Jeff Sutton
Die tausend Augen
des Krado 1
SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Bu...
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Jeff Sutton
Die tausend Augen
des Krado 1
SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2812
im Verlag Ullstein GmbH,
Frankfurt/M – Berlin – Wien
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
ALTON’S UNGUESSABLE
Übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
Erstmals in deutscher Sprache
Umschlagillustration: Kelly Freas
Umschlaggrafik: Ingrid Roehling
Alle Rechte vorbehalten
© 1970 by Jeff Sutton
Übersetzung © 1971 by Verlag Ullstein GmbH,
Frankfurt/M – Berlin – Wien
Printed in Germany 1972
Gesamtherstellung:
Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH
ISBN 3 548 02812 8
»Alpha Tauri« näherte sich dem Planeten Krado 1. Die Besatzung des Forschungsschiffes war optimistisch: Krado 1 wirkte vielversprechend. Nur Roger Keim, T-Mann der Gruppe, spürte die unbekannte Drohung, die von dort ausging. Er, der Telepath, empfing schon während des Landemanövers Gefühlsströme, die Unterwerfung bedeuteten, und Tod und Schlimmeres… Aber woher kamen diese geistigen Strömungen? Und wieso beschränkte sich die Fauna dieses paradiesisch schönen Planeten auf nur zwei Arten von Lebewesen: möwenähnliche Vögel und seltsame Nagetiere? Aus Tausenden von Tieraugen schien ihm diese Gefahr entgegenzustrahlen. Und die Drohung verdichtete sich zu einem lautlosen Brausen in den Windungen seines überempfindlichen Gehirns. Eine nicht faßbare, unbegreifliche Existenz schien auf das Forschungsschiff gelauert zu haben, um ihre dämonische Macht zu manifestieren und auszudehnen. Das erregende Abenteuer eines Forschungsteams auf einem fernen, unbekannten Planeten, dem das Grauen in der Form körperloser Gewalttätigkeit widerfährt.
EINS
Die Vögel beobachteten, wie das fremde Schiff aus dem Raum herabsank. Zahllose glänzende, runde Augen starrten in den saphirblauen Himmel. Der große zylindrische Körper kam immer näher. Die Vögel hatten von der Ankunft des Schiffes gewußt; lange, bevor es sichtbar wurde, hatten sie seine Vibrationen in der Atmosphäre gespürt. Und sofort hatten sie sich im hohen Gras niedergelassen, die Augen erwartungsvoll nach oben gewandt, in Richtung der Vibrationen. Sie mußten nicht lange warten. Als das große Schiff langsam herunterkam und eine Schleife zog, flatterten die Vögel auf und folgten ihm. Nach einer Weile stellte das Schiff seine Horizontalbewegung ein und schwebte in niedriger Höhe; dann endlich senkte es sich auf die flache Grasebene herab. Inzwischen waren die Vögel ganz nahe. Es war ein Augenblick höchster Anspannung gewesen, als sich das große Raumschiff zum erstenmal zeigte. Mehr als fünfzigtausend Male hatte sich der Planet um seine gleißende blauweiße Sonne gedreht, bevor dieser Augenblick eintrat. Die Erinnerung der Vögel an noch frühere Zeiten war verwischt: unendlich tiefer Raum am Rande des Universums; Sonnen, deren Glut zu Asche erkaltete; neun kleine Körper, die durch die furchteinflößenden Abgründe des Universums jagten; und eine Rasse, die nun seit mehr als hundert Milliarden Jahren nicht mehr existierte. Nicht daß die Erinnerung dieser Vögel durch all die einsame, leere Zeit zurückreichte. Es war das Ding in den Gehirnen der Vögel, das sich erinnerte. In Wirklichkeit war das Ding, das in den Gehirnen der Vögel
lebte, eine Einheit – eine Vereinigung – aus zahllosen Gedankensplittern; und während der schwache, unbewegliche Körper des Dings in einem sicheren Versteck lag, konnte jedes Fragment von einem Wirt Besitz ergreifen, ihn unterwerfen, seine Gedanken und Erinnerungen annehmen, durch seine Sinnesorgane sehen, hören und fühlen und sein Handeln bestimmen. Mehr noch: durch seine Wirte konnte es die Gedankenmacht ausüben. Aber immer blieb es eine Einheit. Jedes Fragment stand in telepathischer Verbindung mit jedem anderen Fragment und mit Uli, dem Ding selbst. Uli! Nur blinder Zufall hatte ihn vor mehr als fünfzigtausend Jahren auf diesen abgelegenen Planeten geführt. Mit einem gepanzerten Körper, der ihn vor den Unbilden des Raumes schützte, und am Leben erhalten durch die schwache Strahlungsenergie zwischen den Galaxien, war er während einer seiner zahlreichen, Jahrtausende währenden Schlafperioden hier gelandet. Im wachen Zustand hätte er gewiß einen anderen Planeten angesteuert. Im Schlaf hatte er keine Wahl gehabt; sein Bewußtsein hatte automatisch nach einer Welt gesucht, die günstige Bedingungen für seine Rasse aufwies. Und so war er in den Bergen nahe dieser Grasebene erwacht, die damals noch das Becken eines flachen Binnenmeeres bildete. Uli war kein »er« und auch keine »sie«. Die Fortpflanzung durch Teilung erfolgte geschlechtslos. Aber die sonderbaren Zweibeiner, die er auf dem Planeten vorgefunden hatte, waren überzeugt davon gewesen, daß er einen Gott verkörperte, und hatten ihn als solchen verehrt. So hatte er sich allmählich selbst für ein männliches Wesen gehalten. Trotz der ausgedehnten Städte und merkwürdigen Maschinen, die Intelligenz ihrer Konstrukteure verrieten, hatte Uli rasch erkannt, daß die Zweifüßler (wie plump sie waren!) nie die Sterne erreichen würden; ihre blauweiße Sonne war zu weit von den Nachbarsonnen entfernt. Auch besaßen sie nicht
das nötige Intelligenzpotential, um die Probleme einer solchen Reise zu lösen. Da sie ihm nichts nützten, dezimierte er sie rasch (obwohl er ihre ihm entgegengebrachte Verehrung sehr amüsant und schmeichelhaft fand). Das war nicht Grausamkeit, sondern ein unumgänglicher Akt; das Gesetz der Qua bestimmte, daß keine bedeutenderen Rassen am Leben bleiben durften, solange sie nicht den Qua unmittelbar nützten. Manchmal fragte er nach dem Warum, aber seine Gedächtnisspeicher gaben keine Antwort darauf. Später, verärgert durch den Anblick der schweigenden Städte, hatte er fast alle Zeugnisse ihrer Kultur ausgelöscht. Gelegentlich entdeckte er durch die Augen eines Wirtes noch ein paar Überreste und zerstörte auch diese. Nicht einmal Schutt durfte übrigbleiben. Aus den gleichen Gedankengängen heraus hatte er die gesamte Fauna des Planeten bis auf jene eine Vogelrasse vernichtet. Neben scharfen Augen, einem ausgezeichneten Gehör und großer Wendigkeit besaßen die Tiere eine bemerkenswerte Fruchtbarkeit, die Garantie dafür bot, daß sie als seine Wirte nie ausstarben. In dieser Hinsicht konnten sie ihm dienen – bis nützlichere Wirte kamen. Kamen? Das Wort beunruhigte ihn. Ein kleiner Teil seines Bewußtseins maß die Zeit an der Umdrehung des Planeten und seiner Bahn um die Sonne; als die Jahrtausende vergingen, wurde er immer ängstlicher. Um die großen Sternhaufen des Zentrums zu erreichen, in denen es sicher geeignete Planeten im Überfluß gab, benötigte er Wirte mit interstellaren Schiffen. Wann würden solche Wesen auf den Planeten kommen? Durch die Augen der Vögel – Tausende von Vögeln, die sich auf den ganzen Planeten verteilten – beobachtete er den Himmel. Und wartete. Jahrtausende verstrichen. Er mußte das Herz der Galaxis erreichen! Das Wissen, das ihm seine Gedächtnisspeicher
entgegendrängend mitteilten, wurde zu einem furchtbaren Druck. Erst dort konnte er gefahrlos die Teilung einleiten, die zu einem neuen Lebenszyklus führte und seiner Rasse letzten Endes die Herrschaft über die zahllosen Sterneninseln des Mittleren Universums verleihen würde. Dieser Vorsatz war noch vor dem Ersten Erwachen seinem Bewußtsein eingeprägt worden – noch bevor er und seine acht Gefährten durch die vereinigte Gedankenmacht der Qua vom sterbenden Rand des Universums zum Zentrum hin geschleudert worden waren. Die Qua! Uli dachte oft an seine Rasse, und er tat es mit Stolz. Hatten sich nicht die Qua in der Dämmerung der Urschöpfung erhoben, um allein durch die Gedankenmacht mehr als eine Million Sonnensysteme zu beherrschen? Das Erste Leben – alles war in seinen Gedächtniszellen gespeichert. Die unsterblichen Qua! Aber die Sonnen erkalteten; der Rand des Universums starb. Und die Qua, gefesselt an die Millionen Generationen niedriger Lebensformen, starben mit den Sonnen. Ihr letzter Versuch, den Geist vom Körper zu lösen, um als reine und unsterbliche Geistwesen im absoluten Raum zu existieren, war fehlgeschlagen. Uli hatte zu den neun Auserwählten gehört, die sich bemühen sollten, eine neue Qua-Zivilisation zu den unendlich fernen Zentralgebieten der immer noch heiß brennenden Sterneninseln zu tragen. Die vereinigte Gedankenenergie der ganzen Rasse trieb sie voran, doch nur er hatte diesen abgelegenen Planeten erreicht. Nun lebte der Ruhm der Rasse in seinem Gehirn, und er allein mußte den Schicksalsweg zu Ende gehen. Hier, in der Galaxis mit ihren Milliarden Sternen, sollten die Qua von neuem erstehen. Das war das Hauptziel seines Seins. Dennoch sah er den Tag herannahen, an dem der Planet wie alle anderen Welten sterben mußte. Wenn die große blauweiße Sonne in eine Nova überging, zerfiel der Planet zu Staub. Und
dann mußte er sterben. Er mußte sterben. Der Tod war ein drohendes Gespenst. Sein Tod bedeutete den Tod der Qua. Die Aussicht entsetzte ihn. Dann hatten sich wie durch ein Wunder Schwingungen in der Atmosphäre bemerkbar gemacht. Durch die tausend Augen der Vögel beobachtete er, wie das große Schiff langsam auf die Grasebene herabschwebte. Seine Befreiung war nahe. Die Form des Schiffes verriet viel über die Intelligenz seiner Erbauer. Um diesen Planeten ganz am Rande der dünn besiedelten Galaxis zu erreichen, mußten die Erbauer so vielschichtige Probleme wie Raumdiskontinuität und Zeitverschiebung gelöst haben; er war überzeugt davon, daß die natürliche Lebenserwartung dieses Wesens nicht ausreichte, um ihn ans Ziel zu bringen. Nur die Qua waren unsterblich! Aber dieses Schiff und seine Besatzung konnten ihn ein gutes Stück weitertragen. Schon überlegte er, wie lange es dauern mochte, bis die Galaxis erobert war. T-Mann Roger Keim beobachtete besorgt die vielen Teleschirme. Er war groß und dunkelhäutig und hatte die gelblichen Augen, die so typisch für Klasner, den zweiten Planeten der goldenen Sonne Korak, waren. In seinem hageren Gesicht spiegelte sich die Unruhe nicht wider; aber sie war da, und er wußte nicht, weshalb. Weite Grasebenen, bewaldete Berge, genug frisches Wasser, drei riesige Meere, deren Gezeiten von den beiden Monden am Saphirhimmel bestimmt wurden – eine ideale Welt für die menschliche Zivilisation. Obendrein schien sie keine eigenen Lebensformen zu besitzen. Eine Welt, wie man sie bei der Erforschung von hundert Sternsystemen nur einmal fand. Und ihnen war der Fund geglückt! Dieses Wissen drückte sich im gegerbten Gesicht von Kapitän Woon aus, in Myron Kimbroughs scharfen Augen, in der angespannten Haltung der
Wissenschaftler, die auf die Kommandobrücke gekommen waren, um die Landung zu beobachten. Alle schwiegen. Eine Welt unter Tausenden! Aber das schwache, unheimliche Gefühl einer drohenden Gefahr wollte ihn nicht verlassen. Ein Prickeln, vage und schwer zu bestimmen, eine schrille Warnung in Keims Unterbewußtsein. Kurz nachdem das Erkundungsschiff Alpha Tauri in die Atmosphäre eingetaucht war, hatte er es zum erstenmal gespürt. Etwas stimmte nicht auf diesem Planeten! Einige Male wollte er zum Sprechen ansetzen, doch immer wieder hielt er sich zurück; das Unbehagen ließ sich einfach nicht definieren. Außerdem waren alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden; Kapitän Woon hatte streng darauf geachtet. Wie es die Vorschriften bei der Landung auf einem unbekannten Planeten verlangten, hatte die Alpha Tauri mehrmals den Himmelskörper umkreist und mit Hilfe zahlreicher Sensoren Landfläche, Meere und Atmosphäre genau aufgezeichnet. Minisatelliten in verschiedenen Höhen hatten nirgends künstliche Energiequellen festgestellt. Ihre Messungen bedeuteten: Keine Gefahr! Die Informationen aller Sensoren waren in einem Computer gespeist worden, der daraus ein Miniaturbild des Planeten, zusammensetzte. Es zeigte sich absolut nichts Besorgniserregendes. Selbst die Biosensoren, die nach wichtigen Lebensformen suchten, hatten nur Vögel entdeckt. Eine Welt, wie geschaffen für die Entwicklung höheren Lebens in all seiner Vielfalt – und doch so leer. War es das, was ihm Sorge bereitete? War die Entwicklung irgendwie an dieser Welt vorbeigegangen? Die Fragen verwirrten ihn. Während die Alpha Tauri langsam die Grasebene überflog, spürte er mit einem Mal einen Druck im Gehirn – einen Druck, der an die schäumende Brandung an einer einsamen Küste erinnerte; er nahm zu und ebbte ab und flutete wieder heran. Er warf einen raschen Blick auf die anderen: den Psychologen
und Arzt Harlan Duvall, den Chemiker Sam Gossett, den Biologen Alton Yozell und die hübsche, blonde Meteorologin Robin Martel. Alle starrten gedankenverloren die Teleschirme an. Das schmale, freundliche Gesicht des Astrophilosophen Arden wirkte nachdenklich; aber sonst schien sich niemand Sorgen zu machen. Im Gegenteil, der Astrogator Ross Janik sah ausgesprochen gelangweilt drein, ebenso Paul Rayfield, der Physiker. Myron Kimbrough, der hagere, leicht gebeugte Chef des Wissenschaftlerteams, der neben Kapitän Woon stand, trug die ungeduldige Miene eines Mannes zur Schau, dessen Gäste zu spät zum Abendessen kommen. Lara Kamm, die dunkelhaarige Expertin für fremde Kulturen, stand abseits und hing wie immer ihren eigenen Gedanken nach. Nur die dunklen Augen des Ökologen Karl Borcher verrieten Verwirrung. »Ein Volltreffer«, murmelte jemand in die Stille. Keim erkannte die Stimme von Ivor Bascomb, dem Biologen. Obwohl niemand antwortete, wußte Keim, daß Bascomb die Gedanken der anderen ausgesprochen hatte: Es sah wirklich so aus, als hätten sie mit dieser Welt einen Volltreffer gemacht. Obwohl der kleine Teil der Galaxis, den sie erforscht hatten, von Planeten wimmelte, eigneten sich nur ganz wenige für die menschlichen Kolonisation. Ihre augenblickliche Expedition – offiziell schlicht als Reise 992 bezeichnet – hatte sie bereits an Dutzenden von Welten vorbeigeführt. Keine war brauchbar gewesen. Weshalb war er so unruhig? Er sah zufällig in Lara Kamms Richtung, und sie wandte sofort den Blick ab. Er war daran gewöhnt. Er wußte von gelegentlichen Begegnungen bei Diskussionen oder in der Messe, daß sie ein nettes Mädchen war, doch sie wich ihm auffallender aus als die anderen. Wenige Menschen – und ganz besonders wenige Frauen – fühlten sich in Gegenwart eines Telepathen wohl. Das hatte er schon als Kind erfahren müssen.
Die Freunde, die er auf seiner Heimatwelt Klasner hatte, waren Telepathen wie er. Kapitän Woon sprach ein paar Worte in den Interkom. Keim spürte ein plötzliches Abbremsen; gleichzeitig verstärkte sich das Dröhnen in seinem Gehirn. Ängstlich suchte er die Bildschirme ab. Im Hintergrund, ein Stück über dem hohen Gras, sah er einen Vogelschwarm. Die Tiere flogen auf das Schiff zu. Die Schirme zu beiden Seiten und im Bug enthüllten nichts außer Grasland. Was wühlte bloß so in seinem Innern? Was kreischte tief in seinem Unterbewußtsein und peitschte seine Nerven auf? Noch einmal warf er einen Blick auf den Heckschirm: Himmel, Vögel, Gras unter einer bläulichweißen Sonne – eine heitere, pastorale Szene. Das Dröhnen nahm zu, begleitet von einem Knistern und Rauschen, das an seinem Verstand zerrte; eine mächtige, lautlose Brandung, die in seinem Bewußtsein tobte. Er hatte das Gefühl, daß von allen Seiten gewaltige Schall-Energien auf ihn eindrangen. Kapitän Woon sprach wieder ins Mikrophon. Zögernd drehte sich Keim um. »Gehen Sie nicht tiefer«, warnte er. »Höhe halten!« rief Woon in das Lautsprechersystem. Er wandte sich an den Telepathen. »Weshalb nicht?« Auch diesmal gelang es ihm nicht, das Unbehagen zu verbergen, die er in Gegenwart des T-Manns empfand. »Etwas stimmt nicht.« »Gefahr?« »Ja, ich spüre es.« Kimbrough, der wissenschaftliche Leiter, trat einen Schritt vor und fragte scharf: »Welcher Natur?« »Es hört sich wie Donner an«, erklärte er. »Donner?« »Ein knisternder, lautloser Donner; das ist mein Eindruck.« »Eine Drohung?« »So empfinde ich es, aber ich kann es nicht genau definieren.«
»Und Sie haben das Gefühl erst jetzt?« »Es begann, kurz nachdem wir in die Atmosphäre eindrangen.« Er schilderte sein anfängliches Unbehagen, den ständig wachsenden Druck und das Knistern, das nun auf ihn eindrang. Kimbrough schüttelte langsam den Kopf. »Auf dem ganzen Planeten gibt es kein Bauwerk und keine Straße – kein einziges Kulturzeugnis.« »Sind diese Dinge für die Gegenwart intelligenten Lebens unbedingt notwendig?« fragte Keim. »Nach unseren Erfahrungen – ja.« Kimbrough warf Lara Kamm einen Blick zu. »Aber ich überlasse die Antwort lieber unserer Expertin.« »Wir können uns nur auf die Vergangenheit stützen«, meinte sie, ohne den T-Mann anzusehen. »Bis jetzt besaßen auch die primitivsten denkenden Lebewesen, mit denen wir zusammentrafen, irgendwelche künstlich geschaffenen Gegenstände. Kann wahre Intelligenz ganz ohne diese Dinge auskommen – vor allem, wenn sie sich in einem Stadium der Entwicklung befinden muß, um uns zu bedrohen? Ich neige dazu, diese Frage zu verneinen. Im allgemeinen messen wir Intelligenz an ihrer Leistung – an den Dingen, die eine Rasse hervorbringt. Ob dieses Kriterium genügt, weiß ich allerdings nicht. Schließlich haben wir erst einen winzigen Teil der Galaxis gesehen. Vielleicht…« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht was?« fragte Kimbrough. Sie lächelte schwach. »Ich wollte nur andeuten, wie wenig wir wissen.« »Die Biosensoren zeigten keine einzige Lebensform an, die über dieser Vogelrasse steht«, stellte er fest. »Und sie tun es auch jetzt noch nicht.« »Wonach beurteilen wir den Rang einer Lebensform?« unterbrach Alton Yozell. Als die anderen aufmerkten, fuhr er fort:
»Ist der Maßstab Größe, Struktur, Intelligenz, die Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen? Ist er eine Kombination all dieser Dinge, oder ist er etwas ganz anderes?« »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Kimbrough. »Ich möchte nur klarstellen, daß wir Lebensformen nach unseren eigenen Normen definieren – nach dem, was wir wissen. Und weil wir das tun, schalten wir andere Möglichkeiten ganz aus.« »Was für andere Möglichkeiten?« Yozell zuckte mit den Schultern. »Alles, was im Bereich des Ungeahnten liegt, wenn ich es so ausdrücken darf. Oder alles, was jenseits unserer Sinne liegt. Wir definieren das Wahrnehmbare, mehr nicht. Das ist zwar verständlich, aber dürfen wir voraussetzen, daß die Grenzen unserer Sinne allgemeingültig sind? Wir haben bereits gelernt, unseren Wahrnehmungsbereich durch Instrumente zu erweitern. Sollen wir wirklich hier schon haltmachen? Ganz offen gestanden – ich bin nicht überzeugt davon, daß unser Wissen die letzte Weisheit darstellt. Vielleicht liegt jenseits unserer Sinne weit mehr, als wir vermuten.« Kimbrough lächelte geduldig. »Darüber würde ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen, Alton.« »Vielleicht sollten wir es doch tun.« Der Sprecher war Karl Borcher, der Ökologe. »Was meinen Sie damit?« »Wie Roger spüre ich, daß hier etwas nicht stimmt«, erklärte Borcher. »Ich dachte zwar nicht an eine Drohung, aber die Ökologie des Planeten beunruhigt mich. Sie ergibt einfach keinen Sinn. Die Umgebung schreit geradezu nach einer vielschichtigen und reichhaltigen Fauna, doch außer Vögeln und kleinen Nagetieren haben wir nichts entdeckt. Und wenn die Daten der Biosensoren nicht trügen, handelt es sich um eine einzige Vogelart.« »Das war mir bisher nicht aufgefallen«, sagte Kimbrough verblüfft.
»Die Lebenskurven gleichen einander.« Kimbrough trat an die Sensoren und untersuchte die Diagramme. »Sie haben recht«, meinte er schließlich. »Es herrscht keinerlei Harmonie und Gleichgewicht, wie wir das von anderen Welten gewöhnt sind«, fuhr Borcher fort. »Falls sich keine höheren Lebewesen entwickelt haben – weshalb nicht? Oder, falls sie sich entwickelt haben, was ist aus ihnen geworden? Eine einzige Vogelart existiert, und sie ist alles andere als primitiv. Wo bleibt die Parallelentwicklung? So sprunghaft die Evolution wirken mag, im Grunde genommen hat sie doch ihre festen Regeln. Und diese Regeln fehlen hier. Ich schlage vor, daß wir uns noch einmal sorgfältig umsehen, bevor wir landen.« »Die Instrumente haben alles aufgezeichnet, was es aufzuzeichnen gab«, meinte Kimbrough trocken. »Müssen wir nicht mit neuen Situationen rechnen?« unterbrach ihn Arden, der Astrophilosoph. Keim drehte sich um und sah ihn an. Arden hatte ein schmales Gesicht mit hoher Stirn und einem empfindsamen Mund. Seine Augen waren forschend auf Keim gerichtet. »Können wir erwarten, daß die ganze Galaxis den gleichen Gesetzen gehorcht, daß sie den gleichen Evolutionslinien folgt? Ich glaube es nicht.« »Mich beunruhigt vor allem das Fehlen jeder Evolution«, entgegnete Borcher. »Vielleicht bemerken wir sie nur nicht.« »Was heißt das?« fragte Kimbrough unwirsch. »Alton könnte recht haben. Vielleicht ist der Bereich unserer Sinne zu klein für diese Welt.« »Sie setzen also voraus, daß dort unten Leben existiert?« »Ich vermute es.« »Selbst Vermutungen sollten feste Grundlagen haben.« »Obwohl ich Ihre Ansicht in diesem Punkt nicht teile – meine Vermutung hat eine Grundlage.« Arden deutete auf den
Telepathen. »Rogers Sinne sind schärfer als die unseren. Seine Besorgnis ist deshalb auch die meine.« »Möchten Sie, daß wir diese Welt verlassen?« fragte Kimbrough. »Das habe ich nicht vorgeschlagen.« »Karl?« Er sah den Ökologen an. Borcher rieb sich über das Kinn. »Nein«, sagte er schließlich, aber er wirkte deprimiert. »Ich finde, Ihre Sorgen sind unbegründet«, warf Kapitän Woon ein. »Was könnte uns in einer Welt drohen, die keinerlei Spuren von intelligenten Lebewesen aufweist? Wir können uns darauf verlassen, daß die Instrumente künstlich geschaffene Einrichtungen sofort entdeckt hätten.« »Es bleibt immer noch das Ungeahnte, das Alton meint«, sagte Kimbrough trocken. Woon schüttelte den ergrauten Kopf. In seinem sonnenverbrannten Gesicht spiegelte sich Ungläubigkeit. Mit einer Handbewegung auf die Bildschirme sagte er: »Wir können die Alpha Tauri mit einem Kraftfeld umgeben, das allen bisher bekannten Waffen standhält. Im Notfall sind wir sogar in der Lage, die gesamte Fauna des Planeten bis herunter zu den Einzellern zu vernichten. Fremde Welt oder nicht – die Gefahr dürfte gering sein. Ich schlage vor, daß wir landen.« Er warf dem T-Mann einen herausfordernden Blick zu. Keim lächelte. »Die Entscheidung liegt nicht bei mir«, meinte er. »Gegenstimmen?« fragte Kimbrough. Als niemand antwortete, wandte er sich an den Telepathen. »Spüren Sie immer noch diesen Donner?« »So stark wie zu Beginn.« »Aber nichts Spezifisches?« »Nein.« Roger schüttelte zögernd den Kopf. Kimbrough fragte vorsichtig: »Und Sie sind überzeugt, daß es sich um eine Drohung handelt?« »Ja, so empfinde ich es.«
Kimbrough seufzte und sah den Kapitän an. »Ich glaube, wir sollten landen, vorsichtig natürlich.« Borcher wollte etwas einwenden, doch dann schwieg er. Keim bemerkte, daß er einen beunruhigten Blick auf die Messungen der Biosonden warf. Woon rief ein paar kurze Befehle ins Mikrophon, und die Alpha Tauri landete auf der Grasebene. Keim fiel auf, daß sich die Blicke aller Anwesenden auf die Bildschirme richteten. Er bemerkte auch, daß Kimbroughs Ungeduld einer gewissen Besorgnis gewichen war. Keim spürte den Wunsch, seine Gedanken zu lesen, aber er tat es nicht. Es war ein ethischer Grundsatz, den er immer beachtet hatte und den er auch weiterhin beachten mußte, wenn er kein Ausgestoßener sein wollte. Sie tolerierten ihn nur, weil sie ihm vertrauten. Das hatte man ihm schon in früher Kindheit eingebleut, als sein seltenes Talent sich zum erstenmal offenbarte. Er hatte ein Leben unter Wissenschaftlern gewählt, weil er glaubte, daß sie größeres Verständnis besitzen würden; und im großen und ganzen stimmte das. Dennoch zeigten viele (vielleicht unterbewußt) Scheu in seiner Gegenwart. Wie Lara Kamm. Ein T-Mann – der Aussätzige auf einem Schiff. Er lächelte bitter. Aber er konnte Kimbroughs Gefühle verstehen. Und er verstand Kapitän Woon. Man konnte einen Planeten mit so hohem Potential nicht wegen einer vagen Drohung aufgeben. Leider schienen sie nicht zu erkennen, daß ein guter Telepath Sensoren besaß, die sich durch Maschinen nicht ersetzen ließen. Keim wußte, daß er größere telepathische Fähigkeiten besaß als die meisten seiner Kollegen; manchmal war er selbst überrascht von seinen Leistungen. Kimbrough schien das zumindest zu ahnen, und aus diesem Grund war Keim überzeugt davon, daß der wissenschaftliche Leiter mit äußerster Vorsicht zu Werk gehen würde. Er mußte auch zugeben, daß Kapitän Woon das Verteidigungspotential seines
Schiffes eher zu niedrig als zu hoch eingeschätzt hatte. Die Alpha Tauri konnte nicht nur jegliches Leben zu Land und zu Wasser vernichten, sie konnte den Planeten selbst zu Asche verglühen lassen. Keim wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Knistern und Dröhnen in seinem Gehirn zu. Mit geschlossenen Augen versuchte er die Bedeutung dieses lautlosen Ansturms zu erfassen. Er konnte nichts entziffern. Nur das Gefühl der Drohung war ganz deutlich. Gefahr! Gefahr! Gefahr! Der Schrei kam aus der Tiefe seines Bewußtseins.
ZWEI
Keim blinzelte in das grelle Licht der bläulichweißen Sonne. Seine Augen hatten sich an die Schiffsbeleuchtung gewöhnt und schmerzten nun, als die natürliche Helligkeit auf ihn eindrang. Die Sonne dieses Systems war besonders hell. Eine angenehme Wärme legte sich auf Keims Haut. Myron Kimbrough, der wissenschaftliche Leiter, hatte dieser Sonne zu Ehren eines früheren Forschungsdirektors den Namen »Krado« gegeben. Somit hieß der Planet Krado 1. Die beiden großen Monde, die friedlich am violetten Himmel dahinzogen, erhielten die Bezeichnung K 1/1 und K 1/2. Keim wußte, daß die Namen keine offizielle Bedeutung hatten. Die Benennung würde die Bürokratie später vornehmen. Er hatte kaum einen Zweifel daran, daß man den Namen eines großen Politikers wählen würde. Doch für die Wissenschaftler hieß die Sonne Krado. Sie ließen nicht von dieser eigensinnigen Angewohnheit ab, ihresgleichen zu ehren. Ein Dutzend verschiedener Teams traf alle Vorbereitungen, um Krado 1 seine Geheimnisse zu entlocken. Jedes Mitglied des wissenschaftlichen Forschungsstabes kannte seine Aufgabe. Für Keim war der Vorgang längst vertraut. Etwas abseits ließ die blonde Meteorologin Robin Martel eine Höhen-Radiosonde steigen. Die Methode war zwar primitiv, lieferte aber in kurzer Zeit eine Analyse der augenblicklichen Wetterverhältnisse. Später konnte man dann die Daten der Minisatelliten auswerten und alle meteorologischen Details aufzeichnen. Computer besorgten den Rest: sie errechneten das Jahreszeitenklima einschließlich Temperatur, Feuchtigkeit und vorherrschenden
Windrichtungen. Man konnte sich im allgemeinen auf diese Vorhersagen verlassen. Ivor Bascomb und Alton Yozell, der Botaniker und der Biologe, bestiegen einen Zweimann-Gleiter, um einen Überblick der Umgebung zu gewinnen. Keim sah zu, wie die Maschine immer höher stieg und dann zu kreisen begann. Burl Ashford, der Geologe, entnahm dem Boden die ersten Proben. Der zierliche Historiker Henry Fong, dessen Vorfahren aus der asiatischen Region der alten Erde stammten, fotografierte eifrig das Treiben der anderen und sprach dazu einen Tonbandkommentar. Unzählige Vögel kreisten über ihnen. Ein friedliches Bild. Keims Gedanken wandten sich nach innen. Der Donner und das Knistern erfüllten immer noch sein Gehirn. Das Gefühl der Drohung wollte nicht weichen. Im Gegenteil, der Aufruhr schien zu wachsen. Er glaubte, daß er die Bedeutung des Tumultes erkennen oder zumindest einen Hinweis auf seinen Ursprung erhalten könnte, wenn er sich nur stark genug konzentrierte und ganz in die Tiefe seines Gehirns eindrang. Es war etwas, das am Rande des Bewußtseins lauerte. Er überlegte, wie schon so oft, weshalb er das Unterbewußtsein anderer Menschen durchschaute, niemals aber sein eigenes. Wenn er es versuchte, hatte er das Gefühl, gegen eine Barriere zu stoßen. So war es auch jetzt: sein Gehirn war in Bewußtsein und Unterbewußtsein gespalten, und es gab keinen Verbindungsweg. Nichts außer der Ahnung, daß sein Unterbewußtsein das Knistern und Dröhnen definieren konnte. Aber diese Definition ließ sich nicht in sein Bewußtsein übertragen. Er konnte die Sperre nicht überwinden. War diese Welt wirklich so friedvoll, wie sie schien? Oder konnten sie die Zeichen nur nicht erkennen? Er fragte sich, welchen Eindruck der Planet auf ihn gemacht hätte, wenn er
frei von diesem inneren Konflikt gewesen wäre. Nachdenklich betrachtete er die weite Grasfläche. Ein stiller Planet. Einladend. Er erinnerte an Klasner, Jondell, Tarth oder die alte Erde. Ein wartender Planet. Aber ein Planet, der so gut wie kein Leben beherbergte. Weshalb? Leben entspringt einer gemeinsamen Zelle und teilt sich erst dann in seine Milliarden Formen. So war es in der ganzen erforschten Galaxis – nur hier nicht. Weshalb? Wir folgern, wir analysieren, wir ergründen, und wir gehen dabei immer von den grundsätzlichen Dingen aus, die wir Tatsachen nennen. Wir kommen nicht von uns selbst los. Alton Yozells Worte. Aber weshalb müssen wir diese Welt an den Welten messen, die wir bereits kennen; weshalb müssen wir Leben an den Lebensformen messen, die wir kennen? Eine andere Frage in diesem Zusammenhang: Wie können wir etwas verstehen, das jenseits unseres Begriffsvermögens liegt? Und etwas Grundsätzliches: Kann Intelligenz ohne äußere Zeichen einer Zivilisation existieren? Lara verneinte es, aber auch sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Weshalb? Seiner Aussage wegen? Doch Alton hatte ebenfalls gezweifelt. Und Borcher. Und Arden. Ob es ihm noch gelingen würde, dieses Gefühl des Unbehagens zu definieren, verständlich zu interpretieren? Oder stand der Mensch zum erstenmal vor dem Ungeahnten? Wir sollten weg von hier, fliehen, solange es noch geht. Fliehen? Keim schüttelte den Kopf. Er hatte bisher noch nie im Leben Angst empfunden. Aber er war auch noch nie im Bann eines so heftigen inneren Aufruhrs gewesen. Er warf einen Blick auf das Grasland, die kreisenden Vögel, den saphirblauen Himmel und die zartgetönten Wolken am Horizont. Einer der beiden Monde stand hoch oben am Firmament. Friedlich, ja. Nur das Knistern und Dröhnen in
seinem Gehirn und das Prickeln in seinem Unterbewußtsein verneinten es. Lara Kamm trat aus dem Schiff und sah sich um. Trotz des betont schlichten grünen Coveralls wirkte sie sehr feminin. Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich wie so oft. Lara lebte in ihrer eigenen Welt. Ihr einziger Freund war Sam Gossett, der alte Chemiker. Keim unterbrach seine Gedankengänge, als Kapitän Woon auf ihn zukam. Woon war der typische Vertreter der Raumpioniere: grobklotzig, ehrlich, rasche Entscheidungen gewohnt. Für ihn bedeutete ein Planet nicht mehr als eine Zwischenstation, ein kurzer Aufenthalt vor der nächsten Reise. Er verachtete die Planetenbewohner, die nie das strahlende Feuer der Sterne kennengelernt hatten. Er verachtete auch die Dinge, die er nicht so recht verstand – T-Männer beispielsweise. Aber er war alleiniger Gebieter über das Schiff, so wie Myron Kimbrough alleiniger Gebieter über die Forschungsabteilung war. Keim empfand zu keinem der beiden eine besondere Zuneigung, aber er mußte gestehen, daß sie ein ausgezeichnetes Gespann waren. Woon blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. »Immer noch das gleiche Gefühl?« Er versuchte seine tieferen Regungen zu verbergen. Keim nickte. »Und ich weiß immer noch nicht, was es bedeutet.« »Alles scheint zu klappen.« Woon sah sich nachdenklich um. »Kimbrough ist der Ansicht, daß der Planet alle Voraussetzungen zur Kolonisierung besitzt.« »Wir können es nur hoffen.« »Garantieren läßt sich nichts«, gab Kapitän Woon zu. »Ich habe schon die sonderbarsten Dinge erlebt.« Keim nickte nur. »Ich erwarte es hier nicht, aber wir sind vorbereitet.« Woon sah mit zusammengekniffenen Augen nach oben. Sein Blick wirkte wehmütig. »Wir sind ganz am Rand der Galaxis, Roger.
Weiter ist der Mensch bisher nicht gekommen. Hinter dieser Sonne liegt das Nichts.« »Ein großer Sprung«, sagte Keim. »Viel zu groß.« Woon sagte es bedauernd. »Es wird noch einmal eine Million Jahre dauern, bis unsere Galaxis ganz erforscht ist. Dennoch spüre ich die Barriere. Es gibt wohl eine Art Grenze für den Raumfahrer.« »Und für den Wissenschaftler«, entgegnete Keim. »Das Ungeahnte läßt uns keine Ruhe.« Woon tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Es sind noch viele Ebenen da, die sich als Landeplätze eignen würden. Halten Sie es für besser, den Standort zu wechseln?« Roger schüttelte den Kopf. »Das würde vermutlich nicht viel ändern.« »Was Sie spüren, ist nicht an einen Ort gebunden?« »Nein, meiner Meinung nach nicht.« »Damit kann man nicht viel anfangen, Roger.« Keim lächelte verzerrt. »Wem sagen Sie das?« »Ich hoffe, daß Sie sich täuschen. Ich würde diese Welt nur schweren Herzens vernichten.« »Diese oder jede andere«, fügte Keim hinzu. »Es ist eine rohe Methode.« »Kämpfe werden durch Waffen gewonnen – oder vielleicht ist das nur die Einstellung der Raumfahrer.« Er zuckte mit den Schultern. »Sagen Sie mir jedenfalls Bescheid, wenn sich etwas Neues ergibt.« Woon ging mit raschen Schritten zum Schiff zurück.
Etwas stimmte nicht! Keim erwachte mit bösen Vorahnungen. Nichts hatte sich verändert, weder der Donner und das Knistern noch die schrille Warnung in seinem Unterbewußtsein. Aber darüber hinaus
spürte er die Anwesenheit einer fremdartigen Macht. Einbildung? Nein, das glaubte er nicht. Er zog sich an, frühstückte vor den anderen und ging ins Freie. Die bläulichweiße Sonne schob sich eben erst über den Horizont. Geisterhaft helle Streifen standen am Himmel. Das Grasland, die Purpurberge in der Ferne, der Horizont – überall spürte er die drückende Last, die auch in seinem Innern war. Diese Welt beherbergte – was nur? Er sah sich deprimiert um. Er war einer der wenigen, die keine offiziellen Aufträge bekamen, und es geschah selten, daß jemand seine Hilfe brauchte. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß es Zeiten gab, in denen er unersetzlich war. Wie auf dem Planeten Kale der Zwergsonne Gribbous. Dort hatte er unmittelbar nach der Landung fremde Gedanken aufgefangen und sie bis zu einem fernen Dorf im Dschungel verfolgt, wo eine primitive Pygmäenrasse hauste. Nicht einmal die empfindlichen Sensoren hatten von diesem versteckten Ort Notiz genommen. Es war Keim gelungen, die telepathischen Lauteindrücke wiederzugeben, so daß Hester Kane, die Linguistin, sie entschlüsseln und einen Dialekt zusammenstellen konnte. Lara Kamm hatte die fremde Sprache erstaunlich schnell gelernt und Kontakt zu den Steinzeitgeschöpfen aufgenommen. Sie erfuhr eine Menge über ihre Gesellschaftsstruktur, Legenden, Religion und Geschichte. Als Gegengabe weihten sie die Eingeborenen in die Geheimnisse der Schreibkunst ein. Er überlegte, ob das richtig gewesen war. Die Bewohner von Kale, in ein paar winzigen Stämmen zusammengefaßt, hatten offensichtlich glücklich unter der Zwergensonne Gribbous gelebt; konnten sie weiterhin glücklich bleiben? Jetzt, da sie die Macht des geschriebenen Wortes kannten und wußten, was man mit Werkzeugen erreichen konnte, mußte sich ihr Leben verändern. Ihre Zufriedenheit war verschwunden. In Zukunft
würden sie sich nach fremden Sternen sehnen. Gut oder schlecht? Er konnte es nicht genau sagen. Das Imperium hatte ein paar Informationen gewonnen, die vor allem Gelehrten und Astrohistorikern dienten. Offiziell, wie immer in solchen Fällen, wurde eine Kolonisierung des Planeten verboten. Man stellte lediglich lockere Handelsbeziehungen her. In ein paar tausend Jahren erwies sich der Planet vielleicht als günstige Rohstoffquelle. Und darin steckte vor allem die Größe des Imperiums – daß es für die Zukunft plante. Myron Kimbrough brachte einen Gleiter ins Freie und blieb neben Keim stehen. »Ich will mich einmal in der Gegend umsehen. Kommen Sie mit?« Roger nickte, angenehm überrascht. Der wissenschaftliche Leiter behandelte ihn zwar freundlich, hatte bis jetzt aber noch nie seine Gesellschaft gesucht. Als der Gleiter sich über das harte, spitze Gras erhob, fragte Kimbrough: »Immer noch das gleiche Gefühl?« Keim lachte. »Kapitän Woon stellte mir diese Frage ebenfalls.« »Wir machen uns Sorgen, Roger.« »Nichts hat sich verändert.« »Das Dröhnen schwillt an und wird leiser?« »Und knistert.« »Könnte es eine natürliche Ursache haben?« »Vielleicht. Ich bezweifle es.« »Wie können Sie es bezweifeln, wenn Sie keine Ahnung haben, was es ist?« »Wichtiger als der innere Aufruhr ist wohl das Gefühl der drohenden Gefahr«, erklärte Keim. »Gongs dröhnen, Glocken läuten…« »Gongs und Glocken?« Kimbrough warf dem Telepathen einen raschen Blick zu.
»Das war bildlich gesprochen«, meinte Keim lächelnd. »Aber ich spüre eine Gefahr. Ein Prickeln, als würden mir die Haare zu Berge stehen. Intuition? Oder hat irgend etwas tief in meinem Innern tatsächlich Panik ausgelöst? Ich weiß es nicht, aber ich bin überzeugt davon, daß der Planet mehr verbirgt, als wir ahnen.« »Könnte es an der Fremdartigkeit liegen?« Er schüttelte den Kopf. »Das bestimmt nicht. Ich bin auf Dutzenden fremder Welten gelandet, ohne etwas zu spüren.« »Aber wir beobachten den Planeten, seit wir in die Atmosphäre eingedrungen sind. Da sind zum einen die kleinen Nagetiere im Gras und zum anderen die Vögel. Sonst nichts.« »Das ist gerade das Problem.« »Verdammt komisch«, gab Kimbrough zu. »Borcher behauptet, die Natur könnte niemals eine so einseitige Ökologie hervorbringen, und ich muß ihm recht geben. Daraus folgt, daß die anderen Lebewesen des Planeten systematisch vernichtet wurden.« »Mit zwei Ausnahmen.« »Die Vögel? Ein großes Rätsel.« Kimbrough steuerte den Gleiter auf eine niedrige Bergkette zu, die im Dunst des Horizonts lag. Erst dann sprach er weiter. »Aber es könnte schon vor langer Zeit geschehen sein, vor vielen Jahrtausenden. Dschungelwälder überwuchern Städte und verbergen die schlimmsten Narben. Vielleicht sind wir nicht die ersten Besucher aus dem All.« »Weshalb sollte jemand das Leben eines Planeten vernichten, ohne sich selbst dort anzusiedeln?« »Eine kluge Frage – auf die ich leider keine Antwort weiß. Auch Borcher zermartert sich den Kopf. Gegen die Theorie spricht außerdem Ihr Gefühl.« Kimbrough sah ihn von der Seite an. »Wenn ich nun verlange, daß Sie die Drohung näher beschreiben – könnten Sie das?«
Keim schloß die Augen und suchte in seinem Innern. Sofort drängte sich der Tumult in den Vordergrund, überlagert von einer beharrlichen Drohung. Gehörten Donner und Drohung zusammen? Er konzentrierte sich auf das dumpfe Dröhnen, das aus den Tiefen seines Gehirns wallte; wieder erinnerte es ihn an eine ferne Brandung. Wellen rollten heran, warfen sich zischend auf den Sand und fluteten zurück. Aber das Knistern – was hatte es mit dem Donner zu tun? Es erklang unregelmäßig und schien doch ein bestimmtes Schema zu haben. Lärm, aber kein Mißklang; er spürte gewisse Assoziationen. Das Dröhnen enthielt auch ein Schema, aber es war das einfache Schema der Wiederholung. Darin lag der Unterschied. Und mit einem Mal erinnerte er sich, wie er die Gedanken der Pygmäen von Kale empfangen hatte. Die Erinnerung elektrisierte ihn. Ja, so war es jetzt auch, doch die Impulse wirkten tausendfach verstärkt, und ihr Schema war unendlich komplizierter. Irgendwie hatte er ein fremdes Gedankennetz angezapft. Eine Übertragung? Ihn fror mit einem Mal. Es war unmöglich. Und doch wußte er tief im Innern, daß er recht hatte. Fremde Intelligenzen! Wo und welcher Art? Er spürte, daß Kimbrough ihn aufmerksam beobachtete. »Es ist eine Form der Gedankenübertragung«, sagte er. »Gedankenübertragung!« Das klang entsetzt. »Unterbewußt habe ich es wohl geahnt, aber die Erkenntnis kam mir erst in diesem Augenblick.« »Eine fremde Rasse.« Kimbrough zitterte ein wenig. »Können Sie das, was Sie spüren, aufzeichnen und entschlüsseln lassen?« Keim schüttelte den Kopf. »Die Sprache von Kale war primitiv. Dieses Dröhnen und Knistern läßt sich nicht in phonetische Laute umformen. Ich könnte es nicht wiederholen.«
»Weshalb sind Sie so sicher, daß es sich um eine Gedankenübertragung handelt?« »Ich spüre das Schema.«
An diesem Abend befahl Kapitän Woon, daß die Gleiter in die Luken gebracht wurden. Man legte ein Energiefeld um das Schiff. Woons Gesichtsausdruck verriet, daß er die Maßnahme für völlig unnötig hielt, aber Kimbrough hatte sich nicht beirren lassen. Keim erkannte, daß der Wissenschaftler seine Aussage durchaus ernst genommen hatte. Nach dem Abendessen, blieben die meisten Forscher und Mannschaftsangehörigen im Schiff, aber einige – darunter auch Keim – gingen doch hinaus, um den Nachthimmel zu beobachten. Ein paar einsame Sterne blinkten. Mond K 1/2 übergoß die Ebene mit einem kalten, bläulichen Licht. Die Gräser warfen gespenstische Schatten. Keim beobachtete seine Gefährten. Ivor Bascomb, Burl Ashford und Karl Borcher hatten eine erregte Diskussion. Vor allem Ashfords heisere Stimme drang laut bis zu Keim. Borcher fuchtelte wie immer mit den Armen, um seine Argumente zu unterstreichen. Der Biologe Yozell hielt sich abseits und starrte ins Dunkel. Auf der anderen Seite studierte Lara Kamm den Himmel, als versuche sie die Sternbilder zu erkennen. Dachten sie an Gefahr, während sie auf diesem fremden Planeten am Rande der Galaxis standen? Empfanden sie Ehrfurcht, weil der Mensch so weit ins Universum vorgedrungen war? Oder sehnten sie sich nach der Heimat? Keim wußte es nicht. Alton Yozell kehrte als erster um. Als er den Telepathen sah, ging er zögernd auf ihn zu. Keim spürte seine Unruhe. Der Biologe deutete zum Himmel und sagte: »Dutzende von Vögeln fliegen umher.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen.« »Kein einziger hat unser Energiefeld berührt.« Keim sah überrascht nach oben. Nirgends blitzte das Feld auf, obwohl genug Vögel in der Nähe kreisten. Merkwürdig. Normalerweise gerieten Kleintiere immer wieder in den Bereich des Feldes und verbrannten. Und dann entdeckte er doch ein Aufblitzen, dicht am Boden. Offensichtlich waren die Nagetiere weniger vorsichtig als ihre geflügelten Gefährten. »Woher wissen die Vögel Bescheid?« fragte er. Alton Yozell wirkte blaß. »Viele Tiere besitzen schärfere Sinne als der Mensch, ganz zu schweigen von ihrem Instinkt. Wie findet der Lachs seinen Weg zu den Laichplätzen, und weshalb kehren die Graugänse immer wieder in ihre alten Nester zurück? Selbst wenn man ihre Sinnesorgane verstümmelt, tauchen sie prompt an den gewohnten Plätzen auf. Vielleicht verhalten sich diese Vögel ähnlich.« »Ich war bisher der Meinung, daß jedes Sinnesorgan seine spezielle Aufgabe zu erfüllen hätte«, entgegnete Keim. Er warf einen Blick auf die Ebene. »Wenn das der Fall ist, können die Vögel das Energiefeld einfach nicht erkennen.« Yozell zuckte nur mit den Schultern. »Ich habe sie schon früher beobachtet. Sie ähneln den Möwen von Klasner, Tarth und der Erde.« »Das heißt nicht unbedingt, daß sie dieselben Eigenschaften besitzen«, sagte Yozell. »Aber mir ist etwas anderes aufgefallen. Die meisten Vögel, die den Unterschied von Tag und Nacht kennen, suchen bei Anbruch der Dunkelheit einen Schlafplatz auf. Diese hier nicht.« »Nur die in Schiffsnähe nicht«, erklärte Keim. »Die anderen scheinen zu schlafen.« Yozell nickte zögernd. »Es wäre interessant, ein paar Exemplare einzufangen.« Er warf noch einen Blick in den
Nachthimmel und verabschiedete sich dann von dem Telepathen. Er ging zurück ins Schiff. Keim betrachtete die Vögel und dachte über die Fremdartigkeit dieser Welt nach. Je mehr der Mensch lernte, desto größere Rätsel taten sich ihm auf. Jede offene Tür führte in ein neues Labyrinth. Das Universum war voll von Geheimnissen, auch jetzt noch, im Jahre 4005. Die Menschheit hatte sich auf mehr als vierhundert Sternsystemen ausgebreitet. Aber hier… Er warf noch einen Blick auf die einsame, schmale Gestalt von Lara Kamm, dann ging er auf das Schiff zu.
Keim wachte mitten in der Nacht auf. Zuerst wußte er nicht, was geschehen war, aber mit einem Mal war er hellwach. Steif setzte er sich auf. Das Knistern und Dröhnen in seinem Gehirn hatte aufgehört.
DREI
Kleine Schatten jagen gedankenschnell durch die furchteinflößenden Abgründe des Universums. Tlo, Glomar, Xexl, Zimzi – neun insgesamt. Strahlenförmig entfernen sie sich vom Planeten der erlöschenden Sonne. Sterne entstehen, kreisen, flammen sterbend auf. Äonen vergessener Zeit, die Weite vergessenen Raumes. Der erkaltende Rand des Universums bleibt zurück, verschwindet. Flüsternde Gedanken gehen von Schatten zu Schatten, flüsternde Gedanken vom Planeten der erlöschenden Sonne – Gedanken, die schwächer werden, je weiter sich der Bogen von Zeit und Raum spannt. Zimzi stirbt beim Zusammenprall mit einem Meteor, Yilill im Chaos einer untergehenden Galaxis, Omegi in einem Nukleonensturm. Wieder und wieder schlägt der Tod zu. Es schweigt der Planet am Rand des Universums. Es schweigen Tlo, Glomar, Xexl – alle. Ein Schweigen, gewaltiger als das Universum, dauerhafter als die Zeit. Die eigenen Gedanken schrillen hinaus in das Schweigen. Galaxien erwachen zu Leben, blühen auf, werden Asche…
Ulis Aufmerksamkeit wandte sich abrupt der Gegenwart zu, als das Gedankenfragment, das im Gehirn eines Vogels gelebt hatte, starb. Im gleichen Moment wußte er, daß der Vogel gegen eine unsichtbare Barriere geflogen war, daß er verbrannt war. Und sofort übertrug er das Wissen an die Gedankenfragmente Tausender anderer Vögel. Eine unsichtbare Barriere! Verbrennungsgefahr! Durch die Augen seiner Wirte beobachtete er das große Schiff. Augen
überall. Ein Aufblitzen und dann noch eines verrieten ihm den Tod von ein paar unvorsichtigen Nagern. Das Prinzip der Barriere war ihm noch nicht ganz klar, aber er begriff genug, um Respekt zu empfinden. Verschwommen, wie aus weiter Ferne, sah er ähnliche Vorrichtungen auf dem Planeten der erlöschenden Sonne. In jenen letzten Tagen, als die Rasse bereits ausstarb, hatten sie dazu gedient, die junge Brut der Wirte gefangenzuhalten, bis sie reif war. Zu viele dieser Geschöpfe waren geflohen und hatten sich gegen die Qua gewandt. Sie hatten auch die großen automatischen Fabriken vernichtet, in denen die Qua Sternenschiffe zur Überbrückung der gewaltigen Entfernungen bauten. Die Reise zu jungen Sternen wurde dadurch ein unerfüllbarer Traum. Etwa zur gleichen Zeit mißlang ein Versuch, den Geist vom Körper zu lösen, ihn als reinen Gedanken existieren zu lassen. Und so wurde Uli mit seinen acht Gefährten in die Leere des Raumes geschleudert. Ah, so weit lag das alles zurück. Nun lebte er als einziger seiner Rasse. Aber ein Energiefeld! Unverständlich, daß die häßlichen Zweibeiner Verteidigungen errichteten, die sich mit denen der Qua messen ließen! Dennoch stimmte es; das bewiesen die aufflammenden kleinen Nager. Besaßen sie die Gedankenmacht? Die Frage erdrückte ihn geradezu. Es war unmöglich; seine Gedächtnisspeicher sagten es ihm. Keine Lebensform außer den Qua konnte den Geist zur Eroberung von Millionen Sonnensystemen einsetzen. Schade, daß es seiner Rasse nicht gelungen war, das Endziel zu erreichen – schade, daß es ihr nicht gelungen war, den Körper aufzugeben und als freie Gedanken zu leben, unabhängig von Sonnen oder Planeten… Er fühlte Trauer. Immerhin, er war unsterblich. Kurz nach dem Heraufziehen der Morgendämmerung verließen ein paar
Zweibeiner das Schiff. Er beobachtete sie sorgfältig, wie am Tag zuvor. Keine Eile; die Ausrüstung, die sie ins Freie brachten, bewies ihm, daß ihr Schiff noch eine Zeitlang hierbleiben wollte. Zu seiner Verblüffung bemerkte er, daß einige der Zweibeiner recht befangen wirkten: Hatten sie seine Anwesenheit gespürt? Nein, denn bis jetzt hatte er sich nicht gezeigt. Bis jetzt hatte er es vermieden, sie zu ängstigen. Aber er mußte sehr vorsichtig sein, damit sie nicht flohen, bevor er einen geeigneten Wirt gefunden hatte. Der Gedanke, daß sie es tun könnten, erfüllte ihn mit Entsetzen. Vielleicht sollte er nicht länger zögern. Die Zeit drängte. Aber da war der sonderbare Energieschirm. Er wartete. Uli wußte, daß man das Schutzfeld entfernt hatte, als einige kleine Gleiter, mit je zwei Lebewesen bemannt, über die Ebene flogen. Vögel folgten ihnen. Und Vögel vergewisserten sich auch, daß die Barriere nicht wieder geschlossen war. Er beobachtete die Gestalten in der Nähe des Schiffes mit großem Interesse. Sie waren größer als die Ureinwohner dieses Planeten und höher entwickelt. Allerdings galt das nur relativ. Im Vergleich zu den Qua wirkten sie reichlich primitiv. Andere Zweibeiner kamen aus dem Schiff. Große Tore wurden zu beiden Seiten geöffnet, man ließ Rampen herab und brachte neue Geräte ins Freie. Er betrachtete sie neugierig. Der Zweck vieler Apparate war schon aus der Form erkennbar; andere Instrumente hingegen verwirrten ihn. Selbstzufrieden überlegte er, daß die Fremden Hilfsmittel einsetzten, wo ihm der Verstand allein genügte. Nun, es mußte niedrigere Lebensformen geben. Die Qua brauchten Wirtskörper. Er wartete geduldig. Schließlich ging eines der Geschöpfe weiter auf die Ebene hinaus. Es blieb stehen und beobachtete die Vögel. Die anderen setzten ihre Arbeit fort. Uli handelte schnell: ein Vogel flog dem einsamen Zweibeiner entgegen. Im letzten Moment schwenkte er ab und
kreiste dicht über der Beute. Als sich ihre Blicke trafen – das war notwendig, wenn Bewußtsein übertragen wurde – sprang das Stückchen von Ulis Bewußtsein auf den neuen Wirt über, das in dem Vogel gewohnt hatte. Der Zweibeiner stieß einen heiseren Schrei aus und griff sich an die Kehle. Die Geschöpfe in seiner Nähe liefen herbei. Uli war nervös. Der erstickte Schrei hatte die anderen aufmerksam gemacht. Er zwang den Zweibeiner, seine Blicke auf den Vogel zu richten; aber der Vogel, nun nicht mehr in Ulis unmittelbarer Gewalt, flog bereits davon. Mit Gedankenmacht trieb Uli das Tier zurück, bis die runden Augen dem Zweifüßler wieder ins Gesicht starrten. Dann führte er das Bewußtseinsfragment wieder in den Vogel über. Gleichzeitig mußte er dafür sorgen, daß sich der Zweibeiner nicht mehr an den Vorfall erinnerte; er zerbrach den Halswirbel des Geschöpfes. Das fremde Wesen brach zusammen, kurz bevor seine Artgenossen es erreichten. Erst jetzt erkannte Uli, wie überstürzt sein Handeln gewesen war, wie unnötig. Er hätte andere Vögel herbeidirigieren und auch die übrigen Zweibeiner in Wirte verwandeln können. Egal: der Tag war noch jung. Obwohl Ulis Bewußtseinsfragment nur Sekunden im Gehirn des Zweibeiners gewesen war, kannte er nun seine Sprache, seine Fähigkeiten und, was vor allem zählte, seine Erinnerungen. Es dauerte vermutlich eine Zeitlang, bis er alles verarbeitet hatte, denn der Verstand des Menschen – so hießen die Wesen – war sehr viel komplizierter, als er geglaubt hatte. Nicht daß dieser Mensch besonders klug gewesen wäre; er hatte im Schiff nur untergeordnete Funktionen. Aber viele seiner Erinnerungen gaben Uli Rätsel auf. Das große Schiff hieß Alpha Tauri. Auf dieser Expedition – Reise 992 – waren bereits die Planeten von einem Dutzend Sonnensystemen untersucht worden. Die Menschen suchten neue Welten zur Vermehrung und Ausbreitung. Bis jetzt hatte
Reise 992 keinen Erfolg gebracht; offenbar gab es weniger bewohnbare Planeten, als Uli vermutet hatte. Reizvoller waren die Erinnerungen an das Imperium, zu dem die Alpha Tauri gehörte. Das Dritte Imperium! Hunderte von Planeten, riesige Städte, ein gewaltiges Regierungsnetz, Handel, Reisen… Die Visionen überwältigten ihn nicht gerade, aber sie waren durchaus zufriedenstellend. Sein Opfer hatte die Struktur dieser Zivilisation, geschweige erst ihre komplizierten Verzweigungen, kaum verstanden. Er hatte gewußt, daß ein Imperator das Imperium mit Hilfe eines Gouverneur-Rates regierte. Dann gab es noch die Planetenherrscher und MegaBürgermeister. Ein Großteil der Regierungsgeschäfte wurde von der intellektuellen Elite erledigt. Die Wissenschaftler der Alpha Tauri gehörten zur intellektuellen Elite. Einige der Titel – Imperator, Gouverneur und Planetenherrscher – waren erblich. Andere verlieh der Imperator nach Gutdünken, und wieder andere wurden als Belohnung für besondere Leistungen verliehen. Aber der Tote hatte diese Dinge nicht klar verstanden. Er hatte sie zwar beobachtet, aber nicht begriffen. Das Gehirn war ein Echo seiner Eindrücke. Doch das hatte keine große Bedeutung. Wichtig war nur das Dritte Imperium mit seinem unerschöpflichen Reservoir an Wirten. Uli jubelte. Mit Hilfe dieser Rasse ließ sich die Galaxis erobern! »Es ist unmöglich«, erklärte Harlan Duvall. »Webers Genick wurde durch eine heftige Verdrehung gebrochen. Der Sturz scheidet als Todesursache aus.« »Aber es muß der Sturz gewesen sein.« Kapitän Woon beugte sich vor. »Ein halbes Dutzend Männer sahen ihn zu Boden fallen.« »Nachdem er aufschrie«, entgegnete der Arzt. »Merker hat bestätigt, daß Webers Hals merkwürdig verrenkt aussah, bevor er stürzte.«
»Merker!« Der Kapitän zog die Nase kraus. »Er hat Augen im Kopf«, sagte Duvall. »Außerdem erklärt der Sturz noch lange nicht den Vogel.« »Vielleicht wollte Weber ihn fangen.« »Die Augenzeugen verneinen es. Der Vogel schwebte Zentimeter vor Webers Gesicht, aber der Mann griff nicht danach.« »Weshalb sollen wir die Sache noch komplizierter machen?« fragte Woon unwirsch. In seinen Zügen spiegelte sich Ärger. »Ich versuche das Problem zu lösen.« »Mit einem Vogel?« Eine Zeitlang herrschte düsteres Schweigen in der Kabine des Kapitäns. Keim saß etwas abseits. Anfangs war er überrascht gewesen, als Woon ihn zu der Besprechung bat. Jetzt wunderte er sich nicht mehr. Das waren sonderbare Enthüllungen! Webers Genick noch vor dem Sturz gebrochen? Trotz Woons Skepsis schien das eindeutig festzustehen. Er hatte natürlich schon vorher Gerüchte gehört, aber die Erzählungen waren so widersprüchlich gewesen, daß er den Tod für einen ungewöhnlichen Unfall hielt. Jetzt nicht mehr. Da war der Vogel. Da waren Vögel, die ein Energiefeld spürten. Kein Wunder, daß Kimbrough seine Anwesenheit wünschte. Er fühlte ein leises Unbehagen. Weshalb sagte Kimbrough nicht, was er dachte? Oder wog er zuerst die Fakten ab? Ein friedlicher Planet, wunderschön, aber etwas lauerte hier – etwas, das in seinem Innern tobte; etwas, das dem Planeten seine Fauna geraubt hatte und einem Menschen das Genick brechen konnte. Was in aller Welt mochte es sein? Kimbrough unterbrach das Schweigen. »Was hat die Autopsie ergeben?« Sein Blick fiel auf das Gesicht des Psychomediziners. Duvall winkte müde ab. »Gehirn, Herz, Lungen, Gefäßsysteme, Mageninhalt, Blase – ich habe den Mann von Kopf bis Fuß untersucht. Er war dreiunddreißig, in
der Blüte seines Lebens und kerngesund. Er starb an dem Genickbruch.« »Sie schließen also einen Sturz aus?« »Absolut! Wenn ich mich recht erinnere, beantworte ich diese Frage schon zum fünften oder sechsten Mal. Der Boden war weich, griffig.« »Wenn ich mich wiederhole, dann nur, um ganz sicherzugehen, Harlan.« »Es gibt überhaupt keinen Zweifel.« Woon fragte ausdruckslos: »Wie konnte er sich das Genick brechen, wenn nicht durch einen Sturz? Das haben Sie noch nicht erklärt.« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Roger?« Kimbrough sah den Telepathen an. »Ich tappe völlig im dunkeln«, gestand Keim. »Könnte eine Verbindung zu der Drohung bestehen, die Sie erwähnten?« Da sprach Kimbrough endlich aus, was er dachte. Doch er mußte sich an die Tatsachen halten. Er durfte nicht seinem Gefühl nachgeben. »Das hier war eine echte Handlung.« »Nun sagen Sie bloß nicht, daß Sie Webers Tod mit diesem Dröhnen in Verbindung bringen«, meinte der Kapitän spöttisch. »Wir müssen jede Möglichkeit durchleuchten«, entgegnete Kimbrough. Er warf dem Telepathen einen Blick zu. »Ich weiß, daß Sie den Unfall nicht sahen, aber wie beurteilen Sie ihn den Berichten nach?« »Ich kann mir wirklich kein richtiges Bild von den Geschehnissen machen.« »Weichen Sie aus?« »Nein. Aber heute nacht hat sich etwas Neues ergeben.« Er erwiderte ruhig den Blick des Wissenschaftlers. »Der Donner schwieg.« »Ganz?« »Ja – während der Nacht. Jetzt beherrscht er mich wieder.«
»Haben Sie in letzter Zeit Ihren Blutdruck gemessen?« fragte Woon. »Ich hörte, daß unregelmäßiger Blutdruck zu sonderbaren Beschwerden führen kann.« »Harlan untersuchte mich gleich am ersten Tag.« »Sein Blutdruck ist völlig normal«, bestätigte der Arzt. »Er befindet sich bei bester Gesundheit.« Woon wirkte verbittert. »Donner bricht keinem Menschen das Genick.« »Etwas war jedenfalls für Webers Tod verantwortlich.« Kimbrough war sehr ernst. »Da ist noch etwas«, sagte Keim, und Kimbrough hob sofort den Kopf. »Die Vögel meiden das Energiefeld.« »Alton sagte es mir bereits.« Kimbrough seufzte müde. »Verdammt, ich kann einfach keine Zusammenhänge erkennen.« »Zwischen Rogers Donner und dem Verhalten der Vögel?« fragte Woon. »Und Webers Tod.« »Ich erkenne auch keine Zusammenhänge«, meinte Duvall. »Aber ich begreife auch nicht, wie sich Weber das Genick brechen konnte.« »Darf ich etwas vorschlagen?« warf Keim ein. »Bitte.« »Ich finde, niemand sollte allein ins Freie gehen, auch nicht, wenn wir uns in unmittelbarer Nähe des Schiffes aufhalten. Je zwei Leute sollten aufeinander aufpassen, vor allem bei Erkundungsflügen. Außerdem sollte jeder eine Waffe tragen.« »Das ist gefährlich«, widersprach Woon. »Ich möchte nicht, daß die Mannschaft mit Nadelpistolen oder Lasern herumspielt. Das Schiff ist leicht verwundbar. Deshalb halten wir die Waffen auch unter Verschluß.« »Das könnte die kleinere Gefahr sein«, wandte Keim ein. »Ich finde Rogers Vorschlag vernünftig. Wir müssen vorsichtig sein, zumindest, solange wir den Planeten noch nicht kennen«, sagte Kimbrough. »Sie können strikte
Anweisungen über den Gebrauch der Waffen geben.« Der Kapitän nickte widerstrebend. Er war eindeutig der Meinung, daß der Tod des Besatzungsmitglieds dramatisiert wurde. Auch die Sache mit den Vögeln hielt er mehr oder weniger für einen Zufall. Keim konnte ihn verstehen. Die Dinge klangen wirklich phantastisch. Aber wie hatte Arden gesagt: »Müssen wir nicht damit rechnen, daß wir im Universum auf etwas Neues stoßen?« Nun, hier hatten sie etwas Neues. Das Verflixte daran war, daß sie es nicht durchschauten. Als die Besprechung zu Ende war, hielt der wissenschaftliche Leiter den Telepathen im Korridor zurück. »Könnten Sie heute nacht wachbleiben?« fragte er. »Um den Rhythmus des Donners aufzuzeichnen?« Kimbrough nickte. »Ich weiß nicht, ob uns das weiterhilft, aber irgendwo müssen wir beginnen.« »Ein statistisch erfaßter Spuk«, meinte Keim lächelnd. »Aber es ist einen Versuch wert.« »Es gibt keinen Spuk«, sagte Kimbrough. »Was dieses Ding auch sein mag, irgendwo läßt es sich erfassen. Ich gebe zu, daß ich keine Verbindung zu Webers Tod herstellen kann, aber ich bin überzeugt davon, daß diese Verbindung existiert.« Später ging Keim noch einmal ins Freie, begleitet von Jonley, dem hageren Werkstattleiter. Ihm fiel auf, daß die Mannschaftsmitglieder nicht nur zu zweit, sondern meist in viel größeren Gruppen unterwegs waren. Sie unterhielten sich leise und mißtrauisch. Alle trugen Waffen. Jonley bemerkte Keims Blick. »Die sind verdammt froh, wenn wir diesen Planeten verlassen«, sagte er. »Wegen Webers Tod?« »Zum Teil.« »Weswegen sonst?« »Sie haben das Gefühl, daß man ihnen etwas verschweigt, irgendeine Gefahr.« Er sah Keim fragend an. Keim schüttelte den Kopf. »Nichts, das wir fassen könnten.«
»Außer Webers Tod und den Vögeln.« »Ja, da haben Sie wohl recht.« Als die Nacht hereinbrach, konzentrierte sich Keim auf den Tumult in seinem Innern. Der Donner schwoll an und verebbte, gelegentlich unterbrochen von einem Knistern. Wieder versuchte er die Richtung der Ausstrahlung festzustellen, aber es mißlang. Die Reize schienen von allen Seiten auf ihn einzudringen. Nur eines erkannte er deutlich: der Tumult entstand nicht in seinem Körper, wie Woon es angedeutet hatte. Er kam von außerhalb, von jenseits des Energieschirms. Er hatte das Gefühl, daß ihn der Donner durch den gleichen unbekannten Sinn erreichte, der ihm die Telepathie gab. Er war auch überzeugt davon, daß es sich nicht um eine natürliche Quelle handelte; das komplizierte Schema mit bestimmten, sonderbaren Wiederholungen sprach dagegen. Was konnte man daraus folgern? Er hatte Angst vor der Antwort. Am späten Abend ließ das Toben nach; nach einer knappen Stunde hatte es ganz aufgehört. Die Reize, die er jetzt noch empfing, kamen aus dem Schiff – Gedankenfragmente der anderen. Er hatte zwar nie absichtlich das Innere seiner Gefährten durchforscht, aber ihre Gefühle erreichten ihn oft von selbst, besonders nachts, wenn die Ablenkungen gering waren. Gewöhnlich beachtete er sie nicht. An diesem Abend jedoch machte er eine Ausnahme. Er versuchte nicht, den Ursprung zu identifizieren; das wäre ihm als grobe Verletzung der Intimsphäre vorgekommen. Manchmal spürte er allerdings die Identität des Denkers. Oft genug war der Empfang so scharf, daß er geistige Bilder vor sich sah. Telepathie war außerordentlich selten, Hellseherei gab es nicht. Alle Bücher stimmten darin überein. Keim wußte es besser. Verdammtes Schiff, flüsterte eine Stimme im Mannschaftsquartier. Weber…
Ein anderer sagte: Sie wissen doch Bescheid. Mir können sie nichts vormachen. Keim verschloß sein Inneres teilweise vor diesem Stimmengewirr und versuchte sich auf Reize außerhalb des Energiefeldes zu konzentrieren. Das Schlimme war, daß er nicht wußte, was er zu erwarten hatte. Der T-Mann weiß etwas… Er wurde aufmerksam. Diesmal konzentrierte er sich auf den Sprecher. Er hatte den Eindruck einer hohen, quengelnden, etwas nervösen Stimme… Burl Ashford! Ja, ein anderer konnte es nicht sein. Der Geologe unterhielt sich mit… Ivor Bascomb. Einen Moment lang sah er das Gesicht des Botanikers vor sich. Burl behauptete, daß Keim wüßte, was hier vorging, oder daß er zumindest die wahre Natur der Gefahr kannte. Bascomb war nicht überzeugt davon, aber auch er zeigte sich zutiefst beunruhigt. Ihre Gefühle, Anspannung und nackte Furcht drangen zusammen mit den Worten auf ihn ein. Ashfords Züge, rund und rosig, formten sich gestochen scharf vor seinem geistigen Auge. Dann verschwanden sie wieder. Einbildung? Nein, er hatte den Geologen so deutlich gesehen, als würde er im Zimmer stehen… weg von diesem verdammten Planeten. Neue Worte, ein neuer Ursprung, wieder aus dem Mannschaftsquartier. Verdammt, wie sollte er sich bei diesem Durcheinander konzentrieren? Er hatte die fremden Gefühle noch nie so deutlich gespürt. Aber der Donner war verschwunden, und mit ihm das Knistern und die Drohung. Das fremde Geschöpf, wer oder was es sein mochte, hatte seine Ausstrahlung für diese Nacht abgeschaltet. Später hörte er ein leises Klopfen an der Tür. Kimbrough trat ein. »Eine Veränderung?« fragte er gespannt. »Es hat aufgehört.« Keim beschrieb seine Empfindungen und fügte hinzu: »Ich habe alles auf Band gespeichert.« Er erwähnte nicht die Unterhaltungsfetzen aus dem Schiff; diese Dinge waren Geheimnis der Telepathen.
»Sind Sie einer Erklärung schon nähergekommen?« fragte Kimbrough. Seine Miene verriet, daß er nicht damit rechnete. »Nein. Ich habe nur das Gefühl, daß ich mich in einem riesigen fremden Gedankennetz befinde.« »Und dieses Netz wird am späten Abend ausgeschaltet«, meinte Kimbrough. »Zumindest scheint es sich nicht um ein Nachtgeschöpf zu handeln.« »Nein, es liebt die Sonne.« Keim lächelte über seinen schwachen Scherz. »Wir bewegen uns auf völlig fremdem Territorium, Roger.« »Unergründliches?« »Möglich. Allerdings möchte ich nicht sagen, daß es unergründlich ist. Alle Dinge lassen sich erklären.« »Wenn man die Daten kennt.« »Wir werden sie uns beschaffen.« Kimbrough wirkte nachdenklich. »Ich weiß es nicht, vielleicht bin ich mir selbst gegenüber nicht ehrlich genug. Ich müßte mir eingestehen, daß wir einem ganz neuen Phänomen gegenüberstehen. Bis jetzt hatte ich nach einer Erklärung gesucht, die sich mit unseren Erfahrungen und Definitionen vereinen läßt. Ich dachte, wir könnten einfach von den bekannten Tatsachen aus weiterfolgern. Aber vielleicht täusche ich mich. Wie auch die Antwort lauten mag – wir müssen sie finden oder den Planeten verlassen. Da wir die Flucht von dieser Welt im Augenblick noch nicht rechtfertigen können, bleibt alles beim alten.« Keim betrachtete Kimbrough nachdenklich. Im allgemeinen vertrat der Wissenschaftler die Ansicht, daß Mathematik und Physik alle Fragen lösten. Nun war er unsicher geworden. Sein Eingeständnis machte ihn irgendwie menschlicher. Beinahe bescheiden. Andererseits blieb ihm keine andere Wahl, als seine Ratlosigkeit zu gestehen. »Ich habe mir diese Dinge auch durch den Kopf gehen lassen, Myron«, sagte Keim. »Und was sollen wir tun?«
»Abwarten.« Kimbrough nickte. »Beobachten Sie weiterhin Ihr Inneres, Roger. Vielleicht läßt sich irgend etwas aufzeichnen.« »Ich glaube, die fremde Intelligenz wird zu uns kommen«, erklärte Keim nachdenklich. »Mein Gott, hoffentlich nicht!« Er lachte. »Das könnte eines Tages Schlagzeilen in der Presse machen.« »Ich rechne eher mit einem Nachruf.« Als der Wissenschaftler gegangen war, wählte Keim ein Band mit klassischer Musik, stellte es ganz leise und machte es sich in einem weichen Sessel bequem. Kurz vor Morgengrauen, als seine Lider bereits bleiern vor Müdigkeit waren, spürte er das erste schwache Dröhnen in seinem Gehirn. Eine Stunde später jagte es mit ganzer Macht durch sein Inneres.
VIER
Der Botaniker Ivor Bascomb entdeckte als erster die Ruinen. Er unternahm mit Yozell einen Erkundungsflug über die fernen Hügel, als er zwischen Lianen und hohen Bäumen einen Moment lang die Umrisse eines Gebäudes erspähte. »Da war was«, sagte er mit angespannter Stimme. Yozell starrte nach unten, während Bascomb den Gleiter langsam tiefer steuerte und dicht über dem üppigen, undurchdringlichen Dschungel zu kreisen begann. Er dachte schon an eine Täuschung, als der Biologe »Halt!« rief. Yozell deutete auf die geometrischen Umrisse eines Gebäudes, das zum größten Teil von Lianen und Bäumen verdeckt war. Aufgeregt griff er nach dem Sprechgerät. Seine kurze Nachricht rief auf der Alpha Tauri wilde Erregung hervor. Von einer sonderbaren Vorahnung gepackt, lief Keim ins Freie. Er hoffte, einen Platz in einem der Gleiter zu finden. Sam Gossett, der Chemiker, winkte ihm. Seine Miene verriet Anspannung, als der T-Mann sich auf den Sitz neben ihm zwängte. Gleich nach ihnen startete noch ein Gleiter. Keim wußte instinktiv, daß Lara Kamm und Myron Kimbrough die Insassen waren. Das Funkgerät knisterte; Kimbrough befahl dem restlichen Wissenschaftlerstab, in der Nähe des Schiffes zu bleiben. Diese Anweisung verriet Keim, daß Kimbroughs Hauptsorge immer noch die Drohung einer fremden Intelligenz war. »Ich kann es mir nicht vorstellen«, meinte Gossett. Der Telepath antwortete erst nach einer Weile. »Die Ruine?«
»Wie kann eine einzelne Ruine existieren?« Gossetts Stimme klang nörgelnd. »Eine Ruine setzt Erbauer voraus, entweder aus der Vergangenheit oder Gegenwart, und das wiederum bedeutet andere Bauwerke. Aber wo sind sie? Nicht einmal die primitivste Architektur besteht aus Einzelmonumenten. Warum entdeckten die Minisatelliten nichts? Sie durchforschten jeden Quadratzentimeter Land.« »Offensichtlich doch nicht jeden«, entgegnete Keim. Gossett gab keine Antwort. Während der Gleiter dicht über der Grasebene dahinflog, kam Keim zu Bewußtsein, daß er kaum Vögel sah. Weshalb hatten sich Hunderte dieser Geschöpfe um das Schiff versammelt? Um Essensabfälle konnte es ihnen nicht gehen. Die wurden in der Atomanlage verbrannt. Neugier? Vielleicht. Diesen Tieren konnte man alles zutrauen. Er gab seine Spekulationen auf, als sie das Grasland verließen. Dahinter erstreckten sich, so weit das Auge reichte, bewaldete Bergrücken. Aus einer Senke kam ein kleiner Fluß, der im Licht der bläulichweißen Sonne aufblitzte. Weiter östlich ergoß er sich in einen See. Gossett steuerte die Maschine höher und folgte dem Peilsignal, das Bascomb eingeschaltet hatte. Keim entdeckte zu seiner Überraschung, daß die Hänge von gigantischen Bäumen bewachsen waren, die stumm und unbewegt in den Himmel ragten. Das Unterholz schien aus einem wilden Lianengewirr zu bestehen. Woher sollte in dieser friedlichen, heiteren Welt Gefahr drohen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Und doch war bereits ein Mann getötet worden – von einem Etwas, das jenseits der menschlichen Wahrnehmung, vielleicht auch jenseits des menschlichen Verstandes lag. Verursachte dieses Etwas auch das Knistern und Dröhnen in seinem Gehirn? Möglicherweise lieferte die Ruine den roten Faden, der all diese Dinge miteinander
verband – ein gebrochenes Genick, Vögel, die ein Energiefeld spüren konnten, eine einseitige Ökologie und das Brodeln in seinem Innern. Er mußte über seinen Optimismus lächeln, und doch… Der Gleiter wurde langsamer, und im nächsten Augenblick entdeckte Keim ein Stück weiter vorn eine kleine Lichtung. Am Rand parkte die Maschine des Botanikers. Keim sah ihn winken. Gossett und Kimbrough landeten dicht hintereinander. Ungeduldig wartete Bascomb. Kimbrough sprang ins Freie und rief: »Wo ist es?« Erst dann drehte er sich um und half Lara Kamm beim Aussteigen. »Ein paar hundert Meter von hier entfernt.« Bascomb deutete nach vorn. »Wir konnten nicht näher landen.« »Sie sprachen von einer Ruine?« Kimbrough sah ihn prüfend an. »Ganz recht, eine Ruine, aber sie ist gut getarnt.« »Gehen wir.« Kimbroughs Stimme klang hart. Bascomb zog seinen Laser und brannte einen Weg durch das Schlingpflanzengewirr. Er achtete darauf, daß er keinen der Riesenbäume traf. Keim und Lara Kamm marschierten hinter den anderen her. Keiner von ihnen sprach; der Botaniker schwang den Strahler langsam von einer Seite auf die andere. Keim wunderte sich über die Stille. Er hatte mit Flügelschlägen gerechnet, mit dem Kreischen buntgefiederter Vögel, mit dem Rascheln von Kleingetier. Aber nichts rührte sich. Die Totenstille des Waldes wurde nur durch ihre Schritte unterbrochen. »Da!« Bascomb blieb plötzlich stehen und deutete mit dem Laser. Keim warf einen Blick über“ seine Schulter. Er staunte. Geisterhaft grau, halb verdeckt von Bäumen und Lianen, stand ein altes Bauwerk vor ihnen. Sie starrten es gedankenverloren an. Schließlich sagte Bascomb mit unterdrückter Stimme: »Es ähnelt Bildern von alten Tempeln.« Er warf Lara Kamm einen fragenden Blick zu. Sie schien sich ganz auf den Anblick zu konzentrieren.
»Diese Ähnlichkeit ist tatsächlich vorhanden«, sagte sie schließlich. »Es erinnert an den Stil der Drawiden im 11. Jahrhundert des alten Kalenders, vor allem, was die starken Kontraste zwischen horizontalen und vertikalen Linien betrifft. Außerdem weist es eine gewisse Verwandtschaft mit dem Othmarier-Stil von Glade im Benwar-System auf. In beiden Fällen handelte es sich um Tempelbauten.« Keim hörte ihr kaum zu. Er überlegte, weshalb ihm das Gebäude so fremdartig erschien. Und dann drückte sie aus, was er meinte. »Beachten Sie die kleinen Türen und die niedrigen Fenster. Das weist darauf hin, daß die Erbauer ein kleines Volk waren.« »Zweibeiner?« fragte Kimbrough. »Höchstwahrscheinlich. Die Stufen lassen darauf schließen. Die sind übrigens auch winzig.« Ihre Stimme wurde nachdenklich. »Ich würde sagen, daß diese Leute nur halb so groß waren wie wir.« »Ein Tempel in einer Welt ohne Leben«, murmelte Yozell. »Der Fund dieser Ruine ist verblüffender, als wenn wir überhaupt nichts entdeckt hätten«, sagte Bascomb. »Der Planet macht mich nervös.« Sam Gossett holte ein Messer aus der Tasche, ließ die Klinge aufschnappen und schabte ein Stückchen von dem alten Gemäuer ab. Als er es unter die Lupe hielt, wurde sein Gesichtsausdruck verwirrt. Vorsichtig legte er es in sein Notizbuch und sagte: »Stein ist es nicht.« »Eine Art Beton?« fragte Kimbrough. Er schüttelte den Kopf. »Ich halte es eher für einen Kunststoff auf nicht-zelluloser Grundlage. Sicher weiß ich das natürlich erst nach der chemischen Analyse.« Kimbrough pfiff leise durch die Zähne. »Das setzt eine ziemlich hohe Zivilisation voraus.« Er warf Lara einen fragenden Blick zu.
»Synthetische Materialien gab es in der menschlichen Geschichte ziemlich früh«, stellte sie fest. »Wenn ich mich nicht täusche, im 19. oder 20. Jahrhundert des alten Kalenders. Also vor etwa siebentausend Jahren.« Kimbrough sagte ärgerlich: »Eine so hochentwickelte Zivilisation hätte beträchtliche Spuren hinterlassen.« »Vielleicht hat sie es getan. Wir wissen nicht, was sich im Dschungel verbirgt.« Bascomb deutete schweigend auf die Ruine, über der sich hohe Baumwipfel wölbten. »Der größte Teil des Kontinents besteht aus offenem Grasland«, widersprach Kimbrough. »Weshalb haben wir dort nichts gefunden?« »Es gab auf der Erde Kulturen, die in noch kürzeren Zeiträumen untergingen«, meinte Yozell. »Nicht so spurlos.« Kimbrough wandte sich an den Telepathen. »Haben Sie immer noch das Gefühl, daß sich eine fremde Intelligenz auf dem Planeten befindet?« »Ja, ganz deutlich.« »Hier? Ist es hier stärker?« »Hier herrscht doch kein Leben.« »Aber früher gab es hier eine Zivilisation«, rief Kimbrough. »Verschwand sie ganz, oder hinterließ sie Eindrücke der Lebensformen, die für ihr Entstehen verantwortlich waren?« »Das wären Impressionen von Toten«, widersprach Keim. »Was ich spüre, lebt – hier und jetzt.« »Lebt?« »Tote besitzen keine Telepathie. Worauf wollen Sie hinaus?« »Ich weiß es selbst nicht.« Kimbrough zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich versuche ich unterbewußt, die merkwürdigen Geschehnisse auf diesem Planeten mit den Erbauern des Tempels in Verbindung zu bringen.« »Glauben Sie, daß einige von ihnen noch am Leben sein könnten?«
»Möglich, sicher bin ich nicht. Vielleicht sehe ich Gespenster.« »Gespenster, die uns den Hals umdrehen.« Gossetts Stimme klang ernst. »Vielleicht finden wir im Innern ein paar Hinweise«, schlug Yozell vor. »Ich bin der kleinste. Ich kann durch den Eingang schlüpfen.« Er ging auf die Ruine zu, und Lara Kamm folgte ihm schweigend. Nebeneinander betraten sie die Stufen. Im gleichen Moment steigerte sich das dumpfe Dröhnen in Keims Gehirn zu einem Kreischen, das ihm beinah die Sinne raubte. Tausend johlende Dämonen durchdrangen ihn. »Halt!« schrie er. Mit einem Sprung war er bei ihnen. Er riß sie so heftig zurück, daß der Biologe das Gleichgewicht verlor und die Stufen hinunterstürzte. Lara fing der Telepath gerade noch auf. Im nächsten Moment sackte das Bauwerk mit einem dumpfen Dröhnen zusammen. Ein Schutthaufen lag vor ihnen. Das Echo hallte durch den Wald. »Mein Gott!« flüsterte jemand. Yozell kam mühsam auf die Beine und besah sich ungläubig die Trümmer. Lara war schneeweiß. »Was ist geschehen?« stieß Sam Gossett hervor. »Ein Erdbeben?« fragte Yozell zweifelnd. »Kein Beben.« Gossett schüttelte den Kopf. »Ein Kunststoffgebäude würde nicht auf diese Weise zusammenbrechen.« Kimbrough wandte sich an den Telepathen. »Sie haben eine Warnung gerufen!« Seine Worte waren Anschuldigung und Frage zugleich. »Ich spürte es.« Keim versuchte sich klarzumachen, was er gespürt hatte. Das Dröhnen in seinem Gehirn, das entsetzliche Kreischen… »Bevor das Gebäude zusammenbrach?« »Ich glaube ja, aber ich weiß es nicht.«
Kimbrough fragte hart: »Was haben Sie nun genau empfunden?« »Gefahr – daß irgendeine Gefahr bestand. Der Donner in meinem Gehirn steigerte sich zu einem schrillen Kreischen.« Keim sah ihm ruhig in die Augen. »Ich glaube, ich sah das Bauwerk im Geiste zusammenbrechen.« »Sie sahen es?« »Eine Vision. Vielleicht aber bilde ich mir das auch nachträglich ein. Alles ging so rasch, daß ich die genaue Zeitfolge nicht behalten habe.« »Wie konnten Sie die Vision eines zukünftigen Ereignisses haben?« »Ich weiß es nicht. Es gelingt mir nicht, die Stücke zusammenzusetzen.« »Hatte sonst noch jemand eine Vorahnung?« Kimbrough warf den anderen einen raschen Blick zu. Als niemand antwortete, wandte er sich wieder an den Telepathen. »Etwas hat Sie gewarnt? Versuchen Sie es zu beschreiben, Roger, es ist wichtig. Können Sie es mit den anderen Dingen in Beziehung bringen, die Sie spürten?« »Ich weiß nur das, was ich bereits sagte. Die Ereignisse spielten sich so schnell ab, daß ich nicht mitdenken konnte.« »Sie deuteten – Prekognition an?« »Die Vision könnte auch nach dem Ereignis aufgetreten sein«, erinnerte ihn Keim. Kimbrough schüttelte den Kopf. »Sie hätten niemals die Zeit gefunden, die beiden zurückzureißen, wenn das Bauwerk bereits am Einstürzen gewesen wäre.« »Das ist wie bei Webers Tod«, stellte Gossett fest. »Ein halbes Dutzend Augenzeugen, und niemand weiß, was geschehen ist.« »Webers Tod.« Kimbrough starrte in den Schutt. »Sollten wir nicht auch den Zufall in Betracht ziehen?« fragte Bascomb.
»Erklären Sie genauer, was Sie damit meinen.« »Der Tempel war alt, eine Ruine. Er konnte jeden Tag einstürzen. Vielleicht wäre er auch ohne unsere Anwesenheit zusammengefallen.« »Diese Art von Zufall dürfen wir nicht annehmen«, unterbrach ihn Gossett. »So einfach ist die Sache bestimmt nicht.« »Wissen Sie eine Erklärung?« fragte Bascomb scharf. »Mal überlegen.« Er warf einen düsteren Blick auf die Mauerreste. »Jemand oder etwas wollte nicht, daß wir den Tempel betraten, aus Angst, wir könnten dort etwas Wichtiges finden; oder vielleicht will dieser Jemand uns von hier vertreiben. Es war von fremden Intelligenzen die Rede. Auf dieser Welt sind wir die Fremden. Ich bin überzeugt davon, daß hier eine höhere Lebensform existiert, vielleicht eine Lebensform, die jetzt um ihre Heimat kämpft. Unsinn? Vor ein paar Tagen hätte ich das noch gesagt; jetzt habe ich meine Meinung geändert. Aber was für eine Lebensform? Offensichtlich befindet sie sich jenseits unseres Wahrnehmungsbereiches. Alton hat einmal vom Unergründlichen gesprochen. Vielleicht haben wir es gefunden.« Er sah den Biologen an. »Unergründlich oder nicht, wir müssen diese Lebensform ans Licht zerren. Wir müssen wissen, was uns bedroht.« »Für Vorschläge bin ich jederzeit dankbar, Alton.« »Ist das Ding, das Roger spürt, wirklich das gleiche Wesen, das diesen Tempel erbaut hat?« »Ein guter Einwand«, gab Kimbrough zu. »Es könnte auch der Nachfolger der Tempelerbauer sein, der Grund ihres Verschwindens.« »Können Sie sich genauer ausdrücken?« »Wenn Sam recht hat, dann deutet das Baumaterial auf eine verhältnismäßig hohe Kulturstufe hin. Mit ziemlicher
Sicherheit gibt es mehr dieser Gebäude, vielleicht eine ganze Menge. Wir müssen sie suchen.« »Und wenn wir sie finden?« fragte Keim. »Wir müssen sie durchforschen, die Überreste analysieren, die Kultur der Erbauer nachempfinden. Wir müssen feststellen, weshalb diese Rasse verschwand. Vielleicht erfahren wir, was hier geschehen ist, was Roger in seinem Innern spürt. Vielleicht erfahren wir, was Weber umgebracht hat.« Keim schüttelte den Kopf. »Ich halte das für unmöglich.« »Daß andere Gebäude existieren?« »Daß wir sie betreten können.« »Weshalb?« »Ich glaube, sie würden einstürzen.« Ein entsetztes Schweigen folgte. Schließlich sagte Yozell: »Ich habe noch nie an das Übernatürliche geglaubt, zumindest nicht bis heute.« »Es hat nichts mit dem Übernatürlichen zu tun«, warf Lara ein. »Ich weiß nicht, was es ist, aber damit hat es bestimmt nichts zu tun.« Keim nickte. »Das Bauwerk war uralt«, meinte Kimbrough nachdenklich. »Zwanzigtausend Jahre – wenn nicht noch älter. Angenommen, der Einsturz war beabsichtigt – wodurch wurde er ausgelöst?« »Darauf wage ich keine Antwort zu geben«, erwiderte Keim. »Es war jedenfalls eine große Energie notwendig«, beharrte Kimbrough. »Dennoch – ich weiß die Antwort nicht.« Er sah Gossett an. »Mag sein, daß wir die Fremden auf diesem Planeten sind, aber ich kann Ihren Standpunkt nicht teilen. Zumindest habe ich nicht den Eindruck, daß hier eine Lebensform lediglich ihre Heimat verteidigt.«
»Was spüren Sie?« fragte der Chemiker. »Etwas Bösartiges, das uns vernichten möchte. Ich glaube, Alton hat recht: Die Lebensform, welche die Tempelerbauer vernichtet hat, ist noch auf dem Planeten. Weber, diese Ruinen – das bedeutet eine Art Konfrontation. Fragen Sie nicht, woher meine Überzeugung kommt; ich weiß es nicht. Aber der Planet verbreitet den Geruch von Tod. Dieses Gefühl sitzt tief in meinem Innern.« Gossett sah nach oben. »Da ist ein Vogel.« Keim folgte seinem Blick. Hoch über den Baumwipfeln schwebte der Vogel. Er schien sich nicht vom Fleck zu rühren. »Und?« fragte Bascomb spöttisch. »Ich hatte bis jetzt keine Vögel in dieser Gegend entdeckt. Wenn ich genau überlege, sind sie nur in der Nähe des Schiffes.« »Ja, das fiel mir auch auf«, murmelte Yozell. »Es handelt sich um eine Art Möwe.« »Möwe?« »Äußerlich betrachtet ist die Ähnlichkeit sehr groß. Warum sollen wir sie nicht Möwen nennen, bis wir einen geeigneten Namen finden?« »Möwe – das gefällt mir«, meinte Lara. »Es erinnert an die Küste von Lorn – an tausend Küsten. Möwen beschwören das Bild von Sand und Wellen und blaugrünem Wasser herauf.« »Dann ist es eben eine Möwe«, sagte Yozell lachend. Gossett wandte sich an den wissenschaftlichen Leiter. »Weshalb beobachtet uns diese einzelne Möwe?« »Tut sie das?« »Ich habe das Gefühl.« »Es könnte Zufall sein«, erklärte Yozell. »Vielleicht wurde sie auch durch unsere Bewegungen oder durch den Tempeleinsturz aufmerksam. Die Schallwellen waren sicher beträchtlich.« Die Erklärung klang plausibel, aber Keim wußte, daß keiner sie akzeptierte. Nicht, wenn Möwen ein Energiefeld
spürten und Zentimeter vor dem Gesicht eines Mannes schwebten, bis er mit gebrochenem Genick zu Boden stürzte. »Sie wollten doch einige einfangen«, sagte Kimbrough. »Ich hatte schon alles vorbereitet, als wir die Nachricht von dem Tempel erhielten.« »Schieben Sie es nicht mehr lange hinaus, Alton.« Gossett sprach die Gedanken der anderen aus: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Möwe Intelligenz besitzt. Aber angenommen, es wäre der Fall – wie hätte sie dann den Tempel zum Einsturz gebracht?« Niemand antwortete. Als sie zu den Gleitern zurückkehrten, warf Keim einen Blick nach oben. Eine einzelne Möwe zog ihre Kreise am saphirblauen Himmel.
Uli unterdrückte mühsam sein Entsetzen, als er die Menschen bei den Gleitern beobachtete. In jedem Gedankenfragment herrschte ein Aufruhr, wie er ihn bisher noch nicht gekannt hatte. Schon das allein war beängstigend. Er mußte die Gefühle ausschalten, die Gedanken ordnen und auswerten. Er mußte mit der absoluten Logik seiner Rasse die Situation abschätzen. Vielleicht war seine Angst unbegründet. Er zwang sich, noch einmal die Vorfälle zu überdenken, die sein Entsetzen ausgelöst hatten. Da er nun die Sprache der Menschen kannte, hatte er nicht nur die Worte der kleinen Gruppe verstanden, sondern auch viele feine Nuancen, die dahintersteckten. Er hatte ihre Angst und Ratlosigkeit gespürt, ihre Verwunderung und Entschlossenheit. Aber sie drückten so wenig von ihren Gedanken aus und überhaupt nichts von ihren Gefühlen. Sie schienen Furcht vor den eigenen Gedanken zu empfinden und versuchten sie zu verbergen, so daß sie letzten Endes in ganz anderer Form an die Oberfläche kamen. Wie konnte der Verstand das Unterbewußte, wie sie es nannten,
ausschließen? Das war sonderbar. Später, wenn er mehr Zeit hatte, konnte er einige dieser Leute näher untersuchen. Die Menschen machten jetzt so viele Flüge über die Ebene und das angrenzende Bergland, daß er es versäumt hatte, jede ihrer Maschinen zu beobachten. So war ihm entgangen, daß sie die alte Ruine entdeckt hatten, bis er – aus reinem Zufall – dem letzten Gleiter einen Vogel nachsandte. Aber die Menschen waren schnell unter den schützenden Baumkronen verschwunden, und der Vogel sah sie erst wieder, als sie den Tempel erreicht hatten. Tempel! Ein Ort der Anbetung, der Götterverehrung! Er erinnerte sich noch gut an diese Gebäude. Die Zweibeiner, die früher hier gehaust hatten, errichteten sie ihm zu Ehren, obwohl er ihre Städte und Dörfer vernichtete. Er war der Gott des Todes gewesen! Ah, er würde diese Rolle wieder spielen. Aber woher hatten die neuen Zweibeiner gewußt, daß es sich um einen Tempel handelte? Bemerkenswert! Seine Furcht rührte von der Entdeckung her, daß der Mann namens Roger Keim Telepath war. T-Mann, so nannten ihn die anderen. Ulis erste Reaktion war, die Erkenntnis als lächerlich abzutun. Schließlich kannten nur die Qua Telepathie! Aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Obwohl der Mann nicht versucht hatte, das Innere seiner Gefährten zu erforschen, hatten sich doch Spiegelbilder ihrer Gedanken in seinem Innern gezeigt. Aber der Telepath hatte mit keiner Geste verraten, daß er ihre Gedanken kannte. Im Gegenteil, er hatte oft versucht, sie abzuschirmen. Da spielte ein merkwürdiger Begriff namens Ethik eine Rolle. Ethik? Im Wortschatz des toten Besatzungsmitglieds hatte er diesen Ausdruck nicht gefunden. Uli hatte den Telepathen mißtrauisch beobachtet. Keims Gedanken wanderten ständig. Er forschte, analysierte, folgerte; er stellte Theorien auf, verwarf sie und bildete neue. Seine Logik war beängstigend scharf.
Gab es noch andere Telepathen? Ein oder zweimal glaubte Uli die Gegenwart eines weiteren Telepathen zu spüren, aber es handelte sich um schwache, unterbewußte Ausstrahlungen – so überlagert von dem starken Gehirn Keims, daß sich der Ursprung nicht feststellen ließ. Oder kamen diese Sekundärbilder auch von Keim – als eine Art Echo? Er dachte noch darüber nach, als zwei der Menschen auf den Tempel zugingen. In der Angst, sie könnten irgendeinen Hinweis auf seine Existenz finden, hatte er das Gebäude mit einer einzigen Entladung seiner Gedankenmacht zerstört. Und in diesem Augenblick hatte ihn das Entsetzen gepackt, denn das Geschöpf namens Keim hatte den Tempel fallen gesehen, noch bevor er einstürzte! Der Blick in die Zukunft – was für eine Macht war das? Uli zitterte. Er hatte noch nie von dieser Begabung gehört. Er selbst konnte weit in die Vergangenheit blicken, bis zu hundert Milliarden Jahren und bis zum Rand des Universums. Aber die Zukunft – eine noch ungeborene Zeit? Und Keim hatte sie deutlich gesehen, in alle Einzelheiten aufgegliedert. Er hatte zudem den Einsturz des Tempels mit dem Schicksal seiner Erbauer in Verbindung gebracht – und von da eine Brücke zum Tod des Besatzungsmitglieds geschlagen. Was war das für ein Geschöpf? Eine kalte Warnung jagte zu den Gedankenfragmenten seiner zehntausend Wirte hinaus. Und wenn dieses Geschöpf nun zu den niedrigen Wesen seiner Rasse gehörte? Die Möglichkeit hatte ihn von neuem mit Angst erfüllt. Angenommen, es gab andere, die Wälder entwurzeln, Berge abtragen, einen ganzen Planeten in seine Atome zerlegen konnten? Was würde er im Innern der Galaxis mit ihren vielen Planeten vorfinden? Ebenbürtige Gegner? Nein, nichts in den Gehirnen der Menschen deutete darauf hin. Eine solche Möglichkeit war undenkbar.
Sein erster Impuls, die kleine Menschengruppe zu töten, verging rasch. Er wollte die anderen nicht erschrecken, sonst verließen sie den Planeten, bevor er das Schiff erreicht hatte. Und dann mußte er vielleicht wieder fünfzigtausend Mal um diese einsame Sonne kreisen, bis die nächsten Wirte kamen. Ein beängstigender Gedanke! Er mußte sich sofort Zutritt ins Schiff verschaffen! Es liefen zwar viele Menschen im Freien umher, aber der Aufschrei jenes Besatzungsmitglieds hatte ihn gewarnt. Das Unternehmen barg ein gewisses Risiko. Und jetzt, nach der Tempelzerstörung, waren diese Wesen sicher doppelt mißtrauisch. Der beste Augenblick, einen Wirt einzufangen, war kurz vor dem Einschlafen der Menschen: die Augen öffneten sich noch bei der kleinsten Störung, aber die Sinne waren bereits träge. Durchführen ließ es sich; der Mann namens Alton Yozell hatte ihm den Weg gezeigt. Aber die Menschen mißtrauten den Vögeln. Er überlegte. Sie hatten natürlich keine Beweise in der Hand; und wenn sie die wahre Aufgabe der Vögel erkannten, war es zu spät. Immerhin, ihre Intelligenz erwies sich als sehr hoch. Als die Gleiter zum Schiff zurückflogen, wandte Uli seine Aufmerksamkeit dem eingestürzten Tempel zu. Würden die Menschen zurückkehren, um die Trümmer zu untersuchen? Höchstwahrscheinlich. Und obwohl er der Meinung war, daß sie kaum einen Hinweis auf seine Anwesenheit finden würden, beschloß er, kein Risiko einzugehen. Er jagte seine Gedankenmacht in den Schutt, bis nur noch Atome übrig waren, die sich am saphirblauen Himmel verteilten. Im Wald blieb eine häßliche Narbe zurück. Zu seinem Kummer erkannte er, daß die Narbe noch viel gefährlicher war als die Trümmer. Weshalb handelte er so überstürzt? Das hatte er bis zur Ankunft dieser fremden Geschöpfe nie getan. Sie waren
beunruhigend, besonders der T-Mann. Was für furchtbare Kräfte er wohl besitzen mochte? Egal, er mußte ohnehin bald sterben. Ebenso wie die anderen Menschen, wenn sie zum Tempel zurückkehrten. Aber er mußte sie so umbringen, daß ihre Gefährten es für einen Unfall hielten. Vielleicht sollte er sich teilen. Der Gedanke kam unvermittelt, wie so oft, und er brachte Erregung mit sich. Weshalb dachte er gerade jetzt daran? Die Spaltung gehörte zu seiner Natur, sie war das Ziel seiner Existenz – der Grund, weshalb man ihn vom sterbenden Rand des Universums ins Innere der Galaxis geschleudert hatte. Weshalb dann die tief verwurzelte Furcht, sobald er daran dachte? Er zwang sich, seine Gefühle zu ordnen. Was bedeutete die Teilung für ihn persönlich? Würde er als Doppelwesen bestehen, mit zweifachem Bewußtsein? Würde er seine Macht vervielfachen? Oder bildete jedes Teil eine selbständige Einheit mit eigener Persönlichkeit und einem eigenen Rassenbewußtsein? Wenn das der Fall war, bedeutete die Teilung seinen Tod. Tod! Allein der Gedanke daran erschreckte ihn. Nein, er war unsterblich! Seine ganze Natur bewies es; das Lebensalter eines Sterns war für ihn ein kurzer Augenblick. Die unsterblichen Qua! Das kam aus der Tiefe seiner Gedächtnisspeicher. Aber galt die Unsterblichkeit für das Einzelwesen ebenso wie für die Rasse? Was geschah, wenn er sich nicht teilte? Dann lag eine Ewigkeit vor ihm. Auch das war unleugbar. Sollte jedoch der Tod sein Los sein, dann konnte er sich erst auf einem Planeten teilen, dessen Wirte interstellare Schiffe besaßen. Wie diese Menschen hier. Sobald er einen geeigneten Planeten erreichte, würde er gern mit der Spaltung beginnen. Durch ihn sollten sich die Qua in der Galaxis und später im Mittleren Universum ausbreiten. Aber er mußte warten – warten, bis die richtige Zeit kam. Aus diesem Grunde hatte er
sich nicht geteilt, als er den Planeten der einsamen bläulichweißen Sonne erreicht hatte. Deshalb und wegen seiner Furcht vor dem Tod.
FÜNF
Kapitän Woon beugte sich über seinen Schreibtisch. Er sah den T-Mann an. »Ich beurteile Ihre Gefühle ganz richtig, Roger, und ich weiß auch, daß es Ihre Pflicht ist, sie zu melden.« Seine Stimme wurde schärfer. »Dennoch muß ich Sie bitten, strenges Stillschweigen zu bewahren. Außer Kimbrough und mir darf niemand von Ihren Beobachtungen erfahren.« »Weshalb?« »Sie lösen Beunruhigung aus.« »Nicht ich, sondern die Ereignisse.« »Das steht nicht zur Debatte.« »Wer macht sich denn Sorgen?« »Burl Ashford, beispielsweise.« »Ashford?« Keim war nicht sonderlich überrascht. Der Geologe hatte sein Unbehagen seit dem Tod des Besatzungsmitglieds offen gezeigt. Er hatte auch damals auf Kale Furcht verraten, als sie auf die ersten Spuren intelligenten Lebens gestoßen waren. Selbst als sich herausstellte, daß die Bewohner des Planeten auf der Steinzeitstufe standen, war er ängstlich geblieben. Man flüsterte, daß sich Ashford nur der Expedition angeschlossen hatte, um seiner Frau zu entkommen. Ob das nun stimmte oder nicht – Ashford war ein Feigling. »Was will er denn?« »Er bat mich, den Planeten aufzugeben.« »Den Vorschlag machte ich gleich am ersten Tag.« »Planeten wie dieser begegnen uns selten«, meinte Woon tadelnd. »Und ich muß mich vor meinen Vorgesetzten rechtfertigen, wenn wir den Planeten verlassen.« »Ich habe den Gedanken inzwischen auch fallengelassen.«
»Weshalb die Sinnesänderung?« »Ich glaube, daß sich auf dieser Welt eine Lebensform befindet, die unserer Denkart völlig fremd ist; eine Intelligenz, die für die Menschheit eine böse Drohung darstellen kann. Wenn die Möglichkeit besteht, daß die beiden Rassen sich in Zukunft gegenübertreten, dann müssen wir bereits jetzt unsere Vorsichtsmaßnahmen treffen.« »Worin besteht die Gefährlichkeit dieser fremden Lebensform?« »Sie besitzt einen Verstand.« »Oh?« »Ich würde diese Tatsache nicht unterschätzen.« »Unsinn, Roger. Wir könnten diesen Planeten zu Asche verbrennen. Ein paar ungewöhnliche Zufälle rechtfertigen noch nicht die Annahme, daß eine solche Lebensform überhaupt existiert.« »Der Tempeleinsturz war kein Zufall«, entgegnete Keim. »Wahrscheinlich nicht. Auch Kimbrough ist dieser Ansicht.« Woon betrachtete ihn nachdenklich. »Aber ich muß Sie trotz dem bitten, über Ihre Ansichten zu schweigen. Wir möchten dieses Problem wissenschaftlich und nicht vom Gefühl her behandeln.« »Ich bin kein Gefühlsmensch.« »Sie nicht, aber andere.« »Außer Ashford?« »Ein Teil der Mannschaft zeigt sich beunruhigt.« »Ich spreche von den Wissenschaftlern.« Woon zögerte. »Hester Kane und Robin Martel«, sagte er schließlich. Keim brauchte eine Zeitlang, bis er das verarbeitet hatte. Robin, die kluge junge Meteorologin, war neu im Dienst. Expedition 992 war ihre erste Reise in den Raum. Aber die Linguistin Hester Kane hatte schon eine Menge Expeditionen mitgemacht und wirkte nie nervös.
»Haben die Damen einen besonderen Grund für ihre Befürchtungen?« »Weibliche Intuition.« Er grinste. »Das ist mit Vorsicht zu genießen. Wie steht es mit Lara?« »Alles in Ordnung.« Das war aus dem Mund des Kapitäns ein großes Lob. Keim überraschte es nicht. Auf Kale hatte sie darauf beharrt, in einem Eingeborenendorf zu leben, obwohl Woon das als gefährlich empfunden hatte. Sie war hart geblieben und hatte dafür einen tiefen Einblick in die Kultur der Steinzeitgeschöpfe erhalten. »Beschränkt sich die Unruhe auf diese drei?« fragte er. »Auch die Mannschaft ist davon erfaßt, wie ich bereits sagte. Webers Tod hat die Leute erschüttert. Und nun der Tempel…« Woon machte eine hilflose Handbewegung. »Wir können nicht vernünftig arbeiten, solange Angst herrscht.« »Das verstehe ich, aber wir müssen versuchen, die Ereignisse zu durchleuchten.« »Daran wird uns niemand hindern.« Keim war ein wenig verärgert, als er den Kapitän verließ. Er hatte nur einmal seine Überzeugung geäußert, und das war unmittelbar nach dem Tempeleinsturz gewesen, als die Gruppe zu ergründen versuchte, was sich ereignet hatte. Aber die Gerüchte verbreiteten sich schnell; die geflüsterten Vermutungen erreichten sein Inneres, und nachts konnte er die Furcht spüren, die im Schiff herrschte. Woon hatte völlig recht, daß unter diesen Umständen nicht gründlich gearbeitet wurde. Er begegnete Alton Yozell, der ein paar kleine Käfige in sein Labor trug. Der Biologe hatte einige der winzigen Nagetiere eingefangen, die auf der Ebene lebten. »Sie erinnern mich an Feldmäuse«, meinte Keim. »Ja, die Ähnlichkeit ist groß«, entgegnete der Biologe. »Möwen und Feldmäuse… merkwürdige Parallelen in der ganzen Galaxis.«
»Wenn man von der bläulichweißen Sonne absieht, unterscheidet sich Krado 1 kaum von Klasner, Jondell oder der Erde«, sagte der Telepath nachdenklich. »Ich kann das noch nicht beurteilen, Roger.« »Ich auch nicht«, gestand er. »Eigentlich spüre ich einen starken Unterschied, aber ich kann nicht sagen, worin er besteht.« »Jeder Planet hat seine Eigenheiten«, meinte Yozell. »Doch die meisten Dinge lassen sich erklären – wenn man nur genügend Zeit darauf verwendet.« »Haben Sie schon einen dieser Vögel eingefangen?« »Ja, heute morgen – mit bloßen Händen.« Yozell lachte selbstzufrieden. »Ich ging einfach zu ihm hin und hob ihn auf.« »Wirklich?« Keim spürte Unbehagen. »Angst ist nicht angeboren.« Der Biologe begann zu dozieren. »Da diese Tiere keine natürlichen Feinde besitzen, haben sie Angst nie kennengelernt. Sehen Sie nur, wie sie sich um das Schiff scharen. Ich nehme an, daß sie neugierig sind. Erinnern Sie sich noch an die gestreiften Vegetarier von Trypton? Sie verhielten sich ganz ähnlich.« Keim nickte zögernd. »Dennoch finde ich sie merkwürdig.« »Die Vögel? Das kann ich verstehen.« Yozell warf einen wehmütigen Blick über das Grasland. »Schade, daß wir nicht einige mitnehmen und über einen längeren Zeitraum hinweg studieren können. Vielleicht ließe sich feststellen, auf welche Weise sie unser Energiefeld erkennen. Das wäre ein echter Triumph, Roger.« Keim nickte; er wußte genau, was der Biologe meinte. Yozell konnte seine Exemplare beobachten, fotografieren, testen, analysieren und sezieren; er konnte alles aufzeichnen, was er über sie in Erfahrung brachte. Aber kein Tier durfte die Atmosphäre seines Heimatplaneten verlassen. Man wußte zu gut, daß man das ökologische Gleichgewicht einer ganzen Welt vernichten konnte, wenn man fremde
Bakterien einschleppte. Strenge Bestimmungen sorgten dafür, daß die Gefahr so weit wie möglich eingedämmt wurde. Sobald die Alpha Tarnt wieder in den Raum startete, wurde Kabine um Kabine gründlich desinfiziert. Ebenso mußten die Wissenschaftler und Mannschaftsmitglieder eine Reihe von Untersuchungen und Injektionen über sich ergehen lassen, bis mit hundertprozentiger Sicherheit feststand, daß sie keine Mikroorganismen und Krankheitskeime in sich trugen. Das System war nahezu perfekt. Als Keim aufblickte, stand Lara neben ihm. »Ich habe mich für die gestrige Rettung noch gar nicht bedankt«, sagte sie. »Ich war einfach zu erregt.« »Sie wirkten ganz ruhig.« »Manchmal trügt der Schein. Ich hatte eine Heidenangst.« Er lachte. »Ich glaube, uns allen schlotterten die Knie. Um die Wahrheit zu gestehen, meine Reaktion war wohl übertrieben. Das nächste Mal werde ich mich galanter benehmen.« »Hoffentlich gibt es kein nächstes Mal. Sie rechnen doch nicht etwa mit einer Wiederholung?« »Darauf darf ich keine Antwort geben. Man hat mich zum Schweigen verpflichtet.« »Weshalb?« Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Woon hält mich für einen Angstmacher.« »Unsinn!« »So ganz unrecht hat er nicht. Die wildesten Gerüchte sind im Umlauf.« »Die meisten empfinden Angst – ich übrigens auch«, gestand sie. »Ich hatte das Gefühl schon vor unserem Tempelerlebnis, aber nun hat es mich richtig gepackt.« »Weshalb vor dem Tempelerlebnis? Webers Tod?« Sie zögerte mit der Antwort. »Und die Drohung in Ihrem Innern?« »Ich kann nicht in die Zukunft sehen«, meinte er ruhig. »Vielleicht täusche ich mich.«
»Das bezweifle ich. Sie spüren Dinge, die – uns normalen Menschen entgehen.« »Eindrücke, mehr nicht.« »Und beim Tempel?« »Auch das war ein Eindruck, der Eindruck einer Gefahr…« »Bevor das Gebäude zusammenbrach«, wandte sie ein. »Das ist noch nicht geklärt.« Er lächelte schwach. »Die Verbildlichung nach einem Ereignis ist natürlich; aber können wir wirklich mit Sicherheit sagen, daß sie wirklich erst nach dem Ereignis eintritt? Meiner Meinung nach ist unser Sinn für den Zeitablauf gar nicht so unbestechlich, wie wir gern annehmen.« »Möglich.« Ihre Miene verriet deutlich den Zweifel. »Die wichtigere Frage: Was geschah mit den Tempelerbauern?« »Zivilisationen kommen und gehen«, erwiderte sie. »Denken Sie an die terranische Geschichte. Zahllose Kulturen verschwanden, und wir können nur ahnen, weshalb.« »Aber sie wurden in der Regel von einer höheren Zivilisation verdrängt.« »Jede Regel hat ihre Ausnahme.« »Zugegeben. Aber zwischen dem ersten Höhlenmenschen auf der Erde und dem Imperator besteht auch heute noch eine Verbindung. Irgendwie ist es uns immer geglückt, die Lücken zu schließen. Doch wozu erwähne ich das? Schließlich handelt es sich um Ihr Fachgebiet.« Sie lachte. »Ich lege keinen Wert auf eine Monopolstellung. Wir können im Moment nur mit Vermutungen arbeiten. Es gibt keine Präzedenzfälle. Mir kam bisher gar nicht zu Bewußtsein, wie sehr wir uns auf die Geschichte stützen.« »Irgendwie muß es uns gelingen, die geheimnisvolle Lebensform, die diesen Planeten beherrscht, zur Strecke zu bringen.«
»Das wird nicht so leicht sein – außer wir finden gut erhaltene Bauwerke, die uns irgendwelche Hinweise liefern, und sei es nur in Form einer Wandmalerei oder einer kleinen Statue. In diesem Punkt hat Alton recht.« Sie hob den Kopf und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich würde gern noch einmal zum Tempel zurückkehren und den Schutt durchsuchen.« »Das halte ich für gefährlich. Wir wurden bereits einmal gewarnt. Ich bin überzeugt davon, daß der Tempel einstürzte, weil uns jemand an der Suche hindern wollte.« »Auf welche Weise wurde er zerstört?« fragte sie. »Dieser Gedanke läßt mich nicht los.« »Wir kennen die Energiequelle nicht.« »Und Sie haben auch keine Vermutung?« »Ich halte jedenfalls meine Sinne offen.« »Sie weichen mir aus.« Wieder sah sie ihn forschend an. »Dennoch, ich würde gern zum Tempel zurückkehren.« »Man wird es Ihnen verbieten.« »Weshalb?« »Woon und Kimbrough möchten den Tempel vergessen.« Er lachte vor sich hin. »Sie glauben, daß es darin spukt.« »Und stimmt das nicht?« »In gewissem Sinne, ja. Aber selbst Gespenster lassen sich finden.« »Wir werden sie finden.« Sie nickte kurz. »Davon bin ich überzeugt.« »Ich freue mich auf die Begegnung.« Er hatte den Eindruck, daß seine Stimme ein wenig unecht klang.
Alton Yozell strich sich über das Kinn und beobachtete den gefangenen Vogel. Trotz ein paar schwachen Abweichungen in Farbe und Form besaß er verblüffende Ähnlichkeit mit der
gewöhnlichen Möwe, die man auf nahezu allen sauerstoffhaltigen Welten mit Meeren, Gezeiten und einem gemäßigten Klima vorfand. Er hatte schneeweißes Gefieder, schwarze Beine und einen deutlich gegabelten Schwanz. Aber diese Dinge fielen Yozell nicht so stark auf wie das Verhalten des Vogels. Die meisten eingefangenen Tiere hüpften im Käfig herum, fraßen oder blieben ganz still sitzen. Hin und wieder zeigten sie Angst, wenn Menschen in die Nähe kamen, aber während seiner langen Praxis war es noch nie geschehen, daß sie einen Menschen ständig beobachteten. Dieser Vogel bildete eine Ausnahme. Yozell hatte von Anfang an gemerkt, daß die kleinen schwarzen Augen unaufhörlich seinen Bewegungen folgten. Ging er am Käfig vorbei, so drehte sich das Tier nach ihm um. Erledigte er irgendeine Arbeit, so betrachtete ihn der Vogel angespannt. Angespannt? Wie konnte er diese Eigenschaft blanken kleinen Tieraugen zuschreiben? Und doch paßte das Wort. Er war verwirrt. Vögel, alle Vögel, besaßen einen niedrigen Intelligenzgrad. Als Geschöpfe, die vor allem auf Umweltreize reagierten, führten sie ein reines Instinktleben. Impulse ersetzten die Vernunft. Und doch wies dieser Vogel alle Anzeichen von Intelligenz auf. Nicht, daß er bereits intelligent gehandelt hätte; Yozell mußte erst Tests in dieser Richtung ersinnen. Aber der äußere Schein der Intelligenz war vorhanden; ebenso ein gewisser Argwohn. Dennoch hatte das Tier sich fangen lassen und nicht die geringste Furcht gezeigt, als er es in einen Käfig steckte. Bildete er sich den Argwohn nur ein? Nein, ganz bestimmt nicht. Wieder erwachte der Wunsch in ihm, wenigstens zwei der Tiere nach der Sektorhauptstadt Cappelle zu schicken und sie seinen Kollegen zu zeigen. Aber das war unmöglich; nicht einmal der Direktor des Forschungsdienstes konnte diese Ausnahme genehmigen.
Als er sich zu Bett legte, blieb er noch eine Zeitlang wach und beobachtete den Vogel im schwachen Licht der Nachttischlampe. Die Augen reflektierten den Schimmer. Keinen Moment wich der Blick des Tieres von seinem Gesicht. Der Vogel zeigte nicht die geringste Müdigkeit. Yozell wurde unruhig. Es war etwas Unnatürliches und Drohendes an dem Tier – an dem intelligenten Geschöpf, das ein Energiefeld spürte! Mißtrauisch setzte er sich auf. Vielleicht sollte er den Vogel aus dem Zimmer bringen. Als hätte das Tier seine Gedanken gelesen, steckte es den Kopf unter den Flügel. Das war die Schlafgewohnheit vieler Vögel. Yozell beobachtete ihn lange, bevor sein Unbehagen nachließ. Der Planet geht dir auf die Nerven, sagte er sich schließlich. Du mußt deine Gefühle besser kontrollieren, du mußt dich beherrschen. Schließlich ist das Geschöpf im Käfig nur ein Vogel. Nach einer Weile schlief er ein. Er erwachte von einem leisen Schnalzen. Schlaftrunken setzte er sich auf und schaltete die Nachttischlampe ein. Die runden kleinen Augen des Vogels waren auf ihn gerichtet. Er wunderte sich darüber, doch in diesem Moment drang das Fragment, das Uli war, in sein Inneres. Yozell erschauerte und stieß einen heiseren Schrei aus. Er wollte aufspringen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Noch einmal zitterte er wie im Krampf. Sein Bewußtsein, seine Persönlichkeit waren hilflos gefangen, unterdrückt von dem neuen Wesen, das ihn beherrschte. Dennoch konnte er wahrnehmen, fühlen, denken. Das Denken war das Schlimmste, denn er kannte nun das Geheimnis des Vogels. Und das Geheimnis von Uli! Er trauerte um die Menschheit.
Uli war außer sich vor Freude. Er besaß die Erinnerungen des Biologen, sein Wissen, seinen Wortschatz, sein Verhalten – alles, was er brauchte, um so lange wie nötig als Yozell zu gelten. Und in der ersten Zeit würde er Yozell ganz in Anspruch nehmen müssen. Er konnte den Körper des Biologen zu jeder Handlung zwingen; er konnte ihn als Maske benutzen. Alton Yozell war der Schlüssel zum Schiff, zur Galaxis, zum gesamten Mittleren Universum. Während der Biologe schlief, überlegte das Fragment von Uli – das praktisch Uli war – welche Schritte er zunächst unternehmen sollte. Er mußte selbst ins Schiff gelangen; er mußte Yozell dazu zwingen, ihn sicher zu verstecken. Danach konnte der Biologe weitere Vögel an Bord holen, einen für jedes wichtige Mannschaftsmitglied. Und er mußte den Telepathen umbringen. Er überlegte genau. Sein Wunsch, den Telepathen gleich zu erledigen, enthielt ein gewisses Risiko. Aber in ein paar Tagen, wenn er das Schiff beherrschte, konnte er ihn jederzeit töten. Ah, wie rasch die Menschen fallen würden! Er fühlte eine ungeheure Überlegenheit bei diesem Gedanken. Die Galaxis stand offen! Wo sollte er beginnen? Yozells Wissen verriet ihm, daß vielleicht ein schwach bevölkerter Planet am besten war – ein Planet, der sich am Rande des Handels- und Verkehrsnetzes befand, – ein Planet, dessen Regierung nicht sehr straff organisiert war. In Yozells Gedankengängen: »wo man individueller lebte«. Der Biologe konnte ihm ein Dutzend solcher Planeten nennen. Er mußte nur den richtigen finden und sich dann spalten. Die Spaltung! Wenn nun die Spaltung seinen persönlichen Tod bedeutete – er schauderte bei der Vorstellung – würden seine Nachkommen dann eines Tages wissen, wer ihnen die Galaxis gegeben hatte, das Mittlere Universum? Ganz gleich, er handelte nach dem Gesetz der Rasse; er folgte einem Geschick,
das schon den Zellen seines Wesens aufgeprägt war. Dennoch hätte es ihn gefreut, wenn die Qua der fernen Zukunft ihren Wohltäter gekannt hätten; er wünschte sich, daß der Name Uli durch die Korridore der Zeit hallte. Als der Biologe erwachte, äußerlich die gleiche Person wie am Abend zuvor, steuerte Uli sein Handeln ganz nach dem Gewohnheitenschema, das er in Yozells Gedächtnis fand. Uli ließ ihn aufstehen, seinen Körper pflegen, das Gesicht enthaaren, duschen, anziehen – alles Dinge, die Yozell täglich verrichtete. Danach dirigierte er seine Schritte zur Messe, wo das Frühstück wartete. Im Korridor empfand Uli mit einem Mal Angst. Angenommen, der Telepath war da, durchforschte das Innere des Biologen und entdeckte, daß etwas nicht stimmte? Er konnte Uli natürlich nicht erkennen, aber Mißtrauen genügte. Er wollte Yozell schon umkehren lassen, als ihm einfiel, daß diese Handlungsweise die gleichen entsetzlichen Folgen haben konnte. Wenn Yozell sein Gewohnheitenschema durchbrach, wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit ihm zu, ganz besonders bei der augenblicklichen angespannten Atmosphäre. Das konnte er nicht riskieren. Yozell mußte Schritt für Schritt das tun, was er auch sonst tat. Aber Uli traf eine Entscheidung: Er wollte den Telepathen ständig überwachen – bis er ihn schließlich tötete. Yozell betrat die Messe, nickte den wenigen Anwesenden zu, holte sich sein Frühstück aus einem angrenzenden Raum und nahm den gewohnten Platz ein. Durch die Augen seines neuen Wirtes betrachtete Uli rasch die anderen. Der schwerfällige Mann mit dem geröteten Gesicht ganz am oberen Ende des Tisches war Vernon Woon, der Kapitän des Schiffes. Woons Bewußtsein war ein Sammelbecken von Sternenrouten durch den Hyperraum, ein geheimnisvolles Reich, das er nicht verstand, das er aber viele Male durchquert hatte. Sein
Unterbewußtsein hatte Tausende von Planeten aufgenommen. Yozell mochte ihn nicht; er betrachtete ihn als notwendiges Übel. Der hagere, gebeugte Mann (Yozells Eindruck) neben Woon war Myron Kimbrough, der wissenschaftliche Leiter. Seine Gedanken waren geordnet, diszipliniert. Im Moment empfand er Unbehagen und eine unterbewußte Furcht. Gefahr, Gefahr… Stoßweise drang die Furcht immer wieder zur Oberfläche durch, obwohl er sie hartnäckig unterdrückte. Yozells Gefühle ihm gegenüber waren neutral. Sam Gossett, Burl Ashford, Ivor Bascomb, Paul Rayfield… Er ließ Yozells Blicke durch den Raum schweifen. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, daß der Telepath fehlte. Ein schmaler Mann mit gelblicher Hautfarbe (asiatischer Herkunft, wie Yozell verriet) hieß Henry Fong. Er war Historiker. Neben ihm saß ein weibliches Wesen dieser Rasse, Robin Martel, die Meteorologin. Im Moment erwog sie, ob ihr Gegenüber, der Arzt und Psychologe Harlan Duvall, der geeignete Paarungspartner sein könnte; aber ihre Züge verrieten nichts von diesen Gedanken. Kimbrough hob plötzlich den Kopf und sah den Biologen an. »Was war mit dem Vogel?« »Er – hat wirklich Ähnlichkeit mit unseren Möwen.« Uli ließ den Biologen zögernd sprechen, wie es seine Art war. »Ganz besonders deutlich ist die Verwandtschaft zur Elfenbeinmöwe – pagophila eburnea – von der ihn nur der gegabelte Schwanz unterscheidet. Die Elfenbeinmöwe findet sich in den Arktisgebieten der Erde – das heißt, seit dem Nuklearwechsel ist sie ausgestorben.« Kimbrough runzelte die Stirn. »Irgendwelche Besonderheiten?« »Alles ganz normal.« »Auf diesem Planeten ist nichts normal«, sagte Paul Rayfield düster.
»Je eher wir starten, desto besser«, warf Burl ein. Er sah den Kapitän an, und sein rundes Gesicht zuckte. »Zuerst kommt unser Auftrag«, sagte Woon scharf. Schweigen breitete sich am Tisch aus. Yozells Augen ruhten auf dem Geologen. Ashfords Inneres war von Angst zerfressen. Die Angst beherrschte seine Gedanken und sein Handeln. Fremde! Fremde! Das Wort kreischte aus der Tiefe seines Bewußtseins. Auch die meisten anderen empfanden Furcht, doch sie reagierten mit größerer Beherrschung. Paul Rayfield war angespannt und nervös, weil er die Gefahr, aber nicht ihren Ursprung, spürte; Ivor Bascomb tröstete sich mit dem Gedanken, daß alles vorübergehen würde; Sam Gossett hatte still resigniert. Wenn Robin Martel sich nicht gerade mit Harlan Duvall beschäftigte, war sie überzeugt davon, daß etwas Furchtbares geschehen würde. Nur Henry Fong, der Historiker, legte eine sonderbare Gelassenheit an den Tag; was auch geschehen mochte, er würde es für die Nachwelt aufzeichnen. Später gab Uli Yozell den Befehl, sich draußen einen Gleiter zu nehmen. Er wußte, daß es verboten war, ohne ein zweites Mannschaftsmitglied aufzubrechen, aber er beschloß, diese Regel zu mißachten. Als gerade niemand in der Nähe war, startete Yozell in Richtung der aufgehenden Sonne. Er flog auf die Bergkette jenseits der Ebene zu. Yozell empfand nicht das Verlangen, die fremdartige Landschaft zu betrachten. Er fühlte keine Neugier, keine Erregung, überhaupt nichts; er wußte nicht einmal, daß er nichts fühlte. Der letzte Bewußtseinsfunken tief in seinem Innern war erloschen. Er trauerte nicht mehr um die Menschheit. Er landete den Gleiter auf einem Felsplateau tief in den Bergen. Vor ihm ragte eine Steilwand auf, furchterregend mit ihren Vorsprüngen und Überhängen. Eine tiefe Schlucht,
eingegraben im Laufe von Jahrmillionen durch das reißende Wasser eines Bergflusses, teilte die öde Landschaft. Yozell betrachtete die Szene mit leerem Blick. Weiter oben entdeckte er dunkle Höhleneingänge. Uli sah sie durch die Augen des Biologen. Sie hatten sich kaum verändert, seit jenem Tag vor vielen tausend Jahren, als er sie zum Versteck wählte. Nur die eine, ganz bestimmte Höhle sah man nicht mehr; sie war verdeckt von einem gewaltigen Granitblock, größer als die Alpha Tauri. Uli hatte ihn davorgeschoben. Geführt von Yozells Augen, setzte er die Gedankenmacht ein. Der Granitblock hob sich, rutschte zur Seite und rollte in eine Schlucht. Nun zeigte sich ein weiterer Höhleneingang. Uli gab Yozell Anweisungen. Der Biologe kletterte den Hang hinauf, bis er die neue Höhle erreichte. Das Innere war dunkel, aber er ging ohne Zögern weiter. Im Hintergrund der Höhle blieb er stehen. Er tastete über die Mauer, bis er hoch oben einen Felsvorsprung entdeckte. Seine Finger berührten einen kleinen, ovalen Gegenstand, glatt und kühl. Vorsichtig nahm er das Ding an sich. Draußen im Sonnenlicht betrachtete sich Uli durch die Augen seines Wirts. Wie viele Jahrtausende war es her, seit er sich selbst gesehen hatte? Ah, die herrliche Glätte! Die Symmetrie! Die kleine Falte an einem Ende, die das Auge verdeckte! Er wußte noch genau, wann er dieses Auge zum letzten Mal geöffnet hatte. Sein erster Wirt, ein Zweibeiner, hatte ihn einem anderen Zweibeiner gezeigt und dann noch einem und noch einem. Sie alle hatte der Wirt auf das Ding hingewiesen, »das wie ein Auge in einem eiförmigen Stein« aussah. Und sie alle waren seine Wirte geworden. Das Drama hatte sich zehntausendmal wiederholt, bevor er Zuflucht in dieser Höhle suchte und sie mit einem Granitblock verschloß. Seit damals hatte er das Auge nicht mehr gebraucht; er hatte seine Wirte
ausgenützt und durch ihre Augen die Welt betrachtet. Aber die erlesene Form seines Körpers – er freute sich über den Anblick. Bei der Erinnerung an vergangene Zeiten dankte er dem Geschick, daß seine Erlösung von diesem Planeten bevorstand. Wie er sich nach den Sternen sehnte, nach den wartenden Welten! Tlo, Xexl, Zimzi, Yilill – die Namen der Vergangenheit flossen wie süßer Honig (Yozells Begriff!) durch sein Bewußtsein. Als einziger seiner Art hatte er den Abgrund überquert; vor ihm lag die Erfüllung. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Biologen zu. Yozell schob den sonderbaren Gegenstand in einen Probenbehälter und kehrte zum Gleiter zurück. Als er neben der Alpha Tauri landete, wartete Myron Kimbrough bereits. Auf seinen Zügen spiegelte sich Ärger und Erleichterung. »Wo waren Sie?« fragte er. »Ich habe einen Rundflug gemacht.« Yozell blinzelte in die Morgensonne. »Weshalb fragen Sie?« »Sie kennen den Befehl, daß keiner allein aufbrechen darf«, sagte Kimbrough scharf. »Du liebe Güte, das hatte ich ganz vergessen.« Yozell täuschte Verwirrung vor. »Weshalb beantworteten Sie unsere Funksprüche nicht? Wir rufen seit zwei Stunden.« Wieder blinzelte Yozell in die Sonne. »Ich dachte nicht daran, das Gerät einzuschalten.« »Alton, auf diesem Planeten können wir uns keinen Leichtsinn leisten.« »Ich werde in Zukunft daran denken«, sagte er schuldbewußt. »Wenn Sie ein schlechtes Beispiel geben…« »Ich werde mich bei Kapitän Woon entschuldigen.« »Das kann ich Ihnen nur raten.« Kimbroughs Tonfall änderte sich. »Haben Sie etwas Außergewöhnliches entdeckt?«
»Nichts Neues.« Yozell schüttelte den Kopf. Als sich der wissenschaftliche Leiter abwandte, ging er sofort in seine Kabine. Uli forschte sein Inneres nach einem geeigneten Versteck aus. Schließlich, da es ihm am unauffälligsten erschien, ließ er sich in die Schublade mit den persönlichen Dingen des Biologen legen. Es war ja nur für wenige Tage! Nachdem sich Uli sicher an seinem neuen Platz befand, schickte er den Biologen hinaus, damit er noch einmal fünf oder sechs Vögel einfing – eine unauffällige Zahl. Nachts, wenn die anderen schliefen, konnte Yozell die Vögel an strategisch wichtigen Orten verteilen – beim Kapitän, bei Kimbrough und bei ein paar anderen Wissenschaftlern. Nach kurzer Zeit hatte er dann so viele Wirte, wie er brauchte. Ein guter Anfang für die Eroberung der Galaxis!
SECHS
Roger Keim warf einen Blick zum Himmel; vereinzelte weiße Wolken segelten der Morgensonne entgegen. Es war ein klarer, warmer Tagesbeginn – Robin Martel hatte vorhergesagt, daß dieses Klima fast das ganze Jahr über herrschen würde, zumindest in diesen Breiten. Seine Aufmerksamkeit wandte sich den Vögeln zu, die über dem Grasland ihre Kreise zogen. Yozells Vergleich mit Möwen war absolut richtig. Er hatte Zehntausende davon auf Klasner, Tarth, Jondell und den anderen Planeten gesehen. Ihre eleganten Schwünge, das rhythmische Schlagen ihrer Flügel – das alles zeigte, daß sie für das Element der Luft geboren waren. Aber handelte es sich wirklich nur um Möwen? Die Frage kehrte beharrlich wieder, während er die Augen zusammenkniff, um die Tiere deutlicher zu sehen. Möwen, die Energiefelder spürten. Und weshalb sammelten sie sich um die Alpha Tauri, obwohl sie dort kein Futter bekamen? Zudem gelang es ihm nicht, das Tier zu vergessen, das vor Weber aufgeflattert war, als er tot zusammenbrach. Ein einsamer Vogel hatte seine Kreise über der Lichtung gezogen, während der Tempel einstürzte. Zufall? Wenn ja, dann handelte es sich um die Art von Zufall, die im Laufe der Geschichte immer wieder zu starkem Aberglauben geführt hatte. Aber es gab noch andere Fragen. Was war mit dem Donner, der tagsüber sein Denken erfüllte und erst spät in der Nacht verebbte? Weshalb die düstere Vorahnung, die ihn selten verließ? Weshalb Webers Tod und der Tempeleinsturz? Kein Wunder, daß im Schiff Panikstimmung herrschte. Anfangs hatte nur Burl Ashford zum Aufbruch gedrängt, nun unterstützten ihn
schon ein Dutzend anderer Leute. Sogar Sam Gossett. Bei der Mannschaft war es noch schlimmer; ihre Mienen und ihr Handeln drückten Unruhe aus, die nur schwach ihre Angst überdeckte. Vielleicht hatte Lara recht. Vielleicht sollten sie die Tempeltrümmer durchsuchen, um etwas über die Erbauer und den Grund ihres Untergangs in Erfahrung zu bringen. Eine Zivilisation auf der Kunststoffstufe verschwand nicht einfach spurlos, außer durch eine Katastrophe. Krieg? Dann hätte man Ruinen von Städten und Straßen gefunden. Aber es gab keine, und das verwirrte ihn am meisten, auch wenn er nicht genau wußte, weshalb. Eine fremde Intelligenz? Er spielte mit diesem Ausdruck. Wenn ja, wie sah sie aus? Selbst wenn er seine ganze Phantasie einsetzte, konnte er sie nicht mit den Möwen in Verbindung bringen. Aber was blieb dann noch? Dämone, Harpyien, Ghule, Gespenster – er schnitt eine Grimasse. Solche übernatürlichen Wesen ließen keine alten Tempel einstürzen. Er mußte eine andere Richtung verfolgen. Sollte er zum Tempel zurückkehren? Schaden konnte es nicht. Einstürzen wird er wohl nicht mehr, dachte er mit einem schiefen Grinsen. Und weshalb sollte er nicht gleich fliegen? Er erkannte, daß er unterbewußt die Entscheidung längst getroffen hatte. Zur Vorsicht holte er aus seiner Kabine einen Laserstrahler. Eine Zeitlang kämpfte er mit sich, ob er Kimbrough von seinem Vorhaben verständigen sollte; dann entschied er sich dagegen. Er konnte den Zorn von Woon und Kimbrough später über sich ergehen lassen. Als er wieder ins Freie trat, sah er, daß bereits ein Gleiter fehlte. Er bestieg die nächste Maschine und steuerte sie zum Wald hin. Obwohl er keine Peilungshilfe besaß, war er sicher, daß er die Lichtung finden würde. Das golden überhauchte Grasland, ein Bach in der Morgensonne, die violetten Umrisse der bewaldeten Hügel in
der Ferne – er nahm die Landschaft ganz in sich auf. Die letzten Wolken verschwanden hinter ihm, und nur der saphirblaue Himmel hüllte ihn ein. Das Gefühl der unendlichen Einsamkeit wuchs. Stille. Reglosigkeit. Er sah nicht den Vogel, der ihm in einiger Entfernung folgte. Trotz des Knisterns und Dröhnens in seinem Innern genoß er einen Augenblick der Seelenruhe. Wenn er zurückdachte, so hatte er den größten Teil seines Lebens in Einsamkeit verbracht. Es war keine Einsamkeit im physischen Sinn; seine Einsamkeit bestand in der unsichtbaren Barriere, die ihn von den normalen Menschen, den Nicht-Telepathen, trennte. Telepathen gab es selten; und die anderen ließen ihn deutlich spüren, daß er nicht zu ihnen gehörte. Wissenschaftler waren großzügiger, verständnisvoller, aber… Dieses Aber stand immer vor ihm. Er war ein T-Mann. Punkt. Als solcher gehörte er zu den gesellschaftlich Abseitsstehenden. Doch die Einsamkeit des Augenblicks war anders; sie rührte von der Leere, der Stille, dem vollkommenen Frieden her. Mit Bedauern erkannte er, daß eines Tages hohe Gebäude in diesen heiteren Himmel ragen würden; Transporter und Passagiermaschinen würden ihre Bahnen ziehen; der ganze Planet würde von der Aktivität des Menschen widerhallen. Er empfand Dankbarkeit, daß er dann nicht mehr hier sein würde. Als er den Waldrand erreichte, sah er ein Stück weiter vorn einen hellen Gegenstand. Einen Moment lang betrachtete er ihn verwirrt, bis er erkannte, daß es sich um den zweiten Gleiter der Alpha Tauri handelte. Lara! Intuitiv wußte er, daß sie am Steuer saß. Vermutlich hatte sie sich das gleiche Ziel vorgenommen wie er. Sie war allein, das wußte er auch. Als er zum Mikrophon griff, um sich mit ihr zu verständigen, senkte sich ihre Maschine. Wahrscheinlich hatte Lara die Lichtung entdeckt. Zögernd legte er das Mikrophon zurück. Sekunden später war ihr Gleiter hinter den Baumwipfeln verschwunden.
Würde sie glauben, daß er ihr absichtlich gefolgt war? Vermutlich. Aber er wollte jetzt nicht mehr umkehren. Er senkte seine Maschine. Die Baumriesen glitten unter ihm vorbei. Eine Bewegung am Himmel ließ ihn rasch aufschauen. Eine Möwe! Mit reglos ausgebreiteten Flügeln kreiste sie, ein weißer Fleck gegen das Blau des Himmels. Sein Herz klopfte schneller. Im nächsten Moment mußte er sich auf den Gleiter konzentrieren, da die Lichtung rasch unter ihm auftauchte. Zu spät! Er war über das Ziel hinausgeflogen und mußte zu einer neuen Umkreisung ansetzen. Keim warf einen Blick in die Tiefe. Lara hatte eben ihren Gleiter verlassen und wandte sich dem Dschungelpfad zu, den Bascomb ins Unterholz gebrannt hatte. Ein lautes Knistern erfüllte sein Gehirn. Bewegung! Die Erkenntnis kam ihm, bevor er die Ursache sah – ein riesiger Baum, der plötzlich zu schwanken begonnen hatte. Der Wipfel bog sich nach unten. Er versuchte, den Grund für diese Bewegung zu erkennen, als der gewaltige Stamm zersplitterte und auf Lara zu fallen drohte. »Achtung!« Unwillkürlich hatte er diesen Schrei ausgestoßen. Starr vor Entsetzen sah er, wie Lara den Kopf nach oben wandte. Sie schien wie angewurzelt, dann rannte sie auf die Seite. Einen Augenblick später schlug der Waldriese da auf, wo sie noch Sekunden zuvor gestanden hatte. Der nächste Baum begann zu schwanken. Mit angstverzerrter Miene beobachtete Lara den Sturzwinkel. Wieder entkam sie dem Stamm nur um Sekundenbruchteile. Keim setzte seine Maschine so hart auf, daß sie eine Zeitlang nachfederte. »Lara!« rief er, außer sich vor Angst. Er sprang aus dem Gleiter und lief auf sie zu. Sie wirbelte herum, sah ihn und stieß einen schrillen Warnschrei aus, als sich der nächste Baum neigte. Er erreichte sie und riß sie zu sich heran. Ein Ast erdrückte ihre Maschine.
»Was ist das?« fragte sie entsetzt. »Tempel stürzen ein.« »Was?« »In den Wald, rasch!« Er zog sie in das sichere Dickicht. »Die Bäume werden auf uns stürzen«, schrie sie. »Sie schützen uns«, entgegnete er fest, obwohl er selbst Zweifel hegte. Ein Teil seines Bewußtseins rief ihm entgegen, daß es nirgends Sicherheit gab. Nicht auf Krado 1! Zwischen zwei gigantischen Stämmen blieb er stehen und sah zurück. Der Baum, der den Gleiter gestreift hatte, erhob sich vom Boden. Er drehte sich um seine Längsachse, bis der Stamm schnurgerade in ihre Richtung wies. Keim spürte die Gefahr und zog Lara mit sich hinter einen der aufragenden Giganten. Wie von einer Bogensehne geschnellt, jagte der Stamm auf sie zu. Ein Splittern und Krachen verriet ihnen, daß er, wenigstens für den Moment, aufgehalten worden war. Seine Gedanken wirbelten. Eine beklemmende Furcht stieg in ihm auf. Mit entsetzlicher Klarheit erkannte er, daß der ganze Wald – jeder Baum, jede Liane, jeder Busch – sie umbringen konnte. Er wollte fliehen, irgendwohin, weg von hier. Nur der eiserne Wille zwang ihn, klar zu denken; Panik durfte jetzt nicht aufkommen. Konnten sie seinen Gleiter erreichen und starten? Oder führte das auch zur Vernichtung? Er nahm Laras Hand fest in die seine und bahnte sich einen Weg zur Lichtung zurück. Die Bäume der Umgebung schwankten, krachten, stürzten. Das Pfeifen, das in der Luft lag, erinnerte an einen Orkan. Zweimal konnte er das Mädchen zur Seite reißen. Sie erreichten den Rand der Lichtung, als der zweite Gleiter in Stücke gerissen wurde – von unsichtbaren, gewalttätigen Händen. »Was ist das nur?« rief sie hysterisch. »Die fremde Intelligenz!« Verzweifelt suchte er nach einem Fluchtweg. »Die fremde…?«
»Wer oder was es auch sein mag.« Im nächsten Augenwinkel sah er einen Baum schwanken; er riß den Kopf hoch, um die Fallbahn zu berechnen. Im gleichen Moment sah er die beiden Möwen, die aufmerksam über der Lichtung schwebten. Seine Hand zuckte in die Tasche und holte den Laser hervor. Automatisch stellte er den Strahl auf größte Reichweite ein; dann drückte sein Daumen auf den Auslöser. Eine kleine Flamme am Himmel, dann noch eine. Die Möwen waren verschwunden. Im gleichen Moment ließ das Pfeifen nach, die Wipfel hörten zu schwanken auf, die Stille kehrte zurück. Lara wäre zusammengebrochen, wenn Keim sie nicht aufgefangen hätte. »Es ist alles vorbei«, tröstete er sie. »Ich habe Angst.« Sie sah zum Himmel. »Wie konnten die Möwen das tun?« flüsterte sie. »Psychokinese.« »Die Gedankenmacht? Man verneint ihre Existenz«, widersprach sie. »Bisher hat man es zumindest getan.« »Aber Möwen…« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, daß es die Möwen waren. Sie dienten als Spione, wenn ich den Ausdruck benutzen darf; aber hinter ihnen steht eine fremde Intelligenz.« »Wie ist das möglich?« fragte sie verwirrt. »Ich weiß es auch nicht, aber ich bin überzeugt davon, daß die Möwen nur Vermittler sind, daß der Fremde – oder die Fremden – die Gedankenmacht durch diese Tiere ausübt.« »Das ist unvorstellbar!« »Und die Bäume, die umhergeschleudert wurden?« Er suchte den Himmel ab und entdeckte zu seiner Erleichterung keine Vögel. »Doch wir sind sicher, wenigstens im Augenblick. Worin die fremde Macht auch bestehen mag, wir haben sie ihrer Augen beraubt.« »Wenn sie diese Dinge fertigbrachte…« Sie sah ihn an, und von neuem spiegelte sich Furcht in ihren Zügen. »Ja, sie
könnte die Alpha Tauri ohne weiteres vernichten – wenn Sie das meinen.« Im gleichen Moment fiel ihm auf, worin das eigentliche Problem bestand, und er fuhr fort: »Aber warum hat sie es nicht getan? Und weshalb versucht sie ausgerechnet, uns beide zu töten?« »Weil wir hierherkamen?« fragte sie schwach. »Nein, es steckt mehr als das dahinter. Weshalb brachte sie uns nicht gleich mit um, als sie den Tempel zerstörte? Weshalb richtete sie ihren Zorn gegen das Gebäude und nicht gegen uns? Sie hätte uns alle sechs ermorden können.« Ruckartig hob er den Kopf. »Da fällt mir etwas ein…« »Was?« Ihre Stimme klang nervös. »Yozell hat einen der Vögel mit an Bord genommen.« »Oh, Gott!« Sie wurde schneeweiß. »Deshalb hat die fremde Intelligenz das Schiff nicht zerstört. Sie braucht es!« Er nahm sie an der Hand. »Wir müssen zurück.« Als er sich aufrichtete, erfüllte ein dunkles Rauschen den Himmel. Der Laut schwoll an und kam näher wie tausend Gewitterstürme. Die Bäume am Rand der Lichtung erzitterten. Im nächsten Moment erhoben sich die Stämme, lösten sich auf, verschwanden. Lara schrie vor Entsetzen. »Rasch!« Keim rannte durch den Wald und zerrte sie hinter sich her. Mit erhobenem Laser brannte er sich einen Pfad durch das Unterholz. Das Rauschen hinter ihnen wurde heftiger. Ein schneller Blick nach hinten zeigte ihm, daß ein ganzes Waldstück mit Büschen und Lianen verschwunden war. Die Lichtung, in der sie gelandet waren, vergrößerte sich mit jeder Minute. Während Keim auf das Grasland zustolperte, breitete sich Entsetzen in seinem Innern aus. Lara gewann ihre Beherrschung wieder; mit raschen Schritten lief sie neben ihm her. Er brannte einen Weg durch Dickichte, über kleine Hügel, am Rand einer Schlucht entlang. Als Lara
zurückzubleiben schien, riß er sie rücksichtslos weiter. Die Gedankenmacht! Die Gedankenmacht! Das Wissen loderte in seinem Bewußtsein. Mein Gott, worauf waren sie hier gestoßen? Sie mußten das Schiff erreichen und den Planeten verlassen. Und im Schiff befand sich ein Vogel! »Ich kann nicht mehr«, keuchte Lara. Sie stolperte. Ihr Atem ging pfeifend. Er nahm ihren Arm, bückte sich, lud sie auf seine Schulter und taumelte weiter. Die Schlucht endete an einer ebenso tiefen Querrinne, die unüberwindlich schien. Er stolperte gefährlich nahe am Rand dahin. Um die Ladung seines Lasers zu schonen, bahnte er sich mit dem Körper einen Weg durch die Büsche. Das Rauschen war zu einem ohrenbetäubenden Lärm angestiegen. Die Schlucht machte einen Knick, und er sah die Ebene, ein schimmerndes gelbes Band am Horizont. Mein Gott, wie weit war sie noch entfernt? Es schien, als sei er im Kreis gelaufen. Während er weiterhinkte, versuchte er sich an einem festen Punkt zu orientieren. Seine schmerzenden Beine verrieten ihm, daß er nicht mehr lange durchhalten würde. »Der Wald! Alles verschwindet!« Laras Schrei klang schrill in seinen Ohren. Jetzt wußte er, was mit dem Tempel geschehen war, mit den Städten und Dörfern, die es in der Vergangenheit bestimmt gegeben hatte. Die Gedankenmacht! Was für ein furchtbares Wesen ging im Universum um? Es war nicht auf diesem Planeten geboren; es stammte von einer anderen Welt. Wie? Wann? Warum? Seine Lungen schmerzten. Es war hergekommen, um zu vernichten, um einen Planeten kahlzuschlagen… dieses Etwas aus dem All, das der Mensch nicht sehen, hören oder fühlen konnte. Wenn es nun das Imperium erreichte? Oh, Gott – oh, Gott… Mit stechenden Lungen wankte er endlich auf die Ebene hinaus. Seine betäubten Muskeln und sein rasselnder Atem sagten ihm, daß er anhalten mußte; das Entsetzen in seinem
Innern sträubte sich dagegen. Er wollte laufen, laufen, laufen… Ganz plötzlich war hinter ihnen Stille. Er wußte, was das bedeutete; der ganze Wald war vernichtet. Eine Welt hatte den Tod gefunden! Der Gedanke wirbelte verloren durch sein Gehirn. Es gelang ihm, noch ein paar hundert Meter zu laufen, bevor seine Knie nachgaben und er ins Gras stürzte. Lara hatte das Bewußtsein verloren. Er bettete sie bequemer, bevor er sich schwankend erhob. Jenseits der Grasebene war nichts als eine öde Fläche. Sie schien seit ewigen Zeiten ohne Leben zu sein. Kein Stumpf, kein Felsblock lockerte die Landschaft auf. Eine titanische Sense hatte alles abrasiert. Die Ebene besaß die Glätte und Härte von geschmolzenem Glas. Obwohl seine Augen das Bild erfaßten, wehrte sich sein Verstand dagegen. Nur das Gras blieb! Das Ding, das den Wald vernichtet hatte, war der Ansicht, daß die Ebene keine Gefahr bedeutete. Insgeheim sprach er ein Dankgebet. Er warf einen Blick auf das Mädchen. Sie atmete schwer und stöhnte. Er kniete neben ihr nieder und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Dann wischte er ihr den Schweiß von der Stirn und bog die Grashalme so zurecht, daß ihr Gesicht vor der grellen Sonne geschützt war. Sie zuckte wie im Krampf. Im nächsten Moment öffnete sie die Augen. Sie wollte sich aufsetzen, aber er hielt sie zurück. »Bleiben Sie liegen«, riet er. »Wir sind in Sicherheit.« »Die Bäume!« Noch einmal wurde sie blaß. »Unser fremder Freund.« »Alles – einfach verschwunden«, flüsterte sie mit unterdrückter Stimme. In ihrer Miene spiegelte sich Entsetzen. »Er konnte uns nicht sehen«, erklärte Keim. »Deshalb vernichtete er den Wald. Um uns zu töten. Ich sage er, aber vielleicht ist sie oder es richtiger. Die Bezeichnung hat wenig
Bedeutung. Vielleicht handelt es sich auch um Tausende oder Millionen; ich weiß es nicht.« »Was besagen Zahlen angesichts dieser Macht?« Sie stützte sich auf einen Ellbogen und sah zu ihm auf. »Aber daß die Möwen… Ich kann es nicht glauben.« »Ich glaube, daß es sich nur um die Spione dieses Wesens handelte.« »Aber was ist das für ein Ungeheuer, das andere Lebewesen beherrscht und dirigiert?« »Eben ein Ungeheuer.« Er suchte ängstlich den Himmel ab. »Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht handelt es streng nach der Ethik seiner Rasse, nach seinen eigenen Wertbegriffen. Vielleicht hält es uns für Ungeheuer. Erscheinen wir den Bakterien, die wir töten, als Ungeheuer?« »Das ist etwas anderes«, widersprach sie. »Woher wissen wir das?« »Fremde!« Sie schauderte. »Wir waren uns immer im klaren darüber, daß wir ihnen eines Tages begegnen würden«, stellte er fest. »Es ist ein Alpdruck, seit wir zum erstenmal die Sterne erreichten.« »Ja, aber…« Sie sah sich um. »Die Welt wirkt so friedlich.« »Irgendwo müssen die fremden Intelligenzen leben.« »Bitte!« »Wir müssen uns mit den Tatsachen auseinandersetzen, uns damit vertraut machen.« »Werden wir das je können?« »Nach dem anfänglichen Schock, ja.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Als ich über die Lichtung flog und den ersten Baum stürzen sah, rief ich Ihnen eine Warnung zu. Sie sahen auf, erkannten die Gefahr und sprangen zur Seite.« »Ja.« Sie sah ihn ruhig an, aber das Blut stieg ihr in die Wangen.
»Sie konnten meine Stimme aus dieser Entfernung nicht hören.« »Ich – aber ich habe sie gehört.« Er lächelte schwach. »Telepathisch?« »Lächerlich!« fuhr sie auf. »Was ist los? Schämen Sie sich deshalb?« »Sie – Sie sind…« »Leugnen Sie es doch nicht«, warf er ein. »Ich weiß es besser.« »Bitte…« »War es eine Belastung?« fragte er sanft. Sie drehte sich zur Seite. Erst sehr viel später sah sie ihn an. »Schlimmer, als Sie ahnen.« »Und jetzt, da es heraus ist, fühlen Sie sich besser?« »Ich – weiß nicht. Ich kann nicht sagen, ob ich eine richtige Telepathin bin. Ich habe das Talent nie bewußt benutzt, obwohl ich seit langem ahne, daß ich es besitze.« »Weshalb nicht?« fragte er hart. »Glaubten Sie, es würde Sie weniger menschlich machen?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Nein, aber empfunden«, erklärte er. »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Ein Telepath ist ein Mensch mit einem zusätzlichen Sinn. Ist das so schlimm? Ich bin T-Mann, und ich habe es nie geleugnet. Ich wollte es nicht leugnen. Außerdem glaube ich nicht, daß es mich zu einem geringeren oder höheren Menschen macht.« »Das ist doch selbstverständlich«, fuhr sie auf. »Nicht für alle.« Seine Augen sahen sie spöttisch an. »Weshalb tun Sie mir das an?« »Ich möchte, daß Sie erkennen, was Sie sind. Es nützt nichts, wenn Sie sich verstecken. Und es ist doch auch nicht so entsetzlich.«
»Habe ich das behauptet?« Sie ballte die Hände. »Ich könnte Sie hassen.« »Weshalb? Wir gehören zur gleichen Gruppe.« Schluchzend wandte sie sich ab. »Weinen Sie ruhig«, riet er ihr. »Danach fühlen Sie sich besser.« Als er ihre zuckenden Schultern sah, hatte er Mitleid. Es machte nichts, daß sie Telepathin war; aber sie hatte Angst davor, daß es nun die Öffentlichkeit erfahren würde. Es bedeutete verschlossene Türen, wenige Freunde, Feindschaft und sogar Haß. Es bedeutete auch Neid. Die meisten NichtTelepathen waren der Ansicht, daß dieses Talent einen Schlüssel zu den Gedanken anderer Menschen darstellte. Aber das stimmte nicht. Telepathie trat verschieden stark auf. Die meisten Telepathen hatten recht beschränkte Fähigkeiten. Einige konnten nur wichtige Gedanken erfassen und selbst das lediglich auf kurze Entfernung und unter sehr günstigen Voraussetzungen. Er war ein Ausnahme-Telepath. Er wußte nicht genau, wie weit sein Talent reichte, aber ihm war klar, daß es die bekannten Grenzen weit überschritt. Und dann hatte er noch ein paar Dinge erlebt, die nichts mit Telepathie zu tun hatten. Darüber hatte er den anderen nichts verraten. Konnte er also Lara tadeln? Er empfand ein leichtes Schuldgefühl. Als sie sich endlich beruhigt hatte und umdrehte, sagte er: »Weshalb sprechen Sie nicht darüber? Ich glaube bestimmt, daß es Ihnen hilft.« »Es ist ein Schock, wenn man so etwas weiß.« Sie versuchte zu lächeln. »Aber ich habe immer noch keine Ahnung, wie stark meine Fähigkeiten sind. Ich habe sie nicht getestet; ich wollte es nicht. Manchmal kommen fremde Gedanken ganz deutlich zu mir durch. Ich höre Dinge, die ich nicht hören will, wenn ich so sagen darf.« »Hören? Ja, dieses Wort benutzen wir Telepathen meist.«
»Manchmal habe ich selbst auf größere Entfernung das Gefühl, daß Fremde zu mir sprechen. Auch unterbewußte Gedanken erreichen mich.« »Dann ist Ihr Talent wirklich stark entwickelt. Nur die Begabten können bis ins Unterbewußtsein der Kontaktpersonen vordringen.« »Ich verstehe diese Telepathie einfach nicht. Sie sagten, daß ich Sie nicht hören konnte, als sie vom Gleiter aus riefen – daß ich Ihre Gedanken las. Wie konnte ich das, wenn ich nicht einmal von Ihrer Anwesenheit wußte?« »Ebenso, wie Sie Gedanken des Unterbewußtseins aufnehmen.« »Mir erscheint es logischer, daß Sie den Gedanken in mein Inneres projiziert haben. Ich habe schon einige Theorien gelesen.« »Möglich, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand es mit Bestimmtheit weiß.« »Ist die Entfernung ein Faktor?« »Ja, vor allem, wenn ein Telepath die Gedanken eines NichtTelepathen liest«, erklärte er. »Je weiter man von seinem Partner entfernt ist, desto schlechter wird der Empfang.« »Und bei zwei Telepathen?« »Da kann die Verbindung oft über weite Strecken aufgenommen werden. Allerdings machen sich auch hier Unterschiede bemerkbar.« Er spürte, daß sie darauf brannte, Antworten auf die Probleme zu finden, die sie seit Jahren mit sich herumschleppte. »Leider ist die Zahl der Telepathen so gering, daß man bisher noch keine zuverlässigen Informationen kennt.« Sie nickte und sah dann weg. »Im Moment möchte ich das aber alles vergessen.« »Das sollten Sie nicht.« »Weshalb?«
»Die fremde Intelligenz«, sagte er leise. »Was hat das damit zu tun?« »Die Vögel dienen ihr als Spione«, erinnerte er sie. »Sie müssen also Telepathie besitzen. Wie könnten sie sonst Befehle empfangen und das zurücksenden, was sie sehen? Vielleicht dringt das Wesen aber auch in sie ein, wie Sie es für möglich halten.« »Und als Sie die Vögel töteten?« »Das Ding hat sich wohl zurückgezogen.« Er überlegte. »Es konnte uns nicht sehen. Bei seinem Versuch, uns dennoch zu töten, hat es den ganzen Wald vernichtet. Es setzte seine Gedankenmacht blind ein.« »Das ist entsetzlich.« »Irgendwie muß dieser Fremde – ich denke unwillkürlich, daß es ein er ist – in körperlicher Form auf dem Planeten existieren. Wahrscheinlich dringt er auf telepathischem Wege in einen der Vögel ein und läßt ihn nicht mehr los.« »Es waren aber zwei Vögel über der Lichtung«, entgegnete sie. »Darüber habe ich auch nachgedacht. Entweder gibt es mehrere Fremde, von denen jeder seine Gedanken auf einen Vogel überträgt, oder wir haben ein Einzelwesen, das seine Gedanken aufsplittert und gleich mehrere Möwen kontrolliert. Vielleicht – « Er schnippte mit den Fingern. »Das ist es – das Dröhnen, das ich gespürt habe.« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Es ist ein Verbindungsnetz. Ich dachte mir schon, daß so etwas existiert. Nun bin ich sicher. Dieses Ding, was es auch sein mag, spricht mit den Vögeln.« »Furchtbar«, flüsterte sie. »Ja – die Gedankenmacht.« »Was können wir tun?« »Verstehen Sie jetzt, weshalb ich Ihre Telepathie brauche? Wir benötigen jede Waffe, deren wir habhaft werden können…«
»Ich verstehe nicht…« »Was werden wir vorfinden, wenn wir zum Schiff zurückkehren?« unterbrach er sie. »Was ist mit dem Vogel, den Yozell gefangen hat? Wenn der Fremde das Innere von Vögeln durchdringen kann, dann schafft er das vielleicht auch bei Menschen. Möglich, daß Weber sein erster Versuch war. Zumindest könnte man mit Psychokinese das gebrochene Genick erklären.« Als sie schwieg, fuhr er fort: »Er besitzt die Macht, das Schiff zu vernichten, hat es bisher aber nicht getan. Weshalb nicht? Darüber sann ich nach, als ich erkannte, daß er die Gedankenmacht besitzt. Mir kam der Gedanke, daß er das Schiff vielleicht braucht.« »Mein Gott!« Ihre Miene war entsetzt. »Können Sie sich vorstellen, was geschieht, wenn ein solches Wesen ins Imperium vordringt? Über Nacht müßte der Mensch sich mit einer zweitrangigen Rolle zufriedengeben. Und nach kurzer Zeit wäre er völlig ausgeschaltet. Ich bin überzeugt, daß den Tempelerbauern das gleiche Geschick widerfuhr.« »Und Sie sind fest davon überzeugt, daß es sich um ein Einzelwesen handelt?« »Vielleicht gibt es Tausende davon, Millionen. Wenn ich den Singular benutze, dann nur, um nicht den Mut zu verlieren.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Schön, es ist also ein Einzelwesen. Und wie können wir es besiegen?« »Ich weiß nicht.« Er schüttelte müde den Kopf. »Aber ich weiß, daß wir den Planeten verlassen müssen – ohne den Fremden an Bord. Deshalb ist es unbedingt notwendig, die Gehirne unserer Kollegen gründlich zu erforschen. Wir müssen uns vergewissern, daß der Fremde sich nicht schon in einem Menschen versteckt.« Er sah den Widerspruch in ihren Augen und fügte hinzu: »Mir macht es auch keinen Spaß, aber es ist einfach notwendig. Leider steht sehr viel auf dem Spiel.« Sie hob den Kopf. »Und wenn wir jemand finden?«
»Das werden wir uns an Ort und Stelle überlegen«, entgegnete er. Sie richtete sich halb auf und sah über die Grashalme hinweg. Er kannte ihre Gedanken; solange es hell war, konnten sie kaum zum Schiff zurückkehren. »Wir werden die Umgebung genau im Auge behalten«, sagte er. »Vielleicht müssen wir uns auf allen vieren anschleichen, sobald wir in Schiffsnähe kommen.« »Schön, ich werde mich anschleichen.« Sie lachte nervös. Mit einem Mal versteifte sie sich und machte sich ganz klein. »Die Vögel kommen.« Er sah sie im gleichen Moment, eine Kette von kleinen Tupfen am Horizont. »Tiefer!« befahl er. Als sie neben ihm lag, zog er die Grashalme unauffällig über sie. »Rühren Sie sich nicht«, warnte er. Er spürte, daß sie zitterte, und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter, bevor er sich herumdrehte und den Himmel beobachtete. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis die Vögel da waren. Mit langsamen Flügelschlägen strichen sie über das Grasland. Sie hatten sich so verteilt, daß nichts ihren Blicken entging. Keim wagte kaum zu atmen. Er rechnete damit, daß der Fremde jeden Moment die Ebene zerstörte. Erst nach einer langen Wartepause richtete er sich wieder auf. Die Vögel waren von neuem winzige weiße Punkte in der Ferne geworden. »Alles in Ordnung«, flüsterte er. Sie setzte sich auf. »Ich weiß nicht, ob ich das noch lange ertrage«, gestand sie. »Es ist nervenaufreibend.« »Aber wir wissen nun eines – spüren konnten sie uns nicht.« »Sie müssen uns also sehen?« Er nickte. »Zumindest haben dieses Ding – und seine Wirte – auch Grenzen.« »Sie werden weitersuchen«, warnte Lara. Keim war sich darüber im klaren. Es gab kaum eine Chance, das Schiff am Tage zu erreichen. Sie mußten sich verstecken und auf die Dunkelheit warten. Wenn dann am frühen Morgen das
Energiefeld ausgeschaltet wurde, konnten sie nur hoffen, daß sie Glück hatten. Wahrscheinlich schickte Kimbrough Suchboote aus, wenn sie am Abend nicht zurückkehrten. Der Wissenschaftler war sich bestimmt im klaren darüber, welches Ziel sie angesteuert hatten. Und wenn nun jemand entdeckte, was mit dem Wald geschehen war? Er wurde unruhig. Die Alpha Tauri würde den Planeten Minuten später verlassen. Mit einem Vogel an Bord! Nun ja, sie mußten laut Vorschrift das Tier töten. In dieser Hinsicht waren die Anweisungen eisern. Aber es hatte keinen Sinn, sich jetzt über all diese Dinge den Kopf zu zerbrechen. Er sah Lara an. Ihre blauen Augen verrieten keine Furcht mehr. Sie war tapfer. »Danke«, murmelte sie. Er erinnerte sich an ihre Telepathie, errötete und lachte dann. »Daran muß ich mich erst gewöhnen.« »Ich auch.« »So unangenehm ist es gar nicht, wenn man es erst einmal akzeptiert hat.« »Kann man das überhaupt, Roger?« »Nach und nach.« Er richtete sich auf und sah hinüber zur Alpha Tauri. Die Entfernung war so groß, daß die Nacht kaum ausreichen würde, um sie zurückzulegen. Sie mußten tagsüber eine möglichst große Wegstrecke schaffen. Und wenn sie das Schiff erreichten? Er wollte nicht daran denken. Aber eines stand fest: der Kampf zwischen den Menschen und dem Fremden hatte begonnen. Waren die Telepathen tot? Diese Frage erfüllte Uli, als er die Ebene durch die Augen seiner Vögel beobachtete. Zugleich spürte er eine Angst, die an Entsetzen grenzte. Es war ein Gefühl, das er bis zur Ankunft
der Zweibeiner nicht gekannt hatte; nun erlebte er es immer häufiger. Weshalb sollte er sich ängstigen? Das setzte voraus, daß die Zweibeiner eine Gefahrenquelle darstellten. Absurd! Nichts im Universum konnte die Qua bedrohen. Hatten sie nicht eine Million Sonnensysteme erobert? Aber er konnte sein Unbehagen nicht leugnen. Die Entdeckung, daß der Zweibeiner Lara – den Namen hatte er aus ihren Erinnerungen geholt – auch Telepathin war, hatte ihn zutiefst erschüttert. Ach was, höchstwahrscheinlich war sie zusammen mit dem Telepathen Keim umgekommen. Dennoch machte sich Uli Sorgen. Als er entdeckt hatte, daß der Zweibeiner Lara den alten Tempel aufsuchen wollte, war ihm sofort der Gedanke gekommen, sie zu töten. Es wäre ganz einfach gewesen, wenn er es gleich getan hätte – aber er wollte zuerst ihre Gedanken abtasten. Sie war klug, zumindest nach menschlichen Maßstäben. Sie hatte erfahren wollen, weshalb der Tempel eingestürzt war und welches Los seine Erbauer erlitten hatten. Darüber hinaus fand sich ganz in der Tiefe ihres Denkens Besorgnis: sie glaubte, daß ihrer eigenen Zivilisation Gefahr drohte. Uli konnte es nicht fassen, daß sie den Einsturz des alten Tempels auf diesem abgelegenen Planeten mit der möglichen Vernichtung einer interstellaren Kultur in Verbindung brachte – aber genau das hatte sie getan. Noch ärgerlicher war, daß er ihre telepathische Fähigkeit nicht entdeckt hatte, zumindest nicht gleich. Im Gegensatz zu diesem Keim verbarg sie ihr Talent – beinahe vor sich selbst. In ihrem Bewußtsein hatte er jedenfalls keine Spur davon entdeckt. Das allein war bemerkenswert. Der Entscheidung, sie zu töten, war das Wie gefolgt. Er hatte lange nachgedacht. Wenn man merkte, daß ihr Tod absichtlich herbeigeführt war, gab der Kapitän vielleicht den Befehl, den Planeten zu verlassen; dazu war es noch zu früh. Ein
stürzender Baum? Ah, diese Art von Unfällen verstanden die Menschen. Die Ankunft des männlichen Telepathen hatte ihn völlig überrascht. Er hatte erfahren, daß Keim das Schiff verließ, aber er hatte sich nicht um sein Ziel gekümmert. Es war ihm unwichtig erschienen. Das Mädchen hatte seine Gedanken voll in Anspruch genommen. Dann, plötzlich, war Keim da. Er hatte sofort die Gefahr gespürt und Lara gewarnt. Und im Bruchteil einer Sekunde hatte sie ihre telepathischen Fähigkeiten enthüllt. Durch Keims schnelles Eingreifen war sie am Leben geblieben. Und in diesem Moment hatte Uli in seiner Panik das Falsche getan. Aber waren die beiden tot? Die Frage beherrschte sein Denken. Kein Baum, kein Busch und keine Liane waren vom Dschungel geblieben. In seiner völligen Verzweiflung – nachdem der Telepath die Vögel erschossen und ihn somit geblendet hatte – war ihm nichts anderes übriggeblieben, als den Wald im weiten Umkreis zu vernichten. Sogar die Hügel hatte er nivelliert und verbrannt; nur noch eine glasig erstarrte Ebene zeigte sich an Stelle des Dschungels. Wenn er nicht befürchtet hätte, die Menschen zu einem vorzeitigen Verlassen des Planeten zu bringen, wäre auch das Grasland verschwunden. Unwillkürlich bewunderte er den Telepathen. Er besaß einen unheimlich starken Verstand. Aber nicht das war es, was Uli aus der Fassung brachte, sondern Keims Todesverachtung. Seine Ruhe. Seine Logik. Seine rasche Gedankenarbeit. Selbst angesichts der drohenden Vernichtung hatte er ganz richtig gefolgert, was geschah, was geschehen könnte und was mit den früheren Zweibeinern des Planeten geschehen war. Er hatte auch die Rolle der Vögel ganz richtig eingeschätzt. Unglaublich! Und er hatte die Natur der Geschehnisse verstanden. Psychokinese, die Gedankenmacht! Aber wie hatte er dieses Phänomen durchschaut? War es schon anderswo
vorgekommen? Besaßen andere Menschen die Macht? Diese Möglichkeit bereitete ihm schwere Sorgen. Waren die beiden Telepathen tot? Nicht, daß es besondere Bedeutung hatte. Noch bevor die Nacht um war, würde er den Kapitän, den wissenschaftlichen Leiter und all die anderen Schlüsselpersonen beherrschen. Er würde das Schiff beherrschen. Wenn es den beiden Telepathen irgendwie gelungen war, dem einstürzenden Wald zu entkommen – wenn sie geflohen waren! – konnte er sie immer noch töten, sobald sie zum Schiff zurückkehrten. Vielleicht erledigte das Yozell für ihn. Oder Kapitän Woon. Ganz gleich, lebend kamen sie nicht davon. Dennoch! Als er die Grasebene durch die Augen der Vögel vorbeigleiten sah, fühlte er eine deutliche Unruhe. Er versuchte sie zu meistern, aber sie blieb. Weshalb, das wußte er nicht. Oder er wollte es nicht wissen. Sie rührte von einem Mann her – von Roger Keim.
SIEBEN
Mond K 1/2 schob sich über den Horizont. Die bläulichen Strahlen glitten über das Grasland und verliehen der Nacht etwas Geisterhaftes, Illusorisches, das die Entfernungen verzerrte. Eine tiefe, endlose, schimmernde Nacht. Keim bemerkte die Veränderung des Lichtes zum erstenmal, während er mit Lara knietief durch einen Sumpf watete. Er blieb so plötzlich stehen, daß sie stolperte. Mit einer Hand zog er sie an sich. Er spürte, wie sie zitterte. Wortlos sahen sie nach vorn. Schweigend und reglos ragte die Alpha Tauri gegen den dunklen Himmel auf, eingehüllt in den von der Menschentechnik geschaffenen Energie-Kokon. »Geschafft!« jubelte er telepathisch. »Ich wußte, daß es uns gelingen würde.« Ihr wortloses Flüstern war ein Glaubensbekenntnis. Er war keineswegs so sicher gewesen. Die Stunden, die hinter ihnen lagen, hatten Ähnlichkeit mit einem Alptraum – endloses Waten durch Sümpfe; dazu kam mannshohes Gras und Schilf, das zur Seite geschoben werden mußte. Am Himmel standen die wenigen Sterne der Randsysteme, verwischt und schwach flimmernd. Und die Vögel! Wie oft hatten sie anhalten müssen, erschreckt durch das Klatschen von Flügeln, wenn aufgescheuchte Tiere dicht vor ihnen hochflatterten. Jedesmal hatten sie mit zusammengeschnürten Kehlen gewartet. Waren es Beobachter der fremden Macht? Würde der Boden unter ihnen zusammenbrechen? Nur das Wissen, daß sie die Alpha Tauri erreichen mußten, bevor es ganz hell wurde, hatte sie weitergetrieben. Einige Male waren Laras Schritte langsamer
geworden; dann hatte er eine kleine Ruhepause eingelegt. Aber kein einziges Mal beklagte sie sich. Er war sehr stolz auf sie. Nun, da sie dicht vor dem Schiff standen, wußte er, daß die Gefahr sich vervielfachen konnte. Er spürte die Anspannung in Laras Gehirn, die Angst, die sich auf ihn übertrug. Aber er spürte auch eine unbeugsame Entschlossenheit; sie wollte nicht aufgeben. Er horchte nach innen, aber der Donner schwieg. Er nahm es als Zeichen, daß die Möwen schliefen. Wie führte der Fremde nachts seine Beobachtungen fort? Oder schlief er? Noch wichtiger – wer oder was war der Fremde? Wie sah ein Geschöpf aus, das allein durch die Kraft seiner Gedanken Wälder vernichtete und Berge einebnete, das sie in glasharte Ebenen verwandelte? »Wie kommen wir an den Vögeln vorbei – durch das Energiefeld?« Ihre Frage brachte ihn zurück in die harte Gegenwart. Während des Marsches durch das unwegsame Gelände hatte er ständig darüber nachgedacht. Nun beschrieb er ihr seinen Plan. Der Boden vor ihnen wurde trockener, und das Gras reichte ihnen nur noch bis an die Knie. Keim beobachtete das Schiff, das sich drohend dunkel von der mondbeschienenen Ebene abhob. Seine Nerven waren bis zum äußersten gespannt. Immer wieder schreckte ihn das Rascheln der kleinen Nagetiere auf. Zu seinem Kummer sah er, daß sich im Osten der erste helle Streifen ankündigte. Er fürchtete sich vor dem Moment, in dem die Möwen erwachen würden, und beschleunigte seine Schritte. Lara atmete keuchend. Und dann stand das Schiff dicht vor ihnen. Ihm war schon früher aufgefallen, daß die Vögel, wenn sie nicht über das Schiff hinwegflogen, in der Nähe der Frachtluken und Passagierschleusen warteten. Alton Yozell hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Er hoffte, daß die Tiere diese Gewohnheit auch während des Schlafes beibehielten, und schlich vorsichtig zum Bug der Alpha Tauri.
Als sie näherkamen, kroch er auf allen vieren und winkte Lara, das gleiche zu tun. Mit unendlicher Vorsicht teilte er das Gras. Lara schlängelte sich lautlos hinter ihm durch die Gasse. Sie unterhielten sich telepathisch. Keim war froh darüber, denn er hatte das Gefühl, daß sie einander noch sehr viel näher kommen würden. Sie war nicht mehr die abweisende, in sich gekehrte Frau von früher. Sie wirkte äußerst reizvoll und feminin. Und sie schätzte ihn als Mann. Das befriedigte ihn. »Es wird hell«, warnte sie ihn. Er nickte und maß die Entfernung, die sie noch zurückzulegen hatten. Dann berechnete er, wo etwa das Energiefeld anfing. Was sollte er tun, wenn die Möwen erwachten und über ihnen zu kreisen begannen? Tun? Ganz offensichtlich konnte er recht wenig tun. Mit einem schiefen Lächeln drang er weiter vor. Achtung! Achtung! Achtung! prägte er sich immer wieder ein. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, erreichte er eine Stelle neben dem Bug der Alpha Tauri. Weit oben glänzten die Dural-Luken im ersten Licht der Morgendämmerung. Was war mit Yozell? Und mit dem Vogel, den er ins Schiff geholt hatte? Er konnte es sich jetzt nicht leisten, über solche Dinge nachzudenken. Keim nahm den Laser in die Hand, entsicherte ihn und bückte sich noch tiefer ins Gras. Er hielt den Strahler einen Zentimeter über den Boden und drückte auf den Auslöseknopf. Ein leises Zischen erfüllte die Luft. Im nächsten Moment zeigte sich ein schmaler Pfad im Gras. Reglos wartete Keim. Was geschah, wenn der Strahl eine der Möwen getötet hatte? Würde der Fremde ihren Tod spüren und seine geflügelten Wirte hinausschicken, damit sie die Ursache ergründeten? Dieses Risiko mußte er eingehen. Als nichts geschah, ließ seine Anspannung allmählich nach. Er verständigte Lara telepathisch und kroch auf dem geschwärzten Pfad voran. Trotz der Nachtkälte war die Hand,
die den Laser hielt, schweißnaß. Er spürte die Nässe auch auf der Stirn und am ganzen Körper. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Als er am Ende des Pfades angelangt war, wiederholte er das Ganze. Wieder wartete er, und wieder schlich er weiter, als sich nichts rührte. Seine Muskeln schmerzten, und er dachte daran, was das Mädchen wohl leiden mußte. Was war mit dem Vogel im Schiff? Dieser Gedanke drängte sich in den Vordergrund. Als er zum drittenmal seinen Laser einsetzte, endete der Pfad schon nach wenigen Metern. Das Energiefeld! Er spürte Laras Anspannung, dann die Erleichterung. Als das Mädchen neben ihm kauerte, bog er die Grashalme über ihr so zusammen, daß man sie nicht sehen konnte. Er war kaum damit fertig, als das gedämpfte Dröhnen in seinem Gehirn einsetzte; es hämmerte in seinem Bewußtsein wie eine weit entfernte Trommel. Er wunderte sich, weshalb Lara es nicht hören konnte. Bestand zwischen Telepathen ein größerer Unterschied, als er geahnt hatte? Durch den dichten Graswall sah er die ersten Vögel aufsteigen – ein halbes Dutzend erst, dann immer mehr. Sie umkreisten das Schiff in sicherer Entfernung des Energiefeldes. »Es sind so viele.« Laras Gedanken enthielten Staunen. Dutzende Vögel am Himmel, Hunderte im Gras – und kein einziger flog gegen das Energiefeld. Beherrschte der Fremde sie alle? Wenn ja, konnte er die Gedankenmacht durch jeden einzelnen ausüben? Ein Geschöpf, das einen Wald zerstörte, das seine Atome in den Wind streute! Er schauderte. »Wie können wir dieses Wesen bekämpfen?« Laras Frage war voll von Verzweiflung. »Wenn wir Glück haben, ist es ein einziges Geschöpf.« »Und dann?« »Wir müssen es töten.« Die Antwort klang so einfach, aber was sollte er ihr sonst sagen? Der Fremde konnte Vögel
kommandieren, Wälder vernichten, wahrscheinlich den ganzen Planeten auflösen. Ach ja, und er war unsichtbar. Aber er mußte ihn töten. Er spürte den irrsinnigen Wunsch, laut loszulachen. »Wir müssen nicht gewinnen, Roger.« Verblüfft sah er sie an. Er mußte an ihre telepathischen Fähigkeiten denken! Sie konnte seine tiefsten Gedanken lesen – ein ungewohntes Gefühl. »Nein?« »Wir müssen nur verhindern, daß der Fremde gewinnt.« »Ja, ich habe bereits daran gedacht. Wenn beide Parteien verlieren, gewinnt das Imperium.« »Es wäre eine Notlösung«, meinte sie. Er warf einen Blick zum Himmel. Mond K 1/2 zog vor der Sonne her; die kreisenden Möwen hoben sich hell vom blauen Hintergrund ab. Wenn der Fremde – weshalb hielt er ihn immer für ein Einzelwesen? – die Tempelerbauer vernichtet hatte, dann mußte er schon sehr lange auf Krado 1 sein. Aber warum gab es dann keine greifbaren Zeugnisse seiner Existenz – keine Bauwerke, Gegenstände, gar nichts? Nur seine Gedanken waren deutlich erkennbar. Ein Wesen, das in Vögeln lebte. Es? Er? Keim entschied sich für es. Aber wenn es die Tempelerbauer vernichtet hatte, mußte es lange nach ihnen auf den Planeten gekommen sein; andernfalls hätte es nie zugelassen, daß sie sich zu einer so hohen Stufe entwickelten. Das erschien logisch. Aber wenn nun eben dieses Wesen die Tempelerbauer vernichtet hatte, dann mußte seine Lebensspanne Zehntausende von Jahren betragen. Das erschien nach menschlichen Normen nicht logisch. Es konnte sich um einen Fremden oder um viele handeln; um einen extrem alten Fremden oder um viele Fremde, die einen einigermaßen normalen Lebensrhythmus besaßen. Er wußte es nicht.
Woher konnte dieses Wesen gekommen sein? Und wie? Eines stand jedenfalls fest; wenn es noch andere seiner Art in der Galaxis gab, dann war der Mensch zum Untergang verurteilt. Das Dritte Imperium konnte, so versteckt es zwischen den Sternen lag, ihrer Aufmerksamkeit nicht für immer entgehen. Angenommen, auf irgendwelchen Planeten wimmelte es von solchen Lebewesen? Furchtbar! Aber er konnte es sich jetzt nicht leisten, an diese Dinge zu denken. Es gab Wichtigeres zu erledigen. Der Vogel im Schiff war vordringlich. Keim mußte sich mit Yozell in Verbindung setzen, ihn warnen und den Vogel töten. Er hoffte nur, daß der Fremde sich nicht rächte und die Alpha Tauri vernichtete. Was auch geschehen mochte, sie durften nicht zulassen, daß dieses Wesen das Imperium erreichte. Kurz nach Einbruch der Morgendämmerung öffnete sich eine der großen Schleusen. Angeführt von Carter, dem Zweiten Ingenieur, strömten zehn oder zwölf Mannschaftsmitglieder ins Freie. Der Anblick überraschte Keim. Im allgemeinen begannen die Männer ihre Arbeit erst eine Stunde später. Er versuchte ihre Gedanken über das Tosen in seinem Innern hinweg zu lesen, aber er empfing nur Impulse der Angst und Verwirrung. Er wandte seine Aufmerksamkeit Carter zu. Das war, als versuchte man, ein einzelnes Instrument aus einem Sinfonieorchester herauszuhören. Donner, Knistern, menschliche Gedanken – alles zu einem dichten Mosaik verflochten. Er mußte… Da, das war Carter! Einen Moment lang hoben sich die Gedanken des Ingenieurs schärfer ab. Sie hatten mit Woon zu tun. Woon hatte beschlossen, den Planeten sofort zu verlassen. Kimbrough war seiner Meinung, aber Carter wußte nicht, weshalb. Er spürte irgendeine verborgene Gefahr und war deshalb ängstlich. Auch seine Männer schienen einer Panik nahe. Keim verständigte sich telepathisch mit Lara. »Etwas ist
vorgefallen. Woon befahl den sofortigen Start. Kimbrough hat sich einverstanden erklärt.« »Der Fremde?« Sie sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. »Vermutlich. Kannst du irgendwelche Gedanken erkennen?« »Nur Eindrücke – Besorgnis, Furcht. Ihre Gedanken vermischen sich, und ich kann sie nicht auseinanderhalten.« »Das kommt noch.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schiff zu. Weitere Männer waren ins Freie geklettert. Sie zerlegten die Meßgeräte und Apparate, welche die Wissenschaftler aufgebaut hatten. Als er den Kopf hob, erkannte er, daß mehrere Möwen über das Schiff hinwegflogen. Das Energiefeld war abgeschaltet! Wieder sah er die Mannschaftsmitglieder an. Carters Gruppe zerlegte Robin Martels meteorologische Ausrüstung. Sie waren nur wenige Meter von Keim und Lara entfernt. »Fertigmachen«, murmelte er und benutzte unterbewußt wieder die Lautsprache. Er zog Lara hoch und eilte mit ihr zu den Männern hinüber. »Mein Gott, woher kommen Sie denn?« rief ihnen Carter zu. Er sah sie ungläubig an. »Wir mußten zu Fuß gehen«, sagte Keim ruhig. »Und wir hielten Sie bereits für tot. Stundenlang versuchten wir Sie über Funk zu erreichen – wir gaben erst abends auf, als das Energiefeld eingeschaltet wurde.« Carter musterte ihre schlammverklebte nasse Kleidung. »Was ist geschehen?« »Unfall.« Er winkte ab. »Weshalb arbeitet ihr so früh?« »Wir bereiten alles für den Aufbruch vor – und wir sind verdammt froh darüber.« Carter runzelte die Stirn. »Der Planet ist verhext.« »In welcher Hinsicht?« »Überhaupt. Keiner spricht es aus, aber wir wissen Bescheid. Der Tempel soll vor Ihren Augen explodiert sein.« »Eingestürzt«, korrigierte Keim. »Er war altersschwach.«
»Tatsächlich?« Carter warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Weshalb möchte Woon dann so rasch aufbrechen?« »Keine Ahnung. Wann erfolgt der Start?« »Sobald wir fertig sind. Haben Sie in einem Sumpf geschlafen?« »So ungefähr.« Keim nahm Lara am Ellbogen und führte sie auf das Schiff zu. Die dreißig bis vierzig Schritte zur Schleuse waren ein Alptraum. Jeden Moment rechnete er damit, daß ein Blitz aus dem Himmel zucken und ihn töten würde. Die Möwen hatten sie bestimmt gesehen. Weshalb schlug der Fremde nicht zu? »Wir schaffen es!« Er fing Laras beruhigenden Gedanken auf. »Gut, wir schaffen es.« Er zwang sich, ebenso ruhig wie sonst zu gehen. Was hatte Woon zum Aufbruch getrieben? Der Fremde? Alles endete hier. Yozells Vogel! Kalter Schweiß brach ihm aus den Poren. Er blieb an der Schleuse stehen und warf noch einen Blick in den Himmel – auf die kreisenden Möwen. Lara zitterte. »Der Fremde ist an Bord, nicht wahr?« »Ich vermute es.« Jetzt, da er es eingestanden hatte, merkte er, daß er weder Furcht noch Entsetzen empfand – nur eine gewisse Kälte, die ihm half, logisch zu denken. In welcher Form der Fremde auch existieren mochte – und Keim war überzeugt davon, daß er nicht die Gestalt einer Möwe hatte – er befand sich irgendwo auf der Alpha Tauri. Und das Schiff war so riesig, daß eine Armee von Männern eine Woche lang suchen konnte, ohne ihn zu finden. Wenn er überhaupt sichtbar war… Die Korridore im Wohnquartier der Wissenschaftler waren zu dieser frühen Stunde noch vollkommen leer. Keim stellte es dankbar fest. Lara öffnete die Tür ihrer Kabine und sah ihn ruhig an. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.« »Ich glaube nicht.« Sie ließ ihn eintreten und schloß die Tür hinter ihm. Dann fiel sie ihm in die Arme. Er küßte sie wild, leidenschaftlich und spürte den weichen Körper, der sich an
ihn schmiegte. Er spürte auch, daß ihr Verlangen nur durch den Druck der Zeit gezügelt wurde. Mein Gott, weshalb konnte das nicht ein anderer Planet, ein anderer Tag sein? Schließlich machte sie sich frei von ihm und strich sich über das Haar. In ihren Augen lag Wehmut. »Der Fremde«, flüsterte sie. »Ich weiß.« Sie warf einen Blick auf ihre schlammverklebte Kleidung. »Ich nehme eine Dusche und ziehe mich um.« »Versperr unbedingt die Tür.« »Und du?« »Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« Sie küßte ihn rasch. Keim ging in seine eigene Kabine. Sein Inneres befand sich in Aufruhr. Nur widerwillig wandte er seine Gedanken dem Fremden zu. Er hatte tausend Fragen, aber keine Antwort. Weshalb hatte Woon so plötzlich den Aufbruch angeordnet? Diese Frage beschäftigte ihn am stärksten. Starteten sie, weil der Kapitän etwas befürchtete oder weil er etwas wußte? Es bestand ein gewaltiger Unterschied zwischen den beiden Dingen. Woon ließ sich nicht so leicht Angst einjagen, vor allem nicht, da er Waffen besaß, die einen ganzen Planeten vernichten konnten. Und Kimbrough hatte den Entschluß unterstützt. Was bedeutete das? Er versuchte, die Gedanken der anderen aufzufangen. Bruchstückhaft erreichten sie ihn, erfüllt von Entsetzen. Es gelang ihm nicht, Woons Ausstrahlungen von den anderen abzusondern. Auch Myron Kimbrough blieb ihm verborgen. Keim wurde nervös. Der Vogel, dachte er; irgendwie hatte es alles mit dem Vogel zu tun. Während er sich rasierte und duschte, zwang er sich zu langsamen Bewegungen. Zeit war jetzt ein Luxus; er wollte sie genießen, solange er dazu noch in der Lage war. Als er sich umgezogen hatte, steckte er noch einen Handlaser in die Seitentasche. Der Druck gegen seine Hüfte war beruhigend.
Erst dann überlegte er, wo er mit seinen Nachforschungen beginnen sollte. Alton Yozell – das erschien ihm am vernünftigsten.
»Roger, ein Glück, daß du wieder hier bist. Wie geht es Lara?« Alton Yozells Stimme im Interkom klang metallisch, ausdruckslos. Keim spürte von neuem Unruhe. Ein inneres Gefühl sagte ihm, daß hier irgend etwas nicht stimmte. »Sie ist in Sicherheit, aber sehr erschöpft«, erwiderte er. »Vermutlich ruht sie sich aus.« Während er sprach, versuchte er in Altons Gedanken einzudringen. Seine Unruhe wuchs, als er keinerlei Reaktion spürte. So etwas geschah äußerst selten, und selbst dann vernahm man Oberflächengedanken. Diesmal war es anders – das Gehirn des Biologen verriet völlige Leere. »Was ist geschehen?« fragte Yozell. »Ein Unfall. Wir verloren die Gleiter.« »Das tut mir leid, Roger.« »Ich wollte mich ohnehin kurz mit Ihnen unterhalten, Alton. Darf ich vorbeikommen?« Es folgte Schweigen. Nach einiger Zeit erwiderte Yozell: »Ich wollte eben in die Messe gehen, um Kaffee zu trinken. Ich werfe auf dem Weg dorthin einen Blick in Ihre Kabine.« Der Hörer wurde aufgelegt. Keim spürte eine eisige Kälte. Er kannte Yozell schon sehr lange. Der sanftmütige, herzliche Biologe hatte immer echte Wärme ausgestrahlt. Diesmal aber war in seiner Stimme weder Freundlichkeit noch Leben gewesen. Er hatte wie ein Roboter gesprochen. Der Vogel! Eine Gänsehaut lief Keim über den Rücken. Ganz plötzlich wußte er, daß Alton Yozell nicht mehr Yozell war. Ein entsetzlicher Verdacht stieg in ihm auf. Und Kapitän Woon? Myron Kimbrough? Hatte der Fremde Besitz von ihnen
ergriffen? Die Möglichkeit schockierte ihn. »Roger?« Das war Lara. »Alton Yozell will zu mir kommen. Versuche meine Gedanken zu lesen. Aber bleib, wo du bist.« »Ich verstehe.« Die Antwort kam zögernd. »Konzentriere dich. Bleibe ständig in Verbindung mit mir.« »Bitte, sei vorsichtig.« »Ich glaube, Alton…« Er unterbrach die Verbindung, als er eine Bewegung im Korridor spürte. Bewegung? Gewiß, er merkte, daß jemand kam, aber dieser Jemand besaß keine Persönlichkeit. Der Gong schlug an. »Herein!« Im gleichen Moment erinnerte er sich, daß er die Tür verschlossen hatte. Er öffnete sie und ließ den Biologen eintreten. Ihm fiel der starre Gesichtsausdruck Yozells auf. Es war, als hätte der Mann eine Maske aufgesetzt. »Ich bin sehr erleichtert, daß Ihnen nichts zugestoßen ist«, sagte Yozell. Er drehte sich seltsam mechanisch um. Gewöhnlich hatte er eine gebeugte Haltung. Nun hielt er sich sehr aufrecht und legte die Arme steif an den Körper. Sein Inneres war leer wie vorhin. Keim steckte die Hand in die Tasche und hielt den Laser schußbereit. Notfalls würde er durch den Stoff des Anzugs schießen. »Zugestoßen?« fragte er. Yozells Lächeln war verzerrt – eine Parodie seiner früheren Herzlichkeit. »Nun, jedenfalls sind Sie wieder hier.« »Rechneten Sie nicht mehr damit?« »Nachdem wir Sie per Funk nicht erreichen konnten, nahmen wir das Schlimmste an.« »Die Instrumente wurden zusammen mit den Gleitern zerstört.« »Wodurch gelang Ihnen die Flucht?« »Welche Flucht?« »Irgend etwas – muß doch geschehen sein?«
»Um Himmels willen, Alton, was ist los mit Ihnen?« »Los?« Yozells Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Ihr Inneres ist – leer.« »Nein, es ist von einer Macht erfüllt, die sich mit nichts vergleichen läßt.« »Der Vogel?« stieß Keim hervor. »Nicht der Vogel.« Yozell schüttelte steif den Kopf. »Der Fremde?« »Ah…« »Sagen Sie es mir, Alton.« »Wir sind Kinder im Dschungel des Lebens, Roger.« »Kinder – guter Gott!« Keim starrte ihn an. »Aber es stimmt.« Wieder lächelte er mühsam. »Wir bildeten uns immer ein, die überlegene Lebensform zu sein. Wir sind es nicht. Schockiert Sie das? Dieses Wesen besitzt unendliche Größe. Zeit, Raum, Leben – Dinge, die der Menschheit unbegreiflich blieben – sind für dieses Geschöpf elementar.« »Sie beugen sich diesem – Fremden?« »Nein, das nicht, Roger. Aber ich tue, was ich tun muß.« »Und das ist was?« »Das hier!« Yozell zog einen Laser aus der Tasche. Keim feuerte seine eigene Waffe ab, ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen. Der Biologe griff sich an die Brust und fiel mit leerem Gesichtsausdruck zurück. Ganz still lag er da. »Roger, was ist geschehen?« Laras Schrei hallte in seinem Innern wider. Einen Augenblick später riß sie die Tür auf, schneeweiß vor Erregung. Sie warf einen Blick auf den Toten, der am Boden lag. »Gott sei Dank!« rief sie. »Es war nicht mehr Yozell«, sagte er müde. »Der Fremde?« Sie feuchtete nervös ihre Lippen an. »Er befindet sich im Schiff.« »Er?« »Er, sie, es – ich weiß es nicht. Aber Yozell sprach, als handelte es sich um ein Einzelwesen. Wir können nur hoffen,
daß er sich nicht täuschte. Gott weiß, wie viele andere von dem Ding besessen sind.« »Kapitän Woon?« »Ich vermute es. Deshalb beschloß er wahrscheinlich auch, ins Imperium zurückzukehren.« »Mit diesem Geschöpf an Bord?« »Ich glaube nicht, daß er eine andere Wahl hatte.« Er warf einen Blick auf den Biologen. »Woon wird ebensowenig Woon sein, wie Yozell der Kollege von früher war. Auch Kimbroughs Gedanken spüre ich nicht mehr.« »Wie bringt dieses Wesen das fertig?« »Ich weiß nicht. Aber ich weiß, daß es ihre Gedanken und ihren Körper kontrolliert.« »Telepathische Hypnose?« Er schüttelte den Kopf. »Darüber geht es weit hinaus. Es kann durch die Augen der Opfer sehen; es kann die psychokinetische Macht durch ihre Gedanken lenken. Es ist ein geistiger Parasit. Offensichtlich eignet es sich das Wissen und die Fähigkeiten seiner Opfer an, ihre Erinnerungen, ihre Sprache. Entweder das, oder es kann diese Dinge zumindest kontrollieren, was ja den gleichen Zweck erfüllt. Perfekt ist es dabei noch nicht. Yozells Sätze klangen tonlos, mechanisch. Die Wortwahl war richtig, aber es fehlte das Persönliche. Das fiel mir zuerst auf, das und Yozells Haltung. Er bewegte sich wie ein Roboter.« »Konntest du den Fremden nicht in seinen Gedanken spüren?« »Yozells Inneres war leer. Und die gleiche Leere spüre ich bei Woon und Kimbrough.« »Dann hast du nicht mit Yozell, sondern mit dem Fremden gesprochen!« Sie schauderte.
»Von Angesicht zu Angesicht!« Er lächelte ein wenig. »Er sagte mir, wie überlegen er sei, wie lächerlich wir Menschen neben ihm aussähen.« »Grauenhaft! Was können wir tun?« »Wenn es keinen anderen Ausweg gibt, müssen wir das Schiff vernichten. Es ist die einzige Chance, die das Imperium noch hat.« »Das Schiff vernichten?« Ohne es zu merken, richtete sie sich auf. Die Furcht verschwand aus ihren Zügen. »Gut, wenn es Rettung für die Menschheit bedeutet«, sagte sie ruhig. Keim war stolz auf sie. Sie las seine Gedanken und errötete. Er schleppte den Toten in seine Schlafkabine und beugte sich noch einmal zu ihm herunter. Alton Yozell war ein guter Mensch gewesen, bescheiden, rücksichtsvoll. Er hatte niemandem etwas Böses angetan – und nun war er tot. Durch meine Hand, dachte Keim traurig. Er nahm den Laser des Toten an sich und kehrte in den Wohnraum zurück. »Da.« Er reichte Lara die Waffe. »Wenn ich versage oder wenn er in meine Gedanken eindringt…« »… dann vernichte ich das Schiff«, ergänzte sie ruhig. »Tapferes Mädchen! Schneide große Löcher in die Außenwände, so groß, daß man sie nicht mehr abdichten kann. Und durch die Schleusen, die automatisch alle Abteile versiegeln.« »Was tun wir jetzt?« »Warten.« »Worauf?« »Auf den zweiten Akt.« Sie hielt den Kopf schräg. »Falls es sich um ein Einzelwesen handelt, wie kann es dann dem Imperium gefährlich werden?« »Du denkst, es könnte sich nicht vermehren? Woher wissen wir, daß es bisexuell veranlagt ist? Vielleicht pflanzt es sich durch Zellteilung fort; ich habe keine Ahnung. Aber Yozell
sprach von einem einzelnen Geschöpf, und ich glaube, daß er recht hatte. Eines verstehe ich allerdings nicht. Weshalb hat es uns nicht getötet? Die Möglichkeit dazu besaß es.« »Den Versuch hat es immerhin gemacht.« Sie lächelte dünn. »Ja – im Wald und durch Yozell; aber es hatte andere Gelegenheiten. Warum brachte es uns nicht um, als wir auf das Schiff zuliefen? Eine Bewegung – oder besser zwei…« Er sah, wie sie zusammenzuckte, und fuhr fort: »Es hätte uns durch seine Gedankenmacht töten können, hat es aber nicht getan. Vielleicht gibt uns das einen Vorsprung.« »Ich verstehe dich nicht.« »Vielleicht kann es die Gedankenmacht im Innern des Schiffes nicht anwenden, ohne größere Zerstörungen anzurichten. Das gibt uns die Gewißheit, daß es unbedingt von diesem Planeten wegkommen möchte.« »Ich verstehe immer noch nicht, weshalb es dich nicht wie – Weber umbrachte.« »Weshalb es mir nicht den Hals umdrehte? Es hätte die Chance gehabt, gewiß, aber ein Laser ist ebenso sicher. Vielleicht wollte es einen zweiten unerklärlichen Tod vermeiden. Der Mord mit einem Laser ist verständlich. Niemand würde Fragen stellen. Man würde glauben, daß Yozell die Nerven verlor. Eine fremde Intelligenz benutzt normalerweise keinen Laser.« Er mußte lachen. »Eines muß man diesem Wesen lassen – allmählich gewöhnt es sich die menschliche Denkweise an.« Lara legte wortlos den Kopf in die Hände. »Wir können im Moment nur abwarten, was geschieht.« »Du glaubst –?« Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Der Fremde reagiert bestimmt auf Yozells Tod. Mit einem Mordversuch wird er sich nicht zufriedengeben. Ich scheine sein besonderes Ziel zu sein – oder sollte ich besser wir sagen?« Und dann kam
ihm blitzartig ein Gedanke. »Ob es etwas damit zu tun hat, daß wir Telepathen sind?« »Kann der Fremde das erkennen?« »Ja – wenn er die Möglichkeit hatte, unser Inneres zu durchforschen.« Er unterbrach sich nachdenklich. »Erinnerst du dich noch, daß ich ihn blendete, als ich die beiden Vögel abschoß? Er konnte uns nicht mehr sehen und vernichtete deshalb den ganzen Wald, in der Hoffnung, uns dabei zu töten.« »Und was möchtest du damit sagen?« »Vielleicht muß er uns sehen, um die Gedankenmacht gezielt anwenden zu können. Das würde auch erklären, weshalb er Yozell schickte – um mich durch die Augen des Biologen zu sehen.« »Das ist logisch.« Sie nickte. »Wir müssen also versuchen, außerhalb des Sichtbereichs seiner Opfer oder Wirte zu bleiben. Ich bin überzeugt davon, daß in Kürze ein weiterer Abgesandter kommt, um sich mit uns zu befassen.« »Zu befassen?« »Ein beschönigender Ausdruck für ermorden.« »Ich habe Angst«, gestand sie. »Ich teile deine Gefühle.« Sie legte das Gesicht an seine Schulter. Während er sie festhielt, erkannte er zum erstenmal, was alles auf dem Spiel stand. Wenn er versagte – wenn sie versagten – konnte die Menschenrasse ausgelöscht werden. So einfach und rasch, wie man einen Ameisenhaufen vernichtet. Das Dritte Imperium würde das Schicksal der Tempelerbauer ereilen. Trotz all der Flotten, die sie kommandierten, würden der Imperator und seine Gouverneure hilflos dem Untergang entgegensteuern. Nicht einmal eine Million nuklearer Waffen konnte das ändern. Das Ende der Menschheit! Unvorstellbar, aber es konnte geschehen. Selbstverständlich würde die Rasse auf
natürliche Weise irgendwann aussterben. Das wußte jeder. Aber doch nicht jetzt, in der Blüte ihrer Jugend! Es konnte geschehen – – wenn sie versagten. Nein, sie durften nicht versagen. Das schwor er sich. Er konnte mit Hilfe des Lasers die Energiekonverter des Schiffes zur Detonation bringen. Oh, es gab viele Möglichkeiten. Deshalb flog auf jedem interstellaren Schiff ein Psychomediziner mit. Seine Hauptaufgabe war es, instabile Charakterzüge zu entdecken und die Leute vor Fehlhandlungen zu bewahren. Ein Kranker mit einem Laser… Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als ein leichtes Schwanken spürbar wurde. Lara sah auf. »Wir starten!« rief sie. Er ließ sie los. Auch er spürte den Druck der Beschleunigung. »Ja, wir starten.« Er sah sie ernst an. »Mit dem Fremden an Bord«, flüsterte sie.
ACHT
Keim spürte Bewegung im Korridor. »In den anderen Raum, rasch!« Er deutete auf das kleine Schlafzimmer, in dem er Yozell verborgen hatte. »Sei vorsichtig«, warnte sie ängstlich. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, richtete Keim seine Aufmerksamkeit auf die Tür zum Korridor. Er spürte nur, daß jemand draußen stand, ohne irgendwelche Gedanken lesen zu können. Aber er war überzeugt davon, daß der Fremde den nächsten Mörder ausgesandt hatte. Es klopfte. »Roger, ich muß Sie sprechen.« Myron Kimbroughs Stimme klang leblos und mechanisch, aber er schien sicher zu sein, daß sich der Telepath in seiner Kabine befand. Keims Gedanken rasten. Kimbrough konnte von seiner Anwesenheit nur durch Yozell erfahren haben. Es bestand die Möglichkeit, daß der Biologe vor seinem Besuch mit Kimbrough gesprochen hatte, aber Keim hielt es für wenig wahrscheinlich. Daraus folgte, daß Yozell und Kimbrough telepathisch verbunden gewesen waren, entweder direkt oder über den Fremden. Das Letztere klang logischer. »Roger.« Keim traf einen Entschluß. Er nahm den Laser in die Hand, riß die Tür auf und trat sofort hinter den Türflügel. Zu seiner Überraschung war Kimbrough von Ivor Bascomb, dem Botaniker, begleitet. Beide blieben stehen und warfen einen Blick in das scheinbar leere Zimmer. »Ich stehe mit einem Laser hinter euch«, warnte Keim. »Dreht euch nicht um!« »Ein Laser?« fragte Kimbrough.
»Nur eine Vorsichtsmaßnahme.« Ein kurzes Eindringen in ihre Gedanken verriet ihm die gleiche Leere wie bei Yozell. Vermutlich waren auch ihre Augen leer und glanzlos. Aber ihre Bewegungen wirkten sehr natürlich. Lernte der Fremde, seine Opfer zu manipulieren? »Was wollt ihr?« fragte er. »Wir machten uns Sorgen – um Sie und Lara.« »Wir verloren die Gleiter und mußten den Rückweg zu Fuß zurücklegen.« »Verloren?« »Ein Baum stürzte darauf und zerstörte sie.« »Das ist recht ungewöhnlich, Roger.« »Allerdings.« Kimbrough drehte vorsichtig den Kopf. »Wo ist Lara?« »Vermutlich schläft sie. Sie war sehr erschöpft.« »Ja, natürlich.« Er drehte den Kopf noch ein Stückchen und sprach über die Schulter. »Roger, wir müssen etwas mit Ihnen besprechen. Dürfen wir uns setzen?« »Wenn ihr mich nicht anseht«, erwiderte er. »Das ist doch lächerlich«, fuhr Bascomb auf. »Wirklich? Ich weiß nicht recht.« Er befahl ihnen, die Couch umzudrehen. Erst dann durften sie Platz nehmen. Wieder fiel ihm auf, daß sie sich freier bewegten als Yozell. »Woher habt ihr gewußt, daß ich hier bin?« fragte er. »Wir wußten es eben.« »Der Fremde?« »Keine Lebensform ist fremd, sobald man sie kennengelernt hat, Roger.« »Er hat euch hergeschickt?« »Um Sie zur Vernunft zu bringen. Sie benehmen sich idiotisch.« »Inwiefern?« »Der Tod Yozells…«
»Es war nicht Yozell«, stieß er heiser hervor. »Vielleicht Yozells Körper, aber nicht Yozell.« »Mord bleibt Mord, Roger.« »Was auch immer durch Yozell sprach, hat nun von euch Besitz ergriffen. Habe ich recht?« »Im wesentlichen.« Kimbrough nickte. »Sie sind Wissenschaftler, Myron. Entweder Sie sprechen, oder das Ding spricht. Was stimmt nun?« »Diese Art von Unterscheidung können Sie nicht treffen, Roger. Ich bin immer noch der Myron von früher, das sehen Sie selbst. Ivor, habe ich recht?« »Ja«, erwiderte Bascomb. »Aber was ist noch übrig von euch?« fragte Keim. »Leere Augen, ein leeres Gehirn.« »Ein leeres Gehirn? Nein, Roger.« Kimbrough schüttelte ernst den Kopf. »Ich sehe zurück in eine Zeit vor vielen, vielen Milliarden Jahren. Ich habe wirbelnde Galaxien beobachtet, so fern, daß sie wie Glühwürmchen in der Dunkelheit der Nacht wirkten. Ich habe den Staub von Städten am toten Rand des Universums erblickt – ich habe den Raum und die Zeit überbrückt wie kein Mensch vor mir. Ich weiß jetzt, wie primitiv wir sind.« »Das überzeugt mich nicht, Myron.« »Der Fremde, wie Sie ihn nennen – er heißt übrigens Uli – ist die intelligenteste Lebensform des Universums. Nicht nur dieser Galaxis, Roger, sondern aller Galaxien. Die Bewohner dieses Planeten verehrten ihn wie einen Gott.« »Und starben«, sagte Keim scharf. »Und starben.« Kimbrough nickte. »Sie bedeuteten keinen Nutzen für Uli.« »Das ist doch kein Grund für Völkermord.«
»Eine primitive Ansicht. Mit Uli verglichen sind wir nicht einmal Steinzeitmenschen.« »Ich fühle mich in meiner Primitivität recht wohl, Myron.« »Er ist unsterblich, Roger.« »Keine Lebensform ist unsterblich.« Noch während Keim das sagte, erinnerte er sich an die gigantischen Kräfte des Fremden. Einen Moment lang zweifelte er. Unsterblich? Zumindest schien er unbezwingbar. »Hat er euch das gesagt?« »Wir wissen es, Roger.« »Ihr teilt seinen Verstand?« »Wir empfangen hier und da Einblicke. Wenn wir heranreifen, wird der Kontakt enger sein. Wir werden unseren rechtmäßigen Platz im Universum einnehmen. Denken Sie nur, Roger, welche Vorteile sich der Menschenrasse bieten!« »Sie sind verrückt!« rief er. »Verstehen Sie denn nicht, was das bedeutet?« »Wir haben alles sehr gründlich durchdacht.« »Zweifellos mit Unterstützung des Fremden. Hattet ihr die Wahl, oder wart ihr ganz plötzlich das Sprachrohr dieses Wesens?« »Wir können schon jetzt ein paar Vorteile nennen.« »Bitte.« »Er hat uns zu Telepathen gemacht. Alle Menschen sollen dieses Geschenk erhalten.« »Telepathen?« Keim starrte ihn an. »Ja, und es ist ein wundervolles Gefühl. Ich wußte nie, daß es dem Leben ganz neue Dimensionen geben kann. Sie hatten uns eine Menge voraus, Roger. Nun werden alle Menschen diese Gabe teilen.« »Lesen Sie meine Gedanken!« »Wenn ich mich umdrehen darf…« »Müssen Sie mich dabei ansehen?«
»Um Ihre Gedanken zu lesen?« In der plötzlich entstandenen Stille wußte Keim, daß sein Verdacht stimmte. Kimbrough, die Möwen, vielleicht der Fremde selbst waren telepathisch auf den Sichtbereich beschränkt. Und doch hatte der Fremde auch dann noch mit den Möwen Verbindung aufrechterhalten, als sie sich weit außerhalb seiner Sichtgrenzen befanden; zumindest galt das für die Möwen beim Tempel. Aber wenn der Fremde tatsächlich Fragmente seiner Gedanken in die Gehirne der Wirtspersonen projizierte, dann konnte er mit diesen Fragmenten zweifellos Kontakt aufnehmen, wo sie sich auch befinden mochten. In diesem Falle bildeten die Fragmente eine Einheit, waren jedoch telepathisch auf Sichtweite beschränkt, sobald sie mit Nicht-Wirten zu tun hatten. Konnte das stimmen? Keim hielt es für möglich. Aber es erklärte noch nicht die Gedankenmacht, mit deren Hilfe der Fremde den Wald vernichtet hatte. »Nun…« Wieder machte Kimbrough eine Pause. »Es stimmt also?« Er sprach rasch, in der Hoffnung, den wissenschaftlichen Leiter aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nur – sein Gegenüber war nicht mehr Kimbrough, sondern dieses Wesen Uli. Er wußte das jetzt. Alles übrige war eine Scharade, ein Spiel. Eine Täuschung. »Nein«, erwiderte Kimbrough. »Dann lesen Sie meine Gedanken! Sie können es nicht, ohne mich anzusehen.« »Das ist eine nebensächliche Betrachtung, Roger.« Keim lachte hart. »Wer ist der Telepath, Sie oder der Fremde?« »Es handelt sich um eine Art Partnerschaft. Habe ich recht, Ivor?« »Sehr gut ausgedrückt, Myron«, entgegnete Bascomb. »Sie wären glücklicher, wenn Sie auf unserer Seite stünden, Roger.« »Weshalb sollte ich überlaufen?« »Zu Ihrem eigenen Nutzen.«
»Und wenn ich mich weigere?« »Ich weiß nicht, was dann geschieht.« »Vermutlich hat euer fremder Freund etwas gegen freie Entscheidungen?« »Nun seien Sie doch vernünftig, Roger!« »Wie viele von euch kontrolliert er?« »Es handelt sich um eine Partnerschaft.« Kimbroughs Stimme klang gemessen, mechanisch, gefühllos. »Kapitän Woon?« »Er ist ein kluger Mann.« »Wer sonst noch?« »Das werden Sie erfahren, wenn Sie sich zu uns gesellen, Roger.« Keim zögerte. Je mehr Informationen er bekam, desto besser. Oder würde der Fremde seine Absicht erraten? »Welche Vorteile hätte ich davon?« »Erinnern Sie sich noch, wie oft wir die Möglichkeit diskutierten, daß die Menschheit eines Tages einer überlegenen Lebensform begegnen könnte?« Kimbrough drehte den Kopf noch ein Stückchen nach der Seite. »Vorsicht!« Als hätte Kimbrough den Einwurf nicht gehört, fuhr er fort: »Wir fragten uns, wie der Mensch in dieser Lage reagieren würde. Nun wissen wir die Antwort: Wir handeln überlegt und logisch. Unsere Rasse wird in wenigen Monaten Fortschritte erzielen, die sie sonst in Millionen Jahren nicht erzielt hätte. Ist das nicht Ansporn genug?« »Wer ist dieser Uli? Ich möchte zuerst Genaueres über ihn erfahren.« »Er ist unsichtbar. Man könnte ihn als das reine Denken auffassen.« »Unsinn, Myron.« »Weshalb zweifeln Sie daran?« »Weil ich seine Absichten kenne.« »Tatsächlich?«
»Er will das Schiff; er will in der Galaxis Fuß fassen. Er war an diesen Planeten gefesselt, bis wir kamen. Nun sieht er eine Fluchtmöglichkeit.« »Er ist auf dem Weg zum Imperium, Roger, und die Menschheit wird uns dafür dankbar sein. Er ist ein höheres Wesen als wir.« »Oh, wirklich? Weshalb konnte er dann diesen Planeten nicht verlassen? Wo befindet sich seine Zivilisation? Mein Gott, Myron, wissen Sie auch, was Sie tun? Sie unterstützen die Vernichtung der Menschheit.« »Er ist reines Denken«, sagte Kimbrough tadelnd. »Nein, er muß etwas anderes sein.« Während Keim die beiden Gestalten betrachtete, überlegte er, weshalb er sich auf diese Diskussion einließ. Bestimmt registrierten sie die Unterhaltung nicht; er sprach mit dem Fremden. Und der Fremde war auf dem Wege zum Imperium! Das Wissen erfüllte ihn mit stiller Verzweiflung. Wie konnte er gegen ein Geschöpf ankämpfen, das er nicht sah? Unsichtbar? Reines Denken? Nein, das war eine Lüge. Uli, wer oder was er auch sein mochte, existierte auch physisch, und er versteckte sich irgendwo im Schiff. Es gab Tausende von Abteilen, unzählige Verstecke, in denen er Unterschlupf finden konnte. Aber Keim mußte ihn finden; er mußte ihn finden und töten. Oder das Schiff vernichten! Seine Entschlossenheit wuchs. »Sie müssen sich entscheiden, Roger«, sagte Bascomb. »Ist das eine Drohung?« »Das können Sie auffassen, wie Sie wollen.« Kimbrough schnippte mit den Fingern. »Uli könnte Sie so einfach umbringen.« »Ich zweifle nicht daran, daß er einen ganzen Planeten verwüsten kann«, gab Keim zu. »Ich habe bereits ein paar Beispiele seiner Macht erlebt. Aber kann er diese Macht auch im Schiff entfesseln? Er würde es zerstören. Oder er müßte
genau wissen, wo ich mich befinde, und das weiß er nicht, weil er mich nicht sieht.« »Wie wenig Sie wissen!« Kimbrough seufzte. »Eines jedenfalls ist mir vollkommen klar, Myron. Er wird niemals einen Planeten des Imperiums erreichen.« »Wie können Sie so etwas sagen?« »Lieber zerstöre ich das Schiff. Das schaffe ich mit einem kleinen Laser.« »Sie würden sich selbst töten?« »Der Preis ist gering, wenn man den Einsatz bedenkt.« »Sie reagieren emotionell, Roger.« »Tatsächlich? Versuchen Sie keine Tricks, Myron. Wir sind zu zweit, beide bewaffnet. Wenn der Fremde mich tötet, vernichtet Lara sofort das Schiff – und umgekehrt. Merken Sie sich das gut.« »Sie würden der Menschheit diese großartige Gelegenheit rauben?« fragte Bascomb. Die mechanische Stimme klang fast ein wenig ungläubig. »Gelegenheit?« Keim sah ihn an. »Wie viele von euch betrachten die Sache auf diese Weise?« »Uli beherrscht das Schiff, Roger. Es ist unwichtig, was andere denken.« Er machte eine Pause. »Sie müssen natürlich sterben.« Keim schüttelte langsam den Kopf. »Ihr beiden seid keine Menschen mehr. Ihr seid leere Hüllen, Schattengestalten, die genau das tun, was dieses fremde Wesen verlangt. Glaubt ihr, ich lasse dieses Ungeheuer in das Imperium eindringen? Eher zerstöre ich das Schiff.« Er hob die Stimme. »Hörst du das, Uli? Du mußt sterben!« In der folgenden Stille saßen seine Besucher so reglos da, als betrachteten sie eine friedliche Landschaft. Sie waren keine Menschen mehr. Marionetten, die weiterhin agierten, als seien sie am Leben; aber sie besaßen keine Seelen. Kauerte irgendwo tief in ihren Gehirnen noch ein Funke menschlichen
Bewußtseins? Er hoffte es nicht. Während er sie anstarrte, wunderte er sich, weshalb der Fremde nicht zuschlug. Schließlich sagte Kimbrough: »Sie können jetzt nicht vernünftig denken, Roger. Sie haben eine schwere Nacht hinter sich. Holen Sie lieber den versäumten Schlaf nach.« »Ich denke sehr vernünftig, Myron.« »Wir sprechen uns noch einmal, wenn Sie ausgeruht sind.« Die beiden Männer erhoben sich gleichzeitig. Keim umklammerte den Laser. Er achtete sorgfältig darauf, daß er nicht in ihr Blickfeld geriet, während sie zur Tür marschierten. Als er hinter ihnen abschloß, rasten seine Gedanken. Weshalb hatte der Fremde sie hergeschickt? Um ihn zu töten; so wie Yozell versucht hatte, ihn zu töten. Daran gab es kaum etwas zu zweifeln. Aber wenn der Fremde ihn töten wollte, mußte er ihn sehen. Entweder das oder er wandte blindlings die Gedankenmacht an. Wie draußen im Wald. Dabei riskierte er allerdings die Vernichtung des Schiffes. Und das Schiff war ihm wichtig. Wichtiger als Keims Leben. Das Schiff und die Marionetten, die es bedienten. »Uli.« Er sagte den Namen laut vor sich hin. Wie mochte sein Besitzer aussehen? Er war ganz gewiß nicht unsichtbar, wie er durch Kimbroughs Stimme behauptet hatte. Keim wußte, daß er diesen Ausspruch nur getan hatte, um ihn von einer Durchsuchung des Schiffes abzuhalten. Aber wie war der Fremde unbeobachtet an Bord gelangt? Nicht in der Nacht; dafür garantierte das Energiefeld. Yozells Vogel? Nein, der Vogel war nur ein Wirt. Wie dann? Es schien einfach unmöglich. Außer… Keim spürte, wie sein Körper prickelte. Unterbewußt hatte er sich Uli groß vorgestellt, mindestens so groß wie einen Menschen. Aber das mußte nicht sein. Vielleicht war er klein – so klein, daß man ihn in die Tasche stecken und an Bord schmuggeln konnte. Diese Möglichkeit schoß blitzschnell durch sein Gehirn.
»Roger?« Laras Gedanken erreichten ihn. »Sie sind fort«, erwiderte er müde. Ulis Entsetzen war von neuem aufgeflammt, als im Morgengrauen die beiden Telepathen plötzlich auftauchten und sich unter die Mannschaft mischten. Er hätte sie augenblicklich durch die Gedankenmacht töten können, da er sie durch die Augen von einem Dutzend Vögeln genau erkannte. Aber die wenigsten Mannschaftsmitglieder befanden sich unter seinem Einfluß, und zwei weitere unerklärliche Morde hätten zu einer Katastrophe geführt. Als sie das Schiff betraten, verschwanden sie aus seinem Sichtbereich, aber bald darauf nahm der Telepath Verbindung mit Yozell auf. Danach hatte Uli eine Zeitlang fest mit dem Tod des Telepathen gerechnet. Aber irgendwie hatte dieser Keim geahnt, daß Yozell ihn umbringen sollte; und so hatte er den Biologen getötet. Weshalb hatte er die Absicht nicht in den Gedanken des Telepathen gelesen? Der Mann besaß eine sonderbare Sperre, etwas, das sich Ulis Forschen entzog. Seine Oberflächengedanken waren nur Bruchstücke; die tief erliegenden Gedanken drangen überhaupt nicht durch. Und doch stand er in telepathischer Verbindung mit der Frau! Gab es etwas Besonderes in Roger Keims Gehirn? Noch schlimmer, nach Yozells Tod war der Telepath wieder aus seinem Sichtbereich verschwunden. Eilig hatte Uli Kimbrough und Bascomb in die Kabine des Mannes geschickt. Doch auch sie hatten nur klägliche Ergebnisse erzielt. Als er jetzt über sein Versagen nachdachte, überfiel ihn von neuem die Angst. Würden die Telepathen das Schiff tatsächlich vernichten? Er durfte dieses Risiko nicht eingehen. Wenn der Tod des einen den anderen zum Handeln zwang, mußte er eben beide gleichzeitig umbringen. Oder, falls es ihm
gelang, in das Gehirn des einen einzudringen, konnte er ihn zwingen, den anderen zu töten. Aber würde einer der beiden das Schiff tatsächlich vernichten? Es schien unvorstellbar. Der Selbsterhaltungstrieb setzte sich über alle anderen Regungen hinweg. Dieses Gesetz war so alt wie das Leben selbst. Es hatte sich so fest in seinem Innern eingenistet, daß es während all der leeren Jahrmillionen seine Handlungen gesteuert hatte. Sollte sich die Menschenrasse in diesem Punkt anders verhalten? Nein, das war unmöglich. Immer wenn er in einen der Wissenschaftler eingedrungen war, hatte er das Entsetzen vor dem Tod gespürt. Ob nun bewußt oder unterbewußt – es war da, es existierte. Gewiß, die Furcht besaß die verschiedensten Ausdrucksformen. Woon fürchtete insgeheim, er könnte zu alt für die Raumfahrt werden; Bascomb hatte Angst, daß sie eines Tages aus dem Hyperraum auftauchen und zu nahe an eine fremde Sonne geraten könnten; dann würde die Alpha Tauri verbrennen. Yozell war die Befürchtung nicht losgeworden, daß ihm etwas zustoßen könnte, bevor er sein Lebenswerk vollendet und der staunenden Nachwelt hinterlassen hatte. Aber alles lief auf das gleiche hinaus: sie hatten Angst vor dem Sterben. Waren die Telepathen in diesem Punkt anders? Nein, sagte er sich vor. Keim hatte geblufft. (Das Wort stammte aus seinem neuerworbenen Vokabular und paßte genau.) Dennoch, um sicherzugehen, mußte er die beiden Telepathen gleichzeitig töten oder einen von ihnen an sich fesseln. Keim war ungeheuer gefährlich. Uli dachte mit Unbehagen über den Telepathen nach. Die Gedanken seiner Opfer verrieten ihm, daß Keim – der T-Mann, wie sie ihn nannten – sehr gefürchtet war. Mehr noch, es war eine Furcht, die sich auf alle Telepathen erstreckte. Verbunden damit waren Gefühle des Neides, der Eifersucht, der heimlichen Sehnsucht,
selbst Telepath zu sein; einige träumten davon, die Gedanken ihrer Kollegen zu durchforschen. Aber die Furcht überlagerte diese Gefühle. Und seine Opfer verrieten ihm wenig über die Telepathie selbst. Aber keiner seiner Wirte hatte gewußt, daß Lara Kamm Telepathin war! Kimbrough, Bascomb, Woon, Rayfield – sie hatten keine Ahnung von dieser Tatsache gehabt. Ebensowenig die anderen. Hatte sie ihre Fähigkeit geheimgehalten, weil man Telepathen im allgemeinen mied? War es möglich, daß im Schiff noch weitere Telepathen existierten? Uli spürte, wie seine Angst wuchs. Besaßen Telepathen vielleicht noch größere Mächte? Nichts in den Gehirnen seiner Opfer deutete darauf hin, aber die Leute hatten wenig über Keim und gar nichts über das Mädchen gewußt. Was würde er im Herzen der Galaxis vorfinden? Er mußte es erfahren. Plötzlich empfand er es als ungeheuer wichtig, in das Gehirn des Telepathen einzudringen. So wie die Dinge jetzt standen, kam er nicht weiter. Der Gedanke an Keim war so beunruhigend, daß er sich zwang, ihn zu vergessen. Zum Glück stand das Schiff bald unter seiner Kontrolle – dafür würden die Vögel sorgen, die Yozell noch vor seinem Tod eingefangen hatte. Heute abend, wenn die Menschen schliefen, würde er einen Wirt damit beauftragen, die Vögel in den Kabinen zu verteilen. Er überlegte, welche Männer er am notwendigsten brauchte. Da war einmal der Erste Ingenieur, der Astrogator und vielleicht auch der Arzt. Und Henry Fong, der Historiker. Dieser Mann sollte für seine Rasse die Grabinschrift entwerfen. Der Gedanke amüsierte Uli.
NEUN
Keim legte den Hörer auf und sagte erleichtert: »Janik kommt sofort her.« »Bist du sicher, daß er noch frei ist?« Laras Stimme klang zweifelnd. »Ganz sicher. Sein Gedankenschema war völlig normal, ebenso seine Stimme.« Er spürte, wie die Anspannung allmählich nachließ. Wenn ihm jemand glauben würde, dann Ross Janik, der Astrogator. Janik war ein logischer Denker, kühl, erfahren. Als Dritter Offizier konnte er die anderen warnen und eine Widerstandsgruppe organisieren. Wenn sie rasch genug handelten, konnten sie vielleicht… was? Er wußte es noch nicht, aber es war immerhin ein Anfang. »Soll ich hierbleiben?« Er nickte. »Wenn du meine Geschichte bezeugst, klingt sie vielleicht weniger unwahrscheinlich.« »Unwahrscheinlich ist das richtige Wort.« »Konzentriere dich weiterhin auf die Gedanken der anderen.« »Es fließt alles ineinander.« »Versuche es mit einer bestimmten Person.« »Das tue ich bereits. Es bringt nicht viel.« »Wer ist es?« »Peter Diamond.« »Wie gut kennst du ihn?« »Wir haben uns hin und wieder unterhalten.« »Gewöhnlich ist es leichter, wenn man das Gegenüber sehr gut kennt. Weshalb versuchst du es nicht bei Sam Gossett?« »Das könnte ich nicht.« Sie errötete. »Es käme mir wie Kiebitzen vor.«
Er lachte. »Ist es schlimmer als bei Diamond?« »Sam war mein bester Freund«, protestierte sie. »Wir haben keine Freunde, jetzt nicht. Das mußt du dir immer wieder vorsagen. Wir können nur auf Verbündete hoffen.« Er seufzte. »Im Augenblick wissen wir nicht, wer bereits angesteckt ist. Aber wir müssen es erfahren, und verdammt schnell. Deshalb ist es notwendig, alle Menschen an Bord, auch unsere Freunde, zu überprüfen. Die Telepathie ist unsere einzige Waffe.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schiff zu. Bis auf ein vereinzeltes Knistern hatte sich das Dröhnen in seinem Innern gelegt; er spürte von allen Seiten Leben. Einzelne Gedanken stachen hervor, und wenn er sich konzentrierte, konnte er meistens erkennen, wer sie ausstrahlte. Nicht immer – einige Personen verstanden es, ihre Gedanken gut zu kaschieren. In diesen Fällen mußte er tiefer forschen und sich auf sein Glück verlassen. Plötzlich drängte sich ein flimmerndes Bild in den Vordergrund – ein schlanker, schmalgesichtiger Mann mit gewölbten Augenbrauen, die seinem Ausdruck etwas Dämonisches verliehen. Ross Janik! Der Astrogator kam die Treppe herunter. Im nächsten Moment war das Bild verschwunden und wurde von Gedankenfetzen überlagert. Keim zeigte sich nicht erstaunt. Er hatte solche Augenblicke des Hellsehens schon früher erlebt – rasche, verwischte Visionen, die selten länger als ein paar Sekunden blieben. Im Laufe der Jahre waren sie immer häufiger aufgetreten. Früher hatte er geglaubt, daß ihm seine Fantasie einen Streich spielte, vor allem, daß die Wissenschaft das Phänomen der Hellseherei als lächerlich abtat. Nun hatte er seine eigene Meinung über diese Vorgänge. Er spürte mit einem Mal ein starkes Unbehagen. Janiks Gedanken waren intensiv, zusammenhanglos, überschattet von Gefühlen. Das kannte Keim an ihm nicht. Er konzentrierte
seine Aufmerksamkeit ganz auf den Astrogator und versuchte die Ablenkungen auszuschalten, die von allen Seiten auf ihn eindrangen. Janiks Unruhe hatte mit Kapitän Woon und dem T-Mann zu tun. Der T-Mann! Andere Leute hatten Namen, aber er war einfach der T-Mann! Da, nun wußte er Bescheid. Janik machte sich Sorgen, weil er die Entscheidung des Kapitäns nicht verstand. Woon wollte den Planeten verlassen und Frohm, ein kleines System am Rande des Imperiums, ansteuern. Weshalb gerade Frohm? Sein einziger bewohnbarer Planet war unbedeutend. Janik hatte Woons Entscheidung mit dem Anruf des Telepathen in Verbindung gebracht. Keim hatte ihm gesagt, niemandem von ihrer Verabredung zu erzählen. Der T-Mann wußte, weshalb sie Krado 1 verlassen mußten! Es gab irgendeine entsetzliche Gefahr! Janik zitterte geradezu vor Erregung. Der T-Mann wußte Bescheid! Keim spürte die anwachsende Spannung. Das Unbehagen in seinem Innern steigerte sich zu einem Kreischen. Irgendwo im Unterbewußtsein schrillten Alarmsirenen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er den Astrogator, der auf seine Kabine zueilte. Keim stand auf und trat an die Tür. »Stimmt etwas nicht?« fragte Lara rasch. Er schüttelte den Kopf. Obwohl er alle Sinne auf den Korridor richtete, konnte er nichts entdecken. Dennoch schrillten die Alarmsirenen weiter. Wieder stand eine flimmernde Vision von Janik vor seinen Augen. Der Astrogator hatte das unterste Geschoß erreicht. Keim öffnete die Tür einen Spalt und beobachtete den Korridor. Er war völlig leer. Einen Augenblick später tauchte der Astrogator am gegenüberliegenden Ende auf und kam mit raschen Schritten näher. Keim wartete, verwirrt durch das Gefühl der Gefahr in seinem Innern. Plötzlich trat Ivor Bascomb aus einem Nebenkorridor. In seiner Hand glitzerte ein länglicher, zylindrischer Gegenstand.
Keim schrie eine Warnung und riß die Tür auf. Janik blieb stehen und starrte den Botaniker wie gebannt an. Erst nach einer halben Ewigkeit drehte er sich um und wollte fliehen. Bascomb drückte ab und traf den Astrogator zwischen den Schulterblättern. Janik brach zusammen. Bascomb wandte sich mit einer blitzschnellen Drehung dem Telepathen zu, aber Keim hatte seine Waffe bereits gezogen. Der tödliche Strahl drang dem Botaniker in die Brust. Keim warf einen Blick auf Bascombs Züge, während der Mann niedersank; sie waren leer und wie versteinert. Keim ging zurück in seine Kabine und versperrte die Tür. »Janik ist tot – ermordet«, sagte er. »Von Bascomb.« Laras Aufschrei verriet Angst, die an Hysterie grenzte. Keim ging an ihr vorbei in die Schlafkabine, lud sich den toten Yozell auf die Schulter und trat noch einmal auf den leeren Korridor hinaus. Hastig legte er seine Last neben Bascomb ab. Als er zurückkehrte, sah ihn Lara fragend an. »Wir konnten Yozell nicht ewig hierlassen«, erklärte er. Er rieb sich mit der Hand über das Kinn. »Woher wußte Bascomb Bescheid?« flüsterte sie. »Vielleicht las jemand auf der Brücke Janiks Gedanken und gab sie telepathisch an Bascomb weiter«, meinte er. Die Botschaft, die dieser Mord enthielt, war deutlich: Jeder, der sich dem Fremden widersetzte, mußte sterben. »Ich weiß, aber weshalb war Bascomb hier?« Sie hatte ihre Haltung wiedergewonnen. »Er wartete auf einen von uns, nicht wahr?« »Auf einen oder auf beide«, gab er zu. »Kimbrough?« »Ist wohl auch in der Nähe.« »Was sollen wir tun?« »Versuchen wir es einmal mit Gossett, Duvall und Rayfield. Alle bedeutenden Wissenschaftler an Bord. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Aber als er den Hörer in die Hand nahm,
wußte er, daß es bereits zu spät war. In der Leitung rührte sich nichts mehr. »Sie haben den Stromkreis unterbrochen?« Laras Stimme klang sonderbar ruhig. Er nickte, während er sich die nächste Möglichkeit durch den Kopf gehen ließ. Was geschah, wenn er den Raum verließ? Wartete ein anderer Mörder auf sein Erscheinen? Vielleicht nicht, wenn der Fremde davon überzeugt war, daß sein Tod Lara dazu bringen würde, das Schiff zu vernichten. Das bedeutete, daß der Fremde versuchen würde, sie gemeinsam zu töten. Lara war seinen Gedankengängen gefolgt. Nun sagte sie: »Trotzdem kannst du es nicht riskieren, die Kabine zu verlassen.« »Früher oder später werde ich es tun müssen.« »Es gibt bestimmt eine andere Möglichkeit«, widersprach sie. Ruckartig riß sie den Kopf hoch, als sie im Korridor einen schrillen Aufschrei hörte. Keim sah sie verblüfft an. »Robin Martel«, murmelte sie. Keim konzentrierte sich und versuchte das Innere der Meteorologin zu durchdringen. Verwirrung, furcht, Entsetzen, Schock – ihm war klar, daß sie die drei Toten im Korridor anstarrte. Er hörte andere Rufe, dazu Schritte. »Jemand muß Harlan Duvall holen«, befahl eine schrille Stimme. Keim lächelte hart. Der Psychomediziner war gut, aber in diesem Fall konnte auch er nichts mehr tun. Für Yozell, Janik und Bascomb war die Zeit abgelaufen. Die Rufe und die Verwirrung verstärkten sich. Keim legte den Finger an die Lippen, als jemand den Korridor entlanglief und an sämtliche Türen klopfte. »Wäre das nicht ein günstiger Augenblick, einige Leute zu warnen?« flüsterte Lara. »Wir wissen nicht, wer klopft.« Er lächelte grimmig und versuchte sich gleichzeitig auf die Personen im Korridor zu
konzentrieren. Peter Diamond, Karl Borcher, der Astrophilosoph Arden, andere, die in dem Gewirr anonym blieben. Das Klopfen hatte ihre Tür erreicht. Keim sah den fragenden Blick in Laras Augen. »Sam Gossett«, übermittelte er telepathisch. »Sam…« Sie sah ihn ängstlich an, aber er schüttelte den Kopf. Er wußte, daß der alte Chemiker Laras bester Freund war; aber sie durften das Risiko nicht eingehen. Gossett zählte zum Kreis der Verdächtigen. Die Schritte entfernten sich zur nächsten Tür und dann zur übernächsten. Keim richtete seine Aufmerksamkeit weiterhin auf den Korridor. Er war überzeugt davon, daß der Fremde die Szene durch einen Wirt beobachten ließ. Aber es gelang ihm nicht, mit einem dieser Wirte Kontakt aufzunehmen; das hatten seine Erfahrungen mit Yozell, Bascomb und Kimbrough bewiesen. Und doch hatte er gespürt, daß etwas in der Nähe war, als Yozell vor seiner Tür stand – er hatte ein warnendes Gefühl gehabt, als Janik nach unten kam. Einen Vorteil hatte das: sobald er die Gedanken eines Menschen lesen konnte, wußte er auch, daß er noch nicht von dem Fremden befallen war. Robin Martel, Sam Gossett und Harlan Duvall konnte er ebenso spüren wie Arden, Peter Diamond und Karl Borcher. Aus dem Gewirr der Gedanken sonderte er nach einiger Zeit auch noch Hester Kane und Burl Ashford aus. Ashfords Inneres war ein Gewühl von Angstgefühlen. Das gleiche galt für die Mannschaftsmitglieder, denen man befohlen hatte, die Toten fortzuschaffen. Dann legte sich die Verwirrung, und Stille kehrte ein. Keim durchforschte telepathisch das Schiff, als ihn das leichte Schwindelgefühl überkam. Er sah rasch auf und zu Lara hinüber. Keiner von ihnen sprach. Sekunden später war es vorbei. Die Alpha Tauri befand sich im Hyperraum.
Schlief der Fremde niemals? Keim dachte über die Frage nach. Merkwürdig – da war er in einen Kampf um Leben und Tod verstrickt, und sein Gegner zeigte sich lediglich als ein schemenhaftes Gedankengebilde. Ein Gedankengebilde, das Planeten vernichten konnte! Kimbrough hatte gesagt, der Fremde sei unsichtbar, unsterblich; aber das konnte Keim nicht glauben. Die Fragen häuften sich. Der Mensch lebte nach seiner biologischen Uhr. Konnte man das gleiche von dem Fremden behaupten? Und wenn er schlief – ließ er jemanden Wache halten? War Schlaf lebensnotwendig? Es schien so. Die Vögel hatten nachts geschlafen. Allerdings hatte der Fremde bis zur Ankunft der Alpha Tauri nie Grund zu einer nächtlichen Wache gehabt. Und nun besaß er menschliche Wachtposten. Aber auch sie mußten schlafen, wenigstens hin und wieder, so wie Lara im Moment aus reiner Erschöpfung schlief. Natürlich konnte er nicht darauf hoffen, daß sie alle gleichzeitig schliefen, aber während der Nachtstunden würde die Wachsamkeit doch merklich nachlassen. Seine Gedanken durchstreiften das Schiff. Jobe Kyler, Hester Kane, Alex Jason, Peter Diamond – nacheinander sonderte er sie aus. Zum Glück waren sie noch frei von der Fessel des Fremden. Aber zu seiner Beunruhigung konnte er weder Wayne Coulter, den Ersten Ingenieur, noch Paul Rayfield, den Physiker, ausfindig machen. Der Fremde arbeitete rasch… Überall spürte Keim das Entsetzen, das die drei Morde ausgelöst hatten. Er fand die Reaktion verständlich, denn Mord war ein Gespenst aus der Vergangenheit des Menschen; in der jetzigen Zeit gab es nur noch selten Gewalttaten. Aber drei Morde auf einem einzigen Schiff! Das schockierte die Leute. Die wildesten Gerüchte liefen um; meist kreisten sie um den plötzlichen Entschluß des Kapitäns, Krado 1 zu verlassen. Die Männer waren der Meinung, daß auf dem
Planeten eine große Gefahr gedroht hatte. Jemand behauptete, eine häßliche Krankheit habe den Verstand der Wissenschaftler angegriffen. Wie sonst sollte man sich die sinnlosen Morde erklären? Ein anderer sagte, daß man die drei Leute getötet habe, um zu verhindern, daß die Krankheit weiter um sich greife. Die Stunden verstrichen, und allmählich legte sich der Aufruhr. Zusammenhanglose Gedankenfetzen der Schlafenden erreichten ihn. Keim versuchte zum letztenmal die Personen ausfindig zu machen, die noch nicht von dem Fremden besessen waren. Sam Gossett, der Chemiker, schlief verhältnismäßig ruhig, ebenso Harlan Duvall. Karl Borcher, Hester Kane und Robin Martel hatten wilde Alpträume. Und Lloyd Kramer, der Zweite Astrogator, stand auf der Brücke und wunderte sich, weshalb der Kapitän seit dem Start seine Privatkabine nicht verlassen hatte. Keim war zufrieden. Wenn er die Männer und Frauen, die der Fremde noch nicht erfaßt hatte, um sich scharte, hatte er immerhin eine kleine Kampftruppe. Unruhig warf er sich hin und her. Die ersten Kontakte mußte er persönlich herstellen, da das Interkomsystem nicht mehr funktionierte; später konnten die anderen die Nachricht verbreiten. Er rief Lara. Sie wachte sofort auf. »Was gibt es?« »Höchste Zeit, Sam Gossett und die anderen zu verständigen«, erklärte er. »Wenn etwas geschieht…« »Gut, ich werde im Notfall das Schiß vernichten«, versprach sie. Ihre Gedanken waren ruhig und furchtlos. Sie hatte ihre Angst ins Unterbewußtsein verdrängt. Nach kurzer Zeit kam sie aus dem Nebenraum. »Greife nicht voreilig zur Waffe«, warnte er sie. »Wie kann ich den richtigen Zeitpunkt erkennen?«
»Sobald du mich telepathisch nicht mehr erreichen kannst, mußt du handeln.« Er spürte, daß sie ein Zittern unterdrückte. »Sei vorsichtig«, flüsterte sie. »Und du mußt in ständiger Verbindung mit mir bleiben.« Er konzentrierte sich auf den Korridor. Nichts, keine Gefahr. Lautlos öffnete er die Tür und trat hinaus. Nur die Nachtbeleuchtung brannte. Der Korridor lag im Halbdunkel da. Einen Moment lang blieb Keim stehen, um sich an die Dämmerung zu gewöhnen. Er hatte erst wenige Schritte zurückgelegt, als die Alarmsignale wieder durch sein Gehirn zuckten. Den Körper gegen die Wand gepreßt, sah Keim aufmerksam nach links und nach rechts. Er konnte nichts entdecken. Dennoch wurde er das Gefühl der drohenden Gefahr nicht los. An seinen Handflächen stand Schweiß. »Lara?« rief er telepathisch. »Was ist?« erwiderte sie sofort. »Spürst du etwas?« »Den üblichen Wirrwarr.« Die Antwort kam zögernd. »Droht Gefahr?« »Ich weiß nicht.« Er versuchte die Quelle seiner Unruhe zu ergründen, doch es gelang ihm nicht. Gleichzeitig wuchs die Warnung in seinem Innern zu einem Kreischen an. Die Gefahr war nahe, ganz nahe. Mit erhobenem Laser schlich er Schritt für Schritt durch den Korridor. Eine Bewegung in einer Türnische ließ ihn stehenbleiben. Wieder preßte er sich gegen die Wand. Jemand kam aus Harlan Duvalls Kabine. Wieder durchzuckte ihn ein warnendes Gefühl. Sein erster Eindruck, daß es sich um Duvall handeln könnte, bestätigte sich nicht. Die Gestalt war zu groß, zu gebeugt. Er versuchte in die Gedanken des Mannes einzudringen, aber er stieß in ein Nichts. Ein Wirt! Er hielt den Atem an. Am anderen Ende des Korridors wandte sich die Gestalt der Treppe zu. Erst jetzt erkannte Keim Myron Kimbrough, den wissenschaftlichen Leiter. Was hatte er in Duvalls Kabine
gesucht? Beunruhigt konzentrierte sich der Telepath auf Duvall. Der Kontakt ließ ihn zusammenzucken. Er schauderte bei den furchtbaren, quälenden Gedankengängen, die ihm entgegenschlugen. Er sah Galaxien vorbeihuschen, Zeitalter ohne Ende; kalte, tödliche Gedanken, heraufbeschworen von einem winzigen ovalen Körper, der in einer dunklen Schublade verborgen war. Der Fremde! Hellseherei? »Nein! Nein!« Heisere Schreie aus Duvalls Kabine zerrissen die Stille. Keim rannte auf die Tür zu. Ein einziger Blick verriet ihm, daß das Schloß zerstört war. Aus dem Schlafraum drang schwaches Licht. Mit drei langen Schritten stand er am Bett des Psychomediziners. Duvalls Gesicht war zu einer Fratze verzerrt. Er starrte in eine dunkle Ecke des Raumes. Keim folgte seinem Blick, sah zwei glimmende Punkte – eine kleine Form auf dem Schreibtisch. Er riß die Waffe hoch. Im nächsten Moment war der Tisch eine Masse aus geschmolzenem Metall. Es roch nach verbrannten Federn. Duvall fiel zurück in die Kissen. Er atmete rasselnd, und sein Körper zuckte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Mit einem Mal erkannte Keim, wie der Fremde zu seinen Wirten gekommen war. Er richtete den Laser auf Duvall und versuchte zu ergründen, ob der Fremde sein Inneres schon durchdrungen hatte. Er spürte die nachlassende Panik; die Gedanken, die aus dem Unterbewußtsein strömten, beruhigten Keim. Er war rechtzeitig gekommen. »Harlan, aufwachen!« Er schüttelte Duvall. Der Psychomediziner warf abwehrend den Kopf hin und her. Plötzlich öffnete er die Augen und erkannte den Telepathen. »Mein Gott, was für ein Alptraum.« Er setzte sich mühsam auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Im Licht der Nachttischlampe sah Keim, daß seine Hand zitterte. »Es war kein Alptraum«, sagte Keim. Er ging rasch in den Wohnraum
und schob einen Stuhl vor die Tür, um gewarnt zu sein, falls jemand einzudringen versuchte. Als er zurückkam, wirkten Duvalls Züge verwirrt. »Kein Alptraum?« fragte er. »Jedenfalls kein normaler Alptraum.« Mit wenigen Worten schilderte ihm Keim, welche Mittel der Fremde benutzte, um zu seinen Wirtspersonen zu kommen. Er erzählte auch, auf welche Weise Yozell, Janik und Bascomb gestorben waren. Dann fügte er hinzu, daß er die Gedanken von Coulter, Rayfield, Jonley, Henry Fong und verschiedenen anderen nicht mehr erkennen könne. »Wir müssen annehmen, daß der Fremde sie beherrscht«, sagte er. »Mein Gott!« Duvall wirkte starr vor Entsetzen. »Was können wir tun?« »Wir müssen alle warnen. Wir müssen das Schiff durchsuchen und Uli vernichten. Viel Zeit haben wir nicht mehr.« »Wenn man für jeden Wirt einen Vogel benötigt…« Duvall starrte ihn an. »Dann ist die Zahl der Wirtspersonen begrenzt, außer es wurden mehr Tiere an Bord geschmuggelt, als wir ahnen. Gott allein weiß, was Yozell oder ein anderer unter dem Einfluß des Fremden tat.« Duvall wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wie steht es mit Woon, Kimbrough und den anderen? Können sie gerettet werden?« »Ich weiß nicht.« Keims Stimme klang gereizt. Er merkte, daß er sich diese Frage unterbewußt schon oft gestellt hatte. Beherrschte der Fremde seine Wirte für immer, oder konnte er sie wieder verlassen? Es bestand natürlich auch die Möglichkeit, daß er sie beim Verlassen tötete – wie Weber. Aber was war mit Duvall? Einen Moment lang hatte Keim im Innern des Psychomediziners Ulis Gedanken gespürt, das wußte er ganz genau. Vielleicht war Ulis Kontrolle noch nicht
perfekt gewesen, und er hatte ihn durch sein Eindringen vertrieben. Galaxien huschten vorbei, Zeitalter ohne Ende… Mein Gott, Kimbrough hatte die Wahrheit gesagt! Der Fremde vom Rand des Universums war praktisch unsterblich. Keim schauderte. »Ich erwachte plötzlich«, berichtete Duvall. »Ich glaube, daß ich ein leichtes Schnalzen hörte, das von meinem Schreibtisch kam. Ich schaltete das Licht ein und entdeckte den Vogel – eigentlich sah ich nur seine glänzenden Augen. Im ersten Moment wunderte ich mich, wie er in mein Zimmer gelangt war; dann spürte ich, wie mich seine Gedanken durchdrangen. Sie waren kalt, hart, fremdartig. Ich begann zu schreien.« Duvall warf dem Telepathen einen Blick zu. »Kennen Sie richtige Alpträume? Das Ganze überfiel mich wie ein Alptraum. Unterbewußt erkannte ich wohl, was geschah, und versuchte mich zu wehren. Ich hatte den Eindruck, daß mein Inneres gespalten war und daß die beiden Hälften einander bekämpften. Plötzlich zogen ganze Galaxien an mir vorbei. Ich sah einen erkaltenden Stern vor mir, einen kleinen ovalen Körper…« »… der in einer dunklen Schublade verborgen war?« unterbrach ihn Keim. Seine Stimme wirkte angespannt. »Das wissen Sie?« »Ihre Gedanken brachen wie eine Sturzflut über mich herein«, meinte Keim. »Ich bin überzeugt davon, daß Sie die Gedanken des Fremden teilten. Offenbar sind zu Beginn beide Gehirne gleich stark, aber der Fremde unterwirft seinen Wirt bald.« »Roger, was für ein Ungeheuer mag das nur sein?« »Kimbrough erzählte mir, daß es sich um einen er handelt. Wenn mein Eindruck stimmt, kann er sich nicht aus eigener Kraft bewegen. Vielleicht braucht er einen Wirt, der ihn von Ort zu Ort trägt.« Er sprach langsam, nachdenklich. Er
versuchte sich ein genaues Bild von dem Fremden zu machen. »Unvorstellbar!« rief Duvall. »Sie müssen sich auch an das Unvorstellbare gewöhnen, Harlan.« »Wie er die Menschen verändert!« »Wenn es uns gelingt, seine Wirte zu beherrschen, dann ist er hilflos«, überlegte Keim. »Vielleicht finden wir ihn nach einiger Zeit und können ihn töten.« »Und seine Wirte?« »Im Notfall müssen wir auch sie töten.« »Das ist Mord!« »Wirklich? Das Imperium steht auf dem Spiel, Harlan, die ganze Menschheit. Wir sprachen früher oft über die Lebensformen, die irgendwo in der Weite des Raumes existieren könnten. Nun wissen wir, daß es sie gibt. Wir dürfen nicht an die paar Menschenleben an Bord der Alpha Tauri denken; es geht um die Milliarden und Abermilliarden unserer Rasse. Wir müssen die Wirtspersonen als das behandeln, was sie sind – nicht als das, was sie waren. Im Moment sind sie ebenso schlimm wie der Fremde.« »Aber sie waren Menschen, Roger«, sagte Duvall leise. Sie waren Menschen. Der Satz ließ Keim zusammenzucken. Unterbewußt erkannte Duvall also, daß man die Opfer des Fremden jetzt nicht mehr als Menschen betrachten konnte. Sie waren Roboter in Menschengestalt. Konnte man ihnen ihr früheres Wesen wieder zurückgeben? Aber Duvall hatte recht; erst wenn alle anderen Mittel versagten, durfte man sie töten. »Wir könnten die Betäubungsstrahler einsetzen«, meinte der Arzt. Keim spürte neue Hoffnung aufsteigen. Die Betäubungsstrahler wurden dazu benutzt, Großwild kampfunfähig zu machen. »Gut, aber wir dürfen nicht in das Blickfeld des Fremden geraten«, warnte er. »Doch im Moment müssen wir uns um
wichtigere Dinge kümmern. Wir befinden uns im Hyperraum, auf dem Wege zum Imperium.« »Sie wollen die Kommandobrücke übernehmen?« Hoffnung flackerte in Duvalls Blick auf und erlosch wieder. »Ich vermute, der Fremde hat sie fest in der Hand.« »Ein Risiko, das wir eingehen müssen.« »Und wenn es zum Kampf kommt?« »Irgendwann müssen wir mit einer Konfrontation rechnen.« Duvall sah den Telepathen entsetzt an. Obwohl Keim den Satz ausgesprochen hatte, ohne lange darüber nachzudenken, wußte er jetzt, daß er den Entschluß schon lange gefaßt hatte. Wenn er überlegte, was Duvall durchgemacht hatte, bekam er Angst vor dieser Gegenüberstellung. Aber vielleicht war es möglich, mit dem Fremden Kontakt aufzunehmen, ohne gesehen zu werden. Dann gelang es ihm vermutlich, das Schiff und die Mannschaft zu retten. Er besaß mächtige Waffen – unter anderem konnte er die Alpha Tauri vernichten. Wußte Uli das? Wenn nicht, dann gab es noch einen Grund für diese Konfrontation. Er konnte den Fremden vor die Wahl stellen – sichere Rückkehr nach Krado 1 oder der Tod. Er dachte lange über diese Dinge nach. »Ich würde es nicht riskieren.« Der Psychomediziner schüttelte den Kopf. »Was soll ihn davon abhalten, Sie zu seinem Roboter zu machen?« »Beispielsweise die Drohung, daß in diesem Fall das Schiff sofort vernichtet wird.« »Das ist zu gefährlich, Roger. Ich bekam seine Macht bereits zu spüren.« »Irgendein Risiko muß ich eingehen.« Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als er Laras telepathischen Aufschrei hörte. Sie rief nach ihm. »Lara?« »Meine Tür, Jemand versucht…« »Ich komme!« Er rannte aus der Kabine und ließ den verdutzten Duvall zurück. Noch im Lauf riß er die Waffe aus
der Tasche. »Er brennt die Tür nieder!« Ihre Gedanken waren angsterfüllt. »Geh in den Schlafraum – nimm den Laser«, entgegnete er hastig. Er spürte, wie ihm die Zeit davoneilte. Als er noch ein Dutzend Schritte von seiner Kabine entfernt war, sah er, daß die Tür geschmolzen war. Er rannte in den Wohnraum, ohne sein Tempo zu verringern. Eine schmale Gestalt wirbelte herum. Einen Moment lang sah Keim das Gesicht von Henry Fong, dann stürzte er sich auf ihn und schleuderte ihn gegen die Wand. Mit dem Fuß trat er gegen den Laser. Fong kam nicht mehr dazu, sich zu wehren. Der Telepath schlug ihn mit einem harten Handkantenhieb zu Boden. »Lara?« rief er. »Alles – in Ordnung.« Lara öffnete die innere Tür. Ihr Gesicht war bleich und verzerrt, und ihre Hand, die den Laser umkrampfte, zitterte heftig. Keim war vor allem darüber entsetzt, daß der Fremde versucht hatte, sie zu töten. Nahm er die Drohung nicht ernst, daß sie das Schiff zerstören würden, wenn einer von ihnen starb? Wenn nicht, dann sandte er sicher andere aus, die das Werk des Historikers vollenden sollten. »Weg von hier.« Er nahm sie an der Hand und zog sie in den Korridor hinaus. »Wohin?« fragte sie atemlos. Nur einen Moment lang blieb er stehen, um zu überlegen. »Yozells Kabine ist leer.« Er deutete mit dem Laser auf einen Nebenkorridor, der zu den Räumen des Biologen führte. Er fragte sich, weshalb er Fong nicht getötet hatte. Wenn der Mann sich erholte, war er so gefährlich wie zuvor. Vermutlich ließ sich der Jahrtausende alte Abscheu vor einem Mord nur dann überwinden, wenn man es ganz bewußt wollte. Er mußte noch viel lernen, sagte er sich grimmig. Sie hatten fast die Kabine des Biologen erreicht, als er sich an die Vögel erinnerte. Keim verlangsamte seinen Schritt und konzentrierte sich auf Yozells Räume. Nichts, auch nicht die
Andeutung einer Gefahr. Die Tür war unverschlossen, und er stieß sie auf. »Warte!« befahl er. Er trat ein und suchte die Zimmer rasch ab. Sie waren leer. Nirgends sah er Vögel, und nichts ließ darauf schließen, daß seit Yozells Tod jemand hier gewesen war. Er winkte Lara zu sich und sperrte die Tür von innen zu. »Was ist geschehen?« flüsterte sie. »Halte dich an die Telepathie!« befahl er ihr. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ein scheußliches Gefühl, wenn man das nicht gewöhnt ist.« »Aber es erhöht unsere Überlebenschancen.« »Auch die des Fremden«, erinnerte sie ihn. »Er braucht seine Augen, um Telepathie anwenden zu können.« Er erzählte ihr, was Duvall zugestoßen war. »Ich kam gerade noch rechtzeitig zu ihm.« »Und Sam?« fragte sie beunruhigt. »Vor dem Zwischenfall mit Duvall war er noch frei.« Er sah sie an. »Aber alles überstürzt sich.« Er ließ seine Gedanken durch das Schiff wandern. Gewöhnlich fing er so viele Eindrücke auf, daß er sie gar nicht alle verarbeiten konnte. Nun wirkte die Alpha Tauri leer und still. Das Schweigen machte ihn nervös. Hin und wieder erreichten ihn Wortfetzen; Bilder flammten auf und vergingen. Zwei Männer verbargen sich tief im Maschinenraum bei den großen Energiekonvertern. Ihre Gedanken waren erfüllt von panischer Angst. Sie rechneten jede Sekunde damit, daß ein Mörder auftauchte. Und so wagten sie sich nicht zu rühren Die Szene flammte in seinem Gehirn auf, wurde blasser und verschwand. Er suchte weiter. Die Messe für die Wissenschaftler und Offiziere war verlassen, ebenso die Küche und das Erholungszentrum. Überall herrschte Leere. Was war geschehen? Konnte es sein, daß der Fremde die großen Siege feierte, während er sich mit kleinen Fischen begnügte? Die
Möglichkeit war erschreckend. Wieder wanderten seine Gedanken durch das Schiff. Einige Männer hatten in den Vorratskammern Unterschlupf gefunden. Einer richtete den Laser auf die Luke. Verzweiflung, Angst, Hoffnungslosigkeit… Die Gefühle gruben sich tief in Keims Bewußtsein. Er tastete die Navigationsbrücke ab. Stille! Wo war Lloyd Kramer? Noch vor kurzem hatte er sich um die Instrumente gekümmert; nun war kein Lebenszeichen von ihm zu spüren. Auch in der Kapitänskabine rührte sich nichts. Nun, er hatte erwartet, daß Woon keine eigenen Gedanken mehr ausstrahlen würde. Wie Kimbrough und die anderen wartete er nur darauf, daß der Fremde ihm einen Befehl erteilte. »Spürst du etwas?« Laras beunruhigte Frage durchbrach seine Konzentration. Er zügelte seine Ungeduld. »Nichts Wichtiges. Du?« »Es ist alles so still.« Sie schauderte. »Versuche es weiterhin.« Wieder konzentrierte er sich. Er durchforschte das gesamte Wohnquartier der Wissenschaftler. Plötzlich erstarrte er. »Was gibt es?« fragte sie rasch. »Harlan Duvall.« Er verbannte Lara aus seinen Gedanken und versuchte den Kontakt noch einmal herzustellen. Da – ein flimmerndes Bild. Schemenhaft erkannte er eine zweite Gestalt. Die Züge wurden deutlicher. Helles Haar, schmale Nase, voller Mund. Robin Martel! Sie befanden sich in der Krankenstation. Robin hielt den Laser auf die Tür gerichtet. Ihr Gesicht war eine starre Maske. Nur die Art und Weise, in der sie an ihrer Unterlippe nagte, zeigte, daß sie Angst hatte. Duvall füllte die Betäubungsstrahler. Er arbeitete rasch und mit ruhiger Hand. Die Deutlichkeit der Szene verwunderte Keim. Er fragte sich, ob Hellsehen die letzte Stufe der Telepathie war – ob man in Situationen höchster Belastung diese letzte Stufe erreichte.
Jedenfalls hatte er noch nie eine so klare Vision empfangen. Gläser, Spritzen, Skalpelle – alles zeigte sich scharf umrissen. Auf Duvalls ledriger Haut standen Schweißtropfen. Keim sah zu, wie der Arzt die gefüllten Betäubungsstrahler in die Tasche schob. Dann nahm er den Laser in die Hand, ging an Robin vorbei und öffnete die Tür. Er spähte in den Korridor hinaus. Ein Vogel flatterte aus dem Halbdunkel; seine graziösen, langsamen Flügelschläge betonten die Ähnlichkeit mit den Möwen. Duvall war mit einem Sprung in der Kabine und schlug die Tür hinter sich zu. Vögel, die im Schiff patrouillierten! Keim beobachtete das Tier wie hypnotisiert. Schließlich erreichte er das Ende des Korridors und verschwand aus seinem Sichtbereich. Erst jetzt fiel Keim auf, daß die Vision geblieben war, obwohl er den Kontakt mit Duvall unterbrochen hatte. Was bedeutete das? Er wußte es nicht, ebensowenig wie er den Ursprung seiner telepathischen Fähigkeiten kannte. Die Tür der Krankenstation öffnete sich, und der Arzt sah sich vorsichtig im Korridor um, bevor er hinaustrat. Er hatte den Laser in der Hand. Die Meteorologin folgte ihm mit angstverzerrter Miene. »Ist die Möwe fort?« Ihr Flüstern erreichte Keims Inneres. Duvall winkte ihr beruhigend zu und schlich zu dem Treppenschacht, der in die Mannschaftsquartiere führte. »Ich habe Gedanken gespürt«, murmelte Lara. »Duvall und Robin«, entgegnete er. »Oh, Robin befindet sich in Sicherheit! Das freut mich.« »Niemand befindet sich in Sicherheit«, entgegnete er. »Wir dürfen keinen Augenblick lang sorglos werden.« Er erzählte ihr von dem Vogel. Ihre Augen nahmen einen seltsamen Ausdruck an. »Du hast ihn gesehen?« »Zumindest gespürt.«
»Hellseherei«, flüsterte sie. »Mag sein. Genau weiß ich es nicht.« »Der Gedanke erschreckt mich.« »Weshalb? Ist Hellsehen rätselhafter als die Telepathie?« Sie lachte nervös. »Mir reicht jedenfalls die Telepathie.« »Nun, lassen wir das Thema. Wir müssen erst einmal eine Widerstandsgruppe organisieren.« »Wie viele sind noch frei?« »Ich kann es nicht genau sagen.« »Wie viele hat – « Sie sprach nicht weiter. »– der Fremde an sich gekettet?« ergänzte er. »Woon, Kimbrough, Coulter, Paul Rayfield – ach ja, auch Lloyd Kramer. Aber ich zweifle nicht daran, daß es ständig mehr werden.« »Sam?« fragte sie beunruhigt. »Bei der letzten Zählung schlief er ruhig in seiner Kabine.« Wenn nur Sam nichts geschieht, dachte er. Der Tod wäre einer Existenz als Roboter vorzuziehen. Er spürte bei dieser Überlegung einen sonderbaren Stich. Was war mit Hester Kane, Dave Shepherd und Peter Diamond? Oder mit Arden, dem sanftmütigen Astrophilosophen? Jeder von ihnen war ihm ans Herz gewachsen. Alton Yozell, Ivor Bascomb, Ross Janik – alles gute Menschen. Nun schwiegen sie für immer. Wie viele würden ihnen noch folgen? Konnte man Kimbrough retten? Woon? Paul Rayfield? Oder war ihre Zeit abgelaufen? Mit Gewalt schüttelte er diese düsteren Gedanken ab. Er durchforschte weiter das Schiff. Überall herrschte Totenstille.
ZEHN
»Roger!« Der erregte Gedanke drang klar zu Keim durch. Sofort erkannte er, daß Duvall ihn ausgesandt hatte. Auch Lara spürte ihn. Sie hielt den Kopf schräg und horchte. Als der Ruf sich wiederholte, versuchte Keim, den Ausgangsort festzustellen. Verschwommen tauchte das Bild des Arztes auf; es schwankte eine Zeitlang hin und her, dann stand es still. Duvalls Gedanken strahlten Grauen aus – Grauen und Zorn. Seine Gefühle waren so intensiv, daß sie wie Messerstiche durch Keim jagten. Und dann entdeckte Keim plötzlich zwei Gestalten am Ende eines langen, dunklen Korridors. Duvall und Robin Martel – daran bestand kein Zweifel. Er murmelte Lara zu, was er sah, ohne den Kontakt zu unterbrechen. Sie nickte nervös. Die beiden Gestalten bewegten sich starr und irgendwie unnatürlich. Der Arzt blieb vor jeder Tür stehen, flüsterte etwas und trat dann in die Kabine, um sofort wieder auf den Korridor hinauszuhetzen. Jedesmal flammte sein Entsetzen von neuem auf. Weshalb waren alle Türen unverschlossen? Die Frage ließ Keim keine Ruhe. Etwas stimmte hier nicht. Seine Angst wuchs. Wenn nun Duvall irgendwo auf einen Wirt des Fremden stieß? Er konzentrierte sich auf Duvalls Gesicht. Der Psychomediziner hatte die Zähne zusammengepreßt. Seine Blicke wirkten ungläubig. Schweiß lief ihm von der Stirn. Keim hatte eine schreckliche Vorahnung. Die blonde Meteorologin fuhr sich ständig mit der Zunge über die Lippen. Ihre Hand umkrampfte einen Betäubungsstrahler.
Was war geschehen? Es gelang Keim nicht, den Tumult ihrer Gedanken zu ordnen. Lara sah ihn fragend an. »Sie gehen auf die Messe zu«, sagte er. »Haben sie jemand gefunden?« »Ich weiß nicht. Sie sind sehr erregt. Ich hole sie hierher.« Sie nickte. »Aber sei vorsichtig.« Er öffnete die Tür ein wenig und spähte in den Korridor hinaus. Nichts warnte ihn. Das Alarmsignal in seinem Innern schwieg. Dennoch durchforschten seine Gedanken das Schiff. Zwei Matrosen hatten in der Kombüse Zuflucht gefunden; ein dritter kauerte in einer Ladeluke. Zu den Männern bei den Energiekonvertern hatte sich noch ein Freund gesellt – huschende Gestalten in den Eingeweiden des Schiffes. Einige der Informationen kamen als Bilder, einige als Worte – und alle waren begleitet von Entsetzen, Grauen, Verzweiflung, Resignation. Mein Gott, was ging hier vor? Keim zwang sich zur Ruhe. Weshalb waren Duvall und Robin immer noch allein? Als er merkte, daß Lara ihn beobachtete, schloß er die Tür und ging in den Korridor hinaus. Mit ein paar raschen Schritten war er an einem Seitengang, wo er gerade noch zwei Gestalten um die Ecke biegen sah. Sein Herz klopfte schneller, als er ihnen nachlief. Sie waren die Treppe nach unten gegangen und wollten sich eben in entgegengesetzter Richtung entfernen. »Harlan!« zischte er. Der Arzt wirbelte herum und riß den Laser hoch. Erst dann erkannte er den Telepathen. Robin preßte die Hand an den Mund, um ihren Aufschrei zu unterdrücken. Duvall lief auf Keim zu. »Achten Sie auf die Vögel«, stieß er hervor. »Ich habe sie gesehen.« Er winkte den beiden, ihm zu folgen, und rannte zurück zu Yozells Kabine. Als die beiden sich im Wohnraum befanden, versperrte er die Tür.
Duvalls Augen nahmen einen erleichterten Ausdruck an, als er Lara sah. »Gott sei Dank leben Sie noch.« Keim wirbelte herum. »Was haben Sie entdeckt?« »Tot – alle tot.« Grauen schüttelte ihn. »Alle?« »Hester Kane, Carol Rusnak, Dave Shepherd, Peter Diamond, Karl Borcher – « Er zählte die Namen mit wutverzerrter Miene auf. »Jemand drang in ihre Kabinen ein und erledigte sie mit einem Laser. Zum Glück konnte Robin entkommen.« »Sie sagten – alle?« Keims Augen glitzerten. »Eine Redewendung. Ich weiß nicht, wie viele.« »Sam Gossett?« »Tot.« »Oh!« Laras Mundwinkel zuckten. »Guy Starbuck?« »Tot.« »Arden?« »Tot. Wir wollten ins Mannschaftsquartier hinuntergehen und um Hilfe bitten; jemand hörte uns kommen und rief uns zu, daß man uns umbringen würde, wenn wir nicht sofort umkehrten. Die Kerle da unten sind verrückt geworden.« »Man kann es ihnen nicht verdenken.« Keim starrte düster vor sich hin. »Aber wir müssen sie irgendwie erreichen und den Widerstand organisieren.« Der Arzt kramte in seinen Taschen. Er holte zwei Betäubungsstrahler und ein paar Laser hervor. »Ich dachte, wir würden sie vielleicht brauchen «, meinte er. Keim nahm einen Betäubungsstrahler an sich und sagte: »Wir müssen mit dem Fremden Verbindung aufnehmen.« »Das sagten Sie schon einmal«, erwiderte Duvall unruhig. »Es ist gefährlich.« »Nicht, wenn ich seinen Sichtbereich meide. Außerdem – haben wir eine andere Wahl?«
»Wir stehen keinem Menschen, sondern einem Ungeheuer gegenüber«, sagte Duvall. »Glauben Sie etwa, daß es auf Ihre Worte hören wird?« »Würden Sie nicht zuhören, wenn Sie jemand vor die Wahl zwischen Leben und Tod stellte?« »Aber ich bin ein Mensch.« Duvall sah Lara bittend an. »Was sagen Sie dazu? Sie sind Spezialistin für fremde Kulturen.« »Nicht auf dieser Reise.« Sie lachte nervös. »Aber Sie müssen sich doch irgendwelche Gedanken machen.« »Ich weiß nichts über seine Geschichte, seine Wertbegriffe, seine Kultur. Um welche Lebensform handelt es sich? Welche Ziele verfolgt sie?« »Die Eroberung der Galaxis«, warf Keim ein. Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Was sagt uns das? Eigentlich nur, daß sich dieses Wesen stark genug fühlt, um die Eroberung durchzuführen. Und unseren Erlebnissen nach zu schließen, könnte es damit durchaus recht haben. Wir wissen, daß es über nahezu unvorstellbare psychische Fähigkeiten verfügt, doch das hilft uns nicht weiter. Wir betrachten ein Skelett, Knochen ohne Fleisch. Gewöhnlich müssen wir eine Kultur sehr lange beobachten, bis wir das erste Urteil abgeben können. In diesem Fall wissen wir nicht einmal, was wir beurteilen sollen.« Sie sah Keim an. »Aber wenn ich die Entscheidung treffen müßte, mit diesem Wesen Verbindung aufzunehmen, hätte ich entsetzliche Angst.« »Glaubst du, ich habe keine Angst?« Ein Lächeln huschte über seine Züge. »Aber es gibt keine andere Wahl.« »Wenn es uns gelingt, die Astrogationsbrücke zu übernehmen…«, schlug Duvall vor. »Ich bezweifle, daß wir sie lange halten können.« »Es muß doch einen Weg geben!« rief Robin. Keim sah sie an. »Haben Sie einen Vorschlag?« »Die Rettungsboote?«
»Wir sollen das Schiff aufgeben und den Fremden ungehindert ins Imperium vordringen lassen?« »Das habe ich nicht gemeint«, widersprach sie. »Vielleicht könnten wir das Schiff vernichten und dann fliehen.« »Nicht, solange wir uns im Hyperraum befinden.« Keim schüttelte den Kopf. »Wir müßten die Kommandobrücke erobern, in den normalen Raum zurückkehren und einen Planeten ausfindig machen, auf dem wir überleben könnten. Dazu benötigen wir mehr Zeit, als wir zur Verfügung haben.« Er wandte sich an Lara. »Aber du hast recht, wir müssen mehr über den Fremden in Erfahrung bringen. Das ist ein weiterer Grund für die Kontaktaufnahme.« Duvall wirkte niedergeschlagen. »Wie wollen Sie das bewerkstelligen?« »Durch einen der Männer, die sich unter seiner Kontrolle befinden.« Er schnippte mit den Fingern. »Henry Fong!« »Fong?« »Falls er das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt hat.« Er bemerkte den fragenden Blick des Arztes und berichtete, was geschehen war. »Vielleicht hält die Wirkung meines Schlages noch an«, beendete er seine Erzählung. »Ich werde ihn untersuchen«, schlug Duvall vor. »Wenn ich das tue, ist es sicherer.« Keim schickte forschende Gedanken aus. Weder im Korridor noch in Laras Kabine konnte er ein Lebenszeichen entdecken, aber das bewies noch nichts. Ganz gleich, wo sich Fong befand, sein Inneres strahlte keine eigenen Gedanken mehr aus. Schließlich ging Keim an die Tür und warf einen Blick in den Korridor. »Wenn ich nicht zurückkomme…« »Keine Angst«, sagte Duvall mit erzwungener Lässigkeit. »Ich wollte immer schon ein Schiff kommandieren.« Keim nickte und trat hinaus. Wo waren Woon, Kimbrough und die
anderen? Wo waren die Vögel? Seine Kopfhaut prickelte, als er auf Laras Kabine zuging. Er fand den Historiker so, wie er ihn verlassen hatte. Fong lag zusammengekrümmt auf dem Boden und atmete röchelnd. Einen Moment lang empfand Keim Mitleid. Henry Fong war ein hervorragender Wissenschaftler gewesen, der wie kein zweiter die Vergangenheit analysierte. Auch als Schiffsgefährte hatte Keim ihn geschätzt. Und was war er jetzt? Als er in das schmale Gesicht sah, wußte er, daß Fongs Zeit abgelaufen war. Der Asiate besaß nur noch einen Körper, und dieser Körper war gefährlich. Irgendwo hinter den geschlossenen Augen lauerte der Fremde. Keim zerriß ein Tuch zu einer provisorischen Augenbinde, lud sich den Mann auf die Schulter und eilte zurück durch die verlassenen Korridore. Gefahr! Abrupt zuckte die Warnung durch sein Inneres. Er blieb stehen, wirbelte herum – nichts zu sehen. Seine Gedanken tasteten die umliegenden Räume und Seitengänge ab, ohne Erfolg. Das warnende Gefühl steigerte sich zu einem Schrillen. Sein Körper zuckte nervös. Die Gefahr war hinter ihm! Er drehte sich um und sah den Vogel. In Deckenhöhe schwebte er dahin, halb verborgen vom Halbdunkel. Keim glaubte die runden kleinen Augen leuchten zu sehen. Ein eisiger Finger bohrte sich in sein Gehirn. Die Kälte berührte seinen Verstand. Ein dunkler Planet unter einer sterbenden Sonne. Riesige Gebäude, halb zerfallen. Neun Schatten flohen durch die Abgründe des Universums. Tlo, Glomar, Xexl – tot. Entwurzelte Städte und Dörfer, aufgelöst in Atome, die in den Himmel strömten wie vertikale Flüsse… »Nein!« Mit diesem erstickten Aufschrei hob Keim den Laser und richtete ihn auf das Tier. Dann schwankte er mit seiner Last gegen die Wand. Der Gestank von verbrannten Federn
stieg ihm in die Nase. Halb betäubt stolperte er die Treppe hinauf. Allmählich wurden seine Gedanken klarer, zusammenhängender. Mit Duvalls Hilfe fesselte er den Historiker an einen Stuhl und schlang die Augenbinde noch fester. Dann trat er zurück. »Können Sie ihn wecken?« Der Arzt befühlte Fongs Nacken. Befriedigt stellte er fest, daß nichts gebrochen war. Dann hörte er Puls und Herzschlag ab. Er suchte in den Vorratsschränken von Yozells Labor und kehrte nach einiger Zeit mit einem kleinen Behälter zurück. »Das müßte genügen«, sagte er. Er schraubte die Kappe ab und hielt dem Historiker das Fläschchen unter die Nase. Im nächsten Moment zuckte Fongs Körper wie im Krampf. Seine Schultern streckten sich, seine Hände begannen zu zittern – und dann saß er mit einem Mal ganz still. »Er ist wach«, warnte Lara telepathisch. Keim legte den Finger an die Lippen und deutete zum Schlafraum. Duvall nickte und führte Robin hinaus. Lara zögerte einen Moment lang. »Sei vorsichtig!« Als sich die Tür hinter ihr schloß, konzentrierte er sich ganz auf den ruhig dasitzenden Fong. Er wußte, daß die dunklen Augen hinter der Binde geöffnet waren. Ein rasches telepathisches Abtasten enthüllte die merkwürdige Leere, die verriet, daß Fong seine Persönlichkeit vollkommen aufgegeben hatte. Sogar sein Unterbewußtsein schwieg. Ein Fremder lebte in Fong. Uli! Keim spürte, wie seine Anspannung wuchs. Obwohl er dem Historiker die Augen verbunden hatte, konnte der Fremde durch Fongs Ohren hören und die Situation durch seine übrigen Sinnesorgane erfassen. Keim wußte, daß es ein gefährlicher Augenblick war. »Uli?« Er sprach den Namen leise aus. Die Gestalt auf dem Stuhl versteifte sich noch mehr. Nur das leichte Heben und
Senken seiner Brust verriet, daß Fong am Leben war. Was dachte der Fremde, was plante er? Welche Waffen würde er einsetzen? Schweiß bildete sich auf Keims Stirn. Er wiederholte den Namen und achtete auf die leiseste Regung bei Fong. Plötzlich zerrissen die Fesseln, die Fongs Hände und Füße umgaben. Eine Hand zuckte hoch und riß die Augenbinde herunter. Keim sprang zur Seite und verfluchte sich selbst, daß er die psychokinetischen Kräfte des Fremden vergessen hatte. Fong drehte sich herum, bis er den Telepathen im Blickfeld hatte. Keim wollte nach seinem Laser greifen und konnte sich mit einem Mal nicht mehr bewegen. »Der Betäubungsstrahler!« dachte er. Arme, Beine, der ganze Körper – nichts gehorchte seinem Willen. Er spürte, daß sich Henry Fongs Augen auf ihn richteten. Tiefe dunkle Teiche, in denen sich Raum und Zeit spiegelten. Sie flüsterten von unbekannten Tiefen des Universums. In dem schmalen, ausdruckslosen Gesicht lebten nur die Augen. Eisige Finger berührten Keims Verstand. Sonnen wurden geboren, flammten hell auf, versanken; neue Sonnen erwachten zu Leben. Zeit, endlose Zeit, zusammengeschoben zu einem winzigen Augenblick, so daß die Lebensdauer der Galaxis an das kurze Flackern und Verlöschen eines Streichholzes erinnerte. Zwergenhafte Humanoide bewegten sich in merkwürdigen Maschinen über den Planeten; Städte blühten auf, wurden verlassen. Durch die Augen eines Vogels sah er ein Sternenschiff über der Grasebene schweben – die Alpha Tauri! »Roger!« Laras Gedanken durchbohrten sein Inneres. »Uli«, keuchte er. »Soll ich…?« »Warte!« Es gelang ihm, diese Bitte von einer winzigen Ecke seines Bewußtseins auszusenden, während er gegen die Umklammerung der eisigen Finger ankämpfte. Die Vision eines kleinen ovalen Körpers tauchte auf und verschwand. Wo
um Himmels willen war Duvall? Eisige Nadeln prickelten in seinem Gehirn. »Uli?« Der Name kam ihm mühsam über die Lippen. »Geh weg, oder sie vernichtet das Schiff!« Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Tür aufging; Duvall trat ein, den Betäubungsstrahler in der Hand. Fong wirbelte herum. Zu spät erkannte Keim, daß der Fremde seine Gedanken wahrnahm, daß er Duvall durch seine Augen gesehen hatte. Eine unsichtbare Macht preßte den Psychomediziner gegen die Wand, und er brach bewußtlos zusammen. »Vernichte das Schiff!« rief Keim. »Nein, warte!« Die eisigen Finger in seinem Innern zogen sich sofort zurück. Vage erkannte er, daß der Schrei von Fongs Lippen gekommen war – von dem Fremden, der Fongs Körper beherrschte. Gleichzeitig konnte er sich wieder bewegen. Er warf sich hinter den Historiker. »Lara, warte!« stieß er hervor. Duvall kam mühsam auf die Beine und torkelte durch die offene Tür. Jemand zog ihn hinaus. Dann schnappte das Schloß ein. Keim sah, daß Fong sich umdrehen wollte. »Keine Bewegung, sonst zerstört sie das Schiff!« rief er. Fong wartete, dann wandte er sich von dem Telepathen ab. »Du wolltest mich sprechen?« Mechanisch, tonlos kamen die Worte plötzlich von Fongs Lippen. Keim war darauf nicht gefaßt gewesen. Er suchte nach einem Anfang. »Du wirst das Imperium nie erreichen«, stieß er hervor. »Ich bin bereits auf dem Wege dorthin.« »Bis ich mich entschließe, dich aufzuhalten.« »Du bist ein Schwachkopf, Roger Keim.« »Vielleicht.« Keim beherrschte sich mühsam. »Wir bringen dich zurück auf Krado 1. Wenn du dich dagegen wehrst, mußt du sterben.«
»Hast du die Macht dazu?« Obwohl die Worte keinerlei Betonung enthielten, glaubte Keim doch, leisen Spott zu spüren. »Ich kann das Schiff vernichten.« »Dabei stirbst du.« »Wir Menschen haben keine Angst vor dem Tod.« »Du vergißt, daß ich das Innere von Menschen gesehen habe.« »Von einigen Menschen«, verbesserte Keim. »Du könntest mich dennoch nicht töten, Roger Keim.« »Nicht einmal, wenn ich das Schiff zerstöre?« »Nicht einmal dann.« »Ich glaube dir nicht«, erwiderte Keim; aber das war gelogen. Die Worte des Fremden klangen zu sicher. »Willst du damit etwa sagen, daß ich dich nicht töten kann?« »Allmählich begreifst du.« »Niemand kann in der Leere des Raumes leben«, stieß er hervor. »Nein?« Wieder fühlte Keim den leisen Spott. »Ich habe länger in der Leere des Raumes gelebt, als die Sonne Krado existiert. Vielleicht konntest du das in meinem Innern erkennen. Zerstöre das Schiff, und ich lebe weiter wie bisher. Nur finde ich jetzt, in der sternenerfüllten Galaxis, ohne weiteres einen geeigneten Planeten.« Keim wußte, daß der Fremde die Wahrheit sagte. Das hatte er gespürt – Unendlichkeit, Ewigkeit, kleine Schatten, welche die Abgründe des Universums überquerten, bis sie die nächste Galaxis erreichten. Mein Gott, was für ein Wesen hatte von Henry Fong Besitz ergriffen? Und was konnte die Menschheit gegen dieses Geschöpf ausrichten? Er nahm sich zusammen. »Behauptest du, daß du unsterblich bist?« »Nach euren Zeitbegriffen – ja.« »Das glaube ich nicht«, stieß er hervor. »Was du glaubst, Roger Keim, ist nicht sonderlich wichtig.«
»Du hast keine Angst vor dem Tod, und doch hast du dich sofort zurückgezogen, als ich drohte, das Schiff zu vernichten.« »Ich möchte mein Ziel so rasch wie möglich erreichen.« »Das werde ich verhindern. Ich verspreche es dir.« »Tatsächlich?« Dieses eine Wort verriet Furcht – trotz der Behauptung des Fremden, er sei unsterblich. Keims Herz klopfte schneller. Worin bestand Ulis Schwäche? Wovor hatte er Angst? Vor dem Hyperraum? Vielleicht konnte er im Raum leben, aber nicht im Hyperraum. Aber Keim wußte, daß das nicht die richtige Lösung war. Der Fremde konnte jederzeit Woon zwingen, das Schiff aus dem Hyperraum in den normalen Raum zu transponieren. Fürchtete er vielleicht den Tod selbst? Wenn ja, dann folgte daraus, daß man ihn doch töten konnte. Keim atmete tief durch. Vielleicht war es das, was er Uli voraus hatte – die Bereitwilligkeit zu sterben. Der Gedanke wurde zur Gewißheit. Für einen Menschen bedeutete der Tod einen schweren Verlust; was mußte er erst für jemanden bedeuten, der praktisch unsterblich war? Vielleicht war der Tod seine Waffe. »Weshalb?« fragte der Fremde. Seine Stimme klang schärfer. »Das wirst du kurz vor deinem Tod erfahren.« »Schwachkopf!« Henry Fong preßte die Lippen aufeinander. Sein Kopf schwenkte herum, immer weiter. Ein Knirschen! Keim sah einen Moment lang die vorquellenden Augen des Historikers, dann sank Fongs Kopf zur Seite. Ihm war übel. Hatte er in diesem Augenblick Fongs Tod beigewohnt, oder war der Asiate bereits gestorben, als Uli von ihm Besitz ergriff? Wenn das letztere zutraf, dann waren Kimbrough, Woon, Coulter – alle, die dem Fremden zum Opfer gefallen waren – wandelnde Tote. Aber der Fremde hatte Angst vor dem Sterben. Das wußte er nun sicher. Er zwang sich, ruhig, logisch, vernünftig zu
denken, Schritt für Schritt zu wiederholen, was er von Uli wußte. Er mußte seine Waffen vorbereiten und den Fremden zu einer Entscheidung zwingen. Und er mußte es bald tun. Der Weg zum Imperium durch den Hyperraum war nicht weit. »Roger?« rief Lara ängstlich. »Gib mir noch einen Augenblick Zeit!« entgegnete er ungeduldig. Er brauchte Zeit, er mußte sich an jede Einzelheit im Zusammenhang mit dem Fremden erinnern. Dunkle Schatten flohen durch die Abgründe des Universums – was hatte das zu bedeuten? Gab es noch andere Wesen außer Uli? Die logische Antwort mußte ja sein, denn welche Lebensform existierte ohne Artgenossen? Aber Yozell, Kimbrough und Bascomb hatten behauptet, Uli sei ein Einzelwesen. Was war also mit den anderen seiner Rasse geschehen? Ein dunkler Planet unter einer sterbenden Sonne; riesige Gebäude, halb zerfallen – konnte Uli der einzige Überlebende einer verheerenden Katastrophe sein? Ein kleiner ovaler Körper, verborgen in einer dunklen Schublade – war das die äußere Gestalt des mächtigsten Gehirns im Universum? Wenn ja, dann konnte Uli sich nicht bewegen, dann war er völlig auf seine Wirte angewiesen. Keim konzentrierte sich. Uli befand sich an Bord des Schiffes, ein kleiner, ovaler Körper, nahezu unsichtbar. Unsterblich? Wie sollte man einen Unsterblichen töten, vor allem einen Unsterblichen, den das Vakuum nicht umbrachte? Aber Tlo, Glomar und Xexl waren gestorben! Wie? Sie überquerten weite Abgründe… Er schnippte mit den Fingern; nun wußte er Bescheid. Der Tod war diesem sogenannten Unsterblichen gewiß. Tod dem Fremden! Und Tod dem Schiff! Er holte tief Atem. Tod Lara und Robin und Harlan Duvall – Tod den namenlosen Männern, die angstvoll in ihren Verstecken kauerten. Aber das Imperium würde leben. Das allein zählte.
Tod! Er sann über das Wort nach. Aber mußten sie wirklich sterben? Angenommen, im letzten Augenblick – die Hoffnung flackerte auf, wurde schwächer, flackerte von neuem auf. Würde es ihm gelingen, den Fremden zu überlisten? Wenn ja, dann kam vielleicht er ums Leben, aber die anderen konnten fliehen. Lara, Robin, Duvall, eine Handvoll Besatzungsmitglieder – sie zumindest würden zum Imperium zurückkehren. Aber er mußte den Fremden in sein Inneres lassen! Er mußte ihm einen Plan enthüllen, der nur ein Scheinplan war. Vielleicht konnte er Uli bluffen. Dann warf Keim einen Blick auf den toten Henry Fong und zuckte zusammen. Im Augenwinkel sah er eine Bewegung. Er riß den Kopf herum. Ein Metallschreibtisch am anderen Ende des Zimmers schwebte in der Luft. Keim warf sich flach zu Boden. Im nächsten Moment sauste der Tisch an der Stelle vorbei, wo er eben gestanden hatte. »Roger!« schrie Lara, als sie den Aufprall hörte. Keim richtete sich auf und sah, daß Henry Fong von dem Möbel erdrückt worden war. Übelkeit packte ihn. Im gleichen Augenblick öffnete Lara die Verbindungstür und starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Er rief ihr eine Warnung zu, und im gleichen Moment jagte der Schreibtisch von neuem auf ihn zu. Keim wich aus. Ein schwerer Stuhl segelte durch das Zimmer. Wieder sprang Keim zur Seite. Die Gedankenmacht! Es war wieder wie im Wald – die Antwort des Fremden auf seine Drohung. Duvall war neben Lara getreten und starrte wie hypnotisiert die umherfliegenden Gegenstände an. »Hinaus, bevor das Zimmer detoniert!« schrie Keim. »Mein Gott, was ist das?« flüsterte Duvall. »Psychokinese«, schrie er. »Verschwindet!« Im gleichen Moment wurde die Labortür aus den Angeln gerissen und
wirbelte auf ihn zu. Eine lange Werkbank, die dem Biologen zur Untersuchung seiner Exemplare gedient hatte, brach aus der Wand und begann mitten in der Luft zu kreisen. »Hinlegen!« schrie Keim. Lara warf sich flach auf den Boden und rollte zur Ausgangstür. Die Werkbank kreiste dicht über ihr. Duvall zerrte Robin nach unten. Als sie zögerte, rief er: »Rasch, sonst kommst du hier um!« In panischer Angst folgte sie Lara. Ein Stuhl traf Duvall, ließ ihn gegen die Wand taumeln. Blutend erhob er sich. Mit ein paar schnellen Schritten lief er in den Schlafraum und holte seinen Verbandkoffer. Das Blut auf seiner Stirn vermischte sich mit Schweiß. Auf dem Bauch robbte er bis zur Tür. »Sie läßt sich nicht öffnen!« rief Lara. Sie hatte sich halb aufgerichtet und rüttelte an der Tür. Die Werkbank kreiste immer noch dicht über den beiden Frauen. Duvall hob den Laser, zielte auf die Scharniere. Die Tür fiel nach innen und wurde von der Werkbank zerschmettert. Scharfe Metallsplitter jagten durch das Zimmer. Keim drückte sich flach zu Boden und folgte den anderen in den Korridor. Eine Metallkante traf ihn an der Schulter und schleuderte ihn zurück. Stöhnend kroch er weiter. Duvall zerrte ihn ins Freie. »Mein Gott, was geht hier vor?« Die Stimme des Arztes bebte. »Später.« Keim schüttelte halb betäubt den Kopf. »Wir müssen eine neue Kabine finden, rasch!« »Meine Räume!« schlug Lara vor. »Nein. Dort war Fong.« Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Sie mußten einen Ort finden, den der Fremde nicht kannte oder wo er sie nicht vermuten würde. Das Splittern und Krachen in der Kabine verriet ihm, daß Uli ihre Flucht noch nicht entdeckt hatte. Lara schrie auf. Keim riß die Waffe hoch. Eine Möwe flog auf ihn zu. Wieder berührten eisige Finger sein Gehirn.
Instinktiv drückte er ab. Der Vogel stürzte mit einer versengten Schwinge zu Boden. Noch einmal schoß Keim. Ihm kam zu Bewußtsein, was geschehen konnte, wenn ein Strahl die Außenwand beschädigte. Sobald der Druck fiel, versiegelten automatische Sicherheitsschleusen das benachbarte Gebiet. Jeder, der sich in dieser Zone aufhielt, mußte sterben. Daran hatte er noch nicht gedacht. Es ließ seine Drohung dem Fremden gegenüber lächerlich erscheinen. Ob Uli Bescheid wußte? Natürlich – Kapitän Woons Gedächtnisspeicher hatten diese Daten sicher enthalten. Aber weshalb hatte Uli den Rumpf nicht beschädigt? Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sie auf diese Weise umzubringen. Keim zitterten die Knie. Aber er besaß selbst eine Menge Informationen, die er selten anwandte, die fast nie an die Oberfläche seines Bewußtseins traten. Vielleicht galt das auch für den Fremden; er hatte das Wissen gespeichert, zog es aber nicht zu seinen Überlegungen heran. Außerdem mußte Uli tatsächlich damit rechnen, daß Roger das Schiff vernichtete. Ein Mann mit einem Laser – ein Mann, der den Tod nicht scheute – konnte die Energiekonverter zerstören, die Brücke, die empfindlichen Instrumente, die ein Schiff erst funktionsfähig machten. Einige dieser Instrumentenabteile ließen sich überhaupt nicht versiegeln. Die Klimaanlage im Heck! Ganz plötzlich kam ihm dieser Gedanke. Sie versorgte die Kommandobrücke, die Energiekonverter und andere Bedienungszentren. Wenn der Rumpf in ihrer Nähe beschädigt wurde, war das Schiff zum Untergang verurteilt. Die Klimaanlage stellte eine doppelte Waffe dar: der Fremde würde sich hüten, sie zu zerstören, während Keim mit ein paar Handgriffen den Untergang des Schiffes herbeiführen konnte. »Wir müssen weg von hier«, sagte Duvall nervös. Keim schlug den Weg zur Klimaanlage ein, nachdem er sich davon
überzeugt hatte, daß dort keine Gefahr lauerte. Er erklärte rasch, was er im Sinn hatte. Duvall nickte zustimmend. Nachdem sie zwei Decks tiefer geklettert waren, hörten sie das leise Summen der Maschinen. Das Geräusch klang beruhigend. Noch einmal sondierte Keim die Umgebung. Als alles still blieb, öffnete er die Luke und betrat die Klimaanlage, gefolgt von seinen Gefährten. Sobald sie in Sicherheit waren, fragte der Arzt schweratmend: »Mein Gott, Roger, was war das?« »Die Gedankenmacht – das sagte ich Ihnen doch.« Robin wurde bleich. »Wenn man davon hört, stellt man sie sich nicht so schlimm vor«, gab Duvall zu. »Und wie sieht der Fremde nun aus?« »Er ist ein kleines, ovales Geschöpf, nahezu unsterblich und telepathiebegabt. Er kann aus Menschen Roboter machen, er kann im Vakuum leben, und er besitzt die Gedankenmacht. Gegen dieses Wesen müssen wir ankämpfen.« Duvalls Schultern wirkten müde und gebeugt. »Das ist unmöglich.« »Kurz bevor wir hier Unterschlupf fanden, kam mir ein Gedanke«, sagte Keim mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Wenn wir Glück haben, schaffen wir es.« »Wenn wir Glück haben!« Keim sah Lara an. »Sterben kann man nur einmal.«
ELF
Die Telepathen waren entkommen! Uli kauerte in der winzigen Schublade und versuchte krampfhaft, seine Furcht zu unterdrücken. Als er durch Henry Fongs Augen entdeckt hatte, daß sich die Telepathen in Yozells Kabine befanden, war er einer Panik nahe gewesen. Wahrscheinlich hätte er die Alpha Tauri sofort vernichtet, wenn sie nicht im Hyperraum gewesen wäre. Aber er merkte bald, daß die Telepathen von seiner Anwesenheit in Yozells Kabine nichts ahnten. Eine Zeitlang war er überzeugt davon gewesen, daß die umherfliegenden Möbel sie getötet hatten, aber der kurze Blick durch die Augen des Vogels hatte ihn eines Besseren belehrt. Und der männliche Telepath schien entschlossener als zuvor, ihn zu töten. Das Entsetzen, das Uli durchzuckte, nahm allmählich Gestalt an – die Gestalt des Todes. Nicht mehr sein! Von neuem packte ihn das Grauen. Uli bemühte sich, seine Gefühle zu ordnen. Er glaubte nicht mehr, daß der Telepath das Schiff zerstören würde, nicht, seit er wußte, daß Uli im Vakuum überleben konnte. Viel schlimmer war die ruhige Zuversicht des Mannes, daß er ihn töten konnte. Das und die ungeheure Stärke seiner Telepathie erregten Uli. Er überlegte. Bisher hatte jeder dieser Menschen Widerstand geboten, wenn er ihn zum Wirt machte. Aber Uli hatte den Widerstand rasch gebrochen. Nur bei dem Telepathen wollte es ihm nicht gelingen. Der Gedanke beunruhigte ihn. Natürlich konnte er ihn im Laufe der Zeit erobern wie die anderen. Aber er hatte jenseits der Telepathie noch etwas gespürt, eine größere Macht. So
merkwürdig es klang, der Telepath schien nichts davon zu wissen. Er hatte zwar akzeptiert, daß er in die Zukunft sehen konnte, aber er hatte keine Ahnung vom vollen Potential seines Verstandes. Uli verdrängte diese furchterweckenden Gedanken. Er war der Herr des Todes, nicht dieser Telepath. Trotz dieser Versicherung wurde er sein Unbehagen nicht los. Weshalb zeigte der Telepath eine solche Verachtung dem Tod gegenüber? Er hätte es nicht geglaubt, wenn er nicht selbst das Innere des Mannes durchforscht hätte. Die Furcht vor dem Tod stützte den Selbsterhaltungstrieb, steuerte die Entscheidungen, war der gemeinsame Faktor jeglichen Handelns. Wie konnte man das Verhalten eines Lebewesens vorhersagen, wenn es keine Angst vor dem Tod kannte? Das vor allem entsetzte ihn – daß er nicht voraussehen konnte, was der Telepath als nächstes versuchen würde. Vielleicht sollte er Woon befehlen, das Schiff aus dem Hyperraum zu holen. Dann konnte er es zerstören. Aber noch während er darüber nachdachte, wußte er, daß er so etwas nur im äußersten Notfall tun würde. Die Erinnerung an das Schicksal seiner Gefährten warnte ihn davor; es gab einfach zu viele Gefahren in der Tiefe des Raumes. Allerdings glaubte er auch nicht, daß der Telepath das Schiff vernichten würde. Wahrscheinlich versuchte er, die Kommandobrücke zu erobern und die Alpha Tauri auf Krado 1 oder einen anderen Planeten außerhalb des Imperiums zu bringen. Das schien der logische Weg. Aber dachte der Telepath logisch? Logisch – ja. Vorhersehbar – nein. Das war ein gewaltiger Unterschied. Uli wußte eines mit absoluter Sicherheit: der Telepath mußte sterben. Aber es wäre auch interessant gewesen, sein Inneres zu erforschen, seine Stärken und Schwächen auszuloten, sein volles Potential zu ergründen. Vielleicht konnte er sich die Fähigkeiten des Menschen zunutze machen und den eigenen
telepathischen Bereich über die Sichtweite ausdehnen. Das gelang ihm natürlich auch mit Hilfe der Wirtspersonen – aber sie waren ein Teil seines Wesens, eine Erweiterung seines Ichs. Keims Talente gingen ein gutes Stück darüber hinaus. Doch das war nur ein kleiner Triumph. Konnte der Telepath etwa Planeten bis ins Mark erschüttern? Niemals! Und das gab Uli seine Selbstsicherheit zurück. Nur – weshalb war es Yozell, Kimbrough, Bascomb und Henry Fong nicht gelungen, den Mann zu töten? Irgendwie hatte er entdeckt, daß sie seine Agenten waren, und er hatte gehandelt, bevor sie ans Ziel gelangten. Uli beschloß, seine Opfer menschenähnlicher zu machen – er mußte mehr auf Bewegungen, Gesichtsausdruck und Stimme achten. Und auf dieses Ding, das der Telepath »innere Leere« nannte. Wenn ihm das gelang, konnte er den Telepathen leicht und verhältnismäßig sicher beseitigen. Er mußte Roger Keim töten. Jetzt, jetzt, jetzt… Das Wort hämmerte in seinem Gehirn.
Keims Gedanken schweiften durch das Schiff. Die Abteile der Umgebung und die höherliegenden Gänge waren leer. Er spürte niemanden auf der Brücke. Auch die kleine Kabine, die Woon benutzte, wenn sich das Schiff im Hyperraum befand, schien leer zu sein. Er wußte, daß das nichts bedeutete. Nicht, solange sich der Fremde auf den lautlosen Schwingen der Möwen durch die Korridore bewegte. Tief in den Eingeweiden des Schiffes spürte er Leben. Zwei Männer – nein, drei – verbargen sich hinter den großen Energiekonvertern. Zwei Männer in einem Lagerraum, einer in der Mannschaftskombüse, einer in der Vorratskammer. Ihre angsterfüllten Gedanken streiften ihn. Gelegentlich flackerten Bilder auf und verschwanden wieder. Wie viele von der Mannschaft lebten noch? Es war unsinnig, sich darüber
Gedanken zu machen. Wenn etwas geschah, dann mußte es durch die vier Wissenschaftler geschehen, die der Fremde noch nicht eingefangen hatte. Durch ihn. Er warf Lara einen Blick zu, während er noch über seinen Plan nachdachte. Eine gefährliche Sache, aber er mußte sie riskieren. Schließlich sagte er: »Ich gehe auf die Brücke.« Sie wollte widersprechen, doch dann schwieg sie. Mühsam erhob sich Duvall. Er hatte sich von seinen Verletzungen immer noch nicht recht erholt. »Ich komme mit«, erklärte er. Keim schüttelte den Kopf und berichtete von seinem Plan. »Wartet hier, bis ihr von mir hört«, beendete er seine Erläuterungen. »Wie denn?« fragte Duvall. »Das Interkomsystem funktioniert nicht mehr.« Keim sah Lara an. »Ich werde es schon schaffen.« »Du kannst nicht allein gehen«, protestierte sie. »Für zwei ist es noch gefährlicher.« Er fügte telepathisch hinzu: »Bleibe ständig in Verbindung mit mir. Das ist wesentlich.« »Ich mache mir dennoch Sorgen.« Ihr Lächeln wirkte verkrampft, und sie konnte den Schmerz in ihren Augen nicht verbergen. Keim blieb an der Tür stehen und sah den Arzt an. Duvall verstand die unausgesprochenen Worte und sagte: »Gehen Sie ruhig.« Noch einmal wandte sich Keim Lara zu. »Nimm dich in acht.« »Und du sollst heil zurückkommen.« »So bald wie möglich.« Er verließ lautlos die Klimaanlage und schloß die Luke hinter sich. Er wußte, daß er nicht aus Edelmut allein ging; es lag einfach daran, daß er Kräfte besaß, die den anderen fehlten. Wenn er versagte, hatten sie die schwierigste Aufgabe zu lösen. Er kletterte verstohlen die Leiter hinauf. Seine Gedanken forschten in alle Richtungen. Zwei Männer in einem
Vorratsraum, einer bei den Hilfsaggregaten – er spürte sie schwach, während er auf das Quartier der Wissenschaftler zueilte. Hier ein Mannschaftsmitglied, dort noch eines – vielleicht lebten mehr, als er vermutet hatte. Ein beruhigendes Gefühl. Was machte der Fremde jetzt? Immer wieder lenkte ihn diese Frage ab. Was würde der Fremde als nächstes versuchen? Wo würde er zuschlagen? Von den Antworten hing vielleicht sein Leben ab – das Bestehen des Imperiums. Doch es kamen keine Antworten. Er war ein Blinder in einem unbekannten Labyrinth, und irgendwo in diesem Labyrinth lauerte ein Raubtier. Nein, er mußte diese Gedanken beiseiteschieben. Seine Aufgabe war es jetzt, die Brücke zu erreichen. Und dann? Nun, er würde sehen. Konnte ein Mensch Uli überlisten? Gefahr! Wie eine spitze Nadel durchdrang ihn das Signal. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Jemand befand sich ganz in der Nähe! Er blieb stehen, den Laser schußbereit. Seine Finger verkrampften sich, als das Gefühl der Gefahr wuchs. Ein Bild flimmerte, verschwand wieder. Keine Wirtsperson! Es konnte sich nicht um ein Opfer Ulis handeln, sonst hätte er die Gedanken nicht so deutlich gespürt. Seine Hoffnung stieg. Da, im oberen Korridor! Seine Gedanken konzentrierten sich auf dieses Gebiet. Ein schimmerndes Bild tanzte in seinem Gehirn, wurde stärker. Graues Haar, ein rundes Gesicht mit sanften blauen Augen. Burl Ashford! Die Erkenntnis ließ ihn zusammenzucken. Er hatte den Geologen längst zu den Toten gerechnet; nun war er hier, allein, und schlich durch den oberen Korridor. Keim drang tiefer in seine Gedanken ein. Ashford war verwirrt und ängstlich, aber der Fremde schien nicht Besitz von ihm ergriffen zu haben. Wie war ihm die Flucht gelungen? Keim konnte das Wunder noch nicht glauben. »Lara?« rief er telepathisch. »Ja?« Die Antwort
kam sofort. Lara war nervös. »Ich habe Burl Ashford ausfindig gemacht.« »Gehört er – zu den anderen?« »Seine Gedanken sind frei.« Er merkte, daß seine Antwort ausweichend klang, und fügte hinzu: »Nein, ich glaube nicht.« »Sei vorsichtig«, bat sie. Er spürte ihre Unschlüssigkeit. Zum einen empfand sie es als ihre Pflicht, dem Geologen zu helfen, zum anderen befürchtete sie, er könnte doch ein Opfer des Fremden sein. Aber sie hatte recht; man durfte keinem trauen. »Ich werde ihn genau überprüfen«, versprach er. Er konzentrierte sich wieder auf den Geologen. Das Bild tauchte von neuem auf, bis es Keims Inneres ausfüllte. Ein trauriges Gesicht, verwirrt, ängstlich – die Züge verschwammen und zeigten sich dann wieder stärker. Ashfords Gedanken waren zusammenhanglos. Er erreichte den Treppenschacht, bewegte sich zögernd nach unten. Keim beobachtete ihn mit Unbehagen. Die Schritte des Geologen wirkten nicht mechanisch – eher vermittelten sie den Eindruck, als habe Ashford einen Schock erlitten. Vielleicht war er wie Duvall von dem Fremden angegriffen worden und hatte sich befreien können. Oder vielleicht hatte er das Blutbad in den Kabinen entdeckt. Jedes dieser Dinge genügte, um sein sonderbares Benehmen zu erklären. Impulsiv lief Keim ihm entgegen. »Burl?« rief er scharf, als der Geologe vor ihm auftauchte. Ashford hob ruckartig den Kopf. Er sah den Telepathen ungläubig an. Obwohl er keine Waffe trug, hielt Keim den Laser bereit. »Roger!« Schwankend kam Ashford näher. »Sind Sie es wirklich?« »Natürlich«, erwiderte Keim. Er näherte sich vorsichtig dem Geologen.
»Mein Gott, Roger, was geht hier vor?« Ashfords Blicke streiften den Laser, wandten sich wieder ab. Er schien die Waffe nicht bemerkt zu haben. »Es ist eine fremde Intelligenz an Bord«, erklärte Keim. Er achtete genau auf die Reaktion. »Eine fremde Intelligenz?« Ashfords Körper zuckte wie im Krampf. »Das habe ich befürchtet. Ich warnte Woon. Ich warnte die anderen. Sie wissen es, Roger. Ich sagte ihnen, sie sollten starten, bevor es zu spät sei. Ich flehte Woon an, aber er wollte nicht auf mich hören.« »Wo ist er?« »Kapitän Woon? Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß alle tot sind. Wir haben ein Totenschiff.« Seine Augen rollten wild. »Sie müssen mir helfen, Roger.« Keim spürte Mitleid. Ashford war schwächer als die meisten anderen. Im Augenblick schien er einem Zusammenbruch nahe. »Nicht alle sind tot«, sagte er. »Es – leben noch einige?« Das aschgraue Gesicht nahm Farbe an. »Ja.« »Wo, um Himmels willen?« Keim zögerte. Ashford enthielt keine Spur von dem Fremden. Er schien lediglich unter den Schrecken zu leiden, die er durchgemacht hatte. Wenn man ihn noch lange umherwandern ließ, fiel er dem Fremden bestimmt in die Hände. Entweder das, oder er würde von den verstörten Matrosen umgebracht. Die angstvolle Miene des Geologen überzeugte ihn schließlich. »Gehen Sie nach unten, in die Heck-Klimaanlage«, sagte er. »In die Heck-Klimaanlage?« fragte Ashford verwirrt. »Lara ist mit einigen anderen dort. Wissen Sie, wo sich der Sektor befindet?« »Unter den Wohnquartieren, nicht wahr? Ja, ich erinnere mich.« »Seien Sie sehr vorsichtig, Burl.«
Ashford bedankte sich leise und stolperte auf den Treppenschacht zu. Keim sah ihm beunruhigt nach, bis er verschwunden war, dann nahm er Verbindung mit Lara auf. »Ashford ist zu euch unterwegs«, erklärte er. »Beobachte ihn ständig.« »Ich weiß.« Ihre Stimme klang zweifelnd. »Konntest du unsere Gedanken erkennen?« »Nur die deinen. Seine waren zusammenhanglos. Glaubst du wirklich, daß er frei ist?« »Er befindet sich vermutlich in einem Schockzustand. Wenn Duvall ihm ein Mittel dagegen gibt, stellt er vielleicht eine wertvolle Hilfe dar. Trotzdem würde ich den Laser nicht aus der Hand legen.« »Wir tun, was wir können«, versprach sie. Keim lenkte seine Aufmerksamkeit auf den leeren Korridor. Die düstere Nachtbeleuchtung verlieh der Umgebung ein verlassenes, trostloses Aussehen. Keim sah nicht in die Kabinen. Er wußte, was er darin finden würde. Immer wieder durchforschten seine Gedanken die Korridore. Aus entlegenen Winkeln des Schiffes erreichten ihn entsetzte, angsterfüllte Eindrücke. Wo war der Fremde? Diese Frage drängte sich beharrlich in den Vordergrund, als er von einem Deck ins nächste vordrang. Schließlich hatte er das Ende des Treppenschachtes erreicht. Hier befanden sich nur ein paar Kabinen für den Kapitän und seine wichtigsten Offiziere. Die Männer benutzten sie, wenn sich das Schiff in der Tiefe des Raumes befand. Dahinter waren der Kartenraum, die Astrogationsbrücke und die Kommandobrücke. Eine Warnung schrillte auf. Er blieb stehen, den Körper starr vor Anspannung. Er konnte keine Gedanken spüren, aber jemand war da. Die Warnung verstärkte sich noch. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Eine Wirtsperson, aber wer? Unwichtig, sagte er
sich vor. Er konnte jetzt nicht mehr zurück. Ganz langsam ging er die Stufen hinauf. Er sah einen Hinterkopf, schmale Schultern – Jonley, der Wartungs-Ingenieur. Als er seine Gedanken zu lesen versuchte, traf er die gleiche innere Leere wie bei all den anderen an. Lautlos holte er den Betäubungsstrahler aus der Tasche. Befanden sich noch viele Wirtspersonen außer Jonley auf der Brücke? Zwei, drei, ein Dutzend? Er schlich weiter. Jonley drehte sich zur Seite. Sein kantiges Profil wurde sichtbar. Keim hob den Betäubungsstrahler und drückte auf den Auslöseknopf. Als hätte Jonley seine Anwesenheit gespürt, wandte er sich um. Die präparierte Nadel jagte aus Keims Waffe und bohrte sich in Jonleys Brust. Jonley sah den Telepathen starr an. Mechanisch griff er nach der Nadel und riß sie aus der Haut. Einen Augenblick später gaben seine Beine nach. Er stürzte die Treppe hinunter. Mit einem raschen Blick stellte Keim fest, daß er das Bewußtsein verloren hatte. Aber der Fremde würde Bescheid wissen! In einer Hand den Laser, in der anderen den Betäubungsstrahler, so schlich er die Treppe hinauf. Schritte klangen auf, und wieder kam ein Kopf in Sicht. Noch bevor Keim die Nadel abschoß, erkannte er, daß es sich um Paul Rayfield, den Physiker, handelte. Rayfield hob einen Laser, und seine Blicke richteten sich auf den Telepathen. Eis drang in Keims Gehirn. Durch reine Willenskraft warf er sich hinter Jonleys leblosen Körper. Die Deckfarbe warf Blasen, als ein Strahl dicht neben Keim in die Trennwand schlug! Rayfield zielte mit eckigen Bewegungen noch einmal; er traf Jonley. Keim spürte einen brennenden Schmerz im Nacken. Dann brach Rayfield stöhnend zusammen. Keim spürte, wie ihm die Zeit davoneilte. Er richtete sich auf; im gleichen Moment wirbelte der starre Körper Rayfields auf ihn zu. Der Telepath warf sich zur Seite.
Seine Schulter prallte gegen die Trennwand. Sekunden später schlug Rayfields Körper auf dem unteren Deck auf. Keim nahm die letzten Stufen mit ein paar Sprüngen und rannte in den Korridor, der zur Brücke führte. Kimbrough kam mit raschen, plumpen Bewegungen aus einer der kleinen Kabinen. Er hatte den Laser schußbereit. Er wollte eben stehenbleiben und zielen, als ihn Keims Nadel in die Brust traf. Er sank in die Knie. Im nächsten Moment schwebte er in der Luft. Diesmal war Keim darauf vorbereitet. Als der Körper des Wissenschaftlers in seine Richtung geschleudert wurde, warf er sich flach zu Boden. Kimbrough schlug gegen eine Wand. Ein Laserstrahl zischte an Keims Schulter vorbei. Er entdeckte, daß Coulter, der Erste Ingenieur, ebenfalls aus einer der Kabinen getreten war. Ein in dieser Situation geradezu lächerlicher Gedanke schoß ihm in den Sinn: der Fremde war alles andere als ein Taktiker. Mit einer raschen Handbewegung zielte er auf Coulter. Er drückte ab – die Waffe war leer. Wütend schleuderte er sie dem Ingenieur ins Gesicht. Coulter taumelte und sackte zusammen. Keim rannte weiter. Er hatte das scheußliche Gefühl, daß die Ereignisse zu rasch aufeinander folgten. Waffen auf der Brücke! Ein fehlgelenkter Laserstrahl, und alles war vorbei! Gewiß, die Sicherheitstüren würden sich sofort schließen, aber es waren keine Mechaniker in der Nähe, die den Schaden beheben konnten. Ein Sternenschiff mit einer demolierten Kommandobrücke! Vor ihm tauchte Kramer, der Zweite Astrogator, auf. Füße trampelten über das Deck. Keim wußte instinktiv, daß Coulter ihn verfolgte. Warum hatte er den Mann nicht getötet? Der Astrogator riß eine Waffe hoch. Im gleichen Moment, in dem er schoß, hechtete Keim auf seine Beine los. Jemand schrie auf, während Kramer gegen die
Instrumentenbank stolperte. Der Astrogator stürzte und fiel auf Keim. Der Telepath benutzte den Mann als Schild. Und dann erkannte er, daß er einen Toten gegen sich drückte. Ein Laserstrahl hatte den Astrogator in die Brust getroffen. Keim stand mühsam auf und wollte sich Coulter zuwenden. Der Ingenieur lag in einer Blutlache. Nun verstand er. Coulter und Kramer hatten einander getötet, als sie ihn treffen wollten. Schweratmend sah er sich auf der Brücke um. Nur die Instrumentenbank war beschädigt. Auf den Bildschirmen zeigte sich die Leere des Hyperraums – eine ebenholzschwarze, sternenlose Nacht, die dem Menschen immer noch ein Geheimnis war, auch wenn er sie als Abkürzungsweg zwischen den Sternen benutzte. Handelte es sich um ein Phänomen der Zeit, des Raumes oder um eine Kombination dieser beiden Faktoren? Niemand wußte es. Keim hatte keine Ahnung, welche Position die Alpha Tauri relativ zum echten Universum einnahm. Der Zweite Astrogator hatte dieses Wissen mit in den Tod genommen. Aber es war im Moment auch nicht wichtig. Immer noch mit klopfendem Herzen untersuchte er die Instrumentenbank. Wie die meisten Leute, die längere Zeit auf Raumschiffen zugebracht hatten, kannte er die Funktionen der Armaturen. Er umklammerte einen roten Hebel und drückte ihn nach unten. Die Kommandobrücke schien sich zu drehen; nach einiger Zeit ließ das Schwindelgefühl nach. Er warf einen Blick auf die Bildschirme. Tausend Lichter tanzten – die Lichter der Sterne. Die Alpha Tauri war aus dem Hyperraum auf getaucht.
ZWÖLF
Harlan Duvall wurde von einem heftigen Schwindel erfaßt. Er wußte, daß die Alpha Tauri den Sprung aus dem Hyperraum geschafft hatte. Er warf einen Blick auf die anderen. Lara fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe Angst«, flüsterte Robin. Er nickte verständnisvoll. Der Übergang war gefährlich gewesen. Es geschah zwar äußerst selten, daß ein Schiff mit einem Stern kollidierte, aber wenn es auch nur in der Nähe eines Gestirns auftauchte, konnte es in seinen Anziehungsbereich geraten und verbrennen. Als einige Zeit verging und die Temperatur nicht anstieg, atmete er erleichtert auf. »Geschafft.« Er versuchte seiner Stimme einen lakonischen Klang zu geben. »Selbst die normalen Übergänge jagen mir Angst ein«, gestand Lara. Er wußte, daß sie es sagte, um Robin zu trösten. Im gleichen Augenblick klopfte jemand an der Tür. Er riß den Kopf hoch und legte den Finger auf den Auslöser des Lasers. »Nein«, rief Lara scharf. Sie wußte, daß es sich um Burl Ashford handelte, aber sie konnte es nicht verraten, ohne gleichzeitig ihre Telepathie preiszugeben. Einen Moment lang kämpfte sie mit sich selbst. »Es könnte einer der anderen sein«, flüsterte Robin erschreckt. »Lara«, rief jemand mit heiserer Stimme, »Roger hat mich hergeschickt.« »Burl Ashford!« erklärte sie. Erleichtert ging sie an die Tür und sah auf den Korridor hinaus, bevor die anderen sie zurückhalten konnten. Als sie die Augen des Geologen sah, spürte sie einen leichten Schock. Zögernd trat sie zurück.
Ashford folgte ihr. Seine blauen Augen waren tiefe, dunkle Höhlen. Sie wollte schreien und konnte nicht. »Burl!« Stöhnend richtete sich Duvall von seinem Stuhl auf. Er nahm die Hand nicht vom Betäubungsstrahler. Der Geologe sah aus, als käme er aus der tiefsten Hölle. »Tot, alle tot«, stöhnte Ashford. Seine Grabesstimme ließ Duvall frösteln. »Wie sind Sie entkommen?« fragte er. »Ich lief davon, versteckte mich…« »Wo trafen Sie Roger?« »Er – fand mich.« Ashford wandte den Blick von Lara ab und sah den Arzt an. »Er – hat mich hierhergeschickt.« Die Worte kamen sonderbar stockend. Seine Lippen zuckten wie im Krampf. Dann riß er die Augen auf und begann zu schwanken. »Was ist denn?« Duvall bekam ihn noch am Arm zu fassen, bevor er zusammenbrach. Stöhnend lag Ashford am Boden. Duvall rollte ihn herum und fühlte seinen Puls. »Das Amoid!« sagte er scharf. Robin kramte nervös seinen Koffer durch, bis sie das belebende Mittel fand, das sie schon bei Henry Fong angewandt hatten. Duvall hielt dem Geologen das Fläschchen unter die Nase. Ashfords Körper zuckte und bäumte sich auf; ein erstickter Schrei kam von seinen Lippen. Immer wieder ballten sich die Hände zu Fäusten. Schließlich öffnete er die Augen und sah den Psychomediziner verwirrt an. »Mein Gott«, schluchzte er. »Was ist denn?« Duvall versuchte seine Angst zu verbergen. »Der Fremde.« Ashford setzte sich mühsam auf und sah sich entsetzt um. Von neuem konnte man Furcht in seinen Blicken lesen. Irgendwie erinnerte er an ein gefangenes Tier. »Sie sind hier sicher.« Der Arzt legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Sagen Sie uns, was Sie über den Fremden wissen.« »Mein Verstand«, stöhnte Ashford.
»Ist der Fremde in Ihrem Innern?« Duvalls Hand zuckte zur Waffe. »Nein, nein, er ist fort. Oh, Gott!« Er begann am ganzen Körper zu zittern. »Nehmen Sie sich zusammen«, fauchte Duvall. »Wir müssen erfahren, was geschehen ist.« »Meine Güte, die Erinnerungen…« »Erzählen Sie!« Duvall wurde immer unruhiger. »Tot, tot.« Ashford schluchzte mitleiderregend. »Shepherd, Diamond, Carol Rusnak, Hester Kane – alle tot, ermordet.« Robin trat mit schreckgeweiteten Augen zurück. »Woher wissen Sie das?« fragte Duvall. Ashford wandte den Blick ab. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Und dann verstand Duvall. »Mein Gott, Sie…« »Nein, nein«, schrie der Geologe auf. Er sah den Psychomediziner beschwörend an. »Wer war es dann? Sprechen Sie doch, Mann!« Duvall packte den Geologen an den Schultern und schüttelte ihn. »Das Ding – das Ding in meinem Gehirn«, stieß Ashford hervor. Er sah flehend zu Duvall auf. »Ich konnte nicht anders, es beherrschte mich völlig. Mein Verstand war vom Körper völlig abgeschnitten. Ich sah, was vorging, ich wußte, was es bedeutete, aber ich konnte nichts tun. Überhaupt nichts. Mein Gott, Harlan, mein Körper war eine Maschine. Ich ging und ging und hielt den Laser in der Hand. Das Ding in meinem Innern zwang mich dazu…« Er unterbrach sich und schluchzte erstickt. »Sie haben die Leute umgebracht?« Duvalls Stimme zitterte vor Grauen. Er ließ den Betäubungsstrahler fallen und griff nach dem Laser. »Nicht ich, es war das Ding in meinem Innern. Verstehen Sie das nicht?« fragte Ashford flehend. »Ich – war nicht mehr ich selbst. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich mich aus weiter Ferne betrachten, aber ich besaß keinerlei Einfluß über mein
Handeln. Himmel, es war entsetzlich. Kimbrough, Woon, Coulter und Jonley fühlten das gleiche.« »Sie mordeten auch?« Duvall konnte kaum sprechen. Ashford nickte ruckartig. »Ich teilte ihre Gedanken. Bascomb brachte Ross Janik um. Aber es war nicht mehr Ross Janik; es war das Ding in seinem Innern. Es sieht wie ein großes Ei aus. Uli, so heißt es. Ich erinnere mich daran, denn ich war auch in seinem Innern.« »Was ist es? Um Himmels willen, sprechen Sie, Burl.« »Ich war in seinem Innern«, wiederholte Ashford. Seine Lippen zuckten vor Selbstmitleid. Duvall schüttelte ihn heftig. »Was ist es?« »Es kam – es kam vom Rande des Universums. Ich sah eine sterbende Sonne; alle Sterne dort starben.« Der Geologe sah ihn mit einem Gemisch aus Verwunderung und Entsetzen an. »Es kam vor Milliarden – Milliarden Jahren. Insgesamt waren es neun – angetrieben durch die Kraft der Gedanken. Sie ernährten sich von Strahlung. Mein Gott, ich sah Galaxien untergehen!« Wieder wurde er von Furcht geschüttelt. »Sprechen Sie vernünftig, Burl!« »Aber das tue ich doch!« Ashfords Lippen zitterten. »Die anderen starben, aber Uli kam durch. Er will die Galaxis erobern.« Duvall fragte ruhig: »Wo ist Uli jetzt? Versuchen Sie sich zu erinnern.« »Er, er – « Ashford richtete sich auf; seine Augen waren weit aufgerissen. »Himmel, wir müssen fort von hier, in die Rettungsboote. Es ist unsere einzige Chance.« Er wankte auf die Tür zu. Duvall hielt ihn mit Gewalt zurück. »Wo ist Uli?« »Lara! Das war mein Auftrag. Ich mußte Lara finden.« »Lara?« Der Psychomediziner schnellte herum. »Er schickte mich hierher, zu ihr.« Ashford wurde von der Erinnerung überwältigt. »Er hat mich verlassen und ist auf sie übergegangen. Er ist jetzt in ihrem Innern!« Robin schrie auf.
»Wir müssen fliehen.« Ashford riß sich von dem Arzt los und rannte zur Tür. Jetzt erst bemerkte Duvall, daß sie offenstand. »Lara?« Er wirbelte herum, sah nur Robin. »Sie ist fort«, flüsterte Robin. »Lara?« rief er. Sein Schrei hallte in den Gängen wider, bis er immer schwächer wurde. Nichts rührte sich. Lara war verschwunden.
Keim warf einen Blick auf die Peilungs-Bildschirme. Sonnen tanzten wie Glühwürmchen in der Nacht. Einige funkelten allein, verloren; die anderen drängten sich in ganzen Scharen zusammen. Weit, weit hinaus reichten sie in den niemals endenden Raum, bis zu den milchigen Schatten der fremden Galaxien. Galaxien, immer neue Sternenreiche. Der Anblick machte ihn schwindlig. Er hatte keine Ahnung, in welchem Teil des Raumes sich die Alpha Tauri befand; das Instrumentenbord gab ihm nicht den geringsten Hinweis. Aber das war auch unwichtig. Er brauchte jetzt nur eine Sonne, eine Sonne mit Planeten. Das letztere war für seinen Plan von entscheidender Bedeutung. Er mußte einen scheinbaren Fluchtweg besitzen, auch wenn es in Wirklichkeit keinen gab. Keinen für den Fremden. Und er brauchte Glück. Sehr viel Glück. – Er fand seine Sonne. Grünlichweiß, verloren im Geflimmer der übrigen Sterne, hätte er sie wohl nie entdeckt, wären die empfindlichen Instrumente nicht gewesen. Sie bestimmten, daß diese Sonne dem Schiff am nächsten lag. Sie besaß fünf Planeten. Trotz der immensen Entfernung zeichneten die Schwerkraft-Detektoren ihre Massen auf. Jeder der drei äußeren Planeten besaß einen Mond. Ein ganz gewöhnliches System also, aber Keim fand es begehrenswerter als jedes andere.
Wie nahe war die grünlichweiße Sonne? Er wußte es nicht genau, aber wenn er die Daten richtig verstand, betrug die Entfernung den Bruchteil eines Standard-Lichtjahres. Im normalen Raum eine gewaltige Strecke – im Hyperraum gefährlich nahe. Wenn er mehr Zeit gehabt hätte, wäre es vielleicht möglich gewesen, die Zahlen genauer zu berechnen, aber er konnte nicht warten. Der Fremde wußte, wo er sich befand, was er versuchte – er wußte es, seit Jonley ihn auf der Treppe entdeckt hatte. Und bestimmt leitete Uli schon jetzt Gegenmaßnahmen ein. Wie sie aussehen würden, konnte Keim nur ahnen. Es war nicht schwer, Kurs auf die neue Sonne zu nehmen; Keim mußte lediglich das Leitsystem mit den Schwerkraft-Detektoren koppeln. Es dauerte wenige Sekunden, bis er die nötigen Handgriffe vorgenommen hatte. Sehr viel länger mußte er warten, bis die Kurskorrekturen durchgeführt waren, denn die Veränderung erfolgte Schritt für Schritt. Man wollte das Schiff durch die zusätzliche Beschleunigung nicht überbelasten. Während der Wartezeit versuchte er mit Lara Verbindung aufzunehmen, aber es gelang ihm nicht. Angst stieg in ihm hoch, als er das Gebiet der Klimaanlage sondierte und nur wirre Gedankenfetzen empfing. Gewaltsam wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der grünlichweißen Sonne zu. Endlich war das Schiff genau auf sie ausgerichtet. Er wußte, daß er ein Risiko einging, als er den roten Hebel wieder nach oben schob; die Sterne erloschen. Während ihn ein Schwindelgefühl erfaßte, tauchte die Alpha Tauri in den Hyperraum. Auf den Teleschirmen spiegelte sich die furchtbare Leere eines sonnenlosen Universums. Im nächsten Moment drückte er den Hebel nach unten – Schwindel, eine gigantische grünweiße Sonne. Protuberanzen jagten in den Raum. Plötzlich erfaßte ihn die Angst, daß er sich verrechnet hatte. Er warf einen raschen Blick auf die Instrumentenbank. In
bezug auf ihren Durchmesser besaß – die Sonne eine Winkelentfernung von gut anderthalb Grad. Zusammen mit Spektraltyp und Temperatur ergab das eine winzige Sicherheitstoleranz – aber immerhin eine Toleranz. Nun mußte er schnell arbeiten. Er stellte die maximale Abbremsung ein und polarisierte die Bildschirme, um die Helligkeit zu dämpfen. Doch das nützte wenig; das grelle Licht trieb ihm Tränen in die Augen. Die Spektralanalyse ergab, daß es sich um eine verhältnismäßig junge Sonne handelte, nicht älter als ein paar Milliarden Standardjahre. Flammend, versengend, instabil – in diese Hölle tauchte die Alpha Tauri. Keim wandte den Blick ab. Die Zeiger der Strahlungsmesser kletterten nach den ersten wilden Schwankungen beständig höher. Sie näherten sich allmählich der roten Markierung. In der Stille hörte er die Pumpen des Kühlsystems arbeiten. Sie versuchten die ansteigende Innentemperatur auszugleichen. Ein weiteres Instrument zeigte an, daß die Alpha Tauri eine Bahn um den innersten Planeten eingeschlagen hatte. Keim warf einen Blick in den Korridor und die angrenzenden Räume. Alles war leer. Kramer und Coulter lagen noch am Boden, wie sie gestürzt waren. Keim wunderte sich, weshalb der Fremde sie nicht als Wurfgeschosse benutzt hatte. Vermutlich befürchtete er, daß er die Instrumente beschädigen könnte. Wo war Uli? Noch wichtiger – wo befanden sich seine Wirte? Die zusätzliche Belastung des Kühlsystems hatte dem Fremden sicher verraten, was sich abspielte. Wenn er sein Spiel nicht verlieren wollte, mußte er bald Gegenmaßnahmen ergreifen. Da Keim keine Ahnung hatte, wie der Fremde angreifen würde, wählte er eine Position ganz in der Nähe der wichtigen Instrumente. Uli konnte die Gedankenmacht nur anwenden, wenn er Keim durch die Augen eines Wirtes sah. Und selbst dann war ein Angriff dicht neben den Instrumenten gefährlich.
Schritt für Schritt überlegte der Telepath, wie sich die folgenden Geschehnisse abspielen würden. Der Fremde schickte bestimmt wieder einen Wirt auf die Brücke. Woon? Soviel er wußte, hatte nur Woon das Gemetzel überlebt. Wer auch der Abgesandte sein mochte, er mußte ihn gefangennehmen, ohne in seinen Sichtbereich zu geraten, und ihn als Kontaktperson zu Uli benutzen. Er mußte dem Fremden sagen, daß er im Glutofen der grünlichweißen Sonne sterben würde. Und, nur für einen Augenblick, mußte er dem Fremden gestatten, in seine Gedanken einzudringen. Er sollte dort eine Fluchtmöglichkeit erkennen. Sofort danach wollte er die Verbindung wieder abbrechen. Nur – würde ihm das gelingen? Daran wollte er nicht denken. Als die Minuten vergingen, stieg Keims Verzweiflung. Er mußte Woon ausfindig machen und mit seiner Hilfe Kontakt zu dem Fremden aufnehmen. Woon lebte noch; davon war er überzeugt. Der Fremde brauchte ihn, sonst konnte die Alpha Tauri niemals auf einem Planeten landen. Ob Woon in seiner Kabine neben der Kommandobrücke wartete? Keim suchte den Betäubungsstrahler, doch dann fiel ihm ein, daß die Waffe leer war, daß er sie Coulter entgegengeschleudert hatte. Der Laser nützte ihm nichts; er brauchte Woon lebend. Duvall? Erregung stieg in ihm hoch. Wenn Duvall den Kapitän ausfindig machte, ihn betäubte und zur Brücke brachte – ja, so konnte es klappen! Er wollte Lara den Plan mitteilen, wenn es ihm gelang, sie zu erreichen. Ein Blick auf die grelle Sonne auf den Teleschirmen zeigte ihm, wie knapp die Zeit war. »Lara?« Keine Antwort. Er versuchte es noch einmal. Stille. Was konnte geschehen sein? Burl Ashford! Blitzartig fiel ihm der Name ein. Aber Ashford hatte nicht die Anzeichen einer Wirtsperson aufgewiesen. Oder war es dem Fremden gelungen, seine Roboter zu perfektionieren? Die Möglichkeit ließ ihn zusammenzucken. Vielleicht sollte er den Fremden
vergessen und mit den anderen in den Rettungsbooten fliehen. Sein Spiel war reiner Wahnsinn! Aber nein, der Fremde mußte getötet werden. Es gab keinen Kompromiß. Er mußte Uli finden und dann umbringen. Oder er konnte abwarten. Abwarten und in der Sonne sterben. Ganz plötzlich war er wieder ruhig. Er wollte noch einen letzten Versuch wagen. Wo befand sich Woon? Jemand mußte den Kapitän finden. »Lara?« Als er sie telepathisch nicht erreichte, strengte er seine Hellseherkräfte an. Nichts zeigte sich in seinem Innern. Er wandte seine Aufmerksamkeit Duvall zu. Ein wilder Gedankenwirrwarr, überlagert von Gefühlen. Duvall und Robin Martel! Er schloß die Augen und bemühte sich, über das Stöhnen der Pumpen hinwegzuhören. Duvall in panischer Angst. Robin einer Hysterie nahe. Burl Ashford! Irgend etwas war mit Burl Ashford los. Ashford und Lara! Die Fragmente, die ihn erreichten, waren so emotionsgeladen, daß er sie nicht entziffern konnte. Mein Gott, was war mit Lara? Ihn fror, obwohl ihm am ganzen Körper der Schweiß stand. Wieder rief er sie. Die Stille beängstigte ihn. Auch als er die nähere Umgebung durchforschte, erhielt er keine Antwort. Ein Summen ertönte. Er riß den Kopf hoch. Auf der Instrumentenbank blinkte ein rotes Licht. Gleichzeitig leuchtete die Zahl 4 auf. Er beugte sich über die Anzeigetafel. RETTUNGSBOOTE, las er. Rettungsboot 4! Jemand hatte ein Rettungsboot gestartet. Verzweiflung ergriff ihn. Es war möglich, vielleicht möglich, daß ein Rettungsboot den innersten Planeten erreichte… wenn dieser Planet an der richtigen Stelle der Bahn lag! Er hatte das nicht überprüft, aber er glaubte nicht an soviel Glück. Außerdem war es wenig wahrscheinlich, daß ein so sonnennaher Planet günstige Umweltbedingungen aufwies. Angenommen, es kam noch jemand auf diesen Gedanken? Seine Knie zitterten. Die Alpha Tauri besaß nur vier der
großen Rettungsboote. Wenn er sie alle verlor, mußte sein Plan scheitern. Er studierte die Funkanlage und drehte einen Schalter herum. Ein grünes Licht flammte auf. »Rettungsboot 4, Rettungsboot 4«, rief er. »Hier spricht Roger Keim. Zurückkommen, Rettungsboot 4.« Er wartete, dann wiederholte er seine Worte. Der Empfänger begann zu knistern und zu rauschen. »Roger!« Eine heisere Stimme meldete sich. »Fliehen Sie, solange es möglich ist. Warnen Sie die anderen. Duvall wollte nicht auf mich hören. Roger, verstehen Sie mich?« Burl Ashford! Keim schüttelte ungläubig den Kopf. Dann war also Ashford nicht dem Fremden zum Opfer gefallen? Er konnte wieder hoffen, daß Lara am Leben war. »Kehren Sie zum Schiff zurück!« rief er. »Nein, nein, nein!« stieß Ashford aufgeregt hervor. »Es ist ein Totenschiff, Roger! Eine fremde Intelligenz befindet sich an Bord. Mein Gott, sie sind tot, alle tot…« »Wo ist Lara?« unterbrach er ihn. »Lara…« Ein tiefes Stöhnen kam über den Lautsprecher. Dann hörte Keim ein Knacken. Ashford hatte aus irgendeinem Grund die Verbindung unterbrochen. Er schaltete die Außenkameras ein, die bei Kopplungs- und Anlegemanövern benutzt wurden. Das Rettungsboot zeigte sich steuerbords. Sein Kurs wich langsam von dem der Alpha Tauri ab. Wußte Ashford, welches Ziel er ansteuerte? Keim konnte es sich nicht vorstellen. Aber eines stand fest: er raste in den sicheren Tod. Als er sich wieder auf die Klimaanlage konzentrierte, sah er einen Moment lang verschwommen die verängstigten Gestalten von Duvall und Robin Martel. Aber wo blieb Lara? Ihm kam der Gedanke, daß Ashford Lara gezwungen hatte, ihn zu begleiten, aber er schüttelte ihn sofort wieder ab. Lara
mußte an Bord sein! Zögernd wandte er sich den anderen Problemen zu. Wo war der Fremde? Die Pumpen des Kühlsystems arbeiteten immer schneller. Die Strahlungsmesser zeigten bereits die rote Zone an. Wußte der Fremde, was hier vorging? Wenn ja, und wenn er im Raum leben konnte, weshalb hatte er dann das Schiff nicht zerstört? Oder erkannte er, daß er unweigerlich in den Anziehungssog der Sonne gelangen würde? Wieder ein Summen. Die Zahl 2 blinkte auf. Zwei Rettungsboote unterwegs, zwei noch in den Luken! Er unterdrückte mühsam seine Angst. Als es ihm nicht gelang, die Verbindung herzustellen, versuchte er das Innere des Bootes telepathisch zu sondieren. Schwach zeichnete sich ein Bild in seinem Gehirn ab – drei Mannschaftsmitglieder, die sich bis dahin in den Maschinenräumen versteckt gehalten hatten. Das kleine Boot schlug einen rechtwinkeligen Kurs zur Bahn der Alpha Tauri ein. Es wirkte wie ein heller kleiner Punkt in der Dunkelheit. War es Verzweiflung, welche die Männer zu diesem Schritt bewogen hatte, oder reine Panik? Das Boot wurde immer kleiner, bis es mit der Nacht verschmolz. Keim war verzweifelt. Seine Pläne ließen sich nicht verwirklichen. Konnte der Fremde keinen Kontakt mit ihm aufnehmen? Waren alle seine Wirte tot? Er konnte sich nicht vorstellen, daß der Fremde sich selbst so wehrlos machte. Woon, dachte er, Woon muß noch leben. Aber weshalb wartete der Fremde so lange? Er dachte mit Unbehagen über diese Frage nach. Wenn der Fremde nicht sofort auftauchte, blieb nur eine Möglichkeit: die Alpha Tauri verbrannte in der Glut der grünlichweißen Sonne. Und bevor Keim starb, wollte er noch einmal Lara sehen. »Lara!« Er versuchte mit aller Kraft, sich ihr Bild vor Augen zu führen. »Lara? Lara? Lara?«
»Roger!« Ganz schwach klang sein Name auf. »Hier, Roger!« Er sah, wie sie ihm entgegenlief.
DREIZEHN
»Lara!« Keim ging ihr entgegen. »Ist alles in Ordnung?« »Ja, ich…« Sie sah an seiner Schulter vorbei auf die Teleschirme: die grelle Sonne, die ihre Protuberanzen in den lackschwarzen Himmel schleuderte. Dann wandten sich ihre Blicke ihm zu. Eisige Finger berührten sein Inneres. Verwirrt drehte er sich um. Der Korridor war leer. »Roger…« »Der Fremde!« stieß er hervor. »Das Schiff! Du mußt…« »Still!« Er horchte angespannt; seine Gedanken suchten die Brücke ab. Keine Bewegung, keine sichtbare Gefahr, und doch das eisige Gefühl in seinem Gehirn. Wieder hörte er das Alarmsignal in seinem Innern. Der Fremde war gekommen, aber wo befand er sich? Welche Form hatte er angenommen? Er sah sich nervös um. Laras Augen, blau und sonderbar leer, musterten ihn unentwegt. Ihr Gesicht wirkte starr. Plötzlich packte ihn die eisige Kälte mit geradezu physischer Gewalt. Und noch während er sich gegen den Gedanken wehrte, wußte er es: Lara befand sich in der Gewalt des Fremden. Und Ashford hatte sie angesteckt! Der Gedanke verschwamm, als kalte Nadeln in seinem Verstand wühlten; ein feuriger Schmerz durchzuckte seine Nerven. Winzige, schwer faßbare Erinnerungen huschten durch sein Bewußtsein, tanzten hin und her. Bilder, die er kannte und doch nicht kannte. Uli drängte sich in sein Inneres! Er kämpfte mit aller Macht dagegen an. Die eisigen Finger umfaßten ihn, ließen ihn frei, umfaßten ihn von neuem. Er sah…. den Planeten einer erkaltenden Sonne, gewaltige Gebäude, die von einer toten Ebene aufragten – und in ihnen Reihe um Reihe seltsamer, ovaler Geschöpfe in Silberurnen…
»Nein, nein«, rief er, aber die Vision blieb, vermischte sich mit seinen eigenen Erinnerungen, wurde ein Teil seines Ichs. Vage sah er Laras Augen – blau, groß, leer, reglos – auf sich und in sich gerichtet. Und die seltsamen Wesen in den Urnen waren eins mit ihm. Jedes steuerte das Leben von tausend Planeten durch die Gehirne von Wirtspersonen; jedes errechnete den Tod von Millionen Sonnensystemen, als die nuklearen Feuer am Rande der Galaxis schwächer wurden und starben; jedes wiegte sich in dem Wissen, daß einige Auserwählte der Rasse, hinausgeschleudert durch die vereinte Gedankenmacht, auf die Mitte des Universums mit seinen zahlreichen Galaxien zustrebten, um dort von neuem Leben zu säen… Nicht seine Erinnerungen! Er stieß wild um sich, als er spürte, daß etwas Grauenhaftes seinen Körper und seine Gedanken fesselte. Etwas Fremdes! Instinktiv kämpfte er dagegen an, stieß es von sich, aber es klammerte sich zäh fest; klammerte sich fest und breitete sich aus. Es brachte Bilder mit, verschwommen anfangs, dann mit zunehmender Schärfe… Telepathisch mit seinen Gefährten verbunden, raste er durch die Abgründe des Universums. Ihre Gehirne waren ein Gehirn, ein Rassengehirn. Tlo, Glomar, Xexl, Zimzi – neun insgesamt – alle neun in verschiedenen Richtungen unterwegs. Manchmal gingen Botschaften zwischen ihnen hin und her. Er war… Nein, nicht er! Das Ding in seinem Innern! Uli! Er kämpfte verzweifelt dagegen an. Laras Gesicht hing wie ein Gemälde vor ihm. Eisige Nadeln trafen ihn. Tausend Finger tasteten tiefer und tiefer und tiefer und… Ewigkeiten vergingen. Gedanken aus weiter Ferne, ein schwaches Flüstern, während er mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit dahinjagte, ein Flüstern, das immer schwächer wurde, je dunkler sich die Sonne am Rande des
Universums färbte. Turmhohe Gebäude versanken im Staub der Zeit. »Nicht meine Erinnerungen!« schrie er. Weshalb schrie er sich selbst an, weshalb verleugnete er sein Erbe? Sein Erbe, seines. Er erinnerte sich… Er jagte weiter, einer von neun, und in seinem Gehirn wurden Geburt und Tod von Materie aufgezeichnet. Der Tod schlug zu, wieder und wieder, und er war allein. Der einzige seiner Rasse im Universum! Wenn er nun starb? Nicht mehr sein – diese Angst nagte unaufhörlich an ihm, während er durch endlose Zeit, endlosen Raum wanderte. Vor ihm schimmerte ein kleiner Lichtstreifen in der ewigen Dunkelheit. Zeitalter vergingen; der Streifen wuchs, nahm die Form einer flachen Scheibe an, von der Spiralarme ausgingen. Milliarden Sonnen. Er war der einzige! Durch ihn würde die Rasse der Qua zu neuem Leben erwachen. »Keim, rette das Schiff!« Der Gedanke knisterte durch sein Gehirn, übertönte die Erinnerungen, hob sein eigenes zersplittertes Bewußtsein in den Vordergrund. Der Befehl war aus der Tiefe seines Ichs gekommen, so daß er ihn akzeptiert hätte, wenn nicht sein Name gefallen wäre. Etwas befand sich in seinem Innern! Er versuchte es einzukreisen, zu isolieren, es von seinem Bewußtsein zu trennen. Er sah einen kleinen ovalen Körper in einer dunklen Schublade. Ganz schwach kam ihm zu Bewußtsein, was und wo die Schublade war. »Keim!« »Nein!« Er stieß das Wort lautlos hervor, trotzig. Er versuchte, seine letzten logischen Gedankengänge zusammenzuhalten. Ein Fragment seines Gehirns, versteckt hinter Barrieren, beobachtete den Fremden, widersetzte sich ihm. Er mußte die Barrieren verstärken. »Rette das Schiff, oder du stirbst!« schrie ein Teil seines Ichs. »Du stirbst mit mir«, entgegnete die Stimme jenseits der Barriere.
»Du hast nicht die Absicht zu sterben, Keim.« »Nein?« Das Fragment jenseits der Barriere war mit einem Mal sehr vorsichtig. »Du vergißt, daß ich in dir bin. Du möchtest, daß ich in einem Rettungsboot fliehe. Danach kannst du das Schiff zurück in den Hyperraum lenken.« Keim stöhnte. Mit solcher Leichtigkeit hatte der Fremde seinen Plan durchschaut! Er mußte die Barriere verstärken, seine eigenen Gedanken schützen. »Ich gehe nicht in den Hyperraum«, keuchte er. »Wir sterben beide! Hörst du das, Uli? Wir sterben beide.« Schmerz zuckte durch seine Waden. Die Muskeln verkrampften sich, bis er in die Knie ging. Einen Moment lang sah er Laras entsetztes Gesicht. Sie wußte Bescheid! Der Fremde war auf ihn übergegangen und hatte sie freigegeben. Er schloß diesen Gedanken jenseits der Barriere ein. Wenn sie fliehen konnte, gab es eine winzige Chance, den Fremden zu besiegen. Er konnte seinen Plan ändern… aber es gelang ihm nicht, die Gedanken auszustrahlen. Er konnte nicht, konnte nicht! »Roger!« Laras Schrei kam wie ein Echo von weit, weit weg. »Sag Duvall – die Rettungsboote!« Ein betäubender Schmerz erfaßte ihn, lähmte seine Nerven. Er merkte, daß Lara hochgehoben und gegen eine Wand gedrückt wurde. Schwankend richtete sie sich auf. In ihren Zügen spiegelte sich Entsetzen. Er wandte mühsam den Blick von ihr ab, damit der Fremde nicht sehen konnte, wo sie sich befand. »Rette das Schiff!« Der Befehl donnerte gegen die Barrikaden wie eine gewaltige Flutwelle. »Du mußt sterben, Uli!« Trotzig schleuderte er dem Fremden seine Drohung entgegen. Er wußte, daß seine letzte Widerstandskraft rasch zerbröckelte. Im nächsten Augenblick spürte er von neuem den Schmerz. Seine Bauchmuskeln
verkrampften sich – ein feuriger Schmerz durchbohrte ihn. Die Arme wurden ihm auf den Rücken gedreht. Aber noch hatte ihn Uli nicht vollständig erobert! Verzweifelt klammerte er sich an dieses Wissen, während er sich bemühte, das eigene Bewußtsein zu stärken. Er wollte nicht nachgeben wie die anderen. Lieber starb er… Der Schmerz verschwand, wie er gekommen war. »Du würdest auch das Mädchen töten?« Die plötzliche psychologische Verlagerung traf Keim überraschend. Der Fremde hatte also erkannt, daß er Lara gegenüber tiefe Gefühle hegte. Das erklärte auch, weshalb er sie nicht wie Henry Fong getötet hatte. Das darfst du nicht denken! Er versuchte den Gedanken zu verschleiern, aber es war bereits zu spät. »Genau!« sagte der Fremde. »Sie wird auf die gleiche Weise sterben!« »Du kannst sie nicht sehen!« »Ich werde dich zwingen, sie anzusehen, Keim!« »Lara, lauf, lauf, lauf…« Während er diesen Befehl aussandte, wurde sein Körper herumgeschleudert und sein Kopf hart nach oben gerissen. Er schloß die Augen, aber der Fremde war stärker. Seine Lider öffneten sich gegen seinen Willen. Aber Lara verschwand bereits im Korridor. Sie hatte noch vor seiner Warnung die Flucht ergriffen. »Zu spät«, stieß er hervor. »Wenn das Schiff stirbt, muß auch sie sterben.« Beruhige dich, dachte er, halte ihn hin, halte ihn hin. Gib Duvall die Chance. »Wie soll ich das Schiff retten, wenn ich mich nicht rühren kann?« fragte er. »Rühr dich!« Die eisigen Finger zogen sich zurück; aber seine Muskeln blieben verkrampft. Würde Duvall verstehen? Er versuchte die Frage zu unterdrücken. »Was verstehen?« befahl die Stimme in seinem Innern scharf. »Lara?« Er versuchte verzweifelt Kontakt aufzunehmen. »Das Rettungsboot! Sag Duvall…« Die Botschaft wurde
unterbrochen. Sein Körper wirbelte auf die Instrumentenbank zu und wurde mit roher Gewalt mitten in der Luft angehalten. Eine Zeitlang schwebte er über dem Deck, dann fiel er zu Boden. Wieder riß ihn Uli hoch. »Sieh die Instrumente an!« Der Befehl erinnerte an einen Donnerschlag. Wieder war sein Inneres geteilt. Die Fragmente bekämpften einander. Der Fremde durfte die Instrumente nicht durch die Gedankenmacht bedienen. Er mußte in eine andere Richtung sehen. »Sieh die Instrumente an!« Von neuem der Donner. Nicht hinsehen! Nicht hinsehen! schrie er sich selbst zu. Nicht hinsehen! Er hörte das Knirschen der Pumpen, das Knistern der sich ausdehnenden Hitzeschilde. Seine Lider hoben sich; er kniff die Augen zusammen. Nicht hinsehen! »Schnell!« befahl der Fremde. Keim spürte eine Angst hinter dem Befehl, der Uli beinahe menschlich erscheinen ließ; zumindest kannte er Furcht. Furcht, das war es – er mußte die Furcht des Fremden einbeziehen und sich damit mehr Zeit erkaufen. Als er die Augen öffnete, gelang es ihm, nicht auf den roten Hebel zu blicken, der die Alpha Tauri zurück in den Hyperraum schleudern würde. Stück für Stück zwang Uli seinen Kopf in Richtung der Instrumente. Die Strahlungsanzeiger bewegten sich im roten Feld. Konzentriere dich auf die Strahlungsmesser! Duvall muß möglichst viel Zeit gewinnen. »Du hast keine Zeit mehr.« Die Stimme in seinem Innern klang angespannt, ängstlich. »Das Mädchen stirbt, wenn du sie nicht rettest.« »Sie stirbt nicht!« Keim spürte plötzlich Triumph, daß es dem Fremden nicht gelang, ihn völlig zu kontrollieren. Weiterkämpfen, nicht lockerlassen! »Sie stirbt nicht?« Die Stimme war vorsichtig. »Sieh doch!« Mühsam wandte Keim den Blick zu den Bildschirmen der
Außenkameras. Eine Weile – sie erschien ihm wie eine Ewigkeit – sah er den glatten Rumpf des Schiff es und die einsamen Lichter der Sterne dahinter. »Lara?« rief er ihr zu. »Du versuchst mich zu betrügen. Keim.« »Nein, warte!« Weiterhin sah er die Bildschirme an. »Lara?« »Roger…« Ein schwaches Flüstern. Ein Summen. »Was war das?« fragte der Fremde. »Warte«, wiederholte Keim. Eine der Schleusen öffnete sich, und ein Rettungsboot glitt hinaus, ein schmaler Pfeil im weiten Raum. »Sie sind sicher!« schrie Keim. »Wir beide müssen sterben, Uli, aber sie sind sicher!« »Es ist zu spät für die Rettungsboote, Keim. Das habe ich in deinen Gedanken gelesen.« »Tatsächlich?« Er lachte spöttisch. »Ich kenne deine Gedanken, Keim. Die Boote sind zum Untergang verurteilt.« »Du kannst nur einen Teil meines Inneren sehen, Uli. Die andere Zone durchdringst du nicht. Ich kann falsche Gedanken an die Oberfläche zwingen.« »Mich belügst du nicht, Keim.« »Aber ich habe es bereits getan. Ich bin ein T-Mann, Uli. Du liest nur diejenigen meiner Gedanken, die ich dir zuwerfe.« »Das stimmt nicht!« Die Verblüffung und Angst in Ulis Erwiderung gaben Keim einen Hoffnungsschimmer. »Drei Rettungsboote sind fort, Uli. Glaubst du, die Leute würden angesichts des sicheren Todes fliehen?« »Steuere das Schiff in den Hyperraum!« Das Kommando knisterte in seinem Gehirn; sein Kopf wurde herumgerissen. Die Lider zuckten und öffneten sich. Stechende Schmerzen jagten durch seine Nervenstränge. »Du wirst sterben, Keim!« Die Drohung enthielt Angst, Panik.
»Das sagte ich dir doch!« Er grinste hart. Gleichzeitig gelang es ihm, den Kopf ein Stück zur Seite zu reißen. Der kleine Sieg schürte seine Hoffnung. »Dann stirb!« kreischte der Fremde. Im nächsten Moment war alles in seinem Innern still; die eisige Kälte verschwand, und er konnte klar denken. Der Fremde war fort! Fort, ohne ihn zu bestrafen! Weshalb hatte er ihm nicht den Hals umgedreht wie Weber und Henry Fong? Er legte sich zurück und horchte auf das Pochen seines Blutes. Was spürte er? Sein Inneres! Trotz der Klarheit war noch etwas anderes da. Eine Sperre, eine Art Barriere, die er nicht durchdringen konnte. Es war wie der Geruch, der einer Raubtierhöhle anhaftete, lange nachdem ihre Bewohner ausgezogen waren. Aber hatte Uli ihn wirklich verlassen? Er wollte sich erheben und stellte zu seinem Entsetzen fest, daß die Muskel ihm den Dienst versagten. Übelkeit und heftige Schmerzen begleiteten jede Bewegung. Er legte sich ganz ruhig hin, in der Hoffnung, dadurch die verkrampften Muskeln zu entspannen. Was lag hinter der Barriere? »Dann stirb!« Die letzten Worte des Fremden fielen ihm wieder ein. Hatte Uli ein Gedankenfragment in seinem Innern gelassen, um ihn zur Untätigkeit zu zwingen? Er konnte sich nicht rühren, konnte den roten Hebel nicht erreichen – er mußte hilflos zusehen, wie die Alpha Tauri ins Herz der flammenden grünweißen Sonne tauchte. Nein, halt, da war noch Lara! Der Fremde hatte nichts von ihr gewußt; er mußte annehmen, daß sie sich mit Duvall auf dem Rettungsboot befand. »Lara?« Verzweifelt rief er nach ihr. »Roger, ich versuche schon so lange, dich zu erreichen!« Hysterie begleitete ihre Gedanken. »Wo ist Duvall?« »Im Rettungsboot, aber ich sah Kapitän Woon.« »Wo?« Seine Hoffnungen stiegen.
»Er kam von der Brücke. Offenbar versteckte er sich in seiner Kabine.« Die Brücke! Keim spürte einen Stich. Weshalb hatte der Fremde Woon nicht befohlen, ihn zu töten? Vielleicht hatte er befürchtet, daß bei einem Kampf die Instrumente beschädigt würden. Außerdem war Woon die letzte seiner Wirtspersonen. Er konnte es nicht riskieren, ihn auch noch zu verlieren. »Wo ist Woon jetzt?« »Ich weiß nicht. Ich floh, als ich ihn sah.« Woon! Er schloß mühsam die Augen und versuchte sich das Bild des Kapitäns vorzustellen. Ein dichter Nebel lag vor seinem Innern, und winzige Gestalten huschten hin und her. Er versuchte die Schatten festzuhalten, sie aus dem Nebel zu reißen. Eine Bewegung! Ein Mann! Er lief durch den Korridor. Woon! Mit leerem Gesichtsausdruck und mechanischen Bewegungen näherte er sich Yozells Kabine. Zu Ulis Versteck! Keim konnte sich den ovalen kleinen Körper in der dunklen Schublade genau vorstellen. »Roger, was ist? Fehlt dir etwas?« Laras Gedanken unterbrachen die Vision. Gleichzeitig wurde ihm klar, daß sie nur noch ganz wenig Zeit zur Verfügung hatten. »Komm auf die Brücke, rasch!« Immer noch waren seine Muskeln verkrampft, und feurige Schmerzen zuckten durch seine Glieder, als er sich zu bewegen versuchte. War der Fremde noch in seinem Innern, oder hatte er sich zurückgezogen? Doch für diese Gedanken war jetzt keine Zeit. Das Knirschen der Pumpen klang zu laut. Mühsam zog er sich hoch und stolperte auf die Funkanlage zu. Während er mit einer Hand die Kante der Konsole umklammerte, drückte er mit der anderen einen Schalter herunter. »Duvall«, krächzte er, »kommen Sie zurück. Duvall!« »Hier!«
»Steuern Sie sofort das Schiff an!« »Hat der Fremde…« »Schnell!« rief er. Er beobachtete das Rettungsboot auf den Bildschirmen. Langsam schwenkte es herum, bis sein Bug zur Schleuse hinwies. Es glitt in die Öffnung, und die Tür klappte automatisch zu. Während sich Keim an die Bank klammerte, horchte er auf das Stöhnen der erhitzten Rumpfkante, das schrille Pfeifen des Kühl Systems. Er konnte die Strahlungsmesser nicht sehen, aber er wußte, daß die Zeiger sich weit im roten Feld befanden. Weshalb hatte der Fremde ihn nicht umgebracht? Wie hypnotisiert beobachtete er die Bildschirme. Eine Minute verging, noch eine, noch eine. Er war der Verzweiflung nahe, als endlich ein Summen ertönte. Eine Zahl blinkte auf. Einen Augenblick später glitt ein Rettungsboot aus der Schleuse. Neben der Alpha Tauri wirkte es unendlich klein und zerbrechlich. Und wenn nun der Fremde am Leben blieb? Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Wenn das Rettungsboot dem Anziehungsfeld der grünlichweißen Sonne entkam, dann konnte der Fremde eine Ewigkeit im Raum leben. Keim wußte es, daß er Ulis Gedanken geteilt hatte. Gestärkt von den Strahlungen weit entfernter Sterne, konnte er immer tiefer in die Galaxis eindringen, bis er letzten Endes das Imperium erreichte. Trotz der steigenden Hitze zitterte Keim. Aber der Fremde konnte nicht entkommen! Das Rettungsboot wurde immer tiefer in die flammende Sonne gezogen. Uli war zum Sterben verurteilt. Keine Macht des Universums konnte ihn retten. »Roger?« Duvalls Stimme dröhnte durch den Lautsprecher. »Der Fremde ist fort«, stieß Keim hervor. »Er ließ sich von Woon ins Rettungsboot tragen.« »Woon?«
»Er ist so gut wie tot.« Milliarden und Abermilliarden Jahre, dachte Keim mit Entsetzen, und dann in den Flammen einer Sonne sterben. Ashford, Woon, die drei namenlosen Mannschaftsmitglieder – sie mußten das Schicksal des fremden Wesens teilen. Er versuchte sich zu erheben. Er mußte den roten Hebel erreichen. Aber er hatte nicht mehr die Kraft. Wenn Lara sich nicht beeilte… Im gleichen Moment wurde er heftig auf das Deck geschleudert. Die Alpha Tauri bäumte sich auf, und die Instrumentenbank schwankte vor Keims Augen hin und her. Der rote Hebel – er mußte ihn erreichen. Keim fixierte ihn. Hochschieben, hochschieben – das Pfeifen des Kühlsystems, die knirschenden Rumpfplatten… Er mußte den Hebel hochschieben! »Roger!« Laras Gedanken jagten durch sein Inneres. »Die Gedankenmacht!« Die Gedankenmacht! Der Fremde versuchte das Schiff zu vernichten. Irgendwo im Rettungsboot genoß Uli seinen letzten Augenblick der Rache. Die Erkenntnis spornte ihn an. Ruhig! Den roten Hebel hochschieben! Ganz langsam schob er sich hoch, die Blicke auf die Instrumentenkonsole gerichtet. Schwindel erfaßte ihn, schleuderte ihn in einen Strom, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenflössen. Er sah den Rand des Universums, die schwarze Asche der längst erkalteten Sonne, den gigantischen vereisten Planeten, der sie umkreiste – zwei Gespenster in der tiefen Nacht des Raumes. Zu Staub zerfallene Gebäude; die Silberurnen verschwunden; eine vergessene Rasse. Ein sterbender Traum.
Vage erkannte er, daß sich die Erschütterung gelegt hatte. Die grünlichweiße Sonne war von den Bildschirmen verschwunden. Bevor er das Bewußtsein verlor, erkannte er noch, daß die Alpha Tauri sich wieder im Hyperraum befand.
VIERZEHN
Jemand zerrte beharrlich an seinem Arm. Er öffnete die Augen. Zuerst sah er schemenhaft Gesicht und Schultern eines Mannes, der sich über ihn beugte; etwas geschah mit seinem Arm. Nach einiger Zeit erkannte er Harlan Duvall. »Roger?« Er drehte sich um. Laras Stimme klang besorgt und leise. Er lächelte und wollte sich aufrichten, aber Duvall drückte ihn zurück. »Immer langsam«, warnte er. »Ich gebe Ihnen eine Dreifachinjektion unseres Antistrahlungs-Serums.« »Natürlich.« Es war ein herrliches Gefühl, sich wieder rühren zu können. Er hob die Hand und senkte sie langsam. Die Muskeln schmerzten, aber das war alles. Sie befanden sich in Sicherheit! Die flammende grün weiße Sonne war verschwunden, der Fremde war verschwunden. Alles wirkte wie ein furchtbarer Alptraum. »Wir haben es geschafft«, flüsterte er verwundert. »Und das verdanken wir Ihnen!« Duvall zog die Nadel aus seinem Arm und tropfte Siegelflüssigkeit über den Einstich. »Mir?« Keim sah ihn erstaunt an. Duvall nickte. »Sie haben unser Schiffchen gerade noch rechtzeitig in den Hyperraum befördert. Einen Augenblick später, und es hätte die Belastung nicht überstanden.« »Aber ich…« Er sprach nicht weiter. Er erinnerte sich ganz genau, daß er den roten Hebel nicht berührt hatte. Er war eben im Begriff gewesen, sich aufzurichten, als ihn der Schwindel ergriff. »Natürlich hast du es getan, Roger«, sagte Lara telepathisch. »Ich war noch auf dem Wege zur Brücke, als der Übergang erfolgte.«
»Unmöglich!« Er berichtete ihr von seinem Kampf gegen die erstarrten Muskeln. »Dennoch hast du es getan«, beharrte sie. »Wie denn?« »Mit deinen Gedanken.« Die Antwort kam nachdenklich. »Wie meinst du das? Was ist mit meinen Gedanken?« »Dein Inneres hat sich verändert. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich spüre es genau. Du kannst hellsehen und besitzt vielleicht auch die Prekognition. Die letzte Stufe…« »Weiter!« Er wußte, was sie dachte, aber er hielt es für ein Ding der Unmöglichkeit. »Die Gedankenmacht, Roger!« In ihren Augen las er Bedauern. »Das ist unmöglich!« »Wie fühlen Sie sich?« fragte Duvall. Er wußte nichts von der schweigenden Unterhaltung, die zwischen den beiden Telepathen stattfand. Keim bewegte die Arme und Beine und setzte sich schließlich vorsichtig auf. Abgesehen von ein paar schmerzenden Stellen war alles in Ordnung. In Ordnung? Das galt für seinen Körper. Aber wie sah es in seinem Gehirn aus? Immer noch spürte er dieses fremde Etwas, diese Barriere. Der Fremde hatte sie angelegt und zurückgelassen. Jetzt, da er tot war, würde sie wohl immer in Keims Innerem bleiben. »Vielleicht ist es das«, meinte Lara. Er sah sie an. »Die Gedankenmacht?« »Möglich wäre es, Roger.« Sie schien überzeugt davon zu sein, das erkannte er an ihrem Gesichtsausdruck. Und dann merkte er, daß Duvall ihn fragend anstarrte. »Ich fühle mich ausgezeichnet«, sagte er. »Sie brauchen sehr viel Schonung«, erklärte Duvall. Er schloß seinen Ärztekoffer, dann fuhr er fort: »Es sind nur wenige Mannschaftsmitglieder übrig, aber den Sprung ins Imperium schaffen wir schon. Robin kennt sich mit
Mathematik aus und ist überzeugt, daß sie die navigatorischen Probleme lösen kann.« »Das Imperium.« Keim warf einen Blick auf die Bildschirme, auf den dunklen, leeren, schweigenden Hyperraum, den die Wissenschaft immer noch nicht erklären konnte. Irgendwo – vielleicht nicht größer als ein Atom und nicht weiter entfernt als ein paar Zoll – brannte die riesige grünweiße Sonne, in welcher der Fremde umgekommen war. Soviel zur Unsterblichkeit. Duvall verließ die Kabine, so daß er endlich allein mit Lara war. Sie schwiegen lange. Schließlich sagte Lara: »Du darfst keine Angst haben, Roger.« »Angst?« Er wandte sich ihr zu. »Angst vor dem Ding in deinem Innern.« »Du glaubst…« »… daß es sich um die Gedankenmacht handelt? Ja, es ist die einzige Möglichkeit.« Die Gedankenmacht! Wieder erinnerte er sich an die Szene. Er hatte den roten Hebel angestarrt und mit aller Kraft daran gedacht, daß er ihn hochschieben müßte. Und er hatte ihn hochgeschoben! War das ein neues Stadium, oder hatte er die Tat vollbracht, weil immer noch ein Fragment von Uli in seinem Gehirn steckte? »Ist das nicht gleichgültig?« fragte sie leise. »Der Fremde wollte dein Inneres fesseln. Statt dessen gelang es dir, einen Teil seines Wesens einzufangen.« »Unmöglich!« »Entweder das, oder du hast neue Bereiche angezapft – jenseits des Hellsehens.« Er gab keine Antwort. Statt dessen wandte er den Blick der Instrumentenbank zu. Die Zeiger der Strahlungsmesser rührten sich nicht. Er konzentrierte sich, beobachtete einen der Zeiger genau – ein heftiger Ausschlag ins rote Feld, und dann pendelte die Nadel zurück.
Lara umkrampfte seine Hand. »Erschreckt es dich?« Er schüttelte langsam den Kopf. Was war der Mensch? Ging die Evolution stetig aufwärts, bis das Universum starb? Was stellte er selbst dar? Hatte der Fremde latente Kräfte an den Tag geholt? Oder hatte er ihm ein Stück seines eigenen Wissens verliehen? War das ein neuer Beginn? Er starrte in die Leere des Hyperraums, ohne die Antwort zu finden.
Keim erwachte plötzlich. Die Decke über ihm war in Dunkelheit gehüllt. Er lag angespannt da und überlegte, was ihn so abrupt aus dem tiefen Schlaf gerissen hatte. Weshalb hatte der Fremde ihn nicht umgebracht? Die Frage kam ihm in den Sinn, und er merkte, daß sie ihn unterbewußt die ganze Zeit über gequält hatte. Der Fremde! Ganz plötzlich war er überzeugt davon, daß der Fremde noch lebte. Aber das Rettungsboot hatte ihn in das Inferno der grün weißen Sonne getragen? Uli hatte keine Fluchtmöglichkeit besessen. Weshalb also seine Unruhe? Er zwang sich, die letzten Augenblicke noch einmal Schritt für Schritt, in aller Ruhe zu durchdenken – als der Fremde im Rettungsboot floh, als er versuchte, die Alpha Tauri mit Hilfe der Gedankenmacht zu zerstören. Die Alpha Tauri zerstören? Er sah gigantische Stämme, entwurzelt, durch die Luft geschleudert. Er sah, wie ein Wald vom Erdboden gefegt wurde, wie Berge verschwanden. Mein Gott, der Fremde hätte die Alpha Tauri wie ein Streichholz knicken können! Aber er hatte es nicht getan. Weshalb nicht? Weil der Fremde noch an Bord war! Das erklärte auch, weshalb Uli ihn nicht getötet hatte; er brauchte ihn, um das Schiff zu retten. Es war die einzige Lösung. In der Dunkelheit seines Zimmers wußte Keim, daß er recht hatte. Der Fremde war doch in die innersten
Kammern seines Verstandes eingedrungen und hatte seine geheimen Pläne hervorgeholt. Und dann hatte er Kapitän Woon allein mit dem Rettungsboot in die Hölle der Sonne geschickt. Der Fremde hätte das Schiff vernichten können, aber er tat es nicht. Das war der Schlüssel! Er hatte die Alpha Tauri heftig durchgeschüttelt, um Keim in Panikstimmung zu versetzen. Keim sollte das Schiff retten. Vermutlich hatte der Fremde gewußt, daß er die Kraft dazu besaß – oder er hatte ihm geholfen, den Hebel hochzuschieben. Eine Ader an Keims Hals pulsierte. Seine Hände waren mit einem Mal feucht, klebrig. Reglos lag er da und zwang sich, logisch zu denken. Im Schiff befanden sich keine Wirtspersonen mehr. Das bedeutete, daß der Fremde weder Augen noch Ohren besaß, nichts außer der gewaltigen Macht seines Gehirns. Und er befand sich in Yozells Kabine! Noch einmal rief er sich die Bilder in Erinnerung, die er mit dem Fremden geteilt hatte – den Planeten der erkaltenden Sonne, Galaxien wie Glühwürmchen, der kleine ovale Körper in der dunklen Schublade. Er sah von neuem die Verwüstung der Kabine vor sich, als der Fremde versucht hatte, sie zu töten. Die umherwirbelnde Werkbank, die Stühle, den Schreibtisch, Henry Fongs zerschmetterten Körper. Nur ein kleines Tischchen mit einer einzigen Schublade war unbeschädigt geblieben. Dort mußte sich der Fremde befinden, von dort aus jagte er seine Gedankenmacht durch das Schiff. Keim stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und holte den Laser heraus. Ganz leise schlich er durch den Korridor.
Uli spürte plötzlich die Gefahr; sie kündigte sich mit alarmierender Schärfe an. Da er keine Augen und Ohren besaß, hatte er sich nur an den Vibrationen orientieren können. Es waren gleichmäßige Vibrationen, die der Fortbewegung dieser
Menschen entsprachen. Schritte kamen auf ihn zu. Gefahr! Gefahr! Gefahr! Der Gedanke durchzuckte jede Faser seines Gehirns. Im nächsten Moment öffnete sich sein Auge und starrte in die Dunkelheit der kleinen Schublade. Wenn jemand die Schublade öffnete, konnte er sich blitzschnell einen neuen Wirt erobern. Das Wissen verringerte seine Nervosität. Er konzentrierte sich auf die Vibrationen; die Schritte kamen immer näher. Und wenn es nun der Telepath war? Wenn der Telepath Bescheid wußte? In heißen Wogen schlug die Angst über ihm zusammen. Er konnte das Schiff vernichten, aber dann befand er sich im Hyperraum. Er würde bis zum Ende des Universums in diesem Hyperraum gefangen bleiben. Lieber wartete er ab. Plötzlich stellte er den Kontakt mit jenem winzigen Fragment her, das er zurückgelassen hatte. Roger Keim, der T-Mann! Und Keim wußte Bescheid! Eine Ewigkeit, eine Ewigkeit in der sternenlosen Schwärze des Raumes! Noch während diese Gedanken auf ihn eindrangen, wußte Uli, daß er kostbare Sekunden verloren hatte. Er versuchte die Gedankenmacht zu sammeln und das Schiff zu vernichten, als der Laser sich einen Weg durch die Schublade und in den harten Panzer seines Körpers bahnte. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er ein Brennen, und die schlimmste aller Vorstellungen tauchte auf: nicht mehr sein! Das Bewußtsein verließ ihn.