Die Transformation der Mavis Ming THE TRANSFORMATION OF MISS MAVIS MING
Michael Moorcock (1984)
Die Miss Mavis Ming, ...
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Die Transformation der Mavis Ming THE TRANSFORMATION OF MISS MAVIS MING
Michael Moorcock (1984)
Die Miss Mavis Ming, eine leicht neurotische Zeitreisende, die einem Forschungsteam des 21. Jahrhunderts als Versuchskaninchen gedient hat, wird in eine Ära verschlagen, die man gemeinhin als „Das Ende der Zeit“ bezeichnet. Und da hier der absolute Müßiggang regiert und die einheimischen Dekadenzler sich gern ein Späßchen mit „exotischen Lebewesen“ erlauben, sieht sie sich prompt von den ausgeklinktesten Typen des Universums begehrt. Einer jedoch setzt in seinem Liebeswerben allem die Krone auf: Emmanuel Bloom, der sogenannte Feuerclown, der gerade auf die sterbende Erde zurückgekehrt ist, um sie und ihre Bewohner zu retten. Sehr zum Unwillen der angeblich zum Untergang Verdammten, die sich seiner Rettungsversuche kaum erwehren können... Moorcocks Romane über die beinahe allmächtigen Bewohner der sterbenden Erde sind höchst vergnüglich. Daß seine verrückten Helden und Anti-Helden trotz des drohenden Untergangs noch mal eben eine Suche nach dem Heiligen Gral veranstalten und dabei jede Menge garantiert haarsträubender Abenteuer zu bestehen haben, versteht sich da schon fast von selbst.
Alfie Bester gewidmet Schüre mich zu stetgem Feuer, Daß nicht Nagel bloßer Nagel sei! Gib mir Flügel des Verlangens, Daß ich nicht nach innen seh und fehl! ... Rot der Glut zu Weiß der Glut, Rolln wir vor der Gottheit Fuß! Schmied’, schmied’! Weiß der Glut, Rot der Glut, schmied’, schmied’! George Meredith Theodolindas Lied
1. KAPITEL IN DEM DER VERFASSER SEINEN QUELLEN GLAUBEN SCHENKT Die Ereignisse um Mr. Jherek Carnelian und Mrs. Amelia Underwood, ihre Abenteuer in der Zeit, sowie die Machenschaften des Lords von Kanarien (zum Beispiel) sind denen von uns schon bekannt, die jeden vom Ende der Zeit herüberkommenden Klatsch aufmerksam verfolgen. Wir wissen auch, warum es unmöglich ist, mehr Details darüber zu erfahren, wie sich das Leben dort seit Beginn des großartigen (und manche meinen, sinnlosen) Projekts von Lord Jagged weiterentwickelt. Die bekannten Einzelheiten wurden in den Bänden Ein unbekanntes Feuer, Das Tiefenland und Wo die Gesänge enden publiziert. Ein Begleitband mit dem Titel
Legenden vom Ende der Zeit wird noch folgen. Zeitreisende besuchen natürlich immer noch die Jahre unmittelbar vor Beginn des Projekts. Sie bringen jene Skandalgeschichtchen, Spekulationen, möglichen Tatsachen und ebenso mögliche Lügen mit zurück, die den Stoff für zugegebenermaßen phantasievoll ausgeschmückte Rekonstruktionen bilden - welche ich als meine „Legenden der Zukunft“ bezeichne - Geschichten, die zweifellos großes Vergnügen bereiten würden, könnten sie von denen, über die ich schreibe, jemals gelesen werden (glücklicherweise ist nicht zu erwarten, daß diese Geschichten unser Jahrhundert überleben, ganz zu schweigen von den nächsten paar Millionen Jahren). Wenn die vorliegende Erzählung noch unerhörter und weniger wahrscheinlich als die anderen zu sein scheint, so liegt dies daran, daß ich naiv genug war, den zugrundeliegenden Bericht eines Bekannten zu glauben, der sonst nie so weit in die Zukunft reist. Es handelt sich dabei um einen Kollegen der Miß Una Persson aus der Gilde der Zeitabenteurer, der seinen Namen nicht erwähnt haben möchte. Und deshalb kann ich zum Glück auch offener über ihn reden, als es mir anderenfalls möglich gewesen wäre. Die Geschichten meines Freundes sind immer äußerst interessant, aber sie sind dementsprechend auch sehr grell gefärbt. Er kommt stets zu bizarren Wertungen und unglaubwürdigen Behauptungen. Nach eigenen Angaben war er bei vielen wohlbekannten geschichtlichen Schlüsselereignissen anwesend, einschließlich der Kreuzigung Jesu, dem Massaker von My Lai, dem Attentat auf Naomi Jacobsen in Paris und so weiter. Will man ihm darüber hinaus Glauben schenken, so hat er bei diesen Ereignissen sogar eine größere Rolle gespielt. Von seiner Basis in West London (zwanzigstes Jahrhundert, Sektoren 3 und 4) aus hat mein Freund den, wie er es nennt, „Chronostrom“ durchfahren und vergangene und zukünftige Zeiten dieser Erde wie auch anderer Erden besucht, die - so will er uns weismachen - mit unserer Erde in einem komplexen System überschneidender Dimensionen koexistieren und eine Einheit bilden, die er als das „Multiversum“ bezeichnet. Von allen Zeitabenteurern, die ich kenne, ist mein Freund derjenige, der seine Heldentaten am bereitwilligsten preisgibt, und zwar allen, die zuhören. Vermutlich macht sich bei ihm der Morphai-Effekt nicht bemerkbar (der bei anderen Reisenden größte Vorsicht hervorruft, was das Handeln und Reden in jeder besuchten Zeitspanne angeht), und zwar hauptsächlich deshalb, weil ihn keiner ernstnimmt - außer den Schwachbegabten oder den durch Alkohol, Drogen oder anderen Zerstreuungen in ihren geistigen Anlagen ruinierten Personen. Daß er nicht ernstgenommen wird, stört meinen Freund zugegebenermaßen weiter nicht. Er hält sich, exaltiert wie er ist, für einen „chronisch Geächteten“ (eine Selbsteinschätzung, die dem Leser vielleicht Aufschluß über seinen Charakter bietet). Sie werden womöglich denken, daß ich zu leichtfertig seiner Geschichte über Miss Mavis Ming und Mr. Emanuel Bloom aufgesessen bin. Aber der Kern der Geschichte hat etwas an sich, das ich zu glauben geneigt bin - obwohl sie in vielerlei Hinsicht das Unglaublichste ist, was ich je gehört habe. Natürlich läßt sich die Erzählung nicht ohne weiteres belegen (besonders, was die letzten Kapitel betrifft), aber andere Gerüchte, die mir zu Ohren gekommen sind, stimmen mit ihr überein. Außerdem wird sie erhärtet von meinem eigenen, bisherigen Wissen über Mr. Bloom (dessen frühere Inkarnation in einer Geschichte vorkam, die mir von einem Gildenkollegen meines Freundes erzählt wurde und vor einigen Jahren unter dem Titel THE FIRECLOWN erschien). Die hier festgehaltenen Ereignisse schließen direkt an jene an, von denen in Legenden vom Ende der Zeit die Rede war. Im wesentlichen wird Miss Mings Geschichte da wiederaufgenommen, wo wir sie nach Mings Begegnung mit Dafnish Armatuce und deren Sohn Schnüffel unterbrochen haben. Wie gewöhnlich sind die Ereignisse in ihren Grundzügen so beschrieben, wie sie mir von meiner Quelle berichtet wurden. Einige Dinge habe ich umgestellt, um eine erzählerische Spannung zu erzeugen, und einem ersten, unvollständigen Entwurf beigefügt, den ich hastig
niederschrieb, bevor mir alle Informationen bekannt waren. Das „Drumherum“ der Erzählung, die an einigen Stellen eingeflochtenen Interpretationen, die Dialoge und so weiter stammen einzig und allein vom Verfasser. In dem vorausgegangenen Band habe ich schon auf die Besonderheit der Beziehung zwischen Miss Ming und Doktor Volospion hingewiesen: die unerträgliche Langweilerin und der großspurige Misanthrop. Warum Doktor Volospion ein immer neues, perverses Vergnügen an der erbärmlichen Gesellschaft mit dieser Frau findet, warum sie zuläßt, daß er sie aufs gemeinste verletzt - sie, die den größten Teil ihrer Tage damit verbracht hat, jedweden Schmerz zu vermeiden -, all das können wir nicht erzählen. Es genügt vielleicht, daraufhinzuweisen, daß eine solche Beziehung auch in unserer Gesellschaft vorkommt und ebenso rätselhaft sein kann. Vielleicht fand Doktor Volospion in ihr die Bestätigung für all seinen Menschenhaß. Vielleicht war ihr eine überspannte und meist unerquickliche Aufmerksamkeit lieber als überhaupt keine. Sie bestätigte seine Einstellung zum Leben, während er ihr Leben bestätigte. Aber es wäre die Aufgabe eines Romans, über diese Dinge zu spekulieren. Ich dagegen habe nicht die Absicht, auf solche Gedanken länger als nötig einzugehen. Hier also ist die Geschichte von Miss Mings Transformation und über Doktor Volospions und Emanuel Blooms Anteil daran. Der Leser mag seine eigene Interpretation finden (falls dies überhaupt nötig ist). Michael Moorcock, Ladbroke Grove, November 1975.
2. KAPITEL IN DEM MISS MAVIS MING EIN VERTRAUTES UNBEHAGEN EMPFINDET Der besondere Effekt beim Aufgehen einer Sonne und dem gleichzeitigen Untergehen einer anderen, der Schatten flackern läßt und den Anschein erregt, als würden sich Gegenstände in Form und Lage verschieben, wurde von der großen Anzahl der Partygäste kaum wahrgenommen. Sie bevölkerten die Ausläufer eines schlecht gelungenen Gebirges, das Werther de Goethe vor einiger Zeit während eines periodischen Versuchs zur Wiedererschaffung der Landschaft errichtet und bis ins letzte Detail einem Werk des frühen Malers Holman Hunt getreu nachempfunden hatte, nachdem er in einer der verrottenden Städte darauf gestoßen war. Werther war - so muß korrekterweise hinzugefügt werden nicht der erste, der einen solchen Versuch unternommen hatte. Er hielt jedoch an dem Glauben fest, daß alles genau nach Vorlage des Gemäldes aufgebaut werden mußte (sofern es die eigenen Kräfte erlaubten). Werther war Purist. Wortreich wies er die Kritik derer ab, die eine solche Nachahmung unkünstlerisch fanden. Nach Meinung der Kritiker fehlte es ihr an wahrer Inspiration. Werthers Theorien über die getreue Wiedergabe in der Kunst hatten sich nur einer kurzen Mode erfreuen können (solange wie der Herzog von Queens als ihr ernster Anhänger galt). Aber schon bald waren Werthers Schüler dieser engen Auffassung überdrüssig geworden. Er ließ sich allerdings nicht in seiner Meinung beirren. Im Verlauf der Party ging wieder eine Sonne unter, während eine andere rasch aufging, den Zenit erreichte und dort stehenblieb. Das Licht wurde golden, herbstlich und diesig. Von den Gästen hatten nur drei dieses Phänomen beobachtet: es waren Miss Mavis Ming, prall und
beweglich in ihrem neuen Kleid; Li Pao, gefällig in puritanischem Zwillich; und Abu Thaleb, der Gastgeber, schlank und übertrieben prächtig gekleidet. „Wessen Sonnen sind das?“ flüsterte Abu Thaleb ergriffen. „Wie hübsch! Und so subtil. Rivalen vielleicht...“ „Deine eigenen Kreationen?“ fragte Li Pao. „Nein, nein... untereinander.“ „Sie könnten von Werther sein“, schlug Miss Ming vor und versuchte wieder auf das alte Thema zurückzukommen. „Er ist noch nicht da. Erzähl weiter, Li Pao. Du hast doch gerade von Doktor Volospion gesprochen.“ Ein befingertes Ohr verriet Li Paos Verlegenheit. „Ich sprach von niemand Bestimmten, Miss Ming.“ Sein rundes, chinesisches Gesicht verlor jeden Ausdruck. Abu Thaleb schaltete sich ein, und ein etwas hinterhältiges Grinsen kam unter seinem Spitzbart zum Vorschein. „Du hast indirekt von Volospion gesprochen.“ „Ah! Du hältst mich wohl für eine Klatschtante. Dabei verabscheue ich solche Personen. Ich stellte lediglich fest, daß nur die Schwachen Schwäche hassen, und nur die Verletzten die Schmerzen anderer verurteilen.“ Er wischte sich einen Saftfleck von der schmucklosen Bluse und drehte der winzigen Sonne den Rücken zu. Miss Ming stichelte weiter. „Aber du hast auf Doktor Volospion angespielt, Li Pao. Du hast unterstellt...“ Eine lärmende Flut von Gästen strömte vorbei und übertönte den Rest ihrer Bemerkung. Und als es wieder stiller wurde, wählte Li Pao einen gereizteren Ton (vielleicht weil ihn ein Funken Wahrheit piekte). „Ich bin nicht wie du fixiert auf deinen Beschützer, Miss Ming. Ich sprach ganz allgemein. Der Gedanke hat nichts Besonderes an sich, er ist nicht einmal originell. Bedauerlicherweise. Wenn du willst, ziehe ich ihn wieder zurück.“ „Ich habe dich nicht kritisiert, Li Pao. Mich interessiert nur, wie du den Doktor siehst. Ich muß sagen, er war sehr gütig zu mir. Und ich möchte nicht, daß irgend jemand glaubt, ich wüßte nicht, was er für mich getan hat. Ich hätte immer noch in seiner Menagerie sein können, oder? Aber er erwies mir seinen Respekt und ließ mich frei - daß heißt, er fragte mich, ob ich nicht lieber sein Gast wäre, statt... nun, wie du es auch nennen willst.“ „Er ist ein Vorbild an Ritterlichkeit.“ Abu Thaleb fuhr mit einem Finger über seine Augenbraue und versteckte das Gesicht hinter der Hand. „Tja, wenn ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich muß nach meinen Monstren sehen. Nach meinen Gästen.“ Er verschwand in der Partygesellschaft, während Li Paos flehender Blick unbeobachtet blieb. Miss Ming glättete das Vorderteil von Li Paos Bluse. „Siehst du“, sagte sie, „ich war bloß neugierig. Ich wollte dich wirklich nicht zum Tratschen auffordern. Ich respektiere deine Ansichten, Li Pao. Wir sind schließlich beide in dieser Welt >Gefangene<. Du wärst wahrscheinlich genauso wie ich lieber wieder in der Vergangenheit, da wo wir hingehören du im siebenundzwanzigsten Jahrhundert, in deiner rechtmäßigen Position als Vorsitzender Chinas, und ich im einundzwanzigsten Jahrhundert als, als...“ Für einen Moment verließ sie die Eingebung. Sie gab sich mit einem schüchternen Augenzwinkern zufrieden. „Du darfst die kleine Mavis nicht so ernst nehmen. Bosheit liegt ihr fern.“ „Aha.“ Li Pao schloß die Augen und holte tief Luft. Miss Mings himmelblaue Fingernägel zogen Streifen über das etwas unauffälligere Blau seiner Brust. „Es ist gar nicht Mavis’ Art, Schlimmes zu denken. Nun, jedenfalls nichts Schlimmes in dieser Beziehung.“ Sie kicherte. „Ja-ha?“ Es war fast nicht zu hören. Von irgendwo weit oben ertönte die ferne Melodie einer von Abu Thalebs Bestien. Li Pao hob den Kopf, als wolle er die Schallquelle suchen. Er vermutete sie im Himmel. Auch Miss Ming blickte nach oben. „Nichts“, sagte sie. „Es muß wohl von da drüben kommen.“ Sie hob die Hand, und zu ihrem Verdruß zeigte der Finger auf die herankommende Gestalt von Ron Ron Ron, der genau wie sie und Li Pao ein Exilant war (allerdings stammte
er aus dem 140sten Jahrhundert). „Oh, sieh dich vor, Li Pao. Da kommt dieser Langweiler Ron...“ Sie war überrascht, als Li Pao enthusiastisches Entzücken zum Ausdruck brachte. „Mein alter Freund!“ Miss Ming war überzeugt davon, daß Li Pao genau wie alle anderen Ron Ron Ron einfach schrecklich fand. Aber ihm zu Gefallen lächelte sie so süß sie nur konnte. „Wie reizend, dich zu sehen.“ Ron Ron Ron trug einen arroganten Ausdruck auf seinem exakt ovalen Gesicht zur Schau. Das war sein üblicher Ausdruck. Auch ihn schien Li Paos Überschwang ein wenig zu überraschen. „Hum?“ Die beiden Männer musterten sich gegenseitig. Mavis spürte deutlich, daß sie das Eis brechen mußte. „Li Pao sagte gerade und das war ausdrücklich nicht auf Doktor Volospion oder irgendeine andere Person gemünzt - daß die Schwachen Schwäche hassen und keine... wie war das noch gleich, Li Pao?“ „Unwichtig, Miss Ming. Ich muß...“ Er schenkte Ron Ron Ron ein dünnes Lächeln. Ron Ron Ron räusperte sich. „Nein, bitte...“ „Es war außerordentlich wichtig“, sagte Miss Ming. „Fand ich.“ Ron Ron Ron richtete sein eigenartiges Lederwams, so daß die Ränder genau eine Linie bildeten. Er fummelte an einem Knopf. „Dann mußt du es für mich wiederholen, Li Pao.“ Die Schultern seines Wamses waren rechtwinklig, und das ganze Kostüm hatte die exakten Proportionen eines Quadrats. Seine Hose bestand aus zwei identischen Rechtecken, und selbst die Schuhe waren zwei geometrisch genaue Quadrate. Seine Finger hatten alle die gleiche Länge. „Nur die Schwachen hassen Schwäche...“, murmelte Miss Ming, ihn ermunternd, „und...“ Li Pao kreischte fast: „... nur die Verletzten verurteilen den Schmerz der anderen. Verstehst du, Ron Ron Ron, ich habe nicht...“ „Eine interessante Beobachtung.“ Ron Ron Ron stützte mit zusammengelegten Händen das Kinn. „Ja, ja, ja. Ich verstehe.“ „Nein!“ Li Pao machte zwei verzweifelte Schritte nach vorn, als wolle er weggehen. „Würdest du, Li Pao, folglich auch sagen“, begann Ron Ron Ron, und Li Pao beruhigte sich, „daß eine starke Person, die ihre Stärke demonstriert, in Wirklichkeit eine charakterliche Schwäche verrät?“ „Nein. Ich...“ „Oh, aber den Gedanken müssen wir unbedingt vertiefen.“ Ron Ron Ron wurde beinahe munter. „Es scheint doch, daß du damit indirekt meine Arbeit als Führer der Symmetrischen Fundamentalisten Bewegung und ihren Versuch der Machtergreifung während der Anarchistenimker-Periode verurteilst.“ „Ich versichere dir, daß ich nicht...“ Li Paos Stimme war zu einem Flüstern zusammengesunken. „Mit Sicherheit waren wir stark genug“, fuhr Ron Ron Ron fort. „Wenn der Planet in der Zwischenzeit nicht von einer überlegenen, fremden Militärmacht (deren Namen wir nie erfahren haben) als Angriffsbasis benutzt worden wäre, wenn diese Militärs nicht buchstäblich alle Oppositionellen ermordet und das übrige Drittel der Menschenrasse während ihrer Besetzung versklavt hätten - zugegeben, sie blieben nicht viel länger als zwanzig Jahre, entweder weil unser Teil der Galaxis nicht mehr strategisch wichtig war, oder weil sie von den Feinden vernichtet wurden - wer weiß, was wir hätten erreichen können.“ „Wunder“, keuchte Li Pao, „Wunder, da bin ich sicher.“ „Du bist sehr freundlich. Aber als die Militärs abzogen, hinterließen sie die Erde in einem halbbarbarischen Zustand, und ich vermute, es bestand kein Bedarf an den kultivierten Vorstellungen des Autonomen Bienenkorbismus oder des Symmetrischen Fundamentalismus.
Hätte man mir allerdings die Chance gegeben, so wäre...“ „Ich bin sicher. Ich bin sicher.“ Li Paos Stimme hatte die Qualität einer unter Druck stehenden Dampfmaschine angenommen. „Aber ich sehe“, fuhr Ron Ron Ron fort, „ich schweife ab. Siehst du, weil ich mich bemühte, mit den Fremden zu kommunizieren, wurden meine Motive fehlverstanden...“ „Natürlich. Natürlich.“ „... und ich war gezwungen, mit Hilfe der experimentellen Zeitkunst hierher zu fliehen. Trotzdem. Meine Einstellung bleibt diese...“ „Genau. Genau. Genau...“ Miss Ming schüttelte den Kopf. „Oh. Ihr Männer und Eure Politik. Ich...“ Aber sie konnte sich nicht durchsetzen. Ron Ron Rons (oder Rons Rons Rons - diese Schreibweise war ihm lieber) Stimme leierte weiter und wurde nur von Li Paos kläglichem Seufzen und Stöhnen unterbrochen. Sie konnte nicht verstehen, warum sich Li Pao in diese scheußliche Situation hatte locken lassen. Sie hatte ihr bestes getan, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, die beide interessieren würde, denn es hatte so ausgesehen, als wolle Li Pao mit Ron Ron Ron sprechen. Und sie wußte, das einzige, was beide Männer gemein hatten, waren nostalgische Erinnerungen an politische Aktivitäten und die aus Ohnmacht geborene Neigung, die Unzulänglichkeiten ihrer Mitbürger hier am Ende der Zeit zu kritisieren. Aber Li Pao schien jetzt kein Interesse zu haben. Ron Ron Rons Gedanken zu kommentieren. Sie waren auch (außer für einen symmetrischen Fundamentalisten) beileibe nicht interessant. Miss Ming wußte, wie das mit einigen Leuten so war: Wenn man bei ihnen einen Knopf drückte, hörten sie nicht mehr auf zu reden. Das kannte sie schon aus ihrer Heimat, aus dem Iowa des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Da hatte es die gleichen Leute gegeben. Mavis spürte, daß es wieder mal an ihr war, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen. Li Pao und ihr selbst zuliebe. „... sie haben sich nie ordentlich geteilt, verstehst du“, sagte Ron Ron Ron. „Geteilt?“ Miss Ming ergriff die Gelegenheit, die sich durch die Pause in seinem Monolog ergab. „Ordentlich? Tja, das ist ja genauso wie bei meiner Schweizer Käsepflanze. Die stand doch immer bei mir im Büro. Und ist so groß geworden! Aber die Blätter wollten sich einfach nicht ordentlich teilen. Ist das bei deiner Pflanze auch so gewesen, Ron Ron Ron?“ „Wir diskutieren über Stärke“, sagte Ron Ron Ron und schien etwas verwirrt. „Stärke! Ihr hättet meinen Exgatten treffen sollen. Habe ich ihn schon mal erwähnt? Donny Stevens, dieser Lump. Aber eins muß man ihm lassen, er war stark! Betty - ihr wißt doch, eine Freundin, von der ich euch schon erzählt habe -, sie ist eigentlich mehr als bloß eine Freundin...“ Sie zwinkerte. „... Betty hat immer gesagt, Donny Stevens sei stolzer auf seine Brust als auf seine Lust! He?“ Sie schüttete sich aus vor Lachen. Die beiden Männer sahen sie bestürzt an. Li Pao nagte an seiner Unterlippe. „Und das wollte bei Donny viel bedeuten“, fügte Mavis hinzu. „Uschhhh...“, sagte Li Pao. „Tatsächlich?“ meinte Ron Ron Ron in sonderbarer Tonlage. Sofort trat wieder Stille ein. Mavis versuchte geflissentlich, sie auszufüllen. Sie legte eine Hand auf Ron Ron Rons Röhrenärmel. „Ich sollte das gar nicht sagen, es widerspricht nämlich meiner Überzeugung, und überhaupt ich bin ‘65 polarisiert worden und wurde nach meiner Scheidung eine Voll-Frau, verstehst du? Aber was ich noch sagen wollte und eigentlich nicht sagen sollte: Manchmal vermisse ich diesen Bullimann.“ „Tja...“ Ron Ron Ron zögerte. „Wenn du mich fragst“, sagte Mavis, die jetzt so richtig in Schwung kam, „braucht diese Welt mehr richtige Männer. Verstehst du? Richtige Männer. Heutzutage haben ja die Mädchen mehr Mumm als die Jungs. Ein richtiger Mann... Junge, Junge!... und ich würde meine
Neigungen sofort ändern, einfach so...“ Sie versuchte erfolglos, mit den Fingern zu schnippen. „Sssss...“, sagte Li Pao. „Wie dem auch sei“, - Mavis war eifrig darauf bedacht, das eigentliche Thema wieder aufzunehmen, - „es ist dasselbe wie mit den Schweizer Käsepflanzen. Sie sind stark. Alle Lebensbedingungen sind ihnen recht, und sie würgen alles, was ihnen in den Weg kommt. Man benutzt die großen Exemplare in Paraguay zum Fällen von Bäumen - oder ich sollte besser sagen, man hat sie benutzt? Aber was das Teilen der Blätter betrifft, nun, ich kann nur eins sagen: Diese Dinger sind eklig, wenn’s ans Trainieren geht. Genau wie starke Männer, schätze ich. Am Ende muß frau sie so nehmen wie sie sind, oder die Finger davonlassen.“ Mavis lachte wieder und wartete auf lachende Antwort; vergeblich. Aber sie hielt sich tapfer. „Ich blieb bei meinen Hauspflanzen und ließ den Esel in seinem Stall zurück, wo er von mir aus weiterspielen konnte. Und wie er gespielt hat! Betty sagte, wenn ich die Zahl der Eselinnen nachrechnen wollte, die er bediente, während ich ihn noch bei der Arbeit im Labor wähnte, brauchte ich einen Computer!“ Li Pao und Ron Ron Ron standen jetzt nebeneinander und starrten sie an. „Zwei Computer!“ Ihr war es wirklich gelungen, die Unterhaltung witzig aufzulockern. Darüber hinaus hatte sie Li Pao die Chance gegeben, ein ihm genehmeres Thema anzuschlagen, aber weder er noch Ron Ron Ron hatten Sinn für Humor. Li Pao musterte seine Füße. Ron Ron Ron hatte ein dümmliches Grinsen aufgesetzt und knurrte sie an, obwohl sie zu reden aufgehört hatte. Miss Ming entschied sich für einen weiteren Vormarsch: „Habe ich schon von dem Fleißigen Lieschen erzählt, das gar kein Fleißiges Lieschen war, sondern Giftefeu? Wir sind einmal raus aufs Land gefahren, das war vor meiner Scheidung - es muß kurz nach unserer Hochzeit gewesen sein - entweder ‘60 oder ‘61 - nein, ‘61 ganz genau, es war nämlich Frühling - Mai, glaube ich...“ „Sieh mal!“ Li Paos Stimme war so laut, daß Mavis zusammenzuckte. „Was?“ „Da ist Doktor Volospion.“ Er winkte dahin, wo die Menge am dichtesten war. „Er hat dir ein Zeichen gegeben, Miss Ming Da drüben!“ Die Nachricht munterte sie auf. Sie hatte jetzt eine Entschuldigung, um sich davonzumachen. Aber sie konnte Li Pao natürlich nicht zeigen, wie froh sie darüber war. Also lächelte sie milde. „Oh, laß ihn nur warten. Daß er mein Gastgeber hier ist, heißt noch lange nicht, daß ich ihm auf jeden Wink gehorchen muß.“ „Bitte“, sagte Ron Ron Ron und zog eine kleine, rosafarbene, ebenmäßige Hand aus der quadratischen Tasche. „Du darfst nicht zulassen, daß wir dich in Beschlag nehmen, Miss Ming.“ „Na schön...“ Sie war erlöst. „Ich seh euch vielleicht später. Tschühüs.“ Ihr Zwinkern war neckisch. Sie flatterte mit den Fingern. Aber als sie sich nach Doktor Volospion umsah, schien er verschwunden zu sein. Sie drehte sich wieder um und sah zu ihrer Überraschung Li Pao davonsprinten, weg von Ron Ron Ron und hin zum Fuß eines von Abu Thalebs Monstren. Vielleicht hatte er jemanden entdeckt, mit dem er reden wollte. Sie mied Ron Ron Rons Blick und ging in die Richtung, die Li Pao ihr angegeben hatte. Sie bahnte sich einen Weg durch Gäste und umherwandelnde Elefanten, die zu mehr oder weniger gleichen Teilen anwesend waren. „Ich habe jedenfalls mein Bestes gegeben“, sagte sie. „Es ist wirklich sehr leicht, mit den beiden zu reden.“ Sie gähnte. Die Party fing schon an, sie zu langweilen.
3. KAPITEL IN DEM MISS MING VERGEBLICH TROST SUCHT Die Elefanten waren die am häufigsten vertretenen Tiere, aber beileibe nicht die größten, die zur Unterhaltung der Party beitrugen. Als Hauptattraktion galten die sieben riesigen Bestien, die auf ihren grünbraunen Keulen hockten, schwere Köpfe zum Himmel reckten und klagende Gesänge verlauten ließen. Sie waren der Stolz von Abu Thalebs Sammlung - perfekte Rekonstruktionen der singenden Ungeheuer von Justine IV, einem Planeten, der seit der allgemeinen Auflösung des Kosmos verschwunden war (der Leser wird sich erinnern, daß die Erde eine Menge anderer Sternsysteme zur Verjüngung ihrer eigenen Energien aufgebraucht hatte). Abu Thalebs Begeisterung für Elefanten und alles Elefantöse war so groß, daß er den Namen des urzeitlichen Kommissars von Bengalen angenommen hatte - und zwar einzig und allein aus dem Grund, weil diese legendäre Gestalt unter anderem den Titel „Herr aller Elefanten“ trug. Die Ungeheuer sahen aus wie riesige Paviane. Ihre Köpfe ähnelten denen von AiredaleTerriern (die heute natürlich längst ausgestorben sind). Die Bestien waren so groß, daß man sie, unmittelbar vor ihnen stehend, nicht mit einem Blick umfassen konnte. Ihre zotteligen Köpfe thronten so hoch über der Partygesellschaft, daß ihr wundervoller Gesang kaum zu hören war. Die Gäste des Kommissars aßen von Tabletts, die Mammutbabys auf ihren Rücken trugen. Manche Gäste lehnten an den Lederhäuten von Flußpferden, die hier und da auf dem Boden von Abu Thalebs riesigem Palast knieten, der seinerseits die Form zweier marmorner Elefanten hatte, die sich mit ineinandergeschlungenen Rüsseln gegenüberstanden. Mavis Ming blieb neben einer ruhenden Antilope stehen und fischte aus deren linkem Hörn eine oder zwei winzige, schmackhafte Muzen. Die Augen des Tiers musterten sie, als sie geistesabwesend das Gebackene kaute. „Du siehst so gelangweilt aus, wie ich mich fühle“, sagte sie zu dem Tier. Sie konnte in der ganzen ausgelassenen Meute keinen Gesprächspartner finden. Fast jeder ihrer Bekannten schien ihr aus dem Weg zu gehen, und Doktor Volospion war nirgends zu sehen. „Diese Party“, fuhr sie fort, „ist entschieden zu öde.“ „Was für ein herrlisches Kleidschen, Miss Ming! So duftisch! So gelb!“ Süßes Gestirn Mazis, in Volants und Falten aus verschiedenen Grautönen, plazierte sich vor sie und lächelte matt. Seine Augenbrauen hatten einen raffinierten Schwung, sein Haar war unglaublich gekräuselt, und auf den Wangen lag ein köstliches Rouge. Er machte eine Verbeugung. Das gelbe Kostüm mit dem kurzen Rock, den zahlreichen Petticoats und babyblauen Borten (passend zu ihren Augen, das Vorteilhafteste an ihr) war, so fühlte Mavis, bestimmt das sexyste Stück, das sie seit langem getragen hatte. Deshalb überraschte sie sein Kompliment nicht. Sie gab ein trällerndes Kleinmädchenlachen von sich und pirouettierte für ihn. „Ich fand“, sagte sie, „es ist höchste Zeit, daß ich mich wieder etwas femininer gebe. Wie findest du die Schleife?“ Die große blaue Schleife im honigblonden Haar war gelb abgesetzt und paßte zu den kleineren Schleifen auf ihren gelben Schuhen. „Wunderbah!“ säuselte Süßes Gestirn Mazis. „Unvergleischlisch!“ Mavis war plötzlich wieder besser gelaunt. Sie blies ihm einen Kuß zu und flatterte mit den Wimpern. Sie schmiegte sich an Süßes Gestirn Mazis, der manchmal eine sehr unterhaltsame Person sein konnte (ob als Mann oder Frau - seine Laune wechselte von Tag zu Tag). Dann nahm sie seinen Arm und vertraute ihm an: „Du weißt genau, wie man Mädchen betört. Wenn nicht du, wer sollte es sonst wissen, nicht wahr? Ich verrate dir ein Geheimnis. Daß ich einen
weiten Rock trage, ist eine List. Dadurch wirkt meine Taille schlanker. Ich bin die erste, die zugibt, daß ich nicht das dünnste Mädchen der Welt bin, aber betonen brauche ich das doch wohl nicht, oder?“ „Außergewöhnlisch.“ Netterweise begleitete Süßes Gestirn Mazis Mavis, die ihm weitere Geheimnisse zuflüsterte. Sie erzählte ihm von dem gepunkteten Elefanten, den sie bekommen hatte, als sie sieben gewesen war. Viele Jahre habe sie ihn gehalten, sagte sie, doch schließlich sei er von einem Lastwagen überfahren worden, nachdem Donny Stevens während eines Ehekrachs das Tier durchs Fenster der Wohnung auf die Straße geworfen habe. „Alles andere hätte ich wohl eher ertragen“, sagte sie. Süßes Gestirn Mazis nickte und stieß ein paar kleine Klagerufe aus, obwohl es nicht danach aussah, als habe er die Anekdote mitbekommen. Wenn er einen Nachteil in seiner Eigenschaft als Begleiter hatte, so war es seine Flatterhaftigkeit. Seine Aufmerksamkeit schwankte hin und her. „Und er hielt mir vor, ich sei kindisch“, ereiferte sich Mavis und legte sozusagen doppelte Energie in die Unterhaltung, um Süßes Gestirn Mazis’ Unaufmerksamkeit wettzumachen. „Hai Er hatte den Geisteszustand eines Elfjährigen mit schmutziger Phantasie! Aber da siehst du’s mal wieder. Ich bekam mehr Liebe von dem Elefanten als von Donny Stevens. Immer werden diejenigen häßlich behandelt, die versuchen, lieb zu sein, stimmt’s nicht?“ „Unglaublisch!“ „Für ihn hatte ich an allem Schuld, Die kleine Mavis kriegt immer die Schuld zugeschoben! Das war schon als Kind so. Für alle der Prügelknabe, das ist Mavis Ming! Mein Vater...“ „Wirklisch?“ Sie strich den letzten Satz und dachte sich etwas aus, das besser zu ihrer Gefühlslage paßte. „Wenn du nicht selber für dich eintrittst, wird ein anderer auf dir herumtrampeln. Was ich in der Vergangenheit schon alles für andere Leute getan habe! Und weißt du, was fast immer passiert?“ „Natürlisch...“ „Sie drehen sich um und schleudern dir die gemeinsten Dinge an den Kopf. Sie geben dir immer die Schuld, obwohl sie sich an die eigene Nase fassen sollten. Diese Frau - Dafnish Armatuce nun...“ „Tragisch.“ „Doktor Volospion sagt, ich sei ihr gegenüber zu unbekümmert gewesen. Ich habe mich um ihr Kind gekümmert, als wäre es mein eigenes gewesen! Manchmal will man einfach nicht mehr weitermachen, Süßes Gestirn. Aber man muß es immer wieder von neuem versuchen, nicht wahr? Manche von uns haben ein schweres Los zu tragen...“ Süßes Gestirn Mazis blieb vor einem Berg übelriechenden, behaarten Fleisches stehen, der sich rhythmisch bewegte und die ganze Umgebung erzittern und kleine Risse entstehen ließ. Es war das sanfte Zehenwippen eines von Abu Thalebs singenden Ungeheuern. Süßes Gestirn Mazis blickte ergriffen nach oben, konnte aber den Kopf der Bestie nicht sehen. „Oh, wirklisch“, stimmte er zu. „Eine ganz, ganz hübsche Melodie, findest du nicht auch?“ Sie horchte und zuckte mit den Schultern. „Nein, finde ich nicht.“ Er war ein wenig überrascht. „Für meinen Geschmack klingt das zu sehr nach einem Trauerlied“, sagte sie. „Ich mag lieber etwas Schwungvolles.“ Sie seufzte, und ihre Laune sank auf den Stand von vorhin. „Oh, mein Guter! Das ist eine sehr langweilige Party!“ Er war verblüfft. „Wie? Diese verschwenderische Fülle von Dickhäutern soll langweilisch sein? Oh, nein! Isch finde das ganz, ganz faszinierend, Miss Ming. Eine Extravaganz an Elefanten, eine gigantische Großzügischkeit!“ Mavis konnte dem nicht beistimmen. Vielleicht war sie etwas voreingenommen.
Süßes Gestirn Mazis fühlte ihre Unzufriedenheit und ließ sich dadurch beunruhigen. „Aber“, fügte er hinzu, „jeder weiß ja, wie leischt isch zu beeindrucken bin. Bei dem bißschen Phantasie, das isch selbst habe, weißt du?“ Sie seufzte. „Ich habe mehr erwartet.“ „Mehr Monstren?“ Er blickte sich um, als wollte er ein paar mehr für sie suchen. „Argonherz Pos Beitrag steht noch aus! Es wird gemunkelt, er werde eine ganz, ganz große Überraschung bereithalten.“ „Das wußte ich nicht.“ Sie seufzte wieder. „Aber daran liegt’s nicht. Ich hatte gehofft, eine nette Person zu treffen. Jemanden du verstehst -, mit dem ich eine richtige Beziehung haben könnte. Wahrscheinlich habe ich von dieser Dafnish und ihrem Kind zu viel erwartet, aber immerhin hat mich die ganze Sache darauf gebracht. Als Frau bin ich ohne Erfüllung. Süßes Gestirn Mazis, und das ist die nackte Wahrheit.“ Sie sah ihren Begleiter erwartungsvoll an, der immer noch elegant seinen Kopf himmelwärts reckte. „Ts“, machte Süßes Gestirn Mazis zerstreut, „ts, ts.“ Ihre Stimme wurde etwas lauter. „Ich schätze, du bist auch kaum in Stimmung. Ich werde nach Hause gehen, wenn sich nicht bald was auftut. Willst du mich begleiten... oder später vorbeischauen... ? Ich wohne immer noch bei Doktor Volospion.“ „Tatsächlisch?“ Sie lachte über sich selbst. „Ich sollte etwas beherzter vorgehen, stimmt’s? Auf einen so zaudernden Annäherungsversuch wird kaum einer ansprechen. Nun, Süßes Gestirn Mazis, was ist los?“ „Los?“ Mavis verlor nun wirklich den Mut. „Ich meinte...“ „Isch habe O’Kala Incarnadine versprochen, ihn hier zu treffen“, sagte Süßes Gestirn Mazis. „Mir war doch gleich als... ah... da ist er ja!“ jubelte Mavis’ Begleiter. „Wenn du misch jetzt entschuldigen willst, Miss Ming...“ Er verbeugte sich gekonnt, mit einer schwungvollen Geste der Hand. „Oh, natürlich“, knurrte sie. Süßes Gestirn Mazis stieg einen Meter in die Luft und trieb auf O’Kala Incarnadine zu, die als Rhinozeros kam. „Wie ich mich fühlen muß“, sagte Mavis zu sich, „selbst O’Kala Incarnadine sieht attraktiver aus. Bye, bye, Süßes Gestirn. Nichts für ungut. Oh, Himmel. Diese Langeweile ist tödlich!“ Und dann sah sie plötzlich ihren Beschützer, ihren Gastgeber, Mentor, Schutzengel, und mit einem erleichterten „Hey!“ flog sie los. Doktor Volospion war endlich aufgetaucht! Für Mavis schien er in Momenten wie diesem die einzige Stütze zu sein. Er hatte sie entdeckt, als sie benommen und verängstigt in ihrer Zeitmaschine am Ende der Zeit gelandet war. Doktor Volospion hatte sie für seine Menagerie in Beschlag genommen, weil er ihren Aussprüchen entnahm, daß sie zu irgendeinem religiösen Orden gehörte (sie war nicht ganz bei Sinnen gewesen). Erst später entdeckte er, daß sie eine einfache Historikerin war, die annahm, in der Vergangenheit (im Mittelalter) gelandet zu sein. Volospion war zwar enttäuscht darüber gewesen, hatte sie aber liebenswürdig behandelt und ließ sie nun den gesamten Haushalt führen. Sie paßte nicht in seine Menagerie, die schwerpunktmäßig religiös angelegt war und Nonnen, Propheten, Götter, Dämonen und so weiter ausstellte. Mavis hätte ein eigenes Quartier beziehen können, aber sie zog die Geborgenheit seines manchmal trübseligen Domizils vor. Sie verlangsamte ihre Geschwindigkeit. Doktor Volospion begrüßte gerade den Kommissar von Bengalen, dessen goldenes Lufttaxi, das einem Elefantensattel nachempfunden war, langsam nach unten schwebte (offensichtlich hatte Alu Thaleb seine gigantischen Haustiere gefüttert).
„Kuuii“, rief Miss Ming, als sie sich näherte. Aber Doktor Volospion schien sie nicht zu hören. „Kuuii.“ Er unterhielt sich mit Abu Thaleb. „Kuuii, Doktor!“ Jetzt wandte Volospion ihr seine zynischen, finsteren Gesichtszüge zu. Der schwarzglänzend; Kopf neigte sich zu einer Art Verbeugung, und die Winkel seines dünnen, roten Mundes gingen nach oben. Als Mavis ankam, war sie außer Atem. „Es ist nur die kleine Miss!“ Abu Thaleb gab sich onkelhaft. „Miss Ming, da treffen wir ja wieder zusammen. Scheherezide, komm in unsere Mitte.“ Der dunkelhäutige Kommissar gehörte zu den wenigen, die Doktor Volospion regelmäßig besuchten. Vielleicht war Abu Thaleb der einzige Freund des Doktors, der Mavis freundlich behandelte. „Ich hoffe, du amüsierst dich gut.“ „Die Party ist prima für Leute, die Elefanten mögen“, sagte sie. Aber der Scherz ging daneben. Abu Thaleb runzelte die Stirn. Also fügte sie schnell hinzu: >Ich persönlich liebe Elefanten.“ „Ich wußte gar nicht, daß wir da etwas gemein haben.“ „Oh, ja. Als ich noch ein keines Mädchen war, ritt ich im Zoo auf Elefanten, so oft ich konnte. Zumindest einmal im Jahr, auf meinem Geburtstag. Mein Vati tat alles, um mir dieses Vergnügen möglich zu machen, egal was passierte...“ „Ich muß mich den Komplimenten anschließen.“ Doktor Volospion musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. „Du überstrahlst uns alle, Miss Ming. Wie geschmackvoll! Was für eine Eleganz! Mit unseren armseligen Gewändern sind wir wie flackernde Kerzenlichter gegenüber einer Supernova!“ Ihr Kichern kam zögernd. Es schien, als wäre ihr in seiner Bemerkung ein zynischer Unterton aufgefallen. Aber dann legte sich über ihr Gesicht ein fast friedlich heiterer Ausdruck. Seine Schmeicheleien hatten eine euphorische Wirkung auf sie. Sie schnurrte wie eine gekraulte Katze. „Oh, du schaffst es aber auch immer wieder, Doktor Volospion. Hier stehe ich und versuche spröde, witzig, kühl und stolz zu sein, und du bringst mich wie ein Schulmädchen zum Grinsen und Erröten.“ „Verzeih mir.“ Sie legte die Stirn in Falten und führte einen Finger an die Lippen. „Ich suche nach einer witzigen Bemerkung, um dir zu gefallen.“ „Deine Anwesenheit ist eine einzigartige Ehre, Miss Ming.“ Doktor Volospion bewegte die dünnen Arme, die kaum das Ärmelgewicht seines schwarzgoldenen Brokatgewandes tragen konnten. „Aber...“ Doktor Volospion wandte sich Abu Thaleb zu. „Du verwöhnst, uns mit einer Welt von sanften Monstren, mein lieber Kommissar. Groß von Gestalt, milde Manieren, feinsinnig im Geist - das sind deine paradoxen Dickhäuter.“ „Es sind äußerst praktische Biester, Doktor Volospion“, verteidigte sich Abu Thaleb. Auch er schien einen zynischen Ton herauszuhören. So reagierten die Leute oft auf Volospions Bemerkungen, die fast immer - an der Oberfläche jedenfalls - besonders schmeichelhaft waren. „Oh, gewiß!“ Doktor Volospion beobachtete ein vorbeiziehendes Elefantenkalb. Es blieb stehen und streckte vorsichtig den Rüssel aus, um ein Fruchtstück aus der offenen Hand des Kommissars entgegenzunehmen. „Diener des Menschen, seit Anbeginn der Zeit.“ „In vielen Ländern und Epochen wie Götter verehrt...“, fügte Abu Thaleb hinzu. „Götter! Wahrhaftig, Ganescha...“ Abu Thaleb hatte seine Zurückhaltung aufgegeben: „Ich habe Exemplare jeder bekannten
Spezies wiedererschaffen! Die englische, bulgarische, chinesische und natürlich auch die indische...“ „Gibt es für dich einen Favoriten?“ Volospion hievte einen Ärmel nach oben und kratzte sich an der Augenbraue. „Meine Favoriten sind die Schweizer Alpen-Elefanten. Davon gibt es nur noch einen. Beachte seine seltsam geformten Hufe. Es waren die berühmten weißen Elefanten von Sitting Bull, die bei der Befreiung Chikagos im fünfzigsten Jahrhundert eingesetzt wurden.“ Miss Ming fühlte sich veranlaßt, einen Einwurf zu machen. „Bist du dir absolut sicher, Kommissar? Die Geschichte klingt zwar ein wenig vertraut, aber sie ist doch nicht ganz richtig. Ich bin immerhin Historikerin, wenn auch keine besonders gute. Du denkst nicht zufällig an Karthago... ?“ Sie war verwirrt und offensichtlich besorgt, den Kommissar vielleicht beleidigt zu haben. „Es tut mir leid. Ich hätte mich nicht einmischen sollen. Du weißt, was ich für ein kleiner Dummkopf bin...“ „Ich bin mir da absolut sicher, meine Liebe“, sagte Abu Thaleb freundlich. „Der größte Teil meiner Informationen stammt von einem Tonband, das Jherek Carnelian für mich in einer verrottenden Stadt gefunden hat. Die Übersetzung mag vielleicht nicht ganz perfekt sein, aber...“ „Ah, Karthago kann also wie Chikago geklungen haben. Das wäre möglich, weil das Band selbst eine Aufnahme von Aufzeichnungen ist. Siehst du, Sitting Bull könnte vielleicht...“ Doktor Volospion unterbrach ihre Spekulationen. „Was müssen das doch noch für romantische Zeiten gewesen sein! In deinen Geschichten, Miss Ming, lebt die Atmosphäre unserer eigenen glorreichen und entschwundenen Vergangenheit.“ Während er sprach, blickte er Abu Thaleb an. Abu Thaleb bewegte sich unruhig hin und her. Miss Mavis lachte. „Nun, es war nicht alles ein reines Zuckerschlecken, weißt du.“ Sie seufzte gerührt und wandte sich an Abu Thaleb. „Was ich an Doktor Volospion so schätze, ist, daß er mich immer ins Gespräch bringt. Er ist so interessiert...“ Abu Thaleb mied die Blicke sowohl von Mavis als auch von Volospion. „Sag über ihn was du willst“, fuhr sie fort, „Doktor Volospion ist ein Gentleman!“ Sie wurde ernst. „Nein, die Vergangenheit war in vieler Hinsicht eine Hölle. Trotzdem muß ich sagen, gab es auch ein paar angenehme Dinge, die ich erst jetzt richtig vermisse. Sex zum Beispiel.“ „Meinst du sexuelles Vergnügen?“ Der Kommissar von Bengalen zog eine Banane aus seiner gesteppten Manschette und fing an, sie zu schälen. Miss Ming schien bestürzt über diese Geste. Ihre Stimme klang kühl. „Genau das meine ich.“ „Oh, natürlich...“, murmelte Doktor Volospion. Miss Ming fand zu ihrer alten Stimme zurück. „Keiner hier scheint wirklich daran interessiert zu sein. Ich meine, wirklich interessiert. Wenn das altmodisch ist, will ich an jedem Tag der Woche im - wie ihr es nennt - Zeitalter der Dämmerung leben. Das ist meine Zeit. Nun, es kommt mir nicht auf die Tag- oder Wocheneinteilung an. Ihr wißt, was ich meine. Echten Sex!“ Sie spürte, daß sie immer gereizter wurde, und versuchte, ihre Rede durch ein melodisches Lachen aufzuheitern. Als ihr Lachen abnahm, berührte Doktor Volospion mit dem rechten Zeigefinger sein linkes Augenlid. „Ist das möglich, Miss Ming?“ „Oh, du bist so süß, Doktor Volospion. In deiner Gegenwart kommt ein Mädchen sich manchmal sehr albern vor. Es ist nicht deine Schuld. Aber du hast etwas, das wir einen >unglücklichen Tonfall< nannten - du scheinst mit allem deinen Spott zu treiben. Ich weiß, woran es liegt. Das brauchst du mir gar nicht erst zu sagen. In Wirklichkeit bist du schüchtern, genau wie ich. Ich habe mit dir lange genug gelebt, um zu wissen...“ „Wie immer bin ich geehrt von deiner Interpretation meines Charakters. Aber ich bin durch und durch merkwürdig. Und neugierig. Ich kenne zum Beispiel einige, die sich fast ausschließlich mit dem sexuellen Genuß befassen. Die ehrwürdige Lady Charlotina, O’Kala
Incarnadine, Gaf das Pferd in Tränen - und natürlich Mistress Christia, die Ewige Konkubine.“ Er warf ein Auge über die Gäste, die in der Nähe standen. „Jherek Carnelian bringt sich fast um auf der Jagd nach seinem Sexualobjekt...“ „Das meine ich nicht“, erklärte Miss Ming. „Siehst du, sie spielen nur damit. Sie sind davon nicht eigentlich motiviert. Es ist schwer, das deutlich zu machen.“ Sie wurde schüchtern. „Wie dem auch sei. Ich glaube nicht, daß einer von denen meinem Typ entspricht.“ Der Kommissar von Bengalen hatte die Banane an einen vorbeiziehenden Dickhäuter verfüttert. „Ich meine mich zu erinnern, daß du einmal sehr angetan warst von der ehrwürdigen Lady Charlotina, Miss Ming“, sagte er. „Ach, das war doch...“ Doktor Volospion betrachtete aufmerksam irgend etwas hinter ihrer linken Schulter. „Und da war doch noch diese andere Dame. Eine Zeitreisende, der ich selbst ein wenig zugetan war. Ja, wir verhielten uns eine Weile fast wie Rivalen. Du warst verliebt. Miss Ming, das hast du gesagt.“ „Oh, jetzt bist du grausam! Es wäre mir lieber gewesen, du hättest das nicht erwähnt...“ „Natürlich.“ Nun blickte er über ihre rechte Schulter. „Eine Tragödie.“ „Es war nicht... ach, ich mag nicht darüber nachdenken. Dafnish hat mich schrecklich enttäuscht - und besonders Schnüffel. Woher konnte ich wissen, daß... Jedenfalls, hättest du mich nicht getröstet, ich weiß nicht, was ich getan hätte. Aber es wäre mir lieber, du würdest die Geschichte nicht wieder erwähnen. Zumindest nicht hier. Oh, Leute können manchmal so tückisch sein. Ich bin nicht perfekt, das weiß ich, aber ich bemühe mich immer um Takt. Ich versuche, die hellen Seiten zu sehen. Anderen zu helfen. Betty hat immer gesagt, ich solle auch mal an meine eigenen Interessen denken. Sie fand, ich wäre nicht selbstsüchtig genug. Oh, du liebe Güte - man muß mich für schrecklich töricht halten. Wenn man überhaupt etwas von mir hält!“ Sie schniefte. „Es tut mir leid...“ Sie drehte den Kopf und folgte Doktor Volospions Blick. Li Pao war in der Nähe, verbeugte sich in Volospions Richtung und machte Anstalten wegzugehen. Dabei hatte er es offensichtlich eilig. Aber Doktor Volospion rief ihn lächelnd zu sich. „Ich beglückwünschte gerade unseren Gastgeber zu seiner Sammlung“, sagte er zu Li Pao. Abu Thaleb machte eine bescheidene Geste. Miss Ming biß sich auf die Lippe. Li Pao räusperte sich. „Ist sie nicht herrlich?“ fragte Doktor Volospion. „Es ist schön, die Bestien bei der Arbeit zu sehen“, meinte Li Pao spitz. „Schön für alle Nichtstuer.“ Doktor Volospion lächelte breit. „Ah, Li Pao, du lehnst wie gewöhnlich Vergnügungen ab. Trotzdem dienen sie deiner Entspannung, vermute ich. Sonst würdest du nicht so oft auf unseren Parties erscheinen.“ Li Pao hielt sich zurück. „Ich komme aus Prinzip, Doktor Volospion. Hin und wieder treffe ich jemanden, der mir einen Augenblick lang zuhört. Mein Gewissen treibt mich hierher. Vielleicht kann ich eines Tages auch dich vom Wert des moralischen Kampfes überzeugen.“ Ein zärtlicher Rüssel liebkoste sein orientalisches Ohr. Er bewegte den Kopf. Doktor Volospion war versöhnlich gestimmt. „Ich bin überzeugt davon, Li Pao, lieber Freund. Sein Wert für das siebenundzwanzigste Jahrhundert ist unermeßlich. Aber wir leben am Ende der Zeit und haben ganz andere Bedürfnisse. Unsere Zukunft ist ungewiß, gelinde gesagt. Der Kosmos zieht sich zusammen und verschwindet, und bald verschwinden wir mit ihm. Meinst du, geschäftiges Treiben wird die Auflösung des Universums aufhalten? Ich glaube nicht.“ Miss Ming zupfte an einer blonden Locke. „Dann fürchtest du dich also vor dem Ende?“ sagte Li Pao mit einiger Genugtuung. Doktor Volospion ließ sich zu einem Gähnen hinreißen. „Fürchten? Was ist das?“
Li Paos Kichern wirkte verbissen. „Zugegeben, hier erfährt man dieses Gefühl selten genug. Aber ich glaube, du verrätst zumindest eine Spur davon, Doktor Volospion.“ „Furcht!“ Doktor Volospions Nasenflügel blähten sich verächtlich. „Du willst also sagen, daß ich... ? Aber das ist doch eine völlig unbegründete Behauptung. Ja eine Unterstellung sogar!“ „Ich unterstelle nichts, Doktor Volospion. Ich verunglimpfe nicht. Furcht ist, wenn wirkliche Gefahr droht, eine recht vernünftige Reaktion. Eine gesunde Antwort. Ist es etwa dumm, ein Messer zu ignorieren, das auf das Herz zusticht?“ „Messer? Herz?“ Abu Thaleb lockte einen widerspenstigen Elefanten mit einer Weintraube. „Verzeih mir, Li Pao...“ Doktor Volospion sagte sanft: „Ich glaube, Li Pao, du mußt mich für dumm halten.“ Li Pao ließ sich nicht unterkriegen. „Nein! Du fürchtest dich. Deine Verleugnung beweist es. Deine Haltung unterstreicht es!“ Doktor Volospion bewegte eine ausladende Schulter. „Solche Instinkte sind am Ende der Zeit verkümmert, verstehst du? Ich glaube, du überträgst deine Gefühle auf mich.“ Li Paos Blick blieb standhaft. „Ich täusche mich nicht, Doktor Volospion. Was bist du? Zeitreisender oder Raumreisender? Du stammst genauso wenig aus dieser Zeit wie ich oder Miss Ming.“ „Was... ?“ Doktor Volospion wurde hellhörig. „Du behauptest, du fürchtest dich nicht“, setzte der Chinese nach. „Aber du haßt, das ist offensichtlich. Dein Haß auf Lord Jagged zum Beispiel ist bekannt. Und die Eifersucht und Eitelkeit, die du durchblicken läßt, sind einem, sagen wir, Herzog von Queens völlig fremd. Er kennt keine wahre Arglist, aber du. Deshalb weiß ich, daß du mich verstehst.“ „Darauf lasse ich mich nicht ein!“ Doktor Volospions Augen blitzten. „Ich wiederhole... ich preise diese Emotionen. Wenn sie begründet sind...“ „Preisen?“ Doktor Volospion hob einhaltgebietend beide Hände und drehte die Handflächen nach außen. „Ich muß schon sagen, das ist eine seltsame Schmeichelei! Du gehst zu weit, Li Pao. Die Sitten deiner Zeit hätten solche Anzüglichkeiten nie erlaubt.“ „Ich finde, du gehst ein winzig kleines Stückchen zu weit, Li Pao.“ Mavis Ming bemühte sich, die Spannung zu lindern. „Was treibt dich so, den Doktor zu reizen? Er hat dir nichts getan.“ „Du willst es nicht zugeben“, Li Pao blieb hartnäckig, „aber wir stehen vor dem Tod aller Dinge. Damit rechtfertige ich meine direkte Art.“ „Sollen wir also schmählich sterben? Uns an eine Hoffnung klammern, die es nicht gibt? Nach Erlösung jammern, wenn wir jenseits aller Hilfe stehen? Du bist beleidigend, Li Pao.“ Miss Ming gab sich verzweifelt Mühe, die Stimmung zu heben. „Oh, seht mal da drüben!“ rief sie. „Sollte Argonherz Po endlich mit dem Essen angekommen sein?“ „Er kommt wirklich spät“, sagte Abu Thaleb und blickte von seinem Elefanten auf. Li Pao und Doktor Volospion ignorierten das Ablenkungsmanöver. „Es gibt eine Hoffnung, wenn wir daran arbeiten“, sagte Li Pao. „Was? Das ist doch unglaublich.“ Doktor Volospion suchte nach einem Verbündeten, fand aber nur die besorgten Augen von Mavis Ming. Er wich ihnen aus. „Das Ende steht bevor... das Unausweichliche kündet sich an. Der Tod kommt uns am Horizont entgegen. Die Sterblichkeit kehrt nach Millionen Jahren der Abwesenheit zur Erde zurück. Und du redest... wovon? Von Arbeit? Arbeit!“ Doktor Volospion lachte abrupt. „Arbeit? Wofür? Dieses Zeitalter wird aus gutem Grund das Ende der Zeit genannt, Li Pao! Wir haben das Ziel erreicht. Bald werden wir nichts als Asche im kosmischen Wind sein.“ „Aber wenn nur eine Handvoll von uns bedenken würden...“ „Verzeih mir, Li Pao, aber du langweilst mich. Ich habe heute schon mein Quantum an Langeweile gehabt.“ „Jungs, ihr sollt euch nicht so kabbeln.“ Mavis Ming übernahm eine betont mütterliche Rolle. „Dummes, trübseliges Gerede. Ihr schafft es noch, mich richtig zu deprimieren. Was kann schon dabei herausspringen? Habe ich euch von der Zeit erzählt, wo ich nun, ich war ungefähr
vierzehn und tat es wegen des zusätzlichen Kitzels -, wo wir vom Pfarrer Kovac in der Kirche erwischt wurden? Sandy weiß davon, sie war meine Freundin...“ Die Laune Doktor Volospions ließ sich nicht aufheitern. Der Ausdruck puren Schreckens blühte auf Mavis’ rundem Gesicht, als sie spürte, wieder ins Fettnäpfchen getreten zu sein, womit sie den Zorn ihres Beschützers heraufbeschwor. Er war gemein. „Miss Ming, deine Rolle als Diplomatin steht dir nicht besonders.“ „Oh!“ Auch Abu Thaleb bedrückte endlich die trübe Stimmung. „Hört jetzt auf...“ „Sei bitte so gut und unterbrich nicht. Und behalte deine absurden, witzlosen Anekdoten für dich, Miss Ming!“ „Doktor Volospion!“ Das war der Schrei einer verratenen Frau. Miss Ming sprang zwei Schritte zurück. Sie hatte Angst. „Ach, es steckte doch keine schlechte Absicht dahinter...“ Li Pao eignete sich eigentlich nicht als Moderator. „Wie“, wollte Doktor Volospion von der zitternden Gestalt wissen, „hättest du es lieber, wir beenden unseren Disput, Miss Ming? Vielleicht mit Schwertern - wie Lord Hai und der Herzog von Queens? Oder mit Pistolen? Strahlenkanonen? Flammenwerfern?“ In ihrer Kehle saß ein zitternder Kloß. „Ich wollte nicht...“ „Ja? Hm?“ Sein langes Kinn zeigte auf ihren Hals. „Sag’s schon, meine stattliche Schiedsrichterin. Erzähl’s uns!“ Sie war jetzt sehr blaß geworden, aber ihre Wangen glühten gedemütigt, und sie wagte nicht, einem der Männer in die Augen zu blicken. „Ich wollte nur helfen. Ihr wart so wütend, und es gibt keinen Grund, die Nerven zu verlieren...“ „Wütend? Du bist humorlos, Madam. Konntest du nicht sehen, daß wir nur Spaß machen?“ Sie fand keinen Beweis. Miss Ming war verwirrt. Li Pao hatte die Lippen geschürzt. Seine Wangen waren so blaß wie ihre rot. Die Augen des Doktors funkelten unerbittlich und feurig. Abu Thaleb ließ mit einem besorgten Gemurmel Luft ab. Miss Ming schien von einer schrecklichen Faszination gebannt zu sein. Mit ausdruckslosem Gesicht starrte sie auf ihren Ankläger. Es war, als könne sie sich nicht entscheiden zwischen der Flucht und dem Zwang zu bleiben, das Feuer zu schüren, Öl in die Flammen zu gießen, die sie verschlingen mußten. Ihr Mund öffnete sich, und grelle, verängstigte Worte flogen heraus. „Ich muß schon sagen, es ist kein besonders gelungener Spaß, eine Person fett und dumm zu nennen. Was soll ich davon halten, Doktor Volospion? Vor ein, zwei Minuten hast du noch gesagt, ich sähe hübsch aus. Hack nicht auf der kleinen Mavis herum, nur weil dir die Argumente ausgehen!“ Sie keuchte. „Oh!“ Hilfesuchend hielt sie nach Freunden Ausschau, aber alle Augen waren abgewandt, bis auf die Volospions, und die durchbohrten sie. „Oh!“ sagte Mavis wieder. Doktor Volospion öffnete die Zähne und zischte: „Ich wäre mehr als dankbar, Miss Ming, wenn du schweigen würdest. Ich schlage vor, du denkst einmal über deinen einzigartigen Mangel an Einfühlungsvermögen nach...“ „Oh!“ „...über deine Unfähigkeit, auch nur die gröbsten Nuancen gesellschaftlicher Kommunikation richtig zu interpretieren, die deinen schnöden, abgeschmackten Horizont übersteigen.“ „Ooh!“ „Ein psychischer Krüppel, Miss Ming, wäre gut beraten, nicht im rasch fließenden Strom einer philosophischen Diskussion zu schwimmen.“ „Volospion!“ Li Pao machte eine zögernde Bewegung. Vielleicht hatte Miss Ming seine Worte überhaupt nicht gehört, vielleicht hatte sie nur den
Tonfall, die verletzende Absicht wahrgenommen. „Du hast aber wirklich schlechte Laune heute...“ fing sie an, aber dann erstickten ihre Worte in würgendem Schluchzen. „Volospion! Volospion! Du quälst die Unglückliche, weil du mir nicht antworten kannst!“ „Ha!“ Doktor Volospion drehte sich langsam, von seinem Gewand gehindert, um. Abu Thaleb hatte Miss Ming beobachtet. Er beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu sehen, und der riesige, gefederte Turban nickte. „Sind das Tränen, meine Liebe?“ Sie schniefte. „Ich hörte davon, daß Elefanten auch weinen“, sagte Abu Thaleb munter. „Oder waren es Giraffen? Aber ich hätte nie gedacht, einmal miterleben zu dürfen...“ Seine Stimme richtete sie ein wenig auf. Sie hob das leidende Gesicht. „Oh, sei still! Du und deine blöden Elefanten.“ „Aha, es scheint, als seien alle Zeitreisenden mit guten Manieren gesegnet.“ Volospion klang unterkühlt. „Ich schätze, wir sind immer noch nicht zum Kern eurer Sitten vorgestoßen, Madam.“ Sie zitterte. „Kindische Ironie...“, sagte Li Pao. „Ach, hör doch auf, Li Pao!“ Mavis wich vor ihm aus. „Du hast doch alles angefangen.“ „Nun, vielleicht...“ Abu Thaleb zeigte eine verlegene Zunge auf der Unterlippe. „Falls...“ „Oh“, schluchzte sie, „es tut mir so leid, Kommissar. Es tut mir so leid, Doktor Volospion. Ich hatte nicht die Absicht...“ „Bei uns liegt die Schuld“, sagte Li Pao zu Mavis. „Ich hätte es voraussehen müssen. Du bist ein junges Mädchen mit einem bekümmerten Herz...“ Sie weinte jetzt heftiger. Doktor Volospion, Abu Thaleb und Li Pao standen nun um sie herum und sahen auf sie hinab. „Komm, komm“, sagte Abu Thaleb. Er streichelte ihr Haar. „Oh, es tut mir so leid. Ich wollte nur helfen... Warum muß ich immer diejenige sein...“ Schließlich legte Doktor Volospion eine Hand auf ihren Arm. „Vielleicht sollte ich dich jetzt besser nach Hause geleiten.“ Er war großherzig. „Du mußt dich ausruhen.“ „Oh!“ Sie ging auf ihn zu, so als wollte sie getröstet werden, zog sich aber gleich wieder zurück. „Oh, du hast recht. Ich bin fett. Ich bin dumm. Ich bin häßlich.“ Sie wich ihm aus. „Nein, nein“, brummte Abu Thaleb. „Ich finde dich ungeheuer attraktiv.“ Sie hob das bebende Kinn. „Schon gut.“ Sie schluckte. „Mir geht’s wieder besser.“ Abu Thaleb stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die beiden anderen aber blickten sie unverwandt an. Sie schniefte. „Ich kann es nur nicht haben, wenn sich zwei Leute weh tun und keinen Spaß haben. Ja, du hast recht, Doktor Volospion. Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich gehe nach Hause.“ Doktor Volospion stützte Miss Ming mit der Hand. Seine Stimme war leise und beruhigend. „Gut. Ich werde dich in meinem Luftwagen fahren.“ „Nein. Du bleibst hier und amüsierst dich. Es war meine Schuld. Es tut mir leid.“ „Du bist viel zu durcheinander.“ „Vielleicht sollte ich sie begleiten“, sagte Li Pao. „Immerhin habe ich mit der Diskussion angefangen.“ „Jeder von uns macht seiner Langeweile auf diese oder jene Weise Luft“, sagte Doktor Volospion. „Ich hätte anders darauf reagieren müssen.“ „Unsinn. Du hattest allen Grund...“ „Buhhuhh“, sagte Miss Ming. Sie war wieder zusammengebrochen. Abu Thaleb redete ihr gut zu: „Willst du einen meiner kleinen fliegenden Elefanten, meine Liebe, ganz für dich allein? Du kannst ihn mitnehmen.“ „Ohahhaha...“
„Armes Ding“, sagte Abu Thaleb. „Wahrscheinlich wäre sie besser in einer Menagerie aufgehoben, Doktor Volospion. Manche fühlen sich da viel sicherer, weißt du. Es ist zu schwer für sie, unsere Welt zu begreifen. Tja, wenn ich du wäre...“ Doktor Volospion packte fester zu. „Oh!“ „Du bist zu zart besaitet, Miss Ming“, sagte Li Pao. „Du darfst uns nicht zu ernst nehmen.“ Doktor Volospion lachte. „Meinst du wirklich, Li Pao?“ „Ich sagte...“ „Ah, schau mal!“ Doktor Volospion hob den Zeigefinger. „Da ist dein Freund, Miss Ming.“ „Freund?“ Sie hob die geröteten Augen. Und schniefte noch einmal. „Dein Freund, der Koch.“ Es war Argonnerz Po, in Kittel und Kappe, dunkelbraun und scharlachrot. Er war so korpulent, daß Miss Ming schlank dagegen aussah. Er kam mit monumentaler Würde auf sie zu und scheuchte kleine Elefanten vom Weg. Mit einer knappen Verbeugung begrüßte er die Gruppe und wandte sich an Abu Thaleb. „Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen, Kommissar Feinschmecker, und zwar für die Verspätung meines Beitrags.“ „Nein, nein...“ Abu Thaleb schien das überschwengliche Bedauern zu ermüden. „In meinem Rezept liegt ein integraler Fehler verborgen“, erklärte der Meisterkoch. „Und ich würde es verabscheuen, ihn mit Hilfe eines Kunstgriffs zu tarnen...“ Der Kommissar von Bengalen winkte mit seiner weißbehandschuhten Hand ab. „Du bist viel zu bescheiden, Kaiser der Küche. Du bist ein zu großer Perfektionist. Ich bin sicher, nicht einer von uns wird irgendeine Ungereimtheit feststellen können...“ Argonherz Po registrierte das Kompliment mit einem Lächeln. „Möglich. Aber mir kann sie nicht entgehen.“ Den anderen teilte er vertraulich mit: „Das ewige Schicksal des Künstlers. Ich hoffe, Abu Thaleb, daß sich alles von selbst ergibt. Anderenfalls bin ich genötigt, mein überaus erfolgreiches Zuckerwerk hierher zu bringen und den Rest dem Abfall zu überantworten.“ „Drastisch...“ Abu Thaleb senkte die Augen und schüttelte den Kopf. „Können wir nicht in irgendeiner Form helfen?“ „Das ist genau der Grund, warum ich gekommen bin. Ich hoffe, eine aufrichtige Meinung zu erhalten. Falls sich jemand finden könnte, der für eine kurze Weile bereit ist, die Party zu verlassen, um mit mir zu kommen und von meiner Kreation zu kosten. Es geht dabei weniger um den Geschmack als um die Konsistenz. Dafür ist weder viel Zeit noch ein besonders geschulter Gaumen vonnöten, aber...“ „Miss Ming!“ sagte Doktor Volospion. „Ich?“ sagte sie. „Hier hast du eine Gelegenheit zu helfen.“ „Tja, aber“, sagte sie, „wie jeder weiß, bin ich kein Gourmet. Nicht, daß ich mich nicht an meinem Fütterchen erfreuen würde... und natürlich ist Argonherz wie immer ein exzellenter Koch... ja, ich helfe gerne, wenn ich kann.“ Sie war ganz Frau. „Es ist nicht die Meinung eines Gourmets, nach der ich suche“, sagte Argonherz Po. „Wenn du nur ein kleines bißchen Zeit erübrigen könntest, Miss Ming, tätest du mir einen großen Gefallen.“ „Du wärst entzückt, nicht wahr, Miss Ming?“ meinte Abu Thaleb einfühlend. „Entzückt“, bestätigte sie. Sie warf einen nervösen Blick auf Doktor Volospion. „Du hast doch nichts dagegen einzuwenden?“ „Gewiß nicht!“ antwortete er fast zu überschwenglich. „Eine ausgezeichnete Idee“, sagte Li Pao, ohne seine Erleichterung zu verhehlen. „Nun, dann werde ich dein Vorkoster sein, Argonherz.“ Sie hakte sich beim Koch unter. „Und nochmals, es tut mir wirklich leid, daß ich dieses alberne Theater veranstaltet habe.“
Sie schüttelten ihre Köpfe. Sie winkten mit den Händen. Sie lächelte. „Jedenfalls hat es die Luft ein wenig gereinigt, nicht wahr? Ihr seid doch wieder Freunde, oder?“ „Absolut“, sagte Li Pao. „Schön, das ist fein.“ „Und du willst den kleinen Elefanten nicht haben?“ fragte Abu Thaleb. „Ich kann jederzeit einen neuen erschaffen.“ „Z“ gern, Abu. Ein anderes Mal, vielleicht wenn ich selbst einmal eine Menagerie habe. Und eigene Energieringe und alles. Aber ich weiß nicht wohin damit, solange ich bei Doktor Volospion wohne.“ „Na gut.“ Auch Abu Thaleb schien erleichtert. „Ich finde“, sagte Argonherz Po, „wir sollten uns so schnell wie möglich auf den Weg machen.“ „Natürlich“, antwortete sie. „Du mußt mich jetzt bei der Hand nehmen, Argonherz und mir ganz genaue Anweisungen geben.“ „Ich versichere dir, alles was ich will, ist eine Meinung.“ Sie machten ihren Abgang. „ Wirklich“, sagte sie vertrauensvoll zu Argonherz, als sie den Ort verließen, „du bist genau im rechten Moment aufgetaucht. Ehrlich, noch nie habe ich ein so hitziges Schauspiel miterlebt! Aber du bist so ruhig, Argonherz. So unbeirrbar in deiner Würde, verstehst du? Ich habe natürlich mein Bestes gegeben, die Streithähne auseinanderzubringen, aber sie bestanden einfach auf ihrem Krach! Natürlich ist Li Pao dafür verantwortlich zu machen. Die Haltung von Doktor Volospion war vollkommen verständlich. Aber hat Li Pao auf ihn hören wollen? Nicht die Spur. Ich habe den Verdacht, Li Pao hört nur auf sich selbst, und sonst auf niemanden. Er kann manchmal so gedankenlos sein, findest du nicht auch?“ Der Meisterkoch leckte sich die Lippen.
4. KAPITEL IN DEM MAVIS MING WIEDER EINMAL EINE ENTTÄUSCHUNG HINNEHMEN MUSS Argonherz tauchte den Finger in seinen Regenbogen-Plesiosaurus (aus sechzig verschiedenen Gelantine-Geschmacksrichtungen) und zog den Finger wieder heraus, als sich der lange Hals der Bestie schüchtern umdrehte, um die Quelle der Reizung zu orten. Der große Koch steckte den Finger in den Mund, saugte und seufzte. „Welch eine Schande! Solch ein köstlicher Geschmack.“ Seine Schöpfung wackelte auf massigen Beinen, die nicht zur gleichen Zeit wie der Rumpf steif geworden waren. Das Tier bewegte sich schwerfällig zurück zur Herde, die in einiger Entfernung von Bäumen aus Blätterteig und Brustwurz graste. Die hatte Argonherz extra entworfen, um die Tiere solange zu beschäftigen, bis sie zur ein oder zwei Meilen entfernten Party gebracht werden konnten (die Gargantuae waren deutlich am Horizont zu erkennen). „Du gibst mir also recht, Miss Ming? Den Beinen mangelt es an Kohärenz.“ Er wischte sich enttäuscht den Mund. „Kannst du nicht irgendeine Zutat beigeben?“ schlug sie vor. „Diese Schwimmflossen gehören eigentlich ins Meer, weißt du...“ „Hum?“ „Es ist genau gesagt gar nicht deine Schuld. Der Aufbau der Tiere an sich ist falsch. Aber du mußt doch irgend etwas tun können, mein Bester.“
„Oh, natürlich. Eine Drehung des Energierings, und alles wäre in Ordnung. Aber dieses ungelöste Rätsel würde mich auf Dauer verfolgen. War etwa die Temperatur zu hoch? Du siehst, ich ziehe alle Möglichkeiten in Betracht. Nach meinen Forschungen kann sich das Tier auch auf dem Land bewegen. Ich frage mich nur, ob sein Gewicht die atomare Struktur der Gelatine umwandelt. Wenn dies so ist, hätte ich mein Originalrezept entsprechend anlegen müssen. Wir haben keine Zeit, von neuem anzufangen.“ „Aber Argonherz...“ Er schüttelte seinen gewaltigen Kopf. „Ich muß die Mängelexemplare aus der Herde aussortieren und kann leider nur das halbe Spektakel präsentieren.“ „Abu Thaleb wird dennoch erfreut sein. Da bin ich sicher.“ „Das hoffe ich.“ Er ließ ein lautes Stöhnen hören. „Es ist tatsächlich nett, für eine Weile fern vom Tumult der Party zu sein“, sagte sie. Ihre Gedanken bewegten sich auf andere Probleme zu. „Willst du zurück zur Party?“ „Nein. Ich möchte hier bei dir sein. Das heißt, wenn du nichts dagegen hast, daß die kleine Mavis einem richtigen Künstler bei der Arbeit zusieht.“ „Natürlich nicht.“ Sie lächelte ihn an. „Es ist eine Wohltat, verstehst du, mit einem wahren Mann hier draußen allein zu sein. Mit einem Mann, der etwas tut.“ Sie lächelte geziert. „Was ich sagen will, ist folgendes, Argonherz. Ich wünsche mir seit eh und je...“ Sie schnappte nach Luft, als er plötzlich mit flatternden Händen davonsprang, um von einem vorbeiziehenden Pterodactylus zu kosten. Er verpaßte das Tier um wenige Zentimeter, stolperte und fiel auf ein Knie. „Hinterhältige Biester.“ Er rappelte sich auf. „Meine Schuld. Ich hätte sie so konstruieren sollen, daß sie besser einzufangen sind. Zu viel Sherry und nicht genug Mandelpudding.“ Sie machte sich wieder an ihn heran. „Mein Ehemann, Donny Stevens, war ein richtiger Mann, trotz all seiner Fehler.“ Argonherz fiel plötzlich zurück auf die Knie. Er legte die Hände um etwas, das wackelte und im blassen Sonnenlicht grün und gelb schimmerte. „Oh, das hier macht alles wett. Siehst du, was das ist, Miss Ming?“ „Ein Klumpen Wackelpudding?“ „Klumpen? Klumpen\“ Er hauchte darauf. Er streichelte über die runde, bebende Oberfläche. Er sprach mit Andacht. „Dies ist ein Ei, Miss Ming. Eine meiner Schöpfungen hat tatsächlich ein Ei gelegt. Guter Himmel! Ich könnte eine Zucht hervorbringen. Welch ein Erfolg!“ Er nahm einen engelhaften Ausdruck an. „Einem Mann wie dir ist alles möglich, Argonherz. Dasselbe habe ich oft von Donny gedacht. Ich hätte nie geglaubt, daß ich diesen Hundesohn einmal vermissen würde.“ Argonherz suchte den Boden nach weiteren Eiern ab. „Du erinnerst mich ein wenig an ihn“, sagte sie sanft. „Du bist so wirklich, Argonherz.“ Argonherz Pos einzige Schwäche galt der metaphysischen Spekulation. Miss Ming hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Das Ei streichelnd, blickte er sich um. „Mmm?“ Ihr Brüste hüpften auf und ab. „Ein wirklicher Mann.“ Er war neugierig. „Du glaubst also, alle anderen sind unwirklich? Aber warum sollte ich wirklich sein, wenn alle anderen nur in der Einbildung leben? Warum solltest du wirklich sein? Immerhin ist es möglich, daß die Wirklichkeit nichts als eine Silbe ist, die auf der Zunge zerschmilzt und nicht einmal den Geschmack der Erinnerung hinterläßt...“ Ihr Atem wurde flacher. Sie drehte sich um und betrachtete nachdenklich die halb zerschmolzenen Überbleibsel eines völlig mißglückten Stegosaurus. „Ich wollte sagen“, berichtigte sie ihn, „Donny war ein männlicher Mann. Dumm und eitel zwar. Aber das gehört dazu. Und er ging ganz in seiner Arbeit auf - nun, wenn er nicht gerade mit seinen Assistentinnen bumste.“ Sie legte eine Hand auf das bibbernde Ei. „Ich mag dich,
Argonherz. Hast du jemals daran gedacht...“ Aber die Aufmerksamkeit des Kochs war wieder abgelenkt. Er bückte sich, um ein kleines Iguanodon aufzuheben. Er legte das Ei vorsichtig auf eine flache Stelle eines Marzipanfelsens und hielt Mavis das Iguanodon zum Kosten entgegen. Mit einem frustrierten Seufzer leckte sie den glitschigen Hals des Tieres. „Zu viel Limone für meinen Geschmack.“ Sie krümmte sich theatralisch und lachte. „Viel zu bitter für mich, Argonherz, Lieber.“ „Aber die Konsistenz? Ich wollte von dir nur etwas über die Konsistenz hören.“ Das Iguanodon wehrte sich und krähte wie ein Huhn. Argonherz ließ es laufen. Das halb transparente, grün und orange schimmernde Tier rannte auf einem wahnsinnigen Kurs auf den nahe gelegenen Colateich zu. „Perfekt“, sagte sie. „Fest und doch saftig.“ Er nickte traurig. „Die kleinen sind mir tatsächlich am besten geglückt. Aber das wird Abu Thaleb wohl kaum zufriedenstellen. Monstren hatte ich ihm bieten wollen. Die kleinen Bestien waren lediglich dafür gedacht, daß die großen noch besser zur Geltung kommen. Sie sollten den Maßstab setzen, verstehst du? Ich war zu ehrgeizig, Miss Ming. Ich habe mir zuviel vorgenommen.“ Er kniff die dicken Brauen zusammen. „Du hast mir nicht zugehört, mein Lieber“, tadelte sie ihn. „Argonherz?“ Nur widerwillig gab er sein Bedauern auf. „Wir sprachen über das Wesen der Wirklichkeit.“ „Nein.“ „Worüber denn? Männer?“ Sie strich über die gelben Falten ihrer Jacke. „Oder, genauer gesagt, über ihre Abwesenheit?“ Sie kicherte. „Ich könnte einen gebrauchen...“ Er nahm einen Schöpflöffel in die plumpe, behandschuhte Hand. Mavis folgte ihm zum Teich. Er beugte sich und nahm eine letzte Geschmacksprobe. „Einen Mann? Wofür könnte der gut sein?“ Er schlürfte. „Ich brauche einen.“ „Muß er etwas Besonderes sein?“ „Er muß ein wirklicher Mann sein.“ „Kannst du dir nicht etwas - jemanden, meine ich - nach deinen Vorstellungen machen? Doktor Volospion würde bestimmt helfen.“ Er blickte über die ruhige Oberfläche, die wie flüssiger Bernstein aussah. „Hervorragend!“ Sie verzog das Gesicht. „Es war nicht nötig, mein Lieber, mir jene Episode vorzuhalten.“ „Hum. Ich fürchte, ich lasse mich wieder hinreißen.“ Er beugte sich nach vorn, tauchte den Schöpflöffel ein, führte ihn an die roten Lippen, kostete selbstkritisch und nickte. „Ja. Der Entwurf war überaus grandios. Noch ein Tag, und ich hätte alles zum Besten richten können. Aber der arme Abu Thaleb erwartet... Na gut!“ „Denk einmal für einen Moment an etwas anderes.“ Die Lust überwältigte Mavis. Sie fuhr mit einer Hand über seinen massigen Schenkel. „Liebe mich, Argonherz. Ich bin so unglücklich.“ Er rieb seine diversen Kinne. „Oh, ich verstehe.“ „Du wußtest es von Anfang an, nicht wahr? Was ich wollte?“ „Um.“ „Du bist so stolz, Argonherz. So maskulin. Viele Mädchen mögen keine fetten Männer. Aber ich.“ Sie kicherte. „Dafür bin ich bekannt. Um so mehr ist zum Anfassen da. Bitte, Argonherz, bitte!“ „Mein Zuckerwerk“, murmelte er träge. „Sicher kannst du ein paar Minuten erübrigen.“ Sie grub die Fingernägel in seine Brust. „Argonherz.“ „Es könnte...“ „Du solltest dir etwas Entspannung gönnen. Du mußt jetzt entspannen. Das verhilft dir zu neuen Perspektiven.“
„Nun, ja, das ist wahr.“ „Argonherz!“ Sie schmiegte sich an ihn. „Im Augenblick kann ich tatsächlich nichts verbessern. Vielleicht hast du recht. Ja...“ „Ja! Du wirst dich viel besser fühlen. Und ich auch.“ „Möglich...“ „Bestimmt!“ Sie zog ihn auf einen dunkelbraunen Strohhaufen zu. „Das ist ein gutes Plätzchen.“ Sie sank ins Stroh und zupfte an seinem Handschuh. „Was?“ brummte er. „Hier in meinen Fadennudeln?“ Die Nudeln klebten schon an ihren verschwitzten Armen. Aber es war deutlich, daß solche Probleme für sie nicht mehr wichtig waren. „Warum nicht? Warum nicht? Oh, mein Liebling. Oh, Argonherz!“ Er zog die Handschuhe aus. Er entfernte eine oder zwei Fadennudeln von ihrem Ellenbogen und plazierte sie sorgfältig um ihren Hals. Dann ging er einen Schritt zurück. Sie krümmte sich in der Schokolade. „Argonherz!“ muhte sie. Er zuckte die Achseln und warf sich neben sie in die Schokolade. Sie war gerade damit fertig, den engen scharlachroten Kittel bis über seinen Bauchnabel zu ziehen, und hatte dabei ihr blaues Höschen bis zu den Knien hinuntergestrampelt, als ein schrilles Kreischen den dunkelblauen Himmel erfüllte und ein karmesinrotes Raumschiff in einer bunten, flammigen Aura herabstieg. Der Bauch wippte noch nach, obwohl Argonherz innehielt. „Donnerwetter!“ sagte Mavis Ming. Argonherz leckte ihre Schulter, aber seine Aufmerksamkeit war nicht mehr bei ihr. Er sah sich um. Das Raumschiff sank immer tiefer. Der Lärm war enorm. „Hör nicht auf“, sagte sie. „Wir haben noch Zeit. Es dauert nicht mehr lange.“ Aber Argonherz rollte zur Seite und zog den Kittel wieder nach unten. Er stand auf. Zusammengekleisterte Nudeln hingen von den Beinen herab. Ein herzzerreißendes Klagen entwich Miss Ming. Es ging unter im Röhren des Schiffes. Sie hämmerte mit der Faust auf die Nudeln, die in alle Richtungen flogen. Es schien, als fluche sie. Und dann, als der Lärm plötzlich in ein gedämpftes Heulen überging und Miss Ming ihre Unterwäsche wieder hochgezogen hatte, war ihre enttäuschte, verzweifelte Stimme wieder zu hören. „Warum ausgerechnet jetzt? Arme Mavis. Daß du aber auch immer so ein Pech haben mußt!“
5. KAPITEL IN DEM SICH GEWISSE BÜRGER AM ENDE DER ZEIT IN SPEKULATIONEN ÜBER DIE NATUR DES BESUCHERS AUS DEM ALL ERGEHEN Das Raumschiff war von einer fast mythischen Antiquiertheit. Es bestand ganz aus Flügeln, Flöten und glitzernden Kugeln, lief an der Nase spitz zu, und ging am Ende, wo die Raketen röhrten, wulstig auseinander. Argonherz und Miss Ming sahen zu, wie es den Abstieg verlangsamte und sich mit einer seltsam schwankenden Bewegung dem Boden näherte. Es schien, als seien die Motoren nicht in Ordnung. Die Düsen rechts und links stotterten abwechselnd, spuckten und stotterten wieder. Aber dann loderten die Raketen kurz vor der Landung einträchtig auf, ließen die Maschine wie einen Ball auf einem Wasserstrahl tanzen und wurden langsam schwächer, bis schließlich das Schiff den Boden berührte. Miss Ming, die den Vorgang von ihrem Nest aus Schokoladenwürmern verfolgte, preßte die
Lippen aufeinander. Selbst nachdem das Schiff gelandet war, rollten immer noch Flammen um seinen Rumpf sinnliche Flammen, die das rote Metall liebkosten. Von dem umgrenzenden Gelände stieg schwerer, schwarzer Rauch auf, und sein Knistern klang wie Protest. Der Rauch kringelte über den Boden auf das Schiff zu: Aale, von einem Wrack angelockt. Miss Ming war nicht in der Stimmung, die Maschine zu bewundern. Sie sah dem Schauspiel mit wütenden Blicken zu. „Das Schiff strahlt eine gewisse Autorität aus“, murmelte Argonherz Po. „Ich muß schon sagen: ein besonders feinfühliges Timing! Ein bißchen Liebe hätte meine Lebensgeister ungemein belebt und den schlechten Nachgeschmack von Doktor Volospions Wutanfall genommen. Es ist nicht so, als böte sich mir jeden Tag diese Gelegenheit. Ich habe seit einer Ewigkeit keinen Mann mehr gehabt. Ich weiß nicht einmal, ob mir ein Mann noch geben kann, was ich brauche. Selbst du, Argonherz...“ Sie schmollte und wischte das eklig klebrige Zeug von ihren Petticoats. „Ich bin vor Wut außer mir!“ Argonherz Po half ihr aus dem Haufen und (vielleicht hatte er unbewußt eine ritterliche Anwandlung) tätschelte ihre Wange. Der Brandgeruch füllte die Luft. „Ugh“, sagte sie. „Was für ein Gestank zu allem Überfluß.“ „Der wohl unattraktivste aller Gerüche“, sagte Argonherz. „Es ist schrecklich. Es kann doch nicht allein vom Schiff kommen?“ Die Hitze des Raumfahrzeugs war auf der Haut zu spüren. Argonherz Po hätte genauso geschwitzt wie Miss Ming, wäre sein Körper dazu geschaffen gewesen. Seine sensible Nase rümpfte sich. „Irgend etwas kommt mir an diesem Geruch bekannt vor“, sagte er. „Und ich würde es normalerweise nicht mit heißem Metall in Verbindung bringen.“ Er blickte prüfend über die Landschaft. Sein Entsetzensschrei hallte wider. „Ah! Sieh was es getan hat! Sieh! Oh, es ist zu schrecklich!“ Miss Ming blickte sich um, sah aber nichts. „Was ist denn?“ Argonherz war in Panik verfallen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, seine Augen glitzerten. „Die Hälfte meiner Dinosaurier ist geschmolzen. Das ist es, was den Rauch verursacht hat!“ Argonherz Po rollte rasch auf das Schiff zu. Miss Ming hatte er vergessen. „Hey!“ rief sie. „Paß auf, vielleicht ist es gefährlich!“ Er hatte sie nicht gehört. Wimmernd folgte sie ihm. „Mörder!“ schrie der gepeinigte Koch. „Spießbürger!“ Er schüttelte die Faust. Er tanzte um das Schiff herum und wurde von dessen Hitze abgehalten. Er wollte es treten, trat aber daneben. „Schreckschraube!“ wütete er. „Wüstling! Herzloser Zerstörer!“ Seine Kraft schwand. Er fiel auf die Knie, hinein in klebrige Molke. Er weinte. „Oh, meine Monstren! Mein Wackelpudding!“ Mavis Ming schwebte in einiger Entfernung. Sie zog den Flunsch einer in der Stunde der Not im Stich Gelassenen. „Argonherz!“ rief sie. „Verbrannt! Alles verbrannt!“ „Argonherz, wir wissen nicht, was für Wesen in dem Raumschiff stecken. Vielleicht wollen sie uns was Böses!“ „Verderben...“ „Argonherz. Ich finde, wir sollten jemanden warnen, meinst du nicht auch?“ Sie stellte fest, daß ihre hübschen Schühchen am Boden klebten. Als sie die Füße hob, zog sie lange,
karamellartige Fäden mit sich. Sie watete zurück an eine staubige Stelle, die noch frei von geschmolzenen Dinosauriern war. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich nun auf das Schiff, denn die Neugier hatte sich gegenüber der Vorsicht durchgesetzt. „Ich habe fremde Raumfahrzeuge schon vorher gesehen“, sagte sie. „Eine ganze Menge sogar. Aber das hier sieht gar nicht fremd aus. Es hat etwas entschieden Menschliches an sich.“ Argonherz Po stellte seinen massigen Körper auf die Füße und trauerte mit gebeugten Schultern über seine tote Schöpfung. „Argonherz, findest du nicht auch, daß dieses Schiff ein ziemlich romantisches Aussehen hat?“ Argonherz Po drehte der Ursache seiner Wut den Rücken zu und verschränkte die Arme über der Brust. Er trug die Miene eine Märtyrers, und seine Würde nahm wieder zu. Mavis Ming betrachtete immer noch das Raumschiff. Ein seltsames Lächeln hatte auf ihrem Gesicht den vorangegangenen Ausdruck der Angst abgelöst. „Denk dir nur, es ist genau die Art von Schiff, über die ich als kleines Mädchen gelesen habe. Alle Raumhelden hatten solche Schiffe.“ Sie wurde feierlich. „Vielleicht sind endlich meine Gebete erhört worden, Argonherz.“ Der Meisterkoch grunzte. Er war zutiefst verstört. Miss Ming produzierte ein trällerndes Lachen. „Ist mein hübscher Raumritter angekommen, um mich mitzunehmen? Was meinst du? Zum wundervollen Planeten Paradies V?“ Argonherz gab ein tiefes, heftiges, wie von einem wütenden Vulkan stammendes Rumpeln von sich. „Verbrecher! Verbrecher!“ Sie legte eine Hand auf den Mund. „Du könntest recht haben. Möglich, daß ein Bösewicht in dem Schiff sitzt. Irgendein Piratenkapitän und seine mörderischen Vasallen.“ Sie schwelgte in Erinnerungen. „Meine beiden Lieblingsautoren, weißt du - von früher... nun, ich würde sie immer noch lesen, wenn ich könnte waren J. R. R. Tolkien und A. A. Milne. Das hier ist natürlich mehr wie eine Filmversion, aber trotzdem... Oooh! Sind sie womöglich Frauenschänder und Sklavenhändler, Argonherz?“ Sie hielt sein Schweigen für Mißbilligung. „Ich wünsche natürlich nicht, daß uns was Häßliches zustößt. Nicht direkt. Aber es ist doch aufregend, nicht wahr, spannend.“ „Ich...“, sagte Argonherz Po. „Ich...“ Während sie Vermutungen über die Schiffsbesatzung anstellte, schien Miss Ming zwischen zwei entgegengesetzten Phantasien hin und her gerissen zu sein: dem bösen, faszinierenden Grafen Dracula und dem süßen, lustigen Bären Puh. „Was glaubst du, Argonherz, werden sie ungestüm sein? Oder kuschelig?“ Sie biß sich auf die Unterlippe. „Oh, sie könnten ungestüm und kuschelig sein!“ „Aaaah“, stöhnte Argonherz. Sie sah ihn verwundert an. Sie schien sich Mühe zu geben, ihre Gefühlsregungen im Zaum zu halten. Denn - soviel hatte sie zweifellos gelernt - Gefühle wurden in dieser Welt gemeinhin nicht immer akzeptiert. Die Zurückhaltung gelang ihr dank der Besinnung auf eine Verhaltensalternative: Sie hatte auch eine besonders zynische Ader. „Ich habe nur gescherzt“, sagte sie. „Sadisten“, zischte Argonherz. „Die ganze Katastrophe ist vielleicht bewußt eingefädelt worden.“ „Nun“, sagte sie in der neuangenommenen Haltung, „es könnte zumindest jemand sein, der uns von der schrecklichen Langeweile dieses verfluchten Planeten befreit.“ Ihr bestürzter und trauernder Begleiter wandte sich, immer noch vornübergebeugt, von den verkohlten Fragmenten seiner kulinarischen Träume ab und suchte mit wehmütigem Blick nach den überlebenden Stegosauriern und Tyrannosauriern, die, vom Schiff aufgeschreckt, in alle Himmelsrichtungen davongerannt waren. Seine Selbstkontrolle kehrte zurück. Er wurde fatalistisch. Sein zaghaftes Schulterzucken
blieb unbeachtet. „Schicksal“, behauptete der Meisterkoch. „Wenigstens stecke ich nicht mehr in einem Dilemma. Die Entscheidung wurde mir abgenommen.“ Er watete, vom zähen Kleister behindert, auf sie zu. „Kannst du sie nicht wieder einfangen?“ fragte sie. „Die Überlebenden?“ „Um dann nur einen unvollkommenen Beitrag zu leisten? Nein. Ich werde Abu Thaleb aufsuchen und ihm sagen, er soll sich selbst etwas erschaffen. Ein paar Drehungen am Energiering - und er hat ein üppiges Festmahl. Allerdings wird es ihm an der Inspiration mangeln, die meine Speisen auszeichnet.“ Es schien, als wäre er durch ein gewisses Schuldgefühl dazu angestiftet worden, sich über den Gegenstand seiner Schuld zu ärgern. Und deshalb empfand er Abu Thaleb gegenüber so etwas wie Aggression. Er führte eine Hand an Miss Mings Seite. „Sollen wir gemeinsam zur Party zurückkehren?“ „Aber was ist mit dem Schiff?“ „Es hat seine schreckliche Tat vollbracht.“ „Aber die Leute, die damit gekommen sind?“ „Ich vergebe ihnen“, sagte Argonherz in grandioser Großherzigkeit. „Ich meine... willst du nicht wissen, wie sie aussehen?“ „Ich hege keinen Groll gegen sie. Sie ahnten nichts von dem Schrecken, den sie verbreitet haben. Also ist es von jeher.“ „Vielleicht sind sie interessant.“ „Interessant?“ Argonherz Po war skeptisch. „Vielleicht bringen sie Nachrichten mit oder so etwas.“ Argonherz Po sah wieder hinüber zum Raumschiff. „Sie werden wohl kaum etwas anderes sein als grobe, ungesittete Schurken, Miss Ming. Keine Frage, sie müssen doch mit ihren Instrumenten meine Herde gesehen haben.“ „Es könnte aber auch eine Notlandung gewesen sein.“ „Vielleicht.“ Argonherz Po war ein gerechter Koch. Er gab sein Bestes, um ihren Standpunkt zu verstehen. „Vielleicht.“ „Mag sein, daß sie Hilfe brauchen.“ Er warf einen letzten Blick über den rauchenden Kehricht und sagte ohne die geringste Heftigkeit: „Ich hoffe, sie werden welche bekommen.“ „Sollten wir nicht...“ „Ich werde Abu Thaleb aufsuchen und ihm von dem Desaster berichten.“ „Oh, na schön, dann muß ich dich wohl begleiten. Aber wirklich, Argonherz, du siehst diese Sache auf recht selbstsüchtige Weise, stimmt’s nicht? Es könnte ein großes Ereignis werden. Erinnerst du dich an die Fremden, die vor kurzem auftauchten? Sie haben auch versucht, uns zu helfen, oder etwa nicht? Es wäre hübsch, zur Abwechslung einmal nette Nachrichten zu hören...“ Sie nahm seinen Arm, damit Argonherz sie durch die klebrigen Pfützen führen konnte. In diesem Moment kam von dem Schiff ein mahlendes Geräusch. Beide blickten zurück. Ein runder Abschnitt im Rumpf drehte sich. „Die Luftschleuse“, japste sie. „Sie wird geöffnet.“ Die Tür der Luftschleuse, die offensichtlich in altmodischen Scharnieren hing, klappte zurück und öffnete den Blick in ein dunkles Loch, aus dem für ein paar Sekunden Flammen schössen. „Es können keine Menschen sein“, sagte Mavis. „Nicht in diesem Feuer.“ Aus dem Schiff kamen keine weiteren Flammen mehr. Statt dessen blitzten in regelmäßigen Abständen kleine Lichter aus dem Inneren. „Die sehen aus wie Glühwürmchen“, flüsterte Mavis Ming. „Oder Augen“, sagte Argonherz, dessen Aufmerksamkeit ungewöhnlich lange auf einen Gegenstand gerichtet war. „Die wilden Augen barbarischer Eindringlinge.“ Miss Ming schien aus einem ihrer
Mädchenbücher zu zitieren. Ein Motor brummte, das Schiff erzitterte. Aus der Luftschleuse schob sich ein breites Metallband. „Eine Rampe“, sagte Miss Ming. „Sie lassen eine Rampe herunter.“ Die Rampe glitt langsam zu Boden und bildete eine Brücke zwischen Raumschiff und Erde. Aber immer noch tauchte keiner der Besatzung auf. Mavis hielt die Hände trichterförmig vor den Mund. „Grüß euch!“ rief sie. „Das friedliche Volk der Erde heißt euch willkommen!“ Aus dem Schiff meldete sich nichts. Körniger Staub trieb vorbei. Es war still. „Vielleicht haben sie Angst vor uns“, meinte Mavis. „Wahrscheinlicher ist, daß sie verlegen sind“, sagte Argonherz Po. „Sie schämen sich wohl über ihren verheerenden Auftritt.“ „Oh, Argonherz! Sie haben deine Dinosaurier vielleicht gar nicht gesehen!“ „Ist das eine Entschuldigung?“ „Nun...“ Jetzt ertönte aus dem Inneren eine gedämpfte, nörgelnde Stimme, aber in einer Sprache, die nicht zu verstehen war. „Wir haben keinen Dolmetscher.“ Argonherz Po befragte seine Energieringe. „Ich habe keine Möglichkeit, ihn in einer mir geläufigen Sprache reden zu lassen. Genauso wenig habe ich die Möglichkeit, seine Sprache zu verstehen. Wir müssen gehen. Lord Jagged von Kanarien hat meist einen Übersetzungsring bei sich. Oder der Herzog von Queens. Oder Doktor Volospion. Jeder, der eine Menagerie hat, wird...“ „Schhhh“, sagte sie. „Das Verrückte, Argonherz, ist, ich verstehe zwar die Worte nicht, aber die Sprache ist mir doch irgendwie vertraut. Sie klingt... nun, wie Englisch... die Sprache, die ich vor meiner Ankunft hier gesprochen habe.“ „Und heute kannst du sie nicht mehr?“ „Offensichtlich nicht. Ich spreche unsere Sprache, wie sie auch heißen mag, oder etwa nicht?“ Die Stimme meldete sich wieder. Sie war hell. Sie ähnelte dem Trillern des Vogelgesangs. Trotzdem war sie menschlich. „Es hört sich gar nicht unangenehm an“, sagte sie, „aber ich würde den Tonfall nicht direkt männlich nennen.“ Sie war nachsichtig: „Immerhin kann die Stimme vom atmosphärischen Wechsel beeinträchtigt sein, oder?“ „Möglich.“ Argonherz sah angestrengt hin. „Hm. Einer von ihnen scheint herauszukommen.“ Obwohl zweifellos humanoid, hatte der Fremde ein eindeutig vogelähnliches Aussehen. Ein wilder Schöpf goldbraunen Haars wuchs rund um seinen Kopf und wirkte wie eine Art Halskrause. Er hatte eine scharfe, spitze Nase und hellblaue Augen, die sich vorwölbten und im Licht blinzelten. Der Kopf war auf einem verlängerten Hals nach vorn gereckt und zuckte manchmal zurück, wie bei einem Huhn auf der Suche nach Körnern im Staub eines Bauernhofes. Auch der winzige Körper ruckte und zuckte in schlecht koordinierten Bewegungen. Der Fremde hatte zwei Arme, die wie gestutzte Flügel steif an der Seite herunterhingen. Der klagende, fragende Schrei, den der Fremde ausstieß, klang wie der einer verwirrten Möwe: „Eh? Eh? Eh?“ Die Augen blinzelten hierhin und dorthin und hefteten sich schließlich auf Mavis Ming und Argonherz Po. Ihnen wurde die ganze Aufmerksamkeit des Wesens geschenkt. „Eh?“ Es zwinkerte ihnen gebieterisch zu und trällerte ein paar Worte. Argonherz Po wartete, bis der Neuankömmling zu Ende geredet hatte. Dann erklärte er gewichtig: „Sie haben das Dinner des Kommissars von Bengalen vernichtet, Sir.“ „Eh?“ „Sie haben ein sorgfältig vorbereitetes Festmahl auf ein paar erbärmliche Beilagen zusammenschrumpfen lassen!“
„Kannitverstan“, sagte der Fremde aus dem All. Er reichte mit der Hand zurück in die Luftschleuse und holte einen schwarzen Gehrock zum Vorschein, der aus einer Zeit um 150 Jahre vor der von Mavis Ming stammen mußte. Er zog den Gehrock über das Hemd und knöpfte ihn von oben bis unten zu. „Eh?“ „Er ist nicht besonders sauber“, sagte Mavis, „der Rock, nicht wahr?“ Argonherz hatte keinen Blick für die Kleidung des Fremden. Er bereute seinen Ausbruch und versuchte, Haltung zurückzugewinnen, seine sonst übliche Liebenswürdigkeit. „Willkommen“, sagte er, „am Ende der Zeit.“ „Eh?“ Der Raumreisende runzelte die Stirn und zog ein klobiges Instrument in seiner rechten Hand zu Hilfe. Er tippte darauf, schüttelte es und hielt es ans Ohr. „Tja“, Mavis rümpfte die Nase, „der macht keinen guten Eindruck. Ich frage mich, ob der Rest genauso ist.“ „Vielleicht ist er der einzige“, gab Argonherz zu bedenken. „Der so aussieht?“ „Der einzige überhaupt.“ „Ich hoffe nicht!“ Der Fremde schleuderte die Arme in einer Art Windmühlenbewegung, als wolle er auf ihre Kritik antworten. Für einen Moment schien es, als versuche er zu fliegen. Dann zog sich das Wesen mit steifen Bewegungen, die an eine schlecht geführte Marionette erinnerten, ins Innere des Schiffes zurück. „Glaubst du, wir haben ihn erschreckt?“ fragte Argonherz Po ein wenig besorgt. „Sehr wahrscheinlich. Was ist das doch für ein schmächtiger Jammerlappen!“ „Mm?“ „Was für eine abgerissene Marke! Er paßt überhaupt nicht zu dem Schiff. Ich habe jemanden erwartet, der braungebrannt, muskulös, hübsch...“ „Wie kommst du darauf? Kennst du solche Schiffe? Hast du die Leute schon einmal getroffen, die normalerweise damit fahren?“ „Nur in meinen Träumen“, sagte sie. Argonherz strengte sich nicht weiter an, sie zu verstehen. „Er ist jedenfalls menschenähnlich. Es ist doch eine nette Abwechslung zu all den anderen, findest du nicht, Miss Ming?“ „Na, ich weiß nicht... wenn’s nur einer ist.“ Sie bewegte einen klebrigen Fuß. „Na ja. Sollen wir zurückgehen, wie du vorgeschlagen hast?“ „Meinst du nicht, wir sollten bleiben?“ „Dafür gibt’s doch keinen Grund, oder? Soll sich ein anderer um ihn kümmern. Jemand, der eine Kuriosität für seine Menagerie braucht.“ Argonherz Po bot ihr wieder seinen Arm an. Sie wateten auf das trockene Ufer zu. Als sie eine Böschung erklommen hatten, hörten sie über sich eine vertraute Stimme. Sie blickten nach oben. Abu Thalebs Elefantensattel schwebte in der Luft. „Aha!“ sagte der Kommissar von Bengalen. Sein Bart, der wie das nachempfundene Original sorgfältig gelockt, gescheitelt und mit Perlen und Rubinen besetzt war, war hinter dem Rand des Luftwagens zu sehen. „Dachte ich mir’s doch.“ Er richtete die Worte an seinen Beifahrer, der für Mavis und Argonherz Po nicht zu erkennen war. „Du siehst, Volospion, ich hatte recht.“ „Oh, mein lieber Mann.“ Mavis versuchte ihr verrutschtes Kostüm zu richten. „Doktor Volospion ist auch...“ Volospions müde Stimme meldete sich aus dem Elefantensattel. „In der Tat. Du hattest recht, Abu Thaleb. Ich entschuldige mich. Es ist ein Raumschiff. Nun, wenn du zu landen beliebst ich habe keinen Einwand zu machen.“ Der Elefantensattel senkte sich zu Boden und landete neben Argonherz Po und Miss Ming.
Innen war das Gefährt mit dunkelgrünem und blauem Plüsch ausgeschlagen. Doktor Volospion lag zwischen Kissen. Er trug immer noch Schwarz und Gold. Seine enge Kapuze bedeckte seinen Schädel und umrahmte sein blasses Gesicht. Er machte keine Anstalten sich zu bewegen. Er nahm Miss Mings Anwesenheit kaum zur Kenntnis und sagte zu Argonherz Po: „Verzeih unser Eindringen, großer Pastetenprinz. Der Kommissar von Bengalen besteht darauf, seine Neugier zu befriedigen.“ Argonherz Po öffnete den Mund, um zu antworten, aber Abu Thaleb hatte schon das Wort ergriffen: „Was für ein eigenartiger Geruch... süß und doch zugleich bitter...“ „Meine Kreationen...“, sagte Argonherz. „Wie der Geruch des Todes“, bemerkte Doktor Volospion. „Das ist alles, was vom Dinner, das ich für deine Party vorbereitet habe, übrig geblieben ist, Abu Thaleb.“ Endlich konnte sich Argonherz durchsetzen. „Die Landung des Schiffes hat fast alles zerstört.“ Der schlanke Kommissar stieg aus dem Elefantensattel und gab dem Küchenchef einen Klaps auf den breiten Rücken. „Lieber Argonherz, wie traurig! Aber ein anderes Mal, so hoffe ich, wirst du all das wiedererschaffen können, was du heute verloren hast.“ „Wahr ist, daß meine Schöpfungen nicht ganz perfekt waren“, klärte ihn Argonherz auf, „darum werde ich die Gelegenheit nutzen, von neuem zu beginnen.“ „Sehr wohl. Was ist das doch für ein hübsches Schiff!“ Die Federn auf Abu Thalebs Turban tanzten auf und ab. „Ich spielte mit der Hoffnung, meine Menagerie bereichern zu können, verstehst du, aber ich fürchte, das Schiff ist zu klein, um meinen Vorstellungen gerecht zu werden.“ Mavis Ming sagte: „Du wirst wohl genauso enttäuscht sein wie ich, Abu Thaleb. Aber sieh dir erst mal den kleinen Knirps an, dessen Bekanntschaft wir gemacht haben, bevor ihr aufgetaucht seid. Er...“ Doktor Volospion schien überhört zu haben, daß Mavis zu reden angefangen hatte. Er rief von seinen Kissen herunter: „Schon jetzt ist deine Menagerie ein Juwel, Belle de Bengal. Sie ist die erlesenste Sammlung der Welt. Prachtvoll, exklusiv, und um so viel kultivierter als der chaotische Haufen der Spezies, die von gewissen sogenannten Kunstverständigen zusammengekratzt werden, deren Zoos deine Sammlung bestenfalls an Ausdehnung, nie aber an feinsinniger Zusammenstellung übertreffen.“ Mavis Ming ließ ein wenig Verwirrung erkennen. Obwohl Doktor Volospion offensichtlich Abu Thaleb angeredet hatte, schien er in ihrem Sinne gesprochen zu haben. Sie blickte von einem zum anderen und fragte sich, ob sie ein kleines Lächeln wagen konnte. Doktor Volospion zwinkerte ihr zu. Mavis grinste. Ihr war die Szene vergeben worden. Volospions Ironie ging auf Abu Thalebs Kosten. Sie fing an zu kichern. „Nur weiter so, Doktor Volospion. Ich bin sicher, Abu Thaleb ist von deiner Schmeichelei entzückt“, sagte sie. „Was den Geschmack angeht, ruhmreicher Kommissar, steht deine Überlegenheit solange außer Frage, bis unser Planet in den Abgrund des Schweigens und des Nichts hinabsinkt, was bald, wie es heißt, sein Schicksal sein wird.“ Abu Thaleb stand mit dem Rücken zu Mavis Ming, die darüber froh zu sein schien. Sie hielt den Atem an. Ihr Gesicht wurde tiefrot. Sie gab ein gedämpftes, prustendes Geräusch von sich. Der Kommissar von Bengalen blickte jetzt zurück auf Doktor Volospion. „Aber wirklich, mein Freund!“ Er hatte eine gutmütige Natur. „Du bist doch sonst zu subtilerem Spott fähig!“ „Ich bin halt ein wahrer Schauspieler, Abu Thaleb. Ich richte mich stets nach dem Publikum.“ „Ist es möglich?“ Abu Thaleb wandte sich an Mavis. „Du hast die Besucher also schon gesehen, Miss Ming?“
„Nur kurz“, antwortete sie. „Tatsächlich scheint nur eine Person angekommen zu sein.“ Abu Thaleb streichelte seinen Bart, die Perlen und Rubine. „Sie ist nicht zufälligerweise, ehm... elefantoid?“ Endlich konnte sie ungehemmt kichern. Sie warf einen Seitenblick auf den ausgestreckt daliegenden Volospion. „Nicht die Spur eines Rüssels, tut mir leid.“ Sie sah wieder zu ihrem Beschützer hinüber und hoffte auf Anerkennung. „Nicht einmal die Andeutung eines Stoßzahns. Diese Person ist alles andere als ein Jumbo, obwohl ihre Nase, wie ich meine, lang genug ist. Sie gleicht eher einem jener kleinen Vögel, Abu Thaleb, die den Elefanten Futterreste von den Zähnen picken.“ „Großartig“, applaudierte Doktor Volospion. „Ha, ha, ha!“ Abu Thaleb musterte sie mit undurchsichtigem Ernst. „Zähne?“ Sie kicherte wieder. „Haben Elefanten denn keine Zähne mehr?“ Argonherz Po schien verlegen zu sein. Sein Blick auf Doktor Volospion kam beinahe einer Mißbilligung gleich. „Ich muß wieder zurück an meine Gedanken“, sagte er. „Ich werde diesen traurigen Ort verlassen. Hier ist nichts, was ich retten könnte. Nicht jetzt. Ich darf mich also verabschieden.“ „Willst du uns selbst eine kleine Kostprobe deiner Gaumengenüsse verweigern, Argonherz?“ Doktor Volospion wählte den gleichen Tonfall wie zuvor. „Hm?“ Argonherz Po schluckte. Er schüttelte den Kopf. Er blickte sich um. „Ich denke ja.“ „Oh, aber Argonherz, es sind doch noch ein paar Dinosaurier übrig geblieben. Mir ist, als sähe ich einen. Dahinten am Horizont.“ Miss Ming griff nach seiner Hand, konnte sie aber nicht festhalten. „Hört auf, hört auf“, sagte der Küchenchef. Doktor Volospion ergriff wieder das Wort. „Ah, großer Hüter der Speisekammer, wie hochmütig du manchmal sein kannst! Nur ein Häppchen vom Mastodon, vielleicht, als Appetitanreger.“ „Ich habe keine Mastodonten gemacht!“ bellte Argonherz Po und entfernte sich. „Auf Wiedersehen!“ Doktor Volospion rührte sich in seinem Kissen. „Ja, ja. Besessene Leute sind manchmal sehr bedauernswürdig, finde ich.“ Mavis Ming sagte: „Er war mehr an seinem Zuckerwerk interessiert als an der Gelegenheit, mit anderen intelligenten Wesen Kontakt aufzunehmen. Trotzdem, die Sache hat ihm schlimm zugesetzt.“ „Du warst also die einzige, die von seinen Vorbereitungen probiert hat.“ Abu Thaleb blickte nachdenklich über den geronnenen See, der zwischen ihm und dem Raumschiff lag. „Wie war übrigens seine Kost, Miss Ming“, wollte Doktor Volospion wissen. „Du hast davon genascht, eh?“ Miss Ming setzte eine kokette Miene auf, die Doktor Volospion gefallen mußte. „Oh, ein wenig zu dick aufgetragen, um die Wahrheit zu sagen.“ Sie ließ ein helles Lachen verlauten. Seine dünne Zunge fuhr über seine Lippen. „Zu streng im Geschmack?“ „Wenn du mich fragst - so gut, wie man behauptet, ist er gar nicht. - All das“, sie ließ die Hand rotieren, „all diese großen Ideen.“ Abu Thaleb konnte die Schmähreden nicht zulassen. „Argonherz Po ist das größte kulinarische Genie der Weltgeschichte!“ „Vielleicht ist es in unserer Welt, was Köche anbelangt, schlecht bestellt...“, schlug Doktor Volospion pfiffigerweise vor. „Und er ist der gutmütigste Bursche! Die Zeit, die er heute zur Vorbereitung der Mahlzeit hat aufbringen müssen!“ „Zeit?“ Volospion schien nicht richtig verstanden zu haben. „Zeit? Zeit?“ „Seine Geschenke sind berühmt. Vor nicht allzu langer Zeit bereitete er für mich ein schmackhaftes Mammut zu. Es war das Vorzüglichste, was ich je gegessen habe. Die
Zusammenstellung der Geschmacksnuancen läßt sich nicht in Worte fassen, und doch bestach das Mahl durch einen runden, einheitlichen Gesamteindruck!“ Abu Thaleb legte eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit an den Tag. Doktor Volospion war nicht in diplomatischer Stimmung. Er verhielt sich wie jemand, der einen Hai am Haken hat und die Schnur nicht kappen will, egal, welcher Schaden dadurch für Mann und Boot entstehen könnte. „Vielleicht verwechselst du den Gegenstand der Diskussion mit Kunst, verehrter Abu Thaleb?“ Miss Ming, inspiriert von seinen Witzeleien, hielt auch die Angelrute fest, um sich die Gunst ihres Beschützers zu sichern. „Was dem einen sein Elefantensteak ist schließlich dem anderen das Sprudelwasser.“ Aber nun war es, als hätten sich Rute und Schnur losgerissen, um in die Tiefe gezogen zu werden. Abu Thaleb stierte sie mit unverhohlener Bestürzung an. Doktor Volospion ließ von seinem Opfer ab. Das graue Gesicht verriet keine Regung. Es entstand eine Pause. Dann änderte sich sein Ausdruck. Er lächelte verstohlen, aber das Lächeln galt nicht ihr. Der Kommissar durfte aufatmen, was ihn ganz benommen machte. „Nun“, sagte er schwach, „ich für mein Teil bin von seinen Erfindungen immer begeistert.“ Miss Ming spürte den Stimmungsumschwung, der immer dann einzutreten schien, wenn sie gerade eine lustige Bemerkung gemacht hatte. „Ich bin wieder mal zu spitzfindig. Tut mir leid. Nein - Argonherz ist sehr begabt. Wirklich sehr begabt. Und sehr nett. Bei ihm fühle ich mich immer wie zu Hause. Herrje! Bin ich es eigentlich immer, die alles kaputt macht? Das kann doch nicht sein, oder?“ Doktor Volospion hatte aus Gründen, die nur er kannte, die Angel wieder ausgeworfen. „Miss Ming, du bist wieder einmal zu gütig.“ Er hob eine lange Hand. Die Finger krümmten sich zu Krallen. „Laß dich nicht von diesem gerissenen Kommissar dazu verleiten, deine Meinung zu revidieren. Bleibe deiner Überzeugung treu. Wenn dir Argonherz Pos Werke nicht zusagen, den Ansprüchen deines Gaumens nicht gerecht werden, dann sag es.“ Diesmal erkannte Abu Thaleb den Köder nicht. „Volospion, du spottest unser zu sehr“, protestierte er. „Laß wenigstens Miss Ming in Frieden!“ „Oh, er macht sich nicht über mich lustig“, stellte Miss Ming fest. „Ich?“ Doktor Volospion unterstrich mit hochgezogenen Brauen seine Überraschung. „Spotten?“ „Ja. Spotten.“ Abu Thaleb betrachtete das Raumschiff. „Du machst mir zu viel Ehre, mein Freund.“ „Hmm“, sagte Abu Thaleb. Mavis lachte freundlich. „Man weiß nie, wann er ernst ist und wann er spaßt, nicht wahr, Kommissar?“ Abu Thaleb war kurz angebunden. „Nun, Miss Ming, wenn du kein Unbehagen spürst, dann...“ Er wurde von Doktor Volospion unterbrochen, der auf das Schiff zeigte. „Ha! Unser Gast läßt sich blicken!“
6. KAPITEL IN DEM MR. EMANUEL BLOOM ANSPRUCH AUF SEIN KÖNIGREICH ERHEBT Wieder stand er vor ihnen. Sein Kopf war nach vorne geneigt, die hellen Augen glitzerten, die
steifen Arme hingen seitlich herunter, und die roten, wuchernden Haare umrahmten sein Gesicht. Er blieb einen Augenblick am oberen Absatz der Rampe stehen und beobachtete ohne Scheu und mit gelassenem Interesse sein Publikum. Er hatte die Kleidung gewechselt. Er trug jetzt einen Anzug aus zerknittertem, schwarzem Samt, und ein Hemd, dessen steifer, hoher Kragen das Kinn zu stützen schien. Die Ärmel bedeckten die geballten Hände bis zu den Knöcheln. Die kleinen Füße steckten in zierlichen, blankgeputzten Pumps. Der Fremde lehnte sich so weit über die Rampe, daß er abzustürzen drohte. „Was für eine durch und durch alberne Figur“, flüsterte Miss Ming Doktor Volospion zu. „Findest du nicht auch?“ Unter normalen Umständen hätte sie noch mehr gesagt, aber in diesem Moment spürte sie offensichtlich die unwiderstehliche Autorität dieser vorspringenden, blauen Augen. „Er kommt gar nicht aus dem All“, beklagte sich der Kommissar von Bengalen. „Er ist ein Zeitreisender. Seine Kleidung...“ „Oh, nein.“ Miss Ming war nicht umzustimmen. „Wir haben ihn ankommen sehen. Das Schiff kam aus dem All.“ „Vom Himmel vielleicht, aber nicht aus dem All.“ Abu Thaleb wischte sich ein paar Perlen vom Mund. „Jetzt...“ Der Ankömmling hatte eine seltsame Pose eingenommen: Arme steif nach vorn gestreckt, der kleine Mund lächelnd, Kopf aufrecht. Er sprach in flötenden, melodischen Tönen, die diesmal für alle verständlich waren. „Ich heiße euch willkommen, Erdenvolk, und beglückwünsche euch zu meiner Anwesenheit. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr es mich bewegt, wieder bei euch zu sein, und ich schätze eure überschwenglichen Gefühle an diesem wundervollen Tag. Denn der Held eurer größten Legenden ist zurückgekehrt. Ah, wie müßt ihr euch nach mir gesehnt haben. Wie sehr müßt ihr meine Rückkehr herbeigefleht haben! Um euch das Leben zu bringen. Um Versöhnung zu bringen. Um euch die Ruhe zu bringen, die nur durch Schmerz zu gewinnen ist! Nun, liebes Erdenvolk, da bin ich wieder. Endlich, nach langer Zeit bin ich wieder zurück!“ „Zurück...“, brummte Abu Thaleb. „Oh, die Reise hat ihm den Verstand genommen“, schlug Mavis Ming als Erklärung vor. Abu Thaleb räusperte sich. „Ich glaube, Sie wissen mehr als wir, Sir...“ „Wir haben Ihren Namen nicht mitbekommen“, sagte Doktor Volospion. Seine Stimme war um eine Winzigkeit lebhafter geworden. Ein süßes, kleines Lächeln bewegte die rubinroten Lippen des Fremden. „Aber ihr müßt mich doch erkennen!“ „Was mich betrifft, so habe ich nicht die leiseste Spur einer Ahnung“, sagte Doktor Volospion. „Ein Bild vielleicht, aus einer alten Stadt. Aber nein...“, sagte Abu Thaleb. „In der Tat, Sie sehen jemandem ähnlich. Irgendeinem alten Schriftsteller oder so“, sagte Miss Ming. „Literatur habe ich allerdings nie studiert.“ Er runzelte die Stirn. Er drehte die Handflächen nach innen. Er blickte auf seinen seltsamen Körper hinunter. Seine Stimme trällerte weiter. „Ja. Ja. Ich vermute, daß ihr mich in dieser speziellen Verkörperung nicht wiedererkennt.“ „Vielleicht können Sie uns einen Tip geben.“ Doktor Volospion hatte sich in seinen Kissen zum ersten Mal aufgerichtet. Sein Vorschlag wurde überhört. Der Neuankömmling klopfte sich auf die Brust. „Ich habe meine physische Erscheinung so oft geändert, daß ich nicht mehr weiß, wie ich zuerst ausgesehen habe. Mein Körper ist wahrscheinlich beträchtlich kleiner geworden. Die Hände haben mit Sicherheit eine andere Form. Ich entsinne mich, es gab eine Zeit, in der ich fett war. So fett wie euer Freund - ah, er ist weg! -, derjenige, der hier war, als ich mich zum ersten Mal habe blicken lassen, und dessen Sprache ich nicht verstand... der Übersetzer arbeitet doch
jetzt ganz ordentlich, oder? Gut, gut. Oh, ja! Ungefähr so fett wie er. Fetter. Und groß, glaube ich. Viel größer als ihr. Aber ich denke jetzt etwas ökonomischer. Ich hatte die Gelegenheit, mich umzustellen. Um im Inneren meines Schiffs bequemer zurechtzukommen. Ich nahm an meiner Gestalt eine Veränderung vor. Unumkehrbar. Die jetzige Figur ist einem meiner Vorbilder nachempfunden, dessen Namen und Heldentaten ich vergessen habe.“ Er holte tief Luft. „Wie dem auch sei, mein Äußeres ist unwesentlich. Ich bin - wie gesagt - hier, um euch die Erfüllung zu bringen.“ „Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar“, sagte Doktor Volospion. „Aber wie ist Ihr Name, Sir?“ wollte Abu Thaleb wissen. „Mein Name? Namen! Namen! Namen! Ich habe so viele!“ Er warf den Kopf in den Nacken und stieß ein schmetterndes Lachen aus. „Namen!“ „Einer würde schon reichen...“, sagte Abu Thaleb ohne Ironie. „Namen?“ Die blauen Augen des Mannes musterten die Gesprächsrunde. Er gestikulierte mit den Armen. „Namen? Wie sollte ich mich denn eurer Meinung nach nennen? Ich bin der Phönix! Ich bin der Sonnenadler! Ich bin die Rache der Sonne!“ Er schritt an den äußersten Rand der Rampe, stieg aber immer noch nicht hinunter. Er lehnte sich gegen die Luftschleusenöffnung. „Ihr werdet erfahren, wer ich bin. Ihr werdet es erfahren! Denn ich bin die Krallenhand, die das Herz zurückholt, das ihr aus der Mitte des großen Brennofens gestohlen habt, der mein Herr und mein Sklave ist. Eh? Erinnert ihr euch jetzt, da ich euch an eure Verbrechen erinnere?“ „Reichlich verrückt“, sagte Miss Ming mit leiser, angespannter Stimme. „Ich finde, wir sollten lieber...“ Aber ihre Freunde waren fasziniert. „Hier bin ich!“ Er breitete Arme und Beine aus und füllte als großes X die Luftschleuse. „Magus, Clown und Prophet, ich - der Herr der Welt! Seht selbst!“ Mavis Ming stockte der Atem, als aus seinen Fingerspitzen Flammen schössen. Flammen tanzten in seinem Haar. Flammen leckten aus seinen Nasenlöchern. „Clownhafter, königlicher, priesterlicher Feuerfresser und -speier! Ha!“ Er lachte und gestikulierte, und war umgeben von Flammenbällen. „Ich kenne keine Unklarheit und keinen Ehrgeiz - ich bin alle Dinge! Mann und Frau, Gott und Bestie, Kind und Greis - alles ist in mir vereint.“ Eine riesige Feuerwand schien für einen Augenblick das ganze Schiff zu verschlingen. Dann verschwand sie wieder. Der Neuankömmling stand immer noch in der Luftschleuse. Seine Stimme pfiff schrill, und die blauen Augen waren voller Stolz. „Ich bin die Menschheit! Ich bin das Multiversum! Ich bin das Leben und der Tod, und auch das Nichts. Ich bin Frieden, Krieg und Gleichgewicht. Ich bin Verdammnis und Erlösung. Ich bin alles, was existiert. Und ich bin jeder einzelne von euch!“ Er warf den kleinen Kopf zurück und fing an zu lachen, während die drei Einheimischen ihn in schweigender Verwunderung anstarrten. Zum ersten Mal ging er jetzt ein paar Schritte die Rampe hinunter, wobei er auf den Fußballen stehend mit ausgestreckten Armen das Gleichgewicht suchte. Und dann fing er an zu singen: „Denn ich bin GOTT - und TEUFEL! PHÖNIX, FAUST und FLEGEL! Mein WAHNSINN ist GÖTTLICH, EISKALT meine VERNUNFT! Ich bin euer UNTERGANG und eure ZUKUNFT!“ „Wir sind immer noch, fürchte ich, nicht ganz im klaren...“, murmelte Doktor Volospion. Aber das singende Wesen hörte ihn nicht. Es richtete statt dessen urplötzlich, als sähe es sie zum ersten Mal, seine Aufmerksamkeit auf Miss Ming. Miss Ming sprang zwei Schritte zurück. „Oh! Was stieren Sie mich eigentlich so an, Sie Flegel!“ Er hatte aufgehört zu singen. Seine Miene lebte auf. Er beugte sich vor, um sie zu begutachten. „Ah! Was für eine reizende Dame!“
Er ging die Rampe weiter hinunter und seufzte vor Vergnügen. „Oh, Madonna der Lust. Ah, meine Tigerin, meine Versuchung. Mm! Nie habe ich solche Schönheit erblickt! Dies ist vollkommene Weiblichkeit!“ „Mir reicht’s“, sagte Miss Ming zornig und machte Anstalten davonzukommen. Er folgte nicht, aber seine Augen hielten sie in Fesseln. Seine hohe Singsangstimme wurde ekstatisch. „Welche Schönheit! Ah... ich lasse Flügel wachsen, die über deinen Brüsten schlagen.“ Seine gekrallten Hände fuchtelten durch die Luft. „Kratzende Krallen werden deine prallen Formen an sich reißen! Klauen aus Blut und Sehnen werden in die silbernen Saiten deiner kühlen Harfe greifen! Ha! Ich werde dich besitzen, Frau, sei unbesorgt! Ho! Ich lasse dir das Blut unter die Haut schießen! Hei! Es wird wallen - im Dienste meiner Sünde!“ „Ich bleibe keinen Moment länger“, sagte sie, bewegte sich aber nicht vom Fleck. Die beiden anderen standen abseits und sahen zu, wie die seltsame, verrückte Gestalt über die Rampe stolzierte und der dicken, verwirrten Dame in Blau und Gelb den Hof machte. „Du wirst mein sein, Gnädigste. Du wirst mein sein! Das wiegt all die Jahrtausende auf, in denen mir jegliche Form des Trostes und jede Teilnahme an menschlicher Gemeinschaft verweigert wurden. Ich habe die Galaxien und Dimensionen durchquert, um hier meine Belohnung zu finden! Jetzt obliegt mir ein zweifaches Amt. Diese Welt zu retten und diese Frau zu gewinnen!“ „Ohne mich“, fauchte Mavis. „Ugh!“ Sie rang nach Luft und konnte nicht fliehen. Er beachtete oder hörte sie nicht. Sein Interesse galt wieder Doktor Volospion. „Du hast nach meinem Namen gefragt. Erkennst du mich jetzt?“ „Nicht, daß ich wüßte.“ Selbst Doktor Volospion war beeindruckt von der Sprachgewalt des Neuankömmlings. „Uhm... vielleicht geben Sie uns noch einen Tip?“ Bang! Aus der Hand des Mannes schoß ein Flammenschwall und zerstörte einen Teil von Werthers unvollendetem Gebirge. Bumm! Der Himmel verdunkelte sich, und grollende Donner erschütterten die Landschaft, während ringsum Blitze einschlugen. Chaos umwirbelte das Schiff, und aus der Mitte schrie der Fremde: „Da! Sagt dir das genug?“ Abu Thaleb äußerte Bedenken. „Das war eine der Gebirgsketten, die jemand errichtete, der gehofft hatte...“ „Errichtet?“ Der Donner hörte auf. Die Blitze zuckten nicht mehr. Der Himmel wurde wieder klar. „Errichtet? Ihr macht diese scheußliche Landschaft? Aus eigenem Antrieb? Pah!“ „Wir machen auch andere Dinge...“ „Was für eine kümmerliche Eitelkeit! Farbtupfer! Ich gebrauche alles, was wirklich ist, für meine Leinwand. Feuer, Wasser, Erde und Luft - und menschliche Seelen!“ „Wir können oft recht interessante Effekte erzielen“, setzte Abu Thaleb mutig nach. „Und zwar durch...“ „Unsinn! Merke dir - ich kontrolliere dein Schicksal! Wiedergeboren komme ich zu euch, um neues Leben zu geben! Ich biete das Universum an!“ „Wir haben es schon mal gehabt“, sagte Doktor Volospion. „Deshalb stecken wir zur Zeit in einer etwas mißlichen Lage. Das Universum ist verbraucht.“ „Bah! Tja, tja, tja. Also liegt es wieder einmal an mir, die Rasse zu retten. Ich werde euch nicht verraten - so wie ihr mich in der Vergangenheit verraten habt. Noch einmal gebe ich euch eine Gelegenheit. Folgt mir!“ Der Kommissar von Bengalen strich mit einer Hand über die glänzenden Korkenzieherlocken seines schwarzblauen Bartes und befingerte den roten Stern von Indien, der sein linkes Ohrläppchen schmückte. Dann richtete er eine Feder des Turbans. „Ihnen folgen? Bei Allah, Sir, ich bin verwirrt. Ihnen folgen? Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen. Nicht einem Ihrer Worte, nicht einer Silbe.“ „Das habe ich nicht gemeint.“
„Ich vermute“, warf Doktor Volospion ein, „unser Gast hält sich für einen Propheten - den auserwählten Sprecher einer Religion oder etwas ähnlichem. Die Phrasen, die er verwendet, klingen für mich sehr vertraut. Zweifellos möchte er uns dazu bekehren, daß wir seinen Gott anbeten.“ „Gott? Gott! Gott! Ich bin kein Diener einer höheren Macht!“ Der Kopf des Besuchers zuckte schockiert zurück. „Es ließe sich allerdings mit Fug und Recht behaupten, daß ich mir selber diene - und der Menschheit natürlich...“ Doktor Volospion wechselte allmählich die Farbe seines Gewandes, zuerst nach grün und silber, dann nach karmesinrot und schwarz. Er seufzte. Er wurde ganz schwarz. Der Besucher schaute dem Vorgang verächtlich zu. „Was haben wir denn da? Einen Scherz auf meine Clownerie?“ Doktor Volospion blickte nach oben. „Verzeihen Sie, wenn ich unhöflich sein sollte. Ich suchte lediglich die für meine Laune geeignete Garderobe.“ Abu Thaleb zeigte sich von seiner hartnäckigen Seite. „Sir, könnten Sie so freundlich sein und sich etwas förmlicher vorstellen... ?“ Der Fremde schenkte ihm einen wohlwollenden Blick. Er schien die Bemerkung Abu Thalebs sorgfältig zu bedenken. „Ein Name? Nur einer“, bettelte der Herr aller Elefanten. „Vielleicht hilft uns das auf die Sprünge, verstehen Sie?“ „Ich bin euer Messias.“ „Da haben wir’s!“ rief Doktor Volospion. Er fühlte sich in seiner ersten Annahme bestätigt. Der Messias hob die steifen Arme zum Himmel. „Ich bin der Prophet der Sonne! Ihr könnt mich den Feuerbringer nennen!“ Doktor Volospion war sichtlich mehr erheitert, ja sogar amüsiert. Er blickte von seinen Manschetten auf (die jetzt violette Tressen hatten), um zu bemerken: „Der Name ist mir fremd, Sir. Woher kommen Sie?“ „Erde! Ich bin von der Erde!“ Der Prophet faßte an die Revers seines violetten Rockes. „Ihr müßt mich kennen. Ich habe euch genug Hinweise gegeben.“ „Aber wann haben sie die Erde verlassen!“ fragte Abu Thaleb in hilfreicher Absicht. „Vielleicht sind wir weiter in der Zukunft, als Ihnen bewußt ist. Sehen Sie, dieser Planet ist Millionen, Milliarden Jahre alt. Nun, alles spricht dafür, daß diese Erde vor langer Zeit untergegangen wäre - zumindest was das menschliche Leben auf ihr betrifft -, wenn wir sie nicht mit Hilfe unserer großen, alten Städte bewahrt hätten. Vielleicht stammen Sie aus so tiefer Vergangenheit, daß man Sie in keiner Überlieferung erwähnt hat. Natürlich erinnern sich die Städte an vieles, und es ist möglich, daß eine von ihnen über Sie Bescheid weiß. Außerdem haben wir Zeitreisende hier, wie Miss Ming, die sich noch besser an frühere Zeiten erinnern. Ich möchte damit bloß zum Ausdruck bringen, Sir, daß wir uns nicht einfach dumm stellen. Wir würden Ihnen nur zu gerne den gebührlichen Respekt entgegenbringen. Nur müßten wir wissen, wer Sie sind, und wie wir Ihnen unseren Respekt zeigen können. Ich bedaure, es liegt einzig und allein an Ihnen.“ Der Kopf des Fremden schnellte von einer Seite zur anderen. Er glich einem aufgeregten Kakadu. „Eh?“ „Name, Rang und Seriennummer!“ prustete Miss Ming vor Lachen. „Eh?“ „Wir sind ein altes, unwissendes Volk“, entschuldigte sich Abu Thaleb. „Nun, zumindest spreche ich für mich. Ich bin uralt und extrem unwissend. Außer in Dingen, die mit Elefanten zu tun haben, sollte ich hinzufügen. Darin bin ich Experte.“ „Elefanten?“ Die blauen Augen des Fremden glitzerten. „Das ist also aus euch geworden. Dilettanten! Lackaffen! Gecken! Zyniker! Spinner!“ „Wir am Ende der Zeit haben viele Charaktereigenschaften“, sagte Doktor Volospion. „Die
Vielfalt blüht, wenn auch die Originalität zu kurz kommt!“ „Pah! Für mich seid ihr leblose Knochen. Aber fürchtet euch nicht. Ich bin zurückgekommen, um euch wiederauferstehen zu lassen. Ich bin Kraft. Ich bin der vergessene Geist der Menschheit. Ich bin Möglichkeit.“ „Mag sein“, sagte Doktor Volospion entgegenkommend, „aber ich glaube, Sir, Sie unterschätzen den Grad unserer Kultiviertheit.“ „Wir haben die Angelegenheit recht eingehend erörtert, einige von uns jedenfalls“, wollte Abu Thaleb dem Fremden begreiflich machen. „Wir sind, wie es scheint, zweifellos dem Untergang geweiht.“ „Noch nicht! Noch nicht!“ Der kleine Mann riß die Hand hoch, und ein Feuerschwall fauchte über Argonherz Pos Colateich. Es entstand ein helles, unwirkliches Rot. Es wurde heiß. „Entzückend“, raunte Doktor Volospion. „Aber vielleicht dürfte ich einmal etwas demonstrieren...“ Er drehte den Saphirring an seinem rechten Finger. Über dem Teich bildeten sich blaßblaue Wolken. Ein leichter Regen fiel auf das Feuer. Es verlöschte. „Sie sehen“, fügte Doktor Volospion schnell hinzu, als er den Gesichtsausdruck des Fremden bemerkte, „daß wir uns einer gewissen Kontrolle über die Elemente erfreuen.“ Er drehte einen anderen Ring. Das Feuer kehrte zurück. „Ich bin nicht hergekommen, um Zaubertricks mit dir auszutauschen, mein schakaläugiger Freund!“ Der Fremde machte mit der Hand eine Geste, und um seinen Kopf bildete sich ein Heiligenschein aus hellen Flammen. Er schwang die Arme. Schwarze Wolken füllten wieder den Himmel, und der Donner grollte. Blitze zuckten. „Ich bediene mich meiner Fähigkeiten lediglich, um mein moralisches Ansinnen unter Beweis zu stellen.“ Doktor Volospion hob entzückt eine Hand zum Mund. „Mir war nicht klar...“ „Nun, auch dir wird noch einiges klar werden! Du wirst mich kennenlernen! Ich werde die Erinnerung wecken, die in den verborgenen Winkeln eures Geistes schläft. Wie freudig werdet ihr mich Willkommen heißen! Denn ich bin die Erlösung!“ Er nahm eine elegante Pose ein, und seine hohe, melodische Stimme vertonte die folgende Rede zu einem Lied: „Oh, nennt mich Satan, denn ich wurde vom Himmel ausgespuckt! Die wimmelnden Welten des Multiversums waren bisher mein Domizil. Aber hier bin ich - nach langer Zeit zurückgekehrt. Ihr kennt mich nicht - aber bald werdet ihr mich kennen. Ich bin Er, auf den ihr gewartet habt. Ich bin der Sonnenadler. Ah, von nun an soll diese alte Welt unter meinem Feuer erblühen. Denn ich bin der triumphale, der schreckliche, unversöhnliche Herr eures Erdballs.“ Er legte eine kurze Pause ein, um einen prüfenden Blick aus den Augenwinkeln auf sein Publikum zu werfen. Dann füllte er die Lungen und fuhr in seiner Litanei fort: „Dies ist mein Erbrecht, meine Pflicht und mein Verlangen. Ich erhebe Anspruch auf die Welt. All ihre Bewohner sind meine Untertanen. Ich werde euch in der Lobpreisung des Geistes unterweisen. Ihr schlaft noch. Ihr habt vergessen, wie man auf den wilden Winden fliegt, die vom Himmel zur Hölle blasen. Denn jetzt erschaudert ihr unter der bloßen Brise, die der kalte Wind des Abgrunds ist. Sie wirft euch zu Boden, tötet euch ab, und ihr ergebt euch demütig darein, weil ihr nichts wißt von einem anderen Wind.“ Seine Hände ließen sich auf den Hüften nieder. „Aber ich bin der Wind. Ich bin die Luft und das Feuer, das eure Geister wiederbelebt. Ihr zwei, ihr verwirrten Männer werdet meine ersten Jünger sein. Und du, Frau, wirst meine ruhmreiche Gemahlin.“ Mavis Ming schüttelte sich und sagte zu Abu Thaleb: „Ich könnte mir nichts Schlimmeres vorstellen. Welch ein pathetischer kleiner Idiot! Will nicht einer von euch ihn in seine Schranken verweisen?“ „Oh, er ist doch unterhaltsam, oder?“ meinte Abu Thaleb nachsichtig. „Charmant“, fand auch Doktor Volospion. „Du müßtest doch geschmeichelt sein, Miss Ming.“ „Was? Nur weil er seit tausend Jahren keine andere Frau zu Gesicht bekommen hat? Doktor Volospion lächelte. „Du unterschätzt dich.“
Der Fremde schien von der mangelhaften Wirkung, die er auf sie ausübte, nicht bekümmert zu sein. Er richtete die strengen, durchbohrenden Augen auf Mavis Ming. Sie wurde rot. Er sprach mit gewaltiger Autorität und all seiner vorpubertären Schrillheit: „Schön und stolz magst du sein, Frau, aber wenn die Zeit kommt, wirst du dich meinem Wunsche beugen. Du wirst mir nicht mehr lange mit deinem unreifen Spott begegnen.“ „Ich schätze, Sie haben eine altmodische Vorstellung von Frauen, mein Freund“, sagte Miss Ming unbeirrt. „Deine wahre Seele ist noch verschüttet. Aber ich werde sie wieder zum Vorschein bringen.“ Der Himmel klarte auf. Eine Schar transparenter Pteranodonten segelte aufgescheucht durch die Luft und floh vor der Sonne. Miss Ming tat so, als interessiere sie sich für die flüchtenden Wesen. Aber es war klar, daß der Fremde all ihre Aufmerksamkeit besaß. „Ich bin das Leben“, sagte er, „und du bist der Tod.“ „Nun...“, meinte sie beleidigt. Er erklärte: „Im Augenblick ist alles außer mir der Tod.“ „Sie tun mir langsam leid“, sagte Miss Ming mit gekünstelter Stimme. „Sie sind offensichtlich zu lange im All gewesen, Herr sowieso. Das hat Sie völlig verrückt gemacht!“ Nervös zupfte und zerrte sie an ihrem Kostüm herum. „Und wenn Sie mir Angst einjagen, meinen Magen umstülpen oder mich zum Narren halten wollen, möchte ich Ihnen versichern, daß ich zu meiner Zeit mit viel zäheren Kunden fertiggeworden bin. Alles klar?“ „Aha“, sagte er in einem Tonfall, der nur ihr galt, „dein Geist sträubt sich. Deine Erziehung will sich mir widersetzen. Deine Mutter, dein Vater und die ganze Gesellschaft wollen sich mir widersetzen. Vielleicht verweigert sich sogar dein Körper. Aber nicht deine Seele. Deine Seele hört mich. Deine Seele verlangt nach mir. Wie lange hast du die Mahnungen deiner Seele ausgeschlagen? Wie viele Jahre des Unbehagens, des Kummers, der Lasterhaftigkeit und Erniedrigung? Wie viele Nächte hast du gegen deine Träume und wahren Wünsche angekämpft? Bald wirst du vor mir knien und deine wirkliche Kraft und Stärke kennen.“ Miss Ming schöpfte Luft. Sie blickte sich hilfesuchend nach Doktor Volospion um, aber sein Gesichtsausdruck war sanft und ein wenig neugierig. Abu Thaleb schien nichts als verlegen zu sein. „Hören Sie mir zu“, sagte sie. „Zu meiner Zeit hatten die Frauen seit hundertfünfzig Jahren das Wahlrecht. Seit hundert Jahren hatten sie die gleichen Rechte. Im öffentlichen Dienst waren mehr Frauen als Männer beschäftigt. Über fünfzig Prozent der führenden Politiker waren Frauen. Und als ich meine Zeit verließ, wurde zehn Jahre lang ein großer Krieg geführt. Wir wissen alles über Diktatoren, Chauvinisten und altmodische Verführer. Im Verlauf meiner Studien habe ich ein Seminar über die Geschichte des Sexismus belegt. Ich weiß, wovon ich spreche.“ Er hörte aufmerksam zu. Erst dann entgegnete er: „Du sprichst von Rechten und Präzedenzfällen, Frau. Du berufst dich auf freie Wahl und Erziehung. Und wenn sich all dies nun als die Ketten des gefesselten Geistes herausstellen würde? Ich biete dir weder Sicherheit noch Verantwortung an - ausgenommen der Sicherheit, deine eigene Identität zu kennen, und der Verantwortung, sie zu bewahren. Ich biete dir Würde an.“ Miss Ming öffnete den Mund. „Ich stelle fest: Sie sind ein Romantiker, Sir“, betonte Doktor Volospion. Der Fremde schien die Gegenwart des Doktors nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, sondern starrte unverwandt auf Mavis Ming, die die Stirn runzelte und in ihrem verstörten Kopf nach einer passenden Bemerkung suchte. Da sie nicht fündig wurde, blickte sie sich hilfesuchend nach ihrem Beschützer um. „Können wir jetzt gehen?“ flüsterte sie Doktor Volospion zu. „Vielleicht wird er noch gefährlich.“ Doktor Volospion senkte die Stimme, aber nur um eine Nuance. „Wenn ich den Charakter deines Freundes richtig einschätze, so teilt er mit all seinen Artgenossen eine Vorliebe für
Worte, Theatralik und unwesentliche Aktionen. Ich finde ihn recht stimulierend. Du kennst meine Interessen...“ „Weise meine Geschenke nicht zurück, Frau“, warnte der Fremde. „Andere haben dir Freiheit angeboten (wenn es so ist), aber ich schenke dir nicht weniger als dich selbst - dein ganzes Selbst.“ Miss Ming versuchte, sich im Zaum zu halten, blieb aber erfolglos und wandte sich ab. „Wirklich, Doktor Volospion“, drängte sie, „ich habe genug...“ Abu Thaleb spielte den Vermittler. „Sir, wir haben ein paar verbindliche Sitten, obwohl wir uns einer Vielfalt von Umgangsformen erfreuen. Aber da Sie nun einmal Gast unseres Zeitalters sind, finde ich, Sie...“ „Gast!“ Der kleine Mann war erstaunt. „Ich bin nicht euer Gast, Sir. Ich bin euer Erlöser.“ „Mag ja sein, aber...“ „Genug. An meiner Berufung ist nichts zu deuteln.“ „Wie dem auch sei, Sie haben diese Dame verwirrt, die nicht aus unserer Zeit stammt und deshalb auf Ihre Bemerkungen empfindlicher reagiert als ein, hmm, Eingeborener dieser Zeit. Ich glaube, statt empfindlichen sollte ich besser sagen >gestreßter<, obwohl ich nicht mit Sicherheit weiß, wie sich >Streß< überhaupt äußert. Miss Ming?“ Er bat sie um Aufklärung. „Er geht mir gehörig auf die Nerven, wenn es das ist, was du meinst“, sagte Miss Ming kühn. „Aber hier gewöhnt man sich ja an einiges.“ Sie richtete sich auf. „Als Gentleman, Sir...“, fuhr Abu Thaleb fort. „Gentleman? Ich habe mich noch nie für einen >Gentleman< gehalten. Es sei denn, du bezeichnest so einen Mann - einen wilden feurigen Verehrer der Frauen - einer Frau - dieser Frau!“ Sein zittriger Finger deutete auf Mavis. Miss Ming drehte ihm den Rücken zu und bestieg Abu Thalebs Elefantensattel. Sie saß mit hoch aufgerichtetem Kopf auf den Kissen und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Fremde lächelte beinahe zärtlich. „Ah! Sie ist so bezaubernd! So weiblich! Ah!“ „Doktor Volospion“, Miss Mings Stimme war flach und unterkühlt, „- ich wäre geneigt, nach Hause zu gehen.“ Doktor Volospion lachte. „Unsinn, meine liebe Miss Ming.“ Er verbeugte sich andeutungsweise vor ihr und es schien, als wolle er sich entschuldigen. „Es ist schon eine Ewigkeit her, daß wir einen so ruhmreichen Gast empfangen durften. Ich bin auf seine Ansichten gespannt. Du kennst mein Interesse für altertümliche Religionen - meine Sammlung, meine Menagerie, meine Untersuchungen. Nun, hier haben wir einen waschechten Propheten.“ Er machte eine tiefe Verbeugung vor dem Fremden. „Einen Prediger, der Li Pao zeigen kann, welch armseliger Haarspalter er doch ist. Wenn wir für unsere Sünden Schelte beziehen, dann soll es heftig zugehen, Feuer und Schwefel soll uns drohen!“ „Von Schwefel war nicht die Rede“, sagte der Fremde. „Verzeihen Sie mir.“ Miss Ming beugte sich vom Elefantensattel herunter und hielt ihren Mund an Doktor Volospions Ohr. „Hältst du ihn tatsächlich für authentisch?“ Er streichelte sein Kinn. „Dein Mund spricht mißverständlich, Miss Ming.“ „Oh, ich geb’s auf“, sagte sie. „Ihr seid ja nicht betroffen. Aber mich will der Wahnsinnige bei nächstbester Gelegenheit vergewaltigen. Das hat er mehr oder weniger offen angekündigt.“ „Unsinn“, widersprach Doktor Volospion. „Er verhält sich wie ein echter Kavalier.“ „Da könnte ich mich ja gleich von einem Täubchen vergewaltigen lassen“, fuhr sie fort. Dann zog sie sich in den Schmollwinkel zurück. Doktor Volospion warf noch einen taxierenden Blick auf sie. Aber als er den Fremden ansprach, war er wieder äußerst freundlich. „Die Art, in der Sie sich vorgestellt haben, Sir, war vielleicht eine Winzigkeit zu vage. Ich möchte Ihnen nun meine Wenigkeit sowie meine
Freunde etwas genauer präsentieren. Diese liebliche Dame, deren Schönheit verständlicherweise einen großen Eindruck auf Sie macht, ist Miss Mavis Ming. Dieser Gentleman ist Abu Thaleb, Kommissar von Bengalen...“ „... und Herr aller Elefanten“, ergänzte der Kommissar bescheiden. „... während ich, Ihr ergebenster Diener, Doktor Volospion genannt werde. Ich vermute, wir teilen eine ähnliche Leidenschaft. Denn seit langem studiere ich die Religionen und Bekenntnisrichtungen der Vergangenheit. Ich halte mich selbst für einen, sagen wir, Experten in Sachen Glaubensfragen. Bestimmt sind Sie interessiert an meiner Sammlung. Ich würde sehr viel Wert auf Ihre Begutachtung legen, denn, um die Wahrheit zu sagen, in diesem unserem weltmüden Zeitalter gibt es nur wenig Gleichgesinnte.“ Die roten Lippen des Fremden spannten sich zu einem mächtigen Lächeln. „Ich bin kein Theologe, Doktor Volospion. Oder höchstens in dem Sinne, daß ich natürlich alles bin...“ „Natürlich, natürlich, aber...“ „Und ich halte dich für einen Gauner und Poseur.“ „Ich versichere Ihnen...“ „Ich kenne dich als armseliges, halbtotes Wesen, das mit Hilfe dümmlicher Spitzfindigkeit seinem öden Geist den Anschein von Leben zu geben versucht. Du bist kalt, Sir, und die Gemeinheiten, durch die du dein Blut zu wärmen trachtest, sind eitle Dinge, Produkte einer knausrigen Phantasie und einer kärglichen, fehlgeleiteten Intelligenz. Nur der Hochherzige kann wirklich grausam sein, denn nur er weiß, was wirkliche Barmherzigkeit ist.“ „Sie verabscheuen Spitzfindigkeiten und versagen sich trotzdem nicht den Gebrauch leerer Paradoxien.“ Doktor Volospion war, wie es den Anschein hatte, immer noch bester Laune. „Ich bin sicher, Sir, kennen wir uns erst einmal besser, werden Sie mir nicht mehr mit so viel Argwohn begegnen.“ „Argwohn? Sollte ich etwa argwöhnisch sein? Ha! Wenn du meine Natur so einschätzen willst, um dich zu trösten, so sollst du meine Erlaubnis dazu haben. Aber das mußt du wissen: Mit dieser Erlaubnis erlaube ich dir, in deinem Grab zu bleiben. Ansonsten hättest du wahres Leben erfahren können.“ „Ich bin beeindruckt...“ „Schweig! Ich bin dein Meister, ob du mich anerkennst oder nicht, ob es mir etwas ausmacht oder nicht, und das ist unanzweifelbar. Ich werde keine weitere Energie in einer Debatte mit dir verschwenden, Männlein.“ „Männlein!“ prustete Miss Ming. „Das gefällt mir.“ Doktor Volospion legte einen Finger auf seine Lippen. „Bitte, Miss Ming. Ich würde die Unterhaltung gern fortsetzen.“ „Obwohl er dich beleidigt hat...“ „Er sagt nur, was er denkt. Er kennt unsere Vorliebe für Euphemismen und verbale Ornamentik noch nicht, und deshalb...“ „Genau“, sagte Abu Thaleb erleichtert. „Er wird unsere Art bald verstehen lernen.“ „Seid versichert“, flötete der Fremde, „ihr werdet meine Art bald verstehen lernen. Mich interessieren keine Sitten, Gebräuche und Moden, denn ich bin Bloom, der Ewige. Ich bin Bloom, der in allem Erfahrene. Ich bin Emanuel Bloom, den die Zeit nicht berührt, den der Raum nicht niederdrückt!“ „Endlich ein Name“, sagte Doktor Volospion mit sichtlichem Entzücken. „Wir grüßen Sie, Mr. Bloom.“ „Das ist aber komisch“, sagte Miss Ming. „Sie sehen gar nicht jüdisch aus.“
7. KAPITEL
IN DEM DOKTOR VOLOSPION MR. BLOOM DRÄNGT, SEIN GAST ZU SEIN Mr. Emmanuel Bloom schien für den Moment das Interesse an ihnen verloren zu haben. Er stand auf der Rampe des Raumschiffs und blickte angestrengt über Argonherz Pos Colateich hinweg (auf dem immer noch eine oder zwei Flammen züngelten) zum leeren Horizont. Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Mein armer, armer Planet. Was hat man in meiner Abwesenheit aus dir gemacht?“ „Können wir jetzt endlich gehen?“ maulte Miss Ming Doktor Volospion und Abu Thaleb an. „Wenn ihr den Kerl wirklich noch einmal sehen wollt, könnt ihr ihm ja sagen, wo ihr zu finden seid.“ Sie hatte eine Eingebung. „Oder lade ihn doch auf deine Party ein, Abu Thaleb, als Ersatzattraktion anstelle ,von Argonherz’ Festmahl, das er vernichtet hat.“ „Er wäre natürlich willkommen“, sagte der Kommissar (alles andere als begeistert). „Ich glaube, seine Konversation könnte erfrischend sein“, sagte Doktor Volospion. Er zupfte an seinen Rüschen, die er dann mit einer Ringdrehung verschwinden ließ. Er trug jetzt wieder Grün und Silber, die Kapuze saß eng um seinen Kopf und betonte die geometrischen, weißen Gesichtszüge. „Es gibt bestimmt einige, die auf seine Äußerungen besser antworten als ich. Werther de Goethe zum Beispiel, mit seinem besonderen Faible für die Sünde. Oder auch Jherek Carnelian, wenn er noch da ist. Er sucht doch so eifrig nach der Bedeutung der Moral. Oder Mongrove, der auch diese Monumentalvorstellung von Jahrtausenden hat. Ist Mongrove eigentlich schon zurück aus dem All?“ „Er hat ein paar Außenweltler mitgebracht“, bestätigte Abu Thaleb. „Nun, vielleicht solltest du Mr. Bloom nun einladen, lieber Kommissar.“ „Wir könnten ihm sagen, daß die Party zu seinen Ehren stattfindet“, schlug Abu Thaleb vor. „Das würde ihm gefallen, meinst du nicht auch? Wenn wir ihm gut zureden...“ „Kann er uns nicht hören?“ flüsterte Miss Ming. „Ich glaube, er hört uns nur, wenn er möchte“, sagte Doktor Volospion. „Ihn scheinen im Augenblick andere Dinge zu interessieren.“ „Für mich ist das alles sehr unangenehm“, sagte Miss Ming. „Aber warum sollte ich mich beklagen? Ihr hört ja doch nicht auf die kleine Mavis. Das wäre wohl zu viel verlangt, oder? Nur, merkt euch meine Worte, er wird uns allen viel Ärger machen, besonders mir. Wir sollten ihn nicht auf unsere Parties einladen. Wir sollten ihm sagen, daß er nicht gern bei uns gesehen ist. Wir sollten ihm den Marsch blasen. Sagt ihm, er soll verschwinden!“ „Bei uns ist es Tradition, alle Besucher unserer Welt Willkommen zu heißen, Miss Ming“, sagte Abu Thaleb. „Selbst der größte Langweiler kann uns etwas bieten, und wir können ihm dafür Asyl gewähren. Ich gebe dir zwar recht. Dieser Mr. Bloom scheint sich ein paar verdrehte Vorstellungen über seine Bedeutung für uns zu machen. Aber ich vermute, er hat viele interessante Erfahrungen gemacht. Wie er sagt, ist er durch Zeit und Raum gereist. Er kennt viele unterschiedliche Gesellschaftsformen. Viele von uns würden gern seine Bekanntschaft machen. Ich bin sicher, Lord Jagged von Kanarien...“ „Jagged ist wieder gegangen“, sagte Doktor Volospion mit einigem Nachdruck. „Manche behaupten, er sei in die Vergangenheit geflohen - um dem Desaster zu entgehen.“ „Nun, es gibt auch Frauen, die sich freuen würden, einen solch leidenschaftlichen Mann kennenzulernen. Lady Charlotina, Mistress Christia, die Eiserne Orchidee...“ „Sollen sie doch“, sagte Miss Ming. „Sollen sie doch. Allerdings wüßte ich nicht, was eine Frau an diesem Kümmerling finden könnte.“ „Wenn er erst einmal unsere Damen kennenlernt, wird er in dich bestimmt nicht mehr so vernarrt sein“, munterte Abu Thaleb sie auf. „Wie du schon sagtest, wahrscheinlich bist du die erste Frau, die er seit vielen Jahren gesehen hat. Er hatte nur noch keine Gelegenheit, aus der großen Anzahl unserer schönen Frauen die auszusuchen, die ihm mehr zusagt als du. Offensichtlich ist der Mann von großer Leidenschaft. Man könnte seine Größe fast elefantös nennen.“
Miss Ming legte das Kinn auf ihre Faust. Da war ein Knall zu hören. Mr. Bloom hatte mit gedankenvoller Miene den Rest von Werthers Bergen in die Luft gesprengt. Er hielt immer noch die Hände an den Hüften und schien über die Entfernung zu meditieren. „Miss Ming. Ist dir als Studentin der Geschichte schon einmal der Name Bloom untergekommen?“ Doktor Volospion hatte sich neben sie in den Elefantensattel gesetzt. „Nein“, sagte sie. „Nicht einmal in einer Legende. Er muß aus einer späteren Zeit stammen.“ „Ich hätte geglaubt, er sei ein naher Zeitverwandter von dir. Seine Aufmachung läßt darauf schließen.“ „Er hat doch behauptet, das Äußere eines anderen angenommen zu haben. Eines Mannes, den er bewundert.“ „Ah, ja. Was meinst du - das Äußere eines Propheten?“ „Aus dem neunzehnten Jahrhundert? Wen gab es denn da? Karl Marx? Nietzsche? Wagner? Er sieht vielleicht ein bißchen wie Wagner aus. Nein. Aber so ähnlich. Ein Engländer vielleicht? Das war nicht meine Zeit, Doktor Volospion. Und Religion zählte nie zu meinen stärksten Fächern. Das Mittelalter lag mir am meisten. Die Menschen lebten damals so viel einfacher. Ich könnte immer noch nostalgische Gefühle bekommen, wenn es ums Mittelalter geht. Das war möglicherweise auch der Grund, warum ich mit Geschichte angefangen habe. Als ich ein kleines Mädchen war, konnte man mich von all den Geschichten über tapfere Ritter und liebliche Fräulein nicht losreißen. Vermutlich war das reichlich kindisch von mir. Aber ich hielt an dieser Vorliebe fest, bis ich zur Universität kam. Da interessierte ich mich dann mehr für Politik. Nun, ganz verrückt auf Politik war eigentlich Betty, verstehst du? Sie hatte ein paar starke politische Ideen - gute Ideen. Sie...“ „Aber dir ist nichts von einem Mr. Bloom bekannt?“ „Müßte man ihn nicht sofort erkennen, wenn man ihn einmal gesehen hätte? Nein. Doktor Volospion, kannst du mich nicht zu Hause absetzen?“ bettelte Miss Ming. „Wenn ich einen Energiering hätte, bloß einen kleinen, könnte ich...“ Schon früher hatte sie ihm zu verstehen gegeben, daß sie ihm weniger zur Last fiele, wäre sie mit einem oder zwei Energieringen ausgestattet gewesen. Aber nur wenige Zeitreisende bekamen solche Ringe, die die Energie der alten Städte anzapften. Jemand wie Miss Ming, die noch nicht lange am Ende der Zeit lebte, hatte keinen Anspruch auf einen Ring. Nach Doktor Volospions Erklärung mußte man erst eine gewisse Disziplin - oder zumindest Gewohnheit des Geistes erlernt haben, bevor man einen Ring benutzen konnte. Außerdem gehörten die Ringe nicht zu jenen Gegenständen, die sich willkürlich nachbilden ließen. Es gab nur eine relativ begrenzte Anzahl. Doktor Volospion hatte Miss Ming zwar nie vollständig in diesem Sinne überzeugen können, aber ihr waren die Hände gebunden. Sie konnte nur hoffen, daß Volospion eines Tages nachgab. „Ich bedaure...“ Er machte eine abweisende Handbewegung. „Noch nicht, Miss Ming.“ Es wurde nicht deutlich, aufweichen Vorschlag er sich bezog. Miss Ming ließ Enttäuschung auf ihrem plumpen Gesicht erkennen. „Hm“, sagte Mr. Bloom, „dieser Planet muß zweifellos verbrannt werden, damit aus der Asche ein reinerer Ort entstehen kann.“ „Mr. Bloom!“ schrie Abu Thaleb. „Ich möchte zu bedenken geben, daß Sie zwar ein geschätzter Gast unserer Welt sind, aber es käme vielen Menschen gewiß ungelegen, würden Sie sie verbrennen.“ Bloom zwinkerte, als er auf Abu Thaleb herabblickte. „Oh, sie werden nicht sterben. Ich werde sie wiedererwecken.“ „Sie sind durchaus in der Lage, sich selbst zu erwecken, Mr. Bloom. Das ist nicht der springende Punkt. Sehen Sie, viele von uns haben einiges in ihre Hobbys investiert Menagerien, Sammlungen, Schöpfungen aller Art -, und wenn Sie dies zerstören würden, wären einige ernsthaft enttäuscht. Das wäre der Gipfel schlechter Manieren, finden Sie nicht
auch?“ „Du weißt doch, was ich von Manieren halte.“ „Aber...“ „Es soll zu eurem eigenen Nutzen sein“, erklärte Bloom. „Aha! Die Stimme des Propheten!“ rief Doktor Volospion. „Sir, Sie müssen mein Gast sein!“ „Langsam irritierst du mich wirklich, Doktor Volospion“, piepte Emmanuel Bloom. „Hör auf, mich dauernd als deinen Gast zu bezeichnen. Ich bin kein Gast. Ich bin der rechtmäßige Erbe dieser Welt. Ich bestimme über das Schicksal all derer, die auf ihr wohnen. Ich bin der Retter eurer Seelen.“ „Na schön“, machte Doktor Volospion einen Rückzieher. „Allerdings könnte ich mir vorstellen, daß Ihnen das Raumschiff, so großartig und behaglich es auch ausgestattet sein mag, nach all den Jahrhunderten als Domizil nicht mehr zusagt. Vielleicht erlauben Sie mir, Ihnen mein eigenes, bescheidenes Haus zur Verfügung zu stellen, bis ein angemessener Palast - oder vielleicht Tempel - für Sie erbaut ist. Ich wäre sehr geschmeichelt.“ „Doktor Volospion, deine zaghaften Anstrengungen, mich hinters Licht zu führen, regen mich mittlerweile auf. Ich bin Emanuel Bloom.“ „Das sagten Sie schon...“ „Ich bin Emanuel Bloom, und ich kann einem jeden von euch in die Seele sehen.“ „Natürlich. Ich wollte bloß...“ „Mit Kriecherei erreichst du bei mir nur das Gegenteil. Wenn du mir die Stirn bieten willst, dann tue es mit Würde.“ „Mr. Bloom, ich möchte Ihnen doch bloß einen angemessenen Empfang bereiten. Ihre Ideen, Ihre Sprache und Ihr Verhalten sind bei uns nicht mehr in Mode. Meine Absicht war, Ihnen eine Bleibe anzubieten, von der aus Sie die Periode am Ende der Zeit beobachten und Pläne entwerfen können, wie die besondere Erlösung auszusehen hat. Ich hoffe, das sagt Ihnen zu.“ „Meine Pläne sind einfach genug. Sie eignen sich für jedes Zeitalter. Ich werde alles zerstören. Dann schaffe ich alles neu. Eure Identität wird nicht nur gesichert bleiben, sie soll darüber hinaus zu vollem Leben erblühen, vielleicht zum ersten Mal seit eurer Geburt.“ „Die meisten von uns“, hob Abu Thaleb hervor, „sind gar nicht geboren worden, Mr. Bloom...“ „Das ist unwesentlich. Du existierst jetzt. Ich helfe dir, dich zu finden.“ „Die meisten von uns sind zufrieden...“ „Ihr glaubt, ihr seid zufrieden. Seid ihr niemals rastlos? Wacht ihr nie auf und erinnert euch an einen verlorengegangenen Traum, an etwas, das edler ist als alles, was ihr bisher erfahren habt?“ „Um ehrlich zu sein, ich habe seit vielen Jahren nicht mehr geschlafen. Diese Mode war für die meisten Menschen vorbei, noch bevor ich mich für Elefanten interessierte.“ „Versuche nicht, das Thema zu verwirren, Abu Thaleb.“ „Mr. Bloom, ich bin verwirrt. Ich will nicht, daß Sie meine kostbaren Dickhäuter zerstören. Meine Begeisterung für diese Tiere hat den Höhepunkt erreicht. Ich glaube, das gleiche kann zumindest für die Hälfte der Bevölkerung dieses Planeten gesagt werden - so klein sie auch sein mag.“ „Ich kann auf dich keine Rücksicht nehmen“, sagte Emanuel Bloom und griff in die Taschen seines Samtanzugs. „Du wirst noch dankbar sein, wenn es vollbracht ist.“ „Vielleicht sollten Sie sich wenigstens die Meinungen der anderen anhören, Mr. Bloom“, bat Abu Thaleb. „Ich will sagen, soweit ich weiß, würden sich viele Leute für Ihre Idee begeistern. Es wäre zumindest eine dramatische Abwechslung...“ „Ganz davon abgesehen“, sagte Doktor Volospion, „sollten Sie uns tatsächlich zur Last fallen, werden wir uns zu widersetzen wissen, Mr. Bloom.“ Emanuel Bloom ging zurück zur Luftschleuse. „Mich ermüdet diese Unterhaltung. Frau, wirst du jetzt mit mir kommen?“ Miss Ming schwieg.
„Bitte überdenken Sie mein Angebot, Mr. Bloom“, sagte Doktor Volospion in einem herzlichen Tonfall. „Als mein Gast würden Sie unter einem Dach leben mit großen Philosophen und Propheten, mit Erlösern und Reformatoren jeglicher Herkunft.“ „Das klingt wie die Hölle“, quiekte Mr. Bloom. „Es gibt eine Menge zu sehen. Souvenirs von Millionen verschiedener Bekenntnisrichtungen. Wundersame Reliquien aller Art.“ Emanuel Bloom wurde etwas hellhöriger. „Eh?“ „Magische Schwerter, geweihte Gegenstände, übernatürliche Steine - meine Sammlung ist berühmt.“ Emanuel Bloom setzte seinen Weg fort. „Sie würden sich nicht nur einer erlesenen Gesellschaft erfreuen, sondern auch das Dach mit Miss Ming teilen, die ebenfalls mein Gast ist“, sagte Doktor Volospion. „Miss Ming kommt mit mir. Und zwar jetzt.“ „Oh, das tue ich nicht“, rief Miss Ming. „Was?“ Emanuel Bloom legte wieder eine Pause ein. „Miss Ming bleibt bei mir“, sagte Doktor Volospion. „Wenn Sie die Dame besuchen wollen, werden Sie sie in meinem Domizil finden.“ „Ach, gib dich doch nicht mit dem da ab!“ sagte Miss Ming. „Du wirst noch zu mir kommen, Miss Ming, bald“, sagte Emanuel Bloom. „Das ist das Komischste, was ich je gehört habe“, antwortete sie. Dann wandte sie sich an Doktor Volospion. „Ist es nicht ein wenig lieblos, Doktor Volospion, mich als Köder zu benutzen? Warum liegt dir an ihm so viel?“ Doktor Volospion ignorierte ihre Frage. „Es würde Ihnen in Schloß Volospion gefallen“, sagte er zu Mr. Bloom. „Es wird Ihnen an nichts fehlen - Essen, Wein, luxuriöses Mobiliar, Frauen, Jungen, Tiere nach Ihrem Geschmack...“ „Ich brauche keinen Luxus und begehre nur diese eine Frau. Schon bald wird sie mir gehören.“ „Miss Ming wäre glücklich, wenn Sie mein Ga... , wenn Sie in mein Haus kommen würden. Da bin ich ganz sicher.“ „Ich glaube, du bist gewillt, meine Mission auf dieser Welt falsch zu verstehen. Ich bin gekommen, um die Erde durch Flammen zu erneuern. Ich bin ein Führer und Held. Ich werde der Liebe, dem Wahnsinn und dem Idealismus zu ihrem eigentlichen Ansehen verhelfen. Ich werde euer Blut zum Strömen bringen, eure Herzen schlagen und die Köpfe schwindeln lassen! Sieh dich um, Männlein, und sage mir, ob du einen Helden entdeckst. Es gibt keine Helden mehr - nur noch schwächliche Schurken!“ „Sie tun Unrecht daran, von uns dreien auf alle zu schließen“, sagte Abu Thaleb. „Drei sind genug. Genug, um mir einen Einblick in die Gesamtlage zu geben. Eure Gesellschaft entblößt sich in eurer Sprache, euren Gesten, euren Sitten und Landschaften! Oh, wie traurig, wie verkommen, wie unerfüllt seid ihr doch! Ah, wie müßt ihr euch insgeheim, in den vor euch selbst verborgenen Gedanken, nach meiner Rückkehr gesehnt haben. Seht nur ihr bemerkt es immer noch nicht.“ Er lächelte wohlwollend vom Eingang seines Schiffes auf sie herab. „Aber die Einsicht wird euch bald dämmern, seid gewiß. Ihr wollt, daß ich in einem eurer Häuser wohne - in einem Grab, sage ich. Wie könnte ich mein Schiff zurücklassen? Mein vielbenanntes Schiff, die Goldene Hirschkuh. Oder nennt sie Feuerdrache, oder Flammende Jungfrau - Pi-Meson oder Magdalene. Es kreuzte über Karthago, Tyros, Old Bristol oder Bombay. Sein Kapitän ist Emanuel Bloom, früher in Jerusalem wohnhaft, Begründer des Mayaglaubens, Erbauer der Pyramiden, auch Ra oder Raleigh genannt, oder wie ihr wollt Kublai Khan, Prester John, Baidur, Mithras, Zoroaster - der Sonnennarr, denn ich bringe euch Rammen, in denen ihr ertrinken werdet! Ich bin der Blühende Bloom, der große Bluffer einer Million Ebenen. Ich bin Bbom - der Feuerclown! Aha! Jetzt wißt ihr, wer ich bin!“
Die drei blickten ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. Er hatte die Hände gegen den Ausgang der Luftschleuse gestützt, den Kopf erhoben, und die kleinen Knopfaugen glühten. „Eh?“ Doktor Volospion blieb ungewöhnlich versöhnlich gestimmt. „Vielleicht könnten Sie uns bei einem Bankett aufklären. Sie werden doch sicher hungrig sein. Wir bieten Ihnen die erlesensten Speisen, die selbst dem kritischsten Gaumen bekommen. Bitte. Mr. Bloom, überlegen Sie es sich...“ „Nein.“ „Ich weiß, Sie fühlen sich mißverstanden. Aber ich bin ein gelehriger Schüler. Im Augenblick bin ich allerdings noch ein wenig verwirrt. Ihre Vorliebe für Metaphern.. ,“ Der Feuerclown schlug eine winzige Hand auf ein winziges Knie. Er sah Doktor Volospion mit gerunzelter Stirn an. „Eine meine Metaphern ist mehr wert als Millionen deiner Euphemismen, Doktor Volospion. Ich habe einige Probleme zu lösen und werde deshalb die Einsamkeit aufsuchen. Ich muß Gedichte schreiben - oder rezitieren, ich vergaß, was von beiden jetzt zu tun ist Auf jeden Fall brauche ich Zeit zur Meditation. Ich sollte deine Einladung annehmen, denn es ist meine Pflicht, euren Horizont zu erweitern - aber die Pflicht kann warten.“ Er richtete seine Augen wieder auf die Frau. „Wirst du mir jetzt Gesellschaft leisten, Miss Ming?“ In seinen Augen blitzten plötzlich eine Intelligenz und ein Temperament, daß Mavis ihre schwer errungene Haltung verlor. „Was?“ Ihre Erwiderung kam gedankenlos. Er streckte eine Hand nach ihr aus. „Komm jetzt mit mir. Ich biete dir Schmerz und Wissen, Lust und Freiheit. Hm?“ Sie stand langsam auf, wie hypnotisiert. Sie schien zu zittern. Dann setzte sie sich wieder. „Mit Sicherheit nicht!“ Emanuel Bloom lachte. „Du wirst kommen.“ Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Doktor Volospion. „Und dir rate ich, Sir, spar dir die Worte. Es ist sinnlos und albern, mich versuchen zu wollen. Du haßt mich, das liegt auf der Hand, ob du es dir selbst eingestehst oder nicht. Ich hoffe in deinem eigenen Interesse, daß deine Gereiztheit nachläßt.“ „Sie trauen immer noch nicht meiner guten Absicht, Bloom. Nun gut.“ Doktor Volospion verbeugte sich tief. Die Rampe wurde eingezogen. Die Luftschleuse ging zu. Aus dem Inneren des Schiffes war kein Laut zu hören.
8. KAPITEL IN DEM MISS MING DIE ABSICHTEN EMANUEL BLOOMS MIT WACHSENDER NEUGIER VERFOLGT Jeder, der am Ende der Zeit angenommen hatte, Mr. Bloom würde seine eigentümlichen Pläne zur Rettung des Planeten unverzüglich in die Tat umsetzen, sah sich enttäuscht. Denn das extravagante Raumschiff (das für den zeitgenössischen Geschmack ein scheußliches Aussehen hatte) blieb da, wo es gelandet war, und Emanuel Bloom, der Feuerclown, ließ sich nicht wieder blicken. Ein paar Neugierige kamen, um das Schiff aus der Nähe zu sehen. Dabei handelte es sich um sensationslüsterne Personen wie den Herzog von Queens (der das Schiff sofort in seine Sammlung uralter Flugmaschinen aufnehmen wollte), Lady Charlotina von Unter-dem-See, O’Kala Incarnadine, Süßes Gestirn Mazis, die Eiserne Orchidee, Bischof Burg - und deren Gefolge, ihren Nachahmern und Anhängseln. Aber trotz allen Rufens, Klopfens, Pfeifens, Feuerwerkabbrennens, obszönen Aufführens (besonders von seilen der
Frauen, die wissen wollten, wie Miss Mings feuriger Verehrer wirklich aussah) und so weiter, weigerte sich der große Erlöser der Menschheit ins Freie zu treten. Nichts passierte, was als Aktion des Feuerclowns hätte interpretiert werden können. Über die Erde züngelte keine Flamme; kein Donner oder Blitz durchbrach die Ruhe des Himmels - und weder Kunstgegenstände noch Landschaften wurden zerstört. Eigentlich ging es außerordentlich friedlich zu, selbst für die Verhältnisse am Ende der Zeit, und einige Leute ärgerten sich schon über Mr. Blooms Zurückhaltung. Sie hatten wenigstens ein oder zwei Wundertaten erwartet. „Doktor Volospion hat übertrieben!“ meinte Lady Charlotina, die ganz in Blau und Salbeiviolett - den Farben des Traums - gekleidet war. Sie lagerte auf einem grünen, erst kürzlich errichteten Hügel, der eine gute Aussicht auf das Schiff gewährte (das jetzt auf einer Insel aus Gänseblümchen stand - einem Memento der idyllischen Phase des Herzogs von Queens, die nicht mal so lange wie ein antiker irdischer Sommer gedauert hatte). Lady Charlolina führte eine Rübe (ein weiteres Memento) an ihre ätherischen Lippen. „Du kennst ja seine Besessenheit, mein lieber O’Kala. Seine Vorliebe für Mönche, Gurus und so weiter.“ O’Kala Incarnadine, der sich seit neuem das Äußere einer gigantischen Feldmaus zugelegt hatte, knabberte an einer Zitrone, die er zwischen den Vorderpfoten hielt. „Ich weiß nicht viel über diese Wesen“, sagte er. „Es sind keine Wesen, sondern eher Personen. Lord Jagged war so freundlich und hat mich darüber informiert. Aber ich habe natürlich wieder vergessen, was er im einzelnen sagte. Nach meiner Einschätzung, O’Kala, hofft Doktor Volospion, daß Mr. Bloom ein Guru oder so was ist. Und deshalb interpretiert er Mr. Blooms Worte entsprechend.“ „Aber Miss Ming hat doch bestätigt...“ „Miss Ming!“ O’Kala zuckte beipflichtend mit den Mauseschultern. „Miss Ming war eindeutig befangen. Wer könnte schon mit solcher Inbrunst jemandem den Hof machen, und dann noch einer Miss Ming?“ Lady Charlotina wischte sich den weißen Saft der Rübe vom Kinn. „Jherek - er stellt doch seiner Amelia mit ähnlicher Hartnäckigkeit nach.“ „Amelia ist ein Ideal. Sie ist schlank, schön und unnahbar. Genau so, wie ein Ideal zu sein hat. Jhereks Leidenschaft für diese Frau ist durchaus verständlich.“ Lady Charlotina konnte an ihren Bemerkungen nichts Widersprüchliches finden. Nach ihrem kurzen Aufenthalt im Zeitalter der Dämmerung hatte sie einen Geschmack für Schicklichkeit entwickelt, der noch nicht völlig verschwunden war. „In gewissen Verkleidungen“, meinte O’Kala zaghaft, „hat es mich auch nach Miss Ming gelüstet, also...“ „Das ist doch etwas ganz anderes. Mr. Bloom ist ein Mann.“ „Abu Thalebs Erzählungen stimmten mit denen von Doktor Volospion überein.“ „Abu Thaleb läßt sich leicht beeinflussen. Auf dem Gebiet der Elefanten ist er unschlagbar, aber von Propheten hat er keine Ahnung.“ „Gibt es denn überhaupt einen Experten auf diesem Gebiet?“ „Lord Jagged. Deshalb äfft Doktor Volospion ihn nach. Du weißt doch sicher, daß sich Doktor Volospion in Konkurrenz zu ihm sieht. Aus irgendeinem Grund ist Jagged sein Vorbild. Früher eiferte er ihm in allem nach, oder er versuchte es zumindest. Jagged zeigte kein Interesse. Äußerte keinerlei Lob. Seitdem... Oh, es ist so lange her, daß ich mich kaum noch an Einzelheiten erinnere... Seitdem hat Volospion eine Art Anti-Jagged-Haltung eingenommen. Es gibt Gerüchte - mehr nicht, denn du weißt, wie geheimnistuerisch Jagged sein kann -, Gerüchte, nach denen es eine Liebschaft zwischen den beiden gegeben haben soll. Aber bald, so heißt es, habe Jagged die Lust daran verloren. Jetzt, wo Lord Jagged verschwunden ist, vermute ich, will Doktor Volospion seinen Platz in unserer Gesellschaft
einnehmen. Jagged hatte die Gabe, uns alle neugierig zu machen, was seine Aktivitäten anging. Meine Meinung, knapp zusammengefaßt, ist diese: Volospion bauscht die Sache mit Bloom auf, um uns neugierig zu machen. Er will, daß wir über ihn und nicht mehr über Jagged tratschen.“ O’Kala putzte sich die Schnurrbarthaare. „Damit hat er dann Erfolg gehabt.“ „Im Augenblick. Aber ich sage dir, nicht lange.“ „Trotzdem fände ich es amüsant, wenn Mr. Bloom die Welt verwüsten würde.“ „Aber das wäre doch unlogisch. Wie jeder weiß, wird die Welt auch so bald untergehen. Das gesamte Universum löst sich in Kürze auf. Mr. Bloom kommt mit seiner Erlösung zum falschen Zeitpunkt. Außerdem ist die Erlösung als Gesprächsthema außer Mode geraten.“ „Die Gründe liegen auf der Hand...“, sagte O’Kala in einer seiner seltenen philosophischen Anwandlungen. „Denn wer möchte darüber diskutieren, wo doch jeder weiß...“ „Genau.“ Lady Charlotina winkte mit der Hand. Ein Luftwagen kam näher. Er hatte die Form eines großen geflügelten Menschen, dessen bronzener Kopf im roten Licht der Sonne aufblitzte. Die blinden Augen starrten ins Leere, und der verzerrte Mund röhrte, wie in Todesangst. Der Herzog von Queens hatte sein jüngstes Gefährt nach der Vorlage einer Abbildung gebaut, die er in einer der zerfallenen Städte entdeckt hatte. Der Wagen landete ganz in der Nähe, und aus seinem Inneren marschierten viele der intimsten Freunde von Lady Charlotina. Auf dem Sattel hinter dem Kopf des geflügelten Menschen saß der Herzog von Queens, der die Hand zum Gruß erhob. Er trug eine altertümliche Raumfahrerjacke aus silbrig auslaufendem schwarzen Fell, Pumphosen mit malvenfarbenen und elfenbeinernen Streifen, kniehohe Stiefel aus orangener Lurexhaut und einen breitkrempigen Hut aus Pandaohren. Alle Kleidungsstücke hatten einen phantasievollen Schnitt. „Lady Charlotina! Wir haben dich gesehen und mußten dich grüßen. Wir sind auf dem Weg, um die neuen Burschen zu besichtigen, die Florence Fawkes zu ihrer Unterhaltung hergestellt hat. Willst du mit uns kommen?“ „Vielleicht. Aber Burschen...“ Sie verzog einen Mundwinkel. Lady Charlotina bemerkte, daß auch Doktor Volospion und Miss Ming aus dem Inneren des geflügelten Menschen gekommen waren. Sie warf Süßes Gestirn Mazis einen kleinen Handkuß zu, legte freundschaftlich eine Hand auf den Arm von Bischof Burg, zwinkerte Mistress Christia zu und lächelte Miss Ming charmant an. „Aha! Die Schönheit, für die Mr. Bloom die Galaxis durchquerte. Miss Ming, du bist der Brennpunkt unseres gesamten Neides.“ „Hast du Mr. Bloom schon gesehen?“ fragte Miss Ming. „Noch nicht, noch nicht.“ „Dann warte, bevor du mich beneidest“, sagte sie. Doktor Volospions verschmitzte Augen glitzerten. „Nichts vermag das Interesse einer Dame an einem Gentleman so sehr zu beflügeln, wie die Leidenschaft dieses Gentlemans zu einer anderen Dame. Das gilt selbst für unsere müde Zeit.“ „Wie scharfsinnig du bist, Doktor Volospion! Das muß man dir lassen. Aber ich glaube, das habe ich schon bei unserer ersten Begegnung zugeben müssen.“ Doktor Volospion verbeugte sich. „Du siehst phantastisch aus“, fuhr sie fort, und das meinte sie ehrlich. „Du bist stets elegant, Doktor Volospion.“ Er trug eine flaschengrüne Robe mit langem Arm, abgesetzt mit einer sanft schimmernden, goldenen Borte. Ein hochgeschlossener Kragen unterstrich sein markantes Gesicht. Eine dazu passende, enganliegende Kapuze bedeckte seinen Kopf und war unter dem spitzen Kinn zusammengeknöpft. „Zu gütig, Lady Charlotina.“ „Immer aufrichtig, Doktor Volospion.“ Jetzt schenkte sie ihre Aufmerksamkeit den weißen Spitzen von Miss Ming. „Und dieses Kleid. Du mußt dich um so viel jünger darin fühlen.“ „Sehr viel jünger“, bestätigte Miss Ming. „Wie gut du doch einzuschätzen weißt, wie ich mich als junges Mädchen fühlte. Wie viele hundert Jahre liegt diese Zeit zurück?“
„Noch länger, Miss Ming. Tausende von Jahren bestimmt. Auf jeden Fall sollte dein Möchtegern-Verführer endlich aus seinem kleinen Versteck herauskommen.“ „Von mir aus kann er ewig darin hocken.“ „Ich habe ein- oder zweimal versucht, ihn hervorzulocken“, sagte Doktor Volospion. „Außerdem habe ich versucht, das Schiff zu bewegen. Aber es wird von einem einzigartigen, widerspenstigen Kraftfeld geschützt. Ich kenne keine Möglichkeit, wie sich dieses Feld auflösen ließe.“ „Also hat er die Macht, mit der er prahlt, wie?“ Bischof Burg, dessen riesige Mitra einen Schatten über die ganze Gesellschaft warf, sah ohne großes Interesse zum Raumschiff hinüber. „So scheint es“, sagte Doktor Volospion. „Aber warum macht er keinen Gebrauch davon?“ Der Herzog von Queens gesellte sich zu ihnen. „Was meint ihr, ob er in seinen eigenen Flammen umgekommen ist?“ „Wir hätten zumindest etwas davon riechen müssen“, sagte O’Kala Incarnadine. Süßes Gestirn Mazis war jetzt eine hübsche Blondine in schwarzem Sari. „Nun, du hättest bestimmt etwas gerochen, O’Kala, bei deiner Nase.“ O’Kala rümpfte die Mausenase. „Ich glaube, er will mit mir Katz und Maus spielen“, sagte Miss Ming mit einem nervösen Seitenblick auf das Schiff. „Oh, O’Kala, es tut mir leid. Das war keine Anspielung...“ O’Kala grinste und zeigte dabei seine Nagezähne. „Ich bedauere jede gewöhnliche Katze, die einer Maus wie mir begegnet!“ „Mr. Bloom hofft darauf, daß ich nachgebe und zu ihm komme. Typisch Mann, findet ihr nicht auch? Aber ich war lange genug die Unterwürfige bei Donny Stevens. Nie wieder, das habe ich auch meiner Freundin Betty gesagt. Und dem Vorsatz bin ich bis heute treu geblieben!“ „Trotzdem bist du oft in Versuchung geraten, wie?“ Lady Charlotina wurde vertraulich. „Nicht einmal.“ Lady Charlotina zeigte Enttäuschung. „Ich wünschte“, sagte Mavis Ming, „er würde irgend etwas unternehmen, oder anderenfalls verschwinden. Er wartet doch bestimmt schon mehrere Wochen an derselben Stelle. Es geht mir auf die Nerven, versteht ihr?“ „Natürlisch, das verstehe isch gut, meine Liebe“, sagte Süßes Gestirn Mazis. „Auf!“ rief der Herzog von Queens. „Florence Fawkes erwartet uns. Kommt ihr mit? Lady Charlotina? O’Kala?“ „Ich habe noch eine Aufgabe zu erledigen“, entschuldigte sich Lady Charlotina. „Natürlich ist es schwer zu sagen, ob sie jemals ordentlich zu erledigen ist. Ich arbeite an einer unsichtbaren Stadt mit unsichtbaren Androiden. Ihr müßt einmal vorbeikommen und euch in sie einfühlen.“ „Eine bezaubernde Idee“, sagte Bischof Burg. „Sind unter den Androiden alle Geschlechter vertreten?“ „Alle.“ „Und ist es möglich, daß man...“ „Absolut möglich.“ „Es wäre interessant...“ „Es ist.“ „Aha!“ Bischof Burg neigte die Mitra. „Ich freue mich schon auf einen Besuch bei der nächstbesten Gelegenheit, Lady Charlotina. Welch gelungene Unterhaltungsmöglichkeiten du für uns erfindest!“ Er verbeugte sich und wurde dabei von seinem Kopfputz fast zu Boden geworfen. Der Herzog von Queens hatte den Sattel bestiegen. „Alle Mann an Bord!“ rief er übermütig. In diesem Augenblick war unten im Schiff ein Quieken zu hören. Die Luftschleuse wurde geöffnet. Alle Köpfe drehten sich um.
Emanuel Bloom blickte sie aus hellblauen Augen an. Seine hochtönende Stimme drang zu ihnen herüber. „Ihr seid also zu mir gekommen“, sagte er. „Ich?“ sagte der Herzog von Queens erstaunt. „Ich habe gewartet“, sagte Emanuel Bloom. „Auf dich, Miss Ming. Damit du meine Freude mit mir teilen kannst.“ Miss Ming suchte im Gedränge Schutz. „Ich bin nur zufällig vorbeigekommen...“ „Komm.“ Er streckte aus dem Schiffsinnern eine dürre Hand nach ihr aus. „Komm!“ „Das tue ich nicht!“ Mavis versteckte sich hinter Doktor Volospion. „Aha. Der Kerl mit den Schakalaugen hält dich also zurück. Bestimmt gegen deinen Willen.“ „Weit gefehlt. Doktor Volospion ist mein Gastgeber, weiter nichts.“ „Du hast zu viel Angst, um mir die Wahrheit zu sagen.“ „Sie sagt die Wahrheit, Sir“, sagte Doktor Volospion in gleichmütigem Ton. „Sie kann in aller Freiheit mein Haus verlassen und betreten wann sie will.“ „Ohne Zweifel hält sie irgendein verrückter Zauber in dem Haus. Nun, Frau, fürchte dich nicht. Du kannst immer mit meiner Hilfe rechnen. Ich werde kommen, um dich zu retten, egal wo du steckst.“ „Ich brauche nicht gerettet zu werden“, erklärte Miss Ming. „Oh, doch. Und zwar so dringend, daß du nicht wagst, es dir selber einzugestehen!“ Lady Charlotina rief: „Entschuldigen Sie, daß ich mich einmische. Aber wir fragen uns, ob Ihre Pläne zur Zerstörung der Welt feststehen. Ich für mein Teil wäre für eine Vorankündigung äußerst dankbar.“ „Ich bin mit meinen Meditationen noch nicht am Ende“, sagte er und stierte immer noch Miss Ming an. „Wirst du jetzt zu mir kommen?“ „Nie!“ „Denk an meinen Schwur.“ Doktor Volospion trat einen Schritt nach vorn. „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Sir, daß diese Dame unter meiner Obhut steht. Sollten Sie ihr weiter zur Last fallen, werde ich sie mit meinem Leben verteidigen. Das sei Ihnen gesagt.“ Miss Ming verblüffte diese plötzliche Kehrtwendung. „Oh, Doktor Volospion! Wie edel!“, „Was soll das?“ sagte Bloom und zwinkerte nervös mit den Augen. „Willst du dich noch mehr aufspielen?“ „Ich warne Sie in aller Form. Das ist alles.“ Doktor Volospion verschränkte die Arme vor der Brust und hielt dem Blick Emanuel Blooms stand. Bloom blieb unbeeindruckt. „So, sie ist also doch deine Gefangene. Genau wie ich vermutete. Sie hält sich für frei, aber du weißt es besser!“ „Ich werde keine weiteren Beleidigungen hinnehmen.“ Doktor Volospion hob trotzig das Kinn. „Ich verstehe, das ist nicht bloße Aufschneiderei. Sie haben etwas vor. Aber was?“ Mit dröhnender Stimme sagte Doktor Volospion: „Machen Sie so weiter, dann werde ich Genugtuung von Ihnen fordern.“ Der Feuerclown lachte. „Bald werde ich diese Frau befreien.“ Die Luftschleuse klappte zu. „Außergewöhnlich!“ murmelte Lady Charlotina. „Es ist ganz außerordentlich, wie du dich verhältst, Doktor Volospion! Miss Ming muß von dieser Verteidigung ergriffen sein.“ „Ich bin’s. Ich bin’s.“ Miss Mings kleine Augen leuchteten. „Doktor Volospion. Ich habe nie gewußt...“ Doktor Volospion ging mit schnellen Schritten auf den Luftwagen zu. „Laßt uns diesen jämmerlichen Ort verlassen.“
Miss Ming trippelte hinter ihm her. Es war, als hätte sie endlich ihren wahren Ritter gefunden.
9. KAPITEL IN DEM DER FEUERCLOWN DEM ENDE DER ZEIT EINE KLEINE ERLÖSUNG BRINGT Lady Charlotina sollte als erste den heftigen Zorn Emanuel Blooms zu spüren bekommen. Sie war (aus Gründen, die anderswo beschrieben sind) ihrer Wohnung unter dem Billy the Kid-See überdrüssig geworden und hatte damit angefangen, einen neuen Palast zu bauen, den sie nach der Anordnung der Wolken über dem See entwarf. Er schwebte über dem Wasser und reflektierte sowohl die glitzernde Oberfläche als auch die Sonne. Das Gebäude sollte hauptsächlich in Weiß gehalten sein. Nur hier und da waren einige andere blasse Farben vorgesehen, vielleicht für die seitlich stehenden Türme. Sie hatte viele Gedanken auf den Palast verwandt, und er war längst noch nicht fertiggestellt. Lady Charlotina gehörte nämlich nicht zu denen, die mit einer bloßen Ringdrehung einen vollständigen Entwurf schaffen konnten. Sie mußte hin und her überlegen, Änderungen vornehmen und Stück für Stück vorgehen. Deshalb hingen in den Wolken über dem Billy the Kid-See noch halbhohe Türme, Türme ohne Zinnen, Kuppeln mit Turmspitzen, und Kuppeln, die in Türmchen ausliefen. Wo nach erstem Entwurf Hallen gewesen waren, klafften jetzt Löcher, und weite Raumteile, die vorher mit Wohnflügeln ausgefüllt gewesen waren, hatte sie nach einem launischen Einfall wieder in den Urzustand zurückgeführt. Nach einer Ruhepause tauchte Lady Charlotina aus dem Billy the Kid-See auf und erstieg die Küste, wo sie von gemütlich wirkenden Eichen und Zypressen umgeben war. Sie ordnete den Dunstschleier über dem Wasser zu befriedigenderen Konfigurationen, ließ ihn nach oben schweben, um sich mit dem Wolkenfundament des Palastes zu vermischen, und war gerade dabei, einen Turm, der ihr Symmetrieempfinden verletzte, abzureißen, als ein ohrenbetäubender Lärm entstand und das ganze Bauwerk in Flammen aufging. Lady Charlotina schnappte empört nach Luft. Ihr erster Gedanke war, einer ihrer Freunde habe ein Experiment falsch berechnet und dadurch den Palast in Brand gesetzt. Aber bald schwante ihr die wahre Ursache dieses Infernos. „Dieser wahnsinnige Brandstifter!“ schrie sie und schwang sich in die Luft - nicht um zu ihrem lodernden Palast zu eilen (der nicht mehr zu retten war), sondern um von dort aus den Aufenthaltsort des Feuerclowns auszumachen. Er war kaum eine Meile von der Brandstätte entfernt und stand auf einem riesigen Säulenfundament, das für seine Statue vorgesehen war, die der Herzog von Queens wegen mangelnder Laune nicht fertiggestellt hatte. Bloom trug seinen schwarzen Samt, eine Fliege und ein Rüschenhemd. Er hockte auf dem Säulenfuß wie ein Papagei auf der Stange, verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere und flatterte mit den Armen, während er sein Zerstörungswerk betrachtete. Er hatte Lady Charlotina noch nicht gesehen, die in einem goldenen Nebel auf ihn zurauschte. Sie schwebte jetzt wenige Meter über seinem Kopf, beobachtete ihn und wartete darauf, daß er ihre Gegenwart bemerkte. Sie hörte seinen Selbstgesprächen zu. „Ganz gut. Ein treffliches Symbol. Es wird, wie mir scheint, gut in jede Legende hineinpassen. Die ersten paar Wundertaten sollten spektakulär sein und sich nicht gegen Personen richten. Ich darf allerdings nicht versäumen, die verkohlten Reste der Bewohner zu bergen und sie wiederauferstehen zu lassen.“ Lady Charlotina konnte nicht mehr an sich halten. „Ich, Sir, wäre der einzige Bewohner dieses Wolkenschlosses gewesen. Glücklicherweise bin
ich noch nicht eingezogen.“ Sein kleiner Kopf schnellte nach links und rechts. Schließlich blickte er nach oben. „Aha!“ „Der Palast sollte mein neues Zuhause werden, Mr. Bloom. Es war unhöflich von Ihnen, den Bau zu zerstören.“ „Er hat keine Bewohner?“ „Noch nicht.“ „Nun, dann muß ich mich jetzt auf den Weg machen.“ „Sie wollen sich nicht entschuldigen?“ Mr. Bloom war amüsiert. „Ich kann mich kaum für etwas entschuldigen, das genau geplant war. Willst du, daß ich lüge? Ich bin der Feuerclown. Warum sollte ich lügen?“ Sie war sprachlos. Mr. Bloom stieg über eine Leiter nach unten, die er an den Säulenfuß gestellt hatte. „Ich wünsche dir einen, guten Morgen, Madam.“ „Guten Morgen!“ „Oder guten Tag - ihr kennt ja auf diesem Planeten keine ordentliche Stundeneinteilung. Es ist schwer zu sagen. Aber das wird sich alles ändern“, lächelte er. „Wenn die Zeit kommt.“ „Mr. Bloom, Ihre Pläne sind hier zwecklos. Sollen wir uns durch solche Kraftakte beeindrucken lassen?“ Sie deutete mit der Hand auf den brennenden Palast. Die Wolken waren an den Rändern braun geworden. „Es war nicht an der Zeit, Mr. Bloom. Die Zeiten haben sich seit dem primitiven Zeitalter der Dämmerung geändert, Mr. Bloom. Damals mochten solche >Wunder< noch Interesse, ja vielleicht Verwunderung bei den Bewohnern der Welt auslösen. Passen Sie auf!“ Sie drehte an ihrem Energiering. Das Feuer verschwand. Ein vollständiger, wenn auch phantasieloser Märchenpalast glitzerte wieder im ursprünglichen Wolkengebilde. „Hum“, sagte Mr. Bloom, der immer noch auf der Leiter stand. Er kletterte jetzt wieder nach oben. „Verstehe. Volospion ist nicht der einzige Zauberkünstler hier.“ „Wir alle haben diese Kraft. Die meisten von uns jedenfalls. Das gehört zu unserem Erbrecht.“ „Erbrecht? Und was ist mit meinem Erbrecht?“ „Haben Sie denn eins?“ „Die Welt. Ich erklärte schon Doktor Volospion, Madam...“ Er war bedrückt. „Hat er euch nichts von meiner Mission erzählt?“ „Doch, er hat uns mitgeteilt, was Sie gesagt haben.“ „Wie es scheint, seid ihr geistig noch nicht darauf vorbereitet. Ich habe euch genug Zeit zur Meditation gelassen. Das gehört zur Fairneß eines Erlösers.“ „Wir brauchen keine Erlösung, Mr. Bloom. Wir sind unsterblich. Wir kontrollieren das Universum - oder das, was davon übriggeblieben ist. Wir, das heißt die meisten von uns, kennen keine Angst (wenn ich das Wort richtig verstehe).“ Lady Charlotina bemühte sich um eine für sie untypische, diplomatische Haltung. Ihr lag nichts an einem Streit mit Emanuel Bloom, denn sie war neugierig auf den Mann, der Miss Ming so verbissen den Hof machte. „Wirklich, Mr. Bloom. Sie sind zu spät gekommen. Vor der Auflösung des Universums, vor ein paar hundert Jahren, hätten wir uns vielleicht über Ihre Ankunft gefreut. Aber jetzt nicht. Nicht jetzt, Mr. Bloom.“ „Hum.“ Er runzelte die Stirn. Er hob einen Arm vors Gesicht und schien an seinem Ärmel zu picken. „Aber ich kann nur diese eine Rolle spielen, verstehst du? Ich bin ein Erlöser. Das ist alles, was ich kann.“ „Müssen Sie denn die Welt retten? Könnten Sie sich nicht auf einige wenige Individuen konzentrieren?“ „Das lohnt sich kaum. Ich bin, um es genauer zu sagen, ein Welterlöser - ein Retter der Welten. Ich habe das Multiversum durchstreift, um sie zu retten. Und das sowohl physisch als auch spirituell. Ich hinterlasse die Orte, die ich gerettet habe, immer in einem spirituell erneuerten Zustand. Du kannst dich umhören. Alle werden dir dasselbe sagen. Man liebt mich
in allen Dimensionen.“ „Dann könnten Sie vielleicht noch eine andere Welt finden...“ „Nein. Das hier ist die letzte. Vor langer Zeit bin ich von hier mit dem Versprechen aufgebrochen, wiederzukommen und diese Welt in einer letzten Tat zu retten.“ „Nun, Sie kommen zu spät.“ „Wirklich, Madam, ich kann dir das nicht abnehmen. Auf diesem Gebiet bin ich die größte Autorität des Universums, und das ist noch eine Untertreibung. Ich bin der ewige Champion, der Held von Millionen Legenden. Wenn die Ordnung mit dem Chaos kämpft, werde ich gerufen. Wenn Zivilisationen die totale Auslöschung droht, ist es an mir, sie zu retten. Und wenn Dekadenz und Verzweiflung eine sonst sichere und blühende Welt beherrschen, sehnt man sich nach Emanuel Bloom, dem Feuerclown, dem Zeitengaukler. Und ich komme.“ „Aber wir haben Sie nicht gerufen. Wir brauchen keine Rettung. Wir sehnen uns nicht nach Ihnen, das kann ich Ihnen versichern - nicht die Spur.“ „Miss Ming verlangt nach mir.“ „Miss Mings Verlangen ist ganz und gar nicht spiritueller Natur.“ „Das glaubst du. Ich weiß es besser.“ „Nun gut, sei’s drum. Aber ich habe kein Verlangen. Doktor Volospion, da bin ich sicher, ist gar nicht in der Lage, sich nach etwas zu sehnen. Im großen und ganzen, Mr. Bloom, gibt es in diesem Zeitalter kein Verlangen mehr.“ „Es ist vergessen, verborgen, unbeachtet, aber ich weiß, es ist da. Ich weiß es. Eine tiefe, uneingestandene Traurigkeit. Ein Bedürfnis nach Romantik. Ein Schmachten nach Idealen. All das ist da.“ „Von Zeit zu Zeit leisten wir uns ein paar Romanzen, und wir haben gelegentlich Interesse an Idealen - aber das sind schnell verfliegende Schwärmereien, Mr. Bloom. Selbst diejenigen, die auf diese Dinge fixiert sind, zeigen keinen ausgeprägten Kummer, wenn Umstände oder wechselnde Moden zur Aufgabe dieser Leidenschaften zwingen.“ „Wie oberflächlich sind doch die Menschen, die hier leben! Nur eine Ausnahme gibt es - Miss Ming.“ „Manche von uns halten sie für die Oberflächlichste von allen.“ Lady Charlotina bedauerte diese Gehässigkeit sofort, denn sie wollte in Blooms Augen nicht boshaft erscheinen. „Das ist oft der Fall“, sagte er, „bei denen, die nicht durch das Fleisch in die Seele schauen können.“ „Ich zweifele daran, daß es bei uns noch viele Seelen gibt“, sagte Lady Charlotina. „Denn wir sind fast alle selbstgemachte Geschöpfe. Einigen Spekulationen zufolge sind wir nicht einmal Menschen, sondern hochentwickelte Androiden.“ „Vielleicht ist das die Erklärung“, sinnierte er. „Ich hoffe, Sie sind nicht allzu frustriert“, sagte sie mitfühlend, während er die Leiter hinunterstieg. „Ich kann mir vorstellen, wie es ist, wenn man nur eine Rolle spielen kann.“ Sie ließ sich wie ein Schmetterling auf dem freigewordenen Säulenfuß nieder. Er erreichte den Boden und blickte zu ihr hinauf. Die Arme hingen wie gewöhnlich steif herab, das rote Haar loderte. „Ich versichere dir, Madam“, flötete er, „was du mir erzählst, beeindruckt mich nicht im geringsten.“ „Aber ich sage die Wahrheit.“ „Ganz im Gegensatz zu Volospion, der lügt und lügt und lügt. Ich räume ein, daß du, wie auch Miss Ming, glaubst, die Wahrheit zu sprechen. Aber ich sehe ringsum nichts als Dekadenz. Und wo Dekadenz ist, da ist Elend. Und wo Elend ist, da wird der Feuerclown gebraucht, um das Lachen, die Freude und den Schrecken zurückzubringen, um alle Ängste zu vertreiben.“ „Ich fürchte, Mr. Bloom, Ihre Logik ist überholt. Hier gibt es kein nennenswertes Elend. Und“, fügte sie hinzu, „hier gibt es auch keine Freude. Statt dessen genießen wir ein komfortables Gleichgewicht. Dadurch sind wir in der Lage, mit einer gewissen Würde unser
Ende zu bedenken.“ „Hum.“ „Auf dieses Gleichgewicht haben doch alle menschlichen Philosophien seit Tausenden von Jahren hingearbeitet, oder nicht?“ sagte sie, setzte sich an den Rand des Säulenfußes und ordnete die goldene Gaze über den Beinen. „Wollen Sie die Schaukel der Gefühle wieder zum Schwingen bringen?“ Er runzelte die Stirn. „Hier gibt’s also weder Höhen noch Tiefen, wie?“ „Für die meisten von uns nicht.“ „Kein Himmel, keine Hölle?“ „Nur, wenn wir sie zu unserer Unterhaltung erschaffen.“ „Keinen Schrecken, keine Ekstase?“ „Kaum der Rede wert.“ „Wie könnt ihr das ertragen?“ „Es ist die größte Errungenschaft unserer Rasse. Wir genießen sie.“ „Ist unter euch niemand, der...“ „Zeitreisende, Raumfahrer, einige wenige, die besondere anachronistische Tendenzen entwickelt haben. Ja, es gibt ein paar Leute, auf die Sie einwirken könnten. Allerdings sind von denen einige zur Zeit nicht bei uns. Der kleine Sohn der Eisernen Orchidee, Jherek Carnelian; seine große Liebe, Amelia Underwood; sein Mentor, Lord Jagged von Kanarien und vielleicht noch ein paar andere, ich kann es nicht alles so genau mithalten. Doktor Volospion? Vielleicht, denn es laufen Gerüchte um, er stamme überhaupt nicht aus unserem Zeitalter. Li Pao und ein paar Fremde, die uns besucht haben und geblieben sind... Ja, von denen könnten Sie vielleicht eine gewisse Genugtuung beziehen. Manche werden Sie zweifellos aus dem einen oder anderen Grund willkommen heißen...“ „Für gewöhnlich ist immer der eine oder andere Grund ausschlaggebend“, sagte der Feuerclown. „Die Menschen sehen in mir viele Dinge. Das liegt daran, daß ich viele Dinge bin.“ „Und ich bin sicher, Sie sind in jeder Hinsicht außergewöhnlich.“ „Ich muß aber tun, was ich tun muß“, sagte er. „Mehr weiß ich nicht. Denn ich bin Bloom der Zerstörer, Bloom der Erbauer, Bloom der Bringer der Klarheit, Bloom, der ewig Blühende! Und euch alle zu retten ist meine Mission.“ „Ich dachte, wir hätten uns zumindest von Gemeinplätzen freigemacht, Mr. Bloom“, rügte Lady Charlotina. Sie glaubte schon, er würde sich jetzt unversöhnlich abwenden. „Ich, Madam, rede nur in Gemeinplätzen. Sie gehören zu meinem Rüstzeug. Sie sind ein Geschenk, das ich mitbringe - um eure kläglichen Ängste und haarspalterischen Einzelgedanken zu vertreiben. Sie sollen ersetzt werden durch großzügige, einfache, glorreiche Ideale.“ „Das ist kein einfaches Problem“, sagte sie. „Ich verstehe.“ „Es muß ein einfaches Problem sein!“ beklagte er sich. „Alle Probleme sind einfach. Alle!“ Er verschwand zwischen den weichen Bäumen, die den Säulenfuß umsäumten. Lady Charlotina hörte noch eine Weile seine murrende Stimme. Er hatte sich nicht in aller Form verabschiedet, denn er war zu sehr mit seinen Problemen beschäftigt. Wenig später sah sie, wie ein entfernt stehender Baum in Flammen aufging und zusammenschrumpfte. Sie sah einen recht kümmerlichen Blitz aufzucken und in einen Baumstamm einschlagen. Dann war der Feuerclown weg. Lady Charlotina blieb auf dem Säulenfuß sitzen, denn sie erfreute sich an einem seltenen Anflug von Melancholie und wollte diese Stimmung nicht so schnell verlieren.
10. KAPITEL IN DEM DER FEUERCLOWN DIE BEDENKEN JENER ZU DEMENTIEREN VERSUCHT, DIE IHN FÜR EINEN ANACHRONISMUS HALTEN Wie sich bald herausstellen sollte, konnten Lady Charlotinas Argumente Mr. Bloom nicht überzeugen. Aber seine Zerstörungsaktionen wirkten kläglich. Fast bemitleidenswert war die Art, in der er die Tulpenstadt (jede einzelne Blüte eine Wohnung) des Herzogs von Queens vernichtete oder Florence Fawkes entzückendes kleines Sodom mitsamt allen Einwohnern dem Erdboden gleichmachte (aus Versehen wurde Florence nie wieder erweckt). Bloom schien mit seinen Gedanken woanders zu sein, als er geschmolzene Lava regnen ließ, um eine Party zu stören, die Bischof Burg zu Ehren des trübsinnigen Werther de Goethe gab. (Dieses Störmanöver fand allerseits großen Beifall, denn Werther gehörte zu den wenigen, die die Absichten des Feuerclowns gut hießen. Werther starb reuevoll schreiend. Aber als er kurz danach wieder auferweckt wurde, beklagte er sich über die Beschaffenheit der Lava. Sie war ihm zu klumpig gewesen. ) Der Feuerclown ließ sich bei diesen Vorfällen nur selten blicken. Es schien, als habe er die Lust am geselligen Austausch verloren. Nach den ersten Zerstörungen fand ihn außerdem kaum jemand mehr unterhaltsam, denn seine Wut nahm immer die gleiche Form an. Werther de Goethe suchte Bloom auf und war von seiner Person begeistert. Er fand Mr. Bloom äußerst erfrischend und bot ihm seine Anhängerschaft an. Mr. Bloom antwortete daraufhin, er werde Werther rufen lassen, wenn Bedarf an Jüngern bestünde. Auch Lord Mongrove besuchte den Feuerclown in der Hoffnung auf eine anregende Unterhaltung. Aber der Feuerclown erklärte im frank und frei, sein Gerede sei deprimierend. Als Lady Charlotina von einem Besuch zurückkam, weigerte sie sich zu berichten, was zwischen ihr und Mr. Bloom vorgefallen war. Sie machte einen sehr enttäuschten Eindruck. Mistress Christia folgte den Fußstapfen ihrer Freundin und erlitt eine ähnliche Abfuhr. Mr. Bloom erklärte ihr mit düsterer Miene, daß er nur auf eine Frau warte - auf die schöne Mavis Ming. Als Mavis dies hörte, erschauerte sie und schlug vor, irgend jemand solle den Feuerclown vernichten, bevor er der Welt Schaden zufügen konnte. Wäre das Schiff des Feuerclowns nicht von einem ungeheuren, unerschütterlichen Kraftfeld geschützt worden, hätten einige der Bewohner des Endes der Zeit zumindest den Versuch unternommen, den lästigen Aktionen des Feuerclowns einen Riegel vorzuschieben. Selbst in den zerfallenden Städten konnte man sich keinen Reim auf das Kraftfeld machen. Man versuchte es zu analysieren und schlug Möglichkeiten vor, damit fertig zu werden. Aber ohne Erfolg. Denn leider vergaß man die Zielsetzung der meisten Experimente, noch bevor sie abgeschlossen wurden. Aus dem gleichen Grund konnte man aus jenen Experimenten, die abgeschlossen wurden, keine Ergebnisse ziehen. Man entwickelte in den meisten Fällen einen kindischen Spaß an den oft spektakulären Effekten der Experimente und spielte mit den erzeugten Energien herum, bis man die Lust daran verlor und jede weitere Hilfe verweigerte. Der Feuerclown hatte den versprochenen Holocaust nicht herbeiführen können, denn der Wiederaufbau ging so schnell vonstatten wie die Zerstörung. Aber er war zu einer großen Laus im Pelz der Gesellschaft geworden. Er vereitelte sorgfältig geplante Picknicks, Unterhaltungen, künstlerische Schöpfungen und Spiele. Vorsichtsmaßnahmen mußten gegen ihn getroffen werden, die die allgemein beabsichtigte Wirkung der Lustbarkeiten beeinträchtigten. Seit ungezählten Jahrtausenden mußte man erstmals wieder Kraftfelder zum Schutz des Eigentums errichten, und selbst der Herzog von Queens, der Mildtätigste aller Unsterblichen, gab zu, daß sein gewohntes Lebensglück von Mr. Bloom nachteilig beeinflußt wurde, besonders seit der Zerstörung seiner Menagerie, deren Wiederaufbau eine große Last für ihn gewesen war. Es erhob sich ein Protestgeschnattere, das man am Ende der Zeit noch nie gehört hatte.
Endlose Pläne wurden diskutiert, wie man die Welt von dieser Pest befreien konnte. Man schickte Unterhändler zu Blooms Schiff, die allerdings abgewiesen wurden. Höfliche Briefchen, die man am Eingang der Luftschleuse hinterließ, wurden entweder verbrannt oder vom Wind weggeblasen. „Es ist doch wirklich lächerlich“, sagte Lady Charlotina, „daß ein solch kümmerlicher Prophet so eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen kann. Wenn nur Lord Jagged hier wäre. Bestimmt würde er eine Lösung finden.“ Ihre Rede hatte eine gehässige Absicht, denn sie wußte, daß Doktor Volospion in Hörweite war. Süßes Gestirn Mazis gab einen Empfang zur Einweihung seines neuen Rasens, der ein Anwesen umgrenzte, das den barocken Jugend-Schlachthäusern des ausklingenden 200006sten Jahrhunderts nachempfunden war. Aus dem Innern drangen täuschend echt entsetzliche Schreie nach draußen, und alle Besucher zollten ihm Beifall für diesen beispiellosen, phantasievollen Einfall. „Lord Jagged hat zweifellos erkannt, daß er seinen Interessen am Ende der Zeit nicht nachkommen kann“, sagte Doktor Volospion, der hinter Lady Charlotina stand. Sie gab sich überrascht. „Wie geht es dir, Doktor Volospion?“ Sie musterte sein Kostüm wieder eine Robe mit langen Ärmeln, diesmal kastanienbraun und weiß. „Hm.“ „Mir geht es gut, Lady Charlotina.“ „Hat der Feuerclown noch keinen Angriff auf dich unternommen? Das ist doch seltsam. Du bist doch schließlich derjenige, den er offenbar nicht leiden kann.“ Doktor Volospioti senkte den Blick und lächelte. „Er wird Miss Ming, meinem Gast, keinen Schaden zufügen wollen.“ „Natürlich!“ Sie ließ die seidenen blauen und braunen Röcke rascheln und schickte sich an zu gehen, aber Doktor Volospion hielt sie auf. „Ich nehme an, über den Feuerclown ist viel gesprochen worden.“ „Viel zuviel.“ „Er wäre eine großartige Bereicherung für meine Menagerie.“ „Deshalb also mißtraut er dir!“ „Ich glaube nicht. Es liegt wohl daran, daß er meiner Logik unterlegen ist.“ „Die Erklärung war mir nicht bekannt.“ „Ja. Ich habe von allen Endzeitbewohnern die längste Debatte mit Bloom geführt. Ihm ist klar geworden, daß er meinen Argumenten nichts entgegenzusetzen hat. Alles andere ist bloße Rache. So vermute ich jedenfalls.“ „Aha?“ Lady Charlotina drehte ihren zarten, duftenden Kopf zur Seite, um den Herzog von Queens freundlich anzulächeln, der in lebendigen Koalabärpantoffeln einherstolzierte. „Dann wird dir doch sicherlich etwas einfallen, wie man dem Treiben Blooms Einhalt gebieten kann, Doktor Volospion, oder?“ „Ich glaube, mir ist schon etwas eingefallen.“ Sie lachte fast vulgär. „Aber du willst es lieber für dich behalten.“ „Der Feuerclown ist außergewöhnlich sensitiv. Nach allem, was ich weiß, kann er uns hören.“ „Ich hätte nicht gedacht, daß er ein gewöhnlicher Lauscher ist.“ „Trotzdem halte ich es für nötig, vorsichtig zu sein.“ „Du wirst mich also nicht erleuchten?“ „Ich bedaure.“ „Nun, ich wünsche dir viel Glück, Doktor Volospion.“ Sie sah sich um. „Wo ist dein Gast, das Opfer von Mr. Bloom? Wo ist Miss Ming?“ Er ließ eine heimliche Freude durchblicken. „Nicht da.“ „Nicht da? Trifft sie nun doch endlich mit ihrem Freier zusammen?“ „Nein. Im Gegenteil...“ „Also was?“ Lady Charlotina zeigte kühle Ungeduld. „Warte“, sagte Doktor Volospion. „Ich schütze sie, wie versprochen. Ich bin ihr wahrer Ritter. Du weißt, daß ich so genannt wurde. Nun, ich tue meine Pflicht, Lady Charlotina.“ „Du sprichst in Rätseln, Doktor Volospion.“
„Oh, Madam, erinnere dich an die Begegnung mit Bloom, als wir auf dem Hügel oberhalb des Schiffes standen.“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Soweit ich mich erinnere, hast du dich damals sehr untypisch verhalten.“ „Das dachtest du.“ „Oh“, sie wurde wieder ungeduldig. „Ja, ja...“ „Mr. Bloom hat es bemerkt, glaubst du nicht?“ „Er machte seine Bemerkungen darüber, oder?“ Doktor Volospion stützte die Hände in die Hüften. Die kastanienbraunen und weißen Ärmel wehten. Auf seinem blassen, asketischen Gesicht lag der Ausdruck größter Selbstgefälligkeit. „Miss Ming“, sagte er, „ist in meinem Schloß sicher aufgehoben. Ein Kraftfeld, so stark wie das des Feuerclowns, umgibt das Gelände. Miss Ming kann nicht heraus, und das ist zu ihrem eigenen Nutzen.“ „Du hast sie eingesperrt?“ „Zu ihrem eigenen Nutzen. Sie gibt zu, den Feuerclown zu fürchten. Ich konnte ihr klarmachen, daß sie so vor einer Begegnung mit ihm verschont bleibt.“ „In deiner Menagerie?“ „Sie ist zufrieden, sicher und zweifellos auch glücklich“, sagte Doktor Volospion. „Wahrer Ritter, sagst du? Hexenmeister wäre der treffendere Ausdruck!“ Zum ersten Mal zeigte Lady Charlotina Bewunderung für Volospions List. „Ich verstehe! Exzellent!“ Das dünne Lächeln Doktor Volospions wirkte fast fröhlich. Seine kalten Augen funkelten. „Ich glaube, ich kann beweisen, daß ich nicht bloß ein Schatten Jaggeds bin.“ „Hat das irgend jemand behauptet... ?“ „Wenn jemand so etwas behauptet haben sollte, wird er bald eines Besseren belehrt werden.“ Sie spitzte die Lippen und blickte zuerst auf den einen, dann auf den anderen Fuß. „Wenn der Plan funktioniert...“ „Er wird funktionieren. Die Kunst des Widerstreits liegt darin, daß man den Gegner mit dessen Waffen schlägt und so seine Schwächen zum Vorschein bringt.“ „Das ist eine Interpretation dieser Kunst. Es gab in all den Millionen von Tagen viele verschiedene Auslegungen.“ „Du wirst es erleben, Madam.“ „Weiß der Feuerclown, was du getan hast?“ „Er hat mir schon seine Vorhaltungen gemacht.“ „Nun, dir ist der Dank von uns allen gewiß, wenn du Erfolg haben solltest, Doktor Volospion.“ „Das ist mein ganzer Wunsch.“ Der Boden erzitterte. Beide drehten sich um und sahen einen gewaltigen, rosafarbigen Dickhäuter auf sie zuwalzen. Die Bestie schleppte eine schwankende Sänfte, in der Abu Thaleb und Argonherz Po saßen. Abu Thaleb, in ein gestepptes Gewand aus Rosenblättern und Zobelfell gekleidet, beugte sich grüßend vor. „Lady Charlotina! Ich erblicke Musik! Und mein alter Freund Volospion. Es ist so lange her, daß...“ „Ich werde eure Wiedervereinigung nicht stören“, flüsterte Lady Charlotina, knickste vor dem Kommissar von Bengalen und ging. „Hast du dich die ganze Zeit in deiner Burg verschanzt, Volospion?“ fragte Abu Thaleb. „Wir haben uns nicht gesehen, seit wir drei, Argonherz, du und ich, am Tag der Landung von Blooms Schiff zusammen waren. Auf zahlreichen Versammlungen hielt ich vergebens nach dir Ausschau.“ „Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß unser gegenwärtiges Problem all meine Aufmerksamkeit verschlungen hat“, sagte Doktor Volospion. „Ah, wenn es nur eine Lösung gäbe“, klagte Argonherz Po. „Wir hätten schon alarmiert sein müssen, als meine Dinosaurier eingeäschert wurden...“ „Natürlich, das war der Augenblick zum Handeln“, bestätigte Doktor Volospion. Sein Kopf verkrampfte sich, so weit lag er im Nacken. Volospion senkte das Kinn.
„Jetzt fehlt nur noch Miss Ming“, sagte Abu Thaleb, stieg aus der Sänfte und kletterte an einer goldenen Strickleiter zu Boden. „Dann wäre das Quartett komplett.“ „Sie ist verhindert. Sie befindet sich in der Sicherheit meines Schlosses.“ „Das ist wahrscheinlich das Klügste.“ Abu Thaleb erreichte den Boden. Er gab Argonherz Po zu verstehen, daß er nun auch herunterkommen könne. Der monströse Koch hievte seine Massen vorsichtig über den Sänftenrand und ertastete mit dem Fuß eine goldene Sprosse. Doktor Volospion sah fasziniert zu, wie die kolossale, in Weiß gewickelte Figur an der rosafarbenen Wand hinabstieg. „Es obliegt meiner Pflicht, alle Gefahr von der Dame fernzuhalten“, sagte Doktor Volospion in einer fast ritterlichen Frömmigkeit. „Sie muß sehr glücklich sein über soviel Anteilnahme. Ihr mangelt es vor allem an innerer Ruhe. Deshalb müssen die süßen Fesseln der Sicherheit sowohl geistig als auch körperlich einen großen Eindruck auf sie machen.“ „Ich denke auch.“ „Natürlich wird dies Blooms Argwohn gegen dich verfestigen“, sagte Abu Thaleb nachdenklich. „Bist du sicher...“ „Als Gentleman werde ich diesen Argwohn ertragen müssen. Ich tue nur meine Pflicht. Wenn meine Haltung mißverstanden wird, besonders von Mr. Bloom, so liegt das nicht an mir.“ „Selbstverständlich.“ Abu Thaleb entließ seinen Elefanten. „Aber wenn sich Mr. Bloom nun in den Kopf setzt, hum, Miss Ming zu retten?“ „Darauf bin ich vorbereitet.“ Argonherz grunzte. „Du siehst blasser aus denn je, Doktor Volospion. Du solltest mehr essen.“ „Mehr? Ich esse überhaupt nicht.“ „Die Ernährung ist wichtiger als die bloße Unterhaltung des Fleisches“, bemerkte Argonherz Po kritisch. „Wäre es nicht so, brauchte keiner von uns zu essen. Die Energien können auf viel einfachere Weise absorbiert werden. Aber der altmodischen Eßhandlung liegt eine gewisse instinktive Würze zugrunde, die zu genießen sich lohnt. Außerdem sind wir doch Menschen. Nun, die meisten jedenfalls.“ Abu Thaleb war bedrückt, denn es schien ihm, als kritisiere ein Freund den anderen. „Argonherz, mein Lieber, wir haben doch alle unsere eigenen Vorlieben. Doktor Volospion erfreut sich nun mal im Gegensatz zu uns am intellektuellen Zeitvertreib. Wir müssen seine Neigungen respektieren.“ Argonherz Po beeilte sich mit seiner Entschuldigung. „Ich hatte nicht die Absicht, mich einzumischen...“ „Ich entdecke nichts von einer Einmischung“, sagte Doktor Volospion mit einer elegant nachlässigen Handbewegung. „Meine Interessen sind, wie dir bekannt sein dürfte, äußerst spezieller Natur. Ich studiere den altertümlichen Glauben und habe kaum Zeit für etwas anderes. Beweggrund dafür ist möglicherweise mein Wunsch, an etwas Übernatürliches zu glauben. Allerdings bin ich in meinen Nachforschungen noch auf kein Problem gestoßen, das nicht als natürliches Phänomen oder Illusion hätte erklärt werden können. Zugegeben, ich besitze eine oder zwei wundersame Reliquien, die Qualitäten aufzuweisen scheinen, welche wissenschaftlich nicht leicht faßbar sind. Ich fürchte aber, daß hier nur ein Wissensmangel meinerseits vorliegt, und daß auch diese Gegenstände sich als geniale Menschenwerke entpuppen werden.“ Argonherz Po lächelte. „Eines Tages, falls du es gestatten solltest, werde ich dir ein kulinarisches Wunder zubereiten, dessen Rezept sich wissenschaftlich nicht ergründen läßt.“ „Eines Tages wird man mir vielleicht die gebührende Ehre erweisen, mächtiger König der Küche.“ Die beiden trennten sich, zu Abu Thalebs Erleichterung, freundschaftlich. Doktor Volospion blickte, für einen Moment alleingelassen, in die Runde. Er machte einen
ungewöhnlich zufriedenen Eindruck. Ein kleiner Seufzer des Vergnügens entwich seinen sonst fest aufeinandergepreßten Lippen. Er konnte gelegentlich den Anschein von Fröhlichkeit erwecken. Und jetzt lag Leichtigkeit in seinen Schritten, als er grüßend auf Mistress Christia, die Ewige Konkubine, zuging. Im Gehen wechselte er seine Robe gegen ein strahlendes Damaszenerpflaumenwams mit passender Kniebundhose, Schuhe mit nach oben gebogener Spitze und einen Hut mit hohem Kopf und weit vorstehendem Schirm, der den Rasen schwungvoll bürstete, als er den Hut lüftete und sich tief verbeugte. „Wunderschöne Christia, Königin meines Herzens, wie habe ich diesen Augenblick mit dir allein herbeigesehnt!“ Mistress Christia trug heute hellrotgoldene Ringellöckchen, ein durchsichtiges Abendkleid aus seegrüner, antiker Kunstseide und Armspangen aus lebendigen Echsen, deren Schwänze von den winzigen Vorderpfoten festgehalten wurden. „Oh, Doktorchen, du schmeichelst mir! Ich hörte, du hältst die meistgesuchte Schönheit der Welt in einem deiner finsteren Türme gefangen!“ „Das hörtest du? Schon? Es ist wahr.“ Er gab sich beschämt. „Ich hatte keine andere Wahl? Mein Schwur zwang mich dazu.“ „Dann schickt es sich, daß du mit mir schäkerst - denn mein Ruf ist...“ „Beneidenswert“, sagte er. Sie küßte seine kühle Wange. „Aber ich kenne dich nur herzlos.“ „Du bist es, Mistress Christia, die mir ein Herz gibt.“ „Doch du wirst es vor die Füße einer anderen legen, das weiß ich. Es ist mein Schicksal, immer.“ Doktor Volospion wurde plötzlich abgelenkt. Süßes Gestirn Mazis’ Jugendschlachthaus brach in Flammen aus. Und ein freudiges Grinsen huschte über Volospions Gesicht. Mistress Christia war verwirrt. „Dir scheint das zu gefallen. Der arme Mazis und sein hübsches kleines Häuschen.“ „Oh, nein, nein, das ist es nicht, ganz und gar nicht.“ Er bewegte sich wie eine Motte auf die Flammen zu. Sein Gesicht reflektierte das lodernde Feuer. Die Flammen züngelten über seinen Körper, und er war nackt. Die Gesellschaft erhob ein Geschrei. Jeder einzelne stand ebenfalls nackt da. Aus der Mitte des Infernos trat Emanuel Bloom. Er trug ein schwarzweißes Pierrotkostüm. „Ich bin gekommen“, trällerte er lieblich, „um von euch angebetet zu werden. So wie ich eure Körper bloßgelegt habe, werde ich eure Seelen bloßlegen.“ Er blickte auf die nackten Gestalten und schien mit dem, was er sah, nicht zufrieden zu sein. Ein paar Gäste zierten sich und waren dabei, neue Kleider anzulegen. Kostüme blühten wieder auf dem Fleisch. „Egal“, sagte der Feuerclown. „Ich habe mein moralisches Anliegen deutlich gemacht.“ Doktor Volospion streichelte zärtlich einen welligen Samtbehang auf seinem Körper. Er glühte in dunkelroten und grünen Farbtönen auf. „Werden Sie nie genug von Ihren Demonstrationen haben?“ fragte er. Emanuel Bloom zuckte die Achseln. „Warum sollte ich? Es ist meine Art zu predigen. Für diese Methode sprechen viele hervorragende Beispiele. Ein Mirakel und eine Parabel oder zwei wirken sozusagen Wunder.“ „Sie haben noch niemanden bekehren können, Sir“, sagte Lady Charlotina, die in einer großen, mit kleinen Blumen verzierten Porzellanglocke steckte. Ihre Stimme hallte nach. Der Feuerclown gab ihr recht. „Es dauert länger als erwartet, Madam. Aber ich bin von Natur aus hartnäckig. Und auf meine Art geduldig.“ „Nun, Sir, wir verlieren unsere Geduld“, sagte Abu Thaleb. „Ich bedaure, es sagen zu müssen, aber es ist die Wahrheit.“ Er drehte sich Bestätigung erheischend nach seinen Freunden um. Alle nickten. „Sehen Sie?“ „Bedeutet Wahrheit nichts als Übereinstimmung?“ erkundigte sich der Feuerclown. „Bestätigt
euch gegenseitig so viel ihr wollt, dadurch ändert sich nichts.“ „Wahrheit könnte durchaus als allgemeiner Beschluß angesehen werden“, schlug Argonherz Po schüchtern vor. Er witterte die Gelegenheit eines metaphysischen Disputs. „Schöpfen wir nicht die Wahrheit aus dem Chaos?“ „Wenn der Wille stark genug ist, vielleicht“, sagte Emanuel Bloom. „Aber euer Wille ist nichts. Meiner ist unermeßlich stark. Ihr gebraucht Apparate für eure Wunder. Seht ihr, daß ich etwas anderes verwende als die Kraft meines Geistes?“ „Das Kraftfeld Ihres Schiffs...“, riet Doktor Volospion. „Auch das wird von meinem Geist kontrolliert.“ Doktor Volospion schien diese Information unglücklich zu machen. „Und wo ist meine Seelenschwester?“ wollte Mr. Bloom wissen. „Wo ist meine Gemahlin? Wo hast du sie versteckt, Volospion? Wo, Männlein? Sprich!“ Er durchbohrte den lächelnden Nebenbuhler mit seinen Blicken. „Sie ist in Sicherheit“, sagte Volospion. „Vor Ihnen geschützt.“ „Geschützt? Sie braucht nicht vor Emanuel Bloom geschützt zu werden. Also hältst du sie gefangen.“ „Zu ihrer eigenen Sicherheit“, sagte Lady Charlotina. „Es entspricht dem Wunsch von Miss Ming.“ „Sie ist von Sinnen.“ Der Feuerclown war sichtlich irritiert. „Dieser Zauberer und Wahrheitsverdreher hat sie verhext. Gib mir die Frau. Ich verlange es. Wenn ich auch in dieser Welt keine andere Seele retten kann, die Seele dieser Frau werde ich retten. Das schwöre ich!“ „Nie“, sagte Doktor Volospion. „Nie werde ich Ihnen ein menschliches Wesen ausliefern. Wie könnte ich das mit meinem Gewissen vereinbaren?“ „Gewissen? Pah!“ „Sie ist in Sicherheit“, sagte Lady Charlotina und warf Doktor Volospion einen flüchtigen Blick zu. „Nicht wahr? In deinem tiefsten Verließ eingesperrt?“ „Nun...“ Doktor Volospion zuckte bescheiden die Achseln. „Ah, das kann ich nicht ertragen! Merke dir, du hinterhältiger Schakal, du kichernder Scheinpriester, ich werde sie befreien. Ich werde sie aus jedem Gefängnis, das du dir ausdenkst, herausholen. Warum tust du das? Willst du mit mir handeln?“ „Handeln?“ sagte Doktor Volospion. „Was könnten Sie mir schon anbieten?“ „Was willst du von mir?“ Der Feuerclown war erregt. „Sag’s mir!“ „Nichts. Sie haben den Grund gehört, warum ich Miss Ming vor Ihren Drohungen in Schutz nehme...“ „Drohungen? Wann habe ich gedroht?“ „Sie haben der armen Frau Angst eingejagt. Sie ist nicht sehr intelligent. Ihr Selbstvertrauen läßt sich sehr leicht erschüttern...“ „Ich kann ihr all das und mehr geben. Ich mache Versprechungen, drohen tue ich nicht. Bah!“ Der Feuerclown ließ den Rasen schwelen, woraufhin die Gäste zu tanzen anfingen. Schließlich hob jeder ein Stück vom Boden ab, wurde aber immer noch vom dichten Rauch belästigt. Nur der Feuerclown blieb am Boden. Die Hitze störte ihn nicht. „Ich kann dieser Frau alles geben. Du nimmst ihr den letzten Rest Stolz. Ich kann ihr Schönheit, Liebe und das ewige Leben geben...“ „Uns ist das Geheimnis des ewigen Lebens schon bekannt, Mr. Bloom“, sagte Lady Charlotina von oben herab. Sie konnte kaum den Feuerclown erkennen, denn der Rauch wurde immer dichter. „Was? Ihr lebt im Zustand des ewigen Todes. Ihr habt längst keine echte Lebensfreude mehr. Das Geheimnis des ewigen Lebens ist die Lebensfreude, Madam, nicht mehr und nicht weniger.“ „Reicht das aus, um uns physisch zu erhalten?“ fragte Argonherz Po aus einiger Entfernung. „Genug, um alles bis zur Neige auszukosten. Das ist die Antwort.“ Mr. Blooms
schwarzweißes Pierrotkostüm war jetzt in den dicken Rauchschwaden nicht mehr auszumachen. „Weg mit euren faulen Zaubertricks und tränken, weg mit euren Jungbrunnen, den gefrorenen Zellen und Gehirntransplantationen! Diese Art des Daseins dauert kaum länger als tausend Jahre, und dann vergeht es vor Langeweile und stirbt.“ „Aus Langeweile sterben?“ Argonherz Pos Stimme klang jetzt noch schwächer. „Oh, der Körper mag weiterleben. Aber so oder so, die Langeweile bringt den Menschen um.“ „Ihre Gedanken sind etwas aus der Mode geraten“, sagte Lady Charlotina. „Unsterblichkeit ist keine Sache mehr von Tränken, Zauberei oder Chirurgie...“ „Ich spreche von der Seele, Madam.“ „Dann sprechen Sie also von einem Nichts“, sagte Doktor Volospion. Er erhielt darauf keine Antwort. Der Feuerclown war verschwunden.
l1. KAPITEL IN DEM DOKTOR VOLOSPION EINER BELAGERUNG AUSGESETZT WIRD UND ZU VERHANDELN VERSUCHT Miss Ming war weder angekettet noch gefesselt. Sie schmachtete in keinem Verließ, sondern hielt sich, auf Doktor Volospions Rat hin, ausschließlich in einer Wohnung auf, die nach ihren eigenen Wünschen eingerichtet worden war. Zunächst nahm sie diese Einschränkung gern in Kauf. Aber mit der Zeit sehnte sie sich nach menschlicher Gesellschaft, denn Doktor Volospion besuchte sie kaum. Kontakt hatte sie nur mit mechanischen Dienern. Wenn Miss Ming mit ihrem unheimlichen Gastgeber zusammentraf, bettelte sie um Neuigkeiten von Bloom und hoffte inständig, daß dieser seine Pläne mittlerweile aufgegeben und den Planeten verlassen hatte. Sie sah Doktor Volospion kurz nach der Party bei Süßes Gestirn Mazis, dessen Haus und Rasen verbrannt waren. „Ich fürchte, er ist immer noch da“, teilte ihr Volospion mit und setzte sich auf ein rosafarbenes, gestepptes Kissen. „Ich würde sagen, sein Entschluß, die Welt zu retten, ist nur ein wenig schwächer geworden.“ „Er wird also bald verschwinden?“ „Sein Entschluß, dich zu erobern, Miss Ming, scheint stärker denn je.“ „Also bleibt er...“ Sie sank in ein Satinkissen zurück. „Alle sind wie du darüber bestürzt. Man hat mich indirekt beauftragt, die Welt von diesem Wahnsinnigen zu befreien, und ich zermartere mir den Kopf, um einen geeigneten Plan zu entwerfen, aber bisher ohne Erfolg. Weißt du eine Möglichkeit?“ „Ich? Die kleine Mavis? Zuviel der Ehre, Doktor Volospion, aber...“ Sie fingerte am Ausschnitt ihres blauen Negligees. „Wenn du nicht weiterweißt, wie könnte ich noch helfen?“ „Ich dachte, du könntest vielleicht besser die Gefühle deines Verehrers verstehen. Er liebt dich sehr. Auf der Party hat er es mir gegenüber wieder erwähnt. Er warf mir vor, ich hielte dich gegen deinen Willen gefangen.“ Sie ließ ihr bekanntes Kichern verlauten. „Gegen meinen Willen? Was hat er denn anderes vor, als mich zu verschleppen?“ Ihr schauderte vor diesem Gedanken. „Genau.“ „Ich kann immer noch nicht glauben, daß es ihm ernst damit ist“, sagte sie. „Kannst du es?“ „Es ist ihm sehr ernst. Er ist ein besonders erfahrener Mann. Soviel wissen wir. Er hat eine außergewöhnliche Bildung, und seine Kräfte sind beeindruckend. Als Liebhaber würde er kein schlechtes Bild abgeben, Miss Ming.“ „Er ist widerlich.“
Doktor Volospion erhob sich von dem Sitzkissen. „Wie du meinst. Na - was ist denn das da hinterm Fenster?“ Er deutete auf ein großes Fenster, dessen Scheibe aus einzelnen kleinen, dicken Glasstückchen zusammengesetzt war. Davor hingen zu beiden Seiten flauschige, blaue Vorhänge, die an den Baldachin einer Kinderwiege erinnerten und mit rosafarbenen und gelben Schleifen verziert waren. Es schien, als flamme eine kleine Nova über dem trostlosen Schloßpark und seinen düsteren Bäumen und Felsen auf. Das Licht kam näher und senkte sich kurz vor dem Kraftfeld, das das riesige Gebäude (genauer gesagt, eine Anzahl von Gebäuden) schützte. Das Licht wechselte die Farbe von Weiß nach leuchtend Rot und entpuppte sich schließlich als Emanuel Blooms barockes Raumschiff. „Oh, nein!“ jammerte Miss Ming. „Keine Angst“, sagte Doktor Volospion. „Mein Kraftfeld ist so undurchdringlich wie seins. Er kommt nicht weiter.“ Das Schiff landete, zerstörte dabei einen oder zwei Bäume und verwandelte Felsen in eine Pfütze aus schwarzem Glas. Miss Ming hastete zum Fenster und zog die Vorhänge zu. „Da! Das ist eine Folter, Doktor Volospion. Ich bin so unglücklich!“ Sie fing an zu weinen. „Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen“, sagte er. „Aber ich kann nichts versprechen. Er ist so engagiert bei der Sache.“ „Du wirst zu ihm gehen?“ schniefte sie. Ihre blauen Augen flehten ihn an. „Du wirst ihn auffordern zu gehen?“ „Wie gesagt...“ „Oh! Kannst du ihn nicht umbringen? Kannst du das nicht?“ „Ihn umbringen? Einen authentischen Menschen? Das wäre doch eine Verschwendung...“ „Du denkst immer noch nur an dich. Und was ist mit mir?“ „Natürlich, ich weiß, daß du ein wenig unter Anspannung lebst. Aber mit deiner Hilfe könnte ich das Problem vielleicht lösen.“ „Das könntest du?“ Sie trocknete sich die Augen mit einem Spitzenärmel ab. „Es würde dir, Miss Ming, zwar einigen Mut abverlangen, aber es würde sich für uns alle lohnen, das versichere ich dir.“ „Was?“ „Ich werde dich im geeigneten Moment darüber informieren.“ „Nicht jetzt?“ „Noch nicht.“ „Ich tue alles, um ihn loszuwerden“, sagte sie. „Gut“, sagte er und verließ die Wohnung. Doktor Volospion schritt in seinem schmückenden grünschwarzen Gewand durch von Fackeln beleuchtete Korridore und stieg über graubraune Steinstufen bis hinauf aufs Dach. Die Luft des späten Abends, die er so sehr liebte, wehte ihm entgegen, als er die Brustwehr betrat, um das Schiff des Feuerclowns zu beobachten. Doktor Volospion lachte, und seine Freude war unheimlich. „So, so, Sir, Sie belagern also meine Burg!“ Seine Stimme hallte von vielen Befestigungsmauern wider, von massiven Bollwerken, Türmen und Zinnen. Eine kühle Brise brachte sein Gewand ins Wallen, während er stolz und spöttisch dastand. Hinter ihm lagen Brücken ohne Funktion, Säulen, die nichts trugen, und Kuppeln, die nur Luft umschlossen. Oben brauten sich schwarze Wolken in einem stahlfarbenen Himmel zusammen. Unten stand gespenstisch und im schrillen Kontrast zur Landschaft das Raumschiff. „Ich warne Sie, Sir. Ich werde mich zu verteidigen wissen!“ sagte Doktor Volospion. Aber auch jetzt blieb die Antwort aus. „Miss Ming steht unter meiner Obhut. Ich habe einen Eid auf ihren Schutz abgelegt!“ Die Luftschleuse klappte auf. Kleine Flammen züngelten nach draußen und verflogen in der naßkalten Luft. Die Rampe fuhr aus und berührte den glasigen Fels. Der Feuerclown erschien. Er trug eine scharlachrote Kappe und ein rotgelb gestreiftes Wams. Ein Bein war
bernsteingelb, das andere orange. Einer der mit Glöckchen versehenen Schuhe paßte zum Rot des Wamses, der andere zum Gelb. Das Gesicht war geschminkt und glich einer grotesken antiken Clownsmaske. Trotzdem hatte Doktor Volospion den Eindruck, als habe sich Emanuel Bloom zum Kampf gerüstet. Er lächelte. Die dünne, zwitschernde Stimme drang zur Brustwehr hinauf. „Gib die Frau frei!“ „Sie fürchtet sich vor Ihnen, Sir“, meinte Doktor Volospion gelassen. „Sie fleht mich an, Sie zu erschlagen.“ „Natürlich, natürlich. Wie so viele Sterbliche wird sie von der bloßen Ahnung dessen, was ich in ihr auslösen könnte, in Angst und Schrecken versetzt. Aber das ist in diesem Moment nicht von Bedeutung. Du kannst nicht länger zwischen uns stehen. Hebe dich hinweg.“ Emanuel Bloom wankte tolpatschig die Rampe hinunter, überquerte den Rasen und blieb vor dem Kraftfeld stehen. „Weg damit“, befahl er. „Das kann ich nicht“, sagte Doktor Volospion. „Du mußt!“ „Mein Gelübde...“ „Ist ohne Bedeutung, und das weißt du auch. Du kennst nur deine Interessen. Dein Schicksal ist, nur dir selbst zu dienen. Und deshalb bleibt dir das wahre Leben verschlossen.“ „So wie Sie für Miss Ming eine Rolle erfinden, erfinden Sie auch eine für mich. Selbst Ihre eigene Rolle ist erfunden. Ihre Vorstellungen, Sir, sind verdreht. Ich rate Ihnen in aller Höflichkeit, diesen Ort zu verlassen, andere Manieren anzunehmen oder Ihre Pläne zu ändern. Diese Maskerade wird Ihnen nur Unglück bringen.“ Doktor Volospion hatte einen freundlichen Tonfall gewählt. „Muß ich noch weitere Beispiele deiner Heuchelei ertragen, Männlein? Laß diesen Schirm herunter und führe mich zu meiner Seelenschwester.“ Emanuel Bloom trommelte mit kleinen Fäusten gegen das Kraftfeld. Seine wütenden, blauen Augen standen im paradoxen Widerspruch zu seiner Clownsmaske. „Ihre >Seelenschwester<, Sir, verabscheut Sie.“ „Deine Interpretationen interessieren mich nicht. Ich will die Frau sehen!“ „Miss Ming würde Ihnen das gleiche sagen.“ „Mit ihrer Stimme vielleicht, aber nicht mit ihrer Seele.“ „Ich werde mich nicht weiter mit Ihnen befassen, Sir.“ Doktor Volospion drehte sich um. Hinter ihm entstand ein schrecklicher Tumult. Er spürte, wie eine Hitzewelle gegen seinen Rücken schlug. Er warf den Kopf zurück. Der Feuerclown war nicht zu sehen, denn eine Feuerwand hatte sich da gebildet, wo das Kraftfeld lag. Und die Feuerwand schien aufzukreischen. Doktor Volospion berührte den Energiering. Die Flammen wurden durchsichtig wie Eis, und dahinter waren die Umrisse des Feuerclowns zu erkennen. „Mr. Bloom!“ rief er. „Wir könnten das Spielchen hundert Jahre lang fortsetzen und all unsere Energien dabei vergeuden. Wenn ich Ihnen Zutritt gewähren würde, gäben Sie mir dann Ihr Wort, keine Gewalt gegen mich oder Miss Ming anzuwenden? Versprechen Sie mir, keine Gewalt zur Durchsetzung Ihrer Ziele zu gebrauchen?“ „Ich wende nie Gewalt an. Ich gebrauche meine Kraft, um lebendige Beispiele zu geben, das ist alles. Damit überzeuge ich diejenigen, die sich mir entgegenstellen.“ „Sie geben mir also Ihr Wort?“ „Wenn du es unbedingt willst, sollst du mein Wort haben.“ Und dann hob der Feuerclown wieder das Fäustchen und schlug auf das Eis, das im gleichen Augenblick zersprang. Er stieg durch das entstandene Loch. „Du siehst, wie leicht es mir fällt, deinen Schutzwall zu durchbrechen!“ Doktor Volospion verdeckte den Mund mit einer Hand. „Ah, ich hätte nicht gedacht...“ Er senkte die Lider, um zu verhindern, daß Bloom seine Augen sehen konnte. Es war nämlich durchaus möglich, daß sie in diesem Moment von hinterhältiger Freude glitzerten. „Willst du mich jetzt ins Schloß zu Miss Ming führen, Doktor Volospion?“ „Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit, damit ich die Dame auf Ihren Besuch vorbereiten
kann. Wollen Sie mit mir zu Abend essen?“ „Ich werde jedes Ritual über mich ergehen lassen. Aber wenn ich diesen Ort verlasse, so wird meine geliebte Miss Ming mich begleiten.“ „Sie haben Ihr Wort gegeben...“ „Und ich werde es halten.“
12. KAPITEL IN DEM DOKTOR VOLOSPION EINE FÜHRUNG DURCH SEIN MUSEUM UND DIE MENAGERIE DES VERGESSENEN GLAUBENS VERANSTALTET Mavis Ming war außer sich. „Oh, du hast mich betrogen!“ „Betrogen?“ Doktor Volospion legte eine Hand auf ihre zitternde Schulter. „Nichts dergleichen. All das gehört zu meinem Plan. Ich bitte dich, spiel in der Manier einer guten Schauspielerin mit, Miss Ming. Wenn es dir möglich ist, zeige ein wenig Sympathie für deinen Verehrer. Er wird dir am Ende vergolten werden.“ „Du lockst ihn in eine Falle, nicht wahr?“ „Im Augenblick kann ich nur sagen, daß du ihn bald los bist.“ „Bist du dir sicher?“ „Ganz sicher.“ „Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte.“ „Vertraue mir. Ich habe doch soweit bewiesen, daß ich dein zuverlässiger Beschützer bin, oder?“ „Natürlich. Ich habe nicht daran gezweifelt...“, bestätigte sie schnell, denn sie wollte ihn nicht beleidigen. „Dann zieh dich jetzt um und komm so schnell wie möglich an unsere Dinnertafel.“ „Willst du essen? Du ißt doch sonst nie...“ „Es wird eine wichtige Zeremonie sein.“ Sie nickte. „Na schön.“ Er ging durch die Tür. Sie sagte: „Er ist nicht besonders intelligent, oder?“ „Ich glaube nicht.“ „Du bist wirklich sehr clever.“ „Du bist zu gütig.“ „Ich bin davon überzeugt, daß du ihn überlisten kannst, Doktor Volospion, wenn es das ist, was du vorhast.“ „Ich danke dir für die Ermutigung, Miss Ming.“ Er ging weg. Mavis suchte im Kleiderschrank. Sie brachte ein Abendkleid aus grüner und violetter Seide zum Vorschein. Sie blickte in den Spiegel und ärgerte sich über ihre geröteten Augen und das zerzauste Haar. „Nur Mut, Mavis, der Spuk ist bald vorbei. Dann kannst du wieder unter die Leute gehen. Was wird es für eine Erleichterung sein! Und wenn ich meine Rolle richtig spiele, werden mir alle danken müssen - und Doktor Volospion. Man wird mir etwas mehr Respekt entgegenbringen.“ Sie setzte sich an den Toilettentisch. Miss Ming putzte sich auf und war von ihrem Aussehen selber angetan. Sie lockte das Haar so, daß es in blonden Wellen auf den Schultern lag. Sie pinselte eine Menge Tusche auf ihre Wimpern, damit die Augen größer wirkten. In relativ bescheidenem Maße legte sie Rouge auf und sprühte ihr bestes Parfüm an all die Stellen des Körpers, die es nach ihrer Meinung nötig hatten (die Kosmetikutensilien waren zum größten Teil vergleichbar mit denen des zwanzigsten Jahrhunderts). Doktor Volospion hatte sie auf ihre Bitte hin erschaffen. Mavis
Ming hielt nämlich die zeitgenössische Kosmetik für vergleichsweise grob und synthetisch). Sie steckte eine nie welkende Orchidee an ihr Kleid und legte Diamantohrringe, eine dazu passende Kette und Armbänder an. „In dieser Aufmachung könnte ich auch mit dem Herrscher von Afrika dinieren“, sagte sie sich, als sie fertig war. Sie verließ ihre Wohnung und trat die Reise durch die Korridore an, die Doktor Volospion ihrer Meinung nach unnötigerweise verdunkelt hielt. Allerdings wußte sie, daß damit ein von ihm bevorzugter künstlerischer Effekt erzielt werden sollte. Endlich kam sie in die große, düstere Halle, in der Doktor Volospion gewöhnlich seine Gäste empfing. Metalldiener mit harten Gesichtszügen bedienten schon an dem langen Tisch. Volospion saß in würdiger Haltung an einem Ende, der geckenhafte Bloom am anderen. Seine Aufmachung war die verrückteste, die Mavis Ming je gesehen hatte. Altertümliche, weißblaue Neonröhren beleuchteten diesen Teil des Schlosses. Sie waren in ihrer Funktion absichtlich gestört, und so flackerte das Licht und ging an und aus. Schatten und Grelle wechselten blitzartig, was Miss Ming stets als sehr störend empfand. Die Wände waren aus nacktem Stein und völlig kahl, bis auf ein großes Porträt Doktor Volospions über der riesigen Feuerstelle, in der ein kleines elektrisches Feuer brannte. Auch das Feuer war antik und so entworfen, daß es brennende Kohle simulierte. Als die beiden Männer Miss Mings Eintritt bemerkten, erhoben sie sich von ihren Sitzen. „Meine Madonna!“ hauchte Bloom. „Guten Abend, Miss Ming.“ Doktor Volospion verbeugte sich. Emanuel Bloom schien um Zurückhaltung bemüht zu sein. Er nahm wieder Platz. „Guten Abend, meine Herren.“ Sie reagierte auf Blooms Bemühung in gleicher Weise. „Wie schön, Sie wiederzusehen, Mr. Bloom!“ „Oh!“ Er hob ein Kotelett an den fettverschmierten Mund. Die Diener brachten Mavis eine einfache Speise. Sie setzte sich an die linke Seite von Doktor Volospion. Sie hatte zwar keinen Appetit, tat aber so, als wäre sie vom Essen begeistert, denn Doktor Volospion machte es genauso. Sie hoffte, Bloom würde ihnen nicht einen seiner größenwahnsinnigen Monologe zumuten. Es war ihr immer noch unverständlich, daß sich ein so intelligenter Mann wie Doktor Volospion überhaupt mit Bloom abgab. Aber die beiden schienen bereitwillig miteinander zu reden. „Sie beschäftigen sich mit Idealen, Sir“, sagte Doktor Volospion, „ich mit Realitäten. Allerdings faszinieren mich immer wieder die schöngeistigen Anstrengungen des Menschen, seinen Träumen Glauben zu schenken.“ „Du wirst nur das Schöngeistige daran verstehen“, sagte der Feuerclown. „Zu mehr reicht es bei dir nicht, denn die Erfahrung der Glaubensekstase bleibt dir verschlossen. Du bist zu leer.“ „Sie urteilen immer noch hart, Sir, während ich versuche...“ „Ich spreche die Wahrheit.“ „Ah, na schön. Ich schätze, wir verstehen uns, „Mr. Bloom.“ „Natürlich. Ich habe lediglich versprochen, Miss Ming nicht mit Gewalt zu entführen. Davon, daß ich mich auf deine Höflichkeiten und Heucheleien einlasse, war nicht die Rede. Was sind schon deine artigen Manieren im Licht der großen, unantastbaren Wirklichkeiten des Multiversums?“ „Ihren Glauben an Fortbestand und Dauer, Mr. Bloom, kann ich nicht teilen. Alles ist im Fluß. Haben Sie keine Lehre aus der Erfahrung von Milliarden Jahren ziehen können?“ „Im Gegenteil, Doktor Volospion“, antwortete er nüchtern und kaute auf dem Kotelett herum. „Ist die Erfahrung an Ihnen vorbeigegangen? Haben Sie nie eine Veränderung durchgemacht?“ „Ich glaube, mein Charakter hat sich ein wenig gewandelt. Ich kenne die Strafen, die Prometheus erleiden mußte, aber ich war auch Gottes strafende Hand... denn überall blühte Bloom, in jeder Gestalt...“ „Noch mehr Erbsen?“ unterbrach Miss Ming.
Emanuel Bloom schüttelte den Kopf. „Aber ein Glaube folgte dem anderen, über die Jahrhunderte hinweg folgte eine Bewegung auf die andere“, fuhr Doktor Volospion fort. „Aber nie hat eine bedeutende Wandlung stattgefunden, obwohl Millionen von Menschen ihr Leben wegen vager Vorstellungen verloren haben. Sind die Menschen nicht dumm, daß sie sich auf diese Weise umbringen? Sie streben nach Unmöglichkeiten, Wunschträumen, romantischen Phantasien, Perfektion...“ „Oh, natürlich. Alle sind Clowns. Wie ich.“ Doktor Volospion wußte nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Sie geben mir recht?“ „Ein Clown lacht und weint, er kennt Freude und Schmerz. Es genügt nicht, nur sein Kostüm zu sehen, zu lachen... und zu sagen, hier offenbart sich die ganze Menschheit. Ironie hat keinen Selbstzweck. Ironie modifiziert, sie schützt nicht. Wir leben unser Leben, weil wir nur unser Leben zu leben haben.“ „Hum“, sagte Doktor Volospion. „Ich sollte Ihnen jetzt meine Sammlung zeigen. Ich besitze Erinnerungsstücke von Millionen von Glaubensbekenntnissen.“ Er richtete den Daumen nach unten auf den Boden. „Da unten.“ „Ich glaube nicht, daß du mir etwas zeigen kannst, das ich noch nicht kenne“, sagte Bloom. „Was willst du mir eigentlich beweisen?“ „Daß Sie nicht originell sind, vielleicht.“ „Auf diese Weise soll ich entmutigt werden, damit ich den Planeten verlasse, ohne eine einzige Pflicht erfüllt zu haben?“ Doktor Volospion zuckte die Achseln. „Sie durchschauen mich, Mr. Bloom.“ „Wenn du willst, sehe ich mir den Kram an. Ich bin neugierig. Und ich habe Respekt vor allen Propheten und Gegenständen der Frömmigkeit. Aber was meine Originalität angeht...“ „Schön“, sagte Doktor Volospion. „Wir werden sehen. Wenn Sie mir erlauben, daß ich Sie zu einer kurzen Führung durch meine Sammlung einlade, werde ich Sie hoffentlich überzeugen können.“ „Wird Miss Ming uns begleiten?“ „Nur zu gern“, sagte Miss Ming mutig. Sie haßte Doktor Volospions Schätze. „Ich glaube, meine Sammlung ist die größte des Universums“, meinte Doktor Volospion. „Eine bessere hat in der ganzen Erdgeschichte mit Sicherheit nicht existiert. Viele Missionare sind zu uns gekommen. Die meisten haben versucht, uns... ehm... zu retten. Wie Sie. Zugegeben, sie waren weniger spektakulär als Sie, Mr. Bloom. Sie behaupteten auch nicht so viel wie Sie. Trotzdem...“ Er spießte eine Erbse mit der Gabel auf. Miss Ming vermutete hinter seiner Geste einen Plan, der weiterging als eine bloße Führung durch die Sammlung. „... Sie werden zugeben müssen, daß Ihre Argumente kaum differenziert genug sind. "Sie lassen keinerlei Nuancen erkennen.“ Jetzt konnte den Feuerclown nichts mehr aufhalten. Er stand vom Tisch auf. Seine vogelähnlichen Bewegungen waren noch übertriebener als gewöhnlich. Er hüpfte am Tisch entlang, drehte sich um und. hüpfte zurück. „Einen Dreck gebe ich auf Nuancen! Das Wesentliche muß gepackt werden, mit Schnabel und Krallen. Das restliche Gekröse bleibt für die Aasfresser! Krähen und Störche sollen über den Abfall und die Haarspaltereien in Streit geraten - der Adler nimmt vom eigentlichen Körper so viel oder wenig, wie er braucht!“ Er heftete seinen Blick auf Miss Ming. „Vergiß deine spitzfindigen Skrupel, Madonna! Komm jetzt mit mir. Gemeinsam werden wir diesen Planeten seinem Schicksal überlassen und weggehen. Die Seelen der Menschen hier flackern wie abgebrannte Kerzen. Die ganze Welt stinkt nach Faulheit. Wenn meine Ideale nicht gefragt sind, werde ich all meine Gaben über dir ausschütten!“ Mavis Ming sagte mit erstickter Stimme: „Sie sind sehr freundlich, Mr. Bloom, aber...“ „Vielleicht kann über dieses Thema später diskutiert werden“, schlug Doktor Volospion vor und zog die Kapuze enger über Kopf und Gesicht. „Folgen Sie mir bitte, Sir.“ „Miss Ming kommt mit?“
„Miss Ming.“ Das Trio verließ die Halle. Miss Ming ließ sich widerwillig mitschleifen. Sie hoffte verzweifelt, daß Doktor Volospion nicht vorhatte, wieder einmal ein Spiel auf ihre Kosten zu treiben. Er war in letzter Zeit so nett zu ihr gewesen, dachte sie, daß sie ihm mit Vertrauen dafür danken wollte. Deshalb ärgerte sie der Verdacht gegen ihn, der sich immer noch bei ihr einschlich. Schließlich hatte er mehr als einmal angedeutet, daß er auf die Bekanntschaft ihrer Verehrer keinen Wert legte, da sie offensichtlich an Geschmacksverirrung litten. Sie waren tiefer und tiefer gestiegen, denn Doktor Volospion hatte seine Sammlung in den Abgründen des Schlosses vergraben. Ein muffiger Korridor folgte auf den anderen, zur Beleuchtung dienten Fackeln, Kerzen, Windlichter, Öllampen und alles, was nur ein Minimum an Licht ausstrahlte und ein Maximum an Schatten warf. „Du hast eine außergewöhnliche Phantasie, Doktor Volospion“, sagte Bloom nach einer geraumen Strecke. „Ich mache mir nichts aus der Lust nach Abwechslung, an der sich die meisten Endzeitbürger erfreuen“, bemerkte der hagere Mann. „Ich habe nur einige wenige Leidenschaften. Und das haben wir, wie ich glaube, miteinander gemein, Mr. Bloom.“ „Nun...“, meinte der Feuerclown. Aber Doktor Volospion war in diesem Augenblick vor einer eisenbeschlagenen Tür stehengeblieben. „Wir sind da!“ Er stieß die Tür weit auf. Das Licht von innen schien intensiver zu sein. Der Feuerclown stakste mit steifen Gliedern in ein hohes Gewölbe. Er blinzelte mit den Lidern. Schnüffelnd sog er die warme, schwere Luft ein. Soweit das Auge sehen konnte, erstreckten sich Reihen um Reihen von Vitrinen, Postamenten, Ausstellungskuppeln: Doktor Volospions Museum. „Was ist das?“ fragte Mr. Bloom. „Meine Sammlung frommer Gegenstände, aus allen Epochen zusammengetragen. Von allen Planeten des Universums.“ Doktor Volospion war sichtlich stolz. Ob Bloom beeindruckt war oder nicht, war schwer zu sagen, denn die Clownsmaske verbarg seine Gesichtszüge. Doktor Volospion blieb neben einem kleinen Tisch stehen. „Nur das Beste wurde konserviert. Den Rest habe ich weggeworfen oder vernichtet. Hier ist eine Geschichte der Narretei.“ Er sah auf den Tisch. Darauf lag ein ledriger Hautfetzen, an dem ein paar ausgeblichene Federn hingen. Doktor Volospion nahm das Stück in die Hand. „Wissen Sie, was das ist, Mr. Bloom? Bei all Ihrer Erfahrung in Raum und Zeit müßten Sie es wiedererkennen.“ Der Feuerclown reckte den langen Hals nach vorn, um das Ding zu inspizieren. „Die Überreste eines Vogels?“ fragte Mr. Bloom. „Ein Hühnchen vielleicht?“ Miss Ming rümpfte die Nase und trat einen Schritt zurück. „Ich habe diesen Teil des Schlosses nie leiden können. Er ist so gruselig. Ich weiß nicht, wie...“ Sie nahm sich zusammen. „Eh?“ sagte Mr. Bloom. Doktor Volospion gönnte ihm ein finsteres Lächeln. „Das ist alles, was von Yawk, dem Retter von Shakah, übriggeblieben ist. Er war der Begründer einer Religion, die sich über vierzehn Sternensysteme und achtzig Planeten ausbreitete und siebentausend Jahre überdauerte, bis sie der Vergessenheit anheimfiel.“ „Hm“, sagte Mr. Bloom zurückhaltend. „Ich bekam diese Reliquie von dem letzten lebenden Wesen, das am Yawkglauben festgehalten hat. Er bezeichnete sich als ihr einziger Wächter, trug sie durch zahllose Lichtjahre und predigte die Lehre von Yawk (eine hübsche, poesievolle Geschichte), bis er zur Erde kam.“ „Und dann?“ Bloom legte den Hautfetzen ehrfürchtig auf den Tisch zurück. „Er ist jetzt mein Gast. Sie werden ihn später kennenlernen.“ Ein flüchtiges Lächeln erschien auf Miss Mings Lippen. Sie glaubte zu ahnen, was ihr Gastgeber im Schilde führte. „Aha“, murmelte der Feuerclown. „Und was soll das hier sein?“ Er ging ein paar Schritte weiter und blieb neben einer Vitrine stehen, in der ein seltsam verarbeitetes Kunstwerk
aufgehoben war, dessen Material wie grüner Marmor aussah. „Eine Waffe“, sagte Doktor Volospion. „Mit ihr wurde Marchbanks, der Märtyrer vom Mars, während der Renaissance im fünfundzwanzigsten Jahrhundert (a. D. natürlich) erschlagen. Damals erwachte der berühmte Känguruh-Kult zu neuem Leben, der schon hundert Jahre zuvor im ganzen Sonnensystem verbreitet gewesen, aber von atheistischen Politikern verboten worden war. Sie wissen ja, wie gerne man einem anderen folgt. Nichts, Mr. Bloom, hat sich grundlegend verändert, weder in der religiösen Rhetorik, den Grundprinzipien, noch in den politischen Glaubensrichtungen. Ich hoffe, ich entmutige Sie nicht.“ Bloom schnaufte. „Das kannst du gar nicht. Keiner, von denen du mir erzählst, hat erfahren, was ich erfahren habe. Keiner hat das Wissen, das ich erworben und - zugegebenermaßen fast wieder vergessen habe. Wirf mich mit denen nicht in einen Topf. Ich warne dich, Doktor Volospion. Es sei denn, du willst die Unterhaltung mit mir beenden. Ich kann all das hier im Handumdrehen vernichten, wenn ich wollte; es würde keinen Unterschied machen...“ „Sie drohen mir?“ „Was?“ Der kleine Mann nahm die Clownskappe vom Kopf und strich mit der Hand durch seine kastanienbraunen Strähnen. „Eh? Drohen? Sei nicht albern. Ich habe mein Wort gegeben. Ich wollte meiner Bemerkung nur etwas Nachdruck verleihen.“ „Außerdem“, meinte Volospion gelassen, „könnten Sie jetzt wenig ausrichten, schätze ich. Denn zwischen Ihnen und Ihrem Schiff liegen im Augenblick mehrere Kraftfelder - sie schützen mein Museum - und ich vermute, daß Ihr Schiff die Hauptquelle der Kraft ist, von der Sie behaupten, sie entspringe einzig und allein Ihrem Geist.“ Emanuel Bloom kicherte. „Du hast mich entlarvt, Doktor Volospion.“ Er schien nicht weiter verunsichert zu sein. „Nun, was gibt es sonst noch für alberne Denkmäler, die dem menschlichen Geist zur Ehre gereichen und hier eingeschlossen sind?“ Doktor Volospion streckte einen Arm aus. „Was möchten Sie sehen?“ Er zeigte in eine andere Richtung. „Ein Rad von Krishnas Kutsche?“ Er deutete in eine andere Richtung. „Einen Zahn, der Buddah gehört haben soll? Eine der Originaltafeln Moses’? Bunters Flasche? Die heilige Krone der Kennedys? Hitlers Fingernagel? Da...“ - er tippte auf einen Deckel -, „... Sie finden all das in dieser Kiste. Da drüben...“ - er schwenkte den grünschwarzen Arm - „... liegen die Fingerknochen von Karl Marx, die Kniescheibe von Mao Tsetung, ein mumifizierter Hoden von Heffner, das Skelett von Maluk Khan, die Zunge von Suhulu. Oder wie war’s damit? Filps Lendentuch, Xiombargs Windel, Teglardins Pfirsichkitsche. Dann haben wir da noch Münzen von Bibb-Nardrop, die silbernen Ruten von Er und Er, die Handtücher von Ich diese Dinge stammen von einer Welt im Krebsnebel. Und die meisten Dinge, die in dieser Abteilung liegen, stammen aus dem Zeitalter der Dämmerung. Weiter hinten sind Reliquien aus allen Epochen dieser Welt und des Universums. Lumpen und Knochen, Mr. Bloom, Lumpen und Knochen.“ „Ich bin tief beeindruckt“, sagte Emanuel Bloom. „Alles, was von Millionen heftiger Streitereien übriggeblieben ist“, sagte Doktor Volospion. „Und mehr waren diese Streitereien auch eigentlich nicht wert!“ Der Clown machte ein feierliches Gesicht, während er an den Kästen vorbeiging. Mavis Ming zitterte. „Dieser Ort bedrückt mich wirklich“, flüsterte sie ihrem Beschützer zu. „Ich weiß, es liegt an mir, aber ich habe Orte wie diesen noch nie ausstehen können. Sie wirken so makaber. Nicht, daß ich dich kritisieren will, Doktor Volospion. Aber ich werde nie verstehen, daß ein Mann wie du ein solches Hobby haben kann. Es ist natürlich alles Forschungsmaterial. Forschung ist wichtig, nicht wahr? Nun, für dich jedenfalls. Gut, daß wenigstens einer diese Aufgabe übernimmt. Nun, ich meine, es ist dein Forschungsgebiet, nicht wahr? Dieser besondere Aspekt der galaktischen Geschichte. Ich glaube“ aus diesem Grunde werde ich auch nie eine erstklassige Historikerin werden. Weißt du, es war das gleiche damals mit Donny Stevens. Dieses kaltblütige Schlachten der süßen kleinen
Kaninchen und Affen im Labor. Ich wollte einfach nicht, daß Donny oder irgendein anderer in meiner Anwesenheit darüber sprach. Mit der Zeitmaschine ist es ähnlich. So viele Menschen sind wer weiß wohin geschickt worden, bevor das Ding endlich richtig funktionierte. Wann kann ich mit dieser Schauspielerei aufhören, Doktor... ?“ Volospion legte einen Finger an seine Lippen. Bloom stand ein paar Meter entfernt, hatte sich aber umgedreht, als er die Stimme seiner Angebeteten hörte. „Lumpen und Knochen“, sagte Doktor Volospion, als hätte er seine Meinung Miss Ming vorgetragen. „Nein“, rief Bloom, der neben einer Vitrine stand, in der leicht unterschiedlich geformte Metallstreifen ausgestellt waren. „Es sind lediglich Instrumente, die gebraucht wurden, um den Glauben zu festigen. Überzeugt euch von der Vielfalt. Jeder Gegenstand kann wie eine Linse das Seelenfeuer bündeln. Ein Stück Holz. Ein Stein. Eine Tasse. Vanillepudding. All das hier ist nichts wert ohne die Gegenwart der Wesen, die an die Gültigkeit dieser Dinge glaubten. Ob dieses wurmstichige Holzstück wirklich vom Kreuze Christi stammte oder nicht, ist unwesentlich. Als Symbol...“ „Sie zweifeln an der Authentizität meiner Schätze?“ „Es ist unwichtig...“ Doktor Volospion verriet echte Erregung. „Nicht für mich, Mr. Bloom. In mein Museum kommt nichts, was nicht authentisch wäre!“ „Also hast du schließlich doch einen Glauben.“ Die bemalten Lippen Blooms kräuselten sich zu einem Lächeln. Er, der winzige Spaßmacher, der Possenreißer, stand angelehnt an einer Kraftfeldkuppel. Doktor Volospion wahrte die Haltung. „Wenn Sie damit sagen wollen, ich rühmte mich der Fähigkeit, Fälschungen auf die Spur zu kommen, dann haben Sie recht. Ich glaube an meinen Geschmack und an mein Urteil. Aber kommt, wir wollen weitergehen. Ich möchte, daß Sie die Menagerie in Augenschein nehmen. Sie ist viel interessanter als das Museum, denn da...“ „Zeig mir diese Tasse. Diesen Heiligen Gral. Darauf bin ich gespannt.“ „Gut, wie es Ihnen beliebt. Natürlich. Da ist sie. In der Vitrine zusammen mit Jissards Raumfahrerhelm und Panjits Gürtel.“ Emanuel Bloom trabte in die von Doktor Volospion gewiesene Richtung und schlängelte sich an verschiedenen Schaukästen vorbei, bis er an die gegenüberliegende Wand kam. Hinter einem leicht zitternden Energiefeldschirm, zwischen Helm und Gürtel, stand ein fast durchsichtiger, pulsierender, goldener Becher, in dem eine rote Flüssigkeit brodelte. Bloom warf einen beiläufigen Blick darauf. Er machte keine ernsthaften Anstalten, den Becher zu inspizieren. Er drehte sich zu Doktor Volospion um, der ihm gefolgt war. „Na?“ sagte Doktor Volospion. Bloom lachte. „Dein Geschmack und Urteil lassen dich im Stich, Volospion. Dieser Gral ist eine Fälschung.“ „Woher wollen Sie das wissen?“ „Ich versichere dir, daß ich recht habe.“ Bloom schickte sich an, den Schaukasten zu verlassen, aber Doktor Volospion hielt ihn am Arm fest. „Sie behaupten wohl, der Gral ist ein Mythos, stimmt’s? Daß er nie existiert hat. Trotzdem gibt es einen Beweis dafür.“ „Oh, ich brauche keinen Beweis für die Existenz des Grals. Aber wenn es tatsächlich der Gral wäre, wie kommt es, daß ausgerechnet du ihn aufbewahrst?“ Doktor Volospion runzelte die Stirn. „Sie drücken sich noch undeutlicher aus als sonst, Mr. Bloom. Ich bewahre ihn auf, weil er mir gehört.“ „Dir?“ „Ich bekam ihn von einem Zeitreisenden, der sein Leben lang danach gesucht und ihn zufällig in einer unserer Städte gefunden hat. Leider vernichtete sich dieser Reisende unmittelbar nachdem er zu mir gekommen war. Solche Leute sind in der Regel verrückt. Aber der
Gegenstand ist authentisch. Der Reisende hatte viele Fälschungen gesehen, bevor er den wahren Gral fand. Er verbürgte sich dafür. Und er mußte es wissen. Er war ein Mann, der nur für diese Suche gelebt hat. Und bereit, sich umzubringen, sobald die Suche vorbei war.“ „Wahrscheinlich glaubte er, die Tasse würde ihm das Leben zurückgeben“, sinnierte der Feuerclown. „Wie du weißt, gehört das mit zur Legende. Das ist eine der unbedeutenderen Eigenschaften des wahren Grals.“ „Des wahren Grals? Die Meinung des Mannes war unanfechtbar.“ „Nun, ich freue mich, daß er tot ist“, sagte Bloom und stieß ein tiefes, röhrendes Lachen aus, das in keinem Verhältnis zu seinem winzigen Körper stand. „Denn sonst hätte ich ihn enttäuschen müssen.“ „Enttäuschen?“ Doktor Volospion wurde rot. „Jetzt...“ „Die Tasse da ist nicht einmal eine gute Kopie des Originals, Doktor Volospion.“ Doktor Volospion richtete sich zu voller Größe auf und ordnete sorgfältig die Falten seines Gewandes. Als er endlich wieder Worte fand, war seine Stimme ruhig. „Woher wollen Sie das wissen, Mr. Bloom? Sie geben vor, umfangreiche Kenntnisse zu haben, aber Ihr ziemlich dümmliches Verhalten und Ihr sinnloses Vorhaben lassen eher auf das Gegenteil schließen. Sie kleiden sich wie ein Narr, und Sie sind ein Narr.“ „Möglich. Das ändert nichts an der Tatsache, daß der Gral eine Fälschung ist.“ „Warum sind Sie so sicher?“ Doktor Volospions Blick war nicht mehr so fest wie sonst. „Weil ich unter anderem der Hüter des Grals bin“, erklärte Bloom liebevoll. „Und das heißt im besonderen, daß ich durch die Gegenwart des Heiligen Grals gesegnet bin.“ „Was?“ Doktor Volospion konnte seinen Haß nicht mehr verbergen. „Du wirst es wahrscheinlich nicht wissen“, fuhr Mr. Bloom fort. „Nur diejenigen, die absolut reinen Geistes sind, die nie die Sünde der Accidia (der moralischen Trägheit, wenn du so willst) begehen, können den Gral sehen. Und nur jemand wie ich kann das heilige Pfand von Joseph von Arimathia, des guten Soldaten, empfangen, der den Gral nach Glastonbury gebracht hat. Ich habe das Pfand seit mehreren Jahrhunderten in meiner Verwahrung. Ich bin wohl der einzige noch lebende Sterbliche, der diese Ehre verdient (aus mir spricht die Überzeugung, weniger der Stolz). Mein Schiff ist voller Reliquien, die alles hier in den Schatten stellen. Ich habe sie gesammelt während meiner ewigen Wanderungen durch viele Dimensionen des Universums, durch Zeiten in Begleitung von Chronos...“ Doktor Volospions Gesicht trug einen Ausdruck, den Miss Ming nie zuvor gesehen hatte. Er war äußerst ernst. Seine Stimme vibrierte ungewöhnlich stark. „Oh, laß dich nicht von ihm ins Bockshorn jagen, Doktor Volospion“, sagte sie. Sie gab ihre Rolle als Schauspielerin auf. „Er ist doch offensichtlich ein Scharlatan.“ Bloom verbeugte sich. Doktor Volospion hatte sie nicht einmal gehört. „Wie können Sie beweisen, daß Ihr Gral das Original ist, Mr. Bloom?“ „Das brauche ich nicht zu beweisen. Der Gral bestimmt seinen Hüter selbst. Er erscheint nur denen, deren Glaube absolut ist. Mein Glaube ist absolut.“ Bloom ging auf Miss Ming zu. Doktor Volospion folgte ihm gedankenversunken. „Oh!“ krächzte Miss Ming. Sie bemerkte, daß ihr Beschützer abgelenkt war und befürchtete, Bloom würde zudringlich werden. „Aufhören!“ „Ich habe noch gar nicht angefangen, Miss Ming. Ich versprach, keine Gewalt anzuwenden. Noch nicht, nicht bevor du bei mir bist.“ „Oh! Sie glauben doch wohl nicht, daß... ?“ Sie kämpfte mit ihrer Abneigung und der Erinnerung an das Versprechen, das sie Doktor Volospion gegeben hatte. „Ich verstehe, du täuschst immer noch Widerstand vor.“ Bloom strahlte. „Das ist weiblicher Stolz. Ich bin gekommen, um eine Welt zu erobern. Nun verzichte ich bereitwillig auf meinen Anspruch, um dich zu besitzen, Frau. Deinen Körper und deine Seele. Du bist das schönste Wesen, das ich in all den Äonen meiner Wanderschaft gesehen habe. Mavis! Mavis! Das Flüstern deines köstlichen Namens erfüllt mein Sein mit Musik. Königin Mavis - Maeve,
Zaubererkönigin, Zerstörerin von Cuchulain, Liebling der Sonne! Ah, du hast die Kraft - aber du wirst mich nicht noch einmal zerstören, wunderschöne Maeve. Du wirst mich im Feuer finden, und im Feuer werden wir uns vereinen!“ Zum ersten Mal nahm Miss Mings Gesichtsausdruck sanftere Züge an. Aber Doktor Volospion kam ihr zu Hilfe. „Ich bin sicher, Miss Ming ist schrecklich geschmeichelt“, sagte er. Mit seiner nächsten Bemerkung wurde klar, daß ihn lediglich die Unterbrechung seines Gedankenflusses ärgerte. „Um auf den Heiligen Gral zurückzukommen, ich nehme an, Sie haben ihn nicht zufällig bei sich?“ „Natürlich nicht. Er erscheint mir nur im Gebet.“ „Sie können ihn herbeirufen?“ „Nein. Er erscheint. Während meiner Meditationen.“ „Könnten Sie nicht jetzt meditieren? Um zu beweisen, daß Ihr Gral der wahre ist?“ „Mir ist gerade nicht nach Meditation zumute.“ Mr. Bloom wandte sich von Doktor Volospion ab und streckte steif und ungelenk die Hände aus, um Miss Ming zu umarmen. Doktor Volospion berührte seinen Arm und ließ ihn innehalten. „Ist er also in Ihrem Schiff?“ „Er besucht mich dort, ja.“ „Besucht?“ „Doktor Volospion. Ich habe es dir doch wohl deutlich genug erklärt. Mein Gral ist keine mythische Reliquie, mag er auch noch so wundersam erscheinen. Mein Heiliger Gral ist ein mythischer Kultgegenstand, und deshalb kommt und geht er je nach spiritueller Stimmung. Das ist auch der Grund, warum dein sogenannter Gral eine einfache Fälschung ist. Wäre er das Original, würde er nicht hier sein.“ „Sie weichen mir bloß aus...“ „Doktor Volospion, du bist äußerst beschränkt.“ Miss Ming bewegte sich langsam zurück. „Mr. Bloom, alles, was ich will, ist eine Aufklärung...“ „Ich will versuchen, dir dazu zu verhelfen. Aber bisher habe ich weder dich noch die anderen (außer Miss Ming) erleuchten können. Aber das war ja zu erwarten, denn ihr seid nicht wirklich am Leben. Kann man sich mit einer Leiche vernünftig unterhalten?“ „Sie sind äußerst beleidigend, Mr. Bloom. Es besteht kein Anlaß...“ Doktor Volospion hatte fast alle Selbstkontrolle aufgegeben. Aus Angst, daß sich der Konflikt zuspitzen würde, und weil sie aus ihrer mehr als bescheidenen Erfahrung wußte, daß sie die Leidtragende sein würde, unterbrach Mavis Ming die beiden Männer mit einem nervösen Geheul: „Zeig Mr. Bloom deine Menagerie, Doktor Volospion! Die Menagerie! Die Menagerie!“ Doktor Volospion sah aus verträumten Augen auf sie herab. „Was?“ „Die Menagerie. Mr. Bloom hat vielleicht den Wunsch, sich mit den vielen Persönlichkeiten dort zu unterhalten.“ Der Feuerclown bückte sich, um einen seiner langen Schuhe zu glätten. Mavis Ming nutzte die Gelegenheit und zwinkerte Doktor Volospion heftig zu. „Ah ja, die Menagerie. Mr. Bloom?“ „Du willst mir die Menagerie zeigen?“ „Ja.“ „Dann führ mich hin“, sagte Bloom gönnerhaft. Doktor Volospion ging vornweg und brütete immer noch über dem Problem. Sie durchquerten eine weitere Reihe finsterer Gänge, die leicht abschüssig waren und in noch größere Tiefen führten. Doktor Volospion hatte in beinahe jeder Hinsicht einen Hang zum Unterirdischen. Als sie schließlich vor einer Anzahl von Kammern angelangt waren, die Doktor Volospion seine „Krypten“ nannte, hatte er zu seiner gewohnten, ausgewogenen Ironie zurückgefunden. Diese Hallen waren noch länger als das Museum. Zu beiden Seiten erstreckten sich
Reproduktionen verschiedener Lebenswelten in der Art zoologischer Gärten, die von unterschiedlichen Wesen aus zahllosen Kulturen bewohnt waren. Manche stammten von der Erde, andere von fremden Welten. Doktor Volospions Stimme war wieder voller Eifer, als er auf seine Schätze zeigte und langsam den Mittelgang durchschritt. „Meine Christen und meine Hare Krishnas“, erklärte der Doktor. „Meine Moslems und Marxisten, meine Juden und Jasager, Derwische, Buddhisten, Hindus, Naturapostel, Konfuzianer, Leavisiten, Sufis, Shintoisten, Neu-Shintoisten, reformierte Shintoisten, Shinto Scientologen, mansonitischen Wasserteiler, Anthroposphen, Sensenmänner, Sonnenanbeter, kaffeesatzlesende Fundamentalisten, Spermaanbeter, Jünger der fünf größeren Mondteufel; Anhänger des Steins, der nicht gewogen werden kann; Anhänger von James Colvin; Adventisten, Mensaner, Dooen-Hautschlitzer, Jogger, Schlangenmenschen, Tribunalisten, göttlichen Kalligraphen, Grasschnüffler von Beteigeuze, aldebaranischen Grasschnüffler, terranischen Kiffer und frexianischen Anti-Grasschnüffler. Da sind die Rassisten (verschiedene Sorten): ich halte sie in einer Umgebung zusammen, denn das macht die Sache interessanter. Das Blutflüßchen dort war meine eigene Idee. Es fügt sich recht harmonisch in das allgemeine Landschaftsbild, wie mir scheint.“ Doktor Volospion war offensichtlich sehr stolz auf seine Sammlung. „Alle Spezies leben selbstverständlich in ihrer natürlichen Umgebung. Es werden alle nur erdenklichen Maßnahmen getroffen, um sie bei bester Gesundheit und Laune zu halten. Sie bemerken sicherlich, Mr. Bloom, daß die Mehrheit zufrieden ist. Meine Schützlinge dürfen nämlich hin und wieder kleine Wunder mit Worten oder Taten vollbringen.“ Die Aufmerksamkeit des Feuerclowns schien woanders zu sein. „Hier die Geräuschkulisse“, sagte Doktor Volospion und berührte einen Energiering. Sofort wurde der Raum von einem Stimmengebrabbel erfüllt. Propheten prophezeiten, Prediger predigten, Erlöser verkündeten verschiedene Tausendjährige Reiche, Weltenretter beriefen ihre Jünger, Erzbischöfe warnten vor dem Weltuntergang, Fakire beklagten sich über den Materialismus, Priester beteten, Imame leierten Litaneien herunter, Rabbis zeterten, Druiden dröhnten. „Genug?“ Der Feuerclown hob zustimmend eine Hand. Der Doktor berührte wieder den Ring, und der Lärm verstummte. „Nun, Mr. Bloom, finden Sie, daß sich diese Vorankündigungen im wesentlichen von den Ihrigen unterscheiden?“ Aber der Feuerclown hatte nur Augen für Mavis Ming, die zur Abwechslung einmal sehr verunsichert war. Daß sie errötete, war selbst unter der dicken Rougeschicht zu sehen. Sie tat so, als interessiere sie sich für die Predigt eines schneckenartigen Wesens aus einer entfernten Welt der mittleren Galaxis. „Was?“ Bloom hielt eine Hand trichterförmig ans Ohr und lauschte in Volospions Richtung. „Unterscheiden? Oh, natürlich. Natürlich. Ich respektiere die Ansichten, die diese Wesen ausdrücken. Ich gebe zu, sie sprechen ähnlich wie ich. Aber ihnen mangelt es bedauerlicherweise an der Kraft und Erfahrung, die ich habe. Außerdem glaube ich, daß sie nicht meinen Mut haben. Oder die Klarheit meiner Zielvorstellungen. Warum schließt du sie hier ein?“ Doktor Volospion ignorierte die Frage. „Ich denke, viele haben eine andere Meinung als Sie.“ „So ist es. Aber ich fange an, mich zu langweilen, Doktor Volospion. Ich habe beschlossen, Miss Ming, meine Madonna, jetzt mit auf mein Schiff zu nehmen. Der Besuch hier war recht interessant. Interessanter als ich gedacht habe. Kommst du mit, Miss Ming?“ Miss Ming zögerte. Sie sah Doktor Volospion an. „Nun, ich...“ „Laß dich nicht von dieser Leiche beraten“, sagte Bloom. „Ich werde dein Lehrer sein. Es ist meine Pflicht und Bestimmung, dich sofort von dieser Umwelt wegzuführen, um dir zur
Kenntnis deiner eigenen Göttlichkeit zu verhelfen.“ Mavis Ming atmete heftig. Sie war immer noch errötet. Ihr Blick hüpfte von Bloom zu Volospion. „Ich schätze, Sie werden weder mich noch sich selbst von diesem Schloß wegführen, Mr. Bloom.“ Sie lächelte jetzt unverhohlen Doktor Volospion an. Ihr Blick war voller Hoffnung und Schrecken. Er stellte Hunderte von Fragen. Mavis Ming schien in Panik fliehen zu wollen. Emanuel Bloom schnaufte ungeduldig. „Miss Ming, meine Liebe, du gehörst mir.“ Seine hohe, flötende Stimme trällerte weiter, obwohl Mavis offensichtlich nicht mehr zuhörte. Seine krallenartigen Hände berührten sie. Sie schrie. Doktor Volospion blieb völlig beherrscht. „Wie ich schon sagte, Mr. Bloom, Sie verhalten sich nicht wie ein Gentleman, wenn Sie einer Dame Ihre Gunst aufdrängen. Ich möchte Sie an Ihr Versprechen erinnern.“ „Ich halte es. Ich gebrauche keine Gewalt.“ Doktor Volospion schien das Drama zu genießen. Die Finger seiner linken Hand schwebten über den Fingern der rechten, die die meisten seiner Ringe trugen. Die Hände des Feuerclowns hielten noch immer Miss Ming gefaßt. „Er ist tatsächlich stark!“ schrie sie. „Ich kann mich nicht befreien, Doktor Volospion. Ohhh...“ Es hatte den Anschein, als überfiele ihren Körper jetzt eine fast euphorische Schwäche. Sie keuchte, war nicht in der Lage einen Gedanken zu fassen. Ihre Lippen waren trocken, ihre Zunge war trocken, und das einzige Wort, das sie flüstern konnte, war: „Nein.“ Doktor Volospion schien die Unruhe, die in der Menagerie ausbrach, nicht zu bemerken. Viele der Propheten, sowohl Menschen als auch Nichtmenschen, hatten ihre Monologe unterbrochen und drängten näher, um den Kampf zu beobachten. Doktor Volospion sagte mit fester Stimme: „Mr. Bloom, da Sie mein Gast sind, möchte ich Sie daran erinnern...“ Der Feuerclown gaffte immer noch Mavis Ming an, aber seine blauen Augen bekamen einen verschlagenen Glanz. „Dein Gast? Nicht länger. Wir gehen. Kommst du mit, meine Mavis?“ „Ich... ich...“ Es war, als wolle sie ja sagen, aber sie hielt sich zurück, so gut es ging. „Mr. Bloom, Sie hatten die Gelegenheit, den Planeten zu verlassen. Sie haben die Gelegenheit in den Wind geschlagen. Jetzt gibt es für Sie keine Wahl mehr, Sie bleiben hier, für immer (was, wie wir glauben, nicht lange sein wird).“ Mr. Bloom hob den Kopf. „Was?“ „Sie haben uns selbst von Ihrer Einmaligkeit erzählt, Sir.“ Doktor Volospion triumphierte. „Sie haben sich in den höchsten Tönen angepriesen. Ich muß annehmen, daß Ihr Wert wirklich beträchtlich ist.“ „Eh?“ „Von nun an, Herr Prophet, werden Sie meine Menagerie bereichern. Sie bleiben hier - als meine schönste Errungenschaft.“ „Was? Meine Kraft!“ Zeigte Mr. Bloom echte Überraschung? Seine Gesten wurden leicht melodramatisch. Doktor Volospion war zu siegesgewiß, um festzustellen, ob der Feuerclown schauspielerte oder nicht. „Hier können Sie nach Herzenslust predigen. Ich bin sicher, Sie werden die Konkurrenz stimulierend finden.“ Bloom nahm die Auskunft gelassen hin. „Meine Kraft ist größer als die deine“, sagte er. „Ich habe Sie in der Fehleinschätzung Ihrer Kraft unterstützt, damit Sie zuversichtlich meine Einladung zur Führung durch diese Sammlung annehmen konnte. Zwölf Kraftfeldschirme von unvorstellbarer Stärke liegen nun zwischen Ihnen und dem Schiff, der Quelle Ihrer Energien. Glauben Sie, Sie hätten gegen meinen Willen das erste Kraftfeld durchbrechen können?“ „Es war in der Tat erstaunlich einfach“, gab der Feuerclown zu. „Aber du scheinst dir immer noch nicht über die Natur meiner Kraft im klaren zu sein. Sie stammt nicht - wie die deine aus einer physischen Quelle, obwohl du zurecht annimmst, daß sie aus dem Schiff kommt.
Spirituelle Inspiration ist der Motor meiner Wunderwerke. Die Quelle dieser Inspiration liegt im Schiff.“ „Ist da Ihr sogenannter Gral?“ Bloom schwieg. „Nun, vertrauen Sie nur weiter darauf“, sagte Volospion. ’“ Von Blooms bombastischem Auftreten war nichts mehr zu spüren. Es schien, als habe er eine untaugliche Waffe, oder besser gesagt, eine fehlerhafte Rüstung abgelegt. „Im ganzen wimmelnden Multiversum lebt kein freieres Wesen als der Feuerclown.“ Ohne mit der Wimper zu zucken starrte er wieder Miss Ming an. „Du kannst mich nicht einsperren, Mann.“ „Einsperren?“ Doktor Volospion lächelte spöttisch über diesen Gedanken. „Jeder Wunsch wird Ihnen erfüllt. Ihre bevorzugte Umgebung soll extra für Sie geschaffen werden. Wenn nötig, kann ich den Eindruck von Weite und Bewegung erzeugen. Sehen Sie diesen Zustand als wohlverdienten Ruhestand an.“ Der Vogelkopf kreiste auf dem langen Hals. Der bemalte Mund verzog sich zu einem (wenn auch übertriebenen) gewichtigen Ausdruck. Mr. Bloom ließ Miss Mings Hand nicht los. „Deine Satire hat ihren Reiz verloren, Doktor Volospion. Sie ist von einer Art, die leicht fade wird, denn ihr fehlt die Liebe. Sie wird genährt von Selbsthaß. Du bist wie jene ungläubigen Priester des fünften Jahrhunderts, deine ehemaligen Kumpane der Verirrung.“ Doktor Volospion war sichtlich schockiert. „Woher können Sie von meiner Herkunft wissen? Das Geheimnis...“ „Es gibt keine Geheimnisse vor der Sonne“, sagte der Feuerclown. „Die Sonne weiß alles. Sie mag alt sein, aber ihr Gedächtnis ist klarer als das eurer ärmlichen, greisenhaften Städte.“ „Sir, versuchen Sie nicht, mich durch haltlose Verallgemeinerungen zu irritieren. Woher wissen Sie von meiner Herkunft?“ „Ich habe Augen“, sagte Bloom, „die alles sehen. Eine Geste sagt mir alles über eine Gesellschaft. Zwei Worte entlarven eine Person. Eine Konversation verrät jeden Ursprung.“ „Ihr Gral? Hilft er Ihnen dabei?“ Der Feuerclown ignorierte ihn. „Der Adler treibt auf den Wellen des Lichts hoch über der Welt. Und das Licht ist die Erinnerung, das Licht ist Geschichte. Ich kenne dich, Doktor Volospion, und ich kenne dich als Schurken, so wie ich Miss Ming als Göttin kenne - gekettet und geknebelt, verdorben und allein, aber immer noch eine Göttin.“ Das Lachen von Doktor Volospion klang grausam. „Mr. Bloom, Sie entlarven sich nur als Witzbold, weiter nichts! Nicht einmal Ihr verrückter Glaube kann einen Engel aus Miss Ming machen!“ Mavis Ming nahm ihm das nicht übel. „Ich habe auch meine guten Seiten“, sagte sie, „aber ich bin keine Gloria Gutzmann. Ich gebe mir redlich Mühe. Das wird von anderen allerdings nicht anerkannt. Mag sein, daß ich etwas neurotisch bin. Schließlich hat der Fall Schnüffel am Ende keinem gutgetan. Dabei wollte ich Dafnish Armatuce nur einen Gefallen tun.“ Sie plapperte weiter und war sich kaum ihrer Worte bewußt. Volospion und Bloom unterbrachen ihren Streit und beobachteten Mavis. „Nun, vielleicht habe ich mich wirklich selbstsüchtig benommen. Was soll’s, das Leben geht weiter. Was geschehen ist, ist geschehen. Wer könnte am Ende eines Tages den anderen beschuldigen?“ Mr. Blooms Stimme war wie eine geflüsterte Liebkosung. Er streichelte ihre Hände. „Hab keine Angst, Miss Ming. Ich bin die Flamme des Lebens. Ich trage die Fackel, die deinen Geist zu neuem Leben erweckt, und ich trage die Peitsche, mit der ich die Teufel austreibe. Ich brauche keine Rüstung, sondern nur Glauben, Wissen und Verständnis. Ich bin der Soldat der Sonne, der Hüter ihrer Geheimnisse. Gib dich mir hin und werde ganz du selbst, lebendig und frei.“ Mavis Ming fing an zu weinen. Die leuchtende Maske des Feuerclowns lächelte grotesk freundlich.
„Komm jetzt mit mir“, sagte Bloom. „Ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie aus eigener Kraft hier nicht herauskommen“, sagte Doktor Volospion. Der Feuerclown ließ Miss Mings Hände los und drehte ihr den Rücken zu. Sein kleiner Körper zuckte und zitterte. Die rotgoldenen Haarmassen wirkten wie die aufgerichteten Kopffedern eines exotischen Vogels. Die kleinen Hände krallten und entspannten sich wie Tatzen, während seine hübsche, melodische Stimme durch die scheußliche Menagerie hallte. „Ah, Volospion, ich sollte dich vernichten - aber man kann keinen Toten vernichten!“ Doktor Volospion blieb offensichtlich ungerührt. „Möglich, Mr. Bloom. Aber die Toten können die Lebenden einsperren, oder etwa nicht? Wenn dem so ist, bin ich Menschen wie Ihnen gegenüber im Vorteil.“ Der Feuerclown wirbelte herum und packte Miss Ming. Sie schrie: „Halt ihn auf, Doktor Volospion, um Himmels willen!“ Endlich berührte die lange Hand Volospions einen Energiering, und der Feuerclown stand in einem Käfig aus blauen, pulsierenden Energiestangen. „Ha!“ Der Feuerclown hüpfte hierhin und dahin und suchte nach einem Ausweg. Dann schien er sich zu fügen, nahm mit verschränkten kleinen Beinen auf dem Boden Platz und blickte mit entgeistert zwinkernden Augen zu den beiden empor. Doktor Volospion lächelte. „Adler, ja? Phönix? Ich muß gestehen, ich sehe nichts als einen eingesperrten Spatzen vor mir.“ Emmanuel Bloom beachtete ihn nicht. Er wandte sich an Miss Ming. „Befreie mich“, sagte er. „Du wirst dich selbst damit befreien.“ Mavis Ming kicherte.
13. KAPITEL IN DEM DOKTOR VOLOSPION MAVIS MING EIN OPFER ABVERLANGT Sie wachte zum wiederholten Mal aus einem Alptraum auf. „Oh, du meine Güte“, stöhnte sie unter ihrer Nachtmaske. Der Traum hatte nur einen vagen Eindruck hinterlassen, aber sie schien sich zu erinnern, daß Mr. Bloom darin vorgekommen war. „Was für ein tückisches kleines Biest! Er macht mir mehr Angst als alles andere. Selbst Donny Stevens Wutanfälle waren nicht so schlimm. Er verdient es, eingesperrt zu sein. Es geschieht ihm recht. In jeder anderen Welt hätte er die gleiche Strafe bekommen. Sicher hätte er mich vergewaltigt, wenn Doktor Volospion nicht dazwischengekommen wäre. Oh, warum kann ich einfach nicht vergessen, was dieser Wicht gesagt hat? Es ist doch alles Unsinn. Ich wünschte, ich wäre tapferer. Ich kann nicht glauben, daß er sicher unter Verschluß ist. Ich wünschte, ich hätte den Nerv, mich selbst davon zu überzeugen. Es gäbe mir ein viel besseres Gefühl.“ Sie sank in ihre zahlreichen Kissen zurück und zog die Decke über die Augen. „Ich weiß, wie diese Energiekäfige sind. Ich habe schließlich selbst in einem gesteckt, als ich hier angekommen bin. Da kommt er nicht mehr raus. Und ich kann hin, um ihn zu sehen. Diese lächerlichen Komplimente. Und Doktor Volospion hilft mir nicht dadurch, daß er behauptet, Blooms Liebe sei >echt<, was immer das bedeuten soll. Oh, jetzt ist alles noch schlimmer. Tatsächlich. Warum hat Doktor Volospion ihn nicht davongejagt? Ihn hierzuhalten ist eine Folter!“ Doktor Volospion hatte sogar gemeint, es wäre eine mildtätige Geste, wenn Mavis Bloom
besuchte, um ihn zu „trösten“. „Dieser widerliche kleine Knilch!“ Sie stieß die rosaseidene Bettdecke von sich und drehte die Lampe heller (obwohl sie schon ziemlich hell war), deren Ständer die Form einer fleischfarbenen nackten Nymphe hatte, die den schießpulverblauen Blättern einer geöffneten Rose entstieg. „Ich wünschte, Doktor Volospion gäbe mir einen eigenen Energiering. Damit wäre alles so viel leichter. Jeder hat einen. Selbst viele Zeitreisende.“ Sie ging über den weichen, blaßgelben Teppich zu dem vergoldeten Toilettentischchen im Empirestil und musterte ihr Gesicht im Spiegel. „Oh, ich sehe schrecklich aus! Dieses scheußliche Wesen.“ Sie seufzte. Sie hatte öfters Schlafbeschwerden, weil sie unter Nervosität litt. Aber jetzt war es schlimmer. Trotz aller extravaganten Unterhaltungsmöglichkeiten, trotz der Parties, auf denen die Welt nach Lust und Laune geformt wurde, fehlte den Leuten am Ende der Zeit nach Mavis’ Meinung ein anständiges TV-Netz. Fernsehen wäre jetzt für sie genau die richtige Antwort auf ihre Probleme. „Vielleicht kann Doktor Volospion etwas in den alten Städten für mich auftreiben“, grübelte sie. „Ich werde ihn fragen. Er tut mir in letzter Zeit überhaupt keinen Gefallen mehr. Wie lange hat er den Feuerclown schon? Ein paar Wochen? Und die ganze Zeit verbringt der Doktor bei ihm. Vielleicht liebt er Bloom. Das wird es sein.“ Sie lachte, fühlte sich aber gleich danach wieder elend. „Oh, Mavis. Warum bist du immer die Dumme? Die ganze Welt ist gegen dich.“ Sie raffte sich zu einem komischen, schiefen Grinsen auf und versuchte dabei wie Barbara Stanwyck in den herrlichen alten Filmen auszusehen. „Wenn ich nur zurück ins zwanzigste Jahrhundert könnte, in die Zeit, wo Kleidung und Lebensstil so anmutig waren. Die Menschen lebten damals einfacher. Oh, ich weiß, sie hatten ihre Probleme. Aber was gäbe ich dafür, wenn ich dort sein könnte! Auf diese Aussicht hatte ich gehofft, als man mich als erste auswählte, die Zeitmaschine zu testen. Natürlich war es ein Beweis dafür, wie beliebt ich bei den Jungs in der Abteilung war. Jeder stimmte einmütig dafür, daß ich als erste gehen sollte. Es war eine große Ehre.“ Aber auch dieser Gedanke konnte offensichtlich nicht ihren Kummer verdrängen. Sie hob eine Hand an den Kopf. „Oh, oh... jetzt kriege ich wieder diese Kopfschmerzen! Arme kleine Mavis!“ Sie wankte zurück zu dem großen, kreisförmigen Bett. Aber die Befürchtung, die Träume könnten wiederkehren, hielt sie auf. Es war Doktor Volospions Idee gewesen, daß sie ihr Leben in gewohnter Weise weiterführen sollte - mit Tag- und Nachtwechsel und den entsprechenden Schlaf- und Eßbedürfnissen, obwohl es ihm natürlich nicht schwer gefallen wäre, Mavis umzustellen. Er neigte selbst zu einer ähnlichen Routine, seitdem er gehört hatte, daß Lord Jagged von Kanarien diesen altertümlichen Marotten zugetan war. Wenn Miss Ming einen eigenen Kraftring oder ein Luftauto zur Verfügung gehabt hätte (auch darin war sie auf Volospions guten Willen angewiesen), wäre sie irgendwohin gefahren, um sich zu amüsieren und zu zerstreuen. Sie sah auf ihre Puh-Bärenuhr - noch drei Stunden bis der Palast wieder aktiviert sein würde. Vorher konnte sie nicht einmal einen tröstenden Imbiß zu sich nehmen. „Mir geht’s nicht viel besser als dem kleinen Ekel da unten“, sagte sie. „Oh, Mavis, in welche Lage hat man dich gebracht!“ Es klopfte an der Tür. Dankbar für jede Abwechslung schlüpfte Mavis in ihren flauschigen, blauen Morgenmantel. „Herein!“ Doktor Volospion, ein satanischer Hamlet in schwarzweißem Wams und Kniehosen, betrat den Raum. „Du schläfst nicht, Miss Ming? Ich habe deine Stimme im Vorbeikommen gehört...“ Hoffnung regte sich in ihren Augen. „Ich habe leichte Kopfschmerzen, Doktor Volospion.“
Normalerweise konnte er sie von Kopfschmerzen befreien. Ihre Laune wurde besser. Sie lebte auf und war ängstlich darauf bedacht, seine Anerkennung zu finden. „Die dumme kleine Mavis hat wieder Alpträume gehabt.“ „Bist du unglücklich?“ „Oh, nein! In diesem hübschen Zimmer? In deinem hübschen Palast? Mehr kann sich doch ein kleines Mädchen nicht erträumen. Es liegt an dem schrecklichen Mr. Bloom. Seit er...“ „Ich verstehe.“ Seine finsteren Gesichtszüge hellten auf. „Du hast immer noch Angst. Aber er kann nicht entkommen, Miss Ming. Er hat es versucht, und ich kann dir versichern, meine Kräfte sind wesentlich größer als seine. Er wird mir langsam etwas langweilig, aber eine Gefahr ist er nicht.“ „Willst du ihn also gehen lassen?“ „Wenn ich mich darauf verlassen könnte, daß er den Planeten verläßt - ja. Er ist nämlich weniger unterhaltsam, als ich mir erhofft hatte. Außerdem möchte ich, daß er mir seinen Gral gibt. Ich bin sicher, seine Kraft hat dort ihren Ursprung. Aber er weigert sich.“ „Du könntest dir den Gral doch einfach nehmen, oder?“ „Nicht von ihm. Nicht vom Schiff. Der Schutzschirm ist immer noch undurchdringlich. Nein, du bist meine einzige Hoffnung.“ „Ich?“ „Er hat sich nur wegen dir in die Falle locken lassen.“ Doktor Volospion seufzte tief. „Tja, ich komme gerade von einem Besuch bei ihm zurück. Ich bot ihm die Freiheit im Austausch gegen dieses eine Besitzstück, aber er speist mich ab mit seinen typischen Scheinargumenten, in denen wieder und wieder diese vagen Begriffe wie Glaube und Vertrauen auftauchen. Aber du kennst ja sein Gerede.“ . Mavis murmelte mitleidig: „Ich habe dich noch nie so niedergeschlagen erlebt, Doktor Volospion. Aber bei manchen Leuten kennt man sich einfach nicht aus, nicht wahr? Der Kerl ist zu seinem eigenen Wohl eingesperrt. Er ist eine Art Krüppel, oder? Du weißt, wie einige Krüppel sind, nicht? Man kann ihnen keinen Vorwurf machen. Es ist die Frustration. Sie ersticken daran und werden ganz liebestoll.“ „Fairerweise muß man sagen, daß er nur an dir interessiert ist, Miss Ming. Ich habe ihm viele Frauen angeboten, echte und künstliche aus den Menagerien. Die meisten von ihnen sind sehr schön. Aber er bleibt dabei: Keine von ihnen hat deine >Seele<, deine... hum, wahre Schönheit.“ „Wirklich?“ Sie war immer noch skeptisch. „Er ist krank. Das hat er mit vielen Männern gemein. Deshalb habe ich mich auch von ihnen abgewandt. Bei einer Dame weiß ich wenigstens, woran ich bin. Und Mr. Bloom hat ungefähr soviel Sexappeal wie eine Seemöwe - weniger! Hast du schon einmal von dem wirklich süßen Buch mit dem Titel Jonathan gehört... ?“ „Haben deine Kopfschmerzen nachgelassen, Miss Ming?“ „Aber gewiß.“ Sie berührte ihr Haar. „Sie sind fast weg. Hast du... ?“ Doktor Volospion zog die Brauen zusammen und massierte sich mit beringten Fingern die Stirnfalte. „Du traust dir zu wenig zu, Miss Ming...“ Sie lächelte. „Das hat Betty auch immer gesagt, wenn ich mich elend fühlte. Aber die arme kleine Mavis...“ „Er möchte dich sehen. Er spricht von nichts anderem.“ „Oh!“ Sie stockte. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich wirklich nicht. Seitdem er hier ist, habe ich nicht eine Nacht gut durchgeschlafen.“ „Natürlich, ich verstehe.“ Miss Ming war gerührt von Doktor Volospions Traurigkeit, eine Stimmung, die nur selten bei ihm auftrat. Seine sonst übliche Zuversicht schien wie weggeblasen zu sein. Mavis ging auf ihn zu. „Mach dir keine Sorgen, Doktor Volospion. Vielleicht ist es besser, wenn du gar nicht mehr
an den Gnom denkst.“ „Ich brauche den Gral. Ich bin versessen darauf. Und ich werde das Gefühl nicht los, daß er mich auf irgendeine Art hinters Licht führt.“ „Unmöglich. Du bist viel zu clever. Warum ist der Gral so wichtig für dich?“ Doktor Volospion zog sich einen Schritt von ihr zurück. „Tut mir leid“, sagte sie. „Ich wollte dich nicht bedrängen.“ „Nur du kannst mir helfen, Miss Ming.“ Sein unverhohlenes Flehen bewegte sie zu höchstem Mitleid. „Oh...“ „Ich glaube, du könntest ihn überzeugen. Ich kann es nicht.“ Sie ließ sich gegen ihren Instinkt erweichen. „Nun, vielleicht kann ich auf einen Sprung bei ihm vorbeigehen... vielleicht hilft es mir auch - den bösen Geist auszutreiben. Du verstehst.“ Er sprach leise. „Ich wäre dir sehr dankbar, Miss Ming. Wir sollten unverzüglich gehen.“ Sie zögerte. Dann tätschelte sie seinen Arm. „Na gut. Ich brauche nur ein paar Minuten zum Anziehen.“ Mit einer tiefen Verbeugung verließ Doktor Volospion das Zimmer. Miss Ming machte sich Gedanken über ihre Garderobe. Auf der einen Seite, dachte sie, wäre ein unverfänglicher Overall das beste, um Mr. Blooms Liebesglut ein wenig abzukühlen. Ein anderer Impuls riet ihr zu aufreizendster Kleidung, um ihre Eitelkeit zu befriedigen. Schließlich kam sie zu einem Kompromiß und zog ein blumiges Hängerchen an, das ihre pummeligen Formen verbergen sollte. Mutig eilte sie zu Doktor Volospion hinaus, der im Korridor wartete. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg in die Menagerie. Als sie die steinernen Treppenstufen hinabstiegen, bemerkte sie: „Erstaunlich, ich fühle mich recht heiter, fast fröhlich!“ Sie passierten die Reihen der ausgestellten Trophäen der Frömmigkeit, gingen an Knochen, Stöcken und Stoffstückchen vorbei, sowie an großen Kesseln, Götzen, Masken und Waffen, an Kronen und Kisten, Schriftrollen, Gedenktafeln und Büchern, Gebetsmühlen, Kristallen und so weiter. Schließlich kamen sie an die Tür der ersten Menagerieabteilung, dem Haus der Juden. „Ich wollte ihn ursprünglich hier unterbringen“, sagte Doktor Volospion, als sie an den Insassen vorbeigingen, die anfingen zu toben, zu klagen und zu singen. Manche zerrissen ihre Kleidung, andere wiederum kehrten Volospion und Mavis einfach den Rücken zu. „Aber schließlich habe ich mich doch für das Haus konfessionsloser Propheten entschieden.“ „Mir ist noch gar nicht aufgefallen, wie groß deine Sammlung ist, Wie du weißt, habe ich bis jetzt nur Teile davon gesehen.“ Miss Ming machte, so gut sie konnte, Konversation. Offensichtlich beunruhigte sie der Ort. „Die Sammlung wird immer größer, und man bemerkt es kaum“, sagte Doktor Volospion. „Viele Leute mit einer messianischen Veranlagung hegen ein besonderes Interesse an der Zukunft. Deshalb wächst unweigerlich der Anteil der Propheten, die ängstlich darauf warten, daß sich ihre jeweilige Version der Zukunft erfüllt. Weil viele häufig enttäuscht werden, sind sie froh, bei mir Zuflucht zu finden.“ Sie gingen durch eine andere Tür. „Es scheint, als wäre ein Martyrium auch nicht viel schlechter als Anerkennung“, sagte er. Sie gingen durch Dutzende verschiedener Häuser und erreichten schließlich die Wohnstätte des Feuerclowns. Sie war einer Wüste nachempfunden, über der ständig eine sengende Sonne brannte. „Er wollte mir nicht sagen, welche Umgebung er bevorzugt“, flüsterte Doktor Volospion. „Deshalb habe ich etwas passendes für ihn ausgesucht. Bei meinen Propheten ist dies die Umgebung mit der größten Nachfrage. Das hast du sicherlich bemerkt.“ Emanuel Bloom saß in seinem Clownskostüm auf einem Felsen in der Mitte des Energiekäfigs. Seine Schminke war ein wenig verlaufen, und es schien, als habe er geweint. Trotzdem gab er sich nicht gerade schlechtgelaunt. Er hatte die beiden offensichtlich nicht
bemerkt. Er rezitierte ein Gedicht für sich allein. ... Wurden Form und gingen auf wie Blumen. Und ich sah die Stunden, Als Mädchen, und die Tage, als Knechte, Und wiederum die sanften Nächte, Als müde Frauen den eignen Seelen sich vermählten, Mit den Augen von Gequälten. Und über diese Lebenden und die, die starben, Fiel ein Glanz in allen Farben, Stolzer als das Licht, das von Himmel oder Erde fällt, Und erhellte so die Zukunft dieser Welt. Eine Frau - wie das trotzende Lieben, doch kaum Ein Ding aus vergänglichem Traum... Und wie das Hoffen, doch haltend an der Tugend... Und wie die Freude oder Jugend, Doch mit dem Fuße fest auf Fels... und wie das, Was längst der Mann vergaß: Glaube, Unschuld, edle Ziele, fleißger Frieden... Er hatte sie gesehen. Seine großen, blauen Augen zwinkerten. Er richtete den steifen, kleinen Körper auf. Seine zwitschernde Vogelstimme nahm einen anderen Ton an. „Und doch wie nichts hinieden...“ Er legte einen krummen Finger an die schmalen Lippen. Er neigte den geschminkten Kopf zur Seite. Mavis Ming räusperte sich. Doktor Volospion schob sie näher an den Käfig. Der Feuerclown ergriff das Wort. „Guinevere ist also endlich zu ihrem Lancelot gekommen oder ist es Kundry, die mich ihren Parzival nennt? Zauberin, du hältst mich in deinem Bann. Befehle deinem Diener, mich freizulassen. Dafür werde ich dich von dem Übel befreien, das dich mit Fesseln hält, die stärker sind als dieser Käfig!“ Miss Mings Lächeln war gekünstelt. „Warum reden Sie nicht anständig, Mr. Bloom? Das ist doch kindisch. Wie dem auch sei, Sie wissen, daß Doktor Volospion nicht mein Diener ist.“ Sie war sehr blaß. Mr. Bloom überquerte eine Sanddüne und trat bis an den Rand des Käfigs. „Diese KlingsorImitation ist nicht dein Meister, da kannst du sicher sein!“ „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen.“ Ihre Stimme zitterte. Er preßte den winzigen Körper gegen den Energieschirm. „Ich muß befreit werden“, sagte er. „Ich habe keine Mission hier am Ende der Zeit. Ich muß meine Suche wiederaufnehmen, vielleicht in einem anderen Universum, wo der Glaube noch blüht.“ Doktor Volospion kam nach vorn. „Ich habe Miss Ming hierhergebracht, so wie Sie es nachdrücklich verlangten. Sie haben mit ihr gesprochen. Würden Sie mir nun bitte Ihren Gral geben... ?“ Mr. Bloom wurde hitzig. „Ich habe dir schon erklärt, du Halb-Dämon, daß du ihn nicht behalten kannst, selbst wenn es mir gelänge, dir den Gral zu übergeben. Nur solche, die reinen Geistes sind, dürfen ihn verwahren. Würde ich mich auf diesen Handel einlassen, verlöre ich den Gral für immer. Das wird nie geschehen!“ „Ihre Einwände entbehren jeder Grundlage, wie mir scheint.“ Doktor Volospion blieb vom Zorn des Feuerclowns unbeeindruckt. „Ihr Glaube, Mr. Bloom, ist eine Sache. Die Wahrheit allerdings steht auf einem anderen Blatt! Der Glaube stirbt, die Gegenstände des Glaubens bleiben. Davon konnten Sie sich in meinem Museum überzeugen.“ „Diese Dinge sind wertlos ohne den Glauben!“ „Für mich haben sie einen Wert. Deshalb sammle ich sie. Ich möchte den Gral haben, um ihn zumindest mit meinem eigenen vergleichen zu können.“ „Du weißt, daß deiner eine Fälschung ist“, sagte der Feuerclown. „Das sehe ich doch.“ „Ich werde entscheiden, welcher von beiden falsch ist, wenn Ihr Gral in meinem Besitz ist. Ich weiß, er ist auf dem Schiff, obwohl Sie es bestreiten.“ „Dort ist er nicht. Er manifestiert sich nur zu bestimmten Zeiten.“ Doktor Volospion ließ einen Teil seines Ärgers durchblicken. „Miss Ming...“ „Bitte, Mr. Bloom, geben Sie ihm den Gral“, sagte Miss Ming mit ihrer schmeichelhaftesten Stimme. „Dann wird er Sie gehen lassen.“ Der Feuerclown war belustigt. „Wenn mir etwas daran läge, könnte ich jederzeit gehen. Aber ich habe zwei Versprechen einzuhalten. Ich sagte, daß ich dich nicht mit Gewalt fortschleppen
und daß ich nur mit dir diesen Planeten verlassen würde.“ „Ihre großspurigen Wünsche haben sich als Seifenblasen erwiesen“, sagte Doktor Volospion. Er legte die Hand an den Energieschirm. „Da.“ Mr. Bloom fuhr mit einer Hand durch seinen kastanienbraunen Mop und richtete seine Worte wieder an Miss Ming. „Du schadest dir, wenn du diesem Schuft hilfst und diesen idiotischen Tonfall annimmst.“ „Jetzt reicht’s mir aber!“ Es war deutlich zu sehen, daß Mavis Mings Beine zitterten. „Hier bleibe ich nicht länger, selbst dir nicht zu Gefallen, Doktor Volospion! Es reicht. Ich kann manches ertragen, aber das geht zu weit.“ „Sei still!“ Die Stimme des Feuerclowns war leise, aber energisch. „Höre auf deine Seele. Sie sagt dir, was ich dir sage.“ „Miss Ming!“ Doktor Volospion ergriff ihren Arm, als er bemerkte, daß sie fliehen wollte. „Laß mich nicht im Stich! Ich muß diesen Gral haben...“ „Wenn ich dich erlöst habe, schöne Mavis, wirst du den Gral sehen“, flüsterte der Feuerclown. „Aber einer wie er wird ihn nie zu Gesicht bekommen! Komm mit mir, und ich zeige dir mehr als nur Geheimnisse.“ Sie geriet in Panik. „Oh, Himmel!“ Sie konnte den schrecklichen Druck, den sie von beiden Seiten spürte, nicht mehr ertragen. Sie wollte sich aus Volospions Griff befreien. „Ich halte es nicht aus. Ich kann nicht mehr!“ „Miss Ming!“ krächzte Volospion verzweifelt. „Du hast versprochen, mir zu helfen.“ „Komm mit mir“, rief der Feuerclown. Sie kämpfte und zerrte am Ärmel ihres Hängerchens, den Doktor Volospion gepackt hielt. „Ihr könnt machen, was ihr wollt. Ich will damit nichts zu tun haben.“ Sie war hysterisch. Sie kratzte Volospions Hand, bis er endlich losließ. Sie rannte weg. Sie rannte wie wahnsinnig an den Käfigen vorbei, in denen Propheten schrien, winselten und zeterten. „Laßt mich in Ruhe! Laßt mich in Ruhe!“ Und dann sagte sie, kurz bevor sich eine Tür hinter ihr schloß: „Es tut mir leid! Es tut mir leid!“
14. KAPITEL IN DEM MISS MING GELEGENHEIT HAT, DIE GUNST IHRES BESCHÜTZERS ZURÜCKZUGEWINNEN Als Miss Ming erwachte und sich in der weichen, rosafarbenen Sicherheit ihres Betts vorfand, in das sie von Panik besessen geflüchtet war, nachdem sie Doktor Volospion gekratzt hatte, stellte sie überrascht fest, daß sie sich ausgeruht und zuversichtlich fühlte. Selbst Volospions Wut, die sie ebenso fürchtete wie die Liebe des Feuerclowns, konnte ihr nichts anhaben. „Was kann er schon tun?“ fragte sie sich. Sie hatte immer noch das Hängerchen an. Sie untersuchte den zerrissenen Ärmel und den blauen Fleck am Arm. Sie glaubte nicht, daß der Kratzer, den sie Doktor Volospion beigebracht hatte, schlimmer war als der Bluterguß, der auf sein Konto ging. Aber dann erinnerte sie sich an die Erfahrung, daß Männer solche Dinge anders beurteilten. „Warum fühle ich mich so gut? Wegen des Kampfes?“ Sie empfand fast Heiterkeit. „Vielleicht, weil jetzt alles vorbei ist. Ich habe versucht, ihn zufriedenzustellen. Ich hab’s wirklich versucht. Aber Volospion kann ein Mädchen durcheinanderbringen wie kein anderer. Ich schätze, die kleine Mavis muß sich ein neues Bettchen suchen.“ Sie zog das Hängerchen aus und ging unter die Dusche. „Na, eine Veränderung war sowieso an der Zeit. Und ich bin nicht wild darauf, mit diesem verrückten Zwerg im Keller unter
einem Dach zu leben.“ Das Duschbad erfrischte sie. „Ich werde ausgehen. Ich werde ein paar Leute besuchen.“ Sie stützte den Ellbogen mit der Handfläche und das Kinn mit den Fingerspitzen. „Nun, wen soll ich zuerst besuchen?“ Sie zählte ihre Bekanntschaften auf und fragte sich, wer ihr wohl der Sympathischste war. Wer ihren Besuch schätzen würde. Aber dann überfiel sie plötzlich wieder die Schwermut. Sie kam so unerwartet, daß sie sich an den Rand des ungemachten Bettes setzen mußte und das Handtuch zu Boden fallen ließ. „Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Was in aller Welt ist nur los mit dir, Mavis?“ Ein Klopfen an der Tür unterbrach die Katharsis, noch bevor sie überhaupt anständig einsetzen konnte. „Ja?“ „Miss Ming?“ Es war natürlich Doktor Volospion. „Ja, hier bin ich.“ Sie nahm sich zusammen. Sie schlüpfte in den Morgenmantel. „Jetzt werde ich wohl meine Abreibung kriegen. Nun, ich werde ihm sagen, daß ich gehe.“ Mit lauterer Stimme sagte sie: „Herein!“ Aber er lächelte beim Eintreten. Sie sah ihn mit nervösem Erstaunen an. Er trug ein Gewand in Scharlachrot und Grün. Auf dem Kopf saß enganliegend eine dunkelgrüne Kapuze, die seine scharfen Gesichtszüge betonte. „Geht es dir gut, Miss Ming?“ Während er sprach, zog er dunkelgrüne Handschuhe an. „Besser als erwartet. Ich wollte...“ „Ich komme, um mich zu entschuldigen“, sagte er. Bevor er den Handschuh übergestülpt hatte, betrachtete Mavis seine Hand. Natürlich war nichts von einer Kratzwunde zu sehen. „Oh“, sagte sie. Sie war verblüfft. „Hätte ich genau gewußt, wie sehr dir dieser Mr. Bloom zusetzt, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dich einer solchen Tortur auszusetzen“, sagte er. „Nun, wie konntest du es auch wissen?“ Sie biß sich auf die Lippe und spürte vage, wie ihr fester Vorsatz zerbröckelte. „Die Schuld liegt einzig und allein bei mir.“ Er strahlte wieder seine alte Autorität aus. Das tröstete sie. „Ich fürchte, ich habe die Beherrschung verloren.“ Ihre Stimme klang zaghaft. „Das mit der Hand tut mir leid.“ „Ich habe Schlimmeres verdient.“ Seine Stimme klang warm, und wie immer brachte sie Mavis zum Schnurren. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, hätte sie jetzt den Rücken zurückgebogen und ihren Körper an Volospion gerieben. „Dieser Bloom macht mich einfach krank, Doktor Volospion. Ich weiß nicht, woran es liegt. Ich schätze, ich habe alles verdorben, stimmt’s?“ „Nein, nein“, beschwichtigte er sie. „Habt ihr miteinander gesprochen? Nachdem ich weggegangen bin?“ „Ein wenig. Er bleibt unnachgiebig.“ „Er will dir den Gral nicht geben?“ „Leider nein...“ „Es war mein Fehler. Es tut mir wirklich leid.“ Sie reagierte auf ihn wie hypnotisiert. „Es bedrückt mich zutiefst. Ich weiß nicht, wie ich ohne deine Hilfe in dieser Sache zurecht komme.“ „Du weißt, wie gern ich dir helfen würde.“ Die Worte sprudelten aus ihr hervor, als hätte ein anderer sie gesprochen. „Wenn es etwas für mich zu tun gibt, was mein Verhalten gestern nacht wiedergutmacht...“ „Ich möchte dich nicht weiteren Peinlichkeiten aussetzen.“ Er drehte sich um und wollte zur
Tür gehen. „Oh, nein!“ Sie faßte sich ein Herz. „Ich kann ihm einfach nicht mehr gegenübertreten. Aber wenn ich etwas anderes tun kann...“ „Ich wüßte nicht was. Auf Wiedersehen, Miss Ming.“ „Es muß doch irgend etwas geben.“ Er blieb vor der Tür stehen und runzelte die Stirn. „Nun, ich denke, du könntest vielleicht den Gral für mich holen.“ „Wie?“ „Er sagte, dir sei es erlaubt, den Gral zu sehen. Erinnerst du dich?“ „Ich habe nicht auf seine Worte geachtet. Ich hatte zu große Angst.“ „Das verstehe ich. Auf irgendeine Weise kontrolliert er die Schutzvorrichtung des Schiffes von seinem Käfig aus. Als du gingst, hat er mir noch einmal gesagt, er würde dir erlauben, den Gral zu sehen. Mir nicht. Er glaubt wohl, daß du ihn als spirituellen Erretter anerkennst, wenn du erst den Gral gesehen hast.“ „Du meinst also, ich kann sein Schiff betreten und den Gral dort finden?“ „Genau. Wenn er in meinem Besitz ist, werde ich Bloom gehen lassen. Dann wärst du ihn los.“ „Aber er wird Verdacht schöpfen.“ „Seine Verliebtheit macht ihn blind.“ „Ich brauche ihn nicht wiederzusehen?“ Sie sprach so energisch wie möglich. „Das könnte ich nämlich nicht.“ „Ich werde dich nie mehr bitten, in die Menagerie zu gehen. Außerdem wird Bloom den Planeten schon bald verlassen haben.“ „Aber das wäre natürlich Diebstahl“, sagte sie. „Nenn es lieber Entschädigung für das Unheil, das er hier angerichtet hat. Nenn es Gerechtigkeit.“ „Ja. Das ist fair.“ „Aber nein“, er sah zärtlich auf sie herab, „ich verlange zu viel von dir.“ „Das tust du nicht, wirklich.“ Er hatte Mut in ihr geweckt. „Laß mich helfen.“ „Bloom hat mir versichert, daß er die Sperre vor dem Schiff nur für dich aufheben würde.“ „Dann hängt wohl alles von Mavis ab, oder?“ „Wenn du es dir zutraust, Miss Ming, und mit dem Becher zurückkehrst, werde ich dich reichlich belohnen.“ „Mir genügt es, dir zu helfen.“ Aber sie blickte auf die Energieringe an seinen behandschuhten Fingern. „Wann soll ich gehen?“ Sie holte Luft. „Gefährlich wird es doch nicht sein, hoffe ich...“ „Absolut nicht. Er liebt dich aufrichtig, Miss Ming. Natürlich, wenn dir diese Aktion wie ein Betrug an Mr. Bloom vorkommt...“ „Betrug? Ich habe mit ihm keine Vereinbarungen getroffen.“ Seine Stimme war voller Genugtuung. „Du weißt, der Gral würde mir viel bedeuten. Meine Sammlung trägt sehr zu meinem Glück bei. Wenn ich fürchten müßte, daß eine meiner Reliquien nicht authentisch ist, könnte ich nie wieder zufrieden sein.“ „Vertraue deiner Mavis.“ Ihre Augen fingen an zu leuchten. „Du besitzt einen großen und bewunderungswürdigen Edelmut“, sagte er. Dieses Lob löste eine Welle des Wohlgefühls in ihr aus.
15. KAPITEL IN DEM MISS MAVIS MING DIE SUCHE NACH DEM HEILIGEN GRAL
AUFNIMMT Doktor Volospion hatte an seinem Kraftfeldschirm keine Änderungen vorgenommen, seit der Feuerclown ins Schloß gekommen war. Mavis Ming schlich durch das ewige Zwielicht des Schloßhofes auf das zackige Loch in der Eiswand zu. Auf der anderen Seite des Loches sah sie das scharlachrote Raumschiff Emanuel Blooms. Vorsichtig schlüpfte sie durch die Lücke und lauschte auf das Schweigen um sie herum. Doktor Volospion hätte sie wenigstens bis hierher begleiten können. Aber er befürchtete, der Feuerclown könnte Verdacht wittern, und dann würde er aller Wahrscheinlichkeit nach den Schutz des Schiffes aktivieren. Das wie eine Träne aussehende Schiff bildete eine rote Silhouette gegen den Hintergrund von dunklen Bäumen. Die Luftschleuse war noch geöffnet, die Rampe herausgefahren. Mavis blieb einen Augenblick lang stehen und sah sich das Schiff an. Von ihrem Standpunkt aus war es unmöglich, in das Schiffsinnere zu sehen, aber sie konnte einen warmen, modrigen und leicht rauchigen Geruch wahrnehmen, der aus dem Eingang strömte. Man hätte fast meinen können, der Feuerclown hielte sich immer noch im Innern auf. Das Schiff roch nach seiner Anwesenheit. Miss Ming sprach laut, um das Schweigen zu brechen. „Hier kommt Mavis.“ Sie trug einen blauorangenen Kimono über einem Bikini, denn Doktor Volospion hatte sie darauf hingewiesen, daß es in Blooms Schiff unangenehm warm sein könnte. Sie stieg über die kristallbesetzte Rampe mühsam nach oben, zögerte vor dem Eingang und blinzelte hinein. Es war ihr, als flackerten hinter der Luftschleuse immer noch vereinzelte Feuer. „Huuhu!“ sagte sie. Sie leckte sich die Lippen. „Wer mag wohl der Herr dieses feinen Schlößchens sein?“ Sie sprach in der Sprache ihrer alten Lieblingsbücher, um sich zu beruhigen. „Werde ich meinen hübschen Prinzen hier finden? Oder einen häßlichen Riesen... ?“ Sie zitterte. Sie blickte zurück auf die Zinnen und Türme der düsteren Burg Volospions. Sie hoffte, ihren Beschützer zu sehen, aber das Schloß schien völlig verlassen zu sein. Sie holte tief Luft und betrat die Luftschleuse. Es war nicht ganz so warm, wie sie befürchtet hatte. Sie ging weiter ins Schiffsinnere und war überrascht, nichts Außergewöhnliches zu sehen. Es schien, als würde ein Feuer die große Kammer beleuchten, aber die eigentliche Lichtquelle war nicht auszumachen. Das rosige Licht warf ihren Schatten vergrößert und verzerrt auf die gegenüberliegende Wand. Die Kammer war in Unordnung, als hätte der Aufprall bei der Landung alles durcheinandergeworfen. Kisten, Papiere, Bücher und Bilder lagen verstreut herum. Kleine Plastiken lagen verbeult oder zerbrochen auf dem Teppichboden. Vorhänge, die einst zur Verdunkelung der Bullaugen gedient hatten, hingen schief an den runden Wänden. „Was für ein Gerumpel!“ Ihre Stimme war jetzt selbstsicherer. Offenbar benutzte Mr. Bloom diesen Ort als Lagerraum, denn nicht ein Möbelstück war zu sehen. Sie stolperte über Kisten und Stoffballen, bis sie schließlich eine Stiege erreichte, die zu einer höhergelegenen Kammer führte. Doktor Volospion hatte gesagt, der Becher sei wahrscheinlich im Kontrollraum im oberen Teil des Schiffes zu finden. Mavis stieg hinauf, öffnete eine Luke und betrat einen kreisförmigen Raum, der ähnlich beleuchtet war wie der Lagerraum. Hier wirkte der flackernde Feuerschein allerdings so realistisch, daß sie nach einem offenen Kamin Ausschau hielt, um die Lichtquelle zu finden. Aber außer dem schwachen Geruch von brennendem Holz gab es keine Anzeichen für ein Feuer. „Mavis“, sagte sie bestimmt, „halte deine Phantasie unter Kontrolle!“ Wie sie richtig vermutet hatte, war dieser Raum das Wohnquartier des Feuerclowns. Da standen ein großes Bett, Regale, Schränke, ein Schreibpult, ein Sessel und ein Bildschirm, auf dem der Raumfahrer die Funktionen des Schiffs ablesen konnte.
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte umher. An einer Wand, neben dem Fußende des Bettes, stand eine große metallische Zikkurat, die allem Anschein nach als Sockel für einen Gegenstand diente. War das normalerweise der Platz des Bechers? Wenn ja, so hatte Emanuel Bloom ihn offenbar versteckt, was ihre Aufgabe erschweren würde. An der Wand hingen verschiedene Bilder: Gemälde, Fotografien und Holografien von Männern in Kostümen unterschiedlicher Epochen. Ebenfalls an der Wand befand sich ein schmales Regal, das ungefähr einen halben Meter lang war. Es war leer. Miss Ming tastete darüber hinweg und stieß auf einen dünnen, langen Gegenstand, der sich wie ein Stock anfühlte. Neugierig rollte sie ihn nach vorn, bis er ihr entgegenfiel. Sie war überrascht. Sie hielt eine altmodische Reitgerte mit ausgefranstem Ende in der Hand. Der silberne Griff war kunstvoll gearbeitet und stellte einen Frauenkopf dar. Mavis war beeindruckt von dem unergründlichen, ruhigen Ausdruck dieses Gesichts, das sie an eine Jugendstilzeichnung erinnerte. Der Kontrast zwischen dem Ausdruck der Frau und dem Zweck der Peitsche verunsicherte Mavis So sehr, daß sie das Ding hastig zurücklegte. Sie wünschte sich, das Licht wäre stärker gewesen, und fing mit der Suche nach dem Becher oder Pokal an (Doktor Volospions Vager Beschreibung folgend). Zuerst sah sie unterm Bett nach. Aber da fand Mavis bloß ein paar Bücher und Manuskripte, die größtenteils verstaubt waren. „Das ganze Schiff könnte einen anständigen Frühjahrsputz vertragen!“ Sie stöberte durch Schränke und Schubladen und fand eine Sammlung von Kleidungsstücken, die denen der Männer glichen, deren Bilder die Wand schmückten. Der intime Einblick in den persönlichen Besitz Mr. Blooms steigerte nicht nur ihre Neugier auf den Mann - seine Kleider waren für Mavis viel interessanter als all sein Gerede -, sondern ließ auch ihre Zuneigung für ihn wachsen. Sie fühlte sich immer unwohler dabei, in seinen Sachen herumzustöbern. Die Suche nach dem Pokal kam ihr mehr und mehr wie Diebstahl vor. Sie beeilte sich nun, den Gral zu finden, um das Schiff so schnell wie möglich verlassen zu können. Hätte sie Doktor Volospion kein Versprechen gegeben, wäre sie zu diesem Zeitpunkt von Bord gegangen. „Du bist dumm, Mavis. Das sagen alle. Aber hörst du jemals zu?“ Sie öffnete eine Mahagonitruhe mit Silber- und Perlmutteinlagen. Die Scharniere quietschten, und im selben Augenblick glaubte Mavis, von unten ein schwaches Geräusch zu hören. Sie hielt den Atem an und lauschte, aber es blieb still. Sie sah sofort, daß in der Truhe nur vergilbte Manuskripte lagen. Miss Ming entschloß sich, noch einmal im Lagerraum nachzusehen. Die Neugier, die sie zunächst angetrieben hatte, war verschwunden und wurde durch eine ihr vertraute Panik ersetzt. Sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Und vom Schiff schienen im Gleichtakt eine Reihe von Erschütterungen auszugehen. Miss Ming eilte zurück zur Stiege und öffnete die Luke. Sie hatte die Hälfte der Stufen zurückgelegt, als sich das Schiff plötzlich wie ein Tier schüttelte und zu röhren anfing. Miss Ming wurde gegen die Stufen gepreßt und hin- und hergeschleudert. Sie klammerte sich am Geländer fest. Das Raumschiff hob ab. Mavis schwitzte und kletterte mit letzter Anstrengung zurück in die Wohnquartiere, wo sie mehr Sicherheit erhoffte. Wäre ihr Hals nicht zugeschnürt gewesen, hätte sie laut losgeschrien. Sie wußte, das Schiff war aus eigener Kraft gestartet. Vielleicht hatte sie es sogar selbst aktiviert. Sie mußte herausfinden, wie es zu steuern war. Sonst würde sie in den Kosmos hinaustreiben und bis zum Tod herumirren. Und sie würde allein sein. Der letzte Gedanke ärgerte sie am meisten. Sie erreichte die Kabine und kroch über den staubigen Teppich, während der Druck zunahm. Sie stieg aufs Bett, in der Hoffnung, daß es
den Beschleunigungsdruck absorbierte. Die Eindrücke, die sie hatte, waren vergleichbar mit denen, die ihr während ihrer Zeitreise widerfahren waren. Nur hatten sie damals nicht so viel Angst bei ihr ausgelöst. Die Aussicht auf das, was außerhalb der Erdanziehung auf sie wartete, war unerträglich. Sie wußte, im Universum waren nicht viele Planeten übriggeblieben. Außer der Erde gab es vielleicht überhaupt keinen mehr. Der Druck ließ nach, aber Mavis preßte immer noch das Gesicht aufs Kissen („Die Laken könnten auch mal gewaschen werden“, dachte sie). Und sie bewegte sich auch nicht, als ihr klar wurde, daß das Schiff durch den freien Raum glitt. „Oh, auf was hast du dich bloß eingelassen?“ sagte sie. „Diesmal haben sie dich aber wirklich reingelegt, mein Mädchen.“ Sie fragte sich, ob Doktor Volospion sie aus irgendwelchen Gründen absichtlich in den Raum geschickt hatte. Sie kannte seine rachsüchtige Art. Konnte er diese dumme Streiterei tatsächlich so ernst genommen haben? Hatte er sie wegen eines kleinen Kratzers auf der Hand in die Falle, in die Bestrafung gelockt? „Was für ein Hundesohn! Alle miteinander sind sie Hundesöhne!“ Und wie idiotisch hatte sie sich selbst benommen! Traue nie einem Mann, das ist die Lehre, die man daraus zieht. Die Männer vergelten es einem nicht. „Typisch Mavis“, fuhr sie fort, „der ganzen Welt gegenüber treuherzig. Und das ist der Dank dafür!“ Aber ihre Stimme klang nicht überzeugt. Ihr Selbstmitleid war halbherzig. Sie spürte, daß diese echte Lebensbedrohung im Grunde kein durchweg schlechtes Gefühl in ihr auslöste. Alle kleinen Ängste waren wie weggeblasen. Miss Ming rollte sich im Bett zur Seite. Zumindest war das Schiff komfortabel genug. „Es ist wirklich gemütlich.“ Sie lächelte. „Wie eine kleine Höhle. Wie mein altes Mädchenzimmer mit den Büchern und Puppen.“ Sie lachte. „Tatsächlich fühle ich mich hier sicherer als irgendwo sonst. Es dürfte nicht schwer sein, zur Erde zurückzukehren - wenn ich es wünsche. Was kann einem die Erde schon bieten außer Täuschung, Heuchelei und Verrat?“ Sie schwang die Beine über den Bettrand. Sie musterte ihre neue Wohnung mit all den Spielsachen. „Ich glaube, es ist genau das, was ich immer schon wollte“, meinte sie. „Jetzt weißt du, daß ich die Wahrheit gesprochen habe!“ triumphierte die Stimme Emanuel Blooms, die aus den Schatten an der Decke zu kommen schien. „Mein Gott!“ sagte Miss Ming, als sie das volle Ausmaß von Doktor Volospions Betrug erkannte.
16. KAPITEL IN DEM DOKTOR VOLOSPION DIE GLÜCKWÜNSCHE SEINER BEKANNTEN ENTGEGENNIMMT UND DEN NEUGEWONNENEN SCHATZ FEIERT Lady Charlotina erhob sich von Doktor Volospions Bett und zerstörte rasch ihr Double (Doktor Volospion schlief nur mit Frauenpaaren). Dann berührte sie den Energiering, um sich mit weißem und kirschrotem Klatschmohn zu schmücken. Im Schatten des Baldachins lag Doktor Volospion und genoß seine diversen Siege. In den Händen hielt er einen wunderschönen Becher. Er drehte ihn und fuhr mit den Fingern über die Inschrift, die er nicht lesen konnte, denn sie war in uraltem Englisch abgefaßt. „Ich hoffe, du zweifelst nicht mehr an meiner Kraft, Lady Charlotina“, sagte er. Ihr Lächeln war schwach. Sie wußte, daß er auf Lord Jagged anspielte. Vielleicht wollte er ihr sogar eine vergleichende Stellungnahme entlocken. Aber ihr lag nichts daran, die Neugier Volospions zu befriedigen. Lord Jagged ist Lord Jagged, dachte sie.
„Ich hatte den Vorzug“, sagte sie, „deinen Plan von Anfang an mitzuverfolgen und zu sehen, wie glatt er lief. Ich bin stark beeindruckt. Zuerst hast du Miss Ming eingesperrt, dann Mr. Bloom ins Schloß gelockt, dann hast du ihn glauben lassen, seine Kraft wäre stark genug, dein Energiefeld zu zerstören. Und dann nahmst du ihn gefangen, denn du wußtest, daß er alles geben würde, um zu entkommen. Ursprünglich wolltest du ihn natürlich als Sammelobjekt behalten, aber dann erzählte er dir von diesem Gral...“ „Also bot ich ihm Miss Ming zum Tausch an. Deshalb glaubte er, sie ohne Gewalt von mir nehmen zu können. Außerdem bildete er sich ein, sie würde aus freien Stücken zu ihm kommen denn ich habe Mr. Bloom natürlich nicht gesagt, daß ich Miss Ming getäuscht hatte.“ „So viel List! Ich kann kaum folgen!“ Sie lachte. „Was für ein Duell! Der größte Zyniker unserer Welt (abgesehen von Lord Hai, der aber nicht richtig zählt) gegen den größten Idealisten des Universums!“ „Und der Zyniker hat gesiegt“, sagte Doktor Volospion. „Wie immer.“ „Nun, ein Zyniker würde natürlich diese Schlußfolgerung ziehen“, bemerkte sie. „Ich mochte diesen Mr. Bloom recht gern, obwohl er ein Langweiler war.“ „Wie Miss Ming.“ „Große Langweiler, alle beide.“ „Und mit einem Schlag habe ich die Welt von den zwei schrecklichsten Langweilern befreit“, sagte Doktor Volospion für den Fall, daß sie diesen Aspekt noch nicht bedacht hatte. „Genau.“ Gähnend ging Lady Charlotina an ein dunkles Fenster. „Du hast deinen Becher. Er hat seine Königin.“ „Genau.“ Lady Charlotina sah hinauf in den leeren Himmel. Nicht ein Stern leuchtete. Vielleicht waren alle ausgelöscht. Sie seufzte. „Ich bedaure bloß, daß ich Mr. Bloom nicht fragen konnte, was die Inschrift bedeutet“, sagte Doktor Volospion, als er den Becher vorsichtig auf dem Kissen absetzte. Er reckte sich. „Wahrscheinlich ist es eine Warnung vor der Neugier“, sagte sie. „Oder ein Angebot des ewigen Heils. Du kennst dich in diesen Dingen besser aus, Doktor Volospion.“ Eine Kapuze erschien auf seinem Kopf. Ein Gewand bildete sich. Schwarzer Samt und Nerz. „Oh ja, sie lauten oft ähnlich. Und oft sind sie enttäuschend gewöhnlich.“ „Es scheint ein sehr gewöhnlicher Becher zu sein.“ „Ein Gläubiger würde darin ein Zeichen wahrer Heiligkeit sehen“, entgegnete er sachverständig. Von draußen war ein Hallo zu hören. „Es ist Abu Thaleb“, sagte sie, und ihr Gesichtsausdruck belebte sich. „Und Argonherz Po und andere. Li Pao ist auch dabei, glaube ich. Wirst du sie empfangen?“ „Natürlich. Sie wollen bestimmt meinen Becher sehen.“ Lady Charlotina und Doktor Volospion verließen das Schlafzimmer und gingen hinunter in die Halle, um die Gäste zu begrüßen. Doktor Volospion stellte den Becher auf den Tisch. Die gestörte Neonbeleuchtung flackerte über das glänzende Silber der Reliquie. „Herrlich!“ sagte Abu Thaleb, wobei er nicht ganz soviel Begeisterung zeigte, wie Volospion erwartete. Der Kommissar von Bengalen strich ein paar Federn beiseite, die ihm über die Augen hingen. „Eine treffliche Belohnung für deine Dienste an uns, Doktor Volospion.“ Argonherz Po hielt ein Tablett in den großen Händen. Er stellte es nun neben dem Becher ab. „Ich bin in meinen Forschungen immer sehr gründlich“, sagte er, „und hoffe, du wirst dieses kleine Geschenk angemessen finden.“ Er entfernte ein Tuch, und enthüllte die köstlichen Appetitanreger. „Das ist ein Speer aus Dörrfleisch. Dieses Kreuz hat hauptsächlich das Aroma von Seezunge a la creme. Der Geschmack der Oblaten und des Blutes ist etwas umständlicher
zu beschreiben.“ „Welch ein eleganter Gedanke!“ Doktor Volospion nahm eins der Häppchen zwischen Zeigefinger und Daumen und knabberte höflich daran. Li Pao fragte: „Darf ich mir den Becher einmal ansehen?“ „Natürlich.“ Doktor Volospion machte eine großzügige Handbewegung. „Du kannst nicht zufällig lesen, Li Pao, oder? Zum Beispiel das Englisch des Zeitalters der Dämmerung?“ „Augenblick.“ Li Pao studierte die Inschrift. Er schüttelte den Kopf. „Ich bin ratlos.“ „Wie schade.“ „Bewirkt der Becher etwas?“ wollte Süßes Gestirn Mazis wissen und kam aus einer dunklen Ecke, wo er das Portrait Volospions betrachtet hatte. „Ich glaube nicht“, sagte Lady Charlotina. „Bis jetzt hat das Ding jedenfalls noch nichts getan.“ Doktor Volospion blickte irgendwie wehmütig auf den Becher. „Ich fürchte, ich werde ihn schon recht bald leid sein.“ Lady Charlotina stellte sich neben Doktor Volospion. „Vielleicht kann er den Raum ein wenig erhellen“, meinte sie tröstend. „Wir können nur hoffen“, sagte er.
17. KAPITEL IN DEM MISS MING ENDLICH EINEN ZUSTAND DER WÜRDE ERLANGT Emanuel Bloom schwang sich wie ein linkischer Papagei von der Decke herunter. Er trug weder Schminke noch Narrenkleid, sondern steckte wieder in dem schwarzen Samtanzug. Mavis Ming sah, daß er durch eine Luke gekommen war. Die Kontrollkabine lag offensichtlich eine Etage höher. „Meine Göttin“, sagte der Feuerclown. Sie saß immer noch auf dem Bettrand. Ihre Stimme war ohne Gefühl. „Sie haben mich für den Becher gekauft. Jetzt verstehe ich. Was für eine Närrin bin ich doch!“ „Nein, du nicht. Doktor Volospion hat mir den Handel vorgeschlagen, und so konnte ich mein Wort halten. Er verlangte den Becher von mir, den ich hier im Schiff aufbewahrte. Volospion hat ihn von mir bekommen.“ Er trippelte durch die Kabine und drehte an einem Regler. Rotgoldenes Licht erhellte das Wohnquartier. Alles fing an zu glühen, und jedes Stück Stoff, Holz oder Metall schien ein eigenes Leben zu haben. Mavis Ming stand auf und bewegte sich weg vom Bett. Sie zog den Kimono enger um ihre pendelnden Brüste, den dicken Bauch und die prallen Schenkel. „Hören Sie“, sagte sie. Noch einmal holte sie tief Luft. „Sie können mich nicht ernstlich wollen, Mr. Bloom. Ich bin die fette, alte Mavis. Ich bin häßlich. Ich bin dumm. Ich bin selbstsüchtig. Von mir läßt man besser die Finger. Mich läßt man lieber allein. Ich weiß, ich suche immer nach Gesellschaft. Aber das liegt einfach daran, daß ich nie bemerkt habe...“ Er hob ungeduldig seinen steifen rechten Arm. „Was hat das zu tun mit meiner Liebe zu dir? Was bedeutet es schon, wenn der dumme Volospion glaubt, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen zu haben? In Wirklichkeit hat er zwei Adler freigelassen.“ „Also“, sagte sie, „wenn...“ „Ich bin der Feuerclown! Ich bin Bloom, der Feuerclown! Ich lebe so lange wie das Menschengeschlecht. Die Zeit und den Raum habe ich zu meinem Spielplatz gemacht. Ich habe mit Chronons meine Spaße getrieben und das Multiversum zum Lachen gebracht. Ich habe die Wirklichkeit verspottet, und die Wirklichkeit ist zusammengeschrumpft, um wiedergeboren zu werden. Meine Augen haben ohne mit der Wimper zu zucken in das Herz
der Sterne geblickt, ich stand im Kern der Sonne und schmauste frisch entstandene Photonen. Ich bin Bloom, der ewig blühende Bloom. Bloom, der Phönix. Bloom, der Durchbrecher der Dunkelheit. Diese Augen hier, diese großen Glubschaugen - glaubst du nicht, daß sie genauso leicht in Seelen blicken können wie in die Sonnen? Können sie etwa nicht durch den Schmerzschleier blicken, der den wahren Wesenskern verhüllt wie Rauch das Feuer? Deshalb habe ich beschlossen, dich weise zu machen, dich zu versklaven, damit du wirkliche Freiheit erfährst.“ Miss Ming rang nach einer Antwort. „Das ist Kidnapping, und Kidnapping ist Kidnapping, egal wie Sie es nennen...“ Er ignorierte sie. „Von allen Wesen dieses öden Planeten warst du die einzige, die noch lebte. Oh, du lebtest wie ein ängstliches Häschen. Dein Geist verkümmerte. Dein Verstand war von Zynismus umstellt und weigerte sich, einen kurzen Blick auf die Wirklichkeit zu werfen - aus Angst, der Verstand könnte dich entblößen und verschlingen wie ein erwachender Löwe. Doch wenn sich gelegentlich die Wirklichkeit aufdrängte, wie hast du reagiert?“ „Hören Sie zu“, sagte sie. „Sie haben kein Recht...“ „Recht? Ich habe jedes Recht! Ich bin Bloom! Du bist meine Braut, meine Gemahlin, meine Königin, meine Göttin. Keine andere Frau verdient diese Auszeichnung!“ „Oh, Himmel!“ sagte sie. „Bitte lassen Sie mich gehen. Bitte, ich kann Ihnen nichts geben. Ich kann Sie nicht verstehen. Ich kann Sie nicht lieben.“ Sie fing an zu weinen. „Ich habe nie jemanden geliebt! Niemanden außer mich selbst.“ Seine Stimme war sanft. Er hüpfte ein paar Sätze näher an sie heran. „Du lügst, Miss Ming. Du liebst dich nicht.“ „Donny hat es aber gesagt. Früher oder später sagen es alle.“ „Wenn du dich lieben würdest, dann liebtest du mich“, sagte er. Ihre Stimme zitterte. „Wie schön...“ Mavis Ming verstand sich selbst nicht mehr. All die Platitüden, die sie von sich gegeben hatte, die ironischen, ausgeliehenen Sprüche, die leeren Worte, mit denen sie einer Welt hatte gefallen wollen, die sie als durchweg böse empfand, schienen ihr mit einem Mal sinnlos. Eine schreckliche Unsicherheit, die schmerzlicher war als alles bisher Erlittene, überfiel sie, und jede in der Vergangenheit gestammelte Phrase klang in ihrer eigentlichen Bedeutung in den Ohren Miss Mings nach: als Stöhnen des Schmerzes und Frustrationsgejammer, als Ruf nach Aufmerksamkeit und Seufzen vor Hunger. „Oh...“ Sie brachte kein Wort mehr hervor. Sie starrte Mr. Bloom an und versuchte, ihm auszuweichen, als er halb stolzierend, halb hüpfend auf sie zukam. Sein Kopf war zur Seite geneigt, und die starren, hervorquellenden Augen drückten hämische Freude aus. Schließlich verstellte ein großer Kleiderschrank Mavis den Weg. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Ohnmächtig mußte sie zusehen, wie Bloom eine zuckende Hand nach ihrem Gesicht ausstreckte. Die Hand war fest und zart, und ihre Wärme ließ Mavis erkennen, wie kalt und feucht ihre eigene Haut war. Sie drohte zusammenzubrechen. Nur die Wand im Rücken stützte sie. „Die Erde liegt nun weit hinter uns“, sagte er. „Wir werden nie dorthin zurückkehren. Sie verdient uns nicht.“ Er zeigte auf das Bett. „Geh dahin. Zieh die Sachen aus.“ Sie keuchte und versuchte ihm begreiflich zu machen, daß sie sich nicht bewegen konnte. Seine Absichten waren ihr nun gleich. Aber sie war zu erschöpft, um ihm zu gehorchen. „Müde...“, sagte sie schließlich. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Mit dieser Ausrede kommst du mir nicht davon, Madam.“ Er sprach freundlich. „Komm.“ In seiner schrillen, lächerlichen Stimme lag mehr Autorität, als ihr bisher bewußt geworden war. Sie ging auf das Bett zu. Sie stand da und sah auf die Laken. Auch sie schienen in dem
seltsamen Licht wie von Leben durchpulst zu sein. Miss Ming fühlte die kleinen krallenartigen Hände, die den Kimono von ihren Schultern streiften, den Gürtel auflösten und ihr das Kleid auszogen. Sie fühlte, wie er den Bikiniverschluß aufbrach und ihre Brüste heruntersackten. Sie verspürte keinen Ekel, aber auch keine Lust, als Bloom das Höschen über Hüften und Schenkel streifte. Trotzdem war sie sich ihrer Nacktheit bewußter als je zuvor. Völlig unbeteiligt sah sie auf ihr fettes, bleiches Fleisch und kommentierte seinen Zustand, als gehöre es nicht zu ihr: „Fett...“, murmelte sie. Blooms Stimme schien von weither zu kommen. „Der Körper ist unwichtig. Außerdem wird er nicht mehr lange fett bleiben.“ Sie fragte sich, ob sie während der Vergewaltigung, die ihr bevorstand, etwas empfinden würde. Bloom befahl ihr, sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett zu legen. Sie gehorchte. Sie hörte, wie er wegging. Vielleicht legte er die Kleider ab. Sie drehte den Kopf, um ihn zu sehen. Aber er hatte immer noch den abgewetzten Samtanzug an. Er holte etwas vom Regal. Sie sah, daß er die Peitsche in die Hand nahm, die sie schon vorher entdeckt hatte. Sie glaubte, Angst verspüren zu müssen, aber die Angst wollte nicht aufkommen. Sie sah ihm immer noch zu, als er zurückkam. Ihr Körper reagierte nicht. Ihre Vorstellungen von Geißelungen waren ganz anders gewesen. Was jetzt passierte, reizte weder ihre Phantasie noch ihren Körper. Sie wünschte, etwas empfinden zu können, selbst wenn es nur Furcht war. Statt dessen machte sich bei ihr eine Ruhe breit, ein Gefühl der Unausweichbarkeit, wie nie zuvor erlebt. „Jetzt werde ich dein Blut ans Licht bringen“, hörte sie ihn sagen. „Und mit ihm kommen alle Teufel heraus, um wie Unkraut in der Sonne zu verdorren. Und wenn ich fertig bin, wirst du Wiedergeburt, Freiheit und Macht über das Multiversum erfahren.“ War es ihrer eigenen Unzurechnungsfähigkeit zuzurechnen, daß sie den Wahnsinn seiner Worte nicht erkannte? Die Peitsche fiel auf ihr Fleisch. Sie traf ihren Po, und der Schmerz nahm ihr den Atem. Sie schrie nicht, aber sie keuchte. Die Peitsche traf wieder, knapp unter der ersten Stelle, und sie glaubte, von Flammen geschlagen zu werden. Ihr Körper wandte sich und versuchte zu entkommen, aber eine feste Hand hielt sie, und wieder fiel die Peitsche. Sie schrie nicht, stöhnte aber, als sie nach Luft schnappte. Der nächste Schlag traf die Schenkel, der nächste die Kniekehlen. Blooms Hände waren jetzt grob, während sie krampfhaft freizukommen versuchte. Er hielt sie am Nacken gepackt. Er drückte ihre Schulter herunter und quetschte das lose Fleisch ihrer Hüfte. Und jedesmal, wenn er zupackte, erfuhr sie neuen Schmerz. Mavis Ming glaubte, daß Emanuel Bloom ihr bei lebendigem Leib die Haut vom Körper ziehen wollte. Er packte sie an den Lippen, Ohren, Brüsten, an den Schamlippen und weichen Stellen der Schenkel, und jeder Griff war wie Feuer. Sie schrie und flehte ihn an, er möge aufhören. Sie vermutete, daß er, genau wie sie, das Geschehen nicht mehr unter Kontrolle hatte. Aber die Peitsche schlug mit einer Regelmäßigkeit zu, die selbst diesen Trost zunichte machte. Und schließlich, als ihr ganzer Körper brannte, lag sie still und ohne Gegenwehr. Langsam nahm das Feuer in seiner Intensität ab, und ihr war, als fänden Körper und Geist wieder zueinander. Diese Erfahrung kannte sie noch nicht. Emanuel Bloom sagte kein Wort. Sie hörte, wie er die Kammer durchquerte und die Reitgerte zurücklegte. Sie atmete tief und gleichmäßig, wie im Schlaf. Das Bewußtsein ihres Körpers ließ in ihr ein unerklärliches Gefühl entstehen. Sie drehte den Kopf, um Bloom nachzusehen, und die Bewegung war schmerzhaft. „Ich fühle...“ Ihre Stimme war matt. Er stand da mit steif herunterhängenden Armen. Sein Kopf hing schief auf den Schultern. Der
Gesichtsausdruck war zärtlich und erwartungsvoll. Sie fand keine Worte. „Es ist dein Stolz“, sagte er. Er streckte die Hand aus und streichelte ihr Gesicht. „Ich liebe dich“, sagte er. „Ich liebe dich.“ Sie fing an zu weinen. Er half ihr beim Aufstehen und führte sie zu einem ovalen Spiegel, in dem sie ihren Körper betrachten konnte. Es schien, als sei er ein Gitterwerk aus Blutergüssen. Sie sah, an welchen Stellen Bloom ihre Schultern und Brüste berührt hatte. Der Schmerz war ohne Gewimmer kaum zu ertragen, aber Mavis biß die Zähne aufeinander. „Wirst du es noch einmal tun?“ Es klang fast wie eine Bitte. Er schüttelte den kleinen Kopf. Sie ging zurück zum Bett. Ihr Rücken war trotz der Schmerzen gerade. Einen solch würdevollen Gang hatte sie nie zuvor gehabt. „Warum hast du das getan?“ „Auf diese Weise? Vielleicht, weil es mir an Geduld mangelt. Es gehört zu meinem Charakter. Es ging schnell.“ Er lachte. „Warum ich es überhaupt getan habe? Weil ich dich liebe. Weil ich dir zeigen wollte, welche Frau du bist, welche Persönlichkeit in dir steckt. Ich habe die Schale zerstört.“ „Wird es bleiben - das Gefühl?“ „Nur die Narben verschwinden. An dir liegt es, ob das andere bleibt. Willst du meine Frau werden?“ Sie lächelte. „Ja.“ „Nun denn, so war meine Expedition doch noch ein Erfolg. Erfolgreicher, als ich gehofft hatte. Oh, welche Freuden werden wir teilen, welche Wunder werde ich dir zeigen! Keine Frau kann sich Schöneres wünschen, als die Gemahlin Blooms zu sein, des guten Soldaten, des Helden der Ewigkeit, des Meisters des Multiversums!“ „Und mein Meister.“ „So wie du meine Meisterin bist, Mavis Ming.“ Er fiel mit einer seltsamen, spastischen Bewegung vor ihr auf die Knie. „Auf ewig. Wirst du bei mir bleiben? Ich könnte dich in ein oder zwei Stunden zurückbringen.“ „Ich bleibe“, sagte sie. „Du hast für mich so viel geopfert. Diesen Becher. Er war dein ganzer Stolz.“ Er sah sie verschämt an. „Volospion hat den Becher verlangt, den ich im Schiff aufbewahre. Den Heiligen Gral konnte ich ihm nicht geben, denn es liegt nicht an mir, ihn zu verschenken. Allerdings habe ich ihm etwas gegeben, was mir fast genauso viel bedeutet. Wenn Doktor Volospion jemals die Inschrift auf diesem Becher entziffern kann, wird er entdecken, daß der Pokal 1980 von der Bäckermeisterinnung an Leonard Bloom verliehen wurde - und zwar für das beste Knüppelbrot auf der jährlichen Backwarenausstellung von Whitechapel, London. Er war ein sehr guter Bäcker - mein Vater. Ich liebte ihn. Ich habe den Pokal während all meiner Reisen durch die Zeitströme bei mir gehabt. Er war das Wertvollste, was ich besaß.“ „Du besitzt also gar nicht den Gral?“ Sie lächelte. „Die Geschichte gehörte zu deinem Plan. Du hast vorgegeben, ihn zu besitzen, und so getan, als wärst du machtlos. Du hast Doktor Volospion an der Nase herumgeführt.“ „Genau wie er mich. Wir sind beide zufrieden, dehn es ist unwahrscheinlich, daß er meine List jemals durchschauen wird. Er hält sich zweifellos für einen tollen Burschen! Wir sind alle zufrieden!“ „Und jetzt... ?“ fragte sie. „Und jetzt muß ich dich allein lassen“, sagte er. „Ich muß das Schiff steuern. Ich zeige dir, was vom Universum übriggeblieben ist. Dann führe ich dich durch die Mitte des hellsten Sterns in die viel größere Weite des Multiversums! Dort werden wir andere inspirieren können. Und wenn wir kein Leben auf unseren Wanderungen antreffen sollten, liegt es in
unserer Macht, neues Leben zu erschaffen. Denn ich bin der Feuerclown. Ich bin die Stimme der Sonne! Aha! Schau! Auch du hast jetzt diese Macht. Das, meine Liebe, ist Gnade. Das ist unsere Belohnung!“ Die Kabine wurde plötzlich von einem goldenen Licht erhellt. Ein Strahl drang durch die Schiffshülle ins Innere und fiel auf den Zikkuratsockel am Fuße des Bettes. Ein Duft wie von süßen Frühlingsblumen nach einem Regenschauer lag in der Kabine, und dann erschien auf der Zikkurat ein Kristallbecher, bis zum Rand gefüllt mit einer roten Flüssigkeit. Scharlachrote Strahlen brachen sich hundertfach im Kristall und blendeten Mavis. Obwohl sie nichts hören konnte, vernahm sie den Klang einer tönenden, zarten Musik. Wie unter Hypnose stand sie vom Bett auf, kniete auf dem Boden und starrte ehrfürchtig in den Kelch. Hinter ihr kicherte der Feuerclown. Dann kniete er sich neben sie und hielt ihre Hand. „Jetzt sind wir verheiratet“, sagte er. „Vor dem Heiligen Gral. Einzeln und gemeinsam verheiratet. Und das ist unser Pfand. Es wird uns genommen, wenn wir die Sünde des Akzidenteilen begehen. Hier ist der Beweis meiner Behauptungen. Hier ist Hoffnung. Und sollten wir jemals unsere Aufgabe vergessen, sollten wir der Sünde der Trägheit verfallen, sollten wir mehr als einen Augenblick lang den Glauben an unser höchstes Ende verlieren, wird uns der Gral verlassen und für die Menschen auf ewig verlorengehen. Denn ich bin Bloom, der letzte reine Ritter, und du bist meine reine Dame, gezüchtigt und keusch, die die Mysterien mit mir teilen wird.“ Sie sagte: „Das ist zuviel. Ich bin nicht in der Lage...“ Aber dann hob sie den Kopf und lächelte. Sie blickte in das Herz des Kelches. „So soll es sein.“ „Sieh mal“, sagte er, als die Vision langsam an Schärfe verlor, „deine Wunden sind verschwunden.“
ENDE