an Wissen, die Isolierung… »Natürlich«, sagte er und hatte plötzlich begriffen. »Ich verstehe.« Und doch wußte er, und seine Kehle zog sich zusammen, daß Selma und Ben und Anne traurig sein würden. Konnte er denen, die ihn am meisten und aufrichtigsten liebten, solchen Schmerz zufügen? Und ohne Übergang war er zu Hause über dem zerwühlten Bett, in dem Selma schlief. Die Digitaluhr zeigte, daß es noch eine Stunde bis Mitternacht war. Ohne sich zu bewegen, nahm sie seine Anwesenheit wahr. Billy, sagte sie, du hättest vorher anrufen sollen. Dann hätte ich – Sie nahm seine Hand, löste sich aus ihrem Körper und kam in seine Arme und legte ihren Kopf an seine Brust. Muß es denn sein, Billy? Wir werden um dich weinen. Er sagte ihr: Dies ist ein Traum, der dich trösten soll. Du wirst dich an ihn erinnern. Bald werden wir wieder vereint sein. Sie schnaufte verächtlich, wie sie es immer tat, wenn von Medien, Spiritisten und Priestern die Rede war; sie hatte Tränen in den Augen. Er hatte angenommen, daß sie geschmeidig und in der jugendlichen Schönheit der ersten Ehejahre aus ihrem Körper steigen würde. Aber ihre füllige Figur hatte sich nicht verändert, und alle Falten, die aus Erfahrung, Leid und Lachen entstanden waren, blieben in ihrem Gesicht. Du bist so wunderbar ausgeglichen, Selma, sagte er ihr voll ehrlicher Bewunderung. Ich liebe dich so sehr. Hand in Hand erreichten sie das Zimmer des Jungen und schauten auf sein unfertiges Gesicht herab. Man ahnte bei ihm schon die ersten Anfänge, die ersten Sehnsüchte, und man erkannte schon eine Andeutung von Kraft und Ausdauer und Freude. Ich werde euch beide im Auge behalten, sagte Bill. Zärtlich küßte er Selma, und dann, als er sich zum Gehen wandte, kniff er augenzwinkernd in ihr dickes Hinterteil.
Noch schwebend konzentrierte er sich auf seinen Herzschlag, auf Vorhöfe und Kammern, das Erschlaffen in der Diastole und die wilde Kontraktion in der Systole, die gestreiften Muskeln, das Zusammenspiel von Actin und Muskeleiweiß, das Ruhepotential der Membran von vierundachtzig Millivolt und das umgekehrte Potential von hundertdrei Millivolt. Er beobachtete die zweifache Zellfusion und die Impulse, die über das Arterien-Venen-Bündel liefen. Er wartete auf die Depolarisation und sah, wie die Kalziumionen sich durch die Herzmembran nach innen verteilten und wie ihre Durchlässigkeit für Potassiumionen geringer wurde. Das entleerte Gewebe außerhalb der Menbran nahm gierig das Kalzium aus der Zellflüssigkeit auf. Er machte eine Handbewegung, um die Ionen zu verscheuchen. Die Potassiumleitwerte fielen rapide ab. Die Herzdynamik ließ nach, schwankte, hörte auf. Er starb.
15. Das Gewölbe
Als er in den Tod abgleitet, ist es wie das Rauschen eines großen Windes, aber die heißen Böen packen ihn von hinten und ziehen seinen Atem in ihr Vakuum hinein, ein erbarmungsloser Wind, wie der tödliche Feuersturm einer brennenden Stadt, der die Menschen ersticken läßt, streckt er ihn nieder und macht all seine Vorbereitungen und Erwartungen zunichte; während ihm lautlos der Atem entrissen wird, schwebt er in zeitlosem Staunen, bis er sich daran erinnert, daß er nicht der tote Mann ist, nicht Bill delFord, sondern, wie immer, nur Maus, der die Stimme der vielen liebenden und der zahllosen Toten kennt, Maus, der uneheliche Sohn der lichtverschleierten Eleanor mit ihren Fieberphantasien, mit der Stimme des toten Mannes, der sich jetzt vom Kern seiner Existenz löst und ihm im Traum sagt, mein Sohn, du wirst bald aufwachen, dich anziehen, ohne deinen Onkel zu wecken, und in das Gewölbe kommen, und er nickt im Schlaf und weiß, daß die Wachen ihn nicht hindern, nicht einmal sehen werden; er wacht auf und starrt in die Dunkelheit und hört Alf in seinem Bett schnarchen, hört das leise Zischen der Klimaanlage aber keine Stimme, und der Tote wartet stumm und voll Zuversicht, als er sich die Augen reibt, die Decke zurückschlägt, seine Kleidung holt, sich anzieht aber die Schuhe stehenläßt. Dann schleicht er auf Zehenspitzen zur Tür, sieht niemanden im Korridor und geht auf Umwegen durch den ganzen Komplex zum Haupttunnel, der zum Gewölbe hinabführt. Und die Stimme, die er im Traum hörte, hat recht, denn trotz der drei Schichten, in denen am Projekt gearbeitet wird, bewegt er sich allein durch die
Stille, und er sieht keinen Angehörigen des wissenschaftlichen oder militärischen Personals, das sonst ohne Rücksicht auf die Uhrzeit die Gänge bevölkert. Dennoch wirft er sich am Ende des Tunnels auf den Bauch, schaut vorsichtig um die Ecke und sieht die beiden Wachen, die sich gegen die Kacheln lehnen und sich auf russisch unterhalten. Und jetzt geschieht etwas Ungewöhnliches: einer der Männer greift sich mitten im Satz an den Magen, sackt langsam zusammen und fällt der Länge nach zu Boden, während der andere einen Augenblick entsetzt stehenbleibt, dann niederkniet und erregt auf seinen Kameraden einredet, ihm das eine Augenlid hochschiebt, seinen Puls fühlt, sich wieder aufrichtet, nervös zur Alarmglocke für den äußersten Notfall hinübersieht und kurz entschlossen den Tunnel hinaufrennt. Maus bleibt das Herz stehen, als der Mann um die Ecke saust und zu den Aufenthaltsräumen für das Militärpersonal hinüberrennt, als ob er Maus gar nicht gesehen hätte, der hinter der Ecke kauert, jetzt aber aufspringt und die letzten Meter zur Hitzebarriere im Sprint zurücklegt. Der Wind fährt ihm ins Haar, und seine Hemdenschöße flattern, und mitten im Raum sieht er die riesige weiße Kugel, die er schon kennt und die aussieht wie das unausgebrütete Ei eines gigantischen Reptils. Hinter sich hört er die wütenden Schreie der Männer, sieht den Arzt und die Männer in den grauen Uniformen zu dem am Boden liegenden Mann eilen. Und auch sie sehen ihn, wie er sich über den Rand schwingt und in die Todeszone des Gewölbes hinunterspringt. »Sergeant, da ist das Kind wieder! Oh, mein Gott, er geht in die Zone! Wir müssen den verrückten kleinen Kerl rausholen, bevor – « »Das Kind? Aber der Junge ist doch oben.«
»Hör zu, Ramon, ich bin ja nicht blind. Mir ist es scheißegal, wo er sein müßte, aber eben ist er über den Rand in das verdammte Gewölbe gesprungen.« »Ich habe ihn auch gesehen, Sergeant.« Das Geräusch von Schritten. »Mein Gott, er lebt noch. Er steht da unten. Heh, du verdammter Bengel, komm sofort zurück! Herrick, hilf mir mit der Leiter.« »Er kann nicht mehr leben. Er ist schon einmal im Gewölbe gewesen. Das Gewölbe tötet jeden, der ein zweites Mal hineingeht.« Du bist ein guter Junge, Maus, sagt der Tote zu ihm, und seine Freundinnen Helen und Annie stehen hinter Bill und nicken ihm ermutigend zu; warte noch ein wenig, sagt Bill, bis sie die Strickleiter gebracht haben, und dann kannst du wieder ins Bett gehen. »Mir kommt er nicht sehr tot vor«, sagte eine der Wachen auf russisch. »Ich sage dir, Titow, der Junge ist unheimlich. Er ist ein Zombie. Soviel ich gehört habe, hätten die Amerikaner seinetwegen fast auf den großen Knopf gedrückt.« »Du redest nur Scheiße, Leonow. Wo hast du das gehört? Er ist doch noch ein Baby. Oder hast du einen heißen Draht zu dem alten Sewastyianow?« Brüllendes Gelächter. Behend steigt Maus auf den Geröllhaufen, ergreift die Strickleiter und klettert zum Tunnel hoch. »Alles in Ordnung, Junge? Was, zum Teufel – Hier, gib mir dein Handgelenk. Hmm, Puls ein wenig beschleunigt. Wahrscheinlich von der Anstrengung. Okay, Sergeant Ramon, ins Lazarett mit ihm.« »Heh, Leonow, wenn du schon alles weißt, warum, verdammt, spielen wir dann immer noch mit der Strickleiter?« »Hast du denn gar keine Ahnung, Titow? Ach nein, du bist ja erst gekommen, als wir Helden der Arbeit den Tunnel schon gegraben hatten. Nun, Kamerad, zuerst haben sie es mit einer
Aluminiumtreppe versucht. Funktionierte nicht! Zuviel Gift in der Luft. Plastikstufen. Ein Reinfall! Ich sage dir, der Ort ist unheimlich, das Kind ist unheimlich, die ganze – « Maus versinkt in tiefe Bewußtlosigkeit, steigt in das strahlende Licht empor und ist ihren Worten weit entrückt. Irgendwann kommt Helen und führt ihn aus seinem Körper heraus zu dem Raum, in dem sein Onkel dem amerikanischen General am Schreibtisch gegenübersitzt. Joseph Ahearn Sawyer sieht alt und müde aus. Er kommt um den Tisch herum und setzt sich neben Alf. In der Hand hält er ein zerfleddertes Buch. »General, Sie wissen verdammt gut, daß es gegen meinen ausdrücklichen Wunsch geschah. Welchen Nutzen sollte seine Anwesenheit haben? Das Ganze ist unmoralisch und wahrscheinlich illegal. Gestern haben Sie zwei hervorragende Männer umgebracht, Sawyer, und jetzt wollen Sie einen vierzehnjährigen Jungen einer psychischen Belastung aussetzen, die ein Heranwachsender nicht – « »Der Junge ist eine lebende Bombe!« Sawyer läßt die Worte einen Augenblick im Raum schweben. »Für Sie, Alf, ist die Angelegenheit natürlich eine persönliche Tragödie. Ich verstehe Sie vollkommen und wäre enttäuscht, wenn Sie anders reagiert hätten. Alf, ich bin selbst Vater und Großvater. Ich weiß, wie Sie leiden.« »Dann schicken Sie uns doch wieder nach – oben. Um Gottes willen, General, schicken Sie Maus nach Hause. Ich bin bereit, hierzubleiben, wenn es nötig – « »Alf«, sagt der General ruhig, »Sie verstehen immer noch nicht. Im Augenblick ist der Junge genauso wichtig wie das Gewölbe der Fremden. Als er das Dokument produzierte, dieses Tagebuch des Russen Kukuschkin, hätte er fast einen nuklearen Holocaust ausgelöst.« »Das glaube ich nicht«, sagt Alf. »Sie haben Geheimagenten und die anderen auch. Sie haben Experimente mit Viren
angestellt, die mindestens so grauenhafte Auswirkungen gezeigt haben wie das 17-Tg-M.« »Die Dinge stehen auf des Messers Schneide«, sagt der General. Er geht an den Perkolator und schenkt dampfenden Kaffee in zwei Porzellantassen. »Die nukleare Abschreckung ist im Begriff, sich mit Kettenpanzer und Burgwall zu verbinden. Die geringste Kleinigkeit kann das Gleichgewicht zerstören. Erinnern Sie sich noch an den FlughundZwischenfall Mitte der siebziger Jahre?« fragt er abrupt. »Der sowjetische Jagdbomber, der in Japan landete?« »Er war in drei Tagen auseinandergenommen. Als unsere eigene Tomcat ins Meer stürzte, kostete es uns ein Vermögen, sie zu heben, bevor die Russen es uns heimzahlen konnten. Wenn Maus damals einem der beiden Blöcke zur Verfügung gestanden hätte, wäre es für die Betreffenden leicht gewesen, alles zu erfahren, ohne das Risiko diplomatischer Verwicklungen einzugehen. Man hätte ihn nur fragen müssen.« Der Anthropologe erstarrt vor Schreck. Langsam läuft sein Kaffee in die Untertasse. »Mein Gott!« sagt er. »Sie wollen ihn als Spion einsetzen. Etwas Besseres fällt Ihnen nicht ein?« »Nein!« Sawyers linke Hand schlägt krachend auf die Tischplatte. »Ich will um jeden Preis verhindern, daß er jemals als Spion eingesetzt wird. Wir sind noch nicht reif, alle dreckigen kleinen Geheimnisse dieser Welt zu erfahren. Obligatorische Ehrlichkeit ist eine der Tugenden, die von der Welt nicht toleriert werden. Kein Stein bleibt auf dem andern, und wir säen Salz auf unseren Äckern…« Zwischen zusammengebissenen Zähnen atmet er tief ein. »Alf, die Umstände sind nicht sehr günstig für ein so trauriges Thema wie meinen Seelenzustand, aber was ich zu sagen habe, geht Sie und Maus an und betrifft eine Entscheidung, die ich sehr bald fällen muß.«
Er nimmt das Buch vom Tisch auf. »Alf, sind Sie religiös?« »Ich – äh, man kann mich vielleicht als humanistischen Atheisten bezeichnen –, das heißt, ich bin in keiner Kirche, und auf Formularen lautet meine Eintragung ›konfessionslos‹, aber, wenn man es recht bedenkt, glaube ich an den Gott, der im zyklischen Universum den Urknall veranlaßt hat.« Sawyer lächelte matt. »Mein Sohn, Ihre Theologie ist nicht auf dem laufenden. Sie sollten sich mal mit Fedorenko und seinem Freund Lennox Harrington unterhalten. Die Gluonentheorie hat die Kosmologie ein wenig verändert: die in diesem Jahr gängige Hypothese ist die Theorie der großen Tasche.« Er schlägt das Buch auf. »Alf, diese Bibel hat mir mein Großvater hinterlassen. Mein Vater verachtete den Glauben des alten Mannes. Er hielt es für modern, sich darüber lustig zu machen, und sein Leben war traurig und leer, so traurig und leer wie heute das Leben der Kinder. Kennen Sie die Geschichte von Abraham und Isaak?« Maus schaut zu seinem Onkel hinunter, sieht Alfs Verärgerung und wachsende Angst. »Ich kenne die Mythen der Murinbata und der NgularrngaEingeborenen besser als die der Juden.« Als der General ihn schweigend ansieht, fügt er feindselig hinzu: »Ich habe das Band von Leonard Cohen gehört.« »Haben Sie Nachsicht mit mir, Alf. Im Kapitel zweiundzwanzig Genesis steht geschrieben, daß Gott zu Abraham sagte: ›Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.‹ Sie ritten also mit ein paar Dienern los, bis sie den Fuß des Berges erreichten, und Abraham nahm seinen Sohn mit sich auf den Berg hinauf. ›Sie machten sich auf‹, berichtet uns das Alte Testament, ›und gingen hin an den Ort, davon ihm Gott gesagt hatte – ‹«
»Um Gottes willen, Sawyer«, sagt Alf wütend. »Ich höre mir diesen blutdürstigen, einfältigen Unsinn nicht länger – « »Dr. Dean, haben Sie einen Augenblick Geduld mit mir.« Der General heftet die Augen wieder auf den Text. »›Und Abraham – bauete daselbst einen Altar und legte das Holz darauf, und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz. Und reckte die Hand aus und fassete das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete.‹« Alf springt auf und packt Sawyer am Kragen. »Sie Schwein«, sagt er mit hoher, erregter Stimme. »Sie scheinheiliges Schwein. Eine lebende Bombe? Und Sie haben beschlossen, ihn zu entschärfen? Ihn abzuschalten. An welche Technik hatten Sie denn gedacht? Eine formale Kugel in den Kopf wegen möglichen Verrats? Oder eine saubere kleine Injektion von einem Veterinär?« Der General verliert die Beherrschung; er reißt mit einer heftigen Bewegung die Fäuste hoch, befreit sich aus dem Griff des Wütenden und stößt ihn auf den Stuhl zurück. »Dr. Dean, einmal lasse ich Ihnen Ihr groteskes Verhalten noch durchgehen. Versuchen Sie so etwas noch einmal, landen Sie in Einzelhaft, bevor Sie wissen, wie Ihnen geschieht.« Er beruhigt sich und nimmt auch selbst wieder Platz. »Ich bete zu Gott, daß Maus nicht zu schaden kommen wird und daß wir ihn körperlich und geistig gesund bald wieder nach oben schicken können. Alf, heute morgen um drei Uhr hat Ihr Schutzbefohlener den Raum, in dem Sie beide schliefen, verlassen, ist unentdeckt bis zum Gewölbe gelangt und hat die Zone betreten.« Aus Alfs Gesicht weicht alle Farbe; er sinkt zusammen. »Das Gewölbe? Wollen Sie damit sagen, daß er im Gewölbe ist?« »Nein. Er ist sofort unverletzt wieder herausgekommen. Verstehen Sie, was das bedeutet?« Der General nimmt sein Buch wieder auf. »Auch Isaak wurde im Augenblick der
Prüfung seines Vaters gerettet. Und als alles vorüber war, sagte ein Engel des Herrn zu Abraham: ›Denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest, du hast deines eigenen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.‹ Hören Sie zu, Alf. Gott sagte diesem rechtschaffenen Mann: ›Ich habe bei mir selbst geschworen, dieweil du solches getan hast, und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont. Daß ich deinen Samen segnen und mehren will, wie die Sterne am Himmel.‹ Sehen Sie, Alf? Wie die Sterne am Himmel! ›Und dein Same soll besitzen die Tore deiner Feinde.‹« Ehrfürchtig schließt er das Buch. Alf zitterte heftig und sagt: »Sie wollen Maus also wieder in das Gewölbe schicken. Mein Gott, das wollen Sie wirklich tun? Sie sind verrückt.« Sawyer ist nicht beleidigt. »Alf, wir müssen diese Leichen bergen. Das ist dringend erforderlich. Pathologen stehen bereit, um die Obduktionen vorzunehmen, Neurologen, um die Wirkung des Arg-Enkephalins festzustellen. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß diese Entscheidung mir sehr schwergefallen ist. Jetzt aber weiß ich, daß Gott mir die Antwort gezeigt hat. Er allein gibt das Leben, und Er nimmt es auch wieder, wie es Ihm gefällt.« Sawyers Hand blieb auf dem Buch liegen. »Dies wird vielleicht Seine letzte Prüfung für uns sein, und Er wird unseren Gehorsam gegenüber Seinem göttlichen Willen belohnen, indem er die Nation segnet, deren Söhne tun, was Er gebietet.« Maus schwebt und sieht, daß sein Onkel sich nach vorn lehnt, daß er die Muskeln anspannt, erkennt am Flackern seiner Aura, welche unerträglichen Qualen der Mann leidet. »Sie wollen das Kind umbringen, weil Sie seinen Tod wünschen. Sie haben Angst vor ihm, und Ihre scheinheiligen Redensarten dienen Ihnen nur als Alibi. Sie tun es nicht auf Geheiß Gottes. Ich weiß nicht«, sagt er, und mit zitternden Händen umklammert er die Stuhllehne, »ob selbst ein Befehl
Gottes den Mord an einem Kind rechtfertigen würde. Außerdem tun Sie es aus eigennützigen Gründen. Aus Patriotismus, Machtstreben und Habgier. So haben alte Männer schon immer gehandelt. In Ihrem Todesverlangen schicken Sie Ihre Söhne zum Sterben in die Kriege, die sie in Ihrer Arglist und Unersättlichkeit angezettelt haben – « Er ist der Hysterie nahe. »Ist es nicht Zeit aufzuhören, während wir immer noch Teil der menschlichen Geschichte sind? Verstehen Sie denn nicht, daß das Ding dort unten das Tor zu etwas Größerem ist als zu Ihrem blutgierigen Gott?« »Das ist genug.« Bleich vor Wut steht der General auf. »Ich werde mir Ihre kindischen Gotteslästerungen nicht länger anhören. Sie machen mich krank. Sie repräsentieren alles Niedrige und Gemeine in dieser zerfallenden Kultur.« Er brüllt nach seinem Adjutanten. »Schaffen Sie mir diesen schwarzen Hundesohn aus den Augen!« Er schaut auf die Uhr an der Wand. »Und informieren Sie die Techniker. Der Junge geht heute mittag in das Gewölbe. Sie haben neunzig Minuten Zeit, ihre Instrumente vorzubereiten.« Siehst du, sagen die Toten zu Maus, es ist immer dasselbe: wer liebt kommt immer zu spät und ist zu schwach. Die Macht gehört den Blinden und Tauben; und dieses Urteil ist nicht in diesem Augenblick entstanden, sondern gilt für die ganze Geschichte einer lebenden Art, so daß du jetzt weißt, wer du bist und was du zu tun hast: Ja, sagt Maus und sinkt noch einmal in die Grenzen der Sterblichkeit zurück, geht wieder in seinen Körper ein, und, als er die Augen öffnet, sieht er die trübe Beleuchtung des Krankenzimmers, empfindet er die Wut seiner Gereiftheit wie das Rauschen eines Sturms in seiner Brust, und die schlafenden Funken seines Bewußtseins steigen aus der Asche von Millionen Jahren wartender Menschheit, und der heiße Hauch des plötzlichen hellen Aufflackerns trifft
ihn, und er schreit aus den Tiefen seiner Identität: »Es ist der Anfang!« Er steht aus dem Bett auf und geht unbemerkt vom medizinischen Personal und den Soldaten durch die Korridore. Er geht an den Technikern vorbei, die sich fluchend mit ihren Apparaten beschäftigen, und betritt das Büro des Generals. »Kommen Sie mit«, sagt er zu dem erstaunten Mann und wendet sich wortlos ab, um seinen Onkel zu suchen. »Alf, wir gehen in das Gewölbe«, erklärt er dem Kranken und hilft ihm auf die Füße. Eine Kraft, die von ihm ausgeht, zwingt sie, ihm ohne Protest zu folgen, wie Herbstblätter, die zum Wechsel der Jahreszeiten gehorsam fallen. Sawyer entblößt die Zähne und reißt weit die Augen auf. Alf ist vor Schreck gelähmt, und sie gehen den steilen Abhang zu der unsichtbaren Wand aus Feuer hinunter und durch sie hindurch bis an den Rand der Höhle. »Folgt mir«, sagt der junge Mann, »der Seelenkern wird euch nichts tun.« Sie betreten die zehn Lichtkreise, die den Ort der Ruhe bewachen. »Man kann sich den Realitäten der Metaphysik nur annähern«, erklärt Maus, »durch das Mittel der Symbole. Hier ist das Reich der Menschheit, das Tribunal der Toten und der Lebenden, das Bild eures Erbes von den frühesten Wilden, die sich das Feuer und den Stein nutzbar machten und aus ihrer Verzweiflung das erste Flackern eines Bewußtseins projizierten.« Von tiefrotem Jaspis schreiten sie zum Hyazinth vor, dem orangefarbenen Leichentuch des Mondes, der sich in den Schatten der Welt hineinbewegt. »Dies ist das Reich der Engel, die vor der Menschheit kamen und Exil leiden mußten. Pi-Ioh herrscht über sie. Ihr seid von ihrem Samen, obwohl sie eure Welt vor der zweiten Wiederkehr des Bewußtseins aufgaben. Ihr habt ihre Station
auf dem Mond gefunden, von wo sie zu den Sternen aufgebrochen sind.« Am dritten Kreis lief ein Schein von Topas über ihre Gesichter. »Hier sind die Erzengel, die Hüter des genetischen Fortschritts zur Einsicht und zur Erinnerung; sie werden von Thoth, Pi-Hermes beherrscht.« Ein Zittern schöpferischer Kraft kommt ihnen aus dem hellen Sardonyx entgegen. »Surth befehligt die Herrschergewalten, die die Sonnenenergie in lebenden Zellen einfangen und Sauerstoff entstehen lassen, der alles Bewußtsein erst ermöglicht.« Im Gold des Chrysoliths finden sie die Sonne selbst, die den leichten Hauch des Raumes mit der kreischenden, sich verdichtenden Materie verschmelzen läßt. »Hier ist höchste Schönheit, hier liegen die großen Tugenden, deren Herrscher Pi-Rhe ist.« Abwehrend heben sie die Hände gegen den anschwellenden Glanz, das grüngoldene Strahlen des Chrysopras. »Im sechsten Kreis herrscht die Gerechtigkeit, herrschen jene edlen Kräfte, die ihre Knie vor Ertosi beugen, der das Schwert führt.« Jetzt ist das Licht von reinstem Smaragd. Geist und Materie zu einem Leben vereint, das sich seiner bewußt ist. »Das wahre Wissen ist die Liebe«, sagt Maus. »Pi-Zeus ist der Vater des Lebens, und alle Herrschaft ist ihm Untertan.« Sawyer sinkt auf die Knie im strahlenden Glanz des Berylls. Er greift sich an das Herz. Der Junge hebt ihn auf und führt ihn durch den achten Kreis. »Die Toten kommen durch das Mysterium der Zeit in das Zentrum der Realität zurück. Dies sind die Throne Remphas, des Herrn der Dimensionen jenseits des Raumes.«
Im neunten Kreis stehen sie im versengenden Glanz des Saphirs, in den gleißenden Strahlen des Sterns Kanopus. »Wir nähern uns unserem Ziel. Hier liegt ein tiefes Geheimnis, die innersten archetypischen Ideen des Bewußtseins der Welt. Sie sind die Cherubim mit Lichtspeeren in den Händen, von Intelligenz begleitet.« »Maus, bitte, nein«, fleht Alf und schlägt sich die Hände vor die Augen, und: »Ich – kann nicht mehr!« kreischt Sawyer. »Der zehnte Kreis«, sagt der junge Mann unerbittlich und stößt sie vorwärts in das Violett, das unbegreifliche Ultraviolett des Amethysts, »ist das Reich der Seraphim, der Schleier der Ewigkeit, die Wolke des Nichtwissens, der Rand des expandierenden Universums, wo Tau unendlich wird.« Sie schreien im unerträglichen kosmischen Glanz und taumeln durch den zehnten Kreis. Dunkelheit umfängt sie. Die harten Röntgenstrahlen an der Peripherie dieser universalen Einzigartigkeit haben ihnen nicht das Fleisch von den Knochen geschält. Tränen fließen über ihre feuchten Wangen und nehmen ihnen die langsam wiedergekehrte Sicht. Über ihnen, gewaltig und dauerhaft, hängt der weiße Bogen der zentralen Sphäre des Gewölbes. Mit hallender Stimme und der Miene eines Druiden sagt Hieronymus Dean den beiden Erwachsenen: »Neigt eure Häupter. Ihr steht vor dem Tabernakel.« Und der Tote brüllt stumm vor lachen; mein Gott, Maus, sagt er vorwurfsvoll, nimm die Bässe ein wenig zurück, sonst erlebt Sawyer eine psychotische Episode; und leih mir einen Augenblick deinen Kehlkopf. Maus gibt seinen Körper wieder frei, und als er spricht, hat er ganz genau Bill delFords Tonfall angenommen. »Sie müssen dem Jungen verzeihen, Gentlemen; er hat soeben die Freuden und Exzesse wagnerianischer Jugendfrische entdeckt, und das ist ihm zu Kopf gestiegen.«
Der General taumelt zurück und macht mit der rechten Hand das Zeichen des Kreuzes. Alf schwankt nur und schließt langsam die Augen. »Um Christi willen«, sagt Bills Stimme zornig aus dem Mund des Jungen, »ist da jemand? Wenn ja, einmal klopfen, wenn nein, zweimal.« »Du nennst Seinen Namen?« kreischt Sawyer. »Schändliche, unreine Kreatur.« Er torkelt in eine transparente, aufgeladene Schranke. In einer Parodie der Angst richten sich seine schütteren Haare auf. »Wenn Sie es vorziehen, mit dem Mann persönlich zu reden«, sagt Bills Stimme mit ätzender Verachtung, »könnte ich das arrangieren, aber wir müssen die Unterhaltung durch ein Übersetzungsgerät laufen lassen, wenn Sie nicht fließend aramäisch sprechen.« »Antichrist!« »Reißen Sie sich zusammen, Mann, oder ich lasse Sie auseinandernehmen nach den Vorschriften über Pfuscherei bei der Konstruktion aus dem Jahre 4004 vor der Zeitrechnung. Du meine Güte, Hugh, er hatte recht mit seinen schlechten Nerven bei Kampfhandlungen – er hat sich schon wieder in die Hose geschissen. Sawyer, Sie haben Glück, daß wir ein rogerianischer, emphatischer, vorurteilsfreier Gott sind. Obwohl ich gestehen muß, daß sich mein Fundus einer Wertschätzung Ihrer Person allmählich erschöpft.« »Maus«, sagt Alf und packt den jungen Mann an seinen breiten Schultern, »hör auf damit, hör sofort auf. Das ist der reinste Sadismus.« Maus hält seinem anklagenden, ängstlichen Blick ruhig stand. Mit seiner eigenen Stimme sagte er mitten aus seiner neugewonnenen Identität heraus: »Es tut mir leid, du hast recht. Ich war mir über ihre Kräfte nicht klar. Du mußt wissen, daß sie erst seit ein paar Stunden tot sind. In vieler Hinsicht
sind sie weiser als ich, aber sie sind wie Männer, die zum ersten Mal betrunken sind.« Er kniet neben dem General nieder, der zusammengekrümmt in seinem eigenen Dreck liegt und vier Finger seiner rechten Hand in den Mund gesteckt hat. »Ich bin nicht der Antichrist, Joseph. Stehen Sie auf. Ich habe nicht die Absicht, Sie noch weiter zu bestrafen. Glauben Sie mir, General, es tut mir leid, daß wir Sie gedemütigt haben.« Mit einem freundlichen Lächeln fügt er hinzu: »Ich bin nur ein Mensch.« »Ich wünschte, ich könnte das glauben, Maus«, sagt Alf. Er hilft Sawyer, der schwankend wieder auf die Beine kommt. »Warum hast du uns an diesen schrecklichen Ort gebracht?« »Das werde ich dir zeigen.« Maus berührt die rosagrauen Windungen ihrer Gehirne und umgeht die Empfindung mit einem komplizierten Strahlungsimpuls von niedriger Frequenz. Sie stehen scheinbar unter dem hellen Dunstschleier eines Mittags in den Tropen, und heiße Sümpfe dehnen sich vor ihnen aus. Ein Geräusch ist zu hören; ein großes Reptil mit Rückenflossen, einem langen Schwanz und schmalen Schultern, aber von der Größe eines Löwen, zerrt an einem noch um sich schlagenden Tier, das es eben aus dem lauwarmen Wasser gezogen hat. Irgendwie wissen sie, daß sie in Zeit und Raum versetzt sind, daß die Äquatorsonne nicht über einem entfernten Planeten scheint, sondern über dem südwestlichen Amerika, wie es vor zweihundertsiebzig Millionen Jahren aussah. Blut strömt aus der offenen Seite des massigen Diadectes; er stirbt klaglos, als sich das flossenbewehrte Dimetrodon über sein Fleisch hermacht. »Dies ist die Erde im Perm-Zeitalter«, sagt Maus und rückt ihr Wissen zurecht. »Alle Kontinente sind in einer einzigen gigantischen Ökologie miteinander verbunden. Indien, das südliche Afrika, die Antarktis und Australien sind von Gletschern bedeckt, während in Westeuropa und Amerika das
Leben blüht. Die halbe Welt ist in Eis erstarrt und ohne Leben, denn diese Reptile nehmen ihre Wärme von der Sonne. In den langen Nächten der Gletscherbreiten können nur die kleinsten von ihnen tief im Schlamm verborgen im Winterschlaf überleben. Aber zwanzig Millionen Jahre später – « Der Schnee schmilzt zu schmutzigem Matsch, und die Eiskristalle klirren, als der Wind sie aus dem niedrigen Gesträuch bricht. Sie drängen sich vor Kälte zusammen, und die reflektierten Lichtstrahlen dringen ihnen in die Augen. Eine kleine behaarte Kreatur huscht über den Schnee, mehr Säugetier als Reptil. »Die Therapsiden haben eine Endothermie entwickelt«, erklärt Maus. »Es gibt noch keine Säugetiere auf der Erde, aber diese Reptilien haben sich in einer genetischen Explosion entwickelt und die Vorherrschaft der Warmblüter eingeleitet.« »Bring uns zurück!« schreit Sawyer. »Ich glaube nicht – Was machst du mit mir?« »Ich zeige Ihnen die historische Entwicklung des Bewußtseins«, sagt der junge Mann ernst. »Es besteht kein Grund zur Aufregung; wir sind vor den Tieren sicher. Dies ist eine – nennen wir es eine Rekonstruktion.« Für einen Augenblick sind sie wieder in der Höhlung des Gewölbes, und der weite Bogen der Sphäre hängt über ihnen. Dann scheinen sie im feinen weißen Sand eines Seeufers im Jura zu stehen. Sanft bewegt sich das blaue Meer; die langen Hälse der Plesiosaurier heben sich anmutig aus dem Wasser und stoßen dann wieder hinab, um an den seichten Stellen Fische zu erbeuten. »Wir haben uns fast hundert Millionen Jahre weiterbewegt«, sagt Maus. »Das Polareis ist erheblich zusammengeschmolzen. Auf der ganzen Welt herrscht mildes Klima. Es wird Äonen dauern, bis ein solches Paradies wiederkehrt. Jetzt beherrschen wahrhaft die Dinosaurier die Welt, obwohl auch die ersten
Säugetiere sich schon ihren bescheidenen Platz in der Ökologie erobert haben.« Wieder sehen sie Schnee vor sich, diesmal unter dem Purpurhimmel eines südlichen Frühlings. Im Hintergrund türmt sich das Eis hoch in den Himmel auf, aber zu ihren Füßen zeigt die dünne Schneeschicht die Spuren großer Reptile. »Nun, da der Durchbruch zur Endothermie sich konsolidiert hat, wird die Erde von den Abkömmlingen der frühen warmblütigen Therapsiden und Thecodonten gründlich bevölkert.« »Maus«, sagt Alf ungläubig, »willst du behaupten, daß die Dinosaurier keine Kaltblüter waren? Warum starben sie dann aus, als die Gletscher zurückkamen?« »Das war nicht der Grund«, sagt Maus. »Zwischen Kreide und Känozoikum sank die Meerestemperatur nur geringfügig. Der Unterschied konnte den Dinosauriern nichts anhaben, weil die meisten von ihnen eine homeostatische Temperaturregelung besaßen.« Wieder berührt er ihre Gehirne; ihr Bewußtsein erweitert sich schlagartig. Sie begreifen jetzt, daß die ektothermischen Tiere diejenigen sind, deren Stoffwechselstabilität sowohl von den Launen der Witterung als auch von der aus der Nahrung gewonnenen Energie abhängt. Mit dem genetischen Sprung zur »Warmblütigkeit« wird diese völlige Witterungsabhängigkeit durch eine hohe Eigensteuerung des Stoffwechsels ersetzt. Die chemische Zellaktivität steigt um das Vierfache; Herz, Lungen und Muskeln erlangen eine weit höhere Ausdauer. Das ging zu lasten der Ökologie – Endotherme sind notwendigerweise gefräßig. Sie fressen zwanzig oder dreißigmal soviel wie ihre langsameren Vettern zur Existenz benötigten. Wärmeverlust wird zu einer stärkeren Bedrohung, der die Selektion von Genen entgegenwirkt, die isolierende Federn und Haare hervorbringen.
»Mein Gott«, sagt Alf und versteht plötzlich. »Die gefiederte Schlange. Der gefiederte Drache in meinem Traum.« »Ja«, sagt Maus. In grauem Nebel ziehen achtzig Millionen Jahre vorüber; sie betrachten eine Landschaft der Kreidezeit, in der unter einem dunklen Himmel Schneestürme toben. Eine Gruppe kleiner Gestalten bewegt sich geduckt gegen den eisigen Wind. Ihre dreifingrigen Hände umklammern Steinmesser. Die Gestalten am Ende der Gruppe schleifen erlegte Tiere durch den Schnee. Sawyer gibt einen erstickten Laut von sich. Der Mann an der Spitze hat sich umgedreht, und im trüben Licht sehen sie seine langen, scharfen Zähne, als er das Maul öffnet und einen Befehl bellt; es wird plötzlich klar, daß er gar kein Mann ist. »Aber das ist – doch die Erde?« ruft Alf. »Das stimmt«, sagt Maus. »Das alles umspannende Land ist längst auseinandergebrochen. Die Kontinente entfernen sich voneinander und nehmen ihre gegenwärtige Lage ein. Indien schiebt sich an Asien heran. In den Tropen gibt es Lemuren, aber ihre Art wird sich nicht zu menschlichen Wesen entwickeln. Wir stehen an den nördlichen Ausläufern der Antarktis. Australien ist noch nicht ganz weggebrochen. Ihr seht die ersten intelligenten Wesen, die den Lenden dieser Welt entstiegen sind.« Die Dinosaurier stampfen durch den Schnee. Mit der stumpfen Geduld aller primitiven Jäger ziehen sie dahin. Selbst der größte von ihnen reicht dem General nur bis an die Schultern. Triumphierend fährt Sawyer zu dem jungen Mann herum. »Lügen!« ruft er, und seine Pupillen haben sich in der Dunkelheit geweitet. »Ein Truggebilde, um mich in meinem Glauben zu versuchen! Ich lasse mich nicht täuschen, Satan. Ich bin kein Ignoramus, du Vater aller Lügen. Sieh dir ihre Schädel an. Es können keine intelligenten Wesen sein. Ihr
Schädelinhalt ist nicht größer als fünfhundert Kubikzentimeter.« Unglaublicherweise lächelt er sogar. »Du mußt versuchen, konsequent zu sein.« »Selbst mit Ihren eigenen Worten«, sagt Maus müde, »verdammen Sie sich in Ihrem Stolz. Sehen Sie doch.« Er lenkt ihre Wahrnehmung auf das astrale Spektrum. Die eisige Landschaft ist verschwunden. Wo die Dinosaurier ziehen, leuchtet es schwach auf, rote und violette plasmoide Kugeln. Hinter der Gruppe bildet der Himmel eine Kuppel von schimmernden Fäden. »Diese Kreaturen«, erklärt Maus, »entsprechen ungefähr dem Homo erectus. Sie stellen einfache Werkzeuge her, sie kennen den Gebrauch des Feuers, wenn sie in dieser schrecklichen Einöde Holz finden, sie haben eine gemeinsame primitive Sprache. Aber, was weit wichtiger ist, sie haben den Schritt zu einer kollektiven Identität getan.« Erstaunt flüstert Alf: »Eine wirkliche Sozialstruktur? Sie haben ein gemeinsames Bewußtsein?« »Sie bilden ein kollektives Unbewußtes«, korrigiert Maus ihn. »Individuell sind sie weniger intelligent als Schimpansen. Aber ihre Gehirne sind genügend hoch entwickelt, um die wichtigste Funktion eines Organs für Intelligenz zu erfüllen: die Weitergabe sinnlicher Wahrnehmung an den kollektiven Bio-Computer und die entsprechende Aufnahme von Begriffsund Willensebenen, nach denen sie ihr individuelles Verhalten ausrichten.« Der Tag kehrt zurück. Sie sehen ein eisfreies Tal zwischen den gewaltigen Gletschern. Von dem eisigen Hügel aus, auf dem sie standen, sehen sie ein Panorama von Steinstrukturen und langblättrigen Bäumen, zwischen denen fette Reptile weideten. Über den Zweigen bewegten sich anmutig buntgefiederte zweifüßige Reptile und fielen in die Lichtung ein, und schwach waren hier oben auf dem Hügel ihre
pfeifenden Rufe zu hören. Gebückte, pelzbedeckte, affenähnliche Kreaturen eilten zwischen den intelligenten Drachen hin und her. »Das ist die Zeit vor dreißig Millionen Jahren. Es ist keine eigentliche Rekonstruktion mehr. Die Szene, die wir betrachten, ist die verstärkte Erinnerung eines Vorfahren, der sich hier eine Weile aufgehalten hat.« »Diese Affen – « »Archaische Pongiden. Aus ihnen ist der Homo sapiens, wie wir ihn kennen, entstanden; heute sind ihre hauptsächlichen nichthominiden Vertreter die Orang-Utans, die Gorillas und die Schimpansen. Die Baumaffen – heute die Gibbons und die Langarmaffen – trennten sich ungefähr um diese Zeit von dem ursprünglichen Affenstamm.« »Das ist Wahnsinn«, sagt Sawyer. »Die Karte auf dem Mond ist nur fünf Millionen Jahre später entstanden, und dort gibt es keine Spur einer Reptilienzivilisation.« »Warten Sie«, sagt Maus. Er zeigte das astrale Spektrum auf. Das strahlende Bild ist ein Netz unsagbarer Energien, der arterielle Überblick über eine ganze Kultur, deren jedes Individuum die Vereinigung von unzähligen Kontakten darstellt. Sie betrachten eine Hierarchie von Zusammenhängen, die ihnen die Tränen in die Augen treibt. »Es ist – wunderschön«, sagt Alf. Der General bleibt stumm; seine Hände schließen und öffnen sich, schließen sich wieder, und die Nägel dringen tief in die Handflächen. »Wir sind nahe am Zentrum des Mysteriums. Was ihr seht ist die symbolische Umwandlung einer endlosen Informationsflut, ein Informationsaustausch von Gehirn zu Gehirn mittels Niederfrequenzfeldern von fünfhundert Zyklen pro Sekunde und in einer Stärke von einem millionstel Watt. Für den Saurus sapiens auf dieser Stufe seiner kulturellen Evolution ist jedes lebende Nervensystem ein einziger integrierter Schaltkreis in
einem riesigen Bio-Computer, in dem zeitgleich Millionen von Programmen ablaufen. Joseph, Sie haben Erfahrungen in der Elektronik – sehen Sie, welche Bedeutung das für die kulturelle Entwicklung dieser Art hat?« »Unfug«, sagt der General, und sein Blick ist glasig. »Reduzierte Intensität. Unmöglich. Unmöglich. Wenn diese Bestien ein Schwarm mit einer aus allen Teilen zusammengesetzten Intelligenz wären, würden sie in einer Nische von zehn oder zwanzig Kilometern Durchmesser zusammengedrängt leben.« »Ganz richtig«, sagt Maus. »Für die Dinosaurier gab es keinen Magellan. In einer Entfernung von Zehntausend Kilometern, auf das Zentrum ihrer Gemeinschaft bezogen, wäre ihr Zugang zum kollektiven Sitz einer funktionierenden Intelligenz um neunundneunzig Prozent vermindert. Sie wären auf den Status von Tieren reduziert. Schlimmer noch, denn im Verlauf ihrer Evolution hatten sie alle spezialisierten Instinkte abgelegt. Die Saurier hatten ein Sprichwort, das so alt wie die Sprache selbst war: ›Der Rastplatz und der Nistplatz sind eins.‹ Das war nicht nur Pietät; es war die Erkenntnis ihrer absoluten gegenseitigen Abhängigkeit, das zwingende Gebot ihrer territorialen Begrenzung.« »Telepathie…« sagt Sawyer leise. »Sie müssen großartige Taktiker gewesen sein.« »Nein«, sagt Maus scharf. »Krieg wäre ihnen ein Greuel gewesen, wenn sie sich so etwas überhaupt hätten vorstellen können. Wollen Sie einen Teil Ihres eigenen Gehirns amputieren? Mehr noch: die Saurier waren reine Fleischfresser. Wie Homo sapiens ein Inzest-Tabu entwickelte, um den entsetzlichen Möglichkeiten ganzjähriger Sexualität Zügel anzulegen, so entwickelte Saurus sapiens ein praktisch Unverletzliches Verbot der Tötung der eigenen Artgenossen.« Er sieht sie lange an. »Um dieses Tabu zu zementieren,
dehnten sie ihre Gewohnheit des Fleischfressens auf erstaunliche und paradoxe Rituale aus.« Er macht eine Pause. Alf sieht ihn entsetzt an. »Sie aßen ihre Toten«, vermutete Alf und wandte sich angewidert ab. »Indem sie die verzehrten, die sie verloren hatten«, erklärt Maus leidenschaftlich, »bestätigten sie die heilige Würde jedes individuellen Lebens. Kein Fleisch ist so süß wie das der eigenen Art. Wenn der Instinkt eine Spezies zwingt, das Fleisch ihrer Toten zu essen, wird sie immer wieder dem Test ihrer eigenen Moral unterworfen.« »Satan«, sagt Sawyer fröhlich, »deine eigenen Reden überführen dich. Kein Verbrechen ist so unsagbar schändlich wie Kannibalismus – nicht einmal Inzest. Und du lobst diese widerwärtigen Bestien!« Maus sieht ihn an. »Erinnern Sie sich an das höchste Sakrament Ihres Glaubens, Joseph? ›Nimm und iß, denn dies ist mein Leib. Trink, denn dies ist mein Blut.‹« Sawyers Gesicht verzerrt sich zu einer Maske der Wut. »Dreck!« schreit er und stürzt sich auf den jungen Mann. Unsichtbare Hände scheinen ihn festzuhalten, und zusammengesunken bleibt er zwischen Eis und altem Gestein stehen. »Das heilige Abendmahl ist das Geheimnis der Fleischwerdung Gottes, ein Opfersymbol – « »Es ist eine uralte Erinnerung«, verkündet Maus mit gebieterischer Autorität, »an die heilige Zeremonie des Saurus sapiens.« Die Sonne verändert ihre Position am Himmel. Der Schnee ist verschwunden; lange smaragdfarbene Gräser wiegen sich in einer warmen Brise; überall sieht man goldene, karmesinrote und violette Blüten. Eine riesige Menge versammelt sich auf den Wiesen. Leicht wie Blätter fallen die Wesen aus dem hellen Blut des Himmels. In der gewaltigen durchsichtigen
Felsenpyramide, die sich über ihnen bis zu dem Filigran der Wolken erhebt, schwebt die Sphäre des Gewölbes wie eine Perle. »Wir sind um zehntausend Jahre in die Zukunft eingedrungen«, sagt Maus, und selbst seine klare, junge Stimme klingt gedämpft. »Es ist nicht unsere Welt«, sagt Alf. Er sieht seinen Neffen fassungslos an. In der Helligkeit des strahlenden Morgens erscheint sein Gesicht langgezogen und faltig. »Es ist unser Planet Erde«, sagt Maus geheimnisvoll. »Es ist die Welt des Saurus sapiens, unsterblich und triumphierend, auf dem Gipfelpunkt einer dreißig Millionen Jahre alten friedlichen Zivilisation. Sie warten auf die Wiedergeburt.« Der Wind trägt einen Duft heran, den Moschusduft der ängstlich herabsteigenden Menge. Alf taumelt vorwärts in das hohe Gras; Narzissen öffnen ihre goldenen Blüten der Sonne; seine Hand streift die Dornen eines Rosenstrauchs, und sein Blut tropft auf den roten Samt der Blütenblätter; gelbe Ringelblumen breiten sich vor ihm in verschwenderischer Vielfalt aus, der Himmel spiegelt sich in Veilchen und Hyazinthen; Mohnblumen schwanken auf ihren behaarten Stengeln, ein wildes Delirium von Rot und Safran. Seine Brust weitet sich; er wird von unerträglichen Emotionen heimgesucht. Maus berührt seine aufgerissene Hand. »Dies ist ihr Glanz und ihre Tragödie, Alf. Sie sind heute an diesen Ort gekommen, um zu sterben, jeder einzelne von ihnen, und um sterbend das Geschenk der Bewußtheit und der Unsterblichkeit mit den verlorenen Toten zu teilen, die ihnen vorausgegangen sind.« »Ich begreife nicht«, wimmert der Mann. Neben ihm schwankt der General selbstvergessen hin und her. »Betrachtet das lebende Gehirn«, sagt Maus. Ohne die Wiese zu verlassen, stehen sie irgendwie in einem Dunst nervlicher
Vorgänge, in einem ungeheuren, über jede Vorstellungskraft hinaus vergrößerten, fluoreszierenden Schleiernebel. »Man hat euch gelehrt«, sagte der junge Mann, »daß das Gehirn der Sitz des Bewußtseins ist, daß Gedächtnis, Denken und Wille Funktionen dieser zehn Milliarden von Hirnrindenneuronen sind, von denen jedes mit hunderttausend anderen verbunden ist, Funktionen also eines Bio-Computers mit einer Speicherkapazität von 1014 Bits. Aber eure Neurologen wissen andererseits, daß man große Teile der Hirnrinde entfernen kann, ohne daß ihre geistige Funktion beeinträchtigt wird. Sie haben schon die Proteine und Peptide entdeckt, die die synaptischen Verbindungen aktivieren, und sie haben ganz richtig ausgerechnet, daß es, um die Erinnerungen eines ganzen Lebens zu speichern mehr als hundert Kilogramm dieser winzigen Aminosäureketten bedürfte.« »Lashley«, murmelt Sawyer mit der dumpfen Stimme eines Schlafwandlers. Langsam hebt er den Kopf. »Karl Lashley behauptet, daß es ein Gedächtnis ganz einfach nicht geben kann.« Maus nickt. »Und das war vor dreißig Jahren. Heute ist die Tatsache nicht mehr zu bestreiten. Was die Theoretiker vernachlässigt haben, ist die Verbindung zwischen den Menschen, der ständige Datenfluß, den wir in der UltraNiederfrequenz weitergeben und empfangen. Das Gehirn und das Nervensystem«, sagt er und vergrößert das Bild zu einem gigantischen Lichtgewebe, »ist ein Indexsystem, eine Anordnung von Kodierungsverfahren, eine zusammengefaltete Antenne von vielen Millionen Metern Länge. Die tieferen Gedanken- und Sprachstrukturen sind gemeinsames Eigentum, das im Überfluß auf alle Gehirne der auf diesem Planeten lebenden Menschen verteilt ist. Wir leben ineinander.« Sie wenden ihre Aufmerksamkeit wieder der Wiese zu. Dicht gedrängt sieht man die Farben der gefiederten Wesen. Eine
seltsame Musik steigt auf: die Dinosaurier singen. Wellen gehen über die Menge, treffen sich und laufen wieder auseinander wie Interferenzbänder in einem Prisma: die schönen Wesen tanzen. Über ihnen, kristallen und wunderbar, hütet die Pyramide ihr glänzendes Juwel. »Dies ist die Hölle«, sagt der General erstaunt, »und das sind die Toten. Nie hätte ich die Hölle für so schön gehalten.« »Dies sind die Lebenden«, korrigiert Maus ihn. »Und das sind die Toten, die unsterblichen Toten im Seelenkern.« Er hebt die Hand zur Sphäre empor. »Eure Priester erfaßten es intuitiv und nannten es das Himmelreich. Die Hindus kamen der Wahrheit näher. Sie nannten es die Akasischen Protokolle.« Sawyer zuckt zusammen, aber er sagt nichts. In wachsender Erregung sagt Alf: »Natürlich. Natürlich. Für jedes Neuron, für jede synaptische Verbindung haben sie in nichtbiologischen Archiven ein Verzeichnis angelegt. Die Sphäre enthält einen weiteren Überfluß, die Aufzeichnung der zentralen Identität jedes Individuums. Aber im Tode wird doch – « »Der Tod ist die Befreiung des individuellen Bewußtseins von den Zwängen des Körpers. Er ist die Erweiterung des Lebens in eine absolute Bindung, in das kollektive Bewußtsein, das den Gesetzen der befreiten Vorstellungskraft unterliegt.« Die gefiederten Schlangen wirbeln zu der Musik wie tanzende Derwische herum. Ihre Krallenfüße zertreten das Gras und wühlen die feuchte Erde auf. Kinder sind nicht unter ihnen. »Seht ihr«, fragt Maus, »warum sie ihre geliebten Vorfahren so sehr verehrten? Es war der Respekt vor ihren Ursprüngen, den die Menschen noch nicht zu würdigen wissen. Als ihre Technologie endlich so weit fortgeschritten war, daß die
Erbauung des Seelenkerns möglich wurde, wollten sie dieses ewige Leben mit den schon Umgekommenen teilen.« »Nicht von den Sternen«, flüstert Alf. Er sieht die Drachen immer noch tanzen und sich gegen die gewaltige Peripherie der durchsichtigen Pyramide drängen. »Sie kommen aus der Zukunft. Aus einer – anderen Zukunft.« »Ja«, sagt Maus. Die Luft über ihnen wird heller und lädt sich mit gewaltigen Energien auf. Violettes Licht wird von den Kristallflächen der Pyramide zurückgeworfen. Stöhnend fassen die Drachen einander bei den Händen. Der Himmel schleudert blendende Strahlen herab. Hell wie eine neue Sonne pulsiert die Sphäre, der Seelenkern in seinem Käfig. Absolute Ruhe tritt ein, und sie sehen, daß jeder in der Menge mit schlaffen Muskeln zusammenbricht. Die Sphäre leuchtet auf und ist verschwunden. Sie stehen unter der großen Wölbung in der Höhle unter der australischen Wüste. »Sind sie alle – gestorben?« fragt Sawyers mit hoher Stimme und vor Entsetzen gelähmt. »Sie leben«, sagt Maus. »Sie umschweben uns, und wir kennen sie aus unseren Träumen. Ihr Glaube nennt sie die Cherubim und die Seraphim.« Ein Schauder überläuft Alf. »Irgend etwas ist schiefgegangen, nicht wahr, Maus? Statt ihre Vorfahren zu retten, haben sie sie weggeführt und uns statt dessen hiergelassen.« »Es war ein Stern«, erklärt ihm der junge Mann. »Eine Supernova. Die Zeitmaschine hat sie in ihre Geschichte hinein beschleunigt, und der Seelenkern war dabei unter einem undurchdringlichen Gluonenschild eingeschlossen. Außerdem war ein primitiver Untergeordneter Kern an Bord, der mit einem minimalen Bewußtsein programmiert war, damit die Mannschaft für den Notfall funktionierte. Diese Mannschaft
handelte eher nach einem Ritual als wahrer Intelligenz entsprechend.« Und als sie im Schatten des Gewölbes stehen, zeigt er ihnen die ergreifende Geschichte des Unheils: die Generation, die aufgezogen wurde, um die Tragödie zu mildern – Anokersh huj Lers und die Herrin Diitchar, die verstümmelte Riona, den rachsüchtigen T’kosh huj Nesh. Das verheerende Exil der wilden Pongiden. »Auch hier haben also die Drachen versagt«, meint Alf. »Sie haben sich selbst vernichtet.« Eine tiefe Melancholie, schlimmer als jeder Kummer, erfaßt Maus. »Die Mannschaft wurde durch den Gluonenschild daran gehindert, am vollen Bewußtsein der Spezies teilzuhaben. Die Impulse der Supernova zerstörten das Kontrollsystem des Schiffs, und für die Reparatur fehlte es ihnen an Kenntnissen. Deshalb bremste das beschädigte Schiff zu spät ab. Es schoß um eine halbe Million Kilometer an seinem Ziel vorbei.« »Das Gewölbe hat also den Untergang der Dinosaurier bewirkt?« »Und den des Saurus erectus, des primitiven Vorfahren der Drachen. Die Art war eben erst aufgetaucht. Das Bewußtsein des Gewölbes war für ihren primitiven Verstand genauso verderblich wie die Strahlen der Sonne für ein Auge, das man ihnen gewaltsam aussetzt.« Die förmliche Diktion, die Maus benutzt, kann seinen Schmerz nicht verbergen. »Ihre tastende Intelligenz schrumpfte unter der Strahlung, vor der sie sich nicht schützen konnte. Jede weitere Evolution verschloß sich ihnen. Zusammen mit dem Rest ihrer Art gingen sie unter, und die kleinen, dummen Säugetiere übernahmen ihr Reich sozusagen aus Versehen.« Sawyer kauert auf dem Boden, und sein Mund blutet, wo er sich auf die Lippen gebissen hat. »Nein«, sagte er mit schrecklicher, drohender Intensität. »Nein, nein. Wir stammen
nicht von diesen wilden Bestien ab. Wir wurden nach Seinem Ebenbild geschaffen, nicht aus dem Abfall einer versklavten Mutantenrasse. Ich will es nicht.« Er schweigt. Roter Speichel rinnt ihm aus den Mundwinkeln. »Glauben.« Er ist bereit, aufzuspringen, zu morden, die erbärmliche Mythologie seines Lebens zu verteidigen. Statt dessen stürzt er und schluchzt herzzerreißend. Maus kniet sich neben ihn und hält den Kopf des Mannes in seinem Schoß. »Wir sind nicht die Kinder dieser Wilden«, sagt er sanft. »Wir sind die Söhne und Töchter des Seelenkerns. Die Pongiden wurden wie Spreu in die reale Zeit geweht und über tausend Jahre verteilt. Sie tauchten vor fünfundzwanzig Millionen Jahren in einer anderen Historie wieder auf, lange bevor die Menschheit sich entwickelt hatte. Sie hatten schließlich nur die Seele gekannt. Sie waren Fremde in einem fremden Land, und sie benutzten das Bewußtsein des Seelenkerns, um ihm für immer zu entkommen. Die Anlage auf dem Mond war das Werk der Pongiden, Joseph, die Maschine, die sie bauten, um sich zu den Sternen zu katapultieren.« »Auf der Erde haben wir nie eine Spur von ihnen gefunden, Maus. Eine Spezies, die zu Sternenreisen in der Lage ist, würde doch gewiß Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen.« »Wieviel antarktisches Eis habt ihr aufgegraben, Alf?« »Ich glaube es nicht«, sagt Sawyer. »Warum hätten sie die Erde aufgeben sollen? Sie war ein leeres Paradies.« »Ja, die Reptilien waren ausgestorben, denn die Mannschaft war steril. Aber der Geist der Drachen blieb im Kern, wie Götter, die die Wilden aus dem Garten vertrieben hatten. Sie empfanden wie Sie. Sie wollten nicht dienen. Vielleicht warten ihre Kinder dort draußen auf uns. In der Welt, die sie
verließen, entwickelten sich unsere hominiden Vorfahren, um den Platz der Drachen einzunehmen.« Maus steigt zu den hundert Milliarden Geistern empor, die im Seelenkern abstrahiert sind. Seine Rolle als Fürbitter ist fast zu Ende. Bald wird er der Versuchung nachgeben, die Bill und Hugh vorzeitig aus ihren Körpern in die ewige Freiheit getragen hat. Vage nimmt er zur Kenntnis, daß Alf vor ihm kniet und sein undurchdringliches Gesicht forschend betrachtet. »Wie haben die Hominiden es geschafft? Durch langsame Anpassung an die Intelligenz im Gewölbe? Aber Maus, Homo sapiens, hat seine Evolution in Afrika, am anderen Ende der Welt durchlaufen, und er hatte solche Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit nie erlebt.« »Das hatten auch die Saurier nicht, nachdem der Seelenkern gebaut war. Er ist ein höchst empfindliches Verstärkergerät, Alf, ein Gluonengitter, das dichter als Neutronium ist und die Eigenschaften eines einzelnen perfekten Kristalls hat. Bei den niedrigsten biologischen Frequenzen, besonders bei den 7,8und 14,1-Zyklen des Gehirns wirken Atmosphäre und Boden als Wellenleiter und Resonanzkörper, und sie tragen die Aktivitäten jedes Gehirns um die ganze Welt, wobei die Abschwächung nur sehr gering ist. Jeder von uns hinterläßt schon vor seiner Geburt ein charakteristisches »Fingerabdruck«-Signal im Gewölbe, und für den Rest unseres Lebens wird jeder Impuls aus der Hirnrinde in einer spezifischen, identifizierbaren Matrix gespeichert. Wenn das Aussenden und der Empfang von Signalen total blockiert wird, wie es bei Bill und Anne und Hugh unter Kukuschkins Gluonenschild der Fall war, wird das Gehirn zu einer lallenden Parodie seiner selbst, zu einem einfältigen Indexsystem, das sich allenfalls noch zu Wortspielen aufschwingen kann.«
Der Anthropologe sucht nach Einwänden. »Die lunaren Astronauten, Maus. Warum wurde ihre Verstandesfunktion nicht beeinträchtigt?« Maus grinst spitzbübisch. »Hätte es jemand gemerkt?« »Nun mal langsam.« Die Selbstbeherrschung des Mannes ist nur noch ein abgewetzter Strick. »Es gäbe mindestens eine Verzögerung von drei Sekunden wegen der Zeit, die die Strahlung braucht, um von – « Maus seufzt. »Alf, du kannst nicht erwarten, daß du eine BioTechnologie begreifst, die der menschlichen Wissenschaft um tausend Jahre voraus ist. Der Seelenkern ist nicht auf elektromagnetische Verfahren angewiesen. Ihm steht das volle Spektrum einer Tachyonenstrahlung von mehr als Lichtgeschwindigkeit zur Verfügung. Wenn du erst gelernt hast, mit den Toten im Kern zu kommunizieren, werden alle diese Dinge dir schon klarwerden.« »Du eingebildetes kleines Miststück.« Mit plötzlichem Unwillen zieht Alf sich zurück. »Wenn dein Tausendjähriges Reich anbricht? Mit Hieronymus Dean als seinem Messias?« Er stolpert und ist entsetzt über seine eigenen Worte. »Es hat dich geschickt, nicht wahr?« fragt er. »Es beschloß, daß die Zeit für diese Enthüllung reif war, und hat deine Mutter dazu veranlaßt, Überdosen LSD zu schlucken. Mein Gott, mein Gott.« Wie im Traum und kaum hörbar sagt Maus: »Die Regenbogenschlange, Alf. Der Wegbereiter. Der Öffner der Weiberschöße.« Der Mann preßt die Lippen zusammen und springt auf. »Hat dies denn nie ein Ende, Maus? Haben wir denn überhaupt keine Freiheit? Hat es aus mir einen Anthropologen gemacht, damit ich dich zwanzig Jahre später zu ihm bringe? Hat es Bill delFord auf Auren und Mystizismen hingewiesen und ihn ausrangiert, als er seine Schuldigkeit getan hatte? Mein Gott,
Maus, hat es irgend jemandem die Struktur des 17-Tg-M eingegeben und damit einen Atomkrieg und Schlimmeres riskiert? Nur wegen dieser verspäteten Selbstenthüllung?« Die Wut seiner Aura dringt wie züngelnde Flammen in Maus’ Gesichtskreis. »Alf«, sagt das seltsame Kind endlich, »der Kern ist nicht dämonisch, er ist nicht göttlich. Wir sind es – du, Joseph hier, Bill, Hugh, Victor, meine Mutter. Es ist die Menschheit, und es sind die Saurier. Wir sind größer, als wir es uns je vorgestellt haben, Alf; in unseren tiefsten Tiefen sind wir eine Bewußtseinseinheit, die endlich bereit ist, ihre Identität zu finden.« Er beugt sich über den bewußtlosen General und wischt vorsichtig den blutigen Schleim vom Gesicht des Mannes. Als er Alf wieder anschaut, ist er voll gelassenen Triumphes. »Alf, es wird nicht alles auf einmal kommen. Du wirst nichts von dir selbst verlieren. Das verspreche ich dir. Aber was vor uns liegt…« Maus schließt die Augen und öffnet sich den Intuitionen der Ewigkeit. In der weiten Dunkelheit glühen Galaxien in Feuerschleiern, sie glühen vor Wissen und Bewußtsein und Liebe. Es ist die Vision einer fast unvorstellbar fernen Zukunft. Zufrieden weiß er, daß er leben und an ihr teilhaben wird. Aber jetzt gibt es näherliegende Aufgaben. »Hilf mir mit Joseph«, sagt er zu seinem Onkel. »Wir müssen ihn zum Arzt bringen.« Als sie Sawyer zu den hellen Lichtern am Ende des Tunnels tragen, schwebt hinter ihnen die fahle, gewaltige Sphäre des Seelenkerns, geduldig auf den Lärm, die Emotionen, die ruhelosen Träume einer Welt eingestimmt, die der Sonne ihres zweiten Frühlings harrt.