Erde 2000 Mit der Zeit-Kugel in die Zukunft
Nr. 1
Scanned by Kantiran 01.03.2009
Die Tage der zweiten Sonne Von P. E...
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Erde 2000 Mit der Zeit-Kugel in die Zukunft
Nr. 1
Scanned by Kantiran 01.03.2009
Die Tage der zweiten Sonne Von P. Eisenhuth
Man glaubte, die Lösung für die Beseitigung des Atommülls gefunden zu haben. Er wurde auf Asteroiden deponiert. Aber damit erschien am Himmel der leuchtende Tod. Denn die Hintermänner der Erdaußenhandels-Gesellschaft, die das Monopol für alle Weltraumtransporte besaßen, hatten einen gigantischen Betrug inszeniert und in den Kapitänen ihrer Frachter willige Handlanger gefunden. Als die Regierungen der Erde das Ausmaß der Katastrophe erkannten und die Verantwortlichen ermittelten, wurden die Vorrechte der Erdaußenhandels-Gesellschaft drastisch beschnitten. Doch die Händler waren nicht bereit, auf ihre angestammten Rechte zu verzichten. Sie begannen einen Krieg ganz besonderer Art. Die Rechnung jedoch machten sie ohne jene drei seltsamen Fremden, die im Sommer dieses Jahres 2100 mit einem nur kurzzeitig ortbaren Objekt auftauchten und sofort für Aufregung sorgten.
Am 5. Juli 1984 glückte Professor Limberg das phantastische Experiment, winzige Substanzteile zu ent- und zu rematerialisieren. Er errechnete, daß diese Substanzteile im Zustand der Körperlosigkeit mit ungeheurer Geschwindigkeit in der 4. Dimension zu reisen vermochten also nicht nur durch den Raum, sondern auch in die Vergangenheit und in die Zukunft. Mit seinem Assistenten Frank Forster und dem Ingenieur Ben Hammer begann er, diese Entdeckung für die Praxis auszuwerten. Er wollte ein Fahrzeug bauen, das sich und seinen Inhalt entmaterialisieren, dann in ferne Räume und Zeiten reisen, sich dort materialisieren und nach dem gleichen Verfahren wieder an den Ursprungsort und in die Ursprungszeit zurückversetzen konnte. Nach 4 Jahren mußte der Professor seine Versuche aus Geldmangel einstellen. Die superreichen Mitglieder vom „Club der Sieben" in London boten ihm aber die fehlenden Millionen unter der Bedingung an, daß sie über den Einsatz der Erfindung bestimmen könnten. Der Professor erklärte sich einverstanden, konnte weiterarbeiten und vollendete am 3. Mai 1992 sein Werk: Die Zeit-Kugel. Seit diesem Tag reisen der Professor, sein Assistent und der Ingenieur im Auftrag des „Clubs der Sieben" durch die 4. Dimension. Dieser Roman erzählt die Geschichte der Ausführung eines derartigen Auftrags.
Der Ortungsschirm zeigte zwei grüne Punkte innerhalb der markierten Eintauchbahn. Mit pedantischer Sorgfalt überwachte Steve Hackland den Abstiegsflug der zwei Frachtraumschiffe, deren Ortungsreflexe die er als grüne Punkte auf dem Schirm hatte. Der Datengeber spielte die Abbremswerte der Schiffe in der linken unteren Ecke des Schirmes ein. Steve Hackland war mit den Bremswerten zufrieden. Seit vor vier Wochen die CERES mit sechstausend Tonnen Kupferbarren an Bord in vier Kilometer Höhe zerplatzt und in das Wohngebiet von Groß-Amsterdam gestürzt war, hatte sich die Moral der Frachterkapitäne schlagartig gebessert. Die Kerle flogen jetzt manierlich. Sie hielten sich an die Eintauchbahnen, bremsten bis auf dreitausend Meter kontinuierlich ab und setzten ihre Schiffe butterweich auf. Was es im einzelnen gegeben hatte, darüber konnte Steve Hackland nur Vermutungen anstellen. Denn die Erdaußenhandels-Gesellschaft war ein Verein für sich.
Sie besaß das Handelsmonopol und das Transportrecht für Warenaustausch und Güterbeförderung zwischen der Erde und den erdnahen Planeten. Das Monopol hatte sie sich erkauft, indem sie ursprünglich ihre gesamte Flotte von drei Schiffen für den Erztransport zur Verfügung gestellt hatte. Das mußte vor ungefähr sechzig Jahren gewesen sein. Heute besaß sie mehr als hundert Schiffe. Mit dieser gewaltigen Flotte hatte sie ganz einfach das Recht auf alle Transporte beansprucht. Die Erdaußenhandels-Gesellschaft lieferte, was zu liefern war. Sie transportierte alles - vom hochwertigen Erz über Metall bis zu den Kolonistenfamilien und Minenspezialisten, die dort draußen auf Mars und Venus und jetzt auch in den Überlappungsgebieten von Merkur einen Fünf Jahreskontrakt erfüllten und ein Vermögen dafür bekamen, wenn sie es überlebten. Steve Hackland wußte, was das hieß. Er war in einer Kuppelkolonie der Venus zur Welt gekommen und trug die grüne Kennmarke der Planetengeborenen. Seine Eltern waren Minenspezialisten gewesen und hatten mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Europa einen Kontrakt abgeschlossen. Steve war am Ende des ersten Jahres dort draußen geboren worden. Vier Monate vor Erfüllung der Kontraktzeit hatte ein Venusbeben die Mine verschüttet. Daß er Waise war, das hatten sie ihm erst viel später gesagt, als sie ihn zur Erde zurückgebracht hatten und er alt genug war, es zu begreifen. Er erinnerte sich nur bruchstückhaft an den Flug mit einem Erzfrachter. Das Schiff war unglaublich schmutzig und die Mannschaft sehr unfreundlich gewesen. Damals schon hatte er gemerkt, daß die Leute, die für und mit der Erdaußenhandels-Gesellschaft arbeiteten, sich für eine ganz besondere Kaste hielten. Seit er in der Bodenleitstelle der Raumsicherung für den Bereich Groß-Amsterdam arbeitete, wußte er es genau. Ein aufgeblaseneres Volk als die Händler und ihr gesamtes Gefolge gab es nirgendwo. Die Leute waren hochnäsig und eingebildet, hatten überall die Finger drin und waren verschwiegen wie die Tiefe des Alls. Wer hinter der Erdaußenhandels-Gesellschaft stand, darüber gab es nur Vermutungen. Es sollten einige sehr reiche Familien sein, vielleicht auch ein Industriellenclub, der rechtzeitig die Zeichen einer neuen Zeit zu deuten verstanden hatte. Es gab auch Stimmen, die davon sprachen, daß die Regierungen der Vereinigten Staaten von Europa, der Asiatischen Union und der Afrikanischen Föderation Strohmänner vorgeschoben hätten und daß in Wirklichkeit sie das Handels- und Transportgeschäft kontrollierten. Beweisen ließ sich weder das eine noch das andere.
Sicher war nur, daß jemand nach dem CERES-Unfall auf den richtigen Knopf gedrückt hatte und die Erzfrachterkapitäne sich wieder an die vorgeschriebenen Sicherheitsbestimmungen und Landedaten hielten. Der Zorn der Bewohner von Groß-Amsterdam mußte die Verantwortlichen außerordentlich beflügelt haben. Der Zorn war verständlich. Steve Hackland war gestern noch im Wohnbereich gewesen. Die Bergungskommandos gruben immer noch Kupferbarren aus den zerstörten Wohnsilos. Ein Gebiet von mehr als vier Quadratkilometern war verwüstet, die Zentralstation der Bandgleiter vernichtet und die Großsteueranlage für die Gleiter schwer beschädigt. Wie viele Tote es gegeben hatte, wußte man immer noch nicht genau. Die CERES war zwar ein verbeulter und angerosteter Eimer gewesen, mehr als vierzig Jahre alt, aber noch zu gut, um abgewrackt zu werden. Wenn ihr Kapitän nicht im freien Rücksturz hereingekommen wäre und erst in vier Kilometer Höhe den vollen Bremsschub gebracht hätte, wäre sie nie auseinandergeplatzt. Den extremen gegensätzlichen Kräften, die bei diesem Manöver wirksam wurden, war sie vom eingegebenen Programm hatten sich nicht eingestellt. * Er wollte gerade die Sichtschirme der Panoramagalerie einschalten, als Professor Robert Lintberg aus dem Konturensessel hochschoß und auf die Anzeige des Energietasters starrte. Ben warf den Kopf herum, und mit zwei langen Schritten eilte Frank Forster herbei. Scharfe Tasterbahnen griffen über den Anzeigenschirm, überschnitten sich und fächerten auseinander. Dann bündelten sie sich und trafen sich in einem Punkt. Keiner brauchte es auszusprechen. Sie besaßen genug Erfahrung, um zu wissen, daß dieser Punkt ihre Zeit-Kugel war. „Ortung!" sagte Frank überflüssigerweise. Sie hörten es bereits. Aus der Wandung der Kugel drangen tackende Geräusche, als würde die Hülle unter regelmäßigen Beschuß mit schweren Gegenständen genommen. Die Lautstärke nahm zu, die Intervalle wurden kürzer. Es hörte sich an, als laufe ein Wandler unter übermäßiger Beanspruchung und stehe unmittelbar vor dem Zusammenbruch. „Damit war nicht zu rechnen", sprach Professor Lintberg flach. „Sie haben uns, und wir ändern nichts mehr daran", erklärte Ben und warf sich nach vorn.
Seine Hände glitten traumhaft schnell über die Schalter auf der Konsole und unterbrachen die Energiezufuhr für die Kontrollanzeigen. Die scharf gebündelten Tasterbahnen auf dem Anzeigenschirm verblaßten und verschwanden dann völlig. Aber die Zeit-Kugel saß fest in der fremden Ortung. Das Knattern aus der Wandung gewann an Intensität. Die Zelle dröhnte und schwang und malträtierte die Trommelfelle der Zeitreisenden. Frank Forster jagte zur Luke, löste die Sicherheitsverriegelung und drehte das Handrad. Er hielt es für angezeigt, den Leuten draußen irgendwie ihre friedliche Absicht klarzumachen, bevor die Kugel eventuell unter Beschuß genommen wurde und schwere Beschädigungen erlitt oder gar vernichtet wurde. Wenn sie es überlebten, würden sie festsitzen. In einer Zeit, in der sie keine Existenzberechtigung hatten. Einhundertunddrei Jahre nach ihrer Eigenzeit. In der Zukunft gefangen ohne die geringste Aussicht, je zurückkehren zu können. Er trat das schwere Luk mit dem Fuß auf und stieß einen überraschten Atemzug aus, der Lintberg und Ben veranlaßte, sich hinter ihm zu versammeln. Vor ihnen dehnte sich eine weite Betonfläche, begrenzt von einem hohen Erdwall und jenseits des Walles gesäumt von mehrstöckigen Bauwerken, deren phantasielose Architektur erschütternd war. Die Gebäude waren schmucklose Kästen mit auffallend kleinen Fenstern in ovaler Form. Wenn diese Gebäude überhaupt Verzierungen hatten, dann waren es die gewaltigen Parabolantennen, die waagerecht und himmelwärts gerichtet waren und die man auf den Dachplattformen montiert hatte . Die Betonfläche war übersät mit schwarzverbrannten Flecken. Woher diese Flecken rührten, verrieten die fünf gedrungenen Raumschiffe, die draußen auf dem Betonfeld standen. Es waren drei dreistufige Raketen und eine zweistufige, die auf mächtigen Landetellern ruhten. Die Heckflossen berührten fast die Oberfläche des Raumhafens. Das fünfte Fahrzeug stand nicht aufrecht. Es lag auf zwölf Teleskopstützen und sah in der Form wie eine Raumfähre aus. Einen sehr vertrauenserweckenden Eindruck machten alle fünf Schiffe nicht. Sie waren verbeult und angerostet, die einstmalige Schutzfarbe war abgebrannt. Am rechten Gleitflügel der Raumfähre wurden offensichtlich Platten ausgewechselt, die einen Meteortreffer bekommen hatten. Die Arbeitstrupps wirkten auf die beträchtliche Entfernung wie eine Versammlung emsiger Ameisen. Fremdartig aussehende Fahrzeuge standen bei den Raumschiffen, und eben rollte eines durch eine Lücke im Wall auf das Hafenfeld.
Vorne befand sich die Zugeinheit, ein ovales Gebilde, das fatal an ein gigantisches Ei erinnerte. Es bewegte sich auf schwarzen Rädern oder Rollen. So genau konnten die Männer das nicht erkennen. Der eiförmige Schlepper zog drei Tieflader, auf denen Platten in Gerüsten stehend transportiert wurden. Ein Kranarm bei der Fähre deutete die Verwendung der neuen Platten an. Sie wurden zur Beseitigung des Lecks im rechten Gleitflügel benötigt. Der Kranarm schwenkte langsam herum und gab den ungehinderten Blick auf die Fähre frei. Es war doch ein Raumschiff. Hinter den Gleitflügeln konnten die Zeitreisenden die gebündelten Antriebsaggregate erkennen. Von den Geräuschen, die zwangsläufig auf dieser Reparaturstelle dort drüben entstanden, konnten sie nichts hören. Ein fernes Grollen und Rumpeln dröhnte über das riesige Flugfeld. Die drei Männer in der offenen Luke der Kugel nahmen diese Eindrücke in wenigen Sekunden auf. Die Ursache des donnerähnlichen Lärms vermuteten sie in gewaltigen Fabrikationsstätten jenseits des Walles und des Kranzes phantasieloser Gebäude. Aber der Lärm gewann an Intensität und ging in ein nervenzerfetzendes Kreischen und Heulen über. Und er kam von oben. Frank, Lintberg und Ben hoben den Kopf. Der Anblick war überwältigend. Zwei Raketenschiffe in vertikaler Lage stiegen auf gewaltigen Flammensäulen reitend langsam aus einer grauen Wolkenschicht herab. Grelle Blitze an den Raketenspitzen zeigten die Tätigkeit von Stabilisierungsdüsen an. Die Schiffe mußten bereits unter zweitausend Meter Höhe gesunken sein. Das grollende und brüllende Krachen und Orgeln der bremsenden Triebwerke steigerte sich zu einer infernalischen Musik. „Raus!" schrie Frank gegen das Tosen an. „Sie blasen uns weg!" Er sprang und landete auf dem brettharten Belag des Hafens. Der Aufprall stauchte ihn zusammen. Im rechten Fuß spürte er einen stechenden Schmerz. Er biß die Zähne zusammen, wandte den Kopf und sah Lintberg mit ausgebreiteten Armen aus der Luke springen. Ben hantierte noch dort oben herum. Er befestigte ein dünnes Kunststoffseil, führte es über eine Rolle, hakte es um einen Riegel des Lukenverschlusses und sprang. Er kam mit der unnachahmlichen Grazie eines stürzenden Bären herunter, fing den Aufprall federnd ab und griff nach dem baumelnden Seilende. Ein kräftiger Ruck - langsam schwang die Lukentür herum und verschloß den Ausstieg. Lintberg und Frank waren bereits zum Erdwall geeilt. Gehetzt schauten sie zurück und dann hinauf zu den herabkommenden Schiffen.
Wenn die Druckwellen sie erwischten, dann flogen sie über diesen Erdwall und die Gebäude, dahinter in respektabler Höhe hinweg. Ganz ohne Flügel oder ähnliche Hilfsmittel. Mit der Landung würde es allerdings sehr schlecht bestellt sein. Ohne ernsthafte Beschädigungen ging es wohl nicht ab. „Komm schon!" brüllte Frank und winkte aufgeregt. Ben hörte ihn nicht, aber er sah die rudernde Armbewegung. Er rannte los und erreichte die Gefährten. Die Erde des Walles war klumpig. Ihre Stiefel sanken ein. Der Wall war nicht begrünt. Entweder gedieh im Bereich der Triebwerksgase keine Pflanze, oder man hatte keinen Sinn für Natur und Verschönerungen. Professor Robert Lintberg fingerte ein flaches Kästchen aus der Brusttasche seiner Jacke. Es besaß Form und Größe jener alten Streichholzschachteln. Ben und Frank schauten ihm gebannt zu. Sie hatten es sechsmal in ihrer Eigenzeit des Jahres 1997 geprobt, und es hatte immer funktioniert. Dies war jetzt die Generalprobe, sozusagen die Feuertaufe. Man schrieb den 15. Juli des Jahres 2100. Von der Voraussetzung ausgehend, daß sie in der Zukunft vieles anders als erwartet antreffen würden, hatte Lintberg wochenlang seinen genialen Geist strapaziert und zwei bedeutende Erfindungen gemacht, mit denen er die Zeit-Kugel bestückt hatte. Einmal war das eine Vorrichtung, die die Kugel augenblicklich entmaterialisieren ließ. Die Programmierung zur computergesteuerten Entfernung der Kugel aus dem dreidimensionaler Raum wurde damit unterbrochen die üblichen fünf Minuten vom Zeitpunkt der Ankunft bis zur Entstofflichung brauchten nicht absolviert zu werden. Lintberg hatte dies für den Notfall vorgesehen. Die Vorrichtung hatte er Instantschaltung genannt. Die augenblickliche Lage war ein Notfall. Die Druckwellen der landenden Raumschiffe waren stark genug, die Zeit-Kugel umzustürzen. Lintberg drückte einen Knopf in dem Kästchen ein. Sofort zitterte ein Flimmern über die Oberfläche der Kugel. Eine Sekunde darauf waren die Rundungen bereits verschwunden. Nichts störte mehr den Ausblick auf den Raumhafen. Lintbergs zweite Erfindung war eine enorme Verbesserung der Rückholautomatik. Die Kugel konnte mit einem Impuls aus ihrer Warteposition in einer verschobenen Phase der vierten Dimension abgerufen werden. Leider war das je Zeitsprung nur einmal möglich. Aber er arbeitete an der weiteren Verbesserung.
Ein Fortschritt war das schon. Sie brauchten jedenfalls nicht mehr untätig herumzusitzen, bis die Kugel zum vorprogrammierten Zeitpunkt materialisierte und sie zum Rücksprung an Bord gehen konnten. In erster Linie war diese neue Art der Rückholung ebenfalls für den Notfall gedacht. Sie konnten in Situationen kommen, in denen es vernünftiger war, sich aus der Zukunft abzusetzen, als heldenhaft auszuharren und unterzugehen. Die erwartete Zunahme des Grollens und Krachens im Luftraum über dem Landefeld stellte sich nicht ein, im Gegenteil. Das ohrenbetäubende Kreischen verebbte langsam. Zwar rasten jetzt Schockwellen heran, aber sie waren zu ertragen. Und die Arbeitstrupps bei den fünf Raumschiffen dachten keineswegs daran, Deckung zu suchen. Fassungslos und gleichzeitig begierig schauten die drei Männer zu den Raketenschiffen hinauf. Ihre Form wurde immer besser erkennbar. Es waren zwei dreistufige Fahrzeuge, ebenso vom Rost zerfressen wie die auf dem Landefeld stehenden und nicht weniger verbeult und mitgenommen. Aus den Düsenbündeln schlug noch weißgelbes Licht. Der Schub reichte offensichtlich, um die gebremste Fahrt beizubehalten. Lintberg war maßlos gespannt auf die Fortführung des Landemanövers. Nach den gültigen Gesetzen der Physik mußten die Schiffe jetzt Fahrt aufnehmen und schneller stürzen. Hatten die Menschen des Jahres 2100 bereits gelernt, die Schwerkraft aufzuheben oder wenigstens teilweise zu neutralisieren? Denkbar war das, und es zu sehen hätte ihn nicht überrascht. Mit adlerscharfen Augen verfolgte er jede Flugbewegung, jede Phase des Abstiegs. Die beiden Fahrzeuge folgten dem Gesetz der Erdanziehung und nahmen Fahrt auf. Der gedrosselte Gegenschub reichte nicht aus, ihren langsamen Abstieg zu erhalten. Sie wurden schneller. Jetzt mußte etwas dagegen geschehen! Lintberg erwartete die Demonstration einer neuartigen Technik, die Vorführung eines Wundermittels. Die Menschen dieser Zeit waren auf Wundermittel nicht angewiesen. Sie hatten die vorhandene Technik weiterentwickelt und bis zu einem gewissen Grade vervollkommnet. Mit Hilfe der Steuerungsdüsen wurden beide Schiffe in stabiler Lage gehalten. Fünfhundert Meter über dem Landefeld wurden die Triebwerke in Sekundenschnelle auf volle Leistung hochgefahren, zurückgenommen und wieder voll belastet.
Stottern nannte man das. Beide Schiffe verringerten ihre Abstiegsgeschwindigkeit. Heißer Wind brauste ganz plötzlich über das Betonfeld und sprang die Männer an. Es roch nach verbranntem Öl und heißem Metall. Fast am jenseitigen Platzrand setzte das erste Schiff mit einem gellenden Kreischen auf. Die Spitze pendelte deutlich erkennbar. Doch die Stabilisierungsdüsen arbeiteten mit Hochdruck und bewahrten das Schiff vor dem Umkippen. Meisterlich war diese Landung sicher nicht zu nennen, aber die raffinierte Technik nötigte den Zeitspringern Respekt ab. Dieses Schiff kehrte gerade von einem Flug durch den Raum zurück. Mit Bravour hatte sein Kapitän es an den Boden gebracht. Ein ganzes Stück entfernt landete jetzt das zweite Fahrzeug mit einem letzten Aufbrüllen des Antriebs. Eine butterweiche Landung war es. Aus der Entfernung betrachtet jedenfalls. Als das dumpfe Grollen und Rumpeln erstarb und der letzte heiße Windstoß vorbeigepfiffen war, registrierten die Zeitspringer drei Dinge gleichzeitig. Einmal tauchten in einer Lücke im Wall dort drüben einige dieser eiförmigen Zugmaschinen auf und schleppten gewaltige Plattformen mit kranartigen Auslegern hinter sich her. Aus den Gebäuden hinter dem Erdwall in der Nähe ihres Standortes ertönte das gellende Heulen von Sirenen. Und von zwei Seiten näherten sich plötzlich Fahrzeuge, die offensichtlich auf Luftkissen ritten und wie kleine Plattformen mit einer aufgesetzten Kabine aussahen. Eines kam von der linken Seite am Erdwall entlang, das zweite aus der Wallücke, durch die der Transport mit den neuen Gleitflügelplatten gerollt war. Ein drittes erhob sich jetzt neben der vermeintlichen Raumfähre. Über seine Richtung bestand kein Zweifel. Es kam herüber. Seine Geschwindigkeit war beängstigend hoch. „Sehr freundlich sieht das nicht aus", meinte Lintberg in jäher Erkenntnis. „Flug- und Raumhäfen sind schon zu unserer Zeit Sperrgebiet. Es ist nicht anzunehmen, daß sich das geändert hat", erwiderte Ben. „Ihr redet, als könntet ihr großzügig die Zeit verteilen", beschwerte sich Frank. „Verschwinden wir besser! Mir gefällt der Anblick überhaupt nicht." Sie stolperten über die klumpige Erde des Walles davon. Unweit der Stelle, an der sie eben noch gestanden hatten, flog die Erde hoch. Dann hörten sie den Knall. Während des Laufes schauten sie zurück. Man hatte auf sie geschossen.
Zwar war es nur ein Warnschuß, aber die Tatsache, daß man ihn abgegeben hatte, machte ihnen nachdrücklich klar, daß die Bewacher dieses Raumhafens ihren Job bitter ernst nahmen. Ben hielt auf eine kleine Passage zu, die von einem Gitter versperrt war. Er sah das Hindernis zu spät. * Daß es so schnell schon vorbei sein sollte, wurmte ihn. Und wenn er sich ärgerte, fiel ihm noch immer ein Ausweg auch aus der besten Mausefalle ein. Mit Schwung warf Ben sich gegen das Gitter und war so erschrocken über den fehlenden Widerstand, daß er jenseits des Hindernisses der Länge nach hinschlug. Das Gitter besaß wohl mehr symbolischen Charakter, als daß es einen echten Nutzen bewirkte. Professor Lintberg und Frank rannten vorbei. Ben erhob sich und hörte hinter sich einen zweiten Knall. Ein paar Erdbrocken wirbelten herum. Dieser Schuß war bereits in die Passage gezielt gewesen. Hätte das Gitter nicht überraschend nachgegeben, wären sie notgedrungen davor stehengeblieben und der Wirkung des Schusses ausgesetzt gewesen. Von den Luftkissenplattformen konnte Ben keine sehen. Die waren noch im Anmarsch. Den Besatzungen traute er allerdings zu, daß sie die Mittel besaßen, um auch im Bogen über den Wall herüberzuschießen. Vielleicht kamen dort bei den schmucklosen Gebäuden, auf die der Professor und Frank zuliefen, gleich Angehörige des Wachpersonals zum Vorschein, um den Fluchtweg zu versperren. Wenn dies eintrat, saßen sie fein in der Zange. Wenigstens schießen sie dann nicht von den Luftkissenfahrzeugen aus! Sie würden die eigenen Leute gefährden! Schoß es Ben durch den Kopf. Er spurtete hinter den Gefährten her. Dabei fiel ihm auf, daß Frank den rechten Fuß etwas nachzog. Hatten die Burschen von den Plattformen mit Zerlegern gefeuert? Hatte Frank einen Splitter kassiert? „Getroffen?" brüllte er gegen das Sirenengeheul an. Frank drehte sich nicht einmal um. Er winkte lässig ab. Über Bagatellen redete er nicht. Lintberg entdeckte an einem der Einheitsgebäude eine Markierung. Eine Ziffer. Eine schöne arabische Drei. Keuchend blieb er stehen. Die bewährten Zahlensymbole hatte man also beibehalten. Er nahm es mit Zufriedenheit zur Kenntnis und knüpfte die Erwartung daran, daß sich in einem
Zeitraum von etwa mehr als hundert Jahren auch die Sprache nicht wesentlich verändert hatte. Und wenn - dann hatten sie immer noch ihre Sprachtransformer. Ben und Frank sahen, daß die Ziffer Lintbergs Aufmerksamkeit erregt hatte. „Die Chinesen sind jedenfalls nicht hier, sonst hätte man einen unleserlichen Haken angepinselt", sagte Frank grob. Lintberg hob den Kopf und blickte an dem Gebäude mit seinen ovalen Fenstern hinauf. „Es könnte eine amtliche Stelle beherbergen. Die anderen Gebäude sind nicht numeriert. Vielleicht können wir hier unterkriechen, bis sich die Gemüter beruhigt haben." Das Gebäude verfügte über einen erstaunlich breiten Eingang, und der stand weit offen. Im Gegensatz zu den Eingängen der anderen Bauwerke, die von schottartigen Türen verschlossen waren. Die Art ihrer Konstruktion verriet, daß sie Druckwellen standhalten mußten, die bei einem Unfall auf dem Raumhafen auftreten konnten. In das Heulen der Sirenen mischte sich ein penetrantes Pfeifen. Ben fuhr herum. In der Passage jenseits des niedergeworfenen weißen Gitters verharrte eine Plattform im Schwebezustand. In der Kuppel bewegten sich Gestalten. Ein kurzes Rohr, das durch die Kuppel stach, schwenkte herum. Ihre Schußeinrichtung! „Auseinander!" brüllte er. Sie standen unglücklicherweise vor einer Lücke zwischen zwei Gebäuden. Die Leute in der Kuppel konnten feuern. Sie brauchten auf nichts Rücksicht zu nehmen. Ben und Frank sahen ihren einzigen Vorteil darin, daß sie ein Gebäude hinter sich bekamen. Lintberg hetzte mit langen Sprüngen auf den Eingang von Nummer 3 zu. Auf ihn hatten es die Burschen abgesehen. Es war möglich, daß sie ihn am Betreten des Gebäudes hindern wollten. Der Abschuß war nicht zu hören. Sie störten sich auch nicht daran, daß Lintberg sich bereits vor der Frontseite befand. Ein greller Blitz zuckte hart neben der Drei auf, ein Feuerball breitete sich an der Wand aus. Der dumpfe Krach übertönte den Sirenenlärm. Lintberg hatte das Pfeifen des Projektils deutlich vernommen. Das bewies, daß es ihm dicht am Kopf vorbeigeflogen war. Er spürte die Hitze, die der Feuerball ausstrahlte. Und er wunderte sich, daß kein Rauch aufstieg. In Sekundenschnelle löste sich der Ball auf.
Neben der Drei verunzierte ein schwarzverkohlter gezackter Fleck die Mauer. Ein fingerlanger roter Gegenstand, aufgebogen und geschlitzt wie eine geplatzte Hülse, fiel Lintberg vor die Füße. Er sprang darüber hinweg und warf sich mit einer letzten Anstrengung in den Eingang. Dunkelheit umfing ihn. Das Geräusch seiner Schritte hallte hohl von irgendwelchen Wänden zurück. Er blieb stehen, wandte sich um und erkannte, daß die Tür zu diesem Eingang ein dickes Schott war, stabil genug, um auch einer gewaltigen Explosion standzuhalten. Rillen befanden sich im Boden, Führungsschienen für die Tür, an der er weder Knöpfe noch Griffe oder Hebel sah. Sie wurde vielleicht hydraulisch oder pneumatisch bewegt. Das Sirenengeheul drang nur gedämpft herein. Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Die Wände waren wirklich nackt und kahl. Es gab keine Türen und keine sonstigen Öffnungen, durch die Zugang zu den Stockwerken des Gebäudes zu erlangen war. Lintberg begriff, daß er den falschen Eingang erwischt hatte. Sein Verdacht verstärkte sich, daß sich die Ziffer gar nicht auf das Gebäude bezog. Der Zugang zu den Stockwerken befand sich an anderer Stelle. Wenn sich jetzt noch die Tür ohne Griffe und Hebel schloß, dann saß er fest. Die Befürchtung, in eine vertrackte Falle gelaufen zu sein, ließ ihn zurück in die Öffnung hasten. Wenn die Tür sich jetzt bewegte, war er mit einem Schritt draußen. Verwundert schaute er auf die Plattform und verfolgte die sonderbaren Schwebebewegungen, die sie in der Passage machte. Sie stieß heftig gegen den Erdwall, hob sich an dieser Seite, glitt zurück und rammte den Wall mit dem Heck. Entweder hatte die Mechanik einen überraschenden Defekt erlitten oder der Lenker war vom plötzlichen Irrsinn gepackt. Die Plattform vollführte einen torkelnden Tanz in der Passage, schaukelte gefährlich und landete unerwartet auf der Schräge des Walles. Langsam rutschte sie unter der Einwirkung ihres Gewichtes herab. In der Kuppel bewegten sich Gestalten. Auffallend war ihre Trägheit. Sie wandten den Kopf und schauten herüber. Ein Arm griff nach dem kurzen Rohr - langsam, fast wie in Zeitlupe. Ein grimmiger und sehr vertrauter Fluch ließ Lintberg nach rechts blicken. Ben und Frank standen etwas geduckt und leicht in die Knie gesunken. Beide hatten ihren Paralyzer in der Hand. Sie zielten auf die Schwebeplattform. Offensichtlich hatten sie gefeuert. Oder sie schossen immer noch.
Doch die Kuppel absorbierte die Lähmstrahlen weitgehend. Es kam nur wenig durch. Zu wenig, um die Gestalten völlig auszuschalten. Sie wirkten lediglich etwas in ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigt. Das Material der Kuppel filterte die Strahlen fast gänzlich aus. Wie, darüber zerbrach sich Lintberg nicht den Kopf. Das Wissen hätte ihm jetzt nicht einen Schritt weitergeholfen. Hauptsache, die Gestalten bekamen wenigstens einen Bruchteil der Lähmstrahlen ab, die auf das Bewegungszentrum wirkten, aber Herz- und Lungentätigkeit nicht beeinflußten. Ben fluchte noch einmal, stellte seinen Paralyzer auf Punktbeschuß, faßte die Defensivwaffe mit beiden Händen und visierte über die ausgestreckten Arme den Mann an, der sich bemühte, das schwenkbare Rohr zu richten. Hoffentlich ist es überhaupt ein Mann, dachte Ben. Er drückte dreimal ab. Langsam und widerstrebend lehnte sich die Gestalt gegen die Innenwand der Kuppel und ließ das Rohr los. Frank senkte die Waffe und überließ es Ben, weiterhin die Plattform zu decken. Eine unerklärliche Unruhe hatte ihn erfaßt. Er beobachtete die Wallkrone. Drei Plattformen hatten sie im Anflug gesehen, und nur eine war vorübergehend manövrierunfähig. Die beiden anderen versuchten ganz sicher einen Überraschungsangriff über den Wall hinweg. So angestrengt er jedoch schaute, nirgendwo kamen die beiden Schwebefahrzeuge in sein Blickfeld. Entweder warteten sie in der Deckung des Erdwalles die weitere Entwicklung ab oder sie hatten längst ein Umgehungsmanöver eingeleitet. Absolut lautlos arbeiteten die Maschinen, die jede Plattform auf einem Luftkissen hielten, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Doch in dem durchdringenden Sirenengeheul war das nicht feststellbar. Wenn die Schweber von hinten kamen? Frank fuhr herum. Professor Lintberg stand im Eingang von Nummer 3 und winkte. Und aus der Lücke zwischen Nummer 3 und dem Nachbargebäude kamen sie. * Sie näherten sich im Tiefflug. Ihr Aussehen erinnerte nur noch ungefähr an Hubschrauber. Die Rotorblätter und den Stabilisierungsrotor am Heck gab es immer noch. Sonst aber sahen sie aus wie große Eier. Die Ähnlichkeit mit den Zugmaschinen auf dem Raumhafen war verblüffend.
Durchsichtige Kanzeln besaßen sie nicht. Frank sah Linsensysteme und Rohre, die sich wippend bewegten, als suchten sie ein Ziel zu erfassen. Und er bemerkte die Parabolantennen, die den fliegenden Eiern rechts und links und an der Unterseite anhafteten wie die kümmerlichen Rückbildungen von Flügeln. Frank schlug Ben nicht eben sanft den Paralyzer auf die Schulter. Der Freund und Gefährte schnellte herum. Frank brauchte ihm nichts zu erklären. Ben sah, was auf sie zukam. Sie rannten los, als sei der Boden hinter ihnen in Brand geraten. Zwei Flugmaschinen versuchten, ihnen den Weg zu verlegen. Ben nahm sie unter Beschuß, konnte aber keinerlei Wirkung erkennen. Er zog den Kopf ein, rannte unter dem eiförmigen Rumpf her und stieß mit der Schulter gegen den Rand der Parabolantenne. Der Schmerz war teuflisch, doch er vergaß ihn fast, als er die Wirkung seines Remplers bemerkte. Die Flugmaschine drehte sich, die Linsensysteme verloren ihr angepeiltes Objekt offensichtlich aus dem Aufnahmebereich. Jetzt tanzte der Apparat herum, um das Objekt optisch wieder einzufangen. Ben war schon unter dem Rumpf durch. Frank war ungehindert zu Lintberg vorgestoßen. Sie warteten auf ihn im Eingang. Ben flog förmlich zu ihnen hinüber und empfand es als überaus wohltuend, daß endlich das verdammte Sirenengeheul verstummte. Das knatternde Schwirren der Rotorblätter war dagegen direkt ein sanftes Säuseln. Etwas daran stimmte nicht. Ben schnellte sich in den Eingang, suchte hinter der Wand Deckung und überlegte fieberhaft, während Lintberg und Frank feuerten und rückwärtsgehend die Öffnung freigaben. Der fehlende Motorenlärm! Das war es, was Ben vermißte. Die Flugmaschinen besaßen keine Verbrennungsmotoren. Langsam begriff er. Die Parabolantennen waren der Schlüssel des Geheimnisses. Die Flugmaschinen wurden von leistungsstarken Elektromotoren betrieben. Die nötige Energie wurde ihnen zugestrahlt, und die Parabolantennen waren nichts anderes als Empfänger. Das erklärte auch ihre Anordnung und ihre Zahl. „Sie landen!" rief Lintberg Seine Stimme kratzte. „Womit können wir sie bloß aufhalten?" Das Knattern und Schwirren erklang bereits ganz nah. Ben schob den Kopf vor. Die fünf Maschinen hatten sich formiert.
Sie setzten im Halbkreis um den Eingang von Nummer 3 auf. Die Drehzahl der Rotoren ging zurück. Möglicherweise wurden die Flugkörper ferngelenkt und sollten nur den Zugang bewachen, bis ein Kommando eintraf und sich um die Fremden kümmerte. Ganz geheuer war die Sache Lintberg und Frank jedoch nicht. Sie suchten drüben auf der anderen Seite Deckung. Ben gewahrte dort ein dickes Schott und sah Rillen und Schienen, die in den Boden eingelassen waren. Die Rohre an der Außenhülle der Flugmaschinen wippten wieder. Sie suchten etwas und fanden es nicht. Ben nahm den Kopf zurück. Er schaute sich in dem Raum um und suchte einen zweiten Ausgang. Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht, die Beschaffenheit des Raumes wurde erkennbar. Es gab keinen zweiten Ausgang. Es gab auch keinen Aufgang zu den Stockwerken. Diese Halle war streng vom übrigen Gebäude getrennt und diente nach den Gesetzen der Logik somit auch anderen Zwecken. Zum Wohnen taugte sie nicht. Sie war nicht dafür eingerichtet, und der Eingang war viel zu breit. Und ihre Büros richteten die Menschen des Jahres 2100 wohl auch anders ein. Ben blieb in der Deckung der Wand und bewegte sich nach hinten. Die erste Flugmaschine kam in sein Blickfeld. Er starrte erwartungsvoll auf die wippenden Rohre. Wenn damit Wärme geortet werden konnte, dann mußten die Rohre jetzt zur Ruhe kommen. Sie wippten jedoch weiter. Das beruhigte ihn geringfügig. Er schob sich mehr in den Hintergrund, den Kopf dem Eingang zugekehrt. Lintberg und Frank schauten ihm zu. Der Professor winkte ab, als halte er es für nutzlos, die Halle zu erkunden. Ben ließ sich nicht beirren. Irgendeine Funktion hatte diese Halle doch zu erfüllen. Da war die Nummer 3 draußen, da war das dicke Schott. Für einen Unterstand bei Schlechtwetter hielt er den Raum nicht. Und als Lagerhalle für Güter und Waren, die auf dem Raumhafen umgeschlagen wurden, hätte sie einen besseren Zugang gehabt und nicht nur diese schmale Passage im Erdwall mit dem idiotischen Gitter, das sofort zusammengebrochen war. Ben erreichte die hintere Querwand. Sechzig Schritte hatte er gemacht rückwärtsgehend. Das waren ungefähr fünfzig Meter. So tief mußte auch das Gebäude sein. Die fünf Flugmaschinen standen mit langsam drehenden Rotorblättern und wippenden Rohren. Als Landestütze diente der Parabolspiegel an der Rumpfunterseite. Sie konnten nicht rollen. Also war das innerhalb ihres Aufgabenbereichs auch nicht vorgesehen.
Welche Aufgabe aber hatten sie? Jemanden aufspüren und in die Enge treiben? In der stumpfen Spitze erschienen zwei Öffnungen, kaum handbreit voneinander entfernt. Zwei Rohre schoben sich langsam heraus, bei deren Anblick Ben sofort an das Rohr in der Kuppel der Schwebeplattform dachte. Wenn die Dinger ebenfalls schossen und Glutbälle erzeugten, dann war es hier drin in der Halle bald ähnlich heiß wie in der Hölle. „Bleibt in Deckung!" rief Ben. Er bewegte sich traumhaft schnell, hastete an der Rückwand entlang und gewann die Seite von Lintberg und Frank. Er erwog bereits den geballten Einsatz ihrer drei Lichtkanonen. Vielleicht ließen sich die Linsensysteme damit ausschalten. Um ein Haar wäre Ben in eine Öffnung gestürzt, die er bei dem herrschenden miserablen Licht gar nicht erkannt hatte. Er warf sich zurück, fand das Gleichgewicht wieder und verfluchte den Leichtsinn dieser Leute, die es für überflüssig erachtet hatten, ein Gitter um dieses Loch im Boden herum anzubringen. Er entdeckte zwei Stufen, außerordentlich breite Stufen, geeignet, wenigstens zehn Menschen nebeneinander gehen zu lassen. Nach unten zu verlor sich die Fortsetzung der Treppe in der Dunkelheit. Kein Gitter, kein Licht - was war das bloß für eine Zeit! Ben bewegte sich an dem ungesicherten Zugang zu tieferliegenden Räumen vorbei. Überrascht blieb er stehen. Kalte Luft wehte ihn an. Sie roch nicht modrig. Luftzug setzte einen Ein- und einen Ausgang voraus. Der Ausgang war möglicherweise die breite Tür dort vorne, die von den Flugmaschinen blockiert war. „Hier geht's weiter!" rief Ben „Aber nehmt die Füße in die Hand!' Seine Aufforderung war überflüssig. Lintberg und Frank hatten mit wachsendem Unbehagen das Ausfahren der Doppelrohre beobachtet Sie hatten zweimal auf die Maschinen geschossen. Weder die Rotoren waren stehen geblieben noch war die Bewegung der Doppelrohre unterbrochen worden. Die Flugmaschinen waren ferngelenkt, daran bestand kein Zweifel mehr. Das Fehlen von Fenstern war kein Indiz für das Nichtvorhandensein einer Besatzung. Die Leute konnten sich über die Linsensysteme ganz gut ein Bild der Umgebung in den Flugkörper holen. Das Material jedoch sah nach Kunststoff aus, und die Lähmstrahlen drangen hier wohl weit besser durch als durch die Kuppeln der Schwebeplattformen. Die Besatzungsmitglieder hätten längst außer Gefecht gesetzt sein müssen. Aber die Rohre bewegten sich weiter heraus. Frank erlag der Vorstellung, daß diese Flugmaschinen Roboterfuntion erfüllten und über ein aussgezeichnetes Verbundsystem verfügten.
Lintberg jagte mit gewaltigen Sätzen zur Rückwand. Frank warf einen letzten Blick aus der Tür. Auf der Wallkrone tauchten Männer auf. Sie hatten offensichtlich die Plattformen verlassen und waren den Wall hinaufgeklettert. Sie trugen einheitlich blaue Uniformen von strengem Zuschnitt und Helme mit blau-gelb-roten Markierungen. Die gezackten Farbstreifen reichten vom Stirnschutz bis zum Hinterhelm. Nicht die gezackten Streifen, sondern die gewaltigen Kinnklappen dieser Helme faszinierten Frank. Sie bedeckten die Ohren ganz und schlossen das Kinn fest ein. Dort, wo sich die Ohren befanden, ragten buchsenartige Erhöhungen aus den Klappen. In den Buchsen steckten fingerlange Antennenenden von Bleistiftstärke. Es sah aus, als hätte man diesen Männern einen Stock durch den Kopf gesteckt und die Enden überstehen lassen. Sie kamen von der Krone herunter. Frank bemerkte jetzt auch unmittelbar über den Ohrenantennen drei waagrechte Schlitze im Helm. Er hatte nur nebelhafte Vorstellungen von der Verständigungstechnik dieser Zeit, aber daß diese Schlitze zur Schallerfassung dienten, war ihm sofort klar. Waren die Leute alle schwerhörig und mußten mit Geräuschverstärkern leben? Oder war dies die Schutzkleidung für Leute, die auf dem Raumhafen beschäftigt waren? Den Krach der beiden landenden Raumschiffe hatte er mit eigenen Ohren gehört. Startende Schiffe waren noch viel lauter, und jemand, der sich das ein paar Jahre lang täglich anhören mußte, konnte dabei einen guten Teil seines Gehörs einbüßen. Einer der Männer hakte einen flachen Kasten vom Gürtel ab. Eine kurze Antenne ragte heraus. Frank schluckte. Das sah nach Funkgerät aus. In dieser Form waren sie schon in seiner Eigenzeit ein alter Hut gewesen, aber unschlagbar in der Leistung. Je höher man im Frequenzbereich ging, desto kleiner war die Antenne. Der Mann nahm Schaltungen an dem flachen Kasten vor. Blitzartig erkannte Frank, daß er den Flugmaschinen einen Befehl übermittelte. Welcher Art dieser Befehl war, wartete Frank nicht ab. Eine große Auswahl bot sich ohnedies nicht an. Sie waren als Störenfriede ganz plötzlich auf dem Raumhafen aufgetaucht, wahrscheinlich sogar jenseits vieler Kontrollen. Das mußte einfach die Leute alarmiert haben. Die Konsequenzen sollten sie nun auch tragen. Die Schüsse hatten es bereits gezeigt. Frank lief in den Hintergrund der Halle.
Lintbergs Oberkörper ragte gerade noch aus einer Öffnung im Boden. Ben winkte ungeduldig. Ein dumpfes Geräusch ertönte vor dem Eingang. Frank fühlte sich an eine Preßluftflasche erinnert, deren Ventil schlagartig geöffnet wird. Etwas zirpte vorbei und schlug gegen die Rückwand. Ein Feuerball leuchtete auf. Die Hitze sprang Frank an. Es roch nach verbranntem Ozon und verschmortem Kunststoff. Ben packte ihn derb an der Schulter und riß ihn rücksichtslos mit sich die Stufen hinab. Über ihnen entfesselten die Flugmaschinen ein Inferno. Schuß um Schuß ging in die Halle. Das Licht der grellen Feuerbälle reichte aus, um das Ende der Treppe erkennbar werden zu lassen. Die explodierenden Projektile entfachten einen höllischen Krach. * Steve Hackland kratzte sich am Kinn. Die verschwundene Kugel beschäftigt ihn. War das eine neue Erfindung der Händler? Diese arroganten Burschen zogen ja immer alle guten Erfindungen an Land, weil sie mehr Geld hatten als der Merkur Sandkörner. Buriakow summte wieder ein Lied seiner Heimat. Es klang schwermütig. Dabei war Buriakow ein ausgesprochen fideler Bursche, wie fast alle Russen, die in Groß-Amsterdam lebten und eine beachtliche Kolonie darstellten. Mit allem Familienanhang waren es um die vierzigtausend Köpfe. Van Tinderen klapperte wieder auf der Tastatur und bereitete den Start eines Frachters vor. Der Kapitän beschwerte sich bereits heftig über die Sichtleitung. Van Tinderen ließ ihn quasseln und gab dem Rechner weitere Daten ein. Der Sicherheitsalarm hatte die Startvorbereitungen unterbrochen. Der Frachter konnte erst in zwei Stunden abheben. Dann begann wieder eine Startperiode von einstündiger Dauer. Der Kapitän wußte das natürlich auch, aber er brauchte ein Ventil, um Dampf abzulassen. In diesem Falle war van Tinderen das Ventil. Ohne aufzublicken sagte der Programmierungsfachmann: „Sie können sich auf den Kopf stellen und mit den Füßen Fliegen fangen, Hatch, Sie kommen jetzt nicht weg. Die Satellitenschwärme kreuzen jetzt die Ausflugschneise. Wollen Sie in einen Schwarm hineinkrachen?"
„Wie soll ich meine Verspätung aufholen?" giftete Hatch vom Sichtschirm herab. „Einer von euch Eierköpfen hat den Alarm ausgelöst, was?" „Warten Sie das offizielle Ergebnis ab. Oder fragen Sie besser noch bei Ihren eigenen Leuten an", empfahl van Tinderen. „Die wissen doch immer ein bißchen mehr als unsereins." „Werden Sie ja nicht anzüglich!" bollerte Hatch. Er war Choleriker, und das war bekannt. Niemand regte sich über seine Ausbrüche noch auf. Die Tür der Bodenleitstelle flog auf und knallte gegen die Wand. In der Öffnung stand Malik, mit Abstand der arroganteste Kerl, den es bei der ErdaußenhandelsGesellschaft gab. Er war schon ein ungenießbarer Mensch gewesen, als er noch in der Verwaltung beschäftigt war. Seit er den Sicherheitsdienst der Händler hier in Groß-Amsterdam leiten durfte, litt er an Größenwahn. Malik geriet in den Bereich der Erfassungsoptik. Hatch zuckte zusammen. Sein wütendes Gesicht verschwand in fabelhafter Schnelligkeit vom Sichtschirm. Malik verschwendete keinen Blick an den Schirm. Er beachtete auch van Tinderen und Buriakow nicht. Er hielt es für überflüssig, überhaupt zu grüßen. Er starrte Hackland an, der sich samt seinem Sessel herumgeschwungen hatte. „Sie haben geschlafen!" brüllte Malik los. „Warum wurde diese verdammte Kugel nicht eher erfaßt?" Steve Hackland hob die Brauen. Buriakow schraubte sich langsam aus seinem Sessel hoch und reckte seine imponierende Gestalt. „Ich muß das Anklopfen überhört haben", sagte er bedächtig. Malik maß ihn mit einem mörderischen Blick. Hackland grinste flach. „Weil sie nicht eher da war", antwortete er. „Die Daten entnehmen Sie den übermittelten Informationen." „Warum wurde der Alarm so spät ausgelöst?" „Ich habe die Sicherheitsbestimmungen eingehalten, Malik. Spielen Sie sich bloß nicht auf. Sie kommen hier rein und brüllen herum, als ob Sie hier etwas zu sagen hätten. Kümmern Sie sich um Ihre Handelsgesellschaft und den ganzen anderen Kram, aber belästigen Sie uns nicht. Außerdem, vielleicht ist die Kugel eine Erfindung Ihrer Leute? Fragen Sie dort mal nach!" „Bemühen Sie sich nicht, mir Sand in die Augen zu streuen!" fauchte Malik. „Die Kugel tauchte für uns völlig überraschend auf. Sie war einfach da, und nicht eine Kontrollsperre hat angesprochen. Ihre Abteilung kennt alle Sperren." Er grinste anzüglich. „Vielleicht finde ich die undichte Stelle auf Anhieb." „Sie meinen, die Kugel käme von uns?" fragte Hackland verblüfft. Malik nickte. „Und das meine nicht nur ich." „Ihre ganze Gesellschaft soll sich einsalzen lassen", lautete Hacklands Ratschlag. „Wir betreiben keine Geheimniskrämerei.
Wenn hier jemand ständig im Nebel wirtschaftet, dann sind das Ihre Leute. Rutschen Sie mir den Buckel runter, ich habe anderweitig zu tun." Van Tinderen lächelte auf eine Art, die Malik die Galle ins Blut trieb. „Ihrem Auftritt zufolge sind Ihnen auch die drei Gestalten entwischt, die aus der Kugel stiegen, was?" Die Wut übermannte Malik. „Wir haben sie in Nummer drei eingeschlossen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sie herausholen werden. Dann aber werde ich Ihnen nachweisen, daß Sie Ihre Beobachtungspflicht grob vernachlässigt haben, Hackland. Und vielleicht kann ich sogar beweisen, daß es Leute sind, die gegen uns opponieren und die von Ihnen die Hinweise über die Sperren bekamen. Einer von Ihnen war es, ich bin mir sehr sicher!" „Sie sind ein Narr, Malik!" Hackland schwang den Sessel herum und wandte sich seiner Schaltkonsole zu. Van Tinderen setzte den Finger auf eine Taste. „Seit wann sind wir als Beobachter für die Erdaußenhandels-Gesellschaft angestellt? Wir sprechen die Frachter herunter und schießen sie rauf. Alles andere interessiert uns nicht. Noch nicht!" „Was soll das heißen?" „Daß uns Ihre Gesellschaft stinkt. Uns allen hier. Zwanzig Millionen Menschen in Groß-Amsterdam fassen es allmählich als Zumutung auf, daß Ihre Gesellschaft sich wie ein eigener Staat aufführt und alle Privilegien für sich in Anspruch nimmt. In den anderen Städten ist es nicht anders, und dort unterhält Ihr Verein nur Filialen. Die Leute lassen sich bald nicht mehr auf der Nase herumtanzen und auf den Zehen herumtreten. Geben Sie diese Information ruhig mal an Ihre Vorgesetzten weiter, Malik." „Und wofür interessieren Sie sich noch nicht?" „Für das, was außer Metall und Erz noch mit den Frachtern auf die Erde kommt. Aber wir könnten der Regierung einen Wink geben. Ich bin sicher, man wird sich über den schwunghaften Schmuggel sehr wundern." Malik starrte van Tinderen feindselig an. Buriakow stapfte zur Tür und machte eine einladende Geste nach draußen. „Ich kann Sie nicht leiden, Malik. Sie haben hier weder was zu suchen noch zu sagen. Dennoch sind Sie in der Bodenleitstelle. Soll ich Sie tragen?" Maliks Gesicht war rot. Er fuhr mit der Hand über seinen blinkenden Helm mit den gezackten Farblinien, wandte sich um und stapfte hinaus. Buriakow warf die Tür so knapp hinter ihm zu, daß Malik noch einen Stoß in den Rücken bekam. „Dieser aufgeblasene Frosch platzt eines Tages ganz von selbst", meinte van Tinderen. Buriakow knetete die Hände und setzte sich in seinen Sessel. „Ich hätte ihn gerne bis zur Treppe getragen. Schade, daß er gekniffen hat."
Steve Hackland dachte nach. Nach einer Weile erhob er sich und ging unruhig im Raum auf und ab. „Zwei Dinge verstehe ich nicht. Warum kam er überhaupt her, wenn sie die Leute schon in Nummer drei eingeschlossen haben? Und warum war er so nervös? Man hat ihn geschickt. Er war noch nie hier. Also sind seine Bosse nervös. Warum, frage ich euch?" Buriakow schnalzte mit den Fingern. „Die Eindringlinge sind nicht von uns, aber sie haben die Händler beunruhigt. Hat man Angst, daß man ihrem Schmuggel auf die Schliche kommt?" „Das kann nicht sein. Alle Welt weiß doch, daß die Frachter von der Venus den köstlichen, leider verbotenen Banol Schnaps mitbringen." „Vielleicht nehmen ihre leeren Frachter außer dem Atommüll noch andere Dinge mit, wenn sie von hier starten", schlug Buriakow vor. „Aber was? Es müßte schon auf dem Raumhafen lagern. Anders kann ich mir den Zirkus nicht erklären, den er aufgeführt hat. Die Händler fürchten eine Entdeckung. - Ich denke, ich frage Saskia. Vielleicht kann sie sich mit ihrer Bande mal um die Händler und um die drei Gestalten kümmern." Er drückte zwei Knöpfe in die Konsole und hatte einen sehr nachdenklichen Zug um den Mund. Diese verdammten Händler und ihr gesamtes Gefolge entwickelten sich zu einer Belästigung. Er wartete auf die Verbindung mit Saskia. Van Tinderen tastete das weitere Programm ein, und Hatchs Gesicht erschien wieder auf dem Schirm. „Ich riskiere es", sagte er. „Was?" Van Tinderen schaute zu ihm auf. „Die Durchquerung der Satellitenschwärme. Ich verliere zu viel Zeit." Van Tinderen legte die Hände zusammen. „Ich habe meine Bestimmungen zu beachten. Außerdem öffnet sich das Tor für den Marsschuß wirklich erst in knapp zwei Stunden. Sie können in Ihren Tabellen nachsehen." Hatch fluchte erbost. „Oder wollen Sie den Eintauchwinkel zum Mars verpassen, Hatch? Vor zwei Jahren ist die Corallo dran vorbeigeflogen. Sie strandete auf einem der kleinen Jupitermonde. Vor sechs Monaten kam der letzte SHF-Spruch im Drei-Gigaherzbereich herein. Sauerstoff null, Proviant keiner, und die Mannschaft tot - bis auf den, der den letzten Spruch absetzte." „Ich verliere meine Prämie." „Ich meine Anstellung. Sie bekommen die Startdaten, wenn es Zeit ist." Hatch schaltete sich aus der Verbindung. Buriakow starrte auf den leeren Schirm. „Prämien! Diese habgierigen Burschen bekommen die Taschen nicht voll genug. Warum ist er so scharf darauf, den riskantesten Eintauchwinkel zu nehmen?"
„Frag mich besser nicht", wehrte van Tinderen ab. Unter den Kapitänen der EAHG, wie sie die Gesellschaft im internen Sprachgebrauch nannten, mußte eine Art tollkühner Wettstreit ausgebrochen sein. Es verging nicht eine Woche, in der nicht wenigstens ein Frachter den Eintauchwinkel verpaßte. „Was hat er geladen?" wollte Buriakow wissen. „Atommüll - wie immer. Verdammt, mir ist es ja egal, wie die EAHG ihre Schiffe fliegen läßt. Mein Geld verpulvern sie nicht. Aber warum will Hatch erst eine Marsbasis anfliegen, wenn er ohnehin weiter raus in den Asteroidengürtel muß, um den Müll abzulagern?" „Wohin muß er da?" „Bis zur Hestia-Lücke. Die Asteroiden der Delta-Klasse sind dran." Buriakow verfügte über ein phänomenales Gedächtnis. „Zweieinhalb astronomische Einheiten", brummte er. Das war die Entfernung bis zur Hestia-Lücke, oder die zweieinhalbfache Entfernung Erde-Sonne. Eine gewaltige Strecke war das. Selbst mit dem kernchemischen Antrieb, den Hatch erst außerhalb der Erdatmosphäre einschalten durfte, würde er in frühestens neun Monaten zurück sein. Neun Monate? Irgendwo klingelte es in seinem Gehirn Alarm. Er beugte sich über seine Konsole und rief die Daten von Hatchs letzten Flügen ab. Hatch war nach den Aufzeichnungen dreimal mit Atommüll zu den Asteroiden der Delta-Klasse in die Hestia-Lücke geflogen. Das machte zusammen und bei günstiger Begutachtung 27 Monate und ein paar Tage aus. Seltsam war nur, daß Hatch dazwischen auch eine Reise zur Venus gemacht hatte, die zwei Monate dauerte, und mit seiner ARROW nicht weniger als sechs Versorgungsflüge zur Mondbasis sieben erbracht hatte. Die Arrow war entgegen ihrem Namen alles andere als pfeilschnell. Entweder gab es die ARROW zweimal, oder Hatch war wirklich der Mann, der richtige Wunder vollbringen konnte. „Schau dir das mal an", forderte Buriakow seinen Kollegen van Tin-deren auf. Zwei Minuten später mußte Steve Hackland seine angeregte Unterhaltung mit Saskia abbrechen und sich die Bescherung auf Buriakovs Schirm ansehen. Hatch hatte mit der ARROW in nur siebenundzwanzig Monaten und elf Tagen eine Strecke abgeflogen, die nicht einmal eines der wirklich schnellen Forschungsschiffe der Regierung bewältigen konnte. „Was haltet ihr davon?" fragte Buriakow. „Im Register hast du nachgesehen?" vergewisserte sich Hackland.
„Es ist nur eine ARROW registriert", bestätigte der Russe. „Dann benützt er einen neuartigen Antrieb, von dem wir keine Ahnung haben und den ihm seine verdammte Firma eingebaut hat", sagte van Tinderen. „Oder er ist niemals bis zu den Asteroiden der Delta-Klasse in der Hestia-Lücke geflogen!" Hacklands Worte standen wie eine Anklage im Raum. Buriakow und van Tinderen benötigten einige Zeit, um zu begreifen, welche Konsequenzen diese Anschuldigung haben mußte. Hatch war mit seiner ARROW ein Betrüger! Er hatte den Atommüll irgendwo abgeladen, wo er nicht hingehörte. An einem Platz, der ihm genug Zeitgewinn für eine Venusreise und sechs Versorgungsflüge zum Mond gebracht hatte. Buriakow begann zu schwitzen. Das wollte bei ihm etwas bedeuten. Er überwand den Erkenntnisschock erstaunlich schnell. „Soll ich nachrechnen, wo er gewesen sein kann?" erkundigte er sich und brachte damit zum Ausdruck, daß er die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollte. Van Tinderen liebte keine Komplikationen. Er war ein Mann des Ausgleichs, ein Erbe seiner Vorfahren, die mit Geduld und glückhaftem Handel zu Wohlstand gekommen waren. Streit kostete Geld, Friede brachte Gewinn. „Wir sind nur die Bodenleitstelle der Raumsicherung. Was geht es uns an, wo er den atomaren Abfall läßt?" versuchte er abzuwiegeln. „Das ist gar nicht unsere Aufgabe." Steve Hackland grinste ihn auf eine sehr freudlose Art an. „Das ist richtig - nicht unsere Aufgabe, wo er den Abfall läßt. Aber es ist verdammt unsere Aufgabe, nachzuprüfen, wo er sich herumgetrieben hat. Alex, rechne die möglichen Routen der ARROW aus!" Eigentlich hieß er Alexej, aber der Name hatte sich im Sprachgebrauch als sehr unhandlich erwiesen. Darum hatten sie einfach die beiden hinteren Buchstaben gekappt. Alex Buriakow klang auch nicht übel. Buriakow zog die Bahn- und Ephemeridentabellen zu Rate und klappte den Tisch in der Raummitte auseinander, um mehr Platz für die umfangreichen Folien zu haben. Hackland rief die Raumüberwachungsstation auf der Mondbahn und ließ sich die nächsten Einflüge melden. Er überprüfte die Zeit. In fünf Stunden sollte eine Marsfähre übernommen und auf den Landestrahl gesprochen werden. Die Spanne reichte aus. Sie mußte einfach ausreichen. Er schaltete seinen Schirm auf Lichtfaserkommunikation, weil die fast hundert-
prozentig abhör- und absehsicher war, im Gegensatz zum SHF- und EHFSprechbereich. Alle Städte im Bereich der Vereinigten Staaten von Europa waren untereinander durch Lichtfasern verkabelt. Die Lichtfasern boten zudem noch den Vorteil der unbegrenzten Unterbringungsmöglichkeit von Sprech- und Bildkanälen. Steve Hackland rief die Raumhäfen im Staatenbereich ab. Zehn Minuten später wußte er, daß Hatch mit der ARROW für den Venusflug von Cardiff gestartet war und daß er die Mondbasisversorgungsflüge von Warschau, Kiew, Groß-Wien, Mailand und Granada aus unternommen hatte. Von Mailand war er zweimal gestartet. Irrtümer waren ausgeschlossen. Als vorsichtiger Mann, der im Begriff war, sich Malik zum Feind zu machen, ließ Hackland sich die Daten überspielen. Er speicherte sie ein. Das waren Beweismittel! Alex Buriakow war nicht nur ein gutgelaunter und mit einem großartigen Gedächtnis ausgestatteter Mensch, er war auch ein Arbeitstier. Hackland hatte gerade die Einspeicherung beendet, als er mit seinen fertigen Rechnungen kam. „Theoretisch kann er vier Asteroiden angeflogen haben, die zwischen Mars- und Erdbahn durchgehen", meinte er unzufrieden. „Was bedeutet es also praktisch?" „Wegen der großen Bahnexzentrizitäten ist es fast unmöglich, die Brocken zu erwischen", brummte Buriakow. „Außerdem steht in diesem Raumsektor das Marslabor. Es müßte einen Durchflug oder eine Annäherung der ARROW beobachtet haben. Bekannt ist mir nichts davon." „Hören wir nach", sagte Hackland mit der Bestimmtheit eines Mannes, der sich schon zu weit vorgewagt hatte und der wußte, daß er alles gewinnen, ebensogut aber auch alles verlieren konnte. Er stellte eine Verbindung zum Marslabor auf drei Gigaherz in der Super HighFrequenz her. Die SHF war ideal für den Raumsprechfunk. Sie erbrachte ein Minimum an Störleistungen. Das gefürchtete Raumrauschen fiel fast völlig aus. Gebannt lauschten Hackland und Buriakow. Sogar van Tinderen fühlte sich angesteckt. Die Raumsektorüberwachung vom Marslabor hatte die ARROW zuletzt vor sechs Jahren gesichtet und seitdem nicht mal Sprechverkehr mit ihr gehabt. Für die bescheidene Auskunft verlangten die cleveren Burschen vom Labor eine Gegenleistung und beschworen Hackland, ihnen mit dem nächsten Versorgungstransport ein paar Kanister mit dem illegalen Banol-Schnaps zukommen zu lassen.
Er versprach, sein möglichstes zu tun. „Dort war er also nicht", sagte er an Buriakow gewandt. „Was bleibt noch?" Alex zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Der Zeit nach, die ihm zur Verfügung stand, kann er nur noch die Asteroiden der Alpha-Klasse angeflogen haben. Von der Marsbahn aus ist es selbst für einen betagten Kasten wie die ARROW ein gemütlicher Ausflug." „Die Alpha-Klasse?" murmelte Hackland sehr verwundert „Aber die sind doch wegen Überlagerung schon seit zehn Jahren gesperrt. Nicht einmal ein Helm voller Atommüll darf dort noch deponiert werden." „Tut mir leid, das ist die letzte Möglichkeit. Mehr habe ich nicht anzubieten. Oder er hat das Zeug einfach aus einer Luke in den Raum gekippt." Buriakow hob die Achseln. „Die Strahlung wäre angemessen worden. Also scheidet sie aus, denn eine solche Entdeckung ist mir nicht zu Ohren gekommen." Hackland zögerte. Der Schritt, den er jetzt zu machen bereit war, konnte ihn den Kopf und die Anstellung kosten. Er atmete tief ein. Langsam senkte sich seine Hand auf einen rechteckigen Schaltknopf. „Überlege es dir genau!" warnte van Tinderen. Buriakow schaute aus dem ovalen Fenster und summte leise. Steve Hackland gab sich einen Ruck. Sein Finger drückte den Knopf ein, der die Verbindung mit der Staatenregierung herstellte. * Ben schaute sich verwundert um, während oben eine Flammenhölle in der leeren Halle tobte. Die Explosionen der Projektile drangen gedämpft nach unten. „Sieht aus wie ein alter U-Bahnhof, auf dem vor fünfzig Jahren die letzten Züge fuhren", befand er. Frank und Lintberg verschafften sich einen Überblick. Das unregelmäßige, zuckende Licht der Flammenbälle erhellte einen kleinen Sektor einer Rampe, die wirklich mal einen Bahnsteig dargestellt haben konnte. Frank trat vorsichtig an die Kante. Nach einiger Zeit bemerkte er, daß es keine Schwellen da unten gab und daß nur eine Betonschiene verlief. Sie kam aus der Dunkelheit und verschwand dort auch wieder. Er schaltete seine Körperlampe ein. Der scharf gebündelte Lichtstrahl durchschnitt die von den Explosionsblitzen matt erhellte Dunkelheit. Die Betonschiene kam aus einem fast kreisrunden Mauerloch.
Er leuchtete in die Gegenrichtung. Die Schiene verschwand in einem ebensolchen Loch. „Das war eine Einschienenbahn", erklärte er laut, um Lintberg und Ben anzulocken. „Schade, daß wir zu spät kommen", sagte Ben bedauernd. „Ich hätte sie gerne in Betrieb gesehen." Lintberg schaltete ebenfalls seine Lampe ein. Sein Lichtstrahl blieb auf einer Tafel hängen, die in den Beton der Wand eingelassen war. Neugierig ging er auf seine Entdeckung zu, gefolgt von seinen beiden Ingenieuren. Die Tafel war in englischer Sprache beschriftet. Demnach war das die Amtssprache geworden. Aber es tauchten eine Menge niederländische Namen auf. Die Tafel spiegelte. Lintberg streckte die Hand aus, um sie zu berühren und um zu prüfen, ob sie aus Glas bestand. Die Berührung erzeugte einen überraschenden Effekt. Die Tafel leuchtete auf. Sie zeigte eine Art Streckenplan und rote Punkte, die bis über zweihundert durchnumeriert waren. Erschrocken hatte Lintberg die Hand zurückgezogen. Aus Glas bestand die Tafel nicht, wohl aber aus einem glasähnlichen Kunststoff. „Na bitte, der Streckenplan!" lobte Ben. „Da sind ein paar Knöpfe. Drücken Sie mal einen, Professor." Lintberg zögerte. Seine Vorsicht gegenüber unbekannten Geräten war groß. Seine Neugierde war größer. Das war ein stillgelegter Bahnhof, auf dem keine Züge oder was immer auch mehr fuhren. Was konnte schon passieren? Zufällig funktionierte die Anzeigetafel noch. Beherzt drückte er einen Knopf. Vom Erfolg war er mehr bestürzt als überrascht. Irgendwo in der Betongleisröhre dröhnte und wummerte es. Gerade so, als hätte dort ein Zug gestanden und nur auf den Impuls gewartet, der ihn auf diese Station rief. Ben und Frank starrten zu der Röhrenmündung rechts hinüber. Das Geräusch drang dort heraus, allerdings seltsam gedämpft. Frank richtete noch einmal seinen Lichtstrahl auf das Loch. In vier oder fünf Meter Tiefe war die Röhre wie von einer Manschette verschlossen. Sie bestand aus durchsichtigem Material, denn dahinter tauchten die Lichter eines Fahrzeuges auf, dessen fünf Lampen glühten wie die Augen eines Fabeltieres. Das Fahrzeug näherte sich mit verblüffender Geschwindigkeit und durchstieß die Manschette.
Mit dem Fahrzeug schoß auch ein scharfer Luftstrom aus der Röhre. Er traf Ben und Frank völlig unvorbereitet und wirbelte sie über den Bahnsteig. Auch Lintberg wurde getroffen. Er prallte mit dem Rücken gegen die Tafel, die den Anprall jedoch unbeschädigt überstand. Kreischend blieb das Fahrzeug stehen. Es war nichts anderes als ein stromlinienförmig gebauter Triebwagen mit zwei Drehgelenken, so daß die Fahreinheit aus drei Teilen bestand. Grünes Licht ging hinter den Türen an. Sie besaßen ovale und wahrscheinlich mit Kunststoff gefüllte Fenster. Andere Öffnungen gab es nicht. Ben, Frank und Lintberg hatten den Schreck überwunden und betrachteten die Sache kritisch. Die Manschette in der Röhre hatte sich selbsttätig geschlossen. Druckluft trat nicht mehr aus. Wie von Geisterhand bewegt öffneten sich die Türen des Fahrzeuges. Das grüne Licht fiel in breiten Bahnen heraus. „Eigentlich ein sehr großzügiger Service", fand Ben. „Wir brauchen nur noch einzusteigen." „Und unterwegs kommt die Kontrolle und setzt uns an die frische Luft, weil wir keinen Fahrschein vorzeigen können", witzelte Frank. Er versuchte, die Anspannung zu überspielen, in der er sich befand. Das alles ging ihm eine Spur zu geisterhaft zu. Fenster gab es nur in den Türen. Ob das Fahrzeug Passagiere hatte, war vom Bahnsteig aus nicht zu erkennen. Niemand stieg aus, niemand zeigte sich in einer der Türen. „Nach oben können wir nicht", sagte Lintberg. „Sie warten nur darauf. Der Zug bietet sich an. Vielleicht ist er eine Falle." „Eine Alternative", widersprach Ben. „Fahren wir mit dem Ding erst mal los. Wir werden dann ja sehen, was dabei herauskommt." Er war der risikofreudigste Mann des Teams. Aus alten Redensarten hatte er sich einige Lebensregeln zurechtgebastelt, so die, daß das Glück nur dem winkt, der auch etwas wagt. Lintberg war im Zweifel, ob es richtig war, das Fahrzeug zu besteigen. Aber eine andere Chance, von hier fortzukommen, bot sich in der Tat nicht an. Die Röhre war zu eng, um einem Mann zwischen einem zufällig vorbeikommenden Zug und der Wandung genügend Platz zum Überleben zu lassen. Und fraglich war obendrein, ob mit Menschenkraft die Manschette überhaupt zu öffnen war. Vom Bahnsteig aus gab es keine Zugänge zu anderen unterirdisch gelegenen Räumlichkeiten. Nur der Aufgang blieb. „Probieren wir es eben", sagte er und stieg zuerst ein. Er hielt den rechten Fuß nach hinten für den Fall, daß die Tür zuschnappen sollte.
Aufmerksam schaute er nach rechts und links. Es gab keine Sitze. Und es waren keine Fahrgäste da. Personal natürlich ebenfalls nicht. Er stieg vollends ein. Ben und Frank drängten hinter ihm herein. Von der Decke baumelten Hunderte von Handschlaufen, und entlang den Wänden waren waagerecht laufende Griffstangen befestigt. Dieses Transportmittel war nicht unter Gesichtspunkten der Bequemlichkeit gebaut worden. Es diente der Massenbeförderung. Soweit sahen die Zeitreisenden schon klar. Und da dieses Fahrzeug sich in einem Röhrensystem bewegte, wo es ohnehin nichts zu sehen gab, hatte man auf den Einbau von Fenstern gänzlich verzichtet. Professor Lintberg untersuchte die Schlaufen. Sie bestanden aus zähem Kunststoff, der sich sehr griffig und angenehm anfühlte. Altersschwach waren sie jedenfalls nicht. Er untersuchte die Griffstangen entlang den Wänden. Auch sie bestanden aus Kunststoff. An diesem Zug bestanden wohl nur sehr wenige Teile aus Metall. Erlebte die Menschheit etwa gerade den Höhepunkt des Kunststoffzeitalters? Ben hob witternd die Nase. „Es riecht steril wie in einer Tiefgefrierkammer", erklärte er. „Von mir aus kann abgefahren werden." Das Fahrzeug erwies ihm nicht den Gefallen. Die Türen blieben offen. Auch das war von Vorteil, denn die plötzliche Stille fiel allen dreien auf. Oben wurde nicht mehr geschossen. Dafür waren verzerrte und undeutliche Stimmen zu hören. Die Blauuniformierten mit den Antennenhelmen wollten sich jetzt wohl die Beute holen. „Irgendwo muß es doch einen Leitstand oder eine ähnliche Einrichtung geben!" Lintbergs Stimme klang eine Spur heiser. Nirgendwo waren Hebel oder Knöpfe zu sehen, mit denen der Schließ- und Öffnungsmechanismus der Türen hätte betätigt werden können. „Vorne", schlug Ben vor. „Es wäre logisch. Denn dort sieht der Fahrer, ob ein Stein in die Röhre heruntergebrochen ist." Frank belächelte ihn mitleidig. „Bei dem Tempo, das das Ding gefahren ist, braucht es einen Bremsweg von einigen hundert Metern. Abgesehen davon wird die Röhre ausbetoniert sein, so daß niemals ein Stein herunterbrechen kann. Mit der Logik ist das so eine Sache." „Ich sehe jedenfalls vorne nach", verkündete Ben. Lintberg fand, daß die Lage zu unübersichtlich war, um ihre Kräfte auch noch aufzusplittern. „Gehen wir gemeinsam", sagte er. Frank lächelte nicht mehr, als Ben triumphierend, auf einen Leitstand wies, den sie im Bug des Fahrzeuges hinter einer schmalen Kunststofftür entdeckten. Ein paar Kontrollampen brannten, die roten überwogen.
Sie drängten sich alle drei in die enge Kabine und studierten die Schalttafel. Es gab numerierte Knöpfe und Drucktasten. Die Anzeige über einem Knopf mit der Drei leuchtete grün. Sie stellten die Verbindung her. Dies war demnach die Station 3. „Fahren wir erst mal nach vier", bestimmte Lintberg. Er drückte den Knopf ein. Aus dem Zug ertönte ein sanftes Schnarren. Die Türen schlossen sich. Dann war ein Sausen zu hören. Den Zeitreisenden gingen die Gehörgänge zu. Schlagartig begriffen sie, daß Luft in den Zug gepreßt wurde und daß die Türen hermetisch schlossen. Ein sanfter Ruck war zu spüren, die grünen Lichter erloschen. Nur die Anzeigen glühten. Aber vor den kleinen ovalen Fenstern des Leitstandes wurde es hell. Die fünf Lampen leuchteten auf und rissen die Betonschiene bis zur Manschette in der Röhre aus der Dunkelheit. Aus dem sanften Ruck wurde ein hartnäckiges Ziehen. Die Beharrungskräfte der Körper setzten ein. Der Zug bewegte sich schneller, als die Männer sich darauf einstellen konnten. Lintberg verlor zuerst das Gleichgewicht. Er ruderte um sich, glitt von der Türkante ab und stürzte nach hinten in den leeren Zug. Ben folgte ihm zwei Sekunden später. Sie fanden sich zufällig in der Nähe der Tür wieder. Nur Frank hatte das Glück gehabt, einen Griff zu erwischen. Er hielt sich fest und meinte, daß ihm das eigene Körpergewicht den Arm lang und länger zog. Das Fahrzeug beschleunigte mit irrsinnigen Werten. Etwas knallte gegen die Außenhaut. Die Manschette in der Röhre! Dann war der Zug im Tunnel. Das dumpfe Rollen erstarb, die Vibrationen hörten auf. In den Fahrzeugwänden knackte es. Frank starrte durch ein ovales Fenster nach vorn. Wie ein Geschoß raste der Zug auf seiner Leitschiene dahin. Weit voraus sah er im Licht eine Markierung glitzern. Bevor er feststellen konnte, was es war und von welcher Form, war der Zug schon daran vorbei. Frank spürte ein leichtes Grausen. Das Fahrzeug bewegte sich bereits so schnell, daß es einen gewaltigen Pfropfen zusammengedrückter Luft vor sich herschob und zwangsläufig langsamer werden mußte. Das war nicht der Fall. Die Fahrgeschwindigkeit nahm noch zu. Die Manschetten! Blitzartig zuckte ihm eine wahnsinnige Vorstellung durch den Kopf. Die Manschetten waren nichts anderes als Druckschleusen, und hinter diesen Schleusen befand sich in den Röhren ein Vakuum.
Nur so war die rasende Fahrt zu erklären, der Druckanstieg in der Zugkabine und das Knacken in den Wandungen. Der heftige Luftstoß, der Ben und ihn getroffen hatten, war lediglich der kleine Luftpfropfen, der sich zwischen der Manschette und dem Röhrenausgang befunden hatte. „Der verfluchte Kasten zog aber mächtig an", meldete sich Ben aus der Dunkelheit. Frank gab ihm und Lintberg, der dort irgendwo murmelte, Aufklärung über die Ursache des heftigen Anzuges und die hohe Fahrgeschwindigkeit. Danach wandte er sich den matt leuchtenden Kontrollen zu. Er hatte schon gesehen, daß überall Metall durch Kunststoff ersetzt war, wo ein Ersatz nur denkbar war. Es wurde auch an Energie gespart. Das bewies einmal das Erlöschen der grünen Zugbeleuchtung. An den Kontrollen sah er es auch. Nur wenige Skalen schimmerten. Auf einer sah er einen roten Strich, der immer mehr nach unten schrumpfte. Er beobachtete ihn und kam zu dem Schluß, daß es sich um die Anzeige der Fahrstrecke handelte. Gemessen an dem verbliebenen Rest des Striches mußte gleich die Station vier erreicht sein. Und wirklich griffen irgendwo auch Bremsen. Der Zug schlingerte, die Vibrationen setzten wieder ein, und die Geschwindigkeit verringerte sich spürbar. Ben war auf diesen Effekt nicht eingerichtet. Erneut verlor er das Gleichgewicht und kam durch die Tür gesegelt, diesmal jedoch in umgekehrter Richtung. Lintberg mußte sich einen festen Halt verschafft haben. Er ächzte zwar vernehmlich, aber er blieb in der Dunkelheit. Für jemand, der dieses Verkehrsmittel regelmäßig benutzen mußte, war die Fahrerei eine Tortur. Ben fluchte ungeniert. Er war gegen das Schaltbrett gestoßen. Die Fahrt wurde noch stärker gebremst. Dann tauchte voraus die nächste Manschette auf. Es klatschte, als der Zug hindurchsauste und sich wieder in normalen Luftdruckverhältnissen befand. Knackend entspannten sich die Wände, und mit leisem Zischen entwich der Kabinenüberdruck. So sparsam die Leute mit der Energie umgingen, so unlogisch war an und für sich der Betrieb dieses Zuges. Er fuhr auch für nur drei Leute. Der Energieaufwand stand in keinem Verhältnis zum Nutzen. Oder es gab Vorrichtungen, die die Bremsenergie umwandelten und irgendwo speicherten, um sie nachher beim Anfahren wieder abzugeben?
Auch die Aufrechterhaltung eines Vakuums in den Röhren erforderte einen gewissen Aufwand. Mit einem sanften Kreischen hielt das Fahrzeug auf der Station vier. Frank beugte sich nach vorn. Ben murmelte und wischte sich über die Augen. Hier war Endstation. Tageslicht fiel in die unterirdische Bahnsteighalle. Dort, wo in der Fortsetzung die nächste Röhre hätte sein müssen, ragte gezacktes Betonwerk auf. Grau hob sich der Himmel dahinter ab. Die Betonschiene war abgerissen. Die beiden Männer blickten in eine völlig zerstörte Häuserlandschaft. Da und dort bewegte sich ein baggerähnliches Gerät und räumte Schutt beiseite. Mitten in der Stadt hatte sich eine unvorstellbare Katastrophe ereignet. Die Zerstörungsgrenze verlief genau durch diese Station. „Mensch, ist denen eine saubere Bombe hochgegangen?" murmelte Ben erschüttert. „Wieso sauber?" „Dort drüben klettern Leute in den Trümmern rum. Wenn es Strahlung gäbe, würden sie es nicht machen." Was ist da los?" fragte Lintberg. Er kam in den Leitstand und schaute nicht weniger betroffen als seine beiden Gefährten auf das jammervolle Bild der Zerstörung. Hinter ihnen öffneten sich die Türen. Eine Frauenstimme sagte: „Sie müssen drin sein, ich spüre sie." Sie fuhren herum. Sie sahen niemand. Der Blickwinkel war zu ungünstig. Eine andere Frauenstimme sagte: „Weg kommen sie nicht. Ole hat den Antrieb blockiert und die Energiezufuhr unterbrochen. Wir können sie herausholen. Wir können auch warten, bis Hunger und Durst sie heraustreiben. Steve Hackland sprach von drei nichtidentifizierbaren Menschen." Die erste Frauenstimme erklärte: „Es sind Männer. Und es sind keine Händler. Sie staunen und haben viele Fragen. Fremde mit einer Ausstrahlung, die ich noch nie spürte." Lintberg, Ben und Frank nahmen die Paralyzer in die Hand. Ein blockierter Antrieb und eine unterbrochene Energiezufuhr bedeuteten auch ohne dieses Chaos voraus die Endstation. Auch die Rückkehr zur Station drei war verbaut. Dieser Ole schien außerordentliche Fähigkeiten zu besitzen, daß er in wenigen Augenblicken einen Röhrenzug unbrauchbar machen konnte. Der Name Steve Hackland sagte ihnen nichts. Jemand, der einen Namen hatte, konnte aber nicht gerade ein Ausbund an Verworfenheit sein. Und unfreundlich hatten beide Frauen nicht gesprochen.
Diejenige, die zuletzt geredet hatte und die Ausstrahlungen zu spüren vorgab, hatte sogar sehr erleichtert die Feststellung getroffen, daß sie keine Händler waren. Die drei Zeitspringer waren etwas nervös. Seit langer Zeit war es wieder die erste Begegnung mit Menschen der Zukunft. Waren sie feindselig wie die Uniformierten auf dem Raumhafen? Langsam traten sie in die erste Türöffnung. Eine Art Abordnung hatte sich auf dem Bahnsteig versammelt. Männer und Frauen, alte und junge, standen auf der gesprungenen Betonplatte und blickten ihnen entgegen. Ihre Gesichter waren ausdruckslos. Lautlos zählten die Zeitreisenden sie. Fünf Frauen, sieben Männer. Niemand hielt eine Waffe in der Hand, niemand ein Gerät, mit dem vielleicht die Uniformierten herbeigerufen werden konnten. Das sah schon einmal vielversprechend aus. Eine Frau in mittlerem Alter schob sich in den Vordergrund. „Es sind Fremde, ich spüre es jetzt deutlich. Sie verstehen kaum etwas. Sie können nicht begreifen." Es war die, die behauptet hatte, sie seien keine Händler. Sie schauten sie genauer an. Das Grauen packte sie. Die Frau hatte keine Augen. Das Gesicht mit den leeren Höhlen war der Tür und den Zeitspringern zugewandt. * Die Staatenregierung handelte ungewohnt schnell. Van Tinderen bekam die Anweisung, der ARROW unter keinen Umständen die Startdaten zu übermitteln. Die Bildung eines Untersuchungsausschusses wurde angekündigt. Steve Hackland schwitzte. Bis jetzt klang alles ganz gut. Er konnte sich nicht erinnern, daß die Regierung einmal so blitzschnelle Entscheidungen getroffen hatte. Wenn sich herausstellte, daß er sich irgendwo geirrt hatte, dann war er morgen seine gutbezahlte Stelle los. Und Buriakow und van Tinderen ebenfalls. Dann saßen sie draußen vor der Tür und vergrößerten die Zahl derjenigen, für die man keine Arbeit hatte. Dann gab es keine Kreditscheine mehr und all die kleinen Vergünstigungen, die das Leben recht annehmbar machten. Dann zählten sie zu den ungefähr achtzig Millionen Menschen ohne Arbeit, die man auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten von Europa schätzte. Eine genaue Erfassung hatte es nie gegeben. Die Staatenregierung beschäftigte Leute, deren Aufgabe es war, genaues Zahlenmaterial zu erarbeiten. Seelenzähler nannte man sie!
Aber sie hatten irgendwann vor der Aufgabe kapituliert und lieber die Menschen gezählt, die eine Beschäftigung hatten. Das war einfacher, denn diese bekamen Kreditscheine, die sie irgendwo einlösten. Kreditscheine waren erfaßbar. Buriakow summte. Plötzlich brach er ab, grinste und sagte: „So flink war die Regierung nie. Du hast genau in ein Hornissennest gegriffen. Fragt sich nur, ob die Hornissen uns oder Hatch stechen." „Du mit deinen russischen Weisheiten!" schnappte van Tinderen. „Wo willst du ein Hornissennest gesehen haben?" „In der großen naturkundlichen Ausstellung letztes Jahr hatten sie eines. Und elf Tiere in Konservierflüssigkeit. Ein uralter Forscher, der das Nest in jungen Jahren selber geborgen hatte, gab Erläuterungen. Früher muß es jede Menge Nester gegeben haben. Und drei Stiche eines Tieres reichten, um einen Menschen zu töten. War eine ganz schön gefährliche Zeit." „In der leben wir immer noch", behauptete Steve Hackland. Er hatte seinen Schirm beobachtet. „Malik ist schon wieder im Anmarsch. Diesmal hat er Verstärkung mitgebracht." Der Schirm zeigte den Platz vor dem Gebäude. Eine Schwebeplattform landete gerade. Unter den abspringenden Männern war wirklich Malik. „Ich kann ihn wirklich nicht leiden", sagte Buriakow und drückte eine Taste ein. Dabei grinste er, weil er wußte, daß sich in diesem Augenblick bereits die Eingangstüren schlossen. Nach einer Weile kehrte Malik auch wirklich mit seiner Hilfstruppe zum Schwebegleiter zurück. Bevor die Plattform abflog, drohte Malik mit der Faust zur Aufnahmeoptik her. „Diese Burschen nehmen sich Freiheiten heraus, daß ich mich frage, wie lange die Regierung noch zusehen wird", brummte der Russe. „Sie hält still, denn sie braucht die EHAG und ihre Flotte. Daß sie auf die Entdeckung der Abwege der ARROW überhaupt reagierte, halte ich immer noch für einen Irrtum oder einen schlechten Witz", bekundete van Tinderen seine Ansicht der Situation. Sein Computer begann zu arbeiten und warf eine Mitteilung aus. Die Staatenregierung kündigte die gesammelten Daten aller Händlerschiffe und ihrer Flüge während der letzten fünf Jahre an. Van Tinderen schaltete den Verstärker für die Lichtfaserleitung ein. Wichtige Nachrichten wurden nun mal auf diesem Wege übermittelt. Nach wenigen Minuten trafen die optischen Impulse ein und wurden in Symbole umgewandelt. Aus dem Schlitz kroch ein Streifen, der immer länger wurde. Als der Computer den Auswurf beendete, war mehr als eine Stunde vergangen.
Van Tinderen zog den Streifen durch die Finger und las die Daten ab. Mit halblauter Stimme murmelte er sie vor sich hin. Die Erdaußenhandels-Gesellschaft oder ihre Kapitäne hatten die Staatenregierung um Milliarden Kreditscheine betrogen. Wer die Hauptverantwortung trug, stand noch nicht fest. Ermittelt wurde bereits. Die EAHG hatte vor zehn Jahren offiziell die letzten Frachter mit Atommüll zu den Asteroiden der Alpha-Klasse fliegen lassen. Die Lagerplätze auf den kleinen Planeten waren hoffnungslos überfüllt, sogar die ausgebeuteten Erzminen waren vollgestopft. Mehr war nicht zu verantworten gewesen, denn Wissenschaftler hatten die Regierung davon überzeugt, daß ein überlagerter Asteroid eine gigantische Atombombe mit Zeitzünder war. Das Material strahlte, eine Kettenreaktion konnte die Folge sein und als Abschluß eine Explosion als eine von mehreren Möglichkeiten. Vielleicht zerstrahlte der Müll auch den Kleinen Planeten, oder es kam zum Atombrand. Das eine war so schlimm wie das andere. Sonnenwinde und die Anziehungskräfte der sonnennahen Planeten beförderten strahlenden Staub langsam auf die Kolonien und Minenstädte und auf die Erde. Das konnte Jahrhunderte dauern. Das Ergebnis war eine gründliche Verseuchung der Rohstoffgebiete, auf die die Erde angewiesen war. Und die Erde selber würde auch verseucht werden. Kam es zum Atombrand oder zu einer Explosion, dann wurde schlagartig sehr viel harte Strahlung freigesetzt. Und die brauchte nur kurze Zeit, um die Rohstoffplaneten und die Erde zu treffen. Um dies zu verhindern, hatte die Regierung die Ratschläge der Wissenschaftler befolgt und der Erdaußenhandels-Gesellschaft den Auftrag gegeben, die Deponierung von Atommüll auf den Asteroiden der Alpha-Klasse einzustellen und damit bei den Brocken der Beta-Klasse neu zu beginnen. Binnen zehn Jahren waren die Deponien schon bis zu den Astroiden den der Delta-Klasse gekommen. Jedenfalls hatte die Erdaußenhandels-Gesellschaft der Staatenregierung Müllflüge in dieses entfernte Gebiet in Rechnung gestellt, und die Regierung hatte gezahlt. Die EAHG hatte auch die Asiatische Union betrogen und die Afrikanische Föderation. Sie flog auch für deren Regierungen den Atommüll ab. Noch immer hatte man nicht die Beherrschung des Plasmas gelernt, noch immer war man weltweit auf die antiquierten Atomkraftwerke angewiesen deren Zahl allein auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten von Europa die Marke von dreitausend überstieg.
Entlang den Flüssen saßen sie wie Perlen auf einer Schnur und produzierten die dringend benötigte Energie für die gigantischen Fabrikationsanlagen. Sie produzierten auch Müll, für dessen gefahrlose Einlagerung auf der Erde kein Platz mehr war. Der Asteroidengürtel hatte sich angeboten, als neue große Deponie zu dienen. Auch auf den Planeten war Müll in ausgebeuteten Minen eingelagert worden. Aber der Raum dort war beschränkt. Und kommenden Kolonisten wollte man nicht eine Zeitbombe unter den Füßen anbieten. Ein Vergleich der Flugzeiten, eine scharfe Überprüfung der alten Daten hatte ergeben, daß die Schiffe der EAHG den gefährlichen Müll zu achtundneunzig Prozent auf den Asteroiden der Alpha-Klasse abgeladen hatten. Dieser Spruch über Lichtfaserleitung ging als Ringbenachrichtigung gleichzeitig an alle Bodenleitstellen der Raumsicherung - in der Asiatischen Union, der Afrikanischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Europa. Der letzte Satz war wenig tröstlich. Ein Schiff der Staatenregierung, das auf der Marsbahn stand, hatte bereits den Auftrag erhalten, in die Alpha-Asteroiden einzufliegen und Messungen vorzunehmen. Die Bodenleitstellen wurden angewiesen, auf SHF-Sprüche der PATHFINDER III zu achten. „Ein Schiff!" Van Tinderen lachte beinahe hysterisch. „Die Händler haben mehr als hundert. Was die in all den Jahren da hinaufgeschleppt haben!" Buriakow war ebenfalls sehr unzufrieden. Die Staatenregierung hatte es für nützlicher erachtet, gewaltige Fabrikationsanlagen und vollautomatische Produktionsstätten zu bauen, statt Schiffe zu unterhalten. Aber einmal hatte sie mit der vollautomatischen Produktion das Millionenheer der Arbeitslosen vergrößert, und zum anderen reichten die fünf PATHFINDERSchiffe, die sie besaß, bei weitem nicht aus, auch nur alle Forschungsaufträge auszuführen. Oft genug mußten Frachter von der EAHG angemietet werden. In aller Stille hatte die Erdaußenhandels-Gesellschaft ihr Monopol ausgebaut und gefestigt. Der verläßlich erscheinende, wenn auch arrogante Partner entpuppte sich jetzt als Betrugsunternehmen, wie es auf der Erde ohne Beispiel war. Van Tinderen stellte eine Verbindung zur ARROW her, nachdem er den Streifen beiseite gelegt hatte. „Die Startvorbereitungen sind bis auf weiteres unterbrochen", teilte er dem Kapitän mit. Hatchs Gesicht auf dem Schirm verzerrte sich. „Ihr Scheißkerle, wofür haltet ihr euch eigentlich?" Seine Reaktion verriet deutlich, daß er bereits wußte, was im Gange war.
Bei der Staatenregierung gab es eine undichte Stelle. Und die Händler waren ohnehin dafür bekannt, daß sie das Gras wachsen hörten. Van Tinderen grinste Hatch an und schaltete ab. * Steve Hackland versuchte, wieder eine Verbindung mit Saskia zu bekommen. Statt des Mädchens meldete sich ein junger Mann, der verkehrt herum auf der Aufnahmeoptik saß, so daß Hackland nur seinen Hinterkopf zu sehen bekam. „Sie hat den drei Männern einen Röhrenzug nach Nummer drei geschickt", sagte er mit heller Stimme. „Damit sind sie Maliks Leuten auch wirklich entkommen. Saskia nimmt sie in Nummer vier am Rand des Zerstörungsgebietes in Empfang. „Warte, Steve!" Er verschwand aus dem Schirm. Nach einer Minute kehrte er mit abgewandtem Gesicht zurück. „Ole hat sich gemeldet. Er sagt, daß Emilia unsagbar fremde Ausstrahlung empfängt. Es sind drei Fremde, die niemand kennt. Spione vielleicht?" „Dann hätten sie sich nicht gerade den Raumhafen ausgesucht und aller Welt präsentiert", widersprach Hackland. „Versucht herauszufinden, was mit ihnen los ist." „Kommst du heute, Steve?" „Das wird kaum gehen. Es braut sich etwas gegen die Händler zusammen. Vielleicht kommt Alex hin." „Er soll nicht vergessen, daß wir heute nach Quadrat zwei überwechseln, Steve." „Er hört mit, Fernando. Bis bald." Hackland schaltete ab und stellte neue Verbindungen her, die nur den einen Zweck hatten, den eben benutzten Kanal unauffindbar zu machen. „Sie brauchen sicher wieder Kreditscheine", sagte Buriakow grinsend. „Veranstalten wir eine Sammlung." Er holte seinen Helm aus dem Spind und warf zwei Kreditscheine hinein, ein Fünftel seines monatlichen Gehaltes. Van Tinderen gab drei; er hatte gut geheiratet. Seine Frau hatte zwei Minenanteile mitgebracht und bekam von der Staatenregierung jeden Monat hundert Kreditscheine zuzüglich einer Erzprämie von fünfzig Scheinen. Nach landläufigen Begriffen waren van Tinderen und seine Frau steinreich. Die eine Mine lag auf dem Mars, die andere auf der Venus. Griet van Tinderen besaß an jeder ein kleines Recht und flog manchmal hin, um sich den Abbau anzusehen. Ein Flug Erde-Venus und zurück kostete mit einmonatigem Aufenthalt zwölf Scheine. Ein Klacks für sie.
Er war noch nie oben gewesen. Buriakow schaute in den Helm auf die drei Kreditscheine, die obenauf lagen. „Hält dich Griet so knapp?" erkundigte er sich mitfühlend. Van Tinderen fluchte erbittert und rückte drei weitere Scheine heraus. Steve Hackland legte zwei Kreditscheine in den Helm. Zehn waren beisammen. Soviel bekam jeder von ihnen im Monat. Für Saskias Bande bedeuteten sie das Überleben für wenigstens drei Monate. Buriakow griff die Scheine aus dem Helm und stopfte sie in die Brusttasche. Er holte eine Folie mit dem Aufriß von Groß-Amsterdam aus der Kartenwand, breitete sie auf dem Tisch aus und legte einen Raster darüber. Halblaut zählte er, bis er das Quadrat zwei gefunden hatte. Es war der Nordbereich des ehemaligen Utrecht. Früher sollte es da weites Grünland gegeben haben. Jetzt war es einer der Wohnbezirke von Groß-Amsterdam. Er verschob den Raster um zwei Zentimeter und buchstabierte die Bandgleiterlinie zusammen, mit der er hinkam. Sie gehörte nicht zu jenen, die vom Absturz der CERES betroffen und unterbrochen waren. Er hatte gerade Raster und Folie an ihren Platz zurückgebracht und den Helm verstaut, als zwei Abgesandte der Staatenregierung erschienen. Die Regierung unterhielt in allen zusammengeschlossenen Großstädten Residenturen mit einem Gouverneur an der Spitze und einer zweihundertköpfigen Gefolgschaft, die sich im allgemeinen keiner großen Wertschätzung erfreute. Eine böse Zunge hatte sie einmal unnütze Fresser genannt. Das Wort hatte die Runde gemacht und war zu einem festen Begriff geworden. Die beiden unnützen Fresser schauten sehr energisch drein, und sie machten sich auch mit Sachverstand an die Arbeit und überprüften Hacklands Originalaufzeichnungen. Van Tinderens Computer mußte ihnen Kopien ausdrucken. Damit bewaffnet, brachen sie auf, um die ARROW einer peinlich genauen Inspektion zu unterziehen und Hatch zu verhören. Sie waren nicht nur Meister im Zeittotschlagen, sondern auch sehr zielstrebig bemühte Gefolgsleute ihres Gouverneurs. „Ich wäre gern dabei, wenn sie mit Malik zusammengeraten", sagte van Tinderen und blies Luft aus den Backen, als sie aus dem Raum waren. Steve Hackland verfolgte ihren Weg, solange es die Aufnahmeoptik erlaubte. Als sie in den Schutz eines Gebäudes gerieten, verlor er sie. Sie tauchten nicht wieder auf. Nach zwei Stunden ließ Hackland sie suchen. Die Patrouille der Raumsicherung fand nur vier Gebäude entfernt zwei längliche Brandflecken auf dem Beton.
Die Asche war vom Wind fortgewirbelt. Ein kleines Folienstück der Kopie war übriggeblieben. Nur daran waren die Flecken als die Reste der beiden Männer zu identifizieren. Bis zur ARROW waren sie gar nicht gekommen. „Malik!" sagte Buriakow heiser. Er wandte sich zu van Tinderen um. „Sei froh, daß du nicht dabei warst." Der Statthalter der Staatsregierung übermittelte einen scharf formulierten Protest an die Erdaußenhandels-Gesellschaft und benannte Malik als den Verantwortlichen. Die Erdaußenhandels-Gesellschaft wies den Protest zurück und lieferte sogleich ein Alibi für Malik mit. Zum fraglichen Zeitpunkt hatte er sich danach im Südbezirk von Groß-Amsterdam befunden, das früher Rotterdam hieß. Fünfzig Zeugen wurden dazu angeboten. „Ich wette die Minenanteile deiner Frau, daß die Zeugen Händler sind", sagte Buriakow sarkastisch. „Was muß noch alles passieren, bis etwas passiert?" * „Ich bin Emilie", sagte die Frau. Sie hatte nicht nur leere Augenhöhlen. Ihr Körper wirkte irgendwie deformiert. An der rechten Hand besaß sie sieben Finger und keinen Daumen. „Lintberg", sagte der Professor und senkte den Paralyzer, weil niemand eine feindselige Haltung einnahm. Ein Mädchen oder eine junge Frau schob sich neben Emilie. Zwanzig mochte sie sein. Sie hatte das Haar aufgesteckt. Sie trug hellblaue Shorts und einen wuscheligen Pullover. Eine außerordentlich mutige Zusammenstellung. Über die Geschmacksorientierung der Menschen dieser Zeit waren die Reisenden nicht informiert. Sie bemühten sich, die nackten langen Beine des Mädchens zu übersehen. „Ich bin Saskia", sagte sie. Ihre Stimme klang etwas angerauht und war von prickelndem Reiz. Lintberg stellte seine Gefährten vor. Erst danach fiel ihm auf, daß sowohl Emilia als auch Saskia sich der englischen Sprache bedient hatten. Auch vorhin schon. „Ihr seid die Männer, die plötzlich auf dem Raumhafen waren? Das war sehr mutig. Die Händler verstehen keinen Spaß", sagte Saskia. „Wir sind zufällig hingeraten", erläuterte Lintberg. „Sie sind fremd, sie sind nicht von hier", meldete sich Emilia. „Aus England", erklärte der Professor.
Saskia schaute ihn nachdenklich an. Ihre rote Zungenspitze glitt über die Oberlippe. „Habt ihr etwa im verborgenen gelebt, wie viele andere Gruppen?" Lintberg war versucht, den Kopf zu schütteln. Aber dann erschien es ihm vernünftiger, auf ihre Worte einzugehen. „Ja", sagte er. „Lange Zeit." „Das merkt man. Ihr habt auch den Kontakt verloren. England hieß es früher mal. Es gehört zu den Vereinigten Staaten von Europa." Die Überraschung saß, aber alle drei machten sie ein Gesicht, als wüßten sie das längst. „Wir halten am alten Namen fest", behauptete Ben kühn. „An den alten Gewohnheiten auch", fand Saskia. „Ihr tragt nicht einmal die vorgeschriebenen Kennmarken. Aber die tragen die meisten von uns auch nicht." Kennmarken? Meinte sie etwa die blauen Kunststoffplättchen, die zwei der Männer an einem pulloverartigen Kleidungsstück stecken hatten? „Sie verstehen es nicht, du sprichst in Rätseln für sie", warnte Emilia. Frank schüttelte den Kopf. „Wir kennen sie, aber wir tragen sie nicht." Er zeigte über die Schulter. „Was ist dort geschehen?" Das war unverfänglicher als das Gerede über Kennmarken. Als Ankömmlinge brauchten sie ja nicht alles zu wissen. „Dort ist die CERES mit sechstausend Tonnen Kupfer abgestürzt, mitten in einen Wohnbezirk hinein", sagte Saskia leise. Sie begann zu erzählen. Die Zeitspringer unterbrachen sie mit keinem Wort. Sie lauschten begierig und erfuhren auf diese Weise eine ganze Menge über die Verhältnisse und die Machtverteilungen, über die Händler der EAHG, über Bandgleiter, die Seelenzähler und die Ausdehnung von Groß-Amsterdam. Emilia ging unruhig herum. Obgleich sie nichts sah, bewegte sie sich erstaunlich sicher. Vielleicht leitete sie jemand aus der Gruppe, der über ähnliche Fähigkeiten wie sie verfügte. Saskia kam auf ihre Leute zu sprechen, die sie einfach und schlicht Bande nannte. Das Wort hatte eine andere Bedeutung bekommen. Es beinhaltete ungefähr, daß sich Leute zusammengeschlossen hatten, die in den Wohnstädten aus irgendwelchen Gründen keinen Kontakt bekommen hatten oder hinausgebissen worden waren. „Und diese Banden leben wie bei uns in einer Art Untergrund?" vergewisserte sich Lintberg. Sie nickte. „Es hat sich so ergeben, als die Seelenzähler kamen und die Unwerten auszusondern begannen." „Und...?" machte Ben. Das Wort wollte ihm nicht über die Lippen. Saskia deutete auf Emilia. „Sie ist eine Unwerte. Ihre Eltern erlitten bei einem atomaren Unfall schwerste Schädigungen, aber man belog sie und machte ihnen Hoffnung auf Heilung. Sie
zeugten ein Kind. Sie mußten es verborgen halten, bis sie starben. Jemand brachte Emilia in Sicherheit. Mit zehn Jahren begann sie ihre Fähigkeit zu entwickeln, und die Seelenzähler behaupteten, sie sei eine gefährliche Mutation. Die Staatenregierung liebt keine Mutationen. Sie sind eine ständige Warnung an die Bevölkerung, wachsam zu sein und der Regierung auf die Finger zu sehen. Es gibt viele Mutationen, die beweisen, daß die Staatenregierung sehr oft ihre Sorgfaltspflicht verletzt hat." „Emilia kann Gedanken lesen?" fragte Frank. Saskia lächelte amüsiert. „Sie spürt eine gewisse Ausstrahlung und interpretiert sie. Und sie merkt ganz genau, wenn jemand Mitleid hat. Sie will kein Mitleid. Sie will anerkannt werden. Das tun wir. Sie ist ein. vollwertiges Mitglied der Bande. Bist du damit zufrieden?" Sie redete ganz burschikos mit ihm. Ihre Art, sich zu kleiden, und ihr Benehmen verrieten mehr als Worte. Sie war das, was man mit emanzipiert nur sehr ungenau beschreiben konnte. Sie war frei, oder sie hatte sich von Zwängen und Konventionen befreit. „Ja, sehr zufrieden", bestätigte Frank. Irgendwo knallte es. Das Geräusch kam durch das gezackte Loch von der Unglücksstätte herein. Es erinnerte Ben nachdrücklich an die Uniformierten, die Flugmaschinen und ihre Projektilrohre. „Finden die Händler hierher?" erkundigte er sich. „Ich möchte nicht noch mal mit ihren Leuten zusammenstoßen." „Ihr könnt euch uns anschließen. Ein ruhiges Leben ist es nicht. Die Seelenzähler jagen uns. Habt ihr keine?" „Ich glaube nicht, jedenfalls hörte ich nie von ihnen", antwortete er wahrheitsgemäß. „Was würde geschehen, wenn sie euch in die Hände bekommen?" „Sie würden diejenigen, die sie als Unwerte bezeichnen, einfach auslöschen. Wir anderen müßten ganz sicher einen Merkur-Kontrakt unterzeichnen. Fünf Jahre dort oben übersteht niemand. Es ist eine Hinrichtung auf Zeit, an der die Staatenregierung noch verdient." Lintberg hegte für kurze Zeit den Verdacht, daß sie vielleicht verschrobene politische Ansichten vertrat. Aber sie sprach leidenschaftslos und nannte ohne Übertreibung die Dinge beim Namen. Sie hatte sich sehr stark sozial engagiert, denn sie kümmerte sich auch um Geschöpfe wie Emilia, die ohne Hilfe längst untergegangen wären. So ganz wollte ihm jedoch nicht in den Kopf, daß diese Staatenregierung so gar nichts für die von der Gesellschaft nicht Akzeptierten zu tun gewillt war. „Kann sie keine Hilfe beanspruchen, offizielle Hilfe?"
Saskia schaute ihn an, als hätte sie ihn nicht verstanden. Aber schließlich sagte sie: „Dazu müßte sie sich den Seelenzählern ausliefern. Die befinden darüber, wer Unterstützung bekommt und wer nicht. Und sie entscheiden auch, wer ausgesondert wird. In Groß-Mailand gibt es seit zwei Jahren keine Mutationen mehr." Um ihren Mund grub sich ein bitterer Zug ein. „In einigen Bezirken sind die Seelenzähler sehr tüchtig." „Und sind diese Mutationen wirklich gefährlich?" fragte er. Ihm grauste vor einer Gesellschaft, die Geschöpfe beseitigte, die nicht der Norm entsprachen. „Das sind listige Behauptungen, die nie bewiesen werden konnten. Nehmen wir unsere Emilia. Sie ist mißgebildet, sie besitzt keine Augen. Dafür hört sie ausgezeichnet, und sie kann bis zu einem gewissen Grade Ausstrahlungen wahrnehmen. Ist sie deswegen gefährlich?" Das war sie nicht, und Lintberg schüttelte auch den Kopf. Er bemerkte, daß ihm diese Geste die Sympathien der Bande einbrachte. Die Leute schauten nicht mehr so angespannt. Ein Mann lächelte. Ben wandte sich an den Professor. Er hätte ihm lieber leise etwas gesagt, aber das hätte sofort das Mißtrauen dieser Menschen erregt. „Warum sollen wir nicht mit ihnen gehen? Die Uniformierten werden sicher noch einige Zeit suchen. Vielleicht finden sie auch heraus, daß wir mit einem Röhrenzug getürmt sind. Sie wissen, daß die Linie hier unterbrochen ist. Sie brauchen nur herzukommen und uns aufzupicken." Saskia nickte bestätigend zu seinen Worten, obgleich sie nicht für sie bestimmt waren. „Sie sind längst auf dem Weg. Sie werden bald da sein." Die sich anbietende Chance erschien Lintberg durchaus real. Wer sich bereits seit Jahren dem Zugriff der Seelenzähler entzog, der kannte bestimmt auch ein paar Tricks, um den Uniformierten zu entgehen. „Wir schließen uns an", sagte er. „Müssen wir mit dem Röhrenzug zurückfahren?" „Wir benützen die Bandgleiter. Wir gehen in den Süd-Bezirk." Er schaute sie so unschuldig an, daß sie erläuternd hinzufügte: „Ihr kennt die Stadt vielleicht noch unter dem Namen Utrecht." „Ganz recht", bestätigte er. Etwas phantasielos erschien es ihm jedoch schon, diese alte Stadt einfach in Süd-Bezirk umzubenennen. Emilia zeigte unvermittelt Anzeichen größter Unruhe. Sie erklärte jedoch nicht, was sie empfand. Für die Bande schien das kein außergewöhnliches Vorkommnis darzustellen. Saskia bemühte sich um eine Erklärung, als sie die Verwunderung der drei Männer aus England bemerkte. „Jemand, der feinselige Absichten hegt, ist in der Nähe", sagte sie. „In sehr großer Nähe."
Damit wandte sie sich um und wies auf einen blondhaarigen jungen Burschen, an dem höchstens die liederliche Kleidung erwähnenswert war. Er trug ähnlich altertümliche Hosen wie die Zeitreisenden, nur waren sie ausgebeult und hatten vermutlich niemals ein Bügeleisen oder dergleichen gesehen. Ben fragte sich, ob es überhaupt noch Bügeleisen gab. Die Leute hatten ganz sicher für alles mögliche vollautomatische Maschinen. Saskia lächelte eine Spur nachsichtig, als sie den blondhaarigen Burschen vorstellte. „Ole ist unser Spezialist für elektronische Verbundsysteme und ein Meister im Anzapfen von Lichtfasern im Kommunikationsnetz." Sie schauten alle drei ziemlich überwältigt aus der Wäsche. Es hörte sich an, als hätte dieser Ole einiges auf dem Kasten. Sie erinnerten sich an das Gespräch der beiden Frauen zuvor, als davon die Rede war, daß Ole den Antrieb des Röhrenzuges blockiert und die Energiezufuhr unterbrochen hatte. Sie entdeckten keinerlei Werkzeug bei ihm und hegten den Verdacht, daß Ole ebenfalls auf der Wunschliste der Seelenzähler stand und wie Emilia über besondere Fähigkeiten verfügte. Sie betrachteten ihn genauer. Hatte er nicht einen stechenden Blick? Waren seine Augen nicht etwas anders als die der übrigen Bandenmitglieder? Ohne daß jemand den Befehl gegeben hatte, setzte sich die Versammlung in Bewegung. Und erst jetzt sahen die Zeitreisenden die Plastiktasche, die Ole an seinen Hosengürtel geschnallt hatte und die ihm fast auf dem Gesäß hing. Sie schlossen sich an. Einiges Unbehagen empfanden sie schon, denn niemand hatte sie nochmals aufgefordert, jetzt mitzukommen. Aber vielleicht war es so, daß das, was einmal gesagt war, seine Gültigkeit behielt. Sie hatten gesagt, daß sie sich anschließen würden, also erwarteten Saskia und ihre Leute, daß sie den Worten die Tat folgen ließen. Emilias verbogene Gestalt schwankte voraus... Es ging nicht die Treppe hinauf, die hinter dem Bahnsteigzugang erkennbar war. Diese Stationen waren offensichtlich alle nach dem gleichen Schema errichtet. Ohne Zweifel befand sich oben eine öde und leere Halle ohne Geländer um den Treppenabgang, und an der Außenwand des Gebäudes neben dem breiten Zugang prangte gewiß eine Vier. Emilia führte die Gruppe an der Wand, die den Bahnsteig neben der intakten Vakuumröhre begrenzte. Ole trat neben sie. Er war nicht nur Spezialist für elektronische Verbundsysteme, er verfügte auch noch über andere Fähigkeiten, die ihn zu einer Art Allroundgenie machten. Aus seiner Plastiktasche wühlte er einen Streifen, der wie Bandmetall aussah. Er
drückte ihn mit einem Ende gegen die Mauer und hielt ihn ungefähr zehn Sekunden so. Gebannt schauten die Zeitreisenden ihm zu. Öffnete sich jetzt eine ungemein geschickt getarnte Tür in der Betonwand? Oder glitt gar diese ganze Wand zur Seite? Oles Bemühungen war kein erkennbarer Erfolg beschieden. Nichts rührte sich, nirgendwo öffnete sich ein verborgener Zugang. Ben erlaubte sich ein sanftes Grinsen. Die Leute übersahen es großzügig. Ole packte seinen Metallstreifen wieder ein und wandte sich der Bahnsteigkante zu. Er sprang in die Rinne hinab, in der die Betonschiene verlief, hob Emilia herunter und wartete, bis sich alle versammelt hatten. Energisch schritt er in die Röhre hinein. Lintberg, Ben und Frank stellten bereits allerlei gedankliche Spekulationen an. Hatte der Bursche Luft in die Vakuumröhre strömen lassen, um sie als Fluchtweg nutzbar zu machen? Es würde ein elend langer Fußmarsch werden, bis sie bei der Station drei anlangten. Ole hatte weder die Röhre mit Luft vollströmen lassen noch hatte er einen beschwerlichen Fußmarsch im Sinn. Er blieb unmittelbar vor der Manschette stehen, die die Röhre verschloß, und machte eine einladende Handbewegung zur linken Wand hin. Die Leute schienen das zu kennen. Niemand fragte, keiner zögerte. Einer nach dem anderen verschwand in einer Öffnung, die die Zeitreisenden auch erst erkannten, als sie unmittelbar vor ihr standen. Lintberg prallte mit Saskia zusammen, die in der Dunkelheit wartete. Er entschuldigte sich für seine Ungeschicklichkeit und wollte wissen, warum es kein Licht gab. „Wir haben keines", erhielt er zur Antwort. „Und hier gab es nie welches. Sie sparen Energie ein. Sie brauchen alles für die Fabrikstädte" „Was ist das hier?" „Ein uralter Stollen. Den gab es schon, bevor die Röhren gebaut wurden. Er soll viele Jahre unter Wasser gestanden haben. Irgendwann wurde er trocken. Es gibt überall diese alten Gänge aus der Vorzeit. Sie sollen mal Kanäle enthalten haben und Wasserrohre und Kabel aus richtigem Kupfer. Unsere Vorfahren gingen sehr großzügig mit den Metallen um. Wir müssen es büßen. Die Erde gibt keine Erze mehr her." „Ah, sie werden von außerhalb geholt?" fragte Lintberg begierig. „Von den erdnahen Planeten. Der Erztransport wird immer teurer. Die Händler bringen schon das Metall mit den Frachtern herein. Nur das lohnt sich noch. Die Aufbereitung würde zuviel Energie verschlingen."
Er brummte, was sie als Zustimmung oder Ablehnung auffassen konnte. Aber wenige Augenblicke darauf wurde ihm heiß und kalt. Jetzt begriff er, daß sie ihm Erklärungen gegeben hatte, die nur für jemand bestimmt waren, der von dieser Zeit nicht den Schimmer einer Ahnung hatte. Sie hatte ihm demnach nicht abgenommen, daß er und Frank und Ben aus einer abgekapselten Untergrundgruppe in England kamen. So hermetisch konnte sich keine Gruppe abkapseln, daß sie nicht erfuhr, was draußen und droben in der Welt vorging. Eine solche Gruppe brauchte Nahrung, und sie hatte auch andere Bedürfnisse. Mit den Gütern des täglichen und persönlichen Bedarfs, die nur von der Erdoberfläche kommen konnten, gelangten unweigerlich auch Nachrichten hinunter. Besaß diese Saskia am Ende auch besondere Fähigkeiten? Sie mußte irgendwie herausgefunden haben, daß seine Angaben nicht der Wahrheit entsprachen. Er war im allgemeinen ein sehr zurückhaltender Mann. Es kam selten vor, daß er zum Angriff überging. Hier jedoch schien es ihm angezeigt, den Stier bei den Hörnern zu packen und aufgetretene Mißverständnisse auszuräumen, bevor sich bittere Konsequenzen einstellten. „Ihr schenkt uns keinen Glauben, habe ich den Eindruck", sagte er. Irgendwo in der Dunkelheit brabbelte Emilia. Metall klirrte. Ole hantierte wohl wieder mit seinem Streifen an verborgenen Mechanismen. Mit einem scharrenden Geräusch schloß sich hinter den Zeitreisenden der Zugang zu diesem Stollen neben der Manschette. Sie fuhren herum und sahen gerade noch einen Streifen Helligkeit. Dann war er verschwunden. Saskia atmete hörbar und hastig. „Hätten wir euch sonst gestattet, mit uns zu kommen?" „Wohl kaum, das gebe ich zu. Aber ich spüre, daß ihr uns nicht glaubt." Ihre nächsten Worte bewirkten fast einen Schock. „Wir kennen alle Untergrundgruppen im alten England. Von euren Namen hörten wir nie." „Gut, das wäre also geklärt. Und warum hast du so ausführlich über die Erz- und Metalltransporte gesprochen?" Wieder atmete Saskia sehr laut. „Ihr seid doch Agenten, die gegen die Händler eingesetzt sind. Oder nicht?" „Woraus ist das zu schließen?" „Ihr seid ungehindert durch alle Sperren gelangt und bis auf den hiesigen Raumhafen gekommen. Das ist nie zuvor jemandem gelungen, der nicht zu den Händlern gehört. Ihr wurdet besonders ausgebildet. Ich dachte, ich könnte euch Hinweise geben. Hier wird besonders viel Kupfer gelandet." „Nicht schlecht", brummte Lintberg. Er fühlte sich mehr als unwohl. Die Sache begann sich zu einem vertrackten Versteckspiel auszuweiten. Agenten gegen die Händler! In wessen Auftrag?
Er hoffte, daß sie ihm nie diese Frage stellte. Von hinten sagte Ben: „Was versteht ihr unter Sperren? Da war bloß so ein lächerliches Gitter. Ich habe es überschätzt." „Man hat euch gut ausgebildet", sagte Saskia zufrieden. „Selbst Ole konnte noch nie ein Gitter ausschalten." Ben war sicher, daß es sich um eine Verwechslung handelte. Zur Vorsicht fragte er: „Was ist an den Gittern Besonderes? Mir ist nichts aufgefallen, das eine Aufregung wert wäre." „Das sind die heimtückischen Sicherungen der Händler", erklärte Saskia. „Wer den Raumhafen betreten will, muß erst eine geschickt verborgene Lichtfalle ausschalten und dann die Tötungsmaschine. Erst dann erreicht er das Gitter und hat Zugang zum Raumhafen." „Tötungsmaschine?" fragte Ben. Er merkte, wie ihm die Knie weich wurden. „Wißt ihr, wie sie funktioniert?" „Alle wissen es. Viele kamen schon darin um. Die Händler haben eine Energieanlage installiert. Gebündelte Energie überbrückt unsichtbar die Zugänge zum Raumhafen. Wer durch einen solchen Energiestrahl geht, fällt auf der Stelle tot um." „Ich werde verrückt!" murmelte Frank mit schwacher Stimme. Ben kam schnell über seinen Schrecken hinweg. Zum Teufel, warum war dann er nicht ebenfalls tot umgefallen? Er dachte angestrengt nach. Und dann hatte er den Haken gefunden. Saskia hatte sich nur nicht präzise genug ausgedrückt. Oder sie wußte weniger über diese Energiefallen, als sie zugab. Sie waren alle drei auf dem Raumhafen rein zufällig angekommen. Also hatten sie sich keinen Zugang verschaffen müssen. Das war der springende Punkt. Sie waren vom Raumhafen geflüchtet. Wer vom Raumhafen kam, gehörte zwangsläufig zum Personal der Erdaußenhandels-Gesellschaft. Und vor diesen Leuten brauchten sich die Händler wahrlich nicht zu schützen. Wohl aber vor solchen, die umgekehrt auf den Raumhafen vordringen wollten. Das bedeutete, daß die teuflischen Energiefallen zwischen Stadt und Gitter installiert waren, daß sie aber erst durch eine vorgeschaltete Lichtzellenanlage aktiviert wurden. Sie ständig in Betrieb zu halten, hätte unvorstellbare Energieeinheiten gekostet. Unterbrach jemand den Strahl zwischen zwei Lichtzellen, schaltete sich der Tötungsmechanismus ein. Das ganze Verfahren war nichts anderes als eine Spielart des Selenzellensystems. Ben fuhr sich über die Stirn und hatte die Hand naß vom Schweiß.
Sie hatten es nur dem Umstand zu verdanken, noch am Leben zu sein, daß sie vom Raumhafen zur Stadt geflohen waren und nicht umgekehrt. Es war gut zu wissen, daß die Händler solche Fallen installiert hatten. „Benötigt ihr kein Licht?" fragte Lintberg, dem es ebenfalls sehr flau in der Magengegend war. „Wir können welches machen." „Es ist nicht nötig, wir kennen uns hier aus", erwiderte Saskia. Dann fügte sie hinzu: „Man hat euch gut ausgerüstet. Was für Licht ist es?" Lintberg schaltete seine Körperlampe ein. Sie bezog ihre Betriebsenergie aus der Wärme seiner Haut. Als der Lichtstrahl aufblendete, schaute Saskia fasziniert. „Sie versorgt sich selbst, diese Lampe?" „Ich versorge sie mit meiner Körperwärme", erklärte Lintberg. Saskia nickte. „Es wurde auch Zeit, daß nicht immer den Händlern alle guten Erfindungen zufallen." Lintberg hörte es mit Freude und Bestürzung. Mit Freude darum, weil er diese Lampen erfunden hatte. Mit Bestürzung, weil er geholfen hatte, daß sein geistiges Kind wegweisend für die Zukunft gewesen sei. Man hatte seine Erfindung einfach vergessen! * Saskias Leute zollten der ungewohnten Lichtquelle Beifall und waren doch recht froh, nun schneller gehen zu können. Der Fluchtweg war ein uralter Kanal mit bröckeligem Quadermauerwerk, vom dem die Spinnweben wie zerfetzte Tücher herabhingen. Ole änderte mehrmals die Richtung. Immer wieder mündeten Seitenkanäle ein. Eine Öffnung war vermauert, das Steinwerk schimmerte feucht. „Dahinter ist Wasser", erklärte Saskia. „Eine Gracht, die man nicht zugeschüttet hat." Nach einer Stunde, in der die Zeitreisenden jegliche Orientierung verloren hatten, öffnete Ole mit seinem Metallstreifen wieder eine Öffnung wie auf der Station vier. Die Zeitreisenden blickten auf einen Bahnsteig, wie sie ihn in der Art bereits kannten. Neu waren die Verkehrsmittel. Auf einem Betonband mit einer fingerdünnen flachen Metallschiene standen eiförmige Kabinen. Leute waren keine zu sehen. Die Anlage vermittelte den Eindruck eines Depots.
„Nach dem CERES-Unfall haben sie die Bandgleiter von den unterbrochenen Strecken hierhergebracht", sagte Saskia erläuternd. „Die Gleiter werden zentral gesteuert." „Und wie kommen wir dann mit diesen Eiern weg?" fragte Ben. Die Bezeichnung erregte die Heiterkeit der Gruppe. Sogar Emilia lachte kräftig mit. „Ole macht das", antwortete Saskia. Ole bewies, was ein Spezialist für elektronische Verbundsysteme zu leisten imstande war. Mit atemberaubender Fingerfertigkeit öffnete er in vier Kabinen die harmlos aussehende Verkleidung eines Lagerkastens, der in den Innenraum ragte. Die Zeitreisenden ließen sich diese Chance nicht entgehen und schauten ihm über die Schulter. Aber sehr viel mehr als einen kleinen Kasten erblickten sie nicht. Ole löste klemmenartige Verbindungen, die nicht aus Draht waren, sondern wie ungemein flexible Glasfäden aussahen. Er holte eine Platte heraus, kramte einen dicken Stift aus seiner Tasche und malte auf der Platte herum. Sie sahen, daß aus dem Stift eine metallisch glänzende Flüssigkeit floß, die sofort erhärtete. Ole brachte neue Brücken auf der Schaltplatte an. Er grinste zufrieden, setzte die präparierte Platte ein, befestigte die Verbindungen und schlug mit der flachen Hand die Verkleidung fest. „Wir müssen sie nur etwas anschieben", versprach er. „Und wie wird angehalten?" wollte Ben wissen. „Müssen wir in voller Fahrt abspringen?" Diese Vorstellung erheiterte Ole. Er lachte gewaltig und schlug sich auf die Schenkel. Staub flog aus seiner verbeulten Hose. Dann räumte er seine wenigen Utensilien zusammen und verstaute sie in seiner Tasche. Die Leute verteilten sich auf die vier türlosen Eier. Es mochte ganz nett ziehen, wenn sie Fahrt machten. Aber es ging noch nicht los. Jedenfalls begann niemand die Dinger anzuschieben. Saskia bemerkte die forschenden Blicke der vermeintlichen Agenten gegen die Händler und sagte: „Wir warten auf Fernando." „Kennen die Händler und die Uniformierten diese Gänge und Stollen?" Lintberg beugte sich vor. Er hatte es so eingerichtet, daß er mit seinen Gefährten im Ei von Saskia saß. „Kaum. Wir bewahren unser Wissen. Es gab einmal Pläne, aber die hat man schon
vor uns aus einem Archiv der Staatenregierung geraubt. Es heißt, Oles Vater sei beteiligt gewesen." „Lebte etwa sein Vater schon im Untergrund?" „Es gab zu allen Zeiten Menschen, die sich nicht mit den Zielen der Regierung einverstanden erklären konnten. Aber früher war das noch legal, und die Opposition hatte ihre fähigsten Leute in die Völkerversammlung geschickt. Das änderte sich, als jegliche Opposition verboten wurde. Was blieb da anderes übrig, als in den Untergrund zu gehen?" Die Zeitreisenden begriffen die doppelte Bedeutung dieses Wortes. Untergrund hieß Verborgenheit, und es hieß auch, daß die kritischen Geister wahrhaftig von der Oberfläche hatten verschwinden müssen. In den unterirdischen Anlagen hatten sie eine Bleibe gefunden. Die Zeit verstrich, aber niemand zeigte Unruhe, auch nicht Emilia. Dieses Depot schien nur selten aufgesucht zu werden. Möglicherweise kam überhaupt niemand, solange die Gleitbänder unterbrochen waren. Lintberg wollte die Wartezeit nutzen und Saskia in ein Gespräch verwickeln. Als er gerade ansetzen wollte, tappten Schritte heran. Aus der Dunkelheit trat ein . Mann, der den Ellbogen vor das Gesicht hielt, als er ungewohnte Lichtfülle bemerkte. Auch Ben und Frank hatten ihre Körperlampen eingeschaltet. Das Depot war ausgeleuchtet wie nie zuvor. Lampen waren jedenfalls keine zu sehen, auch keine Lichtbänder. „Fernando", erklärte Saskia. „Unser Licht blendet ihn", sagte Lintberg bedauernd. Er wollte schon seine Lampe ausschalten. Aber da legte sich Saskias Hand auf seinen Arm. „Laß es brennen, es macht angenehme Gedanken. Fernando ist eines der wenigen überlebenden Opfer einer medizinischen Katastrophe." In diesem Augenblick nahm Fernando mit einer trotzig anmutenden Bewegung den Arm herunter. Er hatte keine Nase und keine Ohrmuscheln. Sein Gesicht war verquollen. Da und dort waren Hautstücke in Falten eingewachsen. Sein Anblick konnte auch einen nervenstarken Mann zu einer Schwäche verhelfen. Fernando stieg in das nächste Ei, und jetzt endlich wurden die Bandgleiter angeschoben. Es funktionierte so, wie Ole es angekündigt hatte. Nach ein paar Metern rollten die Kabinen selbsttätig; die Männer sprangen auf. Es ging in eine Röhre hinein, die sich nur unwesentlich von dem Vakuumtunnel unterschied. Nur daß hier Luft vorhanden war. Und keine schlechte obendrein. „Wie ist das geschehen?" fragte Lintberg und machte mit dem Kopf eine Bewegung nach hinten.
„Als die Frachter noch Erze brachten, fürchteten ein paar übervorsichtige Mediziner, es könnten Viren eingeschleppt werden, für die die Erdverhältnisse ideal zur Vermehrung waren. Alle, die mit den Erzen in Berührung kamen, mußten mit dem Trinkwasser eine eigens entwickelte Medizin zu sich nehmen, die angeblich die Abwehrkräfte des Körpers stärkte. Fernando arbeitete gerade sechs Wochen in einer Erzsammelstelle. Die Medizin zersetzte die Knorpelmasse. Man merkte es viel zu spät." Saskia verkrampfte die Hände. „Von zehntausend haben nicht einmal hundert überlebt. Sein Gesicht deformierte sich. Wir nahmen ihn auf, und ein Arzt, der uns heimlich unterstützt, machte elf Operationen an ihm. Fernando bekam in alle wichtigen Gelenke künstlichen Knorpel eingesetzt. Der Arzt wurde entdeckt und ist seitdem verschollen. Die Gesichtsoperation konnte nicht mehr durchgeführt werden." Erschüttert hörten die Zeitreisenden zu. So bedeutend war der Fortschritt der Menschheit nicht verlaufen. Die Rohstoff vorkommen der Erde waren ausgebeutet, Energie wurde gespart, wo es nur ging, und die Medizin leistete sich ebenfalls noch ihre gelegentlichen Skandale. Die Röhre war zu Ende. Ein sanfter Andruck zeigte an, daß die Bandgleiter aufwärts fuhren. Unvermittelt sausten die Eier ans Tageslicht. Es sah nicht so aus, als würde die Reise so bald unter Tage führen. Die Zeitreisenden schalteten die Lampen aus und schauten neugierig aus den unverschließbaren Türöffnungen. Das Band führte in respektabler Höhe mitten durch eine Wohnstadt. Voraus beschrieb es einen weiten Bogen. Stelzen trugen das Betonband mit der eingelassenen Schiene, die die Antriebsenergie lieferte und die Eier obendrein auf dem Band hielt. Sehr viel berückender als die Einheitshäuser am Raumhafen waren die Wohnmaschinen hier auch nicht. Da und dort war eine Fassade bunt angemalt. Das war aber auch die einzige Abwechslung. Besonders erpicht waren die drei Männer auf den Verkehr in den Straßenschluchten. Sie sahen einige eckige Fahrzeuge. Die Art ihrer Konstruktion verriet schon, daß sie elektrisch betrieben wurden. Fußgänger waren in großer Anzahl zu sehen. Sie waren bunt und lustig gekleidet. Vielleicht etwas zu bunt. Die Zeitreisenden merkten nach geraumer Zeit, daß in dieser Landschaft etwas fehlte. Als sie daraufstießen, verstanden sie auch, warum die Leute farbenprächtige Kleidung bevorzugten.
Nirgendwo war Grün zu sehen! Es gab keine Gärten, keine Parks, keine Bäume und keine Büsche. Erst nach einstündiger Fahrt lockerte sich die dichte Bebauung auf, und da erschienen auch die ersten grünen Flecken im tristen Grau der Betonwüste. Aber wie waren sie übervölkert. Die Plätze waren gedrängt voller Menschen. „Findet da eine Versammlung statt?" fragte Frank. Es rutschte ihm einfach so heraus. „Das ist das tägliche Vergnügen der Menschen, für die man keine Arbeit mehr hat", sagte Saskia bitter. „Sie fliehen aus den Häusern, wenn sie die Langeweile nicht mehr aushalten." Noch weiter draußen befand sich eine Art Vergnügungspark. Vor einem hallenartigen Bau standen lange Schlangen und warteten auf Einlaß. „Hier verspielen viele ihre Kreditscheine, die ihnen die Staatenregierung monatlich ausbezahlt. Es bringt ihnen Abwechslung. Es verschafft ihnen Nervenkitzel. Jeden Tag verfallen ein paar tausend Leute mehr der Spielleidenschaft." Es bot sich an, die Frage zu stellen, was die Regierung getan hatte, um den Menschen ein Freizeitangebot zu verschaffen. Keiner jedoch stellte sie. Ihre Agentenrolle, in die Saskia sie gedrängt hatte, wäre sehr unglaubwürdig geworden. Schlechtinformierte Agenten machten mißtrauisch. Und damit herausreden konnten sie sich nicht, daß im Bereich des alten England eben alles anders war. Das Mädchen hatte sich vorzüglich informiert gezeigt. So betrachteten sie viel lieber die Gegend, registrierten die Besonderheiten und hörten den gelegentlichen Erklärungen Saskias zu. Eine gewaltige Grünfläche kam in Sicht, dahinter ein Band auf Stelzen, auf dem Eier dahinglitten. Auf dem Grün tummelte sich kein Mensch. „Dieser Platz ist den Gefolgsleuten des Gouverneurs vorbehalten", meinte Saskia. „Nur hat man sie noch nie hier gesehen." Unter den Bäumen patrouillierten Uniformierte, die sich kaum von den Burschen auf den Schwebeplattformen unterschieden. Immerhin war bemerkenswert, daß die Männer hier zu Fuß unterwegs waren. Besonders schnell bewegten sich die Kabinen nicht. Aber irgendwann sagte das Mädchen: „Hier beginnt der Süd-Bezirk. Wir nennen ihn Quadrat zwei." Einige historisch bedeutsame Viertel hatte man in Utrecht stehenlassen, aber sie waren eingemauert von gewaltigen Wohnburgen.
Das Band schwang sanft hinab, und wenig später glitten die Eier wieder durch eine Röhre. Die Körperlampen sorgten für angenehme Helligkeit. Plötzlich jedoch verlangte Saskia von den Agenten, sie sollten das Licht löschen. Kaum war das geschehen, als die Kabinen auf einer Station hielten. Eine Menschengruppe wartete bereits auf die freiwerdenden Eier. Als die Zeitreisenden auf dem Bahnsteig standen, sahen sie, daß vor und hinter ihren Fahrzeugen eine Menge weiterer Kabinen hielten. Sie konnten sich das nur so erklären, daß unterwegs einige Nebenbänder auf den Hauptstrang eingemündet waren und die Kabinen zugeliefert hatten. Dieses Transportsystem arbeitete im Ringverfahren. Auf dem Band war der Verkehr nur immer in einer Richtung möglich. Um die Kabinen in das Zentrum von Groß-Amsterdam zurückzubringen, hatte man das Band in einem großen Bogen geführt. Die Rückreisestrecke hatten die Zeitspringer jenseits der gewaltigen Grünfläche gesehen. Dem Individualverkehr gab man offensichtlich keine Chance mehr. Die Wartenden auf dem Bahnsteig schauten einigermaßen unwillig, als so viele Kabinenbenutzer ohne Kennmarken ausstiegen. Lintberg war etwas erleichtert. Er hatte die stille Furcht gehegt, durch die Art der Kleidung würden sie auffallen. An der Kleidung störte sich niemand. Die Leute trugen ja selber, was ihnen Freude bereitete. Ärgernis erregten die fehlenden Plaketten. Jemand sagte auch unfreundlich: „Es wird Zeit, daß sie euch greifen. Eine Schande ist das!" Saskia wurde blaß vor Zorn. Sie beherrschte sich jedoch großartig und ging mit ihrer Gruppe zu einer Treppe. In der Halle herrschte ein erfreuliches Gewimmel. Über eine Wand zuckten ununterbrochen Lichtsignale. Als die Zeitreisenden aus einem etwas günstigeren Blickwinkel diese Signale sahen, erkannten sie, daß es eine Art laufende Leuchtschrift war. Die Staatenregierung ließ eben bekanntgeben, daß die PATHFINDER III in besonderer Mission in Kürze in den Asteroidengürtel einfliegen werde. Weitere Meldungen würden folgen. „Was hat das zu bedeuten?" erkundigte sich Lintberg. Saskia hob die Achseln. „Wir werden es bald erfahren." Dabei machte sie ein Gesicht, als seien gute Nachrichten nicht zu erwarten. *
Die neue Unterkunft befand sich im Kellergeschoß eines fast hundertjährigen Hauses, das zu einem Museumsblock gehörte, wie Saskia erklärte. Sie hatte den Vorteil, daß die Bandgleiterstation in der Nähe lag und daß das Zentrum der Stadt bequem in fünf Minuten zu Fuß zu erreichen war. Auf dem Hinweg schon fiel den Zeitreisenden der Gesichtsausdruck der Leute auf. Er war stumpf und desinteressiert und ausdruckslos. Die Unterkunft hatte noch andere Vorzüge. Ole brach mit seinem Metallband einen Kunststoffkasten auf, der sich als Verteilerkasten einer Lichtfaserleitung entpuppte. Ungeniert und mit großem Geschick schloß er ein Schirmgerät mit Sprecheinrichtung an, das ein schweigsamer Mann ohne Kennmarke gebracht hatte. Saskias Gruppe besaß offensichtlich überall einige Fehler. Ein freundliches Gesicht tauchte auf dem Schirm auf, als Ole Verbindung aufnahm. Er zapfte die Betriebsenergie ebenfalls der Lichtfaserleitung ab. Der Mann grinste, als er die drei fremden Männer sah, und er hörte sich geduldig Saskias Erklärung an, daß es sich wohl um Agenten handeln müsse. Endlich bequemte er sich zu einer Antwort. Er nannte sich selber Steve Hackland, und die Agententheorie sagte ihm zu. Er mahnte zu größter Vorsicht und informierte die Gruppe über den Skandal, den die Erdaußenhandels-Gesellschaft mit dem Atommüll angerührt hatte. Er sagte, daß die PATHFINDER III hinfliege, um einen möglichen Schaden rechtzeitig festzustellen. „Wir haben es gelesen", unterbrach ihn Saskia. „Die Regierung informiert." „Sie bietet wieder die halbe Wahrheit", erboste sich Hackland. „Die Händler haben zugeschlagen. Wahrscheinlich steckt Malik dahinter. Zwei Gefolgsleute des Gouverneurs wollten die ARROW inspizieren. Sie wurden aufgelöst, noch bevor sie den Raumhafen betreten konnten. Nehmt euch in acht. Mit Malik ist nicht zu spaßen." „Wir sind ihm nie in die Quere gekommen", erwiderte Saskia. Lintberg, Ben und Frank hörten atemlos zu. Zuschauen und zuhören, das war der beste Unterricht, den sie sich wünschen konnten. Sie lernten mehr, als wenn sie ungeschickte Fragen gestellt hätten. Hackland grinste wieder vom Schirm herab. „Alex kommt euch nachher besuchen. Wir haben eine kleine Sammlung veranstaltet." „Danke, Steve", sagte Saskia erfreut. Hackland schaltete sich aus. Das, was er offensichtlich suchte, war nicht darunter. Nach einer Stunde teilte er brummend mit, er würde in die Gleiterstation gehen, um sich neue Nachrichten zu holen. Ben begleitete ihn.
Ein frischer Wind blies die Sommerhitze aus den Straßen. Irgendwo ertönte ein kurzer Heulton, der Ben unangenehm an die Sirenen beim Raumhafen erinnerte. „Was bedeutet es?" fragte er. „Noch eine halbe Stunde, dann müssen die Straßen geräumt sein." „Und wozu soll es nützen?" „Du kannst fragen - wie der erste Mensch! In einer halben Stunde beginnt die Windblaszeit. Am Ende der breiten Straßen stehen gewaltige Rotortürme. Die blasen dreimal am Tag frische Luft in die Städte. Ist ganz nützlich. Erfunden hat man es für die Produktionsstädte." Ben war beeindruckt. Er hielt Ausschau, aber es war bereits dunkel, er konnte keinen Rotorturm mehr erkennen. Die Lichtsignale in der Halle ergaben für Ben keinen Sinn. Ole jedoch schaute verzückt, und auf Befragen erklärte er, daß seien psychedelische Lichtspiele und eine sehr beliebte Unterhaltung. Womit er recht hatte. Die Halle war überfüllt. An diesem Farbenzauber konnte Ben sich nicht berauschen. Er wartete auf die nächsten Nachrichten. Aber die Regierung hatte wohl den nächsten Tag gemeint. Möglicherweise auch den übernächsten. Sie wäre wirklich die erste Regierung gewesen, die es eilig hatte. Der Farbenzauber erlosch, und die Menge zerstreute sich. Der kurze Heulton war jetzt viel eindringlicher zu hören, als Ole und Ben die Station verließen. Ole begann zu hasten. In der Ferne ertönte ein Schwirren, als seien Millionen Heuschrecken zum Flug durch die Nacht aufgestiegen. Ein paar verspätete Bürger oder besser Bewohner eilten vorbei. Ben erblickte das erste Tier seit der Ankunft in dieser Zeitebene. Es war ein Hund. Der arme Kerl wurde rücksichtslos an einer Leine hinter seinem Besitzer hergezerrt. Zu Bens großem Erstaunen trug er ebenfalls eine Kennmarke. Er sprach Ole sofort darauf an. Die Erklärung setzte ihn zwar in Erstaunen, aber sie machte ihn wiederum ein Stück schlauer. Die Erdgeborenen trugen demnach blaue Kennmarken, die Raumschiff geborenen rote - die waren allerdings selten zu sehen, wie Ole versicherte. Die Planetengeborenen unterschieden sich durch eine grüne Kennmarke und die Angehörigen, Mitarbeiter und Raumfahrer der Erdaußenhandels-Gesellschaft durch eine schwarze. „Ihr tragt aber fast alle keine", bemerkte Ben.
Ole grinste. „Eigentlich müßten wir gelbe tragen. Die sind für Leute bestimmt, von denen man nichts Genaues weiß. Ihr gehört ebenfalls dazu." Ben schluckte. Ole hatte eine sehr direkte Art, jemandem die Wahrheit nahezubringen. „Habt ihr keine Schwierigkeiten ohne diese Kennmarken?" „Wenn wir unter die Leute gehen, schon, du hast es ja bei den Gleitern erlebt. Richtige Schwierigkeiten sind es nicht. Die Leute murren. Die Regierung hat das Tragen der Marken zur Pflicht gemacht. Sollen wir uns durch gelbe Kennmarken noch mehr Schwierigkeiten aufladen, als wir ohnehin schon haben? Heute sind wir da, morgen dort. Das erschwert unsere Erfassung." „Verraten euch die Leute nicht?" „Sie murren, aber sie haben noch nie einen verraten. Es würde nämlich bedeuten, daß sie mit den Seelenzählern zusammenarbeiten, und die Zähler sind gehaßt. Du siehst, von der Seite haben wir nichts zu befürchten." „Und wie war das mit den Kreditscheinen?" fragte Ben treuherzig, während sie dem Haus zustrebten und der Heulton endlich verklang. „Bei uns gilt auch noch die alte Währung." „Hier auch, aber wer hat noch altes Geld? Mit den neuen Kreditscheinen kannst du überall auf der Welt und sogar auf den Planeten bezahlen. Das ist die erste gemeinsame Leistung der Erdregierungen." Ben hätte gerne noch mehr darüber erfahren, aber plötzlich begann ein Sturm durch die Straße zu wehen, daß es ihm die Atemluft von den Lippen riß. Japsend und keuchend rettete er sich in den Eingang und stolperte hinter Ole her in den Keller hinab. Die Windblaszeit hatte begonnen. * Niemand von der Gruppe besaß eine Uhr. Dennoch waren die Menschen über die Zeit genau im Bild. Vielleicht hatten sie ein ganz besonderes Gespür dafür entwickelt. Das Leben im Untergrund konnte zur Routine werden. Die Zeitreisenden leisteten sich ab und zu einen verstohlenen Blick auf den Radartimer. Mitternacht war vorbei. Der erste Tag war recht turbulent verlaufen, das war sicher. Die Leute hatten sich niedergelegt. Gegessen hatte niemand. Sie mußten demnach allesamt sehr genügsam sein. Der schweigsame Helfer hätte ruhig etwas Proviant bringen können, fand Ben. Sein Magen knurrte. Durst verspürte er ebenfalls. Plötzlich erhob sich Saskia. Voller Unruhe schaute sie zur Treppe. „Er müßte längst hier sein", sagte sie besorgt.
Ohne Zweifel meinte sie jenen Alex, den Steve Hackland angekündigt hatte. Emilia schlief tief und fest. Ihre rechte Hand mit den sieben Fingern zuckte ab und zu, als wollte sie etwas greifen. „Kann man hier irgendwo Wasser bekommen?" fragte Ben leise, um die Schläfer nicht zu stören. „Wir müssen es kaufen. Wir haben keine Kreditscheine mehr", antwortete das Mädchen und legte sich wieder nieder. „Morgen haben wir Wasser." Sie schliefen alle in ihrer Kleidung. Das war die Erklärung für Oles ausgebeulte Hose. Er lag auf der Seite, weil er seine Plastiktasche nicht losgeschnallt hatte. Die Werkzeuge mußten für ihn einen enormen Wert besitzen, daß er sogar mit ihnen schlief. Emilias Arm wischte plötzlich heftig über den Boden, die sieben Finger griffen zu, als wollten sie einen imaginären Gegenstand greifen und nie mehr loslassen. Das Geräusch trieb Saskia wieder hoch. Sie stand lange über der Frau, die das unschuldige Opfer einer atomaren Verseuchung geworden war. Plötzlich warf sie den Kopf hoch und schaute die Zeitreisenden an, die wach in der Ecke kauerten. „Ich sehe nach, wo er bleibt. Kommt einer mit?" Sie erhoben sich alle drei. Vielleicht lag es an den aufregend langen nackten Beinen des Mädchens. Saskia lächelte kurz. Sie war mit der Dreierbegleitung einverstanden. Weder Lintberg noch Frank oder Ben wollte sich eine Blöße geben. Sie folgten Saskia hinauf auf die Straße. Die Windblaszeit war vorüber. Wunderbar frische Luft erfüllte die Stadt. Eines dieser eckigen Fahrzeuge rollte leise summend vorbei. Es war tatsächlich ein Elektrofahrzeug. Die Autos mit Verbrennungsmotor gehörten also der Vergangenheit an. Die Männer erinnerten sich daran, daß sie während der Kabinenfahrt nirgendwo etwas entdeckt hatten, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einer Tankstelle besessen hatte. Aus der Gegenrichtung kam ein Elektrowagen. Er fuhr vorbei. Ein dünner Lichtstrahl aus einer Lampe zitterte vor ihm her und beleuchtete die Betonstraße. Zement und Beton - das war wohl das einzige, das die Erde noch hergab und das nicht mit den Frachtern von den Planeten geholt werden mußte. Saskia schlug die Richtung zur Station ein. Die Stadt lag in geisterhafter Stille. Hinter keiner Fensteröffnung brannte Licht, nicht eine Straßenlaterne verbreitete ihren Schein. Das Energiesparprogramm wurde strikt befolgt.
Oder man hatte den Wohnhäusern einfach die Energiezufuhr abgedreht. Das war auch eine denkbare Möglichkeit. Die vorsorglich handelnde Staatenregierung wollte ihre Bürger erst gar nicht in Versuchung führen. Von der Station her schallte plötzlich eine Männerstimme durch die Nacht. Die bösartige Freude war ihr direkt anzuhören. „Bewegst du dich nicht auf verbotenen Pfaden, mein Freund? Bleib stehen !" Die Stimme wurde schrill. Ein anderer Mann fluchte. Dann zerriß ein blendender Blitz das Dunkel der Nacht. Die Zeitreisenden und Saskia sahen einen von entsetzlicher Helligkeit umloderten Mann. Er brüllte, taumelte und sank nieder. Aber Lintberg, Ben und Frank hatten den Eindruck, daß der Körper gar nicht den Boden berührte. Er veränderte sich auf eine schreckliche Weise und wurde rasend schnell kleiner. * Sie waren hinter ihm her. Er wußte es, seit er die Bodenleitstelle der Raumsicherung verlassen hatte. Er kannte Maliks Leute nicht, aber er besaß ein Gespür dafür, wenn ihm jemand nachstieg. Und jetzt war ihm jemand auf den Fersen. Er tauchte in eine Straße und schaute sich um. Sie waren zu zweit. Sie trugen nicht die blaue Uniform, aber sie waren eitel genug, die schwarze Kennmarke der Händler zu zeigen. Alex Buriakow lockte sie in ein Automatenrestaurant, das einen zweiten Ausgang besaß. Er drückte sich ein üppiges Mahl zusammen, trug sein Tablett zu einem freien Tisch und begann, mit gesundem Appetit zu essen. Zwischendurch kam die Aufsicht und zwickte ihm zwei Löcher in den hingehaltenen Kreditschein. Achtlos steckte Buriakow das Zahlungsmittel in die Tasche und widmete sich weiter den Speisen. Die zwei Schatten kamen gerade herein. Er konnte sie in einer spiegelnden Glassäule sehen. Sie gingen zu den Automaten und nahmen ein grünes Getränk. Alex Buriakow wartete, bis sie einen Platz gefunden hatten, erhob sich und schlug den Weg zu den Waschräumen ein. Gleich hinter der Tür, die von einem Vorhang aus Marsperlen gegen Durchsicht geschützt war, wich er zum zweiten Ausgang aus und stand eine Minute später auf der Straße.
Er beeilte sich, die nächste Gleiterstation zum Süd-Bezirk zu erreichen. Zwar hatte er immer noch das Gefühl, daß jemand hinter ihm war. Viermal drehte er sich um. Er konnte niemand erkennen, der ihn beobachtete und der ihm folgte. Er sagte sich, daß es Einbildung war. In dem sanft dahingleitenden Ei streifte er seine Bedenken vollends ab. Aber er beschäftigte sich mit der Tatsache, daß er Gegenstand besonderer Überwachung geworden war. Natürlich steckte Malik dahinter. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran. Sie hatten sich in der Bodenleitstelle gegenseitig den Krieg erklärt. Und Malik führte seinen Krieg schmutzig. Die beiden aufgelösten Gefolgsleute des Gouverneurs bewiesen es. Erst als er die Gleiterstation im Süd-Bezirk verließ und plötzlich die Gestalten sah, die sich überall aus den dunkelsten Schatten der Nacht herausbewegten, merkte er, daß er Malik unterschätzt hatte. Irgendwie mußte der Abwehrleiter der Händler von diesem Besuch erfahren haben. Und zwar so rechtzeitig, daß er seine Leute in aller Ruhe hatte postieren können. Hatte jemand dieses Treffen verraten? Buriakow überlegte blitzschnell. Jemand aus Saskias Gruppe? Die drei Agenten etwa, die sich ihr angeschlossen hatten? Oder van Tinderen oder Hackland? Irgendwo war eine undichte Stelle. Alex Buriakow ging weiter, als hätte er nichts bemerkt und nichts gesehen. Er hatte die Betonstraße schon fast überquert, als er die höhnische Stimme Maliks hinter seinem Rücken hörte: „Bewegst du dich nicht auf verbotenen Pfaden, mein Freund?" Buriakow wirbelte sofort herum. „Bleib stehen!" warnte Malik. Buriakow war stehengeblieben. Maliks Ruf hatte lediglich eine Alibifunktion und sollte eine Flucht vortäuschen. Buriakow wußte in diesem Augenblick, daß er verloren hatte und daß es vorbei war. Saskias Gruppe würde vergeblich auf die dringend benötigten Kreditscheine warten. Sie würden ein paar harte Tage durchstehen müssen. Er wunderte sich, woran er noch alles dachte. Er hörte den dumpfen Abschuß eines Auflösers. Das Projektil traf ihn mitten auf die Brust. Feuer war um Alex Buriakow. Licht, blendende, schmerzende Helligkeit. Hitze jagte durch seine Adern. Er holte keuchend Atem, ersah durch das Feuer, angestrahlt vom Widerschein, Maliks grinsendes Gesicht und das dunkle Loch der Waffe. Er brüllte, weil er merkte, wie er zerfiel. Dann war es aus.
* „Weg, schnell weg!" keuchte Saskia. Sie zitterte und drängte sich zwischen Lintberg und Frank durch. Bevor sie es verhindern konnten, rannte sie zurück zur Unterkunft. Sie handelte unklug, denn ihre klatschenden jagenden Schritte waren weithin durch die Nacht zu hören. Ben knurrte, als er dunkle Gestalten ausmachen konnte, die einen Bogen um ein paar Glutreste auf der Straße schlugen und langsam und lauernd herüberkamen. Er zerrte den Paralyzer aus dem Gürtel, stellte ihn auf volle Abgabeleistung und drückte ab. Zwei Gestalten sah er fallen. Die anderen kamen unbeirrt näher, unaufhaltsam wie Roboter. Es mußte mit den Helmen zu tun haben. Sie schützten den Kopf der Burschen, und vielleicht bewirkten die Antennen ungewollt eine Abschwächung der Lähmstrahlung. Ben erkannte, daß es nicht mehr so einfach war, mit dem Lähmstrahler Probleme aus der Welt zu schaffen. Das war eine andere Zeit mit einer eigenen Technik, die sich sehen lassen konnte. Frank fluchte gedämpft. Er hatte ebenfalls sein Glück mit dem Paralyzer versucht und erkannt, daß er weitgehend wirkungslos war. „Umdrehen!" wisperte Lintberg. Er hatte als einziger die richtige Überlegung angestellt. Auf den Gedanken gebracht hatte ihn das grelle Feuer, in dem jemand vergangen war. Ben und Frank wirbelten herum und kniffen die Augen zu. Lintberg feuerte seine Lichtkanone ab, jenes als harmlose Gurtschnalle getarnte Gerät, in dessen Strahlrichtung schlagartig alle ionisierten Atmosphäreteilchen aufleuchteten. Darum sah es auch aus, als würde ein unerträglich heller Lichtkegel aus der Gurtschnalle hervorschießen. Der Widerschein zuckte an den Gebäudewänden hinauf wie eine Explosion. Die Gleiterstation wurde in Tageshelle getaucht. Die Männer aber, die im Begriff waren, in die Straße herüberzukommen, standen wie von Blitz und Donner gleichzeitig gerührt. Sie waren geblendet, und sie konnten erst nach Stunden wieder sehen. Diese Zeitspanne mußte ausreichen, um der Gruppe die Chance zu geben, sich abzusetzen. Brüllend und schreiend torkelten die Männer jetzt herum. Sie irrten auseinander. Keiner hörte auf den anderen, jeder war mit sich selber beschäftigt. Sie bemitleideten sich selber am meisten. Dabei hatten sie vor wenigen Minuten noch an der Vernichtung eines Menschen mitgewirkt.
Die Zeitreisenden eilten zur Unterkunft zurück. Saskia hatte bereits alle Schläfer geweckt. Emilia redete wie im Fieber. Ole versuchte mit allerlei Schaltungen, Hackland zu erreichen. Es gelang ihm endlich. Er berichtete erstaunlich knapp, was sich zugetragen hatte. Hacklands Gesicht war starr wie eine Maske. „Das war Malik", sagte er endlich. „Er hat Buriakow erwischt." „Armer Alex!" jammerte Emilia. Die Leute waren auf eine bestürzende Art sicher, daß der aufgelöste Mann Buriakow war. Ole schaltete die Verbindung ab, nachdem er gesagt hatte: „Sieht so aus, als gäbe es noch mehr Leute, die Lichtfaserleitungen anzapfen können." Es war klar, daß er die Abwehrleute der Händlerorganisation meinte. Die Gruppe verließ in bewundernswerter Ordnung die Unterkunft und setzte sich in östlicher Richtung ab. Das Gebrüll der Männer war noch eine Weile zu hören. Sie torkelten noch immer irgendwo in der Nähe der Station herum. Aber es war niemand aus den Gebäuden gekommen, um ihnen zu helfen oder um auch nur nachzufragen, was der Lärm zu bedeuten habe. * Vier Tage irrten und zigeunerten sie herum. Zweimal schliefen sie in einem Warmlufttunnel, der in einer Fabrikationsanlage für konstante Arbeitstemperatur sorgte. Nicht zum Wohlbefinden der wenigen Arbeiter, sondern um ideale Bedingungen für den Betrieb der Maschinen und die Steuercomputer zu schaffen. Aus einer Versorgungsanlage organisierte Ole ein paar Konserven, die sich beim Öffnen etwas erwärmten. Im Boden war eine kleine Kammer abgeteilt, die eine Chemikalienmischung enthielt und mäßige Wärme erzeugte, wenn der Kontaktfaden zum Deckel getrennt wurde. Die Dosen waren aus Kunststoff, nicht aus Blech. Die Kunststoffschöpfung stand auf einsamer Höhe. Immerhin gab es Zusammensetzungen, die hitzebeständig waren wie diese Dosen. „Es geht so nicht weiter", erklärte Saskia am fünften Tag nach der Flucht. „Sie treiben uns in die Enge, und wenn sie nicht müde werden, brauchen sie nur zu warten, bis wir vor Entkräftung umfallen." Im Süd-Bezirk mußten irgendwo noch ein paar Männer in guter Deckung gewartet haben, die Professor Lintberg mit seinem Lichtschuß nicht erreicht hatte. Sie halten eine Verfolgung organisiert, die sie mit ungeahnter Dreistigkeit betrieben und sich einen Dreck um die Staatenregierung kümmerten.
Wenn die Gruppe mal einen Vorsprung von ein paar Stunden herausgeholt hatte, dann klemmte Ole sein Schirmgerät an. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er die Lichtfaserleitungen. Steve Hackland wußte davon zu berichten, daß die Staatenregierung die Absicht habe, einen Protest an die Adresse der Erdaußenhandels-Gesellschaft wegen des Vorgehens ihrer Abwehr zu richten. Denn die eifrigen Jäger hatten auf ihrer Suche nach den Leuten, denen Buriakows Besuch gelten sollte, eine ganze Menge harmlose Menschen mißhandelt und zwei sogar verschleppt. „Also muß Nahrung beschafft werden", sagte Ben. „Im übrigen gilt die Hetzjagd nicht so sehr euch als vielmehr uns. Die Händler und dieser Malik, von dem dauernd die Rede ist, müssen in Erfahrung gebracht haben, daß wir uns in eurer Gruppe befinden. Sie wollen uns haben." „Das ist uns längst klar", meinte Ole. „Ihr habt doch nicht die Absicht, jetzt aufzugeben und Maliks Leuten in die Arme zu laufen? Sie lösen euch auf." „Wenn wir fort sind, habt ihr Ruhe", erwiderte Ben. „Wir brauchen nicht so sehr Ruhe als vielmehr Nahrung und Wasser. Alex hatte zehn Kreditscheine für uns bei sich, als sie ihm auflauerten. Wenn wir nur einen Schein hätten! Das brächte uns schon weiter." „Woher bekommt man Kreditscheine?" fragte Ben ahnungslos. Ole lachte bitter. „Von der Staatenregierung. Sollen wir hingehen und sagen, daß wir jetzt da sind und ein paar Kreditscheine haben wollen? Ich weiß, wo solche Scheine lagern. Aber da kommt kein Mensch heran, der nicht die Erlaubnis und die elektronischen Schlüssel besitzt." „Ach?" machte Ben interessiert. Lintberg bekam Bauchschmerzen, als er ihn so fragen hörte. Wenn Ben sich für eine Sache zu interessieren begann, die andere für aussichtslos hielten, dann waren Verwicklungen unausbleiblich. „Und wo wäre das?" erkundigte sich Ben. „Ein Depot hier in der Nähe." „Mit Wachen davor?" „Wieso Wachen? Mit Sperren, die nur mit elektronischen Schlüsseln zu öffnen sind." Ole machte eine Handbewegung, die andeutete, daß es überflüssig war, länger darüber zu reden. „Zeig es mir!" verlangte Ben. Sie schauten ihn alle an, als sei er übergeschnappt. Aber Ole meinte, es käme ja nun auch nicht mehr darauf an. Er brach mit Ben auf. Bevor sie aus dem alten Kanal an die Oberfläche stiegen, vergewisserten sie sich, daß niemand in der Nähe war, der Interesse für sie bekundete. Ole hatte die Wahrheit gesprochen.
Dieses Depot befand sich tatsächlich in der Nähe. Es war ein fensterloser langer Betonklotz mit flachem Dach. Bewacht war er nicht, aber er hatte Parabolantennen auf dem Dach. „Sind Wachen drin?" wollte Ben wissen. „Nur wenn Kreditscheine ausgegeben werden", antwortete Ole. „Kehren wir um. Es lohnt sich nicht. Wir kommen an die Scheine nicht heran. Es ist zum verrückt werden. Da drüben liegen sie, und nur eine Wand trennt uns davon." „Ich will etwas versuchen", sagte Ben. Lintbergs glücklicher Lichtschuß hatte ihm eine Idee eingegeben. Die Regierung knauserte mit Energie. Ohne Zweifel aber war solche den Leuten zugänglich, die für die Staatenregierung arbeiteten. Und es war eine logische Konsequenz, daß die Regierung für sich Energiereserven bereithielt. Was Ole mit elektronischem Schlüssel bezeichnet hatte, war vielleicht ein tragbarer Energiegeber. Der Lichtschuß setzte auch Energie frei. Wahrscheinlich mehr, als die Sicherung benötigte. „Vom Versuch allein bekommen wir auch nichts", wehrte Ole ab. Aber Ben ließ sich von seinem verrückten Plan nicht mehr abbringen. Er ging mit Ole zu dem gepanzerten Tor. Es war ein ähnliches Schott wie auf der Station drei und wie dort aus Beton. Metall gab die Staatenregierung nicht mal für ein Gelddepot aus. Ben entdeckte den kleinen Kasten, der in das Material eingegossen war. Die Elektronik, die Sperre, die Motoren, alles befand sich hinter dem Schott. „Geh hinter mich und halte dir die Augen zu", sagte er und machte die Lichtkanone fertig. Kaum war Ole in Deckung, drückte er auf den Auslöser. Er hielt die Augen fest geschlossen, aber er sah das Gleißen durch die Lider. „Was-was war das?" keuchte Ole. „Mein Versuch", sagte Ben und wartete ab. Er hoffte, daß die Elektronik nicht zum Teufel war. Ein Rollen ertönte, Staub knirschte. Langsam öffnete sich ein Spalt. Das Schott glitt bedächtig zur Seite. „Los, faß mit an!" verlangte Ben. Er stürzte in die Halle, sah einen Packen und riß ihn auf. Ole hatte den Schock schnell überwunden. Er eilte herzu und winkte ab. „Das ist nichts", sagte er. „Hier!" Triumphierend hielt er ein Paket hoch, das in dünne Folie geschweißt war. Er riß es auf. Es enthielt Kreditscheine. „Das reicht ein Jahr", sagte Ole glücklich. Sie hasteten hinaus. Ben versuchte, das Schott mit einem zweiten Lichtschuß zurollen zu lassen. Aber die Elektronik war wirklich beim Teufel. Oder die Wandler hatten die volle Energiedosis nicht verkraftet.
Mit diesem kühnen Coup war die Bande Saskias gerettet. Sie kauften Nahrung und Wasser, die Nervenanspannung ließ nach, und sie alle überlegten viel vernünftiger und kamen auf gute Ausweichplätze. Einmal stießen sie mit einer anderen Gruppe zusammen, die drei Mutationen bei sich hatte und rührend um die mißgestalteten Geschöpfe bemüht war. Neun Tage nach der Flucht aus dem Süd-Bezirk langten sie wieder in Zentrumsnähe von Groß-Amsterdam an. Und diesen Tag vergaßen sie nicht so rasch wieder. Ole hatte wieder einmal eine Lichtfaserleitung angezapft, und Steve Hackland sollte auf dem Bild erscheinen. An seiner Stelle war plötzlich van Tinderen zu sehen. Er schaute ungesund aus und war nervös wie ein Vogel, dessen bebrütete Eier nicht platzen wollen. Die Gruppe spürte, daß etwas in der Luft lag. „Ihr seid gut dran", sagte van Tinderen. „In nächster Zeit werdet ihr Zuwachs bekommen." „Erkläre uns das bitte!" sagte Saskia. „Die PATHFINDER III ist in den Asteroidengürtel eingeflogen. Sie ist zerplatzt. Die Marsstation hat ihren letzten Spruch aufgefangen. Auf Alpha siebzehn erfolgen gewaltige Ausbrüche und Endladungen." „Ausgeschlossen. Die Asteroiden sind tot!" widersprach Saskia heftig. „Die Schufte von der Erdaußenhandels-Gesellschaft haben sie zum Leben erweckt", grollte van Tinderen. „Sie haben zuviel Atommüll deponiert. Viel zuviel. Das Zeug hat sich langsam und unbemerkt aufgeheizt. Jetzt beginnt der Brocken bereits zu glühen. In zwei, drei Tagen ist er hell wie die Sonne. Und dann kommt es darauf an, ob er zerplatzt oder ob er ausglüht. Die Leute verlassen in hellen Scharen die Wohnstädte. Sie gehen alle in die Schächte und Kanäle. Die Gleiter können nicht mehr benützt werden, weil alles mit biwakierenden Leuten vollgestopft ist. Ich habe vorhin gehört, daß auf einigen Abschnitten schon die Vakuumröhren unter Luft gesetzt wurden. Das reicht für ein paar tausend Menschen bestimmt. Aber wohin mit den anderen?" Ben schüttelte den Kopf. Lintberg verstand es ebenfalls nicht. Saskia sprach es aus. „Ist das eine Massenhysterie? Ein aufglühender Asteroid stellt doch keine Gefahr für die Erde dar." „Vielleicht doch", sagte van Tinderen bedeutungsvoll. „Die harte Strahlung kann durchschlagen. Wenn er platzt, können die Versorgungslinien von den Planeten unterbrochen werden, und das auf Monate hinaus. Weit schlimmer ist jedoch,
daß wir mit einem Krieg zwischen der Staatenregierung und der Erdaußenhandels-Gesellschaft rechnen müssen. Alle Anzeichen sprechen dafür." „Krieg? Das ist ja schon lachhaft", urteilte Saskia heftig. „Die Staatenregierung besitzt noch vier PATHFINDER-Schiffe, und die Händler verfügen über hundert." „Eben. Die Menschen sorgen sich, sie wollen nicht warten, bis der Krieg da ist. Sie fliehen bereits vorher." „Verschweigst du uns etwas? So aus heiterem Himmel zieht doch keine Kriegsgefahr auf." Das Mädchen sprach erregt. „Aus heiterem Himmel? Ihr hättet euch zwei Tage früher schon melden sollen. Steve saß wie auf einer heißen Platte. Die Staatenregierung hat mit der Asiatischen Union und der Afrikanischen Föderation einen Beistandspakt geschlossen. Die Rechte der Händler werden rigoros beschnitten. Sie verlieren das Transportmonopol. Die verschiedenen Regierungen wollen eine gemeinsame Flotte aufbauen und künftig die Transporte der Erze, Metalle und Siedler selber übernehmen." „Ah, darum!" machte Saskia nur. „Und das läßt sich die ErdaußenhandelsGesellschaft nicht gefallen, oder?" „Genau so verhält es sich. Sie pochen auf ihre alten Rechte, sie weisen darauf hin, daß sie es waren, die der Staatenregierung unter die Arme gegriffen haben, daß sie ihre ersten Schiffe für die Transporte zur Verfügung stellten. Daß sie mit dem Atommüll einen riesigen Betrug unternommen haben, versuchen sie herunterzuspielen. Übrigens ist Malik jetzt anderweitig beschäftigt. Es ist zu fürchten, daß er sich mit seinen Leuten einige Gouverneure aufs Korn nimmt. Die Erdaußenhandels-Gesellschaft hat gedroht, sich die entzogenen Rechte und das Monopol notfalls mit Gewalt zurückzuholen. Sie wollen auch Schiffe einfliegen lassen. Das ist ein ernstzunehmendes Argument. Der CERES-Unfall hat bewiesen, was passiert, wenn einige tausend Tonnen Metall auf eine Stadt stürzen." Die Zeitreisenden verfolgten gebannt den Dialog. Wenn dieser verfluchte Malik sich nun um andere Dinge kümmern mußte, was hielt sie dann noch hier unten bei der Gruppe und in den Kanälen und Schächten? Sie konnten hinauf. Sie kamen sich bereits fast wie Maulwürfe vor. Ähnliche Überlegungen stellte auch Saskia an. Aber sie dachte viel weiter. Und vor allem dachte sie an einige Leute in der Gruppe. „Das würde uns die Zeit bringen, die wir für Fernando brauchen", sagte sie mehr zu sich selbst. Sie schaute van Tinderen zwingend an. „Ist Doktor Abraham noch zu erreichen?" „Ich denke doch. Aber ich höre vorsichtshalber nach." Er verschwand vom Schirm und kehrte nach einigen Minuten zurück. „Er kennt euer Problem. Er sagt, er macht es. Aber Fernando muß wenigstens vier Wochen bei ihm bleiben. Sonst
lehnt er die Operation ab." Saskia nagte an der Unterlippe. Sie kämpfte mit sich. Plötzlich gab sie sich einen Ruck. „Es ist ein Risiko, aber wir gehen es ein. Wir verlassen den Untergrund. Ich wünsche mir, es geht gut." „Das hoffe ich ebenso", sagte von Tinderen. Der Schirm erlosch. * Mit einigen Kreditscheinen ausgestattet, lösten sich die Zeitreisenden von der Gruppe. Sie hatten Saskia und Fernando zu jenem Doktor Abraham begleitet. Für den Notfall hatten sie eine Kontaktadresse, denn Saskia hatte versprochen, jeden Tag vorbeizukommen und nach Fernando zu sehen. Wenn sie also einen Ratschlag brauchten, dann konnten sie über Fernando an Saskia herankommen. Sie durchstreiften die Stadt und standen abends mit vielen anderen Menschen zusammen und starrten in den Himmel hinauf, wo im Asteroidengürtel ein neuer leuchtender Körper entstanden war. Das Glühen von Alpha 17 wurde von Nacht zu Nacht intensiver. Aus den Regierungsnachrichten war zu entnehmen, daß das Marslabor seinen Standort aufgegeben hatte, weil eine Explosion zu befürchten war. Die unvorstellbaren Atommüllmengen lieferten reichlich Nahrung für das verzehrende Feuer, das da oben durch Habgier entzündet worden war. Nach fünf Tagen konnten die Leute bereits am hellen Tag die zweite Sonne erkennen. Stündlich war mit dem Auseinanderplatzen des Asteroiden zu rechnen. Aber der kleine Planet machte es spannend. Erblähte sich auf, die Intensität seiner Helligkeit nahm zu, und seine Strahlungsausbrüche waren bereits auf der Erde anmeßbar. Die Minenlager und Kolonistensiedlungen auf den Planeten forderten Schiffe an. Sie wollten zur Erde zurückkehren. Die Staatenregierung konnte ihnen keine Hilfe bringen, und die ErdaußenhandelsGesellschaft hüllte sich in feindliches Schweigen. Die Spannung wurde unerträglich, und die Zustände waren es schon. Die Versorgung brach in einigen Bezirken zusammen, da nicht genügend Vorräte eingelagert waren. Ein Versäumnis mehr, das sich die Staatenregierung anlasten lassen mußte. Professor Lintberg, Ben und Frank wurden Zeuge von Plünderungen. Und einmal wurden sie selber überfallen, als sie sich mit etwas Nahrung eingedeckt und den doppelten Preis dafür bezahlt hatten.
Ben schlug die Burschen in die Flucht. Lintberg streckte einen nieder - durch ein Versehen, wie er hernach immer wieder beteuerte. Der Kerl war ihm angeblich genau auf den Ellenbogen gelaufen, als er herumfahren wollte. Der Zwischenfall zeigte ihnen, was noch alles zu erwarten war. Sie vermieden es, näher als fünf Schritte an Menschenansammlungen heranzugehen. Denn immer häufiger sahen sie böse Blicke auf sich geworfen. Sie wußten um die Ursache. Sie trugen keine Kennmarken. Man hielt sie offensichtlich für Späher der Händler. Am 8. August des Jahres 2100 spitzte sich die Lage dramatisch zu. Die Händler stellten der Staatenregierung des Vereinigten Europa, der Asiatischen Union und der Afrikanischen Föderation das Ultimatum, ihnen sofort alle Rechte zurückzugeben und das Monopol auf die legale Einfuhr von Benol-Schnaps auszudehnen. Andernfalls werde man einige Schiffe zur Erde beordern, und der Rest werde sich finden. Schon am Abend dieses Tages trafen zwei Schiffe ein und gingen in eine Kreisbahn um die Erde. Die Frachter flogen in nur zehn Kilometer Höhe, so daß jeder sie sehen konnte. Die Staatenregierung hatte ihren vier PATHFINDER-Schiffen den freien Rücksturz zur Erde befohlen, aber was wollten diese Forschungsschiffe gegen die klobigen Frachter und Fähren ausrichten. In der Nacht vom 8. zum 9. August blähte sich Alpha 17 noch einmal gewaltig auf. Am frühen Nachmittag des 9. August platzte der Asteroid in Zeitlupengeschwindigkeit. Die zweite Sonne erlosch, aber jetzt raste möglicherweise der Tod heran. Eine winzige Hoffnung gab es - wenn der Sonnenwind die Staubpartikel abtrieb. Die Sonne stand günstig. Der Lichtdruck wies zu den äußeren Planeten, und weder Merkur, Venus, Erde und Mars schoben sich im entscheidenden Augenblick zwischen die Sonne und Alpha 17. Der Sonnenwind konnte voll wirksam werden. Die Wissenschaftier errechneten sogar eine weitere Chance. Die Masse des Riesenplaneten Jupiter zog eventuell einen großen Teil des zerstrahlten und zerplatzten Asteroiden an. Die Staatenregierung bekam Oberwasser. Am 11. August, als das Marslabor bestätigte, daß keine bedeutenden verseuchten Materiewolken in Richtung der inneren Planeten zogen, lehnte die Staatenregierung es kategorisch ab, auf das Ultimatum der Händler auch nur noch am Rande einzugehen. Das war ein schwerwiegender Fehler. Denn die Hintermänner der Erdaußenhandels-Gesellschaft hatten hoch gespielt und jeden Einsatz gewagt. Wenn sie klein beigaben, war alles verloren.
* Professor Lintberg, Ben und Frank wurden ebenso überrascht wie die Bewohner von Groß-Amsterdam und anderen Stadtgebilden. Die Händler ließen nicht, wie ursprünglich befürchtet worden war. einige Frachterladungen Metall auf eine Stadt abregnen, sie ließen ohne Vorwarnung ein ausgedientes Raumschiff, das zwecks Verschrottung seine letzte Reise zur Erde machte, auf eines der Kernkraftwerke am Rheinunterlauf stürzen. Die Energie des Einschlags reichte aus, um die Kuppel zu sprengen. Es gab auf den ersten Schlag ungefähr fünfzig Tote. Aber das konnte nur der Anfang sein, denn das Kernkraftwerk stand so unglücklich in einer Kette von Kraftwerken, daß eine Kettenreaktion so gut wie sicher war. Der Reaktor im getroffenen Werk ging durch, das Umland wurde von einem Strahlenschauer nach dem anderen überschüttet. Giftige und tödliche Emissionen trieben mit dem Wind weit ins Land. Lintberg, Ben und Frank fanden über Fernando zu Saskia, die sich mit ihrer Gruppe in einer gerade evakuierten Schule einquartiert hatte. Das Mädchen war bereits gut informiert. Die Händler hatten mit einem Andockmanöver ihre Mannschaft aus dem zum Absturz bestimmten Frachter geholt. Was aber sehr viel schlimmer war - sie hatten sich des Mannes versichert, der immer auf die Möglichkeit eines Reaktorunfalles hingewiesen hatte und mit Unterstützung der Staatenregierung einige aufwendige Maschinen erbaut hatte. Sie sollten im Ernstfall um einen defekten Reaktor herum aufgebaut werden, um Strahlung zu absorbieren und Energie für die Geräte zu gewinnen, in erster Linie aber, um eine verheerende Kettenreaktion zu verhindern. Diesen Mann hatten sich die Händler unter die Jacke geschoben. Malik hatte ihn entführt, und nun erpreßten die Händler ganz offen die Staatenregierung. Die alten Rechte und das erweiterte Monopol gegen den Mann! Die Zeitreisenden fuhren mit einer Schwebeplattform, die Saskia mit Steve Hacklands Unterstützung aufgetrieben hatte, in die Nähe der Unglücksstelle. Sie konnten Reste des Frachters erkennen, etwa zehn Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Und sie sahen Malik. Saskia zeigte ihnen den Burschen. Malik begutachtete das sanfte rote Glühen des durchgehenden Reaktors aus sicherer Entfernung und wähnte sich unbeobachtet. Er befand sich mit einigen Uniformierten auf einer Plattform.
Ganz unvermittelt flogen sie ab. Lintberg, von einer seltsamen Unruhe erfaßt, bekniete Steve Hackland, der die Plattform steuerte, den Abwehrleuten der Händler zu folgen. Hin und wieder litt auch Lintberg unter Ahnungen, nicht nur sein bester Mann Ben Hammer. Steve Hackland ließ der Plattform der Händlerleute einen Vorsprung, der eine Entdeckung ausschloß. Sie mußten mehrmals Ausweichmanöver machen, denn das Gebiet wurde jetzt konsequent auf Anordnung der Staatenregierung hin evakuiert. Es ging zum Raumhafen. Dort waren viele Plattformen unterwegs. Und Hackland konnte aufholen. Die Zeitreisenden konnten aus ungefähr zweihundert Meter Entfernung beobachten, wie Malik abstieg und am Erdwall einer großen Passage eine Handbewegung machte, als hätte er eine Schaltung betätigt. Den Zeitreisenden dämmerte es. Malik hatte das Lichtzellensystem ausgeschaltet und damit die Energiefalle neutralisiert. Unbeschadet schwebte die Plattform durch die Lücke auf den Raumhafen. „Zufrieden?" fragte Steve Hackland grimmig. Er erkannte keinen Nutzen in der Verfolgung. Aber eine Stunde später dachte er anders. Die Erdaußenhandels-Gesellschaft stellte der Staatenregierung das letzte Ultimatum. Sie bot an, den Wissenschaftler sofort herbeizuschaffen, wenn alle ihre Bedingungen akzeptiert wurden. Hackland hatte die drei vermeintlichen Agenten und Saskia in die Bodenleitstelle mitgenommen, was eigentlich verboten war. Doch es ging ohnehin alles drunter und drüber. Niemand regte sich über Fremde im Gebäude auf. Ben trank einen Banol-Schnaps, den Hackland aus einer bauchigen Flasche anbot. Das Zeug wärmte und befeuerte, und es ließ die Probleme der Welt klein und winzig und unbedeutend erscheinen. Ben lachte plötzlich wie vom Wahnsinn geküßt und schlug sich die Hand vor die Stirn. „Sie können den Mann sofort herbeischaffen, was? Ich denke, ich weiß, wo sie ihn versteckt haben!" „Du weißt es?" fragte Hackland verblüfft. Ben zeigte aus einem der ovalen Fenster auf den Raumhafen hinaus. „Dort haben sie ihn. In der Fähre mit den zwölf Teleskopstützen. Dort landete nämlich Malik, als er die Lücke passiert hatte." „Und was soll das heißen?" fragte Lintberg.
„Daß wir ihn holen, bevor die ganzen Kraftwerke hochgehen wie Kuckuckseier," Ben war kaum noch zu bremsen. Lintberg wurde langsam klar, weshalb die Staatenregierung den Banolschnaps für illegal erklärt hatte. Aber so abwegig war Bens Vorschlag gar nicht. Wenn jemand den Wissenschaftler herausholen konnte, dann sie. Und zwar mit Hilfe der Lichtkanonen. * Steve Hackland fuhr sie. Lintberg erledigte die Energiefalle, nachdem er den geschickt getarnten Schalter für das Lichtzellensystem gefunden hatte. Die Uniformierten bei der Raumfähre hielten die Plattform offensichtlich für ein eigenes Fahrzeug, denn sie reagierten erst, als sie erkannten, daß die vier Insassen keine Uniformen trugen. Steve Hackland schrie auf, als sich die Rohre einiger Auflöser auf die Plattform richteten. Lintberg schoß mit der Lichtkanone. Die Wirkung war hundertprozentig. Niemand wollte mehr schießen. Die gewaltige Lichterscheinung draußen hatte jedoch Malik in die Tür hoch über dem Boden gelockt. Der Einstieg war hochgezogen. Weiter hinten war eine Leiter zu sehen, die in den Bauch der Fähre führte. Malik feuerte. Das Projektil traf die hintere Kante der Plattform und setzte sie in Brand. Lintberg jagte einen Lichtschuß hinauf. Geblendet ließ Malik das Rohr fallen. Er taumelte, hielt die Hände vor die Augen gepreßt und stürzte aus der Öffnung. Sein Körper zerschellte auf dem Belag des Raumhafens. Den Wissenschaftler fanden sie in einer Kühlkammer der Fähre. Sie brachten ihn in Sicherheit. * Zwei Tage später wurden sie Zeuge, wie der Mann den durchgegangenen Reaktor isolierte. Retten konnte er ihn auch nicht mehr. Aber er verhinderte mit seinen gewaltigen Reflektorapparaten die Kettenreaktion, die ein gewaltiges Gebiet in einen wüsten Trümmerhaufen verwandelt hätte.
Einen Tag, bevor die Zeitreisenden den Entschluß zum Rücksprung faßten, verkündete die Staatenregierung die unnachsichtige und totale Erfassung aller Bewohner ihres Gebietes. Man hatte aus dem Fehler mit der Erdaußenhandels-Gesellschaft gelernt. Die Händler hatten sich frei und ungehindert bewegen dürfen. Künftig wollte man alle Bewegungen kontrollieren. Das klang in den Ohren der drei Männer aus einer anderen Zeitebene gar nicht gut!
ENDE