Robert Louis Stevenson
Die Tür des Sire de Malètroit
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Robert Louis Stevenson
Die Tür des Sire de Malètroit
Scanned by Zeus
Verlag Neues Leben Berlin 2
Ins Deutsche übertragen von Günter Löffler
© Verlag Neues Leben, Berlin 1977 Lizenz Nr. 303(305/72/77) LSV 7324 Umschlag und Illustrationen: Bernhard Kluge Typografie: Walter Leipold Schrift: 10/10 p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 6425119 DDR 0,25 M 3
Denis de Beaulieu war noch nicht zweiundzwanzig Jahre alt, aber er betrachtete sich als erwachsen und als vollendeter Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle. Die jungen Leute reiften früh heran in jener rauhen, kriegerischen Zeit, und wenn einer eine reguläre Feldschlacht sowie ein Dutzend Scharmützel hinter sich gebracht und auf ehrenvolle Weise einen Gegner getötet hatte, wenn er etwas von der Kriegskunst verstand und über eine gewisse Menschenkenntnis verfügte, möchte man ihm eine leicht prahlerische Keckheit im Gang sicherlich nachsehen. Denis hatte mit der nötigen Aufmerksamkeit sein Pferd versorgt, mit gebührlicher Gründlichkeit zu Abend gespeist, sodann, als die erste Dämmerung herniedersank, trat er in höchst angenehmer Gemütsverfassung hinaus, um einen Freund zu besuchen. Es war kein ganz kluges Unterfangen von Seiten des jungen Mannes. Er hätte besser getan, am Kamin zu bleiben oder sittsam zu Bett zu gehen; denn die Stadt lag voller Truppen aus Burgund und England, die unter einem gemischten Kommando standen, und obgleich Denis einen Schutzbrief besaß, hätte ihm das Dokument bei einem überraschenden Zusammenstoß wahrscheinlich wenig genutzt. Man schrieb den September des Jahres 1429; die Temperatur war merklich gesunken; ein heftiger, pfeifender Wind peitschte die Stadt mit Regenschauern, und die welken Blätter wirbelten wie toll durch die Straßen. Hier und da war schon ein Fenster erleuchtet, und der Lärm der Kriegsleute, die sich in den Räumen am Abendessen gütlich taten, drang heraus, wurde vom Wind verschlungen und fortgetragen. Die Nacht brach schnell herein; die Flagge Englands, die an der Turmspitze flatterte, zeichnete sich blaß gegen den Hintergrund der rasch ziehenden Wolken ab — ein schwarzer Fleck wie eine Schwalbe am chaotisch aufgewühlten bleigrauen Himmel. Als die Nacht kam, schwoll der Wind, heulte unter Bogengängen und tobte zwischen den Wipfeln im Tal unterhalb der Stadt. Denis de Beaulieu schritt rüstig aus; schon bald klopfte er an die Tür seines Freundes; doch obwohl er entschlossen war, nur kurze Zeit zu bleiben und sich rasch zu verabschieden, wurde ihm ein so angenehmer Empfang zuteil, gab es so vieles, was ihn aufhielt, daß es Mitternacht längst geschlagen hatte, als er auf der Schwelle Lebewohl sagte. Der Wind hatte sich inzwischen gelegt, schwarz wie das Grab lauerte die Nacht; kein Stern, kein Mondstrahl schimmerte durch den Baldachin des Gewölks. Denis fand sich schlecht zurecht in den winkligen Gassen Chäteau Landons; bei scheidendem Tag hatte er unter Schwierigkeiten seinen Weg gefunden, in dieser vollkommenen Dunkelheit verlor er ihn bald gänzlich. Nur eins wußte er sicher: Er mußte immer bergauf gehen; denn das Haus seines Freundes lag am unteren Ende, am Schwanz des Ortes, während sich das Wirtshaus oben befand und von dem großen Kirchturm überragt wurde. Das war der einzige Anhaltspunkt, der ihn leitete, als er vorwärts stolperte und tapste. Er atmete erleichtert auf an den freien Stellen, wo er ein gutes Stück des Himmels über sich sah, doch bald darauf tastete er sich wieder in der bedrückenden Enge seines Weges eine Wand entlang. Es erweckt ein 4
unsicheres, unheimliches Gefühl, von der undurchdringlichen Finsternis einer fast unbekannten Stadt umfangen zu sein. Unendlich beklemmend wirkt die Stille; die Kälte der Fenstergitter unter der suchenden Hand erschreckt den Suchenden wie die Berührung einer Kröte; alle Unebenheiten des Pflasters lassen sein Herz vor Entsetzen stocken; denn er fürchtet m einen Hinterhalt zu geraten, in eine Grube zu stürzen, sooft sich das Dunkel verdichtet, und wenn es heller wird, erscheinen die Häuser so seltsam und fremd, daß sie ihn noch mehr verwirren. Für Denis, der unbemerkt in sein Wirtshaus gelangen mußte, bedeutete diese Wanderung ebensowohl wirkliche Gefahr wie bloßes Unbehagen; kühn, aber besonnen setzte er seinen Weg fort; an jeder Ecke hielt er inne, um zu erkunden, wo er sich befand. Er mühte sich seit geraumer Zeit durch eine Gasse, die so eng war, daß er die Wände zu beiden Seiten gleichzeitig berühren konnte, als sie plötzlich breiter und scharf abschüssig wurde. Das war nun offensichtlich nicht mehr die Richtung, in der sein Wirtshaus lag, aber die Hoffnung auf etwas mehr Licht trieb ihn vorwärts und bewog ihn, weiter auszuspähen. Die Gasse mündete in eine Terrasse mit einer Balustrade, die ihm zwischen zwei hohen Häusern hindurch wie durch einen Fensterrahmen einen Blick in das mehrere hundert Fuß darunter liegende dunkle, formlose Tal gestattete. Denis sah hinab, unterschied einige windbewegte Baumkronen und einen einzigen hellen Fleck — dort, wo der Fluß über ein Wehr stürzte. Das Wetter klärte sich auf, der Himmel war schon lichter geworden, so daß sich die Umrisse der schweren Wolken und die dunklen Ränder der Berge abzeichneten. Das unsichere Zwielicht zeigte ihm in dem Haus zur Linken ein Bauwerk, das recht wohlhabende Besitzer vermuten ließ. Mehrere Fialen und Türmchen ragten darauf empor; die gewölbte Rückfront einer Kapelle sprang mit einer Reihe Schwibbogen weit aus dem Gebäude hervor; die Tür war durch einen tiefen, reich geschmückten Vorbau geschützt, und darüber reckten sich zwei lange Wasserspeier. Die Kapellenfenster mit ihrem vielförmigen Maßwerk waren vom Licht zahlreicher Kerzen erhellt, wodurch die Bogen und das spitze Dach gegen den Nachthimmel noch dunkler erschienen. Ja, es mußte der Wohnsitz einer begüterten Familie sein, und da das Gebäude Denis an ein Haus seiner Heimatstadt erinnerte, stand er lange davor, betrachtete es, und in Gedanken wog er das Können der Architekten und das Ansehen beider Familien gegeneinander ab. Es schien keinen anderen Zugang zu der Terrasse zu geben als die Gasse, durch die er gekommen war. Er konnte seine Schritte nur zurücklenken, aber er hatte eine Vorstellung davon gewonnen, wo er sich befand, und er hoffte, nunmehr auf die Hauptstraße zu stoßen und bald wieder im Wirtshaus zu sein. Freilich rechnete er dabei nicht mit jener Kette von Überraschungen, die diese Nacht zur denkwürdigsten seines Lebens machen sollte; denn er hatte noch nicht mehr als hundert Yard zurückgelegt, da gewahrte er Licht, das sich ihm näherte, und er hörte die Gasse von den lauten Stimmen einiger Leute widerhallen. Es war eine 5
Streife, die mit Fackeln auf Nachtpatrouille ging. Denis merkte, daß sie dem Wein alle tüchtig zugesprochen hatten und in einer Stimmung waren, wo sie es mit den ihm in dem Schutzbrief zugesicherten Rechten oder mit den Feinheiten ritterlicher Etikette nicht sonderlich genau nehmen würden, wo es keinesfalls ausgeschlossen war, daß sie ihn wie einen Hund abstechen und dort, wo er stürzte, einfach liegenlassen würden. Doch so ernst und gefährlich seine Lage war, so wenig hoffnungslos erschien sie ihm. Ihre eigenen Fackeln werden sie daran hindern, mich zu sehen, überlegte er, und er hoffte, daß sie das Geräusch seiner Schritte mit ihrem dummen Geschrei übertönen würden. Er mußte nur leichtfüßig und leise gehen, dann konnte er ihnen entkommen, ohne überhaupt bemerkt zu werden. 6
Zum Unglück glitt er jedoch auf einem Stein aus, als er kehrtmachte, um den Rückweg anzutreten; er stürzte mit einem Ausruf gegen die Wand, und sein Schwert klirrte laut am Gemäuer. Mehrere Männer fragten zugleich, wer da sei, einige auf französisch, andere auf englisch. Denis antwortete nicht, sondern lief desto schneller die Gasse hinunter. Auf der Terrasse blieb er stehen und spähte zurück. Die Verfolger liefen, ihm noch nach; gerade in diesem Augenblick beschleunigten sie den Schritt, rasselten bedrohlich mit den Waffen, und die Fackeln huschten unruhig hin und her zwischen den engen Grenzen seines Fluchtweges. Denis sah sich um und stürzte zum Portal. Dort mochte er unbemerkt bleiben oder — falls das eine zu kühne Erwartung wäre — befand er sich zumindest in einer glücklicheren Lage, sei es zum Verhandeln, sei es zur Verteidigung. Mit dieser Überlegung zog er die Waffe und lehnte den Rücken gegen die Tür, die zu seiner Überraschung unter dem Druck des Körpers nachgab; und obgleich er herumfuhr, drehte sie sich geräuschlos weiter in ihren geölten Angeln, bis sie sich vor der gähnenden Schwärze des Hausinnern vollständig geöffnet hatte. Wenn sich die Dinge offensichtlich so günstig gestalten, schert man sich wahrscheinlich wenig um das Wie oder Warum. Das persönliche augenblickliche Wohlergehen dünkt den Menschen Grund genug dafür, daß die größten Ungereimtheiten und seltsamsten Dinge geschehen; und so trat Denis ein, ohne einen Moment zu zögern, schob die Tür ein Stück zu hinter sich; um seinen Schlupfwinkel zu verbergen. Nichts lag ihm ferner als der Gedanke, sie völlig zu schließen, aber unerklärlich, wodurch — vielleicht infolge des Wirkens einer Feder oder eines Gewichtes —, das schwere Eichenbrett entglitt seinen Fingern und fiel ins Schloß, mit einem schrecklichen Lärm und Getöse, als wäre ein Fallgatter herabgesaust. In demselben Augenblick traf die Patrouille auf der Terrasse ein und fuhr fort, ihn mit Rufen und Flüchen herauszufordern. Er hörte, wie die Männer in den finsteren Winkeln herumspürten, und ein Lanzenschaft rasselte über die Außenseite der Tür, hinter der er stand. Aber diese Herren waren in zu gehobener Stimmung, als daß sie sich lange hätten aufhalten lassen; bald entfernten sie sich auf einem Schlängelpfad, der seiner Aufmerksamkeit entgangen war, und sie gerieten außer Sicht und Hörweite entlang den Balustraden der Stadt. Denis wagte wieder zu atmen. Er gab ihnen einige Minuten Vorsprung für den Fall, daß noch etwas Unerwartetes geschehen sollte; dann tastete er nach einem geeigneten Werkzeug, mit dem er die Tür öffnen konnte, um wieder hervorzuschlüpfen. Die Innenseite der Tür war ganz glatt, keine Klinke, keine Kehlung, nichts, wo sein Griff Halt gefunden hätte. Er zwängte die Fingernägel um den Rand und zog, aber die Tür rührte sich nicht. Er rüttelte daran, doch sie war schwer wie ein Felsblock. Denis de Beaulieu runzelte die Stirn und stieß geräuschvoll die Luft aus. Welche Bewandtnis hat es mit dieser Tür? fragte er sich. Weshalb war sie offen gewesen? Wie hatte sie sich so leicht, so unnach7
giebig hinter ihm geschlossen? Etwas war rätselhaft, geheimnisvoll bei der Geschichte, etwas entsprach nicht ganz dem Geschmack des jungen Mannes. Es sah wie eine Falle aus. Aber wer wollte in einer stillen Seitenstraße, angesichts einer so reichen, ja aristokratischen Fassade eine Falle vermuten? Und doch — ob Falle oder nicht, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt —, er saß hier ziemlich in der Klemme und konnte beim besten Willen keinen Ausweg finden. Die Finsternis lastete schwer auf ihm. Er lauschte; draußen war alles still, aber drinnen, nicht weit entfernt von der Stelle, wo er stand, glaubte er einen schwachen Seufzer zu vernehmen, ein verhaltenes, tonloses Schluchzen, ein leises, verstohlenes Schnarren — Geräusche, wie sie entstehen, wenn viele Menschen in der Nähe darauf bedacht sind, sich so still zu verhalten, daß sie vor lauter Vorsicht kaum zu atmen wagen. Bei diesem Gedanken erschrak Denis bis ins Mark, und er drehte sich plötzlich um, als gälte es, sein Leben zu verteidigen. Da gewahrte er zum erstenmal — etwa in Höhe seiner Augen — Licht, und dahinter, tiefer im Hausinneren, einen senkrechten hellen Fleck, der nach unten zu breiter wurde und der Form nach auf eine Tür mit zwei Vorhängen schließen ließ. Daß er überhaupt etwas sah, bedeutete schon Erleichterung für ihn; es war wie ein Stück fester Boden unter den Füßen für einen Mann, der in einen Sumpf geraten ist; sein Verstand stürzte sich begierig darauf; er starrte hinüber und versuchte sich ein klareres Bild von seiner Umgebung zu verschaffen. Offenbar führten aus dem Flur, in dem er stand, einige Stufen zu dem erleuchteten Eingang hinauf, und tatsächlich glaubte er noch einen Lichtstreifen zu erkennen, nadeldünn und schwäch wie Phosphoreszenz; das mochte sehr wohl ein Widerschein auf der glatten Holzstange eines Geländers sein. Seitdem er zu argwöhnen begonnen hatte, daß er nicht allein war, klopfte sein Herz pausenlos stürmisch, und ein sehnlicher Wunsch, irgend etwas zu tun, bemächtigte sich seiner. Er befand sich, so glaubte er, in höchster Lebensgefahr. Was wäre da natürlicher gewesen, als die Treppe hochzugehen, den Vorhang zu lüften, den Schwierigkeiten, in denen er sich befand, ohne Zaudern ins Auge zu schauen? Wenigstens wußte er dann, woran er war, wenigstens würde er nicht länger im dunkeln tappen müssen. Er schritt mit ausgestreckten Händen langsam vorwärts, bis sein Fuß die unterste Stufe berührte, erstieg schnell die Treppe, blieb einen Augenblick stehen, um sich zu sammeln; dann hob er den Vorhang und trat ein. Er befand sich in einem großen Raum mit Wänden aus geschliffenem Stein. Es gab drei Türen, auf drei Seiten je eine; sie alle waren durch Gobelins verhangen; die vierte Seite nahmen zwei große Fenster ein und ein wuchtiger Kamin, in den das Wappen der Malètroits graviert war. Denis erkannte das Zeichen und schätzte sich glücklich, an eine so gute Familie geraten zu sein. Das Zimmer war gut erleuchtet, doch außer einem schweren Tisch und ein paar Stühlen enthielt es wenig Möbel; im Ofen brannte kein Feuer, und der Fußboden war nur spärlich mit Binsen bestreut, die offensichtlich schon seit vielen Tagen dort lagen. Neben dem Kamin, genau gegenüber der Tür, durch die Denis eingetreten war, saß auf einem hohen Stuhl ein kleiner alter Herr in einem Mäntelchen mit 8
Pelzkragen. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Hände gefaltet; ein Becher würzigen Weines stand neben seinem Ellbogen auf einer Konsole an der Wand. Sein Antlitz trug ausgeprägt männliche Züge; dabei war es nicht eigentlich menschlich geschnitten; vielmehr zeigte es eine gewisse Verwandtschaft mit der Physiognomie eines Stiers, eines Ziegenbocks oder Ebers; es wirkte ein wenig verschlossen, ein wenig eigensinnig, ein wenig gierig, ein wenig brutal, ein wenig gefährlich. Die Oberlippe war unmäßig aufgeworfen, als wäre sie nach einem Schlage oder infolge von Zahnschmerzen angeschwollen, und sein Lächeln, seine in der Mitte spitz zulaufenden Brauen, seine kleinen Augen mit dem stechenden Blick zeigten einen merkwürdigen, beinah komischen Ausdruck; aber das schöne weiße Haar fiel wie bei einem Heiligen rundherum vom Kopf und lag in einer einzigen Locke auf dem Pelzkragen. Der Voll- und der Schnurrbart waren der 9
Gipfel ehrwürdigen Scharms. Seinen Händen hatte das Alter nichts anzuhaben vermocht, wahrscheinlich dank einer ungewöhnlichen Pflege, und die Hand der Malètroits galt als berühmt. Es dürfte schwierig sein, sich etwas so Sinnliches und zugleich so Edelgeformtes vorzustellen: die schmalen, feinnervigen Finger glichen denen einer Leonardoschen Frauenhand; am Daumengelenk bildeten sich bei jeder Bewegung Hügelchen und Grübchen; die Nägel waren formvollendet, aber unwirklich, leichenhaft weiß. Es machte die Erscheinung dieses Mannes zehnmal schrecklicher, daß er diese Hände fromm wie eine Madonna im Schoß gefaltet hielt — daß ein Mann von so auffälligem und furchteinflößendem Gesichtsausdruck geduldig auf seinem Stuhl saß und wie ein Gott oder Götze mit starrem, abschätzendem Blick den Gast betrachtete. Seine Ruhe wirkte trügerisch und verhieß nichts Gutes, sie wollte schlecht zu seinem Äußeren passen. Das was Alain, Sire de Malètroit. Denis und er sahen einander einige Sekunden lang stumm in die Augen. „Bitte, tretet näher", sagte der Sire de Malètroit. „Ich habe schon den ganzen Abend auf Euch gewartet." Er hatte sich nicht erhoben, aber er begleitete seine Worte mit einem Lächeln und einem knappen, jedoch höflichen Neigen des Kopfes. Teils des Lächelns wegen, teils wegen des sonderbaren melodischen Gemurmels, mit dem ihn der Sire ansprach, spürte Denis, wie ihm ein starker Schauder des Widerwillens durch Mark und Bein ging, und vor lauter Abneigung und ehrlicher Verwirrung fand er kaum die Worte für eine Antwort. „Ich fürchte", sagte er, „daß es hier einige Mißverständnisse gibt. Ich bin nicht derjenige, für den Ihr mich haltet. Ihr scheint Besuch erwartet zu haben, doch was mich betrifft, nichts lag meinen Absichten ferner - - nichts hätte mir unangenehmer sein können, als bei Euch einzudringen." „Nun gut", erwiderte der alte Mann gönnerhaft, „aber Ihr seid hier, was die Hauptsache ist. Setzt Euch, mein Freund, macht es Euch bequem. Wir werden unser kleines Anliegen bald geregelt haben." Denis begriff, daß in der Angelegenheit noch nicht alles klar war, und er beeilte sich, in seinen Beteuerungen fortzufahren. „Eure Tür..." begann er. „Ach, die Tür?" entgegnete der andere und zog seine spitz zulaufenden Augenbrauen hoch. „Eine kleine Erfindung von mir", entgegnete er achselzuckend, „eine Geste der Gastfreundschaft! Nach Eurer eigenen Darstellung wäret Ihr nicht erpicht darauf, meine Bekanntschaft zu machen. Wir alten Leute stoßen dann und wann auf derlei Widerstreben; doch wenn es unsere Ehre anrührt, strengen wir den Kopf an, bis wir Mittel und Wege ersonnen haben, es zu brechen. Ihr kommt ungeladen, aber, glaubt mir, keineswegs ungelegen." „Ihr verharrt in einem Irrtum, mein Herr", sagte Denis, „zwischen Euch und mir kann es solche Unstimmigkeiten nicht geben. Ich bin ein Fremder hierzulande. Mein Name ist Denis, damoiseau de Beaulieu. Wenn Ihr mich in Eurem Hause 10
seht, so nur..." „Mein junger Freund", unterbrach ihn der andere, „Ihr werdet mir gestatten, darüber eine eigene Meinung zu haben. Sie unterscheidet sich im Augenblick offensichtlich von der Eurigen", fügte er mit einem listigen Seitenblick hinzu, „indes die Zeit wird lehren, wer von uns beiden recht behält." Denis war überzeugt, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu tun hatte. Er setzte sich ungern hin, wohl oder übel bereit, der Ausgang der Unterredung abzuwarten; doch es folgte eine Pause, während der er glaubte, ein hastiges Plappern, ähnlich einem Gebet, hinter dem Vorhang ihm gegenüber zu vernehmen. Manchmal schien nur einer zu sprechen, manchmal vermeinte er zwei Stimmen zu unterscheiden, und obwohl leise gemurmelt, schien das Ungestüm, mit dem da gebetet wurde, entweder von großer Eile oder von großer Seelennot zu zeugen. Der Gedanke kam ihm, daß dieser Gobelin den Eingang zu der Kapelle, die er von der Terrasse aus bemerkt hatte, verdecken mußte. Der alte Herr musterte Denis unterdessen lächelnd von Kopf bis Fuß, ab und zu stieß er ein piepsendes Geräusch wie ein Vogel oder eine Maus aus, was auf einen hohen Grad von Zufriedenheit hinzudeuten schien. Denis fand seine Lage bald unerträglich, und um ihr ein Ende zu bereiten, bemerkte er höflich, daß sich der Wind draußen gelegt habe. Der Greis erlitt einen Lachanfall, der zwar tonlos blieb, aber so anhaltend und heftig war, daß er ganz rot im Gesicht wurde. Denis sprang ungehalten auf die Füße und schwenkte mit einer Verbeugung seinen Hut. „Mein Herr", sagte er, „wenn Ihr bei Verstand seid, habt Ihr mich gröblich beleidigt. Seid Ihr aber nicht bei Tröste, so schmeichle ich mir, eine bessere Betätigung für meinen Kopf zu finden, als mit einem" Verrückten zu plauschen. Mein Gewissen ist rein; Ihr habt mich vom ersten Augenblick an zum Narren gehalten; Ihr habt Euch geweigert, meine Erklärungen anzuhören; nun gibt es unter Gottes Himmel keine Macht mehr, die mich veranlassen könnte, noch länger zu bleiben, und falls es mir verwehrt ist, auf ehrenvolle Weise meinen Weg nach draußen zu finden, so will ich Eure Tür mit dem Schwert in Stücke schlagen." Der Sire de Malètroit hob seine rechte Hand und bewegte sie lebhaft vor dem Gesicht des jungen Mannes, wobei er den Zeige- und den kleinen Finger ausgestreckt hielt. „Mein lieber Neffe", sprach er, „setz dich doch nieder." „Neffe!" rief Denis ärgerlich aus. „Ihr lügt, sobald Ihr den Mund auftut", und er schnippte geringschätzig mit den Fingern. „Setz dich, du Schelm!" wies der Greis ihn zurecht, und seihe Stimme klang plötzlich barsch wie Hundegebell. „Glaubst du etwa, ich hätte meine kleine Erfindung an der Tür angebracht, um dich ungeschoren fortlaufen zu lassen? Wenn du es vorziehst, an Händen und Füßen gebunden zu werden, bis dir die Knochen im Leibe knacken, dann lehn dich nur auf und versuche zu entrinnen. 11
Dünkt es dir aber vorteilhafter, als freier junger Fant zu bleiben und angenehm mit einem alten Herrn zu plaudern, nun, so setz dich in Frieden dort nieder, und Gott steh dir bei." „Wollt Ihr damit sagen, daß ich ein Gefangener bin?" fragte Denis. „Ich stelle Tatsachen fest", erwiderte der andere, „die Schlußfolgerung möchte ich lieber Euch überlassen." Denis nahm wieder Platz. Äußerlich vermochte er ziemlich ruhig zu bleiben; innerlich kochte er bald vor Zorn, bald stockte ihm das Herz vor Angst. Er hatte nun nicht mehr das Gefühl, daß er einem Geistesgestörten gegenüberstand. Doch wenn der alte Herr bei Sinnen war, was in Gottes Namen erwartete ihn dann? Welches finstere oder tragische Mißgeschick hatte ihn ereilt? Wie sollte er sich verhalten? Während ihm diese unerfreulichen Fragen durch den Kopf gingen, wurde der Gobelin vor der Tür zur Kapelle gelüftet; ein hochgewachsener Priester im Ornat betrat den Raum, betrachtete Denis scharf und nachdenklich und sagte gedämpft etwas zum Sire de Matètroit. „Befindet sie sich jetzt in besserer Gemütsverfassung?" fragte der Greis. „Sie ist ein wenig gefaßter, Sire", erwiderte der Priester. „Dann möge ihr der Herrgott helfen; sie ist schwer zufriedenzustellen", entgegnete der Greis mit einem Hohnlächeln. „Ein rechter Grünschnabel, von keinen schlechten Eltern — aber hat sie es denn anders gewollt? Ja, was möchte das Weibsbild noch haben?" „Die Situation ist nicht alltäglich", entgegnete der andere, „etwas peinlich für eine junge Dame." „Das hätte sie bedenken sollen, ehe sie den Reigen eröffnete; es war weiß Gott nicht mein Verschulden; doch was sie einmal begonnen hat, soll sie bei der heiligen Jungfrau auch zu Ende führen." Und dann fragte er, an Denis gewandt: „Monsieur de Beaulieu, gestattet Ihr, daß ich Euch meiner Nichte vorstelle? Sie hat Eure Ankunft, das darf ich ohne Übertreibung sagen, sogar mit noch größerer Ungeduld erwartet als ich." Denis hatte sich mannhaft in sein Schicksal ergeben und wünschte nur noch, so bald wie möglich zu erfahren, woran er war; deshalb erhob er sich rasch, neigte zum Zeichen seiner Zustimmung den Kopf, der Sire de Malètroit folgte seinem Beispiel und hinkte, auf den Arm des Geistlichen gestützt, zur Tür. Der Priester zog die Vorhänge beiseite, und alle drei betraten den Andachtsraum, der von einer bemerkenswerten architektonischen Schönheit war. Leichte Rippen sprangen aus sechs wuchtigen Pfeilern hervor und fügten sich zu zwei hübschen Pendants, die in der Mitte des Gewölbes herabhingen. Der Raum endete hinter dem Altar an einer runden Wand, die wabenartig bossiert, überreich mit Reliefs geschmückt und von vielen kleinen stern-, kleeblatt- und radförmigen Fenstern durchbrochen war. Diese Fenster waren nur zum Teil verglast, so daß die Nachtluft frei durch die Kapelle strich. Die Kerzen — wohl ein halbes Hundert mußten auf dem Altar brennen — flackerten unaufhörlich, und ihr Licht 12
zauberte viele verschiedene Phasen des Glanzes und des Halbdämmers hervor. Auf den Stufen vor dem Altar kniete ein junges Mädchen in kostbaren Brautgewändern. Ein kalter Schauer überlief Denis, als er ihre Kleidung gewahrte; mit der Kraft der Verzweiflung wehrte er sich befürchtete. „Blanche", flötete der Sire in den süßesten Tönen, „ich bring dir einen Freund, der dich sehen möchte, meine kleine Maid; dreh dich um, reich ihm deine hübsche Hand. Es ist gut, fromm zu sein; aber es schickt sich auch, höflich zu sein, meine Nichte." Das Mädchen stand auf und wandte sich dem Ankömmling zu. Ihre ganze Gestalt war in Bewegung, jede Linie ihres zarten jungen Körpers drückte Scham und Verzweiflung aus; sie hielt den Kopf gesenkt und löste den Blick nicht vom Boden, während sie langsam näher kam; aber als sie vorwärts schritt, sah sie die Füße de Beaulieus, Füße, die ihm selbst gefielen — mit Recht, sei hier vermerkt, und die in dem elegantesten Schuhwerk steckten, auch wenn er wie jetzt auf Reisen war. Sie blieb stehen, erschrak beinah zu Tode über die unerwartete Kunde, die sie von seinen gelben Stiefeln ablas, und plötzlich hob sie den Blick, schaute demjenigen, der sie trug, ins Antlitz; Auge in Auge standen sie voreinander; der Ausdruck der Scham wich von ihr, machte einem der Furcht, des Entsetzens Platz; das Blut wich aus ihren Lippen, mit einem gegen einen Verdacht, der ihn plagte; es konnte — es durfte nicht so sein, wie er durchdringenden Aufschrei schlug sie die Hände vors Gesicht und sank auf den Boden der Kapelle nieder. „Das ist nicht der Mann!" rief sie. „Mein Onkel, das ist nicht der Mann!" Der Sire de Malètroit zirpte vergnüglich. „Natürlich nicht", sagte er, „das dachte ich mir schon. Es war so unglücklich, daß du dich seines Namens nicht zu erinnern vermochtest." „Wahrhaftig", rief sie, „wahrhaftig, ich habe diesen Menschen bis zu diesem Augenblick nie gesehen; nicht einmal die Augen habe ich je auf ihn gerichtet, und ich will ihn nie wiedersehen. Mein Herr", sprach sie, indem sie sich Denis zuwandte, „so Ihr ein Edelmann seid, werdet Ihr bezeugen, daß ich die Wahrheit sage. Habe ich Euch je gesehen, habt Ihr mich je gesehen vor dieser verwünschten Stunde?" „Um für mich zu sprechen, mir ist dieses Vergnügen bislang nicht zuteil geworden", antwortete der junge Mann. „Dies ist das erstemal, Sire, daß ich Eurer bezaubernden Nichte gegenüberstehe." Der Greis zuckte die Schultern. „Ich bin betrübt, es zu hören", sagte er, „doch für den Anfang ist es nie zu spät. Ich kannte meine eigene selige Gattin kaum besser, als ich sie heiratete — was beweist", fuhr er mit einer Grimasse fort, „daß sich solche improvisierten Ehen auf lange Sicht häufig bewähren. Indes, da der Bräutigam in der Angelegenheit gleichfalls mitzureden hat, will ich ihm zwei Stunden Bedenkzeit gönnen, bevor wir mit der Zeremonie beginnen, damit er nachholen kann, was er bisher versäumt hat." Er schritt zur Tür, und der Geistliche folgte seinem Beispiel. Das Mädchen war im nächsten Augenblick auf den Füßen. „Mein Onkel, das 13
kann nicht Euer Ernst sein", stieß sie hervor, „ich erkläre vor Gott, daß ich mich eher erstechen werde, als mich diesem jungen Mann aufzwingen zu lassen. Das Herz dreht sich mir im Leibe um. Gott verhüte solche Heirat! Ihr tut Eurem weißen Haare Schmach an. Oh, mein Onkel, erbarmt Euch meiner! In der ganzen weiten Welt gibt es keine Frau, die den Tod solcher Hochzeit nicht vorziehen würde. Ist es möglich", fügte sie mit versagender Stimme hinzu, „daß Ihr noch glaubt, dies", und ihre Stimme zitterte vor Zorn und Empörung, „daß Ihr immer noch glaubt, dies sei der Mann?" „Offen gestanden, das tue ich", sagte der Greis. „Aber laß mich dir ein für allemal erklären, wie ich über die Sache denke, Blanche de Malètroit. Als du es dir in den Kopf setztest, den Namen zu entehren, den ich seit über sechzig Jahren in Friedens- und Kriegszeiten getragen habe, da verlörest du nicht nur das Recht, meine Pläne zu verwerfen, sondern auch, mir ins Gesicht zu sehen. Wäre dein Vater am Leben, er hätte dich angespien und des Hauses verwiesen. Seine 14
Hand war aus Eisen. Du magst Gott danken, daß du mit Samthänden angefaßt wirst, Mademoiselle. Es ist meine Pflicht, dich ohne Aufschub zu verehelichen. Allein darum, weil ich dir wohlgesonnen bin, habe ich versucht, deinen eigenen Bräutigam für dich zu finden, und ich glaube, es ist mir gelungen. Falls jedoch nicht, Blanche de Malètroit, dann schert es mich bei Gott und allen heiligen Engeln nicht im geringsten. So laß mich dir noch einmal ans Herz legen, höflich mit unserem jungen Freund zu verkehren; denn auf mein Wort, der nächste Bewerber könnte weniger begehrenswert sein." Und damit setzte er seinen Weg fort; der Kaplan folgte ihm unverzüglich, und der Vorhang schloß sich hinter den beiden. Das Mädchen drehte sich zu Denis um, ihre Augen flammten. „Und was, mein Herr", fragte sie, „mag das alles zu bedeuten haben?" „Das weiß der Herrgott", entgegnete Denis finster. „Ich bin ein Gefangener in diesem Haus, das von Wahnsinnigen bewohnt zu sein scheint. Mehr ist mir nicht bekannt, nur noch soviel, daß ich von allem, was hier vorgeht, nichts begreife." „Aber bitte, wie kommt Ihr her?" fragte sie. Er erzählte es ihr, so knapp er vermochte. „Und nun", setzte er hinzu, „folgt meinem Beispiel, nennt mir des Rätsels Lösung und sagt mir in Gottes Namen, wie soll das alles enden?" Sie stand eine Weile stumm vor ihm; er konnte ihre Lippen zittern sehen und ihre tränenlosen Augen in fiebrigem Glänze blitzen. Dann preßte sie ihre Stirn in beide Hände. „O weh, wie mir der Kopf schmerzt", klagte sie erschöpft, „ganz zu schweigen von meinem armen Herzen! Doch Ihr habt ein Anrecht darauf, meine Geschichte zu erfahren, so ungehörig ich Euch erscheinen mag. Ich heiße Blanche de Malètroit, habe weder Vater noch Mutter, seit — oh, so weit meine Erinnerungen zurückreichen, und tatsächlich bin ich mein ganzes Leben unglücklich gewesen. Vor drei Monaten begann es. Ein junger Hauptmann wußte es so einzurichten, daß er jeden Tag bei der Andacht in meiner Nähe stand. Ich konnte sehen, daß ich ihm gefiel; ich verdiene wohl, getadelt zu werden, aber ich war so froh, von jemand geliebt zu werden, und als er mir einen Brief reichte, nahm ich ihn an mich und las ihn mit großem Vergnügen. Inzwischen hat er mir viele geschrieben. Er war ganz darauf versessen, mich zu sehen, der arme Teufel, und bat mich, eines Abends die Tür offenzulassen, damit wir auf der Treppe ein paar Worte wechseln könnten; denn er wußte, wie sehr mein Onkel mir vertraute." Sie gab in diesem Augenblick ein Geräusch wie ein Schluchzen von sich, und es verging eine Weile, bevor sie fortfahren konnte. „Mein Onkel ist ein hartherziger Mann, und er ist sehr listig", sagte sie schließlich. „Zu Kriegszeiten hat er zahlreiche Heldentaten vollbracht, und er war eine einflußreiche Persönlichkeit am Hof; in den alten Tagen genoß er die besondere Gunst der Königin Isabeau. Was ihn bewegen hat, mich zu verdächtigen, weiß ich nicht, aber es ist schwer, vor ihm etwas zu verbergen; heute morgen, als wir von der Messe kamen, nahm er meine Hand in die seine, zwang mich, sie zu öffnen, und las mein kleines Briefchen, während er an 15
meiner Seite ging. Als er fertig war, gab er es mir sehr höflich zurück. Es enthielt eine weitere Bitte, die Tür unverschlossen zu lassen; und dies wurde uns allen zum Verhängnis. Mein Onkel hielt mich bis zum Abend in meinem Zimmer fest, dann befahl er mir, mich so anzuziehen, wie Ihr mich jetzt seht. Das ist ein arger Spott für ein junges Mädchen, meint Ihr nicht? Da ich ihm den Namen des jungen Hauptmanns nicht verriet, muß er ihm wohl eine Falle gestellt haben, in die Ihr nun geraten seid. Ich war auf allerlei Ungemach gefaßt; denn wie sollte ich wissen, ob er gewillt war, mich unter diesen scharfen Bedingungen zur Frau zu nehmen? Vielleicht hatte er von der ersten Stunde an nur seinen Scherz mit mir getrieben, oder ich hatte mich in seinen Augen weggeworfen. Doch eine so grausame Strafe wie diese hier hätte ich nie und nimmer erwartet. Ich konnte nicht glauben, daß Gott ein Mädchen vor einem jungen Mann so erniedrigen ließe. Und nun habe ich Euch alles erzählt, und ich darf kaum hoffen, daß Ihr mich nicht verachten werdet." Denis antwortete mit einer respektvollen Verbeugung. „Madame", sagte er, „Ihr habt mich durch Euer Vertrauen geehrt. Jetzt ist es an mir, zu beweisen, daß ich dieser Ehre nicht unwürdig bin. Ist Messire de Malètroit zu sprechen?" „Ich vermute, er schreibt in der Halle draußen", erwiderte sie. „Darf ich Euch zu ihm führen, Madame?" fragte Denis und bot ihr mit einer äußerst höflichen Geste die Hand. Sie nahm an, und das Paar verließ die Kapelle, Blanche beschämt, in unglücklicher Verfassung; Denis aber, vom Bewußtsein seiner Pflicht durchdrungen, stolzierte keck an ihrer Seite, in der Gewißheit, daß er seine Aufgabe ehrenvoll erfüllen werde. Der Sire de Malètroit stand auf, um sie voll spöttischer Zuvorkommenheit zu empfangen. „Mein Herr", sagte Denis mit der großartigsten Pose, deren er fähig war, „ich denke, ich habe in dieser Heiratsangelegenheit auch ein Wörtchen mitzureden; so laßt mich Euch gleich erklären, daß ich Euch nicht zur Seite stehen werde, sollte es Euch gefallen, den Neigungen dieser jungen Dame Gewalt anzutun. Wäre mir ihre Hand freimütig angetragen worden, ich wäre stolz gewesen zu akzeptieren; denn ich habe erkannt, sie ist so gut, wie sie schön ist; doch unter den gegebenen Umständen, mein Herr, habe ich die Ehre, abzulehnen." Blanche blickte ihn aus dankbaren Augen an, aber der Greis lächelte nur und fuhr fort zu lächeln, bis dem jungen Mann ganz übel von diesem Lächeln wurde. „Ich fürchte, Monsieur de Beaulieu", sagte der Sire, „Ihr habt nicht recht begriffen, was ich Euch zur Wahl stelle. Folgt mir, ich bitte Euch, an dieses Fenster." Und er schlug den Weg zu einem der großen Fenster ein, die in der Nacht geöffnet blieben. „Ihr seht", fuhr er fort, „im oberen Gemäuer ist ein Eisenring angebracht, und dort ist ein höchst dienlicher Strick hindurchgezogen. Nun merkt Euch meine Worte gut. Solltet Ihr feststellen, daß Eure Abneigung gegen die Person meiner Nichte unüberwindlich ist, werde ich 16
Euch vor Sonnenaufgang durch dieses Fenster hängen lassen. Ich würde nur mit dem größten Bedauern zu dem äußersten Mittel greifen, das dürft Ihr mir glauben; denn es ist keineswegs Euer Tod, was ich herbeisehne, sondern ein Platz für meine Nichte im Leben. Gleichwohl müßte es zu dem schrecklichen Ende kommen, falls Ihr Euch als starrköpfig erweist. Eure Familie, Monsieur de Beaulieu, genießt einen ausgezeichneten Ruf, aber selbst wenn Ihr ein Charlemagne wäret, Ihr solltet die Hand einer Malètroit nicht ungestraft ausschlagen — nicht, wenn sie gemein wie die Pariser Straße, wenn sie häßlich wie die Wasserspeier über meiner Tür wäre. Weder meine Nichte noch Ihr noch meine eigenen, persönlichen Gefühle vermögen mich in diesem Entschluß wankelmütig zu machen. Die Ehre meines Hauses ist befleckt; ich halte Euch für die schuldige Person; wenigstens wißt Ihr jetzt Bescheid, und es kann Euch kaum verwundern, daß ich Euch ersuche, die Schmach zu tilgen. Widersetzt Ihr Euch, wird Euer eigenes Blut über Euch kommen. Es wird keine große Genugtuung für mich sein, unter meinen Fenstern Eure sterblichen Überreste im Winde baumeln zu sehen; doch ein halber Laib ist besser als gar kein Brot, und kann ich die Schande nicht ungeschehen machen, so will ich doch dem Skandal ein Ende bereiten." Eine Pause folgte. „Ich glaube, unter Ehrenmännern kennt man andere Möglichkeiten, solche Meinungsverschiedenheiten auszutragen", sagte Denis. „Ihr habt ein Schwert, und wie man hört, versteht Ihr es vortrefflich zu führen." Der Sire de Malètroit gab dem Kaplan ein Zeichen; der Geistliche durchquerte mit langen Schritten den Raum und lüftete schweigend den Vorhang der dritten Tür. Es dauerte nur einen Augenblick, bis er ihn wieder fallen ließ, aber das genügte, um Denis einen Gang voll Bewaffneter zu zeigen. „Als ich ein wenig jünger war, hätte ich Euch diese Ehre von Herzen gern erwiesen, Monsieur de Beaulieu", sagte Sire Alain, „aber jetzt bin ich ein Greis. Treue Gefolgsleute sind die Stütze des Alters; ich muß mich auf meine Mannen verlassen. Dies ist einer der härtesten Brocken, die ein Mann meiner Jahre zu schlucken hat; doch mit ein bißchen Geduld gewöhnt man sich selbst daran. Ihr und die Dame scheint für den Rest der beiden Stunden die Halle zu bevorzugen, und da ich nicht die Absicht hege, Eure Wünsche zu durchkreuzen, werde ich mit dem größten Vergnügen der Welt diesen Raum Euch überlassen. Keine Hast!" fügte er hinzu und hob eine Hand, da er sah, daß das Gesicht Denis de Beaulieus einen bedrohlichen Ausdruck annahm. „Wenn Ihr etwas dagegen habt, gehenkt zu werden, sollt Ihr in zwei Stunden noch Zeit und Gelegenheit finden, Euch aus dem Fenster oder in die Piken meiner Leute zu stürzen. Zwei Stunden Leben sind immerhin zwei Stunden. Sogar in diesem kurzen Zeitraum kann sich sehr viel ereignen, und außerdem hat Euch meine Nichte noch etwas zu sagen, wenn ich ihre Miene richtig deute. Ihr werdet Eure letzten Stunden nicht durch mangelnde Höflichkeit gegenüber einer Dame belasten." Denis lenkte den Blick zu Blanche, und sie antwortete ihm mit einer 17
flehentlichen Geste. Es ist anzunehmen, daß der alte Mann von diesem Zeichen gegenseitigen Einverständnisses ganz entzückt war; denn er lächelte beiden zu und sagte süßlich: „Wenn Ihr mir Euer Ehrenwort gebt, Monsieur de Beaulieu, meine Rückkehr abzuwarten und keine Verzweiflungstat zu versuchen, ehe die zwei Stunden um sind, werde ich meine Gefolgsleute abziehen und Euch in aller Diskretion mit Mademoiselle alleine sprechen lassen." Denis sah noch einmal das Mädchen an, und Ihr Gegenblick schien ihn eindringlich um seine Zustimmung zu bitten. „Ich gebe Euch mein Ehrenwort", sagte er. Messire de Malètroit verneigte sich, schlurfte in dem Raum umher, räusperte sich dabei mit jenem sonderbaren melodischen Zirpen, das den Ohren Denis de Beaulieus schon so verhaßt geworden war. Zuerst nahm er einige Papiere, die auf dem Tisch lagen, an sich, dann trat er in den Gang und schien den Leuten hinter dem Vorhang einige Befehle zu erteilen, und schließlich hinkte er zu der Tür, durch die Denis gekommen war; doch auf der Schwelle drehte er sich noch einmal lächelnd um, verabschiedete sich mit einer Verbeugung von den beiden, verließ den Raum, und der Kaplan folgte ihm mit einer Laterne. Kaum waren die beiden jungen Leute allein, als Blanche die Hände ausstreckte und sich Denis näherte. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet, in ihren Augen glänzten Tränen. „Ihr sollt nicht sterben!" rief sie. „Ihr sollt mich dennoch 18
heiraten." „Madame, Ihr scheint zu glauben, daß ich große Furcht vor dem Tod empfinde", entgegnete Denis. „O nein, nein", sagte sie, „ich sehe, daß Ihr kein Feigling seid. Es ist nur meines Seelenfriedens wegen. Ich könnte es nicht ertragen, Euch für Euren Edelmut getötet zu wissen." „Madame, ich fürchte, daß Ihr die Schwierigkeit unterschätzt", versetzte Denis. „Was zu verweigern Ihr zu großmütig sein möget, das anzunehmen, mag ich zu stolz sein. In einem Augenblick edler Empfindungen für mich vergeßt Ihr vielleicht, was Ihr anderen schuldet." Er besaß die Schicklichkeit, die Augen gesenkt zu halten, als er dieses sagte, und auch nachdem er gesprochen hatte, damit er kein Zeuge ihrer Verwirrung wurde. Sie stand einen Augenblick schweigend da, dann schritt sie plötzlich fort, sank auf den Stuhl ihres Onkels nieder und brach in lautes Schluchzen aus. Denis sah sich ratlos um; seine Verlegenheit erreichte ihren Gipfelpunkt, und als er einen Schemel bemerkte, ließ er sich schwer darauffallen, nur um etwas zu tun. Dort saß er, spielte mit dem Stichblatt seines Rapiers und wünschte sich, tausendmal lieber tot und unter dem häßlichsten Kehrichthaufen Frankreichs begraben zu sein. Seine Blicke wanderten durch den Raum, fanden aber nichts, was sie hätte festhalten können. Die Lücken zwischen den Möbelstücken waren so groß, das Licht beschien alles so kümmerlich und freudlos, von draußen schaute die Finsternis so kalt durch die Fenster, daß er glaubte, nie eine größere Kirche oder eine traurigere Gruft gesehen zu haben. Das gleichförmige Schluchzen Blanche de Malètroits maß die Zeit wie das Ticken einer Uhr. Er las den Spruch auf dem Wappen so oft, daß es ihm schwarz vor Augen wurde; er starrte in die schattigen Ecken, bis er vermeinte, sie von scheußlichem Getier wimmeln zu sehen; immer wieder fuhr er erschrocken empor, und ihm wurde bewußt, daß die letzten Stunden seines Lebens verrannen und der Tod im Anmarsch war. Je mehr Zeit vergangen war, desto häufiger verweilte sein Blick bei dem Mädchen. Sie hielt den Kopf gesenkt und das Gesicht mit den Händen bedeckt, und in kleinen Abständen erschütterte das krampfhafte leidvolle Schluchzen ihren Körper. Selbst in diesem Zustand war sie nicht übel anzusehen, so frisch und doch so fein mit ihrer warmen braunen Haut und, so erschien es Denis, dem schönsten Haar unter allen Frauen der Welt. Ihre Hände glichen denen des Onkels, aber an den Enden ihrer jungen Arme nahmen sie sich natürlicher aus und sie waren unendlich weich und zart. Er erinnerte sich, wie ihre blauen Augen voll Zorn, Mitleid und Unschuld geblitzt hatten, und je länger er gewahrte, wie vollkommen sie war, desto häßlicher erschien ihm der Tod, und desto größer wurde seine Qual angesichts ihrer ständig fließenden Tränen. Jetzt fühlte er, daß kein Mann eine Welt verlassen könnte, in der es ein so schönes Geschöpf gab, und jetzt hätte er vierzig Minuten seiner letzten Stunde gegeben, wäre es möglich gewesen, seine grausamen Worte ungesprochen zu 19
machen. Plötzlich drang ein heiserer, zerrissener Hahnenschrei aus dem Tal unter den Fenstern an ihr Ohr, und dieser schrille Laut in der Stille um sie her war wie ein Lichtstrahl in der Finsternis und rüttelte sie beide aus ihren Grübeleien. „O weh, kann ich nichts tun, um Euch zu helfen?" fragte sie und sah ihn an. „Madame, wenn ich irgend etwas sagte, was Euch verletzt hat", entgegnete Denis, wobei er eine direkte Antwort fein umging, „so geschah es, glaubt mit, um Eurer, nicht um meiner selbst willen." Sie dankte ihm mit einem tränenumflorten Blick. „Ich fühle, wie grausam Eure Lage ist", fuhr er fort. „Die Welt hat Euch arg mitgespielt. Euer Onkel ist eine Schande für die Menschheit. Glaubt mir, Madame, in ganz Frankreich gibt es keinen Mann, der nicht freudig meine
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Gelegenheit ergreifen würde, um Euch durch seinen Tod einen kleinen Dienst zu erweisen." „Ich habe bereits erfahren, daß Ihr sehr tapfer und großzügig seid", versetzte sie. „Was ich noch wissen möchte, ist dies: Kann ich Euch dienen, sei es jetzt oder in Zukunft", fügte sie erbebend hinzu. „Ganz gewiß", erwiderte er, „laßt mich neben Euch sitzen, als wäre ich Euer Freund statt ein törichter Eindringling; versucht zu vergessen, wie peinlich wir einander vorgestellt wurden; macht die letzten Augenblicke zu den schönsten meines Lebens, und Ihr erweist mir den größten Dienst, der möglich ist." „Ihr seid sehr ritterlich", setzte sie noch trauriger hinzu, „sehr ritterlich..., und aus irgendeinem Grunde schmerzt es mich. Doch kommt näher, wenn es Euch gefällt, und sollte es etwas geben, was Ihr mir sagen wollt, so seid wenigstens einer sehr geneigten Zuhörerin gewiß. Ach, Monsieur de Beaulieu", stieß sie hervor, „ach, Monsieur de Beaulieu — wie kann ich Euch ins Auge sehen?" Und in einem erneuten Gefühlsausbruch fing sie wieder zu weinen an. „Madame", sagte Denis und nahm ihre Hand in seine beiden, „bedenkt, wie wenig Zeit mir noch verbleibt, wie schmerzlich der Anblick Eures Kummers für mich ist. Erspart es mir, in den letzten Minuten vor Ablauf der Frist das Leid ansehen zu müssen, das ich selbst durch das Opfer meines Lebens nicht von Euch nehmen kann." „Ich bin sehr selbstsüchtig", entgegnete Blanche. „Euretwegen, Monsieur de Beaulieu, will ich tapferer sein. Doch überlegt, ob ich Euch in der Zukunft eine Gefälligkeit zu erweisen vermag. Vielleicht habt Ihr einen Freund, dem ich Eure Abschiedsgrüße überbringen soll? Beladet mich mit Aufgaben, soviel Ihr wollt; jede Bürde erleichtert — wenn auch noch so wenig — mein Gefühl der unschätzbaren Dankbarkeit, die ich Euch schulde. Gebt es in meine Hände, daß ich mehr für Euch tue, als nur zu weinen." „Meine Mutter ist wieder verheiratet und hat eine junge Familie, für die sie sorgen muß. Meine Lehen werden an meinen Bruder Guichard übergehen, und wenn ich mich nicht täusche, wird ihn dies reichlich für meinen Tod entschädigen. Das Leben ist Rauch und vergänglich, wie uns die Angehörigen des geistlichen Standes lehren. Wenn ein Mann wohlauf ist und' die Jahre vor sich sieht, hält er sich für eine bedeutende Persönlichkeit in der Welt. Sein Pferd wiehert für ihn; die Trompeten schmettern, die Mädchen schauen aus den Fenstern, wenn er an der Spitze seines Trupps in die Stadt einreitet; er empfängt zahlreiche Beweise des Vertrauens und der Wertschätzung, manchmal schriftlich in einem Brief, manchmal von Angesicht zu Angesicht, und einflußreiche Menschen huldigen ihm. Da ist es kein Wunder, wenn es ihm für eine Zeit den Kopf verdreht. Indessen, nach seinem Tode ist er bald vergessen, und war er so mutig wie Herkules, so weise wie Salomon gewesen. Noch nicht zehn Jahre ist es her, daß mein Vater fiel, und viele andere Ritter waren bei ihm in einem erbitterten Gefecht; doch ich glaube nicht, daß einer von ihnen oder nur der Name der Schlacht heute bekannt ist. Nein, nein, Madame, je näher Ihr dem 21
Ende kommt, desto deutlicher erkennt Ihr, was für ein finsterer, kalter Ort es ist, wo der Mensch in sein Grab gesenkt wird und die Tür sich hinter ihm schließt bis zum Tage des Jüngsten Gerichts. Ich habe wenig Freunde zur Zeit; wenn ich erst tot bin, werde ich keinen mehr haben." „Ach, Monsieur de Beaulieu!" rief sie. „Ihr vergeßt Blanche de Malètroit!" „Ihr habt ein süßes Wesen, Madame, und Ihr seid so gut, einen kleinen Dienst über seinen Wert hinaus zu würdigen." „So ist es nicht", entgegnete sie. „Ihr täuscht Euch, wenn Ihr glaubt, meine eigenen Sorgen bedrückten mich. Ich sage das, weil Ihr der edelste Mann seid, dem ich je begegnet bin, weil ich einen Charakter in Euch erkenne, der auch einen einfachen Menschen im Lande berühmt machen würde." „Und doch sterbe ich hier in einer Mausefalle, und mein eigenes Gewinsel wird das einzige sein, was dabei zu hören ist", entgegnete er. Ein Ausdruck des Schmerzes trat auf ihr Gesicht, und sie verstummte für einige Augenblicke. Dann blitzten ihre Augen auf, und mit einem Lächeln hob sie wieder zu sprechen an. „Ich kann nicht dulden, daß mein Ritter gering von mir denkt. Jeden, der sein Leben für einen anderen gibt, empfangen alle Herolde und Engel des Herrgotts. Und Ihr habt keinen Grund, den Kopf hängenzulassen, denn..., Bitte, haltet Ihr mich für schön?" fragte sie mit einem tiefen Erröten. „Wahrhaftig, Madame, das tue ich", sagte er. „Ich bin froh darüber", entgegnete sie. „Meint Ihr, daß es in Frankreich viele Männer gibt, die von einer schönen Maid durch ihren eigenen Mund einen Heiratsantrag erhielten und ihr die Bitte ins Gesicht abschlugen? Ich weiß, einige Männer würden solchen Triumph auskosten, aber glaubt mir, wir Frauen wissen besser, was das wertvolle in der Liebe ist. Es gibt nichts, was einen Menschen in seiner Selbstachtung mehr erhöhen sollte, und wir Frauen würden nichts höher preisen." „Ihr seid sehr gut", sagte er, „aber Ihr könnt mich nicht vergessen machen, daß ich aus Mitleid, nicht aus Liebe gebeten wurde." „Ich bin dessen nicht so sicher", erwiderte sie mit gesenktem Kopf. „Hört mich zu Ende an, Monsieur de Beaulieu. Ich weiß, wie sehr Ihr mich verachten müßt; ich fühle, daß Ihr im Recht seid, es zu tun; ich bin ein zu armseliges Geschöpf, als daß ich auch nur einen Eurer Gedanken verdiente, obgleich Ihr — mein Gott! — noch heute morgen für mich sterben sollt. Doch als ich Euch bat, mich zu heiraten, da geschah dies wirklich und wahrhaftig, weil ich Euch achtete und bewunderte und Euch mit ganzem Herzen zugetan war, von dem ersten Augenblick an, da Ihr meine Partei gegen meinen Onkel ergriffet. Hättet Ihr Euch selbst gesehen, Eure edle Miene, Ihr würdet mich eher bemitleiden als verachten. Und jetzt", fuhr eher aus dem Fenster in den Abgrund springen würde, als ohne Euren freien Willen und Eure volle Bereitschaft auch nur einen Finger an Euch zu legen. Aber wenn ich Euch überhaupt etwas bedeute, dann laßt nicht zu, daß ich durch ein Mißverständnis mein Leben 22
verliere; denn ich liebe Euch mehr als die ganze Welt, und obwohl ich, ohne zu zaudern, für Euch sterben würde, bedeutete es doch, sämtliche Freuden des Paradieses zu kosten, wenn ich weiterleben und mein Leben in Euren Diensten verbringen dürfte." Als er zu sprechen aufhörte, ertönte das laute Läuten einer Glocke aus dem Inneren des Hauses, und das Klirren von Waffen im Gang zeigte an, daß die Gefolgsleute des Sire auf ihren Posten zurückkehrten und die Frist abgelaufen war. „Nach allem, was Ihr gehört habt?" flüsterte sie und drängte sich ihm mit ihren Lippen und Augen entgegen. „Ich habe nichts gehört", erwiderte er. „Der Name des Hauptmanns ist Florimond de Champ-divers", hauchte sie in sein Ohr. „Ich habe es nicht gehört", antwortete er, nahm ihren biegsamen Körper in seine
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Arme und bedeckte ihr feuchtes Gesicht mit Küssen. Ein melodisches Zirpen erklang hinter ihnen, und Messire de Malètroit wünschte seinem neuen Neffen eine guten Morgen.
Ende
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